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ABHANDLUNGEN

ZEHNTER BAND.

DRUOK VON BREITKOPF UND HA R TEL IN LEIPZIG.

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ABHANDLUNGEN

ZEHNTER BAND.

DRUCK VON BREITKOPF UNI) HARTEL IN LEIPZIG.

ABHANDLUNGEN

DER KÖNIGLICH SACHSISCHEN

GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.

ZEHNTER BAND. MIT EINER TAFEL.

LEIPZIG

BEI 5. HI R Z E L. 1865.

Ai^J-~j>. 2?*'

ABHANDLUNGEN

DER PHILOLOGISCH-HISTORISCHEN CLASSE DER KÖNIGLICH SÄCHSISCHEN

GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.

VIERTE» BAND. MIT EINER TAFEL.

£ LEIPZIG

BEI S. H I R Z E L.

1866.

LSoo\lV°-l

INHALT.

J. Overbeck, Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion . . . . S. 4

G. Hartenstein, Locke's Lehre von der menschlichen Erkenntniss in Ver-

gleichung mit Leibnitz's Kritik derselben dargestellt -Hl

Wilhelm Röscher, die deutsche Nationalökonomik an der Gränzscbeide des

sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts -263

Joh. Gust. J^roysen, die Schlacht von Warschau 4 656 - 345

Aug. Schleicher, die Unterscheidung von Nomen und Yerbum in der laut-

liehen Form - 497

J. Overbeck, über die Lade des Kypselos. Mit \ Tafel - 589

Indem die philologisch -historische Glasse der Königlich Sächsichen Gesell- schaft der Wissenschaften den vierten Band ihrer Abhandlangen der Oeffentlichkeit übergiebt , ist sie verpflichtet der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft , durch deren bereitwillige und reichliche Unterstützung ihr die Herausgabe dieses Bandes möglich geworden ist, von neuem ihren Dank auszusprechen.

r

BEITRAGE

ZUR

ERKENNTNISS UND KRITIK

DER

ZEUSRELIGION

VON

J. 0 VERBECK.

Abhftadl. d. R. S. Gas. 4.WUs. X.

So viel tief Gedachtes und grossartig Aufgefasstes , so viel Geist- reiches , in Methode und Resultat Neues und unsere Anschauungen des griechischen Alterthums in seinen höchsten Interessen theils Aufklaren- des , theils Umgestaltendes die »Griechische Götterlehre« Welcker's in allen ihren Theilen enthalten mag, Nichts in derselben ist tiefer gedacht, grossartiger aufgefasst und geistreicher ausgeführt , Nichts ist zugleich in Methode und Resultat neuer und greift in unsere Anschauungen des höchsten griechischen Alterthums entschiedener ein, als Welcker's Lehre von der Religion, dem primitiven Monotheismus des Zeus, der »transcendentalen Gottesidee des Zeus Kronion«,1) oder der «Idee eines allbelebenden, weltbeherrschenden Allgeistesa2) in Zeus, eine Lehre, die allgemein als der Kern und Cardinalpunkt des W.'schen Buches erkannt und als solcher auch vom Meister selbst anerkannt worden ist.8) Auch hat kein Theil der Arbeit Welcker's eine so starke Bewegung der Ge- müther in der gelehrten Welt hervorgebracht wie diese Lehre. Und zwar scheint dieselbe überwiegende Zustimmung gefunden zu haben, wie denn einer solchen und zwar einer begeisterten, die ihm von Seiten SchwenckV) («eines Mythologen , der seit 1843 die Mythologien von sieben grossen Völkern in sieben Banden geschrieben«) und Max M al- le rV) zu Theil geworden, Welcker selbst nicht ohne freudigen Stolz

i) Götteriehre 4. S. 4 80.

2) Das. S. 2U.

3) Ich N. Rhein. Mus. 4 3. S. 6t J ; denn die Worte: ȟber mein Buch urteilt der

Hr. Rec. indem er in Zeus Kronion den Cardinalpunkt erkennte sind gewiss zu

erklären: richtig erkennt, und mit ihnen ist zu verbinden was das. S. 6t 8 zu lesen ist : »vermutblich werden immer mehr um den primitiven Monotheismus und das Yer- hSltniss des polytheistischen und theogonischen Processes zu ihm sieh alle ernsteren mythologischen Untersuchungen drehen.«

4) Göttinger gel. Anzz. 4 858 No. 5—8.

5) Saturday Review 4858 vergi. N. Rh. Mus. a. a. 0. S. et»'.

4*

4 J. OvEHBECK. [4

gedenkt.6) Es fehlt nun freilieb auch nicht an dem Ausdruck abweichen- der und entgegenstehender Ansichten. Von diesen kann ich aber der von Hrn. Dr. H. D. Müller7) ziemlich geräuschvoll erhobenen und von Welcker nicht ohne Bitterkeit zurückgewiesenen8) Opposition kein son- derliches Gewicht beilegen; nicht als ob ich damit behaupten wollte, Hr. M. habe auf allen Punkten geirrt, wohl aber, weil ich über die Ver- kehrtheit der Grundprincipien, von denen Hr. Dr. M. in seinen mytholo- gischen Untersuchungen ausgeht mit Welcker und Preller9) vollkommen einverstanden bin.

Ungleich schwerer wiegt Preller's so milde gehaltene und doch so Viel sagende Einrede10) und die Thatsache, dass dieser in der zweiten, Welckern zugeeigneten Auflage seiner griechischen Mythologie die Grund- sätze W.'s in Betreff des Zeus in der Hauptsache nicht adoptirt, dem Zeus nicht jene von W. geforderte ausnahmsweise Stellung als Gott den Göttern gegenüber einräumt, von keinem primitiven Monotheismus, sondern nach Nägelsbacb's Vorgange nur von einem, schon von 0. Müller11) anerkannten monotheistischen Triebe im Polytheismus redet/2) und auch in der Deu- tung des Kronos und Kronion Welckern nur einige und im Wesentlichen nicht entscheidende Goncessionen macht. So vollkommen ich nun nicht allein billige, sondern so hoch ich es dem verehrten Manne als ein Zei- chen wissenschaftlicher Masshaltung und wissenschaftlichen Mnthes an- rechne, dass er sich in einem für weitere Kreise und namentlich für die studirende Jugend bestimmten Buche aller direclen Polemik über einen solchen Cardinalpunkt enthalten und sich begnügt hat, nur das Posi- tive seiner unerschütlerten Überzeugung vorzutragen, so sehr ich aner- kenne, dass Preller in seiner angeführten Anzeige in Betreff des Mono- theismus der Zeusreligion wesentliche Hauptargumente, wenn auch mehr in der Form von Bedenken und Fragen, als in stricler Opposition gegen Welcker, beigebracht hat, Argumente, welche ich dankbar zu benutzen haben werde: so wenig kann ich die Sache hiedurch für erledigt halten,

6) N. Rh. Mus. a. a. 0. S. 637 f.

7) Im Philologus «857. (4 2) S. 5i7ff.

8) In dem Aufsatz: »Meine grieeh. GöUerlehre betreffende im N. Rh. Mus. a. a. 0.

9) Jahn's Jahrbb. 4869. S. 472 ff.

4 0) In der Anzeige in Jahn's Jahrbb. 4 859. 4 (79) S. 3 4 ff.

4 4) Prolegomena S. 245.

12) Mythologie 2. Aufl. 4. S. 85.

5] Beitrage zur Eakenntkiss cnd Kritik der Zeusreligion. 5

so wenjg glauben , dass Preller dieselbe fitr erledigt ansehe. Ich bin vielmehr mit Welcker der Überzeugung , dass sich noch manche ernste Untersuchungen um die Frage des primitiven Monotheismus oder Poly- theismus der griechischen Religion als ihrer Grundlage und Summe dre- hen werden , und glaube , dass Jeder, der sich bei lange fortgesetzter und oft wiederholter Prüfung in wissenschaftlicher Weise von der Irrig* keit der Welcker'schen Lehre in der Hauptsache und in sehr vielen Ein- zelheiten überzeugt hat, berechtigt ist, sich auszusprechen und zu for- dern, dass er gehört werde; und ein solcher wird ohne Phrasen zu machen, am besten beweisen, dass er um die Sache, um die Erkenn tniss und Begründung der Wahrheit kämpft, wenn er mit dem freimüthigen Ausdruck seiner Zweifel , Bedenken und Widersprüche direct vor den Richterstuhl Welcker' s selbst tritt, damit dieser seine Einreden prüfe, und wo sie unbegründet sind, widerlege. Von der Grundlage dieser Ansicht aus möchte ich mein Auftreten in dieser Sache und zu eben dieser Zeit, nicht früher und nicht später, beurteilt sehen. Dass mich nicht Eitelkeit treibt, mit einem solchen Kampfe gegen weit überlegene wissenschaftliche Kraft, in welchem ich viel eher. eine Niederlage zu fürchten als den^Sieg zu hoffen habe , als mythologischer Schriftsteller zu debtttiren, wird man einsehn, und dass ich nicht jetzt erst mytholo- gische Studien zu verfolgen beginne hoffentlich aus der Untersuchung selbst entnehmen.

I.

Unvermeidlich ist es bei der Art, in der Welcker seine Lehre in seinem Buche begründet und in seinem angeführten Aufsatz: »Meine griechische Gölterlebre betreffend« vertheidigt und neu unterstützt hat, zu Beginn dieser Discussion ein Gebiet zu betreten, auf das ich Welckern am wenigsten gern folge, einerseits weil sich auf demselben am wenigsten mit positiven Gründen streiten lässt, und Ansichten und Theoreme einen grossen Raum einnehmen, andererseits weil dasselbe nicht weniger ausserhalb des Bereichs meiner Studien liegt als dies Preller von den seinigen aussagt.13) Ich meine das Gebiet der allgemeinen philosophi-

13) Jahn' 8 Jahrbb. a. a. 0. S. 34.

6 J. OVERBECK, [6

sehen Betrachtung des Monotheismus und Polytheismus ihrem Wesen an sich nach und in ihrem Verhältniss zur Naturreligion.

Die oberste und Hauptfrage ist , was wir unter Monotheismus zu verstehn haben. Welcker selbst14) unterscheidet zwei Arten von Mono- theismus, »den Monotheismus im eigentlichen und herkömmlichen Sinne des Wortes, einen klar begriffenen Monotheismus« und einen anderen, »der ausgehend von der Einheit, durch die Vielheit der Personen in den Naturmythen zwar beeinträchtigt, durch Verwilderung der Sitten und der Bildung unterbrochen, selbst in christlichen Gemfllhern geschwächt und angefochten wird , der aber , weil er ein Erblheil der Menschheit ist, immer wieder durchdringt, der z. B. in dem hellenisch-homerischen System , bei aller Vielheit der Personen sich im Ganzen siegreich von neuem aufgerichtet hat und nicht blos vermittels dieses Systems, son- dern auch des der Nation von Anbeginn eigenen Geistes in ihr selbst, nach einer abermaligen Periode einer dem Monotheismus eigentlich ent- gegenwirkenden Entwickelung , den schönsten wissenschaftlichen Aus- druck gefunden hat* Wenngleich nun Welcker in eben diesem Satze und in dieser Unterscheidung, die sich auf 0. Mtlller's15) Auseinandersetzun- gen über den Monotheismus bezieht, den ersteren, eigentlichen und begriffenen Monotheismus gradezu opfert, oder wenigstens zu opfern meint, während er, wie ich zu zeigen «hoffe in dem was W. unter den Monotheismus der zweiten Art subsumirt, thatsächlich wieder auftritt, so wird es doch, und zwar grade in Beziehung auf das zuletzt Gesagte, gut, ja nothwendig sein, in Betreff dieses eigentlichen und begriffenen Monotheismus zwei Thatsachen festzustellen, welche als Massstab der Behandlung der Zeusreligion bei Welcker dienen werden. Diese zwei Thatsachen sind : erstens dass der eigentliche und begriffene Monotheis- mus niemals primitiv ist, und zweitens, dass er nicht nur eine »gewisse Abstraction von der Natur« voraussetzt, wie sich 0. Müller ausgedrückt hat, sondern auf der Abstraction von der Natur gradezu beruht, insofern er in der Erkenn tniss oder Annahme einer supranaturalen und transcen- denten Gottheit besteht.

Dieser eigentliche und begriffene Monotheismus findet sich unseres Wissens drei Mal in der Weltgeschichte : im MosaYsmus, im Christentum

U) N. Rhein. Mus. a. a. 0. S. 64 8. 4 5) Prolegomena S. 243f.

7] Beiträge zur Ekkknntniss und Kritik der Zeusreligion. 7

and im Islam; dass er im Islam und im Christentum nicht primitiv, sondern eine Reform sei, und auf Offenbarung, d. h. persönlicher Reli- gionsstiftung beruhe, braucht nicht bewiesen zu werden, dass aber Glei- ches für den MosaYsmus gelle, das wird, ganz abgesehn von allen Thal- sachen, welche über einen ältesten polytheistischen Nalurcult der Juden bekannt sind, schon durch die Form des Gesetzes erwiesen, in welchem sich der begriffene Monotheismus als solcher ausspricht: du sollt keine anderen Götter haben neben mir. Unter eben diesen Gesichtspunkt nun fällt Alles, was immer von Monotheismus und von einem »monotheisti- schen Zug« oder von monotheistischer Tendenz in der griechischen Reli- gion, in der Religion des Zeus während der Periode ihrer Gestaltung zuerst durch die nationale Poesie und dann in derjenigen durch die Philoso- phie vorhanden ist, wobei die Frage nach der Art und dem Grade dieses Monotheismus und seiner Begrifflichkeit und Begriffenheit, nach der Aus- dehnung und der Reinheit seiner Idee und der monotheistischen Ten- denz im Polytheismus einstweilen ganz bei Seite bleiben kann , und nur die von Welcker angenommene Verbindung dieses Monotheismus der Reform mit dem andern, nicht begriffenen oder angeblich primitiven als irrig abzuweisen ist. Dass der Monotheismus der Philosophie ein be- griffener, dass er das Resultat der Speculation und eines langen Lebens der Religion sei, ist natürlich ausser aller Frage und allem Zweifel, eben so natürlich auch dass er geschichtlich mit jenem angeblich primitiven, uneigentlichen und nicht begriffenen Monotheismus nicht zusammen- hangen könne; aber auch der Monotheismus oder die Offenbarung einer monotheistischen Tendenz im Polytheismus,16) welche in der Stellung des Zeus im Kreise des homerischen Göttersystems und an dessen Spitze oder über demselben man drücke sich aus wie man sich ausdrücken will und mag ist, so wie er ist ein begriffener, ist

16) So druckt die Sache wie schon oben S. 4 erwähnt ungleich zutreffender als durch das Wort Monotheismus nach 0. Müller' s (Proll. 245) und Nägelsbach's Vor- gänge Preller aus, Hythol. S. 85 (2. Aufl.), indem er zugleich diesem vernehmlichen Zug zum Monotheismus die Naturreligion entgegenstellt. Dagegen fSUt meiner Ein- sicht nach nicht allzu schwer in's Gewicht was Welcker, Götterl. I. S. 229 behauptet, weniger lasse sich denken , dass die Vorstellung von lebendigen Theilen (des All) zu der eines Alllebens, von Göttern zu Gott aufgestiegen sei. Grade dies Letztere ist die vorliegende Geschichte des mosaischen und islamischen Monotheismus, insofern im enteren der Stammgott Abrahams Isaaks und Jacobs, im bewußten Gegensatz zu den Göttern anderer Völker, zum alleinigen Gotte Himmels und der Erde gesteigert ist.

8 J. OVERBKCK, [8

das Resultat der wachsenden Bildung der Nation, die aus rohen Zustan- den als Jager, Hirten und Fischer zur Gesittung und zu geistigem Leben sich erhebend Welcker selbst in dem 41. Abschnitte seines Buchs (be- sonders S. 234 ff.) in meisterhaften Zügen schildert, und dieser Mono- theismus ist , wenn nicht die That einer religionsstiftenden Person oder einer Mehrheit solcher, die man in den allen Cultsangern suchen könnte, oder einer »bewusst und im heiligen Eifer thatigen religiösen Partei« deren Eingreifen Welcker (S. 237) als »denkbar« hinstellt (und das auch schwerlich mehr als dies ist17)), so doch ganz gewiss dasErgebniss der

47) Wenn man freilich die hier berührten Worte and die Sätze, zu denen sie ge- hören genauer betrachtet und damit vergleicht, dass Welcker den 41. Abschnitt seines Buch* eine Obersiebt über »das neue Systeme nennt, so könnte man auf den Gedanken kommen, Welcker erkenne in der homerischen Theologie, in dem »neuen System« eine direct religionsstiftende, oder eine bewusst reformatorische, oder soll ich sagen eine gleichsam prophetische Thätigkeit. Und doch darf von einer solchen bei Homer und in der homerischen, durchaus nicht religiösen oder auf religiöse Zwecke gerichteten Poesie ganz gewiss nicht die Rede sein, und von dem neuen System wird sich zeigen lassen, dass es als solches nicht aus einer einheitlichen, in sich zusammenhangenden und gleichzeitigen Geistesbewegung hervorgegangen, sondern das Resultat ist einer langen Folge an verschiedenen Orten ohne Zusammenbang unter einander aufgetretener histo- rischer Thatsachen, Stammeswanderungen, Cultaustausche, Hythencombinationen und Mythenerweiterungen in engster Verbindung mit der wachsenden, verschiedene Stadien durchlaufenden Sagenpoesie und niedergelegt in diese, gebunden an sie, mit der es endlich in die homerische Poesie aufging, wo es, nicht ohne dass starke Unebenheiten, Risse und Näthe übrig und sichtbar geblieben sind (ich will nur an die verschiedenen Zeusgattinen neben Here erinnern), endlich als ein aus bewusster Geisteslhat erwach- senes Ganze erscheinen mag, ohne gleichwohl das Ganze der Religion zu umfassen, ja ohne mit dieser, der Religion selbst sich auch nur zu decken. Und diese Thatsache, dass die homerische Theologie und die nachhomerische der Dichter und zum Theil der bildenden Künstler, keineswegs die griechische Religion sei, dass diese vielmehr im Ganzen (nicht In vielen Einzelheiten) unberührt von dem »Systemt in allen einzelnen Staaten und StSdten, Tempeln und sonstigen Coltstätten fortbestand, diese Thatsache, die Welcker selbst nicht verkennt noch verkennen kann, auf der vielmehr die grössten Theile seines Buchs in beiden Bänden beruhen (vergl. besonders den vortrefflichen Abschnitt »Homer« im S. Bande S. 64 ff.), scheint mir Welcker trotzdem und indem er von Homer als dem Centrum ausgeht und hinter die poetische Mythologie die des Col- tus und Glaubens in den Hintergrund schiebt, nicht in dem ganzen Umfange ihrer Be- deutung gewürdigt zu haben , da er sonst von den , immerhin in vielfach entstellter Gestalt auf uns gelangten Oberlieferungen dieser örtlich gebliebenen und doch eigent- lichen griechischen Religion nicht so verächtlich denken und reden konnte, wie er es io den Abschnitten %\ 14 seiner Götterlehre thut. Diese Abschnitte, in denen von den Tempellegenden, Sagen und Märchen gehandelt wird , unterscheiden sich in der Geringschätzung, mit der von diesen Oberlieferungen geredet wird, sehr eigenthümlich

9] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligio*. 9

Bildungsstufe , auf der wir das griechische Volk in den heroischen Ge- dichten finden, mit einem, um nur dies zu erwähnen, festgegliederten, uuter erblichem Königthum einheitlich zusammengefassten Staatswesen, einer Bildungsstufe, welche einen Cultus unklar personificirter Natur- geister überwunden hatte und überwunden haben musste, wie dies Welcker (S. 232 ff.) vortrefflich darthut und in dem Abschnitt über den Titanenkampf weiter begründet,18) einer Bildungsstufe, für die ein zer- flossener, zusammenhangsloser, ungegliederter Polytheismus grade so unmöglich, wie ein nach Massgabe und den Normen des irdischen Staa- tes aufgerichteter Götterstaat unter einem himmlischen Könige derselben natürlich entsprechend war.10) Also auch dieser Monotheismus oder diese Offenbarung eines monotheistischen Zugs im Polytheismus ist eine Reform , ist nicht primitiv und hat mit einem nicht eigentlichen , nicht begriffenen primitiven Monotheismus weder begrifflich noch historisch Zusammenhang. Dies meine eine These. Die andere ist die, dass aller eigentliche und begriffene Monotheismus auf der Abstraction von der Natur beruhe , insofern nämlich er die Erkenntniss oder Annahme einer supranataralen und transceudenten Gottheit voraussetzt. Auch diese These für den Islam und für das Christenthum zu beweisen ist über- flüssig und in Betreff des MosaYsmus wird Welcker leicht zustimmen, der , Götterlehre S. 9 , die arischen Völker als solche , deren Religion einen Bezug «zur Natur und zum Polytheismus« haben, den Se- miten entgegenstellt, aus denen Moses und die Propheten und ein

und wesentlich von der, vielleicht zu weit getriebenen, dennoch im Princip berechtigten Sorgfalt, mit der die Forschung auf dem Gebiete z. B. der nordischen und deutschen Mythologie die noch viel geringfügigeren und noch ungleich mehr entstellten Reste und Spuren des Alten in Sagen, Märchen, Sprichwörtern, einzelnen Gebräuchen und selbst im Aberglauben der Kinder und der alten Weiber aufsucht. Darin durfte auch der Schwerpunkt der in der letzten Zeit so vielfach zur Sprache gekommenen Diffe- renzen zwischen Welcker'» und 0. Müller's Methode zusucben sein.

18) Vergl. besonders Götterl. S. 266 den Satz: »diese (die Götter der Pelasger) waren nicht zu einer Gesellschaft vereinigt, sondern durch die Natur hin zerstreut wie die Völkerstämme, denen sie je nach der sie umgebenden Natur angehörten« u. s. w. und S. 232, wo die »Reform« mit dem Zeitalter der Heroen vor Theben und Troia in Zusammenhang gebracht wird , Beides ganz im Sinne meiner Auffassung. Im Grund- princip stimmt auch Nägelsbach, homer. Theologie S. 74. 92 und sonst überein, was er freilich in der Nachhom. Theol S. 1 00 ff. widerruft.

1 9 ) Vergl. Göttimg in s. Gesammelt. Abbandll. I. S. 4 S 4 f. (aus dem Hermes v . 1 8 27 ) und nach ihm Nügelsbach a. a. 0. S. 92 ff.

10 J. OVEKBKC*. [1°

Muhammed bervurgeha konnten; der im Rhein. Mus. u. a. 0. S. 418. Note 1 denselben L'rstamm (die Semiten) als solchen bezeichnet, der so wenig Sinn fllr die Natur halte, dass er Gott nur ultramontan (lies Lransmundan) setzte; der, Götterl. 1. S. 496 Jehovah von Zeus ver- möge des uranfanglichen Bezugs des Letzteren zurNatur als ■grundverschieden« bezeichnet, wenngleich er S. 197 das mosaische Schaffen gewiss mit Unrecht mit dem von ihm so genannten ■Schaffen« d. h. dem ehelichen Zeugen des Zeus für identisch erklart. Auch der Gott Mosis, des Psalmisten und der Propheten, mag er sich im feurigen Busch oder sonst in der Natur dem Menschenblicke mate- riell offenbaren, ist vermöge seines Schöpft] ngsacls durch den Willen und das Wort, vermöge seiner Nichtimmanenz in den Affectionen des Kosmos supranulural und transcendent. So wie wir aber in dem christ- lichen Gotte, der ein Geist ist und im Geiste angebetet werden will, dann in dem islamischen und drittens im mosaischen, der sich mensch- lichen Blicken in der Natur offenbart ohne gleichwohl in derselben aus- ser etwa in Resten früherer, wesentlich nicht monotheistischer An- schauungen immanent zu sein, d. h. in dieselbe aufzugehn, verschiedene Stufen in der klar erkannten Transcendenz wahrnehmen, so schliesst sich diesen als eine weitere und noch weniger als die mosaische klare Stufe die Transcendenz, der Supranaturalismus nicht etwa nur des Zeus, sondern aller Götter der reformirten griechischen Religion an,10} so sehr, dass ihre Genesis aus der Natur, über die Welcker so klar und erschöp- fend handelt,") bis auf den heutigen Tag von Solchen verkannt wird, die mit mehr Idealismus als Beobachtungsgabe ausgestaltet und die mehr speculativ als historisch und kritisch begabt sind.12) Steht nun vermöge des monotheistischen Zugs im Polytheismus und vermöge des- sen Organisation nach den Normen der heroischen Basileia Zeus au der ar und über ihnen, so muss sich eben deshalb das e und Transcendentale alles begriflenen Monotheismus

t dies so eindringlich gelehrt wie Welcker in dem schon ange- iner Göllerlebre; vergl. besonders wieder S. S66: >die neuen n der Ausseowelt, sondern im Gedanken begründet« u. s. w. 3. Hin*., vergl. besond. auch S. S34.

loch von nicht wenigen classiseben Philologen bemerk! Preller 0. S. 39 Note mit Hecht, so erslaunlich die Tbalsache im Grunde

H] Beitrage zun Erkenntniss ukd Kritik der Zecjsreligion. H

bei ihm am stärksten offenbaren , und wie sehr dies der Fall sei , dafür kann ich mich u. A. auf das berufen, was Welcker über Zeus und sein Walten im Gebiete der geistigen und politischen Interessen der Mensch- heit gesagt hat *3) Nun hat freilich Welcker den gleichen Supranatura- lismus bei Zeus als einen primitiven hingestellt und behauptet, eine Be- hauptung deren Richtigkeit weiterhin genau untersucht werden soll, und deren Unrichtigkeit ich zu erweisen hoffe , hier habe ich nur davon Act zu nehmen , dass Welcker den Monotheismus des Zeus , seine Stellung als Gott den Göttern gegenüber vermöge der von ihm angenommenen Transcendenz desselben statuirt, nicht vermöge der Immanenz in der Natur, sondern trotz dieser, von der er eine Verdunkelung seiner supra- naturalen Seite ableitet. u) Hiernach darf ich wohl annehmen, dass auch Welcker mit dem Inhalt meiner beiden Thesen in Betreff des eigentlichen und begriffenen Monotheismus , wenigstens mit der letzteren überein- stimmen wird, an der mir eben so viel liegt wie an der ersteren, ja des- halb noch mehr, weil, wie gesagt, Welcker selbst neuerdings den eigent- lichen und begriffenen Monotheismus als primitiven geopfert hat.

*

Wenden wir uns nun zu dem anderen Monotheismus, den Welcker diesem eigentlichen und begriffenen gegenüberstellt, und an dem allein er festhält, so bin ich zunächst in Verlegenheit, wie ich denselben be- zeichnen soll , ohne selbst den Schein auf mich zu laden , als wolle ich Welckern zu nahe treten. Doch glaube ich mit Berufung auf das Vor- stehende am besten an dem einigermassen neutralen Ausdruck »primi- tiver Monotheismus« festhalten zu dürfen. Von diesem primitiven Mono- theismus, »der von der Einheit ausgehend, durch die Vielheit der Per- sonen in den Naturmythen zwar beeinträchtigt und angefochten wird, der aber, weil er ein Erbtheil der Menschheit ist, immer wieder durch- dringt«, von diesem glaubt Welcker annehmen zu dürfen, dass er sich mit der Idee der Immanenz der Gottheit in der Natur vertrage , dass er sich als die primitive Religion auch der Natur werde fassen lassen. Er sagt in diesem Betreff im N. Rhein. Mus. a. a. 0. S. 61 7 f.: »so wenig aber die einzelnen Seelenkräfte im Bewusstsein früher unterschieden werden als das des einen Geistes erwacht und geübt ist, so wenig lässt

23) Götterlebre I. S. 177 ff.

24) Götterlebre S. 496: »und die supranalurale Seite seines Wesens musste sich leicht verdunkeln , weil er euch von der physischen aus zum Weltherrscher geeignet schien.«

12 J. OvKRBEf.K, [42

die erste Religion in ihrem Zug und ihren Äusserungen sich polytheistisch denken. Mit einem Einfachen, Einen, Ganzen hat es jede Ahnung, jeder erste Blick, jeder erste inhaltreiche Gedanke zu thun. Wie der Mensch sich als Einen empfindet so das All ihm gegenüber als Eines.» Und daselbst S. 619: »Die Natur hat im Allgemeinen mehr des Gemein- samen in ihrer Einwirkung auf den sie als göttlich anstaunenden Men- schengeist und in ihrer Bestimmung seiner Lebens weisen und Charakter- bildung als der Ungleichheiten.«

Diese Sätze muss ich denn freilich aufs allerernsleste bestreiten. Die stricte Bezugnahme in denselben auf die Natur, auf das All gegen- über dem Menschen überhebt mich der Nothwendigkeit auf die Fragen einzugehn, welche sich an Zervane Akerene der Zoroastrischen Religion und an dessen Primitivität25) sowie an dessen Verhältnis zu einer per- sönlich gedachten Gottheit knüpfen. Auch parallelisirt Welcker ja Zervane Akerene nicht mit Zeus, der ihm der Träger des primitiven Naturmono- theismus ist, sondern mit der Idee, die er in dem Kronos sucht nnd, wie ich zu zeigen hoffe, in der Formel Zeus Kronion gänzlich irrthümlich findet. Als das Einfache, Eine, Ganze, mit dem es nach W. jede Ah- nung, jeder erste Blick, jeder erste inhaltreiche Gedanke zu thun hat, haben wir also nicht die abstracto Idee des Zervane Akerene, sondern einen primitiven Monotheismus der Naturimmanenz zu betrachten, der den Menschen das All als Eines auffassen lässt, und dessen Träger für Welcker Zeus ist. Wie wenig nun aber Welcker den Gedanken festzu- halten im Stande ist , dass der Mensch wie sich als Einen , so d a s AU ihm gegenüber als Eines empfinde, zeigt der unmittelbare Fortgang des- selben Satzes S. 618: »und wie er in seinem Leibe einen Sitz de6 Gei- stes, von wo ans dieser wirke und walte, sucht, so ist es ihm natürlich auch im All einen Hauptsitz der göttlichen Macht zu finden, es sei in der Himmelshohe oder in der Sonne.« Denn offenbar verwech- selt Welcker hier zwei gänzlich heterogene Dinge mit einander: das All als Eines und einen Punkt i m All als den vornehmsten oder den Haupt- sitz der göttlichen Macht , einen Hauptsitz den er so concret fas6t wie den Himmel oder die Sonne. Ja , wenn man Welcker's Worte , die er, eben weil er (S. 617) seine Ideen nur im Kurzen andeutet, gewiss nicht

25) Gegenüber der Annahme Welcker's in Betreff der vorzoroastrischen Existenz des Zervane Akerene ist auf das zu verweisen , was PreUer in Jahns Jahrbb. a. a. O. S. 37 f. erinnert hat.

*3] Beiträge zir Erkenntmss ukd Kkitik der Zeusreligion. 13

ohne besonders genaue Überlegung niedergeschrieben hat, einigermassen genau wagt , so muss man finden , dass er mit ihnen die Schranke des Monotheismus bereits durchbrochen hat; denn ein Haupt sitz der gött- lichen Macht in einem Punkte oder Kreise oder Theil der Natur oder des All, des materiellen All, wie im Himmel oder in der Sonne, schliesst andere Sitze in anderen Kreisen oderTheilen nicht aus, sondern schliesst diese ein. Und so handelt es sich hier schon nicht mehr um einen Gott für das All, sondern um einen obersten und Hauptgott, und der Cultus dieses Hauptgotles ist begrifflich schon an und für sich kein Monotheis- mus , wahrend es sich weiter und in historischer Betrachtung nur um die Frage handelt, wann und wie bald neben dem Hauptsitze der gött- lichen Macht noch andere Sitze derselben in anderen Theilen des All und wie viele derselben erkannt werden, eine Frage, die einerseits von der Mannigfaltigkeit der Natur und der in ihr thötig und wirksam wer- denden Kräfte und andererseits von dem Grade der Naturempfonglich- keit, des Natursinnes des Individuums oder des Volkes abhangt,26) wel- ches die Sitze der göttlichen Macht in der Natur, d. h. nicht in der Materie, sondern in den Kräften der Natur,*7) weiche das Dasein des Menschen bedingen, sieht oder zu finden glaubt. Begrifflich ist also der Polytheismus schon da, sobald ein Hauptsitz der göttlichen Macht ange- nommen wird, und das ThatsSchlichwerden dieses Polytheismus in der Annahme anderer Sitze anderer göttlicher Machte ist nur eine Frage der Zeit. Nun aber muss ich weiter behaupten, dass man diese Zeit, jn wel- cher der begriffliche zum. tbatsächlichen Polytheismus der Naturreligion wird, keineswegs eine lange sein könne, sondern bei einem für die ver- schiedenen Kräfte und Eindrücke der Natur so leicht und lebhaft em- pfänglichen Volke wie die Griechen nur als eine ganz kurze, vielleicht unmessbar kurze oder = 0 zu setzen sei. Und damit wende ich mich zugleich gegen den zweiten der oben ausgezogenen Sätze Welcker's, in welchem er behauptet, die Natur habe im Allgemeinen mehr des Ge- meinsamen in ihrer Einwirkung auf den sie als göttlich anstaunenden Menschengeist und in ihrer Bestimmung seiner Lebensweisen und Cha-

26) Vergl. das in Betreff dieser Verhältnisse gar nicht unbrauchbare Schema Laoer's, System der griech. Mythol. S. 52 f.

27) Dies hat Welcker eben so vortrefflich entwickelt wie mit grosser Energie des Ausdrucks ausgesprochen Götterl. I. S. 216. Vergl. auch Preller gegen Lehrs, Jahn** Jahrbb. a. a. 0. S. 3 50 f.

\ i J. OVERBECK, [U

raklerbildung als der Ungleichheiten. Dieser Salz, behaupte ich, ist gleich falsch, mag man aus demselben einen primitiven Monotheismus ableiten wollen wie Welcker, oder einen primitiven Pantheismus wie Lauer, *") den Welcker anzieht29) um ihm zu widersprechen. Die Natur in ihren Kräften und den Äusserungen derselben in den Erscheinungen und in deren Einwirkung auf Lebensweise und Charakterbildung des Menschen ist vielmehr durchaus mannigfaltig und auch in den Hauptsachen un- gleich. Die Kräfte der Natur treten einzeln, successive in die Erschei- nung, Tag wechselt mit Nacht, Sommer mit Winter, das Tosen des Sturmes mit dem Lächeln des Sonnenscheins, erquickender, belebender, fruchtbarer Regen mit verdörrender, Pest bringender Hitze ; diese Kräfte und ihre Erscheinungen und Wirkungen heben einander auf, wenigstens scheinbar und für den einfachen Menschen wirklich, und wie sie im steten Wechsel begriffen sind, so scheinen sie im steten Kampfe mit einander zu liegen, wovon die Mythologie voll ist; die einzelnen Kräfte , und Theile des All sind von einander getrennt und unabhängig, so viele Einflüsse freundlicher bald, bald feindlicher Art unter denselben herüber und hinüber stattfinden und wahrgenommen werden mögen, Einflüsse und Beziehungen die ebenfalls in der Mythologie und zwar grade in dem was Welcker mit Recht Urmythen genannt bat, so Bedeutendes geschaffen haben.90) Aber für alle diese Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, Theile, Kräfte der Natur, des Alls, kann die Einheit und das gemeinsam Bedin- gende nimmer in der Natur, nimmer in irgend einem Theile der Natur, sondern nur in einer transcendenten Gottheit ausser und über der Natur gefunden werden. Sind ja doch auch in der griechischen Mythologie die Naturgötter nicht aus einer obersten und letzten Ursache abgeleitet, nicht einmal in dem fertigen homerischen System , sondern in grössere oder kleinere Kreise zusammengefasst von einander unabhängig und von ein- ander verschieden. Und nun vollends die Einwirkung der Natur auf den Menschen in der Bildung seiner Lebensweise und seines Charakters, in den Eindrücken, welche der Mensch von der Natur in seiner psychischen

28) System der griech. Mylhol. S. 50 f.

29) Gölterl. 1. S. 196.

30) »Beispiele sind die Ehe von Himmel und Erde oder von Zeus und Hera, manche uralte Genealogie wie Athene und Thelis, Töchter des Zeus, des Nereus, drei Brüder als drei Naturreiche, die Zwillinge Apollon und Artemis, das Tag um Tag Leben der Dioskuren« u. s. w, Welcker, Götter! . 4. S. 76.

45] Beiträge zun Erkenntniss und Khitik der Zel-sreligion. 15

nicht weniger als in seiner physischen Existenz empfängt, diese Ein- wirkungen die schon nach dem Wechsel der Jahreszeiten die verschie- denste Lebensweise bedingen, nicht minder nach dem Wechsel des Locals, diese Eindrücke, welche nach dem unausgesetzten Wechsel der Erscheinungen das Gemüth des Menschen bald mit Angst und Grauen und mit überwältigender Ehrfurcht, bald mit bewunderndem und hin- gegebenem Staunen, bald mit träumerischer Wehmuth und bald mit hei- terer Freude erfüllen, wie kann man von ihnen sagen, dass sie mehr des Gemeinsamen als der Ungleichheiten haben! Ich will diese Andeutungen nicht weiter ausführen und sie nicht specieller auf das Gebiet der Völker- Physiologie und der Völkerpsychologie in ihrem Zusammenhange mit dem Clima und der natürlichen Beschaffenheit der Wohnsitze verfolgen, denn das sind bekannte, aber freilich schwer wiegende Dinge, und das Angeführte genügt schon, um daraus den Schluss abzuleiten , dass die Form der Naturreligion weder ein Monotheismus noch ein Pantheismus sein kann , sondern einzig und allein ein Polytheismus , und zwar ein Polytheismus dessen beginnende Ausbildung auf einzelnen Punkten frü- her als auf anderen wir historisch so wenig weit hinauf verfolgen kön- nen, dass wir ihn getrost als einen primitiven ansprechen dürfen. Und für diesen Polytheismus ist es begrifflich ganz gleichgiltig , ob er aus hundert oder aus zehn oder aus zwei Gottheiten sich constituirt, etwa als den Vertretern des Geschlechtsdualismus, aus dessen Zeugungen alles Weitere, der materielle Kosmos und die in ihm lebenden und wal- tenden Naturgeister genealogisch abgeleitet werden, es ist gleichgiltig nach welcher Seite der Natur er zuerst und ob er allseitig oder vielseitig oder beschränkt ausgebildet ist, gleichgiltig, ob er vag und zerflossen ist, wie derjenige der Veden, oder mehr oder weniger gegliedert, in ein System gebracht wie der griechische; in keinem Falle geht er von der Einheit als der Alleinheit aus und in keinem Falle führt er zur Einheit, zum Monotheismus. Und auch da, wo er vermöge einer Reform im Fort- schritte der Zeit und der Cullur der Menschen sich aufs kunstvollste gliedert, wo er sich eine Spitze schafft in einem obersten, graduell höch- sten Gotte, der dadurch noch lange nicht als von den anderen Göttern, unter denen noch manche Rangstufen bestehn,31) specifisch verschieden

31) Als »engeren Ausschüsse der grossen olympischen Gottheiten bezeichnet Preller, Mythol. 8. Aufl. S. 4 nach Nägelsbach, Homerische Theologie S. \ «3, Nachhom. Tbeol. S. 135 mit Recht die Trias: Zeus, Apollon, Athene; auf diesen folgen bekannt-

16 J. OVERBECK, [16

ist, auch da sage ich, wo der Polytheismus sich eine Spitze schafft, wie der griechische in Zeus, dem homerischen Zeus, auch da bleibt er was er ist.

Und wenn man denn nun trotz dem Allen die Stufe der Naturreli- gion, welche den Gultus einem Theile der Natur anstatt ihrer vielen oder einem vorzugsweise zuwendet, Monotheismus nennen und diesen als primitiv von der Ausbildung des eigentlichen sogenannten Polytheismus sondern will , dann muss immer noch , und zwar mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass dieser nicht principielle, nicht begriffene Monotheismus , weit entfernt eine reinere Religion zu sein als der aus- gebildete Polytheismus, Nichts ist, als dessen Keim und Vorstufe, als die erste, einfache Bntwickelung eines Gewächses, das in reicher mor- phologischer Umgestaltung erst spater zur Entfaltung seines ganzen Organismus und zu seiner Blttthe gelangt; zur vollen Entfaltung seines Organismus in dem ausgebildeten Polytheismus und zu seiner Blttthe in dessen systematischer Zusammenfassung unter einer obersten Spitze als der Offenbarung des nicht mehr unbegriffenen, sondern des eigentlichen und begriffenen Monotheismus oder seines Triebes und Zuges.' Weit entfernt also den Übergang von jenem einzig und aliein in der Beschran- kung bestehenden primitiven Monotheismus zum ausgesprochenen Poly- theismus als das Resultat der Verwilderung der Sitten und der Bildung und als einen Rückschritt zu betrachten oder anzuerkennen, kann ich in demselben nur einen Fortschritt des Geistes finden, denselben Fort- schritt, in welchem sich der Geist des Knaben und des Jünglings, der die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit auffasst, gegenüber dem Geiste des Kindes befindet, das nur das Nächste und Auffallendste wahrnimmt und dem das All deswegen Eines ist, weil es ihm Nichts ist. Und wenn man die Sache so betrachtet wie ich glaube dass sie allein betrachtet werden

lieh wesentlich in der Stellung der Gerusie die olympischen Götter, alle übrigen haben nur die Stellung der freien Mannen in der Agora des heroischen Staates. So in dem poetisch nationalen System Homer*s ; an den weit Siteren Unterschied der Haupt- und Neben- oder Untergötter, wenngleich die Alten, wie Welcher, GÖtterl. 4. S. 676 f. lehrt, diesen Unterschied nicht ausdrücklich ausgesprochen haben, ist als an eine be- kannte und in sich wohl begründete Thatsache, die auch W. a. a. 0. S. 678 anerkennt und ausführt, auch nur zu erinnern. Im Übrigen darf auch noch auf das verwiesen werden, was über die Gliederung des Göttertbums und seine Rangstufen NSgelsbach, Homer. Theol. S. 95 ff. gut ausgeführt bat.

17] Beiträge zir Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 17

darr und kann, dann schwindet auch jeder Zusammenhang zwischen jenem primitiven Monotheismus und dem mehr oder weniger klar ge- fassten , begriffenen Monotheismus der Reform , der Reife der Nation, und dann wird man sich auch frei halten von jener abenteuerlichen Vorstellung eines höchstbegablen, mit reinerer Erkenntniss ausgestatte- ten Urzustandes der Menschheit, von dem alle fernere Eotwickelung nur Entartung wäre, von jenem unseligen Traume, der in Greuzer's und der Seinigen Geistern und Schriften Unheil und Unklarheit genug hervor- gebracht hat, um uns nur mit ungeheucheltem Schmerz sehn zu lassen, wie unsere neueste Forschung in ihren höchststehenden und bedeutend- sten Vertreter^ demselben wieder zuzuneigen Miene macht. Dann wird man auch einleuchtend finden, dass die Menschheit eine Kindheit gehabt hat, und dass die Religion so wenig wie die Sprache der Menschen während dieser Kindheit mit einem Höchsten und Vollkommensten begon- nen hat und begonnen haben kann, sondern dass gleichwie die Sprachen in Jahrtausende langer Entwickelung sich aus dem ersten Lallen zu ihrer Bluthe erhoben , ehe die uns bekannte Geschichte ihrer Entartung und Abschwächung beginnen konnte, so auch die Religionen aus kindi- scher und beschränkter Erkenntniss der Gottheit lange Zeiträume hin- durch zu ihrer eigentümlichen Höhe emporstiegen, ehe jene Rück- schritte eintreten konnten, von denen Welcker82) sagt, dass sie den Haupttheil der Geschichte aller Religionen ausmachen. Sprache und Religion gehn hier ganz parallel und verhalten sich auch in unserer Geschichtskenutniss gleichartig; die Geschichte der Entartung ist uns grösstentheils bekannt, und sie allein kann uns in der Hauptsache bekannt sein , weil erst mit der Vollendung der Sprachbildung das Geschichts- leben der Nationen, im engeren Sinne des Wortes wenigstens, beginnt ; aber dass dieser bekannten Geschichte eine unbekannte der aufstreben- den Entwickelung vorausliege, darüber täuscht sich wenigstens was die Sprache anlangt die Linguistik nicht,33) und darüber sollte sich was die Religion betrifft die mythologische und mythenphilosophische Forschung eben so wenig täuschen und wird sie sich nicht täuschen, wenn sie mit unbeirrtem historischem Blick den freilich nicht chronologisch zu be-

32) N. Rhein. Mus. a. a. 0. S. 628.

33) Noch ganz neuerdings hat dies Schleicher vortrefflich entwickelt in einem Aufsatz : Das Leben der Sprache und unser Sprachgefühl in Prutz Deutschem Museum 1861. No. 6.

Abhaodl. d. K. S. Cet. d.Wisi. X. 2

18 J. ÜVERBECK, [18

glimmenden, dennoch aber sichtbar genug vorliegenden geschichtlichen Thatsachen nachspürt.34)

Und hiermit wende auch ich diese Untersuchung, und zwar mit leichterem Herzen, dem historischen Boden zu, auf den uns Alles hin- drängt, und auf dem allein die Frage über den Monotheismus des Zeus als einer concrelen geschichtlichen Erscheinung entschieden werden kann. Hier, auf historischem Boden haben wir zu untersuchen, ob es einen, überhaupt einen Monotheismus des Zeus in Griechenland gegeben hat und welcher Art dieser, oder besser, welcher Art die Religion des Zeus war, ob sie den Gott als Gott den Göttern und der Natur gegen- über, oder als einen Gott neben und über den anderen Göttern in der Natur fasste, ob es eine »transcendentale Gottesidee des Zeus Kronion«, einen Zeus »als allbelebenden, weltbeherrschenden Allgeist« jemals gab, ob es wahr sei, was Welcker35) sagt: »die grösste Thatsache, wenn wir in das höchste griechische AI terthum zurttckgehn, ist die Idee Gottes als des höchsten Wesens verbunden mit einem Naturdienst,« und ob dies Monotheismus sei, ob die griechische Religion auf dieser Zwiespältigkeit des Geistes und der Natur, der Transcendenz und der Immanenz des Göttlichen beruhe, oder ob man vielmehr wird zugeben müssen, dass die Einheit des Göttlichen oder das allgemeine Gefühl des Göttlichen wie 0. Müller sich ausdrückte,86) welches allein die insita notitia ist, nicht weder Gölter was Welcker leugnet noch auch Gott, was er behauptet,37) in Griechenland in einer Vielheit der Erscheinungsformen, in eine Menge von ursprünglichen Naturgöttern gespalten auftritt, wahrend sie, die Einheit selbst sich in dem gemeinsamen Begriffe des Göttlichen und dieser sich in den Worten fadg und öal/uwv ausspricht, die alle einzel- nen Gottheiten des Polytheismus, ganz ohne Rücksicht auf ihre indivi-

34) Vergl. Welcker, Götterl. I. S. 6: »Die griechische Religion hat hinter der Zeit Homer's nicht blos den langen Zeitraum gehabt, der zur Entfaltung und Vereinbarung so mannigfaltiger und sinnreicher Bildungen bis zu diesem alle anderen Mythologien weit überragenden Grade der Vollendung und des geistreich freien Spiels der PoSsie vorausgesetzt werden muss, sondern noch einen anderen, in welchem ein von dem zu Tage liegenden Zustande der Bildung ganz verschiedener, eine andere Art der Auffas- sung der Welt und der Gottheit, andere Richtungen und Bedürfnisse des Geistes in Vorstellung und Gultus herrschend waren.«

35) Götterl. I. S. 129.

36) Prolegomena S. 243.

37) Götterl. t. S. 22 9.

49] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 19

duellen Namen und Functionen gleicherweise bezeichnen.38) Und sowie wir diesen historischen Boden betreten finden wir ans auch mit Wel- cker wiederum in vielen Beziehungen in grösserem Einklang, während wir freilich in der Lage sind , ihn mit seinen eigenen Waffen und Wor- ten zu bekämpfen wo er über diese Beziehungen hinausgeht.

Vor allen Dingen nehmen wir nun davon Act, dass Welcker selbst auf griechischem Boden keinen Monotheismus , sondern einen uraltesten Polytheismus annimmt, so alt wie die Existenz eines griechischen Volkes.

Am unbedingtesten geschieht das im Rhein. Mus. a. a. 0. S. 626, wo Welcker sagt, dass zu der Behauptung des Hrn. Dr. H.D. Müller, auch nach ihm habe der Polytheismus erst in Griechenland sich ausgebildet, »in dem Buche selbst nicht mit einem Worte Veranlassung gegeben« sei. Inwiefern dieser überaus entschiedene Ausdruck ganz berechtigt sei, da die Behauptung eines »anfänglich monotheistischen Charakters der Religion, die transcendentale Gottesidee des Zeus Kronion« (S. 1 80), die doch nur griechische Verhaltnisse angehn kann, da Zeus Kronion nicht vorgriechiscb ist, wenigstens leicht misverstanden werden konnte, mag dahingestellt bleiben, das, worauf es hier vor Allem, ja ganz allein an- kommt, ist dass Welcker den Polytheismus für so alt erklart wie das griechische Volk auf dem Boden Griechenlands. Und diese Erklärung in seiner Antikritik steht keineswegs allein, wenngleich sie die Sache am unumwundensten ausspricht, auch in der Götterlehre selbst fehlt es nicht an Stellen , die sich rfur auf einen urallen Polytheismus beziehn lassen, so die schon angeführten Worte (S. 1 29) : »die grösste Thatsache, wenn wir in das höchste griechische AI terthum zurückgehe ist die Idee Gottes als des höchsten Wesens, verbunden mit einem Naturdienst,« so fer- ner was wir S. \ 6 finden : »bei dem Sonderleben in Gauen war jede Volksgemeinde eine Welt für sich mit ihrem eigenen Gott ausser Zeus und etwa einem Fluss oder Nymphen dazu.« Die An- nahme eines eigenen Gottes neben Zeus und ausserdem des Flussgottes und der Nymphen darf freilich wohl nicht urgirt werden und durfte schwer oder unmöglich zu erweisen sein; aber darauf kommt es nicht an, sondern auf den auch hier deutlich ausgesprochenen Polytheismus.

38) Will man diese in eine Vielheit von NatargÖUern gespaltene Idee der Gottheit oder des Göttlichen mit Schelling, Philos. d. Mythologie S. 91 einen »auseinanderge- gangenen Monotheismus« nennen, so habe ich hiergegen im Grunde nur einzuwenden, dass ich nicht einsehe, was mit diesem nicht eben klaren Ausdruck gewonnen wird.

2#

20 J. OVERBECK, 1^0

Wichtig ist ferner was wir S. 31 lesen: »von keinem der Hauptgötter kann gesagt werden, dass er nicht auch pelasgisch oder in der pelasgi- schen Zeit irgendwo verehrt gewesen sei,« denn Pelasgisch ist für Wel- cker Urhellenisch und über die Pelasger hinaus hört alle geschichtliche Forschung auf griechischem Boden, deren Grenze so Mancher schon diesseit derselben ziehn wollte , unbedingt auf, und was als Pelasgisch anerkannt wird, das bezeichnet die Urzustände des Hellenenthums. Also nicht nur der eine und der andere Gott neben Zeus constituirt den primitiven Polytheismus des griechischen Volks auf griechischem Boden, sondern derselbe erstreckt sich auf alle Hauptgötter, wenngleich diese noch nicht irgendwie in ein Ganzes vereinigt oder alle von allen Stäm- men verehrt wurden.39)

Also die urgriechische Religion ist der Polytheismus ; aber damit ist nicht genug gesagt, nicht nur auf griechischem Boden tritt der Poly- theismus als primitiv in die Geschichte, wir können vielmehr die Frage Preller's40) »ist es wirklich der Fall, dass die Griechen wie alle übrigen zu dem indogermanischen Sprachstamme gehörigen Nationen, ein ge- wisses Capital polytheistischer und mythologischer Ideen aus der älte- sten Zeit ihres Zusammenlebens mit den verwandten Völkern schon nach Griechenland mitgebracht haben« auch in Welcker's Sinne getrost mit Ja beantworten. Denn so unbegreiflich spröde sich auchWelcker (S. 48) über die Namenserklärung »aus dem Indischen« ausspricht, so unbedingt er wie absichtlich die Augen vor den einleuchtend richtigen Erklärungen vieler Götternamen nicht aus dem Indischen , sondern aus dem indo- germanischen Urstamm der Sprache verschliesst, die wir der Linguistik verdanken und die z.B. ein Mann wie Preller, wenn auch mit höchlich anzuerkennender Vorsicht und Kritik adoptirt hat: einige Ableitungen hat auch Welcker (S. 12) anzuerkennen nicht umhin gekonnt, und S. 9 hat er, was viel entscheidender ist , anerkannt: »die Religionen dieser (arischen) Völkerfamilie haben eine allgemeine Obereinstimmung in ihrem Bezüge zur Natur und zum Polytheismus, wodurch sie sich stark

39) Gegen eine solche Vorstellung und für die gewiss und nachweislich allein richtige, dass der populäre Polytheismus in seinem ganzen Bestände erst das Resultat der Stammmischungen und des Cultusaustausches sei spricht sich Welcker klar und entschieden eben in diesem Abschnitt (7) und in dem früheren (5) «VielstBmmigkeil« überschriebenen aus.

40) Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 39.

34] Beitrage zcr Erkenntniss ukd Kritik der Zeusreligion. 21

von den Semiten unterscheiden,« [?] und daselbsl weiterhin : »Auch in der Mythologie wird das Gemeinsame in Hauptsachen und besonders auch in charakteristischen NebenzUgen immer reiner und bedeutender hervortreten , je mehr man sich auf das Einleuchtende und Erweisliche beschränkt.« Gewiss! Zu den Hauptsachen aber gehört der bei allen diesen Volkern, soweit unsere Forschung dringt primitive Polytheismus; und eben dahin rechnet auch Welcker S. 12, wenn ich ihn nicht mis- verslehe: »die aus der Urheimat mitgebrachten verdunkelten Sagen und Vorstellungen von einer allgemeinen Flulh , von einem Götterberg, von Weltallern u. s.w., manche gemeinsame Thiersymbole« u. s.w. Einen wie ausgebildeten , ja eigentlich schon gegliederten Polytheismus dies, namentlich der Urolymp als gemeinsame Götlerwohnung aber voraus- setze oder einschliesse, brauche ich doch wohl nicht erst auseinander- zusetzen. Und so rückt der primitive Monotheismus auch historisch vom griechischen Boden auf den der arischen Urheimat und von diesem immer weiter und immer weiter hinaus, bis er sich zu einem blossen Axiom verflüchtigt , das nun aber nicht mehr zu einer tieferen Erklärung der Thatsachen der griechischen Religion dienen kann , wohl aber zu deren schiefer Beleuchtung Denn eine solche scheint es mir zu sein, wenn Welcker diesem axiomatischen Monotheismus zu Liebe die griechische Religion wie sie sich uns in ihren ältesten erkennbaren Zuständen zeigt, als einen Abfall von der grossen Idee, und als eine Entartung, bedingt durch die Verwilderung der Sitten und der Bildung darstellt, und wenn er den sich im homerischen Göttersyslem offenbarenden bewussten monotheistischen Zug als eine »Wiederaufrichtung* des nur als eine Tradition aus dem axiomatischen primitiven, d. h. uneigentlichen und nicht begriffenen Monotheismus, dieses »Erbtheils der Menschheit« schil- dert.

Doch genug dieser allgemeinen Betrach Lungen, in die ich wahrlich nicht eingetreten wäre, wenn mich nicht Welcker's Beweisführung dazu gezwungen hätte, und zwar deshalb nicht, weil durch sie an und für sich über das Wesen der Zeusreligion und über deren Verhältniss zum Naturdienst, ausser- und oberhalb oder innerhalb desselben letzthin nicht entschieden werden kann. Der Frage über den Charakter der Zeusreli- gion als einer concreten historischen Thatsache ist nun direct und auf anderem Wege nahe zu treten.

22 J. OvERBBCK, [2*

Wir haben mit dem Namen des Zeus zu beginnen.

»An der fernsten Grenze des griechischen Alterthums treten uns die Wörter &eog und datfiwv und die Namen Zevg und Kqoviwv ent- gegen: etwas Alleres giebt es für uns in der griechischen Religion nicht.« So beginnt Welcker, Götterlehre 1. S. 129 den Abschnitt seines Werkes, dessen Aufgabe es ist, darzuthun, dass Zevg und &eog derselben Wurzel und desselben Begriffs und dass Zevg aus &eog »durch die Individual- form gesteigert« (S. 133) »als Gott, von Anbeginn als persönlich gegen- über der Welt« (a. a. 0.) zu fassen sei. Gleich hier muss ich, um ferne- rer Consequenzen willen , Einspruch erheben. Allerdings ist über den Namen des Zeus hinaus Älteres für uns im griechischen Alterthum nicht erforschbar, womit aber noch nicht ausgesprochen ist, dass Anderes, dass anderer Götter Namen jünger sein müssen ; auch die Wörter &eog und daifimv treten für unsere Erkenntniss als Urworte auf, und zwar als Bezeichnungen alles Göttlichen, jeder Gottheit schlechthin, wobei die Einheit oder Vielheit dieses Göttlichen, der Gottheit oder der Gottheiten gänzlich unberührt bleibt. Dass aber auch Kqovlwv ein solches Urwort sei, dies bestreite ich, so feierlich es Welcker wiederholt41) behauptet, auf das entschiedenste. Ich hoffe zu beweisen, dass es den Zeus nur als Sohn des Kronos, eines persönlichen Kronos (nicht Chronos) be- zeichne, dass es ihn als einen Geborenen darstelle, ihn, der in den älte- sten Gülten entweder ausdrücklich als von Ewigkeit her gewesen be- zeichnet wird,42) oder von dessen Geburt, Geboren- also Endlichsein vor dem Eintritt des kretischen Mythus niemals die Rede ist.43) Aber eben so wenig ist in irgend einem der ältesten Culte auch nur zufällig von Eronion die Rede, selbst nicht im Gebete des Achill (II. 16. 233) bei Homer, dem doch die Formel Zeus Kronion so gar geläufig ist. Ich behaupte also, um über meine weiterhin genauer zu begründende An- sicht keinen Zweifel zu lassen, schon hier, dass Kronion sich in keiner

41) Götterl. \. S. MS.

42) Bekanntlich im dodon&ischen Peleiadenhymnus bei Pausan. 10. IS. 5:

Zevg rjv, Zivg iori, Zevg eaatrat.

43) Das relativ geringe Alter aller Gebarte- und Kindheitssagen des Zeus be- hauptet und bespricht Welcker, Götlerlehre 2. S. 234 ff. ganz auch meiner Überzeu- gung gemäss.

33] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 23

älteren Quelle findet, als bei Homer und in denen von Homer abwärts, denen der kretische Mythus geläufig, denen Zeus ein Geborener ist, ein jüngerer Herrscher in einem neuen Reiche nach der Herrschaft eines alteren in einem von Zeus gestürzten Titanenreiche, und dass folglich Zeus Kronion aus dem kretischen Geburtsmythus stammt.

»Hiernach (nämlich nach dem Inhalte des oben ausgezogenen Satzes) fährt Welcker a. a. 0., fort, waren von Anbeginn Gott und Götter diesen Völkern (wenn auch nicht allgemein) als himmlische und geistige, Zeus als der ewige Himmelsgott, im Gegensatze alles Gewordenen, Sichtbaren bewusst.« Zeus als der ewige Himmelsgott beruht für Welcker auf der Formel Zevg KqovI(ov9 die, von Kronos-Chronos abgeleitet, den »Sohn der ewigen Zeit« d. h. den Golt von Ewigkeit her bezeichnen soll.44) Dass ich dies bestreite ist bemerkt. Was aber die Idee selbst anlangt, so könnte sie dennoch richtig sein, und sie ist's auch in gewissem Sinne, sofern Zeus in seinen ältesten Gülten als gewesen, seiend und sein wer- dend oder wenigstens nicht als geboren oder geworden genannt wird; Letzteres aber ist nicht bei ihm allein der Fall, auch bei den anderen Göltern , selbst bei denen , die nachher im nationalen System als Zeus9 Kinder erscheinen, um von den Urmächten, Gäa, Okeanos, Helios u. A. nicht zu reden ; auch bei diesen ist in den ältesten Gülten von keinem Geborensein die Rede, und noch für Homer sind die Götter &eoi aeiy^v^ ra*;45) die Eltern, die Genealogien sind in allen Fällen jünger als die Götter, wie dies auch logisch gar nicht anders sein kann, da der Gott als Gegenstand des Cultus doch erst an sich da sein musste, ehe man ihm Eltern geben und durch die Genealogie aufwärts seine Würde er- höhen konnte, wie Welcker sich einmal gut ausdrückt.46) Nicht also bei Zeus allein ist dies Nichtgeborensein, diese Anfangslosigkeit charakteri-

44) Götterl. I. S. 140 f.

45) H. t. 400. Wenn Welcker Götterl. i . S. 4 84 dies und andere Prädicate »von Zeus auf die Götter übertragen« nennt, so ist dies ein Axi om auf das ich zurückkom- men muss.

46) Götteri. 4. S. 4 52. Dasselbe hat auch Buttmann, Mythol. 2. 48 eingesehn, M-enn er sagt: »der oberste Gott jeder Nation ist ein wahrer, d. h. ein Erfahrungsgott; der Vater sowohl wie der Grossvater, den die Mythologie ihm giebt, sind philosophi- sche, ergrübette Götter«, nur dass die Bezugnahme auf den obersten Gott allein , die hier durch den Zusammenhang gegeben war , unstreitig die Sache zu eng fasst. Jeder an und für sich verehrte Gott ist ein wahrer, d. h. ein Erfahrungsgott, sonst wäre er eben gar nicht.

24 J. OVERBBCK, [24

stisch, sondern sie ist ein Prädicat des Göttlichen, aller Gottheit Über- haupt gegenüber der Endlichkeit des Menschlichen. Und grade so wie alle anderen Götter einzeln und nach und nach als geboren gefasst werden, nicht um sie dadurch in ihrem Wesen zu beschränken oder in dem Bewusstsein, dass dieses wirklich geschehn, sondern um ihre Würde zu erhöhen, indem man ihnen in der Zeit des lebhaft erwachten Ahnenstolzes der adeligen Geschlechter hochadelige Ahnen gab , Eltern erfand und dichtete, grade so, nicht anders, und im Zusammenhange mit eben diesem Triebe 9 mit eben dieser genealogischen und theogoni- sehen Umdichtung ist auch Zeus zum Geborenen geworden, ist ihm ein Elternpaar gesucht und gedichtet worden, wie dies Motiv Niemand kla- rer ausgesprochen hat als Welcker selbst. 47) Fassten also hiernach die Griechen von allem Anfang an ihre Götter, die Gottheit als ewig, so zeigt andererseits das Wort daifitov, das ebenfalls wieder, so weit unsere Forschung zu dringen vermag ein allgemeines Prädicat des Göttlichen, aller Gottheit ist, dass sie ihre Götter als Wissende, als Geister,48) Geister der Natur fassten, welche sie, wie Welcker (S. 216) darthut, nicht als Materie, als blosse Erscheinungen, als die todte Natur angebetet haben, sondern in der ihnen die bewegenden, die Erscheinungen und das menschliche Dasein bedingenden Kräfte als göttlich, als lebendig, geistig erschienen, diese Kräfte, die sie als persönlich fassen nach dem unaus- weichlichen Gesetze notwendiger Personification,49) dass wir Kraft überhaupt nicht unpersönlich denken und fassen oder wenigstens vor- stellen können, sondern sie, wofern wir uns nicht mit dem blossen Worte begnügen, auf einen Willen, also eine Person, Gott zurückführen müssen, was wir auch nicht weniger, wenn auch anders (hun, als es die alten Heiden und alle Naturreligionen thaten, nur dass diesen die Idee der Transcendenz und des Supranaturalismus Gottes abging, welche die

47) Götter!. 4. S. 149: »Zu einer Zeit, wo etwa Apollon's oder anderer Götter Geburls fest als das heiligste gefeiert wurde, durfte der Mythus sich nicht scheuen, auch den Kronos im eigentlichen Sinne als Vater zu fassen« u. s. w.

48) Welcker, Götter]. I. S. 4 38 f. Preller, Mythol. 2. Aufl. S. 87.

49) Die Naturreligion schafft nicht blos leicht antbropomorphische Bilder göttlicher Wesen oder Kräfte, wie Welcker Götter!. 1. S. 231 sagt, sondern sie muss sie schaffen, menschengestaltige und menschenartige , weil man im Bilde der Gottheit nicht hinab- steigen kann und des Menschen höchstes Denken der Mensch ist. Dass Gott in der Mosaischen Urkunde den Menschen nach seinem Bilde schafft kehrt die Sache nur scheinbar und dem Ausdrucke nach um.

25] Beitrags zur Erkenntniss und Kritik der Zkisreligiok. 25

Einheit bedingt. Ewige Geister der Naturkräfte also waren die griechi- schen Götter, ob sie auch »himmlische« waren, wie Welcker meint, das hangt von der sprachlichen Erklärung von fadg und von dessen Ver- hältniss zu Zevg ab. Welcker hat die gewichtigsten linguistischen Zeu- gen für die Erklärung von Zeus als dyaus von /div also für Zeus als den Gott des leuchtenden Himmels und Tür die Ableitung von fcög aus derselben Wurzel theils angeführt,50) theils ausgezogen.51) Das Erstere, die Erklärung des Zeusnamens ist unbestritten und scheint unbestritten bleiben zu sollen ; gegen das Letztere, die Ableitung von &eog aus der- selben Wurzel hat Georg Curtius0-) Widerspruch erhoben. So Triftiges mir nun seine Gründe auch zu enthalten scheinen werde ich mich wohl hüten, mich in diesen Streit der Linguisten zu mischen oder in demsel- ben Partei zu ergreifen;55) auch wird dies zu meinem Zwecke nicht nöthig sein , da ich nicht die Natur des Göttlichen schlechthin in der griechischen Urreligion zu untersuchen mir vorgesetzt habe , da es mir daher gleichgiltig sein kann, ob die Götter ausser als ewige Geister auch noch als »die Angebeteten«54) oder als »die Himmlischen« bezeichnet werden. Das worauf es mir ankommt ist die Natur des Zeus ; dass er der Himmlische sei steht fest, dass aber Zeus und &edg nicht so iden- tificirt werden dürfen oder so promiscue gebraucht worden sind, wie dies Welcker mit grossem Nachdruck lehrt , das lässt sich , auch abge- sehn von allen etwaigen linguistischen Differenzen , wie ich denke aus anderen Gründen erweisen.

»Von der höchsten Wichtigkeit nun ist es, sagt Welcker (S. 1 32 f.), dass von dem Appellativum &eds, &eol durch die Form der Name des einen, bestimmten Ztvo, unterschieden wird, welcher die Bedeutung des Wortes in sich schliesst, aber dadurch, dass er durch die Form von den Göttern geschieden und eine Persönlichkeit ist, als Gott der Götter,

50) Götterl. 4. S. 134 Note 4.

54) Daselbst S. 430 ff.

52) Grundzüge der griechischen Etymologie 4. S. SSO, vergl. S. SOS.

53) Preller beobachtet, Curtius anführend, Mythol. 2. Aufl. S. 87 dieselbe Zurück- haltung, und wenn man sich erinnert, wie vornehm die Herren Linguisten uns arme Philologen gelegentlich behandeln, so muss dies sehr natürlich erscheinen; unsere Selbständigkeit der Linguistik gegenüber opfern wir damit nicht und wollen wir nicht opfern.

54) DÖderlein bei Curtius a. a. 0.

26 J. OVERBECK, [26

ihnen, welche durch ihre besonderen Eigennamen besondere Kräfte, Eigenschaften , Wesen ausdrücken , gegenübergestellt wird , also nicht ein Gott unter den Göttern, sondern auch vorzugsweise oder überhaupt Gott, die Gottheit ist. Dass von Alters her Zeus wenigstens im Allge- meinen in diesem seinem höheren und absoluten Sinn aufgefasst worden sei, geht in der That aus seinem von den Göttern der Mehrheit ihn un- terscheidenden, und doch Gott bedeutenden Namen hervor« Gott bedeutenden Namen? Dies ist entschieden unrichtig; Zeus: dyaus bedeutet nicht Gott, sondern Himmelsgott, Himmel, Glanz als Gott, und eben so sollen ja die &tol, wenn Curtius nicht Recht haben sollte, nicht »die Götter«, sondern «die Himmlischen, die Glänzenden« sein. Der Über- gang der Bedeutungen Himmel und Gott in einander, von dem Welcker (S. 1 30) redet, ist unbestritten, aber er muss hier nur richtig angewen- det werden. Wenn wir »Himmel« für »Gott« sagen , so tibertragen wir, abgesehn davon, wie starken Antheil an der Sache eine gewisse euphe- mistische Scheu hat, die Idee des Göttlichen auf das Himmlische ; wenn aber Zeus und fcog aus einer /div kommen, so bezeichnet diese nicht zunächst das Göttliche (wie unser Gott von gut55)), sondern es bezeich- net zunächst das Himmlische , Leuchtende ; die Alten also übertrugen grade umgekehrt das Himmlische auf die Idee der Gottheit, sie nannten die Gottheit »himmlisch«, der Himmel, der Glanz war ihnen das Primi- tive, aus dem sich die Idee des Göttlichen erst entwickelte oder mit dem das Göttliche designirt, sinnlich -geistig genannt wurde.06) Also

55) Grimm, Geschichte der deutschen Sprache S. 541.

56) Vollkommen bestätigt dies was Welcker S. 4 35 aus Max Möller's Darstellung mittheilt : »wir sehn , dass sie [die Arier] bevor ihre Trennung statthatte einen Namen für einen Gott [wohlgemerkt nicht für Gott, die Gottheit] hatten, welcher den Glanz der Sonne, Himmel und Tagslicht ausdruckt« und das. »es war ein gluck- licher Wurf der Sprache, das ahnungsvolle Gefühl des Daseins einer göttlichen Macht durch ein Wort auszudrücken, welches Licht bedeutet.« Und gleicherweise stimmt hiermit die a. a. 0. in der Note 47 mitgetheilte Ansicht von Max Schmidt: »dass Jupiter

der Tages-, Himmels-, Sonnengott sei ; denn die Spuren der waltenden Gottheit,

die sich in der ganzen Natur offenbaren, vermochte der Mensch nicht sofort unter einem Begriff zusammenzufassen ; vielmehr glaubte er zu jeder Erscheinung der Natur ein besonderes Wesen annehmen zu müssen , das jene Erscheinung hervorbringe, den Tag, den Himmel, die Sonne natürlich als die oberste, höchste Gottheit, weil diese Natorkraft die gewaltigste unter allen zu sein schien.« Das trifft denn freilich den Nagel genau auf den Kopf! Auch Hr. Dr. H. D. Müller hat diesen Punkt im Philologus a. a. 0. S. 554 durchaus richtig beleuchtet, und Welcker hat ihm hierauf Nichts geantwortet.

27] Beiträge zua Emcbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 27

nicht »das Wesen der Götter, Geist, UnvergttnglichkeiU wird in Zeas' Individualnamen gesteigert, wie Welcker S. \ 33 sagt, sondern der Göt- ter Wesen: himmlisch, leuchtend; und daraus folgt nicht ein alleiniger Gott über dem All, oder ein dem sichlbaren All entgegengestellter, wie Welcker meint, sondern es folgt daraus ein specifisch himmlischer, Him- melsgott, ein mehr als die anderen Götter himmlischer, glänzender, ein höchster und vornehmster Gott, aber dennoch nur ein Gott neben Göt- tern, ein primus inter pfares, was denn Zeus auch durch eine weite, fast durch die ganze Entwickelung hin bleibt.

So wenig aber Zeus seinem Namen und dessen primitiver Bedeu- tung nach der Gott über den Göttern der Natur, der alleinige Gott ist, eben so wenig ist das richtig, was Welcker über Gleichsetzung von Ztvg und &cög gesagt hat.*7) Gleich auf derselben Seite 133 lesen wir: »es lässt sich daher im grammatischen Sinne verstehn was wir im Etym. M. lesen Zeiig, 6 &eds p. 408. 52;« lässt sich, ja, wenn wir dem Gram- matiker Welcker' sehe Einsicht auf Grund Welcker'scher Hypothese zu- trauen wollen; aber irren werden wir dabei jedenfalls, da der ehrsame Lexikograph an gar nichts Anderes gedacht hat, als zu sagen : Zeus, der bekannte Gott, nämlich der, dessen Namen Kornutos so und so, Andere anders ableiten, wie es im Fortgange des Artikels heisst , grade so wie wir bei demselben p. 24. 54 lesen ^{hjvaia, ij &e6g9 und p. 434. 44 ~H()a, tj &€og u. s. w. was natürlich nicht anders zu verstehn ist als p. 604. 40: Nt]Q€VQ> 6 &ccXao(uog daifimv und Ahnliches, was sich bei allen Götternamen wiederholen würde, wenn nicht der Grammatiker meistens gleich zu Anfang durch orthographische und sonstige Quis- quilien von der Erklärung abgehalten würde.58)

Aber nicht allein von diesem späten Sprachgebrauche lässt sich behaupten, oder muss bestimmt behauptet werden, dass er keineswegs nach Welcker' s Annahme Zeug und &eog gleich setzt, auch in Beziehung auf den früheren und frühesten von Homer an abwärts hat Welcker Glei- ches mit Unrecht angenommen. Auf S. 1 80 seiner Götterlehre, wo wir dem anfänglich monotheistischen Charakter der Religion und der tran-

57) Dass Preller, Mythol. 2. Aufl. S. 85 dies ohne Bedenken befolgt nimmt mich Wunder.

58) Yergl. z.B. p. 277. 35: Jiowaog' ol fup äibvv\ov ovtop 6vo(aoCov<hp und wieder p. 280. 5 dubwooq* xcct ixraotv x. r. A. p. 376. 20 'Epfifjg' nugii rb igdi ro Xt'yat. und so fort.

28 J. OvERBECK, [«8

scendentalen Gottesidee des Zeus Kronion wiederbegegnen, bat Welcker eine Anzahl homerischer und nachhomerischer Dichterstellen ausgeho- ben, durch welche er glaubt beweisen zu können, »dass schon bei Homer Zeus zuweilen gleichbedeutend mit &eog, &eiop9 neben &eog oder damit abwechselnd gebraucht ist, so wie später &eög oder &eol gesagt wird.« Es ist nöthig, diese Stellen, die Welcker doch sicherlich nicht aufs Gerathewohl zum Nachweis des homerischen Gebrauchs von &eog aus dem Damm'schen Wörterbuche, das er S. 181 citirt, herausgegriffen hat, im Einzelnen näher zu betrachten. Die erste II. 13. 730:

aAXco fiiv yaQ edwxe &eög noXe/UTjia tyya, aXko <F iv avq&eooi n&el voov evQvona Zeig. will ich als zweifelhaft gelten lassen; sie beweist nicht, dass in ihr #eo£ und Zeus gleichbedeutend oder parallel stehn , da auch &eog ng ver- standen werden kann, obwohl nicht muss ; sie ist nach den übrigen zu beurteilen. Die zweite II. 19. 86 ff. geht Zeus gar nicht an, wie es aus Welcker' s Anführung scheinen könnte, der mit vs. 90 abbricht, während vs. 91 zeigt, dass der vs. 90 genannte &eog die Ate sei:

&eog dia navra rekevra nqeaßa dibg &vydtt]Q "At^, rj navrag äärcu. In der dritten, Od. 4. 236

araQ &eog äXXor tri aXk(p Zevg äya&ov re xaxov re dtdot, steht Zevg in Apposition zu &eog grade wie &ea yXavxwTtig sJ&rjvt] oder noch genauer und zwar ganz genau so wie Od. 1 9. 396 :

&eog de ol avrog edwxev, 'Eqfieiag. In der vierten, Od. 14. 440:

qi& ovrwg Evfjuue9 (pikog Alt naxql yevoio mit der Antwort : &eog de ro fdv dtooei, ro d* idaei ist das &eög sicher nicht Zeus, sondern: ein Gott , jeglicher Gott; und dass in der fünften, Od. 3. 231 ebenfalls so verslanden werden muss, wie Voss auch rich- tig einsah oder fühlte als er »ein Gott« übersetzte, dies geht um so sicherer daraus hervor, dass vorher v. 228, auf welchen sich der an- gezogene Vers als Antwort bezieht, die &eo$9 nicht Zeus genannt sind:

ovx av efioiye iknofidvq) yevoir, ovo* ei &eoi äg e&Houv

231 : Q€ia &eog yi&e'X&v %ai Ttjko&ep avÖQa occwoai

29] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zbusreligion. 29

Sowie in dieser letzten Stelle in faög ein Bezug auf Zeus angenommen ist, ohne dass von diesem überhaupt die Rede war, so ist auf der- selben Seile weiterhin gesagt, was ich schon oben berührt habe, »dass Prädicate von Zeus auf die Götter übertragen sind , wie fcol navra Övvuvtcu oder ioaoiv (Od. 10, 309, 4. 376), ötoi äiiyeverai (II. 2. 400 vgl. 2. 400, 3. 296, Od. 23. 81 u. sonst) , als ob Zeus und die Götter eins wären, wie Gott durch den Plural Elohim ausgedrückt wird.« Hier fehlt aber wie ich wiederholen muss jeder Schatten eines Be- weises für diese angebliche Übertragung, und ich kann nicht umhin zu glauben, dass nur die Voreingenommenheit für seinen transcendentalen Zeus Kronion Welckern veranlassen konnte, Prädicate des Göttlichen überhaupt als von Zeus auf die Götter übertragen aufzufassen , worin ihm so leicht ein Anderer, der die Sache im Zusammenhange prüft, nicht folgen wird. Das aaiytvirai, dem auch noch das cuev eovreg (z. B. Od. 3. 1 46) entspricht , kann doch nicht ernstlich irre führen ,") da es entweder aus dem uralten Begriffe der ewigen, ungeborenen Götter (nicht nur des Zeus, oben S. 23 f.) heraus gesagt ist, trotzdem die home- rischen Götter geboren sind , oder da es in derselben Weise uneigent- lich , wenn auch ohne Bewusslsein dieser Uneigentlichkeit gebraucht ist wie das Prüdicat der Unsterblichkeit bei Göltern , die fürchten müssen, von Menschen umgebracht zu werden, wie z.B. Kirke, oder die elendig- lich umgekommen wären, wie der von den Aloaden eingesperrte Ares, wenn er nicht in der zwölften Stunde noch von Hermes gerettet wor- den wäre.

Nicht besser aber als mit den besprochenen homerischen Stellen steht es mit denen der späteren Dichter, die Welcker S. 1 80 in der Note 1 anführt; überall ist ohne Zwang &eog rig oder &eäv reg zu ver- stehen , und dass in der That so nicht nur verstanden werden könne, sondern auch verstanden werden müsse, dies geht ans dem Wechsel oder der Parallele des fcög mit &eol, später mit ro &eior9 ro daifioviov hervor in Stellen, die zum Theil Welcker selbst anführt. Es handelt sich

59} Ebenso wenig das Ztvg xal faol oder vollends &sol akkot, das Preller a. a. O. bei dieser Gelegenheit anzieht und mit Jupiter ceterique dii vergleicht; da Zeus als König der Götter den anderen voransteht und da die &tol aXkoi ihn so recht als primus inter pares zeigen. Analog kommt: i'Eavia nymavtlq xal to7q aXXoig &to7g naot* in- schriftlich vor Corp. Inscr. Add. Tom. 2. p. 1059, Hestia als die zeitweilig zuerst be- rücksichtigte voran wje sonst Zeus.

30 J. OVERBBCK, [30

liier eben Überall um Prädicate des Göttlichen schlechthin ,"*) des Gött- lichen, das im Polytheismus in viele einzelne Glieder gespalten, die Einheit des Gemeinsamen in dieser Vielheit bildet, aber es handelt sich nicht um Zeus , der auch hier überall mit in der Vielheit ist.

3.

Nachdem ich im vorstehenden Abschnitte zu zeigen versacht habe, dass Zeus seinem Namen nach nicht der absolute, transcendente Gott, sondern der Gott des Himmels , also von allem Anfang an ein an ein Naturgebiet gebundener Gott sei wie alle übrigen Götter, und dass auch die dichterische Sprache ihn nur graduell, nicht specißsch von den anderen Göttern unterscheidet, müssen wir uns jetzt den hauptsäch- lichen Cullen des Zeus als den ältesten Zeugnissen für sein Wesen zu- wenden. Und wenn sich nun aus deren unbefangener Prüfung unzwei- felhaft ergeben wird, dass Zeus in keinem derselben als Gott schlecht- hin , sondern durchaus nur als Gott des Himmels je nach dessen ver- schiedenen Erscheinungen und Einflüssen auf das Erdenleben verehrt worden sei ,61) so wird man sich nicht entbrechen können einzugestehen dass Zeus' Erscheinung in der homerischen und nachhomerischen Poesie und Kunst , dass seine ganze jehovahartige Herrlichkeit und seine An- näherung an die reine Göttlichkeit einer Steigerung der Ideen im Zu- sammenhange mit dem Fortschritt in der Bildung der Nation angehört.

60) Vergl. hierzu Lehrs* popul. Aufss. S. \ 28 f., wo namentlich der Satz zu unter- schreiben ist : »bis zu diesem (vorher bestimmten) Grade supponirter Persönlichkeit kann Gedanke und Anschauung dem Griechen in Beziehung der Einheit seiner Götter- Vielheit vorgehn; aber Gestalt kann dieser Gott nie gewinnen« u. s. w. Auch das Folgende zeigt und macht recht fühlbar , dass und warum unter diesem allgemein ge- setzten &tb<; neben fttiov und Öaifioviov nicht Zeus gemeint sein kann

6t) In Beziehung hierauf muss ich wieder Hrn. Dr. H. D. Müller a. a. 0. S. 556 vollkommen zustimmen wenn er sagt: »sodann, und das ist die Hauptsache, stellt sich in mehren uralten Culten und den daran sich knüpfenden Mythen, wenn man sie ge- hörig analysirt, das Wesen des Zeus in einer Auffassung dar, welche keine Spur von dem transcendentalen , ewigen Gotte zeigt , sondern deutlich erkennen lässt , dass er wesentlich auf derselben Grundlage erwachsen ist, wie die übrigen grossen Götter.« Was dann folgt ist freilich wieder gänzlich verkehrt.

31] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 31

und zwar derselben Steigerung, die Welcker unübertrefflich geschil- dert10) and deren Bewusstsein in der Nation selbst er in dem Mythus vom Titanenkampfe, soviel ich verstehe mit Recht, gefunden hat;03) einer Steigerung aber, die nicht Zeus allein, sondern die alle grossen Götter betroffen hat , indem sie alle aus Nalurgeistern , als welche sie den Göttern der Barbaren gleich waren ,6i) zu sittlichen und intelligenten, gesteigert menschenartigen Wesen wurden , **) so dass also in der grie- chischen Religion ein grossartiger Fortschritt auf die Religion des Gei- stes hin staltgefunden hat und zwar ein , so weit unsere Forschung reicht, stetiger, nicht aber ein von einem Rückschritt unterbrochener von einer hypothetischen reineren Urreligion zu einer verwilderten und verflachten , aus der die Reform erst wieder umkehren musste.

Der älteste Hauptsitz des pelasgischen urgriechischen Zeus war bekanntlich inDodona, aber nicht in dem später allein bekannten in Epirus, sondern in einem früh untergegangenen und vergessenen in Phthia. Diesen Satz hat Welcker, Götterl. 1 . S. 1 99 f. , indem er daran

62) In den »die Reform« überschriebenen Abschnitten 50 f. seiner Götterlehre.

63) Daselbst Abschnitt 56 f.

64) Vergl. Welckers Götter). Abschnitt 46 f.

65) Dass freilich die Götter der reformirten Religion von den ursprünglichen Göttern der Natur so durchaus verschieden gewesen seien, wie es Welcker behauptet (S. 230 u. sonst), kann ich nicht zugestehen, obgleich dies die Ansicht auch derer Aller ist, welche die Genesis der griechischen Götter aus der Natur läugnen. Mir, und nicht mir allein, hat immer geschienen, dass der Nabelstrang, der die aus der Natur ge- borenen Götter mit dieser verbindet, nie vollkommen gelöst oder durchschnitten wor- den, obgleich er bei einigen leichter und deutlicher bei anderen weniger deutlich zu erkennen ist ; die poetischen Götter haben ein doppeltes Walten , in der Natur und zwar in bestimmten Kreisen und dann über der Natur im Gebiete des Geistigen nach dem Allgemeinbegriff des Göttlichen; aber in jenem Walten in bestimmten Kreisen der Natur ist das Band das sie mit der Natur verbindet erhalten, und wie Vieles auch in den rtfiai und Tegra* der Götter, um mit Herodot zu reden, durch die ursprüngliche Naturwesenheit bedingt sei ist auf vielen Punkten bereits zur Evidenz naehgewiesen. Dass in dem Nachweis dieser »Übertragungen« aus dem Naturgebiet in das Ethische mancher Leichtsinn und manche Seichtheit sich laut gemacht hat, konnte die allge- meine Erkenntniss wohl aufhalten, gefährdet aber die Sache nicht, und dass kein Göttername, kein Mythus, wenigstens kein echter und alter aus dem poetisch geistigen Wesen erklärt werden kann, dies kann nur denen verhüllt bleiben, auf die weil sie speculiren anstatt Historisches historisch zu erforschen der Ausspruch des Goethe' sehen Mephisto Anwendung findet. Von »Umgestaltung« bei der »Eins auf das Andere ge- folgt sei« spricht auch Welcker selbst a. a. 0. S. 226.

32 J. OVERBRCK, [32

erinnert, dass schon die alte Kritik eingesehen hat, der von Achill II. 16. 235 angerufene Zeus dodonäos pelasgikos müsse dem Heimath- lande des Betenden angehören, meiner Einsicht nach mit unwiderleg- lichen Gründen und zur vollen Evidenz erwiesen.66) Nicht beistimmen kann ich jedoch dem einen Grunde, den Welcker in der Note unter an- deren geltend macht, und dem ausführlicher zu widersprechen um der ziemlich weitreichenden Consequenzen willen nothwendig ist. Welcker meint nämlich , das thesprotische Dodona sei nicht Svöx^/n^og und der dvaxeifieQog J. in Thessalien komme »die thesprotische Eichet nicht zu. Ersteres ist ohne allen Zweifel richtig,07) Letzteres nicht. Denn erstens wird daran zu erinnern sein , dass ein Ort nach griechischen Begriffen sehr > schwerwinterlich« sein und doch die herrlichsten yrjyot hervor- bringen kann; wer kennt nicht die »rigida Bologna« der heutigen Ita- liener, und wer weiss nicht, dass dort nicht allein Eichen, sondern auch Lorbeern und andere immergrüne Laubhölzer wachsen? Und was würde ein alter Epiker von der ionischen Küste wohl zu unserem Klima sagen, die wir doch Eichen haben so schön man sie wünschen mag? Um den Satz, der schwerwinterlichen Dodona komme der (pTjyoc nicht zu, aufrecht zu erhalten müsste man das t^Aolt* vaiwv im achilleischen Ge- bete mit einem Scholiasten auf Bergeshöhe und das dvc%ei[juQog auf den beschneiten Berggipfel bezieh n, wie Welcker dies auch tbut; aber mit Unrecht; tijXo&i nebst rijte und rtjkov heisst stets fern, in der Ferne von dem Redenden , nie fern in der einsamen Höhe oder hoch. Und in diesem Sinne: fern von Achill, fern von Ilion, in der fernen Heimath, wie es auch ein anderer Scholiast richtig versteht muss das TtjXa&t im Gebete Achills auch ganz unzweifelhaft gefasst werden: den Gott in der eigenen fernen Heimath, seinen Gott ruft Achilleus an, seinen Zeus, den pelasgischen , den er von dem Zeus *Idtj&ev pedecov, an den er sich näher wenden könnte, wenn es sich hier blos um Zeus schlechthin

66) Ich kann die Motive nicht ermessen, nach denen Preller, Mytbol. 9. Aufl. S.96 Welckers Lehre nur so halbwegs und gleichsam beiläufig anerkennt.

67) Wenn daher Preller a. a. 0. Note 3 das dvox*i(**Qog auf Tbesprotien be- ziehn will, indem er es auf die dort, in der Gegend von Janina nach dem Zeugnisse Leake's häufiger' als irgendwo sonst vorkommenden Gewitter bezieht, so kann ich ihm durchaus nicht zustimmen ; Gewitter und Gewitterstürme können durch dvox*i(i*Qoe für eine Gegend nimmer ausgedrückt werden, am wenigsten für die Gegend um das thesprotische Dodona, wie wir sie aus antiken und modernen Zeugnissen kennen.

33] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 33

handelte , unterscheidet. Dies ist die sprachlich und sachlich ein- fache und natürliche Interpretation der Stelle, die andere: rrjXo&i für fern in der Höhe, im Äther, die ein höchst Bedeutendes als unnötiger- weise versteckt betrachtet, da es auf der flachen Hand lag ai&eQi vaiwv zu schreiben,68) wenn dies gemeint war, ist sachlich gekünstelt und schroff und sprachlich mindestens bedenklich. Was aber die Eiche an- langt, auf die mir Alles ankommt, und welche dem phthiotischen Do- dona vindicirt werden muss, wenn man in das Wesen des dortigen Zeus Einsicht gewinnen will , so ist es freilich richtig was ein Scbo- Hast60) angiebt, dass Homer (in der Ilias) die Eiche in Dodona über- gangen hat, wenn er aber zwei Mal: 5. 693 und 7. 60 den vynjkrjQ und rtsQiKaXXtjg (prjyog dibg aiyio%oio als bei Ilion stehend nennt, so fragt sich doch noch sehr, aus welcher Tradition er dies thut , und dem Zeus die Eiche als heiligen Baum beilegt, wenigstens ist unerwiesen und dürfte schwer zu erweisen sein dass der Dichter der Ilias hier an die » thesprotische Eiche« gedacht habe, und dass die hier genannte Eiche dem ältesten Gült des pelasgischen Zeus überhaupt und also auch dem Urdodona in Thessalien abzusprechen sei. Noch in den Metamorphosen Ovids (7. 622) betet Äakos unter hoher Eiche stehend um ein Volk, und der Gott, zu dem er betet, der hellenische Zeus ist der Gott von Phthia, der Hellanios Aginas kein anderer als der phthiotisch-dodonäische, der ja so gut ein Gott der Nässe, der Fluth ist wie der Regengeber Aginas , )

68) Auf Grund welcher Auctorität Gerhard, Griech. Mythol. I. § 4 89. 2 in der That schreibt: »Ztv ava daiSrnvatt, TliXaayixi, ai&tQi vaiwv betet Achill« u. s.w. ist mir unbekannt.

69) Siehe b. Welcker a. a. 0. in der Note.

70) Denn auf ihn und auf Phthia bezieht sich die deukalionische Fluthsage , was Welcker selbst S. 200 anerkennt, ja hervorhebt, wie denn auch Preller, Mythologie 2. Aufl. I. S. 65 die Deukalionssage vorzüglich Thessalien (und dem Parnass, der hier nicht in Frage kommt) zuschreibt, und Welcker es mit Recht »etwas stark« nennt, dass diese Sage später auf Thesprotien und das dortige Dodona übertragen worden ist. Sowie aber der phthiotisch-dodonäische Zeus es ist, der die deukalionische Fluth sendet, so ist es der hellenische, der als Regengott, wenn er auch nicht vtnog ge- nannt wird, auf Äakos' Bitte bei grosser Dürre Regen sendet; und danach kann es

i denn auch keinem Zweifel unterliegen, dass die Umwandlung des Zeus in einen vatog,

| den wir nur aus Epirus kennen (Gerhard Myth. § 490. 4), zum mindesten begrifflich

schon im Urdodona in Phthiotis vollzogen war, und nicht erst der Zeit nach der Über- siedelung nach Thesprotien angehört, während es zugleich hieraus sich ergiebt, dass sich der vatog begrifflich nicht oder nicht ursprünglich auf Quellen und das quellen-

Abhandl. d. R. S. Ges. d.WUi. X. 3

34 J. OVERBBCK, [34

wie dies Dissen zu Pind. Nem. 4. 51 , gestützt auf 0. Muller (Aeginet. p. 59) bereits richtig eingesehn und ausgesprochen hat. Welcker freilich widerspricht S. 204, aber sicherlich mit um so grösserem Unrecht, da er selbst S. 203 sagt: »die Myrmidonen Äginas sind die Hellenen Achills, ihr Äakos und Peleus gehören, was die Sage nur umkehrt, ursprünglich nach Phthia und dahin also auch der hellenische Zeus.« Ja freilich! wenn man dies aber anerkennt , wie will man sich da noch dem von mir behaupteten Schlüsse entziehn? Der Zeus der Hellenen Achills, des Achi Ileus selber, derjenige, den er anruft, und den er nach Welckers guter Bemerkung (S. 201) nicht anrufen würde, »wenn nicht die Pe- lasger von seinem Stamme unterworfen und ausgetrieben wären und dadurch dieser Gott ihm gehörte, weil fremde Götter nicht angerufen werden«, ist der pelasgische, dodonäische, eben der, den wir suchen. Und ist dies der Fall, so gehört auch die Eiche, auf der Deukalion wahrsagt und unter der Aakos betet so gut wie Deukalion und Aakos selbst nach Phthia. Denn den Umweg über das jüngere Dodona um von daher »die thesprotische Eiche« mitzunehmen haben die Aakiden Äginas nicht gemacht, diesen Satz wird mir Welcker vertheidigen, sollte ihn mir Jemand angreifen. Von der grössten Wichtigkeit aber ist die Gewinnung der Eiche für das phlhiotische Dodona wegen der Natur des Orakels und der sich aus dieser ergebenden Natur des Gottes, dessen Stimme im Orakel vernommen wurde.

Aus der Odyssee (14. 327 und 19. 296 71)) wissen wir, dass im

reiche Gebiet um das jüngere Dodona bezieht, sondern auf Regen, der die Quellen o&hrt, die deswegen ix Au>$ sind. Unbemerkt aber darf ich hier nicht lassen, dass nach Schol. IL 4 6. 233 Deukalion auf der Eiche sitzend wahrsagt, angeblich nachdem er nach Epirus gekommen ist, thatsäcblich ohne Zweifel in Phthiotis.

74) Die dritte Stelle, 4 6. 407, die Welcker (S. 202) ebenfalls citirt und auf die er S. 34 3 Note 3 zurückkommt, hat mit dem dodonäiscben Orakel Nichts zu thun und ist auf dasselbe nur durch antikes Misverständniss , das für öipioreg als Orakel ro- Iaovqoi oder VTtoqtipai schrieb bezogen worden, und dies bat auch Welcker beirrt, was besonders der Consequenzen wegen, die Welcker S. 343 aus dem öewv tiQcbfie&a ßovXag zieht, zu bemerken wichtig ist. Der ganzen Situation jener Stelle nach, nämlich in der Berathung der Freier, ob man dem Telemachos auflauern und ihn ermorden solle, kann es keinem Betheiligten entfernt in den Sinn kommen, erst eine Deputation an das dodonäische Orakel zu senden , um zu erkunden , ob Zeus* ötfiuneg den Mord erlauben oder nicht; das war auf anderem Wege kürzer zu erfahren, da Zeus aller Zei- chen Herr ist. Und dass &tfHOvtg nicht nur Orakelsprüche sind brauche ich ja nicht nachzuweisen. Auch Preller, Myth. 2. Aufl. 4. S. 96 Note 5 citirt nur die beiden von mir anerkannten , nicht die dritte Stelle.

35] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 35

thesprotischen Dodona (dass dies gemeint sei geht aus 14. 315, 19. 291 ff. hervor) Zeus Rath aus der Eiche vernommen wurde, »wenn sie im Winde rauschte und flüsterte« setzt Welcker (S. 202) ohne Zweifel richtig7*) hinzu, und die Orakel der Eiche gelten auch sonst (z.B. Plat. Phaedr. 275 b) als die ältesten. Das Orakel im Urdodona aber behandelt Welcker als Incnbationsorakel, deutet er auf tellurische Mantik, was er in seinen kleinen Schriften zur griech. Litteraturgeschichte 3. S. 90 ff. aus- führlich zu begründen versucht hat.73) Wie mir scheint nicht mit Glück, denn ich kann mich nicht überzeugen, dass die Deutung der<2Ütto« avmro- nodeg xa^auvvai aus uralter roher Sitte, die, fortschreitender und weit fortgeschrittener Cultur gegenüber mönchisch bewahrt, nothwendig auf- fallen und zum Charakterismus werden musste, wie Strab. 8. 505 und andere Alte und Neue n) verstanden , nicht durchaus das Richtige treffe. Die ungewaschenen Fttsse bezieht Welcker auf das Gebot, in Gegen- wart der Gottheit die Füsse zu entblössen ; 7ö) aber »ungewaschene« Füsse sind nicht »entblösste« und ich sehe nicht ein, mit welchem Rechte man den Begriff dvvnodrjToi so ohne Weiteres durch dvmronodeg ersetzt glauben darf; denn wenn in den Scholien zu Homer unter man- chen anderen Deutungen des alten Gebrauchs der Seiler70) gelegentlich auch die mit unterläuft: ij rovro ex nvog j&ovs inl ti/ut} rov &eov not- ovptcq x. r. X.y so kann uns das denn doch wahrhaftig nicht leiten, denn nach was für Erklärungen haben die Grammatiker nicht herumgetaslet.

72) Das geht u. A. auch noch aus Suid. v. dwddvt) hervor: uaiovnav zwv pap- xivofiiviov ixiveTro dij&tv fj dgvg rftovaa* al Si [yvpctixig nQoq>rftidtg) iq>&tyyovro an xadt Xiyn 6 Zivg.

73) Auch Lassauix: Das pelasg. Orakel des Zeus in Dodona, Würzb. 4840. S. 7 deutet das Erdlagern der Selloi auf Traumorakel ; desgleichen Preller, Mythol. 2. Aufl. 4 . S. 97, wogegen sich weder NSgelsbacb, Nachhom.Theol. S. 4 79 ff. noch C. F. Hermann, Gottesdienstl. Altertb. § 39. 4 9 ff. (vgl. den § 44, der von Traumorakeln handelt, ohne Dodonas zu erwähnen) noch dessen Herausgeber Stark in einer richtigeren, den Zeug- nissen des Alterthums entsprechenden Auffassung haben beirren lassen.

74) Welcker selbst führt, Kleine Schriften a. a.O. Note 6 Heyne's (vitae auste- ritalem affectasse istos homines), Valkenaer's und Heinrich's hier beistimmende Urteile an. Auch Lobeck, Aglaoph. 264 behandelt die Seiler als gens fera et silvestris.

75) Auch hier folgt ihm Preller a. a. 0. mit dem Zusatz, die awnodrjola sei bei gottesdienstlichen Verrichtungen etwas Gewöhnliches; war sie das, warum wäre sie bei den Seilern bemerkt worden? Auch Lassauix a. a. O. , wenn er »das Barfussgehn« der Priester einen uralten morgenländischen Brauch nennt, trifft im Wesen der Sache überein.

76) Siehe Welcker a. a. O. Note 7.

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36 J. OVEBBECK, [36

Und ebensowenig kann uns die Annahme des Eustathius (zu II. 1 6. 233), die Seiler haben auf Fellen geschlafen und durch Träume Zeus Orakel empfangen, wie man in mehren Traumorakeln auf dem Felle der Opfer- thiere schlief, leiten,77) da dies eine blos gemachte Erklärung sein kann, und wahrscheinlich nur nach Analogie der Incubationsmantik erfunden ist. Dass nach II. 1. 63, S. 5 Zeus auch Träume sendet kann hier um so weniger angezogen und benutzt werden, da ganz abgesehen davon, dass Zeus nicht der einzige Traumorakeier ist, das Traumseuden in diesen Stellen stricte nur zu der poetischen Motivirung der Begebenheit gehört und mit Traumorakelthum Nichts zu thun hat.78) Aber dies Alles und was sich sonst noch gegen die Hypothese Welckers sagen lässt, gewinnt seine rechte Bedeutung erst, wenn wir einerseits bedenken, dass das Orakel im thesprotischen Dodona ein Filial des phthiolischen »Mutterorakels« war, als welches es auch Welcker (Götter]. 1. S. 199) ausdrücklich anerkennt, und wenn wir andererseits die Eiche, aus deren Rauschen im thesprotischen Dodona das Orakel verkündet wurde, auch für das phthio tische Dodona gewonnen haben. Wie gross ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pflanzstätte eines Mutterorakels die Art der Mantik so total geändert haben sollte, und wie gross bleibt sie, nachdem wir an der Stätte des Mutterorakels dasselbe Werkzeug der Mantik, wenn ich so sagen darf, die Eiche kennen, welches in der Pflanzstätte anerkanntermassen und zwar nach den Zeugnissen aller guten und alten Schriftsteller, Dichter und Prosaisten, deren keiner auch nur mit einem Wort auf Incubation hindeutet, allein diente, wäh- rend ein Piaton die Orakel der Eiche schlechthin die ältesten nennt? Denn man darf die Differenz der Mantik hier und dort, aus dem Rauschen der Eiche im Windeswehen und aus Träumen nicht so beschönigen oder überdecken wollen, wie dies Welcker thut, wenn er (Götter!. S. 201) sagt: »die Wahrsagung aber kraft der Erde zeigt diese in Abhängigkeit vom himmlischen Zeus nicht weniger als das Luftreich«; mag nach Hesiod. 9Eqy. 1 8 der Eronide wohnen im Äther, in den Wur- zeln der Erde und in den Menschen , der Zeus , dessen Stimme man im Rauschen der windbewegten hochwipfeligen Eiche vernahm und ein Zeus der erdgelagerten Priestern prophetische Träume »kraft der Erde«

77) Obgleich dies auch Lassaulx' Slütze bei gleicher Annahme ist.

78) Ähnlich sendet Athene der Penelope ein Traumgesicht Od. 4. 795 ff.

37] Beiträge zur Erkenntniss cnd Kritik der Zeusreligion. 37

sandte sind gänzlich verschieden oder sie offenbaren gänzlich verschie- dene Seiten, Kräfte and Beziehungen desselben göttlichen Wesens. Der Zeus der in den Wurzeln der Erde wohnt ist der %&6vio<; und chthonisch ist das Traumorakel kraft der Erde ; der Zeus aber, dessen Stimme man im Rauschen der windbewegten Eiche vernahm , und das ist es, worauf es mir ankommt und um dessentwillen ich die vor- stehende Untersuchung niederschreiben musste, der ist ein Himmels- gott, der Wind, der in den Zweigen der Eiche rauschte und flüsterte ist sein Hauch,79) ist der lebendige und belebende80) Odem des Himmels und sein Ausfluss, und im Säuseln des Windes naht Zeus wie Jehovah im alten Testament.81) Dieser Gott des Himmels und des himmlischen Windes ist dann aber auch consequenterweise, da der Wind die Regen- wolke herbeiführt und sich beim Regen erhebt, weiter zum Regengott geworden, als der er in der phth ioti sehen Deukalionssage und als hei- dnischer erscheint, und in weiterer Folge dessen, weil Quellen und Flüsse vom Regen des Himmels ernährt wie gezeugt werden und weil deshalb Quellen und Flüsse i% Jioq sind, zum vafog, und zum Gotte der quellenreichen Gegend um das neue Dodona. Als Luft - und Regen- zeus, den die von Braun82) edirle Büste des berliner Museums sehr schön darstellt , und zwar wahrscheinlich noch mit mönchischen oder derwischartigen Seilerpriestern, wie Sophokles88) (Trach. 1166) u. An- dere annehmen, kam Zeus in die neue Pflanzstätte seines Gultus in Epirus, wo man noch oder wieder seine Stimme im Rauschen der windbewegten Eiche hörte , und wo wir ihn zugleich als vaiog , dessen Orakel man spater aus dem intermittirenden Quell am Fusse der Eiche vernahm,84) dem Hellanios entsprechend kennen. Verpaart mit Ge- Dione85) aber wurde er wohl erst hier, wie auch Welcker (Götterl. 1.

79) Vergl. e'x Jibg avQcu u. Welcker 2. S. 197, Lauer S. 204, Gerbard § 199.7.

80) Yergl. die attischen Tritopatoren ; Preller Mylh. 2. Aufl. I. S. 371 und was Gerhard, Griech. Myth. § 165. I anführt.

81) 1. Kön. 19. 11—13.

82) Antike Marmorwerke 1. Dekade Taf. 4.

83) »Sonst ein guter Antiquar« sagt Welcker Götterl. S. 200 Note, wir streichen

das Wörtlein »sonst.«

«

84) Serv. ad Yerg. Aen. 3. 466, Plin. 2. 103.

85) Und zwar ganz unzweifelhaft ehelich, wie auch Welcker S. 253 f. ausfuhrt, nicht» mehr geistig als ehelich«, wie Gerhard, Griech. Mylhol. § 190. 4 nach Stuhr, Rel. Syst. 2. 41 ff. sagt.

38 J. OVBRBECK, [38

203 und 253) bestimmt annimmt,86) und mit dieser weiteren Entwickelung seiner Mythologie hangt die Umwandeiung zusammen, dass die Pe- leiadenpriesterinen an die Stelle der Seiler treten, wie dies Strabon (7. 329) ausdrücklich und ohne Zweifel richtig bezeugt. Das Resultat aus Allem aber, was wir von dem dodonäischen Zeus wissen, ist, dass er als Gott des Himmels in dessen atmosphärischen und auf das Erden- leben einwirkenden Ausflüssen erscheint, dass er der Gott eines Na- turreichs, ein Gott in der Natur ist, nicht über derselben und so wenig monotheistisch gesinnt, dass er, im schroffsten Gegensatze zu Jehovah, der da sagt : du sollt keine anderen Götter haben neben mir ! als man nach Herodot (2. 53) bei seinem Orakel anfragte, ob man die Namen anderer Götter gebrauchen solle, antwortete: braucht sie.87)

8 6) Ein Zweifel hiergegen kann sich nur daran knüpfen , dass die Ilias Aphrodite als Diones Tochter kennt, so dass also der Dichter, war Dione nur epirotisch-do- donäisch , seine dodonäischen Traditionen aus verschiedenen Quellen geschöpft haben müsste ; unmöglich ist freilich auch diese Annahme nicht. Dass freilich die dodonäi- sche Aphrodite ein Kind asiatischen Cultus war kann ich Welckern (S. 355) eben so wenig zugestehen wie das Andere, dass Phidias' Dione in Poseidons Gefolge im West- giebel des Parthenon gebildet habe; so wie ich diesem Letzteren schon in meiner Ge- schichte der griech. Plastik 4. S. 346 widersprochen habe, so halte ich was das Erster« anlangt an der Ansicht fest, die Völcker im Rhein. Mus. 4833. S. 843 aufgestellt hat, und deren consequente Entwickelung zu dem Erfreulichsten in Gerhards Mythologie gehört, dass nämlich eine pelasgische Göttin von Dodona, Tochter der Dione, eine nordgriechische Aphrodite, sie möge geheissen haben wie immer man glauben mag, mit der asiatischen, meergeborenen, uranischen Aphrodite erst spater verbunden und verschmolzen worden ist.

87) Nach Herodot geschah dies zu einer Zeit, als die Pelasger noch namenlose Götter verehrten. Diese namenlosen Götter sind bis auf den heutigen Tag unerklärt, denn auch was Welcker, Götterl. 226 über dieselben sagt fruchtet für die Erklärung grade so wenig wie seine Berufung auf das was Max Müller (ausgezogen bei Welcker S. 227 f.) über die Vedengötter mittheilt. Ja, wenn M. Müller S. 228 mit Recht sagt,

die Vedengötter »sind Masken ohne einen Schauspieler , sie sind nomina

nicht numina, Namen ohne Wesen, nicht Wesen ohne Namen«, so ist dies ja das ganz genaue Gegentheil von den herodoteischen Göttern ohne Name n, so dass ich nicht begreife , wie Welcker sich für diese hierauf berufen kann. So lange ich an die Identität von Ztvg und &tog = dyaus und dewas glaubte, meinte ich, wie ich dies in meiner Geschichte der griech. Plastik 4. S. 36 in Note 4 6 angedeutet habe, die Lösung des Problems gefunden zu haben , indem ich annahm nicht von namen- losen Göttern sei die Rede gewesen, sondern von einem namenlosen Gott, nämlich von Zeus = #«o? (als einem Gotte ohne Individualnamen wie Apollon, Athene u. A.), dies aber sei für den Polytheisten Herodot und für seine polytheistischen Quellen, die

39] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 39

Der arkadische Zeus, dessen Gull auf dem Lykäongipfel nach Allem was wir von demselben erfahren in das höchste Alterthum hinaufreicht, was auch Welcker (Götterl. 1. 210 f.) anzuerkennen scheint, so dass die Frage, ob die Arkader Pelasger waren oder nicht, hier ganz irre- levant wird ,**) dieser arkadische Zeus Lykäos ist so allgemein als Gott des Himmelslichts wie Lucetius, Diespiter anerkannt, dass es überflüssig ist, dabei länger zu verweilen. Nur das sei hervorgehoben, dass er als solcher dem Grundwesen des dyaus und dem Grundbegriffe der /div am allernächsten steht, und dann sei bemerkt, dass nach dem was Pausan. 8. 38. 3 berichtet, dieser Zeus so gut wie der dodonäische und der Hellanios auch in der Atmosphäre waltet, indem sein Priester in einer Art von Zauber den Regen beschwört sowie Aakos in Agina den- selben erbetet. Ob der hierbei gebrauchte Eichenzweig , da doch die Eiche dem Zeus nicht schlechthin heilig genannt werden kann , nicht auf eine nähere Verbindung oder auf einen inneren Zusammenhang des arkadischen Zeus mit dem dodonäischen hinweise, mag einstweilen da- hinstehen, sowie ich auch darauf verzichte , auf den Bericht des Pau- sanias, der, wie ich glaube, tiefer gefasst werden kann, als er bisher gefasst worden, einzugehn. Ebenso lasse ich den eigentlichen Sinn der Schattenlosigkeit derer, welche das Heiligthum des Zeus lykäos betraten, unerörtert, obwohl ich mit der Auffassung Welckers89) nicht übereinstimme und glaube , dass die Deutung aus des Lichtgottes Nähe und Natur90) weil am Sitze des Urlichts kein Dunkel sein kann viel näher liegt. Die Hauptsache, die durch alle diese Zweifel nicht verändert wird, ist, dass der arkadische Zeus Lykäos durchaus Naturgott, Gott des Himmels, des Himmelslichtes und der Atmosphäre ist und dass dies dem indo- germanischen Namen und Urwesen des Gottes entspricht.

Peleiadenpriesterinen in Dodona ein undenkbarer Begriff gewesen, so dass sie also &60i sagten, wo sie faog oder Ztvg sagen mussien ; jetzt aber nach dem oben (S. 25) erwähnten Zweifel über die Ableitung von &tog und nach dem weiteren Zweifel , ob Zens wirklich ein älterer Gott war als die übrigen Götter (oben S. 25) muss ich auch diese Lösung fallen lassen. Es wird aber gut sein, sich darüber nicht zu täuschen, dass das Problem ungelöst dastehe.

88) Im ersten Bande seiner Götterlehre erklärt sich (S. SO) Welcker sehr be- stimmt gegen das Pelasgerthum der Arkader, im zweiten (S. 236) ist ihm der lykäische Zens » der altpelasgische Zeus.«

89) Die er in seinen kleinen Schriften 3. S. 161 näher darlegt.

90) Auf diese weist auch Preller hin, Myth. 2. Aufl. 1. S. 99.

40 J. OVERBECK, [40

Als Lichtgott fasse ich aber auch den Zeus Aktäos auf Pelion, dessen nichl mit Akräos zu vertauschenden, wenngleich in späterer Zeit durch diesen gewöhnlicheren verdrängten Beinamen Welcker91) gegen Starks92) Einwendungen, die Preller93) annimmt, mit Recht festhält, während er ihn, wie ich glaube mit Unrecht, von ^tj/i^reQog ä*Trj ab- leitet, da er viel natürlicher und näher aus duraivcoy dxrig abzuleiten sein dürfte, worauf schon Lauer04) hinwies, wenn auch nicht in allzu klarer Weise. Der Hauptbeweis hiefür und gegen die andere, an sich scheinbar noch näher liegende Ableitung von dxrrj Ufer, die unter An- deren früher Preller (a. a. 0.) befolgte, scheint mir in Aktäons Figur und Bedeutung zu liegen , auf die auch Welcker sich für seine Deutung hauptsächlich beruft, und den ich durchaus nicht als Herr des Getraides fassen kann , wie Welcker, sondern der mir als der Sohn der Mära »des weiblichen Sirius«,05) als Herr der 50 Hundstagshunde, als Jäger, als der, dessen Gespenst die orchomenischen Fluren verheerte bis man ihn sühnte,96) als der, dessen Bild die rasenden Hunde beschwichtigte der Dämon der Hundssternhitze zu sein scheint, während der Mythus von seinem eigenen Zerrissenwerden von seinen Hunden in getrübter Gestalt auf uns gekommen ist, sich aber gleichwohl noch so verstehen lässt, dass er der von mir angenommenen Bedeutung nicht widerspricht. Alle solche Punkte, deren ich noch mehre berühren und späterer Er- örterung im Einzelnen vorbehalten muss , in einer Abhandlung zu er- ledigen, die kein Buch werden soll, ist unmöglich. Aktäon aber ist der Heros des Zeus Aktäos, und dieser als Lichtgott naturgemäss auch Gott der Gluthbitze der Hundstage. Und hierauf bezieht sich der Bittgang mit den Widderfellen , von dem uns Dikäarch De Pelio berichtet. Dass man in dieser Procession auf den Gipfel des Pelion ohne Zweifel den Zeus anflehte , die kühlen und feuchten Etesien zu senden hat Welcker

91) ArchSolog. Zeitung 4 860 S. 45.

92) Das. 4859. S. 92.

93) Mythol. 2. Aufl. 4. S. 4 4 2. Früher hatte derselbe, Demeter und Persephone S. 248 und noch Mythol. 4. Aufl. S. 93 so gut wie O. Müller Orchom. 243 u. 342 f. den Aktäos anerkannt.

94) System d. Mythol. S. 4 98 u. 203.

95) Welcker, Archäol. Zeitung a. a.O. S. 4 5.

96) Und der deshalb sicher nicht »um die Fruchtbarkeit talismanisch an das Land zu knüpfena wie O. Müller a. a. 0. 342 meinte, an einen Felsen angekettet war.

44] Beiträge zur Ekkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 41

(Götterl. S. 205) richtig eingesehn, obgleich er die Bedeutung der Widderfelle, die als dib$ xcbfoa auch iu den Zeusfesten Athens eine so grosse Rolle spielen und über die Welcker der naiven Angabe des Di- käarch Glauben schenkt, schwerlich erkannt hat. Der Widder, das lässt sich noch ungleich stricter und sicherer, als es bisher geschehen ist,97) erweisen , ist in der ganzen Mythologie , er erscheine wo und wie er wolle, das Symbol der Wolke, und so trug man in dieser Procession auf Pelion wie in den attischen Processionen die Felle des symbolischen Thieres, nach einem auch sonst beglaubigten Gebrauche als Zeichen dessen , um dessen Verleihung oder Abwendung (das Letztere in den Mämakterien in Athen) man den Gott anflehen wollte. Aber sei's darum, etwaiger Widerspruch hiegegen , der mich , da ich die Sache hier un- bewiesen lassen muss, nicht wundern würde, hebt die Hauptsache nicht auf, dass Zeus Aktäos Gott des Lichtes und der Hitze war, und dass er in der Atmosphäre waltet wie der Zeus Lykäos ; und dass der Zeus Ikmäos von Keos, den man um dieselbe Zeit, in welche die Pro- cession des Aktäos fiel, in der Zeit der Hundstage, wie jenen um die Elesien anflehte nach Giern. Alex. Strom. 6. 630, sich als Dritter in diese Reihe stellt, braucht nur erinnert zu werden.

Dass aber der Zeus Laphystios , der Yerschlinger, Aufschlürfer : °*) der Wolken nämlich und der Feuchtigkeit, wie ihn auch Lauer90) ge- fasst hat, ebenfalls wie der Lykäos und Aktäos ein Licht- und in Folge dessen ein Hitzegott sei, und dass die Annahme dieser Natur des Gottes ganz allein alle Züge des Atbamasmythus erklärt, der wie 0. Müller100) mit Recht sagt in alten Gebräuchen am Laphystiosheiligthum wie in seinen Angeln hangt, dies kann ich hier nur als meine auf sorgfältiger Untersuchung beruhende Überzeugung aussprechen, wenn ich nicht den ganzen Atbamasmythus hier analysiren will , was nicht dieses Ortes ist.

97) Namentlich von Lauer a. a. 0. S. 408. Forchhammer, Hellenika S. 204.

98) AayvvGHv und Xatpvy^bg hangt mit kandaam und Xcctitco zusammen. Vgl. besonders II. 4 4. 476, vom Löwen : inevtot, di & alpa xal ty%axa ndvta kaqtvooH.

99) A. a. O. S. 219. Schon aus der Bedeutung des ka<pvoativ geht hervor, was sich durch die ganze Sage beglaubigt, dass der Laphystios nicht ein »winterlich finsterer Gott« sein kann, als welchen ihn Preller Gr. Mythol. 1 . Aufl. 2. S. 209 f. fasst. Dass den Athamas »Sommergluth rasend macht« hat auch Gerhard eingesehn, Phrixos der Herold Berl. 1842. S. 6.

4 00) Orchomenos S. 4 58.

42 J. OVEHBBCK, [42

Und ebenso kann ich nur darauf hinweisen , dass man den Athamas- raythus bisher consequent deswegen misverstanden hat, weil man Athamas und die Athamantiden als die Opfer anstatt der Opferer, der Priester des Laphystios betrachtete, während doch Athamas nach keiner unserer Quellen geopfert wird,101) Piaton IW) die Athamantiden eben so bestimmt als die Opferer bezeichnet und Herodot103) nicht min- der bestimmt bezeugt, dass der Fluch , geopfert zu werden , die Nach- kommen des Kytissoros betreffe. Diese gelten freilich für Abkommen de6 Phrixos und als solche des Athamas, und es ist möglich, dass ein Geschlecht die Opferer und die Opfer wirklich umfasst habe, wie denn auch in einem anderen orchomenischen Culte, dem des Dionysos,104) die an den Agrionien geopferten Frauen (OXetcu) und die opfernden Männer (iPokottg) einem Geschlecht angehörten, aber es kann dies auch blosse Mythencombination sein , und es kommt darauf nicht an, sondern vielmehr auf das Andere, das Phrixos das einzige im echten Mythus beabsichtigte Opfer, und dass seine Nachkommen die wirklichen Opfer waren, ferner darauf, das Phrixos' Opfer vollzogen werden soll bei grosser Dürre des Landes, wie dies der Schol. Pind. Pyth. 4. 288 mit nackten Worten sagt, während er in den verschiedenen mythischen Einkleidungen nur ganz leicht und obenhin verhüllt ist. Athamas aber, der Phrixos opfern will , dem dieser auf der Widderwolke reitend ent- flieht, er selbst Wolke (<pqi£oq von q:piaaw) l05) und Sohn der Wolke (Nephele) mit seiner Schwester Helle, Regen , die von der Widderwolke herabfeilt, Athamas, den Nephele verlässt, der in Raserei den Klearchos oder Learcbos den rühmlichen oder den Volkfsührer, den König, tödtet, Athamas ist Priester und ist Heros des Zeus Laphystios so wie Lykaon des Lykäos, Aakos des Hellanios, Akttton des Aktäos; die Dörrhitze des Landes aber wirkt der Laphystios , und diesem in seiner Furchtbarkeit

104) Bei Herodot 7. 4 97 soll er geopfert werden, aber Kylissoros iniervenirt und hebt das Opfer auf, auch Sophokles hatte nach Schol. Arist. Nub. 256 im *A% axt- (paprj<p6()og gedichtet, dass Nephele Athamas* Opferung verlangt habe , nicht aber dass das Opfer vollzogen worden sei.

4 02) Minos p. 34 5 c: otag tivoiag övovoiv oi rov 'A&apavTog txyovoi'Elltjvtg ovreg, vergl. auch Schol. Apoll. Rhod. Arg. 2. 653.

4 03) A. a. 0. ravTct dt naoxpvoir qI KvtioocIqov tov &qI£ov naidog anoyovot, x. r. A.

4 04) Den Etym. M. p. 557. 54 ebenfalls als Laphystios kennt.

4 05) Vgl. Gerhard, Phrixos der Herold S. 6 Note 22.

43] Beitrage zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 43

gelten die Menschenopfer, welche die Athamantiden bringen, mögen diese nun real fortbestanden haben oder durch andere Kathannata er- setzt worden sein, wie Welcker106) annimmt, der daran erinnert, dass auch andere Völker durch strenges Priesterthum oder durch Noth und Angst des Volkes auf diese Spitze der Opferpflicht (Menschenopfer) hinaufgetrieben worden seien , wie denn in Schweden bei Hungersnoth der König geopfert wurde.

Den Zeus Meilichios und Maimaktes von Athen hat Welcker (Göt- terl. S. 207 f.) als Gott der milden, guten und den der stürmischen Jah- reszeit verstanden und für Beide einen ursprünglich physischen Sinn iu Anspruch genommen, womit ich durchaus übereinstimme ; Beide stellen den Himmel in seiner heiteren und finsteren Erscheinung und in seiner günstigen und verderblichen Einwirkung auf das Leben der Erde und der Menschen dar; auch dieser athenische Zeus also waltet in der Atmo- sphäre. Das Dioskodion findet in diesen Gülten seine vollständige Er- klärung.

Erwähnt zu werden verdient noch der Zeus Peloros von Tempe, den Welcker übergeht, und der sich in der von Baten bei Athen. 4 4. 639 überlieferten Sage als Gott der Fruchtbarkeit der Erde und als Ver- leiher der reichen Erndte zu erkennen giebt, so dass er zu Kronos in der richtigen Auflassung eben so in Parallele tritt, wie sein Fest, die Pelorien mit den Eronien ; hierauf wird zurückzukommen sein.

Dass der mit Trophonios als Zeus Trophomos107) identificirte Zeus in Lebadeia von einer ähnlichen Idee seinen Namen als Nährer, Nähr- gott habe , ist anerkannt ; aber auch der Agidengott Ammon , der nicht von dem ägyptischen Amun herzuleiten, sondern mit ihm identificirt worden ist,106) während seine Wiege in böotisch Theben stand, dürfte

106) GötlerL 1. S. 206.

4 07) Strab. 9. 414, vergl. Liv. 45. 27.

108) Es freut mich, diese Ansicht weuigstens mit Gerhard zu theilen, der Griech. Mythol. §. 198. 7 sagt: »Zwar ob die dort (im Ammonion) und in Dodona zugleich als Orakelgrunderinen erschienenen Tauben wirklich aus (ägyptisch) Theben und von dem Ägyptischen Ammon (Amun) kamen, bleibt trotz Herodot's Versicherung sehr zweifel- haft, darum hauptsächlich , weil mancher altgriechische Götterdienst durch das ihm selbstfindig zukommende Widdersymbol zur Verwechselung (besser wohl Identification) mit jenem ägyptischen Widdergott früh auffordern mochte.a Sonst ist bekanntlich der Glaube an die ägyptische Ableitung ziemlich allgemein ; aber ich bin fest überzeugt, dass böotisch Theben die Wiege des griechischen Ammoncultus und dass die Gephy-

44 J. OVERBECK, [44

gleicher Bedeutung und von dem Stamme abzuteilen sein, der in Hesy- chius und des Etym. Magn. Glosse d/ifia tj ryocpog xal ij fujrtjQ xara vnoxyiofia , nämlich als rpocpog, und der unserem Worte »Amme« zum Grunde liegt. Ammon ist ein anderer ryocpog, ryocpciviog.

Wie alt und ursprünglich der Gült des Zeus Lakedämon in Sparta sei, wissen wir nicht, dass der ihm gegenübergestellte Uranios auf der Diarchie beruht hat Welcker bemerkt (Götterl. S. 243).

Was wir in den sämmtlichen alten Culten des Zeus, von denen wir nähere Kunde haben, finden, nämlich dass Zeus als Naturgolt im Him- mel und vom Himmel aus in den atmosphärischen Erscheinungen, im Winde, in den Wolken und im Regen, im Licht und in der Gluthhitze auf das Erdenleben einwirkt, das liegt auch noch in einer ganzen Reihe seiner Beinamen aus localen Culten vor, welche, wenn sie alt sind, die ursprüngliche, wenn sie später sind, die trotz aller fortschreitenden Re- ligion des Geistes festgehaltene Bedeutung des Zeus als eines Gottes der Natur, in der Natur, nicht über oder jenseit derselben erhärten.100) Und danach darf, ja muss man, wie ich am Eingange dieses Abschnittes behauptet habe, diese Naturbedeutung bei Zeus so gut wie bei den an- deren Göttern als die primitive Grundlage seiner Verehrung betrachten,

räer-Ägiden seine Träger waren. Daraus erklärt sich Pindar's, des Gephyräers Ammon- verehrung, und daraus die Thalsache, dass sich Ammoncultus, früher und später findet, wohin die Gephyräer bei ihrer Apoikie und Wanderung gelangen : in Athen Hesych. v. 'AfAfioiw loqxr}' Aftr\vri<nv ayoptvi] (woBÖckh Staatshaush. 2. 259 *A\i\Mnvux lesen will), in Sparta Paus. 3. 18. 3, Böckh a. a. 0. 258, von Sparta aus in Thera weil in Kyrene {vgl. was Gerhard a. a. 0. Anna. 7 anführt) , von wo der Handel über die libysche Ammonsoase ging (Müller Orchom. S. 343) und wo ohne Zweifel die Identificirung mit dem so ähnlich benamseten ägyptischen Widdergott vollzogen wurde, der dann in Griechenland wie alles Fremde über das Heimische zur Geltung gelangte. So haftet Ammon an den Ägiden-Gephyräero , dass Therons Geschlecht in Akragas , der ägidi- schen Stammes war (Müller Orchom. 332) den Namen der Emmeniden führte. Und wenn wir den Ammoncult in Elis Paus. 5. 4 5.7 nicht als ägidischer Stiftung bezeugt finden, ist es verwehrt, diese anzunehmen? Findet sich auf Kreta wirklich Ammon- cultus, wie Diod. 3. 74 angiebt, warum sollte er nicht mit der dorischen Colonisirung dahin gelangten Ägiden seinen Ursprung verdanken? Von dem Cult in Sparta stammt derjenige in Aphyta in sofern indirect, weil er auf einer dem Lysandros gewordenen Traumerscheinung des Ammon beruht, die ihn die Belagerung von Aphyta aufheben Hess, weshalb die Aphytäer Ammon als Retter verehrten Paus. 3. 18. 2 , Plut. Lysand. 20, Böckh a. a. 0. 258. Wo bleibt hier der ägyptische Ursprung?

4 09) Vergl. Lauer Syst. d. griech. Mythol. S. 4'96ff. , Gerhard G riech. Mylhol. §. 4 99, Welcker, Götterl. 2. S. 4 93 ff.

45] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 45

von der aus sich mit den Culturfortschritten der Nation die Götter weiter und weiter erhoben und zu Geistern auch ausser der Natur umgewan- delt wurden, in einer Steigerung die ungebrochen und unaufhaltsam weiter aufwärts ging , und die bei Homer keineswegs abschliesst , son- dern an der noch die späteren Dichter, besonders die Tragiker und dann die Philosophen , Beide schöpfend aus dem gemeinsamen Born des Na- tionalgeistes, betheiligt sind.

Ehe aber nun zu weiteren Erwägungen und Betrachtungen des Zeus in seiner poetisch nationalen Darstellung fortgeschritten wird, muss hier noch ein Punkt von grosser Bedeutung in's Auge gefasst werden, auf den namentlich Welcker ein ganz besonders schweres Gewicht legt, indem er aus demselben allerdings nicht, oder wenigstens nicht direct110) einen Monotheismus und eine transmundane Existenz des Zeus ableitet, dennoch aber auf ihn die Annahme einer exceptionellen Stellung des Zeus den übrigen Göttern gegenüber gründet, einer exceptiouelleren als die ich für gerechtfertigt halten kann. Ich meine das Attribut des Blitzes und denCultus auf Bergeshöhen, die Welcker im 31. und 32. Abschnitte seines Buchs behandelt.

Was nun zunächst den Blitz anlangt, so kann man im Allgemeinen, wenn auch nicht ohne Einschränkung111) zugeben, dass seine Hand- habung, dass das Gewitter den Völkern als das höchste Zeichen der göttlichen Macht erschienen sei, wie dies Welcker S. 165 ausspricht und motivirt. Aber in demselben Masse wie man die Richtigkeit dieser Behauptung anerkennt wird es wichtig nachzuweisen , oder sagen wir

HO) So wie freilich im Rhein. Mas. a. a. 0. S. 626 die Bergeshöhen und die Blitze neben der Etymologie von Zeus Kronion (die ihn ja als den Gott von Ewigkeit bezeichnen soll) geltend gemacht werden, liegt darin, wenn auch nicht ausgesprochen, die Behauptung, Bergeshöhen und Blitze erweisen Zeus als den Höchsten im Sinne des Jehovah oder des absoluten Gottes.

Hl) Vgl. z. B. was G. Bühler über den Parjanya, den Donnergott der Yeden mittheilt in Benfey's Orient und Occident 1861. Hft. S. S. *Hff., besonders über die Stellung des Gottes S. 6 ff.

46 J. OVERBECK, 46]

lieber, daran zu erinnern, was Welcker wenigstens an dieser Stelle vergessen zu haben scheint , erstens , dass in Zeus' ältesten und wich- tigsten Cullen, die wir im vorigen Abschnitte durchmustert haben, man ihn wohl im Licht und in der Gluthhitze des Himmels , im Wehen des Windes und im Ergüsse des Regens erkannte und anbetete, dass er aber in diesen nirgend als Herr des Donners und Blitzes charakterisirt wird,112) dass seine Verehrung sich nicht auf sein Blitzwerfen gründet,113) sich nicht an seine Herrlichkeit im Gewitter wendet, und zweitens, dass Zeus von den Göttern Griechenlands ja keineswegs allein den Blitz führte.114) Was dies Letztere anlangt, so könnte es trivial erscheinen, wenn erwähnt wird, dass Pallas Athene den Blitz führt so gut wie die Ägis, das Donnergewölk, und zwar nicht hie und da nur, sondern als Pallas durchweg, grade so ständig wie Zeus selbst, denn die Lanze der Palla- dien ist der Blitz und ein Palladion ohne Agis giebt es nicht.115) Und

4 4 2) Was das Beiwort anlangt, das Achäos (Azan. fragm. 2, Schol. Eurip. Orest. 383) dem lykäischen Zeus giebt, so ist erstens zweifelhaft, ob dasselbe aortgonog zu schreiben sei, wie Welcker, GÖtterl. 2. S. 4 94 thut, der dasselbe auf Blitz bezieht, oder aortgamdg, wie Andere schreiben. Im letzteren Falle würde es mit dem Blitz schlechthin Nichts zu thun haben, sondern sich auf den Glanz des Lichtes beziehn (vgl. z. B. aoreQGmop oppa Ar\T<aag xoqtjq b. Aesch. fragm. 209 (Ahrens)), und dass dies bei dem Zeus lykäos das Natürlichere und Näherliegende ist kann vernünftiger- weise nicht bestritten werden. Sollte dies aber dennoch nicht zutreffen, AchSos wirk- lich aoTtQonog geschrieben und auf den Blitz gedeutet haben , so kann natürlich eine solche Stelle eines späteren Dichters für das Wesen eines Gottes wie der Lykäos Nichts beweisen, da man es in diesem Falle als ein Prädicat des Zeus schlechthin, des poeti- schen Zeus und als aus diesem auf die alte Cultfigur übertragen ansprechen darf.

113) Ober das Alter einiger Gülte, in denen dies der Fall ist, wie in dem des xaraißaTtiQ in Olympia Paus. 5. 4 4. 4 0, vergl. Lauer, System d. griech. Myth. S. 4 99. Note 264 lässt sich nicht absprechen. Den Guit oder Altar des Zeig xtgavvwg das. hält Paus. a. a. 0. 7 nicht für hochalterthümlich ; die Beiworte , die sich auf Zeus' Blitzen und Donnern beziehn (Lauer a. a. 0.) gehören fast ohne Ausnahme der poe- tisch-nationalen Entwickelung des Gottes an, und diese ist eben nicht die primitive. Allerdings erscheint in dem berühmten Kameo der Marcusbibliothek der eichenbekränzte dodonäische Zeus mit der Ägis gerüstet, wie denn auch die Ilias an jenen beiden Stel- len, wo sie den wybg des Zeus erwähnt (5. 693 und 7. 60) diesen als ägiochos be- zeichnet, dennoch ist zweifelhaft, ob der dodonäische Zeus als blitzend und donnernd gedacht wurde, was übrigens ihm dem Regengott als solchem auch zukommen konnte.

4 4 4) Vgl. was Wieseler in den Jahrbüchern des Vereins von Altertbumsfreunden im Rheinlande 4 844 S. 352 angeführt hat.

4 4 5) Es ist deshalb überflüssig auf die nicht geringe Zahl von Kunstdarstellungen hinzuweisen , in denen Pallas Athene den wirklichen Blitzstrahl wie sonst ihre Lanze schwingt. Vgl. auch Wieseler a. a.O. und Preller, Gr. Myth. 1. S. 430.

47] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 47

wenn man diese Blitzwaffe und die Ägis der Pallas Athene aus ihrem nahen Verhältnisse zu Zeus und so ableiten wollte , als waren ihr diese Attribute von Zeus übertragen, wie das etwa der Vorstellung des Ascby- los (Eum. 825) entsprechen würde, oder als sei Athene nur eine Hypo- stase oder ein Ausfluss des Zeus , so würde man sehr stark irren. Ab- gesehn von manchem Anderen und schon früher Bemerkten dürften die neuesten und tiefgreifenden Untersuchungen Bergk's über die Trito- geneia110) erwiesen haben, dass die Religion der Pallas Athene eine grossere Selbständigkeit in ihren Wurzeln und Keimen gehabt hat, als Allen bequem anzunehmen sein mag, ja dass sie nicht einmal durchaus als Zeus' Tochter gelten darf, als welche sie Welcker (S. 238) anspricht. Der Blitz und die Agis kommen der Athene oder genauer gesprochen der Pallas Athene als Pallas selbständig zu , weil sie als solche Göttin des Gewölks wie als Athene Göttin des Ätherlichte und der Ätherklar- heit ist. Denn dieser Dualismus in dem Wesen der Göttin liegt in den beiden Namen, die nie mit einander vertauscht werden können, wie man das zum Theil schon eingesehn hat,117) und dieser Dualismus kann nicht allein , sondern muss durch alle Mythen und Sagen der Pallas Athene durchgeführt werden, wenn diese zur endlichen Klarheit gelangen sollen. Aber auch Pallas Athene ist nicht die Einzige, welche ausser Zeus, und zwar von Rechts wegen, den Blitz führt, auch Apollon kommt blitz- werfend vor, wofür Wieseler im Bulletüno des Instituts 1852. p. i 84 ff. nicht allein die Hauptbeweisstellen litterarische und artistische zusam- mengetragen,118) sondern was derselbe auch durch Verweisung auf den

116) In Jahn's Jahrbüchern 18§0.

117) So z. B. erklärt sich Gerhard Griech. Myth. §. 348. 3 mit Recht gegen die Bezeichnung Pallas Polias statt Athene Polias.

118) Da mir Petri Burmanni Za/g xcaaißatrjg nicht zuganglich ist, auf den Wiese- ler a. a. 0. sich für die Behauptung bezieht; neppure mancano gli esempj d'una cor- rispondente (nämlich auf das Blitzwerfen) attivita di lui, so will ich hier anführen, was ich zur Beglaubigung derselben habe auffinden können. Dass schon Sophokles Oed. tyr. v. 469 sq. (Herrn.) Apollon vomParnass blitzen 18sst ist bekannt, nach delphischer Sage aber wurden sowohl die 4000 Mann, die Xerxes gegen Delphi sandte (Justin. 2. 12: quae manus tota imbribus etfulminibus deleta est), wie auch die Gallier unter Brennus (Paus. 10. 23. 3 ij w yaq yrj niaa, ootjv ini!%(v i} tüv rdkoawv axQtaia, ßialmg xai im nktiovov ioeieto rfjg fmtQaq, ßpovrai xt xai xiQctvvQi <wv*%uq iyl- vovto xtL vgl. Schol. Kall. hymn. Del. 175) durch Blitze aulgerieben und von dem apollinischen Heiligthum vertrieben, ebenso wie nach orchomenischer Sage (Paus. 9. 36. 3) Apollon die Phlegyer mit Blitzen und Erdbeben vernichtete.

48 J. OVERBECK, [48

von den Alten statuirten Zusammenhang zwischen der Sonne und dem Gewitter oder den Blitzen als wohlberechtigt erwiesen hat. Gleichwie der Blitz wird aber dem Apollon consequenter Weise auch die Ägis, das Symbol der Wetterwolke zu vindiciren sein, und zwar, nach der von Stephani119) entwickelten Ansicht, ihm unter dem Beinamen BotjdQo/iiog oder Boy&oog, wie ich auch jetzt noch, nach Erwägung der Zweifel, die Wieseler120) da- gegen ausgesprochen hat, annehme. Ich bin nämlich nicht allein überzeugt, dass das Attribut , welches der Stroganoffsche Apollon in der linken Hand erhebt, sich auch bei wiederholter Prüfung als Ägis und nicht als Marsyasfell erweisen wird, ein Attribut, das Wieseler nur sehr mit Un- recht für den Apollon Patroos des Leochares in Athen in Anspruch zu nehmen scheint, sondern ich glaube auch, dass der Dichter der Ilias in jener Stelle des 1 5. Gesanges, in welchem er aen Apollon mit der Agis ausgerüstet und mit ihr die Argeier schreckend darstellt, durch das Her- vorheben des mächtigen Rufes oder Schreiens, das Apollon in dem Augenblick erhebt, wo er die Ägis schüttelt,121) auf den Cullbeinamen des BotjdQOfiwQ und Botj&oos> den selbst er in dieser seiner Schil- derung nicht gebrauchen durfte, hat anspielen wollen, während anderer- seits eben das ßotj in diesem Gultbeinamen als bezüglich auf die Stimme des Donners seine volle Bedeutung erhält, wenn man es mit dem Attri- but der geschwungenen oder geschüttelten Agis zusammenbringt. Sowie aber das Attribut der Ägis und der Beiname Boedromios den Apollon als Gott der Wetterwolke dürfte ihn auch noch ein anderes Attribut und ein anderer Gultbeiname als Blitzgott angehn. Ich meine das Schwerdtm) und den Beinamen Xqvöoxoq oder XyvödoQog, obgleich ich zugestehe, dass sich das für jetzt wenigstens nicht strict beweisen lässt.1*)

4 4 9) Apollon BoSdromios, Erzstatue des Grafen Sergei Stroganoff u. s. w. Peters- burg 4860. S. 5S ff.

ISO) Der Apollon Stroganoff und der Apollon vom Belvedere Göttingen 1864. S. 7 ff.

194) IL 4 5. 390 f. avtaQ intl natevoma iddv JavadSv Ta%uncik(ov

o*7g, int d'avvbe avae \niya

4 98) Er führt es im Gigantenkampfe in zwei Vasenbildern bei Gerhard, Auserl. Vasenbb. 4. Taf. 64 und Trinkschalen und Gefässe Taf. 9 und gegen Tityos in dem münchener Vasenbilde No. 409 des Jahn' sehen Verzeichnisses, abgeb. b. Gerhard, Trinkschalen und Gefässe Taf. G. 4 3.

4 93) Über Chrysaor als Blitz vergl. Stark: Mytholog. Parallelen in den Berichten der kgl. sächs. Ges. d. Wiss. 4 856. S. 58 und Preller, Griech. Mythol. 4. Aud. 9. S. 46. Sollte es Zufall sein, dass Apollon in eben der Stelle des 4 5. Gesanges der Ilias

49] Beiträge zur Ebkbnntniss und Kritik der Zelsreligion. 49

Drittens blitzt auch Ares. Für diese Behauptung kann ich mich freilich nicht auf das Citat berufen, welches, seitdem Winkelmann m) dasselbe gebraucht hat, von nicht wenigen unserer MythologQn1*5) ihm nachgeschrieben, obgleich es gänzlich falsch ist; denn es ist kein anderes als die so eben (Anm. 1 1 8) angeführte Stelle des Sophokles, die sich nicht auf Ares , sondern auf Apollon bezieht. Eben so wenig berufe ich mich auf die von Winkelmann angeführte Paste der Stosch'schen Sammlung, die er in seinen Denkmälern unter No. 4 hat abbilden lassen, denn diese stellt sicher Zeus und nicht Ares dar. Ich berufe mich vielmehr ganz allgemein auf Ares9 Speer und behaupte, dass dieser nichts Anderes sei, und nichts Anderes sein könne, als eben der Blitz. Es kann nämlich mei- ner Oberzeugung nach keinem Zweifel unterliegen , dass Preller in der neuen Auflage seiner Mythologie (1. S. 251) mit der Deutung des Ares als des Gottes des finsteren Sturmgewölks am Himmel vollkommen das Rechte getroffen hat, indem er den Gott, abgesehn von dessen Beinamen Enyalios, über den ich ganz verschiedener Meinung bin , ganz so fasst, wie ich ihn seit Jahren in meinen Vorlesungen über griechische Mytho- logie gefasst und durchzuführen versucht habe. Ist diese Ansicht aber die richtige, so folgt der Rest meiner Behauptung von selbst, und wenn man den Speer der Pallas und der Palladien als den Blitz anerkennt, so muss man auch den des Ares, den Speer des Gottes des Sturm- und Donnergewölks als den Blitz anerkennen.

Ich will nun von denjenigen einzelnen und zweifelhaften Kunst- werken und Stellen später Schriftsteller, die Winkelmann (a. a. 0.) weiter citirt, um zu beweisen, dass auch Dionysos, Hephästos, Pan, Herakles, Kybele, Here, Eros blitzwerfend vorkommen, ganz absehn, da die et- waige Frucht ihrer genauen Kritik für meine Zwecke ohnehin wenig austragen würde;136) mir genügt vollkommen, gezeigt zu haben, dass

in der er die Ägis führt sich vs. 256 dem Hektor ausdrücklich als Phoibos Apollon Chrysaoros vorstellt? und weiter, sollte sich das Achselband des Stroganoff 'sehen Apollon nicht bei erneuter Prüfung , die freilich nur von Stephani erbeten werden kann, nicht als Telamon eines Schwerdtes anstatt als Köcherband erweisen?

124) »Ober die blizenden Gottheiten«, Alte Denkmäler 4. S.Cap. No. 3. 4.

425) Z. B. von Lauer a. a. 0. S. 242. Note 740, von Gerhard, Griech. Myth. § 343. 3.

426) Auch was sonst noch einzeln hier und da Ähnliches vorkommt, wie z.B. die blitzwerfende Here einer Gemme von Kertsch Ann. 4 840. p. 4 6 und was Wieseler im Bull. a. a. 0. und in den Jahrbb. des rhein. Altert hu msvereins a. a. 0. beigebracht bat, glaube ich übergehn zu dürfen.

Abbaodl. d. K. S. Gel. d. Wiw. X. 4

50 J. OVERBECK, [50

ausser Zeus Pallas Athene und Ares und zwar regelmässig und nach Naturnotwendigkeit ihres Wesens und dass Apollon in einer ganzen Reihe von Culten, und zwar auch motivirter Weise, den Blitz führt, um daran die Behauptung zu knüpfen, dass dem Zeus der Blitz ursprünglich nicht als Zeichen der höchsten Herrschaft im Himmel und auf Erden oder als dem absoluten Gotte beigelegt wurde, sondern dass er ihm, wie der Pallas Athene und dem Ares, als dem Gotte zukam, der die Wolken am Himmel sammelt und zerstreut, der weht und stürmt, regnet, hagelt und schneit, dem ve^ektjye^Trjg und xthaivecpfjs, und dass Zeus eben des- halb den Blitz in denjenigen seiner ältesten Culte nicht geführt hat , in denen er als der Gott der himmlischen Luft und des Lichts und der Gluthhitze des Äthers aufgefasst und verehrt wurde.

Über den Gultus des Zeus auf Bergeshöhen, auf den Welcker S. 1 69 ff. ebenfalls ein grosses Gewicht legt , können wir uns noch kür- zer fassen. Die Thatsache, dass Zeus an vielen Orten auf Berghöhen verehrt worden sei kann und soll nicht bestritten werden, und sie bleibt richtig und bedeutsam auch dann, wenn man Welckern einige Abzüge in seiner Liste macht, so wenn man vor allen Dingen den »Berg der schwerwinterlichen Dodona«, der nach dem oben (S. 32) Gesagten nicht anerkannt werden kann, streicht, so ferner, wenn man eigensinnig genug ist, den »Felsaltar des höchsten Zeus« in Athen für die Pnyx zu halten und was' dergleichen mehr sein mag. Und ebenso bleibt die andere Thatsache richtig und bedeutsam, dass andere Götter nur ausnahmsweise Cultus auf Bergeshöhen hatten, wenngleich die Fälle wohl nicht ganz so selten sind, wie es nach Welcker's Darstellung S. 1 70 scheinen möchte.127) Aber darauf kommt es viel weniger an , als auf die Beantwortung der Frage, in welchem Sinne dem Zeus der Cult auf Bergeshöhen galt? Und

4 27) Für die apollinische Religion darf z. B. der 22. und 23. Vers des delischen Apollonhymnus nicht vergessen, an das Lykoreion auf der Höhe des Parnass , an den Maleates auf der Höhe des Kynortion (Paus. 2. 27. 8) und den Pythaeus auf Thor na x (Paus. 3. 4 0. 10) erinnert und geltend gemacht werden, dass der Tempel in Phigalia hoch genug liegt, um sich mit manchem Heiliglhum des Zeus zu messen, Here heisst Dirphya vom Berge Dirphys Gerh. Myth. § 2t 5. 5, das xoxxvyiov ogog Paus. 2. 36. 2 weist ebenfalls auf Bergcult; an den kyllenischen Hermes erinnert Welcker ; der Helios Alabyrios auf Rhodos ist bekannt (vgl. für Helioscult auf Bergeshöhen z. B. Mercklin, die Talossage S. 4 5 [mit Note 4 54] und S. I 6), und so findet sich noch Manches, welches hier im Einzelnen zusammenzutragen ohne besonderes Interesse ist, vgl. Hermann, GoUesdiensll. Alterthümer § 4 4.

51] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 51

da glaube ich , dass Welcker das Richtige trifft oder andeutet, wenn er S. 169 schreibt: »Man glaubte dem himmlischen Zeus sich zu nähern, wenn man am bestimmten Tage nach stundenlangem Aufsteigen das Land und alles Irdische in's Kleine zusammengezogen und tief unter sich sah, den Himmel wie allumfassend über sich.« Dem Himmelsgott, dem Athergott, so scheint mir, galt der Cult auf den in den Himmel ragen- den , gleichsam den Himmel stutzenden Bergen , auf deren Gipfel sich deshalb auch der Himmelszeus niederlässt. Mit Zeus' angeblicher pri- mitiven absoluten Gottnatur hat also auch dieser Gultus in seinen Wur- zeln Nichts zu thun, den Himmelsgott Zeus aber brauchen wir uns durch denselben nicht erst erweisen zu lassen.

5.

Wenn es mir gelungen sein sollte, durch die vorstehenden Ab- schnitte darzuthun , dass Zeus in seinen ältesten und originalen Culten so wenig wie in seinem Namen als der Gott schlechthin, als transmun- daner Gott über der Natur charakterisirt wird, sondern als Gott des Himmels, eines Naturreichs wie die anderen griechischen Götter, so er- wächst mir nun, und zwar noch ehe ich mich zu dem Nachweise wende, dass Kronion den Sohn des Kronos , den geborenen Zeus , nicht aber den Gott von Ewigkeit her bedeute, die Aufgabe, Zeus1 Stellung im natio- nal poetischem Göttersystem von der gegebenen Basis aus zu moti- viren. Dass ich diese Stellung des Zeus wie das ganze poetische Götter- system als die Frucht eines langsamen Wachsens und als das Resultat einer Steigerung in der Idee von den Göttern im Zusammenhange mit den Fortschritten in der Bildung der Nation betrachte habe ich schon ausgesprochen ; es bleibt mir hier wesentlich eine Beleuchtung des Zeus als narfiQ avÖQ&v re &&5v re, als vtpiarog kqcwvtcw, in seinem Verhält- niss zur Moira und in seinem angeblichen »Schaffen« übrig.

Anlangend nun zuerst den Vater Zeus, und zwar den Vater der Götter, so ist es überflüssig, darzuthun, dass dies Wort vielfach nicht im genealogischen und eigentlichen , sondern im patriarchalischen und uneigentlichen Sinne gebraucht wird und so allein gebraucht werden kann, und dass es Zeus als ein »Clanshaupt« bezeichnet, um mich eines

52 J. 0 VERBECK, [52

Welcker'schen Ausdrucks (S. 179) zu bedienen, den er freilich S. 181 vergessen zu haben scheint, wenn er schreibt, dass das »Vater der Göt- ter im eigentlichen Sinn gelte.« Welcker selbst hat eine Reihe von Stellen angeführt (S. 179), in denen im Munde der Thetis, der Here, des Posei- don die Anrede Zev 7iare(j schlechterdings nicht im eigentlichen Sinne gebraucht sein kann; diese Stellen würden sich sehr wesentlich ver- mehren lassen, wenn darauf Etwas ankäme, was aber deswegen nicht der Fall ist, weil die genealogische Ableitung von Zeus, die den eigent- lichen Sinn des Worts Vater begründet, sich auf einen verhältnissmässig nicht sehr weiten Kreis von olympischen Göttern beschränkt. Die »vor- läufige Übersicht des neuen Systems« bei Welcker S. 138 f. giebt eine hier sehr brauchbare Zusammenstellung dieser genealogischen Ableitun- gen von Zeus , aus der wir sowohl das langsame Zustandekommen wie die verschiedenartig feste und zum Theil ganz lockere und äusserliche Verknüpfung, die ja in einzelnen Fällen Nichts ist als ein Unterbringen von fremden Göttern,128) wie endlich die Schranke und Grenze ermessen können, örtlich, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, unabhängig von einander sind die Götter zu Geborenen und dann zu Zeus1 Kindern geworden, und zwar aus sehr verschiedenen Gründen, zum Theil aus solchen ihrer ursprünglichen Natur und des Verhältnisses dieser zur Natur des Himmelsgottes ; so z. B. Athene als Ausfluss des himmlischen Lichts und der Atherklarheit, Apollon und Artemis als Son- nen- und Mondgötter, die Dioskuren als Morgen- und Abendstern, als himmlische Erscheinungen , Hermes nicht als Gott des thieriscben Trie- bes und des himmlischen Umschwungs (diesen Letzteren läugne und bestreite ich überhaupt), sondern als Gott der Wolken, desgleichen Ares in anderer Wendung, Hephäslos nach dem Glauben, dass das vulkani- sche und irdische Feuer vom himmlischen im Blitz entzündet werde; alle diese Götter, wie sie denn beschränktere Naturgebiete vertreten, sind von Zeus als dem Gotte des umfassenden Himmelreichs in seiner wechselnden Erscheinung und verschiedenen Einwirkung auf das Leben der Erde abgeleitet, nicht als untere Götter von Gott, aus dem Gott- begriffe des Zeus hypostasirt. Dafür liegt auch darin ein Beweis , dass

128) Dies gilt wenigstens nach Welcker* s Ansichten für die »thrakischen« Götter Ares und Dionysos und für die orientalische Aphrodite; dass ich hier in gewissen Be- ziehungen anderer Meinung bin kommt jetzt nicht in Betracht.

53] Beitrage zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 53

Poseidon and Aides Zeus' Brüder, nicht seine Söhne heissen, was Wel- cker S. 241 »die eigentümlichste Ausweichung vom System« nennt. Aber weder von einem System noch von einer Ausweichung von dem* selben kann hier die Rede sein, sondern die Tbatsache gründet sich auf die Dreitheilung der physischen Well, die Welcker hier (S. 241) und in dem Abschnitte »Zeus mit zwei Brüdern« (S. 1 60 f.) sehr gut beleuchtet, auf die ursprüngliche Goordination von Himmel, Erde und Meer, das TQiX&a di navra didaorai, welches den Mythus von der Verkeilung der Weltherrschaft unter die drei Kronidenbrüder geboren hat, und ur- sprünglich von einer Unterordnung der zwei Anderen unter Zeus Nichts wusste. Denn Poseidon ist eben wie Zeus Vater und Herrscher eines grossen thalassischen Reichs geworden und Aidoneus unabhängiger Herrscher in der chthonischen und katachthonischen Welt und würde auch Vater sein , wenn die Idee des katachthonischen und des Reichs des Todes ihn nicht hatte unfruchtbar werden lassen.

Wenn nun aber Zeus in einer Reihe von örtlichen Mythen und Sa- gen Vater der meisten höchstgeehrten, mächtigsten und erhabensten Götter geworden war, der Götter, deren geistige Auffassung ihre eigenen Naturculte und die Gülte der mit der Natur concreter gebliebenen Gott- heiten, wie Gäa, Helios, Selene u. A. wenngleich nicht örtlich (wo sie ruhig fortbestanden), so doch im nationalen Götterglauben und vor Allem in der Heldenpoesie verdunkelt, zurückgedrängt und beschrankt hatte, so war es schon hiernach natürlich und in der Zeit patriarchalischer In- stitutionen gegeben und bedingt, dass Zeus als der oberste, als der Herrscher dieser seiner Kinder erschien und gefasst wurde."9) Und diese Stellung musste ihm ferner die des Glanshauptes , des Herrschers und patriarchalischen Vaters auch über die für den poetischen Glauben untergeordneten Gölter eintragen, die genealogisch nicht von ihm abge- leitet oder mit ihm verknüpft waren, und deren Unterordnung zum Theil aus dem Siege im Titanenkampfe und einer Unterwerfung nach dem- selben abgeleitet wurde, während andererseits das Beispiel der früher und später örtlich und in den Culten entstandenen genealogischen Ver- knüpfungen einer Reihe von Gottheiten mit Zeus weiter führen musste

4*9) Daraufweist den homerischen Zeus noch Poseidon hin II. 4 5. 197

&vyat6Qtooip yuQ n xul vikm ßikvtQov ettj inna/Xoig int6<nr inoat'fitv, ovg rtxtv avvog, oi i'&tv oTQvvovtog axovaovrat xal ctvdyxy*

54 J. OvERBECK, [54

und weiter gefuhrt hat, indem man das Wort Vater für Musen, Chariten, Hören wörtlich verstand und in der Erdichtung von Müttern wörtlich anwandte.

Dass ich aber die Gesammtorganisation der olympischen Basileia unter Zeus als die Frucht der Organisation des heroischen Staates und als sein Abbild betrachte, habe ich schon früher angedeutet, und will darauf, da es hier nicht auf eine Durchführung im Einzelnen ankommt, nicht nochmals zurückkommen.

Wenn nun die Grundsätze, die wir für den Vater der Götter gel- tend gemacht haben richtig sind, so müssen sie auch für den Vater der Menschen gelten , wie denn auch Welcker an der bereits angeführten Stelle eine gleiche Auffassung der Phrase tcccttjq avdyow re &mv re für beide Theile fordert. Hat sich uns nun der nartj^ &mv nur in einzelnen concreten Fällen, namentlich im Munde der Athene und anderer leib- licher Kinder, nicht aber allgemein im eigentlichen Sinne bewährt, so kann auch der tvccttjq ävdQtov nicht und noch viel weniger im eigent- lichen Sinne gelten oder verstanden worden sein. Welcker freilich be- müht sich S. 181 f., eine wirkliche Vaterschaft des Zeus den Menschen gegenüber zu erweisen, aber mit sehr geringem Erfolge, wie mir schei- nen will. Wenn im Hymnus auf den pythischen Apollon (vs. 150, 336 Herrn.) die Götter und Menschen von den Titanen stammen, so wird hiedurch selbst die Möglichkeit, dass sie nach einer anderen Ansicht von Zeus stammen, die Welcker a. a. 0. behauptet, kaum, die Wahrschein- lichkeit gewiss nicht erwiesen; wenn in der Sage von den Weltaltern in den besiodischen Werken und Tagen 109 und 127 die Menschen des goldenen und silbernen Geschlechts von den Göltern um Eronos ge- macht werden (nofyoav) ,m) sowie die des dritten und vierten Ge- schlechts von Zeus (143, 157 nolTjoe), so ist hier von einer Vaterschaft im einen wie im anderen Falle keine Rede, denn es handelt sich um ein Machen und Bereiten, facere und formare, wobei die Art und Weise im letzten Falle nicht angegeben wird, wohl aber im dritten, bei dem eher- nen Geschlechte, das Zeus ix /uehäv, doch wohl nicht als Vater, bildet. Gleiches gilt von Simonides von Amorgos und von Piaton, die Welcker

4 30) Dass sich hiermit das bpo&tv ytyaaoi faoi ftvrpoi x av&Qamoi vs. 4 08 nicht vertrage und dass 4 08 nebst 4 06 und 407 als Interpolation zu betrachten sei hat schon GÖttling erinnert, der auch mit gutem und vollem Recht auf das noluv, efformare nicht procreare Gewicht legt.

55] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 55

(S. 182) anführt; ein Machen der Menschen aus Erde wie bei dem Letz- leren (Polit. p. 37 t) begründet keine Vaterschaft. Aber freilich verwech- selt Welcker die Begriffe von Schaffen , Machen und Zeugen auch sonst noch, und wenn ihm Zeus im Ehebunde mit Here, Demeter und anderen Gottinnen »schaffend« ist, warum sollte er da nicht als Vater gellen, wenn er die Menschen aus Baumstämmen schnitzt oder aus Thon knetet? Am schlimmsten aber fährt Welcker a. a. 0. mit der Stelle der Odyssee 20. 202 wo Philoitios sagt

ZeV 71CCT6Q

ovk iXeaigcig avdqa^ enrjv dtj yeivecu avrog x. r. A. in der, wie Welcker schreibt, Schwenck vor langer Zeit131) eine Spur der Ansicht erkannte, dass Zeus die Menschen »erschaffen« habe, wenn auch der Widerspruch, welchen dies mit der homerischen Mytho- logie bilde, nicht zu heben sei. Welcker aber meint, »Philoitios beziehe sein yeivsai auf seine Anrede Zev ndrey, und man werde nicht sagen wollen, dass er in seiner Ruchlosigkeit eines sonst im weiteren Sinne genommenen Namens spotten wolle.« Gewiss nicht, und zwar um so weniger, je weniger Philoitios, den Welcker mit Melanthios verwech- selt zu haben scheint, ruchlos ist. Man werde vielmehr, fährt Welcker fort, dem Scholiasten beipflichten, der an das narrjQ dvö^v re &ewv re erinnert. Schwerlich! denn dann wäre in der That einem sonst in wei- terem Sinne genommenen Namen eine andere und eigene Bedeutung gegeben , die , mag sie ernst oder spöttisch gemeint sein , und zwar an dieser einen Stelle, einen Widerspruch mit der homerischen Mythologie begründet, der auch schwerlich dadurch zu heben ist, dass dem Philoi- tios die Erinnerung an Odysseus den Gedanken an die dioyeveig ßaoi- Xrjes nahe legen mag, sondern den zu beseitigen nur dann gelingen möchte, wenn man eine versleckte Anspielung auf Herakles annehmen dürfte, der gemäss man etwa hti\v xal yeivecu avrog , auch dann, wenn du sie selbst gezeugt hast, schreiben müsste. Will man aber dies nicht als Expediens gelten lassen, gut, so erkenne man den Widerspruch un- verhüllt an, aber gründe dann auch Nichts auf ihn.

Auch dagegen muss ich Einspruch erheben, wenn Welcker S. 1 83 schreibt: »das Gefühl, dass die Menschen aus Gott seien, drückt im Allgemeinen sich auch aus durch die unzähligen Sagen der Einfalt von

131) In der Zeitschrift für die Altertbuiuswissenschaft 1834. S. 951 .

&6 J. OVERBECK, [56

den Stammvätern aus Zeus und dessen Vermählung mit den Landen, als Phthia, Ägina, Thebe, Taygete u. s. w.« Die Menseben? Nein, die hochadeligen Anaktengeschlechter,19*) deren sich manche, viele bis auf Zeus , so gut wie andere auf A pol Ion und andere Götter zurückführten, und wie auch andere Götter mit den Repräsentantinen oder Heroinen der Landschaften und Städte , wo jene Cult hatten , vermählt wurden, wahrhaftig nicht in dem Sinne , den Welcker behauptet. Gleiches gilt nich minder von Pind. Nem. 5. 7, wo die Äakiden, aber wahrlich nicht »die Menschen« von Kronos und Zeus abgeleitet werden; und einzig und allein für die Spätzeit, aus der Welcker a. a. 0. Kleanthes' ex rov yag yevog softer und Aratos' nar^Q dvägäv tov y&Q y&og ia/iiv citirt, kann die Annahme einer Vaterschaft des Zeus deu Menschen gegenüber zugegeben werden , während mit Bestimmtheit nach dem Vorherigen zu läugnen ist, was Welcker behauptet, dass Epiktet's Ausspruch : »Wer von der Lehre wahrhaft sich überzeugen kann , dass wir Menschen alle von Gott bevorzugt geschaffen sind und dass Gott Vater ist der Men- schen wie der Götter, der, mein' ich , wird über sich keinen unedlen, keinen gemeinen Gedanken fassen« »auch für die älteste Zeit gel- ten müsse. a

Wenn nun nach dem Allen gesagt werden muss, dass das nareQ Zev und das nar^g ävÖQmv re &ewv re im Allgemeinen im figürlichen und patriarchalischen Sinne gebraucht werde , so ist auch noch darauf hin- zuweisen , dass mit diesem uneigentlichen und patriarchalischen Sinne der Anrede: »Vater« sich die Ausdrücke ä?a£, vyiorog und vTiarog xqswv- tco?, denen sich solche wie /urjdewv u. A. anschliessen aufs natürlichste verbinden, Ausdrücke, die doch nicht so gar selten sind , wie Welcker S. 479 annimmt, und die, weit entfernt zu dem ttccttjq einen Gegensatz zu bilden , dessen Begriff der patriarchalischen Basileia nur nach einer bestimmten Richtung hin präcisiren.

Hiernächst ist ein Wort zu sagen über das von Welcker S. 193 ff. besprochene »Schaffen« des Zeus, welches ein Zeugen im Ehebunde mit einer Erdgötlin ist. Wie zunächst die Alten dies »Schaffen« aufgefasst haben, das lehrt uns ein Äschylos in dem bekannten herrlichen Frag-

13*) Götterl. 2. S. 215 heisst es bei Welcker: »dass die Könige und namentlich die sagenhaften wie Dardanos, Tantalos [Söhne] von Zeus hiessen, und die Eitel- keit stolzer Geschlechter und ihrer genealogischen Schmeichler, musste dann auch zu vielen Dichtungen führen.«

57] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 57

mente der Danaiden , 18S) das Euripides 1M) nachgeahmt hat, oder auch ein Vergil,185) von Neueren verweise ich besonders auf PrellerV*6) treff- lich gehaltene Opposition. Welcker aber widerlegt sich eigentlich selbst, schon indem er S. 196 Zeus in seinem Yerhältniss znr Natur »grund- verschieden von Jehovah« nennt und wieder daselbst, wenn er schreibt: »das Wort Schöpfer (Himmels und der Erden) fehlt den Sprachen, deren Völkern eine absolute Trennung des Göttlichen von der Materie nicht in den Sinn kam« d. h. den Ariern; nur dass er hierfür hätte sagen müs- sen, die Idee, der Begriff oder das Dogma eines ausserweltlichen Gottes von Ewigkeit her, der den Kosmos der ganzen Welt durch seinen Wil- len und sein Wort schafft, fehlt diesen Völkern, fehlt auch den Griechen, denen alle Schöpfung eine Zeugung war. Richtig ist, was wir S. 197 lesen, dass der Gedanke des Psalmisten: ehe denn die Berge geworden und die Erde und die Welt geschaffen wurden bist du Gott von Ewig- keit zu Ewigkeit, sich in der griechischen Religion nicht ausgesprochen finde ; aber das ist es ja grade, worauf es ankommt, Zeus ist kein ausser- welllicher Gott, kein Gott schlechthin wie Jehovah, sondern 'ein Gott in der Natur, denn falsch ist es, wenn Welcker hinzufügt : »aber durch den auf den Namen Kronion gelegten Nachdruck wird indirect angedeutet, was dort ausgesprochen ist,« denn Kronion ist nicht entfernt der Gott von Ewigkeit ber. Und so sollte man auch nicht sagen : »gewissermassen ist Zeus allerdings Demiurg, der an der Materie bildet, die ohne seine Zeugung keine lebendigen Gestaltungen darbieten würde , zu göttlichen Werken [?] erst durch seine Gottheit befähigt wird. Die Natur ist unter- geordnet indem sie ohne ihn immerdar unverändert ruhen würde;« denn dies ist griechischen mythologischen Anschauungen diametral ent- gegen. Es kommt aber gar sehr darauf an, diese Thatsache, dass die Griechen die Idee des Schaffens eines vor der Materie dagewesenen Gottes nicht hatten, und zwar weil sie keinen supranaturalen, transcen- denten Gott kannten , sondern Zeus wie alle Götter von Anfang aus der

133) Bei Athen. 4 3. 600. C, wo man im ersten Verse statt ayvog was hier kaum das Richtige treffen dürfte, da es auf die «/rorq? des ovfmrog hier am wenigsten an- kommt, wohl Xayvos lesen möchte; freilich aber steht an der entsprechenden Steifte bei Earipides atpvoe.

134) Daselbst. 43. 599 f. 435) Georg. 2. 323 ff.

136) Jahn's Jahrbb. a. a. 0. S.36.

58 J. Ovkrbeck, [58

Natur sind, so dass Zeus' Ehen nicht anders sind als die Ehen anderer Götter, diese Thatsache unverhüllt auszusprechen. »Zeus ist, indem von ihm die Gattin unzertrennlich, die aus seinem Verhältniss zur Erde her- vorging« nicht »eben so innerweltlich (immanent) wie er überwelllich (transcendent) ist« wie es S. 196 heisst, sondern er ist durchaus und nur immanent, durchaus »hingegeben an die Welt« und gar nicht »in sich zurückgezogen, nicht in sie aufgehend, oder Weltgeist.«

Und nun Zeus und die Moira. Wenn sich uns Zeus weder in seines Namens Urbedeutung, noch in seinen ältesten Culten, noch auch in sei- ner Herrscherstellung in der Götterfamilie und im Götterstaat, noch fer- ner als Schöpfer der Menschen und der Welt als Gott schlechthin gezeigt hat, so könnte es scheinen , dass er sich als solcher in seinem Verhält- niss zur Aisa, Moira offenbare. Denn ich stimme Welcker von ganzem Herzen zu, wenn er die Idee eines Schicksals über Zeus und ausser Zeus und den Göltern, über und ausser der gewöhnlichen göttlichen Vorsehung und Vorherbestimmung bekämpft.137) Aber ich kann ihm nicht beistim- men, wenn er die Moira , Aisa als identisch mit dem göttlichen Willen zu Zeus allein in ein enges Verhältniss bringt. Sie ist nicht der Ausfluss von Zeus' Willen allein, sondern von aller Götter Willen, sie eignet nicht Zeus, sondern den Göttern als Göttern, als Theilhabern jenes abstracten &eiov9 welches allein wir als die insita notitia angesprochen haben. Die S. 1 87 von Welcker angeführten Stellen, obwohl sie nur zufällig, sichtbar nicht absichtlich ausgewählt sind, in denen die Moira der Götter {Moi^a focdv) steht, in denen die Moira als Ausfluss des Willens der Here, des Apollon erscheint, genügen vollkommen, um meine Behauptung zu be- weisen, die es denn wohl auch rechtfertigt, dass später nicht Zeus allein MoiQayerrjs heisst, sondern auch Apollon, und dass, wie Welcker selbst anführt, neben Zeus und wie Zeus auch Athene, Here. Apollon, Posei- don, Kypris dieKeren senden oder abwehren. Dass aber die Moira öfter zu Zeus als zu den anderen Göttern steht, und dass sich aus der Formel i% Jio$ Moiqa die Vaterschaft des Zeus gegenüber den Moiren ent- wickelt hat, wie sie die hesiodische Theogonie (904) kennt, das darf uns nicht wundern, da dem Zeus als dem ßaotlevg des Olymp die ober- ste Entscheidung in den Schicksalsdingen natürlich anheimfällt.

137) Götterl. i. S. 183 ff. Womit ich freilich nicht jedes Wort in diesem Ab- schnitt unterschrieben haben möchte, worauf aber hier Nichts ankommt.

59] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zedsreligion. 59

6.

Wir kommen zum Zeus Kronion, in dem jedenfalls die Ansicht Welcker's von der Zeusreligion culminirt. Die Erklärung des Kronos als Chronos ist bekanntlich nicht neu, sondern von einer Anzahl unserer bedeutendsten Mythologen bereits früher vertreten, eben so wenig kann man die mit jener Erklärung im Zusammenhange stehende Deutung des Kronion als des Gottes von Ewigkeit her in ihrem innersten Kern neu nennen ; hält man Kronos für die Zeit, die unendliche Zeit, so kann man ja Sohn der Zeit nicht anders als in dem angegebenen Sinne fassen. Aber trotzdem ist in Welcker's Bearbeitung dieser Idee viel Neues, theils in der sehr gelehrten und gründlichen Beweisführung für dieselbe als Thatsache, theils in ihrer weiten Ausdehnung und Anwendung auf die griechische Religion , endlich in der Erhabenheit der Auffassung. Des- wegen, und obgleich ich keineswegs verkenne, dass schon von An- deren, namentlich von Preller (a. a. 0. S. 37) Bedeutendes gegen Welcker's Lehre eingewendet worden ist , kann ich nicht glauben , dass es verlorene Mühe sei, dieselbe schrittweise zu verfolgen und sie in ihrer Grundlage und in allen ihren Consequenzen neu zu prüfen.

Welcker beginnt seine Darstellung (S. 141) mit einer Behandlung des Sprachgebrauchs bei Homer, zu der ich ihm folgen werde, nach- dem ich zuvor noch einmal darauf hingewiesen habe, dass Homer für den Zeus Kronion überhaupt unsere älteste Quelle ist, da das Wort, wie ich schon oben (S. 22) bemerkt habe, uns in keinem der ältesten Gülte auch nur zufällig entgegentritt. Es fällt mir nicht ein, diesen negativen Beweis gegen das Alter des Kronion als an und für sich schwerwiegend oder gar entscheidend zu halten, nur glaube ich, dass er im Zusammenhange mit dem Ferneren ebenfalls einiges Gewicht ge- winnen und zum Senken der Schale mit beitragen wird.

Untersuchen wir nun zuerst, ob Welcker's Deutung des Zeus- beinamens Kronion nöthig sei, um die Thatsachen, die sich im ho- merischen und späteren dichterischen Sprachgebrauch an ihn knüpfen zu erklären. Welcker sagt a. a. 0. : » nun ist der Beiname Kronion von allen des Zeus der häufigste bei Homer und Hesiodus und bei allen Nachfolgenden um so mehr, als sie in den religiösen Ton der ältesten Poesie einstimmen.« Dies leitet Welcker aus der von ihm angenommenen Bedeutung des Kronion ab, durch welche, wie er sagt, dem Gölte das

60 J. OVERBBCK, [60

höchste Prädicat beigelegt werde. Aber gleich hier müssen wir fragen, ob sich bei dem bekannten grossen Gewichte, das, namentlich auch in den homerischen Gedichten, auf das naryo&ev övofxa&iv in der Be- zeichnung und namentlich in der Anrede gelegt wird,138) die Thatsache der überwiegend häufigen Bezeichnung und namentlich der Anrede des Zeus als Kqoviwv oder Kqovidrjg nicht viel einfacher aus eben dieser Sitte und aus der Analogie der noch häufigeren Bezeichnung und An- rede des Agamemnon als Atreides130) erkläre? Und da es feststeht, dass Homer Eronos als Person und als den Vater des Zeus kennt und anerkennt,140) so kann ich allerdings nicht zweifeln, dass der Dichter Kronion und Eronides so gut wie Sohn des Eronos genealogisch ver- standen hat, und dass sich die Häufigkeit des Beinamens nicht aus dessen Gewicht als »das höchte Prädicat,« sondern aus der Sitte des natQo&ev ovo/ia^v erkläre. Und diese Bemerkung gilt eben so wohl auch dem gegenüber, was Welcker im Verfolge des ausgezogenen Satzes bemerkt: »auch wird Kronion und Eronides sehr oft allein statt Zeus gebraucht, und wo es mit Zeus und einem anderen gewichtvollen Beinamen verbunden steht, muss es eben so wohl wie dieser auch Ge- wicht haben.« Ganz gewiss ; aber kein anderes als wenn Agamemnon ausschliesslich Atreides genannt wird, was sich ebenfalls noch häufiger findet, als Eronion und Eronides für Zeus,141) nicht selten aber, grade wie bei Zeus, mit besonders ehrenvollem Nachdruck, so selbst im Munde des zürnenden Achill 1 . 122: Arqddri vidierte. Und nicht ver- schieden ist es , wenn andere hervorragende Helden , der Peleide , der Tydeide, der Laertiade bei Homer nur natQo&ev genannt werden, wäh- rend sich derselbe Sprachgebrauch in demselben Sinne bekanntermassen auch auf die späteren Dichter fortpflanzt. Hiernach kann ich nun weiter auch nicht als richtig anerkennen was Welcker S. 142 schreibt: »wäre

4 38) Es genügt auf II. 4 0. 68 and auf die Abhandlung Wachsmuth's, Hellenische Alterthumskunde 4. S. 809 zu verweisen.

4 39) In den ersten 4 2 Büchern der Ilias steht Zeus Kronion und Kronides im Ganzen 22 Mal, Atreides Agamemnon aber 32 Mal.

4 40) Vgl. 11.2.205,34 9; 4.69,75; 5. 721; 6. 4 39; 8.383; 9. 4 94; 4 2.450; .44. 4 94; 45. 4 87; 4 6. 434 ; 4 8. 293, um von den Stellen der Odyssee abzusehn.

4 44) In den ersten 4 2 Büchern der Ilias steht Kronion und Kronides ohne Zeus allein oder mit einem anderen gewichtvollen Beinamen verbunden 28 Mal, Atreides ohne Agamemnon allein oder mit einer zweiten gewichtvollen Ehrenbezeichnung ver- bunden aber 44 Mal.

61] Beiträge zur Erkenntmss und Kritik der Zeusreligion. 61

dieser Name zuerst aufgekommen durch die Genealogie , so würde er weder einen so nachdrucksvollen und häuGgen Gebrauch in Bezug auf Zeus erhalten haben, noch würden dessen beide mythologische Brüder, denen der Name nur genealogisch zukommt , von diesem Gebrauche in solchem Grade ausgeschlossen sein«; denn während sich der nach- drucksvolle und häufige Gebrauch bei Zeus aus der Sitte des ncxrqo&ev övofMa&iv wie gesagt und aus der Analogie besonders des Atreiden bei Agamemnon ganz natürlich auch bei der blos genealogischen Geltung des Kronion erklärt, so erklärt sich eben so einfach die Ausschliessung des Poseidon und Alfdoneus von demselben Ehrenbeinamen zum Theil schon dadurch , dass diese Götter die jüngeren Brüder sind , während Zeus als Erbe und Thronfolger des Kronos der Kronide katexochen ist. Wie sehr aber der genealogische Ehrenname und grade dieser an dem Altesten haftet, das lehrt uns wieder; die Analogie der beiden Atriden.14*) Ungleich vollständiger dagegen und in der That in erschöpfender Weise erklärt sich die Ausschliessung des Poseidon und Aftles von dem Bei- namen der Kroniden dadurch , dass sie erst durch Mythenpragmatismus oder »jenen combinatorischen Mythus« wie Welcker sich S. 4 41 aus- drückt, welcher sie zu Brüdern des Zeus macht, überhaupt zu Kro- niden geworden sind , was Welcker a. a. 0. berührt und S. \ 60 ff. weiter ausführt. Der Mythus vom Kronos selbst , das glaube ich hier nicht erst beweisen zu dürfen , da ich auf diesen Punkt ohnehin in an- derem Zusammenhange zurückkommen muss, haftet in seinen Wurzeln und in seinem ganzen Umfange ursprünglich an Zeus allein, und er ist auf die beiden anderen Götter als die Brüder und die drei Göttinnen als die Schwestern des Zeus einzig und allein im theogonischen System

Kkt) Während nämlich Menelaos in den vielen Stellen , in denen er vorkommt stets als ßor}¥ uyaöbg oder «(»qfyiAof oder iav&bg vorkommt, führt er den Beinamen Atreides in den ersten \ * Büchern der Ilias Alles in Allem 8 Mal , Agamemnon aber wie schon bemerkt Alles in Allem 75 Mal, wobei die Stellen angerechnet sind, in denen die zwei Atriden als 'AxQtidai vorkommen , Stellen von denen man leicht zugestehn wird, dass in ihnen der Ehrenname eigentlich an Agamemnon haftet und auf den jüngeren Bruder mit übertragen ist. Nun kommen freilich Poseidon und Ai'doneus selbst nicht einmal so oft als Kroniden vor, wie Menelaos Atride heisst ; aber wenn man aus der Häufigkeit ihrer beiderseitigen Erwähnungen überhaupt ein Recbenexempel auf- machen würde, so würde man finden, dass sich die Zahl der Stellen, wo Menelaos vorkommt zu denen , wo er Atride heisst wesentlich proportioual verbalten zu denen wo jene Götter vorkommen und wo sie Kroniden heissen.

62 J. OVERBECK, [62

und nur so weit übertragen worden , wie dies die Consequenz des Sy- stems gebieterisch forderte. Und wiederum erklärt sich aus der That- sache, dass der ganze Mythus von Kronos ursprünglich nur den Zeus angeht, oder vielmehr, es bestätigt diese Thatsache was Welcker a.a.O. weiter bemerkt, dass nämlich »nur die Geburt des Zeus von Rhea auf einigen Punkten gefeiert worden ist, nirgend143) die der ihm ge- gebenen Brüder.« Denn dass Rhea den Zeus geboren, und nicht allein geboren, sondern auch vor seinem Vater gerettet hat, das ist ein wirk- licher, wenn auch, kein Urmythus, eine ausführlich auch von den Dichtern erzählte Geschichte, dass aber Poseidon so gut wie Axdes, wie Here, Hestia und Demeter Rhea's Kinder sind, ist kein irgendwie signi- ficanter Mythus , wenigstens nicht für die nationale und poetische My- thologie, sondern eine blosse Folge der combinatorischen Theogonie, folglich auch gänzlich gleichgiltig.#Wenn aber Welcker S. 1 41 f. schreibt: »grade dass bei Homer Kronion als Ehrenname stetig allein des Zeus gebraucht, sowie dass dieser von ihm dagegen nie ein Sohn Rhea's ge- nannt wird, beweist, dass gegen diesen neueren Mythus die alte reli- giöse Anschauung sich noch in Kraft erhielt, nach welcher Kronion be- stimmter als Zeus den Unterschied Gottes von der Welt ausdrückt, und nach welcher allein Zeus ursprünglich und wesentlich Kronion war«, so muss ich darauf entgegnen, dass auch bei keinem einzigen Helden, der nargo&ev genannt wird, die Mutter jemals mit irgendwelchem Nachdruck erwähnt wird, wie denn auch von allen Göttern und Göt- tinen nur Apollon und Hermes als Söhne des Zeus und der Leto resp. der Maias vorkommen. Und zwar, weil das fitjtQo&ep övofia&w durch- aus nur Ausnahme und unhellenische Sitte ist.144) Nach diesem Allen glaube ich mit Bestimmtheit, behaupten zu dürfen , dass wir in keinem Falle der Anwendung des Kronion bei Homer zu der Welcker'schen Erklärung zu greifen nöthig haben , dass vielmehr ganz gewiss im Be- wusstsein des Dichters, dem Kronos eine Person und reale Grösse ist

143) Vergl. jedoch Pausan. 8. 8. 1 u. 3, jene immerhin merkwürdige Stelle, in welcher von Rhea nach der Geburt des Poseidon Ähnliches berichtet wird wie der populäre Mythus von ihr nach Zeus' Geburt erzählt, merkwürdig auch dadurch, dass Pausanias angiebt , durch diesen Mythus zum Glauben an die rätbselvolle Sinnigkeit der griechischen Mythologie bekehrt worden zu sein , was Forchhammer im Philologus f 4. 3. p. 385 ff. ausgebeutet hat.

\ 44) Bachofen in den Verhandlungen der Stuttgarter Philologenvers. S. 40.

63] Beiträge zur Ehkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 63

nach Analogie seines gesammten Sprachgebrauchs, Kronion, Kronides und Sohn des Kronos einzig und allein mit Beziehung auf den wirk- lichen mythologischen Vater des Zeus gesetzt ist.

Was aber den Sprachgebrauch der späteren Dichter anlangt, na- mentlich zunächst denjenigen Pindar's , über den Welcker S. 1 42 han- delt, so erklärt sich dieser ebenso aus der feststehenden mythologischen Thatsache und aus dem grossen Einflüsse der epischen Poesie, dem sich so leicht kein späterer Dichter entzieht145) und am allerwenigsten ein Pindar, mit seiner »Hingebung an den Mythus«, die Welcker selbst hervorhebt.

Wenn man nun die vorstehenden Bemerkungen über Homer' s Ver- hältnis zu den Namen Kronion und Kronides anerkennt, so könnte man sich immer noch um die von Welcker angenommene Bedeutung dieser Worte zu vertheidigen, auf die zweite Position zurttckziehn, Homer selbst habe das überkommene Urwort Kronion misverstanden und, durch die eingebürgerte Genealogie, nach der Zeus ein Enkel ist, irre geleitet, dasselbe im gewöhnlichen Sinne falsch angewendet; und allerdings finden wir bei Welcker S. 1 42 die Behauptung , welche das Einnehmen dieser zweiten Position wenigstens vorbereitet: »der Name Kronion ist so alt wie für uns im griechischen Alterthum irgend Etwas.« Aber wo wäre auch nur der Schatten eines Beweises fUr diese Be- hauptung? wo die Möglichkeit, einen Beweis zu finden, als in den ältesten Culten, in denen man aber wie bemerkt, vergebens suchen wird. Denn das Einzige, was nun noch übrig bliebe, nämlich die zweite Behauptung , Kronion erkläre sich aus sich selbst, und verbürge in sich selbst sein Alter, wie der Name des Zeus, diese Behauptung hat Welcker nicht ausgesprochen, und die wird auch wohl kein vernünftiger Mensch im Ernst aussprechen. Dagegen sucht Welcker die aufgestellte Bedeutung von Kronion durch den Nachweis zu erhärten , dass Kronos Chronos, Zeitgott im Sinne vom Gott der unendlichen Zeit sei ; wenn ihm dieser Nachweis gelänge , so würde er, das muss man zugestehn , die mehr- berührte zweite Position einnehmen können, und zu behaupten be- rechtigt sein : Homer hat das ihm überkommene Wort Kronion misver-

J 45) Herodot's berühmter Ausspruch über Homer und Hesiod : ovrot di iimv oi notfjffotTte rfjv ftiQyovir\v "EXkqotv xcii voiai Ösoiai rag inantvfiiag dovceg x. r. A. ent- hält im Hinblick auf die spätere Poesie , den poetischen Nationalmythus eine grosse und beherzigenswerthe Wahrheit.

64 J. OVEHBBCK, [64

standen; und weiter: folglich ist dasselbe wenn auch grade nicht als Urwort wie Zeus, doch als sehr alt und als alter denn der genealogische Mythus erwiesen. Freilich. Wir haben also zu untersuchen, ob Welcker den Nachweis von Eronos9 Bedeutung als Chronos gebracht habe, ob dieser überhaupt zu bringen sei.

7.

»Kqovoq ist xqovos, die Zeit « Es sei mir verstattet, diese

Grundbehauptung, mit der alles Andere steht und füllt, zuerst sprach- lich, sodann an den Zeugnissen der Alten und endlich sachlich zu prüfen. »Kronos, also schreibt Welcker S. 1 40, ist XQ°V°£> die Zeit, und wurde als Eigenname so in der Schrift gestempelt,146) wie Ka^fAavwQ für Xa$- fidvtoQy '^[MpixTvwv füv^{upurri<Dr,U7) wie vielen alten Namen geschehen ist.« Beziehn sich die letzten Worte , wie aus dem Beispiel des Ap- yixriKov mit v für * geschlossen werden muss , im Allgemeinen auf die bekannte Thatsache , dass viele mythologische Namen durch eine ge- ringe Veränderung der Form aus Appellativen herausgebildet und zu Individualnamen differenzirt sind ,148) so ist dagegen Nichts einzuwen- den ; hat Welcker als er sie niederschrieb aber speciell den Wandel des * und % a's eines der Mittel zur Bildung der Individualform aus dem entsprechenden Appellativum im Auge gehabt, und meint er, dass viele alte mythologische Namen eben durch dieses Mittel ausgeprägt und aus dem Appellativum differenzirt worden seien , so muss man bedauern, dass er ihrer nicht mehre nennt, und namentlich, dass er nicht mehr Beispiele mythologischer, in hochalterthttmlicher Zeit , um die es sich doch zunächst, ja allein handelt, so gebildeter Namen anführt. Vielmehr

4 46) Im Rhein. Mus. a. a.O. beisst es statt dessen jedenfalls richtiger, »dass der Anfangsbuchstabe nur der verschiedenen Aussprache angehöre«, denn die Fixirung des Namens Kronos, er sei entstanden wie er entstanden sein mag, liegt natürlich aller Schrift weit voraus.

4 47) Im Rhein. Mus. a. a. 0. werden als Analoga weiter hinzugefügt: JfCQtjtmov von XQfimog, Kffjotiag für X(pi*iXag und &*(pldt](iov , K*QiXa<; auf phrygischen und I milesischen Münzen.

' 448) Vergl. auch Welcker, Gölterl. 4. S. 4 33.

65] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 65

ist unter den von Welcker angeführten Beispielen mythologisch und alt nur KaQfiaPiDf), für welchen doch die Erklärung 0. Müllers (Prolegg. S. 4 59) aus Kad-aQfiavwQj welche dem Wesen und Wirken des Karmanor vortrefflich entspricht, immer noch erwogen zu werden verdient, und somit dürfte die Erklärung des Kronos aus xqovos in mythologischen Analogien bis jetzt schwerlich eine starke Stütze finden. Ist dies aber nicht der Fall, so kann man auch den übrigen von Welcker angeführten Beispielen eben kein grosses Gewicht beilegen , vielmehr verfangen sie eben so wenig , wie Alles , was man schon seit langer Zeit und oft genug149) zur Begründung der Ableitung des Kq6vo<± von xqovoc, vor- getragen hat. Man beruft sich auf den Wechsel von % und % in den Dia- lekten , auf die Thatsache des ionischen % für % \ aber man vergisst Zweierlei nachzuweisen, was hierbei sehr genau in Frage kommt, erstens nämlich, dass entweder Kronos der Gott von einem Volksstamm benannt worden sei , der überhaupt in analogen Fällen * für % sprach,190) oder zweitens dass irgendwo und irgendwann in Griechenland das Ap- pellativ XQ°V0$ xqovoq gesprochen worden sei. Bis aber entweder my- thologische Analoga zu der Individualdifferenzirung des Zeitgottes ifyo- vog, der bekanntlich auch spät noch als Xqovoq vorkommt, aus dem Ap- pellativ xQovog beigebracht , oder bis die eben angedeutete Alternative erwiesen worden sein wird, muss es erlaubt sein, die Erklärung des Kqovoq aus xqovos besten Falls für möglich, gewiss aber nicht, sie für zwingend oder erwiesen zu halten.

Nächst dem Namen selbst zieht Welcker auch das Epitheton äyxv- koptjrrjs, welches dem Kronos bei Homer oftmals, bei Hesiod (Theog. 168) in der Geschichte des Herrschaftswecbsels gegeben wird, zum Beweise der Deutung des Kronos als xQovog heran, insofern er S. 143 schreibt, dies Beiwort scheine Kronos »als der Zeit« zuzukommen« Aber er widerlegt sich selbst S. 265, wo er diesen Gedanken weiter begründet, und schreibt : »Zeus wird genannt Kq6vov nah äyxvkofirJTea*. Nun ist zwar die Zeit das Weiseste, wie Pindar, denn sie erfindet Alles,

4 49) Vergl. z.B. Buttmann, Mylhologufl S. S. 33, griech, Gramm. § 47, Kühner, ausfuhr!, griech. Gramm. § 39 a.

4 50) Der kretische Künstler Kresilas gehört einer anderen Gegend der völker- banten Insel an (Kydonia) als diejenige, wo der Kronosmythus Wurzel halte and einer Zeit, deren Dialekteidentität mit der Zeit der Entstehung des Kronosmythus man schwerlich ohne Beweis zugestehn wird.

Abh.ndl. d. R. 8. Gel. d.Wisg. X. 5

66 J. OVBBBECK, [66

wie Thaies sagt krummsinnig aber scheint Kronos doch so

allgemein nicht mit Bezug auf den Begriff der Zeit genannt zu sein, als deren Wege unerforschlich seien, wie Wegkrümmen undurchschau- bar, sondern mit Bezug auf einen besonderen, auffal- lenden, gelungenen Streich, auf eine einzelne Dichtung.« Dem ist einfach beizustimmen , denn ganz gewiss bezieht sich das Bei* wort dyxv)iofxrjTrjgy welches als ein besonders charakterislisches ständig geworden, auf die Geschichte, den Mythus selbst, in dem es Hesiod ge- braucht, und nach welchem Kronos sich mit der ihm von Gäa gegebenen Harpe in den Hinterhalt legt und aus diesem heraus, feig und listig, nicht mit offener Gewalt den Vater bezwingt. Zeus hat Kronos und die Titanen im offenen Kampfe , mit grader Gewalt bezwungen , Kronos hat durch Hinterlist und Heimtücke gesiegt, darin liegt der charakteristische, auch die Folgen bedingende Unterschied der beiden Geschichten vom Thronwechsel, wie sie die Theogonie erzählt, und darin zugleich der Unterschied im Wesen der beiden Götter, welches auf Seiten des Kronos durch das die ganze Geschichte in nuce enthaltende Epitheton äyxvXo- fj^njg bezeichnet, festgehalten und ausgeprägt ist. Und wenn Welcker im Verfolg der angezogenen Stelle (S. 265) weiter schreibt: »so ist es der naYven , volksmässigen Auffassung gemäss , nach welcher der die Idee in ein mystisches Räthsel einkleidende Weise sich richtet, indem er dabei seinen eigenen Gedanken im Sinn behält «, so vermisse ich hier eben so wohl die nähere Bezeichnung , welcher Weise hier gemeint sei, wie für die Schlussworte des Satzes allen und jeden Beleg101). Ist dem Homer Kronos eine mythische Person wie seine anderen Götter, und an dieser Thatsache kann ernstlich nicht gezweifelt werden, so ist es unbegreiflich , aus welchem Umstände man merken oder schliessen soll, dass er das aus dem Mythus vollkommen erklärte Beiwort anders als in dem mythischen, naYven und volksmässigen Sinne verstanden

4 51) Es macht einen eigenen und, ich kann es nicht verhehlen, peinlichen Ein- druck , Welckern hier auf jenem Standpunkte Creuzer's zu finden, von dem aus dieser die alten Dichter und namentlich auch Homer als priesterlich eingeweihte Weise be- trachtete, welche dem einfältigen Volke nur die Hülle von ihnen selbst ganz anders begriffener Geheimlehren mittheilen. Bei Creuzer's trotz aUer weitläufigen Gelehrsam- keit eminenter Unklarheit konnte dies nicht auffallen und ist ein solcher Standpunkt wenigstens consequent festgehalten, wie er sich mit der historischen und kritischen Klarheit eines Welcker verträgt ist ein für mich unauflösliches Räthsel.

67] Beitrags zur Ereenntniss und Kritik der Zeusreligion. 67

habe ; und genau dasselbe gilt von den späteren Dichtern , welche die mythische Thatsacbe als solche berichten. Das vorhomerische Alter- thum, das Welcker S. 264 wie für den ganzen Mythus so auch für das Beiwort des Kronos in Ansprach nimmt, bin ich weit entfernt zu be- streiten oder anzuzweifeln, was ich behaupte ist nur dies, dass gleich- wie dem Homer der Mythus von dem Thronwechsel als Mythus zukam und von ihm als Mythus, ohne alle erforschbare reservatio mentalis wiederberichtet wurde, ihm ebenso das Wort dyxvko/uijTrjg in seinem mythischen Sinne zugekommen, und von ihm in eben diesem Sinne grade so naiv und volksmässig gebraucht ist, wie der ganze Homer durchaus naYv und volksmassig ist.138) Und danach kann ich das Wort dyxvXofi^rrjg eben so wenig wie den Namen Kronos als einen Beweis gelten lassen , dass Kqovog Xqovos sei.

Ich wende mich nun zu einer Prüfung der antiken Zeugnisse, durch die Welcker, wie er S. 1 43 schreibt, beweisen will : »neben dem genea- logischen Mythus hat sich auch die Idee immer erhalten«, nämlich die Idee, dass Kronos die Zeit und Zeus Kronion der Gott von Ewigkeit her sei. Mit je mehr Bitterkeit Welcker im Rhein. Mus. a. a. 0. S. 625 es seinem Recensenten im Philologus als einen Beweis von mangelnder Achtung des Gegners und der Wahrheit vorwirft, dass er, anstatt sich auf alle die hier in Rede kommenden Beweismittel Welcker's einzu- lassen, nur auf die von ihm natürlicherweise als nichtig bezeichneten mannigfaltigen Spielereien verwiesen hat, welche die Orphiker mit Kronos getrieben haben ,15S) um so mehr muss ich eine gewissenhafte Prüfung dieser Welcker'schen Beweisstücke als meine Pflicht anerkennen, und um so mehr darf ich hoffen, Welckern durch sie einen Beweis meiner Achtung vor ihm und vor der Wahrheit zu geben«

Zum Eingange muss ich , besonders da es sich hier um ein angeb- liches »sich erhalten« der Idee handelt, nochmals daran erinnern, dass Zeus in keinem seiner ältesten Culte jemals Kronion genannt worden oder für uns als Kronion erkennbar ist, und dass Homer, der älteste Zeuge des Namens Kronion, denselben durchaus als persönliches Patrony- mikon, Kronos als persönlichen Gott und Vater des Zeus versteht. Das-

\ 52) Nägelsbach, homerische Theologie S. 5 ff.

4 53) »Den unbestimmt weiten Kreis orphischer Ansichten w nennt es Welcker, Götterl. 1. S. U3.

5*

68 J. OVERBECK, [68

selbe gilt unbestreitbar für Hesiod, eben so unbestreitbar für die von Homer abhängigen Dichter des Kyklos.154) Ähnlich verhält es sich mit dem olenischen Hymnus, den Welcker S. 144 herbeizieht, und von dem er meint, dass in ihm »nach einer besonderen mystischen Spe- culation« Eileithyia die Mutter des Eros älter als Kronos genannt werde (Pausan. 8. 21. 3). Aber hier ist Kronos sichtbar und sicherlich nicht als ewige Zeit, als Ewigkeit gedacht, wie Welcker es S. 144 f. nimmt, denn : älter als die Ewigkeit ist Unsinn ; der Sinn aber des olenischen Gedankens ist, die Eileithyia als zu den Urgöttern gehörend zu bezeich- nen, die älter sind als selbst die zweite Götterdynastie der populären Poesie. Und wieder ganz ähnlich verhält es sich, wenn Epimenides Aphrodite , die Moiren und Erinnyen Töchter des Kronos und der Eu- rynome nennt (Welcker a. a. 0.) ; sie sollen als Urgölter bezeichnet werden, die Moiren speciell der populären Darstellung in der hesiodi- schen Theogonie gegenüber, welche sie (vs. 904) zu Töchtern des Zeus und der Themis macht. Dass die Moiren nicht erst mit Zeus und durch Zeus auf die Welt gekommen seien, dies will er sagen und dies sagt er; warum hier Kronos im Sinn von Ewigkeit stehn solle, das vermag ich nicht abzusehn.

Aber auch Pindar gebraucht Kronion erweislich nur genealogisch, denn, wenn er Zeus »in Hingebung an den Mythus« (Welcker a. a. 0. S. 142) als Rhea's Sohn anruft, »für Olympier selige Kroniden und Könige, des Kronos Söhne sagt, Here und Hestia als Töchter der Rhea preist und den Poseidon einige Male Sohn des Kronos nennt« (Welcker a. a. 0.), so ist vollständig unerweislich, dass er in den 16 Stellen, in denen er Vater Kronion oder Kronion , Kronides allein sagt , dabei an etwas Anderes als an den genealogischen Mythus gedacht habe ; ja aus seiner ganzen schlichten Frömmigkeit und Gläubigkeit, welche nicht am wenigsten in der bekannten Kritik sich offenbart, die Pindar an ihm unwürdig dünkenden Mythen übt ,,M) ergiebt sich mit grosser Wahr- scheinlichkeit, ja ich möchte sagen mit Gewissheit und Notwendigkeit,

4 54) Übrigens kommt in den uns erhaltenen Fragmenten des Kyklos Kronion und Kronides je nur ein Mal vor, ersteres bei Stasin. Kypr. fragm. 7. vs. 5, letzteres bei Lescb. IL parv. fragm. 6 nach Welcker' s Zählung im Epischen Cyclus 3. S. 54 3 u. 534.

4 55) Yergl. Seebeck über den religiösen Standpunkt Pindar's im Rhein. Mus. 3. (4 845) S. 504 ff. , wo auch die Motive der Mythenkritik Pindar's gut beleuchtet sind.

69] Beiträge zur Erkerntniss und Kritik der Zeusreligion. 69

dass er in der That nie etwas Anderes als den genealogischen Mythus im Sinne gehabt habe.

Weiter: »anspielend auf die eigentliche Bedeutung, schreibt Welcker S. 144, nennt Aschylos Kronion (Zeus) aiwvog xQtwv dnavarov (Suppl. 569 Weil.) Sophokles (Antig. 604 Herrn.) äyrjQox; xqo*<P«i und doch sagt derselbe Aschylos (Prom. 91 3)

nargog d* äga Kqovov tot rjdt] navrekobg xQav&rjaeras,1**) und Sophokles (Trachin. 1 27)

ö narret ntqaivwv ßaaikevg Kqovldag, Beide offenbar anspielend auf eine andere Bedeutung und Etymologie von Kronos , und zwar viel offenkundiger, als in den von Welcker an- gezogenen Stellen auf die von ihm als die eigentliche snpponirte Be- deutung von Kronion , der auch in diesen Stellen nicht , wohl aber in den beiden von mir entgegengesetzten genannt wird. Zu diesen beiden Stellen aber fügen sich diejenigen, die ich hier wohl nicht im Einzelnen nachzuweisen brauche, in welchen beide Dichter Kronos als Person, als entthronten Vater des Zeus kennen, und den Mythus im populären Sinne ohne selbst versteckte Hintergedanken handhaben. War ihnen aber Kronos Person, wie sollte ihnen »der eigentliche Sinn« von Zeus Kro- nion aufgegangen oder bei ihnen neben dem genealogischen Mythus »erhalten« sein.

Pherekydes von Syros begann, wie Welcker S. 143 citirt, sein Werk : Zeug fikv xai Xqovog eig äei mal X&tov ijv9 was so nach dem Zeugniss des Diogenes von Laerte , in anderen Worten von Mehren be- zeugt wird.157) Hier hat nun Welcker ganz gewiss Recht, dass nicht wie Preller 158) wollte , gegen alle Handschriften Kgovog zu andern sei , aber es fehlt auch der Nachweis , dass Pherekydes mit einem Gedanken an Kronos gedacht habe , was auch von Brandis a. a. 0. anerkannt wird. Der Sinn ist, wie auch bei Herrn ias130) angedeutet wird, wahrscheinlich dieser: im Anfang war Gott und die ewige Zeit, in der sich Alles ent-

4 56) Auch in dem Vers Eum. 759: IJakXädog Kai Ao%lov txai* %ai xov nana xQcttPOvrog tqitov OtoTrJQOQ dürfte in dem navta xQaipovrog auf Kronion in diesem Sinne angespielt oder jenes für dies gesetzt sein.

4 57) Vergl. Pherecyd. fragmm. ed. Sturz p. 40 ff., Welcker's Note a. a. 0. und Brandis Geschichte d. griech. Philosophie 4. S. 80 ff.

4 58) Im N. Rhein. Mus. 4. S. 379.

4 59) Irris. gentil. philos. p. 4 t. 6 ptv aiörjQ ro notovv (Zeus) ^ dt yij ro nao- XOv, 6 Öt XQovog iv «5 yiyropiva.

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wickelt und die Erde, darauf Alles ist; oder es waren, wie Brandis ausführt , Chronos und Zeus zugleich als höheres, schaffendes und be- lebendes Princip bezeichnet , %&&v aber oder X&ovirj als der Inbegriff des Stofflichen gefasst. Vom Kronos ist, fasse man die Worte wie man will, keine Rede. In ähnlichem Sinne hat auch Pindar (Ol. 2. 17.) die Zeit, xqovov den Anfang aller Dinge genannt, ohne entfernt an Kronos zu denken.

Und wenn nun Kratinos, um auch diesen zu berücksichtigen, den Perikles scherzend einen Sohn der Empörung und des nQeoßvywrjQ Xqovoq nannte (Welcker S. 144), so hat Welcker wiederum ganz Recht zu sagen, dies dürfe nicht in Kqovog geändert werden; einen Sinn hat die Stelle nur, wenn Perikles als Emporkömmling Sohn der Empörung und der Zeit genannt wird , mit Kronos hat sie Nichts zu thun , denn es ist nur ein witziger Einfall, der Zeit, %q6vo$ ein Epitheton zu geben, welches an und für sich auch für sie passend , den Namensanklang an Kqovoc verstärkte und zur Yerpersönlichung des unpersönlichen und unmythischen %qovo$ als Vater neben der Mutter Empörung beitrug.

In allen bisher besprochenen Stellen vermag ich einen Beweis für die Auflassung des Kronos im Sinne Welcker' s nicht anzuerkennen; aber, sollte ich mich hierin irren , so bleibt immer noch die Frage be- stehn, ob denn die Auffassung der Tragiker, Pindar's, des ältesten prosaschreibenden Philosophen zu beweisen im Stande sei was Welcker beweisen will und muss beweisen wollen, nämlich es habe sich die Idee neben dem genealogischen Mythus »immer erhalten«? Diese Frage bleibt bestehn und berechtigt bis die Existenz der Idee auch in den ältesten Zeugnissen und von ihnen herab in ununterbrochener Folge nachgewiesen ist. Denn bis dies geschehn ist , was wohl nie gescbehn wird und kann, bleibt mir immer noch zu sagen übrig, dass der in den ältesten Quellen rein genealogisch verstandene Kronos bereits von Pindar, Pherekydes, Äschylos, Sophokles anders verstanden, um- gedeutet , nach scheinbarer Etymologie neu erklärt worden sei , bereits von diesen Alteren so gut wie von nicht wenigen Jüngeren. Denn dass dieses geschehn sei kann freilich Niemand bezweifeln. Nur scheint mir, und nicht mir allein ,lö°) das älteste , nicht anders erklärbare Zeugniss

4 60) Auch Buttmann imMythologus 2. S.34 und Preller, Mylhol. 2. Aufl. 1. S. 45. Note 3 citiren diese Stelle des Euripides als das älteste Zeugniss für die neu ange- nommene Deutung des Kronos.

74] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 71

dafür, dass Kronos als Chronos gefasst worden, nicht bei Pindar, Ascbylos oder Sophokles , sondern bei Euripides sich zu finden, der (Heraclid. 900) den Aon zum Sohne des Kronos macht. Aber wird hie- durch bewiesen, dass die Idee sich »immer erhalten« habe? Durch ein Zeugniss des Euripides?! Oder wird es erwiesen dadurch, dass in Doch viel spdlerer Zeit , in der Zeit der unverständigsten , willkürlich* sten, seichtesten Mythenerklärung Kronos von Einigen oder von Manchen als Chronos, als Zeit gefasst wurde? Würde es erwiesen wenn auch Dionysios (Arch. rom. 1. 38) und Arnobius (3. 29) Recht hAtten mit der Behauptung, dass die Griechen überhaupt, alle Griechen ihn als %qovos verstehn?161) und nicht vielmehr Plutarcb (Quaest. Rom. 1 2) , welcher uns ausdrücklich bezeugt , dass evioi , Einige , meinethalb Manche und Viele ihn so erklärt haben. Welcker meint freilich (S. 1 43) dies ivioi sei »bescheidener Ausdruck« und die Menge der einzeln vor- kommenden Zeugnisse bestätige dies ; aber was hat denn die Beschei- denheit mit dieser Angabe des Plutarch zu thun? und was berechtigt uns, dem Schriftsteller, indem wir ihm Bescheidenheit unterschieben, eine kritisch wohl erwogene Aussage in ihr Gegentheil zu verkehren? Und wenn denn wirklich in dieser Spätzeit nur diese eine Deutung im Schwange gewesen ist, was beweist denn die Aussage derjenigen Zeugen, die Welcker (S. 144) in bunter Reihe aufführt: »der Scholiast zu Apollonius (1. 1098), Cicero (Nat. deor. 2. 25), Augustinus (Civ. Dei 4. 10), Themistius, Lactantius, Apuleius?« Beweist sie, dass die Idee sich »immer erhalten« habe? Nimmermehr! Welcker meint zwar a. a.O., es sei bei einiger Umsicht und Unbefangenheit unmöglich nicht einzu- sehn , dass sie mit ihrer Auffassung im Rechte seien ; aber selbst wenn dies der Fall wäre, so könnte man diese Schriftsteller dennoch nicht als Zeugen gebrauchen, und zwar nicht einmal als Zeugen für die Be- deutung des Kronos; denn, wenn man ihnen auf diesem Punkte eine tiefere und richtige mythologische Einsicht zutraute, so müsste man ihnen auch auf anderen Punkten , auch bei der Deutung anderer Gott- heiten folgen ; und ich möchte sehn, wie Welcker den abfertigen würde, der ihm solches zumuthen möchte !

Wenn ich nun als Resultat dieser Einzelprüfung der von Welcker

4 61) Wenn wir nämlich ihre Worte so urgiren dürfen, was sehr zweifelhaft sein möchte; jedenfalls reden diese Schriftsteller wesentlich nur von ihren Zeitgenossen.

72 J. OVERBECK, [72

angeführten antiken Zeugnisse, mit Ausschluss der Orphiker, die in der Frage ganz gleichgiltig sind, glaube behaupten zu dürfen, dass kein antikes Zeugniss existirt, welches uns not h igt, Kronos nach ursprünglicher Auffassung als Chronos, als unendliche Zeit oder Ewigkeit anzuerkennen, so muss ich zugestebn, dass die Mög- lichkeit, er sei dies dennoch gewesen durch das Bisherige noch nicht widerlegt ist. Um auch diese Möglichkeit hinwegzuräumen müssen wir nun untersuchen , was wir über das Wesen des Kronos aus seinen griechischen Culten und seiner Stellung im poetisch nationalen Götter- system zu erkennen vermögen, und ob uns dies veranlassen kann, ihn als das aufzufassen , als was ihn Welcker erklärt.

8.

Welcker's Auffassung des Kronos glaube ich in folgende drei Hauptsätze zusammenfassen zu dürfen, denen ich die eigenen Worte als Belege beifügen will :

1. Kronos ist als Person nur aus dem Kronion hypo- stasirt und wurde nur des Zeus wegen und als zu ihm gehörig, und zwar ausnahmsweise verehrt.

Vergleiche hierzu: Welcker, Götterl. 1. 148: »unvermeidlich war es , dass nach der patronymischen Form Kronion , Kronides statt der blossen Bedeutung oder des Prädicats mythisch als eine Person aufge- fasst wurde , und es ist möglich , dass die Idee des Kronos als Urzeit, Frühling aller Zeiten , selige Yorzeit dem Glauben an eine dem Zeus vorangegangene Dynastie zu Hilfe gekommen ist.« Ebendaselbst heisst Kronos : dieser nun gesetzte Vater des Zeus.«

S. 150: »Im Cult ist Uranos so gut wie nicht berücksichtigt gleich dem Kronos, ein Zeichen, dass er nur ein Gedankenwesen war, abgezogen aus Zeus.«

S. 151: »Die beiden Götterpaare über Zeus, ein Product der systemalisirenden Theologie , gaben hinter dem Altar oder Tempel des Allerhöchsten wie einen Peribolos des Heiligthums ab.«

S. 142. »Verehrt wurden die zu dieser Entwickelung verwandten Wesen nur seinethalb, als zu ihm gehörig, und zwar nur das ihm zu- nächst stehende Paar und nur ausnahmsweise.«

73] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 73

Endlich S. 1 45 in der Note die Zustimmung zu dem Satze , den Preller im 7. Bande des Philologus S. 37 geschrieben hatte : »Kronos war nur die theogonische Begründung, die mythologische Ableitung des Zeus Kgovitav, dessen Gült ohne Zweifel den des Kronos erst ge- schaffen hat«,162) und

S. 4 55 : «Kronos ist in späteren Zeiten gleich anderen Wesen der theogonischen Dichtung , er insbesondere als Vater des Zeus, sowie Leto als Mutter des Apollon, verehrt worden.«

2. Eine Ausnahme hievon bildet Kronos als Gott der Kronia, in denen er als Weitherrscher im goldenen Zeitalter verehrt wurde.

Vergleiche S. 4 55 ff. , besonders den Satz : »von diesen späten, eigentlich dem Zeus geltenden Ehren des Kronos ist bestimmt das alte und berühmte Fest der Kronia zu unterscheiden , bei welchem kaum

eine Spur 16S) von Rbea zu entdecken ist Die Kronia beziehn

sich allein auf die Idee des paradiesischen Zustandes , welcher vor der Herrschaft des Zeus, eigentlich vor aller Wirklichkeit, im goldenen Welt* alter unter dem Regiment des Kronos im Himmel gewesen war.«

3. »In der Berührung mit Phönikiern in Kreta, Rho- dos, Karthago, Sicilien nannten die Griechen den phö- nikischen Baal oder Moloch Kronos, und es hat nicht an wunderlicher Vermischung beider Wesen gefehlt« (S. 1 45).

Um in der Fülle von Behauptungen und Lehren dieser Sätze und der ganzen Gapitel aus denen sie entlehnt sind, und in denen viel Wah- res sich mit Vielem mischt, das mir nicht richtig scheint, Bahn zu ge- winnen, will ich damit anfangen, meine volle Übereinstimmung mit allen den Sätzen zu erklären, die Welcker über Uranos und Ge in ihrem Ver- hältniss zum Zeus ausgesprochen hat, um dieselben, oder besonders

4 62) Dass Preller, und zwar schon als er die erste Auflage seiner Mythologie schrieb, von diesem Satze in seinem ganzen Umfange zurückgekommen war und den- selben auch jetzt nicht wieder aufgenommen bat, ist kaum für weniger aufmerksame Leser zu bemerken nölhig.

4 63) Diese Spur findet sieb in dem Berichte des Philochoros bei Macrobius 4. 7 und bei Hesychius wo die Kronien dem Kronos und der Göttermutter geweiht genannt werden ; wahrscheinlich ist dies aus sonstigen Culten des Kronos und der Rhea ge- dankenlos wiederholt, denn thatsächlich hat Rhea mit den Kronien Nichts zu thuu.

*

74 J. OVBRBBCK, [74

Uranos, auf den es zumeist ankommt, als »im Cultus so gut wie nicht berücksichtigt,« als »bedeutungs- und wesenlos als »nur genealogi- schem Gebrauche dienend« und als »nur des Zeus wegen verehrt« zu erweisen. So richtig aber dies Alles ist, so sehr muss ich doch dagegen sofort Einsprache thun, dass Eronos mit Uranos durchweg auf eine Stufe gestellt, dass von ihm durchweg dasselbe ausgesagt wird wie von Ura- nos. Es ist richtig, dass Uranos sich nicht in Bild und Gestalt finde gleich der Gäa, dem Helios, dem Okeanos (S. 151), Gleiches gilt aber bekanntlich nicht von Kronos; es ist richtig, dass Uranos keine Tempel und Altäre habe, und mit Recht wird die Stelle bei Vitruv 1. 2. 5: Jovi, Fulguri , Caelo et Soli et Lunae aedificia sub divo bestritten (das. in der Note) , die Erwähnung in späten römischen Inschriften auf ihre richtige Bedeutung zurückgeführt, aber Gleiches gilt wieder nicht vom Kronos. Denn selbst wenn wir von der Aussage des Attius (bei Macrob. Saturn. 1. 7) absehn, dass der grösste Theil der Griechen und am meisten Athen dem Saturnus die Kronien feiere und an diesem Tage durch alle Feldmarken und Städte frohe Mahle begehe und Jeder seinen Diener bediene, oder wenn wir mit Welcker (S. 1 58) annehmen wollten , »der Dichter scheine nur aus Voraussetzung nach der Verbreitung des Festes in die Ferne zu viel zu sagen,« was freilich doch noch manchem Zweifel unterliegt, da Gleiches doch wenigstens noch zwei Mal oder drei Mal bezeugt wird ,164) auch dann noch sind uns bestimmte Feste und Culte des Eronos was für eines Kronos und welcherlei Culte soll weiterhin erörtert werden aus Athen, Olympia, Elis, Theben,165) Lebadeia, Samos,"*) Rhodos, Kreta undKyrene167) bezeugt. Und auch die Behaup- tung Welcker's, dass die zu der genealogischen Entwickelung verwand- ten Wesen, Kronos wie Uranos, nur des Zeus wegen Verehrung genos- sen, ist doppelt unrichtig, da Uranos gar keine Culte, Kronos dagegen entschieden selbständige Culte hatte. Denn, mag man diejenigen Kronos-

4 64) Von Verrius Flaccus bei Macrob. a. a. 0. 4. 4: Saturnaliorum dies apud Graecos festi babentur und Schol. Arist. Nubb. 397: naQu Jo7g"Ekkrjaiv tuQrrj; vergl. noch Athen. 4 4. 639, wo die Kronien eine toqrrj eXlfjnxwcaTt] genannt werden.

1 65) Nach Plot. Vita Hom.

4 66) Nach Hassgabe des Umstandes, dass auch auf Saroos ein Monat Kqoviqs hiess, siehe Monatsberichte der Berl. Akad. 1859. S. 750 f.

4 67) Nach Macrob. 4.7. 4 4 auch aus dem hellenisirten Alexandrien, wenn man der Ausfüllung der hier im Text befindlichen Lücke durch den einen Codex P. Glauben schenken will; vgl. jedoch v. Jan zu dieser Stelle.

75] Beiträge zur Ebkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 75

culte , welche mit Zeus- und mit Rheaculten verbunden sind also : in Athen im Bezirke des Olympieion (Pausan. 4. 48. 7), wo ein Tempel des Zeus und der Rhea war , in Lebadeia, wo dem Kronos neben Zeus Basileus , Here Basilis oder Henioche, Demeter Europe und A pol Ion ge- opfert wurde und wo die Bilder des Kronos, des Zeus und der Here in gemeinsamem Tempel standen (Paus. 9. 39. 3 u. 4), in Olympia, wo unter 6, zwölf Göttern paarweise geweihten Altären einer für Kronos und Rbea stand (Sc hol. Pind. Olymp. 5. 8 u. 1 0) , mag man diese Culte so deuten, als ob sie dem Kronos um des Zeus willen, oder Kronos und Rbea als den Eltern des Zeus gegolten hatten , was freilich auch noch untersucht werden soll und z. B. für Lebadeia keineswegs zuzugeben ist , so bleibt doch unzweifelhaft , dass der Kronoscultus in Athen am 1 5. Elaphebolion (Corp. Inscr. gr. 523) und am 1 2. Hekatombäon , wo die Kronien gefeiert wurden , dass ferner der Kronoscultus in Olympia auf dem Kronoshttgel und dass derjenige von Kyrene , dass derjenige von Rhodos und von Kreta und dass die Koinobomie des Kronos mit Helios in Elis , so verschieden dies Alles unter sich gewesen sein mag, entfernt nicht auf Zeus oder auf das theogonisch-genealogische Verhält- niss des Kronos zum Zeus begründet war.

In gewissem Sinne giebt dies ja auch Welcker zu , indem er den Kronos der Kronien von seiner obersten Behauptung ausnimmt, und ent- wickelt, wie der Gott in diesen Festen als Weltherrscher im goldenen Zeitalter gefeiert worden, und dass der Sinn dieser Feier jeden Gedan- ken an den Herrschaftswechsel , also an das genealogische Verhältniss des Kronos zum Zeus ausschliesse, weil man ja sonst Zeus als den hätte verehren müssen , der diesem goldenen Zeitalter ein Ende gemacht hat (S. 156). Eben so unzweifelhaft und augenscheinlich fehlt jegliche Be- ziehung auf Zeus dem von den BaoiXcu auf dem Gipfel des Kqomoq Xotfog bei Olympia begangenen Kronoscult (Paus. 6. 20. 1), welcher dem Kronos als dem ältesten Herrscher des Himmels galt (Paus. 5. 7. 6), dem die Menschen des goldenen Zeitalters einen Tempel erbaut haben soll- ten. Und dass Gleiches von den Gülten auf Rhodos und Kreta gelte ist bemerkt.

Mit diesen letzten Cullen findet man sich freilich am leichtesten ab, indem man168) den Kronos für den phönikischen Baal-Moloch erklärt,

1 68) So, um von Anderen zu schweigen, noch Gerhard, griech. Mythol. §429.3.

76 J. OVBBBBCK, [76

aus dessen Kinderopfern mau auch die Sage von Kronos' Kinder ver- schlingung ableiten zu können wähnt. Allein schon Buttmann (Mytho- logus 2. S. 50) schreibt in dieser Hinsicht sehr richtig als das Resultat einer langen Untersuchung: »so möchte also Alles, was zu der Ansicht fuhren könnte , dass die Person des Kronos aus dem phönikischen El oder Moloch entstanden sei sich reduciren auf Kinderopfer, die jenem obersten Gotte dort gebracht wurden, verglichen mit der Kind er ver- schlingung, welche der Mythos von diesem alten König der Götter be- richtet. Vollkommen hinreichend war dies für jene alten Griechen, wel- che das Bedürfniss hatten, ihre Gottheiten in den fremden zu finden, aber ganz nichtig ist es für unseren kritischen Zweck.« Und in der T hat, ich wäre trotz Allem was man schon darüber geschrie- ben hat , begierig , eine wirklich begründete Ableitung des Kronos aus Baal-Moloch zu lesen. Dass man den phönikischen Gott in Griechenland Kronos genannt , also den griechischen Kronos mit dem phönikischen Moloch ähnlich, in gewissen (scheinbaren) Punkten übereinstimmend gefunden hat, das beweist doch in der That nicht das Mindeste, sondern es ist, um mich eines Welcker'schen Ausdrucks zu bedienen, eine wun- derliche Vermischung. Und wahrlich , wenn man alle die Götter der Griechen . welche diese selbst früher oder später mit Barbarengötlern verglichen und identificirt, aus diesen abgeleitet haben , als in der That aus Barbarengöttern entstanden, als wirklich überkommen auffassen wollte, dann müsste man damit beginnen, die gesammten Resultate der modernen vergleichenden Sprach- und Mythenforschung irgend einem barbarischen Götzen in die glühenden Arme zu werfen ! Die Menschen- opfer, welche Kronos empfing, beweisen aber, wenn es möglich ist, noch weniger; denn es ist überflüssig, die grosse Zahl von Menschenopfern, die griechischen Göttern in reingriechischen Staaten und Culten fielen, hier aufzuzählen, da dies bekannte Dinge sind,169) und das Vorurteil, als seien die Menschenopfer ungriechisch und unarisch, das noch O.Mül- ler170) aussprach, als beseitigt gelten darf. Dies ist denn auch von An- deren171) eingesehn, während Preller auch in der 2. Auflage seiner My-

169) Vergl. nur Hermann's Gottesdienstl. AUertbümer § 27.

170) Äschylos Eumeniden gr. u. deutsch S. 139, vergl. Welcker Götlerl. 1 . S. 206. Note 3.

171) Hemer, Schulzeitung 1833. 2. No. 29, Götterdienste auf Rhodos 3. S. 13 f., Lauer, System d. griech. Mythol. S. 166 u. A.

77] Bkitbägb zur Erkenntniss und Kritik der Zrdsreligion. 77

tbologie noch annimmt, dass in der Entmannungsgeschichte des Uranos Manches ausländischen Ursprungs sei, und dass die Sage von Zeus' Ju- gend auf Kreta und den Nachstellungen , durch welche er vom eigenen Vater bedroht war, »der auch sonst als listig und grausam geschildert wird, höchstwahrscheinlich nach dem Muster des phönikischen Moloch- dienstes« erfunden worden (S. 44 f.), obgleich er unmittelbar hinzufügt: »aber eben so gewiss ist Kronos, der Kronos Homer's und eines in ganz Griechenland verbreiteten Gottesdienstes, ein altgrie- chischer Begriff.«172) Aber sei es hiermit wie es sein mag, denn dem gegenüber, was mir Hauptsache ist, tritt die Frage über die Ableitung des kretischen und rhodischen Kronos aus Baal Moloch oder über dessen spätere Identificirung mit demselben in den Hintergrund; die Haupt- sache für mich ist, dass beide Annahmen gleich wenig für die von Wel- cker statuirte Wesenheit des Kronos als des Gottes der unendlichen Zeit sprechen , so dass vielmehr erst zu erweisen und sicher schwer zu er- weisen wäre, wie ein Kronos-Chronos, ja wie Oberhaupt ein blos theo- gonisch fingirter Gott ohne Wesen und Realität im Glauben und ohne Cult zur Identification und Vermischung mit Baal Moloch hätte gelangen sollen, oder wie man diesen gar aus jenem hätte ableiten können. Möge man deshalb über diese Culte denken wie man will; die anderen Culte des Kronos in den Kronien, die Culte in Athen, Olympia, Samos, Ky- rene und wahrscheinlich an noch vielen anderen Orten kann man mit Molochculten in keiner Weise zusammenbringen ; diese Culte sind ohne Zweifel rein griechisch, und sie haben mit Zeusealten Nichts zu Ihun. Dies betont ja auch Welcker selbst S. 1 55 mit grossem Nachdruck

172) Es sei mir erlaubt, auf die Differenzen und wie ich sagen muss den Fort- schritt der Darstellung dieser Punkte in der 8. gegen die I.Auflage des Preller'scben Buches aufmerksam zu machen ; an dem phönikischen oder sonst ausländischen Ur- sprünge des Mythus von der Geburt der Aphrodite hält er noch fest, obgleich diese mir grade eine vollkommne griechische Erfindung scheint, die in den zwei Äugeln, erstens der Thatsache des Kommens aus dem Meere, über das Meer der orientalischen Aphro- dite (Apheredeth) und zweitens ihrem am meisten charakteristischen Beinamen Ovgavia hangt. Die aus dem Meer gekommene Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin , die in ihren Galten auf griechischem Boden OvQavia hiess, grade diese scheint mir aus dem in's Meer gefallenen Schamgliede des Uranos in allen ihren Elementen durch eine sinnreich künstliche Erfindung, aber eben recht eigentlich eine solche, die als ätiologischer My- thus erscheint , abgeleitet zu sein. Und dass man für die Sage von der Kinderver- schlingung des Kronos auch nicht nöthig hat, auf Moloch und seine Culte zurückzu- greifen, hoffe ich weiterhin zu zeigen.

78 J. OVBRBECK, [78

und mit eben so grossem Recht, indem er in dem oben S. 73 zu 2 aus- gezogenen Satze den Kronos der Kronien von den eigentlich dem Zeus geltenden Ehren ausnimmt. Aber diese Kronien, meint Welcker S. 156 »beziehn sich allein auf die Idee des paradiesischen Zustandes, welcher vor der Herrschaft des Zeus, eigentlich vor aller Wirklichkeit im golde- nen Weltalter unter dem Regimente des Kronos im Himmel, wie Hesiod sich ausdrückt, gewesen war. Dieses Fest, fährt er fort, war eine Nach- ahmung dieser goldenen Zeit des Friedens und des arbeitslosen Genus-* ses und hiess Eronia nur allein in Bezug auf sie.« Und wir sollen glau- ben , dass die Idee oder der Traum eines goldenen Weltalters vor aller Wirklichkeit ein solches Fest durchaus volkstümlichen Charakters, wie es Welcker selbst schildert und wie es Buttmann (Mylhologus 2. S. 67 f.) mit Recht mit den Dionysien vergleicht, hervorgerufen habe? dass man dies volkstümliche Fest einem allegorisch speculativen Kronos gefeiert, es nach diesem benannt habe? nach einem Gotte, der nicht allein kei- nen eigentlichen Cult hatte, sondern der der lebendigen und wirklichen Zeusreligion in ihren ältesten Wurzeln widersprach? »Aber konnte eine solche Idee so tief in's Volk eindringen?« so fragt Welcker selbst S. 1 57; und was antwortet er sich? «war hingegen das Fest der allgemeinen Lustbarkeit und Gleichheit schon da, so konnte es eher durch die Beziehung auf den Herrscher der Zeit der Freude und Unschuld erhoben und erweitert werden.« So konnte es eher; wie schwankend und un- sicher lässt hier das richtige Gefühl Welckern sich ausdrücken; aber, angenommen einstweilen, wenn auch keineswegs zugegeben dies Letz- tere, wem galt denn das alte, primitive, schon da gewesene, später durch die Beziehung auf Kronos erhobene Fest volkstümlicher Lustbarkeit? welchem Gotte wurde es denn gefeiert, ehe man ihm die Beziehung auf das geträumte goldene Weltalter unterschob? Welcker hat sich auf diesem Punkte durch Buttmann, dem er in dieser ganzen Argumentation ziemlich strict folgt, irre- und zu einer Annahme fortleiten lassen, welche aller Analogie antiken Wesens und Lebens widerspricht und die er im Ernste nicht kann aufrecht erhalten wollen, nämlich zu derjenigen, dies Fest sei ursprünglich ohne Beziehung auf eine Gottheit gewesen , es habe über- haupt nicht religiös begründete, nicht einer Gottheit und ihren Gaben gel- tende Feste gegeben. Wo wäre eine Spur von solchen in Griechenland, l7S)

173) Götterlehre t. S. 56 sagt Welcker: »alle griechischen Feste ohne Aus- nahme waren religiös.«

79] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 79

wo die von Wclcker selbst S. 4 59 mit den Eronien parallelisirten Feste entschieden an Gottheiten anknüpfen, ja wo wäre eine solche Spur bei irgend einem natürlich lebenden und nicht von religions- loser Übercultur zerfressenen Volke nachweisbar? Buttmann hat auf das nordische Juulfest als analog hingewiesen, von welchem er a.a.O. S. 56 schreibt: »Bei den celtischen und anderen nordischen Völker- schaften war die Häuptlustbarkeit im Jahre das Jui~ oder Juelfest, das sich nachher im Norden an das christliche Weihnachtsfest anschloss, aber, wie bekannt, schon in den ältesten heidnischen Zeiten vorhanden war. Von diesem Feste liest man . so viel ich weiss , nirgend , dass es das Fest eines der cellischen oder nordischen Götter war, sondern es war eine von uralten Zeiten hergebrachte Lustbarkeit, womit man die Zeit der kürzesten Tage oder vielmehr der langen Nächte erheiterte.« Aber dies ist, obgleich es Welcker in seine Argumentation aufgenommen hat , bestimmt irrig ; das Juulfest ist allerdings primitiv religiösen Cha- rakters wie allein schon sein Name »Jöla-blöt, d. h. Wintersonnenwende- Opfer« beweist, insofern das Opfer als solches ja immer die Gottheit involvirt, der geopfert wird. Mein College, Herr Prof. Theodor Möbius, an welchen ich mich mit der Bitte um Auskunft über die Natur des Junifestes wandte , antwortet mir im grösseren Zusammenhange folgern dermassen: »Von den drei grossen allgemeinen Opferfesten, die in heid- nischer Zeit alljährlich in Norwegen gefeiert wurden (1 . zur Begrüssung des Winters, am 1 4. October , 2. für Frieden und Fruchtbarkeit, am 12. Januar, 3. für Sieg und Kriegsglück, am 14. April) war am be- deutendsten das zweite , auch Jöl genannt oder Jöla-blöt d. h. Winter- sonnen wende-0 p fe r , von dem christlichen Könige H&kon (935 961) auf Weihnachten verlegt, was daher noch heutzutage Juul oder Juulefest bei den Danen und Schweden genannt wird. Indem man hiebei um Frieden und Fruchtbarkeit opferte, die vor Allen der Gott Frey verlieh, hierbei aber einen dem Frey geheiligten Eber vorführte, um, die Hände auf ihn gelegt, feierliche Gelübde auszusprechen, ist es zwar wahrscheinlich, dass dies Opfer vor- zugsweise dem genannten Gotte zu Ehren abgehalten worden, ohne dass diess irgendwo soweit ich nachkommen kann ausdrücklich bezeugt wäre [dies die Quelle von Buttmann's Irrthum], eben so wenig, als dass das dritte Fest , an welchen man um Sieg opferte deshalb als ein Odinsfeat (als des Sieg verleihenden Gottes) gegolten hätte. Das

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erste Fest steht mit keinem Gotte in Verbindung d. h. mit keinem irgend- wie charakterisirten wie Frey oder Odin. Opfer (Dank* oder Sübnopfer) als solche involviren ja immer die Gottheit, der man opfert, nur dass dieselbe vor dem Zwecke der festlichen Zusammenkunft und vor Allem des mehrtägigen Trinkgelages in diesem Falle, und zwar in einer Zeit , die eine verhältnissmässig sehr späte zu nennen ist, etwas in den Hintergrund getreten zu sein scheint.«174) Es ist, als wenn dieses von den Kronien geschrieben wäre, bei denen eben- falls die allgemeine Lustbarkeit, der volkstümliche Charakter der Fest- freude, den ursprünglichen religiösen Anlass verdunkelt hat. Verdunkelt sage ich, aber keineswegs unsichtbar gemacht für den, der sehn will und unbefangen ist. Der Gott aber, dem ursprünglich das altische und wahr- scheinlich fast allgemein griechische (wie italische) Fest der Freude und Gleichheit , wie dem Frey das Opfer für Frieden und Fruchtbarkeit ge- golten hat, ist kein anderer als Kronos, aber nicht der Kronos, Herrscher des verhaltnissmässig spät geträumten vorzeitlichen goldenen Weltalters, sondern der Gott der realen, alljährlichen goldenen Zeit, des xqvüqvv &e$og wie der Sommer in Delphi hiess, welche in den Monat fällt, in welchem, wie uns bestimmt bezeugt ist, das Opfer an Kronos {rwKQovm frvola) dargebracht wurde, und der in Athen (und in Samos) von Alters her K$6pu>g, Kronosmonat d. h. Reife- und Erndtemonat hiess weil er der Reife- und Erndtemonat (Juli) in der That war, der Monat, wo man nach glücklich eingebrachter Erndte von der strengen Arbeit ruhte, und sich an dem Überfluss der Gottesgabe und im Bewusstsein dieses Über- flusses gütlich that wie in Thessalien an den Pelorien, die ja auch Athen. 4 4. 636 mit den Kronien, als einer iofnrj ekXTjvixcordry] vergleicht. Es ist das die Zeit, in der man noch heutzutage Kronien feiert, in der nach

474) Ganz ähnlich verhält es sich ja noch heutzutage mit den Kirchweihfesten oder Kirmseo. In katholischen Landen findet allerdings an denselben noch eine Kirch- weihe und ein Gottesdienst zu Ehren des Schutzpatrons statt, allein wie sehr tritt auch dies ursprünglich aHein bestimmende Moment hinter die auf die Kirchweihe folgende mehrtägige Lustbarkeit mit Trink- und Tanzvergnügen zurück, bei dem wohl kein Mensch an die Bedeutung des Festes auch nur einen Augenblick denkt. In protestan- tischen Ländern ist nun aber von dieser ursprünglichen Bedeutung vollends garnicht mehr die Rede, und doch hat auch in diesen wohl jedes Dorf seine Kirmes an einem bestimmten althergebrachten Tage, jedenfalls dem Namenstage des Schutzpatrons der Kirche. Wer will nun in diesen Fällen die ursprüngliche, und doch gänzlich ver- dunkelte Bedeutung dieser Feste läugnen?

84] Beiträge zur Erkknntniss und Kritik der Zeusreligion. 81

eingeheimster Erndte die Arbeiter einen guten Tag (Erndtebier) haben, an dem, wie man ebenfalls noch heutzutage z. B. im Holsteinischen und Schleswigschen (wahrscheinlich auch noch anderswo, in den genannten Gegenden war ich oft genug Augenzeuge) sehn kann, die Gutsherrschaft den Knechten und Mägden ein Fest bereitet, dessen Mittelpunkt nicht sie, die Gutsherrschaft ist, sondern bei dem die Knechte und Mägde die Hauptpersonen abgeben, die auch von der Herrschaft bedient werden.

Nun hat freilich Welcker S. 1 57 Note die Angabe, der Hekatombäon habe von Alters in Attika Kvovwg oder Kqopkov geheissen dno rqg yevofuvrjg rw Kqovm &voiag »eine beliebige Erklärung« genannt; freilich hat Buttmann geschrieben : »dass keine Spur in irgend einem Schrift- steller in dem Kronos der Griechen einen Gott des Feldbaus ahnen lasse« (a. a. 0. S. 54) und Welcker sagt S. 1 57, dass er dies mit Recht ge- schrieben habe; allein S. 464 lesen wir bei Welcker: »dieser Monat (Hekatombäon) war der erste nach der Sommersonnenwende und im attischen Jahr, weshalb er auch KQOvmv, der älteste oder Urmgnat ge- heissen hatte, wenn nicht, weil etwa dem Kronos geopfert worden war,« also wenigstens eine bedingte Zustimmung zu derErklä- rung, die S. 157 als »eine beliebige« abgefertigt wird. Und was den' Gott des Feldbaus, speciell den Gott der Reife und Erndte anlangt, so ist es mir unmöglich, nicht so ziemlich in Allem was wir von dem griechischen Kronos, wie in Allem was wir von dem, wie auch Buttmann als Funda- mentalsatz annimmt, unzweifelhaft wirklich identischen Saturnus Italiens wissen, lauter Zeugnisse für eben diese Wesenheit und Bedeutung des Gottes zu erkennen, in seinem Namen, in seinem standigen Attribut, in der Zeit seiner Feste, in der Art, wie diese Feste gefeiert wurden, in sonstigen Nachrichten über seine Culte und über seine Verehrer, in dem Umstände, dass Kronos zum Herrscher einer fabelhaften goldenen Zeit und in einem fabelhaften Schlaraffenlande geworden ist, und endlich in dem Umstände , dass er auf Kreta zum Vater des dort verehrten Zeus hat gemacht werden können. Wir haben nun dies Alles im Einzelnen zu prüfen.

Abbanal, d. K. S. Ges. d. Witt. X. 6

82 I. OVEBBKCK, [82

9.

Der Name Kqovoq ist nach der auch von 6. Hermann, Heuler, Schümann, Lauer und Preller befolgten Etymologie von ngccivca abzu- leiten; freilich hatWelcker S. 145 in derNole diese Ableitung eine »un- glückliche« genannt, aber dass sie zunächst antikem Sprachgefühl ent- spricht beweisen die oben S. 69 milgetheillen Stellen des Aschylos und Sophokles,175) und so wie sprachlich Nichts gegen dieselbe einzuwenden ist,176) so hat jetzt auch die moderne' Linguistik sich derselben ange- schlossen, wahrend das Wort Xqovoq als grundverschieden beleuchtet wird.177) Dabei werden wir denn wohl einstweilen und bis diese Argu- mente widerlegt sind, Beruhigung fassen dürfen.

Von grosser Bedeutung für die Erkenntniss des Wesens des Kronos ist sein ältestes und allein ständiges Attribut denn den sein Hinter- haupt verhüllenden Schleier hat er nicht immer das Krummmesser, dessen Bedeutung aber noch bestimmt festgestellt werden muss. Das Wort aqnr\) welches für dies Messer des Kronos am meisten gebraucht wird, bezeichnet kein im wirklichen Leben des höheren Alterthums ge- brauchtes Instrument ,178) sondern kommt nur in der Hand mythologi- scher Personen vor, nämlich ausser bei Kronos bei Zeus im Kampfe mit Typhon bei Apollodor (1 .6.3), bei Hermes bei der Enthauptung des Argos, bei Perseus im Gorgonenmythus (Beides mehrfach, namentlich in Kunstwerken) und bei Herakles und Iolaos im Kampfe gegen die Hy- dra,179) ein einziges und spätes Mal auch bei Theseus im Kampfe gegen Minotauros,180) bei diesen Allen ausser Kronos aber nur in relativ späten Zeugnissen , und zwar entweder nach blosser Analogie der Harpe des Kronos als mythologisches Schneideinstrument, oder promiscue mit an-

175) Vergl. auch II. t. 449 oif «pa nci ol ifttxpalcuvs KqovIw worauf Preller Mythol. 2. Aufl. 4. S. 45. Note 4 hinweist.

476) Dies erkennt auch Hr. Dr. H. D. Müller im Philologus a. a. 0. S. 555 an, wo er von **/(>a> ableiten will.

477) Vergl. B. Curtius, Grundzöge der griech. Etymologie 4. S. 424 mit S. 4 68.

478) Nämlich der Art, wie es später für einen Elephantenstachel gebraucht wird Ael. H. An. 4 3. 22.

479) Welcker, Alte Denkmäler 3. Taf. 6. S. 263 ff., oder lion. deil' Inst. 3. tav. 46. 2. Ann. 4 4. p. 4 03 sqq.

4 80) 0. Jahn, Archäolog. Beiträge S. 266.

83] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 83

deren Schneide- und Stichwaffen, also ohne specielle Bedeutung.181) Specifisch gehört die Harpe Kronos einzig und allein , and nur bei ihm wird sie niemals durch ein anderes Instrument ersetzt. Eine solche aus- schliesslich mythologische Waffe, die ihre Analogie in der ebenfalls aus- schliesslich mythologischen Agis findet, kann nun offenbar noch weniger als solche Waffen , die auch im wirklichen Gebrauche des Menschen vorkommen, wie etwa der Bogen und die Pfeile Apollon's, die gleich- wohl anerkanntermassen ihre bildliche Bedeutung haben, bedeutungslos sein, muss vielmehr mit Notwendigkeit eine ganz prägnante Bedeutung haben. Nun giebt es aber zweierlei Götterattribute, allegorische und symbolische ; allegorisch z. B. sind die Pfeile Apollon's für Sonnenstrah- len, Zeus' Ägis für Wettergewölk ; symbolisch aber sind z. B. der Bogen der Artemis, der sie als Jagdgöttin charakterisirt oder, um ein ganz un- zweifelhaftes Beispiel zu wählen Hermes' ökßov xal nXovrov fäßdog* Ware nun die Harpe des Kronos ein allegorisches Attribut der ersleren Art, so könnte sie einzig und allein als ein Bild des Blitzes betrachtet werden, als welches sie in Apollodor's Erzählung vom Typhonkampfe des Zeus augenscheinlich gilt. Und wirklich hat Lauer in seiner Mytho- logie S. 164 den allerdings nicht eben glücklichen Gedanken gehabt, die Harpe des Kronos nach Analogie derjenigen des Perseus, die er als Blitzstrahl (wohl mit Recht) auffasst, ebenfalls filr den Blitz zu erklaren. Welcker aber verwirft eine solche Annahme ausdrücklich und mit Recht, indem er S. 4 54 schreibt: »nicht die leiseste Spur, dass Kronos einst den Blitz gehabt.« Ist also die Harpe des Kronos nicht allegorisch be- deutsam , und will man sie nicht etwa als eine wunderliche Ausgeburt der Phantasie Hesiod's betrachten , dem , während er nach einer Waffe filr Kronos zu dem bekannten Zwecke suchte, nicht ein Schwerdt, ein Dolch, ein gewöhnliches Messer, sondern durch unerklärlichen Zufall ein ganz neues Wort cfyft^ in die Feder gerieth , eine Ansicht, die ich Welckern trotz Allem was er gesagt hat, nicht unterzuschieben wage,

4 81) So hat Herakles in den allen Vasen des Hydrakampfes, welche in den Mon. delT Inst. a. a. 0. zusammengestellt sind in No. 5, 4, 6 das grade Schwerdt, in No. 4 u. 5 die Harpe, die in No. % u. 6 IoLaos handhabt; ebenso führt Perseus im Gorgonen- abenteuer, er der in späteren Kunstwerken so oft mit der Harpe erscheint in der alten Metope von Selinunt das grade Schwerdt, dasselbe in den Mon. dell' Inst. 2. 49 zu- sammengestellten Argosmonumenien Hermes in No. 5 und dem Hauptbilde , wahrend er in der Gemme No. 9 die Harpe führt.

6*

84 J. OVRBBBCK, [84

so bleibt Nichts übrig, als die Harpe symbolisch bedeutsam zu fassen. Man darf sie folglich nicht aus der Geschichte erklaren, in der sie für uns erkennbar am frühesten in Anwendung kommt , wie dies Welcker allerdings thut, indem er sie mehrfach (so S. 4 45, 160) als die blosse theogonische Waffe des Kronos behandelt, sondern man muss mit Butt- mann (Mythol. a.a.O. S. 36) sagen: »nicht etwa zum Andenken an jenes mythische Factum wird Kronos mit der Sichel gebildet; sie war langst d a vor diesem episch ausgebildeten Mythus.«

Wohl; aber was ist denn aQmjt and als was war sie symbolisches Attribut des Kronos lange vor der epischen und theogonischen Entman- nungsgeschichte. Je weniger aqnr\ ein Instrument des wirklichen Ge- brauchs ist, und obwohl sieb ihr Name etymologisch verstelm l&sst,18*) wird ihre Bedeutung vollkommen klar erst aus der zweiten Bezeichnung mit der sie belegt wird: dqinavov. Und bekanntlich nennt schon Hesiod selbst Theog. < 62 dies Instrument tytnavov, und mit demselben Namen wird es in jenen Sagen bezeichnet, welche den Namen der Vorgebirge Zaynhj und Jqhcavov und den von Kerkyra von der von Kronos weg- geworfenen Harpe ableiten.183) Jqinavov aber, oder episch dyerzdrt] ist ein Wort der lebenden Sprache und ein Instrument des wirklichen Gebrauchs, und zwar seit II. 18. 551 und Odyss. 18. 368 die Getreide* siehe) , und niemals etwas Anderes als diese. Und mit diesem Sprach- gebrauche stimmt es vollkommen, dass in den ältesten Kunstwerken, welche die Harpe in mythologischem Gebrauche zeigen ,184) dieselbe als einfache, wenn auch zum Theil als gezahnte185) Getraidesichel erscheint, keineswegs aber als jenes waffenartige Instrument mit einer graden und einer krummen Spitze, das aus spateren Kunstwerken so bekannt ist, dass man über demselben die älteste Gestalt und mit der ältesten Gestalt

482) PreHer stellt afitri mit sarpio und dem makedonischen Monat roynimoe d. h. SchnUteraonat zusammen, MythoL 2. Aufl. 4 . S. 45. Note 3.

483) VergL Preller, Griech. Mythol. 2. Aufl. 4. S. 45. Note 3.

484) Siehe die oben Note 4 84 angeführten Vasen mit der Hydra.

4 85) Vergf . eben das. und wenigstens bei einer Kronos- oder Satamusdarstellung, fifttfger Kunstmythol. 4 . Taf. 4 . No. 2. Aber diese Zähnung kann ich nur für Misver- stlntfuiss des Beiwortes na^xapodovg betrachten, weiches gewiss nicht scharfe Zähne der Harpe, sondern sie als scharfzahnig, d. h. scharf, schneidend schlechthin bezeich- net, wie das z.B. schon Pape in s. griech. Handwörterbuch oingesebn hat, wffarend Preller, Mythol. 2. Aufl. S. 45. Note 3 wieder auf das »mit scharfen, spitzen ZUhnenc zurückgreift.

85] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 85

auch die älteste und einfachste Bedeutung der Harpe schier aus den Augen verloren und vergessen bat. Dass also die Harpe des Kronos sein ältestes und ständiges Attribut die Sichel , die Getraidesichel sei» wird sich mit Hecht nie läugnen lassen , und fraglich kann nur sein, in wel- chem Sinne dem Gott dies Attribut beigelegt worden sei. Buttmand (a. a. 0. S. 36) antwortet: »als altes Attribut des Hieroglyphs der Zeit«189) Aber wo ist auch nur der Schatten eines Beweises, dass die Sichel ein altes Attribut des angeblichen Hieroglyphs der Zeit sei, dass man die Zeit im höheren Alterthum als die abmähende und nicht vielmehr ata die verschlingende gefasst habe im Sinne jenes orphischen Verses auf Chronos-Kronos (Hymn. 12. 3)

ög danavag fiiv anavra %ai av&ig c/maXiv avrogl Buttmann beruft sich (S. 34) auf Macrobius 1. 8 und auf ein Epigramm in Brunk's Analeklen (Adttm. 64 5) auf Laertes' zerstörtes Grab , wo es heisst :

tpjjX*1 *<** ntTQt]v 6 nokvg xqvvoq,, ovdi aidiJQOv cpeiderai, äXXa fiirj ndvr oXs'xst d^iTtavrj.

Und das ist Alles? und damit sollen wir uns zufrieden geben und bewie- sen glauben, dass dieses Bild, diese Übertragung in die Urzeit gehöre, in so uralte Zeit, dass dieser Sinn vergessen und verborgen blieb wah- rend der ganzen Periode, in der alte Schriftsteller und noch ältere Kunst- werke das von Kronos im Mythus als Waffe gebrauchte Instrument, mit dem er den Meislerschnitt gethan hatte, auf Hermes, Zeus, Perseus, Herakles und lolaos übertrugen? oder ist in diesen Übertragungen die Harpe auch ein Attribut des Hieroglyphs der Zeit? Es lässt sich viel- mehr mit der grössten Sicherheit behaupten, dass in diesen Übertragun- gen die Harpe Nichts sein könne und sein solle, als ein Schneide* und Mord insirument furchtbarer und gewaltiger, als ein solches in Menschen* band vorkommt, diesen so aberlegen wie die Agis menschlichen Schil- den; jenes selbige Schneide- und Mordinstrument, dem die mythische That des Kronos gleichsam die Weihe gegeben hatte, und welches in

186) Preller, welcher in der ersten Auflage seiner Mythologie S. 42 sich über diesen Punkt sehr unklar und widerspruchsvoll ausgesprochen hatte, sagt in der neuen, was ich mit lebhafter Freude anerkenne, S. 4S »die Sichel deutet zunächst auf. Brndte und Erodteaegen.« Dabei können wir einstweilen etehn bleiben, da» was P„ weiter folgen lässt moss ich weiterhin beleuchten.

86 J. OVBRBECK, [86

denjenigen Fällen wieder in Anwendung gebracht wird, wo Götter und halbgöttliche Helden ähnlich gewaltige Schnitte auszuführen haben wie den, welchen, als Vorbild aller, Eronos ausgeführt halte. Oder sollen wir aus dem nur im späteren und spätesten Sprachgebrauche überhaupt vor- kommenden bildlichen Gebrauche der Sichel als Instrument der Alles niedermähenden Zeit entnehmen, dass sich der hieroglyphische Sinn des Attributs «immer erhalten« habe nach Analogie der Art, wie Welcker aus späten Schriftstellern gegenüber den früheren beweist, dass die Idee des Kronion sich neben dem genealogischen Mythus erhalten habe? Und auch noch darauf muss ich hinweisen, dass eine ähnliche bildliche Be- deutung irgend eines anderen alten Götterattributs vollkommen uner- hört ist.

Fasst man nun dies Alles zusammen, so wird man einsehn, dass nichts Auderes übrig bleibt als das Attribut der Getraidesichel dem Gotte in seiner einfachen, natürlichen und wirklichen Bedeutung, d. h. als das Instrument der Erndte , des Abschneidens des reifen Getraides zu- zusprechen. Und wenn dies der Fall ist, so beweist dies Attribut den Gott, seinen Träger als den Gott der Erndte, des Sommers, grade so wie Demeter dQejiavrjyoyog durch dasselbe Attribut als Erndte- und Getraide- göttin bezeichnet wird.

Als solcher hat er in seinem Wesen zwei Seiten , die freilich ur- sächlich untrennbar mit einander verbunden sind, die sich aber auch je für sich auffassen lassen, eine segensreiche und eine verderbliche, wel- che beide Preller in der früheren Ausgabe seiner Mythologie 1 . S. 43 gut hervorhebt,187) wenn er schreibt, der Gott der Reife und Erndte sei »in jenen Klimaten um so mehr [auch] eine böse, zerstörende Macht, weil dort die Zeit der Erndte [die doch ein Segen ist] mit der des Alles verwüstenden Sonnenbrandes zusammenfallt.« Diese beiden Seiten in dem Wesen des Gottes treten nun in seinen Mythen und Gülten uns ge- trennt entgegen ; dem verderblichen, Alles verdörrenden Gotte des som- merlichen Sonnenbrandes gellen die Mythen von der Kinderverschlin- gung, die Vorstellung als Greis und die Menschenopfer einiger Culte, dem segensreichen Gotte der Erndte aber werden die Kronien als

4 87) Weniger klar und prficis in der zweiten, wo gleichwohl S. 46 ebenfalls darauf hingewiesen ist, dass die Zeit der Erndte mit derjenigen des höchsten Sonnen- brandes zusammenfalle.

87] Beitrage zur Ebkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 87

Brodtefeste gefeiert und Früchte und Kuchenopfer dargebracht; er, der Verleiher der jährlichen Zeit des Überflusses und Genusses ist zum Herrscher des geträumten goldenen Weltalters und er ist zum Vater des Zeus auf Kreta nach dessen dortiger Cultauffassung geworden.

Ehe ich dies naher begründe will ich noch hervorbeben, dass mei- ner Überzeugung nach Kronos' Verhältniss zum Uranos und in der Ent- mannungsgeschichte durchaus speculativ aufgefasst werden muss , also wesentlich so wie dies Preller in der neueren Auflage seiner Mythologie tbut (S. 45), wenn er die Entmannung so fasst, dass durch sie der all- zu grossen Fruchtbarkeit ein Ende gemacht, und dadurch ein neuer Zeit- abschnitt eines ungehinderten Wachsthums aller irdischen und himm- lischen Kräfte herbeigeführt wird. Vielleicht noch klarer und bestimmter wurde in der früheren Auflage (S. 43) Kronos in theogonischer Bezie- hung als Gott der Reife und Vollendung dargestellt, weil jetzt die Zeit gekommen war, wo die Zeugungen des Uranos aufhören mussten, damit sich die neu entstandenen Naturkräfte in Ruhe ausbreiten und entfalten konnten. Gegen die in eben dieser früheren Darstellung enthaltenen Unklarheiten und Widersprüche, durch welche Kronos dem Uranos ge- genüber als Gott des ausdörrenden Sonnenbrandes bezeichnet wurde, der den unerschöpflichen Regengüssen seines Vaters ein Ende macht, kämpfe ich nicht weiter, da Preller sie selbst getilgt hat, und nur dage- gen muss ich mich noch auflehnen, dass auch in der neuen Auflage (S. 38) in die kosmogonischen und theogonischen Zeugungen des Ura- nos das Fragment aus Äschylos' Danaiden eingemischt wird. Denn so gewiss auch Anschauungen dieser Art zur Paarung von Uranos und Gäa wie von Zeus und Dione, Zeus und Here u. A. geführt, und so die theo- gonisch-kosmogonische Paarung begründet haben, so wenig hat die Regenbefruchtung der Erde durch den Himmel mit den kosmogonischen Zeugungen des Uranos und der Gäa auch nur das Mindeste zu thun. Uranos' Zeugungen haben wir etwa nach Analogie der vergiliscben Verse (Georg. 2. 336 ff.) als Weltfrühling zu fassen,188) dem eine zweite, voll- kommnere Periode der Kosmogonie und der eigentlichen Theogonie, eine Periode der Reife und Vollendung, ein Wellsommer folgen musste, den der Reifer und Vollender, der xyaivow Kqovoq heraufführt. Und in der That zeigt eine nähere Prüfung des Gehalts der hesiodischen Theo-

188) Vergl. auch Brandis, Gesch. d. griech. Philos. \ . S. 7 5 f.

88 J. OVBRBBCK, [88

gonia, dass der Dichter in den Uraniden und den übrigen bei Uranos' Entmannung vorhandenen theogonischen Potenzen alle Kräfte und Er- scheinungen des Kosmos als im Keime vorhanden hat darstellen wollen, während sich dieselben in den auf die Entmannung folgenden Fortzen- gongen der Urpotenzen zu der ganzen Fülle der Erscheinungen und der ideellen Mächte des Weltalls entwickeln. Dass aber Kronos zum Ver- treter dieses Weltsommers geworden , das geschah , weil er Gott des jährlichen irdischen Sommers war, und dass er seine That mit der Sichel vollbringt, das ist aus der charakterisirenden Hauptfunction jedes ernd- tenden, die Zeugungen des Frühlings abmähenden Sommers entnommen. So ist Alles speculativ und doch in der Darstellung deswegeh dichterisch und mythisch, weil die Bilder aus der Anschauung entnommen sind und auf Thatsächlichem in älteren Mythen und Culten beruhen.

Wenden wir uns nun den Culten des Kronos zu , so haben wir es natürlich zuerst mit den attischen Kronien zu thun als dem bekanntesten Feste des Gottes. Cber die Natur des Festes, die auch Welcker im Grunde nicht verkennt, braucht nach dem früher Gesagten hier nicht mehr Viel hinzugefügt zu werden. Die Zeugnisse des Philochoros und des Attius bei Macrob. Saturn. 1. 10. 22 u. 7. 37 charakterisiren es als ein Fest der allgemeinen Lustbarkeit, namentlich als ein solches der Knechte nach Einbringung der Erndte (frugibus et fructibus iam coactis; Philoch. nach Macrobius' Obersetzung) und das ohne allen Zweifel auch mit Beziehung auf den Erudtesegen gefeiert wurde; bekannt ist, dass es auf den 1 2. Hekatombäon fiel (Demosth. adv. Timocrat. p. 708) und in sofern als öffentliches Fest bezeichnet ist, als seinetwegen die Sitzung der Bule ausfiel [dta ravr äcpei/utvrjs ttjq ßovkfjs, Demosth. a. a. 0.), wenngleich die Opfer nicht von Staats wegen dargebracht wurden, weil es in dem Verzeicbniss der Opfer dieses Monats im Corp. Inscr. gr. No. 157 fehlt. Auch auf die Gründe, die ich für den primitiv religiösen Charakter des Festes und seine ursprüngliche Beziehung auf Kronos geltend gemacht habe, will ich nur zurückverweisen. Nun scheint es mir aber unwidersprechlich, dass ein Gott, welchem nach eingebrachter Erndte und mit Rücksicht auf dieselbe, also als Dank für dieselbe ein Opfer dargebracht und ein Fest gefeiert wurde, eben hierdurch als ein Gott der Erndte und weiterhin als derjenige bezeichnet wird, dem man den Segen des Feldes zu verdanken glaubte. Bemerken aber muss ich noch, dass man weder das von Philochoros (a. a. 0.), Plutarch (Thes. 1 2),

89] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 89

dem Etymologicum magnum (v. f£xccro/Ltßaiwv) , Hesychius (v. Kqbvta) übereinstimmend bezeugte hohe Alter des Kronosfestes und Kronos- opfers im Kronosmonat, noch die Dauer desselben, welche ausser De- mosthenes (a.a. 0.) Machon (bei Athen. 43. p. 581 a.), Lukian (Saturn. 7, Call. 14) und Plutarch (non posse suav. vivi 16) verbürgen, ohne Will- kuhr in Abrede stellen kann, wahrend die Cultgestalt des Kronos, nicht eines geträumten Herrschers des goldenen Weltalters uns aus den Kuchenopfern nochmals entgegentritt , welche er nach Corp. Inscr. gr. No. 623 am 1 5. Elaphebolion empfing wie Zeus Georgos im M&makte- rion (G. I. gr. a. a. 0.). Und somit nehme ich die athenischen Kronien als ein erstes bestimmtes Zeugniss dafür in Anspruch , dass Kronos als Gott der Erndte und folglich als Gott des Landbaus und vegetativer Fruchtbarkeit verehrt worden sei.

Sehn wir nun vorerst von den in anderem Zusammenhange zu er- wägenden Nachrichten ganz ab, welche wie Schol. Arist. Nubb. 397, Verr. Flacc. b. Macrob. 1. 4. 7, Attius das. 1. 7. 37, Athen. 43. p. 639 die Kronien als ein überall in Griechenland gefeiertes Fest bezeu- gen, Nachrichten, deren Glaubwürdigkeit in Bausch und Bogen und ohne besondere Beweise und Gründe in Abrede zu stellen ebenfalls nur Will- kühr genannt werden könnte, so begegnet uns als das nach den atheni- schen Kronien bekannteste Fest und Opfer des Kronos das auf dem Gipfel des Kqovioq Ucpog bei Olympia am Tage des Frühlingsäqui- noctiums im eleischen Monat Elaphios von den BaaiXai dargebrachte (Pausan. 6. 20. 4), dessen chronologisches Zusammentreffen mit dem attischen Opfer am 4 5. Elaphebolion ich nicht für zufällig hallen kann, welches mir vielmehr als ein Opfer nach vollbrachter Aussaat,189) wie dasjenige imHekatomb&on als Fest nach vollendeter Erndte erscheint.100) Das hohe Alter aber dieses eleischen Frühlingsopfers für Kronos ist um so sicherer anzunehmen, da in den BaoiXai xcdov/uevot eine eigene Priesterschaft mit eigenthttmlichem , in seinem Ursprünge dunklem Na- men auftritt, und da sich der Cultus nicht an den von Pausan. 5. 7. 4 bezeugten Tempel des Kronos als des ersten Herrschers im Himmel

4 89) Die doppelte Saatzeit, im Herbst and im Frühling, ist bekannt, vgl. Hermann Priv. Alterth. §4 5. 4* ; die letztere aber, obgleich in historischer Zeit die weniger ge- bräuchliche, lässt sich als die ursprünglichere erweisen.

4 90) So fasst dasselbe auch Heffler. Relig. d. Griechen u. Römer S. 330, dessen Abhandlung über Kronos in der Schulzeitung von 1833. Tl. No. 29 f. mir leider un- zugänglich gewesen ist.

90 J. OVERBBCK, [90

anknüpft, den die Menschen der goldenen Zeit gebaut haben sollten, noch auch an den Altar des Kronos und der Rhea, den der Schol. Pind. Ol. 5. 8 u. 10 anführt, sondern an eine Naturstätte, an welcher unter verschiedenen Varianten191) Kronos' Name untrennbar haftet, ohne dass auf derselben ein Tempel oder sonst irgend eine Art von Einrichtung auf die Entstehung des Gultus in späterer Zeit hinwiese.

Die Erwähnung der BaoiXai xakov/ievoi lässt uns hier den Cultus von Lebadeia anfügen, bei welchem Kronos an dem Tqoiptovia oder BaviXeia genannten Feste Antheil hatte. Auch Welcker berührt diesen Cultus S. 155, aber er sagt nur ablehnend: »dass wegen des Orakels des Trophonios ausser dem Zeus, der Here und anderen Göttern auch dem Kronos (ohne Rhea) geopfert wurde (Paus. 39. 3 u. 4) hat nach Art dortiger Theologie keine besondere Bedeutung.« Dies verstehe ich nicht. »Hat keine besondere Bedeutung nach Art dortiger Theologie«? also die Theologie von Lebadeia hat keine besondere Bedeutung? und washeisst: keine besondere Bedeutung? heisst das keine überhaupt? und will Welcker, indem er die lebadeische Theologie für bedeutungs- los erklärt, auch den dortigen Cult des Kronos für bedeutungslos er- klären und somit beseitigen? Oder ist hierein Druckfehler, wie ihrer leider eine so grosse Zahl das Buch verunziert, und soll es heissen: hat eine besondere Bedeutung, d. b. eine singulare, eigentümliche? Wenn dies der Fall ist, so muss man bedauern, dass Welcker Nichts gethan hat, um diese eigenthümliche Bedeutung der lebadeischen Re- ligion und des Antheils des Kronos an denselben aufzuklären; denn Niemand wird läugnen, dass diese Religion dunkel und noch keineswegs durchaus verstanden sei. Und deswegen darf man auch über dieselbe nicht so apodiktisch absprechen wie Lauer (System der griech. Mythol. S. 167), der es für »unzweifelhaft« erklärt, dass Kronos in Lebadeia Beziehung zu Fruchtbarkeit und Gedeihen habe. Aber wahrscheinlich in hohem Grade bleibt es immerhin, dass diese Ansicht im Wesentlichen das Richtige treffe.192) Denn, dass Trophonios, der Mittelpunkt des Cultus ein Dämon der Fruchtbarkeit, ein Nährdämon der Erde sei,198) wird sich

4 94) Kqovov Xotpog, Kqovwq ko<pog, Kqoviov oqoq bei Pausan., Kqovov nayos b. Pind. Ol. 8. 17, 5. 47, 44. SO, Kqovhov b.Xenoph. Hell. 7. 4. 14, vergl. £. Cur- tius Peloponnesos 2. S. 51.

492) Angenommen ist dies auch von Heffter Rel. d. Griechen u. Römer S. 329.

4 93) Müller, Orchomenos S. 4 49.

91] Beitrage ztm Ebkjcnntniss und Kbitie dem Zeusäkligion. 91

nicht l&ugnen lassen , eben so wenig , dass Demeter, seine Amme , als Erdmutter mit seinem Cult verbunden war; die Bedeutung des Zeus ßaatXevg und der Here ßaatXlg oder ^viopj m) ist dunkel , und man darf sie nicht mit Lauer ohne Weiteres als Wesen bezeichnen, die dem Segen des Ackerfeldes vorstehn ,195) obgleich auch dies nicht unwahr- scheinlich ist; zu beachten ist ferner der Zeus vhiog im Haine des Trophonios neben dem Heiligthum der Demeter Europe (Paus. a. a. 0. § 4) , insofern er als regnender Gott ebenfalls Gott der Befruchtung und der Fruchtbarkeit ist. Er erscheint bei Pausanias als ein anderer denn der ßaodevg und als ein Dritter der im Tempel mit Kronos und Here aufgestellte; da man aber nach Pausan. (a. a. 0. § 5) vor dem Opfer den Zeus Basileus und die Demeter Europe anrief, mit der nach dem froheren § der vhtog, nicht der ßaatXevg verbunden ist, während hier der veriog ganz wegfällt , so ist die Identität des ßaoitevg und veriog viel wahrscheinlicher als die Nichtidentität; danach würde sich eine ahnliche Bedeutung auch für die Here ßaodig ergeben, während in dem mit angerufenen Apollon, als Helios- Apollon gefasst, die zweite Be- dingung der Fruchtbarkeit: Licht und Wärme neben dem Regen des Zeus aufzutreten scheint. Stellt sich also in diesem Gölterkreise, zu dem noch die ebenfalls im Haine des Trophonios verehrte Herkyna hinzutritt, die nicht minder deutliche Beziehung zum Wasser hat , wie der Zeus virioi (Pausan a. a. 0, § 2 u. 3) , allerdings ein Kreis von Gottheiten dar, welche die Fruchtbarkeit der Erde oder des Ackerfeldes darstellen oder bewirken, so wird man dem in dieser Gesellschaft auftretenden Kronos schwerlich mit Recht gleiche Bedeutung absprechen können, während er als Reifer und Zeitiger der Frucht,196) welche die übrigen Gottheiten erzeugt, genährt und gepflegt haben, und mit der Trophonios, der Mittelpunkt des Kreises und Cultus nährt , seinen vollberechtigten Platz und seine ganz natürliche Erklärung findet. Doch sei dem wie ihm

494) *H»wpi bei Paus. a. a. 0. , aber ßaadig Müller a. a. 0. 148. Note 5.

4 95) Panofka's Abhandlung über den Trophonioscult von Rhegion in den Schrif- ten der berl. Akademie 4848 ist wie gewöhnlich unbrauchbar.

496) Auf gleichen Grand kann die vom Etym. M. v. rHkg p. 426. 4 8 bezeugte Koinobomie des Kronos und Helios und dass Kronos in dem von Welcker S. 4 45 ci- ttrien chaldSischen Oradel 'Hekiov naQififOQ heisst, mindestens eben so fuglich zu- rückgeführt werden, wie auf das Ordnen des Zeilmasses, wie Welcker meint. Ist es denn nicht Helios, der unter Kronos* Vorstandschafl , oder durch welchen Kronos das Oetraide reift?

92 J. Overbeck, [92

sei, bedeutungslos ist dieser Kronoscultus nicht, Beziehung auf Zeus als den tbeogoniscben Sohn des Kronos hat er gleichfalls nicht, and aus einer Geltung des Kronos als Chronos vermag ich denselben nicht zu deuten.

Kehren wir nun noch einmal zu dem eleiscben Cultus zurück, so ist freilich zu gestehn , dass in ihm die Natur des Opfers und die mit diesem im Zusammenhange stehende des Gottes nicht ausdrücklich, sondern hauptsächlich dessen Alter und Unabhängigkeit von anderen Culten angegeben wird , dafür aber finden wir in den in Kyrene ge- feierten Kronien, bei denen man sich nach Macrob. 4. 7. 25 mit Feigen bekränzte und mit Kuchen beschenkte , wiederum Züge , welche sich aus der ländlichen Natur des Gottes, dem das Fest galt, und den man nach Macrobius' ausdrücklichem Zeugnisse als Spender der Baumfrucht und des Honigs betrachtete , leicht und einfach , aus irgend einer an- deren schwer, wenn überhaupt erklären lassen. Dass aber diese Kro- nien in Kyrene selbständig entstanden und dass sie ausser Zusammen- hange mit uns unbekannt gebliebenen Culten des Mutterlandes waren, kann vernünftigerweise Niemand behaupten, ja ich glaube filr die Zu- rückführbarkeit derselben auf eine Stiftung der Ägiden , die allerdings nicht bewiesen werden kann, nach der Natur der ägidischen haupt- sächlich agrarischen Culte und nach der Geschichte von Kyrene einige Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen zu dürfen, die, wenn man sie anerkennt, uns einen tiefen Hintergrund der Religion erschliessen und vielleicht einst auf ihren inneren Zusammenhang hinführen würde.

Hier wird es nun am Orte sein, ein paar Nachrichten in's Auge zu fassen, welche die Verehrer des Gottes angehn. Plutarch (de nobil, 20) giebt an , die Menschen unter Kronos seien Landbauer gewesen, was auch Welcker S. 157 beiläufig erwähnt, aber nur, um die Be- merkung daran zu knüpfen , dies passe ganz zu der volksmässigen Art des Festes , an dem die Herren sich unter die Diener mischen. Dies ist unbestreitbar richtig; aber eben diese volksmassige Art des Festes in Verbindung mit der Angabe, die das Fest Begehenden, denn diese sind in Plutarch's Worten bezeichnet, seien Bauern gewesen, und dies wie- der in Verbindung mit den von Macrobius übersetzten Worten des Phi- lochoros: delectari enim deum honore servorum contemplatu laboris, bezeichnet wiederum Kronos als den Gott des Landbaus, der Bauern und der Knechte, welchen letzteren in den entwickelten Zuständen griechischer

93] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 93

Staatsverfassungen die thälige Landarbeit wesentlich and hauptsächlich zufiel, mit denen sich aber am Kroaosfeste die vornehm und städtisch gewordenen Herren mischten, sie die einst selbst die wahren Kronosver*- ehrer waren, denn es gab zu seiner Zeit keine Sclaven , sagt Kronos bei Lukian. Kronos erscheint in diesen Spuren überwucherter alter Cultur nnd Cnlte sehr ähnlich dem namentlich von Welcker im Anhange zu seiner Trilogie S. 1 86 ff. trefflich beleuchteten Dionysos der alten Ziegenhirten und Weinbauern, und es ist schon von vielen Alten und Neuen die weitere Ähnlichkeit der dionysischen Festlust mit der Festlust der Kro- nien in Parallele gezogen worden , eine Ähnlichkeit, die meiner Über- zeugung nach , aus der Verwandtschaft der Wurzeln beider Culte her* stammt. Nur dass der dionysische Cultus unter vielen und harten Kämpfen der adeligen Städter gegen seine bauerischen Träger, unter Kämpfen , die Niemand besser beleuchtet hat, als Welcker a. a, 0. , all- mülig in die Stadt eindrang und sich hier festsetzte und herrlich ent- faltete , ohne dabei alle Elemente seines ursprünglichen ländlichen Cha- rakters einzubttssen, während der Kronoscult der Kronien, obgleich auch er in die Stadt eingedrungen ist, mehr und mehr den wirklich thätigen Landbauern, den Knechten anheimfiel, ohne dass deshalb Kro- nos zum Gotte der Knechte und Sclaven geworden wäre.

Die Natur der Kronoaverehrer, nämlich dass sie Bauern seien, geht auch aus den von Welcker S. 4 58 f. angezogenen und in etwas anderem Sinne gedeuteten Ausdrucken der Komödie; Kqwmv o£w (Arist. Nubb. 398), Äföytoc (ib. 929) Kp6voi rpxytpdoi (id. Vespp. 4 480) hervor. Welcker meint, diese Ausdrücke gehn »altvaterische Einfalt, Be- schränktheit und Altersschwäche« an und knüpfen sich an den Begriff altväterlicher Glückseligkeit des fabelhaften goldenen Zeitalters. Bei näherer Erwägung aber ergiebt sich, dass dieselben mit Altersschwäche als solcher Nichts zu thun haben , sondern sich auf altväterliche Einfalt, Beschränktheit , bäuerliche Unbildung im Gegensatze zu der modernen und raffinirten Cultur und Sophistik beziehe, und dass man zu ihrer Ab- leitung nicht auf ein fabelhaft goldenes Uralter, so populär dessen Bilder za der Zeit gewesen sein mögen ,197) zurückzugreifen nölhig hat , son- dern nur auf ländliche, bäuerliche Sitten und Culte. So ist das RqovUav

481) Vsrgl. Welcker a. a. 0., besonders aber Bergk, de reliquiis csmoediae atticae p. 4 93 sqq.

91 J. OVBRBBCK, [94

6£a>v dem Sokrates in den Mund gelegt, der mit demselben den Strepsiades , bekanntlich überhaupt und ganz besonders in der hier in Rede stehenden Scene den Typus altväterlicher Einfalt und Beschrankt- heit, Bäuerlichkeit,1*) verhöhnt und zwar als dieser altfromm meint, den Blitz sende doch offenbar Zeus , Meineidige zu strafen , worauf ihm Sokrates sein:

%ai TrcÜg, © fiv>Qe ov xai Kqoviwv ögew xai ßixxeoeXtjve an den Kopf wirft , was Droysen ganz gut mit :

Wie, was, o du Narr, altmodischer Kauz, Altweibergeschichten- erzähler übersetzt hat. Noch charakteristischer ist es , dass das Kqopos äv von dem äiixog X6yog gegen den dixcuog gebraucht wird , bekanntlich der verkörperten neuen und faulen Bildung gegenüber dem Vertreter der alten Einfachheit und Kraft, Einfalt und Bäuerlichkeit. Und nicht min- der deutlich ist der Sinn der dritten Stelle in den Wespen, wo es von Bdelykleon, der Parallelfigur des Strepsiades als Repräsentant der guten alten Zeit, heisst, er tanze die Tänze der Thespis und wolle die jetzt aufgeführten Tragödien im Gegensatze zu den wirklich altmodischen als Kqovoi TQaytpöol, d. h. als altmodisches Zeug darthun, wo eine an- dere Erklärung gar nicht möglich ist. Dass bei diesen Vertretern der guten alten Zeit an eine Ableitung aus dem goldenen Zeitalter und an einen erst durch dieses vermittelten Bezug zum Eronos gar nicht zu denken ist, muss einleuchten, womit natürlich nicht entfernt geläugnet werden soll, dass in anderen Stellen, wie sie Preller in der neuen Be- arbeitung seiner Mythologie S. 46 Note S anführt, die Ausdrücke Kq6- vtoi u. s. w. so gut wie Tanerol und Kodqoi sich auf Alter und Alters- schwäche beziehn ; ist ja doch Kronos auch der ye^wp und ryiytQw ! Wichtig aber ist es, die in den angeführten Stellen vorhandene Be- ziehung auf altväterliche Ländlichkeit und Einfalt wohl in's Auge zu fassen und von dieser anderen getrennt zu betrachten.

Und wenn denn nun die Natur der alten Eronos Verehrer auf grie- chischem Boden verdunkelt worden ist und mit ihr die Natur des Gottes selbst, so ist Beides auf italischem Boden im Cultus des Saturnus voll- ständig erhalten. Es ist mir allerdings wohl bewusst, dass von den

198) apyotxog o(a>v rgvyog, xQaawgf igimv niftovoietg, der seine

Ziegen hütet dup&tpar hw^ivog (Nubb. vs. 47, 50, 72).

95] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 95

Meisten und auch von Welcker die Herbeiziehung des Saturnus zur Auf- klärung des griechischen Kronos perhorrescirt wird, dass man alle Zeugnisse für die wirkliche Identität beider Gottheiten eben so bestimmt verwirft wie alle jene Nachrichten , die von einer Übertragung der grie- chischen Kronien als Saturnalien nach Italien reden. Es ist gewöhnlich geworden , von einer späteren Identificirung des Kronos und Saturnus und von einem Synkretismus ihrer Mythen zu reden , aber es ist nicht gehörig beachtet, dass alle die Züge in den Gülten, aufweiche es für die Erkenntniss der Natur des Gottes in Griechenland und Italien an- kommt,190) echt volkstümlich und gewiss alt sind, während die theo- gonischen Mythen vom Kronos , die seine alte Gullnatur Nichts angehn, dem Saturnus nur ganz äusserlich und in später Mythencombination angedichtet sind. Eben hierin aber liegt ein Fingerzeig, um die Grenze des späten Synkretismus und der alten wirklichen Identität zu erkennen, die eine verschiedene Ent Wickelung im Einzelnen nicht ausschliesst ; und was diese alte Identität anlangt muss ich gestehn, dass ich in allen neueren mythologischen Schriften vergebens nach einem durchschlagenden Ar- gument gegen dieselbe gesucht habe. Ich kann vielmehr auf diesem Punkte mich nur gänzlich mit Buttmann einverstanden erklären, der (Mythol. 2. S. 29) von der Identität von Kronos und Saturnus ausgeht und mehrfach auf dieselbe zurückkommt und der a. a. 0. schreibt: »wer den Saturnus vom Kronos trennen will , der trenne nur auch eben so leichtsinnig [dies will ich nicht gesagt haben] den Yulanus , den Mer- curius, die Diana, die Minerva von den entsprechenden griechischen Gottheiten, von denen die Namen sie trennen.« Dass aber Saturnus wirklich und ganz unzweifelhaft Gott des Landbaus, dass seine Verehrer Bauern waren, dieses, was Buttmann in Abrede stellen musste, weil er sonst die gleiche Natur des Kronos und seiner Verehrer hätte zugeben müssen, dürfte nach den neuesten Forschungen über Namen und Culte des Saturnus*00) schwer zu bestreiten sein.

Wenn sich nun in diesen Culten und Cultusspuren , so fragmenta- risch und verdunkelt wir sie kennen mögen , dennoch als gemeinsamer

499) loh brauche mich nur auf das zu berufen, was 6. Sippel: De cultu Sa* turni, Marb. 1848. S. 66 f. als Gründe für die spätere Identificirung anführt, es sind eben ao viele Zeugnisse für die Identität.

100) Ich verweise auf die treffliche Darstellung Preller's, Rom. Mythol. S. 408 ff.

96 J. Ovebbeck, [96

Erklärungsgrund am einfachsten der Glaube an einen von ländlicher Be- völkerung angebeteten Gott ergiebt, dessen Obhut man die im Frühlinge bestellte Saat empfahl und dem man die Fülle und den Segen der Erndte dankte , so ist daraus die Vorstellung des im goldenen Weltalter herr- schenden Eronos so leicht abzuleiten, dass es dazu nicht mehr bedarf als der einfachen Worte Preller' s , Mythol. 1 . 43 (der ersten Auflage) : »als Erndtegott ist er zugleich der Herrscher des goldenen Zeitalters, wo ewige Reife und ewige Erndte war,« denn wenn Kronos herrscht und wo er herrscht ist Reife und Erndte , nur dass man , um die Vor- stellung zu erschöpfen, hinzusetzen muss: und wo die Menschen in ein- fachen, von allen Mängeln und Übeln der Civilisation unbeleckten Zu- standen lebten wie die bäuerlichen Verehrer des Kronos und in Freude, Friede und Brüderlichkeit, wie die Herren und Knechte an den Kronien. Denn dass in der That diese beiden Vorstellungen des goldenen Zeit- alters , die eine von einer Vorzeit der Unschuld und Einfall und die andere von einer Zeit der üppigsten Fülle und des mühelosen Genusses sich mit einander verbanden hat am ausführlichsten Bergk in seinen Commentationes de reliquiis comoed. ant. atticae p. 188 sqq. dargelegt und Welcker nicht bestritten; wie aber einerseits nach der Natur seiner Gaben und seiner Feste, andererseits gemäss der Natur seiner Verehrer Kronos zum Repräsentanten und Herrscher dieser geträumten goldenen Zeit werden konnte, dies scheint mir so einfach und leicht begreiflich wie irgend Etwas , und ich glaube , mich für das Natürliche und Nahe- liegende einer solchen Ideenverbindung und Übertragung auf Welcker selbst und auf das berufen zu dürfen v was er über die Verbindung der Kronien mit der Idee des goldenen Weltalters gesagt bat, nachdem ich gezeigt habe, dass die Art, wie er sich diese Verbindung hergestellt denkt, irrig sei.

Ist nun aber die Ideenverbindung zwischen dem Kronos der länd- lichen Culte und Erndtefeste und dem Kronos, Herrscher der goldenen Zeit, so wie ich sie vermittelt deuks, richtig, so wird es erlaubt sein/ die unter diesem Gesichtspunkte gewichtige Tbatsache, dass man aller- dings am meisten in Athen, aber keineswegs allein daselbst von dem goldenen Weltalter und seinem Herrscher Kronos erzählte , mit jenen oben (S. 89) bei Seite gelassenen oder zurückgestellten Nachrichten in Verbindung zu bringen, nach denen allerdings ganz besonders in Athen (maxime Athenis , Attius b. Macrob) , aber keineswegs in Athen allein

97] Beiträge zur Erkbnntntss und Kritik der Zgusreligion. 97

die Kronien gefeiert wurden , und es dürfte hieraus sich eine, vielleicht Manchem unerwartete Stütze für die Glaubwürdigkeit jener Nachrichten ergeben, welche da bezeugen, dass die maxima pars Graium die Kronien gefeiert habe (Attius), dass Saturnaliorum dies apud Grae- c o s etiam fest! habentur (Varr. Flacc.) , dass die Kronien seien naqa toiq "EXhjatp Ioqttj (Schol. Aristoph.) oder eine so^ttj iXhjvixordrTi (Athen.). Soviel über die eine, grössere Hälfte der Kronosculte in Griechenland, welche dem Gott in seinem segensreichen Wirken gelten.

Über die andere Hälfte der Culte und über den Mythus, der Kronos als verderblichen Gott schildert, glaube ich mich kurz fassen zu dürfen.

Was zuerst die Gülte, nämlich die Menschenopfer anlangt, welche sich bekanntlich auf Rhodos und Kreta beschränkten, so steht zunächst deren Ursprung nicht fest, und man kann nicht sagen, dass sie dem griechischen Kronos und nicht vielmehr dem Kronos genannten Baal- Moloch gegolten haben , ich meine nicht einem mit Baal-Moloch identi- ficirten, schon vorhanden gewesenen griechischen Kronos, sondern pure dem ersteren , der nur hier so gut wie an manchen anderen Orten Kronos genannt wurde. Es ist dies Welcker's Ansicht, der ich nur dies Eine entgegenstellen möchte, dass sie nicht nothwendig die richtige ist, so viel Wahrscheinliches sie auch , besonders deswegen für sich hat weil wir ähnliche Culte des griechischen Kronos auf griechischem Bo- den nicht finden. Aber erwiesen ist, soviel ich zu sehn vermag trotz dem Allen noch nicht, dass diese rhodischen und kretischen Menschen- opferculte dem phönikiscben Baal-Moloch-Kronos und nicht dem grie- chischen Kronos gelten, und als möglich muss ich dies immer noch hin- stellen, wobei als nicht unbedeutender Incidenzpunkt in Rücksicht kommt, dass das rhodische Opfer auf den 6. Metageitnion (30. Juli) fiel, also wenigstens annähernd mit dem attischen Kronion am 12. Hekatombäon coincidirte und, worauf es hier besonders ankommt, in der Zeit des grössten Sonnenbrandes begangen wurde. Dass in einer solchen Zeit dem griechischen Kronos, mag er auch als Gott der Reife und Erndte verehrt worden sein, als dem im Sonnenbrande und in der Dürre der Erde furchtbaren Gotte Menschenopfer als Sühnopfer dargebracht worden sein können , und zwar nach griechischer Cultstiftung , das möchte ich nach zahlreichen Analogien anderer griechischer Culte weder unmög- lich noch überraschend nennen. Namentlich dürfte hier einerseits auf die Culte des Zeus Lykäos und Laphystios, sicherer Hitze* und Dürre-

Abhandl. d. K. S. Gm. d.WUi. X. 7

98 J. OvERBECK, [98

götler und auf die Menschenopfer, die A pol Ion Tbargelios als Sühnopfer empfing,301) zu verweisen sein und andererseits auf die Menschenopfer, welche dem Dionysos fielen,202) da dieser als Gott der vegetativen Fruchtbarkeit und Fülle mit dem Kronos als dem Gotte der Fülle, Reife und des Erndtesegens in Parallele tritt.

Was aber den Mythus von der Kinderverschlingung anlangt, so ist dieser ganz gewiss nicht aus den Menschen- oder Kinderopfern des Kronos abzuleiten, sondern er beruht, wie auch Preller und zwar in der früheren Auflage seiner Mythologie (4. S. 43) besonders klar an- gedeutet hat, auf der natürlichen Wirkung derselben Kraft des Gottes, welche die Erndte zeitigt, dann aber in dörrendem Sonnenbrande Alles verzehrt , was der Gott mit einer Gattin Erde denn nur eine solche kann ihm zukommen , und eine solche ist , ganz von der Er- klärung ihres Namens abzusehn , begrifflich auch Rhea erzeugt hal. Nur dass man diesen Mythus von der Kinderverschlingung in seinen Keimen ganz allgemein verstehn und die Substiluirung der mythisch - theogonischen Kinder des Kronos als blosse theogonisch-combinato- riscbe Übertragung oder Anwendung betrachten muss. Auf diesem Punkte muss ich der namentlich von Lauer (Syst. d. griech. Mythol. S. 169) entwickelten Ansicht, der übrigens auch Preller zuneigt v ent- gegentreten , sofern Lauer die Verschlingung der theogonischen Kinder für an sich bedeutend hält, und Prelier in der hesiodischen Darstellung das Princip findet, dass das Vollkommenste stets das Letzte und des- wegen Zeus der Jüngste sei (Myth. 2. Aufl. 1. S. 47). Dies wage ich als bestimmt irrig zu bezeichnen. Denn erstens giebt die Verschlingung der Kroniden : Hestia , Demeter, Here , Afdes und Poseidon , wenn wir diese Gottheiten in ihrer Bedeutung fassen, wie Lauer wollte, ein ganz unwahres und unleidliches Bild, und zweitens sind ja diese Gottheiten auf keinem anderen Wege zu Kronos' Kindern geworden als auf dem- jenigen des combinatorischen Mythus, der sie zu Geschwistern des Zeus machte. Die ganze Entwickelung ist vielmehr unzweifelhaft diese : ursprünglich bedeutsam ist nur, dass Kronos alles Gezeugte wieder ver- schlingt als Gott des dörrenden, verzehrenden Sonnenbrandes, den Jeder zu würdigen wissen wird, der z. B. die sommerliche oder nachsommer-

t04) Hermann, Gottesdienstl. Alterthümer § 60. 4, 17 ff.; § 68. 4«. 202) Hermann, a.a.O. 27. 4.

99] Beiträge zur Ebkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 99 \

liehe Campagna di Roma kennt ; die Kinder des Kronos aber sind ur- sprünglich entschieden namenlos , die ganze Vegetation ; dann entstand der Mythus der Zeus zu Kronos' Sohn machte (von dem nachher), weiter und auf anderem Wege der, welcher die beiden anderen Götter zu Zeus' Brüdern und nach dem auch im Titanenmythus hervortretenden Gesetze des Parallelismus die 3 Göttinen zu seinen Schwestern stem- pelte ; als Zeus' Geschwister wurden nun diese fünf gleichfalls zu Kro- nide n, und als solche nun erst zu den von dem Vater Verschlungenen. Da sie aber grosse Cultgottheiten waren und als solche fortbestanden, also nicht verschlungen sein konnten, musste der Mythus von Kronos' Entthronung durch Zeus nothwendig auch auf ihre Rettung durch den auf anderem Wege geretteten und in Folge der Verschlingungsgeschichte aus dem Altesten zum Jüngsten gewordenen Zeus ausgesponnen werden, was durch die Fabel von dem Wiederausbrechen der Kinder sowie des statt des Zeus verschlungenen Steines bewerkstelligt wurde. Dies Alles aber ist einzig und allein theogonische Poösie , blosse nothgedrungene Combination ohne den leisesten Anhalt der Bedeutsamkeit.

Bedeutsam dagegen und eine blosse Gonsequenz des ersten Be- deutsamen, der ursprünglichen Kinderverschlingung ist es, dass Kronos als Greis erscheint, ein Bild der verlebten Natur, wie Preller (S. 46) wieder richtig sagt , der Natur die im Sonnenbrande kahl und grau und alt geworden ist. Alle weiteren Schilderungen aber des alten, kahl- köpfigen, mürrischen vertrockneten Kronos yiqwv und TQiyiqwv sind Consequenzen und Ausmalungen dieser Anschauung, welche durch die andere Anschauung von der Entthronung durch Zeus , von des Kronos Herrschaft vor der des Zeus also im Uralterthum , wesentlich unter- stützt wurde , und in der That so befestigt und popularisirt worden ist, wie es uns Schriftstellen und Kunstwerke beweisen. Dies Alles ist ein- fach und klar auch ohne weitere Worte; schwierig bleibt nur die eine Frage , auf welchem Wege Kronos zum Vater des Zeus geworden sei, eine Frage, deren Beantwortung wir uns jetzt schliesslich zuwenden, und um derentwillen alles Vorstehende untersucht und ausgesprochen werden musste.

100 J. OVBRBECK, [400

10.

Welcker fasst die Sache kurz wie folgt : »Unvermeidlich war es, sagt er (Götter). 1 . S. 1 48) dass nach der patronymischen Form Kronion, Kronides statt der blossen Bedeutung oder des Prädicats Kronos mythisch als eine Person aufgefasst wurde.« S. 4 49 lesen wir: »zu einer Zeit, wo etwa Apollons oder anderer Götter Geburtsfest als das Heiligste gefeiert wurde, durfte der Mythus sich nicht scheuen, auch den Kronos als Vater im eigentlichen Sinne zu fassen, und ihm die grosse Göttin zu vermählen, die wirkliche, alte, hochangesehene Göttin Rhea.« Sodann S. 150: »denkbar ist es, dass die Dichtung im Zusammenhange ge- standen habe mit dem Obergang von den Naturgöttern zu den menschen- artigen. Denn Zeus, wenn er auch nicht aufgehört hatte, der höchste Gott, oder Gott vor und über allen Naturgöttern zu sein, war doch auch Gott eines Naturreichs ; durch jenen Mythus aber erfährt er scheinbar [?] in diesem Bezug eine Umwandlung, indem er unter die Götter dieser neuen Periode nicht als Natur, sondern nur als Person eintrat , eben so wie die aus ihm geborenen Götter.«

Der Vater Kronos also wird aus Kronion hypostasirt. Die Mutter aber ist eine wirkliche Gultgestalt und zwar sie nebst dem Kinde und schon vor dem Mythus , der Kronos zum Vater und zu ihrem Gemahl machte. Dies finden wir weiter ausgeführt im 2. Bande der Welcker' - sehen Götterlehre S. 216 ff. in dem Capitel: Rhea und das Zeuskind oder der kretische, kretageborene Zeus.

Rhea nämlich ist die phrygische Kybele-Rhea, deren ursprüng- licher Name nicht Kybele, sondern Rhea war und auf Kreta auch blieb (S. 221), «dasselbe Wesen, wie die grosse Göttin, Mutter, JUä9 Mutter der Götter, auch Kybele der Phryger« (S. 218) , welche mit ihrem Kinde auf Kreta in Lyktos (S. 216) und an der östlichen Küste in der diktäi- schen Höhle bei Knossos (S. 21 8) Gült hatte. Dieser Kybele-Rhea eignet »nach phrygischem Urmythus« ein Kind , welches sie »für sich (de soi) hervorbringt« (S. 220. Note), ohne dass hierbei ein Vater irgendwie in Rücksicht genommen wurde , und demgemäss finden wir »bei der alten idäischen, diktäischen Höhle keine Spur nicht nur von einer Verehrung des Kronos mit der Rhea, oder des Kronos allein, oder der Geschwister des Zeus« (S. 224), vielmehr wurde »die eteokretische , phrygische

404] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 104

Rhea, die Hauptgöttin dieser Lande, der sich die nach Kreta gewan- derten Dorier zuwendeten , hier nicht als Gattin des Kronos , sondern für sich mit dem Sohne gefeiert« (S. 227). Und andererseits ist , nach- dem Rhea von den Phrygem zu rein genealogischen Zwecken entlehnt und mit dem aus Kronion bypostasirten Kronos verpaart war, mit dieser Entlehnung »kein Cult der Rhea, der Rhea und ihrer Kinder, oder der Rhea und eines Neugeborenen , in einer heiligen Höhle [dies als der Ursprüngliche des Rhea-Kybelecultus nämlich] irgendwo verbunden, sondern es blieb bei der genealogischen Formel« (S. 227).

Das Elternpaar des Zeus also kommt, der Vater durch Hypostase aus Kronion , die Mutter durch genealogische Entlehnung einer wirk- lichen Muttergöttin mit einem Kinde zu Stande , die Verbindung aber wird bewirkt durch Identification des griechischen Zeus mit dem phrygisch-eteokretischen Kybelekinde. Denn der griechische Zeus ist von dem kretischen ursprünglich «ganz verschieden« (S. 248, 220, 226, 227 u. and. Stellen). Der kretische Zeus, das Rheakind, Atys war »ursprünglich ganz im Allgemeinen Leben, Frühling« (S. 249), und ent- spricht vielmehr dem Dionysos , der auch mit dem Atys vermischt wird (S. 220) ; er ist der Gott alles Naturlebens und »von dem obersten Gotte der Griechen so gründlich verschieden, dass wir keinen Anlass haben, den Namen des Zeus auch bei dem kretischen Volksstamme, welcher jenen Nalurgott von jeher verehrt hatte , vorauszusetzen , viel- mehr annehmen müssen, dass ihm erst die Griechen den Namen ihres höchsten Gottes beilegten, »weil er dort, wo sie sich mit den Ein- geborenen einigten, der oberste Gott war« (S. 227). »Das Merk- mal des Höchsten gab hier Anlass zur Verschmelzung« (S. 228) , und wenn Atys Zeus genannt wurde , »so ist er nur örtlich in die höchste Ordnung gehoben, wie Aristäos-Apollon in Keos auch Zeus hiess« (S. 220). Diese Identification zu vollenden kommt hinzu, dass »Zeus nicht als der Herr der Welt , sondern nur physisch , als Regen aufge- fasst, oder Hyes und der phrygische Hyes-Sabazios ganz ähnliche Fi- guren sind« (das.) »Der Neugeborene der Rhea , der im Wesentlichen als ein Sabazios-FIyes wie in Phrygien zu denken ist, wurde Zeus ge- nannt, da Zeus, blos physisch genommen, mit jenem hinlänglich über- einstimmte« (S. 228).

Diese ganze, hier nur in den Hauptpunkten ausgezogene Combi- nation , geistreich und gelehrt und weit aussehend wie sie sein mag,

102 J. Overbbck, [402

und so viel Scheinbares sie, besonders in der Lehre von der Identification des Naturzeus, Regenzeus mit dem Atys haben mag, bangt wie in ihren beiden Angeln in den beiden Behauptungen, dass einerseits Kronos aus Eronion abgeleitet, eine theogoniscbe Fiction, keine Cultgestalt sei, und dass andererseits Rhea wirklich mit der phrygischen Kybele i den- sisch , dass sie mit dem Zeuskinde aus der phrygischen grossen Mutter mit dem ihr eignenden Atyskinde hervorgewachsen, nicht aber erst später mit der phrygischen Göttin identificirt oder durch Theokrasie vermischt sei. Dies sieht auch Welcker selbst sehr wohl ein, denn 1. S. 149 schreibt er: »Nur weil ihr Name und Cult fremd und dunkel waren, konnte sie (Rhea) mit dem ureinheimischen Kronos verbunden werden.«

Über die Irrigkeit der Welcker' sehen Ansichten über Kronos und über dessen reale Cultpersönlichkeit kein Wort mehr. Was aber Rhea und die Frage über ihre ursprüngliche Identität oder ihre spatere Vermischung mit der phrygischen Kybele anlangt, ist Welcker früher anderer Ansicht ge- wesen als er jetzt ist , indem er in seinem Werke über die Aschylische Trilogie Prometheus S. 200 Folgendes schrieb: »die häufige und ganz gewöhnliche Vermischung der Kurelen und Korybanten erklärt sich theils aus der Gemeinschaft des Standes , theils aber hat sie einen natür- lichen und mächtigen Grund in der bei den alten Schriftstellern eben so häufigen Verwirrung der phrygischen und lydischen grossen Mutter mit der kretischen Rhea, welche erst Zoega in einer meisterhaften Abhandlung203) gelöst hat«, was er auf den fol- genden Seiten weiter ausführt. Nun kann mir allerdings Nichts auf der Welt ferner liegen, als Welckern aus dieser Umkehr seiner wissen- schaftlichen Überzeugung einen Vorwurf zu machen , da ich den Werth des solonischen yrjgdaxco d' aiei noila didaaxo/iepog zu würdigen weiss, und an mir selbst recht gründlich zu erfahren hoffe; allein wo wir einen Mann wie Welcker in dieser Art mit seiner eigenen Forschung und Überzeugung, die er auf anderen Punkten durch sein ganzes Leben so energisch festgehalten hat, im stricten Widerspruche finden, da muss uns dies sehr vorsichtig machen , und wir müssen von dem Welcker van 1859 sehr starke Beweise gegen den Welcker von 1824 verlangen, wenn wir jenem statt diesem und der in der That meisterhaften Ab-

203) Bassirilievi antichi di Roma 4 . p. 45 sqq. und 81 sqq.

403] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 4 03

handlung eines Zogga folgen und glauben sollen. Und diese starken Beweise eben sind es, die ich in der neuen Ausfuhrung vermisse.

Allerdings finden wir (Götter I. 2. S. 221) die Behauptung oder An- nahme, Rhea sei der ursprungliche Name gewesen,20*) der auch in Kreta nie durch die spatere Form der phrygischen Kybele verdrängt worden : aber er stützt diese Annahme, auf welche schliesslich Alles ankommt, und durch welche ganz allein die Frage über die ursprüngliche Einerlei- heil oder die spätere Theokrasie von Kybele und Rhea entschieden wer- den kann , auf nichts Anderes und Nichts mehr, als auf den Vers des Apollonios Rhod. Argon. 1. 1139:

§6pßw xal rvnavfp 'Psir/v <P(*uy€$ iXaomvro, ferner auf Lukiau de sacrificat. 5. 1 0 ö Mvyd6viog oeßci tt/v 'Pdav und darauf, dass Sophokles im Philoktet (393) den Chor die fi^rtjff avrov Jiix; als oQeorBQa rca/ußcori Ta anrufen lässt, womit er allerdings auf die prjrrjQ oqhtj d. i. die Kybele, die troisch-phrygische Göttin anspielt. Aber diese Stellen können absolut Nichts beweisen , da sich die sopho- kletecbe durch die Annahme der bereits und zwar bereits seit lange vollzogenen Theokrasie vollkommen erklart, und da der .Name Rhea in den beiden anderen Stellen ungenauer Ausdruck ist, desselben Schla- ges wie in der Opposition des Demetrios von Skepsis gegen Euripidea bei Strab. 10. p. 472. 20, die auch Welcker anfuhrt: Rhea sei nicht in Kreta, sondern nur in Phrygien und Troas verehrt worden, wer anders rede, der spreche mythologisch, nicht historisch. Hier meint Demetrios, wie dies auch Welcker in seiner Trilogie S. 204 ganz klar und richtig beleuchtet, Kybele, die Euripides in den Bakchen (vs. 59, 75, 103) wirklich mit Rhea confundirt, und deren Namen er mit dem der Rhea promiscue gebraucht, und er kann nur Kybele meinen, da ihm der Rhea- dienst und dieRheasage auf Kreta unmöglich unbekannt sein konnte, und, wie aus den Worten selbst hervorgeht, sehr wohl bekannt war. Er op- ponirt also gegen die Vermischung von Kybele und Rhea und wenn wir nun gleichwohl im Texte Strabon's den verkehrten Namen Rhea statt Kybele finden, so ist zunächst an eine momentane Gedankenlosigkeit Strabon's beim Excerpiren zu denken. Denn, so gelaufig vermöge der Theokrasie der Name Rhea für Kybele geworden ist, reden genaue

204) Über seine Ableitung vergl. Preller, Griech. Mythol. 2. Aufl. k . S. 502. Note 3. Welcker's Annahme, der Name stamme aus i'ga mit Lautverschiebung (GÖtterl. 2. S.H6) scheint mir nicht sehr plausibel, viel eher mochte ich Preller's Vorschlag folgen.

104 J. OVERBECK, [404

Schriftsteller, da wo sie von der phrygischen Göttin sprechen, nie von Rhea, sondern setzen die anderen , d. h. die wirklichen asiatischen Na- men. So berichtet Herodot (5. 102), die einheimische Göttin von Sardes sei Kybele (nicht Rhea); ebenso Strabon (10. p. 469. 12), die Berekyn- ten, ein phrygischer Stamm, verehrten Rhea, d. h. die mit der griechi- schen vermischte Göttin, und sie nennen sie, nicht etwa Rhea, sondern:

/nt]T6()a &mv xai "sfydiOTW xai <pQvyiav &aov /uydktjv xai 'Idaiav

xai ^/ivdvfujvtjv xai JSmvtyvtjv xai Ileoaivovvrida xai Kvßektjv [xai Kv~ ßyßtjv Meineke]. Ebenso p. 470. 15, wo er von der Vermischung des Dionysischen mit dem Phrygischen spricht, sagt er wiederum von den Phrygern, sie nannten Rhea : Kybele, Kybebe, Dindymene, aber nicht Rhea ; und in Kyzikos kennt er (1 . p. 45) wohl : die fi^rtjQ 'Idaia, (1 2. p. 575. 11) die fujrtjQ z/ivdv/urjvt], (13. p. 589. 17) /utjr^og &ewv Uqov ayiov TtiQeirjg cnixakovfuvov, nirgend aber Rhea; und auch Pausanias, wo er (8. 47. 4) über Kyzikos und Prokonnessos berichtet, sagt: äyakfia MtjTQog JipdvfiyvrjQ aber nicht Rhea's; ebenso spricht er bei Pessinus (1. 4. 5) von "AydimiS) bei der Steunoshöhle (10. 32. 3) von MtjrQog uqov und äycd/ua aber nimmer von Rhea. Und ganz gleicherweise wird von keinem der bei Zoega (a. a. O. S. 83. 6) angeführten Schriftsteller, die von dem Cult von Berekyntos handeln, die Göttin Rhea genannt, und Gleiches gilt wiederum von den Gülten auf Sipylon (Zoega a. a. O. 7) und von den sonstigen asiatischen Gülten. Und demnach stellt sich die Sache so, dass allerdings von nicht wenigen griechischen Schriftstellern, vonEumelos an203) Rhea, die griechische, theogoniscbe Mutter des Zeus Kybele, oder Bergmutter , auch Dindymene genannt wird, von keinem aber ausser von den zwei von Welcker angeführten, unter diesen Um- ständen am allerwenigsten schwer wiegenden, die asiatische Göttin, unter so mancherlei Namen sie immer auftreten mag, Rhea, ein deut- licher und entscheidender Beweis allein schon dies, um von alle dem Anderen, was Zoega mit eben so grossem Scharfsinn wie umfassender Gelehrsamkeit geltend gemacht hat, abzusehn, dass wir es wirklich mit Synkretismus und Theokrasie zweier getrenntep Gestalten, und nicht mit ursprünglicher Einheit bei nur scheinbarer Verschiedenheit zu thun ha- ben, und dass der Name der asiatischen, phrygisch-troischen Göttin nicht ursprünglich Rhea gewesen sei, wie Welcker annimmt und worauf

205) Schol. II. 6. 4 30, Gerhard, Griech. Mythol. § 444. 3, Zogga a. a. O. S. 88. 16ff.

405] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 105

er seine ganze Combination baut und bauen muss, wie er dies selbst anerkennt in den bereits angezogenen Worten: »nur weil ihr Name und Cultus fremd und dunkel waren, konnte sie mit dem ureinheimischen Eronos verbunden werden.«206) Fallt aber dieser Grund, auf welchem das ganze Gebäude ruht, so können wir für unsere Zwecke ein näheres Eingehn auf die Lehren Welcker's über den »phrygischen Urmythus« von der Mutter mit ihrem Sohne, der nach ihm durch semitische Einflüsse getrübt worden wäre, entbehren. Denn, sind Kronos und Rhea nicht auf dem Wege, den Welcker annimmt, zu Gatten und zum Elternpaar des Zeus geworden, so kann auch nicht jene Iden- tification des Zeus mit dem , ursprünglich ganz im Allgemeinen Leben, Frühling bedeutenden Sohne der phrygischen Göttermutter stattgefunden haben , die Welcker lehrt. Und weiter folglich kann auch der Mythus von der Geburt , dem Geborenwerden des Zeus nicht ursprünglich an Rhea haften, was allein schon daraus hervorgeht, dass er in diesem Falle und so wie Welcker sich die Sache denkt t hundertmal für einmal Sohn Rhea's heissen müsste.307) Und wenn sich nun die Sache so stellt, dass Kronos, den Welcker als blosse theogonisch-genealogische Fiction und Abstraction betrachtet, eine wirkliche Gultgestalt ist, so kann im Gegensatze hierzu Rhea nicht die wirkliche Göttin benachbarter Stämme, sondern grade sie muss eine ausgedachte theogonische Potenz sein wie Leto, Maias u. A., die Welcker 1. S. 1 48 ablehnend vergleicht, und folg- lich haben wir uns den ganzen Geburtsmythus des Zeus anders zu er- klären, haben wir zu versuchen uns die Hergänge bei dessen Entstehung anders vorstellig zu machen als Welcker sie dargestellt hat.

Dieses beziehe ich aber nicht auf das Grundmotiv des Mythus, dass Zeus überhaupt zu einem Geborenen geworden ist, vielmehr glaube ich, wie ich dies auch schon oben (S. 24) ausgesprochen habe, dass Welcker eben dies Grundmoliv als solches vollkommen aufgedeckt hat, indem er an das Geborensein und die Geburlsfeste der anderen Götter als das Heiligste in ihrem Cultus erinnert. So gut wie alle Gölter zuerst ewige,

206) Dass auch Preller, griech. MylhoL 2. Aufl. S. 47 und S. 502 ff. Rhea für nicht reingriechisch erklärt, sondern sie aus der kleinasiatischen Bergmutter und Kybele ableitet, hat mich wohl bedenklich gemacht, aber kann mir die Überzeugung von der Richtigkeit meiner Ansicht nicht rauben.

207) Vergl. oben S. 62, wo nach Welcker bemerkt ist, dass Homer Zeus nie Sohn Rhea's nennt.

106 J. OVERBBCK, [406

aeiyev&tai sind und dann zu geborenen worden und Ellern erhielten, so gut inusste dies bei Zeus geschehn, wenn nicht in die Grundanschauungen der Religion, in ihre Ideen von den Göttern und von ihrem Wesen ein nimmer erträglicher Zwiespalt kommen sollte, wozu dann noch die Thal- sache kommt, dass «Genealogien aufwärts die Würde erheben und er- klären sollen, anstatt das Wesen der Person als minder umfassend dar- zustellen«, wie Welcker abermals mit der klarsten Einsicht schreibt (1. S. 1 42). Im Grundprincip also kann ich mich Welckern durchaus an- schliessen, es kommt nur auf dessen Anwendung und Consequenzen an. Und hier glaube ich macht die Geburtssage des Apollon und des Hermes vollends Alles klar. Denn , so wenig Zeus von Anfang an Kronos' und Rhea's Sohn war, grade so wenig war Apollon von Anfang an und in seinen mannigfaltigen ältesten Culten Sohn des Zeus und der Leto, Her- mes derjenige des Zeus und der Maias, mau nannte vielmehr für Beide weder Vater noch Mutter. So gut aber Apollon und Hermes zu Söhnen des Zeus geworden sind, und zwar dem Prinzip nach auch auf demsel- ben Wege ist Zeus zum Sohne des Kronos geworden. Als das mytho- logische Bedttrfniss eingetreten war, diese Götter als geboren zu fassen, da suchte man ihnen Väter; da machte man, und zwar zunächst örtlich, Apollon den Gott des himmlischen Tageslichts, den Helios-Apollon, wie ihn Welcker wenigstens begrifflich, wenn auch schwerlich mythologisch richtig nennt, zum Sohne des lichten Himmels und einer erfundenen Mutter, bedeute diese, Leto, nun Nacht oder was sonst; den Hermes als Gott der Wolken und als solcher im Regen Vermittler des Himmels und der Erde, der Ober- und Unterwelt und Ausrichter, didxroQog des Hirn* mels, zum Sohne des Wolkenhimmels des Zsvg xekaiveiptjg noch mehr als r€(peX7jye()6T?is, und einer abermals erfundenen Muttergöttin, Maia oder Maias, die wohl nicht mehr als dies ist.208) Und so wie in diesen beiden Fällen der Vater wirkliche Cultgestalt ist, während die Mütter

208) So auch Lauer, System d. griech. JUythoI. S. tl\ und Preller griech.M^thol. 2. Aufl. 1. S. 298; Welcker, Gölterl, 1. S. 344 widerspricht, der Form Äfatug wegen; dies jedoch ist nicht stichhaltig, da Maiag nur die Individualform neben dem Appella- ti vum fxaia aus sein kann ; der einzige Grund, den man mit Recht gegen diese An- sicht geltend machen kann ist, dass Hermes Maiadtvg und Matadtig heisst, was auf eine prägnante Bedeutung des mütterlichen Namens hinweist; da aber dieser Name Maiadeus auch nicht in ältester Poösie und nicht vor Hipponax, vielmehr nur bei die- sem vorkommt, so ist es schwerlich gewagt , hier ein Misversfändniss oder ein Nicht- verslehen der Bedeutung anzunehmen.

407] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 4 07

nur fictiv, theogonisch gedichtet sind , und deswegen auch nur in dem Iheogonischen Mythus , in Beziehung auf die Geburt der Kinder und in dem was mit dieser nothwendig zusammenhangt lebendig, im Cult nur der Kinder wegen berücksichtigt sind: grade so ist auch, wie ich gezeigt habe, der Vater des Zeus eine wirkliche Cultgestalt, und scheint die Mutter Rhea eine theogonische Fiction, die in Allem was wir von ihrem Mythus und von ihrem Cultus wissen, mit Leto ganz auf einer und der- selben Stufe steht.

Es bleibt uns nun nur noch die Beantwortung der Frage übrig, wie kommt Zeus zu den Eltern, oder speciell, wie kommt er zu dem Vater, Kronos, den die Theogonie ihm giebt?

Hier könnte man sich versucht fühlen die Lösung aus dem Begriffe des Kronos, nicht sowohl als Herrscher der goldenen Zeit, wie ihn Butt- mann nicht zum besten fasste, als vielmehr als Vertreter der Urzeit, der titanischen Zeit und als Vertreter einer obsolet gewordenen Cultur und Religion abzuleiten. Welcker selbst deutet einen derartigen Gedanken wenigstens im Vorübergehn an, wenn er 1. S. 1 48 schreibt: »es ist mög- lich , dass die Idee des Kronos als Urzeit, Frühling aller Zeiten, dem Glauben an eine dem Zeus vorangegangene Dynastie zu Hilfe gekommen ist,« allein mit Recht bemerkt er das. S. 1 56 »die Dichtung von den Welt- altern steht in keinem inneren Zusammenhange weder mit dem Götter- kampfe noch mit Zeus und der Religion überhaupt, und ist nicht durch sie entsprungen.« Auch ist unerweislicb , dass die Dichtung von den Weltaltern älter oder auch nur so alt sei, wie der Geburtsmythus des Zeus. Aber auch aus dem Mythus vom Titanenkampfe, in welchem Kro- nos als das Haupt der gestürzten Dynastie erscheint, kann man die Vater- schaft des Kronos deswegen nicht ableiten , weil keine Spur vorhanden ist, dass Kronos vor dem fertigen theogoniseben Mythus oberster Gott, Haupt einer Götterdynastie gewesen ist, wozu er vielmehr erst als Vater des Zeus und in Folge des Titanenmythus geworden zu sein scheint, so dass wahrscheinlich der Geburtsmvthus des Zeus und die Vaterschaft des Kronos alter ist, als der Titanenroy thus, und diesen wenn auch nicht in seinem Wesen, so doch in seiner Form bestimmt hat.

Überdies haben wir uns daran zu halten, dass der Mythus von Zeus9 Geburt ein kretischer, von Kreta ausgegangen ist, wo vollends keine Spur einer solchen Dynastenstellung des Kronos vorhanden ist noch auch davon, dass von hier der Mythus vom Titanenkampfe in sei-

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108 J. 0 VERRECK, [408

ner Idee ausgegangen wäre. Folglich müssen wir die Erklärung im kre- tischen Zeuscult suchen, und es wird sich hauptsächlich darum handeln, ob sich darthun lässt, dass der kretische Zeus so aufgefasst worden ist, dass er zum Sohne des Kronos als des Gottes der Fülle und der Reife, der tellurischen Fruchtbarkeit gedichtet, dass dem Zeus in einem solchen Gotte ein Vater gesetzt werden konnte.

Grosse Theile dieser Untersuchung hat schon Welcker vorweg ge- nommen und Manches von dem , worauf es ankommt, so bestimmt and klar ausgesprochen , dass ich seine eigenen Resultate in dieser gegen ihn gerichteten Darstellung verwenden kann. Vor allen Dingen ist der Satz richtig , dass sich der Geburtsmytbus an Zeus als einen in der Na- tur, und zwar auf dem Gebiete vegetativer Fruchtbarkeit als Hyes wal- tenden Gott anknüpft, der sich sachlich vollkommen mit Hyes-Sabazios und mit Dionysos vergleichen lässt, und den Welcker wiederholt als Gott des Naturlebens bezeichnet. Nur durfte er diesen nicht, wie er es doch mit so gar gewaltigem Nachdruck thut, von dem Zeus der Griechen als schlechtbin verschieden , grundverschieden hinstellen; denn grund- verschieden ist dieser kretische Zeus wohl von dem homerischen, poe- tisch national gesteigerten und abgeklärten Herrscher und Vater der Götter und Menschen , aber durchaus nicht von dem Zeus vieler ört- lichen Naturculte in anderen Gegenden Griechenlands,209) namentlich nicht von dem, der mit einer Gattin Erde, sie heisse Gäa, Dione, Here, Demeter oder wie immer sonst verpaart, mit dieser im warmen Früh- lingsregen alles Blühen und Gedeihen der Natur zeugt, nicht schafft. Nur in sofern kann man den kretischen Zeus des Naturlebens von dem mit der Erdgöttin zeugenden anderer Gülte verschieden nennen, als er in Kreta noch stricter, als in anderen Gülten an das Gebiet des Natur- lebens der Erde gebunden erscheint, und zwar bis zu dem Grade, dass er, wie Dionysos, mit dem Leben der Natur auch absterbend gedacht, dass sein Grab wie das des Zagreus-Dionysos gefeiert werden konnte. Aber auch darin hat Welcker Unrecht, dass er 2. S. 217 behauptet, in Kreta selbst oder in Beziehung auf Kreta und den kretischen Zeus sei sonst niemals von mehr als dem Kinde und dann auch von dem Grabe

209) Es genügt auf das hinzuweisen, was über Naturculte des Zeus bei Welcker Götterl. 2. S. 193 ff. unter der Überschrift : einzelne Bezüge des Zeus zusammengestellt ist, obwohl sich das hier Gesagte noch vermehren liesse ; vergl. Lauer a. a. 0. S. K 96 ff., wo freilich Vieles und manches Verkehrte durcheinander steht.

*09] Beitrage zdr Erkefintniss und Kritik der Zeusreligion. 409

die Rede, vielmehr erscheint der kretische Zeus demjenigen anderer Localculte auch darin verwandt, dass er, wie jene, eine Gattin Erde hat, die Hellotis Europe nämlich, mit der er in Stier- d. h. in Flussgestalt zeugt, und die mit Sonne und Mond und dergleichen nicht das Entfern- teste zu thun hat, sondern, was ich freilich erst in einer eigenen Ab- handlung nachweisen kann, eine so sichere Erdgöttin ist wie irgend eine der mit Zeus gepaarten Göttinen,210) sie mögen Gäa, Dione, Here, Deme- ter oder Io heissen, denn auch diese gehört in diesen Kreis« Auch darf man den Zeussohn Minos, und die Gestalt des Zeus , der mit diesem in geheimer Grotte die ennaeterischen Zusammenkünfte hat, und ihm die Gesetze verleiht, durch welche Kreta regiert wird, wie Sparta durch die Rhetra des delphischen Apollon , nicht so ganz und gar aus den Augen verlieren wie es Welcker thut, wenn er sagt, bei dem kretischen Zeus sei nur von der Geburt und dem Grabe die Rede«

Allerdings aber kommt es für unseren Zweck hierauf kaum , dage- gen wesentlich darauf an , dass der kretische Zeus in eminenter Weise Gott des Naturlebens, der vegetativen Fruchtbarkeit sei. Einen solchen Gott als ewigen, nicht geborenen und unendlichen hinzustellen ist nicht allein fernliegend, sondern würde gradezu unnatürlich sein, um so mehr, je naturgemässer mit der auflebenden Natur des Frühlings sich der Be- griff der Jugend , eines jugendlichen Gottes derselben , so gut wie mit

%i0) Schwende sagt in seiner Griech. Mythologie S. 56 unter Anderem : »Zeus ward auf Kreta als Stier verehrt, nämlich als Urheber der Fruchtbarkeit, welche der Himmelskönig durch Witterung, insbesondere durch Regen giebt.« »Deshalb zeugt er als kretischer Stier mit der kretischen Göttin Europe, seiner Gattin.c »So wie Zeus mit Here zeugt im Lenze, wenn der Kukkuk ruft, so zeugt er in Kreta mit Europe als krokosbauchender Stier ebenfalls im Lenz, denn das Blühen der Natur ist diese Zeugung.« Alles dies ist vollkommen richtig und wird auch noch dadurch bestätigt, dass in der Münze von Gortys in Mionnet's Empreintes No.688 auf dem Scepter der Europe, wie auf demjenigen der polykleitischen Here in Argos, der Kukkuk sitzt, das Symbol des liQog yapoq im Frühling. Dass gleichwohl Europe, richtiger Hellotis Europe, denn Hellotis ist ihr Cult-, Europe wie bei Demeter nur ihr Beiname (Sleph. Byz. nQvttQOv yag ixakino 'Ekkanig [Grotys nämlich] , ovtcd yaQ naga Kqtjoiv [auch in anderen Städten z.B. Knossos] Evqcotitj), ftirSchwenck Himmelsgöttin wie bei Anderen Mond- göttin ist, gehört mit zu der unbegreiflichen Verblendung derer, welche nicht begreifen können, was doch Welcker in Beziehung auf Here so sonnenklar gemacht hat, dass der himmlische Zeus im Frühlingsregen nicht den Himmel (oder gar den Mond!) befruchten, nicht mit dem Himmel oder dem Mond Blumen und Kräuter, Gras und Getraide er- zeugen kann, sondern einzig und allein mit der Erde. Doch dies nur beiläufig; Europe und die eben so verkannte Io behalte ich mir eigens zu behandeln vor.

110 J. Overbbck, Beiträge zur Kritik der Zeusreligion. [110

der herbstlich absterbenden Natur sich der Begriff des Alters, eines al- ternden , endlich leidenden und gestorbenen , begrabenen Gottes eben dieser Natur verbindet. War nun Zeus auf Kreta wesentlich ein solcher Gott des Naturlebens, der jung auflebenden und der alternd absterben* den Natur wie Dionysos, so war ein Mythus von seiner Geburt so gut wie unvermeidlich. Und nun scheint mir auch der Rest, nämlich die Verknüpfung dieses Mythus mit Krön os nicht mehr fern zu liegen, sofern auch dieser ein Gott ähnlicher Geltung war, bei dem aber im Namen wie im Wesen von allem Anfang an keine Jugend, kein Aufblühn, son- dern die Reife, die Vollendung und das Alter betont wurde. Aber eben weil bei Kronos in seinem Sondermythus und Gultus nicht sowohl das Erzeugen als das Reifen der Natur hervorgehoben war, musste ihm, wenn er ein Vater werden sollte , eine fingirte, und zu genealogischem Zwecke herangezogene Gattin, dem Begriffe nach eine Mutter Erde ge- geben werden, so gut wie Kronos dem Begriffe nach Gott des Himmels ist. Deshalb heisst Zeus in älterer Theologie auch Uranide und spätere Theologen geben ihm den Äther, den Himmel zum Vater, ohne damit thatsächlich etwas Neues zu sagen, obwohl sie, in der Deutung des Kro- nos als Chronos befangen, allerdings etwas Neues zu sagen meinen durf- ten. Dass die Alten und nicht wenige der Neueren dem Hitze- und Dörr- gott Kronos gegenüber die Mutter Gäa-Rhea zu einer Göttin des Flies- sens und der Feuchte gestempelt haben, ist unbestreitbar sinnig, nament- lich dem Mythus von der Kinderverschlingung gegenüber, insofern Kronos, der mit der Göttin der Feuchte vereinigt zeugerisch fruchtbar auftritt, von derselben getrennt, ihr entgegenwirkend das Gezeugte im Sonnen- brande wieder verzehrt. Aber mag dies fehl gehn , mag selbst Rhea's Namen dunkel bleiben und dass er durchaus befriedigend erklärt sei wird man wohl kaum sagen dürfen wie ja auch nach dem Urteil der Linguisten Leto's Name, den man zu verstehen glaubte, dunkel ist,311) dies Alles ändert an der Hauptsache, an dem Princip des Mythus von Zeus' Geburt Nichts , und auch daran Nichts, dass dieser wie derjenige des Apollon und Hermes sich an den Vater und nicht an die Mutter knüpft.

2H) Vergl. 6. Curtius, Grundzuge der griech. Etymologie 1. S. 96.

LOCKE S LEHRE

VON DER MENSCHLICHEN ERKENNTNISS

IN VERGLEICHUNG

MIT LEIBNIZS KRITIK DERSELBEN

DARGESTELLT

VON

G. HARTENSTEIN.

Abhandl. d. K. S. Ges. d. Wi«. X. 8

Der Verschiedenheil der Ansicht über den Ursprung der mensch- lichen Vorstellungen und Begriffe ist nicht erst seit Kant eine über die Grenzen der Psychologie hinausgreifende Bedeutung beigelegt worden. Nachdem jedoch Kant für die »Geschichte der reinen Vernunft« allge- meine Gesichtspunkte aufgestellt hatte , auf welche sich die wesentliche Verschiedenheit der metaphysischen Versuche sollte zurückführen lassen, von denen der eine eben die Verschiedenheit der Ansichten über den Ursprung der Begriffe als Unterscheidungsmerkmal hervorhob,1) sind neben Aristoteles und Plato Locke und *Leibniz vorzugsweise als Repräsentanten zweier ganz verschiedener philosophischer Denkweisen angesehen und der Gegensatz der psychologischen Ansicht über den Ursprung der Begriffe, ob sie aus der Erfahrung entlehnt oder angeboren seien, nicht nur für ein Merkmal, sondern auch für den Grund der diver- girenden Richtungen dieser Denker, ja der metaphysischen Lehrmeinun- gen überhaupt gehalten worden. Während jedoch bei Leibniz vorzugs- weise dessen Metaphysik die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, sind die Untersuchungen Locke's über die menschliche Erkenntniss vorzugs- weise von Seilen der in ihnen niedergelegten psychologischen Erörter- ungen ins Auge gefasst worden, und die Bedeutung des ihm im Gegen- satze zu Leibniz beigelegten Empirismus und Sensualismus für die Metaphysik erschien als so geringfügig, dass man auch da, wo man dem absoluten Idealismus der nachkantischen Philosophie in Deutschland nicht huldigte , ihn höchstens als einen Vertreter des gewöhnlichen ge- sunden Menschenverstandes hat gelten lassen. Dieses Urtheil hat sich in neuester Zeit zum Theil dahin modificirt, dass man die grosse Bedeu- tung Locke's nicht blos für seine Zeit, sondern für die Geschichte der Philosophie überhaupt wieder bereitwillig anerkannt hat. Drobisch hat

\) Kart, Krit. d. rein. Vera. (Werke herausg. von Hartenstein) Bd. II, S. 634.

8*

11 4 G. Hartenstein, [4

ihn mit Recht als den »Vorläufer Kant's« bezeichnet; Charles deRöruusal hebt in einem lesenswerten Aufsatze über ihn hervor,2) dass er, ob- gleich keines seiner Werke den Stempel des Genies (ragt, obgleich ihnen der Glanz der Einbildungskraft, der Schwung der Leidenschaft , über- haupt alles Blendende, Aufregende, Fortreissende fehlt, obgleich seine Darstellung, wenn auch nicht nachlässig, doch oft bequem und weit- schweifig ist, obgleich er das Nachdenken weit mehr anregt, als befrie- digt, doch wenigstens in Frankreich und England ein Jahrhundert mit seiner Denkweise beherrscht hat. Der Grund davon liegt nicht blos in der leichten Zugänglichkeit seiner Lehre; sein Werk ist immer noch trocken und ernsthaft genug, um flüchtige oder nach glänzenden Resul- taten mehr , als nach gründlichen Untersuchungen begierige Leser zu ermüden und abzuschrecken; sondern vor Allem in seiner Unbefan- genheit, seiner Ehrlichkeit und aufrichtigen Wahrheitsliebe, in der Ent- schlossenheit, mit welcher er althergebrachte Lehrmeinungen seiner Kritik unterwirft, in dem Muthe, auf die Einbildung einer Einsicht, die keine ist, lieber Verzicht zu leisten, als sich und Andere durch unbe- gründete Salze in wissenschaftliche Selbsttäuschungen verstricken zu lassen. Diese Eigenschaften theilt er mit allen wirklich grossen Denkern, vor Allem mit Kant; und durch diese Eigenschaften hat er ein Jahrhun- dert beherrscht, welches nicht durchaus so frivol war , als man häufig gemeint hat, und für dessen Frivolitäten wenigstens er selbst nicht ver- antwortlich ist.

Jedenfalls haben seine Untersuchungen bei seinem grossen Zeit- genossen Leibniz , dem Niemand eine Hinneigung zu den Leichtfertig- keiten einer späteren Zeit Schuld geben wird , eine Aufmerksamkeit er- regt, die es diesem der Mühe werlh erscheinen Hess, ihnen eine Arbeit, die nouveaux essais sur ientendement humain zu widmen, die neben der Theodicee die ausführlichste unter allen seinen philosophischen Schriften ist. An ein Werk, welches ihm unbedeutend erschienen wäre, würde Leibniz schwerlich diese speziell eingehende Sorgfalt gewendet haben; an der blossen Polemik als solcher hatte er keine Freude, und wie häufig

2) Drobisch »über Locke den Vorläufer Kant's« in d. Zeitschr. für exacte Philos. Bd. II, S. \ . CflARL. de Remüsat, Locke, sa vie et ses oeuvres. (Revue de deux tnondes 4 859. 7*. 23.) Auch Scharer in seiner Schrift: »J. Locke, seine Verstandestheorie und seine Lehren über Religion, Staat und Erziehung c (Leipz. 4 860) sagt S. 77: »Locke gehört unstreitig zu den Philosophen ersten Rangs. a

5] Locke's Lehre von dbh mbnschl. Erkenntniss u. s. vv. 115

auch Locke's Bach ihm lediglich als Anknüpfungspunkt für die Darlegung seiner eigenen Ansichten dient, ohne eine Uebereinstimmung in sehr wichtigen Punkteu würde er schwerlich Veranlassung genommen haben, die Darlegung seiner eigenen Gedanken gerade an das Locke'sche Werk anzuknüpfen. Seine Kritik ist, auch wo er wirklich polemisirt, durchaus im Tone der Achtung gehallen ; sie verräth nur in seltenen Fällen einen Anflug einer lebhafteren Erregung, und ein starker Beweis seiner Hoch- achtung liegt überdies darin t dass er die Veröffentlichung seiner im J. 1704 entstandenen nouveaux essais unterliess, weil Locke unterdessen gestorben war.3)

Indem nun der Versuch gemacht werden soll, dem Verhältniss zwischen der Locke'schen und Leibnizischen Theorie der Erkenntniss, d. h. ihrer Lehre über die Grundlagen, Methoden und Grenzen derselben eine spezielle Erörterung zu widmen , scheint es zweckmässig erst die Lehre Locke's im Zusammenhange vor Augen zn legen, um an ihr die Ver- gleichungspunkte sowohl für die zustimmenden als für die abweichenden Erörterungen Leibniz's zu gewinnen. Diese Untersuchung erscheint in- sofern nicht als überflüssig, als die Darstellungen des Lehrbegriffs bei* der Denker ihren Gegensatz in Beziehung auf die Theorie der Erkennt- niss gewöhnlich grösser erscheinen lassen , als er sich bei einem ein- gehenden Studium ihrer Schriften zeigt und überdies die gewöhnliche Schätzung Locken Leibniz gegenüber eine so untergeordnete Stellung anweist, dass es der Mühe werth ist, die Ausgangspunkte, die Richtung und den Erfolg der Leibnizischen Polemik gegen ihn, sofern eine solche wirklich vorhanden ist, einer genaueren Prüfung zu unterwerfen. Da es dabei nicht blos auf allgemeine Umrisse, sondern auf das Einzelne an- kommt, so mag es erlaubt sein, in der Mittheilung der Belegstellen nicht allzu sparsam zu sein, um so mehr, als die Anführung der eigenen Worte beider Denker nicht selten als eine weitere Ausführung des im Texte Gesagten wird angesehen werden können.

3) Mr. Hugony, schreibt Leibniz an Remond de Montmort unter dem 14. März 4 7 1 4 9 a vu mes reflexions assez e'tendues sur Pouvrage de Mr. Locke. Mais je me suis degoute de publier des refutations des auteurs morts , quoiqu'elles dussent paraitre durant leur vte et 4tre communiquees ä eux memes. j

116 G. Hartenstein, [6

I.

Die Ueberzeugung, dass die Untersuchung des ErkenntnissvermO- gens noth wendig sei, um die Grenzen zwischen dem dem Menschen erreichbaren und dem ihm unerreichbaren, dem wahren und dem einge- bildeten Wissen zu ziehen und somit den Grund und Boden für jede auf die metaphysische Erkenntniss der Welt gerichtete Untersuchung abzu- stecken , spricht Locke im Eingange seines Werkes mit derselben Be- stimmtheit aus, wie Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft. Die Veranlassung seines Nachdenkens über diesen Gegenstand waren Gespräche zwischen ihm und seinen Freunden über Fragen, die zunächst mit der Frage nach dem Ursprünge und den Grenzen der Erkenntniss nichts gemein hatten; aber die Schwierigkeiten, in die sie sich verwickel- ten , ohue sie lösen zu können , Hessen in Locke den Gedanken entste- hen , dass sie überhaupt mit der ganzen Discussion auf einem falschen Wege seien, und dass, bevor man sich auf dergleichen Fragen einlasse, man erst die Fähigkeit zu erkennen untersuchen müsse, um zu bestim- men, was innerhalb und was ausserhalb derselben liege.4) Die Möglich- keit des Erfolgs einer solchen Untersuchung setzt er voraus , obgleich er ihre Schwierigkeiten nicht verkennt; denn da das Erkennlnissver- mögen dem Auge gleiche, welches uns die Dinge sichtbar mache ohne sich selbst zu sehen, so gehöre Kunst und Anstrengung dazu, es in eine gewisse Entfernung zu rücken und selbst zum Gegenstande der Betrach- tung zu machen.5) Die Aufgabe, die er sich stellt, ist den Ursprung, die Gewissheit und den Umfang der menschlichen Erkenntniss, so wie die Gründe und Grade des Glaubens, der Meinung und des Fürwahrhaltens zu untersuchen, die bei den Menschen in Beziehung auf die verschiede-

4) Locke Ess. Cancern, hum. widerstand. (17 edit. London 4775) Epistle to the reader (p. 2) : After tve had a white puxzled ourselves, without Coming any nearer a reso- lution of those doubts which perplexed us, it came into my thoughts, that we took a wrong course, and that before we set ourselves upon enquiries of that nature, ü was ne- cessary to examine our own abilities and see what objects our understandings were, or were not, fitted to deel with. Die Introduction vor dem { . Buch spricht jedoch § 1 nicht gerade von der Notwendigkeit, sondern blos von der Nützlichkeit einer solchen Unter- suchung.

5) a. a. 0. Introduct. JH [p. I).

?] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 117

nen Objecte der Erkenntniss sich vorfinden ; und er thut dabei von vorn herein Verzicht auf eine physikalische oder metaphysische Untersuchung des Wesens der Seele; er hält es für seinen Zweck für ausreichend, die verschiedenen Vermögen der Erkenntniss , die sich in dem Menschen vereinigt finden, in so fern zu untersuchen, als sie ihre Thäligkeit in Be- ziehung auf die der menschlichen Auffassung sich darbietenden Objecte der Erkenntniss ausüben, und so in einfach historischer Weise darzu- legen, durch welche Mittel der Mensch zu den Vorstellungen, die er über die Dinge thatsächlich hat, gelange, und darnach die Grenzlinie zwischen gewisser Erkenntniss und den über die Dinge herrschenden Meinungen zu bestimmen; Meinungen, die so verschiedenartig, zum Theil einander so entgegengesetzt seien und doch so zärtlich gehegt oder so leiden- schaftlich vertheidigt und bestritten werden, dass man vermuthen möchte, entweder es gebe überhaupt keine Wahrheit, oder dem Menschen stehe wenigstens kein Mittel zu Gebote sich ihrer zu versichern.6) Es ist also eine empirische Analyse des menschlichen Vorstellungs- und Gedanken- kreises , von welcher Locke die Entscheidung über Wahrheit und Irr- thum, Wissen und Meinen erwartet und ganz in ahnlicher Weise , wie Kant das Endresultat der Kritik der reinen Vernunft ausspricht, deutet Locke sogleich im Eingange seines Werks an, dass, obwohl eine solche Untersuchung den Skepticismus zurückzuweisen und der Faulheit im Denken ihre Vorwände zu nehmen im Stande sei , doch durch sie alle unfruchtbaren Streitigkeiten über Fragen, deren Beantwortung ausserhalb der menschlichen Erkenntniss liege, abgeschnitten werden.7) Wenn

6) a. a. 0. § 2 This being my purpose, to enquire into the original, certainty and extent of human knowledge, together with the grounds and degrees of belief ', opinion and assenty I shall not at present meddle with the physical Constitution of our mmd> or trouble myself to examine, wherein its essenee consists. . . . It shall suffice to my present pur- pose, to consider the discernmg faculHes of a man, as they are employed about the ob' jects, which the have to do whith; and I shall imagine ! have tiot wholly misemployed myself in the thoughts I shall have on this oecasion, if in this historical piain me- thod I com gwe any aeeount of the ways, whereby our understandmgs eome to attain those notions of things we have and com set down any measures of the certainty of our knowledge u. s. w.

7) Kant, Krit. d. r. V. Bd. II, S. 534. Locke, IntroducL § 6. 7. Selbst das Bild vom Ocean, aaf den sich das menschliche Denken hinauswage und auf dem es sich ohne Selbstkritik in lauter Irrfahrten zu verlieren in Gefahr sei, welches Kant (a. a. 0. S. 236) so beredt ausmalt, findet sich bei Locke a. a. O.

118 G. Hartenstein, [8

dabei Kant die Geschichte der Metaphysik überhaupt im Auge hat, wel- che »ein Kampfplatz sey, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu seyn scheine , die Kräfte im Scheingefecht zu üben , auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich den kleinsten Platz habe erkämpfen und auf sei- nen Sieg einen dauerhaften Besitz habe gründen können«, so liegt darin, dass Locke zunächst die Grundlosigkeit der herrschenden Schulmeta- physik seiner Zeit vor Augen zu legen bemüht ist, keine wesentliche Verschiedenheit der Endabsicht beider Denker;8) denn denselben Dogma- tismus, welchen Locke bekämpft, fand auch noch Kant vor.

Um sich für seine Untersuchung den Grund und Boden zu ebnen, beginnt Locke mit der Kritik der Annahme angeborner Vorstellungen oder vielmehr angeborner Erkenntnissprincipien. Er schickt dabei die Bemerkung voraus, dass diese Annahme unnöthig sei, sobald sich nach- weisen lasse, auf welche Weise der Mensch die Erkenntniss, welche er wirklich habe, erwirbt; aber abgesehen davon, erklärt er die Annahme selbst für unhaltbar. Ihre Hauptstutze liege in der Berufung darauf, dass es gewisse sowohl theoretische als praktische Sätze gebe, über deren Wahrheit ein schlechthin allgemeines Einverständniss herrsche. Aber abgesehen davon, dass dieses allgemeine Einverständniss, selbst wenn es sich factisch nachweisen Hesse , nichts für das Angeborensein be- weisen würde,9) lasse es sich thatsächlich gar nicht nachweisen; es

8) Kant, Kr. d. r. V. S. 17. Locke, Epistle to the reader [S. 6); In an age, that produces such masters, as the great Huygenius and the incomparable Mr. Newton, 'tis ambition enough to be employed as an under-labourer in Clearing the ground a Utile and removing some of the rubbish that lies in the way of knowledge; which certainly had been very much more advanced in the world, if the endeavours of ingenious and industrious man had not been much cumbered xcith the learned but frivolous use of uncouth, affected and unintelligible terms, introduced into the sciences] and there made an ort of, to that degree, that phüosophy, which ü nothing but the true knowledge of things, was thought unfit or uncapable to be brought into well~bred Company and polite conversation.

9) B. I, eh. I. § 3. This argument drawn from tho universal consent, had this rot*- fortune in il, that if it were true in matter of fact, that tttere were certain truths, w herein all mankind agreed, it would not prove them innaie, if there ean be any other way shewn, how man may come to that universal agreement m the things they do consent in. § \ 8 führt aus , dass Sätze wie : süss ist nicht bitter , ein Kreis ist kein Viereck and un- zählige andere dann ebenfalls für angeboren erklärt werden müssten. Auch könne man nicht sagen, dass die Anerkennung solcher Sätze Folge der Anwendung eines all- gemeinen Principe, etwa des Satzes des Widerspruches sei. § SO As to the difference to being more gener al, that makes this maxim more remote from being innate, those gene- ral and abstract ideas being more strangers to our first apprehensions u. s. w.

9] Locke's Lehre von deb menschl. Erkenntmss u. s. w. 119

gebe genug Menschen , denen solche angeblich angeborne Wahrheiten wie z. B. der Satz des Widerspruchs in dieser Form gar nicht zum Be- wusstsein kommen.10) Dem gegenüber berufe man sich darauf, dass an- geborene • Principien solche seien, deren Wahrheit der Mensch aner- kenne, sobald er zum Gebrauche seiner Vernunft11) komme. Solle das so viel heissen als der Mensch entdecke diese Wahrheiten durch den Gebrauch der Vernunft, so übertrage man der Vernunft ein sehr unnö- thiges Geschäft; warum soll sie erst entdecken, was der Mensch schon besitzt?12) Bedenke man ferner, dass die Vernunft das Vermögen ist, aus bekannten Principien unbekannte Sätze abzuleiten , so müsste man einen mathematischen Lehrsatz eben so für angeboren erklären, wie ein mathemalisches Axiom; die unmittelbare Zustimmung endlich, die uns gewisse Sätze abnöthigen, beruhe auf einer andern Operation des Gei- stes, als auf der des discursiven Denkens; beruhte sie hierauf, so wäre das eben ein Beweis, dass jene Sätze nicht angeboren sind.13) Solle aber der obige Satz eine Zeitbestimmung enthalten und so viel heissen als : eine angeborne Wahrheit kommt zum Bewusstsein des Menschen, so- bald sein Vernunftgebrauch beginnt, so würde, selbst angenommen, dass dies wirklich der Fall sei , auch das nichts beweisen. Denn wie folgt das Angeborensein einer Wahrheit daraus, dass mit dem Gebrauche oder der Thätigkeit eines gewissen Vermögens das Bewusstsein und die

4 0) a. a. 0. § 5 'Tis evident, that all children and idiots have not the least appre- hension or thought of them , and the want of that is enough to destroy that universal assent, . . . it seemvng to me near a contradiction to say, that were any truths mprmted on the soul, tohich it percewes or understands not; imprinting, if it signißes any thing, being nothing eise, but the making certain truths to be perceived. For to imprint any thing on the mind, without the minds perceivüig it, seems to me hardly intelligible.

H) Es mag erlaubt sein, das Wort reason durch Vernunft zu übersetzen. Locke kennt den Unterschied der Kaut* sehen Philosophie zwischen Verstand und Vernunft nicht; reason ist ihm das Vermögen des discursiven Denkens. B. IV, eh. XVIf.

42) a. a. 0. § 9. To make reason discover those truths thus imprinted, is to say, that the use of reason discovers to a man, what he knew before; and if men have those wnate, impressed truths originally and before the use of reason, and yet are ahoays igno- rani of them, tili the eome to the use of reason, 'tis in effeet to say, that men know and knoto them not, at the same Urne.

43) a. a. 0. §44. Those who will take the pains to reflect tvith a little attention on the Operations of the understanding , will find that this ready assent of the mind to some truths depends not either on native inscription or the use of reason, but on a faculty of the mind quite distinet from both of them, as we shall see hereafler.

120 G.Hartenstein, [10

Anerkennung derselben eintritt?14) Gerade der Umstand, dass die an- geblich angebornen Satze dargelegt werden müssen, um als wahr aner- kannt zu werden, zeige, dass sie nicht angeboren sind; sie enthalten den Ausdruck eines vorher nicht vorhandenen Wissens.15) Zu sagen , dass die Erkenntniss solcher Satze, bevor sie dargelegt und anerkannt sind, nur implicile, nicht expliciie uns inwohne, heisse im Grunde nichts An- deres sagen, als ihre Erkenntniss sei möglich, und das gelle von einer Masse von Erkenntnissen , die Niemand für angeboren erklare.16) Wirk- lich angeborne Wahrheiten mttssten sich nicht nur vor allen andern Erkenntnissen als deren Grundlagen, sondern auch als solche mit voller Deutlichkeit und Bestimmtheit im Bevvusstsein ankündigen; aber weder das eine noch das andere sei der Fall.17) Ueberhaupt könne von ange- bornen Principien, die, insofern sie Wahrheiten sein wollen, immer Satze sein müssen, nicht die Rede sein, so lange nicht bewiesen sei, dass es angeborne Begriffe gibt und Locke gesteht, er werde dem- jenigen sehr dankbar sein, der ihm einen Satz nachweise, bei welchem die in ihm vorkommenden Begriffe für angeboren erklart werden müs- sen.18) Die Probe, ob die in den angeblich angebornen Sätzen enthalte- nen Begriffe angeboren seien, könne man bei jedem Kinde machen, um zu prüfen , mit welchem Rechte die Begriffe Identität und Verschieden- heit, Ganzes und Theil, Einheit, Unendlichkeit, Ewigkeit (als das Haupt- merkmal im Begriffe Gottes) u. s. w. für angeboren erklärt werden kön-

14) a. a. 0. §44. By what kind of logic will it appear, that any notion is origi- nally by nature imprmted in the mind in its first Constitution, because it comes first to be observed and assented to, when a faculty of the mind, which hos quite a distitict province, begins to exert üself?

4 5) a. a. 0. § 21 . This cannot be denied, that tnen grow first acquainted with many ofthese self-evident truths, upon their being proposed; but it is clear, that who- soever does so, fiuds in himself, that he then begins to know a proposüion, which he knew not before.

16) a. a. 0. § 22. It will be hard to conceive what is meant by a principle imprin- ted on the understanding implicitly, unless it be this that the mind is capable o funder- standing and assentimg firmly to such propositions. And thus all mathemaUcal demotistra- tions as well as first principles must be received as native impressions of the mind, which I fear they will scarce allow them to be, who find it harder to demonstrate a proposüion, then assent to it when demonstrated.

17) Die Ausführung § 24—27.

4 8) a. a. 0. § 23. / would gladly have any one name the proposüion, whose terms or ideas were either of them innate. Vgl. eh. III, § 1 9.

44] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 121

nen.10) Eine Vorstellung, von der wir kein Bewusstsein haben, sei keine Vorstellung; eine Vorstellung, die ins Bewusstsein eintrete, sei entweder eine neue, vorher nicht gehabte, oder eine früher erworbene, im Gedöchtniss aufbewahrte, und Niemand könne ein Beispiel auch nur einer einzigen angeblich angebornen Vorstellung nachweisen , deren er sich als einer in seinem Bewusstsein vorhandenen unabhängig von den Veranlassungen bewusst werden könnte, bei welchen sie entstanden ist.10) Gibt es mithin keine angebornen Vorstellungen Y so gibt es auch keine angebornen Sätze und Wahrheilen.

Dies gilt von den sogenannten praktischen Principien nicht minder, als von den speculaliven oder theoretischen. Die empirische Berufung auf die allgemeine Uebereinstimmung rücksichllich gewisser sittlicher Anforderungen ist noch weniger begründet, als die auf die Ueberein- stimmung über gewisse theoretische Erkenntnisse ; die Thatsache, dass die angeblich angebornen praktischen Principien nicht befolgt werden, beraubt sie eigentlich ihres praktischen, das Wollen bestimmenden Cha- rakters und lässt sie zu blos theoretischen Sätzen herabsinken ; 21) natür- liche, allgemein verbreitete Neigungen beweisen dafür nicht das Ge- ringste; gerade auf praktischem Gebiete ist die Verschiedenheit der Urtheile und Handlungen eine handgreifliche Thatsache; und die weil- verbreitete Billigung, welche offenbar unmoralische Handlungen bei gan- zen Völkern gefunden haben, zeigt, dass das, was man Gewissen nennt, nichts ist, als die eben vorhandene Meinung des Handelnden über die

19) B. I, eh. III. § 2—4 8.

20) a. a. 0. § 20. / desire an instance of an idea, pretended to be innate, which (before any Impression of it) any one could revise and remember as an idea he had for- merly known; toithout which consciousness of a former pereeption thereis no remem- brance, and tohatever idea comes into the mind toithout that consciousness, is not remem- brance or comes not out oftnemory, nor can*be said to be in the mind before that ap- pearance, For what is not eüher actually in view or in the memory, not can be said to be in the mind before that appearance.

21) B. I, eh. II. § 3. First, I have always thought, the actions of men the best Interpreters of their thoughts. But since it is certain, that most mens practices and some men's open professions have either quesüoned or denied these principles, it is impossible to establish an universal consent , . . . toithout which ü is impossible to conclude them innate. Secondly, 'tis very stränge and unreasonable to suppose innate practical principles, that terminate only in contemplation. Practical principles derived from nature are there for Operation and must produce conformity of aetion, not barely speculative assent to their truth, or eise they are in vain distinguished from speculative maoeims.

122 G. Hartenstein, [4 2

Rechtmässigkeit oder Unrechtmassigkeit gewisser Handlungen.22) Zu sagen , dass die an gebor nen praktischen Principien durch Gewohnheit, Erziehung u. s. vv. verdunkelt, ja ganz verwischt werden können, heisst eben zugestehen, dass es über sie keine allgemeine Uebereinslimmung gebe, auf welche doch das Angeborensein derselben gegründet werden sollte, wenn man nicht etwa seinen eigenen Ueberzeugungen allgemeine Gültigkeit beilegen und sie eben darum für angeboren erklären oder be- haupten will, dass Satze, welche manche Menschen nicht anerkennen, doch von allen Menschen anerkannt werden.23)

Bei dieser Bestreitung angeborner Vorstellungen und angeborner Sätze, denn für die Frage nach den Gründen der Erkenntniss sind nicht sowohl jene als diese das Entscheidende, beruft sich Locke nirgends auf ein vorausgesetztes Wissen über die Natur und das Wesen der Seele, sondern alle seine Gegengründe bewegen sich um die beiden Hauptgesichtspunkte , dass die Thatsachen der Erfahrung zu jener An- nahme nicht passen und dass wirklich angeborne Begriffe und Satze sich in einer ganz andern Weise ankündigen und wirksam zeigen mtiss- ten, als nachweislich der Fall ist.

Gibt es keine angebor nen Begriffe und Satze, die das ursprüng- liche, durch nichts vermittelte Eigenthum der Seele sind, ist also die letztere ursprünglich ohne alle Vorstellungen, so kann der Ursprung aller Vorstellungen nur in der Erfahrung liegen. Die Erfahrung hat ein doppeltes Gebiet, das der äusseren und das der inneren Wahr- nehmung; die erstere bezeichnet Locke als Sensation, die zweite als Reflexion. Sensation ist die durch die Sinne vermittelte Wahrneh- mung äusserer Gegenstande; Reflexion die Wahrnehmung der Tätig- keiten der Seele in Beziehung auf die durch die Sinne dargebotenen ia4rM/ Vorstellungen; die letztere nennt er Reflexion, weil die Thatigkeiten der !^on Seele durch die innere Auffassung, durch eine Art inneren Sinnes Ob- ject der Auffassung und dadurch Inhalt des Bewusstseins werden.21)

22) a. a. 0. § 8. Conscience is nothing eise but our own opinion or judgment of •'•'*&«. the moral rectitude or provity of our own actions. And if conscience be a proof of innaie *'fti$ ^ prtnciples, contraries may be innate principles, since some men wiih the same bent of con- ^rfthe^ science prosecute tohat others avoid. * 1 0. s

23) a. a. 0. § 20. *^

24) B. II, eh. I. § 2. Lei us then suppose the mind to be, as we soy, white paper, *a void of all character8, wühout any ideas; how comes ü to be furnished? whence comes it *rf,

*

i

13] Locke's Lehre von der menshl. Erkenntniss u. s. w. 123

Sensation und Reflexion bieten uns den gesaromten Inhalt unseres Vor- stellungskreises dar und es lässt sich kein Bestandteil desselben nach- weisen, der nicht auf eine dieser beiden Quellen oder auf beide ver- bunden zurückgeführt werden konnte. ,

Diese von Locke ganz allgemein ausgesprochnen Satze hätten ver- hindern sollen, seine Lehre von vorn herein als einen reinen Sensua- lismus zu bezeichnen; die Thatsache, dass nicht nur das. was im Be- wusstsein geschieht , sondern auch die geistige Thätigkeit selbst Gegen- stand der inneren Auffassung ist und dass die innere Auffassung dieser Thätigkeiten Beitrage zu dem menschlichen Vorstellungskreise darbietet, welche auf die sinnliche Empfindung nicht zurückgeführt werden kön- nen , sammt der darin liegenden Ueberschreitung des Sensualismus ist geradezu die eine und zwar die wichtigere Hälfte seiner Grundansichr. Nur können die Vorstellungen , durch welche wir die inneren Thätig- keiten bezeichnen, nicht eher zum Bewusstsein kommen, als die sinn- liche Empfindung diesen Thätigkeiten ein Material dargeboten hat; der Mensch kann die Vorstellung des Empfindens, Denkens, Wollens u. s. w. nicht eher haben , als er empfunden, gedacht, gewollt hat, und selbst dann bedarf es der Aufmerksamkeit, um diese verschiedenen Arten des geistigen Thuns zum Bewusstsein zu bringen.25) Locke behauptet nicht, dass der Inhalt der sinnlichen Empfindung der ausschliessliche Inhalt des Bewusstseins sei ; aber er spricht den Satz aus, dass die sinnliche Empfindung die Bedingung der Ausübung der übrigen geistigen Thätig-

by that vaste störe, which the business and boundless fancy of men hos painted in it? . . . . To this J answer, inone word, from experience . . . . Our Observation employed either about external sensible objects, or about the internal Operations of our mind, perceived and reflected on by ourselves, is that which supphes our understanding with all the mate- Hals of thinking ... § 3. This great source of rnost of the ideas we have depending whoüy upon our senses and derived by thetn to the understanding, l call Sensation. § 4. The other source . . . tho* it be no sense, as having nothing to do with external ob- jects , yet it is very like it and might properly enough be called internal sense . . / call reflection. By reflection I would be understood to tnean that noticet which the takes of it$ own Operations and the manner of them, by reason whereof there come to be ideas of these Operations in the understanding.

25) a. a. 0. §7. 8. Children, when they come first into it, are surrounded with a world of new things, which by a constant sollicitation of their senses draw the mind con- tiantfy to them . . . Meris business (in the first years) is to acquaint themselves with what ü to be found withaut, and so growing up in constant attention to outward setisatiom, sddom make a considerable reflection on what passes withm them u. s. w.

124 G. Hartenstein, [U

keiten ist; er spricht diesen Satz aas im Zusammenhange mit seiner Polemik gegen die Behauptung der cartesianischen Schule, dass die Seele immer denke, d. h. dass das Denken eben so das Wesen der Seele, wie die Ausdehnung das Wesen des Körpers sei.26) Gleichwohl ist ihm die Reflexion nicht eine verwandelte, weiter entwickelte Sinnlichkeit; son- dern so vorsichtig er auch vermeidet über das Wesen der Seele und ihrer Wirkungsart etwas dogmatisch zu behaupten, so ist doch ihre Be- fähigung, sich auf Grundlage der sinnlichen Empfindung eiue diese aber- schreitende Welt von Vorstellungen, Gedanken, Bestrebungen aufzu- bauen, etwas, was nicht anzuerkennen der unbefangenen Beobachtung unmöglich sei.37) Gerade darin , dass der menschliche Vorstellungskreis die sinnliche Empfindung tiberschreitet, findet Locke das wesentliche Motiv, das Mannigfaltige, was sich dem Bewusstsein als sein Inhalt dar- bietet, insofern es darauf Anspruch macht, Erkenntniss zu sein, einer prüfenden Kritik zu unterwerfen.

n.

Auf dieser Grundlage unteruimmt nun Locke eine Analyse des menschlichen Vorstellungskreises, wie er wirklich beschaffen ist; er ver- sucht ihn in seine Elemente zu zerlegen und den Beitrag zu bestimmen, den diese Elemente allein oder in Verbindung mit den übrigen zu der menschlichen Erkenntniss liefern. Der Geist ist in dieser Beziehung an die Dinge, an die auf sie sich beziehenden Empfindungen und die dadurch erregten inneren Thätigkeiten gebunden, passiv; was er seiner eigenen

26) a. a. 0. § 40 49. Das Resultat § 20. / see no reason therefore to believe that the soul thinks before the senses have furnished it with ideas to thmk on.

27) Ebendas. § 24. All those sublime thoughts, which totoer above the chuds and reach as high as heaven itself, take their riet and footing here; tn all that great extent, wherein the mind wandere ... it stirs not one jot beyond theee ideas which sense or re- fleetion have offered for its contemplation. eh. VII, § 4 0. Andrerseits B. II, cb. XXIII. § 4 5. It is for want of reßection that we ort apt to think that our senses shew us nothing but material things. Every act of Sensation, when duly considered, gives us an equal view of both parte of nature, the corporal and spiritual. For whilst I know, by seeing or hea- ring, that there is sotne corporeal being without me, the objeet of that Sensation, I do more certainly know, that there is some spiritual being within me that sees and hears.

*5] Locke's Lehre von deb mknschl. Erkenntniss u. s. w. 125

Thätigkeit zuzuschreiben ein Recht hat, ist eingeschlossen in die Gren- zen, die ihm der Thatbestand der menschlichen Natur vorschreibt.38)

Die letzten Elemente des Vorstellungskreises bezeichnet Locke als einfache Vorstellungen (simple ideas) im Gegensatze zu zusammengesetz- ten (complex ideas). Die Möglichkeit, einfache Vorstellungen von den zusammengesetzten zu unterscheiden , unterliegt ihm keinem Zweifel; ohne an der Stelle, an welcher er diese Unterscheidung einführt, auf eine genauere Begriffsbestimmung der Einfachheit einer Vorstellung ein- zugehen,29) bemerkt er später,30) dass er gewisse Vorstellungen mehr in Beziehung auf die Art, in welcher sie ins Bewusstsein eintreten, als insofern sie von andern Vorstellungen unterschieden sind, für einfache erkläre. So ist ihm die qualitative Bestimmtheit der sinnlichen Empfin- dung, insofern für die Empfindung selbst ein verschiedenartiges Mannig- faltige sich nicht unterscheiden lässt, das Merkmal ihrer Einfachheit; die Kalte und Harte eines Stücks Eis sind eben so einfache Vorstellungen, wie der Geruch und die Farbe der Lilie. Er nennt daher auch solche Vorstellungen einfach, welche aus mehreren aber qualitativ gleichen Theilen zusammengesetzt sind.31)

28) B. I, cb. I. § 25. In this part the understanding is merely passive and whether or no it will have these beginnings and as ü were materials of knowledge, is not in its oton power. For the objecto of our senses do . . obtrude their particular ideas upon our minds, whether we will or no ; and the Operations of our minds will not let us be without, at leasty some obscure notions of them. Vgl. eh. II, § 3.

29) eh. II, § 1 . [The simple idea) being each in itself uncoinpounded contains in it nothing but one uniforme appearance or coneepUon in the mind, and is not disünguishable into different ideas.

30) eh. XIII, § 4. Though 1 have often mentioned simple ideas , ... yet having treated them there rather in the way, that the come into the mind, than as dislinguished from others more compounded, ü will not be perhaps a miss to take a view of some of them under this consideration u. s. w.

3 1 ) Hierher gehört die Antwort, welche Locke auf den Einwurf Barbeyrac's, dass er den Raum fälschlich für eine einfache Vorstellung erkläre , weil der Baum Theile habe, dem Uebersetzer seines Werkes Coste mittheilte und die auch in der Oben an- geführten Ausgabe als Anmerkung zu B. II, eh. XV. § 8 (p. 4 59) steht. The question is to know, whether the idea of extension agrees wüh this (vgl. Anm. 29) definüion? Which will effectually agree to ü, if ü be understood in the sense which Mr. Locke had principally in his view; for that compositum which he designed to exelude in this defini- fson, was a composition of different ideas in the mind and not a composilion of the some kind tn a thmg, whose essence consists in having parts ofthe same kind etc. Vgl. Locke Essais etc. traduü par Coste. Amst. 1755 p. 4 52.

126 G. Hartenstein, [16

Einfache Vorstellungen bieten nun in einer von der Willkühr schlecht- hin anabhängigen Weise nicht nur die einzelnen Sinne, jeder seine eige- nen dar, sondern auch mehrere Sinne ; eine dritte Glasse derselben bietet die Reflexion allein, eine vierte Sensation und Reflexion in Verbindung dar.33) Ohne den Anspruch zu machen, die einfachen Vorstellungen irgendwie vollständig aufzuzahlen , rechnet er zu der ersten Classe die qualitativ verschiedenen Empfindungen der einzelnen Sinne , zu denen auch die Solidität der Körper als Empfindung des Tastsinns gehören soll;33) zu der zweiten Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, Ruhe; zu der dritten die Vorstellung des Denkens und Wollens ; zu der vierten die Vorstellungen von Lust und Schmerz, Kraft, Existenz und Einheit, wäh- rend die Vorstellung der Zeit an die Reflexion auf den Verlauf unserer eigenen Vorstellungen gebunden sei.

In den spezielleren Erörterungen zunächst über diejenigen ein- fachen Vorstellungen , die uns auf dem Wege der sinnlichen Wahrneh- mung zugeführt werden,34) bemerkt Locke, dass jede solche Vorstellung positiv ist, gleichviel ob sie durch eine positive, oder, indem er sich des hergebrachten Schulausdrucks bedient, durch eine privative Ursache hervorgebracht ist;35) die Empfindung des Schwarzen ist eben so posi- tiv , wie die des Rothen oder des Blauen , die Wahrnehmung der Ruhe eben so positiv, wie die der Bewegung. Viel wichtiger als diese Bemer- kung ist ihm jedoch die Frage, ob die sinnlich wahrgenommenen Quali- täten als Eigenschaften der Dinge selbst angesehen werden können. Zu dieser Frage findet er sich berechtigt durch die Unterscheidung zwi- schen den Vorstellungen, insofern sie eben nur Vorstellungen sind und insofern sie Modificationen der sie verursachenden Körper bezeichnen.36)

33) B. II, eh. III— VII.

33) B. II, eh. IV. ist diesem Begriff gewidmet, um die Cartesianische Gleicbsetzung zwischen Ausdehnung und Körperlichkeit zu bestreiten.

34) B. II, eh. VIII.

35) a. a. 0. § \ 6. Dass der Gebrauch des Begriffs einer privativen Ursache nur eine Anbequemung an den gewöhnlichen Sprachgebrauch der Schule ist, zeigt § 6 : The privative cause I have here ossigned of positive ideas, are aecordmg to the common opinion ; but in truth it will be hard to determine whether there be really any ideas front a privative cause, tut it be determmed, whether rest be any more a privatum then tnotion. Vgl. § 4.

36) a. a. 0. § 7. To discover the nature of our ideas the better and to discourse of them inteWgibly , it will be convenient to distinguish them, as the are ideas or per-

,1

4.

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<7] Locke's Lehre von der messciil. Erkenntniss u. s. w. 127

Die gemeine Auffassung und man darf hinzusetzen, auch die zu Locke's Zeit herrschende Schul philosophie macht diese Unterscheidung nicht und betrachtet die Vorstellungen als Ausdruck der Qualität der Dinge selbst. Locke ist sehr ausführlich, um dieses Vorurtheil zu zerstören; er beruft sich namentlich auf die Relativität aller sinnlichen Empfindun- gen, welche es verbieten, die gelbe Farbe und die Wärme mehr für eine Eigenschaft des Feuers zu halten, als den Schmerz, den es uns verur- sacht, wenn es uns brennt;37) aber er ist gleichwohl nicht geneigt, dem gesammten Inhalte unseres sinnlichen Bewusstseins diese blos phäno- menologische Bedeutung zuzugestehen. Der Grund davon liegt darin, dass er die durch die Cartesianische Schule verbreitete Ansicht von der Entstehung der sinnlichen Empfindung filr richtig, wenigstens für sehr wahrscheinlich hält. Zugegeben, dass man unter der Qualität eines Kör- pers lediglich sein Vermögen zu verstehen habe , gewisse qualitativ be- stimmte und von andern unterschiedene Vorstellungen in uns hervor- zubringen,38) und ferner angenommen, dass die noth wendige Bedingung, unter welcher ein Körper eine Vorstellung in uns erregen kann, ein Ein- druck (impulse) auf das Organ ist, so wird die Entstehung der sinnlichen Vorstellungen davon abhängen, dass sinnlich nicht wahrnehmbare Theil- cben der uns umgebenden Körper, die nach Gestalt, Bewegung, Textur und Zahl verschieden sind, die sinnlichen Organe berühren und so die Empfindung erzeugen/9) Ausdehnung, Gestalt, Solidität und Beweglich- keit der materiellen Theile werden dabei vorausgesetzt, und man bat daher ein Recht, das, was diese Vorstellungen bezeichnen, als eine Eigenschaft der Körper, diese Vorstellungen selbst als den Körpern ähn- lich zu betrachten. Locke nennt sie die ersten, alle übrigen zweite Qua-

ceptions in our minds, and as they are modifications of matter in the bodies that cause such perceptions.

37) a. a. 0. § «5—2«.

38) a. a.O. §8. Whatsoever the mmd percewes in itself or is the immediat object of perception, thought or understanding, that I call idea, and the power to produce any idea in our mind, I call quality of the subject, wherein that power is* Thus a snow-ball having the power to produce in us the ideas of white, cold and round, the powers to produce those ideas in us, as they are in the snow-ball, 1 call qua" Usus; and as they are sensations or perceptions in our understanding, 1 call them ideas; which ideas if 1 speak of sometimes as in the things themselves, I would be understood to mean those qualities in the objects which produce them in us.

39) a.a.OJII flgg.

Abband!, d. K. S. Ges. d. Wim. X. 9

128 G. Hartenstein, [*8

litäten (prmary, secondary qualities); die letzteren zerfallen wieder in zwei C lassen, je nachdem ein Ding eine sinnliche Empfindung unmittel- bar oder mittelbar, durch eine von einem andern Dinge empfangene Einwirkung , hervorbringt , wie z. B. wenn wir die Farbe des von der Sonne gebleichten Wachses wahrnehmen , in welchen letzteren Fallen der gemeine Sprachgebrauch vorzugsweise den Begriff der Kraft an- wendet, indem er der Sonne die Kraft das Wachs zu bleichen zu- schreibt. <°)

Den einfachen sinnlichen Vorstellungen stehen zur Seite die durch Reflexion , durch die innere Auffassung der psychischen Ereignisse und Thätigkeiten dargebotenen. Locke trägt kein Bedenken, diese verschie- denen Thatigkeitsformen als Vermögen der Seele zu bezeichnen, ohne mit dieser Bezeichnung auf eine Bestimmung des Wesens der Seele Anspruch zu machen;41) er benutzt sie als ein bequemes Hülfsmittel, die verschiedenen geistigen Tbätigkeiten , soweit sie sich auf die Erkennt- niss beziehen, zu unterscheiden und in ihrer natürlichen Stufenfolge aufzuzahlen. Das erste Seelenvermögen, welches sich auf die Vorstel- lungen bezieht, ist das Vorstellungsvermögen; das Vorstellen ist daher die erste und einfachste Vorstellung, welche wir durch Reflexion erlan- gen. Im blossen Vorstellen verhält sich die Seele rein passiv ; dadurch unterscheidet es sich vom Denken, welches einen Grad willkührlicher Aufmerksamkeit einschliesst, bei welchem sich der Geist als thätig zeigt. Was Vorstellen sei, darüber verweist Locke jeden an seine eigene innere Erfahrung;42) es lasse sich darüber nur so viel mit Gewissheit sagen,

40) a. a. 0. § 23. § 96.

4 i ) Es ist in dieser Beziehung vorläufig auf seine Erörterungen über den Begriff der Kraft und des Vermögens überhaupt zu verweisen B. II, eh. XXI. B. IV, eh. VI, § \l, wo er die möglichen Erweiterungen des Wissens überschlägt, sagt er: 1 have mentioned here only corporeal substances , whose Operations seem to lie more level to owr understanding ; for as to the Operation of spirits, both their thinking and moving of bodies, we at first sight find ourselves at a loss, though perhaps, when we have applied our thoughts a little nearer to the consideration of bodies and their Operations and examined how far our notions even in these reach with any clearness, beyond sensible matter of fact, we shall be bound to confess, that even in these too, our discoveries amount to very little beyond perfect ignorance and incapaeüy. Dergleichen Aeusserungen beweisen neben vielen andern ähnlicher Art , wie wenig dogmatischen Werth Locke auf die von ihm selbst adoptirte mechanische Erklärung der Entstehung der Vorstellungen ge- legt hat.

42) B. II, eh. IX, § \. § 2.

49] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 129

dass die in dem körperlichen Organe stattgefundene Veränderung ins Bewusstsein eintreten müsse, wenn eine Vorstellung entstehen solle, daher trotz der A Sectio n selbst des gesunden Organs die sinnliche Wahr- nehmung nicht eintritt, wenn das Erkenntnissvermögen sie nicht auf- fasst.43) Er knüpft daran die für die psychologische Erörterung eben so nothwendige als fruchtbare Bemerkung, dass Vieles für eine sinnliche Wahrnehmung gehalten wird , was eigentlich eine durch frühere Erfah- rungen bedingte Deutung der sinnlichen Empfindung ist; und beruft sich hierbei vorzüglich auf die ergänzende Auslegung, die wir den Wahr- nehmungen des Gesichts unwillkührlich geben.44)

Das nächste Vermögen , durch welches ein Fortschritt in der Er- kenntniss geschieht, ist das Vermögen die durch Sensation und Reflexion erworbenen Vorstellungen festzuhalten. Dies geschieht auf doppeltem Wege, erstlich durch die verweilende Aufmerksamkeit , zweitens durch das Wiederhervorrufen früher gehabter Vorstellungen , also durch das Gedächtniss. tt) Von der Wichtigkeit des Gedächtnisses oder , wenn es erlaubt ist, einen von Locke selbst nicht angewendeten Ausdruck zu gebrauchen, der Reproduction , hat er eine sehr ausgedehnte Vor- stellung; alle übrigen Vermögen würden bei der Unfähigkeit des Men- schen eine grosse Masse von Vorstellungen gleichzeitig sich gegenwärtig zu halten, ohne sie so gut wie nutzlos sein;46) aber durch die Bezeich-

43) a. a. 0. § 4. Want of Sensation in this case is not thro' any defect in the organ, . . . but that, which uses to produce the idea, tho' conveyed in by the usual organ, not betng taken notice of in the understanding and so imprinting no idea on the mind, there fottows no Sensation, Es mag bemerkt werden, dass das Wort understanding bei Locke, wie in der englischen Sprache überhaupt, der allgemeine Ausdruck theils für die ver- schiedenen Arten der Auffassung und Erkenntniss, theils für die verschiedenen dabei stattfindenden geistigen Operationen ist.

44) a. a. 0. § 8. Er führt dabei einen Brief von Molineux an, der die spater an Chesselden's Blinden gemachten, in den Philosoph. Transaetions erst 1728 veröffent- lichten Beobachtungen gewissermassen voraussagt.

45) B. II, eh. X, § \. The next faculty of the mind, whereby it makes a further progress towards knowledge, is that which I call retention or the keeping of those simple idcas , which from Sensation or reflexion it had reeeived. This is done two ways. First, by keeping the idea ... for some Urne actually in view, which is called contempla- tion. The other way of retention is the power to revive again in our minds those ideas, which after imprinting have disappeared . . . This is memory, which is as it were the store-house of our ideas.

46) a. a. 0. § 8. Memory . . is of so great moment, that were it is wanting, all the rest of our faculties are in great measure useless.

9*

1 30 G. Hartenstein, [20

nung des Gedächtnisses als des Vermögeos , sich aus dem Bewusstsein verschwundener Vorstellungen als früher gehabter wieder bewusst zu werden oder sie als solche wieder hervorzurufen, glaubt er sich jeder näheren Untersuchung über die Bedingungen und Gesetze der Repro- duction überhoben.47)

Sinnliche Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtniss würden wenig nützen, wenn sie nur unklare und verworrene Vorstellungen der Gegenstände darbölen. Aber der Mensch hat auch ein Unterscheidungs- vermögen (faculty of discerning); diese Fähigkeit, die Gleichheit oder Verschiedenheit der Dinge zu bemerken, ist der eigentliche Grund des allgemeinen und unmittelbaren Einverständnisses über gewisse Sätze, die man geneigt ist für angeboren zu halten. In dieser Bestimmung der Vorstellungen durch Unterscheidung gibt sich die Richtigkeit des Urtheils (judgtnent) zu erkennen, während dem, was man Geist (wit) nennt, hauptsächlich die rasche Verknüpfung und Vergleichung der Vorstellun- gen eigentümlich ist.48)

Indem nun keine Unterscheidung möglich ist ohne Vergleichung, spricht Locke zwar nicht von einem besonderen Vergleichungsvermögen, aber er legt auf die Thätigkeit des Vergleichens als einer ins Unbestimm- bare hin reichen Quelle von Vorstellungen und Begriffen das grösste Gewicht.40) Bei der Betrachtung eines Gegenstandes sind wir nicht auf ihn beschränkt; der Geist vermag jede seiner Vorstellungen zu über- schreiten , um ihr Verhältniss zu andern ins Auge zu fassen. In dieser Gegenüberstellung der Dinge oder Vorstellungen entdeckt er Beziehun- gen oder Verhältnisse ; er bezeichnet sie durch Worte, welche eben die Ausdrücke für die bestimmte Art der Beziehung sind, und die Dinge und Vorstellungen heissen dann die Glieder des Verhältnisses.00) Wo die Beziehung keine gegenseitige ist, übersieht man dabei leicht die nur relative Bedeutung solcher Vorstellungen und verfällt in den Irrthum, als ob dergleichen Vorstellungen etwas dem Gegenstande selbst Zu- kommendes seien. Jedes Verhältniss setzt aber nothwendig zwei von

47) a. a. 0. § 2.

48) B. II, cb. XI, § \. 2.

49) a. a. 0. § 4. The comparing them one with another . . . is another Operation of the mind about its ideas, and is that upon which depends all that large tribe of ideas, comprehended under relation. Vgl. B. II, eh. XXV, § 4.

BO) B. II, eh. XXV, § 2—6.

2-1] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 131

einander verschiedene oder für verschieden gehaltene Vorstellungen voraus ; der ihr Verhältniss bezeichnende Begriff ist nicht nur von den Begriffen , welche die Glieder des Verhältnisses bezeichnen , verschie- den, sondern er kann auch bestimmter und deutlicher sein, als die letz- teren ; ebenso kann sich das Verhältnis ändern , ohne dass das eine Glied desselben einer Veränderung unterliegt. Wie unermesslich man- nigfaltig aber auch die Vorstellungen sein mögen, die der Mensch durch Vergleichung gewinnt, zuletzt finden sie sämmtlich ihren Stütz- und An- fangspunkt in einfachen, von der Sensation oder Reflexion dargebote- nen Vorstellungen.51)

Eine fernere Thätigkeit, die der Geist in Beziehung auf das ur- sprüngliche Material seines Vorstellens ausübt, ist die Verbindung (compositum) , vermöge deren mehrere einfache Vorstellungen zu einer Vorstellungsgruppe (complex) vereinigt werden. Zu dieser Verbindung und Verknüpfung mag auch die Erweiterung (enlarging) gerechnet werden, die der Geist mit gewissen Vorstellungen vorninjmt; denn Er- weiterung ist Verknüpfung gleichartiger Vorstellungen , wie besonders an den Zahlbegriffen deutlich ist.58)

Welche Vorstellungen und Vorstellungsgruppen nun auch durch diese Thätigkeiten des Geistes der Mensch erworben habe, er wird suchen, sie zu bezeichnen; dazu stehen ihm articulirte Laute zu Gebote; er bezeichnet sie also durch Worte. Worte sind Zeichen von Vorstel- lungen, Vorstellungen sind von den Dingen entlehnt, und es würde eine unendliche Menge von Worten nöthig sein , wenn jedes einzelne Ding und jede einzelne Vorstellung durch ein besonderes Wort bezeichnet werden sollte. Um diesen Uebelstand zu vermeiden, verallgemeinert der Geist die besonderen Vorstellungen, indem er das Individuelle, was ihnen als einzelnen anhaftet, weglässt und so die Abstracta, die Gattun- gen des Gleichartigen feststellt. Diese allgemeinen und als solche be- stimmten Vorstellungen verknüpft er mit Namen ; sie sind gleichsam die Modelle und Typen, auf welche die wirklichen Dinge je nach ihrer

5«) a. a. 0. §7. 9.

52) B. II, eh. XI, § 6. Composition whereby the mind puts together several of those simple ones it hos reeeived . . . Under this composition may be reckoned also (hat of enlarging, w herein, though the composition does not so much appear as in more com- plex ones, yet it is nevertheless a putting several ideas together, though of the same kind.

1 32 6. Hartenstein, [22

Gleichheit oder Verschiedenheit bezogen werden.53} Dieses Vermögen der Abstraction spricht Locke den Thieren gänzlich ab, während das Vermögen zu vergleichen und Vorstellungen zu verbinden ihnen in ge- wissem Grade nicht abgesprochen werden könne; und zwar fehlen ihnen allgemeine Begriffe nicht desshalb, weil ihnen die Organe für die Bildung articulirter Laute fehlen , sondern in dem Mangel der Fähigkeit zu abstrahiren liegt das specifische Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Thier.54)

Ueberblickt man nun die Gesammtheit dieser Bestimmungen Locke's über die Entstehung des menschlichen Vorstellungskreises, über welche er sich am Schlüsse derselben mit grosser Bescheidenheit äussert,55) so darf man nicht übersehen, dass er, neben dem durch die äussere und innere Erfahrung dargebotenen Material der Vorstellungen, sich auf eine Mehrheit geistiger Thäligkeiten beruft, durch welche jenes Material zum Theil dergestalt umgebildet werde, dass sich der Zusammenhang dieser Producte des Unterscheiden^ Vergleichens, Verknüpfens und Beziehens mit den primitiven Elementen derselben der fluchtigen Betrachtung leicht entziehe. Der menschliche Vorstellungskreis unterscheidet sich von dem der Thiere eben vermöge dieser der menschlichen Natur eigentümlichen Thätigkeiten , die Locke einfach als eine weise und zweckmässige Ein-

53) a. a. 0. § 8. 9. The use of words then being to stand as outward marks of our internal ideas and those ideas being taken from particular things , if every particular idea . . . should have a distinct name, names most be endless. To prevent this, the mind

\ makes the particular ideas . . to become gener al; which is done by considering them as

the are in the mind such appearances, separate from all other existences and the ctrcvro- stances of real existence . . . This is called abstraction, whereby ideas, taken from particular beings, become gener al representatives of all of the same kind, and their names

! gener al names . . . Such precise, naked appearances in the mind ... the undcrstanding

lays up {with names commonly annexed to them) as Standards to rank real existences into

| sorts, as the agree with these patterns, and to denominate them accordingly .

54) a. a. 0. §40. 41.

! 55) a. a. 0. § 4 5 17. Thus 1 have given a short and, I think, a true history of

the first begmnings of human knowledge . . . wherein I must appeal to experience and Observation, whether J am in the right; the best way to come to truth being to examine things as really they are and not to conclude they are , as we fancy of ourselves ... If

; other men have either innate ideas or infused principles, the have reason to enjoy them;

I and if they are sure of itt it is impossible for others to deny them the privileges that they

| have above their neig hb our. 1 can speak only on what l find in myself. . . .

I pretend not to teach, but to enquire.

i

23] Locke's Lehre von der mbnscul. Erkenntmss u. s. w. 133

richtung des Schöpfers betrachtet, deren Wirkungsart aber nicht weniger als der durch äussere und innere Erfahrung dargebotene Stoff zu den Voraussetzungen gehört, deren er sich zur Erklärung des Vorstellungs- kreises bedient. Was aus den durch äussere Erfahrung dargebotenen Elementen wird, hängt von der Activität des Geistes eben so ab, als von dem Verkehr mit der Aussenwelt.56)

m.

Um nun den Gehalt an Erkenntniss zu untersuchen, den diese Pro- ducte der geistigen Thätigkeiten haben, erachtet es Locke für notwen- dig, zuvörderst die Hauptclassen der zusammengesetzten Vorstellungen oder Begriffe zu unterscheiden. Sie lassen sich nach seiner Ansicht auf drei Classen zurückführen, Substanzen, Modi und Relationen. Diese Bezeichnungen bedürfen einer Erklärung. Unter Substanzen versteht er diejenigen Verknüpfungen einfacher Vorstellungen oder Vorstellungs- gruppen, die mit der Voraussetzung gedacht werden, dass sie bestimm- ten wirklich existirenden Dingen entsprechen , dergestalt dass die für sie und in ihnen vorausgesetzte Substanz als der Anknüpfungspunkt für die übrigen in der Vorstellungsgruppe enthaltenen Bestandteile gehal- ten wird. Der Begriff der Substanz entspricht also dem Begriff des Dings mit seinen Eigenschaften , insofern es als der Träger der letztern ange- sehen wird.57) Locke setzt hinzu , dass dieser Begriff nicht auf einzelne

56) B. II, eh. XII, § i. As the mind is wholly passive in the reeeption of all its simple ideas, so its exerts several acts of its own, whereby out of its simple ideas, as the materials and foundations of the rest, the other are framed.

57) B. II, eh. XII, § 6. The idea of substance are such combinations of simple ideas as are taken to represent distinet particular things subsisting by themselves, in which the supposed idea of substance, such as it is, is the first and chief. In der first letler to the Bishop ofWorcester (vgl. die hier angef. Ausg. v. Locke's Essay p. 83 Anm.) erläutert er diesen Begriff so : The ideas of the gualities and actions or powers are pereeived by the mind to be themselves inoonsistent wüh existence; . . we must coneeive a substratum or subjeet, w herein the are .... Because a relation cannot be found in nothing or be the relation of nothing , and the thing here related as a supporter or a support is not repre- sented . . by any clear and distinet idea , therefore the obscure and indistinet vague idea of thing or something is all that is left to be the positive idea which hos the relation of a support or substratum to modes or aeeidents.

134 G. Hartenstein, [24

Dinge beschrankt sei, sondern sich auch auf Collect! v Vorstellungen meh- rerer Dinge erstrecke; die Vorstellung einer Armee oder einer Schaf- heerde nennt er eben so die Vorstellung einer Substanz, als die des ein» zelnen Menschen oder Schafes.98) Bei der Kritiklosigkeit, mit welcher die natürliche Auffassung der Dinge die Einheit des Seins auf alles das überträgt, was sich ihr als irgendwie verknüpft darstellt, erscheint diese Bestimmung weniger auffallend, als sie sein würde, wenn es Locke nicht vor Allem darauf ankäme, die Beschaffenheit dieses natürlichen Vorstel- lungskreises kenntlich zu machen.

Als modi, eine Bezeichnung für die es schwer ist ein congruen- tes deutsches Wort zu finden, bezeichnet er die zusammengesetzten Vorstellungen, welche nicht mit der Voraussetzung gedacht werden, dass das durch sie Bezeichnete, eine selbstständige Existenz habe, sondern welche als Anhängsel und Affectionen, Attribute, Accidenzen oder Modificationen der Substanzen gedacht werden. Sie zerfallen in zwei Classen, einfache modi, wenn die in ihnen verknüpften einfachen Vorstellungen gleichartig, gemischte modi, wenn diese ungleichartig sind.59) So sind z. B. die Raum- und Zahlbegriffe , die verschiedenen näheren Bestimmungen des Denkens, der Lust und Schmerzempfindun- gen einfache modi; zu den gemischten modis gehören alle die unbe- stimmbar mannigfaltigen ungleichartige Bestandteile einschliessenden Begriffe, welche nicht die Dinge selbst bezeichnen und doch von ihnen ausgesagt werden. Vorzugsweise bilden die Begriffe des Denkens, der Bewegung und der Kraft die Anknüpfungspunkte für diese gemischten modi, welche die nach den Gesichtspunkten der Ursachen, Mittel, Gegen- stände, Werkzeuge, Zwecke, der Zeit, des Orts u. s. w. verschiedenen Modificationen jener Vorstellungen bezeichnen ; in diesem Sinne ist die Vorstellung des Laufens und Ringens nicht weniger ein gemischter mo- dus, als die der Dankbarkeit oder der Rache; aber eine Aufzählung aller

58) B. II, cb. XII, § C.

59) a. a. 0. § 4. Mo des 1 call such complex ideas y which, howewer compounded, contain not in them the supposition of subsisting by themselves, but are considered as dependences on, or affections of substances. § 5. Of these modes are ttoo softes, which deserve distinct consideration ; first, there are some which are only variations or different combinations of the same simple idea . . . and these I call simple modes. Secondly, there are others compounded of simple ideas of several kinds, put together, to make one com- plex on; ... and these I call mixed modes.

25] Locke's Lkhre von der menscbl. Erkbnntniss ü. s. w. 135

dieser Vorstellungen würde nicht viel weniger heissen, als ein Wörter- buch des grössten Theils der Worte und Begriffe liefern , deren sich die Theologie, die Moral, die Jurisprudenz, die Politik und die verschiede- nen übrigen Wissenschaften bedienen.60) In der Bildung dieser zusam- mengesetzten Vorstellungen ist der Geist thätig und überschreitet die Erfahrung;61) die Einheit, die er ihnen zuschreibt, liegt in der ihnen beigelegten Verknüpfung und dem äusseren Zeichen derselben, dem Namen; gewöhnlich bekommen nur die Complexionen dieser Art eine bestimmte Benennung, rucksichtlich deren ein Bedttrfniss der Mitthei- lung vorhanden ist. Daher finden sich nicht in allen Sprachen Zeichen ftlr alle Begriffe und jede Sprache hat Worte, für welche es in anderen Sprachen keine genau entsprechenden gibt; in der Veränderlichkeit die- ser Vorstellungsgruppen liegt ein Grund für die Veränderlichkeit der Sprachen.88)

Der Begriff dessen , was Locke modus nennt, ist im hohen Grade unbestimmt und schwankend; das negative Merkmal, durch welches er ihn begrenzt, dass das durch den Begriff modus Bezeichnete nicht eine selbständige Existenz in Anspruch nimmt, sondern nur Anhängsel und Modifikation der Substanzen ist, passt nicht durchweg zu den von ihm selbst angeführten Beispielen. Welcher Substanz Modification sollte wohl der Begriff des Triumphs oder des Ostracismus sein? Wenn Locke den Begriff des Vaters und des Sohnes für Relationen , den des Vatermords für einen gemischten Modus erklärt, so bezeichnet der letztere zunächst nicht die Modification eines Pings, sondern bat zu seiner Voraussetzung jenes Verhältniss zwischen Vater und Sohn. Für die Relationen, die dritte Hauptclasse der zusammengesetzten Begriffe, macht er als das wesentliche Merkmal die vergleichende Betrachtung der Dinge gel-

60) B. II, eh. XXII, §40—4 2.

64) a. a. 0. § 2. The mind often exercise an active power in making these several combinations. . . . And hence, I think, it is that these ideas are called notions, as if they had their original and constante existence more in the thoughts of men , than in the reality of things, and to form such ideas, it sufficed, that the mind puts the parte of them together and that they were consistent in the understanding, without considering, whether they had any real being.

62) a. a. 0. § i. Every mixed mode consisting of many distinet simple ideas , it seems reasonable to enquire, whenee it hos his unity ? . . . To which I answer, it is piain, it hos his unity from an act of mind combining those several simple ideas together . . . and the mark of this unity . .. is one natne gwen to that combinations. Vgl. § 5 7.

1 36 G. Hartenstein, [*t>

tend;63) wo er aber von den moralischen Relationen spricht, kommt er noth wendig vielfach auf Begriffe, die er auch als gemischte modi be- zeichnet. Daher subsumirt er auch bisweilen die Relationen geradezu unter die gemischten modi,**) und umgekehrt; obwohl er Raum, Zeit, Zahl für einfache modi erklärt, bemerkt er doch, dass alle Bestimmungen dieser Begriffe Verhältnisse und Beziehungen einschliessen.05) Man würde der Unterscheidung der Substanzen, modi, und Relationen die des Dings, der Eigenschaft, und der Beziehung oder des Verhältnisses Substituten können , wenn nicht Locke als Beispiel für die modi Begriffe anführte, welche Verhältnisse und Beziehungen bezeichnen , und wenn er nicht umgekehrt die Einsicht hätte, dass das, was als Eigenschaft der Dinge vorgestellt wird, auf Verhältnissen beruht.

Indessen diese ganze Unterscheidung der drei Haupte lassen der Vorstellungen ist für ihn nur das Mittel, um dadurch einen Leitfaden für die Untersuchung zu gewinnen, welchen Anspruch auf Erkenntniss die unter die eine oder die andere Classe fallenden Begriffe machen können. So wenig systematisch diese Untersuchung bei Locke auch angelegt ist, so enthält doch das 1 3 23. Capitel des zweiten Buchs eine Kritik der- jenigen Begriffe, welche zu allen Zeiten die Mittelpunkte metaphysischer Lehrmeinungen gewesen sind und um welche sich namentlich die ari- stotelisch - scholastische Metaphysik gruppirt. Sie sind der des Dings und seiner Eigenschaften (Substanz und Accidenz), der Kraft, der Ur- sache und Wirkung, des Raums, der Zeit, der Zahl, des Endlichen und Unendlichen, des Ich; und die Bedeutung des Locke'schen Werks beruht zum mindesten eben so sehr, als auf seinen psychologischen Analysen, auf dieser Untersuchung des Erkenntnisswertbes , den diese Begriffe in der Gestalt, wie sie sich factisch in dem menschlichen Gedankenkreise nachweisen lassen , haben oder nicht haben. Bei der Darlegung dieser Untersuchungen ist es zweckmässig , die bei Locke durch die Unter- scheidung der modi, Substanzen und Relationen bestimmte Reihenfolge fallen zu lassen, und mit dem Begriffe des Dings und seiner Eigenscbaf-

63) B. II, eh. XU, § 7. The last sort of complex ideas is that tve call relations, which consists in the cotisideration and comparing one idea with another. Vgl. cb. XXV,

64) B. III, eh. IV, § 1 . Mixed modes, under which I comprise relations too.

65) B. II, eh. XXI, § 3.

37] Locke's Lehre von der menschi. Erkenntniss u. s. w. 1 37

len zu beginnen , um darauf die Begriffe folgen zu lassen , welche die Beziehungen und Verhältnisse der Dinge bezeichnen.

Der Begriff des Dings, sagt Locke, wie er thatsächlich in der Auf- fassung theils der äusseren Objecte, theils unserer selbst sich aufdringt, beruht darauf, dass eine Mehrheit einfacher Vorstellungen, die sich be- harrlich einer gleichzeitigen Auffassung darbieten, unter einander in die Einheit einer Gesammtvorstellung, die durch ein besonderes Wort be- zeichnet wird, verknüpft ist. Unsere Vorstellung eines Menschen, eines Pferds, eines Stücks Gold, Blei u. s. w. ist nichts als die Complexion der an den durch diese Worte bezeichneten Gegenständen wahrgenommenen Merkmale; und in ähnlicher Weise bilden wir aus den Merkmalen des Denkens, des Ueberlegens, Zweifeins, Hoffens, Wollens u. s.- w. die Com- plexion , welche wir Geist oder Seele nennen. Bei keiner dieser Com- plexionen nehmen wir in irgend einem ihrer Bestandteile d. h. in irgend einem der Merkmale des Dings einen Grund wahr, warum es mit den übrigen gerade so und nicht anders verknüpft ist; ferner können wir uns keine Vorstellung davon machen, wie das, was den einfachen Bestand- teilen der Complexion entspricht, für sich exisliren könne, und so setzen wir der ganzen Complexion Etwas voraus, was den einzelnen Bestandteilen derselben eine Unterlage, einen Träger, einen Stützpunkt darbiete; wir unterscheiden und verknüpfen in dieser Unterscheidung das Ding und seine Eigenschaften, die Substanz und ihre Accidenzen, so dass die letzteren der ersteren als inhärierend gedacht werden.06)

66) B. II, eh. XXIII, § I . The mind being furnished wüh a great number of the simple ideas, . . . take notice also , that a certain number of these simple ideas go con- siantly together; which being presumed to belong to one thing, and words being suüed to common apprehensions, . . . are called, so united in one subjeet, by one name; which by inadvertancy we are apt afterwards to talk of and consider as one simple idea , which indeed is a complication of many ideas together; because, not imagining, how these simple ideas can subsist by themselves, we aecustom ourselves to suppose some subslratum, wherein they do subsist or from which they do result; which therefore we call sub- stance. § 3. Thus we come to have the ideas of a man, horse, gold, water etc., of which substances whether any one hos other clear idea, farther than of certain simple ideas coeevisting together, I appeal to every one's own experience. § 5. The same happens con- cerning the Operations of the mind vi*. thinkingt reasoning, fearing etc., which we con- cluding not to subsist of themselves, nor apprehending how they can belong to body, . . we are apt to think these the actions of some other substance , which we call spirit. Dar* über, dass die Ursache der bestimmten Verknüpfung der Merkmale in der Einheit des Dings gänzlich unbekannt ist, vgl. besonders B. IV, eh. VI, § 7flgg.

1 38 G. Hartenstein, [28

Dabei macht er ausdrücklich darauf aufmerksam, dass diese Complexio- nen zum grossen Theile nicht blos in den Merkmalen bestehen, die in dem Dinge sich wirklich als coexistirend nachweisen lassen, sondern dass die Vorstellung von dem, was die Dinge sind, in sehr vielen Fällen ihre nähere Bestimmung durch das erhält, was sie thun und leiden, so dass diese Potentialitäten, diese Kräfte und Vermögen den Dingen eben so als ihre Eigenschaften beigelegt werden, wie das, was sie unabhän- gig von ihrem Wirken und Leiden sind oder zu sein scheinen.67) So sind unsere Vorstellungen von den Dingen zusammengesetzt aus den Vor- stellungen einerseits ihrer ruhenden Eigenschaften und denen der von ihnen ausgehenden und in sie einströmenden Wirkungen, andererseits der Substanz als des Trägers dieser Mannigfaltigkeit. Natürlich legen wir dabei jedem einzelnen Dinge seine eigene Substanz unter; den Ge- danken einer allgemeinen, allen Dingen gemeinschaftlich zu Grunde lie- genden Substanz berührt Locke gar nicht, weil er sich in dem natür- lichen Vorstellungskreise in der That nicht vorfindet; aber er erinnert an die substanziellen Formen als den schulmässigen Ausdruck für die natürliche Vorstellungsweise und spricht von einem allgemeinen Begriff der Substanz, insofern das Verhältniss von Substanz und Accidenzen bei jedem Dinge immer dasselbe ist.68)

Welchen Erkenntnisswerth bat nun dieser Begriff der Substanz, insofern er mit dem Anspruch auftritt, das Wesen der Dinge zu bezeich- nen? Gar keinen, ist Locke's Antwort auf diese Frage; denn der Begriff der Substanz bezeichnet nichts als ein gänzlich unbekanntes Etwas, welches den Qualitäten der Dinge als ihr Träger vorausgesetzt wird. Er enthält nicht den geringsten Aufscbluss weder über sein eigenes Was, noch über die Art, wie die Eigenschaften und Kräfte theils mit der Substanz, theils unter einander verbunden sind.09) Locke benutzt diese

67) B. II, eh. XXIII, §7.8. The power of drawing iron is one of the ideas of the complex one of that substance we call a loadstone, and a power to be so drawn is a pari of the complex one we call iron u. s. w.

68) Vgl. hierüber die aus dem ersten Briefe an den Bischof von Worcester in der hier citirten Ausgabe I, 244 in der Anmerkung angeführten Stellen.

69) B. II, eh. XXIII, § 2. If any one will examine hitnself concerning his notion of pure substance in general, he will find he hos no other idea of it at all but only a sup- position of he knows not what support of such quaUties, which are capable of producing simple ideas in us ; which qualüies are commonly caüed aeeidents. If any one should be asked, what is Ihe subjeet w her ein colour or weight inheres, he would have nothing to

29] Locke's Lehre von der mknsciil. Erkenntniss u. s. vv. 139

Gelegenheit, um sehr ausführlich auseinanderzusetzen, dass der Begriff einer geistigen und einer körperlichen Substanz gleich viel oder vielmehr gleich wenig Ausschluss über das Wesen des Geistes und des Körpers darbiete. Denken , Wollen sammt allen übrigen Merkmalen , die wir in die Complexion, welche wir Geist oder Seele nennen, zusammenfassen, sind gerade so begreiflich und so unbegreiflich, wie Ausdehnung, Cohä- sion, Mittheilung der Bewegung, die wir als das Wesen des Körpers denken.70) Es bleibt uns nichts übrig als die Vorstellungen von Körper und Geist zu nehmen , wie sie sich bei dem ersteren durch die ersten Qualitäten, bei dem zweiten durch die Begriffe aufdringen, durch die wir die innern Ereignisse und Tätigkeiten auffassen; sobald wir diese Grenze überschreiten , verwickeln wir uns in unentwirrbare Schwierig- keiten und entdecken nichts als unsere Unwissenheit.71)

Der Umstand , dass der von Locke in seiner Wertlosigkeit aufge- zeigte Begriff der Substanz geradezu den Mittelpunkt der durch Aristo- teles zur Geltung gekommenen Schulmetaphysik bildet, macht es be-

say, but the solid extended parte; and if he were demanded, what is it that solidity and extension inhere in, he would not be in a much better case, than the Jndian, who, saying lhat the world was supported by a great elephant, was asked, what the elephant rested on; to which his answer was, a great tortoise; but again pressed to know what gave Sup- port to the broad-backed tortoise replied: something, he knew not what. And thus here, as in all other cases where we use words wühout having clear and distinct ideas, we take like children, who, being questioned, what such a thing is, which they know not, readily gwe the satisfactory answer, that it is something. . .. The idea then we have, to which we gave the general name substance, being nothing but the supposed, but unknown support of those qualities we find ewisting, which we imagine cannot subsist sine re sub- Staate, without something to support them, we call that support substantia, which is in piain English Standing under or upholding. Vgl. B.I, eh. III, § 4 8. II, eh. XXXI, § 6flgg. III, eh. XIII, § 19.

70) B. II, eh. XXIII, § 16—32.

7 \) a. a. 0. § 30. The substance of spirit is unknown to us, and so is the substance of body equally unknown to us. Two primary qualities or proper Hes of body, viz. solid coherent parts and impulse, we have distinct clear ideas of; so likewise we know and have distinct clear ideas of two primary qualities or properties of spirit, viz. thinking and power of action. . . . We have also the ideas of several qualities inherent in bodies; . . . we have likewise the ideas of the several modes of thinking ... § 32. Whensoever we would proeeed beyond these simple ideas we have from Sensation and reflection and dive farther into the nature of things, we fall presently into darkness and obscurity, per- plexedness and diffieuities, and can discover nothing farther but our own blindness and ignorance.

140 G. Hartenstein, [30

greiflich, dass er auf ihn mit einer Art unermüdlicher Ausführlichkeit immer wieder zurückkommt. Das 31 . Gapitel des IL Buches 6 flgg.) enthält nochmals die ausführliche Erörterung, dass die Vorstellung der Substanz gleich unvollständig und uugenügend ist, gleichviel ob man darunter die substantielle Form der einzelnen Dinge oder den ganzen Complex der in dem Begriffe des Dings zusammengefassten Merkmale versteht. Die angebliche substantielle Form ist factisch unbekannt; wäre sie bekannt, so müsste sich aus ihr die Mannigfaltigkeit der an dem Dinge wahrgenommenen Merkmale und der Zusammenhang der letzte- ren unter einander ableiten lassen; der Complex der Merkmale aber gibt schon desshalb einen höchst unvollständigen Begriff, weil die meisten dieser Merkmale ein Wirken und Leiden bezeichnen und es noch unbe- stimmt viel mehr solche Verhältnisse des Thuns und Leidens geben kann , als wirklich beobachtet worden sind. Auch gehört hierher die Nach Weisung, dass der grösste Theil der Eigenschaften , die wir den Dingen als ihr eigenes Was beilegen, von fremden, oft sehr weit ent- legenen Bedingungen abhängt.72)

Was die Vorstellungen von Aggregaten mehrerer Dinge, wie die einer Heerde, einer Stadt, einer Flotte u. s. w. anlangt, so hätte sie Locke wohl mit Stillschweigen übergehen können, da wenigstens die herge- brachte Schulmetaphysik von der Substanz einer Flotte, einer Stadt nicht in demselben Sinne gesprochen hat, wie von der einer Rose, eines Stücks Gold , Brod u. s. w. Gleichwohl mag es der pantheistischen Verwech- selung der Einheit des Begriffs vom Sein mit der Einheit des Seien- den gegenüber nicht unerwähnt bleiben, dass Locke den Begriff der Welt oder des Universums als ein Beispiel für die Fähigkeit des Geistes anführt, die heterogensten und entgegengesetztesten Dinge in einen Be- griff zusammenzufassen.73)

Die Complexionen von Vorstellungen, durch welche wir die Dinge bezeichnen, besteben zum grossen Theile aus den Kräften, die wir ihnen beilegen; was die Dinge zu sein scheinen, verrälh sich uns durch das, was sie wirken und leiden. Für beides haben wir die Vorstellung

72) B. IV, eh. vi, § n.

73) B. II, eh. XXIV, § 2. These coüectwe ideas of substances the mind makes by its power of compositum and unitmg severally, eüher simple or complex ideas into one . . . § 3. There are no thmgs so remote, not so contrary, which the mind cannot by this ort of composition bring into one ideay as is visible in that signißed by the name Universe,

31] Locke's Lkhrk von der menschl. Erkrnntniss u. s. w. 141

des ursächlichen Zusammenhangs, und die Vorstellung der Ursachen und Wirkungen gehört zusammen mit dem der Kraft und der Empfäng- lichkeit. Locke trennt die Erörterung über diese Begriffe; er widmet dem Begriffe der Kraft das 21. Capitel des II. Buches, und spricht von Ursache und Wirkung erst im 26. Capitel, weil er den ersteren Begriff für einen modus, den zweiten für eine Relation erklärt, und es verräth sich auch an dieser Stelle, wie wenig durchgreifend diese ganze Unter- scheidung zwischen modus und Relation ist.74) Ist ein Unterschied in der Art, wie diese Begriffe in dem gewöhnlichen Gedankenkreise auftreten, so liegt er darin, dass Ursache und Wirkung sich auf die wirkliche Thä- tigkeit und das wirkliche Leiden der Dinge , der Begriff der Kraft und des Vermögens sich auf das mögliche Thun und Leiden derselben be- zieht. Die Art, wie Locke den Ursprung dieser Vorstellungsarten be- zeichnet, entspricht diesem Unterschiede. Indem wir, sagt er, die be- ständigen Veränderungen der Dinge wahrnehmen , sehen wir die Ent- stehung bestimmter Qualitäten und Dinge abhängig von audern Dingen und ihrer Wirksamkeit, und dies gibt uns die Vorstellung von Ursache und Wirkung. Was wir Schaffen, Zeugen, Machen u. s. w. nennen, sind verschiedene Bestimmungen dieses Verhältnisses ; die Verschiedenheit der Vorstellungen, welche das entstandene oder veränderte Ding uns aufdringt, ist die ausreichende Veranlassung des unter den Dingen an- genommenen ursächlichen Verkehrs , obwohl wir über die Art, wie die Wirkung hervorgebracht wird, dadurch nichts erfahren.75) Uebertragen

74) Locke geslehl dies selbst «u, indem er B. N, cb. XXI, § 3 sagt: / eonfess, power includes in it some kind of relation (o relation to action or change), as indeed which of our ideas, of ivhat kind soever, when attentively considered, does not?

75) a. a. 0. eh. XXVI, § \. In the nolice, that our senses take of the constant vicissitude of thmgs, we cannot but observe, that several particular, both qualities and substances, begin to exist, and that they reeewe this their eaHstence from the application and Operation of some other bring. From this Observation we get our ideas of cause and effecL That which produce any simple or complex idea, we denote by the generai name cause, and that which is produced effect. . . . Whatever is considered by us to conduce or operate to the producing any particular simple idea , or collection of simple ideas , . . . which did before not exist, hath in our minds the relation of a cause and so is denomi- nated by us . . . § 2 a. E. The notion of cause and effect hos its rise from ideas reeewed by Sensation and reflection, and this relation, how comprehensive soevert terminales at last in them. For to have the idea. of cause and effect, ü suffices to consider any simple idea or substance as beginning to exist by the Operation of some other, without knowing the manner of that Operation.

142 G. Hartenstein, [32

wir nun die Bestimmungen dieses Verhältnisses, gleichviel ob es sich uns durch den Wechsel unserer Wahrnehmungen, oder durch unsere eigene Thätigkeit verräth, auf ein zukünftiges mögliches Geschehen, so entsteht die Vorstellung der Kraft, oder vielmehr die eines möglichen Wirkens und Leidens.76) Obgleich es nun beinahe keine Art sinnlich wahrnehm« barer Dinge gibt, deren Veränderungen uns nicht die Vorstellung eines möglichen Leidens darbieten, und obgleich diesem gegenüber immer die eines möglichen Thuns steht , so kündigt sich doch die Vorstellung des letzteren, der activen Kraft, nirgends so bestimmt und deutlich an, als in der Reflexion auf die Operationen unseres eigenen Geistes.77) Jede (wirkliche oder mögliche) Thätigkeit lässt sich auf zwei Arten zurück- führen, Denken und Bewegen. Die Vorstellung des Denkens bietet uns lediglich die Reflexion dar; aber auch den Begriff der bewegenden Kraft entlehnen wir eigentlich nicht der Körperwelt ; denn der bewegte Körper ist vielmehr leidend als thätig; die Mittheilung der Bewegung ist nur die Fortsetzung einer schon vorhandenen Bewegung und die Vorstellung eines Anfangs der Bewegung gewinnen wir nur durch die Thatsache der willkührlichen Bewegung unserer Glieder. Unsere ganze Vorstellung der Kraft und des (activen) Vermögens hat daher ihre Quelle weniger in der äusseren, als in der inneren Erfahrung.78)

So wenig diese Erörterung über den Begriff der Causalität und über die damit zusammenhängenden der Kraft und des Vermögens eigentlich die Thatsache überschreitet , dass sich diese Begriffe in der Auffassung

76) a. a. 0. cb. XXI, § 4 . The mind being informed by the senses of alter ation of those simple ideas it observes in things without . . ., reflecting also on what passes within itself and observing a constant c hange of its ideas, . . . and concluding from what it hos so constantly observed to have been , that the like changes will for the future be made in the same things, by like agents and by the like ways, considers in one things the possibi- lity of having any of its simple ideas changed, and in another the possibility of making that change and so comes by that idea which we call power. § 2. Power thus conside- red is twofoldt viz.as able to make or able to receive any change; the only may be called active, and the other passive power.

77) a. a. 0. § 4. We are abundantly furnished with the idea of passive power by al most all sortes of sensible things . . . Nor have we of active power (which is the more proper signification of the word power) fewer instances . . . But yet if we will consider it attentively, bodies by our senses do not afford us so clear and distinct idea of active power, as we have from reßection on the Operations of our minds.

78) a. a. 0. § 4. Es gehören hierher auch die Anm. 70 angeführten Erörterungen Locke's.

33] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 1 43

der inneren und Süsseren Veränderungen geltend machen, so ist es doch nicht ohne Interesse, wie vorsichtig sich Locke über den Gebrauch der Begriffe Kraft und Vermögen ausspricht. Er macht darauf aufmerksam, dass die ganze Art, wie wir die Begriffe des Wirkens und Leidens unter die Dinge vertheilen, in vielen Fallen nur der Ausdruck einer oberfläch- lichen Auffassung ist;79) er erklärt überdies von vorn herein, dass er sich des Begriffs des activen Vermögens in Beziehung auf die Naturdinge nur bediene, um sich der gewöhnlichen Vorstellungsweise zu accommo-» diren;80) ebenso lehnt er die Unterscheidung verschiedener Seelenver- mögen zwar nicht geradezu ab, aber er spricht doch sehr bestimmt aus, dass, wenn man diese Vermögen wie verschiedene handelnde Wesen in der Seele auffasse, daraus Verwirrung und unnöthige Schwierigkeiten entstehen müssen, wie namentlich da deutlich sei, wo man davon spreche, dass ein Vermögen das andere bestimme, auf dasselbe wirke u. s. w.81) Er geht aber auch noch einen Schritt weiter und streng ge- nommen so weit, dass er den ganzen Begriff des Vermögens zugleich für eben so natürlich und für eben so werthlos erklärt, wie den Begriff der Substanz. Die Gewohnheit, sagt er, die verschiedenen geistigen

79) a. a. 0. § 72.

80) a. a. 0. §2. Since active power make so great a pari ofour complexe ideas of natural substances and I mentton them as such, according to common appre- hension; yet they beiny not perhaps so truly active powers as our hasty thoughts are apt to represent them, u. s. w.

84) a. a. 0. § 6. The ordinary way of speaking is, that the understanding and will are two faculties of the mind, a word proper enough, ifit be used, as all words should be, so as not to breed any confusion in men*s thoughts, by being supposed {as I suspect it hos been) to stand for some real beings in the soul that performed those actions of understanding and volition. ... I suspect that this way of speaking of faculties had misled many into a confused notion of so many distinct agents in us, which had their several provinces and authorities and did command, obey and per form several actions, and so many distinct beings; which hos been no small occasion of wrangling, obscurity and un- certainty in questions relating to them. § 17. If i t be reasonable to suppose and talk of faculties, as distinct beings that can act, 'tis fit that we should make a speaking faculty and a Walking faculty and a dancing faculty, ... as well as we make the will and under- standing to be faculties. . . . And we may as properly say, 'tis the singing faculty sings arid the dancing faculty dances, as that the will choses or that the understanding con- ceives; or, as is usual, that the will direct the understanding or the understanding obeys or not obeys the will, it being altogether as proper and intelligible to say, that the power of speaking direct the power of singing or the power of singing obeys or äHsobeys the power of speaking.

Abhindl. d. K. S. Gef. d. Wiss. X. 40

144 G. Hartenstein, [34

Th&tigkeiten auf den Begriff verschiedener Vermögen zurückzuführen, fördert die Erkenntniss unseres geistigen Wesens so wenig, als die Vor- aussetzung verschiedener Vermögen des Körpers die des Körpers. Der Magen verdaut, also hat er ein Verdauungsvermögen ; der Körper schei- det gewisse Stoffe aus, also hat er ein Ausscheidungsvermögen; der Geist erkennt, also hat er ein Erkenntnisvermögen; er wählt und be- schließt, also hat er ein Willens vermögen. Locke sieht sehr wohl, dass alle diese Redeweisen dem« was factisch geschieht, die Vorstellung der Möglichkeit dieses Geschehens vorschieben und damit nichts besagen, als was sich von selbst versteht, ohne den geringsten Aufschluss über den Hergang der gegebenen Veränderung zu enthalten.82)

Dass er dies einsieht und doch nicht auf den Gebrauch des Ver- mögensbegriffs ganz und gar Verzicht leistet oder einen Versuch macht, einen besseren Begriff an seine Stelle zu setzen, ist nicht blos eine Folge seiner Bereitwilligkeit, sich dem hergebrachten Sprachgebrauche anzu- bequemen, sondern es liegt darin in diesem Falle eben so, wie in andern gleich wichtigen, ein charakteristisches Merkmal einer gewissen Genüg- samkeit, die sich bescheidet, den einmal vorhandenen Gedankenkreis einer berichtigenden Umbildung nicht unterwerfen zu können. Dazu kommt, dass diese Kritik des Vermögensbegriffs bei ihm nicht in einer allgemeinen Untersuchung ober den Begriff der Causalität wurzelt, son- dern ihm mehr gelegentlich bei der Erörterung Über die Freiheit des Willens zuwächst; eine Erörterung, welche, so interessant sie ist und so sehr sie zu einer Vergleichung mit der Leibniz'schen und Kant'schen Lehre von der Freiheit auffordert, doch dem Zwecke dieser Abhandlung so fern liegt, dass sie hier übergangen werden muss.

Die Erörterungen Locke's über den Begriff der Substanz, der Cau-

82) a. a. 0. § 20. Nor do i deny, that those tuords (power, faculty etc.) are to have their place in the common use of language that have them made current. lt looks like to muck affectation wholly to lay them by, and philosophy itself . . . must have so much complacency, as to be clothed in the ordinary fasfuon and language. . . . But Ute fault hos been, that facuUies have been spoken of and represented, as so many distinct agents. For it being asked, what it was that digested the meat in the stomach, %t was a ready and very satisfactory answer to say ÜuU it was the digestive faculty u. 6. w. Which ways of speaking, when put into more intelligible words will, 1 thimk, amount to thus much: that digestion is performed by something that is able to digest, motion by some- thing able to move, and understanding by something able to understand. And in thruth it WQuld.be very stränge, ifit should be otherwise.

35] Locke's Lehre von obii menschl. Ebkenmniss u. s. w. 1 45

salit&t, der Kraft und des Vermögens machen den Erkenntnisswertb der- selben im Grunde nicht abhängig von der Nachweisung der Art, wie wir nach seiner Ansicht zu ihnen gelangen. Wir denken zu der Mannigfal- tigkeit der Merkmale eines Dings die Einheit des Dings selbst hinzu, wir setzen den Veränderungen der Dinge Ursachen, Kräfte und Vermö- gen voraus , nach Locke's Lehre dazu veranlasst durch die Thatsachen der inneren und äusseren Erfahrung; aber nicht der empirische Ursprung dieser Vorstellungsarten ist es, was ihn misstrauisch macht gegen die Befriedigung, welche sie der Schulmetaphysik gewährt hatten ; sondern dass ßie den unmittelbaren Inhalt der Wahrnehmung Überschreiten und gleichwohl keinen Ausschluss über das darbieten , worüber sie uns w belehren vorgeben , dass sie , statt ein positives Wissen zu enthalten, uns vielmehr lediglich eine Grenze und eine Lücke desselben erblicken lassen , daran nimmt Locke's nüchterner Untersuchungsgeist Anstoss. Dass der Begriff des Dings und seiner Eigenschaften, der allerdings dadurch nicht tiefsinniger wird, dass man diese Worte in die lateinischen Substanz und Accidenz übersetzt. nicht die mindeste Belehrung dar- über enthält, weder was das Ding ist, noch wie die gleichzeitigen oder successiven Merkmale zu ihm kommen und umgekehrt, dass der Begriff der Ursache die Art und Weise gänzlich unbestimmt lässt, wie die Dinge auf einander wirken und von einander leiden, diese kritische Reflexion ist für Locke der Sache nach von dem empirischen Ursprung dieser Be- griffe ganz unabhängig und man darf wohl sagen, dass sie für ihn das- selbe Gewicht gehabt haben würden , wenn er jene Vorstellungsarten für angeboren zu erklären sich genöthigt gefunden hätte.

Nicht ganz in derselben Richtung verlaufen seine Erörterungen über Raum und Zeit. Beide erklärt er für einfache Vorstellungen, weil, ob- wohl Theile des Raums und der Zeit unterschieden werden können, doch in dem Inhalte der Vorstellung von Raum und Zeit keine Mehrheit verschiedenartiger Vorstellungen unterschieden werden kann;88) alle Vorstellungen , die unter den allgemeinen Begriff des Raumes und der Zeit fallen, sind einfache modi derselben. Ueber den Ursprung der Vor-

83) Vgl. die oben Anm. 31 angeführte Anmerkung zu B. II, eh. XV, § 8 und dazu noch folgende Worte : So that, if the idea of extension eonsists in havmg parte$ extra partes (as the school speaks), 'tis always a simple idea, because the idea of having partes extra partes catmot be resolved into two other ideas.

40*

146 G. Hartenstein, [36

Stellung des Raums begnügt er sich mit der einfachen Bemerkung, dass wir sie durch Gesichts- und Tastempfindungen erhallen.84) Da die Aus- dehnung und Solidität für ihn zu den wirklichen Eigenschaften der Körper gehört, so macht ihm die Frage, wie wir durch Gesichts- und Tastempfindungen räumliche Vorstellungen gewinnen, nicht die geringste Sorge; viel wichtiger ist es ihm, die Modificationen nachzuweisen, denen die Vorstellung des Raums zugänglich ist und zu zeigen , dass die Vor- stellung des Raums mit der der Körperlichkeit nicht identisch ist und die Cartesianische Schule kein Recht hat, beide gleichzusetzen. Selbst die in psychologischer Beziehung geradezu entscheidende Frage, ob die bestimmten und individuellen räumlichen Auffassungen die Grundlage für die allgemeine Vorstellung des Raums, oder diese die Grundlage für jene darbieten , erörtert er nicht ausdrücklich ; seiner ganzen Denkart nach hätte er sich für das erstere entscheiden müssen und doch behan- delt er den Raum durchaus als das allen besonderen Raumbestimmungen zu Grunde Liegende. Jede bestimmte Entfernung ist eine Modification des Raums und jede Vorstellung derselben ein einfacher modus der Vor- stellung von Raum. Die Möglichkeit, bestimmte Entfernungen so oft zu wiederholen als man will, gibt uns die Vorstellung der Unermesslichkeit des Raums ; die Möglichkeit, die allgemeine Vorstellung des Raums ent- weder durch wirklich wahrgenommene , oder durch beliebig angenom- mene Verhältnisse der Grenzen gewisser Theile desselben zu bestimmen, führt auf den Begriff der Gestalt und zu der Möglichkeit, sich eine end- lose Mannigfaltigkeit von Gestalten zu denken.85) Die Vorstellung des bestimmten Verhältnisses zwischen zwei oder mehreren Punkten im Räume, die man unter einander als ruhend betrachtet, bezeichnet der Begriff des Orts oder der Stelle, und Locke hebt hervor, dass, obgleich die gewöhnliche Auffassung den Dingen ihren Ort nur mit Rücksicht auf den zunächstliegenden Raum anweise, doch der Begriff des Orts eigentlich ganz relativ ist; das Universum ist nirgendwo, weil ausser ihm nichts ist, in Beziehung worauf ihm sein Ort angewiesen werden

84) B. II, eh. XIII, § 2. Wenn er dabei auf B. II, eh. IV zurück verweist., so hatte er dort von der Solidität als einer Eigenschaft des Körpers gesprochen , um die Cartesianische Gleichsetzung zwischen Raum und Körperlichkeit abzuweisen. Darauf kommt er auch hier § 25 wieder zurück.

85) a. a. 0. § 3—6.

37] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s.w. 147

könnte.86) So ist der Raum mit seinen drei Dimensionen, der Continuitat und der Unbeweglichkeit seiner Theile 87) für den Menschen ein durch den Gesichts- und Tastsinn Gegebenes; an welches sich durch die Mög- lichkeit der Wiederholung vorgestellter Raumgrössen die Vorstellung der Unermesslichkeit anknüpft; aber was der Raum an sich sei, erfahren wir dadurch nicht im Geringsten; Locke begnügt sich in dieser Bezie- hung zu sagen, er werde auf die Frage, was der Raum sei, ob eine Substanz oder ein Accidenz, antworten« sobald jemand im Stande sei zu sagen, was Ausdehnung und was eine Substanz sei oder woher man wisse, dass nur unausgedehnte Wesen denken und ausgedehnte Wesen nicht denken können.88)

Etwas tiefer geht die Erörterung über die Vorstellung der Zeit, wenigstens hebt sie einen Gesichtspunkt hervor, der in psychologischer Beziehung fruchtbar ist. Locke legt das wesentliche Gewicht darauf, dass die Vorstellung des Zeitlichen gebunden ist an die Reflexion auf die Succession unserer eigenen Vorstellungen. Wen Anschauungen oder Gedanken dergestalt beschäftigen, dass er auf deren Succession nicht reflectirt, für den entsteht die Vorstellung der Dauer eben so wenig, als sie der Schlafende während eines traumlosen Schlafs hat. Erst die Auf- merksamkeit auf die Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen gibt uns die Vorstellung der Succession und wir nennen Dauer die Entfernung zwi- schen bestimmten Theilen dieser Aufeinanderfolge.88) Ist einmal diese Vorstellung gewisser Zeitdistanzen entstanden, so ist es möglich, sie auf

86) a. a. 0. § 7 10. § 4 0. That our idea of place is nothing eise but a rela- tive posüion of a thing, I think is piain. . . . To say that the world is somewhere, tneans no tnore than that it does exist; this, though a phrase borrowed from place, signify only its existence, not location.

87) a.a.O. §43. 44. The parts of pure space are immoveable, which follows from thevr inseparability, motion being nothing but change of distance between two thing s.

88) a. a. 0. § 15 17.

89) a. a. 0. eh. XIV, § 3. Reßection on these appearances of several ideas one after another in our minds is that which furnished us urith the idea of succession, and the distance between any parts of that succession or between the appearance of any two ideas in our minds is that we call duration. For . . whilst we reeeive successively several ideas, we Jcnow that we do exist, and so we call the exislence or the continuation of the eocistence of ourselves or any thing eise, commensurate to the succession of our ideas, the duration of ourselves or any thing coexistent with our thinking. Locke lasst hier den Begriff der Distanz in der Zeit und der Dauer in der gemeinsamen Bezeichnung duration in einan- der fliessen.

1 48 G. Hartenstein, [38

Dinge und Ereignisse zu übertragen, welche uns nicht unmittelbar ein Bewusstsein der Aufeinanderfolge von Vorstellungen gegeben haben, eben so wie wir raumliche Vorstellungen auf Dinge übertragen, die wir nicht gesehen und getastet haben;00) aber der Anknüpfungspunkt für unsere Vorstellung bleibt die Succession unserer Vorstellungen und die der räumlichen Bewegung eben nur insofern, als sie uns eine bestimmte Aufeinanderfolge von Vorstellungen aufdringt.01) Für diese Aufeinander- folge, bemerkt Locke, scheine es ein gewisses Maass der Geschwindig- keit zu geben , wenn die Vorstellungen unterscheidbar bleiben sollen ; dieses Maximum der Geschwindigkeit, also das Minimum der Dauer, während welcher nur eine Vorstellung ohne Succession wahrgenom- men werden kann , ist der Moment.02) Wollen wir nun die Dauer mes- sen, Zeitdistanzen bestimmen, so ist das nicht so unmittelbar möglich wie bei Raumgrössen ; den Raum messen wir, indem wir beliebig ange- nommene Theile des Raums mit andern Raumgrössen vergleichen; eine solche unmittelbare Vergleichung der immerfort verschwindenden Zeitdistanzen ist nicht möglich, sie wird aber mittelbar möglich, wenn Grund zu der Voraussetzung vorhanden ist, dass irgend etwas eine Zeit- strecke in periodischer Wiederkehr in gleiche Theile (heilt.03) Jedes in

90) a. a. 0. § 5.

94) a. a. 0. § 6. If any one should think we did rather get {the notion of succes- sion) from our Observation of motion by our senses, he will perhaps be of my tnind, when he considers, that even motion produces in his mind an idea of succession , no otherwise then as it produces there a conünued train of distinguishable ideas. § 4 6. It is not the motion but the constant train of ideas in our minds, . that furnishes us with the idea of duration; whereof motion no otherwise gives us any perception, than as it causes in our minds a constant train of ideas,

92) a. a. 0. § 9. There seem to be certain bounds to the quickness or slowness of the succession of those ideas one to another, beyond which they can neither delay nor hasten, § 1 0. The reason I have for this odd conjecture is from observing, that in the Impression made upon any of our senses we can but to a certain degree perceive any suc- cession, which if exceeding quick, the sense of succession is lost . . . Such a part of dura- tion, wherein we perceive no succession is that we may call an instant, and is that which takes up the time of only one idea in our minds, without the succession of another, whe- rein therefore we perceive no succession at all.

93) a. a. 0. §H. 4 8. Nothing being a measure of duration but duration , as nothing is of extension but extension, we cannot keep by us any standmg, unvarymg mea- sure of duration, which consists in a constant fleeting succession, as we can of certain lengths of extension . . . Nothing then could serve well for a convenient measure of Hmet but what hos divided the whole length of üs duration into apparently equal portions by constantly repeated periods. Beispiele dazu § 10.

39] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkbnntniss u. s. w. 1 49

scheinbar gleichen Perioden wiederkehrende Ereigniss kann daher zum Maass der Dauer benutzt werden, und wenn dazu vorzugsweise die scheinbare tägliche und jährliche Bewegung der Sonne benutzt wird, so hat das seinen Grund eben in der Voraussetzung, dass diese Bewegun- gen gleichförmig sind; eine absolute Gewähr für die Gleichförmigkeit dieses Maasses gibt es nicht.84) Wenigstens ist es nicht richtig die Zeit als das Maass der Bewegung zu definiren : um die letztere zu messen, muss der Raum nicht weniger in Betracht gezogen werden, als die Zeit, und die Bewegung, welche in Verbindung mit dem Räume das Maass der Zeit ist , kann nur dadurch zum Maasse der Zeit benutzt werden , dass sie eine constante Folge von Vorstellungen darbietet in Perioden , die gleich weit von einander entfernt zu sein scheinen.05)

Während die Vorstellung des Räumlichen an die Auffassung äusse- rer Objecto, die des Zeitlichen an die Reflexion auf die Succession der Vorstellungen selbst gebunden ist, entsteht der Begriff der Zahl aus der Wiederholung und Zusammenfassung der Vorstellung der Einheit , die uns eigentlich Alles, was innerlich und äusserlich wahrgenommen wird, darbietet. Die Vorstellungen der Zahlen verbinden daher mit der gross- ten Einfachheit ihres Elements und der Möglichkeit einer vollkommen genauen Unterscheidung der einzelnen Zahlgrössen die grösste Allge- meinheit ihrer Anwendung. Die Bestimmtheit der Bezeichnung jedes einzelnen Glieds der Zahlenreihe macht es einerseits möglich durch sie alle anderen Grössen zu messen,96) und die unbegrenzte Möglichkeit des Fortschritts in der Zahlenreibe ist andererseits eigentlich das, was wir unter der Unendlichkeit des Raums und der Zeit verstehen.97)

Somit knüpft sich die Vorstellung der Unendlichkeit gleicbmäs- sig an Raum, Zeit und Zahl. Endlichkeit und Unendlichkeit sind modi der Quantität und können nur dem beigelegt werden , was Theile hat und durch Hinzufügung und Wegnahme derselben der Vermehrung und

94) a. a. 0. § 19. 24.

95) a. a. 0. § 12.

96) a. a. 0. eh. XVI, § 4 4.

97) a. a. 0. § 8. The mind makes use of number tu measurütg things, that by im are tneasurable, which prineipaUy are expansUm and duraäon, and our idea of tn- fSnüy, even toben applied to tkose, seems to be nothing but ihewfimty of number . . . Thü endlest addUkm or addibikty of numbers it that, I tftink, which gwes us the cUarest and most distinet idea of m/fntty.

150 G. Hartenstein, [40

Verminderung zugänglich ist; daher sind diese Begriffe da nicht an- wendbar, wo ein Vorgestelltes einer Vermehrung durch hinzugedachte Theile nicht zugänglich ist; es gibt Grade des Weissen und Süssen, aber kein unendliches Weiss und Süss.08) Der Ursprung dieser von allem Verkehr mit dem, was in den Bereich unserer Erfahrung fällt, scheinbar so entfernten Vorstellung liegt aber nirgends anders als in der unbe- schränkten Möglichkeit, bestimmte Räume und Zeiten mit Hülfe der ebenfalls an keine bestimmte Grenze gebundenen Zahlenreihe ohne Ende zu wiederholen.90) Der Begriff der Unendlichkeit ist daher ein negativer, nämlich der eines möglichen endlosen Fortschritts; die Meinung, dass er ein positiver Begriff sei, beruht auf der falschen Ansicht, als ob das Ende eine Verneinung, also die Verneinung desselben eine Bejahung sei, während vielmehr das im Begriff des Unendlichen verneinte Ende das letzte positive Glied der durchlaufenen Reihe ist; was an dem Be- griff des Unendlichen positiv ist, bezieht sich auf die durchlaufenen Theile der Reihe, nicht auf die noch zu durchlaufenden.100) Es sei daher wohl möglich, die Unendlichkeit des Raums, der Zeit, der Zahl d. h. die Möglichkeit eines Fortschritts ohne Ende, aber nicht, einen unendlichen Raum, eine unendliche Zeit, eine unendliche Zahl vorzustellen ; denn das hiesse behaupten, dass eine Reihe, in deren Begriff es liegt nicht durch- laufen werden zu können, wirklich durchlaufen sei.101) Dasselbe gilt von

98) a. a. 0. cb. XVII, § 4 . Finite and infinite seem to me be looked upon by the mind as the modes of quantity and to be attributed in thevr first designatton only to those things, which have parts and are capable ofincrease or dminution, by the addüion or subtraction of any the least part. § 6. To the perfectest idea J have of the whitest white- ness, if 1 add another of a less or equal whiteness (and of a whiter than 1 have I cannot add the idea), it makes no increase; . . . and therefore the different ideas of whiteness are called degrees. . . If you take the idea of white, which one parcel of snow yielded yester- day to your sight, and an another idea of white from another parcel of snow you see to- day, ... they embody, as it were, and run into one, and the idea of white is not at all increased.

99) a. a. 0. § 3 fgg. § 8. The idea of infinity consists in a supposed endless pro- gression.

100) a. a. O. §43—15.

101) a. a. O. § 7. / thüxk it is not an insignificant subtility, if 1 say, that we are carefully to distinguish between the idea of the infinity of space, and the idea of a space infinite. The first is nothing but a supposed endless progression of the mind; ... but to have actuaUy the idea of space infinite, is to suppose the mind already passed over, and actually to have a view of all those repeated ideas of space, which an endless repetäion can never totally represent to it; which carries in it a piain contradiction.

41] Locke's Lehru von der menschl. Erkknntniss u. s. w. 151

der Vorstellung des unendlich Kleinen ; wobei er zum Schlüsse bemerkt, dass vielleicht die Mathematik den Begriff des Unendlichen auf eine an- dere Weise ableiten könne; dies hindere indessen nicht, dass der Ma- thematiker ursprünglich diese Vorstellung auf dieselbe Weise erworben habe, wie die übrigen Menschen.102) Es braucht kaum hinzugefügt zu werden , dass Locke durch diese Bestimmung des Begriffs des Unend- lichen alle Speculationen , die auf den positiven Begriff eines wirklich existirenden Unendlichen irgend eine wissenschaftliche Deduction zu gründen unternehmen, stillschweigend abweist.

Wahrend die bisherigen Erörterungen sich auf Begriffe bezogen, deren Bedeutung und Anwendung zwar nicht ausschliessend, aber vor- zugsweise an die Auffassung der äussern Erfahrung gebunden ist oder sich wenigstens gleichmassig auf die äussere und innere Erfahrung er- streckt, unterwirft Locke noch einen Begriff, nämlich den der Identität und Verschiedenheit einer Untersuchung, deren Hauptgewicht auf eine Thatsache der innern Erfahrung feilt, nämlich auf die Identität, welche jeder sich selbst, seiner eigenen Persönlichkeit zuschreibt; eine Erör- terung, von welcher gesagt werden muss, dass sie der erste Versuch ist, die Bedeutung dieser Thatsache festzustellen und dadurch wenig- stens den Anknüpfungspunkt einer möglichen Untersuchung des Selbst- bewusstseins zu gewinnen.

Locke geht dabei von der Bemerkung aus , dass der Begriff der Identität d. h. die Vorstellung, dass etwas dasselbe Ding sei, nicht auf die Persönlichkeit beschrankt ist, sondern sich zunächst auf äussere Dinge bezieht, so oft wir dieselben bei wiederholter Auffassung für die- selben erklären. Diese Erklärung gründet sich darauf, dass wir ein Ding an einer bestimmten Stelle zu einer bestimmten Zeit wahrnehmen; die Vorstellung der Identität beruht auf der vollkommenen Gleichheit unse- rer Vorstellungen von dem Dinge im Moment der jetzigen und der frü- heren Auffassung. Dabei fügt er aber doch hinzu , dass der Zuversicht der Annahme, ein Ding sei dasselbe, die Voraussetzung zu Grunde liege, es sei unmöglich, dass zwei Dinge derselben Art gleichzeitig an dem-

102) a. a. 0. §12. §22. Some mathemaiicians perhaps of advanced speculations may have other ways to introduce into their minds ideas of infinity ; but thitt hindert not but they themselves, as well, as all other men, got the first ideas which they had of in- finity ... in the method tue have here sei down.

152 G. Hartenstein, [*2

selben Orte ex i stiren.105) Das sogenannte Princip der Individuation ist nichts Anderes, als dieses individuell bestimmte Dasein selbst, welches jedes Ding an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort bindet, die es mit einem andern derselben Art nicht theilen kann.104)

Handelt es sich um die Feststellung der Art und Weise, in welcher die gewöhnliche Auffassung von einer Identität der Dinge spricht , so sind diese Bestimmungen gewiss zu eng; auch entgeht es Locke'n nicht, dass der von ihm geltend gemachte Haltepunkt der Vorstellung der Iden- tität da nicht vorhanden ist, wo ein Ding in einer Reihe von Veränder- ungen für dasselbe gehalten wird.105) Er gesteht daher zu, ein unbeleb- ter Körper sei streng genommen nur so lange derselbe, als die seine Masse constituirenden Theile dieselben sind; bei belebten Körpern, Pflanzen und Thieren, fahren wip aber trotz des Stoffwechsels und der Massenveränderung fort sie für dieselben Dinge zu erklären, indem wir uns dabei an die Einheit des organischen Lebens halten.106) Handelt es sich in ähnlicher Weise um den Grund, aus welchem wir einen bestimm- ten Menschen für denselben halten, so ist nicht die Einheit der Substanz,

4 03) B. II, eh. XXVII, § 4. When we see any thing to bee in any place in any instant of Urne, we are sure, that it is that very thing and not another . . and in tkis con- sists identity, when the ideas attributed to, vary not at all from what they were that mo- ment wherein we consider thetr former existence, and to wkich we compare the present; for we never finding , nor coneeiving it possible, that two things of the same kind should exist in the same place at te same Urne, whe rightly conclude, that whatever exists any where at any time , exeludes all of the same kind and is there itself ahne. When there- fore we demand, whether any thing be the same or no, it refers always to something that ewisted such a time in such a place, .... from whence it follows, that one thing cannot haue two beginnings of existence, nor two things one beginning.

4 04) a. a. 0. § 3. From what hos been said, it is easy to discover, what is so much enquired after, the prineipium individuationis and that is piain the existence itself, which determmes a being of any sort to a particular time and place , incommuni- cable to two beings of the same kind.

405) a. a. 0. § 2. Only as to things whose existence is in succession, such as are the actions of finite beings v. g. motions and thoughts, . . . concerning their diversity there can be no question; because each perishmg the moment it begins, they cannot exist in different times or in different places , as permanent beings can at different times exist in distant places.

4 06) a. a. O. § 3. 4. That being one plant, which hos such an Organisation of parts in one eoherent body, partaking of one common life, it oonünues to be the same plant as long as it partakes of the same Ufeu. s. w. § 5. The case is not so much diffe- rent in brutes u. s. w.

43] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 153

sondern die Einheit der Lebensfunctionen , wie sie sich in der ganzen äusseren Erscheinung des Menschen zn erkennen gibt, das, woran wir die Vorstellung seiner Identität anknüpfen ; Niemand würde einen Papa- gey , und wenn er noch so vernünftig spräche , für einen Menschen er- klären, und der einfältigste Mensch gilt immer noch für einen Menschen, wenn er so aussieht.107)

Hiervon ganz verschieden ist aber die Frage nach der Einheit der Persönlichkeit, und hier macht nun Locke mit voller Entschieden- heit den Salz geltend, dass die empirische Auffassung unserer selbst uns keinen andern Haltepunkt für die Einheit der Person darbietet , als die Einheit und den continuirlichen Zusammenbang des Bewusstseins dessen , was wir in uns selbst als Ereigniss oder Tbätigkeit wahrneh- men, also die Einheit des Selbstbewusstseins. Dieses Selbstbewusst- sein dehnt sich zum Theil über Theile und Zustande des Körpers aus, ohne an sie abschliessend oder vorzugsweise gebunden zu sein; es greift rückwärts in die Vergangenheit, und obwohl bei weitem nicht alle unsere Vorstellungsacte den Gedanken an das eigene Ich einschliessen und viele Bestimmungen des Ich im Laufe der Zeit ihm wieder ver- schwinden, so findet es doch, so oft es den Zusammenhang seines jetzi- gen Vorstellens mit seinem früheren Vorstellen und Handeln wieder an- knüpfen kann, in dieser Einheit des Bewusstseins sich selbst; und die Einheit des Ich ist nichts Anderes als eben diese Einheit des Bewusst- seins.10") Die Einheit des Ich entscheidet also nichts über die Einheit

1 07) a. a. 0. § 6. 7. 8. Whatever is talked of other deftnitions , ingenious Obser- vation puts it past doubt , that the idea in our minds , of tvhich the sound man in our mouths is the sign , is nothing eise but an animal of such a certain form : since I think it may be confident, that tchoever should see a creature of his otvn shape and make, though it had no more reason all its life than a cat or a parrot, tcould call him still a man ; or whoever should hear a cat or a parrot discourse, reason and philosophize, xoould call or think it nothing but a cat or a parrot.

i 08) a. a. 0. § 9. To find wherein personal identity consists, we must consider what person Stands for; tchich I think is a thinlcing intelligent being, that has reason and reflection and can consider itself as itself, the satne thmking thing in different times and places; which it does only by that consciousness, tchich is inseparable from thinkmg and, as it seems to me, essential to it. . . . By this every one is to himself that which he call seif, it not being considered in this caset whether the satne seif be continued in the same or divers substances. For since consciousness ahoays accompanies thmking and 'tis that that makes every one to be what he calls Seif, . . . in this aione consists personal identity . . . and as far as this consciousness can be extendcd backwards to any past action or

1 54 G. Hartenstein, [4*

der ihm zu Grunde liegenden Substanz, ja die Frage nach der Einheit des erstereo geht nicht einmal als Frage auf die Einheit der letz leren.1*) Um dies klar zu machen, wirft Locke zwei Fragen auf: \) könnte, wenn die denkende Substanz eine andere würde, die Persönlichkeit dieselbe bleiben und 2) könnte , wenn die Substanz dieselbe bleibt, die Persön- lichkeit sich ändern? mit andern Worten: ist die Einheit des Selbstbe- wusstseins in einer Mehrheit von Substanzen, und ist in einer und der- selben Substanz eine Vervielfältigung der selbstbewussten Persönlich- keit denkbar? Beide Fragen, bemerkt er, haben zuvörderst für diejenigen keine Bedeutung, welche die psychischen Vorgänge lediglich als Functio- nen des animalischen Lebens betrachten, die an die materiellen Bestand- teile des Leibes gebunden sind. Denn diese denken die Einheit des Ich nothwendig als unabhängig von der Einheil der Substanz, gerade so wie die Einheit des Thiers nur die Einheit der Lebenstuncüonen dieses bestimmten Organismus ist. Dieser Ansicht gegenüber hallen die, wel- che von der Einheit des Ich auf die Einheit der immateriellen Substanz schlicssen, zu zeigen, warum die Identität des Ich mit einer Vielheit oder einem Wechsel der ihm zu Grunde liegenden immateriellen Sub- stanz nicht vereinbar sei, und Locke ist im voraus geneigt anzunehmen, dass dies nicht mit zwingender Noth wendigkeit werde nachgewiesen werden können.110) Denn was die erste Frage anlangt, ob bei einem Wechsel der Substanz die Identität des persönlichen Bewusstseins be- harren könne, so mllsste sie bejaht werden, wenn es möglich wäre, das gesammte Bewusstsein aus der einen Substanz in die andere zu ver- setzen. Wäre das Selbstbewußtsein ein einiger und untheilbarer Act, so wäre das allerdings nicht möglich ; aber das wirkliche Selbslbewussl- «Ain ist Lajh solcher untheilbarer Act, sondern es ist immer die gegen- Di-stellung früherer Thatigkeiten; und die Identität des Selbst- los bei einem Wechsel der Substanz wäre nicht undenkbar.

rar reaches the iäenUty of that person. üeber die Beziehung desSelbst-

s auf die Zustande und Tbeile des Leibes vgl. § 17. 18.

i. a. 0. g 1 0. The question being, what makes the same person and not whe-

■e tarne identical substance, tchich always thinks m the saune person It

me eonsciousnest that mattet a man be himtelf to himsclf, personal identity '.hat oniy, whether ü be anntxed anly to one individual tubstance, or can be a tuccetsion of several tubttancts. i. a. 0. § IS.

45] Locke's Lehre von der meksciil. Erkenntmiss u. s. w. 155

wenn die Erlebnisse und Thätigkeiten der ersten Substanz von einer zweiten als in ihr früher geschehen vorgestellt werden könnten, obgleich dies nicht der Fall gewesen wäre , wie wir z. B. im Traume Dinge als wirklich vorstellen , die nicht wirklich sind noch waren. Will man also den Wechsel der Substanz für unvereinbar erklaren mit der Identität des persönlichen Bewusstseins, so hat man zu beweisen, dass die angeführte Bedingung der Möglichkeit des Gegentheiis nicht eintreten kann; so lange wir aber die Natur und die Wirkungsart denkender Substanzen nicht genauer kennen, als dies der Fall ist, lässt sich dieser Beweis nicht füh- ren; wohl aber lässt sieb behaupten, dass, wenn das Gesammtbewusst- sein der einen Substanz in eine andere übertragen werden könnte, dann die Identität der Persönlichkeit trotz der Verschiedenheit der Substanz ungeschmälert bleiben würde.111)

Die andere Frage, ob in einer und derselben Substanz eine doppelte oder überhaupt eine verschiedene Persönlichkeit würde entstehen kön- nen, enthält nichts Unmögliches, sobald man den Fall für möglich hält, dass der gesammte Inhalt des Bewusstseins dergestalt verloren geht, dass aus einem späteren Bewusstsein keinerlei Verbindungsglieder in das frühere zurückreichen. Die, welche eine Präexistenz der Seele und Seelenwanderung annehmen , nehmen eigentlich diese Möglichkeit an ; aber wie man auch diese Frage beantworte, es wird dadurch nichts an der Thatsache geändert, dass die Identität der Persönlichkeit lediglich in dem continuirlichen Zusammenhange des Bewusstseins besteht.112) Auf dieser Continuität des empirischen Bewusstseins, setzt er hinzu, und (muss man in seinem Sinne hinzufügen) nicht auf der indetermini- stischen Willensfreiheit, beruht die Zurechnung unserer Handlungen zu uns selbst sammt dem Rechte, Strafen und Belobnungen zuzufügen.119)

Locke bemerkt am Schlüsse dieser Erörterung über das Ich, die von ihm aufgeworfenen Fragen sammt deren hypothetischer Beantwor-

Hl) a. a. 0. §13.

HS) a. a. 0. § 4 4. §47. Seif is that conscious thmking thing (whatever sub- stance tnade up of, wheter sptritual or material, simple or compounded, it matters not) tohich is sensible, or conscious ofpleasure and pam, capable of happmess and misery and so is concerned for it seif, as faras that consciousness extends. Dass die Einheit der Substanz ohne die Continuität des Bewusstseins keine Persönlichkeit einschliesst, fahrt er weitlSoftig aus § *3. 84.

14 3) a. a. 0. §4 8. 26.

156 G, Hartenstein, [46

tuog werden Manchem wohl fremdartig vorkommen und er gebe zu, dass wenn wir von dem Wesen der Seele etwas wttssten, dergleichen Fragen überflüssig, ja selbst absurd sein würden ; aber eben dieses Wis- sen fehle uns ; und es ist ein Beweis seines nüchternen Untersucbungs- geistes , dass er die Thatsache des Selbstbewusstseins und die empiri- schen Merkmale desselben von den Folgerungen unterscheidet, die man darauf gründen zu können geglaubt hatte.114) Das Resultat Locke's ist dasselbe, welches Kant in der Darlegung des »Paraiogismus der reinen Vernunft« ausspricht, dass nämlich die Einheit des Ich nichts entschei- det über das Wesen der dein Selbstbewusstsein vorausgesetzten Sub- stanz. An einen Versuch, die Thatsache der Icbheit irgendwie zu erklaren, denkt keiner von beiden Denkern ; aber die Analyse, welcher Locke den Begriff des Selbstbewusstseins unterwirft, hat vor der einfachen Aner- kennung der psychischen Thatsache bei Kant den Vorzug, dass sie auf die Beziehungen zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Gesa mm t- inhalt des Bewusstseins wenigstens in allgemeinen Umrissen hinweist.

IV.

Nachdem Locke die wichtigsten der Begriffe, durch welche wir die uns umgebende Welt und uns selbst auffassen, darauf hin geprüft hat, inwiefern sie eine wirkliche Erkenntniss darbieten , geht er dazu über nicht nur den wirklichen, sondern auch den möglichen Umfang des menschlichen Wissens zu bestimmen, insofern er durch die Art, wie unser Vorstellungskreis zu Stande kommt, bedingt ist. Die letzten Capi- tel des II. Buchs enthalten einige dazu nöthige Präliminarbestimmungen, indem sie Verschiedenheiten unter den Vorstellungen und Begriffen her- vorheben, die entweder in der Art, wie sie selbst gedacht werden, oder in ihrer Beziehung auf die Objecte der Erkenntniss sich zu erkennen geben. In der ersteren Beziehung sind die Vorstellungen entweder klar und deutlich , oder dunkel und verworren , in der letzteren bezeichnen

4(4) a. a. 0. § 11. § 25 erklärt es Locke für die wahrscheinlichere Meinung, dass das Selbstbewusstsein an eine immaterielle Substanz gebunden sei; aber über den Mangel des Wissens darüber spricht er sich B. IV, eh. Ol, § 6 eben so entschieden als bescheiden aus. Seine skeptische Behandlung der Frage, ob ein mate- rielles Wesen vorstellen und denken könne, hat ihren Grund lediglich hierin.

47] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. \v. 157

sie eioerseits entweder wirkliebe Dinge oder Einbildungen , andrerseits entsieht im Zusammenhange damit die Frage nach ihrer Wahrheit oder Falschheit.

Eine einfache Vorstellung ist klar, wenn sie der Art, wie das Ob- jeet sich darstellt oder für eine wohlgeordnete Auffassung darstellen würde, entsprechen. Die Klarheit zusammengesetzter Vorstellungen be- steht in der Klarheit der einfachen in ihr verknüpften Vorstellungen.115) Die Deutlichkeit einer Vorstellung oder eines Vorstellungscomplexes be- steht in der Möglichkeit ihn von jeder andern Vorstellung zu unterschei- den.116) Deutlichkeit und Verworrenheit sind gebunden an die Beziehung einer Vorstellung auf andere Vorstellungen;117) bei zusammengesetzten Vorstellungen sind es die sie bildenden Theilvorstellungen , von deren vergleichender Unterscheidung die Deutlichkeit abhängt. m) Aber Deut- lichkeit und Verworrenheit ist zugleich wesentlich an die Sprache ge- bunden; denn da jede Vorstellung für jeden, der sie denkt, gerade das bezeichnet, was er dabei denkt, und also für ihn von jeder andern Vor- stellung hinreichend unterschieden ist, so würde es gar keine verworre- nen Vorstellungen geben , wenn nicht die schon vorhandene Verschie- denheit der Worte und Benennungen der Dinge die Voraussetzung ein- schlösse, dass verschieden benannte Arten der Dinge auch verschieden seien; eine Vorstellung ist dann verworren, wenn sie als Vorstellung einer bestimmten Art von Dingen eben so gut die Bezeichnung durch die Benennung einer andern Art von Dingen gestattet; ohne diese Be- ziehung auf diese in der Sprache schon festgestellten Zeichen der Dinge (oder der ihrer Verschiedenheit entsprechenden Vorstellungscomplexe) würde es wenigstens schwer sein zu sagen, was eine verworrene Vor-

4 4 5) B. II, cb. XXIX, § 8. Our simple ideas are clear, when they are such, as the objecto themselves, from whence they were taken, did or might, in a weü-ordered Sensation or percepUon, present them. So far as they either want any thmg of that origi- nal exaetness or have lost any of their first freshness, .,. so fear are they obscure. Complexe ideas, as they are made up of simple ones, so they are clear, when the ideas that go to their compositum are clear.

4 4 6) a. a. 0. § 4. A distinet idea is that wherein the mind pereewes a difference from all other; and a confused idea is such anone, as is not suffidently distinguishable from another, from which it ought to be different.

4 4 7) a. a. 0. §44. Confusion mahmg a difficully to separate two things that should be separatedy concerns always two ideas.

448) a. a. 0. § 7. 8. 40.

4 58 G. Hartknstkin, [48

Stellung sei.119) Vorstellungen, welche klar und deutlich sind, kann man bestimmte Vorstellungen nennen; es sind solche, die, so oft sie ge- dacht werden, unveränderlich an ein bestimmtes Wort als das constante Zeichen gerade dieser Vorstellung und dieses Vorstellungscomplexes gebunden sind.120)

Vorstellungen, die in der Natur begründet sind und in der Wirk- lichkeit der Dinge ihren Beziehungspunkt oder ihr Vorbild haben, nennt Locke reelle, im Gegensatze zu phantastischen.121) Den Gebrauch, den er hier und im weiteren Verlauf des Werks von der Bezeichnung: reelle Vorstellungen im Gegensatze zu blossen Einbildungen macht, gestattet dieser Unterscheidung die Bezeichnung gültig und ungültig, freilich in einem doppelten, wesentlich verschiedenen Sinne zu substituiren , inso- fern dadurch entweder die durch innere oder äussere Erfahrung gewähr- leistete Thatsächlichkeit oder deren Mangel oder auch die blosse Wider- spruchlosigkeil eines Begriffs bezeichnet wird. Locke bedient sich dieser Bezeichnung sowohl im Sinne jener empirischen, als dieser logi- schen Gültigkeit. Er erklärt desshalb zuvörderst alle einfachen Vor- stellungen für reell, d. h. sie sind mit Ausnahme der sogenannten ersten

119) a. a. 0. § 5. Let any idea be as it will, it can be no other but such as the mind perceives it to be, and that very pereepäon sufficiently distinguishes it from all other ideas . . . No idea therefore can be undistinguishable from another. § 6. To remove the difßculty . . , we must consider that things, ranked under disiinct names, are supposed different enough to be distinguished, . . and there is nothing more evident, than that the greatest part of different names are supposed to stand for different things. Now every idea a man hos, being visible, what it is, and distinct from all other ideas but itself, that which makes it confused. is, when it is such, that it may as well be called by another t tarne y as that which it is expressed by; the difference lohich keeps the things distinct and makes some of them belong rather to the one and sotne of them to the other of those names, being left out; and so the distmctUm, which was intended to be kept up by those different names, is quite lost. Vgl. § 12.

4 20) Epistle to the Reader (p. 9) ; / have in most places chose to put determinate or determined instead of clear and distinct. This I thitik may fitly be called a deter- minate or determined idea, when such as it is at any Urne objectively in the mind and so determined there, it is annexed and without Variation determined to a name, which is to be steadily the sign of that very same object.

421) B. H, eh. XXX , § 4 . By real ideas 1 mean such as have a foundation in nature, such as have a conformity with the real being and existence of things or with thevr archetypes. Fantastical or chimerical I call such, as have no foundation in nature nor have any conformity with the reality of being, to which they are tacitly refer- red, or with their archetypes.

40] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss it. s. w. 459

Qualit&ten zwar keine Abbildungen der Qualität der Dinge, aber sie sind jederzeit der Einwirkung der Dinge auf unsere Wahrnehmung propor- tional.1*2) Er nennt aber auch alle die Vorstellungen und Begriffe reell, welche, ohne an einen äusseren Gegenstand als ihr Original gebunden zu sein, Producta einer willktthrlichen Verknüpfung von unter einander vertraglichen Vorstellungen sind. Wer den Begriff des Muths oder der Gerechtigkeit denkt, verknüpft, ohne den Anspruch ein existirendes Ding zu bezeichnen, gewisse Vorstellungen, und so lange diese unter einander verträglich sind, hat der Begriff die Bedeutung eines reellen d. h. er ist gültig; abgesehen von in sich widersprechenden Begriffen könnte bei allen derartigen Begriffen die Befürchtung einer Einbildung nur dann entstehen, wenn das sprachliche Zeichen, durch welches jemand einen solchen Begriff bezeichnet, in dem gewöhnlichen Sprachgebrauch eine andere Bedeutung hätte.128) Die Vorstellungen der Substanzen endlich (der DingeJ sind nur in so weit reell , als sie Verknüpfungen solcher Merkmale {sind , die den an den Dingen factisch vorkommenden Ver- knüpfungen der Merkmale entsprechen; Abweichungen davon sind Ein- bildungen.1*4)

Aber bei den reellen oder gültigen Vorstellungen und Begriffen fragt es sich ausserdem, ob sie adäquat oder inadäquat sind. Ad- äquat würden die Vorstellungen sein , welche dein Originale , auf wei-

nt) a. a. 0. § 2. Our simple ideas ave all real, all agree to the reality of things. Not that they are all of them the images or representations of what does exist; the con- trary whereof, in all but the primary qualities of bodies, hath been ahready shewed. But though whiteness and coldness are no more in snow than pain is, yet those ideas of tohiteness and coldness, . . being in us the effects of powers in things without us, . . they are real ideas in us , whereby tue distinguish the qualities that are really in things them- sehes, ... the reality lying in that steady correspondence they have with the distinct Con- stitution* ofreal beings. Wenn Locke die einfachen Vorstellungen bisweilen Copieen der Dinge nennt, so ihut er das nicht in dem Sinne, als wolle er dadurch eine qualita- tive Gleichheit zwischen den Dingen- und den Vorstellungen bezeichnen, sondern sie sind eben nur Copieen d. h. Wirkungen einer äusseren Ursache ohne qualitative Gleichheit des Bewirkten mit dem Wirkenden vgl. B. II, eh. XXXI, § it. 4 3.

4 13) a. a. 0. § 4. Mixed modes and relations having no other reality but what they have in the tninds of mm, there is nothing more required to those kind of ideas to make them real, but that they be so framed, that there be a possibility of existing conformable to them. These ideas themselves being archetypes, caraiot differ from their archetypes and so cannot be chtmerical, unless any one wül jumble together in them inconsistent ideas.

4*4) a. a. 0. § 5.

Abhandl. d. K. S. Ges. «f. Wim. X. 4 4

160 G. Hartenstein, [50

ches der Vorstellende sie bezieht, vollkommen entsprechen; inadäquat die, welche dieser Forderung fcum Theil nicht entsprechen.125) Einfache Vorstellungen nun sind immer adäquat, denn sie sind der vollständige Ausdruck der Wirkung der Objecte auf den Wahrnehmenden.136) Eben so sind die Vorstellungen der modi und Relationen , die aus willkür- lichen Verknüpfungen einfacher Vorstellungen entstehen, adäquat; denn da sie nicht die Dinge selbst, sondern die Gesichtspunkte und Beziehun- gen bezeichnen, deren sich das Denken bedient, um jenen mit Hülfe der Sprache ihre Stelle anzuweisen, da sie mithin kein ausser ihnen liegen- des Original haben, sondern ihre eigenen Originale sind, so kann ihnen nichts an ihrer Angemessenheit fehlen, ausser in so fern, als zu ihrer Bezeichnung Worte angewendet würden, welche in der Vorstellung anderer Personen schon eine bestimmtere Bedeutung haben.127) Die Vor* Stellungen von den Substanzen oder Drogen aber sind durchaus höchst inadäquat; in der weitläufigen Auseinandersetzung dieses Satzes wie- derholt und ergänzt Locke seine früheren Erörterungen über den äus- serst geringen Erkenntnisswerth der ganzen Art und Weise, wie wir das Verhältniss zwischen Ding und Eigenschaft aufzufassen gewohnt oder genöthigt'sind.1**)

Von der Gültigkeit und Ungültigkeit der Vorstellungen unterscheidet endlich Locke noch die Wahrheit oder Falschheit derselben. Er geht dabei von dem Satze aus, dass Wahrheit und Falschheit nicht in isolir- ten Vorstellungen, sondern in ihren Verknüpfungen und Beziehungen liege, also sich nicht auf Begriffe, sondern auf Urlheile beziehe. Eine Vorstellung an sich selbst betrachtet, insofern ihr Inhalt lediglich als im Bewusstsein gegenwärtig angesehen wird, ist weder wahr noch falsch; die Frage nach Wahrheit und Falschheit entsteht erst, wenn eine Vorstellung rücksichllich ihrer Uebereinstimmung oder Nichtüberein- stimmung mit etwas Anderem, was nicht sie selbst ist, ins Auge gefasst wird.1") Dieser Vergleichungspunkt liegt, wenn man bei den gewöhn-

4 25) B. II, eh. XXXI, §4.

4 26) q. a. 0. § 2. AU our simple ideas are adequate, because bemg nothing but the effects of certain power* in things, fitted and ordained by God to produce such Sen- sation* in us, they cannot but be eorrespondeni and adequate to those powere.

«27) a. a. 0. § 3. 4.

4 28) a. a. 0. § 6—4 4.

429) B. H, eh. XXXN, § 4 . When ideas themsehes are termed true or faise, there is still some secret or tacit proposition, which is the foundation of that denomination.

51] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntnis u. s. w. 161

Heben Fallen stehen bleibt, entweder in den Vorstellungen Anderer« so- fern sie sich durch die Sprache zu erkennen geben , oder in der that- s&chlich gegebenen Wirklichkeit der Dinge , oder in dem vorausgesetz- ten Wesen derselben.1*0) Handelt es sich um Wahrheit und Falschheit nach dem ersten Gesichtspunkte, so ist die Gefahr der letzteren bei wei- tem kleiner in Beziehung auf die Vorstellung der Dinge und ihrer Qua- litäten, die ziemlich allgemein mit Benennungen bezeichnet werden, über deren Bedeutung kein Zweifel ist, als rücksichtlich der gemischten modi.1*1) Falsch können auch nicht die willkührlicb gebildeten Begriffe sein, weil sie sich auf gar kein ausserhalb des Vorstellenden voraus- gesetztes Original beziehen. m) Rücksichtlich der Beziehung der Vor- stellungen auf die wirklichen Dinge endlich unterscheidet Locke zwischen den einfachen Vorstellungen ihrer Qualitäten und dem das Ding bezeich- nenden Gomplexe derselben. Die ersleren sind eigentlich niemals falsch, denn sie sind den Wirkungen der Dinge proportional ; ihre Wahrheit be- steht in der Regelmassigkeit der sich in ihnen darstellenden Erschei- nungen, und selbst wenn die Empfindungen des einen Menschen von denen des andern verschieden wftren und z. B. dem einen als blau er- schiene, was dem andern als gelb , so würde jeder durch das, was ihm erscheint, die Dinge mit ausreichender Sicherheil unterscheiden kön- nen.1*3) Aber die Vorstellungscomplexe, welche die Dinge bezeichnen,

§ 3 . Truth or falshood, lying always in some affirmation or negation, mental or verbat, our ideas are not capable, any of them, of being false, tili the mind passes some judtjmeiit on them, thai is affirms or denies something of them. § 4. Whenever the mmd refers any of its ideas to any thing ewtraneous to them, they are then capable to be called true or false. Vgl. § 20. 25. Locke setzt daher § 26 hinzu, es sei vielleicht zweckmässiger, ▼on Richtigkeit und Unrichtigkeit der Vorstellungen zu sprechen. All our ideas are in themsehes right; but when wecome to refer them to any thing, as to their patterns and archetypes, then they are capable of being wrong, as far as they disagree unth such archetypes.

130) a. a. 0. § 4. 5. Einen vierten Gesichtspunkt, die logische Vergleichung des Inhalts der Vorstellungen, auf die er im vierten Buche alle strenge Erkenntniss zurück- fahrt und beschränkt, übergeht er hier, wo es ihm eben nur um die Analyse des ge- wöhnlichen Gedankenkreises zu thun ist.

434) a. a. O. § 9. 1 0. 4 4. When a man is thought to have a false idea of justice, gratüude, or giory, it is for no other reason, but that his agrees not unth the ideas which each of those names are the signs ofin other men.

432) a. a. 0. § 17.

4 33) a. a.OjU. 15.

44»

1 62 G. Hartenstein, [52

können falsch sein , wenn entweder Merkmale f die die Dinge nicht ha- ben, in sie aufgenommen, oder solche, die sie haben, weggelassen wer- den, wozu noch der viel gröbere Irrlhum kommen kann, dass man blosse Einbildungen für wirkliche Dinge und die durch die sinnlich wahrnehm- baren Merkmale bestimmte Vorstellung des Dings für den Ausdruck ihres ganzlich unbekannten Wesens hält134)

V.

Während in den bisherigen Erörterungen Locke's das negative Re- sultat liegt, dass der menschliche Vorstellungskreis , wie er nun einmal ist, kein Wissen weder über das Wesen der Dinge, noch über das ihm selbst zu Grunde liegende reelle Substrat einscbiiesst, beginnt er im dritten Buche eine neue Reihe von Untersuchungen, um theils dieses ne- gative Resultat weiter zu begründen , theils das Gebiet zu bestimmen, innerhalb dessen für den Menschen ein strenges positives Wissen mög- lich sei. Er eröffnet diese Untersuchung mit einer Erörterung über die Sprache, als den Ausdruck des Gedankenkreises, wie er sich als ein Gewordenes und relativ Fertiges zu erkennen gibt. Es ist dabei von keiner besonderen Wichtigkeit, dass er die Sprache für eine Erfindung des Menschen erklärt, die ihm vermöge seiner Fähigkeit, arliculirte Laute zu äussern, möglich war;135) der Grund, warum er den Bedeutungen der Worte eine so ausführliche Erörterung widmet, ist der, dass in der Sprache sich die Vorstellungen und ihre Verknüpfungen zu erkennen geben. Zwischen Wort und Vorstellung findet eine unauflösliche Ver- schmelzung statt; was und wie der Mensch denkt, kann man nur aus dem abnehmen, was er spricht.136) Locke gesteht, er habe anfangs für den Gegenstand seiner Untersuchung die Berücksichtigung der Sprache

434) a. a. 0. §48. 22—24.

4 35) B. III, cb. II, § 4. 8.

4 36) a. a. 0. § 2. Words in their primitive and immediate signißcation stand for nothing but the ideas in the mind of htm that uses them. § 6. Words being immediately the signs of mens ideas .... come by constant use to be such a connection between certain sounds and the ideas they stand for, that the names heard almost as readüy excüe certain ideas, as if the objects themselves, which are apt to produce them, did actually affect the senses.

53] Locke's Lehre von der menschl. Ehkenntniss u. s. w. 463

nicht für so nothwendig gehalten; aber eben weil unsere Erkenntniss, obgleich sie sich auf die Dinge bezieht, an Worte gebunden ist und Worte ein unvermeidliches Mittelglied zwischen den Gedanken und den Dingen sind , sei der Umfang und die Gewissheit der Erkenntniss mil- bedingt durch die" Beschaffenheit und Bedeutung der Worte.137) Obwohl Worte zunächst der Ausdruck der Vorstellungen sind, die der Sprechende selbst hat, so liegt doch ihrem Gebrauche stillschweigend eine doppelte Beziehung zu Grunde, theils auf die Vorstellungen anderer, theils auf die Natur der Dinge. Die Voraussetzung, dass ein Zweiter mit dem ge- sprochenen Wort dieselbe Vorstellung verknüpfen werde, welche der Sprechende dabei hat, ist innerhalb einer gemeinschaftlichen Sprache dem Menschen überaus natürlich, obwohl sie keineswegs immer gegrün- det ist, zumal häufig die Gedanken mehr an den Worten als an den Dingen haften und Menschen, die früher das Wort, als die durch das- selbe bezeichneten Vorstellungen kennen lernen, oft wie die Papageyen reden ; m) in der andern Voraussetzung, dass Worte die Natur der Dinge bezeichnen, sieht Locke, obwohl er es hier nicht ausdrücklich ausspricht, geradezu den Fundamentalirrthum , aus dem die Selbsttäuschungen der Schulmetaphysik zum grossen Theile herfliessen.190)

Hierauf bezieht sich sogleich die Erörterung über die Bedeutung der Worte, welche allgemeine Begriffe bezeichnen, oder, was 'dasselbe ist, der allgemeinen Begriffe selbst. Schon vorher hatte er bemerkt, dass die Sprache, selbst angenommen, dass die Bezeichnung jedes einzelnen Dings durch ein besonderes Wort möglich sei , in diesem Falle nur ein

4 37) B. III, eh. IX, § 34. Tho' knowledge terminated in things, yet it was for the most part so much by the intervention of words , that they seemed scarce separable from our gener al knowledge. At least they interpose themselves so much belween our under- standing and the truth, which it would contemplate and apprehend, that like the medium through which the visible objeets pass , their obscurity and disorder does not seldom cast a misl before our eyes and mpose upon our understanding .

138) B. III, eh. II, § 7. Because by familiär use from our cradles we come to learn certain articulate sounds very perfectly and have them readily on our tongues, . . but yet are not always careful to examme or settle their signtfications perfectly, it often happens that men . . . do set their thoughts more on words than things. . . . Nut only children, but men speak several words no otherwise than parrots do, only because they have learned them and have been aecostumed to those sounds. Vgl. eh. V, § 4 5.

139) a. a. 0. § 5. Because men would not be thought to talk barely of their ima- ginations but of things as really as they are , therefore they often suppose their words to stand for the relation of things.

164 G. Hartenstein, [5*

überaus unzureichendes und unbequemes Mittel der Mittheilung sein würde; sie benutzt also die von einer Mehrzahl individueller Dinge gel* tenden Allgemeinbegriffe und bezeichnet sie durch bestimmte Worte.140) Die Entstehung dieser allgemeinen Vorstellungen oder Begriffe betrachtet Locke, obwohl er von einem besondern Abstractionsvermögen gespro- chen hatte, doch als einen unwillkürlichen psychischen Vorgang; das Wesentliche dabei ist, dass die besonderen Merkmale der einzelnen Be- griffe weggelassen und die mehreren gemeinschaftlichen Merkmale in der Gesammtvorslellung des Art- oder Gattungsbegriffs verknüpft wer- den.141) Allgemeine Begriffe sind lediglich Erzeugnisse des Denkens; ihre Allgemeinheit gehört ihnen , den Begriffen, aber nicht den Dingen, die sie bezeichnen; es gibt, könnte mau im Sinne Locke's sagen, allge- meine Begriffe, aber keine allgemeinen Dinge.142) Der allgemeine Begriff bezeichnet überhaupt weder ein einzelnes Ding, noch eine Mehrheit ein- zelner Dinge, sondern eine gewisse Art oder Gattung von Dingen, und wenn man durch ihn bezeichnen zu können glaubt, was die Dinge sind, so trifft dieses Wesen gar nicht die Dinge selbst, sondern die Arten, nach welchen man sie unterscheidet und ordnet.143) Die Richtung der Abstraction und die dadurch bedingte Unterscheidung bestimmter Arten mag dabei immerhin durch die unter den Dingen selbst stattfin- dende Aehnlichkeit bedingt sein;144) das Wesen der Arten, insofern wir diese durch allgemeine Begriffe bezeichnen, ist immer selbst eine allgemeine Vorstellung, die eine Art vermittelndes Glied ist zwischen den Dingen und den Worten, durch welche wir die letzteren bezeichnen,14*)

4 40) a. a. 0. eh. I, § 3. § 4 erwähnt er auch der Negationen und negativen Begriffe, ohne ihnen eine so eingehende Erörterung zu widmen, wie den allgemeinen.

4 44) B. III, eh. in, § 6flgg.

142) a. a. 0. § 4 4. General and universal belong not to the real existence of things, but are the inventions and creatures of the under Standing, . . and concern only signs, whether words or ideas. Words are general, when used for signs of general ideas y . . and ideas are general, when they are sei up a$ the representatives ofmany particular things; but universalis belongs not to things themselves, whieh are all of them particular in their existence,

4 43) a. a. 0. § 4 2. That whieh general words signify is a sort of things < . . Whereby it is evident, that the essence of the sorts or (if the latm word pleases better) species of things, are nothing eise but these abstract ideas.

4 44) a. a. 0. § 43 (vgl. B. HI, eh. VI, § 28).

145) a. a. 0. When we say, this is a man, that a horse . . . what do we eise but rank things under different specific names, as agreeing to those abstract ideas, of whieh

55] Locke's Lehre von drb menschl. Erkenntnis u. s. w. 165

und so wie nichts verbürgt, dass die Zerlegung und Classification, wel- che wir in. unseren Abstractionen mit den Dingen vornehmen, der Natur der Dinge entspreche, so haben wir kein Recht, die Merkmale, die in unsern Art- und Gattungsbegriffen vorkommen , für das unentstandene und unzerstörbare Wesen der Dinge zu erklaren; denn die Dinge ent- stehen, verandern sich und vergehen, aber die Begriffe ihrer Arten be- halten ihre Bedeutung, nämlich für unser Denken, aber nicht für die Dinge. Dem ooncreten Ding ist jedes seiner Merkmale gleich wesentlich oder gleich unwesentlich; was die Vorstellung davon für wesentlich und unwesentlich halt, dafür liegt der regulirende Gesichtspunkt lediglich in den schon festgestellten Art- und Gattungsbegriffen.146)

Dass den Dingen, abgesehen von der Art, in welcher wir sie durch allgemeine Begriffe bezeichnen und classificiren , ein eigenes Was zu- komme, ist eine Voraussetzung, an der Locke so wenig zweifelt als daran, dass die Dinge sind ; aber er fordert, dass man das reelle Wesen der Dinge, oder weil wir von den Dingen in keiner anderen Weise etwas wissen , als indem wir sie vorstellen, das reelle Wesen des Gedachten und Vorgestellten Oberhaupt von dem nominellen Wesen unterscheide. Das Wort Wesen, bemerkt er, bedeutet zunächst das. was ein Ding ist. Dadurch aber, dass die Schulphilosophie vorzugsweise mit allgemeinen Begriffen operirt habe, habe das Wort Wesen diese seine ursprüngliche Bedeutung beinahe ganz verloren, und man habe das Wesen der Dinge in den Benennungen gesucht, die die Sprache den Arten und Gattungen der Dinge je nach den darüber festgestellten All-

we have made those narne$ the sign*? And what are the essenees of those speciee sei out and marked by names, but those abstract ideas in the nrnd, which are, as it tvere, the bände between parUcular things that extet, and the names they are to be ranked under? And when general names have any conneciion wüh particular beings, the abstract ideas are the medium that umtes them, so that the essenees of speciee, as distinguished and denominated by us, neither are nor ean be any thing but those precise abstract ideas we have in our mmds.

U6) a. a. 0. § 49. AU things that existe, besides their author, are liable to ehange; ... tu which changes ü is evident, their real essence, t. e. that Constitution, whereon the properties of these several things depended, is destroyed and perished wüh them. But. essenees being taken for ideas established in the mind, . . . they are supposed to remain steadily the same. whatever mutations the particular substances are hoble. . . . From what hos been seid, ü is evident, that the doctrine of the mmutabilüy of essenees proves them to be only abstract ideas. Vgl. eh. VI, § 4. 5.

1 66 G. Hartenstein, [56

gemeinbegriffen gibt. Das Wort Wesen ist in dem einen Falle an die Sache, in dem andern an das Wort, als die Bezeichnung des allgemeinen Begriffs geknüpft.147)

Um nun die Frage, in wie fern durch allgemeine Begriffe das, was durch sie gedacht wird, auch erkannt wird, in wie fern also der allge- meine Begriff nicht bloss das nominelle, sondern auch das reelle Wesen ausdrückt , zu beantworten , . greift Locke zurück zu seiner Unterschei- dung zwischen einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen» von denen die letzteren in solche zerfallen, die ohne Beziehung auf ein äus- seres Object lediglich durch ihren eigenen Inhalt gedacht werden und keinen Vergleichungspunkt ausser sich haben (die gemischten modi und die Relationen), und solche, deren Bedeutung an die Beziehung auf ein äusseres Object gebunden ist (die Substanzen) .

Es muss befremden , dass Locke von den einfachen Vorstellungen den Satz ausspricht, dass bei ihnen das reelle und das nominelle Wesen der durch ihre Namen bezeichneten Arten zusammenfällt.148) Er gibt nicht einmal einen Grund davon an; dieser kann ftlr ihn auch nicht darin liegen sollen, dass etwa die sinnlich wahrgenommenen Qualitäten mit der eigenen Qualität der Dinge identisch waren ; sondern er scheint zu diesem seiner eigenen Denkart nicht angemessenen Ausdrucke dadurch gekommen zu sein, dass das Was einer einfachen Vorstellung nur durch sich selbst erkennbar sei und sich jeder Definition entziehe»149)

1 47) a. a. 0. § 1 5. First, essence may be taken for the being of any thing, whereby it is what ü is. And thus the real internal, but generally in substances unknown Consti- tution of things, whereon their discoverable qualities depend, may be callcd essence, This is the proper signißcaHon of the toord, . . . and in this sense ü is stiU used, when we speak of the essence of particuktr things, without gwing them any name. Secondly, the learning andLdisputes of the schools having been much busied about genus and species, the ward essence had altnost lost its primary signification and . . . hos been almost wholly applied to the artißcial Constitution of genus and species. ... It being evident, that things are ranked under names into sorts or species, only as they agree to certain abstract ideas, to which we have annexed a name , the essence of each genus or sort comes to be nothing, but that abstract idea, which the general or sortal (if I may have leave so to call it) name Stands for. These two sorts of essences may not unfiUy be termed, the one the real, the other the nominal essence.

t 48) a. a. 0. § 18, vgl. eh. IV, § 3.

4 49) B. HI, eh. IV, § 7. Vgl. damit § 48 die Nachweisung, warum bei etufachen Vorstellungen zwischen der niedrigsten Art und der höchsten Gattung nur sehr uenig Mittelglieder liegen.

57] Locke's Lehre von der mknschl. Erkenntniss ü. s. w. 1 67

Für die gaoze grosse Ciasse von Begriffen ferner, weiche er als gemischte modi. und Relationen bezeichnet, legt er überall, wo er von ihnen spricht, das entscheidende Gewicht darauf, dass sie willktthrliehe, wenn auch nicht schlechthin zufällige und grundlose Verknüpfungen und Beziehungen einfacher Vorstellungen sind , die weder an die Voraus- setzung einer äusseren Existenz, noch an die bestimmte Form des äus- serlich Gegebenen gebunden sind.150) Sie haben daher kein Maass ausser sich; sie sind das, als was sie gedacht werden, ohne dass auch nur ge- fragt werden könnte, ob dieser Inhalt des Gedachten mit einem ausser- halb dieses Inhalts liegenden Objecto übereinstimme oder nicht; von einem Unterschiede dessen , was der Begriff enthalt und was das Wort bedeutet, kann daher bei ihnen keine Rede sein; was der Begriff für den, der ihn bildet, enthalt, besagt auch das Wort und desshalb fällt bei ihnen das nominelle und reelle Wesen zusammen.161) Wer den Begriff einer von drei Seiten begrenzten Flache durch das Wort Dreieck be- zeichnet, dessen Denken ist in der Feststellung dieses Begriffs nicht nur unabhängig von der Frage, ob ein Dreieck existirt, sondern der Begriff enthalt auch den Grund der Eigenschaften des Dreiecks; das Wesen des Dreiecks ist der Inhalt seines Begriffe, eben so wie das Wesen der Dank- barkeit und der Gerechtigkeit in den in diesen Begriffen verknüpften Merkmalen liegt.152) Dieser Satz gilt, insofern bestimmte Begriffe dieser Art mit bestimmten Worten bezeichnet werden; bei der Masse von Zufälligkeiten, denen die Bildung dieser Begriffe sammt ihren Be- nennungen ausgesetzt ist, ist gleichwohl die Bedeutung der letztern im

450) B. III, eh. V, § 3. The essenaes of the speeies of mixed modes are not only made by the mind, but made very arbitrarly, made tvithout patterns or referenee to any real existence. Wherein they differ firom those of substances , which carry with themjthe supposiUon of some real being, from which tke are taken, and to which the are confor- mable. Die Ausführung und Limitation dieses Salzes vgl. § 5 7.

151) a. a. 0. § 44. The names of mixed modes always signifles (when they have any determmed significaHon) the real essence of their speeies. For these abstraet ideas bemg . . not referred to the real existence of things, there is no supposition of any thmg more signified by that name, but barely that complex idea the mind iiself hos formed, . . . and is that on which all the properties of the speeies depend and from which alone they flow ; and so in these the rjal and nominal essence is the same.

152) a. a. O. § 4 3. Er fügt hinzu: üence I think it w, tltat these essences of the speeies of mixed modes are by a more particular name called notions; as by a pecutiar right appertaining to the understanding .

1 68 6. HARTBKSTfilN. [58

allgemeinen viel schwankender , als die der Bezeichnungen für die ein- fachen Vorstellungen, wie schon daraus hervorgeht, dass jede Sprache eine Menge Worte hat , ftlr die es in einer andern Sprache keine genau entsprechenden Worte gibt.135)

Ein davon ganzlich verschiedenes Verhältniss ßndet aber bei den Vorstellungscoxnplexionen statt, durch welche wir die Dinge (die Sub- stanzen) bezeichnen. Dass Locke auf diesen Gegenstand noch einmal sehr ausführlich zurückkommt, ist keineswegs eine blosse Wiederholung; wahrend er vielmehr früher (vgl. oben S. 1 37fgg.) sich auf die Nachwei- sung beschränkt hatte , dass das Was der den Dingen vorausgesetzten Substanzen factisch unbekannt sei, geht er hier auf die Nachweißung der Unmöglichkeit ein, dasselbe durch allgemeine Begriffe zuerkennen. Was wir von den Substanzen zu wissen glauben, fassen wir unter den allgemeinen Begriff der betreffenden Art von Dingen zusammen und der Inhalt dieses allgemeinen Begriffs gilt für das Wesen dieser Art; dergestalt dass das Wesen des einzelnen Dings durch die Beziehung auf den Inhalt des Begriffs seiner Art bestimmt wird. Dadurch wird die Entscheidung über das angebliche Wesen der Dinge in die Reihenfolge der logischen Abstractionen verwickelt. Ohne diese Beziehung auf die in den angenommenen Arten liegenden Unterscheidungsgründe dessen, was dem Dinge wesentlich und unwesentlich sein soll, ist ihm jede seiner Eigenschaften gleich wesentlich und gleich unwesentlich.154) Dass wir nun durch die Feststellung der Arten der Dinge die leisen und fast unmerk-

4 53) a. a. 0. § 8. Vgl. fi. III, eh. IX, § 6.

\ 54) B. 111, eh. VI, § 2. The tneasure and boundary ofeach sort or species, whereby it is constituted a partieuiar sort and dietinguished from others is thai we call its essence, which is nothing but that abstract idea to which the name is annexed. § H . it. 4 3. Our distinet species are nothing but distinet compiex ideas with distinet names annexed to them. It is true, every substance thai exists, hos its peculiar constitutum, whereon depend those sensible qualities and powers, we observe in it. But the ranking the thmgs inlo spe- cies , which is nothing but sorting them under several titles, is done by us, aecording to the ideas we have of them. § 4. Lei any one exatnine his own thoughts and he will find, that as soon as he supposes or speaks of essential, the consideration of some species or the compiex idea signified by general name com/es Mo his mind, and it is in reference to that, that this or that quaUty is said to be essential. . . . So that essential and not essen- tial relate only to our abstract ideas and the names annexed to them. § 6. AU such paterns and Standards being quite laid aside, partieuiar beings, considered only in them- sehes, will be found to have all their qualities equaUy essential, and every thing, in each individualy will be essential to it, or, which is more, nothing at all.

59] LocKfc's Lehre von dbr mbnscbl. Erkenntnis* u. s. w. 169

liehen Uebergttnge zwischen ihnen, wie sie in der Wirklichkeit vorkommen, nur einigermassen vollständig erschöpfen können, ist mehr als unwahr« schemlich ; wenigstens im Gebiete der lebendigen Wesen liegt eine fesle Grenzbestimmung der einzelnen Arten weder in der Fortpflanzung« noch viel weniger in den sogenannten subslanziellen Formen, von denen sich ohnedies Niemand etwas träumen Iftsst, als die Schulphilosophie. ,M) Sollte überhaupt diese Annahme, dass die Arten der Dinge durch ge- wisse ihnen inwohnende Formen oder Wesenheiten wirklich von ein- ander unterschieden sind und durch die diesen substanziellen Formen entsprechenden allgemeinen Begriffe ihrem Wesen nach erkannt werden, gerechtfertigt werden, so müsste sich beweisen lassen, erstlich, dass die Natur überhaupt die Absiebt habe, die Classen der Dinge nach gewissen vorausbestimmten Mustern hervorzubringen, eine Voraussetzung, die in der rohen Form, wie man sie gewöhnlich macht, einer viel genaueren Prüfung unterworfen werden müsste; sodann wäre zu untersuchen, ob die Natur die Darstellung dieser Wesenheiten immer ausführe und er- reiche, wobei die Frage entstehen würde, ob Ausbildungen eine eigene Gasse von Dingen bilden oder, zu einer andern Ciasse gehören ; jeden- falls aber müsste das reelle Wesen der Dinge , die wir nach Classen sondern, uns bekannt sein, um nach dessen Unterschieden die Arten der Dinge zu bestimmen , und gerade dies ist bei unserer Unwissenheit über das Wesen der Dinge unmöglich.196) Vielmehr bestehen unsere Be- griffe von den Dingen lediglich aus den empirisch wahrgenommenen Eigenschaften sammt den Kräften , welche wir ihnen beilegen ; weder jene noch diese sind vollständig bekannt; die Erfahrung verr&th davon bald weniger, bald mehr, und je nach dem Reichthum oder der Armuth dieser Kenntniss bedeutet eine und dieselbe Bezeichnung der Dinge für verschiedene Menschen Verschiedenes, zwar genug, um das Verstand- niss im Verkehr des gewöhnlichen Lebens zu sichern, aber durchaus zu wenig, um diese Begriffe von den Dingen als Ausdruck eines strengen

165) a. a. 0. § 12. 23. 24.

4 56) a. a. 0. § 4 4 49. To distinguish substantial bemgs mto species, aecord- mg to the usual supposiüon that there are certain prent* e$sences or forms of things, whereby the indwiduab existmg are by naiure distmgnished into species, thsse ihings are neeessary: ... fourthly, the real essence of those Ihings, which tee distinguish into species and as so distinguished we name, ought to be known.

170 G.Hartenstein, [60

Wissens betrachten oder als Grandlage wissenschaftlicher Folgerungen benutzen zu können.157)

Zu dieser in der Sache selbst gegründeten Unvollkommenheit der Erkennlniss, die dergestalt an die Sprache d. h. an den wirklich vor- handenen in der Sprache seinen Ausdruck findenden Gedankenkreis ge- bunden erscheint, dass die Bezeichnungen der einfachen Empfindungen und der einfachen modi noch am meisten geeignet sind, das, was sie bezeichnen sollen, bestimmt auszudrücken, während die Benennungen der modi mucti und der Substanzen dies nur sehr unvollkommen oder gar nicht leisten,158) kommen nun noch eine Menge von Fehlern im Ge- brauche der Sprache, die zwar an sich vermieden werden könnten, die aber gleichwohl häufig begangen werden und den Gedankenkreis, inso- fern er auf Erkennlniss Anspruch macht, vollends verwirren. Bald braucht man Worte, mit welchen man überhaupt gar keinen bestimmten und klaren Begriff verbindet, ein Fehler zu dem schon der Umstand reiche Veranlassung gibt , dass die Menschen die Worte früher lernen als die durch sie bezeichneten Begriffe; bald bedient man sich der Worte in verschiedenen Bedeutungen, was eben so klug ist, als ob jemand in einer Rechnung ein und dasselbe Zahlzeichen für verschiedene Zahl« grossen anwenden wollte ; bald gebraucht man, um tiefsinnig zu erschei- nen , dunkle und unklare Bezeichnungen ; bald nimmt man Worte für Bezeichnungen von Sachen , die gar nicht existiren , wobei Locke nicht unterlässt, die substanziellen Formen, die vegetativen Seelen, den horrar vacui u. s. w. als Beispiele anzuführen; bald gibt man den Worten Be- deutungen, die sie nicht haben können, was namentlich bei den Worten, durch die wir die Dinge bezeichnen, überall der Fall ist, wenn wir mei- nen, dadurch ihr eigenes Wesen auszudrücken; bald setzt man irrthüm- lich als etwas Selbstverständliches voraus, dass die Worte eine unzwei- felhafte und bestimmte Bedeutung haben, und streitet über Worte, bei welchen sich jeder der Streitenden im Grunde etwas Anderes denkt.150), Diese Fehler schliessen zum Theil geradezu grobe Irrthümer ein, und so findet sich Locke veranlasst, im 4 1 . Capitel des dritten 'Buchs eine Art

157) a. a. 0. § 20. Our distmguishing substances into species by names is not al all founded on their real essence, nor can we pretend to ränge and determme them exactltj into species aecording to internal essential differenecs. cf. § 30. B. III, eh. IX, § 12 17.

158) B. 111, eh. IX.

159) B. III, eh. X, § 4— 1%.

61] Locke's Lehre von der mknsciil. Erkenntniss u. s. w. 171

pädagogischer Anweisung hinzuzufügen, wie wenigstens diese aus Nach- lässigkeit und Mangel an Ueberlegung entstehenden Fehler vermieden werden können.

VI.

Die bisherigen Erörterungen bilden die Grundlage, auf welche ge- stutzt Locke im vierten Buche seines Werks das abschliessende Urtheil über den Umfang und die verschiedenen Grade der Gewissheit der menschlichen Erkenntniss ausspricht. Der Fundamentalsatz , den er in dieser Beziehung an die Spitze stellt, besteht in der Erinnerung daran, dass für den menschlichen Geist der einzige Gegenstand seines Denkens seine eigenen Vorstellungen sind; alle Erkenntniss bezieht sich unmittel- bar nicht auf die Dinge, sondern auf das Verhältniss der Vorstellungen ; die Erkenntniss selbst ist die Wahrnehmung der Verknüpfung oder der Sonderung, der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit, der Ueberemstim- mung oder Nichtübereinstimmung unter den Vorstellungen nnd Begriffen. Wenn wir erkennen : weiss ist nicht schwarz , so nehmen wir die Un- vereinbarkeit der diese Empfindungen bezeichnenden Vorstellungen wahr; und wenn wir erkennen: die drei Winkel eines Dreiecks sind gleich zwei rechten, so nehmen wir wahr, dass diese Bestimmung von den drei Winkeln des Dreiecks ohne Widerspruch nicht getrennt werden kann.160) Als die Classen der Falle, in denen über Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen geurtheiU wird, unter-

t 60) B. IV, eh. I, § \ . Since the mind in all its thoughts and reasonings, hath no other immediate objeet but its own ideas, which ü alone does or can contemplate , it is evident, that our knowledge is only conversant about them. § J. Knowledge then seems to me to be nothing but the percepUon of the connexion and agreement or disagreemetU and repugnaney of any of our ideas. In this alone ü eonsists. Das Wort agreement schliesst Identität und Zusammengehörigkeit zugleich ein. Es mag erlaubt sein, für dasselbe der Kürze wegen das deutsche Wort Uebereinstimmung zu gebrauchen. Am Schlüsse des Capitels §89 setzt Locke, um seine Definition der Erkenntniss vor dem Einwurfe zu schützen, als sei sie zu eng, noch den Unterschied zwischen wirk- licher und habitueller oder gedächtnissmässiger Erkenntniss aus einander, bei welcher letzteren wir die Ueberzeugung von der Richtigkeit eines Satzes haben, weil wir uns erinnern, den Zusammenhang seiner Beweise früher eingesehen zu haben, ohne dass dieser Zusammenbang uns gerade jetzt gegenwärtig ist.

172 6. Haetbhstbin, 16*

scheidet Locke folgende vier: 1) Identität und Verschiedenheit, 2) Be- ziehungen, 3) Coexislenz, 4) Wirklichkeit111) Die Entscheidung über Einerleiheit und Nichteinerleiheit der Vorstellungen ist der erste, allen übrigen zu Grunde liegende Act des Geistes , der in jedem einzelnen Falle unmittelbar und nicht erst durch Vermittlung eines allgemeinen Denkgesetzes stattfindet, wo der Inhalt des Vorgestellten mit Bestimmt- heit gedacht wird. Entsieht Über Einerleiheit und Nichteinerleiheit ein Zweifel , so wird man immer finden , dass er sich nicht auf den Inhalt der Vorstellung, sondern auf den Namen bezieht. Von allen ihrem Inhalt nach verschiedenen Vorstellungen gilt in alle Ewigkeil der Satz , dass die eine nicht die andere ist; aber das würde zu keinerlei positiver Er- kenntniss führen, wenn wir nicht durch die verschiedenen Gesichts- punkte ihrer Vergleicbung Mittel gewannen über ihre Verhaltnisse und Beziehungen zu urtbeilen. Die dritte Classe von Fallen, wo wir über Uebereia Stimmung und Nichtübereinstimmung urtheilen, bietet die Coexistenz d. h. die gleichzeitige Verknüpfung der Merkmale in den Din- gen dar ; die vierte soll die Anerkennung oder Voraussetzung der Exi- stenz des Vorgestellten bezeichnen«182) Die Unterscheidung dieser vier Glassen scbliessl eigentlich zwei verschiedene Gesichtspunkte ein ; die beiden ersten halten sich innerhalb des Vorstellungskreises selbst, die beiden letzten beziehen sich auf das Verhaltniss der Vorstellung zu den als wirklich gedachten Objecten der Vorstellung; sie können aber in so fern unter den ersten Gesichtspunkt gebracht werden , als in der als wirklich vorgestellten Verknüpfung der Merkmale in den Dingen der Grund der Annahme liegt, dass die diesen Merkmalen. entsprechenden Vorstellungen mit einander verknüpfbar sind, und dass der Begriff der Existenz selbst eine von den Vorstellungen ist, welche in die verglei- chenden Operationen des Erkennens mit eingeht. Uebrigens bemerkt

4 64) a. a. 0. § 3. To vnderstand, wherein this agreement or disagremneni consists, l think we may retinae ü all to these four sorts: 4) identity or diversüy, 2) relation, 3) coexistence or necessary conneccion , 4) real eatistenoe. § 7 . Wühin these four sorts of agreement or disagreememt i$, I suppose, contained all the knowledge we have or are capable of: for all the enquvries that we can make coneerning any of our ideas, all that we knotv or can affin* coneerning any of them, is, that itisoris not the same wiiit some other; that it does or dorn not always coexisi wüh some other idea in the same subjeet; that ü hos this or that relation to some other idea; or that U hos a real ewistence.

4 62) a. a. 0. § 4—7.

63] Lockb's Lbhrb von »kr vknscul. Erkenntniss u.s. w. 473

Locke selbst, dass Identität und Coexistenz eigentlich nur Verhält- nisse bezeichnen, dass es ihm aber rathsam geschienen habe, sie aus der Masse der letzteren herauszuheben, weil sie dem Denken so eigen* thttmliche Veranlassungen der Bejahung und Verneinung darbieten, dass sie eine gesonderte Betrachtung verdienen.163)

Handelt es sich nun darum, die Arten oder, wie Locke sagt, die Grade der Erkenntniss m) zu bestimmen , so reduciren sich diese zw» nächst auf zwei Classen, je nachdem die Entscheidung über Ueberein- stimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen unmittelbar oder mittelbar, durch andere vermittelnde Vorstellungen erfolgt. Die erstere nennt er die intuitive, die zweite die demonstrative Erkenntniss, Die intuitive Erkenntniss wirkt unwiderstehlich, sie sc hl i esst jeden Zwei- fel, jeden Aufschub der Entscheidung aus und bietet den grösstmttg- liehen Grad der Gewissheit dar.185) Die demonstrative Erkenntniss be- darf der Vehnitlehmgen amderer Vorstellungen, deren Darlegung der Beweis ist; aber so wie das demonstrative Denken in jedem Punkte seines Fortschreitens auf die intuitive Erkenntniss der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der den Fortschritt vermittelnden Begriffe zurückgewiesen ist,160) so unterscheidet es sich von der letzteren auch

463) a. a. 0. §7. Though identity and coexistence are truly notking but relations, yet they are so peeuHar ways of agreement and disagreement of our ideas, that they deserve well to be oonsidered as dfrtihcl heads and not wider relaüon m general.

4 64) Locke unterscheidet degrees of knowledge (B. IV, eh. II) und degrees of assettf (B. IV, eh. XVI). Der erste Ausdruck bezeichnet in der That Arten der Erkenntniss, der zweite den Grad der Zustimmung, den uns eine Art der Erkenntniss sbnöthigt.

4 65) B. IV, eh. II, § 4 . ff we wift reflect on our own ways of thinkthg, we shall find, that sometimes the mind pereeives the agreement or disagreement of two ideas im- mediatety by themsetves, witkout the intervention of any other; and this I think we may call intuitive knowledge . . . Such kmd of truths the mind pereeives at the first sight' of the ideas together, by bare intuition, . . . this kind of knowledge i$ the elearesi and most eertain that human frailty is capable of. This part of knowledge is rrresütible, and Uke bright sunshme forces itself immediately to be pereewed, as soon as ever the mind turns its view that way, and leaves no room for hesitation doubt or examinaUon. S. When the mind cannot so bring its ideas together, as by their tmmediate comparison and as it were juxtaposithn . . . to pereewe their agreement or disagreement, it is fam by the Intervention of other ideas to discover the agreement and disagreement, wkkh H searches; and this is that wkkh we caU reasoning. § 3. Those mtervenmg ideas . . . are catted proofs.

4 66) i. a. 0. § 7. In every step reason makes in demonstrative knowledge, there is an intuitive knowledge of that agreement or disagreement Ü seeks with the next tnter- mediate idea, which it uses as a proof.

474 G. Hartekstbih, [64

dadurch, dass es, so gewiss auch der geführte Beweis sein mag, doch den Zweifel nicht ausschliesst und überhaupt dem durch eine Reihe von Spiegeln reflectirten Lichte gleicht, welches bei jedem Reflexe etwas von seiner ursprünglichen Helligkeit verliert.107)

Alles, was nicht unter diese intuitive oder demonstrative Erkennt- niss fällt, gehört in das Gebiet der Meinung oder des Glaubens. Streng genommen , würde dabin auch die sinnliche Erkenntniss gehören d. h. die Voraussetzung, dass unseren Yorsteliungen von den Dingen auch wirklich Dinge entsprechen. Denn obwohl nichts gewisser sein könne, als dass wir die Vorstellungen, die wir auf ein wirkliches Object bezie- hen, wirklich haben, so sei doch das ein Gegenstand des Zweifels, ob diese Beziehung der Vorstellung auf die Objecte sich rechtfertigen lasse. Indessen da, wenn Alles nur ein Traum wäre, alles Denken und Forschen sehr unnütz sein würde, und da der hartnackigste Skeptiker, der z. B. das Feuer, cjas ihn brennt, für einen Traum erkläre, doch wenigstens die Verknüpfung seines Schmerzes mit der Vorstellung des brennen- den Dings nicht leugnen könne, so scheine es gerechtfertigt, wenn aus- ser den beiden oben genannten Arten der Erkenntniss noch eine dritte, die sinnliche, angenommen werde.168)

Auf Grund dieser Bestimmungen unternimmt nun Locke die defini- tive Abschätzung sowohl des Umfangs als der Realität der menschlichen Erkenntniss. Da alle Erkenntniss in der Wahrnehmung der Ueberein-r

4 67) a. a. 0. § 4—6.

4 68) a. a. 0. § 4 4. These two, intuüion and demonstration, are the degrees of our knowledge; whatever comes short of one of these, with what assurance soever embraced, is but faith, or opinion, but not knowledge, at least in all general truths. There is indeed another perception of the mind, employed about beyond bare probability and yet not reaching perfectly to either of the foregoing degrees of certainty. . . . There can be nothing more certain, than that the idea we receive from an external object, is m our mind. . . . But whether there be any thing more than barely that idea in our minds; ... is that, whereof some man think there may be a question made. ... If any one say a dream may do the same thing, and all those ideas may be produced in us without any external objects, he may please to dream that I make htm the answer, 4 ) that is no great matter, whether I remove his scruple or no; where all is bu,t dream, reasoning and argumenta are of no use, ... 2 ) that I believe he will allow a very manifest differenee between dreaming of being in the fire and being actually in it . . . So that, l think, we may add to the two former sorts of knowledge this also of the existence of particular external objects . . . and allow these three degrees of knowledge, viz. intuitive, demonstrative and sensitive. B.IY, eh. XI behandelt diesen Gegenstand noch einmal.

65] Locke's Lehre von der mensghl. Erkenntniss u. s. w. 175

Stimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen besteht, so kann es zunächst keine Erkenntniss geben , wo die Vorstellung fehlt. Es kann auch keine geben, wo die Verhältnisse der Vorstellungen nicht innerlich wahrgenommen oder gedacht werden.109) Es folgt daraus, dass der Umfang der Erkenntniss nicht nur geringer sein wird , als die Wirklichkeit der Dinge, sondern auch beschränkter, als der Umfang un- serer Vorstellungen. Denn während die sinnliche Erkenntniss sich nicht weiter erstreckt als die Wirklichkeit , die gerade jetzt unsere Sinne be- rührt, bieten sich weder mittelbar noch unmittelbar, also weder für die intuitive noch für die demonstrative Erkenntniss, alle die Beziehungen dar, welche zwischen den Vorstellungen möglich sind.170) Gewiss, sagt Locke, ist die menschliche Erkenntniss einer grossen Erweiterung fähig, wenn die Menschen aufrichtig und mit voller Geistesfreiheit auf die Ent- deckung der Wahrheit denselben Fleiss und denselben Eifer wenden wollten, den sie anwenden, um Irrthilmer, Parlbeiinteressen, einmal an- genommene Systeme zu vertheidigen ; aber er spricht zugleich die Ueber- zeugung aus, dass unsere Erkenntniss niemals alles das umfassen werde, was wir zu wissen wünschen, und dass es immer unmöglich bleiben werde, gewisse Fragen, die sich auf Vorstellungen beziehen, die wir haben, zu beantworten.171)

Werden diese allgemeinen Sätze auf die vier Classen der Fälle be- zogen , rücksicbtlich deren eine Entscheidung über Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen gesucht wird , Identität, Coe&istenz, Relation und Wirklichkeit, so ergeben sich folgende nähere Bestimmungen zunächst über den Umfang der Erkenntniss. Was zuerst Identität und Nichtidentität der Vorstellungen anlangt, so ist in Beziehung auf sie der Umfang der Erkenntniss immer so gross, als der Umfang unseres Vorstellens ; denn es ist unmöglich, eine Vorstellung zu haben, ohne unmittelbar zu wissen , dass sie sich selbst gleich und von jeder andern verschieden ist.172) Die Erkenntniss der Coexistenz dagegen d. h.

169) ff. IV, eh. III, § 4. 2.

470) a. a. Ü. § 3 5. § 6. From all which is evident, that the extent of out knowledge comes not only short of the reality of things, but even of the extent of our own ideas.

\1\) a. a. 0. § 6. Zu diesen Fragen rechnet er auch die, ob ein materielles Wesen denken könne, deren Unbeanlworllichkeil er hier erörtert.

«72) a.a.O. § 8. Abhandl. d. K. S. Gm. d. Wim. X. < 2

176 - G. Hartenstein, [66

der Verknüpfung der Merkmale in den Dingen , die wir als Substanzen bezeichnen, ist äusserst beschränkt. Denn dass die sinnliche Erkennt- niss, vermöge deren wir überhaupt die Wirklichkeit der Dinge anneh- men, sich nicht weiter erstreckt als unsere Erfahrung, versteht sich von selbst.173) Aber auch, was wir von den Dingen zu wissen im Stande sind, ist auf die Grenzen der Erfahrung beschränkt. Unsere Vorstellun- gen von den Dingen sind zunächst nichts als empirisch gegebene Com- plexionen einfacher Vorstellungen und wir haben kein Mittel, weder über die Ursachen gerade einer solchen Verknüpfung von Merkmalen, noch über die Art, wie die abgeleiteten Qualitäten durch die ursprünglichen bedingt sind, etwas zu entscheiden ; insofern aber in jeneComplexionen auch die Vorstellungen activer und passiver Kräfte, welche den Dingen inwohnen sollen, mitbestimmend eingehen, sind wir ebenfalls ganz und gar an die Erfahrung gewiesen, und während es ein demonstratives von der Erfahrung unabhängiges Wissen darüber gar nicht gibt , bezweifelt Locke, dass selbst eine erweiterte Erfahrung darüber, welche Kräfte in einer notwendigen Verknüpfung und in einem notwendigen Gegen- satze unl£r sich und mit der empirisch gegebenen Beschaffenheit der Dinge stehen, einen wesentlichen Aufschluss zu geben im Stande sein werde.174)

Rucksichtlich der Beziehungen und Verknüpfungen der Vorstellun- gen dagegen, deren Gültigkeit und Notwendigkeit von der Vergleichung mit der Erfahrung unabhängig ist, gibt es nicht nur ein streng demon- stratives Wissen, sondern es 1ässt sich im Voraus gar nicht bestimmen, bis zu welchen Grenzen auf diesem Gebiete die menschliche Ei kenn t- niss sich werde erweitern können. Locke beruft sich in dieser Bezie- hung vor Allem auf das grosse Beispiel der Mathematik; aber er glaubt nicht, dass das Gebiet eines mit vollkommener Sicherheit fortschreiten- den strengen Wissens auf Grössenbegriffe beschränkt sei; er hält na- mentlich die Moral einer gleich strengen Ausführung für zugänglich und findet den Grund, dass die-BegrUndung und Erweiterung eines strengen Wissens vorzugsweise der Mathematik gelungen ist, hauptsächlich darin, dass die mathematischen Grundbegriffe weniger verwickelt sind als die

473) a. a. 0. § 21. Im Gebiete des objeetiv Seienden nimmt Locke davon nur das Dasein Gottes aus, für dessen Existenz er einen demonstrativen beweis für möglich hält. Vgl. B. IV, eh. X.

Mi) a. a. 0. § 10. 12. 13. 16.

67] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntnis u. s. w. 477

moralischen, dass der Mathematik ein vollkommen genau bestimmtes und unzweideutiges Zeichensystem zu Gebote sieht und dass sie der Unterstützung durch die sinnliche Anschauung zugänglich ist.179)

Trotzdem ist unsere Unwissenheit jedenfalls unvergleichbar viel grösser als unser Wissen, und Locke hebt diese dunkle Seile des mensch* liehen Denkens geflissentlich hervor, um darauf aufmerksam zu machen, um wie viel notwendiger es sei, sich der Lösung von Aufgaben zuzu- wenden, die innerhalb der Grenzen unserer Befähigung liegen, als sich in dunkle Abgründe zu verlieren, wo unsere Augen uns gänzlich unnütz sind.176) Die Ursachen unserer Unwissenheit liegen vor Allem darin, dass uns Vorstellungen geradezu fehlen; in diesem Sinne sind die Schranken unserer Organisation, die uns nur ein beschränktes Erfah- rungsgebiet zugänglich macht, und die dadurch bedingten Schranken der Erfahrung auch die Grenzen der möglichen Erkenn tniss.177) Die zweite Ursache ist die Unmöglichkeit die vermittelnden Glieder zwischen unseren Vorstellungen und den durch sie bezeichneten Thatsachen auf- zufinden; als eines der zunächst liegenden Beispiele führt. Locke die Unmöglichkeit an , den Zusammenhang zwischen den äusseren Verän- derungen der Körper und unseren eigenen Vorstellungen nachzuwei- sen.178) Eine dritte Ursache besteht darin, dass wir dem Inhalte der Vorstellungen, die wir haben und haben können, keine strenge Folge leisten ; sie besteht in der Ungelenkigkeit , Schwerfälligkeit und Nach- lässigkeit des Denkens und kann zum grössten Theile vermieden wer- den.17*)

476) a. a. 0. § 18—10.

476) a. a. 0. § SU.

477) a. a. 0. § 23 £6. Distinct ideas of the several sorts of bodies, that fall under the examination of our senses, perhaps we may have, but adequate ideas, I suspect, we have not of any one amongst thern. And tho the former of these will serve us for common use and diseourse, yet, whilst we want the latter we are not capable of scientifical knowledge; nor shall ever he able to discover generale imtruetive, unquestion- able truths concerning them. Certamty and demonstration üre things we must not, in these matter s, pr elend on.

478) a. a. 0. § 28. How any thought should produce a moHon in body, is as remote from the natwre of our ideas, as how any body should produce any thought in the mind. That ü is so, if not experience did convince us, the consideration of the things themselves toould never be able, in the least, to discover to us.

' 479) a. a. 0. § 30.

48*

178 G. Hartenstein, [68

Fragt man nun : worin besteht für Locke in letzter Instanz das, was dem Denken den Charakter der Erkenntniss, des Wissens gibt, so liegt die Antwort einfach in dem Satze : es ist die Anwendung der Formen und die Befolgung der Gesetze des Denkens, vermöge deren es sich in der Entscheidung über die Verhältnisse der Begriffe abschliessend von dem Inhalte dieser Begriffe selbst leiten lässt. Die Wahrheit des Den- kens ist gebunden an die Natur der Begriffe d. h. an das , was in ihnen gedacht wird, an ihren Inhalt, und die in diesem Inhalte des Gedachten liegenden Bestimmungen und Folgerungen sind ewige Wahrheiten, nicht weil sie vor dem Denken und unabhängig von demselben exisli- ren, sondern, weil sie für jede Intelligenz, die sich nach dem Inhalte des Gedachten zu richten fähig ist, ohne Rücksicht auf Zeit Verhältnisse gül- lig sind.180) Locke hält hiermit die Definition der Wahrheit fest, von wel- cher er ursprünglich ausgegangen war, dass nämlich ihr wesentliches Merkmal in der Uebereinstimmung der Gedanken nicht mit den Dingen, sondern unter sich selbst liege. Aber er verbirgt sich zugleich nicht, dass diese Bestimmung ungenügend erscheinen werde , weil eine Er- kenntniss , die nur in der Uebereinstimmung der Gedanken unter sich selbst bestehe, über das Verhältniss derselben zu den Dingen nichts entscheide und blossen Phantasieen und Hirngespinsten denselben Werth

180) a. a. 0. § 3 \ . In respect of universality, . . . our knowledge follows the nature of our ideas. If the ideas are abstretet, tu hose agreement or disagreement we pereeive, our knowledge is universal. For what is knoum of such general ideas, will be true of every particular thing, in which that essence i. e. tkat abstract idea is to be found, and what is once known of such ideas, will be perpetually and for ever true. B. IV, eh. XI, § \ 4 . Knowledge is the consequence of the ideas (be they what they will} , that are in our minds producing their general certain propositions. Many of these are called aeternae Verität es and all of them are indeed so, not from being written all or any of them in the minds of all men, or that they were any of them propositions in any onefs mind, tili he having got the abstract ideas . . . But wheresoever we can suppose such a creature as man is, endowed which such faculties and thereby furnished which such ideas as we have, we must conclude he must needs , when he applies his thoughts to the con- sideration of his ideas, know the truth of certain propositions, that will arise from the agreement or disagreement which he will pereeive in his own ideas. Such propositions are therefore called et er na l truths, not because they are eternal propositions actually formed and antecedent to the understanding , that at any times make them; nor because the are imprinted on the mind from any pattern that are any where of them out of the mind and existe before; but because being once made about abstract ideas, so as to be true, they will . . . by a mind having those ideas allways actually be true. '

69] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 179

zuzugestehen nöthige, wie den Untersuchungen des nüchternsten Men- schen. Diese geforderte Uebereinstimmung der Gedankenverknüpfung mit den gedachten Gegenständen nennt Locke die Realität der Er* kenntniss, und um zu /eigen, in wiefern sie sich, trotz der Beschränkung alles Erkennens auf das Denken, von blossen Einbildungen unterschei- det, macht er folgende Gesichtspunkte geltend.181)

Wenn wir von Erkenntniss der Dinge sprechen , so gilt es sich zu besinnen, dass wir von den Dingen durchaus nicht unmittelbar, sondern lediglich vermittelst unserer Vorstellungen wissen, und man spricht von Realität der Erkenntniss, .sofern angenommen werden kann , dass die Vorstellungen den Dingen entsprechen. Worin besteht nun das Kriterium der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen mit den Dingen? Wie kann das auf sich selbst beschränkte Denken wis- sen, ob es den Dingen entspricht? Um diese Frage zu beantworten, ist es nöthig die verschiedenen Classen der Vorstellungen zu unterschei- den.181)

Was zuerst die einfachen Vorstellungen anlangt, so müssen sie gerade desshalb, weil das Denken sie nicht aus sich selbst erzeugen kann , bedingt sein durch die Einwirkung der Dinge auf den Geist. Sie sind also keine Einbildungen, sondern natürliche und regelmässige Wir- kungen der ausser uns vorhandenen Dinge ; sie zeigen uns die Dinge zwar nicht, wie sie sind, aber sie zeigen sie uns als solche Erscheinun- gen , welche die Dinge in uns hervorzurufen geeignet sind. In sofern stimmen unsere einfachen Vorstellungen mit der Existenz der Dinge überein, in einer Weise , die ausreichend ist um uns in der uns umge- benden Welt zurechtzufinden.183) Und darauf beruht auch die Realität

181) B. IV, eh. IV, § 1 . 2. If our knowledge of our ideas terminate in them and reach no further 9 where there is something further mtended, our most serious thoughts will be of lütle more use, than the reveries of a crazy brain .... But I hope, to make it evident, that this way of eertainiy , by the knowledge of our own ideas, goes a lütle further than bare imaginationt and 1 believe it will appear, that the eertainiy of gene- rai truths a man has, lies in nothing eise.

«82) a. a. 0. § 3.

183) a. a. 0. §4. The simple ideas represent to us things under those appearances which the are fitted to produce in us; whereby we are enabled to distinguish the sorts of particular substances, to discern the states they are in and to take them for our necessities and apply them to our uses. . . . Thus the idea of whiteness . . . has all the real conformity it ean orought to have with things without us. And this conformity between our simple ideas and the existence of things is sufficient for real knowledge.

480 G. Hartbnstkin, [70

unserer Erkenntniss von den Substanzen, obgleich sie an die empirische Wahrnehmung einer gewissen Verbindung von Merkmalen der Dinge gebunden und auf sie beschrankt ist.184)

Alle übrigen Complexionen von Vorstellungen sind dagegen gar nicht darauf angelegt, Copieen oder Abbilder von irgend etwas ausser ihnen zu sein , sie beziehen sich nicht auf existirende Dinge , als ihre Originale, sondern sie bezeichnen nichts als sich selbst. Dass also diese Begriffe Realität haben d. h. dass der Begriff mit dem, was er bezeich- net, übereinstimmt, ist ganz unzweifelhaft. Und diese Uebereinstimraung erstreckt sich über die blossen Gedanken hinaus zu den Dingen selbst; denn in allem Denken und Schliessen, welches sich innerhalb dieser Begriffe bewegt, betrachten wir die Dinge, insofern (nicht sowohl unsere Vorstellungen mit ihnen, als vielmehr) sie, die Dinge, mit unseren Vorstellungen und Gedanken übereinstimmen.185) Das aus- gebreiteteste Beispiel dieser Art von Erkenntniss bietet, wie schon be- merkt, die Mathematik dar, die jedermann nicht nur für eine gewisse, sondern auch für eine reelle Erkenntniss hält und welche gleichwohl sich nur mit Vorstellungen und Begriffen beschäftigt, ohne dass die Wahrheit und Wirklichkeit dieser Erkenntniss von der Existenz der Gegenstände abhängt, an denen die mathematischen Bestimmungen vor- kommen mögen. Dass die drei Winkel eines Dreiecks zwei rechten gleich sind, ist eine reelle Erkenntniss, gleichviel ob ein dreieckigtes Ding existirt oder nicht. Und eben desshalb, weil der Geometer die Dinge insofern betrachtet, in wiefern sich geometrische Bestimmungen an ih- nen finden, kann er daraufrechnen, dass, was von den geometrischen

484) a. a. 0. § \l. Herein tkerefore is founded the reality of our knowledge con- cerning substances, that all our comp lex ideas of them must be such and such only, as are made up of such simple ones, as hos been discovered to coexist in tiature. And our ideas being thus true, tho* not perhaps very exact copies, are yet the subjects of real {as far as we have any) knowledge of them.

185) a. a. 0. § 5. All our complex ideas except those of substances , being arche- types of the minds own making, not intended to be the copies of any thing, not referred to the existence of things as to their original, cannot want any conformity necessary to real knowledge. . . . So that we cannot but be infallibly certain that all (he knowledge we attain concerning these ideas is real and reaches the things themselves. Because in all our thoughts, reasoning and discourses, we intend things no far t her, than as they are conformable to our ideas. So that in these we carvnot miss of a certain and undoubted reality.

71] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 481

Constructionen, insofern auch von den Dingen gelten wird.186} Eben so verhält es sich mit den moralischen Begriffen; auch sie bedeuten nichts Anderes als sich selbst; sie richten sich nicht nach dem, was ist und geschieht, sondern dieses wird nach ihnen bestimmt, und wenn der Ge- danke richtig ifijt, dass der Mord den Tod verdient, so wird dieser Satz von jeder wirklichen Handlung,. die dem Begriffe des Mordes entspricht, ebenfalls gültig sein.187)

So ist Wahrheit immer ein Prädicat von Sätzen , und ein Satz ist wahr, wenn er eine den Verhältnissen der Dinge d. h. des Gedachten entsprechende Verknüpfung oder Trennung der Zeichen enthält.188) Aber gerade darum, weil bei der Unentbehrlichkeit der Sprache zur Bezeich- nung der Gedanken die Menschen oft in Begriffen zu denken glauben» während sie nur Worte mit einander verknüpfen, ist es nothwendig, die gedachte, begriffsmässige Wahrheit von der blos in den Worten liegen- den zu unterscheiden.180) Die ausführliche Erörterung, welche Locke diesem Unterschiede widmet, hat die Absicht zu zeigen, dass das auf eine fortschreitende Erkenntniss gerichtete Denken in gewissem Sinne unabhängig sei und sich unabhängig halten müsse von der Sprache; dem wissenschaftlichen Denken ist sein Weg nicht nothwendig durch die in der Sprache vorhandenen Vorstellungscomplexe vorgezeichnet, sondern durch den Inhalt des Gedachten selbst. Desshalb ist die in dem sprachlichen Ausdruck liegende Wahrheit theils mehr als die gedachte; denn sie enthält ausser dem Verhältniss der Begriffe auch noch die Be- ziehungen der Worte aufeinander; theils weniger, denn sie kannr ob- gleich wahr, doch leer an Erkenntniss sein.190) Zu solchen, den Worten

486) a. a. 0. § 6. 7. Vgl. eh. XII, § 7.

«87) a. a. 0. § 7—9. Vgl. B. III, eh. XI, §16.

4 88) B. IV, eh. V, § 8. Truth seems to me, in the proper import of the word, to signify nothing but the joining and separating of signs, as the things signißed by them do agree or düagree one with other. So that truth properly belongs only to propositions.

1 89) a. a. 0. § 3. To form a clear notion of truth, it is very necessary to consider truth of thought and truth of words, distinctly one of another; but yet it is very difficult to treat of them asunder, because it is unavoidabie, in treatmg of mental propositions, to make use of words; and then instantes given of the mental propositions cease immediately to be barely mental and become verbal. For a mental proposition being nothing but a bare consideration of the ideas, as they are in our mmds slripped of names, they lose the nature of pure mental propositions, as soon as they are put into toords. Zur Erläute- rung § 4.

4 90) a. a. 0. § 6. When ideas are so put together or separated in the mind, as

182 6. Hartenstein, [72

nach wahren, aber für die Erkenntoiss unfruchtbaren Sätzen rechnet er erstlich alle identischen Sätze. Den Wahn, als ob durch identische Sätze etwas erkannt werde, vergleicht er mit der Erwartung eines Affen, der dadurch satt zu werden hofft, dass er eine Auster aus einer Pfote in die andere wirft.191) Sodann sind aber auch alle die Sätze unfruchtbar für die Erkenntniss, in denen ein oder mehrere Merkmale eines Begriffs von diesem selbst ausgesagt werden; wie namentlich in allen den Fällen geschieht, wo der Gattungsbegriff von einer Art prädicirt wird; ein Ver- fahren, welches nützlich sein mag, um einem Andern auseinanderzusetzen, was man bei einem bestimmten Begriffe denkt , welches aber die Er- kenntniss selbst nicht im geringsten vermehrt.192) Ueberhaupt alles Den- ken , welches entweder ein Abstractum an die Stelle des andern setzt, nnd somit über den Inhalt des Begriffs, mit welchem man zu thun hat, nicht hinausführt , bewegt sich lediglich in Worten und ist leer an Er- kenntniss, ein Satz, durch welchen Locke, obgleich er den Unterschied analytischer und synthetischer Urtheile nirgends ausdrücklich gelten macht, doch so hart an der Grenze der Einsicht, dass jede wirkliche Erweiterung der Erkenntniss auf synthetischen Urtheilen beruht, streift, dass eben nur die Bezeichnung solcher Urtheile als synthetischer fehlt.19*) Enthalten alle Sätze, welche den Gattungsbegriff von der Art prä- diciren, nicht eine Erweiterung und Vermehrung, sondern lediglich eine Auseinandersetzung oder Wiederholung dessen, was wir schon wissen, so ist es sehr natürlich, dass Locke die Frage aufwirft, in wie fern es möglich sei , allgemeine Sätze mit dem Anspruch auf Erkenntniss auf-

they or the things they stand for, do agree or not, that is, as I may call ü, mental truth. But truth of words is something more, and that is the affirming or denying of words one of another , as the ideas they stand for agree or disagree. And this agam is twofold, either purely verbal and trifling, . . or real and instructive. Vgl. § 8. 491) B. IV, eh. VIII, § 3.

192) a. a.O. §4. Another sort of triflmg propositions is, when a part of the com- plex idea is predicated of the name of the whole. . . Such are all proposüions toherein the genta is predicated of the species. §9.0/' this sort a man may find an infinite number of propositions, reasonmgs and conclusions in books of metaphysicks, school-divinity and some sort of natural phüosophy; and afler all, know as litüe of God, spirits or bodies, as he did before he sei out.

193) a. a. 0. § 43. This, I think, I may lay down for an infallible rule, that, whatever the distinet idea any toord Stands for, is not knoum and considered, and some- thing, not contained in the idea, is not affirmed or denied of ü, there our thoughts stick wholly in sounds and are able to attain no real truth or falshood.

73] Locke's Lehre von der mbnsghl. Erkenntnis u. 8. w. 183

zustellen. Allgemeine Sätze sind ihm, wie allgemeine Begriffe, eine Ab- breviatur des Denkens; indem sie eine Masse von Einzelnheilen umfas- sen, erweitern sie den Gesichtskreis, verkürzen den Weg der Forschung, und sind diejenige Form, in welcher sich das Denken vorzugsweise be- wegt.194) Die Wahrheit eines allgemeinen Satzes hängt aber immer von der Kenntniss der Grenzen und des Wesens dessen ab, was in den Um- fang der in ihm vorkommenden allgemeinen Begriffe fällt. Solche genaue Grenzbestimmungen sind nun allerdings möglich bei den einfachen Vor- stellungen und den modus; denn bei ihnen fällt das nominelle und reelle Wesen zusammen, d. h. der Begriff ist bei ihnen die Sache selbst. Aber ganz anders verhält es sich bei allgemeinen Sätzen über die Dinge, die- sen Complexionen von Merkmalen, denen wir ein unbekanntes Substra- lum, die Substanz, unterlegen. So lange wir nicht wissen. und wir wissen es in der That nicht, wie ursprünglich die sinnlichen Merk- male der Dinge bedingt sind , welches notwendige Band sie unter ein- ander verknüpft, ja, wie überhaupt die Körper in uns Empfindungen und Vorstellungen erwecken, können wir von ihnen keinen Satz mit dem Anspruch auf strenge Allgemeinheit aussprechen, zumal überdies der grösste Theil dessen , was wir den Dingen als beharrliche oder wech- selnde Eigenschaft beilegen , auf äusseren zum Theil sehr entlegenen und unbekannten Bedingungen beruhen mag.198) Möglich, dass der Fleiss

194) B. IV, ch.V, §10.

195) B. IV, eh. VI, § 4. Because we cannot be certain of the truth of any general proposition, unless we know the precise bounds and extent of the species the terms stand for, it is neeessary we should know the essence of eaeh species , which is that which con- stitutes and bounds it. This, in all simple ideas or modes, is not hard to do. For in these the real and nominal essence being the satne, or, which is all one, the abstract idea which the general term Stands for, being the sole essence and boundary that is or can be suppo- sed of the species, there can be no doubt , how far the species extends or what things are comprehended under each term. . . . But m substances, wherein a real essence, distinet from the nomiml, is supposed to constitute, determine and bound the species, the extent of the general word is very unceriain; because, not knowing this real essence, whe cannot know what is or is not of that species. §13. All general knowledge lies only in our own thoughis and consists barely in the contemplaHon of our own abstract ideas. Wherever we pereeive any agreement or disagreement anongst them, there we have general know- ledge and by pulting the names of those ideas together accordmgly in proposiUons can with certainty pronounce general truths.. But because the abstract ideas of substances, for which their speeifick names stand, . . . have a discoverable connexion or inconsistency with but a very few other ideas, the certainty of universal proposiUons concerning substances

184 G. Hartenstein, [74

und die Geschicklichkeit der Beobachtung durch scharfsinnige Verknüp- fung der Phänomene auf Vermuthungen Führt, welche die jetzige Erfah- rung Überschreiten; es werden das aber immer nur Vermuthungen blei- ben, denen die strenge Gewissheit und Allgemeinheit fehlt. Diese bleibt beschränkt auf das Gebiet der Begriffe, die ohne den Anspruch das Wesen der Dinge zu bezeichnen nichts bedeuten als sich selbst, also, nach Locke's früheren Bestimmungen, die mathematischen und ethischen.196)

Trotz des Gewichtes, welches Locke auf die Allgemeinheit der Erkenntniss innerhalb der Grenzen legt, in denen sie ihm als erreichbar erscheint, aber auch zugleich im Zusammenhange mit dem Satze, dass rücksichtlich der Erkenntniss der Wirklichkeil die Wahrheit des Allge- meinen auf der Wahrheit des durch dasselbe gedachten Besonderen be- ruht, ist er, theilweis nicht ohne eine gewisse Ironie über die Pedanterie der Schulphilosophie bemüht, die Unfruchtbarkeit oder wenigstens die Entbehrlichkeit der allgemeinen Formen und Formeln nachzuweisen, deren bewusst volle Anwendung die wissenschaftliche Methodologie als ein unentbehrliches Hülfsmittel des Denkens geltend macht. Es gehören hierher die beiden Gapitel über die Axiome und über den Syllogismus, als die angeblich notwendigen Regulatoren und unentbehrlichen For- men des fortschreitenden Denkens.

Rücksichtlich der Axiome, die er gewöhnlich Maximen nennt, d. h. der unmittelbar gewissen und allgemeinen Sätze, welche für bestimmte Gebiete der Erkenntniss die unentbehrliche Grundlage darbieten sollen, fragt er zuvörderst, innerhalb welcher Gebiete sich dergleichen Sätze überhaupt nachweisen lassen. In Beziehung auf die Existenz, die Wirklichkeit der äusseren Dinge gibt es gar keine, rücksichtlich der Verknüpfung der Merkmale in den Dingen gibt es deren nur überaus wenige; alle oder wenigstens die meisten solcher unmittelbar gewisser Sätze beziehen sich auf Einerleiheit oder Verschiedenheit oder auf die Beziehungen der Begriffe.1*7) In beiderlei Rücksicht sind aber eigent- lich alle Sätze gleich evident und unmittelbar gewiss, welche eine un-

is very narrow and scanty in that pari, which is our prirtcipal enquiry concernmg them. Vgl. die § 8 \l analysirten Beispiele.

196) a. a. 0. § «3.

497) B. IV, eh. VII, § 5 7. Rücksichtlich der Verknüpfung der Merkmale in den Dingen ist Locke geneigt den Satz, dass zwei Körper nicht in demselben Räume zu* gleich sein können, für einen unmittelbar gewissen Satz zu halten.

T5] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 185

mittelbare Entscheidung über das Verhältniss oder die Beziehung meh- rerer Begriffe enthalten. Jeder Begriff ist, was er ist, und für Jeden, der einen bestimmten Begriff denkt, ist es unmittelbar gewiss, dass die- ser Begriff dieser und nicht ein anderer ist. Die Satze: ein Mensch ist kein Pferd, oder: wenn ich von den fünf Fingern jeder Hand zwei weg- nehme, so bleiben an jeder Hand drei, sind eben so evident, als der Satz: es ist unmöglich, dass etvvafe zugleich sei und nicht sei, oder der: Gleiches zu Gleichem und Gleiches von Gleichem gibt Gleiches.108) Wenn nun die Schulphilosophie gewisse allgemeine Sätze, die sie wegen ihrer unmittelbaren Evidenz Axiome oder Maximen nennt, Für die entweder der Zeit oder der Sache nach ersten Erkenntnisse und somit für die Grundlage des fortschreitenden Denkens erklärt, so ist das ein Irrthum. Einzelnvorstellungen sind früher, als allgemeine; das Kind weiss viel früher, dass die Ruthe kein Zucker ist, als es an den Satz des Wider- spruchs denkt, und eben so wenig ist der Satz : das Ganze' ist gleich der Gesam rotheit seiner Theile, der Grund der Erkenntniss, dass 1+2 = 3 ist; vielmehr nimmt ein Denken, welches sich des Inhaltes des Gedach- ten bewusst ist, in unzähligen Fällen das Verhältniss dieses Inhaltes un- mittelbar wahr, ohne erst den Umweg durch die aus allgemeinen Be- griffen gebildeten Sätze zu nehmen, welche man Axiome nennt.190) So wie aber diese Axiome keinen Beweis für spezielle an sich evidente

198) a. a. 0. § 4. Every one finds in himself, that he knows the ideas he has; that he knows also, when any one is in his understanding and tohat it is; and that, tvhen more than one, are there, he knows them distinctly and unconfusedly one from another. Which ahoays being so {it being impossible but that he should perceive what he perceives), he can never be in doubt, when any idea is in his mind, that it is there and is that idea it is, and that two distinct ideas, when they are in his mind, are there and are not one and the satne idea. Die Beispiele § 6.

199) a. a. 0. § 9. 1 0. These magnified maxims are not the principles and founda- tions of all our other knowledge. For if there be a great tnany other truths which have as much selfevidence as they and a great many that we fcnow before them, it is impossible they should be the principles from which we deduce all othw truths. . . . What idea soever is affirmed of itself or whatsoever two entire distinct ideas are denied one of another, the mind eannot but assent to such a proposition, . . . as soon as it widerstand the terms, . . . without . . . regarding those made in more general terms and called maxims. §H: 1 . 2. Vgl. IV, cb. XII, § 3. These general rules are but the comparing our more general and abstract ideas, which are the workmanship of the mind, made . . for the easier dis- patch in its reasonitigs and drawing into comprehensive terms and short rules its various and multiplied observations.

486 6. Hartenstein, [76

Sätze und daher auch niemals die Begründung einer Erkenntnis ent- halten, so sind sie auch untauglich zur Erweiterung der Erkenntniss und zur Entdeckung vorher unbekannter Wahrheiten. Die grossen Entdeckun- gen eines Newton sind nicht bedingt durch die Anwendung des Satzes der Identität und der arithmetischen und geometrischen Axiome , son- dern durch die Auffindung der die Wahrheit der von ihm entdeckten Sätze vermittelnden Begriffe. Der Nutzen , den dergleichen allgemeine Sätze haben, besteht lediglich darin, dass sie ein Mittel theils der ge- ordneten Mittheilung schon gewonnener Erkenntniss, theils der Wider- legung im Verkehr mit hartnäckigen Streitköpfen sind. Sind vollends die Begriffe Falsch und unklar, kleben die Gedanken an den Worten» statt bestimmte Vorstellungen zu bezeichnen, so werden dergleichen mit aromatischer Gewissheit ausgesprochne Allgemeinheiten geradezu eine Stütze von Irrthümern, wie Locke z. B. an der cartesianischen Gleich- setzung der Begriffe des Raums und des Körpers weitläuftig auseinander- gesetzt.300)

Ganz in ähnlicher Weise spricht er Über den Nutzen, welchen die bewusstvolle Auwendung des "syllogistischen Formalismus für die Sicher- heit und den Fortschritt der Erkenntniss habe. Bei den engen Grenzen, an welche die sinnliche Empfindung und die unmittelbaren Entschei- dungen über das Verhältniss der Empfindungen gebunden sind , beruht der grösste Theil der Erkenntniss auf Deductionen und Schlüssen, also auf Vermittelungen des Denkens.'201) Diese Thätigkeit des Subsumirens und Schliessens legt er einem besondern Vermögen, der Vernunft (reason) bei und ihre Functionen bestehen erstlich in der Auffindung der vermit- telnden Begriffe (sagacity), zweitens in der Anordnung derselben, um ihren Zusammenhang übersehen zu können, drittens in der Wahrneh- mung dieses Zusammenhanges , endlich viertens in der Ableitung des Schlusssatzes.302) Erkläre man nun den Syllogismus für das grosse Werkzeug der Vernunft und für den sichersten Wegweiser in der Aus- übung dieses Vermögens, so sei zuvörderst deutlich, dass der Syllogis- mus eigentlich nur die Verknüpfung der vermittelnden Glieder des Be- weises vor Augen legt und dass diese Verknüpfung in jedem einzelnen

«00) B. IV, cb.VII, § II. JSfgg.

201) B. IV, eh. XVII, § 2. Sense and intuition reach but a very little%way. The greatest part of our knowledge depends upon deduetions and intermediate ideas. 102) a. a. 0. §3.

77] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 1 87

Fälle eben so gut ohne die Hülfe der syllogistischen Regeln wahrgenom- men werden kann als mit ihr, man müsste denn annehmen, dass Nie- mand ohne das Bewusstsein jener Regeln einen richtigen Schluss ma- chen könne, wobei es nur unbegreiflich sein würde, wie Aristoteles selbst jene Regeln und Formen habe entdecken können.308) Die Anord- nung der vermittelnden Begriffe, die der Syllogismus nicht finden lehrt, hänge von dem Inhalt der Begriffe selbst ab und die syllogistische Form könne der Einsicht in die Verhaltnisse der Begriffe nichts hinzufügen.904) Allerdings lasse sich jede Schlussfolge in syllogistischer Form darstel- len, und Leute, die daran gewöhnt sind, mögen dies Ihun; aber, gänz- lich unfähig unsere Ei kennt niss zu erweitern , sei der Syllogismus im besten Falle nichts als die Kunst, die Erkenntniss, die man schon bat, geltend zu machen.205)

Diese Erörterungen Locke's über die Entbehrlichkeit und den ge- ringen Werth der syllogistischen Formeln berühren keineswegs seine Ueberzeugung von der Allgemeingültigkeit und Noth wendigkeit des de- monstrativen Wissens, sondern sie lehnen für ein auf dasselbe gerichtetes

203) a. a. 0. § 4. God hos not been so sparing to men to make them barely ttop- legged creatures and left it to Aristotle to make them rational t. e. those few of them that he could get so to examine the grounds of syllogisms, as to see, that m above thrcescore toays that three propositions may be laid together, there are but about fourteen, wherem one may be sure that the conelusion is certain and in the other not. ... I say not this any way to lessen Aristotle . . . And 1 readily own, that all right reasoning may be reduced to his forms of syllogism. But yet 1 think without any diminution to htm, 1 may truly say, that they are not the only , nor the best way of reasoning . . . And he himself, it is piain, found out some forms to be conclusive and others not; not by the forms themselves, but by the original way of knowledge i. e. by the visible agreement of ideas.

204) a. a. 0. (p. 293.) The natural order of the connecting the ideas must direct the order of the syllogisms and a man must see the connexion of each intermediate idea with those that it connect, before he com with reason make use of it in syllogism.

205) a. a. 0. (p. 298.) If men skilled in and used to syllogisms* find them assisting to their reason tri the discovery of truth, I think they ought to make use of them. AU that l am at is, that they should not ascribe more to these forms than belongs to them. § 6. The rules of syllogism serve not to furnish the mind with those intermediate ideas that may shew the connexion of remote ones. . . . Syllogism, at best, is but the ort of fencing with the Utile knowledge we have, without making any addüion to it. Der allgemeinen Beurtheilung des Werths der syllogistischen Formen gegenüber ist die Bemerkung, welche Locke über die gewöhnlich angenommene Stellung der Begriffe im Syllogismus macht/ so wie die Bestreitung des Satzes, dass in jedem Syllogismus wenigstens eine allgemeine Prämisse vorkommen müsse 8), nur von untergeordneter Bedeutung.

188 G. Hartenstein, [78

Denken nur die Notwendigkeit ab, seine Operationen an das Bewusst- sein jener Regeln und Formeln zu knüpfen. Nicht diese logischen Regeln und Formeln geben den Gedankenverbindungen ihre Nolhvvendigkeit und Allgemeingültigkeit:, sondern der Inhalt und die Beziehungen des Gedachten selbst. Aber der Umfang des demonstrativen Wissens und seiner Grundlage, des intuitiven, ist sehr gering; die Lage des Menschen würde namentlich rücksichtlich seiner praktischen Bedürfnisse sehr hülf- los sein, wenn er sich in seinem Fürwahrhallen und seinen Entschließ

9

sungen lediglich hieran halten sollte, und so unterlässt Locke nicht, auch noch die Arten des Fürwahrhaltens ins Auge zu fassen, welche nicht unter den Begriff des unmittelbaren intuitiven und des strengen demon- strativen Wissens fallen, und nimmt davon Gelegenheit, am Schlüsse des gahzen Werks das Verhältniss des prüfenden Denkens zum religiö- sen Glauben näher zu bestimmen.

Den Ersatz des Mangels an strengem Wissen bildet im Allgemeinen das Urtheil nach Wahrscheinlichkeit, ein Fürwahrhalten aus Gründen, die, wie Locke sagt, nicht unveränderlich oder als solche der Erkennt- niss zugänglich sind, sondern nur in den meisten Fällen uns ausreichend erscheinen.10") Darauf gründet sich der Unterschied zwischen Wissen und Glauben, und die Grade der Wahrscheinlichkeit, so wie des damit verbundenen Fürwahrhaltens richten sich nach der Sicherheit der Be- obachtung, der häutigen Wiederholung der Erfahrung, der Zahl und der Glaubwürdigkeit der Zeugen.207) Für Meinungen über Dinge die nicht durch Erfahrung und Zeugniss constatirt werden können , erklärt Locke die Analogie als das Mittel einer wahrscheinlichen Erkenntniss/ohne auf die Bedingungen und Grenzen des Schlusses nach Analogie näher einzugehen; denSchluss nach Induction zergliedert er nirgends ausführ-

206) B. IV, eh. XIV, § 3. The faculty which God hos given man to supply the want of clear and certain knowledge, is judgment; whereby the mind takes its ideas to agree or disagree, or, which is the same, any proposition to be^true or false, wühout pereeiving a demonstrative evidence in the proofs. § 4. Judgment is the putting ideas together or separatmg them from one another in the mind, when their certain agreement or disagreement is not pereeived, but presumed to be so. eh. XV, § I. Probability is nothing but the appearance of such an agreement or disagreement, by the intervention of proofs , whose connexion is not constant and immutable or at ieast is not pereeived to be so, but is or appears for the most part to be so and is enough to induce the mind to judge the proposition to be true or false rather than the cohlrary. Vgl. eh. XYfl, § 17.

807) B. IV, eh. XIV, § 6.

79] Locke's Lehre von der uenschl. Erkenntisiss u. s.w. 189

lieh, wie überhaupt nirgends in seinem Werke Erörterungen vorkommen, die auf einen besonderen Einfluss der Lehre Baco's von Verulam auf ihn schliessen lassen/06) Dagegen könnte es auffallen, dass er die durch die Offenbarung beglaubigten Wunder ausdrücklich von den Fallen aus- nimmt, wo eine der Erfahrung zuwiderlaufende Behauptung die Kraft des Zeugnisses aufhebe ,m) wenn nicht seine Bestimmung des Verhält- nisses zwischen Vernunft und Glauben sehr deutlich lehrte, wie wenig er geneigt war, die Rechte des prüfenden Denkens einer äusseren Auto* rität gegenüber aufzuopfern.

Unter dem Glauben, im Unterschiede oder, wenn man so will, im Gegensatze zur Vernunft versteht Locke die Zustimmung zu Sätzen, welche ohne einen durch die natürlichen Erkenntnisskräfte aus dem In- halte der Begriffe abgeleiteten Beweis, sich auf die Glaubwürdigkeit dessen stützt, der dergleichen Sätze durch ausserordentliche Mittheilung von Gott erhalten zu haben versichert. Eine solche Mittheilung heisst Offenbarung, und zwar eine ursprüngliche, während die Mittheilung ihres Inhalts durch den, der sie zuerst empfangen hat, eine überlie- ferte Offenbarung sein würde.210) Eine ursprüngliche Offenbarung vor- ausgesetzt, bemerkt nun Locke zuvörderst, kann der, welchem sie ge- worden ist, anderen* Menschen durchaus keine einfache Vorstellung mit- theilen, die ihnen nicht vorher durch Sensation oder Reflexion bekannt gewesen wäre. Denn jede Art der Mittheilung müsste sich bestimmter Zeichen bedienen; durch Zeichen aber ist es nur möglich, Vorstellungen mitzutheilen, die schon vorher bekannt waren. .Es lässt sich ferner zwar die Möglichkeit denken , dass die nämlichen Wahrheiten , welche wir

208) B. IV, eh. XVI, § 12. —.Für das Verhältnis» zwischen Locke und Bacon ist geradezu entscheidend, dass während dieser das Wissen auf Induction gründet oder wenigstens beschränkt, jener ein lediglich auf eine Masse beobachteter Fälle be- ruhendes Fürwahrhalten von dem Begriffe des Wissens ausschliesst und in das Gebiet der blossen Wahrscheinlichkeit verweist.

209) a. a. 0. § 43. 44.

240) B. IV, eh. XVIII, § 2. Reason, as contr adis Unguis hed to faith, I take to be the diseovery of the certainty or probability of such propositions or truüis, tvhich the mind arrwes at by deduetion made from such ideas tohich it hos got by the use of its natural faculties. Faith is the assent to any proposition not thus made out by the de- duetion of reason, but upon the credit of the proposer, as Coming from God, in some extraordmary way of communication. This way of dtocovering traditipn to men is called revelation.

490 G. Hartenstein, [80

durch vernünftiges Denken erreichen können, durch Offenbarung mit- getheilt werden. Aber in diesem Falle würde die letztere weder not- wendig, noch sonderlich nützlich sein, weil uns unabhängig von ihr Mittel zu Gebote stehen würden, diese Erkenntnisse zu erlangen und eine durch eigenes Denken gewonnene Erkenntniss besser begründet ist, als ein Fürwahrhalten , welches sich lediglich auf das Factum der Offenbarung stützt. Dies gilt nicht blos von der Demonstration z. B. eines geometrischen Lehrsatzes, sondern selbst von äusseren Thatsachen; wie z. B. der, welcher die Sündfluth miterlebt hätte, eine grössere Zu- versicht über dieses Factum haben würde , als der sie aus der Bibel kennen lernt.211)

Eben desshalb kann auch der Anspruch, mit welchem ein geoffen- barter Satz auftritt, den denkenden Menschen nicht dazu bringen, etwas für wahr zu halten, was evidenten Sätzen zuwiderläuft. Man wird einen solchen Satz nicht für geoffenbart halten können und zwar desshalb, weil, ob der fragliche Satz wirklich von Gott mitgetheilt ist und ob der, welchem er mitgetheilt ist, ihn richtig verstanden habe, immer einem möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt, während ein wirklich evidenter Satz eben dadurch evident ist, dass er den Zweifel ausschliesst.312) Dies gilt sogar für den unmittelbaren Empfänger der Offenbarung, wie viel mehr da, wo es sich um eine überlieferte Offenbarung handelt. Um die Frage zu entscheiden , ob ein bestimmtes Buch , welches mit dem An- spruch auftritt, geoffenbarte Sätze zu enthalten, wirklich geoffenbart sei, bedürfte es einer diese Behauptung des Geoffenbartseins bestätigenden zweiten Offenbarung. In allen den Fällen also, wo wir durch unser

2H) a. a. 0. § 3. 4. The knowledge we have that this revelation came at first from God, can neuer be so sure as the knowledge we have from the clear and distmct per- ception of the agreement or disagreement of our own ideas. . . . The like hold» in inaUer of fact, knowable by our senses.

t\%) a. a. 0. § 5. We can never assent to a proposition, that affirms the same body is in two distant places at once , however it should pretend to the authority of a divine revelation, since the evidencef first, that we deceive not ourselves in ascribing it to God, secondly, that we understand it right, can never be so great, as the evidence of our own intuitive knowledge . . . And therefore no proposition can be recewed for divine reve- lation or obtain the assent due to all such, if it be contradictory to our clear intuitive knowledge; because this would be to subvert the principles and foundations of all know- ledge, evidence and assent whatsoever. And there would be left no difference between truth and falshood, no measurea of credible and incredible in the world u. s. w. Vgl. § 8.

81] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 191

eigenes Denken ein evidentes Wissen erlangen können, ist die Vernunft der competente Richter; die Offenbarung kanu ihre Entscheidungen be- stätigen , aber ihre Gesetze nicht aufheben.213) Als der einzige Gegen- stand des Offenbarungsglaubens bleiben daher nur Sätze übrig, über welche wir entweder keinerlei Erkenntnissquelle haben, welche also die Vernunft übersteigen, oder rücksichtlich deren uns nicht vollkommen entscheidende Gründe des Fürwahrhaltens zu Gebote stehen.214) Alles, was Gott wirklich geoffenbart hat, ist wahr und gewiss , daran ist kein Zweifel ; aber ob das, was als geoffenbart hingestellt wird, wirklich eine Offenbarung ist oder nicht, das hat die Vernunft zu beurtheilen, und namentlich bei einer überlieferten Offenbarung wird sie nichts für offen- bart halten können , was ihren an sich selbst klaren und evidenten Er- kenntnissen widerstreitet. Wolle man diese Grenzbestimmung zwischen Vernunft und Glauben nicht zulassen, so werde man sich gefallen lassen müssen, dass die Religion der Vernunft ganzlich entbehre, und sich je- des Rechtes begeben , gegen die ausschweifendsten religiösen Meinun- gen und Ceremonien Einspruch zu thun.215) Dass endlich jeder, der mit dem Anspruch auftritt, dass ihm eine Offenbarung von Gott zu Theil geworden sei, und sich dabei auf ein inneres Licht, auf die Wirkung des Geistes in ihm u. s.w. beruft, sich die Frage gefallen lassen müsse, ob er nicht eine schwärmerische Selbsttäuschung für eine ihm gewordene Offenbarung halte, hätte Locke nach dem im 18. Capitel Vorgetragenen kaum nöthig gehabt so ausführlich auseinanderzusetzen, als er im 1 9. Capitel thut.

213) a. a. 0. § 6. In all things, where we have clear evidence front our ideas and those prindples of knowledge / have above mentioned , reason is the proper judge, and revelation, though it may in consenting with it confirm its dictates, yet cannot in such cases invaUdate its decrees.

314) a. a. 0. § 7. There being many things, w her ein we have very imperfect notions or none at all, and other things, ofwhose past, present, or future existence by the natural use of our faculties we can have no knowledge at all, these as being beyond the discovery of our natural faculties and above reason, are, when revealed, the proper matter of faith. Vgl. § 9. § 10. Nothing that is contrary to ani inconsistent with the clear and self-evident dictates of reason hos a right to be urged or assented to as a matter of faith, wherein reason hath nothing to do. Die Vernunft nennt Locke eine natürliche Offenbarung, welche die historische Offenbarung überschreitet, aber nicht widerlegen kann. B. IV, eh. XIX, § 4.

215) a. a. 0. §11.

Abhaodl. d. K. S. Gel. d. Wisi. X. i 13

192 G. Hartenstein, [88

vn.

Ein zusammenfassender Ueberblick über das Ganze der Lehren Locke's dürfte nun in der That. durchaus nicht das Urtheil rechtfertigen, dass seine Ansicht von dem menschlichen Wissen den empiristischen Charakter hat, durch den man sie gewöhnlich ausreichend bezeichnen zu können glaubt. Freilich behauptet er, dass alle unsere Vorstellungen in letzter Instanz rücksichtlich ihrer Elemente auf die Erfahrung zurück- geführt werden müssen, aber gleichwohl wäre es nicht richtig, seinen Satz: wovon wir keine Vorstellung haben, davon igt auch keine Er- kenritniss möglich, in den Satz zu verwandeln: wovon wir keine Erfah- rung haben , davon haben wir keine Vorstellung. Denn jene Ableitung der Vorstellungen aus der Erfahrung ist für ihn erstlich nicht auf die äussere sinnliche Erfahrung beschränkt, sondern die innere Wahrneh- mung der Veränderungen, welche die geistige Thätigkeit mit dem sinn- lichen Erfahrungsstoffe vornimmt, und derRückschluss auf die verschie- denen Arten dieser Thätigkeit , somit auch die diesen Thätigkeiten vor- auszusetzende verschiedenartige Befähigung , kraft deren in dem Unter- scheiden, Vergleichen, Abstrahiren, Combiniren, Folgern u. s.w. eine un- bestimmte Mannigfaltigkeit von der äusseren Erfahrung veranlasster, aber in dem äusseren Erfahrungsstoffe nicht unmittelbar mitgegebener Vorstel- lungsgebilde zu Stande kommt, fällt für ihn eben so in das Gebiet der er- fahrungsmässig gegebenen Thatsachen, als die sinnliche Empfindung der Eigenschaften, durch die sich uns die Dinge verrathen. Den Unterschied zwischen Receptivität und Spontaneität, die Kant. und zwar lediglich als Ausdruck einer Thatsache dem menschlichen Geiste beilegt, kann Locke, wenn auch nicht ganz im Sinne Kant's, ebenfalls für sich in An- spruch nehmen. Zweitens aber bezeichnet diese Berufung auf äussere und innere Erfahrung bei Locke nur den Anfang, den Ausgangspunkt nicht sowohl unseres Erkennens, als vielmehr lediglich unseres Vorstel- lens und Denkens; und nur in dieser Beziehung hat die Frage, ob ein Denken, welches in gar keinem nachweisbaren Zusammenhange mit dem erfahrungsmässig Gegebenen stände, einen Anspruch auf Erkenntniss habe, an dieser Stelle für ihn gar keine Bedeutung; denn ursprünglich gibt es kein solches Denken.

Was aber viel wichtiger ist, als diese beiden Punkte, die von Locke behauptete Unmöglichkeit, den Vorstellungen und Gedanken einen

,83] Locke's Lehre von der mensciil. Erkenntnis^ ii. s. w. 193

andern Ursprung als einen empirischen zuzuschreiben, ist für ihn nir-# gends der entscheidende Gesichtspunkt, wo es sich darum handelt, den Gehalt der Erkenntniss zu bestimmen. Bestimmt man das wesentliche Merkmal des Empirismus dahin , dass er die natürlichen Producte der passiven und activen Bewegung der Vorstellungen und Gedanken, also die unwillkührlich durch den Verkehr mit der Aussenwelt und die inne- ren; zum grossen Theile unwillkürlichen Tätigkeiten entstandene Welt- ansicht für wahr, ftlr übereinstimmend mit der Beschaffenheit der da- durch vorgestellten Dinge hält, so sind die Resultate, zu welchen Locke gelangt, das gerade Gegentheil des Empirismus, indem sie entweder das Verhältniss der Vorstellungen zu djem Vorgestellten unbestimmt lassen, oder es in der nachdrücklichsten Weise aussprechen, dass der empirisch überkommene Vorstellungskreis keinen Anspruch auf Wahrheit in die- sem Sinne hat, oder endlich darauf hinweisen, dass diejenige Formation, Verknüpfung und Erweiterung des Gedankenkreises, welche auf den Namen des Wissens Anspruch machen kann, von dei1 Erfahrung insofern ganz unabhängig ist, als der Beweis ihrer unerschütterlichen Gewiss- heit durchaus nicht auf den Nachweis weder ihres Ursprungs aus der Erfahrung, noch ihrer Uebereinstimmung mit der Erfahrung gegrün- det ist.

Rücksichtlich des ersten Punktes muss an die Art erinnert werden, wie Locke sich über die Existenz der Aussenwelt und das Verhältniss unserer Vorstellungen zu der Qualität der Dinge äussert. Er macht kei- nen Anspruch darauf die Existenz der äusseren Dinge beweisen zu können; aber die Zuversicht, mit welcher wir die sich uns ganz unwill- kührlich aufdringenden Sinnesempfindungen sammt den eben so unwill- kttbrlichen Gefühlen der Lust und des Schmerzes, die sie in uns hervor- rufen, nicht als lediglich von dem wahrnehmenden Subject, sondern von den Objecten verursacht ansehen, ist für ihn gross genug, um sich des Streits mit einem Skepticismus zu begeben, der entschlossen wäre, die ganze Welt der sinnlichen Wirklichkeit für einen Traum zu erklären (vgl. oben S. 174). Rücksichtlich des ursachlichen Verkehrs zwischen den Dingen und dem empfindenden Subject bescheidet er sich ebenfalls, keine strenge Theorie aufstellen zu können; er hält die Art, wie die Gar- tesianische Schule dieses Verhältniss zu erklären suchte, für eine wahr- scheinliche Hypothese, aber das Wesen der Seele erklärt er für gänzlich

unbekannt. Eine gewisse Hinneigung zu den Voraussetzungen der damals

13*

194 6. Hartenstein, [84

herrschenden mechanischen Naturphilosophie verfuhrt ihn, Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Gestalt und Beweglichkeit als den körperlichen Dingen an sich zukommende Urqualiüilcn beizulegen; aber er hat die vollkommen klare Einsicht, dass, was wir sonst als sinnlich wahrnehm- bare Eigenschaften den Dingen zuschreiben, nicht das Was derselben, sondern nur ihrVerhältniss zu dem wahrnehmbaren Subject bezeichnet; unsere sinnlichen Vorstellungen sind keine Abbildungen der Eigenschaf- ten der Dinge, obwohl sie ihren Kräften und Veränderungen proportio- nal sind.

Lehrt uns mithin die sinnliche Empfindung über das Wesen der Dinge nichts, so gilt dies in gleichem Grade von den Begriffen, von den Kategorieen, unter welche das Denken die Dinge und Ereignisse sub- sumirt. Die Metaphysik hatte seit Aristoteles dadurch ein Wissen über die Dinge gewinnen zu können geglaubt, dass sie die Vorstellungsarlen der natürlichen Weltauffassung in logische Abstracta verwandelte; und diese genügsame Voraussetzung zerstört Locke. Nicht in so fern, als ob er durch eine genaue psychologische Nachweisung, wie die die gewöhn- liche Weltansicht beherrschenden Begriffe der Substanzialität und Cau~ salität entstehen, ihre Unangemessenheit an den wahren Sachverhalt vor Augen gelegt hatte; eine solche Nachweisung ist abgesehen von den Schwierigkeiten der Psychologie ohnedies ohne ein anderweit schon gewonnenes metaphysisches Wissen nicht möglich; auch nicht in so fern, dass er in der gegebenen Beschaffenheit dieser Vorstellungsarlen das Motiv eines fortschreitenden, auf ihre Umbildung und Berichtigung ge- richteten Denkens gefunden oder auch nur gesucht hätte ; sondern da- durch, dass er die breite Kluft des Nichtwissens aufdeckt, welche die Begriffe der Substanz und der Kraft zwar einem kritiklosen Denken ver- decken» aber nicht ausfüllen. Sein grosses Verdienst liegt viel weniger auf dem Gebiete der Psychologie, leistet er doch auf eine Theorie des geistigen Lebens geradezu Verzicht und seine psychologischen Er- örterungen sind durchaus fragmentarisch, als vielmehr auf dem der Metaphysik ; seine allgemeine Ansicht, dass unsere Vorstellungen durch die Erfahrung entstehen , verfolgt er nirgends in das Specielle der Ent- stehung bestimmter Vorstellungen; aber er unterwirft die wichtigsten von den Begriffen, die, welches auch ihr Ursprung sein möge, mit dem Anspruch auf Erkennlniss der Dinge auftreten, einer prüfenden Kritik. Er ist fast unermüdlich in der Nach Weisung, dass die natürliche, und

85] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss ü. s. w. 195

von der Schulphilosophie zu einem Lehrsatze erhoben Voraussetzung der Substanz, des Dings mit mehreren Merkmalen, sammt der Ver- knüpfung der Merkmale unter sich und mit der Substanz weder über das Wesen des Einen (der Substanz), noch über das Band zwischen dem Einen und dem Vielen (den Accidenzen) einerseits, noch über das zwischen den letzteren unler einander den allergeringsten Aufschluss gibt, und dass die Dinge, insofern wir sie durch diese Begriffe auf- fassen, vollkommen eben so unbekannt bleiben, als wenn wir sie ohne diese Begriffe auffassten. Die Unbrauchbarkeit des überkommenen Be- griffs der Kraft und des Vermögens legt er nicht mit derselben Ausführ- lichkeit vor Augen; aber wenn er die Veranlassung, von activen Kräf* ten zu sprechen, nicht in dem Verkehr mit der Aussen well, sondern in der Wahrnehmung unserer eigenen inneren Thätigkeit findet und doch zugleich das Wesen der Seele für unbekannt erklärt , so liegt darin ein ausreichender Grund, den Gebrauch dieser Begriffe für einen Nothbehelf zu erklären, dessen wir nicht entbehren können, um die Beziehungen der Dinge zu bezeichnen, ohne dass wir dadurch einen Aufschluss über die innere Natur dieses Verhältnisses gewinnen. Die Beschränktheit Locke's liegt darin, dass er nirgends einen Versuch macht, auf dem Wege eines nothwendigen Denkens die Grenzen des einmal vorhandenen Ge- dankenkreises zu überschreiten ; und es kann dahin gestellt bleiben , ob der Grund davon darin liegt, dass er dies, ähnlich wie Kant, auf theo- retischem Wege für unmöglich hält, oder darin, dass er nirgends einen Versuch macht , die Lücken unseres Wissen in bestimmten Problemen zu formuliren, in denen möglicherweise die Motive ihrer Lösung gefun- den werden könnten ; aber wenn er an die Stelle der Metaphysik die bescheidenere Aufgabe der Naturforschung setzt, so hat er, trotz der Einsicht, dass die Erweiterung und Berichtigung, die die menschliche Erkenntniss von ihr zu erwarten hat, nicht eigentlich auf demonstrative Gewissheit, sondern nur auf allmählig wachsende Wahrscheinlichkeit eine Aussicht eröffnet, dadurch wirklich den Weg bezeichnet, auf welchem seit seiner Zeit thatsächlich grosse Erfolge und zwar ohne Mitwirkung eines Einverständnisses über die Fragen der Metaphysik erreicht wor- den sind.

Trotz dieser Verzichtleistung auf ein eigentlich metaphysisches Wissen gibt es dennoch für Locke ein Gebiet, innerhalb dessen ein notbwendiges und allgemeingültiges Wissen allerdings möglich ist; aber

196 G. Hartenstein, [86

es liegt nicht in der Beziehung der Begriffe auf die Dinge, sondern in den Beziehungen der Begriffe auf einander. Es gibt eine Notwendig- keit des Denkens, eine Abhängigkeit der Begriffs« und Gedankenver- knüpfungen, bei welcher der Geist nicht mit den Dingen, sondern ledig- lich mit den Begriffen beschäftigt ist, dergestalt dass die Begriffe sich nicht nach den Dingen , sondern diese , in sofern sie Object einer Er- kenntniss durch Begriffe werden, sich nach den Begriffen richten. (Vgl. S. 180.) Die beiden Wissenschaften, welche demgemäss einen streng demonstrativen Charakter entweder haben, oder dessen fähig sind, sind die Mathematik und die Moral. Dass die Mathematik, obgleich die Vor- stellungen des Raums und der Zahl mit der Auflassung der uns umge- benden Welt unauflöslich verwebt sind, ihren Erkennlnissgründen nach von der Erfahrung unabhängig ist, dass sie, indem sie den Verhältnissen der Zahl- und Raumgrössen nachgeht, ein Wissen erreicht, dessen Gül- tigkeit und Nothwendigkeit nicht daran gemessen werden kann, ob die Objecto ihrer Constructionen existieren, and dass dieses Wissen, weil die Bedeutung der Begriffe, die Qualität des Gedachten und die in ihr begründeten Folgerungen eben so unabhängig von dem Belieben des Denkenden, als von der Existenz der Objecte sind, eine strenge Allge- meingüJtigkeit hat, diese Einsicht bildet einen eben so wesentlichen Bestandteil der Lehre Locke's als seine Ansicht von der Art, wie der Mensch zu seinen Vorstellungen gelangt. Einen gleichen demonstrativen Charakter legt er auch der Moral bei, indem das Lob und der Tadel, die sich im moralischen Urtheil aussprechen, sich lediglich an die Vorstel- lung gewisser Willensbestimmungen und Handlungen knüpfen und die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Handlungen an die in jenen Urtheilen liegende Regel lediglich der Vergleichung der Handlung mit der gedachten Regel bedarf, um in ihr ihr Maass zu finden.

Diese Grehzbestimmung zwischen dem Gebiete des Nichtwissens und des Wissens ist nun in der That ganz unabhängig von der Frage nach dem Ursprünge der Vorstellungen ; auch beruft sich dabei Locke nirgends auf eine besondere Einrichtung des menschlichen Geistes, aus- ser insofern, als einer Intelligenz, welche unfähig wäre, sich des Inhalts ihrer Vorstellungen bewusst zu werden, sie zu unterscheiden und zu vergleichen, jegliche Erkennlniss überhaupt verschlossen sein würde; sondern der letzte Stützpunkt des Erkennens ist für Locke der Inhalt des Gedachten selbst und die Nothwendigkeit des logischen

87] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 497

Denkens. Wenn er gleichwohl den Satz der Identität und des Wider* Spruchs , eben so wie die Axiome der Arithmetik und Geometrie in der Form einer abstracten Allgemeinheit, in welcher sie an die Spitze dieser Disciplinen gestellt zu werden pflegen, nicht Tür falsch, sondern für ent- behrlich hält; so geschieht dies desshalb, weil er zeigen zu können glaubt, dass ein Denken, welches sich in den Verknüpfungen der Ge- danken durch den Inhalt des Gedachten selbst bestimmen lässt, nicht nötbig habe, den Umweg durch diese allgemeinen Formeln zu nehmen, sondern durch die Vergleichung und Beziehung der Begriffe selbst in jedem einzelnen Falle zu der Anerkennung der darin liegenden Conse- quenzen sich genöthigt finde. Die psychologische Frage nach dem Ur- sprung der Begriffe ist für diese Endentscheidung über das Gebiet, in welchem es ein nicht seinen Veranlassungen, sondern seinem Gehalte nach von der Erfahrung unabhängiges Wissen gebe, vollkommen irrele- vant; der Ursprung der Begriffe entscheidet ihm nichts über Richtigkeit und Unrichtigkeit der Sätze, in denen ein wirkliches oder eingebildetes Wissen sieb ausspricht.

Die allgemeinsten Umrisse der Locke'schen Lehre dürften sich dem- gemäss in folgenden Sätzen aussprechen lassen. Der Mensch ist mit sei- nen Vorstellungen, Begriffen, Gefühlen u. s. w. sich selbst ein unmittel- bar Gegebenes ; aber ohne die äussere Erfahrung würde es kein Vor- stellungsbild der Aussen weit für ihn geben und die Gewalt, mit welcher die sinnlichen Empfindungen sich uns aufdringen, ist stark genug, um die Voraussetzung der Wirklichkeit der diese Empfindungen irgendwie verursachenden Dinge gegen einen Skepticismus aufrecht zu erhalten, der Alles nur für einen Traum zu erklären geneigt wäre. Aber es gibt keine Metaphysik als eine allgemeingültige und nolh wendige Erkenntniss des Wesens der Dinge; die Proportionalität, welche zwischen den Em- pfindungen und den Qualitäten der Dinge stattfinden muss, gibt keinen Aufcchluss über diese Qualität selbst ; die Naturforschung ist auf fort- schreitende Erfahrung angewiesen, um in der erweiterten und genaue- ren Auffassung des empirischen Materials Anknüpfungspunkte für mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen zu finden. Das Gebiet des reinen und strengen Wissens eröffnet sich erst da , wo das Denken mit seinem eigenen Inhalt beschäftigt von Gedankenbestimmungen zu Ge- dankenbestimmungen so fortschreitet, wie es der Inhalt des Gedachten selbst gestattet oder fordert. So verwandelt sich für Locke im Verlaufe

498 G. Habtbkstein, [88

«

der Untersuchung die Kritik des Erkennlnissvermögens in eine Kritik

der Erkenntniss d. b. der Begriffe, die mit dem Anspruch auf sie gedacht werden, deren entscheidender Schwerpunkt nicht in seinen psychologi- schen Annahmen , sondern in der Anerkennung der logischen Gesetz- massigkeit liegt.

vm.

Die Untersuchungen Locke's hatten die Aufmerksamkeit Leibniz's nicht erst zu der Zeit auf sich gezogen, wo dieser seine nouveaux essais mr l' entendement humam schrieb, sondern schon im J. 1 696 hatte er eine Reihe von kurzen Bemerkungen unter der Aufschrift : reflexions sur l'essai de E entendement humain de Mr. Locke an diesen in der Absicht geschickt, dass dieser Aufsatz der französischen Uebersetzung des Locke'schen Werkes beigefügt werden sollte; und da dies nicht geschah, so wurde er erst 1708 ohne Leibniz's Willen mit den nachgelassenen Briefen Locke's veröffentlicht. Leibniz hatte hier anerkaunt, dass die Unter- suchung über die menschliche Erkenntniss von der grössten Wichtig- keit, ja der Schlüssel aller übrigen sei,216) und sogleich hinzugefügt, dass es nach seiner Ansicht keine andern Erkenn tnissprineipien gebe, als die Erfahrung und den Satz der Identität und des Widerspruchs ; 2I7) dass aber eben desshalb die Beantwortung der Frage, ob es angeborne Vor- stellungen gebe oder nicht, weder für den Anfang noch für die weiteren Fortschritte des erkennenden Denkens von entscheidender Wichtigkeit sei , weil die Gesetzmässigkeit des Schliessens sich nicht ändere, möge man die Frage bejahen oder verneinen; überhaupt sei die Frage nach dem Ursprünge der Vorstellungen gar keine Präliminarfrage für die Phi- losophie ; man müsse vielmehr schon bedeutende Fortschritte in dersel- ben gemacht haben, um sie beantworten zu können.218) Während diese

2 4 6) Leibnizii opera philosophica ed. Erdmann p. 4 36a. De toutes les recherches il riy a point de plus importante, puisque c'est la clef de toutes les autres.

247) a. a. 0. p. 4366. Mon opinion est donc qu'on ne doit rien prendre pour principe primüif, si non les experiences et V axiome de l'idcnticite ou ce qui est la meme chose, de la contradiction, qui est primüif, puisqri autrement il riy aurait point de difference entre la verite et la faussete.

2 4 8) a. a. 0. p. 137a. Pour ce qui est de la question, s'il y a des idees et des verites creees avec nous, je ne trouve point absolument necessaire pour les commencemens,

M] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 199

Satze den psychologischen Vorbau, welchen Locke seiner Lehre von den Grundlagen und den Grenzen der menschlichen Erkenntniss gegeben hatte, für überflüssig erklären , in der Sache selbst aber eben dasselbe aussprechen, was Locke will, stellt sich der avant-propos zu den nou- veaux essais sur F entendetnent humain auf einen davon verschiedenen Standpunkt. Es handle sich zuvörderst darum , ob die Seele eine leere Tafel sei, so dass Alles, was von ihr vorgestellt werde, von den Sinnen and der Erfahrung komme, oder ob sie ursprünglich die Principien einer Mehrzahl von Begriffen und Salzen enthalte, welche die äusseren Objecto nur gelegentlich zum Bewusstsein bringen'. Und hiervon hänge die Beantwortung der andern Frage ab, ob alle Wahrheit sich nur auf Er- fahrung, also auf Induclion und Beispiele gründe, oder ob es noch eine andere Grundtage derselben gebe. Die sinnliche Wahrnehmung sei un- entbehrlich für alle wirkliche Erkenntniss; aber sie gebe immer nur einzelne Fälle, es fehle ihr die Noth wendigkeit uud es scheine daher, dass notwendige Wahrheiten, wie sie die Mathematik enthalte, auf Principien ruhen müssen , äderen Beweis nicht von der Erfahrung und nicht von dem Zeugnisse der Sinne abhänge.219) Während also Leibniz in dem früheren Aufsatze die Entscheidung über Wahrheit und Irr th uro von der Ansicht über den Ursprung der Vorstellungen für unabhängig erklärt hatte, weist er hier auf einen Zusammenhang beider Untersuchun- gen hin. Indessen setzt er doch sogleich hinzu, dass sich vielleicht Locke's Ansicht von der seinigen nicht so gar weit entferne. Denn indem

ni pour la pratique de fort de penser, de la dScider, soit qu*elles nous viennent tottjours de dekors ou qu'elles viennent de nous; on raisonnera jusie pourvu qu'qn .. precede avec ordre et sans prevention. La question de l'origine de nos idees et nos maximes n'est pas preHminaire en philosophie, et il faul avoir faxt de grands progres pour la bien resoudre. t19) a. a. 0. p. 1946. // s'agit de savoir si Vame en eile tneme est vuide entiere- ment comme des tablettes, ou ton ria encore rien ecrit {tabula rasa) . . et si tout ce qui y est traee vient uniquement des sens et de texperience, ou si tarne consent origtnairement les prineipes de plusieurs notions et doctrines , que les objets externes reveillent seulement dans les occasions ... p. 195a. D'ou il nait une autre question, savoir si toutes les veri- tes dependent de texperience, c'est ä dire de tinduetion et des exemples, ou s'il y en a, qui ont encore un autre fondement . . . Les sens quoique necessaires pour toutes nos con- naissanees actuelles ... ne donnent jamais que des exemples, c'est d dire des verites par- Uculieres ou individuelles. Or tous les exemples . . . ne sufßsent pas pour itablir la ne- eessite universelle . . . D'ou il parait, que les verites necessaires, telles qu*on les trouve dans les mathematiques pures . . doivent avoir des prineipes, dont la preuve ne depende point des exemples, ni par consequent du temoignage des sens.

200 6. Hartenstein, [90

er den Ursprung der Vorstellungen auf Sensation und Reflexion zurück- führe, und die Reflexion nichts Anderes sei, als die Wahrnehmung des- sen, was in uns ist und geschieht, ohne von den Sinnen dargeboten zu werden, könne er mit ihm sagen, dass wir uns selbst angeboren seien.*0) Und in der That wurde Locke gegen diesen Satz schwerlich etwas ein- zuwenden gehabt haben, wenn er auch uriter den von Leibniz angeführ- ten Beispielen angeborner Vorstellungen die des Seins, der Einheit, der Veränderung, der Dauer, der Substanz u. s. w. abgelehnt haben würde.

Geht man nun den Erörterungen , welche Leibniz im ersten Buch seiner nouveaux essais dem entsprechenden Theil von Locke's Werk gegenüberstellt, etwas genauer nach, so sollte man erwarte», dass er nicht nur das Vorhandensein angeborner Begriffe oder, wie er gewöhn- lich sagt, angeborner Erkenntnisse behaupten, sondern auch bestreiten werde, dass irgend welche Vorstellungen durch den Verkehr mit der Aussenwelt erworben werden. Denn die prttslabilirte Harmonie schnei- det den Causalzusammenhang zwischen den Aussenwelt nnd den Vor- stellungen ab ; nach ihr soll die Seele alle ihre Vorstellungen lediglich aus sich selbst erzeugen, und wenn die sinnliche Wahrnehmung die ge- legentliche Veranlassung bestimmter Vorstellungen ist, so ist damit kein solcher Zusammenhang zwischen jener und diesen gesetzt, dass ohne die sinnliche Affection die Entstehung der Vorstellung unmöglich wäre, ausser in so fern als Gott den Parallelismus zwischen beiden ein für allemal im Voraus geordnet hat. In der That erklart nun Leibniz , dass er auf die Locke'sche Lehre zunächst aus dem Standpunkte einer Accom- modation an die gewöhnliche Ansicht eingehen woHe,*") um za zeigen,

220) a. a. 0. p. 196a. Peut-etre que notre habile auteur ne s'ehignera pas entiere- ment de mon sentiment. Cor . . . il avoue, . . que les idees qui riont point leur origine dam la Sensation , viennent de la reflexion. Or la reflexion n'est autre chose, qu une attention ä ee qui est en nous . . . Cela etant peut on wer, qu'il y a beaucoup dinne en notre esprit, puisque nous sommes innes ä nous memes pour ainsi dire? p. 1966. Ainsi je suis porte ä croire que dans le fonds son sentiment sur ce point n'est pas different du mien Ott plutot du sentiment commun, (Tautant qu'il reconnoit deux sources de nos connaissances, les sens et la reflexion.

221) a. a. 0. p. 2066. Je croisf que toutes les pensees et actione de notre ame viennent de son propre fond, sans pouvoir lui etre donnees par les sens . . . Mais ä present je meUrai cette recherche ä pari et m'accotnmodant aux expressions re$ues , puisqu' en effect elles sont bonnes et soutenabks et qu'on peut dire dans un certain sens, que les sens

94] Locke's Lehbe von der mewschl. Erkenntkiss d. s. w. S04

dass, wie es sieb auch mit den sinnlichen Vorstellungen verhallen möge, die Annahme angeborner Erkenntnisse nicht zu entbehren sei. Der Grund, auf welchen er sich dafür beruft, ist jedoch lediglich der schon! im avant-propos geltend gemachte, dass »icht angeborne, sondern durch die Erfahrung erworbene Vorstellungen unfähig seien, notwendige Wahr- heiten und Erkenntnisse darzubieten.222) Einen Beweis dafür, dass an- geborne Vorstellungen nothwendig wahr sein müssen und nicht auch möglicherweise falsch sein können , dass es also nur angeborne Wahr- heiten und nicht auch angeborne Irrthümer geben könne, sucht man vergebens ; denn die Berufung darauf, dass jene, die inteHectuellen Vor- stellungen immer deutlich, diese, die sinnlichen verworren seien, kann unmöglich für einen solchen gelten , da die Deutlichkeit eines Begriffs von der Anwendung geistiger Operationen auf ihn abhängt, die in seiner Unabhängigkeit von der sinnlichen Empfindung nicht unmittelbar mit- gesetet sind. Die allgemeine Uebereinstimmung über gewisse Satze ist für Leibniz kein* ausreichender Beleg ihres Angeborenseins , auch soll die Berufung auf angeborne Erkenntnisse nicht als Ruhekissen der Ober- flächlichkeit und Faulheit im Denken benutzt werden;228) gleichwohl er- klärt er die Annahme solcher angeborner Erkenntnisse für unentbehrlich, wenn man sich das thatsächlicbe Vorhandensein nothwendiger Wahr- heiten erklären wolle.

externes sont cause en partie de nos pensees , fexaminerai comment on doit dire d mon

avis, encore dans le Systeme commun (partant de Faction des corps sur Farne ), qu'il y

a des idees et des prtHdpes, qui ne nous viennent point des sens et que nous trouvons en nous sam les former, quoique les sens nous donnent occasion de nous en appercevoir..

222) a. a. 0. p. 207a. // (Locke) n'a pas assez disUngue ä mon avis Forigine des verites necessaires, dont la source est dans Fentendement , davec celles du fait, qu'on tire des experiences des%ens. p. 209a. Les verites necessaires sont innees et se prouvettt par ce qui est interne, p. 2096. St Fesprit riavait que la simple capacite de recevoir hs oon* naissances ou la puissance passive pour cela, aussi indeterminee que celle qua la cire de recevoir les figures et la table rase des recevoir des teures, il ne serait pas la source des verites necessaires u. s. w. p. 21 26 (§25). La nature ne s'est point donne inutilement la peine de nous imprimer des connaissances innees , puisque sans elles il n'y aurait aueun moyen de parvenir ä la connaissance actuelle des verites necessaires dans les sciences de- monstratives.

223) a. a. 0. p. 207a. Je ne fonde pas la certüude des prindpes mnes sur le con- sentement universel. p. 2216. St c'est le dessein de vos amis de conseiller, qu'on eher che les preuves des verites, sam distinguer si elles sont innees ou non, nous sommes entierement daecord. vgl. p. 2066.

202 6. Hartenstein,

Vergleicht man jedoch die Art, in welcher er die Annahme ange* boroer Erkenntnisse gegen die Locke'scbe Bestreitung derselben gehend macht, so wird man sagen müssen, dass er dieses Angeborensein gar nicht in dem Sinne behauptet, in welchem Locke es leugnet. Dieser hält für die Entscheidung dieser Frage streng den Gesichtspunkt fest, dass von angebornen Vorstellungen nur dann die Rede sein könne, wenn sich nachweisen lasse, dass sie, gleichviel ob als Vorstellungen oder als Satze, nicht nur vor allen andern Erkenntnissen als deren Grundlage, sondern auch als solche bestimmt und deutlich sich im Bewusstsein ankündigen und dass, wenn man jener Behauptung die Wendung gebe, dass jene angeblich angebornen Erkenntnisse nur der Möglichkeit nach in uns an- gelegt seien, dies nur eine leere Ausflucht sei, welcher gemäss feine Masse von Erkenntnissen für angeboren erklärt werden müssten, die für angeboren zu erklären Niemandem einfalle. Gerade diese Wendung aber ist es, welche Leibniz in der Behauptung seines Satzes nimmt, und er dehnt sie bis zu einem Umfange aus, innerhalb dessen der ganze Unter- schied zwischen angebornen und erworbeuen Erkenntnissen schliesslich wegfallt. Um zuvörderst die Locke'scbe Behauptung zu entkräften, dass von dem, wovon wir kein Bewusstsein haben, auch nicht gesagt werden könne, dass es im Geiste vorhanden sei, macht er auf die allgemeine Thatsache aufmerksam , dass in den Tiefen der Seele eine Masse von Vorstellungen und Gedanken ruhen, ohne dass wir uns in jedem Augen- blicke derselben bewusst würden.224) In derselben Weise sind nun auch die angebornen Vorstellungen nicht actuell, sondern virtuell in uns vorhanden. Er bedient sich in dieser Beziehung wiederholt des Gleich- nisses eines Marmorblocks, dessen von aussen unsichtbare Adern eine bestimmte Gestalt einschliessen , die erst durch Bearbeitung desselben zum Vorschein kommt. Sinnliche Wahrnehmungen, Unterricht, Reflexion u. s. w. mögen noth wendig sein, um diese inneren Schätze an das Ta- geslicht des Bewusstseins zu fördern ; aber sie bringen eben nur zum Bewusstsein, was obgleich nur virtuell schon in uns liegt.223) Dieses

224) a. a. 0. p. 208a, §5. p. 21*6, §26. p. 217a, § 12.

225) a. a. 0. p. 2086. Rh. Si oti peut dire qu'une chose est dans tarne, quoique Farne ne tau pas encore connue, ce ne peut etre qu'ä cause qu'eUc a la capacite ou faculte de Ia connaüre. Th. Pourquoi ceia ne pourroit Ü aioir encore une autre cause, teile que serait celle-ci, que tarne peut avoir cette chose en eile sans qu'on s'en soü appercu; cor puisq'une connaissance acquise y peut etre cachee pour Ia memoire, pourquoi ia nature

93] Locke's Lehre von der menschl. Erkeihntisiss u. s. w. 203

virtuelle Vorbandensein will aber Leibniz nicht blos als Fähigkeit oder Vermögen angesehen wissen ; der Nichtgebrauch einer Sache , die man besitze, sei mehr, als die Möglichkeit sie zu erwerben ; mit der blos pas- siven übrigens aber unbestimmten Fähigkeit, dergleichen Erkenntnisse zu erwerben, werde der Geist immer noch nicht die Quelle notwendi- ger Wahrheiten sein; er müsse vielmehr eine sowohl active als passive Disposition haben, dergleichen Erkenntnisse aus sich selbst zu entneh- men; und weil die Ausübung dieser Disposition dem Menseben natürlich sei, spreche man eben von angeborenen Vorstellungen.230) So sind die angebornen Erkenntnisse bei Leibniz tbeils nur Möglichkeiten, theite mehr als leere Möglichkeiten, und daraus erklärt sich, warum er bald ihr Hervortreten im Bewusstsein so darstellt, als hänge dies nur von der Hinwegräumung eines Hindernisses, der Verdunkelung durch die sinn- lichen Eindrücke ab, bald den Verkehr mit der Sinnenwelt geradezu als die Bedingung der Reflexion auf sie und somit der bewussten Entwicke- lung jener angebornep und nothwendigen Wahrheiten bezeichnet.227) In beiden Fällen bedeutet das Angeborensein eigentlich nur die Anerken- nung einer von der Erfahrung unabhängigen Zunölhigung des Fürwahr- haltens oder des Handelns; diese Anerkennung ist auf dem theoretischen Gebiete der Ausdruck der logischen Notwendigkeit, auf dem praktischen

ne pourraü-elk pas y avoir aussi cache quelque connaissance originale? Der Ausdruck ebnnaissances virtuelles p. 208a. Das Gleichniss vom Marmorblock z. B. p. 196a, 2456.

226) a. a. 0. p. 209a. Avoir une chose sans s'en servirt est-ce la meme chose que a" avoir seulement la faculte a* acquerir? Si cela etait, nous ne possederions jamais que des ehoses dont nous jouissons, au lieu, qu'on sait, qu'outre la faculte et tobjet il faut souvent quelque disposition dans la faculte . . . pour que la faculte s'exerce sur fobjet. p. 2096 (vgl. oben Anm. 222). p. 210a. C'est le rapport parUculier de tesprit kumain d ces verites qui rend Vexercice de la faculte aise et naturel d leur egard et qui fait qu'on les appelle innees. Ce riest donc pas une faculte nue, qui consiste dans la seul possibiHte de les entendre: c'est une disposition, une aptitude, une preformation9 qui detenninc notre arne et qui fait qu'elles en peuvent iure Urees. p. 221a. Ce ne sont que des habitudes na- turelles, c'est d dire des dispositions et attitudes actives et passives,

227) a. a. O. p. 2186, §20. Les idees et verites innees ne sauraient ilre effaeees, mais elles sont obscurcies dans tous les hommes (comme ils sont presentement) par leur penckant vers les besoins du corps . . . Ces caracteres de lumiere interne seraient toujours eclatans dans lentendement et donneroient de. la chaleur de la volonte, si les pereeplions confuses des sens ne s'emparoient de notre attention. Dagegen p* 2696. Les sens nous fournissent la mattere aux reflexions et nous ne penserions pas mSme ? d la pen- see, si nous ne pensions ä quelque autre chose, c*est ä dire aux particu- larites que les sens fournissent.

204 G. Hartenstein, [94

der der allgemeinen und natürlichen Motive des Handelns, welche Leibniz als lumiere naturelle bezeichnet.*8) Er geht daher so weit , dass er die gesammte Arithmetik und Geometrie , überhaupt alle Conseqoenzen aus Axiomen und Grundsätzen für ebenso angeboren erklärt, wie diese Axiome und Grundsätze selbst.229) Dazu kommt endlich, dass er die Entscheidung der Frage, ob ein bestimmter Begriff angeboren sei, von der deutlichen Darlegung seines Inhalts abhängig macht, ohne sich dar- über bestimmt auszusprechen , ob dabei der Inhalt des Begriffs selbst oder eine neben ihm hergehende besondere Einrichtung des mensch- lichen Geistes das eigentlich Maassgebende sein soll; vielmehr ist er ge- neigt , beides in einander fliessen zu lassen ; ao) und so erklärt er nicht nur im Verlaufe der Erörterung, dass eine Ablehnung der angebornen Erkenntnisse in seinem Sinne auf einen blossen Wortstreit hinauslaufen würde, sondern legt am Schlüsse derselben dem Vertreter der Locke- schen Lehre auch den Satz in den Mund, dass Locke die Ansicht in dem Sinne, in welchem er sie aufstelle, vielleicht gar nicht bestreite.231) Und wirklich, wenn man in dem Satze: nihil est in intellectu quod non fuerit

228) a. a. 0. p. 2446, § 4. Vorzugsweise deutlich tritt die theoretische Bedeu- tung des sogenannten Angeborenseins in den Beispielen hervor, die Leibniz zur Erläu- terung anführte. So 9agt er p. 2 Ha. Quant d cette proposition : le quarre riest pas un cercle, on peut dire qu'elle est inneef cor en fenvisageant, on fait une subsumption ou appkcation du principe de contradiction d ce que l'entendement fournit lui meme, des qu'oti appercoit que ees idees qui sont innees renferment des notums incompatibles.

229) a. a. 0. p. 208a. Dans ce sens on doü dire que ioute farithmetique et toule la gSometrie sont itmees et sont en nous dune moniere virtuelle, en sorte qu'on les y peut trouver en considerant attentivement et rangeant ce qu'on a deja dans Feaprit , sons se servir daucune verite apprise par Vexperience. p. 2 4 2a. Je ne saurais admettre cette pro- position : tout ce qu'on apprend riest pas inne. Les verites des nombres sont en nous et on ne laisse pas de les apprendre. p. 2 476. Je prends toutes les verites necessaires pour innies. Eben so in praktischer Beziehung p. 2 4 4a, ,2 146.

230) a. a. 0. p. 24 9a. Lorsqu'on demande le moyen de connaitre et dexaminer les principes innees, je repond, qu'excepte les insUncts dont la raison est inconnue, il faul tacket de les reduire aux premiers principes , c'estädire, aux axiomes identi- ques ou immediates par le moyen des definitions, qui ne fönt autre chose, qu'une ex- posilion distincte des idees. p. 24 46, § 24 antwortet er auf den Einwurf, dass die Zu- stimmung zu gewissen Sitzen eben so gut auf der Betrachtung der Natur der Sache, als auf ihrem Angeborensein beruhen könne: L'un et f autre est vrai. La nature des choses et la nature de l'esprit y concourent ; . .• Ce qu'on appelle la lumiere naturelle suppose une connaissance distincte, et bien souvent la consideration de la nature des choses riest autre chose que la connaissance de la nature de tesprit et de ces idees innees.

234) a. a. 0. p. 2446. p. 2246, § 24.

95] Locke's Lbhbe von der menschl. Erkenntniss ü. s. w. 905

in sensu , nisi inlellectm ipse , die drei letzten Worte oft als die Grenz- scheide zwischen Locke und Leibniz angesehen hat, so bemerkt Leibniz selbst, dass Locke sich diesen Satz mit jenem Zusätze sehr wohl an- eignen könne.23*) Angeborne Vorstellungen oder Erkenntnisse würde Locke aber gleichwohl nicht anerkannt haben, weil er darunter etwas Bestimmteres gedacht wissen wollte, als Leibniz.

IX.

Bei diesem Sachverhalt kann es nicht überraschen , dass Leibniz die Art, wie Locke im zweiten Buche die Entstehung und Beschaffenheit des menschlichen Vörstellungskreises beschreibt und die Elemente, aus denen er besteht, unter allgemeine Bezeichnungen zusammen fasst, viel weniger zu bestreiten, als in einzelnen Punkten zu ergänzen und zu be- richtigen~sucbt. Dass der Vorstellungskreis aus dem , was von aussen dargeboten wird, und was das Bewusstsein in sich selbst findet, er- wächst, darüber ist im Grunde kein Streit zwischen beiden; die That- sache der äusseren und inneren Wahrnehmung bezweifelt Leibniz so wenig als Locke, und für die Art, wie die äussere Wahrnehmung zu Stande kommt, ist bei Leibniz die Leugnung des physischen Einflusses und die an dessen Stelle gesetzte prästabilirte Harmonie nur ein allge- meiner Gesichtspunkt , der für die Erklärung der concreten Thatsachen hinter die Berufung auf die bestimmten gleichviel ob unabhängig von der prästabilirten Harmonie vorhandenen oder durch sie gesetzten Beziehungen der Dinge zu der Seele zurücktritt. Locke hatte sich be- gnügt, die sinnlichen Empfindungen als einen durch die leiblichen Organe mitbedingten Erfolg des Verkehrs mit der Aussenwelt zu bezeichnen, der den sie bewirkenden Ursachen proportional sei, ohne dass die Qua- lität der Empfindung mit der Qualität der Dinge identisch gedacht wer- den dürfe; bei Leibniz entsprechen die sinnlichen Vorstellungen der Con- stitution des Leibes , dessen Veränderungen wieder von den Einwir- kungen anderer Körper abhängen ; ja er bedient sich zur Bezeichnung

232) a. a. 0. p. 223a. Nihil est in intelleetu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse . . . Cela s'accorde assez avec votre auteur de tessai, qui a cherche une bonne partie des idSes dans ia reflexion de i'esprit sur sa propre nature.

SOG G. Hartenstein, [96

dieser Abhängigkeit geradezu des Begriffs der Ursache und Wirkung.233) Die Locke'sche Unterscheidung erster und zweiler Qualitäten bestreitet er nicht; vielmehr ist er nur bemüht zu zeigen, dass nicht nur den er- sten, sondern auch den zweiten Qualitäten ein Verhällniss der Aehnlich- keit mit den Dingen , auf welche sie sich beziehen, zukomme ; sie ver- halten sich wie die Protection eines Kreises auf eine Ebene zu dem pro- jicirten Kreise selbst,2**) ein treffendes Gleichniss, welches Locke viel- leicht nicht gefunden, aber schwerlich abgelehnt haben würde.

Gegen die Behauptung Locke's dagegen, dass es in der Seele keine Vorstellungen geben könne ohne ein Bewusstsein derselben, und gegen die damit zusammenhängende skeptische Frage, mit welchem Rechte man das Vorstellen eben so für das Wesen der Seele erkläre, wie die Ausdehnung für das Wesen des Körpers, erhebt Leibniz eine ausführ- liche und lebhafte Einsprache. Er macht dagegen vor Allem wiederholt die Thatsache geltend, dass wir eine unbestimmte Mannigfaltigkeit von Vorstellungen habeu, ohne uns derselben in jedem Augenblicke bewusst zu sein, und zeigt, dass dies gar nicht anders sein könne, indem es weder vorwärts noch rückwärts eine unendliche Reihe von Bewusst- seinsacten geben könne.235) Diese Polemik hängt zusammen mit dem

233) a. a. 0. p. SS 6a. Les perceptions de tarnt repondent tpujours naiureüement d la Constitution du corps . . . Lame riest jamais privee du secours du corps, parcequ'elle exprime toujours son corps et ce corps est toujours frappe par les autres, qui tenviron- nent, dune infinite de monier es, mais qui ne fönt souvent qu'une impression confuse. p. 332a, § 4 5. 11 est bien raisonnable que Veffet repond d la cause, et comment assurer le contraire?

m

234) a. a. 0. p. 234 a. II ne faut point s'imaginer que ces idees de la couleur ou de la douleur soient arbitraires et sans rapport ou conneteion naturelle avec leurs causes; ce riest pas Yusage de dieu dtagir avec si peu d ordre et de raison. Je dirois plutot quil y a mne moniere de ressemblattce , non pas entieiv et pour ainsi dvre in terminis; mais expres- sive ou une moniere par rapport d f ordre, comme une ellipse et mime uns parabole ou hyperbole ressemblent en quelque facon au cercle , dont elles sont la projections sur le plan, puisqu'il y a un certain rapport exact et naturel entre ce qui est projette et la pro- jection. Zu den ersten Qualitäten will Leibniz auch die Kraft gerechnet wissen in den Füllen, wo ein deutlicher Begriff derselben möglich ist; p. 234a. Je crois qrion pour- roü dire que hrsque la puissance est intelligible, eile doü itre comptee parmi les qualites premieres; mais lorsqu'elle riest que sensible et ne dorme qriune idee confuse, il faudra la mettre parmi les qualites secondes. p. 245a bedien} er sich einmal des Ausdrucks qua- lites originales ou connoissables distinctement.

235) a. a. 0. p. 224, § Hflgg. p. 226, § 49. Lorsque vous avancez qriil riy a rien dans Farne, dont eile ne s'appercowe, c'est une petition de principe ... St nous

97] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss d. s. w. 207

Gewicht, welches er auf die kleinen unmerklichen Vorstellungen legt, deren Gesammtresullate sich dem Bewusstsein aufdringen, während sie selbst sich dem Bewusstsein entziehen.236) Die Fruchtbarkeit dieses Ge- dankens für die Psychologie ist unabhängig von der nach dem System« der prästabilirten Harmonie der Seele beizulegenden absoluten Sponta- neität; aber gleichwohl ist er von keinem entscheidenden Einfluss auf die Lehre von der Erkenntniss, die unmöglich in unbewussten Vorstel- lungen zu Stande kommen kann , und es darf daher genügen ihn hier nur kurz bezeichnet zu haben.

Um die Gesammtheit unserer Vorstellungen zu classificiren , hatte Locke zwischen einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen unter- schieden und die letzteren in Substanzen , modi und Relationen einge- teilt. Die erstere Unterscheidung ist Air Leibniz selbst eine der wesent- lichen Grundbestimmungen seiner eigenen Psychologie, und er begnügt sich daher Locke gegenüber mit der Bemerkung, dass Einfachheit hier nur die für den Empfindenden selbst vorhandene Ununterscheidbarkeit eines Mannigfaltigen bezeichne, wobei die Möglichkeit nicht ausgeschlos- sen sei , dass das, was wir als einfach empfinden, dennoch zusammen- gesetzt sei.237) Ebenso erklärt er sich aber auch mit der Unterscheidung zwischen Substanzen, modis und Relationen einverstanden,238) obwohl er einige Bemerkungen darüber hinzufügt , dass der Unterschied zwischen

uccordions ce principe, nous croirions choquer Xexperience et la raison. . . . Mais outre que nos adversaires . . . riont point äpporte de preuve de ce qu'ils avancent, . . il est aise de leur montrer le contraire, c'est d dire, qu'il n'est pas possible, que nous reflechissions toujours expressement sur toutes nos pensees. Aulremeni l'esprit ferait reflexion sur chaque reflexion ä tinfini sans pouvoir jamais passer ä une nouvelle pensee. Par exemple en mfappercevant de quelque sentiment present, je devrais toujours penser que fy penset et penser encore que je pense d'y penser et ainsi ä Tinfini. Mais il faut bien que je cesse de reflechir sur toutes ces reflexions et qu'il y ait enfin quelque pensee qu*on laisse passer sans y penser; autrement oh demeureroit toujours sur la meme chose.

236) Vgl. u. A. den avant-propos zu den nouveaux essais p. 4 966 4 98a.

237) a. a. 0. p. 227a. Je crois qu'on peut dire que ces idees sensibles sont simples en apparence, parce qu' etant confuses elles ne donnent point d Fesprit le moyen de distin- guer ce qu'elles contiennent .... Je consens pourtant volontiers qu'on traite ces idees de simples, parce qu' au moins notre apperception ne les divisc pas. p. 250a, § 30. Dans le fond, les idees ...des qualites sensibles ne Hennent leur rang parmi les idees simples ou'd cause de notre ignorance.

238) a. a. 0. p. 238a. Celle division des objets de nos pensees en substances, modes et relations est assez ä mon gre\

Abhamil. d. K. S. Ges. d.Witf. X. 1 4

208 G. Hartenstein, [98

den modU und Relationen schwankend sei , und die Anwendung des Substanzbegriffs auf Aggregate einer Vielheit von Dingen zurückweist.239) Auch die Locke'sche Aufzählung der verschiedenen geistigen Operatio- nen, durch welche das menschliche Denken den unmittelbar gegenwar- tigen sinnlichen Vorstellungsinhalt umgestaltet und Überschreitet und in deren innerer Auffassung Locke die Quelle der von der sinnlichen Em- pfindung unabhängigen Vorstellungen sucht, nämlich das bewusste Vor* stellen, das Festbalten der Vorstellungen durch die Aufmerksamkeit und das Gedächtniss, die Unterscheidung und Vergleichung, die Verknüpfung und Erweiterung derselben, begleitet er lediglich mit Bemerkungen, welche nicht gegen die Unterscheidung dieser Thätigkeiten gerichtet sind, sondern auf ihre nähere Bestimmung und speziellere Schilderung abzielen .m)

Nur in einem Punkte, der zugleich eine allgemeine Bedeutung hat, macht Leibniz eine der Locke'schen Lehre entgegengesetzte t oder sie vielmehr berichtigende Begriffsbestimmung geltend. Sie bezieht sich auf die ZurUckfbhrung der verschiedenen geistigen Thätigkeiten auf ver- schiedene Seelen vermögen. Dass Locke mit dem Gebrauch dieses Be- griffs kein Wissen über das Wesen der Seele in Anspruch genommen, sondern diesen Ausdruck nur benutzt hatte , um sich in einer der ge- wöhnlichen Auffassung bequemen Weise versländlich zu machen, ist oben (S. 144) durch seine eigenen Worte belegt worden; gleichwohl legt ihm Leibniz wenigstens indirect die Absicht unter, als habe er da- mit mehr sagen wollen, als der Fall ist» und doch zugleich weniger sage, als die Sache verlange. Blosse Vermögen ohne ein mit ihnen zu* gleich gesetztes Streben seien leere Möglichkeiten; man müsse sich deutlicher darüber erklären , worin ein solches Vermögen und zwar zunächst das Gedächtniss bestehe und wie es wirke, und dann werde man finden, dass es in der Seele gewisse Dispositionen gebe, als Reste

239) a. a. 0. p. 2386.

240) a. a. 0. L. II, eh. XI XIII Psychologisch am wichtigsten ist, was Leib- niz über die Perception und ihren Unterschied von der Apperception sagt. Es nag nicht unerwähnt bleiben , dass er diesen Unterschied im Wesentlichen blos als einen quantitativen bestimmt, p. 233a. faimerais mieux distmguer entre pereeptüm et entre apperception. La perception de la lumiere . . par exemple, dont nous nous apperce- vons, est composee de quantite de petites pereeptions, dont nous ne nous appercevons pas et un bruit dont nous avons perception, mais ou nous ne pretions pomt garde, devient apperceptible par une petite addition ou augmentation.

•ö] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntmss u. s. w. 209

früherer Eindrücke , die nur gelegentlich zum Bewusslsein kommen.241) Die Frage, ob diese Seelenvermögen sammt den in ihnen liegenden Dis- positionen verschiedene Wesensbestimmungen der Seele selbst sind, berührt er an dieser Stelle nicht; vermöge seines Begriffs von der Sub- stanz als dem Träger einer unbestimmten Mannigfaltigkeit von Kräften hatte diese Frage eigentlich für ihn gar keine Bedeutung und desshalb sagt er später einmal ganz kurz, nicht die verschiedenen Vermögen seien das eigentlich Thätige , sondern die Substanz vermittelst ihrer Vermö- gen.242) Die Lücke jedoch, welche in der Frage nach den Bedingungen ' bestimmter Tätigkeiten entweder der einzelnen Seeleo vermögen oder der Seelensubstanz liegt, ist bei Leibniz so wenig ausgefüllt als bei Locke, da er es unterlässt über die Art, wie die »kleinen unmerk- lichen Vorstellungen« im Bewusstsein wirken, eine ins Einzelne gebende Rechenschaft zu geben. Locke legt der Seele eine gewisse Anzahl von Ver- mögen bei, ohne dadurch ein Wissen über die Art und die Ursachen ihrer Thätigkek zu beanspruchen; Leibniz beruft sich auf eine unbestimmte Vielheit unter sich zusammenhängender Thätigkeitsacte, deren Resultat das sei, was im -Bewusstsein innerlich wahrnehmbar wird ; aber in der unbestimmten Allgemeinheit, in welcher er diesen Gedanken Ittsst, passt seine Vergleicbung des Geistes mit einer nicht einförmigen und blos passiven, sondern gefalteten, elastischen, auf die empfangenen Einwir- kungen selbstständig reagirenden Membrane, nur mit Ausnahme der durch die Falten dieser Membrane angedeuteten angebornen Begriffe, auf die Ansicht Locke's vom geistigen Leben so gut wie auf die sei- nige. **)

241) a. a. 0. p. 236a. Je vne tonne que vous vous puissiez toujours payer de ces puissances ou facultes nues, que vous rejetteriez apparemment dans les philosophes de Feeole. 11 faudrait expliquer un peu plus distinctement , en quoi consiste oette faculte et comtnent eile s'exerce, et cela feroit connaitre qu'il y a des dispositions, qui sont des restes des impressions passees, . . . dont on ne s'appercoit, que lorsque la memoire en trouve quelque oceasion. p. 2226. Les facultes sans quelque acte, les pures puissances de fe'cole, ne sont que des jictions, que la nature ne connoit point et qu'on riobtient qu'en faisant des abstractions. p. 2236. Les puissances veritables ne sont jamais des simples possibilites. p. 251a. fentends la puissance dans le sens plus noble, %. ou la tendance est Joint e d la faculte. cf. p. 2716.

242) a. a. 0. p. 252a. Ce ne sont pas les facultes ou qualites, qui agissent} mais les substances par les facultes.

s 243) a. a. 0. p. 238a.

210 G. Hartenstein, [400

X.

Ganz anders gestaltet sich dagegen das Verhältniss zwischen Leib- niz und Locke rücksichtlich der Frage nach dem Erkenntnissgehalt, der den Begriffen, in welchen der factisch vorhandene Vorstellungskreis sich bewegt, zugesprochen werden kann. Es mag erlaubt sein*, die Kri- tik Leibniz's in dieselbe Reihenfolge zu ordnen, in welcher oben die Erörterungen Locke's dargelegt worden sind.

Der wesentliche Grund der Verzichtleistung' Locke's auf alle Meta- physik im Sinne einer Erkenntniss des Wesens der Dinge Hegt in seinen Bedenken gegen den Begriff des Dings mit der Mehrheit seiner Eigen- schaften und Kräfte , dem die Schulphilosophie die Worte Substanzen, Attribute und Accidenzen substituirt hatte. Dieser ganze Begriff war für ihn ein seiner psychischen Genesis nach freilich nicht genauer unter- suchtes — Product aus dem Zusammenwirken der äusseren Wahrneh- mungen mit der Vorstellungsthätigkeit, welches über die wahre Be- schaffenheit dessen , was dadurch bezeichnet werden soll , keinen Auf- schluss gibt. Es ist oben bemerkt worden , dass Locke in dieser that- sächlich vorhandenen Vorstellungsart, vermöge deren wir für die erfah- rungsmässig gegebenen Complexionen von Eigenschaften das Ding als ihren Träger voraussetzen und hinzudenken, ein Problem eines fort- schreitenden Denkens weder gefunden noch auch nur gesucht habe; er betrachtet sie einfach als eine dunkle Region , welche aufzuhellen dem menschlichen Denken nicht vergönnt ist. Für Leibniz war der Begriff der Substanz als eines mit einer Mehrheit nicht ruhender Eigenschaften, sondern thätiger Kräfte ausgestatteten Wesens der Fundamentalbegriff seiner Metaphysik , die dadurch im Allgemeinen den Charakter einer Reaction der aristotelischen Anschauungsweise gegen die mechanische Naturphilosophie namentlich der Cartesianischen Schule bekommt. Man wird in seinen Schriften vergeblich nach einer Deduction, nach dem Versuch eines Beweises der Notwendigkeit suchen, den Begriff der Substanz in diesem und keinem andern Sinne an die Spitze der Me- taphysik zu stellen; um so interessanter ist es zu untersuchen, in wel- cher Weise und mit welchem Erfolge er die Locke'sche Behauptung der gänzlichen Dunkelheit und wissenschaftlichen Unbrauchbarkeit dieses Begriffs zu entkräften sucht. '

*<M] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss ü. s. w. 21 1

Dass er nämlich an den von Locke geltend gemachten Schwierig- keiten keinen Anstoss nimmt, verräth sich schon da, wo bei Locke zuerst des Begriffs der Suhstanz als eines solchen , den man voraussetze, ohne eigentlich zu wissen, was man damit meine , Erwähnung geschieht. Er bemerkt dazu ganz kategorisch, dieser Begriff sei keineswegs so dunkel als man denke ; man könne daran so viel erkennen als nöthig sei und als man an den Dingen überhaupt erkennen könne.244) Den Commentar zu dieser kurzen Aeusserung enthält zunächst das 23. Capitel des zwei- ten Buchs« Hier leugnet Leibniz zuvörderst, dass wir dem das Ding be- zeichnenden Vorstellungscomplexe »unbedachter Weise« die Einheit des Dings voraussetzen; die Vorstellung oder der Begriff des einen Sub- jects brauche desshalb nicht eine einfache Vorstellung zu sein.345) Locke hatte die wesentliche Schwierigkeit in der Frage gefunden, mit welchem Rechte wir, da den Eigenschaften oder auch den Kräften der Dinge keine selbstständige Existenz beigelegt werden könne, und sie doch unter einander in einer Weise verknüpft seien , über welche sie selbst keinen Ausschluss geben, ihrer Gesammtheit die Voraussetzung eines Substrats, einer Substanz unterschieben, die selbst nicht wahrgenommen wird und gleichwohl der unbekannte Träger der Eigenschaften und Kräfte sein soll. Leibniz erwidert, man thue ganz recht so zu denken und man habe sich an die Voraussetzung dieses Substrats zu gewöhnen, weil wir von vorn herein Subjecte mit mehreren Prädicaten denken oder zu denken haben. Es ist nicht ganz deutlich, ob Leibniz damit einen Parallelismus des logischen Verhältnisses zwischen dem Begriff und seinen Merk- malen, und des reellen zwischen dem Dinge und seinen Eigenschaften geltend machen will, vermöge dessen diese zusammen gehören, wie jene; er fügt jedoch hinzu, das Ding ohne die Eigenschaften (die abs- tracte Substanz) und die Eigenschaften ohne die Substanz (die Wärme, die Schwere als Abstracta), würden unbegreiflich sein, aber eine Sub- stanz mit ihren Eigenschaften zu denken habe keine Schwierigkeit und

244) a. a. 0. p. 2386. L'idee de la substance riest pas si obscure qu'on pense. On en peut connoitre ce qui se doit et ce qui se connoit en autres choses; et meme la con- naissance des concreto est toujours anterieure ä cellc des abstraüs; on concoü plus le chaud que la chaleur.

245) a. a. 0. p. 2716. Je ne vois rieft dans les expressions recues qui merite dMtre taxe dinadvertance, et quoiquon reconnoisse un seul sujet et uns seule idee, on ne recon~

»not* pas wie seule idee simple.

212 G. Hartenstein, [102

ihr Begriff sei keines weges leer, denn durch die Eigenschaften erfahre man eben, was die Substanz ist.'246) Lässt man nun die Frage, ob das logische Verhältniss zwischen dem Begriff und seinen Merkmalen einen genügenden Aufschluss über das Verhältniss zwischen dem Dinge und seinen Eigenschaften , der Substanz und ihren Attributen darbiete , da- hingestellt sein,*47) so trifft doch Locke nicht der Vorwurf leerer Abs- traclionen, durch welche er Schwierigkeiten erkünstele, die in der Auf- fassung des Gegebenen nicht Hegen. Locke spricht nicht von der Sub- stanz im Allgemeinen, d. h. von einer von ihren«Eigenschaften losge- lösten Substanz; sondern von dem allgemeinen Begriff des Ver- hältnisses zwischen Substanz und Accidenz und behauptet, dass dieser Begriff weder über die Art der Verknüpfung der letzteren untereinander and mit der erste reu, noch über das eigene Was der Substanz eine Er- kenntniss enthalte; Leibniz ist der Ansicht, dass diese Erkenntniss sich von selbst darbiete, wenn man eine bestimmte Substanz mit ihren be-

246) a. a. 0. p. 27 Ja, § \ . Je crois qu'on a raison de penser ainsi et nous riavons que faire de nous y accoutumer ou de le (le substratum) supposer, puisque dabord nous concevons plusieurs predicats d'un meme sujet et ces mots metaphoriques de soutien ou de substratum ne signißent que cela; de sorte que je ne vois point pourquoi on s'y fasse de la difficulte. Au contraire c'est plutot le concretum, comme savant, chaud, hrisant, qui nous vient dans tesprit, que les abstractions ou qualites {ear ce sont elles, qui sont dans l'objet substantiel et non pas les idees), comme savoir chaleur lumiere etc., qui sont bim plus difficiles ä comprendre . . . Ainsi cest nodum in scirpo quaerere, si je lose dire, et renverser les choses que de prendre les qualites ou autres lermes abstraits pour ce qu'il y a de plus aise et les concreto pour quelque chose de fort difficile. § 2 . En distin- guant deux choses dans la substance, les attributs ou predicats et le sujet commun de ces predicats, ce riest pas merveille, qu'on ne peut rien concevoir de particulier dans ce sujet. II le faut bien puisqu'on a deja separe tous les attributs ou Ion pourroit concevoir quelque detail. Ainsi demander quelque chose de plus dans ce pur sujet en gen erat, que ce qu'il faut pour concevoir que cest la meme chose, . . cest demander timpossible et contre- venir ä sa propre supposition, qu'on a fait en faisant abslraction et concevant separement le sujet et ses qualites ou accidences. On pourrait appliquer la meine pretendue difficulte ä la notion de Ntre; . . . cor tout detail etant exclus par la, on aura aussi peu ä dire que lorsqu'on demande ce que cest que la pure substance en gen erat.

t47) Die aristotelisch-scholastische Metaphysik findet süllschweigend in der Ver- knüpfung einer Mehrheit von Merkmalen in der Einheit des Begriffs den Rechtferti- gungsgrund für den Begriff der Substanz mit mehreren Attributen oder Acctdenzen. Der Widerspruch dagegen ist alt, und trieb die Megariker zu dem entgegengesetzten Extrem in der Verwerfung aller nichtidentischen Sätze. Vgl. meinen Aufsatz: über dte Bedeutung der megarischen Schule für d. Gesch. d. metaphys. Probleme in d. Berich- ten der Kön. Sachs. Ges. d. Wissensch. Bd. 1, p. 203flgg.

403] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. b. w. 213

stimmten Accidenzen auffasse. Dies verräth sich in der Art, wie er später den Locke'schen Satz bestreitet , dass wir nicht im Stande sind, über die Dinge, insofern wir auf sie die Begriffe der Substanz und der Accidenzen übertragen, streng allgemeine Satze zu erkennen.248) Gerade weil sich in den Eigenschaften das Wesen der Dinge kund gebe, kön- nen wir von ihnen allgemeine Sätze aussagen ; und selbst, wenn unsere Begriffe von den Dingen nur eine provisorische Bedeutung haben und durch neue Erfahrungen einer Erweiterung oder näheren Bestimmung unterliegen sollten, würde es gleichwohl gestattet sein, den Dingen ein inneres Wesen beizulegen, welches sich durch die wahrnehmbaren Eigenschaften zu erkennen gibt.249) Dass wir die Art des Zusammen- hangs der Eigenschaften unter sich und mit der Substanz nicht erkennen können, gibt Leibniz zu; wir wissen lediglich durch die Erfahrung, dass im Wesen des Goldes die Schwere mit der Dehnbarkeit verbun- den ist; aber wir lernen dadurch einen Körper kennen, dessen specifi- sches Wesen, obgleich uns unbekannt, der Grund dieser Eigenschaf- ften ist und sich uns wenigstens dunkel dadurch zu erkennen gibt.260) Nur müsse man nicht verlangen, dass selbst wenn wir die innere Con- stitution des Körpers und damit die Ursachen seiner sinnlichen Eigen-*

248) L. IV, eh. VI. Die Erörterung Locke's im 31. Cap. des zweiten Buchs über diesen Gegenstand übergeht Leibniz mit Stillschweigen.

249) a. a. 0. p. 3566. Nous pouvons itxe assures de mille verites, qui regardent Vor ou ce corps dont l' essence interne se fait connaitre par la plus grande pe- santeur comme ici bas ou par la plus grand duetilite ou par d'autres marques. Car nous pouvons dire que le corps de la plus grande duetilite connue est aussi le plus pesant de tous les corps. Nach einer längern Auseinandersetzung, darüber dass viele dieser We- sensbestimmungen möglicherweise nur provisorisch seien, schliesst er p. 3576: cepen- dant il sera toujours permis et raisonnable dentendre qu'il y a une essence reelle interne appartenante par une proposition reciproqne sott au genre, soit aux especes, ktquelle se fait connaitre ordinairement par les marques externes.

250) a. a. 0. p. 359a. Nous savons presque aussi certainement que le plus pesant de tous les corps connus ici bas est fixe, que nous savons certainement qu'il fera jour de- rnam. Cest paroe qu'on fa experimente cent müle foisf c' est une certitude ex- perimentale et de fait, quoique nous ne connaissions point la liaison de la fixüe avec les autres quaUtes de ce corps. Au reste il ne faut point opposer deux choses qui s'aecordent et reviennent au m&ne. Quand je pense ä un corps, qui est en mime temps jaune, fusible et resistant ä la coupelle, je pense ä un corps dont V essence speeifi- que, quoique inconnue dans son intörieur9 fait emaner ces qua- Utes de son fonds et se fait connaitre confusement au moins par elles. Je ne vois rien de mauvais en cela.

214 G.Hartenstein, [104

Schäften (der qualites secondes) wirklieb erkennen könnten, uns nun auch in sinnlich anschaulicher Weise deutlich werden solle, wie diese sinn- lichen Phantome entstehen , die ein verworrenes Resultat der Einwir- kungen der Körper auf uns sind; es würde das heissen, eine Täuschung durch ihre Erklärung zerstören und sie sich doch erhallen wollen.351)

Gerade dieser Begriffeines unbekannten Wesens aber, dessen Was sich durch seine wahrnehmbaren äusseren Eigenschaften zu er- kennen und auch nicht zu erkennen geben soll, dergestalt, dass wir rücksichtlich des Zusammenhangs desAeusseren mit dem Inneren nichts wissen, als was uns die empirische Thatsache der Verknüpfung der Eigenschaften in der vorausgesetzten Einheit des Dings lehrt, ge- rade dieser Begriff ist es , an dem Locke Anstoss genommen und wel- chem er jede wissenschaftliche Brauchbarkeit abgesprochen hatte. Leib- niz ist hier in seinen Anforderungen an ein Wissen über das Wesen der Dinge jedenfalls viel genügsamer als Locke; es stört ihn darin nicht einmal die von ihm übrigens gebilligte Auseinandersetzung Locke's, dass der allergrösste Theil dessen, was wir den Dingen als Eigenschaft beilegen, auf Beziehungen und Verhältnissen zu andern Dingen beruht und ihnen folglich gar nicht als ihr eigenes Wesen beigelegt werden kann252) Dass Alles das , was wir von dem Wesen der Dinge wissen, lediglich auf der Erfahrung beruhe, erkennt Leibniz so vollständig an, als es nur der entschiedenste Empirist thun könnte, und gesieht desshalb am Schlüsse der ganzen Erörterung zu, dass dieses Wissen kein mela-

25 t) a. a. 0. p. 358a. Ces idees sensitives dependent du detail des figures et mou- vemens et les expriment exaetement, quoique nous ne puissions pas y demiler ce detail dans la confusion dun Irop grande muUilude et petitesse des actions mecaniques, qui frap- pent nos sens. Cependant si nous elions parvenu d la Constitution interne de quelque corps nous verrions aussi quand ils devraient avoir ces qualites, qui seroient reduites elles meines d leurs raisons intelligibles ; quand meme il ne seroit jamais dans notre pouvoir de les reconnaitre sensiblement dans. ces idees sensitives, qui sont un resultat confus des actions de corps sur nous, ... p. 3586. De vouloir que ces pkant&mes confus demeurent et que cependant on y demile les ingrediens par la pnantaisie meme c'esl se contredire , c'est vouloir avoir le plaisir d'Stre trompe par une agreable perspective et vouloir qu'en mime tems Cocil voie la tromperie. Wie wenig Leibniz das Bedürfniss fühlt, in diesem Punkte die gewöhnliche Vorstellungsart zu berichtigen, zeigt u. A. p. 2986, wo er bei Gelegen- heit einer Erörterung über die Präpositionen sich auf die Inh'ärenz der Accidenzen in ihrem Subject oder der Substanz als die natürliche Vorslellungsart, die in der Sprache ihren Ausdruck finde, beruft.

252) a. a. 0. p. 359a, § H.

105] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 215

physisches, d. h. aus den Begriffen selbst abgeleitetes sei, sondern nur eiüe moralische oder physische Gewissheit ei nsch Hesse;253) aber er übersieht dabei , dasö Lotke zwar den Belehrungen der Erfahrung so zugänglich war, wie er selbst, dass er aber dabei zugleich eine, wenn auch nicht aus blossen Begriffen abgeleitete, aber doch eine mit den Ansprüchen auf Erkenntniss , mit denen eine gewisse Vorstellungsart auftritt, vereinbare und ihnen entsprechende Begriffsbestimmung ver- langt, welche er eben in dem hergebrachten Substanzbegriff vermisst.

Zu der Zeit, zu welcher das Werk Locke's ihm bekannt wurde, hatte Leibniz seine eigene Metaphysik schon festgestellt und es ist nicht zu verwundern, dass er den Mittelpunkt derselben, den Begriff der Sub- stanz, Locke's Einwendungen gegenüber nicht fallen lassen wolhe. Für Leibniz war die Substanz nicht sowohl der Trager einer Mehrheit ruhen-* der Eigenschaften , als vieiraehr der Mittelpunkt einer Mannigfaltigkeit von Thtttigkeiten. Der damals durch Naturforscher und Philosophen, die er häufig als Reformatoren bezeichnet, im Gegensatze zu der aristo-« telisch- scholastischen Lehre geltend gemachten mechanischen Natur- philosophie gegenüber hatte sich ihm, zunächst mit Beziehung auf die Veränderungen der Körperwelt, die Unentbehrlichkeit des Begriffs der Kraft aufgedrängt; und mit ausdrücklicher Berufung auf den Begriff der aristotelischen Entelechie und der subslanziellen Formen definirt er die Substanz als elre capable d'action. Der Vergleichungspuukt für die Art, wie die Wirkungsart dieser primitiven Thätigkeitsquellen zu denken sei, war ihm das psychische Leben ; die innere Erfahrung schien ihm eine unmittelbare Spontaneität derjenigen Entelechie , welche die Seele ist, zu verbürgen, und die Unbegreiflichkeit eines physischen Einflusses äusserer Dinge auf die vorstellende, denkende uud wollende Seele ihre Annahme notwendig zu machen , und so suchte er die Entelechieen der Körper nach den abgestuften Graden ihrer Aehnlichkeit piit der Seele verständlich zu machen.351) Da er nun an die Stelle äusserer Einwir-

853) a. a. 0. p. 3596.

254) Die nähere Ausführung dieser kurzen Andeutungen sammt den Belegen enthält meine Abhandlung de matetiae apud Leibnüium notione et ad monadas relatione (Lips. 1846). Dass Leibniz den Entelechieen gegenüber die Annahme eines materiel- len, rein passiven Stoffs, als dessen, worin und worauf die Entelechieen wirken, nicht aufgegeben hat, glaube ich daselbst ausreichend nachgewiesen zu haben. Es ist eine durch Leibniz's eigene Darstellung nicht gerechtfertigte Ansicht, wenn man seine Lehre

216 G. Hartenstein, [*©6

kungen einer Entelechie auf die andere (des injluxus physicus) eben so, wie an die Stelle des Occasioualismus der Cartesianischen Schule, das eine, alle speziellen Wunder überflüssig machende Wunder der prasta- bilirlen Harmonie gesetzt halte, so konnten die ohnedies nicht sehr tief gehenden Erörterungen Locke's über den Begriff der Ursache und der Kraft nur ein untergeordnetes Interesse für ihn haben; aus dem 26. Ca- pitel des zweiten Buchs hebt er nur die Locke'sche Definition von Ur- sache und Wirkung hervor, um daran die Bemerkung zu knüpfen , dass sie nur auf die wirkenden Ursachen passe und dass, wenn Locke sage, Ursache sei das, was mache, dass etwas anderes zu existiren anfange, eben in diesem Machen die eigentliche Schwierigkeit stecke , ohne sich zu erinnern, dass Locke selbst die Art dieser Wirksamkeit für gänzlich unbekannt erklärt hatte und in so fern für die darin liegende Schwierig- keit nicht so ganz blind war.395) Rücksichtlich der Begriffe Vermögen und Kraft stimmt Leibniz Locke' n darin bei, dass es eigentlich die innere Erfahrung, nicht die Beobachtung äusserer Vorgänge ist, welcher wir diese Begriffe verdanken , nur seien sie bei weitem nicht so einfach als Locke annehme;260) die Frage, was deun durch die Berufung auf Ver- mögen und Krüfte, die man dem beobachteten Thatbestand des Verlaufs der Veränderungen unterschiebt, erklärt werde» übergeht er mit Still- schweigen und begnügt sich eine Reihe von Unterscheidungen und No- minaldefinitionen der Begriffe active und passive Potenz, ursprünglicher und abgeleiteter Kräfte, u. s. w. aufzustellen, die mit seinem Begriffe von den Entelecbieen und der Materie zusammenhängen,257) wie denn

so auffasst, als erkläre er die Monaden für die einzigen Realprincipien der Erscheinungs- welt: im Gegentheile bezeichnet er, wo er ein Interesse hat sich bestimmt auszu- drücken , durch dieses Wort diejenigen natürlichen Einheiten, in denen eine Entelechie mit der Materie verbunden ist ; die Monade ist das Resultat aus der Verbindung von Stoff und Kraft. Vgl. a. a. 0. p. 20.

255) a. a. 0. p. 277a. Vous ne definisses que la cause efficiente . . // faut avouer, qu'en disant que cause efficiente est ce qui produit et effet ce qni est produü, on ne se sert que des synonymes. II est vrai que je vous ai entendu dire un peu plus distinctement que cause est ce qui fait qu' une autre chose commence ä exister, quoique ce mot faxt iaisse. aussi la prineipale diffieulte en son entier. Die Worte, welche Leibniz hinzufügt : mais cela s'expüquera mieux aüieurs, beziehe ich auf seine Auseinandersetzungen über die prästabilirte Harmonie. Vgl. oben Aum. 75.

256) p. 250, § 3. 4.

257) Vgl. oben Anm. 8t . 82. Leibniz's eigene Definitionen p. 2496, § I.

107] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. S17

überhaupt die ganze Frage nach dem Begriff der Kraft durch seine Auf- fassung des Begriffs der Substanz für ihn erledigt war. Die übrigen sehr sorgfältigen Erörterungen dieses Capitels beziehen sich auf die Frage nach der Willensfreiheit und müssen hier aus demselben Grunde, wie oben bei Locke übergangen werden.

Bei weitem kürzer behandelt Leibniz die Erörterungen Locke's über Raum, Zeit und Zahl. Der grösste Theil der hierher gehörigen Capitel (L. II, eh. XIH XVI) besteht in schärferen Bestimmungen einzelner hierher gehöriger Begriffe z. B. des Begriffs der Distanz (p. 239a. fr), der Figur (p. 2396), des Orts (p. 240a, § 7), des Moments (p. 241 fr), der Zahl (p. 243a) und der Art des Zählens (p. 243b, § S). Sein mathema- tischer Scharfsinn ist hier Locke'n durchaus überlegen ; das psycholo- gische Interesse dieser Berichtigungen besteht in der Nach Weisung, dass diese räumlichen und zeitlichen Vorstellungen bei weitem nicht so ein- fach sind, als Locke behauptet.94*) Dem Locke'schen Bekenntniss der Unwissenheit, was der Raum sei, stellt er die Erklärung gegenüber, der Raum sei das Abstractum des Ausgedehnten und Raum und Zeit der Ausdruck geordneter Verhältnisse nicht blos des Wirklichen , sondern auch des Möglichen, deren Ordnung, wie die aller ewigen Wahrheiten, in letzter Instanz in Gott gegründet sei.250) Damit hängt die Erklärung zusammen, dass die Reflexion auf die Aufeinanderfolge der Vorstellun- gen die Vorstellung der Zeit in uns nur erwecke, nicht erzeuge, obgleich der Grund, den Leibniz dafür anführt, sich nicht sowohl auf die allge- meine Vorstellung .einer unbestimmten Dauer, als vielmehr auf das Maass derselben bezieht,260) für welches Locke selbst auf die Noth wendigkeit

258) Vgl. z. B. a. a. 0. p. 240a, § 6. 2436, § 5.

259) a. a. 0. p. 240a, § 15. Vetendue est l'abstraction de Ntendu. p. 2406- Vespace n'est pas plus une substance que le temps. . . . (Test un rapport, un ordre, non seulement entre les existans, mais encore entre les possibles, comme s'ils existaient. Mais sa verite et realite est fondee en dieu, comme toutes les verites eternelles.

260) a. a. O. p. 2416. Une suile de pereeptions reveille m nous Cidee de la duree, mais eile ne la faxt point. Nos pereeptions riont jamais une suite asse* eonstante et regu- liere pour repondre ä teile du tems , qui est un continu uniforme et simple comme une Ugne droite. Le thangement des pereeptions nous donne occasion de penser au tems et on le mesure par des changemens uniformes; mais quand il riy auroit rien d uniforme dans la naturc, le tems ne laisserait pas 4tre determine u. s. w. ... Cest que connaissant les reglet des mouvemens difformes on peut toujours les rapporter ä des mouvemens uni- formes mteUigibles.

?I8 G. Hartenstein, [*08

einer als gleichförmig sich erweisenden oder als solche vorausgesetzten Bewegung hingewiesen hatte. Dass die Vorstellung der Zeil als Vor- stellung ohne den Wechsel anderer Vorstellungen nicht vorhanden sein würde, wird dadurch nicht widerlegt; Locke seinerseits würde sich vielleicht durch die Behauptung, dass der Wechsel der Vorstellungen die Vorstellung des Zeitlichen erwecke, nicht hervorbringe, zu der Frage veranlasst gefunden haben, was denn die Vorstellung des Zeitlichen für das Bewußtsein irgend bedeute, so lange sie nicht im Bewusstsein vor- handen sei.

An die Begriffe von Raum, Zeit und Zahl hatte Locke den des Un- endlichen angeknüpft, um zu zeigen, erstlich, dass er ein Grössenbegriff, und zweitens, dass er ein lediglich negativer Begriff, der eines mög- lichen Fortschritts ohne Ende sei. Der ganze Begriff ist- ihm ein Gedan- kenproduct , oder vielmehr der Ausdruck für eine Operation des. Den- kens ; daher zwar die Unendlichkeit des Raums, der Zeit und der Zah- lenreihe, aber nicht der unendliche Raum, die unendliche Zeit oder Zahl vorgestellt werden könne. Diese Auffassung des Unendlichen erkennt Leibniz innerhalb der von Locke selbst bezeichneten Grenzen an;261) denn dass er auf die Möglichkeit eines Fortschritts ohne Ende rücksicht- lich der Intensität der Qualitäten d. h. des Grades aufmerksam macht, ist mehr ein Zusatz, als ein Einwurf, ebenso wie die Hinweisung dar- auf, dass der Fortschritt in der Reihe nach derselben Regel und unter den gleichen Verhältnissen stattfinden müsse. Wenn er ein Gewicht darauf legt, dass die Regel des Verfahrens in uns selbst liege und nicht von der sinnlichen Erfahrung entlehnt sei,262) so trifft das Locke's An- sicht nicht, welcher den Ursprung des Begriffs des Unendlichen keines- wegs in der äussern Erfahrung, sondern lediglich in der Thätigkeit des Denkens sucht. Gleichwohl deutet Leibniz hier noch auf einen andern Begriff des Unendlichen hin , der nicht auf der Zusammenfassung von

261) a. a. 0. p. 244a. 11 est vrai qu'ü y a wie infinite de c hos es, (fest ä dire qu'ü y en a toujours plus qu'on n'en peut assigner. Mais il n'y a point de nombre infini ni de ligne ou autre quantüe infinie, si Von les prend pour des touts verüables. p. 2446. On se trampe en voulant s'imagtnet un espace absolu, qui sott un tout absolu, cotnpose de parties. II n'y a rien de tel. Cest une notion qui implique contradiction et ces tous infi- nis et leur opposes , infiniment petits, ne sont de mise que dam les calculs des geometres, tout comme les racines imaginaires.

262) a. a. 0. p. 2446, §4. §6.

409] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 219

Grössen beruhe und als solcher dem Begriff des Endlichen vorhergehen soll.'0) In sofern jedoch dieses Unendliche identisch sein soll mit dem Absoluten, liegt es wenigstens nicht in der Reihe der Begriffe, mit wel- chen Locke den Begriff des mathematisch Unendlichen in eine von Leib- niz nicht bestrittene Verbindung setzt, und Leibniz nnterlässt, den Zu- sammenhang dieses mathematisch Unendlichen mit oder seinen Gegen- satz zu dem, was er das wahre Unendliche nennt, irgendwie näher dar- zulegen. Dass die Uebertragung des Begriffs des Unendlichen auf den Begriff und die Eigenschaften Gottes , wenn sie etwas mehr sein will, als der Ausdruck dafür, dass seine Macht, Weisheit u. s. w. jedes uns bekannte Maass überrage, die Grenze dessen, was uns begreiflich sei, überschreite, hatte Locke gleich im Eingange seiner Erörterung über das Unendliche hervorgehoben und in der Erklärung Leibniz's, dass das wahre Unendliche Gott und die göttlichen Attribute seien, liegt nichts, was das jenseits dieser Grenze liegende Dunkel aufhellte.

Eine der wichtigsten Erörterungen Locke's hatte endlich der An- wendung des Begriffs der Identität sowohl auf die Dinge ausser uns als auf uns selbst gegolten, d. h. der Frage, was uns in unserer natürlichen Auffassung veranlasst,, sowohl jedes individuelle Ding ausser uns für dasselbe zu erklären, als auch uns selbst für dieselbe Person zu halten ; woran sich für ihn die weitere Frage geknüpft hatte, ob in der Einheit des Selbstbewusstseins auch schon der Beweis für die Einheit der Sub- stanz als des Trägers dieses Selbstbewusstseins, mithin für die reelle Einheit der Seele liege. Er hatte die zwingende Kraft des Schlusses von diesen lhatsächlich vorgestellten Einheiten auf die Einheit der Sub- stanz geleugnet; bei den unbelebten äusseren Dingen ist es die Gleich- heit der Vorstellungen von dem Dinge im Moment der früheren und der jetzigen Auffassung, bei den belebten Wesen, den Menschen nicht aus- genommen , ist es die Einheit der Organisation und der Lebensfunetio- nen, rücksichtlich unserer eigenen Persönlichkeit ist es der continuir- liche Zusammenhang des Bewusstseins unserer eigenen Vorstellungen,

263) a. a. 0. p. 244a, § \. Lc vrai infmi ä la rigueur n'est que dans Vabsolu qui est anterieur ä toute composition, et n'est point forme par faddition des parties. § 2. Z/fa- fini veritable riest pas une modification, c'est fabsolu ; au contraire, des qu'on modifie, on se borne et föime un fini. p. 2446. L'idee de fabsolu est en nous interieurement comme celle dfitre. Ces absolus ne sont autre chose que les attributs de dieu , et on peut dire qu'ils ne sont pas moins la source des idees, que dieu est lui mime le principe des e*tres.

g£0 G. Hartenstein, [440

woran die Vorstellung der Identität haftet , so dass namentlich in dem letzten Falle die Vorstellung des mit sich selbst identischen Ich nicht gebunden erscheint an die Identität der Substanz. Diese ganze Reihe von Erörterungen bestreitet Leibniz keineswegs als irrthümlich, in so fern sie sich auf die vorgestellte Einheit der Dinge und unserer eigenen Persönlichkeit beziehen ; aber er tadelt die Genügsamkeit Locke's, dass er auf der Grundlage dieser vorgestellten Einheit nicht einen Schritt weiter zur Entscheidung über das Wesen der Sache selbst fortgehe. Er leugnet desshalb, dass die Dinge nur nach ihren räumlichen und zeitlichen Verhältnissen einerlei oder verschieden seien; es müsse in ihnen selbst ein Princip der Verschiedenheit und damit der Unterscheid- barkeit liegen ; und während Locke mit einer gewissen Ironie die Be- deutung des sogenannten Princips der Individuation eben auf diese Gleich- heit räumlicher und zeitlicher Verhältnisse beschränkt hatte, legt Leibniz auf die Anerkennung desselben im Sinne eines die Individualität der Dinge von innen heraus bestimmenden Princips ein grosses Gewicht.164) Dass für ihn dieses Princip der Individuation und der Identität der Dinge mit sich selbst in den mit der Materie verknüpften Entelechieen, in den Monaden liegt, würde sich von selbst verstehen, auch wenn er es nicht ausdrücklich ausspräche.965) Wenn er hinzufügt, dass ohne eine solche substanzielle Einheit die den Dingen beigelegte Einheit und Identität

264) a. a. 0. p. 2776, § 2. // faut loujours qu'outre la difference du tems et du Ueu, il y aitun principe interne de distincHon. ... § 3. Le principe d individuation revient dans les indmdus au principe de disUnction dont je viens de parier. Dann, nachdem er die bekannte Geschichte von dem zwei vollkommen identische Blatter vergeblich suchenden Edelmann erzählt hat, setzt er hinzu : On voit par ces considerations negli- gees jusqu' ici, combien dans la philosophie on s'est eloigne des notions les plus naturelles et combien on a ete eloigne des grands principes de la vraie metaphysique 1 Als ob Locke in Gefahr gewesen sein würde, zwei an verschiedenen Zweigen gewachsene und über- dies durch allerlei kleine Verschiedenheiten unterscheidbare Blätter ohne Hülfe des Princips der Individuation für identisch zu halten !

265) a. a. 0. p. 278a. L' Organisation ou configuration sans un principe de vie subsistant, que j'appelle monade, ne suffirait pas pour faire demeurer idem numero ou le meme mdividu . . . Quant aux substances, qui ont en elles memes une veritable et reelle unite substantielle, ä qui puissent appartenir les actions vitales proprement dites, et quant aux etres substantielles, quae uno spiritu contmentur, comme parle un ancien jurisconsulte, c'est d dire qu'un certain esprit indwisible anime, Qti a raison de dire qu'eUes deineurent parfaitement le mime individu par cette ame ou cet esprit, qui fait le moi dans Celles qui pensent.

44 <] Locke's Lehre von dbb mbmschl. Erkenntniss u. 8. w. 224

nur eine scheinbare sei ,266) so muss bemerkt werden , dass Locke die metaphysische Frage , ob und in welchem Sinne die Dinge eins sind, eigentlich gar nicht berührt und sich eben begnügt hatte, zu zeigen, dass die vorgestellte und den Dingen beigelegte Einheit über jene Frage nichts entscheide.

Gleichwohl behauptet Leibniz rücksichtlich der Identität der Per- son keineswegs, dass der Begriff des identischen Selbstbewusstseins die Identität der Seelenmonas einschliesse, sondern nur, dass die That- sache der Identität des Ich mit sich selbst eine ausreichende Bürgschaft für diese darbiete. Dass das empirische Ich an die Continuität dessen, was in das individuelle Bewusstsein fällt, gebunden sei, gibt er nicht nur zu , sondern fübrl es auch in seiner Weise , geistreich wie immer, weiter aus; nur könne die unmittelbare Selbstauffassung rücksichtlich der Voraussetzung, dass der Identität des empirischen Ich eine identi- sche Substanz zu Grunde liege, unmöglich täuschen; höchstens durch einen Act der göttlichen Allmacht, also durch ein Wunder, sei es mög- lieh , dass bei einem Wechsel der Substanz die Identität des Selbstbe- wusstseins unangetastet bleibe.267) So ist es nicht eine Deduction aus

966) a. a. 0. p. 2786; Si on ne se rapporte point ä Farne, il riy aura point la meme vie ni union vitale non plus. Amsi cette identüe ne seraü qu' apparente,

267) a. a. p. 280a. II semble que vous tenez, que cette identüe apparente se pourrait conserver, quand il n'y en aurait point de reelle. Je croirois que cela se pourrait peut-etre par la puissance absolue de dieut mais suivant Vordre des choses Viden- tite apparente d la personne mime, qui se sent la mime, suppose Videntite rielle d chaque passage prochain, aecompagne de reflexion ou de sentiment du moi, une pereeption intime et imme diäte ne pouvant tromper naturellement. ... 7/ suffit pour trouver Videntüe morale par soi mime, qu'il y ait une moyenne liaison de consciosite dun etat voism ou meme un peu elotgne d taufte, quand quelque saut ou Intervalle oublie y seroitmSle. Es folgt eine Erläuterung durch Beispiele, dann fährt Leibniz p. 2806 fort: Pour oe qui est du soi, il sera bon de le dütmguer de Vapparenee du soi et de la consciosite. Le soi fait Videntite reelle et physique, et V apparence du soi, ac- compagnee de la verite , y Joint Videntite personelle. Ainsi ne voulant point dire, que Videntite personelle ne seiend pas plus hin que le souvenir, je dirais encore moins, que le soi ou Videntite* physique en depend. L'identite reelle et perso- nelle se prouve le plus certainement qu'il se peut en mattere de fait, par la refle- xton presente et immediate cf. p. 279a. 284a. favoue que si toutes les apparences etoient changees et transferees dun esprit ä un autre, ou si dieu faisoit un echange entre deux esprits, donnant le corps visible et les apparences et consciences de Vun d V autre, Videntite personelle, au Heu d'e*tre attachee ä celle de la substance, suwroit les appa- rences constantes u. s. w.

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222 G. Hartenstein, [MS

dem Begriffe der Persönlichkeit oder des- Ich, sondern die Bernfang auf eine Thatsache der innern Erfahrung, durch die sich Leibniz zu einer Voraussetzung berechtigt glaubt, welche Locke durch diese Thatsache für nicht hinlänglich gewährleistet gehalten hatte. Für Locke bleibt da- her die Identität des Ich mit sich selbst lediglich ein empirisches Factum, welches für unsere Selbstauffassung an die ContinuRät der Zustände des Bewusstseins gebunden ist; für Leibniz jst diese Continuität eine Folge des Zusammenhangs , kraft dessen jeder spätere Zustand oder Thötig- keitsacl der Seele durch ihre früheren bedingt ist;208) in der Sonderung des Begriffs vom Ich vom Begriff der Seelensubstanz stimmen beide überein.

XI.

So weit sich in dem Bisherigen bei grosser Uebereinstimmung in wichtigen Punkten ein principieller Gegensatz zwischen Locke und Leib- niz gezeigt hat, bezieht sich derselbe durchaus auf metaphysische Fra- gen; und man könnte, weil Leibniz zu der Richtigkeil seiner Metaphysik die Zuversicht einer sehr lebhaften Ueberzeugung hat, Locke dagegen auf eigentliche Metaphysik Verzicht leistet, vielleicht sagen, dass beide in dieser Hinsicht unvergleichbar sind , wenn nur der Leibnizische Be- griff der Substanz und der Kraft über das Wesen der Dinge und die Wirkungsart der von ihm den Erscheinungen vorausgesetzten Realprin- cipien ausgiebigere Belehrungen darböte, als der Fall ist und nicht in seiner Anwendung auf dieselbe Erfahrung zurückwiese, deren gegebene Formen Locke nicht sowohl als die Quelle, als vielmehr als die Schranke des Wissens ansah. Der weitere Verlauf der betreffenden Werke beider Denker gibt nun Veranlassung, ihr VerhäHniss rücksichtlich solcher Fra- gen zu untersuchen, die sich direct auf die Fundamente, die Methoden und die Arten der Erkenntniss beziehen. Locke hatte diesen Unter- suchungen eine Reihe von Unterscheidungen theils der Art, wie die Vorstellungen gedacht werden, theils ihrer Beziehung auf das, was durch sie gedacht wird, vorausgeschickt; es ist in dieser Beziehung an

268) a. a. 0. p. Stba.Lavenir dann chaque substance a une parfaite liaison avee U passe. Cest ce qui faxt lidentüe de findividu.

443] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 223

seine Unterscheidung klarer und deutlicher, vollständiger und unvoll- ständiger, reeller und chimärischer oder phantastischer, wahrer und fal- scher Vorstellungen zu erinnern. Leibniz ist weit entfernt, diese Unter- scheidungen zu verwerfen, aber er bestimmt sie zum Theil schärfer, zum Theil anders als Locke und diese Bestimmungen verdienen zuvörderst angegeben zu werden.

Die Locke'sche Unterscheidung klarer und deutlicher Vorstellungen (vgl. oben Anm. 145, 116) verwirft Leibniz als ganz ungenügend. Er schliesst sich vielmehr dem Sprachgebrauch der Cartesianischen Schule an, dem gemäss eine Vorstellung zugleich klar und verworren sein kann, wenn sie ausreicht, das Vorgestellte von anderem Vorgestellten zu unter- scheiden, während ihre einzelnen Merkmale nicht gesondert von einander gedacht werden.200) Locke hatte dabei Unklarheit und Verworrenheit als Unangemessenheit an die für gewisse Vorstellungen und Vorstellungscom- plexe in der Sprache schon festgestellten Zeichen erklärt. Leibniz , ob- wohl mit ihm über die scientifischen Nachtheile einverstanden , welche die Unbestimmtheit der sprachlichen Bezeichnung und die dadurch veran- lasste Vieldeutigkeit und Confusion des mit diesen Sprachzeichen operi- renden Denkens nach sich zieht,270) hebt hervor, dass Klarheit und Deut- lichkeit einer Vorstellung nicht an die Art ihrer Bezeichnung, sondern an die Art gebunden ist, wie ihr Inhalt gedacht wird.271) Er. findet darin die Veranlassung, den von Locke unbeachtet gelassenen Unterschied zwi- schen Bild und Begriff geltend zu machen. Locke hatte gesagt, dass eine und dieselbe. Vorstellung von der einen Seite deutlich, von der andern verworren sein könne, wie wenn Jemand z. B. bei der Vorstel-

269) a. a. 0. p. 2886. Je dis qu'une idee est claire, lorsqu'elle suffit pour recon- naitre la chose et pour la distinguer; . . . sans cela Videe est obscure. . . . Suivant celte notion, que vous donnez de Videe distincte, je ne vois point le moyen de la distinguer de Videe claire. Cest pourquoi fax coutume de suivre ici le langage de M. Descartes , chez qui une idee pourra iure claire et confuse en meme tems . . . Ainsi quoique selon nous les idees distmctes distinguent Vobjet d'un autre, neanmoins, comme les claires, mais.confuses en elles-mSmeSy le fönt aussi, nous nommons distinctes non pas toutes celles, qui sont bien distinguantes ou qui distinguent les objets, mais celles, qui sont bien distinguees, c'est ä dke qui sont distinctes en elles-memes et distinguent dans Vobjet des marques qui le fönt connaäre u. s. w.

270) a. a. 0. p. 2906, § 9. 294a, § 12.

27 1) a. a. .0. p. 290a. // ne s'agit point des noms, mais des proprietes distinctes, qui se dowent trouver dans Videe lorsqu'on en aura demtte la confusion.

Ablm.wil. d. K. S. Ger d. Wim. X. .15

224 6. Hartenstein, [H4

lung eines Tausendecks , von dem er sich keine hinreichend deutliche Vorstellung machen könne, um es von einem Neunhundertundneunund- neunzigeck zu unterscheiden , doch aus der deutlichen Vorstellung der Zahl 1000 Schlüsse ziehe. Die Undeutlichkeit, bemerkt Leibniz, gilt hier dem Bilde, nicht dem Begriffe des Tausendecks. Der Begriff kann deutlich, das Bild unklar und verworren , und umgekehrt das Bild klar und doch der Begriff undeutlich sein.271)

Ebenso unterlägst Leibniz nicht die Unbestimmtheit zu rttgen , de- ren sich Locke im Gebrauche der Bezeichnung: reelle Vorstellungen schuldig macht. Leibniz versteht unter Realität einer Vorstellung ihre logische Gültigkeit, d. h. eine Vorstellung ist reell, deren Bedeutung für das Denken durch keinen Widerspruch aufgehoben wird ; Locke hatte darunter zugleich ihre empirische Gültigkeit verstanden, so dass für ihn der Widerspruch , mit welchem eine phantastische Vorstellung behaftet ist, entweder in einer prätendirten, aber nicht nachweisbaren Beziehung auf die Wirklichkeit oder in ihrem eigenen Inhalt liegt (vgl. oben S. 1 58). In seinen Ausdrücken hat es aber anfangs den Anschein, als werde die Realität einer Vorstellung abhängig gemacht lediglich von ihrer Bezie- hung auf die empirische Wirklichkeit, obwohl er später die Vorstellungen der Relationen und der gemischten tnodi gerade desshalb für reelle er- klärt, weil sie keinen empirischen Vergleichungspunkt haben. Desshalb bemerkt nun Leibniz, eine Vorstellung könne in der Natur gegründet, also empirisch gültig sein, ohne mit dem; worin sie gegründet sei, über- einzustimmen ; den Namen der Realität oder Gültigkeit verdiene sie nur dann, wenn sie möglich sei d. h. logische Gültigkeit habe, obgleich ihr nichts Existierendes entspreche.373) Damit falle auch der Unterschied zwischen Einbildungen und gültigen Vorstellungen , den Locke rück- sichtlich der Vorstellungen der Dinge einerseits und der tnodi anderer- seits in ganz verschiedenem Sinne geltend mache; beziehe man dieRea-

272) a. a. 0. p. 294 6. On confond ici Videe avee Vimage u. s. w.

273) a. a. 0. p. 2926. Lidee peut avoir un fondement dans la nature, saus itre con forme ä ce fondement . . . Une idee aussi sera reelle quand eile est possible, quoiqu' auetm iure ewistant riy reponde. p. 2936. Les relations . . et les modes mixte* . . seit qu'ils dependent ou ne dependent point de l'esprit, il suffit pour la reakte de leurs idees, que ces modes soient possibles ou, ce qui est la mime chose, mtelligibles distinctement. Et pour est effet, il faut que les ingrddiens soient compossibhs, €est ä dire qu'ils puissent oonsister ensemble.

445] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 225

litat der Vorstellungen auf die Wirklichkeit, so lasse sich nie ganz genau bestimmen , ob eine Vorstellung reell oder eingebildet sei, denn, was noch nicht existiere, könne später zum Dasein kommen, und vieles exi- stieren, wovon man nichts wisse.274)

Rücksichtlich der Locke'schen Unterscheidung adäquater und in- adäquater Vorstellungen bemerkt er, dass diese Unterscheidung viel- mehr eine Unterabtheilung der Deutlichkeit der Vorstellungen sei.975) Er lehnt desshalb auch die Anwendung ab , welche Locke von diesem Unterschiede gemacht hatte ; einfache Vorstellungen , wie sie uns die sinnlichen Empfindungen darbieten, sind niemals adäquat;876) Vorstel- lungen der modi und Substanzen dagegen können adäquat sein , wenn die den Begriff bildenden Theilvorstellungen die Möglichkeit des Ge- dachten begreiflich machen ; in diesem* Sinne haben die Substanzen so gut, als die modi ihr Maass an der Denkbarkeit des Gegenstandes.377)

Bei der Wichtigkeit, welche die Feststellung des Beziehungspunk- tes und die Definition der Wahrheil Air die Ansiebt von der mensch- lichen Erkenntniss bat, weil alle Erkenntniss nach gar nichts Anderem strebt als nach Wahrheit, ist die grosse Kürze auffeilend, mit welcher

274) a. a. 0. p. 1936. De cette moniere, prenant le tertne de reel et de chitnerique autrement par rapport aux idees des tnodes, que par rapport ä ceües, qui farment wie chose substantielle , je ne vois point quelle notion est commune d tun et ä tautre cos; . . cor les modes vous soni reels quand ils sont possibles, et les choses substantielles riont des idees reelles chez vous que lorsqu'elles sont existantes. Mais en se voulant rapporter ä Cexisteiice on ne sauroit gueres de'terminefi si une idee est chimerujue ou non, parceque ce qui est possible . . . peut avoir existe autrefois ou existera peut+itre «n jour o. s. w,

275) a. a. 0. p. 294a. Tai defini autrefois ideam adaequatam (une idee ac- complie) celle qu'est si distinete que tous les Ingrediens sont distmetes et teile est d peu pres tidee d'un nombre. Mais lorsqu'une idee est distinete et conüent la deßnition ou les mar- ques reeiproques de tobjet, eile pourroit itre inadaequata ou inaecomplie, savoir lors- que ees marques ou oes ingrediens ne sont pas aussi toutes distinetement eonnues. . . Chez tnoi la dwision des idees en aeeomplies ou inaceompUes niest qu'une sousdivision des idees distinetes.

276) a. a. 0. II ne me parait point , que les idees confuses, comme celle que nous avons de la douceur, meritent ce nom; cor quoiqu'elles expriment la puissance, quipro- duit la Sensation, eties ne t expriment pas enUerement ou du moins nous ne pouvons point le savoir u. s. w.

277) a. a, 0. p. 2946. Videe du triangle ou du courage a ses archetypes dans la possibiUte des choses aussi bien que Videe de tor. . . . Une idee, soit qu'elle soit celle d'un mode ou celle dune chose substantielle pourroit itre complette ou incomplette sehn qu*on entend bien ou mal les idees partiales qui forment fidde totale.

15*

226 G. Hartenstein, [^6

Leibniz im 23. Capitel des zweiten Buchs die ziemlich ausführlichen Erörterungen Locke's über den Unterschied wahrer und falscher Vorstellungen mehr übergeht, als entweder bestreitet oder berichtigt. Locke hatte wahr und falsch für Prädicate nicht der Dinge, sondern der Vorstellungen erklärt, und zwar nicht isolirter Vorstellungen, sondern in so fern sie in der Form eines Satzes oder eines Urtheils rücksichtlich ihrer Einstimmung mit etwas Anderem gedacht werden. Ohne an die- ser Stelle eine positive Entscheidung darüber auszusprechen, worin die Wahrheit eines Urtheils bestehe, hatte er die Fälle angegeben, in denen man in der Regel von Wahrheit oder Falschheit der Vorstellungen spre- che, indem man das eigene Urtheil entweder mit den Vorstellungen Anderer, oder mit seinen eigenen Vorstellungen, oder mit der Wirklich- keit der Dinge vergleiche (vgl. oben S. 160). Leibniz fügt, ohne auf die Auseinandersetzung Locke's, in wie fern in diesen Fällen von Wahrheit gesprochen werden könne, einzugehen, nur die Worte hinzu (p. 294fr): Je crois quon pourrait eniendre ainsi les vraies et les fausses idees; mais comme ces differens sens ne conviennent point entr' eux et ne sauroient etre ranges commodemmt sous une notion commune , j'aime mieux appeller des ideqs vraies et fausses par rapport ä une autre affirmation tadle , quelles retiferment toutes9 qui est celle de la pössibilite . Ainsi les idees possibles sont vraies et les idees impossibles sont fausses. Das Hauptgewicht dieser Bestimmung liegt in der bei Leibniz immer wiederkehrenden Be- rufung auf die Möglichkeit als Kriterium der Wahrheit, und es ist not- wendig sogleich hier die Art zu berücksichtigen, wie er sich der späte- ren definitiven Bestimmung Locke's über den Begriff, und die Bedingun- gen der Wahrheit gegenüber ausspricht. Für Locke gibt es keine Wahr- heit der Dinge , sondern nur eine Wahrheit der Urtheile oder allgemein der Gedanken. Wahr ist ihm ein Satz, wenn er eine den Verhältnissen des Gedachten entsprechende Verknüpfung und Trennung der Zeichen enthält (vgl. oben S. 181). Darin liegt, dass sich die Wahrheit zunächst auf die Verhältnisse der Begriffe und erst vermittelst dieser auf die wirklichen oder für wirklich gehaltenen Dinge bezieht, und es ist ein wesentlicher Grundzug seiner Lehre, dass sie die Wahrheit der Erkennt- niss im strengen Sinne des Worts in das Gebiet verlegt, in welchem das Denken mit seinen eigenen Begriffen beschäftigt ist, aber ihm die Mittel abspricht, die Uebereinstimmung der Gedanken mit den Dingen positiv nachzuweisen. Leibniz, obgleich er mit den Ausdrücken der Locke'schen

M7] Lockk's Lkiire von drr mensghl. Erkenntmss U.S.W. 227

Definition eines wahren Satzes nicht zufrieden ist,*78) ist doch mit ihm vor Allem darüber einverstanden, dass Wahrheit und Falschheit Prädr- cale der Gedanken sind; den Ausdruck: metaphysische Wahrheit in dem Sinne , dass darin (etwa nach Art des Satzes : omne ens est unum, verum, bonum) die Wahrheit Prädicat des Seienden sei , erklärt er Air einen unnützen und fast sinnlosen. Aber die Wahrheit soll in einer Uebereinstimmung der Sätze mit den Dingen, um die es sich handelt, bestehen, und nun setzt er auch hier hinzu , dass er die Sätze für wahr erkläre, welche die Möglichkeit des Gegenstandes der Vorstel- lung bejahen.-79) Man muss sich fragen , was soll hier die Möglichkeit bedeuten? Bedeutet sie die blos logische Möglichkeit, so verbürgt diese weder die Wirklichkeit, noch viel weniger die Notwendigkeit des Gedachten, und wenn Leibniz das blos nicht Undenkbare im Ernste auch schön für wahr erklären will , so begreift sich dies nur durch die Erin- nerung daran, dass ihm das Mögliche als möglicherweise Seiendes allerdings eben so wohl für ein Seiendes galt als das Wirkliche; begeg- net es ihm doch , dass er das Mögliche einmal geradezu das Wirkliche nennt (vgl. unten Anm. 288). Dächte man aber bei dieser logischen Möglichkeit an die aus hypothetisch angenommenen Möglichkeiten mit logischer Nothwendigkeit abgeleiteten Wahrheilen, wie die der reinen Mathematik durchaus sind , so liegt die Wahrheit derselben nicht in der blossen Möglichkeit der Voraussetzung, sondern in der Nothwendigkeit der Abfolge. Für diese kommt der Begriff des Möglichen nur in soweit in Betracht, als logische Nothwendigkeit Unmöglichkeit des Gegentheils ist, und in diesem Sinne sagt Leibniz (p. 309a): la connaissance des posL sibüites et des necessites (car necessaire est , dont l'oppose liest point pos- sible) fait les sciences demonstratives. Sollte jedoch die Möglichkeit die reale Möglichkeit bedeuten , so entbehrte die Frage darnach bei wirk-

278) a. a. 0. p. 355a. La convenance ou la disconvenance riest pas proprement ce quon cxprime par la proposiüon. Deux oeufs ont de la convenance, et deux ennemis oni de la disconvenance. II s'agit ici dune moniere de convenir ou de disconvenir toute parti- culiere. Ainsije crois que cette definiHon riexplique point le point , dont il s'agit.

279) a. a. 0. p. 3556. La verite metaphysique est prise vulgavrement par les meta- physieiens pour un attribut de l'etre, mais c'est un attribut bien inutile et presque vide de sens. Contentons nous de chercher la verite dans la correspondence des propositions , qui sont dans Fesprit, avec les choses, dont il s'agit. 11 est vrai que j'ai attribue aussi la verite aux idees en disant que les idees sont vraies et fausses; mais alors je l'entends en effet de la verite des propositions , qui affirment la possibilite de l'objet de l'idee.

228 G. Habtbnstbik, [4 48

liehen Dingen jedes Anknüpfungspunktes , bevor man ihre Wirklichkeil erfahren hal, und fällt dann mit der Untersuchung ihrer Bedingungen und Ursachen d. h. mit einem Denken über die gegebene Wirklichkeit zusammen , welches sich mit dem Versuche, ein ihm von dieser Wirk* lichkeit aufgegebenes Problem zu lösen, an sich selbst gewiesen findet, und die Wahrheit kann wenn irgendwo nur in dem nothwendigen Zu- sammenhang der Gedankenbestimmungen liegen, welche die Lösung des Problems enthalten. In beiden Fallen ist also der Begriff der Wahrheit, wie Locke es ausspricht ', an die Verhältnisse des Gedachten gebunden ; und wenn man sich die Berufuifg Leibniz's auf die Möglichkeit als Kri- terium der Wahrheit entwickelt, so scheint zwischen beiden keine prin- cipielle Verschiedenheit in Beziehung auf den Begriff der Wahrheit ob* zuwalten, zumal da der Gegenstand, die Sache, mit welcher die Wahrheit übereinstimmen soll , bei Leibniz durchaus eben so den blos gedachten, als den wirklich gegebenen Gegenstand bezeichnet.

Locke hatte , um den Werth der in dem natürlichen Vorstellungs- kreis vorhandenen Erkenntnissformen zu prüfen, in den ersten Capiteln des dritten Buchs die Sprache als den Ausdruck dieses Vorstellungs- kreises einer Erörterung unterzogen. Was Leibniz dazu bemerkt, hat zunächst durchaus keinen polemischen Charakter, sondern er benutzt diese Gelegenheit, um sich über diesen ihm selbst wichtigen und inter- essanten Gegenstand nicht ohne das Gefühl einer gewissen Ueberlegen- heit über Locke zu verbreiten. Wenn er jedoch daran erinnert, die Affen hatten wahrscheinlich dieselben Sprachorgane wie der Mensch, ohne doch darum zu sprechen, und das zeige, dass zur Entstehung der Sprache

9

noch etwas mehr gehöre, als diese Organe, so bedurfte Locke dieser Belehrung nicht.280) Ebenso, wenn Locke die Bedeutungen der Worte für willkührlich festgestellte erklärt und Leibniz in einer weitläufigen, mit etymologischer Liebhaberei ausgeführten Nachweisung auseinander- setzt, dass natürliche Verhältnisse und zufällige Umstände den articulir- len Lauten ihre Bedeutung gegeben hätten, und dabei auf eine lange Di-

380) L. ÜI, eh. I, § t; bei beiden.

449] Lockk's Lehkk von dbr mbnschl. ERKENNTNI8S ö. s. w. 229

gression über die Wichtigkeit der Sprachforschung für die Völkerge- schichte eingeht,*1) so zeigt sich darin zwar seine bewunderungswür- dige Vielseitigkeit, aber das worauf es Locke ankam , dass die Sprache ein System von Zeichen für die Gedanken und ihre Configoration ist, wird dadurch eben so wenig berührt, als durch die Hervorhebung des für die Psychologie allerdings sehr wichtigen, aber auch von Locke nicht übersehenen Umstands , dass die Sprache nicht abschliessend der Mit- theilung, soudern auch der Reproduction und Fixirung der eigenen Ge- danken dient.282) Nur die Erinnerung daran , dass die Entstehung der Sprache und. die im Verlaufe ihrer Ausbildung stattfindende Uebertra- gung sinnlicher Bezeichnungen auf unsinnliche Verhältnisse nichts über die Begriffe, ihren Inhalt und ihre Verhaltnisse entscheide, würde von Wichtigkeit sein,383) wenn nicht Locke selbst hierauf eben desshalb auf- merksam gemacht hatte, um zu zeigen, wie vielfach die »natürliche Ord- nung« der Begriffe durch diese Art ihrer Bezeichnungen gestört und verwirrt wird.

Gleichwohl liegt hierin die Vorbereitung einer Polemik , die in den folgenden Capiteln über die allgemeinen Begriffe und den Erkenntniss- werth, den diese oder, was für Locke dasselbe ist , die sie bezeichnen- den Worte in Anspruch nehmen können , hervortritt. Locke's Ansicht von den allgemeinen Begriffen reduciert sich im Wesentlichen auf folgende Satze: 1) allgemeine Begriffe sind lediglich Producte der Reflexion und Abstraction und (wenigstens für den gewöhnlichen Gedankenlauf) ihrer Bedeutung nach an das Wort geknüpft; 2) sie sind zum grossen Theil willktthrlich gebildete und bezeichnete Vorstellungscomplexe und diese ihnen anklebende Zufälligkeit erstreckt sich über den ganzen Gebrauch, der mittelst der Definitionen und Classificationen von ihnen gemacht wird, und eben desshalb sind sie 3) überall, wo es sich um die Erkennt- niss der wirklichen Dinge handelt, ungenügend und unsicher, wahrend da, wo die Reflexion durch gewisse Allgemeinbegriffe lediglich Producte des Denkens ohne Beziehung auf ein Wirkliches bezeichnet, eine Incon- gruenz zwischen dem Begriffe und dein, was er bezeichnen will , nicht stattfindet (vgl. oben S. 163fgg.}. Den Erörterungen Locke's über die

281) a. a. 0. p. 899— 30«.

282) Vgl. a. a. 0. p. 297a, § 2 mit Locke B. III, cb. IX, § 2.

283) a. a. 0. p. 2976, § 5.

230 G. Hartenstein, [*20

Entstehung allgemeiner Begriffe, in sofern sie gedacht werden, und ihre Unentbehrliehkeit für den Verkehr durch die Sprache versagt nun Leibniz seine Zustimmung nicht,*84) und auf die anticipirende Bemerkung Locke's , das ganze Geheimniss der Gattungen und Arten , von denen man in den Schulen so viel Lärm gemacht habe , reduciere sich zuletzt auf. die Feststellung mehr oder weniger abstracter Begriffe , denen man bestimmte Namen gebe, erwidert Leibniz abspringend, dass die Classi- fication der Dinge denn doch von grosser Bedeutung sowohl für das Gedächtniss als für das Urtbeil sei.*85) Denn nicht diese Nützlichkeit der logischen Classificationen hatte Locke in Zweifel gezogen ,. sondern ihn beschäftigte die Frage, ob eine logisch geordnete Reihe von Begriffen das Wesen der Dinge ausdrücke, mit andern Worten: ob den Gattungen und Arten, nach welchen wir die Dinge classificieren, reelle Gattungen und Arten entsprechen, so dass unsere Classification die objective Ord- nung dessen, was die Dinge sind, darstellen. Die folgenden Erörterun- gen haben zu zeigen, in welchem Sinne Leibniz geneigt ist, die Realität der Arten anzunehmen und ihre Erkenntniss durch Begriffe wenigstens annähernd für möglich zu halten, während Locke die Berufung auf die »specifischen Differenzen« und die damit prätendirte Erkenntniss der in der Natur vorausgesetzten Arten für illusorisch erklärt.

Sein Widerspruch beginnt bei dem Satze Locke's, dass eben dess- halb, weil die Allgemeinheit des Begriffs ein Product der Reflexion und Abstraction sei , der allgemeine Begriff keine Bürgschaft dafür enthalte, Ausdruck * der Wirklichkeit zu sein , wie sehr man auch das Wesen der Arten durch solche Allgemeinbegriffe erkannt zu haben gemeint habe. Leibniz leugnet diese Folgerung; die Allgemeinheit des Begriffs beruhe eben auf der Aehnlichkeit der einzelnen Dinge und diese Aehn- lichkeit sei selbst eine Realität; und indem der die Ansicht Locke's ver- tretende Unterredner hinzufügt, Locke selbst bemerke, dass die Art- begriffe sich auf dergleichen Aehnlichkeiten gründen, erwidert Leibniz, eben darum könne man wenigstens versuchen, das Wesen der Gattungen und Arten durch allgemeine Begriffe zu bestimmen. Selbst wenn man zugebe, dass die menschliche Reflexion Begriffe und Benennungen fest-

284) Zu § \ 5 des 3. Capitels p. 303a bemerkt er: Ces remarques sont bonnes et il y en a qui conviennent avec Celles que je viens de faire,

285) a. a. 0. p. 304a, § 9.

<84] . Locu's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. 6. w. 231

stelle, die den Dingen nicht entsprechen , so ändere das nichts an den Dingen und ihren Aehnlichkeiten;286) aber während man nun die Weisung erwarten sollte, es komme darauf an , statt willktthrlicher Abstractionen solche Allgemeinbegriffe zu bilden , die diesen Aehnlichkeiten entspre- chen, spricht Leibniz zunächst die Erklärung aus, die ganze Frage nach dem Wesen und den dasselbe ausdrückenden Gattungs- und Artbegriffen beziehe sich überhaupt nicht auf das in der Natur vorliegende Wirkliche, sondern auf ein von unseren Gedanken unabhängiges Mögliche; gerade desshalb seien die Arten unvergänglich, weil es sich hier nur um Mög- lichkeiten handle.287)

Von diesem SaUe aus verwirft nun Leibniz die Locke'sche Unter- scheidung zwischen dem nominellen und reellen Wesen (vgl. oben S. 1 65) als eine verwirrende Neuerung mit grossem Eifer. Er übersieht dabei, dass Locke sich dieser Ausdrücke nicht in dem Sinne, als gebe es zweierlei Arten von Wesen, sondern lediglich desshalb bedient hatte, um darauf aufmerksam zu machen, dass das, worin man den Ausdruck des Wesens zu finden wähne, nichts als ein durch ein Wort bezeichne- tes Abstractum sei. Dennoch findet Leibniz nöthig zu bemerken, es gebe nicht zweierlei Wesen,, sondern nur einerlei; und das Wesen sei im Grunde nichts Anderes, als die Möglichkeit dessen, was Gegenstand der Untersuchung sei. Dieses Mögliche werde durch die Definition aus- gedrückt ; drücke die Definition es nicht aus, so sei sie eine blosse No- minaldefinition ; denn dann bleibe der Zweifel übrig, ob sie etwas Wirkliches, das heisse etwas Mögliches, ausdrücke, bis die Erfahrung darüber entscheide, während eine Real- oderCausaldefinition die Realität des Gegenstandes begreiflich machen würde, indem sie seine Ursachen und mögliche Entstehung vor Augen lege. Die Dinge haben daher nur ein Wesen, aber es sind verschiedene Definitionen von ihnen

286) a. a. 0. p. 305a. Je ne vois pas assez cette consequence. Cor la generaUle consiste dans la ressemblance des choses singuheres entre elles et cette ressemblance est une reaHte. Ph. faüais vous dire moi meme que ces espices sont fondees sur les ressemblance*. Th. Pourquoi donc riy point chercher aussi Xessence des genres et des especes. ... Si les hommes different dans le nom, cela change-t-ü les choses ou leur ressemblances?

287) a..a. 0. p. 3056. Au reste, que les hommes joignent telles ou telles idees ou non et meme que la nature les joigne actuellement ou non, cela ne fait rien pour les essen- ces , genres ou especes , puisqu'il ne s'y agit que des possibüües qui sont mdependantes de notrepensee. p. 3066. Les especes sont perpetueUes, parcequ'il ne s'y agit que du pos- sible. Vgl. oben Anna. 4 46.

932 6. Hartenstein, [IS9

möglich ; m) und selbst eine blosse Nomingldefinition drücke immer noch etwas Reelles aus, nicht an sich, sondern als Ausdruck der Erfahrung, die uns eine Verknüpfung gewisser Eigenschaften und Wirkungen in den Dingen zeige, obwohl sie uns keine Erklärung dieser Verknüpfung dar- biete.289)

Hiermit ist jedoch die Streitfrage schwerlich entschieden ; obwohl Locke den Unterschied zwischen Nominal- und Realdefinitionen nirgends geltend macht, so besagt doch seine Unterscheidung zwischen dem nominellen und reellen Wesen dasselbe, und Realdefinitionen sind eben das, was er vermisst. Es ist daher nöthig, der Art nachzugehen, in wel- cher Leibniz die Bestimmungen Locke's über den Erkenntnisswerth der allgemeinen Begriffe rücksichtlich der einfachen Vorstellungen, der ge- mischten modi und Relationen, endlich der Substanzen weiter verfolgt* In Beziehung auf die einfachen Vorstellungen geht er auf die Behaup- tung Locke's, dass bei ihnen der Name auch die Sache bezeichne, gar nicht ein ; da er mehrmals hervorgehoben hatte, dass die sinnlichen Em- pfindungen mit Unrecht für objectiv einfach gehalten werden, und wir gleichwohl über die Art, wie sie entstehen, keine ausreichende Rechen- schaft geben können, so durfte er diesen Punkt für erledigt halten. Dass er die von Locke geltend gemachte Beziehung auf äussere wirkliche Dinge für nicht noth wendig erklärt, ist hier ein Nebenpunkt;290) die Frage, in wie fern von einfachen Vorstellungen Definitionen möglich sind , beantwortet er dahin , dass das streng Einfache allerdings nicht

288) a. a. 0. p. 3056. L'essenee dans le fond riest autre chose que la possibilite de :e quon propose. Ce qrion suppose possible est exprime par la definition ; mais cette de- finition riest que nominale , quand eile ri exprime point en meme tems la possibilite; cor alors on peut douter, si cette definition exprime quelque chose de riet, c'est ä dire de possible, jusqu' ä ce que lexperience vienne ä notre secours pour nous faire con- naüre cette reakte a posteriori, lorsque la chose se trouve effeetwement dans k monde; ce qui suffit au defaut de la raison , qui feraü cormaüre la reakte a priori en ewpoeanl la cause ou la gmeration possible de la chose definie ... . II riy a qriune essence de la chose, mais il y a plusieurs definüions qui expriment la meme essence.

289) a. a. 0. p. 306a. fatmerois mieuw de dire suivant i'usage commun recu, que l'essenee de For est ce qui le constitue et qui tui donne ces qualiies sensibles, qui le fönt reeonnaUre et qui fönt sa definition nominale. . . . Cependant la defimkon no- minale se trouve id reelle aussi, non par eile meme (cor eile ne faü oonnaitre la possibiUie ou la generaUon des corps), mais par fewperience u. s. w.

290) a. a. 0. p. 307a, § 2.

1*3] Locke's Lehre von dsr mbnschl. Erkbnntiuss ü. s. w. 333

defintert werden kann, dass aber bei dem, was für unsere Auffassung als einfach nur erscheint, Definitionen möglich sein würden.391)

Rucksichtlich der modi und Relationen hatte Locke die Congruenz des Begriffs mit der Sache und somit ihre Erkennbarkeit durch allge- meine Begriffe behauptet. Leibniz ist natürlich weit entfernt, dies zu bestreiten, sondern es ist nur die von Locke behauptete Beliebigkeit dieser Begriffe, die er, wenn sie sich auch ausserhalb des wissenschaft- lichen Denkens nicht wegleugnen lasse, innerhalb des letzteren zurück- weist, indem es für dergleichen Begriffe eben so gut objective Maass- stäbe gebe, als für Begriffe, die sich auf das Wirkliche im gewöhnlichen Sinne beziehen. m)

Mit grosser Sorgfalt und Ausführlichkeit ist dagegen Leibniz bemüht, den Locke'schen Säte , dass wir das Wesen der Dinge (der Substanzen) durch die ihre Arten bezeichnenden Begriffe nicht erkennen, zu ent- kräften, und dennoch darf man bezweifeln, ob ihm dies durch ein ande- res Mittel gelingt, als dadurch, dass er von der Strenge der Forderungen Locke's gerade das nachlässt, worauf es diesem ankam. Auf die Wider- legung des Hauptsatzes , dass wir kein anderes Mittel zur Bestimmung dessen, was die Dinge sind, haben, als die Auffassung ihrer erscheinenden Merkmale, und dass es ein Irrthum ist, die durch Zusammenfassung der gleichartigen Merkmale entstehenden Begriffe für solche zu halten, welche dem Wesen der Arten entsprechen (vgl. obenS. 168), geht er gai* nicht ein; es stand für ihn fest, dass das Wesen der substanziellen For- men oder Entelechieen durch das, was sie wirken, wenn auch nur un- vollkommen erkennbar ist; aber es ist fast eine Missdeutung, wenn er Locke gelegentlich die Meinung unterlegt, als hange das Wesen und die Natur der Dinge von unseren Vorstellungen ab.**) Eben so unzweifel-

194) a. a. 0. p. 308a. 6.

391) a. a. 0. p. 3096. La remarque est bonne quant o/uao noms et quant aux cour tumes des hommes, mais eile ne change rien dans les soienees et dans la natare des ehoses. . . . Dans la soience m4me% separee de son histoire ou existenee, U ri empörte poi$U, si les peuples se sont confomes ou non ä ee que la raison ordonne. p. 3 4 Oft. Les patrons des idees des uns sont aussi reels que ceuao des ictöes des autres. ... II est vrai qu'on ne voü pas la justice comme un cheval, mais on ne tentend pas moins, ou pkttöt on tentend mieux; eile riest pas moins dans les actions, que la droiture et Fobhquüe est dans les mov- vemens, soit qu*on la eonsidire ou non*

393) a. a. 0. p. 323a. Je ne sais pomquoi on veut toujours che* vous faire de- pendre de notre opinion ou oonnaissanee les vertue, les vtrites ei les espiees. Blies sont

234 G. Hartenstein, [484

haft ist es ibcü auch , dass unsere Classificationen der Natur der Dinge wirklich entsprechen, wenn wir sie nur mit der gehörigen Vorsicht aus- fuhren.294) Dass wir die Arten der Dinge nicht vollständig erschöpfen können, gibt er sehr bereitwillig zu;295) aber die Unvollkommenheit und Unangemessenheil unserer Classificationen erscheine minder gross, wenn man nur den Unterschied der Art im mathematischen d. h. im streng logischen, und im physischen Sinne beachte. Für die Art im ersteren Sinne bedingt jede, auch die geringste Differenz eine Verschiedenheit der Art; in diesem Sinne gehören niemals zwei Dinge zu einer Art, ja selbst dasselbe Ding gehört in der Reihe seiner Veränderungen zu ver- schiedenen Arten. Aber bei der Aufstellung der physischen Arten bin- det man sich nicht an diese Strenge; es hängt von uns selbst ab, zu sagen , dass ein Ding oder ein Körper zu derselben Art gehöre , wenn man ihn nur wieder unter derselben Gestalt darstellen kann; ein Ver- fahren, welches man auch da befolgt, wo man bei lebendigen Wesen die Arten nach der Fortpflanzungsfähigkeit bestimmt296) Obwohl es nun

dans la natun, soit que nous le sachions et approuvions ou non. p. 34 9a. Vgl. oben Anm. 154.

294) a. a. 0. p. 320a. Si nous combinons les idees compatibles , les limites que nous assignons aux especes sont toujours exactement conformes ä la nature; et si nous prenons gar de d combiner les idees, qui se trouvent actuellement ensemble, nos notions sont encore conformes ä Fexperience; et si nous les considerons comme provisUmelles seulement pour des corps effectifs, sauf ä Fexperience faxte ou d faire dy decouvrir davantage, . . . nous ne nous y tromperons pas.

295) a. a. 0. p. 312 a. favois dessein . . . de dtre quelque chose dapprochant de ce que vous venez dexposer, Monsieur; mais je suis aise detre prevenu lorsque je vois qu'on dit les choses mieux que je n'aurais esper e de le faire, p. 31 9a. Je vous Fat deja accordc (quon ne sauroü toujours assigner des bornes fixes des especes) ; car quand il s'agil des fictions et de la possibilite des choses, les passag es despece en espece peuvent itre insen- sibles u. s. w.

296) a. a. 0. p. 31 26. II y a quelque ambiguite dans le terme despece ou d4tre de differente espece, qui cause tous ces em bar ras .. . On peut prendre r espece mathe- matiquement et physiquement. Dans la rigueur mathematique la moindre diffe- rence qui- fait que deux choses ne sont point setnblables en tout faxt qu'eUes different despece. . . . De cette facon deux indwidus physiques ne seront jamais parfaüement sem- blables et qui plus est, le meme individu passera despece en espece, car il riest jamais semblable en tout en soi meme au dela dun moment. Mais les hommes etablissant des especes physiques , ne s'attachent point ä cette rigueur et il depend deux de dire quune masse qu'ils peuvent faire retourner eux memes sous la premiere forme, demeure dune mime espece en gener al. Ainsi nous disons que l'eau, For ... le demeurent, . . . mais dans les corps organises . . * nous defmssions V espece par la gener ation.

*25] Locke's Lehre von der mbnscbl. Erkenntniss u. s. w. 235

in der Natur Aehniichkeiten and Unterschiede gebe , die uns unbekannt sind, so werden doch die mit Beachtung der in der Natur erkennbaren Unterschiede aufgestellten Artunterschiede auch der Natur der Dinge entsprechen. Viele unserer Unterscheidungen mögen in dieser Beziehung nur einen provisorischen Werth haben ; je mehr wir aber die Entstehung der Arten kennen lernen, desto mehr dürfen wir hoffen, der naturlichen Ordnung uns zu nähern;297) jedenfalls existieren die Arten in der N&tur ganz unabhängig von unserer Erkenntniss derselben. Locke würde das Letztere vielleicht weder behauptet noch geleugnet haben ; aber er würde haben fragen dürfen, theils, mit welchem Rechte Leibniz bei der Auf- stellung der Arten im physischen Sinne etwas unbestimmt wie viel von der logischen Strenge aufgeopfert wissen will, theils, ob die da- durch gewonnenen Classificationen den Erkenntnissinhalt wirklich dar- bieten, den Locke vermisst. Wenn Leibniz sagt, bei der Aufsteilung der physischen Arten halte man sich an die Erscheinungen, und stelle unter Weglassung der Accidenzen, d.h. der unwesentlichen Merkmale ent- weder einen bestimmten , aber nur provisorischen Artbegriff auf, oder man nehme, wo es sich um die innere Wahrheit handle, zu Vermuthtin- ged seine Zuflucht, indem man für gewisse Glassen der Dinge eine ge- meinschaftliche Wesenheit voraussetze, m) so setzt die Unterscheidung

897) a. a. 0. p. 34 3a. Cependant quelques reglemens que les hommes fassentpour leurs denominations . . . pourvu que leur reglement soü suivi ou He H intelligible, il sera fonde en realite et il ne sauront se figurer des especes que la nature, qui comprend jusqu* aux possibilites, riait failes et distinguees avant eux. p. 3 4 36. Nous pouvons dire que tout ee que nous distinguons ou comparons avec verite, la nature le distingue ou le fait con- vetiir aussi, quoiqu' eile ait des disHncHons et des comparaisons que nous ne savons point et qui peuvent itre meiUeures que les nötres . . . Plus on approfondira la generation des especes et plus on suwra dans les arrangemens les oondiUons, qui y sont requises, plus on approehera t ordre naturel. In dem was vorhergebt und folgt, weist er auf den Unter- schied natürlicher und künstlicher Classificationen unter besonderer Rücksicht auf die Botanik mit einer für die damalige Zeit überraschenden Bestimmtheit hin. Auf den nur provisorischen Werth der Bestimmung der physischen Arten macht er wiederholt aufmerksam z. B. p. 3U6. Vgl. oben Anm. *49. Dass dergleichen provisorische De« finitionen und Classificationen selbst in der Geometrie vorkommen können, erläutert Leibniz später gelegentlich an dem Beispiel der Perllinien , die man nicht sofort als eine Art cubischer Paralleloiden erkannt habe. Si oela, setzt er hinzu (p. 3326), peut arriver en geometrie, s'etonnera-t-on qu'ü est dif fidle de determmer les especes de la na- ture oorporelle, qui sont inoomparablement plus compose'es?

398} a. a. 0. p. 3 1 { a. Physiquement parlant on ne s'arr4te pas d toutes les variStes et Fon parle ou nettement, quand il ne s'agit pas que des apparences9 ou con-

836 6. Hartenstein, [496

wesentlicher und unwesentlicher Merkmale die Kenntniss des Wesens schon voraus und gerade dieses Wesen ist es, nach welchem Locke ge- fragt und für dessen Bestimmung er sich nicht mit einer im besten Falle immer wieder lediglich auf die gegebenen Erscheinungen gegründeten Voraussetzung hatte befriedigen lassen wollen. Wenn Leibniz mehr als einmal wiederholt, dass die natürlichen Arien wirklich existieren, gleich- viel ob wir sie erkennen oder nicht erkennen,299) so handelte es sich für Locke eben um diese Erkenntnis«; wirklich existierende Arten, deren specifisohe Differenzen unbekannt sind , bieten ftlr eine dem Wesen der Arten entsprechende Classification ebeif nicht den geringsten An- baltepunkt dar (vgl. oben S. 1 69). Und wenn Leibniz diese natürlichen Arten wohl auch lediglich für mögliche Aehnlichkeiten, oder für Mög- lichkeiten in der Aehnlichkeit erklärt, so würde Locke in Beziehung' auf die vorliegende Frage in der Berufung auf die Möglichkeit schwerlich auch nur den kleinsten Aufschluss über die Räthsel der Wirklichkeit ge- funden haben.

Die Bemerkungen Leibniz's zu den letzten drei Gapiteln des dritten

Buchs über die Un Vollkommenheit der Sprache, den Missbrauch dersel-

jecturalement, quand il sfagit de la verite interieure des choses, eny presu- tnant quelque nature essentielle et immuable, comme h raison est dans F komme. On presume donc que ce qui ne differe que par des changemens accidentels, . .. est dune mime espece. II est vrai qu'on rien sauroü juger preeisement faule de conuaUre Finterieur des choses. Maie . . Fon juge provisumellement ei souvent conjecturettement. Cependant hrsqu'on ne veut parier que de Fexterieur, de peur de ne rien dire que de sur, üy a de la latUude; et disputer ators si une differenee est spedfique ou nonf dest disputer du nom. ftft9) Hierher gehört auch die von Leibniz p. 32Bfr geltend gemachte Unterschei- dung zwischen abetraüs reels und abetraüs hgiques. Wenn er übrigens p. £2 2 a die Bestimmung der physischen Arten mit grösserer Strenge als in den eben angefahrten Stellen von der Kenntniss des Wesentlichen und Unveränderlichen abhXqgig macht, die uns eben fehlt (p. 387a Fesaence interieure est dons la chose, mais fon eontrient, qu'elle ne sauroü servvr de patron) , so liegt darin eine Annäherung an Locke, die, den Gegenstand des Streits fast verschwinden macht. Entre tes differences specifiques pure- ment logiques, setzt er hinzu, ou la moindre Variation de defmüHon assignable suffit, quelqu* aceidenteüe qu'elle soü, et entre les differenoes specifiques, qui sont purement phy- siques, fondees sur Vessentiel ou immuable, on peut mettre un miUeu, msw qu'on ne saurait deterwuner precisement; on s*y regle sur les apparenees les plus ecnsi- derables, qui ne sont pas tout d faü unmuabhs, mais qui ne ehangent pas facUement, tun approehant plus de Feeseutiel, que lautre; et comme un connoisseur ausei peut aller plus hm que Fautre, la chose paroU arbitraire et a du. rapport aum hommes et il paroit eoas- tnode de rigler aussi les noms sehn les differenoes prmcipales. Vgl. Locke B. KI, eh. XI, §«9. 24. 25.

497] . Locke's Lehre von der mrnschl. Erkenntniss u. s. w. S37

ben und die Mittel , die dadurch bedingten Verkümmerungen der Er- kenntniss zu beseitigen oder wenigstens zu vermindern, enthalten, ab- gesehen davon, dass er manche von Locke angeführte Beispiele, nament- lich solcher Begriffe, auf weiche sich die bisherigen Discussionen bezo- gen hatten, ablehnt, durchaus keine Polemik, sondern Zustimmung nnd Erläuterung. Namentlich insofern Locke eines der wesentlichsten Mittel, aus der Verworrenheit und Unbestimmtheit des gewöhnlichen in der Sprache sieb ausdrückenden , aber auch unter den in der Sprache lie- genden Unbestimmtheiten leidenden Gedankenkreises herauszukommen, in der Sorgfalt für genaue Begriffsbestimmungen und die damit zusam- menhängende bestimmte Bedeutung der Worte sucht, stimmt ihmLeibniz ohne Rückhalt zu, indem er (p. 3346) sagt: Tout revient sans doute aux definitum, qui peüvent aller jusqu aux idees primitives.

«ii

In diesem Satze ist nun zugleich eine viel grössere Uebereinstim- mung beider Denker über die Grundlage und die Methode der mensch- lichen Erkenntniss angedeutet, als man bei der Verschiedenheit ihrer Ansichten über metaphysische Fragen erwarten sollte. Gegen die Fun- damentalbestimmung, mit welcher Locke das vierte Buch eröffnet, dass alle Erkenntniss sich zunächst auf das Verhältniss der Vorstellungen zu einander beziehe und in der Entscheidung über ihre Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung bestehe, erhebt Leibniz, wie schon bemerkt, keinerlei die Sache selbst berührende Einwendung. Denn wenn er er- innert, man nehme den Begriff der Erkenntniss auch noch in einem weiteren Sinne , indem man dabei lediglich den grösseren oder gerin- geren Reichthum des Vorstellungskreises berücksichtige, ohne nach sei- ner Wahrheit zu fragen *") so legt er darauf selbst kein Gewicht Die Locke'sche Definition der wahren Erkenntniss erkennt er ausdrücklich an ; nur fügt er hinzu, es sei nicht allgemein richtig, dass diese Erkennt- niss immer mit der inneren Wahrnehmung, dem Bewusstsein der Ver- baltnisse der Vorstellungen verbunden sei, wie z. B. bei allen empirischen

300) a. a. 0. p. 336a.

238 6. Hartenstein, [128

Erkenntnissen;^1) auch passe die Locke'sche Definition nur auf Sätze von kategorischer, nicht auf die von hypothetischer Form,90'*) eine Bemer- kung, die sich von selbst erledigt, da die hypothetische Gedankenver- knüpfung so gut, wie die kategorische, ein Urtheil über das Verbal tniss der Begriffe enthält und es Locke nicht eingefallen war, Wahrheit jind

304) a. a. O. p. 3366. Prenant la connaissance dans tm sens plus etroit comme vous faites ici, je dis qu'il est bien vrai, que la verite est toujours fondee dam la conve- nance ou disconvenance des idees; mais il n*est point vrai generalemeni , que notre con- naissance de la verite est une perceplion de cette convenance ou disconvenance. Cor lorsque nous ne savons la verite qu'empiriquement, pour tavoir experimentee, sans savoir la con- nexion des choses et la raison, . . . nous riavons point de perceplion de cette convenance ou disconvenance, si ce n'est qu'on l'entende que nous la sentons confusement sans nous en appercevoir. Locke halte wohl fragen dürfen, ob die Kenntniss einer empirischen That- suche ohne jedes Bewusstsein über das Verhältniss der sie bezeichnenden Vorstellun- gen überhaupt möglich sei oder wenigstens eine Erkenn tniss genannt werden könne. Den für die Sache selbst sehr unwichtigen Unterschied zwischen actueller und habitueller Erkenntniss (vgl. oben Anm. 4 60) erkennt Leibniz ebenfalls an, und ver- breitet sich über ihn ziemlich ausführlich ; es geht aber dabei nicht ohne ein starkes Missverständniss ab. Locke hatte gesagt (B. IV, eh. I, § 9): The immutability' of the same relations between the same immutable things is the idea that shews htm, that if the tree angles of a triangle were once equal to two right onest they will always be equal lo two right ones. And hence he comes to be certain, that what was once true in the case, is always true; what ideas once agreed, will always agree and consequently what he once knew to be true, he will always know to be true. Upon this ground it isf that particular demonstrations in mathematics afford general knowledge. If the perceplion, that the same ideas will eternally have the same habitudes and relations, be not a sufficient ground of knowledge, there could be no knowledge of general propositions in mathematics. Darauf findet Leibuiz (p. 3386) nöthig zu erwidern: Je ne demeure point daecord qu'en mathe- matique les demonstrations particulieres sur la figure qu'on trace, fournissent cette certi- tude generale, comme vous semblez le prendre. Cor il faut savoir que ce ne sont pas les figures, qui donnent la preuve che* les geometres; . . . ce sont les propositions universelles, c'est ä dke, les axiomes et les theoremes deja demontres qui fönt le raisonnement. In der That eine sehr unnöthige Belehrung, da die particular demonstrations bei Locke auf den beiondern Fall geben , in welchem Jemand eiuen mathematischen Beweis eingesehen hat, nicht auf die particulare Gültigkeit des Beweises selbst , und Leibniz anderwärts z. B. selbst darauf aufmerksam macht, dass die Veranschaulichung durch Figuren und die Controle der Erfahrung wichtige Hülfsmittel des mathematischen Denkens sind. Vgl. p.*343a, 3496.

302) a. a. 0. p. 3"37a. Enfinfai encore une remarque ä faire sur votre deftnition; cest qu'elle paroit seulement aecommodee aux verites categoriques, . . . mais il y a encore une connaissance des verites hypothe'tiques ; . . ainsi il peut y entrer plus que deux idees.

J29] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 239

Erkenntniss auf das Verhältniss von blos zwei Vorstellungen zu be- schränken.

Für die vier Classen von Fällen , in welchen das Denken über die Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen eine Entscheidung zu treffen Veranlassung findet, stellt Leibniz eine bessere Anordnung nach einem, jedoch von Locke selbst angedeuteten Gesichts- punkte (vgl. oben Anm. 163) auf. Wo es sich um Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen handle, sei der allge- meinste Begriff der der Beziehung oder des Verhältnisses ; und das Ver- hältniss sei ein Verhältniss entweder der Vergleichung oder der Ver- knüpfung. Der erstere Fall ergebe Identität oder Nichtidentität; zu dem zweiten gehöre, was Locke Coexistenz nenne. Dazu gehöre im Grunde auch die Existenz; denn wo man sage ein Ding existiert, verknüpfe sich der Begriff des Seins mit der Vorstellung des Gegenstandes; ja man könne sagen, dass die Existenz eine Verknüpfung des vorgestellten Ob- jecls mit dem vorstellenden Subject bezeichne. Alle Verhältnisse seien also Verhältnisse entweder der Vergleichung oder der Verknüpfung, von denen aber die der Identität und der Existenz besonders hervorgehoben zu werden verdienen.*08)

Wichtiger als diese Gorrectur ist jedenfalls, dass Leibniz gegen den für die verschiedenen Arten der Erkenntniss wesentlich maassgebenden Unterschied zwischen intuitiver und demonstrativer Erkenntniss nicht den allermindesten Einwurf macht, was nicht zu verwundern ist, da er selbst ganz unabhängig von Locke die ganze Methodik des wissenschaft- lichen Denkens gerade hieran geknüpft hatte. Die Verschiedenheit bei- der Denker besteht lediglich darin, dass Leibniz auf die strenge Form des logischen Denkens einen viel grösseren Werth legt als Locke , und keineswegs damit einverstanden ist, dass identische Sätze, allgemeine

303) a. a. 0. p. 337a. Je crois qu'on peut dire, que la liaison riest autre chose que le rapport ou la relation prise generaleinent. . . Tout rapport est ou de com"

paraison ou de concours. Celui de comparaison donne la diversite et Videntiti

Le concours contient ce, que vous appellez coexistence dest ä dire connexion cT existence. Mais lorsqtion dit, qu'une chose existe, . . cette existence meme est le predkat, c'est ä dire, eile a une notion Uee avec Tidee, dont il s'agit et il y a connexion entre ces deux notions. On peut aussi concevoir t existence de Tobjet dfune idee, comme le concours de Tobjet avec moi. Ainsi je crois qu'on peut dire, qu'il n'y a que comparaison ou concours , mais que la comparaison, qui marque Tidentiti ou diversite et le concours de la chose avec moi sont les rapports, qui meritent Üitre disHngues parmi les autres.

Ahlimi.ll. d. K. S. Ge*. d. Wi<8. X. < 0

240 G. Hartenstein, [430

lediglich analytische Urtheile und die Anwendung der Formen des Syl- logismus für die Erkenntniss so unfruchtbar seien, als Locke meint.

Dies verräth sich sogleich in der Sorgfalt, mit welcher er den Be- griff und den Umfang der intuitiven Erkenntniss zu bestimmen sucht» Es gibt, sagt er, zwei Arten primitiver, unvermittelter Wahrheiten, Ver- nunftwahrheilen und thatsächliche Wahrheiten ; jene sind noth wendig (im Sinne des begriffsmässigen Denkens), diese zufällig. Die primitiven Vernunftwahrheiten sind aber lediglich die identischen Satze, und diese sind entweder positiv oder negativ; die logischen Satze der Identität und des Widerspruchs nehmen unter ihnen eine der wichtigsten Stellen ein.304) Auf die Nachweisung, dass alle demonstrative Erkenntniss in letzter Instanz auf solche identische Satze zurückgeführt werden müsse, legt er ein so grosses Gewicht , dass er nicht nur eine grosse Anzahl solcher Satze beispielsweise anführt, sondern auch die Beziehung der- selben auf die Ableitung der Schlussfiguren als der formen des demon- strativen Denkens ausführlich darlegt.905) Für die primitiven factischen Wahrheiten erklart er die unmittelbaren Thalsachen der innern Erfah- rung; in den Beispielen, die er dafür anführt, beschrankt er sich hier streng auf das, was wirklich Thalsache der' innern Erfahrung ist. Beide Classen primitiver Wahrheiten haben das mit einander gemein, dass man nicht im Stande ist, sie durch irgend etwas zu beweisen, was gewisser wäre als sie selbst.306)

Gründet sich alles demonstrative Wissen zuletzt auf identische Satze als den unmittelbaren und unabweisbaien Ausdruck des Verhältnisses der Begriffe selbst,307) so begreift sich die Ausführlichkeit, mit wel-

304) a. a. 0. p. 3386. Les verites primitives qu'on satt par intuition, sont de deux sortes comtne les derivatives. Elles sont du notnbre des verites de raison et des verites de fait. Les verites de raison sont necessaires et celles de fait sont contingentes. Les verites primitives de raison sont celles , que fappelle d'un nom general les identiques, parce qu'il semble qu* elles ne fönt que repeter la mime chose , sans nous rien apprendre. Elles sont affirmatives ou negatives. Vgl. p. 360a.

305) a. a. O. p. 339. 340.

306) a. a. O. p. 3406. Pour ce qui est des verites primitives de fait, ce sont les experiences immediates internes dune immediation du sentment. ... On voit que toutes les veritis primitives de raison et de fait ont cela de commun, qu'on ne sauraü les prouver par quelque chose plus certaine.

307) Dass es für Leihniz wesentlich auf das VerhSltntss der Begriffe, also auf den Inhalt derselben ankam, zeigen u. A. Auseinandersetzungen wie p. 380a 382. Selbst

434] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 241

eher Leibniz die scientifische Unentbehrlichkeit der Axiome gegen die Locke'sche Behauptung ihrer Werthlosigkeit darlegt. Locke hatte zu zeigen gesucht, dass die Entscheidung über Identität und Nichtidentität der Begriffe sich dem Denken in jedem einzelnen Falle unmittelbar auf- dringe und dass es dazu nicht erst der Subsumtion unter ein in der Form eines allgemeinen Satzes gedachtes Axiom bedürfe. Diese That- sache gibt Leibniz vorlaufig zu, wiewohl er durch Beispiele aus der Mathematik darauf aufmerksam macht, wie leicht man rücksichtlich der Nichtidentität gewisser Begriffe Irrthümern ausgesetzt sei;906) aber er leugnet auf das Entschiedenste die von Locke behauptete Entbehrlich- keit der Axiome für allgemeine wissenschaftliche Untersuchungen. Es mag richtig sein, dass unmittelbare Uitheile über Einzelnes sich früher aufdringen, als allgemeine Sätze und dass Erfindung und Unterricht an ihnen ihren Leitfaden finden ; es handelt sich aber hier nicht um die Geschichte , sondern um die Begründung des Wissens, und dieses Wis- sen selbst verliert ohne die Grundlage allgemeiner, unmittelbar gewisser Sätze den Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit.300) Er lässl sich daher die Mühe nicht verdriessen, an der Auflösung einer Gleichung und dein ausführlichen Beweise des Satzes: 2.2 = 4, die Notwendig- keit des Zurückgehens auf allgemeine Axiome und den Unterschied einer nur particulären von einer allgemeinen Auflösung einer mathema- lischen Aufgabe vor Augen zu legen.310) Dass die Berufung auf die

für den Satz: ich bin, ist er (p. 3626) nicht abgeneigt, die Bezeichnung eines Axioms fallen zu lassen, cor c'est une proposition de fait, fondie sur une experience iminädiate et ce riest pas une proposiUon necessaire, dont on voie- la necessite dans la con- venance des idees. Vgl. p. 373a, § t.

308) a. a. 0. p. 3606.

309) a. a. 0. p. 3626. II ne s'agit pas ici de l'histoire de nos decouvertes, qui est differente en differens hommes, mais de la liaison et de Vordre naturel des verites, qui est toujours le mSme. p. 364a. Si tmventeur ne trouve qu'üne verite particuHere, il riest irwenteur qriä demi u. s. w. p. 389a. Si vous voulez que cette liaison des idees se voie et s'exprime distinetement , vous serez oblige de recourir aux depmUons et aux aariomes identiques , comme je le demande, et quelquefois vous serez obligS'de vous contenter de quelques axioms tnoins primtifs , . . . lorsque vous aurez de la peme d parvenir ä une parfaite analyse.

340) a,a. 0. p. 364. 363. Wie weit gleichwohl Leibniz von der Pedanterei entfernt war, die minutiöse Darlegung des logischen Zusammenhangs jedes Theorems mit seinen Gründen in allen einzelnen Theilen zu verlangen, zeigen Auseinander- setzungen wie p. 342, 367, 368a, 396.

46*

242 G. Hartenstein, [123

Axiome nur bei der Widerlegung falscher Meinungen von Nutzen sei, erklärt er, abgesehen davon, dass dies gar. nicht so unwichtig sein würde, mit Berufung auf die Geometrie einfach für falsch.811) Ueberhaupt gibt der ironische Ton, mit welchem Locke daraufhinweist, dass die Berufung auf solche Axiome lediglich der unfruchtbaren Disputirsuchl der Schulen Nahrung gegeben habe, Leibniz zu einer langen Reihe mo- dificierender und berichtigender Bemerkungen Veranlassung, die die Ab- sicht haben zu zeigen , dass die Axiome selbst an diesem Missbrauch unschuldig und trotzdem die unentbehrlichen Grundlagen des erkennen- den Denkens sind.312) Gilt dies selbst von identischen Sätzen, so wer- den auch Sätze, die ein bestimmtes Merkmal eines schon bekannten Begriffs ausdrücklich hervorheben und somit einen Theil des Inhalts des Begriffs wiederholen, nicht werthlos sein; sie bieten der Reflexion Haltepunkte dar, deren sie für bestimmte Untersuchungen nicht entbeh- ren kann.315)

Mit derselben Sorgfalt, wie auf die Axiome, geht Leibniz auf Locke's Erörterungen über die syllogistischen Formen des Denkens ein. Man muss sich dabei erinnern , dass Locke diese nicht für falsch , aber die Anwendung derselben für ziemlich unfruchtbar erklärt hatte, wo es sich um eine Erweiterung des Wissens handle. Leibniz ist damit ganz und gar nicht einverstanden. Er beginnt seine Erwiderung mit dem Zuge- ständniss, dass Locke's Auseinandersetzung eine Menge triftiger und guter Bemerkungen enthalte; gleichwohl gesteht er, dass er die Ent- deckung der syllogistischen Formen für eine der schönsten und wich- tigsten halte. Er erklärt die Logik für eine Art universeller Mathematik, für eine Kunst der Unfehlbarkeit, vorausgesetzt, dass man ihre Weisun- gen richtig anwende.314) Die Gesetze der Logik sind allerdings nur die

34 4) a. a. 0. p. 3706. Comptez vous cela pour rien, et ne reconnoissez-vous pas que reduire une proposition ä l'absurdite, c'est demontrer sa contradktoire? p. 3636. On ne sauroü se passer des axtomes identiques en geomStrie, comme par exempk du prin- cipe de contradiction.

34 9) a. a. 0. p. 3676, 368a.

34 3) a. a. 0. p. 374 erläutert dies Leibniz an mehreren Beispielen.

3 4 4) a. a. 0. p. 395a. Votre raisonnement sur le peu d'usage des syllogismes est plein de quantite de remarques solides et belies. Et il faut avouer que la forme des syllo- gismes est peu etnployee dam le monde et qu'elle seroit trop longue et etnbrouilleroit si on la vouloit employer serieusement. Et cependant le croiriez-vous ? je tiens que finvention de la forme des syllogismes est une des plus belies de l'esprit humain, et meme des plus

133] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntnis u. s. w. 243

Gesetze des gesunden Menschenverstands und unterscheiden sich von diesen , wie geschriebenes Recht vom Gewohnheitsrecht ; aber der ge- sunde Menschenverstand ohne Bewusstsein der Regel würde über den Zusammenhang und die Richtigkeit der Folgerungen oft im Unsichern bleiben.*16) Die ganze lange Erörterung hierüber, in welcher er sogar speziell auf die einzelnen syllogis tischen Figuren eingeht, beschliessl er mit der Erklärung, dass die scholastische Form der Argumentation oft unbequem, ungenügend, übelangebracht gewesen, dass aber gleichwohl nichts wichtiger sei, als die Kunst, Folgerungen nach den Gesetzen der Logik formell zu vollziehen, d. h. vollständig rücksicbtlich des Stoffs und deutlich rücksichtlich der Ordnung und des Zusammenhangs.310)

Findet zwischen beiden Denkern rücksichtlich der intuitiven und der demonstrativen Erkenntniss eine Meinungsverschiedenheit nicht über das Wesen derselben statt, sondern lediglich über die bewusstvolle An- wendung der allgemeinen Gesetze, nach welchen namentlich die letztere zu Stande kommt, so ist Leibniz endlich auch keineswegs abgeneigt, die sinnliche Erkenntniss d. h. das Fürwahrhalten der Voraussetzung der Existenz der sinnlich wahrgenommenen Dinge unter die Arten der Er* kenntniss aufzunehmen. Er wiederholt in seinem eigenen Namen, was Locke gesagt hatte, dass im strengen metaphysischen Sinne es nicht geradezu unmöglich sei , dass die uns umgebende Sinnenwelt nur ein Traum sei; eine solche Annahme sei aber gleichwohl so unvernünftig, als die , dass der Text eiües Buchs durch zufälliges Schütteln der Let- tern entstanden sei;'317) die Gewissheit der Existenz der sinnlichen Welt

considerables. Cest une espece de mathematique universelle, . . et ton peut dire, qu'un ort d'infaillibilüe y est contenu, pourvu qu'on sacke et qu'on puisse s'en bien servir.

34 5) a. a. 0. p. 396a. Les loix de la logique . . ne sont autres que Celles du bon sens, mises en ordre et par ecrit et qui rten different pas davantage que la coutume dune province differe de ee qu'elle avoit ete, quand de non-ecrüe eüe est devenue ecrite.

34 6) a. a. 0. p. 397a. Pour conclure, favoue que la forme d argumenter scolasti- que est ordinairement incommode, insufßsante, mal menagee, mais je dis en mime tems, que rien ne seroü plus important, que Fort rf argumenter en forme sehn la vraie logique, c'est ä dire, pleinement quant a la matiere, et clairement quant d t ordre et ä la force des consequences , sott evidentes par elles m4mes% soit predemontrees. Mit der Bemerkung Locke's, dass die hergebrachte Stellang der Prämissen nicht die natürliche ist, ist Leib- niz einverstanden (vgl. p. 3986); die Behauptung, dass ein Syllogismus concludent sein könne, ohne dass eine der beiden Prämissen allgemein sei, widerlegt er p. 398a, § 8.

317) a. a. 0. p. 344a. // riest point impossible, metaphysiquement parlant, qu*H y ait un songe suivi et durable u s. w.

244 6. Hartenstein, [434

beruhe auf der Verknüpfung der Ereignisse , zu der er auch ausdrück- lich die übereinstimmende Erfahrung verschiedener Menschen rech- net. m)

In der Beurtheilung der Schranken der Erkenntniss ferner, weiche Locke aas der Definition derselben abgeleitet hatte, ist die Bemühung Leibniz's nicht darauf gerichtet, die allgemeinen Gesichtspunkte, nach welchen Locke jene Schranken bestimmt hat, als unpassend abzulehnen, sondern vielmehr darauf, an einzelnen Beispielen darzulhun, dass im Gebiete des Wissens entweder schon mehr erreicht sei , als Locke zu- geben wolle, oder wenigstens mehr erreicht werden könne. Er bestrei- tet nicht den Hauptsatz Locke's, dass unsere Erkenntniss nicht nur an den Umfang unserer Vorstellungen, sondern auch an die Einsicht in die Verhältnisse derselben gebunden sei; aber er macht sehr ausführlich auf die Kunstgriffe des Denkens aufmerksam , durch welche es der Ma- thematik gelingt, verwickelte Probleme zu lösen, und benutzt die skepti- schen Erörterungen Locke's über die Frage, ob die Materie denken könne, zu einer Darlegung seiher eigenen Lehre vom Wesen der Seele und der prästabilirten Harmonie.310)

Auch die Anwendung dieser allgemeinen Grenzbestimmungen auf die einzelnen Gebiete der Erkenntniss (vgl. oben S. 175) gibt ihm Ver- anlassung zu einer Reibe von Erläuterungen , die sich den Resultaten Locke's bei weitem mehr anschliessen , als ihnen widersprechen. Dass die Vorstellungen der sinnlichen Qualitäten verworrene Vorstellungen sind , und dass diese Verworrenheit sich auch auf unsere Vorstellung der Kräfte überträgt, welche die sinnlichen Empfindungen hervorbrin- gen, dass wir daher über diese Zusammenhänge nicht mehr wissen, als die auf bestimmte Regriffe zurückgeführt^ Erfahrung uns lehrt,*20) besagt

3 t 8) a. a. 0. Je erois que le vrai criterion en mattere des objets des sens est la liaison des pkenomenes, cest ä dire la connexion de ce qui se passe en differens lieux et tems, et dans Yexperienoe de differens kommet, qui sont eux meines les uns aux autres des pkenomenes tres importans sur cet ar fiele. p. 3786 schlägt er vor, diese Art des Fürwahrhaltens durch das Wort Gewissheit (certitude) von der Evidenz der intui- tiven und demonstrativen Erkenntniss zu unterscheiden.

349) a. a. O. p. 3456 348a.

320) a. a. 0. p. 3486, § 8. Les idees des quaktes sensibles sont confuses, et les puissanees, qui les doivent produire, ne fournissent aussi par consequent que des idees ou il entre du confus: ainsi on ne saurait connaitre les liaisons de ces idees autrement que par V experience qu'autant qufon lesreduit d des idees distinetes, qui les aeeompagnent.

435] Lockk's Lkhrb von der mknschl. Erkenntniss c.s.w. 245

nichts als was Locke selbst behauptet, obgleich dieser die Empfindungen als (subjectiv) einfache Erfolge eines uns unbekannten Causalzusam- menhangs bezeichnet hatte; dem Satze Locke's, dass die Mathematik das grosse Gebiet sei, in welchem sich ein strenges Wissen immer mehr ausbreiten könne, ohne ausschliessend auf Grössen Verhältnisse beschränkt zu sein, zollt er eine stark accentuirte Anerkennung, und wenn er bei dieser Gelegenheit eine kurze Andeutung seiner eigenen metaphysischen Lehren mit der Erklärung hinzufügt, in alle dem sei nichts, was er nicht für demonstrirt oder demonstrabel halte,321) so ändert die Frage, ob Locke dies zugegeben haben würde, nichts an den Grundsätzen und Methoden, an denen Leibniz selbst die wahre Erkenntniss gemessen wissen wollte. Obgleich dieser seine Hoffnungen auf .die Fortschritte der Erkenntniss lebhafter ausdrückt, als Locke, so ist es doch bezeich- nend, dass er in derselben Art wie Locke eine Erweiterung des Wissens über die wirkliche Welt lediglich von einer fortschreitenden Erfahrung, die uns mehr als ausreichende Data für die Erkenntniss darzubieten im Stande sei , und von der Anwendung der Mathematik auf diese Data erwartet.322)

So ist denn die Erfahrung für Leibniz so gut wie für Locke für die mögliche Erkenntniss der Wirklichkeit der unentbehrliche Anknüpfungs- punkt, indem sie allein die Data der Untersuchung darzubieten vermag, und für Locke gibt es so gut wie für Leibniz ein Gebiet eines notwen- digen und allgemeingültigen, von der Erfahrung unabhängigen Wissens, ein Gebiet ewiger Wahrheiten , welches sich in den Verhältnissen und Beziehungen der Begriffe eröffnet (vgl. oben S. 178). Das, was für beide in letzter Instanz über Wahrheit und Irrthum entscheidet, ist der Inhalt des Gedachten selbst. Denn auch bei Leibniz gibt es für die Notwen- digkeit der Erkenntniss, um deren willen er sich auf angeborne Begriffe

3JM) a. a. 0. p. 3486, § 48.

322) a. a. 0. p. 3506. p. 351a. Je crois bien que nous n'irons jamais aussi hin, qtSU sauraU ä souhaiter; cependant il me semble qu'on fera quelques progres con- siderables avec le tems dam Fexplication de quelques phenomenes , parceque le grand nombre des experiences, que nous sommes d portee de faire, nous peut fournir des data plus que suffisans, de sorte qu'ü manque seulement l'art de les employer, dont je ne des- espere point qu'on poussera les peius commencemens depuis que Vanalyse infinitesimale nous d donne le moyen (fallier la geometric ä la physique ei que la dynamique nous a fourni les loix generales de la nature.

246 G. Hartenstein, [136

berufen zu müssen glaubt, zuletzt keinen andern Hallepunkt als diesen Inhalt der Begriffe. Seine wiederholte Berufung darauf , dass die Mög- lichkeit eines Begriffs das Kriterium seiner Wahrheit sei, hat nur unter dieser Voraussetzung einen verstandlichen Sinn und an der Stelle, wo Locke den Begriff ewiger Wahrheiten einführt und bestimmt, bemerkt Leibniz, dass diese im Grunde sämmtlich die bedingte Form haben: ge- setzt, es sei A, so ist B,m) wodurch jede Entscheidung über dieselben auf das von dem Inhalt abhängige Verhältniss der Begriffe zurückge- wiesen wird.

Nun geht zwar Leibniz hier , wie anderwärts , noch einen Schritt weiter. Wo sind denn , könne man fragen , die Begriffe, wenn kein sie denkender Geist existiert und wo ist ohne einen solchen die Grundlage dieser Gewissheit der ewigen Wahrheiten? Die Antwort ist, dies weise zurück auf Gott, dessen Intelligenz die Region der nolhweadigen und ewigen Wahrheiten sei, die vor der Existenz der zufälligen Dinge in ihr als Gesetze des Universums enthalten seien.324) Statt dessen ßndet sich bei Locke rücksichtlich der Hülfsmittel der menschlichen Erkenntnis* nur die Hinweisung auf die weisen und gütigen Einrichtungen und An- ordnungen Gottes; aber auch für Leibniz, obwohl er das reelle Urbild der intelligibeln wie der sinnlichen Welt in der göttlichen Intelligenz voraussetzt, gibt es kein anderes Mittel der Erkenntniss der Wahr-

323) a. a. 0. p. 3796. Pour ce qui est des verites eternelles y il faut observer, que dans le fonds elles sont toutes conditionnelles et disetit en effet: teile chose posee, teile autre chose est. . . . Les scolasliques ont fort dispute de constantia subjecti, comme ils Vappel- latent, c'est ä dire, comment la proposition faxte sur un sujet peut avoir une verite reelle, si ce sujet riexiste point. C'est que la verite ixest que conditionnelle et dit, qu'en cos que le sujet existe jamais on le trouvera tel. Mais on demandera encore, en quoi est fondee cette connexion, puisqu' il y ade la realite dedans qui ne trompe pas ? La reponse sera, quelle est dans la liaison des idees. p. 353a. Le fondement de notre , certitude ä Vegard des verites universelles et eternelles est dans les idees memes; ... et le fondement de la verite des choses contingentes et singulieres est dans le succes, qui fait que les phenomenes des sens sont lies justement, comme les verites intelligibles le demendent.

324) a. a. 0. p. 3796. Mais, on demandera , ou seroient ces idees, si aucun espril riexistoit et que deviendroit alors le fondement reel de cette certitude des verites eternelles ? Cela nous mene enfin au dernier fondement des verites, savoir d cet esprit supreme et um- versel qui ne peut manquer dexister, dont fentendement* ä dire vrai, est la region des verites universelles. . . Et . . il faut considerer que ces verites necessaires contiennent la raison determinante et le principe regulatif des existences mimes et en un mot les loix de Vunivers u. s. w.

437] Lockk's Lkhre von der menschl. Erkenntnis« u. s. w. 247

heil, als die Sorgfalt , Genauigkeit und Umsicht eines in den Inhalt der Begriffe sich vertiefenden und den Beziehungen derselben nachgehenden Denkenß.325) Mehr bedeuten ihm auch die angebornen Vorstellungen nicht (vgl. oben S. 203); und die göttliche Intelligenz ist ihm nicht we- niger als die menschliche an den Inhalt des Gedachten gebunden.3*9) Wenn er daher gegenober den Bestimmungen Locke's über die Realität der Erkenntniss nochmals auf den Satz zurückkommt, die Gewissheit unserer Erkenntniss würde sehr klein und vielmehr gar keine sein, wenn sie keine andere Grundlage hätte, als die, welche ihr die Sinne darbie- ten,3*7) so war dies um so weniger nöthig, als Locke gerade in dem be- treffenden Capitel die nothwendige Erkenntniss in ein Gebiet von Be- griffen verlegt, welche sich auf die äussere Erfahrung beziehen mögen, aber nicht von ihr entlehnt sind. Den merkwürdigen Gedanken Locke's, dass die notwendigen Erkenntnisse der Mathematik desshalb über die Grössen Verhältnisse der wirklichen Dinge entscheiden, weil es sich dabei nicht um eine Uebereinstimmung unserer Vorstellungen mit den Dingen, sondern um die Uebereinstimmung der Dinge mit den Vorstellungen handle, übergeht Leibniz mit Stillschweigen.

Bei diesem Einverständniss über die wichtigsten Hauptpunkte dürfte die Gereiztheit, in welche Leibniz ausnahmsweise in seinen Bemerkun- gen über das 5. Capitel des vierten Buchs verfällt, Wunder nehmen, wenn es nicht deutlich wäre , dass er hier eben so in einem Missver- ständnipse befangen ist, wie oben bei seiner Polemik gegen die Unter- scheidung des nominellen und reellen Wesens (vgl. S. 231). Dass Wahr- heit ein Prädicat der Urtheile und nicht der Dinge sei, darüber ist er mit Locke einverstanden (vgl. oben Anra. 279) ; gleichwohl verwirft er hier die Locke'sche Definition der Wahrheit, dass sie eine den Verhält- nissen der Sache d. h. des Gedachten entsprechende Verknüpfung und Trennung der Zeichen sei. Aus den etwas kleinlichen Ausstellungen, die

325) Es ist in dieser Beziehung charakteristisch, dass Leibniz (p. 364a) der Locke'schen Berufung auf die Wahrhaftigkeit Gottes riicksichllich geoffenbarier Wahr- heilen entgegenhält: Ce principe mime de la veracite de dieu, sur lequel vous recon- noissez que la certilude de revelation est fonde'e, riest il pas une maxime prise de la theo- logie naturelle?

326) Vgl. z. B. a. a. 0. p. 348a. 355a.

327) a. a. 0. p. 353a.

248 G. Hartenstein, 1438

er dagegen macht,988) muss man schliessen , dass es zunächst die Ver- knüpfung oder Sonderung in der Form des Urtheils ist, welche er in der Definition vennisst; Locke hatte aber in der Thal so oft und so be- stimmt ausgesprochen, dass alle Wahrheit in Sätzen, also in Urtheilen besteht, dass er in der betreffenden Stelle (s. oben Anm. 188) sich der minutiösen Sorgfalt Überheben durfte, statt: tnith seems to meto signify zu sagen: a true proposition seems to me to be u. s. f., zumal er unmittel- bar darauf selbst hinzusetzt: truth properly belongs to proposition*. Ganz unwillig aber wird Leibniz über die Locke'sche Unterscheidung zwischen begriffsmassiger und sprachlicher Wahrheit (veritS mentale und nominale), indem er Locke'n die Ansicht unterschiebt, dass er der letz- teren denselben Werth beilege wie der ersteren, oder überhaupt mehrere Sorten von Wahrheit einführen wolle. Die Wahrheit bestehe nicht in den Worten ; daraus würde folgen, dass eine in lateinischer, deutscher, englischer, französischer Sprache ausgesprochene Wahrheit je nach den verschiedenen Sprachen immer eine andere Wahrheit sei, und dass man nicht nur eine veritä mentale und nominale, sondern auch eine Htterale annehmen könne, indem man die Wahrheiten unterscheide, je nachdem sie auf Pergament oder Papier gedruckt, in gewöhnlicher Tinte oder mit Druckerschwarze sichtbar seien.320) Es genügt hier wohl die Erinnerung daran, dass Locke die ganze Unterscheidung lediglich desshalb einge- führt hatte, um die sprachliche Richtigkeit eines Satzes von seiner be- griffsmässigen Gültigkeit zu sondern; eben weil er einen Hauptgrund der Mangel clor Erkenntniss darin fand, dass das menschliche Denken sich von der schon vorhandenen und tixirten Sprache nur mit Mühe und eigentlich niemals ganz vollständig losmachen kann , ging seine Absicht dahin zu zeigen, dass das an den Worten klebende Denken nur ein ein-

328) a. a.O. p. 355a. Un epitkete ne faxt pas une proposition; par exemple r komme sage. Cependant il y a une conjonction de deux termes. Negation est aussi autre chose que Separation; car disant V komme, et apres quelque Intervalle prononcant sage, ce n'est pas nier. La convenance aussi ou la disconvenance riest pas proprement ce qu'on exprime par la proposition. Deux oeufs ont de la convenance et deux ennemis ont de la disconvenance. II s'agit ici dune maniere de convenir et disconventr toute par- ticuliere. Diese maniere toute particuliere bestimmt anzugeben unterlägst Leibniz.

329) a. a. 0. Ce que je trouve le moins ä mon gre dans votre deftniüon de la verite c'est qu'on y ckercke la verite dans les mots. Dann folgen die obigen Consequenzen mit den angeführten Beispielen.

139] Locku's Lehuk von der mbnschl. Erkbnntniss ü. s. w. 249

gebildetes Wissen enthalte. Dergleichen Albernheilen, wie ihm Leibniz hier aufbürdet, Hess er denn doch nicht an sich kommen.

Von grösserem Interesse ist schliesslich die Art, wie Leibniz Locke'n gegenüber den Begriff der Wahrscheinlichkeit behandelt. Die von Locke gezogene Grenzlinie zwischen strengem Wissen und einem auf Wabrscheinlichkeitsgründen beruhenden Fürwahrhalten erkennt er im allgemeinen an, aber während Locke die Wahrscheinlichkeit als auf einen scheinbaren Zusammenhang der Vorstellungen gegründet betrach- tet, fasst er, so weit sich dieselbe nicht lediglich auf die Constatirung von Thatsachen durch das Zeugniss Anderer bezieht, ihren Begriff schär- fer auf; für die Wahrscheinlichkeit bedarf es nicht scheinbarer, sondern ebenfalls wirklicher Gründe, die aber so beschaffen sind, dass aus ihnen nicht die ganze Wahrheit, sondern nur ein Theil der Wahrheit folgt; das Wahrscheinliche ist eine unvollständig bewiesene Wahrheit.390) Ne- ben einer ausführlichen Erörterung über die Bedingungen und Grade der historischen Wahrscheinlichkeit*31) weist er daher auf die Möglich- keit hin, die Grade der Wahrscheinlichkeit mathematisch zu bestimmen; in einer erschöpfenden Ausführung der Wahrscheinlichkeilsrechnung sieht er eine neue Art der Logik, ein wichtiges Hülfsmittel für die Kunst der Erfindung.35*)

Auf die Anwendungen endlich, welche Locke von dem Unter- schiede zwischen strengem Wissen und einem nicht streng begründeten Fürwahrhalten auf das Verhältniss zwischen Vernunft und Offenbarlings- glauben gemacht hatte, geht Leibniz in einer Weise ein, die den schlich- ten Entscheidungen Locke's mehr auszuweichen^ als sie zu widerlegen sucht. Zwar darin , dass man in Sachen des Offenbarungsglaubens auf den Gebrauch der Vernunft nicht Verzicht leisten dürfe, stimmt er Locke'n bei ; er billigt es, dass der Glaube auf Vernunft gegründet wer- den soll ; welchen Grund hätten wir sonst , die Bibel dem Koran oder den Büchern der BramineQ vorzuziehen? Verständige Personen hätten daher nie ein sonderliches Zutrauen zu Leuten gehabt, die behaupten,

330) a. a. 0. p. 3936. Ces Haisons [des idees) sont m&nes necessaires quand ellcs ne produwent qu'une opinion, lorsqu' apres une exacte recherche la prevalence de la pro- babilüe autant qu'on peutjuger peui 4tre demontree, de sorte qu'il y a demonslration alors non pas de la verite de la chose, mais du parti.

334) a. a. 0. p. 389a 3916.

331) a. a. 0. p. 3886.

260 G. Hahtbnstkin, [4*0

dass man in Glaubenssachen sich um Gründe nicht zu bekümmern 'brauche; ein ohnedies unmögliches Ding, wenn Glauben etwas mehr bedeuten solle, als Wiederholen und Hersagen.333) Aber schon die Frage, ob, wo der buchstäbliche Sinn der Religionsurkunde eine logische oder eine physikalische Unmöglichkeit enthalte, es vernünftiger sei, den buch« stäblichen Sinn oder das philosophische Princip fallen zu lassen , ent- scheidet er nur in dem Falle zu Gunsten des letzteren, wo es keine Schwierigkeit mache, den buchstäblichen Sinn aufzugeben, wie z. B. wenn Gott menschliche Gliedmassen beigelegt werden.334) Auch mit der Grenzlinie, welche Locke zwischen dem, was gegen und was Über die Vernunft sei, gezogen hatte, ist er nicht ganz einverstanden. Die De6- nilion, das übersteige die Vernunft, wovon die Wahrheit oder Wahr- scheinlichkeit nicht mit Hülfe der Vernunft aus den Principien der Er- kenn tniss abgeleitet werden könne, sei theils zu weit, theils zu eng; sie umschliesse Alles das , was wir nach unserer gegenwärtigen Lage nicht wissen und nicht wissen können, z.B. ob in einem bestimmten Jahre ein Ausbruch des Vesuvs erfolgen werde; und schliesse das aus, was zwar für uns, aber nicht an sich unmöglich sei, wie z. B. die Berechnung einer Sonnenfinsterniss, ohne die Feder zu Hülfe zu nehmen und in einer Zeit, in der man ein Vaterunser betet.335) Selbst wenn man das Merkmal hinzunehme , dass das , was über die Vernunft sei , die natürliche Er- kenntnissfohigkeit jedes geschaffenen Geistes überschreite, so reiche dies nicht aus; denn Gott sei immer im Stande, Mittel darzubieten, durch Sensation und Reflexion jede Wahrheit zugänglich zu machen, wie denn in der That die grössten Mysterien uns durch das Zeugniss Gottes be- kannt würden, die man kraft gewisser von Sensation und Reflexion ab- hängiger Glaubensmotive anerkenne.™) Zuletzt gesteht er aber der

333) a. a. 0 p. 4026. Je vous applaudis fort, Monsieur, lorsque vous voukz que la foi soü fondee en raison; sans cela pourquoi preferions-nous la bible d Falcoran ou aux anciens livres des Bramines? p. 403a. Aussi les personnes sag es ont toujours tenu pour suspects ceux qui ont pretendu qu'il ne falloit point se mettre en peine des raisons et preuves, quand ü s'agit de croire ; chose impossible en effet d moins que croire ne signifie que reciter ou repeter et laisser passer sans s%en mettre en peine,

334) a. a. 0. p. 405a. 6.

335) a. a. O. p. 402a.

336) a. a. 0. p. 4026. Dieu pourra toujours donner des moyens tfapprendre par la Sensation et la reflexion quelque verite que ce sott; comme en effet les plus grands my-

4M] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 251

ganzen Erörterung über das Verhältniss zwischen Vernunft und Offen- barungsglauben nur unter der Bedingung eine unwiderlegliche Berech* tigung zu , dass man unter Glauben eben ein auf Motive der Glaublich- keit gegründetes Fürwahrhalten verstehe, ohne dabei auf die innere Gnade, die den Geist unmittelbar bestimme, eine Rücksicht zu nehmen. Diese innere Gnade ergänze den Mangel der Glaubensmotive auf über- natürliche Weise. Nun wirke zwar Gott durch diese innere Gnade immer nur in den Fallen, wo der Inhalt des Glaubens auch auf die Vernunft gegründet sei; ausserdem würde er die Mittel, die Wahrheit zu erken- nen , selbst zerstören und der Schwärmerei Thür und Thor eröffnen ; andrerseits sei es aber auch nicht nöthig , dass alle die , welche unter dem Einflüsse dieser Gnadenwirkungen stehen und diesen gottgewirk- ten Glauben haben , die Gründe dessen , was sie glauben, kennen und immer gegenwärtig haben/137) Locke würde diesen Salzen gegenüber vielleicht gefragt haben, woran man solche unmittelbare Gnadenwir- kungen von jeder beliebigen schwärmerischen Einbildung unterscheiden könne; soll die Wahrheit des Glaubens den Rückschlags auf die Gna- denwirkung bedingen, so hatte er sich eben in dem Capilel über den Enthusiasmus viele Mühe gegeben zu zeigen, dass die Entscheidung über die Wahrheit oder Glaublichkeit der Glaubenssätze eben dem ver- nünftig prüfenden Denken anheimfalle. Dass Leibniz zugesteht , wenn man von den unmittelbaren Gnadenwirkungen absehe, sei Alles das, was Locke sage, unwiderleglich, ist jedenfalls wichtiger, als die theolo- gische Belesenheit, die er bei dieser Gelegenheit ausbreitet.**)

XIV.

Die Gegenüberstellung der Erörterungen beider Denker über die Grundlagen der menschlichen Erkenntniss berechtigt nicht nur, sondern nöthigt zu dem Satze, dass die Differenzen zwischen beiden bei weitem

stires nous deviennent connus par le temoignage de dieu, qvlon reconnoü par les motifs de credibilite . . Et ces motifs dependent sans doute de la Sensation et de la refleacion.

337) a. a. 0. p. 4046.

338) a. a. 0. p. 404a. 6. Si vous prene* la foi pour et gui est fonde dans les motifs de credibilite' et la detachez de la graee interne, qui y ddtermine Tesprit immediate- ment, tout ce, que vous dites, est incontestable u. s. w.

£52 6. Hartenstein, [<«

nicht so durchgreifend sind als die Uebereinstimmung, ja dass jene hin- ler diese rucksichtlich der Principien als nichts entscheidend zurück- treten. Den stärksten Gegensatz zwischen beiden hat man fast allge- mein in der Leugnung oder Behauptung angeborner Begriffe oder Er- kenntnisse gefunden; aber dieser Gegensatz ist nicht vorhanden, indem Leibniz angeborne Erkenntnisse nicht in dem Sinne behauptet, in wel- chem Locke sie leugnet. Das Motiv der Annahme angeborner Erkennt- nisse liegt für ihn in der Einsicht, dass die Erfahrung zu keiner not- wendigen und streng allgemeinen Erkenntniss führe; das Angoborensein einer Erkenntniss bedeutet ihm wesentlich die Unabweisbarkeit eines Denkens , welches gewissen Begriffen und Begriffs Verbindungen unab- hängig von den Belegen der Erfahrung in Folge einer unmittelbaren oder mittelbaren Evidenz Gültigkeit beizulegen nicht umhin kann. In diesem Sinne sagt er, dass, um angeborne Erkenntnisse zu prüfen, d. h. um zu entscheiden, welche Erkenntnisse angeboren sind, weil sie den Charakter einer unabweislichen von der Erfahrung unabhängigen Not- wendigkeit und Allgemeingültigkeit haben, man suchen müsse, sie mit- telst der Definitionen auf identische Axiome zurückzuführen (vgl. oben Anm. 228. 230); in diesem Sinne kommt ihnen ihre Gewissheit ledig- lich von dem , was in uns ist ; und wenn er einzelne Begriffe wie den des Seins, der Möglichkeit, der Gleichheit u. s. w. für angeboren erklärt, so verliert diese Berufung auf das Angeborensein bestimmter Begriffe jede sie vorzugsweise charakterisierende Bedeutung gegenüber der Erklärung, dass diese Begriffe nur virtuell in uns sind und dass alle aus nothwendigen Folgerungen hervorgehende Erkenntnisse ebenfalls angeboren genannt werden können. Nimmt man dazu die Erklärung, dass alle ewigen Wahr- heiten die Form eines hypothetischen Unheils haben, d.h. abhängig sind von dem Inhalte und der Verknüpfung der Begriffe, um die es sich han- delt (vgl. oben Anm. 323), und dass mithin jede als angeboren auftretende Erkenntniss sich eine Kritik ihrer Gültigkeit und Noth wendigkeit gefallen lassen müsse,390) so darf man sagen, dass die Streitfrage, ob und in wel- chem Sinne es angeborne Begriffe oder Erkenntnisse gebe , weder für Locke noch für Leibniz principiell entscheidend ist ; beide berufen sich

339) Beispielsweise mag noch angeführt werden, dass Leibniz den Cartesiani- sohen Beweis für das Dasein Gottes aus dem Angeborensein der Idee Gottes a. a. 0.

p. 375a für ganz untriftig erklärt.

**3J Locke's Lehre von ob* mejnschl. Erkenntniss u. s. w. 253

nicht auf die Naturgeschichte des Begriffs, wo es sich um die Notwen- digkeit der Erkenntniss handelt, sondern fUr beide ist diese Notwendig- keit durch den Inhalt der Begriffe und die davon abhängige Verknüpfung derselben bedingt. Mit einem Worte , beide finden die Stützpunkte der wahren Erkenntniss nicht in der Psychologie, sondern in der Logik, und zwar in der über die Zulässigkeit oder Notwendigkeit der Gedanken- verbindungen nach dem Satze der Identität und des Widerspruchs ent- scheidenden Logik.

Es ist in dieser Beziehung von Interesse zur Feststellung der Leib- nizischen Lehre den kleinen Aufsatz : meditationes de cognitione, verilaie et ideiß aus dem Jahre 1 684 ins Auge zu fassen , auf welchen Leibniz so grossen Werth legt, dass er in den nouveaux essais mehrmals (p. 288, 307) auf ihn ausdrücklich verweist. Die Veranlassung dazu gab ihm das Cartesianische : quidquid clare et distincle de re aliqua percipio, id est verum seu de ea enuniiabile; die Absicht desselben gibt er dahin an, seine An- sicht über die Unterschiede und Kriterien der Begriffe und der Erkennt- nisse auszusprechen.740) Ohne die leiseste Berührung der Frage nach dem Ursprünge der Begriffe beginnt er hier mit den Definitionen der Klarheit und Dunkelheit, der Deutlichkeit und Verworrenheit eines Be- griffs, in derselben Art, wie er diese Unterschiede Locke gegenüber bestimmt (vgl. oben Anm. 269). Zusammengesetzte Begriffe, bei denen die Merkmale zwar klar, aber nicht selbst wieder deutlich gedacht wer- den, sind inadäquat; wird die Analyse bis auf die einfachen Begriffe fort- gesetzt, so ist der Begriff und die in ihm liegende Erkenntniss adäquat ; eine Art der Erkenntniss , der, wie wenig sie auch in den meisteu Fällen erreichbar sein mag, die Arithmetik sich in hohem Grade annähert, Meistentheils begnügen wir uns oder müssen uns begnügen mit einer unvollkommenen Analyse; eine solche Erkenntniss ist die symbolische; intuitiv dagegen ist die Erkenntniss , wo alle in einem zusammengesetz- ten Begriffe enthaltenen Vorstellungen wenigstens annähernd deutlich gedacht werden ; die Erkenntniss zusammengesetzter Begriffe ist meist nur symbolisch.841)

340) Opp. p. 79a. Placet, quid mihi de discriminibus et criterüs idearum et cognt- Uonum stotuendum videatur, expiicare.

34J) n « 0. p. 796. 80a. Das Wort intuitiv wird also hier in einem andern Sinne gebraucht, als bei Locke.

254 G. Hartenstein, H **

Deutliche Erkenntniss haben wir also nur insofern, als wir zugleich den Begriff in intuitiver Weise denken. Daher glauben wir oft lediglich desshalb Begriffe zu haben, weil wir ihre Analyse nicht weit genug fortsetzen ; thäten wir dies , so würde sieb vielleicht finden , dass der Begriff einen Widerspruch einschliesst. Zur Erläuterung beruft er sich auf ein Beispiel, auf welches er häufig mit Vorliebe zurückkommt, näm- lich auf den .Anseimischen oder Cartesianischen Beweis für das Dasein Gottes, der erst dann concludent werde, wenn man untersucht habe, ob der Begriff des vollkommensten Wesens möglich sei d. h. ob er nicht etwa einen versteckten Widerspruch enthalte.348) Die Realdefinition ist demgemäss eine solche, in welcher zugleich die Entscheidung über die Möglichkeit d. h. zunächst die Widerspruchslosigkeit des Begriffs Hegt; Realdefinitionen entziehen sich daher der Willkühr, weil nicht alle Be- griffe mit allen verknüpft werden können. Daraus erhellt, welche Vor- stellungen wahr und welche falsch sind; wahr sind die, deren Begriff möglich ist, falsch, deren Begriff einen Widerspruch einschliesst. Die Möglichkeit oder Widerspruchslosigkeit wird auf doppeltem Wege er- kannt, entweder a priori, durch Analyse der Begriffe, wenn wir uns dadurch überzeugen , dass der Begriff keinen Widerspruch einschliesst, und ein besonderer Fall davon sind die Gausaldefinitionen, die über das Wie der Möglichkeit Aufschluss geben; oder a posteriori, durch Auf- fassung des erfahrungsmässig Gegebenen ; denn was wirklich ist, muss möglich sein.343) An vero unquam , setzt er hinzu , ab hominibus perfecta institui possit analysis noHonutn, sive an ad prima possibilia ac notiones irresolubile8 sive (quod eodem redit) ipsa absoluta altributa dei9 netnpe causas primas atque ultimam verum rationem cogilationes suas redu- cere possint, nunc quidem definire non ausim.

Die in den letzten Worten ausgesprochene Gleichstellung der schlechthin einfachen Begriffe mit den absoluten Attributen Gottes und den ersten Ursachen ist jedenfalls hier überraschend , aber sie ändert

3 42) a. a. 0. p. 80a. Ex hisjampatet, nos eorwn quoque, quae distinete cogno- seimus, ideas non pereipere, nisi quatenus cogüatione intuitiva utimur. Et sane cohüngit, ut nos saepe falso credamus habere in animo ideas rerum, cum falso supponimus, terminos quibus utimur, jam a nobis fuisse explicatos .... Quia hac cogüatione caeca contenti sumus et resoluüonem notionum non satis prosequimur, fit, ut lateat nos contradictio, quam forte notio composita involvit.

343) a. a. 0. p. 806.

4 45] Locke's Lehre von der mknschl. Erkenntniss u. s. w. 255

nichts an dem Hauptgedanken, dass die Erkenntniss vor allem Andern in der möglichsten Deutlichkeit dessen besteht, was wir denken; und in dem kurzen, in raschen Gedankenwendungen fortschreitenden Dia- logtis de connexione inter res et verba et veritatis realitate aus dem Jahre 4677 hatte Leibniz schon früher hervorgehoben, dass es eigentlich V er- häitnisse sind, deren Gleichheit und Unveränderlichkeit die Grundlage und, darf man hinzusetzen, der Gegenstand der Erkenniniss sind.344) Und die oft wiederholte Hinweisung darauf, dass das erkennende Den- ken Rechenschaft über die Möglichkeit der Begriffe geben müsse, weist, abgesehen von der angeblich reellen Gültigkeit, welche Leibniz in metaphysischer Beziehung dem Möglichen gibt, zuletzt auf eine Vertie- fung des Denkens in den Inhalt der Begriffe und die durch diesen Inhalt mitgesetzten Verhältnisse derselben hin , die ihre Norm lediglich in den Gesetzen der Logik ßndet.345) Desshalb gibt es für Leibniz wie für Locke Gebiete eines strengen demonstrativen Wissens, bei welchen es auf die empirische Wirklichkeit der Gegenstande dieses Wissens gar nicht an- kommt , und desshalb weist jener eben so wie dieser da , wo es sich um die Erkenntniss der empirischen Wirklichkeit handelt, auf die Er- fahrung hin, welche allein die Data zu, dieser Art von Erkenntniss dar- zubieten im Stande ist. Obgleich daher Leibniz rücksichtlich der1 Me- thode schärfere und strengere Forderungen an das Denken stellt als Locke, der den logischen Formalismus als einen für den wirklich den- kenden Menschen überflüssigen Ballast betrachtete, und obgleich Locke der lebhaften Zuversicht, mit welcher Leibniz seine Metaphysik als eine

344) Opp. p. 776. Etsi characteres sint arbitrarii, eorum tarnen usus et connexio habet quiddam, quod non est arbürarium, scilicet proportionem quandam inter characteres et res, diversorum characterwn, easdetn res exprimentium , relationes inter se. Et haec proporiio swe relatio est fundamentum veritatis (vgl. p. 78a. 6). Es ist vielleicht nicht überflüssig zu bemerken , dass das Wort res hier, wie in ähnlichen Fällen die Worte objet, chosen. s. w. sowohl den gedachten, als den wirklichen Gegenstand, insofern er eben gedacht wird, bedeutet.

345) Vgl. darüber auch P. Einer's vortreffliche Abhandlung »über Leibnizens Universal-Wissenschafl« (aus d. Abhandll d. K. Böhmisch. Ges. d. Wiss. V. Folge 3. Bd. Prag 1843). »Die Logik«, sagt Exner am Schluss derselben S. 40, »war ihm, was sie wirklich ist, die Wissenschaft, welche das Ideal aller Wissenschaften zeichnet, dem eine jede auf ihre Weise sich zu nahern hat. Und dieses Ideal selbst ist nichts Anderes als vollkommene Deutlichkeit aller Begriffe und ihrer Beziehungen. Echte Wissenschaft und Kinigkeit der Denker Messen allein aus der Klarheit der Gedanken. «

. Abhandl. d. K. S. Ges. d.Wis*. X. 1 7

256 6. Hartenstein, [146

die verschiedenartigsten speculativen Gegensätze glücklich vermittelnde Entdeckung betrachtete, die kühle Unerschütterlichkeit eines kritischen non liquet entgegengestellt haben würde, so erkennen doch beide die Thalsächlichkeit des in der innern und äussern Erfahrung Gegebenen und die Notwendigkeit eines nach dem Inhalte der Begriffe sich rieh- tenden und den Beziehungen derselben nachspürenden Denkens als das- jenige an, was in letzter Instanz über alle Theorieen, selbst die der Er- kenntniss nicht ausgenommen, zu entscheiden hat.346)

Es ist nicht die Absicht, die Parallele zwischen Locke und Leibniz auf Kant auszudehnen; dass aber das Urtheil, welches dieser über beide ausspricht, nicht zutrifft, muss die vorliegende Darstellung gezeigt ha- ben. »Leibniz, sagt Kant,™7) intellectuirt die Erscheinungen, sowie Locke die Verstandesbegriffe sensificirt, d. i. für nichts, als empiri- sche und abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte. Anstatt im Verstände und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene .Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objeetivgültig von Dingen urtheilen können, hielt sich ein jeder dieser grossen Männer nur an eine von beiden , die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge an sich selbst bezöge, indessen die andere nichts thal, als die Vorstel- lungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen.« Vielmehr müsste man, wenn man den Kantischen Schematismus der Erkenntnissvermögen auf Locke und Leibniz übertragen will, sagen, dass beide im Verstände und in der Sinnlichkeit zwei verschiedene Quellen von Vorstellungen angenommen haben; dass ferner Leibniz die Erscheinungen eben so wenig intellectuirt, da ihm alles sinnlich Wahrnehmbare eben nur ein System wohlgeordneter Phänomene ist, als Locke die Verstandesbegriffe sensificirt, da das Gebiet der streng demonstrativen Erkenntniss mit der

3 46) In dem oben Anm. 3 angeführten Briefe Leibniz' s an Retnond de Montroort vom J.I7Ü sagt Leibniz : Mr. Locke avait de la subtilite et de ladresse et quelque espiee de metaphysique superficiale qu'ü savoit relever, mais ü ignoroit la methode des mathe- maticiens. Auf dieses Urtheil ist vielleicht die geringschätzige Art nicht ohne Einfluss gewesen, mit welcher Locke Leibniz's reflewions sur Fessai de fentendement humain de Mr. Locke in einem Briefe an Molyneux mit den Worten abgelehnt hatte: des futiti- tes de ce gerne me fönt penser qu'il riest pas ce tres grand komme dont on nous a parte. Locke hat keine oberflächliche Metaphysik , sondern er leistet mit vollem fiewusstsein der Gründe auf Metaphysik als Erkenntniss des Wesens der Dinge Verzicht; seine For- derungen sind in dieser Beziehung strenger aU die Leibniz's.

347) Kril d. r. V. S. 261.

147] Locke'* Lehre vom der menschl. Erkenntniss u. *. w. 257

sinnlichen Erfahrung bei ihm an sich gar nichts zu thun hat und in die- ser Beziehung bei ihm, gerade wie bei Kjint, unsere Begriffe nicht an den Dingen , sondern diese an unseren Begriffen gemessen werden (s. oben Anm. 485) und dass es wenigstens Locke, der die Dinge an sich, ebenfalls wie Kant, für unbekannt erklärt, nicht beigekommen ist , die sinnlichen Empfindungen in einem andern Sinne, als Kant selbst, auf die Dinge an sich zu beziehen.

Aber Kant halte für die Erkenntniss in der Frage: wie sind synthe- tische Urtheile a priori möglich? einen Gesichtspunkt aufgestellt, der die Untersuchung über den Gesichtskreis Locke's sowohl als Leiboiz's hin- auszuheben im Stande gewesen wäre;348) denn in dieser Frage liegt die unmittelbare Aufforderung , ihre Beantwortung in den Begriffen selbst

und deren nicht blos analytischen Verhältnissen, sondern synthetischen

Beziehungen zu suchen. Statt an die Begriffe selbst wendet sich jedoch Kant an die Erkenntnissvermögen; der Grund der Synthesis soll eben nicht in den Begriffen, sondern in den Functionen der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft des Verstandes liegen. Desshalb sind psychologische Voraussetzungen bei Kant von viel grösserem Einflüsse, als bei Locke, der viel weniger die Erkenntnissvermögen, als die menschliche Erkennt- niss zum Gegenstande seiner Kritik gemacht hatte."0) Gleichwohl lässt sich die Frage aufwerfen , ob Kant seine Resultate lediglich oder auch nur hauptsächlich auf Seinen psychologischen Unterbau gegründet habe, oder habe gründen können.

Den Mittelpunkt seiner theoretischen Ansicht bildet der Satz, dass wir die Dinge an sich nicht kennen, weil wir nun einmal an die reinen Formen der sinnlichen Anschauung und die zwölf Kategorieen gebunden sind und diese factische Gebundenheit unseres Anschauens und Denkens

348) Der Begriff eines synthetischen Urlheils kommt weder bei Locke noch bei Leibniz vor. Wie nahe er gleichwohl Locke lag, darüber vergl. oben S. 4 82. Ebenso findet sich bei Leibniz nouv. essais p. 395a eine merkwürdige Stelle, wo er sagt-: il faut savoir qu'il y a des consequences asyllogistiques bonnes et qu'on ne sauroü demontrer ä la rigueur par aucun syllogisme sans en c hang er un peu les termes et ce changement mime des termes faxt la consequence asyllogistique. Die Beispiele, die er dafür anführt, sind synthetisch verbundene Begriffe.

349) Wenn man den Titel seines Werks essay conceming human understanding gewöhnlich übersetzt Versuch über den menschlichen Verstand, so muss bemerkt wer- den, dass understanding ebenso das Verstand niss als den Verstand, ebenso die Erkennt- niss als das Erkenntniss vermögen bedeutet.

47*

858 6. Hartenstein, [1 48

nicht abstreifen können , dergestalt dass wir gar nicht wissen können, ob nicht die Dinge an sich ganz anders beschaffen sind , als wir sie an- schauen und denken. Gesetzt nun , es läge wirklich »im menschlichen Gemüthe« eine Summe oder ein System festbestimmter und unüber- scbreitbarer Anschauungsformen und Begriffe »a priori bereit«, durch welche wir den gegebenen Empfindungsstoff aufzufassen unabänderlich bestimmt sind, so Hesse sich gerade dann nicht einsehen, wie auch nur der leiseste Gedanke daran sollte entstehen können, dass die Dinge mög- licherweise anders beschaffen seien, als wir sie vorzustellen genöthigt sind; alles menschliche Denken wäre an den von der Natur vorgezeich- neten Vorstellungskreis gebunden und eine Unterscheidung zwischen Phänomenen und Noumenen wäre unmöglich. Wenn also eine Incon- gruenz zwischen unseren Vorstellungsarten und den Dingen behauptet oder nachgewiesen wird, so dürfen diese Vorstellungsarten keine unab- änderlich und fest bestimmten sein, sondern der in uns vorhandene, gleichviel wie entstandene Gedankenkreis muss so weit veränderlich und beweglich sein , dass sich die Gedanken selbst an einander messen und gegenseitig modificiren können; nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, dass sich in dem factisch vorhandenen Gedankenkreise Lücken oder Widersprüche verrathen, die es verbieten sich bei ihm schlechthin zu beruhigen. Alle Philosophie ist ein Zersetzungsprocess des alten und ein Bildungsprocess eines neuen Gedankenkreises.

Fragt man nun nach den Mitteln, durch welche Kant die unbefan- gene Voraussetzung zerstört, dass die Welt wirklich so beschaffen sei, wie wir sie vorstellen , so liegen diese nicht in seiner Sonderung einer bestimmten Anzahl von Seelenvermögen sammt den jedem einzelnen derselben beigelegten Functionen, sondern in Begriffsbestimmungen, die von diesem psychologischen Apparat ganz unabhängig sind. Vor allem in der Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen. Zum Er- kennen gehört zweierlei, Anschauung und Begriff; wo ein gegebener Gegenstand nicht durch Begriffe gedacht, und für einen gedachten Be- griff kein Gegenstand gegeben werden kann, ist keine Erkenntniss, son- dern dort eine gedankenlose Thatsache, hier ein leerer Begriff. Dieser Fundamentalsatz hängt in seiner Gültigkeit nicht davon ab, dass gerade nur die Sinnlichkeit die Gegenstände gibt und der Verstand sie denkt; wohl aber steht für Kant diese in den Begriff der Erkenntniss aufge- nommene Beziehung der Gedanken auf empirische Objecte dergestalt

U9] Lockb'8 Lehre von der mbnscbl. Erkenntniss u. s. w. 859

fest; dass nicht nur die Kategorieen keine Erkenotniss darbieten, als nur »durch ihre mögliche Anwendung auf empirische Anschauung«, son- dern dass er selbst der Mathematik nur in so fern den Namen der Er* kenntniss zugestehen will, als die mathematischen Begriffe auf empi- rische Anschauungen angewendet werden können.990) Dieser Bestim- mung des Begriffs der Erkenntniss im Gegensatze zu dem blossen Denken liegt aber bei Kant stillschweigend noch ein anderer, von ihm allerdings erst in der Kritik des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes hervor- gehobener Begriff zu Grunde, nämlich der des Seins; und erst durch die in dem Begriff des Seins liegende Unabhängigkeit des Seienden von dem Denken bekommt die Unterscheidung des Dings an sich von der Vorstel- lung ihren Haltepunkt. Indem nun die Dinge an sich und die in uns lie- genden Formen der Anschauung und des Denkens einander gegenüber- treten, bewegt sich die Kantische Kritik allerdings vorzugsweise auf dem auf der Seite des Subjects liegenden Gebiete und der positive In- halt seiner Analytik der Begriffe und Grundsatze des reinen Verstandes besteht zum grossen Theil lediglich in der Exposition der durch die altere Schulmetaphysik formulirten Vorstellungsarten, jedoch unter der fortwährenden Erinnerung daran , dass alle diese Begriffe und Grund- satze eine Bedeutung nur durch ihre Beziehung auf mögliche Erfahrung erhalten und dass wir die Dinge an sich dadurch nicht kennen lernen. Es ist nicht ohne Nutzen, in dieser Hinsicht den ganzen Abschnitt: »systematische Vorstellungen aller synthetischen Grundsatze des reinen Verstandesgebrauchs« durchzugehen, vorzüglich die auf die Begriffe der Substanz und der Gausalitat sich beziehenden Parthieen, in denen er auf jede Untersuchung des Begriffs entweder geradezu Verzicht leistet oder dessen Unbegreiflichkeit einfach durch die Berufung auf die Gewalt der sinnlichen Anschauung umgehen zu können glaubt.951)

350) Kr. d. r. Yern. S. 4 38. 139. Wenn Kant erklärt, dass die Möglichkeit der Mathematik als Wissenschaft nur durch seine Lehre von Raum und Zeit als den reinen Formen der sinnlichen Anschauung begreiflich werde (Kr. d. r. V. S. 46flgg. 65), so ist es der Mühe werth, damit zu vergleichen was Leibniz nouv. essais p. 364 363 über die Gründe der mathematischen Erkenntniss sagt. Die Arithmetik geht bei Kant ohnedies ziemlich leer aus ; die Geometrie aber hat es überall lediglich mil bestimmten räumlichen Verhältnissen zu tbun und der allgemeine Begriff des Raums ist für sie sehr gleichgültig; in der allgemeinen Form des Raums liegt aber nicht der geringste Entscheidungsgrund über irgend ein bestimmtes räumliches Verhiiltniss.

351) Rücksichtlich des Begriffs der Substanz vgl. Kr. d. r. V. S. 4 90 195.

860 G. Härteste! fr, [*50

Wo jedoch Kant die die Grenze der Erfahrung überschreitenden Behauptungen einer dogmatischen Metaphysik bestreitet und widerlegt, zeigt sich , dass seine Beweise der Unmöglichkeit einer dogmatischen Beantwortung der betreffenden Fragen entweder auf den Mangel aus- reichender Data der Erfahrung oder auf die den dogmatischen Behauptun- gen nach weisbareu Sprunge und Fehlschlüsse oder auf die Begriffe selbst und die in ihnen liegenden unauflöslichen Schwierigkeiten sich stützen. Das erste tritt besonders deutlich in der Kritik aller speculativen Theo- logie hervor, in welcher Beziehung er selbst abschliessend sagt (S. 488): »Wollte man lieber alle obige Beweise der Analytik in Zweifel ziehen, als sich die U eberred ung von dem Gewichte der so lange gebrauchten

Rücksichdieb der Veränderung und der Causalität sagt er a. a. 0. S. 234: »Um Ver- änderung als die dem Begriffe der Causalität correspondirende Anschauung darzustel- len, müssen wir Bewegung, als Veränderung im Räume, zum Beispiele nehmen.... Veränderung ist Verbindung contradictorisch einander entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dings. Wie es nun möglich sei, dass aus einem gege- benen Zustande ein ihm entgegengesetzter desselben Dinges folge , kann nicht allein keine Vernunft sich ohne Beispiel begreiflich, sondern nicht einmal ohne Anschauung verständlich machen und diese Anschauung ist die der Bewegung des Punkts im Räume.« Also würde wirklich durch die Bewegung des Punkts im Räume das Gelbwerden der Blätter im Herbste verständlich und durch ein solches Beispiel die Veränderung für die Vernunft begreiflich? Wie wenig die Frage nach einer berichtigenden Umbildung der vorhandenen gleichviel ob a priori gegebenen oder erworbenen Vorstellungsarten in dem Gesichtskreis Kant's.Lag, zeigen solche Stellen, wo er eigentliche Definitionen der Kategorieen und der davon abhängigen Begriffe für eine gar nicht so schwere Sache erklärt. »Der Definitionen der Kalegorieen überhebe ich mich in dieser Abhandlung geflissentlich, sagt er S. 412, obwohl ich im Besitze derselben sein möchte ... Aus dem Wenigen, was ich hievon angeführt habe, leuchtet deutlich hervor, dass ein voll- ständiges Wörterbuch mit allen dazu erforderlichen Erläuterungen nicht allein mög- lich, sondern auch leicht sei zu Stande zu bringen. « Und S. 207 sagt er: »diese Cau- salität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den der Kraß, und dadurch auf den Begriff der Substanz. Da ich mein kritisches Vorhaben . . . nicht mit Zerglieder- ungen bemengen will, ... so überlasse ich die umständliche Erörterung derselben einem künftigen System der reinen Vernunft ; wiewohl man eine solche Analysis in reichem Maasse auch schon in den bisher bekannten Lehrbüchern dieser Art trifft.« Die Ausführung des »Systems der reinen Vernunfta scheint er sich so gedacht zu haben, dass es nicht nöthig sein würde, an den hergebrachten metaphysischen Begriffen sonderlich viel zu ändern , nachdem einmal die Kritik der reinen Vernunft das dogmatische Vorurtheil zerstört habe, dass sie eine Bedeutung für die Erkenntniss der Dinge an sich haben. »Die Fächer sind einmal da, es ist nur nöthig sie auszufüllen« S. H3.

154] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntnis u. s. w. 261

Beweisgründe rauben lassen, so kann man sich doch nicht weigern, der Aufforderung ein Genüge zu thun, wenn ich verlange, man solle sich wenigstens darüber rechtfertigen, wie und vermittelst welcher Erleuch- tung man sich denn getraue, alle mögliche Erfahrung durch die Macht blosser Ideen zu überfliegen. ... Ich halte mich an der einzigen billigen Forderung, dass man sich allgemein .aus der Natur des menschlichen Verstandes, sammt allen übrigen Erkenntnissquellen darüber rechtfertige, wie man es anfangen wolle, sein Erkenntniss ganz und gar a priori zu erweitern, und bis dahin zu erstrecken, wo keine mögliche Erfahrung und mithin kein Mittel hinreicht, irgend einem von uns selbst ausgedach- ten Begriffe seine objective Realität zu versichern.« Für das zweite kann vornehmlich die Darlegung des Paralogismus der reinen Vernunft als Bei- spiel gellen, die eben den Fehlschluss von der Einheit des Selbst be- wusstseins auf die Einfachheit des Seelenwesens aufdeckt. Das dritte endlich belegt der ganze Abschnitt von den Antinomieen ; der dialekti- sche Widerstreit besteht hier ganz und gar in der Darlegung der Con- sequenzen, die aus gleich möglichen Voraussetzungen sich ableiten las- sen. Die Antinomieen sind Schlussreihen, deren entgegengesetzte Resultate (vorausgesetzt, dass die Annahmen, aus welchen Kant argu- mentirt, alle gleich möglich und die Argumentationen fehlerlos sind,) lediglich darauf hinweisen, dass der angebliche Widerstreit der Vernunft mit sich selbst oder mit dem Verstände ein Widerstreit der Begriffe selbst sei. Und so verwandelt sich unwillkührlich selbst für Kant die Kritik, der Erkenntnissvermögen in* eine Kritik der Begriffe.

Alle Wissenschaft will sein ein System notwendiger, unter einan- der durchgängig übereinstimmender Gedanken. Und wenn die Frage

j

nach derCongruenz dieser Gedanken mit den Dingen immer wieder eine Frage an das Denken ist und ihre bejahende oder verneinende Antwort nur durch das Denken und für das Denken finden kann, so wird der Versuch, unabhängig von den Objecten der denkenden Untersuchung eine Theorie der Erkenntniss aufzustellen, unsicher sein, so lange nicht das System derjenigen Gedanken, durch welche die Phänomene und Thätigkeiten des geistigen Lebens als besondere Fälle einer allgemeinen Gesetzmässigkeit begreiflich werden sollen, bis zu einer gewissen Reife und Sicherheit gediehen ist. Getrieben von den Lücken und Wider- sprüchen des eigenen Gedankenkreises, gleichviel ob er seine Quelle in der Erfahrung oder in einer von der Erfahrung unabhängigen Mitgift

262 G. Hartenstein, Locke's Lehre v. d. menschl. Erk. u. s. w. [< 62

der Natur hat, denn warum sollte es blos angeborne, der Verdunkelung ausgesetzte Wahrheiten und nicht auch angeborne, der Berichtigung fä- hige Irrthümer geben können? getrieben von diesen Lücken und Widersprüchen vertieft sich das Denken in die Gedanken und dadurch in die Dinge, welche es denkt; so arbeitet es fort, fortschreitend von Gedanken zu Gedanken, wie ein Bergmann in einem dunkeln Schachte, und von den in den Begriffen selbst und deren Verbältnissen und Be- ziehungen liegenden Weisungen hängt es ab, ob es auf diesem dunkeln Wege die bunte und heilere Welt der objectiven Realität verliert oder sie und in ihr sich selbst als Product oder Glied eines erkannten Systems in einander greifender Ursachen, Gesetze und Zwecke wieder- findet.

Verbesserungen.

S. 417, Anm. Z. 9 v. u. 1. they f. the. » 4 4 8, » » 4 0 v. u. 1. the f. tho. 4 A3, Z. 6 v. o. 1. was von aussen ins Bewusstsein eintritt f. was im Bewusstsem

geschieht. » 139, » 4 9 v. u. 1. talke f. take. 9 4 48, 5 v. o. 1. unsere Vorstellung des Zeillichen bleibt f. unsere Vorstellung

bleibt. 9 4 53, » 2 v. u. streiche thaU 9 4 57, 9 5 v. o. 1. entspricht f. entsprechen. 9 4 83, »14 v. o. I. diese f. diesen.

DIE

DEUTSCHE NATIONALÖKONOMIK

AN DER

GRÄNZSCHEIDE DES SECHZEHNTEN UND SIEBZEHNTEN

JAHRHUNDERTS.

VON

WILHELM RÖSCHER.

Ablinndl. d. K. S. Gt§. d. Wto. X. * *

I.

Der Verfall der Reformationsblüthe.

Die vielseitige and herrliche Blttthe , welche das deutsche Volks- leben in der Reformationszeit getrieben, war eine schnell vorüberge- hende. Man hat die Verkümmerung ihrer Früchte gewöhnlich dem dreißigjährigen Kriege zugeschrieben, doch mit Unrecht. Der dreissigjährige Krieg ist das Strafgericht, welches die Sünden, eigent- lich aller Glieder, des deutschen Volkes mit furchtbarer Allmälichkeit und desshalb Unentfliehbarkeit heraufbeschworen hatten. Wer aber so- viel historisches Auge besitzt, um die geistigen Ursachen über die ma- teriellen Wirkungen, die Principien über die Massen zu stellen, der kann unmöglich verkennen, dass in sehr vielen Stücken die Zeit unmittelbar vor dem Kriege noch schlimmer war, als die Zeit während des Krieges selbst. Ich erinnere nur an das Fürsten - und Hofleben, wie es in den Tagebüchern des Junkers von Schweinichen erscheint, verglichen mit dem, zwar wenig productiven, aber doch edlern Aufschwünge, der sich z. B. in der Stiftung und Ausbreitung der fruchtbringenden Gesellschaft (seit 1 61 7), sowie in dem zwar geistlosen, aber wohlgemeinten Mäce- natenthume so vieler Grossen während des dreissigjährigen Krieges1 äussert. Das Aufkommen der Opitzischen Poesie (seit 1617) hat man von jeher für ein, wenn gleich unvollständiges, Wiedererwachen der deutschen Muse gehalten. Auch der schwere Druck, welchen das Pfaf- fenthum aller drei Confessionen auf das geistige Leben ausübte, ist ge-

4) Die vielen damaligen Gesellschaften mit ihrer gegenseitigen Lobhudelei, ihren Dedicationen an grosse Herren etc. scheinen doch zum Theil nothwendige Schutz- und Trutzbündnisse gegen das unmässige Pasquillwesen der Zeit gewesen zu sein, worüber damals alle Welt klagt (Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung III,

S. 4 88 ff.).

48*

266 Wilhelm Röscher, [*

rade während des Krieges selbst gemildert worden ; ebenso der vorher und nachher für alle Niederen so demüthigende schroffe Unterschied der Stände 2.

Betrachten wir also das Ende des 16. Jahrhunderts als den grellen Abfall von der Höhe seines Anfanges, so dürfen wir freilich nicht tibersehen, wie beinah Alles, was uns an den Epigonen der Reformation betrübt, zum Spotte reizt oder empört, auch in der besten Zeit des Jahrhunderts schon vorhanden war. Nur immer in ganz an- derem Verhältnisse! Aehnlich, wie sich z. B. aus dem vortrefflichen, echt populären Deutsch und dem ebenso vortrefflichen, echt humanisti- schen Latein, welches die Luther und Hütten etc. geschrieben hatten, bald nach der Mitte des Jahrhunderts eine immer barbarischere Meng- sprache bildete. Selbst in Luthers Werken lässt sich mancher Ausbruch des Lehrfanatismus, des Hexenwahns, derCriminalbarbarei, der Bauern- verachtung und Ftirstendienerei, endlich auch jenes Grobianismus nach- weisen, dessen berühmtester Typus Dedekinds Grobianus bereits 1 549 erschien. Aber wie schrumpft das Alles zu kleinen Sonnenflecken zusammen, wenn man es der menschlichen, sittlichen, wissenschaftlichen und christlichen Grösse des ganzen Mannes gegenüberstellt! Aehnlich ist es mit seiner Zeit im Allgemeinen.

Die ersten, reinsten und schönsten Jahre der Reformation kenn- zeichnen sich hauptsächlich durch ein harmonisches Zusammenwirken von drei verschiedenen Tendenzen : Wiederherstellung des reinen Evan- geliums, des klassischen Alterthums, des nationalen Staates, und zwar alles Diess in echter Humanität auch für die niederen Klassen zugäng- lich gemacht. Aber die Harmonie und Volkstümlichkeit hört fast ur- plötzlich auf mit dem Bauernkriege, dessen Ausbruch und Nieder- lage ich überhaupt für den grossen Wendepunkt halte, der alles Unheil des folgenden Jahrhunderts veranlasst hat. Eine hoffnungsreiche, im besten Gange befindliche Reformbewegung, die bei ruhiger Durch- führung sicher bald eine ähnliche Ablösung der bäuerlichen Frohndienste und Naturallieferungen bewirkt hätte, wie sie in der freien Schweiz

2] Der prologartige »Inhalt« von Laurembergs Scherzgedichten, V. 25 ff., be- zeugt klar, dass gleich nach dem dreissigj ährigen Kriege (und wohl durch denselben) die Standesunterschiede sehr verwischt waren. Lauremberg tadelt diess als Verach- tung einer Ordnung Gottes. Erst später muss im längern Frieden der Unterschied wieder verschärft worden sein.

5] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 267

wirklich erfolgte3, wird in Ermangelung des rechten Führers auf dem Throne durch Ungeduld der Emancipationsbedttrftigen zur wilden Revo- lution, woran sich die Besten des Volkes nicht bet heiligen konnten. Welche fürchterliche Reaction das Scheitern des Aufstandes nach sich zog, kann am kürzesten mit den Worten des grossen Statistikers Se- bastian Münster bezeichnet werden: nihil est, quod senilis et misera gern (die deutschen Bauern) dominis debere non dicatur; nihil etiam, qvod jussa facere absque periculo recusare audeat4. Nicht genug, dass alle Verbesserungen des bäuerlichen Zustandes, selbst die reifsten und not- wendigsten, einer mehr als zweihundertjährigen Vertagung anheimfie- len, so traten zugleich die positivsten Verschlechterungen ein. Gerade der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gehört die Ausbreitung der un- gemessenen Frohnden, die Ueberbürdung des Bauernstandes mit allen neuaufkommenden Staatslasten, die Entstehung der neuern Leibeigen- schaft, ja die Anfänge zu völliger Legung der Bauerdörfer hauptsächlich an 5. Alles diess nur zu begreiflich in einer Uebergangszeit, wo die mit-

3) Ygl. meine Nationalökonomik des Ackerbaues, §. H7 fg.

4) Costnographia, (1550) p. 376. Auch das ist bezeichnend für die Stellung der verschiedenen Stände zu jener Zeit, dass der Belagerer Magdeburgs, Herzog Georg von Mecklenburg, die gefangenen Bürger um Lösegeld freigab, die Soldaten in seinen eigenen Dienst zog, die Bauern aber niederhauen liess. (K. A. Menzel, N.Geschichte der Deutschen III, S. 341 .)

5) Man kann diess in den meisten deutschen Territorien so lange beobachten, bis die immer mehr wachsende landesherrliche Macht es in ihrem eigenen Interesse fand, die Bauern zu schützen. So wurde z. B. in Brandenburg 1541 den Ständen er- laubt, »nach ihrer Gelegenheit etliche Bauern auszukaufen.« Der Landtagsabschied von 1 550 hebt die bisherige Ordnung auf, wonach das Kammergericht den Bauern »gesetzte Dienste« gemacht und den Herren vorgeschrieben hatte, sie während der Frohnde zu speisen. (Mylius C. C. M. V, S.90 ; vgl. Droysen Preuss. Gesch. 11, 2, S. 286. 293.) Die oppeln-ratiborsche Landesordnung von 1562 gestattet schon dem Herrn, seine Bauern zum Verkauf ihres Hofes zu zwingen; im Fall der Säumniss darf er den Hof nach der Taxe an sich nehmen. In Pommern beginnt die Einziehung der Höfe gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts, und die Bauemorduung von 1616 stellt Leibeigenschaft, ungemessene Frohnden und Nichterblichkeit der Höfe als Regel auf. In Mecklenburg werden gewöhnlich die Reversalien von 1616 als Durchbruch der bäuerlichen Entsetzbarkeit angesehen; doch schildert bereits Co ler (1609) in seiner Oeconomia ruraHs et domestica FV, 8 die dortigen Bauern als Zeitpächter, deren ganzes Inventar dem Junker gehört, und die oft davon laufen, nachdem sie Alles durchge- bracht haben, lieber Schleswig- Holstein ist die bekannte Meinung Hanssens neuerdings von K. W. Nitzsch sowohl bestätigt als berichtigt worden: S. H. L. Jahrbücher V, S. 97 ff.

268 Wilhelm Röscher, [6

telalterlichen Formen des Verhältnisses zwischen Bauer und Gutsherr etc. jedenfalls umgestaltet werden mussten, wenn nun dieser Process von exclusiv römischen Juristen 6 unter dem frischen Eindrucke einer nieder- getretenen Bauernempörung vollzogen wurde. Aber das Unglück be- schränkte sich nicht auf den Bauernstand. Die Bauern sind ein so gros- ser, mehr noch ein so fundamentaler Bestandtheil des Volkes im Gan- zen, dass ihre wirkliche Verkümmerung und Demoralisirung unfehlbar das ganze Volksleben vergiften muss. Diess der eigentliche Kern der Krankheit, woran Deutschland mehr als zweihundert Jahre lang so schwer darniedergelegen hat , deren Heilung alsdann vornehmlich von den grossen Herrschern, Denkern und Dichtern des 18. Jahrhunderts eingeleitet worden ist.

Zwar unterdrückt wurde Gottlob die evangelische Idee nicht. Auch die beiden vornehmsten Brücken, die von ihr zu der Gesammtheit der Nation führten, die lutherische Bibelübersetzung und der kirchliche Gemeindegesang, bewährten sich als unzerstörbar. Aber ihre Weiter- entwickelung war gehemmt. Das eigentliche Gemeindeleben verküm- merte gegenüber einem Pastorenthume, das ebenso hierarchisch nach un- ten, wie abhängig nach oben zu war. Denn nach dem Bauernkriege mussten die Reformatoren zufrieden sein, wenn sie durch engsten An- schluss an die fürstlichen und aristokratischen Mächte wenigstens den Kern ihres bisherigen Strebens festhalten konnten. Die religiöse Klas- sicität, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, beruhet auf der Stärke und gleichmässigen Ausbildung folgender vier Elemente: des mystischen, ohne welches keine Andacht, des pietistischen, ohne welches keine Frömmigkeit, des orthodoxen, ohne welches keine Kirche, und des ra- tionalen, ohne welches keine Theologie möglich ist. Bei Luther die höchste Macht und schönste Harmonie aller vier Elemente, wogegen schon bei seinen nächsten Epigonen in tyrannischer Einseitigkeit ein or- thodoxer Rationalismus vorherrschte. Es vollzog sich jetzt in ebenso viel Jahrzehnten , wie das Urchristenthum dazu Jahrhunderte gebraucht hatte, das Herabsinken von der propheten- und apostelähnlichen Glorie Luthers zu einer fast byzantinischen Hoftheologie, in der z. B. ein Sel-

6) Die also ihre Studien gemacht hatten an einer klassischen Zeit des Militärdes- potismus, der Latifundienwirthschaft, der Sklaverei oder doch eines halbsklavischen Colonats.

7] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 269

necker an Kurftlrst August schrieb, »er wolle gern auf allen Vieren von Wolfenbüttel nach Dresden kriechen,« um den Verdacht zu beseitigen, worein er gebracht sei7. Der Satz: Cuius regio eins religio, wurde so be- thätigt, dass z. B. in Thüringen bei der Austreibung der Flacianer (1 573) von 533 Geistlichen überhaupt 111, darunter 9 Superintendenten, ab- gesetzt wurden. Aus der Pfalz verjagte die Lutheranisirung von 1 578 an 1000 Prediger und Schullehrer. Die Reichsstadt Oppenheim, die an den Pfalzgrafen verpfändet war, hat von der Reformation bi6 1648 zehnmal ihre Confession wechseln müssen8. Solche Dinge verdarben natürlich den Volkscharakter um so mehr, je mehr damals noch alles geistige Leben überhaupt kirchlich und theologisch gefärbt war9.

Dass nationalpolitische Ideale nicht auf der Grundlage eines zertretenen Bauernstandes erreicht werden können, leuchtet schon aus den Anfangsgründen der politischen Mechanik ein. Bei der Stellung des Kaisers gegen die Reformation musste die Schwenkung zum Absolutis- mus, welche das Lutherthum seit dem Bauernkriege machte, nur den Landesherren zu Gute kommen. Diesen wuchs aller Einfluss zu, wel- chen die römische Kirche verloren hatte. Freilich war eben damit die allmäliche Auseinandersprengung des Reiches in eine Menge von Parti- cularstaaten vorbereitet, um so gewisser, als das äussere Wachsthum der deutschen Reformation seit Luthers Tode so gut wie stillestand, folglich die beiden grossen Confessionen schon früh in das Verhältniss eines ziemlichen Gleichgewichtes zu einander traten. Dieses Gleichge- wicht aber der Gegensätze auf einem Lebensgebiete, welches damals selbst politisch Air das bei Weitem bedeutendste galt, ist offenbar die allerungünstigste Form , um an Wiederherstellung der Reichseinheit zu

7) Planck, Geschichte des protest. Lehrbegriffes V, 2, S. 600 fg. Nicht ganz so verletzend in der Form, aber sachlich ein wahres Musterstück, den Landes- herrn zum unbeschränkten Herrn der Gewissen zu erklären, ist Aodreii's Bericht an Kurf. August vom Febr. 1578, bei K. A. Menzel, N. Geschichte der Deutschen IV, S. 513 ff.

8) Pfanner, Eist, pacis Westphal. Vt 42; vgl. K. A. Menzel FT, S. 429.489.

9) Für die ganze Literatur nach Melanchthons Abscheiden ist es charakteristisch, dass selbst ein Arzt und Mathematiker , wie Peucer , so durchaus in der Theologie lebte ; ebenso aber auch für die Mässigung des damaligen Wittenberg, dass ein sol- cher Laie so Ungeheuern theologischen Einfluss haben konnte. Man wird die Ver- folgung des Kryptocalvinisnius in Sachsen kaum halb verstehen, wenn man nicht diese beiden Seiten zusammenfasse

270 Wilhelm Röscher, 8]

denken. Wir sehen desshalb auch sehr bald schon jede Partei des zwie- trächtigen Deutschlands ihre Bundesgenossen im Auslande suchen. Wenn die Protestanten diess scheinbar zuerst gethan haben (seit 1 552 mit Frankreich), so darf man nicht vergessen, wie Karl V. schon im schmalkaldischen Kriege vornehmlich durch spanische und italienische Truppen gesiegt hatte. Ohne den Bauernkrieg und die von ihm her- rührende Trennung der Huttenschen Fdeale von der Reformation wäre weder die Selbstzerfleischung Deutschlands im dreissigjährigen Kriege, noch die Schande gegenüber Ludwig XIV. möglich gewesen. Und wenn in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die vielen grossen Per- sönlichkeiten unter den Landesherren den Weg zum Absolutismus ver- schönert hatten, wie selten wurden solche Persönlichkeiten gegen Schluss des Jahrhunderts l

Was endlich die humanistische Seite der Reformation be- trifft , so ist es eine bekannte Thatsache, dass bei allen neueren Völ- kern die wirkliche Blüthe der altklassischen Studien mit der Blüthe der eigenen Nationalliteratur als Ursach und Wirkung im engsten Zusam- menhange steht. Hätte sich unser Volk im 16. Jahrhundert normal ent- wickelt, ohne Revolution und Gegenrevolution, so würden Männer wie Sebastian Brant und der Homer der Reineke-Fuchsdichtung, wie Hütten, Luther und Hans Sachs rasch eine ebenso herrliche als volkstümliche Literatur von Poesie und Kunstprosa vorbereitet haben ; und auch die Philologie der Reuchlin und Erasmus, der Melanchthon und Camera- rius etc. wäre entsprechend fortgeschritten. So aber gerieth gleich nach Luthers Tode die deutsche Sprache selbst, als Bauernsprache, in Ver- achtung, so dass es eine Art von Auferweckung war, als Opitz die Dich- tung, oder gar später Thomasius die Wissenschaft wieder in Anspruch für sie nahm. Wie Flacius erklärte, durch Schriften in deutscher Sprache, die quisvis vel minimi pagi aedititus machen könne, lasse sich kein Ruhm erwerben10, da musste ziemlich gleichzeitig auch der deutsche Huma- nismus für lange verstummen« K. A. Menzel nennt die schöne Vertei- digung Melanchthons, welche die Wittenberger 1569 gegen die Flacia- ner ausgehen Hessen, den Schwanengesang des deutschen Humanismus im 1 6. Jahrhundert. Wenn Fischart den Uebergang von der Volkslite- ratur zur Gelehrtenpoesie vermittelt, (gleichsam die Mitte zwischen Hans

4 0) C. Schluesselburg, Catalog. haereticorum XIII. p4 824,

9] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 271

Sachs und Opitz !) so meint Gervinus ohne Zweifel mit Recht , dieser Uebergang sei nöthig gewesen, um Deutschland nicht in die roheste und zugleich armseligste Pöbelhaftigkeit versinken zu lassen ".

Ein volkswirthschaftliches Sinken von Deutschland während der zweiten Hälfte des 1 6. Jahrhunderts möchte ich nicht mit Zuversicht behaupten. Man denke nur an Kurfürst August von Sachsen! Aber selbst aus der Fortdauer eines ungeschmälerten Wohlstandes würde man nicht gar zu viel schliessen dürfen, da zwar eine gewisse Unterlage mate- rieller Güter für die geistige Kultur unentbehrlich ist, hingegen die grösste Fülle des Reichthums sowohl bei Völkern wie bei Individuen dem Höhepunkte des geistigen Lebens zu folgen pflegt. Uebrigens se- hen wir schon damals eine Menge wirtschaftlicher Veränderungen, die ein völlig gesundes Volk unschädlich gemacht, wohl gar zu seinem Vor- tbeil gewandt hätte, die aber unter den geistig-politischen Krankheits- verhältnissen jener Zeit auch ein wirtschaftliches Sinken vorbereiten mussten. Vom Landbau wird kein Nationalökonom bezweifeln, dass er durch die Reaction nach dem Bauernkriege auf Seiten der Bauern noch mehr verlor, als auf Seiten der Gutsherren gewann ; obwohl das Hof leben noch am Schlüsse des Jahrhunderts den Adel nicht abhielt, eine gute Selbstwirthschaft für eine Ehre anzusehen 12. Den städtischen Ge- werbfleiss berührte die Niederlage der Bauern schon dadurch bedeut- sam, weil die nun folgende Reaction in den meisten Städten das Zunft- regiment schwächte, d. h. also die Herrschaft des Handwerkerstandes. Trotzdem war für grosse Fabriken mit ihrer Ueherlegenheit an Kapital und Intelligenz noch lange kein Boden ; ebenso wenig für Gewerbefrei- heit. Vielmehr haben sich gerade in dieser Zeit viele neue Beschrän- kungen vorbereitet, wie die Meisterstücke, die Geschlossenheit der Mei- ster- und Gesellenzahl, die obrigkeitlichen Taxen etc.: Beschränkungen, welche zum Theil das Sinken des Absatzes unschädlich machen sollten, in Wahrheit aber das Uebel verschlimmern mussten. Nur die Bannmeile der Städte wurde jetzt an vielen Orten weniger streng beobachtet, weil die Fehdeunsicherheit des platten Landes abnahm, die sonst schon fac- tisch jeden Gewerbfleiss daselbst verhindert hatte l3. Indess wird auch

\ I) Geschichte der deutschen Dichtung III, S. 124. \l) Vgl. die Vorrede zu Coleri Oeconomia ruralis et domestica. 4 3) Die hannoverschen Städte klagen zuerst 4 563 über Beeinträchtigung durch Landgewerbe. (Spiltler, Hannov. Geschichte I, S. 980.) In Brandenburg heftiger

272 Wilhelm Roscheb, 10]

hier, bei der sinkenden Lebenskraft des Ganzen, die Aendernng den bis- her Privilegirten mehr geschadet, als den bisher Nichtprivilegirten ge- nützt haben. Der Handel von Deutschland gewann zwar in der letzten Hälfte des 1 6. Jahrhunderts durch die grössere Sicherheit der meisten Strassen im Innern. Er verlor aber nach Aussen hin durch drei grosse Veränderungen: einmal die Abnahme des italienischen Welthandels in Folge der portugiesischen Entdeckungen, der türkischen Eroberungen und gewiss am meisten der spanischen Herrschaft Ober Italien selbst; ferner den Fall Antwerpens und die Sperrung des Rheins durch den spanischen Krieg und die holländische Handelspolitik u ; endlich das Sin- ken der Hansa im Streite mit den Ostseemächten und ganz besonders mit England. Der erste Vorgang drückte schwer auf die oberdeutschen Städte, der zweite auf das Rheingebiet, der dritte auf Norddeutschland15. Denn auf einer Kulturstufe, wie die unseres Vaterlandes im 1 6. Jahrhun- dert, pflegt der auswärtige Handel noch wichtiger, namentlich zum wei- tern Fortschreiten noch unentbehrlicher zu sein, als der Binnenhandel. Uebrigens konnte auch die gesteigerte Abhängigkeit, in welche damals so viele Städte gegenüber den Landesherren geriethen, dem Handel nicht wohl günstig sein. Die damaligen Höfe, mit ihren theils junker- lichen, theils juristischen, theils geistlichen Behörden waren gewiss noch nicht im Stande , was sie am Handelsinteresse weniger hatten , als die städtischen Magistrate, durch grössern Gemeinsinn und höhere Einsicht zu ersetzen.

Zu den merkwürdigsten Proben dieser tiefen Gesunkenheit auch der volkswirtschaftlichen Einsicht gehört des Cyriacus Spangenberg16

Kampf darüber auf dem Landtage von 4 602, während in Sachsen bereits 1537 von Seiten des Landesherrn eine Schlichtung erfolgt war.

4 4) Die sich durch ein engherziges Ausbeutungssystem gegen ihre Hinterländer sehr von den Freihandelsprincipien der bisherigen flandrisch -antwerpischen Politik unterschied.

1 5) Wenn Sachsen unter Kurfürst August in wirtschaftlicher Hinsicht das erste Land des Reiches genannt werden kann, so hängt das zum grossen Theil damit zu- sammen) dass es diesen drei commerciellen Schlügen verhältnissmttssig ferner lag. Daneben ist dann auch der Umstand wichtig, dass Sebast. Münsters Satz: hodie revera inveniunt Germaniam prae ceteris regionibus metallis abundare, für Sachsen be- sonders lange wahr blieb .

16) Der Verfasser ist 1528 in Calenberg geboren, studirte zu Wittenberg, war Prediger in Eisleben, Mansfeld etc., hatte als Flacianer viele Kämpfe zu bestehen, oft

**] Aelterk deutsche Nationalökonomik, 273

»Nützlicher Tractat vom rechten Brauch und Missbrauch der Müntzen.« (Hinter Tilemann Friesens Mttntzspiegel, Frankfurt a. M. 1 592, S.209— 265.) Diess Büchlein, von einem zu seiner Zeit recht berühmten Manne herrührend, ist ein wahres Meisterstück wohlmeinenden, aber unwissen- den und anmasslichen Pastorenthums.

ifonefo kommt her \on tnonere. »Das Geld soll eine Ermahnung und Erinnerung sein, nicht allein zu gedenken dessen, der die Mttntz ge- schlagen, der Zeit wann sie geschlagen und ihres Wehrts, sondern viel mehr der Gerechtigkeit, gleich und richtig damit umzugehen, und das Geld zu geben und zu nemen, wie wir wollten, das ein ander geben oder von uns nemen solle.« (S. 209.) 17 Die Münze ist erfunden, statt des altern Tauschverkehrs, damit man »in allerley Handeln besser zu und von einander kommen möchte « Den Vorzug des Geldverkehrs setzt Spangenberg ziemlich roh in den leichten Transport des Geldes ; übri- gens behauptet er einfach, dass man sich über Geld leichter vergleiche, da sonst der Eine oft die Waaren nicht bat, die der Andere braucht. (S. 244 fg.) Wie ungleich besser ist diese Frage von Mannern wie Agricola oder der albertinische Mttnzpublicist, ja schon von dem alten Biel erörtert worden ! Nun aber die Predigt des Gepräges. Die älte- sten Münzen sollen ein Schiff und einen Januskopf enthalten haben, »un- gezweiffelt,« weil Noah damit ein ewiges Gedachtniss der Rettung aus der Sündfluth stiften wollte ; der Janus ist Noah selbst , der zwei ver- schiedenen Weltaltern angehörte. (S. 212.) Das Bild des Landesberrn auf unseren jetzigen Münzen soll (nach Christi Beispiel mit dem Zins- groschen) die Menseben taglich erinnern »an die Wohlthaten ihrer Erb- herren gegen Land und Leuten«, damit sie fleissig für diese beten, auch »dester gehorsamer sich nach derselben Landordnungen in allen Handeln richten, auch für Auffruhr und anderer Meuterey hüten.« (S. 21 3.) Der Ochse auf vielen Münzen ist eine Mahnung, »Gelt und Kaufhandel nicht so hoch zu lieben, dass sie darumb den Ackerbau wolten anstehen lassen. Ja vielmehr zu bedencken, wenn der Ackerbau nicht thet, dass man auch nicht viel Gelt haben oder ohne den Ackerbau das Gelt wenig

zu flüchten und starb 1604 zu Strassburg. Seine Schriften sind meist Chroniken oder theologischen Inhalts ; die berühmtesten, ausser unserem Buche, sein Jageteuffel und Adelsspiegel.

47) Aehnlich bereits Thomas Aquinaa De reg. pr. //, 13.

274 Wilhelm Röscher. [12

nütze sein würde ; denn was hülffe es einen, wenn er gleich alle Beutel und Kasten voll Geltes und doch kein Korn noch Brot hette!« (S.215.)1* Das Schaf auf jüdischen und arabischen Münzen soll »an das einige wäre Schlachtlemlin, Jesum Christum, erinnern«. (S. 216.) Die dünnen mittel- alterlichen Münzen mit Bischofs-, Heiligenbildern etc. sind Gottespfen- nige fllr diejenigen, welche zu einem Kirchenbau gesteuert hatten. (S. 220.)

Als Pflicht der Münzobrigkeit wird zwar ein richtiges Schrot und Korn, richtige Würderung auch der fremden guten Münze etc. genannt. Doch soll in Nothfällen eine Steigerung oder Ringerung erlaubt sein, so viel wie möglich »ohne mercklichen Schaden des gemeinen Nutzens.« Als eine solche erlaubte Massregel bezeichnet Spangenberg ausdrücklich das Verfahren des Leukon, (Polyaen. Strat. VJ, 9, 1 ) der alles Geld einrief, mit neuem Gepräge versah und es schliesslich zu doppeltem Nennwerthe wieder ausgab »ohne einiges seiner Unterthanen Schaden.« (S. 223.) Als Pflichten der Unterthanen rücksichtlich der Münzen werden fast nur solche Pflichten genannt, die auf Benutzung des Reichthums Bezug ha- ben : dankbar gegen Gott zu sein, sein Herz nicht ans Geld zu hängen, vornehmlich den Kirchen etc. zu schenken, auch den Armen, der Obrig- keit zu steuern , die Seinen zu ernähren , ehrliche Hanthierung zu trei- ben. Namentlich wird die Armenpflege speciell geschildert , allerdings nur mit patristischen etc. Gemeinplätzen (S. 233 ff.)

Als Missbrauch der Münze wird zuerst die obrigkeitliche Münzver- ringerung getadelt, freilich aus keinem tiefern Grunde, als weil, (nach Matthesius) »wenn Schrott und Korn sich endert, so endern sich gemei- niglich auch Schlag und Überschrift, und gibt newe Herrschaft.« (S. 239.) Spangenberg stellt hier nicht bloss die hauptsächlichsten Missbräuche des Münzregals zusammen, sondern auch zu hohe Steuern, Anleihen, Staatsverschwendung ; speciell die zu jener Zeit üblichen Re- galfinanzquellen : als Regierungsmonopole, übermässige Frohndienste, Geldstrafen, Begnadigungen für Geld etc. (S. 242 ff.) Unter den Miss- bräuchen auf Seite der Unterthanen wird aller Art Habgier, Hartherzig- keit, Mammonsdienst, am ausführlichsten wieder Kirchenraub, ferner Yergrabung des Geldes, Knauserei gegen die eigenen Kinder etc., Aem-

18) Dieselbe Ansicht spricht übrigens Davanzati Lezione sutle monete (<588) ;;. 25 aus.

13] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 275

terkauf, Ablasswesen ; zuletzt aber nur ganz in der Kürze das Kippen, Wippen und Falschmünzen erwähnt.

In derselben Weise ungefähr, wie Spangenberg die geistliche, so charakterisirt Waremund von Erenbergk die juristisch-humanisti- sche Volkswirtschaftslehre des Zeitalters. Dieser, praktisch wie theo- retisch damals gleich sehr geschätzte, Mann hiess eigentlich Eberhard vonWeyhe. Geboren 1353 aus einer bekannten niedersächsischen Adels- familie, führte er, wie die meisten damaligen Gelehrten, ein stürmisch bewegtes Leben. Um 1 587 wurde er Professor der Rechte zu Witten- berg, kam auch bald mit dem kursächsischen Hofe zu Dresden, damals unstreitig dem ersten reichsfürstlichen Deutschlands, in nahe Verbindung, wurde jedoch \ 593 des Kryptocalvinismus verdächtig und wegen ver- weigerter Unterschrift der Concordienformel seines Amtes entsetzt und Landes verwiesen. Im folgenden Jahre treffen wir ihn als landgräflichen Kanzler zu Kassel, welchen Dienst er nachher mit dem Kanzleramte zuerst von Bückeburg, dann von Braunschweig-Wolfenbüttel vertauscht hat. Er starb, jedenfalls nach 1 633, auf seinen Gütern im Lüneburgi- schen. Das Ansehen, worin seine geistige Bedeutung bei den Zeitge- nossen stand, erhellt aus der Art und Häufigkeit, wie seine Schriften ci- tirt wurden : Aulicus-politicus (1 596) und Vetisitnilia Iheologica, iuridica ac politica de regni subsxdiis ac oneribus subditorum, I. Samuel. 8 traditis, perPh. Melanlhonem, theologorum et politicorum coriphaeum proposita, re- pelita et defensa discursim contra Bartolum, Bodinum, Rossaeum cett. (1606.)19 Nebenher auch aus seiner Aufnahme in die fruchtbringende Gesellschaft. Um so beweisender zeugt seine wissenschaftliche Art und Kunst für die Niedrigkeit der damaligen Durchschnittsbildung.

Denn es ist wirklich ein recht unsystematisches, geistloses, fast nur registratorisches Buch, diese volkswirtschaftliche Hauptschrift des Waremund! Vornehmlich schöpft er aus der Bibel und dem Corpus Juris nebst dessen Glossatoren. Was die in der Bibel nicht gefädelten Herrscher thun, wird immer für rechtmässig, nicht tyrannisch gehalten (p. 131*); ebenso was sich durch Vorschriften des Corpus Juris stützen lässt. (p. 134.)20 Bei allen Schimpfreden auf schlechte Fürsten meint der Verfasser doch, es müsse ihnen gehorcht, oder aber durch Auswande-

4 9) Ich citire nach der dritten Ausgabe von 4 624, 497 S. in klein Octav.

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SO) Diese Ansicht, die sich damals fast bei allen bedeutenden Juristen findet, ist für die innere Geschichte derReception des römischen Rechts von grosser Wichtigkeit.

276 Wilhelm Röscher, [U

rung entgangen werden; man könne sie indessen aoch »todt beten.« (p. 1 58 ff.) Zölle von solchen zu verlangen, die vor Raubern oder Fein- den flüchten, sei tyrannisch, (p. 1 52.) Eine Concessionsgebtthr von Bor- dellen wird als heidnisch getadelt ; hingegen eine Besteuerung derselben als Geldstrafe der Unzucht sehr gerühmt, (p. 59.) Den französischen Aemterverkauf nennt er tributum turpissimum. (p. 67.) Das ist Alles, was ich an irgend selbständigen, charakteristischen Aeusserungen aus dem »berühmten« Buche habe entnehmen können !

Man hat oft beobachtet, dass ein bescheidenes Handwerk zwar nie den geistigen Aufschwung nimmt, aber im ungünstigen Falle auch nie verhältnissmässig so tief sinkt, wie die entsprechende, an sich freiere und idealere, mehr künstlerische Richtung. So finden wir denn auch gegen Schluss des 16. Jahrhunderts in der handwerksmäßigen Münz- meisterliteratur durchaus keinen solchen Abfall gegen die Zeiten des vortrefflichen G. Agricola, wie in den gleichzeitigen Schriften höherer Art. Ein Beispiel davon bietet der 1 592 von dem Göttinger Bürger- meister Tilemann Friesen herausgegebene Müntzspiegel. Daß Werk hat vier Bücher: Nr. 2 handelt geschichtlich von den antiken Münzen, Nr. 3 von den deutschen, jedes Jahrhundert in einem Kapitel, Nr. 4 von den Münzsorten seiner Zeit bei den verschiedenen Hauptvölkern. Etwas Theorie findet sich nur im ersten Buche. Die Erklärung von Münze (S. 2), »ein Stücklein Geld etc. . . . darzu erfunden, andere Wahre damit zu kaufen, dadurch man desto leichter handeln könne etc.,« giebt doch gar keinen Grund dieses Vorganges an. Indess meint Friesen (S. 1 3) gegen die, welche es für gleichgültig erklären, ob Geld von Blei oder Leder sei, wenn es nur gangbar wäre : »recht Gelt so! nicht alleine die eusseriiche Tugent und Krafil haben, dass man damit kauffen könne, sondern auch die innerlichen Tugent, die der Wahre, dafür man solch Gelt giebt, gleichmessig sey, wenn gleich die auffgestempelte Geprege verginge, dass denn die innerliche Materi ebenso gut were.« Freilich ist er in dieser Einsicht durchaus nicht fest. Die »fürnehmsten« Autoren lehren, (gegen Aristoteles) das Gepräge mache den Werth der Münze aus, fügen jedoch hinzu : »besonders wenn kein arglist darunter, son- dern jede Münze nach dem innerlichen Korne valuirt wird.« (S. 39.) Gewiss nichts weniger, als ein Fortschritt im Vergleich mit Agricola; aber die volkswirthschaftliche Theorie steht in diesem Buche überhaupt sehr zurück hinter der numismatischen Technik, Geschichte und Statistik,

15] A ELTER E DEUTSCHE NATIONALÖKONOMIK. 277

und diese Partien sind nicht übel 21. Aehnlich verhält es sich mit dem Werke des cölnischen Münzdirectors Renerns Budelius von Ruhr- münde: De monetis et re numaria Libri IL (Cöln 1591.) Die erste Hälfte behandelt die Technik des Münzwesens, die zweite eine Anzahl Rechtsfragen, die sich alle darum drehen, ob das Geld bei vertragsmas- sigen Zahlungen nach seinem obrigkeitlichen Nennwerthe, oder seinem Realwerthe berechnet werden soll. Offenbar greift diese Fragstellung tief in das volkswirtschaftliche Wesen des Geldes ein; sie ist daher auch von dem Verfasser höchst ungenügend erörtert worden ; verwor- ren im Ausdrucke und beim Hin- und Herschwanken zwischen ver- schiedenen Auctoritäten reich an Widersprüchen. Der technische Theil hingegen verdient auch hier alles Lob22.

IL

Das Eindringen des welschen Regalismus.

Georg Obrecht, der Ahnherr einer lange Zeit berühmten Gelehr- tenfamilie, war 1 547 zu Strassburg als Sohn des städtischen Syndicus geboren. Er studirte zuerst in Tübingen, dann mehrere Jahre in Frank-

st) Vgl. z. B. die gute historische Uebersicht des Preisverhältnisses zwischen Gold und Silber : S. 21.

22) Einen sehr ahnlichen Gegensatz finden wir in der Landbauliteratur jener Zeit. Conrad Heresbach (Rei rusücae Libri IV, vor J674) steht noch ganz auf dem Boden der jüngeren Reformationsgenossen, während Johann Coler (Oecono- miaruralis et domestica, 1609) ganz ein Rind seiner Zeit ist. Jener durchaus klas- sisch gebildet, ein berühmter Jurist, hatte Strabon, Thukydides, Herodot, die Psal- men etc. übersetzt, deprincipum educaHone geschrieben und sich zuletzt, als Beschäf- tigung seiner Altersmusse, auf Theorie und Praxis der Landwirtschaft geworfen. Mit ihm verglichen ist Coler ein Barbar. Während sieb Heresbach überall von der edelsten Religiosität durchdrungen zeigt, eine schöne Ausnahme von der sonst überall schon her- einbrechenden Gonfessionswutb, ihm sind die Propheten, Apostel und Kirchenväter die Prediger seiner Hausandacht, quos cum majore fruetu audire me arbitror, quam vestros aliquot spermologos et plerosque in templis ineptos concionatores (p. f 3) empfiehlt Coler z, B. die Schalzucht damit, dass »nächst Gott die Schafe am meisten zum Reicb- thum helfen. a (XII. I.) Wo es sich um ethische und unmittelbar psychologische Dinge handelt, ist H. vortrefflich, so z.B. in seiner Lehre von den Pächlerverhältnissen. (p. 4 86 ff.) Dagegen spricht er vom Dünger auffällig kurz : ne in sterquiünüs diutius moremur. (p. 48. ioö.) C. hingegen, der es für nöthig hält, seiner wüsten Recept- masse nicht bloss ein Kochbuch und eine Anweisung zur Destillation , sondern sogar

278 Wilhelm Röscher, 16]

reich, wo ihn die mit der Bluthochzeit verbundenen Tumulte in Lebens- gefahr stürzten und ihm den Verlust seiner Bibliothek zuzogen. Heim- gekehrt, wurde er 1 575 Professor der Rechte zu Strassburg, 1 595 Rec- tor der Universität, 1604 vom Kaiser geadelt, 1607 zum Comes palaiinus ernannt, und starb 1612 in hohem Ansehen, wobei ich daran erinnere, dass zu jener Zeit die Strassburger Universität ein Hauptsammelplatz gerade vornehmer junger Leute aus allen Theilen von Deutschland war. Obrechts zahlreiche Abhandlungen über Gegenstände des Civilrechts, der römischen Rechtsgeschichte und des Lehnrechts werden von Savigny, soweit dieser von ihnen Kenntniss genommen, in Bezug auf den Inhalt, wie auf die leichte natürliche Form geschätzt1. Seine »Erklärungen über das politische Bedenken über die Stadteinkünfte Lübecks« (1610) sind mir bis jetzt noch unzugänglich gewesen 2.

Die volkswirtschaftlichen Hauptarbeiten von Obrecht sind nach des Verfassers Tode mb secreto durch seinen Sohn, Johann Thomas 0., gesammelt herausgegeben worden 3 : »Fünff underschiedliche Secreta po- litica von Anstellung, Erhaltung und Vermehrung guter Policey und von billicher, rechtmässiger und notwendiger Erhöhung eines jeden Regen- ten jährlichen Gefällen und Einkommen. Allen hohen und niederen Obrigkeiten besonders dess Heyligen Römischen Reichs Ständen in die- sen letzten und hochbetrengten Zeiten zum besten gestellt.« (Strassburg 1617.) Die Sammlung besteht aus fünf Schriften, die zu sehr verschie- dener Zeit verfasst sind, aber in ihrem Inhalte doch wesentlich zusam- menhängen. Die Form ist so kirchlich, wie man damals allgemein fttr nöthig hielt; so beginnt z. B. die erste Schrift mit der Formel: Auspice Deo triuno optumo maxumo ; alle schliessen mit dem Ausrufe : Deo soll 8tt law et gloria. Im eigentlichen Räsonnement aber findet man von dieser theologischen Färbung keine Spur; selbst aus der Bibel werden wohl Einrichtungen der respublica Judaeorum als Beispiele (S. 291), aber

ein Traumbuch und eine rohabergläubische Hausmedicin beizufügen, hat seine grosse Stärke darin, dass er allenthalben auf die wirklichen Preise der Productionseleraente und Producte, d. h. also die Unterlagen des Reinertrages, in echt praktischer Weise Rücksicht nimmt.

4) Savigny, Recht des Besitzes, (1822) S. XXIII.

2) Vgl. Sinceri Vitae Ictorum I. p. 92 flf.

3) Vorher soll der Herausgeber sie für 200Ducaten an den Herzog von Pommern verkauft haben.

47] Aeltere deutsche Nationalökonomie 279

nicht leitende Ideen geschöpft. Viel mehr bezieht sich der Verfasser auf das Corpus Juris. Eigentlich klassische Anspielungen kommen wenig vor ; aber viele Citate aus Bodinus, Waremund von Ehrenbergk, Hippo- lytus de Collums u. A. Die Sprache des Obrecht ist der pedantische Gelehrtenjargon jener Zeit, wo mitten im Deutschen ohne allen Grund lange Sätze lateinisch werden.

Die erste Schrift: Discursus Bellico-politicus, in quo, quomodo adver- sus Turcicum tyrannum bellum commode geri possit, quam felicissime osten- ditur, zum Theil auf Grund einer zu Strassburg 1 590 gehaltenen akade- mischen Disputation, ist ein vom Kaiser 1 604 verlangtes Gutachten, 59 S. stark. Hier wird dem Bodinus nachgeschrieben, dass non capita s. per- sonae, sed bona subditomm bei der Besteuerung geschätzt werden sollen. (p. 1 3.) Ebenso, dass nicht die nothwendigen Lebensbedürfnisse zu be- steuern sind, sondern die Luxusartikel, (p. 1 4.) 4 Beides Grundsätze, welche zur damaligen Praxis der meisten Länder in grellem Wider- spruch standen!5 Schon hier macht Obrecht den Vorschlag, welcher nachmals zu seinem Lieblingsgedanken wurde, allen Hochzeitsluxus zu verbieten und statt dessen Einlagen in ein aerarium liberorum (Kinder- versorgungskasse) mit fiscalischem Nebenzweck anzubefehlen, (p. 1 6 fg.) Ferner empfiehlt er Geldstrafen für Gotteslästerung6 und Uebertretung von Aufwandsgesetzen. Alle Processführenden sollen eine verhältniss- mässige Geldsumme niederlegen, und derjenige, welcher den Process verliert, sein Depositum zu Gunsten des Fiscus einbüssen. Der Verfasser hofft hiervon, namentlich bei den so häufigen Injurienklagen, einen be- deutenden Ertrag, (p. 21 fg.) Ebenso von der fiscalischen Ausbeutung der Lehnsvacanzen beim Tode jedes Vasallen, (p. 43) und von freiwilli- gen, aber doch halberpressten Geschenken der Unterthanen nach Art

4) Vgl. Bodinus De rep. VI, 2. p. {034.

5) Von Frankreich sagt Bodinus mit Recht: apud quos nihil est plebe contem- tius. (De rep. VI, 2.) In Deutschland besteuerte der gemeine Pfennig von 4 495 das über 4 000 FI. steigende Vermögen doch eigentlich bloss nach Belieben des Pflichtigen: »soviel sein Andacht ist.« So zahlten selbst in Sachsen bei der Türkensteuer von 4 552 Geistliche nur 2 Pfennige pro Schock, Bürger, Bauer, Dienstboten 3 Pfennige. Ueberhaupt aber war dies die Zeit, worin die früher wohlbegründeten Steuerfreihei- ten durch das Abkommen der dafür 'äquivalenten Dienste etc. grundlos wurden, und gleichwohl noch immer fortdauerten.

6) In jener klassischen Zeit der Intoleranz und confession eilen Streitsucht wäre das ein ergiebiges Feld gewesen !

Abhandl. d. K. 8. Ge». d. Wim. X. 4 9

280 Wilhelm Röscher, M8

der englischen Benevolenzen unter Eduard IV. und Heinrich VII. (p. 46.) Das Finanzmittel der Münzverringerung, wie zu Rom während der pu- tschen Kriege, sollen die viri politici wenigstens in Erwägung ziehen, (p. 47.) Von Verleihung des Adels für Geld, sowie von Aemterverköu- fen erwartet Obrecht viel. (p. 47 fg.) Dabei ist er kein »Mercantilist.« Er rühmt mit Stobaus : agriculturam aliarum verum parentem et nutricem, qua bene haben te etiam cetera vakant, cett. In gleicher Linie werden artißcia et nundinae genannt : mercatores non solum res utiles et necessa- rias proprio sumpiu et periculo convehunt, sed etiam alia, quibus regna et

provinciae abundant, in alias regiones deferunt ut ademta mercandi facul-

täte provinciales continuo ad inopiam redigantur. (p. 50 ff.) Also eine verstän- dige Mitte zwischen der Ansicht der Reformationszeit, wo z.B. Luther den Ackerbau hoch über das Handwerk gestellt, die vornehmsten Handelszweige aber Tür unsittlich oder doch gemeinschädlich erklärt hatte7, und andererseits dem sog. Mercantilsysteme. Daneben hält Obrecht von der Macht der je- weiligen Staatsregierung so viel, dass ein »ernstliches Edict« des Kaisers, den Ackerbau gut zu treiben, nach seiner Meinung das Land in Ueber- fluss versetzen und dem Fiscus grosse Einkünfte bringen würde, (p. 51 .) Die zweite Schrift (S. 1—135) führt den Titel: »Ein Politisch Be- dencken und Discurs Von Verbesserung Land und Leut, Anrichtung gu- ter Policey und fürnemblich von nützlicher Erledigung grosser Aussga- ben und billicher Vermehrung eines jeden Regenten und Oberhern Jähr- lichen Gefällen und Einkommen.« Beendigt 1609. In der respublica, als corpus dvile, sind Geld und Gut die Nerven, die Obrigkeit das Hirn, welches »Alles vollkömmlich zu regieren und dahin Alles zu dirigiren hat, das an notwendiger Underhaltung nimmer kein Mangel erscheinen möge.« (S. 6.) Die Staatseinnahme kann entweder mit, oder ohne Be- schwer der Unterthanen erhöht werden. Jenes geschieht : A. durch Er- höhung der Steuern. Der Verfasser warnt hier vor Uebermass, wie z. B. Albas zehntem Pfennig, der sich bei derselben Waare, falls sie mehrmals verkauft wurde, ebenso oft wiederholte (S. 12); desgleichen

7) Vgl. Luthers Werke ed. Irmischer XXII, S. 284. XXXVI, S. *72 ff. LVH, S. 342. LXI, S. 352 ff. Ganz besonders die Schrift vom Kaufhandel und Wucher. Dagegen hatte freilich Calvin auch den Handel für nützlich und ehrenwerth aner- kannt, so dass er selbst mehr einbringen könne, als der Landbau, ex ipsius mercato- ris diligentia atque industria. (Opp. ed. Amstelod. 1664, IX, p. 223.) Vgl. Wiske- mann Darstellung der in Deutschland zur Zeit der Reformation herrschenden national- Ökonom. Ansichten, S. 48. 80.

19] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 281

wieder vor Besteuerung notwendiger Lebensbedürfnisse. (S. \ 4.) Mit Bodinus empfiehlt auch Obrecht, mehr die Fremden, als die Einheimi- sehen zu besteuern; geringe Einfuhr- und hohe Ausfuhrzölle von Waa- ren, die uns unentbehrlich sind ; geringe Besteuerung fremder Rohstoffe, ohne jedoch an den mercantilistischen Zweck dieser Massregeln viel zu denken. (S. 15 fg.) B\ Durch allerlei gemeinnützige Anstalten, womit eine Abgabe zu verbinden wäre. So z. B. Verbot der kostbaren Hoch- zeiten und Kindtaufen, woneben dann genaue Geburts- und Sterbe- listen etc. geführt, und eine Steuer dafür entrichtet wird, Zahlung von Geld in eine Kasse, um es den Kindern später, wenn sie erwachsen sind, mit Zinsen zurückzugeben, oder aber, wenn sie gestorben, an den Fiscus fallen zu lassen. Ferner Stiftung einer Assecuranz von Dörfer- gruppen, mehr noch Städten etc. gegen unverschuldete Unglücksfälle, zumal durch Raub und Diebstahl. (S. 22.) C. Durch Schätzungen, wo- bei Obrecht an die damals üblichen Reichssteuern denkt. D. Durch Uebernahme von Schulden durch die Landstände. Ohne Beschwer der Unterthanen: A. Durch gute Haushaltung, wobei der Verfasser ziemlich unerwartet auf Gottes- und Nächstenliebe als deren Grund, Sparsamkeit und Ordnung als deren Aeusserung kommt. B. Güterver- kauf, in der Regel sehr zu widerrathen a ; doch lässt sich der Verkauf nur für eine bestimmte Anzahl Jahre, oder auch mit vorbehaltenem Rttck- und Vorkaufsrechte eher empfehlen. (S. 52 fg.) C. Durch neue Gefälle, die mit der Rechtspflege zusammenhängen. Hier wird dann neben dem fiscalischen noch ein juristischer Zweck erreicht. (S. 56.) Also Geld- bussen für schlechte Richter und Anwälte, für Processparteien, die sich vergehen, für leichtsinnige Querulanten und Appellanten etc., wobei der Verfasser eine ziemlich pedantische Rechtskunde auskramt. Allerlei media extrajudicialia : so z. B. dass der Fiscus an die Stelle unwürdiger Erben tritt. (S. 66 ff.) Bona damnafarum et proscriplorum. Eine Menge von Geldbussen für Sabbathsfrevler, Flucher, Trunkenbolde, auch solche, die das neuaufgekommene Gesundheitstrinken üben, (S. 80) überhaupt für Luxusgesetzübertreter: namentlich soll Jeder Strafe zahlen, der einem prodigus ohne obrigkeitliche Erlaubniss etwas darleihet oder ab- kauft. (S. 84.) Aus derselben Mischung polizeilicher und fiscalischer Zwecke werden Arbeitshäuser für ungerathene Kinder und Unterthanen

8) Aehnlich Bodinus De rep. VI. p. 4 000 ff.

49*

282 Wilhelm Röscher, [20

empfohlen9. (S. 85.) Jede Bürgschaft für grössere Summen ohne obrig- keitliche Erlaubniss soll bei Geldstrafe verboten sein. (S. 88.) Daneben wird zum Anbau aller noch unkultivirten Plätze gerathen , wobei nach Catos Vorgange agricultura und parsimonia als die beiden provenius rei famüiaris erscheinen. Auch hier die Ansicht , dass eine blosse Vermah- nung des Fürsten an sein Volk, den Acker gehörig zu bauen, von gros- ser Wirksamkeit sein würde. (S. 97.) Wenn Obrecht dasselbe in Bezug auf Mineralien empfiehlt, kommt doch zwischen edlen und unedlen Me- tallen gar kein (mercantilistischer !) Unterschied zur Sprache. (S. 102.) Ausser dergleichen tnediis naturalibus werden als media civilia die her- renlosen Güter, Schätze etc. erwähnt. Hinsichtlich des Münzwesens eifert Obrecht sehr scharf gegen Verringerung am Schrot oder Korn, wie »etliche Mammonsbrüder« sie vornehmen. (S. 108.) Er hatte eben seit 1 590 durch die immer steigenden Missbräuche der Praxis gelernt. Dagegen verwirft er den Handelsbetrieb durch hohe Personen nicht (S. 110 ff.); namentlich preiset er den Staatskornhandel aus guten Jah- ren in schlimme, nach dem Vorbilde Josephs im A. T., wobei er jedoch immer auf den so zu erzielenden fiscalischen Gewinn blickt. (S. 1 1 3.) Sehr flach ist der Rath , aus den Gemeindekassen etwas an den Fiscus steuern zu lassen. (S. 114 ff.) Endlich sollen noch mancherlei Abgaben von lachenden Erben, sehr grossen Erbschaften, Geschenken etc. ver- langt werden. Nur ganz beiläufig erscheint S. 127 ff. die Regel, das baare Geld so viel wie möglich im Lande zu behalten, indem man lieber von Einheimischen, als Fremden, kauft, borgt und Arbeit verrichten lässt. Die dritte Abhandlung (vom Jahre 1610), »Constüutio von notwen- diger und nützlicher Anstellung eines Aerarii Sancth, schildert speciell den für ausserordentliche Fälle bestimmten Staatsschatz nach des Ver- fassers Plane. (S. 137 162.) Er geht von dem Grundsatze aus, dass es viel besser ist, Geld aus dem Schatze zu nehmen, als zu borgen : (S. 1 60) bekanntlich ein Grundsatz, der auf allen niederen und mittleren Kulturstufen herrscht und herrschen muss. Diesem Schatze werden nun die meisten der obigen, vom Verfasser empfohlenen, Staatseinkünfte

9) Nach niederländischem Vorbilde, wie denn von damaligen deutseben Aucto- riläten sowohl das Zwangsarbeitshaus zu Amsterdam, als die Freiwilligen-Arbeitshäu- ser zu Antwerpen und Delft sehr häufig gerühmt werden: vgl. Bornitius De rerum su ff., p. 74. Besold Vitae et mortis consideraiio polit. (4 641) je». 4 7.

24] AfiLTERE DEUTSCHS NATIONALÖKONOMIK. 283

zugewiesen : Processstrafen, unurbare Ländereien, bona vacantia, Schätze, Abgaben von Erbschaften etc. Ebenso die Ueberschttsse der von Ob- recht angerathenen Feuerversicherung.

Viel umfangsreicher ist die vierte Abhandlung : »Ein sondere Po- liceiordnung und Constitution, durch welche ein jeder Magistratus, ver- mittels besonderen angestellten Deputaten, jederzeit in seiner Regierung eine gewisse Nachrichtung haben mag, 1 ) wie es gleichsam mit seiner gantzen Policei, als eines Politischen Leibs, und allen desselben Glie- dern, den Underthanen, beschaffen ; 2) wie gemelter Policei, derselben Gliederen und Administration Auff- und Zunemmen zu befürdern, Ab- und Undergang zu verhüten, sodann 3) wie auch die gemeine Wolfarth, so aus vorgedachten dreien Stücken herkompt, zu vermehren und zu er- haltenseyen.« (S. 1 83 296.) Es ist eigentlich nur der Gedanke einer sehr genauen und immer mit Abgaben verbundenen Bevölkerungsstatistik, der hier als Polizeiideal vorgetragen wird, freilich mit einer furchtbar weit- gehenden Inquisition durch die Behörden und in Folge davon einem sehr despotischen Behördeneinflusse 10. Die Geburtslisten, die auch den Namen der Pathen aufführen müssen (S. 1 90), werden in zwei verschie- dene Alba getrennt : der ehelich und der unehelich Gebornen. Ebenso die Verzeichnisse der unter Vormundschaft stehenden Kinder, der Er- wachsenen, endlich auch die Trauungs- und Sterbelisten. Von den Er- wachsenen (zwischen dem 20. und 65. Jahre) hat jede Altersstufe, von 3 zu 3 Jahren gerechnet, ihr besonderes Album, so dass man z. B. mit dem 23., 26., 29. etc. Lebensjahre aus dem bisherigen in das nächst- folgende Verzeichniss übergetragen wird. Dabei soll die Behörde auch über die Sittlichkeit des ganzen Lebens von allen Eingeschriebenen ge- naue Aufsicht führen und auf dessen Besserung hinwirken. (S. 202; detail lirter S. 210. 221.) Es ist sehr charakteristisch, dass ein Mann, dem eine so bedenklich dehnbare Bestimmung für die Polizei genügt,

10) Etwas Aehnliches hatte schon Bodintis [De rep. VI, 1) vorgeschlagen, frei- lich in ganz humanistischer Weise als Wiederherstellung der alten Censur : also eine Vermischung nichtrichterlicher Sittenpolizei und statistischer Aufnahme. Das Volk soll gezählt, jedes Vermögen katastrirt werden, um die Steuern besser anzulegen, der fis- calischen Willkür, auch dem Wucher etc. mit dem Lichte der Oeffentlichkeit zu be- gegnen, Besitzstreitigkeiten vorzubeugen etc. Bod in us' Plane sind geistvoller und frei- heitlicher, als die von Obrecht ; aber die letzteren haben mehr Zeitcharakter.

284 Wilhelm Röscher, [28

S. 213 244 nöthig findet, die Formulare sämmtlicher Scheine, den Preis derselben etc. auf das Genaueste auszuführen.

Endlich noch : »Constitutio und Ordnung von einem hochnützlichen Aerario liberorum, in welches von den Eltern allerhand Summen Gelts, ftlmemblich ihren neugebornen Kindern und in eventum ihnen selbs, auch der Obrigkeit und gemeinen Wolfahrt zum Besten angelegt wer- den, sampt allerhand Erklärungen und zweyen Kinderrechnungen. « (S. 297 351.) Auch hier ein fiscalischer Nebenzweck der Versiche- rungsmassregel. Alle ehelichen wie unehelichen Aeltern, soweit sie dazu im Stande, sollen bei der Geburt der Ihrigen eine Geldsumme nie- derlegen, die für Söhne bis zum 21., für Töchter bis zum 1 7 . Jahre mit 6% jährlicher Zinsen aufbewahrt und schliesslich ausgezahlt wird. Ster- ben die Kinder vor Ablauf dieser Frist, so fällt das Depositum in der Re- gel an den Fiscus, jedoch mit theilweiser Uebertragung an schon vor- handene oder noch zu erwartende Geschwister11. Uebrigens ist der ganze Vorschlag sofort als Gesetzentwurf gefasst: man pflegt dies auf solchen Kulturstufen, wie die von Obrecht war, »praktisch« zu nennen ,2.

Fragen wir jetzt nach der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Schriften Obrechts, so lassen sich alle geschichtlich bedeu- tenden Menschen in zwei Gruppen theilen : solche, die über das Niveau ihrer Zeit hervorragen, die also der Zukunft gleichsam Bahn brechen, sei es durch praktische Umgestaltungen, oder aber durch theoretische Entdeckungen ; ferner solche, in denen nur eben die Eigentümlichkeit ihrer Zeit besonders scharf entwickelt, gleichsam personificirt ist. Unser Obrecht gehört durchaus der zweiten Gruppe an; seine geistigen Kräfte sind für die erste schon absolut zu gering. Und es sind namentlich zwei Hauptrichtungen seiner Zeit, welche in ihm Gestalt gewonnen haben: die Anlehnung des westlichen, zumal reformirten Deutschlands an Frank-

U) Das Ganze offenbar eine Nachahmung der in Italien damals nicht seltenen Anstalten (so z. B. in Lucca, Siena, Florenz) , neugeborenen Mädchen eine im 18. Jahre fällige Mitgift zu versichern, gewöhnlich das Zehnfache der Einkaufssumme, die jedoch im Fall ihres früher eingetretenen Todes verloren ging. Vgl. Bodinus De rep. VI, 1, p. 4 040. Chr. Besold Synopsis doctr. polit., p. 2 45.

\ 1) Dass für jene Zeit wirklich ein Fortschritt darin lag , beweisen z. B. die be- rühmten Libri IV rei rusticae von Conrad Heresbach, deren Formulare zum Vieh- kauf noch gänzlich als damals praktisch aufgeführt werden, obschon sie lediglich altrömisch sind! (111, p. 500. 530. 568.)

23] Akltere deutsche Nationalökonomik. 285

reich und England, sowie damit zusammenhängend der Regalismus und Absolutismus in der Staatshaushaltung.

Ueber diesen Regalismus habe ich der K. Gesellschaft der Wissen- schaften bereits in einem frühern Vortrage einige Andeutungen gemacht13. Das Ueberwiegen der Regal wirth seh aft im Finanzwesen pflegt der Zeit nach die Uebergangsstufe zu bilden zwischen dem mittelalterlichen Ueberwie- gen der Domänen wirthschaft und dem Ueberwiegen des Steuerwesens bei jedem hochkultivirten Volke. Nicht mehr genug Domanium, aber noch nicht genug Steuern ! Der Name »Regalien« oder »Finanzregalien« ist ebenso unbestimmt, wie der Gegenstand selbst, der etwas auffallend Buntes, scheinbar Systemloses und Chaotisches w hat, den aber das Auge des Historikers doch ebenso einfach erklären, wie ordnen kann. Es lassen sich nämlich bei den wichtigsten neueren Völkern zwei Hälften ihrer Periode des Regalismus unterscheiden. Von diesen schliesst sich die erste ebenso an das sinkende Domänenthum an, wie die zweite das herannahende Vorherrschen der Steuern gleichsam einleitet. Was den politischen Charakter betrifft, so ist die erste Hälfte ebenso feudalistisch, wie die zweite absolutistisch.

Je mehr gerade auf dem Wege der Belehnungen das Domanium zusammenschmolz, um so eifriger waren die kraftvollen Herrscher des spätem Mittelalters bemühet, durch Ausbeutung der Lehnsgefälle den Schaden wieder einzubringen. Ich erinnere an die Abgaben bei Gelegenheit der drei grossen Lehnscasus, (Kriegsgefangenschaft des Lehnsherrn, Ritterschlag seines Sohnes, Aussteuer seiner Tochter,)15 namentlich an die ungeheuere Bedeutung, welche das Lösegeld kriegs- gefangener Herrscher activ und passiv ftlr die Finanzen des spätem Mittelalters hat16. In England, wo aller Grandbesitz ftlr Lehen galt,

4 3) Berichte der historisch -philologischen Klasse vom 4*. December 1861, S. 4 56 fg.

4 4) Matthaeus de Afflictis nimmt 4 25 verschiedene Regalien an, C Hassanen* 208, ja Petr. Anton, de Petra sogar 44 3!

45) In dem kreozzugseifrigen Borgund auch, wenn der Lehnsherr nach Jerusalem zog; bei geistlichen Fürsten, wenn sie zum Concile reisten.

4 6) Berühmt sind die Lösegelder für Richard Löwenherz, den heiligen Ludwig, die Könige von Schottland und Frankreich, die Eduard III. zu Gefangenen machte. Der Aufstand der sog. Jacquerie war grossentheils eine Folge der Lösegelder des bei Poitiers gefangenen französischen Adels, die 15, ja 50 Procent des Güterwerthes be- trugen und nun von den Bauern erpresst werden sollten. {Sismondi Hist. des Fr. X,

286 Wilhelm Röscher, [24

war jeder grössere Landeigentümer als Vasall zu Kriegsdienst und Pa- rade verpflichtet, oder musste sich durch eine Geldzahlung, scutagium, davon loskaufen. Ebenso einträglich waren die Abgaben von den Tur- nieren, sowie vom Ritterschlage, wozu jeder bedeutende Vasall genö- thigt werden konnte. Beim Tode eines Vasallen pflegte der Nachfolger den einjährigen Ertrag seines Gutes abgeben zu müssen. Ueber min- derjährige Kinder eines verstorbenen Vasallen hatte der König die Vor- mundschaft, (tutela frucluaria, französisch guardia, in Bretagne bau, in England wardship) so dass er den Ueberschuss ihres Einkommens über ihren standesmässigen Unterhalt für sich nehmen, auch die weiblichen Mündel nach seinem Belieben verheirathen konnte, was dann wieder zu einer Menge von Erpressungen führte 17. Die Erlaubniss, ein Lehngut zu veräussern, musste theuer bezahlt werden (in England mit 3 3 Vi bis 1 00 Procent des jährlichen Ertrages, in Frankreich unter dem Namen quinl et requint meistens mit 24 Procent des Kaufschillings). Dazu das Heimfallsrecht beim Aussterben der Vasallenfamilie, in Zeiten, wo der Ritterdienst noch eine Wahrheit, und Weiberlehen schon desshalb selten waren, gewiss eine bedeutende Einnahmsquelle 18. Das Recht des Herr- schers, die für den Bedarf seiner Hofhaltung nöthigen Lebensmittel auf Reisen und in der Umgegend seiner Residenz entweder ganz unentgelt- lich oder für einen selbstgesetzten Preis zu requiriren, (droit de prise, purveyance and preemption) fand seine Stutze in dem Lehnsgedanken, wonach die meisten Landgüter eigentlich Domanialboden waren, der nur unter Vorbehalt gewisser Rechte ausgethan worden. Die schweren Willkürlichkeiten , die sich der Ausübung aller dieser Fiscalrechte bei- mischten, erkennt man am besten aus den englischen Great Charters seit K. Johann, worin deren gesetzliche Beschränkung eine Hauptrolle spielt.

p. 486.) Wirklich schätzt Leber die Kanzion des Königs Johann auf 247% Mill. Franken nach heutigem Verbällniss. (Essai sur Fappreciation etc., App.)

47) In England konnte von dem Mündel, wenn dieser ablehnte, so viel gefor- dert werden, wie irgend Jemand bona fide bereit war, für die Heirath zu bezahlen. (Blackstone Commentaries II, p. 70.) Auf die wardship wurden förmlich Gehalte fundirt: so bezog der Protector Heinrichs VI., Herzog von Gloucester, jährlich 4000 Mark von den Lancasterschen Einkünften, 4700 M. aus dem königlichen Schatze und 2300 M. von zwei minderjährigen Lords. Förmlich verzichtet hat die Krone auf dies Recht erst 4 648.

4 8) Nach Latherus De censu (f 4 640) III, 1 : perraro accidere solet, ut non intra eentwn annorum curriculum feuda ad dominum reverlantur.

25] Aklterk deutsche Nationalökonomik. 287

Eine zweite Gruppe von Massregeln, um das geschmälerte Doma- nialeinkommen zu ersetzen, bestand darin, dass alle herrenlose Gü- ter für Erongut erklärt wurden: also im Kleinen gleichsam die Wiederholung des Actes, welcher im Grossen früher auf erobertem oder neubesiedeltem Gebiete das Domanium geschaffen hatte. Dahin gehören z. B. in Schweden die Ansprüche Gustav Wasas, dass sämmtliche All- menden, früher Gemeindegut, jetzt der Krone angehören sollten ; alles unbebaute Land, alle Wälder, Flüsse mit Fischereien und Mühlwerken, Seen etc. Lauter Ansprüche, die wohl schon früher einmal anklingen 19, aber doch nun erst recht deutlich und systematisch ausgeführt werden. Gustav stellte sogar die Ansicht auf, als wenn alle steuerbaren Höfe eigentlich auf Kronland errichtet wären und ihren Bauern wegen schlech- ter Wirthschaft etc. genommen werden könnten. Welche Handhabe für Grundsteuern und Wirthschaftspolizei ! Dahin gehören ferner die An- sprüche des Staates auf die Erbschaft ausgestorbener Familien20: in je- ner Zeit der Fehden und Seuchen finanziell weit bedeutsamer, als wir heutzutage meinen, zumal auch das jus albinagii den König als Patron der Fremden zum Erben ihres Nachlasses machte. Das Recht des Staa- tes auf gefundene Sachen, zu denen kein Eigenthümer nachweislich war, [droit d'epaves), auf Schätze : damals wiederum finanziell sehr bedeutend, weil die herrschende Unsicherheit so häufig Schätze vergraben liess ; die Regalerklärung der bergmännischen Fossilien , der jagdbaren Thiere, in Preussen des Bernsteins, in Brasilien der Diamanten, in warmen Län- dern auch wohl des Schnees etc. 21 ; endlich noch das Strandrecht und der nicht selten auftauchende Anspruch, dass selbst das Meer dem Kö- nige gehöre. (Mare clausuni der Stuartischen Zeit !)

Wie schon bei dieser zweiten Gruppe die rein fiscalischen Zwecke wesentlich controlirt und gefördert wurden durch wirthschaftspolizeiliche Gedanken, so beruhet eine dritte Gruppe von Massregeln darauf, dass sich die Regierung für ihre eigentlich politische Thätig-

49) In dem angeblichen Gesetze von Helyandsholm : 4288; vgl. Geijer Scbwed. Gesch. II, S. 404 ff. 248 ff.

20)In Frankreich droit de desherence; daneben noch droit de bdtardise, Recht auf die Verlassenscbaft solcher Bastarde, die ohne eheliche Nachkommen starben.

24) Von Sicilien vgl. Brydone Letter 8; von Portugal: Link Reise III, S. 123; von Mexico : Humboldt Neuspanien V, S. 2 ; vom Kalifate : Stüve Handelszüge der Araber, S. 4 64.

288 Wilhelm Rösche*, [26

keit von denjenigen bezahlen l&sst, welche zunächst damit in Be- rührung kommen. Am Schlüsse des Mittelalters war dies um so na- türlicher, als gerade damals die Ansprüche des Volkes an den Staat, folglich die Kostspieligkeit des Staatsdienstes selbst immerfort wuchsen. Zugleich aber leitete es die spätere Vorherrschaft der Besteuerung im Staatshaushalte um so natürlicher ein, als ja nach Grundsätzen des Mit- telalters die Steuern regelmässig eine Zahlung waren, durch welche der Unterthan eine ganz bestimmte, äquivalente Gegenleistung des Staates erkaufte. Hierher gehört nun zunächst der Antheil des Herrschers an der Kriegsbeute, d. h. also die fiscalische Nutzung der Kriegshoheit. So- dann der Verkauf von Privilegien, Titeln und Aemtern : der erste sehr gewöhnlich schon im Zeitalter des blühenden Lehnstaates B, der letztere namentlich im 15. bis 17. Jahrhundert verbreitet, als die gänzlich ver- alteten Lehnsämter durch die Anfänge des neuern Beamtenwesens er- setzt wurden. In Frankreich schätzte man den Gesammtwerth der ver- kauften Staatsämter 1614auf200Mill.Livres, 1664 auf beinah 800MH1. In der Zeit von 1 691 bis 1709 wurden aus Finanzverlegenheit mehr als 40000 neue Kaufämter geschaffen ; und die Nationalversammlung be- rechnete bei Aufhebung des ganzen Instituts allein die gerichtlichen Stel- len zu 800 Mill. M Wenn man zu Gunsten dieses Aemterkaufsystems sei- nerzeit anführen konnte, dass es die Unabhängigkeit der Beamten ge- genüber dem sonst ganz willkürlichen Absolutismus gefördert hat, so wurde ihm dagegen auf dem französischen Reichstage von 161 4 haupt- sächlich vorgeworfen , dass es eine Art von Domänenveräusserung ent- halte. — Hierher gehörten ferner die Abgaben, welche der Staat un- mittelbar für den Schutz von Leben und Eigenthum forderte, nach Art einer Assecuranzprämie. So die Geleitrechte zu Lande und zu Wasser, aus denen sich nicht bloss unmittelbar die Meerengen - und Stromzölle als zeitwidrige Ueberreste erhalten haben, sondern auch mittelbar, durch zeitgemässe Umformung, die neueren Gränzzollsysteme hervorgegangen sind. So die Marktzölle für Handhabung des Marktfriedens, die Juden-

22) Richard Löwenherz erklärte vor seinem Kreuzzuge, das grosse Staatssiegel sei verloren gegangen, daher müsse sich Jedermann seine Privilegien etc. für Geld neu bestätigen lassen.

23) Vgl. Forbonnais Reekerches et con&iderations sur les finances de la France I, p. U0 ff. 3S9. Chaptal De Industrie Fran$oi$e 11, p. 332. v. Sybel Gesch. der Revolution I, S. 198.

* 7] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 289

schutzgelder24 für das Patronat dieses heimathlosen Volkes u. dgl. m. Hierher gehören endlich die zahllosen Einkünfte von der Gerichtsbarkeit, die zum Theil in Privathände verönssert wurden, aber doch regelmassig in der Hand des Staates blieben. So die Geldstrafen und Vermögens- confiscationen, ein natürlicher Uebergang aus dem Bussysteme des Mittelalters in das neuere Strafsystem. Für Dänemark hat am Schlüsse des Mittelalters das Hecht, in einem gewissen Sprengel die Strafgelder einzukassiren , das Hauptmoment gebildet , woran sich das Aufkommen der Aristokratie und die völlige Unterdrückung der freien Bauern knüpfte. In Schweden belief sich unter K. lohann das Staatseinkommen aus den Geldstrafen fast höher, als das aus den Steuern25. In Böhmen ist zu Anfang des dreissigjährigen Krieges der grösste Theil des Nationaladels durch Güterconfiscationen26 zu Grunde gerichtet. In England haben während der Bürgerkriege des 1 7. Jahrhunderts die von beiden Seiten willkürlich erpressten Geldstrafen eine fast noch grössere Bedeutung27. Das Recht, welches Karl I. in Anspruch nahm, durch Proclamation eigenmächtig Verordnungen erlassen und deren Uebertreter sodann ver- mittelst seiner Sternkammer beliebig an Gelde strafen zu können, wäre factisch einem ganz freien Besteuerungsrechte gleichgekommen. In Frankreich haben vornehmlich die Chambres ardenles eine grosse Rolle gespielt, ausserordentliche Commissionen, um die Verbrechen der Fi-

24) Von der Bedeutung dieses Regals mag es eine Vorstellung geben, dass in England binnen 7 Jahren (von 50. Henry KL bis 2. Edward I.) nach jetzigem Gelde 1260000 £. St. von den Juden erpresst sein sollen. (Anderson Origin of Commerce, a. 1290.) Hieraus erklärt sich das £ dictum Bavillense von 1392, dass Juden, welche sich taufen Hessen, zuvor ihr Vermögen an den Staat abtreten sollten, »damit der Teufel nichts mehr an ihnen hätte.«

25) Geijer Schwed. Gesch. II, S. 207.

26) Insgesammt meistens zu 40 Mill. Fl. geschätzt.

27) Lord Strafford beförderte in Ireland die Confiscationen besonders dadurch, dass er den Richtern 20 Procent der erstjährigen Einnahme von allen eingezogenen Gütern verbiess, dagegen Geschworaen, die sich der Hülfeleistung weigerten, durch Einsperrung zu Geldbussen von bis 4000 £. St. zwang, (v. Raumer N. Geschichte V, S. 29. 53. 126. 450. 244. 320. 336.) Die Zeit von 1640 bis 4659 würde nach früherem Masstabe an Steuern etwa 4 0 Mill. £. St. gekostet haben. In der Wirk- lichkeit aber trieb man ein: durch Geldbussen der Royalisten 1305000 £., durch Gütereinziehungen 6044000, durch Vergleich statt der Einziehung 4 277000, durch Verkauf von Domänen und Kircbengütern 25380000 £ St. {Ungar d Eist. of England XI, p. 347.

290 Wilhelm Röscher, [?8

nanzbeamten zu untersuchen und äusserst willkürlich mit Geldstrafen zu belegen. Colbert wusste auf diesem Wege 1662 und 1663 den sog. Partisans mehr als 70 Mül. Livres abzupressen. Freilich meinten Kenner, die Art dieses Verfahrens gebe den Finanzbeamten fast ein Recht des Unterschleifes % ; so dass man es mit dem türkischen System vergleichen könnte, die Paschas erst sich vollsaugen zu lassen und dann in den grossherrlichen Schatz auszudrücken! Auch die Behördensporteln waren zu jener Zeit, verglichen mit den Kosten der Behördenverwal- tung, sehr viel bedeutender, als auf späterer, höherer Kulturstufe. Ich erinnere nur an die Geringfügigkeit der festen Besoldung selbst für die höchsten Beamten damals, so dass z. B. in Bacos Zeit der Attorney- General 6000 £. St. jährlich einzunehmen hatte, wovon bloss 81 6 8 unmittelbar vom Staate kamen; der Lordkanzler 10 15000 £. St., worunter gar keine feste Besoldung 29. Oft wurden Staatsleistungen den Unterthanen förmlich aufgezwungen, nur um die Gebühren dafür heben zu können30. Die Bezahlung für Dispensation von einem Gesetze ist insofern zu billigen, als wirklich manche allgemeinen Gebote und Ver- bote persönliche Ausnahmen zulassen, und hier die nöthige causae cogni- tio Beamtenarbeit im Privatinteresse herbeiführt, auch durch angemes- sene Bezahlung derselben vom blossen Queruliren abgeschreckt werden mag. Aber freilich, wenn solche Dispensgelder einen bedeutenden Po- sten der Staatseinnahme bilden , so ist das immer ein Zeichen entweder despotischer Zuvielgesetze, oder anarchischer Zuweniggesetze. Man kennt die unermessliche Bedeutung, welche dieser Gegenstand im 1 5. und 1 6. Jahrhundert für die päpstlichen Finanzen gehabt hat, wo er gar auf rein geistliche Gesetze ausgedehnt wurde und durch solchen Miss- brauch ganz wesentlich beigetragen hat zum Ausbruche der Refor- mation 31.

38) Vgl. das sog. Testament polüique de Richelieu l, p. tt%. II, p. U3 ff.

29) Die berüchtigte Bestechungsgeschichte Bacos war ein Theil von der Ueber- gangskrise aus der Besoldung der Richter m fees zu der Besoldung in salary. (Athe- naeum 28. Jan. 1860.)

30) So die droits de poids et de easse zu Marseille, indem eine von den Kaufleu- ten freiwillig errichtete Wage, die Streitigkeiten entscheiden sollte, nachmals in die Hände des Staates gerieth, worauf alsbald die Gebühren verdoppelt und ein allgemei- ner Zwang, alle Packete über 3 6 Pfd. wiegen zulassen, eingeführt wurde. {Forbon- nais Finances de France /, p. 359.)

3 1 ) Vgl. besonders H u 1 1 e n s Vadiscus.

29] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 291

Die vierte Gruppe endlich besteht aus den Gewerbe- und Han- delsgeschäften des Staates, welche gewöhnlich mit dem Vor- rechte des Alleinbetriebes versehen waren, wobei es aber filr das fisca- lische Princip gleichgültig ist, ob sie unmittelbar durch Staatsbehörden, oder im Namen des Staates durch concessionirte Privaten , Pächter etc. verwaltet wurden. Ihrem Grundgedanken nach beruhet diese Gruppe auf einer Gombination aller drei früher besprochenen : abgesehen davon, dass schon die Naturalwirtschaft der Domänen, sowie die Naturalerhe- bung der Steuern dem spätem Mittelalter manche Zweige von Staats- handel sehr nahelegen mussten 32. Ein Grundherr, also auch das Doma- nium, wird leicht daran denken, die auf seinem Boden zu treibenden Gewerbe sich selbst oder seinen Leuten vorzubehalten. Wo der Satz : Nulle terre sans seigneur, wirklich ganz oder annäherungsweise durchge- führt ist, wo mithin das vornehmste Gewerbe des Volkes, die Landwirt- schaft, nur auf Grund einer Art von Staatsconcession getrieben werden kann : da liegt es nahe, dieselbe Abhängigkeit auf die Industriegewerbe zu übertragen. Bei vielen Gewerben machte sich dies um so leichter, als sie eben ganz neue Gewerbe waren, ihr Betrieb folglich eine Art herrenloses Gut und ihre Regalisirung für kein vorhandenes Interesse eine Verletzung schien. Dieser Umstand hat noch im 16. und 17. Jahr- hundert grossen Einfluss gehabt bei der Entstehung des Postregals, des Lotterieregals, des Regals der Zettelbanken, bei der Staatsmonopo- lisirung so vieler Handelszweige mit neuentdeckten Ländern, dem ita- lienischen Regale des Kornhandels im Grossen u. dgl. m. * Die meisten dieser neuen Gewerbzweige empfahlen sich jener Zeit schon dadurch für den Staatsbetrieb, dass die Privatindustrie noch zu unreif schien, um sie zu übernehmen, und man doch keine Zeit hatte, auf deren Reife zu warten34. Hierzu kommen alsdann polizeiliche Rücksichten. Bei man-

32) Auch das Droit de prise hat in Frankreich wie in England oft zum Verkaufe der im Uebermasse requirirten Waaren geführt; vgl. Sismondi Hut. des Francais All, p. 225. 268. Bacon Spech againt purveyors : Works IV, p. 305 fg.

33) Unter Clemens VII. steigerte die Annona den Kornpreis zu Rom auf das Drei- fache. In Neapel wurde dies Regal 1540 ff. so gehandhabt, dass man in guten Jah- ren schlechteres Brot hatte, als früher die Armen während einer Theuerung. (Sis- mondi Gesch. d. ital. Republiken XV, S. 454. XVI, S. 4 94.)

34) Als die Florentiner ihren Seehandel begannen, vermietbete die Regierung die Schiffe dazu an den Meistbietenden; erst seit 4 480 freie Concurrenz.

292 Wilhelm Roschbh, [30

chen Gewerben scheint der Privatbetrieb noch jetzt gemeingefährlich, worauf u. A. das Münzregal beruhet, das freilich bei noch unausgebil- deter volkswirtschaftlicher Einsicht nur zu leicht in ein beliebiges Mttnz- verringerungsrecht ausartet. Das Tabaksregal ist in vielen Staaten un- mittelbar aus den polizeilichen Luxusverboten hervorgegangen35. Bei anderen Gewerben war doch in jener Zeit das nöthige Zutrauen der fernwohnenden Abnehmer nur durch Aufsicht, Stempel etc., überhaupt Intervention des Staates mit seiner publica fides zu erreichen. Ueberall herrschte bekanntlich gegen Schluss des Mittelalters und im Anfange der neuern Zeit die Ansicht, dass obrigkeitliche Taxen nötbig wären, um das Publicum vor Uebervortheflung zu schützen. Hierzu kam noch die un- unterbrochene Schutzbedürftigkeit der Gewerbetreibenden in einer Zeit, wo die corporative Selbsthülfe des Mittelalters nicht mehr passte, und gleichwohl die neuere Rechtssicherheit noch keineswegs durchgebildet war. Hiermit hängt z. B. das vormals so häufige Vorkaufsrecht des Landesherrn an allen eingeführten Waaren zusammen 36 ; ebenso das Re- gal der Umwechselung ausländischer gegen inländische Münzen. (Jus cambii, recatnbii et excambii,) v Es ist ein Hauptgedanke des sog. Mer- cantilsy stems , dass auch der Staat allerlei Gewerbe treiben soll und seine Industrialbehörden zugleich polizeilich über den entsprechenden Privatbetrieb die Aufsicht führen. In Frankreich wurde 1 577 aller Han- del für droit domanial erklärt ; daher sich die Kaufleute in Gilden verei- nigen und für die Erlaubniss, noch ferner zu handeln, bedeutend zahlen sollten. Acht Jahre später ward dieselbe Massregel auf die Gewerbe ausgedehnt. Gleichzeitig hielt sich die englische Elisabeth befugt, jeden Handelszweig zum Staatsmonopole zu erklären. Oft wurden alle bishe- rigen Betreiber dadurch ruinirt; oft auch hatten sie nur durch eine Ab- gabe das Privilegium des Fortbetriebes zu erkaufen. Viele solcher Mo- nopolien wurden an Günstlinge der Krone verschenkt, und von diesen hernach an Fachleute verkauft. Die Regalisirung betraf u. A. Korinthen,

35) In Bayern war der Tabak noch 4 656 wegen Feuersgefahr untersagt; 1670 das Verbot aufgehoben; 4 675 der ganze Verkehr mit Tabak zum Rauchen oder Schnupfen, sowie mit Pfeifen an Kaufleute verpachtet. (Zscbocke Bayerscbe Gesch. III, S. 376.)

36) So in Russland zu Anfang des 16. Jahrhunderts: Karamsin Russ. Gesch. VII, S. 4 64.

37) Von England unter Heinrich VII. s. Bymer Foedera XIII, p. 24 6.

34] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 393

Salz88, Eisen, Pulver, Karten, Kalbleder, Felle, Segeltuch, Potasche, Weinessig, Thran, Steinkohlen, Stahl, Branntwein, Barsten, Flaschen, Töpfe, Salpeter, Blei, Oel, Galmei, Spiegel, Papier, Stärke, Zinn, Schwe- fel, Tuch, Sardellen, Bier, Kanonen, Hörn, Leder, spanische Wolle, iri- sches Garn. Vermittelst der Gontrole konnten Privatpersonen die ärg- sten Eingriffe ins Innere der Häuser machen; so dass z. B. die Salpe- termonopolisten förmliche Tribute erpressten, falls man von ihren Stall- Visitationen etc. verschont bleiben wollte 39. Man sieht, eine solche Mo- nopolisirung ist ebenso wohl eine Besteuerung, wie die höchste Accise, und in ganz besonders lästigen Formen ! Als Karl L manche Staatsmo- nopolien wiederherstellte, ward ihre Form doch insofern verbessert, als sie nicht mehr an einzelne Günstlinge, sondern an regulated companies vergeben werden sollten, und dadurch factisch einer Accise, freilich ohne parlamentarischen Consens, näher kamen 40. Doch sollen alle diese neuen Monopolien etc. 200000 £. St. roh, aber nur 4 500 £. St. rein ertragen haben ; wesshalb Lord Clarendon meint, der König habe damit nur dem Yolke zeigen wollen, dass es Thorheit sei, die notwendigen Steuern zu verweigern41.

Alle diese Regalien stehen mit der gleichzeitigen absolu- ten Monarchie sowohl negativ, als positiv im engsten Zusam- menhange. Wie ich oben von den Regalien sagte, dass sie in der Uebergangszeit vorherrschen, wo es nicht mehr genug Domänen, aber noch nicht genug Steuern giebt, so lässt sich die negative Unter- lage des Absolutismus im engern Sinne dahin formuliren: Keine mittelalterlich aristokratischen Stände mehr, aber auch noch keine mo- derne Volksvertretung; keine übermächtige Kirche mehr, aber auch noch keine starke öffentliche Meinung etc. Positiv ist das L'&tat cest moi ganz übereinstimmend mit der Ansicht Ludwigs XIV., dass der König absoluter Herr alles Privateigentums 42, der Geistlichen wie der

38) Der Salzpreis stieg in Folge dessen von 4 6 Pence pro Bushel auf 4 4 bis 4 5 Schillinge.

39) Sir S. d'Ewes Journal of both houses, (4 683) p. 644 ff.

40) Vgl. Lingard Hist. of England IX, p. 448.

44) Zu den relativ grossartigsten Beispielen eines vom Staate betriebenen Han- dels gehört das Finanzwesen der mediceischen Grossherzoge von Toscana.

42) Memoire* kistoriques de Louis XIV., II, p. 4 24. Derselbe König sagt in seiner Instruction für den Dauphin : Les roi$ sont seigneurs absolut et ont naturelkment

294 Wilhelm Röscher, [32

Weltlichen sei. Viele Staatsmänner jener Zeit hielten die Regalien sogar filr eine besonders milde Form, die Staatsbedürfnisse zu befriedigen. Das französische Edict von 1616, welches die Flusszölle verdoppelte, setzt in merkwürdiger nationalökonomischer Verblendung hinzu : pour soula- ger le peuple. Und noch ein Mann, wie Forbonnais, war der Ansicht, die Staatseinnahme aus dem Aemterverkauf drücke das Volk gar nicht43. Hierin liegt wenigstens die Wahrheit, dass die Last der Regalien nicht so allgemein und gleichmässig empfunden wird, wie die eines guten Steuersystems: freilich die schwerste Verurtheilung der ersteren vom Standpunkte des wahren Staatsrechtes und Volkswohles, aber doch vor- übergehend eine grosse Empfehlung für den Absolutismus, nach dem Grundsatze : Divide et impera. Auch die schrankenlose Willkürlichkeit und Volksbevormundung, welche uns bei dem Regaliensysteme zunächst Anstoss geben, waren im Zeitalter des Absolutismus für den Herrscher geradezu erwünscht, für die Unterthanen wenigstens erträglich, bei dem tiefen Misstrauen, welches damals alle Welt gegen die ausgearteten mit- telalterlichen Freiheiten (Vorrechte) zu hegen begann, während die moderne Freiheit kaum geahnt wurde. Die vielen kleinen Status in Statu waren unhaltbar geworden, und der grosse Staat hatte eben noch keinen andern Vertreter, als die Krone. So finden wir denn bei dem Absolutismus aller neueren Völker dieselbe charakteristische Wichtigkeit der Regalienwirthschaft. In Italien schon am Schlüsse des 1 5. Jahrhun- derts, wovon z. B. die Zeitgenossen Commines (Memoire* VII, 13) und Machiavelli (Discorsi III f 29) reden44; ganz besonders aber seit der spa- nischen Herrschaft. Ebenso im spanischen Hauptlande, sowie in des- sen amerikanischen Besitzungen45; in Russland46; auch in Schweden

la disposition pleine et Ubre de tous les biens, qui sont possedes. Desgleichen Louvois in seinem politischen Testamente : Tous vos sujets, quelsqu'ils soient, vous dowent leur personne, leurs biens, leur sang, sans avoir droit de rim pretendre. En vous sacrifiant tout, ils ne vous donnent rien, puisque tout est ä vous.

43) Finanees de France I, p.!8i. 440 ff. So vertheidigte in England Fabian Philips das Regal der purveyance and Preemption vor seiner Aufhebung (1 663) in der Schrift : The antiquity, legality, reason, duty and necessity of p. and p. for the king, the smaU Charge and burthen thereof to the people etc.

44) Vgl. Sismondi Gesch. der ital. Republiken XI, S. 523 ff. 354. XIII, S. 265.

45) Vgl. Townsend Journey through Späth. IL p. 231 ff. Humboldt Neu- spanien V, S. 2 ff. 38.

46) Vgl. Karamsin IX, S. 284 mit Herrmann Russ. Gesch. III, S. 342. 540.

33] Aeltebe deutsche Nationalökonomie. 295

während des 16. und 17. Jahrhunderts, wo so kräftige und fast erfolg- reiche Versuche zur absoluten Monarchie gemacht wurden47. Wie in Frankreich das Pariser Parlament zur Zeit der Fronde auf Beseitigung dieser regalistischen Finanzwirthschaft drängte, so wurden umgekehrt in England unter Elisabeth und den beiden ersten Stuarts eine Menge eingeschlafener Regalien wieder aufgeweckt, als die Krone bei ihrem Streben nach Absolutismus das parlamentarische Steuerrecht umgehen wollte. Ja selbst andere Formen der unbeschränkten Monarchie, die mit dem vorzugsweise sog. Absolutismus nur mehr oder minder Aehn- lichkeit besitzen, wie z. B. der orientalische Sultanismus, die abendlän- dische Militärdespotie (Cäsarismus), welche der ausgearteten Demokratie zu folgen pflegt, haben dieselbe Vorliebe für regale Finanzquellen. Wir sehen dies im Alterthume bei den griechischen Tyrannen der spätem Art48; mehr noch bei den römischen Imperatoren, wo es z. B. 29 Ver- brechen gab, die Vermögensconfiscation nach sich zogen, darunter das unendlich weite der laesa majestas 49. Wir sehen dasselbe im merkwür- digsten Grade bei Napoleon I. M

In die deutschen Finanzen ist der Regalismus viel später und im Ganzen auch weniger tief eingedrungen, gerade wie der Absolutismus. Dieselbe Mittelstellung der meisten deutschen Landesherren zwischen grossen Reichsunterthanen und souveränen Staatsoberhäuptern, welche die Macht ihrer Landstände bis zum dreissigjährigen Kriege und länger lebendig erhielt, beugte der Verschleuderung ihres Domaniums vor. In

724 und der Darstellung aus Gesandtschaftsberichten Gustav Adolfs bei G ei j er Hl, S. 99.

47) Ueber Gustav Adolf in dieser Beziehung s. Geijer Iü, S. 55 ff.

48) Auch bei den früheren, die genauer unserem Absolutismus am Schlüsse des Mittelalters entsprechen; vgl. Aristot. Oeconom. //, passim.

49) Vgl. Naudet Des ehangements dans l'administration de tempire R. sous Dio- cletien, I, p. 4 95.

50) Napoleon führte das droit daubaine und den Abschoss wieder ein. An der Strafe der Vermögensconfiscation hielt er so fest, dass er sie auch in seinem Acte adr- düionel von 4 84 5 nicht aufgeben wollte. Bei Creirung des neuen Majoratadels ward

eine Gebühr von 20 Procent der einjährigen Einkünfte an den Siegelrath gefordert. |

Wie Napoleons Cautionen für aller Art Aemter, selbst Gewerbe, deren Betrag er be- !

liebig erhöhete, deren Zinsfuss er beliebig herabsetzte, dem alten Aemterverkaufe ent- sprechen, so ist sein Verfahren gegen den Lieferanten Ouvrard (Ouvrard Memoires 1, 64 fg. Bourrienne Mem. VII, 6) gegen Bourrienne etc. [Memoires de Lasca- s es II, 34 4) ganz ein Wiederauffrischen der alten Chambres ardentes. \

Abhandl. d. K. 8. Oet. d. WiM. X. *0

296 Wilhelm Röscher, [34

Preussen z. B. hat erst der grosse Kurfilrst, unter heftigem Widerspruch der Stande, das Salzregal eingeführt, desgleichen eine Art von Aemter- verkauf; Friedrich Wilhelm I. beides wesentlich verschärft, Friedrich d. Gr. endlich gegen 500 verschiedene Waaren zum Gegenstande seines Staatshandels gemacht. Aus anderen Ländern ist im 1 8. Jahrhundert namentlich der Aemter verkauf des mecklenburgischen Karl Leopold und des bayerschen Karl Theodor bekannt, sowie auch das berüchtigte Fi- nanzsystem des luden Süss in Württemberg ein wesentlich regalistisches war51. Zu den schlimmsten Anwendungen des Regalismus im 18. Jahr- hundert gehört die Soldatenvermiethung an England oder Holland, welche von Hessen-Kassel und Braunschweig in einem, selbst popula- tionistisch, schwer begreiflichen Extreme geübt wurde: dort bis zu 12600, hier bis zu 4300 Mann auf einmal! Oder auch die holländisch- französische Zahlung von 9y2 Millionen Fl., wofür sich ein Herrscher, wie Joseph IL, die Fortdauer der Scheidesperrung gefallen liess. Aber in Obrechts Zeit waren es nur ganz wenige deutsche Fürsten, welche an dem Regalsysteme, wie es damals in Frankreich, England und Italien blühete, wirklich Gefallen hatten. Am meisten noch der Erzbischof von Salzburg seit 1 587 52 ; einigermassen auch Württemberg, wo das früh- zeitige Ausscheiden des Adels aus dem Landesverbände die Regalisirung erleichterte 53.

Indess, wie gesagt, die Mehrzahl der praktischen und theoretischen Staatsmänner im damaligen Deutschland war nicht für den Regalismus eingenommen, dessen System wir in Obrechts Zeit als ein wesentlich ausländisches dem deutschen gegenüberstellen können. Man darf aber die vielseitigen Verbindungen des südwestlichen Deutsch- lands, wo Obrecht lebte, mit Frankreich, England und Hol- land nicht übersehen. Schon damals konnten sich die Tieferblickenden

54) In Mecklenburg scherzte man seit 4 742, wo so viele Pfarren meistbietend verkauft wurden, dass die Prediger mit Recht ihre Zuhörer »theuer erkaufte Seelen« nennen könnten. (Boll Meckl. Gesch. II, S. 4? 5.) Im bayerschen Addresskalender von 4799 haben die meisten Beamten gleich ihre Nachfolger neben sich verzeichnet stehen, weil die Anwartschaft darauf verhandelt war. (Perthes Deutschland zur Zeit der französ. Herrschaft, S. 441.)

52) Vgl. Ranke Päpste II, S. 133.

53) Sogar allgemeines Schäfereiregal in Württemberg seit dem 4 6. Jahrhundert, das erst 1828 aufgehoben wurde.

35] Abltbre deutsche Nationalökonomik. 297

immer weniger täuschen über das Herannahen der grossen Krisis, die im dreissigjährigen Kriege ausgefochten wurde. Immer schwächer wur- den auf beiden Seiten die vermittelnden Elemente : solche Katholiken, wie Kaiser Max IL, und solche Protestanten, wie die Lutheraner der Goncordienformel. Dagegen verschärften sich auf beiden Seiten die Ultras, und wie die katholischen immer enger an Papst und Spanien festhielten, so die calvinischen an den Generalstaaten, Heinrich IV. und England. Eine welthistorisch .wichtige Folge der Thatsachen, dass Calvin kein Deutscher gewesen war, und seine Kirche damals, bei wachsender Verknöcherung der lutherischen, alle treibenden Kräfte des Protestan- tismus beinahe ausschliesslich und deshalb ohne gehöriges Gegenge- wicht in sich vereinigte. Schon 1 594 hatten die zu Heilbronn versam- melten Bundesgenossen, Kurpfalz, Baden, Württemberg etc., Heinrich IV. Subsidien bewilligt, wofür er den brandenburgischen Bewerber des Bisthums Strassburg gegen den lothringischen unterstützen sollte. Das förmliche Bündniss der Union, das 1610 mit Heinrich IV. geschlossen wurde, hätte ohne dessen plötzlichen Tod für den ganzen Bestand des europäischen Staatensystems unberechenbare Gefahren heraufbeschwo- ren. Noch im Mai 1613 schloss die Union ein 15jähriges Bündniss mit den Generalstaaten. Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, dessen böh- mische Thronbesteigung zum Ausbruch des dreissigjährigen Krieges führte, war der Sohn einer Prinzessin von Oranien, der Schwiegersohn des Königs von England. Dessen vornehmster Rathgeber, Christian von Anhalt, war früher in französischen Diensten gewesen, und hat seine Französirung u. A. dadurch bethätigt, dass er seinen amtlichen Bericht über die verlorene Schlacht am weissen Berge in französischer Sprache schrieb ! Von allen diesen Bewegungen war nun Strassburg mit sei- ner blühenden Universität, Obrechts Wohnsitz, aufs Lebhafteste mit er- griffen : ich erinnere beispielsweise nur daran , dass der vermählte und protestantisch gewordene Erzbischof von Köln, Truchsess von Waldburg, dessen Vertreibung lange Zeit einen Hauptstreitpunkt der grossen con- fessionellen Parteien gebildet hatte, und der eben deshalb mit Frank- reich und England im wichtigsten Verkehr gestanden, zu Strassburg 1601 nach langjährigem Aufenthalte als Domherr starb.

Als eine in mancher Hinsicht lehrreiche Folie von Obrecht mag Hippolytus a Gollibus dienen. Geboren 1561 zu Zürich, war er

20*

298 Wilhelm Röscher, [36

der Sohn eines italienischen Edelmannes, der um seines protestantischen Glaubens willen auswandern musste. In den Jahren 1 584 bis 1 591 lebte er als Professor der Rechte abwechselnd in Basel und Heidelberg. Um 1591 trat er als Kanzler in die Dienste des vorerwähnten Christian von Anhalt, der ihn zu Gesandtschaftsreisen nach England, sowie an viele deutsche Höfe gebrauchte. Seit 1 593 aber finden wir ihn bis an sein Lebensende wieder in kurpfälzischen hohen Aemtern. Er starb 1612.

Hippolytus schrieb ausser mehreren , civilistischen Arbeiten 54 fol- gende politische Werke: Nobilis (1 589 ;) Princeps, (1592) dem »heros« Christian von Anhalt gewidmet; Palatinos $. au licus, (1595) eine Schil- derung, wie der Hofmann etc. gebildet werden, gesinnt sein und han- deln müsse : lauter Dinge, die in sehr gemeinplätzlicher Weise aus dem Alterthume belegt werden. Sein Hauptbuch, das zu damaliger Zeit grossen Ruhm erlangte, Incremenla urbium s. de causis magnitudinis ur- bium (Hanau, 1 600), erinnert bloss durch den Titel und zu seinem eige- nen grössten Schaden an das kurz vorher erschienene Meisterwerk Bo- teros. Kein Gedanke an die vortreffliche Handels- und Bevölkerungs- theorie des letztern ! M Nur ganz äusserlich und mit allerlei klassischen Reminiscenzen aufgeputzt, reden hier 24 Kapitel vom Ursprung der Städte, von ihrer Lage und Gesundheit, von der Fruchtbarkeit des Bo- dens, der Schönheit der Umgebungen, von den Wasserverbindungen, der Befestigung, der Bequemlichkeit und Pracht, den Heerstrassen und Gränzstädten, den Badeörtern, Bergstädten, Universitätsstädten, Haupt- und Residenzstädten, Sitzen des Adels, Handelsstädten, Gewerbestädten; vom Zuwachs durch leichte Ertheilung des Bürgerrechts, durch Begün- stigung der Ehen, durch Asyle, Schauspiele etc. ; zuletzt noch de urbi- bus, quae aerario Student, quae annonae prudenler curam gerunt, de iis quae diversa oppida in unum contrahunt vel vicinas urbes diruunt, de urbium le- gibus et politeia, de urbibus nonnullis, quae ad summam magnitudinem per- venerint. Der Abschnitt de politeia ist nur eine ganz oberflächliche dem Aristoteles nachgehende Notiz, wie man Demokratien und Aristo- kratien anders behandeln müsse , als Monarchien. Ebenso wenig kann

54) Vgl. Jugler Beiträge zur juristischen Biographie III, S. 495 ff.

55) In seinem 4 7. Kapitel (von der Ehe) räth Hippolytus ganz einfach, dass der Staat die Ehen befördern soll. Dass ein sehr frugales und wohlfeiles Leben zur Volks- vermehrung anreizt, begreift er nur, sofern es sich um das Leben der Kinder handelt. (Princeps, p. 4 60.)

\

37] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 299

Hippolytus mit der Idee anfangen, dass auch die Staaten, wie die Indi- viduen, ihre Kindheit, Jugend, ihr Alter etc. haben. (Princeps, p. 175.) Vor allen Wirtschaftszweigen lobt er den Ackerbau : nulla ars locuple- tandae reipublicae utilior et honeslior. Deshalb soll der Fürst, und zwar ganz allgemein, durch Lohn und Strafe zum Anbau jedes Grundstückes veranlassen. (Princeps, p. 150.) Uebrigens versteht Hippolyt seine al- ten Klassiker in diesem Punkte so wenig, dass er die bekannten Abstu- fungen des Cato hinsichtlich des Ertrages der verschiedenen Boden- benutzungsarten (vineae, horlus irriguus etc. : Cato R. R., c. 1.) als Eigen- schaften eines guten Ackers deutet. (Incrementa urbium, p. 18.) Beim Gewerbfleisse warnt er vor monopolia, factiones et conjurationes, praetextu societalum, empfiehlt dagegen Schauanstalten. (Ibid. p. 65.) Zur Beför- derung des Handels räth er Börsen, Messprivilegien, eigene Handelsge- richte, (summarie et de piano administrari et bona fide conservari,) end- lieh Verleihung einer gewissen Beweiskraft an ordentlich geführte Han- delsbücher. (Ibid. p. 58 ff.) Man sieht, er ist damit seiner Zeit zwar nicht voraus, aber doch von den besten, damals noch keinesweges all- gemein gewordenen Neuerungen wohl unterrichtet. Die Schiffahrt hält er nicht bloss für nützlich, sondern für nothwendig : vix credibile, quan- tum maritimis subvectionibus regna ditescant. (Princeps, p. 1 51 .) Im Korn- handel strenges Wucherverbot M und grossartig entwickeltes Staatsmaga- zinwesen, nach Art der venetianischen Annona. (Incrementa urbium, p. 88 ff.) Wo Hippolytus das Geld mit den Nerven vergleicht, ist damit doch nur eine humanistisch-bellettristische Ausdrucksweise filr Steuern gemeint. (Ibid. p. 82 ff.) Er warnt dabei nur ganz gemeinplätzlich vor drückenden Steuern, deren Ertrag alsdann vergeudet wird ; räth auch* neue Ansiedler einstweilen damit zu verschonen. Ein sehr auffallender Gegensatz zu Obrecht, mit dem er sonst beinahe ganz auf demselben geistigen Boden steht, ist seine Abneigung gegen Aemterverkauf : nullum mercaturae genus sordidius et damnosius, quam honorum magistra- tuumque mercatura. (Princeps, p. 174.)57

56) Selbst ein Volkswirth wie Kurfürst August von Sachsen hatte 1583 alles Auf- kaufen von Getreide in reichen Jahren »auf Theuerung«, als der christlichen Nächsten« liebe zuwider, verboten. (Cod. August. I, S. 144.)

57) Dies erinnert an Bodinus' Wort über den Verkauf so vieler Finanzämter in Frankreich : de rebus omnibus absurdissimis nulla mihi absurdior visa est. (De rep. VI, 2, p. 1018. 1062.)

300 Wilhelm Röscher, [38

III,

Die Anfänge der systematischen Volkswirtschaftslehre.

Vom Leben des Jacob Bornitz kann ich ausser seiner schrift- stellerischen Thätigkeit nur anführen, dass er, geboren zu Torgau, spä- ter als Doctor der Rechte und kaiserlicher Rath zu Schweidnitz lebte. Bei den Kaisern Rudolf IL und Matthias scheint er in Sachen der öko- nomisch-juristischen Verwaltung etwas gegolten zu haben : wenigstens rühmt er sich, ihre regalia, feuda, privilegia et reservata seien ihm com* missa et concredita gewesen. Sein Werk De verum sufßcientia ist Kaiser Ferdinand IL gewidmet1. Gleichwohl litt er, ohnehin kränklich, im dreissigjährigen Kriege viel Noth durch die Soldaten, die ihm z. B. seine Bibliothek raubten 2. Sein Leben war übrigens nicht lang genug, um alle seine wissenschaftlichen Pläne zu vollenden : an mehreren Stellen seiner Bücher verweist er auf künftige Erörterungen, von denen mir nichts weiter vorliegt.

Bekanntlich hat Schlesien während des 17. Jahrhunderts relativ seine höchste Literaturblüthc gehabt : die Mehrzahl der in Deutschland jenerzeit hervorragenden Dichter etc. gehört der schlesischen Schule an. Ich gedenke nur der Opitz, Andreas und Christian Gryphius, Tscherning, Scultetus, Heerman, Logau, Hoflmannswaldau, Lohenstein, Assmann von Abschatz, Neukirch, Schmolke, Angelus Silesius bis auf Joh. Christ. Gün- ther herab. Die Uebersiedelung unseres Bornitz von Sachsen nach Schlesien kann auch als Beitrag zu dieser Uebertragung des geistigen Principats von einer Landschaft auf die andere betrachtet werden.

Volkswirtschaftliche Bücher hat Bornitz drei verfasst. Zuerst De nummis in republica percutiendis et comervandis, Libri //, ex systemate po- lilico deprompti: nach II, 9. am 15. Julius 1604 vollendet, aber erst 1608 zu Hanau erschienen. Die Quartausgabe, die von mir benutzt worden ist, zählt 1 02 Seiten. Hierin wird die Lehre vom Geld- und Münzwesen, zu- gleich aber auch die obersten Grundsätze der Volks wir thschafts- und Han- delspolitik im Allgemeinen vorgetragen. Sodann seine Finanz Wissenschaft :

\) Freilich daneben auch allen den Königen, Fürsten, Herren, Reichsstädten etc.. welche, jeder in seinem Gebiete, rerum sufficienUae invigilant. 2) Vorrede des eben genannten Werkes.

39] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 301

Aerariwn s. tractatus polüicus de aerario sacro, civili, militari, communi et sacratiori, ex reditibus publicis, tum vectigalibus et collationibus singulo- rum ordinariis et extraordinariis conficiendo, X. libris summatim et brevi- ter comprehensus. Zu Frankfurt 1612 in 94 Quartseiten erschienen. Dies ist überwiegend3 nur eine Aufzählung von Gegenständen, ein Fachwerk, das jeder Leser durch Eintragung seiner eigenen Notizen ausfüllen soll, (Vorrede) bedeutsam durch seine systematische Vollständigkeit, aber ohne viel Eindringen in die Tiefe. Ganz dasselbe gilt von der dritten Schrift: Tractatus polüicus de rerum sufficientia in republica et civitate procuranda, (Frankfurt 1625, 253 Seiten klein 40.)4 welche zu Frankfurt a. 0. 1622 im Laufeines einzigen Monates verfasst ist. Der Autor hatte, wie er selbst sagt, in seinen früheren Werken die sufficientia rerum civi- lium behandelt ; jetzt will er die sufficientia rerum naturalium hinzufügen, nachdem er viel mit Handwerkern etc. verkehrt und während seiner Reisen durch Holland, England, Frankreich, Italien und Deutschland immer vorzugsweise hierauf geachtet. Er vertheidigt sich in seiner zweiten Vorrede ausführlich dagegen, als ob solche Studien eines Juri- sten unwürdig seien, wobei er gegen die herkömmliche, zu niedrige Auf- fassung des Begriffes Polüicus eifert. Generalia suppeditat politica, at specialia historia rerumpublicarum Hebraeorum, Graecorum, Romanorum cell, et hodie Romano-Teutonici Status. Uebrigens ist es nicht seine Ab- sicht, die Gewerbe des Ackerbaues, Bergbaues, der Industrie und des Handels selbst zu beschreiben, sondern nur zu lehren, quomodo hisce mediis bona naturalia in republica paranda et in usum communem dabo- randa. Also eine Art von Encyklopädie der Cameralwissenschaften, aus volkswirtschaftlichem Gesichtspunkte entworfen, deren Hauptverdienst in ihrer systematischen Vollständigkeit und Natürlichkeit 5 besteht. So werden z. B. im zweiten Abschnitte (S. 77) die opificia in solche einge-

3) Obschon es in der Vorrede heisst, der Verfasser wolle die modos licitos, qui- bus luto utendum, empfehlen, die modos illicitos verwerfen.

4) Sehr gerühmt von Besold Synopsis politica, p. 251 . Ein ähnliches Buch von Hieron y raus Marstaller De divitiis erschien als Tübinger Inauguraldissertation 1698« wohl unter Besolds Einflüsse.

5) Das Verdienst solcher Natürlichkeit erhellt am besten aus einer Vergleichung mit Hippolytus a Collibus Princeps, p. 4 49, wo die artes mechanicae, welche der Fürst befördern soll, eingetheilt werden in solche, die mit der Erde, (Landbau, Jagd,) mit dem Wasser, (Schiffahrt, Fischerei,) mit dem Feuer (fabricaria) oder mit der Luft (Vogelfang) zu thun haben !

302 Wilhelm Röscher, [40

theilt: 4) quae vitae nee non victui et sanitati inserviunt; 2) amictui et re- liquo corporis eultui; 3) habilationi et aedifieiis; 4) supellectili et instru- mentis variis domesticis; 5) militiae togatae, h. e. rei liierariae; 6)mili- tiae sagatae, h. e. bello speciatim; 7) ornatui et voluptati ; 8) lusui. Der ganze vierte Abschnitt handelt von den ministeriis, welche die Neueren als persönliche Dienste zusammenzufassen pflegen. Ueberall will der Verfasser nur durch viele Citate etc. zum Selbstudium des Ackerbaues, Gewerbfleisses, Handels etc. anleiten, und hofft auf einen Nachfolger, qui cyclum artificiorum humanorum tnethodo s. ordine concinno editurus sit. Er selbst macht das Einzelne meist sehr obenhin ab, nicht selten vermit- telst einer blossen Nomenclatur, und die zwischendurch eingestreuten Verse sind oft geradezu albern.

Ueberhaupt darf man sich die Bildung unsers Bornitz ja nicht zu hoch denken. In falsche Theologie freilich geräth er nur selten, wie z. B. De rerum sufficienlia, p. 201 bei Gelegenheit des Gartenbaues, dass uns die Gärten an Adams Fall und Christi Begräbniss in einem Garten, also an unsere Sterblichkeit und Auferstehung, erinnern sollen. Desto mehr leidet er an falscher Jurisprudenz. Unter den zahllosen unnützen Citaten, lateinischen Spruch Wörtern etc., von denen seine Bücher wim- meln, sind die meisten aus dem Corpus Juris. Die Aufhebung einer Steuer im römischen Recht hat für ihn doch immer soviel Gewicht, dass er ihre etwanige Zweckmässigkeit für die neuere Zeit dann mit ganz be- sonderer Umständlichkeit nachweiset6. Seine Philosophie ist eine über- aus pedantische , die mit der seines genialen Zeitgenossen und Lands- mannes, Jacob Böhme, nur zu ihrem grossen Nachtheile verglichen wer- den kann. So wird De nummis I, 2 zuerst von der Materie, dann von der Form des Geldes gesprochen, das letztere mit den Worten eingelei- tet : causa altera, quae dat esse, forma est. Das folgende Kapitel handelt von der constitutio, conservatio et curatio, audio und mutatio nummorum. Da heisst es u. A. : Constitutio deducitur ex causis. qualilatibus, partibus et speciebus. Inquirendum itaque est in causas nummorum, si quidem rem scire est rem per causas cognoscere, quarum quaedam essentiam ingrediun- tur nummi, (materia et forma,) quaedam nummos extrinsecus efficiunt, (ef- fectrix et finis.) Von Bornitz' historischem Geschmacke zeugt u. A. die Erzählung : Noa et Dionysius-Bacchus, qui et Bacchanalia instituit, culto-

6) Vgl. De aerario V, 13.

M] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 303

res primi habentur vinearum. (De rerum sufficientia, p. 29.) So betrachtet seine Worterklärung des Geldes pecunia, aes u. dgl. m., ohne irgendwie an den geschichtlichen Grund dieser Ausdrücke zu denken. Aus Juve- nalsl. Satire (1 4 3) schliesst er sogar auf das Vorhandensein einer Göttin Pecunia bei dei Römern ! (De nummis I, 1 .) Zu diesem Allen noch eine lästige Menge von Gemeinplätzen und Wiederholungen , sowie die ge- wöhnliche barbarische Sprachmengerei seines Zeitalters.

Gleichwohl nimmt Bornitz in der Entwicklungsgeschichte der Na- tionalökonomik , nicht bloss von Deutschland, sondern überhaupt, eine wichtige Stelle ein. Ohne hauptsächliche Entdeckungen im Einzelnen, hat er sich die gesammte volkswirtschaftliche Erkenntniss seiner Zeit in achtungswerthem Grade angeeignet, hat sie mit reicher Gelehrsam- keit (im damaligen deutschen Geschmacke!)7 verarbeitet, durch Selbst- erfahrung belebt und geklärt, und zuerst den Versuch gemacht, sie in systematischer Vollständigkeit darzustellen. Der gesunde, praktische, jedem Extrem abholde Sinn, welcher dazu erfordert wird, ist ihm durch- aus eigen, so dass er in jener halbbarbarischen Periode einen ähnlichen Platz einnimmt , wie in unserer glücklichern Zeit der ehrwürdige Rau. Solche Männer sind auch für die Fortentwickelung der Wissenschaft von grossem Nutzen, obschon dies bei Bornitz durch die Sündfluth des dreissigjährigen Krieges unterbrochen wurde. Vergleichen wir ihn mit Bodinus, wohl dem grössten Staatsgelehrten unter Bornitz' älteren Zeitgenossen, so ist der Franzose dem Deutschen unstreitig überlegen an Weite des Gesichtskreises, die Theilnahme an den Reichstagen und Gesandtschaften einer Grossmacht hatte ihre Frucht getragen! Ebenso an Feinheit (und behaglicher Breite!) der philologischen Bil- dung, wie sie bei dem Landsmanne von Cujacius, Donellus, Brissonius, Muretus, Scaliger, Thuanus, Casaubonus zu erwarten stand. Im Allge- meinen jedoch haben die beiden Männer an Persönlichkeit und Richtung viel Aehnliches, nur dass man nach heutiger Ausdrucksweise Bodinus mehr einen Publicisten, Bornitz mehr einen Cameralisten nennen möchte.

Gehen wir jetzt zur Darlegung seines Systems über.

Wie im Körper eine perpetua et mutua spirituum consumtio et resti- tutio virtute alimeniorum et sanguinis stattfindet, so im wirthschaftli-

7) Sehr gerne citirt Bornitz die Ausgabe der aristotelischen Oekonomik von Ca- merarius.

304 Wilhelm Roscheh, [42

chen Leben durch die bona, gleichsam ein alter sanguis. (De verum suffi- cientia, p. 8.)* Alle Güter werden in solche getheilt, welche animum, corpus oder fortunam betreffen9. Die notwendigen Lebensbedürfnisse (naturalia) stehen zwar den geistigen Dingen an wahrem Werthe nach, müssen jedoch vor diesen erstrebt werden, weil es zuerst auf das vivere et se sustentare ankommt, dann auf das civiliter vivere. (De nummis, I, 1 .) Die Vorzüglichkeit des Staates beruhet hauptsächlich auf einer rechten Harmonie der ftlr öffentliche Zwecke zurückbehaltenen Güter mit denje- nigen, welche Privatleuten zugewiesen sind ; wobei der Verfasser gegen die Gütergemeinschaft eines Piaton, Th. Morus u. A. eifert. (De nummis J, 4.) 10 Gleichwohl ist er von der absolutistischen Strömung seiner Zeit dermassen ergriffen, dass er dem politicus und prineeps doch eine fast hausvaterliche Gewalt zuschreibt, insbesondere praescribendo et dirigendo, quod unusquisque in domo et in urbe agere, quod genus vitae sequi, quibus modis rede et rite bona acquirere, acquisita conservare et amtiere debeal. (De rerum suff., p. 12.) Dass obrigkeitliche Taxen wünschenswerth sind, versteht sich nach damaligen Begriffen eigentlich von selbst. (Ibid. p. 246.)

Den Ursprung des Geldes erklärt Bornitz aus der Ungenüglich- keit des blossen Tauschverkehrs, obwohl er in dieser Hinsicht keinen höhern Standpunkt erringt, als den bereits Gabriel Biel und Georg Agri- cola eingenommen hatten. Aliud quidpiam legis beneficio et disposiiione politica adinveniendum fuit, quod rerum naturalium viees aequabili com- mensuratione subireU (De nummis /, 1. 4.) Auch De rerum suff., p. 10 betont die gleichzeitige Notwendigkeit der bona cpvosi (Waaren) und bona roftm (Geld) ; weil man doch Geld und Gold nicht essen kann, aber auch die Waaren allein nicht genügen, falls kein Geld vorhanden ist, womit der Eine, was ihm fehlt, zu seinem Gebrauche von Anderen er- langt. — Der Zweck des Geldes ist, die übrigen Yermögensobjecte (x(ff/ftara) zu messen und abzuschätzen, und dadurch im Allgemeinen nützlich zu sein. (De nummis I, 4.) Ebenso meint Bornitz, das Geld diene nicht per se dem menschlichen Bedürfnisse , sondern vno&iatt

8) Bornitz war ein warmer Verehrer der »Cbimiatrik«, (a. a. 0. p. 99) d. h. der von Theophrastus Paracelsus begründeten ärztlichen Schule.

9) Also ganz wie bei Agricola De pretio metallorum et monetis, in der Dedica- tion. Aehnlich schon in G. Biel Collectorium sententiarum IV, \ 5, %.

10) Aehnlich bei Bodinus De rep. V, 2.

*3] Aeltkre deutsche Nationalökonoiuk. 305

tantum constat, obwohl sein Stoff von der Natur gegeben ist. (/. c. /, 1 .) Dessen ungeachtet hebt er energisch hervor, dass jede Münze einen Stoff haben muss, der natura suat communi hominum consensu volarem et pretium in se continet. Wo dies nicht der Fall ist, da spricht er von einem Attentate gegen Recht und Billigkeit zum Schaden sowohl der Unterthanen, wie der Ausländer. Gleichwohl meint er, im Innern des Staates sei es wenigstens möglich, das Gesetz des Preises nach Belieben zu dictiren. (/. c. I, 5.) Ueberall klingt eine Ueberschätzung der obrig- keitlichen Vorschrift durch: nummus non est, quod ex auro, argento et aere est, sed quod hisce metallis potestas nummi auctoritate publica tributa est .... nummus non qyuou, sed vofim. (I. c. I, 7.) Edelsteine passen nicht zu Geldzwecken, weil sie keine Formbarkeit besitzen. (/. c. /, 5.) Als tiefsten Grund der Thatsache, dass Gold von allen Metallen das wert- vollste ist, betrachtet Bornitz die medicinische Bedeutung des aurum po* labile. (De verum suff., p. 42.) Ebenso theilt er die seiner Zeit so be- liebte Ansicht, dass die verschiedenen Metalle nur verschiedene Reife- grade eines und desselben Körpers seien, daher z. B. das Glück des Bergmanns darin besteht, weder zu früh, noch zu. spät zu kommen. (/. c. p. 40.) Doch ist er mit den übrigen Lehren der Goldmacherei durchaus nicht ganz einverstanden11. Vortrefflich erklärt er das Eupfergeld: in citri tatibus, quae auri et argenli copia destiluuntur, quarum fines non ja* eile egrediiur, ex quo nummi minimi pretii percutiendi, egenorum gratia, quum argenti etiam minima particula pretiosa sit. (De nummis /, *>.) Ebenso unterscheidet er ganz fein, das Geld gehöre zwar dem Jus Gen- tium an, sei aber doch nicht so, wie dieses, mit dem Menschenge- schlechte selbst von gleichem Alter. Ratio naturalis veluti lex quaedam

\ I ) Wo er De nummis I, 5 vom Golde als erstem Metalle spricht , fügt er hinzu : id ntmtrtim, quod ex venis metallicis natura et effossum, vel ex arenulü fluminum col- lectum. Ueber das aurum artificiale s. chymicum will er nicht entscheiden. Aehnlich De aerario II, 5. Er möchte auch keinem Fürsten rathen, den Mangel der Natur durch solche Kunst ersetzen zu wollen. Res periculi plena. Aliorum me vestigia terrent. [De nummis II, 6.) Um dies zu würdigen , darf man nicht vergessen , dass selbst Kur- fürst August von Sachsen Adept zu sein glaubte. Eo usque pervenmus, ut ex VJII ar- genti unciis auri perfcctissimi undas III singulis VI diebus eomparare possimus : mit die- sen Worten ladet er einen italienischen Adepten zu sich ein, falls dieser noch weiter gekommen sei. (Peiferi Epist., p.til.) Wie verbreitet der Alchymismus damals war, siebt man u. A. aus dem Spotte inRollenhagens Froschmeuseler (1595), sowie schon früher aus Joh. Clajus* Satire AltkumisUca etc. (1586.)

306 Wilhelm Röscher, [44

lacita cum genere humano prodiit, singula tarnen effecia eodem tempore $i- mul non prodidit. Gegen Tadler des Geldes im Sinne von Plinius d. AelL, Th. Morus u. A. bemerkt er treffend, Verbrechen seien nicht den Sachen, sondern der Bosheit der Menschen zuzurechnen. (7, 4.)

Ueber das Wesen des Kapitals finden wir bei Bornitz wenig mehr, als Ahnungen. Als eine zweite Brauchbarkeit des Geldes (neben dem ursprünglichen Nutzen : dimensio earum rerum, quae meicis loco ha- bentur,) nennt er dessen Fähigkeit, verliehen zu werden. Diese beruhe auf seiner fungibeln Natur. Wer die Zinsen abschaffte, würde eben da- mit potissimam partem negotiationis abschaffen. (De nummis I, 4.) 12 Er ist auch dem Schatzwesen des Staates nicht günstig, weil thesauri oc- culti nihil foenoris parianl. (De aerario X, 6.) *?

Ungleich höher entwickelt ist sein Verständniss vom Mtinzwe- sen: ein neuer Beleg für die alte und wohlthuende Erfahrung, dass je- des Zeitalter die für sein praktisches Bedürfniss unentbehrlichen Ein- sichten früher zu gewinnen pflegt, als die zunächst minder unentbehr- lichen. Dass freilich nur der Staat das Recht haben soll, Münzen zu prägen, wird von Bornitz sehr ungenau bewiesen, obschon er fast bei jedem Satze eine Stelle des Corpus Juris citirt. Si cuivis privato ex suo auro et argento nummos facere liceret, qua auctoritate acciperenlur a con- civibus et ex traneis? Nulla sane. Cum legis potestas tantum publica .... Legum potestas etiam nummum complectitur, quippe qui lege sit et exsi- statu. (De nummis /, 3.) Die Zumischung eines unedlen Metalles sollte stets mit Rücksicht auf die communis lex gentium vorgenommen werden, ut duritiem tantum conciliet et saltem expensas aliquantillum resarciat, ut fertne eadem ratio sit metalli et pretii nummi. (/, 6.) Auch über die Not- wendigkeit des gleichen Gewichtes gleicher Münzen durchaus solide Ansichten. (/, 7.) Jedenfalls ist die Legirung ein Hauptanlass zur Münzfälschung ; daher auch keinem Goldschmiede gestattet sein sollte, für seine Producte ein anderes Korn zu wählen, als das gesetzliche. Ebenso gehört ein festes und massiges Verhältniss zwischen Scheide-

4 2) Also ganz verschieden von Bodinus, (De rep. V, 2, p. 825) der selbst die römischen Zinsen, die er für %bis \ Procent jährlich hält, im Principe verwerflich Ondet.

4 3) Hierbei citirt er Girol. Frachetla De principe I. Camerar. Medit. 73. Comi- naeus De beüo Neapol. II und Th. Morus Utopia.

\ 4) Neben manchen Beispielen, wo auch Prinzen, Magnaten etc. das Münzrecht geübt, wird noch als singulare exemplum erwähnt, dass Christus potentia divina im Munde eines Fisches gemünzt habe. (1. c.)

*5] Aeltere deutsche Nationalökonomtk. 307

münze und grobem Gelde zu den Hauptmitteln, der Münzverschlechte- rung vorzubeugen. (//, 5.) ,5 Bornitz lobt deshalb das Gesetz K. Fer- dinands vom J. 4 559, dass Niemand über 25 Fl. in Scheidemünze an- zunehmen brauchte. (/, 1 1 .) Die Prägung mit dem Bilde des Fürsten erkennt er als Mittel gegen Fälschung an ; doch fügt er hinzu : o magna prudentum inventa, o laudabilia instituta majorum, ut et imago principum 8ubject08 viderelur pascere per commercium, quorum consilia vigilare non desinunt pro salule cunctorum! (/, 8.) Die Stückelung der Münzen soll nach solchem Verhältniss geschehen, dass möglichst viele Theile noch als ganze Ziffern der kleinsten Einheit erscheinen : wie z. B. der halbe Gulden 30, der Viertelgulden 1 5 Xr. hält. Wenn Bornitz anheimgiebt, die Gold- und Silbermünzen von gleicher Grösse und Prägung zu ma- chen, so dass sich der Werth jener zu diesen genau wie 12 zu 1 verhalte (/, 1 1 ) 16 : so beruhet das freilich auf einer grundlosen Vor- aussetzung der Unwandelbarkeit des damaligen Preisverhältnisses. Da- gegen ist seine Erörterung I, 12, dass die von Privaten besessene Münze nicht mehr dem Münzherrn gehöre ", dass sich also das Wort : »gebet dem Cäsar, was des Cäsars ist«, nicht auf die Münze beziehe, sondern auf die Steuer, durchaus nicht so curios, wie es dem ersten Blick scheinen möchte. Ich erinnere nur an die früher so beliebten willkürlichen Einziehungen der Münzen, um sie verringert wieder aus- zugeben! Bornitz missbilligt alle solche Massregeln. Wie er sich auf

15) In Sachsen hatte die Gesetzgebung schon 1474 den Grundsatz ausgespro- chen, »wo mehr kleiner Münze ist, denn man zur Entscheidung der Oberwehr bedarf, ist Schadena. (Erb stein in v. Langenn's Albrecht der Beherzte, S. 586 ff.)

16) Ganz nach Bodinus, dessen Kapitel De re nummaria (De rep. VI, 3) Bor- nitz überhaupt sehr benutzt hat. Schon Bodinus hatte die Legirung aus dem Grunde verworfen, quia natura ipsa ferre non potest, ut metallum Simplex alterius loco substi- tuatur, propter metallorum naturas colore, eonitu, volumine, pondere plurimum inter se dücrepantes. Ungleich feiner argumentirt in dieser Hinsicht Scaruffi Sülle tnonete, (1579), der in Gontracten gewisse Quantitäten reinen Goldes etc. zu stipuiiren räth (p. 98. 104 Cust.), obschon auch er das Preisverhältniss von Gold zu Silbers 12 : i als ein von Gott unwandelbar gegebenes ansieht und sich dafür auf den göttlichen Piaton beruft, (p. 84.)

17) Wie noch Pothier meint, dass der Fürst sa monnaie unter die Privaten ver- theile, um ihnen als Werthzeichen zu dienen, {Traue du prit de comomption I, 3, No. 37) so kommen ähnliche Ansichten bereits im alten Rom vor. (Puchta Inst. I, S. 1 31 .) Uebrigens hat schon Nicolaus Oresmius De mutaHonibus monetarum gleich nach der Mitte des 4 4. Jahrhunderts dieselbe Auslegung des Bibelspruches, wie Bornitz.

308 Wilhelm Röscher, [46

das Stärkste gegen die Kipper und Wipper ausspricht, (De rerum suff., p. 11. 121.) so widerräth er jede obrigkeitliche Münzverringerung mit dem Nachweise, dass alle Waarenpreise dadurch erhöhet, alle Steuer- erträge vermindert werden. (De nummis II, 1.) Ebenso entschieden verwirft er die Finanz massregel, dieselben Münzen bei der Staatsein- nahme niedrig, bei der Staatsausgabe hoch zu valviren. (I. c. II, 3.) Ueberhaupt missbilligt er im Interesse der allgemeinen Sicherheit jede Münz Veränderung. Es sei vernunftgemäss, dass der Fürst eine solche nur vornehmen könne, entweder causa gravissima urgente, oder mit ausdrücklicher oder stillschweigender Genehmigung des Volkes. (II, 9.) lg

Ein verwandter Gegenstand sind die Quasinummi, d. h. nummi materiae extraordinariae formaeque imperfectioris. Bornitz denkt hier- bei u. A. an Papiergeld, Ledergeld etc. Wenn er dessen Creditcha- rakter auch nicht versteht, so betont er doch sehr, dass es nur in Nothföllen ausgegeben, und sofort nach Beendigung der Noth mit gu- tem Gelde wiedereingelöst werden soll. (De nummis I, 1 4.)

Für die Entwickelung des sog. Mercantilsystems haben die Mittel grosse Bedeutung, welche Bornitz empfiehlt, um der amissio nummorum vorzubeugen. Alle Geldausfuhr soll untersagt, alle Waa- renausfuhr, damit sich kein Geldschmuggel dahinter verstecke, über- wacht werden: so lange, bis alle Nachbarvölker mit uns dieselben Münzgesetze haben und wirklich beobachten. Auch fremde Glücks- töpfe und Schauspieler sind zu verhindern, dass sie unser Geld weg- saugen. Ein sehr gutes Mittel besteht darin, den ganzen Handel mit edlem Metall dem Fürsten als Regal vorzubehalten, wobei Wechsler (wie in England, Italien etc.,) den ausländischen Verkehr möglich ma- chen. Zugleich werden Luxus verböte gegen kostbares Silbergeschirr, Tressen etc. empfohlen, wobei der Verfasser meint, dass die Frem- den, um recht viel Geld abzuholen, besonders merces speciosas, vo- luptarias et arte elaboratas, in quibus nihil nisi manus opera et voluptas inest, einführen, v. c. suffimenta, gemmas, perlas, quarum rerum Maxi- mum pretium, sei usus frustraneus. (II, 4. 6.) Also ein Schwanken zwischen der altern Ansicht, die sich auf Münz- und Luxuspolizei- gründe stützt, und dem neuern Mercantilismus ! tt Eine förmliche

4 8) Auch Bodinus lehrt : principi non magis licet, mproba numismata cudere, quam occidere, quam grassari. (De rep. VI, 3.)

4 9) Dagegen hatte Bodinus seine zumTheil sehr ähnlichen Mercantilideen mehr

*7] Aeltere deutsche Nationalökonomie. 309

Theorie des letztern findet sich aber De numtnis II, 8: de incremento uummorum in republica parando. Dies wird ausdrücklich von der Ver- mehrung des Staatsschatzes unterschieden: die Geldvermehrung be- treffe sowohl den öffentlichen, wie den Privatnutzen. Publice interest, non tantum nummos in republica exsistere, verum eliam ad potentiam ejus stabiHendam summopere opus est , eos maxima copia adesse. Sunt

enim nummi nervi rerum Imbellem dixeris civitatem, quae aliis bonis

abundet nummis destituta ... Ut duobus modis nummi parantur, ita quo- que rempublieam iisdem ditari consequens est : nummorum fabricatiane et illalione alienarum. Jener ersten dient der Bergbau, welcher den Stoff liefert. Daher muss der Forst eifrig sein zur Bebauung der alten Gru- ben, wie zur Aufsuchung neuer. In diesem Punkte hegt Bornitz für Deutschland immer noch grosse Hoffnungen. Wo aber die Natur des Landes Gold und Silber verweigert, da muss ars naturam imitari. Vi- deat princeps, quibus modis tnediisque nummos exoücos quasi aucupari possit. Dies geschieht entweder durch Handel, oder conversatione po* pulorum. Wer also ein Land geldreich machen will, der muss den Handel befördern durch Einrichtung von Messen und Märkten, durch allerlei Immunitäten für die Kaufleute, namentlich zur Messzeit. Ut 00 casio praebeatur in tua republica nummis inferendis, operam adhibe, ut studio agriculturae et opificia assiduis laboribus tractentur . . . Tellus na- tura et foecunditate sua variam materiam profert ... Rudern indigestam* que et effbrmem (informem?) pkrumque materiam, quae effbrmata decies materiem manus pretio superare 20 solet. Daher müssen collegia ingenio- sissimorum opißcum errichtet werden, die nicht blos6 für ihr Land,

aus finanziellen Grundsätzen entwickelt: De rep. VI, p. t02t ff. Der etwas spätere Antonio Serra (1613) dringt mit seinem Merkantilismus doch schon viel tiefer in die Natur der Gewerbe ein. Es ist vorteilhafter, Fabrikate auszuführen, als andere überschüssige Waaren, weil jene sicherer sind, nicht von der Witterung etc., son- dern nur von den Menschen selbst abhängen, leichter aufbewahrt und transportirt werden können, ganz vornehmlich aber, weil ihre Masse beliebig gesteigert werden kann, und der Gewinn doch entsprechend bleibt, ja wegen Verringerung der Pro- ductionskosten wohl gar noch grösser wird, zum grossen Unterschiede z. B. vom Saatkorn. (Sülle cause, che possono far abbondare tw regno di monete etc., /, 3.) Um auch eines Spaniers hier zu gedenken, so will Maria na die fremden Gewerbepro* ducte hoch besteuert wissen, damit nicht so viel Geld ausser Landes geht, und zu- gleich die fremden Handwerker durch Uebersiedeiung nach Spanien dessen Volkszahl vermehren. (De rege et regis institutione, 4 598, ///, 7 10).

20) Sehr ähnlich Boter o Delta ragion di stato, (1594) p. 92 fg.

310 Wilhelm Röscher, [48

sondern auch fiir das Ausland arbeiten. Dolendum est, populos quo** dam2x admodum vecordes et caecos exteris nationibus materiam rudern ve- nalem exponere, spe exigui lucelli, quam indutam postmodum vartis for- mte centuplo revendant iis, a quibus eam nacti fuerint. Auch der tech- nologische Abschnitt des Buches De rerum sufficientia betont es ener- gisch, wie die Natur von der Kunst besiegt werden könne, indem die Arbeit einen grössern Werth hervorbringt, als der Rohstoff, (p. 59.) Daher man Rohstoffe nicht aus-, sondern einführen soll, kein Geld ftir Luxusartikel aus dem Lande lassen etc. (p. 68. 232.) Kann ein Land nicht mehrere Gewerbzweige haben, so doch wenigstens einen, worin es hervorragt. (De nummis II, 8.) Bornitz scheint zu ahnen, dass je- des Land in seiner ökonomischen Eigentümlichkeit etwas Unnachahm- liches besitzt, (De rerum suff., p. 231) obschon er andern Ortes wie- der meint, von der Seidenzucht sollte man sich ja nicht durch geo- graphische Bedenklichkeit abschrecken lassen. (/. c, />. 34.)22 Unter der conversatio populorum versteht er die wirthschaftliche Anziehung, welche durch aulae principum, summa tribunalia, academiae, ludi publici, urbium amoenitas, thermae etc. ausgeübt wird. (De nummis II, 8. De rerum suff., p. 53.) M

Die Handwerksverfassung, welche Bornitz empfiehlt, ist ganz die zu seiner Zeit praktisch übliche ; selbst Manches darin, was dem geschriebenen Rechte zuwiderlief. (De rerum suff., p. 69 fg. 72.) Auch in Bezug auf die Bäckerpolizei trägt er wesentlich das damals praktische System vor. (/. c, p. 87.) Dabei finden sich schöne An- fänge einer Gewerbestatistik seiner Zeit, indem wenigstens von vie- len Zweigen der Ort, wo sie am meisten blühen, genannt wird.

2 1 ) Wie kosmopolitisch, nach deutscher Weise 1

SS) Wahrscheinlich dachte Bornitz hierbei an den berühmten Streit zwischen Heinrich IV. und Sully, wovon die Economies royales, Livre XVI berichten. Sully war gegen die Berufung von Seidenarbeitern, Pflanzung von Maulbeerbäumen etc. in Frank- reich. Dieser neue Gewerbzweig, während das französische Volk ohnehin vollbe- schäftigt sei, erfordere zu grosse Opfer. Jedes Land habe seine eigenthümlichen Vor- züge, die es kultiviren müsse ; für den Seidenbau hingegen sei das französische Klima zu rauh. Der Erfolg hat gezeigt, wer bei diesem Streite mehr Einsicht bewährte, das Genie des Königs, oder das Talent des Ministers.

2 3 ) Dies sind Gegenstände, worüber Hippolytus a Collibus und sehr viel geistreicher Botero gehandelt hatten.

49] Abltbbe deutsche Nationalökonomik. 311

(p. 108 ff.) Es hängt wohl hiermit zusammen, dass schon Bornitz an die Möglichkeit einer Gewerbesteuer denkt. (De aerario V, 8.) 24

Seine Finanzwissenschaft bildet den grellsten Gegensatz zu Obrecht. Zwar sagt auch Bornitz in der Zueignung seines Buches De aerario an die Finanzm&nner, dass in den nervis publicis poientiae, dignitalis et aulhoritatis, adeoque salutis publicae, post religionis etjustitiae fulcra maxima vis continetur. Das Bedttrfhiss des Staates an Natura- lien und Geld vergleicht er mit dem Nahrungsbedttrfnisse der aus Leib und Seele zusammengesetzten Einzelmenschen. (De aerario I, 1 .) Da- gegen ist er ein entschiedener Lobredner der Domänenwirthschaft 2&9 ohne die weder einem Staate, noch einer Schule etc. die gehörige Si- cherheit könne zugeschrieben werden. (/, 3.) Princeps omnia possi- det, haud tarnen possidet dominio, sed impeiio. (VII, 3.) Beim Jagd- regale ist von den Jagdschaden keine Rede; wohl aber halt es Bor- nitz für nöthig, die Anständigkeit des Verkaufes von Wildpret des Fürsten an Privatpersonen zu vertheidigen. (/, 4.) Er ist in der Re- gel sehr gegen den Betrieb von Gewerben oder Handel durch den Staat, ausgenommen die Falle, wo das Gemeinwohl es fordert, wie beim Münzen; oder wo die Privatkräfte für einen unentbehrlichen Handelszweig nicht ausreichen; oder endlich, wo der Fiscus eines solchen Einkommens gar nicht entbehren kann. (//, 1. 2. Aehnlich De rerum suff., jp. 73 fg.)26 Von Lotterien sagt er: nee suadeo, nee dmuadeo. (De aerario II, 4.) Gegen Aemterverkauf ist er sehr; höch- stens den Fall ausgenommen, wo derselbe als Form einer Staatsan- leihe gebraucht wird. (II, 6. VII, 1.) Uebrigens pflegt Bornitz bei

24) Wahrend noch 4 758 v. Justi etwas ganz Neues vorzuschlagen meinte, in- dem er als Gegensatz zu den bisherigen Accisen eine Gewerbesteuer empfahl. (Staats- wirthschafl II, S. 373 ff.)

25) Auch Bodinus zieht die Domänen jeder andern Staatseinnahmsquelle vor. Wenn er die Unveräusserlichkeit und Unverjährbarkeit des Domaniums so sehr be- tont, so z. B. jeden Rathgeber, der um des grössern Vortheils willen Domänen zu ver- kaufen räth, beschuldigt: tyrannidem et reipublicae perniciem molitur (De rep. VI, 2), so konnte dergleichen freilich unserem Bornitz kaum einfallen, da in den deutschen Territorien kein Praktiker an Domänenveräusserung dachte.

26) Botero hatte den Staatshandel in folgenden Fällen gebilligt: wenn das Ge- schäft zu kostspielig oder gefährlich ist, als dass Privatpersonen es treiben könnten ; wenn die Privatbetreiber sich zu sehr bereichern würden ; wenn es zum Öffentlichen Nutzen geschieht. (Ragion di Stato, p. 100.) Bornitz steht in dieser Lehre offenbar höher.

Abhandl. d. K. 8. Oct. d. Witt. X. 2*

312 Wilhelm Rosciieb, [50

jeder Polemik auch seinem Gegner billig das Wort zu lassen. Das Lehnwesen halt er noch immer für nothwendig. (7/, 7.) Gütercon- fiscation als Strafe scheint ihm sehr bedenklich27, (///, 6) obschon er Geldbussen, wie Luxussteuern, wegen des sittlichen Nutzens lobt. (IV, 6.) In Bezug auf Steuern überhaupt stellt er den Grundsatz auf: ut nemo plus oneris sustineal, quam emnlumenti et lucri ex rebus capiat (V, 2): also Verhältnissmässigkeit der Besteuerung nach dem Einkommen. Gleichwohl erklärt er es für die grösste Ungerechtigkeit, wenn alle Un- terthanen besteuert würden. Manche Personen wie Sachen müssen einer Immunität geniessen, die bei anderen gehässig wäre : so z. B. Ge- sandte, Scholaren, Geistliche, Edelleute ; von Sachen besonders alimenta. (IV, 2.),2S Vor zu hohen Steuern wird schlechthin gewarnt: pluris ma* gistratui opulentia subdilorum esse debet, quam reditus. (IV, 3.) Die Steuer von Auswanderern sucht Bornitz ebenso naiv als absolutistisch aus der Dankbarkeit wegen des früher genossenen patrocinium zu erklären, weil die Obrigkeit als Vater des Vaterlandes gelten müsse. (IV, 7 ; besser V, 9.) Von Staatsanleihen ist er durchaus kein Freund; er meint, ein Fürst komme dadurch so leicht in übeln Ruf, dass er sie lieber auf den Namen eines Unterhändlers gehen lassen sollte. (VII, 1.)20 In dem Kapitel: de vectigalibus illicitis eifert er mit grosser Wärme gegen Hurensteuern etc. (VIII, 1.) Wie sehr es Bornitz an Schärfe mangelt, sieht man u. A. im X. Buche, von den Schätzen, wo nur Kap. 6 vom wirklichen Staats- - Schatze handelt, alles Uebrige bloss von Kassen, die nur ganz uneigent- lich Schätze genannt werden.

Wir haben im Eingange dieses Kapitels an Opitz erinnert, um da- durch von einer gewissen Seite her Bornitz' Verhältnisse klarer zu ma- chen. Dieselbe Analogie bewährt sich aber auch insofern, als die schöne Literatur in Opitzens Zeit, sowie die Thätigkeit der fruchtbringenden Ge- sellschaft überwiegend auf Uebersetzungen gestellt war. Freilich hat

27) Bodinus billigte zwar die Vermögensconfiscation im Allgemeinen nicht; doch hielt er eine theilweise Gütereinziehung (etwa der Errungenschaften des Verbre- chers) für nothwendig, schon weil ohne praemia delatorum vix ulla scelerum ultio fu- Iura est. (De rep. V, 3, p. 842.)

28) Diese damals beinahe von allen guten Theoretikern eingeschärfte Lehre trägt auch M a r i a n a vor : De rege III, 7 .

29) Dagegen hatte Bodinus, welcher Steuern nur im grössten Nothfalle billigt, Anleihen für ein kleineres üebel gehalten: De rep. K/, 2,,/j. 1022.

51] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 313

ein compilatorisch-encyklopädisches Wirken auf dem Gebiete der Poesie noch weniger Verdienstliches, als auf dem der Wissenschaft. Wie un- ser Bornitz durch Reisen und Leetüre von jedem Auslande zu lernen suchte, ganz besonders aber ein Bewunderer Hollands war 30, so erklärte Opitz in der ersten Ausgabe der Gedichte, (S. 11) dass die hollandische Poesie die Mutter der hochdeutschen sei. Besonders verehrte er Grotius und Heinsius, und in derselben Weise hielt sich Andreas Gryphius spä- ter an Yondel. So hatte Schuppius in seiner Schrift von der Einbildung (Opp. /, 508) von Holland zu rühmen, dass sich dort unter den Hand- werkern Leute fänden, vor denen mancher Studierte sich schämen müsse31.

IV.

Die Anfänge der geschichtlichen Volkswirtschaftslehre.

Christoph Besold ist 1577 zu Tübingen geboren, hat ebenda 4 595 bis 1597 die Rechte studiert, 1598 den Doctortitel und 1610 die Professur der Rechte erlangt. Wenn ein so glänzendes akademisches Talent verhältnissmässig so spät dieses Ziel erreichte, so liegt das zum grossen Theil an der Ungeheuern Vielseitigkeit seiner Studien, die an Hugo Grotius erinnert. Besold verstand Griechisch, Hebräisch, Chal- däisch, Syrisch, Arabisch 1 ausser den vornehmsten neueren Sprachen ; neben der Staats- und Rechtswissenschaft im weitesten Sinne des Wor- tes, neben Geschichte und Philosophie trieb er die heilige Schrift in ih- ren Ursprachen, und eine ausgedehnte Leetüre der Kirchenväter, Scho- lastiker, Mystiker etc. Jugler hat in seinen Beiträgen zur juristischen Biographie I, S. 82 ff. ein Verzeichniss von 92 Schriften Besolds zu- sammengestellt, die 1598 bis (posthum) 1646 erschienen sind, zum Theil von mächtigem Umfange und viele davon in wiederholten Auflagen. Un- ter diesen Schriften sind Pandektencommentare , Werke über Theorie und Praxis des Processes, der grosse juristische Thesaurus practicus2,

30) Vgl. De rerum suff., p. 38. < 10. 233.

31) Vgl. Gervinus Gesch. der deutschen Dichtung III, S. f 82. 420.

1) Vgl. A. Rath Luctus academiae Ingolstadt, in obitum Chr. Besoldi, p. f 0.

2) Nach einem oft bestätigt gefundenen Urtheile, mit Wehners ähnlichem Werke verglichen, uberfate major, judicio, ordine ac selectu minor.

314 Wilhelm Rose heu, [52

Werke über allgemeines Staatsrecht, deutsches Reichsrecht, württem- bergisches Landesrecht, über Völkerrecht und Diplomatie, Politik, Volks- wirtschaft, mehrere Zweige der Specialgeschichte, allgemeine Weltge- schichte, aber auch über Philosophie und Theologie im Allgemeinen. Der Verfasser galt nicht allein für eine glänzende Zierde seiner Univer- sität, sondern war auch bei seiner Regierung so angesehen, dass er Aus- sicht auf die höchsten Staatsämter hatte. Um so tiefer musste es seine Landsleute empören, als er nach der Nördlinger Schlacht, wie der Her- zog von Württemberg floh und eine österreichische provisorische Regie- rung das Land verwaltete, in diese letztere als Geheimer Rath eintrat, öffentlich katholisch wurde und sogar in einer Reihe von, archivalisch sehr wohlbeschlagenen, Werken den Beweis versuchte, dass die würt- tembergischen Klöster durchaus vom Herzoge unabhängig seien. Fast ein Drittel seines damaligen Umfanges wäre dem Lande hiermit abge- sprochen gewesen ! Kein Wunder also, wenn ihn Job. Peter von Lude- wig deshalb arcanorum istius prineipatus malevolum proditorem nennt; oder wenn Spittler meint, »sein frommes, ruhmvolles Leben krönte end- lich die schändlichste Apostasie, den zwanzigjährigen treuen Dienst für Fürst und Vaterland endigte die elendeste Verräthersbosheit Aber auch Oesterreich scheint die Klosterschriften Besolds mit keinem gün- stigen Auge betrachtet zu haben , da es Württemberg wohl schon ganz ftlr seine eigene sichere Beute hielt. Jedenfalls sehen wir Besold 1 637 als kurbayerschen Rath und Professor nach Ingolstadt ziehen. Wie be- rühmt er war, zeigte sich bald in dem Wetteifer, mit welchem der Kai- ser ihn für Wien, der Papst ftlr Bologna3, ja u. A. selbst der däni- sche Hof in gewinnen suchten. Indessen starb er bereits am 1 5. Sep- tember 1638 zu Ingolstadt.

Spittler hat die Umwandlung Besolds geschichtlich in ein milderes Licht zu stellen gesucht4. Er weiset nach, dass der förmliche Ueber- trilt zum Katholicismus lange vor der Nördlinger Schlacht, am I . Au- gust 1630, erfolgt, alsdann freilich vier Jahre lang verheimlicht worden ist. Auch vorbereitet war er seit lange, zumal durch Besolds patristi- sche. tbeosophische und mystische5 Studien. Schon 1626 hatte dessen

3) Angeblich mit dem für jene Zeit enormen Gehalte von 4000 Scudi jährlich.

4) Werke Xlf, S. 983 ff.

5) Besold citirt namentlich den Eckard sehr gern; Schriften von Tauler, Staupitz, Savonarola hat er herausgegeben.

53] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 31$

Lehrer und Freund, der grosse Kepler, zu Linz das Gerücht seines Ab- falls vom Lutherthume vernommen6. Den. Ausschlag seiner Zweifel gab die Geburt einer Tochter nach 29jähriger unfruchtbarer Ehe , die er als wunderbare Erhörung eines Gelübdes ansah. Nach alle diesem zweifelt Spittler nicht an seiner Uneigennützigkeit , und möchte ihn mehr be- dauern, als verdammen.

Wir gehen unbedenklich noch weiter. Kein Historiker wird heut- zutage verkennen, dass im Anfange des 17. Jahrhunderts das verknö- cherte Lutherthum der Concordienformel wenigstens nicht mehr geistige Freiheit gewährte, als der Katholicismus. Gerade Keplers Schicksal be- weiset dies aufs Deutlichste, dessen Verfolgung in Württemberg durchaus nicht so aus Persönlichkeiten zu erklären ist, wie die Galileis im Kir- chenstaate. Nach dem Buchstaben des Rechts waren die Ansprüche der katholischen Partei damals in der Regel besser gegründet, als die prote- stantischen. Hierzu kommt nun, dass unser Besold ein wesentlich historischer Kopf war, obschon keiner vom ersten Range. Wie er bei jeder Gelegenheit sein Herz ausschüttet über die Vergänglichkeit aller Staaten 7, so haben auch seine Urtheile über das, was sein soll, durchweg etwas sehr Relatives. Keine Staatsform hält er für unbedingt vorzüg- licher, als eine andere. (De rerumpublicarum inter se comparatione, 1 623, p. 195.) Er nimmt bei solchen Fragen immer die grösste Rücksicht auf die Verschiedenheit der Volkscharaktere : dass z. B. die Franzosen keine Freiheit, die Schweizer keine Knechtschaft ertragen. (Synopsis po- liticae doctrinae, 1623, p. 90.) 8 Besonders wichtig sind die methodo- logischen Bemerkungen, welche die Vorrede zu der Schrift Principium et finis politicae doctrinae enthalt. Non aliquant descripsi civitatis ideam, h. e. talem reipublicae formam, qualem esse velim ex meo sensu : id quod Plato, Morus, Campanella aliique fecerunt. Sed de politiis jureque publico dissero, qualia nunc sunt» vel fuerunt olim ; id quod proderit forsan cum ad kistoricorum, tum rerum, quae indies geruntur, aliqualem dijudicationem

6) Kepleri Epütolae, p. £81.374. Besold war zu wiederholten Malen in Glau- bensuntersuchung gewesen: I69S mehr als »fanatisch- verdacht ig,« I6S6 mehr als »katholisch- verdächtig.« (Spittler a. a. 0., S. 300.)

7) So z. B. Principium et finis politicae doctrinae, (1625) p. 78 ff.

8) Auch in der Form ist er nichts weniger, als apodiktisch ; indem er am lieb- sten jede Frage durch eine Menge \on Citaten beantwortet, denen bloss im Eingange kurz beigepflichtet wird.

316 Wilhelm Röscher, (54

Ego omnia disctUienda magis a lectoribus, quam statuta ac de finita

soleo semper proferre. Qui quaerunt cauta sollicitudine veritatem, parati, quum invenerint, cedere, haeretici non sunt, ait D. Augustinus. Pulo haue libertatem multo minus in politico scripto mihi denegatum tri. Namque hie cumprimis praescribo, imo adjuro tibi, lector, quisquis es, ea, quae de re- bus disputo gravissimis, non judicare me, sed disserere ; haud decisionis me agere arbitrum, sed quaesitoris instar umae praeesse. Eine solche Sin- nesart ist vortrefflich geeignet zur historischen Forschung, wofern sie nicht an der Oberfläche der menschlichen Dinge haften bleibt, sondern mit scharfer Urtheilskraft in deren Inneres eindringt9. Aber sie ist auch in Zeiten grosser Parteikämpfe ein fruchtbarer Boden sittlicher Versu- chungen, selbst für reine und gute Menschen, die nicht entweder Selbst- kenntniss und Vorsicht genug besitzen, um streng das : Bene vixit, qui bene latuit, festzuhalten, oder von einer ungewöhnlichen Charakterstärke getragen werden.

Besolds politische Ansichten, die natürlich mit seiner Volks- wirtschaftslehre auf das Engste zusammenhängen, erkennt man am klarsten in seiner Synopsis politicae doctrinae, die er zuerst 1 623 als Tübinger Professor veröffentlichte, zuletzt in vierter, sehr bereicherter Auflage 1637 von Ingolstadt aus10. Hier wird gegen die Naturstands- lehrer auf die natürliche Geselligkeit der Menschen in aristotelischer Weise Bezug genommen, (p. 1 7.) Republikanisch gesinnt ist Besold nicht. Seine

9) Schon Chr. Thoinasius bemerkt von Besold, er sei zwar durchaus kein skla- vischer Aristolelesjünger gewesen, habe jedoch neben multa diligentia, magnum inge- nium nur exiguum Judicium gehabt. Seine Schriften seien oll blosse collectanea, abs- que iudicio conscripta, male cohaerenlia, frequentibus digressionibus adhuc magis con- fusa. (Oratt. acadd,, p. 522.) Nach einer nicht unglaubwürdigen Notiz bei Arnd. Bibliotkeca politico- heraldica p. 246 halte Besold ungeheuer viel gelesen, seine Ex- cerpte aber grösstenteils durch Candidaten, welche er in seinem Hause hielt, regi- striren lassen. Die vielen Ungenauigkeiten seiner Bücher seien namentlich dadurch entstanden, dass seine Gehülfen die Excerpte falsch aufgefasst oder in falsche Rubri- ken eingetragen, er selbst aber den Fehler nachher zu berichtigen versäumt. Uebri- gens giebt er, auch hiervon abgesehen, nur zu häufig statt wirklicher Theorie oder Geschichte eine blosse Nomenclatur mit angefügter Rechtscasuistik : vgl. z. B. die Stelle von den servis modernis, d h. Bauern etc., in der Schrift: De tribus domesticae societatis speciebus, (4 626) p. 27.

10) Ein Auszug aus der Sammlung von Abhandlungen, die schon. 161 4 unter dem Titel: Collegium politicum, ( 6 1 8 vermehrt als Po lilicorum libri //. erschienen sind. Die Synopsis erlebte noch drei Auflagen nach des Verfassers Tode.

55] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 317

klassischen Erinnerungen bewirken nur die Anerkenntniss, dass die Re- publik eigentlich die beste, Gott wohlgefälligste Staatsform sei, aber wie ein Instrument, das am schwersten gelernt und am leichtesten verstimmt werde. (Vorrede.) In der Wirklichkeit sei es jedoch immer noch besser, einen schlechten Herrscher zu haben, als gar keinen, (p. 25.) Auf der andern Seite will Besold aber auch kein monarchischer Absolutist sein. Wenn er selbst dem englischen Parlamente nicht das Recht zugesteht, praefracte regt contradicendi, sed tantummodo dissuadendi (p. 97) ; wenn er sogar solche morts d'etat, wie bei Guise, Marschall d'Ancre etc. für diejenigen Falle gelten lässt, wo kein ordentlicher Process gegen einen Staatsverbrecher möglich, (p. 74): so verwirft er doch entschieden die Staatsvergötterung des Machiavellismus (p. 20) und eifert gegen alle Theorien, welche dem Fürsten, statt des Imperium omnium, das dominium omnium zuschreiben, (p. 28.) Alle von Deutschen gegründeten Reiche detestantur absolutem dominationem, et saltem ralione gubernationis ad an- slocraticam rationem declinanl. (p. 240.) Dabei hebt doch Besold ener- gisch hervor, dass allein der Kaiser das Prädicat »Majestät« habe, alle übrigen Herrscher nur »königliche Würden«, (p, 36.) Wie z. B. Wal- lenstein selbst in seiner Glanzperiode keine majestas hatte, (p. 46) so verleihen auch die Kurfürsten nicht eigentlich dem Wahlkaiser seine Macht, sondern bezeichnen bloss die Person, welche die von Gott un- mittelbar stammende Kaisermacht ausüben soll. (p. 40.) Die Beschrän- kung der Krone, die Besold wünscht, soll hauptsächlich von der römi- schen Kirche ausgehen. Zwar die Tendenzen eines Rossäus und ähn- licher Monarchomachen erklärt er für Missverständnisse, die vom Papste selber verdammt seien, (p. 21.) Aber er meint doch, si nou omnia ad catholicae religionis cultum tendunt, ut illa vel promovealur, vel non impe* diatur, atheismo prona sternüur via, quae ad interitum, si non temporalem, at certe aeternum ducit. (Vorrede.) Dass der Papst als paslor communis* soweit es zum Seelenheil nothwendig ist, eine potestas directiva besitzen muss; dass er z. B. Unterthanen ihres Eides entbinden kann, wenn ein katholischer Fürst elhnicus, s. infidelis, alhcus celt. würde: hierüber stimmt Besold mit Bellarmin völlig zusammen, (p. 43.) Den landes- herrlichen Novalzehnten erklärt er für omnino absurdum, weil die sämmt- lichen Zehnten ipso jure der Kirche gehörten, (p. 79.) Ebenso absurd scheint ihm der landesherrliche Kirchensupremat, (p. 60.) Ueber das Recht, die Ketzer zu verfolgen, denkt er ziemlich unklar; selbst manche Kalho-

318 Wilhelm Röscher, [56

liken billigen es nicht, wenn die Ketzer nicht zugleich Rebellen sind; doch verfolgen auch die Protestanten ihre Gegner, wenn sie nur kön- nen. Es ist auch zwischen pertinacibus dolosis, zelosis et dubilantibus zu unterscheiden, (p. 63 fg.) Dringend räth Besold, allen Deutschen das Studieren im Auslande zu verbieten, vornehmlich in Genf und Leyden, wo sie nur Hass gegen die Katholischen, gegen das Haus Oesterreich und das ganze Reich einsaugen, (p. 206.)

Sehr vorzüglich ist Besold in der Theorie der Statistik: wie er denn auch nicht zugeben will, dass die bekannte Pest der Davidischen Zeit eine Strafe Gottes für die Volkszählung an sich gewesen. (De aera- rio, p. 176.) !i Von einem fürstlichen Rathe verlangt er folgende Kennt- nisse : Principem et aulam ex omni parte indagabit, ut et caeterorum ad" ministronim et eonsiliariorum naturam et mores. Quae quantaqüe sit omni* ditio principis ; quae provinciae, civitales, oppida, loca Uli ditioni subjeeia sint ? Provinciae quot millia passuum habeant in longituditie, quot in cir- cuitu? Locorum ambitum, situm. Vtrum montibus, man, flumine, valb, fossa, lacu tnunita sint? Quae eornm opportunitates ; an commeatu prohi- beri possint; an sit überlas vel inopia rei frwneniariae? Quae commoda et incommoda habeat respublica ? Quidnam in principatu controversum et cum quibus ac quibus de causis; quae ratio provinciae administrandae, quae le* ges fundamentales 9 quaejura, leg es, libertates? Quo more utantur, quake disciplina, usu et consuetudine regantur, quibus rebus delectentur cives, qw* bus se sustentent9 quomodo erga principem sint affectiv Quodnam vectigal eorum, quae invehuntur vel evehuntur, ex pascuis agrorum publicorum, ex sale9 vino, oleo, frumento, ex mercatura, ex subditorum tributist Quodnam aerarium: an subditi nimiis tributis, vectigalibus, aliisve oneribus preman- tut? An mercaturae studio teneantur, an opibus abundent? Quantus iro- litum numerus in qualibet provincia conscribi possit? Quaenam principis familiae origo ; quae conjunctiones, afßnitates et amicitiae, quae foedera et quae ex Hs speranda? Quorumnam partes princeps defendendas suscepe- ritn. (De aerario p. 172 fg.) Alles dies soll nicht bloss auf seiner, durch

II) Die 4 620 erschienene Ausgabe dieses Buches soll bereits die zweite sein. Ich citire nach der von 4 639.

**) Vergleichen wir dies Ideal mit dem von Heinrich IV. projectirten Staatscabi- net, wie es Sully im XXVI. Buche seiner Memoiren schildert, so ist das letztere viel mehr geschäftsmassig praktisch, das erstere dagegen viel mehr wissenschaftlich voll- ständig. Besold steht damit zwischen Sully und dem vortrefflichen Sir William

57] Akltkre dbutscrk Nationalökonomie . 349

Reisen zu erweiternden Privaterfahrung beruhen, sondern auch histo- risch auf demjenigen, was Andere gefunden haben, auf der Yergleichung mit anderen Staaten etc. Zugleich wird dem Forsten ein Personalver- zeichniss empfohlen, das alle ausgezeichneten Männer jeder Provinz, jedes Faches etc. enthalt : nicht bloss zu seiner Belehrung, sondern auch um den Ehrgeiz der Unterthanen dadurch, nach Art eines Ordens, an- zufeuern. (Ibid.)

Wenn Besold meint, die Oekonomik gehe der Politik voran, (Prin- cip. et finis potiticae doctrinae, p. 35 ff.) so denkt er dabei nur an die Privatökonomik. Seine volkswirtschaftliche Lehre ist doch vielfach mehr ethisch, als ökonomisch gehalten. So z. B. De aerario publico, p. 15 die entschiedene Betonung: partrimonia summum est vectu gal. Ebenda, p. 33 sehr unmalthusische ,3 Grundsätze der Armenpflege, wobei die ausTacitus (Ann. lh 38). bekannte Warnung des Tiberius vor unbesonnenem Almosengeben schlechtweg impia objectio heisst. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht Besolds Lehre vom Eigenthum. Gott habe dem Menschengeschlechte ursprünglich alle Dinge als Gemeingut verliehen, jedoch ohne damit ihre Theilung zu verbieten, die vielmehr im Interesse des Friedens und der bessern Verwaltung durchaus notwen- dig war. Sonach ist das Privateigentum zwar menschlichen Ursprungs, aber in der heiligen Schrift gebilligt. Auch wird man alle, mit demsel- ben verbundenen Uebelstände nicht durch Wiederherstellung der Güter- gemeinschaft, sondern durch verbesserte Gesinnung der Eigenthümer heben können : qui kommet aequare mit, non opes subtrahere debet, sed arrogantiam, ut Uli potentes atque elati, pares se esse apud Deum mendi- cissimis suis, 8 ex an t. {De jure et divisione rerum, 1624, p. 24 fg.)

Am hervorragendsten zeigt sich Besolds volkswirtschaftliche Ein- sicht in seiner Beurtheilung der Kapitalzinsen, die er bereits in sei- ner Doctordissertation, Quaestiones aliquot de uswis, 4 598 vortrug, um sie dann später, multifarie nuetam et interpolatam, in der Schrift Vitae et mortis consideralio polilica (1623) als Kapitel 5 des ersten Buches wieder

Petty {Political anatomy of Ireland, 1691,) nngeffihr m der Mitte. Vgl. meine Ge- schichte der altern englischen Volkswirtschaftslehre, S. 68 ff.

4 3) Obwohl schon Botero die Hauptpunkte des sog. malthusischen Gesetzes vortrefflich erörtert hatte, also ein übrigens von Besold gar nicht selten benutzter Schriftsteller: Ragion di stato, 1592, VIII, p. 93 ff. Dells cause della grandezza deUe ciitä, 1598, Libro III.

320 Wilhelm Röscher, [58

abdrucken zu lassen14. Hier wird die Unfruchtbarkeit des Geldes im Verkehr geleugnet. Jedermann darf sich einen Yortheil sichern , wenn er Anderen dadurch keinen Nachtheil zufügt ; und selbst beim zinsbaren Darlehen streitet die Yermuthung dafür, dass es dem Borgenden nütz- lich gewesen, (p. 27.) Besold stellt es daher mit der locatio-conducüo zusammen (p. 28) : offenbar ein wichtiger Schritt, um den Unterschied zwischen Kapital und Geld, sowie den Kapitalkern der Gelddarlehen zu begreifen. Die bekannten Einwände der Theologen wider alles Zins- nehmen hebt er damit, dass theologia animum informal, politica extemam conversationetn et socielatem conservat. So muss denn auch das Darlehen nicht avare, neglecta caritate zurückgefordert werden. Zinsen dürfen wir nur verlangen, wenn wir gewiss sind, unser Geld habe dem Schuld- ner Yortheil gebracht, oder uns selbst dessen Ermangelung geschadet, (p. 33.) Das mosaische Yerbot erklärt Besold aus dem Charakter des jüdischen Yolkes, ita durae cervicis, ut se gerer e circa usuras tum laesa ca- ritate vix potuisset. (p. 35.) Auch gilt das Yerbot nur Air den Verkehr mit Armen ; vielleicht sei es bei den Juden nicht üblich gewesen, mit geliehenem Gelde Handel zu treiben, Güter zu kaufen etc. (p. 35.) Uebrigens wünscht Besold, weil der Zins nicht natura, sondern jure ist, eine obrigkeitliche Festsetzung seiner Höhe (p. 28), zumal wegen der Schwierigkeit, im einzelnen Falle die Höhe des Interesse zu constatiren. (p. 36.) Sonst ist gegen wirkliche Wucherer das beste Mittel ein öffent- liches Leihhaus, (p. 8.)"

14) Ich kenne bloss diese zweite Ausgabe, in einem neuen Abdrucke von 4 641.

15) Halten wir diese Ansichten mit den zum Theil 40 Jahre später geäusserten des Salmasius zusammen, der insgemein für den ersten wissenschaftlichen Vert hei- diger der Zinsen gilt, so nehmen wir, verglichen mit dem Standpunkte Besolds, kaum einen Fortschritt wahr. Auch Salmasius spricht immer von der compensativen Bedeu- tung des Zinses, wegen lucrum cessans, damnutn emergens und perieuhm (De usuris, p. 176 IT.); auch er stellt das foenus mit der localio zusammen. (j>. 193 ff.) Wenn er sagt: non pro sorte usura exigitur, sed pro usu sortis [p. 195); wenn er die Un- fruchtbarkeit des Geldes leugnet , ausser wo der Besitzer es absichtlich unfruchtbar lässt (p. 198): so führen diese Gedanken doch nicht tiefer in das Wesen der Kapital- nutzung ein, da er unmittelbar nachher (p. 199) auch die Fruchtbarkeit der Krank- heiten (für die Aerzte,) der Todesfälle (für die Leicheubesorger,) der Prostitutiou (für die Dirnen selbst) behauptet. Eigentlich nur durch seine, aus reicher holländi- scher Beobachtung geschöpfte, sehr viel tiefere und klarere Geldtheorie steht Salmasius der vollen Einsicht in die Productivilät des Kapitals näher, als Besold. Ein grosser älterer Zeitgenosse, Bacon, war von den altherkömmlichen Vorurtheilen gegen das

59] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 321

Der Mercantilismus von Besold ist weniger ausgebildet, als der von Bornitz. Unser Verfasser steht in dieser Hinsicht ziemlich in der Mitte zwischen Bornitz und Sully, dessen Verbote der Geldausfuhr und Waareneinfuhr hauptsachlich auf seiner Abneigung gegen Luxus be- ruheten ". Besold ist der Ansicht, dass zum Reicbthum eines Landes die Industrie seiner Bewohner viel mehr beiträgt, als die Fruchtbarkeit des Bodens oder Edelminen. (De aerario, p. 70.) Er empfiehlt Luxusge- setze, um die Unterthanen reich zu erhalten ; et omnibus, quibuscunque fieri pstest, rationibus efficiatur, ne pecunia ad exteros pervenire possil9 (p. 71) wofür namentlich auch Luther citirt wird. Summa studio studere debet princeps, ut non solum eas dornt habeat merces, quibus ad se extero* rum monetam aUrahat, sed et imprimis ne praetextu mercium exolicarum pecunia ad gentes exteros deferatur. (p. 72.) In Bezug auf Münzverrin- gerungen, die Sully zur Verhinderung der Geldausfuhr empfohlen, (Me- moires, Livre XIII,) ist Besold freilich ganz abweichender Ansicht : nur ein massiger Schlagschatz soll erhoben werden ; vielleicht wäre es so- gar besser, auch diesen fallen zu lassen, (p. 151 ff.) Ebenso deutet seine hübsche Erörterung über die allgemeine Caritas sine inopia in Folge der Geldvermehrung (Vitae et mortis consideraHo, p. 13 fg.) aufrichtige Ansichten vom Wesen des Geldes.

Auf ag rarpolitischem Gebiete zeigt Besold an der Hand der Geschichte die Verderblichkeit des Zusammenhaufens grosser Ländereien in Einem Besitze, was neuerdings viel zu wenig beachtet werde. Hier- mit bringt er das Jubeljahr der Israeliten, die Unveräusserlichkeit der neueren Familiengüter etc. in Zusammenhang. (Vitae et mortis consid., p. 22 ff.) Er scheint in dieser Hinsicht zu den Ersten zu gehö-

Zinsnebmen immer noch stark influirt. Nur wegen der menschlichen Herzenshar- tigkeii will er den Zins dulden, weil Darlehen schlechterdings nothwendig, ohne Zins aber ganz unwahrscheinlich seien. Eine Ahnung der Wahrheit geht ihm erst da auf, wo er den Kaufleuten gegenüber ein höheres gesetzliches Zinsenmaximum vorschlugt, als für das übrige Volk : nicht allein weil der Handel für einen niedrigen Zinsfuss zu gefährlich sei, sondern auch weil der Kaufmann seines eigenen höbern Gewinnes hal- ber einen höhern Zinsfuss ertragen könne. (Sermones fideies, Gap. 39.) Selbst Hugo Grotius steht in diesem Punkte hinter Besold zurück {Jus belli et paeis II, 4 2, 20); er hat dem seinerzeit bewundernswürdigen Fortschritte Calvins (Epistolae et re- sponsa, iVo. 383) das Geld sei nicht unfruchtbar, weil man dafür etwas kaufen kann, das wieder Geld hervorbringt, kaum etwas hinzuzufügen.

4 6) Vgl. Memoire*, I. XI, XII, XIIIt und besonders XVI.

322 WttoBUi Röscher, [60

reu17, welche die damals immer mehr üblichen Familien/ideicommisse und Landesgesetzgebungen zur Erhaltung der Bauergüter in weltge- schichtlichem Zusammenhange theoretisch begründeten. In Bezug auf den Kornhandel freilich theilt er noch das ganze Vorurtheil seines Zeitalters, weiss aber als guter Jurist seine Wucherfurcht wenigstens in präcisere Worte zu fassen, als damals gewöhnlich. li soUtm vendant, quorum opera terrae frttclus producti fuerunt. (Synopsis politicae doctr., p. 253.) Also gar kein eigentlicher Handel (Kauf zum Wiederverkauf) mit Korn! In tbeuerer Zeit soll die Ausfuhr untersagt werden. Ferner Zwang des Staates gegen alle Kornbesitzer, ihre Vorräthe zu verkaufen, selbst zu niedrigen Preisen. (Vilae et mortis consid., p. 10 ff.) 18

Von der Gewerbepolitik im engern Sinne des Wortes handelt Besold eigentlich nur mit Rücksicht auf die Zünfte. Hier tragt er die Meinung seines Zeitalters vor, aber in ihrer gelagertsten Form. Auto- nomie der Zünfte über alle ihre Angelegenheiten : nur muss deren An- wendung eine rahonabilis sein und weder den Staatsgesetzen, noch den guten Sitten zuwiderlaufen. Keine Abreden zur Monopolisirung der Waaren, zur Festhaltung hoher Preise etc., zur Beschränkung des Pu- blicums in der freien Wahl unter den Zunftmeistern. Kein Vertrinken der Geldstrafen, die vielmehr der Armenkasse zufallen müssen. Die Fernhaltung der Bader, Müller, Hirtenkinder etc. von der Zunftfähigkeit verwirft Besold mit den Reichsgesetzen seiner Zeit; die der unehelich Geborenen nennt er eine proba conmetudo. (Dissertationes de iure rerum, familiarum etc., 1624, p. 47 ff.) Das meisterhafte Gemälde der spanisch- portugiesischen Trägheit und Ueberschätzung persönlicher Dienste, (Vitae

17) Auch B od in us war für ein massiges Vorrecht der Erstgeborenen, (keine spanischen Fideicommisse!) ein geringeres Erbrecht der Töchter, sowie einige Be- schränkungen der Testamentsfreiheit vornehmlich deshalb, damit allzu grosse Reich- Ihümer in Einer Hand verhület würden. (De rep. V, 2, p. 823 ff.)

18) Selbst in Holland gehört zu den frühesten Vertheidigern des freien Kornhan- dels D. Graswinkel Aawnerkingen oude Bewachungen etc., 4 651. Je mehr Koni- Wucherer im Lande, um so weniger Monopol. Man soll in der Theuerung die Last nicht allein auf die Kornbesitzer legen, sondern (mittelst Armensteuer elc.) gleich- massig auf alle Wohlhabenden. Aehnlich de la Court Polit. Discoureen (4662) /, 4. Und doch hatte bereits in Luthers Zeit Sebasl. Frank die Ahnung ausge- sprochen, dass die Bosheit der Korn Wucherer von Gott für Nothzeiten gebraucht werde! (Sprüchwörter gemeyner tütscher Nation; vgl. auch Seb. Franks Wellbuch fol. 63'.)

61] Aeltebk deutsche Nahonaiökonomik. 388

et mortis consid., p. 19,) ist zwar von Besold nur aus Clenard entlehnt; doch spricht diese Herübernahme nicht bloss für seine eigene richtige Ansicht von solchen Dingen, sondern namentlich auch dafür, dass er sich durch seine politisch-religiöse Parteistellung nicht ganz über Spa- nien verblenden Hess.

Besolds Regaltheorie ist eine sehr gemässigte. Im Allgemeinen lehrt er: nova regalia non sub praelexlu absolutae potestalis esse inslu tuen da. (De iuribus maiestatis, 1625, p. 144 ff.) Wiederholentlich äus- sert er seinen Abscheu gegen die novi poliHci ex Italia redeuntes, qui quavis fraude principibus a subdilis pecuniam exlorquere fas licitumque esse pulant, Machiavelli plerumque praeceptis et exemplis principum, quorum rationes non capiunl, ad id abutentes. (De aerario, p. 59. 165.) Wider Geldbussen ist er nicht unbedingt ; er warnt aber strenge, ja nicht den Rechtszweck derselben hinter den Finanzzweck zurücktreten zu las- sen. (De aerario, p. 41.) Vermögenseinziehung missbilligt er schlecht- hin. (Synopsis doctr. polit., p. 243.) Dagegen empfiehlt er, nach Ana- logie der Sklaverei, die Verbrecher, statt der Verbannung, Geisselungetc, durch Strafarbeiten nützlich zu machen, sofern dies ohne Verletzung göttlicher Vorschriften geschehen kann. (De aerario, p. 50.) Aemterver- käufe nur im dringendsten Nothfalle gestattet. (Ibid., p. 161.) Staats- monopolien sollen bloss caute et nonnisi ab antiquo ita fuerit observatum fortdauern: nicht allein, um den Erwerb der Unterthanen nicht zu schmä- lern, sondern auch, quia in negotiationibus major industria et sollicitudo requiri videtur, quam quae in officiales publice conductos cadat. (Synopsis doctr. polit. , ;;. 243 ff.) Aeusserst wichtig! Deshalb ist aller Staats- handel nur unter drei Voraussetzungen zu empfehlen : dass der Verkehr dadurch nicht erschwert, sondern gefördert, namentlich von Betrug freier wird; dass der Staat nicht inländischen, sondern ausländischen Kaufleuten Concurrenz macht ; dass der betreffende Handelszweig für Privatleute unmöglich ist. (De aerario, p. 44.) Das Lotterieregal verwirft Besold schlechthin, quum non tantum finis, sed et media debeant esse ho- nesta. (Ibid. p. 47.)

In Bezug auf die Steuern hält er das Bewilligungsrecht der Land- stände mit voller Entschiedenheit fest, wobei er ein Wort Kaiser Maxi- milians I. anführt, der deutsche Kaiser sei re dei re, der König von Spa- nien re degli uomini, der König von Frankreich re degli asini. (De aerario,

324 Wilhelm Röscher, [62

p. 63 fg.)19 Von Eduard III. erzählt er ganz ernsthaft, dass er einst- mals um einen Haufen erpressten Steuergeldes den leibhaftigen Teufel spielen gesehen, (p. 40.) Er empfiehlt auch eine strenge Controle der Stände über die Verwendung der bewilligten Steuern, was für die Herr- scher nichts weniger als ehrenrührig sei. (p. 67.) Hört der Grund der Bewilligung auf, so muss auch die Steuer aufhören, (p. 69.) Alle fürst- lichen Räthe müssen sich ins Herz schreiben, consulenles principi, ut nova imponat tributa et vectigalia sine magna causa, esse in inferno poems tarla- reis cruciandos perpetuo. (p. 1 67.) Besold erinnert daran, dass harter Steuerdruck nach Salvian den Barbaren die Strasse zur Eroberung des römischen Reiches gebahnt hat. (p. 82.) Von den einzelnen Steuerarten ist er mehr fllr indirecte Steuern, (vectigalia von vectura,) als für directe, (tributa,) weil man verhältnissmässig leichter etwas abgiebt, wenn man selbst eben gewonnen hat. Ebenso lobt er Ausfuhrzölle mehr, als Ein- fuhrzölle * namentlich wenn sie den Fremden vor den Einheimischen treffen, (p. 77.) Seine Abneigung wider Steuern auf nothwendige Le- bensmittel, sowie gegen Albas zehnten Pfennig (hoc onus Belgium Hi- spano ademisse videturf) war damals keine persönliche Eigentümlich- keit, (p. 79 ff.) Bei directen Steuern ist er sehr für die aliquote Form: humanuni magis est, imponere cerlam frugum partem, »denn wan man jährlich etwas Gewisses für Hagel und Wind reichen thut«. (p. 87.) Die Steuerfreiheiten verwirft er entschieden. Wenn bisher für die Frei- heit der Ritter genügende militärische Gründe sprechen, so haben diese doch jetzt sämmtlich aufgehört, (p. 91 fg.)21

Besolds Aeusserungen über Staatsschulden sind ebenso cha- rakteristisch für den Uebergang aus der rein privatrechtlichen Auffassung des Staates in die staatsrechtliche, wie für das gänzliche Fehlen der neueren Creditideen. Sind die Unterthanen verpflichtet, ihres Fürsten Schuld zu bezahlen? Nein, falls die Schuld aus Gründen des Luxus etc

4 9) Wenn die zu wünschende Freiwilligkeit der Steuerzahlung u. A. auf das eng- lische Institut der Benevolenzen gestützt wird, (p. 1 54) so ist das freilich eine grosse Verkennung dieses letztern.

SO) In der Wirklichkeit sind bei den meisten Völkern Ausfuhrzölle früher üblich geworden, als Einfuhrzölle : in Frankreich z. B. jene für eine Menge wichtiger Han- delsgegenstände schon 4 304, diese erst 1549.

21) Von S. 94 4 50 enthält das Buch De aerario eine sehr weitläufige Abhand- lung von Fragen aus dem Steuerrechte.

63] Aeltebe deutsche Nationalökonomie. 325

entstanden ist ; ja, wenn sie aus einer notwendigen Ursache herrührt ! Auch kann das Volk nicht glücklich sein , wenn sein Land nicht von jedem Pfandnexus frei ist. Daher werden sich kluge Stände nicht im- mer gegen Debernahme einer Steuer zur Schuldtilgung sträuben, und nur desto sorgfältiger die Wiederkehr des Uebels zu verhüten suchen. (De aerario, p. 55.) Uebrigens stimmt Besold ganz mit Bodinus über- ein, dass jede Staatsanleihe ausser im dringendsten Nothfalle, aerarii ac civitatis moliri eversionem. Namentlich sei nichts verderblicher und thö- richter, als einen Krieg von vorne herein auf Anleihen zu stützen. (p. 155.)

Ein in vieler Hinsicht interessantes Gegenstück zu Besold bildet der so oft von ihm citirte AdamContzen22, ein angesehenes Mitglied des Jesuitenordens, Beichtvater bei den Fürstbischöfen von Bamberg und Würzburg, eine Zeitlang sogar am Hofe Maximilians von Bayern, dann Professor zu Mainz. Sein Hauptwerk: Politicorum libri X (1629) ist »dem unbesiegten« Kaiser Ferdinand II. gewidmet. Er steht recht im Mittelpunkte der damaligen katholischen Reaction, obwohl seine Ansich- ten für diesen Standpunkt verhältnissmässig moderirte heissen können. Aber wie viel geringer ist er in wissenschaftlicher Hinsicht, als Besold ! Von Geschichte redet er zwar genug : seine furchtbare Weitschweifig- keit besteht zum grössten Theile in übel gewählten , pedantisch breiten und doch im Einzelnen oft sehr ungenauen Geschichtsbeispielen. Aber höchst selten findet sich eine Spur von geschichtlichem Geiste23. Ueberall nur der jesuitische Doctrinär, der nach dem Grundgedanken seines Or- dens einen wesentlich mittelalterlichen Zustand von Staat und Gesell- schaft durch geschickte Benutzung einiger modernen Kunstgriffe wieder- herstellen, ja verschärfen will.

Seine volkswirtschaftlichen Ideen sind im VIII. Buche : De poten- tia reipublicae, enthalten. Hier äussert er sich über die Notwendig- keit des Reichthums mit einem Enthusiasmus, der im Munde eines Geist- lichen, ja Mönches doch etwas geradezu Verletzendes hat. (Cap. 5.) Daneben die strengste Wuchertheorie des kanonischen Rechts: Zins-

tt) Gestorben 1 635 in einem Alter von mehr als 60 Jahren. 23) Wie z. B. p. 662, wo er den Luxus roher Völker dahin Charakteristik : quo quaeque getis magis barbara est, eo pluribus imperitare domi gaudet.

3S6 Wilhelm Roscra, [64

glaubiger sollen wie Diebe peinlich gestraft, alle Joden als venenalae be- stiae mit Verlust ihres Vermögens zum Lande hinaus gejagt werden. Contzen erinnert an die glorreichen Herrscher, welche dies wirklich gethan ; er zeigt , wie es den Juden selbst zum Heil gereichen müsse. (Cap. 17.) Ausserdem sollen montes pietatis dem Wucher steuern. (Cap. 18.) Er lobt die Gewerbe und empfiehlt deren Beförderung, freilich in unpraktischer Allgemeinheit, als im eigenen Interesse des Staa- tes liegend. (Cap. 1 5.) Gelegentlich denkt er auch an ein Verbot, inferri merces, quibus patria et nativa viliora fitmt. Dem Handel rühmt er nach, dass die Waaren durch seine Transportarbeit verbessert (d. h. brauchbarer gemacht) würden, selbst wenn einige physische Verschlechterung damit verbunden wäre. (Cap. 10.) Gewiss ein nicht unbedeutender Fortschritt gegen die Ansicht von Montaigne: Le proufict de Vun est le dommage de Faultre, und von Bacoo: Quidquid alieubi adiicitur, alibi detrahiluru. Auch das Lob. welches der Rechtspflege durch sachverständige Berufs- genossen ertheiR wird, ist eine geistvolle Zukunftsahnung; (Cap. 11) wenn es schon vielleicht gemeint war als Reminiseenz aus dem Mittel- alter. Um so schroffer sticht dagegen ab die ganz rohe Lobrede auf die Sklaverei, die sowohl aus Gründen der Wohlfeilheit, als der Arbeitswirk- samkeit empfohlen wird, selbst für die Staatsfinanzen Ä. (Cap. 1 5.) So missbilligt er die meisten Regaltyranneien seiner Zeit (Cap. 1 9) ; des- gleichen die meisten jener Plusmachereien, welche im zweiten Buche der aristotelischen Oekonomik aufgezählt sind. (Cap. 16.) Daneben räth er jedoch, wie sein Orden mit so grossem Erfolge praktisch gethan, statt der Besteuerung des Volkes Regierungshandel zu treiben. (Cap. 10.) Einen fast noch grellern Gegensatz bildet sein Eifer gegep Steuerfrei- heiten, sowie die Forderung, dass jede Steuer, um gut zu sein, potesta- tem, causam und proporlionem voraussetze und eessante causa aufhören müsse, (Cap. 7) zu dem höhnischen Worte, (Cap. 6) die Niederländer seien von Spanien abgefallen, um nicht den zehnten Pfennig zahlen zu müssen, und jetzt würden sie froh sein, wenn sie den zehnten Pfennig

24) Montaigne Essais /, 21. Baco Sermones fideles, Cap. 45.

25) Contzen denkt hier freilich nur an eine milde Sklaverei, will sie auch vor- zugsweise für gefangene Türken oder solche Inländer bestimmt wissen , die aus Na- turfehler, schlechter Erziehung, Verführung etc. ihre Freiheit nicht wohl ertragen können.

65] Aeltehe deutsche Nationalökonomik. 327

behielten. Echt mittelalterlich ist die mehrfach geäusserte Vorliebe Contzens für Natural- und Arbeitsstenern, (Cap.7) namentlich für leichte Staatsfrohnden, welche nach eigener Wahl der Pflichtigen entweder in Natura oder in Gelde abgemacht werden können (Cap. 8.)

V.

Die Kipper- und Wipperliteratur.

Bei der grossen Bedeutung, welche das Mttuzwesen ftlr die ganze Volkswirtschaft, und das Münzregal insbesondere für die Staatsgewalt hat1, ist es kein Wunder, wenn sich in der Münzgeschichte wie in einem engen Rahmen die ganze Geschichte des Volkes und Staa- tes abspiegelt. So verbanden z. B. die altfränkischen Könige bis auf Karl d. Gr. mit ihrer verhältnissmassig starken und concentrirten Staats- gewalt auch das ausschliessliche Münzrecht : beides zum grossen Theil auf Anknüpfungen an das römische Staatswesen beruhend. Wie nach- mals die Staatsverfassung durch das Aufkommen der Landeshoheit zu einer wesentlich aristokratischen wurde, erfolgten gleichzeitig die zahl- losen Verleihungen des Münzrechtes an grosse Unterthanen; und zwar machten sich in beiden Fällen ziemlich parallel erst die geistlichen, dann die weltlichen Herren, hierauf die Reichsstädte, zuletzt sogar, wenig- stens factisch, viele Landstädte von der frühern Abhängigkeit los. Wenn es in Deutschland auf der Höhe des Mittelalters gegen 600 verschiedene Münzstätten gab 2 ; wenn jeder Münzherr in seinem Gebiete den Umlauf anderer deutschen Münzen verbieten, die fremden Kaufleute zwingen konnte, ihr Geld mit seiner Landesmünze zu verwechseln ; wenn es eine der beliebtesten Finanzspeculationen war, alle umlaufenden Münzen ein- zurufen und nach Abzug eines hohen Schlagschatzes umgeprägt wieder-

4 ) Letzteres nicht bloss wegen des Schlagschatzes und der Handelspolizei, son- dern auch aus allgemeineren Gründen, welche die tiefsten Wurzeln des Verhältnisses zwischen Volk und Herrscher berühren. Noch heutzutage ist im Orient das Prägen von Münzen das anerkannteste Zeichen der Souveränetät; und von den Ursachen, welche den schlafenden Bonapartismus während der Restauration und Juliusmonarchie lebendig erhielten, ist es keine der geringsten, dass die übliche Goldmünze im Volks- munde immerfort den Namen Napoleons führte.

2) Vgl. Heineccius De nummia Goslar., p. 4.

Abhandl. d. K. 8. Oet. d. Witt. X. 22

328 Wilhelm Rose heb, [66

auszugeben3: so ist das eine Periode im Mttnzwesen, die sich wohl ver- gleichen lässt mit dem politischen Interregnum und Faustrecht des 1 3. Jahrhunderts. Nicht viel geringer 4 war die Münzanarchie in Frankreich während der aristokratisch-territorialen Zeit ; sie wurde hier aber durch eine schrittweise Rückkehr zum Mtlnzregale in derselben Zeit gehoben, wo auch politisch durch Unterwerfung der Grossen die spätere absolute Monarchie sich vorbereitete. In Deutschland war dieser Weg nicht möglich. Doch entsprechen den vielen Bündnissen, welche im 1 4. und

1 5. Jahrhundert zwischen Fürsten, Rittern und Städten geschlossen wur- den, zum Ersätze dessen, was Kaiser und Reich versäumt, die vielen Münzverträge derselben Zeit. Das Ende des 1 B. und der Anfang des

1 6. Jahrhunderts sind in politischer Hinsicht ausgezeichnet durch eine Menge wohlgemeinter, zum Theil grossartig angelegter Versuche zur Concentrirung und Organisirung des Reichs : ich gedenke nur der Reichs- gerichte, der Kreistheilung, der Reichspolizeiordnungen, der peinlichen Gerichtsordnung etc. Leider waren die wirklichen Ergebnisse von alle Dem sehr gering. Und gerade so ging es mit den drei- Reichsmünz- ordnungen derselben Zeit. Vielmehr wie am Ende, trotz jener politi- schen Einigungsversuche, der dreissigjährige Krieg die Anarchie des Reiches vollendete, so im Münzwesen trotz jener Reichsmünzordnungen die Kipper- und Wipperzeit.

Wollte man diese Kipper- und Wipperzeit von einem ganz bestimmten Zeitpunkte an datiren, so würde man in Verlegenheit kom- men. Denn die wetteifernde Ausprägung einer immer geringern Scheide- münze, weit über den Scheidebedarf hinaus, wodurch allmälich die gu- ten groben Sorten verdrängt und die gesammte Circulationsmasse ent- werthet wurde, geht durch mehr als ein Menschenalter. Auf dem Reichs-

3) Hier und da sogar zweimal in einem Jahre! (Glosse zum Sachs. Landrecht II, 86.)

4) Ganz so schlimm, wie in Deutschland, wohl nicht, obschon zu Philipps IV. Zeit 300 geistliche und weltliche Vasallen das Münzrecht aasübten. Aber auch nach Thomas Aquinas De reg. prineiputn II, 13 muss Deutschland besonders schwer an kranken Münzsystemen gelitten haben. In England hat sich das Münzregal viel unge- störter behauptet, gerade so, wie auch die Staatsgewalt im englischen Mittelalter keine solche aristokratische und provinziale Zersplitterung erfuhr, wie in Deutschland und Prankreich. Der Einfluss dieser Thatsache auf das Münzwesen lässt sich danach mes- sen, wie sehr viel weniger die englischen Pfunde Sterling, Schillinge etc. gegen frü- her an Silberwerth verloren haben, im Vergleich mit den französischen oder deutschen.

67] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 329

tage von 1566 wurde bestimmt, dass 68 Kreuzer gleich einem Thaler gelten sollten5; indess fuhren gleich damals einzelne bedeutende Terri- torien mit ihrer bisherigen Prägung von 72 Kr. = 1 Thaler ruhig fort. Um 1 585 nahmen die Kaufleute der Frankfurter Messe den Thaler zu 74 Kr. an. Im December 1 596 ward er von kaiserlichen Gommissarien zu Strassburg auf 84 Kr. »erhöhet«. Ganz besonders aber nimmt die Mttnznoth in den ersten Jahren des dreissigjährigen Krieges zu , wo ein förmliches bellum omnium contra omnes unter den Münzstätten geführt wurde. Nach der Au ff- und Absteigungstafel in David. Thoman. ab Hayelslein Acta publica monelaria l,p. 54 ward der Reichsthaler an mass- gebenden Stellen amtlich gewttrdert :

1616 und 1617 zu 90 Kreuzern

1618 »92 »

1619 » 108—124 »

1620 » 124—140 »

1621 » 140—270 »

1 622 (Februar und März) bis zu 600 »

Und zwar hatte namentlich das Jahr 1 62 1 jeden Monat eine andere Val- vation, oft sogar mehrere in demselben Monate. Selbst in Kursachsen wurde z. B. dem Münzpächter zu Hayn am 12. Mai 1621 gestattet, die feine Mark in Groschen und Schreckenbergern zu 6272 Gulden auszu- bringen, wofür er dem Kurfürsten wöchentlich 300 Gulden Schlagschatz entrichten sollte ö. Unter den Heilversuchen, die auf der Höhe des Ue- bels gemacht wurden, ist ausser den zahlreichen Verboten der Waren- ausfuhr sowie der Ausfuhr guten Geldes am auffälligsten die grosse Menge obrigkeitlicher Zwangstaxen für alle wichtigeren Lebensbedürf- nisse, die namentlich 1 623 erlassen wurden, als man sich ernstlich ver- abredet hatte, wieder zum Mttnzfusse von 1617 (90 Kreuzer auf den Thaler) zurückzukehren. Wissenschaftlich viel interessanter sind die Girobanken zu Hamburg (seit 1619) und Nürnberg (seit 1621), die in- mitten der allgemeinen Sttndfluth auf halbprivatem Wege doch wenig- stens zwei sichere Inseln bildeten.

Die Literatur dieser trostlosen Epoche können wir am besten in zwei Gruppen theilen : populäre Schriften, die namentlich in

5) Hirsch Münzarchiv II, S. 13.

6) Vgl. Klotz seh Chursächsische Münzgeschichte II, S. 463 ff.

22*

330 Wilhelm Roschei, [68

bellettristischem Gewände gegen das Kipper- und Wipperthura ankämpfen ; sodann wissenschaftliche Erörterungen. Sind die letzteren bezeichnen- der fUr den Zustand der Doctrin, so die ersteren für den Grad der Volks- bildung, zumal Geschmacksbildung ihrer Zeit.

Wie man die damals so beliebte Form der Allegorie7 auf das vorliegende Gebiet anwandte, davon mögen folgende Auszüge ein Bild geben.

»Discurss etzlicher Personen von dem itzigen Zustande der Kipper und Wipper : wie nehmlich ein Messpfaffe so viel Goldt und Geldt bey- sammen hat, dass er nicht gewusst, wo er damit hin soll. Endlich gibt sich ein einfeUiger Wipper an, und weil auch ein Landtjuncker in einer Stadt ein Wagen voll Schaffs-Käse feil hat, da seynd mehr als in die zwei- hundert Wipper, die drungen sich auff den Wagen, dass kein arm Mensche dazu kommen kundte ; zuletzt, als der letzte Wipper vom Wagen herun- ter steigt, so hat er fast ein Centner Geldt am Halse und tritt dem Edel- mann die eine Ax am Wagen entzwey. Item, was es auch endlich mit diesen Personen fllr einen Aussgang gewinnt. Gedruckt zur schweren Müntze bei Wippershausen, Anno 1621.« Ein überaus lederner, mit Schimpfworten angefüllter Dialog, worin Pfaff, Narr, Handwerker, Jun- ker, Wipper, Bauer, Bettler, Landsknecht, Tagelöhner und Tagelöhnerin vorkommen.

»Der Wartzken-Mann von Kippern und Wippern, Bericht gebendt, wo die K. hergekommen, wo Müntz ihre Roth genommen. Etwa auff- gefilhrt, in Reim torquirt, mit Wahr geziert und erudiert durch den Jun- gen Caspar Kinkeln von Klosterlitzsche. Im Jahr: Herr Wipper soL aVffs hohe RaDt, Dann ers ganz LanD beraVbet hat.« (1 621.) Einem

7) Sehr charakteristisch ist in dieser Hinsicht die Siegesmünze, welche Kurfürst August von Sachsen auf den Sturz der Melanchthonianer prägen liess. Er selbst im Harnisch, mit der einen Hand das Kurschwert, mit der andern die Wage haltend, ,

steht auf dem Schlosse Harten fels, wo der entscheidende Landtag gehalten war. Ue- i

her der Wage schwebt die Dreieinigkeit. In der sinkenden Schale sitzt das Christ- kind mit der Umschrift: »die AlmachU; in der steigenden sitzen die vier Wittenberger Theologen, über ihnen der Teufel, die sich vergeblich anstrengen, ihre Schale, deren Umschrift: »die Vernunft« lautet, herabzudrücken. (Tenzel Saxonia nutnismatica, i

Albertin. Linie, S. 4 37 ff.) Seit dem niederländischen Aufstande war die, den Jesui- ten sehr empfindliche, Literatur der satirischen Flugschriften mit Holzschnitten be- deutend geworden, in der z. B. Fischarts Gemälpoesien hervorragen. ,

69] Aeltkre deutsche Nationalökonowk. 33|

Arzeneihändler in den Mund gelegt. Die Kipper sind aus dem Samen einer Blume, die aus dem Blute hingerichteter Verbrecher entsprossen. Weil sie Kipper heissen, darum »kuppern Geldt,« und ähnliche Witze. Besser ist die aus dem Leben gegriffene Erörterung, wie alle Uebrigen ihre Waarenpreise steigern, bloss die Beamten, Pfarrer, Schulmeister, Studenten, Regenten nicht, überhaupt der nicht, »der sein gewisse Sol- dung hebt.«

»Jedermannes Jammerklage von der falschen Wipper Wage.« Ohne Druckort, 1621. Nach einander klagen hier in Knittelversen Bettler, Tagelöhner, Gesinde, Boten, Spielleute, Bergleute, Handwerksmann, Bauer, Kaufmann, Student, Theolog, Medicus, Jurist, Hoffrath, Edelmann, Prälat, Graff, Fürst, Hertzog, König, Kayser, Gott. Hierauf klagen alle Münzsorten einzeln, vom Heller bis zum Ducaten; dann Silber, Gold, Kupfer. Zum Schluss die Grabschrift eines Kippers in Form eines Ge- sprächs. Alles in hohem Grade langweilig und geistlos.

»Wachtelgesang, d. i. warhafftige, gründliche und eigentliche Nah- mens-Abbildung, wie man nemlich jetziger Zeit das schändliche heillose Gesindlein der guten Müntz-Ausspäher und Verfälscher, welche der Teuf- fei als ein Meister alles Betruges in diesen letzten Häfen der Welt auss- gebrütet hat, in dem Wachtelschlag oder Gesang so artig und deutlich mit ihrem rechten Nahmen genennet und nahmhaQl gemacht worden. Darbei dann Augenscheinlich zu sehen, was vor unaussprechlicher Schaden das Teuffelische Geldverfälschen unserm lieben Vaterland Deutscher Na- tion zugefilget wird, wie auch aller Stände, sonderlich aber des lieben Armuts eusserstes verderben muthwilliger weise dardurch verursacht und mit Fleiss gesucht wird. Gestellet von Crescentio Steigern, Valde- Joachimico. Gedrucket zu Kipswald, am kleinen Schreckenberg 8 gele- gen. Im Jahr Dar Innen GoLD VnD SILber rein In KVpffer Ist Verkehrt. 0 Pein!« (1621.) In Knittelversen. Der Witz drehet sich um den Wachtelruf: Kippdiwipp. Von der Poesie genügt folgende Probe.

»Dass solche loss verfluchte Leut

In Rürtzen es dahin gebracht,

Welchs kein Mensch auff der Welt gedacht,

Dass ein Reichst haier in der Summen

Sobald sollt auf 5 Gulden kummen.

8) Man erkennt die witzlosen Anspielungen auf die JoachimsthaJer, die Schrecken- berger Münzen etc.

332 Wilhelm Röscher, [70

Welches mein Nachbarn wird missfallen,

Der jetzund sol sein Hauss bezahln

Andre wercjen dess auch nicht froh, Die Species in deposito Genommen haben vor vier Jahren, Müssens mit Schaden jetzt erfahrn etc.«

»Historische Relatio, dass jüngst 1 . und 2. Nov. Allerheiligen dieses 1 621 . Jahres in Parnasso unter den Göttern über jetzigen in Teutschland wesendem Kriegs - und Müntzwesen gehaltenen Rathschlag. Wie der- selbige observiret und aufgenommen durch Chrislodorum Pistopatriotam Vargium.« (Ohne Druckort.) Mit sehr viel eingemengtem Latein, über- haupt sehr zopfig, aber nicht ohne Geist, grobianischen Geist9. Mars mit seinen Genossen und Mercur mit den seinigen wird bestraft. Den Krieg giebt der Verfasser hauptsächlich den Essuiten oder Jesuwiddern Schuld, wobei u. A. selbst die engen Hosen der Ordensbrüder vorkommen. (»Da- mit, wenn sie bei jungen Weibern liegen, nicht allzeit die Hosen auff- binden, oder durch dicke Kleyder gehindert, jnen der Pinsel zu kurz werde.«) Schliesslich wird den Kippern und Wippern aus dem Corpus Juris nachgewiesen, dass sie sacrilegium, crimen laesae majestalis began- gen, die lex Julia de vi publica, lex Cornelia de sicariis, lex Julia de an- nona übertreten haben, crimen falsi, Injurien, Diebstahl üben, usurarii sind u. dgl. m.

»Mysterium mysteriorum mundanorum, d. i. ein Welt- und Geldge- heimniss, oder kurze Satyra und freyer Discurs, darinnen öffentlich recht und respective theologico-politice von dem grossen Mangel, so bey Reichen und Armen mit grossem klagen und seufltzen in der gantzen Christen- heit im schwang gehet, tractirt und die Welt proponirt wird: 1) der hochschädliche Weltschad der Geld Aufschlag ; 2) der schändliche un- leidliche unerträgliche und unverantwortliche Wucher dess interesse per- cento; 3) der schändliche und unleidliche auffkauff der Victualien und Wucher zu wohlfeilen Zeiten auf künftige Thewrung, Auffschlag und Unglück.« Von MM. C. (Ohne Druckort, 1 620.) Eine sehr geschmack- lose Erfindung. Dem Verfasser träumt 10 von einer unermesslichen Volks-

9) Wer diese Schrift mit dem Hans Sachsischen Götterrathe über Deutschland (1544) vergleicht, der wird freilich einen merkwürdigen Abstand zu Ungunsten jener finden. Näher liegt die Vergleichung mit Fischart.

10) Gerade, wie im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts die Pritschmeislergc-

?*] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 333

Versammlung, die über die schweren Zeiten betrübt ist, und von wel- cher er nun aufgefordert wird, seine Vorschlage zur Abhülfe der Noth zu machen. Dieser Eingang ist 9 Seiten lahg, die eigentliche Rede 1 4V2 Seiten. Wenn S. 26 über den Zinsfuss von 7 20 Procent geklagt wird, so ist das in jener Zeit des Krieges und der Münzfälschung nicht unbegreiflich.

Auf einer Mittelstufe zwischen der bellettristisch -populären und wissenschaftlichen Behandlung der grossen Zeitfrage steht: »Vindicatio et excusatio publicanorum germanicorum propria, d. i. Eigene Ehrenret- tung und Entschuldigung der jetzigen Deutschen Zöllner, Wipper, Kip- per, newer Müntzer, Land- und Leut-Betrieger etc. Auch derselben überaus grosser Nutz, empfindliches Heil und erspriessliche Wolfahrt, die sie unserm lieben Vaterlande (wie sie gentzlich darfür halten) sollen und wollen gestiftet haben etc. Durch Fochum Neunmann Ramburgen- sem, Theol. Stud.« 1622. (Ohne Druckort.) In sehr schlechten Ygr- sen wird hier die Selbstverteidigung der Kipper und Wipper ausge- führt und widerlegt. Namentlich, dass ihr Verfahren sie bereichere, ohne doch jemand Anders zu schaden ; (die Theuerung schadet Allen, auch den Kippern selbst, oder doch ihren Kindern mit.) Dass ihre Theue- rung in der Bibel geweissagt sei ; ja, aber mit Ungeziefer, Heuschrecken etc. zusammen, und denen gleichen die Kipper wirklich.) Endlich, dass es doch eben ihr Handwerk sei, dem auch der göttliche Segen nicht fehle ; (der Verfasser stellt es mit dem Diebstahle zusammen.) Die Theuerung der Waaren erklärt unser Buch nur daher, dass die Kipper und Wipper ihr ttbersilbertes Kupfer auszugeben suchten, bevor es roth wurde, auch sonst wegen ihres leichten Erwerbes furchtbar verschwendeten.

Eine sehr eigentümliche Ausartung der damals allmälich abster- benden Gewohnheit, alles geistige Leben theologisch zu färben, sind die zahlreichen Parodien geistlicher Themata zu weltlichen Zwecken. So z. B. »Ein newe Litaney, Beedes für die arme nohtleydende Christen unnd für die reichen unbarmherzigen Juden. Gestellt durch Lazarum Patientem von Armutheya. Gedruckt zu Pressburg im Hungerland, 1624, Im Monat : Wenn man singt von dem heyligen Geist, da das Korn gilt am allermeyst.« Nach unserem Gefühle durchaus blasphemistisch.

dichte gern mit einem Traume eingeleitet werden: vgl. Gervinus Gesch. der deut- schen Nationalliteratur HF, S. 4 44.

0

334 Wilhelm Roscheb, [72

Links steht das Christliche, rechts das angeblich Jüdische. »Kyrie Eley- son. (Gieb mir meh Geld z'Iösen.) Ghriste Errhöre uns. (Kiste Bereiche uns.) Herr Gott Vater im Himmel. (Herr Mammon unser Vater.) Herr Gott Sohn der Welt Heiland. (Herr Gold unser Heiland.) Herr Gott hei- liger Geist. (Herr Geld heilloser Geist.)« U. s. w. So ist das »Evange- lium zu lesen von dem hochstraffbarlichen Unwesen der Kipper und Wipper« (Ohne Druckort, \ 622.) eine sehr frivole wörtliche Parodie von Matth. 11, 2 ff. Ganz nach Art eines geistlichen Liedes geht die Schrift : »Der Armen Seufftzen über der Ungerechtigkeit, so überhand nimpt diese zeit, durch übermacbtes Müntzn und Wippen, die d' Armen ins Verder- ben kippn. Gestellt zu Nutz dem Vaterland durch einen der Gregor Ritzsch genandt. Leipzig : im Jahr, da gute Müntz verschwandt, Kipper VerDerben eVr LeVt VnD LanD.« (1621.)

Unter den zahllosen Predigten, welche gegen die Kipp wipperei ./ gehalten und zum Theil auch gedruckt sind, hebe ich nur eine hervor ^ ^ von Joh. (fepfelbach, Pfarrer zuLössnigk: »Wippergewinnst, d. i. christ-

liche und wohlmeinende Erinnerung an die unchristlichen Geldhändler, so den zuvor unerhörten Namen K. und W. führen, durch welche aller- ley Landsbeschwerung eingeflihret und verursacht worden, da sie zwar Geld und Gut gewinnen, doch hingegen Gottes ernste und unausblei- bende Straffe verdienen. Ob doch etliche etlicher Massen in sich gehen, und ihrem eigenen Verderben, danach sie gehen, entgehen möchten.« (Leipzig, 1621.) Eine nicht üble Predigt in Versen. Gleich Anfangs wird der Krieg mit Recht als eine günstige Gelegenheit für die Wipper bezeichnet. Ebenso treffend geschildert, wie diese letzteren alles gute Geld zurückhalten, mit dem schlechten Immobilien kaufen etc. Die Gründe, womit sie ihr Thun zu vertheidigen pflegten, waren vornehm- lich folgende : Kaufleute müssen von ihrem Handel leben ; Geldhandel ist ebenso erlaubt, wie Handel mit Waaren ; thue ich's nicht, so thun es andere Leute ; man muss sich nach der Zeit richten ; viele Dinge wer- den jetzt üblich, die es früher nicht waren ; u. dgl. m.

Als wissenschaftliche Bekämpfer des Münzunwesens gelten in dieser Zeit besonders Geitzkofler, Henckel, de Spaignart und Lampe, die nicht bloss von den Zeitgenossen als Auctoritäten citirt wer- den, sondern zum Theil noch lange nach ihrem Tode11.

4 4) So ist z. B. während einer spätem Münzverwirrung, gleichseitig mit den Raubkriegen Ludwigs XIV., zu Frankfurt und Leipzig 4 690 eine anonyme Schrift

73] Aeltere deutsche Nationalökonomie. 335

ZachariasGeitzkoflerzu Gaylenbach, Ritter und kaiserlicher vornehmer Rath, gehörte unter K. Matthias und Kiesel zu den Gemäs- sigten, welche vor den Heisspornen der katholischen und absolutisti- schen Partei, wie z. B. der nachmalige K. Ferdinand IL, zu warnen pflegten 12. Seine Schrift : »Ausführliches in den Reichs Constitulionibus und sonsten in der Experienlz wolgegrttndetes Fundamental Bedencken über das eingerissne höchstsch&dliche Mttntz Unwesen und stäygerung der groben Geltsorten von Golt und Silber,« ist ein dem Kaiser gegebe- nes Gutachten, welches nach dem Tode seines Verfassers von einem »Liebhaber der Gerechtigkeit der teutschen Nation zum Besten« 1622 zum Druck befördert wurde. Er bemerkt hierin treffend, dass »zwi- schen Gold und Silber per naturam rerum im Werck nimmermehr keine gewisse Vergleichung zu finden,« obschon das Reichsmttnzedict eine ge- wisse Proportion festsetze. (S. 28.) »Der wesentliche Reichthum besteht in der Substanz des Goldes und Silbers.« (S. 31«) Dieser münzpolitisch ganz richtige Gedanke wird dann freilich zur Unterlage eines Mercantil- systems gemissbraucht. Es sei wfinschenswerth, Gold und Silber mög- lichst im Reiche festzuhalten. Deutschland werde alljährlich ärmer, weil die ausgehenden Waaren viel weniger Werth haben, als die eingehen- den, zumal solche unnützen Scheinwaaren, als Borten, Seiden, Sam- met etc. Daher sollte man streng auf die Luxusverbote der Reichspoli- zeiordnungen halten, die Ausfuhr ungemttnzten Goldes und Silbers ver- bieten, die des gemünzten an jeweilige obrigkeitliche Erlaubniss bin- den etc. (S. 48 fg.) 13

erschienen: »Das bey dieser Zeit landverderbliche Müntzwesen, worinnen vornemblich dieser Hauptpunkt und Frage mit vielen' Beweissgründen examiniret und ausführlich erörtert wird : Ob eine hohe Christliche Obrigkeit, umb ihres eigenen Nutzens willen, die Müntze von Zeit zu Zeiten umbzumüntzen, schlechtere und geringere daraus zu machen, mit gutem Gewissen zulassen und billigen könte, u. s. w.c Fast ganz der wiederaufgewärmte Spaignart, doch ohne dessen Namen zu nennen 1

4 2) Vgl. sein merkwürdiges Schreiben bei Londorp Acta publica /, S. 4 84 fg., worin er sich auf Thuanus beruft und den Gang des spätem dreissigjährigen Krieges ziemlich voraussagt.

4 3) Geistig verwandt mit Geitzkofier ist eine Reihe mehr oder minder lehrrei- cher Münzbedenken der Reichskreise, die, zwischen 4 603 und 4 607 ergan- gen, alle schon über grossen Verfall des Münzwesens klagen. Das fränkische Beden- ken trägt besonders auf Luxusverbote an, um die Geldausfuhr zu hindern ; das bayer- sche unmittelbar auf Verbot der Geldausfuhr, daneben freilich auch auf Verbote der Einfuhr schlechter Münzen, des unmässigen Scheidemünzen*, des Umwechseins

336 Wilhelm Röscher, P*

Wesentlich anders lauten die Systeme der Geistlichen, von denen zu jener Zeit die protestantischen an wissenschaftlicher Bildung den ka- tholischen nichts weniger als überlegen waren. Tobias Henckel, Pastor zu Halberstadt, ist der Verfasser von drei hierher gehörigen Schriften. 1) »Gewissenstritt aller sicheren Leugenhöltzer, Geldhändler und Müntzer. Darum erörtert wird die dreyfache Frage : ob jemand mit gutem Gewissen könne seinen Beruff verlassen, ein Geldhändler werden und sich zum heutigen Mttntzwesen begeben. Anfangs gepredigt bey Anlass des Evangeliums auf den V. Trinitatis « (Halberstadt, 1621.) Hier wird gezeigt, dass die Ausschiessung und Wegsendung der guten Münzen dolus malus, stelliotialus (»Finanzerei«) und Wucher sei (S. 1 3 ff.) : Alles ohne im Mindesten auf das Wesen der Sache einzugehen, aber mit sehr weitschweifiger Berechnung, wieviel Procent ein Kipper bei ra- schem Umsatz jährlich gewinnen könne. Dagegen lauter moralische und juristische Trümpfe. »Betrachte, was das Dir Leute seyn, die da wehrt, dass sie unredlich gemacht, das Entwendete mit Hohn oder Spott wie- dergeben, auss ehrlichen Emptern und Zünfften gesetzt, den Dieben gleich geachtet und an Leib und Leben gestrafft werden sollen.« (S. 1 3.) 2) »Gewissensspiegel aller eigennützigen Käuffer und Verkäuffer.« (Halberstadt 1621.) Später, als die vorige Schrift. Beantwortet die Fra- gen, ob der heutige Aus- und Vorkauf einem Christen anstehe, und ob eine gewissenhafte Obrigkeit ihn zulassen dürfe. Von der grossen Waa- rentbeuerung wird »nächst unserer Sünde« als Hauptursache die Münz Ver- ringerung bezeichnet, namentlich da die Geldhändler, »weil sie des Dreckes ohne sonderliche Mühe viel haben, es aufs Tollste ausgeben.« Dazu aber noch die Bosheit der Verkäufer, welche die Waaren zurückhalten oder exportiren. Die volkswirtschaftlichen Ansichten des Herrn Pfarrers sind naiv antimercantilistisch. So z. B. dass man billigerweise haupt- sächlich mit den Landsleuten verkehren soll, der Handel »zum Nutz des ganzen Regiments, d. h. aller und jeder Einwohner,« dienen muss (S.7); dass es »in nützlichen Kaufmannschaften erfordert wird,« für unsere Waaren andere nöthige Waaren wiederzuerhalten, da sonst Mangel und schwere Theuerung entstehen muss. (S. 9.) 3) »Extract funfzehner

schlechter gegen gute Münze, (ausser von Staats wegen, um die schlechte einzuzie- hen.) Im oberrheinischen Bedenken wird als gültige Entschuldigung vieler Münzver- ringerungen die Erschöpfung der Bergwerke angeführt, deren Baukosten doch immer noch gewachsen seien.

7S] AELTERE DEUTSCHS NATIONALÖKONOMIK« 337

Trostreden wider die neulich erregte and noch nicht ganz beigelegte Thewerung und Verwirrung, wie auch in eventum noch ktinfftige, wohl grössere. Neben angehengte Tröstungen fUr bussfertige Kipper und Mttntzere.« (Magdeburg, 1 622.) Hier wird vornehmlich eingeschärft, in der Mttnznoth Gottes Strafe zu erblicken, die wir überreichlich verdient haben, die auch immer noch milder ist, als Krieg, Feuer, Peslilenz und ahnliche Heimsuchungen. Sie kann auch durch Menschenkunst geheilt werden, indem man das Münzrecht wieder unmittelbar an den Staat zieht, die Münzgesetze streng befolgt, Taxen festsetzt, die Waarenein- sperrung verbietet etc. Auch bei diesem Uebel ist Ungeduld und Ver- stockung das Schlimmste. Man sieht, eine Menge von Wahrheiten, mehr aus Systemlosigkeit, als aus richtigem System, eben darum von dem Verfasser selbst in ihrer Tragweite gänzlich verkannt und durch beigefügte Irrthttmer geradezu paralysirt.

Andreas Lampius, Pfarrer zu Hall in Sachsen, schrieb ver- muthlich im Jahr 1 622 : »De ultimo diaboli foetu, d. i. von der letzten Bruth und Frucht des TeufFels, den K. und W., wie man sie nennt, welche einen newen Ranck erdacht, reich zu werden, und für niemand, als für sich und die ihrigen gross Gelt und gut zusammenkratzen, wie- wol mit eusserstem Verderb der gantzen deutschen Nation, vom höch- sten bis auff den Nidrigsten Grad, der Landesftirsten, sowol, als der al- lergeringsten Bettelleute in der Christenheit, was von denselben, und ihren Helffershelffern, etlichen Mttntzern, Juden und Jüdengenossen zu halten, den Elenden armen Kippherrn, wie reich sie auch sonsten sein, zur Nachrichtung Buss und Bekehrung geschrieben.« Hier wird fol. 17 ff. in grosser Breite gezeigt, dass die Kipp wipperei jedes der Zehngebote verletze 14. Ungleich wichtiger ist eine scheinbare Gegenschrift : »Ex- purgatio oder Ehrenrettung der armen K. undW., so mit grosser Leibes- und Lebensgefahr jetziger Zeit ihre Nahrung mit dem Wechsel suchen. Gestellet durch Cniphardum Wipperium Kiphusanum, jetzo bestellten speäal-Vf echssler in The wringen.« (1 622.) Mit dem Motto : Dat veniam corvis, vexat cenmra columbas, wird die sehr richtige nnd in damaliger Zeit fast unerhörte Betrachtung eingeleitet, dass man doch nicht bloss

1 4) Dass Lampius in Folge dessen mit einer Injurienklage heimgesucht worden, behauptet die Schrift : »Das bey dieser Zeit landverderbliche Müntzwesen«, (Frankf . und Lpzg. 1690) S. 38.

338 WauELM Roschkb, [76

die K. und W. selbst, sondern zugleich deren hohe Beschützer angreifen sollte. »Die kleinen Diebe hengt man, die mittelmessigen lest man lauf- fen, vor den grossen helt man den Hut in der Handt und setzet sie an Fürstliche Taffein.«

Ueberaus charakteristisch für seine Zeit ist Christian Gilbert de Spaignart, Pfarrer zu Magdeburg15: »Theologische Müntzfrage, ob christlich-evangelische Obrigkeiten umb ihres eigenen Nutzes willen die Müntz von Zeit zu Zeiten mit gutem Gewissen schlechter und gerin- ger können machen lassen ? Kürtzlich und einföltiglich nach Inhalt dess heiligen ewigwehrenden Wortes Gottes erörtert und beantwortet.« (Mag- deburg, 1621.) Nach vielen captationes benevolentiae an die Magdebur- ger Behörden, welchen das Buch gewidmet ist, unterscheidet der Ver- fasser vier Arten von Recht : Exempelrecht, das er missbilligt, nur in Nolhföllen zulässt; Juristenrecht, das gegen die obrigkeitlichen Falsch- münzer streitet; Kirchenrecht, wobei er mehrere Stellen des A. T. an- führt ; Gewissensrecht. Hiernächst werden alle die Sittenregeln herge- zählt, welchen das Kipper- und Wipperthum widerspreche. Verbot des Geizes, des Druckes gegen die Kirche, die Prediger nicht zu bösen Hän- deln zu reizen, ihnen das Strafamt nicht zu legen, die Schulen nicht zu zerstören16, den Armen ihr Almosen nicht zu schmälern, die Waisen nicht zu berauben , den Fremdlingen nicht wehzuthun , die Kranken nicht zu betrüben, kein Aergerniss zu geben, der Obrigkeit nicht zu widerstre- ben, frommer Vorfahren Gedächtniss nicht auszulöschen17, die Obrigkeit nicht zu verachten18, anderen Obrigkeiten ihr Einkommen nicht zu schmä- lern, keine neuen Steuern aufzulegen 19t die Leute nicht arm zu machen.

\ 5) Er hatte sich schon früher als rechtgläubiger Kämpfer gegen die Fama fra- temitatis R. C, (der Rosenkreuzer) 16t 4, hervorgethan.

\ 6) Weil jetzt die Studenten wegen der Theuerung nicht mehr auszukommen wissen.

47) Durch Umprägung des Bildes auf alten Münzen, obschon Christus selbst des heidnischen Kaisers Bild und Umschrift so hoch gewürdigt, dass er sie in seine heili- gen Hände genommen.

\ 8) Wenn sie durch Kipp wipperei sich selbst verächtlich macht, so entspricht das jenem Verbote ebenso, wie der Selbstmord dem Verbote der Tödtung.

4 9) Nach Rehabeams Art, sobald die Preise ihr Maximum erreicht haben werden, die Obrigkeit also viel Geld braucht, und man doch mit der Münzverringerung nicht weiter gehen kann.

77] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 339

keine Ursache zum Kriege zu geben20, die Soldaten nicht zum Raube zu verführen, nicht zur »Vertühlichkeit« zu locken21, die adeligen Geschlech- ter nicht zu unterdrücken, die Gewerbe nicht zu vertreiben, den Bücher- kauf nicht zu hindern 22, die Handwerker nicht um ihren Beruf zu brin- gen, jungen Ehepaaren nicht ihr Hochzeitsgeschenk, Täuflingen ihr Pa- thengeld zu mindern, Testamente nicht umzustossen, den Feinden keine Ursache zur Lästerung zu geben, Jähzornige nicht zum Blutvergiessen zu reizen23, die Jugend nicht von ihrem Berufe abzubringen, nicht zum Lügen und Stehlen zu verfuhren, nicht Ursache zur Unordnung, Unge- rechtigkeit, Landplagen zu geben, die Zehngebote nicht aufzuheben, den Ackerbau nicht zu hindern 2\ um Christi Willen sich böser Münzen zu enthalten25, der Frommen Gebet nicht von sich zu wenden, keinen Fluch auf sich zu laden etc. Ben Beweis der Regel führt Spaignart mei- stens ganz durch Bibelstellen, vornehmlich aus dem A. T., Sirach etc. Sein Geschmack für die Form zeigt sich u. A. im Folgenden : Solte ein Maler den Geitz malen, so müsse er ihm ein umb sich fressendes Lö- wenmaul machen, einen unersätigen Wolffsmagen, einen schmeichleri- schen Crocodillkopff, durchstankernde Katzenfüsse, ein bahr Greiffsklawen und darinnen einen diebischen Judasspiess«. (S. 47.) *

Von demselben Spaignart rührt noch her : »Die ander theologische Müntzfrage, was evangelische christfromme Obrigkeiten bey jetzigem entstandenem bösen Müntzen in acht nehmen sollen, damit sie, soviel möglich, ihres Gewissens pflegen können.« (Magdeburg, 1621.) w

20) Weil jetzt mit einem Thaler so viel gemacht werden kanfi, wie früher mit fünf. (!!)

2 1 ) Weil Niemand das schlechte Geld lange festhalten mag.

22) Die Landprediger können jetzt nicht einmal die Biblia regia oder glossata mehr kaufen.

23) Wenn sie von den Münzern betrogen sind.

24) Durch den hohen Preis der Werkzeuge etc., wobei also an die gleichzeitige Preissteigerung der Ackerbauproducte gar nicht gedacht wird.

25) Weil nämlich Christus von Paulus einigemal (Rom. U, 29. Kol. 4,15) mit Münzen verglichen wird.

26) Ebenso barbarisch ist die Gelehrsamkeit, die S. 75 auf Anlass der Hoch- zeitegeschenke ausgekramt wird, wo z. B. ausführlich die Rede ist von den Hochzei- ten Peleus-Thetis, Kadmos-Harmonia, Alexander d. Gr.-Statira, der Hochzeit zu Rana etc.

27) Den Hamburger Behörden gewidmet, die auch im Münzwesen ehrlich und mit des Verfassers Wohnorte im engsten Handelsverkehr stünden.

340 Wilhelm Röscher, [78

Hier wird zuerst nach Anleitung des salomonischen Thrones die Pflicht jeder Obrigkeit im Allgemeinen erörtert. Die sechs Stufen des gedach- ten Thrones entsprechen der pietas, eruditio, experienlia, prudentia, boni publici observatio und assiduiias in officio ; so haben auch die zwei Löwen auf jeder Stufe ihre allegorische Bedeutung, und alles Uebrige bis zur Krone hinauf. Nachher wird gezeigt, wie die Mttnznoth eine grössere Landplage ist, als Pestilenz w, wilde Thiere und Ungeziefer, Misswachs, Feuers* und Wassersnoth, zumal wegen der grössern Allgemeinheit. Selbst dem Kriegselende ist die Münznoth gleichzustellen. Gegen die- jenigen, welche von der Theuerung damaliger Zeit auch den Krieg, Miss- wachs etc. als Mitursachen geltend machten, bemerkt Spaignart, dass umgekehrt alle diese Uebel nur Strafen Gottes wegen der Münz Verrin- gerung seien; er findet hierzu Analogien im Anfange des Jesaias. (S.35fg.) Zu den schlimmsten Freveln der Kippwipperei zählt er die Beraubung des Altars, welche daraus hervorgehe, indem jetzt so viele kleinere Städte den theuern Abendmahlwein nicht mehr erschwingen können. (S. 57.) Unter seinen wirthschaftspolitischen Vorschlägen sind die wich- tigsten folgende. Keine Obrigkeit soll gestatten, dass Korn, Vieh, Waa- ren, Arbeit und ähnlicher Gottessegen mehr ausgeführt werden, bevor nicht das Land selbst durch und durch zur Genüge damit versehen ist. (S. 69.) Ebenso, dass nöthige Bedürfnisse »verhalten,« d. h. aufgespei- chert werden. (S. 74 ff.) Ausserdem fordert er ein allgemeines System obrigkeitlicher Zwangstaxen, (S. 78 ff.) ferner strenge Aufwandsordnun- gen, weil sonst »Geldmangel und Theuerung« (!) entstehen mttssten. Uebrigens hat Spaignart alle seine Ermahnungen bloss für lutherische Obrigkeiten, um diese zu bessern, geschrieben; allen anderen ruft er mit orthodoxer Gemttthsruhe einfach ein Wehe zu. (S. \ 02 fg.)

Aus den zahlreichen Facultätsgutachten über die Münzver- wirrung hebe ich das der Jenaer Theologen vom September 1 691 her- vor : »Von dem hochsträfflichen Müntzunwesen , so jetzt eine zeithero hin und wieder verübet worden ist, rahtsames, schrifilmässiges, auss- fUhrliches Bedencken.« (Halberstadt, 1 622.) Im Eingange wird ge- zeigt, dass ein Theolog zwar nicht im einzelnen Fall sagen könne, wie- viel und wann die Obrigkeit Steuern erheben soll, aber doch im Allge-

28) Das Verderben ist bei der Münznoth viel allgemeiner, die Nolh verstärkt sich selbst wieder, überlebt die etwa sterbenden Urheber des Unglücks etc.

79] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 341

meinen vor zu hohem Steuerdrucke warnen rauss. Ebenso wird auf Christi Verfahren gegen die Wechsler im Tempel gedeutet, um das Be- gutachtungsrecht der Facultät zu beweisen. Hiemächst belegen die Ver- fasser sehr weitschweifig aus der Bibel, dass der Christ neben dem Glau- ben auch nach einem guten Gewissen trachten muss ; dass unrechtmäs- sige Erwerbung zeitlicher Güter dem Gewissen widerstrebt; endlich, dass die jetzige Mttnzwirthschaft in vieler Hinsicht unrecht ist, sowohl ratione causae principialis, (da sie nicht von Gott herrührt,) als ratione causae impulsivae, (da sie der Habgier entspringt,) und causae Instrumen- talis, (wobei die Verfasser den Juden alle möglichen Lästerungen Christi, Schlachten christlicher Kinder etc. vorwerfen: S. 28 ff.) Weil das Geld communis rerum mensura ist, so muss eine Münzverringerung alle wirt- schaftlichen Verhältnisse zerrütten. (S. 42 ff.) Sie schadet sämmtlichen drei Ständen : den orantes, (wobei wegen der Prediger, Studenten etc. sehr lange verweilt wird,) den defensores und dem Hausstande. Bei dem letzten freilich übersieht das Gutachten ganz, dass die Bürger und Bauern doch nicht bloss theuer kaufen, sondern auch theuer verkaufen ; ebenso dass die Schuldner gewinnen, was ihre Gläubiger durch die Münz Verrin- gerung einbüssen. Alles immer vom Standpunkte des einzelnen, philiströ- sen Professors betrachtet! So wird z. B. S. 50 das Steigen des Gesin- delohns daraus erklärt, dass Jedermann bei den Münzern Dienst nehme. Am meisten verlieren die Armen, »weil keine kleinen Münzsorten mehr vorhanden.'« Sehr mangelhaft wird der Beweis geführt, dass die Kipp- wipperei dem Staate selbst schädlich. Da heisst es u. A. : jetzt schickten alle Wohlhabenden ihr Silberzeug auf die Münze ; wenn nun das Land einmal in Noth geräth, so sind alle Nothpfennige verschwunden, »weil der wesentliche zeitliche Reichthum, so in der Substantz des Goldes und Silbers besteht, mehrentheils hinweg, und das leichte Geld sich mit der Zeit auch verloren.« (S. 54.) Die Kippwipperei sündigt wider Gott, den Nächsten und sich selbst : was Alles mit sehr äusserlicher Benutzung von Bibelstellen und in gewaltigen Tautologien M erörtert wird. Als Mittel gegen die Münznoth wurden zu jener Zeit folgende empfohlen, aber von dem Gutachten (S. 74 ff.) verworfen: Erwartung des nahen tausendjäh-

29) So z. B. (sub 4b), weil Gott verboten hat, den Nächsten um Hab und Gut zu bringen, (1d) weil Gott will, dass man sich der Gerechtigkeit befleissige, (3b) weil die Kippwipperei Gottes Wort zuwiderläuft, (3f) weil sie auf den Sünder selbst und dessen Nachkommen Gottes Zorn ladet.

342 Wilhelm Röscher, [80

rigen Reiches, Gütergemeinschaft, Murren gegen die Obrigkeit, ja sogar Aufruhr gegen die Juden etc. Wahre Mittel hingegen sind folgende : vera conversio, wobei wir die Münznoth als Strafe unserer Sünde erken- nen, uns selbst als den verlorenen Groschen im Evangelium, und uns würdig machen, als Münze mit dem Gepräge von Gottes Ebenbild in die himmlische Schatzkammer gelegt zu werden ; ferner seria oratio, eincera emendalio, disciplinae ecclesiaslicae instauratio, indem zu kräftiger Ver- weigerung der Pathenschaft, Absolution, Communion und kirchlichen Be- stattung gegen die Uebelthäter gemahnt wird.

Einen erfreulichen Gegensatz bildet es zu diesen Salbadereien, wenn die Juristenfacultäten zu Leipzig (4 622) und Wittenberg (1623) sich in Gutachten dahin aussprechen, dass bei Schuldverhaltnissen immer auf den valor intrimecus der Münzen gesehen werden soll 3i. Es war dies gerade in Sachsen durchaus nicht so selbstverständlich, wie es scheint, da 1609 das kurfürstliche Decret der Appellation-Rhäte verordnet hatte, mehr auf die bonitas extrinseca, als intrinseca zu achten.

Wir beschliessen diese Auszüge mit einer Schrift, welche selbst eine Art von Encyklopädie der ganzen hierher gehörigen Literatur sein will. »Speculum Kipperorum, d. i. Kipper- und Schacherspiegel, darin zu sehen, wer sie seyn, was von ihnen zu halten, wie sie zu respectiren, wiederumb was sie angerichtet und übels gestiftet, auch desswegen verdienet. Dess- gleichen was von den Auff- und Ausskäufeln zu halten, ob sie es mit gutem Gewissen thun, und eine christliche Obrigkeit gestatten könne oder solle? Allen frommen ehrliebenden Christen, die sich dess Kippen

30) In dieser Hinsicht schliesst sich dem Gutachten folgende Schrift an : »Wohl

meinende Warnung vor Tumult und Auffruhr, dar innen erwiesen wird , dass

der gemeine Pöbel, als privat Personen, nicht recht und fug haben, derer Öffentlichen Wipper, Kipper, Juden, Juden genossen, falschen Müntzer, Vor- undAuffkSuffer, Auff- wechsler und dgl. Betrüger Hauser zu stürmen , und also hierdurch die gegen- wertige grosse Thewrung abzuschaffen. Durch Johannem Weinreicher, Isenacensem.* (Erfurt, 1622.) Einen merkwürdigen Contrast bilden hier, wie in den meisten 'ahnlichen Schriften, die vielen lateinischen etc. Citate und die Beweisführung, welche gegen die allerdümmsten Vonirtheile gerichtet ist: so z. B. gegen die, welche Selbst- hülfe des Pöbels mit den Steinigungen des A. T. rechtfertigen. (S. 37 ff.) Der Ver- fasser meint aber mit Recht, irgendwie seien fast alle Menschen mitschuldig an der Rippwipperei ; hier also die Selbsthülfe zu gestatten, hiesse einen Krieg Jedes wider seinen Nächsten heraufbeschwören. (S. 53.)

34) Aehnlich die zu Augsburg 16 23 bei Sebast. Müller herausgekommenen Tria responsa juris.

84] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 343

enthalten, zum Trost; den verdampten Gottesvergessenen Land- und Leuteverderbten, hochmütigen, stoltzen ärgerlichen Schacherern und Geitzhalsen aber zur Nachricht, auch Hohn und Spott im Druck verfer- tigt durch Johann Winterfeld Haygnensem, Juris divini et humani culto* rem.it (Hagenauw im Jahr VLtor MqVItatVM glaDIVs est.) (1624.) Das Verfahren der Kipper, die kleinen Münzsorten zu fälschen, die gro- ben im Preise zu steigern, erklärt das Buch als gegen die Natur der Münze streitend : denn nummus est res sterilis et ideo inventus, ut esset instrumen* tum contractu» legitimi, non ut esset merx, quae venderetur, quaeque suo usu ingentem pareret fructum. (S. 6.) Mit komischer juristisch-theologi- scher Gelehrsamkeit wird den Kippern zwanzigerlei schuldgegeben: u. A. dass sie den Armen das Almosen geschmälert uüd dadurch Mörder geworden seien ; auch sonst zu Morden Ursach gegeben, zu militärischer Plünderung, Diebstahl etc. gereizt haben, (weil die Menschen mit ihrer bisherigen Einnahme nicht mehr auszukommen vermögen.) Sie haben gegen alle fünf Hauptstücke des Katechismus gesündigt32, ebenso gegen die drei juristischen Grundregeln, (Neminem laede etc.) haben ein sacri- legium begangen, (weil man nun nicht mehr so viel in den Gotteskasten legt,) Kinder im Mutterleibe durch Hunger umgebracht, (also die Ldx Cornelia de sicariis übertreten,) Fürstengepräge zerbrochen und in den Tiegel geworfen, (also ein furtum cum atroci injuria!) alle Waaren gestei- gert, (also Verletzung der Lex Julia de annona !) »Aller Ehr und dignitet seid ihr unfähig und unwürdig. Non digni etiam communione s. sacra coena nee sepultura, dass man euch zum Nachtmahl gehen, zu Gevatter stehen, für Zeugen passiren, endlich auch begraben soll. . . . Euer ge- raubtes Gut gehört der hohen Obrigkeit als fisco, und ist solches eueren Kindern zu extorquiren, ne alieno scelere ditescant. Und ihr als Dieb, Mörder und Geldverfölscher gehöret an den Galgen, auff das Rad und in das Fewer, wie die beschriebenen Rechte . . . (mehrere Citate) euch Kippern solche poenam dictiren. . . . Welches ihr Geldmauscher euch nicht wollet verschmähen lassen und für ein calumniam anziehen ; dann die- weil ihr nach aussweisung der Kayserlichen Recht nicht aHein Leibs

32) Eine Redeform, die bis ins 18. Jahrhundert sehr beliebt war, so dass z. B. der Hamburger Neameister noch 4720 nachwies, die Union der Lutheraner und Re- formirten Verstösse gegen alle Zehngebote, alle sieben Bitten des Vaterunsers, alle drei Glaubensartikel, sowie die Artikel von der Taufe, vom Amte der Schlüssel und Abendmahl.

Abhandl. d. K. S. Oe«. d. Wiu. X. S8

344 Wilh. Ros€hbr, Aeltere deutsche Nationalökonomik. [82

und Lebens, sondern auch aller Ehr verfallen, so kan keine calumnia oder Ehrenrührige schmach wieder euch geredt werden. Ich bin gar gelind mit euch umbgangen.« Nun folgen allerlei Kraftstellen wider Gei- zige, Wucherer etc. von Augustin, Basilius, Ambrosius, Luther und an- deren Theologen. So z. B. : »alle Dieb, so in hundert Jahren gehenckt

worden, so viel nicht gestolen haben, als die Kipper Die Schweden

haben solche Gesellen zum teil in zerschmoltzener Mttntz gebrüet, theils in heissen Wasser ersäuft, theils an hohe Baume gehencket. 0 dass doch solche scharffe Exemtion wider etliche solche Grundschelme anheut vollzogen würde ! Sed nondutn otnnium dierum sol occidit, es kann die Straff noch hernach kommen.« Dieser scharfrichterliche Beigeschmack war damals nicht bloss in der juristischen, sondern auch in der theolo- gischen Polemik zu beliebt, als dass man hier, in dieser halbjuristischen, halbtheologischen Abhandlung, sich darüber wundern sollte. Merkwür- dig ist hier nur, dass nationalökonomische Gründe eigentlich gar keinen Platz daneben gefunden haben. In vielen damals geachteten Schriften gegen die Kippwipperei werden die Gründe sogar durch blosse Schimpf- reden ersetzt. So heissen die Kipper z. B. in Georg Zeaemann Wucher- ArmSe, S. 498: »schädliche gemeine Landräuber, Schelme, die ärger als gemeine Dieb, Arger als Unkraut, Meyneidige, Eyd- und Pflichtver- gessene Leut, Verächter Gottes Wort, und der hochwürdigen Sacrament» Epikurer« etc. Göldelius in seiner Predigt : Aetatis ulcerosae fomes et fu- mos nennt sie : »Höllstinckende Wucherer, eingeteuffelte und durchteuf- feite Geitzhälss, abgefaumte, abgeriebene und durchtriebene Ertzkipper, leichtsinnige Schandfunken, Ertzdieb, Grundschelmen« u. dgl. m.

Man sieht aus diesem ganzen Kapitel, wie sehr die Obrecht, Bor- nitz und Besold über dem Durchschnitte ihrer Zeitgenossen hervorrag- ten, wie lange folglich das im ersten Kapitel aus Männern wie Spangen- berg und Erenberg entlehnte Bild seine Gültigkeit bewahrte.

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DIE

SCHLACHT VON WARSCHAU.

1656.

VON

JOH. GUST. DROYSEN

AbhandT. d. K. 8. Oe». d. Wim. X.

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Die Schlacht von Warschau.

1656.

Die grosse dreitägige Schlacht, die in den letzten Julitagen .4656 bei Warschau geschlagen worden, ist mililairisch wie politisch von her- vorragendem Interesse.

Es ist die erste grosse Feldschlacht, von der man nachweisen kann, dass sie nicht bloss im Handgemenge, sondern durch eine Reihe com- binirter Bewegungen entschieden ist, Sie zeigt in einem besonders spre- chenden Beispiel das Uebergewicht der Disciplin und der tactischen Ausbildung über eine Kampfweise , welche die Eigentümlichkeiten der mittelalterlichen Militairverfassung fast noch vollständig enthält.

Es ist die erste Schlacht der preussischen Armee. In ihr hat das Haus Brandenburg recht eigentlich seine Souverainetät begründet. Mit ihr tritt der werdende Staat in die Reihe der Mächte der baltischen Politik.

Nicht diese Gesichtspunkte sind es, welche im Folgenden entwickelt werden sollen ; sie durften angedeutet werden , um in der Bedeutung des Ereignisses, von dem ich handeln will, eine Rechtfertigung dafür zu finden, dass ich es einer kritischen Erörterung unterziehe. Meine Auf- gabe beschränkt sich darauf, das Material namentlich für die militairische Beurtheilung dieser tactisch und strategisch gleich anziehenden Vorgänge zu sichten und zurecht zu legen.

Ich werde zuerst von den Quellen sprechen, aus denen die Schlacht kennen zu lernen ist» dann den Verlauf derselben nach ihren einzelnen Momenten festzustellen suchen., endlich die politisch-militairischen Fä- den, die sich zu diesem Knoten verschürzt haben, verfolgen.

34

348 Jon. Gist. Droysen, [4

I. Die Quellen.

Bekanntlich hat Samuel von Pufendorff in seinem 1 695 veröffent- lichten Werk de rebus gestis Friderici Wilhelmi Magni Electoris die Acten des Berliner Staatsarchive in völliger Freiheit benutzen können und in wahrhaft bewundernswerter Weise benutzt. Es schien nach ihm nicht nöthig zu sein von Neuem die urkundlichen Materialien jener Geschichte des grossen Churfllrsten zu durcharbeiten ; das was Pufendorff gab, galt dafür richtig und erschöpfend zu sein.

Auch in Betreff der Warschauer Schlacht , deren Verlauf er aus- führlich darstellt (VI. 3G 40) blieb in der preussischen Militairliteratur bis in die neueste Zeit seine Darstellung maassgebend. Und die allge- meine Kriegsgeschichte nahm wenig Notiz von dieser Schlacht wie über- haupt von den Kriegen Karl Gustavs von Schweden, da in dieser Disci- plin Frankreich seit Turennes Kriegen und Feuquteres Memoiren das allgemeine Urtheil bestimmte.

Erst Professor S t u h r t der sich mit Vorliebe dem Studium der Mi- litairgeschichte Preussens zuwandte, versuchte einen Schritt weiter zu gehen. In einem Aufsatz vom Jahr 1830 (in v. Ledeburs Archiv ///. p. 1 ff.) »die Schlacht von Warschau aus grösstentheils bisher unbenutz- ten Quellen« benutzte er auch Pufendorffs Werk de rebus a Carolo Gu- slavo gestis, das 1 696 erschienen ist, auch einen Schlachtbericht, den der Bitter von Terlon in seinen Mcmoires IL p. 536 mitgetheilt hat; es scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, dass diese beiden Darstellungen weder untereinander noch von der in Pufendorffs F. W. irgend erheb- liche Abweichungen boten ; um so zuverlässiger mochte ihm jeder dieser drei Berichte erscheinen. Auch das Theatrum Europäerin citirt er , das (VII. p. 963) einen ziemlich sporadischen Bericht über die Schlacht bietet.

Bald darauf (1836) veröffentlichte Herr v. Orlich seine Schrift »Friedrich Wilhelm der grosse Churftirst« in der eine neue Darstellung der Schlacht versucht ist und zwar auf Grund eines allerdings in vor- züglichem Maass lehrreichen Actenstttckes. Es ist der eigenhändige Bericht des Churftlrsten über die Schlacht, rasch geschrieben und mit mancherlei während des Schreibens entstandenen Correcturen die Ori-

5] Die Schlacht von Warschau. 1656. 349

ginalität bekundend. Es stammt aus dem Berliner Staatsarchiv und ist von dort wie andere Archivalien durch den Sammler Konig, der lange Jahre im Archiv gearbeitet hat, in seine eigenen Sammlungen hinüber genommen worden ; Königs gesammter Nachlass kam dann an die Kö- nigliche Bibliothek zu Berlin , die jenen Schlachtbericht als ein beson- ders kostbares Autographon aufbewahrt (Ms. Bor. foL 356). Herr v. Orlich hat diess Schriftstück (Beilage p. 1 39) leidlich genau abdrucken lassen.

Er hat noch auf einen zweiten merkwürdigen Umstand aufmerksam gemacht ; die Gebrüder Merian, sagt er, hotten sich, da sie das Thealr. Europ. herausgaben, an den Churfürsten mit der Bitte uro einen Bericht von brandenburgischer Seite gewandt , mit dem Vorgeben , dass ihnen nur solche von schwedischer Seite zugekommen seien; der Churfttrst habe seinem Geheimenrath v. Jena befohlen einen solchen anzufertigen, weil er dabei gewesen , doch habe sich dieser ansser Stand erklärt es genügend zu thun, worauf ein anderer damit beauftragt worden. Herr v. Orlich führt eine Stelle des Briefes an , mit dem der Bericht an die Herausgeber des Th. Eur. gesandt worden und aus dem hervorgehe, dass der Churfbrst den Bericht sich habe vorlesen und in demselben einige allzu lobende Stellen streichen lassen.

Herr v. Orlich hat dann 1 838 in seinem grösseren Werk (Geschichte des Preussischen Staates im siebzehnten Jahrhundert mit besonderer Beziehung auf das Leben Friedrich Wilhelms des grossen Churfilrsten /. p. 127 137) seine frühere Darstellung der Schlacht mit einigen Er- weiterungen wiederholt, auch einen Plan der Schlacht beigefügt.

Seitdem ist die Schlacht eingehender und nach selbstständiger Forschung so viel mir bekannt nur von Herrn Carlson (Geschichte Schwedens IV. p. 146 152 in der Uebersetzung von Petersen) dar- gestellt worden. Herr Carlson bemerkt, dass er »hauptsachlich nach E. Dahlbergs im Reichsarchiv aufbewahrtem Bericht« gearbeitet habe.

Wie kam der Churftlrst dazu jenen Schlachtbericht zu schreiben? wann schrieb er ihn? wie verhalt sich dieser Bericht zu dem, der dem Theatrum Europaeum zugesandt wurde? Herr v. Orlich hat es unterlas- sen sich diese Fragen aufzuwerfen.

Als ich in den Vorarbeiten zu meiner Geschichte der preussischen Politik an den Feldzug von 1656 kam, fiel mir zunächst die Ueberein- stimmung der Berichte bei Terlon und in Pufendorffs beiden Geschichte-

350 Joh. Gusr. Droyser, [6

werken auf1. Ter Ion kam im Februar 1657 als französischer Gesandter in Karl Gustavs Lager, seine Memoiren sind 1684 publicirt; der Zeit nach wttre es möglich, dass Pufendorff sie benutzt hätte, wie er wohl hie und da ausser den Archivalien auch Geschichtswerke seiner Zeit z. B. Aitzema benutzt hat2. Dass es in Betreff Terlons nicht geschehen ist, zeigte sich bei genauerer Yergleichung sofort; und unter andern darin , dass Kleinigkeiten , die Pufendorff hat , bei Terlon fehlen '. Sie mttssten beide aus denselben Quellen geschöpft haben.

Wer einiger Maassen mit dem Quellenstudium der Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts vertraut ist , wird voraus setzen , dass ein so denkwürdiges Ereigniss wie jene Schlacht, sogleich in allerlei Zeitungen, Brochttren , fliegenden Blättern behandelt sein wird. Er wird weiter vermutben, dass der Sieger den Sieg möglichst gross, die Besiegten die Niederlage möglichst klein darzustellen versucht haben werden, dass namentlich Danzig, wo man so gut polnisch gesinnt war, seine grossen Verbindungen benutzt haben wird, die öffentliche Meinung gegen die Sieger zu stimmen , dass es im Haag, damals einer Gentralstelle ftlr die politischen Neuigkeiten4, mit seinen antischwedischen »Zeitungen« will- kommen gewesen sein wird. Erzählt doch das Tkeat. Europ. p. 965 man habe einen Cornet, der die falsche Nachricht von der Gefangen-

1 ) Nur als Beispiel folgende Stellen gleich im Eingang der Darstellung 2 der gleich zu besprechenden gemeinsamen Quelle).

Terlon: Mais ces deux ponts n'estoient Pufendorff: Sed cum uterque pons pas encore achevez lorsque les eauoo prope absolutus esset, aqua uti eo tem-

s'enflerent comrne elles fönt tous les pore omni suevü, ita intumuerai, ut ab

ans dans la mesme saison et il fallut opere tantisper desistendum esset quo-

attendre 'elles fussent ecoulees pour ad ista Herum subsedisset.

les mettre en estat de s*en servir.

2) Die Benutzung Aitzemas zeigt sich u. a. bei Pufendorff F. W. IV. 33 ober die Vorgänge am Hofe zu Düsseldorf in der Nacht vor der Zusammenkunft in Angerort (21. Aug. 1651 ); die da erwähnten sacerdotes eoncursantes , von denen sich in den Archivalien in Berlin nichts findet, stammen aus Aitzema VII. ed.i0 p. 4 77: »man seyde dat seife eenige Geestelijcke liepen dien morgen met hopen«; und ähnliches mehr in diesen Capileln 33. 34 bei Pufendorff.

3) So die Ankunft des Trompeters bei den Verbündeten am 28. ioli (§40 der gemeinsamen Quelle), so der Name Heinrich Horns als Commandireoden des dritten Treffens dqr Schweden 4 2),

4) So schreibt jemand aus Amsterdam an Wicqüefort : Jam Haga te habet rerum quae Ate et alibi geruntur proma conda.

7] Die Schlacht von Warschau, 1656. 351

schaft des Polenlrttaögg nach Thorn brachte, »auf den Esel gesetfct,« mit dem Zettel auf der Brust, darauf »neue Zeitung« staid, man habe erst schreiben wollen »Ranziger Zeitung,« wäre aber von einem gute* Gönnet der Stadt Ranzig davon abgebalten worden. Es ist dieselbe Geschichte, die Scheffer in seinen Memoräbilia Sucticae gtnlis XI. 9 genauer erzählt.

In der That findet sich die Bestätigung solcher Annahmen bereite in den gleichzeitigen Schriftstellern. Thuldenius, auf de* wir später zu** rttckkommen werden, sagt VI. p. 282: his proeliis eo triduo vel quatri- duo eonserüs mendaciorutn ingens farrago de victoria Suedi et Brandenburg e Prussis in Germaniam ällata est, ut non modo fugatus Poloni regte exer- citus verum etiam Gonsiaevum Lühuaniae quaestorem interfectum regem* que Casirnirtm capttm esse phirimormn literis in vulgus spargeretur. Und auf diese Aeusserung antwortet Loocenius in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner hisloria rerim Suecicarum 1662 p. 36: quae mendacia de Su&is Dototisd et m Belgio saepe Manie hello Sueco^Polanico spare* sint, ut satis nctum hie non repsiam.

Noch eine weitere Voraussetzung wird man machen dürfen, wenn man die Lage der Verhältnisse genauer erwägt.

Die Verbindung des Churfürsten mit Schweden wird wohl so dar- gestellt, als wenn er schlau nach beiden Seiten hin politisirend den Mo- ment erpasst hatte die Sache Polens zu verlassen und seinen Gewinn bei Schweden zu suchen , um demnächst eben so Karl Gustavs Sache aufzugeben und von Polen noch grösseren Gewinn zu erhalten. Wer seinen Pufendorff mit einigem Verstand gelesen hat muss erkennen, dass die Sache sich sehr anders verhielt.

Nicht erst in den spateren Jahren hat der Churfiirsi in den Schwe- den seine nächsten und gefährlichsten Feinde erkannt ; schon die Ver- handlungen in Osnabrück, mehr noch die über die Abgrenzung des an Schweden zu überlassenden Theiles von Pommern hatten ihm gezeigt, was er von ihnen zu gewärtigen habe: »ihr Muth,« schreibt der brau- denburgische Agent in Stockholm 1651 , »ist so hoch gewachsen, dass man keines. Nachbarn er sei wer er wolle aohtet noch, von demselben schimpflich zu reden sich enthält,« Auf das Peinlichste empfand Hkan am Hofe zu Berlin. die Drohungen und Insolenzen der schwedischen Ueber- macht; nur noch bedrohlicher wurde 4ie, als der kühne Pfalzgraf Karl Gustav den Thron Christinens bestieg ; sofort begannen Vorbereitungen, welche zeigten, dass »vastissima consilia« gefasst seien. Schon war das

352 Jon. Gust. Däoysen, [8

schwedische Heer in Vorpommern versammelt, als man mit dem Chur- fürsten zu verhandeln begann ; man forderte von ihm unerhörte Dinge : Abtretung von Memel und Pillau , Aufhebung jeder andern Allianz, wie der Churftlrst am 24 Juli an seine Gesandten in Stettin schreibt: »dass wir aller Hülfe und Freundschaft in der Welt beraubt sein und von S. Maj. allein dependiren sollen« (Berl. Arch.). Karl Gustav begann seinen Feldzug gegen Polen mit einem Act rücksichtslosesten Uebermuthes ge- gen den Churfürsten, mit dem Durchmarsch durch sein Gebiet, als ob es ihm »jure gentium* offen stehe. Es folgte jener glanzende Eroberung^ zug durch Polen, bis Krakau hinauf, die Flucht des Polenkönigs, die frei- willige Unterwerfung der polnischen Truppen, der Magnaten, der Woy- woden, der ganzen Republik. Nur das Herzogthum Preussen stand noch neutral zur Seite ; Karl Gustav eilte mit dem Schluss des Jahres dort- hin, drängte des Churfürsten Truppen auf Königsberg zurück, schtoss ihn dort ein, zwang ihm den Unterwerfungsvertrag von Welau auf (17. Jan. 1 656), mit dem das Herzogthum ein Lehen der Krone Schwe- den wurde. Aber schon begann der Abfall Polens , der geflüchtete Kö- nig kehrte zurück, stellte sich an die Spitze der Bewegung, die lawi- nenhaft wachsend die Weichsel hinabwärts auf Warschau hindrängte. Die Schweden begannen inne zu werden, dass sie in Gefahr seien, dass sie dringend der fremden Hülfe bedürften. Ihre Regimenter waren sehr zusammengeschmolzen ; die Besatzungen von Krakau, Warschau, Posen, andern Festungen hatten die Starke der verfügbaren Truppen auf etwa 42000 Mann sinken lassen; von diesen standen einige tausend Mann vor Danzig, mit ihnen die 1 500 Mann die der Churftlrst nach dem We- lauer Vertrage hatte stellen müssen. Schon war Krakau hart bedrängt ; jetzt wurde auch Warschau eingeschlossen, Karl Gustav War nicht mehr stark genug die tapfere Besatzung zu entsetzen , am 1 . Juli musste sie capituliren. Er hatte sein Heer hinter den Bug zurückgezogen, er war in Gefahr von den mehr als hunderttausend Mann, mit denen Johann Casimir ihm gegenüberstand erdrückt zu werden. Er musste um jeden Preis seine Heeresmacht verstärken ; es gab für ihn keine andere Ret- tung als die Armee des Churflirsten zu gewinnen, die wenigstens 4 8000 Mann stark und völlig kriegsbereit im Herzogthum stand; er musste ihn bewegen mit seiner ganzen Kriegsmacht für Schweden einzutreten. Darüber wurde seit Anfang Mai in Frauenberg unterhandelt ; begreif- lich dass der Churftlrst sehr wenig entgegenkommend war, dass ihn

9] Die Schlacht von Warschau. 4 656. 853

selbst die Aassicht, vier Woywodenschaften im westlichen Polen zu gewinnen , nicht bestach ; am wenigsten war er gemeint seine Armee aus der Hand zu geben, sie anter schwedisches »Kriegsdirectorium« zu stellen. Mit Indignation sahen die Oxenstjierna, de la Gardie, Hörn, dass der Churftrst jetzt die Entscheidung in der Hand habe. Er verstand sich zu der ersehnten »conjunctio armorum* endlich nur unter der Be- dingung, dass die brandenburgische Armee selbstständig an der Seite der schwedischen operirte ; er Hess dem Könige die oberste Kriegslei- tung nur in der Weise , dass ihm selbst die Zustimmung zu jedem ein- zelnen Act der gemeinsamen Kriegführung vorbehalten blieb1. Die schwedischen Herren waren auf das Aeusserste verstimmt, dass der König so viel habe nachgeben müssen ; sie beobachteten den Churftlr- sten, seine Generale und Räthe mit doppeltem Mistrauen, mit wachsen* der Eifersucht ; es begann eine Rivalität, die schwedischer SeHs in dem Maasse bitterer und insolenter wurde, als die brandenburgische Armee und ihre Führung sich über ihre Erwartung tüchtig zeigte.

Schon wahrend des grossen deutschen Krieges haben die Schwe- den es wohl verstanden die militairischen Leistungen der deutschen Re- gimenter, ihrer deutschen Kampfgenossen in den Schatten zu stellen; man kann es in einzelnen Fallen noch nachweisen , wie sie mit Zeitun- gen und Flugblättern die öffentliche Meinung zu leiten und zu machen verstanden haben. Soll man annehmen, dass sie es jetzt in Betreff der Warschauer Schlacht anders gemacht haben ? darf man nicht vielmehr vermuthen , dass sie dafür gesorgt haben werden den Ruhm der glor- reichen drei Tage so viel wie möglich für sich allein zu behalten ?

Eine zufällige Entdeckung setzt mich in den Stand, nachzuweisen, dass diess allerdings der Fall war.

In dem Düsseldorfer Archiv wird aus dem Nachlass des clevischen Kanzlers Weymann eine Reihe von Foliobanden aufbewahrt , die für die politischen Verhältnisse von 1655 1660 vom höchsten Interesse sind. Dr. Daniel Weymann war ein Jahrzehent hindurch als churbrandenburgi-

i) In dem Marienburger Vertrag vom^--j r 4 656 betest es Art. VII: es sollen

Conferenzen zwischen beiden Fürsten gehalten werden «I certus conjuncUonis seopus proponatur et canstituatur ; sodann: conjunctione facta quamvis praesente S. S. E* suprema directio belli competat S. Ä. MH; ea autetn quae cofsiUo pritu commtmicoto cum S. S. £li tüfofiimt consensu decreia f nennt, S. S. E** facienda generaHbus suis in- smuet et iis convenienter cum exercitu suo tiberrime disponat.

354 Job. Gusr. Dhoysen, [*o

scher Bevollmächtigter namentlich in Sachen der Vormundschaft für Prinz Wilhelm HI. von Orauien im Haag beglaubigt; auch persönlich stand er der Princessin Hoheit, der Grossmatter Wilhelms III« und Mut- ter der Churfärstin , nahe ; er theilte ihre Anschauungen in Betreff der schwedischen Allianz, welche die Beziehungen Brandenburgs zu den Staaten und zu Oestreich auf das Aeusserste gefährdete; er bemühte sich mit ihr, dem Churftlrsten den Rücktritt aus derselben zu ermöglichen. Er galt ftir einen besonders thätigen und scharfsichtigen Diplomaten und namentlich die Gegner der schwedischen Allianz in des Churftlrsten Umgebung, Schwerin, Hoverbeck, Somnitz standen mit ihm in sehr leb- haftem Briefwechsel ; durch seine Hand gingen die vertrautesten Ver- handlungen mit dem Rathspensionair, mit Brüssel, Paris u. s. w. Nach einer schon damals bei Diplomaten: üblichen Geschäftsweise führte Wey- mann sein Journal in der Weise, daes er alle Briefe, die er empßng und die er schrieb, alle Instructionen, die an ihn kamen, die Verhandlungen, die er mündlich fUbrte, die wichtigeren Neuigkeiten, die er erfuhr, Tag für Tag eigenhändig eintrug. So entstand diese Sammlung, die mit dem 4. Jan. 1655 beginnt; sie ist nicht mehr vollständig; es fehlt wahr- scheinlich der II. und III. Band; erst vom Sept. 4 656 an ist die Reihe lückenlos. Der letzte Band , jetzt der zehnte , enthält eine Sammlung von Concepten , Originalbriefen , Berichten u. s. w. aus verschiedenen Jahren.

In dem jetzt zweiten Bande des Journals, der vom 8. Sept. bis 17. Oct. 1656 reicht, befindet sich ein Schreiben des Herrn Martiz, der so scheint es von Seiten der Princessin Hoheit beim Churftlrsten beglau- bigt war1. Der Brief ist aus Königsberg 8. Oct. 1656 und lautet:

Puis quon nous envoye de tous costes de differentes et (res extravagan- tes rehtions de la bataille que nous avons gagnee a Warsou, Sa Serenite Electorale a trouvee a propos den faire imprimer une qui fut tont a faä exacte. Pour cet effect eile a ebauche eelle que je vous envoye ici de sa pro* pre main et ne l'ayant donie a copier Elle iria comnumdi de Vous lern* voyer et de vous prier que vous la fassiez imprimer chez vous au plüstot et

I ) Diese gehl aus einzelnen Andeutungen in den Acten der Oranischen Tutel hervor. Es ist derselbe Ifartitias, der später als Secrelair des Churfürsten am Hole zu Berlin blieb , der sieh dann auf einem Platz , den ihm der ChurfÜrst schenkte , ein sehr prächtiges Haus baute, das später in den Besitz der Krone überging und jetzt des Kronprinzen Palais ist.

44] Die Schlacht von Wabschail 4656. 355

que vous nous en euveyassiez quelques exemplaires. Je fais cela taut en- semble vous laissant la liberte si vous la voulez corriger am peu , ee que je riay pu faire a cause de la haste , et si vous la voulez faire imprimer dans la mesme langue dans la quelle vous la voyez ou si vous la voulez faire tra- duire, il sera tout un, pourvu que vous fassiez mettre quelque commence- ment devant$ du eontenu erwiron que puisqu'on avoit decouvert que eeux du party contraire avoyent faU imprimer de si extravagantes relations 9 qtion avoit jugi a propos d'en faire imprimer une et Ires veritable, esctite dun amy a Fautre, qui a este le spectateur aussi bien que le combattant. Failes en, Monsieur, ce que bon vous semblera et pardonnez a la haste.

Hierauf folgt in dem Journal das »Concept einer Relation von der Warschauwischen Bataille, welches seine Churf. Durch), mit eigner Hand aufgesetzt.« Es ist eine Wiederholung des oben erwähnten Aufsatzes von des Churfbrsten eigner Hand in der Berliner Bibliothek '.

Aus jenem Schreiben des Martiz ergiebt sich, dass der CHurftlrst defc Bericht wenige Wochen nach der Schlacht aufgesetzt hat, dass er ihn geschrieben hat als Berichtigung der über die Sehlacht verbreiteten ex- travaganten Relationen. Also es gab deren , und zwar zahlreiche , die »von allen Seiten« dem churfürstlichen Hofe zukamen , solche die eeux du party contraire haben drucken lassen. Gewiss meinte Martiz mit party contraire nicht bloss die Polen, die Danziger; für ihn und für Weymann waren eben so und noch mehr die Schweden und die schwedisch Ge- sinnten am churfürstlichen Hofe die party contraire, und deren zu Gun- sten Schwedens und zum Nachtheile der brandenburgischen Waffen übertreibende Relationen verdienten mehr als die der gemeinsamen Feinde eine Berücksichtigung«

Also es gab bereits im August und September 1 656 eine Menge gedruckter Berichte über die Schlacht , die im schwedischen Interesse verfasst waren.

Gewiss hat Weymann den ihm zugesandten churfürstlichen Bericht drucken lassen, mit oder ohne jene Einleitung, die ihm Martiz zu verfas- sen überliess ; gewiss hat er Abzüge davon an den churftlrstlichen Hof gesandt. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen ein Exemplar dieses Druckes aufzutreiben. Ich gebe diesen eigenhändigen Bericht des Churfürsten in

I) Aus Weymanns Journal bat Wortniann den Beriebt in seiner noch ungedruck- ten i> historischen Beschreibung* Um. ///.angenommen. (Berl. THisseld. Archiv-.)*

356 Joh. Gust. Droyseh, [12

Beilage 1 . nach der Abschrift in Weynianns Journal mit den Varianten des Autographons.

Auf eine zweite Reibe von Erörterungen führt uns das Theatrutn Europaeum. Der siebente Theil desselben der die Jahre 1651 1657 umfasst, bearbeitet von Joh. Georg Schieder aus Regensburg, wurde 1663 publicirt. Er brachte von der grossen dreitägigen Schlacht einen auffallend kurzen Bericht (p. 963 965), in dem von den Brandenbur- gern so gut wie gar nicht gesprochen war. Entweder hatte man in Frankfurt jene Weymannsche Publication nicht erhalten oder Schieder hielt es für angemessen dieselbe nicht zu beachten.

Indess wuchs der Name Brandenburg. Der Churflirst hatte in dem Fortgang jenes nordischen Krieges eine hervorragende Rolle gespielt, er hatte die Souverainetat Preussens gewonnen ; in den hochbewegten sechziger Jahren war er überall in der Reihe der Machte die die euro- paische Politik machten; als Frankreich 1 673 mit dem Angriff auf Holland jenen schweren Krieg begann , dem sich so bald ein schwedischer an- schliessen sollte , war er mit seiner Kriegsmacht der erste auf dem Plan und bemüht Kaiser und Reich gegen Frankreich in's Feld zu bringen.

Er stand im Spatherbst 1672 mit seinem Heere am untern Main. Dort im Lager zu Risselheim kam der Mahler Matthaus Merian, der Sohn des Kupferstechers Matthaus Merian , der das Theatr. Europ. be- gründet hatte , zu ihm ins Hauptquartier , trug ihm vor , dass »wegen Mangels genügsamen Berichtes von der Polenschlacht bei Warschau des Churfürsten unförmlich gedacht worden sei, so dass er Sinnes sei in einer neuen Ausgabe desselben eine ausführliche Relation nebst Kupfer zu bringen.«

In Anlass dieser Bitte erwuchs ein Actenstttck das hn Geh. Staats- archiv zu Berlin (A. 9. Nr. 5. E. e. 1) aufbewahrt wird.

Der Churfürst versprach die Bitte zu erfüllen. Er erliess an seinen Ingnieur Memmert den Befehl (29. Nov. St. V) »ein Kupfer oder Abriss der erwähnten Schlacht mit dem Förderlichsten« zu übersenden. Unter demselben Datum erging ein Befehl an den Geheimrath Jena , eine Be- schreibung der Schlacht anzufertigen : »weil ihr jene Zeit mit dabei und an dem Orte gewesen , wo sich dieselbe zugetragen , so habt ihr nach

13] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 357

der euch davon beiwohnenden Wissenschaft eine ausführliche Relation dessfalls aufzusetzen und dieselbe zu überschicken und weil sich auch zweifeis frei noch einige Nachricht darüber in unsenn Archive finden wird, könnt ihr euch auch dessen dabei bedienen.«

Aus einem zwölf Jahre später geschriebenen Briefe Merians ergiebt sich, dass ihm noch in Risselheim 4 672 »die drei gezeichneten Bataillen« übergeben worden sindt, »welche ich auf das schönste in Kupfer stechen lasse.« Die drei sehr instructiven Abbildungen von der Schlacht, die sich in der zweiten Ausgabe des Th. Eur. VII. von 4 685 finden, sind also nach den Zeichnungen des brandenburgischen Ingenieur Memmert gestochen und haben den Werth von originalen Quellen.

In Betreff des geforderten Schlachtberichtes antwortet Jena in einem ausführlichen Schreiben d. d.Cöln a.d. Sp. 48. Decb. 4672 (Beilage 9): er sei zwar zugegen gewesen , aber er vermöge weder über die Ein- zelnheiten hinreichend Nachricht zu geben , noch finde sieh in dem Ar- chiv das Allergeringste , auch müsse der, welcher solchen Aufsatz ver- fassen solle »die Kriegsactionen und die rechten terminos« wissen, woran es ihm mangele. Der Secretair Hartmann habe ihm eine gedruckte Re- lation zugestellt, welche jedoch in einer Reihe von Einzelnheiten, die er dann ausführt , dem was er selbst gesehen habe, nicht. entsprechend sei. »Wenn nun E.Cf.D. gnädigst gefallen möchte durch einen kriegser- fahrenen und welcher bei der Action gewesen und alles, was soldatisch, verstünde, durchsehen und an allen Orten zu recht einrichten zu lassen, welches doch , wenn die bataüie in Kupfer gebracht werden soll , ohne dem nöthig, so würde diese beikommende Relation wohl zu gebrauchen sein. Es ist ja gesetzet, als wenn der König alles gethan, gerathen, ver- richtet etc. Sonst, gnädigster Churfürst und Herr, muss ich unterthünigst berichten , dass so lange ich die Gnade gehabt in E. Cf. D. Diensten sein, alles was Merian in seinem Theal. Europ. und sonst von E. Cf. D. und dero acliones drucken lassen , durchaus parteiisch und alles , was er E. Cf. D. oder deroselben Soldateska beilegen sollen, deroselbigen entgegen oder doch alles corrumpiret.« Man wird wohl thun sich diese Aeusserung Jenas für die Benutzung des Theatr. Eur. in der Kriegsge- schichte des grossen Churfürsten zu merken.

Es ist aus den uns vorliegenden Acten nicht zu erkennen , ob die Bearbeitung der gedruckten Relation in dem von Jena angegebenen Sinne sofort vorgenommen worden ist.

358 Jon. Gcst. Dboysbn, [U

In demselben Actenstück findet afch ein Schreiben des Matthäus Merian an den Cbnrftkrsten d. d. Frankfurt a. M. 19. Aug. 1684, in dem es beisst: er woUe den siebenten Theil des Theat. Ew. neu drucken lassen; der in der ersten Ausgabe abgedruckte Bericht sei ihm «von dem Könige Karl Gustav aus Polen, damals communicirt worden« ; er legt die Copie dieser Zusendung bei , die er Wort für Wort habe ab- drucken lassen; Es sei in dieser Erzählung des Churfilrsten »gar wenig gedacht worden,« und der Reichsfeldherr Wrangei, »dem er 1664 in Wol- gast aufgewartet« habe ihm erzählt, »dass diese herrliche Victoria dem Churfilrsten durch Dero hohe conduile allein zuzuschreiben wäre«, weil der ChurfUrst »mit seinen Völkern die Tartaren anfänglich angegriffen, geschlagen und verfolgt habe, dadurch die ganze polnische Armee in die Flucht gebracht worden sei,« Wrangel selbst sei dem Churfilrsten mit wenigen Truppen vom Könige zugegeben gewesen. Wrangel habe ihm noeh weitere Einzelheiten erzählt/ die ihm aber entfallen seien. Er bittet den Churfilrsten ihm »diese action aufnotiren zu lassen«. . . »Denn gleich- wie E. Cf. D. aimo 4672 in Rissdheim mir die drei gezeichneten bair taglien gnädigst Überreichen lassen , welche ich jetzt auf das schönste in Kupfer stechen lasse, also will ich mich versehen, dass ich auch mit einer exacten Beschreibung derer Actione» werde begnadigt werden, damit der posterität eine wahrhafte hUtorutm zu £. Cf. D. immerwähren- der gloria hinterlassen möge.«

Durch diese Veranlassung scheint die früher angeregte Abfassung des Berichtes wieder aufgenommen zu sein. Es findet sich in dem be- zeichneten Actenheft ein Zettel , ohne Datirung. Dieser lautet : »Wenn einige wahre und gewisse particularien vom polnischen Feldzug und der Schlacht von Warschau sich finden möchten, haben S. Cf. D. befoh- len Herrn Merian solche zu communiciren , und es erinnert sich sonst S. Cf. D, dass Herr Martitius hie von vor diesem einen Aufsatz gemachet.« Der Churfilrst wird weiter befohlen haben , dass ihm der für das Theat. Ew. bestimmte Bericht erst vorgelesen werde, bevor er abgehe. Das ist dann geschehen. Ein zweiter gleichfalls undatirter Zettel in den Acten lautet.

»Mittatur dem Herrn Merian nach Frankfurt. Endlich hat sich die »Stunde gefunden die Warschawische bataille fttrzulesen, Und habe »ich darin ausstreichen und corrigiren müssen, wie daraus zu ersehen »seyn wird. S. Cf. D. modestia hat nicht das darin zugelegte Lob

*&] Die Schlacbt von Warschau; 1656. 350

»ertraget* können* Und sagt Sie das Sie lieber 4u wenig. als zu viel »rühme dabey haben wollte.«

Leider ist nicht ihit Sicherheit zu constatired, von wessen Hand dieser Zettel geschrieben ist. Nach dem Wortlaut des Zettels muss maä annehmen, dasb nicht eine Abschrift des oorrigirten Exemplars son- dern das Exemph? mit den Cornecturfen selbst nach EVankfurt geschickt wordöh. :

Von diesem fttr Merian btotimmteii Bericht defr weä den Worten be* ginht »Wo rinnen resolvirt worden,* sind viei4 Abschriften in jenem Actebheft; die eine (No. \ } ist sichtlich die dem Churftkrsten vorgele- sene; m mehreren durch strichenen Stellen, die des Churftirsten Lob ent- halten, zeigt sich wie er die Sache veröffentlicht haben Wollte. Sie und zwei von ihr genommene Copieü (No, % 8) beginnen mit den Worten

bjio&tverba: die gefangenen waren bei 5&0..*in Preufr- sen auch gehauset hatten,« da al& seil der Bericht eingeschaltet werden. Diese Worte stehen im Theat. Eur. ei. \ so wie ed. Ä p. 9&5 und da folgt in der ed. ST von 16B$in der That der neue Bericht; ungeschickt g&rag, da sich dort der Satz mit »worinnen resolvirt worden* gar nicht anscMiesst. Wie diese Verkehrtheil; entstanden ist zeigt sichtlich die Abschrift No. 4> die der Zeit nach die früheste ist und in No. i abgeschrieben wurde, um dem Churftirsten vorgölegt zu werden : sie beginnt

»Indem Theat.Eur, ad ann. i656j*. 936 circa ftnemposl verba hielten doch diesen Tag mit dem Churftirsten von Brandenburg und der Generalität Kriegsrath könnte contmuirt wenden Worinnen resolvirt worden folgt hernach der ganze Aufsatz, und am Schluss desselben steht : i

quibu* insertie omitlanktr ämnia wqu* ad p. 985 § mittler- > weile, womit weiter fortgefahren wenden kann,

das mittlerweile steht p. 988 ed. % und bfa dahin reicht jetzt der abgedruckte bratndeftburgische Bericht.

Das Thiülrum Ewtopaeum fand ft*r gut den Aufeaftz ohne Beachtung

der vom Churftirsten befohlenen Veränderungen abzudrucken; es/wird der

Mühe werth sein in der Beilage die betreffenden Satze zu bezeichnen.

Ist nun dieser Bericht im Theai. Ew. ein originaler?

Herr von Orlich hat von diesem Bericht nicht Notiz genommen ;

wahrscheinlich war ihm nicht bekannt , dass eine zweite Ausgabe des

360 Job. Gust. Dboysin, [16

Theat. Eur. tom. VII. existirt. Er führt zwar jenen Brief Jenas, der die Abfassung des Berichtes ablehnt an ; er hat also das vielerwähnte Acten- heft in Händen gehabt; aber wenn er hinzufügt: »hierauf wurde ein Anderer dazu beordert,« und in Parenthese Kannenberg mit einem Fra- gezeichen hinzufügt, so ist in den Acten dafür keinerlei Anhalt.

Wer immer diesen für das Theat. Eur. bestimmten Bericht verfasst haben mag , er hat sich seine Arbeit möglichst leicht gemacht. Er hat den von Jena gemachten Vorschlag befolgt die gedruckte Relation zu Grunde zu legen, er hat diese an ein Paar Stellen corrigirt, Einiges, be- sonders sehr compacte Lobeserhebungen für den Churfürsten eingelegt, im Uebrigen aber stehen lassen , was er in dem Druck fand, so wenn der Druck, ein Bericht vom 4. Aug., an einer Stelle sagt« am \ 8/28 pas- *afo,« so ist dies unverändert stehen geblieben (p. 988 Zeile 1), ohschon die Erzählung im Theat. Eur. natürlich nicht mehr vom 4. Aug. i 656 datirt ist.

Die mehr erwähnte Relation (Rel. I.), deren Titel beginnt »Letzte aus Warschau eingelangete gründliche und ausführliche Relation . . ist ein Bericht aus Warschau vom 4. Aug. St. n. 4656 ; sie bezeichnet sich in dem Titel als »ergangen der Wahrheit begierigen Welt, zur sichern un- partheyischen gerechten und bestandigen Nachricht wider einige erdich- tete unverschämte Lttgenzeitungen.« Sie trägt als Vignette einen hübschen Holzschnitt eine Berg- und Waldgegend darstellend. Dass sie von schwedischer Seite ausgegangen, ist völlig klar und Jena hat Recht wenn er von ihr sagt : »es ist ja gesetzet als ob der König alles gethan, gerathen , verrichtet.« Von einem Kundigen wird mir gesagt, dass die Vignette, der Druck, das Papier dieser Brochüre auf einen holländischen Druckort schliessen lasse.

Es giebt noch einen zweiten Druck (Rel. II.) der mit diesem im Wesentlichen wörtlich übereinstimmt, nur einige Satze austasst und den Schluss verkürzt. Der Titel beginnt: »Letzte noch gründlichere, ausführ- lichere aus dem Königl. Schwedischen Feldlager bei Praga vom 5. Au- gusti eingelangte Relation,« und schliesst, »der wahren Wahrheits~be- gierigen Welt zum sicheren beständigen Nachricht wider einige gedruckte, erdichtete, unverschämbte Lttgenzeitungen.« Am Schluss bat dieser Drude »Datum im Felde bei Praaga gegen Warschau gelegen den 24. Julii Styl, vet. 4656.« Diess ist der 3. Aug. während im Titel der 5. Aug. ange- geben ist. Die Form des Titels lässt keinen Zweifel, dass diese Relation

*7] Die Schlacht von Warschau. 1656. 361

nach dem vorher angeführten Druck veröffentlicht ist ; dass sie früher, am 3. August geschrieben und der 5. Aug. auf dem Titel unrichtig ist, ergiebt sich aus dem Umstände , dass der Schluss des anderen Druckes, der hier fehlt, noch Vorgänge vom 4. Aug. er\yähnt.

Ich gebe in der 2. Beilage die Relation I. mit den Varianten aus Relation IL; es genügt die abweichenden Stellen der brandenburgischen Bearbeitung und des vom Churfürsten corrigirten Exemplars derselben unter dem Text beizufügen.

Früher ist erwähnt worden, dass die Darstellung bei Pufendorff Fr. W. VI. 36 mit dem Bericht in den Mem. du chevalier de Terlon p. 536 l auffallend übereinstimme. Natürlich, denn beide folgen fast Wort für Wort der eben besprochenen Relation vom 4. August, Terlon hie und da ein. Paar Worte auslassend , Pufendorff mit einigen sachlich anziehenden Zusätzen, von denen der wichtigste wahrscheinlich aus mündlicher Ueberlieferung stammt.

Noch einmal erzählt Pufendorff dieselbe Schlacht in seinem Karl Gustav (III . 24) und auf den ersten Blick erscheint diese Darstellung anderer Art ; aber eine genauere Betrachtung zeigt , dass er abge- sehen von der Einleitung bis gegen Ende des cap. 24 doch nur das Material jener Relation wenn auch in etwas freierer Weise bear- beitet hat.

Schon vorher hat Johann Lock aus Itzehoe (Loccenius), der Pro- fessor in Upsala war , in der zweiten Edition der historia herum Sueci- carum 1 662 die Schlacht von Warschau durchaus nach dieser Relation er- zählt, und nur die Verhandlungen am 28. Juli berichtet er ausführlicher.

Endlich habe ich noch des »Europäischen Newen Teutschen F 1 o r u (Frankfurt bey Georg Fickwirtten 1659) zu erwähnen. Derselbe hat p. 89 ein Stück: »Relation der Hauptschlacht dess Königs in Schweden bei Praga und Warschau gegen die Pohlen;« es ist ein Abdruck der Relation IL (vom 24. Juli) von § 32—60.

Ich gehe zu einer dritten Reihe von Nachrichten über. Es ist oben erwähnt, dass Carlson in seiner Schwedischen Geschichte IV. p. 152

4 ) Voicy la Relation de cette grande Bataille que je mets icy pour la satisfaction des curieux.

Abhandl. d. K. 8. Oe». d. Wias. X. 2V

362 Joh. Gust. Droysen, [»«

dem im schwedischen Reichsarchiv aufbewahrten Berichte Dahlbergs folgt. Dieser Bericht liegt mir nicht vor ; aus Carlsons Darstellung er- hellt, dass er viel Eigentümliches enthalten muss.

Graf Erich Dahlberg, der spätere Feldmarschall, hat, als junger Mann schon General -Wachtmeister, Karl Gustavs Kriege mitgemacht; er war ein überaus geschickter Zeichner »outre un nombre infini de des- Beins de bataüle etc., de plans de forteresses, de chateaux etc., notis devons d ce meme comte l'ouvrage intitule Suevia antiqua et hodierna representant les idifices les plus remarquables de la Suede sott dorn les villes , soit ä la campagne avec les paysoges qui les entourent: auvrage magnifique qui ne prouve pas moins le talent et le goüt de l'auteur que son activilS infatigable« (Skjöldebrand, hist. mil. et pol. des Rois de Suede I. p. 5).

Das eben citirte Werk wurde auf Befehl Gustav IV. unternommen ; es enthält in dem allein erschienenen ersten Theil die Geschichte Karl Gustavs bis zum Rothschilder Frieden mit Abbildungen der wichtigsten Actionen »d' apres les tableatuc de Lemke et les desseins pris sur les lieux par Dahlberg.«

Skjöldebrand spricht sich nicht über das Verhältniss zwischen den Zeichnungen Dahlbergs und den Gemälden, die der Maler Lembke in Karl Gustavs Schloss Drottningholm im Auftrag der Königin Wittwe an- fertigte, aus. Es scheint ihm unbekannt geblieben zu sein, dass es be- reits eine Prachtausgabe der Dahlbergischen Zeichnungen gab.

Denn so wird man die deutsche Ausgabe von Pufendorffs Karl Gustav, die 1 697 in Nürnberg erschien, wohl nennen dürfen. Nicht alle die Hunderte von Radirungen und Kupferstichen , die da beigefügt sind, sind nach Zeichnungen von Dahlberg ; aber die nach seinen Zeichnungen gemachten zeichnen sich durch künstlerische Auffassung und militairische Correctheit namentlich im Terrain vor den andern aus. Wenn man die drei Bilder der Warschauer Schlacht im Pufendorff mit denen des Skjöl- debrand vergleicht, so erkennt man sofort, dass Lembke seine Gemälde nach Dahlbergs Zeichnungen entworfen hat; man sieht es theils an der grössern Bestimmtheit des Terrains in den Radirungen, welches das Ge- mälde mehr verwischt und verallgemeinert hat, theils darin, dass die grossen Abschnitte des Bildraumes, den Dahlberg für seine Erklärungen mit hübsch ornamentirten Umrahmungen aussonderte , in den Gemälden mit einer willkürlichen Fortsetzung des Bildes ausgefüllt sind.

Zweien von diesen drei Bildern der Schlacht (41. 42) hat Dahlberg

*9j Die Schlacht von W ab schal. 1656. 363

»ein ad vivim dtlineavit beigefügt. Der Ausdruck ist in seinem vollen Umfeng für richtig zu nehmen; wenigstens in Betreff des Terrains zeigen sie sich so vollkommen genau, dass jeder Hügel, jeder Morast, die Lage der einzelnen Dörfer und Weiler , wie sie die Zeichnung giebt , in der detaillirten Generalstabskarte von der Umgegend von Warschan, die mir vorliegt, wieder zu finden und als richtig zu erkennen ist.

So werden diese drei Blatter im deutschen Pufendorff mit den auf ihnen befindlichen Erklärungen als eine besonders wichtige Quelle , als

«

Darstellungen eines im vorzüglichen Maasse kundigen Augenzeugen 2u bezeichnen sein1.

Bei weitem geringern Werthes sowohl in militairischer als artisti- scher Beziehung sind die oben besprochenen Zeichnungen des branden- burgischen Ingenieurs; sie geben die charakteristischen Punkte des Terrains und der Truppenbewegung , aber sie sind nicht ad vivum ge- zeichnet ; sie geben ein so zu sagen Schematisches Bild, wie man es aus der Erinnerung zeichnen kann.

Noch bleibt mir eine Hatiptquelle für die Warschauer Schlacht zu besprechen.

Lieirwe van Aitzema hat in dein 8. Theil seiner Historie ofVerhael van Sahen van Staet en Oorlogh, der 1 663 erschien, in der Quartausgabe p. 553 560 einen ausführlichen Bericht von der Schlacht, den er einführt mit den Worten : »De heeren Brandeburghsche hebben daer van gesonden het volgende verbael.« Am Schluss desselben steht : »Datum Warschau desen vierden Augusti 4656.«

Der letzte Satz dieses Berichtes sagt : »ende det is het, wat van die tijdt af dat ick 11 Ed. niet hebbe können schryven , is gepasseert eine Anrede , die wenigstens so viel erkennen lässt, dass das Schreiben nicht an die Ho. Mog. , die Generalstaaten , noch an die Ed. Groot Mog. , die Staaten von Holland , noch an die Princessin Hoheit gerichtet war. Die Bemerkung bei dem Obersten Syburg, dass er ein Glevischer Edelmann

i) Di* Abweichungen in Cartoons Erzählung namentlich die des driften Schlachtlages stimmt durchaus nicht mit Dahlbergs Erklärungen seines vortrefflichen Bildes BI. 42 zeigen, dass der Dahlbergische Bericht im schwedischen Archiv nicht identisch ist mit diesen Erklärungen zu den Bildern, obschon sie recht eigentlich einen Berieht der Schlacht nach* ihren wesentlichen Momenten geben.

2a*

364 Joh. GrST. Dboysen, [**

sei , lässt vermuthen , dass der Empfänger des Briefes ein näheres Inter- esse für Cleve hatte; man könnte an Weymann, der aus Duysburg war, an Matthias Doge, den auch als Schriftsteller bekannten Artilleristen, der in dieser Zeit des Churfürsten Agent in Amsterdam war, denken. Dass der Schreiber des Briefes ein brandenburgischer Officier (»onsen Chur-Vorst« heisst es gegen Ende) und zwar aus der nächsten Umgebung des Churfiirsten war, spricht sich deutlich genug aus !.

Der Bericht ist durchaus original. Dennoch stimmt er in vielen Sätzen wörtlich mit einer Relation (Relation III.) überein , die in zwei Drucken vorliegt, einmal als Brochure (4 Blätter 4°. *. /.), sodann als No. IL der »Einkommenden Ordinari- und Postzeitungen,« einer Art Kriegszeitung, von der mir auch noch spätere Nummern bekannt gewor- den sind , und die mit der Bezeichnung »XXXII Woche« die Zeit ihres Erscheinens (6 12. Aug. 4656) bestimmt. Der Titel dieses Berichts ist :

»Relation oder wahrhaftiger Bericht wie es bey der von Seiten S.

Churfl. Durchl. zu Brandenburg etc. wider die Polen und Tartaren

bei Warschaw erhaltenen Victoria daher gegangen, de dato 31. Juli

1656; aus dem Churfl. Hauptquartier Prag vor Warschaw.«

Die Uebereinstimmung dieses Berichtes mit dem bei Aitzema ist von der

Art , dass man annehmen muss , jener habe bei der Abfassung dieses

späteren und ausführlicheren unmittelbar vorgelegen. Ja eine Stelle in

Aitzema stimmt fast wörtlich mit der früher erwähnten Rel. I. überein2.

\) Wahrscheinlich ist dann der Bericht in Holland gedruckt und rerbreitet wor- den. Aitzema stand im Herbst 1656 in geschäftlicher Beziehung zu Brandenburg; er war der Agent der Glevischen Stände im Haag , wo die Parthei de Wittes , höchst unzufrieden mit der schwedischen Alliance des Churfürsten, ihm Schwierigkeiten durch die Stünde in Cleve zu bereiten bemüht war. Aitzema äusserte sich gegen Weymann: »Holland gehe weiter als sie begehrten, es helfe den Ständen an einer Seite so stark auf das Pferd, dass sie an der andern wieder herunterfielen.« Wey- manns Schreiben vom 7. Oct. 4 656. (Düsseid. Arch.)

2) Rel. I. § 40: Aitzema VIII. p. 554.

»in massen dann anfangs ein Polnischer dan op halve wegh rescontreerden sy Trompeter kommen, welcher an Sr. eerstelijck een Trompetter (die een brief Churf. Durchl. ein Schreiben voll harter van deKoningh van Poolen brachte aen und schmählicher Bedrohungen gehabt, den Chur-Vorst vol van betterheyt ende worinnen Sr. Churf. Durchl. so treue d rey gerne n ten , waer by sijn Majesteyt Vermittelung von Polnischer Seiten nogmaels de mediatie van sijne Cbur- g'.inlzlich verworflen worden, und dar- Vorstel. Door. verwierp ende daer na

24] Die Schlacht von Warschau. 1656. 365

eine Uebereinstimmung , die sich doch vielleicht aus der Art , wie man in beiden Hauptquartieren die Vorgänge der letzten Tage sofort sich mit- getheilt und besprochen haben wird, hinreichend erklärt.

Die Relation III. mit einem Theil der Abweichungen des Berichts bei Aitzema ist in der 3. Beilage gedruckt.

Wir haben hiermit die wichtigsten Quellen für die Geschichte der Warschauer Schlacht besprochen. Es sind folgende :

1. a. Der eigenhändige Bericht des Churftirsten und b. dessen Abschrift in Weymanns Journal (Beilage 4).

2. a. Die im Wesentlichen übereinstimmenden schwedischen Be-

richte, Relation I. vom 4. Aug. und

b. Relation II. vom 3. August (Beilage 2). Diesen schliessen sich an die Darstellungen

c. im Theat. Eur. nach brandenburgischer Bearbeitung, so wie

d. das vom Churftirsten . corrigirte Original dazu;

e. die in Pufendorff Fr. Wilh. VI. 36 mit zwei oder drei Zu-

sätzen,

f. die in Pufendorff Karl Gmt. III. 24 mit freier Bearbeitung der

Quelle,

g. die in Terlons Memoiren,

h. die in Loccenius hist. Rer. Suec, i. die im teutschen Florw.

3. Die von Erich Dahlberg stammenden Nachrichten,

a. und zwar sein Bericht, den Carlson in seiner schwedischen

Geschichte benutzt hat,

b. sodann seine drei Blätter von der Warschauischen Schlacht

in dem deutschen Pufendorff,

c. die danach von Lembke gemachten , von Skjöldebrand publi-

cirten und erläuterten Gemälde.

auf der französische Ambassadeur de Monsieur de Lumbres, Ambassadeur

Lombres gekommen van Vranckrijck

§ II: weswegen dan alsofort resolviret hier op wierde gberesolveert den Trom-

worden gedachten Trompeter bey sich petter sonder antwoordt by sich te

zu behalten houden

366 Joh. Gust. Dboysbn, t—

4. Die drei Blätter von der Warschauer Schlacht im Theat. Eur. von dem brandenburgischen Ingenieur M e ni m e r t.

5. Die brandenburgische Relation aus der Ordinari- und Post- zeitung Relation III. (Beilage 3.)

6. Der brandenburgische Bericht bei Aitzema vom 4. Aug.

Es bleiben uns noch ein Paar andere Stücke zu besprechen, von denen wenigstens eins von besonderem Interesse ist.

7. Es ist oben des zweiten Stückes der »Ordinari- und Postzeitung« erwähnt worden. Auch ein erstes Stück hat mir vorgelegen, ebenfalls aus der XXXII. Woche (6 12. Aug.), enthaltend zuerst ein »Extract Schreibens aus der Vorstadt Warschau d. 31. Juli.« Es ist besonders durch die erregte Stimmung, in der es geschrieben ist, von Interesse. Wir bezeichnen diess Stück als Relation IV. (Beilage 4.) Mit dieser Relation stimmt in mehreren Steilen der schwedische Bericht in der ersten Ausgabe des Theat. Eur. pt 963 überein, namentlich die §§ 5. 6. 1 0 ; in anderen Stellen geht der Bericht des TkmU Eur. seines eigenen Weges; man möchte vermuthen. dass beide von demselben Ver- fasser sind.

8. In demselben ersten Stück der Postzeitung folgt der unter No. 7 erwähnten Relation ein kurzes »Extract Schreibens aus der Vorstadt Warschaw, die Praga genannt, aus des Unterkanzlers Radziewsky Haus vom vorigen« (31. Juli). Wir bezeichnen es als Relation V. (Beilage 5.) Da in dieser Relation erwähnt wird , dass »der lithausche Schatzmeister Gonsewsky« unter den Todten gefunden sei, so ist sie eine von denen, an welchen sich Thuldenius geärgert hat.

9. Es hat mir ein Doppelblatt 4Q. »Particularzeitung No. 32 anno 1656« vorgelegen, auf dem nach einer Relation ausCracau einschreiben aus Sacrozin vom 1. Aug. folgt, das um so lehrreicher ist, da es von polnischer Seite kommt, wenn auch aus der Feder eines Mis vergnügten. Diese Relation VI. enthält wenig über den Verlauf der Schlacht, aber Wichtiges über die Dinge kurz vorher und kürz nachher (Beilage 6).

10. Von besonderem Interesse ist einschreiben von deLumbres dem französischen Gesandten am polnischen Hofe, Varsovie Aug. 4656. Ich habe eine Abschrift desselben durch die Güte des Herrn Dr. Sim- son, der sich zur Zeit in Paris befindet mit dem Auftrag, die dort vorhan- denen Materialien zur Geschichte des grossen Churfiirsten zu sammeln.

1 1 . Einon kurzen aber lehrreichen Bericht über die Schlacht giebt

23] Die Schlacht von Warschau. 1656. 367

ein Schreiben des General-Kriegs-Commissarius v. Plathe an den Statt-' balter in Berlin Grafen Wittgenstein d. d. Warschau 21/31. Juli 1656, das sich in mehreren Abschriften im Berl. Archiv befindet. (Relation VII. in Beilage 7.)

1 2. Endlich befindet sich in dem mehrfach erwähnten Actenstttck des Berl. Archives eine Aufzeichnung , die sich in ähnlicher Weise als Einlage in eine schon vorhandene Darstellung wie jene für das Theat. Eur. bestimmte bezeichnet. (Beil. 8.) Es fängt an:

»pp. als perduellem tractiret und ausgeschrieben. Der polnische General Zamecki« u. s. w.; folgen dann ibehrere Blätter, in denen die Schlacht beschrieben wird bis zur Rückreise des Churfilrsten ; endlich die Worte: »und langeten den 19. Aug. zu Soldau, den 23. desselben aber wiederumb in der Residenz zu Königsberg an. Hierauf nun ward Polen des Kriegess et sequentia.«

Es kam darauf an herauszubringen, wo diese Darstellung hatte ein- geschaltet werden sollen. Ich erinnerte mich die Stichworte, namentlich die ersten irgendwo gelesen zu haben. Durch einen Zufall fand ich sie wieder.

In der Berliner Bibliothek befindet sich unter der Bezeichnung Manuscr. Bor. Fol. No. 50 ein handschriftliches Werk des Titels : »Ent- wurf etlicher denkwürdiger Actionen so von dem Durchlauchtigsten Grossmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich Wilhelm dem Grossen Markgrafen und Churfilrsten zu Brandenburg sein verrichtet worden.« Es enthält einige Actionen des Churfilrsten bis zum Jahr 1G64, unter diesen auch die Schlacht von Warschau ; und da fanden sich die bezeichnenden Stichworte. Es ist diese Darstellung der Schlacht nichts als eine Reinschrift des in den Blättern des Actenheftes vorliegenden Conceptes.

Ueber den Verfasser des »Entwurfs« ist nichts ausfindig zu machen gewesen; das Goncept zeigt eine auch in den Acten jener Zeit hie und da vorkommende Handschrift, aber wessen Hand es ist, kann nicht festgestellt werden. Das Manuscript des »Entwurfs« bil- det einen sehr stattlichen Band , der erst zur Hälfte vollgeschrieben ist ; der Einband zeigt, dass es einst zur churftlrstlicben Bibliothek ge- hört hat.

Die Erzählung von der Schlacht folgt in mehreren Stellen wörtlich der Relat. I. , an einzelnen corrigirten Stellen des Goncepts sieht man,

370 Ion. Gi st. Droysen, [26

ont Heu en Pologne u. s. w. veröffentlicht hat ; es bietet in Betreff der Schlacht von Warschau nichts als eine oberflächliche Reprodaction der Erzählung im Pufendorffschen Karl Gustav.

Endlich muss ich noch einer wunderlichen Schrift erwähnen; sie führt den Titel Casimir Roy de Pologne, ä Paris chez Jean Ribou au Palais dam la solle Royale ä P Image Saint Louis 1679, 2 Theile. Es ist keineswegs ein historischer Roman, wenn schon Liebesgeschichten, Portraitschilderungen , Beschreibungen von Jagdscenen, Brautzügen, Geremonien des Brautbades u. s. w. mit den politischen und militairi- sehen Vorgängen um die Wette dargestellt und oft mit Anmuth erzählt werden. Dass die Liebesgeschichten und die Beichtväter und die In- triguen der Damen in der Politik Johann Casimirs, der selbst Cardinal ge- wesen , eine nicht minder grosse Rolle spielten als demnächst am Hofe Ludwig XIV. , ist vollkommen richtig ; ebenso richtig , dass die Königin gerade in dieser Zeit der Warschauer Schlacht sehr lebhaft beschäftigt war den Obermundschenken Johann Zamoysky denselben, qui se fii re~ marquer comme danseur au Palais Royal , wie die Königin einer Freundin in Paris schreibt für eine ihrer französischen Hofdamen zu interes- siren , für das Fräulein Marie d'Arquien , die Tochter des Marquis und späteren Cardinais de la Grange d'Arquien, dieselbe, die als seine Wittwe 1665 sich mit Johann Sobiesky vermählte; an sie sind die zärt- lichen Briefe des Helden von Wien aus dem Jahre 4 683 gerichtet, die Graf Plater übersetzt und Salvandy \ 827 herausgegeben bat. Ob die Königin, wie unsre Schrift berichtet, diese Vermählung wünschte, damit Zamoysky nicht das Fräulein von Schönfeld heirathe, die des Königs Herz gefesselt hielt und ob der östreichisebe Gesandte Graf Isola , der jetzt an den Hof kam, diese Beziehungen seiner Landsmännin, wie diese Schrift ausführlich erzählt, benutzte, um den östreichischen Einfluss desto sicherer zu gründen, das mögen andere bestimmen. Als Verfasser der Schrift wird in Barbiers Dkiionavre des Anonymes Rousseau de la Valette genannt. Mir hat nur der zweite Theil vorgelegen; vielleicht hat der Verfasser ähnlich wie in einer andern Schrift, die er verfasst hat, »Le eomte d Ulfeid grand maitre de Danemarck, nouvelle historique. Paris 1678,« und welche dem Herzog von Montausier dedicirt ist, sich be- gnügt mit seinem Namen die Dedication zu unterzeichnen , vielleicht hat er in der Vorrede zum Casimir Roy de Pologne ähnlich wie im Le Comte <f Ulfeid sich über die Glaubwürdigkeit seiner Nachrichten geäussert;

271 Die Schlacht von Warschau. 1656. 371

denn hier schreibt er : quoique le lecteur trouve des choses fort surjnrenan* tes en eette histoire, je puis fasteurer que tout y est tres veritable et que je nay rien escrit que sur des memoire* qui nCen ont ete donnts par des gens dupat/8 habiles et des-interessis u. s. w. Genug, in dem zweiten Theil dieser Schrift »Casimir Roy de Pologne« wird auch die Schlacht von Warschau ausführlich erzahlt (p. 48 66) und zwar in einer Weise, die sehr sonderbar ist.

Am auffallendsten war mir, dass da aus der dreitägigen Schlacht eine viertägige gemacht wird, indem der Verfasser von einem neuen Kampf am 31. Juli, von einem Angriff der Polen gegen die durch den dreitägigen Kampf völlig erschöpften Sieger meldet. Gerade diese An* gäbe , für die in den bisher angeführten Berichten auch nicht der ge- ringste Anhalt zu finden ist, giebt uns die Möglichkeit die Kritik der Quellen noch einen Schritt weiter zu führen.

Ich habe von einem Geschichtswerk zu sprechen, das seiner Zeit in mehreren Ausgaben und Uebersetzungen verbreitet war und namentlich im katholischen Deutschland unbedingt dafür galt für die Zeit von 1618 bis 1674 die rechte Geschichtsquelle zu sein. Es ist die von Adolph Brächet begonnene, von Christian Adolph Thulden und spater von Hein- rich Brewer fortgesetzte historia nostri lemporis. Alle drei waren köl- nische Priester und das Werk erschien in dem seit 1648 begründeten Verlag des jüngeren Kinches (Johann Anton): es ist in derjenigen Richtung begonnen und fortgeführt, für welche in Cöln allein mehr buchhändlerische Firmen thätig waren als im ganzen übrigen Deutsch- land zusammengenommen. Cöln war der literarische Mittelpunkt des katholischen Deutschlands, dort ging die Speculation der Buchhändler und der Betrieb der Autoren Hand in Hand ; wie denn der Name des Begründers der historia nostri lemporis vermuthen lässt, dass er zu der buchhändlerischen Familie der Brächet gehört , deren Firma (Peter v. Brachel) wenigstens seit 1 602 in Cöln nachzuweisen ist. Es würde mich zu weit führen , wenn ich den Kampf der von Cöln aus gegen die protestantische Historiographie und deren peinlichst empfundenes Ueber- gewicht geführt worden ist, verfolgen, die bistoriographische Eigenthttm- lichkeit dieser clericalen Forscher erörtern wollte.

Uns geht hier der vierte Theil des Werkes an, der die Jahre 4 655 und 1656 umfasst. Er ist von Thulden verfasst, der nach Bracheis Tod die von diesem in 9 Bänden bis 4652 fortgeführte Erzählung in einer

372 Joh. Gust. Droysen, [28

neuen Ausgabe (1656) mit einem dritten Theil bis 4654 fortsetzte, dann 1657 jenen vierten Theil folgen liess. Mir hat eine spätere Ausgabe vor- gelegen, welche den Titel führt : Christiani Adolf hi Thuldeni historianim Europitarwn Enneadis primae libri IV. V. VI. sive pars IL annis 4655 et 1656 gesta explicans. accedunt seorsus ad annos praedictos perünentes tractatus et codiciüi publici, quibus recessus Imperii ultimus, causarum belli suecici excussio, literae universales, manifesla aliaque ad hos annos perti- nentia includuntur. Coloniae Ubiorum apud Joannem Antonium Klinckium. anno 1665. cum Privilegio S. C. M. 8 Bande 12°.

Thulden stellt jenen schwedisch-polnischen Krieg mit sehr lebhafter Theilnahme für Polen dar, er beschreibt mit grosser Ausführlichkeit und als einen sichtlichen Triumph der guten Sache jene Erhebung Polens, in der die Mutter Gottes von Czenstochau und ihr wirksamer Beistand in der Rettung ihres Heiligthums eine gebührende Stelle findet. Dann folgt p. 280 die Darstellung der Warschauer Schlacht; nach der Flucht der Polen am dritten Tage hanc Polonorum fugam Suedus et Brandenbur- gs victoriam suam arbitrati in castris prope triumphum adornant sam- meln sich über Nacht die Lithauer und die Tartaren 9 greifen am andern Morgen ubi jam depugnatum esse Suethici putabant von Neuem an , forte et fortunatum adversus Suedos proelium committunt.

Dass Thulden sich diese Dinge nicht ausgedacht hat, versteht sich von selbst. Er hat , wie seine vier Bände Beilagen zeigen, aus Zeitun- gen , Brochüren , fliegenden Blättern u. s. w. gearbeitet, und dass Cöln für »neueste Nachrichten« neben Amsterdam, Frankfurt. Danzig und Brüs- sel ein Hauptplatz war, zeigen die unzähligen brieflichen Nachrichten aus Cöln, die man aus jener Zeit in so vielen Archiven findet. Auch seine Warschauer Schlacht wird Thulden aus gedruckten Nachrichten entnommen haben; natürlich nicht aus denen, die wir bisher kennen gelernt haben. Die richtige Spur zeigt uns die schon oben angeführte Aeusserung Löcks : quae mendacia de Suecis Dantisci et in Belgo sparsa sint, ut satis notum hie non repetam.

Es ist mir bisher nicht gelungen Danziger Drucke über die War- schauer Schlacht zu finden. Aber auch aus Des Noyers Briefen ist der überaus thätige und gut polnisch gesinnte Buchhändler Georg Förster bekannt , aus dessen Verlag u. a. die prunkvollste Darstellung der wun- derreichen Rettung von Czenstochau hervorgegangen ist. Um die Zeit der Warschauer Schlacht oder gleich nachher kam die holländische Flotte

29] Die Schlacht von Warschau. 1656. 373

auf die Danziger Rhede, um die Stadt in ihrem Widerstände gegen Schwe- den zu unterstützen. In Danzig wie im Haag war man beflissen den Aus- gang der Schlacht so günstig als möglich zu deuten , und man fand in einem Vorgang, der unmittelbar nach der Entscheidung eingetreten war, den Anlass von einer Wiederaufnahme des Gefechtes am vierten Tage und deren günstigem Erfolg der zeitungsgläubigen Welt Nachricht zu geben. Auf solche Danziger oder Hollander Nachrichten hatte dann Thul- den seine Darstellung gegründet, nicht ohne eine scharfe Kritik der geg- nerischen Nachrichten beizufügen: his proeliis eo iriduo aut quatriduo conserüs mendaciorum ingens farrago de victoria Suedi et Brandenburgi e Prussia in Germaniam allata est u. s. w.

Die sehr lehrreichen Berichte des Danziger Agenten am polnischen Hofe, des Stadtschreibers Gregor Barckmann, theile ich auszugsweise in Beilage 1 1 mit.

II. Feststellung des Thatbestandes.

Nach der Natur der vorliegenden Materialien wird man nicht den Anspruch machen dürfen den Verlauf der Schlacht so bis ins Einzelne genau feststellen zu können , wie die militairische Literatur die Schlach- ten neuerer Zeit darzustellen sich gewöhnt hat. Es bleiben mehrere Punkte unklar und man muss sich begnügen den Gang der Gefechte in den wesentlichen Momenten feststellen zu können.

Das Schlachtfeld.

Ich lege der Terrainbeschreibung die früher erwähnte russische Generalstabskarte zum Grunde die vor etwa 20 Jahren zum Be- huf eines Manövers in der Umgegend von Warschau lithographirt und den anwesenden fremden Officieren gegeben worden ist. Ausserdem benutze ich eine in grossem Maassstabe und mit vorzüglichem Fleiss ge- stochene Ingenieurkarte von Warschau, die auch einen Theil des Schlachtfeldes uinfasst. Herr Dr. Krasnosielski hat die grosse Güte ge- habt Durchzeichnungen beider Karten an Ort und Steile zu controliren und einzelne zweifelhafte Punkte festzustellen.

Das Schlachtfeld liegt Warschau gegenüber , bei Praga. Südwttrus ist es durch einen todten Weichselarm abgeschlossen , der sich in einem sumpfigen Grunde in der Richtung von Grochow fortsetzt. Etwa 500 Schritt nördlich von diesem Weichselarm beginnt eine Dünenreihe, die

374 Joh. Gcst. Droysen, [30

bald zu einer Kette von Hügeln an einander gereibt, sich parallel mit der Weichsel und etwa 3000 Schritt von ihr entfernt eine halbe Meile weit hinzieht. Zwischen den Dünen und der Weichsel ist ein welliges Ter* rain, dessen Senkungen mit Sumpfwiesen gefüllt sind; namentlich nach Norden hin zwischen dem Ende der Dünen und dem Strom erhebt es sich in drei Schwellungen, die von sumpfigen Gründen getrennt sind

Es bildet sich so ein eigentümlich geschlossener und zur Vertei- digung wohl geeigneter Raum um Praga, ein Oblongum von reichlich V2 Meile Länge, J/4 Meile Breite, dessen West- und Südseite durch die Weichsel und den todten Weichselarm , dessen Ostseite durch die Du* nenreihe gedeckt ist. Die Nordseite ist offener; aber theils beherrschen die Schwellungen des Bodens das tiefere Terrain , das nordwärts davor liegt, theils macht der Sumpfgrund zwischen den Dünen und der näch- sten Schwellung, der sich weiter nach Norden fortsetzt, den Zugang schwierig ; endlich springt in der Fortsetzung der Dünenreihe und von ihr durch einen breiten Hohlweg getrennt, eine einzelne Düne hervor, welche das Flachland im Norden und Osten beherrscht.

Diese Terrainbildung ist wie ein natürlicher Brückenkopf fllr War- schau, und als solcher ist er, wie die drei Dahlbergischen Zeichnungen zeigen, von der polnischen Armee benutzt und durch Erdwerke ver- stärkt worden.

Sie hatten auf der zuletzt erwähnten nordwärts vorspringenden Düne eine geschlossene Schanze aufgeworfen (den Schanzhügel); sie hatten die Schwellungen zwischen hier und der Weichsel mit Retranche- ments versehen, deren Kanonen das nordwärts vorliegende tiefere Land beherrschten (die Schanze Zamoyskys auf der westlichen Schwellung, dann die Czarneckys, nach Barckmann, der fllr die dritte, östliche Schwel- lung kein Schanzwerk erwähnt). Sie hatten den südlichsten Theil der Dünenreihe, die mit Wald bestanden war (das Holz von Praga) mit Erd- werken gesichert, so dass es der Feind der in das Defite beim todten Weichselarm eindringen wollte, unter den Kanonen dieser Werke pasaren musste. Hinter dem Holz von Praga waren noch weitere Verschanzungen.

Mit besonderer Vorsicht war der Uebergang über die Weichsel ge- deckt. Die Schiffbrücke, die herüber führte nach Dahlbergs Zeich- nung ist ihre Lage genau zu bestimmen, war diesseits und jenseits durch ein besonderes Schanzwerk gedeckt. Und wie weiter diesseits die Retranchenients sie schützten, so war jenseits auf der Uferhöhe bei Pulko

34] Die Schlacht von Warschau. 1656. 375

eine Schanze aufgeworfen (Des Noyers p. 214) für den Fall, dass der Feind auf dem linken Ufer herankam *.

Die beiden neueren Specialkarten, die mir vorgelegen, zeigen Reste von Schanzwerken vor dem Holz von Praga , hinter demselben, dann auf zwei von den drei Schwellungen , wo die nördlichen Retran- chements gelegen haben müssen. Sollten diese Reste aus einer andern Zeit herstammen als aus der unsrer Schlacht , so würden sie wenigstens die militairische Bedeutung der gewählten Stellen bezeichnen2. Zur Zeit der Schlacht füllte Praga noch nicht den ganzen Raum aus, den es jetzt umfasst. Die Karte von Memmert nennt neben Praga und südlich davon ein zweites Dorf Skarizowo , und beide führt Des Noyers mit der Be- zeichnung ces deux grands villages vis-ä-vis de Varsovie an. Bei beiden lagen mehrere Landhäuser, deren einige die Zeichnung Üahlbergs nennt.

In diesem Bereich bewegt sich die Schlacht des dritten Tages, die des zweiten im Osten der Dünenreihe, die des ersten im Norden der Retranchements.

Im Osten der Dünenreihe liegt ein weites Flachland, zum Theil von Brüchern und Wiesen durchzogen, die ihren Abfluss nordwärts zum Zonzabach und durch ihn in den Bug haben. Diess Flachland erstreckt sich etwa 1 Vi Meilen weit ostwärts , wo der weite Wald von Grochow den Horizont schliesst. In dieser Fläche liegen mehrere Dörfer, zunächst Kamin zwischen dem todten Weichseiann und dem Holz von Praga, dann Targoweck dem Nordende des Holzes von Praga gegenüber, etwa 2000 Schritt ostwärts, am Saum sumpfiger Wiesen, die sich von hier gerade nordwärts ziehen; dann weiter am Rande derselben das Dorf Brudno, jenem Schanzhügel gegenüber und etwa 4000 Schritt von demselben; endlich eben so am Rande des Bruches Bialalenka mit einem »königlichen Hause.«

Dann das Terrain im Norden, das des ersten Schlachttages. Zwi- schen Bialalenka und der Weichsel liegt ein Wald, der sich nach Norden dem Fluss parallel fortsetzt, durchzogen von einer Dünenkette, die in der

) ou etoit un fort pour la garde de notre pont de ce cöti-ei. Nach der Zeichnung von Memmert war es nicht eine einzelne Schanze, sondern eine Linie von Retranche- ments wie auf der rechten Seite des Stromes« Genaueres in Beilage f 1 .

2) Nach Herrn Dr. Krasnosielski's Angabe sind diese und die bei dem Holz von Praga angezeigten Schanzwerke noch jetzt wohl erkennbar und gelten dafür aus der Schwedenzeit zu sein.

376 Joh. GrsT. Droysen, [32

Richtung der von Praga nordostwBrts streicht. Der Wald hat bald Sumpf- bald Sandgrund. Die Dünenkette begleitet an ihrer Westseite ein Sand- weg, der dem Schanzhügel gegenüber, etwa 1 000 Schritt von ihm ent- fernt ins Freie mündet; andre Wege durchschneiden ihn von West nach Ost,, in der Richtung nach Bialalenka.

Zwischen dem Wald und der Weichsel führt die Strasse von No- wod wor nach Praga und Warschau ; es ist die auf der das schwedisch- brandenburgische Heer heranzieht. Der Weg geht über die Dörfer Tar- chemin, Smidry, dann Zyran, das 3A Meile .von Praga entfernt ist. Hier nähert sich der Wald in einem Bogen der Weichsel, von der ein schma- ler Arm so einspringt, dass endlich nur ein Defilö von etwa 7 OD Schritt bleibt. Dann wendet sich der Saum des Waldes ostwärts, doch nicht in grader Linie abgeschnitten , sondern so dass der Schwedenkönig, als er durch diess Defilö vorrückte, zu seiner Linken wieder den Wald sah (Reh 1. 1 7). Es ist die Einbiegung auf der Südseite des Waldes, die sowohl Dahl- bergs Zeichnung Bl. 40 als auch die Generalstabskarte deutlich bezeichnet.

Ein zweites Defilä ist zwischen dem Walde und dem Schanzhügel, von etwa 1000 Schritt Breite, verengt durch die zum Theil sumpfige Wiese, die hier aus den Dünen hervortretend an der Westseile des Schanzhügels sich nordwärts in den Wald hinein fortzieht. Vor diesem Pass, »allernächst beim Walde,« liegt »eine kleine Colline« (Rel.L), welche diesen Pass von Osten her beherrscht ; sie ist so gelegen , dass die Al- liirten mit der Besetzung derselben »gänzlich um den Wald herumkamen« (Bericht No. 1). Also ist es nicht die kleine Höhe, die in der Richtung der Dünenreihe dicht an dem Austritt des Sandweges aus dem Walde liegt.

Diese kleine Colline ist der filr den Verlauf der Schlacht entschei- dende Punkt. Memmert hat in dem Gefühl ihrer Wichtigkeit sie unver- hältnissmflssig vergrössert, er so wie Dahlberg zeichnet sie ziemlich dicht an der Südostecke des Waldes , doch so dass zwischen ihr und dem Wald Raum zur Aufstellung von drei Treffen bleibt, während des Chur- ftlrsten eigenhändiger Bericht angiebt , dass »das erste Treffen für dem Holz, die beiden andern in dem Holz aufgestellt wurden.« Auf der rus- sischen Generalstabskarte ist sie nicht bezeichnet, aber in der Inge- nieurkarte erkennt man sie in der Höhe, die sich an dem Walde hin- zieht, ein Wenig über sein Südende hinausragend '.

t ) Herr Dr. Krasnosielski schreibt über diese Colline : vor einigen Jahren war an der nach Süden vorspringenden Stelle dieses Höhenzugs ein nicht unbedeutender

33] Dm Schlacht von Warschau. 1656. 377

Es ist der Mühe werth die kurze Beschreibung des Terrains hinzu- zufügen die Kochowsky giebt : Situs loci ad Pragam in protensam plani- tiem vergit, Vistula dextro laiere praelabente. ab laeva hinc inde coenosi trajectu8 ex intervenienlibus rim, etiam arenarum cumulis assurgenlibus. adhaerebat planitiei rarior quidem pinea sylva, sed quae humilibus arbustis impedita tegendis insidiis plane commoda esset.

Die Starke der Armeen.

Der schnellen Unterwerfung Polens durch die Schweden war ein mächtiger Rückschlag in der Stimmung des polnischen Volkes gefolgt ; mit der Rückkehr des geflüchteten Königs, mit jener merkwürdigen Feier- lichkeit , in der er Polen der Jungfrau Maria weihte , mit den Erfolgen des Frühlings 1 656 verbreitete sich die Begeisterung gegen die tiber- müthigen Fremdlinge ; im Anfang Juli war das ganze Land in Waffen.

Die Stärke der polnischen Macht rechnet Des Noyers am 20. Juli nach gehaltener Revue auf 50,000 M., die der lithauischen auf 10,000 bei Praga und 20,000 die über den Bug detachirt sind. Dazu die Tarta- ren, 35,000 Herren und 50,000 Diener qui combattent comme les mattres, am 27sten sagt er sie stehn nur noch drei Lieues von Warschau ; dass sie beim Beginn der Schlacht nichts weniger als bei einander waren, sagt sein Schreiben vom 1 1 . Aug. Ungefähr eben so hoch ist das polnische Heer nach dem Schreiben aus Sacrozin Rel. VI. »In unsers Königs La- ger hinter Warschau waren 60,000 M. pospolite Ruszenie, in Prag gegen Warschau über waren über 20,000 M. lithauische Völker; die Quartia- ner und Husaren waren auf 20,000 und die Tartaren auf 40,000.« Dass die Polen selbst sich auf 100,000 M. geschätzt, sagt Rel. I. § 57; »über 100,000 M.« Rel. II.; «by twee hondert Duysenh Aitzema. Die brandenb. Darstellung No. 1 2 sagt »eine Macht welche anfangs 120,000 M. letzt aber dero eigenem Geständniss nach 84,000 Gombattanten stark gewesen;« eben so der vom Churftlrsten corrigirte Bericht (No. 2 d). Ganz anders

Hügel, heute ist er verschwunden, weil an dieser Stelle eine Colonie gegründet wor- den ist. Mit Geschützen kann man heute das Defite am Waldsaume entlang nichl be- streichen , weil da wo der Waldweg heraustritt, der bewegliche Flugsand eine Erhö- hung gebildet hat ; die Leute in der Colonie geben an , dass vor i 2 Jahren an der Stelle noch Sumpf gewesen sei.«

Abhgndl. d. K. 8. Qet. d. Wim. £. 26

378 Job. Gust. Droysen, [34

sind die Zahlen in Rel. I. IL § 57: 8000 Quartianer, 16,000 pospolite Ruszenie, 5000 Lithauer, 6000 Tartaren, 4000 zu Fuss *; schon die brandenburgische Bearbeitung verändert diese Zahlen, die vielleicht nur die wirklich ins Gefecht gebrachten festen Truppenkörper umfassen.

Wie immer die Zahlen schwanken mögen , in allen spricht sich der Eindruck aus, dass man gegen eine ungeheure Uebermacht »gegen einen fünfmal stärkeren Feind« gekämpft habe. On peut maintenant, schreibt Des Noyers 27. Juli, comparer les forces de la Pologne ä un gros taureau et eelle de Suede ä un renard ; l'un est un gros animal sans conduite que tautre combat seulement per ses ruses. »Wir hatten ein Mitleid,« sagt der Corre- spondent aus Sacrozin , der die Alliirten über den Bug marschiren ge- sehen , »dass diese Völker gleichsam auf die Schlachtbank geführt wer- den müssten.«

Aber unter den Völkern auf polnischer Seite waren offenbar nur wenige Schaaren eigentlicher Soldaten; der bei Weitem grösste Theil bestand aus »irregulären Truppen.« Als solche wird man zunächst die Tartaren bezeichnen müssen, die mit Pfeilen schössen (Aitzema). Auch die pospolite Ruszenie, die »Insurrection des gemeinen Adels« gehört hier- her, die auf 16,000, auch 60,000 angegeben werden; gewiss gilt .von ihnen, was um dieselbe Zeit der Graf von Coligny - Saligny (Mem.p. 23) in Betreff der Kämpfe der Fronde beobachtet : »j'ai souvent raisonne sur ce que cest de gern disciplines au prix de ceux qui ne le sont pas; toute

ooo

I ) Die verschiedenen Angaben übersehen sich am besten in folgender Zusam- menstellung.

Rel. I. II. Bericht aus Sacrozin. Theat. Bur. ed. 2. Des Noyers.

Quart. 8000 20.000 80,000 |

Husaren Uo,000

Posp.Rusc. 16,000 60,000 J

_ f35, 000 Herren l

Tart. 6000 40,000 36,000 {50,000 Knechte J40'1

Lith. 5000 20,000 20,000 30,000

Fussvolk 4000 4000 6000 4000

Hailoten * 5,000

Chrzanowsky hat die Zahlen der Rel. I. II. aus Pufendorff. Er fügt hinzu, le bruü qui courut alors que Varmee e'tait composee de 4 00,000 kommet avec 80,000 Tartares elait apparement repandu dans le but de relever le moral des siens et de contenir les Suedois. Des Noyers schreibt am 27. Juli: notre armie a ele plus de 80,000 kommes, eile est encore presentemeni de plus de 50,000 hommes sans celle de Lükuanie de 10,000 kom- mes, qui fait un camp ä part; die detachirten 20,000 Lithauer und die Tartaren rech- net er nicht mit. Andere Angaben aus Barckmanns Berichten folgen in Beil. < \ .

35] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 379

cetle noblesse estoit composee (Thomtnes fort braves en particulier, cepen- dant en gros ils nesUrient bon ä rien et faisoient mesme assez mechante conlenance.« Nicht eben andrer Art dürften die Hasaren gewesen sein ; schwergepanzerte , mit Lanze (copie) , Pallasch , Hammer , Pistolen be- waffnete Ritter, deren jeder nach Art der alten Gleven zwei bis vier leicht Bewaffnete zu Pferde hinter sich hatte; auch die Löwen- und Tigerfelle* die sie trugen , zeigten , dass sie die reicheren Edelleute des Landes seien. Nur die Quartianer waren Reiter im regelmässigen Sold. Ueber die Lithauer liegen keine besonderen Nachrichten vor. Wenn das Fussvolk auf 4000 oder 6000 Mann angegeben wird, so scheinen damit die »einigen Regimenter deutscher Kriegsknechte« im polnischen Heer gemeint zu sein , deren ein Schreiben Karl Gustavs an E. Oxenstjerna vom 31. Juli erwähnt (Carlson p. 152). Denn die 12 1 5,000 valets de l'armde, qui est devanl Varsovie, die sich nach Des Noyers 22. Juni zur Erstürmung Warschaus erboten haben , sind eben kein or- dentliches Fussvolk, sondern das was Rel. L § 15 Halloten nennt, »Ge- sinde, welche nicht mit Obergewehr, sondern nur Säbeln, Sensen, Prü- geln und dergleichen Instrumenten versehen.«

Dieser ungeheuren Uebermacht der Zahl nach hatten die Gegner eine kleinere aber aus Soldaten, aus disciplinirten und tactisch geschlos- senen Schaaren bestehende Armee entgegenzustellen.

Ueber die Zahlenverhältnisse der »conjungirten Armee« sind wir leidlich genau unterrichtet. Jn de Lumbres Schreiben vom 9. Aug. heisst es : Celle de Su&de est forte d'environ dix milk hommes, celle de M. PEle- cteur est presque de pareil nombre , plus forte d Infanterie mais plus foibk en cavallerie. Diese Angabe wird im Wesentlichen durch die Berichte die von der andern Seite her stammen , bestätigt. Am speciellsten und wohl auch zuverlässigsten ist die Angabe der brandenburgischen Dar- stellung in Beilage 8: »Die königliche Armee war in 9000, die churflirst- liche aber in 8490 Mann bestanden.« Und in der dem Churfllrsten vorge- lesenen Darstellung (No. 2 d) wird die Stärke von »16 bis 17,000 Mann« angegeben. Carlson (also nach Dahlberg) hat beim Uebergang über den Bug 22,000 M., am ersten Schlachttag 18,000 M., Aitzemap. 559 20— 25,000 M., gewiss zu gross.

Auffallender als diese Verschiedenheit in den Zahlenangaben ist, dass die Aufzählung der einzelnen Truppenabtheilungeh in Rel. I. II. und den davon abgeleiteten Berichten weder mit der genauen Zeichnung

*6»

380 Joh. Gust. Droysbn, [36

Dahlbergs noch mit der Mermnerts stimmt. Die Relationen I. II. 56. 57) geben an, dass das vereinigte Heer gehabt habe

60 Escadronen zu Pferde, 4 Regimenter Dragoner, 1 2 Brigaden zu Fuss, sie fügen hinzu (§15), dass um beide Flügel gleich zu machen 5 schwe- dische Schwadronen dem linken Flügel dem des Churfttrsten überwiesen seien. Danach also waren im Heer 35 schwedische, 25 brandenburgische Escadronen. Die ordre de bataille die Dahlberg auf Blatt 41 giebt, hat 33 schwedische Schwadronen (davon 5 auf des Churftlrsten Flügel) und 23 brandenburgische (davon 2 auf des Königs Flügel), ohne Bemerkung darüber, ob 2 schwedische und 2 brandenburgische abcommandirt seien. Das früher erwähnte Schreiben Jenas erwähnt das (schwedische) Regi- ment Anhalt , das er selbst in Action gesehen ; aber es fehlt bei Dahl- berg K Die 4 Dragoner-Regimenter finden sich in der ordre de bataille, und zwar ein schwedisches von 1 Schwadron (Pfalz Sulzbach) auf dem Flügel des Königs, drei brandenburgische auf dem des Churfbrsten, näm- lich die Regimenter Waldeck zu 2, Canitz zu 2 und Kalkstein zu 1 Schwa- dron. Dass das Fassvolk in 12 Brigaden getheilt war, und dass davon 3 schwedische , 9 brandenburgische waren , sagt Aitzema und Rel. III. ausdrücklich und lassen auch die Rell. I. II. § 15 u. 16 erkennen. Eben so giebt Hemmerts Ordre de bataille am zweiten Tage 12 Brigaden, von denen 3 (schwedische) auf dem äussersten Flügel des Königs, 3 brandenburgische auf dem äussersten Flügel des Churfbrsten , 6 bran- denburgische im Centrum der Schlachtlinie stehen. Sehr auffallend ist, dass Dahlbergs Zeichnung dem schwedischen Fussvolk eine viel grössere Bedeutung zu geben sucht ; sie führt überhaupt nur 1 1 Brigaden auf, von diesen sind 6 schwedische und nur 5 brandenburgische *.

Diese verschiedenen Angaben fordern noch einige Erläuterungen. Es wird von Militairschriftstellern wohl der Fehler gemacht, dass sie

t) Sehr abweichend isl Carlsons Angabe: nach ihm hatte des Königs Flügel 4 schwedische Regimenter, Upland, Smiland, Ostgöta, Pinnen und 21 Escadrons ge- worbene deutsche Reiter und der Flügel des Churfürsten 32 Escadrons Brandenbur- ger. Das widerspricht allen andern Nachrichten und den Zeichnungen Dahlbergs.

2) Er nennt die schwedischen: Westrogothen , SmÜland, Upland, Helsing und ObristNarn; dass letzterer schwedisches Volk bedeutet, ist sicher. Carlson nennt fünf schwedische Brigaden (die obigen ohne Narn) aber daneben zehn brandenbur- gische.

37] Die Schlacht von Warschau 1656. 381

Ausdrücke wie Escadronen , Regimenter , Bataillone so verstehen , als wenn sie stets die gleiche Bedeutung gehabt hatten. Wenn man die tech- nischen Ausdrücke wie sie sich im dreissigjtthrigen Kriege namentlich auf schwedischer Seite entwickelt haben, genauer studirt, so zeigt sich, dass Escadronen (Vierecke) für die Reiter die kleinsten tactischen Körper be- zeichnen, die in der Regel aus mehreren Compagnien gebildet wurden \ dass für das Fussvolk theils derselbe Ausdruck , theils , wie in diesem Kriege, daneben auch der Ausdruck Brigaden im Gebrauch war.

Gewiss waren des Churfürsten Compagnien zu Fuss und zu Ross, da er eben jetzt erst ins Feld rückte, verhültnissmttssig vollzählig, wah- rend die der Schweden, die schon seit einem Jahre im Felde lägen und eine Wintercampagne gemacht hatten, sehr zusammengeschmolzen sein mochten 2.

So konnte es geschehen , dass die brandenburgischen Reiterregi- menter Kannenberg , Fr. Waldeck, Leibgarde 3, 4, 5 Escadronen bilde* ten, wahrend auf schwedischer Seite nur die Reiter Königsmarks und Sadowskys zu 3, ein Paar andre zn 2 Escadronen stark genug waren 3. Aehnlich beim Fussvolk ; in der That hatte der C hurfürst nur die Regi- menter Leibgarde, Sparr, Syburg , Goltz und Josias Waldeck ; aber die Compagnien dieser Regimenter waren zahlreich und vollzählig genug, dass die Regimenter Goltz , Sparr , Syburg und Waldeck je 2 Brigaden herstellen konnten ; nur die Leibgarde bildete eine Brigade. Immerhin mögen auf schwedischer Seite 6 Regimenter Fussvolk wie Dahlberg angiebt , gewesen 6ein ; aber es ist wohl erklärlich dass sie nur noch Mannschaft genug zu drei Vierecken hatten. Diese Auffassung wird be- stätigt, wenn man die schwedischen Truppentheile , die Dahlberg im Lager von Nowodwor aufführt, mit denen, die sein Schlachtplan giebt, vergleicht, worauf ich nicht naher eingehen will.

\ ) So schreibt Graf Fritz Waldeck dem Churfürsten nach dem unglücklichen Ge- fecht von Johannfsburg 8. Ocl. 4 656, »ich habe noch wenig von den Ausreissern, doch 6 Schwadronen kann ich machen.« (Berl. Arcb.)

2) Des Noyers schreibt 22. Juni, bei Nowodwor seien 26 Regimenter, darunter 3 zu Fuss chaque regiment riest que de 4 compagnies, dan* la pluspart desquelles Ü riy a que 4 5, 20 au 30 hommes au plus.

3) In dem eben erwähnten Gefecht hatte Radzivil als schwedischer General, wie Waldeck an Weymann 20. Oct. schreibt sim regiment* qui faüoient six cents komme* de cheval. (Düsseid. Arch.)

382 Joh. Gcst. Droysen, [38

Eine andere grössere Schwierigkeit ergiebt das Zahlenverhältniss zwischen den brandenburgischen und schwedischen Völkern.

Die schwedischen Berichte (Rel. I. II. u. s.w.) vermeiden die Stärke beider Armeen nach der Kopfzahl anzugeben ; sie führen nur die Zahl der Brigaden und Escadronen an; sie sagen § 57, dass auf jedem Flügel 30 Escadronen gestanden, nachdem sie § 15 angeführt, dass um beide Flügel gleich zu machen, 5 schwedische dem des Ghurfürsten zugelegt seien. Der Ghurfürst hat § 57 statt der Zahl der Escadronen corrigirt, dass die conjungirte Armee 16 17000 Mann stark gewesen; und da- mit ist der Bericht No. 12, der ja auch in Berlin entstand, dass 9000 Schweden und 8490 Brandenburger zur Stelle waren, bestätigt.

Die Schwierigkeit ist nun, festzustellen, wie diese Zahlen sich auf die Brigaden und Escadronen der beiden Armeen vertheilen. Denn wenn sich die Stärke der beiderseitigen Fussvölker wie 9 : 3 verhält, so ist das Verhältniss der Cavallerie 25:35 dem nicht entsprechend, wenn man nicht den 4 Regimentern Dragoner (nach Dahlberg 1 Esc. Schweden und 5 Esc. Brandenburger) eine unverhältnissmässige Stärke zuschreiben will.

Man sieht es ist die Frage nach der Grösse der Brigaden und Es- cadroneü, der kleinsten tactischen Körper.

Als der Churfürst 1646 seine Leibgarde zu Fuss errichtete, be- stimmte er, dass sie »eine Escadron von 500 Mousquetiren« in 4 Com- pagnien bilden sollte (s. den Bestallungsbrief bei v. Gansauge das brand. preuss. Heer p. 11 8) K Und in den Zeichnungen von Memmert und Dahlberg bildet des Ghurfürsten Garde zu Fuss eine Brigade. Wir dür- fen annehmen , dass jede der 9 brand. Brigaden ungefähr von gleicher Stärke war.

Von dem brandenb. Heer zu 8490 M.

enthalten die 9 Brigaden 4500

bleiben für Dragoner und Reiter .... 3990 M. Dürfte man annehmen, dass die Escadronen der Reiter und Drago- ner gleich stark waren , so würde sich für jede derselben ergeben eine Stärke von 133 M.

4) Zur Vergleichung führe ich an, dass ein churfiirstlicher Beslallongsbrief vom 9. Mai 4 658 für den Oberstleutnant de Lardeau »die Rüstung einer Escadron zu Fuss« befiehlt, welche aus vier Compagnien zu 4 00 »gemeinen Knechten« bestehen soll ausser der oberen und unteren prima plana.

39] Die Schlacht von Warschau. 1656. 383

Diese Zahlen, auf die schwedische Armee angewandt, ergeben ganz verkehrte Resultate. Nimmt man an, dass die schwedischen Reiter und Escadronen gleichfalls 4 33 M. stark waren, so waren unter

9000 M. 36 Escadronen 4788

es bleiben filr das Fussvolk 4212 M.

was für jede der 3 Brigaden über 1 400 Mann ergeben würde. Und wieder nimmt man an, dass diese Brigaden gleiche Stärke mit den bran- denburgischen hatten, so waren unter 9000 M.

die 3 Brigaden Fussvolk 1 500

und es bleiben für Reiter und Dragoner .... 7500 M. wonach jede Escadron 208 M. stark gewesen wäre , also um 2/s stärker als die brandenburgischen. Sollte also doch die Ausgleichung in den Dragonern zu suchen sein? Dragoner werden als leichte Infanterie ver- wendet ; sie rücken, wie Memmerts Zeichnungen erläuternd bemerken, »in kleinen Parthien zwischen die Reiter vertheilt« an; es muss immer wenn vorgerückt wird, ein Theil der Leute ausser Gefecht bleiben, um die Pferde der absitzenden zu halten ; um so viel grösser an Kopfzahl scheint ihr kleinster tactischer Körper sein zu müssen.

In einem Gefecht bei Dirschau 23. Aug. 1657 theilt Josias von Waldeck sein Reiterregiment, das er auf »beinahe 500 Pferde« angiebt, wie es zum Angriff geht in 4 Escadronen ; er fügt gelegentlich in sei- nem Bericht an den Churftlrsten (Stolpe 7. Sept.) hinzu, dass jede seiner Escadronen nur 2 Compagnien stark gewesen sei. Seine 500 Reiter bildeten also 8 Compagnien zu etwa 62 Pferden; er machte zum Ge- fecht Escadronen von 125 Mann. Nehmen wir an, dass auch bei War- schau die brandenburgischen Reiterschwadronen 125 Mann stark waren,

so befanden sich in der Gesammtstärke des Churfürsten von

8490 M.

Fussvolk in 9 Brigaden 7500

Reiter in 25 Escadronen 3125

bleiben für die Dragoner 865 M.

so dass die Escadron Dragoner 173 M. gewesen wäre. Aber man sieht, dass auch damit das Misverhältniss zwischen der schwedischen und brandenburgischen Formation nicht beseitigt ist.

Es versteht sich von selbst , dass die Zahlen in Wirklichkeit nicht

384 Joh. Glst. Droysen, [40

so schematisch waren, dass einzelne Schwadronen auch bei den Schwe- den am etwas kleiner, bei den Brandenburgern um etwas grösser sein konnten. Nur dass die Frage damit um nichts weiter kommt.

Das Resultat ist, dass die Schweden entweder ihre Brigaden oder ihre Escadrons oder beide stärker ins Gefecht führten als die Branden- burger.

So bestimmt die Angabe der Rel. I. IL u. s. w. ist, dass um beide Flügel gleich zu machen und jeden auf 30 Escadronen zu bringen, 5 schwedische an den Flügel des Churfllrsten abgegeben seien , so we- nig stimmt damit die detaillirte Zeichnung und Erklärung bei Dahl- berg und Memmert. In Beilage 10 ist die specieilere Zusammenstel- lung versucht.

Ueber die Zahl der Geschütze hat nur Des Noyers die Angabe, dass die Schweden und Brandenburger zusammen 50 60 Stücke gehabt hatten ; wie viele davon grobe , wie viele Regimentsgeschütze waren, ist nicht zu erkennen. Dass auf Seiten der Polen nur etwa 40 Stücke waren und von diesen kaum die Hälfte in der Schlacht verwendet wurde, wird sich später ergeben.

Die Einleitung.

Der Ausgangspunkt der Operationen ist auf Seiten der Alliirten »das Lager bei Nowodwor,« wie es in vielen Briefen Karl Gustavs seit dem 28. Juni, die mir vorgelegen, genannt wird. Es lag auf dem rechten Ufer des Bug , hart an seiner Einmündung in die Weichsel ; gegenüber auf dem linken Ufer des Bug das Dorf Nowodwor, wo noch bis heut der Name »schwedische Kempe« in Uebung ist. Eine Brücke war hier über den Bug, eine zweite über die Weichsel bei Sacrozin Vi Meile nord- wärts vom Lager geschlagen.

Am 1 4. Juli N. St. hatte der Churfhrst mit seinem Heere die pol- nische Grenze überschritten und bei Schrinsk, 7 Meilen vom Lager Halt gemacht (Bericht Beil. 8) ; am 27sten folgte die Vereinigung beider Armeen bei Sacrozin (Rel. I. IL) , noch am Nachmittag desselben Tages begann der Uebergang der Truppen über den Bug (Ghurf. Bericht Bei- lage 1); die Artillerie ging zuerst hinüber, dann sollte die Cavallerie, endlich das Fussvolk folgen. Die Dunkelheit der Nacht und das Einbre- chen eines schweren Geschützes verzögerte den Marsch , so dass erst am 28. Juli Mittags (»nicht eher als gegen den Mittag Ghurf. Bericht

44] Die Schlacht von Warschau. 4656. 385

Beil. 1) der Uebergang bewerkstelligt war. Nach Des Noyers blieben 2000 Mann zur Deckung des Lagers zurück; welche Truppen, wird nicht ausdrücklich angegeben , lässt sich aber aus dem Vergleich der Dahlbergschen Zeichnung No. 38 mit den Schlachtplänen ziemlich sicher feststellen.

Man hatte einen Marsch von 4 Meilen bis Praga (Churf. Bericht). Auf dem Marsch trifft zuerst ein Trompeter mit Briefen des Königs von Polen an den Churfilrsten ein , dann »auf halbem Wege« (d my*chemin) als das Heer einen kurzen Halt gemacht , der französische Gesandte de Lumbres. Wenn Pufendorff F. W. den Trompeter erst nach dem Gesandten ankommen Ittsst, so liegt in dem mir bekannten Material kein Grund dazu vor, und es kann nur als eine Ungenauigkeit bezeichnet werden.

Pufendorff (F. W. VI. 33) theilt ein Schreiben des Polenkönigs an den Churfilrsten mit, das nach seiner Angabe vom 1 5. Juli datirt ist. Ich habe das Original des Schreibens nicht gesehen, aber dass das Datum von Pufendorff auf den alten Styl transponirt ist, ergiebt sich aus dem Vor- wurf den der König dem Churfilrsten macht : coerceri debwsse intra Bo~ russiae fines exercitum; erst am 14. Juli hatte der Churfilrst die Grenze überschritten l. Wahrscheinlich war diess das Schreiben, in Folge dessen der Churfilrst sich mit der schwedischen Armee conjungirte; und das Schreiben, das der Trompeter am 2$sten überbrachte, war ein anderes, dro- henderes. Inzwischen bemühten sich die beiden französischen Gesandten Avaugour im schwedischen und de Lumbres im polnischen Lager zu ver- mitteln. In Warschau hatte de Lumbres »nach viertägiger Bemühung« am 26. Juli eine wie ihm schien verwendbare Erklärung erhalten ; aber es war ihm unmöglich gemacht sofort wie er wollte nach Nowodwor zu eilen. »Je proposai de partir le lendemain pour aller porter cette rdponse au Roy de Suede; mais la ceremonie de famvie du General des Tartares, qui vint ce jour saluer le Roy , rriayant empeschi d'avoir un Trompette je ne pus partir que le jour suivant, qui estoit le 28.« Man sandte polnischer Seits den Trompeter mit einem »impertinenten und unzeitigen« Schrei-

4) Den Text desselben Schreibens hat Rudawsky mit dem Datum 53. Juli und ein entsprechendes Schreiben des polnischen Senates vom 24. Juli. Der polnische Florus giebt des Königs Brief mit dem Datum 25. Jul. Nach Thulden p. 279 ist des Königs Schreiben vom 25. Juli: pridie ejus diei, quo hanc epistolam suo nomine sub- scriptam Rex CaHmirus Varsoviae obsignavü, similis argumenta codicillos Gnesnensis Ar- ohiepiscopm ... scripsit . . . senatus Polonm nomine.

386 Job. Gust. Dhoyseh. [*2

ben des Königs unzweifelhaft in der Absicht voraas , die Bemühungen de Lumbres vergeblich zu machen. Des Noyers erwähnt die Abschickung dieses Trompeters am 27sten mit einem Briefe, in dem der König dem Churforsten befehle , de poser les armes et quitter le parli des Suedtris, ä faute de quoi il lux declare quil confisque son fief de Pruste et lui declare la guerre dans tous ses autres pays.

Nach den Mittheilungen de Lumbres beschlossen die beiden Für- sten ohne Rücksendung des Trompeters vorzugehn. Der Bericht bei Aitzema , der in den Zeitangaben sehr speciell ist , giebt an, dass man mit 6 7 Stunden angestrengten Marsches Abends 7 8 Uhr vor den Retrancbements der Polen angekommen sei. Die Spitze der Marschco- lonne wird sich also gegen 2 Uhr in Bewegung gesetzt haben.

Natürlich geschah diess nach der ordre de bataille, wie sie Rel. I. II. § 12 16 u. s. w. sehr deutlich erkennen lassen. Voran

der rechte Flügel unter Befehl des Königs und seines Bruders des

Prinzen Adolph Johann (»des Herrn Generalissimus« Rel. I.), die Reiterei unter Feldmarschall Leutnant Douglas in drei Treffen und zwar

erstes Treffen (12 Esc. und 1 Esc. Dragoner) unter dem Pfalzgra- fen von Sulzbach, Generalleutnant der Cavallerie, zweites Treffen (9 Esc.) unter dem Markgrafen von Baden , Gen.-

Major der Cavallerie, drittes Treffen (1 0 Esc.) unter General-Major der Cavallerie Hein- rich Hörn, das Fussvolk (3 Brigaden) unter Gen.-Major Bülow, die Artillerie unter Gustav Oxenstjerna.

Der Bericht Beil. 8 giebt an , dass »der Churftlrst und seine Gene- ralität das corps de bataillc und den linken Flügel comroandirt habe,« wäh- rend an den mehr schwedisch gefärbten Berichten der Führer des »corps de bataille,« der 7 Brigaden Fussvolk nicht erwähnt wird. Ob in der Marschcolonne diess corps de bataille die Mitte gehabt , oder der linke Flügel voran marschirt sei , wird nicht angegeben. Ich nenne hier in der Aufzählung zuerst den linken Flügel. Die schwedischen Berichte sagen : der Churftlrst habe ihn commandirt »und unter dessen conduicte der Feldmarschall Herr Carl Gustav Wrangel.« In der brandenburgischen Redaction (Theat. Eur. ed. IL) sind diese bezeichnenden Worte gestrichen, und in dem vom Churftirsten selbst revidirten Exemplar wird Wrangel

43] Dm Schlacht von Warschau. 1656. 387

neben Span-, Josias Waldeck und Goltz als Führer der 7 Brigaden des corps de bataille genannt1. Eine ähnliche Differenz ergiebt sich in Be- treff der drei Treffen des linken Flügels; die schwedischen Berichte nennen als Commandirende der Cavallerie dieses Flügels die drei Gene- ral-Majors Kannenberg, Graf Tott , Botticher, beide letzteren Schweden, während die brandenburgische Bearbeitung sagt : »drei General-Majors, worunter der von Kannenberg sich befunden «

Hiernach würde sich als wahrscheinliche Ordnung des linken Flügels und des corps de balaitte folgendes ergeben :

Der linke Flügel unter Befehl des Churfilrsten, in demselben die Reiterei unter Generalleutnant der Cavallerie Graf Friedrich Waldeck und zwar

das erste Treffen (1 3 Esc.) unter Gen. -Major Kannenberg, das zweite Treffen (5 Esc. und 4 Esc. Dragoner) unter Gen.-

Major Graf Tott, das dritte Treffen (9. Esc. und 1 . Esc. Dragoner) unter Gen.- Major Bötticher (?), das Fussvolk (2 Brigaden) unter . . . . , die Artillerie unter Gen.-Feldzeugmeister Sparr. Das corps de bataille (7 Brigaden) und zwar

das erste Treffen (3 Brigaden) unter Gen.-Feldzeugmeister Sparr (?), das zweite Treffen (2 Brigaden) unter Gen.-Maj. Graf Josias

Waldeck, das dritte Treffen (2 Brigaden) unter Gen.-Major Goltz. Die uns vorliegenden Berichte sind nicht genau genug , um erken- nen zu lassen , ob man den Marsch durch Seitenpatrouillen zu sichern verstand. Wenigstens streiften die Tartaren am 28. Juli bis vor das Lager von Nowodwor und nahmen da ein Convoy.

Auf polnischer Seite soll man Vormittags 1 0 Uhr gewusst haben,

\ ) In der unter No. K 4 genannten Brochure »Kurtzer Entwurf der rechtmässigen Waffena heisst es p. 4 2 von den Vorgängen nach der Schlacht : »Aber der König ver- warft allen guten Rath, hielt des Churfürsten hohe Person und Helden-massige Thaten für gar geringe , setzte allerley Mißtrauen , ja selbst vor Warschau , in Ihm : Wie man denn saget, er habe die Churfurstliche Armee mit seinen Völckern zu umbgeben ge- suchet, und da ihm solches nicht angehen wollen, den damahJigen General Wrangel mit etwa 400 Mann zu Ihm gesandt, zwar unter dem Praetext, als ob er disgustiret wäre, und dero wegen Sr. Churfl. Durchl. lieber dienen wolle, in der Thal aber auff seine Actionen Achtung zu geben. a

388 Joh. Gcst. Droysen, [44

dass der Feind im Anmarsch sei (Chrzanowsky). Die polnische Armee hatte bereits begonnen über die Schiffbrücke zu gehen, um sich mit der lithauischen zum Marsch nach dem Bug zu vereinigen. Der König setzte sich sofort zu Pferde und begab sich zur Armee.

Kochowsky giebt ihre Aufstellung an, freilich in einer mehr homeri- schen als militairischen Weise : das Heer im ersten Treffen führten Stanis- laus Potocky als General, Landskoronsky Feldmarschall (?) unter Leitung des überall gegenwärtigen Königs; in der Mitte mit den Quartianern Gzarnecky, Johann Sobiesky, Johann Sapieha, Martin Zamoysky aliique multiplici linea alanm ductores ; auf dem linken Flügel die Lithauer ge- führt von Gonsiewsky, unter ihm Hilarius Polubinsky und Michael Pac ; der eigentliche Führer Paul Sapieha war am Morgen mit dem Pferde ge- stürzt und hatte das Bein gebrochen. Genaueres ergeben Barckmanns Berichte, Beil. 1 1 . Nach der Schrift Casimir Roy de Pologne führte Czar- necky den rechten, Sapieha den linken Flügel ; auöh Thulden nennt Cae- sarneckius und Sapieha als die Commandirenden.

Wenigstens über einen Punkt scheint die Aufzahlung dieser Na- men zu entscheiden. Gonsiewsky ist mit seinen Lithauern bei Praga, aber Lubomirsky der Kronmarschall wird nicht genannt und er war nach DesNoyers Brief vom 20. Juli mit 20,000 Mann abwesend; die höchst schwierige Verpflegung machte es unmöglich, so viele Pferde und Menschen dauernd bei einander zu halten. Ob Lubomirsky nahe genug stand, um noch zum zweiten und dritten Schlachttage heranzukommen, muss dahin gestellt bleiben; dass er nicht kam, würde sich aus DesNoyers Ausdruck in seinem Brief vom 1 8. Aug. Vwrmee de Lithuanie est encore en son entier ergeben , wenn nicht dabei stünde aussi bien que le petit carps que commandoit le grand Iresorier de Lithuanie (Gonsiewcky).

Dass die Tartaren nichts weniger als gesammelt waren, zeigen Des Noyers Briefe ; ein Theil derselben schweifte am 28sten bis Nowodwor, andere waren bei Czersko , ein Paar Meilen oberhalb Warschaus. Um die zerstreuten Schwärme zu sammeln, steckte ihr Aga ein Dorf an, c'est le signal qu'ils donnent ä leurs gern parce que la futnee s'en voit de hin; diess scheint bereits am Freitag den 28. Juli geschehen zu sein.

In der Darstellung der Gefechte, auf die ich nun übergehe, sind die polnischen Quellen nicht von der Art , dass man ein deutliches Bild der Bewegungen ihrer Armee gewinnen kann ; ich werde sie daher nur ge- legentlich und in Einzelnheiten auf sie beziehen können.

45] Dm Schlacht von Wabschau. 1656. 389

Das erste Zusammentreffen.

Nur aus des Churftlrsten eigenhändigem Bericht erfahren wir, dass »Vortruppen« vorausgesandt waren, den Feind zu recognosciren. »Gegen Abend,« sagt er, »kamen wir an ein Dorf, wo unsre gecommandirten Vortruppen Bericht brachten , dass der Feind hinter dem Holz stünde ; darauf filirte der König durch das Holz.« »Nach erlangter Kundschaft,« sagen auch Rel. I. IL, »habe der König bei einem Dorfe 3A Meilen von Warschau seinen Flügel in balaiüe gestellt.« Also bei dem Dorfe Syran, wo zwischen Wald und Weichsel ein freies Feld ist , das sich mehr und mehr verengt, bis zu jenem Defilä am Strom.

Des Churftlrsten Darstellung giebt die Gefechtsmomente des Abends einfach so an : »darauf filirte der König mit seinem rechten Flügel durch das Holz, da dann die Vortruppen mit des Feindes Vortruppen scharmu- zierten ; worauf etliche Escadronen auf den Feind losgingen und ihn bis in sein Retranchement zurück poussirten ; der Feind gab wacker Feuer mit Stücken auf uns; hierüber fiel die Nacht ein und zogen wir uns etwas zurück.«

Mit besonderer Sorgfalt sucht Dahlberg in den Erklärungen seiner Zeichnungen die einzelnen Momente des Gefechts zu bezeichnen. Er lässt zuerst Graf Tott mit schwedischen und brandenburgischen Reitern die polnischen Vortruppen (cohortes aliquot) zwischen Sumpf und Weich- sel bis an die Verschanzungen verfolgen , wo er mit Geschossen und Granaten belästigt wird. Darauf rückt das erste Treffen unter dem Pfalzgraf von Sulzbach vor, wird aber durch das Feuer aus den Ver- schanzungen des Feindes am weiteren Vordringen gehindert ; bis in die tiefe Nacht (in seram usque noctem) wird das Feuer auf ihn fortgesetzt. Dann brechen polnische Geschwader (turmae) von den Dünen (ab locis editioribus) in das Defil£ zwischen dem Wald und Schanzhttgel vor, um den vorausgegangenen Schwadronen (Totts) den Rückzug (zu Sulzbach) abzuschneiden. Der König wirft ihnen die Escadronen (legiones, die Zeichnung ergiebt, dass es Reiter sind) Waldeck, Canitz (Dragoner), Taube entgegen und deckt so seine Vortruppen. Nun rücken die Bri- gaden (peditat. Suec. et Brand.) allmählig durch das Defilä und stellen sich hinter dem ersten Treffen des rechten Flügels auf, vor beiden die schwedische Artillerie, die den zum Angriff vorgehenden Feind in Schranken halt , quibus hoslium adventantium impelus retundebanlur. Die

390 Jon. Güst. Droysen, [46

nächste Angabe bei Dahlberg bezeichnet die Stellung, in der sich das Heer während der Nacht befindet; es ist hinter dem Defite an der Weichsel, hinter dem Walde zurückgezogen.

Sehr bedeutend sind die Abweichungen in den Relat. I. II. und den ihnen folgenden Darstellungen. Danach lässt der König, wahrend er in aller Eile von Syran anrückt. Wrangel mit 600 commandirten Reitern und einigen Dragonern vorausgehn , sich der Passage durch den Wald zu versichern und das Feld zu recognosciren 16). Des Churfürsten Correctur sagt, es sei diess geschehen »durch einige Vortruppen unter Commando des O.-L. Canitz,« der zu des Churfürsten Flügel gehorte. Dann, fährt Rel. I. IL fort, sei der König in aller Eil gefolgt und habe aus dem Walde herauskommend gesehen, dass er zur Rechten die Weichsel gehabt, zur Linken wieder den Wald, der sich bis an des Fein- des Verschanzungen hinziehe; er habe zwischen Wald und Weichsel nicht Platz gehabt, mit seinem Flügel in einer Fronte vorzugehen und deshalb die Regimenter nach einander heranrücken lassen. Der Feind habe sich vor seinen Retranchements und zwischen Wald und Weichsel gezeigt, gegen diesen habe der König Wrangel (einige brandenb. Es- cadronen, sagt die Bearbeitung für das Theat. Eur.; »jene Vortruppen« des Churfürsten Correctur) vorgehen lassen , ihn bis in seine Retranche- ments zurückgetrieben 19). Die Richtigkeit dieser Relationen wird von Jena anerkannt; die Dinge seien so verlaufen bis zu dem Moment, »wo die Kanonen durch den Bruch kamen.« Nach seiner Auffassung hat also das Eintreffen der Artillerie eine Bedeutung , wie sie in diesen Re- lationen nicht zu erkennen ist. Wahrscheinlich folgte dann erst, als das Feuer der Artillerie dem Vorbrechen der Polen aus den Retranchements Halt gebot, der Angriff aus dem Defil£ zur Linken der Verbündeten.

Dahlberg stellt diesen Angriff als einen plötzlichen und unerwarte- ten dar. Die Relation I. IL u. s. w. sagen: da sich die so Voraus- gesandten zu weit von den Regimentern entfernt, habe man vermuthen müssen , dass »ein Theil von des Feindes Gross« beim Ende vom Walde hinter demselben stehn und vorbrechen werde, jene abzuschneiden; daher der König 4 Escadronen, die nächst dem Walde gestanden, unter Douglas »in vollem Gallopa vorgehen lassen, die auch glücklich den Feind geworfen und bis an »seine Retranchements und Musquetiere« ge- trieben habe. Die Correctur des Churfürsten sagt, dass der König selbst diesen Chock geführt habe, aber sie streicht die Worte, die den Angriff,

47] Die Schlacht von Warschau. 1656. 391

dem er begegnet, als ein neues Moment, als eine Bewegung des Feindes aus dem Defilä am Walde erscheinen lassen ; »da sich die Vorausgesandten etwas zu weit von den Regimentern entfernt, haben S. K. M. selber mit einigen Escadronen secundirt« und den Feind glücklich zurückgetrieben.

Die Relat. I. II. lassen diesem Angriff den Schluss des Gefechtes folgen. Da man wegen einbrechender Nacht und grossen Staubes nichts weiter habe vornehmen können , sei , damit die Infanterie herankommen könne, der rechte und linke Flügel vor des Feindes Retranchement stehen geblieben , den Wald im Rücken ; »und ist in währender Action mit Feuern (der Churftlrst fiJgt hinzu »vom Feinde«) nicht gefeieil wor- den« (§ 22) , und indem damit eine ziemliche Zeit verflossen , ist indess die sinkende Nacht eingefallen. Man hat nicht rathsam gefunden unter des Feindes Stücken stehn zu bleiben, hat sich zurück gezogen, um zwi- schen Wald und Weichsel die Nacht zuzubringen, der rechte Flügel längs der Weichsel , der des Cburfürsten längs dem Walde , die Infanterie in der Mitte, nur 1 2 Escadronen und 2 Brigaden in der Front. Von einer Deckung auf dem linken Flügel, von Besetzung des Waldes und seiner Ausgänge ist keine Rede.

Endlich bringt noch der Bericht bei Aitzema und der damit meist zusammenstimmende in Rel. III. einige Abweichungen; sie sind von brandenburgischer Seite. Danach ist man »mit ankommender Nacht« also nach acht Uhr »vor des Feindes Retranchement angekommen.« Der König, der Churftlrst, Graf Fr. Waldeck, Wrangel, Pfalz Sulzbach, Douglas und andere »Generalspersonen« gehn mit der Reiterei voran, »und nachdem sie etliche von des Feindes Truppen getroffen, werden sie sofort chargirt , geschlagen und bis vor das Retranchement verfolgt.« Darauf befiehlt der König , dass Sparr mit dem Fussvolk avancire ; 9 brandenburgische, 3 schwedische Brigaden stark rücken sie heran ; drauf avancirt alles und stellt sich »einen Musketschuss vom polnischen Lager« in Schlachtordnung , das Fussvolk in der Mitte , die Reiterei auf beiden Flügeln. Wie das der Feind sieht, beginnt er »gewaltig mit Kanonen unter unsre Infanterie und Gavallerie zu spielen,« das währt zwei Stun- den, »dass viele von uns blieben,« (tagt der Bericht bei Aitzema hinzu; er nennt den »schottischen« Obersten Sengler (Sinckler Dahlb.) und einen brandenburgischen Major, »und wir hatten keine Zeit noch Macht unsre Kanonen dagegen aufzupflanzen ; nichts desto weniger sind wir keinen Fuss breit gewichen , sondern haben gegen die immerwährenden Aus-

392 Joh. Güst. Droyskn, [*8

fälle durch die Avantgarde mit unglaublicher Courage gefochten, so dass die Polen in ihren Vortheil retiriren mussten erst als es ganz finster ge- worden , haben die Polen aufgehört zu schiessen. »Da haben wir uns ein wenig auseinander gezogen und die Soldaten ein wenig ruhen lassen.« Die Relat. IV. sagt: »das Gefecht währte bis ungefähr um Mitternacht.«

Die Nacht vom 28. nun 28. Juli.

Die Gefechte des Abends zeigten , dass der Feind in dem vollen Gefühl seiner Uebermacht und seiner günstigen Stellung mit sehr anderer Haltung als man bisher von ihm gewohnt war, die Entscheidung er- warte, ja suche.

Auf dem kleinen Schlachtfeld , in dem man sich den Abend bewegt hatte, war aller Vortheil auf Seiten der Polen. Sie übersahen von ihrer sicheren Stellung aus die Aufstellung der Gegner, während die Verbün- deten vor ihrer Front und ihrem linken Flügel nur die Hohen sahen , die von der Weichsel bis an den Sumpf hinauf mit Verschanzungen gedeckt waren, dann auf der andern Seite des Sumpfes auf einer etwas vor- springenden Höhe ein geschlossenes Schanzwerk, das den Pass zwischen da und dem Wald beherrschte ; endlich ausserhalb dieses Passes und quer vor demselben »eine kleine Colli ne,« auch sie mit Geschützen be- setzt, »welche die Avenue commandirten« (Aitzema).

Der Staub und die einbrechende Dunkelheit hatte natürlich unmög- lich gemacht eine sichere Ueberschau auch nur bis zu den feindlichen Retran ehernen ts zu gewinnen, und die Abweisung des Feindes auf dem linken Flügel hatte schwerlich ein Verfolgen über den Pass hinaus zur Folge gehabt. Nur vom rechten Flügel aus wird man die Weichsel hinauf bis zur Schiffbrücke haben sehen und da das unaufhörliche Hinübermarschiren von Reitern und Fussvolk beobachten können.

Von Gefangenen mochte man Einiges erkunden; so dass die Königin an der Brücke die Völker an sich vorüberziehen lasse und sie mit feurigen Ansprachen ermunternd unter andern gesagt habe: »sie sollten die Feinde mit der Peitsche auseinander jagen« (Aitzema) , oder auch , dass die Antwort der Polen auf ihre Anrede gewesen : »sie seien so stark , dass sie den Feind mit der Peitsche wegjagen würden« (Rel. I. II. 54).

In der Nacht wurde nach Carlson p. 148 Kriegsrath gehalten; es

*9] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 393

riethen »Viele unter den Grossen und wie es scheint auch der Churßlrst« die Schlacht nicht zu wagen; der König aber habe lächelnd geantwortet: »nachdem ihr zweifelt, dass wir beim Zusammentreffen mit diesem starken Feinde mit dem Leben davon kommen werden , so will ich euch lehren nächst Gott, das Feld und den Sieg von ihm zu erobern.«1

Äitzemas Bericht giebt an, wie man sich zum neuen Kampf vorbe- reitet, die Armee rangirt, die Kanonen »geplant« habe. Er und Rel. III. bemerken , dass die Armee »in vier Theilen hinter einander« wieder in Bataille gestellt sei, der rechte Flügel unter dem Churfilrsten an der Weichsel, der linke unter dem Könige an dem Wald und Morast, die In- fanterie und Artillerie in Front zwischen beiden. Diese Angabe muss in Betreff der Führung der beiden Flügel irrig sein, wie der Gang der folgen- den Bewegungen deutlich zeigt. Wenn eben da angegeben wird, dass alle brandenburgische Reiterei auf des ChurfUrsten Flügel gestellt worden, mit Ausnahme einiger weniger, die der König bei der Artillerie und Reserve behalten habe, so ist diess in sofern richtig, als zwei Escadronen Waldeck in der Dahlbergischen ordre de bataille des 29. Juli im ersten Treffen des schwedischen Flügels erscheinen.

Die Gefechte am 29. Juli Vormittag.

Früh Morgens »bei anbrechendem Tage« (Rel. I. II. u. s. w.) , also wohl vor dem dichten Nebel, den Des Noyers erwähnt, reitet der König, der Churftlrst und die Generalität zum Recognosciren aus ; man findet, dass es unthunlich ist den Feind »zwischen seinen rechten Werken und retranchement anzugreifen,« ein unklarer Ausdruck, der entweder be- zeichnet , dass man ihn nicht innerhalb seiner Werke oder nicht in jener Lücke zwischen den Retranchements und dem Schanzhügel, die mit Sumpf gefüllt war, angreifen könne. Man kommt zu dem Beschluss sich jener kleinen Colline zu bemächtigen »und von dannen das Feld besser

4 ) Die Angabe Carlsons erregt einiges Bedenken. Loccenius und Scheffer erzählen von einer ausführlichen Berathung, ob man schlagen solle, aber in Folge derMiltheilungen des französischen Gesandten ; sie geben mehrere charakteristische Aeusserungen des Königs an, mit denen er die Bedenklichen zurückweist und sich für diejenigen entschei- det , die schlagen wollen ; hanc sententiam Hex cum Electore amplexus sagt Loccenius p. 734. Von dieser Berathung , die den Zeitgenossen so bedeutsam erschien, sagt Carlson nichts; und die in der Nacht, die er hervorhebt, erwähnt von den mir be- kannten Quellen keine.

Abh&ndl. d. K. 8. Ges. d. Win. X. 27

394 Jon. GrßT. Dboysen, [50

zu wählen und zu suchen« 25). War diess der Beschluß« am frühen Morgen, so hatte das Gefecht auf dem rechten Flügel, bis der Hügel ge- nommen und damit der Stützpunkt für eine neue Aufstellung gewonnen war, nur die Bedeutung, den Feind in der Nähe der Weichsel festzu- halten und hinzuhalten.

Die brandenburgischen Berichte, Ael. III., Aitzema, auch die eigen- händige Aufzeichnung des Churfilrsten bestätigen diess keineswegs. Sie geben an , erst nachdem dieser Hügel genommen war, und der König sich tiberzeugt hatte, »dat het onmogelijck was den Vyandt .... voor sijne . etrenchementen te slaen , so wierde in der baest van de eerste ordre verändert« u. s. w.

Es währte bis Nachmittag , bevor diese entscheidende Position ge- nommen und gesichert war, wie nicht bloss Rel. IV., sondern auch der schwedische Bericht im Theat. Eur. ed. 1 angiebt. Beide stimmen darin überein, dass es Vormittags »auf unsrer Seiten sehr zweifelbaftig gestan- den ;« es meinten die Polen gewiss »sie würden unsrer Meister werden, weil sie von drei erhabenen Orten« (doch wohl den Retranchements, dem Schanzhügel, der kleinen Colline) »auf uns canoniren konnten, während wir in der Niederung ihnen, die hinter den Retranchements standen, wenig Schaden thun konnten ; Nachmittag hingegen gewannen wir ihnen eine advatitage ab, nemlich einen Pass, durch welchen wir mit der ganzen Armee filirten.«

Die Bedeutung dieser Position und ihrer Besetzung ist in der Dahl- bergischen Darstellung und in den Relat. I. II. u. s. w. in sehr auffallen- der Weise in den Hintergrund gedringt. Aliendings entschied sie an sich noch keineswegs den Ausgang der Schlacht; aber sie und nur sie gab die Möglichkeit, die Disposition auf entscheidende Weise zu ändern.

Die Gefechtsmomente vom frühen Morgen bis zu dieser Entschei- dung sind in den vorliegenden Berichten nichts weniger als überein- stimmend angegeben und mehr als einmal wird es unmöglich sein zu bestimmten Ergebnissen zu kommen. Da man voraussetzen darf, dass jeder der Berichterstatter das , was gerade er gesehen hatte , anführte, so darf man bis zu einem gewissen Grade die Einzelnheiten mit einander combiniren und gegenseitig ergänzen; es ist als wenn man aus ver- schiedenen perspcctivischen Zeichnungen desselben Gegenstandes seinen Grundriss zu reconstruiren versucht.

Nachdem Seitens der Verbündeten der Signalschuss gelöst, von

51] Die Schlacht von Warschau. 1656. 395

polnischer Seite erwiedert ist (Aitzema) , und nachdem sich die Alliirten in Schlachtordnung aufgestellt (Rel. III. , Aitzema) , beginnen die Polen »gewaltig mit Stücken auf sie zu spielen« und wird ihnen »hinwieder tapfer geantwortet.« In dieser Zeit wird dem Grafen Fr. Waldeck ein Pferd unterm Leibe erschossen, dem jungen Pfalzgrafen von Sim- mern zwei.

Dass die von Aitzema und Rel. III. angegebene Schlachtordnung nicht richtig sein kann, haben wir früher angegeben. Dahlberg giebt eine sehr andere Vorstellung von dem Aufmarsch. Nach seiner Zeich- nung tritt da, wo der Weg, der den Wald der Länge nach durch- schneidet, aus demselben herauskommt und sich mit dem von Bialalenka nach Praga vereint , der Sumpf aus den Dünen näher gegen den Wald heran und theilt das Defilö längs dem Walde gleichsam in zwei Hälften. Der Churfitrst rückt durch die westliche Waldecke in diesen Pass ein und stellt sich mit dem Rücken gegen den Waldsaum, mit der Front gegen den Sumpf und den Schanzhügel in Schlachtordnung auf; an sie schliesst sich rechts das schwedische Fussvolk und vor diesem drei Es- cadronen des ersten Treffens, während andere weiter hinab stehende Escadronen das Gefecht gegen die in den Retranchements stehenden Polen unterhalten . Diess sind die ersten Momente , die Dahlberg zeich- net; dann lässt er den ersten Angriff der Tartaren durch den Wald (gegenüber von Bialalenka) folgen ; die Besetzung der Colline wird von Dahlberg gar nicht besonders bezeichnet.

Des Churfürsten eigenhändiger Bericht sagt : nach dem Beschluss den kleinen Hügel zu nehmen sei der Churfürst mit dem linken Flügel und bei sich habenden Dragonern avancirt, der Feind habe den Berg ohne einige Gegenwehr verlassen. Dann werden einige Stücke drauf gepflanzt und spielen in des Feindes Lager; »darauf zogen wir aus auf die linke Hand mit dem linken Flügel neben dem Holz , also dass das erste Treffen für dem Holz (d. h. Front gegen Bialalenka) , die anderen zwei aber in dem Holz zu stehen kamen, hinter dem Berge aber stunden Brigaden (es soll wohl heissen zwei Brigaden) zu Fuss ; auf dem linken Flügel von unsrer Gavallerie stunden zwei Brigaden nebst den Dra- gonern. Inmittelst gingen 2000 Tartaren von Weitem um den Busch herum« u. s. w. Stand der Churfürst Front gegen Bialalenka, so waren die zwei Brigaden , die rechts vom Hügel Front gegen den feindlichen Schanzhügel standen, allerdings hinter ihm. Sein rechter und linker

27*

39G Joh. Gust. Dhoysen, [52

Flügel bildeten einen rechten Winkel, dessen Spitze der besetzte Hügel war.

Jene erste Aufstellung des Churfürsten stellt Memmerls zweites Blatt dar (»Aufstellung am Vormittag,« wie er sie nennt), leider nicht ohne eine kleine Ungenauigkeit in den Buchstaben, mit denen er die ein- zelnen Brigaden bezeichnet. Von der Weichsel an, dem Walde zu stehen erst die drei schwedischen Brigaden , dann folgen bis zur Westecke des Waldes zwei Brigaden Sparr (1 . 2) , dann etwas vorgerückt zwischen Wald und Sumpf von rechts nach links die Brigaden Waldeck 1 , Goltz i Dragoner, eine dritte Brigade Sparr, Leibgarde; diese ist die nächste am Hügel ; dann im rechten Winkel , so dass der Hügel dessen Spitze bildet, am Ostsaum des Waldes die Brigade Waldeck 2, Syburg, dann 7 Escadronen, endlich auf dem äussersten linken Flügel die Brigade Goltz 2 ; hinter diesen Brigaden die übrigen Escadronen im zweiten und dritten Treffen. Der Fehler Memmerts ist, dass er drei Brigaden Sparr und nur eine Syburg angiebt, während die Regimenter Sparr wie Sy- burg je zwei bildeten. Auch so stimmt er nicht mit dem Bericht des Churfürsten : er giebt auf dem äussersten linken Flügel nur eine Brigade, der Churfürst zwei nebst den Dragonern.

Jena schreibt in dem früher erwähnten Brief: »als Ew. Cf. D. am Sonntag« (soll heissen Sonnabend) »die Polen von dem Hügel jagten , da habe ich, weil ich dabei war, gesehen, dass Ew. Gf. D. auch Stücke be- kamen , davon steht in der Relation (No. I.) nichts diess bestätigt die brandenb. Bearbeitung dieser Relation § 25 (Theat. Eur. ed. 2). Also besetzt und mit Kanonen besetzt war der Hügel. Des Churfürsten An- gabe wird darin unrichtig sein, dass er bereits vor dem Angriff der Tar- taren seine Stücke auf den Hügel gebracht habe ; die schwedischen Be- richte (Rel. I. II.) so gut wie andre brandenburgische (Aitzema und Rel. III.) sagen sehr bestimmt, dass sich diess Heranbringen der Artillerie sehr über den Angriff der Tartaren hinaus verzögerte, dass eben dadurch die Behauptung der so wichtigen Position so äusserst schwierig wurde.

Der Churfürst, sagt Rel. I. II. § 26, habe des Hügels sich glücklich bemächtigt, wiewohl es grosse Mühe gekostet die Artillerie sogleich fort zu bringen wegen der kurzen Sträuche und morastigen Wege, wodurch man hat marschiren müssen. Von dem Hügel aus habe man des Feindes Haltung und das Terrain übersehen können, der Churfürst habe »sich mit dero Flügel längs dem Walde bedeckt von (sie) dero zwei Brigaden

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53] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 397

zu Fuss und Dragonern, nebst den Stücken , und sich in solche Positur gesetzt, dass denselben nichts in den Rücken gehen können.« Aus- drücke, die nichts weniger als deutlich sind, auch nicht deutlicher durch die brandenburgische Bearbeitung werden, welche schreibt » . . . . längs dem Walde bedecket und sich in solche Positur gesetzet . . . Aber es sind deutlich die zwei Brigaden nebst den Dragonern wieder zu er- kennen , welche des Churftirsten eigenhändiger Bericht auf dem linken Flügel nannte. Es wird hinzugefügt : man sei von dieser Höhe aus gänz- lich um den Wald gekommen, habe gesehen, »dass lauter flach Land bis an den Stand des Feindes sei und merken können , dass der Feind seine Force auf die rechte Hand gezogen habe , sowohl dem Churftirsten in die Flanque , als auch hinten durch den Wald mit etlichen tausend Pfer- den besonders Tartaren dem königl. Flügel in den Rücken zu gehen.« Also der Feind stand nicht mehr bloss innerhalb seiner Verschanzungen, er hatte seine Schlachtlinie über das Flachland bis Brodno und Biala- lenka hin ausgedehnt.

Noch enger zusammengedrängt erscheinen die beiden Momente des Tartarenangriffs und der Einnahme des Hügels in dem Bericht bei Aitzema und Relat. III. Aitzema, der diesen Hügel als mit einer Schanze versehen bezeichnet, sagt: der C hurfürst, 't selve over sich genomen hebbende, sei mit einigen Stücken nebst G.-M. Goltz und drei Escadronen zu Fuss gegen die Schanze anmarschirt, als Nachricht kam, dass die Tartaren sich um den Wald zögen. Und Rel. III. »Goltz war kaum von uns abmarschirt, so kam Bericht dass etliche tausend Tartaren« u. s. w.

Dass noch nicht um die Zeit . da dieser Tartarenangriff statt fand, die Aufstellung, die Memmert zeichnet, genommen war, ergiebt der weitere Verlauf der Berichte.

Die Tartaren drangen auf dem Wege von Bialalenka durch den Wald und auf das offene Feld zwischen Wald und Weichsel, und trabten gegen den Rücken des schwedischen Flügels an; sie wurden von dem Könige »mit Umschwingung von 6 Escadronen des dritten Treffens« (un- ter Gen.-M. Hörn) zurückgejagt; »Hals über Kopf« sagt Aitzema/ muss- ten sie zurück; es können also nur einzelne gewesen sein, die, wie Memmerts Zeichnung angiebt , durch die Schlachtlinie der Alliirten hin- durch an dem Sumpf unter den polnischen Retranchements angelangt sind.

Die so zurückgeworfenen Tartaren, sagt Rel. I., »haben sich darnach vor der churflirstlichen Armee auf dem Felde präsentirt.« Was aus

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diesen geworden, sagtAitzema und Rel. III.: »Gen.-Leut. F. Waldeck hat sie hart mitgenommen , hat sie niedergehauen und den Rest derselben in einen Morast gejagt.« Diesen Vorgang zeigt Dahlbergs Zeichnung in einem heftigen Gemetzel , das ein wenig nordwärts von Bialalenka vor sich geht. Wenn er hinzufügte »incensa sylva per paludes dilabuntur,« so kann damit nicht der oft erwähnte Wald gemeint sein , es muss an dem Sumpf bei Bialalenka ein Stück Wald gewesen sein, wie denn auch Dahl- bergs und Memmerts Zeichnungen dort zeigen.

Also G.-L. Waldeck stand bereits, als die Tartaren zurückkamen, am Ostsaum des Waldes, und Waldeck commandirte die churfilrstl. heiterei. Dass neben diesen die Brigaden Fussvolk um diese Zeit noch nicht eingerückt waren, wird sich in folgender Weise ergeben.

Rel. I. sagt gleich nachdem sie den Angriff der Tartaren angeführt 28) : »inzwischen habe der König zwischen Wald und Weichsel mit der Artillerie, Infanterie und Gavallerie vor dem Retranchement sub- sistirt und damit nicht der ganze Schwärm den Ghurfbrstlichen auf den Hals kommen möchte , seien noch zwei Brigaden den ChurfUrsten zu sustiniren beordert. Dieser Stand habe so lange gewahrt , bis die churfilrstl. Stücke , welche auf die Höhe gebracht werden sollten , durch den Morast geschleppt seien.«

Eben diese Zusendung von einigen Brigaden ist es, welche die brandenburgischen Berichte bei Aitzema und Rel. III. genauer be- sprechen. »Kurz nach der Vernichtung der Tartaren, sagen sie, befahl der König dem Gen.-M. Josias Waldeck mit drei Escadronen zu Fuss und etlichen groben und Regimentsstücken durch den Wald zu S. Cf. D. zu gehen.« Der Befehl zeigt, wie gefährdet, wie schwer zu behaupten dem Könige jene entscheidende Position erschien.

Wenn diese drei Brigaden Waldecks durch den Wald abmarscbir- ten, so können sie nicht, wie Memmerts Zeichnung angiebt, in Schlacht- ordnung und zwar in erster Reihe gleich hinter den Geschützen gestan- den haben ; man hätte hier der Uebermacht des Feindes gegenüber nicht ungestraft solche Lücken in der Linie gemacht. Diese drei Brigaden und gewiss noch andere standen noch zurück und in Reserve; sonst hätte auch nicht der König über sie verfügen und sie dem ChurfUrsten nach- senden können l.

t) An einem späteren Rtomente lftsst der König nach des ChurfUrsten eigen-

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Josias Waldeck fand , dass der Wald zu morastig sei , um durchzu- kommen, d. b. doch wohl in der Richtung zur Colline und genauer auf die rechte Flanke des Churfilrsten ; auch beordert Wrangel und Douglas ihn wieder zurückzugehen , »andeutend dass der Churftlrst seiner nicht henöthigt« oder , wie der Bericht bei Aitzema sagt : der Churftlrst liess ausserdem (daer-en-boven) melden, dass er noch keinen Succurs von Nöthen hätte, da er sich nicht allein bereits des Hügels bemächtigt, son- dern auch 4 6000 Polen, die ihn von vorn angegriffen, glücklich zu- rückgeworfen habe.

Schon bis zu diesem Moment des Gefechtes sind mehrere Dinge nicht mehr aufzuklären. Waren andere Geschütze , als die mit Waldeck vorzudringen suchten, endlich auf den Hügel gebracht? war die ganze churfUrstliche Artillerie bereits auf dessen Flügel? war endlich durch sie der Sumpfweg, den schon so viele Escadronen durchgetreten hatten, so unpassirbar geworden, dass Waldecks Brigaden und Geschütze nicht mehr durchkommen konnten? kam jener Angriff von 4 6000 Polen, »die von vorn mit einem schrecklichen Geschrei einen sehr furieusen Angriff gemacht und in ihren Vortheil wieder zurückgejagt wurden,« aus der Stellung in den Dünen (dem »Lager«), oder vom Flachland her?

.Noch eines Umstandes muss ich erwähnen, der auffallender Weise von den schwedischen und brandenburgischen Berichten fast völlig ausser Acht gelassen wird nur Dahlberg bemerkt ihn. Er zeichnet auf dem jenseitigen Weichselufer bei dem Dorf Pulko den Dampf von Kanonen und bemerkt in den Erklärungen: Regina Poloniae ex altera Yistulae ripa duobm iormentu Sueäcum ajuiiatum mpetene. Polnischer Seits hat man dieser Position eine grosse Wichtigkeit beigelegt ; nicht bloss der Verf. von Casimir Roy de Pologne spricht von den grossen Wirkungen dieser Geschütze der Königin , sondern auch Des Noyers (p. 214). Die Königin, sagt er, »begab sioh auf eine Höhe unterhalb Warschau am Ufer, wo eine Schanze errichtet war, da der rechte Flügel der Verbündeten drüben ettvas weiter stromabwärts stand und die Kanonen der Schanze, da der Fluss sehr breit war, wenig wirkten, liess die Königin die Pferde von ihrer Kutsche spannen und die zwei schwer- sten Stücke auf eine Landspitze am Fluss gegenüber dem Feinde, die

händigest Bericht tden rechten Flügel nebet der Infenterfe und Artillerie« durch den Wald gehen.

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mit Weiden bewachsen war, führen.« Er fügt hinzu, dass diese Geschütze gute Wirkung thaten , dass etwa 40 Reiter vom Grafen Waldeck (?) ge- tödtet wurden , dass namentlich diess schlimme Flankenfeuer den Feind nöthigte ä quitter le poste et rentrer dans le bois , dass Johann Casimir seiner Gemahlin für die vortreffliche Wirkung der Geschütze seinen Dank zusandte. Wenn die Stelle, wohin die Königin die Geschütze brachte, der mit Weiden bewachsene Werder gewesen sein sollte, den unsre Karte zeigt \ so war die Entfernung des rechten Flügels der Alliirten etwa 1500 Schritt und die Wirkung des Feuers konnte schlimm genug sein. Die Angaben Barckmanns (Beil. 11) sind zu übergehen.

Der Abmanch durch den Wald.

Dass Josias Waldeck nicht hindurch konnte zum Flügel des Chur- fürsten , lässt einen Umstand erkennen , der für die Verbündeten höchst gefährlich zu werden drohte. Es folgen die heissesten Stunden des Tages, der Feind geht auf allen Punkten »gegen alle unsre Regimenter,« sagt Rel. IV., zum Angriff vor. Erst durch die Abweisung dieser »starken und furieusen« Angriffe gewinnt die Armee der Verbündeten das freie Feld und kann gegen drei Uhr ihrerseits zum Angriff übergehen.

Am deutlichsten ergiebt sich die Reihenfolge der Momente atis des Churfürsten eigenhändigem Bericht. Zuerst: der Feind macht einen Ausfall aus dem Lager und attakirt des Churfürsten Infanterie, wird aber zurückgeworfen und von der Reiterei bis in sein Lager verfolgt. In der Handschrift des Churfürsten war geschrieben: »der Feind fiel ausser seinen retran «, denn ehe das Wort zu Ende geschrieben, durchstrich es der Churfürst und schrieb Lager; den Retranchements stand der Flügel des Königs gegenüber. Es wird mit diesem Angriff der der 4 6000 Polen gemeint sein, den der Churfürst abgewiesen hatte, als Josias Waldeck auf dem Wege zu ihm war.

2. Der König kommt in Person auf den linken Flügel und »findet gut,« dass sein rechter Flügel nebst der Infanterie und Artillerie durch den Wald gehe , reitet zurück die Ausführung anzuordnen. Also diess ist der Moment, wo die Veränderung des Schlachtplans beschlos- sen wird.

I) Im Casimir Ray de Pologne p. 59 heisst es von der Königin : eile passa dans une petite Ue qui est au milieu de la Vistule.

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3. Kaum dass der König durch den Wald zurück ist, so kommt ein zweiter schwererer Tartarenangriff. Die Tartaren kommen »in die Flanke unsers linken Flügels wie auch in den Rücken der Reserve bis auf unsre Musquetiere.« Gleichzeitig machen die Quartianer, »die in unsrer Front standen,« einen Angriff und werden zurückgeworfen. »In wahrender Attaque« fällt der Feind »aus seinem Lager« auf die Infanterie und wird von dem Könige mit seiner Cavallerie in die Retranchements zurück- getrieben.

4. Dann beginnt der König durch den Wald zu filiren; es folgt ein neuer Ausfall des Feindes , er kommt bis an die schwedischen Kanonen, wird aber von denen so empfangen , dass er zurück muss. Nun endlich kann der König seine neue Aufstellung nehmen.

Die Relationen I. II. u. s. w. stimmen mit dieser Reihenfolge gut zusammen. Nach ihrem oben ausgeführten Ausdruck: »dieser Stand hat so lange gewährt, bis die churfürstlichen Stücke auf den Hügel gebracht sind,« (Uhren sie an (§29), dass der König »aus des Feindes Anschickung und andern Umstanden rathsam befunden« die »polnische Aufstellung« auf ihrer rechten Hand zu umgehen, aber den Weg zu nehmen, den des Churfürsten Flügel passirt, sei wegen Enge des Weges und durchgetre- tenen Morastes nicht ausführbar gewesen und dafür der Weg , den die Tartaren genommen (der Waldweg nach Bialalenka) , gewählt worden. Natürlich habe man sich dabei »nach des Feindes contenance regulieren« müssen ; man habe also, da der Feind »zu unterschiedlichen Malen Miene gemacht« beide Flügel zugleich anzugreifen, noch länger in dem vorigen Stande, wo »Sr. M. bei der Weichsel und S. Cf. D. jenseits des Morastes waren,« verweilen müssen.

Folgt dann jener zweite Tartarenangriff 32) , »der Feind sei mit allen seinen Tartaren den Churfürstlichen in Flanke , Rücken und Front zugleich eingebrochen, aber zurückgewiesen.« Die Beifügung, dass die, welche den Brandenburgern in den Rücken gehen wollen, von dem dritten schwedischen Treffen zurückgeschlagen, streicht die branden- burgische Bearbeitung. Wir erinnern uns, was Wrangel gegen Merian 1661 inWolgast geäussert hat; es ist die siegreiche Zurückweisung eben dieses furchtbaren Tartarenangriffes, um desswillen Wrangel dem Chur- fürsten allein »die herrliche Victoria« bei Warschau zuschreibt. Es dient zur Charakteristik der Dahlbergischen Zeichnung , dass sie diesen Vor- gang nicht darstellt, auch in den Erklärungen seiner nicht erwähnt.

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Die Rel. I. u. II. fahren 33) fort ; in demselben Moment mit diesem Tartarenangriff habe der Feind gesucht gegen des Königs Flügel »mit seiner grössten Force nebst Infanterie« zu avanciren, sei aber »von den Stücken und Kartätschen« so empfangen worden , dass er nach wieder- holtem Angriff endlich in die Retranchements zurückgewichen sei und dann zugleich versucht habe nach seiner rechten Hand mit aller Force auf den Churftlrsten loszugehen. Man wird hier aus Rel. IV. einfügen dürfen, dass der Feind auch seine Stücke aus den Retranchements gezo- gen und nach dem rechten Flügel gebracht habe. Dadurch »gewinnt der König Zeit« sich durch den Wald zu ziehen 34).

Die Erklärung zu Dahlbergs Zeichnung sagt : gegen Mittag stellt sich ein Theil der polnischen Armee, in der Absicht den Churftlrsten an- zugreifen, in Schlachtordnung auf; die Zeichnung zeigt die Aufstellung in zwei Treffen, die hinter dem Schanzhügel genommen ist, acht Haufen in zwei Treffen rechts bis ins Flachland, links bis an den Sumpf, jenseits desselben vor den Retranchements noch vier Haufen wieder in zwei Treffen stehend. Wahrend dessen, sagt die Erklärung, führt der König seine Truppen schnell durch den Wald , die Cavaüerie auf dem Wald- wege (nach Bialalenka) , das Fussvolk mehr rechts dem Gefecht näher. Der König rückt dann dem brandenburgischen Unken Flügel sich an- schliessend an dem Ostrande des Waldes auf. Er lässt Bülow mit den 3 schwedischen Brigaden jenseits des Waldes Front gegen die Weichsel zurück um Pfalz Sulzbach (das erste Treffen des schwedischen Flügels) aufzunehmen, der den Abmarsch zu decken vor den Retranchements stehen geblieben ist.

Der Wortlaut dieser Erklärungen Dahlbergs enthält manches Son- derbare. Pars exercitui Polonici circa meridiem exercitum Brandenburg- cum aggredi instituem aciem formal (NB. hinter dem Schanzhügel). Cm Reg. Maj. Suec. peditatu ad N et equitatu ad 0 (0 ist der Weg nach Bia- lalenka, N ein andrer Weg durch den Wald, zwischen 0 und dem Süd- rande desselben) , per sylvam Biallalenkensem promotis aciem ad P. (am Ostsaum des Waldes) celeriter opposuit, dextra Electori relicta et prae- fecto Bulow duabue legumibus ad Q (wo der Weg von Bialalenka aus dem Westsaum des Waldes hinaustritt) consistere jm$o ut hostem obsetvareh donec princeps Pal. Sulz, mbaidia adduceret.

Sollte Bülows Aufgabe sein ut hoetem obtervaret, so durfte er nicht stehen bleiben, wo die Cavallerie in den Wald gezogen war; und wenn

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er hier halten sollte , bis der Pfalzgraf subsidia ferret, so musste , wenn die Hälfe nöthig wurde , bereits zwischen dem Pfalzgrafen und Bttlow der Feind eingedrungen , der Pfalzgraf in seiner linken Flanke umgan- gen sein.

Nicht minder auffallend ist der Ausdruck : cid Reg. Maj. . . . aciem ad P. celeriler opposuü; denn diejenige Schlachtlinie, der sich der König so entgegengestellt haben soll, steht unter dem Schanzhttgel Front gegen die Südseite des Waldes, gegen den rechten Flügel des ChurfUrsten, während der König den linken Flügel der Brandenburger verlängernd an dem Ostsaum des Waldes Front gegen Bialalenka sich aufstellt.

Wir haben also folgende Reihenfolge von Vorgängen. 1 . Der An- griff der 4 6000 Polen gegen die kleine Colline; 2. des Königs Be- sprechung mit dem ChurfUrsten ; es folgt 3. der schwere dreifache An- griff der Tartaren, der Quartianer und aus den Retranchements ; 4. wie dieser zurückgeschlagen ist , nimmt der Feind circa meridiem seine neue Aufstellung hinter dem Schanzhttgel, um 5. einen zweiten schweren Stoss gegen den Churfürsten zu führen.

Noch bleibt in dieser Reihenfolge von Gefechten ein Vorgang ein- zuschalten, der, wenn es gelingt ihn genau zu bestimmen, Klarheit über das Vorher und Nachher bringt.

Josias Waldeck hatte mit seinen 3 Brigaden und Geschütz , weil er nicht durch den Morast kommen konnte , wieder zurückgehen müssen, die Rel. III. sagt : »er stellte sich sobald mit den drei Squadronen auf der Seite des Waldes und Hess die Stücken vor den Squadronen stel- len , welches als es kaum geschehen , rückten etliche Fahnen Quartia- ner hervor und gingen mit guter Resolution auf die Garde an in Mei- nung zwischen solchen und einen Berg durchzukommen und etliche Stücke so wir auf dem Berg hätten wegzunehmen, aber sie wurden von der Garde und einer Squadron so empfangen , dass sie die Stücke ver- gassen ; im Zurückgehn gab ihnen Obrist Syburg wie auch die Stücke so Gen. Waldeck bei sich hatte, eine Salve in die Seite, durch welches ihnen ziemlicher Schade geschehen. Ungefähr eine halbe Stunde darauf pr&sentirteo sich viel Stück Esquadronen vom Feind gegen unsre Armee, auf welche F. Z. M. Sparr wie auch der schwedische G.-M. Bttlow so gewaltig mit Stücken Feuer geben lassen, dass der Feind endlich gezwun- gen ward sich wieder in sein Lager zu ziehen. Wenig hernach mar- schierte I. Kön. M. mit der Reiterei und Fussvolk ab und zogen sich durch

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den Wald« u. s. w. Im Wesentlichen wenn auch mit zum Theil andern Worten erzählt der Bericht bei Aitzema eben so; nur dass er nicht das Lager sondern die Retranchements nennt, in die schliesslich der Feind zurückgejagt sei.

Man wird in dem ersten Angriff, dem der Quartianer auf die Garde wohl einen Theil des oben unter 3 berichteten dreifachen Angriffs wieder- erkennen. Aber wo stand da Jösias Waldeck? Wenn gesagt ist: er stellte sich an die Seite des Waldes , so ist vollkommen klar , dass nicht der Waldsaum gegen Bialalenka gemeint sein kann ; er war ja eben nicht

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hindurchgekommen, nicht einmal bis zum rechten Flügel des Chur- fürsten. Wo war der Wald so »morastig« dass er nicht hatte durch- kommen können?

Nach Dahlbergs Zeichnung erstreckt sich der Sumpf der den Schanzhügel von den Retranchements trennt, gegen den Südsaum des Waldes hin bis auf geringe Entfernung von demselben, und endet da, wo der Längenweg aus dem Walde heraustritt, in zwei Ausbuchtungen. Die beiden neueren Karten zeigen, dass der Sumpfgrund sich noch wei- ter nordwestwärts in den Wald herein erstreckt ; der Weg , der jetzt an der südlichen Lisiere des Waldes entlang zieht ist etwa 400 Schritte westlich von dem Längenwege überbrückt ; der Sumpfgrund selbst hat eine Breite von 3 400 Schritt, weiter waldeinwärts wird er noch breiter. Diess muss der Sumpf gewesen sein, den man nicht oder nicht mehr passiren konnte. Denn allerdings lässt Dahlbergs Zeichnung am Morgen eben hier »durch den Wald« des Churfürsten Flügel anmarschi- ren ; hier muss das mit niedrigem Gebüsch bewachsene Terrain gewesen sein , welches das Durchkommen der brandenburgischen Geschütze so erschwerte ; durch diese Geschütze war hier der Grund so tief aufge- fahren.

Der Angriff der Quartianer richtete sich gegen die Garde, d. h. die brandenburgische Leibgarde zu Fuss, die nach Memmerts Zeichnung zu- nächst rechts von der kleinen Colline stand. Die neueren Karten zeigen unmittelbar da, wo der Längenweg aus dem Walde tritt, nach der Seite der kleinen Colline hin, eine Erhebung, die wohl »een kleyn ghebergkte« (Aitzema) genannt werden kann; das wird die Höhe- sein, auf der etliche (drei, Aitz.) Geschütze standen; zwischen diesem Berg und der Garde suchen die Quartianer einzubrechen, um die Geschütze zu nehmen. Sie werden von der Garde und einer andern Escadron zurückgeschlagen.

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Also dieser Stoss kam den Quartianern von rechts und sie gehen natür- lich in der Richtung des Stosses zurück. Nur so zwischen Wald und Sumpf zurückgebend können sie »een seer furieuse salve« von Waldecks Musquetiren und Geschützen in die Flanke bekommen.

Wenn das richtig ist, und ich denke es kann nicht anders gewesen sein, so war das Defite vom Waldweg westlich noch zum Theil passir- bar , aber der passirbare Theil desselben , durch welchen am Morgen der Churftlrst aufmarschirt war , war nicht mehr von den Alliirten be- herrscht, sonst hätte Waldeck bis zu demselben vorgehen und sich dann links wendend die Garde auf dem rechten Flügel der churfürstlichen Aufstellung erreichen, sich ihr anschliessen können. Waldeck hatte sich nicht so aufstellen können, dass er den weichenden Quartianern das Defil6 sperrte; er musste sich mit einer furieusen Salve begnügen; er stand weiter rückwärts . den Sumpf vor sich , als die Quartianer vor- überjagten.

Also die nächste Verbindung zwischen dem rechten und linken Flügel der Alliirten , die durch das Defite, war unterbrochen, sie hatten nur noch auf weitem Umwege »durch den Wald« ihre Verbindung. Der Stoss der Quartianer war sehr richtig gegen die Mündung des Längen- weges durch den Wald gerichtet ; gewannen sie diesen Weg, so waren die beiden Flügel auseinandergesprengt. Und mit diesem Angriff war die zweite Umgehung der Tartaren, der Ausfall aus den Retranchements combinirt gewesen ; in Wahrheit, das Schicksal der Schlacht hatte auf des Messers Spitze gestanden. Es war hohe Zeit die getrennten Flügel zusammenzuschliessen , ehe der Feind einen ähnlichen Angriff wieder- holte. Und die Bewegungen, die man zu dem Zweck der schon einge- leiteten Vereinigung zu machen hatte, waren zugleich das Mittel, den am meisten gefährdeten Punkt zu verstärken ; die durch den Wald ge- henden zwei Colonnen waren gleichsam Reserven für den Posten am Ausgang des Waldweges in das Defite. In solchem Zusammenhang hat Dahlbergs Ausdruck : cid aciem .... oppomit nicht ganz Unrecht.

Allerdings wiederholte der Feind den Stoss gegen die Mündung des Waldweges; es ist der Angriff, den Rel. III. mit den Worten ein- führt : »eine halbe Stunde später « und dessen Zusammenhang Rel. I.

II. u. s. w. §33 wenigstens andeuten, indem sie sagen: nach wieder- holtem vergeblichem Vorgehen aus den Retranchements habe der Feind versucht mit aller Force auf den Churfürsten loszugehen. Dieser Angriff

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ist es, zu dem der Feind circa meridiem in die von Dabiberg angegebene Stellung hinter dem Schanzhügel einrückt; jene zwölf Schlacbtbaufen rechts und links vom Sumpf durften wohl von Rel. III. als »viele Stück Escadronen« bezeichnet werden. Die Bewegung, die sie zu machen hatten, war durch den Sumpf, zu dessen beiden Seiten sie standen, vor- gezeichnet ; die 8 Escadronen , die zunächst hinter dem Schanzhügel standen, mussten vorgehend den rechten Flügel des Churfürsten be- schäftigen , bis die 4 andern Escadronen um den Sumpf in das Defil6 kamen und dann beide Massen zugleich den entscheidenden Stoss gegen die Mündung des Waldwegs führen.

Wie weit sich diess Gefecht entwickelt hat , wird nicht angegeben. Wir erfahren nur aus Rel. III. und Aitzema, dass diese Trappen mit grosser Heftigkeit anrückten, aber dass GFeldzeugmeister Sparr nnd Gen.M. Bülow »so gewaltig« mit Stücken auf sie feuern lassen, dass sie gezwungen wurden sich wieder in ihr Lager oder wie Aitzema sagt »mit den andern sich wieder in die Betranchements« zurückzuziehen.

Sparr commandirte die brandenburgische Artillerie; dass sie den rechten Flügel dieser Angriffslinie, die 8 Schwadronen, beschoss. kann nicht zweifelhaft sein. Wie kommt es, dass nicht neben Sparr Oxenstjerna genannt wird, der die schwedische Artillerie befehligte, sondern Bülow ? Bülow kann nur die Regimentsgeschütze seiner Bri- gaden zur Verfügung gehabt haben; entweder stand die schwedische Artillerie weiter abwärts nach der Weichsel zu noch in Linie , oder sie war, was wahrscheinlicher, bereits abgerückt und die Escadronen von Pfalz Sulzbach maskirten ihren Abzug. Der König hatte seinen Abmarsch durch den Wald begonnen, als der Feind in jene Schlachtlinie circa me- ridiem einrückte ; er konnte noch nicht weit sein , noch nicht so weit, dass auch die Brigaden Bülows schon ihre Stellung verlassen mussten, um den Posten am Eingang des Querweges nach Bialalenka zu be- setzen; Bülow stand mit seinen Brigaden noch vor der Südwestecke des Waldes; er konnte von dort aus die auf etwa 1200 Schritt vorüber- trabenden Züge des Feindes sehr gründlich bestreichen. Aber warum that Waldeck jetzt nicht dasselbe wie vorher bei dem Rückzog der Quartianer? Er wird nicht mehr an derselben Stelle gewesen sein ; der König hatte den Abmarsch durch den Wald begonnen , und Waidecks Brigaden waren wohl die ersten in der Marschcolonne des Fussvolks.

Diess ganze Gebäude von Gombinationen scheint der eigenhändige

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Bericht des Churfilrsten über den Haufen zu werfen , der hier wörtlich so lautet : »I. Kön. M. marschierten ab und filirten durch das Holz, der Feind aber fiel wieder aus und kam bis an I. Kön. M. Stücke, welche ihnen sehr grossen Schaden zufügten, darüber sie sich wieder retirierten.« Hält etwa Sparrs heftiges Feuer die 8 polnischen Escadronen in respectvol- ler Entfernung? zögerten sie vorzugehen, weil sie sahen, dass die 4 Escadronen statt an das Defite zu eilen , sich bei den schwedischen Geschützen aufhielten?

Es ist unmöglich hier zu irgend sichern Ergebnissen zu gelangen. Genug, die Intentionen der polnischen Aufstellung circa meridiem mislan- gen völlig. Der vollständige Abmarsch des Königlichen Flügels und dessen Durchziehen durch den Wald war sicher gestellt. Die eingeleitete Umformung der Frontstellung konnte bewerkstelligt, der bisherige rechte Flügel zum linken Flügel gemacht werden.

Jena in dem mehrerwähnten Schreiben tadelt auch an diesem Punkt die Rel. I.: »so wird auch nicht gemeldet, dass als am Sonnabend nach Mittag die Bataglie zu ändern (beschlossen worden) , dass diesel- bige Aenderung vom Hr. Feldzeugmeister Sparr dergestalt gemachet, dass ich selbst von theüs hohen schwedischen Befehlshabern mit dem gross- ten Ruhme davon sprechen hören.« Des Churfilrsten Leibgarde zu Fuss und eine Brigade Sparr waren am Morgen die Spitze des linken Flügels gewesen ; sie werden in der neuen Schlachtordnung die Spitze des rech- ten Flügels, jede Brigade und Escadron des Churfilrsten zieht sich hin- ter ihnen durch in die neue Stellung ein und endlich steht die Reihe der Schlachthaufen in umgekehrter Folge wie am Morgen gegen den Feind.

So Angesichts des Feindes , unter währendem Kampf die ordre de bataüle umformen, die neue Aufstellung nehmen und auf einem neuen Schlachtfelde die Offensive ergreifen , das war und wäre vielleicht auch noch jetzt ein tactisches Meisterstück , das man nur mit völlig festen und geschlossenen Truppen ausfuhren konnte. Diese grosse Wen- dung der Schlacht war nur dadurch möglich, dass der Churfilrst sich Standen lang gegen immer neue mörderische Angriffe behauptete ; die von ihm besetzte Höhe war gleichsam der Angelpunkt, um den sich die Schwenkung der conjungirten Armeen drehte.

408 Joh. Gust. Droysen, l6*

Die neue Schlachtlinie am Nachmittag des 29. Juli.

Die Rel. IV. giebt in allerdings summarischer Darstellung der Be- wegungen ein Bild des Ganzen in dem Moment des Wechsels, wenn ich so sagen darf den Gesammteindruck der Situation. Sie sagt : »Nachmit- tag gewannen wir dem Feind eine Advantage ab , nemlich einen Pass, durch welchen wir mit der ganzen Armee filirten« (diess ist incorrect). »Als die Polen solches vermerketen , verliessen sie ihre Retranchements von vorne und stellten ihr Geschütz von hinten recta auf uns an und gingen darauf mit ihren ganzen Armeen ins offne Feld. Gewiss ist es dass es damals mit uns etwas hart hielte , angesehen auf unsrer Seiten so wohl als hinter uns nichts anders als lauter Morast und ganz keine Retraite war, .musste also ehrlich gefochten sein, wer nicht schändlich sterben wollte. Und in Wahrheit es bezeigeten unsre Soldaten vom grössten bis zum kleinsten hierin eine so treffliche courage , dass sie das Gefecht mit allen Freuden angingen , unangesehen der überaus grossen Menge, mit welcher sie angehen sollten. Dieses muss ich bekennen, dir Polen thäten einen so starken und furieusen Angriff, dass sie zugleich auf alle unsre Regimenter ansetzten. Als es aber zum Generaltreffen kam, welches ungefähr um drei Uhr Nachmittag anfing, hat der höchste Gott verliehen dass wir nach fünfstündigem Gefecht« u. s. w.

Also die Polen hatten ihre Geschütze auf die Dünenreihe gebracht, die sich vom Schanzhügel nach Süden zieht und deren südlichen Theil das Holz von Praga bedeckt. Sie hatten sich in Schlachtlinie über das Flachland bis Bialalenka hin aufgestellt, »in einer Fronte bis an ein Kö- nigliches Haus« sagt der Bericht des Churftbrsten. Noch genauer geben Rel. I. II. u. s. w. an : der Feind habe seine grösste Force und alle seine Husaren auf seine rechte Hand gesetzt und sei in guter Ordnung über das Feld anmarschirt gekommen.

Das nächste Interesse des Königs war »Feld zu gewinnen um den Feind in der Ebene ins Gesiebt gehen zu können« (Rel. I. § 35). Er fand »een schon groen pleyn« vor sich , die in einer Breite von y4 Meile sich südwärts zog, begränzt von den buschigen Sumpfwiesen hinter Bialalenka ; diese boten ihm wenn er vorging eine Deckung für seine linke Flanke.

Von den Bewegungen , die dem »Generaltreffen« unmittelbar vor- ausgehn, berichten Rel. I. II. u. s. w. eingehend. Der König streckt, wie

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er die feindliche Schlachtlinie vor sich sieht, sich nach links hin, um die Breite der Fläche bis an die Sumpfwiesen zu gewinnen , er nimmt auf seinen linken Flügel etliche commandirte Stücke und 3 Escadronen zu Fuss (also die 3 schwedischen Brigaden) , ihnen folgt die Cavallerie sei- nes Flügels in 3 Treffen. Wie er vorrückt, steckt der Feind das Dorf Bialalenka an, um während der König vor dem Dorfe vorüberzieht, hin- ter demselben ihm mit Cavallerie in den Rücken zu gehen. Der König lässt sein drittes Treffen unter Gen. Hörn hinler das Dorf gehn und avan- ciren, worauf sich der Feind auf Brudno zurückzieht. Brudno, ein lan- ges Dorf, das sich nah an den Sumpfwiesen hinzieht, wird gleichfalls in Brand gesteckt, und hinter dem Dorf setzt sich der Feind.

Die Bewegung der Polen ist klar ; ihre Front hatte schräg über die Ebene etwa vom Schanzhügel bis Bialalenka gestanden, sie ziehen ihre Aufstellung bis zu der Linie zwischen dem Schanzhügel und Brudno zurück, sie locken den Gegner immer weiter hinaus ins Flachland, um ihn endlich in seiner linken Flanke zu tourniren.

Der König folgt, avancirt »mit den Knechten« gegen Brudno (§38); da er das brennende Dorf wegen des Morastes (?) nicht umgehen kann, lässt er »die Infanterie vor(?) den 3 Escadronen zu Fuss«(?) beim Dorf und Morast stehen , und zieht mit den beiden ersten Treffen Cavallerie am Dorf vorüber, das dritte Treffen hält beim Fussvolk, »um es zu suste- niren.« Schon stehn die beiden ersten Treffen Front gegen die Sanddtt*- nen ; während einer lebhaften Canonade von beiden Seiten rücken die 3 Brigaden am Dorfe vorüber nach und stellen sich hinter dem zweiten Treffen im Haken, der Front links gewandt auf, so dass sie das Dorf im Rücken haben; »beim Kreutz» sagt die Relation, und die Dahlbergische Zeichnung giebt genau das Crucifix an, das gleich südwärts von Brudno am Wege steht 40).

Diese Aufstellung im Haken ist nothwendig, da bereits Tartaren und Husaren im Anzüge sind, die linke Flanke der Schweden zu umge- hen ; der König lässt Halt machen, damit auch das dritte Treffen heran- komme.

Diese Darstellung in Rel. I. II. § 35 42, die in der brandenburgi- schen Bearbeitung fortgelassen ist, hat zwei unklare Stellen. Die eine betrifft die Umgehung des Dorfes Brudno : dass der König es wegen des Morastes zu umgehen nicht für rathsam hält, sondern zur Linken zu gehen. Allerdings zeigt die Generalstabskarte auch rechts von Brudno

Abbandl. d. K. 8. Om. d. Witt. X. 28

410 Jon. Gust. Droysen, [66

eine Sumpfwiese, die mit Gräben durchzogen ist, vor dieser müsste das Fussvolk Halt gemacht haben, während die Cavallerie links und hinter dem Dorfe vorgegangen wäre. Aber links vom Dorfe ist nicht minder Sumpfwiese von Gräben durchschnitten , und Dahlbergs genaue Zeich- nungen geben keinerlei Andeutung von Sümpfen rechts vom Dorf; wie ja auch die polnische Schlachtlinie von Bialalenka auf Brudno zurückge- hen konnte.

Diese Schwierigkeit wird noch vergrössert durch die zweite Un- klarheit die oben bemerkt ist, die in dem Ausdruck »der Infanterie vor den dreyen Esquadronen zu Fuss.« In dem Abdruck des Florus p. 91 steht »die Infanterie von den dreyen Es. zu Fuss.« Pufendorff F. W. VI. 38 sagt: tegendo lateri tres pedilum phalanges apud vicum et paludem consistere jussit ; und etwas kürzer im Carol. Gust.: tres peditum phalanges apud vicum et paludem consistere jussit.

Allerdings könnte man sich einen Verlauf der Bewegungen denken, in dem die übrigen Brigaden der Infanterie vor die drei schwedischen (dem Feinde zu) einrücken , während das erste und zweite Treffen der schwedischen Cavallerie das Dorf zur Linken d. h. hinten und vom Feinde abwärts umgehen. Aber diess Manöver wäre ein so überktinst- liches, der Aufmarsch der Cavallerie , nachdem sie das Dorf zur Linken umgangen, ein so exponirter, dass man es aufgeben muss die Rel. I. IL mit ihrem Wortlaut für correct zu halten. So wie, wohl irrig, zur Lin- ken geschrieben war, wo es heissen sollte zur Rechten, so mag in der Handschrift der Relationen nach damals nicht eben seltener Ausdrucks- weise gestanden haben,« die Infanterie vdl. (videlicet) die 3 Escadronen zu Fuss,« was der unkundige Setzer dann in »vor den dreyen« veränderte.

Allerdings geben wir damit die einzige Andeutung auf, die die Rel. I. IL möglicher Weise über die übrigen Brigaden der Infanterie bieten könnten. Ergänzend tritt da die brandenb. Rel. III. ein, indem sie die Vorgänge vom Durchmarsch durch den Wald an kurz zusammenfasse Ehe die Infanterie ankam , sagt sie , sah der König den Feind in voller Bataille anrücken; er nahm seine schwedische Cavallerie und etliche Escadronen von uns (2 Esc. Waldeck) , stellte solche auf den linken Flü- gel in Bataille , Hess den Oxenstjerna mit der Artillerie avanciren und marschirte sacht auf den Feind , liess bisweilen auf dem Marsch etliche Stücke umkehren und Feuer geben. Indessen kam unsre Artillerie und Infanterie auch an, und wurde gleicbmässig neben dem linken Flügel in

67] Die Schlacht von Warschau. 1656. 4H

2 Treffen in Bataille gestellt, der Churftirst blieb mit dem rechten Flügel »in den 3 Escadronen zu Fuss * so G.-M. Goltz bei sich hatte« am Walde stehen.

Dieser Bericht sagt nicht ausdrücklich, dass sich die Cavallerie des Churfürsten auch aufstellt; aber er lässt die neue Schlachtlinie recht gut erkennen : der Churftirst hat 3 Brigaden auf seinem rechten Flügel wie der König deren 3 im Haken auf seinem linken Flügel hat ; das Gentrum bilden die übrigen 6 Brigaden , rechts und links vom Gentrum die Ca- vallerie der beiden Flügel in drei Treffen. Genau so zeichnet Memmert die Schlachtordnung des Nachmittags, nur dass er die 6 Brigaden im Centrum nicht in zwei Treffen hat , sondern 3, 2, 4 Brigade hinter ein- ander stellt : auf dem äussersten rechten Flügel hat er 4 Brigade Goltz, 4 Brigade Sparr, die Leibgarde.

Allerdings weicht die Zeichnung Dahlbergs sehr davon ab. Da stehen keine Brigaden auf den äussersten Flügeln, sondern ihrer zehn in drei Treffen im Cenlrum, die zwei noch fehlenden sind nirgends ver- zeichnet. Die Schwenkung der Schlachtlinie der AUiirten beschreibt die beigefügte Erklärung mit den Worten exercitm collocatis in fronte for- mentis, sese movens ea ratione ut dextra ala procedentem sinislram tormen- torum explonione tutaretur , idemque ageret dextra dum sinisira procederet, tandemque coeuntes lunalam aciem componerent. Die Zeichnung zeigt diese mondförmige Schlachtlinie, deren rechter Flügel vor der Colline an die Waldecke gelehnt ist, der linke Flügel links über das brennende Brudno hinausreicht.

Es ist bereits erwähnt , dass sich der Bericht von Aitzema in die- sem Theile der Darstellung von der Rel. III. trennt ; er ist mehr schil- dernd als genau ; er verwechselt früheres und späteres. Aber er hebt dasjenige hervor, was hier wie in der ganzen Schlacht das Entscheidende ist. Wie sich der König auf den linken Flügel gesetzt hat, fbrmirt er seine Schlachtordnung auf einer schönen grünen Ebene und avancirt gegen das polnische Lager in guter Ordnung ; er aber sieht den Feind so vor- teilhaft postirt (fehlerhaft ist gedruckt »so avantageus gepasseert te zijn«), dass er gerathen findet Halt zu machen »ende de aveneus van allen kan- ten wel te recognosceren.« Da lässt der Feind zuerst die Tartaren aus- gehen , um zur Seite und von hinten anzufallen , es geschahen »noch

4) Der andre Adbruck hat »in der 3ten Escadron zu Fuss.«

28*

41 2 Jon. Gust. Droysen, [68

viele andre Attaken« aber es war »von unsera Officieren an allen Enden« so gnte Ordnung, dass der Feind nichts als Schläge erbeutete. Als dann die Armee in vollkommener Schlachtordnung stand der König links, der Churftirst rechts nach dem Walde zu, die Infanterie in der Mitte so fing man um 4 oder ö Uhr Nachmittag an recht gegen den Feind zu marschiren, um denselben zum Haupttreffen zu zwingen. Die Tartaren werden von hinten durch Gen. Hörn »tapfer abgewehrt.« Die Polen weichen »von vorn, von einem Platz zum andern,« »wir folgen Schritt vor Schritt tödtend was nicht entlaufen kann« und kommen so »geschlos- sen bleibend« endlich vor das »letzte Dorf nach Warschau,« wo sich die Polen endlich entschliessen aus ihrem Vortheil zu kommen.

Also um 4 bis 5 Uhr beginnt die Hauptaction nach diesem Bericht ; nach Ret. IV. und dem schwedischen Bericht im Theat. Eur. ed. 1 um 3 Uhr.

Die Generalaction am Nachmittag des 29. Juli.

Mit der schwedisch -brandenburgischen Armee zugleich hat die polnische ihre Aufstellung vollendet. Sie hat sich ganz nach der Dünen- reihe gezogen , diese mit Kanonen besetzt. Der südliche Theil dieses Höhenzuges, das Holz von Praga ist an seinem Fuss mit Retranchements gedeckt. Auf den Höhen und hinter denselben steht das Fussvolk, we- nige Escadronen bleiben bei ihnen , der bei weitem grösste Theil Husa- ren, Quartianer, Pospolite Rusczenie, Tartaren schicken sich zu einem gleichzeitigen Angriff gegen alle Punkte der feindlichen Linie an , wäh- rend die Alliirten im Avanciren sind , der König »bis an ein Wäldchen« in der Richtung auf das Holz von Praga gekommen ist.

»Sie stürzten sich, sagt der Bericht bei Aitzema, aus ihren Vortei- len auf das Blutfeld , und zwar mit so erschrecklich grosser Fronte und so barbarischem Geschrei , dass es grauenhaft war zu sehen und zu hö- ren; wir sahen uns von so entsetzlichen Massen von allen Seiten auf einmal umzingelt, dass es unmöglich schien einen guten Erfolg für uns zu hoffen.«

Unsre Quellen zählen folgende gleichzeitige Angriffe auf:

1) Den der Husaren »nebst 5000 Pferden« sagt Rel. I. § 41, »der Husaren welche noch drei Treffen hinter sich hatten des Churftirsten eigenhändiger Bericht ; sie stürzen sich »mit ihren Gopien« auf des Kö- nigs Flügel ; sie stossen nach Dahlbergs Zeichnung auf die Escadronen

69] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 44 3

Upland und Smaland und durchbrechen sie : »sie sind aber von dem an- dern Treffen und von den Seiten dergestalt empfangen worden, dass ihrer wenige durchgekommen, die aber welche ihnen gefolgt, zurückge- worfen sind.« Denselben Angriff berichtet Aitzema : er sei auf des Kö- nigs Regiment Garde zu Fuss gerichtet gewesen, das vier Stücke, die mit Musketkugeln gefeuert, wie eine Brustwehr vor sich gehabt habe. Nach Bericht III. war es das Feuer der königlichen Leibgarde zu Fuss, das den Feind zum Weichen zwang. Es war keine Garde des Königs zu Fuss in der Schlachtlinie , aber des Königs und der Königin Garde zu Pferde stand nach Dahlbergs Zeichnung zunächst links neben den wei- chenden Escadronen. Aitzema fügt hinzu , dass bei diesem Gefecht der König mit einer Lanze unter dem linken Arm durch die Kleidung gesto- chen sei.

Dahlberg bemerkt in den Erläuterungen, der Feind habe sich in der Meinung, dass der Churfürst den linken Flügel habe, diesen zum Angriff ersehen. Auch die Rel. I. II. geben an, dass es nur ein Theil der hier Zurückgeworfenen gewesen sei, der sich dann gegen den churftlrstlichen Flügel gewandt habe und dann auch dort abgewiesen sei.

2) Des C hur forsten eigener Bericht sagt: »die Quartianer trafen (»stracks darauf,« fügt er am Rande bei) auch auf den rechten Flügel, thä- ten aber schlechten Effekt, indem sie auf 30 Schritt ihr Gewehr lösten und dann zurückgingen.« Nach dem Bericht bei Aitzema waren es Tar- taren, Quartianer und Adel (Pospolite Rusczenie), die hier angriffen, aber dann , nachdem gegenseitig »pesle mesle met een groote opiniastreteyt« gefochten war, von dem Chorfürsten, Wrangel, Frd. Waldeck und Kan- nenberg zurückgeworfen wurden ; »bei dieser Gelegenheit war des Chur- fürsten Person in grosser Gefahr.«

3) Ein andrer Angriff traf das Centrum der Schlachtlinie, die In- fanterie ; von Sparr, Bülow und Jonas Waldeck wurden die Polen mit Kanonen so empfangen, »dass sie auch das Basenpanier aufwarfen» (Rel. HL).

Aitzema nennt hier im Gentrum auch G.-M. Goltz, der nach Mem- merts Zeichnung auf dem äussersten rechten Flügel mit 3 Brigaden stand. Sollte Goltz mit seinen 3 Brigaden nach dem Gentram abmar- schirt sein , um den Flügel für alle Fälle beweglicher und die Mitte desto stärker zu machen ? Jena schreibt : »ich habe am Sonnabend gesehen, dass als die Husaren auf das anhaltische Regiment treffen wollten , sie

444 Jon. Gust. Droysen, [70

vorher von E. Chi. D. Garde zu Fuss mit einer stattlichen Musquetade em- pfangen worden, davon schweigt die Relation (I.) auch.« Allerdings gab es in der schwedischen Armee ein Reiterregiment des Fürsten Johann Georg von Anhalt ; Dahlberg verzeichnet es unter der Besatzung des Lagers von Nowodwor; aber weder den Fürsten führt er in den na- mentlich aufgeführten Personen der königlichen Suite (Blatt 40), noch sein Regiment in der Schlachtordnung (Blatt 41) auf. Man wird doch wohl annehmen dürfen, dass das, was Jena sah, in seiner Nähe vor sich ging, und dass er als Nichtcombattant sich da aufhielt, wo der Churfürst sein Gefolge von Räthen, Eriegscommissarien u. s. w. halten liess, d. h. hinter dem für jetzt am wenigsten exponirten rechten Flügel. Also da in der Nähe wird die Leibgarde gestanden haben, und ihm mag eine der schwedischen Escadronen auf des Churfürsten Flügel als das Regiment Anhalt erschienen, es mag allenfalls mit dem Regiment Westgothen, das 2 Escadronen bildete, combinirt gewesen sein.

4) Einen vierten gleichzeitigen Angriff machen die Tartaren, indem sie das Dorf (Brudno) umgehen; sie kommen bis an die Bagage (Rel. III.) f der König lässt 4 Schwadronen unter Führung seines Bruders gegen sie gehn, der sie, wie Rel. I. II. sagen, in den Morast jagt. Die brandenbur- gische Bearbeitung oder vielmehr des Churfürsten Aendrung in dersel- ben schreibt dafür: »welche Acht auf sie geben müssen, damit sie nicht von hinten einfielen.«

Mit einiger Ausführlichkeit behandelt diesen Angriff der Tartaren die Dahlbergische Erläuterung: 6000 Tartaren, sagt er, brechen aus dem Walde (?) hervor, versuchen die Hinterhuth (subsidiariutn miliiem) zu werfen, da geht der König bei dem Dorfe Brudno auf sie los mit den Escadronen (legionibus) Leibgarde, Meklenburg, Sadowsky und der bran- denburgischen Garde zu Fuss ; dann rem gessit ut multi cader ent, mulli in paludes se conjicerent, pauci vero saht redirent. Bei diesem Anlass hat der König persönlich gegen sieben Tartaren, die mit eingelegter Lanze auf ihn einstürmten , gekämpft , zwei erschossen, des dritten Lanze mit dem Säbel parirt, während Trauenfeld und andere herzueilend die an- dern vier niederwarfen.«

Also auch nach dieser Angabe ist die churfürstliche Leibgarde dem Könige nahe genug, um von ihm mit gegen Brudno geführt zu werden, d h. doch wohl im Centrum. Vielleicht war also der oben erwähnte Vorfall, von dem Jena berichtet, eben dieser?

74] Die Schlacht von Warschau. 1656. 415

Dahlbergs Angabe erscheint doch in mehr als einem Punkt bedenk- lich. Er selbst hat in seiner Aufzählung der schwedischen Escadronen die des Herzogs von Meklenburg nicht, die im Lager bei Nowodwor von ihm genannt ist. In seiner Ordre de bataille ist die Leibgarde des Königs im ersten Treffen noch an der Spitze des linken Flügels, die 3 Escadro- nen Sadowsky stehn im dritten Treffen ganz rechts neben dem Centrum ; allerdings nennt er unter den 1 0 Brigaden des Centrums die churfürst- liehe Garde zu Fuss, aber sie steht nach ihm da im zweiten Treffen. Wie hätte die Schlachtlinie in Auflösung sein müssen , wenn der König diese weit auseinander stehenden Truppentheile gegen den Feind im Rücken hatte führen können. Endlich scheint die ganze Geschichte von dem persönlichen Kampf des Königs an dieser Stelle mehr als zweifel- haft, wennschon in Drottningholm ein stattliches Gemälde eben diesen Moment darstellt. Allerdings sagt Rel. IV. »Ich habe es gesehen , dass S. Maj. unter den Tartaren schon vermischt war, so stunden auch S. Cf. D. einmal sehr gefährlich darunter,« aber sie sagt nicht, dass es in diesem Moment der Schlacht war. Die durchaus schwedisch ge- haltene Rel. I. IL sagt 58), »während der dreitägigen Schlacht sei so- wohl der König als der ChurfUrst in grosser Gefahr gewesen, denn sie in eigner Person sehr grossmüthig gefochten, so dass S. Cf. D. einmal gar von den Tartaren umringt gewesen, dass man eine gute Weile nicht gewusst, wo sie hingekommen.« Also vom Churftirsten, nicht vom Kö- nige wird da gesagt, dass er in Mitten der Tartaren gewesen sei. Die- selbe schwedische Relation I. II. giebt an, dass der König nicht selbst gegen die Tartaren in seinem Rücken gegangen sei, sondern seinen Bru- der gesandt habe ; der König hatte vollauf zu thun, den durchbrechen- den Husaren zu begegnen. Kurz diese ganze Scene dürfte sich als eine nachträgliche Ausschmückung erweisen, und dass auch Pufendorff C. G. III. § 26 sie erzählt, würde nichts dagegen beweisen. Weder Scheffer noch Loccenius haben diese Tartarengeschichte.

Aber Scheffer erzählt eine andere Geschichte (XV. 4) , die den er- wähnten Lanzenstich des Husaren, der dem Könige unter dem linken Arm durchging , weiter ausmahlt ; es hätten sich drei edle Polen ver- schworen , den König in der Schlacht zu tödten , so sei nun der eine in voller Heftigkeit auf ihn losgestürmt u. s. w. Ungefähr dieselbe Ge- schichte erzählt Kochowsky p. 453, er nennt den tapferen Husaren Jacob Kowalowsky. Der König selbst habe über den jungen Hei-

416 Joh. Gust. Droysen, [72

den , den er auf den Tod getroffen , Worte höchster Bewunderung ge- sprochen.

Doch zurück zu dem Verlauf der Schlacht.

Dahlberg erwähnt noch eines zweiten späteren Tartarenangrifis ; 10,000 Tartaren nicht weit vom Wald von Praga hervorbrechend stür- zen sich auf den Flügel des Königs , der mit einigen Escadronen (cum cohortibus quibusdam) sie empfängt und mit grossem Verlust zurück- weist. Mag jener erste Angriff, der nach Brudno kam, durch eine Um- gehung eingeleitet sein, die von den 3 schwedischen Brigaden des lin- ken Flügels zu fern war , um von ihnen abgewehrt zu werden , dieser zweite Angriff gegen den Flügel des Königs selbst musste diese, welche Front nach links standen, treffen. Wenigstens braucht Dahlberg den Ausdruck cohortes bisweilen auch vom Fussvolk (hostium peditatus in cohortes divisus).

Mit dem anbrechenden Abend (Aitzema) sind diese Angriffe alle abgeschlagen. Der König, sagt Rel. I. II., findet es nöthig die Regimen- ter »in vorige Ordre und Platz wieder zu bringen« um den Sturm auf den Wald von Praga zu unternehmen. »So hat man avancirt, aber zu dem Berge nicht mehr gelangen können, bis es ganz finster geworden.«

Die Itycht vom 29. auf den 30. Juli.

»Unsre hohen Häupter beschlossen Nachts auf dem Felde zu blei- ben bis an die Morgenstunde , obschon unter des Feindes Kanonen, um ihn dann in seinem Lager zu forciren.« Einige brandenburgische Schwa- dronen, die zu weit vorgegangen, wurden zurückgezogen , bei dieser rückgängigen Bewegung der G.-M. Kannenberg durch einen Falconet- schuss verwundet (Aitzema).

In den Dispositionen für die Nacht ist ein Wäldchen von Bedeu- tung, das sich links vom Flügel des Königs befand. In des Churfürsten eigenhändigem Bericht ist es schon früher erwähnt ; jetzt sagt er »es ward vom Könige mit etlichen hundert Musketiren besetzt, welche sich darin verhauen sollten.« Der König, sagen Rel. I. IL, hat sich, da es ganz finster war, zurückgezogen, seine Cavallerie bei einem Walde zur Seite des Dorfes gesetzt, nebst den 3 Escadronen zu Fuss, die Infanterie aber ist vor dem Dorf »vor einem Dorf welches man zur Linken gehabt,« sagt die brandenb. Bearbeitung die churfUrstl. Armee auf dem Platz stille stehend geblieben.«

73] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 417

Auf den neueren Karten ist dieser Wald nicht mehr zu finden. Ver- suchen wir seine Lage zu bestimmen.

Die Bewegung des Königs war gegen das Holz von Praga d. h. von Brudno an halblinks gerichtet, Rel. I. 44; vor diesem also muss »das Wäldchen« liegen. Auf Dahlbergs Zeichnung ist es wohl zu erkennen ; sie giebt den Namen des Porfes Targoweck nicht , sie zeigt nur weiter südwärts in dem Defilä zwischen dem Holz von Praga und dem todten Weichselarm das Dorf Kamin, das nicht mehr existirt. Aber sie zeichnet ein Paar Häuser nahe an einem Wege, der von Brudno in das Holz von Praga hinaufführt ; in einiger Entfernung von diesen Häusern, dem Holz zu, kommt ein zweiter Weg von links her und vereinigt sich mit jenem noch vor dem Holz ; in dem Abschnitt zwischen beiden Wegen, links bei den Häusern liegt das Wäldchen '.

Also diess Wäldchen wurde besetzt und mit Verhauen gesichert ; es war der Stutzpunkt der linken Flanke, die allerdings dem Feinde am nächsten war, kaum 500 Schritt von den Kanonen des Prager Holzes. Die Brigaden des Gentrums lagerten so, dass ihnen das Dorf links blieb.

Dahlberg giebt an, dass das ganze Heer in einem Dreieck gelagert habe; er zeichnet es so, dass dessen breite Seite von Brudno südwärts sich hinzieht (also wohl an den Sumpfwiesen entlang, die einige Deckung boten", während die linke Seite des Dreiecks gegen das Wäldchen, die rechte gegen den schon entfernten Schanzhttgel gerichtet ist.

Des Churfilrsten eigenhändiger Bericht sagt : »wir blieben in einem Dorf, das die Tartaren in Brand gesteckt hatten, die Nacht über stehen,« also wohl in Brudno. Er fügt hinzu , dass »über Nacht unterschiedliche Allarmen vom Feind gemacht wurden« 2.

Der Feind muss sehr entmuthigt gewesen sein, dass er diese mehr als tollkühne Aufstellung nicht zu einem ernstlichen Ueberfall benutzte. Im Lauf des letzten Tages hatte er sich schon einmal wohl als die Husaren den schwedischen Flügel durchbrachen des Sieges so gewiss geglaubt, dass der König seiner Gemahlin Botschaft sandte, die Schlacht sei gewonnen (Aitzema). Dass nach dem Scheitern dieses grossen An-

4) Herr Dr. Krasnosielski hat in Targoweck erfahren, dass an der bezeichneten Stelie früher ein Gehölz gestanden habe.

2) Thulden p. 280 sagt, neutris adhuc victoriam Mars annuebat: nisi quod per noctem Tartari tumultuosius pro Sarmatis agerent et Suedorum stationibus haud parum incommodarent

418 Joh. Gust. Dboysen, [74

griffe die Entmuthigung um so grösser war, sagt Rudausky ausdrück- lich. Jetzt zur Nacht hatten sie sich hinter die Dünen und das Holz von Praga zurückgezogen , indem sie diese nur mit ihrer Vorijuth be- setzt hielten.

Die Entscheidung am Sonntag 80. Juli.

Die Gefechte des dritten Tages werden fast mehr noch als die der beiden früheren von den verschiedenen Berichten verschieden darge- stellt, je nachdem der Berichterstatter dem oder jenem Flügel naher ge- standen.

Am weitesten von der Wahrheit dürfte sich die Zeichnung Mem- merts entfernen, der auf seinem dritten Blatt ein völlig unmögliches Bild der Aufstellung giebt.

Aber auch Dahlbergs vortreffliche Zeichnung giebt sehr unglaubliche Dinge. Er lässt, während das Heer sich zu neuem Kampf ordnet, schwe- dische Escadronen sub castris et munilionibus hostium scharmuziren, und zwar gegen den Schanzhügel und die nächsten Dünenhöhen, also ganz auf dem linken Flügel des Feindes, dem unfehlbar die brandenburgische Reiterei naher war. Mehr noch tritt im Weiteren sein Bemühen hervor, die Ehre des Tages den schwedischen Waffen allein zuzuwenden.

Die Aufstellung am frühen Morgen ist im Wesentlichen die des vo- rigen Tages nisi quod nonnihil peditum in ulroque cornu disponeretur sagt Dahlberg, nachdem er irrig am Tage vorher alle Infanterie im Cen- trum vereinigt gezeichnet hat.

Die entscheidende Position ist das Holz von Praga mit seinen Re- tranchements. Sowohl die Rel. I. II. u. s. w. wie namentlich der Be- rieht bei Aitzema hebt dessen Bedeutung völlig sachgemäss hervor.

Dieser Bericht charakterisirt die Aufstellung des Feindes so : »die Tartaren und ein Theil der Polen standen in dem Feld, das von dem Holz von Praga rechts ablief also sie hatten das Defite von Kamin besetzt ; ein zweiter Theil der Polen stand in dem Holz selbst, wohl verschanzt; der dritte Theil besonders die Infanterie hinter dem Holz auf Höhen (op een gheberghte) in einigen Forts, die mit Kanonen wohl versehen waren.« Nach diesen drei Positionen des Feindes stellt der Bericht die drei Momente der Schlacht dar, zuerst des Königs »furieusen Anfall« gegen die Tartaren, die sofort Reissaus nehmen, dann Sparrs Erstürmung des Holzes, endlich des ChurfUrsten Vorgehen über die

7&] Die Schlacht von Warschau. 1656. 419

Dünen gegen die Schanzen hinter dem Holz. Der sonst sehr vortreffliche Bericht hat einem gewissen Schematismus zu Liebe die Beziehung der einzelnen Momente zu einander verabsäumt.

Sachlich stimmt mit demselben auch hier Rel. III., aber sie ist min- der schematisch und im Einzelnen genauer. Sie beschreibt die Haupt- stellung des Feindes genau : er sei in jenem Holz von Praga verschanzt gewesen, es habe ein Regiment zu Fuss, etliche hundert Dragoner, auch einige Reiterei darin gelegen, seine meiste Cavallerie und 6 Regimenter Infanterie hätten hinter dem Wald auf einem Berg gestanden, auf dem auch Kanonen aufgepflanzt gewesen seien, die Tartaren aber und einige Polen hätten auf einem Felde, das neben dem Holze lag, in Bataille ge- standen. Diess habe den König veranlasst mit dem meisten Theil seiner Cavallerie und Infanterie auf die Tartaren loszugehen , indessen Sparr auf das Holz avancirt sei.

Nach Rel. I. II. u. s. w. beschliesst der König zwischen dem Wäld- chen und dem Holz von Praga zu avanciren, die Infanterie in die Avant- garde zu nehmen, um mit ihr, der Artillerie und 5 schwedischen Esca- dronen zu Pferd das Holz zu stürmen. Während Sparr, der damit be- auftragt wird, seinen Angriff auf das Holz mit einer Kanonade eröffnet, zieht der Feind seine ganze Infanterie nach dem Wald (in der brand. Bearbeitung steht »aus dem Wald«) und geht mit seiner ganzen Caval- lerie vor, sowohl dem Könige wie dem Churfürsten in die Flanke zu kommen, »derowegen S. K. M. so wohl als S. Cf. D. Cavallerie unter- schiedliche Fronten nach Situation des Ortes , um des Feindes Einbre- chen zu hindern, formiret, dass also an allen vier Ecken Fronte ist for- mirt worden« 47).

Also keineswegs stürmt der König, wie der Bericht bei Aitzema sagt , sofort auf die Tartaren los, sondern alles wird vorerst darauf ge- wandt, dass der Angriff gegen das Holz sicher von Statten gehen kann.

Auch der schwedische Bericht (Rel. I. II.) sagt, dass der Feldzeug- meister Sparr den Auftrag »mit sonderbarer Dexterität und guter dispo- sition verrichtet habe.« »Nachdem Sparr den Wald eine Weile canonirt,« fährt er fort, »ist er mit der Infanterie und 500 commandirten Musketie- ren in den Wald hinein avancirt neben den 5 Schwadronen Reiter,« den schwedischen. Dass diese Angaben irrig sind bemerkt der mehr erwähnte Brief Jenas : Sparr habe nur brandenburgisohes Fussvolk, brandenbur-

420 Jon. Gist. Droysbn, [76

gische Artillerie bei sich gehabt, und sein eignes Regiment unter Oberstl. Moll habe den ersten Angriff gemacht.

Noch eingehender berichtet Aitzema und Rel. III. : »Sparr liess mit den schwedischen und unsern Stücken mit grosser Furie in den Wald spielen, der Feind schoss mit Stücken und Musqueten wieder tapfer heraus; diess wahrte etwa eine Stunde,« bis endlich G.-Bf. Josias Waldeck beauftragt wird, 500 Commandirte unter Oberst Syburg in den Wald zu schicken, den Feind zu attaquiren; so wie dieser im Wald ist (too haest de selve den vyandt soude hebben geengageert tot vechten), rückt Waldeck mit einer andern Escadron hinein an einen Ort des Waldes, wo der Feind zwei Stücke stehn hat; der Feind thut zwar zwei Salven, aber ohne Erfolg ; dann weicht er aus seiner Position ; auch die Reiterei , auf die man trifft, macht Kehrt.

Der Berichterstatter der Rel. III. scheint sich bei diesen Truppen befunden zu haben , wenigstens berichtet er so weiter , als ob mit der Fortsetzung dieses Angriffes alles zu Ende gebracht sei. »Wir verfolgten (jene Reiter) bis auf den Berg, wo G.-M. Waldeck 2000 M. zuFuss nebst einiger Cavallerie und Kanonen fand, wovon derselbe den G. Sparr aver- tirte , der sofort mit etlichen Esquadronen zu Fuss und etlichen Stücken zu ihm kam und den Feind sobald in die Flucht brachte , auch sie her- nach nur mit 500 Commandirten und 200 Reitern bis in die Schanze vor Warschau verfolget« u. s. w.

Der eigenhändige Bericht des Churfürsten giebt einige lehrreiche Bemerkungen mehr. Wie Sparr den Befehl erhält das Holz zu nehmen, geht er mit 1000 commandirten Musketieren und den Stücken auf den Feind, lässt die übrige Infanterie folgen ; aber er muss den Feinden die Seite geben , »und geht um sie herum,« wobei er dann Feuer von Mus- keten und Stücken erhält. Es ist nicht gesagt, ob er dem Feind die rechte oder linke Seite geben muss ; nach Dahlbergs Zeichnung mttsste man glauben, dass sich Sparr die Höhe hinauf, rechts gezogen, dem Feind die linke Seite geboten habe ; aber ist das denkbar , da in diesem Moment noch der Feind unversehrt hinter den Höhen stand , Sparr also den Feind vor sich und in der Seite gehabt hätte? konnte Sparr anders als links hin an der langen Seite des Holzes marschiren , wo er in dem vorgeschobenen königlichen Flügel Deckung gegen einen Angriff von vorn hatte?

Der Hauptstoss Sparrs, den Waldeck führte, ging, nachdem er sich

77] Die Schlacht von Warschau. 1656. 421

längs dem Holz hingezogen , in der Richtung auf Warschau ; verfolgend kommt Waldeck gegen eine Höhe , auf der auch Kanonen stehen , wohl eines der Forts, von denen Aitzema berichtet. Die neueren Karten zeigen auf diesem hinteren Höhenzug Reste eines Schanzwerks, die, wenn es auch aus neuerer Zeit stammen sollte, doch die Stelle bezeichnen, die militairisch wichtig ist.

Mit der Erstürmung des Holzes von Praga ist die Kraft des Feindes gebrochen1. Sofort gehen die beiden Flügel vor, die Niederlage zu vollenden.

Begleiten wir zunächst den Flügel des Churfilrsten. In Relat. I. IL heisst es : wie die feindlichen Musketiere den Wald verlassen , sei der Churfilrst in eigner Person mit sechs Escadronen auf den Berg avancirt, oder wie die brandenburgische Bearbeitung sagt : »sofort auf der rechten Seite auf dem Fuss gefolgt und auf den Berg zu avancirt.« Genauer noch sagt des Churfilrsten eigener Bericht : er sei auf den hohen Sand- berg hinaufgegangen.

An der weiteren Darstellung der Relat. I. II. findet die branden- burgische Bearbeitung vieles zu bessern. Die Relat. I. II. sagen, der Churfilrst habe die auf dem Berg befindliche Reiterei hinunter gejagt, diese sei dann links hin nach dem Morast geflüchtet , wo vorigen Tages die Tartaren sich hinbegeben (also wohl nach Bialalenka), aber von Wrangel und Friedrich Waldeck verfolgt und in den Morast gejagt wor- den, wo sie meist elend umgekommen. Diess alles streicht die branden- burgische Bearbeitung, obschon auch Memmerts Zeichnung diese Flucht in der angegebenen Richtung darzustellen versucht.

Noch weniger billigt die Bearbeitung die weiteren Angaben der Rel. I. IL, dass der Churfilrst sich resolvirt habe, nachdem die feindliche Infanterie ihre Stücke verlassen, auf sie loszugeben ; weil sie aber gleich zu accordiren begehrt, habe der Churfilrst sie nicht water verfolgt, aber wahrend des Unterhandelns habe sich die Infanterie nach der Schiff- brücke retirirt, und sie hinter sich ruinirt.

Jena hat in dem mehrerwähnten Briefe auch auf diese Stelle auf- merksam gemacht; »ich habe dazumal gehört, was zwischen E. Cf. D.

I) Auch der polnische Florus p. 602 schreibt, Sparr habe mit der Erstürmung des Holzes von Praga » in Summa bei dieser Action fast das rechte Hauptstuck der Victoria verrichtet.«

422 Job. Gust. Droysek, [78

und des Königs Bruder (dem Generalissimus) geredet ward und dass, wenn es von diesem nicht divertirt worden wäre , das Fussvolk wohl E. Cf. D. gewesen wäre und nicht über die Brücke hätte kommen kön- nen.« So corrigirt denn auch die brandenburgische Bearbeitung, »der ChurfUrst habe resolvirt auf das Fussvolk loszugehen,« wie auch wohl geschehen und vielleicht nicht das geringste von demselben entkommen wäre, es sind aber S. Gf. D. durch des Königs Bruder davon divertirt worden , so dass die Infanterie dadurch Zeit gewonnen , mit den Feld- stücken sich davon zu machen und über eine Brücke, die sie daselbst gefunden und welche sie hinter sich ruinirt, sich zum Theil zu salviren. Den Schluss corrigirt der ChurfUrst selbst so : »Zeit gewonnen , über einen Morast , da sie nicht wohl verfolgt werden können , sich zu sal- viren, bei welcher reürade ihrer eine grosse Menge geblieben und sammt den Pferden im Morast umgekommen.«

Nur im Detail ist des ChurfUrsten eigenhändige Darstellung ab- weichend. Er sagt : wie er auf den Sandberg hinaufgekommen , habe eine grosse Menge Volks dahinter gestanden ; wie diese gesehen , dass Reiterei und Stücke, auch Fussvolk auf den von ihnen verlassenen Bergen gestanden , habe die Reiterei Reissaus genommen , das Fussvolk aber begonnen in einen Ring durch einander zu gehen ; es sei mit den Stücken auf sie gespielt , gegen sie avancirt worden , aber eine hohe Generalsperson sei gekommen, habe zu zweien Malen für gewiss be- richtet , dass die Infanterie die Hüthe aufgesteckt und um Quartier ge- beten habe ; man möge sie nicht zur desperation treiben. Indessen hätte sich diess Volk über einen Morast gezogen , sei von da der Brücke zu- geeilt und über dieselbe gegangen.

Der ChurfUrst schliesst : »Sparr verfolgte sie , nahm dem Feind die vor der Brücke gemachte Schanze , während drüben von Warschau und von einer Schanze jenseits der Brücke aus canonirt wurde.« Dem ent- spricht Relat. III., wo hinzugefügt, dass der Feind die Brücke in Brand gesteckt habe. Also während der ChurfUrst vor dem Sumpf, der hinter der Dünenreihe liegt, aufgehalten wurde, hatte Sparr das höhere Terrain, das vor dem Südende des Sumpfes liegt, vor sich und konnte ungehin- dert bis an die Brückenschanze nachfolgen.

Die Vorgänge auf dem linken Flügel , dem des Königs , bezeichnet der eigenhändige Bericht des ChurfUrsten in folgender Weise: »Der König setzte die ganze Reiterei in zwei Treffen , das erste blieb wie es

79] Die Schlacht von Wabschau. 1 656. 423

gestanden, das andere wandte sich mit der Fronte um gegen die lithaui- sehe und tartarische Armee, welche dem Bericht nach uns in den Rücken gehen wollten.« Das bezeichnet doch wohl die Aufstellung während des Angriffes auf das Holz von Praga; »nach erhaltener Victoria ist der König dem Feind auf eine Meile weit von der Wahlstatt nachgefolgt.«

Nicht viel bedeutender erscheint die Action des Königs nach der Relat. I. II. »Nachdem des Feindes linker Flügel und Infanterie sich retirirt hat,« ist auch der rechte Flügel schon zur Flucht bereit und macht sich frühzeitig, grösstenteils zwischen Praga und dem nicht weit davon liegenden Wald \ in voller Gonfusion davon. Zwar hat der polnische König die Hailotten mit Gold und Worten animirt, sowohl die Quartianer als auch die Pospolite Rusczenie vom Ausreissen abzuhalten , sie haben es auch anfänglich mit vielem Geschrei zu thun versucht, sind aber end- lich alle miteinander ausgerissen. Der König hat sie zwar verfolgt, aber die Pferde und Menschen , »welche in der dreitägigen Action nichts ge- gessen haben,« sind zu ermattet gewesen, um noch weit nachzusetzen.

Von dem dargestellten Verlauf des Kampfes am Sonntag, der in sich völlig klar und einfach ist, weichen die Angaben, die Dahlberg in den Erklärungen seiner Zeichnung giebt, in auffallender Weise ab.

Die Scharmützel am frühen Morgen, die von schwedischen Schwa- dronen gemacht sein sollen, sind schon erwähnt.

Dann folgt bei Dahlberg richtig der Angriff auf das Holz von Praga, aber er sagt , Sparr und Graf Jacob de la Gardie seien mit demselben beauftragt worden. Graf Jacob stand in dem Corps , das Steenbock an der unteren Weichsel commandirte: von seiner Anwesenheit in der Schlacht von Warschau ist sonst keine Spur : Dahlberg führt ihn nicht unter der Generalität auf, deren Verzeichniss er Blatt 40 giebt. Er sagt ferner, der Angriff sei mit 4200 Commandirten zu Fuss, zwei Brigaden Infanterie und 300 Reitern sub Gollo tribuno unternommen worden. Unter den zahlreichen finnländischen Regimentern giebt es eins unter Obrist Galle, in der Ordre de bataille nennt Dahlberg nur Behrends Finn- länder in zwei Schwadronen.

Darauf bezeichnet Dahlberg das Vorgehen gegen die Sandberge

I ) Inier Pragam et Sylvam ei Vietnam Puf. F. W. , dagegen tnter Pragam et non longe inde süam villam in Puf. C. G. wohl eine blosse Veränderung des Setzers ; ihr ist Stuhr gefolgt.

424 Jom. Gi st. Droysen, [80

rechts vom Holz von Praga : der König habe den Obersten Taube cum cohorte praetoria et aliis formt* vorgehen lassen , der den Feind bis an die Weichsel zurückgetrieben habe. Dass der Ghurfürst in Person diesen Angriff führte, ist durch alle andern Zeugnisse bestätigt.

Dahlberg lässt dann den König mit seinem Bruder an der Spitze des ersten Treffens vom schwedischen Flügel über eben diese Höhen folgen und sich auf das feindliche Heer werfen , das in drei Treffen von der Gegend der Brücke bis über Praga hinauf aufgestellt ist. Von diesem Angriff zersprengt habe sich die feindliche Linie in zwei Theile getheilt und seien die einen dahin , die andern dorthin gewichen reliciis multis caesis captivisque cum signis et tympanis; während dessen habe dasFuss* volk Zeit gewonnen sich über die Brücke zurückzuziehen. Wenigstens dass Prinz Adolph Johann sich hier eingefunden, wird bestätigt durch die Angabe Jenas und die brandenburgischen Berichte , der Prinz den Churfürsten habe abgehalten die polnische Infanterie zu vernichten.

Dann, so fährt Dahlberg fort bei lit. H., versucht der polnische General Pulobinsky * mit 7000 Reitern nach dem Wald von Bialalenka zu entkommen. Ihm schickt der König den Churfürsten und Wrangel mit dem ersten und zweiten Treffen des rechten Flügels nach , die ihrer die meisten niederhauen oder in den Sumpf jagen, und die Zeichnung zeigt bei H. diesen Vorgang zwischen dem Schanzhügel und dem Sumpf dort , innerhalb der Retranchements indessen das dritte Treffen des rechten Flügels bei Brudno steht, den Rücken zu sichern.

In derselben Zeit, heisst es bei lit. I., brechen 1 5,000 Tartaren mit grossem Ungestüm vor, apud vicum Brudnam per angustias viae crasmi (lies evasuri) , gegen sie sendet der König den Pfalzgrafen von Sulzbach mit dem zweiten und einem Theil des dritten Treffens seines Flügels, der sie schlägt und viele Tausende von ihnen tödtet. Die Zeichnung selbst zeigt, dass diess Vorbrechen nicht bei Brudno stattfindet, sondern zwischen dem Holz von Praga und dem Wäldchen ; eine Bewegung, die nichts weniger als die Absicht der Flucht bezeichnen würde ; fliehend hätten sich die Tartaren auf die Strasse von Grochow gewandt; es ist vielmehr ein sehr sachgemässer Angriff auf den linken Flügel der alliirten Armee, um den verhängnissvollen Gang der Schlacht im Centrum und hinter

1 ) Hilarius Polubinsky campestris Lith. notarius , aus dessen regia cohon hatten torum der früher erwähnte Kowalowsky ist. Kochowsky j>. 4 5*.

8J] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 425

den Sandbergen noch zu brechen. Ferner : der Pfalzgraf von Salzbach ist Gen.-Major und führt das erste treffen des schwedischen Flügels; Markgraf Carl Magnus von Baden, der das zweite Treffen führt, ist »Generalleutnant über die Cavallerie« (Rel. I. § 12); soll man glauben, dass Pfalz Sulzbach nicht mitgegangen ist, wenn das von ihm comman- dirte erste Treffen dem Könige und seinem Bruder folgt? soll man glauben, dass der König ihm, dem Gen.-Major, den Gen. -Leutnant der Cavallerie unterordnet?

Den Rest des dritten Treffens vom königlichen Flügel lässt Dahl- berg unter Gen.-M. Hörn, dem auch ein Theil der Infanterie untergeben wird, den Sandberg zunächst am Holz von Praga besetzen, legende* regis tergo. Carlson (p. 151), der »Dahlbergs im Reichsarchiv aufbewahrtem Bericht« folgt , giebt an , dass »als Sparr gegen das Holz von Praga vor- ging,« ihm Hörn und Bülow mit zwei Brigaden zu Fuss und einigen Reiterregimentern gefolgt seien. Also damals standen die schwedischen Brigaden unter Bülow und das dritte Treffen unter Hörn Front gegen das Holz , während das erste und zweite Treffen (Sulzbach und Baden) Front gegen Süden standen. Welche confusen Bewegungen müsste man Angesichts der südwärts stehenden feindlichen Massen gemacht haben, um das erste Treffen rechts nach den Sandbergen hin durchzuziehen? und was bedurfte es einer Reserve auf den Höhen , während die den Pass zwischen dem Holz von Praga und dem Wäldchen haltenden Trup- pen den Rücken der über die Sandberge vorgehenden Truppen deckten?

Der Schluss der Dahlbergischen Schlachtschilderung ist merkwür- diger als alles bisherige. Der Rest des polnischen Heeres hat sich zwi- schen dem Holz von Praga und dem todten Weichselarme von Neuem in drei Treffen aufgestellt, Front gegen Warschau ! Der König , der von den Sanddünen herab gegen die Weichsel vorgedrungen war, bat zu den Schwadronen des ersten Treffens einen Theil derer vom dritten Treffen (Horbs, der in Reserve auf der Düne stand) herangeholt, und geht mit einer Linksschwenkung gegen die polnische Schlachtlinie; es wird auf sie losgestürmt, sie weicht in wilder Flucht, relictis penes Regem gloria, vicloria, machinis, impedimentis, signis et multis servitiorum mülibus.

Auch nicht eine von den übrigen Schlachtdarstellungen hat eine Spur von dieser höchst seltsamen Auffassung, als habe der König, nach- dem er die Mitte der feindlichen Linie durchbrochen, rechts und links schwenkend ihre Flügel vernichtet ; denn auf diess Schema scheint Dahl-

Abhandl. d. K. S. G<*. d. Wtat. X. 20

426 Joh. Gust. Droysen, [82

bergs Anschauung hinaus zu wollen. Er fasste die Dinge so auf, um den König an die Spitze des eindringenden Keiles stellen , um ihm die Entscheidung zuschreiben zu können.

Der Ausgang.

»Sonntag gegen Mittag sind die Polen in die Flucht gebracht wor- den,« sagt Relat. V., und Relat. IV. sagt: »die Schlacht hat fünf Stunden gewährt.«

Der Verlust auf Seiten der Verbündeten wird auf drei bis vier hun- dert, »die gequetscht oder geblieben sind,« angegeben; Relat. IV. sagt: »in allem sind nicht über 300 und selbige mehrentheils unter dem Gestttck geblieben.« Von todten Körpern der Feinde, sagt Rel. I. IL, hat man im Feld und im Morast ungefähr 3- bis 4000 nach der brandenburgi- schen Bearbeitung 5- bis 6000 gefunden.

In einzelnen Momenten der dreitägigen Schlacht zeigt sich, dass es den polnischen Truppen weder an Muth, noch ihrer Führung an richtigen Intentionen gefehlt hat. Aber eben so deutlich tritt es hervor, worin der Gegner ihnen überlegen war. #

Der Bericht aus Sacrozin vom 1 . Aug. (Rel. VI.) hebt besonders »das unaufhörliche Schiessen und Feuereinwerfen, welches die Unsrigen zu erdulden nicht gewohnt,« hervor, und Plathens Bericht an Wittgenstein sagt: »die Canonaden haben das Beste gethan.« Das polnische Heer war offenbar an Artillerie unverh&ltnissmassig schwach , wie denn nach des Churfürsten eigenhändiger Angabe dem Feinde nur 42 Geschütze und 1 Mortier abgenommen , in Warschau dann noch 27 Stück und 1 Mortier erbeutet sind ; denn dass nicht viel über die Brücke zurückge- flüchtet sein kann, versteht sich von selbst. Nach schwedischer Angabe sind »die eroberten Canonen in etwa 50 Stücken bestanden.« 1

Wahrhaft staunenerregend sind die Leistungen der etwa 17,000 Mann der conjungirten Armee. Erst am 28. Juli ein Marsch von vier Meilen, dann ein noch mehrstündiger Kampf bis Mitternacht ; am folgen- den Tage von Sonnenaufgang bis in die sinkende Nacht unausgesetzt Kampf; dann die Nachtruhe von mehrfachen »Allarmen« unterbrochen

«

) Thulden sagt von den Verbündeten : campestrium machinarum multitudine et apparatu iis infarciendo abundabant; von den Polen : mUitaria tormenta majora quae Samoscia ad numerum triginta advexerant.

83] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 427

und vom frühen Morgen an wieder Kampf. Man begreift , dass endlich die Verfolgung »wegen abgematteter iPferde und da in dieser dreitägigen Action die schwedischen und brandenburgischen Völker bei einer sehr grossen Hitze fast nichts genossen hatten« (Bericht No. 8) , nicht sehr energisch war. Mochte man auch des Himmels besondere Huld darin erkennen , dass der Wind sich immer mit den Bewegungen der Verbün- deten änderte und den Feinden den Staub und Pulverdampf ins Gesicht trieb (Rel. I. § 4), das Entscheidende war die tactische Ueberlegenheit auf Seiten der Verbündeten, ihre Disciplin ; an ihren geschlossenen Vierecken, diesen »wandelnden Festungen,« brachen sich die lockeren Haufen der Gegner.

Ueber die Vorgänge unmittelbar nach der Schlacht ist der eigen- händige Bericht des Churfürsten am vollständigsten. Während der König die Tartaren eine Meile weit also nach den Wäldern von Grochow hin verfolgt , geht der Churfürst und Wrangel wieder zurück »nach Praga um zu sehen ob man die Brücke noch gebrauchen könne oder ob es eine Fürth durch die Weichsel gebe ; das Wasser aber ist zu hoch, man muss die Brücke ausbessern ; »unsre Völker sind in voller Arbeit,« schreibt Rel. IV. am 31. Juli aus Praga, »die Brücke, so die flüchtigen Polen hinter sich abbrannten , zu repariren , und hoffen wir noch diesen Abend darüber in die Stadt zu gehen.«

Schon am Sonntag Morgen ist der König und die Königin aus Warschau geflüchtet, »in solcher Confusion , dass sie den kriegsgefange- nen Grafen Benedix Oxenstjerna mitzunehmen vergessen haben.« So der Bericht bei Aitzema, er fügt hinzu : um Mitternacht sei ein Trompeter vom Graf B. Oxenstjerna an des Churfllrsten Garosse gekommen, mit der Meldung , dass der Magistrat von Warschau bereit sei die Stadt zu öffnen; am Morgen des 31sten habe man dann die Leibgarde des Königs und die des Churfürsten übergesetzt die Stadt in Besitz zu nehmen. Aehnlich der Bericht aus Sacrozin (Rel. VI.) : »die churfürstlichen Völker haben sich in Weichselkähnen und Skuten nach der Stadt übersetzen lassen, woselbst sie zwar die Stadt geschlossen und alle Passwege mit Stücken aber mit keinem Volk besetzt gefunden , daher auch der Rath und die Bürger, um sich vor gänzlichem Ruin zu erhalten , die Schlüssel der Stadt dem Churfürsten übergeben und dessen Besatzung ange- nommen.«

Etwas abweichend der Bericht des französischen Gesandten; Lc

29»

428 Joh. Gust. Droysen, [84

Roy de Pologne se trouva des premiers aux ocasions et des demiers ä la relraicte; apres avoir fait rompre wie partie dupont, il laissa trois ou quatre regiments d'infanterie pour la garde de place, mais depuis ayant considere la foiblesse de cette ville il en retira la gamison , cequi obligea les bourgeois ä aller offrir leurs clefs au Roy de Suede, qui y est entre quelques jours apres.

Nachdem die Brücke hergestellt ist (Montag Abend den 3 1 . Juli), beginnen die Regimenter hinüberzugehen. Es kommt Nachricht, dass sich 40 «50,000 Polen bei Gzersko fünf Meilen oberhalb Warschaus ge- setzt haben; Karl Gustav gehl noch am 1. Aug. ihnen nach, kehrt aber folgenden Tages zurück, ohne sie dort gefunden zu haben. Am 5. Aug. ist der Uebergang des Heeres auf die Ostseite der Weichsel vollendet. Der französische Gesandte deLumbres wird ersucht, sich zum König von Polen zu begeben und von Neuem Unterhandlungen anzubieten (Aitzema).

Die polnischen Angaben.

Dass sich in den Augen der Polen der Verlauf der Schlacht sehr anders darstellte, liegt in der Natur der Sache. Die Berichte, die uns vorliegen, sind leider so wenig militairischer Natur, dass wenig aus ihnen zu lernen ist. Auch der Barckmanns (Beil. 11) erläutert nur den Anfang des Kampfes.

Nur Des Noyers giebt einige Punkte, die wenigstens erkennen lassen , wie man sich in der Umgebung der Königin den Verlust der Schlacht erklärte. Wir müssen ihn bis zum Mittag des 29. Juli zurück- begleiten.

Zweimal, sagt er, hatten die Polen den Feind geworfen ; und wären sie hinreichend von den Escadronen unterstützt worden , die es hätten thun sollen, so würden sie zum Handgemenge gekommen sein, und das war alles was sie wünschten. Aber gerade das wollten die Schweden vermeiden und zogen sich in den Wald zurück, wo sie durch die Ueber- legenheit ihrer Artillerie und Infanterie geschützt waren. Des Noyers schliesst unmittelbar hieran, ohne vorher oder nachher die Gefechte vom 29sten Nachmittags zu erwähnen, eine sehr merkwürdige Angabe in Be- treff der Tartaren. Ihrer sind nur 5000 bei der Schlacht gewesen, indem die andern theils bei Czersko mehrere Meilen oberhalb Warschau , theils bei Nowodwor standen. Der Aga rieth dem Könige, es nicht zu einer Generalaction kommen zu lassen : der Feind habe nur auf drei Tage Proviant bei sich, leide an Wasser Mangel ; gegeq^eine festgeschlossenen

85] Die Schlaft von Warschau. 165(5. 429

Vierecke , chateaus marchanls nennt er sie , müsse man nur mit Reiterei agiren ; der König möge seine Infanterie und Artillerie zurückziehen, die Tartaren und die Cavallerie den Feind umschwärmen lassen, ihn ein- wickeln, ihn aushungern. Diesem heilvollen Plan gab der König seine Zustimmung , mais le destin de la Pologne ne le permit pas , und der Adel Polens, der glaubte, dass man aus Feigheit diesen Entschluss fasste, be- gann mit der Nacht von dannen zu gehen.

Das ist also die Nacht vom Sonnabend zum Sonntag. Am Morgen des Sonntags , als sich der Nebel gesenkt , will man gegen 5 Uhr den Kampf beginnen , mais dejä ä la faveur des brouillards tonte la noblesse polonaise s'enfuyait. Vergebens stellt der König selbst mit dem Degen in der Hand die Reihen auf, vergebens bittet und beschwört er die ein- zelnen , vergebens setzt er sich selbst dem heftigsten Feuer aus. Wie der Kampf beginnt, macht der ganze Rest dieses Adels Kehrt und bringt mit seiner Flucht den Rest der Armee in Unordnung. Die Schweden gehen trotzdem nur langsam vor, sie lassen die Flüchtigen an sich vorübereilen ohne sie zu verfolgen oder auch nur eine Pistole auf sie abzuschiessen. Johann Casimir , voyant le desordre si grand taut pour la petitissc de Heu , tant pour la terreur oii itait touie cette noblesse , lässt die Infanterie und die Quartianer sich zurückziehen, theils über die Weichsel- brücke, theils mit den Tartaren. Dass die Schweden in so fester Ord- nung blieben ohne zu verfolgen, davon war der Grund, dass sie die Tar- taren hinter sich hatten, die sie fürchteten.

Des Noyers führt später noch an : dass die Tartaren während des Gefechtes , als sie die Polen fliehen sahen , die beiden Dörfer Praga und Skariczowo anzündeten , damit die Schweden sich ihrer nicht bemäch- tigten , dass man eben so die Brücke angezündet habe , damit sich der Feind nicht der Schiffe bemächtige und eine neue Brücke mache.

Im Casimir Roy de Pologne p. 62 ff. stehen ähnliche Dinge zu lesen, aber verbunden mit dem höchsten Preise der polnischen Tapferkeit. Auch da zieht sich (also Sonnabend Mittag) der Schwedenkönig dans un bois pour se mellre ä couvert du canon, auch da der Wassermangel, aber erst am Sonntag Morgen wird er erwähnt. Hätte man, sagt der Verf., diesen Um- stand benutzen wollen, sich verschanzt und in der Defensive gehalten, so würde man den Feind ohne alle Mühe haben vernichten können ; mais la fierte naturelle de cette nation leur fit m&priser un avantage si conside- rable ne voulant devoir la victoire qua leur courage. Der Grosskanzler

430 Job. Gust. Dioysen, [86

von Polen habe dem Könige gerathen, die Bagage nach Warschau zurückzuschicken, afin de mieux combatire; aber diese Vorsicht er- schreckte die Truppen , so dass sie nicht mehr mit dem früheren Muth kämpften. Vergebens gab der König das Beispiel bewunderungs- würdiger Tapferkeit, die Flucht riss unaufhaltsam alles hinweg u. s. w. Zum Schluss folgt dann die merkwürdige Geschichte vom Kampf am vierten Tage : Charnezki avec les Tarlares et ce quil avoit ramasser des Fuyards , le batit le quatrieme jour et an peut dire que la perle fut presque egale et que le Roy de Suede eut seulement l'honneur du champ de bataille qui luy demeura.

Dass Tiiulden mit dem Verf. des Casimir Roy de Pologne in Betreff dieses Gefechtes am vierten Tage zusammenstimmt, ist früher erwähnt; aber Thulden nennt Sapieha, nicht »Caesarneckius,« als denjenigen, der den Angriff veranlasst habe. In der Nacht vom Sonntag zum Montag, sagt er, habe Sapieha mit den Scythen sich verabredet, zuerst seien die Scythen vorgegangen, hätten das Dorf Praga an drei Stellen in Brand gesteckt, dann seien sie und Sapiehas Lithauer in geordneten Reihen (rectis ordinibus) gegen den Feind vorgerückt und hätten stark und glücklich gegen ihn gekämpft, auch einen Theil der Geschütze, die von dem Feind in den Schanzen genommen worden seien , wieder gewonnen : cominus pugnabatur tanta conteniione ut non modo Lilhuani tormenta ea quae amiserant recipercnt , verum etiam Suedo sua e manu extorquerent secumque abducerent.

Man wird wohl annehmen dürfen . dass der von Des Noyers er- wähnte Brand der beiden grossen Dörfer Praga und Skariczowo der Kern zu dieser Geschichte vom Gefecht des vierten Tages gewesen ist ; und wenn unsre Vermuthung richtig ist , dass eine Danziger Zeitung die Quelle war, aus der Thulden geschöpft hat, so ist sehr leicht zu sehen, wie aus den ersten nach Danzig gelangten Gerüchten vom Brand Pragas nach der Schlacht jene Geschichte combinirt werden konnte.

Von Thuldens Angabe über die Gefechte der ersten Tage ist es nicht der Mühe werth eingehend zu handeln; sie lassen kaum ungefähr den entschei- denden Moment erkennen, und geben auch nicht ein neues Moment, man müsste denn dafür die Angabe nehmen wollen, dass die Polen am zweiten Schlachttage sich ganz iv der Defensive hätten halten wollen: castris se teuere neque in hostes eruptionem faeere sed vim tanlum a se defendere oplimum ducebant; wir wissen, dass diess entschieden nicht der Fall war.

87] Die Schlacht von Warschau. 1656. 431

III. Die mil itairisch-politischen Zusammenhänge des

Feldzugs von 1656.

Die Schlacht von Warschau ist nach ihrer Dauer und nach der Masse der Streitkräfte , die auf dem Kampfplatz waren, eine der bedeu- tendsten jener Decennien , die des grossen deutschen Krieges mit ein- geschlossen. Um so auffallender ist die geringe politische Wirkung, die sie nach dem Urtheil der Zeitgenossen hat. Minor ejusdem fructus quam pro gloria fuil, sagt Pufendorff C. G. ///. 28 und DesNoyers schreibt am 5. Sept. : *La derniere victoire du Roi de Suede lui sera bien plus domma- geable qu? utile.« Selbst im Casimir Roy de Pologne heisst es p. 65 quoy- que cette perle fut assez considerable Charles rien tira pourtant pas bcau- coup d'avantage.

Allerdings ist die Wirkung der Schlacht gering, wenn man nur Polen und Schweden ins Auge fasst. Aber ihre Bedeutung liegt nicht in der Alternative: entweder Schweden oder Polen; man könnte sagen ihre Entscheidung laute : weder Schweden noch Polen.

Unzweifelhaft war Karl Gustav unter den Feldherren , die aus der blutigen Schule des dreissigjährigen Kriegs hervorgegangen waren, einer der grössten ; man wird keinen zweiten finden, in dem sich mit gleicher Leichtigkeit und Unerschöpflichkeit militairischer Conceptionen, mit glei- cher Genialität der Heeresführung so wilde Gewalt des Wollens, solche Leidenschaft und »Thürstigkeit« des herrischen Geistes, solcher Cynismus der Waffengewalt verband. Unter seiner Führung war der Soldat gewiss zu siegen; seinen Gewaltstössen widerstand auch doppelte und drei- fache Uebermacht nicht. Mehr als einmal wagte er Unglaubliches, und das Unglaublichste gelang ihm nur um so sicherer. Des Noyers charak- terisirt ihn vortrefflich, indem er sagt: l'action la plus imprudente de loute sa vie est sa venue ä Varsovie il eioit impossible qu'il echappait, et sa folle l&miritb Va fait triompher.

Aber sein militärisch staunenswürdiger Krieg in Polen zeigt, dass er in der Politik ein Epigone war.

Verfolgt man die verschiedenen Projecte , die ihn in Betreff Polens beschäftigt haben , so erkennt man , wie er umhertappt ; er kämpft und erobert ohne ein bestimmtes politisches Ziel , ohne einen schöpferischen Gedanken : er will nur schlagen und immer nur schlagen. Der Krieg ist

432 Jon. Gust. Deoyskn, [88

ihm nicht Mittel , sondern Zweck ; er kennt ihn und versteht ihn nicht anders als wie die Krone Schweden so bald nach Gustav Adolphs Tod sich gewöhnt hat ihn in Deutschland zu führen, als ein Mittel den Kriegs- staat zu ernähren und fort und fort zu mehren, mag aus dem fremden Land und Volk darüber werden was da will. Der Krieg ist ihm nicht der Weg, eine neue dauernde sich in sich selbst tragende Zuständlich- keit zu schaffen, sondern der eigentliche Zustand, der Beruf, die dau- ernde Beschäftigung, die er für sein Volk sucht. Vielleicht erkannte oder glaubte Karl Gustav so und nur so der mächtigen Spannungen im In- nern seines Staates Meister bleiben zu können ; nur dass diese selbst in dem Maasse wuchsen als man Adel und Volk durch den Ruhm, die Beute, die Demoralisation soldatischen Herrenthums überreizte.

So gewiss die Zustände des alten Europa, die im dreissigjährigen Kriege zusammenbrachen, unhaltbar geworden waren, gleich denen des achtzehnten Jahrhunderts, denen die französische Revolution ein Ende gemacht hat, eben so gewiss ist, dass dort so wenig der Krieg wie hier die Revolution das neue Princip war, dessen die Welt bedurfte, nach dem sie suchte und rang.

Der grosse deutsche Krieg hatte die alte Staatsweise der ständi- schen Libertät gerichtet. Noch stand sie in Polen in breitester Wucher- ftille da ; der schwedische Krieg kam über die Republik, das gleiche Ge- richt zu vollziehen; bei dem ersten Ansturz Karl Gustavs brach sie zu- sammen. Aber eine neue lebensvolle Form verstand weder er ihr zu geben, noch sie selbst, indem sie sich erhob, sich zu schaffen ; sie wusste und wollte nichts als die Rückkehr zur alten Libertät.

So war es möglich und an der Zeit, dass sich zwischen beiden und auf Kosten beider eine neue Machtbildung erhob, eine Monarchie, welche die Libertät eben so wie den Kriegsstaat überholte und in ge- bührende Schranken wies, welche nicht bloss herrschte sondern regierte.

Auch Russland, auch Dänemark erhoben sich ; aber während in Dä- nemark mit der Gründung der lex Regia von 1 660 nur der »Lakayismus« an die Stelle der Libertät trat, und in Russland die nur nach Aussen ge- wandte Macht das innere Leben lähmte und erschöpfte, wuchs der Staat des grossen ChurfUrsten gleichen Schrittes an Kraft im Innern und Macht nach Aussen. Auf ihn gravilirte fortan die baltische Politik ; er fand den Weg , auf dem er für Deutschland und für Europa wichtig und unent- behrlich wurde; er fand seine Aufgabe. Denn da, in der baltischen

89] Die Schlacht von Warschau. 1656. 433

Frage, an den Küsten der Ost- und Westsee liegt die Lösung der deut- schen Frage, nicht in Frankfurt, in der Mainlinie, im deutschen Parla- ment oder ähnlichen Palliativen. Und mit tiefstem Verstündniss dessen, was die Zukunft bestimmen werde, hat Friedrich der Grosse in seinem iestament politique von 1752 gesagt, wenn Preussen Danzig besitze, dann müsse es sich eine Flotte bauen.

So viel zur aUgemeinen Orientirung.

Die Erhebung Polens.

Wir sahen, wie rasch Karl Gustav im Feldzug von 1 655 Polen er- obert hatte. Wahrend Johann Casimir nach Schlesien flüchtete , hatten sich die Bischöfe, die Magnaten, der Adel, die Quartianer unter Potocky, Koniecpolzky , anderen Generalen freiwillig unterworfen und gehuldigt ; nur der tapfere Czarnecky hielt noch die Sache seines Königs. Karl Gu- stav durfte sich als Herrn der Republik ansehen ; er liess Münzen prä- gen auf denen er sich protector Potaniae nannte (Des Noyers 12. Dec. 1655). Mit dem Ausgang des Jahres eilte er nach Preussen, um den letzten Magnaten der Republik , den Churftlrsten , im Welauer Vertrage zur Unterwerfung zu zwingen.

Aber eben da begann die Wendung der Dinge ; rasch folgte der Abfall des Adels und Volkes, des Heeres, die Rückkehr Jobann Casimirs aus Schlesien. Karl Gustav brach im Winter aus Preussen auf, eilte die Weichsel aufwärts bis Sendomir und Jaroslaw, die überall sich bildende Insurrection zu erdrücken, die Vereinigung des Aufstandes im Süden, Westen und Osten der oberen Weichsel zu hindern ; es gelang ihm nicht mehr. Die lithauischen Quartianer unter Sapieha, die wieder abgefalle- nen Grosspolen unter Potocky, die Heerhaufen Czarneckys vereinigten sich; auch Lubomirsky dachte jetzt nicht mehr daran das Königthum in Polen abzuschaffen und ein Regiment der Magnaten zu gründen, er eilte mit seinem Anhang zu Johann Casimirs Fahnen ; der lilbauiscbe Unter- Schatzmeister Gonsiewsky, der mit Radzivil übergetreten war und sich in Königsberg aufhielt , verliess verkleidet die Stadt und eilte zur polni- schen Armee. Nach dem Verlust Sendomirs musste Karl Gustav wei- chen und Krakau dem Muth seines Generals Wirth überlassen. Er ging auf Warschau zurück ; auch da war es unmöglich Halt zu machen ; er überliess die Verteidigung der Stadt, die erst befestigt werden musste,

434 Joh. Gdst. Droysen, [90

dem General Wittenberg 9 Hess einen Theil seines Heeres in der Stellung bei Nowodwor unter seinem Bruder, mit der Weisung sich dort zu ver- schanzen und Ober Bug und Weichsel Brücken zu schlagen. Er selbst ging nach Preussen, um die Weichsellinie, Thorn, Marienburg, Elbing zu sichern.

Mit dem Ausgang April halten die Schweden im eigentlichen Polen nur noch die Städte Krakau, Warschau, Posen, ein Paar Festen zwi- schen Krakau und Warschau ; alles Land umher war in der Gewalt des Polenkönigs oder in Waffen gegen Schweden, voll Hass und Wuth gegen den , dem man sich vor Kurzem unterworfen hatte. Schon stand auch Lithauen auf. Gzarnecky drang gegen Posen und Gnesen vor, sandte Zamecky weiter, Pomerellen zu occupiren und die Verbindung Schwe- dens mit Stettin und den Odermündungen zu zerreissen. Die Lithauer unter Sapieha, dem Palalin von Witepsk, belagerten Warschau und mit erdrückender Uebermacht zog Johann Casimir heran, seine Residenz wieder zu nehmen. Schon war ein Tartarenheer auf dem Wege ihn zu unterstützen und fluthete bis an die preussischen Grenzen schweifend auf Warschau heran. Der Adel in Masuren und Podlachien , zwischen der preussischen Grenze und dem Bug, erhob sich, zunächst Tycozin zu belagern, die Feste des Fürsten Boleslav Radzivil, der auf schwedischer Seile geblieben war; mit derlnsurreclion hier war die nächste Verbindung mit Lithauen geöffnet. Dort war bereits der Grossfürst von Moskau, jetzt ein Verbündeter Polens , eingerückt , dessen Heere zugleich Ingerman- land, Liefland überschwemmt, Dorpal, Dünaburg eingenommen hat- ten, sich an der Düna abwärts nach Riga wälzten.

Mit jedem Tage wurde die Schwedenmacht enger umschnürt, ihre Verbindung mit der See schwerer bedroht. Noch stand das mächtige Danzig ungebeugt ; es nahte eine holländische Flotte die Stadt zu sichern und dem schwedischen Dominium maris Baitici fllr immer ein Ende zu machen.

Für Schweden erhob sich niemand ; der Protector von England gab schöne Worte, aber leistete nichts ; und Frankreich, nur gegen das Haus Habsburg in Spanien und im Reich gewandt, wollte weder Polen sinken noch Schweden zu mächtig werden lassen ; es mühte sich ab hinzuhal- ten und zu vermitteln. Es gab nur einen Fürsten , der nahe genug und militärisch stark genug war helfen zu können, den von Brandenburg.

Wir haben die Frauenburger Verhandlungen schon oben bespro-

9*] Die Schlacht von Warschau. 1656. 435

chen. Der Churftirst hatte durchaus nicht das Interesse den Abschluss zu beeilen , auf den Karl Gustav brannte ; er suchte zwischen den beiden Kronen zu vermitteln. Von ihm ging der Vorschlag aus , zu dem sich auch Karl Gustav bereit erklären musste, den de Lumbres an Johann Casimir überbrachte : de faire changer son royaume en monarchie höredi- laire avec pouvoir d'en disposer pour qui bon luy sembleroit s'il se vouloit joindre avec eux.

Die kluge und stolze Königin trug sich wohl mit ähnlichen Gedan- ken; aber um keinen Preis meinte sie dem »Usurpator« der schwedi- schen Krone das Geringste nachgeben, dem abtrünnigen Vasallen im Herzogthum Preussen irgend etwas danken zu dürfen. Der Enthusias- mus , mit dem sich Polen erhob , gab ihr die Zuversicht grössler Erfolge und ersehnter Rache.

Nicht die Versprechungen des Schwedenkönigs , sondern die Dro- hungen der Polen bestimmten den Churfürsten die Waffen zu ergreifen.

Er hatte gleich beim Beginn des Krieges dem Polenkönige sich zu jeder Hülfe bereit erklart, namentlich mit den Ständen im königlichen Preussen gemeinsam den Schutz des Landes zu übernehmen sich ver- pflichtet ; er war mit Heeresmacht an der untern Weichsel, als Karl Gu- stav über Posen nach Warschau vordrang ; er forderte Johann Casimir auf, das Kriegsaufgebot im polnischen Preussen mit der brandenburgi- schen Armee sich vereinigen zu lassen. Aber die Stände in Preussen waren und blieben »ohne Rath und in Confusion , in zerschnittener Mei- nung ;« und vom Könige und etlichen Senatoren kamen Schreiben an die Städte und Woywoden des Weichsellandes , dem Churfürsten nicht zu trauen, nirgends seine Truppen in die Städte zu lassen1. Dann als Johann Casimir bereits landflüchtig und sein Reich in des Schweden Ge- walt war , hatte er dem Churfürsten die Souveränetät des Herzogthums Preussen angeboten , wenn er gegen Schweden eintreten wolle. Sollte der Churftirst sich und seinen »Staat« in die schlechte Concursmasse der Republik werfen ? sie war nichts mehr , der Abfall des polnischen Hee- res und Adels verdoppelte Karl Gustavs Heer ; mehrere tausend Quar- tianer zogen mit nach Preussen , den Churfürsten zur Unterwerfung zu

\ ) Aus der sehr merkwürdigen Brochure : Eines getreuen preussischen Patrioten eylferlige Interimsbeantwortung derer dreizehn Motiven , welche im vergangenen Mo« nat alihie in Danzig bey Philipp Christian Rhat gedruckt worden «657.

436 Ion. Gust. Droysen, [9«

zwingen. Als diese Uebermacht das Herzogthum überschwemmte, als sie endlich vor den Wällen von Königsberg stand, da konnte der Chur- fllrst nicht anders als den Vertrag von Welau annehmen.

Dass diess geschehen, dass der Churfilrst 1 500 Mann dem neuen Lehnsherrn nach dem Vertrage stellte , darüber war in Polen sofort die grösste Erbitterung ; sie wuchs in dem Maasse als die Erhebung weiter schwoll und Zuversicht gewann. Warum auch that der Churfilrst nicht gleich den Potockys und Koniecpolskys, die ja auch ein Treueid an Karl Gustav band, nicht gleich dem lithauischen Unterschatzmeister, der ihm so dringend zum Welauer Vertrage gerathen hatte {vehementer suaserat Puf. VI. 30) und nun einen Theil der lithauischen Armee commandirte? Man sprach am Hofe und im Heer Johann Casimirs vom Churfürsten als von einem Abtrünnigen , dem man den Process machen müsse ; Jobann Casimir forderte drohend in einer Frist von drei Tagen seine Rückkehr zum Gehorsam (pro imperio exigebat ut sub perduellionis poena intra tri- duum relictis Suecis Polonico exercitui sese jung er et).

Vergeblich waren die Vorschläge die der Churfilrst machen liess, die Mahnungen des französischen Gesandten; ce Roy riy a pas voulu prexter Vor eilte. Es wurde der polnische Oberjägermeister Georg Mai- dell nach Königsberg gesandt , die früheren Forderungen zu wiederho- len (satis imperiose postulabat. Puf.), zugleich Mandate an die Stände des Herzogthums Preussen zu überbringen, die sie verpflichteten dem Chur- ftlrsten allen ferneren Gehorsam zu versagen. Schon vorher waren Briefe aufgefangen , die dem Gen. Zamecky befahlen »des ChurfUrsten deutsche Lande mit Feuer und Schwert zu verwüsten« x. Und in den ersten Junitagen brachen Zameckys Schaaren in die Neumark und Hin- terpommern ein (Puf.). Zugleich wurden Tartarenschwärme »von Polen geführt,« in das Herzogthum Preussen geworfen, »wo von ihnen viele Ackerleute gefesselt und in Dienstbarkeit abgeführt worden sind« (Bei- lage 8).

4 ) So der Anfang des in Beilage 8 abgedruckten Berichtes. Das Schreiben des Churfürsten an den Polenkönig, das Puf. VI. 33 hat, muss damals, wohl von branden- burgischer Seite als Rechtfertigung, veröffentlicht worden sein, denn Thulden p. 278 führt daraus die Worte an : pari $e semper studuisse .... jetzt sei er gezwungen sich mit den Schweden zu verbinden cum non modo constans rumor afferat Caesarnerium in Prussiam hostilia moliri, verum etiam in mandatis eum ab Reg. Mte accepme ut id fariat interceptae a suis literae testentur. Der Brief ist vom t/1 \ . Juli.

03] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 437

»Was konnte S. Cf. D. nun anders thun als um sich und dero von Gott anvertraute Lande wie auch mithin das Römische Reich von Gefahr und Desolation zu befreien, diejenigen Mittel, so noch übrig, zur Hand zu nehmen« (Beilage 8). Wahrend in Marienburg der Vertrag zwischen Schweden und Brandenburg sehr rasch zu Ende verhandelt wurde, hatten beide Fürsten eine persönliche Zusammenkunft in Preus- sisch Holland (17/27. Juni), das gemeinsame weitere Verfahren gegen Polen festzustellen.

Aber gleich darauf (21 . Juni 1 . Juli) hatte Graf Wittenberg in War- schau capituliren müssen; der Besatzung ward freier Abzug gewährt, aber ihn selbst und andere hohe Officiere führten die Polen gefangen nach Zamosc ; nur Benedict Oxenstjerna liess man , da er schwer er- krankt war, in Warschau zurück.

Der Anfang des brandenburgischen Kriegs1.

Nach dem Fall Warschaus hatten die Polen vordringen, sich na- mentlich auf das Lager von Nowodwor werfen müssen2, bevor die schwedische und brandenburgische Armee sich vereinten und dem Prin- zen Adolph Johann einen Rückhalt boten. Der Prinz selbst fürchtete, dass der Feind ihn überfallen und erdrücken werde ; er fragte bei sei- nem königlichen Bruder an , ob er nicht die Position aufgeben und nach Thorn zurückgehen solle ; er erhielt den Befehl zu bleiben. Der Ver- such, den die Polen machten, vom linken Weichsel ufer her die Brücke, die zum Lager führte, zu nehmen, wurde mit zu schwachen Mitteln un- ternommen und mit schwerem Verlust zurückgeschlagen.

Am 8. Juli N. St. kam Karl Gustav mit ein Paar tausend Mann von der untern Weichsel herauf nach Nowodwor. Sofort schrieb er dem Churfürsten (Berl. Arch.) : er möge eilen ut nostras quoque utrinque vires quantocyus congregemus et armi$ et coimliis conjunctis non vero separalim agamus. Er meldet ihm die Stellung des Feindes : der grösste Theil der polnischen Streitkräfte sei bei Warschau vereinigt , das lithauische Heer unter dem Palatin Sapieha stehe bei Praga ; Czarnecky sei, sobald er er-

\) Diesen Ausdruck »brandenburgischer Kriege braucht Rudausky, er scheint der in Polen damals übliche gewesen zu sein.

2) So Passes Denkwürdigkeiten p. 8; dass es nicht geschehen, nennt er »eine unkluge Anordnung. «

438 Job. Gust. Dboysen, [9*

fahren, dass bei Sacrozio eine Brücke über die Weichsel gelegt sei, auf die linke Seite des Stromes gegangen und stehe bei Warschau ; so seien die beiden Theile des feindlichen Heeres getrennt ; er gedenke gegen die Lithauer und die von den Polen bei Praga geschlagene Brücke einen Handstreich zu versuchen (aliquid tentare).

Folgenden Tages schreibt der König (Bert. Arch.). dass er im Be- griff sei »über die Weichsel« zu gehen. Also sein Plan ist geändert, er will jetzt nicht auf die Lithauer , sondern auf Czarnecky seinen Angriff richten. Sollte das geschehen , so war vor Allem wichtig, dass die Na- rewlinie gesichert werde , damit der Feind nicht in nostri exercitus ab- sentia gegen das Herzogthum vordringe. Am Narew »18 Meilen« auf- wärts von Nowodwor liegt Tycozin, eine Festung des Fürsten Bogislaw Radzivil ; sie war jetzt von dem Adel Masoviens und Podlachiens bela- gert. Der König besorgte , dass die Feinde den Narew bei Ostrolenka oder Pultusk überschreiten könnten ; da Gefahr im Verzuge sei und der Churfllrst vielleicht noch Hindrung habe , so habe er vorgezogen einige Regimenter (unter Radzivil und Douglas) nach Tycozin zu schicken, zu* gleich auf dem Marsch alle Brücken und Schiffe zu zerstören; er fordert den Churfllrsten auf mit seinen Truppen, die unter Oberst Wallenrodt (bei Johannisburg) lägen, Douglas in itu et reditu zu decken, 800 bis 1000 Dragoner nach Ostrolenka zu senden.

In der That versuchten die Polen dort durchzubrechen. Mit jedem Tage wuchs in Warschau die Zuversicht und die Wulh gegen den Chur- fllrsten. König und Königin , imaginaria foriuna elati, wie Karl Gustav schreibt (13. Juli), wiesen alle Erbietungen, die der französische Ge- sandte machte , zurück ; sie weigerten sich namentlich den Churfllrsten mit in die Verhandlungen über ein accorntnodement aufzunehmen, ä cause qu'il est leur vasal (de Lumbres Schreiben vom 9. Aug.).

Am 1 3. Juli meldet der König , es sei Nachricht gekommen, dass der Feind (unter dem Grossmarschall Lubomiersky, unter dem Gon- siewsky stand) vorgehe, zwischen Pultusk und Ostrolenka in nosiros eruplionem facere ; er bittet dringend Wallenrodt »oder wen sonst« zur Deckung vorgehen zu lassen, vor Allem aber selbst recht bald heranzu- kommen : quamdiu nostras utrinque vires separatim stare et in unum non coivisse senserint, haud dubie nihil de illo animi tumore remittent.

Man war schwedischer Seits sehr entfernt, dem Churfllrsten zu trauen ; man glaubte, dass er immer noch mit Johann Casimir verhandle.

95] Die Schlacht von Warschau. 1656. 439

In einem viel spatern Schreiben (6. Decb. 1 657) sagt der König : quod plane eos latere non potuit qui videbant quae subinde miscebantur per Ge- orgium Maydel et cum proteclo iunc etiam Gomievio ogebantur. Also auch jetzt noch, so glaubte man, Heimlichkeit mit Gonsiewsky, der gegen den Narew vorrückte.

Man wird sehr beruhigt gewesen sein, dass der Churfürst endlich heranzog , am 1 1 . Juli jenes Schreiben an den Polenkönig erliess , das seine Conjunction mit den Schweden aussprach , den 1 4. Juli die pol* nische Grenze überschritt ; er stand nun bei Schrinsky, nur einen Marsch von Nowodwor entfernt.

Der König brannte darauf die Offensive zu ergreifen. Die Brücke bei Warschau, schreibt er 16. Juli dem Churfürsten eigenhändig und deutsch, ist bei dem hohen Wasser gebrochen, eine neue Brücke »unter- halb der Stadt« erst angefangen und nicht sobald fertig. Die lithauische Armee steht getrennt von der übrigen , »welcher ich gewiss vermeine man etwas könne beibringen, dieweil man den Bug oberhalb bleiben kann , wenn man den Narew erst passirt.« Also die lithauische Armee stand zwischen Bug und Narew ; wir entnehmen aus Des Noyers Brief vom 20. Juli, dass nur 10,000 M. bei Praga (unter Paul Sapieha) geblie- ben; die übrigen 20,000 M.(?) unter Lubomiersky standen am rechten Ufer des Bug. Dort also wollte sie Karl Gustav, den Narew oberhalb seiner Einmündung in den Bug überschreitend , getrennt von dem Hauptheer überfallen.

Noch war Douglas von Tycozin nicht zurück ; war die lithauische Armee ausgesandt ihn abzuschneiden ? Des Noyers sagt : Gonsiewsky sei mit 2000 M. abgesandt worden pour empecher le secours de Tycozin, que Douglas conduisait; aber, fügt er hinzu, il arriva irop tard. Der König meldet am 1 8ten, dass Douglas Tycozin glücklich entsetzt habe, dass er auf dem Rückmarsch sei und folgenden Tages eintreffen werde. Er kam unversehrt an.

Gonsiewsky rückte vor , als Douglas vorüber war ; am 23sten ist im schwedischen Lager die Nachricht, dass er Ostrolenka besetzt habe, Pultusk einschliesse. Sofort eilt der König (24. Juli) in eigner Person »mit einer starken Parthie« Schweden und Brandenburgern den Narew aufwärts. Gonsiewsky zieht sich bei seinem Herannahen schleunigst von Pultusk und »über den Bug auf Warschau« zurück. Am 27. Juli ist der König wieder im Lager.

440 Job. Gust. Däoysen, [96

Bis zu diesem Tage hatte der Churßtrst noch gezögert den letzten Schritt zu thun, den, sich mit dem Könige vollständig zu conjungiren d. h. die entscheidende Offensive möglich zu machen. Er hatte gehofft, dass man in Warschau endlich zur Besinnung kommen, »sich endlich zum Frieden bewegen lassen werdea (Rel. I. § 5). Das Schreiben des Polenkönigs vom 25sten, das des Gnesner Erzbischofs vom 24. Juli konnten ihm zeigen, dass es eines schärferen Druckes bedürfe, den Uebermuth der Polen zu brechen. Am 27. Juli erfolgte die »Conjunction.«

Halten wir einen Augenblick inne. Die militairischen Bewegungen in den vier Wochen , die seit dem Fall von Warschau verflossen waren, zeigen auf das deutlichste die geistige Ueberlegenbeit Karl Gustavs, die Schwäche der polnischen Uebermacht. Acht Tage lang steht das Häuf- lein Schweden in Nowodwor, so schwach, dass der Generalissimus selbst verzweifelt sich halten zu können, nach Thorn zurtickgehn will ; aber die Polen lassen ihn ungestört. So wie Karl Gustav angekommen , beginnt er rechts und links hinaus zu schlagen ; am 1 1 . Juli streift Bttlow bis Blonie , südwestlich von Warschau, den Polen den Marsch nach Thorn zu verlegen ; zugleich eilt Douglas und Radzivil Tycozin zu entsetzen ; dann folgt des Königs Zug den Strom hinauf, den Feinden das Durch- brechen nach Preussen zu hindern. Karl Gustav versteht es die unschlüs- sigen Gegner bald da bald dort zu Überraschen; er weiss sie hinzu- halten, bis die Conjunction ihn in den Stand setzt den entscheidenden Stoss zu flihren.

Auf polnischer Seite scheint man sich immer noch nicht stark genug su fühlen ; man wartet noch auf die Ankunft der Tartaren. Johann Casi- mir wirft wohl auf die Nachricht von Bulows Zug nach Blonie ein Corps dorthin ; aber wie es ankommt, sind die Schweden schon hinweg ; man folgt bis an die Brücke von Sacrozin , da aber erlahmt der Stoss (Puf. C. G. III. 24). Es wird jener Versuch gemacht den Uebergang über den Narew zu gewinnen, aber die Lilhauer weichen vor dem Anmarsch des Königs zurück. Was hilft die Uebermacht, die Johann Casimir hat, il y a vingt sept jours, schreibt Des Noyers am 27. Juli , que tout cela est ici a faire bonne chere ei hisse le Roy de Suade camper six lieues (Tivi , lequel depuis qu'il y est ria pas eu plus de 10,000 komme* effectifs et 13,000 de FElecteur ; fai honte de le dire.

97] Die Schlacht von Warschau. 1656. 441

Die Einleitung zur Schlacht.

Es ist nicht meine Aufgabe, aus allgemeinen strategischen Gesichts- punkten die Schlacht von Warschau zu entwickeln; auch militairisch von grösserem Interesse ist es festzustellen, wie und aus welchen An- lassen man von der einen und andern Seite zur Schlacht kam.

De Lumbres nennt in seinem Bericht an Mazarin die Schlacht une rencanlre inopintie de deux armees qvi se cherchaient Pune et lautre , sans avoir aucun advis de la marche ny du dessein de Vune Fautre. Ist diese Bezeichnung richtig?

Pufendorff berichtet (F. W. VI, 36) , der Polenkönig habe de Lum- bres Antrftge (vordem 27. Juli) mit den Worten abgelehnt: »er habe das schwedische Heer den Tartaren zum Frühstück geschenkt, den Churfiir- sten wolle er in ein Verwahrsam bringen, wohin weder Sonne noch Mond scheine.« Also man wollte den Feind schlagen und vernichten ; und wo er zu finden sei , wusste man sehr wohl ; man brauchte ihn nicht erst zu suchen.

Und bedarf es noch eines Beweises, dass Karl Gustav die Schlacht suchte? Als de Lumbres ihn bei jenem Zusammentreffen am 28. Juli Mittags zurückzuhalten suchte, ihm die Uebermacht des Feindes dar- legte , ihn vor der fast unvermeidlichen Niederlage nach so vielen ruhm- vollen Erfolgen warnte, antwortete der König nach Locceniusp. 734 und Scheffer XVII. 8 : »wenn nur alle meine Feinde hier auf Einem Felde mir gegenüber ständen, dass ich sie mit einem Male niederwerfen könnte.«

Und doch ist in dem Ausdruck une rencanlre inopinde etwas Richtiges.

Die Verbündeten hatten ihren Plan darauf gestellt , dass die neue Brücke bei Warschau noch nicht fertig , die Verbindung zwischen der lithauischen und polnischen Armee noch nicht hergestellt sei; ob sie wussten , dass von der lithauischen Armee die grössere Hälfte noch am Bug stehe , nur 1 0,000 Mann unter Paul Sapieha und das am Narew zurückgewiesene Corps von Gonsiewsky bei Praga stehe, ist nicht zu ersehen.

In der Rel. I. II. u. s. w. wird der Plan der Verbündeten mit fol- genden Worten angegeben 8) : »dass man der lithauischen Armee so bei Praga eine Weile gestanden, eines beizubringen, oder da solche sich

Abhtndl. d. K. 8. Gc«. d. Wist. X. 30

442 Job. Gcst. Droysen, [98

retiriren thäte , vorerst die Brücke bei Warschau gänzlich zu ruiniren und alsdann wieder den Bug bei Nowodwor zu repassiren und nachdem man über die bei Zacrozin verfertigte Brücke gekommen , jenseits der Weichsel bei Warschau mit dem Feind zu einer Hauptaction zu gelangen suchen wolle.« Auch in den brandenburgischen Bearbeitungen der Re- lation I. ist diese »Intention« unverändert gelassen '. Und de Lumbres berichtet, dass die Verbündeten, als er sie auf dem Anmarsch traf ihm gesagt haben: que leur dessein estoit, (faller attaquer Varmee de Lituanie separee de celle de Pologne par la riviere de Vislule et puis les forte de terre qui sont fort proches du pont, et enstäle brusler une partie du wesme pont.

Also die Absicht beim Aufbruch am 28. Juli ist nicht die ganze feindliche Armee zu treffen. Die Eile des Aufbruches und des Marsches zeigt, dass man einen Ueberfall zu machen gedenkt, ehe die Verbindung beider polnischer Heeres t heile ermöglicht ist, dass man den rechten Flü- gel der feindlichen Armee zu sprengen und dann in raschem Rückmarsch den linken Flügel zu erreichen und zu vernichten hofft. Man nimmt nur Proviant auf drei Tage mit.

lieber den Plan der Polen geben Rel. I. II. u. s. w. folgendes : »Es hat sich zugetragen, dass der Feind gleich selbiges Tages (28. Juli) suchte mit seiner um Warschau bei sich gehabten Force über seine Brücke zu Warschau zu gehen und nach beschehener Conjunction mit der lilhaui- schen Armee und den angekommenen Tarlaren vor dem schwedischen Lager bei Nowodwor sich zu setzen und mit den Partheien die schwe- dischen und brandenburgischen Fouragiers zu incommodiren.a

Diesen Krieg gegen die Fouragiere wird man wohl auf sich beru- hen zu lassen haben. Kochowsky führt p. 1 7 8 an : »nach der Nachricht von der Ankunft des ChurfUrsten in Plonsk sei in Warschau Kriegsrath gehalten worden, ob man am Stromufer entlang, das keinen Unterhak mehr biete, vorgehen und den vorstürmenden Feind aufhalten solle, oder ob es nicht besser sei ihn innerhalb der Verschanzungen zu erwar-

1 ) In dem Beilage 8 angeführten Bericht heissl es : » in der Intention sich zu be- mühen ob der ohnweit daselbst (bei Praga) stehenden lilbauischen Armee eins beige- bracht oder da (solches nicht möglich) dieselbe sich retiriren (dürfte) sollte, ob die Bracke bei Warschau ruinirt und wenn man über den Bug zurück gegangen , ob man bei Sacrozin über die Weichselbrücke kommen und dann füglich mit dem Feinde an- binden konnte.« Die eingeklammerten Worte sind im Concept gestrichen.

99] Die Schlacht von Warschau. 1656. 443

ten , um nicht die zusammengebrachten Magazine unvorsichtig aufzuge- ben; werde man im freien Feld(?) geschlagen, so bleibe immer noch ein sichrer Rückzug hinter die Yerscbanzungen.ee Quod po litis visum fügt er hinzu.

Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass diese Angabe Kochowskys unrichtig, nicht bloss unlogisch ist. Am 27. Juli bereits schreibt Des Noyers : cependant notre armie passe la Vistule sur notre pont de batteaux, pour ensuiie aller passer le Bug pour trouver l'ennemi, qui ne sorl point de ses retranchements; les Tartares doivent Vinvestir par derriere, et sil se laisse enfermer, il est per du assurement, mais je crois quil se reürera en Prusse aussitot qu'il sauta quon ira ä lui. Daher sagt de Lumbres am 2 8s ten den Verbündeten, als er sie auf dem Anmarsch trifft: quils ne trouveroieni pas les trouppes de Lituanie, parce qu'elles marchaient pour gagner la riviere de Bouc ...et que Celles de Pologne commengoient ä filer en degä du pont pour se joindre aux Tartares et suivre celles de Lituanie.

Also der Plan der Polen war den Feind in Nowodwor einzuschlies- sen; man wollte zu dem Ende Ober den Bug gehen, natürlich nicht un- ter den Augen des Feindes, sondern weiter stromaufwärts, so dass man ihm den Rückzug nach Preussen sperrte. Aber musste dazu die ganze Armee nach dem Bug gehen? musste nicht zugleich das linke Weichsel- ufer bei Sacrozin gedeckt, die Brücke dort zerstört werden? Unsre Quellen geben keine Antwort auf diese Fragen. Inzwischen plante man schon ins Weite hinaus; das Herzogthum Preussen sollte als ein verfal- lenes Lehn angesehen und mit der Krone vereinigt werden ; eben des- halb wollte man es nicht heimsuchen (il ne faul pas ruiner cette province, Des Noyers am 27. Juli) wohl aber die Tartaren nach der Mark und Pommern werfen u. s. w.

Man sieht, in welchem Sinn de Lumbres Bezeichnung der Schlacht als une rencontre inopinie richtig ist. Weder die Polen hatten den An- marsch des Feindes, von dem ihnen am Morgen des 28. Juli Nachricht kam , vorausgesehen , noch waren die Alliirten darauf gefasst auf die ganze feindliche Armee bei Praga zu stossen. Darauf gründete dann de Lumbres den Versuch noch jetzt den Zusammenstoss zu hindern [cette rencontre inopxnie . . . pouvait faire prendre de nouveaux conseils,) ; er meint, es wäre möglich gewesen, si Xarmie de Suede et de Branden- bourg tCen eussent esti trop avancies pour rebrousser chemin.

Schwerlich war das der Grund. Vielmehr de Lumbres weitere

441 Job. Gcst. Diotskh, [100

Angabe, que Celles de Pologne commencoient dejä ä filer au deca de pont pour se joindre aux Tarlares, zeigte , dass man eilen müsse heranzukom- men , um wo möglich die Brücke zu zerstören bevor noch mehr Yolk herüberkomme. Namentlich der Churfürst hatte allen Anlass zum Vor- gehn zu mahnen ; für ihn stand jetzt noch mehr anf dem Spiel als ftr die Schweden.

Die Schlacht.

Es darf wohl auffallen , dass die Verbündeten auch da noch ihren ursprünglichen Plan festhielten, als sie schon erkennen mussten, dass die Bedingungen, auf die derselbe berechnet war, sich verändert hatten.

Aber wenn sie nach einem schweren Marsch in der Hitze und dem Staub eines Julitages , noch bei Sonnenuntergang den Angriff gegen die verschanzte Stellung des Feindes versuchten, so mussten sie hoffen noch überraschen und durch Ueberraschung etwas erreichen zu können. Die Richtung des Stosses, den sie führten, ist auf den linken Flügel des Feindes gerichtet; sie wollen zur Brücke durchbrechen und sie zer- stören.

Nicht bloss diess mislingt, man bekommt zugleich einen harten Chock von der linken Flanke her, der sehr deutlich zeigt, dass der Feind voll Kampflust und Zuversicht ist.

Ob es richtig ist , dass in dem Kriegsrath der Alliirten nach diesem Abendgefecht der Vorschlag gemacht worden zurückzugehen , muss da- hingestellt bleiben. Vielleicht war der Rückzug unter den Augen eines an Reiterei überlegenen Feindes noch bedenklicher als eine Schlacht.

Dass man so nahe den Verschanzungen des Feindes, einen langge- streckten Wald zur Seite, ohne Verhau und sonstige Deckung lagerte, war nicht viel mehr als eine Bravade. Warum strafte der Feind sie nicht mit einem nächtlichen Ueberfall? Noch war nicht seine ganze Armee diesseits der Weichsel ; die ganze Nacht durch währte das Herttberziehn der Colonnen. Er hatte eine Stellung, in der er des Erfolges in jedem Fall sicher zu sein glauben durfte. Sie beherrschte die der Verbündeten vollständig.

Dass jenseits der Weichsel bei Pulko schwere Stücke postirt wur- den, die rechte Flanke der Alliirten zu bestreichen, scheint zu beweisen, dass man darauf rechnete, die Gegner vor den Retranchements zwischen Wald und Weichsel festzuhalten. Auch die kleine Colline neben dem

*<M] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 445

Wald war mit Stücken besetzt, um dem Feind das Debouchiren nach links in das offene Feld unmöglich zu machen , ihn in der Sackgasse , in die. er gerannt war, schliesslich zusammenzuquetschen.

Die Lage der Verbündeten war arg genug. Vor sich verschanzte Höhen , das Feuer des Feindes von dort , von der rechten und linken Flanke, einer vier- bis fünfmal stärkeren Truppenzahl gegenüber, so be- gannen sie die Schlacht am 29sten früh.

Wir haben in der Besprechung der einzelnen Gefechtsmomente dar- auf hingewiesen, dass der Schlachtplan der Verbündeten am Sonnabend früh nicht deutlich zu erkennen , dass namentlich durch die Quellenan- gaben nicht festzustellen ist, ob von früh an die Absicht darauf gerichtet war, die Schlacht ins freie Feld zur Linken zu verlegen und zu diesem Zweck die Colline zu nehmen, oder ob man diese nur zu nehmen be- schloss, um das Feuer des Feindes gegen die linke Flanke zu beseitigen und einen Stützpunkt für diese zu gewinnen.

Es mochte im Hauptquartier einer und der andere sein Radzivil, Fr. Waldeck, der Churfürst selbst der aus früherer Anwesenheit ii> Warschau eine ungefähre Kenntniss von dem Terrain um Praga hatte ; es mochte durch die Recognoscirungen am vorigen Tage ermittelt sein, dass der Wald von Bialalenka nicht breit, dass auf dessen Ostseiie freies Feld sei. Wollte man da hinaus, so wäre unzweifelhaft die nächste Maassregel am Morgen des 29sten gewesen, sich seiner Ostausgänge zu versichern, um von dort aus debouchiren zu können. Der Gang des Gefechtes am 29sten Vormittags zeigt, dass der Wald nicht besetzt worden war; die Tartaren konnten auf dem Wege von Bialalenka her durch den Wald kommen, ohne bemerkt zu werden.

Was also war beim Beginn des Gefechts am 29sten die Absicht der Alliirten, die ja angreifen wollten und die Entscheidung forciren muss- ten? Es konnte keine andre sein als angelehnt an die Weichsel und an die Colline irgend wo die feste Stellung des Feindes zu durchbrechen, wie sie schon Abends vorher versucht hatten ; also kein neuer Plan, ob1 schon die Verhältnisse nicht mehr dieselben waren , auf die der frühere gegründet war.

Vielleicht fässt sich hieraus eine zweite Folgerung entwickeln. War die Absicht die Retranchements zu durchbrechen , so erscheint die Be- sitznahme der Colline nur als eine defemsive Maassregel, und diese wies

446 Joh. Gust. Droysen, [JOS

der König dem brandenburgischen Flügel zu, während er seinen Schwe- den die active Rolle, den Ruhm des Tages bestimmte.

Erst jener Tartarenangriff und der »furieuse« Anprall der 4 6000 Polen, den der Churfiirst auszuhalten hatte, bevor die Colline mit Stücken besetzt war, zeigte, dass der Schwerpunkt des Kampfes entschieden nach der Linken hin gehe, dass man, ohne Aussicht auf entscheidenden Erfolg auf dem rechten Flügel, bei längerem Festhalten des früheren Pla- nes in Gefahr sei, völlig in die Defensive gedrängt zu werden. Erst jetzt, nachdem Karl Gustav selbst von der Colline aus das Terrain zur Linken übersehen, wird die völlige Veränderung der Disposition beschlossen.

Ehe ihre Ausführung beginnt, ergreifen die Polen an allen Punkten zugleich die Offensive ; sie ihrerseits suchen die Linie der Alliirten, deren beide Flügel schon nicht mehr in unmittelbarer Verbindung stehen , zu- gleich von den Retranchements aus zu durchbrechen und von Bialalenka aus zu umgehen. Sichtlich nicht ohne Mühe gelingt es den Alliirten sich gegen diesen schweren Anprall zu behaupten.

Der polnische Angriff mislingt, weil man es versäumt hat auf Einen Punkt den entscheidenden Stoss zu richten. Man eilt diesen Fehler gut zu machen; man sammelt die besten Truppen zu beiden Seiten des Schanzhügels, dem brandenburgischen Flügel gegenüber, um gegen die schwächste Stelle der feindlichen Linie vorzudringen und da durchbre- chend den Eingang in den Wald zu gewinnen, damit die beiden Flügel des Feindes völlig auseinander zu reissen.

Auch dieser Angriff mislingt; er scheitert an der Festigkeit der brandenburgischen Vierecke ; und Karl Gustav gewinnt Zeit, seine Trup- pen in den Wald und durch denselben zu ziehen.

Der Wald von Bialalenka ist in diesem Moment der Schlacht gleich- sam die Festung , in der sich die Armee der Alliirten sammelt um sich zum Ausfall nach links hin zu rangiren. Man darf wohl fragen, ob die Alliirten nicht gleich am Morgen damit hätten beginnen können den Wald so zu benutzen , ob sie nicht durch Besetzung des Waldes in der Nacht die feste Stellung des Feindes, die man am Abend schon hatte kennen lernen, zu tiberhohlen, von ihm aus die Colline, deren Besetzung so viele Mühe kostete, um so leichter zu nehmen.

Mit dem Abzug des schwedischen Flügels in den Wald waren die Retranchements des Feindes gleichsam todt gelegt ; die Geschütze wur- den abgefahren, auf die Dünen und nach dem Holz von Praga gebracht.

103] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 447

Von den Polen scheint auch nicht ein Versuch gemacht zu sein, den ab- ziehenden schwedischen Flügel festzuhalten; ihre ganze Streitmacht drängt sich nach den Dünen und macht Front gegen Osten.

Die neue Aufstellung, die -die Polen am Nachmittag des 29. Juli nahmen bis Bialalenka hin , das allmählige Zurücknehmen ihres rechten Flügels bis hinter Brudno, dann, als die feindliche Schlachtlinie der Du- nenreihe ziemlich parallel steht, der plötzliche Ansturz gegen deren Front und zugleich gegen ihre linke Flanke , scheint zu zeigen, dass eine ge- schickte Hand die Leitung hat; nach Rudausky darf man schliessen, dass Czarnecky diese Bewegungen leitete. In der That schien sich der Erfolg auf die Seite der Polen zu neigen, als hier die Husaren das erste schwedische Treffen durchbrachen ; Kochowsky erzählt , dass Karl Gu- stav an dem Ausgang des Tages verzweifelnd einen Trompeter abge- schickt habe Waffenstillstand anzubieten ; id verumne an pro um prae- scnti vulgatum haud affirmo, fügt er hinzu. Aber die brandenburgischen Brigaden im Centrum, die Escadronen auf dem brandenburgischen Flügel standen unerschüttert; und der schwedische Flügel gewann schnell seine Haltung wieder ; der Feind wurde überall zurückgeworfen.

Karl Gustavs Absicht, als er am Rand des Waldes den linken Flü- gel genommen hatte and auf den rechten pivotirend über Bialalenka, über Brudno vorging, war, so scheint es, den Feind zu tourniren. Darum schob er sich immer weiter nach links , nahm mehr und mehr seinen Flügel vor, indem er den des Churfürsten von seinem früheren Stützpunkt, der kleinen Colline, entfernte und gegen Brudno hin nach sich zog. Der Abend brach ein , ehe er seinen Zweck erreicht hatte ; er musste sich begnügen den Feind mürbe gemacht zu haben.

Die Gefechte am Sonntag zeigen, dass diess keinesweges in dem Maasse der Fall war , wie Des Noyers in seinem Unmuth angiebt : les nötres senfuirent sans combattre. Auch war die Disposition der Alliirten nichts weniger als darauf berechnet , einem völlig entmuthigten Feinde nur noch den letzten Stoss zu geben. Vielmehr gab Karl Gustav den Plan auf, den Feind in seinem rechten Flügel zu umfassen, ihn aus sei- ner festen Stellung heraus zu manövriren; es wurde jene Sturmcolonne brandenburgisches Fussvolk formirl, die das verschanzte Holz von Praga nehmen und damit das Centrum der feindlichen Linie durchbrechen musste ; mit der Einnahme des Holzes war die Schlacht entschieden.

Die Uebergabe Warschaus war die nächste Folge des Sieges.

448 Joh. Gust. Dboysen, [104

Nach der Schlacht.

»Die Schlacht, schreibt d'Avaugour an seinen Hof (bei Carlson p. 1 52), ist mehr eine Zerstreuung des Feindes «als eine Niederlage gewesen.«

Der König floh nach Lublin, die Königin nach Landshut in Galizien ; aber die zersprengten Schaaren sammelten sich in den nächstfolgenden Tagen; schon am 1 1 . Aug. waren deren bei 50,000 um den König.

Nach Karl Gustavs Sinn wäre es gewesen, den Feind nicht mehr zu Athem kommen zu lassen, dem Könige auf dem Wege nach Zamosc zuvorzukommen, ihn zu einer zweiten Schlacht zu zwingen, ihm den Frieden zu dictiren.

Mochte das seinen Interessen entsprechen, die des Churfiirsten waren anderer Art.

Und schon zeigte sich deutlich genug, dass es keineswegs die Mei- nung der europäischen Politik sei, Polen dem wilden Ungestüm der Schwedenmacht zur Beute zu lassen. Schon lag eine mächtige staatische Flotte auf der Rhede von Danzig (de Lombres Schreiben vom 1 1 . Aug.); der Wiener Hof schickte sich an ernstlich einzuschreiten , Isola erhielt den Auftrag zu melden, dass ein kaiserliches Heer mit 60 Geschützen nach Pommern vorgehe, dass mit dem Moscowiter ein Schutz- und Trutzbündniss eingeleitet werde (Des Noyers 26. Aug.). Schon drangen die Moscowiten auf Riga ein ; demnächst kam ein moscowitischer Bot- schafter an den Churfiirsten , von ihm zu fordern , dass er sein Herzog- thum Preussen von dem Grossfllrsten zu Lehen nehme »und zwar iisdem condilionibus wie es bei Polen gewesen;« er fügte hinzu, »sein Zaar sei ein so grosser Herr, dass er den Churfiirsten wohl schützen könne, habe Geldes genug, ihm fehle nur ein Hafen, so wolle er Schiffe genug bauen lassen und sollten andre Schiffe dann wohl wegbleiben.« (Schwerin an Weymann 11. Sept. 1656. Düsseid. Arch.)

Der Churftlrst drängte zum Frieden, aber zu einem solchen Frieden, den Johann Casimir sofort annehmen könne. Was sollte aus seinen Landen werden, wenn der Kaiser, der Zaar, die Staaten thaten, was sie zu thun drohten ? Karl Gustav konnte, wenn die Fiuthen, die von allen Seiten heranschwollen, zusammenschlugen, sich in sein Nordland zurück- ziehen; aber das Haus Brandenburg lag wie zwischen Hammer und Amboss.

Es ist vollkommen richtig, dass der Churftlrst Schuld daran war

405] Die Schlacht von Warschau. 1656. 449

» dass der gewonnene Sieg nicht weiter ausgebeutet wurde '. Was sollte

ihm das Erbieten des Königs , ihn als Generalissimus an die Spitze der Armee zu stellen so wird man Des Noyers Nachricht vom 27. Aug. zu verstehen haben. Wie peinlich es den Schweden sein mochte, die Warschauer Schlacht hatte dem Brandenburger tbatsächlich eine eben- bürtige Stellung neben der schwedischen Macht gegeben ; fortan konnte man nicht mehr unternehmen, als er geschehen zu lassen für gut fand. Und dass er forderte in die Defensive zurückzugehen , um Preussen und Kaiisch-Posen zu decken, zeigen die Bewegungen der nächsten drei Wochen.

Dass Karl Gustav sehr bald die Unvermeidlichkeit dieses Zurück- gehens erkannte, sieht man aus dem Befehl, den er bereits am 1 1 . Aug. an Bülow, der in Warschau blieb , erliess , die Festungswerke zu schlei- fen, die Marmorsäulen der Schlösser, die Gemälde, die sonstigen Kost« barkeiten , die irgend fortgeschafft werden könnten , mit Schiffen strom- abwärts zu schicken. Des Noyers berichtet, dass von den Schweden selbst die Gräber aufgewühlt, die Leichen umhergeworfen seien ; er fügt hinzu: les gern de Brandenbourg ont empörte les festes de pavis et des marbres que les Suedois avoient laissds. II est vrai que ce na 6ti qu apres le depart de FElecteur et que tont quil y a ite on riy a point fait de dtsordre2.

Wir erfahren aus Des Noyers (26. Aug.) von Karl Gustavs Frie- denserbietungen : il menace de tont brüler , si nous refusons la paix. Seine Bewegungen, nachdem der Uebergang bei Warschau ausge- führt war (4. Aug.), konnten den Feind glauben machen, dass er mit Energie verfolgt werde; vielleicht dass die Furcht ihn zu einer Uebereilung brachte. Karl Gustav war am 1 1 . Aug. in Radom, der Chur- fürst folgte bis Novomiasto an der Pilica (nicht an der Warte , wie Puf. C. G. III. 28 sagt). Aber der Zweck dieser Bewegung war nur, die schwedischen Besatzungen aus den Festen Ilza , Janowicz , Chrzistopor und andern im südlichen Polen an sich zu ziehen ; nur in dem grossen

1) Fuf. C. G. ///. 39: ita Brandmburgici fructum victoriae, cui parandae ipsi plurimum contulerant t magnam partem corruperunt hosüque ut retpiraret viresque rt- pararet spatium dederunt.

%) ObPöllnitz mit seiner Erzählung von den Marmorsäulen imSchloss zu Oranien- burg Recht hat (Mem. /. p. 76), bleibt dahingestellt. Rudatisky p. 270 weiss nur von Plünderungen des Chutförsten.

4o0 Jon. Gi st. Diotsen, [106

Waffen platz Krakau blieb die schwedische Besatzung, wahrscheinlich schon in Hinblick auf Fürst Rakoczy von Siebenbürgen , mit dem wenig später ein Schutz- und Trutzbttndniss geschlossen, der neue Feldzug verabredet wurde. '

Der König blieb bis zum 16. August in Radom; dann zog er sich nach Lowicz (23. Aug.) in die neue Stellung zurück, die sich von Lowicz über Ploczk bis Pultusk ausdehnte. Diese Aufstellung schien ihm zu ge- nügen die Polen in Schach zu halten, während er selbst mit einigen Regimentern die Weichsel hinab in Steenbocks Lager eilte, um Danzig endlich niederzuwerfen.

Für Schweden war die Warschauer Schlacht politisch ohne alle Frucht; ja sie diente nur dazu, die Mächte, die bisher die Sache Polens lau betrieben hatten, Dänemark, Oestreich, die Staaten, in Eifer zu bringen und die verhängnissvolle Allianz Polens mit Russland fester zu schnüren. Mit jedem Tage trat es deutlicher hervor , dass »die Balance von Europa«, wie man damals sagte, sich gegen die »vasta consilia die »wilden Pläne« Schwedens kehren müsse.

Aller Gewinn der Warschauer Schlacht fiel auf Brandenburg. Das Verdienst der brandenburgischen Politik war , dass sie als ihre Aufgabe erkannte, »eine richtige balance zwischen Polen und Schweden zum Besten aller Interessirten herzustellen so der Ausdruck Wevmanns in einer Conferenz mit den staatischen Commissarien (Journal 30. Sept. 1656. Düsseid. Arch.). Und die Warschauer Schlacht gab dem Chur- fllrsten die militairische Bedeutung , deren er zur Durchführung solcher Politik bedurfte.

Aber, so fügt Weymann hinzu, »dass jetzt der Moscowiter mit dazu komme, mit Schweden breche, Lief land nehme, Preussen zum Lehn, und dass S. Cf. D. von Schweden abtrete und sich mit ihm conjungire, mit einer unerhörten Obstination und Arroganz begehre, damit wird die balance völlig zerstört.« Man ist sich in der Umgebung des Churflirsten der Gefahr völlig bewusst , welche »die grossen desseinen der Barbaren« in sich tragen ; »wenn Brandenburg nicht freie Hand bekommt, die Sache im aequilibrio zu halten, wenn Schweden unterkommt und die Mosco- witen mit Riga einen Hafen an der Ostsee bekommen, so ist die aller- höchste Gefahr da und S. Cf. D. wird dann erst nicht vor der Hölle wohnen.« (Schwerin an Weymann 13. Oct. 1656. Düsseid. Arch.)

Der Churfürst hatte Preussen als Lehn von Polen gehabt und Johann

107] Die Schlacht von Warschau. 1656. 451

Casimir hatte ihm nach seinen ersten Niederlagen die Souveränität an- geboten , wenn er sich für die Republik in die Schanze schlagen wolle. Er hatte sich, völlig von Polen im Stich gelassen , zu dem Welauer Ver^- trage verstehen, in demselben Preussen als Lehen von der Krone Schweden nehmen müssen ; für sein Eintreten gegen Polen, für das Ein- treten mit seiner ganzen Macht hatte ihm der Schwedenkönig den souverainen Besitz von vier Palatinaten , Posen , Kaiisch , Siradien und Lancicz zugestanden. Jetzt bot er ihm die Souverainetät auch Preussens, wenn er zur Unterwerfung Danzigs die Hand bieten wolle. »Ich würde,« schreibt Schwerin, »den für einen Verräther halten, der S. Cf. D. riethe sich gegen Danzig feindlich zu erweisen.« Schon hatte auch der Mosco- witer gefordert, das Herzogthum in ein russisches Lehn zu verwandeln ; er drohte mit Feuer und Schwert, wenn der Churfürst sich dem versage. Weder Polen noch Schweden hätte Preussen schützen können und wol- len ; der Churfürst musste sich und sein Land selber zu schützen wissen. »S. Cf. D. haben sich resolvirt, schreibt Schwerin am 1 1 . Sept. an Wey- mann , dieses Land hin führ o von niemanden' zu recognosciren er fügt hinzu : »ich sehe nicht was daran fehlen sollte , dass S. Cf. D. sich jetzt in pristinam hujus regionis libertatem wieder setzen sollte.«

Vor der Schlacht hat es ein Moment gegeben, wo, wie de Lumbres schreibt, der Kaiserhof ein Heer in Schlesien zusammenziehen wollte, das in den Dienst des Erzherzog Leopold übergehen sollte qui prelend avoir droit sur la Prusse comme grand-maistre de l' ordre Teutonique. Und die be- geisterte Erhebung Polens hatte des Polenkönigs Schwager , den Pfalz- grafen von Neuburg entzündet; er rüstete, nicht ohne Gutheissung Frank- reichs, nicht ohne Hoffnung auf die Hülfe der »Cabale« im Haag, und des rechtgläubigen Eifers in der Hofburg zu Wien, Rache zu nehmen für die Vorgänge von 1651 und dem verhassten Ketzer von Brandenburg seinen Theil der Jttlichschen Erbschaft Cleve, Mark und Ravensberg zu ent- reissen. Mit der Schlacht von Warschau erkannte man , dass der Chur- fürst von Brandenburg eine Armee habe und sich ihrer zu bedienen wisse. Der französische Gesandte meldet jetzt nach der Schlacht seinem Hofe : von Pfalz Neuburgs Rüstungen spreche der Churfürst nicht mehr : il affecte en ses discours de paroistre, qu'il ne craint rien de ce cosle /d, riy mesme de celuy de FEmpereur , qu'il dit l * avoir fait asseurer , qu'il ne se meslera pas des affaires de Pologne. De Lumbres bemerkt mit auf- richtigem Bedauern, wie wenig der Churfürst auf diejenigen höre,

452 Joh. Gust. Dkoysen, [< 08

die ihn warnen ; er beklagt die passion qu'ü a paur la souveraineie de Prusse!

Es ist der Mühe werth zu beachten , dass am brandenburgischen Hofe nicht erst die Wechselfelle des schwedisch -polnischen Krieges gleichsam gelegentlich die Pläne hervorriefen , deren Erfüllung dann der Friede von Oli va bringen sollte , dass man nicht Politik aus dem Steg- reif machte , sondern ein bestimmtes System verfolgte , einen festen Ge- danken durchführte. Man war sich in den leitenden Kreisen völlig be- wusst, was die Politik des werdenden Staates fordere. »In unserer Mark,« schreibt Matthias Doge schon 1 653, »ist zwar der Sitz und Glanz des Churhauses von Brandenburg, in Preussen aber und Cleve ist des selben Hauses Kraft und Stärke .... Diese beiden Länder bei dem churfilrstlichen estat erhalten, können alle übrigen Länder und Völker wohl erhalten werden; diese verloren, weiss nicht ob das Römische Reich mächtig genug sein würde dieselben für ans wieder zu gewinnen, wie wohl Pommern kann zum Beispiel dienen.« Nicht das Reich kann und will »des churfilrstlichen Estats zwei Flügel« schlitzen ; und der öst- liche ist in immer neuer Gefahr, so lange die Rivalität zwischen Polen und Schweden währt ; zwischen ihnen bedarf es einer Mittelmacht , die sie auseinander hält und der baltischen Welt den Frieden sichert ; es be- darf, da die Republik Polen nicht mehr die Kraft hat ein Wall zu sein gegen die Moscowiter, Tartaren , Kosacken u. s. w. , einer neuen Macht, Europa vor den »Barbaren im Osten« zu schätzen ; die alte Bedeutung der Marken muss jenseits der Weichsel erneut werden.

So viel , um die politische Bedeutung der Warschauer Schlacht an- zudeuten. Wie der Churftlrst sie ansah oder angesehen wissen wollte, lehrt die Denkmünze , die er auf dieselbe prägen liess. Das Gepräge zeigt über einer Landschaft mit brennenden Ortschaften zu beiden Seiten eines breiten Stroms drei Adler in den Lüften , zwei kämpfende , über denen ein dritter , der ein Schwert trägt , wie zur Entscheidung daher fliegt : opus hie erat arbilro, sagt die eine Umschrift ; die andere : mos mox resiingui juvat.

Beilage 1. Eigenhändiger Bericht des Churfürsten; aus Weymanns Journal.1

Nachdem die Churf. Brandenburgische armee von Zidno* unfern biss Sa- crotzinb gekommen, haben sie sich in balaille gestellet, alda der König aus sei- nem Lager6 gekommen und selbiges* besichtigt Worauff dreymahl salue von der ganzen armee gegeben worden, und seind nochmahlen Seine Ktinigl. Majestät nebst Seiner Cburf. durchl.* ins Swedische Lager geritten, die Ghurbranden- burgiscbef armee aber ist auf Sac rotzin8 gegangen, undh allda über nacht cam- pieret. Inmittelst ist von beiden theilen gut gefunden worden , dass die artille- rie' nach dem mittage* über die Brücke1 gehen, die Reuterey und Infanterie folgen sollte. Weilen"1 aber ess sich wegen der nacht mit dem übergeben verzogen, auch eines von den schweren stUcken eingeprochen , ist man nicht ehe alss ge- gen den mittag übergekommen , da dann resolvieret worden, n auf den feind zu geben, und ihn in seinem Vortheil anzugreiffen, und seind wir darauf in Got- tes nahmen auff Warschau, welches vier meilen von dannen wahr avancieret; unterwegen aber an einem holze eine halte gemacht. Da dann M. de Lum- bres° (welcher zum Könige von Pohlen geschicket wahr, umb zu sehen, ob noch einige hofnungp zu einem gewündschten frieden q zu gelangen sein mochte) wieder kam, welcher dan von der uberauss grossen macht und hochmuth dess feindes bericht thate, und dass er willens wehre uns anzugreiffen. Darauf seind wir fortr marschieret, da dan der König den rechten und der ChurfUrst den linken flügel geftlhret. Gegen abend am 28 July' kamen wir in ein Dorff,1 allda unsere gekommandierete vortruppen bericht brachten , dass der feind hinter dem holze stünde. Darauf filierete der König mit seinem rechten flügel durch das holz, da dann die Vortruppen mit dess Feindes Vortruppen scharmuziereten. Worauff et- liche Esquadronena auf den feind lossgi engen, und ihn biss in seine retranche- ment poussiereten. T Der feind gab darauf wacker fewer mit Stücken auf uns.

a) Zietno b) Zacrotiin e) leger d) selbige e) nehbenst den ChurfB raten f) Brandenborgsche g) Zacrotiin h) und f e b 1 1 1) Artellerie k) noch den nachmittag I) Brücken m) weill n) h i n- ter worden folgt ein durchstricheues den Feind o) Mona. Davos p) oder Mittel sein mochte ist durchstrichen q) zu erhalten könnte ist durchstrichen r) wir wieder fort s) am 28. July fehl t. I) an einem dorne u> Schwadronen v) zunicke pussirlen.

4) Den Abdruck der autographischen Aufzeichnung hat v. Orlich »Friedrich Wilhelm der grosse ChurfursU \ 886. Beil. A. Diess Original ist von Neuem verglichen und das irgend Be- deutende als Variante in den folgenden Noten angemerkt.

454 Joh. Gust. Dboysen, [HO

Hierüber ßel die nacht ein, und zogen wir uns etwas zunicke und plieben unter dess feindes* Canon stehen. Den Sonnabend morgens ritten Ihre Majest. das feld zu recognosscieren mit dem Churfttrsten/alwo man gewahr wurde, dass der feind eine höhe an unsers linken flügels seithe besezb hatte. Desswegen der König gutbefunden,8 dieselbige* ihnen zu nehmen. Worauff der Churfürst mit dem linken Flügel und bey sich habenden Dragoneren avancierete, welchen berg aber alsobald0 ohne einige gegen wehr verliess. Darauf' wurden also pald einigere Stücke darauf gepflanzt, und spieleten in dess feindes Leger.1 Darnach11 zogen wir auf1 die lincke band mit dem lincken flügel neben dem holze, also dass das erste treffen für dem holze, die anderen zwey aber in dem holze zu stehen kamen, hinter dem Berge aber stunden brigaden zu fusse. Auf dem lincken flügel von unserer Gavallerie stunden 2 Brigaden k nebest den Dragonern. Inmittelst gien- gen 2000 Tartaren1 von weitem umb den Busch herumb, welches dem Könige also pald berichtet wurd, welcher dann etliche Schwadrons von seiner reserve nahm, und auff obgemelte Tartaren, n so auss dem Busch hauffig kahmen, gieng und sie wieder repoussierete. ° Inmitlelst fiel der feind aus seinem leger, p und attaquierete unsere infanterie, wurde aber so begegent, und von der reuterey wider biss in sein lager gelrieben. Hierauf kam der König auf unseren lincken flügel geritten, und fandq gut, dass sier mit dem rechten flügel nebest der" infan- terie durch den Wald giengen. ' Ritten also wieder durch den Wald, da sie dann kaum durch wahren , kamen die Tartaren in die flancken von unserem lincken flügel, wie auch in den rücken der reserve biss auf unsere mousquetierer. * Die Quartianer aber, so gegen unsere fronte stunden, griffen uns zugleich an, welche aber so empfangen wurden, dass sie mit Verlust vieler Pferden und Toden wei- chen mussten. In wehrender attaque fiel der feind wieder auss seinem leger auf die infanterie, welche aber vom Konige mit seiner Gavallerie mit zimblichen vertust biss in ihr retranchement getrieben wurden. Hierauf T marschieret Ihre Königl. Majest. und filiereten durch das holz, der feind aber fiel wieder auss, und kam biss an Ihre Majest. Stücke, welche ihnen sehr grossen schaden zufügeten, darüber sie sich wieder retiriereten. Seine Majest. Hessen so pald sie durch den wald kamen, Seiner Ghurf. Durchl. w den rechten flügel, und avancierten also in voller bataille auf denx feind, welcher sich auss seinem Lager in einer Fronte zöge biss an ein Königliches hauss, welches die Tartaren y angezündet. Da aber Ihre Maj. avancierten und mit ihre Stück" auf den feind spieleten, zöge der- selbe sich almählig wieder zurücke nach seinem leger. Hierauf avancierten Ihre Majest. biss Wäldechen/* woselbst siebb von den Hussaren angegriffen wurden, welche" drey treffen noch hinder sich hatten, wurden aber so dd empfangen,

a) unter danon des feinde« b) besetxt c) gutt befand d) selbige e) aber der feindt alsobald f) wor- auff also uordt unsere Stücke gepflanzett und auf des g) Lager spielten h) undt i) wir uns auff k) zwei Brigaden 1) Tartteren m) Schwadronen n) Tarieren o) repnsirte p) aussen seinem retran leger; retran ist durchstrichen q) fand r) er durchstrichen Sie sieh s) Infanterie undt Artellerie t) hinter Waldt ist naeh einander durchstrichen filierten, sogen, tu ziehen, undt also den linken flögdl bekam, Sich auf des Churfflrslen lincken u) t o n wie auch b i s »us- ketier is t an den Rand ge schrieben v) Ihr auff w) dem Churf. x) auffen y) Tarteren i) mit dero stScken aa) an ein Weltgen bb) von feinden ist durchstrichen cc) in rier treffen einan- der folgten istdurchstrichen dd) aber dab so; dab ist durchstrichen.

<H] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 455

dass zwischen* 200 und* 300 auf dem plaz pliehen. Die Quartianer treffen stracks darauf" auch auf den rechten flügel , lhaten aber schlechten effect, denn sie auf 30 schritt ihr gewehr löseten,d und damit sich wieder in ihr lager be- gaben. Hierauf ward vom Könige ein klein Wäldchen9 mit etlichen hundert mussquetieren besezet, welche sich darin verhauwen solten, und überfiel uns die nacht, dass wir also in einem Dorffe, welches die Tartaren in brand ge- steckt hatten f die nacht über8 stehen pliehen, da unterscheidliche alarmen vomb feind gemacht wurden.1 Den Sontag morgens mit dem tage stelletenk wir uns wieder in bataille, wie wir den vorigen tag gestanden hatten, und zogen uns nach ein holz, welches hart am berge, wo der feind stunde und1 sich ver- hawen hatte. Da dann der Feidzeugmeister Sparre™ mit tausend commandiere- ten mussquetieren und den Stücken auf sie zugieng," welchen unsere übrige in- fantarie folgete,0 muste aber den feind die seithe geben, und gieng umb sie her- umb, da er dann etliche Salven so wohl von Stücken bekam alss von mussquet- ten, und jagte p den feind aus dem holz. Hierauf avanciereten Seine Churf. Durch!. * mit 6 Esquadronen* den hohen Sandberg hierauf,1 alwo eine grosse mennigte1 volcks hinten stunde, das dann, da sie sahen, dass die reuterey und Stücke, wie auch theil" fussvolcks auf ihre verlassene Berge stunden, das reiss- aus mit ihrer reuterey v gaben. w Das Fussvolk aber begunt in einem Krinck durch einander zu gehen. Worauff der Ghurfürst mit theils Stücken spielen liess, auch auf sie avancierete. Es kam aber eine hohe generalspersohn, welche für gewiss zu zweyenmahlen berichtete,2 dass die Infanterie die hütte aufgesto- chen und umb quartier gepeten hette. Begeh rete* derowegen man mögte* nicht mehr mit Stücken spielen, und nicht weiter" avancieren, den das fussvolck möchte sonsten zur desperation schreiten. Inmittelst zogen sie sich über einen morast, alda sie nach der Brücken zu eileten und über dieselbe bb giengen. Spar" aber verfolgete sie, und nahm dem feinde die für der Brücken dd ge- machete schanze hinweg, da dann der feind auss Warschau und von einer schan- zen, welche er über der Brücken hatte, mit Stücken spielete. Inmittelst sazte der König die ganze Reuterey in zwey treffen. Das erste treffen plieb wie es erst gestanden, das andere aber wante sich mit der Fronte umb gegen die Littauische und Tartarische armee, welche dem bericht nach uns in den rücken gehen woll- ten. eo Nach erhaltener Victorie seind Seine Majest. dem feinde auf eine meile wegesff von der Wahlstette" nachgefolget. Der Ghurfürst nebest dem, feldmar- schall Wrangelhh giengen wieder zurück nach Präge, umb zu sehen, ob man die brücke geprauchen konnte, oder ob möglich wehre durch die Weissei einen pass" zu finden. Es wahre aber wegen des hoben** wassers unmöglich. Die nacht aber schickete derGraflf Oxenstirn und berichtete, dass der feind die Statt

a) über durchstrichen b) oder c) stracks darauf steht am Rande d) losseien e) weltgen. f) in Brand gesterket g) die nacht Über st^ht im Rind b) uns vom i) welche aber nicht gcacht worden k) stallen 1) selbiges besetzet undt sich darin verhauen m) Spahr n) auf so ging o) welche bis folgte steht am Rand p)jng q) der Churfurst r) Schwadronen s) hinaulT t) menge u) theils v) mit ihrer reuterey steht am Rand - w) nahm durchstrichen; gaben x) berichte y) begertte z) mochte aa) weilters bb) die selbige cc) Spahr verfolgte dd) für der Schanlzen ee) ahn Stücken wurden dem Feinde 12 vnd ein mortier genommen ff) meillwegs gg) wal- steilen hh) Frangell ii) einen vor pas, durchstrichen ist vor kk) grossen.

456 Joh. GlIST. DlOYSEN, [142

Warschau verlassen hette, und begehrele Volck, welches gegen dem tage ihme geschicket wurde und ist also dieses treffen nebest eroberung der Stad War- schau ohne grossen schaden der unsrigen, von dem Höchsten glücklich erhalten, welchem wir dafür zuvordest, und dan der hohen Conduite* Seiner Ktfnigl. Majest. zu danken haben. b

An Stucke haben wir dem feinde abgenommen 42 und einen mortier, in der Stad gefunden 27, und 4 , also dass es in allem 39 Stücken und 2 mortier gewesen. Die Zahl der fahnen, wie auch der gepliebenen kan man nicht ei- gentlich wissen.

a) condevite b) hier endel das Aatograab.

Beilage 2.

Relation I.

»Lelzte aus Warschau eingelangte gründliche und ausführlichere Rela- tion dessen, was zwischen Seiner König!. Maytt. zu Schweden als auch Sr. Churfl. Durchl. zu Brandenburg eines Theils und dem Könige und der Republik in Polen anderen Theils In einer dreytagigen und blutigen Schlacht bei dem SUidtlein Präge gegen Warschau über gelegen an der Weichsel am 18/28 19/39 20/30 Julii anno 1656 ergangen, der Wahrheit begierigen Welt zur sichern unpartheyischen gewissen und beständigen Nachricht wider einige erdichtete unverschämte Lügen-Zeitungen. Anno M.DC.LVI.« (Mit einer Vignette auf dem Titel. 8 Blatter 4°. $. I.) l

§. 1. Nachdem Sr. Koni gl.' Maytt. zu Schweden von Marienburg bei dero- selben Haupt-Armee, welche der malen in Masuren bey den beyden Flüssen der Weichsel und den Bugkb auf der Zacrodzinischen c Seiten gegen über dem dorffe Nowodwor stunde, den 21 Junii angelanget, haben allerhöchstgedachte Sr. Konigl. Mayt. Ihr angelegen seyn lassen, dass die beyde in Bau gewesene Brücken , die eine über die Weichsel bey Sacrodzin und die andere über den Bugk bey Nowodwor verfertiget, und dadurch Gelegenheit erlanget würde, mit dem Feinde, welcher bey Warschau stunde, und daselbst ein verretrenchir- tesd Lager, und eine Brücke über die Weichsel hatte, in action zu treten.

4) Fast wörtlich mit dieser Relation stimmt Relation II, deren Titel lautet:

Letzte noch gründlichere ausführlichere, aus dem Konigl . Schwedischen Feldlager bey Präge vom 5 Augusti Eingelangete Relation, was zwischen Ihr. Konigl. Mayt. zu Schweden und Ihr. Churf. Durchl. zu Brandenburg Eines Theils und Ihr. Konigl. Mayt. und der Republtque in Pohlen andern Theils in einer dreytagigen und blutigen Schlacht bey dem Städtlein Präge gegen Warschau über an der Weichsel gelegen den 28. 29. SO. Julii im Jahr 4656 sich zu getragen, der wahren wahrheitebegierigen Welt zum sichern beständigen Nachricht wieder einige gedruckte erdichtete unverschämte Lü- genzeitungen. Anno. M.DC.LVI. (7 Blatter 4*. s. I) Dieser Druck hat folgende Abweichungen von dem der Relation I :

«) ihre Kttnigl. und «o immer statt Sr. b) Bngg c) Sacrotiniftche 4) verschanztes.

4 43] Die Schlacht von Warschau. 1656. 457

§. 2. lodern nun oberaelte beyde Brücken bey nahe perfectioniret, ist das Was- ser (wie es deren Orten alle Jahr umb selbige Zeit gewöhnlich) so hoch gewach« sen, dass man solches werck in der Eyl nicht vollziehen können, sondern musste damit so lange Anstand haben , bis das Wasser wieder gefallen , und sich in etwas gesetzet. §. 3. Als nun der Adel in Masuren und Podlachien au ff eine Zeit vorhero die dem Fürsten Bogislav Radziviln zuständige und 48 Meilen von Nowodwor an dem Fluss Nareu belegene Stadt Tychozin* belagert hatten, commandirten Sr. Konigl. Mayt. b den Feld Marschall Lieutenant Graff Douglas daselbst hin , umb selbigen Ort zu succurriren, massen er dann auch ermelten Adel und alle ihre Macht davon gejaget und elwan in die 2000 von selbigen feindlichen volckern niedergehauen, und selben6 Ort auffs neue mit mehreren volcke und aller andern Nothdurfft versehen und versichert. §. 4. Wie nun solches also verrichtet und Sr. Churf. Durchl. zu Brandenb. mit dero Armee zu Plonske, vier Meilen von Nowodwor belegen angelanget , kam auf einen Tag* die Zeitung ein, das der Littausche Unter-Feld-llerr Gonsewski ziemlich starck bei Osterlenka stünde und Poltowsko belagert hatte , wesswegen Sr. Mayt. den 4 4/24 Julii" eigener Person mit einer starken Partey, so von derof eigenen als Chur Brandenburgischen * Völkern aussgangen, umb den Feind zu suchen. §. 5. welcher als er vermercket, dass Sr. K. Mayt. völcker ihme zu nahe wollten kommen, sich von Poltowsko über den Bugk in grosser Eyle nach Warschau re- teriret. Wie nun Sr. K. Mayt. den 4 7/27 Julii in dem Lager bey Nowodwor wie- der angelanget und Sr. Churf]. Durchl. zu Brandenburg mit dero Armee nacher Zacrodzin unterdessen avanciret, massenb höchstgedachte Sr. Churf. Durchl. desswegen die conjunction noch immer verschieben, weilen dieselbe stets in hoffnung gestanden, dass Sr. Mayt. in Polen sich endlich würden zum Frieden bewegen lassen. §. 6. weilen aber alle Sr. Churf. Durchl. auffgewendete treuer Fleiss, Mühe und Ynkosten gantz vergeblich , ward unter beyden hohen Haup- tern noch selbigen Tag Rath gehalten1 und resolviret, beyde Armeen als die Königliche und Churfürstliche, alsofort zu conjungiren doch1 zu keinem andern Ende, als zu Erlangung eines ehist- auftrieb ti gen und bestandigen Friedens, welches dann auch also ins Werk gestellet worden. §. 7. und man darauff also- fort gegen Abend und folgendts die gantze Nacht die Königl. Cavallerie, und beyderseits Artillerie und den folgenden 48/28 Julii k den Rest der gantzen Armee über die auff dem Bugh gelegte Brücke bey Nowodwor filiren und die marche1 auf Präge so an der Weichsel gegen über Warschau liget, richten lassen.

a) Tykozin b) Mayt. den Junii mit ausgelasener Zahl c) denselben d) kam den Julii die Zeitung mit ausgelassener Zahl e) den 14. Jnlü f) Ihrer g) Ihr Churfttrstlichen Durchl. h) von nassen... bis ward unter in §.6 fehlt i) von doehxn. . .. bis Friedens fehlt k) 18 Julii. 1) und den march.

4) Hier beginnt der Text der brandenburgischen Bearbeitung (im Theatr. Europ. VII. j>. 898 ed. II) mit den Worten :

worin resolviret worden beyde Armeen als die Königliche und Cburfürstliche alsofort gegen Abend und die. gantze Nacht (jj. 7} wie auch den folgenden 48/18. Julii Über die auf dem Bugh u. s. w. In den folgenden Noten sind die Abweichungen der brandenburgischen Bearbeitung und in den Noten zu diesen Noten die von dem Churfürsten gemachten Correcluren angeführt.

Abhandl. d. K. 8. Get. d. Wiss. X. 84

458 Job. Gust. Droysen, [H4

§. 8. mit der Intention , der Littauischen Armee so bey itzt ermeldtem Präge eine weile gestanden , eins bey zubringen, oder da solche sich reteriren thäten,1 vorerst die Brücke bey Warschau gantzlich zu ruiniren und als dann wieder den Bugh bey Nowodwor zu repassiren und nachdem man über die bey Zacrodzin verfertigte BrUcke wäre gekommen2 jenseits der Weichsel bey Warschaw mit dem Feidde zu einer rechten Haupt -Action zu gelangen tentiren und suchen wo He. §. 9. Es hat sich aber zugetragen, dass der Feind gleich selbiges Tages, nemblich den 18/28 Julij " suchte mit seiner auf jener Seit umb Warschaw bey sich gehabten force über seine Brücke zu Warschau zu gehen , und nach be- schehener Conjunction mit der Littawiscben Armee, und denen angekommenen Tartaren, für Jem Schwedischen Lager bey Nowodwor sich zu setzen , und mit den Parlheyen die Kön. Schwedische und Churfl. Brandenb. Furagiers zu in- commodiren, §. 10. inmassen dannb anfangs ein Polnischer Trompeter kommen, welcher an 8r. GhurO. Durchl. ein Schreiben voll barter und schmählicher Be- trohungen gehabt,8 worinnen Sr. Churfl. Durchl. so treue Vermittelung * von Polnischer Seiten gantzlich verworffen worden , und darauff5 der Französische Ambassadeur de Lombres,c so von Warschaw gekommen, Sr. König]. May t. und Sr. Churfl. Drchl. zwischen Prag und Nowodwor begegnet, von des Feindes überkunfft und contenance solches berichtet, §. H. weswegen dan also fort re- solvirt worden/ gedachten Trompeter bey sich zu behalten, und (nachdem man Stroh zum Feldzeichen, und Gott mit uns, zum Worte genommen) gerad auff den Feind längs der Weichsel losszugehen, massen auche die Battaglie des Mor- gens frühe6 auff Mass und Weise, wie folget, angeordnet worden : §. 12. Auff dem rechten Flügel sind Sr. Königl. Mayt. zu Schweden selbst, und des Herrn Generalissimi FUrstl. Durchl. wie auch der Herr Feld-Mareschall Lieutenant Douglas, dessgleichen S. Fürstl. Gn. Herr Marggraff Carl Magnus zu Baden, als General Lieutenant über die Cavallerie, wie auch die beyde General Majors zu Pferde, nemlich Sr. Fürstl. Gn. Herr Philip Pfaltzgraff von Sultzbach und H. Henrich Hörn ; §. 43. die Infanterie aber, so Sr. Königl. May. bey sich auff dem rechten Flügel gehabt, und in dreyen Brigaden gestanden, ist unterm Conduicte des Herrn General Major Bttlowen gewesen.7 Die Königl. Artillerie ist von dem Obristen Herrn Graf Gustav Oxenstiern commendirt worden. Zu dem ersten Treffen auff dem rechten Flügel wurden verordnet Se. Fürstl. Gn. Pfaltzgraff von Sultzbach, zu dem andern Herr Marggraff Carl Magnus zu Baden Fürstl. Gn. und zum dritten der Herr General Major Heinrich Hörn. §. 4 4. Auff dem lincken

a) 18. Jnlti b) ▼© o anfangs ....bis and darauf fehlt c) de L'Ombres d) v o n gedachten h i s ge- nommen f e b 1 1 e) nassen dann aaoh.

4) würde statt thaten 2) und wenn man nachgehende über die damals fertige Brücke gekommen* 8) ein zumalen impertinentes und unzeitiges Schreiben überbracht 4) Durchl. öfters offerirte getreue und wohlgeraeynte Vermittelung 5) Bald hernach kam 6) frühe von Ihr. Königl. May lt. und Churfürst). Durch!, auff 7) von die Königl. bis commendirt werden fehlt.

') Correclur des Churfurslen: Krücke bei Sacrozin über die Weixel gekommen.

445] Die Schucbt von Warschau. 1656. 459

Flügel sind gestanden Se. Churfl. Durchl. zu Brandenburg selbst mit dero Armee und unter derselben conduicte der Herr Feldroarscball Graf Carl Gustav Wran- gel. * Die Gavallerie comraendirte der Herr Graff von Waldeck als General Lieu- tenant von der Gavallerie, nebenst* den dreien General Majors, als Herr Kan- nenberg, H. Graf Claus Tott, und Bötticher. §. 45. Massen Se. tönigl. Mayt. diese beyde General Majors Graf Tott und Bötlicbera mit 5 Esquadronen ihrer Reuter denChurfUrsU.adjungiret damit beyde Flügel gleich stark seyn möchten, es haben auch S. Churfl. Drchl. gleich S. fcönigl. Mayt. xwey Brigaden Fussvöl- cker bey sich bey dem iincken gehabt.8 Der* Churfl. Brandenb. Feldzeugmei- ster Herr Sparr aber ist nebenst den zweyen Churfl. General Majors Herrn Gra- fen von Waldeck und Herr von Goltz mit 7 Churfl. Brigaden in der mitte zwi- schen den beyden Flügeln gestanden , und bat auch vielgedaohter Herr Sparr die Churfl. Artillerie commendiret.4 §. 46. Nach sothaner Verordnung und er- langter Kundschaft des Feindes contenance, haben dero Kita. V. mit dero Flügel die rechte Hand und avantgardie genommen, zuforderst bei einem Dorff%Meil5 von Warschau in Bataille gesteile, und darauf durch einen darzwisohen befind- lichen Wald in aller Eil marschiret,6 unterm conduicte des Feldmarscball Wran- gein aber sind 600 commandirle Reuter nebst einigen Dragonern, sich der Pas- sage durch den Wald zu versichern, und das Feld zu recognosoiren , vorausge- schickt, worauf denn S. Kön. Mayt. mit den Esquadronen und7 rechtem Flügel in aller Eyle8 gefolget. §. 47. Ynd wie S. Kön. Mayt. durch deu Wald kommen, haben dieselbe die Situation des Orts dergestalt befunden , dass sich die Weichsel zu dero rechten Hand und derselbe8 Wald, welchen sie allschon durchpassiret, zu Ihrer Iincken Hand langst bis fast an der Feinde retrenchement erstreckte,10 §. 18. und haben Se. Kön. Mayt. zwischen dem Walde und der Weichsel keinen Platz gehabt, mit dero Flügel in einer Fronte zu marchiren, derowegen die Regimenter hinter einander, wie es der PJatz hat zu gegeben, marchiren müssen, §. 49. und nachdem der Feind sich anfangs für seinem Lager und zwischen dem Walde und der Weichsel mit seinen Vortruppen gepräsen- tiret, haben11 Se. Koni gl. Mayt. dem Feldmarschall Wränge! «uff den Feind

t) Der Anfang des g. 44 lautet: Pen Unken Flügel haben 8. Churfl. Durchl. zu Brandenburg zu coramaadiren über sich genommen und denselben aus Dero Armee for- miret. Die Cavallerie *) nebenst dreyen General Majors, worunter unter andero der von Kaneoberg sich mit befunden. Darauf folgt es haben auch 6. Churfl. Durchl. u. s. w. S) und sind beyde Flügel gleich stark gewesen 4) so dass das corps de bataille und der Unke Flügel von der Churfl. Durchl. selbst und dero Generalität, von Ihrer Königl. Majestät aber nur der rechte Flügel allein comraandirt worden. 5) eine viertel Meile 6) nwchi- ret, damit aber selbiges um so viel sicherer geschehen könne , haben** Sr. Churfl. Durchl. von dem linken Flügel 600 commendirte Reuter nebst einigen Dragonern detachirat und durch dieselben sich unterm 7) May. mit dem rechten Flügel 8) in aller Eyle fehlt 9) denselben 40) gehabt 44) sind einige brandenburgische Esquadronen*** beordert worden auf . . .

♦) Der Königlich Schwedische ftenivl ton Wränge! und CharflL ••) hafcea S. Köaigl.MtT. einige Vor- truppen QDler GoanwuMlo de« Oberstlculeiunt Gtnitz detaebiret ***) obberQhrte Vortroppen.

Sl*

460 Job. Gcst. Dkoyses, [416

losszugehen beordert , welcher dann demselben bis an sein retrenchement ge- folget und poussiret §. 20. und nachdem sie sich etwas zu weit entfernet ge- habt, von den Regimentern , bat1 man billich mathmassen müssen, dass ein Theil von des Feindes Gross bevm Ende vom Walde und hinter dem Waide solte stehen, den commendirten Truppen die retraite abzuschneiden , derowegen Se. Königl. Mayt. die 4 Esquadronen, so necbst dem Walde marchirten, in vollem Galoup avanciren Hessen, §. 2< . da dann das Glück es so eben getroffen, dass, wie der Feind an unsere commendirte bat angeben wollen, diese 4 Esquadronen * unter conduicte des Herrn Graf Duglasses* dem Feinde begegnet, demselben poussiret, und bis an ihr retrencbemenl und Mussquetirer verfolget : §. 22. Die- weil aber die Nacht eingefallen, und man wegen grossen Staubes nichts weiter hat tentiren können, sind Se. Kön. May. mit dem rechten, und Se. Churfl. Durchl. mit dem lincken Flügel, bis die Infanterie nachkäme, und ebener ge~ stall sich einfinden möchte, für des Feindes retrenchement dergestalt stehen ge- blieben, dass sie den Wald zum Rücken genommen , und ist in währender ac- lion** mit canoniren nicht gefeyret worden. §.23. Weil nun mit solchem setzen und Anmarche der Regimenter eine ziemliche Zeit erfordert worden, ist unter- dessen die sinkende Nacht eingefallen , da man dann nicht für rathsam befun- den, weiter für des Feindes Stücken zu stehen, besondern man hat sich zurück gezogen, und zwischen dem Wald und der Weichsel die Nacht über Stand ge- fasst, die Königl. Schwedische Armee längst der Weichsel, und die Churfl. längst dem Walde da dann die Infanterie in der mitte, hinter einander, und nur 12 Es- quadronen zu Pferd, und 2 Brigaden in der fronte, und die übrige Regimenter verdoppelt hinter einander gesetzet worden. §. 24. Des Sonnabends bey an- brechendem Tage sind S. Ron. May. und Se. Churfl. Drchl. nebest denen Ge- nerals-Personen zu recognosciren geritten, und befunden , dass den Feind zwi- schen seinen rechten Wercken und retrenchement anzugreiffrn nicht dienlich, besondern dass man suchen möchte, ihn umbzugehen auff unserer linken Hand, §. 25. zu dem Ende nöthig befunden worden sieb einer kleinen Höhe, welche allernechst beym Walde gelegen , zu impatroniren,8 und von dannen das Feld besser zu wehlen, und zu suchen, haben also S. Churf. Drchl. mit dero Flügel nebest zweyen Brigaden zu Fuss längst für dem Walde nach der Höhe zu avan- ciret, * und des Hügels sich glücklich bemächtiget, wiewol es grosse Mühe ge- kostet, die Artillerie, so gleich fort zu bringen, wegen der kurtzen Sträuchen und morasthafTten Wegen, wodurch man hat marschiren müssen. §. 26. Wie

4) hat man aus Beysorge, dass ein Theil von dess Feindes Armee beym Ende des Wal* des und fiinter dem Walde stehen und denen commandirten Truppen die retraicte abschnei- den möchte, 4 Esquadronen avanciren lassen, **• da denn das Glück 2) von unter

bis Duglasses f e h 1 1 8) zu bemächtigen 4) die Polen, so einen sehr avanlageusen Post darauff ge fasset , davon gejaget, auch ver§chiedene Stück und bagage dabey erobert und des Hügels sich mit grossem vigeur glücklich4***

*) diese Esrarfronen ♦*) Action vom Feinde mit ***) haben 8r. KBnigl. Mayt. selber mit eyntgen Squa- dronen seeundiret, da denn das Glück •♦♦♦) die Polen davon gejaget and des Hügels »ich bemächtiget.

<*7] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 461

man nun auf die Höhe gekommen, ' hat man nicht allein von des Feindes con- tenance, sondern auch von der Situation des Orts recht urtheilen können, und haben S. Churfl. DrchJ. alsofort sich mit dero Flügel längst vor dem Walde be- deckt, von zwey* Brigaden zu Fuss und Dragonern, nebest den Stücken in solche k postur gesetzet, dass deroselben nichts in Rücken gehen konte. §. 27. Dieweil man nun von solcher unhenanter Höhe nicht allein gSntzlich umb den Wald gekommen , sondern auch lauter flach Land gefunden , bis an den Stand des Feindes,2 und daraus mercken können,8 dass der Feind seine force hatte zur rechten Hand gezogen , so wol den Ghurfürstlichen in die flanque , als auch hinten durch den Wald mit etlichen tausend Pferden, und sonderlich mit den Tartarn Sr. Kön. Hayt. Flügel in den Rücken zu gehen, so4 haben Se. Kön. Hayt. mit umbschwingung 6 Esquadronen vom dritten Treffen den Feind zurück gejaget welcher darnach sich für die Churfl. Armee auffm Felde präsentiret. §. 28. Entz wischen haben Se. Kön. May. zwischen dem Walde und der Weichsel mit der Artillerie, Infanterie, und Cvallerie, für des Feindes retrencbement* subsistiret, und6 ziemlich mit Canonen begrüsset wor- den, die7 Infanterie vor der Cavallerie auch zum Tbeil mit der Gavallerie ver- mischet gestanden, und damit der gantze Schwärm den Churfl. nicht auff den Halss kommen möchte, sind noch 2 Brigaden die Churfl. zu sustiniren beordert worden: §. 29. Dieser Stand hat so lange gewahret, bis die Churfl. Stücke, welche auff die Höhe solten gebracht werden, durch den Morast gescbleppet worden. Alldieweil nun Se. Kön. May. aus des Feindes Anschickung, und an- dern Umbständen für ratbsam befunden, dem Feinde zu seiner rechten Hand umbzugehen, aber nicht practicabel erachteten, wegen Enge des Weges und durchgetretenen Morastes den Weg zu gehen, welchen der Churfl. Flügel gepas- siret, sondern beschlossen, den Weg hinter dem Jinken Flügel umb den Wald, wo die Tartarn Sr. Königl. Mayt. in den Rücken zu gehen gesuchet, zu neh- men. §. 30. Gleich wie man aber bey sothanen resolutionen sich billich nach des Feindes contenance bat müssen reguliren , also haben Se. König. Mayt. bey vorigem Stande, als S. Kögl. May. bey der Weichsel, und S. Churfl. Drchl. jen- seits des Morastes waren, sich etwas verweilen müssen , §. 31. sintemal der Feind zu unterscheidlichen mahlen Mine gemacht hat, so wol S. Königl. Mayt. als die Churfl. Armee beyde zugleich anzugreiffen, und es bey einer solchen action nicht ratbsam wäre, dass Se. Königl. Mayt. durch Abziebung dero Troup-

a) von Dero zwcy b) solcher.

4) Wie nun S. Ch. D. solcheHöhe erobert und den Feind davon delogiret, haben die- selbe mit Dero Flügel langst von dem Walde sich mit unglaublicher appJication und unermü- deler Arbeit* bedecket und in solche Positur gesetzet 3) bis an den Ort wo der Feind ge- standen 8) und dabey wahr genommen 4) so ist der Feind mit sechs Esquadronen** vom dritten Treffen zurückgejagt und an solchem seinem Vorhaben gehindert worden. Inzwi- schen 5) zwischen dem Walde und der Weichsel in bataille subsistiret 6) und sind da- selbst 7) von den Worten die Infanterie. . . . bisg. 32 Indem fehlt.

*) von mit anglaublicher . . . . bis Arbeil gestrichen. ••) mit sechs Esquadronen ist gestrichen.

46 £ Jo«. U*t Dtrrrsn. «i*

(»im dero Detvrift so £** *.*.s,ie eS«ti.fei *-v.e. f. 3*. fei**,1 z-.t wider Wim andernina! zn s^imr ree&ten Rani kH aü-rt seicen Tari* Charfl, in denüanffoen rtkken. otvd freut* rezVetcfc «zaV<«L«i »ict.ie.s »ta durch topfern Wiidertund der CLarft. z«rt.cfc p.atfirvt werden anrfc welche dorch den Wald d?n Ciarfl. «,:*« in Borke« s^bec. d^rtfc S. Kaci'L May, drillet Treffen ab£<£*ften worden, f. 33. Es kat zwar anch> 4er Feind1 in »eitrigem nv/ment gcsocbet, mit seiner sr^u-n fecoe nti**t sc-'-Der Infante- rie aus seinen retrenchemenl frecen S. K^r/gl. Bart, zn aTanriren. sie sind aber ron den Stücken ond Garthescbtn derse^tall eaipfänam «erden« das» ob sie gleich sich zu unterschiedenen mahlen berf -r getban , haben sie sich deenaeb endlich wieder in ihre retrenebesent gezogen, oed denn zc£>icb yjnchei. nach ihrer rechten Hand orJt aller ihrer force aoff den Cburfnrstet; lesszn^ehen. f. 34. ßev dieser Occasion** haben S. Eon. Hart. Zeh bekommen, sieh mit Den lafan terie ond Cavallerie abzuziehen, und also binden umb den Charfl. FHteel dnrefc den Wald aoff das ebene Feld sieh zn ziehen.* allwo dann S. Conid. Mayt. mit des CborfUrsten gut be6nden, erwebhen die linefce Hand und den lineken FlBgel zu nehmen. §. 35. Die weil* ntm der Feind seine grdsste forte vnd alle seine Hassaren aaf seine rechte Hand gesetzet, und in enter Ordre nber das Feld an- marsebirte, als streckten Seine Kon. Mavt. sich auch zur linken Hand ans. nmb Feld so gewinnen , und dem Feinde in der Ebene ins Gesicht zn sehen, f. 3f . und nahmen S. Königl. Mayt. auf dero Flügel zu sich etliche oommandirte Stocke nebenst drey Esquadronen zn Fnss, welche alle für der Cavallerie her mardrir- ten , ond suchten also S. König], MaU. mit guter Ordre dem Feinde im flachen Felde anzugreinen , wie auch selbige umbzugehen , und hinter ihren Stücken, die sie auf eine hohe Sand-Dohne mit ihrer Infanterie gesetzet, zn altaqtriren. §, 37. Wie nun S. Mayt. mit dero Flügel in guter Ordnung avancirten, fieng der Feind an gleich das Dorff, welches zu seiner rechten Hand war, anzustecken,

4 ) Bald aber darauff hat der Feind wieder zum andern mal zn »einer rechten Hand . . . . * i) gesucht er ist aber mit solcher Valeur ond condnite von Sr. Charfl. Durchl. empfangen worden , dass er sich mit tiberaas grossem Schaden und Hinterlassung vieler Todten mit grosser Coofus ion wieder zurück machen müssen. Bei dieser Occasion '$. S4) S; sich zu stellen, dann Sr. .. *»* 4) Für die gg. 85 tt hat der Text des Th. Emr. est H. Nach- dem nnn Ihre KOn. MaytL sich mit dero Flügel daselbst ins flache Feld gezogen, so**** ist man bald daraaff mit dem Feinde, welcher in guter Ordnung auf die Königl. und ChuHurstliche Armee an marebiret, ins Gefechte gerathen, und ob schon von des Feindes Husaren und Reo- terey vornehmlich auf die Churfurstliche Cavallerie-}' ein sehr hitziger Anfall geschehen, so seyod doch dieselben von Sr. Churfl. Durchl. ff dergestalt repoussirt worden , dass sie sich ebner Gestalt wie vorhin wieder zurückbegeben und in einer ziemlich confusen Retirade ihr beyl suchen müssen , welches ziemliche Zeit lang gewähret und zn beyden Theüen sowohl an Polnischer als Schwedischer und Brandenburgischer Seite mit grosser Courage absonder- lich aber von 8. Churfl. Durchl. zu Brandenburg soütenirt worden, (g. 48). Bey . . .

*) Der gsase %. SS ist gestrichen. ••) Nachgebend« haben. *••) Einzelne* ist gestrichen. es bleibt: Carallerie durch den Wald abgezogen and also hinten ojb den Chnrfl. Flügel anf das ebene Feld »ich gestellet, die Unke Hand nod IfnkenFlSgel genommen. ••♦•) nachdem. ... so ist gestrichen ond ist f) Renterei anf die Königl. Cavallerie ff) Seite tapfer sontenirt worden.

H 9] Die Schlacht von Waeschau. 1 656. 463

und sich binler das Dorff zurück zu ziehen, in meynung Sr. Köd. May. wann Sie das Dorff fUrbey passirten , mit einem Theil Ihrer Gavallerie hinten umbs Dorff in den Rücken zu gehen, wesswegen der General Major H. Hörn mit dem dritten Treffen zugleich umb das Dorff zu gehen, und zu avanciren beordert wurde, welches, da es der Feind gewahr wurde , zog er sich allmählich zurück zum andern Dorff, nebest einem Morass, und setzte sich hinter das Dorff, wel- ches sie auch ansteckten : §. 38. Als avancirten Sr. Königl. Mayt. nach dem Dorff, zuvorderst mit den Knechten, und da sie wegen des Morass das Dorff umbzugehen nicht für ralhsam hielten, besonderen zur linken Hand zu gehen, Hessen Se. Königl. May. die Infanterie vor den dreyen Esquadronen zu Fuss heim Dorffund Morass stehen bleiben, bis das erste und andere Treffen längs, und für das Dorff sich zog, das dritte Treffen aber blieb bestehen hinter dem Fussvolck, umb solohes zu sustiniren, §. 39. und als S. König). Mayt. mit dem ersten und andern Treffen schon das Dorff zum Rücken hatten, hatten Se. Königl. Mayt. dero rechte Fronte gegen den Berg, und des Feindes Werck auff den Sand-Dühnen geformiret, da dann mit canoniren auff beiden Seiten es erst recht angegangen, und beyderseits grosser Schaden geschehen. §. 40. Dieweil aber Se. Königl. Mayt. sich musten dero linkem Hand, wenn sie gegen den Berg weiter avanciren würden, versichern, haben Se. Königl. Mayt. nachdem sie das Dorff schon im Rücken, die drey, Esquadronen zu Fuss wieder vom Morass zu sich kommen lassen , und dieselbe hinter dero zweytes Treffen , und gHntzlich am Ende des Flügels die fronte zur linken Hand gewendet, beym Creutze setzen lassen, und fronte gegen die Tartarn zu thun, welche hinter dem Dorffe beim Walde oebenst einer Menge Quartianer Se. Königl. Mayt. zur linken Hand in die flanque zu gehep sucheten, §. 41. derowegen Sr. Königl. Mayt. mit der gantzen Bataille halten Hessen, auff dass das dritte Treffen sich auch möchte her- ziehen, auf seinem rechten Platz. Entz wischen hat die gantze feindliche force, ausserhalb wenigen Esquadronen, die beym Fussvolk auffm Berge bestehen blieben, sich zum Theil auff der rechten Hand, und umb Sr. Königl. Mayt. Flü- gel, die Hussaren aber, nebenst 5000 Pferden gegen Se.Kön.Mayt. fronte avan- ciret, §. 42. da dann die Hussaren auf zwey Esquadronen einem ziemlichen Effect gethan, und zum Theil durchgebrochen, sind aber von dem andern Tref- fen, und von der Seiten dergestalt empfangen worden, dass ihrer wenig durch- kommen, die aber, welche ihnen gefolget, zurück poussiret worden, von welchen Theil auff Sr. Königl. Mayt. Bataille, etliche auff die Ghurfl. Gavallerie* loss- gangen, von welchen sie auch dergestalt empfangen worden, dass sie mit höch- ster confusion den Berg wieder einzunehmen gesuchet haben: §. 43. Bey1 sol- chem währenden Treffen haben die Tartarn nicht gefeyret, sondern gesuchet umb das Dorff,2 und der Armee in den Rücken zu gehen , worauff8 Se. Königl. Mayt. 4 Esquadronen unterm conduicte des Herrn Generalissimi b Durchl.

i) Ihr Churfilrstl. Durchl. loss b) Generaliuimi Ilochfilrstl. Durchl.

4) Bey solchem Treffen 2) um das Dorf und fehlt. 8) worauff man vier Esqua- dronen wenden lassen.

464 Joh. Gust. Dboysbn, [,2r)

haben wenden lassen , welche sie denn ft gepoussiret und in den Morass gejaget, allwo ihrer eine grosse M&nge geblieben, und von ihren Pferden haben absprin- gen müssen. §. 44. Wie nun bey auf so vielfältige Arten geführten actionen und Treffen, Se. König! . Mayt. nötig befunden, dero Regimenter in vorige Ordre und Platz wieder zu bringen, umb den Feind in seinem Vortheil zu attaquiren, und bey Eroberung eines Waldes welcher dem Feinde und die Höhe zur rechten Hand lag, mit gleicher avantage des Feindes Höhe zu erreichen , dass man also hinter des Feindes Wercke mit dem Feinde und seinem Fussvolck , in gleichem Vortheil zu fechten kommen mögte, so hat man gegen den Feind avanciret, aber zu dem Berge2 nicht gelangen können, bis es gantz finster worden, §. 45. da dann weitere actionen zu verhüten, Se. Königl.May.* sich zurück gezogen, dero4 Cavallerie bey einem Walde zur Seilen des Dorffes gesetzet, nebenst den dreyen Esquadronen zu Fuss, die Infanterie ist aber für dem Dorff,* und die Churfürst- licbe* Armee auff dem Platz stille stehend blieben, bis Sonntags Morgens, da man sich dann bey anbrechendem Tage wieder zusammen gezogen , §. 46. und nachdem Se. Mayt. eine Esquadronen Fussvolck in dem Walde wo dero Caval- lerie gestanden, zu verhawen befohlen, umb da Se. Kön. Mayt. würden avan- oiren , den Rücken frey zu .haben, als ist darauff resolviret worden, dass man mit der Armee zwischen dem Walde, da Sr. Königl. Mayt. Cavallerie über Nacht gestanden, und dem Walde, dessen der Feind bey der rechten Hand sich gebraucht11 hat, zu avanciren,* und die Infanterie in die Avantgarde zu neh- men nebenst Artillerie und 5 Esquadronen zu Pferd der Schwedischen, umb den Feind aus dem Walde zu bringen, welches zu verrichten, dem General Feldzeugmeisler Sparr auffgetragen wurde, auch von ihme mit sonderbarer dexterität und guter disposition verrichtet worden. §. 47. Und dieweil der Feldzeugmeister Sparr den Wald zuvorderst hefftig canonirte, hat zwar der Feind seine Infanterie nach dem Walde7 gezogen, mit dem gantzen Reste seiner Cavallerie gesuchet,8 umb in die flanquen zu gehen, derowegen *** Se. Kön. Mayt. so wol als die Churfl. Cavallerie unterschiedliche fronten nach Situation des Orts, umb des Feindes einbrechen zu verhindern formiret, dass also an allen vier Ecken fronte ist formiret worden. §. 48. Nachdem aber der Feldzeugmei- ster Sparr den Wald eine weile canoniret, ist er mit der9 Infanterie und 200 oommendirtenMussquetirern in den Wald hinein avanciret, neben *°fünff Esqua- dronen Reuter, §. 49. und weil des Feindes Mussquetirer also den Wald ver-

a) Ihr Chnrfüntl. Durch]. Armee b) sieb vorhin gebraucht.

4) welche sie dann* s) Berge** worauf der Feind sich dazumal postiret gehabt, nicht 8) zu verhttthen man sich 4) und die 5) für einem Dorf , welches man zur Linken ge- habt 6) von und ... bis Schwedischen fehlt 7) aus dem Walde 8) aber gesuchet 8) Der Chnrfürstl. Infanterie und fünf Esquadronen Reuter in 40) von neben ... bis müssen fehlt.

*) welche acht auf sie geben matten, damit sie nicht von hinten einfielen. Da nnn **) avanciret und sich wegen der Nacht allda postiret, dergestalt dass die Cavallerie bey einem Walde ***) derowegen Carallerie commandiret worden die Infanterie des linken Flügels in bedecken. §. 48. Nachdem . . .

121] Die Schlacht von Warschau. 1656. 465

lassen müssen, sind1 S. Churfl. Drchl. in eigener Person mit sechs Esquadro- nen* auf den Berg avancirt, die darauf befindliche feindliche Reuterey** den Berg hinunter gejaget, welche* sich dann zur linken Hand nach dem Morass, wo des vorigen Tages die Tartarn sich hinbegeben , aber von dem Feldmar- schalle Herrn Gustav Wrangel und dem Churfl. General Lieutenant Herrn Grafen von Waldeck mit commendirten Beutern und etlichen Esquadronen ver- folget, in Morass gejaget, und also die meisten derselben erschossen, ersoffen und umbkommen. §. 50. Bei wahrender solcher Action haben Se. Churfl. Drchl. resolviret gehabt,4 nachdem die feindliche Infanterie ihre Stücke * ver- lassen, auff die losssugehen,6 dieweil dieselbe aber gleich zu accordiren begehret, haben S. Churfl. Drchl. dieselbigen nicht verfolget, besondern die Infanterie hat in wahrendem Tractat sich nach der Schiffbrücke verfüget, dieselbige passiret, und hinter sich ruiniret: §. 54. Nachdem nun des Feindes linker Flügel und die Infanterie mit Verlassung des Lagers , Pagage und allen Stücken 7 sich rete- riret gehabt, ist des Feindes rechter Flügel8 schon zur Flucht parat gewesen, und sich frühzeitig grüsslen Theils zwischen Präge und dem nicht weit davon liegenden Walde weg in voller confusion reteriret ohnangesehen so wol dieses als vorigen Tages, der König in Polen die also genannten Hollotten oder Gesinde (welche nicht mit Obergewehr, sondern nur Sebeln, Sensen, Prügeln, und der- gleichen Instrumenten versehen) beydes mit Geide und Worten animiret, so wol die Quartianer und Pospolite Bussenieb vom aussreissen aufzuhalten, §. 52. welches sie auch in der That, und mit vielfaltigem grossen Geschrei anfanglich verrichtet, endlich aber mit eioander, besagter massen, aussgerissen,**** wel- chen Se. Ktfngl. Mayt. zwar nachgegangen, aber wegen abgematteter Leute und Pferde, welche in der dreytagigen Action nichts gessen haben, hat man den Feind wenig verfolgen können, besondern man ist des andern Tages dem Feinde 6 Meileweges nach gangen.

§. 53. Der König in Polen hat dieser Action von Anfang bis zu Ende bey- gewohnet, und9 da er gemerket, dass seine Armee das Feld hat räumen müssen,

a) Ihr Churfüntl. Durchl. General Lieutenant b) Ruszienie.

4) dann auch Sr. 2) Esquadronen sofort* auff dem Fasse gefolget and auff den Berg zu 8) von welche. . . bis umkommen fehlt. 4) gehabt fehlt. 5) ihre Stücke schon 6) losszugehen, allermassen auch sonder Zweifel geschehen und vielleicht nicht das geringste von derselben würde echappiret seyn. Es sind aber S. Ch. Durchl. durch dess Kö- nigs Bruder davon divertiret worden, so dass gedachte Infanterie dadurch Zeit gewonnen *** mit den Feldstücken sich davon zu machen und über eine Brücke so sich eben daselbst ge- funden und welche sie hinter sich ruiniret, sich zum Theil zu salviren. (§. 51). Nachdem 7) Stücken durchs. Ch. D. zu Brandenburg gänzlich überm Haufen geworfen worden, hat dess 8) Flügel, welchen Ihre König] . Mayt. von Schweden gegen sich gehabt auch keine sonderliche ressitenz mehr gethan sondern sich also fortt grössten Theils 9) und da Sr. Churfl. Durchl. des Sonntags durch den Wald gesetzet und die feindliche Armee von dem Berge getrieben und Er darauss gemerket.

") sofort anff der nahten Seite anff **) Infanterie •*•) gewonnen Ober einen Morast da sie nicht wohl- verfolget werden können sich in salviren, bei welcher retinae ihrer eine grosse Mengo geblieben und sannt den Pferden in Morast nnkonnen. Nachden ****) durchgangen.

466 Joh. Gost. Dboyskn, [128

ist er nechst für der Infanterie über die Brücke erst auff Warschau und so wei- ter fortgegangen. §. 54. Die Königin aber, * welche die Polen von der West- Seite der Weichsel, als sie bey Warschaw am 48/28 passato über die Brücke gangen, in einer Garreten dabey haltend, trefflich animiret, (so dass* die Polen sich grosssprechend darauff verlauten lassen, sie wären so starck, dass sie den Feind mit Peitschen wegjagen wolten) hat so lange nicht gewartet, sondern in- dem sie den 20/30 July,k war der Sonntag, vermercket, dass die Königliche Schwedische Armee der Polnischen im Lager zusetzte, soll sie sich, nachdem sie alle drey Tage diess harte Treffen mit ihrem Frawenzimmer und etlichen Sena- toren angesehen, frühzeitig aus dem Wege gemacht haben, §. 55. Bei diesem* Treffen sind beydes Se. Kön. Mayt. zu Schweden , als auch Se. Churfl. Drchl. * in grosser Gefahr gewesen , dann sie in eigener Personen sehr grossmüthig ge- fochten , so dass Se. Churfl. Drchl. einmal gar von den Tartarn umbringet ge- wesen, dass man eine gute Weile nicht gewust, wo sie hinkommen. §. 56. Und also ist endlich Sonntags in der Nacht Warschaw d von der Polnischen Guarni- son unterm Obristen Zeillari mit hinterbleibung aller Stücken,*** gleich denen im Felde, verlassen, und hat sich des Montags früh der Ort in Sr. Kön. Mayt.2 de- votion wieder ergeben : Se. Koni gl. Mayt. und Churfl. Drchl. Armee ist**** bestan- den in 60 Esquadronen zu Pferde und 4 Regimenter Dragoner. §. 57. Davon 30 auff dem rechten und 30 auff dem linken Flügel gestanden. Die Fussvölcker sind in zwölff Brigaden vertheilt gewesen. Des Feindes force sol allem8 bis dato eingekommenen Bericht nach,' bestanden seyn4 in 8000 Quartianer, 16000 Pol- nischer Pospolite Russenie, 5000 Littawer, 6000 Tartarn und 4000 zu Fuss, wiewol sie sich Selbsten ins gemein mit allem 400,000" Man zu seyn ge- schätzet, dahero sie sich selbst auch wegen solcher grossen Mänge, den Sieg gar zu gewisse eingebildet haben. §. 58. Es ist nicht zu beschreiben, wie Gott bey dieser Occasion gewürcket habe, in deme wo die* Königliche Schwedische Armee f sich nur bingetrehet, hat sie den Vortheil des Windes für sich gehabt,

a) von welche. ... bis wegjagen wollten fehlt, b) 30 Jnly c) von Bei diesen .... bi s §. 56 ut endlieh fehlt. d) Nacht ist die Stadt Warschau e) >elbsten Aber 100000 f) Schwedische und Chnrbrandenburgische Armee*

4) Zu Brandenburg continutrlich zugegen gewesen, absonderlich** haben Sr. Churfl. Durchl. mit einer unvergleichlichen intrepidität sich dabei signalirt und alles was Tapferkeit und prudentz in dergleichen Folien von einem grossen helden erfordern , erwiesen und an sich spühren lassen, auch nicht allein mitCommando und Anordnung der Armee sich begnü- get , sondern in eigner hoher Person grossmüthig mit gefochten und sich exponiret so dass Se. Churfl. Durchl. einmal gar von den Tartarn umringt gewesen und man eine gute Weile nicht gewusst wo sie hingekommen, (g. 56) Und also %) Mayt. und Sr. Churfl. Durch!. 3) von allem ... bis nach fehlt. k) in zwanzig tausend Husaren und Quartianern. sechzigtausend polnischer pospolite Ruszenie, zwanzig tausend Lithauern, sechs und dreissig tausend Tartarn und vier tausend zu Fuss in Allem von hundert und vierzigtausend Mann. Dahero 5) die altiirte Armee.

*) von so dass .... bis jagen wolten ist gestrichen. ••) Von absonderlich. . . . bis hingekom- men ist gestrichen; dann folgt (g. 56) Bndlich ist ***) etlicher weniger 8tftcke ****) ist 16 bis 17000 Mann und des Feindes Macht ist im Anfang in 120000 Mann inletzt in 84600 eigenem Gestlndniss nach bestanden, dahero.

[* 23 Die Schlacht von Warschau. 1 656. 467

und ist deroselben rund umb gefolget. So dass dahero der grosse Staub sampt dem Pulver-Rauche , dem Feinde ins Gesicht getrieben. §. 59. Von hohen Offi- cirern sind wenig geblieben. Des ersten Tages ist Obrisler Senckler mit einer StUckkugel geschossen, wie auch der General Major Kannenberg blessiret worden, von den gemeinen aber ungefehr drey bis vier hundert gequetschet und geblie- ben. Was von vornehmen unter dem Feind geblieben oder gequetschet, hat man nicht observiren können, die todten Cörper aber, so hin und her im Felde und in dem Morass gefunden worden , werden auff ungefehr drey bis vier tausent gerechnet.* §. 60. Und hierauff sind nun den 24 und 34 Julii1 die beyde König- und GhurfUrstliche Leib- Regimenter fürüber geführet* und die Stadt Warschaw damit besetzet, und also dieser Ort sonder einige Mühe wieder ge- wonnen worden: Jedoch kam indessem Zeitung, dass der Feind bei Schersky* mit viel tausent sich wieder gesetzet, auff welche Se. Mayt. mit etlichen Regi- mentern Zugängen, aber niemand gefunden, dess wegen8 Se. Mayt. den 2. Au- gusti st. n. wieder zurück nach Warschaw gekehret. Die Bagage hat man den Soldaten zur Beute gegäben : ** §. 61 . Die eroberte Ganonen sind etwan in 50 StUcken bestanden, wenig sind gefangen worden, weil man wenigen Quartier gegäben. Es ist leicht zu glauben, dass man weder die Fahnen noch die Anzahl der erschlagenen gewiss wissen können , weil alles sich in die Morässe verlauf- fen, und wegen des unerträglichen Gestancks niemand fast weder in Warschaw noch im Felde bleiben können. §. 62. Den4 andern und dritten Augusü st. n. ruheten indess die Armeen an der Oost- Seiten aus, bis sie den vierdten dessel- ben Über die reparirte Schiffbrücke gehen könlen. Und diess ist der gewisse und warbaflle Verla uff, der sonder Sparung der Warheit wol wehrt, dass er an- gemercket, und dem Allerhöchsten unablässig dafür gedancket werde. Datum Warschaw, am 4. Augusti st. n. 1656.

a) uogefihr auf 5 a 6000 gerechnet. Datum im Felde bei Präge gegen Wanchanen gelegeu den 24 Julii Styl. veU 16M. Das Folgende fehlt.

4) eben so im Th. Eur. ed. II. 2) Ichersky 3) von deswegen ... bis gekeh ret fehlt. 4) §. 6t fehlt.

*) Ober die Brücke *•) ist den ... . geworden.

468 JOH. GtJST. Dioysbn, [12*

Beilage 3.

Relation III.*

Relation oder wahrhaftiger Bericht, wie es bey der von Seiten Sr. Churf. Durchl. zu Brandenburg wider die Polen und Tarlaren bey Warschau erhaltenen Victoria daher gegangen de dato 3f. Julii 1656 aus dein Churfl. Ilaupiquartier Prag vor Warsaw. Gedruckt in obgemeldeiem Jahr, (i Bl. *. I.)

Vergangenen Freitag den 88. Juli spül sein wir mit ankommender Nacht für des Feindes Lager angelangt. Ihre König]. Hayt. zu Schweden gingen nebenst Sr. Churfl. Durch!., des Herrn Grafen zu Waldeck General Leutnants Excellenz, dem Herren General v. Wrangein, dem Herrn Pfaltzgraffen von Sullzbach, Du- glassen und anderen Generalspersonen nebenst der ganzen Iteulerey' voran, und nachdem sie elzliche von des Feindes Truppen angetroffen wurden sie so- bald carchirert' geschlagen und bis an des Feindes retrancbement verfolget: Hierauff befahlen Ihre Uaylt. dem Feldzeugmeisler Sparren mit der Infanterie zu avanciren, welches auch geschehen. Gemeldte Infanterie bestund in 3 Schwe- dischen und 9 Brandenburgischen Brigaden zu Fuss. Nachdem wir nun avan- cirten bis auffeinen Musketschuss von des Feindes Lager, haben Sr. Haytt. die Armee lassen in bataille stellen, also das die Infanterie in der Milien, dieCaval- lerie auf beiden Seiten gestanden. Sobald nun der Feind unser vermercket, hat er gewaltig mit Ganonen unter unsre Infanterie und Cavallerie gespielet, wel- ches ohngefahr bei zwey Stunden gewähret, auch ohne Schaden nicht abgegan- gen, indem einem schwedischen Obristen ein Arm abgeschossen, auch unter- schiedlich andre Officiere und Soldaten sowol verwundet als geblieben.1 Nach- dem es aber ganz finster worden bat der Feind mit dem sohiessen eingehalten, da haben wir uns ein wenig auseinander gezogen und die Soldaten ruhen lassen, mit anbrechendem Tag* ist die armee wiederum in vier Tropfen* hinler einan- der in bataille gestellet worden also das die Infanterie mit dem rechten Flllgel an der Weixel, mit dem linken Flllgel in einem Wald und Morast gestanden, die

«) Der andre Druck, hall eWgirel b) dsrnndre Druck bil: Truppen.

*) Hit diesem Druck stimmt mehrfach der Bericht bei Ailzema p. 653 ff. und einzelne !en unserer Relation sind daher zu erläutern; das Wichtigere folgt in den folgenden An- klingen.

1) ende andere hooge Officeiren gingen met de Ruyterye vooraen. 1) het welcke de ea siende, speelda met soo hevicb canoneren op ons, dat veele van uns bleven, sonder- i een Schots Overate te pcerde Sengler genoml, ende een Brandenburg!) seh Major, ende wy Reen lijdt ofte macht hadden hei canon daer tegens aen te planten. 8} Nach Er- nung des Kriegsralbs In der Nacht, der Vorbereitungen zurSchlachl, des Loosungsschus- Itthrt der Bericht fort: waer op den onse armee in vier deelen achter een ander weder in die gestelt wierdt, sulcx dal den rechten vleugel onder sijn Cbur-Voratel. Doorl. naer Veisael, den slincker vleugel onder sijn Majesleyt aen bei wandt en de lloras ende de ntorie met de Artillerie in front tuvschen beydeo quam te staen.

***] Die Schlacht von Warschau. 1656. 469

meiste Cavalierie war mit Sr. Ghurfl. Durehi. auf den rechten Flügel1 ohne etz- liche wenige Squadronen so Ihr. Haytt. bei der Infanterie in reserve behalten. Die Schwedische wie auch unsre Artillerie war vor die Infanterie vertheilet, so hatten Ihr. Ghurfl. Durchl. auch etzliche Regimentsstücke bey sich. Umb 7 Uhr des Morgens fing der Feind an gewaltig mit Stücken auff unser armee zu spie- len und ward ihm von unserer Artillerie hinwieder tapffer geantwortet, der meiste Schade, so der Feind tbal geschah aus einer Schantze weiche auff einem Berg gelegen2 desswegen Ihre Maytt. und Se. Ghurfl. Durchl. sich unterredet und gut befunden solche Schantze zu attaquiren und Se. Ghurfl. Durchl.' so- bald! darauff zu marchiret, etliche Stücke gegen solche Schantz bringen lassen, auch den Herrn Gen. Major Goltzen mit 3 Squadronen zu Fuss commandiret, solche attaque der Schanze vorzunehmen. Dieser war kaum von uns abmarchi- ret, kam Bericht das etliche 4000 Tartarn sich durch den Wald zögen willens uns in den Rücken zu gehen. Ihre Maytt. sobaldt sie solches vernommen, seyn sie mit etlicher Reuterey auf die Tartarn iossgangen und solche über Halss und Kopf zurückgetrieben.4 Der Herr Gen. Leutnant Graf von Waldeck hat auch ein Theil von solchen Tartarn in einen Morass gejaget und ein Theil niederhauen lassen. Kurtz nach dieser action befahl Ihre Maytt. den Herrn Gen. Major Gra- fen von Waldeck mit drei Squadronen zu Fuss, etlichen groben und Regiments- stücken durch den Wald zu Sr. Churfl. Durchl. zu gehen , wie er aber in den Wald kam, war es so morastig das es unmöglich hindurchzukommen, auch be- orderte der Reichsmarschall Wrangel wie auch der Feldmarschall L. Duglass ihn wiederumb zurück zu ziehen, andeutende, das Ih. Churfl. Durchl. seiner nicht benöthigt;5 in solchem seinem Zurück -March ward er gewar, das sich der Feind mit Macht aus dem Lager zog und sich ansehen liess als wann der Feind Lust hatte es zur Hauptaction kommen zu lassen. Herr Gen. Major Graf von Waldeck stellte sich sobaldt mit denen drei Squadronen auff der Seite des Wal- des und liess die Stücken vor die Squadronen stellen, welches als es kaum ge- schehen rückten etliche Fahnen Quartianer hervor und gingen mit guter resolu- tion auf die Gvardte an, in Meinung zwischen solcher und einen Berg durchzu- kommen6 und etliche Stücke so wir auff dem Berge hatten wegzunehmen; aber sie wurden von der Gwardt und einer Squadrone so empfangen , das sie die Stücke vergassen ; im zurückgehn gab ihnen Herr Oberst Syburg wie auch die

4) De meeste Brandenburghsche Ruyterie uytgenomen eenige weynich soo sijn Ma- jesteyt by de Infanterie ende tot Reserve hadden ghehouden. 2) De meeste schade die den Vyantdede, was uyt seecker Schantse die op een bergh lag ende den Avenuen comman- deerde. 8) 't selve over sich genomen hebbende 4) dat sy haer over hals ende kop weder mosten te rugge begeven. Den Heere Generael Majoor Henderick Hörn voerende de troupen van reserve, dede veel hier by, ende de Heere Grave van Waldeck 5) dat men van wegen het Moras daer niet konde komen, ende liet Sijne Chur-Vorslel. Doorl. daer- en-boven weten, dat hy voor als noch geen secours van noode hadde, door dien hy niet all een hem alrede meester hadde gemaeckt van de hooghte maer ook vier ofte ses duysent van de Poolen , die van vooren uyt hare retrenchementen op hem selve, met een schricke- lijck gekryt eenen seer furieusen aenval hadden ghedaen, gheluckich hadde gerepousseert ende in hare voordeelen wede te rugghe ghejaeght. 6) ghemeent hebbende tusschen de selve ende een kieyn gheberghte in te breecken.

470 Jon. Gcst. D*OT8BW, [126

Stacke so Herr Gen. Haj. von Waldeck bey ihm hatte , eine Salve in die Seite, durch welches ihnen siemlicher Schade geschehen. Ohngefähr eine halbe Stunde hernach praesenlirten sich viel Stück Esqaadranen vom Feinde' gegen nnsre Armee aufweiche der Herr Gen. Peldseugmeister Sperr wie auch der Schwe- dische Gen. Major Bülaw so gewaltig mit Stacken Feuer geben lassen , das der Feind endlich gezwungen ward sich wiedemmb in sein Lager eu ziehen.

Weinig1 hernach marcbirten Ihr. Haytt. mit der Reuterey und Fuss-Volck ab und Eugen sich auff der linken Hand durch den Wald in Willens sich mit Ihr. Cfaurfl. Durch), eu conjungiren, ehe aber die Infanterie kam, kam der Feind in voller Bataille auf Ihr. Haytt. eu marchieret, darnach nahmen Ihr, Haytt. die schwedische Cavalleris neben etlichen esquadronen von uns. Hellten solche auff den linken Flügel in balallie, Hessen den Ochsenstern, welcher Oberst von der Artillerey, avansiren und marcbirten Ihr, Haytt. mit dem Flügel sacht auff den Feind an, liessen in Maren bissweilen etliche stocke umbkehren und (euer ge- ben , unterdessen kam unsre Artillerey und Infanterey such an und wurden gleichmassig neben den linken Flügel in 2 Treffen in Batalie gestellet, Sr. Cburfi. Durchl. blieben mit dem rechten Flügel in der 3ten esquadron' zu Fuss, so der Gen. Major Goltz bey sieb hatte, am Walde sieben. Sobald wir stunden, kam der Feind in grosser Menge und mit einem grossen Geschrey an marchirel und lieffen die Husaren mit ihren Copien auf unsern linken Flügel , für welchem der König in Person war. Die Husaren gingen in solcher Furie an, das von ihnen über die Hülfte sich durchs erste Treffen hinduroh schlugen, sobald aber des Königs Leibguarde zu Fuss eine Salve unter sie gaben, * ging die andere dalfle wiederumb zurück und wurd von den Unserigen etwas doch nicht weit verfol- get. Die andre Hiilffte, so durch das erste Treffen wie vor gesaget durchgedrun- gen, wurden von Unsern Reutern und Fussvolok dermaassen von allen Seiten angegriffen, das wie ich glaube nicht einer davon gekommen auch ihr Oberster erschossen worden.

Auff dem rechten Flügel4 da Sr. Chnrfl. Durchl., Gen. Wrangel, Gen. Uu- tenant Graff von Waldeck und Gen. Major Kannenberg waren, wurden die Pnh- len gleichmassigen im ersten Angriff repousirt. Die auff die Infanterie sollten treffen," für welcher Gen. Sparr, BUlaw und der Gen. Major Graff Waldeck wa- ren, wurden durch nnsre Canon en und Husquelen dermassen empfangen, das sie auch das Hasenpanier auff wUrffen. Die Tartarn, so uns umbringen wollen und schon an unsrer Bagage waren, wurden gleichmassig zertrennet; endlich

m) Der mdre Druck fall: io den S F.squ.droMii.

i) Echter quamen noch eenige andere Poolsche esquadron« legen oos mel eeo groote hevicheyt. S) Das Nachstehende weicht in dorn Bericht bei Aitxema bedeutend von Hei. 111 ■b. I) De Houstaren lijnde Poolseben Adel met landen teer wel gemooteerl deden den

'en aenval op hei Regiment van Sijne Majesteyls Garde le voat het welcke vier stnckeo

is met musqnet-kogels geladen, voor een borstweer hadde, ende reusseerden aenvanck- 800 wet ... 4) bei andere gros van de Tarieren, den Adel ende de Quartianen vte- ip den Chur-Vorat, geasaiatert sijude van den Heer General Wrangel Waldeck ende enbergh. B) een ander gedeelte van de Poole« allakeerde onder laschen deChor-Vor- cke Infanterie etaende ooder den Heer General Spar Bulau ende de General Majoor de e van Waldeck eode Golts.

127] Die Schlacht von Warschau. 1656. 471

wie wir von des Morgens 4 Uhren bis den Abend um 9 Uhr ohn Unterlass von den Feinden canonirt auch von allen Seiten attaquiret, hat uns Gott endlich die Gnade gegeben, das der Feind das Feld quittiren und in sein Lager sich re- teriren müssen.

Wir sein mit unsrer armee1 die Nacht auf der Wahlstatt stehen blieben und ist von Köngl. Maytt. und Churfl. Durchl. beschlossen worden den Feind bey früher Tages Zeit in seinem Lager anzugreiflen. Des folgenden Tags Sonntags zog sich der König mit dem linken Flügel und theils Infanterie an einen Wald, in welchem sich der Feind verschantzet , und lagen ein Regiment zu Fuss, et- liche 100 Dragoner, noch einige Reuterey darin, auch stund des Feindes meiste Gavallerry und 6 Regimenter Infantery hinter dem Wald auff einen Berg, auff welchem sie auch einige Stücke gepflanzet hatten,2 die tartarn hin gegen wie auch einige Pohlen stunden in einem Felde, so neben dem Walde, in Batallie. Die- ses verursachete das der König mit den meisten theil seiner Cavallerie und In- fanterie neben einigen kleinen Stücken auff die Tartarn lossgangen, indessen Hess Gen. Sparr mit denen schwedischen und unsern Stücken mit grosser Furie in den Wald spielen. Der Feind schoss mit Stücken und Musqueten hinwieder tapffer herauss. Dieses wehrete bey einer Stunde, biss endlich Gen. Sparr den Major G raffen Waldeck beordert den Oberst Syburg neben 500 Gommandirten in den Wald zu schicken8 umb den Feind zu attaquiren, sobald t solcher im Walde war ward gedachter Herr Gen. Major vom Herrn General commandiret an den Ort des Waldes mit einer Esquadron anzufallen, wo der Feind zwey Stücke stehen hatte welches er auch gethan , und obschon der Feind zwey starcke Salven auff ihn that, ward doch nur ein Mann verwundet und quietie- ret der Feind kurtz her nach seinen Vortheil ; die Reuterey so wir antraffen und chargirend nahm auch die Flucht. Wir verfolgten sie biss auff den Berg auf welchen der Herr Gen. Major Graff v. Waldeck 2000 zu Fuss neben einiger Ca- vallerie und Stücken fand, wovon derselbe den Herrn General averliret, welcher sobaldt mit ettlichen esquadronen zu Fuss und ettlichen stücken zu ihm kam und den Feind sobaldt in die Flucht brachte, auch sie hernach nur mit 500 commandirten und 200 Reulern biss in die Schantze vor Warschaw verfolget, selbige Schantze auch einnahm und wenn er mehr Volck gehabt hatte, mit ihnen in Warschaw gegangen wären. Wie wir uns aber mit so wenig Volck nicht auff die Brücke wagen durfften, steckte der Feind die Brücke an. Wie es eigentlich bey Sr. Churfl. Durchl. und den König zugegangen davon weiss ich kein Par- ticularien wie das sie den Feind auch an allen Orten geschlagen. Heute morgen hat sich Warschaw an uns ergeben. Der König und die Königin sind entwichen. Hat also Gott durch uns weinige Leuthe, die schon drey Tage Hunger gelitten, einen frischen mächtigen und hochmüthigen Feind zerstrewet.

4) Aach in diesem Theil weicht der Berieht bei Aitzema sachlich vielfach ab; er be- richtet auch die Vorgänge auf dem rechten und linken Flügel ; in den Angaben über das Gefecht im Centrum stimmt er mit dieser Relation wesentlich überein, ist aber weniger ge- nau. 8) Achter het woudt op een gheberghte in eenigeForten die met canon seer weel ver- slen waren. 8) de Colone! Sybergh met vief hondert gecommandeerde Soldaten recht toc in het woudt te laten gaen.

472 Joh. Gust. Droysen, [128

Beilage 4. Relation IV.

Anno 1656. 32 te Woche. No. \.

B. Einkommende Ordinär- und Postzeitungen.

Extra et- Schreibeos aus der Vorstadt Warschau, vom 31 . Julii.

In höchster Eyl berichte hiermit, dass wir, Gott lob und danck, den Feind geschlagen, das Feld behalten , und annoch heute die Stadt Warschau bezieben werden : Das Treffen hat gewähret zwey vollkommene Tage : Von Anfang bis zum Ende hat es sich folgender gestalt begeben : Am 28. dieses umb 9 Vhr ge- gen Abend geriethen die Parteyen und Regimenter aneinander, und währete das Gefechte bis ungefähr umb Mitternacht, es kam aber dennoch zu keiner Haupt- Action, ausser dem, dass mit den Stücken sehr au ff uns gespielet ward. Folgenden Tages, den 29. Julii, gieng das Treffen des Morgens umb 3 Vhr mit allem Ernst wieder an, und ward damit bis in Mitlernacht continuiret. Vor Mitlage zwar Hess es sich aujf unser Seiten sehr zweiffelhafftig ansehen , und meyneten die Polen gantz gewiss, sie würden unsere Meister werden, weil sie von drey erha- benen Orten auff uns cononiren kunten , da wir hergegen in der Niedrigung, aus welchen wir ihnen weil sie hinter dem Retrenchement hielten, wenig Scha- den thun kunten , stunden : Vber das , waren die Polen fünffmal so starck , als wir, und fielen uns bald von hinten bald von forne an. Nachmittage hergegen gewonnen wir ihnen eine Advantage ab , nemlich einen Pass , durch welchen wir mit der gantzen Armee filireten. Als die Polen solches vermerketen, ver- liessen sie ihre Retrenchement von forne, und stellelen ihr Geschütz von hinten reeta auff uns an, und giengen darauff mit ihrer gantzen Armee ins offene Feld : Gewiss ist es, dass es damals mit uns etwas hart hielte , angesehen auff unser Seiten so wol als hinter uns, nichts anders als lauter Morast und gantz keine Retraite war; muste also ehrlich gefochlen seyn, wer nicht schändlich sterben wolte. Vnd in Warheit, es bezeigeten unsere Soldaten, vom grossesten bis zum kleinesten, hierin eine so treffliche Courage, dass sie das Gefecht mit allen Freu- den angiengen, unangesehen der überaus grossen Menge, mit welcher sie an- gehen solten. Dieses muss ich bekennen, die Polen thäten einen so stareken und furiosen Angriff, dass sie zugleich auf alle unsere Regimenter ansetzten. Als es aber zum General-Treffen kam, welches sich ungefehr umb 3 Vhr Nach- mittage anfieng, hat der höchste Gott verliehen, dass wir nach fünffslündigem Gefecht das Feld behalten , und die Polen wieder in ihre Retrenchement getrie- ben , wegen einfallender Nacht aber sie weiter nicht verfolgen können. Am 30 Julii griffen wir die Polen in ihren Retrenchementen abermal mit gantzer Macht und solcher Courage an , dass wir sie innerhalb 5 Stunden nicht allein daraus, sondern auch aus dem gantzen Felde geschlagen, und also rühmlich eine vollkommene Victori erhalten haben. Wir haben gewisslich Vrsach dem

<29] Die Schlacht von Warschau. 1656. 473

höchsten Gott zu dancken für die grosse Gnade die er uns erwiesen , indem Er uns den Sieg verliehen hat, wieder so einen mächtigen Feind in der Anzahl, mit so wenigem Verlust, dann auf unserer Seiten in allem nicht Über 300 todt, und selbige mebrentheils unter dem GestUck geblieben sein. Den Verlust auf Polni- scher Seiten , kann man nicht eigendlich wissen , dennoch halt man dafür, dass derselbe auff 4000 und darunter viel vornehme Herren seyn sollen. Von den Schwedischen ist nur ein Obrister, genannt Senckeler, geblieben, von den un- srigen aber keine Person von Qualität, ausgenommen, dass Herr General Major Kannenberg von einer Stück kugel am dicken Fleisch aber doch nicht tödt- lich verwundet ist. Sr. Ex cell, dem Herrn Gräften von Waldeck ward ein Pferd unter dem Leibe erschossen, die übrigen von den 300 Todten sind mehrentheils nur gemeine Knechte gewesen. Se. Königl. Majest. von Schweden, so wol als Se. Churfürsll. Durchl. fochten beyde in eigener hohen Person selbst und mit so trefflicher Hertzhafftigkeit, dass es zu verwundern. Ich habe es gesehen, dass Se. Königl. Majest. unter den Tartern schon vermischet war, so stunden auch Seine Churfürstl. Durchl. einmal sehr gefährlich darunter, dennoch hat man den Allerhöchsten zu preisen, und muss dieses sagen: dass Gott diese beyde Poten- taten mit Seiner Hand beschützet hat. In Summa , die Schlacht ist gewonnen, der Feind aus dem Felde geschlagen, und eine gantz herrliche Victoria erhalten worden.

Der König Casimir ist mit der Königin und den fümembsten selb sechste durchgangen, wohin? ist unwissend, und haben so wol die Bürger als Soldaten die Stadt verlassen. Vnsere Völcker sind in voller Arbeit, die Brücke, so die flüchtige Polen hinter sich abbrannten , zu repariren , und hoffen wir noch die- sen Abend darüber in die Stadt zu geben : Der höchste Gott wolle ferner Glück und Gnade verleihen zu einer gewündschten Beruhigung Sr. Churfl. Durchl. Land und Leute 1

Abhandl. d. K. 8. Get. d. Witt. X. 83

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v -,. v \?v d^*n C^for.2^ne-ii *th*2**azI -ili as:h ^:c iz-ie--en deren des Litlawi- v.**. - riätzm+ivm Flerrn Goc«ewik.v Fjr^:c l-ekanr.: ist. an den Zähnen ob- t*- ;.-*• . #1»^ ^ l*rnrA fiter Herr SchaUinets;er seL

134} Die Schlacht von Warschau. 1656. 475

Beilage 6. Relation VI.

No. 32. Anno 1656. ParticalarzeituDg.

Aus Zakoczym vom 4 . Augusti.

Es wird demselben ohne dass kund seyn, Wie die Kö. Schwed. und Chur- Br. Armeen dieser gegen t ein Zeitlang gestanden, und an den Brücken über den Bug unfern dieser Stadt eifferichst gebavvet , es ist aber gleich wol nicht anders als zu lauter Frieden, darzu diese beyden Potentaten geneigt, die Hoffnung ge- wesen, allein durch die jetzt erschollene Zeitung, als wolten die unsrigen von keinem Frieden hören, sich auff die Fleischliche Macht der angekommenen 40000 Tartarn verlassend , und daneben ausstrewend, ob stünde es bey ihnen, den Frieden zu geben, aber diese beyde conjungirte Armeen, auch andere Alliirte ihres Gefallens gäntzlich zu ruiniren undauffzuheben, haben sie beyde hohe Poten- taten , welche wie wir selbst bekennen müssen , zur vergiessung unschuldigen Bluts, keine Begierde gehabt, dahin gebracht, dass, wie die Brücke fertig gewor- den, am vergangenen Donnerstage, als am 27. Julii gegen Abend, Se. Ghurf. Durchl. die gantze Artollerie, nachmahlen die Infanterie in aller stille, und gegen den Morgen die Gavallerie herüber bringen lassen, also dass am Freylag gegen Mittag alles über gewesen die Bagage ausser 2 Kaleschen die Sr. Ghurf. Durchl. und eine Sr. Grafl. Excel I. von, Waldeck mitgenommen. Die Völcker gingen so freudig über dass zu verwundern war. Se. Koni gl. Maytt. in Pohlen unser gnädstr. Flerr, welcher nebest dero Gemahlin zu Warschaw war, versah sich dessen nicht, sondern wahren in Freuden über die Ankunft obgedachter 40000 Tartarn in dero Lager hinter Warschaw. Und halten wir ein Mitleiden, dass diese Schwed- und Brandenburgische Armee , die den unserigen an stärckte unver- gleichlich, gleichsam auf die Schlachtbäncke geführet werden müste; müssen aber bekennen, dass es nicht an dem grossen Hauffen, sondern vornehmlich Göttlichem Beystande gelegen , denn in unsers Königes Lager hinter Warschaw wahren 60000 Mann von der Pospolite Ruszenie, zu Praag gegen Warschaw über waren 20000 Mann Litta wische Völcker, die Quartianer und Husaren waren auch 20 tausent, und der Tartarn 40000 (zusammen 4 00- und 40 tausent) Mann, auff diese letzte drey Armeen gingen die Gonjungirte loss, denselben Freytag und Sonnabend haben wir zwar nichts gewisses , wie es abgelauffen, am Sonntag frühe umb 4 biss 40 Uhr, hörele man unauffhörlich Ganoniren, ge- stern aber erhielten wir die allzu gewisse Nachricht, dass obwol unsere Husaren und Tartarn gegen die Brandenburgischen 3 Tage lang gefochten, ihnen dennoch durch unaufhörliches schiessen und Fewereinwerffen , welches die unsrigen zu erdulden nicht gewöhnet, zween starcke Schantzen mit stürm abgenom-

82*

476 Jon. Güst. Droysen, *32]

men, etliche tausent Mann erleget und die andern gantz aus dem Felde geschla- gen , mit Hinterlassung alles Geschützes und so viel tausent Bagage Wägen. Kön. Maytt. zu Schweden haben mit der Cavallerie unsern Flüchtigen nachge- setzt, unser in Praag gelegene Völcker haben, so viel als gekönt, sich theils über die Brücke, theils mit schwimmen durch die Weichsel, auf Warschaw reteriret, und die Brücke hinter sich angezündet , von dannen seind sie mit dem König und Königin weiter, wie man saget, auf Sandomirss gangen, hinterlassendt, den daselbst angehaltenen und krankliegenden Grafen Ochsenstirn. Die Ghurf. Völcker haben sich in Weichsel-Kähnen und Skuten nach der Stadt übersetzen lassen, woselbst sie zwar die Stadt geschlossen, und alle Pasteyen mit Stück, aber mit keinem Volck besetzt, gefunden, dannenhero auch der Bäht und die Bürger, umb sich vor der gäntzlichen Ruin zu erhalten, die Schlüssel der Stadt den Churfl. übergeben und dero Besatzung eingenommen. Die Tartarn sollen ihren Weg wieder au ff Lublin genommen haben, und ist zu besorgen, Sie sich auf? viel Meilen aussbreiten, und was sie antreffen, zur Beute in die Schlaverey mitnehmen werden.

*33] Die Schlacht von Warschau. 1656. 477

Beilage 7.

Relation VI.

Schreiben des Geheimen Rathes v. Plathen an des Statthalters Grafen Wittgenstein Excellenz. In dem Lager vor Warschau 24/34. Juli 4656.

Ew. hochgr&flichen Excellenz habe ich mit diesem wenigen die glückliche Victoria, so wir wider die Pohlen gehabt berichten wollen , sintemahl nachdem die Gonjunction den verschienenen Donnerstag bei Sacrozin geschehen, man so- fort folgenden Tages aufgebrochen und auf die Polen nach Warschau avancirt, so man auf der Seite nach Preussen in einem vortheilhafftigen Ort aufm Sand- berg stehend gefunden. Des Abends da wir angekommen, hat es zwar noch einige Scharmützel gegeben, aber die Nacht fiel bald ein. Des andern Morgens am Sonnabend stellten wir uns mit dem Tage in bataille und ging das canoniren bald an. Die Polen hatten ihre Stücke auf dem Sandberge und vermeinten da- durch grossen Schaden zu thun. Die Tartarn so in 4000 stark bei ihnen waren, suchten öfters von hinten einzufallen , so ihnen aber nicht glücken wollte. Die Husaren hielten sich tapfer und setzten wohl an aber mussten doch damit wei- chen. Die Polen aber wollten sich völlig aus ihrem Vorlheil nicht geben und ging also dieser Tag wieder weg, das kein Theil recht weichen wollte. Sonntag frühe ward unsres Theils resolviret sie in ihrem Vortheil anzugreifen so auch glücklich angangen. Indem sich unser Feldzeugmeister eines angelegenen Wal- des darinnen das polnische Fussvolck gestanden, bemächtiget. Darauf die Polen theils zur Rechten theils zur Lincken theils über die Brücke die Flucht genom- men und uns das Feld geräumet hinterlassend ihre Stücke und Bagage. Das Fussvolck hat sich über die Brücke nach Warschau retiriret. Der König in Poh- len hat aber unser daselbst nicht abwarten wollen, sondern ist die Nacht mit dem Fussvolk davon gangen und wie man sagt den March wieder auf Schlesien genommen und haben wir heute morgen Warschau ledig gefunden und darauf einzige Yölcker mit Schiffen überfuhrt weil die Schiffbrücke zum Theil abge- brannt und die Stadt wieder besetzen lassen.

P. S. Die Canonaden haben das beste gethan. Auf unsrer Seite seind über 300 oder 400 Mann. nicht blieben, von polnischer Seite hat man noch keine Nachricht, von S. Churfl. Durchl. ist an hohen Officieren niemandt blieben auch" nicht gequetschet ausser der Gen. Wachtmeister Kanneberger, so an beiden Beinen ziemlich gefährlich mit einer StUckkugel soll getroffen sein.

478 Joh. Gust. Droyskh, [134

Beilage

Concept für die in der Handschrift der Berliner Bibliothek No. 50.

Fol. aufgenommene Darstellung. *

p.p. als perduellem tractirte und ausschriebe.

Der polnische General Zamecki bekam gar darauf [Ordre] unter des Königs Hand Ordre welche in S. Ch. Durch!. Hände geriethe höchstgedachte S. Churf. Durch I. und dero lande mit fewer und schwerth anzugreiffen damit dan auch ein anfang in Pommern [und] wie auch in der Newmarck nachmahl gleichfalls in dem

HerzogthumPreussen wohin die Tarlaren [selbst] von ihnen [hinein] geführet wor- den gemachet und alle crudeliläten exerciret [wurde] auch von letzten viele Aecker

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leute gefesselt in die Dienstbarkeit weggefuhret wurden. Was konnte S. Churfl. Durchl. nun anders thun alss umb sich und Dero von Gott anvertraute lande wie auch mithin das Rom. Reich von Gefahr und desolation zu befreyen, dieje- nigen Mittel die dazu übrig zur Hand zu nehmen, und der Königl. Maj. zu Schweden wie zu Marienburg und Labiau geschähe sich naher zu setzen die Waffen darauff wirklich zu conjugiren und mittelst derselben sonderlich aber durch des Allerhöchsten Reistand dahin zu trachten wie ein beständiger repu- tirlicher Friede wieder herbeygebracht werden mochte.

S. Churf. Durchl. brachen dan auch aus Königsberg den A^~rv auf, kamen bey Dero Armee welche vorangegangen wahr, diesseit Schrinck den 4ten Juli und conjungirten sich ferner mit der Königl. Schwedischen den 47ten ejusd. ge- gen Abend bei Sacrozin und wurde von beyden Seiten darauff resolvirt den Abend und die gantze Nacht auch den folgenden 48/28. Juli die Armee über den Fluss den Rugh genannt bei Nowodwor filiren und auf das Städtlein Präge so an der Weichssel gleich gegen die Königl. Polnische Residenz Warschau [über] lieget gehen zu lassen , in der intention [zu trachten] sich zu bemühen ob der ohnweit daselbst stehenden lithauischen Armee eins beygebracht oder da [sol- ches nicht möglich und] dieselbe sich retiriren [dorffle] sollte, ob die Brücke bei Warschau ruinirt und wan man Über den Bugh zurückgegangen ob man bei Sacrozin über die Weichsselbrücke komen und dann füglich mit dem Feinde anbinden könte. [Es hatte aber eben solchen 4 S/28. Juli derselbe] Das Feldzei- chen wurde gegeben Stroh auff dem Huth und zum Worthe Gott mit uns und avancirte man dergestalt längst der Weichssel auf den Feind, das Ih. K. Maj. zu Schweden den rechten Ihr. Churf. Durchl. aber und Dero Generalität das corps * de bataille und den linken Flügel commandirte : Des Feindes Yortruppen prae- sentirten sich für denselben zwischen dem Wald und der Weichssel welche [biss] so bald [durch die Schweden] biss an Dero retranchement poussirt wur-

\) Die in [ ] gesetzten Stellen sind im Concept ausgestrichen, die mit untergesetzten Punkten bezeichneten zwischen die Zeilen geschrieben.

435] Die Schlacht von Warschau. 1656. 479

den. Folgenden Tages sehr frühe recognoscirte Ihr. K. Maj. und S. Churf. Durchl. das Lager und befunden dasselbe dergestalt beschaffen , dass der Feind darinne nicht anzugreiffen stunde und [funden] hingegen wol zu sein wen man denselben zur linken [Hand angriffe und] Hand [ankähme] suchte anzukommen zu dem Ende auch eine kleine colline [welche] nächst dem Walde [gelegen] sich zu bemächtigen, welches S. Churf. Durchl. mit einer ungemeinen intrepidät zu Werk so alsbald richteten nnd die darauff stehenden Polen nicht allein herunter

jageten, sondern als der Feind darauff seine force zur rechten Hand zöge und in die Churf. Flanque [zu] gehen wollte, denselben zurück trieben. Die allyrte bataille wurde darauf geändert und ging Ihre K. Maj. mit Dero Infanterie und Cavallerie hinten umb den Churf. Flügel durch den Wald und postirlen sich gleichfalls auff das flache Feld, die lincke Hand und den lincken Flügel nunmehr führend, welches als es die polnische Armee vermerckete aus den retranche- ments gingen und in guter Ordnung auf die Allyrten advancirten, darüber man ins Gefecht geriethe und obwol von den Husaren und Reuterey mit erschreck- lichem Geschrey ein furioser Anfall geschähe, die Tartarn auch entzwischeu wiewohl aber vergebens sucheten den Allyrten in den Rücken [inzwischen]

zu gehen, wurden selbte doch zurück getrieben das sie in einer ziemlich confu- sen retirade ihr Heil suchen mussten.

Man postirtesich darauff gegen die Nacht kurtz vor dem feindlichen Lager und als der Sontag angebrochen beschlösse man den Feind aus einem ihm zur rechten Hand gelegenen sehr vorteilhaften Walde zu bringen und wurde die Verrichtung dessen dem Churf. Brandenburgschen Gen. Feld Zeugmeister Sparr aufgetragen, welcher vorher hefftig in den Wald canonirte darauf mit der Ghurfl. Infanterie und 5 esquadrons Reuther hineindrängte [welchem] und dahin

S. Churf. Durchl. in eigner Person mit 6 andern esquadronen [demselben] zur rechten Seithe [sobald] folgete und vigoureusement die darauf befindliche pol- nische Reuterei herunter jagete. [Der feindliche]. Sr. Churf. Durchl. waren Willens hierauff in die feindliche Infanterie als welche ihre Stücke bereits ver- lassen und sich zurückgezogen zu dringen, Ihre K. Maj. Herr Bruder aber diver- lirte sie davon und [bekamen] erlangten jene seihten also [dieselben dergestalt]

Zeit sich über einen Morast [worinnen] da sie [gleich wol] nicht wohl verfolget werden kOndten und worinnen viele der Ihrigen nebst den Pferden umbkamen

zu ziehen. Als nun darauff des Feindes linker Flügel durch S. Churf. Durchl. angegriffen und über hauffen geworfeb worden und wie obgemeldt die feind-

liehe Infanterie die Stücke Bagage und das Lager verlassen , wollte der feind-

...

liehe rechte Flügel welchen Ihr. Maj. in Schweden gegen sich hatte, keine son- derliche resistenz mehr tbun , retirirten sich gleichfalls und ob man wol den- selben immer verfolgete flöhe er doch so starck und zündeten [und ruinirtenj

alles hinter sich an , das wegen abgematteter Pferde und da in dieser dreitägi-

gen aelion die König]. Schwedischen und Churbrandenburgischen Völcker bey einer sehr grossen Hitze fast nichts genossen hatten, [dass endlich] man zurück- bleiben musste. Worauff sich Montags früh die Kttnigl. Polnische Residenz

480 Joh. Güst. Droysbn, [436

Warscbaw so von ^polnischer Garnison verlassen worden den Allyrten devote ergab und von denselben wieder besetzt wurde, Sr. Ghurf. Durch!, aber be- gaben sich höchst vergnügtt und dankbahr gegen die göttliche Maylt. dass der- selbige durch so wenige Kräffte [und] indem [wurde] die Ktfnigl. [Polnische] arm£e nur in 9000 die GhurfUrstliche aber in 8490 Mann gestanden und gegen eine Macht welche anfangs 420000 Mann Jetzt aber dero eigenem Geständniss nach 84000 [Mann stark] Combattanten starck gewesen, so grosse und herrliche Dinge aussrichten wollen, zurück und langeten den 19ten Aug. in Soldaw, den 23sten desselben aber wiederumb in der Residenz zu Königsberg an. Hierauf nunfward Polen des Kriegess et sequentia.

Beilage 9.

Schreiben des Geheimen Rathes Jena an den Churfürsten.

Cöln a/S. 1 8. Spt. 1 672.

Ew. Churfl. Durchl. haben mir gnädigst befohlen eine Relation von dem Treffen, welches nunmehro länger dann vor 46 Jahren bei Präge jenseits der Weichsel gehalten worden aufzusetzen und unterthänigst einzuschicken. Nun bin ich schuldig zu thun, thue es auch willig und gerne was mir gnadigst an- befohlen wird und von mir verrichtet werden kann. Dieweilen aber zu einer dergleichen Erzählung erfordert wird, das derjenige, welcher sie aufsetzen soll eigentlich und punctuell wisse wie und wo die Regimenter Brigaden Esquadro- nen und Stücke gestanden , wie sie getroffen und mit was für Effect absonder- lich was Ew. Churf. Armee und Stücke ausgerichtet, was Vormittage was nach- mittage geschehen und ich von diesem allen weder Wissenschaft habe noch auch das allergeringste hievon im Archivo zu finden Uberdem welcher solchen Aufsatz macht die Kriegsactionen und die rechten terminos wissen muss woran es mir wie bekannt ermangelt, so werden Ew. Churfl. Durchl. wohl von selbst gnädigst ermessen, das es mir unmöglich fällt einen Bericht wie denselben Ew. Ghurf. Durchl. begehren, zu verfertigen. Es hat mir aber Ew. Ghurf. Durchl. Secretarius Hartmann beikommende gedruckte relation zugestellet, welche zwar wegen des Marsches und der communication beider Armeen und was etwa den Freitag dabei, ehe die Kanonen durch den Bruch kamen, fürging, meines Erach- tens nach wohl recht eingerichtet. Ob aber dieselbige dasjenige, was hernachmals noch des Freitags Abends und hernach bis auf den Sonntag, da die Bataglie ein Ende hatte vorgelauffen und sich in den Acten selbst begeben, eigentlich an sich habe und von Ew. Churf. Durch, und derselbigen Armee dasjenige setzen was zu setzen, daran muss ich fast zweifeln. Denn als Ew. Ghurf. Durch, den Sontag1 die Polen von dem Hügel jageten, da habe ich weil ich dabey war gesehen, dass Ew. Ghurf. Durch, auch Stücke bekamen, davon stehet in der relation nicht. Ferner

4) Schreibfehler statt Sonnabend.

437] Dm Schlacht von Warschau. 1656. 481

wird gesagt Ew. Churf. Durchl. hätten mit dem Pussvolk accordiren wollen, dassel- bige aber wäre unter dem Accord über die Brücke gegangen ; ich habe aber dazu- mal gehört, was zwischen Ew. Churf. Durch, und des Königs Bruder geredet ward und dass, wenn es von diesem nicht divertiret, die Fussvölcker wohl Ew. Churf. Durch, gewesen und nicht über die Brücke gehen können. Dann so habe ich den Sonnabend gesehen, das als die Hussaren auf das anhaltische Regiment treffen wollen, zuvorhero von Ew. Churf. Durch. Guarde zu Fuss mit einer stattlichen Musquetade empfangen worden , davon schweigt die Relation auch. So wird auch nicht gemeldet, dass als am Sonnabend nach mittag die Bataglie zu endern, das dieselbige enderung mit grosser Conduite von dem Herrn Feld- marschall Sparren sei. dergestalt gemachet, das ich selbst von theils hoben schwedischen Befehl ig thabern mit dem grössten Ruhm davon sprechen hören. Und da Herr Feldmarschall Sparre den Sontag das polnische Fussvolck aus dem Busch jagte da hatte er nur Ew. Churf. Durchl. Fussvölker und that der dama- lige Obristleutnant Moll mit des Herrn Feldmarscball Regiment den ersten An- griff gehrauchte auch nun Ew. Churf. Durchl. Stücke. In der Relation aber stehet nur in gemein das es mit derlnfanterie und 200 commandirten geschehen. Und was dergleichen mehr. Wenn nun Ew. Churf. Durchl. gnädigst gefallen möchte durch einen kriegserfahrenen und welcher bei der Aclion gewesen und alles was soldatisch verstünde, durchsehen und an allen Orten zurecht einrich- ten liesse, welches doch, wenn die bataglie in Kupfer gebracht werden soll, ohne dem nöthig, so würde diese beykommende relation wol zu gebrauchen sein. Es ist ja gesetzet, als wenn der König alles gethan gerathen verrichtet etc. Sonst, gnädigster Churfürst und Herr, muss ich unterthänigst berichten, dass so lang ich die Gnade gehabt in Ew. Cburf. Durchl. Diensten zu sein, alles was Merian in seinem Theatrum Europ. und sonst von Ew. Churf. Durchl. und Dero acliones drucken lassen, durchaus partheyisch und alles was er Ew. Churf. Durchl. und deroselben Soldatesque beylegen sollen, derselbigen entgegen oder doch alles corrumpiret. Womit Ewer Churfürstlichen Durchmächtigkeit in den Schutz Gottes trewlich empfehle und alle Zeit verbleibe

Durchlauchtigster Gnädigster Churfürst und Herr Ewer Churfürstlichen Durchlauchtigkeit

Cöln an der Spree untertänigster verpflichteter

den 48. Sept. 4672. trewer Diener

Friedrich von Jena.

482 Jon. Gust. Dboysen, 138]

Beilage 10.

Verzeichniss der schwedischen und brandenburgischen Truppen.

I. Die schwedische Armee.

1 . Cavallerte.

1 . Leibregiment des Königs.

2. Leibregiment der Königin.

3. Reg. Upland unter Obrist Plauling 2 Esc.

4. Reg. Smalaod 2 Esc.

5. Reg. Ostrogotben 2 Esc.

6. Reg. Prior Adolph Johann von Pfalz Zweibrücken,

7. Reg. Obrist Taube.

8. Reg. Fürst Radzivil.1

9. Reg. Finnland unter Obrist Fabian Berend 2 Esc. 10. Reg. Graf Wittenberg.

41. Reg. Markgraf Carl Magnus von Baden.

42. Reg. Obrist Sinclair.

13. Reg. Obrist Hammerschild.

14. Reg. Obrist Aschenberg.

15. Reg. Obrist Breitlach.

46. Reg. Obrist Freiherr v. Hörn.

47. Reg. Graf Königsmark 3 Esc.

48. Reg. Obrist Yxkull.

19. Reg. Obrist Rose,2 2 Esc.

20. Reg. Obrist Sadowsky 3 Esc. 24 . Reg. Obrist Bötticher.

22. Reg. Obrist Israel_Ridderhielm.

23. Reg. Feldmarschall Wrangel.

24. Reg. Westrogothen8 2 Esc.

2. Dragoner.

4. Reg. Prinz Philipp von Pfalz Sulzbach.

3. Infanterie.

1. Reg. Südermanland.

2. Reg. Westgothen.

3. Reg. Smaland.

4. Reg. Upland.

5. Reg. Narn.

6. Regina. Helsing.

4) Bei Memnierftals Dragoner angeführt. 8) Bei Memmcrt Reg. des Herzogs von Mek- lenburg. 8) Bei Memmert Reg Krause.

439] Die Schlacht von Warschau. 1656. 483

II. Die brandenburgische Armee.

4 Cavallerie.

4 . Reg. Churfürsten Leibgarde zu Pferde 5 Esc. '

2. Reg. Graf Friedrich v. Waldeck Generalleutnant 5 Esc. *

3. Reg. Gen. -Wachtmeister Kanneberg 3 Esc.

4. Reg. Obrist Eilern 3 Esc.

5. Reg. Obrist Schoneich 2 Esc.

6. Reg. Obrist Leschwang.

7. Reg. Herzog v. Weimar 2 Esc.

8. Reg. Obrist Brunei 1.

9. Reg. Gen. -Major Graf Josias v. Waldeck 2 Esc.

2. Dragoner.

4 . Reg. Generalleutnant Graf Friedrich v. Waldeck 2 Esc.

2. Reg. Obrist Canitz 2 Esc.

3. Reg. Obrist Kalkstein.

3. Infanterie.

4 . Reg. Churfürsten Garde zu Fuss.

2. Reg. Gen. -Feldzeugmeister Sparr 2 Brig.

3. Reg. Gen. -Major Goltz 2 Brig.

4. Reg. Gen. -Major Graf Josias v. Waldeck 2 Brig.

5. Reg. Obrist Syburg 2 Brig.

Ordre de bataille 29sten Juli. Linker Flügel. König Karl Gustav. Generalissimus. Prinz Adolph Johann von Pfalz Zweibrücken.

Cavallerie. Feldmarschall Leutnant Douglas.

Erstes Treffen. Gen.-Leutnant Pfalzgraf Philipp von Sulzbacb.

4 Esc. Sulzbach Dragoner.

4 Esc. Königs Leibregiment.

4 Esc. Königin Leibregiment.

2 Esc. Upland.

2 Esc. Smaland.

2 Esc. Ostrogothen.

4 Esc. Pfalz Zweibrück.

4 Esc. Taube.

2 Esc. Gen.-Maj. Graf Josias Waideck. Zweites Treffen. Markgraf Carl Magnus von Baden.

4 Esc. Fürst Radzivil.

2 Esc. Berends Finnen.

4 Esc. Wittenberg.

\) Nach Memmert 3 Esc. J) Nach Memmert 4 Esc.

484 Joh. Gust. Droysen, 4 40 j

4 Esc. Markgraf zu Baden. 4 Esc. Sinclair. 4 Esc. liammerschild. 4 Esc. Aschenberg. 4 Esc. Breitlach. Drittes Treffen. Gen. -Major Hon). 4 Esc. Hörn.

3 Esc. Graf Königsmark.

4 Esc. Yxkuil.

2 Esc. Rose. 4 Esc. Sadowsky.

' Infanterie. Gen. -Major Bülow. 4 Brigade .... 4 Brigade .... 4 Brigade .... Artillerie. Gustav Oxenstjerna.

Gros de bataille (Centrum) unter Wrangel (?).

Erstes Treffen. Gen.-Feldzeugmeister Sparr.

1 Brig. Goltz.

4 Brig. Josias v. Waldeck.

\ Brig. Sparr. Zweites Treffen. Gen.-Maj. Graf Josias Waldeck.

1 Brig. Jos. Waldeck. 4 Brig. Syburg.

4 Brig. Syburg.

Rechter Flügel. Churfürst Friedrich Wilhelm.

Feldmarschall Wrangel.

Cavallerie. Gen. -Leutnant der Cavall. Graf Friedrich v. Waldeck. Erstes Treffen. Gen. -Major Kannenberg.

5 Esc. Churfürst Leibgarde zu Pferd. 5 Esc. Gen.-Leut. Graf Waldeck.

3 Esc. Gen.-M. Kannenberg. Zweites Treffen. Gen. -Major Graf Tott.

r

2 Esc. Canitz Dragoner.

2 Esc. Westgothen.

4 Esc. Wrangel. 4 Esc. Israel Ridderhielm.

i 4 Esc. BOtticher.

| 2 Esc. Fr. Waldeck Dragoner.

i Drittes Treffen

4 Esc. Kalkstein Dragoner.

3 Esc. Eller.

| 2 Esc. Herzog v. Weimar.

141} Die Schlacht von Warschau. 1656. 485

4 Esc. Leschwang. 2 Esc. Schoneich. 4 Esc. BrUnell. Infanterie unter Gen .-Major Goltz. 4 Brig. Leibgarde zu Fuss. 4 Brig. Span*. 4 Brig. Goltz. Artillerie. Gen. -Feldzeugmeister Sparr.

Beilage 11. Danziger Berichte.

Durch gütige Yermittelung des Herrn Professor Hirsch in Danzig bin ich in den Stand gesetzt nachträglich noch ein Actenstück zur Aufklärung der Schlacht von Warschau mitzutheilen. Auf seinen Antrag hat der Magistrat der Sladt Danzig die überaus grosse Gefälligkeit gehabt, mir ein Actenheft aus dem städti- schen Archiv nach Berlin zu senden, das für die von mir behandelten Dinge vielfache Aufklärung giebt.

Das Actenheft führt den alten Titel Gregorii Barckmanni Secretarii civitatis Residentis in aula Regia tempore belli Suecici. Es beginnt mit einem Schreiben Barckmanns aus Warschau vom 46. Juli 4655 und umfasst dessen Correspon- denzen und Zusendungen an die Stadt bis zum Februar 4657, kurz vor dem Einzug des Königs in Danzig.

Seine Briefe sind um so lehrreicher, da er, fast unausgesetzt in der Umge- bung des Königs, namentlich seit dem schnöden Abfall des polnischen Adels das Vertrauen des Königs, das er als Resident der treugebliebenen Stadt ver- diente, in hohem Maass genoss. Er wohnte häußg den vertraulichen Sitzungen der Räthe des Königs bei und in den schlimmsten Tagen, denen nach der War- schauer Niederlage, suchte der König seinen Rath.

Aus den Schreiben Barckmanns während der letzten Wochen vor der Schlacht ergeben sich manche für unsere Aufgabe wichtige Punkte.

Namentlich geben sie ein anschauliches Bild von dem Anschwellen der polnischen Kriegsmacht und von der in gleichem Maass wachsenden Siegesge- wissheit; wiederhohlentlich lässt der König den Danzigern sagen, dass er in Kurzem kommen und auch ihre Stadt entsetzen werde.

Ich lasse zunächst einige Auszüge aus den Briefen vor der Schlacht folgen.

Der König war am 30. Mai bei Warschau, das bereits von der litlhauischen Armee belagert wurde, angekommen und hatte in der Nähe der Stadt in Jasdowa Residenz genommen. Von dort schreibt Barckmann am 6. Juni1

. . . »Wegen der Tartaren haben wir seit dess Legaten Mehmet Ali Mursa, der nebenst Jan Romasskowic von hiesigem Hofe ab ad Electorem gegangen zur

1} Nicht am 46. Juni, wie von späterer Hand corrigirt ist.

486 Job. Gust. Dkotsbh, 4*2]

fidelität I. Ch. D. anzumahnen, keine Nachricht gehabt. . . . Ein grosses fewer liegt noch in der a sehen, die Schweden kratzen nur nit zu viel, ess kann ihnen noch heiss genug dabei werden .... Seren. Elector soll seine Völker auch zusammengezogen haben, aber verboten nichts feindliches wider Pohten zu tentiren, welches auch Gen. Ranneberg an den Woywood. Ploczky durch ein eignes Schreiben deutlich zu verstehen giebt und dass er ordre habe ab Electore empfangen die Völcker über die Preusche grenze nit gehn zu lassen. . . . Zulan- gend unsern Zug unter Warschau sind wir den 30. Mai mehr denn 4©0/m Seelen zu Prag an der andern Seite gestanden und den tag hernach ohne einiges Hin- derniss über die Weissei gegangen und zu der littawschen Armee die allbereit 12/ra stark in der dritten Woche die Stadt herumb blocquiret gestossen. Von deutschen zusammengebrachten Fussvöikern etwa 5/m Mann bestehet die Infan- terie, bey denen finden sich unter ihren Führern und Fahnen unzehlige arme Edelleute mit allerhand Schussgewehren mit haken schauflen und spiessen. Nach ihnen etzliche tausend unter ihren fübrern und fahnen Pawern mit sen- sen. Zu Boss sint bei zwanzigtausend wohl mundirte Quarciani und viel tausend Pospolite Russenia, die sich noch von tag zu tag wie die Bienen vermehren und an den wassern liegen. In summa es mangelt nichts nächst der gnade Got- tes als an guter resolution und guter anführung. «

44. Juni*. . . . »die Beylage der tartari sehen sreiben habe auss dem Origi- nal copirt und ist der Abgesandte «per posto zurückgegangen umb zu avisiren die grosse macht welche Serenissimus allhier bey einander hat und effective Regestrowick ludzie zum schlagen 70/m gerechnet werden. Die Ilolota hat alle- zeit das Allarm gefordert sie wollen stürmen, also haben Seren, den 8ten ihren willen ihnen gelassen, seint demnach ein paar tausend von allen seiten angelau- fen mit leitern und blossen achschen sensen und spiessen u. s. w.«c

45. Juni .... »Unsere armee betreffend ist nach eingekommenen beriebt, das der feind im antzug, der littawsche Feldherr Saphiea effective 42/m Mann stark und mit dem königlichen Leibregiment Dragoner Über die Weissei dem feind entgegen gangen, sich mit Czarnecki, der auf 30/m M. gerechnet wird zu conjungiren. Der Herr Krön Marschalk ist aber hieher unter die Stadt gerückt auch an 30/m stark, welche insgesamt towarsistwo sind. Die Pospolita Russenia wird a parte gerechnet, so auch allhier theils unter Jasdowa und auf der andern Seite der Weissei lieget, in die 30 tausend bestehend. Die Feldherrn haben dan auch noch absonderlieh ihre Pulte ; ein jeder ist resolvirt zu fechten auf das euserste. Der Fussvölker drey Regimenter liegen umb der Stadt herumb und aprochiren von tage zu tage ; sobald als immer das grobe Geschütz folget wel - ches Herr Samoisky nachbringet und schon unterwegess ist können wir wills Gott mit Warschaw fertig werden .... der feind lieget bei Pulkowka und hat wollen über den Bug gehen, die unserigen haben ihn aber gewehret . . . . «

24. Juni .... »man ist vor zwey drey tagen mit der hälfte der Armee biss unter Bialenko und an den Bug gerückt woselbst bei Nowidwor der feind sich schon angefangen überzumachen .... nachdem er kundschafl eingezogen von unsrer grossen macht, ihm auch bald drey fahnen aufgeklopft worden, bleibt er

143] Die Schlacht von Warschau. 1656. 487

stehen und sucht von der andern seite Warscbaw zu seeuadrren . . . der Herr Samoisky komt heut oder morgen gewiss an mit etzlich tausend Infanterie und etzlichen grossen geschtttzen. Zur bataille können wir taglich über die 80/m auffuhren und die lager bleiben doeh voll bewehrter Manschaft . . . .

VonjiemseLben Tage »unsere Armee bestehet unter folgenden Generals- personen. Unter den beyden Cronfeldherren 20yta towaizistwo same. Unter dem litlawschen Feldberrn Saphiea 19/m towarzistwo. Unter Herrn Czernecky tö/m Unter Herrn Cron Marschalk 20/m. Und die unzehlige Pospolita Ruszenia, die noch von tag zusammenziehen. Diese haben sich nun vertbetlt auf beide Seiten der Weissei und sind gut resolvirt zu schlagen. Die deutschen Regimenter liegen umb die Stadt herumb . . . . a

Dass die schwedische Armee nur vier Meilen von Warschau entfernt durch* aus nichts zu thun vermochte, um ihre eingeschlossenen Truppen und die vielen hohen Officiere, die sich dort befanden zu entsetzen, wurde polnischer Serts als ein Zeichen ihrer völligen Entmuthigung und Ohnmacht angesehen. Am $9. Juni schreibt Barckraann, der König habe ihm aufgetragen dein Hath von Danzig zu schreiben »dass sobald man hier mit Warschaw richtig worden, welches den» nunmehr etzliche tage nit kan anstehen, so solle die ganze Arnräe herunter gehn und suceurs der Stadt mit aller macht suppeditirt werden. Ess wäre auch von stunden an ein corpo formiret und schleunigst herunter commandirt worden, weil aber der feind mit setner Hauptärmee gegen uns anmarchiret, bat man unsre Armee zu trennen vor gewisser habender Kundschaft, wie stark der feind, nit für rathsamb befunden ..... der feind verachtet uns zwar und unsre waffen , man weiss aber das vormals die ganze weit mit lanzen und spiess be- kriegt ist, die schwedischen röhre versagen auch und treffen nit allzeit das Ziel,

zudem mangelt es uns daran auch nit Ueber tausend Pferde hat ifcm

schon alibereit, die auf dem Grase gegangen, der Herr Schonberg, auescomtnan«- dirt mit 30 fahnen, gestern auch jenseits des Bug, woselbsten die ganze schwe- dische Armee stille steht, 40/m gerechnet in allem, wiewol andre nit 6/m an- schlagen, mit vortel nebenst 60 gefangenen weggenommen ; und wie ihm etliche cornet naohgesetzet, hat er sie biss in ihr lager repoussirt .... Die littawscbe Armee der Herr Czarnecky und der Cron Marsebai k liegen bey Nowidwor .... Unsre Armee besteht in 48/m littawsche Völker eitel gutte geübte quarcianer. Die Cron Armee auf die 50/m. Andere Wolinsche, Podiasche, Reusche powiaten ! nit weniger auch gutte Soldaten 20/m. Da reebne man nun mit was die Knechte sind die auch alle bewehrt zu pferde sitzen und noch eins solche zahl machen wie dieser alle ist. Zu dem kommen folgends die drey deutschen Regimenter zu Fuss , Obr. Buttler Generals Artillerie , Obr. Grodhausen und Obr. ßoefaun Dragoner das vierdte, alle über tausend mann stark. Etzliche Regimenter Hey- ducken bey jedwedem herren , die auch immer zusammengestellt werden, und ein ziemlich stark corpus praesentiren. Endlich so viel tausend arme Edelleule und landvolk mit unterschiedenen handgewehr und sensen. Zu welchen jetzt

4) Distiicte.

488 Joh. Gi st. Dbotsbn, 4M]

aufs newe anzurechnen die Tartaren, die nun gewiss alle tage erwartet werden« Auss welchem allen unsere Verfassung kan gesehen werden dass sie so schlecht nicht ist .... Der herr Schonberg ist etwa mit 4/m Pferden Tartaren und Walachen auf der Seite da der feind ist ...

Am 4. Juli meldet Barckmann, dass der Tartarenchan 20/ro Tartaren habe aufbrechen lassen, die schon vor 8 Tagen bei Urcia vorbei gewesen; »von hier ist ihnen entgegen gangen der Star. Koronny Jaskolsky umb sie zu führen nach der Preussschen Grenze weil Elector sein volk zusammenzieht und die Ursache man nit weiss. Man rechnet hier effective podpisane woisko 80/m und noch einss so viel Holotta, die auch wie bey dieser ocasion wohl zu gebrauchen sind . . . . a

Allerdings hatten sie bei der endlichen Capitulation Warschaus (am 4 . Juli) sich eben so bemerklieb gemacht, wie die Quartianer und die Pospolita Russenia. Die kleine schwedische Besatzung hatle in der Capitulation freien Abzug bewil- ligt erhalten , aber die Quartianer und die Posp. Russ. forderten dass wenig- stens die sBmmtlichen höheren Ofßciere kriegsgefangen gehalten würden, worauf man that, wie sie wünschten. Auch das »Gesinde« erhob seine Stimme »wass für eine furie unter dem volk ist kann nit ausgesprochen werden ; wie man aecordirt hat, hat die Holotta keinessweges bewiligen wollen ; endlich ist der Herr Unterfeldherr sie zu stillen hergeritten, man hat ihm aber das Pferd unter dem leib geschossen und mit einem zügelstein einss versetzt ; und wie sie sich noch stillen lassen, sind sie mit der furie auf den bazar gelaufen und haben die armen Armenianer geplündert.« So meldet Barckmann am 3. Juli. Zugleich meldet er das Herannahen der Tartaren : »20/m stark, allein an Bojaren.«

Am 45. Jul. » . . . Gestern ist General Podpis gewesen und hat sich die Armee zu felde praesentirt, machen eine fronte von der Weissei an biss an Jasdowa und werden über 4000 Standarten gezählet, fussvolk und Dragoner, gutte alte volker ist bey 5/m Mann , haben bey sich 30 mehren tbeils grob ge- schütz. keines unter 42 Pfd Elector hat durch ein Schreiben zu ver- stehen gegeben die Ursach warumb er sich mit den Sweden conjungiren müssen und aretius verbinden ; Man will aber solchem schreiben noch nit trauen, dass er es serio meinen solte , wie denn auch noch die gestrigen gefangenen ausge- sagt , dass der meisten meynung ist, er werde seine Völker über die grenze nit lassen gehn «

Nach diesen Berichten erscheint die Masse der polnischen Armee ungleich grosser als in irgend einer bisher bekannten Angabe ; und wenigstens die Trup- pentheile, die als »registrirte Leute« (regestrowick ludzie) als »unterschriebener Herr« (podpisane woisko) bezeichnet werden, müssen im königlichen Haupt- quartier dafür gegolten haben in solcher Zahl im Felde zu stehen. Was die to- warzistwo (vereint) betrifft, theilt mir Herr Dr. Strehlke Folgendes aus Bandt- kie II. 4 483 mit: »Towarzyz heisst ein jeder Edelmann, der als blosser Edel- mann ohne Rang beim allgemeinen Aufgebot zu Felde dient und gewöhnlich 4—5 Knechte (Pacholken) bei sich hat. Dann aber heissen Towarzyz auch die für immer bei der Nationalcavallerie dienenden , deren jeder einen Szeregowy

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445] Die Schlacht von Warschau. 1656. 489

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(Gemeinen) unter sich hat , der für ihn Wachtdienste u. s. w. thut , aber auch in Reih und Glied ficht. Ein solcher Towarzyz przytomny erhält für sich, seinen Szeregowy und zwei Pferde jährlich 4200 fl. «

Die Angabe, dass das Heer der Tartaren allein 20,000 Herren (Bojaren) zählt, rechtfertigt die anderweitige Ueberlieferung , dass die Gesammtmasse dieses Hülfsheeres unter Supan Kazi Aga die doppelte und vielleicht dreifache Zahl betragen haben mag,, Es ist beachtenswert, dass Schonberg sobon vor ihrer Ankunft (s. Bericht vom 29. Juni) mit Tartaren und Walacben ausrücken konnte. Endlich ist in Betreff des Pussvolks noch eine Schwierigkeit zu bemer- ken. Bereits am 4 7. Febr. 4 656 bat Barckmann aus Lemberg geschrieben : »Hier werden die alten Regimenter completirt General Grodsicky seins, Obr. Gwtfrau«- r --__ sens, Obr. Buttlers, Obr. Bockens und mangelt gar nit an guter praeparation.«

Ess cheint dass Gen, Grodsicky das König). Leibregiment|Dragoner führte ; warum aber in dem Bericht vom 29. Juni gesagt ist »Obr. Buttler Generals Artillerie« weiss ich nicht; denn dass er die Artillerie commandirt haben sollte, ist nicht zu vermutben.

Um die Mitte Juli würde nach Barckropnns Berichten die polnische Armee folgende Bestandteile gehabt haben.

4. 42,000 M. Litthauer towarzistwo Quartianer unter dem Grossfeldherrn (Hetman Litt. Wielei) PaulSapieha Woywoden von Wilna, Unterfeldherr Vincenz Gonsiewsky Unterscbatzmeister (Podskarbi Litewscki).

2. 20,000 H. ' towarzistwo unter den beiden Kronfeldherren , dem Krön- grossfeldherm (Hetman Poini Wielei) Stanislaus Potocky Woy- woden vonKrakau, und dem Kronfeldherrn (Hetman Poini) Stanis- laus Lanokoronsky.

3. 20,000 M.1 unter C zarneck y.

4. 20,000 M.8 towarzistwo unter dem Krongrossmarscball (Harschalk wieici koronny)^ Georg Lubomirsky* (Diese Corps 2. 3. 4 nennt

e'^i: J der Bericht vom 29. Juni die Cronarmee und giebt ihr 50,000 M.)

P™'- 5. 20,000 M. gute Soldaten aus den Volhynischen , Podiachischen, Russin

inm,> sehen Kreisen.

ko»>" 6. Die Pulke der einzelnen Herren (HeyduckeoreguneBter).

' F&: 7. Die Pospeüte Ruszenie.

8. Das Gesinde (Holotta) 80,000 (Bericht 4 Juli). <•:- 9. 20,000 Tartariscbe Bojaren nebst ihren Knechten.

40. Das Königliche Leibregiment Dragoner (unter Gen, Grodsicky?).

44. 3000 H. Deutsche unter den Obersten Grodhausen Buttler und Beckum.

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4) towarzistwo same, »selbst Tow.« heissen sie im Bericht vom 14. Juni, vielleicht am anzadeutea , dass ihre szeregowy nicht mitgezahlt werden. •) 8o in dem Bericht vom 14 . Juni ; in dem vom 4 5. Juni hat Czaroecky 30,000 M ., da aber wird Potocky noch nicht er- wähnt, der wohl erst spttter herangekommen ist. Ob auch diese 80,000 in dem Bericht vom 45. Juni als Towarzyz bezeichnet sind, ist unklar. «) In dem.. Bericht vom 45. Juni M,000 Bf. ; die obige Summe nach da» Beriebt vom 84. Juni.

AbhftodL d. K. 8. Gm. d. Wi». X. 38

490 Joh. GüST. DfiOYSEN, <*6]

Für die Schlacht war diese ganze Masse nicht mehr beisammen, namentlich die Grosspolen waren nach Hause gegangen, wie Barckmann in dem gleich mit- zutheilenden Brief vom 4. August berichtet.

Von Interesse ist sein Schreiben aus Warschau vom 28. Juli, das spät ge- nug geschlossen ist um noch von dem begonnenen Kampf jenseits der Weichsel zu berichten. »Der Feind, a schreibt Barckmann etwa in der Mittagsstunde, »campirt noch auf seinem alten Orte; die churfürstliche Armee steht noch drey meilen von ihm bei Plonsko und sagt man dass er wegen der anklebenden sucht seine Völker nicht conjungiren will; brod bier und fourege fällt ihm sehr schwer, werden bald auch die Kanonen müssen mitnehmen Gras zu hohlen. Der littawsche Unterfcldherr ausscommandirt mit etwa 3/m Pferden hat ihnen bei Pullowka dieser tage bei 500 Klepper abgenommen , partiret frisch um sie

herumb Unsere Armee ist mehren theils worüber man sich lange nicht

einigen können, über die Weissei gefahren und heut gangen, auch Serenissimus in perschon. Der Herr Gzarnecki mit einem gut formirten corpo bleibet auf die- ser seite (Chiffer : etwa vier bis fünf tausend stark) ; den nunmehr meine viel- fältigen promessen von den Tartaren sich verificirt haben dass sie sich anch ge- stellet und stehen an dem Bug drey meilen von den Unsrigen. Gestern kam der Supan Kazi Aga über der Weissei nebst wenigen, ist eine starke manliche Per- schon breit von schultern schwarzbraun von gesiebt u. s. w. « folgt die ausführ- liche Beschreibung der Audienz. » . . . . Mr.cTOmbre legatus GalHae negotitrt ob wir wohl die französische mediation aeeeptiren, sagt im Übrigen, er habe seine völlige Instruction noch nicht. Hat zur Antwort bekommen : paeem a Suecis tum petimus, sed nee rejicimus , und aeeeptiren dazu wo es so sein sollte Imperato- ren*, Regem suum tum exeludendo, Hollandos et Regem Daniae Jetzt eben

um sieben uhr wird aliarm auf iener seite gemacht und höre ein starkes schies- sen; hat gewähret bis zu halb zehn. Der feind soll über den Bug gangen sein und will mit macht schlagen , soll mit den unseligen auf eine viertel meile von einander sein. Gott gebe gut glück. Hoffe morgen nit weit davon zu sein. P. S. Die Nacht ist jetzt so finster dass man auch nicht einen einsigen Stern er- siebet. «

Die verhängnissvolle Schlacht warf auch Barckmann in den wilden Strudel der Flüchtenden, und erst nach mehreren Tagen und nach mancher Gefahr fand er das Hoflager des Königs wieder. Sein nächster Bericht ist aus Lancut 4 \ . August.

Die Darstellung der Schlacht die er giebt ist zwar sehr ungenügend ; aber sie giebt doch einige lehrreiche Details, namentlich für die Aufstellung auf polnischer Seite. Der mitgesandte Plan (punetur) auf den sich die Nummern in dem Bericht beziehen, liegt nicht mehr in den Acten; doch ist es leicht die be- treffenden Stellen auf unserm Plan wieder zu erkennen. Das Schreiben lautet:

WolEdle Gestrenge Namhafte Hoch und Wolweise Herren Insonderss Hochgeehrte Grossgünstige Herren. Unlängst den 28sten verlaufenen monats habe an Ihre WoIEdl. Gestr. Her- ren durch einen eignen boten Baranowski genannt wohnhaft in Danzig seines

147] Die Schlacht von Wabschaü. 1656. 491

thuos ein fuhrmann vordem, ein ziemliches pacquet unterdienstlich abgefertigt .und den damaligen unser Armto Zustand berichtet. Nur, leider, wieder ver- muhten durch unserer eigenen leuhte fahrlässige Sicherheit ist mein triumphus quem cecini ante victoriam ietzo in newes klagen verwandelt worden.

Man hat nit ehe alss den 27sten recht gewust wie der feind unss schon auf dem halse gesessen, dass er im anzuge begrifen, worauf die Volker so viel wie beysamen, den die gross Pohlen alle nach hause abgezogen waren, seint auf die andre seife geführt worden. Doch war in aequiparation gegen den feind zu rechnen mehr den allzuviel Volk noch bey den unssrigen vorhanden.

Die praesentation der formirten batailie war dem Augenschein nach auf die form wie beygefügte punctur zum Theil aussweiset zu sehen.

No. 1. Ist ein umbgegrabner hoher hügel, vor dem der galgenberg genant auf selbigem war ein klein fort aufgeworfen und gestük gepflanzet der sich auch connectirete mit den trenchiren.1 No. 2 wie das Jager auf unsrer seite gestan- den. No. 3. Unten an dem galgenberge am ufer der weissei war ein klein re- doutchen aufgeworfen die SchifsbrUcke zu defendiren , wie auch auf der ande- ren seite zu selbigem effect ein andernst werk, etwass stärker aufgeführt.2

No. 5 hatte man sich beschantzet dass Hr. Samoisky fussvolker recht gegen dess feindes lager über8 und canonirten lustig gegen einander an das die ku- geln zwischen den feldern gleich den Wiedehopfen herumsprungen, thaten den- noch unter den Unsrigen wenig schaden, die sich auch nit von dem platz rühr- ten , beriegen hat man recht gesehen wie die Unsrigen ganze glieder weggeris- sen, das der feind auch etzliche mahl seinen vohrtrap vercantert hat, weil ihm so viel schaden geschehen. Der anfang zu diesem spiel war gemacht den 28 ge- gen abend. Von dem Galgenberg wart auch geschossen aber ohne sondern effect. Serenissima mit dem frawen Zimmer hielt an genanten orte, nebenst tausend anderen , die dieses trefen, der ersten veranlassung nach, vor ein ge- wonnes spiel hielten, Hess auch mit ihren pferden auss der carosse unten an die weissei schwerner gestück führen in das redoutchen, weil Ihr. Majest. sähe, wie essauch war, das von (da?) dem feinde mehr abbruch geschehen könnte.4 No.6. Von der höhe vor dem walde schoss der feind zum öfteren, aber auch mit we- nigem schaden da No. 7 von des Herrn Gzamecki scbantze der orth wieder be- strichen wart, und zuletzt von einem sandhügel No. 8 das der feind sein ge- schütz abführen muste.* No. 9 seint unsre fahnen wor auss zwey weisse dem feinde bis auf das gestück gefallen, er hat sich aber stets mit geschlossnen trup- pen zusammengehalten und keines wegs wollen auf das feld berauss führen

4) Auf dem Plan von Memmert ist ein Galgen auf einer Höhe gezeichnet, die dicht nord- wärts an der Stadt Hegt. Der »vordem Galgenberg genannte« Hügel ist weiter nordwärts, wo in unserer Karte das kleine Fort gezeichnet ist. 2) Hier fehlt die Bezeichnung No. 4 für den auf dem rechten Ufer der Weichsel angelegten Brückenkopf. 3) Hier scheint ein Wort zu fehlen. 4) Also nicht von der buschigen Insel in der Weichsel aus Hess die Königin ihre Geschütze spielen? 5) No. 8 ist der Schanzhügel, der die Nordostecke der polnischen Stel- lung beherrscht. Zwischen diesem und der Weichsel zählt Barckmann nur zwei, nicht drei Verschanzungen, die östlichen die Czarneckys, die der Weichsel nähern die Zamoiskys.

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. * *9] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 493

dieser occasion sich gar heroisch sehen stellele sich ganz an die spitze und grif des einen Standart und wollte sie selbst anführen , aber die antrage man- gelte, andere ignavos quipugnam deserebant trieb Ihre Maj. auch mit dem blosen gewehr zurück. DieLittawschen husaren haben noch vor allen andern den preiss behalten weil sie aber auch nit sint secundirt worden, sint von einer gantzen compagnie kaum acht wieder zurückkommen. Ess hat ein Schwedischer trom- peter nach der bataillie berichtet das der eine dem schwedischen Könige mit der copie sey zwischen den arm weggelaufen, der fürst Boguslaw aber habe densel- ben herunter geschossen, und das der König wegen seiner mänlichen odwaga f habe mit sonderlicher ceremonie Ihn begraben lassen. Ein andrer gefangener beriebt das ein stickkugel neben dem König seinem pferd den kamb weggerissen habe. Ihr. Churfürstl. Durchl. aber sey bey dem treffen nit gesehen worden.

Dieses charmuziren daurete biss eine stunde nach der sonnen Untergang und wart sonderlich stark mit gestück geschossen. Auf unser seite geschähe dennoch gar wenig schaden , heriegen rakten die Unsrigen desto besser unter des feindes trouppen, der feind Hess sich doch solches nit irren sondern zog sieb wie ein halber mond von dem walde No. 4 0 an biss hinter die schantze No. 7 lierumb , wodurch Er gewent dass er uns von hinten in die ofnen schantzen kommen konte. Ich sähe solches schon umb gloke 4 nachmittag ah, dass ess übel spiel setzen wolte , rit zum Hr. Erzbischoff der auf der andern seite am Ufer einen speetator mitgab, den die Königin schon war weggefabren, wiess mit den fingern an die gefahr und gab an sie wolten das waldchen No. 16. doch ver- bauen1 besetzen und forn an die höhen gestück bringen lassen, worauf den von i\es Hr. Gzarnecky Dragoner sint commendirtt worden und ein Theil von Ob. Grodhausen fnssvolk. Die nacht war zu allem werk bequem genug, den es so finster war, das man auch nit eine Hand vor sich sehen konte. Das Unglück hat aber sein sollen, frühe mit der ersten Dämmerung Hess der feind losung geben : unsere auch, wenig stellten sich aber zu ihren fahnen ein. Ess war auch ein nebel so gross das man bey 4 stunden auf den tag nichts sehen konte wass sich auf der andern seile hebte (sie). Damit avancirte der feind : unsere setzten zwar ein wenig an , deserirten aber alsobald pugnam , und nachdem die fernsten aussriesen , lief aller bettel darvon. die sich dessen nit versahen und nach der linken hand begaben wosel baten viel morast sini entweder mit den pferden stecken blieben oder auch mit genauer noht kaum allein davon kommen, viel sint auch indem sie die vada gesucht, im wasser blieben, da sie sicher leben und die reputation wan sie hatten Heber fechten alss schwimmen wollen , in dess feindes blut erhalten. Dero feldherrn Potocky wird schuld gegeben, er habe seine bagage lassen fortgehen und damit dem volke das hertz benommen, andere sagten latuit post prineipia . Serenissimus, weil er sie nun mehr nit halten konte, wie wol auch die Dragoner fewer unter dieselben gaben, die sich nach der brücke drengten, muste sich auch also über diebrücken machen. Den feldherrn drengten sie von der brücken inss wasser. Hr. Poduasi coronni 8 fiel auch herab

4) Hekteathat. *) No. 46 ist das Holz von Praga. 8) d. Ji. Podcsasi koronny der Kron-Mundschenk.

494 Joh. Glst. Dioysen, 450]

und andre mehr die sich am geschwinsten bergen wollen. Fttnff geslUck die kleinsten wurden mit salviret die anderen blieben im stich. Der feind setzte nit seumend durch den wald No. 1 6 auf Präge zu und klopfte die Dragoner herauss die sich aber bey Zeiten hinter den anderen mit salviret haben und sint etwan mit vertust \ 5 Perschonen nachmals wieder zu ünss kommen. Prag und Skar- pow haben die Unsrigen bald in den Brand gesteckt. Die arme Leute mit ihren bindlen und zusammengeraspelten zeuge sassen an dem Ufer wurden von dem feinde theils niedergemacht, theils Hess dass wasser weg die sich zu tief hinein begeben. Die schantz vor der brücken hielt sich nicht und die brücke wart auch bald in den brand gesteckt.

Indem hat ein Theil von den Tartaren sich wiederumh gewendet und viel schaden gethan, der nachdruck von den Unsrigen mangelte allein.

Der feind hat Ihm denn auch nit unterstehen dürfen die Unsrigen weiter bis an die kempen , woselbst die hollander wohnt (sie) zu verfolgen. '

Dieses ist also der gantze verhalt dessen was ich mit äugen nahe bey ge- nug gesehen habe. Eine bataiile kann ichs nit recht nennen, sondern vielmehr einen verlauf einer schon halb gewonnenen victori ohne schlacht. Das fussvolk hat sich mehren theils von der cavallerie verlassen salviret, etwan zehn stück sint stehen blieben, unter welchen das gröste der smok genannt.2

Was dieses nun vor eine bestürtzung auf der Seiten von Warschau gab, ist leicht zu erachten. Die Königin ging mit den Wagen sie selbst zu pferde auf Gzersko zu ; was übrig von wagen von der pospolita russenia zerschlug sich, einer diesen weg, der ander einen anderen, hie der herr ohne knecht, dort der knecht ohne herren, das fussvolk hielt aber noch unten an den schantzen. Se- renissimus kam mit Herrn Butler von Dönhoff, Her. Meidel , Her. Palat. Posna der eben auch damal zum Unglück krank war, auf das Palalium umb noch zu deliberiren wass bey Warschau zu thun war. Der Herr Kantzier folgte, war gantz resolvirt, Serenissimus solle nit weichen und invehirte machtig auf den Herrn Paz littawschen Vice Gancelar praesentem, das Ihre odia mit den Radziwillea solches unheil in der cron verursacht betten , denen sie doch nimmer gewach- sen weren. Der Littawsche Feldherr hat den tag vor dem schlagen die röhr knochen im herumbreiten zerfallen in den rechten Schenkel ; ist mir recht. End- lich brachten die anderen ein : das volk wer von Warschau alles weg, in der Stadt wäre kein proviant, Serenissimus müste den ort verlassen, und also order gegeben das fussvolk sollte abmarchiren und die geslUck mit nehmen, die auch Gottlob sich salviret haben und sint zu oder unter Golembia über die weissei gegangen, Serenissimus aber von Warschau hatte seinen weg geendert und »ar über Warka gangen kam zu Kozelnica den 34 erstlich zu der Königin und fuhr auch unter Golembia über.

Ich habe mich wunderbar mit meinein wagen zur nacht durch geschlept, biss ich endlich zu Koselnica an die Königin kommen bin, blieb aber im stich

4) Die Kempen sind die Niederungen südwirU des todten Weichselarmes. S) Der Drache.

154] Die Schlacht von Warschau. 1656. 495

und konnte wegen des grossen gedrenges nit Über kommen , hatte auch das unglück dass mir das beste pferd im zuge gestttrzet ist. Ihre Majestäten den- noch und die Königin haben eine fahne volk zu ross aussconimandirtt, die mich suchen müssen und mich gefunden haben unter Pulawa, dieselben nahmen den anderen, die stärker waren alss ich eine drefte holz ab und brachten mich Gott sey dank, also über, wie wol ess auch dabey ohne handrecht nit ablief, und war mein iung in den köpf etwass verwundt. Zu KonskiwoJo habe ich die hofstadt wieder angetroffen, Serenissimus aber hat sich bald geschieden cum Seremssima und ist cum exiguo comitatu allein zu ross nach unserem volk gangen , die sich unter Ogonow zusammen gezogen hatten. Mir war ess unmöglich wegen der abgematteten pferde zu folgen, und welches ich selbst rit war vernagelt, zu- dem war mir von dem vielen wachen und der grossen hitze eine wehtage auf die Augen gefallen das sie mir ganz zusammen bakten, welches den zu meiner entschuldigunglhre Wol Edl. Gestr. mir günstig wolten gültig sein lassen, warum ich Serenissimum verlassen und Serenissimae gefolget bin allhie nach Lancut. Serenissimus sagte mir bey seinem abschiede ich würde Ihre Maj. wiederumb zu Lublin oder Samosc finden, sint aber recht fort zu Lublin (sie) und das volk liegt gegen Warschau zu, sollen noch stärker sein wie vordem, weil die Tarta- ren order haben die zu plündern die sich absondern von der haubt Armee, und also bleiben sie beysamen. Sobald auch das fussvolk wieder etwass in Ordnung gebracht were , wollen sie auf den feind wieder lossgehen , zu welchem ende den auch nach Lemberg und andere örter mehr nach Artillerie geschickt ist. Ein Theil von der Armee nebenst den Tartaren umb einer diversion halber, die ihrer denn genug sint, sollen nach Pomeren gehen, ein ander corpo nach Preus- sen; was hierin geschehen wird, lehrt die zeit. Sonsten haben die Völker die alten Feldherren verworfen und haben ihnen den Herrn Gzarnecky und Woy- wod Sendomirsky Koniecpolski zu häubtern erkohren und Herr Gassewsky ist bei denLittawschen. Es wäre gut gewesen sie weren zu anfang davon blieben.

Nach der Zeit hat der Trompeter antwort schreiben gebracht von Ihr. Ghurf. Durchl. deren copien ich (verstehe so Ihre Maj. abgehen lassen) durch Bara- nowsky herunter geschickt satis humanüer exaratas, die aber ad Archieptscopum sollen härterer gewesen sein, Senatores beschuldigen, das er durch ihren eige- nen abtrit sey zu diesem spiel forciret worden.

Ein abgeschickter Gizicky Stolnik1 von Wilon wie Er sich aussgiebt, hat aber keine credentiales und wirt vielen wol bekant sein hat sich aufgehalten bei Wladislai zeit am hoffe, bringt folgende puneta mit zur Friedenshandlung,

4. Den fürsten Boguslaw >ou verain in Podlass zu machen.

2. Radzciewsky gewisse gütter bei Plocko zu cediren.

3. Die gefangenen zu restituiren.

4. Die traetaten mit Moscauen zu differiren.

5. Einen pass zu ertheilen vor einen , den der König in Schweden den ge- neral frieden zu befördern an Chmielnicky schicken will.

4) Stolnik ist Tafeidecker für den District Wilona in Lithauen.

496 Joh. Gdst. Droyskn, Die Schlacht von Waischau. 468]

Wie er wird abgefertigt werden steht künftig zu vernehmen.

Mit dem Herrn Marschalkk habe alhier weitittuftig mich unterredet (Chiffer videtur mihi multum consternatus et rebus non solus sufficiensf tnagis quoque de re sua private cmxius quam de aliis) sagte ferner (Chiffer : ad explorandum anitnum tneum civitas nostra hätte sich nicht zu besorgen der feind iwere ja unserer re- Ugion et si esset catholicus hodie esset rex, Ragocky auiem non veniet nisi vocatus ; waren alle seine worte). «

Es folgen dann noch in diesem Schreiben andere politische Mittheilungen, die ich Übergehe.

Die späteren Schreiben bieten keine weiteren Notixen zur Aufklärung der Schlacht. Nur in dem französisch geschriebenen Bericht vom 49. August aus Lublin ist eine Aeusseruug beachtenswert. Barckmann erzählt wie Hr. v. Schon- berg vor einigen Tagen einen sehr kühnen Angriff auf den Feind gemacht, sich selbst an die Spitze gestellt habe; aber von seinem ganzen Regiment seien ihm nur 50 gefolgt. Mais il est trts cerlam, qu'il riy a point de nation qui ne comette de lachettez, au an en peut commettre impunementf comme m ce Pays id. Cest pour- quoi tant que le baurreau sera oysifdcms nos armde*, les Polonois ne seront jamcds courageux ny braves.

DIE UNTERSCHEIDUNG VON

NOMEN UND VERBUM

IN DER LAUTLICHEN FORM.

VON

AUG. SCHLEICHER.

Abkiodl. 4. K. S. G«Mllaek. d. WittMMrk. X. 34

VORWORT.

JÜne Untersuchung über die Unterscheidung von nomen und ver- bum in der lautlichen form wäre erst dann einiger mafsen ab gefchlo- fsen, die frage, welche sprachen unterscheiden die genanten redeteile mer oder minder durch die lautliche gestaltung des Wortes, wäre erst dann beantwortet, wenn sämtliche bis jetzt zugänglich gewordene sprachen auf den unterschid von verbum und nomen betrachtet worden wären. Teils feien mir hierzu die hilfsmittel, teils bin ich durch andere arbeiten, zu denen ich mich verpflichtet habe, ab gehalten, mich ferner- hin mit disem gegenstände zu beschäftigen. So möge es mir denn verstattet sein , die vor ligende abhandlung , an der ich ab und zu seit mereren jaren gearbeitet habe, in unvollendeter gestalt zu veröffent- lichen. Yilleicht ist sie auch so nicht one alles interesse und eine völ- lige erschepfung des materials ist ja auf disem gebiete onehin eine sache der Unmöglichkeit. Ist der von mir ein genommene standpunct der betrachtung ein solcher, der für die erkentnis des wesens der spräche erspriefslich ist, so werden sich hoffentlich andere finden, welche die grofsen von mir gelafsenen lacken aufs fallen.

Die im folgenden als quellen benuzten werke verdanke ich zum grofsen teile der gute gelerter freunde und gönner , vor allem den Her- ren Akademikern Böhtlingk, Kunik, Scbiefner in St. Petersburg, ferner

34*

500 Vorwort.

Herrn H. C. von der Gabelentz auf Poschwitz bei Altenburg, Herrn G. E. Eurön in Abo , Herrn B. H. Hodgson , früher British Minister at the Court of Nepal in Darjeeling, jezt in Glostersbire , Herrn W. Bleek in Capstadt u. a. Inen allen herzlichsten dank für die Förderung meiner Studien.

Die Umschreibung fremder sprachen gab ich teils nach meiner art, teils nach der der benuzten quellen. Auch die bekanteren alphabete glaubte ich mit Umschreibung versehen zu müfsen, um dise Unter- suchung auch solchen zugänglich zu machen, die nicht glottiker von fach sind.

Jena, im September 1864.

Aug. Schleicher.

Die folgende Untersuchung soll nach weisen, dafs von einer aozal in belracbl genommener sprachen die t rennung von nomen und verbum in der lautlichen form nur im Indogermanischen volkommen durch gefürt ist, dafs folglich, wenn der vom Indo- germanischen her genommene begriff von nomen und verbum fest ge- halten wird, die Unterscheidung diser beiden Wortarten nichts alge- meines , der spräche als solcher zu kommendes , sondern vilmer eine besonderbeit einzelner sprachen , warscheinlich sogar eine dem Indo- germanischen aufsschliefslich zu stehende eigentttmlichkeit ist.

Wir werden in der folgenden darstellung zunächst nur die laut- form, die durch den laut zur erscheinung kommende gestaltung des Wortes ins äuge fafsen.

Ehe ich mich zum gegenstände selbst wende, mag jedoch eine frage erörtert werden 9 die, in unserem sinne beantwortet, die folgende Untersuchung für das wesen der spräche ungleich bedeutsamer erschei- nen läfst, als im entgegen gesezten falle. Es fragt sich nämlich , ob die lautliche form, ob die morphologische beschaffenheit fiir das innere wesen der spräche, für die function mafs gebend ist oder nicht, ob man von der lautlichen form einen sichern schlufs auf die beziehungsfunctio- nen der spräche zu ziehen berechtigt sei oder nicht; genauer, ob da, wo verbum und nomen nicht in lautlich gesonderter weise existieren, dise Unterscheidung auch in der function feie, also überhaupt nicht vor- handen sei , oder ob wir ein recht haben , auch in solchen sprachen» die nomen und verbum lautlich nicht unterscheiden , dennoch das Vor- handensein dises gegensatzes an zu nemen. Mit andern Worten : dekt sich function und laut, inhalt und form in der spräche, oder gibt es functionen one lautlichen aufsdruck, inhalt one erschei- nung des selben in der form? Existieren im sprachgefttle des

502 Are. Schleicher , dik Unterscheidung von [6

redenden grammatische kalegorien, die der selbe laut- lich nicht bezeichnet?

Nach meiner Überzeugung istdifs nicht der fall. Der sprach- laut, die lautliche form der spräche ist der körper, die ersebeinung der funetion, des inhaltes der spräche. Beide kommen nicht von einander getrent vor, sie sind stäts und unlrcnbar verbunden. Sie sind identisch, wenn auch natürlich nicht einerlei. Wir haben kein recht, funetionen da voraufs zu setzen, wo keine lautform ir Vorhandensein an zeigt. Auch in der spräche läuft nicht der geist, die funetion, unabhängig von sei- nem leibe, dem laute, sondern er ist nur in und durch lezteren wirk- lich vorhanden. Unsere anschauung vom wesen der spräche ist keine dualistische, sondern eine monistische und nur dise können wir für be- rechtigt halten.

Wäre die lautform unabhängig von der funetion , so mttste man folgerichtiger weise für alle sprachen eine und die selbe functionelle gestaltung an nemen, one rüksicht darauf, ob eine spräche dise fune- tionen sämtlich lautlich aufs drükt, oder die selben nur unvolkommen durch den laut bezeichnet, oder sie samt und sonders im laute un- angedeulet läfst. Sämtliche sprachen wären sich dann funclionell we- sentlich gleich ; alle sprachen hätten z. b. nomina und verba, erstere in allen casus und zalen, leztere in allen tempus, modus, zalen, personen, nur im laute und in der form unterschiden sie sich. Um zu finden, was denn eigentlich die functionelle gestaltung der spräche bilde, welche beziehungen die spräche zu enthalten habe, hätte man zwei vvege. Entweder mttste man aufs den lautlich aufs gedrükten funetionen aller sprachen jenes sprachideal zusammen stellen an sich schon eine bare Unmöglichkeit , da sich die sprachen in diser beziehung nicht so verhalten, dafs man die in inen aufs gedrükten beziehungsfunetionen summieren kann , sondern vilmer oft so, dafs die art und weise der ei- nen spräche die der andern aufs schliefst , wobei man sich sogleich in den Widerspruch verwickelt , dafs man doch widerum nur die laut- lich aufs gedrükten funetionen in rechnung zu bringen vermag, weil man nur von disen etwas wifsen kann. Da ja aber nach der voraufssetzung der laut nicht für die funetion mafs gebend sein soll, so könten ja möglicher weise funetionen existieren , die zufällig in keiner bekanten spräche lautlich erscheinen. Oder man müste dise innere, vom laute unabhängige spräche rein a priori , one alle rüksicht auf das in den ge-

7] Nomen und Vbrbum in der lautlichen Form. 503

gebenen sprachen wirklich vor ligende , construieren ; ein unternemen, defsen unaufsfürbarkeit leicht ein zu sehen ist und das in einer beob- achtungswifsenscbaft, wie difs die sprachwifsenschaft ist, völlig unstatt- haft und methodewidrig wäre. Man müste z. b. eine bestirnte anzal von casus, numerus, genus, personen, modus, tempus u.s. f. als mit dem begriffe der spräche notwendig, gesezt statuieren und behaupten , der sprechende fttle dise sämtlich, nur drücke sie die und die spräche nur teilweise oder gar nicht lautlich aufs. Da nun manche sprachen im aufsdrucke mancher beziehungen, z. b. der personalunterschide, der casus , ganz besonders reich sind , so käme man gleich hierbei in Ver- legenheit, indem man sich die frage zu beantworten hätte: ist diser reichtum der spräche wesentlich oder nicht. Im ersteren falle ent- spräche dann villeicht nur eine einzige spräche der erde dem urbilde im zweiten wäre man in die bedenkliche läge versezt, zu entscheiden, wie vil die und die spräche des guten zu vil tue. Kurz, wie man sich auch wenden mag, so wie man die innere spräche von der lautsprache trent, komt man auf Widersprüche und unlösbare schwirigkeiten.

Was ein einer uns fremden spräche an gehöriges individuum beim sprechen fiilt, können wir dann gar nicht wifsen, wenn die lautform der spräche uns nicht als mafsslab für das sprachgefttl selbst dienen kann.

Es läfst sich aber , so bedünkt mich , auf dem wege der beobach- tung gerade zu nach weisen, dafs die functionelle gestaltung der sprä- che, die innere form der selben bei verschidenen sprachen verschiden ist und zwar, dafs dise verschiden hei t völlig der durch die laute und formen aufs gedrükten verschidenheit entspricht.

Wenn z. b. der genusunterschid unter die einer spräche zu kom- menden grammatischen kategorien zu rechnen ist, so müste also jeder redende mensch ein geftll für den genusunterschid besitzen , also auch diejenigen Völker , deren sprachen disen unterschid nicht aufs drücken, z. b. Chinesen, Tataren, Finnen. Dafs difs nicht der fall ist, wird jeder bemerken, der z. b. einen Chinesen sich ab mühen hört, eine unserer das genus unterscheidenden sprachen , z. b. französisch , zu sprechen. Doch wir brauchen uns nicht auf fremde völkerstämrae zu berufen , wir können mit unserem eigenen sprachgefüle versuche an stellen. Unser slawischer nachbar sondert in einigen formen das masculinum in ein belebtes und ein unbelebtes. Die berechtigung solcher Unterscheidung

504 Aug. Scblsicb», die Unteisch Biomo vor [8

wird mau schwerlich in abrede stellen können , ist sie doch im wegen der dinge volkommen begründet. Ist dem also , ist die Scheidung von belebt und unbelebt der spräche als solcher zu kommend , so m Osten wir Deutsche beim sprechen disen wol berechtigten unterschid doch eben so gut fülen als der Slawe , wenn wir dem selben auch keiaen hörbaren aufsdruck verleihen. Ist difs auch wirklich der fall? Nein, soq- dem wir fülen bei Worten wie 'der balken, der bäum, der band, der son' u. 8. f. nur ein und das selbe grammatische genus. Auch fragt es sich , um beim genus stehen zu bleiben , welche genusunteiischide der spräche als solcher zu kommen 9 ob etwa die zufällig uns gelaufige son- derung van mascul., femininum und neutrum, oder die des Namaqua in masculinum, femininum und commune, oder etwa nur die in masculinotn und femininum, oder eine sonderung des belebten oder unbelebten, oder etwa die zal reicheren genusunterschide des Thußch oder der südafrika- nischen Bäntu- sprachen? Wo ist hier mafs und richtschnur zu finden, um aufs der fülle des in den sprachen vor ligenden und des nach disen analogien denkbaren das heraufs zu sondern, was zum wesen der spräche gehört? Wolle man aufs allen in den sprachen wirklich vor- handenen genusunterschiden ein compliciertes System der genusunter- schide entwerfen als das im innern wesen der spräche begründete , so würde man auf die schwirigkeit stofsen , dafs verschidene genusarten verschidener sprachen sich nicht mit einander vereinigen lafsen. Ein und der selbe begriff, eine und die selbe anschauuag geht ferner in verschidenen sprachen ser oft unter verschidenem grammatischen ge- nus. Was hier beispilsweise vom genus gesagt ward, gilt aber von allen andern grammatischen beziehungen nicht minder. Ich will nur noch an einem beispile die sache zur anschauung bringen. Wir Deutsche haben in unserer spräche nur eine einzige form fürs praeterilum , der Grieche hat deren drei, imperfectum, aorist, perfectum ; eine Scheidung, die doch gewiß wol berechtigt ist und die der griechischen spräche wesentlich zur zierde gereicht. Lebte nun in uns Deutschen die selbe sonderung des praeteritum in imperfectum , aorist , perfectum und käme sie bei uns nur zufällig nicht zur lautlichen erscheinung , so könten wir uns z. b. beim übersetzen aufs dem deutschen ins griechische , wo nun die lautlichen formen für die in uns als lebendig voraufs gesezte drei- fache auffafsung des praeteritum vor ligeu , niemals im gebrauche der tempusformen irren. Dafs lezteres aber tatsächlich der fall ist, bedarf

9] NOMRN UND YfiUUM IN WER LAUTLICHEN FORM SOS

keines nachweises. Bei disem lezleren beispile könte man noch darauf hin weisen , dafs in unserem sprachgefille der unterschid jener drei bezieh ungen der Vergangenheit noch lebendiger sein dürfte, da in der urzeit die formen des imperfects, des aorists und des perfects allen indogermanischen sprachen gemeinsam zu kamen und noch im alteren deutsch durch den gegensatz der verba perfecta und imperfecta etwas jenem im griechischen erhaltenen unterschied änlicbes aufs gedrttkt werden koote. Trotz alle dem ist aber in unserer jetzigen spräche nur ein praeteritum vorbanden , bei dem wir nichts anderes Allen , als eben ein praeteritum.

Gerade so, wie es uns Deutschen mit einigen grammatischen be- ziebungsunterschiden geht , nämlich dafs wir sie nicht empfinden , weil uns in unserer spräche die formen dafür mangeln, geht es anderen sprachen mit anderen beziehungen. Den sprachen können mer oder minder zalreicbe beziehungen ab geben und eine gradweise abstufung fürt in den sprachen bis zum feien aller beziehung. Wie es uns mit dem belebten masculinum und mit dem aorist, imperfeclum und per- fectum ergeht, gerade so ergeht es dem Semiten mit dem genus neu- trum9 vilen Völkern mit dem genus überhaupt und noch andern mit allen und jeden beziehungen. Sie haben sie nicht und drücken sie daher auch nicht aufs. Mit dem selben rechte, mit welchem ich dem Neu- Caledooier das gefül grammatischer beziehungen zu schreibe , obgleich sie in seiner spräche keinen aufsdruck finden, könte ich dem tiere, der pflanze sogar einen höchst volkommenen geist zu schreiben und be- haupten, dise Organismen könten die in inen so gut als in uns menschen statt findenden inneren Vorgänge nur nicht , wie wir, an den tag legen. Kurz, so wie man sich bei gehen läfst, ein inneres leben, sei es auf sprachlichem gebiete oder auf irgend welchem andern , an zu nemen, das nicht in die erscheinung tritt , verliert man den boden unter den füfsen und an die stelle objeetiv methodischer forsch ung auf solider beobachlungsgrundlage tritt die subjeelive ansieht und die phantasie.

Wir halten demnach an der Überzeugung fest, dafs nichts im spre- chenden vor geht, was nicht lautlich aufs gedrükt wird; dafs der laut ein volgiltiger und zwar der einzige zeuge für die funetion ist und dafs also eine spräche nur die funetionen besizt, welche sie lautlich bezeich- net. Wir nemen also nicht eine und die selbe innere sprachform für alle sprachen an, sondern schreiben jeder spräche nur die innere, funetio-

506 Aug. Schleicher, die Unterscbeidung von [40

nelle gestaltung zu, die sie zum lautlichen aufsdrucke bringt. Wir finden demnach auch in der function eine ser grofse Tülle von vcrschidenhei- ten, eben so wie im laute, in der form , im sazbaue der sprachen. Also halten wir uns für berechtigt zu behaupten, dafs sprachen, welche z. b. das genus nicht lautlich bezeichnen, den genusunterschid überhaupt nicht besitzen, dafs solche, welche nur z.b. masculinum und femininum im laute unterscheiden, in der tat ein neulrum gar nicht haben und dafs im gefüle dessen, der zalreichere genusunterschide in seiner spräche aufs drükt, dise unterschide auch lebendig sind. Sprachen, welche no- mina und verba lautlich nicht scheiden, besitzen also den unterschid von nomen und verbum überhaupt nicht. An- statt beider haben sie eine grammatische kategorie, die sich in höher entwickelten sprachen , so im Indogermanischen , nicht findet. In diser ist das noch ungeschiden vorhanden , was im Indogermanischen sich zu zwei gesonderten kategorien entwickelt hat.

Änlicbe Vorgänge zeigt uns die weit der naturorganismen und an inen können wir uns das wesen solcher erscheinungen villeicht an- schaulicher machen , als in der weit der sprachen. Es sei deshalb ge- stattet, an einen solchen Vorgang aufs dem tierreiche zu erinnern. Die höheren liere haben respirationsorgane und verdauungsorgane. Es gibt aber tiere so niderer entwickelung, dafs ein und das selbe organ beiden functionen dienen mufs. Hier haben wir also weder ein respirations- organ, noch ein verdauungsorgan, sondern etwas drittes, das keins von beiden ist, weil es beides zugleich ist. Wir haben hier aber auch weder einen respirationsprocess noch einen verdauungsprocess derart, wie bei denjenigen tiere n, die für jede diser physiologischen functionen aufs- schliefslich bestirnte Organe besitzen. Gerade so verhält es sich mit nomen und verbum in den sprachen.

Wenn ich in der Überschrift diser abhandlung die an zu stellende betrachlung der sprachen aufsdrüklich auf ire lautliche form beschränkt habe, so geschah difs hauptsächlich deshalb, weil ich nicht darauf ein gehen will, die function solcher bildungen, die weder dem nomen, noch dem verbum im indogermanischen sinne entsprechen , begriflicb näher zu entwickeln und zu bestimmen. Das hier einleitungsweise aufs ge- fürle solte nur dazu dienen, für die lautform eine hohe bedeutsamkeit für das wesen der spräche überhaupt in anspruch zu nemen und somit von unserer Untersuchung den Vorwurf ferne zu halten, als beschäftige

**] NOMBN UND VfCRBUM IN DER LAUTLICHEN FORM. 507

sie sich nur mit einer mer oder minder bedeutungslosen aufsenseite der spräche.

Einen einwurf gegen den salz, dafs nichts in der function vorhan- den ist, was nicht auch im laute erscheint, könte man von der beob- achtung her nemen, dafs lautlich gleiche bedeutungslaute (wurzeln) tiicht selten ganz verschidene bedeutungen haben. Bekantlich ist difs in aufs gedentester weise im Chinesischen der fall , doch bieten auch an* dere sprachen v auch das Indogermanische , dergleichen fälle. So haben wir im Indogermanischen würz, pa lueri und würz, pa bibere , würz, i ire und würz, i pronomen demonstrativum , würz, ta extendere und würz, ta pronomen demonstrativum und anderes der art. Von derglei- chen gleich lautenden wurzeln ist jedoch eine scheinbar verwante er- scheinung bei den beziehungslauten sorgfältig zu unterscheiden. Wenn z. b. die stambildungssuffixa -as, *ti, 'tu im Indogermanischen so wol nomiua aclionis als nomina agentis bilden, so beruht dise erscheinung nur darauf, dafs zur zeit, da dise formen entstunden, die function der selben eine noch nicht näher bestirnte, eine algemeinere war, die bei- des in sich vereinigte. Das factum läfst sich aber keines falles in abrede stellen, dafs ein und die selbe lautverbindung als wurzel verschidene bedeutungen in sich vereinigen kann , die sich nicht auf eine gemein- same grundbedeutung zurück füren lafsen. Es ist jedoch eine ganz andere sache, ob z. b. die lautverbindung pa zugleich 'trinken' und 'beschützen' bedeutet, oder ob man an nimt, dafs eine function, die lautlich gar nicht aufs gedrükt wird , im geiste des redenden dennoch vorhanden sei. Darüber, dafs das eine mal pa 'trinken', das andere mal 'beschützen, beherscben' bedeute, darüber läfst die lebendige, gespro- chene Sprache nicht im zweifei. Die bedeutungsfunction ist ja auch hier stäts aufs gedrükt, wenn auch, wie es scheint, rein zufällig beide male auf ein und die selbe weise. Wir reden hier aber davon, ob es bezie- hungsfunctionen gebe, die lautlich gar nicht zur erscheinung kommen und dafür legen verschidene wurzeln gleicher laute kein zeugnis ab.

Wenden wir uns nun zum gegenstände selbst.

Vor allem ist es nötig, die begriffe verbalform und nominalform scharf zu fafsen. Wir können hierbei lediglich vom Indogermanischen aufs gehen, einmal weil uns hier eine tiefer gehende erkentnis der sprachformen zu geböte steht und diser erkentnis zugleich das lebendige sprachgefül zur seite geht, sodann weil, wie sich bald zeigen wird, von

508 Aig. Schleicher, ixe Unterscheidung von [12

deo hier betrachteten sprachen nur im Indogermanischen verbalformen und nominalformen wirklich durch greifend geschiden sind. *)

Indogermanisch.

Im Indogermanischen sind die worte nomina, welche ein casussuffix haben, die worte sind verba, welche ein personalsuffi & haben. Es versteht sich, dafs der Sachverhalt ganz der selbe wäre, wenn die casus- und personal - elemente nicht gerade als suffixa erschinen; die Stellung tut ja nichts zur sache. Dafs in spä- teren perioden des Sprachlebens in den indogermanischen sprachen ser häufig casussuffixa und personalendungen geschwunden sind , dafs sol- cher abfall in manchen fällen schon frühe ein getreten ist (z. b. urspr. bharä-mi, altind. bhärä-mi, altbaktr. barä-mi und darneben auch barä, g riech, (ptgo) für *q>d(jci>-fu9 lat. fero für *ferö-mi)**), möglicher weise in vereinzelten formen sogar bereits in der lezten periode der einen, allen übrigen zu gründe ligenden indogermanischen Ursprache (z. b. bhmra villeicht für *bhara-dhiy vgl. altind. bhära, altbaktr. bara, griech. qpqp«, lat. fer, got. bair; aber bei anderen praesensstammaufslauten ist das alte -dhi als personalsuffix erhalten, z. b. urspr. as-dhi, altind. e-dhi> griech. k-Oi; urspr. akvä nom. sing., villeicht für akva-s, vgl. altind. ägvä, lat equa u. s. f., sämtlich one das -s des nominativs), hebt die an die spitze gestehe definition nicht auf; dise secundären Veränderungen können hier natürlich gar nicht in betracht kommen. Will man die oben fürs Indo-

*) Nicht scharf und deutlich genug hat den unterschid von nomen und verbum im Indogermanischen erfafst Max Müller, Classification of Turanian ianguages § 2; §4 7, wo er über disen unterschid spricht und neben vilem treffendem und bee- rendem auch manches nach unserer ansieht verfeite gibt. Ich kann jedoch auf eine besprechung des einzelnen und auf eine Widerlegung dessen , was ich für unrichtig halte, hier nicht ein gehen. Manches ergibt sich aufs unserer folgenden darstellung, so z. b. dafs wir Mai Müller nicht bei pflichten können, wenn er vermutet, dafs ur- sprünglich im Indogermanischen das verbum durch Verdoppelung des anfangsbueb- slaben, im Semitischen aber durch Verdoppelung des endbuchstaben und hinzufügung des dritten lautes überhaupt vom nomen geschiden worden sei. Dise form der redu- plication ist überhaupt später , das älteste war offenbar die widerholung der ganzen Wurzel ; auch ligt der unterschid von verbum und nomen nicht in den starobU- dungselemenlen , sondern in den zu den stammen hinzu tretenden wortbildungs- elementen.

**) Mit * bezeichnen wir erschlofsene , nicht aufs den sprachen selbst belegbare formen.

* 3] Nomen uro Verbum in der lautlichen Form. S09

germanische in seiner urforra gegebene definilion von nomen and ver- bum ftlr die wirklieb vor ligenden sprachen dises Stammes passend ma- chen, so hat man zu sagen : nomina sind im Indogermanischen diie worte, welehe ein casussuffix haben oder hatten; verba sind die worte, welche eine personalendung haben oder hatten. Mit aufsschlufs der echten interjeetionen, die außerhalb der spräche stehen nnd als lantgebärden zu betrachten sind, und der vocative, welche nominalstämme sind, die die form von interjeetionen an genommen haben, geht die indogermanische spräche in nomen und verbum one rest auf. Alle indogerma- nischen worte sind oder waren doch ursprünglich entweder nomina oder verba. Adverbia und die als meist verkürzte adverbia zu fafsen- den praepositionen , conjunetionen und partikeln überhaupt sind ur- sprünglich meist casus formen, vil seltner verbalformen, wie difs nunmer wol als algemein bekant und anerkant an genommen werden darf.

Ein wortstamm ist im Indogermanischen als solcher kein lebendi- ges sazglid, wie das wort (nomen oder verbum), sondern ein wissen- schaftliches praeparat (z. b. bhara, tanu u. s. f.); auf dafs er sazglid, wort werde, bedarf er eines casussuffixes (z. b. nom. sg. bhara-8, tanu-s, acc. sg. bhara-m, tanu-m) oder einer personalendung (z. b. III. sg. bhara -ti, tanau-ti; I. plur. tanu-masi), wodurch er im ersteren falle zum nomen, im zweiten zum verbum wird. In den stammen ligt der unterschid von verbum und nomen nicht. In allen spra- chen also, in welchen nakte stamme zugleich als worte erscheinen kön- nen , ist eine tief gehende verschidenheit vom Indogermanischen nicht zu verkennen.

Der unterschid von nomen und verbum ist demnach im Indoger- manischen volkommen deutlich und durch gefllrt. Die oben gegebene definition von nomen und verbum halten wir fürs folgende fest«

Ehe wir uns zu den andern sprachen wenden, wollen wir uns noch in übersichtlicher kürze die art und weise der declination (nomi- nalbildung) und conjugation (verbalbildung) des Indogermanischen und zwar die erreichbar älteste form der nomina und verba vergegenwärti- gen. *) Wegen der schwirigkeiten , welche in den meisten casus und

•) Eine kurze darstellung der indogermanischen conjugations- und decllnations- formen glaubte ich um so weoiger hinweg lafsen zu dürfen, als die vor ligende ab-

510

Aug. Schleicher, die Unterscheidung von

personen einer sicheren ermittelung der ältesten dualformen entgegen tre- ten, müfsen wir disen numerus im folgenden merfacb lückenhaft lafsen. I. ein a-stamm, bhara (würz, bhar ferre, stambildungssufßx a).

als nomen als verbum (indicat. praesentis activi)

Singular.

mascul. neutrum femininum

I.pers. bharcMni

nomin.

accus.

ablativ.

genitiv.

locativ.

dätiv.

bkaras; bharäs neutr. feit.

bhara-m bharä-m

bharä-t bharä-t bhara-sja bharä-s bhara-i bhara-ai

instrum. I. bhara-ä

bhara-i bhara-ai bhara- ä

H.pers. bhara-si III. pers. bhara-ti

Nominativ und accusativ der entspre- chenden pronomina:

I. pers. agam (vill. agham), ma-m

II. pers. tu-am (vill. tu), tva-tn instrum. IL bhara- bhi bharä-bhi III. pers. ta*8, fem. tä-s; ta-m, fem. tä-tn

Dual, nom. acc. bharä-(s)äs*) bharari? I. pers. bharär-vasi

gen. loc. ? ? Die übrigen personen, so wie

dat. abl.instr. bhara-bhjäms bharä-bhjäms die entsprechenden prominal-

formen des persönl. prono- mens können in irer ältesten form nicht ermittelt werden.

Plural.

I. pers. bharä-masi

II. pers. bhara-tasi III. pers. bhara-nti

Entsprechende pronomina :

I. villeicht vom stamme ma-ma od. a*ma

II. vill. von tva-sma od. ju-sma

III. nom. msc. ia-i, fem. tä-sas; acc. msc. ta-ms, ntr. tä, fem. tä-ms.

nom.

bhara- sa 8 bharäsa-8 neutr. feit.

bhara-m-s bharä-m-s

neutr. bharä

bharasäms bharä-säm-s vill. bharäm['S) bharäm-fa)

bhara-8va(-s) bhara- sva(-8)

dat. ab\.bhara-bhjam-8 bharä-bhjam-s

instr. bhara-bhi-s bharä-bhi-8

acc.

genit.

locat.

handtung nicht nur für den gloltiker von fach , sondern auch für anthropologen und Philosophen einiges interesse haben dürfte. Bei disen können wir aber keine kentnis diser dinge voraufs setzen und das verweisen auf andere bücher ist stöts unbequem für den leser und erschwert namentlich dem die sache , dem die an gefürten werke nicht zur band sind. Genaueres über das indogermanische verbum und nomen kann man in meinem compendium finden.

*) Mutmafslich ser früh aufs- oder ab gefallene laute sind in klammern gesezt.

45]

Nomen und Vbrbum in der lautlichen Form.

511

II. ein u-stamm, tanu (würz, ta extendere, sufF. nu).

als nomeo (masc. fem.) als verbum (indic. praes. activi)

Singular.

I. pers. tanau-tni II. pers. tanausi III. pers. tanau-ti

Den dualis wollen wir der kurze wegen hier übergehen.

nom.

tanus

acc.

tanu*m

ablat.

tanav-at

genit.

tanav-as

locat.

tanav-i

dat.

tanav-ai

instr.

I. tanu-ä

instr.

II. tanu-bhi

nom.

tanu-sas od.

tanav-as

acc.

tanu-m-8

u. s. w.

Plural.

I. tanu-masi II. tam-tasi III. tanu-anti

Der plural der nomina wird also durch ein an das casussuffix tre- tendes 8 gebildet, wärend im plural des verbums aller warscheinlichkeit nach gehäufle personalendungcn (I. pers. -ma-si = ich und du, II. pers. -ta-si = du und du , III. pers. an-ti = er und er an von einem an- dern pronominalstamme der III. person ) vor ligen.

III. ein consonantischer stamm, vak, als nominalstamm väk (die Stei- gerung von a zu ä ist aber nicht für die nominalbildung wesentlich; würz, vak loqui).

als nomen väk (femin.)

nom. väk-8 acc. väk-am abl. väk-at gen. väk- as u. s. f.

Singular.

als verbum vak (indic. praes. activi)

I. pers. vak-mi II. pers. vak-si III. pers. vak-ti u. s. f.

Aufser den personalendungen des aclivs hat das Indogermanische noch die des mediums, die, wie es scheint, durch Verdoppelung gebil- det sind. Z. b.

512

Acg. Schleicher, die Unterscheidung von

[46

I. pers. sing, bharä-ina-mi

II. pers. sing. bhara-sa-si \ III. pers. sirig. bhara-ta-li -

III. pers. plur. bhara-nta-nti

<pe'po/Lict(jLi)i (ich trage toir od. mich) *<pe'(>€oa(o)i (du trägst dir od. dich)

cp€^era(r)i (er trägt sich) (ptgovra(vr)i. (sie tragen sich)

An gewisse terapus- tmd modusstämme tretetf ab gekürzte formen der personalendungen, z. b. optativstamm praesentis bhara-i:

Activum

I. bharai-m II. bharai'8 III. bharai-t

f. bharauvas II. III. ?

I. bharai-mas IL bharai-las III. bharai-nt

Singular.

Dual.

Medium

bharauma(m)

bharai-sa{s)

bharai-ta(t)

bharai-vadha

Plural.

bharaumadha bharausdkva ? bharai-nta(nt).

Auch der imperativ hat personalendungen , wenn auch in der II. sing., die villeicht die einzige uralte Imperativform ist, in einer von den übrigen modus ab weichenden form; II. sing, imperativi activi bhara- *(dhi), tanu-dhi, vak-dhi. Das perfectum und die übrigen praeteritalfor- men unterscheiden sich in iren personalendungen nicht wesentlich von den andern verbalstämmen, z. b. perfectstamm vivid (würz, vid videre):

Activum

I. viväid-(m)a II. viväidrta III. viväid-(t)a

I. vivid'vasi

ii. ni. ?

I. vivid-masi

II. vivid-iasi III. vivid-anti

Singular.

Dual.

Medium

vivid-mafäi

vivid'tafyi

vivid-ta(t)i

vivid'Vadhai

Plural.

vivid-madhai vividsdhvai? vivid-antai.

47] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. S13

Mag im vor stehenden auch manches zweifelhafte oder von mir geradezu nicht richtig erschlofsene mit unter gelaufen sein , so ist es doch gegenüber der anzal der völlig sicher erschliefsbaren formen one belang.

Namentlich hebe ich als wichtig hervor 1) die völlige verschiden- heit in der pluralbildung bei den nominibus und verbis; 2) den um- stand , dafs auch die zweite person des imperativs ein personalsuffix zeigt ; 3) die völlige abweichung der am verbum als personalbezeich- nung auf tretenden pronominalen elemente von den formen der selb- ständigen pronomina ; 4) die wesentliche Übereinstimmung der person- bezeichnung bei allen verbalstammen; 5) die abwesenheit von posses- siven pronominalsuffixen ; 6) den umstand , dafs auch der nominativus singularis und pluralis ein casuszeichen hat; 7) endlich wolle man nicht übersehen, dafs bereits in der indogermanischen Ursprache sich ein wirkliches verbum substantivum entwickelt hatte, dafs es eine verbal- wurzel gab, welche schon in der vorzeit unseres Stammes bis zur func- tion , die bedeutung des reinen seins aufs zu drücken, gelangt war, die wurzel as. Den sichersten beweis hierfür lifern die bereits für die Ur- sprache nachweisbaren mit diser wurzel zusammen gesezten tempora (das futurum und der zusammen gesezte aorist z. b. dasjämi aufs da-as« jämi, dwaw; a-diksa-m, edei£a.

Wie steht es nun mit der Unterscheidung voh nomen und verbum in andern hinlänglich zugänglichen sprachen?

Da wir vom Indogermanischen, der volkommensten unter den be- kanten (und sicherlich auch unter den noch nicht bekanten) sprachen aufs gehen , so werden wir natürlicher weise zunächst diejenigen spra- chen unter dem angegebenen gesichtspuncte mit im zusammen halten, welche mit dem Indogermanischen am meisten morphologische änlich- keit haben. Zunächst werden wir also das Semitische vor nemen , weil dises allein mit dem Indogermanischen die wurzelform R1 (d. h. zum zwecke des beziehungsaufsdruckes regelmäfsig steigerbare wurzel) teilt. Sodann mögen die sprachen der form Rs (d. h. unveränderliche wurzel mit suffixen) folgen (das indogermanische wort bat durchweg die form RJ). Zwischen beide haben wir das Koptische ein geschalten, weil dises in manchem wenigstens an die flexion (Rx) erinnert. Nach den sprachen der form Rs lafsen wir andere zusammenfügende sprachen folgen, so gut es gehen will eine motivierte reihenfolge ein haltend,

Abhaodl. d. K. S. Gesell«*, d. Wisseosdi. X. 35

514 Äug, Schleicher, die Untersctjeidcng von [*8

bis wir zulezt bei den einfachsten Sprachorganismen , den so genanten isolierenden sprachen (die nur wurzeln als worte haben , sprachen der formen R, R+r u. s. f.) an langen. *)

Dise sprachen werden wir also darauf an sehen , ob in inen , in änlicher weise wie im Indogermanischen, verbum und nomen zu einem durch greifenden gegensatze in irer lautlichen gestaltung gelangt sind, d.h. ob sich wäre verba und wäre nomina in inen volkommen ent- wickelt haben.

Semitisch.**)

In ermangelung der semitischen Ursprache, welche schwiriger zu erschließen ist als die den indogermanischen sprachen zu gründe li- gende urform, substituieren wir der selben das Arabische, über dessen bedeutung wir mit Olshausen (Lehrbuch der hebräischen Sprache, Braunscbweig 1861, § 2, b; § S, a und sonst) und Wright (a Grammar of the Arabic language, translated from the German of Caspari, Leipzig 1859, vorrede s. X) überein stimmen. Wir gehen hierbei von der Über- zeugung aufs, dafs der so begangene feler so unbedeutend ist, dafs er aufs er ansatz gelafsen werden kann und dafs der vorteil , mit wirklich vor ligenden sprachformen zu arbeiten , den nachteil einer geringeren altertümlichkeit und ursprünglichkeit der selben auf wigt.

Aufs der Übereinstimmung der semitischen sprachen ergibt sich mit völliger Sicherheit, dafs in der semitischen grundsprache bereits die dreilautigkeit die regelntffsige form der semitischen wurzel war. Wir stehen nicht an , sogar die dreisilbigkeit als volle form der semitischen wurzel in anspruch zu nemen. Dafs dise form , nach der alle factisch vor ligenden semitischen wurzeln gebildet sind, nicht von allem anfange

*) Über die oben gebrauchten morphologischen formein vgl. mein compend. der vergleichenden gramm. der indogermanischen sprachen I, Weimar 1861, s. 2. Für W (wurzel) setze ich jezt aber R (radix) in Übereinstimmung mit p (praefixum) , t (in- flxum), 8 (suffixum); r bezeichnet eine einer andern wurzel bei gesezte hilfs wurzel.

**) Um dem vorwürfe der anmafslichkeit zu begegnen» den ich mir etwa dadurch zu ziehen könte, dafs ich es wage im folgenden eingehender über das Semitische zu handeln one semitist von fach zu sein, erlaube ich mir die milteilung, dafs ich dem Studium der semitischen sprachen länger als ein decennium hindurch eifrig ob gelegen habe ; zuerst auf dem Ko burger gymnasium unter leitung meines vererten lerers For- berg, sodann in Leipzig bei Fleischer, in Tübingen bei Ewald und in Bonn bei Gttde- meister.

49] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 515

an vorhanden war , gondern ersl im verlaufe der zeit , warscheinlich durch überhandname einer analogie, geworden sei dise wol zimlich algemein giltige ansieht für nicht treffend zu halten , komt mir natür- lich nicht in den sinn. Man wolle jedoch nicht aufs den äugen lafsen, dafs die entslebung diser bestirnten wurzelform des semitischen wortesin die uralte periode des werdens der semitischen grundsprache selbst fält. Daher die schwirigkeit mit sicherer methode über die dreisilbig- keit hinaufs die form semitischer wurzeln zu erschliefsen , die dreisil- bigkeit in eine noch ältere form zurück zu übersetzen. In semitischen

worlformen wie v^ kataba, vüu kätibun u. s. f. sehen wir also keine

suffixa (-a, -un), sondern nur die voll vocalisierte wurzel; denn auch den nasalierten vocal im aufslaute von nominalformen möchten wir nicht als ein suffix -n enthaltend betrachten (freilich fallen dabei die pluralendungen zu bedenken). Difs beiläufig und one weitere begrün- düng, da es nicht unmittelbar die uns hier beschäftigende frage berürt, wol aber im folgenden voraufs gesezt wird (vgl. Semitisch und Indo- germanisch in den Beiträgen zur vergleich. Sprachforschung u. s. f. herausgegeben von A. Kuhn und A. Schleicher, bd. II, Berlin 1861, s. 236 flg.).

Das perfectum im Semitischen zeigt in seinen dritten personen for- men, die keine personalbezeichnung haben, sondern in irer form mit nominalbildungen zusammen fallen. Diser erscheinung werden wir noch ser oft begegnen. Sie tritt überall da ein, wo das verbum kein verbum im indogermanischen sinne , sondern , so zu sagen , eine nominalform ist. Dann braucht die dritte person , als selbstverständlich , keine wei- tere bezeichnung und nur ein Hinweis auf die andern personen ist nö- tig. Das selbe finden wir im Indogermanischen, wenn auch hier nomina zum aufs drucke verbaler Verhältnisse an gewant werden (z. b. altind. dätäsmi für *dätärs asmi daturus sum., däta-si für *dätärs assi daturus es , aber data für *dätärs daturus one weitere bezeichnung der person ; änliches in andern sprachen unseres Stammes). Dafs aber die dritten personen des semitischen verbum wirklich von nominalformen völlig

ungeschiden sind, ligt auf der hand. Die III. sg. msc. v^ kataba (scri-

psit) ist die blofse wurzel. Die form steht, wie mich bedankt, in der

verkürzten form des so genanten aecusativs , der im Arabischen beim

verbum in so vilfacher bezieh ung gebraucht wird (vgl. Ewald, arab.

35*

516 Are Schleiche!, die Ustoschomsg vom [20

grammatik, II. bd., das capitel de objecto et accusaüvo}. Bei v^tf kataba ist das verbum selbst , d. h. das verbam * esse\ gar nicht vorhanden, nur der vom begriffe des seins bedingte accosativ wird aufs gedrükt. Der accusaüv steht nämlich im Arabischen zur bezeichnung des praedi- cats beim verbum 0^ kana (fait) and änlichen. Die hier von ans an ge- nommene aufsdraksweise one 0^ oder ein änliches wort ist bekantlich

im Arabischen bei der negation erhalten , z. b. ist das häufige o^y la

budda nallam effugiam seil, est od. fait hierher gehörig. In v^ kataba

ligt ans nichts anderes als der positiv zu einem vJtf S kataba vor. Dafs meistens dise formen der III. sg. perfecti nur in diser funetion, nicht aber außerdem als nomina vor kommen, kann der aaffafsang irer syntactischen geltung nichts in den weg legen. Im Hebräischen ist bei disen formen das aufs lautende a geschwanden , wie der aufstaut bei

den nominibus überhaupt. Ein hebräisches ppT qätan ist parvus und parvus fuit; "Q3 käbid gravis und gravis fuit, so dafs hier deutlich nomen und verbum nicht unterschiden ist.

Was von der III. sg. msc. des perfecta gilt, das gilt auch von der

III. sing, feminini , z. b. <^4^ katabat, hebr. HSrO kaibäh, einer deut- liehen nominalform, wie difs auch algemein an erkant ist. Wir vermuten für die semitische grundsprache die form *katabata,*) dem masculinum kataba in der endung entsprechend (also, um mich arabisch aufs zu

drücken, auch difs *ä*ä*' katabata ist der positiv zu einem **^ ^ ka-

tabata; der nominativ würde %^ katabatun lauten). Im Arabischen ist das *-ata der semitischen Ursprache zu -at, im Hebräischen vor Suffixen zu -at9 one suffixe fast durchweg zu -äh verkürzt; aufsnams weise (s. die anm.) ist im Hebräischen ein archaisches -atah erbalten.

Die dualformen der III. persM masc. ^ kataba, feminin. &^ ka-

*) Solle etwa das seltene hebräische -atdh ein villeicht nach analogie des wönlichen fw -äh des feminins um gestalteter rest diser grundform sein? Das selbe gilt natürlich auch von den formen der verba nS auf nn-, in pausa auf nn-^ Dise for- men pflegt man in der regel als entstanden durch c unorganisches' anhängen der femi- ninendung tu. an die ältere femininendung n- zu fafsen. Dafs es mit diser erklärung nicht zum besten steht, ligt auf der band. Nach unserer auffafsung ist also von di— sem at-dh at die bezeichnung des feminins, äh aber die accasativendung , die auch aufserdem im Hebräischen in diser weise sich erhalten hat.

24] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 517

tabatä sind identisch mit den nominalformen im Status constractus des

nominativs, d. h. Verkürzungen von #qI4^ katabäni, *&&& katabatäni. Auch sie weisen also, gerade so wie der singular, auf die nominalformen

nom. sg. ^ kalabun, fem. ^ katabatun hin.

Eben so steht die III. plur. masculini ]y*tf kalabü, hebr. 13P*

kälbü für #q>^ katabiina, wie das seltene hebräische ]V" ün und die entsprechenden formen des imperfects dar tun. Wir haben also auch hier

eine deutliche nominalform vor uns. Das femininum c^ katabnu hat zwar keine entsprechende nominalform zur seite, dafs es aber eine solche ist, zeigt wol schon der parallelismus mit dem masculinum *ka- tabüna.

Das endergebnis einer betrachtung der dritten personen des per- fectum im Semitischen ist also unbestreitbar das, dafs in disen personen keine verbalformen , sondern mit nominalformen wesentlich gleich lau- tende und disen gleichartige formen vor ligen. Schon jezt können wir also die behauptung auf stellen , dafs sich im Semitischen nomen und verbum nicht in der durch greifenden art scheide, wie im Indogerma- nischen. Folgte das Indogermanische der semitischen weise , so müste z. b. ein mascul. bhara-m femin. bhara-m so vil bedeuten als bhara-ti; ein plur. bhara-sas so vil als bhara-nti u. s. f.

Doch sehen wir weiter zu. Was von den dritten personen gilt, das hat höchst warscheinlich auch von den andern personen zu gelten ; denn eine spräche wird wol schwerlich für die ersten und zweiten per- sonen eine echte conjugation, wäre verba, besitzen, für die dritten aber nicht. Nur wollen wir im voraufs uns erinnern , dafs ein hinweis auf pers. I. und II. auch solchen formen nicht leicht feien kann, die irer natur nach nicht verbal sind. Betrachten wir zunächst die zweiten per- sonen des perfects.

II. singul. masc. v^tf katabta, hebr. Z^Pj kätabtä gilt uns als

eine zusammenrückung und Verkürzung von *c*it v^ kataba anta, hebr. *nfttt 3P3 kätab attäh; neben das an sich nicht auf eine bestirnte

person bezügliche v^f kataba, 3P3 kätab, das one weiteren zusatz zunächst von der dritten person verstanden wird, trat ursprünglich das pronomen der zweiten person singul. mascul., um auf dise person jenes kataba zu beziehen. Ins Indogermanische übersezt würden dise

51 8 Aug. Schleicher , die Unt Bescheidung von [22

formen *bhara*m tu zu lauten haben, eine aufsdruksweise, die von bhara-si völlig und gründlich verschiden ist. Das selbe gilt von allen zweiten personen des perfects.

II. sing, feminini &+& katabli, hebr. ^n? kätabt aufs *vi*j' **tf kalabala anli. *

II. dualis L^äS' katabtumä aufs *U&! Ltf katabä antumä.

II. plur. masculini jU^ katabtum aufs *^ o>^ katabüna anlum, hebr. ÖP3n3 ktabtem aufs *ÖP** 1*13133 f älter etwa *katabüna antem.

II. plur. feminini ^y^ katabtunna aufs der in irer grundform

schwer erschliefsbarenf im Arabischen ^^ katabna lautenden form mit

^t antunna, der II. plur. feminini des Personalpronomens; auch im Hebräischen 1^^^ ktabten ist das entsprechende pronomen ]ntt äffen uoverkenbar.

Nicht also , wie im Indogermanischen , die wurzeln der pronomina treten mit den verbalstämmen zu einem waren worte zusammen, son- dern das fertige pronomen tritt an ein fertiges wort an. Deutlich siht man, dafs sich ftlr alle dise formen eine analogie gebildet hat. Überall ist vom pronomen nur der lezte teil gebliben , wärend die zu gründe ligenden verschidenen formen des nominalstammes sich mit verlost ires aufslautes in eine am ende vocallose form vereinfacht haben.

Die erste person singularis \z~*S katabtu, hebr. i*m03 kätabti zeigt ein anderes pronomen, als das als selbständiges wort gebrauchte

arab. Lsl anä, hebr. ^ äni, "3Ä änoki. Dise form weifs ich also nicht zu erklären; denn -ti aufs -ki entstehen zu lafsen, geht gegen meine lautgesezliche Überzeugung. Villeicht hat die analogie der zwei- ten personen gewirkt, villeicht ligt im verbum ein sonst verlorenes pronomen vor.

Die I. plur. U~tf katabna, hebr. ^3113 kälabnü enthält jedoch in

irem aufslaute deutlich den rest von q^ nahhnu, hebr. *t3rj3tf änachnü, 13H3 nachnü, 138 änü.. Von der vor dem an geschmolzenen pronomen stehenden form gilt das selbe, was bei den II. personen bemerkt ward.

Dunkler in irem Ursprünge sind die bildungen der zweiten form des semitischen verbum, des imperfectum. Hätte Rud. von Raumer (gesammelte sprachwifsenschaflliche Schriften, Frankf.u. Erlangen i 8 63, s. 470 flgg.) recht mit der Vermutung, dafs hier das perfectum der

23] Nomen und Verb um in der lautlichen Form. 519

st. Q^ ^ii sein bedeutenden wurzel vor eine nominalform getreten sei (z. b. hebr.

3FÖ1? jiklob aufs *3rü PPJ1 Aö/a &to^ u. s. f.) , so wären dise formen

rim* *"er §ar D'c^1 we^er zu bebandeln, da wir das perfectuin bereits be-

* sprachen haben. Allein, so ansprechend die Raumersche hypothese

^ kntAi

«K

«•::? ' '•

auch ist, so stell sich der selben doch ein gewichtiges bedenken in den

weg. Das semitische imperfectum ist nach v. Raumer eine durch secun-

•^ o*2 ü* däre processe , durch Vorgänge , wie sie erst im späteren sprachleben

•ter etwa 'kt* ein zu treten pflegen , entstandene form. Auf der andern seite ist das

j .k jer j. ^ imperfectum allen semitischen sprachen gemeinsam , seine entstehung

t , , fäll also in die zeit der bildung und entwickelung der semitischen ur-

und grundsprache. Für dise urzeit , für dise noch jugendliche lebens- ^ uj.f^<si periode der spräche dürfen wir aber nicht Spracherscheinungen voraufs -endepr** setzen, wie sie nur in senilen sprach individuen ein zu treten pflegen.

Mag aber auch wirklich dem semitischen imperfectum ein perso-

* -

Lewcnekt; nalaufsdruck praefigiert sein, so macht ein solcher an sich noch nicht

'eo wcneafi notwendiger weise ein verbum; auch im Namaqua kann die person am

?v>u( rtaii nomen bezeichnet werden, one dafs dises dadurch zum verbum wird.

::.e^::& Die nominale natur des semitischen imperfectum tritt aber unverkenbar

ei. n^jir: klar und deutlich zu tage. Der kürze wegen lafse ich im folgenden das

.ijess \:*s Hebräische bei seite, das one hin neben dem durch erhaltung der voca-

0 :,!-£ tischen aufslaute altertümlicheren Arabischen zur erklärung und erkent-

nis der formen nichts bei zu tragen vermag.

Man vergleiche :

« » » - 4

. *;• *■

: ~: :: ix .'

14 i-

<ilZ. .2t

Imperfectum. Nomen (Nominativ).

Singular.

III. msc. v^ jaktubu u~jL=> gälisun (sedens) in vilen fällen

III. fem. u*ä£j taktubu aber auch u^L> gälisu one -n; vgl.

II. msc. vw& taktubu auch formen wie <^l awadu (niger)

die -t> nie haben.

Dual.

^^^ IH- msc« o'"*^ jaklubäni q^ gälisäni, q^^ asvadani

-~ *' III. fem. pl4ift taA^m

-: * Li*

»> o.

r_ ^ IL msc. qLjäü taktubäni

k**

520 Aug. Schleich!» , die Unterscheidung von [24

Plural. III. msc. qj**£>. jaktubüna oy*&=> gäUsüna

« y y ©..

II. msc. o>y^' taktubüna.

In disen formen Iigt also die volkommenste Übereinstimmung der so genanten verbal- und nominalformen klar zu tage.

Die III. plur. fem. &»& jaktubna und die IL plur. fem. o**^-» fo&- tobna sind gebildet wie die III. plur. feminini des perfects && katabna.

* y o-

Die endung der II. sing. fem. &&*& iaktubina ist dunkel. Die I. sing.

y y öS > )o«

v^i dktvbu und I. plur. v^^i naktubu zeigen nichts, was nicht einer nominalform gemäfs wäre.

Dazu komt, dafs das imperfectum überhaupt declinierbar ist. Es

*. y o,

kann in den accusativ gesezt werden, z. b. v"& jaktuba accus, zu

u^, wie *y* asvada accus, zu ^t. Die nominale art des imperfectum ist auch keineswegs von den arabischen grammatikern verkant worden (vgl. z. b. Ewald, arab. gramm. § 209; Wright § 95).

Auch der syntactisohe gebrauch des imperfects in Verbindungen

y y o,, ., ,

wie wäi 0u käna jaktubu scribebat , wörtlich etwa fuit scribens , ist wol nicht zu übersehen.

Nach dem bisherigen kann also nicht in zweifei gezogen werden, dafs im Semitischen das nomen vom verbum nicht wesent- lich verschiden ist. Wir können mit Zuversicht behaupten, dafs das wesen des so genanten verbum im Semitischen von dem des indoger- manischen verbums völlig ab weicht und dafs es im Semitischen, trotz seiner flexivischen natur, zu einer durch greifenden Unter- scheidung von verbum und nomen nicht gekommen ist.

Koptisch.

Das Koptische beut dem Verständnisse seiner grammatischen form besondere schwirigkeiten deshalb, weil man über die grunzen des Wor- tes nicht sicher ist. Würden wir der Schwartzeschen art die worte zu trennen (vgl.Scbwartze, koptische grammatik, herausgegeben von Stein- thal, Berlin 1850) folgen, so wäre unsere Untersuchung ser leicht und einfach, denn dann bestünde in dieser spräche zwischen nomen und verbum gar kein unterschid. Der Sicherheit des ergebnisses wegen wol- len wir jedoch eine nähere Zusammengehörigkeit der beziehungsele-

25] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 524

mente mit den bedeutungselementen im Koptischen voraufs setzen (vgl. zur Morphologie der Sprache in den Mämoires de l'Acadämie Imperiale des Sciences de St. Petersb., VII0 s6rie, Tome I, Nro. 7. St. Petersburg 4 859, s. 24 flg.).

Was zunächst das nomen betritt, so hat es eine vom Indogermani- schen völlig verschidene form. Es hat nämlich keine declination. Die casus werden mittels praepositionen aufs gedrttkt. Nun könte man dise elemente als mit dem nomen ein wort bildend , als casuspraefixe auf fafsen, die in irer nomenbildenden function natürlich eben so berechtigt waren, als die casussuffixe des Indogermanischen. Diser auffafsung tritt aber der umstand in den weg, dafs eine praeposition auf merere durch 'und' verbundene nomina wirken kann, z. b. Genes. XII, 7 (Uhlemann, linguae copticae grammatica, Lips. 4853, pg. 52) nak nfm iTFKxpox nak nem pek-grog tibi et semini tuo; NA na 'versus, ad' bezeichnet den dativ ; K k ist suffix der II. person sing, masculin. ; NEM nem atque, etiam; iTEpe ab geschwächtes demonstrativen, fungiert als artikel des singularis mascul. ; xpox grog semen. Hier wirkt also NA na auch auf ITEKicpox pekgrog und macht es zum dativ. Luc. XII, 56 (Schwartze, koptische gramm. syntax § 54, s. 486) ngo N T<|>E NEM m KAgi p-ho en t-<pe nem pi kahi facies caeli et terrae ; n p artic. sing. masc. ; go ho facies; N en, vor labialen und b ch ero, bezeichnet irgend einen casus, der nicht nominativ ist, hier den genitiv ; T t articul. sing. fem. ; ty$ (pc coelum ; NEM nem atque, etiam ; m pi articul. sing. masc. ; KAgi kahi terra. Hier wirkt also n en auch auf TTlKAgi pi-kahi. Dergleichen fälle sind natürlich häufig. Sie beweisen , dafs wir es nicht mit casusprae- fixen, die mit dem wortstamme zur einheit des wortes verwachsen sind, sondern mit praepositionen, mit getrenten worten zu tun haben; d. h. es gibt im Koptischen keine declination wie im Indogermanischen , also auch keine nomina der art , wie wir sie dort fanden. Solche beispile, wie die oben an gefürten , würden im Indogermanischen etwa lauten z. b. akva ka vägha s anstatt akvas ka väghas equus et currus (an genom- men dafs ka also gebraucht und gesteh werden könte ; in Wirklichkeit wäre akvas väghas ka für die indogermanische Ursprache in ansatz zu bringen).

In der regel hat das nomen einen artikel , einen bestirnten oder einen un bestirnten , vor sich und ist hierdurch in fast allen fällen als solches kentlich. In der vor ligenden spräche ist der artikel entschiden

522 Aue. Schleicher , die Unterscheidung von [26

als an das nomen an geschmolzen zu betrachten, da er oft nur aufs einem einzigen consonanten besteht, der unter dem lautgesezlichen einflufse des anlautes des nomens steht; z. b. noypo p-uro masc. 6 ßaadsvg; THTTi t-epi fem. 6 äQiÖ/uog; (J)OyHB <p wev 6 ieQevg; OBAKl th-vaki fem. ij noXtg. Der unbestimte artikel ist auch hier das verkürzte zalwort eins.

In gewissen fällen steht jedoch der artikel nicht, und dann fttft jeder formelle unterscbid zwischen nomen und verbum hinweg. Ein nomen one artikel unterscheidet sich in nichts von einem verbum one personalbezeichnung , wie solches im imperativ vor zu kommen pflegt, z. b. ccotfh sotem audi, audite und auditus, obedientia. Da im Indo- germanischen auch der imperativ eine verbal form ist, welche ursprüng- lich stäts eine personalendung hatte , die in gewissen fallen ja auch bis in spätere lebensperioden der spräche verblib, so haben wir schon hier einen beweis dafür, dafs im Koptischen nomen und verbum nicht so durch greifend gesondert sind , als im Indogermanischen.

Ein fernerer beweis für die selbe warnemung ist der umstand, dafs das demonstrativpronomen, d. h. der stamm des selben (one casus* element, denn dergleichen gibt es ja im Koptischen nicht, wie wir oben sahen) zugleich als verbum substantivum fungiert; z. b. nepe = ö und eori mascul. ; TB te =s rj und iari femin. ; NE ne = oi , ai und eial msc. femin. Eben so mit der negation ; an JUS an pe non est masc. ; an TE an te non est femin. ; AN NE an ne non sunt masc. u. fem. (Uhlemann, lin- guae copticae grammatica § 42, pg. 37). Z. b. ANOK ITC m KOfSi anok pe pi kugi iyto 6 /uxqoq ich bin der kleine. Indogermanisch ist difs unmöglich , weil in diser spräche ein stamm nicht zugleich nomen und verbum sein kann. Änlicher weise findet sich der mangel eines verbum substantivum in zalreichen sprachen, in denen sich kein eigentliches verbum entwickelt hat, oder, genauer gesagt, in denen es nicht zum gegensatz von nomen und verbum gekommen ist. Wir werden auf disen punct noch mermals gefürt werden.

Gewisse nomina , die so genanten pronominalsubstantiva und die pronomina haben den artikel nicht und hängen die possessivsuffixa an iren aufslaut. Warscheinlich haben wir in disen fallen reste einer älte- ren Sprachgestaltung vor uns. Dise nomina fallen in der form völlig mit den verben zusammen, welche die persona laufsd rücke an iren aufslaut hängen; auch dise stammen warscheinlich aufs einer früheren sprach* periode. Diser so genanten verba sind es freilich ebenfals nur wenige,

27] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 523

aber zu inen gehören die wichtigen stamme, welche als tempus- und modusaulsdrtlcke vor andern verbalstttmmen , welche leztere unverän- dert bleiben , ire stelle haben. Die personalsuffixa sind bei allen disen stammen die selben, sowol bei denen, die man als verba betrachtet, als bei denen , die als nomina und pronomina gelten , z. b. pco-q , pCD-C ro-f, rö-s cro/ia ccvrov, oto/m avrrjc. JtTO-q , ntoc ento-ft entos ille, illa. NTA-q , nta-C enta~f% enta-s eius msc, eins femin. e-q, e-c e-f, es est msc, est femin. TTCXA-q, fTEXA-C pega-f, pega-s dixil msc, dixil femin. u. s. f.

Hier feit also nomen und verbum volkommen in der form zusam- men und es ist nicht zu entscheiden, ob die stamme, welche vor den personalsuffixen stehen, nominale oder verbale stamme sind.

So tritt ser häufig ein stamm A a auf, dem man die bedeutung 'esse* (Schwartze § 144), 'habere, esse' (Uhlemann, § 30) gibt, und in der tat findet sich diser stamm in diser function z. b. a-n a-» 'sunt' (Peyron lexic. copt. s. v. a) ; auch Schwartze fürt AK a-k, A-q a-f, A-C a-s in der function 'es, est msc, est femin/ an. Dises A a ist aber mög- licher weise auch ein pronomen , wie difs auch Schwartze aufs spricht 1 49). Wie mit disem A a, so verhält es sich aber mit mereren anh- eben dementen, z. b. e e in E-q e-f est mascul., S-C es est femin. (Uh- lemann § 29) u. s. f. Uhlemann 4 6) betrachtet e e als verbalwurzel mit der function 'esse , Schwartze dagegen 4 46) fafst es als relativ und ttbersezt z. b. Ftj ef mit ' welcher er = m>\ ec es mit 'welcher sie ss ovaa. Ferner N en quod (Uhlemann § 34, pg. 30), aber mit Suffixen z. b. N-+ en-ti sim, N-q en-fsbl masc, Jt-C ens sit femin. u. s. f.

Sind nun A a, e e, u en verba oder nomina? Warscheinlich wol sowol das eine als das andere oder vilmer richtiger keines von beiden, sondern verbum und nomen sind in den an gefürten ftrtlen eben noch nicht geschiden und ein und dieselbe form kann als verbum sowol als als nomen (unserer sprachen) gelten.

Dise elemente dienen nun andern stammen (so genanten verbis) zum beziehungsaufsdrucke. Z. b. N-+-TCOM en-ti-tom, wörtlich etwa 'quod ego claudere', d. i. ut claudam; A-q-MEü)T a-f-meit migravit u.a. Eben so gebildet ist aber auch A-q-OCDN a-f-&6n ubi est masc, a-cbcdn as-&6n ubi est femin. zu eo)N &6n ubi ; ferner zeigen den gleichen bau

524 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [28

die nomine mit artikel und possessivsuffixen , z. b. ne-q-p AN pe-f-ran, wörtlich etwa 'der-sein-name' nomen eius u. s. f. Lauter bildungen, in denen kein unterschid zwischen verbum und nomen zu bemerken ist.

Ferner zeigt sich die mangelnde worteinheit , der nicht feste zu- sammenschlug der pronominalen personbezeichnung mit dem verbal- stamme, also der vom Indogermanischen völlig verschidene character des Koptischen darin, dafs das concrete Substantiv anstatt des pronomi- nalen personalaufsdruckes beim so genanten verbum ein treten kann. Z. b. nsxAq pega-fdixit, wörtlich etwa cdicere eius9, aber nexe ABpAAM pege avraam dixit Abraham (Genes. XXII, 5), wörtlich etwa 'dicere Abr.'. Im Indogermanischen würde sich das so aufs nemen, z. b. im Lateini- schen: dixi- Abraham für dixi-t; AqMEjjjT a-f-mest migravit (über A-q a-f s. o. MPcyT mest migrare, peragrare), aber X XepAM mfjj)T a avram mest (Genes. XII, 6) migravit Abraham, wo für das pronomen q /"in a-f- mest das substantivum ein getreten ist.*) Ware ein solches verfaren im Indogermanischen möglich , so könte man z. b. neben indogerm. ai-ü (altind. e-ti, lat. i-f, älter ei-t er geht) sagen ai varkas (it lupus), latei- nisch t lupus anstatt ai-ti varkas, lat. it lupus. Das substantivum ersezt im Koptischen die personalbezeichnung. Die formen , welche man im Koptischen verba nent, sind difs nicht im indogermanischen sinne, denn auch der personalaufsdruck ist disen so genanten koptischen verben nicht absolut wesentlich (man erinnere sich der oben bei gebrachten falle wie ne pe est msc., te te est femin. u. s. f.).

Die häufige praesensbildung mit vor geseztem pronomen indem dises zugleich die function 'sein* involviert z. b. •f--T(DM ti-tom claudo, q-TCOM f-töm claudit msc, c-tcdm s-tam claudit femin. u. s. f., stimt in morphologischer beziehung zu der Verbindung des nomens mit dem ar- tikel, z. b. +-kü)C ti-kös sepultura, •f-KCDC ti-kös sepelio, m-T(DM pi-töm 'der verschlufs, der zäun' u. s. f. Nur dadurch unterscheiden sich dise beiden bildungen, dafs bei den so genanten verbis ein persönliches pro- nomen, bei den nominibus ein demonstrativer pronominalstamm vor dem wortstamme steht.

*) Übrigens kann man im Koptischen auch das substantivum mit der so genan- ten nominativpartikel dem vollen verbalaufsdmcke bei fügen, z. b. Aq(Tl NOT ABpAM af-ki enge avram cepit Abraham (über A-q a-f ist bereits gehandelt; (Fl ki capere, accipere ; NOT enge nominativpartikel) .

29] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 525

Das schlufsergebnis unserer betrachtung des Koptischen kann demnach kein anderes sein, als die Überzeugung, dafs eine Schei- dung von Domen und verbum im Koptischen nicht statt findet.

Magyarisch.

Im Magyarischen, wie auch in andern dem selben verwanten oder in der form mit im überein stimmenden sprachen , ist verbum und no- men meist, nach dem ersten blicke auf die formen zu urteilen, deutlich geschiden. Untersucht man jedoch die formen genauer, so finden sich zalreiche belege dafür, dafs auch hier dise Scheidung keine durch grei- fende ist, wie im Indogermanischen, so dafs wir auch im Magyarischen mit der vom Indogermanischen her genommenen definition von nomen und verbum nicht durch kommen. Vilmer gibt es im Magyarischen und in sämtlichen gleich gebauten sprachen zalreiche teile, in denen nomen und verbum in der form völlig zusammen fallen , d. b. die Scheidung von nomen und verbum ist auch hier nicht volzogen.

Am deutlichsten scheint sich wirklich verbale natur zu zeigen in denjenigen verbalformen , welche aufser dem subject auch das object an deuten« Dise formen, welche sich vereinzelt nicht selten in den sprachen finden , im Baskischen und in zalreichen sprachen der neuen weit aber bekantlich in besonders aufs gedentem mafse entwickelt sind, pflegt man einverleibende zu nennen. Im Magyarischen gehört hierher die so genante bestirnte conjugation, z. b. vär-jä-tok ir erwartet es, in, sie (vär, wurzel, mit der bedeutung warten, erwarten; -jd- be- zeichnet das object; -tok ist das suffix der II. pers. pluralis); k4r-l-ek ich bitte dich (kär, wurzel, bitten; -/- drükt die beziehung auf die II. person aufs ; -ek bezeichnet die I. person als subject). *) Und dennoch zeigt sich sowol in den amerikanischen Indianersprachen als auch im Magyarischen selbst, dafs dise einverleibenden formen nicht eigentliche verba im indogermanischen sinne sind. Die suffixa, welche das subject des verbums bezeichnen , kommen hier vor allem in betracht und von disen werden wir sehen, dafs sie sich nicht wesentlich von den pos-

*) Das medium des Indogermanischen ist ebenfals eine solche einverleibende form. Ein urspr. bhara-ta~ti = q)tQtxa[r)i unterscheidet sich nur dadurch vom acti- vum bhara-H = yigityi, dafs nach dem verbalstamme die pronominalwurzel ta, um das object zu bezeichnen, ein gefügt ist.

526 Aug. Schlbkhbb, die Untkbscheimjng von [30

sessivsuffixen am nomen unterscheiden (vär-jä-tok ist eigentlich ' euer es warten' wie ruhä-lok euer kleid) ab gesehen davon , dafs selbst dise einverleibenden formen adjectivisch gebraucht werden können. Davon weiter unten. Im wesen der einverleibung ligt aber keineswegs etwas entscbidert verbales , denn auch eine nominalform kann transitive func- tion haben (man erinnere sich der participien und infinitive).

Was zunächst das nomen des Magyarischen betritt, so sehen wir hier, wie in zalreichen andern sprachen, die casus Verhältnisse durch postpositionen aufs gedrttkt, von welchen das Magyarische eine grofse anzal auf zu weisen bat. Der blofse stamm one casuszeichen, im plural mit dem pluralzeichen versehen, gilt als noroinativ, der blofse nominal- stamm hat aber oft auch andere Casusverhältnisse zu vertreten (s. u. beim Ostjakischen). Schon hierdurch erweist sich das magyarische no- men als grundverschiden von dem des indogermanischen , welches nie- mals als lebendiges wort eines Casuszeichens entraten kann. Dafs aber auch die postposition nicht einem indogermanischen casussuffix gleich zu achten ist, dafs sie nicht mildem nominalstamme zu einem untrenba- ren wortganzen zusammen geht, wie difs im Indogermanischen der fall ist , dafs also nicht der stamm erst durch das casuszeichen zum worte wird, wie im Indogermanischen, sondern als solcher schon als wort fungieren kann, dafs also das magyarische wort etwas ganz anderes ist, als das indogermanische, zeigt sich deutlich darin, dafs die postposition bei coordinierlen nominibus den voran gehenden entzogen werden kann und nur bei dem lezten zu stehen braucht; z. b. ajö embernek dem gu- ten menschen (a für az demonstrativem), artikel; gut; ember mensch; -nek -nah postposition etwa im sinne unseres dativs) Air *az-nak (annak) jö-nak ember-nek (als könte man im Griechischen sagen *ro äya&o av- #(H»ftp« Das vor dem substanlivum stehende attributive adjeetiv steht stats in der reinen stamform, pluralzeichen und casuspostpositionen treten nicht an das selbe. So sagt man z. b. Hunyady Mätyäs magyar kiräly-nak dem ungarischen könig Mathias Hunyady, -nah gehört hier zu allem vor- her gehenden. Anliches findet bei mit cund' verbundenen worten statt (vgl. oben den entsprechenden fall bei den koptischen praepositionen).

Beim activen verbum hat die dritte person keine personalbezeicb- nung, es fäll also die dritte person singularis des unbestimten verbs in der form mit dem verbalstamme zusammen. Dise dritten personen sind also, nach indogermanischem mafsstabe, keine verba ; z. b. III. sing.

34] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. 527

vor er wartet , var-ja er erwartet in , es t sie ; ja bezeichnet das object ; HI. plur. väm-ak (das n halte ich für rest eines verbalnomen, das hier anstatt des in den andern personen bräuchlichen Stammes ein tritt) sie warten; vär-jä^k, der regelrecht auf nominale art von vär-ja gebildete pluralis, sie erwarten es, in, sie. Das -ak, -k ist das gewönlicbe plural- zeichen der nomina.

Eben so in andern temporibus und modis. Z. perfectstamm vär~tt bedeutet zugleich er hat gewartet; vär-t-a er hat es erwartet (a ist mit ja gleich bedeutend , auch an nominibus) ; III. pluralis var-t-ak sie haben gewartet ; vär-t-a-k sie haben es erwartet u. s. f. Lauter echte nominalformen, oder vilmer formen, die sowol nomina als verba sein können.

Da nun , wie wir oben sahen, der nominativ der nomina aufs dem blofsen stamme besteht, so fallen nominativ singularis und III. singula- ris praesentis der un bestirnten form in allen fällen völlig zusammen , in welchen ein und der selbe stamm sowol als verbum als als nomen in gebrauch steht. Hierauf macht bereits R6vai (antiquitates literaturae hungaricae I, Pest 4803, s. 199, § 101) aufmerksam und fürt beispile an wie nyom vestigium, premit ; ter spatium, spatiosus, revertitur, con- vertitur, quasi spatium conficit ; fagy gelu, gelascit; fog dens, capit u.s.f. Der fall ist nicht selten, er tritt auch bei stammen mit stambildungssuf- fixen nach der wurzel ein, z. b. vad-äsz jager, erjagt; hal-äsz Bscher, er fischt; ir-at schritt, er läfst schreiben u. s. f.

Ferner lautet ein teil der personalsuffixa am verbum und der pos- sessivsuffixa am nomen völlig gleich ; durchweg ist difs allerdings nicht der fall. Leider feien uns magyarische Sprachdenkmale höheren alters; halten wir die spräche in einer wesentlich ursprünglicheren form zur Verfügung, so würde sich manches erklaren lafsen, das bei dem vor ligenden sprachmateriale dunkel bleibt.

Man vergleiche z. b. :

stamm värt gewartet stamm hol fisch

Singularis.

I. värt- am ich habe gewartet hal-am mein fisch

II. värt-ad du hast in, es, sie erwartet (das haUad dein fisch

objectspronomen ist in diser form ge- schwunden)

III. värl-a er hat in erwartet haUa sein fisch.

528 Aüg. Schleicher, die Unterscheidung von [32

Pluralis. I. värt-unk wir haben gewartet hal-unk unser fisch

II. värt-atok ir habt gewartet hal-atok euer fisch

vart-är-tok ir habt es, in, sie er- ruhä-tok euer kleid (stamm ruha)

wartet (stamm vart-a) III. värt-ak sie haben gewartet hal-ak fische

värt-ä-k sie haben es, in, sie er- ruhä-k kleider.

wartet.

Natürlich fallen auch andere personen als die dritten nicht selten mit nominibus völlig zusammen , wie z. b. vaddsz-unk 'unser Jäger und 'wir jagen u. dergl. mer.

Hat , wie schon gesagt , das verbum auch manche endung für sich, die am nomen nicht erscheint, wenigstens nicht in der heutigen spräche (z. b. I. sing, vär-ok ich warte , II. sing, vär-sz du wartest und andere), so folgt doch aufs der oben gegebenen Zusammenstellung, dafs difs nicht im princip der spräche ligt, dafs es vilmer zufälliger art ist, wenn nomen oder verbum etwas inen aufsschliefslich eigentümliches zeigen. Ein durch gefUrter, principieller gegensatz in der bildung diser beiden redeteile läfst sich keinesweges im Magyarischen nach weisen.

Das dem nominalen nahe stehende wesen des magyarischen ver- bums tritt aber ferner noch deutlich zu tage in dem adjectivischen ge- brauche der verbalformen. Es kann nämlich eine verbalform geradezu als adjectivum zu einem substantivum gesezt werden. Z. b. a hallod dolgok, wörtlich : die du-hörst-sie (bestirnte form) dinge (a abgekürztes pronomen demonstrativum , artikel ; hall- od II. sing, praesenlis bestirn- ter form zu würz, hall hören ; dolg-ok pluralis zu sing, dolog ding), d. h. die dinge, die du hörst. Häufiger ist diser gebrauch im perfectum, z. b. a hallottam beszed 'die ich-habe-sie-gehört rede1, die rede , welche ich gehört habe ; a kärt vallott ember 'der schaden bekante (bekant habende) mensch', d. i. der mensch, der schaden (fair, accus, sing, kär-t) gelitten hat u.a. (Bloch, ungarische grammatik, 3. aufläge, Pesth 1848, s. 183, § 1 42). In dem zulezt an gefürten beispile ist vallott deutlich participium praeteriti zu voll er gesteht, bekent, sagt aufs; difs participium gilt nun eben so zugleich als III. sing, perfecti, wie der blofse verbalstamm als III. sing, praesentis. Hier ligt die identität von adjectivum und verbum auf der band. Da nun aber auch die andern personen des verbi , nicht blofs die dritte , adjectivisch gebraucht werden , so folgt daraufs , dafs

33] Nomen dnd Verb im in der lautlichen Form. 529

durch die anftlgung der sufßxa zur bezeichnung der handelnden person und des objects die nominale, hier atljectivische natur nicht geändert wird ; a hallottam beszöd ist also eben so vil als 'die mein-sie-gehört rede' ; a hallod dolgok etwa 'die dein-sie-hören dinge*.

Übersiht man alles das, was im bisherigen über die conjugation des Magyarischen an gefürt ward» so ergibt sich, dafs auch für das Ma- gyarische der indogermanische gegensatz von nomen and verbum keine geltung hat. Verba und nomina zeigen im Magyarischen eine im wesentlichen gleichartige form, d. h. nach indogerma- nischen begriffen gibt es im Magyarischen weder nomina, noch verba.

Finnisch.

Die sämtlichen mit dem Finnischen und Magyarischen verwanten sprachen hier durch zu nemen, ist wol nicht erforderlich ; es genügt für unseren zweck , wenn wir einige sprachen , besonders aber die vor- nemsten Vertreter der finnischen sprachgruppe auf die hier in betracht kommenden formen an sehen. Dafs vor allem aufser dem Magyarischen das Finnische im engeren sinne, das Suoini, in betracht komt, bedarf keiner begrttndung. Meine hilfsmittel für das Studium des Finnischen sind 6. E. Eurän, finsk Spräklära, Abo 1849; des selben Finsk-Swensk Ordbok, Tavastehus 1 860 ; G. Renvall, lexicon linguae Fennicae, Aboae 1 823 1 826, bisweilen benuzte ich auch das Svenskt-Finskt Handlexi- eon, Helsingfors 1853. Texte zu leseübungen stehen mir in den Ver- öffentlichungen der finnischen litteraturgeselschaft in reichem mafse zu geböte.

Auch im Finnischen feit eigentlich stäts der nominativus singularis mit dem stamme der nomina zusammen,*) er hat kein casuszeichen;

*) Beiläufig sei bemerkt, dafs das Finnische besonders in einer beziebung für die glottik von bedeutung ist. Man findet nicht selten vereinzelt in den sprachen die benutzung secundärer lauterscheinungen zur andeutung functioneller unterschide, be- sonders zum aufsdrucke und zur Unterscheidung von beziehungsfunctionen (z. b. no- dag neben nodee, gemeinsame grundform beider casus ist aber padas, früher allerdings padas nom. plur., padams accus, plur.) . Im Finnischen ist difs verfaren so zu sagen zu einem princip der Wortbildung geworden So lautet z. b. der nominativ singal. eines Stammes vastaukse (antwori), der sich in diser form als nommativ vor Suffixen erhalten hat (z. b. vastaukse-ni meine antwort) nicht mer also , sondern vastaus , wo- durch sich also diser casus scharfer von andern ab sezt (z.b. vastaukse-lta ablat.) ; es

Abhandf. d. K. S, Gesellscb. d. Wissensch. X. 36

530 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [34

auch hier ist also, im gegensatze zum Indogermanischen, ein stamm zu- gleich wort. Wenn sich bei vilen stammen dennoch der nominativus singularis in seiner form von der andern casus zu gründe ligenden stam- form unterscheidet, so ist difs lediglich eine folge später ein getretener lautlicher Veränderungen, von denen die nominativform sich frei gehal- ten hat , wenn ein suffigiertes pronomen an sie an tritt.

Der vom nomen nicht wesentlich verschidene character des finni- schen verbums tritt deutlich hervor zunächst in der dritten person plu- ralis auf -vat, -vät (der Wechsel von a und ä beruht auf dem bekanten gesetze der vocalharmonie) , -/. Dises t ist offenbar das selbe element, welches auch beim nomen als pluralbildend erscheint ; es ist auf den nominativ pluralis beschränkt (z. b. karhu ursus, nominal, plur. karhu-t), vor den endungen der andern casus wird ein anderes pluralzeichen (*) gebraucht, welches auch im Magyarischen in gewissen fällen an gewant wird. Das -va- der endung -vat, -vä-t halte ich für identisch mit dem suffixe va, welches ein partieipium bildet;*) z. b. stamm saa aeeipere, partieip. saa-va aeeipiens, HI. plur. praes. saa-va t aeeipiunt, wörtlich aeeipientes. Die als dialectisch von Euren bei gebrachten formen wie saavaüen scheinen durch das antreten einer anhangspartikel entstanden zu sein, von denen das Finnische einen ser aufs gedenlen gebrauch macht.

Die 111. pers. singularis zeigt eben so wenig ein personalsuffix, z. b. saa aeeipit. Sie nimt aber gerne den zusatz eines -pi (in gewissen fällen lautgesezlich wechselnd mit -vi) an, also saa-pi, worin man mit Renvall wol nur eine an gehängte partikel sehen kann, mittels deren das Finni- sche den worten oft nur einen gröfseren nachdruck zu verleihen liebt. In disen dritten personen haben wir also formen vor uns, die, mit indo- germanischem mafsstabe gemefsen , nichts verbales an sich haben.

Die ersten personen endigen im singularis auf -n , im pluralis auf -inme; z. b. saa-n aeeipio, saa-mme aeeipimus. Die endung der I. sing, -n fafse ich als eine Verkürzung von -ni (vgl. die II. sing.); -vi ist das possessive suffix der I. singularis beim nomen /. b. maa-ni terra mea),

heifst repii (er zerreifst) , repivät (sie zerreifsen) aber revit (du zerreifsest) , revimrne (wir zerreifsen), revitte (ir zerreifset) u. s. f.

*) Auch im Magyarischen scheint die HI. pluralis praesentis und dem praesens 'anlich gebildeter lempus- und modusformen auf einem partieipium zu beruhen.

35] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 531

-mme aber lautet eben so als possessives suffix der nomina (z. b. maa- mme terra nos(ra). Die entsprechenden selbständigen pronomina sind mim ego, me nos. Ob die von Eurän an gefürte dialectforro -mma, -mmä für -mme auch als possessivsufßx vor komt, vermag ich nicht zu ermitteln.

Die zweiten personen endigen im praesens und in meieren andern tempus und modus im singularis auf -f, im pluralis auf -tte; z. b. saa-t accipis, 8aa-tte, dialectisch saa-tla accipitis. Sie sind dem verbum ei- gentümlich. Die entsprechenden possessivsuffixe sind sing, -si, plur. -nne; z.h.maa-si, maa-nne. Die selbständigen pronomina sind sind tu, te vos. Es verhält sich also me zu -mme wie te zu -tte und es dürfte daher zufällig sein, dafs das dem -mme volständig entsprechende -tte nicht fürs nomen gebräuchlich ist, sondern nur beim verbum auftritt. Im optati- vus erscheint jedoch in der IL singularis das personalsuffix, welches nach analogie der ersten person zu erwarten war, nämlich -s; -n : -m = -s:-si. Dise IL sing, optativi lautet z. b. saao-s, nach den laut- gesetzen fUr saa-ko-s (vgl. maa-si terra tua).

Die zweite pers. sing, imperativi ist, wie in zalreichen dem Finni- schen verwanten und nicht verwanten sprachen, der blofse verbal- stamm; z. b. saa accipe, sano die u. s. f. Eur£n schreibt allerdings saa, sano' als wäre hier am ende etwas hinweg gefallen ; ich glaube nicht mit recht. Auf dises so genante aspirationszeichen werden wir weiter .unten zurück kommen.

Der nachweis, dafs auch im Finnischen, wie im verwanten Magya- rischen, der gegensatz von nomen und verbum nicht durch greifend entwickelt ist, ist im bisherigen bereits bei gebracht.

Doch werfen wir noch einen blick auf das finnische verbum.

Die stamme des Optativs und imperativs (mit aufsname der II. per- son singularis), z. b. optativstamm saa-kot repi-kö (repi, revi rumpere, lacerare), imperativslamm saa-ka, repi-kä, bestehen, wie leicht zu er- kennen ist, im optativ aufs dem verbalstamm und der fragepartikel -fco, -fco, im imperativ aufs dem verbalstamme und der hervor hebenden an- hängepartikei -ka, -kä. In der III. person singularis und im ganzen plu- ralis tritt in beiden modus noch -A+n, das heifst -A+vocal der vorher gehenden silbe -fr-w, an; warscheinlich ist difs -h+n die häufig ge- brauchte anhängepartikel -hau, -hän, die sich gerne mit -ka, verbin-

36*

532 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [36

det, die aber hier iren vocal dem der vorher gehenden silbe assimi- liert, z. b.

Optativ Imperativ

Singularis.

I. in beiden modus nicht gebräuchlich. II. $aa-o-$ für saa-ko-s andere bildung.

III. saa-ko-hon9 gewönl. saa-ka-han, gewönl.

saakoon saakaan

Pluralis.

I. saa-ko-ho-mme , gewönl. saa-ka-ha-mme , gewönl.

saakoomme saakaamme

II. saa-ko-ho-tte saa-ka-ha-tte

saakootte saakaalte

III. saa-ko-ho-t saa-ka-ha-t

saakoot saakaat.

Der schwund des n vor consonanten, wie in saakoho-mme u. s. f. für *8aa-ko-hon-mme u. s. f., ist auch sonst im Finnischen gewönlich.*)

Die dritten personen des singularis haben hier also gar nichts, was sie zu nomina oder zu verba stempelte , sie bestehen aufs einem wort- stamme mit an gehängten partikeln. In den übrigen personen treten noch die gewönlichen pronominalsuffixa hinzu , in der III. pluralis das pluralzeichen.

Der lautform nach könte man geneigt sein bei $aa-ko-hon, saa-ka- han an das -A+n, sufßxpronomen der III. singularis zu denken (z. b. maassaan für maa-ssa-han in seinem lande ; tnaa-ssa inessiv zu maä)t das regelmäfsig sich mit seinem vocale nach dem der vorher gehenden silbe richtet. Dann müste man an nemen dafs für den plural die III. singu- laris als stamm gelte, was zwar in den sprachen nicht unerhört ist (vgl. z. b. poln. jest-em sum, jest-estny sumus u. s. f., von jest est, anstatt von jes, dem stamme des praesens, gebildet), mir jedoch weniger war- scheinlicbkeit für sich zu haben scheint, zumal in sprachen, die dem Finnischen nahe stehen (so im Osljakischen , Samojedischen) , in der

*) Dlse formen erinnern gar ser an die jungen litauischen imperative wie du- ki-me y du-ki-te, bei denen im k auch eine parükel slekt (vgl. litauische grammalik, § 4 08, s. 229 flgg.)- In disen litauischen imperativen haben wir also warscheinlicb einen finnismus zu erkennen.

37] Nomen und Verbum in der lautlichen Forb. 833

selben weise partikeln an so genante verbalstamme treten um modus- Stämme zu bilden. Jedes fall es entraten formen wie saakohon eines spe- cifisch verbalen characters.

Nicht bedeutungslos für die beurteilung des finnischen sprachgefüls bezüglich des gegensatzes von nomen und verbum ist auch der um- stand , dafs casus von pronominalstammen , die als partikeln fungieren, mit den selben personalendungen, welche an die verba treten, versehen werden können. Z. b. relativer stamm ku (nomin. sing, ku-ka mit dem bereits erwähnten an gehängten ha) ; inessivus hussa, d. h. ubi ; elati- vus ku-sta, d. h. unde, und nun von disen casusformen I. sing, kn-ssa-n ku-sta-n ubi ego, unde ego; II. sing, ku-ssa-s, kusta-8 ubi tu, unde tu u. s. f. (Renvall lex. s. v. kuka). Änliches findet in andern füllen der art statt. Difs erklart sich mir auf die weise, dafs die so genanten per- sonalendungen des finnischen verbum nichts anderes sind als die an den nominibus gebräuchlichen possessivsuffixa, denn auch dise treten nach der casusendung an (z. b. tnaa-ssa-ni terra in mea) ; an ein aufs gelafsenes oder verflüchtigtes ole-n sum , ole-t es u. s. f. kann hier nie- mand denken. Man vergleiche hierzu auch magyarische bildungen wie näl-am apud me , häl-ad apud te u. s. f., wörtlich: meum apod, tuum apud. Ist aber ein ku-ssa-n wörtlich ein 'meum ubi', das auch die func- tion von 'ubi ego' hat, so wird auch wol ein saa-n nichts anderes sein als c meum accipere', d. i. accipere ego, accipio. Die finnischen perso- nalbezeichnungcn am so genanten verbum sind also etwas ganz ande- res, als die personalendungen des Indogermanischen.

Dafs der personalaufsdruck dem finnischen verbum nicht so we- sentlich ist als dem indogermanischen, zeigt auch die so genante nega- tive conjugaüon , in welcher nach dem 'negativen verbum' (von dem es ser dahin steht, ob es disen namen verdient) der blofse lempus- oder modusstamm steht, one personbezeichnung. Die grammatik, aber auch nur dise, versiht in disem falle allerdings den tempus- oder modus- stamm mit dem aspirationszeichen , als wäre etwas hinweg gefallen. Bei disem aspirationszeichen ist es mir jedoch ser zweifelhaft, ob es mer sei als ein blofses zeichen , das die grammatik irer theorie zu folge sezt; eine lautliche geltung scheint es kaum zu haben (für den inlaut stelt eine solche Eurön selbst in abrede, s. 4, § 1 , anm. 4). *) Man sagt

*) Über dise rätselhafte a9piration sagt Earln a. a. orte folgendes : 'ütora fdre-

534 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [38

also im Finnischen sano-n ich sage, aber e-n sano ich sage nicht; sano-t du sagst, aber e-t sano du sagst nicht ; sanom-n ich würde sagen, aber e-n sanoisi ich würde nicht sagen u. s. f.

Ergebnis. Die fürs Indogermanische gütige gieichung: 'nomen = stamm -t- casussuffix, verbum = stamm -+• per- sonalendung' hat auch fürs Finnische keine geltung.

Ostjakisch.

Als beispil einer ostfinnischen spräche mag uns das Ostjakische gelten (Alex. Casträns Versuch einer Ostjakischen Sprachlehre nebst kurzem Wörterverzeichniss. Im Auftrage der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Ant. Schiefner. St. Petersburg 1 858). Nach Castren bildet das Osljakische mit dem Wogulischen den östlich- sten zweig des finnischen Stammes (a. a. o. s. V).

Das Ostjakische bietet im algemeinen die selben ersebeinungen, wie die übrigen sprachen, die man (mer nach irem baue, als nach irer wirklichen, leiblichen verwantschaft) unter dem namen der ural-altai- schen zusammen zu fafsen pflegt. Die Verhältnisse ligen in diser spräche jedoch einfacher als im Magyarischen und Suomi, so dafs einige wenige nachweise genügen werden, um dar zu tun, dafs auch im Ostjaki- schen keine Scheidung von nomen und verbum in der laut- lichen form statt findet.

Der nominativus singularis, ja sogar der genitiv und aecusativ wird durch den reinen wortstamm gegeben (§§ 60.61). Difs findet sich übri- gens in gewissen fällen auch im Magyarischen (vgl. z. b. Bloch Bai- lagi ausführt. Grammatik der ungarischen Sprache, 3. Ausg., Pesth 1848, § 166. s. 217, § 88, s. 137); als solche genitive one suffix be- trachten wir nämlich die aufserordentlich häufigen fälle, in denen, wie man gewönlich sagt, die postposition -nah, -nek 'hinweg gelafsen oder 'hinweg gefallen sein soll; den aecusativen anderer sprachen kann man aber manche adverbielle aufsdrücke des Magyarischen vergleichen, z. b. este abends, minden-nap jeden lag, täglich u. s. f. Das adjeetiv als sol-

nUmde ljud, har finska spräket aspiralionen, hvilken beslär i en utaodoing vid slutet af nägra ord. väl i slutet som inuti ord , der den forekommer, 8r den en femning af en försvunnen konsonant, inen inuti ordet hores den icke. Den brukas ocksä blott i spräkläror, för att forklara vissa bokstafsförvandlingar. I denna bok be- gagnas s&som aspirationstecken ('); t. ex. sano' sSg; tuoda att hemta.'

39] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. S3S

ches entbert im Osljakischen der declination 57), wie im Magyari- schen (aber nicht im Suomi).

Die possessivsuffixa am so genanten nomen und die personalsuffixa am so genanten verbura sind gleich lautend. In der transitiven conju- gation ist difs durchweg der fall , in der intransitiven jedoch nur teil- weise (vgl. was über dise nur teilweise verschidenheit der an worte verschidener art tretenden pronominalsuffixa bei gelegenheit des Ma- gyarischen bemerkt ward).

Die zweite person imperativi ist der reine verbalstamm.

Die Übereinstimmung nominaler und verbaler bildung im Ostjaki- schen wollen wir an einem beispile vor äugen füren.

stamm äna frau stamm pane legen

(s. 41, § 89) (s. 58, §115)

Singular.

I. ime-m meine frau pane-tn ich legte

II. ime-n deine frau pane-n du legtest III. ime-t seine frau pane-t er legte.

Dual. I. ime-men unsere frau pane-men wir (beide) legten

II. ime-den euere frau pane-den ir (beide) legtet III. imc-den ire frau pane-den sie (beide) legten.

Plural. I. ime-u unsere frau pane-u*) wir legten II. ime-den euere frau pane-den ir legtet

III. ime-t ire frau pane-t sie legten. **)

Die disen Suffixen meist zimlich nahe stehenden selbständigen pro- nomina lauten im nominativ (stamm) :

*) S. 59 steht panen, eben so im futurum panden. Dafs difs drukfeler sei, lert § 104.

**) Die Übereinstimmung der !!I. sing, und der III. pluralis würde an das Litaui- sche erinnern, wenn auch der dualis seine form mit dem singularis teilte. So ist, wie es scheint , im Ostjakischen dises zusammenfallen der III. sing, und pluralis nur zu- fällig (t = teu und = teg) .

536 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [40

Singular. Dual. Plural.

I. ma ich (suff. -ro) min (suff. -meri) meh (suflF. -ti, nach Caströns Ver- mutung — § 85, anm. s. 39 eine Wandlung von -m)

II. nen*) du (suff.-n) ntn (suff. -den), neh (suff. -den); nach Casträn steht

ab weichend, neh filr *teh) s. d. plur.

III. teu er, der (suff. -J) ttn (suff. -den) teg (suff. -t).

In der intransitiven conjugation finden sich, wie im Magyarischen, für die dritten personen des singularis und pluralis in den Surgut-dia- lecten formen one personalbezeichnung , z. b. men er gieng (I. sing. men-em, II. ging, men-en), plur. men-t sie giengen 106, s. 55; § 115, s. 60); -et -t ist aber das gewön liehe pluralzeichen 60, s. 25 f.). In disem men-t, im Irtysch-dialect men-et, finden wir also nicht das f der dritten person, sondern, in Übereinstimmung mit der art und weise der zunächst verwanten sprachen , eine in gar nichts wesentlichem von ei- nem plural eines nomens (one suffixe) verschidene form.

Für eine andere ostfinnische spräche , das Mordwinische , ligt ein vorzügliches Studienhilfsmittel vor in Dr. Aug. Ahlquists Versuch einer Mokscha-Mordwinischen Grammatik nebst Texten und Wörterverzeich- nis. St. Petersburg 1861 (Kaiserl. Akad. der Wissensch.). Es tut mir leid , dafs ich nicht auch dise finnische spräche unter dem hier in rede siehenden gesichtspunete in betracht nemen kann; ich mufs aber durch- aufs mit diser arbeit zum abschlufse eilen und sehe mich so genötigt, es bei den im vorher gehenden erörterten sprachen finnischen Stammes bewenden zu lafsen. Eine flüchtige durchsieht der formen des Mokscha hat mich zu der Vermutung gefürt, dafs trotz mannigfacher abweichun- gen vom Suomifinnischen , die eher für einen starker entwickelten als für einen noch mer verwischten gegensatz von nomen und verbum zu sprechen scheinen , das schlufsergebnis einer genaueren Untersuchung diser spräche dennoch wesentlich in demselben sinne aufs fallen dürfte, wie beim Magyarischen und beim Suomi.

Samojedisch.

Dafs im Samojedischen nomina und verba in iren formen zusammen fallen, fürt Casträn (Grammatik der samojedischen spra-

*) Mit ti bezeichnen wir das gutturale n (wie ng in unserem e-ng-e, la-ng-e).

41] Nomen und Verbüm in der lautlichen Form. 537

chen. Im Auftrage der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften heraus- gegeben von Ant. Schiefner. St. Petersburg 1854, § 214 219 und § 463 flgg.) des näheren aufs. Diser einzige kenner des Samojedischen weist darauf hin, dafs das praedicative adjectiv zugleich verbum sei, z. b. sawa jale ein guter tag, aber jäleda sawa der tag ist gut; auch die substantiva können zugleich als verba fungieren one irgend welche Ver- änderung irer form, z. b. bärba 'herr und 'es ist ein herr , jäle 'tag' und 'es ist tag'. Jedem nomen können nicht blofs im nominativ, sondern in ver- schidenen casus verbalsuffixe an gefügt werden (§216; vgl. finnische formen wie ku-ssa-n ubi ego, ku-ssa-s ubi tu; beispile aufs dem Samo- jedischen habe ich jedoch hierfür nicht finden können , wodurch natür- lich auch nicht im entferntesten ein zweifei gegen die richtigkeit von Casträns angäbe entsteht), wie die possessivsuffixa irerseits auch dem verbum, dessen formen überdifs decliniert werden können 218; auch für dise leztere erscheinung sind mir keine beispile zur hand).

Der nominativ hat auch im Samojedischen kein suffix 224).

Die possessivsuffixa am nomen und die verbalsufßxa , welche die beziehung auf das subject verbi aufs drücken , unterscheiden sich nicht. Die folgende Zusammenstellung mag difs vor äugen legen (die beispile sind sämtlich derJuraksprache entnommen; Casträns grammatik urafafst nämlich verschidene samojedische sprachen und dialecte).

stamm lamba Schneeschuh stamm mäda hauen , gehauen

412, s. 243) haben 494, s. 389)

Singular. I. lamba-u mein Schneeschuh mada-u ich hieb (irgend et-

was unbestimtes; eigentl. mein hauen) II. lamba-r dein Schneeschuh mada-r du hiebst

III. lamba-da sein Schneeschuh mada-da er hieb.

Dual.

I. lamba-mi'*) unser (beider) Schneeschuh mada-mi' wir beide hieben

II. lamba-ri euer Schneeschuh mada-ri' ir beide hiebt

III. lamba-di' ir Schneeschuh mada-di' sie beide hieben.

*) ' bezeichnet hier ein ab gefallenes ri (gutturales n).

538 Aug. Schleicher, die Untebschbidung von [42

Plural.

I. lamba-wa unser Schneeschuh mada-u (als neben form von mada-wa

deutlich erkenbar, -wa und -u wech- seln auch sonst) wir hieben

II. lamba-ra euer Schneeschuh mada-ra ir hiebt III. lamba-du ir Schneeschuh mada-du sie hieben.

Die selbständigen pronomina lauten im nominativ, dem der genitiv

gleich ist :

Singular. Dual. Plural.

I. man*) mani maria

II. pudar pudart pudara

III. puda pudx pudu.

Es ligt am tage, dafs die in den oben gegebenen beispilen vor kommenden suffixa einfache abkürzungen diser selbständigen prono- mina sind.

Steht das object eines so genanten verbum im dual, so steht ge- wissermalsen auch das verbum im dualis. Es nimt in disem falle die selben suffixa an, welche als possessivsuffixa an die dualformen des nomen treten. Z. b.

Singular.

I. lamba-hajun meine zwei schnee- madana-hajun ich haue (oder hieb) schuhe (lambaha? zwei schnee- zwei (wörtl. meine zwei hauun- schuhe) gen)

II. lamba-hajud deine zwei schnee- tnadana-hajud du hiebst zwei

schuhe

III. lamba-hajuda seine zwei schnee- madaria- hajuda er hieb zwei

schuhe

Dual.

I. lamba - hajuni' unsere zwei madaria - hajuni wir beide hieben

Schneeschuhe zwei

II. lamba - hajudi madaria- hajudi' III. lamba - hajudi madaria-hajudi'

Plural.

1. lamba- hajuna9 unsere zwei madaria- hajuna wir hieben zwei Schneeschuhe

II . lamba - hajuda' madaria- hajuda'

HI. lamba - hajudu madaria-hajudu\

*) Mit n wollen wir die innige Verbindung von n und /, das palatale n, bezeichnen.

43] ^Jomen und Verb um in der lautlichen Form. 539

Ganz eben so sind nomina und verba im plural gleich, d. h. wenn das nomen im plural steht, an welches die possessivsuffixa treten und wenn das object des so genanten verbum ein plural ist. Z. b.

Singular.

I. lambi-n meine Schneeschuhe mada-i-n ich hieb (merere oder

(lambi acc. und gen. plur.) vile)

II. lambi- d deine Schneeschuhe mada-i-d du hiebst u. s. f. III. lambi- da seine Schneeschuhe mada-i-da

Dual. I. lambi-ni' mada-i-ni wir beide hieben merere

II. lambi-di' mada-i-di

III. lambi-di mada-i-di'

Plural. I. lambi-na mada-i-na'

II. lambi- da' mada-i-da'

III. lambi-du mada-i-du*)

Der oben bereits berürte verbale gebrauch der nomina steht der so genanten bestirnten conjugalion der verba zur seite. Die dritten per- sonen singularis , pluralis und dualis haben hier gar keine bezeichnung der person , sondern sind eben die stamme der betreffenden zalen, im singular also die wortslämme selbst (wie ja auch im Magyarischen und sonst).

stamm sawa gut stamm mada hauen

(s. 226) (s. 288)

Singular.

I. sawa-m ich bin gut mada-m ich hieb (etwas bestirntes)

II. sawa-n du bist gut mada-n du hiebst III. sawa er ist gut mada er hieb.

Dual.

I. sawa-nt wir beide sind gut mada-m wir beide hieben

II. sawa- di mada- dt

III. sawaha madaria von einem andern stam-

me für madaria-ha'

*) Hier und sonst teile ich auch aufs d.Qrn gründe grofsere stücke aufs den be- sprochenen sprachen mit , um nebenbei ,den auf dem gebiete der sprachen weniger bewanderten, die villeicht von diser abhandlung einsieht nemen, eine wenigstens teil- weise anschauung von dem Organismus fast möchte man sagen mechanismus wenig bekanter sprachen zu geben.

540 Aug. Schleiche!!, die Unterscheidung von [44

Plural. I. sawa-wa wir sind gut mada-wa wir hieben

II. sawa-da' ' mada-da

III. sawa mada.

Jakutisch.

Anstatt des Osmanli wälen wir als Vertreter der türkisch -tatari- schen sprachen das Jakutische. Hierzu bestirnt uns teils der umstand, dafs uns das Jakutische in der meisterhaften darslellung Böhtlingks (Über die Sprache der Jakuten. Grammatik, Text und Wörterbuch. St. Petersburg, Buchdruckerei der Kaiser!. Akad. der Wissenschaften, 1851) vor ligt , teils die warnemung , dafs das Jakutische im ganzen altertüm- licher, in seinem baue klarerund ungetrübter ist, als seine türkische Schwester.

Im ganzen gleichen bek antlich die tatarisch, auch (besonders in weiterem sinne) altaisch genanten sprachen in irem wesen den finni- schen. Auch in bezug auf die uns beschäftigende frage fürt die Unter- suchung diser sprachen zu dem selben ergebnisse, welches sich bei den finnischen sprachen und dem dem Finnischen nahe stehenden Samoje- dischen heraufs stelte.

Auch hier gilt der stamm als 'casus indefinitus' des nomen und als II. sing, imperativi.

Was Böhtlingk casus indefinitus nent, ist das selbe, was im Magya- rischen u. s. f. von den grammatikern nominativ genant wird. In be- stirnten fällen bezeichnet clise form im Jakutischen auch das object eines transitiven verbs , obwol das Jakutische aufserdem noch einen accusa- tivus indefinitus und einen accusalivus definitus hat. Auch hier steht das adjectivum vor dem substantivum in seiner reinen stamform nach Böhtlingk im casus indefinitus ; z. b. ölbüt km-lär-gä gestorbe- nen menschen; nach unserer auffafsung, das dem substantivum an tre- tende pluralzeichen und die dem selben an gefügte postposition wirkt auch auf das vorher gehende adjectivum (über den casus indefinitus vgl. bei Böhtl. § 390, s. 1 59 f.).

Die zweite singularis imperativi, so wie die zweite pluralis und die dritte person des selben modus hält Böhtlingk für echte verbalformen, wärend er die übrigen meist so genanten verbalformen für reine nomi- nalformen erklärt 510, s. 203). Wir können dem nicht bei pflichten,

45] Nomen und Veibuu in deb lautlichen Form. 541

in so ferne wir an der oben vom Indogermanischen entnommenen defi- nition von verbura und nomen fest halten. So wie diser definition zu folge der 'casus indefinilus' kein casus sein kann , weil er kein casus- suffix hat , so kann auch die II. sing, imperativ! kein verbum sein , weil sie keine personalbezeichnung besizt. Was ferner die dritte person plu- ralis des imperativs betritt , so wird sie mittels des auch beim nomen gebrauchten pluralzeichens -lar, -tör u. s. f. von der dritten person des Singulars gebildet, dise selbst aber erhält die beziehung auf die dritte person durch das selbe suffix , das auch bei den nominibus als posses- sivum für die dritte person singularis gebräuchlich ist (§§ 420. 421). Z. b. II. sing, imperativi bys schneid; III. sing, bys-tyn, also wörtlich etwa 'sein schneiden, sein schnitt'; 111. plural. bys4yn-nar, für *bys-tyn- 'lar, ist regelrechter plural zum entsprechenden singular. Das suffix der zweiten person pluralis imperativi -yri, -in u. s. f. (n gutturalem n) identificiert Böhtlingk selbst 321) mit dem entsprechenden suffix der nomina -riyt, ritt u. s. f., aufs dem es durch Verkürzung entstanden sei; eine ansieht, die durch die verstärkte form des imperativs bys-ynyUyi zur vollen gewisheit erhoben wird. Es bezeichnet somit auch die II. plural. imperativi zunächst nichts anderes als 'euer schneiden, euer schnitt*. Somit ist der ganze imperativ nichts vom nomen wesentlich verschidenes und er fält daher in seinem wesen mit den übrigen so ge- nanten verbalformen zusammen , deren vom nomen nicht unlerschidene art von Böhtlingk, wie oben gesagt, bereits erkant worden ist.

Der so genante casus indefinilus und die II. sing, imperativi fallen also in irer form zusammen und nicht selten kommen auch wirklich die selben worte in beiden funetionen vor 235), wie z. b. äs (s wie unser ß) hunger, hungere; tot satt, werde satt; tyn atem, atme; Um ge- froren, friere ; sät schände, schäme dich ; sanä gedanke, denke ; chorui antwort, vergilt gleiches mit gleichem.

Wie in allen sprachen änliches baues, so besieht auch im Jakuti- schen das perfectum aufs einem nomen praeteriti mit den possessiv- suffixen, die hier auch an den dritten personen nicht feien. So ist z. b. bys-U (bys schneiden) ein solcher perfeclstamm. Nach Böhtlingk ist das an die würzet tretende t ein rest von •tack, mit welchem Suffixe 378) ein nomen praeteriti und indefinitutn gebildet wird, z. b. bys-tach, im Wörterbuch erklärt als 'ein abgesonderter, für sich bestehender Theil\ Mag villeicht difs t im praeteritum nur mit jenem -lach verwant, nicht

542 Ai g. Schleicher , dir Unteisciieidukg vox [46

identisch sein, sicher ist jedes falles, dafs wir im praeleritum keine von den als nomina gelteoden verschidene formen vor uns haben. Man ver- gleiche z. b.

stamm byst geschnitten stamm bas köpf

Singular. I. bygt't/m ich schnitt basym mein köpf

II. byst-yri du schnitst bas-yn dein köpf

III. byst-a er schnitt bas-a sein köpf.

Plural.

I. bysty-byt wir schnitten bas-pyl {p für b nach den lautgesetzen

§ 165) unser köpf

II. bysty-gyt ir schnittet bas-kyt (k für g nach § 1 56) euer köpf

III. bysly-lar-a sie schnitten bas-tar-a (t für / nach § 173) ir köpf.

Der vocal zwischen stamm und suffix in den pluralformen des perfectum ist so genanter hilfsvocal. Er findet sich auch bei andern stammen.

In anderer weise ist das praesens, der potentialis und der condi- tionalis gebildet. In disen formen tritt nämlich das Personalpronomen als nominativ an den stamm an. Das pronomen ist aber, wie andere nomina auch, in so ferne zugleich verbura, als es den begriff "sein ent- halten kann. So heifst z. b. ädär jung, auch 'jung sein ; z. b. kini (pron. III. pers. sing.) ädär er ist jung; kini-lär ädär-där ('nach den lautgesetzen für *ädär-lär) sie sind jung. So kann also z. b. min, pronom. personale der I. person, als an gehängtes pronomen -byn -pyn, -bin -frfin -frön u. s. f. (vgl. türkisch & ben ich) je nach den voraufs gehenden vocalen lautend, auch heifsen 'ich bin; daher: min agha-byn 'ich vater-ich' so vil als ' ich bin vater . Im Jakutischen haben die an gehängten prono- mina, praedicataffixe von Böhtlingk genannt, in den I. und IL personen formen entwickelt, die von denen der selbständig gebrauchten prono- mina mer oder minder ab weichen, wärend in den tatarischen dialeclen die praedicataffixe mit den selbständigen pronominibus ganz zusammen fallen 419 anm., s. 169).

Bei den stammen , die als so genante verba gelten , verhalt es sich nun nicht anders, als bei den inen wesentlich gleichartigen stammen, die als nomina betrachtet werden. Der blofse stamm gilt als dritte per- son; z b. bysar 'schneidend', türk. yy** sewer liebend. Dise form ist geradezu auch ein nomen (Böhtl § 375, s. 154; der türkischen gram-

47] NOMRN UND VEHBUH IN DER LAUTLICBEN FORM. 543

matik gilt sie als indeclinabeles participium praesentis, s. z. b. Mirza A. Kasem-Beg, Allgemeine Grammatik der türkisch-tatarischen Sprache, übersetzt von Zenker, Leipzig 1848, s. 126 u. sonst). Das selbe gilt vom negativen praesens, dem der negative praesensstamm zu gründe ligt; z. b. bys-pat 'nicht schneidend1 (bys-pal km ein nicht schneidender mensch) und 'er schneidet nicht' ; z. b. km byspat der mensch schnei- det nicht. Die dritte person pluralis hat natürlich das gewönliche plu- ralzeichen, z. b. bysallar, nach den lautgesetzen für *bysar*lary schnei- dende, d. h. 'sie schneiden ; byspatlar, nach den lautgesetzen für *by8pat4ar, 'nicht schneidende', d. h. 'sie schneiden nicht'. Die andern personen fügen das pronomen zu disem stamme hinzu:

Singular. I. bysa-byn für *bysar-byn; tttrk. f}y $ewer-im. ll. bysa-ghyn für *bysar-gyn ; tttrk. w»xr» ^ewer-sen.

Plural.

I. bysa-byt für *by8ar-byt; tttrk. ^xy sewer-iz.

II. bysa-ghyt für *bysar-gyt; tttrk. y»jy sewer-siz.

Die nominative der selbständigen personalpronomina, die aller- dings von den suffigierten formen teilweise verscbiden sind, lauten (Böhtl. § 434, s. 174: Kasem-Beg § 149, s. 60 flg.):

Singular. I. min; tttrk. ^ ben, lezteres warscheinlich mit dem älteren anlaute (ttber den Wechsel von m und b vgl. § 172, s. 77).

II. an; tttrk. ^ sen.

Plural. I. bis-igi; türk. ß biz oder Jjj biz-ler. II. äs-igi oder is-igi; türk. siz.

Der potentialis und der conditionalis des Jakutischen unterscheiden sich beide irem baue nach nicht vom praesens, sondern nur durch den stamm. Sie brauchen hier also nicht weiter erörtert zu werden.

Wir können angesichts der vor gelegten sprachlichen tatsachen mit völliger bestimtheit aufssprechen, dafs im Jakutischen und in den im verwanten sprachen dergegensatz von nomen und verbum in der lautlichen form nicht entwickelt ist.

Die mit dem Jakutischen zu einem und dem selben stamme gehö- rigen sprachen hier durch zu nemen, ist nicht nötig, so wenig als es

544 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [48

am platze gewesen wäre, wenn wir oben die einzelnen semitischen oder indogermanischen sprachen einer betrachtung unterzogen hätten. Deshalb möge hier auch das Koibalische und Karagassische übergangen werden , obgleich mir für dise sprachen in M. Alex. Caströns koibali- scher und karagaSsischer Sprachlehre, herausgegeben von Ant. Schief- ner, St. Petersburg 1 857, ein bequem zu benutzendes studienhilfismittel vor ligt.

Tungusisch.

Im Tungusischen (M. Alex. Castrens Grundzüge einer tungusi- schen Sprachlehre nebst kurzem Wörterverzeichniss. Im Auftrage der Kaiserl. Akad. der Wissensch. herausgegeben von Ant. Schiefner. St. Petersburg 1856) verhalt es sich bezüglich der Scheidung von verbum und nomen im wesentlichen eben so, wie im Jakutischen.

Der nominativ hat kein suffix.

Das adjectivum als solches nimt keine declinationsendungen an.

Das perfeclum besteht aufs dem stamme, dem die possessiven pro-

nominalsuffixe an treten ; z. b.

stamm und nominativ des partic. stamm und nominativ haga schale. perfecli anacä; stamm des ver- bums ana stofsen.

Singular.

I. haga-u, dial. haga-f meine anaca-f, anacä-u ich habe gesto-

schale fsen

II. hagas deine schale anacd-s du hast gestofsen

III. haga-n seine schale anacä u. anacä-n er hat gestofsen.

Plural. I. hagorwun unsere schale anacä wun wir haben gestofsen

II. haga-sun euere schale anacä-sun ir habt gestofsen

III. haga-tin ire schale anacä-l und anacä-tin sie h. g.

Die III. sing, anacä ist, wie in den dritten personen häufig, der blofse stamm one personalbezeichnung. Das selbe gilt von der III. plur. anacä-l, welche zum stamme nur die algemeine pluralendung, wie sie bei den nominibus überhaupt gebräuchlich ist, gefügt hat.

Das praesens hat nur in der I. und II. person singularis eigentüm- liche formen, die übrigen fallen in der form mit den als nomina fungie- renden worten zusammen.

*9] Nomen und Veibum in oüft lautlichen Form. 5i5

Singular.

I. ana-in ich stofse (warscheinlich aufs #anora-i» verkürzt, das selbe

gilt vom stamme der II. sing. ; zu -tn vgl. bi, gen. mini, ich).

II. ana-ndi du stöfsest («, gen. si-rii, du).

III. anara-n er stöfst (vgl. oworf parlicip. praesentis; das suffix ist das selbe wie im perfectum und am nomen).

Plural.

I. anara-wun und anara-f wir stofsen (leztere form wol eine Verkür-

zung der ersteren. Oder gilt der singularis zugleich als plural? Ober das suffix s. beim perfectum).

II. anara-sun und anaras ir stofset (ganz wie bei der I. plural.). III. anara sie stofsen (der blofse stamm).

Burj&tisch.

Für die mongolische Schriftsprache stehen mir im augenblicke keine hilfsmittel zu geböte. So weit ich mich diser spräche aus frühe- ren Studien erinnere , weicht sie in betreff der uns hier beschäftigenden fragen nicht wesentlich von den bisher besprochenen sprachen der so genanten altaischen Sprachengruppe ab.

Dagegen ligt mir für das Burjatische eine trefliche quelle vor (Alex. Caströns Versuch einer Burjatischen Sprachlehre nebst kurzem Wörter- verzeichniss. Im Auftrage der Kaiser!. Akademie der Wissensch. her- ausgegeben von Ant. Schiefner, St. Petersburg 1857). Es tritt uns auch hier im algemeinen der selbe typus sprachlicher bildung entgegen , den wir bereits bei den eben erörterten sprachen kennen gelernt haben.

Der so genante nominativ hat kein suffix, er feit in der form mit dem stamme zusammen. In näherer Verbindung mit einem andern no- men kann er auch in der funclion eines genitivs stehen.

Die adjectiva als solche haben keine suffixa.

Als possessive suffixe gelten die vollen oder verkürzten genitiv- formen des singularis und pluralis der selbständigen pronomina.

So genantes verbum. 1 05. Das Burjatische theilt mit mehreren samojedischen und türkischen Sprachen die Eigentümlichkeit, dass die Personalaffixe sowohl an Verba als auch an Nomina und gewisse Ad- verbien gefügt werden. Dieser Umstand ist im Burjatischen um so be- merkenswerter, als das Mongolische sogar in vielen Verbal- formen die Personalendungen hintansetzt [vgl. hierzu das

Abband!, d. K. S. Gesellaeb. d. Witsenieb. X. 37

546 Aug. Schleicher , die Unterscheidung von [50

im flg. über dasMandschu gesagte]. Diese können zwar auch im Burjatischen ausgelassen werden, es giebt jedoch keine Verbalform, die nicht Personenendungen annehmen könn- te. Nur für die dritte Person des Singulars uud Plurals fehlt eine besondere Eudung und diese ist somit als der Slamm jeder einzelnen Verbalform zu betrachten. Der Bedeutung nach ist die dritte Person des Verbums im Burjatischen wie in vielen andern ver- wandten Sprachen ein Nomen' [nicht nur der bedeutung, sondern auch der form nach ist sie difs; auch die andern personen unterschei- den sich nicht vom nomen s. u.]. 106 Die Verbalsuff ix a

sind aus den Personalpronomina entstanden und machen ent- weder eine vollständige oder verkürzte Form ihres Nomi- nativs aus [wir haben also eine blofse aneinanderrtlckung zweier worte vor uns, slamm und pronomen]. In ihrer vollständigen Form kommen jedoch die Personalsuffixe beim Verbum nur ausnahmsweise in einigen Dialeclen vor und auch dann meist in der zweiten Person des Singulars und in der ersten und zweiten Person des Plurals*. Bei sol- cher losen zusammenfUgung von stamm und pronomen kann es nicht wunder nemen, wenn da, wo keine undeutlichkeit dadurch entsteht, das pronomen aufs gelafsen und der blofse slamm aHein gesezt wird, wie difs regelmäfsig in der dritten person geschiht. Von verbis nach indogermanischem begriffe kann also im Burjatischen auch nicht im entferntesten die rede sein. 108. Diese Personal- endungen werden an alle Modi finiti mit Ausnahme des Imperativs gefügt. Dieser Modus bildet mit seiner zweiten Person des Singularis den Stamm selbst und nimmt deshalb nach der Regel keine Personalendungen an.

Ein beispil mag anschaulich machen , wie es nach dem gesagten ums so genante verbum im Burjatischen steht.

Imperat. II. sing, ala töte. Die andern , teilweise schwing zu er- klärenden personen des imperativs mögen hier aufser betracht bleiben. Praesens indicativi stamm alana Pronomen

Singular. III. alana er tölel (ohön er; tere jener, er)

II. alana- i, alana- c für *alana *t, si (ie) , dial. ci (ie) ; genit. *t-Ät\ * alana ci du tötest ct-ilt*)

*\ £

) n ist auch hier bezeichnung des palalalen n (= «/).

51] Nomen pnd Verbum in der lautlichen Form. 547

I. alana-p für *alana tri; alana-m bi% genit. mt-Ät.

ich töte (lezlere form ist wol kaum nach § 1 1 2 zu erklären, sondern nach § 25, b als nur phonetisch von alana-p ver- schiden zu fafsen).

Plural.

III. alana sie töten (der reine stamm, [ohöt; tede) sogar one pluralzeichen. Oder steht hier, wie im Litauischen, der Singular für den plural?)

II. alana-t für und neben alana-ta ta, genit. ta-nai, dial. ta-ni, ta-ili

ir tötet

I. alana-bda, alana-bdi, alana-bdji bide, bidi, bidji, genit. tna-nai, dial. für *alana bide, alana bidi od. tna-ni, roa-flt. bidji.

Wie bereits gesagt, werden die personen überall , auch im perfec- tum , auf dise art bezeichnet.

Obgleich es bei den paradigmen nicht bemerkt ist, so können die den stammen bei gesezlen pronomina im Mongolischen und Burjatischen auch feien (s. o.).

Mandschu.

Im Mandschu (Kaulen, linguae mandschuricae instituliones, Ra- tisbonae 1856) feit eine bezeichnung der zal und der person beim so genantenverbum ganz undgar, sodafs hieralso von einem unterschide von verbum und nomen in der lautlichen form sich keine spur findet. Die stamme, die wir als nomina zu betrachten haben, unterscheiden sich in irer lautform nicht von denen, die durch verba zu übersetzen sind. So bezeichnet z. b. -tshi sowol den ablativ, als den conditionalis : ama-Uhi vom vater, ara-Uhi wenn ich schreibe; -be bildet den accusativ und, an jene con- ditionale geh&ngt, den ' limitativ' : ama-be patrem , ara-tohi-be licet scri- bam u. s f. Wir glauben daher auf dise spräche hier nicht näher ein gehen zu sollen. Beiläufig bemerke ich nur, dafs im Mandschurischen, wie mir die leclüre der bei Kaulen mit geleilten sprachproben dar ge- tan, ganze Sätze durch postpositionen gewisser mafsen decliniert wer- den können. Die in den finnischen und tatarischen sprachen one difs in manchen fällen nicht streng durch geflirle Scheidung und individua-

37*

548 Aug. Schleicbeä, die Unterscheidung von [52

lisierung der einzelnen sazglider als worte scheint im Mandschu bis zu einem völligen nichtVorhandensein des unterschides von wort und satz aufs gebildet zu sein. Das selbe findet sich auch in andern sprachen mit geringer formentwickelung. Irer dürftigen grammatischen beschaf- fenheit wegen haben wir die Mandschu spräche one rüksicht auf ire stamverwantschaft ans ende unserer betrachtung der so genanten altai- seben sprachen gestelt.

Tamulisch.

In dem dra vidi sehen oder dekhanischen sprachstamme verhält es sich mit der Unterscheidung von nomen und verbum etwa in der selben weise , wie in den finnischen und tatarischen sprachen , mit deren bau der des Dravidiscben überhaupt im algemeinen überein stimt. Als probe dises Sprachstammes wälen wir das Tamulische (nach Grauls outline of Tamil Grammar in dessen Bibliotbeca Tamulica tom. II; anch unter dem titel Kaivaljanavanita, a Vedanta poem u. s. f. Leipzig u. London 1855).

Das nomen enträt auch hier eines casussuffixes für den nominativ; im pluralis tritt das pluralzeichen an und an dises die selben casussuf- fixe oder postpositionen , die auch im singular gebraucht werden, z. b. nominal, sing, ugogn pdleh (7 a soft /; h a soft n; fruit, gain, reward, aufs dem sanskrit entlent), nominat. plural. ueveiraar pdlen-kal (/ a hard / of a lingual character); locat. sing, uevesflev pdleh-il; locat. plural. U6V65r&6ffi6V pdleh-kal-il u. s. f.

Was das verbum betrift, so hat das Malayalam nur in der poesie personalendungen (Graul, Tamil Gramm. 6. 42 , anm. 1 und s. 99), ein beweis dafür, dafs sie nicht mit dem stamme zu einer wirklichen wort- einheit verbunden sind. Im Indogermanischen ist etwas dergleichen unmöglich. Nur lose an tretende nähere bestimmungen des Stammes können so one weiteres hinweg gelafsen werden , nicht aber teile eines wirklichen wortes (so kann im Indogermanischen wol das augment, ein nur an gerüktes adverbium, feien, nimmermer aber in den älteren noch volständiger erhaltenen sprachen dises Stammes casus- und per- sona lendung). Auch aufs dem Tamulischen feit es nicht an beispilen diser art; denn Graul fürt (s. 42, § 35, anm. 1} alte tamulische verbal- formen one personalendungen an.

Die personalaffixe des Tamulischen sind nichts anderes als die ge- wönlichen selbständigen pronomina , die, meist in verkürzter form, an

53] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 549

den stamm an treten. Einige formen mögen dife anschaulich machen. Z. b. tjygü atu genauer athu (th wie im Englischen zu sprechen), nom. sing, des pronom. der dritten person neutrius, it; Q&iu sej eine Wur- zel, facere bedeutend ; Sesrjb kinr oder kihd (f a gnarling r, half dental and half lingual , kann nach öjt n als d gesprochen werden) bildet den praesensstamm; demnach Q &iu§ättr p^ sej-kihr-atu itdoes; ^euirsm avar-kal they, regelmässiger plural des pronomens der dritten person, Q&iu&m&ir&eir sej -kihr -är-kal they do, in welcher form das als selb- ständiges wort avar-kal lautende pronomen zu är-kal zusammen gezo- gen ist u. s. w.

Die lose an tretenden pronomina vermögen nicht dise formen zu wirklichen verbalformen zu stempeln und es ist daher volkommen er- klärlich, dafs jede derartige so genanle verbalform durch die selben postpositionen, wie alle so genanten nomina, decliniert werden kann (Graul a. a. o. § 44 note, pg. 50), wie sie ja auch im pluralzeichen sich nicht von andern Worten unterscheiden. Z. b. jBL-fß($ß6br nata-nt-eh, genauer nadandeh 'I walked' und CJ who walked' (nt ist zeichen des praeteritum) ; accusativ ßi^^Q^bssf nata-nt-4n-ei me who walked; pL-ßpfiGn nat-nt-äh he walked (^gyoj&r avak, zusammen gezogen an, he); ßi^ßfßa^eo nata-nt-an-al instrumentalis , tbrough him who walked u. s. f. Durch die declinierbarkeit ist der volgiltige beweis dafür gelifert, dafs wir beim Tamulischen im so genanten verbum keine ei- gentlichen verbalformen vor uns haben, sondern gebilde, die sich in gar nichts von denen unterscheiden , die als nomina zu gelten pflegen.

Die vor den pronominibus, welche die personalendungen ersetzen, stehenden stamme sind als adjectiva (participia) zu fafsen. Mit dem aufs- laute a erscheinen sie denn auch wirklich als solche, z. b. Q&iuS&tjd sej-kiht-a who or which does u. s. f. Stämme, die als nomina gelten, können in gewissen fällen durch anfügung der tempusexponenten und der pronomina (der personalendungen) , sogar durch leztere allein, als so genante verba fungieren 44), wärend aufser dem die anfügung der personalendungen an die mit keinem tempussuffix bekleidete wurzel das negative verbum bildet 39).

Doch ich übergehe alles einzelne , da die nicht eigentlich verbale natur der so genanten tamulischen verba im vor stehenden zur genüge erwisen ist.

550 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von |5*

Die blofse Wurzel gilt als II. sing, imperalivi, wie in so vilen sprachen.

Ergebnis: das Tamulische scheidet nomen und verbum nicht in der lautlichen form.

Jenisseiisch.

Eine in mancher bezieh ung roeik würdige spräche ist die der Je- nissei-Ostjaken oder Jenisseier am Jenissei und seinen nebenflü- fsen , deren anzal nach Castren (M. Alex. Casträns Versuch einer Jenis- sei-osljakischen und Kottischcn Sprachlehre nebst Wörterverzeichnissen. Im Auftrage der Kaiserl. Akademie der Wissensch. herausgegeben von Ant. Schiefner, St. Petersburg 1858) eine nur noch geringe ist. Mit diser spräche namentlich im baue verwant ist die der Rotten, von de- nen Castren (s. V) nur noch fünf individuen vor fand. Im folgenden werden wir nur das Jenisseiische berüksichtigen.

Mit recht bemerkt Castren (s. VI), dafs das Jenisseiische einen von dem der so genanten altaischen sprachen ser verschidenen character habe. Es gehört entschiden nicht in die grofse gruppe von sprachen, die man unter dem namen der ural -altaischen zusammen zu fafsen pflegt. Warscheinlich haben wir in disen eigentümlichen idiomen den rest eines ehemals weiter aufs gebreiteten Stammes zu erkennen (Ca* str6n s. V).

Wenn ich das Jenisseiische an diser stelle behandele , so geschiht difs nicht in der Überzeugung , als gebüre im seinem baue nach gerade diser platz , denn das wesen diser spräche ist mir noch vi! zu wenig klar geworden , um dem Jenisseiischen eine bestirnte stufe in der reihe der sprachen an weisen zu können. Überhaupt sind ja in der vor li- genden abhandlung die sprachen nur so ungeför nach ircr morphologi- schen beschaffenheit an geordnet, denn ein streng wifsenschaflliches natürliches System der sprachen ist eine aufgäbe der zukunft.

Höchst bemerkenswert!] sind in beiden sprachen vocalwechsel im stamme bei der pluralbildung, z. b. tjip hund, plur. tjap (one plural- endung); fcegquappe, plur. kas-n (mit der gewönlichen pluralendung, vgl. §§ 53. 54 u. vorwort s. IX); kottisch atiip hund, plur. alsap (one pluralendung); ich name, plur. ek-ri 64) u.a. Anliche vereinzelte an- klänge an flexion finden sich auch noch sonst, z. b. im Koptischen.

Wir haben difs hauptsächlich aufs dem gründe hier an gefürt, um

55] Nomen und Verb um in der lautlichen Form. 551

die trennung diser sprachen von den so genanten altaischen zu recht- fertigen.

Übrigens ist die uns hier beschäftigende frage nach der Unterschei- dung von verbum und nomen in bezieh ung auf das Jenisseiische ziralich sicher zu beantworten. Das Jenisseiische kent keine, dem in den indogermanischen sprachen vor ligenden gegensatze von nomen und verbum vergleichbare Scheidung diser beiden redeteile.

Für dise behauptung mag folgendes als begründung an geftirt werden.

Im Jenissei-osljakischen gilt der stamm der noroina als nominaliv singularis. Dem nominativ kann auch der genitiv und aecusativ gleich lauten. Eben so im Kottischen, wo jedoch nominativ und aecusativ stäts zusammen fallen.

Vom verbum genügt es hervor zu heben , dafs der plural die auch bei nominibus gewönliche endung zeigt, z. b. I. II. III. sing, sitägit ich reinige, du reinigst, er reinigt; I. II. III. plural. sitägü-n wir reinigen u.s. f. Eben so im praetorium), z. b.slng.sitörgü, p\ur. sitörgil-n. Andere verba sondern die personen durch praefixe, die pluralbezeichnung bleibt aber die selbe, z. b.

Singular. Praesens. Praeterilum .

I. dä-gafuot ich warte da-görfuot ich wartete

IL ka-gafuot du warlest ka-görfuol du wartetest

III. da-gafuot er wartet da-görfuot er wartete.

Plural. I. da-gafuot- n wir warten da-gorfuot-n wir warteten II. ka-gafuot-n ir wartet ka-gorfuot-n ir wartetet

III. da-gafuot-n sie warten da-gorfuot-n sie warteten.

Das vor stehende genügt, um die nicht wesentliche verschidenheit von nomen und verbum auf zu zeigen. Die mannigfache art der verbal- st&inme diser sprachen, die meist deutlich zusammen gesezt sind, zu er- örtern, ist nicht durch die aufgäbe geboten, die wir uns gestelt haben.

Wenden wir uns zur betrachtung einiger sprachen des Kaukasus, deren kentnis wir fast aufsschliefslich den Forschungen Schiefners zu danken haben.

552 Aug. Schleiche*, die Untebscheidusg von [56

Thusch.

Die Thusch -spräche ligt in umfafsender darstelluug vor in Ant. Schiefners Versuch über die Thusch-sprache oder die khistische Mund- art in Thuschetien, St. Petersburg 1 856. Besonderer Abdruck aus den Memoires de l'Academie Imperiale des Sciences de St. Petersb., Sciences politiques, bistoire, philologie T. IX. Mit dem Thusch ist nahe verwant das Tschetschen zische (Ant. Schiefner, tschetschenzische Studien, in den Mömoires de l'Acad. Imperiale de St. Petersb. VII6 Sörie, Tome VII, nro.5; 1864). Es teilt mit dem Thusch den eigentümlichen sprach- character, weshalb wir uns hier auf das leztere beschränken können.

Das Thusch besizt als verbum eine reihe adjectivischer tempus- stamme (Schiefner § 298 spricht mit vollem rechte vom 'adjectivischen Character des Verbums in diser spräche), denen sich die personalpro- nomina der ersten und zweiten person mer oder minder innig an schlie- fsen können 177). In den sprachen, in welchen es kein verbum sub- stanlivum gibt, pflegen Überhaupt die adjectiva mit den verben zusam- men zu fallen ; es gibt in disen sprachen einen redeteil , dem beide be- ziehungsfunctionen noch ungeschiden zu kommen.

Das was Schiefner das verbum substantivum nent (§§ 82. 208) ist aber offenbar im Thusch nichts anderes, als eine reihe von pronominal- stämmen, je nach genus und zal im praesens wa9ja, ba, da, tschetschen- zisch wu, ju, bu, du > im imperfect. war, jar% bar, dar, tschetschenzisch wara, jara, bara, dara lautend. So sagt man z. b. tschetschenzisch mo (ich), wu oder ju u. s. f. ich bin ; huo wu u. s. f. du bist etc.

Die personalbezeichnung ist dem so genanten verbum nicht we- sentlich und kann da feien , wo das handelnde subject anderweitig be- zeichnet ist, z. b. thusch. nax buger (das) volk rief. Das pronomen steht im Thusch entweder als selbständiges wort vor dem so genanten ver- bum , oder es steht nach dem selben ; in disem falle können die prono- mina der I. und II. person mit im verschmelzen. Die pronomina stehen entweder im nominativus oder im instructivus und werden beim an- schmelzen an den stamm, welcher die stelle des verbums vertritt, teil- weise verkürzt; z. b. ailr-atxo, nach den lautgesetzen der spräche für *alir atcho wir sprachen {atcho wir) ; was ich bin, wa-h du bist für wa 90, wa ho; dagegen im imperfect war-aso ich war, war-ako du warst mit

57] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 553

einer volleren form des pronoraens (vgl. den instructivus , I. person as, asa; II. person ah, aha).

Wie bei dem adjectivum , so wechselt auch bei dem so genanten verbum der anlaut des Wortes je nach dem geschlechte, auf das es sich bezieht.

Kino nähere dai legung der formen der Thusch -spräche ist nicht er- fordet lieh. Das mitgeteilte genügt, um das nichtVorhandensein eigentlicher verba in diser spräche zu bezeugen.

Awarisch.

Das Avvarische (Ant. Schiefner, Versuch über das Awarische; M6- raoires de l'Acadämie Impär. des Sciences de St. Petersb., VII0 S6rie, Tome V, nro. 8, St. Petersburg 1862), 'eine der Hauptsprachen Daghe- stans, welche gewöhnlich auch unter dem Namen der lesghischen be- kannt sind* (Schiefner a. a. o. s. 5), 'deren Mittelpunct Chunsag ist' (Schjefner s. 1 , 2) , stimmt bezüglich der hier in betracht kommenden punete zum Thusch und zum Tschetschenzischen. Wir haben auch hier eine änliche bezeichnung des geschlechtes am adjeetiv, Substantiv und verbum (§§ 42, 61 63, 71, 76, 86, 97), z. b. 'wotu die Liebe, deren Gegenstand ein Mann ist, jolu dagegen eine Liebe, welche sich auf ein Weib, bolu wenn sie sich auf ein anderes Wesen oder Ding bezieht; im Altgemeinen aber heisst die Liebe rotu, da r zur Bezeichnung der Mehr- zahl angewandt wird' (s. 1 1 flg.).

'Beim Verbum kommt die Bezeichnung des Geschlechts und der Zahl in Betracht und geht auf Grundlage des in § 42 Gesagten [nämlich eben so wie bei den adjeetiven und Substantiven] vor sich. Diese Be- zeichnung findet hauptsachlich im Anlaut statt, so dass w, j, b und r bei einem und demselben Zeitwort wechseln , z. B. wortize, jirtize 25 ; i steht hier für o in folge der Wirkung des j auf den nachstehenden vo- cal], borlize, rorUze fallen 97, s. 20); -ze ist infinitivendung (§91).

Die person wird also nicht am verbum bezeichnet, sondern, wenn es sich nötig macht, durch die als selbständige worte bei gesezten per- sonalpronomina aufs gedrttkt, z. b. dun bicanani wenn ich sagte; mm wacanani wenn du kämest 105) u. s. f. Adjeetiv und verbum fallen also auch hier wesentlich zusammen; da wo es nicht einmal eine be- zeichnung der nominativischen person am worte selbst gibt, kann von verben im indogermanischen sinne gar keine rede sein.

554 Ate Schleicher, die Unterscheidung von !r>8

Imperativ und verbal uomioa falleo meist in der form zusammen, z. b. ahi ruf, rufe 39, s. 11).

Udiscb.

Das Udiscbe (Ant. Schiefner, Versuch über die Sprache der Uden ; Mämoires de I'Acad. Impär. des Sciences de St. Petersb., VII0 S6rie, Tome VI, nro. 3, St. Petersburg 1 863), das jezt nur noch auf zwei dör- fer beschränkt ist, scheint, nach Schiefner (s. 8) zu den kaukasischen sprachen zu gehören, obwol es von disen in manchen wesentlichen punclen ab weicht. Die forschung ist auf dem gebiete solcher spra- chen, die keine litteratur haben, aufs dem gründe ser erschwert, weil wir dise sprachen nur in irer allerspütesten , jezt vor ligenden gestalt kennen und dise sich meist bereits weit vom ursprünglichen entfernt hat. Man darf sich daher nicht wundern, wenn Ober das wesen und die verwantschaftsverhaltnisse solcher sprachen bisweilen kaum etwas völlig sicheres zu ermitteln ist.

Auch im Udischen ist kein dem Indogermanischen entsprechender gegensatz von nomen und verbum vor- handen. Der nominativ hat auch hier kein casussufßx 66). Die Verbindung der pronomina mit den verbal stammen, die als eine art par- tieipien zu betrachten sind (§§ 104, 108), ist nur lose (§§ 76» 99, 111); das pronomen ist nicht an den verbalstamm gebunden , sondern kann sich auch einem vorher gehenden worte an hangen. So ist also weder dem verbum die personalbezeichnung , noch dem nomen durchweg das casustmffix wesentlich und eine feste worteinheit ist nicht vorhanden. Udische formen, ins Indogermanische übertragen, würden lauten wie z. b. ein varka-ti ai für varkas aiti, latein. lupu-t i für lupus it. Wie lose in diser spräche auch die stambildenden elemente an einander hangen, zeigt u. a. der umstand , dafs das praeteritumbildende sufßx i auch an das Personalpronomen vor dem verbum treten kann, anstatt an den stamm des lezteren 127) , z. b. bullet qaeexa der köpf schmerzte, für bulle qqcneexai; bul bedeutet köpf; ne ist 'er beim verbum 77), das n assimiliert sich dem aufslaute des vorher gehenden Wortes nach f, d, r, / 24), demnach steht bulle für bul-ne 'köpf er ; % ist das Suffix des praelerilum; qae schmerz; exa 102) ist ein praesentialer verbal- stamm, der ser vil in Zusammensetzung gebraucht wird 'machen, sagen* bedeutend (§§ 88, 123); demnach ist qae-em 'schmerz machend',

&i>] Nomen und Verbum in dur lautlichen Form. 555

also bullet qacexa ' kopf-er-einst seh merz- machend', bulle qqc-ne-exa-i 'kopf-er schmerz-er-machend-einst'.

Schon aufs diser losen aneinanderreihung der elemente, die zu einem worte zusammen gefügt werden, ergibt sich ein sprachcharacter, der von dem des Indogermanischen weit ab steht und bei welchem ein sondern der nicht zu unzertrenbaren wortkörpern entwickelten nomina und verba nicht stall findet. Was eigentlich des verbums ist , wie im oben an gefürten beispile ne und i , das sehen wir also auch am nomen, wodurch eben der gegensatz in der lautlichen form zwischen disen bei* den redeteilen verwischt wird.

Abchasisch.

Eine höchst merkwürdige spräche ist das Abchasische (Ausführli- cher Bericht über des Generals Baron Peter von Uslar Abchasische Stu- dien. Von A. Schiefner. Mömoiresde l'Acadömie etc. Tome VI, nro. 12, St. Petersburg 1863). Für phonologische Studien beut dise spräche durch die ir eigenen absonderlichen laute reiches material; auch in morphologischer beziehung ist sie von grofsem interesse.

Das verbum, d. h. das, was man so zu nennen pflegt, ist hier in der weise entwickelt, welche den so genanten einverleibenden sprachen eigen ist; das objeet u. s. f., so wie das, was in unseren sprachen durch conjunetionen aufs gedrttkt wird , findet im Abchasischen seinen aufs- druck am so genanten verbum. Dabei ist es dennoch nicht zu einer der indogermanischen art und weise vergleichbaren gc- gensttzlichen entwickelung von verbum und nomen ge- kommen. Die pronominalpraefixe oder pronominalinfixe (als infixe treten die pronomina bei stammen auf, die aller warscheinlichkeit nach zusammen gesezt sind; vgl. s. VIII), die am nomen als possessiva, am verbum als bezeichnung des subjeets und des objeets fungieren 9 flg.), sind bei beiden Wortarten wesentlich die selben. Z. b. 8-ab oder 8-ara s-ab (ego meus-pater) mein vater; sy-gny (y ist eine art hilfsvocal) oder 8-ara sy-gny mein haus; b-ab oder b-ara b-ab dein (femininum) vater; by-b-gny dein (femin.) haus u. s. f., unterscheiden sich irer form und ihrem wesen nach nicht von 8-ara sy-qoup ich bin (wörtlich etwa : ich mein-dasein) , sy-qan ich war; sy-bzian ich war gut; sybziamynda ich möchte nicht gut sein u. s. f. ; b-ara by-qoup du (weib) bist; b-ara by- bzioup du bist gut u. s. f.

556 Aug. Schleicheb, die Unterscheidung von [60

Allerdings isl nicht in abrede zu stellen, dafs dergleichen Überein- stimmung zwischen nominal- und verbalformen nicht durchweg statt findet und dafs durch den bestirnten und den un bestirnten arlikel 53) auch im nominativ singularis das nomen sich vom verbum unterschei- det. Ein durch greifender gegensatz beider redeteile ist aber nicht vorhanden.

Georgisch.

FUr das Georgische sind meine studienhilfsmittel : Dictionnaire Geoi'gien-russe-fran$ais , composö par David Tchoubinof , St. Petersb. 1 840 (difs Wörterbuch enthält auch eine kurze grammatik) und KpaTKan rpy3HHCKaa rpaMxaTHKa /^. Hyämiona , Camera. 1 855.

Leider hat es mir nicht gelingen wollen, mir auch nur so weit ein- sieht in das wesen der georgischen spräche zu verschaffen , um die in diser abhandlung untersuchte frage in bezug auf dise spräche beant- worten zu können. Der grund davon ist keines weges in der Unzuläng- lichkeit meiner quellen zu suchen , denn die oben genanten werke er- möglichen eine volkommen aufs reichende anschauung und kentnis der spräche ; er ligt vilmer im wesen diser spräche selbst. Es scheint mir nämlich das Georgische eine bereits stark von der ursprünglichen be- schaffenheit ab gewichene spräche zu sein , so dafs ir gegenüber der Sprachforscher sich in einer anheben läge befindet , als wenn er etwa aufs dem Englischen oder Französischen, wie es jezt ist, und zwar aufe einer phonetischen darstellung diser sprachen das Georgische hat keine historische Schreibung, wie die beiden genanten indogermanischen spra- chen — einsieht in das wesen des Indogermanischen gewinnen wolte. Ich bin nicht im stände , die georgischen worte in ire elemente zu zer- legen und den Ursprung diser elemente zu ermitteln. Hätten wir dise formenreiche spräche aufs einer beträchtlich früheren , altertümlicheren lebensperiode vor uns , dann wäre wol eher eine einsieht in iren bau und ire entwickelung möglich.

Um dem leser wenigstens einiger mafsen die hier der forschung entgegen tretenden schwirigkeiten anschaulich zu machen und weil leicht zugängliche hilfsmittel für das Studium diser spräche v in welchen das georgische aiphabet in lateinische schritt um gesezt ist, nicht vor- handen sind, teile ich einiges aufs der georgischen declination und con- jugation hier mit. Auch glaube ich , dafs die blofse anschauung diser

«0

NoMBN UND VkUBUM IN DEH LAUTUCHEN FofM.

657

formen gentigt, um die völlige verschidenheit des Georgischen vom In- dogermanischen dar zu tun. Friedr. Muller (Orient und Occident II, 526 535) sielt mit recht den Zusammenhang der kaukasischen sprachen mit den indogermanischen in abrede, wärend bekantlich von namhaften gelerlen das gegenteil behauptet wird (vgl. z. b. Brossets vorrede zu Tschubinovs Wörterbuch). Die georgischen worte habe ich , so gut als es gehen wolte, in lateinische schrill umgescbribeo , dabei aber, um drukschwirigkeiten zu vermeiden, mich nicht gescheut, ein einziges zei- chen der georgischen schritt durch zwei oder sogar drei lateinische buchstaben wider zu geben. Auf solche fälle habe ich jedoch da , wo sie zuerst vor kommen , aufmerksam gemacht.

Declination eines Substantivs.

Singular.

Plural I.

Plural 11.

nomin. katsi (ts ein zeichen)

katsni

katsebi

mensch

genit. kalssa

katstha(th ein

zeichen)

katsebisa

daliv kalssa

kaistha

kalsebsa

vocativ kalso

katsno

katsebo

instr. I. kalsilha

feit

katsebitha

inslr. II. katsad

feit

katsebad

ortsgenitiv kalsisas

katsthasa

kaisebisas

erzälungs- nomin. katsman

feit

katsebman.

Es wird bemerkt (s. 6), dafs der genitiv oft noch die endungfen anderer casus erhalte und dafs sich auch pl Uralbildungen auf -ebni und -nebi finden. Difs scheint eine Verbindung der beiden pluralbildungen auf-m und -ebi zu sein. Die beiden pluralbildungen mögen gleiche func- tion haben, wenigstens gibt Tschubinov keinen funetionsunterschid an.

In den formen kaistha genit. dat. pluralis, katsthasa ortsgenitiv plu- ralis , scheint (ha den genitiv , der ja auch im Singular und im zweiten plural mit dem dativ fast gleich lautend ist, zu bezeichnen; im so ge- nanten ortsgenitiv ist an dises tha noch sa getreten , wie im ortsgenitiv des Singulars und des zweiten plurals an den genitiv auf -sa ein s (wol aufs sa gekürzt) tritt. Dann feit aber in disen formen kats-tha und kats- thasa die bezeichnung des plurals. Fast vermute ich , dafs in disen ca- sus ein pluralzeichen th mit dem auf das selbe folgenden casuszeichen tha verschmolzen sei; vgl. die I. und II. person pluralis (in manchen

558 A(JG SCHLEICHKR, DIB UmERSCHKIDUNG VON [62

formen auch III. pluralis) auf -th (Friedr. Müller, Or. u. Occ. II, s. 533 fürt die pluralformen ama-th jene, ima-lh dise an, welche meine Ver- mutung nichl wenig stutzen würden; ich weifs dise formen jedoch aufs Tschubinov nicht zu belegen).

Von den pronominibus erwähne ich me ich , genit. tschemi (tsch ein zeichen), dat. tschemda, instr. I tschemith, inslr. II tschemad; tschven wir, genit. tschveni, dat. tschvenda, instr. I tschvenitha, instr. II Uchvenad; sehen [seh ein zeichen), du, genit. scheni u.s. f. ; thkhven (kh ein zeichen) ir, genit. thkhveni u. s. f. Die nominativformen beider zalen werden ser oft auch anstatt der obliqui gebraucht. Ferner man er, genit. mis, dat. mos u. s. f. ; w, igt er, sie (plural isini, igini) ; ese, am celui-ci, celle-ci ; ege celui-lä, celle-lä; vin wer, genit. vis, dat. visa u. s. f. ; ra was, gen. dat. risa u. s. f.

Das verbum hat , nach art der so genanten ein verleibenden spra- chen, vile formen, indem es aufser dem subjeet auch das aecusativische und dativische objeet an deuten kann ; z. b. vhtlser (tts ein zeichen) ich schreibe (das futurum indicativi hat die selbe form ; das praesens von verben, die mit praepositionen zusammen gesezt sind, fungiert als futu- rum , z. b. davhsttser ich werde schreiben) , vhstiser ich schreibe etwas (s. 17, § 13), vitiser ich schreibe für mich, vuttser ich schreibe für in , vittserebi und vettserebi ich werde geschriben (nmiiyci») , mtteer du schreibst mir, mittser du schreibst für mich, mattier du schreibst, adres- sierst, an mich (HaAUHcuBaenu» Ha mcha), mettserebi du schreibst mich ; vattserineb ich lafse schreiben, vittserineb ich lafse fllr mich schreiben, vutteermeb ich lafse für in schreiben, mitteerineb du lafst für mich schrei- ben ; ja sogar doppelte causativa finden sich, so vatlserinebineb ich lafse einen (jemand) zum schreiben veraolafsen , vittserinebineb ich lafse für mich einen zum schreiben veranlafsen.

Verbalsubstantiv (das von den grammatikern als verbalstamm den übrigen formen zu gründe gelegt wird) ist ttsera schreiben ; parlicipium praesenl. act. mttsereli, mttseri schreibend ; parlicipium praeterili pass. ttserili geschriben.

Als beispil für die abwandlung nach zeiten , modus und personen diene folgendes.

63]

Nomen und Verbdm in deb lautlichen Form.

559

I. vhttsser scribo

II. hstlser scribis III. hstlsers scribit.

I. vhstlserth

II. hstlserth

III. hstlseren.

I. vhsttsere scripsi

II. hstlsere

III. hstlsera, hstlser is.

I. vhsttsereth

II. hstlser eth HI. hsttseres.

Indicativ.

Singular.

vhsttserdi scribebam

hstlserdi scribebas

hsttserda, hsttserdis scribebal. Plural.

vhstterdith

hsüserdith

hsttserdnen, hstlserdian, -dnian. Singular.

mittseria, mitiseries scripseram

gittseria, -ries

uttseria, -ries. Plural.

gviltseriath, -riesth

gittseriath, -riesth

ultseriath, -riesth.

Conditional (ycvioBHoe naiuoHeHie).

Praesens. Perfectum.

Singular. I. vhsttserde wenn ich schribe mettsera wenn ich geschriben halte II. hsttserde geUser a

III. hstlser des. etlsera.

Plural. I. vhstlserdeth gvettserath

II. hstlserdeth getlseralh

III. follserden. ettserath.

Plusquamperfectum.

Futurum.

Singular.

I. mettseros wenn ich geschr. hätte vhstlsero wenn ich schreiben werde

II. gettseros

hstlsero

III. etlseros.

hsttseros.

Plural.

I. gvetlserosth

vhstlseroth

II. gettserosth

hsltseroth

fll. ettserosth.

hsttseron.

560 Aug. Schleicher, die Untebscheidlng von [64

Im imperativ ist die II. sing. = der II. sing, indic. perfecti ; die III. sing. = III. sing, condition. futuri; II. plur. = II. plur. indic. per- fecti; III. plur. = III. plur. condition. futuri. Auch die übrigen formen des imperativs bieten kein weiteres interesse.

Ich lafse noch zwei mer oder minder ab weichende praesensfor- men folgen.

Indicativ.

Singular.

I. var ich bin (s. 42) val ich gehe

II. char du bist ich ein zeichen) chval du gehst

III. ars er ist vals er geht.

Plural.

I, varth wir sind valth wir gehen

II. charth ir seit chvalth ir gehl

III. arian, am sie sind vlen, vlenan sie gehen.

Als Verbalsubstantiv zu lezterem gilt via, svla (s. 40).

Von disen formen ist mir nur so vil deutlich, dafs in der I. und II. pluralis, im conditionalis perfecti und plusquamperfecti auch in der III. pluralis , -th als pluralzeichen fungiert. Es schin uns oben warschein- lieh , in einigen casus das selbe pluralzeichen auch für die nomina vor- aufs zu setzen.

Die personalbezeichnung ist mir aber rätselhaft. Man vergleiche die abwandlung des praesens indicativi von User schreiben mit der von ar sein , vi gehen und ferner mit der des plusquamperfectum indicativi und des perfectum und plusquamperfectum conditionalis und dise sämt- lichen formen mit den selbständigen pronominibus und man wird mir gewis zu gute halten, wenn ich, angesichts diser sprachlichen facta, auf jeglichen deutungsversuch verzichte.

Zur bequemlichkeit des lesers lafse ich dise Zusammenstellung hier folgen. Das was sicher als wurzel oder stamm erkenbar ist, ist, der leichteren übersieht wegen, mit kleinerer schritt gesezt.

Praesens.

Plusqperf.

Perf. cond. Praes. ii Singular.

id. Pronomen.

I. vhsitser

mütseria

tnetUera var

roe, in and. cass. tochem

II. hstlser

gittseria

getlsera char

sehen

II. hstUerS

UtUeria

ettsera arg

ese, u

65] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. 561

Plural.

I. vhsttserth gvUtseriath gvetlserath Varth tschven II. hsilserth gütseriath getUeralh charth thkhvetl

III. hsttseren utiseriath ettserath arian Vergl. das pluralzeichen

-ro\ th?

Baskisch.

Die mir zu geböte stehenden hilfsmittel für das Studium der bas- kischen spräche verstatlen keine genügende einsieht in den bau des baskischen wortes (Larramendi, el imposible veneido. Arte de la len- gua Bascongada. Nueva edicion por Pio Zuazua, San Sebastian 1 853, lerl keineswegs die Zerlegung des wortes in seine elemente; Mahn, Denkmäler der Baskischen Sprache. Mit einer Einleitung u. s. f., Berlin 4 857, fürt durchaufs nicht weiter in der erkentnis, als bereits W. von Humboldt gelangt war in seinen Berichtigungen und Zusätzen zum Mi- thridates, Berl. 1 81 7. Nur aufs der leztgenanten abhandlung vermochte ich in betreff des baues der baskischen spräche etwas zu lernen).

Der so genante einverleibende Sprachbau, d. h. die bezeichnung des objeets , auch der nebenher betroffenen und der an geredeten per- son am verbum , scheint allerdings sofort einen notwendigen gegensatz von verbum und nomen zu bedingen. Dafs jedoch durch die einverlei- bung keinesweges eine dem im Indogermanischen vorhandenen unter- schide von nomen und verbum entsprechende Scheidung diser beiden redeteile herbei gefürt weide, haben wir oben bei gelegenheit des Ma- gyarischen (s. 525) bereits erörtert. Und so scheinen denn auch einige specielle züge des baskischen verbums dar zu tun, dafs auch

in diser spräche eine völlig durch ge fürte Scheidung von

»

nomen und verbum nicht vorhanden ist. Freilich kann ich nur ser weniges zur begründung diser Vermutung bei bringen, weil ich, wie gesagt, vom Baskischen überhaupt nur ser wenig weifs.

Die dem indogermanischen verbum wesentliche personalbezeich- nung feit auch im Baskischen in der dritten person singularis. Wir kennen bereits dise erscheinung und wifsen, was sie zu bedeuten bat. W. v.Humboldt sagt: die III. Pers. Sing. Nomin. wird niemals ausge- drückt, sondern zeigt sich durch die Abwesenheit eines Kennbuchsta- bens an'. Da nun auch das an geredete masculinum one bezeichnung bleibt , so besteht z. b. il au 'er hat dich getötet o mann , nur aufs den

AbhtDdl. d. K. S. Gesellich. d. Wiweasch. X. 38

562 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [66

beiden verbalwurzeln il töten, au Wurzel des so genanten verbum auxi- liare (v. Humb. in der tabelle s. 58 des sonderabdruckes). Da es gerade die dritte person ist, welche auch in andern sprachen mit nicht ent- wickelter Scheidung von nomen und verbum one bezeichnung der per- son bleibt, so haben wir auch im Baskischen kein recht, den vertust einer einst vorhandenen lautlichen bezeichnung diser person voraufs zu setzen.

Ferner scheint ein beweis für die nicht rein verbale natur der bas- kischen verbalformen darin zu (igen, dafs 'jede Person eines Verbi in jeder Zeit, jedem Modus und jeder Conjugation, mithin jede Modifica- tion einer Handlung , durch blofse HinzufUgung eines n am Ende des Qectirlen Auxiliars in ein Participium verwandelt werden kann' (von Humb. s. 61). In disem n vermutet von Humboldt wol mit recht die postposition an, en (sie bezeichnet den locativ, Larramendi cap. IX, s. 173 ; z. b. Cadiz-en en Cadiz u. s. f.). Das von W. von Humboldt aufs einem wigenliede an gefürte beispil eines solchen angeblichen partici- piums bestätigt nur dise Vermutung. Es lautet guradozun egunen baten eines tages, wo du es wilst; hier ist guradozu-n deutlich locativ von gura-dozu 'du wilst es' (gura wollen, d es, o tun, zu du; wollen -es- tust- du, warscheinlich eigentlich du-es- wollen -tuend , locativ also: in-dei- nem-es-wollen-tuenden) , wie egunen locativ zu eguna tag, baten locativ zu bat einer, eine, eines; die worte guradozun egunen baten scheinen also so vil zu bedeuten als 'an einem du- es- wollen -tuenden tage'. Ver- balformen aber, die postpositionen an nemen, d. h. die decliniert wer- den können , sind unmöglich verbalformen im indogermanischen sinne, sondern in irem wesen von nominalformen noch nicht geschiden. Man denke sich nur etwa ein altindisches *bharanti-m = griech. *(peQorri-oi od. *(pt()ovo€-oi, locat. plur. zu bhdranti = (pegovri, (pegovoi, um sofort die völlige Unverträglichkeit von verbalformen mit casusendungen zu empfinden.

Cree.

Leider stehen mir für die sprachen der neuen weit, deren bau be- kantlicb an den des Baskischen erinnert, keine aufs reichenden hilfe- mittel zu geböte. Meine adversarien bieten mer oder minder aufs ge- dente aufszüge aufs Du Ponceau, Memoire sur le Systeme grammatical des langues de quelques naüons Indiennes de l'Amärique du Nord,

67]| NOMBN UND VsRBUtf IN DER LAUTLICHEN FORM. 563

Paris 1838 u. aufs Grammar of the Lenni Lenape or Delaware Indians by D. Zeisberger, transl. with preface etc. by Du Ponceau, Philadel- phia 1 827. Dise beiden Schriften halfen mir so gut als nichts. Mer ge- nüzt hat mir, one jedoch klare einsieht zu ermöglichen Howse, a Grammar of the Gree language with which is combined an analysis of the Chippeway dialect, London 1844.

Be kantlich verschlingt in disen sprachen das so genante verbum den satz mer oder minder in sich, so dafs das, was aufser dem verbum im salze steht, nur apposition zu dem bereits im verbum aufs gedrükten ist (z. b. im Cree: er, son-sein, ich sehe-in-den-seinen , d. h. ich sehe seinen son). Hieraufs schon folgt, dafs in disen sprachen ein ganz an* deres Verhältnis von nomen und verbum ob walten mute, als im Indo- germanischen. Aber auch in der form ist nomen und verbum nicht, oder doch wenigstens nicht principiell geschiden. Es genügt ein bei- spil , um difs fürs Cree anschaulich zu machen.

Singular. I. n-ootäwee mein vater ne ketoon ich spreche

II. k-ootdwee dein vater ke ketoon du sprichst

III. ootdwee sein vater ketoo er spricht.

Plural.

I. u. III. n-ootäwee-nan unser (erste ne ketoon-nan wir (1. 111.) sprechen u. dritte person) vater

I. u. II. k-ootäwee-nöw unser (erste ke ketoon-änow wir (I. II.) sprechen u. zweite person) vater

II. k-ootäwee-oowow euer vater ke keloon-owöw ir sprecht III. ootawee-oowow ir vater ketoo-wük sie sprechen.

Man siht, zwischen den possessiven aufsdrücken am nomen und der personalbezeichnung am verbum ist kein wesentlicher unterschid, so dafs also ein ne ketoon ich spreche wol als 'mein sprechen zu fafsen ist. Das selbe findet nun auch in andern sprachen Americas statt. Es ist hier zu keinem gegensatze zwischen verbal* und no- minalformen in der lautlichen gestaltung der selben ge- kommen.

Tscherokesisch.

Es ligt mir vor: Kurze Grammatik der Tscberokesischen Sprache von H. C. von der Gabelentz in Höfers Zeitschrift für die Wissenschaft der Sprache, Greifswald 1851, III, 255—300.

38*

564 Aug. Schleicher , die Unterscheidung von [68

Das substaativum unterscheidet in diser spräche höchstens Singu- lar und plural, nicht aber die casus.

Fast sämtliche adjectiva werden als so genante verba behandelt. An personalpronominibus gibt es nur die unveränderlichen ayv (v bedeutet einen laut, der dem des französischen un gleich komt, also nasales englisches u, wie es in but gesprochen wird) ich, wir; uchi, du, ir. Aufserdem einige ebenfals indeclinable demonstrativa: na, nani oder nasgi jener; hia diser. Alles übrige stekt im so genanten verbum und in den , wie wir gleich sehen werden , von den verbalen formen nicht verschidenen possessiven nominalbildungen.

Wir haben hier nämlich die selbe erscheinung vor uns, wie im Cree; die einfache conjugalion und die possessivformen sind identisch. Man vergleiche:

Singular. I. Isinelung mein haus dsinega*) ich spreche

II. hinelung dein haus hinega du sprichst

III, a. kanUung sein (des gegen- kanega er spricht, wärtigen) haus

III, b. kanelung sein (des abwesen- den) haus

Dual.

I. II. ininelung dein u. mein haus ininega wir (ich und du) sprechen f. III. aslinelung sein u. mein haus osdinega*) wir (ich u. er) sprechen

II. istinelung euer haus sdinega ir beide sprecht

III, a. taninelung ir (der beiden ge- genwärtigen) haus

III, b. aninelung ir (der beiden ab- aninega sie beide sprechen, wesenden) haus

Plural.

I. sg. u. II. pl. itinelung euer u. mein idinega wir (ich und ir) sprechen

haus

I. sg. u. III. pl. atsinelung ir u. mein odsinega wir (ich und sie) sprechen

haus

II. itsinelung euer haus - idsinega ir sprecht

III, a. taninelung ir (gegenw.) haus

III, b. aninelung ir (abwes.) haus aninega sie sprechen.

*) Ober den Wechsel von t und d und Unliebe Schwankungen bemerkt der verf.

69] Nomen und Veiibum in der lautlichen Form. 565

Eben so gehl kanegoi er spricht gewönlich, kanegvgi er sprach (he was speaking) in meiner gegenwart oder nach meiner eigenen warne- mung , kanegei er sprach one meine eigene warnemung , kanegesdi he will be speaking, kanegvi sein sprechen.

Ferner vergleiche man :

Singular. I. akinawi mein herz aginedsv ich habe gesprochen

II. tsannwi dein herz dsanedsv du hast gesprochen

III, a. tunawi sein (gegenw.) herz III, b. unawi sein (abwes.) herz unedsv er hat gesprochen.

Dual.

I. u. II. kininawi dein u. mein herz gininedsv wir (du und ich) haben

gesprochen

I. u. III. akininawi sein u. mein herz ogininedsv wir (er und ich) haben

gesprochen

II. stimm euer herz sdinedsv ir habt gesprochen

III, a. tuninawi ir (der gegenw.) herz

III, b. uninawi ir (abwes.) herz uninedsv sie haben gesprochen.

Plural.

I. u. II. pl. ikinawi euer und mein iginedsv wir (ir und ich) haben ge-

herz sprochen

I. u. III. pl. akinawi ir und mein oginedsv wir (sie und ich) haben

herz gesprochen

IL itsinawi euer herz idsinedv ir habt gesprochen

III. wie im dualis.

Eben so gehen sechs modißcationen, wie unedsoi, unedsvgi u. s. f.

Der unterschid der possessivformen im ersten beispile von denen im zweiten , so wie die sonderung der einzelnen elemente und ir Ur- sprung haben mich bei diser und bei andern Indianersprachen Americas schon merfach beschäftigt, one dafs ich zu einem irgend wie genügen- den ergebnisse gelangt wäre.

Man vergleiche ferner:

s. 259, dafs sie sich auf einen Wechsel in der aufs spräche und dadurch bedingte ver- schidenartigkeit seiner quellen gründen.

566

Aüg. Schleiche«, die Untebscheiding von

[70

Singular.

Üukung bäum

kutusi berg

equani flufs

Isaiota dein vater

ulota sein vater.

kalitoii ich bediene mich eines lef- fels

Isigowati ich sehe ein ding

isistigi ich efse ein ding

Plural.

detlukung bäume

dikutusi berge

toequoni flüfse

ditsatota deine vater

Isutota seine väter

dekatitoti ich bediene mich roere- rer leffel

delsigowati ich sehe merere dinge

delsistigi ich efse merere dinge u. s. f.

In die verwirrende fülle der so genanten Iransitionen wollen wir nicht versuchen ein zu dringen, zumal da das im bisherigen vor gelegte genügt, um zu beweisen, dafs verbum und nomen auch hier in der form nicht gesondert sind.

Ein verbum 'sein gibt es nicht (s. 298).

Demnach komt es in diser spräche nicht zu eigentlichen verben, trotz bildungen wie winitotigeginaliskolvUmonelitisesti sie werden zu je- ner zeit zimlich auf gehört haben dich und mich aufs der ferne zu be- günstigen (s. 260).

Dakota.

Grammatik der Dakota-Sprache von H. C. von der Gabelentz. Auch unter dem titel : Beiträge zur Sprachenkunde, zweites Heft, Lpz. 1 852. Keine declination. Plural, mit beschränktem gebrauche, auf -p*. Bestirnter artikel kin, ein, unbestimter wan (vgl. wanja zalwort für 1), als selbständige worte nach gesezt.

Verbum one bezeichnung der dritten person. Das pluralzeichen am verbum ist das selbe wie an den nominibus. Jedoch haben die I. und II. sing, eigentümliche personalpraefixa. Z. b.

Singular. mi oie mein wort miye ich

ni oie dein wort niye du

I. wa-ni ich lebe

II. ya-ni du lebst III. ni er lebt.

I. on-ni~pi wir leben

II. ya-nt-pi ir lebt III. ni-pi sie leben.

Plural. onk-oran-pi unsere werke onkiye wir ni oran-pi euere werke niye-pi ir

74] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 567

Nur in der besonderheit der personalbezeichnung der I. II. sing, ligt ein schwacher ansalz zur scheidung von verbal- und nominalformen vor ; denn on- der I. plur. ist offenbar blofse Verkürzung von onk-, das auch wirklich vor vocalen steht, z. b. opa er ist dat onk-opa-pi wir sind da; die (I. plur. ist der auf nominale art gebildete pluralis der II. sing. Das blofse verbum kann auch als participium fungieren 32). Die 'transitionen' bestehen in einfacher beifügung pronominaler elemente zu dem so genanten verbum , z. b. qu, du (c vertritt ein q nach t, e) geben, davon :

ma-qu er gibt mich oder mir (qu er gibt),

ni-qu er gibt dich oder dir,

ma-qu-pi sie geben mich oder mir (qtt-pi sie geben),

ni-qu-pi sie geben dich oder dir,

on-qu-pi er gibt uns, aber auch 'sie geben uns',

wa-ki-öu ich gebe in oder im (wa-ku ich gebe),

on-ni-du-pi wir geben in oder im (on~ku-pi wir geben).

In die von nominibus nicht unterschidenen so genanten verba (wie qu er gibt, qu-pi sie geben u. s. f.) komt durch die transitionen nichts specifisch verbales.

Also auch hier keine trennungvon nomen und verbum.

Grönländisch.

Für andere amerikanische sprachen kann ich nur aufs secundären quellen schepfen. Das Grönländische und das Mexicanische behandelt Stein lhal (Characteristik der hauptsachlichsten Typen des Sprachbaues, Berlin 1 860) ; das erstere nach Kleinschmidts grammatik der grönländi- schen spräche mit (heil weisem einschlufs des Labradordialects, Berlin 1 851 , das leztere nach mir nicht bekanten quellen.

Von dem über das Grönländische bei Steinthal mit geteilten heben

wir folgendes aufs: Es bekleidet auch beim Indicativ das Verbum

mit einem Moduscharacter. Dagegen versäumt auch die grönländische Sprache das wichtigste, nämlich die dritte Person als Subject durch ei- nen Personal -Character zu bezeichnen. Der Stamm also mit dem Modus- Character ist zugleich die 3. Pens. Sing, und der Dual und Plural ent- stehen durch Abwandlung des Sing, nach Weise der Nomina' (s. 224).

Vgl. hierzu das so eben aufs andern sprachen Nordamericas mit

568 Aüg. Schleicher, die Unterscheidung von [72

geteilte. Demnach wird im Grönländischen eben so wenig nomen und verbum geschiden, als in jenen.

Mexicanisch.

Über das Mexicanische mag man bei Steinthal (Characteristik etc. s. 202 flgg.) nach lesen. Ich hebe nur das nötigste hier aufs, um dar zu tun, dafs auch im M exicanischen eine Scheidung von no- men und, verbum in der lautlichen form nicht besteht. S. 216: c Dafs die 3. Person des Verbums kein Präfix hat, ist ein böses Zeichen. Dazu kommt, dafs der Plural des Verbums gerade so gebildet wird, wie der des Nomens: nemi er lebt, nemi sie leben.

Dies weist daraufhin, dafs ni-nemi, ti-nemi nur so viel heifst, wie: ich Lebender, du Lebender. So sagt man ja auch ne ni-llätlakoäni ich ich-Sünder.

Daher hat es auch nichts Auffallendes mehr, dafs alle Nomina jene Prädicals- Präfixe erhalten können [eine erscheinung, die wir bereits kennen, vgl. z. b. das Jakutische s. 340 f.]: ni kwalli, eigentlich: ich gut, ich bin gut; ti-kwalli du (bist) gut, kwalli er (ist) gut' u. s. f.

Die so genante einverleibung vermag nicht dise nichtunterschei- dung von nomen und verbum zu beheben, denn auch ein nomen kann ja active function haben ; ein ni-naka-kwa (naka-tl, in Zusammensetzung zu naka gekürzt, fleisch; kwa efsen) ich-fleisch-efse, ich efse fleisch, ist von dem oben an gefürten ni-nemi ich lebe, ni-kwalli ich bin gut nicht wesentlich verschiden ; wir haben es etwa als 'ich-fleisch efsen- der zu fafsen. Wenn Steinthal (s. 21 8) dem Mexikanischen 'wahrhafte Verba ab spricht, so können wir im hierin nur bei pflichten.

Mit dem vor stehenden mufs ich es in betreff der sprachen Amen- cas sein bewenden haben lafsen. Hoffentlich läfst sich einmal ein ande- rer fachgenofse herbei, die zalreichen mir unzugänglichen sprachen auf den hier in betracht kommenden punct einer Untersuchung zu unter- werfen.

Südafrikanische (Bäntu) sprachen.

Von den sprachen Africas (aufser dem Koptischen und Nama) ste- hen mir nur für einige der so genanten siidafricanischen sprachen, der Bä-ntu Family Bleeks (The library of his Excellency Sir George Grey. Philology, Africa. Vol. I, Part II, London u. Leipzig 1858), hilfsmittel

73] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 569

zur Verfügung, nämlich für das Zulu, das nach Bleek zur South-African Division, South-Eastern-Branch, Kafir Species der Bäntu Family gehört, für das Hererö. nach Bleek South-African Division, South-Western Branch, Southern Portion der Bäntu Family, und für das Yoruba, West-African Division, Niger Branch der Bäntu Family. Fttr das Zulu (igen mir aufsfürliche abschriflen vor, die ich aufs dem Journal of the American oriental Society, Vol. I, New- York and London, gemacht habe, und zwar von folgenden abschnitten: 1) The Zulu language by Rev. James C. Bryant und 2) The Zulu and other dialects of soulhern Africa by Rev. Lewis Grout. Meine aufszüge aufs A Grammar of the Mpongwe language with vocabularies by the Missionaries of the A. B. C. F. M. Gaboon Mission, Western Africa, New-York 1847 das Mpongwe steht nach Bleeks tahelle dem Hererö nahe , so wie aufs Riis, Elemente des Akwapimdialects der Odschisprache, Basel 1853 das Odschi gehört nach Bleek, wie das Yoruba, zur West-African Divi- sion der Bäntu-sprachen sind zu kurz gehalten , als dafs ich sie hier verwerten könte. Auch genügt es ja hier nur einige Vertreter der gro- fsen Bäntu -Family in betracht zu ziehen, die übrigen sprachen dises Stammes werden sich, schwerlich in dem hier besprochenen puncte an- ders gestaltet haben. Für das Hererö benutze ich: Grundzüge einer

z Grammatik des Hererö (im westlichen Africa) mit einem Wörterbuche

von G. Hugo Hahn. Berlin 1857; für das Yoruba besitze ich: Gram- mar and Dictionary of the Yoruba language etc. by the Rev. T. J. Bowen.

^ Washington City : Published by the Smithsonian Institution 1 858.

t

Zulu.

* Im Zulu tritt an den stamm des verbums selbst keine personbe-

F Zeichnung. Vor den selben treten die pronomina , in meinen vorlagen

, als selbständige worte geschriben; mit den nominalstämmen werden

sie jedoch zusammen geschriben. Bekantlich hat das Zulu, wie die mir bekanten andern Bäntusprachen ebenfals, eine grofse anzal pronomina der dritten person , da dise sprachen , so zu sagen , mer grammatische genera unterscheiden als wir und für jedes genus»ein besonderes pro- noroen der dritten person besitzen, das den nominibus praefigiert wird ; z. b. i-hashi pferd, um-fana knabe, u-dade Schwester, in-to ding, uku-hla narung u. s. f. Nur im vocativ wird das pronomen nicht gesezt. An disen pronominibus erscheinen, wie beim nomen die casus, so beim

I

570 Aug. Schleicher, die Unteischeidung vor P*

verbum modus und tempus , doch beides keinesweges aufsscbliefslich, sondern es treten bisweilen auch am aufslaute der stamme abwandlun- gen ein.

Ein wesentlicher unterschid von nomen und verbum hat sich jedoch nicht entwickelt. Hierfür einige belege.

Die tempusstämme des praesens und des perfecls werden zugleich als participien auf gefürt; gi tanda wird sowol übersezt mit I love als mit I loving; eben so II. sing, u tanda, I. plur. si tanda, II. plur. ni tanda. Des gleichen im perfectum ; z. b. I. sing, gi tandile ist sowol verbum als participium. Dafs das praesens oft ein so genantes hilfsverbum an nimt, z. b. gi ya tanda ich liebe, wörtlich 'ich gehend liebend*, ist unwesent- lieh. Schon hier haben wir also formen, die nominale und verbale natur in sich vereinigen.

In Sätzen wie izi-nyoni zi ya kala oder zi kala the birds sing, wört- lich 'die-vögel die gehend singend' oder cdie singend', unterscheidet sich das nomen izi-nyoni vom so genanten verbum zi ya kala oder zi kala (dise worte als eins gefafst, was sie jedoch nicht zu sein scheinen) nur durch eine vollere form des pronomens izi und durch die nichttren- nung des selben vom folgenden worte; ein unterschid, der sich doch keinesweges dem im Indogermanischen vorhandenen gegensatze von nomen und verbum vergleichen läfst.

Das praedicative adjeetiv hat eben so, wie das so genante verbum, das wir ja bereits als nicht verschiden vom participium, d. h. vom ad* jeetiv, kennen, das pronomen als gesondertes wort vor sich ; z. b. uku- hla ku hie, ku ningi food is nice and abundant, wörtlich food it nice, it many ; eben so uku-hla $e ku vutive the food ist just now ready (se, ad- verbium, just now ; übrigens gibt es nur wenige adverbien, da sie durch verba ersezt werden ; vutive ergibt sich seiner form nach als perfectum passivi eines so genanten verbs, dessen praesens vula heifsen mufs, vgl. praesens tanda, perfectum tandile oder lande, passivum praes. tand-u-a, perfectum tand-iw-e).

Ferner ist für die natur des verbums nicht unwichtig, dafs unter anfligung von -yo jedes verbum als adjeetivum gebraucht werden kann, z. b. u-tyani obutambileyo grass which is soft; tambile ist perfectum zu infinitiv uku-tamba td be soft ; u ist die kürzeste form der gleich bedeu- tenden pronomina ubu und bu , obthtambileyo steht für a-ubu-tambileyo,

75] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 571

a ist relativum, so dafs diser satz wörtlich heifst 'das-gras welches-das- sanftgewordene'.

Hererö.

Das Hererö stimt in seinem baue wesentlich zum Zulu, mit dem es ja auch verwant ist. Auch hier treten die unterschide der tempora u. s. f. zum grösten teile am pronomen hervor, das auch hier als gesondertes wort geschriben wird und zwischen welches und das verbum andere elemente treten können. Hierdurch erhält das so genante verbum aller- dings meist eigene, besondere pronominalformen, doch nicht durchweg. Pas verbum selbst aber nimt keine ab Wandlung nach personen an. Wegen der änlichkeit diser spräche mit dem Zulu glauben wir nicht näher auf die selbe ein gehen zu müfsen, zumal die formen der Zulu- sprache meist altertümlicher zu sein scheinen , als die des Hererö.

Yoruba.

Das Yoruba ist in seinem grammalischen baue einfacher, als die beiden zulezt besprochenen sprachen. Weder von declination noch von conjugation in unserem sinne findet sich hier etwas. Lassen wir den verf. des oben genanten werkes selbst reden. S. 18, § 72 : 'Of infle- xion, properly so called, the language exhibits but faint traces'. S. 27, §123: Through all the variations of person, number, mode, and tense, the Yoruba verbal root remains unchanged. § 124: Person and num- ber are denoted by the form of the personal pronoun that represents the subject, as follows:

emi ri I see or saw awa ri we see or saw

iwq ri thou seest or sawest enyin ri ye see or saw 6h*) ri he sees or saw nwqh ri they see or saw.

§ 125: The modes and tenses are indicated by auxiliary particles pla-

ced before the verb. § 1 26 : There is but one conjugation , and

no irregulär verbs, in Yoruba; all verbs being varied in the same manner.

So lautet z. b. der aorist perf. emi ri I see or saw; aorist iraperf.

*) ri bezeichnet den nasalen klang des vorhergehenden vocals , auch das guttu- rale n. Im originale steht ein anderes zeichen, das ich, um drukschwirigkeiten zu meiden, durch ri ersezt habe.

572 Aug. Schleicher, die: Unterscheidung von [76

emi riri I am or was seeing ; past perf. emi ti ri I have or bad seen, past imperf. emi ti riri or nti riri I have or had been seeing; futur. emi 6 ri or ä ri I shall or will see u. s. f.; aorist optal. or potential emi ma ri I may or would see or am seeing u. s. f ; subjunctive forms z. b. aorist perf. bi emi ba ri if I see or saw ; futur. 6t emi 6 ba ri if I shall or will see u. s. f. S. 39, § 173: 'Our Present Participle is represented 1. By

a simple verb 2. By a verb with the prefix n\ das überhaupt

öfters vor so genanten verben erscheint und warscheinlich rest des häufig gebrauchten demonstrativums ni ist, das zugleich als verbum sub- slantivum und praeposition gilt (vgl. §§ 128. 136. 182 flg. 226). § 174: 'The Perfect Participle is represented much in the same manner as the present'. S. 43, § 195: 'Yoruba nouns are not varied in form to ex- press gender, number, or case; or in other words, they exhibit no tra- ces of i n flexi on.

Überblicken wir das in disen aufszügen enthaltene, so stellen sich folgende puncto heraufs: 1. üer verbalstamm selbst nimt kein perso- nenzeichen an, ein pronomen separatum deutet die person an, auf welche sich der stamm beziehen soll. 2. Die so genanten verba fun- gieren zugleich als participien. 3. Die nominalstämme haben kein ca- suszeichen.

Difs berechtigt uns zu der behauptung, dafs im Yoruba nomen und verbum nicht in einer dem Indogermanischen auch nur an nähernd vergleichbaren weise geschiden ist.

Malayisch und Sudseesprachen.

Es ist bekant, dafs das Malayische und die Südseesprachen in irem grammatischen baue bezüglich des aufsdruckes von casus- und personalbeziehungen wesentlich auf dem standpunct des Chinesischen und anderer isolierender sprachen stehen, von denen sie sich nur durch entwickelung zusammen gesezter wortstämme unterscheiden. Hier fält also stamm und wort zusammen, wie in den isolierenden sprachen Wur- zel, stamm und wort. Eine Scheidung von nomen und ver- bum in der lautlichen form kann disem algemeinen cha- racter der spräche zu folge im ganzen ungeheuren gebiete der Malayi sehen und Sudseesprachen nicht statt finden.

In disem punete stiint das urteil aller derjenigen überein , welche sich mit disen sprachen beschäftigt haben. Da mir auf disem gebiete

77] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. 573

genaueres eigenes Studium ab geht, sei es mir verstauet, einige urteile anderer über dise sprachen hier an zu füren.

Hören wir vor allem Wilhelm von Humboldt. Er sagt (Kawispr. CCLXXVI1 f.: 'Eine der natürlichsten und allgemeinsten Folgen der inneren Verkennung, oder vielmehr der nicht vollen Anerkennung der Verbalfunction ist die Verdunkelung der Gränzen zwischen Nomen und Verb um. Dasselbe Wort kann als beide Redetheile gebraucht werden; jedes Nomen läfst sich zum Verbum stempeln; die Kennzeichen des Verbums modificiren mehr seinen Begriff, als sie seine Function cha- racterisiren ; die der Tempora und Modi begleiten das Verbum in eige- ner Selbständigkeit und die Verbindung des Pronomens ist so lose, dafs man gezwungen wird , zwischen demselben und dem angeblichen Ver- bum, welches eher eine Nominalform mit Verbalbedeutung ist, das Verbum sein im Geiste zu ergänzen. Hieraus entsteht natürlich, dafs wahre Verbalbeziebungen zu Nominalbeziehungen hingezogen werden, und beide auf die mannigfaltigste Weise in einander übergehen. Alles hier Gesagte trifft vielleicht nirgends in so hohem Grade zusammen, als im Malayischen Sprachstamm, der auf der einen Seite, mit wenigen Ausnahmen , an Chinesischer Flexionslosigkeit leidet , und auf der andern nicht, wie die Chinesische Sprache, die grammatische For- mung mit verschmähender Resignation zurückstufst, sondern dieselbe sucht, einseilig erreicht , und in dieser Einseitigkeit wunderbar verviel- fältigt. Von den Grammatikern als vollständige durch ganze Conjuga- tionen durchgeführte Bildungen lassen sich deutlich als wahre Nominal- formen nachweisen; und obgleich das Verbum keiner Sprache fehlen kann , so wandelt dennoch den , welcher den wahren Ausdruck dieses Redetheils sucht, in den Malayischen Sprachen gleichsam ein Gefühl seiner Abwesenheit an. Dies gilt nicht blofs von der Sprache auf Ma- lacca, deren Bau überhaupt von noch gröfserer Einfachheit, als der der übrigen ist, sondern auch von der, in der Malayischen Weise sehr formenreichen Tagalischen'.

Buschmann (Kawispr. II, s. 79, § 1 1) sagt von den sprachen des malayischen Stammes überhaupt: 'So wie das Nomen in diesen Spra- chen der Declination ermangelt, ebenso fehlt, genau genommen, auch dem Verbum die Conjugation in ihnen. Partikeln und die persönlichen Pronomina deuten die Modi, Tempora und Personen an , bleiben in die- ser Andeutung , bis auf äufserst wenige Ausnahmen , unverändert und

1

1

574 Aug. Schleicher, die Untbbschbidung von [78

unabgekürzt, verschmelzen daher nicht mit dem Grundwort, und fehlen endlich sehr häufig ganz'. S. 81 : ' Dasselbe Wort dient in den Malayi- sehen Sprachen , wie es freilich auch in den meisten andern bisweilen geschieht, zum Nomen und zum Verbum, ohne seine Gestalt im Gering- sien weder durch Flexion, noch durch Affixa zu verändern. II, 348 gibt Buschmann fürs Tagalische folgendes beispil: sungmustiial siyä schreibt er, ang sutujmustilat der schreibende; sa susulai für den der schreiben wird, stmdat siyä schreiben wird er. Die worte, welche eine form als so genantes verbum erkennen lafsen, werden aufsdrttklich (II, 347, § 36) als 'abgesonderte Wörter bezeichnet.

Hierzu stimt genau A. A. E. Scbleiermacher, de l'influence de 1'6- criture sur le langage etc. suivi de grammaires Barmane et Malaie etc., Darmstadt 1836, p. 446, grammaire Malaie § 31: 'La plupart des mots malais primitifs sont de deux syllabes. Beaucoup de ces mots appar- tiennent en raöme temps ä plusieurs parties du discours, et on peut les employer dans l'£tat primitif comme verbes , noms, adverbes , pröposi- tions, conjonetions ou interjeetions , si la conneuon du discours rend suffisamment clair le sens dans lequel ils sont pris\ Ferner s. 448, § 34: Les mots ne prennent point d'inflexions.

Von den Sttdseesprachen sagt Buschmann (Kawispr. III, s. 842, § 52) : ' Die Sttdseesprachen haben die Ununterschiedenbeit der Rede- theile mit den westlichen gemein ; dasselbe Wort kann die Eigenschaft eines Subst., Adject., Verbums u. s. w. in sich vereinigen; der Vorsatz des Artikels macht es zum Subst., der einer Verbal-Partikel zum Ver- bum, und die Nachstellung nach einem Hauptworte zum Adj.\

Nach Hardeland (Versuch einer Grammatik der Dajackschen Sprache [auf Borneo], Amsterdam 1 858) sagt Steinthal (Gharacteristik der haupt- sächlichsten Typen des Sprachbaues, Berlin 1860, s. 157): 'Zunächst zeigt sich auch im Polynesischen Mangel an Unterscheidung der Rede- theile. Substantivum, Adjectivum, Verbum , Präposition kann in dersel- ben Form liegen. Von den so genanten verbal praefixen helfet es hier (s. 169): 'Am wenigsten läfst sich sagen, dafs jene Präfixe Verba bilde- ten. Denn da sie nicht persönlich flectirt werden, sondern durchaus unverändert bleiben , so könnte man sie nur als Participia , genauer ge- nommen, nur als transitive oder intransitive Adjectiva ansehen*. Ferner (s. 171): 'Das Verbum bat weder Personal - , noch Temporal-, noch Modal- Flexion.

79] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 575

Disen übereinstimmenden urteilen wird man um so mer vollen glauben schenken, als in den an gefürten werken beispile aufs den sprachen selbst zur bestätigung des oben gesagten zu finden sind.

Nur von zwei der zalreichen hierher gehörigen sprachen ligen mir grammatische bearbeitungen vor. Diso zwei sprachen will ich im fol- genden noch besprechen , um das vorstehende näher zu begründen und anschaulicher zu machen.

Favorlang (Formosa).

Über das Favorlang auf Formosa habe ich vor mir die arbeit von H. C. von der Gabelen tz (lieber die formosanische Sprache und ihre Stellung im malaiischen Sprachstamm, Leipzig 1 858). Dise spräche ist, wie der genante forscher schlagend dar tut, in irem grammatischen baue mit den sprachen der Philippinischen Inseln (Taga lisch, Bisayisch, Pampangisch u. s. f.) zunächst verwant. Das Favorlang verhält sich in dem uns hier beschäftigenden puncto natürlich eben so wie das Tagali - sehe (s. o.). Einige aufszüge mögen hier platz finden.

Das nomen hat einen bestirnten artikel a, ja, für nomina propria ta; o, in gewissen fällen nof bezeichnet besonders den genitiv und ac- cusativ 1 5). Es gibt keine Casusbezeichnung aufser durch praeposi- tionen 16). Der plural ist dem singular gleich, oder er wird durch reduplication aufs gedrükt. Die nahe verwantschaft der adjeetiva und der so genanten verba ligt klar zu tage (§§ 18 20); bao a idac (bao jung, neu; a artikel) heifst sowol 'das neue des mondes als 'der mond ist neu .

Die persönlichen pronomina sind ina ich, jo du, icho er, ja (vgl. den artikel) es. Dise formen gelten zugleich für die obliquen casus; z. b. (s. 29) ina papagcha jo ich werde-schlagen dich; papagcha ist der durch reduplication (§31) gebildete futurstamin one bezeichnung von person und numerus.

Die so genanten verbalformen , die , wie das oben an gefürte bei- spil zeigt, keinen aufsdruck für die personalbeziehung besitzen, drücken die tempusbeziehung durch gewisse praefixe oder infixe oder durch reduplication oder auch gar nicht aufs (vgl. oben bao 'neu und 'er ist neu). So wird z. b. behufs der bildung des praesens activi nach dem an lautenden consonanten , zu denen auch der Spiritus lenis (d. h. der mit der aufssprache eines an lautenden vocals verbundene explosivlaut)

576 Aug. Schleicher, dik Unterscheidung von [80

zu rechnen ist/) das infix -umm- gesezt; z. b. chachcho lauge, ch-umm- achcho ich wasche mit lauge; ' -umm-achol ich lege bei seite von 'achol u. s. f. Ein geschobenes -in- bezeichnet das praeterilum 30), reduplicalion des anlautes der praesensforui mit a das futurum (auch in disera falle gilt der Spiritus lenis als consonant) ; z. b. cha-ch-umm-achcho ich (du, er) werde mit lauge waschen, *a- -umm-achol ich werde bei seite legen u. s. f. Ma bildet verba neutra (§§ 32. 33); z. b. bachas Irockenheit, davon ma-bachas, praeterit. m-in-a- bachas (infix im praefix), futur. ma-ma-bachas ; pa bildet causativa (§§ 34 36), z. b. praes. pa- 9achol bei seite legen lafsen (vgl. oben * umm-achol) , praeterit. p-in-a- yachol9 futur. pa-pa-achol (hierher gehört auch das oben an gefürle pa- pagcha ich werde schlagen) u.s. f. Die bildung der äufserst merkwürdigen passivstämme übergehen wir hier, etwas specifisch verbales ist inen keinesweges eigen.

Neuseeländisch.

Über das Neuseeländische steht mir nur zu geböte der kurze 'Ab- riss der Neuseeländischen Grammatik u. s. f. nach dem englischen Ori- ginal von Mr. Norris übersetzt von A. Hoefer (in dessen Zeitschrift für die Wissenschaft der Sprache I, s. 187 202) nebst Sprachproben I, 202—206 und III, 301 309.

In diser spräche sind die grammatischen beziehungsformen fast

nur in den pronominibus und in den partikeln entwickelt. Wärend so

genante nomina und verba keiner abänderung nach zal, casus, modus

und person unterworfen sind, werden beim pronomen die zalunter-

schide bezeichnet. Das persönliche pronomen lautet:

Singular. Dual. Plural.

I. hau, nach andern nach gewissen maua ich und matou = Ising. au, auch ahau (I, partikeln ku ein anderer + III plur. 196 III, 303) (I-hlll)

taua ich u. du tatou = I sing. (|+H) + II piur.

II. koe u korua kolou

III. ia na raua tatou

Deutlich ist in einigen fällen der beziehungsunterschid von Singu- lar und plural als ein bedeutungsunterschid gefafst, d. h. singular und

') Der Herr Verf. fafsl difs etwas anders; vgl. §§ 39. 31.

g

81] Nomen und Verbum in der lautligben Form. 577

plural sind wurzelhaft verschiden, sind zwei verschidene worte, nicht durch grammatische abänderung eines und des selben Stammes geson- dert (also nicht wie equus, equa, sondern wie pferd, stute). Difs ist der fall bei te bestirnter artikel im Singular, nga bestirnter nrtikel im plural (warscheinlich auch bei na, raua; hau, matou s. o.). Unbestimter artikel ist he. Aufserdem gibt es noch demonstrativa.

Die so genanten nomina sind , nach den sprachproben zu urteilen, daran kentlich, dafs ein artikel, ein demonstrativum, oder ein possessi- vum (lo-ku oder la-ku mein; to-u oder la-u dein; to-na oder ta-na sein, ir; dual to-maua oder ta-maua u. s. f.; plur. a-ku oder o-ku; a-u oder o-u; a-na oder o-na, stäts mit a, o anstatt ta, to des Singulars) vor inen steht. Die so genanten verba, ebenfals unveränderlich nach zal und person, kent man an den sie begleitenden partikeln. Die personen wer- den nur durch die, wie es scheint, stäts nach gesezten selbständigen pronomina aufs gedrükt. Als verbalformen werden (s. 198) zusammen estelt:

Activ Passiv

ka tango neme, nam*) ka tango-hia

tango ana neme, nam tango-hia ano (= ana)

e tango wird nemen e tango-hia

e tango ana nemend ; ist, war nemend e tango-hia ana kua tango hat genommen kua tango-hia

ka tango ai wird nemen ka tango-hia ai

kia tango ai dafs (er) neme kia tango-hia ai

kia tango zu nemen kia tango-hia

tango-hia nim kam e tango nim nicht.

Mittels zusatz der partikeln kann fast jedes wort verbal gebraucht werden (I, s. 200, § 35).

Und nun noch einige beispile aufs den sprachproben, aufs gewillt von mir, um an inen die in diser spräche nicht volzogene Scheidung von nomen und verbum auf zu zeigen, ko nga mea whaka-pono (111, s. 303); ko demonstrative partikel; nga bestirnter artikel im plural; mea ding, dinge; whaka-pono glauben; whaka (andere Schreibung waka) bil-

*) Eigentlich nicht zu übersetzen, da im Neuseeländischen die person nicht be- zeichnet ist.

Abhaodl. d. K. S. Gescllfcli. d. Wiueoscb. X. 39

578 Act -ViLEXitm, me L^tdl^th

d*_-t c«*u^at.:*a: />/»/> warhe;t: d*r ^atz U:-d-ut»"-t a >*"»: «J-^* •<■ - ben?: »z1* mk'jLa-j^mo Miu^e des 2!«jub^n> Lat o:of-T br^ucL'lche gonitiv-[iart.k?l * oder o z. b. in fc> ik« tmtre j 1 erebM^ des ffO»>s >. 30*: /* wihine frau o //>-* dein. >- o. * i deines nächsten ». 303 ond auf^erdf-m s^r oft . Hi^r* / -?r— " uh'ika-pouh a!> D/rurro zu faf>en. AU verbum ersch^ioi •-:-■=! dagegen in folgendem satze: * irhako-jnm» *m mhmm ich *-? i A/H4I ich e!aube ao ßotr; hier sind * a*a so irewnle w-/v s. o. die Zusammenstellung der verbalformen. Die s^lr>? \-i e ana gilt aber auch als participium , z. b. Luc. I , I t s. - i ikite-d r iVi te anahera o te Ariki e tu ana ki matau o te Mia ** t* ra; a und: ka verba!partiLel : kite-a gesehen, passivaoi zu i :*. * bei; ia pron. der DI. sing.: te sing, des bestirnten artikeis: : I engl angel; © oder a genitivpartilel : Ariki Lord: e tu *ma s>.v£- ■--: In stehen; ki bei, zqo.s. f., wörtlich also: and was seen ly . aoirel of the Lord slandini: to rieht of the altar of the thim? s\% eet-> OKf&Tt di avrfß. icYjÜAz ffrp/or, ianvz ix <fe£/&r tot &t'*M€c<jTT ,. JHiuuuftroz. III. 304: e ikora ana die sich versehen eeteen od> . ! fals participiai. Man beachte auch Wendungen wie Luc. I. £0 : n>. : kahore koe i traka-pono ki aku kupu ; no von ; te artikel : mem ding : * : negation, nicht; koe du; i'in, to,.at. from. whilst, than . und shL den Verbis . wenn kein Nominativ da ist oder wenn ein solcher v - geht* I, 204; waka-pono, s.o., glauben; ki bei. zo; akm possessive I I. pers. plur.; kupu wort, also : from the cause not tbou in beJierr. my words , aitif <ow oru irriOTtvöft* roi* loyoi* fiov.

Das adjectivum steht one weitere bezeichnung nach dem smI-- tivum z. b. nga mea katoa the things all. Luc. I. 3 I. s. 203 ; 77"/' tangaia pai rava Theophilus tlie man good very, ibid.; te mea kakm ;. thing sweet-scented I, 204 ; te mea waka-haurangi the thing cause-dru kenness, d. i. a'xcya, Luc. I, 15; te tcatrua tapu the spiril boly o k/

Ein verbum substantivum scheint es nicht zu geben, z. b. III >(l- ko Ihotca ahau ko-tou Atua; ko demonstrativ, eine art stärkeren arti^- ahm ich; to~u possessivum II. sing.: Jehovah ich (bin) der dem & Eben so an andern stellen.

Wenn also auch, so weit meine auf einigen wenigen lesestfcw- beruhende ser beschränkte einsieht in dise spräche es erkennt ^ im Maori in der regel zu bemerken ist, ob man ein wort als nomen od*

>31 NOMBN UND VERBUM IN DER LAUTLICHEN FORM. 579

lls verbum übersetzen soll, so siht man dennoch, tlafs namentlich das,

»

- 4

* . ~ * -

: fc was wir participium nennen, vom verbum finitum nicht geschiden ist ^ . und dafs ferner nur das als ganz selbständiges wort bei gesezte prono- : men dem die stelle des verbum vertretenden worte die beziehung auf eine bestirnte person verleiht. Eine wirkliche Scheidung von

"verbum und nomen ist in diserser einfachen, sozusagen *•' <j*

kindlichen spräche nicht vorhanden. Rechnet man partikeln,

"/" artikel , pronomina als völlig getrente worte und nichts spricht für * *'^ »•

das gegenteil so sind nomina und verba im Neuseeländi-

. «-»'s i

sehen unveränderlich in irer form und völlig einander gleich.

Melanesische Sprachen.

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* - - - . ,

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Kentnis der melanesischen sprachen (sprachen der schwarzen rasse der inselweit), soweit die bisherigen fast nur in Übersetzungen von re- ligionsschriflen u. dergl. bestehenden hilfsmittel eine solche verstatten, verdanken wir Herrn H. C. von der Gabelentz (Die melanesischen Spra- ? : *~ l*. * chen nach ihrem grammatischen Bau und ihrer Verwandtschaft unter - * h. sich und mit den malaiisch -polynesischen Sprachen untersucht von H. *- - '^i C. von der Gabelentz. Aus dem VIII. Bande der Abhandl. der Königl. Sächsischen Gesellsch. der Wissensch., Leipzig 1860).

Im algemeinen stehen dise sprachen den polynesischen ser nahe 533, s. 266). ' Die Substantiva haben in den meisten melanesischen Sprachen einen Artikel , der verschieden ist , je nachdem er vor einem :*.:::• --.i nora. propr. oder vor einem nom. comm. steht* 515, s. 255). 'Die I /; I ; .. Bezeichnung der casus erfolgt in den melanesischen Sprachen , wie in den polynesischen, durch vorgesetzte Partikeln* 516, s. 256). Auch im Melanesischen ist das pronomen besonders reich entwickelt. ' Das Verbum ist wie das Nomen in allen melanesischen Sprachen flexionslos und hat meistens nur sehr unvollkommene Mittel Tempus und Modus auszudrücken 526, s. 262). Kino scheid ung von nomen und . verbum ist also in den melanesischen sprachen eben so wenig vorhanden, als in den inen nahe stehenden poly- nesischen.

Als belege zu dem gesagten mögen einige formen aufs disen spra- chen hier eine stelle finden.

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^:cb :...•■•'

580 Aig. Schleiche« , die Unterscheiding vox [Si

# Fidschi.

Von den melanesischen sprachen steht die Fidschisprache den polynesischen sprachen am nächsten, sie bildet 'gewissermassen den Ucbergang von den polynesischen zu den melanesischen Sprachen'

9, s. 9).

Hier lautet der arlikel, der, wenige fälle, die vi! leicht als eine art Zusammensetzung zu fafsen sind, aufs genommen, 36) vor den nomi- nibus steht, fco, o für nomina propr., für andere substantiva na, a 34) ; o, a sind als Verflüchtigungen von ko, na zu betrachten. Nur durch den artikel wird das nomen als solches kentlich , nur durch das pronomen und die verbalpartikeln, die noch dazu teilweise in gewissen fällen feien können 61, s. 39). das verbum. Ab gesehen von disen, durchweg als selbständige worte geltenden elementen, ist kein unterschid zwi- schen nomen und verbum vorhanden. Z. b. a lako das gehen, a tiko der sitz 22, s. 20; § 51, s. 36), aber (§§ 46. 47, s. 31) praesens au sa lako ich gehe (au ich, vgl. das Neuseeland.; sa praesenspartikel). o sa lako du gehst, sa lako oder e lako (auch e ist praesenspartikel, wenn kein pronomen vorher geht) er geht. Wir haben also auch hier, wie so oft, die dritte person one personalbezeichnung (vgl. § 81, s. 46); keirau sa lako wir beide (den an geredeten aufs geschlolsen) gehen, kedaru sa lako wir beide (den an geredeten mit ein geschlolsen) gehen, und so fort mit allen fünfzehn pronominalformen (singular, dual , trial, plural; inclusiv den an geredeten und exclusiv; I. II. III. person). Prae- teritum kau a lako (kau eine andere form für au ich , vgl. neuseeländ. hu; a zeichen des praeteritum) ich bin gegangen u. s. f. ; futurum au na lako ich werde gehen ; conjunct. meu (me dafs) lako dafs ich gehe , me lako dafs er gehe (aber auch rzu gehn' infinit. ); iroperat. lako, mo lako geh.

Ein eigentliches verbum substantivum feit im Fidschi 65, s. 40); 'die blosse Copula liegt in den Verbalpartikeln , die auch mit Nomen, Pronomen oder Adverbium verbunden zum Ausdruck derselben dienen, d. h. doch wohl nichts anderes, als dafs jedes wort gewissermaßen zum verbum wird, wenn im eine verbalpartikel zur seile tritt, so wie wir das verbum zum nomen werden sahen , wenn im der artikel vor gesezt wird ; z. b. sa lekaleka na (artikel) noda (unsere) gauna es (ist) kurz unsere zeit.

85] Nomen und Verbdm in der lautlichen Form. 581

Annatom und andre Neu-Hebridische Sprachen.

i

Die spräche der insel Annatom , der südlichsten der Neu-Hebriden 123, s. 65), deren bau der verf. nach einer Übersetzung des Lucas vor legt, zeigt die bereits bekanten erscheiuungen.

Der bestirnte artikel , in- vor consonanten, n- vor vocalen , wird praefigiert ; er allein reicht aufs , am ein verbum zum substantivum zu machen 144, s. 88), doch steht er nicht stäts am nomen 165, s. 1 00 f.). Überhaupt sind substantiva, adjectiva, vcrba, adverbia nicht in irer form verschiden 1 46, s. 89). Auch hier findet sich eine reiche entwickelung des pronomens 148, s. 90). Beim verbum, das an sich unveränderlich ist, werden die beziehungen der person und des nume- rus durch die pronomina, die temporalen und modalen beziehungen aber durch elemenle, die ans pronomen treten, aufs gedrükt 155, s. 93), z. b. ek (praesensform des pronomens der I. sing., für sich ainyak lautend) asaig ich sage ; et asaig er sagt (aien er) ; eru asaig sie zwei sagen (arau sie zwei) ; era asaig sie (plur.) sagen (ara sie) u, s. f. Im praeterit. im per f. lauten dise personen I. ekis asaig ich sagte; III. sing. is asaig; III. dual, erus asaig; III. plur. eris asaig u. s. f.; praeterit. per- fectum ek mun asaig ich habe gesagt u. s. f.; futurum ekpu asaig ich werde sagen u. s. f. Asaig kann auch one pronomen imperativ sein 165). Auch hier gibt es kein verbum 'sein 173, s. 106).

Die übrigen neu-hebridischen sprachen bieten wesentlich das selbe bild (das § 237 aufs einer handschriftlichen grammatik über das ver- bum des Erromango mit geteilte lautet auf fallend). Ja sogar es findet sich in der spräche von Erromango fdas Verbum in seiner einfachen Gestalt und ohne weitern Zusatz als Praesens, Praeteritum, Futurum, Participium, Imperativ und Infinitiv gebraucht' 238, s. 1 40), z. b. neni er ifst, er afs, ifs; nemettet sie fürchteten sich, fürchte dich u. s. f. Im Ta na feit sogar ein eigentlicher artikel 258, s. 1 50), der doch in di- sen sprachen meist das nomen als solches zu bezeichnen pflegt.

Duauru.

Die Duaurusprache auf Baladea oder Neu-Caledonia 400, s. 21 4 flg.) steht so zimlich auf dem standpuncte völliger nichtunter- Scheidung der redeteile, denn sie hat keinen artikel 412, s. 222), die nomina haben auch sonst keine für sie cbaracteristische form 41 0,

582 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [86

s. 222) und dem verbum feien auch fast alle partikeln 421, s. 225), doch bezeichnet hier das vor gesezte pronomen personale die person ; z. b. inggo (ich) ve ich gehe , ich gieng , ich werde geben ; inggu (oder nggu, ngo du) ve du gehst, giengst u. s. f., auch 'geh' imperat.

Bauro.

Bis auf das Vorhandensein eines artikels steht die spräche der insel Bauro, eine der Salomonsinseln 447 flgg.), auf der selben stufe wie das Duauru.

Hier sind wir bereits bei sprachen an gelangt, die sich, was den lautlichen aufsdruck der beziehung betritt, durchaus nicht wesentlich von den im folgenden zu erwähnenden sprachen Ostasiens unterschei- den. Von disen sind mir folgende mer oder minder bekant.

Bodo.

Kentnis der grammatischen bildung der Bodo und Dhimäl, zweier sprachen, die Max Müller (Letter to Chevalier Bunsen on the Classification of the Turanian languages by Max Müller, M. A., p. 109 flg.) zu den Lohitic Dialects der Bhotlya Class (deren hauptrepräsentant das Tibetische ist) rechnet und die demnach im Brahmaputra- (Lohita-) gebiete (Assam u. s. f.) gesprochen werden, verdanken wir Hrn. Hodgson (Essay the First : on the Kocch, Bodo and DhimAI Tribes in three parte etc. By B. H. Hodgson, Esq. B. C. S. Calcutta: printed by J. Thomas, Baptist Mission Press 1847, mit zalreichen handschriftlichen nachtragen und berichtigungen vom hrn. verf.).*)

Im Bodo findet die declination mittels nach gesezter elemente statt. Z. b. hiwä a man ; hiwä ni of a man ; hiwä Ingo with a man u. s. f. Plu-

*) Leider ist es mir zur zeit nicht möglich , mich in die verwickelten gramma- tiken des Väyu und des Bähing (eines dialectes des Kiräuti) ein zu studieren, wel- che, nach den mir vom verf. gütigst mit geteilten zimlich umfangreichen und von im selbst aufs sorgfältigste handschriftlich verbesserten abzügen zu schliefsen, in dem Journal of the Asiatic Society of Bengal, warscheinlicb vom jare 4 858, s. 4 262 (corr. 270) stehen. Die Väyu (s. 249, corr. 257) cvulgarly called Häyus, inhabit the central Himälaya. They are subjeets of Nepal*. Das selbe gilt von den Kiränti oder Kiräti, zu denen die Bähing gehören. Hoffentlich kann ich künftig einmal in form ei- nes nachtrags zu diser onebin ser lückenhaften skizze das jezt versäumte nach holen.

87] Nomen und Verbum in der lautlichen Forh. 583

raus eben so, nur mit dem pluralzeichen vor der postposition , also: hiwä phür, hiwä phür ni, hiwä phür lago u. s. f.

Die pronomina personalia sind: I. sing, äng I, genit. ang m , in- strum. (oder comitativ) ang lago u. s. f.; I. Plur. jong wo, jong ni, jong lago u. s. f.

II. sing, nang thou; II. plur. nang chür ye.

III. sing, bi he, she, it; plur. bi chür they ; Übrigens ganz wie bei den andern nominibus.

So genantes verbum. Z. h.thäng go; praesens: sing. I. ang thäng-ö,

II. nang thäng-ö, III. bi thäng-ö. Plur. I. jong thäng-ö, II. nang chür thäng-ö, III. bi chür thäng-ö.

Eben so praeteritum: äng, nang, bi u. s. f. thang-ä oder (häng bai; futurum äng, nang u. s. f., thäng nai u. s. f. Das selbständige getrente pronomen personale ist also allein für sich stehend aufsdruck des sub- jects beim so genanten verbum; es braucht jedoch nicht unmittelbar an lezterem zu stehen, z. b. äng phä-rou thäng-nai, wörtlich ich dorf-zu gehen-werden , I shall go to the village.

DhimU

Das Dhimäl zeigt wesentlich den selben sprachcharacter wie das Bodo. Die gedrängte darlegung des selben genügt auch hier als be- antwortung der uns beschäftigenden frage.

Nomen. Z. b. wäval a man; wäval ho of a man; wäval öng to a man; wäval dosa with a man u. s. f. Plural: wäval galai men; wäval galai ko9 väval galai eng u. s. f.

Pronomina. I. sing, I, aber häng ho of me; hang dosa wilh me, heng (warschein lieh aufs *ka eng zusammen gezogen) to me, me u. s. f.; I. Plur. kyel we; aber hing ho of us; hing äng to us; hing dosa with us.

II. sing, thou; aber genit. nang ho; dat. und accus, ning (wol auch hier, wie bei I, aufs *nä öng) u. s. f.; II. plur. nyel; genit. ning ho; dat. accus, ning eng u. s. f.

III. sing, he, she, it; genit. ö-hö, wäng-hö; dat. acc. weng (wol wie bei I. und II. zu erklären); instrum. (od. comitativ) wang dosa u. s. f ;

III. plur. übal they, übal ho, übal eng u. s. f.

Verbum (so genantes). Hier spilen die 'auxiliaries' eine rolle , de- ren es merere gibt (hhi, nhi, hi, äng); sie treten zu andern wurzeln hin- zu, um das tempus an zu deuten (vgl. die Bäntuspracheo Africas, z. b.

584 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [M

das praesens des Zulu). Das pronomen steht in den I. und II. personen zwei mal , in den III. nur ein mal. Z. b.

Singular. I. kd hade (gehen) khi (auxiliare) -kä I go

II. hade khi-nd thou goest

III. wd hade khi he goes.

Plural.

I. kyel liade khi kycl vve go

II. nyel hade khi nyel ye go III. übal hade khi they go.

Eben so kd hade hi-kd I went; kd hade dng kd I will go u. s. f. ; hade II. imper. go!

Auch hier ergeben die sprachproben , dafs das pronomen keines- weges an die das verbum vertretenden wurzeln und stamme gebunden ist, auch braucht es nicht stäts in den I. und II. personen doppelt zu stehen, z. b. (s. 1 28) : kd derata hade -dng I to-the-village shall-go.

Tibetisch.

Im Tibetischen gibt es ebenfals keine personalendungen ; nomi- nalformen und verbalformen sind hier nicht geschiden. ]. J. Schmidt (Grammatik der Tibetischen Sprache, St. Petersburg 1 839, § \ 1 5) sagt : ' In keinem Tempus eines Yerbi gibt es eine Endung oder sonst ein Zeichen, das auf den Unterschied der Personen hindeutete; diese müfsen aus dem vorhergehenden Nomen, Pronomen oder aus dem Zusammenhange überhaupt erkannt werden. Das Tibetische Ver- bum und dessen Gonjugation basirt sich übrigens auf eine Anzahl un- persönlicher und daher unbestimmter Ausdrücke und Redeformen, welche durch die Participia Praesentis, Praeteriti und Futuri gebildet werden .

Kassia.

Im Kassia (H. C. von der Gabelentz, Grammatik und Wörterbuch der Kassia - Sprache , Leipzig 4 858, aus den Berichten über die Ver- handlungen der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften) scheidet nur der vor das nomen tretende artikel dises vom verbum. Lezteres ist durch das vor gesezte pronomen und andere elemente kent- lich. Der imperativ enträt des pronomens, z. b. shim, bdm nemet, efset ; dise formen können auch iufinitive sein. Der stamm selbst , oder vilmer

&Q] Nomen und Verb gm in der lautlichen Form. 585

die einzelnen wurzeln, die hier, wie im Chinesischen, durchaufs unver- änderlich sind , kennen eben so wenig unterschide in der form , wie im Chinesischen; z. b. mon wollen, wille; lih weife, weifs sein. Nur durch andere, ebenfals selbständige wurzeln (worte) wird eine nähere bestim- mung der beziehung ermöglicht. Indes ist nicht in abrede zu stellen, dafs auf disem wege im Kassia, bis auf wenige bestirnte falle, eine Schei- dung der als nomina fungierenden wurzeln von den als verba gelten- den vorhanden ist. Nur ist natürlich dise scheidung nicht , wie im In- dogermanischen, mittels wirklicher Wortbildung erreicht, da es eine solche in sprachen dises baues überhaupt nicht gibt.

Chinesisch.

Das Chinesische besteht bekantlich aufs lauter unveränderlichen wurzeln , die als worte jeder art fungieren. Stellung u. s. w. leren , ob wir eine wurzel mittels eines verbums, eines nomens oder eines adver- biums in unseren sprachen wider zu geben haben.

Annamitisch, Siamesisch, Barmanisch.

Vom Annamitischen und Siamesischen, die villeicht mit dem Chinesischen stamverwant sind , gilt das selbe wie vom Chinesi- schen , so weit ich mich diser sprachen von früheren Studien her erin- nere ; gegenwärtig sind mir keine hilfsmittel für die selben zur hand. Vgl. Schott (chinesische Sprachlehre, Berlin 1S57, s. 1): 'Die sprachen von Annam (An-nan) und Siam könnten ihrem character nach wahre Schwestern des Chinesischen sein. Übrigens ist nach Schott das Anna- mitische dem Chinesischen slamfremd (Schott, zur Beurtheilung der an- namitischen Schrift und Sprache; Abhandl. der Königl. Akad. der Wis- sensch. zu Berlin, 1855, II, s. 4 46: 'aber bald überzeugen wir uns von der Unmöglichkeit, eine nähere oder auch nur entferntere verwantschaft beider sprachen [des Annamitischen und des Chinesischen] nachzuwei- sen)'. Auch im Barmanischen findet keine bezeichnung der person beim so genanten verbum statt.*) Vgl. jedoch die Zusammenstellung

*) Durch die gute meines gelerten freundes Prof. Dr. Rost in Canterbury lernte ich Donner Augustus Chase Anglo-Burmese Hand-book or a guide to a practical know- ledge of the Burmese Language, Maulmain 4 862, klein 4°, kennen. Die in merfacher beziehung merkwürdige Barmanische spräche hat, wie das Chinesische, die morpho-

*

586 Aug. Schleicher, die Unterschbiouhg v. Nomen o. Verbum etc. [90

chinesischer, barmariischer, siamesischer und tibetischer worte bei Max Müller, Classification of the Turanian laoguages. p. 434 flg.; über die verwantschaft von Barmanisch und Tibetisch s. Schiefher, tibetische Studien, St. Petersburg 1851, s. SO.

Namaqua. Im Namaqua. einem dialecte des Hottentottischen, dessen kentnis Wallmanns Formenlehre der Namaquasprache, Berlin 1857, er- möglicht hat, gibt es keine conjugation. Entweder bleibt die wurzel ganz unverändert und die person völlig unbezeichnet , oder sie nimt ein Personals uffix an, gerade so, wie difs bei den die andern redeteile er- setzenden wurzeln und Wurzelverbindungen auch geschiht; z. b. ti-ta (ego) ma (dare) ich gebe, oder auch, in gleicher function, ma-ta, das also völlig so gebildet ist, wie jenes ti-ta. Das eine übersetzen wir als verbum (do), das andere als nomen (ego). Ein gegensatz von nomen und verbum findet also nicht statt.*)

logischen formen Ä (auch A+Jt), Ä+r (ser hüufig) und r-t-R (a und la, verscbidener function, treten nicht selten vor die bauptwurael, dosgleichen die negation ma). Auch im Bannaniseben finden sieb ansalze zur ilexion (Chase § 65, s. 39), indem in- transitiv* durch aspiration des an lautenden consonanten zu transitiven werden z. b tut lobe free, aber Mut to release ; tiot to be torn, aber kuot to lear, rend. Auch fin- det sich zusammenziehung zweier Elemente in eines, z. b. 70, s. *3) 'leim IV be- zeichnet den tight aocenl] future affix ; from lay an euphonic and an [n bezeichnet ein anfo lautendes m; § 9, s. 6] ; hkyay, combined witb an becomes AAyeAn' 90, s. Sil. *; Leider feien für die, nach allem was darüber bekant ward, nicht nur in pho- netischer Beziehung höchst interessante Sprache der so genanten Bosjesiaans oder

Alphabetisches Register

der in der vorstehenden abbandlung in betracht gezogenen sprachen.

Abcbasiscb 555

Aegyplisch s. Koptisch. Africanische sprachen, s. Südafri-

caniscb, Bantusprachcn, Koptisch

und Namaqua.

Americanische sprachen 661

Annamitisch 585

Annalom SSI

Arabisch s. Semitisch.

Awarisch 653

Bäntusprachen 668

Barmanisch S86

Baskisch 561

Bauro 681

Bodo 582

Burjatisch 545

Chinesisch 685

Cree 561

Dakota 566

Dbiraäl 583

Drawidisch s. Tamuiisch.

Duauru 581

Brromango 681

Formosa {Farorlang) 675

Fidschi 680

Finnisch 519

Georgisch 656

Jakutisch 540

Jenisseiiscb (Jenissei-Osljakiscb) . 650

Kassia ,184

Koptisch 510

Magyarisch 515

Haiayisch $71

Mandschu 547

Maori, s. Neuseeländisch.

Nelanesiscbe sprachen 579

Uexicanisch 568

Mongolisch, s. Burjatisch.

Namaqua 586

Neu-Caledooia, s. Duauru.

Neu Heb rid en 58 t

Neuseeländisch 576

Ostjakisch 53i

Salomonsinseln, s. Bauro.

Samojedisch 636

Semitisch 514

Siamesisch sgs

Südafrikanisch 568

Südseesprachen 67t

Taoa 581

Tamuiisch 548

Thusch 551

Tibetisch 584

Tscherokesisch 563

Tschetschenisch S61

Tungusisch 544

Türkisch, s. Jakutisch.

Cdisch 554

Yoruba 51t

Zulu 569

ÜBER

DIE LADE DES KYPSELOS

VON

J. OVERBECK.

WW^^^^VWN*W^%'-

MIT EINER TAFEL.

Abhanill. d. K. S. GetelUch. d. WiMeiuch. X. 40

1.

Litterarische Uebersicht.

Seitdem im Jahre 1770 Heyne als der Erste die Lade des Kypselos oder vielmehr ihre Beschreibung bei Pausanias einer ausführlicheren Untersuchung unterworfen hatte ') t ist dieses interessante und kunstge- schichtlich in hohem Grade wichtige Kunstwerk nie wieder ganz vom Schauplatze der gelehrten Forschung und Erörterung verschwunden, vielmehr hat sich eine Anzahl der tüchtigsten und gediegensten Vertreter der archaeologischen Wissenschaft mehr oder weniger eindringlich mit demselben beschäftigt, und die Lösung des Problems, wie die zahlreichen Figuren, mit denen nach Pausanias' Beschreibung die Lade geschmückt war, anzuordnen oder angeordnet gewesen zu denken seien, in der einen oder der anderen Weise versucht. Allerdings datirt die nächst der Heyne'schen älteste Arbeit über die Kypseloslade , diejenige von Seb. Giampi2) um ganze 44 Jahre später, aus dem Jahre 1814, da aber

1 ) Ueber den Kasten des Cypselus ein altes Kunstwerk zu Olympia mit erhobenen Figuren, nach dem Pausanias. Eine Vorlesung in der kön. deutschen Gesellschaft zu Göttingen d. 24. Febr. 4770. Heynes Bezugnahme auf » Andere a nach denen die 3. X^Qa des Pausanias als die Hinterseite zu betrachten wäre, während sie Heyne selbst als den Deckel fasst , kann sich nur auf die älteren Herausgeber beziehen , von denen z. B. Sylburg die 3. X<*>Qa aJs arcae tergum erklärt, während Ciavier die fünfte als le dessus du coffre übersetzt. Winckelmann hat die Kypseloslade nur einige Male (Versuch e. Allegorie §. 27 u. 41 , G. d. K. 9. 1. 4.) angeführt ohne auf die Ge- sammtheit der Figuren , mit denen sie verziert war , einzugehn , vielmehr nur Einzel- nes gelegentlich anführend.

2) Descrizione della cassa di Cipselo tradolla dal Greco di Pausania, Pisa 1814.

40*

592 J. OVBRBECK, [4

Heynes Aufsatz auch mittlerweile nicht unbeachtet geblieben ist, und bei den spateren Bearbeitern fast immer berücksichtigt wird , so darf man trotz dieser Pause von einer Gontinuität der Bearbeitung des Problems der Kypseloslade reden. Ein Jahr nach Ciampis Descrizione erschien die Bearbeitung der Lade des Kypselos in Quatremere de Quincy: Le Jupiter Olympien, Par. 1815 S. 124 ff., an welche sich drei Jahre später die wichtigste unter den älteren Arbeiten, die von Welcker3) anschloss, zunächst Bericht erstattend über Quatremere de Quincy und diesen be- richtigend , dann aber, namentlich an der zweiten der genannten Stellen selbständig und tiefer als Heyne und der Franzose in die Compositions- principien der Figurengruppen eindringend. Demnächst sind die mehr vereinzelten Bemerkungen von Sie-belis4) und Thiersch5) anzuführen sowie die ziemlich oberflächliche Behandlung von H. Meyer6), der im Wesentlichen nur Heynes Resultate wiedergiebt. Selbständiger fasste das Problem 0. Müller7), von dem der von Anderen hier und da wiederholte, mehrfach aber bestrittene Gedanke ausging, die Lade sei von elliptischer Form gewesen. Ueber die Inschriften sprach sich in seinem 1 831 von 0. Müller herausgegebenen archaeologischen Nachlass S. 158 Völkel kurz aber richtig aus. Nächst dem Welcker'schen Auf- satze gebührt der Ehrenplatz einer Arbeit von 0. Jahn aus dem Jahre 18458), welche von um so grösserer Bedeutung ist, als sie ein von dem in den bisher genannten Arbeiten ganz abweichendes Herstellungsprincip freilich nicht zuerst aufstellte , denn dieses Verdienst gebührt Visconti 9) und nach ihm 0. Müller10), der Visconti nicht erwähnt, also wohl selb- ständig zu demselben Resultat gelangt zu sein scheint, wohl aber zuerst

Ich kenne diese Arbeit nicht selbst, doch scheint sie nach dem Urteil Welckers, Zeitschr. f. Gesch. u. Ausl. d. alten Kunst S. 279 ganz unbedeutend zu sein.

3) In der genannten Zeitschrift für Geschichte und Auslegung der alten Kunst 4818 S. 270 ff. u. S. 536 ff.

4) In Böttigers Amalthea 1822 2. S. 257 ff., vgl. dens. zu Pausan. 5. 47. 4. Bd. 2. S. 246 seiner Ausgabe.

5) Epochen d. bild. Kunst 4 829 S. 4 69 f. Noten.

6) Gesch. d. bild. Künste b. d. Griechen 4824 S. 45 f. mit Note 20, 2. S. 46ff.

7) Wiener Jahrbücher d. Litleratur 4 827, 38. S. 26 4, vgl. desseu Handb. d. Archaeol. §. 57. 2.

8) Archaeologische Aufsätze S. 3 ff.

9) Museo Pio-Clementino vol. 4. zu tav. 34. p. 65. Note b. 10) Wiener Jahrbb. a. a. 0. S. 264.

5] Über i>ib Lade des Kypselos. 593

durchzuführen bestrebt war, und damit den Reigen der neueren Be- strebungen für die Restauration der Kypseloslade eröffnet. Demselben Jahre wie der Jahn'sche Aufsatz gehört ein solcher von Bergk11), der aber, später als jener geschrieben, auf denselben hauptsächlich Rücksicht nimmt12), jedoch besonders durch das Bestreben, eine mehr ideelle und gegenständliche als räumliche und künstlerische Entsprechung unter den dargestellten Scenen nachzuweisen, eigentümlich ist. Der Erste da- gegen, welcher auf den räumlichen und künstlerischen Parallelismus in der Composition der Darstellungen auf der Kypseloslade principiell und tiefer einging, war Brunn13), dessen Aufsatz zwei Jahre nach dem- jenigen Bergks (1 847) erschien. Nachdem ferner Jahn in der Archaeolo- gischen Zeitung v. 1850, Mai, S. 191 f. einige kurze Bemerkungen über die Chronologie und die Gesammtgestalt der Lade mitgetheilt hatte, er- hob Ruhl in der Zeitschrift für die Altertumswissenschaft desselben Jahres Heft 4, Nr. 39 S. 305 ff. eine Opposition gegen die von Jahn zu- erst begründete, von andereD Archaeologen gebilligte Anordnungsweise, indem er im Wesentlichen zu der älteren von Heyne und Welcker ver- tretenen zurückkehrte. Nachdem sodann wiederum zwei Jahre später Prell er in der Archaeologischen Zeitung v. 1854 S. 292 ff. besonders über die Chronologie des Kunstwerkes gehandelt hatte, trat 1857 in seiner Uebersetzung des Pausanias Bd. 1 S. 389 Schubart als Ruhls philologischer Secundant auf, während ein Jahr später Jahn in den Be- richten der königl. sächsischen Gesellschaft d. Wissenschaften v. 1858 S. 99 ff. sein Anordnungsprincip gegen Ruhl vertheidigte, worauf Ruhl in der Archaeologischen Zeitung v. 1860 S. 27 ff. entgegnete und auch Schubart in den N. Jahrbüchern für Philol. u. Pädag. v. 1861 Heft 5 S. 301 ff. vom rein philologischen Standpunkte aus sein früher kurz ab- gegebenes Votum näher begründete. Im Vorbeigehen darf ich dann wohl auch meiner eigenen im Jahre 1 857 publicirten Bemerkungen u) gedenken, weil auf sie namentlich Mercklin Rücksicht genommen hat, welcher in der Archaeologischen Zeitung v. 1860 S. 101 ff. besonders

11) Archaeologiscbe Zeitung v. 1845 S. 150 ff.

12) Wie ebenfalls eine ausführliche Anzeige der Jahn'schen AufsStze von Bergk in der Hall. Allg. Litt. Zeitung v. 1847. Nr. 284 ff.

13) Ueber den Parallel ismus in der Composition altgriechischer Kunstwerke, im N. Rhein. Museum 5 (1847) S. 321 und S. 335 ff.

14) Geschichte d. g riech. Plastik I. S. 70 f.

594 J. Oveubkck, r»l

die Inschriften der Kypseloslade näher prüfte, und durch deren Anord- nung die Richtigkeit der von mir gegebenen Anordnung der Scenen in den einzelnen Feldern zu erhärten suchte.

Seit der Zeit oder seit der Publication von Ruhls Duplik gegen Jahn und Schubarts reinphilologischer Revision der Frage hat nun die Sache geruht. Und das ist ziemlich natürlich. Denn es ist in der That von der einen und von der anderen Seite so ziemlich Alles gesagt, was zu sagen war ; sämmtliche Archaeologen , welche sich über das Problem ausge- sprochen haben sind in der Hauptsache einig und durch des Künstlers (Ruhl) und des Philologen (Schubart) Einwendungen in ihrer Ansicht un- erschüttert , während es ihnen nicht gelungen ist , auch die Gegner von deren Richtigkeit zu überzeugen.

Das wird auch wenigstens bei dem Einen derselben, dem Künstler, durch Worte kaum zu erwirken sein, wie er selbst 15) ausgesprochen hat, er werde nur durch eine gelungene gezeichnete Lösung des Problems sich von der Richtigkeit der Ansichten der Archaeologen überzeugen lassen. Uebereinstimmung über das hier vorliegende Problem in weiteren Kreisen als denen , in welchen sie bereits herrscht , herzustellen , giebt es soviel ich sehe nur einen Weg , denjenigen des Versuchs der von Ruhl gefor- derten graphischen Reconstruction , des so zu sagen thatsächlichen Be- weises der Möglichkeit und Richtigkeit des einen oder des anderen Prin- cips der Anordnung der von Pausanias aufgezählten Gruppen und Figuren. Eine solche graphische Reconstruction der Kypseloslade hat, wie er selbst mehrmals ausgesprochen, Ruhl gemacht , und es wäre gewiss nur in hohem Grade wttnschenswerth , dass er sie auch veröffentlicht hätte oder dass er dies noch jetzt thun möchte. Da dies aber bisher nicht ge- schehen ist, und so lange bis es geschehen sein wird, bleibt denen, welche von der Unrichtigkeit der Ruhr sehen Anordnungsprincipien , da- gegen von der Richtigkeit der zuerst von Jahn durchgeführten überzeugt sind, wenn sie überhaupt noch Etwas in der Sache thun wollen, Nichts übrig, als den Versuch zu wagen, ihrerseits den thatsächlichen Beweis anzutreten. Dass ich dies unternehme hat seinen individuellen Grund darin, dass sich mir ein hiesiger junger Künstler, welcher sich in meinen Vorlesungen über griech. Kunstgeschichte von der Richtigkeit meiner Principien der Restauration überzeugte, freiwillig zu der Anfertigung

15) Zeitschrift für d. Alterth. Wiss. a. a. 0. S. 307.

7] Über die Lade des Kypselos. 595

einer Zeichnung nach eben diesen Principien erbot. Freilich ist derselbe durch andere Arbeiten verhindert worden , sein Vorhaben auszuführen ; ich aber, der ich in der Herbeischaffung von Parallelmonumenten und Unterlagen der Zeichnung eine Menge Vorarbeiten gehabt und bei dieser Gelegenheit die ganze Frage im Einzelnen nochmals durchgeprüft hatte, konnte und mochte diese erneute Anregung nicht in Nichts verlaufen lassen . und habe es deshalb gewagt , mit Hilfe eines anderen Zeichners die Arbeit zu vollenden. Indem dieser nun in die eigentlichen wissen- schaftlichen Seiten des Problems nicht eingeweiht war, wie jener, ent- ging mir freilich der grosse Vortheil eines selbständig künstlerischen Bei- raths , den ich mehr als ein Mal schmerzlich entbehrt habe , und dessen Mangel sich auch mir an mehr als einer Stelle der Arbeit fühlbar genug macht. Mein Zeichner hat mir eine fast nur mechanische Beihilfe ge- wahren können , und ich war für alles Weitere auf mich allein ange- wiesen. Ich bin daher vollkommen überzeugt, dass sich die Aufgabe in höherem Sinne künstlerisch würde lösen lassen ; vielleicht aber hat meine Lösung eben deswegen den Vorzug einer specifischen archaeologischen und nebenbei den anderen , die Richtigkeit der Principien der Lösung um so nachdrücklicher zu erweisen, weil nach denselben ein blosser Archaeolog unter der nur mechanischen Assistenz eines wissenschaftlich nicht eingeweihten und interessirten Zeichners, die Restauration auch graphisch vollenden konnte. Ob dies nun freilich, und wäre es auch nur der Hauptsache nach, gelungen ist, darüber haben Andere zu entscheiden. Ich aber habe geglaubt, meine Tafel nicht an und für sich oder nur mit den nothwendigsten Bemerkungen begleitet herausgeben zu dürfen, sondern diese Gelegenheit ergreifen zu sollen , um das ganze Problem der Kypseloslade und alle Fragen, welche sich an dieses Kunstwerk knüpfen, einer einganglichen Revision zu unterwerfen.

2. Geschiolite der bisherigen Herstellungsversuche.

Ueber die Ungenauigkeit und Unbestimmtheit der räumlichen An- gaben und Bezeichnungen des Pausanias bei seinen Beschreibungen umfang- und figurenreicher Kunstwerke ist schon oft nur zu sehr be- rechtigte Klage geführt worden, so z. B. mit allem Nachdruck von Wel-

596 J. Ovehbeck, [8

cker in seiner grundlegenden Arbeit über die polygnotischen Gemälde in der Lesche von Delphi16), deren Reconstruction durch eben jenen Mangel in Pausanias' Beschreibung so unendlich erschwert, und nur durch eine freiere, auf Erwägung aller Umstände und Möglichkeiten so wie der künstlerischen Füglichkeit gestützte Interpretation der Angaben des Periegeten über die räumliche Vertheilung und Anordnung der Fi- guren und Gruppen, wie sie eben Welcker, im Ganzen gewiss zu allge- meiner Ueberzeugung geübt und durchgeführt hat, möglich geworden ist. Aber kaum bei einem einzigen der von Pausanias beschriebenen Kunstwerke, die Leschengemälde und den Thron in Amyklae kaum aus- genommen , ist diese Klage berechtigter , als bei der Lade des Kypselos. Denn nicht allein, dass Pausanias in seiner, drei Capitel seines fünften Buches füllenden und in der Hauptsache gewiss als genau und vollstän- dig anzuerkennenden Beschreibung keinerlei Angabe über die Grösse der Lade und der dieselbe schmückenden Figurengruppen , wenigstens keine directe und ausdrückliche macht 17) , wodurch uns viel Rathen und Streiten erspart worden wäre, schlimmer noch als dies ist es, dass er sich zur Bezeichnung der figurengeschmückten Stellen an der Lade fast wie geflissentlich eines Ausdrucks , des Wortes %to$a bedient , den er im ganzen hier verwendbaren Worlvorrathe der griechischen Sprache kaum unbestimmter hätte wählen können. Es folgt daraus für uns die Pflicht, bei der weiteren Behandlung des Problems im Deutschen einen ähnlich neutralen Ausdruck zur Wiedergabe von x°>qcc zu wählen , als welchen sich » Feld « schon deswegen am meisten empfiehlt, weil dies Wort, wel- ches in der That über die Stellen an der Lade, wo die „Felder41 zu suchen sind, Nichts aussagt, nicht allein von 0. Jahn "*), sondern auch von Schubart in seiner Uebersetzung des Pausanias gebraucht wird, also von dem Philologen, welcher gegen die archaeologische Restauration der Lade Opposition macht. Für die Geschichte der Reconstruction der Kypselos- lade aber, dass ich mich kurz so ausdrücke, hat die Unbestimmtheit des von Pausanias gebrauchten Ausdruckes x™Qa die Folge gehabt, dass sich über die Frage, was unter xtoqa zu verstehen sei, und wo man an der

46) Abhandlungen der berliner Akademie v. Jahre 1848. S. 13 f. des Eiuzel- abdrucks.

* 17) Möglich, dass dergleichen in dem lückenhaften Anfange stand, wie Schubart a. a. 0. S. 304. Note t annahm, aber behaupten möchte ictTdas nicht.

4 8) Archaeolog. AuXsfttze a. a. 0.

9] Über die Lade des Kypselos. 597

Lade die fünf x^9al des Periegeten zu suchen habe, zwei einander entgegenstehende Ansichten ausgebildet haben , auf deren Durchführung die beiden streitenden Grundprincipien der Anordnung der Figuren beruhen.

Wenn man von einem Kasten, einer Kiste oder Lade liest, und nur mit einem dieser drei Worte lassen sich die beiden Ausdrucke , welche unsere antiken Zeugen "von dem Monumente gebrauchen, Xaqvat bei Pausanias, xißiorog bei Dio Chrysost. orat. 11. p. 1G3 übersetzen, so ist es ohne Frage am natürlichsten und am nächsten liegend , dabei an ein irgendwie gestaltetes, d. h. sei es mehr oblonges, sei es mehr kubi- sches, und wiederum gradwandiges oder schräg wandiges , aber immer vierseitiges Geräth zu denken , und wenn man ferner von fünf Feldern an diesem Geräthe liest, welche mit zahlreichen Figuren in Relief be- deckt und geschmückt waren., so liegt ebenso wieder am nächsten, dabei zuerst an die vier Seiten und den Deckel der Kiste oder Lade zu denken.

Das ist denn auch von Heyne bis auf Visconti, Müller und Jahn ge- schehen, und das geschieht noch heutigen Tages von Schubart und namentlich von Ruhl, dessen ganze Opposition gegen die Archaeologen a\if dieser Vorstellung beruht.

Dem gegenüber sind nun zuerst von Visconti, dann von Müller und nach Jahns weiterem Vorgange von allen Archaeologen, die sich bis jetzt Über die Kypseloslade haben vernehmen lassen, mehr oder weniger aus- drücklich die xwqcu des Pausanias als fünf über einander liegende Felder oder Streifen betrachtet worden, welche die Wandungen des Kastens oder der Lade umgaben , während der Deckel dabei ganz ausser Frage bleibt, und als nicht, wenigstens mit keinen der von Pausanias angeführ- ten Gompositionen, geschmückt betrachtet wird.

Die eine und die andere dieser beiden Grundansichten tritt nun aber bei den einzelnen Bearbeitern in so mannigfachen Modificationen auf, dass es sich der Mühe verlohnt , dieselben in diesen Modificationen zusammenzustellen, wobei zugleich auf die verschiedenen Ansichten über die Grösse und Gestalt der Lade wie über die Vertheilungsart der Gompositionen auf deren Flächen oder Feldern berichterstattend einzu- gehen ist , also auf Fragen , welche demnächst kritisch zu erörtern sein werden.

Heyne a. a. 0. S. 10 meint, man könne sich von der Gestalt der Lade keine andere Vorstellung machen , als dass es eine längliche Kiste

598 J. 0 VERBECK, [10

oder Truhe, »etwa wie ein Sarg«, gewesen sein müsse, mit zwei schmalen , zwei langen Seiten und einer Oberfläche , welche den Deckel ausmachte, obgleich Pausanias einen solchen nicht ausdrücklich erwähne, sondern nur von fünf Seiten rede. Auf der Titelvignette seines Aufsatzes hat Heyne die Lade in der Gestalt, welche er hier angiebt, bemerkens- werther Weise auf einem ziemlich hohen Untersatze stehend , abbilden lassen. In Betreff der Grösse sagt er S. 1 1 , es sei kein Grund anzu- nehmen, dass die Lade von merklicher Grösse gewesen sei, und wenn man bedenke, dass die Figuren von Gold und Elfenbein waren, so könne man kaum voraussetzen, dass die Länge über vier Fuss betragen habe. Für die Breite der schmalen Seiten nimmt er die Hälfte an. Die Bild* werke auf der Lade denkt sich Heyne S. 1 2 f. auf die fünf Flächen (Wan- dungen und Deckel) so vertheilt , dass jede einzelne von Pausanias ge- nannte Gruppe (Scene , » Geschichte « sagt Heyne) ein eigenes Feld ein- genommen habe. Für die erste Seite berechnet er fünf Felder Schnitz- werk, für die zweite deren zwölf, desgleichen für die vierte, für die fünfte wieder fünf wie für die erste. Die dritte enthalte nur eine Vorstellung, aber eine weitläufige , eine Schlacht. Indem er nun die erste Fläche als die Schmalseite betrachtet, welche den in den Tempel Tretenden, man sieht nicht ein warum , » zuerst entgegenstiess « , findet er Nichts natür- licher als die Annahme die erste und fünfte Seite oder Fläche sei durch die Schmalseiten der Lade gebildet worden , die zweite und vierte seien als die Langseiten zu betrachten, während er die dritte Fläche, nicht ohne das Gezwungene und Willkürliche dieser Annahme gegenüber den Worten des Pausanias , der die fünfte Fläche als die oberste bezeichnet» zu fühlen , auf den Deckel des Kastens verlegt. Da er nun den Längs- seiten , welche 12» Felder « enthalten , 4 Fuss Länge gegeben hat , so berechnet er für jedes » Feld « vier Zoll Länge. Hieraus geht hervor, was Heyne nicht ausspricht , und was sich auch aus seiner Zeichnung nicht klar ersehen lässt, dass er sich die verschiedenen »Felder« neben einander gereiht, nicht in verschiedenen Streifen übereinander angebracht gedacht hat. lieber das von ihm angenommene Höhenmaass der Figuren ist nirgend eine Angabe zu finden und über den Umstand, dass diese Figurenhöhe bei 4 Zoll Grundlinie jedes » Feldes oder Sujets « nicht mehr als ein paar Zoll Höhe gehabt haben könne, dass sich folglich das ge- sammte Schnitzwerk wie ein schmales Reliefband um den Kasten ge- zogen haben müsste , scheint sich Heyne nicht Rechenschaft gegeben zu

11] Über dir Lade des Kypselos. 599

haben , wie denn sein ganzer Aufsatz in hohem Grade an dem Mangel einer künstlerischen ja nur räumlichen Anschauung leidet.

Dies Letztere kann man nicht im gleichen Maasse von der Recon- struction von Quatrem&re de Quincy sagen, dem Einzigen , beiläufig ge- sagt , von Allen , die sich mit dem Problem beschäftigt haben , welcher dessen Lösung überaus leicht gefunden und p. 131 ausgesprochen hat: » rien de plus facile que de suivre en dessin la döscription de Pausanias «. Seine Anschauung von der Gesammtform der Lade verdankt de Quincy einem Aufenthalt in Niedersachsen während der ersten französischen Revolution, er zeichnet sie dieser Anschauung gemäss in der Form jener grossen Koffer oder Kisten , in denen unsere Knechte und Mägde ihre Kleider und Wäsche aufbewahren , als einen oblongen Kasten mit flach- gewölbtem Deckel 19). Die x&QM des Pausanias sind auch ihm die vier Sei- ten und der Deckel der Lade, jedoch gilt ihm als die erste #co(>a die eine Langseite (düt 6tre le cot£ antörieur et principal) , für welche Annahme er » le nombre et l'£tendue des sujets « als Grund angiebt. Die zweite £co(>a ist ihm die links anliegende Schmalseite, die dritte die hintere Langseite, die vierte die zweite Schmalseite und die fünfte der Deckel. Als Maasse nimmt de Quincy p. 131 approximativ 6Fuss Länge zu 4Fuss Breite und gleicher Höhe an, den Figuren giebt er etwa einen Fuss Höhe. Um die- selben aber bei diesen Maassen auf die 4 resp. 6 Fuss langen Seiten der Lade anbringen zu können sieht er sich genöthigt , dieselben in dreien Streifen übereinander zu ordnen, welche er, übrigens sehr verständig, durch stehen gelassene Zwischenleisten von einander absondert. Den unter Bäumen gelagerten Dionysos der vierten x®(?a verlegt er in das Tympanon des Deckels über der vierten Seite , die Figuren der fünften XWQa in mehren Streifen auf die Fläche des Deckels selbst (planche 3).

Welcker, dessen Aufsatz durch eine Berichterstattung über das Werk des Quatremere de Quincy hervorgerufen wurde, stimmt (a. a.O. S. 537) mit diesem insofern überein, dass auch er als die erste x™Qa die »vordere« Längenseite, als die zweite die Querseite links, als die dritte die hintere Längenseite , als die vierte die zweite Querseite betrachtet, während er ebenfalls (S. 544) den Deckel als die fünfte x™Qa auf-

4 9) Thiersch a. a. 0. S. 4 68 nennt das eine barokke Meinung und betrachtet es als »ein merkwürdiges Beispiel von Abenteuerlichkeit der Vorstellungen, die durch kein gründliches Studium altertümlicher Dinge und durch kein unbefangenes Urteil im Zaume gehalten werden « .

600 J. OvERBKCK, [**

fasst20). Ueber die Grösse und Gesammtgestalt der Lade sagt er (S. 548}, die Nebenseiten dürften kaum mehr als die Hälfte der Längenseiten ge- habt haben , und danach würde auch die ganze Lade eine Gestalt ge- wonnen haben, wie ausgesucht um ein Kind hineinzulegen; „nach die- sem und keinem anderen Maassstabe möchte , wenn einmal vom Unge- wissen die Rede sein solle, auch die Grösse zu schätzen sein41, die Wel- cker demnach viel geringer nicht allein als Quatremere de Quincy, son- dern auch als Heyne annimmt. Was die Anordnung der Figuren auf diesen Flächen anlangt tritt er (S. 546) de Quincy s Zerstückelung der in einer #«(>« zusammen genannten in drei übereinander liegende Reihen oder Streifen mit sehr bestimmten Worten entgegen und fordert für die- selben eine ununterbrochene Folge. So richtig dies nun auch ist, und so gute Gründe Welcker dafür (a. a. 0. u. S. 549) entwickelt, wird man doch nicht umhin können von ihm zu sagen, was von Heyne gesagt werden musste, dass ihm die rechte räumliche Anschauung abging; denn ganz gewiss wird Jeder, der es versucht, es als bare Unmöglichkeit empfinden die Figuren einer x®Qa in fortlaufender Reihe anders als in einem schmalen Reliefbande auf je einer Seite der Lade anzubringen21); vollends dies Reliefband in gleicher Breite über die 4 Seiten fortzuführen und die in der 2. und 4. x*»Qa genannten Figuren auf den Schmalseiten des Kastens unterzubringen , dies kann durch kein Mittel der Abkürzung

20) Die Worte: »nur geht uq^u^vu) di uvaoxouetöx^at, xdroj&fv nicht auf die einzelnen Seiten oder Reihen der Figuren (wie b. Quatremere de Quincy), auch nicht, wie Heyne will auf die schmale Seite, die dem Eintretenden zuerst entgegen gestossen, sondern auf den Deckel, welcher auch hiernach zu schiiessen zuletzt beschrieben wirdtt, die wir b. Welcker S. 279 lesen, sind nicht, wie Siebeiis Amalth. a. a. 0. S. 264 meinte, ein Versehen, sondern nur ein leicht missverständlicber dunkler Aus- druck und sollen heissen: die Betrachtung beginnt unten, d. h. mit den Seiten des Kastens, folglich kommt der Deckel zuletzt.

2 1 ) Wenn die von Quatremere de Quincy auf 3 Streifen übereinander angebrach- ten Figuren in einer und derselben Reihe fortlaufen sollen , so ist nur folgende Alter- native möglich. Soll die Figurenhöhe dieselbe bleiben, so muss die Breite der Fläche, auf der sich die Figuren befinden , auf das Dreifache wachsen , soll dagegen die Breite der Fläche (Seite) des Kastens dieselbe bleiben , so müssen die Figuren entsprechend verkleinert werden. In meiner Restauration hat die unterste £ft>pa bei 4 Zoll hoben Figuren eine Länge von pp. 9 Fuss ; Quatremere de Quincy giebt der vordersten Seite des Kastens 6 Fuss, was bei continuirlicher Ausdehnung der %f*Qa eme Figurenhöhe von 2% Zoll geben würde, Welcker nimmt bedeutend geringere Dimensionen an, folglich würden nach seiner Ansicht die Figuren kaum 2 Zoll Hohe gehabt haben.

13] Über die Ladk des Kypselos. 601

und nur andeutenden Darstellung , wovon bei Welcker ziemlich viel die Rede ist, jemals gelingen. Es ist mathematisch unmöglich. In der Zu- weisung der %co{jai an die 4 Seiten und den Deckel stimmt Siebeiis a. a. 0. S. 261 vollkommen mit Welcker überein; zuletzt, meint S., kommt Pausanias zu dem Deckel, und da heisst es denn naiv genug: »davon ge- braucht er hier den Ausdruck ij ävtorarw %6()ay aber VI. 9. 3 das Wort tu ini{h][ia.<t So nahe war man der Entdeckung, dass die fünfte, oberste %wQa nicht der Deckel sein könne! In Betreff der Grösse stimmt S. S.257 mit Quatremere de Quincy gegen Heyne überein , indem er mehre litte- rarische Beispiele von grossen IdQvaxeg, unter anderen die jüdische Bundeslade anführt, die dritthalb Ellen Länge und 1l/2 Ellen Breite und Höhe gehabt habe.

H. Meyer (a. a. 0. Anm. S. 1 6) verlegt ganz wie Heyne die erste und fünfte £co(>a auf die Schmalseiten, die zweite und vierte auf die Langseiten und die dritte auf den Deckel, ohne dabei etwas Anderes zu bemerken als dies: ,,in Hinsicht auf Angabe der Darstellungen an den verschiedenen Seiten und auf dem Deckel des Kastens haben wir uns einige Freiheit in der Eintheilung erlaubt, wie sie der kunstgemässen Anordnung des Ganzen am besten zu entsprechen scheint'. Das ist doch nur ein sehr dünner Schleier, welcher über die zu Nichts führende Willkür ge- breitet ist.

Von dieser Zeit an verschwand die Vorstellung, die fünf %(oqou des Pausanias seien die Seiten und der Deckel der Lade gewesen , aus der gelehrten Discussion, bis Ruhl 1852 dieselbe wieder erweckte und neu zu begründen suchte. Freilich geschieht dies in einer Weise , welche eine genaue Berichterstattung über Ruhls Ansicht aus doppeltem Grunde sehr erschwert , und die Gefahr des Irrthums nur zu nahe legt. Denn einmal wendet sich Ruhl speciell gegen Jahns Reconstructionsversuche und seine Arbeit besteht der Hauptsache nach aus dem Bestreben , eben diese Reconstructionsversuche als räumlich unmögliche zu erweisen. Dabei bezieht sich Ruhl auf Jahns Arbeit in den Archaeolog. Aufsätzen, in welcher der Verf. sämmtliche Bildwerke in den fünf übereinander liegenden x&qai oder Zonen auf die Vorderfläche der Lade allein ver- legt hatte. Diese Ansicht hat nun Jahn in seinem späteren Aufsatz (in den Berichten der k. sächs. Ges. d. Wiss. v. 1 858) selbst dahin modifi- cirt, dass er auch die anliegenden Neben- oder Schmalseiten der Lade für das Bildwerk in Anspruch nimmt , und die Figuren jeder #©(>« oder

602 ' J. OVERBECK, ["

Zone auf diese drei Seiten vertheilt. Indem nun hierdurch die Länge der Vorderseite um den Betrag der Länge beider Nebenseiten an Ausdeh- nung verliert, können wir die Bemerkungen Ruhls gegen die früher von Jahn angenommene ungebührliche Ausdehnung der Vorderseite und gegen die Schmucklosigkeit der Nebenseiten als erledigt betrachten , so dass wir es nur mit den Bemerkungen zu thun haben, welche Ruhl gegen Jahns neue Position richtet. Aber auch diese Bemerkungen wer- den besser an einem anderen Orte , bei der Besprechung der Zonen- theorie zu berücksichtigen sein , hier kommt es hauptsächlich darauf an, Ruhls eigene Ansicht hervorzukehren. Das aber ist deswegen nicht leicht, weil der Verfasser dieselbe nirgend im Zusammenhange entwickelt oder präcis ausgesprochen hat , indem er vielmehr nur einzelne Andeu- tungen fallen lässt, und sich fortwährend auf seine Zeichnungen bezieht, die wir nicht kennen, auch selbst ausspricht, er könne seine Ansicht ohne Publication dieser Zeichnungen nicht beweisen. Um so erwünschter ist es unter diesen Umständen, dass wir durch Schubart T1) kurz und positiv über Ruhls Ansicht unterrichtet werden. Es müsste nämlich Alles täu- schen , wenn sich die Worte : » leider giebt uns Pausanias keine Andeu- tung über die Gestalt der Lade, wenn nicht in der Lücke davon die Rede gewesen ist; wir haben also die Wahl, ob wir einen »Schrank«23) an- nehmen wollen, an welchem auf Einer Fläche die fünf Felder überein- ander angebracht waren , oder einen Kasten, an welchem die Darstel- lungen auf den vier Seiten und dem Deckel vertheilt waren. Für beide Annahmen lassen sich Gründe aufstellen , »doch scheinen die für letztere überwiegend zu sein«, es müsste Alles täuschen, wenn sich diese Worte nicht auf Ruhls gezeichnete Reconstruction bezögen, deren Publication vorher als ein wahrer Gewinn der Arcbaeologie ge- priesen wird. Also die vier Seiten und den Deckel hätten wir wieder; aus den Bemerkungen in der Archaeol. Zeitung v. 1860 S. 30 aber geht hervor, dass Ruhl die erste %w^a als die vordere Langseite, die dritte als die Rückseite betrachtet; in einer Note zu S. 290 der Zeitschrift für d. Alterth. Wissens eh. v. 1 852 findet R. die von Siebeiis angenommenen

2S) Uebersetzung des Pausanias a. a. 0. vgl. N. Jahrbb. a. a. O. S. 308 Note 7.

23) Diesen Ausdruck hat Mercklin a. a. O. S. 106 Note 4 0 gebilligt, Schubart selbst aber nimmt ihn zurück und weist die Unthunlicbkeit der Annahme einer Schrank- form der Lade mit guten , aber freilich auf flacher Hand liegenden Gründen nach in Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 305.

45] Über die Lade des Eypselos. 603

Maasse (6' X 4' und Figurenhöhe zu \') »nicht unwahrscheinlich«, in der Arcbaeolog. Zeitung a. a. 0. S. 32 aber meint er die Dimension der Figuren sei nicht unter 5 Zoll herabzusetzen24), was ihm eine Länge der xmqa von 6' 2" ergiebt. An dieser Stelle aber erfahren wir das Wich- tigere und in der That Entscheidende, nämlich, dass Ruhl, wie dies Quatremere de Quincy gethan hatte , die Bildwerke einer und derselben X<opa in mehre übereinander liegende Felder vertheilt. Denn anders sind die Worte : »mit Polvdeukes und den Zuschauenden endet in meiner Zeichnung der unterste Streif« und: »mithin gehört Alles was Pausanias auf der ersten Seite zahlt, vom Gespanne des Pelops bis zu Phineus und den Boreaden auf die unterste Zone, die in meiner Zeichnung nur da- durch abgekürzt ist , weil die Wettkampfe für Pelias und was noch von Vorstellungen folgt, in die zweite Reihe (oder Streifen) aufgenom- men sind« nicht zu verstehen, so schwer es auch begreiflich sein mag, wie man in einem Athem sagen kann , Alles gehöre in die unterste Zone und diese werde dadurch abgekürzt , dass man die Hälfte in eine zweite Reihe aufnimmt25). Mindestens zwei Reihen, Streifen oder Zonen über einander also muss Ruhls gezeichnete Reconstruction haben , und somit stellt sich sein Reconstructionsprincip mit dem de Quincys in Reihe, und was von jenem, gilt auch von diesem. Wie aber Ruhl mit 2 Reihen von Figuren von 5" Höhe und den , auch von ihm verstandiger Weise ange- nommenen26) Zierleisten zwischen den Reihen die nöthige Höhe der Lade herausbekommt, das bleibt für die ein Räthsel, welche seine Zeich- nungen nicht gesehen haben. Ich brauche wohl kaum zu sagen , dass mir Nichts ferner liegt, als Ruhl mit diesen Bemerkungen zu nahe treten zu wollen , um so weniger , da er schreibend nicht mit den ihm natür- lichen Waffen kämpft ; ich weiss vollkommen zu würdigen, wie erwünscht der Archaeologie die so seltene Betheiligung von Künstlern an der Lösung

24) Vergl. Zeitschr. für d. Alt. Wiss. a. a. 0. S. 309.

15) Auch in der Zeitschr. f. d. A. W. a. a. 0. S. 307 heisst es: »was in die unterste Reihe (jpopa) gehört, davon kann Nichts abgebrochen oder in die folgende herübergenommen werden«, so dass man in der That zweifelhaft wird, was dem gegenüber die Worte » in die zweite Reihe (oder Streifen) aufgenommen sind « be- deuten sollen. Uebrigens darf hier nicht unbemerkt bleiben, dass R. an dieser Stelle die %MQai als »Reihen« behandelt (»die unterste Reihe, gui^a«) während er in der Arch. Ztg. die xmqm consequent durch »Seiton« übersetzt.

26) Ztschr. f. A. W. a.a.O. S. 309 »Zierleisten, welche sicher nicht fehlten«.

604 J. OVRRBECK, [16

ihrer Probleme ist27), allein ich habe die Erfahrung gemacht, wie schwer es uns Archaeologen ist, uns mit Künstlern durch Worte zu verständigen. Hier aber liegen nur solche vor und wir haben uns an dieselben zu halten.

Auf die Argumente des letzten Verfechters der Theorie der vier Seiten und des Deckels , auf diejenigen Schubarts wird besser an einem späteren Orte eingegangen werden, insofern dieselben wesentlich pole- misch gegen die verschiedenen Vertreter der Zonen- oder Streifentheorie gerichtet sind. Positiv vertritt Seh. (a. a. 0. S. 308 Note 7) die »mit ausgebildetem Kunstsinn und feinem Verständniss der Antike nach vielen Versuchen hergestellte « Restauration seines Freundes Ruhl , » die , her- ausgegeben, ein Prachtwerk sein würde«, die er uns aber leider weder in den angenommenen natürlichen Maassen , noch in Betreff der Anord- nung der Figuren näher beschreibt. Warum er das unterlässt ist schwer zu sagen, seine Bestreitung der Streifentheorie hatte dadurch nur an Nachdruck gewinnen können.

Wenden wir uns zu dieser, so ist, wie am Eingange gesagt worden, Visconti der Erste, welcher dieselbe, und zwar schon 1 778, 8 Jahre nach Heyne aufstellte , freilich nur in den kurzen Worten : »La famosa arca di Cipselo, monumento delle arti primitive, avea i suoi bassirilievi distribuili in cinque fasce. Paus. ELI. 19. / tradutlori non hanno cio ben compreso«, aus denen wir nicht entnehmen können, wie V. sich die Vertheilung des Bildwerks auf die Seiten der Lade dachte.

Auch 0. Müller (Wiener Jahrbb. a. a. 0.) spricht sich nur kurz, aber bestimmt aus, und zwar zunächst H. Meyer gegenüber, dessen Ver- fahren auch er als Willkür bezeichnet. Pausanias, behauptet Müller, rede »ganz deutlich« von fünf Streifen (xioquiq) übereinander, und seine Beschreibung gebe keinen Anlass , sich den Kasten viereckig vor- zustellen, vielmehr gehe daraus, dass keine Ecken und Seiten daran er- wähnt werden , die Wahrscheinlichkeit hervor , dass er von elliptischer oder ovaler Form gewesen sei.

Diesen letzteren Gedanken bestritt zuerst Thiersch a. a. 0. S. 1 68, der ihn »ganz müssig« nennt, demnächst 0. Jahn Arch. Aufs. S. 5, Gerhard in s. Etrusk. Spiegeln I. S. 69, de Witte, Ann. 19. S. 227; in neuerer Zeit scheint derselbe mit Recht so ziemlich aufgegeben worden zu sein2*).

37) Wie dies auch Jahn anerkennt und hervorhebt, Berichte der k. s. Ges. d. Wiss. a. a. 0. S. 99.

28) Es wiederholen ihn Hettner in s. Vorschule d. bild. Kunst b. d. Alten 1 848

*•■

*?] Über die Lade des Kvpselos. 605

Folgenreicher war, wie ebenfalls bereits bemerkt, die erste gründ- liche Durchführung der Streifentheorie bei Jahn in den Archaeol. Aufsätzen Pausanias, sagt Jahn, fängt seine Beschreibung mit den Worten an (5. 17. 4) äQJtafiivw de ävaon<m6$a%tou nuxTto&w roadde im rijg XaQvaxog 17 ttqcottj naqexerai £<»(><*, dann folgt die Erwähnung der zweiten, dritten, vierten Xwqccj und endlich heisst es (19. 2) 17 de dvwrdrco %d>Qa. Damit könne nichts Anderes gemeint sein, als dass diese fünf Fei de rüber ein ander be- findlich waren. Heynes Annahme, dass die vorderste und hinterste Fläche durch xdr(o&€v und avoardro) bezeichnet seien, sei sprachlich falsch, aber auch jene Deutung, welche ndroi&ev auf die Vorderseite des Untertheils und dvcordrco auf den Deckel beziehe , scheine ihm irrig, wenn sie die übrigen Flächen auf den Seiten des Untertheils des Kastens suche. Denn, wenn P. fünf Flächen anführe, bei der ersten bemerke, er fange von un- ten an, und bei der letzten anführe, es sei die oberste, so sei das Natur- gemässe, dass diese Felder eins über dem andern befindlich waren, wie dies auch Müller angenommen habe. Für die vierseitige Gestalt des Ka- stens und die Yertheilung des Bildwerks auf sei es nur die Vorderseite oder drei Seiten derselben, streitet Jahn (S. 5) mit dem aus dem wechseln- den rechts und links Herumgehn des Pausanias entnommenen Argumente. Die Bildwerke geben hiezu keinen Anlass, und blosse Laune sei auch nicht anzunehmen, das Verfahren aber das natürliche, wenn P. nicht rund um den Kasten ging, sondern nur an einem Theile desselben vorbei, wenn also der Kasten nicht ringsherum, sondern nur an der Vorderseite oder nur an drei Seiten mit Bildwerken verziert und mit der Rückseite an die Wand gestellt war. Als Analogien werden Sarkophage angezo- gen , welche theils auf der Vorderseite allein , theils auf drei Seiten mit Reliefen geschmückt sind. Einen bestimmten Grund, um zu entscheiden, ob das Eine oder das Andere bei der Kypseloslade der Fall war , giebt Jahn an, nicht aufzufinden; das Wort neyiodoe, dessen Pausanias sich bediene, könne man nicht geltend machen, da dasselbe nicht ein Rund- herumgehn, sondern wie neQirjyelo&ai und ähnliche Wörter eine genaue, schrittweise Beschreibung des Einzelnen bezeichne. In einer dann fol- genden Prüfung des Einzelnen der Beschreibung des Pausanias, der höchst dankenswerthe Nachweisungen von Parallelbildwerken in den

S. 4 34, Weiske, Prometheus u. sein Mytbenkreis S. 408. und noch Guhl und Koner, das Leben der Griechen u. Römer nach ant. Bildwerken dargestellt 4 860, 4. S. 4 45. Abhtndl. d. K. 8. GeMlUch. d. Wiiienich. X. 44

606 J. OvEHBECK, [18

Noten beigefügt sind, sucht Jahn darzuthun, dass die verschiedene Figu- renzahl der einzelnen xcopai, die Hauptstütze der Theorie der zwei langen und zwei kurzen Seiten des Kastens, durchaus der Vertheilung in fünf Strei- fen nicht entgegenstehe, indem die figurenreicheren Darstellungen sich als zusammengezogen, die weniger figurenreichen dagegen als weiter ausgeführt vollkommen denken lassen. Die in der That schlagende Ana- logie der Frangoisvase konnte Jahn damals noch nicht benutzen, hat dies aber mit desto grösserem Nachdruck in seinem späteren Aufsatz (4 858) gethan , worauf zurückzukommen sein wird. Vollkommene Zustimmung fand Jahn bei Bergk in der schon angeführten Recension der Archaeolog. Aufsätze in der hallischen Allg. Litteraturzeitung v. 1 847. No. 284 ff. Ruhl dagegen meinte (Zeitschr. fr. d. Alt. Wiss. 1 852. S. 307) die Ver- schiedenheit der Figurenzahl (er berechnet 42 für die 1 ., 32 für die 2., 36 [conjectural] für die 3., 36 für die 4. und i 9 für die 5. #©>(>«,) sei zu gross, um die Reliefe auf fünf gleich lange Streifen angebracht zu denken ; solche Ungleichheit verliere sich bei einer kritischen [philologischen] Beweis- führung zwischen den Zeilen und entschlüpfe hier leicht der Aufmerk- samkeit des Lesers, solle aber die Sache gezeichnet werden, so entstün- den bedeutende Schwierigkeiten, und dieser Widerspruch gegen das Gesetz der Compositum gebe einen positiven Beweis gegen die von Jahn vorgeschlagene Anordnung der Bilder29). Nicht eher werde er eine an- dere Ueberzeugung erlangen , als bis ihm die Anschauung einer wohl- gelungenen Verwirklichung dieser dem Bette des Prokrustes gleichenden Aufgabe zu Theil werde. So manche richtige Bemerkung nun das Folgende auch z. B. in Betreff der Bedingtheit der Höhe der Figuren durch die Breitenausdehnung, und umgekehrt, enthalt, können wir doch hier über die weiteren Bemerkungen Ruhls hinweggehn , weil sie , wie schon bemerkt, sich gegen die Annahme einer ausschliesslichen Oma- mentirung der Vorderseite richten , die neuestens von Jahn aufgegeben ist. Naiv klingt für uns, die wir R's Zeichnungen nicht kennen, die Be- merkung, er lege bei der Berechnung der Longe, die nach der Streifen- theorie die Larnax gehabt haben würde» »das Bestehende«, nämlich das Maass seiner Zeichnungen zum Grunde; dass er danach ein Monstrum

29) Der nun folgende angeblich analoge Fall der Aufgabe, fünf ganz verschieden lange Verse bei gleicher Buchstabendistanz auf fünf gleich lange Zeilen zu schreiben, der uns Buchstabenmenschen die Sache klar machen soll , ist so unglücklich ausge- dacht, dass man am besten davon schweigt.

* 9] Über die Lade des K ypselos. 607

von einer Larnax von 1 3' 7" respective 1 8' 7" Länge bei 2* 6" Höhe herausbringt, kann natürlich Niemanden anfechten.

Gehn wir deswegen ohne Weiteres auf die neuere Phase der Dis- cussion zwischen Jahn und Ruhl über. In seiner erneuten Behandlung des Problems (Berichte d. k. s. Ges. d. Wiss. 1858. S. 99—107) hebt Jahn , wie schon bemerkt , zunächst die Wahrscheinlichkeit hervor , dass die Figuren com positionen auf drei Seiten der Lade vertheilt gewesen seien, weist für die Form und Grösse der Larnax auf mehre Vasenbilder hin, welche Danae, Thoas, Tennes und Hemithea in Kasten stehend oder sitzend zeigen, und welche in den mythologischen Berichten als Xagraxtg bezeichnet werden, und verweist, was die Hauptsache ist, gegenüber der Behauptung Ruhls, dass sich die 42, 32, 36, 36 und 19 Figuren der fünf %toQui nicht in gleich lange Streifen einordnen lassen, auf die Analo- gie der Fran$oisvase 30). Auch die Fran^oisvase hat 5 Streifen von we- sentlich gleicher Länge und in diesen Figurencompositionen, bei denen die Verschiedenheit der Anzahl derjenigen auf der Kypseloslade so ziem- lich gleich komme, nämlich in der obersten Reihe 54 Figuren, in der 2. 23 F., in der 3. 48 F., in der 4. 30 F., in der 5. (Pygmaeen und Kra- niche am Fusse) 32 Figuren. Hieraus ergebe sich, wie misslich das blosse Abzählen von Figuren sei, besonders wenn Ansprüche an Anordnung und Darstellung hinzukommen, welche überhaupt den Werken der alte» sten Kunst gegenüber nicht zulässig seien. Das Räthsel löse sich einfach durch das naive Verfahren des alten Künstlers, hier auszudehnen , dort zusammenzuziehen, was dann im Einzelnen an der kalydonischen Eber- jagd und dem theseüfschen Reihentanz nebst dem Schiffe an der Fran^ois- vase , weiter an den verschiedenen , bald gedehnten , bald abbrevirten Kentaurendarstellungen auf alten Vasen, endlich an einer der ausgeführ- testen Scenen auf der Kypseloslade, dem Abschiede des Amphiaraos und ihrer Parallele in dem alten Vasenbilde bei Micali Storia delP Italia avanti il dominio dei Romani tav. 95 (s. m. Gall. heroischer Bildwerke Taf. 3. No. 5) nachgewiesen wird. Schliesslich wird auf die Art aufmerksam gemacht , wie die Accessorien , die Ruhl eine vermehrte Schwierigkeit zu machen schienen (Amphiaraos* Haus, der Tempel bei Idas und Mar- pessa u. a.), auf eben der Frangoisvase, obgleich sorgfältig im Einzelnen durchgeführt, wenig Raum einnehmend gebildet sind, wie namentlich die

30) Moo. d. Inst. 4. 64—58, Arcbaeol. Zeitung v. 4 850 (8) Taf. 23, 24.

41

608 J. OVERBECK, [20

Höbe des Streifens durch diese Dinge so wenig alterirt wird, wie durch die in der Wirklichkeit sehr verschiedene Höhe sitzender, stehender, reitender und auf Wagen fahrender Personen. Diese Gleichmässigkeit (Isokephalie , welche sich übrigens in den Friesen der besten Zeit, am Parthenon, am Tempel der Nike und in Phigalia wiederfindet) wird rich- tig aus dem überwiegend ornamentalen Charakter der Bildwerke abge- leitet, für welche, wiederum mit Recht, eine Höhe von 5" als völlig hin- reichend angesprochen wird, indem die Wirkung der Bildnerei doch gewiss darauf berechnet gewesen sei, dass der, welcher sich mit dem allgemeinen ornamentalen Charakter des Ganzen nicht beruhigte, auf- merksam das Einzelne in der Nähe betrachten sollte.

Ruhls Duplik in der Archaeolog. Zeitung von 1 860 S. 27 ff. behan- delt zunächst die Form und Grösse der Lade, sodann die Anordnung der Bildwerke. Was den ersteren Punkt anlangt, wird die Aufstellung mit der einen Langseite an der Wand, wodurch die Verzierung mit Schnitzwerk sich, was wenigstens den Körper der Lade anlangt, auf drei Seiten redu- ciren muss, als die für ein Hausgeräth unzweifelhaft entsprechendste an- erkannt. Allein R. ist im Zweifel, ob die von Pausanias gesehene und beschriebene Lade die echte d. h. das Erbstück der Labda war, in dem Kypselos gerettet worden sein soll, oder ein diese repräsentirendes Weih- geschenk des Kypselos, und ob sie deswegen im Tempel zu Olympia ebenso wie die alte Lade im Hause der Labda aufgestellt gedacht wer- den könne. Ruhl gesteht, dass man über diese Frage, auf welche wir zurückkommen werden, nicht entscheiden könne, neigt aber doch zu der zweiten Annahme und leitet aus derselben die weitere Vermuthung ab, die Lade sei bei ihrer veränderten Aufstellung im Tempel nachträglich auch an der Hinterseite verziert worden, und zwar mit der Schlacht (#«pa.3), die ihm unter den übrigen Bildwerken fremdartig scheint. Für die Form und Grösse der Xd$va£ acceptirt R. das von Jahn gegebene Beispiel derDanaelarnax31), deren Dimensionen er nach dem Maasse des daneben stehenden Mannes (Akrisios) zu Sf 8y2" Höhe auf 4' 4" Länge berechnet. Das gebe eine Deckelfläche von 24 DFuss 12 DZoll, d. h. eine Dimension, die ihm, besonders wenn man den meist beengten Raum des griechischen Wohnhauses bedenke, wenig wahrscheinlich vorkommt32).

34) Berliner Winkelmannsprogramm von 4 854 (von Gerhard). 32) Seltsam ist hierbei, dass die von Ruhl (s. oben S. 4 5) adoptirten Maasse, die Siebeiis verschlug, 6X4' genau ebenfalls S4 oFuss Deckelfläche abgeben.

24] Ubeb die Ladr des Etpselos. 609

Reducire man aber auch das Maass auf das Wahrscheinliche, so bliebe immer nicht annehmbar, dass ein sinnvoller Künstler die grosse und am meisten sichtbare Deckelfläche ohne nennenswerthe Verzierung gelassen habe, um alles Figurenornament auf die namentlich in ihren unteren Theilen schwerer sichtbaren Seitenflächen zu häufen. Was sodann die An- ordnung der Figuren betrifft, meint Ruh], Pausanias lasse freilich in Zweifel , wo er seine Beschreibung beginne , doch sei aus der Zählung der Vorstellungen der ersten »Seite« (d. h. xtoga) deutlich, dass P. die Vorderseite meint. Wenn Jahn nun annehme, dass das Bildwerk auf drei Seiten vertheilt gewesen, so lasse sich leicht nachweisen , dass die Rei- henfolge der Scenen dieser Eintheilung nicht entspreche. Hier könne er das freilich nicht (ohne Zeichnung), er wolle aber darauf hinweisen, dass Pausanias hervorhebe, es seien 5 »Seiten«. Wo man diese fünfte »Seite« suchen, ob etwa annehmen wolle, die letztbeschriebene »Seite« habe eine »Zone« mehr gehabt, als die andern? Da dies ein Unsinn ist, muss gleich hier bemerkt werden, dass Ruh! die von Jahn u. A. angenommene Anordnung wenigstens an dieser Stelle gar nicht aufgefasst hat, und dass er hier mit seinen Worten höchst inconsequent verfährt, indem er x®Qa bald mit »Seite«, bald mit »Zone« (»eine Zone mehr«) übersetzt. Nach der »Streifentheorie« sind die xtogai des Pausanias überhaupt nie die »Sei- ten« der Kiste, sondern fünf gleichartige, um drei Seiten des Kastens über einander herumlaufende Zonen. Da Ruhl dies an anderen Stellen seines Aufsatzes gefasst zu haben scheint, hätte er die oben erwähnte, Alles verwirrende Frage sich ersparen, und überhaupt nicht von »Seiten« (für X&Qai) sprechen sollen, ohne dabei festzuhalten, dass diese Seiten seiner, nicht unserer Theorie entsprechen. Und doch geschieht das mehrfach, sogleich im unmittelbaren Verfolg , wo behauptet wird , dass , wenn die Lade mit einer Seite an der Tempelwand gestanden hätte, Pausanias bei seiner Beschreibung nicht von einem Herumgehn sprechen konnte; ihm, Ruhl, sei eine solche Aufstellung wegen der Gebilde, mit denen die dritte »Seite« (d. h. x®(>a) verziert war, nicht wahrscheinlich. Hierbei hat er vergessen, dass uns die 3. xtyct nicht die hintere »Seite« ist, und dass man um einen Gegenstand an drei Seiten herumgehn kann, ohne rings um ihn herumzugehn, ja dass eben darauf auch unsere, von Jahn zuerst ausgesprochene , Rechtfertigung für das abwechselnde rechts und links »herumgehn« des Pausanias beruht, eines Umstandes, den R. überhaupt nicht erwähnt. Anlangend nun die von Jahn aufgestellte Analogie der

610 J. 0 VERBECK, [M

Frangoisvase stösst sich Ruhl zunächst an dem Stil, den er, augenschein- lich raissverständücb , wie das schon Gerhard in einer Note angedeutet hat, und eben so gewiss irrig, für »geflissentlich roh« hält. Ueberhaupt sei in solchen Producten manufacturartiger Praxis kein Vorbild für Kunst- arbeiten zu suchen, am wenigsten solcher, die einer ganz anderen Tech- nik angehören. Dies Letztere wendet R. dann in weiterer Ausführung gegen die Bemerkungen Jahns , die Frangoisvase zeige , wie eine solche naive Kunst nach Bedarf zusammenzurücken und auszudehnen und ver- schiedene Figurenzahlen auf denselben Raum in der Länge zu bringen verstehe. Das sei wohl Air den Maler, nicht aber für den Toreuten mög- lich, da jener Näheres und Ferneres auf ebener Fläche darstelle, im Re- lief aber jeder Figur ein gewisses Maass von Erhabenheit zukomme. Wolle ein Bildhauer sich vornehmen, fünf Läufer in perspectivischer Ansicht darzustellen, so würde er nothwendig jede dem Vordergrunde sich nä- hernde Figur im Vergleich zu der ferneren aus dem Grunde mehr her- vortreten lassen müssen. Dadurch erhielte die erste nun eine Körperlich- keit, welche das durchzuführende Prinzip des Basreliefe an dieser Stelle aufheben und den Künstler nöthigen würde, seine Gestalten bis zum Hochrelief zu steigern. Auf diesen Einwand wird weiterhin näher ein- zugehen sein mit specieller Rücksichtnahme auf die Ky pseloslade , hier kann ich nicht umhin gegenüber den ganz allgemeinen Behauptungen von Ruhl über das was im Relief möglich und nicht möglich sein soll, mein Erstaunen auszusprechen, dass der eifrige Mann z. B. den Par- thenonfries und die Art ganz vergessen konnte, wie in diesem die Auf- gabe, die bis zu zwölf Figuren perspectivisch vertieften Glieder der Rei- terei in Relief, Flachrelief darzustellen, gelöst ist.

Schliesslich glaube ich noch erwähnen zu müssen, dass Ruhl ange- sichts der Frangoisvase zuerst auf die einfachste aller Aushilfen zur Aus- gleichung der Differenz in der Figurenzahl bei gleicher Länge der Stand- linie aufmerksam gemacht hat, auf die ungleiche Höhe der Streifen näm- lich, deren auf der Frangoisvase der zweite um ein Vierttheil schmäler sei als der erste. Allein, fügt er hinzu, für die Ky pseloslade sei auf dies Auskunftsmittel von Haus aus zu verzichten, denn die Tektonik der Lade fordere fünf gleich breite um drei Seiten umlaufende Streifen denkt man, ei bewahre , sondern für alle »vier Seiten« eine Gleichheit der Einthei- lung, und diese nothwendige Symmetrie (gleich hober Seiten des Ka- stens) lasse sich nicht nach Bedürfhiss der vorkommenden Darstellungen

23] Über die Lade des Kypselos. 61 1

in der Weise , wie es die Ergotimosvase zeigt , abändern , wo von den umlaufenden Streifen der eine Figuren von grösserer, der andere von kleinerer Dimension enthalten könne. Da wir nach der Streifentheorie die %&qai nicht als »Seiten« fassen, die natürlich gleich hoch sein müs- sen, sondern als um drei Seiten »umlaufende Streifen«, so müsste uns die Einsicht in die Gründe, warum diese »umlaufenden Streifen« auf der Kypseloslade nicht von ungleicher Breite sein konnten, wie sie es an der Frangoisvase sind, höchlich interessiren. Vielleicht hat Ruhl solche Gründe in petto, ausgesprochen hat er sie nicht, vielmehr hier wiederum seine »Seiten« mit unseren »Streifen« zusammengewirrt. So sind wir denn in diesem Punkte abermals auf uns selbst angewiesen.

So weit ist nun also bis heute die Discussion zwischen der »Strei- fentheorie«, wie sie die Gegner nennen, und der »Seiten- und Deckel- theorie«, wie ich wohl zum Entgelt sagen darf, gediehen; auf die Argu- mente für die Streifentheorie, welche aus der Composition der Bildwerke sich ergeben und die Einwendungen der Gegner ist erst weiterhin ein- zugehn. Hier sei zunächst der Versuch gemacht durch wahrscheinliche Feststellung der Gestalt und Grösse der XaQvai festen Boden unter die Füsse zu bekommen.

3. Gestalt und Grösse der Lade.

Pausanias gebraucht von der Kypseloslade wiederholt das Wort XaQvai und Dio Chrysostomus (XI. 163) nennt sie Kißcorog. Ueber die Bedeutung beider Ausdrücke kann, wie schon bemerkt, im Allgemeinen kein Zweifel sein, am wenigsten nach den Erörterungen von Jahn33) und Schubart34). Die Worte Xdgva^ und xißcorog wie neben ihnen die epischen ;pfAöc und (pco^m/uog bezeichnen Kisten, Kasten, Truhen oder Laden aller Art, bestimmt zu verschiedenem Gebrauche und demgemäss auch von verschiedener Grösse, immer aber von viereckiger Gestalt35).

33) Arcbaeolog. Zeitung v. 4850S. * 92, Berichte der k. s. Ges. d.Wiss. a.a.O. S. 4 00.

34) Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 305 f.

35) Dies kann nur für xtßanog ganz im Allgemeinen dadurch zweifelhaft werden, dass Pausanias 4 0. 28. 3 angiebt, in dem Gemälde des Polygnot in Delphi habe die

612 J. 0 VERBECK, [24

So finden wir sie häufig in Vasengemälden dargestellt, bald klein, trag- bar, ja auf einer Hand getragen als Behälter für Schmucksachen, Speze- reien , Salbflaschen , bald grösser , so dass man sie als wesentlich zum Feststehen bestimmt betrachten muss, und sie als Sitze benutzt findet, endlich anwachsend zu solcher Ausdehnung, dass eine, ja dass zwei er- wachsene Personen darin geborgen oder hineingesperrt werden können. Die folgende kleine Auswahl , welche ich auch in Rücksicht auf die Art der Ornamentirung zusammengestellt habe , wird genügen um die An- schauung zu vermitteln.

1) Bei Guhl und Koner, das Leben der Griechen Fig. 194b; 2) da- selbst f ; 3) Millingen, Anc. uned. Monum. I. pl. 35 ; 4) Meine Gallerie he- roischer Bildwerke Taf. 12. No. 9; 5) daselbst Taf. 13. No. 1; 6) da- selbst Taf. 2. No. 11; 7) daselbst Taf. 12. No 8; 8) Guhl und Koner a. a. 0. a; 9) Thoaslarnax, Ann. d. Inst. 1847. tav. d'agg. M; 10)Da- naelarnax, berliner Winkelmannsprogramm von 1854; 11) Danaelarnax, Ann. e Mon. d. Inst. 1 856. tav. 8; 1 2) Tenneslarnax, Mus. Borbon. vol. 2. tav. 30.

In Betreff der Gestalt dieser Kisten und Kasten ist zu bemerken, dass sie sich in sofern ändert, als bei einigen Beispielen die Seitenwan- dungen schräge gestellt sind , so dass sich die Truhen nach oben erwei- tern , allerdings in verschiedenem Maasse (No. 9 1 2) , während bei an- deren die Wandungen lothrecht aufsteigen (No. 1 8); auch sind einige Exemplare mehr oblong (No. 5. 11. 12), andere dagegen von ganz oder nahezu quadratischer Grundfläche (No. 1 4, 6 10, 12), kein einziges aber ist so lang gestreckt, dass dadurch Heynes Vergleich »wie ein Sarg« oder Schubarts Aeusserung (a. a. 0. S. 305) die Kypseloslade habe etwa die Form eines Sarkophags gehabt, gerechtfertigt und eine so bedeu- tende Differenz in der Erstreckung der Längen- und der Nebenseiten be- gründet würde, wie sie bei dem modernen Sarge und dem antiken Sar- kophage stattfand. Alle diese Kasten und Laden haben einen flachen Deckel, der sich in Scharnieren bewegt und aufklappen lässt, und der in mehren Beispielen halb oder ganz offen dargestellt ist. Dass diese Beispiele unsere

Kleoboia auf den Knieen xißcorov, onolag noisTaftai vo/ii£ovoi Jr\\iT[tqi gehabt, insofern die mystische Kiste der Demeter von runder oder ovaler Gestalt zu sein pflegt. Für die von Pausanias als laqva% bezeichnete xißmzog des Kypselos aber bleibt dabei Alles beim Alten.

25] Ober die Lade des Kypselos. 613

Phantasie bei der Vorstellung der Kypseloslade zu leiten und zu bestim- men haben, wird Niemand bestreiten, und ebenso wird den Meisten wohl ohne weitere Auseinandersetzung einleuchten, dass die Gewinnung eines bestimmten Bildes von der Gesammtgestalt der Lade für die Anordnung der Bildwerke an derselben von Bedeutung, ja von ziemlich weit rei- chender Bedeutung sei. Allerdings giebt es kein Mittel, zu entscheiden, ob die Kypseloslade lothrecht aufsteigende oder schräge Wandungen ge- habt habe, es ist das aber auch von untergeordneter Wichtigkeit, da die Neigung der Seiten bei keinem der vorliegenden Beispiele so bedeutend ist, dass eine für eine gradwandige Kiste gemachte und als möglich er- wiesene Anordnung der Bildwerke hinfällig würde, wenn sich erweisen liesse, die Lade des Kypselos habe, wie etwa die des Thoas (Nr. 9) oder die der Danae (Nr. ! 0), schräge Wandungen gehabt.

Von ungleich grösserer, ja von in der That sehr grosser Bedeutung ist dagegen die Frage nach der muthmasslichen Grösse der Lade, und hier ist leider von vorn herein und unumwunden einzugestehn, dass wir zu einer festen Entscheidung zu gelangen die Mittel nicht besitzen, wie denn auch alle bisher aufgestellten Maassannahmen durchaus nur conjec- tural, respective willkürlich sind. Nur das Eine glaube ich sagen zu dür- fen, dass kein Grund vorliegt, der Lade eine so bedeutende Grösse zu geben, wie gewöhnlich angenommen wird, d. h. 6'x4' wie Siebeiis und Ruhl wollten, oder »so gross, dass nicht blos ein, sondern zwei erwach- sene Menschen in derselben Raum finden« wie Jahn, Berichte u. s. w. a. a. 0. S. 100 sagt, wenn sich diese Worte in der That auf die Kypse- loslade beziehen sollen, was nicht ganz klar ist. Der Umstand, dass die Larnax ein Erbstück der Labda war, die nach Paus. 5. 1 8. 7 ein ttqö- yovog des Kypselos hatte machen lassen, gestattet keinerlei Schluss auf die Grösse, da ein so prachtvoll und kostbar, mit Gold und Elfenbein verziertes Geräth auch bei geringer Grösse ein bedeutendes und wer- thes Erbstück abgiebt ; zu welchem Gebrauche die Lade im Gemache, dem ehelichen Thalamos der Labda stand, was man als wahrscheinlich wird annehmen dürfen, ob sie in derselben ihre prächtigeren Gewänder bewahrte, wie Od. 15. 104 Helena die ihrigen in ihren (pwpta/uoiotv, oder auch noch andere Dinge, Geschmeide, Geschirre u. dgl. wie das. 8. 424, 438 Arete %r{kbv aqmqbnia und TieQixcdXea mit den goldenen Geschenken der Phaeaken und ausserdem mit cpäyog und %itv>v anfüllt, oder wie 11. 16. 121 Thetis dem Achilleus eine ähnliche g^Aoc xaXtj dcudaXtrj mitge-

614 J. OVEBBECK, [26

geben hat, iv nhqoaaa %iwhviav %kaw<xwv re ovkmv re raTtfjrwp, in der er ausserdem seinen kostbaren Becher aufbewahrte, darüber erfahren wir Nichts. War aber die Kypseloslade auch eine Kleidertruhe, in der neben den Gewändern andere Habe bewahrt wurde, was immerhin als das Wahrscheinlichste wird gelten dürfen, so ist doch damit noch keines- wegs über eine bedeutende Grösse ausgesagt, sofern Arete in der Odyssee die mit den Phaeakengeschenken und den ihrigen angefüllte Lade eigen- händig igecptQtv öcdd/uoio. Endlich zwingt uns auch der Umstand, dass Labda den Kypselos als Kind in dieser Lade barg und vor den verfol- genden Bakchiaden versteckte, durchaus nicht, dem Geräth die Grösse zu geben, welche angenommen wurde; ja man könnte sich angesichts der Worte des Herodot 5. 92. 4, q>egovaa xaraxQVTrrei ig äqyaaro- rarov oi itpaivero elvcu, ig xvy&tjP geneigt fühlen, sich das Geräth nicht eben all zu gross zu denken, denn je kleiner es war, desto weni- ger wahrscheinlich musste es sein, dass Labda ihr Kind hinein verbor- gen habe 36), je grösser es war, desto leichter musste die List entdeckt werden. Aber auch solche Erwägungen führen zu nichts Positivem, und nur diejenige einiger nebensächlicher Erwähnungen im Berichte des Pausanias können uns zu einem einigermassen angenäherten Resultate bringen, obgleich auch nicht weiter als dahin. Schubart hat die hier zur Berechnung zu ziehenden Umständeta. a. 0. S. 309 f. sorgfältig zusam- mengestellt; ich glaube, mich ihm im Wesentlichen anschliessen zu kön- nen, und thue dies um so lieber, da Schubart auf der Gegenseite kämpft, und ganz andere Consequenzen zieht, als die ich billigen kann. Schu- bart also stellt folgende Gesichtspunkte auf, die ich mit einigen Bemer- kungen begleiten muss. 1) »Die Lade war .... ein Möbel mit zwei Lang-, zwei Schmalseiten und einem [flachen] Deckel«; einverstanden, nur dass man den Unterschied der Lang- und der Schmalseiten nicht zu gross setze (s.oben S. 24). 2) »Da die Bestimmung derselben [wenigstens wahr-

36) Scbubart bemerkt, a. a. 0. S. 306 : „ob sich das Kind durch Schreien verrieth, ob es in dem geschlossenen Rasten erstickte, das macht der Sage keine Sorge"; das Letztere ist vollkommen richtig , und auch uns braucht diese Sorge nicht zu veran- lassen, den Kasten zu vergrössern ; was das Erstere , das Schreien anlangt, bat Win- kelmann, Versuch einer Allegorie §290 aus einer allerdings nicht fertigen Erzählung bei Plutarch, Gonviv. VII Sap. t. 7. p. 573 574 (Reiske) auf eine Mitwirkung des Posei- don (Apollon) zur Rettung des Kypselos geschlossen , indem der Gott die Frösche so laut habe schreien lassen, dass sie das etwaige Schreien des Kindes übertönten. Was daran richtig oder falsch sei, kann uns hier freilich nicht berühren.

27] Ober die Lade des Kypselos, 615

scheinlich] war, Kleider oder sonstige (?) Gerätschaften aufzunehmen, so raussten die Grössenverhältnisse nothwendig der Art sein, dass sie dem angegebenen Zweck entsprachen, keinesfalls aber denselben unmöglich machen durften. Stand also die Lade ohne allen Untersatz [warum die- ses?37)] und ohne die bei einem solchen Prachtstücke so wahrschein- lichen Zierfüsse [wiederum frage ich : warum dies ? die Fasse, die auch ich annehme und die schwerlich fehlten, sind nach Maassgabe der Danae- und Tenneslarnax oben S. 24 nur etliche Zolle hoch zu denken, fallen hier also schwerlich sehr in's Gewicht] auf dem Erdboden, so durfte deren In- neres nicht tiefer sein, als dass man mit Bequemlichkeit die aufbewahr- ten Gegenstände vom Grunde aufheben konnte«; vollkommen einverstan- den ! »Die Höhe der Seitenwände .... durfte also, reichlich angenom- men (?) 2V2, höchstens 3 Fuss nicht überschreiten«. Für die Höhe von 2V2 Fuss sehe ich kein Motiv, mehr als 3 Fuss nehme auch ich nicht an ; meine Reconstruction giebt aber auch nicht mehr, im Gegentheil noch ein kleines Bisschen weniger. Wenn wir aber 3 Fuss praeter propter als die wahrscheinliche Höhe annehmen dürfen, so giebt uns das nach Maassgabe der Thoas-, Danaö- und Tenneslarnax wenigstens einigen Anhalt zur Berechnung der Länge und Breite.

Es verhält sich die Höhe zur unteren und oberen Breite

bei der Thoaslarnax wie 2 Vi: 3y4: 4y4;

bei der Tenneslarnax wie \x/%\ 2 Vi: 26/8;

bei der DanaSlarnax endlich wie 1 3A : 28/i : 3 ; das heisst, wenn wir jedesmal die Höhe als 3' annehmen, so ist die Thoaslarnax unten 4y3 Fuss, oben 52/s Fuss breit, die Tenneslarnax un- ten 5 Fuss oben 5l/4 Fuss breit, die Danaelarnax endlich unten 45/7Fuss, oben 5V7 Fuss breit38). Nehmen wir hieraus das Mittel ftlr die Kypse-

37) Ruhl stellt (Arcbaeol. Zeitg. 4 860, S. 29, wie das ähnlich schon Heyne getban hatte (s. oben S. 10) der bequemeren Betrachtung wegen den Kasten in Olympia auf einen Untersatz von zwei Stufen ; ohne Zweifel richtig, aber warum er im Hause der Labda als Prachtstück nicht ebenso gestanden haben sollte , vermag ich nicht einzu- sehen ; auch da mochten die Stufen, wenn man sie nicht erstieg, die Betrachtung der unteren Theile erleichtern, die man sich schwerlich versagt haben wird, so lange das Stück im Besitze der Familie war , und andererseits mochten diese Stufen beim Ge- brauche der Truhe, wenn man ihren Deckel zu öffnen hatte, bestiegen werden.

38) Ruhl berechnet in der Archaeol. Zeitung von 1860 S, 29 die Dimensionen der Dana<*larnax zu 2' 8%" Höhe und 4' 4" Breite.

616 J. Ovehbeck, [28

loslade unter der Annahme, sie sei gradwandig gewesen, so wird sich für die Breite ihrer Langseite 42/* höchstens (die oberen Breiten ge- rechnet) 5V.3 Fuss ergeben. Nun, in meiner Reconstruction hat die Lade 3' 9" Breite der Langseite bei 2' %x/* Breite der Schmalseite und 2* i \h/% Höhe. Ich denke das passt so ziemlich ! Aber fahren wir in der Prü- fung der Schubart'schen Erwägungen fort. 3) »Es mussten auf den so bestimmten Flächen die Darstellungen so vertheilt sein, dass sie den künstlerischen Anforderungen entsprachen, sie durften also eben so we- nig die obere wie die untere Grenzlinie unmittelbar berühren, vielmehr mussten sie über und unter sich einen freien Raum haben«. Einen freien Raum ? den wohl am allerwenigsten, eine oben und unten das Ganze ab- schliessende und umfassende Zierleiste allerdings ohne Zweifel; die habe ich angebracht. 4) »Sollten die Darstellungen auf einer Fläche in verschiedenen Streifen über einander angebracht sein, so mussten auch diese Streifen durch leere Zwischenräume geschieden werden«. Durch leere Zwischenräume? schwerlich, das würde sehr unfertig ausgesehn haben38); Ruhl fordert wiederholt trennende Zierleisten, welche Jahn wie ich glaube mit Unrecht anzweifelt40), denn sie müssen nach meiner An- sicht schon nach Maassgabe der Technik vorhanden gewesen sein ; gut, ich habe sie in meine Zeichnung aufgenommen. 5) »Die Beschreibung der einzelnen Kunstgebilde bei Pausanias gestattet durchaus nicht an mikroskopische Arbeit zu denken, vielmehr ist die Annahme völlig be- rechtigt, dass nicht allein die Compositionen im Ganzen, sondern auch die einzelnen Figuren in ihren Theilen und die Inschriften gross genug waren, um ohne Anstrengung der Augen einen Totalanblick zu gewäh- ren und zugleich für die einzelnen Theile eine ausdrucksvolle Bearbeitung zu gestatten. Zeigte ja (19. 6) die Ker grimmige Zähne wie ein wildes Thier und hatte gebogene Krallen ! Konnte man doch genau Panther- thier und Löwen (19. 5), ja (!) Weinreben, Apfel- und Granatbäume (1 9. 6) unterscheiden Dies Alles ist richtig und zuzugestehn ; an mi- kroskopische Arbeit hat aber auch meines Wissens Niemand gedacht;

39) Vgl. die Zeichnung bei Quatremere de Quincy.

40) Berichte a. a. 0. S. 4 07, freilich nur: »insofern für diese eine gewisse Selb- ständigkeit und ein solcher Umfang in Anspruch genommen wird, dass sie auf die ge- sammten Raumverhältnisse einen erheblichen Binfloss geäussert haben mussten« ; wo- mit man im Ganzen einverstanden sein kann, nur dass der Einfluss auf die Gesammt- höbe dennoch in's Gewicht fällt.

89] Übkb die Lade des Kypselos. 61 7

wie vieles und mannigfaltiges Detail bei beschranktem Maassstabe bequem erkennbar und ausdrucksvoll gearbeitet sein könne, lehrt beispielsweise die Francoisvase, deren einzelne Streifen in der Zeichnung in den Mo- numenten des Instituts folgende Höhen haben, l.asä'/i", 2.= 33/4", 3. = 4%", 4. = 4", 5. = 37/s". 6. (Pygmaeen und Kraniche) «■ 15/s"; der Bildstreifen der Kylix der Glaukytes und Archikles (Mon. d. I. 4. 49) hat in der Zeichnung nur \ 7/ie" Höhe, und zeigt dennoch nicht weniges De- tail, welches man allenfalls auch in Schnitzerei dargestellt denken könnte. Allein ich bin nicht der Meinung, dass wir für die Kypseloslade auf so geringe Maasse herabzugehn haben, und zwar aus einem Grunde, den Schubart anfuhrt. Er fahrt nämlich fort: »Am schlagendsten aber spricht (19. 4) die Darstellung des Agamemnon für ein grösseres Maass der Figuren. In einer Gruppe ist der Heros dargestellt ; auf seinem Schilde ist löwen- köpfig der Phobos und die Inschrift eines Hexameters; mag diese auch im Kreise geschrieben gewesen sein [etwas Anderes ist einfach undenk- bar], sie war ohne Schwierigkeit lesbar [wo sagt Pausanias dies? er, der klagt, die Inschriften seien geschrieben iXiyfiotg avfißaUa&at xfaUnotg], und verlangte eine gewisse (!) Grösse des Schildes, die uns dann weiter eine Folgerung auf die Grösse der Figur und weiter der Composition gestattet«.

Diese letztere Behauptung ist mit einer gewissen Einschränkung, auf die ich gleich zurückkomme, einleuchtend richtig, nur muss man nicht bei so unbestimmten Ausdrucken, wie »eine gewisse Grösse« stehn blei- ben, vielmehr fragen, welche Grösse des Schildes ist erforderlich, um auf denselben im Kreise um den löwen- köpfigen Phobos einen Hexameter zu schreiben, in Buchslaben, die gross ge-

Inug sind, um, meinetwegen ohne An- strengung der Augen, lesbar zu sein, und um als in Gold eingegelegt gedacht zu werden? denn diese Art der Tech- nik der Inschriften halte ich für die allein annehmbare, woraufich zurück- komme. Nun, auch hier ist wohl nur durch den Versuch zu entscheiden. Ich habe den hierneben stehenden ge- macht, von dem man schwerlich bestreiten wird, dass die Buchstaben zu

618 J. Ovmibeck, [30

klein und zu dünne seien, um den erwähnten Voraussetzungen zu entspre- chen ; ja ich glaube sogar, dass man die Buchstaben noch um x/% kleiner machen dürfte, wenn darauf Etwas ankäme, und dass sie immer noch den Voraussetzungen entsprechen würden. Nun ist der hier gegebene Schild 2V2 Zoll im Durchmesser; die zu ihm gehörige Figur berechnet sich nach Maassgabe zahlreicher Vasenmalereien zu 5 Zoll. Mein vierter Streifen aber, dem dieser Agamemnon angehört, hat 573 Zoll Höhe. Ich denke, es wird hiernach einleuchten mit welchem Unrecht Mercklin (Arch. Zei- tung 1860 S. 106 Note 10) aus der Aufschrift auf dem Schilde des Agamemnon auf eine Dimension der Figuren »viel grösser als 5 Zoll« geschlossen hat. Mit Ruhl aber (Arch. Zeitung a. a. 0. S. 32) und Schu- bail (a. a. O.) treffe ich in der Annahme des Maasses filr die Figuren die- ses Streifens zusammen. Dass zwei meiner Streifen, der erste und der Alnfte etwas schmäler, zwei dagegen, der 2. und 3. breiter sind, beruht auf anderen, später zu entwickelnden Gründen ; das kann uns hier aber nicht berühren, am wenigsten wird man aus den beigegebenen Inschrif- ten behaupten dürfen, auch der unterste und oberste Streifen müsse grade 5" Höbe gehabt haben. Denn im untersten Streifen sind nur Na- men beigeschrieben für die überflüssig Raum ist, im obersten fehlen alle Inschriften. Nehmen wir aber einmal eine durchgängige oder durch- schnittliche Höhe der Streifen zu 5" an, und ich vermag kein Motiv zu erkennen, um dies Maassverhältniss irgend wesentlich zu überschreiten, während die überaus kostbare Technik des Kastens, namentlich die Ver- Wendung von Gold und Elfenbein uns warnen muss, die Dimensionen der Figuren nicht unnölhig zu vergrössern41), so begreife ich nicht, wie Schu- bart seine Auseinandersetzung schliessen konnte mit den Worten : »Fas- sen wir alle diese Punkte zusammen, so sehe ich nicht ein, wie es mög- lich sein wird, die Theorie der 5 Streifen über einander durchzufahren, mag man nun diese Streifen auf eine Langseite beschränken oder die beiden Nebenseiten noch hinzuziebn«. Für die Gesammthöhe der Seiten des Kastens nimmt Schubart selbst 2l/2 bis 3 Fuss = 30 36 Zoll an ; 5 Streifen zu 5 Zoll Höhe geben 25 Zoll Gesammthöhe der Bildwerke, so dass nach der ersteren Annahme von 30 Zoll Gesammthöhe noch 5 Zoll für die trennenden Zierleisten, nach der anderen von 36" Gesammt-

41) Wie dies schon Heyne anerkannt und hervorgehoben hat, s. oben S. f 0.

31] Über die Lade des Kypselos. 619

höhe 1 1" für die Schubart'schen »leeren Zwischenräume« übrig bleiben. Für die Höhe also fällt alle Unmöglichkeit nicht allein, sondern alle Schwie- rigkeit weg ; wie sich die Lange der Lade nach der Höhe berechnen lasse, haben wir gesehn, wie es aber möglich sei in die Streifen von gegebe- nen Dimensionen die von Pausanias beschriebenen Bildwerke hineinzu- zeichnen, das wird, so hoffe ich wenigstens, meine Tafel lehren.

Allein, wenn auch schon durch das bisher Gesagte und durch meine Tafel die von den Gegnern bestrittene Möglichkeit der Streifentheorie erwiesen sein dürfte, so ist damit doch noch nicht gesagt, dass dieselbe in der Tbat die richtige sei. Es ist also demnächst zu prüfen, welche Gründe sich für dieselbe und gegen die Seiten- und Deckeltheorie auf- stellen lassen und es ist hierbei mit Pausanias' Beschreibung zu beginnen.

4. Nähere Prüfung der beiden Herstellungsprincipien.

Wir Anhänger der Streifentheorie also behaupten, um darüber kei- nerlei Zweifel übrig zu lassen: die von Pausanias angeführten Xwqcci, ihrer fünf an der Zahl, sind gleichartige Streifen, welche die Kypseloslade über einander auf einer Lang- seite und den beiden anliegenden Schmalseiten umgaben, und die Bildwerke jeder %^Qa laufen in einer Reihe fort.

Bei der Prüfung dessen, was philologisch hiefllr spricht und was die Gegner hiergegen eingewendet haben, dürfte es am geratensten sein, sich an Schubart zu halten, nicht allein, weil er der neueste Verfechter der Seiten- und Deckeltheorie, sondern weil er Philologe ist, folglich philologischer Argumentation zugänglicher als der Künstler Ruhl.

Nun sagt Schubart a. a. 0. S. 307: »Die Yertheidiger der Streifen- theorie, welche Jahn am bündigsten vertritt, stützen sich hauptsächlich auf das »von unten anfangen« (17. 6) und auf »die oberste jfcopa, denn es sind fttaf (19.7). Was die erste Stelle betrifft : ägtafievw araoxoneiad-cu narco&tv, so kann ich dieser kein grosses Gewicht beilegen, da sie nach der einen und der anderen Auffassung gedeutet werden kann«. Hiezu muss ich bemerken, dass nach der Seiten- und Deckeltheorie, der also die erste x&qa eine »Seite« des Kastens ist, gleichviel welche, diese Deu- tung nur unter der einen Voraussetzung möglich ist, dass es erlaubt sei, die

630 J. Ovbrbeck, [32

Bildwerke einer %wqu in mehre Streifen über einander zu zerlegen. Denn erstens, waren die Bildwerke der x™Qa nicht in mehren Reihen über einander angebracht, so hat das Beginnen der Betrachtung von unten an keinerlei Sinn, oder es hat den, dass man bei den Füssen der Figuren anfange, um bei ihren Köpfen aufzuhören; zweitens wäre, wenn die Bildwerke einer %ÜQa, diese als »Seite« verstanden, in einer Reihe fort- liefen nur eine doppelte schon oben, S. 12 Note 20 näher erörterte Mög- lichkeit gegeben ; entweder nämlich müsste die Länge der Seite so viel Mal mit sich selbst multiplicirt werden, wie die Zahl der Streifen beträgt, die über einander angeordnet waren, oder aber die Figuren müssten um den Betrag der gleichen Proportion verkleinert werden. In beiden Fäl- len aber würde jede Seite nur mit einem einzigen verhältnissmässig schmalen Reliefbande geschmückt sein, von dem man nicht weiss, ob man es als Sockel- oder Friesornament denken, oder auf die Mitte der Fläche verlegen soll. Bei der von Ruhl und Schubart angenommenen Figurenhöhe von durchschnittlich 5" und der von ihnen statuirten Kasten - grosse von 6x4 Fuss aber stellen sich beide Annahmen als unmöglich heraus; die von Pausanias in der untersten x<*Qa genannten Figuren lassen sich bei einer Höhe von 5" in einer Reihe nicht auf eine Standlinie von 6 Fuss bringen, das ist eine mathematische Unmöglichkeit; sollen sie aber auf eine Standlinie von 6 Fuss gebracht werden, so können sie nicht 5" hoch bleiben, das ist ebenso mathematisch unmöglich, sondern müssen, wie oben dargethan ist, auf 22/3" zusammenschrumpfen. Aus diesen Gründen machen denn auch die Anhänger der Seiten- und Deckel- theorie die Annahme, die Figuren jeder einzelnen x™Qa (»Seite«) seien in mehren (wie vielen ist nirgend bestimmt ausgesprochen) Reihen über einander angeordnet gewesen42).

Diese Annahme, welche auch Quatrem&re de Quincy machte, und die schon Welcker bekämpfte, ist aber durch und durch falsch, die Figu- ren jeder einzelnen gcopa liefen allerdings in einer Reihe fort, und nirgend lässt sich das so bestimmt aus Pausanias selbst zeigen, wie bei der ersten X<o(?ct. Pausanias beginnt seine Beschreibung mit Oivo/uaog Sicokwv Ile- Xona ; dann folgt : i£rj$ de y/jucpiaqccov rj oixia und die sämmtlichen Fi- guren die Pausanias nennt bis zu dem von Baton gezügelten Gespann des Helden. Nun bezeichnet igiJG so bestimmt wie nur immer möglich

42) S. oben S. 4 5.

33] Über die Lade des Kypselos. 621

das Nebeneinander in einer Reihe fort, was ich Schubart and anderen Philologen nicht zu beweisen brauche43). Also bis hieher ist die eine und selbe Reihe erwiesen. Nun folgt (17. 9) fxerä de rov 'sJfMpiaQiiov rijv oixiav der dywv im ITeh'a, der nach Pausanias bis inclusive Iolaos auf einem Viergespanne reicht (17. 11). Merd mit Accusativ aber heisst von örtlicher oder räumlicher Aufeinanderfolge eben so bestimmt wie i£i]Q in einer Richtung folgend, nachher, hinterher, und kann ganz unmöglich »über« bedeuten ; innerhalb der in sich zusammenhangenden Darstellung des aywv enl Thliu aber abzubrechen, um einen Theil derselben über den andern zu setzen, ist durch Nichts im Texte des Pausanias zu recht- fertigen, und aus sachlichen Gründen entschieden unerlaubt44). Bis zu Iolaos also geht das Bildwerk nach Pausanias' eigenen Ausdrücken ent- schieden in einer Richtung fort. Bleibt noch Herakles, der die Hydra er- schiesst, sammt Athene und der durch die Boreaden von den Harpyien befreite Phineus nach. Bei Erwähnung dieser Darstellungen1 giebt Pausanias keinen Wink über die Art der Abfolge, aus Pausanias also können wir den Gegnern nicht beweisen, dass sich dieser Rest nicht in einem höheren Streifen befand. Allein dass dem nicht so gewesen sein könne ergiebt sich aus der Zahl der Figuren. Es sind ihrer genau ge- zählt (einschliesslich der Hydra) 8 ; die gesammte Figurenzahl der ersten Xcoqcc aber berechnet Ruhl zu 42; ziehn wir davon 8 ab, so bleiben 34. Diese 34 laufen in einer Reihe fort, das ist bewiesen: ist es nun denkbar, dass die übrig bleibenden acht in einer oberen Reihe angeordnet gewesen seien? Dazu kommt noch ein Anderes. Uebereinstimmend haben Brunn (N. Rhein. Mus. 5. S. 335 f.) und Schubart (Uebers. des Pausanias 1. S. 391. Note)45) angenommen, dass Pausanias sich in Betreff des Iolaos geirrt habe, sofern er ihn mit zum dytov enl Tlekia rechnet, wahrend er wahrscheinlich zu dem Herakles mit der Hydra gehörte, woftir erhaltene Kunstwerke (Vasenbilder) angeführt werden. Ich schliesse mich dieser Ansicht vollkommen an46). Ist sie aber begründet, gehört Iolaos zu der

43) Freilich ist in dieser Beziehung bei Schubart a. a. 0. S. 313 nicht Alles in Ordnung.

44) Vgl. was schon Welcker a. a. 0. S. 546 f. ausgeführt hat.

45) Dieser nimmt seine Vermuthung in Jahns Jahrbb, a. a. 0. S. 34 3 zurück.

46) Wie Pausanias zu seinem Irrthum gekommen, begreift sich um so leichter, wenn man erfährt, dass wie Schubart a. a. 0. bemerkt hat, nach Hygin Fab. 273. Iolaos Sieger im Viergespann bei den Leichenspielen des Pelias war; wusste dies

Abb« ndl. d. K. S. GeaelUch. d. Wiiseusch. X. 42

622 J. OVBRBECK, %[34

Scene des Kampfes mit der Hydra, während Pausanias ihn zu dem in einer Reihe fortlaufenden äywv knl FhXia rechnet, so ist damit bewiesen, dass auch der Hydrakampf in derselben Reihe mit dem dycov eni lldia fortlief. Bleibt für eine obere Reihe Phineus mit den Boreaden und Har- pyien. Wer den Streifen um den Betrag dieser 5 Personen kürzen und diese in eine obere Reihe setzen will , dem kann ich nur zu seinem Un- ternehmen Glück wünschen.

Bei der Beschreibung der übrigen xwpa* giebt Pausanias über die Abfolge der Bildwerke keine Andeutungen ausser ein Mal (1 9. 8) in der obersten #w(>cc, wo nach dem Cheiron i£iJQ xal inmav owai^ideg eiaiv] es wird aber wohl Jeder zugeben , dass was von der ersten #«(/« gilt auch für die übrigen angenommen werden muss. Ist es nun nach dem oben Gesagten unmöglich die Figuren der ersten Ghora in einer Reihe, wie der Text des Pausanias es fordert, auf einer »Seite« der Lade anzu- bringen, so bleibt Nichts übrig, als sie nach unserer Theorie in einem Streifen auf die drei Seiten des Kastens zu vertheilen. Q. e. d.

Aber zurück zuSchubarts Auseinandersetzung; derselbe fährt fort: » Die Betrachtung und Beschreibung einer grossen Composition wird von irgend einer Seite beginnen müssen; bei der zweiten %ü<>a fängt er (Pausanias) bei der linken fcn , hier von unten ; weder Sprache noch der Sinn an sich werden dagegen Etwas einzuwenden haben «. Ich dächte doch ; eine grosse Gomposition kann man allerdings je nach den Um-

Pausanias und fand er den lolaos auf der Kypseloslade zunächst der Darstellung des dyatv im IJfX/a auf einem Viergespann , so lässt sich sehr wohl denken , dass seine stark entwickelte mythologische Gelehrsamkeit sein schwach entwickeltes künstleri- sches Apperceptions vermögen hinreichend überwogen habe, um ihn zu veranlassen, gegen den blossen Augenschein lolaos zu der vorhergehenden anstatt zur folgenden Scene zu rechnen. Wie Pausanias sein mythologisches Wissen mit seiner Beschreibung verquickt , und zwar grade in der Besprechung des aywp im Iltkiq. , davon hat Schu- bart S. 3H das Beispiel angeführt, dass P. 17. 9. 4 0 zu den Namen das Pisos, Aste- rion, Euphemos, Mopsos u. s. w. die Namen der Väter anführt, die natürlich in den Inschriften des Kastens sich nicht fanden. Man vergleiche aber ferner solche Notizen wie 4 7.8: Asios habe auch Alkmene zu einer Tochter des Amphiaraos u. d. Eriphyle gemacht; 17. 9 , Asterion der Sohn des Kometes sei Argonaut gewesen, ibid. Euphe- mos sei nach der Dichter Erzählungen Poseidons Sohn und ebenfalls mit Iason nach Kolchis gefahren; 4 7. 4 0 wer Eurybotas sei, wisse er nicht anzugeben, jedenfalls ein berühmter Diskobol, ibid. Iphiklos möge wohl des mit gen Ilion gefahrenen Protesilaos Vater sein (tn? a?) . Hat sich aber in allen diesen Fällen wie Schubart vermulhet, Pausanias auf die Büchelchen der olympischen Exegeten verlassen, was ihm allerdings ähnlich genug ist, so wird sein irrthum in Betreff des lolaos um so leichter erklärlich.

35] Über die Labe dE6 Kypselos. 623

ständen unten oder oben , links oder rechts zu beschreiben beginnen, vielleicht auch in der Mitte, wie z. B. eine Giebelgruppe; hier aber han- delt e6 sich um eine Anzahl Gruppen , welche (nach der Seiten- und Deckeltheorie) in mehren (wenigstens zwei) Reihen übereinander liegen, denn, dass sie nicht in einer Reihe liegen können, ist erwiesen ; eine Reihe von Figuren kann man aber nicht entweder von links oder rechts, oder von unten oder oben her zu beschreiben beginnen, sondern nur entweder von links oder von rechts her, wie es Pausanias mit den %(oqai ^-Streifen nach unserer Theorie thut. Liegen aber mehre Figurenstreifen übereinander, so kann man deren Beschreibung ebensowenig ad libitum entweder von unten oder oben oder von rechts oder links anfangen, sondern nur entweder von unten oder von oben, indem man entweder die Figuren der oberen oder die der unteren Reibe zuerst nennt, nicht aber von links oder rechts, wo man mehre Gruppen zugleich nennen müsste47). Sollte das ftlr einen Philologen noch nicht an und für sich klar sein , so müsste es ihm einleuchten, wenn er Pausanias' Worte (18. 1) in's Auge fasst: rijg %v>- yag di ml rjj XctQvaiu rijg devTt'gag ig äytareyiHv fiiv yivoiro av ij d^XV rijg neyiodov. Oder was wäre das für eine neyiodog, welche an der linken Seite einer Kasten wand begönne um an der rechten zu enden. Es hat freilich Jahn (Archaeol. Aufss. S. 6) wie oben S. 17 ohne einen Einwand zu machen bemerkt wurde , für negiodog den Sinn einer ge- nauen, schrittweisen Beschreibung in Anspruch genommen, und Schubart hat an der genannten Stelle des Pausanias übersetzt: „beim zweiten Felde an der Lade könnte man „die Beschreibung" von der Linken anfangen", allein in Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 308 Note 6 nennt er es

47) Schubart selbst macht S. 308 darauf aufmerksam, dass Pausanias bei der Beschreibung der Leschengemälde des Polygnol , bei denen es sich in der That um in verschiedenen Hohen angebrachte Figuren handelt, da wo er hinauf oder hinunter verweist, die Ausdrücke gebraucht : aytoyatt, awidowi, imoßltxpavci u anldoig, ferner avoiTtfo), vtiZq und wro, ixvw&ev u. s. w., während sich bei der Beschreibung der Kypseloslade kein dergleichen Ausdruck finde. S. selbst fügt hinzu , an beiden Orten möge sieb Pausanias wohl sachgemäss ausgedrückt haben. Gewiss! Waren aber in jeder einzelnen ga>(>a mehre Streifen oder Felder übereinander , so hätte Pausanias, diese von rechts oder von links her beschreibend sagen müssen: in der oberen (obersten) Zone ist dies , darunter dann jenes, oben wieder dies u. s. w. , also hätte er auch hier sein cmSovti, anoßkt'yctvri, vni(p und vnb u. s. w. gebrauchen müssen wenn er sieb sach gemäss ausdrücken wollte. Dass er es nicht thut, beweist , dass er in einer Reihe fort von rechts nach links oder von links nach rechts beschreibt.

4«f

624 J. OvERBECK, [36

eine Art von Ironie, dass er so übersetzt habe, und daselbst im Text widerlegt er Jahns Ansicht namentlich durch Verweisung auf (19. i) das d(jf<jr^(jcci: ntytovn , » welches nicht allein für sich , sondern auch für neyiodos ein Herumgehen (S. hat das Wort selbst gesperrt drucken lassen) feststellen dürfte«48). Ganz gewiss ist dem so; nun aber ziehe man doch die Consequenzen oder vielmehr, man verläugne sie einfach nicht. Die Gonsequenz aber ist, dass Pausanias zunächst bei der Be- schreibung der zweiten und vierten x®Qa bei der er die erwähnten Aus- drücke gebraucht um den Kasten herumgeht, und dass folglich sich die zweite und vierte #a)pa über mehr als eine Seite der Lade erstreckte. Wie man sich diesem Schlüsse entziehen will geht über meine Fassung; er- streckte sich aber die zweite und vierte xtaqa über mehr als eine Seite, so ist damit bewiesen, dass xf,k)a nic^ »Seite« bedeuten könne. Damit aber ist in die Seiten- und Deckeltheorie ein grosses, ja ein irreparabeles Loch gestossen ; es bleibt nur noch der Deckel übrig, auf den wir gleich kom- men werden. Schubart nämlich fährt fort: »Weit schwerer fällt die andere Stelle in das Gewicht, und ich gestehe, dass sie allein mich bis- her abgehalten hat, unbedingt mich der Ansicht anzuschliessen , welche zuletzt von meinem Freunde Buhl nicht allein vertheidigt, sondern auch sorgfältig künstlerisch ausgeführt worden ist. Die dpondrto #wpa an sich würde mir weniger Bedenken machen ; so konnte auch die Deckelfläche bezeichnet werden [was ich sehr bestimmt in Abrede stelle] , aber der Zusatz »denn es sind fünf« [nevte yciQ dgi&fiop hgi) ist jedenfalls störend (!) und begünstigt nach unbefangener Auslegung mehr die Jahn'sche als die Buhl'sche Auflassung«. Wenn Schubart sich hier die Unbefangenheit bewahrt hätte, wenn hier nur der Philologe aus ihm redete, so hätte er sich, glaube ich, noch präciser ausgedrückt, und nicht noch folgende Worte geschrieben , denen man das Geängstigte und Ge- schraubte ohne weiteres Zuthun ansieht : „Wäre Jahns Erklärung die einzig mögliche, so wäre die Sache ziemlich (ziemlich?!) entschieden; allein der Zusatz kann (die Sperrung des Drucks von Seh.) auch be- deuten, freilich sonderbar ausgedrückt (das habe ich sperren lassen) , dass noch eine fünfte, nämlich die Deckelfläche vorhanden und mit Darstellungen geschmückt sei. Sonderbare Ausdrucksweisen dürfen

4 8 ) Eben so richtig sind Schubarts Bemerkungen gegen Jabns Annahme, niQtodoq könne schlechtweg Beschreibung, etwa wie ntQtypjOie, heissen.

37] Über die Lade des Kypselos. 625

aber bei Pausanias nicht überraschen*4. Und sonderbare Ausflüchte bei den Vertheidigern einer unhaltbaren Hypothese noch viel weniger. Eine sonderbare Ausflucht aber ist dies; durch die Worte r) de aviorano ^capa, nivre yag rov agt&fjtov etat werden die fünf %toQai so klar wie möglich als gleichartig bezeichnet, von fünf gleichartig um die Lade umlaufenden Zonen gebraucht ist der Ausdruck correct und untadelhaft, von vier Seitenflächen und einer Deckelfläche gebraucht ist er nicht blos sonder- bar, sondern ungeschickt und verkehrt, und kein halbwegs vernünftiger Mensch, der einen Kasten mit Deckel zu beschreiben hat, und in der Wahl seiner Ausdrücke unbeschränkt ist, wird je von ihm sagen: es seien an ihm fünf Felder und dabei unter dem obersten Felde den Deckel verstehn49). Eine philologische Interpretationsmethode aber, die einer vorgefassten Meinung wegen den Wortsinn eines Schriftstellers nicht so auslegt, wie er natürlich und vernünftig lauten müsste, sondern so, dass nur nicht gradezu evidenter Unsinn herauskommt, ist sehr unglücklich und erinnert nur zu lebhaft an Goethe's : legt ihr's nicht aus, so legi was unter. Die vorgefasste Meinung aber bei Schubart ist die, welche er schliesslich ausspricht , und die er bei Ruhl geschöpft hat *°) : » dass der Deckel schmucklos gewesen sei , wird wohl nicht leicht Jemand anneh- men «. Ich deprecire, und werde demnächst meine Gründe angeben, aus welchen ich nicht glauben kann, der Deckel der Kypseloslade sei anders als etwa mit einem und dabei leichten Ornament geschmückt gewesen. Zwischen der Behauptung, sonderbare Ausdrücke bei Pausanias dürften uns nicht wundern und derjenigen , der Deckel müsse ornamentirt ge- wesen sein , stehn nun bei Schubart noch folgende Worte , es sei nicht mit Stillschweigen zu übergehn , » dass nach der Streifentheorie der Zu-

49) Schubart ist S. 307 freilich anderer Ansicht, er meint, dass die Flächen der vier Seiten und des Deckels x&Qai nicht allein genannt werden können, was ich nicht bestreite, sondern dass dieses in unserem Falle die nächstliegende Bedeutung sei. Das kann ich nur insofern zugestehn , wie ich dies schon oben S. 9 gethan habe , nämlich insofern man bei fünf Flächen an einer Deckellade zuerst an die Seiten und den Deckel denkt. Dass dies aber richtig sei , und dass man dabei stelin bleiben müsse , läugne

*

ich. Schubarl meint ferner das. dass der Umstand, dass Pausanias bei der Erwähnung der ersten vier %u>Q<xi beifüge : rrjg kccgvaxog, im ttj Aa(jpaxt, während bei der 5. £0>(>a dieser Zusatz fehle, sei nicht bedeutungslos, vielmehr der Deckeltheorie günstig. Wie künstlich ! Da Pausanias das Wort ini&tjfjia für Deckel kennt, was sollte ihn wohl ab- gehallen haben die fünfte £u>'(>a mit diesem Worte zu bezeichnen, wenn sie de** Deckel war?

50) S. Archaeol. Zeitung 1860 S. 29.

626 J. Overbkck, [38

satz (ne'rrc yaQ top ägi&fiov cioi) völlig überflüssig sein würde4 \ welche schwer zu begreifen sind, da ja durch sie Pausanias uns grade angiebt, was für die Streifentheorie von entscheidender Wichtigkeit ist, nämlich, dass er von fünf gleichartigen Flächen redet. Schubart selbst ist grade durch diese Worte in seiner Anschauung »gestört«, und hier behandelt er sie als irrelevant.

Was wir also bisher gewonnen haben ist dies : die fünf %m$cu des Pausanias sind fünf um den Kasten umlaufende gleichartige Flächen, Fel- der oder Zonen. Damit ist aber noch nicht der ganze Inhalt unserer Be- hauptung erwiesen, welche ferner dahin geht : diese Zonen oder Streifen laufen nicht um den ganzen Kasten herum und sind eben so wenig auf die eine Langseite desselben beschränkt , sondern umgeben ihn auf der Langseite und den beiden anliegenden Schmalseiten.

Den Hauptbeweis hieftlr hat Jahn schon in den Archaeolog. Auf- sätzen S. 5 ausgesprochen, er liegt darin, dass Pausanias bei seiner Be- schreibung abwechselnd von der Rechten zur Linken und von der Lin- ken zur Rechten um den Kasten herumgeht (vgl. oben S. 17), ein Verfahren, zu dem, wie Jahn bemerkt in den Bildwerken kein Grund ab- zusehn ist, welches sich eben so wenig erklären lässt, wenn man an- nimmt, P. sei bei seinen Umgängen jedesmal den Kasten ganz um- schreitend, bis zu seinem Ausgangspunkte zurückgelangt, während es das natürliche und völlig gerechtfertigte ist, wenn er nur drei Seiten umschreitet und umschreiten kann. Den Grund hiefür, dass nämlich die Lade mit der Hinterseite an die Wand gestellt war giebt Ruhl (Archaeol. Zeitung 1860 S. 28) insofern als unzweifelhaft zu, als er eine solche Aufstellung für ein Hausrathstück die entsprechendste nennt51). Seine Vorstellung, die Lade sei in Olympia anders aufgestellt, sie sei an der Hinterseite nachträglich mit der Schlacht der 3. xwqci geschmückt wor- den, ja die in Olympia aufgestellte Lade sei möglicherweise gar nicht die

54) Schubart S. 306 ist anderer Ansicht; er meint, im Begriffe eines Schrankes Hege es freilich , an die Wand gestellt zu werden , eine gleiche Nothwendigkeil mache sich bei einer Prachtlade nicht geltend. Das muss man zugeben, allein damit wird nicht aufgehoben , was Ruhl sagt , eine solche Aufstellung sei die natürliche und ent- sprechendste. Was noch folgt bei Seh. es scheine ihm , dass wenn Jemand eine Re- stauration vorschlüge , welche nur eine Vorderseite und eine Nebenseite in Anspruch nehme, er eben so berechtigt sein würde, eine Aufstellung in einer Ecke anzunehmen, wie man ein Anrücken an die Wand beliebt habe , das wollen wir uns als Scherz ge- fallen lassen.

39] Über dik Lade des Kypselos. 627

ursprüngliche, sondern ein späteres, das Original repräsentirendes Weih- geschenk , das Alles ist pures Phantasiegebilde , zu dem um so weniger Grund vorliegt, als lange und mehrfach erwiesen ist, wie füglich man im Besitze der Labda der Bakchiadin ein solches Prachtmöbel voraus- setzen dürfe.

Bin zweiter Grund für die Yertheilung der Bildwerke auf die drei Seiten der Lade liegt in der Unmöglichkeit , dieselben auf der Langseite allein unterzubringen selbst wenn man dieser eine Länge von 6 Fuss giebt. Da wir diese (oben S. 27 f.) als unwahrscheinlich erkannt haben, und auf das bescheidene Maass von weniger als 4 Fuss zurückgegangen sind, so wächst damit die Unmöglichkeit und die Hinzuziehung der beiden Nebenseiten wird um so nothwendiger.

Der dritte Grund, ein sehr schwerwiegender, sobald die Streifen- theorie als solche feststeht , liegt in der Responsioü in der Compositum der Bildwerke, sofern sich diese nur über die mittleren Theile jeder %(oqu erstreckt, an den Enden aber aufhört. Danach sind die respon- direnden Theile der Composition der Langseite zuzusprechen , wahrend die nicht respondirenden Anfangs - und Endstücke auf die Nebenseiten zu verweisen sind. Doch darauf ist zurückzukommen.

Einen vierten Grund für die Yertheilung der Bildwerke auf die Haupt- und die Nebenseiten , und zwar genau in der von mir in meiner Geschichte der griech. Plastik vorgeschlagenen, jetzt auf meiner Tafel durchgeführten Weise, diesen Grund, den Mercklin (Archael. Zeitung 1 860. S. 1 04) aus den Inschriften ableitete, kann ich nur sehr bedingter- massen anerkennen. Doch auch auf den ist zurückzukommen, wo von den Inschriften zu handeln ist.

Schliesslich muss aber noch an die wesentliche Unterstützung er- innert werden , welche der ganzen Streifentheorie bei der Kypseloslade aus der Analogie anderer aller Kunstwerke fliesst. Jahn hat bereits (Berichte u. s. w. a. a. 0. S. tOI) darauf hingewiesen, dass uns eine ahn- liche reihenweise , mehrstreifige Verzierung wie wir sie fUr den Kypse- loskasten statuiren, bei den ältesten Kunstwerken, den Schilden, welche Homer und Hesiod beschreiben , und den alten Vasenbildern ebenfalls entgegentritt. Ueber die Schildbeschreibungen ist auch in neuerer Zeit Mancherlei geschrieben worden, das dazu bestimmt ist, die betreffenden Dichterstellen als Beschreibungen überhaupt zu verdächtigen. Ich will mich hier nicht auf diesen Gegenstand einlassen , stehe aber nicht an,

628 J. OVERBECK, [40

auszusprechen, dass nach meiner Ueberzeugung das auch von mir bei der Restauration dieser Schilde adoptirte Verfahren im Prinzip durch die neueren Aeusserungen nicht erschüttert ist. Was die Vasenbilder an- langt, so sind es bekanntlich die ältesten, s. g. orientalisirenden, welche, in grosser Zahl , hier in Frage kommen , und als deren jüngste eine die Frangoisvase ein Hauptanalogon zur Kypseloslade abgiebt, während andere Vasen derselben chronologisch noch näher kommen mögen.

Endlich will ich nicht versäumen, hier noch auf eine andere bedeu- tungsvolle Analogie aufmerksam zu machen. Bei den in Vasengemälden dargestellten kdyvcmg nämlich ist eine Verzierung der Seitenflächen die gewöhnliche, und unter diesen Seitenverzierungen tritt diejenige mit streifenförmig über einander geordneten Ornamenten auffallend häufig hervor (s. oben S. 24 Nr. 2, 3, 5, besonders 6, vergl. noch Guhl und Koner a. a. 0. F. 194. c. d. g.). Sollte man das für blossen Zufall er- klären wollen? Eine ähnliche Verzierung der oberen Fläche des Deckels ist nirgend nachweisbar, nur die Ränder der Deckel und die oberen Flächen derselben zeigen sich mit Ornamentbändern eingefasst; das kann Zufall sein , weil wir überhaupt in nur wenigen Darstellungen der Deckel deren Ansicht von oben her vorfinden; dass aber hie und da die Deckel benutzt werden, um sich darauf zu setzen, darf nicht ganz ausser Anschlag bleiben. Deckel mit denen solches geschieht, haben sicher kein nennenswerthes Ornament.

Und auch das sei noch erwähnt, dass, wie schon Thiersch (a. a. 0. S. \ 67) und wieder Schubart (a. a. 0. S. 305) hervorgehoben haben, schon jene #*/A6e äQinentjg und 7rt()imM.i]s (Od. 8. 424, 438) der Arete und nicht minder die x^Aos naXt] dcudaketj des Achilleus II. 16. 221, un- zweifelhaft schon Prachtmöbel waren, wie die Xaqvaj; der Labda der Bakchiade, wenngleich wir darauf verzichten wollen, ntQixcdArjs mit Thiersch durch »ringsherum schön« zu übersetzen und daraus, indem wir das betonen, für die nach unserer Anschauung ornamentirte Kypse- loslarnax Kapital zu machen.

s.

Das Datum der Kypseloslade.

Ich habe oben die Frangoisvase neben anderen der ältesten Thon- gefösse als Hauptanalogon zu der Kypseloslade angesprochen ; um das- selbe in seinem ganzen Werthe ausnutzen zu können wird es nöthig

*4] Ober die Lade des Kypselos. 629

sein, sich über das chronologische Verhältniss beider Kunstwerke so viel wie möglich zu orientiren. Ohnehin darf hier an der Frage nach dem Datum der Kypseloslarnax nicht vorbeigegangen werden , da es sich in den Ansichten verschiedener Gelehrten um den Unterschied eines Zeit- raumes von mehr als 40 Olympiaden, fast 200 Jahren, handelt.

Die Ueberlieferung braucht als bekannt nur kurz berührt zu wer- den. Pausanias (1 7. 5) bezeichnet ohne den geringsten Zweifel die von ihm in Olympia gesehene Lade als diejenige , in welcher Labda ihr Kind vor der Verfolgung der Bakchiaden verborgen habe, also als dasselbe Möbel, welches bei Herodot (5. 92) erwähnt wird, und welches nach Paus, i 8. 7 ein nQoyovog des Kypselos (ob von väterlicher oder mütter- licher Seite wird nicht bestimmt gesagt , dass aber das Erstere gemeint sei ist aus dem Verfolg wahrscheinlich **) ) als ein Kty/ua habe machen lassen. Ferner giebt er an (1 9. 10), die Inschriften auf der Lade könne freilich auch ein Anderer verfasst haben, ihn selbst aber führe seine Ver- muthung stark auf Eumelos den Korinthier , und zwar sowohl aus an- deren Gründen als namentlich durch eine Vergleichung des von Eumelos verfassten Prosodion auf Delos. Nach Dio Chrysostomos 11, p. 163 wäre die Lade von Kypselos selbst nach Olympia geweiht.

Wir haben es also mit zwei Argumenten , der von Pausanias ge- glaubten Sage und seiner kritischen Vermuthung über den Verfasser der Inschriften zu thun, die , wie schon lange bemerkt worden **) , eigens für die Bildwerke gemacht, nicht aus einem Gedichte entnommen und auf die Bildwerke angewendet worden sind, deren Alter folglich über das- jenige der Bildwerke mit bestimmt.

Was nun zunächst die Sage anlangt, die in Olympia von den Nach- kommen des Kypselos geweihte Lade sei die echte im Besitze der Labda gewesen, so bezweifelt dieselbe Heyne (S. 5), aber aus keinem besseren Grunde , als weil es ihm nicht wahrscheinlich vorkommt , Labda habe ein so kostbares Stück besessen. Hierauf ist bereits geantwortet; es lässt sich nicht absehn, warum die Bakchiade Labda oder ein tiqo- yovog ihres Mannes , der , wenn auch nicht Bakchiade , darum noch kein geringer und armer Mann war , ein solches Stück nicht sollte besessen

52) Vgl. Preller, Archaeol. Zeitung 4 854 S. 292.

53) Von Thiersch, Epochen S. 4 68 Note 66. Die Wendungen : "Atkag ovtog, ovtog re K6(üv , ovtog piv <t>6ßog y Aaxotdag ovxog , 'Egpciag Öde beweisen hier ganz gewiss.

630 J. Ovbebeck,

haben M). Tiefer fasst die Sache Welcker55), der allerdings die Möglichkeit zugesteht , allein darauf hinweist , die ganze Geschichte von der Rettung des Kypselos in einer xinptbj könne gar leicht aus dem Namen des Kypse- los gemacht sein, wofür es an Analogien nicht fehle36). Das verdient gewiss alle Beachtung, obwohl man Welckers weiterem Argumente nicht eben sonderliches Gewicht beilegen wird. Er meint nämlich, dass Hero- dot, hätte man zu seiner Zeit schon ein solches Denkmal wie Pausanias beschreibt auf jene Geschichte bezogen, den erzählenden Korinther (H. legt bekanntlich dem Korinther Sosikles die Kypselosgeschichte in den Mund) wahrscheinlich der xtnpütj ein Beiwort hätte geben lassen, wie z. B. kunstreiche, in unserem (?) Heraeon aufbewahrte Kiste oder der- gleichen. Das hätte Herodot freilich thun können, allein noth wendig war es nicht , und W. scheint ttbersebn zu haben , dass er mit diesem Argu- mente nicht sowohl die Sage bestreiten würde, die Larnax sei im Besitze der Labda gewesen, als vielmehr die Ueberlieferung, die in Olympia auf- gestellte sei dahin von den Kypseliden geweiht, an der noch Niemand gezweifelt hat57). Denn auch dies ist natürlich lange vor Herodot ge- schehe — Thiersch (a. a. 0. S. 4 67) spricht sich unbedingt für den Glauben an die von Pausanias überlieferte Sage aus, die zu bezweifele kein Grund vorliege, und welche , indem sie in sich selbst nichts Wider- sprechendes, wohl aber in den homerischen Gesängen einen bestimmten Halt und Hintergrund habe (in den Laden der heroischen Zeit als Ana- logien der Kypseloslade), in und durch sich selbst hinlänglich gesichert sei. Jahn berührt in s. Archaeolog. Aufsätzen und in den Berichten der k. s. Ges. d. Wiss. a. a. 0. die Zeitfrage nicht, und verzichtet in der Ar- chaeolog. Zeitung v. 1850 S. 192 darauf, jetzt noch zu entscheiden, ob Pausanias1 Sagenüberlieferung glaubhaft sei oder nicht, weist jedoch darauf hin , dass zwischen der Sage und der Angabe , Eumelos habe die Inschriften verfasst, kein Widerspruch bestehe58). Ruhls Zweifel sind schon berührt, bestimmte Gründe ftlr dieselben fehlen.

54) Vgl. Siebeiis Amalth. 2. S. 259 und Schubart a. a. 0. S. 302, der Heyne* Bemerkung »etwas hausbackene nennt.

55) Zeitschrift für Gesch. u. Ausl. d. a. Kunst S. 272. Die Schrift von Schubring, de Cypselo Corinthiorum tyranno, Gotting. 4 862 habe ich nicht gesehn.

56) Vgl. Kreuzer, Commentatt. Herod. *. p. 62 sq., welcher orientalische Analogien zu der Kypselossage beibringt.

57) Ausser, wie es scheint, Schubart a. a. 0. S. 302.

58) Wie Markscheffel, Hesiodi, Eumeli cett. fragmenta p. 220 angenommen

13] Über die Lade des Kypselos. 631

0. Müller hatte59) ein Argument gegen die von Pausanias ange- deutete Datirung der Lade aus den ersten zehn Olympiaden in dem Kostüm des Herakles zu finden geglaubt ; Herakles nämlich habe auf der Lade bereits seine gewöhnliche Tracht, die er erst nach Ol. 30 erhielt, durch Peisandros nämlich, welcher (Ol. 33 40) dem Herakles seine Tracht, Löwenhaut und Keule geschaffen habe, wie ihn hernach die bildende Kunst darstellte.

G^gen diese Argumentation wandte sich Preller, Archaeol. Zeitung v. 1854 S. 292 ff., in einem Aufsatze der die erste gründliche Bearbei- tung der Chronologie der Kypseloslade enthält. Preller glaubte Müllern gegenüber aus Paus. 17 a. E. u. 19. 9 ^ erweisen zu können , Herakles sei auf der Lade noch garnicht mit Löwenhaut und Keule gebildet ge- wesen , also nicht in dem Peisandrischen Kostüm , sondern einfach als roioTtjs, und eben dies sei das oxijfia an welchem man ihn ohne In- schrift erkannt habe , denn eben dies sei die 'OfitiQixij ardktj des Hera- kles, wie sie im Gegensatz zu der ihm von den Dichtern seit Stesichoros und Peisandros gegebenen Tracht bei Athen. 1 2 p. 51 3 genannt werde. Ja, meint Preller, man werde wohl weiter gehn dürfen bis zu der Be- hauptung, dass Herakles auf der Kypseloslade nur mit Pfeil und Bogen, noch nicht mit Löwenhaut und Keule abgebildet war, da dieses Merk- mal einer späteren Zeit sonst höchst wahrscheinlich (?) von Pausanias hervorgehoben worden wäre ; dadurch erhalte das höhere Alterthum der Lade eine positive Stütze. In der That komme Herakles ausser mit dem Bogen nur noch mit dem Schwert vor, in dem Abenteuer mit Atlas (18. 4), wo, meint Preller, wieder die Erwähnung der Löwenhaut und Keule (? er hat ja das Schwert), wenn Pausanias sie gesehn hätte, un- vermeidlich ( ! ) gewesen wäre.

Wenn man nur dem ehrlichen Pausanias nicht gar zu viele, zu subtile und allezeit praesente Gelehrsamkeit zutraute ! Wer sagt uns denn, dass sich Pausanias so genau des Datums bewusst gewesen, seit welchem Herakles mit Löwen feil und Keule erscheint? Und wer sagt

hatte. Vgl. auch Bergk, Arch. Zeitung 1845 S. 4 69 Note 1*. Schubart a. a. 0. S. 303 Note 4.

59) Handb. d. Archaeol. §. 57. 2. vgl. 77. 4., Dörfer 4, S. 446 der 3. Ausgabe.

60) 4 7. 44 : ixte di xov 'HqaxXtovq ovxog ovx iyvciavov xov xe ä&Xov %i.^v xai int reo o ff pari. 4 9. 9 : to&vovta di awdoct KtvtctvQOvq .... dijka 'H^axkf'a ic top roltvovca xai 'ÜQaxXtovg tlvai zo tQyov.

632 J. Overbeck, [44

uns , wie ich dies schon früher 61) bemerkt habe , dass Peisandros diese Tracht des Herakles, die er in die Kunstpoesie einführte, aus sich erfun- den habe, dass sie nicht in örtlichen Sagen und Gesängen lange vor Peisandros vorhanden war, und danach auch in ältesten Kunstwerken vorhanden sein konnte ? Löwenfell und Keule waren bei Herakles etwas so überaus Gewöhnliches , dass man eher behaupten dürfte , hätte Pau- sanias den Helden an der Kypseloslade ohne Löwenfell gesehn denn die Keule hatte er in der That nicht, weil er zwei Mal mit dem Bogen und ein Mal mit dem Schwerte kämpft , das vierte Mal beim aywv int fFeh'a (17. 9) thronend ruhig zuschaute und wohl mit dem Scepter zu denken sein wird , so würde er dies Abweichende , Ausnahmsweise hervor- gehoben haben, obgleich ich auch nicht einsehe, warum das in dem knappen Text »unvermeidlich« gewesen sein sollte. Ich selbst habe früher (a. a. 0.) an die Richtigkeit von Prellers Argumentation geglaubt; indem ich diese Zustimmung hier zurücknehme, ziehe ich mich auf die Annahme zurück, dass Herakles freilich die Leontis in den Bildwerken der Kypseloslade gehabt habe, dass dies aber keinen Grund gegen ihr Alter und ihre Hinaufdatirung über Peisandros abgebe.

Im weiteren Verfolge seiner Untersuchung bringt nun Preller be- achtenswerte Gründe gegen die Annahme der Sage in ihrem ganzen Bestände, namentlich gegen die Bezüglichkeif der Bildwerke auf der Lade zu der Familiengeschichte der Vorfahren des Kypselos82). Hier unterschreibe ich namentlich was Preller S. 295 über Pausanias' Erklä- rung der dritten jwpa und der in ihr dargestellten Schlacht bemerkt. Seine Annahme , dass in dieser Schlacht weit eher der Kampf der Pylier und Arkader bei Pheia aus II. 7. 135 dargestellt gewesen sei, als die andere Geschichte, die Pausanias beibringt, ist richtig und gut begründet, und nicht minder ist es die Bemerkung, dass somit auch dieser Vorgang der mythischen Sagengeschichte angehöre, dass er folglich sein schein- bar Fremdartiges unter den übrigen Darstellungen der Kypseloslade ver- liere. Auf Prellers Bemerkungen über die Inschriften komme ich zurück; wenn er aber schliesslich S. 296 f. zu dem Resultate gelangt, die Lade möge wohl älter als Kypselos und seine Eltern, aber von einem seiner

61) Geschichte d. griech. Plastik. 1. S. 480. Note 5. Damit stimmt Schubart a. a. 0. S. 303 überein.

62) Eine solche, wie sie Müller (Handb. a. a. 0.) behauptete, hat auch schon Bergk, Archaeol. Zeitung 1845 S. 4 52 in Abrede gestellt.

45] Über die Lade des Kypselos. 633

Vorfahren nicht sowohl bestellt, als vielmehr fertig gekauft worden sein, etwa von einem aeginetischen (?) oder korinthischen Künstler, so habe ich keine Ursache, dem zu widersprechen.

Und somit bleibt mir nur noch übrig, auf die Argumentation Schu- barts ein paar Streiflichter zu werfen. Derselbe glaubt a. a. 0. S. 302 nicht an die Echtheit und das Alter der Lade, und behandelt die Sage, wie sie Pausanias berichtet als Erfindung der Exegeten von Olympia, denen er, im Allgemeinen wohl mit Recht, Mangel an Kritik vorwirft. Anlangend die in Olympia aufgestellte Lade meint er, dass dieser Pracht- kasten kein gewöhnliches Hausgeräth, sondern ein Prunkstück einer rei- chen und vornehmen Familie gewesen sei, habe man eingesehn ; es sei also nur darauf angekommen, irgend eine namhafte Lade ausfindig zu machen, um sie mit der in Olympia zu identificiren, und da schwerlich eine grosse Auswahl gewesen sei, so habe sich der durch Herodots Er- zählung hinlänglich bekannte Kasten des Kypselos bequem dargeboten. Zwar wisse Herodot Nichts davon, dass die Lade, in welche Labda ihr Knäbchen barg, ein ausgezeichnetes Kunstwerk gewesen, die Unwahr- scheinlichkeit der ganzen Geschichte, das Alter des Kunstwerks (wer sagt uns denn, dass dieses nicht durchaus zutreffend war?), der Nach- weis, wie grade ein Korinther dazu gekommen sein sollte, das Geräth nach Olympia zu stiften, alles dies habe den Exegeten keine Sorge ge- macht, und die Annahme habe ihnen um so zuverlässiger erscheinen mögen, da schwerlich ein Kasten aufzutreiben war, der seine Ansprüche gründlicher hätte erhärten können. Herodot scheine weder von dem kunstreichen Geräth in Olympia noch von dessen erlauchter Herkunft Etwas zu wissen (möglich; indessen, wer sagt, dass Herodot Alles was er wusste auch sagen musste, vollends in einer Rede, wie die, worin die Sache vorkommt), Pausanias aber habe, wie in unzähligen andern Fällen die Tradition ohne weitere Prüfung angenommen u. s. w.

Hiezu will ich besonders nur bemerken, dass wenn es Schubart mehr als den Exegeten in Olympia Sorge macht, wie »ein Korinther«, d. h. Kypselos oder ein Kypselide dazu gekommen sei, ein solches Weih- geschenk grade nach Olympia zu stiften, er erstens nicht in Anschlag gebracht hat, dass Olympia und Delphi die Nationalheiligthümer von Griechenland waren, wohin ein Weihgeschenk, das man von Vielen gesehn wissen wollte, zu stiften, ziemlich nahe lag, und dass er zweitens über- sehen hat, dass auch der vielberühmte ganz goldene Zeuskoloss als

634 J. OVERBKCK, [46

Kxnpthdwv dvdihjfia grade in Olympia stand 63). Dass dieses für die Wahr- scheinlichkeit stark in's Gewicht falle, dass dieselben Kypseliden, Peri- andros oder wer sonst, nach Olympia auch eine Prachtlade gestiftet haben, an welche sich eine, meinetwegen unbegründete, aber im Volke geglaubte und das Ansehn der Kypseliden erhöhende Sage knüpfte, das wird wohl Schubart selbst nicht verkennen. Und wenn wir deshalb seinen Grundsatz, wir seien an Pausanias' Aussagen nur so weit gebunden, wie wir denselben mit Gründen zu folgen im Stande sind, im Allgemeinen adoptiren. so wird er uns ohne Zweifel mit gutem Willen zu der Erwägung dieser Gründe fol- gen, die namentlich in dem liegen, was Pausanias über die Inschriften sagt. Es ist Mancherlei geschrieben worden, um Pausanias' Ausspruch, ihm sei aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich, dassEumelos der Ver- fasser der Epigramme sei, zu verdächtigen. Dass wir hier zu keiner ab- soluten Gewissheit gelangen können, ist zuzugestehn. So hat Welcker (a. a. 0. S. 273) gewiss Recht, wenn er behauptet, die Alterlhümlich- keit der Inschriften nöthige uns nicht, bis in den Anfang der Olympiaden hinaufzugehn54); und wenn übereinstimmend Preller a. a. 0. S. 296 und Schubart a. a. 0. S. 303 annehmen, Pausanias sei zu seinem Schlüsse auf diesem Wege gelangt : die Lade stammt aus Korinth und aus der Familie der Bakchiaden, folglich wird wohl ein korinthischer Dichter der Verfasser der Epigramme sein, ein solcher und obendrein selbst ein Bakchiade ist Eumelos, folglich mag der wohl die Epigramme ge- dichtet haben, so lässt sich nicht in Abrede stellen, dass eine solche Folgerung zu den anderen Gründen des Pausanias (äXXtov re tvexa) gehört haben mag, die er nicht näher angiebt. Als besonderen Grund aber führt er die Vergleichung des Prosodion auf Delos an (xal rov TtQoeodiov fiaktora o vnoitjotv ig ^/ijXov). Hier kann ich nur wiederholen was ich früher05) ausgesprochen habe: es ist mir nicht klar mit welchem Rechte Preller (a. a. 0. S. 296) behaupten will, Pausanias, der überhaupt kein übler Kenner alter Poesie ist, und der 4. 4. 4 die mei- sten sonst auf Eumelos zurückgeführten Poesien als unecht verwirft, während er das delische Prosodion nebst den Inschriften der Kypselos- lade allein für echt anerkennt, habe sich grade hier durch eine verkehrte

63) Vgl. Preller a. a. 0. S. 893 f.

64) In seiner Götterlehre 4. S. 301 erkennt W. den Eumelos als Verfasser der Inschriften an der Kypseloslade an.

65) Geschichte d. griech. Plastik {. S. 4 80 Note 5.

47] Ober die Lade des Kypselos. 635

Combination beirren lassen. Schubart (a. a. 0. S. 303 f.) sieht ein, dass da die Folgerung sich nicht aus dem Inhalte ableiten Hess, sie lediglich aus der Form abgeleitet sein könne; der Dialekt, metrische, vielleicht auch sprachliche Eigentümlichkeiten möchten die Kriterien gewesen sein. Er meint aber dann, dieser Boden sei überaus schlüpfrig, die paar Verszeilen, was hätten die für Anhalt bieten können. Nun, ich meine, darüber dürfte es uns, die wir das Prosodion auf Delos nicht besitzen, doch noch etwas schwieriger abzusprechen sein, als dem Pausanias, und die paar Verszeilen der Kypseloslade bieten Eigentümlichkeiten genug, um ihnen ein charakteristiches Gepräge zusprechen, sie z. B. für weder homerisch noch hesiodeisch halten zu dürfen. Schubart freilich behaup- tet weiter, die Hexameter auf der Lade seien der Art, dass sie uns nicht nötbigen, einen namhaften Dichter für sie auszuforschen, was zugege- ben werden kann, der Künstler, der die reiche Lade verfertigte sei ohne Zweifel (?) auch im Stande gewesen, ein paar solche Hexameter zu- sammenzusetzen. Wohl möglich. Allein würde man angesichts der Verse in der Lesche von Delphi (Paus. 10. 27. 4)

r^a\pe IloXvyvanos, Oaaiog yevog, y/lykao(p6bvTOS 'Tiög 7i6()i}o/uev)]v Iklov dxQonoktv nicht grade dasselbe zu sagen berechtigt sein? Sind diese Verse so schön, so erhaben, so bedeutend oder geistreich, dass sie uns nöthi- gen würden, wenn wir von ihrem Verfasser Nichts wttssten, flir sie nach einem eigenen, namhaften Dichter zu forschen? Würden wir nicht etwa sagen dürfen, Polygnot, der das prachtvolle grosse Gemälde vollendet, sei auch im Stande gewesen, ein solches Distichon zusammenzusetzen, ohne dafür den Simonides und keinen Geringeren zu bemühen? Nun, und wenn Polygnot gleichwohl, was als Thatsache doch wohl noch nicht bestritten ist, den Simonides in Anspruch nahm, soll da der Künstler der Kypseloslade nicht in ähnlicher Weise den Eumelos in Anspruch genom- men haben ? Ja, sollte es nicht möglich sein hieftlr noch ein Motiv zu ahnen? Schubart macht darauf aufmerksam, dass die Inschriften dem Räume angepasst werden mussten, und schliesst daraus, der Künstler werde ihre Abfassung darum um so weniger einem Andern übertragen haben. Mir scheint im Gegentheil, dass je schwieriger durch das An- passen in den Raum die Abfassung der Verse wurde, der Künstler um so mehr Ursach hatte, dieselbe von einem gewandten Dichter zu erbit- ten, der zugleich sein Product mit seinem Namen zu decken im Stande

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war. Allein ich weiss all zu scharf macht schartig und verzichte auf die Fortführung solcher Untersuchungen ; ich kann aber nicht umhin auch jetzt noch zu bekennen, dass mir Pausanias' Erwägungen mehr Gewicht zu haben scheinen, als die seiner modernen Gegner, und dass ich eben wegen dieser Erwägungen des Pausanias in Betreff der Inschriften auch heute noch geneigt bin, die Kypseloslade als ein Kunstproduct der ersten zehn Olympiaden anzuerkennen. Sollte man aber trotz allem hier Gesag- ten an der Echtheit der in Olympia aufgestellten Lade zweifeln, und vor- ziehn zu glauben, wofür noch nicht der Schalten eines Grundes beige* bracht ist, sie sei ein die Originallade vertretendes, aber prächtigeres ad hoc gefertigtes Weihgeschenk, so bleibt sie als KvyeXtdtov aväthj/ia und dass sie selbst dieses nicht sei, wird wohl kein Zweiter so leicht mit Schubart annehmen ein hochaltes Kunstwerk. Denn86) Kypselos ge- langte Ol. 31. 2 (v. Chr. 655) zur Herrschaft und diese blieb im Hause der Kypseliden insgemein 73 Jahre und 6 Monate; 01.49. 2 (v.Chr. 582) ist also der äusserste Termin, vor welchem die Lade in Olympia geweiht sein muss, und bis zu diesem äussersten Termin herabzugehn hat sehr Weniges für, wohl aber sehr Vieles gegen sich. Für die Annahme eines jüngeren Datums der Kypseloslade wttsste ich nur zwei Erwägungen anzuführen. Erstens nämlich ist uns das Vorhandensein der Chrysele- phantintechnik in der weitesten Bedeutung des Wortes vor Smilis und der Schule des Dipoinos und Skyllis in den 60er Olympiaden 87) nicht über- liefert. Wie unsicher aber jeder hierauf zu bauende Schluss sei, wird Jeder fühlen ; er ist es um so mehr, da wir bis in die 60er Olympiaden mit der Kypseloslade in keinem Falle ohne Willkür herabgehn dür- fen , und als uns in der Kunst der heroischen Zeit die Bearbeitung des Elfenbeins bereite entgegentritt68). Die zweite Erwägung wäre diese. Unter den Darstellungen der Kypseloslade treten uns Scenen entgegen, welche durch die Poesien des epischen Cyclus erhöhten Glanz erhiel- ten, so der Zweikampf des Achilleus und Memnon durch Arktinos' Ae- thiopis (aus den ersten 7 Oll.), Peleus und Thetis und wiederum das Parisurteil durch Stasinos' Kyprien (aus Ol. 30), und so fort. Liesse sich nun erweisen, dass der Bildner der Kypseloslade eben diese Poesien vor Augen und im Sinne gehabt habe, als er seine Reliefe verfertigte, so

66) Vgl. Preller a. a 0. S. 297 f.

67) Vgl. m. Gesch. d. griech. Plastik 1. S. 83 f.

68) H. Gesch. d. PI. a. a. O. S. 59.

49] Über die Lade des Kypselos. 637

wäre damit zugleich bewiesen, dass die Lade jünger sein müsse, als die 30. Olympiade. Allein so wenig man Peisandros als den Erfinder der Heraklestracht anerkennt, eben so wenig wird man Arktinos oder Sta- sinos als den Erfinder dieser Sagenzüge betrachten; denn zu den nachweislich diesen Dichtern eigentümlichen Bereicherungen der Sage gehören sie nicht. In der Sage waren sie lange vor diesen Dichtern vor- handen 69) ; aus dieser aber konnte der Verfertiger der Kypseloslade so gut vor Ol. 7 wie nach Ol. 30 schöpfen. Für den ganzen Zeitraum aber innerhalb dessen man das Datum der Kypseloslade vernünftigerweise suchen kann, d. h. von der ersten Hälfte des 8. bis zur zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr., haben wir für dieselbe keine besseren Ana- logien in erhaltenen Kunstwerken, als die ältesten, s. g. orientalisirenden, reihenweise mit Bildwerken verzierten Yasen ; je jünger man die Lade ansetzt, desto näher rückt sie ihrem Datum nach ihrer artistischen Haupt- analogie, der Frangoisvase. Das Datum der Frangoisvase ist freilich eben so wenig wie dasjenige der Kypseloslade gegeben ; allein wenn Jahn in der Einleitung zu seinem münchener Vasenkatalog S. GLVII über das aus den Inschriften der Frangoisvase vollständig herzustellende Al- phabet sagt, es sei das älteste attische, welches bis gegen die 80. Olym- piade im Gebrauch war, so glaube ich nicht, dass er damit hat sagen wollen, die Frangoisvase sei in so späte Zeit herabzusetzen, oder, sollte dies der Fall sein, dass wir nöthig hätten, ihm hierin zu folgen. Man braucht nicht die bekannten Grundsätze Ludwig Ross' über Chronologie der Yasen und Vaseninschriften zu theilen, um dennoch der Ansicht zu sein, dass kein Grund vorliege, jede Vaseninschrift so tief herab zu dati- ren wie es nach Maassgabe des officiellen Gebrauchs des in derselben ver- wendeten Alphabets nur immer möglich ist. Die zweite Hälfte der 70er Olympiaden würde also in diesem Falle der äusserste Termin sein, nach welchem die Frangoisvase nicht gemalt sein kann ; erwägt man aber was wir von der freilich höchst fragmentarischen Geschichte der griechischen Malerei vor Polygnot wissen, zumal was uns von der Erfindung des Eu- maros (qui marem feminamque discrevit, durch die Farbe nämlich 70) und des Kimon von Kleonae überliefert wird (qui rugas et sinus invenit) 71) ;

69) In Betreff des Parisurteils verweise ich aufWelckersEp. Cyclus B. S.S. H3ff.

70) Vgl. Brunns Küiistlergesch. S. S. 8, Jahn a. a. O. S. CL1X f.

71) Das heisst wörtlich und muss wörtlich verstanden werden: der Bausche und

Abhandl. d. K. S. Geldlich, d. Wiuentdi. X. 43

638 J. Oveueck, [50

findet man dann auf der Fran^oisvase die Weiber allerdings weiss ge- malt72), von Falten und Bauschen dagegen selbst in den bewegtesten Gewändern noch keine Spur, so wird man sich, sofern man überhaupt eine Parallelentwickelung der Keramographie mit der übrigen Malerei und eine Einwirkung dieser auf jene anerkennt, genöthigt sehn, die Ent- stehung der Frangoisvase deren echt hochalterthümlichen Stil Alle an- erkennen und hervorheben, die über dieselbe geschrieben haben , zwi- schen Eumaros und Kimon von Kleonae anzusetzen. Eumaros datirt Brunn a. a. 0. S. 9 zwischen Ol. 60 und 70, indem er einen nahen Schulzusammenhang zwischen ihm und Kimon, qui inventa eius exco- luit, wie Plinius sagt, statuirt; es ist aber aus verschiedenen Gründen sehr fraglich, ob dies Datum nicht zu jung sei, und ob wir deswegen nicht auch die Frangoisvase bis in den Anfang der 60er, ja bis in die 50er Olympiaden werden hinaufsetzen dürfen. Auch so trennt sie frei- lich noch ein weiter Zeitraum von dem wahrscheinlichen, wenngleich nicht von dem spat est möglichen Datum der Kypseloslade ; allein da sich im Kreise des Handwerks und untergeordneter Arten der Technik das Alterthümliche länger erhält, als in der selbständigen Kunst, so darf uns der Zeitraum, der vermuthlich zwischen dem Kypseloskasten und der Frangoisvase liegt, nicht an den mancherlei Analogien irre machen, wel- che beide Kunstwerke darbieten, so wenig wir uns einreden dürfen, den Stil der Bildwerke an der Larnax des Kypselos nach demjenigen der Fran$oisvase genau bestimmen zu können.

6. Die Compositionsprincipien der Bildwerke.

Wenden wir uns nun zu einer Prüfung der Principien, nach denen die einzelnen Gruppen innerhalb der Zonen- oder Streifen-£ai(>a#, von

Falten der Gewandung erfand, nicht, wie Brunn a. a. O. S. H wollte, der Bausche und Falten durchbildete, was noch kaum Polygnot gethan hat.

72) Meines Wissens ist dies freilich in der ganzen Litteratur über die Frangoisvase nirgend bestimmt ausgesprochen und meine Erinnerung über diesen Punkt war, grade wie diejenige mehrer gelehrten Freunde, bei denen ich deshalb anfragte, nicht ganz sicher; Herr Prof. Michaelis aber theilt mir mit, dass er sich wenigstens die Atalante in der kalydonischen Jagd positiv als weiss notirt habe, wodurch in Verbindung mit dem was Brunn, Bull. v. 1863 p. 4 90 und 492 sagt und mit sonstigen Umständen die Sache wohl als entschieden gelten darf.

54] Über die Lade des Kypselos. 639

denen wir fortan wohl werden reden dürfen, angeordnet oder compo- nirt waren.

Der Erste, welcher auf das System der Composition geachtet hat, ist Welcker (Zeitschrift f. a. Kunst S. 537 ff.); klar in's Licht gesetzt aber hat er dasselbe noch nicht. Beginnend mit der ersten %o^a sondert er die Leichenspiele für Pelias als Hauptvorstellung aus, macht auf deren räumliche und innerliche Symmetrie mit Herakles und Akastos an den Enden als den Kampfrichtern und den zwischen diese verlegten Kampfergruppen aufmerksam, und versucht einen ähnlichen, wenigstens räumlichen Parallelismus in den je zwei Anfangs- und Endvorstellungen nachzuweisen. Auch für die zweite x&qa hebt Welcker vor Allem den räumlichen Parallelismus hervor. Die Scenen von Idas und Marpessa bis zu Peleus und Thetis sondert er als »Hauptreihe in der Mitte« aus und findet für diese wieder ein grösseres Mittelbild in Iasons und Me- deias Hochzeit, zu der er Apollon und den Chor der Musen hinzurech- net, und zwar als zu beiden Seiten der Hauptgruppe vertheilt73); die drei einzelnen Paare (Idas und Marpessa, Zeus und Alkmene, Menelaos und He- lena links, Atlas und Herakles, Enyalios und Aphrodite, Peleus und The* tis rechts) gruppiren sich um dies Hauptbild in offenbarer Regelmassig- keit, und werden durch die figurenreiche Mitte in ein Ganzes auch für das Auge verknüpft, hinlänglich um die noch übrigen Vorstellungen an den Enden als Beiwerk von eigentbümlichem Sinne auffassen zu können, das sich raumlich aufwog.

Für die vierte xwqu statuirt W. ein anderes Princip ; hier lässt er das Ganze aus zwölf gleichen Gliedern bestehn, deren Anordnung die Abwechselung von a) Liebesgeschichten und b) Heldenabenteuern zum Grunde liege74); untergeordnete Beziehungen des Einzelnen aufeinan-

73) Dass diese von Welcker sehr stark betonte Annahme, der Andere, wie Brunn (s. unten) gefolgt sind, unmöglich sei, bat Scbubart a. a. 0. S. 315 aus der Inschrift bewiesen; denn die Inschrift zu Apollon und den Musen hätte ja über die ebenfalls mit einem Hexameter versehene Gruppe des lason hinweg geschrieben worden sein müssen, was in keiner Weise denkbar ist. Uebrigens soll nicht vergessen werden, dass schon Jahn, Aren. Aufes. S. 9. Note 18 sich, wenngleich aus anderen Gründen, gegen die Welcker' sehe Combi nation ausgesprochen hat.

74) Nämlich: t . a. Boreas und Oreithyia, 8. b. Herakles und Geryon, 3. a. The- seus und Ariadne, 4. b. Achi Ileus und Memnon, 5. a. Moilanion und Atalante, 6. b. Aias und Hektor, 7. a. Dioskuren und Helena, S. b. Koon und Agamemnon, 9. a. Pa- risurteil , dem die Artemis zugezählt wird, 10. b. Eteokles und Polyneikes, H, a.

43*

640 J. Ovbbbeck, [W

der will er nicht annehmen, nur darin könne eine künstlerische Absicht liegen, dass die sechs Vorstellungen, welche etwas Zusammengesetztes haben, zwischen drei und drei, die dem Auge weniger darbieten, in die Mitte gestellt seien.

In der obersten xtoQa stellt Welcker die Nereidengespanne nebst Cheiron und das Maulthiergespann der Nausikaa in Contrapost ; das Bin- dende sei im Aeusserlichen gelegen, in den Thieren, ein Grund der An- ordnung und Auswahl, den auch die ausgebildetste Kunst nicht ver- schmäht habe. Die beiden anderen Vorstellungen (Odysseus und Kirke Herakles und die Kentauren) seien durch den Gontrast verbunden, denn bei dieser leisen Art der Verkettung erreiche der Gontrast dasselbe, was die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung ; dort sehn wir den Helden in Ruhe und Ueppigkeit, hier in That, auch dürften die Weiber dort, Kentauren hier den Gontrast verstärkt haben.

So wenig nun auch hiedurch die Frage erledigt, so Manches auch erweislich irrig ist, so ist doch dieser Versuch voll feiner und treffender Bemerkungen, die ihren Werth auch heute noch behalten haben; jeden- falls steht er ungleich höher als derjenige Bergks 7ö), welcher, wesentlich nur den von ihm nicht ohne Scharfsinn aufgespürten geistigen und ideellen Beziehungen der einzelnen Darstellungen zu einander nach- gehend, dabei das für die bildende Kunst ungleich maassgebendere Räum- liche aus den Augen verlierend und künstliche Responsionsschemata der Poesie und Musik auf dies Werk der bildenden Kunst übertragend, zu einem ganz falschen Resultat gelangt. Ich habe dies schon vor vielen Jahren ausgesprochen 76), und da ich kaum glauben kann, dass nach allem dem was seit 1845 über die Composition der Bildwerke an der Kypse- loslade und über den Parallelismus als Compositionsprincip der bildenden Kunst geschrieben ist, der treffliche Bergk noch heute an seinem System festhält, oder dass sich sonst irgend Jemand zu demselben bekennen sollte, so halte ich eine erneute Polemik gegen dasselbe hier für über- flüssig und glaube ihm mit dieser Erwähnung genug gethan zu haben.

Aias und Kassandra (bei Pausanias vor 1 0) . Man sieht, schon hier stimmt nicht Alles (s. 7, 9, 11); dass sich aber 12. bei Dionysos unter Bäumen gelagert weder der eine nocli der andere Gedanke anwenden lasse, hat W. selbst gesehn, der dies eine mit nichts Anderem zusammenhangende Vorstellung nennt, von der er annimmt, sie sei aus irgend einem besonderen Anlass der Zeit oder des Ortes beigefügt worden.

75) Archaeol. Zeitung 1845 S. 150 ff.

76) N. Rhein. Mus. (1850) S. 435.

53] Über die Lade des Kypselos. 641

Genauer ist auf Brunns Bearbeitung der Responsionsfrage 77) einzu- gehn, welche, an diejenige Welckers anknüpfend, als deren Fortführung bezeichnet werden darf, und sich vor jener theils durch die festgehaltene Voraussetzung der Streifentheorie, theils durch eine noch consequentere Betonung des rein Räumlichen auszeichnet, und hauptsächlich nur an dem Mangel der Unterscheidung der drei Seiten leidet. Auch Brunn be- ginnt, wie das kaum anders möglich ist, mit dem »Mittelbilde des unter- sten Streifens«, d. h. dem äytov bii LleXicc ; »hier entsprechen sich , sagt er, an beiden Enden Herakles und Akastos, ihnen zunächst fünf Zweige- spanne und fünf Männer im Wettlauf. Was etwa die ersteren im Räume vor den letzteren voraus hatten, wiewohl wir die Gespanne theilweise einander deckend denken können, glich sich durch die grössere Beglei- tung und die Kampfpreise auf Seite des Akastos aus, denn den Töchtern desselben (vielmehr des Pelias) setzt P. (bei Herakles) nur eine Flöten- spielerin entgegen«. Wie sich die Gespanne und die Läufer fast genau einander ausgleichend denken lassen, zeigt meine Zeichnung, auf die ich weiterhin näher zurückkomme, ebenso, wie die Endgruppen einander aufwiegen. »Zwischen den erwähnten Gruppen waren ferner zwei Faustkämpfer, zwei Ringer, neben diesem noch ein Diskuswerfer, der aber räumlich durch einen Flötenspieler zwischen den Faustkämpfern auf- gewogen ward. Die &ewfievoi rovg aycoviaräg, wenn es nicht Herakles und Akastos [nebst den Peliastöchtern und der Flötenspielerin] sind [wovon ich überzeugt bin] , können wir uns entweder in halber Figur über den Kämpfern hervorragend oder auf Tribunen zu beiden Seiten gleich vertheilt denken«. Beides scheint mir wegen Ueberladung des Reliefe unmöglich und ich denke, Brunn würde diese Yermuthung wohl unterdrücken, wenn er die Sache zu zeichnen versucht hätte. Ganz ein- verstanden mit ihm bin ich aber, wenn er alle Gruppen zu einem schö- nen Ganzen vollkommen abgeschlossen nennt, und den alle Symmetrie aufhebenden Iolaos zu der Gruppe mit Herakles und der Hydra rech- net"). Wenn nun aber Brunn glaubt, für die End Vorstellungen (Pelops und Oinomaos, Amphiaraos' Abschied rechts und Herakles im Hydra- kampfe, Phineus links) ein Gleichgewicht voraussetzen zu dürfen, wenn

77) Ueber den Parallelismus in der Compositum altgriechischer Kunstwerke, im N. Rhein. Mus, v. «847 (V.) S. 335 ff.

78) S. oben S. 33 Note 46 u. vgl. unten §.9.

612 J. OvEmrs. r^

wir an'h ni'ht im ^tan-!e .^.^n A'+^'A** na*h7nw*:**»n >o kann ich ihm n«V*h» b*itret*n: %irr!nrK*hr g!auhe in. da^s ef^n diese Darstellungen die >eben**rten gefallt, und da»5 wir nach einem Gleichgewicht, einer Entsprechung unter ihnen deswegen gar nicht zu snchen haben, weil *ie nicht sleichzeitu? übersehbar waren, a.ler Paralleltsmos also, wäre er % ortenden gewesen, ohnehin verloren c^^san^en wäre. Dieser Grund- *atz gilt mir auch für die folgenden zf^u^ tind nach ihm, der alle Schwie- rigkeit hebt, welche ans der NieMresponsion der Anfangs- ond Enddar- Mellnniren fliegst, habe ich schon früher die Vertbeilons auf die drei Sei- ten vorgeschlafen and habe ich >ie non in der Zeichnung durchgeführt.

Aach für die zweite jwpa schliesst sich Brunn Welckern last geoao an: indem er »die Hochzeit '? derMedeia ond den hochzeitlichen'?1 Chor de* Apollon and der Musen als grössere Darstellung in der Mitte« auf- fegst, erstreckt sich ihm der ParaDelismus auf die Gruppen von Idas ond Marpessa bis zu Peieus ond Thetis. Die drei mehr allegorischen Grup- pen, Nacht mit Schlaf und Tod. Dike and Adikia und die Phannakeotrien werden abgesondert and dem von den Gorgonen verfolgten Perseus ent- gegengestellt. Eine Responsion anter diesen Gegenbildern nachzuweisen hat Brunn nicht versacht, das wäre auch vergeblich und unnütz gewe- sen, sie sind nicht parallel weil sie den Nebenseiten angehören. Trennt man aber Apollon and die Musen von Jasons und Medeias Liebesvereini- gung durch Aphrodite, wie dies der Inschrift wegen unbedingt geschehn muss, so wird man schwerlich umhin können, auch die Gruppe Peieus und Thetis, welche Brunn als die Eckgruppe rechts des Mittelfeldes mit Idas und Marpessa als derjenigen links, übrigens gewiss passend, in Contra- post stellt, auf die rechte Nebenseite zu verlegen, und nun herüber und hinüber zu verbinden : Idas und Marpessa Enyalios und Aphrodite, Zeus und Aikmene Atlas und Herakles, Menelaos und Helena Apol- lon und die Musen, so dass Iason. Aphrodite und Medeia als Mittelbild, wenn auch von geringerem Umfange, übrig bleiben. Wie sich hierbei der räumliche Parallelismus herstellt zeigt meine Tafel, auch die ideelle Entsprechung ist, zum Theil wenigstens, nicht schwer nachzuweisen, tritt jedoch gegen die Bedeutung der räumlichen zurück.

Für die vierte %<o(>a weicht Brunn stärker von Welcker ab, was ich nur billigen kann, da er es nach dem Grundsatz der strengen räumlichen Entsprechung thut. Der Vorstellungen sind 13 sagt Brunn, die 7. also ist die mittelste: Helena mit Aethra und den Dioskuren. Wie diese,

OOJ

Über die Lade des Kypselos. 643

welche auf den ersten Blick den anderen ziemlich gleich zu sein scheint, sich als grösseres Mittelbild aussondert, wenn man den Dioskuren, höchst wahrscheinlicher Weise, ihre Rosse beigegeben denkt, hat Brunn gut ausgeführt und habe ich in meiner Tafel zu veranschaulichen versucht. Für die Endvorstellungen : links Boreas und Oreithyia, rechts Dionysos unter Bäumen gelagert verzichtet B. auf den Nachweis des Parallelis- mus, der nur in Ideenverbindung zu suchen sein könne, welche festzu- stellen die Haltpunkte fehlen. Da diese Endvorstellungen jedenfalls den Nebenseiten zufallen, kann uns ihr Nichtentsprechen nicht stören. Für die folgenden Gruppen (v. I. u. r. her) : Herakles und Geryon und Eteo- kles und Polyneikes sucht B. einen Parallelismus als möglich nachzuwei- sen; ich gebe die Möglichkeit zu, kann aber auf dieselbe kein Gewicht legen, weil ich überzeugt bin, dass auch diese Gruppen auf die Neben- seiten gelegt werden müssen79). Für den Rest der Gruppen, die auch ich auf die Vorderseite verlege, gelingt Brunn der Nachweis der Entspre- chung, wie mir scheint, sehr gut; wobei freilich Artemis mit Panther und Löwe und das Parisurteil den Platz weehselq müssen. Wie füglich hier eine kleine Unordnung in der Abfolge bei Pausanias angenommen werden kann, hat Br. ausgeführt, dass er Recht habe, ist auch meine Ueberzeugung ; man zeichne die Sache, und die Notwendigkeit der Um- stellung ergiebt sich von selbst.

Am wenigsten weit ist die Entscheidung für die oberste %<»Qa gediehen, und zwar allen Bearbeitern, nicht nur Brunn und mir. Die durch den Mangel der Inschriften bewirkte Unsicherheit des Pausanias mag hier einen Theil der Schuld tragen, ja ich bin noch nicht einmal gewiss, dass P. uns alle Figuren genannt hat, die er sah. Wenn Brunn, etwas künst- lich, einen Parallelismus der Endvorstellungen nachzuweisen sich be- müht, so halte ich das für verlorene Arbeit, da ich natürlich diese Vor- stellungen (Herakles und Kentauren, Odysseus und Kirke) auf den Ne- benseiten suchen muss, wo mir ihre Nichtentsprechung keine Scrupel macht. Anders verhält es sich mit den beiden mittleren Vorstellungen

79) Beiläufig; wenn Brunn darauf hinweist, dass in mehren Yasen von dem drei- leibigen Geryon der eine Leib bereits als gefallen dargestellt werde, und hierin, unter der Annahme das sei ähnlich an der Kypseloslade gewesen, einen Parallelismus mit dem auf das Knie gefallenen Polyneikes findet, so passt das nicht recht zu den Wor- ten des Pausanias, der 19. \ den Geryon so bezeichnet : TQilg de avÖQeg rtjQvovqg elaiv akkrjkoig TtQOVt%6n£voi.

G44 J. 0 VERBECK, [56

von so sehr ungleicher Ausdehnung. Wenn hier Brunn meint, die klei- neren Nereidengespanne finden in dem grösseren Maulthiervvagen der Nausikaa ihr Gegengewicht, so will ich nicht grade widersprechen, auch wenn er Thetis und Hephaestos als in der Mitte stehend fasst, ent- spricht das meiner Anordnung ; allein für Cheiron , den auch Brunn als zu der Scene der Waffenübergabe an Thetis gehörend betrachtet, fehlt mir der rechte Contrapost und die geringe Ausdehnung der Nausikaa- darstellung wird um so fühlbarer, je mehr man die andere Darstellung ausdehnt. Ob bei Nausikaa Pausanias nicht, wie schon Welcker meinte, die (zu Fusse) begleitenden Dienerinnen zu erwähnen vergessen hat, und ob nicht deren Voraussetzung ein grösseres Gleichgewicht herzustellen geeignet sein würde , will ich dahinstehn lassen ; ich habe auf die An- wendung dieses Mittels verzichten zu müssen geglaubt.

Brunn verkennt zum Schlüsse nicht die Schwierigkeiten , die sich vielfältig bei der Durchführung des Einzelnen in den beiden letzten Reihen ihm entgegenstellten, und meint, es werde sich vielleicht Manches ein- facher herausstellen, \yenn wir einmal im Stande sein sollten, den Ideen- zusammenhang des Ganzen genügend nachzuweisen. Er verzichtet auf den Versuch, weil wir über die Veranlassung der Weihung [vielmehr der Anfertigung der Lade] im Dunkeln sind, die doch von dem Künstler bei der Wahl seiner Gegenstände zunächst , sei es auch auf noch so ein- fache und indirecte Weise, gewiss berücksichtigt worden sei. Auch mir scheint die Zeit noch nicht gekommen , wo es uns gelingen kann , wenn es uns jemals gelingen wird , den Ideenzusammenhang aller Bildnereien an der Kypseloslade nachzuweisen. An ein blosses gleichsam zufälliges Zusammenwürfeln von Gegenständen glaube ich indessen nicht, und wenn Preller (a. a. 0. S. 296 f.) uns auf ein solches hinweist, weil es bisher auch noch nicht gelungen ist, den Ideenzusammenhang der Bilder an der Frangoisvase genügend darzuthun , so urteile ich hierüber heute nicht anders als früher M), wo ich aussprach, solche Probleme sollten als

Gegenstand der Forschung immer aufs Neue hingestellt, und nicht, weil sie bisher ungelöst sind , durch eine negative Kritik bequemer Weise bei Seite geschoben werden. Einstweilen glaube ich , dass die Hauptarbeit in dem Nachweis des rein räumlichen Parallelismus zu bestehen hat, und in Beziehung auf diesen hoffe ich noch heute, wie früher (a. a. 0.) einen

80) Geschichte d. griech. Plastik a. a. 0.

57] Über die Lade des Kypselos. 645

Theil der Schwierigkeiten , auf welche Brunn stiesß , hinweggeräumt zu haben durch die Vertheilung der Bildwerke auf drei Seiten der Lade, welche aus anderen Gründen für mich feststeht (s. oben S. 38 f.). Ge- billigt hat meinen Gedanken und ihn zu begründen versucht Mercklin in der Archaeol. Zeitung von 1860 S. 101 ff.; da M. aber seine Gründe auf die von ihm zuerst gründlicher behandelten Inschriften stützt, so haben wir diese zunächst zu prüfen und was über sie zu sagen ist , zu- sammenzustellen .

7. Die Inschriften.

Was Pausanias über die Inschriften sagt ist dies: (17. 3) rmv de inl rfj kaQvcau ijnygdfifuxra Znemi roig nkeioai yqafifiaai roig aqxaioig yeyQa/i/uva ' %al ra ftiv ig ev&v avrwv e%ei 9 axijfuxra di akka rwv yqa^ fidrtov {miyQafifidnov?) ßovoTQoepTjddv %ccXov<jip"EXXt]V€S . yeyqaTtrai di eni rfj Xdqva%i xal äXk&g ra irny^dfifiara ikiyfioig avfißaXeo&cu jfafc- notg. Weiterhin im Laufe seiner Beschreibung unterscheidet Pausanias einzelne Namen und Verse. Die Auslegung der eben mitgetheilten Worte des Pausanias ist in einzelnen Punkten nicht ganz unbestritten , scheint mir aber , wenn man nur alle Willkür fern hält , einfach genug. Ueber die alte Form der Buchstaben zu reden ist unnöthig, die versteht sich bei diesem Kunstwerke von selbst , wichtiger ist die Richtung der Epi- gramme. Pausanias unterscheidet dreifach, füv ig evfrv avrwv tx*<, also sind in einer Richtung, gleichviel in welcher, gradeaus geschrieben, andere sind bustrophedon geschrieben, noch andere ikiypoig avpßak-o&ai Xcdenolg. Was ßovarQO(ptjd6v sei erklärt Pausanias (and rov ne^arog rov tnovg i7Tior()6(p€i rtav inwv ro devregov wo7ieQ iv diavkov dpo/up) und das ist bekannt und unzweifelhaft ; bleiben die ikiy/iol ov/jßcdeo&ai xaUnoi. Hier ist Zweifel ; Schubart behauptet in einer Note zu seiner Uebersetzung (S. 390. 87) die »schwer zu entziffernden Windungen« können sich eben so wohl auf die Züge der einzelnen Buchstaben beziehn wie auf die Windungen der Zeilen; Mercklin widerspricht S. 102, wie ich nicht zweifle , mit Recht. Von den y^d/i/iaai hat Pausanias anfangend gesagt, dass sie alt seien ; was er weiter aussagt bezieht sich auf die SmyQa/i- futra%x)% so nach seinem Wortlaut {jhziyQ. ineari ye/Qafifuva %ai ra fuv

84) So hat schon Völkel, Archaeol. Nachiass S. 4 58 mit Verweisung auf das samothrakische Relief richtig erklärt.

646 J. Ovebbeck, [58

avrcop x. r. A. . . aXka twp \int\yqamiwtfAV ßov<5T()0<pi{döv xakovai

yiyqamai di inty^afifiara ekty/uoig etc.) und so nach dem allein mög- lichen Sinne, was namentlich daraus hervorgeht, dass einzelne Buch- staben nicht bustrophedon geschrieben werden können , weswegen das yga/Afidrow auch wohl in miygafi/Lidrcov zu ändern sein wird. Auch heisst Gv/ußcdto&ai #ttA«ro/s nicht wörtlich «schwer zu entziffern« , son- dern schwer zusammenzuzählen, zusammenzusuchen oder zusammenzu- lesen, was sich nur auf die Windungen der Zeilen beziehn kann. Auch an Beispielen solcher in ikiyfioig avfißakea&ai xaXenoh geschriebenen alten Inschriften fehlt es bekanntlich nicht , sie finden sich zunächst auf vielen Vasenbildern der ältesten Art82), dann auch in Steinschriften welche aber , da sie nicht mit Figurendarstellungen verbunden sind , hier nicht in Frage kommen können **) ; endlich mögen hier auch die Aufschriften auf Schilden 84) mit eingerechnet werden85). Was nun aber die Unter- scheidung der drei Arten von Inschriften auf der Ky pseloslade , näm- lich der gradeaus , der bustrophedon und der in Windungen geschrie- benen anlangt, hatMercklin S. 102 behauptet, die gradeaus geschriebenen Bpigrammata seien die einzelnen Verszeilen, die bustrophedon geschrie- benen die Doppelhexameter, die in Windungen geschriebenen mit einer Ausnahme (des Hexameters auf Agamemnons Schilde, der möge iv ikiy- /wie geschrieben sein S. 106), die einzelnen Namen. Das aber ist bare Willkür und nichts Anderes, und Schubart hat ganz Recht, wenn er S. 31 1 die üiy/uol auch für die Verszeilen und ganz besonders für diese in Anspruch nimmt. In Wahrheit ist keine Art der Inschriften , Namen, einfache und doppelte Verszeilen von der Schreibung iv iXiyfwh ausge-

82) Nur beispielsweise will ich auf folgende besonders charakteristische ver- weisen , in denen sich die meisten iktypol meiner Beischriften wiederfinden. Mon. d. Inst. I. 24 (Sosiasschale), 39 (Gespräch, um Palmetten geschrieben), II. 4 4 (im Kreise um das Bild), 24 (Gespräch, der Schwalbe Rückkehr), 44. A. (O)ivenerndte) und B. (nach derselben, Gespräch), IV. 54 57 (Francoisvase), 59 (Kylix des Glaukytes u. Archikles, auch b. Gerhard, Auseri. VB. 3. 235—36), V. 10; VI. 4 4, 15, 19, 22, 33. Gerhard, Auserlesene Vasenbb. I. 6, 20 24, 22, 25, 62; II. 90, 92, 403, 107, 121 ; III. 168, 488, 490—94, 492, 206, 223 und 227.

83) Auf die Inschriften des bekannten samothrakischen Reliefs mit Agamemnon, Thalthybios und Epeios ist schon von Anderen (Völkel, Siebeiis, Mercklin) hingewiesen worden.

84) z. B. Paus. 5. 4 0. 4; 25. 4 0. Vgl. Mercklin a. a. O. S. 4 06 Note 4 0.

85) Richtig subsumirt Schubart S. 34 4 die bustrophedon geschriebenen Bpigram- mata unter die in Windungen geschriebenen, und zwar des nal äkktag wegen.

59] Über die Lade des Kypselos. 647

schlössen, wenngleich wir die einzelnen opo/iara von der Schreibung bustrophedon auszuschliessen haben. Nicht ganz so willkürlich, aber eben so verkehrt ist Mercklins Annahme S. 406 die Verse hatten unter den zugehörigen Bildwerken gestanden, was er daraus schliessen will, dass es von einem Hexameter (19. 4) heisst, er stehe vitty rov 'Tipido- juavTog vexqov. Auch auf diesem Punkte ist er durch Schubarts Ausein- andersetzung S. 314 f., die ich hier nicht wiederholen will, zurückge- wiesen. Ueber dem Leichnam des Iphidamus stand der Vers wie in Vasen über anderen Gefallenen der Name steht86), aus dieser Angabe folgt für die Stellung der übrigen Inschriften gar Nichts, sie stehn, wie Personennamen und Künstlerinschriften in Vasenbildern und wie die drei Namen auf dem samothrakischen Relief, wo Platz war, und eben des- wegen , weil sie den von den Figuren freigelassenen Platz zu occupiren hatten, waren sie iv iXiy/uoig geschrieben.

Inschriften, sagt Pausanias, stehn zu den meisten (toig nteioai) der Darstellungen auf der Kypseloslade, nicht zu allen. Er selbst giebt aus- drücklich das Fehlen derselben an zunächst für die ganze 5. #*)(>«, dann folgt es aus des Beschreibers Worten für die ganze dritte , wo P. nicht im Zweifel über den Gegenstand, über die Bedeutung der Schlacht hotte sein können, wenn auch nur ein Name beigeschrieben gewesen wäre. Für die übrigen drei xcopa*, welche Beischriften hatten, giebt Pausanias das Fehlen derselben bei einzelnen Figuren direct an im ersten Felde ; hier hatte keine Beischrift die Alte , welche den kleinen Ampbilochos trug, die Flötenspielerin hinter Herakles im aytiv int /7*A*a87), ferner dieser selbst, ebenso der Flötenbläser zwischen den Faustkämpfern Mopsos und Admetos, sodann die Töchter des Pelias mit Ausnahme der Alkestis8*) und endlich der Herakles im Hydrakampfe. In den beiden übrigen mit Inschriften versehenen Feldern [i u. 4) erwähnt Pausanias nur für den Herakles mit Atlas im zweiten (1 8. 4) das Fehlen der Beischrift ausdrücklich.

86) Vgl. nur z. B. Gerhard, Auserl. Vasenbb. 3. 192, 205, 223, m. Gall. Taf. 28. 3.

87) Denn sieber ist hier zu lesen Tavttjg ttjg yv*cu*bg ijtlyQa/Afia ixneoti* rpiq iori, nicht intaxt.

88) Tb di ovofia im ty '4kxq<jrtdt yiyQvntai popy n. H . Wenn dazu Schu- bart a. a. 0. S. 3H bemerkt: »die übrigen waren ohne Zweifel durch die Betschrift &vyccztQtg TliXlov kenntlich gemacht«, so sehe ich nicht ein, wo das Unzweifelhafte einer solchen Annahme stecken soll, die mir sehr unwahrscheinlich vorkommt.

650 J. Overbbck, [68

Pelops und Oinoroaos mag man es wegen der von Pausanias hervorge- hobenen Flügel pferde des Pelops glauben, für Phineus mit den Harpyien desgleichen , allenfalls auch noch bei Peleus und Thetis , bei Boreas und Oreiihyia ; leicht bei Herakles und Geryon, ja es wäre wunderlich genug, wenn man hier eine Beischrift bei Herakles für nöthig gefunden hätte, während sie drei Mal bei ihm als fehlend, weil überflüssig, hervorgehoben wird. Auch bei dem unter Bäumen gelagerten Dionysos mag das gelten, und allenfalls bei Achilleus und Memnon mit ihren Müttern und bei Eteokles und Polyneikes. Schwer glaublich aber ist dies bei Zeus und Alkmene , Menelaos und Helena , Theseus und Ariadne , Meilanion und Atalante, Aias und Hektor, Artemis, der geflügelten, oder gar Dike und Adikia! Erklärten sich diese Personen und Scenen von selbst, nun, so ist nicht abzusehn , warum überhaupt e i n Name beigeschrieben worden wäre , und vollends , wenn auch die Kämpfer in den Leichenspielen des PeUas nicht benannt worden wären. Erwägt man dieses, und bedenkt man, wie zahlreich in den alten Vasen die Beischriften nicht nur zu Per- sonen, sondern selbst zu Gegenständen sind, so wird man schwerlich umhin können, sich für die Alternative zu entscheiden, die Mercklin vorgezogen hat, dass die Namen standen, wo Pausanias sie nicht als fehlend be- zeichnet. Allein auch dieses mit einer Einschränkung. In den Scenen, wo Pausanias nur den Namen einer Person angiebt : bei Enyalios und Aphrodite, Perseus und den Gorgonen, Eteokles und Polyneikes ist es immerhin vorsichtiger, das Fehlen der Beischrift bei den anderen Per- sonen anzunehmen, als das Gegentheil ; am wenigsten kann ich Schubart beitreten, wenn er S. 312 meint, die Perseus verfolgenden Gorgonen hätten die Beischrift adeXyai Medovotje gefllhrt. Aus einem eben schon angedeuteten Motive kann ich auch nicht glauben, dass Herakles im Kampfe mit Geryon inschriftlich benannt gewesen sei.

Was nun hiernach die Vertheilung der Beischriften auf die einzelnen Theile des Bilderschmucks der ka$va£ anlangt, glaubt Mercklin S. 104 folgende Ergebnisse der Untersuchung hinstellen zu können. 1 . »Hexa- metrische Zeilen und einzelne Namenangaben treffen nirgend zusam- men, sondern schliessen sich gegenseitig aus«. Diesen Satz muss ich in dem Sinne, in welchem Mercklin ihn, wie der weitere Zusammenhang zeigt, verstanden hat, bestimmtest in Abrede stellen. Es ist ja ganz ein- fach Thatsache, dass im 2. und 4. Felde Verse und einzelne Namenbei- schriften mit einander, wenn auch ohne Regelmässigkeit, abwechseln.

63] Ober die Lade des Ktpselos. 651

Nur darüber könnte Zweifel sein , ob in einem Bilde , wo nicht alle an* wesenden Personen ohnebin im Verse genannt waren, den einzelnen Personen die Namen beigeschrieben waren, wie ich glaube, oder nicht.

2. »Die Namenangaben sind von keinem Theile der Bildflachen aus- geschlossen, die hexametrischen Zeiten finden sich dagegen nie

zu Anfang und Ende der Streifen, sondern nur in der Mitte«.

Diese Beobachtung ist eben so augenscheinlich richtig, wie die erstere falsch ist, auch hat Schubart sie anerkennen müssen, obwohl er S. 312 gegen den Schluss, den Mercklin aus derselben zieht allerlei Ein- wendungen macht, die mir zu den wenigst gelungenen Stücken seines Aufsatzes zu gehören scheinen. Mercklin nämlich schliesst, dass durch die nur ihnen beigegebenen Hexameter die Bilder der Vorderseite aus- gezeichnet und gegen die nur mit Namenbeischriften versehenen Bilder der Nebenseiten unterschieden werden sollen. Er glaubt durch diese Bemerkung die von mir getroffene Vertheilung der Bilder auf Haupt- und Nebenseite überhaupt und auch gegenüber der abweichenden Anordnung Brunns rechtfertigen zu können, und führt das im Einzelnen durch.

So willkommen mir nun auch eine solche Unterstützung meiner An- ordnung sein würde, und so gern und bereitwillig ich anerkenne, dass in der That in der Beigabe von Versen ein Auszeichnen und Hervorheben (schon für das Auge und ganz besonders für dieses) der mit ihnen ver- sehenen Bilder liege8*), welches den auch nach andern Gründen auf der Vorderseite befindlichen zu Gute kam , so kann ich Mercklins Ver- muthung doch für mich nicht utiliter acceptiren. Erstens nämlich kann er durch seine Annahme nicht beweisen , was er doch will (bei Peleus und Thetis) , dass ein Bild ohne Vers nicht auf die Vorderfläche gehöre ; denn dergleichen sind hier gar nicht selten, und zweitens sind die Verse mit einer, anscheinend wenigstens, so vollkommenen Systemlosigkeit räumlich über die Fläche sowohl innerhalb der einzelnen %to^ai wie wiederum auf diese in ihrer Gesammtheit vertheilt , dass es höchst un-

89) Sehr unwillig muss doch auch Schubart das anerkennen; denn wenn er S. 312 sagt: »will man für den Umstand, dass wirklich die hexametrischen Inschrif- ten nur in der Mitte der Bilder erwähnt werden, einen Grund suchen der Zufall ist bfos Nothbehelf so konnte ja der Künstler bei den ausgiebigeren Inschriften in der Mitte die Absicht haben , grade hier eine grössere Fülle zu concentriren und dadurch dem Bilde einen in die Augen fallenden Mittelpunkt zu schaffen«, so ist das ja in der That eine Bestätigung von Mercklins Annahme.

652 J. Ovekbeck, [R*

wahrscheinlich wird , sie haben räumlich wirken sollen , und seien des- wegen angebracht. Was immer der Grund ihrer Anbringung gewesen sein mag, dass es kein künstlerischer oder wenigstens zunächst kein künstlerischer war, das wage ich bestimmt zu behaupten. Damit aber fällt für meine auf rein räumlichen und künstlerischen Motiven beruhende Restauration die Benutzbarkeit der Mercklin'schen Beobachtung hinweg. In Beziehung auf die Inschriften bleibt uns , so viel ich sehe nur noch eine Frage zu berühren , die Schubart ganz zum Schlüsse S. 31 5 aufwirft ; nämlich : »wie waren die Inschriften eingelegt , mit Gold oder Elfenbein? oder wie sonst hat man sich das Technische zu denken?« Eine positive Antwort auf diese Frage ist der Natur der Sache nach nicht wohl möglich , allein ich denke doch , dass man sich für die An- nähme, dass die Inschriften in goldenen Buchstaben eingelegt waren, als für die wahrscheinlichste entscheiden wird. Aus dem Holze geschnitzt, wie ein Theil der Bilder, konnten sie nicht wohl sein, denn das hätte ihre Lesbarkeit in übertriebenem Maasse erschwert ; waren sie aber aus einem vom Grunde verschiedenen Stoffe eingelegt, oder auch in Relief, erhaben, aufgeheftet, so ist ihre Herstellung aus dem spröden, schwer zu ver- arbeitenden und leicht zerstörbaren Elfenbein gewiss unwahrscheinlicher zu nennen als ihre Verfertigung aus Gold. Dies um so mehr, je mehr sie sich dem Charakter des Ornaments näherten, und je wahrscheinlicher man sich grade das Ornamentale in den einzelnen Bildern als aus Gold gebildet zu denken hat.

8.

Die Technik der Bildwerke.

Wir gelangen damit überhaupt zu den technischen und artistischen Fragen , an denen ich nicht glaube vorbeigehn zu dürfen , obwohl ich hier doppell bescheiden aufzutreten wünsche , sintemal ich mit Pindar sagen muss : ovx avÖQiavronoios ufit.

Die Lade ist aus Gedernholz gemacht, Xdqvai ned^ov neTioiijrcu sagt Pausanias 17. 5. Aber wie? Die Untersuchungen über die Holzart, wie sie sich bei Heyne und Siebeiis finden90), scheinen mir ziemlich unerheb- lich , nicht so ganz diejenigen über die Tektonik der Lade. Wir haben derselben eine Ausdehnung von 3 Fuss Höhe, 3 Fuss 9 Zoll Länge

90) Heyne a. a. 0. S. 9, Siebeiis Amahh. a. a. 0. S. «58.

65] Über die Lade des Kypselos. 653

und 2 Fuss 8y2 Zoll Breite gegeben; dass sie aus einem massiven Stamm gearbeitet gewesen , wie es kleinere Kasten auch noch heute sind , ist dabei wohl unmöglich anzunehmen. Da demgemäss wohl ein Zusammen- fügen aus verschiedenen Brettern statuirt werden muss, über deren Zu- sammenheften an den Enden und Kanten der Lade ich keine Conjectur vorzutragen weiss , so fragt es sich , ob nicht in diesen der Länge nach über einander zusammengefügten Brettern das Grundschema der ganzen Streifenornamentik schon gegeben war, und zwar so, dass die Höhe (Breite) je eines Brettes den Raum einer ^oopa hergab, während die Fugen in die trennenden Ornamentleisten fielen? So mochten die xüqcu einzeln geschnitzt und fertig gearbeitet und sodann zum Ganzen verbunden werden.

Die Bildwerke auf der Lade nämlich waren theils von Elfenbein, theils von Gold , einige aber auch aus dem Holze des Kastens selbst ge- schnitzt, sagt Pausanias91). Halten wir uns genau an diesen Wortlaut, so werden wir annehmen müssen , dass das Elfenbein und Gold in den Bildnereien das Holz überwog; zunächst aber ist noch zu bemerken, dass an zwei Stellen explicite noch ein vierter Stoff, wenigstens eine vierte Farbe , nämlich Schwarz erwähnt wird ; die Nyx der 2. x®Qa hat einen weissen Knaben (Schlaf) und einen schwarzen (Tod) in den Armen (18. 1) und in der 4. ^capa ist (19. 3) die unter Helenas Ftisse getretene Aethra mit einem schwarzen Gewände angethanw). Ob diese schwarzen Theile aus Ebenholz gefertigt waren, was ich für wahrscheinlicher halten muss , oder nur schwarz gebeizt, ist zu wissen weniger wichtig, als das Andere , worauf leider auch keine Antwort möglich ist, ob die schwarze Farbe auf diese beiden Stellen beschränkt oder auch sonst noch ange- wendet war, wo Pausanias es nicht sagt. Ich gestehe, dass ich Ersteres nicht recht glauben kann, werde mich aber wohl hüten, mit Vermuthun- gen über weitere Anwendung der schwarzen Farbe ein unnützes Spiel zu treiben.

Leider giebt nun aber Pausanias auch über die Anwendung der drei anderen Materialien, des Goldes, Elfenbeins und Holzes auf die ein- zelnen Theile der Bildwerke nur höchst unzulängliche Andeutungen. Von

9 \ ) £(j)dia Öl itiyavtoq tri avrtjg , rd dl %qvoov , ra dl xai *'£ airrfjg iativ ttQ- yaoptva tfjg xtdgov.

92) Schubart hat hierauf S. 304 zuerst auftnerksaro gemacht.

Abhandl. d. K. S. Gesellich. d. Wiitentcb. X. 44

654 J. OVBBBBCK, [«•

dem Holze spricht er gar nicht wieder; weiss, also doch wohl aus Elfen- bein gefertigt , nennt er den einen Knaben (Schlaf) in den Annen der Nyx (18. I), und als golden bezeichnet er 19. 6 den Becher des lagern- den Dionysos und 1 9. 8 die Flügel der Nereidenrosse. Das ist Alles ; aber auch aus diesem höchst Wenigen wird sich wenigstens Einiges fol- gern lassen. Beginnen wir mit dem Golde, so ergiebt sich aus Pausa- nias' Erwähnung desselben, dass es auf einzelne Theile angewendet war, und dass es unter diesen wenigstens bei dem emw/ta des Dionysos den natürlichen Stoff wiedergab. Wenn ich nun annehme, dass dem gemäss auch sonstige xQv<**a von Gold gefertigt waren, wie namentlich die Hals- bänder der Eriphyle und der Alkmene, der Becher, den Zeus eben dieser Alkmene? neben dem Halsbande darbot, ferner die Preisdreifilsse, sodann die Hesperidenäpfel in Atlas' Hand, und etwa die Sterne auf dem von ihm getragenen Polos oder Uranos, so fürchte ich hiergegen keinen Wider- spruch. Aber ich frage weiter : ergiebt sich nicht aus Pausanias' Anfüh- rungen indirect , dass nur Theile der Figuren , nicht ganze Figuren aus Gold gefertigt waren? wie es aus den Eingangsworten Cqbiia . . . rd di XQvoov ioriv eiQyaafieva scheinen könnte ; ist es überhaupt an- nehmbar , dass in dieser Technik ganze Figuren mit Haut und Haar aus Gold gefertigt waren? und wenn dies schwerlich bejaht werden wird, ist es da nicht das bei weitem Wahrscheinlichste, dass aus Gold bestanden 1. Schmucksachen, 2. Waffen oder wenigstens Waffen theile, namentlich Schilde, Panzer, Schwerter, oder 3. Waffenornamente« zumal Schild- zeichen , dann aber auch Kleiderornamente besonders Säume und Ver- brämungen, endlich 4. etwa noch Pferdezttgel, etliche Wagen, wenn nicht alle, die Früchte an den Bäumen um den lagernden Dionysos?

Mich dünkt dies ist die rationelle und im Geiste der griechischen Kunst gehaltene Anwendung des Goldes, das übrigens leicht verschieden, glänzend oder matt gehalten, und dadurch noch stärker mimetisch sein konnte ; mich dünkt aber auch , dass eine so ausgedehnte Verwendung des Goldes Pausanias berechtigte, mit freilich nicht streng genauen» Aus- drucke zu sagen : £<pdia . . . ra de %qvgov . . . ioriv tiQyaa/ieva* Dass das Gold dünn ausgetrieben, atpvQrjkwrov, und dann dem Holze mit Nieten oder Stiften aufgeheftet war, scheint mir die nächstliegende, fast unver- meidliche Annahme.

Wir kommen zum Elfenbein. Aus diesem Stoffe war allerdings eine ganze Figur, der Schlaf in den Armen der Nacht, allein das ist nicht eine

67] Über die Lids des Kypselos. 6Ö5

Figur wie alle anderen, sondern ein nackter Knabe, wahrend die übrigen Figuren grösstenteils bekleidet oder gerüstet waren. Sollte sich hieraus in Verbindung mit dem über die Verwendung des Goldes Gesagten nicht als das Wahrscheinlichste ergeben und nur frageweise mag ich auch hier meine Vermuthungen aussprechen , dass aus Elfenbein auch im Uebrigen das Nackte hergestellt war, und zwar nicht bei allen Figuren, sondern bei denen, welche nach Maassgabe der Vasenmalerei die nächsten Analoga zudem Knaben bieten93), bei den Weibern nämlich? Ist es nicht ferner nach Maassgabe derselben einzigen Analogie die wir haben , der Vasenmalerei, anzunehmen, dass ausser den Weibern hie und da, viel- leicht sogar in regelmässigem Wechsel mit dunkel (ans Holz) dargestell- ten, ein Pferd94), dass ferner (wie speciell an der Frangoisvase) bauliche Einzelheiten z. B. am Hause des Amphiaraos, an dem Tempel oder der diesen vertretenden Säule bei Idas und Marpessa, dass die Kiine des Odysseus und der Kirke, die vorkommenden Throne u. dgl. m. weiss, d. h. aus Elfenbein gebildet gewesen? Für das Holz bliebe auch so noch Manches übrig, namentlich das Nackte der Männer, manche Pferde, die verschiedenen Hohlen u. dgl. ; allein bei dem Überwiegenden Ein- druck des Goldes und Elfenbeins scheint das nicht zu Viel zu sein , um Pausanias' Ausdruck zu rechtfertigen , der die aus dem Holze der Lade selbst geschnitzten Theile zuletzt und mit ra dl %al anführt.

Mag aber Viel oder Wenig aus dem Holze des Grundes geschnitzt gewesen sein , in jedem Falle bedingte dies die Art der Beliefbildnerei auch für die aus Gold und Elfenbein geformten Theile. In welchem Grade erhoben das Relief an der Kypseloslade , ob es flach oder halb- erhoben war, denn an Hochrelief wird wohl kaum Jemand denken, kön- nen wir nicht sagen, obgleich mir die Annahme eines flachen Reliefe, wie wir es z. B. an der samothrakischen Platte kennen, wahrscheinlicher vorkommt, als ein stärker erhobenes. Behaupten aber können wir, dass wenn das Relief aus der Masse des Holzes der Lade gewonnen wurde, schon dadurch das Stehenbleiben von Stegen und Leisten bedingt ist, von denen die letzteren zugleich als die Standflächen der Figuren dienten. Dass ich in dieser Ueberzeugung mit Ruhl, dem Künstler» zusammentreffe

93) Vgl. Gerhard, Auserl. Yasenbb. 3. Taf. 223.

H) z- B. die Nereidenpferde wie dasjenige des Poseidon bei Gerbard a. a. 0. 4. Taf. 10.

44*

656 J. 0 VERBECK, [68

gereicht mir zur besonderen Genugthuung und giebt mir ein Gefühl von Sicherheit.

Die Leisten zwischen den einzelnen Feldern focopais) aber, welche ich als leere Flächen nicht zu denken vermag, sondern nur als mit Orna- ment gefüllt mir vorstellen kann, dienten auch noch einem anderen wich- tigen Zwecke , welchen ich jedoch im Zusammenhange mit meinem ge- sammten Restaurations versuche zu entwickeln vorziehe.

9.

Rechtfertigung des Herstellungsversuchs in der beigegebenen

TafeL

Es bleibt mir nämlich nun noch übrig, meinen in der beigegebenen Tafel gemachten Restaurationsversuch im Ganzen .und im Einzelnen zu rechtfertigen und über die zu demselben benutzten Quellen und Vorbil- der Rechenschaft abzulegen.

Ueber die Gestalt und die Dimensionen der Lade habe ich früher (s. oben S. 23 ff.) mitgetheiit was ich darüber zu sagen hatte, und will hier nicht darauf zurückkommen. Der Einfachheit der Zeichnung zu Liebe habe ich die Lade als gradwandig behandeln lassen , wie es die kleine- ren , allerdings nicht die grösseren Larnakes sind ; ich denke aber dass Jeder ohne specielleren Beweis einsehn wird, dass ich an meinen Zeich- nungen nichts Wesentliches zu ändern brauche, um sie einer Larnax mit etwas schrägen Wänden wie etwa derjenigen des Tennes und der He- mithea anzupassen, und dass, wenn es möglich gewesen ist, die von Pausanias angeführten Scenen und Figuren auf einer gradwandigen Larnax anzubringen, es nicht unmöglich sein kann, dieselben auch in den Raum der schrägwandigsten die wir kennen, die des Thoas einzupassen.

Für die Anordnung der x™Qai hat mir hauptsächlich die Frangois- vase und haben nächst dieser andere alte streifen- oder reihenweise ver- zierte Vasen05) als Vorbilder gedient. So wie auf allen diesen Vasen

95) Nur als Beispiele will ich folgende Vasen anführen: bei Gerhard, Auserl. Vasenbb 2. 95 u. 96; 405 u. 106; 127; 5. 170; 185; 220; 223; dass bei den meisten dieser Vasen die Echtheit der Alterthümlichkeit zweifelhaft (und mehr als dies) ist, weiss ich , das ist hier aber gleichgiltig , da in dieser Frage die Nachahmung den- selben Werth hat, wie das Original ; echt alte Vasen, wie z. B. diejenigen von Korinth und Capua mit den Eberjagden (Denkm. d. a. Kunst 1.18, d'Hancarville 4. 44) u. A.

69] Übeb die Lade des Kypselos. 657

die Streifen von verschiedener Breite sind, so habe ich die Streifen in meiner Restauration der Kypseloslade von verschiedener Breite ange- ordnet.

Ruhl hat auf eine derartige Anordnung als auf das nächstliegende Auskunftsmittel zur Unterbringung einer verschiedenen Anzahl von Fi- guren in mehre gleich lange Streifen verwiesen ; allein in meiner Restau- ration ist die verschiedene Streifenbreite nicht ein Ergebniss der leidi- gen Noth wendigkeit, sondern meiner Überzeugung, dass die Sache sich auf dem Original so Verhielt, nicht Nothbehelf, sondern freie Wahl. Das wird dem aufmerksamen Beobachter die Zeichnung selbst beweisen. Allerdings m usste ich die unterste x®Qa schmaler nehmen als die zweite, dritte und vierte, namentlich als die zweite und vierte, um die Figuren, die Pausanias nennt, hineinzubringen , allein den zweiten , dritten und vierten Streifen ungleich breit zu machen konnte mich kein äusserer Zwang bewegen, diese drei Streifen in gleicher Breite vorzulegen bin ich jeden Augenblick bereit. Und vollends, den fünften Streifen wieder so schmal zu nehmen wie den ersten, konnte mich am wenigsten das Ver- hältniss der Figurenzahl nöthigen, denn hier sind ja grade die wenigsten Figuren96). Wäre die Figurenzahl ftlr die Breite der Streifen maassgebend gewesen, so hätten die Streifen sich folgendermaassen abstufen müssen: 1 ) am schmälsten der unterste, 2) dann der vierte, 3) der zweite und am breitesten der oberste. Das hätte aber eine überaus monströse Ornamen- tik abgegeben.

zeigen bekanntlich genau dieselbe Erscheinung, nur waren mir hier dergleichen nicht in grosserer Zahl zur Hand; vgl. übrigens noch Mon. d. Inst. 1. 51 und 2. 38 B., Ar- chaeol. Zeitung 4 858 Taf. 114. 2. Auch in Vasen späterer Stilarten ist das Princip, mit einem grösseren Hauptbilde schmalere Sockel- und Friesbilder mit Figuren ganz

anderer Proportionen zu verbinden noch oft nachweisbar, wenngleich die gegensei- tigen Verhältnisse der einzelnen Bilder hier andere sind ; aus hunderten von Beispie- len vgl. nur Gerhard a. a. 0. 2. 138 ; 1. 14, 2. 11 I ; 122 u. 123; ja dieselbe Er- scheinung lässt sich bis in den schönen und reichen Stil verfolgen, wie, um wiederum nur ein paar Beispiele statt vieler anzuführen, die Vasen in der Archaeol. Zeitung von 4850 Taf. 24 u. v. 4860 Taf. 139 u. 440 zeigen.

96) Ich darf wohl noch anführen, dass mein Zeichner ursprünglich den 5. Streifen in der Breite des 2. gezeichnet hatte (ich besitze die Zeichnung noch) und dass er erst dann auf die von mir geforderte geringe Breite herabging, als er sich selbst überzeugte, wie ungeschickt lastend ein breiter oberster Streifen aussehe. Dass ich aber nicht aus Zwang, sondern aus Wahl den obersten Streifen schmal habe machen lassen, wird hierdurch gewiss bewiesen.

658 J. Ovehseck, [70

Der ornamentale Gedanke, der mich geleitet hat, \vo!>ei ich die Anordnung der Fran$oisvase zum Vergleich 20g, soweit sich eine Vase mit unterschiedenem Fuss und Hals und ein Kasten ohne diese Gliederung Oberhaupt vergleichen lassen, ist dieser.

Der unterste und oberste Streifen bilden Sockel und Fries und sie mussten aus diesem Grunde, um ihre ornamentale Idee klar auszusprechen, am schmälsten gehalten werden. Auch an der Frangoisvase sind die Streifen am Fuss und am Halse die schmälsten, jener nur 13/4 Zoll (in der Zeichnung der Monumenti d. Inst., die hier ohne nach der Grösse des Originals zu fragen benutzt werden kann, weil es sich um relative Maasse handelt), dieser 23/s Zoll breit.

Der Hauptstreifen an der Frangoisvase dagegen . der mitteiste am Bauche (und Halse) des Gefesses, ist 4ls/ie Zoll breit Als Hauptsireifen aber giebt er sich abgesehn von seiner Breite dadurch zu erkennen, dass er nur eine um den ganzen Bauch des Gefässes umlaufende Dar- stellung, Peleus' und Thetis' Hochzeit und den Gölterzug zu derselben enthält, während die übrigen Streifen am Gefässe selbst (ausgenommen hievon ist der Fuss mit den Pygmaeen und Kranichen,) je zwei auf Avers und Revers vert heilte Gegenstände enthalten. Nun findet ja etwas ganz Aehnliches auf der Kypseloslade statt; alle %^9at enthalten eine, freilich ungleiche, Mehrheit von Darstellungen , der unterste deren ö (nach mei- ner Anordnung an der Vorderseite nur eine wie der Streifen am Fusse der Frangoisvase), der zweite 12, der vierte 13, der oberste und fünfte 4 (nach meiner Anordnung auf der Vorderseite 2 , die für eine gelten können), nur der mittelste, dritte enthält eine einzige Gesammtdarstel- lung. Es ist das eben jene Schlacht , die Pausanias wesentlich nur als solche anführt. Auf den ersten Blick kann es nun freilich sehr sonderbar und grillenhaft erscheinen, wenn ich diese Darstellung, auf deren Detail Pausanias so wenig eingeht, die mehren der neueren Bearbeiter der Kypseloslade so fremdartig erschien , die Ruhl als einen späteren unor- ganischen Zusatz auf die Rückseite der Lade verlegte, wenn ich diese Darstellung für die Hauptdarstellung erkläre, und ihr ein räumlich be- trächtliches Uebergewicht über die anderen xuiqui gebe. Allein bedenken wir doch, dass Pausanias' kurze Behandlung einzig und allein daher stammt, dass es ihm an einer bestimmten Erklärung des Ganzen und des Einzelnen fehlte , dass folglich Pausanias' Behandlungsart für die that- sächliche Bedeutung und Wichtigkeit des Gegenstandes in keiner Weise

74] Über die Lade drs Kypselos. 659

maassgebend ist , und eben so wenig oder noch weniger der Grad des Interesses, den die moderne Forschung an dieser jf&tya genommen. Be- denken wir ferner, dass wir in den ideellen Zusammenhang sämmtlicher Bildnereien an der Kypseloslade noch so wenig tief eingedrungen sind, dass es uns sehr schlecht ansteht, über die ideelle oder poetische Wich* tigkeit der einen oder der anderen Darstellung abzusprechen. Vergessen wir nicht, dass Pausanias' Ausspruch, diese Schlacht könne wohl die der Pylier und Arkader bei Pheia und am Iardanosflusse (IL 7. \ 33 ff.) sein, also ein vergleichsweise geringfügiger heroischer Gegenstand, Nichts ist, als die Conjectur Einiger, der die Conjecturen Anderer entgegenstanden, welche hier die Aetoler mit Oxylos und die alten Eleer erkannten , und noch Anderer, des Pausanias selbst , welche da meinten , es könne ein Heereszug der Vorfahren des Kypselos dargestellt sein. Es ist allerdings von Preller97) erwiesen, dass die Geschichte, auf die Pausanias hier an- spielt, füglich nicht so dargestellt worden sein kann, wie uns der Perieget ahnen lässt, dass sie in der That dargestellt war. Allein, was bedeutet eine falsche Conjectur des Pausanias? Und wenn nun Pausanias grade in die- sem Streifen Beziehungen zu der Geschichte des erlauchten Hauses des Kypselos sucht, lässt er nicht dadurch ahnen , dass auch ihm diese %d>Qa wichtiger schien als die anderen ? Und wiederum , wenn alle bisher zur Erklärung der Schlacht von den alten Interpreten vorgetragenen Ver- muthungen irre gehn, liegt es denn so überaus fern, zu glauben, sie haben einen viel wichtigeren etwa episch-heroischen Gegenstand nicht erkannt? liegt es so ganz ausserhalb des Bereichs der Möglichkeit hier z. B. an eine Hauptschlacht der Ilias zu denken, und in den avayvQOQiovvTes dXktj- Kövs Diomedes und Glaukos zu erkennen, so dass dann um dies home- rische Bildwerk sich die anderen epischen oder sagenhaften Scenen grup- piren würden? Aber lassen wir das bei Seite; dass ich selbst auf solche Möglichkeiten kein Gewicht lege, brauche ich wohl kaum zu sagen ; hal- ten wir uns vielmehr an das unzweifelhaft Thats&chliche. Dies unzwei- felhaft Thatsächliche aber ist, dass die dritte jfrapa einzig und allein von einer grossen Gesammtdarstellung erfüllt war. Nun zeichne man diese wie man will, breit oder schmal, immer und in allen Fallen wird sie gegen die vielgetheilten anderen x&qoli sich abheben, immer sich mit ihrer einen, langen Gesammtmasse gegenüber den Feldern und Felderchen

97) Arcbaeolog. Zeitung 1854. S. 295.

660 J. OVEBBECK, [7*

der andern Streifen auszeichnen , immer sich als eine Hauptdarstellung fühlbar machen. Darauf gründe ich mein Recht, diesen Streifen, den ich zeichnen konnte wie ich wollte, nach Maassgabe der Frangoisvase, als den Hauptstreifen anzuordnen, und ihm ein raumliches Uebergewicht über alle übrigen zu geben. Und täuscht mich mein Auge nicht, bin ich nicht zu sehr von meiner Ueberzeugung eingenommen , so bekommt die ganze Bildermasse durch dieses energische Hervorheben der Mitte, durch die so entstehende Gliederung einen Halt und einen Rhythmus, der bei einer verschiedenen Disposition wegfallen oder sehr leiden würde.

Für die Breite der zweiten und vierten jfwpa war mir wesentlich die Frangoisvase maassgebendes Vorbild ; die untere ist hier 29/ie< die obere 23/ie Zoll breit , ähnlich verhalten sich meine zweite und vierte %f»Qa zu einander und wiederum zum Mittelstreifen. Die vierte x&qa etwas schma- ler zu zeichnen als die zweite bewog mich ausser dem genannten Vor- bilde auch noch das Streben, die Gesammtornamen tirung der Lade nach oben hin zu erleichtern. Ich glaube dadurch den schon berührten Rhyth- mus der ganzen Fläche nach richtigen Principien der Ornamentik geglie- dert zu haben.

Die zweite wichtige Frage in Beziehung auf die Anordnung der Bildwerke ist die nach der Vertheilung derselben auf die Vorder- und die beiden Nebenseiten der Lade. Bei dieser mussten zwei Rücksichten leiten, erstens diejenige auf die Gestalt der Lade und das Verhältniss der Breite der Seiten zu einander , und zweitens diejenige auf eine sachge- mässe und kunstgerechte Trennung der einzelnen Bildwerke von einan- der, wozu sich unterstützend die Wahrnehmung des Parallelismus in den Compositionen gesellte. Pausanias erwähnt keine Ecken und sagt direct Nichts von der Vertheilung der Bildwerke auf drei Seiten, dass diese gleichwohl nothwendig sei, ist früher nachgewiesen ; gleichwohl hat sie neuerdings namentlich Schubart a. a. 0. S. 313 Bedenken erregt, der freilich mit vollem Rechte gegen Mercklin bemerkt, die Ausdrücke ££}$» fierä di und ro änö rovrov , die Pausanias in der ersten xwqci gebraucht, lassen sich nicht zur Begründung der Dreiseitentheorie verwenden, der dann aber weiterhin Aufklärung darüber verlangt, wie man sich das zweimalige Umbiegen auf andere Flächen zu denken habe? und durch welche Mittel der Künstler es erreichte , die Einheit seiner Darstellung anschaulich zu machen, namentlich bei der dritten xcü(mz, welche eine einzige geschlossene Scene enthielt? Nun, wie man sich das zwei-

73] Ober die Lade des Kypselos. 661

malige Umbiegen zu denken habe , wird ihm jetzt wohl meine Tafel zei- gen ; hier sehe ich in der That keine Schwierigkeit ; wie es aber komme, dass Pausanias die Ecken nicht erwähnt, erklärt sich meiner Ansicht nach leichter als manche sonstige Uebergehung bei diesem Schriftsteller, dadurch, dass die Enden der Seiten mit den Enden von Darstellungen zusammenfielen. Das ist nach meiner Restauration thatsächlich überall der Fall, ausgenommen in der dritten #o>(>a, deren Darstellung ein Gan- zes bildet. Und somit kann sich auch Schubarts zweite Frage, durch welche Mittel der Künstler es erreichte, die Einheit seiner Darstellungen anschaulich zu machen, nur auf die dritte %ä$a beziehn , da in den an- deren x&qais die Darstellungen nicht einheitlich , sondern vielfältig wa- ren. Was aber die Mittel anlangt, die Darstellung der dritten x®Qa a^s e'n Ganzes zur Anschauung zu bringen, so giebt es deren so viele, dass man bei der Antwort in embarras de richesse gerät h. Möge Schubart sich bei- spielsweise einmal den Cellafries des Parthenon ansehn, der doch gewiss ein Ganzes bildet ; nun hier ist bei dem Uebergange von der Ost- auf die Süd- und Nordseite die Verbindung ausser durch die Continuität der Be- wegung in einer Richtung durch die Stellung der Eckfigur hervorgehoben. Ferner ist der Fries des Niketempels zu vergleichen, dessen beide Lang- seiten mit der zwischen ihnen liegenden westlichen Schmalseite, wie ich bewiesen zu haben98) glauben darf, ein Ganzes, die ideale Darstellung der Schlacht von Plataeae, bilden. Hier ist die Einheit hauptsächlich durch die Gegenbewegung in den beiden Langseiten und durch die exacte Responsion in denselben bewirkt oder hervorgehoben. Weiter vergleiche man ausser dem Friese von Phigalia die Ära Albani mit dem iepög ya/iog")9 den bakchischen Sarkophag in den Denkm. d. a. Kunst 2. No. 422, den Hauptstreifen der Frangoisvase u. s. w. u. s. w. Hier liegen viele Antworten auf die eine Frage.

Für die Restauration der Eypseloslade gab den Anhalt zur Verkei- lung auf die 3 Seiten die unterste xcopa her, bei welcher im Ernst ge- ringer Zweifel walten kann, welche ihrer Bildwerke auf die Neben- weiches auf die Vorderseite zu versetzen sei , wenn überall die Verkei- lung als nothwendig erkannt ist. Der aycw ml üekia bildet so sehr eine

98) Geschichte der griech. Plastik 4. S. 283, besonders aber in No. 6 meiner kuDstgeschichtlichen Analekten in der Zeitschrift f. d. Alterth. Wissensch. v. 4 857.

99) Welcker, Alte Denkmäler 2. Taf. 4,

jmrrhlossene Emheit der Paralkftsmu« in iLm ist so srfcvf . aber md seine Endes durch die beiden Prefericfcter n.it iirer so bestimmt marfcirt . das» in der Thal hier Nichts ate*fcroefaen kann, wahrend es andererseits die gegebene Einheit mntbwKg ren beissen würde- wenn man hier noch zusetzen wölke. Eben an gezwungen aber, wie sich der ifw rri fteJa aaf <fie Votdeitoche nen Besä, fassen sich die vier übrigen Scenen aaf die beiden rert heilen, auf denen sie in zwanglosester Weise, rieicteasn von den gegebenen Raum ausfüllten.

In der zweiten £'*(** haben schon frahere Bearbeiter. Welcher, Bronn u. A. die drei allegorischen Gruppen, mit denen ▼on dem Uebrigen abgetrennt ; mit ihnen die unke Nebenseile zn konnte nicht angestanden werden. Dabei stellte sich frcflfch <fie Seimig- rigkett heraus, dass erstens jede entsprechende antike Vortage fehlte, and dass zweitens unsere moderne Phantasie nicht ausrichte, am ohne sol- ches Vorbild die drei Gruppen so zn componiren. dass die von Amen be- setzten Felder nicht eine gewisse Leere den andern gegenüber zeigten. Ich habe meinerseits geglaubt, hier aaf einem Punkte durch die der Nacht gegebenen Flöge! nachhelfen zn dürfen, die ja antik belegbar sind10* ; aber, will man sie mir anfechten, so bin ich der Letzte, zn behaupten, sie seien nicht ein Nothbehelf Will man aber aas dem Umstand , dass mir ond meinem Zeichner aaf diesem Pankte eine ganz gleichförmige Erftiflcmg des gegebenen and geforderten Raumes nicht gehingen ist, Waffen gegen mich schmieden , so will ich Niemandem dies Vergnügen stören ; glaubt man durch solche Schwachen meiner Bestaoration , die wesentlich ich Nichtkünstler habe machen müssen , meine ganze Arbeit in ihren in dieser Abhandlung dargelegten Principien timstossen zu kön- nen, so versuche man es !

Für den Rest der Darstellungen in dieser jw(x* gab der Paralleüs- mds der Compositionen das Kriterium der Veitheilung auf die Vorder- und die rechte Nebenseite ab. Dass Apollon mit den Musen von der Sceue mit lason und Medeia noth wendig getrennt werden müsse, hat Schubart erwiesen (s. oben S. 51); aus diesen beiden Scenen konnte also ein Mittelbild nicht gemacht werden, folglich blieben neun Vorstel-

100) Euripid. Orest» 176. nhna Au£, vnvodoTapn pike ttut&irtpo? c€t. ;

Aristoph. Av. (ed. Dind.) 695 tixth ... Ni$ lulavimqfog yo*.

75] Ober die Lade des Kypselos. 663

lungen übrig. Unter diesen boten nun aber zwei mehr als alle anderen einen stricten Parallelismus : Idas die Marpessa und Enyalios die Aphro- dite an der Hand führend ; war die erstere dieser Scenen die erste links auf der Vorderseite, so musste die zweite die letzte rechts sein. Thetis und Peleus und Perseus mit den Gorgonen fielen der Nebenseite zu. Von den übrigen Scenen bilden Zeus und Alkmene links , Herakles und Atlas rechts eine gute, räumlich genaue Parallele ; nicht ganz so günstig wir- ken Menelaos und Helena links und Apollon und die Musen rechts , ob- wohl auch diese Bilder raumlich einander genau aufheben. Aber Ittugnett l&sst sich nicht, dass das Feld rechts dichter angefüllt ist, folglich schwe- rer fllr das Auge wiegt, als dasjenige links. Macht's besser! Endlich bleibt die Scene übrig, von der es im beigeschriebenen Verse heisst :

M^dnav *Iaomv ya^ht HeXerat «T 'sfq>(>odita, bei der also die Namen den einzelnen Personen nicht beigeschrieben gewesen sind. Nun lässt freilich Pausanias Medeia thronen, Aphrodite zu ihrer Linken, Iason zur Rechten stehn ; allein mein Zeichner behauptete, das könne er nicht machen , damit den Inhalt des Verses nicht aus- drücken, sondern nur, indem er Aphrodite auf den Thron setzte und sie das Brautpaar zusammengeben Hesse. Was sollte ich dagegen machen? Vielleicht kommt uns hier Ruhl mit einer besseren Zeichnung zu Hilfe.

Peleus und Thetis und Perseus mit den Gorgonen , beide nach an- tiken Vorlagen gezeichnet (s. unten), füllen die rechte Nebenseite bequem und wie mir scheint, kunstgerecht. Sollte man mir sagen, Pausanias er- wähne die Athene und den Hermes in der Scene mit Peröeus und den Gorgonen nicht, so antworte ich , dass diese Götter in den alten Vasen mit dieser Scene so überwiegend häufig anwesend sind, dass dabei ihre Anwesenheit durch den Mythus so wohl motivirt ist, dass ich glaube, sie seien auch an der Eypseloslade dabei gewesen, ohne dass Pausanias sie der Gewöhnlichkeit der Erscheinung wegen zu nennen brauchte. Wer mir das bestreitet , dem will ich mit Vergnügen eine andere Zeichnung vor- legen, wo sie fehlen, und welche gleichwohl den Raum eben so gut erfüllt, wie die von mir gegebene. Denn Figuren , namentlich Gorgonen dies66 Stils sind dehnbar.

Für die vierte %wqu ist schon von Anderen (besonders Brunn) der Parallelismus zwischen folgenden Scenen :

links Theseus und Ariadne, rechts Aias und Kassandra,

links Achill u. Memnon u. d. Mütter, rechte Parisurteil

664 J. OvERBECK, [76

links Meilanion und Atalante, rechts Artemis mit Panther u. Löwe

links Hektor und Aias, rechts Eoon und Agamemnon,

hervorgehoben worden , welche in ihrer Mitte das Bild der Dioskuren, Helena und Aethra Übrig lassen , welches namentlich dann , wie Brunn bemerkt bat, sein räumliches Uebergewicht fühlbar macht, wenn man den Dioskuren ihre Rosse beigegeben denkt.

Ich habe an diesem von Brunn entworfenen und im Einzelnen, auch in der nöthigen Umstellung der Artemis und des Parisurteils, mo- tivirten Schema der Responsion nicht zweifeln können , um so weniger, je kräftiger und klarer dasselbe in der Zeichnung hervortrat. Indem ich also mit diesen Scenen die Vorderseite füllte, blieb mir für die Neben- seite links : Boreas und Oreithyia , Herakles und Geryon , für diejenige rechts : Eteokles und Polyneikes und der unter Bäumen in einer Höhle gelagerte Dionysos , Scenen , von denen wenigstens für die erste und letzte die Nichtresponsion unbedingt gewiss ist. Hier bin ich denn frei- lich in dem Kampfe des Herakles mit Geryon genöthigt gewesen, nach Maassgabe des Yasengemäldes in Gerhards Auserlesenen Vasenbildern 2 Taf. 105 und 106 die Ochsen des Gervon zuzusetzen, welche Pausa- nias nicht nennt, um die Länge des Streifens zu füllen ; allein ich habe das mit ziemlich ruhigem Gewissen gethan, da einerseits die Nichter- wähnung der Ochsen nicht die schlimmste Auslassung bei Pausanias ist, und da andererseits die Ochsen derart obligat zu Geryon und zu Hera- kles' Kampf gegen Geryon gehören 101), dass sie in künstlerischer Dar- stellung des letzteren eigentlich nur da ausgelassen werden dürfen , wo der Raum ihre Anbringung nicht gestattete. Der Hirt Eurytion und der Hund Orthros, die ich übrigens für den Raum nicht nöthig hatte, gehö- ren mit zu den Ochsen ; dass freilich Athene anwesend ist, wie auf dem Vasenbilde, das uns als Vorlage diente, und das wir möglichst treu copirt haben, mag gegen Pausanias' Zeugniss sein, der sie hier wohl nicht unerwähnt gelassen hätte. Will sie mir Jemand positiv abstreiten, so rücke ich die Ochsen weiter aus einander, und es ist Alles wieder in Ordnung.

Zu dem in einer Höhle unter Bäumen gelagerten Dionysos auf dem anderen Ende der %diQa habe ich nur dies zu bemerken. Dass Pausanias angiebt, die Bäume seien Apfelbäume, Granatbäume und Reben, beweist,

4 04) Vergl. Prellers Griech. Mythol. ältere Ausgabe *, S. 4 42 und 4 46 f.

7?] Über die Lade des Eypselos. 665

dass sie mit einer gewissen Ausführlichkeit, wenn auch noch so sehr stilisirt behandelt waren ; ich glaube , dass mir dies ein Recht gab , sie so zeichnen zu lassen, wie ich es gethan habe; ohne Weiteres brauchbare Vorbilder gingen uns dabei freilich ab, die Art aber, wie Baume z. B. in folgenden alten Vasen mit schwarzen Figuren behandelt sind : Gerhard, Auserl. Vasenbilder Taf. 132 und 133, Mon. d. Inst. 2. 44. A., dazu die Zeichnung der Baumzweige in den Händen der Kentauren auf der Fran- Coisvase begründeten weiter das Recht meiner Zeichnung, in welcher ich soviel thunlich jenen ornamentalen Charakter bewahren zu lassen suchte, den die oft wiederkehrenden Zweige in namentlich bakchischen Vasengemaiden des alten Stils haben.

Auch für die oberste %<b(>a ergab sich die Eintheilung ziemlich von selbst ; denn hier, wie es vor mir von Anderen gethan ist , je eine der vier Darstellungen , links Herakles und die Kentauren , rechts Odysseus mit Kirke und den Dienerinnen auf die Nebenseiten zu setzen , dürfte ohne weitere Begründung gerechtfertigt sein. Auch entsprechen sich diese Darstellungen entschieden nicht.

Für die Scene mit Odysseus und Kirke waren wir, Pausanias' Winke in Betreff der Dienerinnen (1 9. 7 reaca^s re yaQ eictv ai ywaU %€Q nal &QYa£ovrai rd egya ä iv roig tTteoip'O/^tj^og eiQijKev) folgend, auf die Odyssee angewiesen, und haben versucht in dem einmal angenom- menen Stil zu zeichnen, was Homer Od. 10. 348 359 berichtet.

Für die Ausdehnung der Scene des Kentaurenkampfes gab Pausa- nias' Bemerkung, dass einige der Kentauren bereits getödtet seien (rovg de £f avrwv dnemovora), die vollkommene Berechtigung her ; denn wenn einige getödtet sind, ist es höchst unwahrscheinlich, dass nicht noch mehre andere am Leben sein sollten. Hatten wir uns die Scene in's Enge gezogen zu denken, so würde ein getödteter Kentaur hingereicht haben, um auszudrücken, was ausgedrückt werden sollte. Dass ich die Scene bei Pholos gewählt habe , ist allerdings Willkür , mich veranlasste dazu ein Wink oder eine Vermuthung Brunns m) ; für die Erfüllung des Rau- mes war das gleichgiltig, ein galoppirender Kentaur mehr hätte mir die- selben Dienste gethan.

Für die beiden Bilder der Vorderseite habe ich ohne besondere Vorlage aus Pausanias' Worten zu machen gesucht was sich machen

102) Rhein. Mus. a. a. 0. S. 339.

666 J. Qvkrbeck, [78

liess, und mich dabei so streng wie möglich an den Text gebunden. Bequemer wäre es gewesen , der Nausikaa noch ein paar Dienerinnen zu Fusse beizugeben, die sich» wie schon Welcker103) bemerkt hat, ans Homers Berichte (Od. 6. 84) entnehmen Hessen; da sie aber Pausa- oks nicht nennt, glaubte ich besser sie weglassen zu müssen. Dass ich dafür des Hephaestos Werkstatt mit Gussofen und Ambos ausgestattet und dadurch charakterisirt habe, wird man mir hoffentlich verzeihen; zu erwähnen brauchte Pausanias diese hier ganz natürlichen Parerga am wenigsten.

Hier dürfte es nun auch am Orte sein noch ein Wort über die Or- namentleisten zu sagen, durch welche ich die einzelnen Felder trennen zu müssen geglaubt habe. Warum dieselben technisch nothwendig seien, habe ich schon früher (S. 67) angedeutet, sie haben aber weiter den wichtigen Zweck, in ihrer gteichmüssigen und ununterbrochenen Er- streckung über alle drei Seiten der Lade die sämtlichen Bildnereien jeder zwischenliegenden x<ä$a in Eins zusammenzufassen. Ich habe des- halb für dieselben Ornamentschemata ausgesucht, welche, wie die Wellen- reihe, die Maeandertaenie , das geflochtene Band u. s. w. ein ununter- brochenes Fortlaufen und Zusammenhalten darstellen. Diese Ornament- blinder, welche die Längendimension energisch hervorheben, begründen zugleich, dass und warum die Kypseloslade an den Ecken aufstrebende Pfeiler oder aufrechte Ränder, oder eine jede Seite abschliessende Um- rahmung nicht gehabt habe, wie sie die Thoas- Tennes- und Danaälar- nax und mehre der kleineren Kasten, nicht alle (s. S. 24. No. 3 u. 6) zeigen. Die schon angeführten Tempelfriese, Altarreliefe und Vasenbüder bieten eine ganz analoge Erscheinung , welche , das werden mir Sachverstän- dige wohl zugestebn, auf einem eben so richtigen wie notwendigen tektonischen und ornamentalen Princip beruht.

Ehe ich mich nun zu einer Nachweisung der zu den einzelnen Bil- dern gebrauchten Vorbilder und dazu wende , die Bilder meiner Tafel mit noch einigen Bemerkungen zu begleiten , seien mir ein paar Worte über den Stil erlaubt, in den» ich die Darstellungen halten zu müssen glaubte.

Wir haben fast durchgängig naoh Vasenbildern des ältesten Stils gearbeitet, denn in altem Stil mwete die Sache gehalten werden. Das

103) Zeitscbr. für a. Kunst a. a. 0. S. 54*.

79] Über die Laue »es Kypselos. 667

ist keine blosse Spielerei. Allerdings sagt Welcker104) »bei der (etwa ein- mal vorzunehmenden) Ausführung mUsste der Künstler gänzlich darauf verzichten, auch nur die ungefährste Vorstellung von dem Stil eines höheren Alterthums geben zu wollen«. Wohl habe ich diesen Ausspruch einer so grossen und von mir so hoch verehrten Autorität lange bin und her erwogen, endlich aber bin ich zu der UeherzeugUQg gelangt, dass es unmöglich sei, sich ihm zu unterwerfen. Denn es ist eine unbestreitbare Thatsacbe, dass Vieles, ja das Meiste» was in einer Stilart vollkommen möglich, in einer anderen Stilart eben so unmöglich sei« Und das gilt hier nicht minder, als bei den mancherlei künstlerischen Herstellungs- versuchen des homerischen und des besiodischen Schildes; es ist ihrer keine auch nur halbwegs gelungen, und es konnte keine gelingen, weil mm immer an dem Stil der besten , resp. der späteren Epoche für die Figuren und Gruppen festgehalten hat. Dass die Kypseloslade sich im alten Stil herstellen lasse, hoffe ich gezeigt zu haben , dass sie sich im Stil der späteren Zeit, dem alle jene Naive tat der ältesten Kunst abgeht, nun und nimmermehr wird herstellen lassen , ist meine wohlerwogene Ueberzeugung.

Wie Welcker zu seinem Ausspruch gekommen ist, scheint mir ziem- lich klar vorzuliegen, durch eine ganz berechtigte Polemik nämlich gegen die Verfratzung eines angeblich alten Stils in dem Restaurationsversucbe bei Quatremere de Quincy und gegen die irrigen und widerwärtigen Ansichten, welche dieser über den ältesten Stil der griechischen Kunst ausspricht. Quatremere de Quincy erhob den Anspruch,^ mit seinen ver- zerrten Figuren wenigstens einigermaßen den wirklichen Stil der Bild- nereien an der Kypseloslade seinen Lesern vor die Augen zu stellen. Ein ähnliches Streben liegt mir fern ; die Figuren an der Kypseloslade sind meiner Ansicht nach noch ungleich altertümlicher gewesen, als die- jenigen in meiner Restauration; den wirklichen Stil der Kypseloslade darzustellen hätten vielleicht die ältesten Zeichnungen der s. g. orienta- Ksirenden Vasen nicht ausgereicht. Nicht also, um zugleich ein Bild vom

4 01) Zeitschr. für alte Kunst S. 550. In seiner Abhandlung über Polygnot (Bert. Akad. 4 848) S. 7 spricht W. gegenüber den Zeichnungen von Riepenheusen etwas andere über den Stil Polygnots, wie er auch für diese Zeichnungen wünschenswert!* gewesen sein möchte. Nur seien die Künstler noch nicht über den Standpunkt der Uebersetzer früherer Zeit hinaus, die es nicht lassen konnten, ihren eigenen Geist und Geschmack in die Nachbildung zu legen.

668 J. Overbbck, [80

Stil des Kypseloskastens zu geben, habe ich die Figuren so viel thunlich im Stil der Frangoisvase zeichnen lassen, sondern um mir in dem Fest- halten an den Freiheiten und Naivetaten dieses Stils die Möglichkeit der Restauration dieser Compositionen zu schaffen.

Auch dass ich in die Zeichnung die Inschriften wirklich und nicht blos scheinbar in stellvertretenden Kritzeleien eingetragen habe, ist keine Spielerei, sondern hat den mehrfachen Zweck, erstens zu zeigen, dass auch für diese noch Raum sei, und zweitens, dass und wie sie zur Raum- erfüllung mit beitragen, drittens, zu vergegenwärtigen, wo sie sich nach meiner oben S. 60 ff. entwickelten Ansicht befanden, wo nicht, was na- mentlich der Mercklin'schen Theorie gegenüber nicht so ganz gleicbgil- tig sein dürfte. Auch dass ich die Inschriften in einem alten Alphabet, dem ältesten auf Yasen vorkommenden, welches dem eigentümlich korin- thisch-kerkyraeischen entspricht 105), geschrieben habe, ist nicht nur zum Scherz geschehn, sondern mit deswegen, weil spätere Schrift den Raum anders füllt als diese frühe. Auf dialektologische Conjecturen, wie etwa rccQvFovag, FiokaFoe für rtjQvovtjg, 'lokaog glaubte ich mich dagegen nicht einlassen zu sollen.

Es bleibt mir jetzt schliesslich noch übrig , einige Worte über die als Vorbilder meiner Zeichnungen gebrauchten Monumente und über die Art ihrer Benutzung gegenüber dem Texte des Pausanias zu sagen. Wesentlich erleichtert wurde die Auswahl durch die schöne Zusammen- stellung von Parallelbildwerken, mit denen Jahn in seinen Archaeol. Aufsätzen S. 6 ff. die Besprechung der Bilder auf der Kypseloslade be- gleitet bat, andererseits stellte mir die Lückenhaftigkeit unserer Univer- sitätsbibliothek , von der nicht oft genug öffentlich gesprochen werden kann, wieder Schwierigkeiten in den Weg, da mir mehr als ein von Jahn angeführtes Buch unzugänglich blieb.

Erstes Feld.

\. Oinomaos, Pelops verfolgend. Eine brauchbare directe Vorlage eben dieses Gegenstandes fehlte, war aber auch entbehrlich , da rasch fahrende Wagen in dem gesuchten Stil nicht selten sind. Für die Flügelrosse des Pelops wurde das veliterraner Relief Museo Borbon. tom. 1 0. tav. 1 \ und das Vasenbild bei Gerhard, Auserl. Vasenbb. 1 . Taf. \ 0. be- nutzt ; dieselben für die Flügelrosse der Nereiden in der fünften gcopa.

4 06) Jahn, Einleitung in den münchener Vasenkatalog S. CXLVII.

84] Über die Lade des Kypselos. 669

2. Amphiaraos' Ausfahrt. Für die gesammte Vorstellung wurde das schon von Jahn (a. a. 0. S. 7. vgl. S. 154 ff.) als schlagende Parallele angeführte Vasengemftlde bei Micali, Pltalia av. il dorn. d. Rom. tav. 95 (wiederholt in m. Gall. heroischer Bildww. Taf. 3. No. 5) be=^ nutzt ; für des Amphiaraos oixia bot das Stadtthor von Troia und das Thetideion auf der Frangoisvase (Mon. d. Inst. 4. tav. 54. 55) die Muster; zu der Amme mit dem kleinen Amphilochos wurden mehre Vasen (Ger- hard A. V. 1 . 55, 56, m. Gall. Taf. 3. No. 6) verglichen.

3. Leichenspiele des Pelias. Hier will ich vor allen Dingen bemerken, dass ich nach meiner feststehenden Ueberzeugung , die bei Pausanias (17. 9) genannten Öetö/uwor rovg ayaviorag seien keine An- deren, als Herakles, Akastos und die Peliastöchter, allenfalls noch die Flötenspieler106), mir gar nicht die Mühe habe geben wollen, noch wei- tere Zuschauer anzubringen 107)^ Für den thronenden Herakles fehlte das Vorbild; Akastos, die Peliastöchter nebst den Preisdreifilssen wurden nach Figuren der Fran$oisvase gezeichnet. Zu den Kämpfern , nament- lich den Wettläufern , Ringern , Faustkämpfern und dem Diskobol sind allbekannte und in populäre Sammelwerke108) übergegangene panathe- naeische Vasen benutzt worden. Für die Zweigespanne aber, welche in den gleichen Raum hineinzuzeichnen waren, den die fünf Wettläufer ein- nehmen, musste ein anderes Vorbild gesucht werden. Denn, wenn Ruhl (s. oben S. 22) behauptet halte, fünf Wettläufer liessen sich wohl in Ma- lerei, nicht aber im Relief so darstellen , dass sie nicht viel mehr Raum einnähmen, als ihrer zwei, wie viel mehr würde das von fünf rennenden Zweigespannen gelten, wenn es überhaupt richtig wäre , was es nicht ist. Allein mit einem gemalten Vorbilde durfte ich hier doch nicht kom- men, wenn ich nicht unfruchtbaren Widerspruch und lange Debatten hervorrufen wollte; denn allerdings konnte ich nur durch ein starkes Zusammenrücken der Gespanne meinen Zweck erreichen, die fünf Zwei- gespanne die fünf Läufer auf der anderen Seite aufwiegend darzustellen.

106) Schon Brunn Rhein. Mus. a. a. 0. S. 335 stellt eine solche Ansicht, aller- dings nur als Alternative hin.

4 07) Die vonO. Jahn a. a. 0. S. 7. Note 9 und früher schon vom Herzog v. Luy- nes (Nouv. Ann. 2. S. 262) mit dieser Vorstellung verglichene Vase in Inghirami, Vasi fittili tav. 301 ff. war mir unzugänglich.

1 08) Panofka, Bilder antiken Lebens Taf. 2. No. 1,3,4,7, Krause, Agonistik und Gymnastik Taf. 6. Fig. 14, T. 11. F. 33, T.12.F. 34, Taf. 13. F. 47, T. 22. F. 68 u. 59. Abhandl. d. K. 8. Geielbch. d. Witfeueh. X. 46

670 h Oveubce, !*

Das ist natürlich ohne viele und starke Uebergcbneidnngen nicht möglich, und diese hätte man mir für die Reliefe der Kypseloslade bestreiten kön- nen, wenn ich eine gemalte Vorlage gebraucht hätte ; ob man es zock jetzt thun wird, wo ich nach Relief habe zeichnen und nicht eine einzige Ueberschneidung mehr habe anbringen lassen, als die meine Vorlage bot, will ich abwarten. Als Vorlage aber dienten die schon angeführten alten Thonreliefe von Velletri, Mus. Borbon. tomo 40. tav. 10 u. 12 "•); freilich keine griechische Arbeiten und nicht so alt wie die Kypseloslade, aber, und das ist jedenfalls die Hauptsache, Reliefe. Die Art, wie die Wed- fahrer, bis auf den weiter vorgerückten Sieger , zu je zwei näher zu- sammengruppirt sind, entspricht, glaube ich , einer Andeutung des Pau- sanias, der je zwei und zwei Namen zusammen nennt, nicht weil die Kämpfer, wie Welcker (a. a. 0. S. 537 f.) annahm und schon Jahn (a. a. 0. Note 1 0) widerlegt hat , je paarweise auf einem Gespanne standen, sondern weil ihre Gespanne sich paarweise am nächsten waren.

4. Herakles und die Hydra. Ueber die Zuziehung des Ioiaos zu dieser Scene anstatt zum aytov inl /lekict ist oben S. 33 f. zur Genüge gehandelt ; nur den einen Zusatz will ich hier noch machen , dass Pao- sanias' Irrthum wohl auch dadurch begünstigt wurde , dass sich an der Kante des Kastens, also zwischen beiden Scenen, wie ich sie unter- scheide, hier so wenig wie in den folgenden £a>(Mut eine Trennungsleiste vorfand. Als Vorlage dienten die Vasen Mon. d. Inst. 3. 46, Gerhard, A. V. 2. Taf. 95 ta. 112, doch glaubte ich die Hydra etwas vereinfachen zu müssen. Die Worte des Pausanias : ttjv vöqqlp, h t$ wnafui tjj 'sä/ivfuorri &tj()iop halte ich nur fUr eine mythologische Notiz, nicht für eine Hindeutung auf die Anwesenheit einer Amymone*

5. Phineus mit Boreaden und Harpyien. Eine im Stil brauchbare Vorlage fehlte; benutzt wurden die Vasen Millingen Anc. uned. monum. 1.15 und Mon. d. Inst. 3. 49 ; für die Harpyien das Mo- nument von Xantbos, ohne dass ich damit behaupten will, die Harpyien der Kypseloslade seien in der That entsprechend gebildet gewesen ; nur waren die sonst zur Verfügung stehenden zu neu im Stil, und wir wuss- ten uns mit den Gewändern nicht zu helfen 110).

409) Vergl. ferner die alte Bronzevase von Caput, Mon. d. in*. 5. Tav. 95. HO) Ob ich in der Beischrift den Harpyien nicht die Eigennamen Okypete und ▲ello hätte geben aollen, darüber will ich nicht streiten.

83] Über die Lade des Ktpselos. 671

Zweites Feld.

1. 2. 3. Nyx mit Thanatos und Hypnos; Dike u. Adikia; die Pharmakiden. Dass wir hier componiren mussten, ist schon oben S. 74 gesagt, wo auch über den Nothbehelf mit den Flügeln der Nyx gesprochen worden. Als Muster der Flügel dienten die der Eos in der alten Vase bei Millingen Anc. uned. mon. 1 . pl. 5. Auf die dieorQafi- fiivoi nodeg (Paus. 18. 1 .) habe ich mich in der Zeichnung nicht ein- lassen mögen.

4. Idas und Marpessa. Für diese Scene wie für die ent- sprechende 10. Enyalios und Aphrodite wurde die gewöhnlich als Menelaos und Helena erklärte Vase bei Gerhard, A. V. 3. 169. (m. Gall. 12. 4) mit den nothwendigen Veränderungen benutzt. Für den Tempel bei Idas und Marpessa schien mir eine Säule vollkommen hinzu- reichen, um so mehr, als Pausanias nicht wie beim Hause des Amphia- raos sagt nmoltjrai wog, sondern der Tempel nur in dem beigeschrie- benen Verse vorkommt. Ja ich glaube , dass ich hiernach berechtigt ge- wesen wäre, auch die Säule wegzulassen, doch schien sie mir das Gleichgewicht nicht zu stören.

5. Zeus und Alkmene waren nach Figuren der Frangoisvase zu

componiren.

6. Menelaos und Helena. Für diese Scene liegen zweierlei

Darstellungen in Vasen vor, eine jüngere (m. Gall. 26. 4, 11, 12. vgl. S. 360 f.) und eine ältere (das. No. 3 vgl. S. 626 f.). Ich zweifelte nicht, die letztere vorziehn zu sollen , um so weniger , da sie Pausanias' Wor- ten: Mev&aoc, . . . e%^v £i(pog ineiaiv 'EXemjv anomelvou genauer entspricht , als die jüngere (auf Lescbes zurückzuführende) , wo er das Schwert fallen lässt und die fliehende Helena verfolgt.

7. Iason und Medeia mit Aphrodite, musste componirt werden; über die Art, wie es geschehen ist s. oben S. 75.

8. A pol Ion und die Musen. Nach Figuren der Frangoisvase und Gerhard, A. V. 1 . Taf. 1 3. Dass nur drei Musen angenommen wur- den, was der Responsion wegen nothwendig war, ist schon von Andern, und zwar der Mehrzahl derer , die über die Sache gehandelt haben m),

4 4 4) Welcker S. 544 (unentschieden, eher für 9 Musen), Jahn Arch. Aufss. S. 4 0 Note 46 (drei wahrscheinlicher), Bergk, Archaeol. Zeitung 4845. S. 470. Note H, Allg. Hall. Ltt. Ztg. 4 847. S. 4 193.

45»

672 J. OVBRBECE, [H4

vertheidigt112). Dass die Musen als singende (qdovacu) keine Instrumente gehabt haben, hat Jahn (a. a. 0. S. 10. Note 18) bemerkt; seine Vor- stellung, dieselben haben sich bei den Händen fassend im Tanzschritt bewegt , ist ansprechend . aber nicht zwingend ; auch dass meine Musen den Apollon nicht im strengen Wortsinn umgeben glaube ich dadurch rechtfertigen zu können, dass das d/ucp airov nur in dem beigeschriebe- nen Verse steht, während Pausanias nur nach einander aufzählt (1 8. 4) : nanoirjVTcu di xai qdovocu Movocci xal ylnokXwv G%d(>%t0V rfjc (pdrjg was eher ein Gegenüber voraussetzen lässt.

9. Atlas und Herakles. Für den Atlas glaubte ich von dem sehr altertümlichen Sisyphos oder Tantalos in Gerhards A. V. 2. Taf. 86. Gebrauch machen zu dürfen. Für den Herakles lagen verschiedene Muster vor.

10. Enyalios und Aphrodite s. oben zu 4.

11. Peleus und Thetis. Verschiedene Vasen in m. Gall. Taf. 7, besonders No. 3, 5 u. 6 dienten als Vorlagen.

12. Perseus und die Gorgonen wurde nach mehren Vasen- bildern, namentlich nach Ann. d. Inst. 1S51 tav. d'agg. P. und Gerhards A. V. 3 Taf. 216 gezeichnet; über die Zuftigung von Athene und Her- mes s. oben S. 75.

Drittes Feld.

Um die Schlacht in ihren verschiedenen Scenen nicht zu modern zu erfinden hielten wir uns an folgende schwarzfigurige Vasen : Gerhard, A. V. Taf. 138, 5, 190 u. 191, 130, 227, 225, Mon. d. Inst. 1. tav. 51. (m. Gall. 23. 1.) und m. Gall. 18. 2. Dass der Stil der Figuren nicht durchweg homogen sei weiss ich am besten.

Viertes Feld.

1. Boreas und Oreithyia. Der schlangen Rissige Boreas ist dem Eypseloskasten eigenthümlich, aber nicht blos für diesen Punkt, sondern ftir die ganze Gestalt fehlte die archaische Vorlage, sie musste

1 14) Wenn Schubart (a. a. O. S. 304) behauptet, auf die mythologische Ansicht des Eumelos über die Zahl der Musen sei hier Nichts zu geben, so stimme ich ihm bei, wenn er aber behauptet , Eumelos widerspreche sich selbst in diesem Betracht in den Fragmenten 15 u. 16 (Marksch. S. 405), so muss doch bemerkt werden, dass Bergk (Archaeol. Zeitung v. 1845 S. 170 Note 12) das eine Fragment mit den 9 Musen des Dialekts wegen für unecht erklärt hat.

85] Über dir Lade des Etpselos. 673

also erfunden werden, wobei aus den Vasen des schönen Stils mit diesem Gegenstande nur die gesträubten Haare entnommen wurden. Für die Grösse der Schlangenbeine wurde die Vase bei Gerhard, Auserl. Vasenbb. 3. Taf. 237 benutzt. Die Oreithyia ist nach der Polyxena der Frangois- vase gezeichnet.

Möglich, dass Pausanias' Worte (19. 1) Bo^mg iorlv tj^nawog 'Jl. eine andere Gruppirung andeuten , doch wusste ich eine solche nicht im Sinne des gewählten Stils anzugeben.

2. Herakles und Geryon. Nach Gerhard, Auserl. Vasenbb. 2. Taf. 1 05 u. 106; für die Rinder s. auch Mon. d. Inst. 5. 25. ; vgl. oben S. 76.

3. TheseusundAriadne; nach der Frangoisvase, Mon. d. Inst. 4 lav. 56. 57, oberster Streifen.

4. Achill eus und Memnon. Nach den Vasen bei Gerhard a. a. 0. 2. Taf. 117 u. 118, 130, m. Gall. Taf. 22. No. 3.

5. Meilanion und Atalante, M. nach Figuren der Frangoisvase, A. unter Berücksichtigung der Artemis an dem korinthischen Peristomion.

6. Aias und Hektor, nach Vasen mit Zweikämpfen.

1 7. Dioskuren mit Helena und Aethra; die Dioskuren nach Mon. d. Inst. 2. 22; Helena und Aethra waren zu componiren.

8. Koon und Agamemnon, nach Gerh. a. a. 0. 3. Taf. 192.

9. Artemis nach der Frangoisvase, Mon. d. Inst. 4. tav. 58.

10. Parisurteil, nach den Vasen in m. Gall. Taf. 9. Fig. 4. 6. 7. lieber die Anwesenheit des Paris habe ich nach Maassgabe der Worte 'slXei&vdQfp delxrvGi (1 9. 5) keinen Zweifel.

11. Aias und Kassandra, nach der ältesten vorliegenden Vase in Gerhards Etrusk. u. Campan. Vasenbb. Taf. 22.

12. Eteokles u. Polyneikes, nach Gerhard, Auserl. Vasenbb« 2. 123, die Ker nach Mon. d. Inst. 3. 24.

13. Dionysos. Für den liegenden Gott wurde der Herakles bei Gerhard, Auserl. Vasenbb. 2. Taf. 108 benutzt; auch für die ihn zunächst umgebenden Reben gab diese Tafel das Vorbild ; für die beiden anderen Baume wurden diejenigen bei Gerhard a. a. 0. Taf. 1 5, 98, 1 32 u. 1 33 ferner Mon. d. Inst. 1. 7, 2, 44. A., 6. 19, Archaeol. Zeitung 1863 Taf. 1 75 benutzt, wobei wir bestrebt waren, der gemalten Darstellung gegen- über eine solche zu geben, die als in Holz geschnitzt gelten darf. Uebri- gens vergl. oben S. 77.

674 J. OVBRBBCK, DIE LaDE DES KyPSELOS. [86

Fünftes Feld.

1. Odysseus bei Kirke. Vgl. oben S. 77. Für die einzelnen Figuren hielten wir uns an die Francoisvase ; die lange Kline wird durch Bilder wie z. B. Panofka Bilder ant. Lebens Taf. 12. No. 1. zu recht- fertigen sein. Den Schemel fügten wir nach der alten Vase in m. Gall. Taf. 3. No« 4. bei; vergl. auch Mon. d. Inst. Vol. 5. tav. 33.

2. Waffenttbergabe an Thetis. Gheiron nach bekannten Mustern, wie Gerhard, Auserl. Vasenbb. 3. 119, 120, 183, 227 u. dg!. Ueber die Nereidengespanne s. oben S. 80, Thetis, Hephaestos, der Schmiedegesell oomponirt, der Ofen nach der in Welckers Trilogie Pro- metheus zu S. 261 mitgetheilten alten Vase und der bekannten Schale mit der Erzgiesserei in Berlin, Gerhard, Trinkschalen Taf. 12. 13. Er vertritt hier zugleich die Scheidung der Scenen, weswegen hier die Trennungsleiste weggelassen wurde.

3. Nausikaa. Theils nach Gerhard, Auserl. Vasenbb. 3. Taf. 217, thetis nach Panofka, Bilder ant. Lebens Taf. 17. No. 2.

4. Herakles und die Kentauren. Nach der Fran$oisvase und nach Gerhard, Auserl. Vasenbb. 2. Taf. 119 u. 120. Vgl. oben S. 77.

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