een ee newer ge en ne ah ah umebet atom nennt a Be — Zn Dani ee a Tr Dpas I, MR PER Nie 5 Bi 2 ’ s Arme ne in 5 EN Ka ke u MR: N. {AR u, ‚ gr Be il Tr j In ER: { . Din . Dr ur { u 2 u ) RN ENG { 7 T {n u u D Dr u un } ü FV 5 e) u j y B Fi i I * e i \ AR ö u % na IR sa | wer Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. ——HD> BE RE VE, EDEN ST LEe Vu j 43 Er € ‚ a a, . v - = j ? au \ Ü 14 . i 2 % i re ö Wr pi ‚ ni I = \ ö F “ . > . by ” a a - 2 ve Tee . ri ’ D) i - Y . 7 A wi N 5 Ders) E ES * en © ’ \ Zr = oo. Zu v. w j e s 0 v Bere . 2 A i = . i a . Fe | | 5 sr - ü s . \ j i u = Bo j j f j rn | 3 . MM. i . Mr N N 5 r ee ee . i rs ML ee u 4 Ban rider Mi rah dan = ü Et Ds 5 4 j f } i y ATTISuT Euren Fr b 5 j u | | ’ . a - \ rs « j N ß 4 a u * u 2 ü usn } U F h A ö . (2 - I. r . \ EA [ i c u 9 r ei u ö I u rn : 5 u in, bu “ . u Dat 2 . 5) a ö 1 ‘ ve Bis AL Bo A u ® i [ u 4 KIrT: BR [ar \ ser b Da: hi ni . . FE A . { af lu , Bi . wi Fu a i == h gb TEE i N Dr ar j w n ö = , a a 2 . 1 af Di j u DM. ! u „ N Kar er F % Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. zuerst Aus dem Jahre we 1828. FOR, „autonomen Nebst der Geschichte der Akademie in diesen Zeitraum. Berlin. Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften. 1831. In Commission bei F, Dümnmler nun Elrs;optisühesEinlartunpergee er een ee ee ae here He useenese Seite I Verzeichnils der Mitglieder und Correspondenten der Akademie » 2... ..2 2.2202. =EIV Bericht über das Unternehmen der akademischen Sternkarten . .... 2.2.2: 2222.2.. "EX Abhandlungen. Physikalische Klasse. KARSTEN: Der Amaleamauons- Prozeis were ze euer era ee Seite 1 RupoLpnı über den Embryo der Affen und einiger anderen Säugthiere........... 230 v. Buch über die Silicification organischer Körper nebst einigen anderen Bemerkungen über wenig bekannte Versteinerungen . .....v.rerecereennnn. - 43 Derselbe über zwei neue Arten von Cassidarien in den Tertiair- Schichten von Mecklaubuno ver. era ter Be nee RE ae A an - 61 Derselbe: Einige Bemerkungen über die Alpen in Baiern ...... 2.22... 222220. - 73 HermgsTÄnT über das Brom, sein Vorkommen in verschiedenen Substanzen und die Darstellungs desselben @n m ee ae ee een see - 85 ERMAN über die magnetischen Verhältnisse der Gegend von Berlin. ............. 297 Mathematische Klasse. ÜRELLE: Grenzen für die Werthe der Reste der allgemeinen Entwickelungsreihe mit DILRELENZEN: 8 era ee ee ee era ae een eedeee e Seite 1 Derselbe über ähnliche krumme Linien und Flächen . 2.2... cc scene eecenen rl POSELGER: Von Entwickelung polynomischer Functionen.. 2.2.2.2 22222ceen en 138 FISCHER über die Atomenlehre ... 2.2. ceccenone one innen enenee een nen - 71 Historisch -philologische Klasse. SÜVERN über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos ...........2222.0.: Seite 1 » Derselbe: Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidipus auf Kolonos ..... ee BOCKH über.dıe Antıgone des Sophokles =: eu. 2 u ee era - 49 v. RAUMER über die Poetik des Aristoteles, und sein Verhältnils zu den neuern Dramatıkennae 2 see ee ee ee ee ee - 113 IDELER über Kudoxusi(ersteV.orlesung) 2.1... oa nee ern - 189 RITTER Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen durch Form und Zahl............- = 213 UHDEN über die etruskischen Todten -Kisten (Fortsetzung). .......2.2. 22202200. - 233 nn nn nn nn Jahr 1828. A 24. Januar hielt die Königliche Akademie der Wissenschaften ihre öffentliche Sitzung zur Feier des Jahrestages Friedrichs des Zweiten. Dieselbe wurde durch die Anwesenheit Ihrer Kö- niglichen Hoheiten des Kronprinzen und der übrigen hier anwe- senden Prinzen des Königlichen Hauses, so wie Sr. Königlichen Hoheit des Herrn Herzogs von Cumberland und Sr. Hoheit des Herrn Herzogs Carl von Mecklenburg verherrlicht. Herr Schleiermacher eröffnete die Sitzung an der Stelle des Sekretars der historisch-philologischen Klasse der Akademie; hierauf las der Freiherr W. v. Humboldt eine Abhandlung über die Sprache der Südsee-Insulaner, und Herr Encke über die Ein- richtung des von ihm fortzusetzenden astronomischen Jahrbuches. Die öffentliche Sitzung am 3. Julius, dem Leibnitzischen Jahrestage, erölfnete der vorsitzende Sekretar Herr Erman. Nach der Antrittsrede des im verflossenen Jahr zum ordentlichen Mitgliede der mathematischen Klasse erwählten Geheimen Ober- Bauraths Herrn Crelle, und der Erwiederung von Seiten des Se- kretars der mathematischen Klasse Herrn Encke, machte der letz- tere die neue Preisaufgabe dieser Klasse bekannt, nämlich: „Eine neue Untersuchung über die Theorie der gegen- seiligen Anziehung des Jupiter und Saturn, mit beson- derer Berücksichtigung der von dem Quadrate und den höheren Potenzen der störenden Krafl abhängigen Ein- wirkungen.” 1 Der Einsendungstermin. ist der 31. März 1830. Die Erthei- lung des Preises von 50 Dukaten geschieht in der öffentlichen Sitzung vom 3. Julius desselben Jahres. Hierauf las Herr Bopp eine Abhandlung über eine Episode des Mahä-Bhärata, genannt Säwitri. Die öffentliche Sitzung am 3. August zur Feier des Geburts- tages Sr. Majestät des Königs eröffnete der vorsitzende Sekretar Herr Encke. Hierauf las der Sekretar der physikalischen Klasse Herr Erman über die magnetischen bestimmungen für Berlin, und Herr Link über den innern Bau des Stammes der 'Thier- pflanzen. In diesem Jahr wurde der erste Band des Corpus Inscriptio- num Graecarum vollendet, welches Herr Professor Böckh mit Genehmigung und auf Kosten der Akademie herausgibt. Herın Professor Bopp wurde ein Vorschufs von 500 Thalern zur Bestreitung der Kosten bei Herausgabe des Maha-bhärata be- willigt. Die akademische Druckerei wurde mit einer neuen eisernen Presse von Schneggenburger bereichert, besonders zum Behuf des Drucks des von Herrn Professor Bekker unter Genehmigung und Beförderung der Akademie herauszugebenden Aristoteles. = wmNn m IH Im Jahr 1825 wurden von der Akademie erwählt: l. Zum auswärtigen Mitgliede der physikalischen Klasse: Herr Arago in Paris. Il. Zu Ehren-Mitgliedern: Herr Graf von Sternberg in Prag. - Baron vor Schlotheim in Gotha. - von Hisinger auf Köping und Skinskatteberg in Schweden. - von Lindenau in Dresden. Verzeichnifs der Mitglieder und Correspondenten der Akademie. December 1823. Te l. Ordentliche Mitglieder. Physikalische Klasse. Herr Hufeland. Herr Weis. - Alexander v. Humboldt. - Link, auch Mitglied der philosophischen Klasse - Hermbstädt. - ‚Seebeck. - v. Buch. - Mitscherlich. - Erman, Sekretar der Klasse, auch Mitgl. d. philos. Kl. - Karsten. - Rudolphi. - Ehrenberg. - Lichtenstein. Mathematische Klasse. Herr Grüson. Herr Encke, Sckretar der Klasse. - Eytelwein. - Dirksen. - Fischer, auch Mitglied der physikalischen Klasse. - Poselger. - Oltmanns. - Crelle. Philosophische Klasse. Herr Ancillon. Herr v.Savigny. ” ‚Schleiermacher, juterimiar, Sekretar der Klasse; Alle drei auch Mitglieder der historisch-philologischen Klasse Historisch-philologische Klasse. Herr Hirt, Veteran. Herr Böckh. - Buttmann. = Bekker. - FVilhelm v. Humboldt. - Süvern. - Uhden. - Wilken. - Schleiermacher, interimist. Sckretar der Klasse. - Ritter. - Niebuhr, auch Mitzlied der philosophischen Klasse. - Bopp. - Idcler. - pvp. Raumer. li. Auswärtige Mitglieder. Physikalische Klasse. Herr Arago in Paris. - Berzelius in Stockholm. - Blumenbach in Göttingen. - Cwvier in Paris. Sir Humphry Davy in London. Herr Jussieu ın Paris. - ‚Scarpa in Pavia. - ‚Sömmerring in Frankfurt am Main. Mathematische Klasse. Herr Bessel in Königsberg. Herr Gaufs ın Göttingen. Philosophische Klasse. Herr v. Göthe in Weimar. Historisch-philologische Rlasse. Herr Gottfried Hermann in Leipzig. - ‚Silvestre de Sacy in Paris. In. Herr C. F.S. Freih. Stein vom Altenstein in Berlin. - Graf Daru in Paris. - Imbert Delonnes in Paris. - Dodiwell in London. - Ferguson in Edinburgh. Sir Filliam Gell in London. Herr /Filliam Hamilton in Neapel. - v. Hisinger auf Köping und Skins- katteberg in Schweden. - Graf v. Hoffmansegg in Dresden. - Colonel Zeake in London. - ZLhuilier in Genf. Herr 4. FW. v. Schlegel in Bonn. Ehren-Mitglieder. Herr v. Zindenau in Dresden. - v. Loder in Moskau. - Gen. Lieut. Freih. v. Minutoli in Neuchatel. - Gen. Lieut. Freih. v. AMüffling in Berlin. - Prevost in Genf. - v. Schlotheim in Gotha. - Carl Freih. v. Stein auf Cappenberg. - Graf v. Sternberg in Prag. - Fr. Stromeyer in Göttingen. - v. Zach in Marseille. ba VI Herr IV. Correspondenten. Für die physikalische Klasse. Accum in Berlin. Ampere in Paris. Autenrieth in Tübingen. Balbis in Lyon. Elie de Beaumont in Paris. Biot ın Paris. Brera in Padua. Brewster in Edinburgh. Alexander Brongniart in Paris. Rob. Brown in London. Caldani in Padua. De Candolle in Genf. Carus in Dresden. Configliacchi in Pavia. Dalton in Manchester. Desfontaines in Paris. Dulong in Paris. Florman in Lund. Freiesleben in Freiberg. Gay -Lussac in Paris. Gmelin in Heidelberg. Hansteen in Christiania. Hausmann in Göttingen. Hellwig in Braunschweig. Herschel in Slough bei Windsor. Jameson in Edinburgh. Kielmeyer in Stuttgard. Herr v. Krusenstern in St. Petersburg. Kunth in Paris. Larrey in Paris. Latreille in Paris. Mohs in Freiberg. v. Moll in München. var Mons in Brüssel. Nitzsch in Halle. Oersted in Kopenhagen. v. Olfers in Rio Janeiro. Pfaff in Kiel. J.C. Savigny in Paris. Schrader in Göttingen. Marcel de Serres in Montpellier. C. Sprengel in Halle. v. Stephan in St. Petersburg. Tenore in Neapel. Thenard in Paris. Tiedemann in Heidelberg. Tilesius in Mühlhausen. Treviranus d. ält. in Bremen. Trommsdorf in Erfurt. Fauquelin in Paris. Wahlenberg in Upsala. E.H. Weber in Leipzig. FViedemann in Kiel. Für die mathematische Klasse. v. Bohnenberger in Tübingen. Bürg in Wien. Carlini in Mailand. de Fourier in Paris. Ivory in Edinburgh. Legendre in Paris. Herr Olbers in Bremen. Oriani in Mailand. Poisson in Paris. de Prony in Paris. Schumacher in Altona. FWoltmann in Hamburg. Herr Für die philosophische Klasse. Degerando in Paris. Delbrück in Bonn. Herr Fries in Jena. Ridolfi in Padua. Für die historisch-philologische Klasse. Avellino in Neapel. Beigel in Dresden. Böttiger in Dresden. Bröndsted in Kopenhagen. Cattaneo in Mailand. Graf Clarac in Paris. Dobrowsky in Prag. Del Furia in Florenz. Gesenius in Halle. Göschen in Göttingen. Jac. L.C. Grimm in Cassel. Halma in Paris. v. Hammer in Wien. Hase ın Paris. Heeren in Göttingen. van Heusde in Utrecht. Jacobs in Gotha. Jomard in Paris. Herr v. Köhler in St. Petersburg. r.n..mnnvr Kumas in Smyrna. Lamberti in Mailand. v. Lang in Anspach. Letronne in Paris. Linde in Warschau. Mai ın Rom. DIeier in Halle. K.O. Müller in Göttingen. Münter in Kopenhagen. Mustoxides in Corfu. Et. Quatremere in Paris. Abel- Remusat in Paris. Schömann in Greifswald. Simonde-Sismondi in Gent. Thiersch in München. Thorlacius in Kopenhagen. vn VII Im Jahr 1828 sind folgende Mitglieder der Akademie gestorben: l. Auswärtiges Mitglied der philosophischen Klasse: Herr Stewart in Edinburgh. U. Ehren -Mitglied: Herr T’haer in Mögelin. Il. CGorrespondenten der philosophischen Klasse: Herr Bouterweck in Göttingen ; der historisch-philologischen Klasse: Herr Anthimos-Gazis in Syra. ——— nn un nun Bericht über das Unternehmen der akademischen Sternkarten. imnvinwuirrniriv R einem Briefe vom 18. August 1824 meldet Herr Prof. Bessel Herm Bode, dafs er jetzt beschäftigt sei, eine ganz specielle Karte einer sehr sternreichen Gegend des Himmels um den Adler herum zu entwerfen. Seine Absicht dabei sei zu zeigen, dafs der Maafsstab der Hardingschen Stern- karten hinreiche, um alle etwas bemerkenswerthe Sterne des Himmels auf- zutragen. Er verfahre dabei so, dafs er alle beobachtete und festbestimmte Sterne zuerst einzeichne, und dann die noch nicht beobachteten, nach dem Augenmaafse, jedoch mit Zuziehung eines Mittels, welches dieses zu leiten - und zu berichtigen vermöge hinzufüge. Auf einen Raum von 17 Grad im Quadrate würden etwa 2500 Sterne kommen. Es sei ihm indessen unmög- lich mehr als ein Blatt zu liefern. Bei dem grofsen Interesse, den die voll- ständige Durchführung über den ganzen Himmel haben würde, erlaube er sich die Anfrage, ob nicht die Akademie durch eine ausgesetzte Prämie An- dere zur Nachfolge anreizen wolle. In diesem Falle würde er ein Probe- blatt seiner Karte einsenden, um zu zeigen, welche Ausführlichkeit er ei- gentlich beabsichtige. Herr Bode theilt diesen Vorschlag der Klasse mit, von der er günstig aufgenommen wird, so dafs unter dem 4. November 1324 ein vollständig ausgeführter Plan von Bessel eingesandt wird, der im wesentlichen folgen- des enthält. Die Kenntnifs und das Verzeichnifs aller sichtbaren Fixsterne am Himmel ist immer als ein Gegenstand von dem höchsten astronomischen Interesse betrachtet worden. Vor der Erfindung der Fernröhre war es leichter hierin eine bestimmte Grenze festzusetzen, weil die natürliche Schärfe des guten menschlichen Auges nicht so sehr grofsen Schwankungen unter- X Bericht über das Unternehmen worfen ist. In dieser Beziehung läfst sich behaupten, dafs das älteste Ver- zeichnifs von Hipparch, welches 1022 Sterne enthielt, in seiner Art das vollständigste gewesen ist. Nach der Erfindung der Fernröhre sind unsere Haupt-Verzeichnisse gewesen, das von Flamsteed (2884 Sterne), dann das von Piazzi (7646 Sterne), und endlich das Verzeichnifs, welches in den Beobachtungen der Hist. cel. enthalten und auf Hardings Sternkarten nie- dergelegt ist, welches etwa 40 bis 50000 Sterne umfassen mag. Allein es fehlt noch viel, dafs diese letzteren Verzeichnisse die Vollständigkeit er- reichen, welche dem älteren Hipparchischen in seiner Art zukommt. Mit mäfsigen aber lichtstarken Fernröhren, Frauenhoferschen Cometensuchern, sieht man bei weitem mehrere, und die, welche man mit diesen sehen kann, lassen sich dann auch mit unsern bessern Meridianinstrumenten beobachten, weil ihr Licht noch stark genug ist, um durch die zum Beobachten nöthige Erhellung des Feldes nicht bedeckt zu werden. Diese Vollständigkeit wünschte man durch die neuern Sternkarten zu erreichen, und mit dieser Grenze wird man für eine sehr lange Zeit hinaus sich begnügen können. Sie geht etwa bis zu Sternen 9'“ und 10'* Gröfse. Der Wunsch sie zu erreichen hat schon mehrere Vereine veranlafst, früher- hin den Lilienthalischen, der nicht zur Wirksamkeit gekommen. Die ganz neu gestiftete astronomische Gesellschaft in London hat denselben Zweck sich vorgesetzt, ohne jedoch bis jetzt noch Schritte zu seiner Erreichung ge- than zu haben. Um indessen die Einzeichnung einer so grofsen Menge von Sternen mit einiger Sicherheit thun zu können, ist es nothwendig, eine damit in Verhältnifs stehende Anzahl festbestimmter Punkte, von denen man jedes- mal ausgehen kann, zum Grunde zu legen. Zu diesem Zwecke hat Bessel seit einer Reihe von Jahren es zu seinem Hauptgeschäft gemacht, einen durch die Mitte des Himmels gehenden Gürtel von 30° Breite, 15° zu jeder Seite des Äquators durch zu beobachten, und in ihm etwa 32000 Sterne so bestimmt, dafs sie als das Netz der noch einzutragenden betrachtet werden können. Im Durchschnitt kommen so auf jeden Quadratgrad 3 festbestimmte Sterne, und da der Maafsstab für jeden Grad —- Par. Zoll beträgt, so reichen diese völlig aus, um die aufserdem noch bemerkten so niederzulegen, dafs sie aus den sich bildenden Configurationen mit Sicherheit wieder erkannt werden können. der akademischen Sternkarten. XI Aufser dem Nutzen, den jede vollständigere Kenntnifs der Natur ge- währen mufs, kann man bei diesen Karten noch mehrere andere aufführen. Wenn etwa noch mehrere kleine Planeten vorhanden sind, Körper die sich von den kleineren Fixsternen nur durch ihre Ortsveränderung unterscheiden, so wird eine solche gleichzeitige Revision des Himmels am leichtesten zu ihrer Entdeckung führen können. Da jeder Beobachter mehrere male auf dieselbe Gegend zur Vergleichung der Zeichnung zurückkommen mufs, so werden ihm fehlende oder neu hinzugekommene Sterne nicht entgehen können, und die Untersuchung derselben ihm zeigen, ob blofs veränderliches Licht oder Bewegung die Ursache ihres Erscheinens oder Verschwindens ist. Bei Beo- bachtungen von Kometen geschieht die Vergleichung stets am sichersten mit möglichst nahen Sternen. Je mehrere derselben gut bestimmt sind, desto genauer wird sich auch der Ort des Wandelsterns zu einer bestimmten Zeit angeben lassen. Allein wenn man einmal zu einer genauen Bestimmung aller dieser Sterne gelangen will, so ist es nothwendig, vorher eine Karte zu ha- » ben, auf welcher alle verzeichnet sind. Bei der grolsen Menge von Sternen die in sternreichen Gegenden zugleich in das Feld treten, würde man nie die Überzeugung erlangen, nach und nach alle beobachtet zu haben, wenn man nicht im Voraus schon ihre relative Stellung bemerkt hat, und auf diese Weise gewifs ist, an verschiedenen Abenden immer die noch auszuwählen, welche man früher aufser Acht gelassen hat. Endlich verbindet Bessel noch mit der Karte durch eine zweckmäfsige Bezeichnung den Vorzug, dafs sich sogleich übersehen läfst, ob ein Stern ein oder mehrere male beobachtet ist, und also ob es der Mühe werth ist, seinen angegebenen Ort noch genauer zu untersuchen. Da sich die Verzeich- nisse, welche die beobachteten Sterne nach dem Besselschen Plane ent- halten, nur auf wenige, Piazzi's Catalog, die Histoire celeste, und Bessel's Zonen beschränken, so ist zugleich Jeder dadurch in den Stand gesetzt, für die Gröfsen in der Zeichnung die wirklichen Zahlen sich ableiten zu können. Die mathematische Klasse und die Akademie nahmen diesen Vorschlag mit der gröfsten, und von den Astronomen sehr dankbar anerkannten Wärme auf, und es wurden auf 6 hintereinanderfolgende Jahre jährlich 500 Thaler ausgesetzt, die bis jetzt auch regelmäfsig aufbewahrt sind, und bis auf eine Kleinigkeit von einigen 50 Thalern, durch den Stich einer Probekarte und © Xu Bericht über das Unternehmen andere kleine Nebenausgaben veranlafst, noch unangerührt blieben. Das Ministerium bewilligte diese Verwendung unter dem 19. Mai 1825. Diese Summe ist bestimmt: 1. Jedem Theilnehmer an diesem Unternehmen für ein Blatt von 30° Höhe und 15° Breite eine Prämie von 25 Ducaten zu gewähren. Es bezieht sich dieses auf die obenerwähnte Zone des Himmels, die etwa den vierten Theil der ganzen Himmelskugel, und den dritten Theil der bei uns sichtba- ren umfafst. 2. den Stich und die Herausgabe dieser vier und zwanzig Blätter zu decken. Es wurde darauf eine Commission ernannt, bestehend aus den Herrn Ideler, Oltmanns, Dirksen, Bessel und dem Unterzeichneten, um die Vertheilung der Blätter zu übernehmen, und die künftige Revision. — Zur Bekanntmachung ward ein von Bessel ausgearbeiteter, und mit einer Probekarte begleiteter Prospectus ausgegeben, und dieser im December 1825 den Schumacherschen astronomischen Nachrichten einverleibt, und sonst überall hin versandt, wo Theilnehmer zu erwarten waren. Die Commission begleitete den Prospectus mit einem besonderen Schreiben, in welchem ei- nige Punkte noch etwas näher erläutert waren. Bei der erst durch die wirk- liche Ausführung sich zeigenden Schwierigkeit des Unternehmens wurde das Ende von 1828 als der Termin angesetzt, in welchem ein jedes Blatt gefer- tigt werden sollte, und um Nachricht von dem Fortschritt der Arbeit wäh- rend derselben ersucht. Die Meldungen gingen zahlreich genug ein, so dafs zuerst am 18. April 1826 die Commission die vier und zwanzig Stunden so vertheilen konnte. Hora 0. Prof. Struve in Dorpat. - 1. Hauptm. Caroc in Altona. - 2. Prof. Hallaschka in Prag. - 3. Dr. Morstadt in Prag. - 4. Prof. Knorre in Nicolajew. - 5. Herrv. Steinheil in München. - 6. Inspekt. Lohrmann in Dresden. - 7. Lt. Nehus in Altona. - 8. Prof. Schwerdt in Speyer. - 9. Regierungssekretair Klinghammer in Rudolstadt. der akademischen Sternkarten. XIU Hora 10. Prof. Göbel in Coburg. - 44. Dr. Claussen in Altona. - 412. Herrv. Steinheil in München. - 413. Herr Nicollet in Paris. - 14. Herr Slavinsky in Wilna. - 15. Prof. Harding in Göttingen. - 16. Prof. Gerling in Marburg. - 17. Hptm. v. Biela in Prag. - 418. Herr Inghirami in Florenz. - CGapocei in Neapel. - 19. Prof. Bessel in Königsberg. - 20. Oberlehrer Strehlke in Danzig. - 21. Prof. Rosenberger in Halle. - 22. Prof. Argelander in Äbo. - 23. Prof. Bouvard in Paris. Im Laufe des Jahres 1826 erfolgten in dieser Vertheilung noch durch spätere Meldungen einige Änderungen. Trotz der Bitte der Commission sie zu unterrichten, ob jedem Theil- nehmer die angewiesene Stunde genehm sei, erhielt sie keine Entscheidung von Herrn Nicollet in Paris Hora 13. - Bouvard in Paris =, 1232 - Slavinsky in Wilna 44, Die Commission glaubte deswegen die Hora 14. Herrn Hussey in England (Chislehurst, Kent) geben zu können, der sich etwas später gemeldet. Hauptmann Caroc starb während dieser Zeit. Seine Zone übernahm Herr Olufsen in Copenhagen. Noch gingen Meldungen ein von den Herrn Möbius in Leipzig Grooby in England welche von der Commission ersucht wurden, bis auf entstehende Lücken sich zu gedulden. Es liegt in der Natur der Sache, dafs ein Unternehmen welches so viele weit entfernte Theilnehmer umfafst, mit grofsen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, und dafs die Hoffnung allzukühn gewesen sein würde, zu c2 XIV Bericht über das Unternehmen glauben, alle diese Theilnehmer würden ihre Zusage erfüllen. In der That kommt noch bei diesen Sternkarten der unangenehme aber nicht zu vermei- dende Umstand hinzu, dafs bei der Übernahme kein Einziger den Umfang und den Zeitaufwand, der zu seiner Arbeit erforderlich war, kannte. Man kann annehmen, dafs jedes Blatt etwa 2000 beobachtete Sterne enthält. Diese müssen zuerst aus den drei Beobachtungsjournalen, nämlich dem Piazzi- schen Catalog, der Hist. cel. und den Besselschen Zonen reducirt werden, und da mehrere doppelt und dreifach vorkommen, so kann man vielleicht nahe an 3000 Reductionen rechnen. Diese Arbeit war von mehreren Theilnehmern zu gering angesehen; sie hatten geglaubt, es sei dieses nur Nebensache, während mehrere Wochen angestrengter Rechnung dazu ge- hören. Dann sollen diese 2000 Sterne jeder nach den verschiedenen Zeichen seiner Gröfse in ein genaues Netz eingetragen werden, wozu Herr von Steinheil einen sehr zweckmäfsigen, aber seiner Genauigkeit wegen eben deshalb zeitraubenden Apparat vorgeschlagen. Auch dieses nimmt einige Wochen weg, in so fern doch Jeder nur täglich einige Stunden darauf wenden kann. Ein sehr zuverläfsiger Correspondent versichert nicht mehr als 40 Sterne in einer Stunde eintragen zu können. Alles dieses ist indessen nur die Vorarbeit. Es mufs jetzt diese Karte Grad für Grad mit dem Him- mel verglichen werden, und alle Sterne die man noch erkennen kann, sollen eingetragen werden. Nach einem ungefähren Überschlage werden im Durch- schnitte 3 mal so viel Sterne, als schon in der Zeichnung niedergelegt sind, darauf zu stehen kommen, und dieses Eintragen eben so viel Zeit erfordern, als die vorhergehenden beiden Arbeiten. Diese Zeichnung mufs aber von dem Theilnehmer, wenn er genau verfahren will, wenigstens zweimal mit dem Himmel verglichen werden, weil mehr oder minder die Verschiedenheit der Durchsichtigkeit der Luft einen grofsen Einflufs darauf äufsert. Nimmt man nun dazu, dafs jede Sterngegend nur etwa 3 Monate im Jahre zu etwas bequemen Nachtstunden in ihrer ganzen Ausdehnung sichtbar ist, und dafs von diesen für Mondschein und trübe Witterung noch viele Tage abgehen, so übersieht man wohl, dafs die Frist von zwei Jahren nicht gerade hinrei- chend sein dürfte, für eine Arbeit, die doch nicht jeder Theilnehmer zu seinem einzigen Hauptgeschäft machen kann. Hiezu kommt noch, dafs der an sich sehr deutliche Prospectus, doch besonders im Auslande mifsverstanden worden. Der Zweck des Ganzen der akademischen Sternkarten. KV; setzte voraus, dafs man als Grundlage die Beobachtungen von Piazzi, La- lande und Bessel gebrauchte, weil diese in den Händen aller Astronomen sind. Statt dessen haben Viele geglaubt, selbst beobachten zu müssen. Ab- gesehen von der Richtigkeit dieser eigenen Beobachtungen, kann ein Anderer sie überdem nicht benutzen, weil sie nicht gedruckt sind, und die dadurch herbeigeführte Ungleichheit mufs nachtheilig einwirken. Indessen ist doch allerdings Hoffnung da, dafs ein Theil des Unter- nehmens glücklich ausgeführt werden wird. Zum bestimmten Termin ihre Arbeiten einzuliefern haben fest ver- sprochen: Hora 12. Herr von Steinheil - 414. - Hussey - 15. - Harding - 18. - Inghirami und Capocei und nach den Äufserungen in den eingelaufenen Briefen zu urtheilen, dürfte darauf zu rechnen sein, dafs wenigstens 15 Blätter von allen 24 gefertigt werden, wenn gleich später als der angesetzte Termin. Die zurückbleiben- den können vielleicht durch die später angemeldeten, oder die Theilnehmer, welche schon ihre Stunde vollendet, ersetzt werden. Unter diesen Umständen kann die Commission nur die Akademie er- suchen, die einmal ausgesetzte Summe, aller Verzögerungen ungeachtet, den Karten noch einige Jahre zu reserviren, um wenn das Unternehmen nicht nach seinem ganzen Umfange durchgeführt werden sollte, wenigstens von ihrer Seite kein Hindernifs in den Weg gelegt zu haben. Berlin den 24. Juli 1828. In Auftrag der Commission J. F. Encke. In IE Re Te, 2 . Ar u PR \ ö Be u I un. iTzver j il ni en ale ar. re Ana nä LEE + A en Bun ba... a a ei Re if 2. Im BE 7 (al, ecig Ze. ae De er San B2 eh It ArmluE ge an EREBeN 5 . o2 Ai, i 2A hi er u Mix; .s Te ee . . 2 f BIT alte 0 En u ee Te Ar7z ir a ne IDEE: Te be a ee Wi it mid. 3 “ . u i .s Auleet upl FG rs Afet gb Yanesun | . \ “ron nn Te u lien 5 - . . rn ah j 5 a ln Br SEE U U EEE Po ee a eg . j As . u In , . u . . - EZ ei = . In u B | u mus D-7° \ I = BE j . a = ee a ee; Per ET . EINE, BF 23 BER Den. P: ei er m ee: . a ee ı u lem 4 Sr u u) 1“ . 7z) FILG . . w | LT in: Au Di: ur Be rn DT RR f 2 u BA ö is NED Dali en Pro 5 er u EZ u 1° BG u u; K & An . “ ur Ba ü 2 = Ze 07 D ws 5 DE ee . I: u m‘ 2 ar Ya z Ad an Suhl . ® LP GE EEE . zu rei a 5 ni \ De Fr BT nn ugs ET a re Beet A j u £ nn . my u iz . r e En er : een 5 Dr i — N De 21 5 en . . u . © 2. BE | =" == . ae IE 20077 RE \ u i Zu Be" u PS . - vo . e- B i = ® 1 i u u ” . 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Dafs man sich aber schon damals des Quecksilbers zur Ausscheidung des Goldes aus den Erzen bedient hätte, ist durchaus nicht zu erweisen, denn Plinius redet nur vom Reinigen des Goldes durch Quecksilber. In jedem Fall ist aber die Anwendung des Quecksilbers zum Amalgamiren der Golderze, ungleich älter, als die Kunst des Amalgamirens der Silbererze. Vor dem sechszehnten Jahrhundert ward nur das dem Golde chemisch beigemischte Silber durch Amalgamation dargestellt. Strabo und Plinius bemerken ausdrücklich, dafs die Silbererze mit Bleiglanz geschmolzen werden müfsten, wenn man das Silber daraus gewinnen wolle. Die Behandlung der Silbererze mit Quecksilber ist in Amerika erfun- den, und über 200 Jahre lang in dem neuen Welttheile ausgeübt worden, ehe in Europa von dieser Erfindung eine Anwendung gemacht ward. Ge- wöhnlich wird sie dem Pedro Fernandez de Velasco zugeschrieben, welcher die Amalgamation der Silbererze im Königreich Mexico im Jahre 1566 ein- geführt haben soll; allein A.v. Humboldt hat gezeigt, dafs diese für den amerikanischen Silberbergbau so ungemein wichtig gewordene Erfindung, von dem Bergmann Medina aus Pachuca herrührt, dafs sie im Jahre 1557 gemacht worden ist, und dafs 5 Jahre später, nämlich im Jahre 1562, schon 35 Amalgamirhütten in Mexico vorhanden waren. In Peru hat man sich des Amalgamirens der Silbererze seit dem Jahre 1571 bedient. Phys. Klasse 1828. A [Ss KARSTEN Dieser neue metallurgische Prozefs fand in Europa auch dann noch kei- nen Eingang, als derselbe im Jahre 1640 in Spanien, im Jahre 1674 in Eng- land, und im Jahre 1676 in Deutschland, durch Barba’s vortreffliche Schrift über das Verquicken der Gold- und Silbererze, vollständig bekannt ward. Man hielt es für unmöglich, das Silber aus Erzen zu gewinnen, in welchen es nicht im regulinischen oder gediegenen Zustande vorhanden sei, und setzte voraus, dafs alles Silber welches in Amerika durch die Amalgamation darge- stellt ward, sich als gediegenes Silber in den Erzen befunden haben müsse. Die irrigen Vorstellungen von dem aufserordentlich hohen Gehalt der amerikanischen Erze an gediegenem Silber, mögen nicht wenig dazu bei- getragen haben, dafs man die Amalgamation der europäischen Silbererze als ganz unausführbar betrachtete, obgleich Barba, indem er die von ihm schon im Jahre 1590 erfundene Methode des Amalgamirens der Silbererze in kupfer- nen Kesseln beschreibt, ausdrücklich der mit Schwefel verbundenen Silber- erze erwähnt, welche zwar ungeröstet angequickt werden könnten, aber mit gröfserem Vortheil vor der Amalgamation geröstet werden müfsten. Noch in dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts behaupteten schwedische und deutsche Metallurgen, dafs die Amalgamation nur bei Silbererzen statt finden könne, die gediegenes Silber enthalten, weil das Quecksilber nur dieses aufzunehmen im Stande sei. Es scheint dafs v. Born seine ersten Versuche über das Amalgamiren der Silbererze und der Gold und Silber haltenden Rohsteine, im Jahre 1783 angestellt hat. Im Jahre 1786 war der Amalgationsprozefs in den Nieder- ungarischen Bergstädten schon in vollem Gange. Das Verfahren war ganz das von Barba vorgeschlagene, nämlich die warme Amalgamation in kupfer- nen Kesseln, welcher v.Born vor dem in Amerika weit allgemeiner üb- lichen Verfahren des Amalgamirens der rohen oder auch der gerösteten Erze in Haufen (montones) mit Quecksilber und Kochsalz, deshalb den Vorzug gab, weil seine Versuche ihn gelehrt hatten, dafs die warme Amalgamation mit dem geringsten Quecksilberverlust verbunden sei. Wesentlich wich er aber von Barba’s Methode darin ab, dafs er alle Silbererze mit einem Zu- satz von Kochsalz, und die Rohsteine aufserdem noch mit einem Zusatz von Kalk, in Flammöfen rösten liefs. Obgleich v. Born von unrichtigen Vor- aussetzungen ausgegangen war, indem er annahm (5.115 seiner bekannten Schrift: über das Anquicken) dafs beim Rösten der Erze mit Kochsalz, alle über den Amalgamationsprozeßs. 3 Metalle, das Gold und Silber allein ausgenommen, verkalkt würden, und dafs darauf die Ausführbarkeit des Amalgamationsprozesses beruhe; so hatte er durch seine vielfachen Versuche, wenn ihnen auch durch Barba’s Entdeckung die Richtung im Allgemeinen vorgezeichnet war, doch in der Ausübung den richtigeren Weg aufgefunden, und ihm gebührt die Ehre, nicht blos den Prozefs des Amalgamirens der Silbererze zuerst in Europa eingeführt, sondern denselben auch zugleich wesentlich verbessert zu haben. Schon zu Ende des Jahres 1786 hatte er sich überzeugt, dafs es der kostbaren kupfernen Kessel, welche durch den Gebrauch sehr schnell zerstört wurden, nicht bedürfe, und dafs die Amalgamation in der gewöhnlichen Temperatur in hölzernen Fässern, mit einem Zusatz vom Kupfer zum Quecksilber, mit ungleich gröfserem Vortheil verrichtet werden könne. Zu derselben Zeit ward durch Gellert der Grund zu der Fässer- Amalgamation in Freiberg gelegt, bei welcher man sich später des Zusatzes von Eisenplatten statt des Kupfers bediente, und diesen metallurgischen Prozefs dadurch zu einer Voll- kommenheit brachte, deren sich die amerikanische Amalgamation, von welcher er abstammt, nicht rühmen kann. Von dem ungleich älteren Verfahren der Gewinnung des Goldes durch Quecksilber, weicht die in Amerika entdeckte Amalgamirung der Silbererze also wesentlich durch die Anwendung des Kochsalzes ab. Dafs Medina’s Entdeckung nicht die Frucht einer Überlegung, sondern das Werk eines Zufalls gewesen ist, darf wohl nicht bezweifelt werden. Auch Barba ge- steht aufrichtig, dafs er die Entdeckung der warmen Amalgamation in ku- pfernen Kesseln zufällig gemacht habe, indem er, nach den damals herrschen- den Ansichten, das Quecksilber mit Silbererzen durch Kochen mit Wasser in kupfernen Kesseln, zu fixiren bemüht war. Was man noch vor kaum mehr als 40 Jahren in Zweifel zog, ob näm- lich bei dem Amalgamationsprozefs Hornsilber gebildet werde; das glauben wir, wenigstens bei der deutschen Fässer-Amalgamation, mit der gröfsten Be- stimmtheit zu wissen. Wir übersehen klar den ganzen Gang des Prozesses, und dennoch entsteht die Frage: ob man die Amalgamation, wenn sie nicht schon erfunden wäre, aus rein theoretischen Gründen in Anwendung zu bringen, versucht haben würde? i Das Verhalten des Hornsilbers zum Quecksilber würde schwerlich dazu aufgefordert, und selbst eine, aus rein theoretischer Abstraction her- A2 4 Karsten vorgegangene Anwendung eines zweiten Metalles, durch welches die Re- duction des Hornsilbers bewirkt, und das Quecksilber nur als das Medium zur Ansammlung des redueirten Silbers benutzt wird, würde kaum die Zwei- fel über die Anwendbarkeit des Verfahrens im Grofsen zu beseitigen vermogt haben, indem man aus Erfahrung wufste, dafs sich sogar die Amalgamirung der an gediegenem Silber sehr reichen Erze, nicht ohne grofsen Silberverlust bewerkstelligen läfst. Wie geringe der Antheil ist, dessen sich die Theorie an der Verbes- serung des amerikanischen Amalgamationprozesses rühmen kann, ergiebt sich daraus, dafs die deutsche Amalgamation schon in ihrer jetzigen Vollkom- menheit ausgeübt ward, als man nur daran dachte, der Salzsäure im Koch- salz die Wirkung zuzuschreiben, die metallischen und alkalischen Erden, welche die Gold- und Silbertheilchen umhüllten, wegzubeitzen, die Ober- fläche des edlen Metalles zu entblöfsen und dem Quecksilber zugänglich zu machen. Das Rösten hielt man für nothwendig, um den Schwefel zu ent- fernen, und dabei zugleich Schwefelsäure zu erzeugen, welche aus dem Kochsalz die Salzsäure austreiben sollte, die zum Wegbeitzen der metal- lischen und alkalischen Erden erforderlich war. Von dem natürlichen Horn- silber nahm man an, dafs es in der Glühhitze beim Rösten zerlegt werde, und das Silber in metallischer Gestalt zurücklasse (v.Born S.109.). Die Erfahrung entsprach jedoch einer solchen Voraussetzung nicht, und deshalb stand man in dem Wahn, dafs das natürliche Hornsilber oder dasjenige Silbererz, welches viel Hornsilber enthält, für den Amalgamationsprozefs am wenigsten geeignet und dafs es nothwendig sei, solche Erze, wenn sie durch die Amalgamation den ganzen Silbergehalt hergeben sollten, vorher mit Laugensalz zu schmelzen. So war die Theorie beschaffen, mit deren Hülfe man die amerika- nische Amalgamation auf europäischen Boden verpflanzte. Man glaubte den Zusammenhang des Prozesses, durch welchen jener Welttheil schon seit Jahrhunderten den gröfseren Theil seiner Silberschätze gespendet hatte, klar zu durchschauen, und freuete sich mit Recht des Triumphes, dafs man in dem so eben nur begonnenen Unternehmen, den zweihundertjährigen Er- fahrungen der Amerikaner rasch vorgeeilt, und Resultate von dem verbes- serten Amalgamatiosverfahren aufzuweisen im Stande war, welche die ame- vikanische Amalgamation darzubieten nicht vermogte. Gewifs ein merk- über den Amalgamationsprozeßs. 5 würdiges Beispiel, wie nicht durch die Theorie, sondern trotz derselben, einer der wichtigsten metallurgischen Prozesse, seiner vielleicht gröfstmög- lichsten Vollkommenheit entgegen geführt worden ist. Die Theorie welche der deutschen Amalgamation zum Grunde liegt, ist höchst einfach, denn es kommt nur darauf an, das in den Erzen befind- liche Silber, wenn es sich nicht schon in dem Zustande des Hornsilbers be- findet, mit Chlor zu verbinden, diese Verbindung sodann durch regulinisches Eisen oder durch Kupfer zu zersetzen und das reducirte Silber in dem Queck- silber anzusammeln. Man erreicht den ersten Zweck durch Rösten der Erze mit Kochsalz und Kiesen, wobei aufser dem Hornsilber aber noch Oxyde, Vitriole und basische schwefelsaure Salze von denjenigen Metallen gebildet werden, die mit dem Schwefel im Silbererz und in den Kiesen verbunden waren. Durch den nun erfolgenden Zusatz von Wasser entstehen Glaubersalz, Metall- chlorüre und Chloride, die dem deutschen Amalgamationsprozefs häufig sehr hinderlich sind, weil sie durch das Metall welches man zum Zersetzen des Hornsilbers anwendet, theilweise ebenfalls.redueirt und von dem Queck- silber aufgenommen werden. Aber dies ist nicht die gröfste Schwierigkeit mit welcher die deutsche Amalgamation zu kämpfen hat. Eine ungleich gröfsere wird dadurch herbeigeführt, dafs man den Zusand der Masse, nach erfolgter Röstung, mit Zuverlässigkeit gar nicht beurtheilen und keinesweges überzeugt sein kann, ob das im Erz befindliche Silber vollständig in den Zu- stand des Hornsilbers versetzt worden ist. Man führt Erfahrungen an, dafs, aus solchen Silbererzen, welche, wegen zu geringer Beimengung von Schwe- felmetallen, beim Rösten nicht schwefligte Säure in hinlänglicher Menge her- geben, bei einer übrigens gehörigen und dem bekannten Verhalten der Erze angemessenen Verhältnifs von Kochsalz, der Silbergehalt beim Amalgamiren nicht vollständig dargestellt werden könne, — man beruft sich auf die Er- fahrung, dafs Silbererze, ohne sehr reiche Rückstände zu hinterlassen, nicht amalgamirt werden können, wenn nicht ein reichliches Übermaafs von Koch- salz vorhanden sei, — man hat sich durch Erfahrung belehrt, dafs die unter dem Namen des Kupfersteins bekannte silberhaltige Verbindung des Kupfers mit Schwefel, dem Amalgamationsprozefs nicht unterworfen werden kann, wenn nicht ein Theil der beim Rösten erhaltenen schwefelsauren Metalloxyde durch kohlensauren Kalk zerlegt wird. Aber die Erfahrung hat auch gelehrt, 6 KARrsSTEn dafs man eine vollkommene Amalgamation eben so wenig durch einen zu reichlichen, als durch einen zu geringen Kalkzusatz zu bewirken im Stande sei. Erwägt man, dafs der Silbergehalt der Erze, welche der Amalgamation unterworfen werden, selten über 8 Loth im Centner steigt, dafs er aber in vielen Fällen noch ungleich geringer ist; so darf man wohl in den, aus der Umhüllung mit Oxyden und tauben Gesteinen entspringenden, mechanischen Hindernissen, wenigstens zum Theil, die Ursachen suchen, weshalb keine ganz vollkommene Entsilberung durch die Amalgamation erfolgen kann. Da- durch wird aber noch keinesweges erklärt, welchen Dienst das Ubermaafs von Kochsalz leistet, welches man nicht ungestraft vermindern darf; man erhält dadurch keinen Aufschlufs darüber, warum die Kiese, oder auch die bereits gebildeten schwefelsauren Metalloxyde, in einer ganz aufser allem Verhältnifs gröfseren Menge bei der Röstarbeit vorhanden sein müssen, als zur Zersetzung von so viel Kochsalz nöthig ist, wie die Umänderung des Silbers in Hornsilber erfordern würde, selbst wenn man diese (Quantität, mit Rücksicht auf die Hindernisse welche das taube Haufwerk darbietet, um das Zehnfache vergröfsern wollte. So wie überhaupt die Anwendung jedes Übermaafses einer Kraft zur Hervorbringung einer bestimmten Wirkung, eine Unsicherheit im Erfolge, oder eine Unbekanntschaft mit der Gröfse der wirkenden Kräfte verräth; so würde man es der deutschen Amalgamation ebenfalls zum Vorwurf machen können, dafs sie sich ungleich gröfserer Mittel bedienen mufs, als die Theorie sie erfordert. Bei der grofsen Einfachheit des Prozesses ist es nicht zu er- warten, dafs man sich in den Grundsätzen geirrt habe, nach welchen der Erfolg desselben zu berechnen war; vielmehr wird man anzunehmen geneigt sein, dafs bei der Ausübung selbst, die Mittel nicht so angewendet werden können, als es den theoretischen Voraussetzungen gemäfs ist. Dies ist auch in der That bei der Röstarbeit der Fall, indem sich die Produkte, welche dieser Prozefs liefert, ganz nach der Temperatur richten, in welcher er statt fand. Eine und dieselbe Beschickung von kiesigen Silbererzen mit Kochsalz, wird ganz verschiedene Verbindungen entstehen lassen, je nachdem sie, beim Abrösten, einer gröfseren oder geringeren Temperatur, längere oder kürzere Zeit ausgesetzt gewesen ist. Der Einflufs, welchen dieser verschiedenartige und von vielen zufälligen Umständen abhängige Erfolg der Röstarbeit, auf den Fortgang des Amalgamationsprozesses äufsert, würde sich bei der deutschen über den dmalgamationsproze/s. 7 Amalgamation ehen so nachtheilig zu erkennen geben, als es bei der ameri- kanischen der Fall ist, wenn sich jene nicht eines zweiten Metalles zur Zer- legung der Chloride bediente, welche bei dieser nicht anders als durch das Quecksilber selbst bewerkstelligt werden kann. Seitdem man den Verlauf der Erscheinungen und Erfolge bei der deutschen Amalgamation klar und deutlich eingesehen und sich überzeugt zu haben glaubt, dafs der ganze Prozefs auf Bildung und Zersetzung des Horn- silbers beruht, stand man nicht weiter an, diese theoretischen Ansichten auch auf den amerikanischen Amalgamationsprozefs zu übertragen. Und wirklich scheinen Bildung und Zersetzung des Hornsilbers, nur auf einem langsameren Wege und durch modifieirte Mittel, dort wie hier der Zweck der Operation zu sein. Die Zersetzung des Hornsilbers, welche die euro- päische Amalgamation durch Eisen oder auch durch Kupfer bewerkstelligt, mufs bei der amerikanischen, durch das Quecksilber bewirkt werden. Zwar bemerkt Barba, dafs man in gewissen Fällen sich eines Zusatzes von Eisen, Blei, Zinn, Kalk oder Asche zu bedienen habe; allein diese Anwendung be- schränkt sich nur auf einen hestimmten Fall, der nämlich dann eintritt, wenn Chloride von Eisen oder von Kupfer in zu grofser Menge vorhanden sind. Dagegen belehrt uns aber A.v. Humboldt, durch welchen wir überhaupt die gründlichsten Nachrichten von der amerikanischen Amalgamation erhal- ten haben, dafs ein peruanischer Bergmann CarlosCorso deLeca schon im Jahre 1586, also 15 Jahre später als Medina den Amalgamationsprozefs erfunden hatte, den Rath ertheilt habe, dem Erzmehl kleine Eisenplatten beizumengen um dadurch 9 Zehntheile Quecksilber weniger zu verlieren. Dieser Prozefs ist indefs, wie v. Humboldt bemerkt, wenig in Anwendung gekommen. Bei dem von Medina erfundenen Amalgamationsprozefs, soll das zu dem feinsten Pulver gemahlene Erz, nicht blos mit Kochsalz gemengt werden, sondern man hält in vielen Eällen auch noch einen andern Zusatz für noth- wendig, um das Erzpulver vollständig zu entsilbern. Dieser Zusatz ist bald Eisenvitriol, bald Kupfervitriol, bald ein Gemisch von beiden. Er wird Magistral genannt und gröfstentheils durch Rösten und Auslaugen von kupfer- haltigen Schwefelkiesen bereitet. Ob Medina schon den Gebrauch des Magistrals vorgeschlagen, oder sich blos auf die Anwendung von Kochsalz beschränkt hat, mag unentschieden bleiben; gewifs ist es aber, dafs man des 8 KARSTEN Magistrals schon in den ältesten Nachrichten über die amerikanische Amal- gamation erwähnt findet, und eben so gewifs, dafs viele 1000 Centner Erz- pulver, noch jetzt, ohne allen Zusatz von Magistral, blos vermittelst des Kochsalzes und des Quecksilbers entsilbert werden. Das Rösten der Erze ist in Amerika so wenig gebräuchlich, dafs es fast nur als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel betrachtet werden mufßs. Niemals bedient man sich aber bei dem Rösten eines Zusatzes von Kochsalz, sondern wendet dieses Mittel erst später, in der Art an, wie bei den nicht gerösteten Erzen. Barba warnt ausdrücklich vor dem Rösten der Erze mit Kochsalz, weil dadurch das Silber selbst verzehrt werden würde. Die zu amalgamirenden Erze sind häufig so arm, dafs aus dem Cent- ner nur 2 bis 4 Loth Silber gewonnen werden, indem man die reicheren für die Schmelzarbeit bestimmt. Zur Amalgamation werden aber nicht blos diejenigen Erze, welche gediegen Silber und Hornsilber enthalten, sondern auch die Silberglaserze, die Rothgültigerze und die Fahlerze, also auch die Erze für geeignet gehalten, in welchen das Silber in Verbindung mit Schwefel und andern Schwefelmetallen enthalten ist. Das noch feuchte, höchst feine Erzpulver von den Mühlen, wird auf dem mit Steinen ausgepflasterten Amalgamirhofe in Haufen (montones) ge- bracht, welche 15 bis 30 Centner von diesem Erzschlamm enthalten. Häufig werden 40 bis 50 Montones, welche man eine Torta nennt, gleichzeitig in Arbeit genommen. Man achtet sehr darauf, dafs diese Erzhaufen die rechte Wasserconsistenz erhalten und weder zu weich noch zu steif sind. Solchen Erzhaufen wird ein Zusatz von 2 bis 5 Procent Kochsalz gegeben, welches mit dem Erzschlamm gemengt und mit Schaufeln durchgearbeitet wird. Nach Verlauf von einigen Tagen, während welcher Zeit das verdunstete Wasser durch Anfeuchten wieder ersetzt worden ist, wird der Magistral zugesetzt, wovon man, theils nach Beschaffenheit der Erze, theils nach der des Magi- strals selbst, ein halbes bis 3 Procent anzuwenden pflegt. Der Haufen mufs nun fleifsig gewendet und durchgetreten werden, welches jetzt gewöhnlich durch Maulthiere geschieht, früher aber von Menschen verrichtet ward. Demnächst wird der Quecksilberzusatz gegeben, welches die Incorporation genannt wird. Man pflegt 6 Theile Quecksilber auf 1 Theil Silber zu rech- nen, indem man den Silbergehalt der Erze vorher durch eine Probe im Klei- nen ausgemittelt hat. Von diesen 6 Theilen Qnecksilber wendet man bei über den Amalgamationsprozefs. I dem ersten Zusatz aber nur die Hälfte an, weil sich der Erzhaufen, wie Barba sich ausdrückt, durch einen zu grofsen Quecksilberzusatz zu sehr erkälten würde, — und setzt die zweite Hälfte im Verlauf des Prozesses nach und nach zu. Ein häufiges Durchtreten oder Trituriren des Haufens ist sehr nothwendig und mufs um so öfter geschehen, je weniger sich die Tem- peratur des Erzhaufens erhöhet. Ohne einige Erhitzung des Erzschlammes schreitet der Prozefs zu langsam vor, weshalb man einem zu kalt bleibenden Erzhaufen durch neue Magistralzusätze zu Hülfe kommt, wodurch die Tem- peratur vergröfsert wird. Auf einigen Amalgamirhütten bringt man die Erz- haufen während des Amalgamationsprozesses, auf einige Tage in einen Wärm- ofen (Estufa) um den Prozefs zu beschleunigen. Die Kunst des Amalgamirers besteht darin, den Haufen in dem gehörigen Grad der Wärme zu erhalten, wozu das äufsere Ansehn des Quecksilbers ihm die Anleitung giebt. Eine glänzende Oberfläche deutet auf Mangel an Wärme, oder auf ein Stocken des Prozesses, den man durch neue Magistralzusätze zu beleben sucht. Bedeckt sich das Quecksilber mit einer schwarzgrauen Haut, welche sich bei der Be- wegung des Quecksiibers in Falten zu legen scheint, wobei die Quecksilber- theilchen selbst nicht mehr im Zusammenhange bleiben, sondern sich in langen Schwänzen fortziehen, welche mit grauen Häuten umgeben zu sein scheinen; so ist die Hitze zu grofs, der Amalgamationsprozefs stockt eben- falls, und es wird ein Zusatz von ungelöschtem Kalk oder auch von Asche nothwendig. Einen solchen Zustand mufs der Amalgamirer indefs möglichst zu vermeiden suchen, weil ein vermindertes Silberausbringen und ein grofser Quecksilberverlust jederzeit die Folge desselben sind, und weil der Entsil- berungsprozefs in einem Haufen, welcher einen Kalkzusatz erfordert hat, nur schwierig wieder einzuleiten ist. Behält das Quecksilber das Ansehen des matt gearbeiteten Silbers und bedeckt es sich dabei mit einem bleifar- benen Stäube, ohne im mindesten seinen Zusammenhang zu verlieren, wenn es sich beim Bewegen in einem Gefäfs auch in kleine Kügelchen theilt, welche jedoch bald wieder zusammenlaufen, so hat der Prozefs einen gewünschten Fortgang. Neue Quecksilberzusätze sind erforderlich, wenn das sich bil- dende Amalgam zu steif wird. . Stockt der Amalgamationsprozefs, ohne dafs sich aus der Beschaffenheit des Quecksilbers auf einen fehlerhaften Zustand des Erzhaufens schliefsen liefse; so mufs ein neuer Zusatz von Kochsalz ge- geben werden, wodurch die Ausscheidung des Silbers und die Ansammlung Phys. Klasse 1828. B 10 K,a,aıs.TiE N desselben in dem Quecksilber befördert wird. Behält das Quecksilber zwar sein metallisches Ansehen, aber mit vermindertem Glanz und mit Verlust seines Zusammenhanges, so dafs es, wenn man es ohne Wasser in einem Ge- fälse in kreisförmige Bewegung setzt, an den Wandungen hängen bleibt, und sich in Fäden zu ziehen scheint; so ist ein Zusatz von Magistral noth- wendig, um das Quecksilber, wie Barba es bezeichnet, von neuem zu er- wärmen, zu beleben und fähig zu machen, das Silber aufzufassen. Kupfer- vitriol ist dazu, wie Barba sagt, das beste Mittel. Zeigen sich keine Er- scheinungen, welche einen fehlerhaften Zustand des Erzhaufens verrathen, schreitet aber dennoch der Prozefs nicht vor, auch dann nicht wenn man von zwei kleinen Probehaufen den einen mit Kochsalz und den andern mit Magistral versetzt hat; so ist dies ein Beweis der erfolgten Entsilberung, wes- halb der erquickte Erzhaufen verwaschen, .das Amalgam gesammelt, und dann auf die bekannte Weise behandelt wird. Die oben erwähnten Erschei- nungen welche das Quecksilber zeigt, sind für den Amalgamirer von der höchsten Wichtigkeit, weil er kein anderes Anhalten hat, um den Zustand worin sich der Amalgamationsprozefs in jedem Augenblick befindet, beur- theilen zu können. Aus dem, in die kleinsten Theile zerriebenen Schlieche, sagt Barba, lassen sich der Fortgang und die Gebrechen der Verquickung nicht abnehmen ; das Quecksilber ist aber der Spiegel, in welchem man dies klar sieht. — Es wird sich weiter unten ergeben, worauf diese Erscheinun- gen beruhen und wie sicher und im höchsten Grade zuverlässig man ihnen vertrauen kann. Zu einer solchen Entsilberung sind mindestens 8 Tage, gewöhnlich aber 5 bis 6 Wochen erforderlich. Der Quecksilberverlust wird sehr ver- schieden angegeben. Zwar rechnet man auf 100 Theile des ausgebrachten Silbers 100 Theile Quecksilber und berechnet den Mehrverbrauch an Queck- silber als einen wirklichen Verlust, der nicht in dem chemischen Erfolge der Operation zu suchen ist, sondern von zufälligen Umständen abhängt, und sich durch die gröfsere oder geringere Geschicklichkeit des Arbeiters ver- mindert oder erhöhet; allein diese Angaben sind sehr zweifelhaft. Es scheint nicht, dafs man weniger als 135 Theile Quecksilber zu 100 Theilen des aus- gebrachten Silbers verbraucht, sehr häufig aber noch mehr als 180 bis 190 Theile Quecksilber, auf 100 Theile Silber, als wirklichen Quecksilber- verlust rechnen mufs. über den Amalgamationsproze/s. 11 Von dem eben angedeuteten Verfahren finden häufig Abweichungen statt, indem zuweilen der Magistralzusatz und die Incorporation gleichzeitig geschehen, zuweilen die Zusätze von Magistral, besonders dann, wenn die Erze viel Schwefelmetalle enthalten, ganz wegfallen, auch die Erze zu- weilen wohl geröstet angewendet werden, welches ebenfalls dann der Fall ist, wenn sie Schwefelmetalle enthalten. Barba ist ein grofser Vertheidiger des Röstens, empfiehlt auch sogar Zusätze von Kies bei der Röstarbeit, für diejenigen Erze welche daran Mangel leiden, macht es aber zur Bedingung, alle Erze die vitriolicsh sind, vor dem Beschicken mit Kochsalz und dem Incorporiren auszulaugen. Das Rösten der vitriolischen Erze widerräth er; das taugt nichts, bemerkt er, und befördert vielmehr ihre Vitriolescirung. Herr Sonneschmid, welcher die amerikanische Amalgamation sehr aus- führlich, aber, wie es scheint, nicht ohne eine zu grofse Vorliebe für diesen Prozefs und besonders nicht ohne eine vorgefafste Meinung für die von ihm aufgestellte, höchst unwahrscheinliche Theorie, beschrieben hat, behauptet, dafs aus den gerösteten Erzen stets weniger Silber ausgebracht werde als aus den nicht gerösteten, und erklärt das Rösten der Erze daher für nachtheilig, Barba behauptet, dafs Vitriol der Amalgamation am mehrsten hinderlich sei, weil er das Quecksilber verzehre, besonders wenn noch Kochsalz zu den Erzen zugesetzt werde. Blos allein der Vitriol, sagt er, bringt die An- quickung der Schliechhaufen in Unordnung. Dennoch fährt er fort, ist auch zuweilen der Vitriol höchst nützlich, und die wahre Arzenei, um das Amalgamiren zu befördern. Herr Sonneschmid redet dem Magistral, be- sonders dem reinen Kupfervitriol das Wort, und behauptet, dafs ohne Ma- gistralzusätze gar keine vollständige Entsilberung des Erzschlieches erfolgen könne. Acosta, welcher das Verfahren beim Anquicken der Gold- und Silbererze in Peru, zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts beschrieben hat, lobt die Wärmöfen, weil sie die Arbeit beschleunigen, und ein besseres Silberausbringen gewähren; Herr Sonneschmid nennt die Wirkung dieser Öfen problematisch und bemerkt, dafs durch die Anwendung derselben, der Quecksilberverlust vergröfsert werde. Acosta erwähnt übrigens der Magistralzusätze durchaus nicht, sondern schreibt vor, dafs zu 50 Centnern Erzschliech, der nicht geröstet ist, 5 Centner Salz genommen werden müfs- ten, welche die Unreinigkeiten von dem Silber wegbeitzen würden, damit das Quecksilber das Silber besser fassen könne. B2 12 KırRrsTten Lassen sich gleich die Widersprüche über die Zweckmäfsigkeit oder Unzweckmäfsigkeit des Röstens der Erze und über die Nothwendigkeit und die Nachtheile der Magistralzusätze, aus der verschiedenartigen Beschaffen- heit der Erze einigermafsen erklären; so erhält man doch immer noch kei- nen Aufschlufs darüber, wie der Magistral eigentlich wirkt, er sei in den Erzen schon vorhanden, d.h. durch die Verwitterung oder durch das Rösten derselben entstanden, oder er werde absichtlich hinzugefügt. Bildet sich nämlich durch die Verwitterung des Schwefelsilbers, schwefelsaures Silber- oxyd, so würde dieses durch das in den Montonen vorhandene Kochsalz in Hornsilber umgeändert werden, ohne dafs es dazu der Zwischenkunft des Magistral bedürfte. Aber auch die Nothwendigkeit des Kochsalzusatzes selbst, welche durch die Erfahrung so sehr bestätigt ist, dafs ohne diesen Körper die Amalgamation der Silbererze gar nicht statt finden kann, läfst sich aus theoretischen Gründen nicht einsehen, weil es nicht einleuchtet, warum der Silbervitriol, wenn dieser wirklich gebildet wird, erst in Hornsilber umge- ändert werden mufs, indem ersterer ungemein viel leichter als letzteres durch das Quecksilber zerlegt wird, wenn gleich der Quecksilberverlust als- dann noch mehr erhöhet werden würde. Um den Vorgang bei der amerikanischen Amalgamation richtig über- sehen zu können, ist es nothwendig zu wissen, welche chemische Wirkung die verschiedenen bei diesem Prozefs in Conflict kommenden Körper auf einander äufsern. Nichts ist gewisser, als dafs sich durch das Zusammen- kommen des Kochsalzes und der schwefelsauren oxydirten Metalle, sie mögen sich in den Erzen selbst ausbilden, oder denselben als Magistral hin- zugefügt werden, Glaubersalz und Chlorüre und Chloride von Eisen, Glau- bersalz und Kupferchlorid bilden. Ob diese Verbindungen auf das Schwe- felsilber wirken, mufste zuvörderst untersucht werden, weil gerade die bei der Amalgamation erfolgende Zersetzung des Schwefelsilbers, der noch durch- aus nicht aufgeklärte Theil des Prozesses ist. Das zu den hier anzuführenden Versuchen angewendete Schwefelsilber, war theils künstlich bereitetes ('), theils natürliches von der Grube Friederike Juliane zu Rudolstadt bei Kupfer- berg in Schlesien. Die Temperatur in welcher die Versuche angestellt wur- den, stieg nicht über 19 Gr. Reaum. (') Durch Zersetzung einer verdünnten Auflösung des schwefelsauren Silberoxyds mit Hydrotlionsäure. über den Amalgamationsprozeßs. 13 Eisenchlorür, theils unmittelbar aus regulinischem Eisen und Salz- säure, theils mittelbar durch Zusammengiefsen von wässrigen Auflösungen von Kochsalz mit schwefelsaurem Eisenoxydul bereitetes, und künstliches Schwefelsilber, wirkten nicht aufeinander, selbst nicht bei anhaltender Sied- hitze. Der Versuch in der Art abgeändert, dafs regulinisches Quecksilber mit angewendet ward, zeigte keinen andern Erfolg, als dafs sich das Queck- silber zuletzt mit einer grauen Haut überzog, von welcher weiter unten die Rede sein wird. Wässriges Eisenchlorid, unmittelbar durch Auflösen von Eisenoxyd in Salzsäure bereitet, und künstliches Schwefelsilber, blieben mehrere Wochen lang mit einander in Berührung und wurden täglich einigemal umgeschüttelt, ohne dafs das Schwefelsilber dadurch verändert worden wäre. Ward Queck- silber zugesetzt, so verwandelte sich das Chlorid schnell in Chlorür und das Quecksilber in Kolomel, dann fiel ein basisches Eisenoxydsalz nieder, ohne dafs das Schwefelsilber eine Veränderung erlitten hätte. Kupferchlorid, bereitet aus Kochsalz und Kupfervitriol, folglich in der Wirkung dem Kupferchlorid gleich zu setzen, in eben der Art wie das Eisenchlorid angewendet, äufserte auf das künstliche Schwefelsilber nicht die mindeste Wirkung. Ward zugleich Quecksilber hinzugefügt, so änderte sich das Chlorid in ein farbenloses Chlorür um, das Quecksilber ward in Kolomel umgeändert, und es schlug sich sehr bald ein basisches Kupfer- chlorid mit grüner Farbe nieder, ohne dafs das Schwefelsilber eine Verän- derung erlitten hätte. Künstliches Schwefelsilber und Sublimatauflösung zeigten nach Ver- lauf von 4 Wochen, wobei das Gemenge täglich einigemal umgeschüttelt worden war, nicht die geringste Einwirkung auf einander. Ward Queck- silber zugesetzt, so entstand Kolomel und die Flüssigkeit war zuletzt nur reines Wasser. Künstliches Schwefelsilber und Kolomel anhaltend mit Wasser ge- kocht, wirkten eben so wenig auf einander als künstliches Schwefelsilber und Quecksilberoxyd in der Wassersiedhitze. Künstliches Schwefelsilber wird bei anhaltendem Zusammenreiben mit Quecksilber zerlegt. Es entsteht ein Silberalmagam und Schwefel- quecksilber. Derselbe Erfolg findet bei dem natürlichen Glaserz statt. 44 KırsteEn Schwefelsilber und Kochsalz wirken ohne Zusatz von Quecksilber nicht auf einander. Setzt man Quecksilber hinzu, so ist der Erfolg nicht anders als er ohne Kochsalz sein würde. Dagegen wird die Zerlegung des Schwefelsilbers durch Quecksilber offenbar sehr befördert, werın beide Körper nicht trocken mit einander zusammengerieben werden, sondern wenn man einige Tropfen einer verdünnten wässrigen Auflösung von Eisen - oder Kupferchlorid hinzufügt. Es entwickelt sich dabei aber kein Schwefelwas- serstoffgas, sondern es scheint, aufser dem Schwefelquecksilber, nur noch etwas Kolomel gebildet zu werden. 10 Theile fein geriebener Kammkies und 1 Theil künstlich berei- tetes Schwefelsilber wurden innig mit einander gemengt und mit Wasser zu einem Teige angemacht, welcher von Zeit zu Zeit angefeuchtet ward. Nach 23 Tagen schien die Verwitterung, in einer Temperatur von abwechselnd 14 bis 19 Gr. Reaum., erfolgt zu sein, weshalb das Gemenge mit einer sehr verdünnten Kochsalzauflösung versetzt, dann mit vielem Wasser ausgelaugt, und der Rückstand, welcher noch unzersetzte Erztheile enthielt, mit Ätz- ammoniak übergossen ward. Die ammoniakalische Flüssigkeit, welche durch Abklären von dem Bodensatz getrennt worden war, ward mit Salpetersäure versetzt, und liefs eine unbedeutende Menge Hornsilber fallen, die kaum 6 Prozenten des Silbergehaltes des Schwefelsilbers entsprach. Ein ganz ähnliches Gemenge von Kammkies und künstlich bereitetem Schwefelsilber, welchem aber noch 10 Theile Kochsalz beigemengt worden waren, hatte ungleich raschere Fortschritte in der Verwitterung gemacht, in- defs blieb es ebenfalls 23 Tage lang stehen, ward dann mit sehr vielem Wasser übergossen und so lange mit Wasser ausgelaugt, als dieses noch etwas auflö- sete. Der Rückstand ward mit Ätzammoniack digerirt, die ammoniakalische Flüssigkeit filtrirt, und mit Salpetersäure übersättigt. Es ward fast sechsmal so viel Hornsilber erhalten, als bei dem ersten Versuch ohne Kochsalz. 10 Theile fein geriebener Eisenvitriol welcher Oxydsalz enthielt, und 1 Theil künstlich bereitetes Schwefelsilber, innig mit einander gemengt und von Zeit zu Zeit angefeuchtet, blieben 23 Tage lang mit einander stehen. Nach Verlauf dieser Zeit ward die Masse in ein geräumiges Gefäfs gethan, und mit.einer sehr verdünnten Auflösung von Kochsalz begossen. Die Flüs- sigkeit ward abgegossen und der Rückstand so lange mit reinem Wasser aus- gelaugt, als sich darin noch etwas auflöste. Der unaufgelöst gebliebene über den Amalgamationsproze)s. 15 gelbe Schlamm ward mit Ätzammoniack übergossen, die ammoniackalische Flüssigkeit abgeklärt, und dann mit Salpetersäure versetzt, worauf ebenfalls etwas Hornsilber, obgleich kaum halb so viel niederfiel, als bei dem vorhin angeführten Versuch mit Schwefelsilber und Schwefelkies ohne Kochsalz, erhalten ward. 10 Theile fein geriebener Kupfervitriol, 10 Theile Kochsalz und 4 Theil künstlich bereitetes Schwefelsilber, in gleicher Art, zu einem Teige gemacht, und von Zeit zu Zeit angefeuchtet, gaben, nach Verlauf von eben- falls 23 Tagen, wenigstens dreimal mehr Hornsilber, als bei der Anwendung des Kammkieses ohne Kochsalz. Schwefelsilber, verdünnte Salzsäure und Quecksilber wirken nicht auf einander. Setzt man Kupfervitriol hinzu, so wird augenblicklich Kalomel gebildet, und das Kupferchlorid in Chlorür umgeändert, welches aus der Luft wieder Sauerstoff aufnimmt, so dafs die Wirkung ununterbrochen so lange fortdauert, bis entweder alles Quecksilber in Kalomel umgeändert, oder alle Salzsäure durch das vorhandene Quecksilber zersetzt ist. Die Resultate dieser Versuche führen zu dem Schlufs, das die Eisen - und Kupferchloride, welche durch den Magistralzusatz bei der amerikanischen Amalgamation gebildet werden, obgleich sie in der Temperatur bis zu 19 Gr. Reaum. keine unmittelbare Einwirkung auf das Schwefelsilber äufsern, den- noch wesentlich dazu beitragen, das in dem Erz befindliche Schwefelsilber zu zerlegen. Wollte man annehmen, dafs diese Wirkung nur auf eine mittelbare Weise d.h. dadurch herbeigeführt werde, dafs der Prozefs der Vewitterung beschleunigt wird; so ist doch nicht wohl einzusehen, wie Kupfervitriol und Kochsalz, welche durch den Einflufs der Atmosphäre keine Veränderung wei- ter erleiden, also an dem Prozefs der Verwitterung nicht unmittelbar einen thätigen Antheil nehmen können, weit kräftiger auf das Schwefelsilber ein- wirken, als der Eisenvitriol, welcher sich an der Luft so schnell zersetzt, also auch die Verwitterung des mit ihm gemengten Schwefelmetalles anschei- nend weit mehr befördern sollte. Mufs also den Chloriden des Kupfers und Eisens auch eine unmittel- bare Einwirkung auf die Schwefelmetalle bei der amerikanischen Amalgama- tion eingeräumt werden, so scheint es doch, dafs die freiwillige Zerlegung der Schwefelmetalle durch die Verwitterung, nicht minder etwas zur Gewin- 16 Karsten nung des Silbergehaltes der Erze beiträgt. Unter dieser Voraussetzung würde aus dem in den Erzen befindlichen Schwefelsilber, nur so viel Silber ge- wonnen und dargestellt werden können, als Schwefelsilber wirklich, sei es durch die unmittelbare Einwirkung der Chloride oder durch die freiwillige Verwitterung, zerlegt wird. Bedenkt man, wie sehr diese Zerlegung durch das Rösten befördert wird, so kann es wohl nicht zweifelhaft erscheinen, dafs die Röstarbeit das Ausbringen an Silber erhöhen und zugleich den Pro- zefs ungemein beschleunigen mufs. Die ausgewaschenen, ungemein silber- reichen Rückstände, welche durch die Amalgamation nicht zersetzt worden sind (Polvillo) und welche, mit den übrigen zum Verschmelzen bestimmten Erzen, dem Schmelzprozefs übergeben werden, beweisen augenscheinlich, dafs der gröfste Theil von dem in den Erzen befindlichen Schwefelsilber, an der Zerlegung keinen Antheil nimmt. Ob ein Theil des Schwefelsilbers in den Erzen beim Trituriren des Erzhaufens, durch das Quecksilher unmittelbar zerlegt wird, so dafs sich Silberamalgam und Schwefelquecksilber bilden, würde nur durch eine ge- naue Untersuchung der Rückstände von der Amalgamation ausgemittelt wer- den können. Dafs eine solche Zerlegung wirklich statt findet, ist nicht un- wahrscheinlich. Durch das in den Montonen vorhandene Kochsalz, wird aber auch der durch die Verwitterung der Schwefelmetalle etwa gebildete Silbervitriol, in dem Augenblick seiner Entstehung, wieder in Hornsilber umgeändert; so dafs der eigentliche Prozefs der Amalgamation, auch bei dem Verfahren in in Amerika, auf die Zerlegang des entstandenen Hornsilbers zurückgeführt werden mufs. Ob aber das Kochsalz, aufser der Function die es zu ver- richten hat, die schwefelsauren Metallsalze in Chlorüre und Chloride umzu- wandeln, noch einen andern Dienst bei der Amalgamation leistet und ob die Magistralzusätze vielleicht die Zerlegung des Hornsilbers durch das Queck- silber befördern, oder auf welche andere Weise sie sich wirksam zeigen mögten, war nun näher zu untersuchen. Weil sich die amerikanische Amal- gamation des Quecksilbers, die deutsche des Eisens oder des Kupfers zur Zerlegung des Hornsilbers bedient, so sind folgende Versuche mit Rücksicht auf beide Amalgamationsmethoden angestellt worden. Zink und Eisen sind diejenigen Metalle, welche das Hornsilber schon bei unmittelbarer Berührung, ohne Wasser, blos durch Hülfe der in der über den Amalgamationsprozes. 4167, Atmosphäre vorhandenen Feuchtigkeit zerlegen. Es entsteht Zinkchlorid oder Eisenchlorür und regulinisches Silber. Eisenchlorid würde sich nicht bilden können. — Durch Beihülfe des Wassers erfolgt die Zerlegung aber schon durch mittelbare Berührung, wenn z.B. Silber oder Gold das Hornsilber mit dem Zink oder Eisen und Wasser in Verbindung setzen. Schwefel, Schwefelkies und Graphit so wenig, wie irgend ein andrer nicht metallischer Körper, leiten so kräftig, dafs sie die Einwirkung des Zinkes und des Eisens auf das Hornsilber zu vermitteln vermögten. Durch unmittelbare Berührung, ohne Wasser, wird das Hornsilber nicht zerlegt, durch Arsenik, Blei, Kupfer, Antimon, Quecksilber, Zinn und Wismuth, indem die Feuchtigkeit der Atmosphäre nicht zureichend zu sein scheint, die Zerlegung einzuleiten. Kommt aber Wasser hinzu so er- folgt die Zerlegung, und zwar in der Ordnung d worden sind, schneller oder langsamer; jedoch dergestalt, dafs die Zer- wie die Metalle genannt setzung durch Arsenik etwa in 15, und die durch Wismuth etwa in 130 mal so langer Zeit statt findet, als bei der Anwendung von Zink oder Eisen erforderlich ist. Diejenigen Metalle, von denen nur eine Verbindungsstufe mit Chlor bekannt ist, ändern sich in Chloride um, und diejenigen, welche mehrere Verbindungsstufen mit dem Chlor eingehen, stellen sich auf die niedrigste Stufe und bilden Chlorüre. Wendet man statt des reinen Wassers, verdünnte Salzsäure an, so tritt die Zerlegung des Hornsilbers, bei allen zuletzt genannten Metallen, so schnell ein, dafs bei Blei, Quecksilber, Wismuth und Zinn nur etwa das Doppelte der Zeit erforderlich ist, in welcher Zink und Eisen mit Wasser, die Zersetzung bewirken. Das Kupfer redueirt zwar ebenfalls ungleich schneller, als bei der Anwendung von reinem Wasser, indefs wird dazu doch etwa 20 mal so viel Zeit als bei Blei und Quecksilber erfordert, welches deshalb merkwürdig ist, weil das Kupfer mit reinem Wasser die Zerlegung des Hornsilbers schnel- ler bewerkstelligt, als das Quecksilber. Die Metalle welche durch Salzsäure nicht angegriffen werden, erlei- den dabei keine weitere Veränderung als diejenige ist, welche sich auf die Einwirkung des Metalles auf das Hornsilber bezieht. Die Salzsäure dient also blos als Leiter, zur Beschleunigung des Prozesses. Bei der Anwendung Phys. Klasse 1828. C 18 KArRrstTten von Blei entsteht ein Bleichlorid und regulinisches Silber; bei der Anwen- dung von Kupfer oder von Quecksilber werden nur Chlorüre gebildet, von denen sich jedoch das Kupferchlorür, welches an der freien Luft bald zer- setzt werden würde, wegen der vorhandenen freien Säure, in Chlorid um- ändert, welches folglich nur so lange bestehen kann, als regulinisches Kupfer und freie Salzsäure vorhanden sind. Durch sehr langes Stehenlassen an der Luft, wird alle Salzsäure absorbirt und das Chlorid wieder in Chlorür umge- ändert, welches sehr bald ein basisches Chloridsalz mit grüner Farbe fallen läfst. War im Gegentheil Salzsäure im Übermaafs, und nicht viel mehr Kupfer vorhanden, als die Zersetzung des Hornsilbers erfordert, so ändert sich das schon redueirte Silber wieder in Hornsilber um, und es wird dabei ein basisches Kupferchlorid niedergeschlagen. Zwei Metalle, welche, beide einzeln, die Reduction des Hormsilbers unter Wasser nur sehr langsam bewirken, können diese Reduction in Ver- bindung mit einander in ungleich kürzerer Zeit bewerkstelligen. So erfolgt z.B: durch Quecksilber und Kupfer die Reduction schon in einem Zeitraum, der etwa das Dreifache der Zeit beträgt, in welcher Zink und Eisen mit Wasser die Reduction des Hornsilbers hervorbringen. Das elektronegativere Metall verbindet sich mit dem Chlor des Horn- silbers und das positivere bleibt unverändert, auch wenn nur dieses, und nicht das elektronegative Metall das Hornsilber unmittelbar berührt, wie dies längst bekannt ist. Sublimat wird schon bei unmittelbarer Berührung, blos durch Hülfe der Feuchtigkeit in der Atmosphäre, durch Zink und Eisen, und nicht sehr bedeutend langsamer durch Kupfer zerlegt. Es entsteht regulinisches Queck- silber und Zinkchlorid, oder jenes und Chlorüre von Eisen und Kupfer. Wird der Sublimat aber in Wasser aufgelöst, so bewirkt das Zinn die Re- duction nur theilweise und ungleich langsamer, wobei sich zugleich ein Theil des Sublimats in Kalomel umändert. Derselbe Erfolg, nur ungleich langsa- mer, wird durch Kupfer hervorgebracht, indem neben dem Kalomel auch ein basisches Kupferchlorid, erzeugt durch die Einwirkung des Sauerstoffes der Atmosphäre, niedergeschlagen wird. Kalomel wird durch kein Metall in der gewöhnlichen Temperatur zerlegt. über den Amalgamationsprozes. 19 Sublimat und Hornsilber, Kalomel und Hormsilber, Quecksilber- oxydul und Hornsilber, so wie Quecksilberoxyd und Hornsilber, mit Wasser, wirken, wie sich erwarten liefs, nicht aufeinander. Kupferchlorid, Sublimat, Eisenchlorür, so wie Eisenchlorid und Horn- silber, sind, wie ebenfalls vorauszusehen war, ohne Wirkung auf einander. Über die Einwirkung der Chloride auf regulinische Metalle wurden folgende Versuche angestellt: Kupferchlorid und Quecksilber. Das Metall überzieht sich sogleich mit einer faltigen schwarzgrauen Haut und verliert den Zusammenhang, lang- samer durch ruhiges Stehen, schneller durch Bewegung. Es bilden sich Ka- lomel und Kupferchlorür, welches sehr bald ein basisches Kupferchlorid fallen läfst. Die Wirkung dauert ununterbrochen so lange fort, bis die Flüssigkeit den ganzen Kupfergehalt verloren hat. Eisenchlorid und Quecksilber zeigen dasselbe Verhalten, nur dafs dabei ein basisches Eisenchlorid niederfällt. Sublimat und Quecksilber. Auch hier tritt die Wirkung augenblick- lich ein, indem sich aller Sublimat, und zugleich eine entsprechende Quan- tät Quecksilber, in Kalomel umändern, so dafs die Flüssigkeit sehr bald nur aus reinera Wasser besteht. Eisenchlorür, oder auch Kalomel und Quecksilber äufsern, welches kaum der Erwähnung bedarf, keine Wirkung auf einander. Eisenchlorid und Blei. Das Metall überzieht sich sehr schnell mit einer Kruste von Bleichlorid, welches sich in der Flüssigkeit auflöst. Die Zersetzung erfolgt daher in einer verdünnten Auflösung des Eisenchlorids schneller, als in einer concentrirten. Kupferchlorid, so wie Sublimat, und »lei, zeigen ganz dasselbe Ver- ie) halten, nur dafs bei der Anwendung des Kupferchlorides zugleich reguli- nisches Kupfer gefällt wird. In allen diesen Fällen bilden sich Chlorüre, sowohl aus dem Chlorid, als mit dem darauf einwirkenden Metall. Setzt man freie Salzsäure hinzu, so ändert sich die Wirkung, für die Chloride von Kupfer und Eisen, nur dahin ab, dafs die sich bildenden Chlorüre dieser Metalle, durch den Sauerstoff der Atmosphäre nicht in basische Chloridsalze zerlegt werden, sondern als Chloride aufgelöst bleiben und ihre Wirkung auf das regulinische Metall ununterbrochen fortsetzen, bis alle freie Salz- säure absorbirt ist. C2 20 KARSTEN Chloride von Kupfer, Eisen und Quecksilber mit Silber. Die Ober- fläche des Silbers überzieht sich augenblicklich mit einer Kruste von Horn- silber, welches, wegen seiner Unanflöslichkeit, die unter dieser Rinde befind- lichen Silbertheilchen gegen den fortgesetzten Angriff der Chloride schützt. Es wird daher ein lange fortgesetztes Zusammenreiben des Silbers mit den wässrigen Auflösungen der Chloride erfordert, um das Metall völlig in Horn- silber umzuändern, und dies gelingt nur alsdann, wenn das Silber in dem höchsten Grade der mechanischen Zertheilung, z..B. aus nicht geschmol- zenem Hornsilber reducirt, angewendet wird. Der Überzug von Horn- silber haftet so fest an der darunter befindlichen Fläche des Silbers, dafs er sich durch anhaltendes Digeriren mit Salpetersäure nur sehr schwer ab- weichen läfst. Kaustisches Ammoniack löset die Hornsilberrinde indefs sogleich auf, und entblöst das darunter befindliche, unverändert geblie- bene Silber. Chloride von Kupfer, Eisen und Quecksilber, werden durch Zinn, langsamer durch Wismuth, und noch langsamer durch Antimon und Arsenik in Chlorüre, und diese, mit Ausnahme des Kalomel, sodann wieder in ba- sische Chloridsalze umgeändert. Wismuth, Antimon und Arsenik erfordern sehr konzentrirte Auflösungen, wenn die Einwirkung nicht sehr langsam er- folgen soll. Das Zinn ändert indefs nur die Chloride des Eisens und des Quecksilbers in Chlorüre um, denn aus dem Kupferchlorid wird das Kupfer durch Zinn regulinisch gefällt. Das entstehende Zinnchlorür wird bei Zu- tritt der Luft sehr schnell zersetzt, wobei sich Zinnoxyd niederschlägt. Chloride von Kupfer, Eisen und Quecksilber scheinen auf Platin und Gold gar keine Einwirkung zu äufsern. Kupferchlorid und Kupfer ändern sich bei abgehaltenem Luftzutritt, in Chlorüre um, indem das regulinische Kupfer vollständig aufgelöst wird. Bei Zutritt der atmosphärischen Luft fällt basisches Kupferchlorid in grofser Menge nieder. Kupferchlorid und Eisen. Das Kupfer schlägt sich, wie bekannt, re- linisch nieder, wobei sich Eisenchlorür bildet. Sublimat und Kupfer. Es entsteht Kalomel und Kupferchlorür. Eisenchlorid und Kupfer. Das Kupfer wird sehr bald aufgenommen, wobei Chlorüre von Eisen und Kupfer, und, bei Zutritt der Luft, zugleich basische Chloridsalze gebildet werden. über den Amalgamationsprozefs. 24 Eisenchlorid und Eisen. Das Eisen löst sich unter Entwickelung von Wasserstoffgas auf, wobei ein basisches Eisenchlorid niederfällt, und zu- gleich Eisenchlorür gebildet wird. Zinkchlorid wirkt, auch im konzentrirtesten Zustande (als Zinkbutter) angewendet, auf kein einziges regulinisches Metall. Die Chloride von Kupfer, Eisen und Quecksilber werden, weder von dem Kupferoxyd, noch von dem Eisenoxydul, Eisenoxyd und Bleioxyd, in der gewöhnlichen Temperatur verändert. Es ergiebt sich hieraus, dafs alle Chloride, die einer niedrigeren Ver- bindungsstufe mit dem Chlor fähig sind, durch regulinische Metalle, mit Ausnahme des Goldes und Platin, zu Chlorüren zersetzt, und dafs die regu- linischen Metalle, wenn sie mit solchen Chloriden und Wasser zusammen kommen, in Chlorüre, oder zum Theil vielleicht in basische Chlormetalle umgeändert werden. Die Chlorüre hingegen, so wie die Chloridverbin- dungen, welche keine Chlorüren geben, werden nicht durch die Metalle, und diese nicht durch jene verändert. Das elektropositivere Metall wird durch ein elektronegativeres nur dann gegen die Einwirkung der im Wasser aufgelösten Metallchloride voll- ständig geschützt, wenn die Leitungsfähigkeit beider Metalle sehr verschie- den ist. So bewahren z.B. Zink und Eisen das Quecksilber gegen den An- griff des Kupferchlorides, auch wenn sie das Quecksilber nicht unmittelbar berühren; und dies ist zugleich ein Mittel, sich sehr schnell ein Kupfer- amalgam zu verschaffen, indem das durch Eisen oder Zink regulinisch nie- dergeschlagene Kupfer fast augenblicklich von dem Quecksilber aufgenom- men wird, obgleich die unmittelbare Verbindung des Kupfers mit Quecksilber sonst sehr schwierig ist. Das Kupfer, selbst wenn es sich in unmittelbarer Berührung mit dem Quecksilber befindet, kann die Einwirkung des Chlorids auf das Quecksilber nicht vollständig abhalten. Zink und Eisen schützen das Blei nicht vollständig gegen die Einwirkung des Kupferchlorids u. s. f. Anders ist aber der Erfolg, wenn beide Metalle mit einander verbun- den sind, indem das negative Metall alsdann nur allein die Einwirkung des Chlorides erfährt. Übergiefst man ein Kupfer- oder ein Bleiamalgam mit wäs- srigen Auflösungen von Eisen- Kupfer- und Quecksilberchloriden, so wird das Quecksilber nicht angegriffen, sondern es entstehen Chlorüre von Kupfer oder Blei, und die Chloride erleiden die gewöhnlichen Veränderungen, indem 22 Kirsten sie ebenfalls in Chlorüre umgeändert werden. Die Chloride von Eisen und Kupfer sind also ein gutes Mittel um das Quecksilber von Kupfer, Blei, Zinn, Arsenik, Wismuth u.s.f. ohne Destillation zu reinigen, und können zugleich zur Prüfung der Reinheit des Quecksilbers angewendet werden. Nimmt man Silberamalgam, so bleibt das Silber unverändert, ‘und das Quecksilber wird in Kalomel umgeändert. Quecksilber, welches schon so viel Kupfer oder Blei aufgenommen hat, dafs es matt und dickflüssig gewor- den ist und sich an den Wandungen der Gefäfse in lang gezogenen Fäden anhängt, wird durch die Chloride vollständig von diesen Metallen befreit. Dies ist sehr wahrscheinlich der Zustand des Quecksilbers, von welchem Barba sagt, es sei unfähig das Silber aufzufassen, und müsse durch Kupfer- vitriol gereiniget werden, denn, fügt er ausdrücklich hinzu, der Kupfervi- triol hat die Eigenschaft, die übrigen unedlen Metalle, welche das Queck- silber durch ihre Kälte getödtet haben, in Kupfer zu verwandeln und das Quecksilber neu zu beleben. Es blieb noch zu untersuchen, ob die Wirkung der Chloride auf die regulinischen Metalle, vielleicht auf irgend eine unbekannte Weise modifi- eirt werde, wenn gleichzeitig Hornsilber mit in den Wirkungskreis gezogen wird. Es findet aber, wie sich erwarten liefs, durchaus keine Veränderung in den Erscheinungen statt, und das Hornsilber verhält sich ganz indifferent, indem es nur die gewöhnliche Einwirkung des Metalles erfährt, welches in überflüssiger Menge vorhanden und daher durch die Chloride unverändert geblieben war. Das Quecksilber wird sogar dadurch, dafs es sich mit einer Haut von Kalomel bedeckt, weit unfähiger zur Zersetzung des Hornsilbers, als wenn es mit demselben unter reinem Wasser zusammengebracht wird. Das natürliche Antimonsilber, und das sogenannte Arseniksilber, ver- halten sich zu dem Kupferchlorid nicht wie ein Amalgam, sondern das Silber und das Antimon nehmen gemeinschaftlich an der Umänderung des’Chlorides in Chlorür Theil, und ändern sich selbst zugleich in Hornsilber und in Anti- monchlorür um. Die Einwirkung erfolgt schon in der gewöhnlichen Tempe- ratur; jedoch nur sehr langsam, wenn man reines Kupferchlorid anwendet. Bedient man sich aber des Magistrals, nämlich des aus Kupfervitriol mit einem Übermaafs von Kochsalz bereiteten Kupferchlorids, so wird die Zersetzung beschleunigt, welches noch mehr der Fall ist, wenn dem aus Salzsäure und Kupferoxyd bereiteten Kupferchlorid, viel Kochsalz beigefügt wird. über den dmalgamationsproze/s. 23 Bringt man Antimonsilber und Kupferchlorid, in Gemeinschaft mit Quecksilber zusammen, so wird das letztere durch das Antimonsilber nicht gegen die Einwirkung des Kupferchlorides geschützt, sondern zugleich auch Kalomel gebildet. Das Verhalten der Chloride zu den regulinischen Metallen kann nun leichter einen Aufschlufs über die Einwirkung des Kupferchlorids auf die Schwefelmetalle geben. Zu den folgenden Versuchen ist nur das Kupfer- chlorid allein angewendet worden, weil es nicht zu bezweifeln ist, dafs das Eisenchlorid ein ganz ähnliches Verhalten zeigen wird. In der Siedhitze, und in einem sehr konzentrirten Zustande des Chlo- des, werden alle Schwefelmetalle durch das Kupferchlorid zerlegt, obgleich die Wirkung höchst langsam erfolgt. Schwefelsilber, Schwefelantimon, Grauspiesglanzerz, rother und gelber Arsenik, Bleiglanz, Schwefelkupfer (bereitet aus Kupfervitriol und Schwefelwasserstoffgas), Schwefelkies, Ku- pferkies, ändern das Kupferchlorid in ein Chlorür um, wobei eine ent- sprechende Menge Chlorür aus dem Metall im Schwefelmetall gebildet wird. Der Schwefel scheint in Substanz abgeschieden zu werden. Es ist möglich, dafs sich der Schwefel in einigen Fällen mit den Chloriden zu eigenthümlichen Verbindungen vereinigt, welches noch einer näheren Untersuchung bedarf. Es entwickelt sich bei diesen Prozessen weder Schwefelwasserstoffgas, noch wird Schwefelsäure gebildet; auch eine niedrigere Oxydationsstufe des Schwe- fels habe ich nicht auffinden können, obgleich es, bei der sehr geringen Einwirkung, welche die Schwefelmetalle auf das Kupferchlorid äufsern, sehr schwierig ist, den Erfolg des Prozesses mit Zuverlässigkeit zu beurthei- len. Merkwürdig ist das Verhalten des Zinnobers zum Kupferchlorid, in- dem es sich in der Siedhitze in dem koncentrirten Chlorid gänzlich auflöst. Kupferchlorür wird dabei eben so wenig gebildet, als sich der Schwefel mit Sauerstoff oder mit Wasserstoff vereinigt. Etwas leichter als die einfachen Schwefelmetalle, wirken die zusam- mengeseizten Schwefelverbindungen auf das Kupferchlorid. Das dunkle und das lichte Rothgültigerz, die Fahlerze und das Sprödglaserz wirken schon in einer Temperatur von 40 Gr. Reaum. auf das Kupferchlorid. So- gar in der gewöhnlichen Temperatur von 15 bis 17 Graden zeigt sich, nach einigen Tagen, eine unverkennbare Einwirkung. Immer wird das Kupfer- 24 Kırsten chlorid in ein Chlorür umgeändert, und alle in dem Schwefelmetall befind- lichen Metalle eignen sich gemeinschaftlich den Antheil Chlor an, welchen das Kupferchlorid abgeben mufs, um sich in ein Chlorür umzuändern. Im- mer ist aber die Einwirkung nur sehr langsam, selbst wenn man durch Sied- hitze zu Hülfe kommt. Ein nicht sehr konzentrirtes Kupferchlorid wirkt nicht auf die Schwefelmetalle. Endlich mufste noch das auf den Amalgamationsprozefs sich bezie- hende Verhalten des Kochsalzes zu den Metallen, Metalloxyden, Chlorüren und Chloriden, in Verbindung mit Quecksilber, geprüft werden, indem das Kochsalz bei diesem Prozefs ein sehr wichtiges Agens zu sein scheint. Die regulinischen Metalle äufsern keine Wirkung auf eine wäfsrige Auflösung des Kochsalzes, wenn die atmosphärische Luft abgehalten wird. Bei freiem Luftzutritt erfolgt, mit Ausnahme der sogenannten edlen Metalle, eine sehr langsame Einwirkung der Metalle auf das Kochsalz, welche indefs bei der Anwendung von Eisen und Kupfer ziemlich rasch eintritt. Es bildet sich ein Chlorür, welches sich in der Flüssigkeit auflöst und nach und nach ein basisches Chlorid fallen läfst. Sehr auffallend ist es, dafs dies Chlorür mit dem abgeschiedenen, und durch Aufnahme von Sauerstoff aus dem Me- talloxyd in Natron umgeänderten Natronium, in der Flüssigkeit bestehen kann. Ob sich vielleicht ein dreifaches Salz bildet, wird näher zu unter- suchen sein, denn die Flüssigkeit reagirt nicht, oder wenigstens nicht war- nehmbar alkalisch, giebt aber durch die dunkelblauen und braunrothen Niederschläge, beim Zusatz vom rothen Blutlaugensalz, das Vorhandensein von Eisen- oder von Kupferchlorür zu erkennen, wogegen das gelbe Blut- laugensalz keine Färbung hervorbringt. Kupferoxyd wirkt nicht auf Kochsalz, wohl aber zersetzen Kupfer- Bleioxyd und Silberoxyd das Kochsalz und scheiden Natron ab, wobei sich basische Chlorsalze von Kupfer und Blei, oder Hornsilber bilden. Diese Zer- setzung erfolgt jedoch, selbst in der Digerirwärme, nur langsam. Kochsalz und Hornsilber wirken eben so wenig auf einander, als Koch- salz und irgend ein anderes Chlorür oder Chlorid. Dagegen vermag das Kochsalz, wenn es in konzentrirter Auflösung angewendet wird, eine bedeu- tende Menge Hornsilber aufzunehmen. Die Verbindung beider Chloride krystallisirt in Würfeln, die sich, ohne zersetzt zu werden, in Wasser nicht über den Amalgamationsprozes. 25 auflösen lassen. Auch die flüssige Verbindung des Kochsalzes mit Hornsilber, wird durch Verdünnung mit sehr vielem Wasser vollständig zersetzt, indem sich alles Hornsilber niederschlägt. Die Reduction des Hornsilbers durch Metalle, wird durch Kochsalz auf eine merkwürdige und ausgezeichnete Weise beschleunigt. Wendet man gar eine konzentrirte Kochsalzauflösung an, welche Hornsilber aufgelöst ent- hält, so erfolgt die Reduction des letzteren durch Quecklilber in noch kür- zerer Zeit, als wenn Hornsilber durch Zink und Eisen reducirt wird. Das Quecksilber bedeckt sich mit einem grauen Staube von Kalomel, nimmt die Farbe des matt gearbeiteten Silbers an, und verhält sich ganz so, wie der Zustand des Quecksilbers bei der amerikanischen Amalgamation beschrieben wird, wenn der Prozefs einen günstigen Fortgang hat. Es versteht sich, dafs diese Beschleunigung der Reduction des Hornsilbers durch eine wäfsrige Kochsalzauflösung, nicht blos bei dem Quecksilber, sondern bei allen Me- tallen statt findet. Das Kochsalz scheint bei diesem Reductionsprozefs noch ungleich wirksamer zu sein, wie die konzentrirte Salzsäure. Wie diese, dient es nur als Leiter zur Beschleunigung des Prozesses, indem es selbst dabei durchaus keine Veränderung erleidet; — aber es wirkt auch aufserdem noch dadurch, dafs es das Hornsilber auflöst und dem zersetzenden oder reduci- renden Metall eine gröfsere Oberfläche darbietet. Deshalb erfolgt die Re- duetion auch um so schneller, je konzentrirter die Kochsalzauflösung ist, welche man anwendet. Kochsalz, Eisenchlorür und Hornsilber wirken durchaus nicht auf ein- ander. Eben so wenig Kochsalz, Chloride von Eisen, von Kupfer und von Quecksilber, und Hornsilber; welches sich im Voraus schon erwarten liefs. Kommt aber ein regulinisches Metall hinzu, so ist das Verhalten ge- nau so, wie bei dem Metall und dem angewendeten Chlormetall. Das Koch- salz und das Hornsilber ändern in den Wirkungen nichts ab, sondern ein Theil des Hornsilbers löfst sich nur in der konzentrirten Kochsalzauflösung auf. Die Wirkung des angewendeten Metalles, in so fern es im Übermaafs vorhanden ist, auf das Hornsilber, wird durch den Zusatz des Chlorides nicht verstärkt, bei dem Quecksilber vielmehr, ungeachtet des die Reduction beschleunigenden Kochsalzes, ganz ungemein vermindert; weil das die Ober- fläche des Quecksilbers bedeckende Kalomel, die unmittelbare Berührung des Quecksilbers mit dem Hornsilber und mit der Hornsilberauflösung im Phys. Klasse 1828. D 26 KA Rıs REN Kochsalz, verhindert. Setzt man etwas Kalk oder ein Alkali zu, so wird das noch vorhandene Chlorid zersetzt, und dadurch zugleich die Oberfläche des Quecksilbers von der Kalomeldecke befreit, so dafs jetzt die Einwirkung des Quecksilbers auf das Hornsilber statt finden kann. Kochsalz, Eisenchlorür, Hornsilber und Quecksilber, oder Zink- chlorid statt der Eisenchlorür, bringen gar keine andere Wirkung hervor, als diejenige ist, welche zwischen Kochsalz, Hornsilber und Quecksilber statt findet. Die Chlorüre und diejenigen Chloride, welche sich nicht in Chlorüre umändern, verhalten sich also bei der Einwirkung eines regulinischen Me- talles, namentlich des Quecksilbers, auf das Hornsilber, in Verbindung mit Kochsalz, durchaus indifferent. Die Chloride hingegen, welche in Chlo- rüre umgeändert werden können, verwandeln das regulinische Metall selbst in Chlorür, und befördern nicht allein nicht die Zersetzung des Hornsilbers, sondern sind dieser Reduction vielmehr hinderlich, welches besonders bei der Anwendung des Quecksilbers der Fall ist. Ist freie Salzsäure vorhanden, so dauert die Wirkung des Chlorides auf das regulinische Metall ununter- brochen so lange fort, bis alle Salzsäure durch das aus dem gebildeten Chlo- rür entstehende basische Chlorid, welches dadurch in ein Metallchlorid ver- wandelt wird, absorbirt worden ist. Es scheint, dafs der Vorgang bei der amerikanischen Amalgamation jetzt ziemlich klar vor Augen liegt. Die Magistralzusätze können keines- weges dazu dienen, das Chlor aus dem Kochsalz als Salzsäure abzuscheiden, indem eine solche Abscheidung gar nicht statt findet; der Zweck dieses Zu- satzes ist vielmehr die Bildung eines Kupfer- oder Eisenchlorides. Wendet man statt des Magistrals — wie in den neuesten Zeiten vorgeschlagen ist, — freie Schwefelsäure an; so würde man das Kochsalz, in so fern der Erzhaufen nicht etwa zufällig Silberoxyd enthielte, ohne allen Zweck zersetzen, wenn nicht, aufser den Bergarten auch noch Eisenoxyd oder Eisenoxydhydrat, wie es wohl immer der Fall ist, vorhanden wären. Die Schwefelsäure dient dann wirklich dazu, Salzsäure aus dem Kochsalz zu entwickeln, aber nur um auf diese Weise ein Eisenchlorid zu bilden, weshalb man ungleich zweck- mäfsiger verfahren würde, unmittelbar Salzsäure anzuwenden, als diese erst durch Zerlegung des Kochsalzes darzustellen. Dies Verfahren zur Chlorid- bildung, kann vor den Magistralzusätzen, in so fern nicht ein Theil der sich über den Amalgamationsprozefs. 27 entwickelnden Salzsäure ohne Wirkung verflüchtigt wird, vielleicht noch den Vorzug haben, dafs die entstehende freie Salzsäure noch dazu dient, die Eisenoxyde u.s. f. welche das regulinische Silber oder das Hornsilber mechanisch umhüllen, wegzubeizen, und dieselben dem unzersetzt bleiben- den Kochsalz, so wie dem (Quecksilber zugänglich zu machen. Das reguli- nische Silber und das Hornsilber, wenn beide in dem zu amalgamirenden Erz enthalten sind, treten nämlich nur sehr schwer in Action mit dem Queck- silber, wenn sie keine reine Oberfläche besitzen. Der Magistral, nämlich das durch Zerlegung des Kochsalzes aus demselben gebildete Metallchlo- rid, könnte daher vielleicht etwas weniger wirksam sein als die freie Salz- säure; immer wird es sich aber sehr erfolgreich zeigen, weil es schneller und leichter wie das Quecksilber, die tauben Erztheile durchdringt, die Ober- fläche der regulinischen Silbertheilchen in Hornsilber verwandelt und da- durch den Prozefs der Amalgamation einleitet, welcher durch die Kochsalz- auflösung so kräftig befördert wird. Ein Magistral der keine Chloride liefert, z.B. schwefelsaures Eisenoxydul, ist ganz ohne Wirkung und vermehrt nur die Kosten und das Haufwerk. Für den Prozefs der Amalgamation kann näm- lich nur der Magistral für brauchbar erachtet werden, welcher mit dem Kochsalz ein Chlorid liefert, weshalb der Kupfervitriol auch jederzeit wirk- samer sein wird, als der Eisenvitriol, welcher sehr viel Oxydulsalz enthält, Dagegen wirkt aber der Magistral, welcher ein Oxydsalz enthält, stets sehr nachtheilig auf. das Quecksilber, wenn er in so grofser Menge angewen- det worden ist, dafs bei der Incorporation des Erzhaufens mit (Quecksilber, noch ein Theil des Metallchlorides unzersetzt geblieben ist. Aus demselben Grunde würde auch ein zur Unzeit angewendeter Zusatz von Schwefel- oder von Salzsäure, nothwendig höchst nachtheilig wirken. Es leuchtet hieraus zugleich ein, dafs dasjenige Verfahren, nach welchem die Incorporation des Quecksilbers gleichzeitig mit dem Magistralzusatz geschieht, durchaus fehler- haft ist, und nur dazu führt, den Quecksilberaufwand zu vergröfsern. Der so eben beleuchtete Nutzen des Magistrals, oder — was in der Wirkung dasselbe ist, — der Schwefelsäure, statt deren man sich, mit einem ungleich günstigeren Erfolge, des künstlich bereiteten salzsauren Eisenoxyds bedienen würde, bezieht sich blos auf diejenigen Erze, welche regulinisches Silber oder natürliches Hornsilber enthalten. Diese Erze würden sich aber allenfalls blos mit Hülfe des Kochsalzes amalgamiren lassen ; wogegen die D2 28 Karsten Schwefelmetalle nothwendig eines Magistralzusatzes bedürfen, vielleicht we- niger um die Verwitterung zu beschleunigen, als wegen der unmittelbaren Einwirkung der Chloride auf die Schwefelmetalle, welche bei der Tempe- ratur, in welcher sich die Montonen befinden (wenigstens bei den Roth- gültigerzen, bei den Fahlerzen und zum Theil auch bei dem Sprödglaserz) schon eintritt. Aus dem natürlichen Schwefelsilber, oder aus dem Glaserz, dürfte nur ein schr geringer Theil des Silbergehaltes bei der amerikanischen Amalgamation ausgebracht werden. Überhaupt aber wird die Zerlegung, auch bei den zusammengesetzten Schwefelmetallen, nur sehr langsam und unvollständig erfolgen und mit grofsen Quecksilberverlusten verbunden sein, wenn man sich, nach erfolgter Incorporation der Montonen, noch der Ma- gistralzusätze zur weiteren Aufschliefsung der Schwefelmetalle zu bedienen genöthigt ist. Von ganz anderer Art ist die Wirkung des Kochsalzes, und dieses vor- treffliche Beförderungsmittel des Amalgamationsprozesses nicht ohne Noth zu zersetzen, sollte die vorzüglichsie Sorge des Arbeiters sein. Obgleich die wäfsrige Kochsalzauflösung vielleicht weniger als die Metallchloride geeignet sein mag, die tauben Gebirgsarten, mit welchen das Silber und das natürliche, oder das, durch den Prozefs gebildete Hornsilber, umgeben sind, zu durch- dringen und dem Quecksilber zu ihnen den Weg zu bahnen; so wird es doch nach und nach auflösend auf das Hornsilber wirken, und dasselbe dem Quecksilber zuführen. Selbst der Silbervitriol, wenn dieser. durch die Ver- witterung des geschwefelten Silbers in den Schwefelmetallen gebildet werden sollte, würde von den übrigen, mehr oder weniger vollständig zersetzten Kie- sen, und von den tauben Gebirgsarten so umhüllt bleiben, dafs er nur sehr schwierig von dem Quecksilber zersetzt werden könnte. Indem der Silber- vitriol aber durch die Kochsalzauflösung, welche jene Umhüllungen leichter als das Quecksilber durchdringt, in Hornsilber umgeändert wird, erfolgt zu- gleich eine partielle Auflösung des entstandenen Hornsilbers in dem noch vorhandenen unzersetzten Kochsalz, so dafs auf diese Weise eine Verbindung mit dem das Hornsilber reducirenden Quecksilber eingeleitet werden kann. Selbst dann, wenn sich auf irgend eine Weise Silberoxyd bilden sollte, würde das Kochsalz die besten Dienste leisten, weil das Oxyd das Kochsalz zer- setzt, so dafs freie Salzsäure, welche aufserdem weit geneigter sein würde sich mit dem vorhandenen vielen Eisenoxyd und Eisenoxydhydrat, als mit über den A malgamationsproze/s. 29 dem Silberoxyd zu verbinden, auch für diesen unwahrscheinlichen Fall völlig entbehrlich wird. Wollte man annehmen, dafs alles in den Erzen befindliche Silber nothwendig zu Hornsilber umgeändert werden müfste, ehe es verquickt wird, so wäre die Folge dieser Annahme, dafs zu 100 Theilen des dargestellten Silbers wenigstens 187 Theile Quecksilber verwendet werden. Die Reduction kann nämlich nur dadurch geschehen, dafs das mit 100 Theilen Silber ver- bundene Chlor im Hornsilber sich mit 187 Theilen Quecksilber zu Kalomel vereinigt. Aufser diesem wirklichen Verbrauch geht aber eine, wahrscheinlich nicht unbedeutende Menge Quecksilber durch die Anwendung des Magistrals, wodurch es unmittelbar in Kalomel verwandelt wird, und durch unvermeid- liche mechanische Verzettelung, verloren. Es würde folglich für eine sehr 5) gut geführte Arbeit gehalten werden müssen, wenn zu 100 Theilen Silber nicht mehr als 200 Theile Quecksilber verwendet werden. So hoch steigt der Quecksilberverlust aber nicht immer, woraus hervorzugehen scheint, dafs ein Theil des Schwefelsilbers unmittelbar durch das Quecksilber zerlegt und Schwefelquecksilber gebildet wird. Bei einer solchen Voraussetzung würden zu 100 Theilen Silber aus dem Glaserz nur 93,42 Theile Quecksil- ber erfordert werden. Wahrscheinlich dürfte indefs auf diesem Wege nur sehr wenig Silber in das Quecksilber gebracht werden, weshalb der Minder- verbrauch an Quecksilber gegen die vorhin berechnete Quantität wohl vor- züglich von den regulinischen Silbertheilchen in den Erzen herrührt, welche, durch den Magistralzusatz, nur auf den Oberflächen in Hornsilber umgeän- dert, die regulinischen Silberkerne aber unmittelbar von dem Quecksilber aufgenommen werden. Zusätze von Kalk zu den Montonen, — statt deren Barba Eisen, Kupfer, Zinn und Blei empfiehlt, welche auch in der That dieselbe Wir- kung, dann nothwendig, gesetzt worden ist, oder wenn durch Verwitterung zu viel schwefelsaure Oxydsalze entstanden sind. Diese Zusätze zerstören die Chloride, obgleich und mit geringeren Nachtheilen hervorbringen würden, — sind als- wenn durch fehlerhafte Behandlung zu viel Magistral zu- zu starke Zusätze dem Prozefs der Verwitterung hinderlich sein mögen. Zu starke Quecksilberzusätze im Anfange der Operation hemmen die Wirkung des Magistrals, in so fern viel regulinisches Silber vorhanden ist, und hal- ten zugleich das Kochsalz auf mechanische Weise ab. Aufserdem wirkt das 30 Kirsten Quecksilber, als ein guter Wärmeleiter, der Einwirkung der Chloride auf die Schwefelmetalle, und selbst dem Verwitterungsprozesse, entgegen, und Barba bedient sich daher des richtigen Ausdrucks, wennn er sagt, dafs ein starker Quecksilberzusatz den Haufen erkälte. Acosta ist der einzige, in dessen Beschreibung des amerikanischen Amalgamationsprozesses ich die Bemerkung gefunden habe, dafs man die Schlämme (Zamas), welche vom Auswaschen der amalgamirten Erzhaufen erhalten werden, in Öfen, welche er indefs nicht beschreibt, brennen müsse, um das zurückgebliebene Quecksilber aus denselben zu gewinnen. Ob diese Benutzung jetzt nicht statt findet, und ob die vielen tausend Centner Kalo- mel, welche jährlich bei dem Amalgamationsprozefs in Amerika entstehen, ganz unbenutzt in die Fluth getrieben werden, ist mir nicht bekannt. Vergleicht man den in der That ungeheuren Quecksilberverbrauch bei der amerikanischen Amalgamation, mit dem geringen Quecksilberverlust, welcher bei der deutschen Amalgamation statt findet; so kann man wohl nicht umhin, die grofsen Vorzüge der deutschen Amalgamation anzuerkennen. Man kann annehmen, dafs in Freiberg, im Durchschnitt von mehreren Jah- ren, auf 100 Theile des durch die Amalgamation ausgebrachten Feinsilbers, 16 bis 18 Theile Quecklilber verloren gehen. Dieser Quecksilberaufwand beträgt also den 11“ Theil desjenigen, den die amerikanische Amalgamation erfordert, und daher erscheint er höchst vortheilhaft. Berücksichtigt man aber, dafs dieser ganze Verlust, bei einer gut geführten Arbeit, nur durch mechanische Verzettelung veranlafst werden sollte; so erscheint er nur in der Vergleichung geringe, vorzüglich weil die vollkommenen Einrichtun- gen, bei der Amalgamation in Fässern, einen ungleich geringeren Verlust an mechanisch zertheiltem Quecksilber in den entsilberten Rückständen zur Folge haben müssen, als das unvollkommene Verfahren, welches in Amerika bei dem Verwaschen der Rückstände von der Amalgamation angewendet wird. Es ist daher nicht zu glauben, dafs der Quecksilberverlust bei der deutschen Amalgamation blos auf mechanische Weise herbeigeführt werde, sondern dafs er zum Theil wirklich dadurch entsteht, dafs ein Theil des Quecksil- bers, durch die in den Amalgamationsfässern befindlichen Chloride von Ei- sen und Kupfer, in Kalomel umgeändert wird, indem die zur Reduction des Hornsilbers in den Fässern befindlichen Metalle (Eisen oder Kupfer) das Quecksilber gegen die Einwirkung der Chloride nicht vollständig schützen. über den Amalgamationsprozes. 34 Deshalb wird der Quecksilberverlust in solchen Fällen, wo man sich des Eisens nicht füglich zur Hornsilberreduetion bedienen kann, sondern das elekterpositivere Kupfer anwenden mufs, bedeutend gröfser ausfallen, wie es auch die Erfahrung bestätigt. Wenn sich in den Amalgamationsfässern aufser dem Hornsilber keine anderen Chloride befänden, so würde sich die Wirkung des reducirenden Metalles blos auf die Zerlegung des Hornsilbers beschränken. Bei dieser Annahme würden selbst dann, wenn alles Silber im Zustande des Horn- silbers, und gar kein regulinisches Silber, umhüllt von einer Rinde von Hornsilber vorhanden wäre, — wie es jedoch mehr als wahrscheinlich ist, — zu 100 Theilen des ausgebrachten Silbers nur höchstens 25 Theile Eisen er- fordert werden. Im Durchschnitt ist aber der Eisenverbrauch auf 100 Theile Silber, in Freiberg, zu 60 Prozent anzunehmen. Nicht daraus allein, sondern auch aus ber Beschaffenheit des Amalgamirsilbers selbst, geht deutlich her- vor, dafs das Erz, in dem Zustande wie es in die Fässer gebracht wird, noch sehr viel Chloride enthält, welche durch das Eisen oder Kupfer mit zersetzt werden müssen. Was man daher auf den Amalgamirhütten einen Verlust durch zerschlagenes Quecksilber zu nennen pflegt, ist wirklich zum gröfsten Theil ein durch Bildung von Kalomel herbeigeführter Verlust, denn das Quecksilberchlorür kann, wenn es sich einmal gebildet hat, durch kein re- gulinisches Metall in der gewöhnlichen Temperatur wieder zerlegt werden. Ausgehend von der theoretischen Ansicht, dafs es zum Gelingen des Amalgamirens bei dem deutschen Amalgamationsprozefs nur erforderlich sei, die Veranstaltungen so zu treffen, dafs alles Silber in Hornsilber umge- ändert werde, hat man zu wenig Rücksicht darauf genommen, das gebildete Hornsilber wieder vollständig zu reduciren. Indem man durch das Rösten der kiesigen, oder der mit Kies beschickten Silbererze, mit Kochsalz, das Hornsilber sich bilden läfst, verliert man durch die gleichzeitige Umände- rung des gröfsten Theils des Kochsalzes in Glaubersalz, den grofsen Vortheil, den das Kochsalz bei dem zweiten Theil des Prozesses, nämlich bei der Amalgamation selbst, gewähren würde. Alle diejenigen Hornsilbertheilchen, welche in den Fässern nicht in unmittelbare Berührung mit dem Eisen oder mit dem Quecksilber kommen, entgehen der Zerlegung. Und selbst dieje- nigen Hornsilberpartikeln, welche das Quecksilber berührt, gelangen, we- gen der Kürze der Zeit in welcher der Prozefs beendigt wird, nur dann 32 KırsTtiEn zur Reduction, wenn das Quecksilber zufällig auch gleichzeitig mit dem Ei- sen in Berührung ist. Das Kochsalz, welches den ununterbrochenen Leiter zwischen dem Hornsilber und den Metallen abgeben würde, ist zerstört, und der geringe Antheil, welcher der Zersetzung entgangen ist, wird durch die überwiegende Menge von Glaubersalz und Eisenchlorür, aus welchen die Flüssigkeit in den Fässern besteht, unwirksam gemacht. Es ist daher nicht zu bezweifeln, dafs man sehr wohl thun würde, bei unserm Amalgamationsprozefs von den der Theorie weit mehr angemes- senen Einrichtungen bei der amerikanischen Amalgamation Gebrauch zu machen, und die sich daraus entspringenden Vortheile anzueignen, ohne mit ihr den Nachtheil zu theilen, die Reduction des Hornsilbers durch Queck- silber zu bewerkstelligen. Abgesehen von der ungleich gröfseren Kostbar- keit dieser Verfahrungsart, mufs auch die Reduction durch ein elektronega- tiveres Metall schneller als durch ein elektropositiveres, und durch zwei Metalle ungleich schneller und vollständiger als durch ein Metall bewirkt werden. Das Eisen scheint von der Natur zu diesem Reduetionsprozefs be- stimmt zu sein, weil es sich nicht allein mit dem Quecksilber nicht verbin- det, sondern weil es zugleich zu den am mehrsten elektronegativen Metallen gehört. Das Kupfer erfüllt beide Bedingungen zu einer schnellen und voll- kommenen Reduction, in einem ungleich geringeren Grade, und wird, wenn es sich nicht stets in unmittelbarer Berührung mit dem Quecksilber befindet, in einem hohen Grade dazu unbrauchbar. Schon deshalb werden bei der deutschen Amalgamation alle Veranstaltungen so getroffen werden müssen, dafs man sich niemals des Kupfers bedienen dürfte, sondern beständig das Eisen zur Reduction des Hornsilbers anwenden könnte. Es scheint sehr leicht zu sein, der deutschen Amalgamation die vorhin erwähnten Vortheile zu Theil werden zu lassen, wenn man die aus den theo- retischen Untersuchungen sich ergebenden Folgerungen, in Anwendung zu bringen sucht. Die zu dem feinsten Mehl gemahlenen und gesiebten Silber- erze, oder auch die Rohsteine, müssen nämlich in einem Flammofen so lange geröstet werden, bis aller Schwefel gänzlich zerlegt ist und die schwefel- sauren Salze wieder zerstört worden sind. Das todt geröstete Haufwerk wird, aufser dem regulinischen Silber und dem Hornsilber welche es von Natur schon enthalten mögte, aus regulinischem Silber, etwas Silberoxyd und Silbervitriol bestehen, welche in einer grofsen Masse von taubem b über den dmalgamationsprozeJs. 33 Gestein und von denjenigen Metalloxyden und auch basischen schwefelsauren Metallsalzen eingehüllt sind, welche, durch die Röstarbeit, aus den beige- mengten Kiesen entspringen und welche letztere in der Rösthitze nicht zer- legt werden können. Dies Haufwerk ist sodann, nach verangegangenem Zermahlen und Sieben, mit einer Auflösung von Kochsalz und von Eisen- chlorid, — welches sich mit wenigen Kosten durch unmittelbares Auflösen von rothem Eisenoxyd in ungereinigte Salzsäure darstellen läfst, — zu beschicken, und in den Amalgamirfässern einige Zeit in Bewegung zu erhalten. Hat die Kochsalzauflösung die Schlämme vollständig durchzogen und das Eisenchlo- rid die regulinischen Silbertheilchen auf der Oberfläche in Hornsilber umge- ändert, — eine Wirkung die fast augenblicklich eintritt, — so wird der Eisen- zusatz gegeben, um das unzersetzt gebliebene Eisenchlorid vollständig zu zerlegen, worauf durch den Quecksilberzusatz die Amalgamation vollendet wird. Es würde überflüssig sein, die Gründe zu dieser neuen Verfahrungs- weise anzugeben, weil sie den im Lauf dieser ganzen Abhandlung entwickel- ten Grundsätzen, auf welchen der Prozels der Amalgamation beruht, durchaus entsprechen. Vorzüglich würde dies Verfahren, aufser bei der Entsilberung des Kupfersteins, noch bei der Zugutmachung der Fahlerze, welche jetzt auf allen Hüttenwerken höchst unvollkommen geschieht, zu empfehlen sein. Bei Silbererzen die viel Bleiglanz mechanisch beigemengt enthalten, und welche deshalb auch jetzt zur Amalgamation für unanwendbar gehalten werden, kann es nicht fehlen, dafs bei der Röstung ein kleiner Theil des Bleigehaltes im regulinischen Zustande zurückbleiben wird. Das zugesetzte Eisenchlorid kann diesen Rückhalt von regulinischem Blei eben so wenig vollständig in Bleichlorid umändern, als dasselbe das regulinische Silber ohne einen zurückbleibenden Silberkern in Hornsilber zu verwandeln ver- mag. Man wird also aus solchen Erzen ein Amalgam mit einem Bleigehalt er- halten, weil nicht allein der unzersetzt bleibende regulinische Bleikern von dem Quecksilber aufgenommen, sondern auch das gebildete Hornblei durch den später erfolgenden Eisenzusatz wieder zu regulinischem Blei redueirt werden wird. Wünscht man diesen Bleigehalt zu entfernen, so würde das aus den Fässern abgelassene Quecksilber in den Waschbottigen, vor dem Auspressen des Amalgams, nur mit einer angemessenen Menge von Eisen- chlorid behandelt werden dürfen, welches den Bleigehalt vollständig in sich aufnimmt. Phys. Klasse 1828. E 34 Karsten über den Amalgamationsproze)s. Es bedarf zuletzt nur noch der Andeutung, dals das Kochsalz bei eimem solchen Amalgamationsverfahren nicht zerlegt wird, sondern blos als Leiter dient, folglich zum grofsen Theil nach bendigter Amalgamation wie- der gewonnen werden kann. Der Freiberger Amalgamationsprozefs erfor- dert jährlich eine Quantität von 5 bis 6000 Centnern Kochsalz, so dafs die Wiedergewinnung desselben aus den Rückständen, der Berücksichtigung ebenfalls nicht unwerth ist. — HE — Über i den Embryo der Affen und einiger anderen Säugthiere. Von me RUDOLPHIL mmmmnvwr. [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 12. Junius 1828.] D ain dem verflossenen Winter ein schwangerer Vistiti, Sinia Jacchus Linn., Hapale Jacchus Illig., auf der Pfaueninsel gestorben war, so bekam ich die erwünschte Gelegenheit, das Ey und die Jungen zu untersuchen, welches mir um so wichtiger seyn mufste, da wir bisher nichts über deren Anatomie bei den Affen mitgetheilt erhalten haben, so unglaublich dies scheinen mag ('). Man hat wohl Beispiele, dafs in wandernden Menagerieen Junge von Simia Cynomolgus und ähnlichen Arten geboren sind, und ich habe selbst ein paarmal dergleichen an dem Halse ihrer Mütter hängen sehen, ohne dafs jedoch etwas Näheres darüber zu erfahren gewesen wäre. Der Uistiti hin- gegen, der auch das kältere Klima sehr gut erträgt, hat schon sehr häufig in Europa Junge zur Welt gebracht. Das erste Beispiel erzählte Ge. Edwards (Beschreibung des Sanglins. Hamb. 1773. 4. S.6.), dafs nämlich eine englische Kaufmannsfrau in Lissa- bon Junge des Uistiti aufgezogen habe. Hernach gab Sirey (Journal dePhysique. Dec. 1778. p.453.) Nachricht von ein Paar männlichen Jungen, die bei dem Marquis de Neelle in Paris in der Mitte des Augusts desselben Jahrs haarlos geboren wurden, in einem Monate Haare bekamen und zwei Monate an der Mutter sogen, wo diese sie nicht mehr zu ihren Brüsten liefs. Dieselben Affen (wie im August 1779. des (') Nur John Hunter (Observations on certain parts of Ihe animal Oeconomy. Ed.2. Lond. 1792. 4. p. 177-79. Observations on Ihe placenta of the monkey) hat Einiges We- nige über die Nachgeburt der Meerkatze, der er mit Recht die Harnhaut (allantoides) ab- spricht. Sie sollte sechs Monate trächtig gegangen seyn. E2 36 RuovouLenı Journal de Physique p. 153. berichtet wird) begatteten sich den 10. Februar, und nach drei Monaten brachte die Mutter ein Junges zur Welt, das von den älteren Brüdern aus Eifersucht auf die Mutter zur Erde geworfen ward und starb. Der Marquis wandte grofse Sorgfalt darauf, dafs sie sehr warm ge- halten wurden. In dem in St. Petersburg vorgekommenen Fall hingegen, worüber Pallas (N. Nord. Beitr. 2.B.S. 41-47.) Auskunft giebt, und wo ein Paar dem Grafen Tschernischef gehörige Sagoinchen in zwei Jahren dreimal Junge brachten, wandte man gar keine grofse Sorgfalt darauf, noch hielt man sie sehr warm. Das Weibchen hatte, wenn es hitzig ward, blutige Zeichen; es trug ungefähr drei Monate, und konnte in demselben Jahre zweimal werfen. Die Mutter hatte auf jeden Wurf zwei Junge, aber mehrentheils Männchen. Diese, welche die ersten Wochen ganz kahl waren, klammerten sich an sie an, und wenn sie ihrer überdrüfsig ward, so warf sie dieselben dem Männchen auf den Hals, oder schlug dieses und zankte, bis es die Jungen aufnahm. Wenn sie Haare bekommen hatten, etwa nach Monats : oder sechs Wochen Frist, so suchte die Mutter sie zu entwöhnen, und schützte sie nicht mehr vor den Geschwistern. Fr. Cuvier (Zlist. nat. des Mammiferes T.1. Paris. 1824. fol.) beobach- tete einen Fall, wo in der Menagerie des Jardin des plantes ein Uistiti, das Ende Septembers mit dem Männchen zusammen gebracht war, am 27. April des folgenden Jahrs drei Junge, ein Männchen und zwei Weibchen zur Welt brachte, ohne dafs man die Zeit der Trächtigkeit dabei hätte angeben kön- nen; sie wurden mit offnen Augen geboren und ihr Körper war mit sehr kur- zem Haar bedeckt, welches auf dem Schwanze kaum merkbar war. Die drei Junge klammerten sich an die Mutter an, welche aber, ehe sie zum Saugen kamen, dem einen den Kopf abfrafs. Hernach liefs sie die beiden saugen, und trug sie herum; war sie ihrer müde, so nahm sie das Männchen, das im Ganzen mehr Sorge für sie trug. Die Mutter zeigte keine grofse Anhäng- lichkeit zu ihnen; das zweite Junge starb auch nach einigen Monaten, und das dritte lebte bis zur Mitte Junius, wo die Mutter wieder brünstig gewor- den war und die Milch verloren hatte. Hier hatte ein Uistiti vor einem bis zwei Jahren bei einem Kaufmann, nachdem das Thier sich an der Kette fast erwürgt hatte, zwei Junge frühreif todt zur Welt gebracht; der Kaufmann hatte es dem Thierhändler, von dem N über den Embryo der Affen und einiger anderen Säugthiere. 37 er es hatte, zurückgegeben, und es ist leicht möglich, dafs es dasselbe Weibchen ist, welches auf der Pfaueninsel im verflossenen Winter in der Schwangerschaft mit zwei Jungen gestorben war, und wovon ich hernach ausführlicher reden werde (!). Fassen wir diese Fälle zusammen, so ist einer, wo ein Uistiti ein Jun- ges, einer wo ein solches Thier drei Junge gehabt hat; in allen übrigen wa- ren jedesmal zwei Junge, welches hier die Regel zu sein scheint, so dafs auch die Mutter in der Pariser Menagerie das dritte Junge tödtete, wahr- scheinlich in dem dunklen Gefühl, dafs sie es nicht tragen oder ernäh- ren könnte. . Zwei Junge scheinen also bei dem Uistiti in der Regel vor- zukommen. Die übrigen Affen, so weit es bekannt ist, bringen ein, oder seltener zwei Junge zur Welt. Don Felix Azara (Essa: sur !’ Histoire naturelle des Quadrupedes de la Province du Paraguay. T.I. Paris 1801. 8. p. LI.) sagt sehr bestimmt, dafs alle Affen, die er kenne, nur ein Junges bringen, ohne jedoch anzugeben, welche er selbst beobachtet habe. Er spricht zwar viel vom Uistiti, allein es geht daraus selbst hervor, dafs er nur ein einziges Exemplar davon lebend gehabt hat, und (T.II. p. 230.) indem er vom Sai, dem Kapuceineraffen, bemerkt, dafs ihm Buffon ein oder zwei Junge zu- schreibe, fügt er hinzu: der letztere Fall sei selten; er giebt ihn also doch zu, und Abweichungen finden sich hier gewifs eben so gut, als bei dem Menschen und den anderen Säugthieren. Ich habe von den anderen Affen ın Menagerieen nur ein Junges gesehen. Unser treffliche Olfers hat dem Mu- seum den schwangern Uterus eines Brüllaffen (wahrscheinlich Mycetes ursi- nus) geschenkt, den ein Junges ausfüllt. Azara (T.Il. p.211.) spricht auch von einem Jungen des Brüllaffen, wie früher Oexmelin, während Dampier von zwei Jungen desselben redet. Drei Affen der jetzt unter dem Namen Macacas von den übrigen getrennten Gruppe, haben in der Pariser Mena- gerie nur ein Junges geworfen ; nämlich ‚Simia nemestrina, Rhesus und zwei- mal Simia Cynomolgus. Diet. classique d’ Hist. nat. T.IX. p.586.(?). (‘) SpätereAnmerkung. Im Jahr 1830 hat wieder ein Uistiti auf der Pfauen- insel Junge geboren. (?) Spätere Anmerkung. J.R. Rengger in seiner treftlichen Naturgeschichte der Säugthiere von Paraguay (Basel 1830. 8.) erzählt, dafs er drei Weibchen des Cay (Cebus ® 38 Ruvorrsı Da bei dem Ausstopfen des Uistiti auf dem zoologischen Museum erst nach herausgenommenem Rumpf die Trächtigkeit bemerkt und mir dieser mit- geiheilt ward, so kann ich von der Veränderung der hier fehlenden äufsern Geschlechtstheile durch die Schwangerschaft nichts sagen; allein alles Übrige ist schr wohl erhalten, und zur besseren Vergleichung des schwangern Ute- rus u.s. w. habe ich hier auch die Abbildung der Geschlechtstheile eines un- geschwängerten Weibchens derselben Art mitgetheilt. Das Becken des schwangern Affen war grofsentheils knorplig gewor- den; ohne dafs die Symphyse auseinander gewichen wäre, wie bei anderen Thieren bemerkt wird, die grofse Junge zur Welt bringen, konnte hier also durch die Erweichung die nämliche Hülfe geleistet werden. Die Geburt mufste übrigens nahe bevorgestanden haben, denn die mit Haaren bedeckten Jungen waren schon sehr grofs; die Gebärmutter hatte wohl die gröfste Aus- dehnung erreicht und es war der Muttermund völlig verstrichen. Auffallend sind die aufserordentlich und gleichmäfsig dünnen Wände des Uterus, in dem man oben, wo die beiden Mutterkuchen fest gesessen haben, die innere Fläche sehr rauh findet, während der untere Theil glatter ist, bis zum Ende, wo ein etwas vorspringender rauher Ring den ehemaligen Muttermund be- zeichnete. Von Fasern ist keine Spur und ist darin ein sehr merkwürdiger Unterschied von der menschlichen Gebärmutter. In der Gestalt hat sie aber mit der letztern im schwangern Zustande die allergröfste Ähnlichkeit, beson- ders wenn man auch die grofse Entfernung der Eyerstöcke vom Grunde der Mutter vergleicht. Wenn man die oben erwähnte schwangere Gebärmutter des Brüllaffen dagegen hält, so sieht man gleich, dafs sie noch nicht so weit vorgerückt ist; es ist dieselbe fünf Zoll lang, und der Abstand der Eyerstöcke vom Grunde beträgt ungefähr zwei und ein drittel Zoll, der letztere. ist also sehr ausge- Azarae) jedes mit einem Säugling gesehen (S.41.), und (S.43.), dafs das Weibchen im Win- termonat ein Junges werfe. Vom Brüllaffen (Mycetes Caraya) sagt er (S.23.): Das Weibchen werfe gewöhnlich im Brachmonat oder Heumonat, zuweilen jedoch schon gegen das Ende Mai’s, oder auch erst im August, ein einziges Junge. Vom Mirikina (Nreiipithecus trivirgatus) führt er nach der Aussage eines Jägers (S.62.)an, dafs das Weibchen zwischen dem Brachmonat und dem Heumonat ein Junges werfen soll. über den Embryo der Affen und einiger anderen Säugthiere. 39 dehnt; dagegen fühlt sich aber der Hals noch sehr derb und hart an, und der Muttermund tritt mit starken zugespitzten Lippen in die Scheide hinein. Das Junge, welches Taf. 3. abgebildet ist, mufs auch noch sehr unreif sein. Die ungeschwängerte Gebärmutter der Affen kommt auch der jung- fräulichen menschlichen nahe; die welche auf der zweiten Figur der ersten Tafel von einem ungeschwängerten aus Brasilien erhaltenen Uistiti abgebildet ist, möchte vielleicht ehemals schwanger gewesen sein; in dem linken Eyer- stock ist nämlich ein grofser gelber (auf der Figur gut ausgedrückter) Körper. und der Muttermund hat eine grofse Querspalte mit starken Lippen. Die Nachgeburt der Affen stellt sich ebenfalls der menschlichen sehr nahe, obgleich sie in einem Punkt sehr abweicht. Die Eyhäute bestehen bei ihnen auch nur aus dem Chorion, das hier, wie es auch bei der menschlichen Zwillingsgeburt gewöhnlich ist, den Jun- gen gemeinschaftlich angehört, und dem Amnion, das Jedes für sich hat; von einer Allantoides, oder Harnhaut ist auch hier keine Spur, und die Harn- schnur (urachus) schwindet sehr bald, wie ich an den Jungen des Brüllaffen und eines Kapucineraffen sehe. Bis hieher Alles also menschlich, aber nun die gröfste Abweichung, zwar nicht der absoluten, aber der relativen Zeit nach, wenn man das Nabelbläschen betrachtet. Bei dem menschlichen Fö- tus bleibt dieses nur bis in den dritten Monat, also kaum für ein Drittheil seines Fötuslebens; bei dem Uistiti, der ungefähr drei Monate von der Mut- ter getragen wird, scheint es bis zur Geburt zu bleiben. Wenn man näm- lich Taf. 2, Fig. 1. vergleicht, so sieht man bei d und bei f das Nabelbläschen jedes Jungen in eben der Gröfse, wie etwa bei einem menschlichen Embryo von drittehalb Monaten, und jenen Jungen stand die Geburt bevor. Hierin treten also die Affen den andern Thieren viel näher, bei denen auch ge- wöhnlich das Nabelbläschen länger bleibt. Das Verhalten des Nabel- bläschens und seiner zarten Gefäfse, die sehr lang sind und in das Gekröse gehen, ist wie bei dem Menschen, Taf. 2, Fig.1. Fig.4. Von einem Gange, der in den Darm sich öffnete, wie ihn Oken undMeckel annehmen, habe ich so wenig, als Emmert und andere Anatomen, hier oder anderswo je eine Spur gesehen. Der Mutterkuchen ist bei dem Uistiti und auch bei dem Brüllaffen ovaler, als bei dem Menschen; bei dem Brüllaffen sehr dick und dadurch 40 Ruvouenı eigenthümlich; bei dem Uistiti ist die Dicke nicht auffallend ; sehr deutlich ist aber bei demselben die pars foetalis von der uterina zu unterscheiden, die manche Neuere nicht haben gelten lassen wollen, obgleich sie wenigstens zuerst sehr bestimmt erscheint und nur zuletzt mehr verschmilzt. Hier ist sie sehr gut wahrzunehmen, wie Taf. 2, Fig. 1—3. zeigen. Bei dem Fötus des Uistiti, wie bei dem des Brüllaffen (Taf. 3. a.6.), und dem eines Capucineraffen, den unser Museum besitzt, sind zwei Nabelvenen, die von dem Mutterkuchen bis zur Leber getrennt verlaufen, und sich erst vor derselben vereinigen, wie man es auch zuweilen bei menschlichen Früch- ten und verschiedenen Thieren beobachtet hat; so dafs man dies bei den Af- fen für normal halten möchte. Sehr merkwürdig ist es dagegen bei einem Fötus des Meerschweins, oder Braunfisches (Delphinus Phocaena), den ich selbst aus der Gebärmutter der frisch erhaltenen Mutter genommen habe, dafs die beiden Nabelvenen durch die Leber getrennt verlaufen und sich erst nach hinten in ein gröfseres Gefäfs senken. Bei dem kleinen Fötus eines Narhwals, Monodon Monoceros, den un- ser Museum durch Mandt besitzt, läfst sich das nicht wohl sehen, da der Nabelstrang tief herausgerissen ist, allein die vasa omphalo -meseraica zeigen sich deutlich. Bei dem Embryo eines Ai, oder dreizehigen Faulthiers, Zradypus tri- dactyl!us, ist hingegen nur eine Nabelvene. Blainville spricht sonderbarer Weise den Jungen des Beutelthiers die Nabelgefäfse ab, allein sie fehlen ihnen keineswegs, wie sich wohl von selbst erwarten liefs. Auf Taf. 4. Fig. 2. ist das Junge eines Beutelthiers, wahrscheinlich des Opossums, ein halbmal vergröfsert, abgebildet, wo zwei Nabelgekrösgefäfse und die Nabelvene sehr deutlich sind; die den Urachus begleitenden Nabelarterien sind da, aber liegen hart an ihm, so dafs sie we- niger deutlich sind. Bei den viel kleineren Jungen einer Didelphis dorsigera sieht man die Nabelarterien, wie die Nabelvene, sehr deutlich, allein die Nabelkrösgefäfse sind nicht mehr zu sehen; doch bleiben diese Thiere viel kleiner, sind also trotz ihrer geringern Gröfse, wahrscheinlich aus einer älteren Periode ihres Fötuslebens, als die des Opossums. über den Embryo der Afjen und einiger anderen Säugthiere, 41 Von andern Beutelthier- Arten besitzt unser Museum keinen Fötus. Bei einem innerhalb seiner Eyhäute in der Bauchhöhle eines Hasen unbefestigt gelegenen Fötus fand ich ebenfalls alle Nabelgefäfse, allein wie vertrocknet. Bei diesen Thieren findet man öfters jene Erscheinung, wahr- scheinlich, indem auf der Jagd, oder sonst durch einen Schreck, die Trom- pete ein Ey nicht aufnimmt, und dasselbe in den Unterleib geräth. Der Un- terleib und die hintern Gliedmafsen des Fötus waren auch verdreht und die Überbleibsel der Nabelschnur um den einen Oberschenkel gewickelt. Man sieht, auch hier fehlte der Nabelstrang nicht, und ich habe ihn überhaupt nie fehlen sehen. Osiander in Göttingen hatte zwar angegeben, dafs er einen Fötus ohne denselben besitze; allein als ich ihn 1820 besuchte, und bat, ihn mir zu zeigen: — da war es ein Fötus mit hervorhängenden Baucheingeweiden, so dafs die Nabelvene und die Nabelarterien aus ein- ander lagen; das heifst, mit den Worten spielen. Auf die Nabelgefäfse kommt es ja nur an; der Strang mag vertrocknet, zerrissen sein u. s. w. Der Fötus ist gestorben, allein die Existenz eines Säugthierfötus ohne Nabel- gefäfse kann ich mir nicht denken. Zum Beschlufs will ich noch eine kleine sehr interressante Beobach- tung mittheilen. Bei dem Embryo eines Faulthiers (Taf. IV. Fig. 2.) fand ich den Urachus nicht aus dem Grunde der Harnblase, sondern an der vor- dern Wand derselben, und zwar ihrem Halse näher, als dem Grunde, ent- springend. Bei einem doppelt so grofsen, und endlich bei einem fast ganz ausgetragenen (Taf. IV. Fig. 3.) fand ich es ebenso; bei allen auch zwei Nabelarterien und eine Nabelvene, und was ich nicht erwartet hätte, Coty- ledonen, wie bei den Wiederkäuern.— Bei dem Embryo einer Myrmecophaga jubata habe ich ganz den nämlichen Ursprung der Harnschnur gefunden. Bei dem Fötus einer Manis pentadactyla sind die Theile nicht so gut erhal- ten, doch scheint es mir auch der Fall zu sein. Vom Dasypus sexcinctus habe ich keinen Fötus zu untersuchen Gelegenheit gehabt, allein bei dem erwachsenen sieht die Harnblase gerade so aus, wie die jener andern Thiere, dafs ich daher die nämliche Verbindung des Urachus mit der Harnblase ver- muthen darf. Gerne aber möchte ich wissen, ob auch die genannten Thiere wie das Faulthier Cotyledonen besitzen. Phys. Klasse 1828. F Fig. Fig. Ruovorruı über den Embryo der Affen u.s.w. Eıklärung der Kupfertafeln. 142,4. Die schwangern inneren Theile eines Uistiti in natürlicher Lage und Gröfse. a. Das erweiterte Becken. bb. Das eyrunde Loch. cc. Die Pfanne. d. Die Harnblase. e. Der Mastdarm. _f. Die geöffnete Gebärmutter. g. Die linke Trompete. A. Der durchschnittene linke Eyerstock. z. Das linke breite Mutterband. Die Geburtstheile eines Uistiti im ungeschwängerten Zustande, natürliche Gröfse. a. Ein grofses Corpus luteum im linken Eyerstock. Taf» II. Das Ey eines Uistiti aut .der Gebärmutter" Tal.]. Fig.1. herausgenommen. Das eine Junge ist herausgelegt, das andere liegt in dem Schafhäutchen, und bezeichnet: a. Des- sen Kopf. 2. Dessen Schwanz. _c. Dessen Mutterkuchen. d. Dessen Nabelbläschen. e. Ist der Mutterkuchen des heraus gelegten Jungen. f: Dessen Nabelbläschen. Dasselbe Ey von der hintern Seite. a. Der Kopf. db. Der Schwanz des darin liegen- den Jungen. Ein Mutterkuchen im ganzen Umfang dargestellt. a. Die Pars foetalis. b. Die zu- rückgeschlagene Pars uterina. Das Junge des Uistiti, um daran (a.) die Nabelgekrösgefäfse zu zeigen. Alle Figuren in natürlicher Gröflse. RE Taf. MI. Das Junge eines Brüllaffen (Afycetes ursinus) in natürlicher Gröfse mit zwei Nabel- venen, a. b., und zwei Nabelarterien, c. d., bis zum Mutterkuchen blos gelegt. Tat-Iy, Der um die Hälfte vergröfßserte Embryo eines Beutelthiers (Didelphis Opossum) mit allen Nabelgefälsen. Embryo eines dreizehigen Faulthiers in natürlicher Grölse, mit einer Nabelvene und zwei Nabelarterien, die Harnschur von der vordern Wand der Harnblase. Beinahe ausgetragenes Junge eines dreizehigen Faulthiers, zur untern Hälfte in natür- licher Gröfse; . die Geschlechtstheile sind nicht daran zu erkennen, und wohl durch den grofsen Beckenbruch verkümmert. 1.1. Die durchgeschnittene Symphysis ossium pubis. 2.2.2.2. Fast der ganze Dünndarm und der Dickdarm durch einen Bruch vor- gefallen. 3. Die äulsere Öffnung der Harnröhre. 4. Die aus der vordern Wand der Harnblase entspringende, doch zu dick abgebildete Harnschnur, in starker Entfernung von dem Grunde derselben. 5.5. Die Nabelarterien. 6. Der linke Harnleiter. 7. Die linke Niere. 8. Die linke Nebenniere. 9. Der After. open el. 5% nlımbruo , PRus BE-AS2S. Fr: ZuHrn Rudolphas Abhandi üb d._Affe ; 1 =; P 1 N F = Teile . % Be Fe r F LU. 2 7: LILI/S2S. YS Embryo. Eh Zu Hrn Rudolphis Abhandl üb, Affen 1: ü ” ‘ ' \ D a" ı Fe = Po . i } \ # B \ MM h . . x Re "ui . i E De . Pe ZN Pa Al m # Ma b ver n BR " 1 u . Ber ; Auer Bi . * ’ 1 “ 2 .! Di u ß . . vw. we 2 . x “% . ua ‘ F} i ü Ss Ban f vom 4 r * . 5 = ; ’ “ . * ” I ' 0 nn j ö N B ! h Fa . 5 \ u ß “ 3 . . 7.‘ ä . . . vie \ . 17 FR { Pr N I ' \ \ j . o 3 5 : . . a - %, Be: - & f Ber we - n vr . ’ = _ Fin = * * n . “ ‘ . . . F x u » . , < * A . . Zu Hrn Kudolphis Abhandt.üb_fen Embryo. Ehas KLAS28. ZART FRE IH /F2S 7 (7 (SE laf- 77) Yen Er ” der Dh d 6 BG (ZB uber dem B@ Gumand FT DA ) R N arıei ad nal det Über die Silicification organischer Körper nebst einigen anderen Bemerkungen über wenig bekannte Versteinerungen. Von HM” vos BUCH. [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 28. Februar 1528.] B: der regen Gemeinschaft der Naturforscher unter sich, geschieht es, dafs eine Menge kleiner Beobachtungen weit verbreitet und sehr bekannt werden, ehe irgend eine öffentliche Nachricht etwas davon erwähnt. Jede Mittheilung solcher Beobachtungen, wenn sie von geistvollen Männern her- rührt, wird eine andere Form annehmen; entweder man hat der ursprüng- lichen aufgefundenen Thatsache noch andere zuzusetzen. oder man weils sie selbst unter anderen Gesichtspunkten zu fassen, und denen, durch sie erreg- ten Beobachtungen eine neue, umfassendere, gröfsere Richtung zu geben. Dann ist es oft schwer, vielleicht unmöglich jede einzelne Ader, von allen, welche sich zu einer reichen und befruchtenden Quelle verbinden, wieder bis zu ihrem Ursprung heraufzuführen. Es geht die Priorität der ersten Auf- findung verloren, um so mehr, da es gewöhnlich gar nicht vorauszusehen ist, was aus einer geringfügig scheinenden Beobachtung in anderen Händen entstehen kann, oder wohin sie führen wird. Auch haben gründliche Natur- forscher eine so ängstliche Priorität niemals verlangt; — sie würde Jede Art der Mittheilung zerstören; denn es würde immer leicht sein glauben zu machen, dafs in unbestimmt geäufserten Ansichten, in Thatsachen, welche nur als Vermuthungen hingeworfen waren, und gewöhnlich sehr berichtigt werden müssen, der Keim gelegen habe, welche durch Andere zu glänzen- den Ansichten und Entdeckungen entwickelt wäre. Diese Mittheilung durch Berührung, wenn der Ausdruck erlaubt ist, hat jedoch auch den Nachtheil, dafs merkwürdige Thatsachen und Betrach- F2 44 v. BoeH tungen schon längst eine Art von Gemeingut geworden sind, und demohn- erachtet doch noch diejenigen nicht erreicht haben, welche aus dieser Kennt- nifs vielleicht den gröfsten Nutzen für die Wissenschaft würden gezogen ha- ben; und viele Thatsachen, viele Ansichten gehen gänzlich verloren, weil ihre Urheber sie der öffentlichen Bekanntmachung nicht für würdig hielten ; und die, welche sie erfuhren, sie zu weiteren Ansichten nicht zu benutzen vermochten. Der Gegenstand, mit welchem ich die Akademie einige Angenblicke zu beschäftigen wünsche, die Silicification organischer Körper, ist von dieser Art. Die merkwürdige Erscheinung ist Vielen bekannt; allein in sehr verschiedenem Grade der Bestimmtheit; viele treffliche Naturforscher dagegen kennen sie gar nicht, ohnerachtet sie täglich vor ihren Augen liegt, weil keine gedruckte Nachricht ihre Aufmerksamkeit darauf geleitet hat. Der gröfste Antheil an der Auffindung der merkwürdigen Thatsachen scheint indefs dem Herrn Brogniart in Paris zu gehören, der auch schon längst eine Arbeit über diesen Gegenstand vorbereitet hat, von welcher einige Abbildun- gen auf der Pl. VI. und VII. des Kupferwerks des Dietionatire d’ Histoire natu- relle bekannt gemacht worden sind (!). Wer sich mit Versteinerungen be- schäftigt, weils zwar schr wohl, wie häufig Muscheln gänzlich in Chalcedon und in Feuerstein verändert sind; und da weiche Theile der Thiere sich nicht erhalten, sondern nur die härtere, kalkartige Schaale, so ist man nicht in Zweifel, dafs die ganze Silieification sich auf dieser harten Schaale geäufsert haben müsse. Viele einschaalige Conchylien finden sich nur in Spiralform aus dem schönsten Chalcedon gebildet. Viele Corallen erscheinen als Jaspis oder Quarz. Es ist bekannt, dafs man aus dieser Erscheinung lange hat be- weisen wollen, dafs sich Kalkerde in Kieselerde verwandele, kohlensau- rer Kalk in Feuerstein. Neuere Werke über Versteinerungen (Sowerby, Conybeare, Brogniart) meinen, die Muscheln würden zur Kieselmasse (') SpätereAnmerkung. In J.Sowerby Alin. Conch. F’ol.1V. plate 330. vom Jalır 1523. findet sich folgende merkwürdige Stelle: Productus latissimus from Anglesey. In cherty (mountain) limestone. The shell is in many parts gone, and its place supplied by silex in numerous small drops, each surrounded by several irregular rings of Ihe same material, a form of silew not rare among fossil remains of shells, composcd of laminae strongly impregnaled with gluien, as Ostrea, Pectens etc. in the green sand and other for- malions. über die Silieification organischer Körper u.s.w. 45 verändert, wenn sie in kieselartigen Schichten vorkommen, erklären sich aber nicht über das Verschwinden, der, gröfstentheils fehlenden kalkartigen Schaale. Dem ist nicht so. Der ganze Prozefs der Silieification, wie er in der Natur sehr gut zu verfolgen ist, führt zu dem merkwürdigen Resultat, dafs die Silieification niemals die kalkartige Schaale unmittel- bar angreife; dafs sie sich nur allein auf die organische Substanz desThieres äufsere, und dafs, wo eine solche organische Substanz nicht vorhandenist, auch nie eine Silicification statt finde. Ist aber ein solches Resultat festgestellt und erwiesen, so folgt natür- lich daraus der wichtige und in seiner Anwendung höchst fruchtbare Satz, dafs wo eine Silieification bemerkt wird, eine organische Substanz vorhan- den gewesen sein müsse. Wenn eine Muschel anfängt von der Silieification angegriffen zu wer- den, so erscheint auf der Oberfläche ein kleines, dunkelgefärbtes, halb- durchsichtiges Wärzchen, wahrscheinlich in halbflüssigem Zustande als eine Gallerte. Die weifse Schaale hebt sich von allen Seiten an diesen Wärzchen herauf, woraus hervorgeht, dafs es von innen hervorgedrungen, nicht von aulsen sich abgesetzt hat. Es breitet sich aus; in seiner Mitte steigt ein neues Wärzchen hervor, und das ältere umgiebt nun den neuen Mittelpunkt wie einen kleinen Ring, welcher davon durch eine Vertiefung getrennt ist. Noch andere Wärzchen treten hervor und stofsen die Ringe noch weiter zu- rück, und da dies stets unter der erhobenen kalkartigen Schaale geschieht, so wird diese Schaale durch die Ringe gänzlich zerbrochen und zersplittert. Sie fällt in kleinen Blättchen ab und verliert sich. Immer weiter werden die Ringe, allein auch immer weniger hoch, bis ein in der Nähe entstandenes anderes System von Ringen entgegen kommt und beide sich gegenseitig in ih- rer Ausdehnung begrenzen. So treten Systeme zu Systeme, mehr oder we- niger grofs, je nachdem sie sich früher oder später begegnen, bis endlich die Silicification der ganzen Muschel vollendet ist. In der ersten Figur ist diese Erscheinung vorgestellt, wie man sie an einer Gryphaea columba von Castel- lane in der Provence bemerkt. Noch ist die Hälfte mit einer dünnen kalkar- tigen Schaale bedeckt; allein man sieht wie an den Rändern durch die Ringe sich Scheiben ablösen. Einige haben sich in den Vertiefungen der Ringe er- halten; hin und wieder auch wohl ein ganzes Stück der Schaale, weil keine Ringe darunter befindlich sind. Dafs von der Warze aus in der Mitte, diese 46 vnBewcH Ringe sich verbreitet haben und in einem gallertartigen Zustande, ist aus ihrer Begrenzung zu erweisen; sie hören nicht auf, wo sie sich begegnen, oder sie gehen nicht durcheinander wie Wellen thun würden, sie platten sich ab, ge- genseitig, setzen aber mit denselben Ringe ihren Lauf concentrisch fort, wo kein solches Hindernifs entgegen tritt. Auch bemerkt man, am gröfsten der gezeichneten Kreise auf der Figur, dafs ein Theil eines äufseren Ringes sich mehr zusammengezogen hat, und stehen geblieben ist. Dadurch werden alle noch folgende innere Kreise nach dieser Seite hin, in Unordnung gebracht und zusammengerückt, gerade wie es in einer viscösen Flüssigkeit geschehen würde, die sich von innen verbreitet. Man würde nicht glauben, dafs diese leichte und dünne Bedeckung Chalcedon sei, verriethen es die Systeme nicht; und da die Kreide, welche die Muschel erfüllt, sogleich unter der dünnen Chalcedonrinde hervorkommt, so würde man, ohne Ringe, um so weniger ahnden eine verkieselte Muschel vor sich zu sehen. Deutlicher erscheint die Veränderung bei anderen Gryphaeen dieser Art, wenn die kalkartige Schaale gänzlich abgesprengt ist. Gewöhnlich äufsert sie sich vorzüglich stark am ge- krümmten Schnabel an welchen die Warzen des Chalcedons dick nebenein- ander hervortreten (!). Ist die Verkieselung vollständig gewesen, so trotzt sie den Stürmen der Zeit, während die umgebende Kreide weggeführt wird, und die natürliche Form der Muschel zeigt sich nun mit allen ihren Ein- zelnheiten deutlicher als man sie würde gesehen haben, hätte sie ihre natür- liche Schaale erhalten(?). Dies ist nun durchaus und ganz allgemein der Weg, wie sich zweischaalige Muscheln verkieseln. Nie wird man bei ihnen die Warzen mit den umgebenden Ringen vermissen; allein auch niemals sieht man irgend ein System von Ringen sich über der Schaale verbreiten, oder wohl gar sich in die Schaale fortziehen. Allemal ist diese letztere erhoben, die Ringe sind darunter. Da sie doch nun so bestimmt auch den feinsten Theilen der Muschel folgen, so dafs man ihre Reifen und Strahlen noch durch alle Unebenheiten der Chalcedonsysteme verfolgen kann, so müssen diese letztern noch einen andern Führer gefunden haben, als die Schaale, (7 SAEARIT Bie. Lu (?) Taf. TI, Fig. 2. ist eine fast ganz verkieselte Gryphaea secunda Lam. vom Voirons bei Genf. Eine mit ähnlichen Kieselsystemen bedeckte Gryphaea ist vortrefflich gezeichnet in Brucker’s Merkwürdigkeiten der Landschaft Basel. über die Silicificalion organischer Körper u.s.w. 47 der sie verhindert, die Form der Muschel in ihrem Fortlauf zu verlassen. Dieser Führer ist der organische Schleim, welchen der Mantel auf der in- neren Seite der Muschel absetzt. Ich denke dieses auf das bestimmteste durch die Verkieselung der Au- stern erweisen zu können. Die Auster besitzt, wie man weifs, nicht blos eine sehr dicke Schaale, sondern die einzelnen Lamellen dieser Schaale, welche das Thier von innen heraus, nach und nach immer weiter vorgreifend, absetzt, sind auch nur sehr locker miteinander verbunden. Die innere Oberfläche der Auster ist mit dem Schleim des Mantels überzogen und wird dadurch glänzend. Die- ser Schleim bleibt zurück und wird von der neuen Schaale bedeckt, welches sichtbar wird, wenn man die Schaale in Säuren auflöst. Der organische Stoff löst sich nicht auf. Auch das blofse Auge bemerkt ihn schon leicht zwischen den Lamellen. Die Austerschaale besteht daher aus zwei Theilen, von welchem der eine noch der Zoologie, der andere der Mineralogie angehört. Denn der kalkartige Theil ist nicht kohlensaurer Kalk in zoologischer Form, sondern es ist wirklich Kalkspath und daher nichts organisches mehr. Mag auch die Ausscheidung des Kalkspaths und seine Erhaltung als Umgebung, zum Leben der Muschel unumgänglich nothwendig sein, eben so wie die Ausscheidung des Apatits und seine Anhäufung in Knochenform zum Leben der Skeletthiere, doch ist es so wenig ein organischer Stoff, oder ein solcher, welcher nur dem Wirkungskreise der Lebensthätigkeit angehört, als es die Ser- pentinstein- oder Marmor- und Muschelbrocken sein würden, mit welchen der Trochus agglutinans sein Haus bildet oder verstärkt, oder die Muschel in welcher sich der Pagurus Bernardus verbirgt, und ohne welche er nicht leben würde. Die Masse der Muschelschaalen, wie die der Knochen ge- horchen völlig den Gesetzen der Mineralogie, und wenn auch der Apatit in der Form des Knochens nicht mehr erkannt werden kann, so wird er da- durch eben so wenig seine Natur verlieren, als der Kalkspath etwas anderes geworden ist, wenn ihn die Hand des Bildhauers zu einer Marmorstatue ver- ändert hat. An der Unbeweglichkeit und Starrheit mineralischer Substanzen sucht das, im unabhängig geschlossenem Kreise fortwirkende Leben Schutz gegen die, alles Leben zerstörende Schwere. Das Skelet der Thiere würde ganz anders geworden sein, hätte die Natur einen anderen, als einen ungleichaxigen Stoff wie der Apatit ist, zu 48 mrBuvet bearbeiten gehabt. Man hat mir gesagt, dafs im Fötus die Bildung der Hirn- schaale von einem Mittelpunkt aus anfange, aus welchen sie sich strahlen- förmig umher verbreite. Nur ungleichaxige Fossilien in welchen eine Axe der gröfsten Contraction sich unterscheidet, vermögen fasrig zu werden, oder in Strahlen sich zu verbreiten, in welchen die Axe des Strahls jederzeit zugleich die der gröfsten Contraction ist. Diese Axe bestimmt nehmlich im- mer eine vorherrschende Richtung des Anschiefsens. Nur in ihnen können sich diese Strahlen zur dünnen Bedeckung verbinden. Wäre der abgeschiedene Stoff ein gleichaxiger wie etwa Flufsspath gewesen, so würde das organische Leben grofse Mühe gehabt haben, die hervortretende Flufsspaththeile in Ordnung zu halten. Es würden sich statt Strahlen und Flächen, Massen gebildet haben, und das Skelet und somit das ganze Thier und seine Lebensthätigkeit wären ganz anders geworden. Doch ich kehre zur Auster zurück, denn der Schlufs auf andere Mu- schelschalen wird leicht sein, wenn es gelingt bei ihr zu erweisen, dafs ihre Schaale wirklich aus Kalkspath bestehe. Wenn man fossile Austern untersucht, deren Schaale gewöhnlich be- sonders dick ist, so findet man ohne Mühe Lamellen von solcher Stärke, dafs der Bruch des Profils sich leicht untersuchen läfst. Jederzeit sieht man ihn fasrig, in dicken, gleichlaufenden Fasern, welche rechtwinklich auf die Fläche der Lamelle stehen. Austern aus der Kreide am See von Berre bei Martigues ohnweit Marseille, zeigen diese Bildung ganz deutlich. Be- trachtet man sie nun von oben im Sonnenlicht, so entdeckt man bei einigen Wendungen die schr kleinen glänzenden Flächen, welche die Faser umge- ben und gegen diese bedeutend geneigt sind, und welche nichts anders sein können als nur die des Kalkspathrhomboeders, dessen Hauptaxe mit der Axe der Faser zusammenfällt, so wie es das Gesetz für den fasrigen Kalk- spath oder für jedes ungleichaxige System verlangt. Da die Bildung der La- melle nicht von einem Punkt ausgeht, sondern da der Kalkspath auf der ganzen Fläche des Mantels gleichförmig ausgeschieden wird, so kann er nicht auseinauderlaufend fasrige Büschel bilden, sondern die hervortretende dünne Lamelle wird einem Kalkhäutchen zu vergleichen sein, wie es sich auf Kalk- wasser abscheidet und auf den Boden absetzt. Ein solches Kalkhäutchen ist aber ganz der geraden Endfläche der vollkommenen sechsseitigen Säule des Kalkspaths gleich, sieht auch so aus. Eine eben so feine als richtige über die Silicificaion organischer Körper u. s. w. 49 Beobachtung, welche ebenfalls die Mittheilung durch Berührung verbreitet hat, wodurch mir zum Wenigsten ihr Urheber gänzlich unbekannt geblieben ist. — Man weifs, dafs wenn sechsseitige Säulen von Kalkspath auch ganz durchsichtig sind, diese Durchsichtigkeit sich doch nie auf der geraden End- fläche erhält. Diese ist jederzeit trübe und perlmutterartig schimmernd, wie der Schieferspath. Es stehen auf der Fläche viele kleine Hauptaxen hervor, und die kleinen Unebenheiten, welche daraus entstehen, werfen das Licht nach sehr mannichfaltigen Richtungen zurück. Man darf nicht glauben, dafs diese Structur vielleicht nur fossilen Austerschaalen, nicht denen eigenthümlich sei, wie sie noch jetzt im Ozean gebildet werden, und wohl von einem späteren mineralischen Prozefs abhän- gig sein möge. — Wenn auch nicht in jeder, so findet man doch in den mei- sten Austerschaalen Lamellen, welche dick genug sind, um die auf der Fläche rechtwinklige Fasern auf das allerdeutlichste erkennen zu lassen, und ich zweifle nicht, dafs man nicht auch bei starker Vergröfserung und sehr hellem Lichte die geneigten Flächen des Kalkspathrhombo&ders auffinden würde. So wird also jede Lamelle einer Austerschaale zu der geraden End- fläche einer sechsseitigen Säule, und die Fasern, wenn man sie bemerkt, sind die Seitenflächen dieser Säule, durch welche vielleicht der Wirkungskreis je- des Secretionsorgans auf dem Mantel bezeichnet wird. Was nun die Auster gelehrt hat, das wird man leicht auch von anderen Schaalthieren glauben, welche kohlensaure Kalkerde ausscheiden, um sich daraus ihr Gehäuse zu bilden. Auch giebt es viele Schaalen, welche zu ähn- lichen Betrachtungen, wie die Austerschaale, Veranlassung geben, welche vielleicht erlauben, sie noch deutlicher auseinander zu setzen. Die fasrige Structur der Schaale des /noceramus hatte die Aufmerksamkeit auf diese Muschel gerichtet, lange vorher, ehe ihre wahre Form und Gestalt bekannt war. Eben so fasrig erscheint Pinna, Pachymia Gigas (Sowerby pl.505.), die Schaale des Nautilus aturi und viele andere. Nach diesen Betrachtungen über die wahre Structur der Muschelschaa- len wird es erlaubt sein, den Beweis, dafs nur der thierische Schleim zwischen den Lamellen der Schaalen silificirt werde, wieder aufzunehmen und ihn weiter zu führen. Es finden sich auf den Feldern in Mecklenburg und Pommern eine grofse Menge Austern zerstreut, welche sich in einem sehr verschiedenen Phys. Klasse 1828. G 50 YuruBran.chH Grade der Silieifirung befinden. Wahrscheinlich gehören sie zur Tertiair- formation (!). Ihre Silieiirung scheint mit grofser Heftigkeit vor sich .ge- gangen zu sein. Die Centralwarze der kleinen Chalcedonsysteme ist gewöhn- lich sehr dick, die von ihr sich verbreitenden Wellen sehr hoch und sehr breit. Man sieht deutlich, wie viel gröfser der Raum ist, den diese Kiesel- gallerte braucht, als der des organischen Stoffes war, den sie zerstörte. Sie dringt zwischen den Lamellen vor, und wo die Kalkschaale nicht durch die gröfsere Ausdehnung auf die Seite ausgestofsen werden kann, wird diese um- hüllt. Die Kieselmasse dringt zwischen den Fasern. Alles wird kieselartig und erhält nun weit mehr das Ansehn des Holzopals als des Chalcedons. Auch in diesem so weit fortgeführten Grade der Verkieselung lassen sich im- mer noch die verschiedenen Lamellen der Schaale unterscheiden. Die, welche der organischen Substanz gehören, sind viel dunkler von Farbe und durch die gröfsere Ausdehnung des Kieselhydrats sind sie viel dicker als vorher; die helleren, kalkartigen dagegen haben immer noch etwas von ihrer vorigen fasrigen Structur erhalten, und nicht selten bringt man sie sogar noch mit Säuren zum Aufbrausen; ein klarer Beweis, dafs es auch hier nicht der kalk- artige Theil ist, welcher verändert, sondern nur umhüllt wird, wo er nicht weggesprengt werden kann. Im Innern der Muschel, wenn sie einige Dicke besitzt, ist sie häufig noch in ihrem natürlichen Zustande. Die Verkieselung dringt nur von aufsen hinein; ist daher keinesweges eine ohne äufsere Ursachen bestimmte Umän- derung des organischen Stoffes. — Zersetzt etwa dieser Stoff eine Kiesel- verbindung, wodurch die Kieselerde frei wird, Wasser aufnimmt, und nun als Chalcedon, Opal oder Hyalit hervortreten kann? Auch das Thier der Auster selbst möchte man der Silieification unter- worfen glauben, so sehr es auch den eingeführten Ansichten widersprechen mag, dafs eine so weiche organische Masse jemals versteinern könne. Zum Wenigsten würde man in einer Masse von Feuerstein, welche das Innere einer Austerschaale erfüllt und welche in Taf. I, Fig.3. gezeichnet ist, nichts an- ders, als das Thier der Auster selbst zu erkennen glauben. So würde es in der Auster gelegen haben, wäre es lebendig gewesen. Die gröfsere Masse liegt gegen die rechte Seite hin, wo der Muskel sie an der Schaale befestigt; (') Vergl. Taf. T, Fig.3u. 4. und Taf. II, Fig.2u.2. über die Silicification organischer Körper u.s.w. 51 sogar könnte man glauben, noch den Muskel selbst zu erkennen, wie er von der unteren zur oberen Schaale hinaufgeht. Die kleinere Masse dehnt sich aus bis dahin, wo der Mund würde gelegen haben. Selbst die Ausdehnung des Mantels möchte man glauben um diese Muscularmassen her unterscheiden zu können. Es ist sehr bemerkenswerth, dafs die Schaale zu Kieselhydrat verändert ist, das Thier dagegen zu Feuerstein. Dieser aber enthält die or- ganische Substanz selbst noch in seinem Innern, welche daraus als thierisches Öl destillirt, sogar ausgeprefst werden kann. Eben dieses thierische Öl bildet den Feuerstein, der ohne diese Bei- mengung nur reiner Quarz sein würde, und so seltsam es auch Manchem ge- schienen hat und noch scheinen mag, so ist es doch gewils, dafs auch die regelmäfsigsten Schichten. des Feuersteins zwischen der Kreide, auch wenn man sie viele Stunden weit verfolgen kann, doch nichts anderes sind, als ver- kieselte organische Reste, gröfsentheils Corallen. Mit einiger Aufmerksam- keit entdeckt man das leicht, und auch hier bemerkt man, dafs es nicht die kalkartige Umgebung, sondern dafs es die thierische Corallen selbst sind, welche sich zu Feuerstein verändert haben, und das gar häufig mit solcher Bestimmtheit und Genauigkeit, dafs die innere Structur des Thieres der Co- valle sich nicht selten weit besser im silicifirten als im lebendigen Zustande untersuchen und beobachten läfst. Ich habe nie bemerkt, dafs Feuerstein Warzen und concentrische Wel- len bilde, wie die Kieselhydrate, vielleicht eben deswegen, weil es kein Hy- drat ist und nie eine gallertartige Consistenz annimmt. Muschelthiere, die, wenn sie sich vergröfsern, die Kammer, welche sie bisher bewohnt hatten, gänzlich verlassen und zu einer neuen übergehen, verkieseln sehr selten, denn die Schaale der verlassenen Kammer kann sich nicht durch abgesetzte Lamellen verstärken; es bleibt weder an der Schaale noch im Innern ein organischer Stoff zurück, der silifieirt werden könnte. Deshalb sind die Beispiele von silifieirten Ammoniten oder Nautiliten wenig gemein, und wenn es Belemniten von Chalcedon giebt, so ist es die Alveole nicht, sondern nur die fasrige Spitze, in welcher, bei jedem Anwuchs einer neuen Kammer in der Alveole, sich eine neue Schicht abgesetzt hat. Deshalb ist die Spitze fast jederzeit braun, und wird bei sorgfältiger Auflösung in ver- dünnten Säuren den organischen Stoff zwischen den Fasern und Schichten häufig offenbaren. G2 52 YmiBautchH Ich gehe zu der Beschreibung einer anderen, wie es mir scheint, nicht gekannten Versteinerung über, um ein Beispiel zu geben, wie der Satz, dafs jede Silicification eine organische Substanz voraussetze, wenn man ihn als erwiesen annimmt, zur näheren Kenntnifs der Organisation dieser Thiere an- gewendet werden kann. Unter den vielen Blöcken, welche die baltischen Niederungen be- decken, finden sich nicht selten Kalksteine und Sandsteine, welche mehr aus Resten von Thieren, als aus der Hauptmasse selbst bestehen. Untersucht man diese oft wunderbar gut erhaltene Formen, so findei man, dafs sie fast gänzlich mit denen übereinstimmen, welche auf den Inseln Gothland und Oeland und in Westgothland anstehend vorkommen. Sie bezeichnen durch ihre ausgezeichnete Eigenthümlichkeit auf das Bestimmteste die Formation des Transitionskalksteins, welche der Stein- kohlenformation zunächst liegt und ‚‚mountain limestone’’, Bergkalk, ge- nannt wird, und ihre Mannichfaltigkeit in einem kleinen Raume ist so grofs, dafs man diese Eigenthümlichkeiten der Form, den Charakter der Muscheln des Mountain limestone oft auf einem kleinen Handstücke studiren kann. Von einem solchen stellt Taf. III, Fig. 1. den Umrifs vor, mit Bezeichnung einiger der merkwürdigsten Gestalten. Es erscheinen mehrere in die Länge gestreifte, herzförmige Bivalven, warscheinlich Venericardien; viele Kerne einer einschaaligen Muschel mit sechs Windungen, ohne Zweifel einer Turri- telle; eine ästige, sehr zierliche und deutliche Millepore, der in dem Kalk - stein von Dudley ganz ähnlich (Calamopora fibrosa Goldf.), Encriniten- wirbel mit Punkten und Strahlen, theils verbunden, theils einzeln bis zur verschwindenden Kleinheit; Überreste einer grofsen Modiole; ein kleiner Trochus; kleine Patellen ; mehrere Spirifer und endlich vorzüglich treflich er- haltene Schaalen einer neuen, noch nicht beschriebenen Zeptaena (Producta), in allen Graden der Gröfse und des Wachsthums, vom ersten Ei bis zur grölstmöglichsten Ausbildung. Die junge Brut liegt zwischen den gröfseren Schaalen in unbeschreiblicher Menge umher. Seit Martin in seinem Werke (Petrificata Derbiensia 1309.) diese merk- würdigen Gestalten zuerst bekannt machte, und sie nach der zuweilen unver- hältnifsmäfsig grofsen Ausdehnung der gröfseren Schaale benannte, ein Name, den Sowerby 1814 zum Gattungsnamen erhob, hat man von ihnen vielleicht schon mehr, als zwanzig verschiedene Arten entdeckt. Nur wenige finden über die Silicificaion organischer Körper u.s.w. 53 sich in der dem Kohlengebirge zunächst folgenden Kalkformation ; die übri- gen gehören alle dem Transitionsgebirge, keine den neueren Gebirgsschichten. Schon der aufmerksame Martin hatte ihre Ähnlichkeit mit den Terebrateln gesehen, ohnerachtet ihre Schaalen völlig geschlossen sind und sie keinen durchbohrten Schnabel besitzen. Seitdem hat man sie auch noch nie von den Brachiopoden getrennt, deren wunderbare innere Structur durch Poli und Cuvier auseinandergesetzt worden ist. Allein es fehlt dennoch sehr viel, ehe wir mit der inneren Organisation dieses Thieres bekannt sein werden, da das Meiste errathen werden mufs, weil wenig gesehen werden kann. Dies wird schon, wie ich glaube, aus der Beschreibung der vorliegenden neuen Art hervorgehen (siehe Taf. IIl, Fig. 2. vergröfsert und mit wiederhergestell- ten Röhren). Die Schaale dieser Muschel ist sehr breit, im Verhältnifs zu ihrer Länge viel breiter als alle bisher beschriebene Arten. Nach Messungen, welche ich an einer grofsen Menge von Schaalen angestellt habe, ist dies Verhältnifs fast jederzeit wie 5 zu 3, so dafs die Breite nahe das Doppelte der Länge ist. Sie gehört zum Geschlecht Zeptaena von Dallmann, welches am Schlofs gar keine Öffnung besitzt, und wird nicht unangemessen Zeptaena lata genannt werden können. Nur die Ränder der Seiten sind gerundet; die Schlofsseite bildet eine ganz gerade Linie in der ganzen Ausdehnung der Muschel, und die ihr gegenüberliegende Seite ist ihr, im mittleren Theile der Breite, vollkommen gleichlaufend. Die Schaale ist sehr fein gefaltet. Die Streifen laufen gröfsten- theils vom Schnabel divergirend aus und vermehren sich gegen den Rand, je nachdem die gröfsere Ausdehnung der Muschel es verlangt. Es entsteht eine neue Falte in der Rinne zwischen zwei älteren, nicht aber eine Dicho- tomie der Falten selbst, wie in einigen Beschreibungen steht. — Der Schna- bel tritt nur wenig über die Schaale hervor, so dafs er die gerade Linie des Schlosses nur wenig unterbricht. Auch die ganze Muschel ist viel flacher, als andere dieser Arten zu sein pflegen. Die unteren kleinen Schaalen sind wahrscheinlich ganz flach, allein man kann sich nicht davon überzeugen ; entweder sie fehlen ganz oder die Oberschaalen verdecken sie so, dafs sie gar nicht gesehen werden können. Auch dieses ist allen Arten gewöhnlich und Folge ihrer Lebensart. Man sagt, das Schlofs habe zwei Zähne; ich habe sie nie auffinden können. Die Zähne, welche in Fig.3. sehr deutlich zu sein scheinen, werden durch das Abbrechen des kurzen Schnabels gebildet, sind 54 YanBeuiche daher nur Fragmente. Die Oberschaale ist jederzeit am Schlofsrande herum- gebogen, so dafs die untere Schaale darin, wie in einer Hohlkehle steckt. Auch dies zeigt das Fragment, welches Fig. 3. abgebildet ist. Es ist vorzüglich an der so wohl erhaltenen Schaale Fig. 1, ı. welche sogar noch an ihren Rändern.die natürlichen Farben zeigt, ganz deutlich, dafs sie nie mit kurzen Stacheln besetzt gewesen ist, wie so viele andere Arten. Diese Stacheln sind völlig denen der Sphondilen und der Chamen gleich. Es sind Auswüchse des Mantels am Rande, welche bei dem Anwachsen der Schaale ihr enges Gehäuse verlassen und sich auf dem neuen Anwuchs ein gröfseres bilden. Daher stehen diese Stacheln in gerader Reihe hintereinan- der, stets auf derselben Furche der Schaale, und die äufseren sind gröfser als die, welche das Schlofs näher umgeben — Von diesen sind aber andere so- genannte Stacheln gar sehr verschieden, welche bisher noch nicht gehörig beachtet worden sind, und welche, nach meiner Ansicht, für die ganze Gat- tung der Zeptaena oder der Producta doch eigentlich den Hauptcharacter bilden. Man sieht diese Stacheln an der Schlofslinie fort ausgestreckt, in ab- gemessenen Räumen, in völliger Symetrie zu beiden Seiten des Schnabels und in bestimmter Zahl. Es sind jederzeit fünf auf jeder Seite, wenn die Muschel noch jung ist, sechs, wenn sie ihre völlige Gröfse erreicht hat, so dafs zehn oder zwölf zu jeder Muschel gehören. Man wird nicht oft etwas zierlicheres sehen, als diese sonderbaren Organe. Sie gleichen kleinen Scep- tern und bestehen aus einer sehr glänzenden Schaale, welche sich in bestimm- ten Zwischenräumen zu Ringen erhebt, nach vier oder fünf kleineren ein gröfserer, und dies mit abnehmendem Durchmesser in einer Länge fort, welche nahe die Hälfte der Länge der ganzen Muschel sein wird. Man be- merkt sie auf der Platte Taf. III, Fig. 1. bei Nr. 2. 3. 4. 6. 11. ı2. und vergröfsert bei gleichnamigen Zahlen am Rande. Sie sind inwendig hohl und in der in- neren Höhlung ganz glatt; das zeigen Nr. 2. und mehrere Stücke auf der Rück- seite der Platte. Diese Höhlung setzt sich fort durch die Schaale der Muschel selbst, und man bemerkt nicht allein diese Öffnung ganz deutlich bei Nr.3. und Nr. 5. unter dem umgebogenen Rande, sondern man sieht auch, wie weit der Einflufs dieser Höhlung sich auf der Schaale verfolgen läfst. Jede La- melle der Schaale ist auch in dieser Höhlung daher in den Röhren fortge- setzt. Dies sieht man freilich nicht an den Producten der gezeichneten Platte, über die Silieification organischer Körper u.s.w. 55 allein mit der gröfsten Deutlichkeit an der Zeptaena von Büdingen und Gera, dem ehemaligen Gryphites acculeatus, und an diesem hatte es schon Walch beobachtet (Naturf. 14, 21.). Hierdurch werden aber die Röhren wesentlich und als etwas ganz verschiedenes von den Stacheln auf der Schaale getrennt; denn es geht daraus hervor, dafs das, was in ihnen steckt, darin fortwächst, und nicht bei jedem neuen Anwuchs, wie in jenen, wieder her- vorgezogen wird. Ein Organ, welches mit dem Thiere fortwächst und seine Stelle behauptet, mufs die Vermuthung erregen, dafs es zur Ökonomie des Lebens dieses Thieres ganz nothwendig sei. Was in dem Innern dieser Röh- ren steckt, sieht man sehr häufig, theils wenn die Schaale ganz zerstört ist, theils mit noch anhängender Schaale. Nr.2. und Nr. 13. in Fig. 5. geben da- "5 von Beispiele, erstere von der Vorderseite, letztere von der Rückseite der Platte. Es ist ein brauner Kern von Chalcedon; daher war es ehemals, nach den vorher bestimmten Prineipien, ein organischer Stoff. — Da ich aus den Enden der Röhren in Fig. 5, Nr.5. zu bemerken glaube, dafs sie auch oben offen gewesen sind, so hätte ich gern glauben mögen, ein dünner Muskel habe in ihnen sich bewegen und hervorgehen können, um so mehr, da die Leptaenen am Schnabel geschlossen sind, statt dafs bei Terebrateln und Spirifer dort aus einer Öffnung ein Befestigungsmuskel hervorkommt. Man hätte glauben können, dieser Muskel habe sich in den Röhren der Leptaenen in viele kleinere zertheilt; Herr Valenciennes hat beobachtet (Lamarck Anim. sans vert. 6,245.), dafs der Muskel der Terebrateln sich an seinem Ende in einer grofsen Menge von Fibern, wie ein Bissus, vertheilt, um zur Befestigung zu dienen. Man hätte sich vorstellen können, dafs eine solche Zertheilung schon in den Röhren vorgehe. Allein die Muskeln oder andere Theile der Muschel haben nicht das Vermögen, Kalkspath abzuscheiden; nur der Mantel allein. Es mufs also in den Röhren eine Fortsetzung des Mantels befindlich sein, weil sie mit der Muschel fortwachsen. Vielleicht geht noch eine dünne Faser durch diese röhrenförmige Fortsetzung. Die Röhren, welche einzeln auf der Platte Fig. 1. liegen, sind sehr grofs im Verhältnifs zu denen, welche man noch an den Muscheln festsitzen sieht, und eine so grofse Muschel, als zu solchen Röhren nothwendig gewe- sen wäre, findet sich nicht.‘ — Aufserdem haben die noch festsitzenden fast jederzeit ihre äufsere Schaale verloren, auf den gröfsern dagegen ist sie in einer ansehnlichen Länge sehr wohl erhalten. Dennoch kann man kaum 56 ve uButac H zweifeln, dafs sie nicht eine gleiche Bestimmung gehabt haben, denn zu deutlich sind ganz ähnliche Ringe auf Nr.5. und Nr.9. und selbst auf Nr.3. — Sie finden sich auch immer nur dort, wo Leptaenen vorkommen, nicht blofs in den Stücken der mecklenburgischen und pommerschen Felder, sondern auch in Schweden und in Sachsen. — Sie haben die Aufmerksamkeit der Conchiologen schon längst auf sich gezogen, ohne dafs es diesen geglückt wäre, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was es wohl sein könne. Man nannte sie ‚‚Tubuliten’' und hielt sie für die Wohnung eines eigenthüm- lichen Thieres, wie die Dentaliten sind. Walch beschrieb und zeichnete sie zuerst 1775 (Naturf. VII, 211.), gerade eben dieselben, als die auf der Platte Fig. 4., in Kalksteinen auf mecklenburger Feldern, bei Gnoyen, gesammelt. Andere hatte er aus der Ukermark von Suckow erhalten, andere von Neu- Ruppin; andere waren ihm aus Thüringen bekannt, in welchen die Ringe nicht rechtwinklich, sondern schief über der Röhre lagen. — Diese letztere bestimmte Hr. v. Schlottheim fast ein halbes Jahrhundert später etwas genauer. Sie waren von Ober-Wiederstedt und fanden sich mit Über- resten von Trilobiten und Anomien, wohl von Leptaenen, vereinigt. Hr. v. Schlottheim nannte sie ‚‚Tentaculiten’’, und bemerkt, dafs sie das An- sehn eines zum Einschieben eingerichteten Fernrohrs hätten. Dieses Ansehn erhalten sie doch nur, wenn die Ringe abgerieben sind. Nr. ı2. ist den Schlottheim’schen Figuren ganz ähnlich, und doch von Nr.2. nicht verschie- den. Andere besafs Hr. v. Schlottheim von Gothland, eben die, welche Hisinger dort mit Leptaenen gefunden, und welche wahrscheinlich diesel- ben sind, die ich eben beschrieben habe. Er nennt sie Producta depressa Sow., mit welcher sie wohl einige Ähnlichkeit hat (Stockholms Vetensk. Handl. for 1826.). Endlich sollen sie auch bei der Schalke am Harze vor- kommen, und hier, vermuthet Hr. v. Schlottheim, könnten sie wohl Kro- nentheile des Einerinites epithonius sein. Eben dieses glaubt Hr. Goldfufs in Bonn, und beweist es zum Wenigsten von denen, welche in der Eifel vor- kommen, ganz deutlich. Ihm zufolge sind es Arme des Hauptstamms der Encriniten. Ob aber die schwedische und die mecklenburgische nicht von anderer Natur sein sollten? dor Gewifs ist es, dafs diese Röhren eben so. auszeichnend für .die ver- schiedene Arten von Leptaenen werden, als es’ die. Echinitstacheln für: die Echiniten sind. Diese würde man, ohne die sehr abweichende und doch in über die Siicification organischer Körper u.s.w. 57 derselben Art sehr beständigen Form der Stacheln schwer von einander unterscheiden können. Die Verschiedenheiten der Leptaenen werden aber auch nicht allein durch Form der Röhren, sondern auch durch ihre Menge und Lage bestimmt. Dies haben bisher freilich weder Martin noch Sow- erby oder Dallmann .erkannt; allein man wird sich davon leicht über- zeugen, wenn man die, in so unglaublicher Menge am Fufse des Thüringer Waldes, dann wieder bei Büdingen in der Wetterau vorkommenden Lep- taenen untersucht. Hier steht nicht blofs eine Reihe von Röhren auf der gröfseren Schaale, sondern auch eine andere am Rande der unteren flachen, gewöhnlich in das Innere der Muschel eingedrückten Schaale, fünf auf jeder Seite. Nur die letzteren stehen in einer Reihe hintereinander; die von der gröfseren Schaale ziehen sich von der Spitze des Schnabels weg in einer Bogenlinie, bis zur äufsersten Ecke des Schlofsrandes. Aufserdem stehen noch sechs andere in doppelter Reihe auf der Schärfe des eingekerbten Rückens bis zum Rande der Schaale. Diese Rückenröhren sind mit einan- der durch eine sehr hervorspringende und hohle Falte des Mantels verbun- den. Sie selbst zeigen in ihrem Profil alle Lamellen der Schaale und dann noch eine Höhlung, die tief in das Innere dringt. Sie sind daher bestän- dige, und mit der Muschel immer fortwachsende Theile. — Wie sehr un- terscheiden hier nicht schon die Menge und die Lage der Röhren diese und die Mecklenburger Leptaenen? und eben wieder durch diese Röhren wird man völlig überzeugt, dafs es die, von Sowerby S.319. abgebildete und Producta horrida genannte Art sei. Die Mecklenburger Zeptaena findet sich mit einem Trilobiten verei- nigt, welches offenbar Asaphus erassicauda ist, den Dallmann in seiner trefllichen Abhandlung über Palacader weitläuftig beschrieben, und (Taf.V. Fig. 2.) schön abgebildet hat. Ohnerachtet wahrscheinlich eine Ribbe und der Kopf fehlen, so geht es doch deutlich hervor, aus der Zahl der Ribben, noch sind acht gut zu erkennen, aus ihrer doppelten Biegung und Auseinan- dertreten am Rande, aus dem breiten Schwanz, auf welchen die Ribben sich nicht fortsetzen, aus seiner halbzirkelförmigen Gestalt, aus der Gleich- heit seiner Gröfse mit der des Ribbenschildes, und aus dem noch breiteren Kopf, dessen sehr sichtbarer Eindruck hierüber, keinen Zweifel zuläfst. Doch läfst das Stück noch einige andere Eigenheiten bemerken, welche Dallmann nicht anführt. Am Schwanz fehlt ein Stück; dadurch ist es Phys. Klasse 1828. H 58 ve BIUKchE möglich zu sehen, dafs dieses Schwanzschild nicht einfach ist, sondern aus zwei auf einander liegenden Lamellen besteht, welche von einander abste- hen und eine Höhlung einschliefsen, deren Stärke die der Lamellen noch um das Doppelte übertrifft. Die ganze Dicke des Schildes beträgt 0,3 Par. Lin.; die der Lamelle daher ungefähr 0,08 Linien. Äufserlich braust die Masse des Schildes sehr stark mit Säuren, und ist ganz kalkartig. Innerlich braust sie nicht. Wären es Chalcedontropfen, welche die innere Fläche bedecken, so würde ich überzeugt sein, dafs in der Höhlung zwischen den Lamellen Muskeln verbreitet waren; es scheinen doch mehr kleine mecha- nisch eingedrungene Sandkörner zu sein. Demohnerachtet wird man bei dem Anblick dieser Höhlung immer sehr zu zweifeln geneigt sein, dafs unter dem Schilde noch etwas Thierisches solle gelegen haben, von dem übrigens auch nicht die Spur zu sehen ist. Die Länge des Schwanzes ist 4,7 Linien. Es verhält sich also die Dicke zur Länge, wie 1:16 beinahe. Der Name crassicauda ist nicht aus Betrachtung dieses Verhältnisses entstanden. Die ganze Länge des Thieres würde, mit dem Kopfe, 13,1 Linien gewesen sein; von der Gröfse, wie sie in Schweden die gewöhnlichste ist. Diese von Wahlenberg zuerst unterschiedene Art, ist bisher aufser dem Norden noch nicht gefunden worden. Sie ist, nach Dallmann am Osmundsberg in Dalecarlien noch selten; allein in Ostgothland bei Hus- byfiölso gemein, dafs man sie, nach Ssaphus expansus, wohl die am häu- figsten vorkommende Art nennen kann. Weiter findet sie sich auch auf der Insel Oeland bei Böela und endlich auch im Transitionskalkstein bei Christiania, von woher sie Hr. v. Schlottheim als Zrxobites Esmarkü beschrieben und abgebildet hat, in Isis 1827. III. 315. Nicht ohne Befriedigung kann man sehen, wie die genauere Aufmerk- samkeit auf Versteinerungen und Gebirgsarten, welche über die Baltischen Niederung Problems immer näher führt, das uns die Erscheinung dieser Zerstreuung en zerstreut liegen, uns der Lösung des grofsen und wunderbaren darbietet. Seit dem Jahre 1775 hatte ein, jetzt nicht mehr gekannter Haupt- mann v. Arenswaldt behauptet (Naturforscher V. 147.) und wohl wahr- scheinlich er zuerst; dafs alle diese Massen von Schweden südwärts geführt worden, und ganz bestimmt setzt er noch hinzu, aus dem Gothischen Reiche. Denn weder in Mecklenburg noch in Pommern finden sich Fel- sen, welche sie geliefert haben könnten, und in Schlesien und Sachsen über die Silicification organischer Körper u.s.w. 59 würden Mecklenburgische Versteinerungen eben so fremd sein, als Berg- erystalle und andere durchsichtige Steinarten in Mecklenburg. Es ist sehr glaublich, dafs die Untersuchung der organischen Formen uns ihre ursprüng- lichen Fundorte noch viel genauer angeben wird, dafs man daraus einzelne Local-Richtungen und somit auch ihre Ursachen würde auffinden können. Jeder Schritt aber zur Enthüllung eines solchen Problems, ist ein Fortschritt in der Erkennung der Gesetze, welche die Bildung der ganzen Oberfläche der Erde bestimmt haben. ———e III en 1 - j ER MET "ie ande OBEN RR? si erh re et rs. BUBUTT ECT, ahriguniesiässst ut, eh FRI: merrs yiru srıber ben ill ee a oT ee ea Anl sillhilg ae er nie Anl er jpn ungam sang letr dass areas ya ie Nail akeiln Aber ererd ni rum Yen SEE TI, sur ntlE-tasod Hs, mia el mal vl Bödelz au ywalld) ir) m ad Niro aha ern geil ih Sala ‚sah ah en FE ” R je ‘ ne ig: sahen A nos [be re) = . - . EZ ul ij . “ Über zwei neue Arten von Cassidarien in den Tertıair - Schichten von Mecklenburg. Von Eu Won B UÜ:.C’H.: 277 [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 6. December 1830.] De oft wiederholte Erfahrung hat hinreichend gezeigt, dafs eine Beschrei- bung natürlicher Körper, sei sie auch so vollkommen als möglich, doch nie eine Abbildung ersetzen könne. Sehr oft hat man schon, nach Beschreibun- gen, für identisch gehalten, was eine mittelmäfsige Abbildung doch sogleich als verschieden angab. Die Ursache liegt darinnen, wie das sogleich ein- leuchtend ist, dafs eine Beschreibung das Bild der Sache nie unmittelbar giebt, sondern dafs die Einbildungskraft sich dieses Bild erst successiv aus den einzelnen Theilen zusammensetzen mufs, welches nur unvollkommen gelingen kann. Es ist dagegen wieder tadelnswürdig, wenn man glaubt eine gute Abbildung mache die Beschreibung entbehrlich, wie dies wirklich häu- fig geschieht. Die Abbildung kann nur eine Fläche darstellen, die Beschrei- bung dagegen kann vereinen, was auf allen Flächen vorkommt; dazu kommt dafs die Aufmerksamkeit durch die Beschreibung auf wichtige Kennzeichen geleitet werden kann, welche durch das Bild allein wenig auffallen würden. Deshalb sollte man jede Abbildung eines noch nicht gezeichneten na- türlichen Körpers als einen Gewinn ansehen. Es ist der Grund, warum ich die hier beigefügten Zeichnungen zweier neuen Arten von Cassidarien habe anfertigen lassen. — Ich werde sie kürzlich beschreiben. I. CASSIDARIA DEPRESSA. Tab. IV. Fig. 5. 6.7. Sie ist höchst ausgezeichnet durch ihre Breite, und durch die ganz niedrige, einer Pyrula ähnlichen Spitze. 62 v. Bucu über zwei neue Arten von Cassidarien Sechs Windungen. Fünf Reihen von Warzen (varices) laufen über der bauchigen Seite bis zur Kante (carina) der Windung, wie dieses bei der ganzen Abtheilung der Canaliferen gewöhnlich ist. Von dieser Kante bis zur Sutur steht die Seite fast rechtwinklig auf der Axe, so dafs, wenn die Muschel auf die Spitze gestellt wird, die Windungen fast söhlige Treppen- absätze bilden. Hiedurch eben erscheint die Spitze so niedrig, weil der Theil von der carina zur Sutur nichts zu ihrer Erhebung beiträgt, wie bei anderen Muscheln ähnlicher Art. Zwischen der Kante und der Sutur befin- det sich noch eine Reihe niedriger Warzen, nicht völlig in der Hälfte dieses Raumes. Funfzehn Warzen stehen auf jeder Reihe in einem Umgang. Die Querstreifen, dem Umgang gleichlaufend, zwischen den Warzen, sind etwas breit, sieben von der Kante bis zur inneren Warzenreihe, vierzehn von die- ser bis zur Sutur. An der Sutur selbst findet sich ein etwas erhöheter Rand. Zehn Querstreifen ziehen sich von der Warzenreihe auf der Kante bis zur zweiten Reihe, welches die höchste ist und aus den gröfsten Warzen besteht. Von diesen zehn Querstreifen bleiben, auf den inneren Windungen, nur sechs unbedeckt, woraus folgt, dafs man in diesen Windungen nur allein die Warzenreihe auf der Kante unbedeckt sehen kann. Zehn Querstreifen finden sich auch ohngefähr zwischen jeder anderen Warzenreihe. Der Co- lumellrand ist über fünf Warzen zurückgeschlagen, daher fast über ein Drit- theil des Umganges. Er ist unten granulirt. Die ganz verkieste Öffnung ist dadurch verändert, daher ist der Rand des Labrum nicht zu beobachten. Auch die Spitze des Canals ist abgebrochen, jedoch noch so weit zurückge- bogen, dafs daraus hervorgeht, dafs dieser Canal einer Cassidaria, nicht ei- ner Cassis gehöre. — Die ganze Breite, oder der Durchmesser des letzten Umganges der Muschel verhält sich zu ihrer Länge wie 9 zu 10, die Spitze zur Länge wie 1 zu 5. Diese Cassidaria ist im Besitz des Leibmedicus Brückner zu Lud- wigslust. Man hat sie in den Thongruben von Konow gefunden, zwi- schen Ludwigslust und Dömitz, mit folgenden Muscheln zusammen: Preruscurvs purvinarus in grofser Menge und dick aufeinander. Sie scheinen hier weit häufiger, als in anderen Gegenden von Mecklen- burg. Crruerea, mit deutlichem Schlofs, aber zu eingewachsen, um die Art senauer bestimmen zu können. in den Tertiair- Schichten von Mecklenbure. 63 Narıca ErrGLotTıs in Menge. NUcCULA LAEVIGATA. Nvcura perroımea. Lamarck Annal. IX. tab. 18. fig.5. Die Gleich- heit ist kaum zu bezweifeln. Die Natesseite (/unula) ist scharf, und senkrecht auf die Seite der Schaale abgebogen, ganz eben, nicht gewölbt; die ganze Schaale ist eng, concentrisch schaalig. Die senkrechte, den Arcaceen eigenthümliche Längsstreifung tritt unter den concentrischen Streifen hervor und bildet das gegitterte der Lamarckschen Figur. Vesvs pysera. Brocchi tab. XVI. fig. 8. VExericArpıum, schr zierlich, klein; mit vierzehn gekörnten Längenstrei- fen. Auf den mittleren Ribben stehen 22 Körner bis zu den Nates. I. CASSIDARIA CANCELLATA. Tab. IV. Fig. 1. 2.3. 4. Die Muschel hat durch fast gleiche Höhe der zahlreich sich durch- kreuzenden Längs- und Querstreifen, ein ausgezeichnet gegittertes Anschn. Sie hat sechs Windungen. Es finden sich auf der letzten Windung 22 Längs- streifen, welche sich zu Warzen erheben, da, wo sie Querstreifen durch- setzen. Doch ist die Warze des folgenden Querstreilen nicht immer die Fortsetzung der vorigen. Auf dem ersten Drittheil des Zabrum, von der Seite der Spitze her, bilden die’ Querstreifen eine stumpfe Kante (carina) auf welcher sich die höchsten Warzen befinden. Von hier bis zu — gegen die Sutur erscheint noch eine kleinere Warzenreihe, und eine dritte ganz kleine an der Sutur selbst. Sieben Querstreifen bilden die carina. Zehn solcher Streifen füllen den Raum bis zum mittleren Warzenring, unter ihnen sind drei gröfsere. Dann sind noch bis zur Sutur 12 feine, 6 grölsere Quer- streifen. Die Warzenringe setzen auf der Windung fort, bis zum unteren Canal, ohne die gewöhnlichen fünf Ringe besonders bemerklich zu machen; abwechselnd mit Ringen oder Querstreifen ohne Warzen, stets an Gröfse abnehmend. Funfzehn solcher Querstreifen zählt man von der carina bis zum Anfang des Canals, 28 mit den ganz feinen dazwischen. Diese feinen Streifen werden erst nach dem fünften gröfseren, vom Canal herauf, sicht- bar. Der Wulst des Canals ist unten auf der col/umella sichtbar, und zieht sich in das Innere. Unterhalb diesem erscheinen noch zwei andere Colu- mellfalten. Der Columellrand ist dünn, so sehr dafs er die Streifen durch- 64 v. Buch über zwei neue Arten von Cassidarien schen läfst. Das Zabrum ist auf dem Rande zurückgeschlagen und innen cerenelirt und gestreift. Die Breite der Muschel verhält sich zur Länge von der Spitze bis zum Anfang des Canals, wie 2 zu 3, die Spitze zur Länge wie 1 zu 35. Es ist auffallend, dafs diese Cassidaria noch nie gezeichnet oder ge- hörig beschrieben worden ist. Sie ist doch in Mecklenburg recht häufig, nicht blofs in den Muschelstücken, welche in der Gegend von Sternberg vorkommen, und unter dem Namen der Sternberger Kuchen bekannt sind, sondern auch in allen Mergelgruben bis nach Schwerin und in der Umge- bung des Schweriner Sees. Wahrscheinlich führt sie Hr. von Schlott- heim in seiner Petrefactenkunde (p. 121.) unter dem Namen Bullacites no- dulosus auf, doch ohne Beschreibung. Auch bei Dömitz findet sie sich, im Dach der dort bebaueten Braunkohlen. Hr. Friedrich Hoffmann meint diese wenn er in seinen Bemerkungen über Mecklenburger Formatio- nen (Pogg. Annal. XII. 120.) von einem Buccinus mit cancellariaartiger Streifung redet. In der That sind die meisten Stücke so eingewachsen, dafs man gewöhnlich nur wenig von der bauchigen, gegitterten Windung hervor- treten sieht. Der lange Canal ist nur selten erhalten oder zu sehen, daher erkennt man die wahre Natur dieser Stücke nur, wenn ein glücklicher Zu- fall ein vollständiges Exemplar dem Beobachter vor Augen gebracht hat. Man ist sehr überrascht, wenn man die Liste der Muscheln, mit wel- cher die Cancellaria vorkommt, mit der Liste der Tertiair- Muscheln an- derer Gegenden vergleicht. Offenbar findet man in Mecklenburg von sol- chen, welche in der Art den subappenninischen, aus den Hügeln von Parma nicht blofs analog, sondern ihnen wirklich völlig identisch sind, viel mehr, als von solchen, welche englischen oder denen in Pariser Formationen glei- chen. Da die sehr vollständigen Beobachtungen des Prof. Eichwaldt in Willna und die Untersuchungen des Hrn. Friedrich Dubois (Karsten Archiv II. 1.) gelehrt haben, wie die Podolischen und Volhynischen Hügel eine grofse Menge subappenninischer Muscheln enthalten, da man sie auch in Schlesien und bei Wien in Tertiair- Schichten gefunden hat, so sieht man, wie Mecklenburg in Hinsicht dieser Producte mit der Lombardei in unmittelbarer Verbindung steht, und wie diese hier erst anfangen sich mit englischen oder französischen Muscheln der Tertiair-Schichten zu ver- mengen. ın den Tertiair- Schichten von Mecklenburg. 65 Man wird dies immer besser und genauer einsehen, je vollständiger die Cataloge der Mecklenburger Muscheln entworfen sein werden. Darinnen ist aber noch sehr viel zu thun; denn kaum kann man sagen, dafs diese Aufzeichnung nur angefangen worden sei. Das wenige, was mit der Cas- sidaria vorkommt, werde ich in der Kürze und so genau als möglich anzu- führen versuchen. PecrtuscuLvs purviyarus. Sonderbar ist es, dafs so häufig auch diese Muschel bei Konow unweit Ludwigslust sein mag, doch bei Stern- berg oder Schwerin dieselbe nur selten vorzukommen scheint. Die Formation ist doch im Allgemeinen wahrscheinlich dieselbe, wie die der Muscheln von Grignon oder des Pariser Grobkalkes. NArTIcA ErIGLOTTIS ist sehr häufig. Nucura rostrara Lam. eben so häufig, mit sehr lang vorgestreckter und dünn ablaufender einen Seite. Die Lunulaseite verhält sich zu der des Schnabels, wie 2 zu 3. Die Falte auf der Seite, der Falte der Tellina ähnlich, ist auffallend. NucuLa LAEVIGATA und DELTOIDEA, in Sternberger Kuchen sehr gemein. Prevnoroma monıtıs Brocchi Tab.VIII. fig. 15. häufig und zugleich mit Prevroroma osLoxca Brocchi Tab.VIH. fig. 5. in mehreren Varietäten. Eilf wenig abfallende Windungen, daher ist das Ganze thurmför- mig und wenig conisch. Zwölf Querstreifen bleiben unbedeckt bis zum Sinus; von da bis zur Sutur finden sich noch 17 Querstrei- fen. Ungefähr zehn Längsfalten in einer Windung; sie sind wenig erhöht, auch findet sich kaum eine Kante auf der Höhe der Win- dung oder Warzen im Umfange. Durch diesen Mangel an Warzen und vorstehender carina ist diese Pleurotoma besonders ausgezeich- net. Nur in der Hälfte der Windung ist eine leichte Depression, und von hier geht der Rest, weniger gewölbt, beinahe flach bis zur Sutur. Die Sutur ist nahe anliegend, weder erhoben, noch vertieft. Die Breite verhält sich zur Länge bis zum Anfang der Mundöffnung wie 1 zu 2,. Prevroroma pusturata Brocchi Tab.IX. fig. 95. Nicht selten mit den vorigen; vorzüglich mit Pleurotoma monilis. Zierlich granulös. Neun oder zehn Windungen. Zwölf Längsfalten, welche durch starke Querstreifen granulös zertheilt sind. Von den unbedeckten Phys. Klasse 1828. I v. Buch über zwei neue Arten von Cassidarien bildet der 6“ Querstreif einen erhöheten Ring von Warzen. An der Sutur befindet sich noch ein kleinerer Warzenring. Er ist der 5“, Zwischen dem 6“ und diesem 8'“ bilden die Längsfalten ei- nen Winkel mit ihrer vorigen Richtung, und bezeichnen damit den, dem Geschlecht eigenthümlichen Sinus. Keine carina auf der Win- dung. Brocchi redet von feinen Querstreifen; auf den Mecklen- burger Stücken sind sie nicht fein. Turrıterta trıcarınara Brocchi Tab.VI. fig. 21. gar oft zwischen den Vorigen. Zwischen den erhöheten drei Streifen geht noch jeder- zeit ein feinerer, und von dem letzten erhöheten bis zur Sutur fin- den sich noch zwei feinere Streifen. Fusus runıcurarus Lam. Annales du Musee pl.46.fig.5. Neun Win- dungen. 14 abgerundete Längsstreifen in einer Windung. 61 feine 8 8 8 ö Querstreifen, von welchen 20 auf den Windungen unbedeckt blei- ben. RosTELLARIA PES canzonıs. Brogniart Vicentin Tab.IV. fig.2. Fr. Hoffmann, Pogg. Annal. XII. 119. ungemein häufig. Sie ist es doch nicht, weder in den Schichten von England oder von Frank- reich. Eilf Windungen, Breite zur Länge von der Spitze bis zum nächsten oder oberen Mundwinkel wie 3 zu 5. 22 Längsstreifen, welche nur an der unteren letzten Windung sich zu undeutlichen Warzen erheben. Daher findet sich auch keine Kante oder carina, sondern die Windungen sind bauchig. Von den Querstreifen blei- ben 22 auf den Windungen unbedeckt. Auf der ersten Windung zählt man 42 Querstreifen, schmale und breite abwechselnd von der Sutur bis zum zweiten Rande, welcher in den oberen Stachel des Flügels ausläuft. Fusus aLveorarus. Sowerby Tab. 525. Die Zeichnung der Sowerby- schen Tafel scheint vom Sternberger Stück selbst. ,,‚Zwei spirale, stumpfe Carinen auf den Windungen, welche von dicken Falten durchsetzt werden.’’ Der Schnabel halb eylindrisch, gereift. Es sind wohl drei carinae auf der letzten Windung, welche Sowerby’s Zeichnung auch angiebt, allein die unterste liegt an der Sutur und bildet einen schwachen Ring; sie fällt nicht auf, wie die beiden anderen. 15 bis 16 Längsfalten in einer Windung. Sie machen, in den Tertiair- Schichten von Mecklenburg. 67 von der oberen carina weg, eine starke Biegung gegen die Mündung zu, einer Pleurotoma ähnlich, so dafs sie sich, nicht senkrecht, sondern in stumpfen Winkel auf der Sutur absetzen. Aufser den drei Querstreifen, welche die carina bilden, befindet sich noch ein tieferer, welcher wie eine Buccinusfalte am Mundwinkel tief in das Innere eindringt; und noch ein anderer am Anfang des Schnabels. Zwischen den Carinastreifen sind nur schwache Querstreifen, von denen doch einer zwischen jeder carina stärker ist, als die übrigen. Aus den Mergelgruben bei Augustenhoff unweit Sternberg. Die englische ist aus Suffolk Crag, welches eine höhere For- mation wäre, als die subappenninische oder die von Grignon sein würde. Ranerta cıcantEA (Murex reticolaris L.) Brocchi U. 402. n.19. Sie kommt ganz genau überein mit denen von Castel Arquato. Zwölf Warzen in einer Windung. Fünf Querreifen, wie bei allen Ca- naliferen, von welchen drei unbedeckt bleiben. Die Sutur ist an- liegend. Von den Mergelgruben von Augustenhoff. Corsura rorunpara Sowerby Tab.572. sehr klein, sehr gestreift, sehr bombirt und durch die, auf den Nates senkrechten dicken Zähne sehr kenntlich. Häufig mit Turritellen und Pleurotomen. Schwe- riner See und Sternberg. Macrtra rrıcona Brocchi Tab. XIN. fig.7. nicht selten. Die Lateral- zähne sind in der Quere gestreift. Der Eindruck des Fufses auf dem Mantel ist klein und rund; er läuft horizontal unter dem Mus- culareindruck ab. TerLısa paterrarıs Lam. Annales du Musee Tab. XI. pl. 41. fig.9. eine schöne, grofse Muschel; 20 Linien breit, 12 lang; daher verhält sich die Länge zur Breite, wie 2 zu 3. Die Nates stehen fast in der Mitte der Seite. Die beiden Enden der Schlofsseite vereinigen sich am Schlofs unter einem Winkel von 135°. Der Eindruck des Fufses in der Schaale, ist wie bei alien Tellinen, sehr grofs, steigt vom oberen Rande des Musculareindrucks weg, . mit spitzem Win- kel gegen das Schlofs, dann bis weit über die Mitte der Schaale gegen den, gegenüberstehenden Musculareindruck hin, und läuft dann wieder zurück, um sich, in äufserst spitzem Winkel mit dem 12 68 v. Bucn über zwei neue Arten von Cassidarien u.s.w. Rand des Manteleindrucks zu verbinden. Das Schlofs ist selten sichtbar. In grauem, glimmrigen Sandstein von Konow. Nicht selten. PECcTEN PLEURONECTES. Encyclop. 208. fig. 67 Pecten strıatus Sow. Bis 64 Längsstreifen, über welche sehr feine Querstreifen hinlaufen. Die Breite ist — der Länge. Die Ohren sind senkrecht gestreift. Burza ovunara. Lam. Annal. Tab.VIO. pl. 59. fig. 2. zugleich mit DexTALıUm ELEPHANTINUM und DenTtauıum ıncurvum. Hr. von Schlottheim nennt, aufser diesen, in seiner Petrefacten- kunde noch folgende Muscheln von Sternberg und Ludwigslust, welche ich nicht gesehen habe. Prrura erecans. Lam. Annal. I. pl. 46. fig. 10. Teresra ericara. Lam. ].c. pl. 44. fig. 13. Typus rusırer (Muricites fistulatus). PLevroroma miıtrarrormms. Brocchi Tab.VHl. fig. 20. Sie soll auch in Schlesien vorkommen. Es verdient einige Beachtung, dafs aus diesen Schichten noch niemals ein Cerithium gesehen, oder beschrieben worden ist. >27 223 E 22225 Erklärung der Kupfertafeln ı) Zur Abhandlung: über die Silicification organischer Körper nebst einigen anderen Bemerkungen über wenig bekannte Versteinerungen. Pah. . 1. Eine halb silicifirte gryphaea columba von Castellane. Basses Al- pes-. . Eine fast gänzlich silieifirte gryphaea secunda vom Voirons bei Gent. .3. Eine gänzlich zu Chalcedon veränderte Auster von Mecklenburg. Der innenliegende Körper ist Feuerstein, und könnte leicht das Thier [86] selbst gewesen sein. ig. 4. Eine Auster aus Mecklenburg, von welcher an vielen Stellen die weilse kalkartige Lamelle durch darunter hervortretende kleine war- zenförmige Kieselsysteme weggesprengt worden ist. Rabe Il: . 1. Zwei mit Kieselhydrat- (Chalcedon) Systemen bedeckte, und dadurch gänzlich verkieselte Stücke von gryphaea columba von Castellane. g. 2. Eine Auster aus Mecklenburg; oberer Theil der Schaale, der gröfstentheils unverändert erhalten ist; einzelne Kieselsysteme treten darunter hervor, und stolsen die Schaale ab. Am Rande dringen diese Systeme von innen heraus, und bilden dicke Wellen und Zacken. .3. Dieselbe Auster von innen. Alles ist verkieselt, und noch sind die kleinen Systeme deutlich, welche sich mit einander verbunden und sich gegenseitig in ihrer Ausdehnung beschränkt haben. . 4. Gryphaea columba von Castellane mit einer besonders grofsen und ausgedehnten Kieselwarze darauf. Tab. IH, . 1. Eine Versteinerungsplatte von den Feldern bei Güstrow in Meck- lenburg, wahrscheinlich ursprünglich aus dem südlichen Schweden. Es sind auf der Zeichnung nur einige der Versteinerungen angedeutet, aus welchen sie besteht, die zur Erläuterung der übrigen vorgestell- ten dienen. In natürlicher Gröfse. Um das Stück her sind mehrere der abgebildeten Muscheln vergröfsert vorgestellt und mit denselben Zahlen bezeichnet. 70 [SS] 6.u.11. SI v. Buca: . Leptaena (Producta) lata, mit scharfem Rande und völlig erhaltener Schaale, an welcher sogar noch die ursprünglichen Farben zu un- terscheiden sind. Jedes Rudiment der Röhren am Rande hebt die Schaale auf, und bildet eine concentrische Falte. . Eine vollständige Röhre dieser Zeptaena. An der Spitze ist die Schaale beschädigt und zeigt den innern silicifirten Kern. . Eine innere Schaale der Zeptaena mit sichtbarem Dissepiment, um- gebogenem Rande und mit deutlichen Öffnungen unter diesem Rande, welche sich in den Röhren fortsetzen. An den Resten der Röhren sind Ringe bemerkbar, welches wahrscheinlich Anwachs- wulste sind. . Röhrenbruchstück, an welchem die innere Höhlung zu sehen ist. . Bruchstück einer Röhre, mit der vorliegenden inneren Schaale ei- ner jungen Zeptaena, an welcher die drei Höhlungen besonders hervortreten, welche die junge Brut dieser Muschel stets auszeich- net, die mittlere, und die beiden Seitenhöhlen, welche von der mittleren durch die beiden, allen Brachiopoden gemeinschaftlichen zwei divergirenden Ribben der kleineren (unteren) Schaale geschie- den werden. . Bruchstück einer Zeptaena mit ansitzenden Röhren, welche noch die Ringe erhalten haben, und an der Spitze hohl scheinen. Auch im Innern der Schaale sind unter dem Rande die Öffnungen der Röhren sehr deutlich. Verschiedene Bruchstücke von Röhren, welche die glatte, innere Höhlung zeigen. Sie sind auf der Rückseite der Platte noch deut- licher. . Eine am Rande einer Modiola aufsteigende Zeptaena, wodurch beide Schaalen sichtbar werden; ein seltener Fall, da gewöhnlich die flache untere Schaale verloren geht. . Encrinitenglied auf dem Rücken einer Modiola, wahrscheinlich von der Art, welche in Hisinger, Gothlands geog. Beschr. Tab. VI. fig.3. abgebildet ist. . Bruchstück einer Zeptaena mit der letzten Röhre vollständig. Sie ist nach oben kolbenförmig gebildet. Die unveränderte Schaale be- deckt eine Hälfte des inneren silicifirten Thieres. Erklärung der Kupfertafeln. 74 10. Encrinitenstiel von mehreren vereinigten Gliedern. 11. vid. 6. 12. Bruchstück einer Röhre, an welcher die Ringe abgerieben sind, wodurch sie, Schlottheims Tentaculiten gleich, den ausgeschobenen Gliedern eines Fernrohrs ähnlich werden. 13. Röhren von Innen. Von der Rückseite der Platte. Die weilse kalkartige Schaale umgiebt sie. Das Innere ist ein brauner silicifirter Kern. 14.u.15. Junge Brut von Zeptaena, so wie sie wahrscheinlich aus der Mutierschaale hervorkommt, und so wie sie vorzüglich auf der Rückseite der Platte zu Tausenden liegen. Am unteren Rande sind zuweilen Streifen des Mantels bemerklich. Kleine Patella. Die Rückseite der Platte zeigt diese Patella von der inneren Seite grölser und schöner. 17. Turritella. Jederzeit nur das Innere silieifirt, ohne Schaale oder Mundöffnung. Sie ist auf der Platte nicht selten, in verschiedener Gröfse. 18. Grofse Modiola. Auch an anderen Stellen erscheinen ähn- 16 liche wieder. 19. Venericardia. Die Längsstreifen am Rande sind bei einigen gut erhalten. 20. Calamopora fibrosa mit Ästen. Eine Leptaena steigt daran herauf, mit ansitzender Röhre. Fig. 2. Eine wiederhergestellte vollständige Zeptaena lata, in ausgewachse- nem Zustande. Sehr vergröfsert. 2) Zur Abhandlung: Über zwei neue Arten von Cassidarien in den Tertiair-Schichten von Mecklenburg. Tab..Iv. Fig. 1.2.3. Cassidaria cancellata. Drei verschiedene Ansichten. Von Stern- berg in Mecklenburg. Fig. 4. Cassidaria cancellata eingewachsen, mit erhaltenem Canal. Fig. 5.6.7. Cassidaria depressa. Drei verschiedene Ansichten. Von Ko- now bei Ludwigslust. ur 1 LO 000 = . 2 nn 2 . ‘ 14 7 "u EA IEEE Br) u i \ Er, > 4 | Z AOTTTH UL * R N ; . j TER ZER TIER Ber Bin B 5 it i ri u “ . a Mm, 2 Tu \ uf °f PER nö my Fr 1 ar ". ch u \ - ’ } . ° D2 H HERUETEZER B Ta sü u ale EN DD z on! ' h DISAR, Kr UN ae r nee I uyı in ei sie . Er BE ! I ER EZ yR nee v Hr ya) Tas TERTE R dus i EL ME 4 u . . - bar) Eee Er UN , a St . " P De - \ — Ze . : Yan, 1a tele Ar . Himaeln Rn PET DuÄN a j 5 + ’ u Bo . 2 na: ZenE NEHME = Br er ae u Eee 7 Bu aa 5 . LE 1. 0 zw, u 5 = Fand =’ ne Ts . 4. u . ” E Br ml a<9T ve . 4 . . Pa ra en Dur . no‘ Rn ee BE iM 2 2 w we. Zu Dr u! rs Fi Be a u \ Br ‚ . P. w a er 2 . BE ran a 2 Sie. ve . 2 er iu E au EE er BEE FE u . Er wi. a u ne ni 0 | a Pu BT wine” ME a Se zink ee . . Pe ee SEITEN re Ei Dez en ı 7yN Ei ae! UDTELFER, zu A nie i E41 di vu enkarep Eu 1% m ur Zu Hra.von Bachs Abkandlung aber die Tab. 1. Silefekatton organescher Korper. Phys NIa8sse ISQS Zu Hrn von Buchs dohandimng uber dr Tab. Sclerficateon ergartısch@r Korper Ins Bheasse IS2S Zu Ars. von Bucs Ibhamiitung uber dr Tab. IT. SHELL OTGOMESAUR Korper PNNS Klasse IN2S Arm: Die erressinen Nersmern- bezuciemm SUR auf dee, WE GERA Nur" DER RN EL SEHLR ee Fra I 0) r 2 Zu Ars ven Buchs Abhandlung 1a b. ı\ k HT (ASSUÄRT LER AIVINSs Blase ISCH nn Einige Bemerkungen uber die Alpen ın Baıern. von j H®- yon BUCH. anna [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 27. Merz 15253.] D.. glückliche Eifer, mit welchem man seit etwa funfzehn Jahren die Versteinerungskunde bearbeitet, vorzüglich seitdem La Marcks treffliches, im ächt naturhistorischen Geiste abgefafstes conchiologisches Werk diesem Eifer eine schr verständige Richtung gegeben hat, ist der Geognosie von so grofsem Nutzen gewesen, dafs seitdem viele, fast nicht gekannte Formationen deutlich hervorgetreten, und in allen Ländern aufgefunden worden sind. Dadurch ist es geschehen, dafs in Europa nur wenige Gegenden, von nie- deren Gebirgen, in Hinsicht der Formationen welche sie bilden, räthselhaft bleiben. Aber die Alpen stellen sich immer noch dieser Entwickelung hart- näckig entgegen, und so viel auch zur Aufklärung ihrer Natur geschehen ist, so steht es in keinem Verhältnifs mit dem, was noch zur richtigen Kenntnifs dieser Natur fehlt. Diese auffallende Erscheinung wird begreiflich, wenn man ein Profil durch die Alpen mit den Gebirgsdurchschnitten anderer Länder vergleicht; denn schon aus der blofsen Ansicht geht hervor, wie die Schwierigkeit des richtigen Ordnens der Schichten, wie sie auf einander folgen, in so zerstück- tem und verworfenem Gebirge sich häufen und die Untersuchungen erschwe- ren müssen. Diese Schwierigkeit ist noch viel gröfser im östlichen Theile der Alpen, als in Frankreich und in einem Theile der Schweiz; hier zum Wenigsten wiederholen sich dieselben Gebirgsarten auf solche Art, dafs man sie mit einiger Aufmerksamkeit leicht wieder auffinden kann. Der Dolomit ist den französischen Alpen ganz fremd. Allein in Baiern und Tyrol wird man fast bei jedem Durchschnitt in Verlegenheit gesetzt, zu welcher For- mation man die plötzlich eintretenden hohen Dolomitfelsen rechnen solle, Phys. Klasse 1828. K 74 v. Buven: und noch mehr, wenn dann wieder andere Schichten erscheinen, in welchen die organischen Reste nicht deutlich genug sind, um ohne Gefahr des Irr- thums leiten zu können. Dafs der Dolomit sich nicht ursprünglich in der Form gebildet habe, in der wir ihn sehen, sondern eine Veränderung des Kalksteins sei, scheint nur noch denen eine zu gewagte, wenig wahrscheinliche Meinung, welche nicht die Natur an Ort und Stelle beobachtet haben. Ich möchte wohl be- haupten, dafs unsere trefflichsten Geognosten davon überzeugt sind. Was andere dagegen anführen, sind jederzeit nur Schwierigkeiten, welche gröfs- tentheils darauf hinauslaufen, dafs sie den ganzen Procefs nicht klar vor Augen sehen, wie diese Veränderung von ihrem ersten Anfange vor sich ge- gangen sei. Ich glaube auch diesen Verlauf in meinen Aufsätzen über diesen Gegenstand deutlich entwickelt zu haben. Andere wollen, ehe sie die That- sache glauben, den Zustand kennen, in welchem die Talkerde zum Kalk- stein getreten ist; welches ohngefähr den Forderungen derjenigen ähnlich wäre, welche das Dasein von Organen bei Thieren wegläugnen wollten, so lange man nicht weifs, zu welchem Zweck sie dem Thiere gegeben sind. — Viel wichtiger als die Schwierigkeiten dieser Art ist die Betrachtung, dafs oft Dolomitschichten deutlich erkannt werden können, und dafs sie dann ganz regelmäfsig mit Kalksteinschichten darauf, zuweilen auch wohl darunter gelagert sind. Hat sich nun Talkerde mit dem Kalkstein verbunden, so hat ein Gewichtstheil von Kalkerde weichen und sich Auswege suchen müssen, sich zu entfernen, welches in den Schichten noch sichtbar sein sollte. Hat sich dagegen kohlensaure Talkerde unmittelbar mit dem correspondirenden Gewichtstheil kohlensaurer Kalkerde verbunden, wie dies in der That das Wahrscheinlichere zu sein scheint, so mufs die neue Verbindung wenn auch nicht völlig, doch nahe das Doppelte des vorigen Raumes einnehmen, und die Gleichförmigkeit der Schichtung sollte hierbei kaum noch sich erhalten können. Indefs ist es doch gar nicht erwiesen, dafs dies nicht möglich sei. Die Alpen geben überall Beweise genug, wie Alles im Dolomitgebirge auf- gebläht, erhoben und zerstört ist. Daher können auch solche Schichten, welche noch regelmäfsig in ihrer Lagerung zu sein scheinen, doch leicht ei- nen viel gröfseren Raum einnehmen, als vor ihrer Umänderung, und nur eb) deswegen in der vorigen Regelmäfsigkeit beharren, weil diese Umänderung durch die ganze Schicht mit grofser Gleichförmigkeit vor sich gegangen sein 1 Einige Bemerkungen über die Alpen in Baiern. 5 kann. — Dafs in anderen Fällen die Umänderung des Kalkspats in Dolomit eine völlig erwiesene Thatsache ist, hat Herr Haidinger in seiner lehr- reichen Abhandlung von Afterkrystallen (Pogg. XI. 385.) vortrefflich ge- zeigt. Er beschreibt Drusen von ausgezeichneten ungleichschenklichen Py- ramiden von Kalkspath, welche hohl sind und im Innern von unzusammen- hängenden, nicht den Raum erfüllenden Dolomitrhomboedern gebildet wer- den. Diese Rhomboeder folgen nicht blofs der äufsern Form des Kalk- spaths, sondern auch sogar den feinen Sprüngen, welche ehemals im Innern, dem blättrigen Bruche des Kalkspaths gleichlaufend vorhanden waren. Herr Haidinger meint selbst, was in solcher Druse ganz erwiesen ist, könne wohl auch im Grofsen, in Bergen statt gefunden haben, und sieht nur darin eine Schwierigkeit, dafs diese Berge mächtige und plötzliche Umwälzungen verrathen, — bei den Afterkrystallen hingegen es gezeigt werden kann, dafs die Umänderung nur sehr langsam und sehr allmählig geschehen sei, selbst auch nur bei der nächsten Berührung der sich ersetzenden Massen. Mir scheint diese Schwierigkeit nicht bedeutend, was im Kleinen die Zeit, das bewirkt im Grofsen die Masse, und dafs die Berührung der sich erseizenden oder neu zutretenden Substanzen, durch ganze, viele Tausend Fufs hohe Gebirgsmassen wirklich ganz eben so statt gefunden habe, wie auf den fei- nen Zersprengungsklüften eines Kalkspathkrystalls, scheint mir aus der Er- fahrung völlig erwiesen, wie eine unendliche Zerklüftung des Kalksteins der Dolomitbildung jederzeit vorhergehe, die feinen Klüfte aber überall mit mi- croscopischen Dolomitrhomboedern besetzt sind. Die Art, wie man sich Dolomitbildung vorstellt, ist gar keine blofs isolirt stehende Speculation, welche man aus Betrachtung der Gebirgslehre nach Gefallen entfernen kann, ohne dafs hierdurch die Ansicht der Gebirgs- folge, daher das, was man den practischen Nutzen der Geognosie zu nennen pflegt, gestört werden sollte. Ich halte sie im Gegentheil noch immer für einen Führer durch sehr verwickelte Erscheinungen, und glaube dafs die wahre und reine Gebirgsfolge gar nicht entwickelt werden kann, wenn man nicht über die Art der Entstehung des Dolomits sich völlig klare Begriffe ge- bildet hat. . Ich würde sogar nicht abgeneigt sein, eben den Dolomit als ein merkwürdiges Beispiel anzuführen, wie nothwendig es sei, den Ursachen der Erscheinungen nachzuforschen, um nur die wirklich vorhandenen Thatsachen K2 76 v, Bucm: beobachten zu können. Sie gehen, ohne solchen theoretischen Faden, un- serer Aufmerksamkeit unbeachtet, vorüber. In den Bairischen Kalkalpen bildet der Dolomit sehr hohe und mäch- tige Züge, welche sich plötzlich sehr steil, und weit über alle andere Kalk- berge erheben; tiefe Thäler begleiten sie, und überall schroffe Abstürze. Nach einigen Meilen hören sie auf, und neue Reihen erheben sich, zuweilen in der Richtung der Gebirgskette selbst, zuweilen auch in ganz abweichenden Richtungen, sogar gegen die Fläche heraus. Dadurch werden so mannigfal- tige und abweichende Schichtungsrichtungen in den unveränderten Kalk- schichten hervorgebracht, dafs man kaum in einzelnen Bergen untere und obere Schichten von einander unterscheiden, und nicht einmal sicher sein kann, ob Schichten zu beiden Seiten eines nur mäfsig breiten Thales mit einander correspondiren. Will man durch die organischen Producte sich wieder zurecht finden, so gelingt dies selten oder fast gar nicht. Denn im festen Gestein verschwinden sie ganz; nur durch Verwitterung, gröfstentheils durch häufig darüber hinlaufendes Regenwasser treten sie hervor. Der Re- gen führt den Kalkstein mechanisch weg, läfst aber alle Stellen unberührt, sanische Substanz sich durch den Kalkstein fortzieht. Solche 5 Stücke sind nur in Bächen und weit von ihrer ersten Lagerstätte zu finden; in denen eine or daher bleibt man über die Verhältnisse der Schichten in denen sie vorkom- men, ohne Belehrung. Im Dolomit selbst nach Versteinerungen zu suchen ist vergebens. Denn noch wiederhole ich, nach sehr vergröfserter Erfah- rung, dafs alle organische Reste jederzeit im Dolomit verschwinden. Was man noch findet sind Steinkerne, rauh und matt, in denen alle feineren Theile der Schaale nicht mehr hevortreten. Corallen mög ie) halten, man erkennt zuweilen wohl noch ihren ganzen inneren Bau; wenn en sich am längsten er- aber behauptet wird, dafs in einigen Gegenden Dolomitschichten eine gröfsere Menge von Versteinerungen enthalten, als der Kalkstein, mit welchen sie vorkommen, so habe ich Ursache zu glauben, dafs solche Angabe noch wei- terer Bestätigung bedürfe. — Ich habe versucht diese Structurverhältnisse des Bairischen Kalksteingebirges durch ein Profil deutlich zu machen, so wie man es ungefähr vom Tegernsce bis zum Innthale beobachten kann, und ich werde dieser Zeichnung noch einige Worte der Erläuterung beifügen, um sie verständlicher zu machen. Einige Bemerkungen über die Alpen in Baiern. 7 Die ganze grofse Ebene von Ober.-Schwaben und Baiern steigt so all- mählig und dabei doch so gleichförmig von den Ufern der Donau bis zum Fufse der Alpen, dafs eine jede Profilzeichnung schon gleich überzeugen pen, J 5 S 5 mufs, diese ganze gröfstentheils mit losem Gerüll bedeckte Fläche gehöre 5 8 noch zum Alpensystem selbst, und wer an die Erhebung der Gebirgskette über eine aufgebrochene Spalte im Flözgebirge glaubt, der wird nicht abge- neigt sein, in dieser ansteigenden Fläche das zugleich mit der Kette erhobene Land zu sehen, welches sich erheben mufs, weil es zunächst die Kette um- giebt, welche in der Mitte aufsteigt und über die Fläche hervorbricht. — Sobald auf dieser Fläche die Hügel sichtbarer werden, erkennt man die Mo- lassenformation der Schweiz, alle Glieder der Tertiair-Bildungen; oben oder ganz aufserhalb die mit Meeresproducten erfüllten Schichten, welche Herr Studer Muschelmolasse genannt hat, welche mit dem Zondon clay oder dem Pariser calcaire grossier übereinkommen. Sie zeichnen sich in Baiern aus, durch die grofse Menge von Nummuliten, durch Trochusarten von aufseror- dentlicher Gröfse, durch Ampullarien, Buccinusarten und zuweilen auch durch Krabben, welche darin vorkommen. Man hat sie vorzüglich am Kressenberg bei Neukirch unweit Traunstein und bei Teisendorf kennen ge- lernt, weil hier die Muscheln nicht im Kalkstein liegen, sondern in einer Schicht von linsenförmig körnig thonarligem Eisenstein, der auf dem Eisen- werke von Bergen benutzt wird. Bei Sonthofen im Allgau gleichen diese Schichten noch mehr dem Zondon clay; sie enthalten hier noch häufiger Krabben und Krebse. Tiefer und noch mehr gegen das hohe Gebirge liegen Süfswasserschichten, die Braunkohlen, welche in gleicher Lagerung so häufig in der Molasse der Schweiz vorkommen. Sie wurden ehemals bei Miesbach unweit Tegernsee bearbeitet, und finden sich auch in den Hügeln von Leng- gries unweit der Isar. — Die Molasse erhebt sich nun in sichtbaren Bergen, zwei und dreitausend Fufs über der Fläche. Der graue feinkörnige Sand- stein nimmt an Festigkeit zu, je mehr er dem Gebirge sich nähert, und Kalkspathklüfte durchsetzen ihn nicht selten. Die Schichten seit dem An- fange des Tegernsees neigen sich mit Bestimmtheit gegen Süden, in das Innre der Kette; so dafs man leicht versucht sein könnte zu glauben, dafs sie sich unter denen, noch weiter nach Süden vorliegenden Bergen verstecken. Nun aber erscheint in den Bergen über dem Schlofs Tegernsee eine ganz verän- derte Schichtung, und damit scheint auch der Sandstein verändert. Alles 75 v. Bucen: wird weit kalkartiger als vorher, weit mehr mit Kalkspath durchtrümmert und verliert häufig das Ansehen des Sandsteins. Man hat Austernreste darin gefunden, Meeresproducte aber nicht so ausgezeichnet, dafs sie bis Jetzt ei- ner näheren Bestimmung wären fähig gewesen. Wahrscheinlich ist es der- selbe Sandstein, den Herr Studer so gut und deutlich in der Schweiz be- schrieben, und von der Molasse getrennt hat, der Gurnigelsandstein oder- Flysch, der, wie es scheint zur Kreideformation gehört, zum Greensand oder Quadersandstein von Pirna. Die Schichten dieses Sandsteins fallen nach Norden, und noch ehe man das Ende des Tegernsees bei Rottach er- reicht, senkt sich deutlich der Kalkstein darunter, an den Vorhügeln des Riedersteins. — Nun erhebt sich mächtig das Gebirge; die Felsen treten in hohen und kühnen Massen an den Abhängen hervor und die Gipfel heben sich über die Grenze der Bäume. — Vergebens sucht man sich zu belehren, zu welcher Formation dieser Kalkstein gehören könne. Die wenigen Spuren organischer Reste geben darüber keine Erklärung. Auch ist es seit diesem ersten Eintritt in die Alpenthäler nicht mehr möglich die Schichtung in Hin- sicht des darauf und darunter liegen zum Führer zu brauchen. Am Wall- berge, dem ersten höheren Berge des Gebirges senken sich die Schichten wieder in das Gebirge gegen Süden. Am Gipfel aber ist ihre Neigung gegen Norden; sie bilden in der Höhe einen völligen Halbkreis. Im Thale gegen Kreuth sieht man, wie die Schichten söhlig werden, dann aber in die Nei- gung gegen Norden übergehen, und nun mit Beständigkeit bei dieser Neigung verbleiben, bis nahe zum Wassertheiler des Gebirges. Hier ganz nahe un- ter dem höchsten Kamm, noch auf der Nordseite, geht ein tiefes und enges Thal über dem Bade von Kreuth gleichlaufend mit dem Gebirge herunter. Man nennt es die Wolfsschlucht; der Schnee bleibt in diesen Klüften bis zum Ende des Juni ehe ihn warme Luft und Sonnenstrahlen erreichen. Diese Enge bildet eine Hauptscheidung der Schichtung. Von nun an fällt nichts mehr gegen Norden, sondern Alles gegen Süden, dem Innthale zu, und von dort an erscheint der bis dahin nicht sichtbare Dolomit. Im unteren Theile der Wolfsschlucht verliert sich die Schichtung fast ganz, und der Dolomit, wenn auch noch sehr mit Kalkstein gemengt, setzt doch nun ununterbrochen fort, jederzeit so, dafs die Schichten sich von ihm weg, abwärts zu beiden Seiten hin neigen. Der Wassertheiler ist in diesem Gebirge bei weitem nicht der höhere Theil. Ist man jenseit, zum Tyroler Achensee herabgekommen, Einige Bemerkungen über die Alpen in Baiern. 1° so findet man hier den See von schneeweifsen Dolomitbergen umgeben, von eben so schroffen und rauhen Formen, wie sie an dieser Gebirgsart so oft erscheinen, und die Berge, der Unnüz, der Gufen steigen bis über 7000 Fufs hoch, welches die Höhe der höchsten Berge des Gebirges von Tegernsee um mehr als tausend Fufs übertrifft. Dieser Dolomit zeigt nur Schichtung oben an den Gipfeln, unten nicht mehr. Er ist weifs, drusig, wie gewöhn- lich nur von Rhomboedern, höchst ausgezeichnet. Die Umgebungen des Achensees würden davon so gute Musterstücke liefern können, als die hohen Felsen des Fassathals. — Er setzt fort bis in das Innthal und man sieht Kalk- stein nirgends wieder erscheinen. — Selbst auch auf der anderen Seite des Innthals erscheint er abermals, mit sehr geringer Mächtigkeit, aber in hoch aufsteigenden Massen. Die oberen Gruben von Schwaz wurden darin be- trieben, unten am Fufse findet man den rothen Sandstein, welcher unmit- telbar dem rothen Porphyr aufgelagert zu sein pilegt. In diesem Profile ist also auf der Tyroler Seite fast gar kein Kalkstein, sondern nur Dolomit. Auf Bairischer Seite dagegen sieht man den Dolomit fast gar nicht. Diese merkwürdige Erscheinung erhält sich lange. Die ho- hen Felsen des Achensees setzen fort über die Vomperspitzen, welche den Salzberg von Hall umgeben, dann bilden sie die hohe Karwendelkette, welche an dem Passe der Scharritz oder der Porta Claudia von der Isar zertheilt wird. Sie setzen fort südlich des Thales von Luetasch und bilden nun die höchsten Gipfel der Bairischen Gebirge, den Wendelstein und Zugspiz 9038 P. Fufs hoch. Dann endigt sich diese Reihe so plötzlich, dafs man es aus sehr grofser Ferne, selbst schon von München aus bemerken kann. Allein neue Reihen erheben sich wieder gegen Vorarlberg hin, und drängen sich gegen das Innthal. Sie sind jedoch in diesem Theile des Gebirges wenig bekannt und nicht beschrieben worden. Herr Buckland, dessen Aufsatz über die Alpen (T’homs. Ann. N.S. 1.451.) gewifs von grofsem Verdienst ist, wenn man auch Vieles was er ge- glaubt jetzt besser erkannt und richtiger entwickelt hat, meint, man könne in den Alpen nur zwei Kalksteinformationen deutlich unterscheiden, in wel- chen beiden die aus englischen Schichten bekannten Formationen verborgen lägen, zwar in derselben Ordnung, aber ohne kenntliche Grenzen. Diese beide Formationen sind erstens der jüngere Alpenkalkstein, welcher die Kreide, den Quadersandstein, den Oolithen oder Jurakalkstein und den so v. Bve»n: Lias oder Gryphitenkalk in sich begreift, und zu diesem leizieren rechnete Herr Buckland damals auch noch, wenn gleich sehr irriger Weise, den in Deutschland weit verbreiteten in England aber gänzlich fehlenden Muschel- kalkstein. Wahrscheinlich sind jetzt in dieser Hinsicht seine Ansichten ge- ändert. Die zweite Hauptformation der Alpen ist der Magnesiakalkstein, welcher in Lagerung gröfstentheils mit der in England auf diese Art genann- ten Formation übereinkommt. Diese letztere Formation enthält die Salz- stöcke von Hall, von Berchtesgaden, Hallein, Ischel und Hallstadt. Sie ist häufig mit Sandsteinen abwechselnd, die man bei den Salzstöcken sieht, und welche zum rothen oder bunten Sandstein gehören. So unläugbar es ist, dafs die Salzstöcke in sehr innigem Zusammen- hange mit dem Vorkommen des Dolomits stehen, so scheint doch diese Ord- nung, wie sie Herr Buckland gesehen zu haben glaubt, noch sehr grofsen Zweifeln ausgesetzt. Nach ihm würde der Dolomit noch viel unter dem Mu- schelkalk liegen, und man würde sich nach diesem umsehen müssen, ehe man Dolomit und Salzstöcke erreicht; das ist bisher noch nicht gelungen. Da- gegen sieht man im Innthale, bei Inspruck und Hall durchaus nichts, was die Kalksteinschichten, welche den Grund des Salzberges zu bilden scheinen, von den äufseren Bairischen Formationen, oder den letzten unteren gegen die Ebene, wesentlich unterscheiden sollte. Man sieht gar nicht, wie man es anfangen solle, sowohl Dolomit als Salzstöcke in eine regelmäfsige Ord- nung zu bringen, und betrachtet man aufmerksam die Salzberge von Hall, wie sie in der Mitte eines mächtigen Kranzes von ungeheuren Dolomitfelsen sich einsenken, so wird man sich leicht überzeugen, dafs beide nicht in die Reihe der Flözgebirgsarten gehören, sondern später eingetretene Veränderun- gen dieser Schichten oder zwischen ihnen ganz neu hervorgetretene Mas- sen sind. Herr Buckland will selbst beobachtet haben, wie bei St. Michael im südlichen Tyrol der Lias unmittelbar auf dem rothen Sandsteine folge. Seine Gründe giebt er nicht an, ob Form der Versteinerungen oder Ansehn der Schichten ihn zu dieser Ansicht gebracht hat; vermuthlich wohl das Erstere, und diese Meinung hat auch nichts unwahrscheinliches. Dann aber gehören, wie auch Herr Buckland sagt, alle Kalksteine des Fassa und Fleimserthales, somit durchaus fast alie Kalksteine auf der Südseite der Al- pen zu neueren Jura und Kreideformationen, und so auch alle ungeheure Einige Bemerkungen über die Alpen in Baiern. Si Massen von Dolomit, welche den südlichen Alpen einen so eigenthümlichen Character geben. — Je mehr man aber diese Berge kennen lernt, um so mehr entwickelt sich eine, kaum geahnete Correspondenz der Gebirgsarten auf der Nord und auf der Südseite der Alpen; Herr Bernard Studer, welcher im vorigen Jahre (1827) einen grofsen Theil dieser Alpenkette be- reist hat, ist nicht wenig überrascht gewesen, selbst in Gebirgen von Parma und Modena, und eben so über Feltre und Belluno Verhältnisse wieder auf- zufinden, welche ihm aus der Schweiz längst bekannt waren, und die er die- sem Theile der Schweiz eigenthümlich geglaubt hatte. Der Unterschied von Molasse und Gurnigel- oder Flyschsandsteine, dann Versteinerungen welche den Kalkstein der Stockhornkette auszeichnen und ihm wahrscheinlich einen Platz in der Kreideformation anweisen werden. Ist nun die Übereinstimmung der Nord und Südseite der Alpen so grofs, so werden wir auch in Baiern nicht viel ältere Kalksteinformationen erwarten, wenn es nicht unzubezwei- felnde Thatsachen verlangen, und auf das Höchste wird Dolomit und Salz- gebirg in die Liasformation gesetzt werden können. Das Wenige was ich habe erfahren können, den bairischen Kalkstein durch Versteinerungen zu bestimmen, ist diesem Resultat nicht entgegen, aber es würde der Anführung nicht werth sein, wenn es nicht nöthig wäre, aufmerksam darauf zu machen, wieviel hier noch zu thun, und wie es doch möglich sei es zu thun. — Viele bairische Naturforscher haben die Meinung, es fänden sich in dem Kalkstein der bairischen Alpen durchaus gar keine Versteinerungen, und in der That ist, glaube ich, noch nie eine aus diesen Gegenden beschrieben worden. Gute, deutliche Stücke mögen auch wohl noch nicht gefunden worden sein, Fragmente dagegen sind häufig. Wenn man bei dem Eisenwerk von Bergen am Chiemsee in dem engen Thale des Gebirges eintritt, so sieht man die unteren Schichten im Bach ganz dunkel, schiefrig, mergelartig, den Gryphitenschiefern in Schwaben sehr ähnlich, oder denen in welchen im südlichen Frankreich Lucinen in unglaublicher Zahl eingemengt liegen. In diesem Mergelschiefer hat man Belemniten ge- funden von bedeutender Länge, dem Belemn. gigant. ähnlich; dann Ammo- niten mit einfachen, gleichweit stehenden Rippen und mit dem Sipho am Rande in einem Canal. Ähnliche Abdrücke sahe ich an der Rottach bei Tegernsee, achtzehn Rippen bilden den letzten halben Umgang; es ist da- her ein Ammonit der zur Familie der Arieten gehört und wahrscheinlich Phys. Klasse 1828. L 82 v.. »Beuv. cin: Amm. Bucklandi. Sie sind aufser dem Lias noch nicht gesehen worden. — Im Weissachthale über Tegernsee liegt, auf der linken Seite des Thales, ein sehr bearbeiteter Marmorbruch; die Schichten stehen hier fast auf dem Kopf, so dafs man mit einer offenen Rösche sie fast rechtwinklig durchschneidet. Ehe diese Rösche den Marmor erreicht, geht sie durch einen sehr schwarzen, fetten bituminösen Thon, in grofser Mächtigkeit, der dem Schiefer der Lias- formation so ähnlich ist, dafs ich geglaubt habe, die Abdrücke von Posido- nien müfsten nothwendig darinnen vorkommen. Allein die Arbeiter ver- sichern hier noch nie einen organischen Abdruck gesehen zu haben. Der darauf liegende Marmor besteht gröfstentheils aus eckigen rothen und weifsen Stücken, in denen sich ebenfalls Nichts Bemerkenswerthes auffinden läfst. Diese Schichten setzen fort, wie es scheint, nach dem Hirschberge über Kreuth. Hier, am südlichen Abfall, nahe unter dem Gipfel sahe ich Mer- gelschichten, welche mit dem schwarzen Thon des Marmorbruchs gleich zu gen erfüllt. Unter diesen erkennt man Nucula sehr deutlich, und wie es scheint eine Art, welche von Nucula ovum (Sow. t. 476.1.) nicht weit entfernt steht. Aufser- dem ist noch eine kleine gestreifte Muschel gar häufig mit deutlichem Ohr, sein scheinen, und hier mit einem Heere kleiner Versteinerun welche zu Avicula gehört, wahrscheinlich aviewla inaequivalvis. Die flache Schale ist weniger eng gestreift. Zwischen ihnen findet sich eine modiola, sehr wenig erkenntlich aber doch so weit, dafs ihre Natur sich nicht gut be- zweifeln läfst. Der Vordertheil vom Schlosse ab, ist nur die Hälfte kürzer, als die hintere Seite. Ganz ähnliche Modiolen kommen in den Bergen über Sisteron vor, und zu Geyaudan bei Bar&me in den Bergen von Dauphine. Alle diese Sachen sind auszeichnend für untere Oolite. Die Nucxdae mit der 4vieula finden sich ganz eben so unter dem Jurakalkstein bei Thurnau und bei Kloster Banz. Vielleicht würden die Umgebungen des Hirschberges darüber noch viel mehr Erläuterung geben. Seit Kreuth kommen von den Höhen viele Stücke herunter, welche durch Wasserabspülung offenbaren, dafs sie nur Conglomerate sehr kleiner Encrinitenglieder sind, meistens nur von Hirsekorngröfse; die Glieder sind alle zu Kalkspath verändert, und ge- ben keine Kennzeichen zu näherer Bestimmung. Zwischen ihnen liegen eine fast gleiche Menge Glieder von Pentacriniten, und auch wohl zuweilen ein Ammonit, ganz abgerieben, so dafs nur der innere Theil der Windung zu- rückgeblieben ist. — Hoch über dem Dorfe Kreuth, auf der Gruber Alp Einige Bemerkungen über die Alpen in Baiern. 83 am Setzberge findet sich eine Schicht, welche zum Leiter in diesem ver- worrenen Gebirge werden könnte, und wahrscheinlich auch werden wird. Denn man trifft sie gar häufig wieder, in der verschiedensten Lage, und doch jederzeit so ausgezeichnet, dafs man sie wohl überall für dieselbe Schicht erkennen mufs. Sie scheint gröfstentheils nur aus einer besonderen Art von Gervillia zusammengesetzt zu sein, aus eben der Gervillia, welche zuerst von Herrn Eudes deLongehamp unter dem Namen Gervillia pernoides bekannt gemacht worden ist (Mem. de la Soc. lineenne du Calvados 1824. 126.). Die Muscheln sind von ansehnlicher Länge; ihre Breite beträgt fast genau ein Drittheil dieser Länge. Eine grofse Falte zieht sich über der Muschel und bewirkt, wie bei diesen Gervillien so oft, dafs ihr Längendurchschnitt nicht in einer Ebene liegt, und sie gebogen erscheinen. Zwischen diesen Muscheln liegen in grofser Menge Reste einer sehr stark gestreiften zweischaaligen Muschel, welche ungleichseitig ist und schief auf dem Schlosse steht, und hiedurch wieder einer avzcula sehr ähnlich wird. Andere Reste sind einzel- nen Schaalen der sonderbaren Terebratula digonia (Sow. t.96. Iincyc. meth. t. 246. fig. 5.) ähnlich. Am Hohlenstein über dem Bade von Kreuth in sehr geringer Höhe über dem Thal findet sich die Schicht ebenfalls, dann wieder jenseit des Gebirges am Kleinerbach auf der Tyroler Seite. In den Schich- ten auf den Höhen des Schildensteins und in den Umgebungen des Bades von Kreuth ist eine Coralle so häufig, dafs die Schichten selbst aus fast nichts anderem bestehen. Sie gehört zu den Lamelliferen oder zu den ästigen Madreporen. Alles ist jedoch zu Kalkspath verändert, daher wenig deut- lich. Zwischen den Corallen liegen eine grofse Menge Terebrateln, von denen nur der Umrifs im Gestein erkannt werden kann. Doch ist dies hin- reichend sich zu überzeugen, dafs diese Terebrateln nicht gestreift sondern glatt sind, viel länger als breit, und wahrscheinlich auf der Oberfläche keine Falten besitzen, so dafs sie fast gewils zu der, aus der Juraformation so be- kannten Terebratula ovata gehören. Sehr grofse Bivalven mit fasriger Stru- ctur wie ein Diceras oder eine Pinna ziehen sich in Menge durch das Ganze. Das ist es, was man bis zu den grofsen Dolomitbergen des Achensees beobachten kann. Gewifs erscheint hier Nichts, was auf ältere Formationen hindeuten könnte. Jenseit der Dolomitkette aber, da wo sie wieder den bairischen Grenzen näher kommt, zwischen der Scharnitz und Seefeld erin- nert uns ein höchst merkwürdiges Vorkommen noch weit mehr als Alles L2 S4 v. Bucu: Einige Bemerkungen über die Alpen in Baiern. Vorige an Liasschiefer. Es sind die Fische von Seefeld, aus welchen an diesem Orte ein Öl gezogen wird, das sogenannte Dirschenöl, welches zu Wagenschmier und auch in der Mediein gebraucht wird. Die Schiefer, in welchen sie vorkommen sind bis zu einer grofsen Mächtigkeit mit dem Öl der Fische durchzogen und setzen mit dieser Mächtigkeit sehr weit durch das Gebirge fort. Herr Flurl (Moll. Efem. V.196.) hat sie verfolgt und eine Menge Orte angegeben, an welchen sie noch vorkommen. Das alles ist im Liegenden des Dolomits und des Salzgebirges, wenn überhaupt hier ein wah- res Liegendes angegeben werden kann. Unter den Fischschiefern findet sich ein feinkörniger Sandstein, der nur gepulvert mit Säuren braust. Die Ähn- lichkeit mit den Gryphitenschiefern von Boll unter der rauhen Alp ist hier grofs; auch würden vielleicht die Fische nicht ohne Übereinstimmung sein (). Den älteren Formationen würde nun bis zum Innthale nur ein sehr kleiner Raum bleiben; und auf der Höhe, auf welcher der Salzberg von Hall liegt, können sie schwerlich noch vorkommen. — Sind Muschelkalk oder noch ältere Kalksteinformationen in diesem Gebirge zu finden, so müssen sie in anderen Profildurchschnitten aufgesucht werden. (') Die Untersuchungen der Herrn Murchinson, Sedgevick und Valenciennes haben doch gelehrt, dafs die Seefelder Fische zu dem sonderbaren Geschlecht Dipterus ge- hören, welches sich vom bituminösen Mergelschiefer an, bis in den Schichten der Keuper- formation findet; jedoch nicht in den Schichten des Lias. ee a 22 272 a Se 5 al SZ DE Se Re) een ” ee ZOFEE 2 Zr Sue PORN a Sn ve@taluißseh una» he. ee Ei } 2 near u nsnena UA eben ee L BL DZ a BB sub, = en shi re ‚aaa UÖNEIR TS eier te: » mann Ai innere age: m un unge Re re As eee alte Mr or er ze ri u ro En ie Va Tran a sa | De a EEE Ar BEER er ee FAR De WER ne BERUEE a ei a He. Kern: inaggpakny. 1a. eh Pop RR ET a rn a hr RE EI 2 Tee A er i Bi | Te 2 a BE dia [ ET Pers Arndt ia. ger Me j Se ae ee - [ie EZ Mi "nn anedniun aan nal & [4 entez B Gufen N Rliskogl \ \ Halserspiz | Ki j ! j Wißsschlucht Nehildenstern f A\ Be Hohlenstein S “ I \ war IL, ß a NN Alenerbach / y \ BB = we. /Q DadKreuth en a WITZ 0) Be I. von och 3 Mhhundlung br de I: Ga un Dario 7 Th, ur Hlafır 1038. a m 3? Pi I E 2 3 EA zz GE, a rt GR E DI CZ Wen LE: = & En - I = E Ze As. - Die Du E re Über das Brom, sein Vorkommen in verschiedenen Substanzen und die Darstellung desselben. Von Hm HERMBSTÄDT. 7 U N 7 U N N u 7 5 [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 6. Merz 1828.] Kan hatte Herr Balard(!) zu Montpellier die neue einfache Substanz, welche man bald Muriit bald Brom nannte, in der Mutterlauge der Asche verschiedener Fucusarten, neben dem Jod, entdeckt, so fand man solches auch in der Mutterlauge vieler Salinen. Am reichlichsten vorkommend ent- deckte ich das Brom (ohne Jod) im Wasser des Todtenmeers. Das Brom gehört in die Reihe der Metalloide, und zwar derjeni- gen, welche Herr Berzelius mit dem Prädikat Haloide, d.i. Salzzeu- ger, bezeichnet hat. Dasselbe kann, gleich dem Chlor und dem Jod, sich als Wasserstoffsäure und als Sauerstoffsäure repräsentiren; so wie solches, gleich jenen, mit Metallen Haloidsalze darstellt. Als Bromwasserstoffsäure findet sich das Brom an verschiedene Basen ge- bunden, mitunter frei, in den oben genannten Flüssigkeiten. Der Name Brom womit jenes Haloid bezeichnet wird ist aus dem griechischen Worte & @gwucv (Gestank, Bocksgeruch) abgeleitet, er ist zwar allgemein angenommen, keinesweges aber passend für jene Substanz, deren Geruch nicht stinkend ist, sondern zwischen dem des Chlors und des Jods fällt, nach meiner Empfindung, dem des Chloroxyds am nächsten stehet. (') Sur une Substance particuliere contenue dans l’eau de Mare. Par Mr. Balard. P. Annales de Chimie et de Physique; par Ms. Gay-Lussac et Arago. Tom. xxsı. Paris 1826. pag. 337. etc. 86 HermsstÄor Vorkommen des Broms im Wasser des Todtenmeers. Läfst man Chlorgas in das Wasser aus dem Todtenmeer ein- streichen, so nimmt selbiges sehr bald eine intensivgelbe Farbe an, die in das Hyacinthfarbne übergehet. Amylon gab mir im Wasser des Tod- tenmeers keine Spur von Jod zu erkennen; dasselbe enthält also nur Brom; dagegen in der Mutterlauge der Salinen, so wie der der Meer- pflanzen, neben dem Brom, stets auch Jod gefunden wird. Wird das Wasser aus dem Todtenmeer zur völligen Trockne ab- gedünstet und der Rückstand mit Alkohol digerirt, so nimmt dieser Hy- drobromsaure Talkerde, und Hydrobromsauren Kalk daraus hin- weg. Es bleibt Chlornatrium zurück, welches frei von Brom ist. Das Brom scheint also, als Hydrobromsäure, nur an oben gedachte Erden in jenem Wasser gebunden zu sein. Wird das mit Chlor beladene Wasser des Todtenmeers mit der hinreichenden Menge Schwefeläther versetzt, so nimmt dieser alles Brom daraus in sich auf und läfst die Flüssigkeit farbenlos zurück. Kaliätzlauge scheidet das Brom aus dem Äther ab, und aus dem dadurch gebildeten Hydrobromsauren Kali kann nun, wenn solches mit Schwefelsäure und Mangan-Süperoxyd versetzt destillirt wird, das Brom rein abge- schieden werden. Vorkommen des Broms im verkäuflichen Jod. Wird vollkommen reines Jodkalium in destillirtem Wasser ge- löst und Chlorgas in die wasserklare Lösung geleitet, so nimmt man keine Veränderung, keine Färbung wahr. Wird hingegen ein aus verkäuflichem Jod, wie man solches jetzt in bedeutender Menge aus Paris beziehet, bereitetes Jodkalium, nachdem solches im Wasser gelöst ist, Chlorgas geleitet, so nimmt solches sehr bald eine gelbe Farbe an, die jedoch nicht sehr intensiv ist. Jene Erscheinung brachte mich auf den Gedanken, dafs wohl das Brom blos ein durch den Beitritt irgend einer andern Materie modificirtes Jod sein könne. Eine genauere Untersuchung lehrte mich aber, dafs jene über das Brom. 87 Erscheinung allein von einem dem verkäuflichen Jod beigemengten Ge- halte von Brom abhängig sei. Man überzeugt sich hievon sehr bald, wenn das verkäufliche Jod in einer gläsernen Retorte, mit möglichster Abhaltung der Luft, erhitzt wird. Es entwickeln sich sehr bald dunkelgelbe Dämpfe, die in der mit Eis umgebenen Vorlage sich zu tropfbarem Brom, von dunkelrother Farbe, verdichten. Späterhin verlieren sich die gelben Dämpfe und es treten dun- kelviolette an deren Stelle, die im Halse der Retorte zu Krystallen erstarren; erst diese sind nun reines Jod. Jene Beobachtung macht es sehr wahrscheinlich, dafs wohl alles im Handel vorkommende Jod, mit Brom verunreinigt ist, welches rücksicht- lich der Anwendung des Erstern zum arzneylichen Gebrauche, wohl einer Berücksichtigung werth seyn möchte, und eben so scheint aus jener Bemer- kung hervor zu gehen, dafs das Brom (mit Ausnahme des Wassers aus dem Todtenmeer) in allen übrigen Substanzen, aus denen man bisher das Jod dargestellet hat, einen Begleiter des Jods ausmacht. Ich wünschte eine Substanz kennen zu lernen aus der man sich Brom zu jeder Zeit und, nach Erfordernifs in erforderlicher Menge, darstellen könne. Zu dem Behuf sind von mir mehrere Arten Seesalz, so wie Steinsalz von Wielizka, von Liverpol, von Hallein, von Reichen- hall, eben so der salzreiche Blödit aus Ischel in Östreich, alle aber vergeblich, auf Brom untersucht worden; und eben so wenig konnte ich das Vorkommen des Jods in jenen Körpern entdecken. Es scheint daher dafs wenn Brom und Jod in der Mutterlauge der Salinen so wie in denen der Asche von Meerpflanzen gefunden worden, jene Metalloide stets an Basen zu leicht lösbaren und schwer krystallisirbaren Haloid- salzen gebunden sind. Vorkommen des Broms im Meerschwamm. Da der Meerschwamm so wie solcher im Handel vorkommt, ziem- lich reich mit Jod beladen ist, so vermuthete ich dafs dieser Zoophit, ne- ben jenem, auch Brom enthalten mögte. Um jenes näher zu prüfen, wurde eine Portion Meerschwamm von allen darin enthaltenen steinartigen Concretionen befreiet, dann einer trock- 83 HermsestÄäor nen Destillation unterworfen. Es entwickelt sich ein Gemenge von Koh- lenwasserstoffgas, von kohlensaurem Gas, und von Stickstoffgas mit Spuren von Schwefelwasserstoffgas gemengt. In der Vorlage fand sich brenzliches Ol vor, liquides kohlen- saures Ammoniak von Schwefelblaustoffammoniak, welches letz- tere, wenn solches mit Essigsäure neutralisirt war, durch die dadurch be- wirkte blutrothe Füllung, des schwefelsauren Eisenoxyds, sich zu be- gründen schien. Der Rückstand in der Retorte bestand aus einer sehr salzig schmecken- den und an der Luft feucht werdenden Kohle. Sie wurde zart zerrieben und, bis zur völligen Geschmacklosigkeit, mit destillirtem Wasser ausgesüfst. Durch die erhaltene wasserklare Lauge wurde Chlorgas geleitet; sie färbte sich schr bald gelb und die Farbe wurde zuletzt sehr intensiv, ohne dafs eine Trübung der Flüssigkeit erfolgte. Zu der gelbgewordenen, vorher durch Erhitzen vom überschüssigen Chlor befreieten Flüssigkeit gesetzter Schwefeläther, färbte sich fast Hyacinthroth. Sie wurde mit der hinreichenden Menge Schwefeläther versetzt, bis sich dieser gar nicht mehr färbte. Die darunter stehende Flüs- sigkeit blieb nicht nur völlig farbenlos, sondern wurde auch, durch neu hin- zugeleitetes Chlorgas, nicht weiter gefärbt. Sie war also vom Brom voll- kommen erschöpft; dagegen Amylon die Gegenwart des Jods sogleich darin zu erkennen gab. Bei der Versetzung des bromhaltigen Äthers mit sehr reiner Kali- ätzlauge, schied sich der Äther farbenlos ab. Aus der farbenlosen Flüssig- keit lagerte sich eine geringe Menge eines in Wasser völlig lösbaren Salzes ab, das ich für Bromsaures Kali halte. Die übrige farbenlose Flüssigkeit zur Trockne abgedünstet, gab ein weifses Salz, das mit der Hälfte zart gepülvertem Mangan-Superoxyd gemengt, in einer Retorte mit > seines Gewichts sehr reiner concentrir- ter Schwefelsäure übergossen, der Destillation unterworfen wurde. Ich bediente mich dabei einer kugelförmigen mit 2 Öffnungen verse- henen Vorlage. Die eine Öffnung schlofs sich dicht um den Hals der Re- torte, die zweite Öffnung fassete ein Gasentbindungsrohr, dessen Ausgangs- öffnung durch Wasser gesperrt war. Die Vorlage selbst war mit einem kalt- machenden Gemenge von Schnee und Kochsalz umgeben. über das Brom. 89 So vorgerichtet wurde nun die Destillation über Lampenfeuer be- gonnen. Die Entwicklung des Broms erfolgte sehr bald in dunkelbraunen Dämpfen, welche sich in der Vorlage zu einer dunkelrothen sehr schweren Flüssigkeit verdichteten, über der ein helleres Fluidum schwamm, das im Hydratwasser der Schwefelsäure bestand, welches mit so viel Brom verbunden war, als das Wasser, wahrscheinlich als Hydrobromige Säure, hatte in sich nehmen können. Läfst man, nach Hrn. Balards Vorschlage, die Halsöffnung der Re- torte in der Vorlage unter Wasser tauchen, so löset sich stets ein bedeu- 'tenderer Theil des Broms auf, und stellt damit die Hydrobromige Säure dar; erstdann, wenn das Wasser ganz damit beladen ist, senkt sich ein anderer gröfserer Theil des Broms zu Boden. Es ist offenbar, dafs das Bromhaltige Alkali ein Hydrobromsaures Salz ist, dessem Säure, durch den Sauerstoff des Mangan-Super- oxydes, ihr Wasserstoff entzogen wird, um das reine Brom frei zu machen. Es ist möglich, ja höchst wahrscheinlich, dafs auch das auf dem von mir angegebnen Wege dargestellte Brom noch etwas Wasser, oder viel- mehr Hydrobromige Säure eingemengt enthält, welches Wasser theils aus dem Wasserstoffe der Hydrobromsäure und dem Sauerstoffe des Mangan-Superoxyds, theils aus der Schwefelsäure, als Hy- dratwasser derselben, ausgeschieden worden ist; dafs also alles bisher dargestellte Brom nur als ein Bromhydrat, oder vielmehr als eine Un- ier-Hydrobromige Säure angesehen werden mufs, folglich wir das absolut reine Wasserstoff-freie Brom, zur Zeit noch gar nicht kennen; welches letztere vielleicht, bei mittlerm Druck der Atmosphäre und mittler Temperatur, gleich dem Wasserfreien Chlor, nur in Gasform existi- ren kann. Die von dem Bromhaltenden Äther, nach der Trennung des Broms durch Ätzkali, übrig gebliebene Flüssigkeit, ist farbenlos und was- serklar. Sie wurde zur Trockne abgedünstet und die farbenlose trockne Salzmasse in kaltem Wasser gelöset. Es blieb eine geringe Menge eines im Wasser höchst schwer lösbaren Salzes zurück, das, mit liquidem koh- lensauren Ammoniak digerirt, Kalkerde zurückliefs. Die in einer Porzellanschaale zur Trockne abgedünstete Flüssigkeit gab ein Salz, das Phys. Klasse 1828. M 90 HermsstäÄort nach dem Ausglühen etwas Phosphorsäure zurückliefs. Jenes Pulver be- stand also in phosphorsaurem Kalk. Das von dem nicht gelösten Salzpulver getrennte Fluidum, gelinde abgedünstet, gab würfliche Krystalle von Hydriodsaurem Kali. Durch die Behandlung desselben mit Schwefelsäure und Mangan-Superoxyd und Destillation des Gemenges aus einer Retorte über Lampenfeuer, wurden sogleich rothblaue Dämpfe entwickelt, die im kalt gehaltenen Halse der Re- torte sich zu schönen säulenförmigen Krystallen des reinsten Jods verdich- teten. Zu diesen Arbeiten mit dem Meerschwamm gebrauchte ich die feinere Sorte mit kleinen Poren versehen, von hellgelbbräunlicher Farbe. Dieselben Arbeiten wurden mit der gemeinen Sorte von dunklerer Farbe und gröfseren Poren, dem sogenannten Rofsschwamm, wiederholt und gaben dieselben Resultate. Gern hätte ich diese Arbeiten mit mehreren Zoophyten fortgesetzt, welche mir aber, aufser der Corallina offieinalis und dem Felminthochortos, nicht zu Gebote standen. Die Resultate welche diese dargeboten haben, sollen weiterhin näher erörtert werden. Es ist mir zur Zeit noch nicht möglich gewesen, die Gewichtsverhält- nisse des Broms und des Jods im Meerschwamm mit Genauigkeit ermit- teln zu können; ich glaube aber nicht sehr zu irren, wenn ich voraussetze, dafs Brom und Jod im Meerschwamm zu gleichen Gewichtstheilen enthal- ten sind und dafs beide ohngefähr den 50sten Gewichtstheil des Schwam- mes betragen. Hiernach haben wir also in dem Meerschwamm eine Substanz, die reich an Brom so wie an Jod ist, aus der also beide Materien zu jeder Zeit leicht dargestellt werden können. Vorkommen des Broms in den Schwammsteinen. Der Meerschwamm so wie wir ihn aus dem mittelländischen und dem rothen Meere erhalten, ist mehr oder weniger mit kleinen oder gröfsern steinartigen Concretionen durchsetzt, welche die Poren des Schwam- mes ausfüllen. Sie werden Schwammsteine genannt. Sie brausen mit Säuren und werden gewöhnlich für kohlensaure Kalkerde gehalten, die über das Brom. 91 das Meerwasser in die Poren der Schwämme abgelagert hat: eine Be- hauptung, die durch keinen evidenten Beweis unterstützt werden kann. Die Schwammsteine machten vormals, gleich den Schwämmen, einen Gegenstand der Arzneykunst aus; in neuern Zeiten sind sie verworfen wor- den, vielleicht aber mit Unrecht. Da mir die Schwammsteine in Menge zu Gebote standen, so un- terwarf ich sie einer genauen Prüfung und entdeckte darin, sowohl Brom als Jod; nebst Thierschleim, salzige Materien u.s.w., die es aufser Zweifel setzen, dafs sie keinesweges aus dem Meerwasser blofs abgelagert, sondern vielleicht eher aus dem lebenden Zoophyt, dem Schwamm, von Innen nach Aufsen, gleich den Gehäusen der Schaalthiere, als eine na- türliche Sekretion, ausgesondert worden sind, die erst späterhin, durch ei- nen Prozefs der Oxydation, die steinartige Erhärtung angenommen hat. Werden die Schwammsteine mit destillirrem Wasser übergossen sich selbst überlassen, so werden sie gröfstentheils erweicht und gehen nach und nach in eine faule Jauche über, gleich anderen thierischen Materien. Werden sie mit sehr reiner stark verdünneter Chlorwasserstoff- säure übergossen, so lösen sich solche darin unter gelindem Brausen auf, zuletzt bleibt, wie bei einer ähnlichen Behandlung der Korallen, der Muschelschaalen, der Krebssteine u.s.w. eine zähe klebrige Materie zurück, die sich ganz wie Thierschleim verhält. Die durch die Chlorwasserstoffsäure erhaltene Auflösung, ent- hält chlorwasserstoffsaure und phosphorsaure Kalkerde. Wird die verdünnte Auflösung durch kohlensaures Ammoniak gefället, und die Flüssigkeit abgedünstet, der trockne Rückstand aber in einem Platintie- gel ausgeglühet, so bleibt Phosphorsäure zurück. Werden die zerkleinerten Schwammsteine in einem Platingefäfse mit dem gleichen Gewicht koncentrirter Schwefelsäure übergossen, die Öffnung mit einer Glastafel bedeckt und das Gefäfs erwärmt, so wird die innere Fläche der Glasplatte angefressen, und auch der Geruch läfst das Dasein der Fluorsäure nicht verkennen. Werden die Schwammsteine trocken destillirt, so bieten sie ähn- liche Produkte dar, wie die Schwämme, d.i. Wasser, Brandöl, und halb-kohlensaures Ammoniak, die sich in der Vorlage verdichten, nebst Kohlenwasserstoffgas und kohlensaurem Gas, welche gasförmig M2 92 HermestÄodr entweichen. Zuletzt bleiben die Steine, in einem schwarz verkohlten Zu- stande, ähnlich der Thierkohle zurück. Wird der verkohlte Rückstand mit Wasser ausgelaugt, so ist die Lauge farbenlos und besitzt einen salzigen Geschmack. Hindurch geleite- tes Chlorgas ertheilt ihr sogleich eine gelbe Farbe; es wird also Brom entwickelt. Wird das Brom durch Schwefeläther hinweg genommen, so enthält das rückständige Fluidum noch Jod, das auf dem gewöhnlichen Wege darin erkannt und daraus abgeschieden werden kann. Hiedurch ist es einerseits erwiesen, dafs die Schwammsteine kei- nesweges eine blofs aus dem Meerwasser abgelagerte kalkerdige Materie sind, dafs sie vielmehr, ihrer ganzen Masse nach, als eine erhärtete anima- lische Sekretion des Zoophyts anerkannt werden müssen, die sich uns im Meerschwamm repräsentirt; dafs sie gleich dem Schwamm selbst Brom und Jod enthalten, welche Haloide daraus dargestellt werden können. Mö- gen sie nun als ein Produkt der Mischung von Bromcalcium und Jod- calcium mit animalischen Stoffen durchsetzt angesehen werden können, die jene beiden Haloide in andern Verbindungen enthalten, so werden sie immer, als Brom- und Jodhaltige Substanz, vielleicht besonders im ver- kohlten Zustande, als Gegenstand der Arzneykunst, wieder in ihre Rechte eingesetzt werden; wenn man auch das Dasein des Fluors in selbigen, nur als etwas Zufälliges ansehen will. Vorkommen des Broms in dem VVurmmoos. Das Wurmmoos (Helminthochortos) nach Agardt ein Gemenge von verschiedenen Ceramien, welche Substanz im mittelländischen Meere an der Küste von Corsika häufig vorkommt, schien mir gleich- falls eine Untersuchung auf Brom so wie auf Jod zu verdienen; da auch in dem Wurmmoos der Haupttheil wohl als ein Zoophyt erkannt wer- den mufs. Jene Materie so wie man sie aus den Händen der Drogouisten erhält, zeigt immer einen dumpfigen moderartigen Geruch, einen salzartigen Ge- schmack und eine grofse Hygroscopeität, die ihr stets einen feuchten Zu- stand verleihet. über das Brom. 093 Mit Wasser übergossen sich selbst überlassen, quillt sie nach und nach auf und gehet, gleich anderen animalischen Substanzen, in eine stin- kende faule Jauche über. Wird das Wurmmoos in verdünnter reiner Chlorwasserstoffsäure eingetragen, so wird es bis auf einen geringen Rückstand, unter Entwick- ‘lung von Kohlensäure, mit Brausen aufgelöfst; was zurückbleibt ist ein ° Gemenge von Sand und von Thierschleim, ähnlich dem von den Schwammsteinen. Wird das Wurmmoos der trocknen Destillation unterworfen, so gewinnt man ähnliche Produkte, wie aus dem Meerschwamm und den Schwammsteinen, es bleibt eine salzig schmeckende Kohle zurück. Wird die erhaltene Kohle mit Wasser ausgelaugt, die klare starke Lauge aber mit Chlorgas in Berührung gebracht, so erfolgt die Entwicklung des Broms sehr leicht, welches sich durch die gelbe Farbe der Flüssigkeit andeutet; doch ist die gelbe Farbe weit weniger intensiv als bei der Lauge aus der Schwammkohle und selbst der aus den Schwammsteinen. Nach Hinwegnahme des Broms durch Äther, ist in der rückständi- gen Flüssigkeit das Dasein des Jods, durch die Prüfung mit Amylon, durchaus nicht zu verkennen, so wie solches aus der durchs Verdünsten der Lauge dargestellten trocknen Salzmasse, auf dem gewöhnlichen Wege, sehr leicht geschieden werden kann. Doch ist die Quantität des Jods das man gewinnt, gleichfalls weniger bedeutend, als die aus dem Schwamm und den Schwammsteinen. Vorkommen des Broms in der Corallina officinalis. Das den Pflanzenkörpern in seiner Form so ähnliche Corallenmoos (Museus corallinus, Corallina officinalis), ein aus kräuselförmigen glatten Ge- lenken und gegenüberstehenden Zweigen zusammengesetztes Gebilde, findet sich im europäischen Ocean und im Mittelländischen Meere, auf Klippen, Steinen und Conchilien, von rother, grüner und aschgrauer Farbe, die an der Luft leicht verbleicht. Dasselbe besitzt einen ekelhaften dumpfigen Geruch, so wie einen salzigen Geschmack. Im System wird ihm seine Stelle im Thierreich angewiesen; der Gehalt an Brom und Jod den ich darin entdeckt habe, und die Erfahrung dafs diese Haloide in keinem 094 HermsstÄor der von mir untersuchten wirklichen thierischen Körper aufgefunden werden konnte, giebt mir die Überzeugung, dafs auch die Corallina officinalis zu den Zoophyten gerechnet werden mufs. Mit Wasser behandelt wird sie erweichet, und geht in stinkende Fäul- nifs über. Verdünnte Chlorwasserstoffsäure löset die Corallina unter gelindem Brausen auf, und läfst nur wenig Thierschleim zurück. Trocken destillirt giebt sie dieselben Produkte wie das Wurmmoos, und wie der Schwamm. Die durch das Auslaugen der Kohle erhaltene Flüssigkeit ent- hält Brom und Jod, beides ohngefähr in demselben Verhältnisse, wie die Conferva Helminthochortos. Es schien mir interessant zu sein auch mehrere Molusken und andere Seegeschöpfe, in so fern sie mir zu Gebote standen, auf Brom und Jod zu untersuchen. Zu dem Behuf wurden die engländischen, die holländischen und die Holsteiner Austern, die Muscheln, mehrere Seefische, mehrere Seekrebse und Krabben, ja selbst der Hummer einer dahin abzweckenden Untersuchung unterworfen. Sie wurden getrocknet, trocken destillirt und die in verschlossenen Gefäfsen vollkommen ausgeglüheten Kohlen mit Wasser ausgelaugt, die Lauge darauf mit Chlorgas behandelt. Hier war mir es aber nicht mög- lich, eine Spur von Brom zu entdecken und eben so wenig eine Spur von Jod. Es scheint daraus zu folgen, dafs das Brom und das Jod nur allein in den Zoophyten, keinesweges in andern rein animalischen Naturgebil- den sich darbieten. Beide müssen daher ohnfehlbar als eigenthümliche Pflanzenstoffe, gleich dem Kohlenstoff, erkannt werden; dagegen der Phosphor, der Schwefel und das Chlor weit reichlicher auch in andern Erzeugnissen der organischen so wie der anorganischen Natur ver- breitet angetroffen werden. In welchem ursprünglichen Zustande endlich das Brom und das Jod in den Zoophyten enthalten liegen, ob als reines Metalloid oder als Haloid an eine metallische Grundlage als Bromüre oder Jodüre gebun- den, oder als Brom- oder Jodsäure an eine salzfähige Basis gebunden? dieses zu ergründen, mufs späteren Untersuchungen über die in Rede ste- henden Gegenstände, vorbehalten bleiben. über das Brom. 95 Nachtrag. Während der Zeit, dafs dieser Aufsatz von mir in der Königlichen Akademie der Wissenschaften vorgelesen wurde, dessen Inhalt sich beson- ders auf das Vorkommen des Broms in verschiedenen Naturerzeugnissen beziehet, ist dieses Metalloid aus andern Gesichtspunkten, von mehreren Chemikern des In- und Auslandes bearbeitet, und somit sein Verhalten zu andern Körpern näher begründet worden. Den Herren Serullas und Lö- wig verdankt man die Entdeckung seiner Verbindung mit dem Cyan. Herr Liebig hat gezeigt, dafs der durch die Hinleitung des Broms über Chlor- calcium gebildete Bromdampf, Eisen zum Glühen bringt, und Brom- eisen erzeugt: solches scheint meine Vermuthung zu begründen: dafs Was- serfreies Brom, bei mittlerer Temperatur und mitilerm Druck der Atmosphäre, nur in Gasform existiren kann. Eben so sind die mei- sten Bromüren und Bromide ermittelt, welche das Brom in Verbindung mit Metallen erzeugt; so wie die Produkte seiner Verbindung mit den ver- schiedenen Metalloiden und seine Wirkung auf den Weingeist. Nach Herrn Cohlen soll das Brom sogar, neben dem Jod, im schlesischen Cadmium gefunden werden; welches letztere doch wohl eine nähere Un- tersuchung verdienen mögte. > f a4 . 6; ah p \ in Im er ch d : um Ara er ü IA Nase ee u ee? : sh) Te er. . u; we; Bukz ; j . aus sin) ) R 29 | Fame 5 ' i . . A . zu AL I . Pe eu Pre "u .. u . Bu = . i BEE. TE wz u . l . a z_ Bas u en Br Den er PasR Über die Magnetischen Verhältnisse der Gegend von Berlin. „Non 1 Bi ’E RMAN. [Zusammengetragen aus mehreren den Jahren 1526-28 angehörigen Berichten.] BR: in den Jahren 1826-1828 der Akademie mitgetheilte Aufsätze ent- hielten die Berichte über die Declination, Inclination, Intensität und tägliche Periode für Berlin, nebst Untersuchungen über die bei diesen Beobachtun- gen anzuwendenden Correctionselemente; es sei gestattet von diesen Notizen einen übersichtlichen Auszug hier zu geben. Bei den Bestimmungen der Abweichung mufsten anfänglich aus Man- gel eines vollkommeneren Instruments einige an sich minder zu empfehlende Methoden angewendet werden; die nicht ganz ungenügende Übereinstim- mung ihrer Resultate mit denen des später angewendeten von Herrn Bessel in Vorschlag gebrachten peremtorisch genauen Instruments mag als Entschul- digung dienen, wenn der früheren minder zuverlässigen Methoden hier noch Erwähnung geschieht; es kann in der That immerhin nicht ohne Nutzen sein zu bemerken, wie mit gehöriger Umsicht und fleifsiger Wiederholung der Beobachtungen der Reisende im Nothfall auf sehr verschiedenen Wegen für die so wichtige Bestimmung der absoluten Abweichung in den betreffen- den Stationen, ziemlich genügende Approximationen gewinnen könne. Die Gelegenheits- Ursache der magnetometrischen Verhandlungen über welche hier berichtet wird, war der Entschlufs, den mein Sohn Dr. Ad. Erman gefafst hatte, seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer Reise zu beginnen, in der neben anderen Zwecken, für eine bedeutende Strecke und wo mög- lich für den ganzen Umkreis der Erde eine continuirliche Reihe ganz zuver- läfsiger Bestimmungen der Neigung, Abweichung, Intensität und täglichen Periode gewonnen würde. Bei dem was hier in den obbesagten Jahren in Phys. Klasse 1828. N 98 Erman über die magnetischen Verhältnisse und für Berlin geleistet wurde, hatte ich daher stets seiner Mitwirkung mich zu erfreuen: es waren gemeinschaftliche Studien auf die Zwecke seiner Reise gerichtet. Herr Ad. Erman hatte das Glück, den Anfang seiner magneto- metrischen Reise an die des Herrn Hansteen, dieses höchstverdienten Ko- ryphäen des Magnetismus anzuschliefsen; unter so glücklichen Auspicien läfst sich erwarten, dafs das Ganze seiner Leistungen sich nicht ohne wissen- schaftlichen Werth gestalten werde. Abweichung. Die in damaliger Ermangelung besserer Hülfsmittel, während des Jahres 1825, ausgeübten Methoden zur Bestimmung der Abweichung waren folgende: I. Die Inclinations-Boussole wurde im Freien sehr fest aufgestellt und genau horizontirt. Der Punkt wo die Nadel sich senkrecht stellte gab an, dafs ihr verticaler Limbus in der Ebene lag, die senkrecht auf dem mag- netischen Meridian steht, und also 90° davon hatte man den magnetischen Meridian. Nun mittelst der Coincidenz des Schattens der Sonne durch die zwei entgegengesetzten Bogen des Limbus, und auch mittelst eines angebrach- ten Punctum lucidum, wurde das magnetische Azimuth der Sonne genom- men, während in demselben Zeitmoment des Chronometers ein anderer Beobachter mittelst des Sextanten die Sonnenhöhe nahm. Daraus das astro- nomische Azimuth nach der bekannten Formel berechnet, und verglichen mit dem abgelesenen Magnetischen gab die Abweichung. Auf dieselbe Weise wurden auch oft Vor- und Nachmittags correspondirende Sonnenhöhen ge- nommen, und die Abweichung des magnetischen vom astronomischen Me- ridian gefunden. Diese Methode ist so viel ich weils neu, und hätte den für Reisende vorzüglich sehr wichtigen Vorzug mit einem einzigen Instru- mente, dem Inclinatorium, für beide Beobachtungen auszureichen; nur versteht es sich von selbst, dafs man statt der sehr mangelhaften Beobach- tung des Schattens oder des Punctum lucidum ein Fernrohr anwenden müfste, dessen Axe genau in der Ebene des verticalen Limbus liegend, die unmittel- baren Azimuthe der Sonne mit Genauigkeit gäbe. Aber selbst mit diesen unerläfslichen Verbesserungen würden gegründete Zweifel gegen die Ge- nauigkeit dieser Methode entspringen, aus der Schwierigkeit, die Ebene wo der Gegend von Berlin. 99 die Nadel senkrecht steht, mit absoluter Schärfe zu bestimmen; einige Mi- nuten Östlicher oder Westlicher Wendung des Limbus lassen sich meisten- theils nicht mehr an der Spitze der Nadel, die keinen Nonius hat, ohne Zweideutigkeit wahrnehmen; ist vollends das Instrument mehrere Stunden der Sonnenhitze ausgesetzt worden, so findet man oft am Schlusse der Beo- bachtungen die senkrechte Einspielung der Nadel etwas abweichend von dem, was man beim Beginnen der Observationen als Lage des magnetischen Meridians annehmen mufste. Wir liefsen zwar als solche gelten die Mittlern zwischen den zwei Lesungen am Anfange und am Ende der Reihe, aber mit welchem Rechte? Denkbar wäre eine Methode, wo man sich nicht begnügte, die Neigung der Nadel im Punkte 90 ein für allemal zu beobachten als durch- gängigen Anhaltspunkt, sondern wo man die Neigung für verschiedene Azi- muthe beobachtete, und mittelst einer nach Zerlegung der Kräfte eingerich- teten Formel und der bekannten Neigung im Meridian den jedesmaligen Win- kel, den die Ebene des verticalen Limbus mit dem Meridian machte, berech- nete. Man kann sich sogar wundern, dafs dieses Mittel noch nicht angewen- det worden, um bei Bestimmung der Neigung aus je zwei aufserhalb der Me- ridian-Ebene beobachteten correspondirenden Neigungen die entsprechende mittlere Meridian -Stellung zu berechnen, und diese Bestimmungen als Con- trolle für die auf unmittelbarem Wege gefundenen anzuwenden. Welcher Anwendungen jedoch die Inclinations-Nadel an sich fähig sein mag zur Auf- findung der Abweichung, so fanden wir doch bei Anwendung derselben keine sehr genügende Approximation, wahrscheinlich weil die Bestimmung des Sonnen-Azimuths mittelst des Schattens des Limbus nicht blofs an sich un- sicher, sondern auch mit irgend einem constanten individuellen Fehler be- haftet war. Aus sehr vielen Beobachtungen die unter sich nur mittelmäfsig stimmten, kam im Mittel die Abweichung von 17° 49’ 44”,2, welche offenbar zu grofs ist, wie sich aus dem folgenden ergiebt. Bedenkt man vollends, wie ungemein schwierig die Construction des Inclinatoriums ist, so wird man sich abgeneigt fühlen, sehr viel von der eben erwähnten Methode zu erwar- ten, selbst wenn man das Fernrohr, und die Formel für die Winkel zwischen 0 und Maximum der Inclination daran wendete; welches jedoch zu versuchen wäre zum Nutzen der Reisenden. II. Die zweite Klasse der Beobachtungen wurde mittelst eines Bran- derschen Declinatoriums angestellt, von der Art wie sie die Manheimer N2 100 Erman über die magnetischen Verhältnisse Societät zur Beobachtung der täglichen Periode empfahl, und dessen Idee Gilpin bei seinen musterhaften Abweichungs-Bestimmungen beibehalten, nur mit den drei sehr wichtigen Verbesserungen, dafs er nemlich statt der Dioptren oder des Fadens zum Schatten der Sonne ein Fernrohr hat, dann dafs er dem den Nonius tragenden Kasten eine Mikrometer -Schrauben - Be- wegung giebt zum richtigen Einstellen, statt der am Branderschen Instrument aus freier Hand vorzunehmenden Einstellung; und endlich dafs er die Nadel so einrichtet, dafs sie durch Umkehrung des Hütchens in zwei entgegenge- setzten Stellungen beobachtet werden kann, und folglich für jedes einzelne Azimuth vier Lesungen giebt, das heifst zwei für jede Spitze, oder die nö- thige constante Correction, wenn nur eine Stellung der Nadel gebraucht wird. Von diesen Verbesserungen konnte ich nur die letzte anwenden. Die Nadel ist 8 Pariser Zoll lang: in einer ihrer Stellungen stimmen beide Spitzen genau überein, und geben die Mitilern der zwei Lesungen, die man in der anderen Stellung der Nadel von beiden Spitzen erhält. Dieses Declinatorium ist eigentlich nur geeignet, von einer bestimmten constanten Station aus, mittelst Dioptren (oder des Fernrohrs) einen terrestrischen Gegenstand, des- sen astronomisches Azimuth man anderweitig bestimmt hat, zu releviren, und den Winkel, den die Magnetnadel mit dieser Gesichtslinie macht, zu mes- sen. Ein Glück war es jedoch, dafs wir, ehe diese Methode selbst ange- wendet wurde, und dann sehr oft parallel mit ihr, eine andere wählten, die im freien Felde ausgeübt, frei war von den Local- Anziehungen, welche die Ubiquität des Eisens in allen Wohngebäuden bedingt, und die, wie man sehen wird, im vorliegenden Fall einen Irrthum von fast einem Grad ein- führte auf eine ziemlich versteckte Weise. Diese dritte Methode ist im We- sentlichen die der Seefahrer. Eine Linie auf der Bodenplatte des Instru- ments gezogen läuft genau parallel mit der Linie die durch den Nullpunkt des Gradbogens und durch das Centrum der Nadel geht; ein zarter Faden in dazu bestimmten Krinnen der Dioptren befestigt, wirft seinen Schatten auf die Bodenplatte, und wenn man das genau horizontirte Instrument der Sonne aussetzt und die Deckung der Fiduzlinie durch den Schatten genau bewirkt, in demselben Augenblick, wo der zweite Beobachter die Höhe der Sonne nimmt, so giebt die Nadel mittelst des Nonius des Instruments das magne- tische Azimuth der Sonne, welches dem gleichzeitig gefundenen astrono- mischen entspricht. Wenn man auf diese Weise sehr viele einzelne Beobach- der Gegend von Berlin. 101 tungen nimmt, so ist unter ganz günstigen Umständen die Mittlere eine ziemlich genäherte Approximation. Sehr oft wurden auch auf dieselbe Weise wie oben mit dem Inclinations-Kreis, correspondirende Sonnenhöhen ge- nommen, und dazu die entsprechenden magnetischen Azimuthe bestimmt. Ehe ich die Resultate der in dem Jahre 1825 auf diese Weise bestimmten Abweichungen mittheile, mufs ich durch die Kritik des Verfahrens und des Instruments den Werth der erlangten Approximation auf die ihr gebührende Grenze zurückführen. Die Mängel der Branderschen Declinationsnadel wenn man sie nicht auf ein terrestrisches Signal, sondern auf das Azimuth der Sonne anwendet, sind folgende. 4) Ihr Gradbogen ist beschränkt auf 60°, folglich ist man auf Sonnen-Azimuthe beschränkt, die dem Mittag schon nahe liegen, vorzüglich wenn man bedenkt, dafs noch 18° beiläufig in Abzug zu bringen sind, um welche die Magnetnadel gegen Westen vom wahren Azimuth der Sonne abweicht; so dafs man für Nachmittagige cor- respondirende Sonnenhöhen kaum bis 1 Uhr ausreicht. Wenn man daher eine zahlreiche Reihe von Beobachtungen nehmen will, so sind von der ei- nen zur andern die Höhen-Veränderungen der circummeridianen Sonne min- der beträchtlich, und die Übereinstimmung der zusammengehörigen Momente der Sextanten -Beobachtung und der Boussolen - Einstellung minder entschie- den, vorzüglich wenn man bedenkt, dafs die letztere mit der Unsicherheit der Ablesung des Schattens behaftet ist. Diesem Fehler liefse sich abhelfen, wenn man dem Instrumente ein zweites Paar Dioptren gäbe, und diese auf- stellte auf einer Linie, welche die jetzige Fiduzlinie senkrecht schnitte. Beo- bachtete man nun die Coincidenz des Sonnenschattens auf dieser neuen Linie, so könnte man die viel vortheilhafteren Tagesstunden näher an 6 Uhr Vor- und Nachmittag ebenfalls benutzen, man hätte nur das gefundene magne- tische Azimuth um 90° zu vermehren. Es bedarf wohl keiner Erwähnung, dafs wenn statt einem veralteten Instrument nachzuhelfen, man ein neues anzugeben hätte, man einen ganzen Kreis, statt des beschränkten Bogens der Branderschen und Gilpinschen Boussole, unbedingt fordern würde, und zwar einen repetirenden, wie Nouet ihn zur Bestimmung der Abweichung in Alexandrien angewendet hat, welches zwar bei astronomischen Bestimmun- gen der Abweichung nicht anwendbar ist, um so.mehr aber bei der Methode mit einem terrestrischen Signal. 2) Der zweite wesentliche Mangel der Branderschen Boussole wenn man sie auf eben gedachte Weise benutzt, ist, 102 Erman über die magnetischen Verhältnisse dafs sie das Azimuth der Sonne nur durch die Coincidenz des Schattens mit der Fiduzlinie angiebt. Zu allgemein anerkannt ist das Schwankende dieser Methode, um viel Worte darüber zu verlieren. Im Allgemeinen fand ich doch in den auf diese Weise genommenen Reihen viel mehr Übereinstim- mung als ich selbst erwartete, wozu einige günstige Umstände mit beitrugen. Die grofse Bestimmtheit der schwarzen Fiduzlinie auf der weifsen Marmor- platte, die gut gewählte Art des Fadens, und ganz vorzüglich der Umstand, dafs die der Sonne zugewendete Dioptre, die den einen festen Punkt des horizontal ausgespannten Fadens abgab, gerade unter ihm einen ziemlich langen senkrechten Faden trug, dessen Schatten sich auf den Schatten des horizontalen projizirt, aber in einer geraden Linie nur dann damit zusam- menfällt, wenn die Einstellung ganz genau in der Ebene des Sonnen - Azi- muths verwirklicht worden. Hiezu kam noch als drittes succursales Hülfs- mittel, dafs unter dem senkrechten Faden dieser Pinnule sich das Visirloch nach der entgegengesetzten Pinnule befindet; dieses Visirloch gab nun einen Punctum lucidum ab, der bei genauer Einstellung in der Sonnen - Azimuths- Ebene, auf den Schatten des Fadens fällt, und von ihm halbirt wird. Das scharfe Beachten dieser drei concurrirenden Kennzeichen setzte uns in Stand, die von der Diffraction und der Undulation der Luft herrührenden Mängel grofsentheils zu beseitigen. Wenden wir uns nun von der Kritik der Beobachtungsmethode mit- telst des Branderschen Inclinatorium im Allgemeinen betrachtet, zu der Kri- tik der Individualitäten des angewendeten Exemplars, so bemerke ich zuerst, dafs die Zentrirung 8 Fehler wahrnehmen liefs; die Theilung des Limbus und Nonius ward gut und die Bewegung im Bogen um das Zentrum keinen befunden, bis auf einen Theilstrich, und zwar sonderbar genug den Wich- tigsten von allen, den mittelsten Nullstrich, der in der Regel der genauste zu sein pflegt: dieser Fehler ward berücksichtigt in allen Fällen wo dieser Strich zur Ablesung des Nonius eintrat. Dem sehr wichtigen Mangel, dafs die zum Instrument gehörige und früher von Tralles benutzte Nadel sich nicht durch Umkehrung des Hütchens controlliren liefs, wurde abgeholfen; denn es ist schon gesagt worden, dafs die Nadel die wir anwendeten sich auf diese Weise verifiziren läfst. Ein anderer Mangel des Instruments ist, dafs die Nadel um fast 4 Zoll Erhöhung über dem Strich schwebt, auf welchen ihre Spitzen einzustellen sind; welche Parallaxen daraus entstehen können, der Gegend von Berlin. 103 bedarf keiner Erwähnung. Gilpin hat bei seiner Abänderung der Bran- derschen Abweichungsnadel diesem Fehler abgeholfen durch eine zwar artige Vorrichtung, die er den zwei Stellungen der zu invertirenden Nadel anpafst, gegen welche jedoch sich manches einwenden liefse. Da ich von der Hoff- nung ausging, die Akademie werde ein dem jetzigen Zustand der Wissen- schaft und der ausübenden Mechanik entsprechendes Instrument darstellen lassen, so hielt ich es nicht rathsam, die veraltete Construction meines In- struments wesentlich zu modifiziren, und begnügte mich auf der Glasplatte welche die Nadel bedeckt zwei Microscope aufzustellen, eines über jede Spitze; die Focallänge dieser Gläser war so gewählt, dafs mein Auge den Strich auf dem Boden der Boussole, und den Strich auf den Spitzen mit fast gleicher Deutlichkeit sahe, um sie in einer continuirlichen Verlängerung ein- stellen zu können; die Ocular- Öffnung zur Einsicht war um 3 Zoll von der Linse entfernt, und klein genug, um jeder bedeutenden Parallaxe vorzu- beugen, welches für jede der Spitzen geschah, mit Ablesung des Grades für jede. Leider geht die Ablesung des Nonius unmittelbar nur von drei Minu- ten zu drei Minuten, und die sichere Abschätzung geht nur bis auf einzelne Minuten. II. Bei der dritten Klasse der Beobachtungen wurde die Brander- sche Boussole ihrer eigenthümlichen Bestimmung gemäfs angewendet, das heifst, zur magnetischen Relevirung eines terrestrischen Gegenstandes, des- sen Lage gegen den astronomischen Meridian genau bekannt war. Gewählt wurde hiezu eine gute Marke am Heiligengeistthurm zu Potsdam, der von dem Landsitze daselbst, wo die Beobachtungen angestellt wurden, um bei- läufig 1500 Fufs entfernt ist. Ein sehr guter Reichenbachscher Theodolit wurde im Zimmer aufgestellt; sein Zentrum mittelst eines in einer feinen Stahlspitze sich endigenden Pendels durch einen Punkt im Kopfe eines im Fufsboden eingeschlagenen Nagels sehr genau bestimmt. Das astronomische Azimuth der Marke am Thurm ergab sich aus Abständen der Sonnen -Rän- der von derselben, welche sehr oft genommen wurden nebst der dazu ge- hörigen mittleren Zeit nach einem guten Chronometer, der jedesmal an demselben Tage durch Sonnenhöhen controllirt worden war. Nun wurde die Brandersche Boussole mittelst eines Pendels, der gerade von dem Punkt unter der Spitze auf welchem die Nadel spielt, herab hing, genau in die Stellung gebracht die der Theodolit früher einnahm; durch die Dioptren 104 Erman über die magneuschen Verhältnisse sollte nun das Alignement der Marke genommen, und der Winkel bestimmt werden, den die Nadel mit diesem machen würde. Es fand sich aber, dafs die gewählte Marke nicht in der horizontalen Ebene lag, die man mit den Dioptren geradeaus schen konnte, und der Mangel eines in verticaler Ebene beweglichen Fernrohrs, wie ihn Beaufoy seiner Declinations-Boussole ge- geben hat, wurde recht fühlbar. Es wurde daher eine bequemer gelegene, sehr entfernte Wetterstange als Signal gewählt, nachdem man vom Beobach- tungspunkte aus, den Winkel zwischen dieser Stange und der Thurm-Marke durch achtfache Multiplication des Theodoliten bis zur stehenden Secunde bestimmt hatte. Als nun das magnetische Azimuth der Wetterstange ge- nommen, und darnach die Abweichung berechnet wurde, kam sie offenbar falsch. Denn sie wich constant von den Mittleren aus der Masse der durch die andern Methoden in freiem Felde genommenen Beobachtungen um etwas mehr als 1? ab; so grofs ist die Verfänglichkeit der Local- Anziehungen des Eisens in den Wohngebäuden. In der That war man bei der Wahl des zu diesen Beobachtungen zu bestimmenden Zimmers sehr umsichtig gewesen jede feststehende Eisenmasse zu vermeiden, und jede bewegliche zu entfer- nen, und nur durch das anomale Ergebnifs der Abweichung wurde man auf die wirkliche Existenz einer localen Anziehung geführt, deren Ursache sich dann auch ergab in der Blechbedeckung eines Resalits, in welchem eines der Fenster angebracht ist, und die man wegen des Anstrichs für eine Ziegel- bedeckung gehalten hatte, gleichartig der des übrigen Daches. Die osecil- latorischen Messungen der Intensität an dem Punkte, wo die Declinations- Boussole stand, zeigten, dafs allerdings dieses Eisen seinen störenden Einflufs bis dahin erstreckte. Gilpin findet auch, dafs sein Instrument in seinem Zimmer die Abweichung um 5’ 4” gröfser giebt, als im freien Felde, und wendet jedesmal dieses Correctionselement an für seine Beobachtungen im Zimmer. Bei den so viel gröfseren aber quantitativ unbekannten Störungen des vorliegenden Falls, war es um so nothwendiger, das magnetische Azi- muth des Signals vom Zimmer aus genommen zu berichtigen durch Beo- bachtungen im freien Felde. Der Theodolit wurde zu diesem Zwecke genau über dem Zenterpunkt wieder aufgestellt und mit seinem verticalen Fernrohr versehen. Alle übliche Correctionen mit den Fufsschrauben, Zapfenlager- schrauben, und durch Umkehrung des Fernrohrs wurden sorgfältig ange- wendet, und bei der Güte des Instruments gelang es, das Fernrohr in der der Gegend von Berlin. 105 verticalen Ebene so zu bewegen, dafs durchaus keine wahrnehmbare Deviation von der Senkrechtheit statt fand, so dafs der verticale Faden des Fernrohrs beim Steigen und Fallen ein entferntes langes und feines Pendelfilament constant deckte, und eben so die architectonischen senkrechten Linien sehr entfernter Thürme. Nun wurde das Azimuth der als Signal dienenden Wet- terstange auf eine bequem gelegene Stelle einer Wiese projezirt, der Punkt genau markirt durch einen Stift in einem eingerammten Pfahl, und die Brandersche Boussole über diesen Punkt so aufgestellt, dafs die Spitze des von ihrem Zentro herabhängenden Pendels genau mit der Spitze des Stiftes im Pfahl coincidirte, und dafs der Durchschnittspunkt des Fadenkreuzes im Fernrohr die ganze Länge des Filaments des Pendels durchlief mit stätiger Deckung. Das magnetische Azimuth der Wetterstange im freien Felde so genommen gab in drei Reihen magnetische Abweichung 17° 31’ 56”, 1 17 33 45 ,1 7 in verschiedener Tagesstunde 17 38 02,0 während es vom Zimmer aus genommen in drei Reihen gegeben hatte 18° 30 597,5 18 30 35,6 7 in den verschiedenen Tagesstunden. 18 31 48 ,2 j Eine sehr gute Pistorsche Boussole mit Fernrohr, comparativ im Zimmer und im Freien beobachtet, gab dieselbe Anomalie. Von den durch Sonnen-Azimuth und durch ein terrestrisches Signal erhaltenen Resultaten werde ich blofs die erwähnen, die sich auf das Jahr 1825 beziehen. Drei Reihen im October 1825 genommen mittelst correspondirenden eircummeridianen Sonnen -Azimuthen gaben die I. aus 6 Paaren 17° 39° 35”,6 ( 4. October) m. 40 -— 1 AMoOr,S (9) en a, Im Mittel 17° 40’ 15”, 03 Phys. Klasse 1528. Ö 106 Erman über die magnetischen Verhältnisse Dieses wäre die für den Mittag gefundene Abweichung, welche dem Maximum ziemlich nahe liegt, ohne es doch ganz zu sein, denn nach Gil- pins Beobachtungen, in der Periode vom October zum December, änderte "sich die Abweichung von Mittag bis zum Maximum, welches um { Uhr ein- trifft, von 29,6 zu 30',7, welches für uns das Maximum bringen würde auf 17° 41’ 20”, da sie jedoch aus Mittleren der Beobachtungen, zwischen (11 - 42) und (12-1), so kann letzter Werth nicht als ganz correct gelten. Die mittelst des Theodoliten genommenen Reihen sind vom 8. 10. 41. 12. 14. October mit Umkehrung der Nadel und jedesmaliger Lesung an beiden Spitzen. Die einzelnen zu den Mittlern concurrirenden weichen sehr wenig von einander, und der Beweis, dafs sie nicht ganz zu verwerfen sind, ist, dafs die tägliche Periode sich sehr deutlich und genau darin ausspricht. In der That zwei gegen Mittag genommene Reihen geben als Mittel: die früheren zwischen 10-12 Uhr 17° 38’ 42”,05 und die späteren zwischen 12-2 17° 40’ 53”,1 welches das Maximum aller Beobachteten überhaupt. Zwei nachmittägliche Reihen hingegen gaben, die früheren 17° 31’ 56”,1 und die späteren zwischen 5 und 6 Uhr 17° 30 20”, 4. Minimum der Beobachteten. Der Unterschied der Kleinsten um 5 Uhr zur gröfsten zwischen 1 und 2 be- trägt also 10°33”. Nach der täglichen Periode sollte der Unterschied sein für diese Tageszeiten und den Monat October nach Gilpin 9’ 30”, welches nahe genug eintrifft; und am Ende ist noch die Frage, ob dieser Gilpin- sche Werth der täglichen Periode für England und für die Jahre 17385 und 1756 gefunden, so genau für unsere Zeiten und unsere Localitäten pafst, dafs dieser Unterschied von 1’ 3” unsern Resultaten geradezu als Fehler an- zurechnen ist; um so mehr da die Gilpinschen Mittlere sind, und unsere Beobachtungen des Gambeyschen Declinatorium offenbar zeigen, dafs in den Abweichungen der einzelnen Tage der Unterschied zwischen dem Maxi- mum und Minimum oft um mehrere Minuten abweicht, so wie auch die Stunde des Maximum schwankend gefunden wird, zwischen 1 und 2 Uhr Nachmittag. Ich glaube daher, dafs die beste Approximation sein wird, als der Gegend von Berlin. 107 Abweichung für den Mittag im October 1825 17° 40’ 15”,03 gelten zu lassen, und für das Maximum der Abweichung zwischen 1 und 2 Uhr N.M. 41.12440.537, Da die Beobachtungen des Mittages durch correspondirende eircum- meridiane Azimuthe der Sonne nur mittelst des Schattens eines ausgespann- ten Fadens an der Branderschen Boussole genommen worden, so blieben die Beobachtungen mit dem Mangel dieser Methode an sich behaftet. Zwar sind oben zwei Hülfsmittel angegeben worden, welche das wesentlich man- gelhafte der Einstellung durch den Schatten zum Theil verbesserten: wir hatten uns jedoch vorgenommen, auf directem Wege zu finden, ob und wie viel wir bei dieser Einstellung durch den Schatten geirrt haben mögen, und dieses etwanige Corrections-Element auf unsere gefundene mittlere Mittags- abweichung anzuwenden; die ungünstige Witterung während der Pfingst- ferien hat uns an dieser Verification vor der Hand gehindert. Da aber die Erörterung der Ideen, nach welcher sie geschehen soll, sehr nahe anstreift an den eigentlichen Zweck dieser Vorlesung, die Beschaffung eines genauen Declinations-Instruments zu erzielen, und Vorschläge dazu zur Sprache zu bringen, so mag die betreffende Modilication der Declinations- Boussole hier in aller Kürze zu erwähnen sein. Sie besteht darin, dafs man der Dioptre einer Smalkaldischen Boussole einen unter jede beliebige Neigung zu stel- lenden Spiegel giebt. Auf diese Weise kann man unmittelbar den Mittel- punkt, oder besser einen Rand der Sonne, oder irgend einen beliebigen Stern releviren, und zugleich den entsprechenden Winkel, in welchen die Magnetnadel einspielt, ablesen. Wenn nun im selben Moment ein anderer Beobachter mit dem Sextanten die Sonnenhöhe und die Zeit, oder zu cor- respondirenden Circummeridian-Höhen die Sonnenhöhe allein nimmt, so hat man die Abweichung. Diese sinnreiche Construction sah ich zuerst im Jahre 1824 auf Helgoland, wo Herr Le Comte, bekannt durch seine magnetometrisch-nautische Untersuchungen sie mit auffallend gutem Erfolg anwendete. Erst späterhin sah ich in Berlin ein Instrument, welches Herr Geh.-Rath Behrnhauer nach diesem Prinzip viele Jahre vorher hatte con- struiren lassen, so dafs ihm die Priorität oder doch die Originalität der Selbst- erfindung verbleibt. Die Einfachheit des englischen Instruments empfiehlt sich sehr dem Reisenden, da man sogar aus freier Hand gute Approximationen erhalten kann. Die viel zusammengesetztere Behrnhauersche Construction 02 108 Erman über die magnetischen Verhältnisse eignet sich mehr für permanente Beobachtungslocale, und verdiente wohl zu einer Reihe von Observationen angewendet zu werden. Um für die Zu- kunft eine sicherere Einstellung als durch den Schatten zu gewinnen, habe ich der Branderschen Boussole in diesem Jahre die Vorrichtung mit dem Spiegel und einem kleinen Fernrohr mit Fadenkreuz geben lassen, und ge- denke sogar ein retroactives Corrections- Element für die Mittagsbeobachtun- gen von 1825 zu erhalten, wenn nemlich sehr viele Reihen genommen wer- den, immer abwechselnd ein mal durch den Schatten, und das andere mal durch den im Spiegel beobachteten Sonnenrand, so mufs, wenn die frühere Einstellung durch den Schatten allein, einen constanten, sich nicht durch + oder — hebenden Fehler bedingt hat, sich dieser durch die Mittleren er- geben. Wie wenig gewonnen wäre, wenn auch die absolute Richtigkeit sup- ponirt würde, erhellt daraus, dafs diese isolirte Bestimmung sich an nichts genaues in der Vorzeit anschliefst, um über die seculare Periode hiesigen Ortes urtheilen zu können. Zwar hat neuerdings Herr Encke aus den Ta- gebüchern der hiesigen Sternwarte Abweichungs -Beobachtungen der Ver- gessenheit entrissen, die zwischen den Jahren 1724 bis 1733 vom Astrono- men Kirch angestellt worden. Herr Encke beschliefst die sehr gefällige Mittheilung dieses Auszuges aus den Tagebüchern mit folgender Bemerkung: Alle diese Azimuthal-Beobachtungen sind aus Circummeridian-Höhen der Sonne, zu einer Jahreszeit, wo die Sonne sehr hoch steht. Man kann ih- nen schon aus diesem Grunde, und weil nirgends von einer Untersuchung des Instruments die Rede ist, kein grofses Zutrauen schenken. Nimmt man an, dafs die Änderung der Declination in diesen Jahren der Zeit proportio- nal war, so hat man ungefähr 17250... 41 00 30,5 ....12 25 32,5 ....12 18 33.0 a0 0. 12.40 woraus denn etwa folgen mag 1732 = 12 1 + 3,5 t wo t die Anzahl der Jahre. Es wird dann der Gegend von Berlin. 109 1725,0 = 11° 54,5 Fehler + 4,5 1730,5 — 12 13.7 BEP. on 1732,5=1412 20,8 - + 2,8 17385 = 412 4,8. et Wenden wir diesen Coefüizienten (3',5) an für die 93 Jahre von 1732-1825, so hätte die Mittagsabweichung um 5° 25’ 30” zunehmen müssen, welche zu den 12° 19’ des Jahres 1732 addirt 17° 44° 30” geben würden für das Jahr 1825; wir fanden 17° 40’ 15”,03. Eine Differenz von nur 4 30” auf die ganze Periode von 93 Jahren würde von einer Approximation zur Kenntnifs der Säcularen Periode zeugen, genauer als man unter gegebenen Umständen fast hoffen konnte. Aber wie sehr trübt sich die Ansicht, wenn man die wenigen Beobachtungen erwägt, die in der Zwischenzeit vorkommen, Die Manheimer Ephemeriden haben für Berlin in dem Jahre TE RAR AT: LIS3C A PT 51 ITS De Ser lliR DT AT E0r re 169 IE 18 TZ0 — caret 1 2): BE vE; Dann finden wir im astronomischen Jahrbuch 1809, dafs Herr Bode die Abweichung fand im Jahre 11. Juni 18° 5! 1805 ! 27. Juni 417 597 17. September 18 2 Endlich sagte mir einst Herr Tralles, er habe im Jahre 1819 die Abweichungen gesehen zwischen 17° 23’ und 17° 50’; nothwendig beziehen sich diese Extreme auf Nordlichter oder sogenannte magnetische Gewitter, wie ich selber am 30. October 1825 zwischen 6 und 12 Uhr Abends den Stab des Gambeyschen Declinatoriums einen ganz anomalen Sprung machen sah von beiläufig 20-25’ westlich über den 8° zugehörigen Stand, wahr- scheinlich bedingt durch ein starkes Nordlicht, welches der bedeckte Himmel 110 Erman über die magnetischen Verhältnisse nicht wahrnehmen liefs. Soviel liegt jedoch in der Aussage des Hrn. Tral- les, die ich mir sogleich aufschrieb, dafs im Jahre 1819 die Abweichung nie grölser war als 17° 50”. Es existirt aber kein Mittel aus so beschaffenen Elementen, das Gesetz der Säcular- Periode aufzufinden. Die so eben erwähnten früheren Versuche vom Jahre 1824 und fol- gende, um die Abweichung für Berlin zu bestimmen, hatten als die beste Approximation für den Mittag im October 1825 gegeben 17° 40° 15”, 03, und für das Maximum zwischen 1 und 2 Uhr p.m. 17° 40’ 53”, der damalige Bericht schlofs jedoch mit dem Wunsche, bessere Methoden als circum- meridiane Sonnenhöhen, und terrestrische mittelst des Theodoliten be- stimmte Signal- Azimuthe, und genauere Instrumente anwenden zu kön- nen, als dic damals zu Gebote stehenden. Beides ist nun im Jahre 1828 in Erfüllung gegangen, auf eine Weise, die wohl nichts zu wünschen übrig läfst, und die Hoffnung gewährt, dafs die in seiner Reise um die Welt von Herrn A. Erman nach dieser Methode zu gewinnenden Bestimmungen alles Zutrauen verdienen werden. IV. Der Apparat zur Bestimmung der Declination besteht in dem Besselschen tragbaren Passage -Instrument, dessen Vorzüge um Polhöhe, Zeitbestimmungen, Länge und Azimuthe, durch transitorische Aufstellun- gen auf Reisen oder bei Gradmessungen zu gewinnen, sich längst durch die Erfahrung namentlich des Herrn Professor Hansen auf Helgoland, und der Herrn Professor Struve und General Tenner bei der russi- schen Gradmessung bewährt haben, und neuerdings durch die in einem der neuesten Hefte der Schumacherschen Astronomischen Nachrichten voll- ständige Darstellung der Methoden und Entwickelung der Formeln durch Herrn Bessel unendlich gesteigert wurden. Betreffend die Anwendung des tragbaren Passage-Instruments auf Bestimmung der magnetischen Abweichung drückt sich Herr Bessel folgendermafsen aus ($. 17. des Aufsatzes Über den allgemeinen Gebrauch des Passage-Instruments): ‚‚Ich glaube nach dem was ich im vorigen Artikel angeführt habe, urtheilen zu dürfen, dafs ein kleines Passage-Instrument das bequemste und sicherste Hülfsmittel zum Gebrauche bei einer geographischen Expedition ist, und dafs es andere weit schwieriger zu transportirende Instrumente ersetzt. Ich kann aber die- sen Aufsatz nicht schliefsen, ohne noch einer Anwendung eines solchen der Gegend von Berlin. 411 Apparats zu erwähnen, deren Interesse vermehrt worden zu sein scheint, seitdem Hansteen, mit eben so viel Erfolg als Eifer den Magnetismus der Erde zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hat. Man kann nemlich das Azimuth der Axe des Instruments, welches durch die astronomische An- wendung desselben jedesmal bekannt wird (am vortheilhaftesten bei einer Zeitbestimmung), zur Auffindung der Abweichung der Magnetnadel be- nutzen, und also der geographischen Bestimmung eines Ortes, diesen Theil der magnetischen hinzufügen, welcher wegen des erforderlichen Azimuths, ohne diese Einrichtung schwieriger als die übrigen, mit derselben aber sehr leicht wird. Der Scharfsinn unserer mechanischen Künstler wird die zweckmäfsigsten Mittel entdecken, diese Anwendung des Azimuths zu machen.”’ Die Methode ist im Wesentlichen diese; wenn das Azimuth der Um- drehungs-Axe des Fernrohrs gegeben ist dadurch, dafs in seiner horizon- tirten Lage der Polarstern, und mit blofser Änderung der Höhe ein anderer bekannter Stern durch die Fäden geht, dann substituirt man dem Fernrohr eine kupferne Axe, auf welche die Boussole mit übergreifenden Y’s, wie bei den Niveaus der Passage-Instrumente gebräuchlich, aufgesetzt wird. Die alsdann abgelesene Einspielung der Nadel, verglichen mit dem astronomisch bestimmten Azimuth, giebt die Abweichung, mit all der Schärfe, welche nur immer die Beweglichkeit der Nadel, und die Sicherheit der Ablesung gestattet. Es bleibt jedoch die bekannte grofse Schwierigkeit, den wahren Nullpunkt des Boussolen-Limbus zu verifiziren, und seine Lage gegen die Mittellinie der kupfernen Axe oder, was identisch ist, der Umdrehungs-Axe des Fernrohrs. Ohne diese Controlle der Collimation der Boussole können die Beobachtungen mit Fehlern von ganzen Graden behaftet sein. Bekannt- lich hat man einige Vorschläge um diesen höchst wichtigen Punkt zu elimi- niren, worunter der scharfsinnigste wohl der Aragosche ist, das Objectiv des Fernrohrs mit einer hinzugefügten Linse so zu versehen, dafs man gleich deutlich einen durchaus nicht entfernten Gegenstand (Stern oder Signal) und einen sehr nahen (die abzulesenden Theilstriche der Boussole) sehen könne. Herr Bessel schlägt ein sehr einfaches Mittel vor, die dem Fern- rohr zu substituirende Boussole einer Umkehrung zu unterwerfen, dadurch, dafs ihre Boden-Platte, die den Stift trägt, beliebig auf den oberen und auf den unteren Rand des zylindrischen Ringes, der den Körper der Boussole 112 Enuan über die magneüschen Verhältnisse ausmacht, aufgesetzt werde. Die Mittlere aus den zwei so erhaltenen Le- sungen giebt die wahre, oder ein für alle mal die anzuwendende Oorrection. Leider fanden sich bei der Ausführung dieser höchst einfachen und scharf- sinnigen Methode technische Schwierigkeiten, und die Kürze der Zeit er- laubte nicht auf Überwindung derselben sich einzulassen. Nachdem wir uns fruchtlos abgemüht hatten, die Verification der Boussole auf irgend einem anderen oft sehr complizirtem Wege unter gegebenen Umständen zu erhal- ten, gab Herr Geheim-Rath Pistor eine höchst ingeniöse der, von Rams- den zur Collimirung der Passageinstrumente angewandten, ähnliche Me- thode an, und die Ausführung die er besorgen liefs, entsprach der Feinheit des Gedachten. Senkrecht auf die Axe, welche die Boussole tragen soll, ist eine starke Alhidade befestigt, sie trägt an ihren Endpunkten zwei Micros- cope; diese werden so eingestellt, dafs das Filament eines vor ihnen senkrecht auf die mit der Libelle horizontirte Axe herabhängenden Bleiloths gerade vor der Intersection ihrer Fadenkreuze gesehen wird; stellt man nachher die Boussole unter diese so eingestellte Microscope, so liest man vom Lim- bus die zwei Punkte die in einer Ebene liegen welche senkrecht ist, auf die horizontirte Axe der Boussole, und folglich entweder identisch oder doch parallel mit der optischen Axe des Fernrohrs. Der Unterschied den man findet zwischen der Summe der zwei abgelesenen Zahlen und 360° giebt die Correction. Es versteht sich, dafs diese Manipulation nicht bei jeder Beo- bachtung mit der Boussole zu wiederholen ist, die Correctionszahl vertritt sie in der Mehrheit der Fälle. Da aber der Ring, der in den Boussolen den Limbus abgiebt, nur eingelegt ist, nur durch starke Reibung an seiner Stelle haftet und durch die Erschütterungen einer langen Fahrt oder durch Tem- peraturverschiedenheiten sich doch etwas verrücken könnte, so ist es sehr zweckdienlich, diese Verilication gelegentlich wiederholen zu können. Schliefslich ist noch zu bemerken, dafs wenn die Conjuncturen der Reise, zufällige Trübung der Nächte oder die lange Dämmerung nördlicher Breiten keine Gelegenheit geben Sterne zu benutzen, das Passageinstrument die magnetische Abweichung durch Sonnen - Azimuthe mit einem sehr genü- genden Grade von Genauigkeit zu geben geeignet ist, vorausgesetzt die Zeit . sei bekannt durch vorhergehende und nachfolgende Beobachtung an den Chronometern. Für die Reise des Herrn Dr. Ad. Erman ist bestimmt das vorzügliche Kessels No. 1253., welches uns bei allen hier erwähnten z der Gegend von Berlin. 4413 Beobachtungen gedient hat. — Aus der Vergleichung der nächtlichen durch Fixsterne erhaltnen Abweichungsbestimmungen mit denen am Tage mittelst der Sonne erhaltenen ergiebt sich jedesmal die tägliche Periode mit grofser Schärfe, und man geniefst des Vortheils vor den anderen zu diesem Zwecke angewandten Methoden, die Festigkeit der Aufstellung des Instru- 5 mentes für die Zwischenzeit der Beobachtungen nicht postuliren zu müs- sen. — Beide Beobachtungsarten (durch Sterne und Sonne) wurden ange- wendet, um von Neuem die Declination zu bestimmen, an demselben eisen- freien Platz des Landsitzes bei Potsdam, wo die früheren Abweichungsbe- obachtungen gemacht sind. April 7. fand sich aus Durchgängen durch die von der Absehenslinie des Passageinstruments beschriebene Curve der Sterne « Ursae minoris, a Ursae majoris und £ Zeonis das Azimuth dieser Absehenslinie, wenn sie in horizontaler Lage gedacht wird: westlich von Norden 17.051 3,7 \ d:osıkich von Säd und östlich von Duden, und als um 10" 36’ Wahrer Zeit die Boussole in diesem Azimuthe aufgesetzt wurde, las man ab am: Nordende der Nadel 343° 38’ 0” Südende - — 163 380 :(f) Aus Ablesung des oben beschriebnen mikroskopischen Apparates fand sich an demselben Tage, dafs eine auf die Verbindungslinie der Y’s senkrechte Linie, durch die Limbuspunkte der Boussole 359° 59’ 30” und 180.,,-0),90 ging, deren Summe — 180° ist, folglich die Correetion magnetischer Azi- muthe = 0 anzeigt. Man erhält also für die Declination der Nordspitze 360° 0’ 0” — 343° 38’ 0” + 1° 6' 18”,7 = 17° 28’ 18,7 westlich der Südspitze 150 00 —163 330 +1 618,7=117 28 18 ‚7 östlich. (‘) Die Boussole ist, für ein im Mittelpunkte derselben gelachtes Auge, von links nach rechts herum mit Theilungszahlen die von 0 bis 360 gehen, versehen. Die Theilstriche sind von 10 zu 10 Minuten ausgezogen. Phys. Klasse 1828. 1% 114 Erman über die magnetischen Ferhältnisse Also 1828 April 7. 10° 36 W. Zt. Magnetische Abweichung — 17° 28’ 18”,7 W. Nahe vor Mittag des 8'* April wurde ein Sonnendurchgang durch das von Neuem aufgestellte Passageinstrument genommen, nach welchem der Son- nenmittelpunkt sich in der Collimationslinie befand, um 23" 45’ 33”, 00 des Chronometers, der nach den erwähnten Sternbeobachtungen und seinem bekannten Gange, für diesen Moment, vor Wahrer Sonnenzeit voraus war um: 0" 4° 21”,64. Hieraus ergiebt sich Azimuth der Collimationslinie 6° 34° 32,5 östlich von Süden. — Um 1* 50° W. Zt. wurde die Boussole in diesem Azimuthe aufgesetzt und abgelesen der Nadel Nordende 348° 57’ 30” - - Südende 168 57 30 Man erhält daher: 1828 April 8. 1" 50° W.Zt. Magnetische Abweichung = 17° 37’ 2”,5 W. Der Unterschied von 8’ 43”,8, um welchen die Abweichung um 1" 50’ west- licher war als um 10" 36’, entspricht der täglichen Periode wie sie aus an- derweitigen Beobachtungen sich für den Monat April ergeben hat ziemlich gut. Nach Gilpins beträgt alsdann der Unterschied der Extreme (bekannt- lich um 2" und 20" eintreffend) 17’,4, d.h. das Doppelte des von uns gese- henen Unterschiedes, welches sehr glaublich wird, da die eine unsrer Beo- bachtungsstunden dem westlichen Maximum sehr nahe, die andre aber nahe derjenigen Nachtstunde ist, wo die Abweichung ihren Mittleren Stand erreicht. Im Jahre 1825, an den Tagen vom 5'* bis 9“ April, fanden wir durch direete Beobachtung am Gambeischen Variationsinstrumente den Un- terschied für die besagten Stunden zu nahe 11’, d.h. um etwas gröfser als der hier beobachtete. Dafs aber dieses Phänomen zufälligen Verschieden- heiten stark unterworfen sei, ist anderweitig bekannt. : Nimmt man, wie am S'* April selbst Ablesungen an der Boussole des Passageinstrumentes es andeuteten, die Mittagsdeclination um 2’ 15” kleiner als die um 1* 50° W. Zt. beobachtete, so erhalten wir für diese: Mittagsdeclination ... April 8. 1828. 17° 34 47”,5 dieselbe fanden wir oben: October 1825. 17 40 15,0 der Gegend von Berlin. 115 Es ergiebt sich also eine Abnahme der Westabweichung von 5’ 27,5 im Laufe von 2,5 Jahre oder eine Jährliche Abnahme von 2’ 11”, welche eine nach langem Zunehmen nun wieder langsam rückgängige Veränderung der Declination beweist; denn wenn gleich die früher angewendeten Methoden und Instrumente den jetzigen sehr nachstehen, so war man doch dazumal sehr bemüht, durch vielfache Wiederholung und möglichster Strenge im Beobachten, diese Mängel zu heben, so dafs Fehler von mehreren Minuten für die endlichen Resultate, nichts weniger als wahrscheinlich sind. Neigung. Abgeschreckt durch eine in dieser Zeit von Herrn Hansteen ge- machte und uns mitgetheilte Erfahrung, nach welcher unter andern bei einer von ihm in Berlin angestellten Beobachtung der Limbus eines von ihm an- gewendeten Inclinatoriums an der Stelle der häufigsten Einspielungen der Nadel eine so starke Polarität ausgeübt hatte, dafs dadurch ein Fehler von einem ganzen Grade auf das Endresultat bewirkt ward, glaubten wir im Jahre 1824 bei einem von uns angewendeten vortrefllichen Gambeyschen Inclinatorium die gewöhnlichen Beobachtungsmethoden verlassen zu müssen, bei welchen die Ablesungen der Nadel immer, mehr oder weniger nahe, an ein und derselben Stelle des Limbus geschehen. Zwei schon vor längerer Zeit von vollwichtigen Autoritäten in Vorschlag gebrachte bisher aber min- der häufig angewendete Methoden zur Neigungsbestimmung empfehlen sich namentlich dadurch, dafs sie theils die Nadel successiv mit sehr entfernten Stellen des Limbus in Beziehung bringen, theils auch eine vom etwanigen Einflusse des Limbus gänzlich freie Beobachtung zur Constituirung des End- resultates concurriren lassen. — Die eine dieser Methoden von La Place vorgeschlagen, findet den Sinus des Neigungswinkels durch Beobachtung der von der Nadel angewendeten Zeiten: einmal um eine Öscillation in der Ebne des magnetischen Meridianes, und dann in der auf dem magnetischen Me- ridiane senkrechten Ebne zu vollenden. Bei dieser kommt also die Nadel successiv in Beziehung mit der Limbusstelle, welche der Neigung des Ortes entspricht, und mit derjenigen, welche den Theilstrich von 90° umgiebt. Die andre zuerst von Capitain Sabine wirklich angewendete Methode be- steht in Beobachtung der Schwingungszeit einmal wie oben erwähnt in der 8 p2 116 Enman über die magnetischen Verhältnisse Meridianebne, dann aber nach Aufhängung der Nadel an einem Seidenfila- mente, in der horizontalen Ebne. Man findet hier den Cosinus des Nei- gungswinkels, und die zweite Hälfte der Beobachtung ist von jeder etwanigen Einwirkung des Limbus gänzlich frei. Um geschützt zu sein gegen die Fehler, die durch mangelhafte Coin- cidenz des Schwerpunktes mit dem Umdrehungspunkte der Nadel entstehen, wendeten wir auch hier die bei unmittelbaren Einstellungsbeobachtungen ge- wöhnlich Vorsicht an, eine jede der Beobachtungen einmal bei ursprünglicher Lage der Pole der Nadel anzustellen, dann aber nach Inversion der Pole durch Umstreichen, zu wiederholen. Bezeichnen M, P, H respective die Schwingungszeit in der Meridian- ebne, in der Ebne des magnetischen ersten Verticales und in der Ebne des Horizontes, so erhält man bekanntlich Se: I? Sin. inclin. = — Ba: M? Cos. inclin. = Be Zwei zum Gambeyschen Instrumente gehörige Nadeln, die wir mit # und 3 hier und in der Folge bezeichnen, gaben nach der ersten Formel: Mittel Nadel # vor dem Umstreichen 68°.47’ 4" \ 68° 377 18” nach - - 08%27131 Nadel 3 vor dem-Umstreichen 68 32 30 nach - - 69 16 25 Nach beiden Nadeln....0s.ceseccosoeen... 680 45’ 52” } os 54.27 nach der zweiten Formel aber gab: Mittel T B un: fe) ‚ " Nadel # vor dem Umstreichen 68° 49 5 } 68° 47’ 20” nach - = 685 45 36 . Nadel 2 vor dem Umstreichen 69 1 4 } 69 nach - = 69 6 53 Nach beiden Nadeln...... 08595 358 bei deren Gesammtresultat: 68° 50’ 45” der Gegend von Berlin. 447, man als einem der Wahrheit sicher sehr nahe kommenden Werth für die Neigung in Berlin für das Jahr 1824 stehen zu bleiben berechtigt ist. Im Jahre 1805 fand sie Herr v. Humboldt 69° 53. Dieser Uhter- schied von nahe Einem Grad in 19 Jahren stimmt ganz genau überein mit der in Paris und in London gefundenen Abnahme der Inclination von 3° jährlich, während derselben Periode. Als eine Bestätigung dieser Abnahme, und als Gewährleistung für obige Neigungs-Bestimmungen in 1824 verdient wohl erwähnt zu werden, dafs ein Bordasches Inclinatorium von Mendelsohn verfertigt, ganz nach dem Humboldtschen Exemplare, mir im Jahre 1812 für Berlin folgende unmittelbare Einspielungen gegeben hatte, (denn zur Ausübung der Öscillatorischen Methode war es nicht geeignet) 1.:.69° 30° 2. 69 0 nach Umwendung der Axen 3. 69 50 nach Umwendung des Limbus 4. 69 15 nach Umwendung der Axen. Und nach der Umwandlung der Pole durch Umstreichen, in derselben Rei- hefolge 69° 30’ 69 0 69 45 68 45 Das Mittel aus allen giebt 69° 15’ 37” für die Neigung in 1812. Nun giebt jetzt dieselbe individuelle Mendelsohnsche Nadel als Mittlere derselben Rei- henfolgen 68° 48’ 0” für 1824, welches sich an das Resultat des Gambey- schen Inclinatoriums sehr nahe anschliefst, und durch Vergleichung mit dem obigen Endresultat für 1824 ebenfalls eine Abnahme der Neigung giebt von 2-- Minute jährlich. Als eine andere Bestätigung der von uns gefundenen Neigung, ver- dient noch erwähnt zu werden, die oben angedeutete Beobachtung durch Herrn Hansteen. Als er im October 1824 in Berlin die Neigung beobach- tete, bediente Herr Hansteen sich einer zu seiner Sibirischen Reise be- stimmten Nadel, welche zwar klein ist (beiläufig 44 Zoll) wie es die Trag- barkeit des Instruments erfordert, aber sehr gute Einrichtungen zur Anwen- 4118 Enrman über die magnetischen Ferhältnisse dung der Maierschen Formel hatte, und zur Correction der etwanigen Feh- ler der Axe. Diese Nadel spielte damals in einem anderen Limbus als dem gewöhnlichen von Dollond construirten, und zur Reise bestimmten. Drei Reihen wenig von einander abweichend gaben ihm 67° 56”. Dieses Ab- weichen um einen vollen Grad von meiner Bestimmung war um so unange- nehmer, weil es für die Zukunft dem Anschliefsen der Sibirischen Beobach- tungen an die südlichen Humboldts durch Vermittelung der Berliner Station neue und zum Theil unüberwindliche Hindernisse entgegensetzte. Als je- doch bei seiner Rückreise Herr Hansteen in Kopenhagen und in Christiania die Neigungen dieser Nadel in dem Gestell welches er in Berlin angewendet hatte verglich mit denen, die sie früher und noch Jetzt in ihrem gewöhnlichen Dollondschen Limbus an diesen Örtern gab, so fand er einen Unterschied von mehr wie 1 ganzen Grad, um welchen alle seine Bestimmungen der Berliner Reise zu vermehren waren. Die Prüfung des interimistischen Lim- bus mittelst einer flüchtigen Nadel zeigte in der That, dafs der untere Theil desselben eine merkliche südliche Polarität hatte, und der obere eine etwas schwächere nördliche. Herr Hansteen suchte nun durch passende Ver- gleichungen ein genaues Correctionselement für seine Berliner Beobachtun- gen, und es fand sich, dafs die Nadel im Dollondschen Frame, der frei von Polarität ist, gegeben haben würde 68° 49’ 30”, welches nur um 1’ 16” ab- weicht von 68° 50° 46°, welches wir mit dem Gambeyschen Instrument durch die Oscillatorische Methode gefunden haben, eine sehr genügende Übereinstimmung. Durch die ziemlich genügende Übereinstimmung der Resultate, welche durch die verschiednen oscillatorischen Methoden erhalten wurden, sowie auch durch directe Prüfung mittelst einer flüchtigen Nadel, beruhigt über die etwanige schädliche Einwirkung des Limbus bei dem von uns angewen- deten individuellen Inclinatorium, haben wir in den folgenden Jahren uns desselben zu der üblicheren Beobachtung unmittelbarer Einstellungen der Nadel bedient, und zwar das arithmetische Mittel genommen aus den 16 verschiednen Ablesungen, welche man durch Umkehrung des Limbus, Um- legung der Axe und Inversion der Pole erhält. In allen Fällen nämlich, wo die Incongruenz des Schwerpunktes und Umdrehungspunktes so klein ist, wie es bei den Gambeyschen Nadeln der Fall ist, reducirt sich die von Maier zur Rechnung g angegebne Formel: der Gegend von Berlin. 119 er (sß-+ tg Y)—(tga+tg8) (ER tgy) — (tg tg 0) fe) auf Ziehung des Arithmetischen Mittels aus den einzelnen Ablesungen I } So fanden wir im Jahre 1826 die Neigung wie folgt: Inclination der Magnetnadel. 1826. Nov. 26. 9" -1* Morgens (im Garten des Französischen Hospitals). Nadel 4. Limb. Ost.se.ccecessesereee 68° 33’ obere Spitze 32 untere Spitze 68° 32’ 30” Dumb,. West... 09° 15 0, 20: u. 692°.477.30% INIIIEN Aessnsan dns 68° 55’ bei umgelegter Nadel Limb. West...... esse 0480: Su mb Te Nittel 2 ee 68° 47’ Mittel aus beiden: 68° 51’ Nach umgewandten Polen Lumb, Ostens. hl 95 Q 67 5 u 67° 55 Tinbe Westanneen 12:4+090.23. 0, BB 69° 23’ Nhttelseec he 68° 39° 120 Erman über die magnelischen Verhältnisse bei umgelegter Nadel Tıimb. West... ne OISAH RD: 45 u. Limb: Ost... ROSEN ISDO: 08° 184304 DILLOL ae nenne 68° 54’ 15” Mittel aus beiden: 68° 46’ 37”,5 Neigung der Magnetnadel nach 4: 68° 48’ 48”, 75. "Nadel 2. Tamm Ostsee 68° 41’ 42 68° 41’ 30” Limb; West. .unssanaosienent 69° 18’ 20 69° 19 Nittel. ssa nie 69° 0’ 15” bei umgelegter Nadel Limb. West........ FE 68° 48’ 48 65° 48’ Lirabs!OSR. „ucasessoanessenen 68° 58’ 69 0 685° 59’ Mitlel ass gsungasnse 68° 53’ 30" Mittel aus beiden: 68° 56’ 52”, 5 der Gegend von Berlin. 121 Nach umgewandten Polen: Timber Ost... Wash a 68° 23 23 68223 Einbs Westens BEA 47 68° 46 Mirtelesasperssnem ‚08° 34.30" bei umgelegter Nadel Limb. West. ran 083 23 68° 33’ Iımbe Dabei. sen 05 12} 12 68° 12’ Mittels se ansses szene 65° 22’ 30” Mittel aus beiden: 68° 28’ 30” Neigung der Magnetnadel nach 368° 42° 41 Neigung der Magnetnadel nach #7 _ 68 48 48, Mittel... ee BB Ah A Also um 5’ 0” kleiner als in gleichem Monate des Jahres 1524, und es ergäbe sich demnach wiederum eine Abnahme der Neigung von 2’ 30” jährlich. Endlich wurden an dem obenerwähnten Beobachtungsorte bei Pots- dam unmittelbar vor Antritt der Sibirischen Reise, zu welcher das Inclina- torium von der Akademie bewilligt worden war, folgende Beobachtungen angestellt. Bei Potsdam April 8. 1828. um Mittag. Nadel 4. | Nach umgewandten Polen. Limb. Ost... 68° 30,0 oben Limb. Ost... 68° 47,0 oben 68 20,0 unten 68 43 ‚0 unten u 689 25’, 0 u 68° 45’, 0 Phys. Klasse 1828. Q 122 Limb. West.. 68° 26,0 o. 68 .30,0.u: 689 28, 0 bei umgelegter Nadel Limb. West.. 68° 15',0 0. 682255 Ohu: 68° 10,0 Limb.: Ost...67°56,,5:.0: 68 7,0u. 67° 59,3 Nittel 6824530" Also Neigung nach Nadel 4 032 32. Ebenso gab an demselben Tage Erman über die magnetischen Verhältnisse Limb. West.. 68° 51,0 0. 68 59,0u. 68° 55, 0 bei umgelegter Nadel Limb. West.. 68° 47’,0 0. 68 40,0u. oO 68° 43/5 Eımb, Ost... 68°.50/,0 0, 68 58,0u. 689 54,0 Mittels. 689 49’ 23” 29”, 5. Nadel B Limb. Ost... 69° 56,0 oben 69 49,0 unten 69° 52',5 Limb. West.. 67° 12°,0 o. 67 20,0 67° 16',0 bei umgelegter Nadel Limb. West.. 67° 51’,0 0. 67 44,0. 67° 47,5 Limb. Ost... 69° 52',0 o. 69° 55,0 Mitteleecceeeeee. 65° 42 45” und Neigung nach Nadel 3 Nach umgewandten Polen. Limb. Ost... 66° 55,0 oben 66 409,0 unten 66° 52',0 Limb. West.. 69° 49,0 o. 69 49,0u. 69° 49,0 bei umgelegter Nadel Limb. West.. 68° 34,0 o. 65 39,0u. 680 367,5 Limb. Ost... 68° 5,00. 68 11,0u. 68° 8,0 Mittels. 68° 21/23” 68° 327 4°,0 der Gegend von Berlin. 4123 und im Mittel aus den Angaben beider Nadeln für April 8. 1528. 68° 32210,.19: Um behufs Ermittelung der jährlichen Veränderungen die Beobach- tung des Jahres 1826 mit der gegenwärtigen vergleichen zu können, mufs die letztere erst corrigirt werden für den Breitenunterschied zwischen dem Berliner und Potsdammer Beobachtungsort, deren letzterer nach unsern Pol- höhenbestimmungen nm höchst nahe 8’ südlicher liegt als der erstere. Die sowohl durch mathematische Betrachtungen als durch Beobachtungen selbst als annähernd wahr bestätigte sogenannte Kraft’sche Analogie, nach welcher tgi=.2tg/, woidie Neigung, / die magnetische Breite bedeutet, kann mit völlig genügender Sicherheit angewendet werden, wenn es sich nur darum handelt, die Inclinationsveränderung zu ermitteln, welche einer nicht grofsen Breitenveränderung entspricht. Durch Differentiation der eben an- geführten Formel findet man aber: We cos?i al {+3 cos? aim 2a — fe Diese giebt angewendet für den gegenwärtigen Fali von 2 = 68° 32’ und A=-+$ AN =8x0,70=-+5',60 um welche die Neigung in Berlin gröfser zu setzen ist als die bei Potsdam beobachtete. Wir erhalten demnach successive für Berlin Neigung Norb. 1824. Novb. 1826. 65° 45’ 45 April 1828. 68° 37’ 53” Hierbei mufs es einstweilen unentschieden bleiben, ob die anscheinend stär- kere jährliche Abnahme, welche aus den zwei letzten Beobachtungen sich ergiebt, nicht vielleicht theilweise auch von einer monatlichen Periodizität der Neigung herrührt, vermöge welcher die Inclination im Frühjahre gerin- ger wäre als im Herbste. Q2 124 Enman über die magnetischen Ferhältnisse Tägliche Periode der Declination. (*) Die Periode der täglichen und jährlichen Veränderungen, welche die Magnetnadel in ihrer jedesmaligen Stellung darbietet, zuerst beobachtet von Tachart in Siam 1682, Graham zu London 1722, Muschenbröckh zu Utrecht 1728 und von Canton 1759, wurde seitdem von vanSwinden und Cassini mit dem anhaltendsten Fleifs und mit gediegenem wissenschaftlichen Sinne einer schr strengen Prüfung unterworfen. Man mufs sehr bedauern, dafs die Herren von Humboldt und Oltmanns den Physikern bis auf diese Stunde die Resultate vorenthalten haben, die sie im Jahre 1805 in ei- nem sehr grofsen Mafsstabe erhielten, in Berlin, mittelst eines frei aufge- hängten Pronyschen Fernrohrs, welches durch einen Magnetstab geführt, feine Theilstriche von einer weit entfernten Signal-Tafel peilte. Vor eini- gen Jahren liefs Herr von Humboldt bei Gambey ein Instrument für die Akademie ausführen, welches im Zimmer geradezu und ohne die Auistellung und nächtliche Erleuchtung eines weit entfernten Signals zu erfordern, die- selbe Bestimmtheit und Genauigkeit der Beobachtung gewähren sollte, als die grandiose aber schr unbequeme Methode mit dem Pronyschen magne- tischen Fernrohre. Da die Örstedtsche Revolution in der Lehre vom Magnetismus ein neues Interesse über alle Modificationen dieser Thätigkeit verbreitet hat, und namentlich über die durch tellurisch - cosmische Ursachen bedingte tägliche und jährliche Abweichung, so unternahmen es Mehrere, diese Erscheinung zu beobachten, welches sehr erwünscht ist in jeder Hin- sicht, und vorzüglich deshalb, weil bekanntlich van Swinden zwei sehr problematische Resultate gefunden haben wollte, dafs nemlich die tägliche Abweichung mit derselben Nadel an zwei wenig entfernten Beobachtungs - (') Die wenigen über diesen Gegenstand von uns angestellten Beobachtungen hatten nur den Zweck, den obigen Deelinations- Beobachtungen durch passende Reductien einen abso- ’ 5 5 1 luten Werth zu geben, dadurch, dafs für die beiläufg betreffende Beobachtungszeit auch 5 : ’ = 5 die tägliche Abweichung von der Abweichung bestimmt wurde. Auf eine anhaltend fort- gesetzte Reihe, bezuglich auf den Gang der täglichen Periode für das ganze Jahr, die ano- malen Störungen derselben, und ihre Parallelisirung mit dem in entfernteren Gegenden Beobachteten, konnte nicht eingegangen werden aus Mangel eines passenden Locals und der erforderlichen Mufse. der Gegend von Berlin. 125 Orten sich verschieden ergiebt, und dafs an einem und demselben Ort ver- schiedene Nadeln auch verschiedene Modificationen der Abweichung geben. Da nun aber die Veränderungen die hier Statt finden an sich sehr gering sind, und beiläufig nur 12-15 Minuten im Bogen betragen, so mufs ein Instrument sehr vollkommen sein um dieses mit Sicherheit anzugeben, trotz der Trägheit, der Reibung, der Collimationsfehler und der unvermeidlichen Erschütterungen des Bodens in den Städten. Wohl kann man mit einer gewöhnlichen Boussole aber mit ungewöhnlichem Beobachtungstalent die tägliche Abweichung ablesen, wenn man zu verschiedenen Tageszeiten den- selben gehörig entfernten Gegenstand peilt,; die meisten aber kennen diese Methode nicht, oder würden es für Anmafsung halten, sich eine solche Schärfe der Sinne zuzumuthen; auch fallen hiebei alle nächtlichen Beobach- tungen weg. Es steht daher zu befürchten, dafs man sich halten werde an der von Barlow und Christie in Vorschlag und in Ausübung ge- brachten Methode den Werth der täglichen Abweichung künstlich zu ver- gröfsern, dadurch, dafs man wie bei den mineralogisch- magnetischen Prü- fungen die Intensität der dirigirenden Kraft durch Annäherung eines addi- tionellen Magneten, welcher die Nadel von ihrem natürlichen Azimuth ab- lenkt, vermindert und hiemit den Abweichungsbogen von 12 Minuten, auf 2 bis 3 Grad steigert. Mit wievielen Elementen, deren Zahlenwerth man nicht anzugeben vermag, sich die Sache auf diese Weise complizire, wie da- durch jede Beobachtungsreihe gleichsam ein Individuum wird, bedingt durch Lage, Entfernung und relative Intensität des additionellen Magneten, springt in die Augen, und wir werden unwillkührlich daran erinnert, dafs einfache Naturgesetze nur einfachen Prüfungsmitteln zugänglich sind. In dieser Lage der Dinge zog mich das mit einer solchen Empfehlung von Humboldt eingeführte Gambeysche Instrument absonderlich an, weil es sehr einfach ist, und ohne im Wesentlichen etwas zu verlieren, noch viel- mehr vereinfacht werden kann, so dafs es sich jeder selbst darstellen kann. Ein Stahlstab 18 Zoll lang hängt an einem ungesponnenen Seiden- faden, oder vielmehr an einem Bündel von so vielen solcher Fäden, wie eben die Belastung zu tragen vermögen. Bei der magnetischen Intensität des Stabes, und bei der Hebelkraft die seiner Länge entspricht, ist der Tor- sions-Widerstand dieser Suspension ein verschwindender. Das Kopfstück, welches das Aufhängungs-Filament trägt, hat eine sehr sinnreiche Einrich- 126 Enman über die magnetischen Verhältnisse tung o) Gränzen zu corrigiren, um bei Aufstellung des Instruments dem Mittelpunkte um den Mittelpunkt der Aufhängung nach Belieben innerhalb gewisser der Bogen, welche die Stange beschreibt, eine bestimmte Stellung zu geben. Auch ist ein Mechanismus dabei, um den Stab, ohne Schwankungen zu ver- ursachen, aus der schwebenden Lage in die Ruhe zu bringen, indem man ihn auf die Bodenplatte des Instruments niederläfst. Doch sind beide Me- chanismen entbehrlich, wenn man die gleich zu erwähnende graphische Me- thode wählt, welche die einfachste und sicherste ist. Der schwebende Mag- netstab trägt an seinen beiden Enden eine nach oben gekehrte kleine Platte, auf welcher sich eine fein getheilte Scale befindet, deren Striche einen De- cimalgrad in Zehne theilen. Über diese Ablesungsscale steht ein Microscop, dessen Fadenkreuz den Strich angiebt, welchen der Magnetstab bei seinem täglichen hin und her oscilliren jedesmal unter die Intersection des Faden- kreuzes bringt. Um nun den Werth des beschriebnen Abweichungsbogens zu finden, haben die Microscope eine Micrometer-Bewegung, die an einer Scale angiebt, um wieviel Minuten im Bogen das Fadenkreuz verrückt wer- den mufs, um den Stab in seiner veränderten Stellung zu verfolgen. Aber auch dieser micrometrische Apparat ist entbehrlich oder vielmehr unanwend- bar, denn in einer Stadt, in einem bewohnten Hause, und vollends in einem Wohnzimmer sind stets der Sollizitationen zur Bewegung soviel, dafs man nie selbst nicht bei Nachte den Stab in der vollkommenen Ruhe finden wird, die nöthig wäre zu einer richtigen micrometrischen Ablesung auf diesem Wege. Wahrscheinlich ist der Mechanismus, der den Stab sanft aus dem schweben- den Zustande in den der Ruhe auf der unteren Marmorplatte versetzt, be- stimmt, dieser Schwierigkeit abzuhelfen, und die Micrometrische Lesung an der nunmehr ruhenden Stange zu vollziehen. Dieses Mittel ist jedoch höchst verfänglich; immer berührt der Stab die Bodenplatte in einigen Punkten frü- her als in allen andern, um diesen Stützpunkt macht nun die Stange eine kleine Bewegung, und kommt in eine andere Lage; abgesehen davon, dafs der Schwerpunkt auch nicht so mathematisch genau liegen kann, dafs nicht im Augenblick wo der Boden berührt wird, ein kleines Wippen statt finden sollte. Diese Umstände sind von grofser Wichtigkeit, wenn man bedenkt, dafs die ganze Gröfse, um welche es sich handelt, nur wenige Minuten im Bogen beträgt. Es ist viel gerathener den schwebenden Magnetstab ganz frei seinen natürlichen und zufälligen Schwankungen zu überlassen, und bei der Gegend von Berlin. 427 jeder einzelnen Beobachtung mit dem Microscop die jedesmaligen Grenzen seiner Oszillationen scharf zu beobachten, die halbirte Schwingung ist der Stand der Nadel, wenn sie keine Bewegung hätte. Eine graphische Notation dieser Beobachtungen erleichtert das ganze, und gewährt eine in allen Din- gen dieser Art willkommene Anschaulichkeit. Man entwerfe nemlich mit einem gröfseren Mafsstab die Scale welche das Ende des Stabes bei seinen Os- zillationen unter dem Fadenkreuz hin und her bewegt; merke genau bei je- der Beobachtung zwischen welchen Strichen, und welchen leicht abzuschätzen- den Unterabtheilungen die Oszillationen geschehen, deren man immer meh- rere und wenigstens drei nehmen mufs; diese Grenzen trägt man auf dem Diagramm an ihren wahren Stellen ein mit zwei Punkten, und die halbirte Linie zwischen beiden Punkten ist der Stand der Nadel zur Zeit der Beo- bachtung; dafs sie einen anderen Stand eingenommen, durch vermehrte oder vermin- und nach einigen Stunden wird man auf dieselbe Weise finden, derte Westliche Abweichung. Will man nachher aus mehreren Reihen die- ser Art eine graphische Darstellung des Phänomens entwerfen mit den zuge- hörigen Zahlenwerthen der täglichen Oszillationen in Minuten, so gehört nur dazu, dafs man den Werth in Minuten kenne für eine der Eintheilungen der Scale, das heifst den Werth des Bogens, zu welchem der Umfang der ganzen Scale als Chorde dient, wenn die halbe Länge des Stabes als Radius genau gemessen worden. Dann trage man rechts und links von einer gezo- genen Mittellinie Theilstriche von zwei Minuten zu zwei Minuten Werth. Die horizontalen Linien bedeuten die Beobachtungsstunden, die Mittlere Linie ist die Mittlere aller Oszillationen, die Westlichen Elongationen zur Rechten, die Östlichen zur Linken sind bestimmt nach der Zeit wo sie ein- treffen durch die horizontalen Striche, und ihr Werth im Bogen durch die senkrechten. Als Beispiel diene die Curve für 40 Stunden Tag und Nacht ununterbrochen von Stunde zu Stunde, von 7 Ubr Morgens am 5. April bis zu Mitternacht am 6. Auf dieselbe Weise sind in Tafel II. die Beobachtun- gen von 7 Morgens bis 11 Abends in ihren Mittleren dargestellt, durch die Curve für den 12. bis 16. April. Es mufs bemerkt werden, dafs die Minu- ten dieser Tabellen Centesimale sind, den Kreis zu 400 Grad genommen, weil das Gambeysche Instrument nach diesem Modulus construirt ist. Die Ubereinstimmung dieser Curven nach Stunde und Werth der Elongation, ist angenehm überraschend, und während der zwar kurzen Zeit, wo ich mich 128 Enman, über die magnetischen Ferhältnisse mit diesen Beobachtungen beschäftigte, sahe ich keine Abweichung von der Regelmäfsigkeit der Periode, aufser am dreifsigsten October wo zwischen 6 und 12 Abends die Acht Uhr Beobachtung einen ganz anomalen Sprung von beiläufig 20-25 Minuten westlich über den gewöhnlichen dieser Stunde zugehörigen Stand zeigte, wahrscheinlich bedingt durch ein Nordlicht, wel- ches der bedeckte Himmel nicht wahrnehmen liefs. Ich hätte meinen Zweck erreicht, wenn man diese Klasse von Beobachtungen aller Orten allgemein so empfohlen hätte, wie sie es'verdient; denn ausführbar ist sie für jeden und fast ohne alle Kosten, sie erfordert nur einen stark magnetisirten Stahl- stab, der aber füglich nicht länger sein darf als eben gesagt, um der zu gro- fsen Langsamkeit der Schwingungen zu entgehen; dann einen Kasten etwas länger wie der Stab, in dessen Deckel man zwei Öffnungen macht, eine klei- nere runde in der Mitte um darin senkrecht die Röhre zu befestigen, die den Aufhängungsfaden trägt, und eine gröfsere gegen das eine Ende des Kastens, um die Bewegungen 1 Stabes zu sehen. Dem Stabe giebt man etwa auf einem Kartenblatt eine Scale, deren Werth man in Graden des Bogendiden der Stab beschreibt kennt, und über der Glasplatte mit welcher man die gröfsere Öffnung zur Durchsicht bedeckte, befestigt man ein Microscop mit einem Fadenkreuz, und ist nun im Stande, die tägliche und jährliche Periode für jede Localität zu bestimmen, und den etwanigen Einflufs der Meteore, als Wärme, Sturm, Gewitter und Nordlicht anschaulich und ganz bestimmt wahrzunehmen bei Tag und bei Nacht mit Zahlenwerth. Man erhält durch diese Vereinfachung des Apparats den unschätzbaren Vorzug alles Metall ent- fernt zu haben, da wir jetzt wissen, dafs sie alle magnetisch polarisirbar sind, und wir weit entfernt sind mit Plinius vom Eisen zu sagen: S'ola haec mate- ria vires a magnete lapide accıpit reinetque longo tempore, aliud apprehendens Ferrum ut annulorum catena spectetur interdum, quod imperitum vulgus fer- rum vivum appellat. Viel mehr haben wir uns Jetzt in allen magnetischen Angelegenheiten zu hüten vor cuprum vivum, aes vivum, ja wie ich finde vor argentum vivum vivum. Herr Oltmanns fand sich bewogen während der Periode unserer Be- obachtungen eine gleichlaufende Reihe anzustellen, nach einer durchaus ver- schiedenen Methode, nemlich durch das Peilen eines entfernten Gegenstan- des mittelst einer gewöhnlichen geodätischen Boussole von vorzüglicher Güte. Die Reihe die ich die Erlaubnifs habe hier vorzulegen, geht vom 22. März der Gegend von Berlin. 129 bis zum 29. Mai, und zu ganz verschiedenen Tagestunden. Die Überein- stimmung der Resultate so verschiedener Methoden ist überraschend er- freulich. Übergehend vor der Hand jede detaillirtere Behandlung, wozu diese Beobachtungsreihen sich erst eigenen werden, wenn sie eine gröfsere Periode umfassen, genüge uns sie in Beziehung zu bringen mit den zwei oberwähn- ten problematischen Bemerkungen van Swindens. Denn so wie Herr Oltmanns und ich den Verlauf der täglichen Periode gefunden haben, gerade so beschreibt ihn Cassini, so Marc Beaufoy, der neuerdings mit vorzüglichen Instrumenten und grofsem Fleifs vieljährige Beobachtungen dieses Phänomens mitgetheilt hat. Wenn in Berlin im Mai 1825 die vor- mittagige Schwankung von einem Extreme zum andern 10’, 1 betrugen, so sah sie Obrist Beaufoy zu Bushey Headt im Mai 1317 von 10’ 15” und im Mai 1818 von 8° 31”; und wenn die Nachmittagigen bei uns 7’,3 betru- gen, so fand sie Beaufoy im Mai 1817 von 7’ 50”, und 1818 von 7’ 1:4”. Die von van Swinden behauptete Verschiedenheit der täglichen Periode selbst in wenig entfernten Gegenden bestätigt sich hier wahrlich nicht. Sollte vielleicht die Behauptung dieses ausgezeichneten Beobachters, der über die- sen Gegenstand über 40000 Beobachtungen angestellt hatte, sich lediglich beziehen auf einen localen Mittelpunkt magnetischer Anziehungen, der of- fenbar seinen Standpunkt beherrscht, da behauptet wird, dafs zwischen Spa- rendam und Amsterdam ein Abweichungsunterschied von mehr wie volle zwei Grad statt findet, und sogar ein Punkt angetroffen werden soll wo die Nadel ein beinahe vollständiges Affollement erleidet. Die oben erwähnte Übereinstimmung e) schiedene Nadeln verschiedene Perioden halten, eben so ungünstig; denn ist der zweiten problematischen Behauptung, dafs ver- wahrlich es kann kaum eine gröfsere Verschiedenheit gedacht werden als zwischen der auf einem Hütchen laufenden leichten Boussolnadel, und dem langen massiven Stab des Gambeyschen Instruments, und doch stimmen bei- der Angaben überein. Es ist jedoch nicht schwer, für van Swindens Be- hauptung einen sehr wahren Sinn zu finden; wenn nehmlich unter Verschie- denheit zweier Nadeln verstanden wird, dafs eine oder vielleicht beide un- symmetrisch gestrichen sei, so dafs in der Hälfte die rein nördlich oder rein südlich sein sollte, eine Strecke mit entgegengesetzter Polarität obwaltet. In diesem Fall entsteht nothwendig eine Abnormität der Richtung, und eine Phys. Klasse 1828. Fe 130 Erman über dıe magnetischen Verhältnisse Schwächung der dirigirenden Kraft ganz ähnlich der Barlowschen Ablen- kung durch einen additionellen Magnet, wodurch man sehr viel gröfsere täg- liche Variationen erhält, z.B. von drei bis vier Grad, während eine sich selbst überlassene symmetrische, beiläufig nur 12-16 Minuten im Bogen oszillirt. Das möglichst grofse Extrem des unsymmetrischen wäre offenbar wenn eine Nadel an jedem Ende einen Südpol hätte, und eine Nordpola- rische Strecke in der Mitte. Dies führte mir lebhaft zu Gedächtnifs, dafs im Journal de Physique, Septembre 1812. Band 75. Seite 178. Herr Schüb- ler die Bemerkung mittheilt, dafs ein Stab von 3 Fufs Länge so gestrichen, dafs er zwei Südpole hat, fast ohne alle Abweichung in den astronomischen Meridian einspielt, und tägliche Abweichungen zeigt von beiläufig 3 Grad. Thomson über diesen Aufsatz einen Bericht in seinen Annales, August 1813. S. 92. abstattend, zeigt unumwunden genug, wie geneigt er sei, die Factizität in Anspruch zu nehmen (far from convinced of their accuracy), em- pfiehlt jedoch diese Angelegenheit einer sorgfältigen Prüfung, die aber wie es scheint nicht Statt gefunden, und so gerieth die Sache in Vergessenheit. Und doch hat sie in so fern Richtigkeit, als Stahlstäbe und Eisenstäbe genau nach der Angabe gestrichen, nie im magnetischen Meridian einspielen und tägliche Oszillationen von 3-4 Grad geben; doch mufs bemerkt werden, dafs es unmöglich zu sein scheint, einem Stabe zwei Südpole zu geben in dem Sinne, dafs jedes Ende des Stabes sich ganz gleich nach Norden wende wenn man es eben in dieses Azimuth führt. Alles was ich bis jetzt trotz aller Bemühung und aller Verschiedenheit des Streichens erlangen konnte, war eine Südpolarität an beiden Enden, aber die Eine immer etwas stärker als die andere, so dafs der Stab immer dasselbe Ende gegen Norden führte, und also nur zu betrachten war nach Analogie der Barlowschen Methode als ein Magnet von unendlich geschwächter dirigirender Kraft, der aus diesem Grunde viel stärkere tägliche Abweichungen giebt; wie denn auch in der That ein solcher Stab vorzüglich bei seiner grofsen Länge so ungemein lang- same Schwingungen macht, dafs es unmöglich ist, seine Richtung mit Ge- nauigkeit anzugeben, es sei unmittelbar, oder durch Halbirung der Schwin- gungen, um so mehr da eben seine geringe dirigirende Kraft ihn allen Luft- ströhmungen Preis giebt, die selbst in einem verschlossenen Kasten durch Temperaturveränderungen bedingt werden. Sehr oft fand ich den Stab um 6 Uhr Morgens ruhend bei 0, und um 7 war er schon drei volle Grade davon der Gegend von Berlin. 131 abgelenkt, offenbar weil Annäherung der Sonnenstrahlen alsdann den Kasten seitwärts erwärmte, und eine Luftströhmung bedingte, denn durch Ab- wendung dieser partiellen Lufterwärmung konnte man den Stab zu dem Stand zurückführen den er am frühen Morgen hatte. Bei so bewandten Umständen läfst sich gar keine Genauigkeit erwarten von jeder Methode welche die dirigirende Kraft absichtlich herabstimmt um die tägliche Periode zu beobachten, und die Correctionselemente um die Bewegungen einer in ein erzwungenes Azimuth gebrachten Nadel, in die einer ungestöhrten nach Zeit und Azimuth zu verwandeln, sind unbekannt, und führen zu willkühr- lichen Annnahmen; so ist z.B. wohl möglich, dafs der von Barlow ange- nommene Einflufs des Tageslichts auf die anomale Periode seiner abgelenkten Nadeln auf einer Täuschung beruhe, ähnlich der, welche der Stab mit zwei Südpolen selbst im verschlossenen Kasten durch Temperaturströhmungen bedingte, wegen seiner fast verschwindenden dirigirenden Kraft. Die Angelegenheit der täglichen Periode der Abweichung ist von so an- erkannt grofser Bedeutsamkeit für die Wissenschaft, dafs kein Mittel unver- sucht bleiben sollte, diese Bestimmung für sehr viele Beobachtungsörter zu gewinnen; folgende Bemerkung möchte jedoch vielleicht etwas mehr Gehalt haben, als die blofse Vorspiegelung eines practischen Nutzens, um einen rein wissenschaftlichen Zweck zu erlangen. Bekanntlich scheuen die Regie- rungen keine Bemühung und keine Kosten, um ihr Maafs und Gewichtssy- stem fest zu stellen in der Idee, und streng zu erhalten in der Ausführung, damit das Eigenthum nicht gefährdet werde. Nun entscheidet die Boussole des Geodäten bei Catastrirungen, Separationen, Grenzbestimmungen, über das Eigenthum auf eine ganz andere Weise noch, als etwa ein Scheffelmaafs, das eine Handvoll Getraide mehr oder weniger ausmifst. Die Zeit ist noch entfernt, wo man bei diesen Ausübungen der niederen Geodäsie bessere Winkelinstrumente einführen wird, als die Boussole, oder vielmehr diese Zeit wird nie kommen, denn um eine Waldung, oder ein sehr coupirtes Terrain zu releviren, wird man wahrscheinlich die Boussole nie ganz ent- behren können. Vor der Hand herrscht sie allein und unumschränkt bei allen Feldmessungen. Nun ist erwiesen, dafs wer um 7 Uhr Morgens und um 2 Uhr Nachmittag einschneidet, oft einen Fehler begangen hat von 12-15 Minuten. Eine Combination, die zufällig diesen Fehler mehreremal in dem- R2 132 Erman über die magnetischen Verhältnisse selben Sinn einführt, kann bei ausgedehnten Seiten der mit diesen falschen Winkeln behafteten Dreiecke mehreren Wispeln des zehnjährigen Ertrags entsprechen. Der Staat, der zuerst diesen Zweig der Maafsangelegenheiten der gebührenden Cultur würdigt, und eine Commission beruft um die jedes- malige jährliche absolute und die relative tägliche Abweichung für die Be- zirke genau bestimmt, zur Norm für die niedere Geodäsie, würde den Ruhm einer aufgeklärten Schonung des Eigenthumsrechts erwerben, und ehrenvoll ein Beispiel geben welches bald überall befolgt würde, zum köstlichsten Ge- deihen des Wissens. Wenn es der Wissenschaft gelingt sich zu behaupten, werden unsere Nachkommen kaum einsehen, wie man die Lage und Grenzen der Ländereien getrost niederlegte nach einer normalen Richtung die man nicht kannte, und von der man blofs im allgemeinen wufste, dafs sie sich jährlich und täglich immer fort ändert, ohne dafs man sich bekümmerte zu wissen, um wieviel; jedoch wird die kleine Fahrlässigkeit der Regierungen, welche die Boussole nur in der niederen Geodäsie anwenden, vollkommen entschuldigt erscheinen durch eine ähnliche alle Begriffe übersteigende bei den Seefahrenden Nationen, wo billig auf die Anfertigung einer falschen Boussole, und auf die Einführung eines falschen Satzes in der Lehre vom Magnet, die Strafe der Giftmischerei stehen sollte. Intensität. Zur vollständigen Bestimmung eines Beobachtungsorts in magnetischer Hinsicht gehört sehr wesentlich das Maafs der Intensität. Diese Klasse von Beobachtungen ist Humboldts Schöpfung. Zur Zeit seiner Amerikanischen Expedition war Borda noch der Meinung, die Magnetische Intensität sei überall dieselbe; die Unterschiede die er selbst gesehen hatte zu Cadix, Te- neriffa und Brest schrieb er der Unvollkommenheit seiner Boussole zu, ge- rade wie man in früheren Zeiten die wahrgenommene Abweichung von der astronomischen Mittagslinie, der unsymmetrischen Magnetisation der Bous- solnadel durch fehlerhaftes Streichen, zuschrieb. Er forderte Herrn von Humboldt auf, diesen Gegenstand zu prüfen. Bekanntlich war das Re- sultat, die Intensität verändere sich mit den Breiten, und nehme zu, indem man sich vom Äquator ab den Polen nähert. Vom Magnetischen Äquator in Peru, wo die Neigung 0’ 0”, und wo die Intensität als 1,000 angesetzt der Gegend von Berlin. 133 wird, verfolgte Humboldt ihre Zunahme bis Berlin als nördlichste Grenze seiner Beobachtungen, wo er sie findet 1,3703. Herr Hansteen setzte in neueren Zeiten diese Beobachtungen fort bis beiläufig zum 62° nördlicher Breite, und rüstet sich eben aus zu einer Expedition nach Sibirien, um zwischen Humboldts 0 Neigung mit 1 Intensität in Peru, und Sabines 56,9 Neigung mit 1,7508 Intensität in Baffıns-Bay, die Intermediären Punkte zu bestimmen. Da Berlin die nördlichste Humboldtsche Grenze ist, und zugleich der südlichste Punkt, den Herr Hansteen durch eigene Beobach- tung bestimmt hat, so erhält diese Station eine grofse Wichtigkeit gleichsam als der Knoten zweier Strafsen, die vom Magnetischen Äquator zum Magne- tischen Pol führen. In diesem Sinne halte ich mich verpflichtet, das Maafs für den hohen Grad von Zutrauen, den die Hansteensche Beobachtungs - und Berechnungsmethode verdient, an die Berliner Intensitäts- Beobachtun- gen anzulegen. Seine Beobachtungsmethode ist, von einem möglichst zart aufgehängten Stahlcylinder (von 34 Linien Paris.) 360 Schwingungen zu zäh- len; man beginnt bei der Elongation von beiläufig 20°, nimmt mit dem Chronometer, oder einer guten Secundenuhr, deren Fehler man kennt, die Dauer von jede Zehn Schwingungen, accouplirt dann die 0' mit der 300'°, dann die 10' mit der 310'* u.s. w. bis zur 60‘ mit der 360‘, und erhält so 7 Werthe für die Dauer von 300 Schwingungen, wo bei jeder die etwanigen Unterschiede zwischen grofsen und kleinen Elongationen sich compensiren. Dann aus diesen Werthen den mittleren nehmend und für den Fehler der Uhr corrigirend ergiebt sich sehr genau die Dauer von 300 Schwingungen am Beobachtungsort. Da Herr Hansteen durch vieljährige Beobachtungen eine geringe Schwankung der Intensität in den verschiedenen Tages- und Jahreszeiten gefunden hat, so fügt er hierfür ein Correctionselement mit hinzu. Da nach der Masse und der dirigirenden Kraft die Schwingungszei- ten verschiedener Nadeln anders ausfallen, so mufs man, um die Schwin- gungszeiten zweier Individuen auf denselben Ausdruck zu bringen, sie vor- läufig an demselben Ort, verglichen haben, und den gefundenen Quotienten als Reductionselement anwenden. Im Jahre 1822 sandte mir Herr Han- steen eine seiner Nadeln. Den 1” December wurden auf einem ganz freien Platz im Hospitalgarten am Nördlichen Ende der Friedrichsstrafse zwischen 10 und 12 Uhr Vormittag, mit einer Uhr die 1 Sekunde nachging gegen 134 Erman über die magnetischen Ferhaltnisse Mittlere Zeit, drei Reihen genommen. Sie gaben für 300 Schwingungen die Dauer von 738”,75 739",17 739",09 log. 2,86869 Reductions-Logarithm für die Tages- und Jahreszeit = -+ 00075 Reductions-Logarithm für den Unterschied dieser Na- del zu der Normalen........ + 01138 log. 2,88082 = 760,03 Dauer von300 Schwin- gungen in Berlin für die Normalnadel. Im Jahre 1524 kam Herr Hansteen nach Berlin, und beobachtete unmit- telbar die Normalnadel in derselben Localität. Sie gab den 11‘ October 11 Uhr Vormittag für 300 Schwingungen 760”, 80 log. 2,88127 Reduction für die Tages- und Jahreszeit — Da log. 2,88106 = 760”, 43 und den 21° October 4 Uhr Nachmittag 759",87 log. 2,88074 Reduction für die Tages- und Jahreszeit + 2 log. 2,88076 = 759", 91. Mittlere von beiden 760”,17 Schwingungszeit des Normalen. 760,03 Schwingungszeit des Reduzirten. Differenz...\.....%.. 0,14 der Gegend von Berlin. 135 Wenn bei magnetometrischen Bestimmungen zwei Beobachter mit verschiedenen Instrumenten nur um 0,14 Secunden differiren bei einer tota- len Gröfse von 760 Secunden, ist es Beweises genug für die grofse Genauig- keit, mit welcher man durch horizontale Schwingungen zu 360 gezählt, un- mittelbare Ausdrücke der magnetischen Intensität erhalten kann. Ist nun die Neigung am Beobachtungsort bekannt, so findet man leicht das Verhält- nifs der horizontalen Componente, die bei den horizontalen Schwingungen allein wirksam ist, zu der wahren oder totalen Intensität, und ist nun im Stande, diese letztere zu bestimmen für alle Örter, für welche die Neigung und die Dauer von 300 Schwingungen bekannt ist, wenn man durch 1 be- zeichnet die Intensität am magnetischen Äquator in Peru, wo Neigung = 0. Durch Anwendung der Formel NZ cost wo F und 7’ die Intensitäten, 7°” und 7’? die Dauer von 300 Schwingun- gen an beiden Orten ins Quadrat erhoben, und i und :’ die Inclinationen bedeuten, findet Herr von Humboldt für Berlin die Intensität 1,3705, und Herr Hansteen aus seinen neuerlich durch die Station Paris an die Humboldtsche Einheit angeschlossenen Beobachtungen 1,3894. Ein Un- terschied von blofs 2 Hunderttheile könnte gering scheinen, ist es jedoch nicht. Denn da von Peru an Neigung O0 und Intensität 1 bis zum 74° Breite, wo Sabine in Baffıns-Bay die Neigung 86°, 9 fand, die Zunahme der Inten- sität nur 0,7508 beträgt, so bleibt der totale Unterschied vom magnetischen Äquator bis am magnetischen Pol, wo die Neigung 90 ist, muthmafslich in- nerhalb der Grenzen des Verhältnisses wie Eins zu Zwei; sogar wenn man mit Hansteen Humboldts Bestimmung für Peru von 1 auf 0,93 zurück bringt wegen Du Rossels Beobachtungen in Surrobaia und in Amboina. Man könnte muthmafsen, dafs dieser Unterschied von 0,02 zwischen unseren neuesten von 1824 und Humboldts Beobachtungen von 1805 nicht etwa ein Fehler der Beobachtungen wäre, sondern ganz reell begründet durch eine wirkliche Zunahme der Intensität, während der verflossenen 20 Jahre. Hiefür scheinen wirklich Andeutungen vorhanden zu sein; während nämlich, wie wir sahen, die Neigung abgenommen hat, müfßste für die horizontal schwingende Nadeln eine Abnahme der Öszillationszeit bedingt werden. Nun 136 Enrman über die magnetischen Verhältnisse aber zeigten mir vom Jahre 1805 bis zu 1815 die Schwingungszeiten einer ihrer eigenen Intensität nach für äufserst constant zu haltenden Nadel, die Coulomb selbst für Herrn von Humboldt vorgerichtet hatte, zu Berlin durchaus keine mefsliche Veränderung. Im ersten Hefte des Magazin for Naturvidenskaberne, Jahrgang 1825, deren Aushängebogen ich durch den Verfasser Herrn Hansteen erhielt, be- findet sich eine graphische Zusammenstellung der beobachteten Schwingungs- zeiten seiner Normalnadel an verschiedenen Stationen zwischen 48° und 63° Breitengraden; die magnetisch-isodynamischen Linien welche die östlichen und westlichen Stationen von gleichem Werth verbinden, laufen ziemlich genau parallel unter sich, und machen mit dem Äquator den Winkel von beiläufig 22°, im Westlichen Europa von SW gegen NO sich erhebend. Eigene Intensitätsbeobachtungen, die wir 1824 in Hamburg Helgoland Do- beran anstellten, stimmen mit diesen späteren Bestimmungen Herrn Han- steens auf eine schr genügende Weise. Nun ist Paris hier mit 753” für 300 Schwingungen angesetzt, und dies könnte allerdings einen Anhaltspunkt ab- geben, um die Hansteenschen an die Humboldtschen Intensitäten genau an- zuschliefsen. Man ersieht jedoch aus den mitgetheilten Verhandlungen, dafs gerade bei dieser Station einiger Zweifel obwaltet, indem sowohl die Arago- schen Beobachtungen mit der zu reduzirenden Nadel die ich früher in Berlin angewendet hatte, als die Hansteenschen mit dem Normalcylinder selbst einigen Correctionen unterworfen werden, die nicht ganz frei sind von Will- kührlichkeit, so dafs sich die 753 von Paris an die 760 von Berlin nicht ganz rund und factisch anschliefsen; auch hat Herr Hansteen Paris in die Reihe der Stationen für welche er die Intensität berechnet hat nicht aufge- nommen, so dafs Berlin der einzige unmittelbare Verbindungspunkt bei- der Reihen bleibt, jedoch zur Zeit behaftet mit der besagten Ungewilsheit von 0,02, Es ist früher erwähnt worden, dafs Herr Hansteen ein Corrections- element einführt für die Dauer von 300 Schwingungen an demselben Ort, je nachdem die Beobachtungen angestellt werden in verschiedenen Jahres- zeiten und zu verschiedenen Stunden des Tages. Eine solche Periodizität der magnetischen Intensität ist für die Theorie überhaupt, und namentlich für die der täglichen Abweichungsperiode von gröfster Wichtigkeit, und würde ein wichtiges Entscheidungsmoment abgeben zwischen den verschie- der Gegend von Berlin. 137 denen Hypothesen, die man über diesen täglichen Abweichungsprozefs auf- gestellt hat. Die Sache ist um so wichtiger, da Herr von Humboldt ein solches Correctionselement nicht zuläfst, sich stützend darauf, dafs er in seinen Reihen von directen Beobachtungen über diesen Punkt, nie eine Schwankung der Intensität nach den Jahres- und Tageszeiten wahrnehmen konnte. Da aber nicht zu läugnen ist, dafs die Methode durch Zählung von 360 Schwingungen genauere Mittlern geben und feinere Unterschiede wahr- nehmbar machen mufs, als die blofse Zählung von 60 Schwingungen, und da Herr Hansteen in einer Tafel die Unterschiede der Schwingungszeiten um 10-- Vormittag 4—- und 7 Nachmittag von 10 zu 10 Tage für das ganze Jahr mitgetheilt, und zwar als Mittlern von täglichen Beobachtungen, so ist es leicht, seine Behauptung durch die Erfahrung zu controlliren, und so viel ich gesehen habe, hält sie diese Probe aus; so z.B. fand ich vom 16. bis zum 22. August die Dauer von 300 Schwingungen im Mittel, um 10° 30’ — 734,88, und um 5" = 733,78, Differenz 1,10 Secunde, die Tabelle hat für dieselbe Jahreszeit und für dieselben Stunden 0,985; also nahe genug übereinstimmend, wenn gleich noch eine kleine Reduction dieser Zahlen vorzunehmen wäre, indem Herrn Hansteens Zylinder im Mittel zu 300 Schwingungen 810 Secunden, der meinige hingegen nur 731 braucht. Nach Herrn Hansteens Beobachtungen fiele die geringste Magnetische Intensität constant zwischen 10 und f1 Vormittag, die gröfste hingegen bei Sonnen- untergang, das heifst im Winter gegen 4 Uhr, in den Sommermonaten zwi- schen 7 und 9 Uhr Abends, dieses stimmt keinesweges mit dem Verlauf der täglichen Abweichungsperiode, wo das Maximum der Westlichen Elongation zwischen 7 und 8 Morgens eintrifft, und das der Östlichen um 2 Uhr Nach- mittag; aber eben dieser Mangel an Übereinstimmung ist ein Grund mehr, diese Beobachtungen mit anhaltendem Fleifs und in sehr verschiedenen Sta- tionen zu verfolgen, wozu sie sich durch die grofse Einfachheit des Apparats und der Methode ungemein qualifiziren. Ich ergreife diese Gelegenheit einen Gegenstand von sehr grofsem Interesse zur Sprache zu bringen, über den meines Wissens noch keine kri- tische Beleuchtung offenkundlich geworden ist. Herr iHlansteen bemerkte vor mehreren Jahren am Thurm der Sternwarte zu Copenhagen, dafs wenn der Thurm im Süden der Schwingungsnadel stand, die Oszillationen oben sehr bedeutend verzögert, und unten eben so stark beschleunigt wurden, Phys. Klasse 1828. S 138 Enrman über die magnetischen Verhältnisse und umgekehrt unten verzögert und oben beschleunigt, wenn der Thurm im Norden der Nadel war. Jeder aufrecht gestellter Stab von Stahl oder Eisen zeigt diesen Erfolg, weil wie bekannt, in dieser Stellung das obere Ende südlich und das untere Ende nördlich wird, und daher der Südpol der schwin- genden Nadel angezogen und beschleunigt wird vom unteren Ende, und ab- gestofsen und verzögert vom obern, wenn der Stab in Süden steht; und umgekehrt, wenn er im Norden der Nadel sich befindet. — Herr Hansteen abstrahirend von der möglichen Gegenwart von eisernen Ankern im 'Thurm der Sternwarte, und getäuscht wie ich glaube durch denselben Umstand bei anderen Gegenständen die er auf diese Weise beobachtete, stellte den Satz auf, dafs jeder aufrecht stehende Gegenstand, welche auch seine chemische Constitution sei, dieselbe tellurisch magnetische Polarität annehme wie das Eisen und viele anderen Metalle, nur in einem viel schwächeren Grade. Dies war an sich den bekannten Coulombschen und Brügmannschen Ver- suchen, welche die magnetische Polarität nicht blos bei allen Metallen, son- dern auch bei nicht metallischen Körpern wie Glas, Knochen u.s. w. nach- zuweisen scheinen, analog; und seitdem die innigen Beziehungen der Elec- trieität mit dem Magnetismus in ein so helles Licht getreten sind, konnte man eine Analogie muthmafsen zwischen dieser magnetischen Polarität, und der electrischen, die wie ich vor langer Zeit glaube erwiesen zu haben, bei jedem ir Freien senkrecht auf dem Boden stehenden Körper eintritt. Ich mufs mich daher anklagen, an die Prüfung dieser behaupteten magnetischen Polarität der Thürme und Bäume gegangen zu sein, mit dem Wunsche, sie bestätigt zu finden. Ganze Hefte des Tagebuchs füllte ich mit Schwingungs- zahlen im Norden und im Süden der Thürme der Sophien-Kirche in Berlin, der Heiligengeist-Kirche und des Belveders in Potsdam, und mancher isolirt stehender hohen Bäume. Aber immer fielen schon bei den einzelnen zu- sammengehörigen Reihen die sehr kleinen unvermeidlichen Unterschiede bald positiv bald negativ aus, und die mittleren zeigten eine völlige Identität für beide Stellungen, so dafs ich gezwungen bin anzunehmen, diese magnetische Polarität existire nicht bei unmetallischen Körpern, oder wenigstens nicht in dem Grade, dafs man sie durch Schwingung-Zählen wahrnehmen könne; auch erfuhr ich später, dafs im Bau des Thurmes der Kopenhagener Stern- warte sehr viel Eisen so verwendet sei, dafs es Herrn Hansteen leicht ent- gehen konnte, und einen vorübergehenden Irrthum einführen, der nicht im der Gegend von Berlin. 139 mindesten Abbruch thun darf unserem wohlgegründeten Zutrauen zur oszil- latorischen Methode überhaupt, und zu der musterhaft genauen und umsich- tigen Weise wie sie Herr Hansteen ausübt. Einige mal hatte ich früher schon von Civil- und Militair- Feldmessern die Behauptung vernommen, dafs die Nähe hoher Bäume der Richtigkeit des Einspielens der Boussole Ab- bruch thue; der negative Erfolg der eben erwähnten Oszillationsbeobach- tungen vernichtet diese Behauptung durchaus; aber die Nähe jedes senkrecht stehenden Eisens, und wahrscheinlich auch nur in fast verschwindenden Graden die vieler anderen Metalle ist um so mehr zu berücksichtigen, wie seit Flinders Zeiten die Untersuchungen von Barlow, Sabine und Le Comte gezeigt haben, da jedes Eisen immer im Sinne seiner senkrechten Dimension, tellurisch bedingte Polarität hat, so dafs die Ablenkung die es bewirkt höchst anomal ausfällt, je nachdem es sich im Norden oder Süden der Nadel befindet, oder überhaupt nach dem relativen Azimuth des eisernen Gegenstandes zur Boussole. Das eiserne Denkmal auf dem Kreuzberge bei Berlin ist ausgezeichnet geeignet zu elassischen Beobachtungen über diesen Gegenstand. Auf freiem Felde ganz aufserhalb des Wirkungskreises war am 15. December 11 Uhr Morgens die Dauer von 10 Schwingungen 25”, 40 Se- cunden. 4 Fufs 4 Zoll von dem jedesmaligen äufsersten Vorsprung des Mo- numentes war dieselbe Dauer 32’,40 wenn es im Norden der Nadel war, und nur 18”,45 wenn es sich im Süden derselben befand. Es ergiebt sich aus diesen Zahlen, dafs die Kraft welche im ersteren Falle der Erdkraft ent- gegenwirkend, im letzteren sich ihr hinzufügend, vorhanden war, 0,5103 oder nahe die Hälfte der Wirkung der Erde betrug insofern man nur anneh- nen darf, dafs der Mittelpunkt der Kräfte sich wirklich beide Male im mag- netischen Meridiane des Beobachters befand. Unter derselben Annahme erhält man durch Rechnung die Schwingungszeit der der Erdwirkung allein ausgesetzten Nadel zu 26”,36, während die wirklich beobachtete 25’,52 war, ein Mangel an Übereinstimmung der wohl füglich in der Unvollkommenheit der jedesmaligen Fortschreitung im magnetischen Meridiane gesucht werden kann, ohne dafs es nöthig sei, eine unsymmetrische Kraftvertheilung an der untersuchten Eisenmasse anzunehmen. Eben so betrug in den Entfernungen von 16° 2’ von den jedesmaligen äufsersten Vorderflächen des Monuments: Beobachtete südliche Schwingungszeit 25”, 097 - nördliche - 221,42 3.2 140 Erman über die magnetischen Verhältnisse woraus sich für diese Entfernung die Gröfse der additionellen Kraft zu 0,2508 der Erdwirkung und die unter obiger Voraussetzung berechnete Schwingungs- zeit der Nadel im Freien zu 25”,90 d.h. noch näher übereinstimmend mit der wirklich beobachteten ergiebt. — Sollten die hier beobachteten Kraft- verhältnisse mit der Abnahme der magnetischen Anziehung im Verhältnifs der Quadrate der Entfernungen in Übereinstimmung sein, so müfste man den Mittelpunkt der Kraft um 24 Fufs von der Vorderfläche des Monuments entfernt annehmen: stände die Anziehung im Verhältnifs der Entfernungen, so würde er um 8 Fufs von derselben Fläche entfernt liegen müssen; nach den Dimensionen des Monuments möchte die Beobachtung ersterem Ver- hältnisse den Vorzug anweisen. Wie wichtig wird es sein, die Perioden dieser Polarität zu verfolgen im Laufe eines ganzen Jahres und zu bestimm- ten Tagesstunden; und auch den Einflufs der Temperatur, den des Gewit- ters und des Polarlichts von diesem colossalen Apparat mit entschiedener Bestimmtheit abzulesen. Wahrlich ein Schatz magnetischen Wissens liegt in diesem Denkmal. Am Schlusse dieses Berichts über oszillatorisch gemessene Intensitäten erlaube ich mir nur noch zweier durch diese Methode erhaltenen Resultate zu erwähnen, wodurch nebenbei die vielfache Anwendbarkeit derselben ins Licht treten mag. 1. Viele Landfeldmesser behaupten, dafs bei strenger Kälte die Bous- solnadel viel von ihrer Beweglichkeit verliere, und legen es so aus, als wenn die dirigirende tellurische Thätigkeit an sich vermindert wäre; und die Wallfischfänger, die da sehen, dafs in der Kälte der hohen nördlichen Breiten die Boussolnadel fast unbeweglich bleibt, halten diese Verminderung der Thätigkeit factisch erwiesen. Scoresby zeigte das Unstatthafte dieser Auslegung durch die ganz einfache Thatsache, dafs der in der Kälte des Bi- nakels auf dem Verdeck unbeweglich gewordene Compafs wiederum richtig einspielt, wenn man ihn in die erwärmte Cajute bringt, was übrigens Ellis bei seinen Seereisen im hohen Norden schon that, um nach dem Compas- strich fahren zu können; er bezieht daher die durch Kälte bedingte Trägheit der Nadel auf ein gröfseres Frietionsmoment, der Condensation des Hütchens und der Spitze entsprechend. Wohl hat er hierin Recht, aber der Beweis ist nicht vollständig, denn ein dritter Fall ist denkbar, dafs nämlich die condensirende Kälte die Nadel selbst modifizire, und gleichsam ihre Fähig- der Gegend von Berlin. 441 keit von der magnetischen Thätigkeit affızirt zu werden vermindere, ohnge- fähr wie wir sehen, dafs gehärteter Stahl schwerer zu polarisiren ist als ehe er durch Abkühlung condensirt wurde. In dieser Annahme blieb Scores- bys Beweis mangelhaft, denn man konnte immer einwenden, nicht blos das Reibungsmoment habe sich geändert, sondern im erwärmten Raume sei die Nadel selbst gleichsam wieder aufgethaut für die magnetische Einwirkung. Doch die oszillatorische Methode bewies den Ungrund dieser Annahme, und dafs eine ohne alle Reibung schwingende Nadel in den Temperaturen + 13, und — 9,5 nur einen im entgegengesetzten Sinne liegenden Unterschied ih- rer dirigirenden Kraft angiebt, dieser aber weit kleiner ausfällt als der vor- ausgesetzte der andern Art; denn vier Beobachtungsreihen in der höheren, und vier in der niederen Temperatur gaben im Mittel 25”,53 in der Wärme, und 25”,50 in der Kälte als Dauer von 10 Schwingungen. 2. Es ist bekannt, dafs wenn man die Cohäsionsverhältnisse eines Eisendraths auf die Weise verändert, dafs man ihn um seine Axe windet, eine Polarität in ihm entsteht, die sogar innerhalb gewisser Grenzen mit der Anzahl der Windungen die man giebt regelmäfsig zunimmt, so dafs Herr Gay Lussac dieses Mittel in Vorschlag gebracht um gleiche Grade der Magnetisation hervorzubringen, vorausgesetzt nur das angewendete Eisen sei von ganz gleicher chemischer Constitution. Welchen Antheil hat nun bei dieser Wirkung die Azimuthalbewegung des Windens um die Axe; und würde wohl ein Stab auch polarisirt werden durch einen blofs senkrechten Zug, wobei die Cohäsionsverhältnisse auch verändert werden, aber ohne azimuthale Veränderung in ihrer relativen Stellung? Wir benutzten die Gele- genheit, wo im Zeughause durch die Bramasche Presse Cylinder von Gufs- eisen 1 Fufs lang und 3 Zoll im Durchmesser zerrissen wurden. Um die Tenazität dieser Cylinder genau messen zu können, wurde der Druck der sie in ihrer senkrechten Stellung zerreifsen sollte, nur sehr allmählig ver- mehrt, und man gewann vollkommen Zeit, die Einwirkung des Stabes auf die Schwingungszeiten einer dicht daran gestellten Nadel, während der Stab zum reifsen sollizitirt wurde zu beobachten, und zu vergleichen mit der Wirkung die er eben geäufsert hatte, ehe die Spannung gegeben wurde. Es fand sich nur ein sehr geringer Unterschied, denn die mittlere Dauer von 10 Schwingungen war beim ungespannten Eisen 20”,74, und während der allmählich bis zum Zerreifsen zunehmenden Spannung 207,64; eine Zunahme 142 Erman über die magnetischen Verhältnisse andeutend von nur 0,009 der von der Erde und dem betrachteten Eisen gleichzeitig, oder von nur 0,006 der vom Eisen allein ausgeübten Wirkung, ein Effect der gegen den der Torsion durchaus als verschwindend erscheint. Doch mufs empfohlen bleiben diese Prüfung unter günstigeren Umständen zu wiederholen, denn die eben erwähnte hatte zwei wichtige Mängel: ein- mal die grofse Eisenmasse der hydraulischen Presse, gegen deren totale Wir- kung die etwanigen kleinen Incremente des Cylinders verschwinden konn- ten; und dann hauptsächlich der Umstand, dafs die von der Maschine ge- fafsten Enden der Cylinder nicht zugänglich waren, so dafs die Schwingungs- nadel zu nahe an die Mitte der Cylinder gebracht werden mufste, d.h. zu nahe am Indifferenzpunkt der etwanigen Polarität. Einflufs der Temperatur auf die Intensität der magnetischen g auf die oszillatorische Methode ihrer Abschätzung. Kraft, vorzüglich in Beziehun Die früher vorgetragenen Abhandlungen enthielten über diesem wich- tigen Punkt nur die nähere Beleuchtung der Thatsachen, dafs in einem ho- hen Grad von Kälte die Boussolnadeln minder beweglich erscheinen, und so- gar nach der Aussage der Grönlandsfährer ganz unbrauchbar werden; welches man gegen jede Analogie auf eine durch die Kälte bedingte Hemmung oder oder gänzliche Aufhebung der magnetischen Kraft des Stahls beziehen wollte. Scoresbey hat aber bereits gezeigt, dafs in den Polarmeeren diese Erschei- nung sich lediglich beziehe auf die durch Kälte vermehrte Dichtigkeit der Substanzen, aus welchen die Spitze und das Hütchen der Boussolnadeln be- stehen, wodurch das Moment der Reibung bedeutend vermehrt wird. Es fand sich in der That keine Spur dieser verzögernden Wirkung der Kälte bei Nadeln die wir an einem Faden aufgehängt schwingen liefsen, bei — 9 und bei + 13. Wenn man aber von dieser tribometrisch- mechanischen Wirkung der Kälte absieht, so entsteht die sehr wichtige Frage, ob nicht umgekehrt die niedrigere Temperatur für die schwingende Nadel eine Erhö- hung der magnetischen Intensität und Beschleunigung der Öszillationen be- dingt, in Vergleich mit den Intensitäten und Öszillationen einer wärmeren Nadel; die Analogieen des Magnetismus liefsen allerdings eine solche Ver- der Gegend von Berlin. 143 minderung der Intensität, proportional der Erhöhung der Temperatur, erwarten. Auch hatten die oben erwähnten Beobachtungen allerdings eine solche gegeben, denn in vier Reihen in der Temperatur — 9 war die Dauer von zehn Schwingungen 25”,50 und in vier Reihen in der Temperatur + 13 war diese Dauer 25",58, also ging die wärmere Nadel um 0”,08 langsamer, als die kältere. Doch ist dieses Resnltat unzuverläfsig, weil zwar die zur niedrigen Temperatur gehörigen Reihen in freier Luft auf einem ganz von Eisen freien Platz genommen wurden, hingegen die parallelisirten Reihen für die höhere Temperatur, nur in einem durchheitzten Zimmer, wo vieles Eisengeräth in ziemlicher Nähe der schwingenden Nadel sich befand. Die Wichtigkeit des Gegenstandes, die neuerdings von Herrn Hansteen und Herrn Kupfer über denselben zur Sprache gebrachten Verhandlungen, und das Verlangen nach einem Correctionselement für die auf der Reise bei sehr verschiedenen Temperaturen zu gewinnenden Intensitätsbestimmungen mittelst der oszillatorischen Methode, gaben dieser Untersuchung gleichsam den Vorrang unter allen vorbereitenden Studien. Zwei Methoden wurden von uns angewendet, um den Einflufs der Temperatur auf die magnetische Intensität zu bestimmen; die erste giebt die unmittelbaren Modificationen der tellurischen Anziehungen und Abstofsun- gen für Grade zwischen 0° und 60°. Die zweite, minder directe, bezieht sich auf höhere Grade der Temperatur und namentlich bis zu der des schmel- zenden Zinns. Erste Methode. Der zum Schwingen bestimmte Stahlcylinder wurde an einem Faden ohne Torsion aufgehängt in einem Glase auf welchem eine Gradeintheilung verzeichnet war. Dieses Glas wurde eingetaucht in ein anderes weiteres und höheres mit Wasser angefülltes. Genau verglichene Thermometer wurden sowohl dem inneren Gefäfse, als dem als Wasserbad dienenden äufseren beigegeben. Das Wasserbad selbst war mit Hebern ver- sehen, um nach Belieben kälteres Wasser abzuleiten, und wärmeres an des- sen Stelle einfliefsen zu lassen, oder umgekehrt. Ferner wurde in das die Schwingungsnadel umgebende Wasserbad die Zuleitungsröhre eines Dampf- kessels geführt, so dafs man das ganze System der schwingenden Nadel und des sie umgebenden Wasserbades allmählig hätte erwärmen können vom Nullpunkte an, wo Eis dem Wasserbade zugegeben war, bis zum vollkomm- nen Sieden desselben. Dieser Apparat wurde auf einem freien Platze, ent- 144 Erman über die magnetischen Verhältnisse fernt von allem Eisen aufgestellt, und wenn bei sehr langsam regierten Steigen und Fallen der Temperatur des Systems, die Thermometer eine bestimmte stehende Temperatur der im innern Gefäfs aufgehängten Nadel andeuteten, wurden die Schwingungen derselben nach dem Chronometer, durch die zwei Glasgefäfse hindurch genau beobachtet, die Elongationen an beiden Enden der Nadel anfangs und zu Ende genommen, und alle Schwingungen auf unendlich kleine Bogen reducirt. Sechszehn Reihen auf diese Weise vom 29. Dez. bis zum 2. Jan. ge- nommen für die Temperaturen zwischen — 1°, 00 und + 53°, 10 bilden eine Gruppe, welche unmittelbar die Intensitätsmodificationen enthält, die durch Temperaturen über Null, in der Atmosphäre je vorkommen können. Bei- liegend das vollständige Journal dieser Beobachtungen. Ordnet man sie nach den Temperaturen, reducirt man alle beobachteten Schwingungen auf unendlich kleine Bogen, am bequemsten nach Herrn Claussen’s Formel, in Schumacher’s astronomische Nachrichten Bd. V. No. 102. so sieht man von Temperatur — 1,00 bis zu + 53,1 die Schwingungszeiten progressiv zunehmen von 29”,7 bis auf 30”,2 für je zehn Schwingungen, und dafs folg- lich die magnetische Intensität in demselben Verhältnifs abnimmt mit zuneh- mender Temperatur. Behandelt man diese Zahlenwerthe nach der Methode der kleinsten Quadrate um den Werth der Veränderung für jeden Grad Reaumur zu finden, und folglich den Correctionscoefficienten für die un- mittelbar erhaltenen Schwingungszeiten bei Intensitätsbeobachtungen, so kommt er für die angewendete Nadel: t—= 29", 718 + 0”, 0065875 v wo v die Temperatur nach Reaum. und i die Schwingungszeiten bezeichnen. der Gegend von Berlin. 145 Schwingungen eines Stahlceylinders 34,8 Linien lang und 1 Linie Durchmesser. Schwingungszeiten in o© kleinen Zurückbleibende een Terapereizeen: Bogen für 10 Schwingungen. Fehler. engen ze Beobachtet. Berechnet. Jan... 1..20229: — .1°00 29,740 29,710 + 0,030 Jan. 0823924 + 1,00 29,609 29,725 — 0,116 Jans 0.293,13 + 1,00 29,646 29,725 — 0,079 Dec.30. 0 39 + 4,00 29,812 29,745 + 0,067 Dec.29. 23 25 + 4,05 29,810 20,745 + 0,065 Dec.29. 0 + 6,00 29,823 29,758 + 0,065 Dec.29. 3 38 —+ 12,10 29,791 29,797 — 0,006 Jans 4. 3.88 + 16,80 29,799 29,829 — 0,030 Dec.30. 3 26 + 17,40 29,907 29,330 + 0,077 Dec.29. 1 33 + 23,10 29,811 29,870 — 0,059 Dec.29. 0 51 + 29,00 29,894 29,910 — 0,016 Dee,s0, 1 21 + 31,00 29,998 29,922 + 0,076 Jans ste 20 24 + 44,90 29,900 30,014 — 0,114 Dec.28. 23 24 + 46,00 29,937 30,021 — 0,084 Dec. 28. 23 48 + 50,10 30,069 30,048 + 0,021 Dec.30. 0 13 + 53,10 30.477 30,068 + 0,109 1,012 16) 0,063 Es wurde daher die Zeit von 100 Schwingungen zwischen 0° und 53°, 10 geändert um 3”, 51. Sehr wichtig erschien die Untersuchung: inwiefern das für at- mosphärische Temperaturen aufgefundne Correctionselement, bedingt sei durch die anfängliche Stärke der Nadeln auf die es angewandt werden soll. Dieselbe Nadel welche bei obigen Ver- suchen angewendet worden, hatte in mehreren Wochen allmählig von ihrer initialen Kraft, unmittelbar nach dem Streichen, so viel verloren, dafs ihre frühere Schwingungszeit von 29”,7 bei 0° gesunken war auf 307,922. Vier Reihen bei den Temperaturen 0°, + 2°,8, + 37°,3 und + 57°,5 in diesem Zustande geschwächter Kraft genommen, sind in Beziehung auf die oben angeregte Frage anzuwenden. Phys. Klasse 1828. ar 146 - Enman über die magnetischen Verhältnisse Die Quadrate der Schwingungszeiten der Nadel den sie anregenden Kräften umgekehrt proportional setzend, erhält man aus dem oben gegebenen Ausdruck folgenden andern für die Kraft der Nadel bei verschiedenen Tem- 8 peraturen: F= 1 — 0,00044306 v + 0, 000000147 v? wo die Kraft bei 0° als Einheit zum Grunde liegt; Nun wurde beobach- tet bei: 070 Schwingungszeit = 30,922 Daraus ergaben sich die Kräfte 1, 000 ER: S — 30,893 : B ee ee 002 237,8 5 — 31,230 R B en = E57, & — 31,434 - B 2 007 für welche die Formel respective folgende Werthe angiebt: 1,000 0,999 0,984 0,975. Eine Übereinstimmung die bei Erwägung der Natur der Beobach- tungen ziemlich hinreichend erscheint und vollkommen hinlangt um zu beweisen, dafs für Nadeln von sehr verschiedener initialen Kraft, die den erhöhten Temperaturgraden entsprechenden Abnahmen, dieselbe Proportionalität zur totalen Kraft je- der Nadel befolgen: Ein Satz den die folgenden Beobachtungen noch mehr bestätigen werden. Ein zweiter, für die Messungen der magnetischen Intensitäten durch die oszillatorische Methode unendlich wichtiger Satz ist der, dafs Tempe- raturerhöhungen zwischen 0° und 60° die Nadel nie bleibend und nachhaltig schwächen; sondern nach der Abkühlung kommt sie stets zu ihrer früheren Kraft zurück. Der Beweis dieses so wichtigen und so willkommenen Satzes geht unumstöfslich aus dem Tagebuch dieser Beo- bachtungen hervor, indem sehr oft dieselbe Nadel unmittelbar hintereinan- der, oder nach Fristen von mehreren Tagen von 0° bis auf 60° und wieder zurück geführt wurde, und constant kam sie immer in denselben T’empera- turen auf denselben entsprechenden Grad der Intensität. Freilich verhält der Gegend von Berlin. 447 es sich anders bei Erwärmungen über 60°, diese aber kommen glücklicher Weise nie in der Atmosphäre vor. Es war jedoch anderweitig sehr wün- schenswerth, die Abnahme der Intensität für höhere Grade der Temperatur zu finden; hiezu langte der frühere Apparat nicht aus, da er im günstigsten Falle nur bis auf SO gereicht hätte mittelst des Dampfkessels, und zwar nur im Zimmer, denn in freier Luft war bei damaliger Winterkälte die Ausstrah- lung zu bedeutend, um selbst den Siedepunkt zu erreichen. Es wurde statt dessen die zu prüfende Nadel in ein Bad von Öhl oder Sand in der Meridian- ebene gelegt, vor ihr eine andere Nadel aufgehängt, deren Schwingungszeit für sich bekannt war. Liefs man diese letztere nun in der Nähe der im Sandbade festgelegten schwingen, so gab die Akzeleration ihrer Schwingun- gen einen Werth der Kraft, mit welcher die im Sandbad liegende auf sie wirkte bei der beobachteten initialen Temperatur. Wurde nun diese Tem- peratur ganz allmählich erhöht durch Lampenfeuer, und dann in den Mo- menten wo die Thermometer für Nadel und Sandbad eine bekannte und möglichst stationaire Temperatur andeuteten, die Öszillationen der freien davor hängenden Nadel genau genommen, so erhielt man Ausdrücke für die allmählige Schwächung der Intensität und ihrem Verhältnifs zu der erhöhtern Temperatur. Es stand uns zu Gebot, um sehr hohe Temperaturen des Sand- oder Öhlbades zu bestimmen, ein gutes Thermometer bis 270° ge- hend, und nebenbei das Hülfsmittel ganz kleine Spähne von Zinn, Wismuth und Blei dicht neben der Magnetnadel im Sandbad zu vertheilen, um aus dem etwanigen Schmelzen des einen und nicht Schmelzen des anderen Me- talles bestimmte Grenzen zu erhalten, wobei zufolge unmittelbarer Eintau- chungen des Thermometers in diese schmelzenden Metalle für Zinn 178° R. und für Wismuth 212° angesetzt wird. — Diese Art der Beobachtung bietet nebenbei ein sehr schätzbares Mittel, um zu untersuchen, ob der bei Tem- peraturerhöhung über 80° sich auch nach der Abkühlung erhaltende Ver- lust von Kraft, Folge sei einer geänderten Vertheilung des Magnetismus in der untersuchten Nadel, oder ob er nur bedingt werde durch eine gleich- mäfsige Abnahme der Kraft in jedem Elemente der Nadel. Hängt man nämlich vor eine im Meridian befindliche Nadel in einer bestimmten Entfernung eine zweite auf, und beobachtet die von der ersten in zwei verschiedenen Zuständen ausgeübten Anziehungen, so wird sich für das Verhältnifs der Kraft im ersten und zweiten Zustand ein Ausdruck erge- T2 148 Erman über die magnetischen Verhältnisse ben. Einen andern erhält man aber direct durch die Schwingungszeiten der untersuchten Nadel selbst in diesen beiden Zuständen. Beide Ausdrücke sind abhängig von den Anderungen welche die Vertheilung erlitten hat: beide aber auf eine so verschiedne Weise, dafs ihre etwanige Übereinstimmung un- ö ter sich auf eine ungeänderte Vertheilung mit ziemlicher Sicherheit schliefsen läfst. — Sollte sich zwischen beiden Ausdrücken ein erheblicher und bei inehrmaliger Wiederholung constanter Unterschied ergeben, so wäre daraus die Änderung in der Vertheilung nicht anders als unter vorausgeschickten Po- stulaten über die ursprüngliche Art derselben, also nur sehr arbiträr zu er- schliefsen. In Beziehung auf diesen Umstand untersucht gaben uns mehrere Reihen folgende Resultate. Die ursprüngliche Kraft einer jeden Nadel = 1 gesetzt, hatte nach verschiedentlicher Erwärmung behalten: Geschlossen aus der von ihr Geschlossen aus ihren ausgeübten Anziehung un- Schwingungs-Zeiten unter ter Voraussetzung ungeän- Voraussetzung ungeänder- derter Vertheilung. ter Vertheilung. Eine zur Sättigung gestrichene, eylindrische Stahlnadel............... 0,28 0,30 Eine sehr schwach gestrichene Nadel von denselben Dimensionen.. 0,14 0,18 Eine prismatische Nadel......... 0,69 0,58 Dieselbe, schwächer gestrichen als zuvor, nach Erhitzung bis zur Rothelühhitze nr. sine 0,19 0,19 Es zeigen sich hier nur Abweichungen die bei der angewendeten Me- thode wohl erklärlich sind, und die gleichgültig bald in dem einen bald im andern Sinne liegen, woraus zu folgern ist, dafs durch sehr starke Er- wärmungen dieser Nadeln die Vertheilung ihrer Magnetkräfte sich nicht geändert hatte. Was nun die Frage betrifft, ob auch bei sehr grofsen Erwärmungen Nadeln von verschiedener initialen Kraft Verluste erleiden, die für jede gleichmäfsig proportional sind der Kraft, die sie an- fänglich hatte, so fanden wir diese Proportionalität bestätigt für die hö- heren Temperaturen wie für die geringeren Erwärmungen. Folgende Ta- der Gegend von Berlin. 149 belle enthält die Erfolge der Erwärmungen von 80° bis auf 237° für zwei Na- 5 5 deln, deren Kräfte bei 0° berechnet, und für jede als 1,000 angesetzt sind $} ’ J b) o ’ die aber unter sich so verschieden waren, dafs bei 12° die eine 3”,200, die b} ’ ’ andere 5,057 zu einer Schwingung brauchte; übrigens waren die Dimensio- nen und die Massen beider von einem Stahlstabe geschnittenen Nadeln ganz gleich, 41”,2 lang, 1”,32 dick. — Die Tabelle zeigt, wie bei wachsenden te) ’ ’ fe) ’ DI Temperaturen der Gang der proportionalen Verluste beider Nadeln sich nahe bei ganz parallel erhält: Temperatur. Starke Nadel. Schwache Nadel. N — Ten m is 0° 1,000 1,000 83,5 0,688 105,0 eb 0,656 109,5 0,633 Bene 129,5 0,551 135,0 0,557 147,0 0,452 170,0 Luebr 0,497 179,0 0,413 180,0 0,417 199,0 0,342 223,0 ehe. 0,296 226,0 0,336 um 237,0 Er 0,194 Nicht ohne Interesse scheint ein anderes auf dieselbe Art gewonnenes Resultat: dafs Magneteisenstein einen bei weitem geringeren Ver- lust seiner Kraft durch Temperaturerhöhung erleidet als gestri- chene Stahlstäbe; und aus diesem Grunde vielleicht zu Stäben, die zur Intensitätsbestimmung dienen sollen, vortheilhafter befunden werden möchte als Stahl. Ein rechtwinkliches Prisma aus Magneteisenstein, dessen drei Kanten, 36”,8, 5”,0 und 10”,5 messen, zeigte durch seine in verschiedenen Temperaturen beobachtete Wirkung auf die vor ihm schwingende Nadel fol- gende Grade der Kraft. 150 Enman über die magnetischen Verhältnisse bei Temperatur 166,4 0,886 2 550 A 5 ‚all I \ nen — die Kraft bei 0° als Einheit vorausgesetzt. Der Magnetstein hatte daher 0,35 seiner anfänglichen Kraft behalten bei derselben Temperaturerhöhung, die den Stahlnadeln nur etwa 0,18 der ihri- gen gelassen hatte. Einige ähnliche Versuche mit einer Nickelnadel gaben nur schwan- kende und unsichere Resultate, weil sich jedesmal nach Beendigung der Reihe eine bedeutende Verstärkung des der schwingenden Prüfungsnadel zu- nächst gewesenen Poles fand; Nickel erschien hier dem weichen Eisen sehr ähnlich durch sein geringes.Coöreitivvermögen; übrigens war es interessant zu finden, dafs diese geänderte Vertheilung sich bei jedem Versuche mit der Nickelnadel deutlich aussprach durch die unter sich abweichenden Resultate, welche die zwei oben erwähnten Prüfungsmethoden gaben, wenn man sie auf Nickel eben so anwendete, wie es für Stahl geschehen war. Von der Elimination der zufälligen Veränderungen des 5 5 magnetischen Zustandes der Nadeln. Die so wichtigen Bestimmungen der magnetischen Intensität und ihrer durch Herrn von Humboldt zuerst nachgewiesenen und durch Sabine neuerdings so umfassend bestätigten Abnahme nach räumlichen Verhältnissen auf der Oberfläche der Erde werden unendlich erschwert dadurch, dafs man nie mit Sicherheit weils, ob die Nadel die man in verschiedenen Stationen hat schwingen lassen, sich nicht während der Zeit geändert habe, und ob dem zufolge die nach räumlichen Entfernungen gefundenen Unterschiede in den Schwingungszeiten ganz correct den wirklichen tellurisch verschiedenen Intensitäten entsprechen, oder ob sie mit den Subjectivitäten der Nadeln zu corrigiren wären. Diese Schwierigkeit steigert sich ins Unendliche, wenn man an das Problem gelangt, ob die Intensität auch der Zeit nach an ei- nem und demselben Ort seculären Änderungen unterworfen ist, wie man wohl Grund hat zu vermuthen nach allen Analogien der Declination und In- clination. Da es bis jetzt unmöglich ist ein magnetisch polarisirendes Indi- ü der Gegend von Berlin. 151 viduum darzustellen, das sich nicht mit der Zeit in sich ändere, so scheint die Niederlegung eines absoluten Intensitätsgrades für einen Ort und eine Zeit, den man immerdar unverändert als denselben wieder fände, voraus- gesetzt er sei wirklich tellurisch derselbe geblieben, ein unlösbares Pro- blem. Herr Arago hat den scharfsinnigen Vorschlag gethan, einer Scheibe von irgend einem der eryptomagnetischen Metalle mit der phaneromagne- tischen Nadel in Confliet zu bringen, gleichsam als eine modifieirte Barlow- sche Scheibe; es fragt sich jedoch, ob uns die Bedingungen und die etwa- nigen Variationen der tellurisch erweckten Polarisation einer solchen Scheibe von Kupfer schon bekannt genug sind, um darauf die Methode zu basiren. Frei von jeder hypothetischen Annahme ist hingegen die höchst scharfsinnige Methode, die Herr Poisson in der connoissance des tems für das Jahr 1828 bekannt gemacht, wobei man wohl Recht hat sich zu wundern, dafs bis jetzt keiner, so viel man weifs, die Formeln auf die benannten Zahlen individuel- ler Beobachtungen angewendet hat, um zu sehen, ob nicht vielleicht irgend ein Umstand in der Realität der Empirie, der beabsichtigten vollkommenen Elimination des Instruments im Wege steht. Man kömnit vielleicht am leichtesten (sicher aber am anschaulichsten) auf den Gang, den die Poissonsche Methode nimmt, durch eine Fiction über die Schwere. Ein physisches Secundenpendel von beliebiger Materie bleibt sich immerdar gleich, und immer unverändert bleibt sein Verhältnifs zum mathematischen Pendel des Ortes; oder auch (welches dasselbe aus- sagt), wenn an einem Orte Cavendish seinen Versuch so angestellt hätte, dafs die kleine Bleikugel 4 verticale Schwingungen machte, einmal für sich, als affızirt blofs von der tellurischen Anziehung, und dann über der grofsen Bleikugel 2 als aflızirt durch die tellurische Anziehung, + der Anziehung der angenäherten grofsen Bleimasse, so werden sich diese Verhältnisse ganz constant immer dieselben zeigen, weil G unveränderlich ist, und weil die Rezeptivität oder das Coercitive für die Schwerkraft stets gleich bleibt in jedem Elemente. Führen wir nun die Fiction ein: der Werth der Schwerkraft der Erde ändere sich einmal an sich (wie man es für den localen Magnetismus der Erde muthmafst), und zweitens so, dafs derselbe Körper für die Schwere eine, nach unbekannten Umständen veränderliche Empfänglichkeit erhielte (wie es bei magnetischen Pendeln geschieht), so näherten sich die Probleme 152 Enrman über die magnetischen Verhältnisse über Vertheilung von G und M an der Erdoberfläche, und das erstere würde aufhören, auf die bisher übliche Art lösbar zu sein. Das alsdann für die Schwere zu befolgende Verfahren würde auf folgende Modification des Cavendish’schen Versuches zurückkommen: Die Bleikugel 4 von bekannten Dimensionen werde zuerst der Wirkung der Erde allein ausgesetzt, und dar- auf der gleichzeitigen Wirkung der Erde und der andern Bleikugel 3 (von ebenfalls bekannten Dimensionen und aus bekannter Entfernung ihres Schwer- punctes wirkend). Man erhielte hieraus eine Relation zwischen der Wirkung der Erde und der von B, die aber noch behaftet wäre mit der unbekannten als varia- bel fingirten Capazität für die Schwere der Massen 4 und 2. Beobachtete man nun aber noch die Schwingungszeit der Kugel B unter Einwirkung der Erde, und endlich die von 2 unter gleichzeitiger Ein- wirkung der Erde und der Kugel 4, so würde man eine Anzahl von Glei- chungen erhalten, die hinreichend wäre, um die unbekannten Capazitäten zu eliminiren und für die gesuchte Intensität der Erdkraft einen Ausdruck zu erhalten, der nur durch die beliebig zu wählenden Maafs- und Zeiteinheit bedingt wäre. Aber auch unter dieser besondern Voraussetzung ist die verlorene Analogie zwischen G und M noch nicht wieder hergestellt: es bleibt für letzteren eine Schwierigkeit zu überwinden, an der man von Neuem zu schei- tern befürchten könnte. Auch bei der ihr angedichteten Art des Verhaltens würde nämlich die Schwere in jedem Körper doch gleichmäfsig vertheilt sein, d. h. ein jedes Element ein und desselben Körpers würde mit gleicher Kraft bethätigt sein: nicht so für den Magnetismus, dessen Gesetz der Ver- theilung trotz der mannichfaltigen Versuche über diesen Gegenstand noch so unbekannt ist, dafs eine Voraussetzung über dasselbe, die Schlüsse in welche sie eingeht, zu rein arbiträren machen würde. In Bezug auf die Schwere kann man daher immer aus der Wirkung zweier Körper von end- lichen Dimensionen (die einzigen, mit denen uns Versuche zu Gebote ste- hen) bei einer bekannten Entfernung ihrer Schwerpunkte auf die Wir- kung in einer andern Entfernung schliefsen, oder mit andern Worten: es läfst sich Rechnung tragen von dem Antheil, den die Entfernung der Pen- del 4 und 3 an den gegenseitig ausgeübten Anziehungen hatte; für magne- tische Pendel fällt dieser Umstand fort! — Auch diesen schwierigen Theil der Gegend von Berlin. 153 der Aufgabe löste Herr Poisson, indem er zeigte, dafs, wie auch in den beiden magnetischen Pendeln 4 und 3 der Magnetismus vertheilt sein möge, ihre gegenseitige Wirkung immer darstellbar sei durch eine nach den nega- tiven Potenzen der Abstände ihrer Aufhängungspunkte von einander, fort- schreitende Reihe; und ferner, dafs für Nadeln, deren Magnetismus sym- metrisch in den zwei Hälften vertheilt ist, diese Reihe nur die geraden ne- gativen Potenzen 0, —2, —4, —6 ete., für unsymmetrische Nadeln aber aufser diesen noch die Potenzen, deren Exponenten — 1, —3, —5 etc. sind, enthalte. Um durchaus von jeder Hypothese sich frei zu erhalten, wieder- hole man also die eben erwähnten Versuche mit magnetischen Pendeln in mehreren bekannten Entfernungen, und zwar so, dafs für jede Entfernung, für welche die Schwingungszeit der Nadel 4 unter Einwirkung von 3 beob- achtet worden ist, auch die der Nadel 3 unter Einwirkung von „/ unter- sucht werde. Indem man nun den beobachteten Wirkungen der Nadeln auf einander, die unter allen Verhältnissen zulässige eben erwähnte Form bei- legt, trennt man von der gesuchten Wirkung der Erde (die in jedem der Versuche enthalten ist) das von der Besonderheit der gewählten Nadeln und ihren Entfernungen Abhängige. Man übersieht leicht, dafs diese Methode gleich füglich angewendet werden könne: 1) um die totale Intensität des Magnetismus für einen Ort zu bestimmen: wenn man die Nadeln / und 3 in der Meridianebene frei beweglich auf- stellt, ihre Umdrehungspunkte in die Richtungslinie des Erdmagnetismus bringt und successiv die eine und die andere fixirt, während die andere in Schwingung versetzt wird, und 2) um die Horizontaleomponente der Kraft zu bestimmen: wenn man die Nadeln um feste senkrechte Axen beweglich macht, und sie so stellt, dafs ihre magnetischen Axen in der magnetischen Meridianebene und in einer- lei Horizontalebene zu liegen kommen: dann aber, wie früher, die Nadeln (abwechselnd die eine und die andere) fixirt. Die Bestimmung der Horizontalceomponente nach dieser Methode wurde, als für die practische Ausführung bei weitem den geringsten Schwie- rigkeiten unterworfen, zum Gegenstand der folgenden Versuche gemacht. Da man auf anderem Wege die Neigung mit genügender Schärfe zu erhalten im Stande ist, so scheint es überhaupt rathsam, Herrn Poissons Methode Phys. Klasse 1828. U 154 Enrman über die magnetischen Verhältnisse vorzugsweise auf diese Art anzuwenden. Der Apparat ist höchst einfach, bestehend in zwei Nadeln, die es vortheilhaft ist so kurz zu wählen dafs ihre Längen gegen die höheren Potenzen ihrer Abstände bei den Versuchen, als verschwindend betrachtet werden können; es versteht sich von selbst, dafs der aus der Kürze der Nadeln entspringende Gewinn aufhört zu beste- hen, wenn dieselben durch Verminderung ihrer Dimensionen zu schwach werden, um in den gewählten Entfernungen noch deutlich zu wirken. Das- selbe gilt auch für die Auswahl der Entfernungen, welche es günstig wäre möglichst grofs zu wählen, wenn nicht gleichzeitig die Wirkung der Nadeln aufeinander so sehr vermindert werden könnte, dafs sie von gleicher Ord- nung mit den Beobachtungsfehlern wird. Über die hier zu treffenden Wah- len entscheidet die Erfahrung am sichersten: denn die übrigens leicht zu fin- denden Verhältnisse der Abhängigkeit zwischen den Beobachtungsfehlern und den Resultaten würden wiederum über die Vertheilung des Magnetismus in den Nadeln, Postulate vorausschicken müssen. Zwei Glascylinder, die man mit Gradeintheilungen zur Ablesung der Schwingungsbogen versieht, dienen zur Aufnahme der Nadeln, welche, mit gleich langen Fäden ohne Torsion versehen, durch kleine Haken an einer über die Glascylinder horizontal gelesten Latte befestigt werden. Wenn man diese Latte ein für alle mal mit Ösen versieht, die gegeneinander die für die Versuche zweckmäfsig gefundenen Entfernungen haben, so vermehrt man bedeutend die Bequemlichkeit des Apparates. Sobald die Nadeln in die Glaseylinder eingehängt sind, rücke man das Brett, welches den ganzen Apparat trägt, so lange bis ein in der Ebene der Aufhängungsfäden befindliches Auge die Nadeln gleich grofse Exeursionen zu beiden Seiten dieser Ebene machen sieht: die Bedingungen einer rich- tigen Stellung sind dann alle erfüllt. Um die eine oder andere Nadel zu fixiren, rückt man den einen der beiden Glascylinder so lange bis die darin enthaltene Nadel eine Chorde desselben wird, und mit beiden Spitzen. die Wände des Gefäfses berührt; bringt man dann noch einmal das Auge in die Ebene der Fäden, so beurtheilt man leicht, ob auch. die fixirte Nadel ihre Stellung nicht geändert habe, welches bei einiger Übung selten geschehen wird. — Ganz ebenso fixirt man nachher die zweite Nadel und versetzt die erste in Schwingung. der Gegend von Berlin. 155 An der von Herrn Poisson conn. d. tems 1828. gewählten Bezeich- nung uns haltend, sind folgendes die durch Versuche bestimmten Werthe und die daraus erhaltenen Resultate. Das Pfund Deutschen Medicinalgewichtes zu 100224 Richtpfennigen ist als Einheit des Gewichtes; die Pariser Linie als Maafseinheit und die Secunde Mittlere Zeit als Zeiteinheit gewählt. Es fand sich nun für die angewendeten Nadeln Gemichtesssesscasnniese logp = log p'.=-7,86127 Moment der Trägheit logm = logm’ = 9,83337 und die Pendellänge für Berlin zu 440”,71 annehmend: logi = logX' = 2,80527. Die 3 Entfernungen der Mittelpunkte der Nadeln waren 60”, 84” und 108”, er Versuch: Nadel 4 für sich schwingend gab ......zenetoeres t? = 9,45625 Nadel 4 vor B schwingend in 60” Entfernung #* = 5,87543 84” - —: 8,03750 108” - — 8,80960 Nadel 3 für sich. schwingend gab ...erersneeeene. et? — 9,24660 Nadel 3 vor 4 schwingend in 60” Entfernung #* = 5,83500 84” i 704440 108” 5 — 8,71440 Man erhält hieraus die in (num. cuj. log = 4, 67032) = Ki u B' iR: (- - - oz | welche, mit Zurücklassung der geringsten Beobachtungsfehler (- - - euere . 34 si” | unter der \ oraussetzung GE 71192. RR NEED 0 he a = durch den umstehend gegebnen A B a s a ( - + =4,51689)=2’+ — er Werth von 9 dargestellt werden. A B E- Da 4,44675)= 8 Liarr 103 105? 156 Enrman über die magnetischen Verhältnisse Es ergiebt sich aus ihnen 9° = 23518,7. Nun war 21logi = 5,61054 logp = 7,86127 clogt = 9,51214 | also Intensität der Horizontaleomponente clogt' = 9,51701 ) aus diesem Versuch: clogge = 7,81429 — 0.00469 u ’ clog ! = 7,35585 das Gesuchte: log F = 7,67110 Um nun den Werth der Methode d.i. ihre Unabhängigkeit von der besonde- ren Beschaffenheit der Nadeln, zu prüfen, wurde ein zweiter Versuch ange- stellt,nachdem die eine der Nadeln geschwächt, die andere verstärkt worden war. Es fand sich für den 2 Versuch. Nadel 4 für sich sehwingend......cnnseneensennens it" — 9,62500 Nadel 4 vor B schwingend in 60” Entfernung 9° — 5,69013 84” s — 8,08616 108” 2 — 8,93600 Nadel 2 für sich schwingend ......sencereernncene U?” — 8,74940 Nadel B vor 4 schwingend in 60” Entfernung #’* ='5,38175 84” N — 7,38180 108” : — 8,08050 Hieraus die Gleichung: (num. cuj. log = 4, 71749) = ge’ + = + — A’ B’ (- - - =4,11551)= "+ + ar A B = - - =4,954)="+ +8 84 84? A B 0.0 = 450) 02. =) tr \ (- 0. =4623390)=0 + + ( ( 108 103? ° der Gegend von Berlin. 157 Es folgt 9° = 30175,1 2logA = 5,61054 logp = 7,86127 elogt = 9,50830 | Intensität der Horizontalcomponente aus diesem clogt' = 9,52901 > Versuch: cloge = 7,76018 = 0,00422 clog! = 7,35585 log# = '7,62515 Zu bemerken ist, dafs, wenn man in beiden Versuchen nur die in den Entfernungen 60” und 84” gemachten Beobachtungen anwendet, eine bessere Übereinstimmung der zwei Versuche erhalten wird. Namentlich giebt alsdann Nr. 1. Intensität = 0,00447 Nr. 2: - — 0,00430 Vielleicht dafs unter den Umständen der gegenwärtigen Versuche die Entfer- nung 108” schon über die Grenze der günstigsten Entfernungen hinaus lag. In Folge der hier gegebenen Versuche wäre (nach vorausgesetzten Einheiten für Maafs, Zeit und Gewicht) für die Horizontalcomponente der Intensität des Beobachtungsortes der Werth 0,00440 bis jetzt der wahr- scheinlichste und immerhin schon geeignet, eine etwanige starke Veränderung der magnetischen Kraft für Berlin, der Folgezeit erkennbar zu machen. ANNNDBORNNININS Fra la a Ing) ah x PR j s : 1.982308 kras ” tglel Pi ' i - # FENID.R ge Azalt . einer > | | ua = pl ae aaulsinssitott ah nl] PIRON e Tul . Wh, == .” SinoT,T = 5g0ls:_ F A2ank,T en \ga89 ü ü # Erle gu! ar ae oa ea er lab KEN vi i Sur tube nous bar mern gab . Bullen Bu 4 eu ls; ‚le er 1] Fuer 7 a verniellenissl Si9emäd wtule ta. Idaig ö ei af nn eo 3 ee - PR? N | a ih a ehrarg a heuer seh U TECH C N Eu rer Dune lin hama! un ner wor "Er Sure 2: j lesen un) oer nal mmieingsy 3a ab salat uk . „eh genen ne Br > MM str lien ey ur hr et enwsgeahlnsinsti nahe kin. | yneehriın dan ah ars ‚ugkenz made eisfranıma brain Steılaifeisulsa ü „esihtae Kr Ya! RAT | 3b . ua a Al aneyaitsınya wob “ Kam Be: =. Gi I . . 5 . s* 5 . = . Pr er‘ - 1 . . Ei . I 2 . r . re 5 . . a: u - = ' ‚ n 5 % . j ä u . . u Br . . u @ u . . 5 . Tafel 1 ee & und 6%. Ypoil 1825 74 Yril 1825 in Centesimal Minuten en Centesimal Minuten. Rem 6 ea. 6 Bo | ABERERBET SORGEN SEEEEEREEEN 70 BO BE OT ET EIBE 168 BZZZENERERE TIERE SE Ba. 5 = N = ar ım » — |: 4 4— 1 u | | - .h ne rer ie A — | | h N a I | | _ 10 12 0 ED FIT z 2 Fr - 3 IE | 1 ER a ie EEE POTTER ID: Em WEO E02 #0 FZ 10° 12 1 0° 70 14° 19° 0 8 6° 4° 970° 27 E67 Er 00 ra 16 aM An Ehrmann Ir handlung ler de magneschen Verhitbngse [ZA Gegend VO Herlın Z e Sys RL 1828, x Tafel U | Sg EZ Sa 7 ZZ Millere au wei Monaten (Y Dardl nt Abk u] a Kom. M, Ümams E Re i Be lernten malen en Sanuagese mal AMenuten. rs TEE RIM BE Or Aa rer TE Br er a it FE En Se RE 1100: 0 ER De ee acraEi TEE | Baer AEERZEEEEEEE | FFErERE BanL?a “u Euua _ eu] Betas del LGEBEANHENE SERBHBERBERS aa Tao \\ RaRzn | FT \ 1 N ie BA Te L> | ei Ara 5 Be | dal r 7 FE mer Aus L — erg zn ll IE | [EEE 101827 0: 8 0) #2 2.0 2 2 6 eo 12 1 16‘ 1015.20 8 6 8 2.02 #6 8 0 12 180 10 BETTEN BRD TE IL 7 ZRENENENY Em a Eat Honn. Oman: Ri Handlung ale: ce de mgnelsch: er ZZ dr PN G 17 gend. VOR: Deslin. ER kp Bl 1828. Abhandlungen der mathematischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. su... ueosinen.e Aus dem Jahre 1828. suauasanıaaeıereıerganıerarın Berlin. Gedruckt in der Druckerei der Königl. Akademı« der Wissenschaften. 1831. . esunlbuscklä® + » Li re} . . y Dailpgın le ae eh ah A j ehr MIET U ET j re Auen ee j re But 5 . F nn va u - u Er a. 18 rue Hl - . s D | ir — u . - z 5 nannswrrrn CRELLE: Grenzen für die Werthe der Reste der allgemeinen Entwickelungsreihe mit Differenzemet ad Ar ne ae ee ern Haren San Ele Seite 1 Derselbe über ähnliche krumme Linien und Flächen .... 2.2... 2.222 o2 22220... | PoSELGER: Von Entwickelung polynomischer Functionen.. ......-...e.22200.- = 33 FıIscHEr über die Atomenlehre —n an un mn an aın * el ee ee u a . ERRIIT EI eG ale Dan zeinld mamnd ele a ae ra] eg ! ADELS LET IBEF or are Bau ErIue Ee er nn nen ‘ nn 5 Er = _ u ” ‘ Se f ’ ß 3 i 5 . 5 5 Grenzen für die Werthe der Reste der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. Von H"- CRELLE. mummrnnnwn [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 31. Januar 1828.] 1: \ Vo. F'x eine beliebige Function einer veränderlichen Gröfse x bedeutet, so dafs x, F(x-+e), F(x+20), F(x-+3«).... die der Reihe nach auf einan- der folgenden Werthe dieser Function für gleich viel, nemlich um « von ein- ander verschiedene Werthe von x ausdrücken, und man bezeichnet die ersten Glieder der ersten, zweiten, dritten etc. Differenzenreihen der auf einander folgenden Werthe von Fr durch AF'x, A’Fx, A’Fx, etc., so ist bekannt- lich für einen beliebigen Werth & + A der Gröfse x: a a N SERIE Ale ..(k—ne) A'Fr.. era n«” Ist A ein ganzzahliges Vielfache von «, so bricht die Reihe ab. Als- dann läfst sich der Ausdruck bekanntlich durch blofse Addition und Sub- traction der auf einander folgenden Werthe von x und ihrer Differenzen finden. Er findet aber auch noch eben sowohl Statt, wenn A kein ganzzah- liges Vielfache von «, sondern mit « incommensurabel ist. In solchem Falle bricht die Reihe nicht ab, und sie läfst sich nicht unmittelbar aus dem Aus- drucke für den vorigen Fall herleiten. Dieser Ausdruck ist nur ein beson- derer Fall des allgemeinen Ausdrucks, und der letzte kann nicht aus jenem, sondern nur etwa umgekehrt, jener aus diesem bewiesen werden. In der allgemeinen Gestalt ist der Ausdruck für die mathematische Analysis von grofsem Nutzen. Er ist eine allgemeine Entwicklungsformel, Mathemat. Klasse 1828. A 2 Creuıe: Grenzen für die Werthe der Reste die sogar den Taylorschen Lehrsatz nur als besonderen Fall in sich schliefst, nemlich als denjenigen, wenn «= ist, in welchem Falle man statt der Dif- ferenzen Al'x, A’Fx...., durch a, «@° etc. dividirt, die Ableitungen oder sogenannten Differentialcoeffieienten von Fr schreibt. Der allgemeine Aus- druck findet nicht blofs in der Differenzenrechnung Anwendung, sondern er giebt auch Entwicklungen von Functionen, die durch den eingeschränkten Taylorschen Ausdruck schwieriger sind. So z. B. giebt er ungemein leicht die Reihe für die analytischen Facultäten, und, vielleicht allein strenge und wirklich allgemein für jeden beliebigen Exponenten, den Binomischen Lehr- satz, die Reihe für die Logarithmen u. s. w., wie ich solches in dem ‚‚Ver- such einer allgemeinen Theorie der analytischen Facultäten u. s. w. Berlin bei Reimer, 1823” und in dem ‚‚Lehrbuch der Arithmetik und Algebra, Berlin bei Reimer, 1825” nachgewiesen habe. Man kann den Ausdruck , weil er den Taylorschen Lehrsatz als einzelnen besonderen Fall enthält und allgemeiner ist, allgemeinen Taylorschen Lehrsatz nennen. Nun ist bekannt, wie wichtig und nothwendig es sei, bei Reihen, die nicht enden, und die man also nicht ganz berechnen kann, den Werth des Restes, der einer beliebigen Zahl von Gliedern noch folgt, zu beurtheilen. Die Glieder einer Reihe können immerfort abnehmen, und der Rest kann dennoch nicht Null, sondern selbst unendlich grofs sein, wie z. B. bei der sogenannten harmonischen Reihe. In solchem Falle ist die Reihe divergent, und sie dient weder mehr zur Berechnung der Gröfse, welche sie ausdrücken soll, noch läfst sich daraus, sobald ihre Glieder einzeln in Betracht kom- men, etwas weiter für die Gröfsen, mit welchen sie sonst in Verbindung steht, mit Sicherheit schliefsen. Bei der obigen allgemeinen Entwicklungs- reihe ist also die Beurtheilung der Restes insbesondere wichtig, weil die Reihe von so ausgedehntem Gebrauche ist. Gewöhnlich giebt man, wie bei unendlichen Reihen, deren vollstän- digen Werthe vielleicht unbekannt sind, auch beim Taylorschen Lehrsatze, und bei der obigen allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen, nur die ersten Glieder an, etwa so viel davon, als nöthig sind, das Gesetz der Fort- schreitung anschaulich zu machen, ohne weitere Rücksicht auf den Rest. Lagrange hat zuerst den Ausdruck des Restes der Taylorschen Reihe ge- seben; Ampere hat im 13‘ Heft des Journal de l’ecole polytechnique, im 6°" Bande, diesen Ausdruck des Restes auf einem directeren und leichteren der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. 3 Wege finden gelehrt. Auch bei dem allgemeinen Taylorschen Lehrsatze läfst sich der Rest der Reihe durch diejenige Entwicklungs - Art, deren sich Servois in zweien, der Pariser Akademie in den Jahren 1805 und 1809 vorgelegten Abhandlungen, und hierauf in einem memoire, unter dem Titel: „Zssai sur un nouveau mode d’exposilion des principes du calcıd difjerentiel, a Nismes 1814” bedient, ausdrücken. Diese Ausdrücke des Restes der Taylorschen Reihe und der obigen allgemeinen Entwicklungsreihe sind nicht approximativ, sondern genau. Eben deswegen aber müssen sie, wie Ampere in der oben genannten Ab- handlung, S. 169., in Rücksicht der Taylorschen Reihe bemerkt, noth- wendig die Stammgröfse der Reihe, oder den geschlossenen Ausdruck ihres Werthes enthalten, weil z. B. eine transcendente Stammgröfse nicht durch einen algebraischen Rest würde ausgedrückt werden können. Da nun aber öfters die Stammgröfse nicht bekannt ist, sondern nur vielleicht ihre Ablei- tungen oder Differenzen, so sind die Ausdrücke des Restes, auf solche Weise gegeben, nicht zureichend. Man mufs sich vielmehr mit Grenzen begnügen, zwischen welchen der Rest der Reihe nothwendig enthalten sein mufs. Lagrange hat in der Theorie der analytischen Functionen dergleichen Grenzen für den Rest der Taylorschen Reihe durch bestimmte Integrale gegeben, und Ampere hat die Untersuchung dieser Grenzen in der vorher erwähnten Abhandlung vereinfacht und dieselbe im 11'” Hefte des 17‘ Ban- des der Annales des mathematigues von Gergonne auch auf Functionen mehrer veränderlichen Gröfsen ausgedehnt. Für den Taylorschen Satz ist also in dieser Beziehung das Nöthige gethan. Bei der obigen allgemeinen Entwicklungsreihe, oder dem allgemeinen Taylorschen Satze dagegen, sind meines Wissens die Grenzen für den Rest der Reihe noch nicht besonders untersucht worden. Dieses soll in der gegenwärtigen Abhandlung geschehen. 9 7 Zuerst ist nöthig, den allgemeinen Taylorschen Lehrsatz so zu ent- wickeln, dafs die Reihe den Ausdruck ihres Restes enthält, welches gewöhn- lich nicht der Fall ist. Dies geschieht, wie folgt: Man setze den identischen Ausdruck 2. F(ae+h=Fx+k (Fer) A2 4 CrRELLE: Grenzen ‚für die Werthe der Reste und exe + k=; desgleichen 3. I F(c HM — Fi a | ie oder FIF2 — jr, so, dafs statt des Ausdrucks (2) auch 4. Fe= Fax + hkfx geschrieben werden kann. Man lasse nun A um « abnehmen, wenn x und a zunimmt, so dafs e unverändert bleibt, ‘so giebt der Ausdruck (4): Fe = F(x+e) + (k—e) f(x +0). Zieht man hiervon den ursprünglichen Ausdruck (4) ab, so erhält man: 0= P(a+0) — Fr + (ko f(c+0) — (ku) fx — uf, oder wenn man F(c-+«) — Fx durch AFx, und eben so f(x-+«a) — fx durch Afx bezeichnet: 5. o=AFa@ +(k—ua) Afx — af. Setzt man hierin von neuem x-+« statt x, und k—a statt k, so findet man: o=AF(x+a) + (k—2ua) Af(x ta) — af(x + «), und wenn man hievon den Ausdruck (5) abzieht: o=AF(x-+«.) — Alıx + (k— 20) Af (xt) — (k — 2«) A föe — aAfıx — a(fa+e) — fx), oder, der angenommenen Bedeutung des Zeichens A gemäfs: 6. o=A’Fx + (k— 20) A’fe — 2aAfı. Setzt man abermals & + « statt x, und A — « statt k, so kommt: 0=A’F(x+a) + (k— 3a) A’f(x +0) — 2aAf(c + u), und hiervon den Ausdruck (6) abgezogen: o=A’F (x +.) — A’Fx + (k— 3a) A’f (ae) — (k— 3a) A’fx — aA’fx — 2a (Af(a Ha) — Af) 17. o=A’Fx + (k— 3a) A’fx — 3aA’fx oder: der allgemeinen E ntwicklungsreihe mit Differenzen. 5 So kann man weiter fortfahren, und das Gesetz der Fortschreitung der Aus- drücke, die man findet, ist leicht zu sehen. Zusammengenommen sind die Ausdrücke, zufolge (4. 5. 6. 7.), folgende: Fe = Fx + kfx AFz k—a Je = > Afzx I rAFET k— 2« 2f. nal Afx 2 A®’F% k—3a | 5 A Fr + 2 A’T% Per NN k—-(n—i)e se > Sx Tan —1)« Ale (n—1)« a a et BAT k—na ‚ap, r im n« Er n« Arfx Substituirt man nun dieselben successive in einander, so erhält man der Reihe nach: F=Fx+kfae PF=Fx+ AFP + +49 Afx Fe= Fx + AFw + #9 ven + % k (k—«) (k—2«) m? 2« Are [ee aa Baer Baer See ee er Bee ee Baer er Se Se Zur Baer Ser Se er er Bar er Zr Br Ze er Be er er er er er Er Ze er er Zr Zr Zr Be Ze Zur Ze zur Zu Zr zu und allgemein, wenn man zugleich die Werthe von e und fx substituirt: 10. F@e+H=Fxr+ are + #02 ar, LEN Apr k k—« ..o... (—_— — [24 2 ( ) (A = 1) «) aM" Fx + k(k—a)...... kon) A’ (Kar , Di I eekuieaie na" k Dieses ist der allgemeine Taylorsche Satz, oder die allgemeine Entwick- lungsreihe mit Differenzen. Da in diesem Ausdrucke das Verhältnifs von A zu « ganz willkürlich ist, so ist die Reihe nicht auf den Fall beschränkt, wenn k ein ganzzahliges Vielfache von « ist, sondern sie gilt allgemein; des- 6 CrELLEe: Grenzen für die Werthe der Reste gleichen enthält sie den Ausdruck des Restes. Dieser Rest ist für die Glie- der, die dem z + 1“ Gliede nachfolgen: k(k—ao)(k—20)...... (k— na) = F(z2—+k) — Fax 11. 2 A (Zr), Da Sara ee TÜTE. wo nur zu bemerken ist, dafs wenn man x um « wachsen läfst, zugleich A um « abnehmen mufs, so dafs x + k unverändert bleibt. 3. Die Herleitung des besonderen Taylorschen Lehrsatzes, z. B. aus dem obigen allgemeinen Ausdrucke, gehört zwar nicht wesentlich zu dem Gegenstande der gegenwärtigen Untersuchung; da indessen einige ver- © wandte Bemerkungen dabei zu machen sind, so wird es gut sein, sie nicht zu übergehen. Der insbesondere sogenannte Taylorsche Lehrsatz, nemlich: &} 12. F(a+A) =Fx + KdFx + dx + 2 U’Fx... + — 2 2. unterscheidet sich von dem obigen allgemeinen dadurch, dafs die Gröfsen dFx, d’Fx etc. keine fremde Gröfse « enthalten, wie die Differenzen AF'x, A’Fx etc., sondern nur a, und dafs die Coöfficienten jener Gröfsen nur Potenzen, nicht Factoriellen mit der Basis A sind. Es scheint zwar beim ersten Anblick, dafs man unmittelbar von dem allgemeinen Ausdrucke zu dem besonderen gelangen könne, wenn man «0 we . . . AFr A?’Fr setzt, und diejenigen Functionen von x, in welche dann ——, = — elic. übergehen, durch dFx, d’Fx etc. bezeichnet, wodurch dann auch die « in den Cocfficienten wegfallen und nur Potenzen von A bleiben. Allein diese Reduction hat einige Schwierigkeiten, weil, wenn die Reihe ins Unendliche fortgeht, und also z unendlich grofs wird, nicht deutlich ist, dafs nothwen- dig auch z« Null sein müsse für «= 0, auch nicht, was aus dem Reste der der Reihe werde. Es ist daher nöthig, den Übergang des einen Satzes in den andern näher zu erwägen. Zu dem Ende ist es gut, zu dem Ursprunge des allgemeinen Satzes, der auf blofs identischen Gleichnngen beruht, und daher aufser allem Zwei- fel ist, zurückzukehren. der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. 2 Man nehme die Gleichungen (8) von der zweiten ab. Setzt man den- selben abwechselnd das Zeichen + und — vor und zieht sie zusammen, so ist die Summe: Ja — Afx + A fx — ET ERTETLT HAPE = (ara APR + Ar... + — A’Fe) Ak . ER 2 ie, RB + (Af& — ZA’fe + ZA fa age + — fe) AE FAT A JE ir ren HAIE BfE, oder, wenn man wegläfst was sich aufhebt: 18. fee AF2 = — (AFx— — A’Fx + — A’Fx ER + A"Fe) k . N 3 I 42 1 n ) + (af -Zafe Ha fe ee... + — Arfe). Nun ist in dem allgemeinen Satze (10) leicht zu schen, dafs, wenn man die Coefficienten nach Potenzen von 4 entwickelt, der Coefhicient zu 4 in den ersten m Gliedern 14. (APR — AP Arne. + A"Fx [64 f4 sein wird. Bezeichnet man diesen Coefficienten durch ZFx, so kann man die Gleichung (13), wie folgt, schreiben: in. JE RI dFz -i kdfx. Man setze in dieser Gleichung x + « statt x, und folglich k — « statt A, und ziehe die ursprüngliche Gleichung davon ab, so erhält man: S(a+.) — fx + (A (acHe) — ARE dF (x +«) — dFx + (k— a) df (x -+ a) — kdfx, oder 16. Afr HA fe = AdFx + (k— ea) Adfa — adfx. Man setze von neuem x -+« statt x, und k— a statt 4, und ziehe die ur- sprüngliche Gleichung ab, so bekommt man: aMfx + Affe = A’dFx + (k— 2a) Adfx — (k— a) Adfx — aAdfe, oder: 8 Crerue: Grenzen für die Werthe der Reste 17. Affe + A fe = Ada + (k— 20) Ardfae — 2aAdfx Wenn man dieses Verfahren m mal wiederholt, so findet man zusammen- genommen folgende Gleichungen: LE EA”fz —= dFx + kdfx Afa2ct Ar x =AdFrx + (k — «) Adfx — adfx 18. A’fa + Are —= A’dFx + (k— 2«) A’dfx — 2zuaAdfx Sg A’dFx + (k— 30) A’dfx — 3aA’dfx Arfx E A’rfx — A’dFx + (k—me) Ardfx — maA”—'dfx Setzt man diesen Gleichungen, von der zweiten an, abwechselnd das Zeichen ++ und — vor, multiplicirt sie der Reihe nach mit 1, —, 5, — etc., und nimmt die Summe, so findet man, indem man zugleich wegläfst was sich aufhebt: n Ja 1 - 1 m Afr— Affe + —-Afe ee. s’e,sere (0. 0Lle: je n,Lnte E— Ale Sn IR aa 1 zn + (fe AfA Sf ereche + Ally) = AdFx —— AdF@+— AdFr....... + — ArdFir 1 2 { 3 y i Mm . +k(dfe —— Ardfe + a dFr u... + — Ardfe) Faardfex — adfx, oder, vermöge der dem Zeichen d gegebenen Bedeutung: adfx + aA” dfe = ad’Fx + kad’fx FaA”dfx — adfx, oder 19. 2dfx N U’Fx + kd’fx. Mit dieser Gleichung verfahre man von Neuem, wie mit der Gleichung (15), woraus sie entstanden. Ohne die Rechnung zu machen, ist leicht zu sehen, dals man 20. 3d’fx + 3Ard’fe = d’Fx + kd’fe erhalten wird; denn die Gleichung (19) ist von der (15) nur darin verschie- den, dafs sie dfx und d’fx statt fx, und dF'x und d’Fx statt dx enthält, und dafs die Cocfhieienten linker Hand 2 statt ı sind. Da von der rechten Seite, wie aus der obigen Rechnung zu sehen, gleiche Gröfsen wie links der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. 9 mit dem Coöfficienten 1, zu diesen hinzukommen, so wird der Co£@fficient linker Hand 3 sein, der Zeiger von d aber wird überall um ı erhöht werden müssen; welches dann das Resultat (20) giebt. Verfährt man von Neuem mit der Gleichung (20), wie mit (15 und 19), so erhält man aus gleichem Grunde: 21. Ad’fx + 1Ad’fx = d’Fx + ka'fe. Man findet also, wenn man so fortfährt und das Verfahren z. B. zn mal wie- derholt, zusammengenommen folgende Gleichungen: F (x -+ k) — Fx + kfx Jx ar = dF«+ kdfx zdfxz #2A’dfx = d’Fx + kd’fx 22. 3d’fx 3A d’fer = d’Fr + ka’fx id’ fx = AArd’fr —=d Fre + kd'fx nd’* fx ste nad’ fx —= d”Fx + kd”fx Multiplieirt man die zweite von diesen Gleichungen mit k, die dritte mit =, die vierte mit — etc., die letzte mit u und nimmt die Summe, so findet man, wenn man wegläflst was sich hebt: a D) rn 3. Rad Sun 5 RE HELEN ea “ 2 “ Pc Da 7 2 | 7 <& —= Fr + kdls Ba ne + od Fx air ZI. Be Dieses ist ein Ausdruck von 7 (x+X%), welcher k nicht mehr in Factoriel- len, sondern nur noch in Potenzen enthält. Alle « sind jetzt in die Gröfsen dFx, d’Fx....dfx etc. gebracht. Diese enthalten sie allerdings noch; denn dFx hat z.B. die Bedeutung — (AFr — ZA +-{A’Fr... ‚&+A"Fx) (14), wo sämmtliche Glieder « enthalten. Da bei der Entwicklung des Aus- drucks nirgend etwas weggelassen oder willkürlich gesetzt ist, so ist der Ausdruck blofs durch Verwandlung des allgemeinen Ausdrucks (10) ent- standen, und daher eben so identisch und unzweifelhaft wie dieser. Mathemat. Klasse 1828. B 10 CreLte: Grenzen für die Werthe der Reste Die Gröfsen «a, z und m sind ganz willkürlich. Nimmt man m un- endlich, so ist z. B. 2A daR - (AFx _ -- A’fxc-+ -- A’Fx— - AA... 108 Unendliche), und je nachdem alsdann A”fx, A”dfx ete. Null sind, geht der Ausdruck 23) in folgenden über: k? 25. F(x+h=Fr+kdFx+ Ed Fx + d’Fx....+——d'Fx ker „(Fler — Fe welcher Ausdruck schon die gewöhnliche Form der Taylorschen Reihe hat, und zwar mit Angabe des Restes. Jedoch enthalten noch die Gröfsen dFx, d’Fx....d" Fax und d’fx die willkürliche Gröfse «. Sollen daher die Coef- ä 2 ; ee ficienten zu 4, @, reise blofs x enthalten, und auf diese Weise in wirk- liche Ableitungen oder Differential-Codffiecienten übergehen, so mufs man a nothwendig gleich Null setzen. Alsdann ist auch, so lange F'x eine stetige Function ist, A"fax gleich 0, folglich geht die Gleichung (15) alsdann in 26. fe = dFax + kdfx, und folglich, wie aus der obigen Entwicklung zu sehen, das Resultat (23) in die Gleichung (25) über. Auch enthalten dann dFx, d’Fx...... und d’Fx nur x, und d’fx nur x und Ak. Den Werth des ersten Differential- AFx Coefficienten nimmt man gewöhnlich für die Gröfse =, wenn darin «=0 gesetzt wird. Der vollständige Werth ist indessen der (24). Freilich wer- b A?Fx A’Fr R a 2 h - den in der Regel =—-, = etc. gleich Null sein. Allein dafs dieses der Fall sei, mufs eigentlich für jeden besonderen Werth von Fr nachgewie- sen werden. So also läfst sich der besondere Taylorsche Satz aus dem allgemei- nen Entwicklungs- Ausdruck (10) durch blofse Verwandlung herleiten; auch bekommt man zugleich den Ausdruck des Restes, und es sind dabei die eben gefundenen Bedingungen zu bemerken. Man kann zwar den gewöhnlichen Taylorschen Satz, sammt dem Aus- drucke seines Restes, noch viel kürzer, mittelbar, und ohne von dem allge- meinen Satze auszugehen, auch ohne, wie Lagrange, die Form der ganzen Reihe vorauszusetzen, wie folgt finden. der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. 11 Man setze: 27, era, oder =Alz+K=p, Fe — Fx er 7 wo dFx den Theil von x enthält, ÄX aber eine Funclion von x und X ist, die verschwindet für k=0. Diese Gleichung giebt: 28... He = Fr (Ex) P- a bedeutet, der kein A, sondern blofs Setzt man nun x -+« statt x, so geht Fix nach (27T) in Fr +adFre ra, e— x geht n e— x —a«, und » gehtin py+adp+«P über, wo 4 und P Functionen von x und « sind, die für «= 0 verschwinden. Die Gleichung (25) geht also in Fe= Fx + .adFx +aA + (ex —ea) (p+adp+aP) oder in Fe=Fx + (—x) p+ «dFx + aA + (e— x) (edp+aP) — a (p+ adp-+«P) über. Zieht man davon die ursprüngliche Gleichung (28) ab, und dividirt den Rest durch «, so findet man für @«—=0, weil alsdann 4 und / Null sind: 29. o=dFx + (e—x) dp — p. Setzt man von Neuem x + « statt x, so geht dFx indFx-+ad’Fx+aA,, e—_ xine—_ x —u, pinp-+tadp+aP, und dp inp-ad’p-+-«P, über, 4,, P und P, für «= 0 verschwinden. Die Gleichung (29) geht also in o—=dFx + «ad’Fx + «aA, + (ex —e) (dp+ad’p+aP,) — (p+edp+«P) über. Zieht man davon die ursprüngliche Gleichung ab und dividirt den Rest durch «, so kommt: o=d’Fx +4, + (ex) (d’py+P,) — (dp+ad’p+aP,) — (dp+P,), und für a=o: 30. o=d’Fx + (ex) d’p — 2dp Wiederholt man auf diese Weise die Operation, so findet man zusammen- genommen folgende Gleichungen: B2 42, ÜRELLE: Grenzen für die Werthe der Reste Fe= Fx +p(e—x) o = dFx + (ex) dp —p o = d’Ix + (ex) d’p — 2dp o—=d’Fx + (ex) d’p — 3d’p 0 =d'Fx + (ex) d’p—nd’”'p 34 Daraus folgt: Fr = Fx + (ex)p RN — dFx + (ex) dp dp = d’Fx + AD d’p dp = d’Fx + + (e—x) d’p n—1 1 n 1 rn = — d’Fx + — (e—x) d’p. d p=- N )d'r Substituirt man diese Gleichungen der Reihe nach in einander, so erhält man: Fe= Fx + (e—x) ee FE ad Ba. nn dFx + en _d'p, oder: VAR De 77x Tree n 32. F(x+k)=Fx+kdlxc + En UP’Fx-+ n EF&. tn + y d’Fx KH. (F(c+-M--Fx Fass z ( k ) Dieses ist ebenfalls die gewöhnliche Taylorsche Reihe mit dem Ausdrucke des Restes. Allein bei dieser Art der Entwicklung mufs bewiesen werden, dafs die Gleichung (27), von welcher sie ausging, gesetzt werden könne, nemlich, a nothwendig für A=0 eine Function von x ist. Der Beweis dieses Umstandes von Ampere, in dem oben genannten memoire, zeigt, dafs damit ebenfalls Schwierigkeiten verbunden sind. Also scheint die obige Herleitung des besonderen Taylorschen Satzes aus dem allgemeinen, nicht ohne Interesse zu sein, um so weniger, da sie den gehörigen Gang vom Allgemeinen zum Besonderen geht, und zugleich die Bedingungen an- zeigt, welchen der Satz unterworfen ist. Es giebt bekanntlich noch mehrere Arten, die Taylorsche Reihe so- wohl als den obigen allgemeinen Differenzen - Ausdruck zu finden. Die obige Art scheint aber deshalb die natürlichste und evidenteste, weil sie blofs auf der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Difjerenzen. 13 identischen Gleichungen beruht. Man hat der Lagrangeschen Entwick- wicklung des Taylorschen Satzes vorgeworfen, dafs sie die Form der Reihe voraussetze. Diese Erinnerung ist zwar nach meiner Meinung ungegründet, weil die vorausgesetzte Form einer Reihe gerechtfertigt wird, sobald man ihre Co@ffhicienten findet. Das obige einfache Verfahren entgeht indessen auch dieser Erinnerung. Auch lassen sich, wie im Vorbeigehen zu bemer- ken, durch die Methode, von einer identischen Gleichung auszugehen, noch mehrere andere Entwicklungen finden. So wie z. B. oben die identische Gleichung F&+l—=Fx+k (Fer) gesetzt wurde, kann man auch z.B. F(c+k) = Fx + 4" (Fer) oder: k? F(x+k)=Fx+k(k+«) (Fe er ) u. s. w. setzen, welches andere Entwicklungsreihen giebt. 4. Nachdem nun die allgemeine Taylorsche Reihe mit ihrem Reste ent- wickelt worden, sind, der vorgesetzten Aufgabe gemäfs, Grenzen für den Werth des Restes zu suchen. Es sei Y.x eine beliebige Function von x, die in dem Umfange von & bis + stetig ist; « sei eine willkürliche Gröfse, und ma=%, so ist, der gewöhnlichen Bezeichnung der Differenzen gemäfs: YV(z+a) —Yx =Alx V(earze) -Y (x +o) =AV (+ 0a) 33. (ar 30) —Y (x +20) = A (a +20) V (a +ma) —YV (x + (m—1)ae) = AV (a + (m—1) «) Die Summe dieser Gleichungen ist: L (e-+me) -— Yze=Alx + Al (c+«) + AV (X +20)...... sn. + AV (ae + (m—1) a), oder weil na=/ sein sollte: 14 CrELLE: Grenzen für die Werthe der Reste 34 Veath)—ık ER Als + Al (te) FH AV (020)... AV (km) ec) I k ma Man setze: 35. Alx + AV (c-+a).....+AV (ae + (m—1)ae) =mA/ (x-+ Ka), so ist leicht zu sehen, dafs die Gröfsen Alx, Al (x-+«), Al (x-+2«) etc. weder alle gröfser, noch alle kleiner sein können, als AU (e-+-u«); denn in beiden Fällen fände, weil m dergleichen Gröfsen vorhanden sind, die vor- ausgesetzte Gleichung nicht Statt. Also folgt, dafs AV (x-+n«) nothwendig zwischen der gröfsten und der kleinsten unter den Gröfsen Ale, Al (x-+«), AY (x -+2«) etc. liegen mufs. Da nun diese Gröfsen nichts Anderes sind, als die verschiedenen Werthe welche Allx annehmen kann, von x bis <-+%, weil « willkürlich ist, und so klein angenommen werden kann, als man will, so folgt, dafs AU (x + ua) nothwendig zwischen dem gröfsten und dem klein- sten Werthe von Al. liegen mufs, von x bis +. Nun ist aber zufolge der Gleichungen (34 und 35): 36 Yark)—tx _ All(atne), . ” j? a & $) also folgt, weil eben gezeigt worden Er ec nothw a zwischen dem gröfsten ne dem kleinsten Werthe von = liegt, dafs auch X oz Y noth- Alzxz wendig zwischen eben diesen grölsten al kleinsten W erthen von “ nichts Anderes ist, als die erste Ableitung de erste Differentialenefheient) von vr, in die- enthalten sein mufs. Der Satz geht für «=, weil alsdann a sem besonderen Falle, in denjenigen über, welchen Ampere in der ange- führten Abhandlung auf andere Art bewiesen hat, nemlich in den Satz, dafs eu immer kleiner ist als der gröfste, und gröfser als der kleinste Werth, den der Differentialeo@ffhicient dYx haben kann, in dem Umfange von x bis @-+%k. Der allgemeine Satz, nebst dem besonderen Falle bei Am- pere, ist auch geometrisch, durch Anschauung einzusehen. Wenn nemlich x die Abscissen, und Y.x die zugehörigen rechtwinkligen Coordinaten einer Curve in der Ebene bezeichnen, die von x bis «+ A stetig ist, so ist oz die trigonometrische Tangente des Winkels, welchen die Sehne durch zwei beliebige Punkte der Curve, deren Abscissen um k gerechigeen sind, mit Alz I (x+2)— LA oder —— ist die trigonome- der Axe der x macht, hingegen trische Tangente des Winkels, welchen die Sehne durch zwei beliebige, der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. 15 zwischen jenen beiden liegende Punkte der Curve, mit der Axe der x ein- einschliefst. In dem besonderen Falle bei Ampere sind es Tangenten statt Sehnen der Curve, und es ist nun leicht zu schen, dafs die letzteren Winkel nicht allein nie alle einander gleich sein können, sondern dafs darunter auch nothwendig Winkel sein müssen, die gröfser, oder die kleiner sind, als der erste Winkel, dessen ee roraeitieehe Tangente een 7X war; welches der Satz ist. Man setze nun ferner in der Gleichung (10) x + « statt x, und A—« statt A, und ziche von dem Resultat die Gleichung selbst wieder ab, so fin- det man, weil 7 (x-+%) sich durch die Substitution nicht verändert: o= F(x-+«. — Fx + ee: AF (+. — R Afx R « k— a v— 2a 2 — + 90m per LE AP S (k—«) Ger (k — 3«) AF (x-+«) . k mn Atf% I er Bar Bee er ee er Be ee er BE ee Er er ee ee [Er Yor ur Jar oc yor Sr Sr Dr vor Ser Ver Vor ar ac YL Sor ar vr vo vo ur De vor er k(k—a) ....(kA—(n—1)e« NEN), ER s A'Fx ZeoIeseere na” ZeIerer. n« oe en IFFGEDET: +A[ Han ne m ( k )} oder: o= F(x+«. — Fx em Ale ERTr „mau 2«) A®F (2 — DZ A = Air ee (k—a) (k—2«)..... i (Ana) A F (+ «) Ze3reeee n« _ (kone) (ke) (k—20)...... (k—(n—1) «) N Er ZuIureeee na (k—a) (k—20)..... (k— (n—1) «) Re Er (n—ı) =! af N ee (k—n«) a" (Fee )] RE 16 CreLLe: Grenzen für die IWerthe der Reste oder: = Afır ke z— A’Fx — APx ra ao d-2 AFr io ler A’Frx + (k— a) (k—2«) . le 2) AH re) Gau) «) Ar DS Syetereyele n« 2e3:ereeisie (n—1)« k(k—a)....(k—na) ‚n„ (TF(z+k)—Fx +al| ZI eh. Tr n ( k )} oder, weil wie man sieht alle Glieder bis auf das letzte und vorletzte sich aufheben: eg (k— «) lei RE (k—n«e) A*'Ex + [+9 a Be! Man setze: an ale (k—na) ‚„I{F(z+)— Fx Be 55. 44-0 a (FED) gu, so dafs %.x den Rest der Reihe (10), und zufolge der Gleichung (37): 30, — LINZ, 2 k(k—a) (k—2a) ....(k—ne) A Px [04 ZeIee.o.. na ist, so ist, wenn man a: + k statt x setzt, % (c+A)= 0; denn X ist so viel als e+k—x=e:.— x, und e soll unverändert bleiben; also ist, wenn man x + k statt x setzt, A—=0, und folglich die Gröfse linker Hand in (38), und u % (x=-+%) gleich Null. Die Gröfse mn ist also so viel als „Yorkin ist aber gezeigt, dafs für eine beliebige Function Yx die Gröfse u. Sr immer zwischen dem gröfsten und dem Kleinsten Werthe von = He Also liegt hier — “ zwischen dem gröfsten und dem kleinsten Werthe von = und folglich x zwischen dem gröfsten und dem kleinsten Werthe von — en, Den Werth dieser letzten Gröfse giebt die Gleichung (39), und, verglichen mit (10), sieht man, dafs sie gleich dem n + ı fachen Werthe des ersten weggelassenen Gliedes, oder des ersten Gliedes im Reste ist. Also findet man folgenden Satz: der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. 47 „Der gröfste und der kleinste Werth des ersten weggelasse- „nen Gliedes, z.B. des n-+ 1“ Gliedes der allgemeinen Tay- „lorschen Reihe, oder des ersten Gliedes im Reste, z2-+ 1 mal „genommen, sind Grenzen für den Werth des Restes.” Da « willkürlich ist, und folglich Alles auch gilt, wenn «= o ist, in welchem Falle der allgemeine Taylorsche Satz in den gewöhnlichen Satz dieses Namens übergeht, so folgt, dafs auch in der gewöhnlichen Taylor- schen Reihe „dergröfsteundderkleinste Werth desersten weggelassenen, „2. B. des n+ 1" Gliedes, oder des ersten Gliedes im Reste, „a-t-ımalgenommen, Grenzen für den Werth des Restes sind.” Diese Grenzen sind, wie es verlangt wurde, nicht durch die Stamm- gröfse, sondern bei dem allgemeinen Taylorschen Satze durch die Diffe- renzen, und bei der gewöhnlichen Taylorschen Reihe durch die Ablei- tungen gegeben. 5. Auf folgende Weise lassen sich aber noch engere Grenzen finden. Alr Man setze, die Gröfse habe für alle Werthe von x, von x bis x +‘, das nemliche Zeichen, welches angenommen werden kann, weil die Veränderung von x nur auf diesen Umfang beschränkt werden darf, so hat ee ee i nothwendig nn. benfalls das nemliche Zeichen; denn, wie oben be- wiesen, ist diese Gröfse immer zwischen dem gröfsten und dem kleinsten Wer- ? fo) Pi | vr the von a, in dem Umfange von x bis x -+ A, enthalten. Also haben auch, weil « und A immer positiv sind, Alx und Y (x+4)— x einerlei Zeichen. Nun bezeichne man den gröfsten Werth, welchen die Größe A’*'Fx in dem Umfange von x-bis x-+ k haben kann, durch M, und den kleinsten Werth derselben, in dem nemlichen Umfange, durch N. Ferner bezeichne man die Gröfse k (k— «) (kN)... (k— ne) 40, 2 +4 [4° (k—20)....(k-n«) A" (Fer) durch Ad,x, und die Gröfse Mathemat. Klasse 1828. ) 18 Creuue: Grenzen für die Werthe der Reste 4. Krakm2e) RG (k—n«) N k(k—a) (k—2e)....(k—na) Ar an )] 2. I euıaaie na" durch Ad,x, so wird für alle x, von x bis &-+4, Asd,x nothwendig posi- tiv, und Ad,x nothwendig negativ sein; denn die Gröfse (k— «) WB eren A F% ZuIeones na k(k—a) (k—2a)....(k—ne) ,n Ford Pe +a[ Zus Diese ee na” A ( =—)] ist, zufolge der Gleichung (37), für jeden beliebigen Werth von « gleich Null; also mufs, weil M das gröfste A'*'Fx eier, Ad,x N grö- fser sein als Null, und weil N das kleinste A’*' 7x sein soll, Ad, x rn wendig kleiner als Null. Da nun auf diese Weise alle Werthe von Ab,x und Ad,x, in dem Umfange von x bis @-+ k, einerlei Zeichen haben, so sind diese Differenzen in dem Falle des obigen AV, und folglich ist nothwendig, dem Obigen zu- folge, auch $, (x+A) — $,x, in dem Umfange von x bis «-+x, immer po- sitiv, und &, (@-+k) — $,® immer negativ. Nun ist: . (1. . A 1. a k(k—a) (k— 20)....(k—na) 12. k(k—a) (k=20)....(k-n)=— A| —— |: denn die Differenz rechter Hand ist, weil um —« sich verändert, so viel als: (k— a) (k—20)..... (k—(n-H1) «) Ei k(k—a) (k— 20) ..... (k— ne) (r-+1) « (n+1) «a oder: R a ze —(nH1)a@a—)k (k—a) (k—20).....(k na) (ne = ); welches der Gröfse linker Hand in (42) gleich ist. Man kann also die Gleichungen (41 und 42) wie folgt schreiben: ee NE ke) (k—22).. al) Ar ger _ =) k (ka) (k20).. slk —na) »] Zar ra und Al: Ab E ee) en I) 5 ar(e = _ 2) k(k-a)(k—2a)....(kone) j' RE EARR in Pu der allgemeinen Entwicklungsreihe mit Differenzen. 19 Daraus folgt, wenn man die Stammgleichungen nimmt, und die Gröfsen unter dem Zeichen A, rechter Hand, durch P und Q bezeichnet: AB ppr=P+C, a (Dex == Q -r Cs; wo C, und C, Constanten sind. Für »=x-+% oders, ist kodere— x gleich Null; also sind P und Q gleich Null für =e. Mithin geben die Gleichungen (45) für x=e: et, Lund «det; und folglich: 46 an a, und P,E Zee P,x iz; Ö, das heifst: k(k—a)(k—2e)....(k—ne) re IN a EEE nl. tr! Mm es k(k— Sn (k— ne) A’ ( F(x = — Fx ) und 2 ee _ ee = (one) 1» ac ne, oder weil k zer ar un A ( F(x-+ PAS TORE na" k)— Fx ) z zufolge der Gleichung (10), nichts Anderes ist, als der Rest der Reihe, der dem n + 1'® Gliede noch folgt, wenn man diesen Rest durch R bezeichnet: k(k—a) (k—20)....(k—ne) — —— MZR 2.3....(2 rl) ar 49, P (=-+A) zu und k(k—e) (k—2a)....(k—ne) 2.3... (ai) at 50. 0, (@+) — dr = N—2. Nun ist aber $, («+A) — d,x, wie vorhin gezeigt, immer positiv, und &, (e-+A) — $,x immer negativ; also zeigen die Gleichungen (49 u.50), dafs nothwendig: k(k—a) (k—20)....(k—ne) 5. R< a (a1) a +! m und 9 k(k—e) (k—20)....(k—ne) - RN Dass (nt) a" +! ‘N C2 20 CreELue: Grenzen für die Werthe der Reste u. s. w. sein mufs. Es sind aber in diesen Ausdrücken die Gröfsen rechter Hand, wie aus der Gleichung (10) zu schen, nichts anderes, als der gröfste und der kleinste Werth des ersten weggelassenen Gliedes, oder des ersten Gliedes des Restes, in so fern man darin A als nicht abhängigvon«, oder als unveränderlich betrachtet. Also findet man den Satz: „Dafs in der allgemeinen Taylorschen Reihe der gröfste „und;der kleinste Werth des ersten Gliedes des Restes, in so „fern man darin k als unveränderlich betrachtet, Grenzen „für die Werthe des Restes sind.” Da « beliebig ist, und also auch Null sein kann, und in diesem Falle die allgemeine Taylorsche Reihe in die besondere so benannte Reihe über- geht, so folgt: „Dafs auch in der gewöhnlichen Taylorschen Reihe der ‚„‚gröfste und derkleinste Werth des ersten Gliedes desRestes, „insofern man darin kals unveränderlich betrachtet, Gren- „zen für den Werth des Restes sind,” welches der Lagrangische, von Ampere in der oben angeführten Ab- handlung einfach bewiesene Satz ist, der also, wie sich hier zeigte, bezieh- lich auch für die allgemeine Differenzenreihe gilt. Über ähnliche krumme Linien und Flächen. Von ven H” CRELLE. nmnnmnnnrrnmve [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 13. März 1828.] D. gewöhnliche Definition ähnlicher, von geraden Linien umschlossener Figuren: dafs ihre ähnlich liegenden Seiten Gleichvielfache, und ihre ähn- lich liegenden Winkel zwischen den Seiten die nemlichen sind, pafst nicht auf Figuren mit krummen Grenzen, weil solche meistens keine, um endliche Theile von einander verschiedene Winkel am Umfange, und keine geraden Seiten haben. Es läfst sich also fragen, was man unter ähnlichen Figuren mit krummen Grenzen verstehen wolle, und ob es allgemein solche Figuren gebe, und welches ihre Eigenschaften sind. Diese Fragen sind sehr natürlich und liegen sehr nahe, weil es sogar bei jeder Abbildung im Kleinen oder im Grofsen, wirklich auf die Ähnlich- keit, meistens krummliniger und krummflächiger Figuren ankommt. Einige allgemeine Andeutungen, diesen Gegenstand betreffend, dürften daher viel- leicht nicht überflüssig sein. Schon dafs die gewöhnliche Definition ähnlicher, mit geraden Linien und Ebenen begrenzter Figuren, auf Figuren mit krummen Grenzen nicht palst, deutet an, dafs sie nicht die richtige sei. In der That ist sie es nicht, wie schon Legendre in den Anmerkungen zu seiner Geometrie nachge- wiesen hat, und wie nächstdem auch in einem Aufsatze im Journal für die reine und angewandte Mathematik, 1*" Band, S. 241 etc. auseinandergesetzt ist. Jene gewöhnliche Definition schliefst nemlich Lehrsätze in sich, deren Beweis sie voraussetzt. In der That läfst sich fragen, ob Figuren möglich sind, deren ähnlich liegende Seiten, während sie die nemlichen Winkel einschliefsen, alle von einander Gleichvielfache sind. Denn nicht alle Seiten und nicht alle Winkel zwischen den Seiten sind bekanntlich zur Bestimmung 22 ÜCRELTIE einer Figur nöthig, und es wird erst hinterher bewiesen, dafs wenn die be- stimmenden Seiten Gleichvielfache, und die bestimmenden Winkel die nemlichen sind, dafs dann das Gleiche auch von den übrigen Seiten und Winkeln gilt. Diese Thatsache wird also bei der Definition vorausgesetzt, und fände sie nicht statt, so würde auch die Definition nicht Statt finden; denn man kann nicht etwas definiren, was nicht existirt. Man kann z.B. nicht sagen, ein Dreieck solle gleichwinklich heifsen, wenn es drei rechte Winkel hat, nnd dergleichen. Die Beweise der vorausgesetzten Thatsache sind sogar zum Theil selbst lange nachher erst gegeben worden, nachdem die Voraussetzung zugestanden war. So definirt z. B. Euclid im 11" Buche (9“ und 10“ Erklärung), dafs ähnliche Körper solche sind, die von gleich vielen ähnlichen Ebenen begrenzt werden, und gleiche und ähnliche Körper solche, die von gleich vielen gleichen und ähnlichen Ebenen umgeben sind. Gleichwohl hat erst in neuerer Zeit, viele Jahrhunderte später, Cauchy zuerst bewiesen, dafs Körper, und zwar Polyeder von der letzten Art, wirk- lich gleich sind, worauf die Definition der ähnlichen Polyeder beruht. Auch scheint es noch, dafs Polyeder schon gleich und ähnlich sind, wenn alle Seiten-Ebenen, bis aufeine, in dem einen Poly&der denen in dem anderen gleich sind. Die gewöhnliche Definition ist also wirklich keine eigentliche, und keine Erklärung von der Art, wie sie in der Mathematik verlangt wer- den können; denn eine gute Definition darf nie Lehrsätze in sich schliefsen, die noch nicht bewiesen sind, oder, was dasselbe ist, die noch die Frage nach der Möglichkeit des definirten Gegenstandes übrig lassen. Bei Legendre und in dem erwähnten Aufsatze ist von mehreren an- deren Definitionen ähnlicher Figuren die Rede, und der benannte Aufsatz findet als Resultat, dafs eine allgemein passende Definition ähnlicher Figu- ren folgende sei: „Ähnliche Figuren sind solche, die so gelegt werden können, dafs die „Ecken der einen und die ähnlich liegenden Ecken der anderen in ge- ‚„‚raden Linien liegen, welche durch einen und denselben Punct gehen, ‚„‚und dafs dann zugleich die Entfernungen der Ecken der einen Figur „von diesem Puncte Gleichvielfache sind von den Entfernungen der ‚Ecken der anderen von dem nemlichen Puncte. Diese Erklärung ist in der That allgemein, und pafst eben sowohl auf gerade- als krumm - begrenzte Figuren, wenn man für letztere statt Ecken über ähnliche krumme Linien und Flächen. 23 „bestimmende Puncte des Umfanges” setzt. Auch beantwortet sich die Frage nach der Möglichkeit solcher ähnlichen Figuren von selbst; denn es ist offenbar möglich, aus einem und demselben Puncte nach beliebigen Punc- ten in der Grenze einer gegebenen Figur gerade Linien zu ziehen und in diesen geraden Linien Puncte zur Bestimmung einer ähnlichen Figur so an- zunehmen, dafs ihre Entfernungen von dem festen Puncte Gleichvielfache sind von den Entfernungen der correspondirenden Puncte der gegebenen Figur von dem festen Puncte. Die Erklärung giebt auch, wie leicht zu se- hen, genau dieselben correlativen Figuren zu gegebenen geradbegrenzten Figuren, welche man gewöhnlich ähnliche nennt. Es scheint also in der That, dafs diese Erklärung die richtige sei. Sie veranlafst sogleich die Be- merkung, dafs man mit Unrecht blofs von ähnlichen Figuren spricht, in so fern darunter umschlossene Räume verstanden werden, und dafs es eben sowohl schon ähnliche Linien gebe. Wendet man die Erklärung in diesem Sinne weiter zurück an, so findet sich, dafs eine gerade Linie und eine Ebene wieder einer geraden Linie und einer Ebene ähnlich ist, und es könnten dar- aus noch manche, für die Theorie der geraden Linien und Ebenen und der Parallelen interessante Folgerungen gezogen werden, die nicht hierher gehören. Für den gegenwärtigen Zweck kommt es insbesondere darauf an, die Definition der Ähnlichkeit auf krumme Linien und Flächen anzuwenden, und zu sehen, was wenigstens allgemein daraus folgt. Um Unischreibungen zu vermeiden, oder die Bezeichnung abzukürzen, gestatte man folgende Benennungen. Der feste Punct, nach welchem die geraden Linien aus den verschiedenen Puncten einer gegebenen Figur gezo- gen werden sollen, in welchen dann die correspondirenden Puncte der ähn- lichen Figur in verhältnifsmäfsigen Entfernungen liegen, heifse Ähnlich- keitspunct, unbeschadet der Bedeutung, die man sonst diessr Benennung beilegen mag. Die geraden Linien aus dem Ähnlichkeitspunet nach den be- stimmenden Puncten der gegebenen Figur, sollen Ähnlichkeitslinien hei- fsen; die in denselben liegenden correspondirenden Puncte der ähnlichen Figuren zusammengehörige Puncte, die Zahl der Gleichvielfachheit für die Entfernungen der bestimmenden Puncte der gegebenen und der ähn- lichen Figur von dem Ähnlichkeitspuncte soll Ähnlichkeitsverhält- nifs heifsen. 24 ÜRELTE Es lassen sich nun folgende allgemeine Sätze aufstellen: 1. Lehrsatz. Die Lage des Ähnlichkeitpuncts für ähnliche Figuren ist völlig gleichgültig, und alle Figuren welche zu einer und derselben gege- benen Figur dasselbe Ähnlichkeitsverhältnifs haben, sind congruent. Beweis. Wenn erstlich die gegebene Figur, sammt denen die ihr ähnlich sind, in einer Ebene liegen, so nehme man zwei beliebige Ähnlich- keitspuncte ? und Q willkürlich an, und ziehe aus denselben nach zwei be- liebigen Puncten 4 und 2 in der Begrenzung der gegebenen Figur gerade Linien. In diesen geraden Linien nehme man Gleichvielfache von P4, PB, 04,02,‘ von: Prund Qirab;: nemlich‘ Pa= Rn: PA. Pb=n. PBnQd —=n.Q4A, Qß=n.QB; so sind a und b, « und ß Puncte in den beiden, den Ähnlichkeitspuncten P und Q entsprechenden, der gegebenen Figur ähnlichen Figuren. Nun haben aber die geradlinigen Dreiecke PB und aPb, AQB und «aQß gleiche Winkel zwischen gleichproportionirten Seiten; also sind auch die dritten Seiten ab und «ß Gleichvielfache von 42, folg- lich ist auch ab —= «aß. Man nehme ferner einen beliebigen dritten Punct C in der Begrenzung der gegebenen Figur, ziehe die geraden Linien CP und CQ, und nehme in denselben die correspondirenden Puncte c und y der beiden ähnlichen Figuren, so wird wie vorhin bewiesen, dafs auch ae=ay und bJe=y ist. Also sind in den beiden geradlinigen Dreiecken ade und «@y, in deren Ecken die mit den Ecken des Dreiecks 43C der gegebenen Figur zusammengehörigen Puncte der ähnlichen Figuren liegen, alle drei Seiten die nemlichen. Mithin sind die Dreiecke abe und aßy congruent, und folglich liegt der Punet ce gegen die Puncte a und 5 eben so, wie der Punct y gegen die Puncte « und £. Was aber von der Lage der dritten Puncte ce und y gegen die beiden Puncte a, b und «, £ gilt, gilt auf dieselbe Weise von allen übrigen, mit beliebigen Puncten der gegebenen Figur zu- sammengehörigen Puncten der ähnlichen Figuren. Also liegen alle Puncte der einen ähnlichen Figur gegen die beiden Puncte a und 2 .in derselben eben so, wie die correspondirenden Puncte der anderen ähnlichen Figur ge- gen die den Puncten a und 5 entsprechenden Puncte «und y in dieser. Und folglich decken sich alle Puncte der beiden ähnlichen Figuren; mithin sind die beiden Figuren congruent. Wenn zweitens die gegebene Figur nicht in einer Ebene liegt, son- dern beliebig im Raume sich befindet. so nehme man zuerst drei beliebige über ähnliche krumme Linien und Flächen. 25 Puncte 4, B und C in der gegebenen Figur, ziehe aus denselben nach zwei willkürlichen Ähnlichkeitspuneten P und Q gerade Linien, und nehme auf denselben Gleichvielfache davon, nemlich Pa=n.P4A, Pb=n.PB, Pe ns PCiund Ou=nr02, O=n:.QB, QOy=n: OC,„sorsind.2,.2,-2 @, @, y die mit den drei Puncten 4, B, C der gegebenen Figur zusammen- gehörigen Puncte zweier ihr ähnlichen Figuren. Die Dreiecke PB und aPb, AQB und «Qß etc. haben aber wieder gleiche Winkel zwischen gleich- proportionirten Seiten; also ist auch: ab. m..4Db, dae—n.+A0C, bo=n.BEe unde® =n. AB, ay=n.AC,ßy=n.BcC. und folglich : ab—=uß, be= hy, ac=ay; mithin sind die Dreiecke abe und «@y congruent. Nun nehme man einen beliebigen vierten Punct D in der Begrenzung der gegebenen Figur, ziehe die Ähnlichkeitslinien DP und DQ, und nehme auf denselben d’=n.DFP und o6Q0=n.DQ, auf die Weise, dafs d und ö die mit D zusammengehö- rigen Puncte der beiden, der gegebenen ähnlichen Figuren sind; so folgt, ganz wie vorhin, dafs auch die Dreiecke abd und aßd, acd und ayd, bed und @yd congruent sind. In den beiden von vier Dreiecken eingeschlosse- nen Pyramiden abed und «&y3 sind also alle vier Seiten - Ebenen die nem- lichen, und folglich sind die beiden Pyramiden congruent. Daraus folgt, dafs der Punct d gegen die drei Puncte a, db und ce ganz eben so liegt, wie der Punct d gegen die drei Puncte «, , y. Was aber nun von den Puncten d und gilt, gilt auch von allen übrigen, mit beliebigen Puncten der gege- benen Figur zusammengehörigen Puncten der ähnlichen Figuren. Also lie- gen alle Puncte der einen ähnlichen Figur gegen die drei Puncte a, 5, ce eben so, wie die correspondirenden Puncte der anderen ähnlichen Figur gegen die den Puncten a, b, c entsprechenden Puncte «, @, y in dieser. Und folg- lich decken sich alle Puncte der beiden ähnlichen Figuren, und mithin sind die beiden Figuren congruent. Alle einer und derselben gegebenen Figur, in der Ebene oder im Raume, ähnliche Figuren mit demselben Ähnlichkeitsverhältnifs sind also eongruent, und folglich ist die Lage des Ähnlichkeitspunctes, bei einerlei Ähnlichkeitsverhältnifs, völlig gleichgültig. Mathemat. Klasse 18283. D 26 CrRELLE 2. Lehrsatz. Alle in ähnlichen Figuren ähnlich liegenden geraden Linien und Ebenen machen mit einander die nemlichen Winkel, die Ebenen sind einander ähnlich und die Linien von einander Gleichvielfache, in der Zahl des Ähnlichkeitsverhältnisses; die Figuren selbst sind proportionirt. Also alle Seiten, Diagonalen und andere ähnlich liegende Linien in ähnlichen, geradlinigen oder von Ebenen eingeschlossenen Figuren, oder die ähnlich liegenden Ebenen in ähnlich liegenden Polyödern machen mit einander gleiche Winkel, und die Ebenen, z. B. die Seiten-Ebenen der Polyeder, sind ein- ander ähnlich, und die Linien von einander Gleichvielfache, von der Zahl des Ähnlichkeitsverhältnisses. Der Beweis ist demjenigen des vorigen Lehrsatzes ganz analog, und liegt zum Theil schon in demselben. Er darf daher, um abzukürzen, über- gangen werden. 3. Lehrsatz. Die Gleichungen aller, einer und derselben Figur ähnlichen Figuren, sei es zwischen Coordinaten aus einem Puncte, oder zwischen rechtwinkligen oder anderen Coordinaten, sind mit der zugehöri- gen Gleichung der gegebenen Figur von einerlei Ordnung. Beweis. Da nach dem ersten Lehrsatze die Lage des Ähnlichkeits- pnnctes willkürlich ist, so kann man auch den Anfangspunct der Coordina- ten dazu nehmen. Es ist leicht zu sehen, dafs alsdann alle Linien in dem Coordinaten - Systeme der gegebenen und der ihr ähnlichen Figuren, für zu- sammengehörige Puncte der Figuren, ähnlich liegende Linien, und alle Winkel der Systeme für solche Puncte gleich sind. Wenn also diese oder jene Linien des Coordinaten -Systems der gegebenen Figur durch x, y; 2...- und die entsprechenden Linien der Coordinaten-Systeme der ähnlichen Fi- guren, für zugehörige Puncte, durch &,, Y,, 2,:.... bezeichnet werden, und das Ähnlichkeitsverhältnifs wird wie oben durch x bezeichnet, so ist 2, =nx, y‚,=ny, 3,=nz...., und die Winkel der Systeme sind gleich. Also werden die Gleichungen der ähnlichen Figuren aus der Gleichung der gegebenen Figur durch Elimination der Coordinaten der letzteren zwischen ihrer Gleichung und zwischen Gleichungen von der ersten Ordnung ge- funden; und da nun die Ordnungszahlen von Gleichungen, welche das Re- sultat der Elimination zwischen beliebigen Gleichungen sind, der Regel nach, den Producten der Ordnungszahlen der Gleichungen gleich sind, zwi- schen welchen die Elimination geschiehet: so sind die Gleichungen der ähn- über ähnliche krumme Linien und Flächen. 27 lichen Figuren von der nemlichen Ordnung, wie die Gleichung der gege- benen Figur. Hieraus folgt z. B., dafs die einer geraden Linie oder einer Ebene ähnliche Figuren wieder gerade Linien und Ebenen sind, dafs die einer Linie und Fläche zweiter Ordnung ähnliche Linien und Flächen, zweiter Ordnung sind, und es ist leicht zu zeigen, dafs einem Kreise wieder Kreise, einer Ku- gel wieder Kugeln, einer Ellipse wieder Ellipsen u. s. w. ähnlich sind. 4. Lehrsatz. Die geraden Linien, welche ähnliche Curven in der Ebene, und die Ebenen, welche Curven doppelter Krümmung und Flächen berühren, sind für zusammengehörige Puncte parallel. Beweis. Man nehme in einer gegebenen ebenen Curve zwei belie- bige Puncte 4 und B, und lege durch dieselben eine Sehne 42, desgleichen durch die zugehörigen Punete a und 2 der ähnlichen Curve die Sehne ab, so schliefsen diese Sehnen mit den Ähnlichkeitslinien 4?, BP und aP, bP (wenn P den Ähnlichkeitspunct bezeichnet), vermöge der Bedingung der Ähnlichkeit der Curven, ähnliche Dreiecke ein, mit einerlei Spitze und einer- lei Schenkeln, und sind also parallel. Die Sehnen #2 und ab gehen aber in die Tangenten in 4 und a über, wenn B nach 4, und folglich 5 nach a rückt, und zuletzt 3 in 4 und dina fällt. Also sind auch die Tangenten an / und a, das heifst an zusammengehörigen Puncten ähnlicher ebener Curven, parallel. Ferner nehme man in einer gegebenen Curve doppelter Krümmung, oder in einer gegebenen krummen Fläche, drei beliebige Puncte 4, B und C an, und lege durch dieselben eine Ebene 43C, desgleichen durch die zu- gehörigen Puncte a, 5 und c der ähnlichen Figur, die Ebene abc, so schlie: fsen diese Ebenen mit den Ebenen durch den Ähnlichkeitspunct und durch AB, ab, BC, be und CA, ca, wie nach Art des Beweises des ersten Lehrsatzes leicht zu zeigen, ähnliche dreiseitige Pyramiden mit gemeinschaft- licher Spitze und gemeinschaftlichen Seiten-Ebenen ein. Folglich sind die Ebenen 4BC und abc parallel. Diese Ebenen gehen aber in diejenigen über, welche die gegebene und die ähnliche Curve, oder Fläche, in / und a berühren, wenn B und C nach Z, und b und ce nach a rücken und zuletzi in 4 und a fallen. Also sind auch die Ebenen, welche die gegebene und die ihr ähnliche Curve oder Fläche in zusammengehörigen Puncten berüh- ren, parallel. D2 25 ÜrRELUDE 5. Lehrsatz. Die Krümmungs-Halbmesser einer gegebenen Curve in der Ebene und der ihr ähnlichen Curven sind parallel, und stehen, ihrer Gröfse nach, in dem Ähnlichkeitsverhältnifs der Curven. Auch sind die Evoluten ähnlicher Curven ebenfalls ähnliche Curven. Analoge Sätze finden in Rücksicht der zwiefachen Berührungskugeln und Krümmungs-Halbmesser gegebener krummer Flächen und derer, die ihnen ähnlich sind, Statt. Beweis. Man nehme in einer gegebenen ebenen Curve drei belie- bige Puncte 4, 2, C, und lege durch dieselben einen Kreis, dessen Mittel- punct M sein mag; desgleichen durch die zugehörigen Puncte a, b, c der ähnlichen Curve einen Kreis, dessen Mittelpunet zz bezeichnen soll. Da M und n» in dem gemeinschaftlichen Durchschnitte der Perpendikel auf 42, BC, CA und ab, be, ca durch die Mitten dieser Seiten liegen, und #2 und ab, BC und be, C4 und ca, also auch die Perpendikel darauf, parallel sind, desgleichen adb=n.AB, be=n.BC, ca=n.CA ist, wenn man das Ähnlichkeitsverhältnifs der Curve durch r bezeichnet; so ist leicht zu sehen, dafs auch die Linien 4M und am, BM und bm, CM und cm parallel sind, und daß am =n. AM, bom—=n.BM, cm—=n.CM ist. Wenn nun aber die Puncte ZB und C nach 4 zu rücken und zuletzt in 4 fallen, so ge- hen /M und am in die Krümmungs-Halbmesser der Curven über, und folg- lich sind auch diese parallel und stehen, ihrer Gröfse nach, in dem Ähnlich- keitsverhältnifs der Curven. Ferner folgt daraus dafs z. B. #M und am parallel sind, und dafs am=n.AM ist, unmittelbar, dafs M und m, d. h. die Mittelpuncte der Krümmung der gegebenen Curve und der ihr ähnlichen Curve, mit dem Ähn- lichkeitspunct ? in gerader Linie liegen, und dafs Pm=n.PM ist, und dieses gilt von allen Mittelpuneten der Krümmung. Die Evoluten der ge- gebenen und der ihr ähnlichen Curven sind nun aber die geometrischen Orte der Mittelpuncte der Krümmung der beiden Curven, oder die geometrischen Orte der Puncte M und der Puncte m. Also stehen auch die Entfernungen aller zusammengehörigen Puncte der beiden Evoluten vom Ähnlichkeitspuncte in dem Ähnlichkeitsverhältnifs der Curven, während die genannten Puncte in gerader Linie durch den Ähnlichkeitspunct liegen; und folglich sind auch die Evoluten ähnlicher Curven ähnlich. über ähnliche krumme Linien und Flächen. 29 Die Beweise der analogen Sätze von den Berührungs- Kugeln und Krümmungs - Halbmessern ähnlicher krummer Flächen gleichen wiederum den vorigen. b. Lehrsatz. Die Länge eines beliebigen Bogens einer Curve und derjenigen Bogen der ihr ähnlichen Curven, welche zwischen einerlei Ähn- lichkeitslinien mit jenen liegen, stehen in dem Ähnlichkeitsverhältnifs der Curven. Eben so die Flächen - Inhalte ‘derjenigen Theile einer krummen Fläche und der ihr ähnlichen Flächen, welche von den durch beliebige Ähnlichkeitslinien gebildeten Kegelmänteln eingeschlossen sind. Beweis. Man nehme für eine beliebige Curve in der Ebene Coordi- naten aus einem Puncte, und zwar aus dem Ähnlichkeitspuncte, und be- zeichne sie durch r und $, so ist die erste Ableitung (das erste Differential) der Länge eines Bogens der gegebenen Curve gleich Y(r’dp’-+ dr’), und die erste Ableitung der Länge eines zugehörigen Bogens der ähnlichen Curven, weil die Coordinaten für dieselben zr und & sind, gleich Y(n’r’dp’ + n’dr?), gleich 2 Y(r’d®?+dr?). Die ersten Ableitungen stehen also in dem Ahn- lichkeitsverhältnifs n der Curven. Folglich siehen auch, weil n eine unver- änderliche Gröfse ist, die Stammgröfsen (Integrale) davon, welche die Län- gen der Bogen selbst sind, in dem nemlichen Verhältnifse, in so fern man, was immer angeht, den Anfang des Winkels $ so nimmt, dafs die zu den Stammgröfsen gehörigen Constanten Null sind. Mithin stehen die Längen der Curvenbogen in dem Ähnlichkeitsverhältnifs der Curven selbst. Auf ähnliche Art lassen sich die analogen Sätze für Curven doppelter Krümmung und für Flächen beweisen. 7. Lehrsatz. Die Fläche zwischen einem beliebigen Bogen einer Curve und den ihn begrenzenden Ähnlichkeitslinien steht zu der Fläche zwi- schen dem zugehörigen Bogen einer ähnlichen Curve und den nemlichen Ahnlichkeitslinien im quadratischen Ähnlichkeitsverhältnifs der Curven. Und der körperliche Raum zwischen einem beliebigen Theile einer krummen Fläche und dem ihn begrenzenden, von Ähnlichkeitslinien gehildeten Kegelmantel, steht zu dem körperlichen Raume zwischen dem zugehörigen Theile der ähn- lichen Fläche und dem nemlichen Kegelmantel im cubischen Ähnlichkeits- verhältnifse der Flächen, woraus auch leicht die Verhältnisse der benannten Flächen und körperlichen Räume für rechtwinklige und andere Coordinaten Systeme gefunden werden. 30 CREubE Beweis. Man nehme, wie oben, für eine beliebige Curve in der Ebene Coordinaten r und $ aus dem Ähnlichkeitspuncte, so ist die erste Ableitung der zwischen einem beliebigen Bogen der Curve und den ihn be- grenzenden Ähnlichkeitslinien liegenden Fläche gleich 4- »’d$, hingegen die erste Ableitung der zugehörigen Fläche für die ähnliche Curve ist, weil ihre Coordinaten zr und & sind, 4”’r’do. Also stehen diese Ableitungen in dem Verhältnifs 2° zu einander. Und da nun x eine unveränderliche Gröfse ist, so wird es sich eben so mit den Stammgröfsen dieser Ableitungen, welche die Flächen selbst ausdrücken, verhalten; und folglich stehen diese Flächen in dem quadratischen Ähnlichkeitsverhältnifse der Curven. Auf ähnliche Art lassen sich die analogen Sätze für Curven doppelter Krümmung und für Flächen beweisen. 8. Lehrsatz. Gerade Linien und Ebenen sind mit den ihnen ähnlichen geraden Linien und Ebenen, für jede beliebige Lage des Ähnlich- keitspuncts, und Kreise und Kugeln mit den ihnen ähnlichen Kreisen und Kugeln, dann wenn der Ähnlichkeitspunet im Mittelpuncte der Kreise und Kugeln liegt, parallel. Andere Linien und Flächen sind mit den ih- nen ähnlichen Linien und Flächen für eine beliebige Lage des Ähnlichkeits- puncts nicht nothwendig parallel. Beweis. Linien und Flächen sind dann parallel, oder äquidistant, wenn alle Normalen der einen zugleich Normalen der anderen, und von einer bis zur anderen gleich lang sind. (Ich habe eine allgemeine Theorie der parallelen Ourven und Flächen im 2‘ Bande meiner Sammlung mathema- tischer Aufsätze und Bemerkungen, Berlin bei Maurer, 1822, und im 1“* Stücke des 12“ Bandes der Annales des mathematiques von Gergonne zu geben versucht). Nun wird diese Bedingung von ähnlichen geraden Linien und Ebenen, immer erfüllt, weil die Perpendikel auf dieselben nicht al- lein für die zusammengehörigen Puncte, sondern zugleich für alle Puncte, unter einander parallel sind. Also sind ähnliche gerade Linien und Ebenen für jede Lage des Ähnlichkeitspuncts nothwendig parallel. Ferner wird sie erfüllt für ähnliche concentrische Kreise und Kugeln, weil in denselben die Perpendikel für zusammengehörige Puncte in einander, nemlich in die Ähn- lichkeitslinien selbst fallen, und zugleich die Ähnlichkeitslinien, und folg- lich auch ihre Unterschiede alle gleich lang sind; mithin sind auch ähnliche concentrische Kreise und Kugeln parallel. Für alle übrigen Curven und über ahnlıche krumme Linien und Flächen. 31 Flächen dagegen sind zwar nach dem 4 Lehrsatze die Normalen, weil sie auf den Tangenten senkrecht stehen, für zusammengehörige Puncte pa- rallel. Da sie aber für verschiedene Puncte der Curven und Flächen we- der nothwendig unter einander parallel-sind, noch nothwendig in die Ähn- lichkeitslinien selbst fallen, so sind ähnliche Curven und Flächen nicht all- gemein nothwendig parallel. DDr Von Entwickelung polynomischer Functionen. Von H"- POSELGER. mm [Gelesen ın der Akademie der Wissenschaften am 27. November 1528.] I. Polynomium. 1. W.. geselzt wird: [} 1 2 p=zatax tax +..... alu” + ...:. so wollen wir mit, „p, den Inbegriff bezeichnen aller von einander ver- schiedenen möglichen Zusamimenstellungen von r Elementen aus der Ziffern- reihe 0, 4,9, 3.44% m, zur Summe: r. Wir schreiben hiernach, wennn=5; r=5, (er ‚pN5.4.3.2.1[/00005 + 00014 + 00113 + 01112 + Lit1i + 00023 + 00122 oder auch 5 3 (DE ‚PpN5.4.3.2.1|0°5+0$14+ 23]. + 0? f113 + 122} + 0 $irı2} + 11111 | Das + Zeichen in (1) soll blos alle möglichen einzelnen der Forderung ent- sprechenden Zusammenstellungen, und in (2) dieselben, klassenweise, zu dem Inbegriff, "2 an einander reihen: da hier von keiner arithme- tischen Addition die Rede ist, so drückt auch das gewählte Zeichen A nur die Beziehung aus dieses Inbegrifis auf seine Bestandtheile. Das Product 5.4.3.2.1 giebt die Anzahl aller möglichen Versetzungen der Elemente unter sich in jeder einzelnen Zusammenstellung. Von diesen Versetzungen nun Mathemat. Klasse 1828. E 34 Poseicer: müssen, nach der gegebenen Bestimmung des Begriffs, abgesondert werden diejenigen Zusammenstellungen, welche öfter als einmal erhalten werden. Es wäre also noch in (1), (2) eine jede der vorkommenden Zusammenstel- lungen mit einem Co£fhieienten zu versehen gewesen, wie: ER 00005 00014 + 00113 01112 > «4.3.2. = ——— ———— ——— P 1.2.3.4 1.2.3 1.2.1.2 1.2.3 00023 + 00122 11111 1.2.3 1.2.1.2 1.2.3.4.5 Diese Co&ffieienten sind in obigen Darstellungen nur der Kürze wegen weggelassen. 2. Aufgabe. Anzugeben die Summe aller von einander verschie- 0 1 denen möglichen Producte von drei Factoren, aus der Grölsenreihe a, a, @.....a, genommen, und so gewählt, dafs die in jedem Product vorkom- menden drei Zeigerzahlen die Summe 6 geben, vorausgesetzt, dafs in ihrer natürlichen Ordnung von o bis 6 keine fehlt. Es ist 6 ‚p N 3.2.1|0°6 +0 f15 + 21 + 33} + 114 + 123 + 222 woraus sich sofort, und ohne eines besondern Beweises zu bedürfen, ergiebt: 33 8 Be 32 D a = aa P=-(a)a+-—.a.2.1ı(aa+aa+ ) 4:44 r 222 Bee } re) ade aau A 1,23 1.2 123 wo dann der Inbegriff ‚p sich in eine arithmetische Summe, und daher A in = verwandelt. 3. Das in 1. gesagte läfst sich leicht auf den Fall anwenden, wenn wir eine andere Ziffernreihe, 1, 2, 3....m statt 0, 1, 2....zn zum Grunde legen. Es sei nämlich: 1 24 5 m gzax+axm tar +...... aa” +...... Dann ist Von Entwickelung polyromischer Functionen. 35 r A 3.2.1 $114 + 123 + 222} 114 222 aaa nn aaa —El in "Haas; e 1,2 3 Eben so 6 ‚9 N2.1ı$15 + 24 + 35} 33 15 24 A —e 2.1 {00 +aa+ ad 1.2 © 6 ı7 = & Werden diese Ausdrücke in dem obigen für „» untergelegt, so ergiebt sich: 2 RT: Beer ee! ® VE ee 4. Aufgabe. Ein Product zu entwickeln aus den drei Factoren o 1 5 a ar ar Enaa. pa [0] 1 4 8 DREIER DIE -Besonerbn o 1 2 8 CECKRFER E22. cr 3 N1°* . . BrSEO 1) ein Glied des Products ist unabhängig von x, = abe; 2) das Glied, welches die höchste Potenz von & enthält, ist abex’*. 3) die Aufgabe verlangt, jedes Glied einer der drei Reihen mit allen möglichen Producten aus einem Gliede der andern und einem der dritten übrigen Reihen zu multiplieiren. Hieraus ergiebt sick nothwendig, dafs in den Gliedern der Reihe, in welche das Product entwickelt wird, jede Po- tenz von x von 1 bis 24 vorkommen mufs. Bezeichnen wir nun die Cocfh- cienten dieser Potenzen mit ,p, „?-...,p, so wird das Product diese Form haben. : : , Si PHPCeH PH... pr”. 4) Jeder dieser Coefficienten wird ein Produet sein, dessen drei Fac- toren Coeffieienten der drei aufgegebenen Reihen, und zwar jeder aus einer andern entnommen, sind. Und da die Zeigerziffern dieser letzteren gleich- lauten mit den dazu gehörigen Exponenten der x, so ist augenscheinlich, dafs die Summe der Zeigerziffern jeder drei in einander multiplieirter Coef- E2 36 Poseicer: ficienten gleich sein müssen dem Exponenten der Potenz, zu welcher das ihrem Product zugehörige x durch die Multiplication erhoben wird. Jedes Glied des Productes px r Feık wird also zu seinem Co£ffieienten „op die Summe haben aller Producte abc, in welchen f+g+-h=rist, und die Anzahl dieser Producte wird so grofs sein, als sich aus den Elementen o.....24 drei zur Summe r verbinden, und in Jeder entsprechenden Zusammenstellung von nic die Buchstaben abe un- ter einander vertauschen lassen. Seir=6, so ist diesem gemäfs: 06 + 0$15 + 24 + 33} + 114 -+ 123 99 2ics 6 PN 342-1 0°6 ; 33 114 222 Nr ro fis+ ir Ir rm+ 1.2 zes 6 006 015 0o24 033 1.414 4.273 222 p=abce\+abce|+abe +abe +abce\+abe|+abe. 006 015 o24 033 114 128 bca\+achb +achb +bca|+Dbca|+ach 006 015 0o24 033 Ada 123 cab\+bcal+bca +cab|+cab|+bac 015 o24 123 +bac|-+ bac -+bca 015 024 4258 +cab\ + cab +cab 015 o24 ; 123 +cba|-+ cba +cba | 5) Die Allgemeingiltigkeit des in (1) und (2) angewendeten Verfahrens ' um „P» .q; u. dergl. in den angegebenen beiden Beziehungen entwickelt dar- zustellen, leuchtet von selbst ein, da selbiges durch nichts weiter geleitet wird, als die Bestimmungen des damit zu bezeichnenden Gegenstandes im Allgemeinen. Dagegen hängt das wirkliche Ergebnifs jenes Verfahrens nach Umfang und Form, so genau ab von den gegebenen Zahlen z, r, m, als Individuen betrachtet, dafs es unmöglich wird, in einem allgemeinen Schema der Entwickelung jener Begriffe mehr anzudeuten, als das blofse Hinweisen auf das Verfahren selbst, welches sich jedoch mit nicht minderer Sicherheit, Von Entwickelüung polynomischer Functonen. 37 und mit gröfserer Klarheit, durch seine ausführliche Anwendung auf irgend einen besondern Fall, wie oben, erkennen läfst. Wird also die Aufgabe gestellt, Factoren, so viel man will, von der Form RER E, 5 ee s. w. oder von einer noch eeereh zusammen zu multiplieiren, und das daraus entwickelte Product in einer nach steigenden oder fallenden Potenzen von x geordneten Reihe darzustellen, so läfst sich dieselbe nicht anders lösen, als durch die Nachweisung des Gesetzes, nach welchem jedes einzelne beson- dere Glied gefunden werden kann, welches aber aus dem Verfahren selbst zur Gnüge sichtbar wird, und die Stelle vertritt eines terminus generalis, aus welchem jedes Glied durch blofse Bestimmung seiner Stellenzahl sofort ge- bildet werden könnte. 6) Der Begriff eines Products geht über in den einer Potenz, wenn die Factoren einander gleich gestellt werden, nämlich a=b=c.... Dann wird in dem Falle in 4, ‚p der Co£fficient von x° in der Potenz o 1 8 (atax-+..... tax)‘. und findet sich durch die erwähnte Gleichstellung unmittelbar aus der Form in 4, F le os ER IR ee Bun 2 —sR r Ba EN T- + aaa + oder auch 2 2.1 Ar 0: a)? Er aaa 2 3 3 [e} so 3.2 o 15 2iH @ =- )a+- a.2.13aa+aa+ 1.2 se d.h. BEN, “2 32a u OR EEE En rar? D Die Reihe schreitet fort nach fallenden Potenzen von a. Eben so wird sie nach den jedes andern Coöcffieienten es können. 7. Aufgabe. Anzugeben das die Potenz (a)‘ als Factor enthaltende Glied (welches wir der Kürze wegen mit u bezeichnen wollen). der Reihe des Coefhicienten .p der zu entwickelnden Potenz: (a + nn ea de ee 2 38 PoseLcer: Es ist offenbar MA 7.6....2.1|0000119 4 0000128 + 0000137 -F 0000146 — 0000155 —+- 0000227 4 0000236 4 00002: ++ 0000335 + 0000344 also 0 1 B (a)‘ = 1 28 1937 146 BOu M=Tebe...2.1 = + aaa + aaa + aaa + —— 2 EZ. 3 5 a 21370 245 (a)? a + —— a A ren ine 2a)? + d.h. Bere 1.2 Erz Die Allgemeingeltung des hier angewendeten Verfahrens ist von sich selbst klar. Auch folgt eben so daraus, dafs für (a)' == In ‚p r — Mi — 0 n.n—i1...n—m-+1 4» 1.2....M / Hieraus ergiebt sich aber sofort: n DE " TEEN n— -2, =- (a) .,g9+ 1 (a) n.n—1l..nrn—m—+1 o r r + ee . (a) "".,g4--.-+,9- ‚m Die Potenz eines Polynomiums hat also, vorzugsweise vor dem blofsen Pro- duct, einen angebbaren terminus generalis, dessen Glieder durch Exponenten und Stellenzahl ihre Bestimmung erhalten, obgleich nur zum Theil, da der allgemeine Factor g in der That nur hinweiset auf das Bildungsgesetz, nach welchem entwickelt er erst die Eigenthümlichkeit eines allgemeinen Schema erlangt, wozu jedoch die nähere Bestimmung der Zahl r als Individuums nothwendig wird. Moivre, welcher zuerst die Entwickelung polynomischer Potenzen gezeigt, hat von o 1 2 m (a +ax +ax°”+....+ax”+....) nur die Glieder 1 2 3 4 ü 5 ‚PH ,px+,px’ + ,px’+,px’ Fon Entwickelung polynomischer Functionen. 39 54 auf die ihm eigenthümliche Weise gegeben. Nach obiger Methode finden diese sich, wie folgt: __ 2 (a) .9 EREN ro ; De 2 n.n—i u. Me 2 ‚P=T(a).9+ (a) 0 ee) 9 BE SEES E n.n— age 48 n..n—2 > ® n..n— SER, — Oz ) u ae me Br N n.n—1i N ee u DR es = .g+ Ole Auer Oil re NENn—S ne Es ist aber a p4 2 3 3 4 “ 12) 5 gar ga: g=a; ga, ga 2 3 4 a2. ; „aN2.1 |i.2 0 113 + ee 1 12 13 2 223 — (A — 2a4 = 2aa + (a)’ — 2aa +2aa 5 ; ;9 N3.2.1|113 + 122 q — (a)’ ; ‚9A 322-1. 142 — 3(a)?a — 3(a)’a+3a(a)? =) 25 EN. Be] la), — i(a)’a daher obige Glieder = n.n—i E OmLEe se (an (a)"-?. (a)* 12° Ta ee n.n—i + [2 (ay'.a+ a (a). (2 1a + (a)) E re 2 (a). 3(a)?a a + ae + — (a) u Br Mo scen: (a)'-2.(e er a ee m ne ee ee 3 rue. ee leere 40 PoseLcer: Zum vollständigen und ganz fehlerfreien Darstellen jedes beliebigen Gliedes ist hiernach nicht die geringste Mühe erforderlich, als nur das mechanische Hinschreiben. 8. Der Index r ist bestimmt, wenn wir, nach 3, setzen: 1 ıI= ax Alsdann ist ‚7 nur möglich, wenn s=r, und dann ist r 1 dla): Dies aber ist gerade der Fall des Binomiums, dessen in 7 gegebene Reihe des Co&fficienten sich dann auf das einzige Glied zusammenzieht: 2 n..n—A1s.2IN rl air De 0 NO) welches durch Exponenten und Stellenzahl vollkommen bestimmt, daher im eigentlichsten Sinne des Worts terminus generalis ist. 9. Dafs dieser Ausdruck noch giltig ist, wenn n negativ gesetzt wird, „ licl nt+r— ntr—. ...h n : u = (a) (a) läfst sich durch blofses Combiniren gegebener Elemente, wie dies vorher geschehen ist, nicht nachweisen, weil hier sogar der Begriff einer Zusammen- stellung von Elementen verloren geht. Wohl aber läfst es sich darthun aus der Theorie algebraischer Func- tionen, auf dem Wege, den wir hier betreten wollen. Wir legen wieder die in 1 aufgestellte Reihe für » zum Grunde, worin wir aber, gröfserer Einfachheit wegen, a=ı setzen. Also: 1 2 m P=Z1H4,PCH PR +... + ,P&X”+..... und, dem analog: —n 1 a iu p N SE 2 Hieraus folgt durch Multiplication: Fon Entwickelung polynomischer Functionen. 41 1 2 m DE D.— — =1-+_p|=%-+_.p he. t_,Pp x" +... 1 1 1 1 m—i1 Hp. Hup-znPp +iP--Pp kr rap ER s Ä n—h u. ei Setzen wir nun auch: + 1 » ! > Re Fa pi. Dee. De Pe. so ergiebt sich daraus: m m 1 n—i1 2 m—2 m—i 1 m ni ZB an = PP m Pt Zen = ıP = + ıP» Und wenn wir, wie in 3, setzen, 1 2 m N a en +, pa" + ..... o dafs £ £ rn Me und in der gefundenen Gleichung für _,,,p setzen r+ ı statt m, und + 1 statt z, so folgt aus derselben unmittelbar: r+1 1 r r—i 3 r—2 —i 1 Den f=ar-d: ae Ip AP PT 10. Es ist ferner 1 1 2 z r a 5 =1+_PX%+_PxXH+-.:.:-+_,PX+---- und ’ , pP=14,PpXc +,pxX” 4... +,PpX + ..... Diese beide Reihen mit einander multiplieirt und = ı gesetzt, so folgt: r 1 r—i 2 r—2 r WD)asss: 0=_L,P HP PtP: Pt: -- +,p: 11. Nach der Form der Reihe von g, kann gesetzt werden : n—1 n—t n +1 q gen +,_.,9x%°-+ BEL +....4+,[°9 Kae Peer Mathemat. Klasse 1828. F 42 PoseuLGer: Dies giebt, durch g multiplieirt: 1 n—1 n+1 1 n+m-1 u, 008 +0: 19 ac tıE +0 1 rg | + al 2 n+m—2 +10. ud ur 4: = 9 a9 n—i 3 an +m—3 ar 0m PT | 119,539 -+.... : m+1 n—1 9.47 Und es kommt aus Gleichstellung beider Reihen: nm 1 n+-m—1 2 n+m—2 3 n-+m—3 m+1 a—1 n-19 — ı9 19 zz 19 2-19 + ı9 2-19 Free. ı9 gie oder auch, wenn wir + m =r setzen, r—1t 2 r—2 m-+1 r+m—1 (C) a2 = —z q el] nr 9: ed) ir u te 19 °r+m-1J Fi 12. Angenommen nun, das in 8. gehnidene Gesetz gelte für den Ex- r+i ponenten —z in_,p, und für—n— in r+1 so gilt es auch für _,_,p- _n 3 nz ge ‚p.... bis : Denn der Annahme gemäfs ist el n ee n+iı.n "+ n+2.n+ı.n ATS y A+rZien Det en ge er Zah 7 1.2 Z 1.2.3 37 end ERFrESN nr ee Eh 1 e n+ı |! r: N+H2.NnH1 BE „arten 7 5 = 19: n-ıP >= : VAN ee. BeY Im Si re | Nn+r...n+1 2 a 1 nr: 2 FA nrr.n+ı er yA+r—NnH a 19: mie u re Dee ee de 2 nr it 2 n+2.n+ı "-1 2 —19--a-ıP = Ka ea en al arg E £ N+1 7.12 u. 1 De — arg +1 + —1g; Nr WO Auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens mit Hülfe der in 9. und 11. gefun- denen Gleichungen (4) und (2) summirt, so sind die beiden Summen: Von Entwickelung polynomischer Functionen. 43 EL Te el nn Fa ent ot Er: n+riönfi; Te NE I rn +1 _N+r-1...n-1 73 was zu erweisen war. namen ne 13. Ferner ist nach der Formel (4): und nach (2): 1 ri r—2 0=_P+,9-_Pt.:ı9--P+ ARCERERE + ,9: woraus kommt: 1 1 „P=— 7-17: Mithin ist auch, nach (a), vermöge des Theorems in 12, und allgemein : Nach der Formel (4) ist auch (a. Ipzapellg ee ie und nach (2): =_pP+t:P:_:p+ ‚p opt...» +;p Daraus kommt: 1 1 und darin für _,p das oben erhaltene — + .,g gesetzt, so findet sich leicht: 5 2 3 P=—— + ) 2 1.2 7 Daher ist nach (2), vermöge des Theorems in 12, = 3 = 4.3 2 ne a te > und allgemein pe == Dt ende 7. Endlich ist nach der Formel (4): 3 3 1 2 z 1 ] (O)inge ER ER, PL ICBREN 2 rt BRBBEN: A F2 44 PoseEucGer: und nach (2): r 1 ri 2 r—2 0=_,P + PP H+sP-PpH+ ++ ;P: woraus sich ergiebt: 2 2 1 3 s 2 2 3 pP = 7 PP asp a-Pı 7aR3 daraus aber findet sich leicht, für pP den oben erhaltenen Werth Ms Das — und Tr gesetzt, Zu: Bu as 7° I: PET Tas 7 daher ist nach (c) vermöge des Theorems in 12, 3 4 & 5.4 5 6.5.4 3 AT Eed raa und allgemein 3 n g nein & n#+2.n+i.n 2 N rege) ie et: ars 1.2.3 >37: Da nun aber, wie wir eben gesehen haben, das in 8. gefundene Gesetz für 3 1 2 den Exponenten —n in _,p, und für —n —ı in _,_,P, _,_,P, giltig ist, so gilt n—1 es auch nach dem Theorem in 10 für _ 5 p, und daher auch für _,p, also auch ferner für _,_,?, und für _,p, und so weiter fort, daher ganz allge- mein für _,p. Die Gleichung o 1 2 m p=zatrax+taxX+.....taax”+..... läfst sich verwandeln in ° a a a m prıa 1 FIX HF michıh ar +.... a a ü Setzen wir nun a a 2 m ı= Try rt. Hr .. a a a so ist 3 St n z nti.n & n + m—l....n E. ie A Ze WERTE Dann ist Von Entwickelung polynomischer Functionen. 45 Spar R ar m wo R die Summe der Zusammenstellungen von m Elementen aus der Reihe ı 2 4, @.... zur Summe r ihrer Zeigerziffern bezeichnet. Wird aber wiederum gesetzt, in p, 4 2 m gzartax +... tax” +..... r sit A=,„g. So ist das allgemeine Glied des Coeffieienten .p b)} WE Teiun, (Ay, 7, u 1.2 Zu...M ganz entsprechend der Form in 7. Daraus aber ergiebt dasselbe sofort sich für das Binomium u .... 0 1 Emmi ‚äyrwea,(dy. (4. Auch wenn der Exponent z ein ächter Bruch ist, dessen Zähler = ı und der Nenner eine ganze Zahl, gilt das in 7. S. dargelegte Bildungs- gesetz der Coöfficienten, nämlich: 1 (- n n 1 ‚ re (1 .Z—m+1 0: -——-m m on Se für das Binomium. Der Beweis hievon läfst sich auf folgendem Wege mit genügender Schärfe führen. Setzen wir | = m 1 = m (3)...((+ax tax” +... +ax”+..)"—=1+,pc+,PpX& +... 4+,Ppa"t..: so giebt die Entwickelung, z=«+ ß gesetzt, 46 Posercer: re ee Be al" +.... n 1 2 3 > In. Pr ß + Jat+2aa + 5au a + REGEN re en 1; + ..:... > an" 1 2 5 m 1 + ,PeC + ,PeÜt::.-- +,p®+t..... ' < m = m—1 ß + 1 2422, DS selere e Tape Spasieseier Hl... + pe + 6° + Kerr + ,„pß"” Der Theil dieser Gleichung links, als Binomium entwickelt, ist: 1 2 m fit+aa ta’ +...... rose 1% i 1 m +—firaa Se re ET 0, 1 2 m m RR x fa+2ac+ RO röre Re N Re PR Ye ai .m—i ” 2 B Ense it — au \ [ei BE + aß” + elc. Wird dies mit dem Theile rechts der Gleichung zusammengestellt, so ergiebt sich die Gleichheit der Glieder, welche dieselbe Potenz von ß zum Factor haben, also: i 2 m PERPetFu:... + De, Von Entwickelung polynomischer Functionen. 47 1 24 m n 1+,Pec + .pa’+....+,.pa” 1 2 m 1rae ae +... ta” +... 1 2 m xfa+ 200 + ee rar oder auch 4 2 m 1 m or apart et x lir ac Daaee a seen 1 2 m 1 2 m ut +,pa+,p@®+...+ wer trlar2act...+ = a... | Die Entwickelung dieser beiden Producte giebt: (m +1). # (8). .-. Ale Em + ma .,„p a.,p = m—1 2 m—1 + (m —1)a.,„p + 2a.,p Pr EIER ET et: 5 m 1 2 m 1 +4.,p + ma.p m+1 + (m-+1).a Hieraus aber folgt sofort, m +1 =r gesetzt, 5 ER 0 I ee InerE2 72 2 5 Dep r Ze N De en ee rn ‘ Die Gleichung, welche Euler mit Hülfe der Differentialrechnung dargestellt hat (Diff. Rechn. Th. II. Cap. VII. 8. 202.). 15. Setzen wir nun: (1 Fanta. a) ei per: so folgt daraus: 1 2 pr m | 2 Bi m 2 1 Hartl +ıpXxr +ıp&X +... +ıp&" +. > \ In diese Gleichung verwandelt sich die in 14. zum Grunde gelegte (A), wenn 1 2 m 1 2 m 1 2 m wir dort a, a...a,...vertauschen, in ı?, 1P---1P:- +, und „Py „PrrenPe-- 19:8 m rn ” nr Inne: ee er PoseEuLGer: De [0°] Durch dieselbe Reihe von Schlüssen also, die in 14. das Ergebnifs A herbeigeführt haben, müssen wir das nämliche, mit der eben angezeigten Vertauschung der Buchstaben, erhalten, nämlich: (m-+1).a FI ws er (m—ı) ıp 2: + 2ıE es ee " zii; ee as ; A +ıp.a +mıp.a m-+1 + (m+1).ıp woraus, wie vorhin, m -+1ı=[r gesetzt, folgt: t 2 N a1 DE | en u ni 2 2 = r pre > g r 1 Die Eulersche Formel (D) zeigt aber, wie, wenn der Exponent der Potenz eines Polynomiums eine ganze Zahl =n ist, alle folgenden Cocfh- cienten aus dem vorhergehenden entstehen, und ganz auf gleiche Weise ent- stehen nach (Z) die Coeffhicienten einer aus dem andern, wenn der erwähnte Exponent = -- ist, und für m = 0 erhalten wir darin: Folglich ist der Beweis des in 14. aufgestellten Satzes geführt. 16. Bezeichnen A und u zwei ganze Zahlen, so ist nach dem Gesagten, £ A " A.rA—1 h A.r 1... Ami n (a). pP =7 EB en re ee 1.2....M 74... 9: Setzen wir nun den Ausdruck rechts allgemein = „g,, dann ist - G ae 1. du z 1 —r ou _em+#+ti ; Ta? 7 = aan Pt A 1 1 Aa An M 12 u { 12 r 2 Die Reihe (a) bricht, wenn rr. Es ist ferner: 1 1 Er EEE = BR a Sr 1 1 t 1 t — lem Hl 5 eis ont Eur gu KM 2 . ... Te u: ee TR 74 &: meer 7 und, setzen wir den Ausdruck rechts allgemein — „g,, dann ist er 5 A £ 2.1 7 a Et FE EP za Bere 2.r—1.... Ari E s + ET Der an ae. ur’ Nun mufs der Ausdruck in (2) sowohl, als der in (4), nothwendig zusammenfallen mit dem in (c) für A=ı und mit dem in (a) für „=. Dies ist aber nicht auders möglich, als wenn der eine, wie der andere, die Form hat: Eh: hi y.y— k y-y-i1-....y—-m-+i a Ir 12 BET 1,20. HT 'n95 y-i -y—-r-+1 £ \ ae a RT, an +95 und es mufs y eine algebraische Gröfse sein, welche =? wird fürau = 1; 1 os Yd . . =— für A=1; und =ı für A=u. Eine solche kann aber keine andere zur A . . sein als ——. Folglich ist Mathemat. Klasse 1828. G 50 PosELcer: A A A A R — EN F PR: —_—- m—+1 F _. a? j fr . ur Ir ee 1.2. EM an vr —_— tl _—_—r—+1 a? 3 3 7 Hiemit ist die Allgemeingeltung des in 7. dargelegten Bildungsgesetzes für die Coöfhicienten einer polynomischen Potenz, von einem ganzen, posi- tiven, negativen, oder auch gebrochenen, und folglich auch irrationalen Exponenten, vollständig dargethan; die noch weitere Ausdehnung desselben aber wird hier bei Seite gesetzt. II. Wiederkehrende Reihe. 17. Eine wiederkehrende Reihe entsteht durch Entwickelung eines Bruchs in eine Reihe, von der Form 7, dessen Zähler und Nenner Poly- z ’ nomien sind von dieser Form: 1 2 m ee Da ergo +oxX +. Heifse (2) der der Potenz x” zugehörige Coeffieient, in der durch die Di- vision von p durch ? entspringenden Reihe, und setzen wir: 1 2 m g=ax tar” +.... +aa” +... so ist, nach 7.: se orte Se und A p m ’ m—1 2 m—2 m (z =_,P+a._,P+a._,P+ +a Daraus folgt: j m m = R & =— Io +20 — st... ee ..o... Von Entwickelung polynomischer Functionen. 51 =— fo +a.0+a a Be 7 EIER Ne E ge ae a a a ea M EEE Are +4 Ist der Nenner des die Reihe erzeugenden Bruchs eine Potenz von P, — Pr, so wird er zuerst entwickelt, oder man kann setzen: m—i 2 m—2 m a Es ist aber allgemein: n#+- m—i1....n em "md: Folglich m—1 2 m—2 m—i FELL Zur ED Eur 2 Eee Sr m t m—i 2 m—2 m— 3 n-+i.n m 2) n—1 2 m-2 m-2 2 + — 4, +a0.2 4a. +... ta. FED Eur Er Eure eee r zer). 1.2.3 nn 7 Die allgemeinste Form des die wiederkehrende Reihe erzeugenden B Ff = R j 2 Bruches ist: I: Für diesen aber folgt sofort aus der hier zuletzt aufge- stellten Formel: G2 52 PosEL6cer: f g m 1 m—1 2 m—2 m—1 4 (7) Ze [2 u a a a . + ep a er). m— SHE H1E m 4: 1 2 m—?2 m—3 3 PR Bor Bar Base 0 Zu HP Il. Umkehrung der Reihen. 18. Setzen wir, wie vorhin, N ‚gar + ‚gr + a, + ,9x” +. de ga + re I ei ae er a =. u ee BR) 1 a VE 7) HE... .t unt so ist n n+1 (gay = ar Ian ga HE" ren Es ist aber auch 1 4 m gay —=fget + ga’... gar...’ Wird in dieser Gleichung x —= «+ gesetzt, so wird: 1 2 m (9 +Oyt' — ‚+ ‚ga OR +, +... a 1 2. 3 m + (2,gc + 3,g@ + 1, +... (mi) ga’ +...) O as ze is + etc Sr ge + Dr RER ONE u ES Bra un 1 2 m HS ger ge Hg 1 2 3 m x Sega -r3,ga® + Age’ +... (mt) ge"... .) ß + etc +....4,98"*' + etc.} \ [42 Von Entwickelung polynomischer Functionen. Nun ist auch n+1 n+2 nt m n+1 „2n+2 2n +3 Zum! a WAR DI +,r.9:.% "Lu: eos Daraus wird, z=a-+ß gesetzt, | n+2 n+m a + Dar Neger due n +1 n+2 + (ern +2),.9: "Fon +3), "+. + (er -Pm+1).,.,19- DET ) [6 Force ete.} 19. Aus Vergleichung der beiden Reihen für (q (@+ß))"*' erhalten wir: | m am + ge + EEE +... < (2g« +3 ge Se + (m+1) ,9@"....) —= « $(en-+2) in ai +....4+ (nm), Jg" Hr Gesetzt n+-m=r, so wird das Glied in dieser Reihe. rechts dem +m Gleichheitszeichen, welches den Factor hat «°’*”, r = n+r+i1.,.419: €": Der Theil der Gleichung, links dem Gleichheitszeichen, läfst sich so aus- drücken: { n+1 n+m = [0 $ ACH. gar +....+,97 "+. nat x (2g« +3,90 + an + (m-+1) ,g@" +... .). Wird dies Produet entwickelt, so ist das Glied der Reihe, welches den Factor hat:e2*% 1 r—1 Ri 2,929 =; Fr 2 r-2 + 3,019 gr ash: E vr—n-t1 q X Also ist ( I n + r + { j r—l 2 v2 ee De ug, 9: 7 F3,9:,. 7» Serti.g: .g- Hiernach ist z. B. PoseuLeer: 9 18 2 7 36 45 5 4 6 3 29:57 +39 49:9 #599 + 59T 59 - Ferner ist hiernach: 2n—3 3n—4 2,9,943,9,9 449,94: In—2 1n—2 2n—3 3n—4 2,9:7 4 3,9:7 49:94... + FR ar ee 2n—k-—1 20. Es ist On—1 —1 A (a) 1n—2 (n—1)._,P.I=- en (n—2) Ba), 2n—3 0 „Pıg=—nla) 3n—4 PıI=—- n(a)". 3Zn—k-2 2,9:9 +3,9,9 #449:9 +...: Ga ıin—2 (n—1) YE a Me En n-i.n a n+i.n (a). (a3) n—2 A n-+1 n—1 .. + (n—1) 7:19 = 5 9 na 38 n+2 +-i (n—2) ‚9-9 = = 7 n—hk—1 &k Mrck n—k+t + (n—k) 9.97 Rees k+17° ("7 (02) 9,9 n—4 919 + mn (a) —°, (n—3) 1.9. ne =— n(a)="-' 2 7: q + u (a) Sr rd: ul ryg,g BE an pa = — n(a)” ‚I u un er LER nel... pn ee N a N. ee 2n—3...n (ar m + 1...2—2 DI De FR er ee N Ben Hieraus erhalten wir: ern —A ) : an—10 n—2 n—3 2 1n—2 oOn—1 BIETE TE en u) (a)” k 7 na" NE Von Entwickelung polynomischer Functionen. 55 a en te a 1 2 N 1n-—2 2n— n—32 3; R n—1 0 _ + Zen $2 I: 943,9: Fe ‚+ (n—2), 92 rg ka 2 I 7 1n-2 2n—3 ns P) fesstung, 2,9 #319 gt eins), q Rn En Ge ar q 7 ka 1.2.3 1.2.3.4 _f22—-3...n _ Zaren = DRAIEREER En ep era rer (a) i Das letzte dieser Glieder läfst sich auch so ausdrücken: _ 2(n—t) (2n—3)...n n—2 2(n— rer Er a 27 ger n-19 (a)” und es ist Pe a n-27 g= = ,_:9- Vergleichen wir aber die hier erhaltenen Ausdrücke mit denen in 19., so ergiebt sich: n—10 n—21 n—32 n—2 On—1 PAR ELPIHILP IH RN p gap gt. 21. Sei nun gegeben: 0 1 m EP ER 2E ra al" nn Hieraus soll umgekehrt die Reihe gebildet werden: c= ‚Pr + Pr +....+,Pr + Wir setzen zu dem Ende: Diese Werthe untergelegt in die Reihe von y, so ergiebt sich: +a,P 1 ee nalen ER Heap m—im ige 56 PosEeLcer: 1 = ın Hieraus folgt, zur Bestimmung der Coefficienten: ‚P, ‚P.....,P, o 1 a a 0 2 1 2 a,PR a, —o0 0 3 1 3 2 5 aP+a,P+aP=o LIE Wr SL Jr YER Sur Er Yaor voor yar Hu Se VER Dar Sr Br Sr DAT Dr Er o m m—1i m 1 m +a, P+a,P+....+aP=0o. So werden die erwähnten Cocffieienten, mittelst wiederkehrender Rei- hen, einer nach dem andern gefunden. 22. Sie lassen sich aber auch unabhängig von einander bestimmen, und zwar auf folgende Weise: Die in 21. enthaltenen Gleichungen geben: Nun ist d.h. und nach z 20 ist daher Mittelst dieser zuletzt erhaltenen Gleichung, die Function ‚? in ihre 3 0 Bestandtheile zerlegt, und bemerkt, dafs „P = _,p, so ergiebt sich nach r 15.: d.h. : u 1 1 2 [) a,P+za.,Ppta._„p=0, und, nach rn 20. 0 2 1 1 2 0 7 +4.,Pp+z34.,p+ta._,p=°. Daraus also: Von Entwickelung polynomischer Functionen. 57 3 2 1 P=7:-,P. Ganz auf dieselbe Weise erhalten wir: M P=- EP. a R 2 rn pP 4 5 1 Far ip Auf dem von uns betretenen Wege der Berechnung ermitteln sich also fol- gende Beziehungen: 1 2 — #5 2205 Paz: 2P 3 1 Pe = 3 2 , R 1 . — 2 . — D = '-3P;5 P=z.2P; D=.,Pp 4 + 3 4 1 I} — st . EL . Di 29 . — P=7z an 7 ‚P= a 2 —egr "up; = = -"_uPp- Sie lassen sich sämtlich unter dem allgemeinen Ausdruck begreifen: r ron P=—._p. rn Nun aber ist offenbar p ganz unabhängig von —r, dem Exponenten / 9-9 ’ r der Potenz p”". und von n, der Stellenzahl des Gliedes in der Reihe der Entwickelung dieser Potenz. Wenn also z und r beliebig geändert werden, so bleibt » ungeändert; folglich auch ?. Mithin ist allgemein für jeden Werth von z und r diese Gleichung giltig. 23. Aus dem in 20. 21. 22. gezeigten folgt sofort: o 1 m—1 A RR +-:_.PV’ + BELEG +, PI + () 1 e m—_2 EU Se 0 De N IRRE 2 szpyihrn. o f 1 3 m; = ZPITHER NP Rdn: un Pr" + e n en: n BEN n nn x — we en 2} a ö N RU En EN Mathemat. Klasse 1528. H 58 PoseuLcer: IV. Wiederholte Functionen. 24. Setzen wir: 3 1 24 E m ) ax tax” +ax’ +... tax” +... und fodern die Entwickelung in einer Reihe nach steigenden Potenzen von x, von fx = a(fx) Ulf) rn. Half)" +... fr; Se u. Ss. w. so wird das dazu führende Verfahren ein ganz verschiedenes, je nachdem De 1, oder verschieden von 1 ist, oder zur obigen Reihe noch eine Con- stante a hinzukommt. 25. Wir wollen hier zunächst den ersten dieser drei Fälle, als den des einfachsten Verfahrens fähigen, zum Grunde legen, und setzen dem gemäfs: m JS) =x + gar ea (ey =x DES Er ART ‚g.x" Sons so erhalten wir: 2,4 a fe=x+— 48 + + ea 5 2 3 f 2 4 3 4 HE 1.2 19:29 - 1.2 (19:29 4+19:9) 2 3 2 4 Je=2 + ,92° 47:9 +9 x’ + 3.2 208 322 = Se +72: 5) + 142-3 7 2%57 3 4 r r+1 26. Durch gleichmäfsiges Fortschreiten von fx zu fx....fa, f&.-:- bekommen wir das allgemeine Bildungsgesetz der Co@fhicienten. Bezeichnen wir nämlich mit „C' den Coefficienten von x” in der ent- wickelten Reihe von fx, so ist: Von Entwickelung polynomischer Functionen. m.m—A...m—3 2 N ARRIER m.m—i a In a1 ? + = (EIG Terrier ek snenen + ,91.—19) m m—i m—2 = Br am EHER rue u A ee N + :9._19) 3 4 n an—1 n + II OT een nn + 9.19) EL ET ee are ee re ee ardnelene I: a 5) 3 4 n 5 ”n n—i n 1:9 (9,9 + EU BLU en ER er ee + 4.4249) 5 n n—1 + " :9 ee + ,91.-,9) + 19:9 GI ++ 92m) n—2 n—i n Ss q 27 na-29 a-ı9° FI GP + Ir) a °5 6 nr n—1 n + 9:9 RE EUER + ;9._:9) ZI REISTE Be N 5) 4 5 6. n 7 n nf n + 9:9 62:4 add sera + ,9._19) EHRE ROT ERRTEIL OR TG a ae nad E. EN EN ER, * q Br 29 Nee H2 59 60 m.m—1....M 1.2.3....5 —4 PoOsEtGeEr: 112939 (1:7 +41 ++ 727537 (9:9 + 59-9 +...+ q Ri) 7 (9:9 I a PETER SEEN + 7 29 v2 7 n-19 VERKO RE TEE e. 92949 (1:9 + 19 +...+ .er0r 1er 0e er etrrTrrnerne BE ) n—2 =, ı7 29 s. 7 5 9 ERRCEn: ee ee q 19 (41:9 RO STETOLE n—2 n—1 n ‚g: g- A] n—2 »9 =—19 5 n—2 —1 759 » at n—2 q 9 . 1er 1 |. een. 3 n—3 n—2 n—1 n . ernten.“ n—1 n 9.10) n—1i IM) RER) n—1 a) n—1 40% N Von Entwickelung polynomischer Functionen. 61 =E ER IGOR CHOR TOR —_+ n—3 _2 —1 1972-47 2-39 2-29 2-19 + etc Das Gesetz der folgenden Glieder dieses Co@ffieienten wird hiedurch offen- bar. Um ein Beispiel zu geben, so ist hiernach: ee — q THIS HTTHNT) CET ET HT 2) +9 ET HSTIH TI ST) +4 CREREE) +0 (1:14:99) +9 19 CHIEF N +44 GREEN) +19: + 1:9) +44 11 +0 CT) +49 + +44 1:9 +00 0604 +14 Base Dr #77 62 PoseELger: et LTE + 1:19 14 +19) + VREBER, 4 = 1:99 (9 ai + 9:9) + 1:11: 119 4,0500 01 + +10. +.009.44 +0. 19 27. Das allgemeine Glied in dem Ausdruck se ist: “ r— r+i n n—1 oe 172939 ig IH. + eu 240: IR) 23 %& 2 r+1 n r+2 n + 192959- 7-29 lag = IH #2) 234 r +1 r+2 PRER = ı12957 r—27 a ez g+ a 2) : 23% 2 n—1 n BOB SOEBEN ER 212-1) 245 ER r+1 r+2 n n—1 n + 1939,9- 4969 ir Gl Farce +,9._,9) 2:4 5 r+1 r+2 r+3 n n—1 + ,92949° ++, a Er ae +90) 2 4 5 r.+2 r+3 r+4 n n+1 n + 4929:9 OO Le ER gt: Be) ee 3 2n—r-+2 n—-r-+3 n—-r+4 n—2 n—1 n un m ı9 27 a-r%29 | len Zei n-39 w—29 ll 3:4 725 r+1 r+2 n n—1 ul EU PURE BIN et, Ga] Fern nn + ,12-9) : 3n—r-+2 an—r+3 n—2 n—1 +49 3] a-r+29 n-39 En „ merl ner mer | n + ı9 rer ale er na n-39 n-29 n-19- Von Entwickelung polynomischer Functionen. 63 Das letzte Glied des Coefficienten „C ergiebt sich aus vorstehendem termı- nus generalis, wenn wir darin m für r schreiben. 1 28. Ist a nicht =, so wird die in z 27. dargelegte Formel unan- wendbar. Dann aber ist (fr)? = la)’ x’ + ge + Ye. ga". FD = +4 oe: ch Harn: Sei nun 1 2 3 r Je = cE +c2 rc Hr fa) =) + ae + 28° +... pa... “eieinaie.e eins 6in © 1 2 m ' 2 m wo g dieselbe Function von c, c,....c, bezeichnet, als y vona, a,....a, Es ist m 1 1 2 n JE =clfo) +clfa)’ +-..-He(f&) +..-- 1 m 2 «m r m Se = alfx) + alfa)’ +... -+alfx) +... m+1 1+m Da nun fx = fx, so erhalten wir diese Gleichung: | 1 2 13 1r Dur PrCa% -E CUR Te... can rin. 1 1 2 3 + c(a) + 0,9 +... 6,9 3 1 3 r + c(a)' + 0,9 Fr NER R a > Fu | 1,2 Br 13 1 r — ac& + 0c& + ack +... oc = 2 1 2 3 2 r + a(c)’ + a,0 + 4,0 3 1 3 r + ale)‘ + 4,0 m LIEBEN N „ vo 64 Poseucer: und ferner hieraus: 47 2 ır 8 r r r ca—+c,9 +C,9 t-....tcC,g9 ir Dier 3 actag ta, +....+a,g. et 1 Es ist aber leicht einzusehen, dafs c=(«)"; und diese Gleichung giebt, wenn r nach und nach gesetzt wird, =2, 3, ..... 12 22 12 catc,g =ac+t a;p, woraus folgt: 2 214 1 2 2 1 cehg—at =afg—ch, also: a A 2 1 Ir u op —c c=a 77 27 — a 13 2 3 33 13 2 3 3 3 catc,g9 + c;9 =ac+tc,.-+ CB, daher: 2 5 3 1 2,3 23 Pen su as —€Coq Ca 3 1 > 3 1 ” 37 —a 39 —@ Eben so 4 1 34 34 24 2.5 > „a—c A390 —cC QA90—Ca a NIT + . 17 —a 7 —a 7 —a und allgemein: r r r—1i r r—2 r 2 r Sn u Ha, 0 ra, 0 ara a0 21 r—i r r—2 r 2 — (ac +c,_g9 6,9 4----# 0:9 Nach diesem Gesetze können also mittelst wiederkehrender Reihen die Coefficienten der höheren Potenzen von x bestimmt werden aus allen zuvor gefundenen der niedern Potenzen: doch nicht unabhängig von ein- ander, wie nach dem in z 24. aufgestellten Gesetze. Zu 24. Vergleichen wir das aufgestellte Gesetz mit Tralles Rech- nung (in seiner Abhandlung von wiederholten Functionen, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus den Jahren 1814-1815). Von Entwickelung polynomischer Functionen. 65 Der Coefficient von x° ist: 8 m 6 = = 4 g Ar ee g (19:9 Tr 19:9 r 19:9 = 119) + ICH HT + 27) m.m—i1.m—2 1.2.3 3 4 6 5 6 17 6949 # 3959) Fr ı7 a 9 59 m.m—i.m—2.m—3 2 3 4 6 BiRG a re 2 A 5 6 =: 19 27 s 757 3 4 5 6 + ,9:9 - :759 m.m—i1.m—2.m—3.m—4 SO + 1.9.2353 “172759 4:9 59- Nun ist 2 6 2.5 2 4 2 ‚7:9 = ?aa + 2(a)’a + ala)‘ 3 6 34 2 3, 3» 2 _ 9:1 = aa + 6a(a)” —E a(a)* 46 34 2 4 ‚7,9 >= aa + 6(a) a . 17:9 = 5aa 2 4 2 3 2 3 + 5(a)’a + Ta(a)” + (a)'a 1 na nn» n N vw Qu 2 5 6 4 6 1 (29:7 429, 4 nd (9 I + 994) 2 4 23 2 + .:9119 9 + 6(a)’a + 12(a)’a+ 2(a)’ Burı 2 4 24.23 Rn 10(a)’a + 10(a)'a 2 2. 13 2 3 —=+ 6(a)’ + 16(a) a + sa(a)' 2 4 + 20(a)’a 2 3 2 3 + 15(a)’a + 12a (a)” Z 3 EB: | + 15(a)'a + 15a (a)” — 36 (a)?a + 354(a)? + 71 (a)a + s(a)°. Mathemat. Klasse 18523. I 66 Poseuser: 5 A 6 1:1:9,1 = Ha)’a + 3(a)’ En En 129.159 = 10(a)’a + 20(a)’ 95999 = 60 (a)’a 2 3 2 ü — 154(a)’a + 86 (a)’ Endlich So ” 929294999 = 120 (a)’ welches alles mit Tralles Rechnung genau zusammentrifft. Legen wir mit Tralles (die angeführte Abhandlung $. 5.) die Reihe zum Grunde: 3 5 7 2m+1 JE Haar’ Far Far rue 2m so erhalten wir, weil 7 =0, m mM — 3 11 7,44 9 411 „e=— Doz Umgang Egg) m.m—i.m—2 3 11 2 1.2.3 ET: + 1:08 n 941 ER KERR 7, a | +,9 2. m.m—i.m—2.m—3 za Se u 1 RER) 7 I Par iR | = 199 ae 959 5 7 941 el 799 m.m—1..... m—4 7.9411 rare :1:951:97- Nun ist: 3 41 39 3 7 3 5 2 3 ’ 5 4:9 = 3aa + 6(a)”a + 3a (a) + 3(a) a 5 41 es Eu RB 1951, 200(a)” + 10(a)’a + 5aa 7:.ı11 3 7 5 1714 — 21(a)’a + T7aa 9,44 3:9 04 = Yaa 39 3 HL 3 5 3 5 5 = 12aa + 27(a)’a + 23a(a)” + 13(a)'a + ı12aa Von Entwickelung polynomischer Functionen. 67 3 5 11 Bi sd 3 5 3 1517] = t5(a)’a + 60(a)’a + 30(a)’ 15 Valle IE I | 3 5 3 35 B Re si(a)’a + 63(a)’ + 21a(a)” 3 Be iNE 3 Pi 3 EL 3 1459:9 = 7 (a)"a + 5 (a) a—+ 9(a)’ 5 711 3 5 3 5 e ı19591:9 = 105 (0) a + 354(a)” 5 9 41 35 5, 1715959 = 90. (a) 'a + 415a(a) 9:99 = 63(a)’a =) Es 3 5 3 3 5 = 105(a)’a + 393(a)'a + 102(a)’ + 1014(a)” 5 7 ı1 3 5 3 :15959:9 = 1%5(a)'a + 315(a)’ 3, 18:99 3 4 3 F BR — 135(a)'a + 270(a) 37.712971 3 5 3 1759:959 = 19(a)'a + 189(a)’ 5. ti, TA 3 5 19.049,04 = Slbla) a Br 70971 95959959 = 95 (a), welches alles mit Tralles Rechnung genau zusammentrifft. Setzen wir in dem Ausdruck „C, m=— ı, so erhalten wir: n n 2 nn n—1 n „.C=— ,1 + (9:7 +++ rer + .9.-:9) 2 n—1 n —{ Re RE ET, LE) +9 (auge) 2 n—t n een ec Es ist aber 11, ae fc: daher: S I ze) +. CH + LCD ++ CM re 12 68 PosELcer: welches die allgemeine Form ist der Umkehrung einer Reihe. Hiernach mufs, vermöge z 22., sein: n—1 1 n up 46, n—t1 r r—1i wenn wir in der Entwickelung von _,p setzen „g statt „q. z.B. Es ist wirklich ri daher, „q gesetzt statt „g: und unter derselben Bedingung: 3 1 a ap =—19 +5,99 zn 5(,g)” ge ‚c —i— ı7 =t= (19:9 + 1:9) u 9:9:9 ‚7A 2.ılı.3+2.2|; [5er] 7 + (N’ 9:1 = 2:99 + (N q N-3.2.: a2} ag 9:9 = 3:19:19 3 19:91:94 = 6)’ 5 daher: Ban ©. = ;,9 ar u 2,9:9 Sb; N’ I 3,919 = 6(,g)° u ‚q zn 5,949 zz 5(g)’ = 7y up. So auch 6.5 B 7.6.5 Bi 8.7.6.3 4 4 4 Pe, AT Ta TI TTene Von Entwickelung polynomischer Functionen. 69 und unter der erwähnten Bedingung, 4 5 2 4 3 2 3 2 > N ı7 = 6,9,9 = 3(,7) = 21(,7)19 — 14(,9)" 25 3255 2345 5 5 4 5 2 3 5 4 5 „1C=— ,7+(9:9 #4 19:9 4194) — 19 (2957 4 29:9) # 19295949 32.9 8 — 41959 :9 9:1 =299+ 2,0), 1:1 CD + 11 =30N° +3,90 1:19 SCN + AN REINE) 191,1 = 209 =6,9,9+36° +35()°,4 — 2(,)7,9 + 100)" | 2 ı929:9:1 = 2i(,g)' ——e HU EI — v A 4 h) « \ 1: ö Aare er! ERSTEN 3 S } 2 MAUER rad uBad SuHichlört i N b 2 (in i» { en Be a j 8 » f N i \ y\ es ae) = ee \ 5 | j N un \ 14 F3 Yarı ya ® ' ıı - r- wert K \ : \ J ; w | B ne be" \ \ { s \ j ‚ 3 ee Ian Al fr | H == ä ! mE m j j eu TII ZIERT 2 nd . . 5 - ’ ) N > ci v » ”. EN Über die Atomenlehre. „Von Hr. FISCHER. [ Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 20. März 1828. ] 8.1. D. Kenntnifs des innersten, ganz aufser den Grenzen möglicher Wahrneh- mung liegenden mechanischen Baues der Körper ist nur selten ein Bedürfnifs für den Naturforscher: doch giebt es mehrere Gegenstände, wo er solchen Forschungen nicht ausweichen kann. Dahin gehören die Untersuchungen über die Theilbarkeit, Masse, Porosität, Dichtigkeit, Krystal- lisation und der Aggregatzustand, besonders auch über den Grund von der materiellen Verschiedenheit der Körper. 9.22. Ich kenne nur zwei Vorstellungsarten vom Wesen der Körper, welche man die atomistische und dynamistische nennt. Jene war bei den Na- turforschern, vor der Epoche der Kantischen Philosophie die alleinherr- schende; und wenn sie auch damals wenig oder gar nicht bestritten wurde, so ist mir doch auch nicht bekannt, dafs irgend ein philosophischer Natur- forscher den Versuch gemacht hätte, sie vollständig auszuführen und syste- matisch auf alle Arten von Naturerscheinungen anzuwenden. Man schien sie nur als eine unsichere Hilfshypothese und als einen Nothbehelf zu betrach- ten, dem man bei der Betrachtung einzelner Erscheinungen nicht wohl aus- weichen konnte; aber man gestaltete die Hypothese so, wie es der einzelne Fall zu erfordern schien; unbekümmert, ob auch alle übrigen Naturerschei- nungen sich der so gestalteten Hypothese fügen würden. Kant, der mit ei- nem seltnen spekulativen Scharfsinn, mathematische und physikalische Kennt- nisse verband, die man für sein Zeitalter recht gründlich nennen kann, sah 72 FıscHu#er das Unsichere der Atomenlehre ein und verwarf sie in seinen metaphysischen Anfangsgründen der Naturlehre, indem er glaubte, dafs sich das Wesen der körperlichen Materie ganz auf die Vorstellung von Kräften zurückführen lasse. Daher nannte er seine Vorstellungsart, im Gegensatz der atomisti- schen, die dynamistische. Doch leugnete er in Beziehung auf die Sinnen- welt, das Dasein der körperlichen Materie nicht, sondern erklärte sie als das Widerstehende und Erfüllende im Raume. Bekanntlich hat es nicht ge- lingen wollen, Kants tiefsinnige Schriften mit Erfolg in irgend eine andere Sprache überzutragen ; daher hat auch seine dynamische Vorstellungsart im Auslande wenig Beachtung gefunden. Blofs in unserm Vaterlande nahmen einige Naturforscher Kenntnifs davon, aber ohne vielleicht in den Sinn des Königsberger Philosophen vollkommen einzudringen, und so erhielt diese Ansicht auch bei uns kein entschiedenes Übergewicht. Neuerlich aber haben die höchst fruchtbaren Entdeckungen und scharfsinnigen Ansichten des be- rühmten Berzelius, die Naturforscher, besonders die chemischen wieder ganz zu den Atomen zurückgeführt, doch in einer sehr veränderten Gestalt gegen die früheren Ansichten. Die Atomenlehre erhält dadurch, dafs die Proportionslehre des be- rühmten schwedischen Chemikers die Annahme der Atomen mit einer gewis- sen Nothwendigkeit zu fordern scheint, einen hohen Grad von Wichtigkeit für die gesammte Naturlehre, so dafs eine kritische Beleuchtung derselben, welche der Zweck dieser Abhandlung ist, nichts weniger als überflüfsig sein dürfte. Der Hauptfehler der bisherigen Atomenlehre ist eigentlich Mangel an Bestimmtheit in ihren Grundbegriffen. Sie läfst der Phantasie zu vielen Spielraum und hat daher noch nie eine wahre wissenschaftliche Form gewin- nen können. Nur den Begriff der Atomen selbst stellt sie zwar bestimmt ge- nug auf, aber die zwischen den Atomen wirksamen Kräfte läfst sie völlig unbestimmt. Ich werde diese Unbestimmtheit zu beseitigen suchen, nicht durch willkührlich ersonnene Annahmen, sondern nach Andeutungen, wel- che der gegenwärtige Zustand der Naturwissenschaften darbietet. Es wird sich zeigen, dafs es allerdings möglich ist, der Atomenlehre eine solche Ge- stalt zu geben, in welcher sie, zwar nicht alle, aber doch einige Fragen, deren Auflösung man von ihr fordern kann, ziemlich befriedigend beant- wortet. Aber zugleich wird sich zeigen, dafs dennoch nicht nur der bishe- rige Begriff der Atomen überhaupt unhaltbar sei, sondern es wird sich über die Atomenlehre. 23 bestimmt offenbaren, welcher Bestandtheil dieses Begriffes falsch, und daher zu berichtigen sein möchte. 8. 3. Ich halte diese Berichtigung allerdings für möglich. Denn obgleich der innerste Bau der Körper sich unseren Sinnen entzieht, so sehe ich doch keinen Grund, warum es unmöglich sein sollte, von dem, was wir wahrneh- men, richtige Schlüsse auf das zu machen, was nicht überhaupt aufser den Grenzen der möglichen Anschaulichkeit, sondern nur aufser den Grenzen des beschränkten menschlichen Sinnenvermögens liegt. Ich glaube, dafs auf diesem Wege gewissermafsen eine Aussöhnung der Atomistik und Dynamik möglich sein müsse. Denn beide stehen eigentlich so wenig in einem wirk- lichen Widerspruch gegen einander; dafs vielmehr die Atomistik der Kräfte und die Dynamik der körperlichen Materie nicht entbehren kann. Denn wäre auch der Dynamiker ein vollendeter Idealist, und leugnete daher das Dasein der Materie aufser dem Vorstellungsvermögen gänzlich, so kann er ihr Dasein in der Sinnenwelt und in dem Vorstellungsvermögen, wofern er sich selbst richtig versteht, nicht bestreiten. Der Verstand ist durch innere Nothwendigkeit gezwungen, zu jeder physischen Kraft, deren Wirkungen er sieht, einen Träger (Substanz) zu suchen, der nicht Kraft ist, sondern Kraft besitzt oder trägt. Dieser Träger ist die Materie, und wenn ihn seine Sinne, wie z.B. bei der Wärme, bei dem Magnetismus etc. keine solche Materie wahrnehmen lassen, so bildet er sich doch einen Begriff der- selben und redet von einem Wärmestoff, von einer magnetischen Materie u. dgl. m. Materie und Kraft erscheinen zwar in der Sinnenwelt als physisch untrennbar verbunden, aber durch das Abstractionsvermögen kann und mufs sie der Verstand in der Vorstellung trennen. Dann ist die körperliche Ma- terie nichts, als der an sich kraftlose und todte Träger der Kräfte. Hierauf beruht die sogenannte Inertia der Körper, die der Physiker auf keine Art entbehren kann. Eben deswegen ist aber auch der Physiker nicht blofs be- rechtigt, sondern verpflichtet, den Begriff der Materie genau zu analysiren, wozu die Atomistik ein Versuch, wiewohl ein mifslungener ist. S. 4. Der ursprüngliche Begriff der Atomen ist dieser: dafs jede körper- liche Materie zusammengesetzt sei aus Elementarkörperchen, die zwar weit Mathemat. Klasse 18283. K 74 Fıscaer kleiner seien, als dafs unsere Sinnenorgane sie je wahrnehmen könnten, die aber dennoch als wirkliche Theile eines Körpers, alle wesentlichen Eigen- schaften derselben, und namentlich Ausdehnung und Gestalt besäfsen. Sie haben daher auch eine wirkliche Gröfse, deren Kleinheit nicht an sich, sondern nur unsern Sinnen unermefslich ist. Da aber alles Ausgedehnte auch nothwendig theilbar gedacht werden mufs, so sprach man zwar den Ato- men die geometrische Theilbarkeit nicht ab, wohl aber die physische; d.h. man nahm an, dafs sie durch keine Naturkraft weiter getheilt werden könnten; und man nahm dieses für den wesentlichsten Bestandtheil ihres Begriffes, und nannte sie daher Atome. Eine nothwendige Folge der phy- sischen Untheilbarkeit ist aber, dafs man sich die Atome als absolut feste und harte Körperchen denken mufs. Eine Eigenschaft, die zu richtiger Beurtheilung der Atomenlehre nicht übersehen werden darf. Die übrige Beschaffenheit der Atome liefs man unentschieden, und jeder konnte sie sich daher beliebig gröfser oder kleiner, kugelförmig oder anders gestaltet vorstellen; er konnte allen gleiche oder ungleiche Gestalt beilegen; er konnte sie sich in materieller Beziehung als chemisch gleich- artig oder ungleichartig denken. Dieses ist der Begriff, den man sich seit dem Alterthume bis jetzt von den Elementen der körperlichen Materie macht. Was den anderen Be- standtheil in dem Begriff eines Körpers, die Kräfte, betrifft; so würde man zwar den Naturforschern der neueren Zeit sehr Unrecht thun, wenn man behaupten wollte, sie hätten die Untersuchung derselben vernachlässigt. Aber es ist hier gar nicht von der Erforschung der Naturkräfte überhaupt die Rede, sondern von ihrer Verbindung mit der Atomenlehre, welche, ohne Berücksichtigung der in der ganzen Natur thätigen Grundkräfte, immer nur eine Fundgrube willkührlicher und fabelhafter Hypothesen blei- ben wird. Überall wo der Naturforscher von Atomen redet, geschieht es immer nur in Beziehung auf eine einzelne Art von Erscheinungen (Porosität, Dichtigkeit, materielle Verschiedenheit ete.), nirgend sucht man die Atome mit den allgemeinen Grundkräften der Natur in Verbindung zu setzen. Doch ist auch in dieser Beziehung die chemische Proportionslehre des scharfsinni- gen Berzelius befriedigender, als alles frühere, da sie die Atome mit den Gesetzen der chemischen Verbindungen in einen höchst interessanten Zu- sammenhang bringt. Aber auch die anziehenden und abstofsenden Grund- über die Jtomenlehre. 75 kräfte, ohne welche kein bestimmter Begriff eines Körpers construirt wer- den kann, müssen mit der Idee der Atomen in Verbindung gebracht wer- den. Und von dieser Seite ist bisher noch wenig geschehen. Kaum die Schwere legt man ausdrücklich den Atomen bei, läfst es aber auch hier unbestimmt, ob man ihnen gleiche oder ungleiche specifische Schwere, also gleiche oder ungleiche Dichtigkeit und Masse geben solle. Aber die einzige Kraft der Schwere ist nicht hinreichend, in Verbindung mit dem materiellen Begriff der Atomen, die Erscheinungen, deren Auflösung man von der Atomenlehre erwartet, auf eine befriedigende Art zu erklären. Man begnügt sich daher nur noch die allgemeine Annahme hinzuzufügen, dafs das Dasein eines Körpers nothwendig das Dasein sowohl anziehender, als abstofsender Kräfte erfodere; doch ohne die besonderen Gesetze, nach welchen sie wirkten, näher zu bestimmen. S. 5. Eine so unbestimmte Hypothese gewährt zwar die Bequemlichkeit, dafs man sie, bei Betrachtung einer einzelnen Art von Erscheinungen so modeln kann, wie es der betrachtete Gegenstand zu erfodern scheint; und so machten es früher alle Naturphilosophen und Physiker. Des Cartes nahm drei Arten von Atomen an, gröbere, mittlere und feinere, um daraus das sichtbare Weltall zu erbauen. Daniel Bernoulli gab in seiner Hy- drodynamik, den Atomen Kugelgestalt, mit vollkommen polirten Oberflä- chen, um daraus das Wesen des Wassers und anderer Flüssigkeiten zu erklä- ren. Wer die neuerlich entdeckten Gesetze der Krystallisation bis zu den Atomen verfolgen wollte, würde sich ohne Zweifel mit Hauy genöthigt se- hen, ihnen allerlei bestimmte geometrische Gestalten beizulegen. In Verle- genheit war man immer, wenn man einen Grund von der materiellen oder chemischen Verschiedenheit der Körper angeben wollte. Theils meinte man, sie lasse sich hinlänglich aus einer blofsen Verschiedenheit in der Gestalt, in der Gröfse und in der Zusammensetzung der Atomen erklären ; theils mein- ten andere, man müsse den Atomen eine ursprüngliche Verschiedenheit, in ihrer materiellen Beschaffenheit beilegen u. dgl. m. Es ist aber sichtbar, dafs man auf eine so unbestimmte Hypothese nie eine zusammenhängende Theorie, nie ein System von Erklärungen gründen könne. K2 76 Fıscuer Jede Hypothese über einen Gegenstand, der aufser dem Bereich der Sinnen, wenn gleich nicht aufser den Grenzen des an sich Anschaulichen liegt, mufs, wenn sie fruchtbar und einer gründlichen Prüfung empfänglich sein soll, so bestimmt sein, dafs man die mannigfaltigsten Schlüsse über wahrnehmbare Erscheinungen aus ihr ableiten, und die Ergebnisse dersel- ben mit der Erfahrung vergleichen könne. Nur auf diese Art ist es möglich, zu der sichern Überzeugung zu gelangen, dafs eine Hypothese wahr oder falsch sei. $:.6: j Wir wollen nun versuchen, wie weit wir in der Erklärung der allge- meinen Naturerscheinungen mit dieser Grundidee der Atomen kommen. Da sie ursprünglich offenbar nicht aus Betrachtung tropfbarer und luftför- miger Flüssigkeiten, sondern aus den Eigenschaften fester Körper abgeleitet ist, so liegt keine Frage, die wir an die Atomenlehre thun können, so nahe, als die, auf welche Art ein fester Körper aus Atomen zusammengesetzt sei? 8. 7. Da die Theile eines festen Körpers allezeit mit einer beträchtlichen, oft ungemein grofsen Kraft an einander haften, so sind wir genöthigt, schon die Atomen in einem Zustand einer solchen Cohärenz zu denken. Die dazu nöthige Kraft, können wir uns nicht anders, als unter der Form ei- ner Anziehung, vorstellen. Verfolgen wir nun ferner die Spur der Er- fahrung, so kennen wir gegenwärtig im Allgemeinen zwei Arten anziehender und abstofsender Kräfte, von denen ich die einen einfache oder Central- Kräfte, die andern zusammengesetzte oder polarische nennen will. Eine Kraft wirkt einfach oder central, wenn sie von einem Punkte aus nach allen Seiten hin gleich stark anziehend oder abstofsend wirkt. Ein Beispiel einer anziehenden Gentralkraft ist die allgemeine Gravitation, die von jedem Punkte des Körpers aus gleich stark nach allen Seiten wirkt. Ein Bei- spiel einer abstofsenden Centralkraft ist die Wärme, welche überall die Theile zwischen denen sie wirksam ist, nach allen Seiten auszudehnen strebt. 8. 8. Dafs die Annahme einfacher Centralkräfte nicht hinreiche, die Er- scheinungen der Körperwelt befriedigend zu erklären, läfst sich, wie ich über die Jtomenlehre. 17 glaube, leicht zeigen. Es ist zwar schr natürlich, ja es scheint sogar noth- wendig, anzunehmen, dafs den Atomen fester Körper eine einfache anzie- hende Kraft, ähnlich der Gravitation, oder vielmehr nicht wesentlich ver- schieden von derselben, eingepflanzt sei, und es scheint sich daraus im All- gemeinen der feste Aggregatzustand hinreichend zu erklären. Betrachtet man aber die besonderen Erscheinungen, welche der feste Zustand darbietet, so stöfst man überall auf Schwierigkeiten, die sich nicht anders beseitigen lassen, als dadurch, dafs man auf den hypothetischen Begriff der Atomen immer neue Hypothesen pflanzt. Fragt man z. B. nach dem Grund von der ver- schiedenen Dichtigkeit fester Körper, so findet man schwerlich eine andere genügende Antwort, als dafs die Porosität eine allgemeine und wesentliche Eigenschaft aller Körper sei, wozu man sie in der That bisher in allen Lehr- büchern gemacht hat. Dafs viele, und vielleicht die meisten festen Körper zufällig porös sind, kann nicht bestritten werden. Aber als allgemeine und nothwendige Eigenschaft steht sie nicht nur mit der sinnlichen Erscheinung sehr vieler Körper im Widerspruch, sondern sie führt auch, folgerecht durchgeführt zu der fabelhaften Vorstellung, dafs in dem dichtesten Kör- per ungleich mehr leerer Raum, als körperliche Masse enthalten sei. Über dieses giebt die Hypothese einer einfachen Centralanziehung gar keinen Auf- schlufs über das krystallinische Gefüge fester Körper, da vielmehr aus ihr ein ganz gleichförmiger Zusammenhang in allen Richtungen folgen würde. Nicht weniger Schwierigkeiten zeigen sich, wenn man fragt, welche centrale Repulsivkraft, mit der centralen Attractivkraft in Verbindung zu setzen sei? Zwar kann man die Härte der Atomen als eine abstofsende Kraft betrachten, da sie die Atomen hindert einander zu durchdringen. Erwägt man aber, dafs die Dichtigkeit und Cohäsion der festen Körper veränder- lich ist, und dafs sie selbst in den tropfbaren und luftförmigen Zustand über- gehen können, so begreift man, dafs die Erfahrung die Annahme einer ab- stofsenden Kraft fodert, die nicht ihren Sitz in den Atomen selbst, sondern in einer Materie hat, die in den festen Körpern abnehmen und wachsen und endlich so stark werden kann, dafs dadurch die Cohäsion aller Theile ver- nichtet und selbst in Abstofsung verwandelt werden kann. Eine solche Kraft zeigt uns nun zwar die Erfahrung in der grofsen Naturkraft der Wärme. Aber wie soll man diese Kraft mit dem Begriff der Atome verbinden? Dafs die Kraft der Wärme nicht den Atomen des festen Körpers selbst eingepflanzt 73 Fıscmwier sein könne, liegt am Tage; denn annehmen, dafs denselben Atomen eine anziehende und abstofsende Kraft eingepflanzt sei, heifst in demselben Sub- jekt zwei widersprechende Prädicate verbinden. Über dieses lehrt die Erfah- rung, dafs die Wärme nicht nur in demselben Körper zu- und abnimmt, sondern auch aus einem in den anderen übergeht. Da uns nun die Gesetze des Denkens, wie schon oben $.3. bemerkt worden, nöthigen, in der Sin- nenwelt jeder Kraft eine Materie als Träger der Kraft unterzulegen, so ist es mehr als Hypothese, wenn alle neueren Chemiker und Physiker von ei- nem Wärmestoff reden. Soll man nun auch diesen aus festen Atomen bestehend annehmen? Ich bekenne, dafs wenigstens mein Verstand sich zu dieser Vorstellung nicht bequemen kann. Wollten wir noch mehr ins Einzelne der Erscheinungen eingehen, so würde es überall sichtbar werden, dafs es unmöglich sei, zu befriedigenden Erklärungen zu gelangen, wenn man den hergebrachten Begriff der Ato- men, blofs mit einfach anziehenden und abstofsenden Grundkräften in Ver- bindung setzt. Ich zweifle aber nicht, dafs das wenige hier Vorgetragene zur Bewirkung dieser Überzeugung schon hinreichend sei. &9. Wir wollen daher versuchen, ob vielleicht die Annahme von polari- schen Anziehungen und Abstofsungen zwischen den Atomen zu be- friedigenden Erklärungen führe; zu dem Ende ist aber zuvor nöthig, den Begriff polarischer Kräfte genauer zu bestimmen. Der Magnet ist ein schon lange bekanntes Beispiel polarischer Kräfte; aber man betrachtete ihn, noch vor nicht langer Zeit, als eine ganz isolirte Erscheinung, wozu sich kaum etwas Ähnliches in der ganzen Sinnenwelt nachweisen lasse. Aber die höchst merkwürdigen Entdeckungen, welche man neuerlich über Magnetismus, Electrieität, Wärme und Licht gemacht hat, nöthigen uns, dieser Art von Kräften ein viel verbreiteteres, ja viel- leicht eben so allgemeines Dasein, als der Gravitation beizulegen, vielleicht gar die Gravitation als ein Ergebnifs polarischer Kräfte zu betrachten. Da wir aber auch jetzt noch keine andere Art von polarischen Kräften genauer kennen, so mufs uns der Magnet noch für den allgemeinen Typus aller po- larischen Kräfte gelten. Sollte diese Annahme nicht genau sein, so wird die fortgesetzte Experimental - Untersuchung über andere polarische Kräfte, die über die Atomenlehre. 79 erfoderlichen Berichtigungen darbieten. Für jetzt läfst sich das Characteri- stische solcher Kräfte auf folgende Art darstellen. Wenn in zwei Körpern polarische Kräfte thätig sind, so theilt sich jeder gleichsam in zwei Hälften, von denen jede auf den zweiten Körper so- wohl anziehend, als abstofsend wirkt, aber auf eine entgegengesetzte Art. Was nemlich die eine Hälfte anzieht, wird von der andern abgestofsen, und umgekehrt. Diese Kräfte wirken aber nicht in allen Punkten der Oberfläche in gleicher Stärke. In jeder Hälfte giebt es einen Punkt, wo die Kraft am stärksten wirkt; diese nennt man Pole, eine Lirie aber, die beide Pole verbindet, heifst die Anziehungs-Achse. Von jedem Pol an nimmt die Kraft gegen die andere Seite hin ab, und es giebt daher eine Zone zwischen beiden, die sich indifferent verhält, weil hier die entgegengesetzten Kräfte beider Pole gleich sind und sich daher aufheben. Wir wollen die Pole des einen Körpers mit / und Z, und die des anderen mit 4’ und B’ bezeichnen und zwar so, dafs die gleichbenannten (4 und .£', desgl. 3 und ZB’) sich abstofsen, also die ungleich benannten (4 und 2’, desgl. 3 und 4’) sich an- ziehen. Bekanntlich nennt man in der Lehre vom Magnet die letzten auch freundliche, die ersten feindliche Pole. Allem Anscheine nach wirkt jede dieser anziehenden und abstofsenden Kräfte einzeln betrachtet nach den- selben Gesetzen als die Gravitation in die Ferne. So verhält es sich in dem einfachsten Fall polarischer Verhältnisse. Es ist aber bekannt, dafs schon ein gewöhnlicher künstlicher oder natür- licher Magnet, mehr als zwei Pole haben könne. Daher wird es verstattet sein, da, wo man polarische Wirkungen annimmt, den Körpern mehr als eine Anziehungsachse beizulegen. Wir werden sehen, dafs zur Erklärung gewisser Erscheinungen drei Achsen anzunehmen sind, die nur nicht alle drei in derselben Ebene liegen dürfen. Man darf sich aber vorstellen, dafs sie sich winkelrecht oder auch schiefwinklig schneiden, desgleichen, dafs die Kraft der Pole jeder Achse ungleich oder gleich sei. 8. 10. Wir wollen zuerst überlegen, was erfolgen würde, wenn wir den Atomen nur eine einzige polarische Achse beilegten. Offenbar nichts ande- res, als was wir an feinen Eisenfeilspänchen wahrnehmen, wenn sie sich in dem Wirkungskreise eines mächtigen Magnets befinden und dadurch selbst 80 FıscmEr polarisch werden. Sie legen sich mit den freundlichen Polen an einander und bilden gleichsam zusammenhängende Fäden. Ebenso müfsten sich die Atomen mit ihren ungleichnamigen Polen an einander legen und dünne Fä- den bilden, deren Breite und Dicke dem Durchmesser eines Atoms gleich wäre, in deren Länge aber eine Cohäsion statt fände, deren Gröfse von der Stärke der polarischen Anziehung abhängig sein würde. Durch die Annahme einer einzigen Achse erklärt sich also noch nicht die Entstehung eines festen Körpers. Legte man nun solcher Fäden eine Menge neben einander auf eine Ebene, so würden sie zusammen eine körperliche Ebene von der Dicke ei- nes Atoms aber von beliebiger Länge und Breite vorstellen, deren Theile aber blofs in der Richtung der angenommenen ersten Achsen zusammenhän- gen würden. Legt man aber nun den Atomen eine zweite Anziehungsachse etwa winkelrecht auf der ersten bei, so würden sich die Atome so lange um die erste Achse drehen, bis die freundlichen Pole der zweiten Achse sich berührten, und in der körperlichen Ebene auch in dieser Richtung Cohä- sion hervorbrächten. Hängen aber die Theile einer Ebene in zwei Richtun- gen zusammen, so ist leicht einzusehen, dafs in allen Richtungen, die in der Ebene liegen, Zusammenhang da sein wird, wenn auch nicht von gleicher Stärke in jeder Richtung. Aus der Annahme von zwei Achsen kann also die Entstehung eines nach allen Seiten ausgedehnten Körpers noch nicht begrif- fen werden. Denkt man sich aber eine hinlängliche Menge solcher körper- lichen Ebenen auf einander gelegt, so füllen sie zwar einen mefsbaren Raum, der aber nur in denjenigen Richtungen Zusammenhang hat, die der zuerst angenommenen Ebene parallel liegen. Legt man aber den Atomen noch eine dritte Achse wieder etwa winkelrecht auf den beiden vorigen bei, so können auch in dieser Richtung die freundlichen Pole in Berührung treten, wodurch in der ganzen Masse eine Cohäsion in allen drei Richtungen, die in der ganzen Masse liegen, also ein wirklich dreifach ausgedehnter Körper entstehen würde. Es scheint also, dafs zur Entstehung eines vollständigen festen Kör- pers, die Annahme von drei Achsen nothwendig, aber auch hinreichend sei. Denn wenn in einer körperlichen Masse in drei Richtungen Cohäsion ist, so begreift man leicht, dafs sie in allen Richtungen vorhanden sein mufs. Nimmt man nun an, dafs die Anziehung der drei Achsen ungleich sei, oder auch, dafs sie sich nicht unter rechten Winkeln schneiden, wodurch nicht über die dtomenlehre. si alle Pole zu wirklicher Berührung kommen würden, so ist klar, dafs die ganze Masse in verschiedenen Richtungen eine Cohäsion von verschiedener Stärke haben würde. Dieses dürfte vielleicht, wo nicht die einzige, doch die einfachste Art sein, durch Verbindung des gewöhnlichen Begriffes von Atomen mit der An- nahme polarischer Kräfte, das krystallinische Gefüge fester Körper zu erklä- ren; und sie dürfte vielleicht um so mehr einige Aufmerksamkeit verdienen, da durch die so modifieirte Hypothese, eine genauere Untersuchung nur ein nicht unauflösbares Problem der höheren Mechanik werden würde. Nimmt man nemlich an, dafs in allen Punkten eines festen Körpers drei Anziehungsachsen von gegebener Stärke und Richtung vorhanden sind, so begreift man leicht, dafs eine Cohäsion nicht blofs in diesen drei Richtun- gen, sondern auch in jeder anderen Statt finde. Die höhere Mechanik würde daher zu bestimmen haben, wie grofs die Cohäsion in jeder anderen gegebe- nen Richtung sei. Durch Auflösung dieser Aufgabe würden sich wahrschein- lich Aufschlüsse über das innere Gefüge krystallisirter Massen ergeben. 8. 11. Es scheint aber in der That, als könnte die so modificirte atomisti- sche Hypothese, durch Hinzufügung einiger näheren Bestimmungen noch zu anderen wichtigen Aufklärungen führen. In dieser Hinsicht fügen wir noch Folgendes hinzu. Wenn wir annehmen, dafs nicht alle Atomen in Ansehung der Stärke und Richtung ihrer Kräfte einander gleich seien ; so entsteht ein Unterschied zwischen gleichartigen und ungleichartigen Atomen, der weder in ih- rer Gröfse, noch Gestalt, noch Masse liegt. Gleichartig sind nemlich nur solche Atomen, bei welchen die Kräfte und Richtungen der Achsen völlig gleich sind; ungleichartig sind also diejenigen, bei welchen in Ansehung eines oder mehrerer oder aller dieser Umstände eine Verschiedenheit vor- handen ist. Da also bei ungleichartigen Atomen immer eine Verschiedenheit der Achsen Statt findet, so ist es nöthig, dieselben durch bestimmte Wörter zu unterscheiden. Wir wollen daher die kräftigste Achse die erste, die beiden anderen aber, so wie sie an Stärke abnehmen, die zweite und dritte nennen. Mathemat. Klasse 1828. L 82 E'rs cu Er g. 12. Nimmt man nun an, dafs nur zwei ungleichartige Atomen sich ein- ander in einem Zustande näherten, wo sie sich frei bewegen könnten, so ist klar, dafs sie sich mit den freundlichen Polen ihrer ersten Achsen an einan- der legen, und wenn diese überwiegend kräftig sind, schr fest zusammen- liegen werden. Man könnte eine solche Verbindung ein Doppel-Atom nennen. Vielleicht könnten selbst drei oder mehr Atome sich zu einer sol- chen innigern Verbindung zusammengesetzter Atomen vereinigen; wie es die neue chemische Proportionslehre zu fodern scheint. Wenn dann die zweite und dritte Achse der einfachen Atomen beträchtlich in der Richtung und Stärke von einander abweichen, so könnte wohl manches dieser zusam- mengesetzten Atomen mehr als drei Achsen haben. Denkt man sich übrigens solche auf gleiche Art zusammengesetzte Atomen in hinreichender Menge bei- sammen, so ist leicht zu erachten, dafs auch sie, auf ganz ähnliche Art, als oben ($. 10.) feste körperliche Massen bilden würden, die in allen Richtun- gen, nur mit verschiedener Stärke zusammenhängen, also ein mannigfalti- ges inneres Gefüge bilden könnten. 8. 13. Verfolgt man diese Ideen weiter, so kann man sogar hoffen, dafs sie zu deutlichen Begriffen über die materielle Beschaffenheit fester Körper führen könnten. Denn worin besteht diese materielle oder qualita- tive Verschiedenheit? Offenbar nur darin, dafs ungleichartige Körper auf sehr verschiedene Art gegen unsere Sinnen, so wie auch unter sich, einer auf den andern wirken. Stellt man sich nun zwei Körper vor, die aus einfachen oder zusammengesetzten Atomen, jeder auf eine eigne Art zusammengesetzt wären, so scheint es, dafs sie nothwendig auch auf unsere Sinne, so wie auch einer auf den andern verschieden reagiren müfsten; indem alle Wir- kungen, die sie hervorbringen, doch blofs den in ihnen thätigen Kräften, nicht der todten kraftlosen Materie zuzuschreiben sind. Hätte diese Ansicht Grund, so würde es nicht nöthig sein, den Atomen an sich eine verschie- dene materielle oder chemische Verschiedenheit oder eine Ungleichheit der Gestalt, Gröfse, Dichtigkeit etc. beizulegen. über die diomenlehre. _ 83 8. 14. Man wird mir, glaube ich, die Gerechtigkeit müssen widerfahren las- sen, dafs ich im Vorhergehenden den herkömmlichen Begriff der Atomen mit den uns bekannten Grundkräften der Natur in eine solche Verbindung zu setzen gesucht habe, wie sie der gegenwärtige Zustand unserer Natur- kenntnisse zu fodern schien. Auch habe ich zu zeigen gesucht, dafs man, wenn der eingeschlagene Weg weiter verfolgt würde, in der That zu deut- lichen Begriffen über manche Erscheinungen gelangen würde. Aber dennoch bleibt dieser alte Begriff der Atomen ganz unhaltbar. Denn bleiben wir auch, wie bisher blofs bei den Erscheinungen fester Körper stehen, so verwickelt schon die verschiedene Dichtigkeit, die wir bei festen Körpern unabhängig von der Wärme finden, in unauflösliche Dunkelheiten und Schwierigkeiten. Denn was für eine bestimmte Vorstellung soll man sich von der inneren Zu- sammensetzung eines festen Körpers aus Atomen machen, da die Atomen- lehre genöthigt ist, in jedem Körper weit mehr leeren, als mit Atomenmasse gefüllten Raum anzunehmen ? Ganz unhaltbar und mit den ersten Begriffen und Grundsätzen der Mechanik im Widerspruch müfste es seyn, wenn man annehmen wollte, dafs die Atomen in dem Raume, den sie zu füllen scheinen, einzeln und gleichförmig vertheilt wären, und nur durch gleiche Anziehungen nach allen Seiten schwebend im Gleichgewicht erhalten würden. Denn eine solche gleiche Anziehung nach allen Seiten kann nie Statt finden und ist eine reine Chimäre. Denn würde auch wirklich ein Atom, von allen dasselbe umschwe- benden im Körper nach allen Seiten gleich stark gezogen, so übersieht man, dafs jedes Atom auch von der Masse der ganzen Erdkugel in der Richtung der Schwere gezogen wird und dafs diesem Druck kein anderer entgegenge- setzt ist. Auch kann man fragen, wie ein in der Oberfläche des Körpers be- findliches Atom im Gleichgewicht sein könne, da es von den übrigen Ato- men des Körpers nur nach innen gezogen wird? Endlich übersieht man, dafs jedes durch entgegengesetzte Anziehungen aus der Ferne bewirkte Gleichgewicht, nur ein augenblickliches, kein beharrendes sein könne, und durch eine unermefslich kleine Veränderung in der Stellung eines Atoms aufgehoben sein würde. Eine solche Verrückung von Atomen würde aber bei jedem Zug, Druck, Stofs oder Verletzung des Körpers unvermeidlich sein, und die Störung des Gleichgewichts eines einzigen Atoms müfste noth- L2 84 Fıscuer wendig nach und nach die Aufhebung des Gleichgewichts in allen übrigen zur Folge haben. Die Idee eines solchen Gleichgewichts erinnert an die Fa- bel, dafs Mahomeds eiserner Sarg durch die Anziehung zweier grofser Magnete in der freien Luft schwebend erhalten werde. Man mufs daher unausweichlich eine wirkliche Berührung der Atome annehmen, und dann kann nicht wohl eine andere Vorstellung übrig bleiben, als dafs sie sich nur in ihren stärksten freundlichen Polen berührend verbin- den und unermefslich dünne Fäden bilden, die sich in Gestalt eines Netzes nach allen Seiten des erfüllt scheinenden Raumes verbreiten. Aber gegen das Gleichgewicht eines solchen Netzes finden noch immer dieselben unbe- antworteten Einwürfe Statt, die wir kurz vorher erörtert haben; zu ge- schweigen, dafs die grofse Festigkeit so vieler Körper in der That ein fabel- haftes Ansehn gewinnt, wenn man sich dieselben aus einem so unermefsli- chen Netz von Atomen, gegen welche das feinste Gewebe einer Spinne aus ungeheuer dicken Balken besteht, zusammengebaut vorstellen soll. 8. 15. Wirft man aber einen Blick auf den Übergang fester Massen in den tropfbaren und flüssigen Zustand, so werden die Schwierigkeiten noch un- endlich gröfser. Denn es ist nicht nur kaum zu begreifen, wie man die Idee eines Wärmestoffs — dessen man bei Veränderung des Aggregatzustandes nicht entbehren kann — aus schweren, festen, untheilbaren Atomen, die denen aller wahrnehmbarer Körper ähnlich sein sollten, construiren könne, sondern, was kurz vorher über die Dichtigkeit gesagt worden, gewinnt nur ein viel gröfseres Gewicht. Denn betrachtet man eine leichte und sehr ver- dünnte Luftart, so kann dieselbe viele tausend Mal leichter, als Gold oder Platin sein. Füllten daher auch diese ihren Raum stätig, was der Atomist nicht zugeben kann, so würde doch die Luftart fast ganz aus leerem Raume be- stehen, welches wenigstens eine sonderbare und unnatürliche Vorstellung ist, die auch nicht auf die allerentfernteste Art, durch irgend eine Erfahrung begünstiget wird. Nichts zeigt aber die Unhaltbarkeit der Atomenlehre au- genscheinlicher, als die Betrachtung des tropfbar flüssigen Zustandes. Denn welche Vorstellung sich auch der Atomist von den zur Construction der Materie nothwendigen anziehenden und abstofsenden Kräften machen mag, so muls er wenigstens zugeben, dafs der tropfbare Zustand nur durch über die dtomenlehre. 85 ein Gleichgewicht beider Arten von Kräften denkbar sei. Ist aber dieses Gleichgewicht da, so ist nicht zu begreifen, was die Atomen hindern könnte, dem Zuge der Schwere zu folgen und bis zur stätigen Berührung zusammen- zusinken. 8.16; Alle Schwierigkeiten und Widersprüche, zu welchen die Atomenlehre führt, haben eigentlich ihren Grund in derjenigen Eigenschaft der Atomen, welchen man von jeher als ihren wesentlichen Character betrachtet hat, nem- lich in der physischen Untheilbarkeit derselben. Denn aus dieser folgt, dafs man sie, als absolut feste, harte, widerstehende Körperchen betrachten mufs, und dafs selbst alle tropfbaren und luftförmigen Körper aus solchen Atomen bestehen. Giebt man aber die Untheilbarkeit der Atome auf, so fällt der ganze Begriff derselben weg, und man ist genöthigt, von dem in- nern Bau der Körper eine ganz veränderte Ansicht zu fassen. Die wichtigste Folgerung ist, dafs man die Porosität als allgemeine und wesentliche Ei- genschaft aller Körper aufgeben und nur als zufällig bei besondern Arten von Körpern zulassen mufs. (1) Besonders ist die fabelhafte Porosität bei tropfbaren Flüssigkeiten mit den ersten Grundsätzen der Mechanik auf keine Art zu vereinigen. Denn da in diesem Zustande die Cohäsion der Materie ganz, oder fast ganz vernichtet ist, so ist schlechterdings nicht einzusehen, was die im festen Zustande getrennten Atomen im tropfbaren Zustand hin- dern könnte dem Gesetz der Schwere zu folgen, und bis zur Berührung zu- sammen zu fallen, was aller Erfahrung entgegen ist, da gewisse Körper nach dem Schmelzen sogar einen gröfsern Raum als vorher einnehmen. Bei festen und luftförmigen Körpern aber lassen sich die angeblich leeren Räume nur durch gezwungene und gekünstelte Hypothesen vertheidigen. Giebt man aber die allgemeine Porosität auf, so bleibt nichts übrig als die natürliche, ungekünstelte Vorstellung, dafs alle Theile der körper- lichen Materie dem Zuge der in ihnen liegenden anziehenden Kräfte folgen, und sich in stätigem Zusammenhange an einander legen, wofern dies nicht durch Zufälligkeiten gehindert wird. Man ist daher genöthigt anzunehmen , dafs alle körperliche Materie, sei sie fest, oder tropfbar oder luftförmig, (‘) Wie der Verfasser schon 1806 in seinem Lehrbuche der Naturlehre aus andern Gründen behauptet hatte. 86 Fıscenrner den Raum, den sie einnimmt, auch vollkommen stätig fülle, und dafs sie daher, wie jede stätige Gröfse ohne alle Grenzen theil- bar sei. Dieses ist der Hauptgrundsatz, auf welchem alles Folgende beruht. 8. 17. Bei Untersuchungen über den innern Bau derKörper kann dahernicht dieRede sein von untheilbaren Atomen, son- dern nur von unendlich kleinen Theilen der Materie im strengsten Sinne des Worts, d.h. von Theilen, deren extensive Gröfse kleiner ist als jeder noch so kleine Theil derselben Ma- terie, dessen extensive Gröfse sich noch durch irgend einen, noch so kleinen Bruch, vorstellen läfst. Ehe wir aber von diesem Begriffe Gebrauch machen können, ist es nöthig einige allgemeine Erörterungen und Erläuterungen voranzuschicken , welche hauptsächlich den Zweck haben, den genauen Begriff des Unend- lichkleinen, so weit es in gedrängter Kürze möglich ist, aufzuklären. $. 18. So häufig der Begriff intensiver Gröfsen gebraucht wird, so erin- nere ich mich doch nicht, irgendwo eine genaue Analyse derselben gefunden zu haben, obgleich der Begriff an sich gar keine Schwierigkeit hat. Wenn man nemlich in einem Raume von beliebiger Gestalt und Gröfse etwas wahr- nimmt oder denkt, was gleichförmig zu- oder abnehmen kann, so denkt man sich den Begriff einer intensiven Gröfse. Da aber die Gestalt und Gröfse des Raumes hierbei vollkommen gleichgültig ist, so gehört ihre Er- wähnung eigentlich gar nicht in eine regelmäfsige Definition des Begriffs. Denn wenn in einem Raume etwas vorhanden ist, was gleichförmig in dem ganzen Raume wachsen und abnehmen kann, so mufs eben das schon in je- dem unendlich kleinen Theile (dem man also alle extensive Ausdehnung ab- spricht) vorhanden sein. Eine scharfe Definition würde also folgende sein: Wenn in einem unendlich kleinen Theile des’Raumes et- was vorhanden ist, was wachsen undabnehmen kann, so heifst dieses eine intensive Gröfse. Wenn z.B. in irgend einem belie- bigen Raume die Wärme gleichförmig zu- und abnimmt, so mufs man of- über die Adtomenlehre. 87 fenbar annehmen, dafs dieses Zu- und Abnehmen schon in jedem Punkte des Raumes Statt finde, dafs also die Wärme eine intensive Gröfse sei. Der allgemeine Begriff des Intensiven erstreckt sich aber nicht blofs auf Quantität, sondern auch auf alle Arten von Qualitäten. In einem mit Gold stätig erfüllten Raume befindet sich in jedem Punkte Gold, und zwar Gold, dem man alle Qualitäten beilegen mufs, die man, als dem Golde an- gehörig, anerkennt. Eben so verhält es sich mit jeder andern körperlichen Materie. Jede Qualität ist folglich etwas Intensives; ja eben darin liegt der Grund, weswegen es auch intensive Gröfsen giebt, da die Gröfse selbst aus dem Gesichtspunkte einer Qualität betrachtet werden kann. Es ergiebt sich also hieraus: dafs es gar keinen Widerspruch enthält, wenn man einem unendlich kleinen Theile des Raumes, dessen intensive Gröfse also im strengsten Sinne = 0 ist, dennoch nicht nur eine intensive Gröfse, sondern selbst allerlei anderweitige Qualitäten beilegt. 8. 19. Man bedarf aber eines Grundsatzes, nach welchem man einem un- endlich kleinen Raume bestimmte Intensität beizulegen berechtigt ist, wo- fern es nicht ein blofses leeres Phantasiespiel sein soll. Dieser Grundsatz ist folgender: Alles, was man jedem Theile eines Raumes, und zwar ganz unab- hängig von seiner extensiven Gröfse mit Grund beilegt, mufs auch einem unendlich kleinen Theile desselben, aber als etwas Intensives beigelegt werden. Dieses ist eigentlich der wichtigste Grundsatz für die allgemeine Theorie des Unendlichkleinen, dessen Richtigkeit aber in dem Gebiete der Empirie leichter anschaulich zu machen ist, als im Felde der reinen Gröfsenlehre. Die Richtigkeit dieses Grundsatzes beruhet übrigens darauf, dafs man einen Raum, der aller Ausdehnung ermangelt, noch immer als einen Theil des Raumes betrachten kann und mufs, jeder Theil einer in sich gleicharti- gen veränderlichen Gröfse aber, nur als etwas dem Ganzen gleichartiges gedacht werden kann. Die Begriffe eines Punktes und eines in allen Di- mensionen unendlichkleinen Raumes sind zwar in so fern für die Einbil- dungskraft einerlei, als in beiden alle Ausdehnung = 0 gesetzt ist, aber für den Verstand sind sie dennoch wesentlich verschieden: denn in dem Be- 88 Fısczer griffe des Punktes wird jede Ausdehnung absolut, als dem Begriffe des Punktes widersprechend, geleugnet; in dem Begriff des unendlich klei- nen Raumes denkt sich der Verstand den Raum als eine veränderliche Gröfse, und legt dieser beliebig nur den Werth 0 bei, der aber in dieser Beziehung ein eben so reeller, doch nur zufälliger ist, als jeder andere mefs- bare Werth. Es ist aber überall ein unstreitiger Grundsatz der Logik (wenn er auch in keinem Lehrbuch steht) dafs der zufällige Mangel eines wesentli- chen Merkmales den Begriff nicht aufhebt. Ein Schiff hört nicht auf ein sol- ches zu sein, wenn es auf dem Lande steht, und ein Baumeister bleibt, was das Wort sagt, auch wenn er eben mit etwas ganz anderm als mit Bauen be- schäftigt ist, u. dgl. m. Daher ist es zwar ein Widerspruch zu sagen, ein Punkt sei ein Theil einer Linie, aber kein Widerspruch ist es eine un- endlich kleine Linie als einen Theil einer Linie zu betrachten. Ich darf hierbei eine Benennung nicht übergehen, die man ganz all- gemein übersieht, ob sie gleich für die richtige Auffassung des Begriffs vom Unendlichkleinen von grofser Wichtigkeit ist. Ganz allgemein scheint man anzunehmen, dafs zwei Punkte, deren Entfernung — 0 ist, gar nicht anders als zusammenfallend gedacht werden können, und doch denkt sich jeder Mensch in jedem Augenblicke bei der Berührung zweier Körper die berüh- renden Punkie in der Entfernung Null, aber nicht in einander sondern an einander. Die Wahrheit ist, dafs im Unendlichkleinen die Begriffe In- einander und Aneinander so zusammenschmelzen, dafs man mit gleichem Recht, nach Erfordernifs bald den einen, bald den andern anwenden kann. Hierin liegt eigentlich der Grund, warum etwas, das für die Anschauung ein blofser Punkt ist, doch von dem Verstande unter dem Begriff eines wirkli- chen Theiles des Raumes gedacht werden kann. $. 20. Wir haben gezeigt, dafs und in welchem Sinne einem unendlich klei- nen Theile des Raumes, ohngeachtet seine extensive Gröfse = 0 ist, den- noch eine intensive ohne Widerspruch beigelegt werden könne. Es ist noch übrig zu zeigen, in welchem Sinne zwei unendlichkleine Gröfsen verglichen und ihr Verhältnifs durch Zahlen ausgedrückt werden könne. Es wird hin- reichend sein, dieses hier an einem solchen Beispiel deutlich zu machen, wie wir es im folgenden brauchen werden. über die dtomenlehre. 89 Die Dichtigkeit oder spezifische Schwere unendlich kleiner Theile zweier ungleichartiger Körper läfst sich auf folgende Art vergleichen. Das Verhältnifs der Dichtigkeit zweier Körper ist bekanntlich nichts anders als das Verhältnifs ihrer Gewichte unter gleichem, sonst beliebigem, Volumen. Will man z. B. die Dichtigkeit von Gold und Wasser vergleichen, so stelle man sich etwa zwei Cylinder von gleicher Grundfläche und Höhe vor, von denen der eine mit Gold, der andere mit Wasser stätig gefüllt sei, und nehme an, dafs sich ihre Gewichte genau wie 20:1 verhielten. Man halbire die Höhe beider Cylinder und lege durch den Theilpunkt eine Ebene, pa- rallel mit der Grundfläche, so sind die Hälften wieder Cylinder, und das Ver- hältnifs ihrer Gewichte 20:1. Halbirt man zwei dieser Hälften wieder auf dieselbe Art, so sind die Viertel wieder Cylinder, und das Verhältnifs ihrer Gewichte 20:1. Denkt man sich auf diese Art Achtel, Sechszehntel, Zwei- unddreifsigstel, etc. beider Cylinder, so sind jede zwei gleichvielsten Theile immer wieder Cylinder und das Verhältnifs ihrer Ge- wichte 20:1. Dieses bleibt nun richtig, wie weit man auch diese über- einstimmenden Halbirungen fortsetzen mag. Denkt man sich also dieselben, ganz gleichförmig ohne Ende fortgesetzt, so bleibt für das Anschauungsver- mögen oder die Einbildungskraft zwar nichts übrig als das Bild der beiden Grundflächen, aber für den Verstand sind es noch zwei Cylinder von gleichen Grundflächen, und gleichen aber unendlichkleinen Höhen mit dem Verhältnifs der Gewichte 20:4. Dasselbe Verhält- nifs der Dichtigkeit, was dem Gold und Wasser unter gleichem Volumen zukommt, mufs auch ihren unendlichkleinen Theilen zugeschrieben werden, sofern sie vermöge ihrer Entstehungsart als gleich gedacht wer- den. Solche Theilungen können aber auf mehr als eine Art gemacht wer- den, wodurch der bestimmte Begriff der unendlichkleinen Theile modifieirt wird. Man denke sich z.B. statt der Cylinder zwei gleiche Würfel von Gold und Wasser. Man halbire in jedem drei zusammenstofsende Kanten, und lege durch die Halbirungspunkte Ebenen parallel mit den Seitenflächen, so ist jeder in acht gleiche Würfel getheilt, und wie das Gewicht der ganzen Würfel 20:1 war, so verhalten sich die Achtel derselben eben so. Man kann nun offenbar mit zwei solchen kleinen Würfeln dieselbe Theilung, und dieses, so oft man will, wiederholen. Denkt man sich also auch diese Art der Theilung, so oft man will, wiederholt, so bleibt zwar für die Einbil- Mathemat. Klasse 1828. M 90 Pr stctH Eur dungskraft nichts als das Bild zweier Punkte, aber für den Verstand sind es, vermöge des Zusammenhanges, in welchem sıe gedacht werden, zwei un- endlichkleine aber gleiche Würfel, deren unendlichkleine Ge- wichte sich noch immer wie 20:1 verhalten, u. dgl. Solche unend- lichkleine Theile, die durch völlig übereinstimmende Theilung zweier gleichen Räume entstehen, wollen wir, um mehrerer Deutlichkeit willen, gleich- räumige unendlichkleine Theile nennen. 824, Ich komme nach diesen allgemeinen Erörterungen wieder auf die un- endlich kleinen Theile der Körper zurück, die ich als die Uranfänge aller Materie betrachte. Es scheint mir angemessen, ihre Begriffe an ein eigenes Wort zu knüpfen, und ich wähle das Wort Element, das schon häufig in der Mathematik von unendlichkleinen Theilen gebraucht wird, und welches wenigstens in seiner unsichern Abstammung nichts enthält, was zu einem falschen Begriff verleiten könnte. Sehr verschieden ist zwar von der hier gegebenen Erklärung der Sinn, in welchem die Scholastiker das Wort von den vier Elementen des Aristoteles brauchten, desgleichen von der Bedeu- tung, welche ihm manche neuere Chemiker gegeben haben, welche die noch unzersetzten Stoffe Elemente nennen. Aber der Sprachgebrauch der Scho- lastiker kommt jetzt in wissenschaftlichen Werken gar nicht mehr vor; und Stoffe, die wir nicht zersetzen können, Elemente zu nennen, wird immer bedenklicher, seitdem man später die Zersetzbarkeit vieler solcher Stoffe entdeckt hat. S. 22. Der wesentliche Unterschied zwischen Atomenlehre und Elementen- lehre fällt in die Augen, sobald man versucht den Begriff unserer Elemente auf die wahrnehmbaren festen, tropfbaren und luftförmigen Körper anzuwen- den. Denn es ist nach dem obigen Grundsatz ($. 19.) klar, dafs man die Elemente derselben nicht anders als bezüglich fest, tropfbar und luftför- mig denken dürfe, und dafs man ihnen bei jeder besondern körperlichen Materie überhaupt alle diejenigen Eigenschaften beilegen müsse, die jedem Theil der Materie, unabhängig von seiner extensiven Gröfse zukommen. Was aber diejenigen Materien oder Stoffe betrifft, die wir, vermöge der Gesetze des Denkens, der Wärme und andern merkwürdigen Naturkräften über die dtomenlehre, 91 als Träger oder Inhaber der Kraft unterlegen müssen, wenn sie sich gleich unsern äufsern Sinnen nicht offenbaren, so kann man zwar auf sie den Be- griff der Atome, nur auf eine sehr gezwungene Art anwenden; der Begriff der Elemente hingegen macht nicht die mindeste Schwierigkeit. Was auch immer Wärmestoff, Lichtstoff, u. dgl. sein mag, so kann er in einem un- endlichkleinen Theile des Raums nichts anderes sein, als in jedem Raum von mefsbarer Gröfse. Ja, wären auch solche Materien, wie die Idealistischen Metaphysiker meinen, ein blofs sinnlicher Schein, so ist doch klar, dafs, aus unsrer Vorstellung von ihren Elementen nie ein Irrthum entspringen könne, indem der Begriff der Elemente nichts weiter aussagt, als dafs die Kraft, von welcher die Rede ist, in einem Raume, wo man sie als gleichförmig wirkend betrachtet, in einem Punkte gerade so, wie in jedem andern wirke, was wohl nicht bestritten werden kann. Es ist daher in den Gesetzen des Denkens begründet, dafs wir in der Sinnenwelt wahrnehmbare und nicht wahr- nehmbare Materien unterscheiden müssen. Nur die erstern sind wir be- rechtigt, körperliche oder Körper zu nennen; bei den letzteren ist dieses nicht gestattet, eben deswegen, weil wir gar keine sinnliche Anschauung von ihnen haben, wodurch wir ihnen indessen den Begriff der Materialität nicht absprechen: denn Materie ist jede Substanz, die wir als den wesent- lichen Sitz einer physischen Kraft betrachten. Da aber die körperliche Materie, nach der Elementarlehre, ihren Raum stätig erfüllt, und wir doch sehen, dafs Wärme und andere physische Kräfte in ihnen thätig sein kön- nen, so sind wir genöthigt anzunehmen, dafs nicht wahrnehmbare nnd wahr- nehmbare Materien gegenseitig einander durchdringlich sind, und dafs also der Wärmestoff u. dgl. nicht blofs, wie die Atomenlehre behauptet, in die leeren Räume der Körper eindringe, sondern dafs beide Arten von Ma- terien einander in ihrem innersten Wesen durchdringen, woraus viel unge- zwungnere Erklärungen der Erscheinungen, als die Atomenlehre geben kann, entspringen. Warum sollte es nicht auch Materien geben können, welche derje- nigen Eigenschaften ermangelten, durch welche die körperliche sich un- sern Sinnen als selbstständige Substanz darstellt? nehmlich Undurchdring- lichkeit gegen unsre Organe und Fähigkeit, das Licht zu reflektiren. M2 92 Fıscnuer $. 23: Übrigens können wir nun von den Elementen einen ganz ähnlichen Gebrauch machen, als wir oben von den Atomen gemacht haben. Wir le- gen nehmlich die zur Construction der Körper erfoderlichen anziehenden Kräfte unsern Elementen bei, und da sich dort die Annahme polari- scher Anziehungen weit besser an die Erfahrung anzuschliefsen schien, als einfache centrale Anziehungen, so bleiben wir auch hier bei den polarischen stehen. Dieses hat keine Schwierigkeit: denn wenn es der höhern Mechanik gelingen sollte, das innere Gefüge der Kristalle durch die Annahme von drei verschiedenen, aber in der ganzen Masse gleichförmig wirkenden Anziehun- gen zu erklären, so ist klar, dafs diese Anziehungen schon in jedem unendlich- kleinen Theile der Masse, d.h. in jedem Element vorhanden sein müssen. Die eben so nothwendige abstofsende Kraft aber setzt die Ele- mentenlehre hauptsächlich in den Wärmestoff, vielleicht auch unter Mit- wirkung anderer, nicht wahrnehmbarer Materien. Zur Erklärung der Er- scheinung scheint es aber völlig hinreichend, den Elementen des Wärmestoffs blofs eine einfache centrale, also nach allen Richtungen gleich starkwirkende Repulsivkraft beizulegen. Die Bestimmung der Gesetze aber, nach welchen beide wirken, überläfst die Elementarlehre nicht der Phantasie, sondern sie werden aus den allgemeinen Eigenschaften jeder Klasse von Körpern abge- leitet. Enthalten sie etwas hypothetisches (wie z.B. die Annahme polari- scher Anziehungen) so ist es so beschaffen, dafs es durch Rechnung und Beobachtung einer strengen Prüfung unterworfen werden kann, welches al- lein der Charakter einer brauchbaren physikalischen Hypothese ist. Da die Elementenlehre nichts von dem fabelhaften leeren Raume der. Atomen- lehre weils, so thun die auf ihnen beruhenden Schlüsse den Sinnen und der Phantasie keine Gewalt an, sondern es schliefst sich alles ungezwungen an die Beobachtung und Erfahrung an, u.dgl.m. Unter diesen Umständen scheint es mir, dafs schon eine kurze Ändeu- tung der Grundzüge der Elementarlehre hinreichend sein werde, den Leser mit dem Geiste derselben bekannt zu machen. $. 24. Zuerst bemerken wir, dafs das krystallinische Gefüge fester Körper eine viel natürlichere Erklärung als in der Atomenlehre zuläfst. Denn wenn über die dtomenlehre. 95 dem festen Zustande, wie man Grund hat anzunehmen, der tropfhare vor- angeht, so werden, wenn die Repulsivkraft der Wärme schwächer geworden ist als die Anziehungen der körperlichen Elemente, diese sich, desto regel- mäfsiger, je langsamer und ungestörter, so aneinanderlegen, wie es den po- larischen Anziehungen gemäfs ist, ohne dafs leere Räume zwischen ihnen bleiben. Selbst bei der niedrigsten Temperatur müssen ferner in einem fest- gewordenen Körper sowohl anziehende als abstofsende Kräfte thätig sein. Denn wenn auch die Elemente des festen Körpers selbst als fest gedacht werden müssen, so würden doch, bei ihrem gänzlichen Mangel an mefsbarer Ausdehnung die anziehenden Kräfte allein eine grenzenlose Zusammenzie- hung der Materie bewirken, wenn ihrer Wirkung nicht durch den Widerstand abstofsender Kräfte eine Grenze gesetzt würde: denn ein bestimmter Grad von Dichtigkeit kann nur durch ein Gleichgewicht anziehender und ab- stofsender Kräfte bewirkt werden. Man mufs daher, einstimmig mit dem Urtheile aller Naturforscher, annehmen, dafs schon bei der niedrigsten Tem- peratur in jedem festen Körper die ausdehnende Kraft der Wärme sich mit der anziehenden der Materie in jedem Element ins Gleichgewicht gesetzt habe. Dringt nun immer mehr Wärmestoff in einen Körper ein, so wird die anziehende Kraft seiner Elemente immer mehr geschwächt, d.h. die Cohäsion seiner Theile wird, wie es der Erfahrung gemäfs ist, abnehmen, bis diese endlich als gänzlich vernichtet zu betrachten ist, und der tropfbare Zustand eintritt. Nach unsern gegenwärtigen Kenntnissen von den Wirkungen der Wärme geschieht aber bei dem Übergang in den tropfbaren Zustand noch etwas anderes als die blofse Aufhebung der Cohäsion, nehmlich eine Bindung von Wärmestoff. 8.25: Um aber nicht nur diese Erscheinung sondern um alle Arten chemi- scher Erscheinungen im Sinn der Elementenlehre zu erklären, ist man genö- thigt anzunehmen, dafs ungleichartige Elemente sich auf zwei we- sentlich verschiedene Arten mit einander verbinden können, nehmlich a) so, dafs sie sich innig durchdringen, und dadurch eine ganz neue, in sich gleichförmige Art von Elementen bilden, die sich aber in allen Eigenschaften von denen, aus welchen sie entstanden, unterscheiden; 2) es können sich aber zwei ungleichartige Elemente auch so vereinigen, dafs sie nur als adhärirend aneinander zu betrachten sind; in welchem Fall die 94 Fıs Cw'ER besondern Eigenschaften beider Elemente weniger Veränderung in der Ver- bindung erleiden, als bei Verbindungen der erstern Art. Ob sich gleich zeigen läfst, dafs diese beiden Arten von Verbindungen kein willkührliches Phantasiespiel, sondern aus der Erfahrung selbst entnom- men sind, so kann doch hierbei eine nicht hinlänglich scharfe Auffassung des Begriffs vom Unendlichkleinen Anstofs veranlassen. Da nehmlich die Elementenlehre die Porosität der Materie verwirft, so kann die wirkliche Mischung oder innige Verbindung zweier Materien, also auch jede Verbindung eines Körpers mit Wärmestoff nur in einer vollkommnen Durchdrin- gung beider bestehen, und es ist daher nicht abzusehen, wie beide Arten von Verbindungen sich von einander unterscheiden sollen. Wir haben oben (im vorletzten Absatz des 8.19.) gezeigt, dafs man zwei einander unendlich nahe Punkte, nach Erfordernifs der Umstände mit gleichem Rechte als in- einander oder aneinander liegend betrachten darf, ohne dafs im letzten Fall die Vorstellung einer wirklich mefsbaren Ausdehnung entsteht. Man denke sich also bei den Verbindungen der ersten Art die ungleichartigen Ele- mente ineinander, bei der zweiten aneinander, so verschwindet der scheinbare Widerspruch. Überhaupt lehrt die ganze, besonders die chemi- sche Naturlehre, welche unendlich mannigfaltigen Erscheinungen und Ver- änderungen derselben in der ganzen materiellen Sinnenwelt vorgehen, und diese Veränderungen finden offer:bar nicht blofs in endlichen Räumen statt, sondern schon in jedem unendlichkleinen Theil desselben. sen anschaulich; & im unendlichen Raume findet die Anschauung ihre Grenzen. Diejenigen nun, Aber im endlichen Raume sind diese Veränderun deren wissenschaftliche Beschäftigung ganz in dem Gebiete des Anschaulichen liegt (Physiker und Mathematiker) glauben dann Mangel an Deutlichkeit und Befriedigung des Verstandes zu finden, wo sie die Anschaulichkeit vermissen. Aber Deutlichkeit ist Sache des Verstandes, nicht des Anschauungsvermö- gens; und das, was blofs gedacht, aber nicht angeschaut wird, ist voll- kommen deutlich, wenn es mit vollem Bewufstsein gedacht wird, und nach den Gesetzen des Denkens nicht anders gedacht werden kann. Sollte jemand einwenden: das Unendlichkleine gehöre nicht in den Wirkungskreis des Phy- sikers und Mathematikers, eben deswegen, weil es auf den äufsersten Gren- zen des Anschaulichen liege, so würde dieses Urtheil fast eben so lauten, als wenn jemand von der Theorie des Kreises die Betrachtung der Peripherie über die Jtomenlehre. 95 ausschliefsen wollte, weil sie die äufserste Grenze des Kreises sei. Es ist nöthig, von den beiden obigen Verbindungen einzeln zu reden. o) 8. 26. Die Idee der ersten Art von Verbindungen beruht auf der vollkom- mensten Art chemischer Mischungen, bei welchen die Mischung durch- aus ganz andere Eigenschaften zeigt, als die Bestandtheile, woraus sie zusam- mengesetzt wird. Ein vollkommnes Metalloxyd zeigt in keinem Punkt seiner Masse weder Metall noch Oxygen, sondern eine ganz andere, in allen Punkten gleichförmige Masse, so dafs man im strengsten Sinne kaum sagen kann, sie enthalte Metall und Oxygen, sondern nur, sie sei zersetzbar in eine be- stimmte Quantität eines bestimmten Metalles und des Oxygens. Erscheint aber das Oxyd, wenn es einen endlichen Raum einnimmt, als vollkommen gleichartig, so ist der Verstand genöthigt, diese Gleichartigkeit als schon in jedem unendlichkleinen Theile des Raumes als vorhandene anzuerkennen. Die Elemente des Oxyds sind also weder Metall, noch Oxygen, sondern ein bestimmtes Oxyd, dessen Zersetzbarkeit, so lange seine Entstehung un- bekannt war, nicht aus Begriffen erkannt werden konnte. Daher darf man auch nicht irgend einen Stoff für unzersetzbar halten, den wir noch nicht zersetzen können. Ein sehr merkwürdiger Umstand bei Verbindungen dieser Art ist es, dafs sie immer nur in ganz bestimmten, und durch kleine Zahlen ausdrück- baren Verhältnissen der Massen erfolgen. Man hat dieses schon längst in vielen einzelnen Fällen wahrgenommen, aber dafs dieses Gesetz durch alle Arten vollkommner chemischer Verbindungen hindurchgehe, hat erst der Scharfsinn des berühmten Berzelius durchgreifend dargethan. Dagegen sind die Verbindungen der zweiten Art an keine bestimmte Verhältnisse gebunden. Aber von einem blofs mechanischen Gemenge sind sie noch wesentlich verschieden; denn da die Adhäsionskraft in allen Elementen der einen Masse gegen die Elemente einer andern bestimmten in allen Punkten gleichstark ist, so verbreiten sich die adhärirenden Elemente der andern Masse gleichförmig durch die erste und bilden mit ihr eine für die Sinne eben so gleichartige Materie, als bei Verbindungen der ersten Art, nur mit dem Unterschiede, dafs bei innerer Durchdringung der Elemente die be- sondern Eigenschaften der Bestandtheile für die Anschauung ganz oder gröfs- 96 Fıscner über die dtomenlehre. tentheils verloren gehen, bei blofser Adhäsion der Elemente aber immer noch in einem gewissen Grade bemerkbar bleiben. Nun könnte man vielleicht einwenden, dafs es nach dieser Ansicht gar kein mechanisches Gemenge zweier ungleichartiger Flüssigkeiten (als Öhl und Wasser, Wasser und Äther) geben könne, weil die ganze Naturlehre uns nöthigt anzunehmen, dafs zwi- schen jeden zwei noch so ungleichartigen Elementen eine Anziehung statt finde, die entweder gegenseitige Durchdringung oder blofse Adhäsion bewir- ken müsse; aber es kommt hierbei auf das Verhältnifs der Adhäsionskraft gegen die Schwere der Elemente an. Ist die anziehende Kraft die stärkere, so erfolgt entweder Durchdringung beider Elemente, oder blofse Adhäsion, ist sie aber schwächer als die Schwere, so adhärirt nur ein kleiner Theil der beigemischten Materie, das übrige aber sondert sich in der Ruhe nach der Verschiedenheit der Schwere wieder von einander ab, wie dieses bei so vie- len chemischen Verbindungen bemerkt wird. Nur durch anhaltendes Schüt- teln oder Umrühren kann man einem wahren Gemenge, und nur auf kurze Zeit, den Schein einer gleichförmigen Mischung geben. In allen Fällen hin- gegen, wo die Anziehung stärker ist als die Schwere, mufs jederzeit eine in der That in allen Punkten gleichförmige Mischung entstehen, die ich mich nicht entschliefsen kann (mit allen Chemikern), als ein blofses Gemenge zu betrachten. Denn ist die Adhäsion vollständig, so findet sie schon in jedem unendlichkleinen Theile der Verbindung gleichmäfsig statt. Daher besteht diese Verbindung allerdings auch aus zusammengesetzten Elementen, deren Bestandtheile nur ein bestimmtes Verhältnifs haben und leichter zu trennen sind als bei Verbindungen der ersten Art. Man sollte also, meines Erachtens, Auflösungen von Salzen in Was- ser, oder von Harzen in Weingeist u. dgl.m. nicht für blofse mechanische Gemenge halten, sondern richtiger zwei Arten chemischer Mischungen, nehmlich mit wirklicher Durchdringung oder blofser Adhäsion der Elemente unterscheiden. ——H HE EI— Abhandlungen der historisch-philologischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. zanasınnenaanenmanoenoeeren Aus dem Jahre 1828. zasauı m mmanan Berlin. Gedruckt in der Druckerei der Königl. Akademie der Wissenschaften. 1831. Ia Commission bei F. Dümumler. ainleililäe- © i "* 17 . EI TET VOTE olineg- ılysrıolar MENERIeE Nez u s u 4) j ai ve TERIEE TIEREN 13 u .% u are I - u . Syn ann Wr a - euer 53ER eb nu SEES WEBER NGRFTA > : 2 . u 5 u Ä . ® == A Er “ £ ._ £ ü zz . — . \ ., r / .- in h31t: SÜVERN über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos... 2.22 rec ceceeenn- Seite 1 Derselbe: Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidipus auf Kolonos .......... - 33 Böckmüberidie Antigone des’Sophoklesn... u. an. sn - 49 v. RAUMER über die Poetik des Aristoteles, und sein Verhältnils zu den neuern Dramatikerni. race sererelae ne er ee he. - 113 IDELER über Eudoxus (erste Vorlesung) „rau... 20 en Mi errnuese - 189 Ritter Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen durch Form und Zahl. ............ - 213 “ UBDEN über die etruskischen Todten-Kisten (Fortsetzung). .....2-2crceeeenen - 233 Verbesserungen. Seite 55. Zeile 12. lies oz für our”. - 64. zu Ende lies welches statt welche. - 91. Zeile 12. v.u. schreibe: der zweite Vers dem ersten, wenn man ihn logaödisch milst, so analog wird. - 203. - 5. lies Seweyuarwv. - 208. -. 22. lies zaraerzevuv. - 210. - 9.vu. lies uaIyneruv. - Über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. | Von H”"- SÜVERN. ‚ [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. Februar 1828.] \ V.. die Frage über die Zeit der ersten Aufführung des Sophokläischen Oidipus auf Kolonos einmal beschäftigt und wer sich bestimmt darüber öffentlich ausgesprochen hat, der mufs sich wohl zu einer nähern Beleuch- tung der eigenthümlichen Ansicht des Stücks, durch welche Herr Professor Lachmann im Rheinischen Museum Jahrg. 1, Heft 4, S.313 fg. die An- nahme, dasselbe sei im ersten Jahre der sieben und achtzigsten Olympiade zum ersten Male gegeben worden, neu zu begründen versucht, aufgefordert finden. In diesem Falle befinde ich mich nebst Herrn Professor Böckh, welchem ich indefs auch dieses Mal das ihm der Natur der Sache nach zu- kommende Geschäft der Wortführung überlassen haben würde, wenn mir nicht der mir g ben über diesen Gegenstand immer noch im Sinne läge. emachte Vorwurf des blofsen Nachsprechens auf guten Glau- Herr Lachmann geht davon aus, das Drama, von dem Gesichts- puncte des Schicksals des Oidipus betrachtet, ermangele der Einheit. Denn obwohl dies Schicksal der Mittelpunct sei, um den sich Alles drehe, so sei doch Oidipus nicht die Hauptperson, nicht der Held der Tragödie, weder thätig noch leidend. Eben so wenig könne irgend einer der übrigen Cha- raktere dafür gelten, selbst Theseus nicht, der die Begebenheiten leite. Man dürfe daher die tragische Einheit der Handlung nicht in irgend einer einzelnen Person oder ihrem Schicksale, sondern müsse sie in einem hö- hern, allgemeinern, und zwar in einem solchen Verhältnisse suchen, worauf die Beziehung den Hörern jener Zeit nicht habe entgehen können, und die- ses sei.das von Oidipus Besitze abhängige Schicksal Thebe’s und Athens. Histor. philolog. Klasse 1828. A 2 Süvern In diesem liege das die Handlung regierende Prineip, aus welchem sie auch in ihrem ganzen Verlaufe erklärt werden könne. So spiele diese Tragödie nicht etwa, wie andre, auf politische Verhältnisse nur an, sondern sie sei durch und durch politisch. Der Staat von Thebe sei der Held, der durch Oidipus Verstofsung sich Verderben zuziehe, so wie andrerseits Athen durch Oidipus Aufnahme sich Heil bereite. Und der Krieg, in welchem diese Wirkung für Beide eintreten solle, sei der Peloponnesische, der ja auch in der That von den Thebanern ausgegangen sei, da er mit dem Überfälle von Plataiai begonnen habe. Für diesen Krieg zu ermuntern, sei daher des Dichters Absicht und die Bestimmung des Stücks gewesen. Diese aber würde gänzlich verfehlt sein, wäre dasselbe erst gegeben worden, nachdem der Krieg ausgebrochen, nachdem einmal oder öfter die Boioter und Pelo- ponnesier in Attika eingefallen waren, nachdem selbst gleich zu Anfang athenische Reiterei hatte fliehn müssen und sogar einige Gewappnete und Reisige gegen die boiotischen Reiter verloren hatte; wie viel mehr nach sie- ben Jahre hindurch fortgesetzter Verwüstung des Landes! Die erste Auf- führung der Tragödie könne folglich nur kurz vor dem Anfange des Pelo- ponnesischen Krieges Statt gefunden haben, und sei in O1.87, 1 zu setzen, in welchem Jahre Euripides seine Medeia gegeben habe, als dessen Mit- kämpfer die Didaskalie dieses Stücks den Sophokles erwähne. Und die Tragödie, womit dieser gegen Euripides aufgetreten, sei; wahrscheinlich keine andre gewesen, als der Oidipus auf Kolonos! N Man kann nun sehr wohl damit einverstanden sein, wie auch ich es bin, dafs eine bedeutende politische Tendenz im Ganzen dieser Tragödie liegt, ohne derselben jedoch die rein: tragische in gleichem Grade, wie von dem scharfsinnigen und gelehrten Erfinder der vorgetragnen Erklärung) ge- schieht, aufzuopfern.,' Ihrem eigenthümlichen Wesen nach will nehmlich die Tragödie zunächst darstellen, wie die grofsen Krisen, worin.das Leben und Geschick Einzelner mit dem Gesetze und der Ordnung des Weltganzen oder dem Laufe gesellschaftlicher Verhältnisse gerathen. kann, sich zusam- menziehn und lösen. Mit diesen Darstellungen kann sie nun vielfache Be- ziehungen politischer, ethisch-allegorischer, auch naturphilosophisch- und religiös- symboliseher Art vereinigen ‚die ihrem jedesmaligen Stoffe: noch‘ eine besondere mehr oder minder tiefe Bedeutung verleihn, darf aber, ohne ihren eigenthümlichen Kunstzweck aufzugeben, solche Beziehungen, auch über die Absicht und Zeit des Oidıpus auf Kolonos. 3 wenn sie sie in das Ganze ihrer Darstellungen verwebt, nicht dergestalt allein oder vorzugsweise verfolgen, dafs sie von ihnen völlig beherrscht würde, jener dagegen zurückträte oder ganz verschwände. Es läflst sich auch nachweisen, dafs die so gehaltreiche und vielseitige griechische Tragö- die dergleichen Beziehungen, wie voll sie auch davon ist, immer nur in dem Maafse in sich aufgenommen hat, dafs ihre eigenthümliche tragische Ten- denz der Grundfaden geblieben ist, womit jene sich nur verflochten, und dafs sie sich auch ganz abgesehn von diesen verstehn und erklären läfst. So hat man, um nur ein Paar der bedeutendsten Beispiele anzuführen, in dem ge- fesselten Prometheus einen ethisch-allegorischen Sinn erblickt, eine poli- tische Beziehung entdeckt, ja auch naturphilosophische und weltgeschicht- liche Bedeutungen in ihm gefunden; der Beweis ist indefs nicht schwer zu führen und auch geführt worden, dafs er ohne einen der möglichen Neben- zwecke seines Dichters auszuschliefsen, aus einem rein-tragischen Grund- zwecke für sich erklärbar ist. Die Antigone ist von der moralischen Seite als Versinnlichung des Verkehrten und Verdörblichen des Mangels an Be- sonnenheit und der Leidenschaftlichkeit, von der historisch -politischen — ihre Beziehung auf Zeitumstände und Stimmung in Athen ungerechnet — als Darstellung des Conflietes zwischen Staats- und Familienverhältnissen, von der religiösen als Kampf des menschlichen und göttlichen Rechts betrachtet worden, und sie kann in allen diesen Betrachtungsweisen bestehn auf ihrer rein-tragischen Grundlage, welche die Entzweiung der Antigone mit der positiven bürgerlichen, des Kreon mit der allgemein -sittlichen Ordnung der Dinge bildet. Bei den Eumeniden hatte der Tragiker ohne Zweifel einen sehr erheblichen politischen Zweck in Hinsicht auf die innern Ver- hältnisse seiner Vaterstadt, bei der ganzen Oresteia wahrscheinlich mit in Hinsicht auf Argos, vor Augen; aber wie klar, wie vorherrschend und selb- ständig ist demohngeachtet der rein-tragische Zweck, sowohl der ganzen Trilogie, als auch jedes einzelnen dazu gehörigen Stücks, durchgeführt, wie so gar nicht ist ihm um jener politischen Ansichten willen Gewalt angethan worden (!)! Bei diesem Verhältnifs darf eine jede griechische Tragödie (') Der Kürze wegen darf ich mich hier auf dasjenige beziehn, was über das Wesen der griechischen Tragödie, über die oben angeführten und andre Werke derselben, und über die Verschmelzung mehrfacher Tendenzen in ihnen in den Abhandlungen: Uber einige A2 4 SüvErN Anspruch darauf machen, nicht aus einer einzigen der in ihr etwa verschmol- zenen Richtungen und Absichten allein oder vorzugsweise, sondern zuvör- derst aus dem sie alle umschliefsenden Zwecke ihrer Kunstgattung, und nur im Verein mit diesem aus den übrigen in ihr sichtbaren besondern Ideen und Zwecken des Dichters construirt und erklärt zu werden, und selbst Fehler in der Ökonomie eines Stücks, sollten sie gleich aus vorwiegender Berücksichtigung eines besondern Zwecks entsprungen sein, werden noch nicht berechtigen, die Erklärung des Ganzen aus einem rein-tragischen Zwecke völlig aulzugeben, somit den letztern ganz abzuläugnen und den erstern an seine Stelle zn setzen. In Ansehung des Oidipus auf Kolonos insonderheit ist auch nicht die mindeste Nothwendigkeit vorhanden, welche hiezu drängen könnte. Viel- mehr reicht auch der von Herrn Lachmann als der erste und das Drama beherrschend angenommene politische Zweck desselben nicht hin, seine ganze Anlage daraus zu erklären. Denn indem diesem zufolge der Staat von Thebe der sich selbst Verderben bereitende Held der Tragödie sein soll, so verschwindet dieser mit Polyneikes Abtreten ganz aus der Handlung, und es tritt dagegen in dem ganzen letzten Theile derselben von V.1458. an Oidipus Schicksal, die Vorbereitung seines Endes und seiner Entrückung von der Erde als die Hauptsache hervor, auch von Herrn Lachmann als solche anerkannt, wie die Wendung anzeigt, womit er (S.332.) auf diesen Theil übergeht: ‚‚Aber der Chorgesang, den die letzten politischen Scenen (nehmlich die mit Polyneikes) einschliefsen (V. 1211.), soll die Auf- merksamkeit auf Oidipus persönliches Schicksal ablenken!’”’ Wie aber ist es denkbar, dafs ein Meister der dramatischen Kunst drei Theile einer Tragödie über einer politischen Idee sollte erbaut haben, und in dem ganzen vierten, dem wichtigsten, zu welchem alles Vorhergehende sich nur als vorbereitend verhalten kann, auf den rein-tragischen Gegenstand allein sollte abgesprun- gen sein, den man sich doch, von dem politischen Zwecke ausgehend, nur als Mittel für diesen, und für sich bedeutungslosen Träger des ganzen Werks denken müfste? Hätte nicht vielmehr das angenommene Hervortreten des historische und politische Anspielungen ın der alten Tragödie, und: Über den historischen Charakter des Drama (Abhandlungen der Berl. Akad. d. W. aus den Jahren 1824 und 1825) bereits auseinandergesetzt und bemerkt ist. über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 5 persönlichen Schicksals des Oidipus in dem Schlufsacte des Drama darauf leiten sollen, dafs dieses der Grundfaden der ganzen Dichtung sei, dessen Knoten in ihrem früheren Verlaufe sich geschürzt, wie er in ihm sich löse, und dessen Fortspinnen zwar auch andre mit ihm verwebte Fäden sichtbar mache, aber nicht von ihnen geleitet und beherrscht werde’? y Einem unbefangenen Blicke kann es nicht entgehn, wie in diesem Grundfaden das Ganze zusammenhängt. Die Hinführung des Oidipus zu dem vorbestimmten Ziele seines Geschicks, durch alle ihr entgegentretenden Schwierigkeiten hindurch, ist in der That der rein-tragische Inhalt desselben. Schon nahe diesem Ziele, schon an dem Orte, wo er, dem Orakel zufolge, die Sühnung und das Ende seines verhängnifsvollen Lebens erwarten darf, sieht er den Ablauf seines Schicksals durch Hindernisse erschwert, die ihn davon theils abzuwehren, theils zurückzureifsen drohn. Sie erwachsen von den drei Seiten, .von wo sie sich nur erheben konnten, von den Inhabern des Landes, ohne deren Aufnahme und Schutz er neuen Irrsalen und Lei- den Preis gegeben zu werden Gefahr läuft, und von den beiden im Kampfe um Thebe’s Herrschaft begriffenen Theilen, deren jeder, um des an seinen Besitz geknüpften Sieges gewifs zu sein, ihn zu gewinnen sucht. Von Seiten der beiden Letztern wirkt blofs Eigennutz und Herrschsucht, von Seiten der Erstern Scheu vor dem mit Gräuel Beladnen und der Gemeinschaft mit ihm. Diese halten nur ernst zurück, von Jenen bietet der eine Theil erst hinterlistige Überredung, dann gar Gewalt, der andre Bitten und Ver- heifsungen gegen ihn auf. Aber alles ihm Entgegenwirkende verschlingt sich so miteinander, dafs der Widerstand gegen seine Aufnahme, "welcher, als auf inneren und höhern Motiven beruhend, der mifslichste ist, zuerst eintritt, und während die Entscheidung hierüber noch völlig schwankt, schon der erste und stärkste Versuch der anderen Art in Kreons List und Gewalt durch Ismene vorbereitet wird, dann, nach Überwindung jenes Wider- standes, die Personen, auf denen er beruht, der Chor und vornehmlich Theseus selbst, auf Oidipus Seite treten und ihm die übrigen Schwierig- keiten besiegen helfen, und, nachdem nun seine Zulassung entschieden, der letzte Versuch, durch Vorstellung seiner Gräuelthaten sie zu hintertreiben, o den Kreon macht, gescheitert, dessen List vereitelt, seine Gewaltthätigkeit abgetrieben ist, Theseus selbst, hiervon zurückkehrend, schon Polyneikes Nähe verkündigt, in welchem ein neuer Versuch, Oidipus von seinem Ziele 6 SUVvERN abzuziehn, auf ihn eindringt, nach dessen Zurückweisung die Handlung durch kein Hemmnifs mehr unterbrochen, ihrem Ende zueilt. In diesem einfachen Zusammenhange zeigt sich auch das Erscheinen des Polyneikes als Sohnes des Oidipus vollkommen begründet. Ja der Knoten der Handlung würde unvollständig geschürzt sein, wenn er fehlte. Denn wie das Gewicht, das sich von Seiten des Eteokles an Oidipus hängt, in Kreon seinen Vertre- ter hat, eben so mufste auch das entgegengesetzte persönlich wirken, und dafs dies auf eine gezwungene Weise herbeigeführt sei, läfst sich durchaus nicht behaupten. Was sich sonst von tragischer Bedeutung auf diese Per- son häuft, dafs in ihr der, welcher den Oidipus zuerst ins Elend gestofsen (V.1356. 1366.), nun selbst als Verbannter neben Ismene erscheint, selbst ihn wiederzugewinnen sucht, statt dessen aber in des Vaters Fluche seinen gewissen Lohn davon trägt, mag in dieser Verbindung als eine, obwohl an sich nicht unwichtige, Nebenabsicht in Betrachtung kommen. Eben so die Gegensätze, welche sich zwischen Kreon nebst Polyneikes und der um Oidipus sich schliefsenden Gruppe der Antigone und Ismene, deren Ent- führung den hülflosen blinden Greis als ein Bild der tiefsten Verlassenheit darstellt, imgleichen zwischen Kreon und Theseus, so wie zwischen diesen beiden und Oidipus selbst, bilden. Die Wahrnehmung des angedeuteten Zusammenhangs allein ist hinlänglich, einer Kritik zu begegnen, welche nur ‚eine zerstreuende Mannigfaltigkeit in dieser Tragödie finden mögte. Auch über die Stelle, welche Oidipus selbst in der Handlung ein- nimmt, kann, ihm zufolge, kein Zweifel statt haben. Als der die Handlung thätig bestimmende Held derselben zeigt er sich freilich nicht. Aber einen positiven, persönlich kräftig einwirkenden Helden überall in der alten Tra- gödie suchen, würde heifsen, eine sehr moderne Ansicht derselben auf- dringen wollen. Wenn indefs die Hauptperson und der Held einer Tragödie der ist, auf welchen sich alle für und -gegenwirkenden Motive ihrer Hand- lung eoncentriren, so kann man nicht umhin, den Oidipus selbst für die Hauptperson und den, obwohl passiven, Helden des Oidipus auf Kolonos zu erklären. Als solcher konnte er auf die Leitung seines Geschicks nur ne- gativ einwirken. Wenn daher in andern Tragödien der Held selbst es ist, der entweder seinem Verhängnisse muthig entgegengeht, oder eben dadurch, dafs er ihm zu entfliehn sucht, es nur immer mehr fördert und seine Er- füllung herbeizieht, so sind es in unsrer Tragödie vielmehr Andre,’ die über die Absicht und Zeit des Oidipus anf Kolonos. 7 Oidipus Schicksal aufzuhalten suchen und ihm entgegenstreben. Und zwar nicht blofs diejenigen, welche ihn an sich zu ziehn trachten, die Herr Lachmann allein in Betrachtung nimmt, sondern auch die, welche ihn ab- wehren und von sich zurück halten. Ja diese sind die bedeutendsten, und der durch sie wirkende Beweggrund ist bei weiten der kräftigste und wich- tigste, weshalb auch Sophokles den Oidipus einige Male seine Schuldlosig- keit bei den von ihm begangnen Unthaten vertheidigen läfst. Oidipus per- sönlich hat dagegen nichts für sich einzusetzen, als eben diese Vertheidi- gung, Bitten, Berufung auf Athens fromme Menschlichkeit gegen Schutz- suchende, den Anblick seiner Hülflosigkeit und jammervollen Gestalt, und gegen Kreon und Polyneikes standhafte Weigerung. Aber er führt einen festen Schild gegen alle Gewalt, und eine Walfe kräftiger selbst, als alle ihm entgegengekehrte Scheu vor religiöser Befleckung — die Orakel, welche die seinem Leichname nach dem Tode noch inwohnende, denen, die ihn auf- nehmen würden, Rettung und Sieg verleihende, über die, so ihn verstielsen, Unglück und Niederlage bringende Kraft verkündigen. Diese sind es auch bei weiten mehr, als Mitleid und Wohlwollen, in denen nur untergeordnete persönliche Triebfedern wirken, welche die Scheu des Chors der Koloneier vor ihm völlig überwinden (V.462 fg.) und Theseus bestimmen, ihm Auf- nahme und Schutz zu verheifsen (V.634fg.). Ohngeachtet daher Theseus Entschlufs über Oidipus Zulassung oder Zurückweisung, und somit über den Ausgang der Handlung, entscheidet, so kann man doch nicht mit Herrn Lachmann sagen, dafs er es sey, der die Begebenheiten leite, sondern dies thut der Wille der Götter, dem der seinige nur die Erfüllung sichert. Es zeigt sich demnach als das die Handlung positiv bestimmende höhere tra- gische Prineip die göttliche Fügung, oder, wenn man will, das Schicksal, welches der eigentlich thätige Held der meisten griechischen Tragödien ist (!), und man ist durchaus nicht genöthigt, um ein Gröfseres, als die Einzelnen, worauf sich die Fabel des Stücks bezieht, zu entdecken, die rein-tragische Idee aufzugeben, und eine politische an ihre Stelle zu setzen. Jener höhere weltlenkende Wille und der subjective Wille der Einzelnen sind die wahren im Confliet mit einander begriffenen Theile und Glieder der Handlung. In Kreon und Polyneikes wirkt menschliche Leidenschaft dem erstern positiv (‘) Vergl: Über den historischen Charakter des Drama $.92 u. 99. 8 SüvErN entgegen und strebt seine Erfüllung abzuleiten. Den Theseus setzt fromme Menschlichkeit und das den Orakeln gemäfs von der Vollstreckung des Göt- terwillens für Athen zu erwartende Heil mit diesem in Einklang und macht ihn zu dessen äufserem Organe. Antigone und Ismene, durch reine Kindes- liebe an Oidipus gebunden, sind vermittelnde Personen, Jene als die dem blinden Greise persönlich unentbehrliche Hülfe und Führerin, Diese um seine Gemeinschaft nach aufsen, und vornehmlich mit dem ihn so nahe an- gehenden Orakel, zu unterhalten (V.344 fg.), Beide als Mittel des grausam- sten Zwanges, den die Gewalt unternimmt, ihn, der höhern Bestimmung zuwider, sich anzueignen. Oidipus, an welchem diese in Erfüllung gehn soll, und welcher insofern der negative Held des Drama ist, weifs sie frei- lich voraus, weifs aber doch nicht, ob die einwirkenden subjectiven Kräfte und Willen Andrer sie ihn werden erreichen lassen, ob er Aufnahme finden, ob der ihm zugesicherte Schutz sich bethätigen, ob dieser oder die über- müthige Gewalt siegen werde, und diese Ungewifsheit erhält das Interesse der Handlung. Dabei kömmt es darauf an, wie er sich selbst zu dem an ihm zu vollziehenden göttlichen Willen verhalte. Er fördert ihn aber nicht allein inwiefern er nichts thut, was demselben hinderlich sein könnte, sondern auch inwiefern er alles thut, was er vermag, die Gesinnung derer, von welchen seine Vollführung abhängt, zu bestimmen, und dem entgegenwir- kenden widersteht. Und so wird er, nachdem er sich von Anfang an dem Schutze der Himmlischen empfohlen (V.84 fg.), auch angeleitet, zu thun wodurch er sich ihre Gnade und Versöhnung völlig zueignen könne (V.464fg.), und dann von ihnen durch alle Hindernisse hindurch. der verheifsenen Ruhe und Erlösung zugeführt. Nicht er ist es also, der für sich selbst, sondern es ist der höhere an ihm in Erfüllung gehende Wille, der für ihn streitet und ihn an sein Ziel bringt. Nur durch Hingebung an dessen Kraft ist er selbst stark und gelangt zur Entsündigung und Versöhnung; war und erlag im König Oidipus, so lange er verblendet und mit kecker trotzender Persönlichkeit jener zu entfliehn suchte. Und so bezwecken beide wogegen er schwach Tragödien in ihrem, vom Dichter gewifs nicht absichtlos gebildeten, Gegen- satze die Verherrlichung der ewigen, den gesammten Weltlauf und in ihm auch die Geschicke der Einzelnen lenkenden und tragenden Macht, und pre- digen die grofse Lehre aller Tragödie von der nur im Einklang mit ihr be- ruhenden Stärke und Wohlfarth menschlicher Angelegenheiten, so wie über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 9 andrerseits von der Schwäche und Vernichtung aller mit ihr entzweieten und in Verblendung oder Trotz ihr entgegenstrebenden Willkühr. Die nunmehr hinlänglich nachgewiesene tragische Selbstständigkeit und Bedeutsamkeit des Oidipus auf Kolonos schliefst aber eine vom Dich- ter beabsichtigte politische Tendenz und Bedeutung desselben im Ganzen keineswegs aus. Vielmehr laufen beide Richtungen mit einander zusammen, und die letztere ist nicht minder durchgeführt, auch durch den letzten Theil des Drama, als die erstere. Sie giebt sich bald nach dem Anfange zu er- kennen in dem Orakel, dessen der einsam zu den Eumeniden betende Oidi- pus V. 92 fg. gedenkt, er werde Gewinn denen, die ihn aufnehmen würden, Unheil denen, die ihn verbannt hatten, stiften. Von nun an treten alle die Schwierigkeiten, welche sich seiner Aufnahme auf dem Kolonos und in dem Hain der Eumeniden, und somit der Erreichung seines persönlichen Ziels, entgegenstellen, der Erfüllung des Orakels auch in seiner politischen Be- ziehung entgegen. Mittelst dieser sucht Oidipus, zuerst in einem noch sehr undeutlichen und allgemeinen Winke, den er nach vielen andern Vorstellun- gen zuletzt V.285. hingiebt, den Chor der Koloneier zu bewegen, ihn nicht zu verstofsen, indem er demselben zu verstehn giebt, sein, obwohl schmäh- lich anzuschauendes, Haupt sei nicht gering zu schätzen und er bringe See- gen den Bürgern Athens. Weiter entwickelt sie sich in Hinsicht auf die Thebaner durch das von der Ismene überbrachte Orakel V.387 fg., diese würden, ihrer Wohlfahrt wegen, ihn. lebend oder todt noch zu gewinnen suchen, weil auf seinem Besitze ihre Macht beruhe, sein Grab, von Un- glück betroffen, den Kadmeiern dereinst noch verderblich sein, und ihnen, wenn sie über ihm ständen, durch Oidipus Zorn Unheil bringen werde. In dieser Stelle ist ö ruußos durruy@v V.402. allerdings nach Orakelart sehr unbestimmt gesagt, erklärt sich aber durch das V.408-421. folgende. Die Thebaner meinen, das ihnen geweissagte Verderben von sich abzuwenden, wenn sie sich nur des Oidipus bemächtigen, um ihn in ihres Landes Nähe, aber, der an ihm klebenden Blutschuld wegen, nicht in dessen Grenzen, dereinst zu beerdigen und sein Grab vor Schaden zu bewahren. Aber eben dadurch vereiteln sie selbst ihren Zweck. Denn um den Preis, lebend und im Tode noch aus dem Vaterlande verbannt zu bleiben, will Oidipus sich ihnen nicht hingeben. So bleiben sie, die ihn ausstiefsen, seine ärgsten Feinde (V.460. 646.), und ein gröfseres Unglück kann sein Grab dermal- Histor. philolog. Klasse 1828. B 10 SüvERN einst nicht treffen, als wenn es von diesen betreten wird (V.411, wo Her- manns Erklärung die richtige ist). Dann erwacht sein Zorn, stöfst sie zu- rück und besiegt und verdirbt also seine Feinde. Dabei mufs man sich aber die für das Ganze wichtige und bisher unbeachtet gebliebene Voraussetzung denken, dafs die Thebaner die Stelle, wo Oidipus ruht, ohne zu wissen dafs sie sein Grab sei, betreten, an seiner unsichtbaren Macht scheitern und dadurch erst seine Ruhestätte kennen lernen sollen. Darum eben verpflich- tet Oidipus den Theseus so streng zu ihrer Geheimhaltung (V.1522 fg.), da- mit diese verhängnifsvolle Stelle sowohl von den Atheniensern selbst nicht freventlich entweiht und ihrer Kraft beraubt, als auch durch ihren Leicht- sinn den Thebanern nicht bekannt und mit der von ihr ausgehenden Wir- kung von diesen nicht vermieden werden möge. Dies Orakel trifft mit dem dem Oidipus selbst zu Theil gewordnen frühern nicht nur zusammen, son- dern klärt es auch näher auf, und verleiht ihm selbst gröfsre Gewifsheit, so dafs er nun den Personen des Chors (V.457 fg.) versprechen kann, sie wür- den, wenn sie und die hehren Göttinnen des Orts durch Aufnahme und Schutz ihm beiständen, an ihm einen Retter gewinnen und seinen Feinden grofse Noth bereiten. Auf den Fortschritt der Handlung wirkt dies bedeu- tend, indem der Chor, durch die nun erlangte Kunde von der Hülfe, die Oidipus künftig nach seinem Tode noch Athen leisten werde (V.463 fg.) bewogen, ihm angiebt, was er zu thun habe, um die Eumeniden zu sühnen und sich ihres Schutzes, damit auch des Beistandes des Chors, völlig zu ver- sichern. Ganz vollständig und deutlich spricht aber Oidipus die Schicksals- bestimmung, dafs dereinst, bei ausgebrochnem Kriege zwischen Athen und den Thebanern, die Macht der letztern über seinem Grabe (V. 621, wo iva in Vergleich mit V.611. durchaus nur in lokalem Sinne mit Hermann ge- nommen werden kann, wie V. 1545.) zerschellen werde, erst gegen den aus, von welchem die Entscheidung über die nächste Bedingung ihrer Erfüllung, nehmlich über Oidipus Aufnahme und Beschirmung, abhängt (V.602 fg.), gegen Theseus, und so wie er selbst durch die von der Ismene ihm über- brachte Kundschaft über die wahren Absichten des Kreon mit ihm im standhaften Widerstande gegen diesen befestigt wird (V.783 fg.), so giebt Theseus nun, um des in Oidipus ihm anvertraueten grofsen Unterpfandes zum dereinstigen Siege seiner Vaterstadt über Thebe nicht wieder verlustig zu gehn, dem ihm verheifsenen Schutze Kraft und verdient selbst sich und über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 11 seinem Lande dadurch den auf Jenem ruhenden Seegen (V.1124 fg.). Nach- dem nun auch Polyneikes Versuch, den Oidipus von Athen abwendig zu machen, gescheitert ist, sind alle sowohl der diesen persönlich betreffen- den als auch der politischen Tendenz der Orakel entgegengetretnen Schwie- rigkeiten und Hindernisse besiegt, und die Götter beeilen gleich in Hinsicht auf jene erstern die Erfüllung (V. 1456 fg.). Aber es kommt noch auf Eins an, diese auch in Hinsicht auf die letztern für die Zukunft zu sichern (V. 1489 fg.), und um dies dem Theseus zu eröffnen, sehnt Oidipus sich so sehr nach des- sen Ankunft. Es ist das über die Stelle, wo sein Leichnam ruhn wird, un- verbrüchlich zu bewahrende Geheimnifs. Nachdem er dieses dem Theseus aufs dringendste anempfohlen, weil davon es abhange, dafs die Stadt Athen nicht von den Thebanern verheert werde (V.1530.), säumt auch der Aus- gang nicht, und in Oidipus Körper wird der attischen Erde der Talismann anvertraut, dem Athen noch einmal Rettung und Sieg über Thebe verdan- ken soll. Die Bedingung, wovon dies abhängt, wird noch am Schlusse (V.1760 fg. 1775 fg.) von 'Theseus verbürgt und besiegelt. Es ist sonach klar, dafs die Handlung in ihrer rein-tragischen und in ihrer politischen Richtung einen und denselben Knoten und eine und dieselbe Lösung hat, dafs nicht etwa die eine Richtung durch zwei Drittel des Stücks fortgeht und dann die andre allein vortritt, sondern dafs beide bis ans Ende zusammen- laufen, indem dasselbe Ereignifs, welches Oidipus Geschick dem Orakel gemäfs vollendet, die Gewährleistung für die jenseits des Drama liegende Erfüllung auch des politischen Inhalts der Orakel giebt, und dafs also die Handlung eine weit gröfsere Einheit hat, als einleuchten kann, wenn über dem politischen Zwecke des Dichters sein rein-tragischer übersehn wird. Oidipus Freunde, die ihm helfen und beistehn, die Athenienser, fördern auch die Bestimmung der Götter und sollen einst dessen geniefsen, Oidipus Widersacher, die ihn verbannten und nun in hinterlistiger Absicht ihn wie- derzugewinnen suchen, die Thebaner, streben auch der Vollendung des Götterwillens entgegen und werden einst dafür büfsen, und so wird die göttliche Macht noch mehr, als schon durch Oidipus versöhnendes Ende, in der Folge noch an seiner Gruft verherrlicht werden. Dafs von den gröfsern Chorgesängen der Parodos V.667 fg. den De- mos des Sophokles, den Kolonos, und das Land Attika überhaupt preiset, das erste Stasimon V.1044 fg. bei dem zwischen Kreon und dem ihm nach- B2 112 SüvVvERN setzenden Theseus indessen vorgehenden Kampfe verweilt und Siegswünsche für Athen überhaupt daran knüpft, das zweite erst V.1211 fg. durch Oi- dipus Geschick zu allgemeinen tragischen Betrachtungen über das mensch- liche Leben erhoben wird, und dann die folgenden Gesänge ganz allein auf das unter so bedeutenden furchtbaren Zeichen herannahende Ende des Grei- ses gerichtet sind, kann eine Unterordnuug des tragischen Zweckes unter den politischen nicht beweisen, da in dieser Hinsicht alles auf die Handlung, und nicht auf die Chorgesänge, ankommt. Aber’auch unter diesen ist ein gewisses Gleichgewicht schon aus dem Inhalte sichtbar, und noch mehr aus ihrer Folge, indem durch die Stellung der Gesänge von mehr tragischem Charakter in die ganze zweite Hälfte des Drama das Aufgehn des tragischen Eindrucks in den politischen verhütet ist. Was ist nun aber der politische Zweck der Dichtung? Wenn man bedenkt, dafs es sich in dem ganzen Drama um die nächste wie um die zu- künftige Erfüllung des Orakels V. 87 fg. handelt, und dafs die Athenienser es sind, welche ihm zufolge einst Gewinn davon haben sollen, dafs sie Oidi- pus aufnehmen, und die Thebaner, welche Unglück treffen soll, weil sie ihn verstiefsen, so kann man nicht anders sagen, als dieser Zweck beziehe sich auf das Verhältnifs von Athen und Thebe zu einander. Es wird den Atheniensern im Oidipus auf Kolonos die, wenn auch von Pausanias (1,28, 7und 30,4.) bezweifelte, doch von Sophokles gewifs nicht erfundne, son- dern, allen Sprüchen, auch dem bei den Scholiasten zu V.457. erwähnten Orakel, zufolge, aus alter Sage geschöpfte (!) Begebenheit vorgestellt, durch welche ihr Land in grauer Vorzeit an einer mit dichtem Geheimnifs bedeck- ten Stätte ein geheiligtes Unterpfand empfing, das ihre Stadt vor Verhee- rung der Thebaner dermaleinst sicher stellen soll, indem es Diesen eine Nie- derlage an eben jener Stätte zuwege bringen wird. Dies deutet die Absicht an, das Volk zu beruhigen und zu ermuthigen gegen Besorgnisse von Ge- fahren, womit Athen von Seiten der Thebaner bedroht wurde. Hierüber hinausgehn und die Absicht des Dichters auf alle im Peloponnesischen Kriege wider Athen Verbündete und diesen Krieg selbst, mit Herrn Lachmann, ausdehnen, heifst etwas in das Drama hinein tragen, das nicht in ihm liegt. Wollte Sophokles durch dasselbe seinen Mitbürgern für den bevorstehenden (') Vergl. Welcker im Prometheus S. 368 fg. über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 13 Peloponnesischen Krieg überhaupt Muth einflöfsen, so mufste er nothwen- dig entweder diejenigen, welche die Hauptmacht und den Mittelpunct ihrer Gegner in demselben bildeten, nicht diejenigen, welche zwar nieht unbedeu- tend, aber doch nur Bundesgenossen Jener und Mithandelnde darin waren, nicht also die Thebaner, sondern die Spartaner, Athen gegenüberstellen — um von Herrn Lachmann’s Ansicht über die Construction dieser Tragödie aus zu reden, mufste er Sparta zu dem Helden wählen, der sich selbst Ver- derben bereitete — oder die Thebaner als Hauptmacht und Repräsentanten des Peloponnesischen Bundes motiviren. Allein weder das Eine noch das Andre ist von ihm geschehn, und das Letztere konnte er sich um so weni- ger erlauben, als es ganz unhistorisch und allen Verhältnissen zuwider ge- wesen sein würde. Die Aufzählung der sechs mit Polyneikes verbündeten Fürsten der yAs ’Arias (V.1301 fg.) kann man nicht als eine Beziehung auf den Peloponnesischen Bund gegen Athen nehmen, da hier von einem Zuge derselben gegen Thebe, nicht gegen Athen, die Rede ist, an dessen Spitze Argos, nicht Sparta, steht. Noch eine andre Stelle, nehmlich V. 1534: Ai Ö8 Mugics mereıs, Kav eu rıs olxy, dadıwns naSußgırav etc. ist von Herrn Professor Reisig('), und, wie es scheint auch von Herrn Lachmann (p. 331 unten) auf die Genossen des Peloponnesischen Bundes bezogen worden. Allein mit Unrecht! denn wenn gleich der Artikel verbietet, «ai ug Forcıs mit Elmsley durch pleraeque civitates zu geben, so nöthigt er doch andrerseits nicht, an einen Gegensatz gewisser bestimmter andrer Städte gegen Athen bei den Wor- ten zu denken, sondern das den rorer1 gegenüberstehende, worauf de hinweiset, kann nur der Einzelne, Theseus selbst (aörss V.1595.), und dann der r9°P89- raros uöovos (V.1596.) sein, der immerfort das Geheimnils des Orts, wo Oidipus ruht, bewahren soll, und es steht hier rcreıs in demselben Sinne des städti- schen Gemeinwesens, und mit demselben Gegensatze eines einzelnen Macht- habers wie Antig. 737: Tlorıs yap oüx €rS° Arıs üvdpes ErS° &vos. Danach mufs man ai de mug vorsıs ganz allgemein von den unzähligen Städten der Welt, Athen, auf welches vornehmlich zav ed rıs oixy geht, mit eingeschlossen, ver- stehn, und den ganzen Satz mit Hermann als eine, die Nothwendigkeit der heiligen Bewahrung des dem Theseus anzuvertrauenden Geheimnisses (') Enarratio Oed. Colon. p.IX, wo er sagt: Recte autem wg mersıs dieuntur qui- bus vis hostium conflata erat. cf. Thucyd.1l, 9. 14 SUVERN immer bei dem einzelnen Vornehmsten der Stadt begründende Bemerkung fassen. Der Stadt im Ganzen es zu offenbaren, will Oidipus sagen, ist ge- fährlich, weil es leicht geschieht, dafs auch wohl verfafste und verwaltete Ge- meinwesen aus Leichtsinn und Übermuth am Göttlichen freveln und dadurch in Schaden gerathen, indem es zwar spät, doch gewifs, von den Göttern ge- ahndet wird, wenn eine, in Raserei verfallen, des Göttlichen nicht achtete. Ob damit Sophokles noch besonders auf die im Fortgange des Peloponnesischen Kriegs durch dessen Drangsale, durch das in ihm getriebene Spiel mit Orakeln und Prophezeihungen, und durch die überhandnehmende Sophistik erzeugte irreligiöse Simmung anspielt, um davor zu warnen, lasse ich dahin gestellt sein. Bemerkenswerth in dieser Hinsicht ist indefs auch die mehrmalige (V.761 fg. 782. 794 fg. 806 fg. 1000 fg.) Bezeichnung der Reden des Kreon nach dem Charakter sophistischer Beredsamkeit, womit leicht ein Angriff auch auf diese beabsichtigt sein könnte. Auf die angegebene Weise gefafst steht aber der ganze Spruch von ai ö& num wereıs bis rgary so wohl mit V.1533., als auch mit der Schlufsermahnung an Theseus V. 1538. in gehörigem klaren Zusammenhange, welcher durch eine abspringende Anspielung des- selben auf die Peloponnesier nur würde zerrissen werden. Wenn nun aber in dem Stücke selbst und seiner Handlung nichts liegt, woraus seine Bezie- hung auf den Peloponnesischen Krieg überhaupt gefolgert werden könnte — worauf denn doch, und nicht auf aufser dem Drama liegende Umstände al- lein, alles hiebei ankommt — so karn die Thatsache, dafs der Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs durch den Thebanischen Überfall von Plataiai ver- anlafst wurde, eben so wenig, als die Bedeutung der Thebaner im Pelopon- nesischen Bunde, dazu berechtigen, diese als Repräsentanten jenes Bundes in unsrer Tragödie zu betrachten, und daraus einen auf den ganzen Pelo- ponnesischen Krieg gerichteten Zweck ihres Dichters abzuleiten. Ja noch weit weniger! da Plataiai von Athen zu entfernt lag, als dafs sich an dessen Überfall irgend eine Besorgnifs für Attika selbst von Seiten der Thebaner hätte knüpfen lassen, und die Athenienser Plataiai auch nach dem Überfalle zu sehr sich selbst überliefsen (Z’huc. UI, 20.), um nicht dadurch selbst zu erkennen zu geben, dafs sie nicht von dieser Seite her die Hauptgefahr des gesammten Peloponnesischen Kriegs bei seinem Ausbruche befürchteten. Es ist also durchaus kein Grund vorhanden, die politische Tendenz dieser Tragödie auf die Ermuthigung der Athenienser für den Peloponne- über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 15 sischen Krieg überhaupt kurz vor dem Anfange desselben auszudehnen. Fol- gerichtig kann sie vielmehr nur auf die Thebaner allein bezogen werden. Ausdrücklich weisen die Hauptstellen, V. 605-623. auf die Niederlage, welche diese in Attika über Oidipus Grabesstätte einst treffen solle, und V. 1534. auf Sicherheit Athens vor Verwüstung durch dieselben bei sorgfäl- tiger Bewahrung des Geheimnisses jener Stätte, nicht auf eine Niederlage der Peloponnesier überhaupt und Sicherheit der Stadt vor ihnen, hin. Nicht die Peloponnesischen Verbündeten im Allgemeinen, sondern nur die The- baner allein können es demnach sein, gegen welche Sophokles die Athenien- ser durch den Oidipus auf Kolonos hat beruhigen wollen. Dieser Absicht zufolge kann weiter nur die Frage sein, ob es denn innerhalb des Zeitraumes, in welchen die erste Aufführung der Tragödien des Sophokles fällt, einen Moment giebt, wo ein solches Verhältnifs zwischen Athen und Thebe eingetreten war, dafs eine Beruhigung über dasselbe für die Athenienser dem Dichter nöthig scheinen und gut angebracht sein konnte? Ein Moment dieser Art war aber allerdings eingetreten, als die Athenienser durch die Fortschritte des Spartanischen Feldherrn Brasidas an der Thra- kischen Grenze und durch die gegen die Boioter erlittenen Niederlagen bei Oropos und im Delion nicht nur im Allgemeinen, sondern auch ganz vor- züglich gegen die Boioter, an politischer Geltung und Ansehn verloren hatten, und der Letzteren Übermuth gegen sie dergestalt gewachsen war, dafs sie allein ihnen Trotz boten (!). Von besonderer Erheblichkeit scheint mir hier die von ihnen ausgeführte Wegnahme der atheniensischen Grenz - und Bergveste Panakton zu sein. Diese, an den Engpässen des Kithairon gelegen, deckte den Atheniensern den Eingang in Boiotien und konnte Ein- fälle der Boioter abwehren, im Besitz der Boioter hingegen öffnete sie die- sen den Zug durch die Defileen des Gebirgs zu Einfällen in Attika. Wie bedeutend dieselbe beiden Theilen sein mufste, sieht man aus dem Gewicht, welches die Lakedaimonier bei den Verhandlungen über die Vollziehung des Friedens des Nikias darauf legten, indem sie gegen Panakton das den Atheniensern so wichtige Pylos zurückzuerhalten beabsichtigten, ferner (') Ich verweise hierüber auf die schon in Böckh’s prooemio zu dem Lectivnskatalog der Berliner Universität für das Sommersemester 1826, p.9. angeführten Stellen und auf meine akademische Abhandlung über Aristophanes Vögel p. 49 fg. 16 SüvErRN aus den Schwierigkeiten, welche die Boioter wegen Zurückgabe dieser Berg- veste machten, aus dem Umstande, dafs sie dieselbe erst schleiften, bevor sie sie den Spartanern zur Zurückstellung an die Athenienser überlieferten ('), und aus dem Unwillen, den dies bei den letztern erregte, welche deshalb den Frieden des Nikias für unvollständig von den Spartanern vollzogen er- klärten. So lange die Boioter dieselbe inne hatten und behaupteten, legten sie feindselige Absichten auf Attika an den Tag, und in Athen hatte man allen Grund, ihre Behauptung als eine gegen dies Land gerichtete Drohung zu betrachten. Während der Zeit, wo dies Verhältnifs obwaltete und zwischen den Atheniensern und Peloponnesiern Friede war, konnte also wohl an einen Einfall der Boioter allein, und der Thebaner an ihrer Spitze, in At- tika gedacht werden und Besorgnifs davor die Gemüther in Athen erfüllen. Aufser diesem Zeitpuncte giebt es auch keinen, in welchen sich die Äufse- rung des jüngern Perikles bei Xenophon (Mem. II, 5, 4.) ‚die Boioter, welche vorher nicht ohne die Lakedaimonier und die andern Peloponnesier sich gegen die Athenienser zu stellen gewagt hätten, drohten jetzt, für sich allein in Attika einzufallen, und die Athenienser, welche vordem, als die Boioter allein waren, Boiotien verwüstet hätten, fürchteten, die Boioter möchten Attika verheeren,’’ nur mit einiger Wahrscheinlichkeit denken liefse. Denn vor demselben fehlte es einer solchen Äufserung an aller Veranlassung, und nicht lange nach ihm, nach der Bevestigung von Dekeleia, war der Grund dazu weggefallen, und die wirkliche Gefahr eingetreten, aber nicht von Seiten der Boioter allein, sondern der Lakedaimonier und ihres gesamm- ten Bundes, denen ganz Attika Preis gegeben war, und so blieb es bis ans Ende des Peloponnesischen Kriegs, welches Perikles bekanntlich nicht er- lebte, da er sich unter den nach der Schlacht bei den Arginusen hingerich- teten Strategen befand. Und aufser diesem Zeitpuncte giebt es ebenfalls keinen, in welchem eine öffentliche Beruhigung des Volks vor solcher Be- sorgnils, von welcher zu Anfang des Peloponnesischen Kriegs so wenig histo- rische Spuren sich zeigen, als Ursache dazu vorhanden war, mittelst einer Tragödie durch die Umstände herbeigeführt und passend angebracht scheinen könnte. In einen andern Zeitpunct, als in diesen, welcher in das dritte bis (’) In der Abhandlung über Aristophanes Vögel S.49, not.5. steht durch einen Druck- fehler Thuc. V, 40. statt 42, S. übrigens auch Plutarch. Alcib.14. über die dbsicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 17 vierte Jahr der 89. Olympiade fällt, kann man daher auch die erste Auffüh- rung des Oidipus auf Kolonos folgerichtig nicht setzen. Hiegegen ist nun zuerst eingewandt worden, die den Atheniensern in dem Drama gegebenen Versicherungen würden zu spät gekommen und bei- nah lächerlich gewesen sein nach ihren in Boiotien erlittenen Niederlagen ('). Allein dieser Einwand trifft nicht, eines Theils weil in den Stellen, welche die Niederlage der Thebaner vorherverkündigen (V.605 und 623.), so wenig von einer Besiegung derselben durch die Athenienser aufser den Grenzen von Attika die Rede ist, dafs vielmehr Diese durch die Verheifsung, das Glück der Thebaner werde, wenn sie schon weit innerhalb derselben vor- gerückt, schon in die Nähe der Stadt gelangt wären (*), über Oidipus Grabe scheitern, beruhigt werden, und andern Theils weil gerade die Nieder- lagen der Athenienser bei Oropos und im Delion die Boioter ihnen furcht- bar gemacht und Besorgnisse erregt hatten, welche das, am klarsten V. 1534. ausgedrückte, beruhigende Gegengewicht erheischen konnten. Gerade nach diesen Unglücksfällen waren also die ihnen gegebnen Zusicherungen recht an ihrer Stelle. Bedeutender ist der auch von Herrn Lachmann geltend gemachte Einwurf, dafs nach ein- oder mehrmaligen Einfällen der Boioter und Pelo- ponnesier in Attika, und einem bei dem ersten derselben ausdrücklich er- wähnten Siege boiotischer Reiterei über attische, die den Atheniensern Sieg verheifsende Weissagung der Tragödie, anstatt zu ermuthigen, nur nieder- schlagend hätte wirken können, ja in der Bekräftigung, welche Sophokles ihr giebt, gotteslästerlich scheinen müssen, und deshalb das Drama vor jenen Unglücksfällen zu setzen sei, nach diesen aber die in ihm gegebnen Siegshoffnungen ausdrückliche Vorstellung jener ersten Verluste als höchst unbedeutend erfordert haben würden. Wo aber in dem ganzen Stücke ist von uneingeschränkten Siegshoffnungen, die den Atheniensern gemacht wür- den, irgend die Rede? Es wird Gewinn (rEgdn) denen, die Oidipus aufneh- men würden (V.92.), dann Vortheil (evasıs) den Bürgern von Athen (V. 2838.) verheifsen; in Oidipus werden sie, wie er selbst sagt (V.460. vergl. V. 463.) (') Reisig praef. ad Oed. Colon. p. Vl. (*) Der Kolonos war zehn Stadien von Athen entfernt. Thucyd. VII, 67. Hıstor. philolog. Klasse 1828. C 18 SüvVvERN ihren Retter (rurag«) aufnehmen, dessen Zorn (V. 411.) noch einmal an sei- ner Grabesstätte, unter der-Bedingung dafs diese in dichtes Geheimnifs ver. hüllt bleibe, Verderben über seine und ihre Feinde, die Thebaner, bringen (V. 621.) und so die Stadt vor Verheerung von diesen schützen (V. 1534.) werde. Hier mufs ich ausdrücklich erklären was ich schon bei andrer Ge- legenheit (!) angedeutet habe, dafs in der zuletzt angeführten Stelle: SUR NG ’ ’ ’ ’ Xourws dönov TrvÖ” Evornreıs moAıy m > 3 en 7 orapruv am avdgw, so viel ich sehe, rorw nur von der Stadt Athen selbst, und nicht von dem ganzen attischen Gebiete, verstanden werden kann. Denn die Niederlage soli die Thebaner treffen über dem Grabe des Oidipus auf dem Kolonos, in der Nähe der Stadt. Waren sie bis dahin vorgedrungen, so mufsten sie schon eine ansehnliche Strecke von Attika durchzogen sein, und gewils nicht ohne Verheerung des Landes. Allgemeine Sicherheit desselben vor Verheerung durch die Thebaner konnte daher selbst in dem bestimmten künftigen Falle, auf den sich alles bezieht, nicht versprochen werden, wohl aber Rettung der Stadt. Und was die Thebaner, wenn es ihnen über die Athenienserglückte, dieser zugedacht, auch gedroht haben mochten, siehtman aus dem Antrage auf ihre Zerstörung, den sie nebst den Korinthiern bei den Verhandlungen in Sparta über das Schicksal des um Friede bittenden Athen machten (Xenoph. Hellen.11, 2, 15.).. Dazu kommt, dafs meine Erklärung mit dem von dem Scholiasten zu V.457. angeführten Orakel, wonach Oi- dipus Grab die Athenienser, wenn sie es in ihre Gewalt bekämen, einst retten würde bei einer Belagerung durch die Thebaner, zusammenstimmt. Sophokles scheint also auch dies Orakel nicht blofs gekannt, sondern ganz eigentlich Rücksicht darauf genommen zu haben. Der obigen Erklärung könnte zwar entgegengestellt werden V. 1760 fg., wo 'Theseus den ihn bit- tenden Töchtern des Oidipus, er möchte sie zu dem Grabe ihres Vaters füh- ren, dies versagt, weil dieser ihm verboten, dafs irgend jemand jenen Or- ten sich nahe, oder einen Laut hören lasse in der Nähe der heiligen Gruft, und dann fortfährt: (‘) Über einige historische und politische Anspielungen 8.7. über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 19 Kai raura w Eon mEaTFoVTa Hardy Aupav egeı aitv arumeov. Hier ist nun von Unverschrtheit des Landes, nicht der Stadt blofs, die Rede. Allein offenbar gründet sich diese Stelle auf die vorige V.1522- 1538., und man mufs wohl unterscheiden, dafs die letztere das Verbot des Oidipus selbst enthält, welches seine Töchter nicht gehört hatten (!), son- dern Theseus allein, an der erstern hingegen Theseus daraus ableitet, was er den Töchtern eröffnet. Wie er in V. 1760-1763. den Auftrag des Oidipus V.1522 und 1523. auf den ihm jetzt vorkommenden nächsten und dringend- sten Fall anwendet und ihn erweitert ausdrückt, so erweitert er auch V. 1764 und 1765. den von Oidipus selbst V. 1524 und 1525. angegebnen Beweg- grund dafür. Ja er verallgemeinert ihn so sehr, dafs er von beständiger und allgemeiner Unversehrtheit des Landes spricht, was auch bei der Erklärung des Herrn Lachmann durchaus nicht buchstäblich genommen g seines Geheimnisses 8 das Land ja weder vor Seuchen und andern Landplagen, noch vor Ver- werden kann, da Oidipus Grab und die Bewahrun heerung in den Perserkriegen geschützt hatte. Als des Dichters Zweck bei dieser Erweiterung und Verallgemeinerung leuchtet der Eindruck, den sie, zumal an den Schlufs des Drama gestellt, und durch Theseus aus- gesprochen, hervorbringen mufste, da vor einer wirklichen Einnahme der Stadt durch die Thebaner schwerlich grofse Furcht vorhanden war, von selbst ein. In Ansehung des den Atheniensern eigentlich Verbürg- ten bleiben aber Oidipus Worte selbst die authentische Quelle, woran man sich zu halten hat, und es läfst sich nicht behaupten, dafs Sophokles durch dessen nachherige Verallgemeinerung sich einer Täuschung schuldig gemacht habe, da das Wesentliche in Oidipus Zusicherungen, ‘worauf Alles ankommt, das Verderben der Thebaner, ohngeachtet sie schon weit möch- ten vorgeschritten sein, stehn bleibt, woraus denn die Rettung der Stadt von selbst folgte. Aufserdem ist nun noch in Anschlag zu bringen die Bedingung, woran die Unversehrtheit und Rettung der Stadt geknüpft ist, nehmlich das unverbrüchliche Geheimnifs der Stelle, wo den Oidipus die Erde aufgenom- (') Dies geht hervor aus V.1529., ferner daraus, dafs V.1542. Oidipus seine bei Seite getretnen Töchter herbeiruft, und dafs diese V.1757. noch den Theseus bitten können, ihnen das Grab ilıres Vaters zu zeigen. C2 20 SUVERN men und wo er ruht, und der oben angegebne Zweck dieser zu einem üreöönrev des Staats gemachten Bedingung. Die Thebaner sollen dermaleinst, wenn sie Attika mit Krieg überziehn und schon die Stadt selbst bedrohn, unwissend die ihnen unbekannte Grabesstätte des Oidipus betreten und dadurch den dAarrup ihres unversöhnlichen Feindes, den sie verstiefsen, und dem ihre Nähe nun ein Gräuel ist, aufreizen, dessen Zorn dann über sie einbrechen und, den Atheniensern beistehend, Jenen Verderben, der Stadt Rettung bringen wird. Dem widerspricht es nun gar nicht, dafs sie vorher, nicht einen Streifzug, sondern viele, und nicht blofs ohne Unglück und Niederlage zu erfahren, sondern selbst mit Glück, in Attika schon unternommen und ausgeführt haben. Noch haben sie dabei jene verhängnifsvolle, ihnen verborgne Stelle nicht berührt, und so konnte das ihnen vorherbestimmte, an diese gebannte, Unheil nicht über sie kommen. Aber es wird geschehn! Ihr Geschick wird sie über Oidipus Grab führen, welcher dann Rache an ihnen nehmen, seinen Leichnam mit ihrem frisch-vergofsnen heifsen Blute tränken, sie verderben und Athen retten wird. In dieser Verheilsung und ihrer Bekräftigung liegt daher, nach den vorhergegangnen Unglücksfällen, so wenig etwas Gottes- lästerliches, da sie sich noch keineswegs unerfüllt gezeigt hatte, als sie nie- derschlagend wirken mufste, da sie nicht allgemein, sondern nur für einen bestimmten, noch nicht eingetretnen, Fall gegeben ist, der den Athenien- sern jetzt in die Aussicht gestellt wird. Gerade je mehr und gröfsere Un- glücksfälle vorhergegangen waren, und je höher die Besorgnifs vor den The- banern in Athen gestiegen war, desto mehr mufste die vorgestellte, Sieg und Rettung verbürgende, Begebenheit wieder beruhigen und erheben, und die Gemüther konnten in der Zeit, worin wir diese Vorstellung setzen, bei deren bedeutendsten Momenten wohl durch so frohen Beifallsruf sich Luft machen, als zu Anfang des Peloponnesischen Kriegs möglich war. Einer Verkleinerung der frühern unglücklichen Ereignisse bedurfte es dazu nicht. Dennoch hat Sophokles auch diese nicht unberücksichtigt gelassen. Die Erwähnung des dem attischen Lande eignen heiligen Baumes, den nicht Asia, nicht der Peloponnes erzeuge, der Scheu feindlicher Speere, den nicht der jugendliche, nicht der bejahrte Feldherr vertilgen werde (V.685.), spielt, nach schon alten Erklärungen, auf den ersten Einfall der Pelopon- nesier und Boioter und, nach Hrn. Reisig’s feiner Bemerkung, auch auf.den des Xerxes in Attika in prophetischer Fassung, ‚als nehmlich in Theseus über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 21 Zeit gesprochen, an, und konnte, so gefafst, nur dem Zwecke des Dich- ters, durch den Gedanken an die schon bei frühern feindlichen Einbrüchen bewiesene unvertilgbare Kraft des Landes zu begeistern, und Muth auch für den noch befürchteten zu erregen, günstig wirken. Wer den Oidipus auf Kolonos in O1. 87, 1. setzt, mufs die von Alters her anerkannte, in yrog onmavwv liegende Anspielung auf Archidamos ganz unerklärt lassen, wie denn auch Herr Lachmann sie übergangen hat. Ein andrer Einwand gegen die um Ol. 89, 3-4 angenommene Auf- führung dieser Tragödie stützt sich auf das freundschaftliche Verhältnifs zwischen Athen und Thebe, welches in derselben als noch bestehend ange- deutet werde, wovon aber in der bemerkten Zeit das stärkste Gegentheil statt fand. Es werde nehmlich Thebe nicht nur gelobt (V. 912. 919 fg. 929. 937.) als Recht uud Gerechtigkeit liebend, sondern auch ausdrücklich ge- sagt, dafs zwischen dieser Stadt und Athen jetzt heitres Wetter sei (V.616.), welches beides auf eine Zeit unter ihnen noch nicht ausgebrochner Feind- seeligkeit weise. Wenn ich dagegen zuerst geltend mache was schon von Boeckh (!) bemerkt ist, dafs die Erwähnung des friedlichen Verhältnisses beider Staaten sich nicht auf die Zeit der Aufführung des Stücks, sondern auf die Zeit seiner Fabel beziehe, so glaube ich der von Herrn Lachmann für diesen Fall gestellten Forderung des Eindringens in die Absicht des Dichters und die Anordnung seines Werks bereits genügt und mich darüber ausgewiesen zu haben, insofern also keiner petitio principii mich schuldig zu machen, halte es dagegen nicht für überflüssig, vor der zu weit gehenden Neigung, politische Anspielungen überall in den Tragödien zu sehn, zu war- nen. Denn die Worte V.616: \ m ' 3 m m Kal rairı Orßaus ei ravdv eünnegel m \ x ’ KaAwWsS Ta mgos TE, können schon aus interpretatorischen Gründen nur von der Zeit des Oidi- pus und Theseus verstanden werden. Nicht zu gedenken, dafs diese beiden persönlich degv£evo: waren (V. 613.), so werden ra viv Euupwva defiuinara V.619. dem & ravöv eünuegei völlig gleich gesetzt, so dafs also auch dies letz- tere eine etwas höhere Bedeutung als die eines blofsen Nicht-Krieges ha- (') In dem angeführten prooemio 8.6 fg. 22 SüvErn - ben mufs. Nun wird aber wohl niemand im Stande sein, einen Vertrag, ein Freundschaftsbündnifs (defiwiuer«) der Thebaner und Athenienser in der gan- zen Zeit von dem Ende der Perserkriege bis zu der des spartanischen Königs Agesilaos nachzuweisen. Das ravvv eunneger und ra vov Zuupwva de£iunara kön- nen daher auch durchaus nicht auf ein Verhältnifs der beiden Staaten zur Zeit der Tragödie, sondern müssen lediglich auf das Verhältnifs zur Zeit der Fabel des Stücks bezogen werden. Auch verbietet jenes der Zusammenhang. Dafs die Thebaner einmal von den Atheniensern schwer sollen geschlagen werden, ist dem Theseus befremdlich und zweifelhaft, weil er selbst ja mit ihnen in so gutem Vernehmen stehe. Wenn nun Oidipus entgegnet, es sei alles in der Welt, die Götter allein ausgenommen, wandelbar, und so werde auch der Verlauf der Zeit es herbeiführen, dafs aie Freundschaft, welche zwischen ihm und Thebe jetzt obwalte, zerrissen werde, so ist es unmög- lich, in diesem Zusammenhange das freundschaftliche Verhältnifs beider Städte in einer andern, als der Vorzeit, worin das Stück spielt, das feind- liche aber, welches vorherverkündigt wird, in einer andern Zeit, als einer fernen Zukunft nach jener, sich zu denken. Lächerlich wäre es ja gewesen, von unzähligen Tagen und Nächten zu reden, innerhalb deren jenes Ver- hältnifs sich auflösen würde, wenn der Dichter bei diesem an die Zeit kurz vor dem Ausbruche des Peloponnesischen Kriegs gedacht hätte, wo die Spannung zwischen Athen und Thebe ohnehin schon so grofs war, dafs selbst das Bild des klaren guten Wetters eine ganz verfehlte Bezeichnung desselben gewesen sein würde. Die Bemerkungen der Scholiasten zu V. 619: Ovrw yag Av Ex,Ipa Onßarıs za’ ASvaicıs und zu V.92: ‘O remras Xagıdonevos rois’ASyvaloıs roVTo dycw, edonouv (*) yag rore Baiwroi zal ASyvalcı moös aAAMAoUS Öadeger Sau, welche ohnehin nicht einmal völlig übereinstimmen, kann man daher, als sehr ungenau, nur auf sich beruhn lassen. Übrigens ist der Aus- druck in V. 619 fg. höchst prägrant und es wird darin die Zeit von dem ersten Bruche des guten Vernehmens zwischen Athen und Thebe , welcher schon vor den Perserkriegen statt fand (Herodot. V.77fg.), mit der, wo (') Dafs der Scholiast hier im imperfecto spricht, beweiset nichts. Denn in dieser Zeit- form von öozeiv, anstatt im praesens, drücken die Scholiasten oft ihre eigne Ansicht über historische Gegenstände aus, um ihr dadurch den Schein einer in der Vorzeit wirklich ge- goltnen zu geben. Vergl. Fr. Ritter de Aristophanis Pluio p.35. (Bonn 1828.). über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 23 die Schlacht über Oidipus Grabe eintreffen soll, zusammengedrängt. Das dianaygrarSaı an dieser Stätte, welches geweissagt wird, ist noch immer das fortgesetzte Zertrennen, das Äusserste des Zersprengens des in der my- thischen Zeit noch freundlichen Verhältnisses. Was aber das Lob der Stadt Thhebe als einer Gerechtigkeit liebenden anlangt, so ist es zu dessen Erklärung in der Zeit, worin wir die erste Auf- führung des Oidipus auf Kolonos setzen, nicht nöthig, bei den Verhältnis- sen des Theseus zu Oidipus und Thebe stehn zu bleiben, wodurch jene Lobsprüche allerdings dramatisch gerechtfertigt werden, sondern auch mit dem politischen Zwecke der Tragödie sind sie nicht im Widerspruche. Denn diese hatte ja keineswegs den Zweck, gegen die Thebaner zu reizen, son- dern vor ihnen zu beruhigen, und es ist daher nicht einzusehn, wie mit demselben nicht auch Erwähnung ihrer guten Eigenschaften sich vertragen sollte. Vielmehr stimmt es mit ihm vortrefflich überein, die in Thebe herr- schende aristokratische Partei, die Seele ihrer Feindschaft mit dem demo- kratischen Athen, in Kreon, ihrem Repräsentanten, wie Boeckh (!) ihn richtig erkannt hat, als gewaltihätig und übermüthig zu charakterisiren, die Stadt selbst aber als besonnen und gerecht, als beschimpft durch Kreons Betragen, das sie nicht billigen würde (V.921.), darzustellen, dadurch die Ansicht, es sei nicht die ganze Stadt, sondern nur eine Partei, welche Athen anfeinde, wie es auch wirklich war, auszudrücken, und die Hoffnung, welche in jeder den Atheniensern feindlichen Stadt an der mit ihnen haltenden demokratischen Partei einen Anknüpfungspunct hatte, auch in Hinsicht auf die Thebaner zu unterhalten. Der Sinn der Darstellung hat grofse Ähnlich- keit mit der Argumentation selbst, wodurch späterhin der thebanische Ge- sandte in Athen das Benehmen seiner Landsleute am Ende des Peloponne- sischen Kriegs zu rechtfertigen sucht (?): ‚,O Athenienser, euer Vorwurf, dafs wir eine harte Abstimmung über euch bei Beendigung des Kriegs gege- ben haben, ist kein gegründeter Vorwurf, denn jene Abstimmung gab nicht die Stadt, sondern ein Mann, welcher damals gerade unter den Verbünde- ten safs. Als aber die Lakedaimonier uns gegen den Peiraieus aufboten, da beschlofs die ganze Stadt, nicht mit ihnen zu ziehn”. Eine ähnliche Unter- ()r 2.2.,0%p.0: (?) Aenoph. Hellen. 11I,5.8. 24 SUVERN scheidung deutet Sophokles an, und dafs sie ihren guten Grund hatte, und unter Umständen Leben gewinnen konnte, zeigen noch spätre Ereignisse, wo von den Atheniensern unterstützte demokratisch Gesinnte, die unter dem Schutze der Spartaner herrschenden Oligarchen sammt Jenen stürzten (!). Wie sollte denn die Anregung einer an die erstere Partei sich lehnenden Hoffnung in einem Drama nur vor dem Ausbruche des Peloponnesischen Kriegs, und nicht eben so sehr gegen dessen Mitte, an ihrer Stelle gewe- sen sein? Nachdem gezeigt worden, wie alle die Stellen und Äufserungen des Oidipus auf Kolonos, in denen man Widersprüche gegen die Zeit, worin er, seinem Zwecke gemäfs, gesetzt werden mufs, erblickt hat, mit beiden in guter Übereinstimmung sind, wüfste ich nunmehr keinen Einwurf dagegen, welcher noch aus dem Drama entnommen werden könnte. Denn in ihm vorkommende Anspielungen auf Perikles könnten nur dann gelten, wenn sie so ausgemacht und klar wären, dafs sie selbst keines Beweises bedürften. In diesem Falle würden sie allerdings entscheidend sein, so wie andrerseits dergleichen Anspielungen, in Tragödien entdeckt, deren Aufführung un- zweifelhaft in Perikles Lebenszeit fällt, z.B. in der Antigone, schon durch die Gleichzeitigkeit an Wahrscheinlichkeit gewinnen. Mit den Anspielun- gen auf diesen Staatsmann, die man im Oidipus auf Kolonos hat finden wol- len, so wie mit dieser Tragödie selbst, hat es aber eine solche Bewandnifs nicht. Dafs in V. 1535. keine enthalten sei, wie Hr. Reisig annahm, ist be- reits anderwärts gezeigt und dies auch von Hermann sowohl als von Böckh anerkannt worden (?). Herr Lachmann glaubt jetzt eine andre mehr im Ganzen liegende Anspielung auf Perikles entdeckt zu haben, indem es im Oidipus auf Kolonos darauf ankomme, ob ein mit einem ayos Behafteter in Attika aufgenommen werden solle, Kreon gerade dies «yes am stärksten ge- gen Oidipus geltend zu machen suche (V. 939 fg.) und seine an Diesem ver- übte Gewalt damit entschuldige, er habe voraussetzen zu dürfen geglaubt, dafs Athens weiser und gerechter Areiopag einen solchen Gräuel nicht in Schutz nehmen werde, vor dem Ausbruche des Peloponnesischen Kriegs aber von den Lakedaimoniern das Kurwveıov @yos als eine Hauptbeschwerde (') Plutarch. Pelop.5fg. Xenoph.1.c.V,4. Diodor. XV, 25 fg. (?) Von Ersterem Praef. ad Oed. Col. p.XlIL, von Leizterem provem. cit. p.&. über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 25 gegen Athen vorgebracht und dessen Entfernung gefordert, und diese For- derung eigentlich auf Perikles gemünzt gewesen sei, welcher sowohl deswe- gen, als auch wegen der von ihm ausgegangnen und ihm noch unvergefsnen Schmälerung des Areiopag, selbst als ein Schuldbefleckter habe angesehn werden und Besorgnisse für den Ausgang des bevorstehenden Kriegs erregen können. In jener Zeit habe also ohngefähr dieselbe Frage in Ansehung des Perikles, wie in der Tragödie in Ansehung des Oidipus, zur Entscheidung gestanden. Und da nun Sophokles Diesen in seiner Entgegnung des Kreon als den schuldlosen Träger des Schicksals seines Geschlechts darstelle, den Areiopag aber durch gänzliches Übergehn der Berufung des Kreon auf ihn in Schatten setze, den Oidipus ferner nicht allein vom Chore als trefflich preisen, sondern auch von Theseus als ein grofses Gut für das Land aufneh- men lasse, so habe er damit seinen Mitbürgern sagen wollen, mit des Pe- rikles Schuld habe es gleiche Bewandnifs, wie mit der des Oidipus, auch von ihr aus sei daher kein Zorn der Götter über Athen zu befürchten, so wenig als von der Schmälerung des Areiopag, durch welche vielmehr die Eume- niden von der Übermacht ihres alten Beleidigers befreit wären, und so könne man wegen des Ausgangs des Kriegs von dieser Seite gutes Muths sein. Besondre Hinweisungen auf Perikles sieht Herr Lachmann in V. 1013. 1014 und 1531. und deutet das &x ruırgev Acyou V. 620. von der in Beziehung auf ihn gerügten Schuld der Alkmaioniden wegen des @yss Kuruveov. Der Gedanke ist scharfsinnig und überraschend, zerlegt man ihn aber in die Ele- mente der Anspielung und vergleicht ihren Gegenstand mit denselben, so zeigen sich gleich so bedeutende Widersprüche zwischen beiden, dafs man die Vergleichung unter ihnen noch jetzt nicht zutreffend finden, geschweige denn glauben kann, sie sollte dem Athenienser bei der Aufführung des Stücks eingeleuchtet haben und von ihm erkannt sein. Bei dem Ausbruche des Peloponnesischen Kriegs wurde den Atheniensern angesonnen, von der ihnen anklebenden Kylonischen Schuldbefleckung sich zu reinigen; in der Tragödie handelt es sich um Aufnahme einer auswärtigen. Jene Forderung 8 ging auf Ausstofsung eines angesehenen Bürgers und Staatsmannes aus altem attischen Geschlechte; Kreons Protestation geht gegen die Zulassung eines alten entthronien blinden Fremdlings. Jene ist wider einen persönlich keiner Frevelthat schuldigen, diese wider einen, wenn auch nur in Folge des auf seinem Hause ruhenden Geschicks, doch persönlich der unnatür- Histor. philolog. Klasse 1828. D 26 SüvERN lichsten Gräuel theilhaftigen, Mann gerichtet. Jene Forderung machen die Lakedaimonier, und die Thebaner haben an ihr nicht den mindesten An- theil; diese Protestation legt ein Thebaner ein. Jener setzten die Athenien- ser das Verlangen entgegen, die Spartaner sollten des Tainarischen «yes und des durch Tödtung des Pausanias im Tempel der Pallas Chalkioikos auf sie gekommenen sich entledigen. Von einer solchen oder ähnlichen Gegenfor- derung kommt aber in der Tragödie keine Spur vor, ohngeachtet ihre An- wendung zu wichtig und, um die Verständlichkeit der Anspielung zu erhöhn, nutzbar war, als dafs sie hätte übergangen werden dürfen. Denn die Athe- nienser erwiederten in ihr die Forderung der Spartaner, ohne sich auf deren Grund einzulassen, nur mit Gleichem, da, wenn man Perikles auf gleiche Weise, wie Oidipus sich selbst verantwortet, hätte vertheidigen wollen, die Spartaner ohne Zweifel würden entgegnet haben: Eben deshalb, weil du dem schuldbefleckten Geschlechte angehörst und mit ihm den Fluch ‚der Götter trägst, verlangen wir deine Entfernung! Theseus dagegen nimmt Oi- dipus in religiöser Hinsicht aus dem Grunde auf, weil die über ihn ertheil- ten Orakel beweisen, dafs er, wenn gleich Vollbringer gräuelhafter Thaten, doch nicht Gegenstand des Hasses der Götter sei. Die Forderung der La- kedaimonier soll nun auch der Fuingös Aoyos sein, dessentwegen nach V. 620. Athen und Thebe sich entzweien würden. Ob und welche bestimmte Ver- anlassung Sophokles sich bei dem &x uızgeü Acyov gedacht habe, da es auch möglich ist, er hat den Oidipus dem Theseus dadurch nur gegensätzlich versinnlichen lassen wollen, wie eine Kleinigkeit grofse Feindschaft zwischen beiden Staaten hervorrufen könne, kann meines Bedünkens füglich dahin gestellt bleiben, weil die uns bekannten Veranlassungen zu den verschied- nen ausgebrochnen oder fortgesetzten Zwistigkeiten zwischen Athen und Thebe nicht so unbedeutend waren, dafs man eine davon einen rwuırgös Aoyos nennen könnte. Allein die Forderung wegen Entfernung der Kyloneiischen Schuld kann auf keinen Fall darunter verstanden werden, schon nach allem Obigen nicht, und weil der Grund des Peloponnesischen Kriegs auf wohl bedeutenderen Beschwerden, als jener abgewiesenen Forderung, die vielmehr von den Lakedaimoniern nur erst vorgeschoben wurde, um durch Entfer- nung des Perikles für den Gang ihrer Verhandlungen in Athen zu gewin- nen, beruhte. Bei diesem grofsen. Übergewichte der Verschiedenheit beider Sachen über ihre sehr entfernte Ähnlichkeit, welche allein darin besteht, über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 27 dafs es sich in beiden um ein @ycs handelt, wäre es in der That ein sehr kühnes Ansinnen des Sophokles an sein Publicum gewesen, in der Sache des Oidipus die des Perikles dargestellt zu erkennen und von jener die Anwen- dung auf diese zu machen. Was aber die Schmälerung des Areiopag (den ich übrigens auch nicht aus dem von Herrrn Lachmann angegebnen Grunde geringschätzig behandelt finden kaun) betrifft, waren denn durch diese die Eumeniden wieder in ihre alten Rechte eingesetzt, so dafs man sie damit religiös hätte entschuldigen können? Bedurfte es ferner einer solchen Entschuldigung für das Volk, das wohl besser wufste, wer eigent- lich durch die mit der Herabsetzung des Areiopag verbundne Erhebung der Volksgerichte gewonnen hatte? Und liefs sie sich endlich als eine Süh- nung der Eumeniden denken für die ihnen durch die Lossprechung des Orestes wiederfahrene Kränkung, da diese Göttinnen völlig versöhnt dar- über und gnädig gegen die Stadt der Pallas in das ihnen bestimmte Hei- ligthum eingezogen und wieder zur Unterwelt geschieden waren? Diese ganze, nicht aus der Übereinstimmung der Sachen und der Darstellung einfach und klar sich ergebende, und deshalb auch leicht und schnell zu fassende, vielmehr nur auf künstlichen Combinationen und Wendungen des Erklärers beruhende, Beziehung kann also nicht anerkannt werden. Mit ihr fallen auch die einzelnen Anspielungen auf Perikles, welche in den oben bemerkten Stellen liegen sollen. Denn für sich allein und ohne Zusammen- hang mit einer umfassenden Beziehung sind sie so allgemein, dafs, wollte man sie dennoch von Perikles verstehn, in keiner bei seinem Leben gegebe- nen Tragödie Stellen, worin ein Mann als trefflich gepriesen, oder die Vor- steher der Stadt gerühmt werden, vorkommen dürften, ohne mit gleichem Rechte auf den Einzigen gedeutet werden zu können. In den V.V. 1014 und 1531. liegt gewifs auch nicht einmal eine allgemeine Anspielung. Allein der V. 1013. konnte auch in der Zeit, worin das Drama zu setzen ist, auf die damals die Stadt in Krieg und Frieden leitenden Männer bezogen wer- den. Sophokles wollte nicht blofs durch den Hauptgegenstand der Hand- lung Vertrauen auf höhern Beistand, sondern durch die Drohung, Kreon werde sehn, von was für Männern die Stadt beschirmt werde, und durch Theseus Bravheit, der mit seinen gewaffneten Bürgern Jenem seinen Raub wieder abjagt, auch Vertrauen auf ihre eigne und des Landes Kraft und auf ihre Führer den Atheniensern einflöfsen. Alles dieses zusammen facht er D2 28 SüUvRarn durch die zwei ersten grofsen Chorgesänge V. 667 fg. und V. 1044 fg. an. Wenn er aber V. 1013. von den Wächtern der Stadt redet, so berechtigt nichts, dies nur auf Perikles zu beziehn. Denn nicht allein des Perikles Freund war Sophokles, sondern nachher auch des Nikias, mit welchem zu- sammen er, schon bejahrt, wie früher mit Perikles, die Strategenwürde be- kleidete, und den er sehr ehrte, wie aus der bei Plutarch (ie. 15.) auf- bewahrten Anekdote hervorgeht, die wegen des Prädikats ZopexAäs & ramrns von keinem andern, als dem grofsen Dramatiker, verstanden werden kann. Dachte er bei V. 1013. an irgend eine bestimmte Person, so ist die eben ge- nannte, auch wegen des Alters des Sophokles, als er den Oidipus auf Kolo- nos dichtete, die der Zeit, welcher diese Tragödie wahrscheinlich gehört, gewils angemessenste. In derselben Zeit würde noch eine andre von Herrn Lachmann an- genommene Beziehung, wenn sie anders von Sophokles wirklich beabsich- tigt war, passender sein, als zu Anfang des Peloponnesischen Kriegs, die des Polyneikes als Anführers des Argeiischen Heers. Dafs das Eintreten dieses Sohns des Oidipus schon durch die rein-tragische Tendenz der Hand- lung hinlänglich motivirt und aus derselben vollkommen zu erklären sei, ist bereits oben gezeigt worden. Hier füge ich hinzu, dafs die beiden Stellen, in deren einer (V.1323.) Polyneikes sagt, er sei nicht Oidipus, sondern des bösen Verhängnisses Sohn, und in deren andrer (V.1369.) Oidipus gegen ihn ausstöfst, er und sein Bruder sein nicht von ihm selbst, sondern von einem Andern, erzeugt, nicht beweisen können, Sophokles habe ihn nicht als einen Sohn des Oidipus betrachtet wissen wollen. Denn in jener erstern spricht Polyneikes von seiner blutschänderischen Abkunft nur so, wie Oidipus selbst von der Ehe, woraus sie entstanden war, sie dem Verhängnisse seines Hauses zuschreibend, redet, und in der andern erkennt Oidipus den Polynei- kes im Zorn, wie oft Väter ihre Kinder, nicht für seinen Sohn, aber nicht ihn allein, sondern auch Eteokles. Läfst sich nun die Eigenschaft eines Soh- nes des Oidipus als das Band, wodurch Polyneikes mit der Handlung zu- sammenhängt, nicht verkennen, so kann der Gedanke in den letzten Re- den desselben (V.1402 und 1429 fg.), er müsse und wolle die Flüche des Oidipus und den unglücklichen Ausgang des Kriegs seinen Bundesgenossen verschweigen, nicht mit Herrn Lachmann als der eigentliche Punct ange- sehn werden, auf welchen der ganze Aufwand der Scene mit Polyneikes hin- über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 29 ziele. Hat aber Sophokles durch jene Verse andeuten wollen, wie Thebe seine Bundesgenossen täusche und sie wissentlich dem Verderben entgegen- führe, mit nächster Beziehung auf Argos, wohin Polyneikes sich gewandt hatte und woran der Bund sich anschlofs, so waren die politischen Verhält- nisse gegen das Ende der 89. Olympiade weit geeigneter, eine solche An- deutung zu veranlassen, als gegen den Anfang des Peloponnesischen Kriegs. Denn in der letztern Zeit waren die Argeier neutral zwischen den Lakedai- moniern und Atheniensern (T’hueyd.Il, 9.), in jener erstern hingegen mach- ten sie nicht allein Anschläge auf die Hegemonie des Peloponnes (Z’hucyd.V, 28. 40.), sondern bemühten sich auch zu dem Ende um ein unmittelbares Bündnifs mit den Boiotern (Thucyd.V, 37 fg.). Und dies Bestreben könnte wohl geeignet scheinen, theils Argos als Haupt eines Peloponnesischen Bun- des, wie es im Oidipus auf Kolonos geschieht, vorzustellen, theils der ge- suchten Bundesgenossenschaft desselben mit den Boiotern Täuschung und Unglück zu prophezeihn, da Athen selbst lieber Argos an sich gezogen hätte, wie es auch bald nachher geschah. Hierauf waren bekanntlich die Schutz- flehenden des Euripides berechnet, und es würde sich also auch von dieser Seite Boeckh’s, indefs nicht auf jene Andeutung gegründete, Zusammen- stellung dieser Tragödie mit der unsrigen rechtfertigen. Jedoch kann ich nicht verschweigen, dafs mir in der ganzen vermeinten Andeutung etwas Schiefes zu liegen scheint. Polyneikes tritt auf, nicht als Repräsentant sei- ner Vaterstadt, sondern als Einzelner und als ein aus ihr Verbannter (V.1292- 1300.), und er führt die Argeier nicht im Bunde mit ihr, sondern es sind mit ihm zusammen die Sieben, die gegen Thebe ziehn (!), deren Einer, Kapaneus, es gar mit Feuer verheeren will (V.1319.). Man kann aber nicht annehmen, Sophokles habe verlangt, man solle sich nun im Widerspruche hiemit bei den Versen, worin jene Andeutung gesehn wird, den Polyneikes nur als Thebaner im Allgemeinen, und den Bund mit ihm auch ganz allge- mein, gleichviel wofür oder wogegen, denken. Richtiger wird es daher sein, dieselbe ganz fallen zu lassen, als sie für unsre aufserdem schon hinlänglich begründete Ansicht zu mifsbrauchen. > (‘) Hier kann ein alter Fehler aus V.1373. gehoben werden. Für ge rıs ist nehmlich ohne Zweifel zu lesen &r ei rıs, welches dem Zusammenhange entspricht und den Handschrif- ten und der Aldina näher kommt als das von neuern Herausgebern aufgenommene 2geiY eis des Turnebus. Unter :5 ist Polyneikes gemeint mit irgend einem seiner Verbündeten. 30 SUVERN Dagegen scheint mir die im Leben des Sophokles erhaltne Notiz: Kai TwoTE Ev Öganarı eiryyaye rov Iobwvra auto bIovovvra xal moös Tols hodregas äynarcvvra rd margi, noch einer nähern Erwägung in Hinsicht auf die Rolle des Polyneikes in unsrer Tragödie zu bedürfen. Ich bemerke zuvörderst, dafs sie als ein sehr flüchtiges und incorrect gefafstes Excerpt aus einer an- dern ältern Quelle zu betrachten ist, wie sie sich schon dadurch zu erken- nen giebt, dafs blofs &v öganarı (statt &v rıwı Öganarı) gesagt ist, da doch in jener das Drama selbst ohne allen Zweifel genannt war, und vielleicht nur Verstümmelung des Namens in der Handschrift den Verfasser des Biss zu einer so allgemeinen Angabe veranlafst hat. Bedenkt man dies, so wird man es auch nicht unwahrscheinlich finden, dafs der Compilator sich den ersten Satz xai -’Iohövr« ganz für sich bestehend, und ®Soveivra und EyxaAouvra nicht auch mit &ryyeye in Verbindung gedacht habe, welches durch eine In- terpunction hinter "Iopwvr« deutlicher gemacht werden könnte. ®Soveuvra und &yrarcvvra hätte er dann gesetzt statt 05 &pSoveı und ivexarcı. Eiryyaye kann aber nur von einer Hauptbeziehung in der Rolle des Polyneikes selbst auf Iophon verstanden werden, da eirdyeıy immer entweder von der Einfüh- rung gewisser Personen auf dem Theater unter ihrem eignen oder fremdem Namen, oder von ihrer Erwähnung oder Vorstellung in gewissen Momenten oder mit gewissen Prädicaten gebraucht vorkommt. Nach dem Verfasser der alten Quelle, aus welcher die Notiz geschöpft ist, hätte demnach So- phokles seinen Sohn Iophon, dem er zu lange lebte und der ihn vor dem Rathe der Verwandten belangt hatte mit Anschuldigung der Geistesschwäche vor Alter, wenigstens in einem wesentlichen Puncte unter jener Rolle vor- gestellt und damit bezielt. Und allerdings liegt in derselben ein Hauptzug, der sie mit dem Verhalten des Iophon gegen seinen Vater in Parallele setzt. Gleichwie nehmlich Jener den Oidipus ins Elend gestofsen hatte (V.1356. 1362.), so wollte Dieser den Sophokles aus Hab und Gut drängen. In die- ser Hinsicht konnte daher auch wohl Iophon die Rolle des Polyneikes auf sich beziehn, im Zorne des greisen, am Ziele seines Lebens stehenden, Oi- dipus über Diesen den Zorn seines eignen alten Vaters über ihn selbst er- blicken, und dessen schwere Flüche über seinen Sohn sich selbst als War- nung zu Herzen nehmen, und auch jeder Andre, dem das Verhältnifs bekannt war, konnte jenes auf ihn beziehn. Das eiri xarsgoıs yoval naraı über die Absicht und Zeit des Oidipus auf Kolonos. 31 V.1192. wies zu einer solchen Beziehung an (?), wobei jedem wohl der eigne Sohn des Dichters näher lag, als Xanthippos der Sohn des Perikles, oder die ungerathnen Söhne Andrer, obwohl diese insgesammt dabei nicht aus- geschlossen werden. Dies Verhältnifs des hohen Alters des Sophokles und der Klage sei- nes Sohns Iophon gegen ihn zu der Dichtung des Oidipus auf Kolonos trifft nun gut zusammen mit der Übereinstimmung aller übrigen Verhältnisse, welche vom Innern dieser Tragödie aus in die Zeit führen, worin wir ihre Dichtung setzen, und ist in dieser Verbindung allerdings von Gewicht. We- nigstens setzt eine solche Klage weit mehr ein höheres, als ein noch jünge- res, Alter des Beklagten voraus, wie Böckh, auf den ich über diesen gan- zen Gegenstand verweise, schon bemerkt hat (*), und leitet demnach eben- falls mehr in eine spätere, als in eine frühere, Zeit des Geistesproducts, wodurch sie widerlegt und der Kläger zu kindlicher Gesinnung zurückge- warnt werden sollte. Dafs es hier nur auf ein hohes Alter überhaupt, nicht auf ein Paar Jahre mehr oder weniger ankomme, wie Herr Lachmann bei der kurzen Abfertigung der von ihm nicht übersehenen Anforderung, eine gleiche Übereinstimmung der von ihm angenommenen Entstehungszeit des Oidipus auf Kolonos mit dem Alter des Sophokles zu derselben nachzuwei- sen, zu meinen scheint, kann man nicht behaupten, da der Unterschied, welchen etwa drei Olympiaden im Greisesalter machen, überhaupt nicht für so unbeträchtlich gelten darf, dafs man leicht darüber hingehn könnte, und besonders nicht während es in den übrigen Beziehungen genau damit genommen wird. Endlich giebt es auch einen äufsern Beweis, dafs der Oidipus auf Kolonos gar nicht Ol. 87, 1. aufgeführt, nicht, wie Herr Lachmann muth- mafst, das Stück sein kann, in welchem, nach dem Argumente des Gram- matikers Aristophanes zu Euripides Medeia, Sophokles mit dieser Tragödie um den Sieg gekämpft und den zweiten Preis davon getrageu hat. Denn allgemein bekannt ist seit Hermann’s Dissertation de graecae linguae dia- lectis (3) aus einer Nachricht des Klearchos bei Athenaeus X, p-453., dafs, (') Vergl. Böckh im prooemio zum Lectionskatalog der Berliner Universität für das Winterhalbjahr 1825-1826. p.7. (?) In dem zuletzt angeführten prooemio p-8. (?) S. jetzt Opusc. 1, p. 137 fg. 32 Süvenn: über die Absicht und Zeit des Ordipus auf Kolonos. nachdem Euripides in der Medeia die Yoanumarıny rgaywöia des Kallias in ei- ner gewissen Bildung der Chorgesänge nachgeahmt, Sophokles, der dies ge- hört, aus jener Tragödie die Elision eines Vocals am Ende des jambischen Trimeter in gewissen Fällen angenommen, und sie zuerst im König Oidipus angewandt hat. Dafs der König Oidipus nach der Medeia gegeben sein müsse ('), folgt daraus von selbst. Nun aber ist es ausgemacht, dafs der Oidipus auf Kolonos noch später als der König Oidipus gedichtet ist. Folg- lich kann er mit der Medeia zusammen nicht gegeben, sondern mufs bedeu- tend später erschienen sein. Und somit bricht die aus dem Argumente der Medeia entlehnte an sich morsche Stütze für die Aufführung desselben in Ol. 87, 1. vollends zusammen. (') Boeckh grace. trag. princ. p. 138. — HIN II—— Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidipus auf Kolonos. mn Vorgelesen in der historisch-philolosischen Klasse. 5 P 5 D. von mir in der Abhandlung über die Absicht und Zeit des Oedipus Coloneus gegebene Erklärung der den Zwist des Sophokles mit seinem Sohne Iophon und die darauf bezügliche Einführnng des letztern in einem Drama betreffenden Stelle in dem griechischen Leben des Sophokles, hat einem gelehrten Freunde Gelegenheit gegeben, eine neue Ansicht hierüber aufzu- stellen und mir mitzutheilen, die ich, da der Gegenstand in der historisch- philologischen Klasse der Akademie schon früher zur Sprache gekommen, derselben ebenfalls vorzulegen nicht für überflüssig halte. Ich gebe sie voll- ständig mit den Worten ihres Urhebers. ‚‚Sie nehmen an,’’ schreibt dieser, ‚‚der bekannten Erzählung des Biographen liege nichts anders zum Grunde, als dafs Sophokles in der Rolle des Polyneikes auf sein Verhältnifs zu Iophon angespielt habe. Allein ich gestehe aufrichtig, dafs mir jene Beziehungen viel zu subtil und viel zu all- gemein gehalten erscheinen, als dafs daraus eine Erzählung, die einen so bestimmten historischen Charakter an sich trägt, hätte entstehn können. Viel mehr Grund glaube ich zu der Annahme zu haben, dafs Sophokles, den wir aus manchem Zuge als einen heitern jovialen Mann kennen, wirklich seine Familienverhältnisse auf irgend eine Art dramatisirt habe, wobei man nur nicht an eine auf die Bühne gebrachte Tragödie denken mufs. Zu dieser Ansicht bin ich durch die von Athenaeus (AHI, 592 b.) gegebene Nachricht genöthigt, dafs Sophokles & zımı sarıuw die Theoris mit den Worten $174 yap ©zwgls erwähnt habe. Dieses Citat bezieht sich, wie ich glaube, auf das vom Biographen erwähnte do@ue, in welchem, wie ausdrücklich bemerkt wird, Tophon als «ür2 (nehmlich ’Agıswvı, dem Sohne der Theoris) $Iov@y erschien. Eine schr schlechte Aushülfe würde es sein, wenn man vermuthen wollte, Histor. philolog. Klasse 1828. E 34 SUVERN Oeugis sei in jenem Verse nicht der Eigenname, sondern das Substantiv Sewgis gewesen. Denn Sophokles müfste sehr einfältig gewesen sein, wenn er sich in einer Tragödie der Worte diAn Sewgis bedient hätte, da es ihm nicht ent- gehn konnte, dafs er dadurch das Gelächter der Zuschauer erregen würde. Auch widerstreitet dies den Worten des Athenaeus. Denn wäre etwas der Art vorgefallen, so würde es Athenaeus, der so gern Anekdoten erzählt, schwerlich verschwiegen, auf keinen Fall so geradezu uvnuoveicı gesagt haben, wodurch nur eine entschiedne Erwähnung der bezeichneten Person angedeu- tet werden kann. Was die Händel zwischen Iophon und Sophokles betrifft, so mufs man diese nicht zu ernsthaft betrachten, da der Dichter selbst die Sache ziemlich leicht genommen und mit einer blofsen Vorlesung aus seinem Oedipus abgemacht hat, so wenig damit eigentlich bewiesen war: denn es ist wohl vereinbar, dafs man schöne Trauerspiele dichtet und dabei durch tolle Wirthschaft seine Familie ruinirt. Das Wahre an der Sache ist wahr- scheinlich, dafs Sophokles die Theoris und seinen Liebling Ariston sich mehr kosten liefs, als dem Iophon, der als yvirıes gerechtere Ansprüche auf die Freigebigkeit des Vaters hatte, gelegen sein mogte.’’ Hier wird also angenommen, erstens Sophokles habe seine Verhält- nisse zu seinem Sohne Iophon, und ausdrücklich wie dieser den Sohn der Theoris Ariston beneidet, in einem eignen Drama vorgestellt, und dann, das Drama, worin dies geschehe, sei dasselbe, worin der die Mutter des Ariston mit dem Ausdrucke der Zuneigung erwähnende Vers aus einem Stasimon des Sophokles vorgekommen sei. Der nächste und wesentlichste Grund zu der erstgedachten Behauptung liegt aber in der betreffenden Stelle der sogenannten Biographie, welche man indefs zur Prüfung der Sache ganz vor Augen haben mufs, und die ich deswegen hersetze: Bawera: dt xal rap« morMcs 9 mo6s röv viov ’Iobayra yevouevn aürw On more. "Exwv Yap &x ev Nixo- sodrns "Iedüvra, &# Ö8 @eugides Sıruwvias "Aplsuva, Tov Er ToUroU yEvorLEvov raid, Zoberrka Touvoua, mAEoV Esepye, zul WoTe &v dgaparı eiryyays rov lodavra auto dIovevvra nul moos reUs boaregas Eynadoüvra TO margı us Ümo Yngws Tagapgo- vouvri® ol de To Tobayrı Ereriunsav. Sarupes de na aürev eireiv, ei jev ein Zodo- HANS, CU magadgevw, Ei RS magabgovi, ebr sin Zoboxäfs, nal rors rov Oldirodu Fapavayvwval. Es wird nun wohl keiner sein, der nicht, wie auch Meier (it. Proz. S. 298.) thut, in der Periode zw wore — Fugapgevedvrı auf den ersten Anblick Nachtrag zu der Abhandlung über den Oddipus. 35 dSoveuvr« mit siryyaye verbände, aber nicht #Scoveövre allein, sondern auch das durch za; in dieselbe Verkettung gebrachte &yzarsvvra, und diese ganz gewöhnliche und natürliche Construction des erzyeıw in dramatischem Sinne könnte man als den Hauptgrund für die angenommene Darstellung des Iophon in seinem Verhältnisse zu Sophokles in einem besondern Drama anführen. In einem correcten Schriftsteller würde man allerdings richt umbin können, eher alles zu versuchen, die gegen das solchergestalt sich ergebende Factum streitenden sachlichen Schwierigkeiten aufzuhellen, als eine logische Ver- worrenheit und stylistische Anomalie, oder Fehler im Texte anzunehmen. Allein durch die nichts weniger als correcte Abfassung der Biographie hat man sich, bei der grofsen Unwahrscheinlichkeit eines solchen, weder als Tragödie, noch als Komödie, noch als Satyrstück denkbaren, besondern Drama, schon ohne Weiters zu Versuchen berechtigt gehalten, durch Con- jecturen und von der gewöhnlichen Construction abweichende Erklärungen zu einem andern, keiner sachlichen Schwierigkeit unterliegenden, Sinne der Stelle zu gelangen. Als eine Spur der flüchtigen und nachlässigen Abfassung derselben ist schon das &v Öganarı anstatt &v rwı deanarı, wie auch Athenaeus sagt &v rw sariuw, angemerkt worden. Eine andre zeigt sich in dem aird $Soveüvra, wo man das «rd regelrecht auf die nächste in eissyaye liegende Person, das, auch bald nachher wieder durch «örev bezeichnete Hauptsubject der ganzen Stelle, den ältern Sophokles, beziehn müfste, wenn der daraus hervorge- hende Sinn, dafs nämlich Iophon seinen Vater Sophokles selbst beneidet, nicht äufserst unwahrscheinlich wäre, und wenn nicht das dem «örs gleich darauf entgegengesetzte 73 arg! auf eine andre unter dem «aörd zu verste- hende Person hinwiese, als welchen sich nun zunächst der Jüngere Sopho- kles, der Enkel des ältern von Ariston, dem Sohne der Theoris, darbietet, nicht aber Ariston selbst: denn von jenem, nicht von diesem, ist eben vor- her ausdrücklich gesagt worden rev &# reureu (reÜ "Agiswvos) yevanevev TaldR, SoboxAda Touveua, mAEV Esepyev. Allein der Bau der ganzen Stelle ist unlo- gisch und confus. Sie hebt damit an, dafs der dem Sophokles von seinem Sohne Iophon einst erhobene Rechtshandel aus vielen Schriftstellern erhelle. Nun schreitet sie fort zu näherer Erklärung über den Ursprung und die Be- schaffenheit dieses Handels, und das geschieht in guter Ordnung bis zu vAsev esegyev. Der bejahrte Dichter hatte nehmlich eine Vorliebe für seinen Enkel E2 36 SüvErN vom Ariston, den jüngern Sophokles, wahrscheinlich nicht blofs aus grofs- väterlicher Affection, sondern wie auch Böckh zu glauben scheint (Gr. trag. prine. P. 117. Estis — Sophocles iunior — poeta non ignobilis, ut ayi deliciae ac lolies victor tam antiquis temporibus), wegen des ausgezeichneten Dichter- talents seines Enkels. Was der ältere Sophokles diesem zuwandte schmä- lerte allerdings die Erbschaft, welche Iophon, als sein vies yvrrıcs, von ihm erwartete; aber der den letztern stechende Neid war ohne Zweifel auch auf das glückliche Dichtergenie gerichtet, dem der jüngere Sophokles den Vor- zug vor dem, selbst als tragischer Dichter bekannten, Iophon zu danken 8 hatte. Anstatt nun in der Erzählung etwa so fortzufahren : Teiru (Sopexder TO vEewregw) cv dIovav 6 Iobav moös Tols boaregas dverareı TO argl U. S. W. und nach Vollendung der ganzen Erzählung die Notiz beizubringen, dafs Sophokles einer Person in irgend einem seiner Dramen eine Beziehung auf Iophon gegeben habe, übereilt der Biograph, dessen Gedanken zu früh auf dieselbe abspringen, ihre Mittheilung, und er scheint sie haben parenthe- tisch einschalten zu wollen, flicht sie aber durch die Construction $Seveüvra za — Eyrarevvra gleich mit der Erzählung des wirklichen Vorganges, den er berichten wollte, in einander. Dafs jedoch dieser ihm die Hauptsache war, geht daraus hervor, dafs er mit dem ci ds — Ereriunrav wieder direct darin eingreift (da er, wenn er auch dies noch als zur dramatischen Vorstellung gehörig hätte geben wollen, hätte fortfahren müssen reüs d& — Erırıuävras) und dann bis zu Ende darin bleibt. Hiedurch wird meine Erklärung, man müsse das $Ioveivra za — &yrarcivra nehmen als gesetzt für PR EbSoveı za) Zvexdäeı, und nicht mit eiriyaye eng verbinden, wie ich glaube, vollkommen gerecht- fertigt. Nimmt man dagegen die beiden Participien mit eiryyaye zusammen, so bekommt man aus der Stelle ein Drama, in welchem nicht allein der Neid des Iophon gegen den jüngern Sophokles, sondern auch des Erstern Be- schwerde gegen seinen Vater und die ganze Verhandlung vor dem Familien- rathe vorgestellt war, und sieht sich nachher wegen des Satzes ci d&& — Ereri- prev, und noch mehr wegen der aus Satyros angeführten Notiz, welche durchaus auf keinen dramatisch fingirten, sondern nur auf den wirklichen Vorgang bezogen werden kann, in einer nur durch einen Machtspruch zu lösenden Verlegenheit. Dies Alles hat auch Herrmann wahrscheinlich vor Augen gehabt, indem er (Praefat.ad Oecd. Colon. p. XI.) durch Textesände- rung der Stelle zu Hülfe kommen wollte und sagt: Sed lud &v dganarı nee Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidıpus. 37 per se ferri potest, quia non comoedias scripsit Sophocles, a Satyrieis autem fabulis aliena est aequalium in scenam introductio, nec congruit cum reli- qua narratione, und zum Theil schon Meier a. a. O. angedeutet. In jenem Ausspruche sind alle die so wohl in der Sache als in der Fassung der Stelle liegenden Gründe, wonach diese ganz von einer blofsen Dramatisirung der in ihr erzählten Geschichte unmöglich verstanden werden kann, kurz zusammengefafst. Die letztern sprechen eben so sehr gegen die Annahme einer solchen Dramatisirung in einem zum Vorlesen geschriebenen, als in einem für die Aufführung bestimmten Stücke. Dazu kommt noch, dafs der ursprüngliche so wohl politische und gerichtliche als auch dramati- sche Gebrauch des eir«ysı immer ein wirkliches Vorführen der wahren oder in einem Drama vorgestellten, oder in diesem auch nur genannten, Person vor dem Volke involvirt, mithin bei dem eisyyaye der Biographie sich auch nur an die Vorstellung des Iophon in einem wirklich gegebenen Stücke, wenn gleich nur in einer gewissen Beziehung und nicht in einer ganzen Rolle, denken läfst. Auch ist sehr zu bezweifeln, dafs in der Blüthezeit der atti- schen Bühne, wo die wirkliche Aufführung mit Gesang, Instrumentalbeglei- tung, Tanz und scenischem Apparat zur Vollendung des ganzen dramatischen Dichterwerks wesentlich gehörte, irgend ein Dramatiker zu einem andern Zwecke, als für die Vorstellung und den Wettkampf an den drei Festen, gedich- tet habe. Dafs Athenaeus und Andre auch &ygaıe vom Dichten der Drama- tiker gebrauchen bei Stücken, deren Aufführung nicht ausdrücklich constirt, beweiset nichts, da so auch von ausgemacht aufgeführten Dramen geredet wird; denn niedergeschrieben mufsten die zur Aufführung bestimmten Stücke allerdings erst werden. Hat ferner mehr als ein scenischer Dichter einige Dramen blofs geschrieben und nicht selbst aufgeführt, so war doch ihre Darstellung auf der Bühne, mogte diese früher oder später durch Andre besorgt werden oder nicht, ihre Bestimmung; und dichteten gleich wohl andre noch aufser Platon Dramen, mit denen es nachher nicht zur Auffüh- rung gedieh, weil sie selbst von dieser abstanden, oder aus andern Ursachen, so hatten sie es doch gewifs in keiner andern Absicht, gleich dem Platon (s. die Stellen bei Stallbaum in der Dispuiatio de Platonis Vita etc. p. VD. vor den dial. select. Plat.), gethan, als um mit ihnen in den öffentlichen scenischen Wettkämpfen den Preis zu erringen. Ein blofs zum Vorlesen geschriebenes Drama des Sophokles wäre daher meines Bedünkens eine 38 SUVERN Merkwürdigkeit gewesen, welche als solche schwerlich unbezeichnet geblie- ben sein würde. Unter diesen Umständen kann die Anführung bei Athenaeus XII, p- 592 b. gar kein Gewicht haben, welches die Stelle der Biographie von einer Dramatisirung der Beschwerde des Iophon gegen seinen Vater zu ver- stehn nöthigte. Ob sie selbst aber auf ein Drama, worin Sophokles seine Familienverhältnisse dargestellt habe, zu schliefsen Grund genug enthält, auch das ist mir sehr zweifelhaft. Die oben erwähnten Gründe schon sprechen auch hiegegen. Ferner kann in dem Verse din yap Y Oewgis allerdings nur die von Sophokles geliebte Hetäre unter der Theoris verstanden werden. Allein das Gedicht, worin der Vers vorkam, konnte doch nur zu der Zeit entstehn, worin Sophokles mit der Theoris noch in Verbindung stand. Zur Zeit seines ausbrechenden Mifsverhältnisses mit Iophon scheint dies aber nicht mehr der Fall gewesen zu sein. Denn ohngeachtet er schon im Alter die Theoris liebte, so hat er doch gegen den Ausgang seines Lebens (Ei dur- nais wv rev Biov. Athen. 1.c.) seine Liebe noch auf eine andre, die Hetäre Archippe, gewandt. Vielleicht dafs Theoris, deren Enkel bis dahin auch alt genug geworden sein konnte, um Iophons Eifersucht zu erregen, inzwi- schen gestorben war. In die letzte Lebenszeit des Dichters fällt aber, nach den bekannten Stellen des Cicero, Valerius Maximus und Lucian, der Handel des Iophon mit ihm, und mit diesem steht, auch nach der Verbin- dung, worin der Biograph sie stellt, die Vorstellung des letztern in einem Drama offenbar im Zusammenhange. In diesem Drama kann daher der Vers nicht vorgekommen sein, welcher ein noch bestehendes Liebesverhältnifs mit der Theoris andeutet. Ich mögte auch nicht einmal entschieden behaup- ten, dafs das sarıucv, woraus er entnommen ist, in einem Drama seine Stelle gehabt habe. In einem alten klassischen Schriftsteller würde man dies Wort freilich nur von denjenigen tragischen Chorgesängen, welche Aristoteles als s«- rıaa definirt, verstehen können. Allein wie abweichend von dieser Definition in späterer Zeit dasselbe gebraucht wurde, sieht man aus dem Scholiasten zu Aristophanes Yesp. 270, der das erste Lied, welches die Greise des Chors singen, und womit sie, vor dem Hause des Philokleon angelangt, diesen sich zu ihnen zu gesellen auffordern, ein sasızcv n£rcs nennt, weil, wie er sagt, jene es mg6 rüv Sugüv rou BıRonAewvos savres sangen. Hier ist zwar noch immer ein dramatischer Gesang s«rıucv genannt, und so könnte man sich auch das Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidipus. 39 sarıusv des Sophokles ursprünglich in einer Komödie denken. Wenn nur Sophokles Komödien gedichtet hätte! und wenn es sich nicht fast mit Ge- wifsheit voraussetzen liefse, dafs, hätte auch nur eine einzige, gleichviel ob nur geschriebene oder auch aufgeführte, Komödie von ihm existirt, der auf Notizen aller Art eifrig erpichte Athenaeus sie selbst würde genannt haben, anstatt sich mit dem so unbestimmten & swı sarıuw zu begnügen! Es ist da- her nicht unwahrscheinlich, dafs Athenaeus mit dieser Benennung ein ein- zelnes Lied, das etwa bei einem x@ucs als Ständchen vor der Thür der Theo- ris gesungen sein könnte, ähnlich wie der Scholiast des Aristophanes das Lied der Greise in den Wespen, bezeichnet habe; wo nicht anders vielleicht das Wort verdorben und aus @rueriv entstanden ist, von welchem letztern nur die Buchstaben «rum in einer Handschrift deutlich, von den übrigen nur Striche sichtbar sein durften, um einen Abschreiber, der an Sophokles allein als Tragiker dachte, zu verleiten, gleich sarıuw hinzuschreiben. Geht man aber von der Ansicht aus, dafs der Vers ursprünglich in einem Drama gestanden habe, so kann man ihn, da Sophokles keine Komö- dien gedichtet hat, nur entweder in einer Tragödie oder in einem Satyrstücke suchen. Im erstern Falle konnte er nur in einer der Parabase der Komödie ähnlichen Partie seine Stelle haben. Aus Jul. Pollux IV, 111. geht nehmlich hervor, dafs Euripides sich etwas ähnliches, wie die Komiker in den Para- basen, worin der Dichter aus seiner eignen Person durch den Chor spricht, erlaubt habe, und die Ausdrücke scheinen anzuzeigen, dafs hiermit nicht der Gebrauch allgemeiner Sentenzen bezeichnet, sondern dafs wirklich von Pollux gemeint sei, Euripides habe den Chor etwas seine, des Dichters, Person Betreffendes in Form der Parabase sagen lassen (Ör!g aürod rı meuras megeımeiv). Auch Sophokles, sagt Pollux, habe, den Euripides hierin nach- ahmend, jedoch selten, dies gethan, wie im Hipponoos (Vgl. Brunck ad Fragm. Hipponoi). Mit einer solchen Parabasen-ähnlichen Ansprache der Zu- schauer durch den Chor könnte nun der Vers zusammengehangen haben, und man müfste sich denken, der Chor habe in der Form des Stasimon aus der Person des Dichters über des letztern Verhältnisse gesprochen. Dies ist Böckh’s Meinung, dessen eignen Worte ich gröfstentheils angeführt habe. Allein dagegen läfst sich erinnern, dafs die ganze Parabase, wenn sie in einer Tragödie vorkam, schwerlich die Form des Stasimon hatte, weil sie sich dann vcn diesen grofsen Bestandtheilen der Tragödie selbst nicht würde 40 SUVERN unterschieden haben, und dafs in der Strophe und Antistrophe der Parabase, welche Athenaeus vielleicht uneigentlich Stasimon genannt hätte, die Dichter, wenigstens die komischen, den Chor nie von sich und ihren Verhältnissen reden lassen. Was die andre Möglichkeit betrifft, dafs der Vers aus einem Satyrstücke herstamme, so mufs man, um sie zu erklären, die, einer wei- tern Untersuchung nicht unwerth scheinende, mit der Annahme einer eignen Gattung von komisch-satyrischen Dramen aber nicht zu verwechselnde, Be- merkung zum Grunde legen, dafs auch das Satyrdrama namentliche und na- menlose Anspielungen und gröfsere Beziehungen auf gleichzeitige Personen und Verhältnisse enthalten konnte. Das eine sichre Beispiel hievon, welches ich anführen kann, ist der Alexander dem Grofsen selbst oder dem Python aus Katana oder Byzanz zugeschriebene ’Ayyv, welcher im Ganzen eine satirische Richtung, insbesondere gegen die noch lebenden Harpalos und Glykera und die schon verstorbene Pythionike, gehabt zu haben scheint (Athen. XII, p. 596 9. XII, p.586 d. II, p.51 £.f.). Er fällt indefs in die Zeit, wo sich die persönliche Satire schon längst aus der Komödie herausgezogen hatte, und wurde nicht einmal in Athen selbst, sondern fern von da am Hydaspes in Alexanders Feld- lager, an den Dionysien aufgeführt. Ein zweites Beispiel ist ungewils. Es besteht in dem von Diog. Laert. VII, 173. angeführten Verse: Oüs A Kreav- Sovs Pwoia Renrarel, welchen, nach Diogenes Erzählung, der Dichter Sosi- theos im Theater, versteht sich in einer Rolle eines von ihm selbst verfer- tigten Drama, in Gegenwart des Kleanthes sprach, da aber Kleanthes hie- bei in seiner ruhigen Haltung blieb, von den hiedurch zur Bewunderung und zum Beifall hingerifsnen Zuschauern aus dem Theater geworfen wurde. Der Vers enthält einen sehr directen persönlichen Angriff, in Verbindung mit einer ausgedehntern Anspielung; und nicht, als ob diese an sich selbst etwas Unerlaubtes gewesen wäre, sondern lediglich der Fassung wegen, welche Kleanthes bewies, wurde Sositheos aus dem Theater gestofsen. Ob aber der Vers aus einer Komödie oder aus einem Satyrstücke entnommen, ob sein Dichter Sositheos Komiker oder Tragiker gewesen sei, bemerkt Diogenes nicht. Menage hält ihn für den bekannten alexandrinischen Tragiker, den Verfasser des Lytierses (Hermann in com. soc. phil. Lips. Vol. 1, p. 254 fg.). Dafs er jedoch diesem unmöglich zugeschrieben werden könne, sondern von einem gleichnamigen Zeitgenossen des Kleanthes herrühren müsse, hat schon Eichstaedt (de dram. com. Sat. p. 13.) gesehn. Auch mufs sein Dichter in Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidipus. 41 Athen gelebt haben. Man kann daher nicht umhin, zwei Dramatiker des Na- mens Sositheos anzunehmen, die um so leichter von Suidas zusammenge- zogen werden konnten, wenn beide Tragiker waren. Den Vers vindieirt Bau und Ausdruck eher einem Satyrdrama, als einer Komödie. Ist er aus einem Stücke der erstern Art, so war sein Urheber Tragiker und wir haben ein Beispiel eines persönlichen Angriffs in einem Satyrspiele, zwar aus noch spätrer Zeit, als das des ’Aysv, allein vorzüglicher als dieses, welches auch nicht in seinem Ursprunge mit der Tragödie zusammenhängt. Jenes bleibt aber noch ungewils. Nun aber ist noch folgendes Fragment aus den Aörwöcis, einem Satyrdrama des Tragikers (Hermann /.c. p. 251.) Iophon bei Clemens Alexandrinus Strom. ], p. 329 erhalten: \ \ > ’ nal yag &iTe? yAuSev 35 £ Toramv FodıswWv OyAos EEngrnusvos, welches, wenn auch nicht auf bestimmte Personen, doch auf eine bestimmte dem Iophon gleichzeitige Menschenklasse, und wahrscheinlich im Zusam- menhange mit noch weitern Beziehungen, anspielt. Konnte der Sohn und Zeitgenosse des Sophokles schon dergleichen in einem Satyrstücke sich er- lauben, so hat man Grund genug zu muthmaalsen, dafs er es nicht ohne Vorgang eines gröfsern Meisters, seines Vaters, dem Aristophanes einen wohl noch bedeutendern Einflufs auf seine Werke zuschreibt, gethan habe, und so wäre es denkbar, dafs auch der, freilich für die Tbeoris wohlwollende, allein wahrscheinlich mit satirischen Anspielungen auf verwandte Verhält- nisse zusammengehangne, Vers in einem Satyrstücke des Sophokles seine Stelle gehabt hätte. Von den gröfsern politischen und historischen An- spielungen und Beziehungen der Tragödie selbst zu komödienartigen An- spielungen im Satyrdrama war ein kleiner Schritt, ‘der selbst durch An- spielungen der erstern Art vermittelt werden konnte. Ein für gegenwärtigen Fall vielleicht bedeutendes Beispiel des Sophokles selbst mag dies bestä- tigen. Es liegt in dessen Satyrdrama, welches jetzt nach Hemsterhuys (zu Zueian. Contemplant. Opp. Il, p. 378. Bip.) Ausspruche ’Arwadur ge- nannt wird, von dem es mir aber noch in Frage zu stehn scheint, ob nicht die von Casaubonus (zu Athen. VII, p. 277, e.) vorgezogne Lesart des Titels "Arevadaı die richtige ist. Wenn man die Fragmente dieses Stücks bei Stobaeus Histor. philolog. Klasse 1828. F 42 Süvern XLIN, 6: | Ind 72 \ \ ’ Koün ci0’ 0 Tı yon mgos TaUra Acyewv- e v5 wi \ n > a orav ci T ayaIor mpos TWV dyevav KATAaVIRWVTaL, I iR N \t > 7 Tot moAIS dv TaO Eveyaoız Odys LIV., 20: Aoxi) uiv oldeis. aAA co« un ngeisoev 7, zal durseßcüvra rav Evavrımv ngareiv, N ÖcvAcv aurev dvra Tav mERaS nA. LXXVI, 6: Hera narupnei Toüde nerAir Sau margcs, eimeg medura y ei de um, neißuv Bran, 70 To venisSEv 775 aAySeias ngurel. und LXXVI, 9: ‘O du voSos reis yuyrias Inov 7Iever amav To Aonsev yınTiav Eye bucw. unter einander vergleicht, so kann man wohl nicht verkennen, dafs es sich in demselben darum handelte, ob ein für einen voS$cs, d.h. hier für einen dem Vater untergeschobenen Sohn, einen rargi rrasos voSes (Fragm. Lytiers. v. 6. Vergl. Oed. Tyr. 780, wo der Scholiast das wargi mAasos durch voSes erklärt) Gehaltner oder Erklärter die Herrschaft behaupten oder erhalten sölle. Das erste Fragment greift ihn an, das zweite und dritte vertheidigen ihn. Das zweite konnte die Erwiederung des ersten seyn, da auf die Frage roi@ vers nicht gerade mit südeui« geantwortet zu werden brauchte. Dies Fragment konnte der Held des Stücks selbst sprechen, so auch den ersten Vers des dritten. Dieses wird aber erst verständlich, wenn man es in ein Diverbium auflöst und den zweiten und dritten Vers als Antwort des Gegners betrachtet, mit Veränderung des re&puza y’ in repurds y’. Denn weder usLwv Gran, noch Gesners Conjectur usiwv Qran pafst sich für den sich verthei- digenden v&9os. Aber usiZwv Br«&n wird in dem Munde des den ersten Vers erwiedernden Gegners durch den dritten vollkommen befriedigend erklärt. Das vierte Fragment ist oben in gewöhnlicher Art interpungirt, als sei es ganz von einem Vertheidiger des v&9os gesprochen; so nehmlich, dafs in 5 dem zweiten Verse der Grund für die Behauptung des ersten ausgedrückt Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidipus. 43 erscheint, wobei rSevaı nicht von politischer, sondern von ethischer und überhaupt persönlicher Geltung verstanden werden mufs. Betrachtet man aber, wie mein sehr geehrter College Hr. Bekker, auch dieses Fragment als ein Diverbium, als Angriff oder Beschwerde im ersten, als Vertheidigung im zweiten Verse, so mufs man Seye: im politischen Sinne nehmen. Ich stimme Hrn. Bekker völlig bei, weil nach der erstern Fassung des Fragments dessen erster Vers mehr behaupten würde, als der zweite beweisen kann, da doch nicht alle veScı auch xgn50r sind, glaube jedoch, dafs zu Vollendung der Emendation anstatt oSever gelesen werden müsse #S$eve?; Dieser Inhalt des Stücks findet nun keinen Anknüpfungspunct in der uns bekannten Geschichte der Aloeiden, (über die Formen "Arwerdus und "Arwaduı s. Heyne zu Apollo- dor. I, 7, 4.) aufser dafs diese als Kinder des Poseidon auch ihrem Vater Aloeus Aust voScı waren. Aber wohl in der der Aleuaden, namentlich der von Plutarch (de Fraterno amore c. 12. Opp. X, p. 68. Hutten. Vergl. Buttmann’s akad. Abh. von den Aleuaden p. 175 fg.) erzählten Art, wie der erste Aleuas zur Herrschaft über Thessalien gelangt sein soll; und das einzige darin zu Vermissende ist nur der Einwand der vo$ei@ gegen ihn, den wenigstens nach Plutarch sein Vater nicht als Grund angab, weshalb er ihn zurücksetzte und seiner Wahl zum Könige durch die Pythia widersprach, der aber dennoch dem Verfahren des Vaters gegen ihn zum Grunde liegen, oder von seinen Gegnern erhoben sein konnte, oder welchen in dem Satyr- stücke hinzuzufügen den Dichter auf keinen Fall etwas hinderte. Der Mittel- punet der Handlung desselben, wenn es sich auf diese Begebenheit bezog, wäre dann der Streit gewesen, der sich gegen Aleuas erhob nach der ersten Wahl und bis zu deren neuer Bestätigung durch die Pythia. Der Oheim, der sich seiner vorher schon angenommen und dessen List ihn zur Wahl gebracht hatte, könnte sein Vertheidiger dabei gewesen sein. War dem so, so hatte Sophokles das Beispiel vorgestellt, dafs ein voScs zu einer so hohen Stufe, die er mit so viel Kraft und Ehre behauptete, gelangt und Stammvater eines damals noch blühenden, mächtigen Geschlechts geworden war. Wenn aber dies alles gleich noch sehr problematisch ist, so gab doch auf jeden Fall der Inhalt des Stücks und die allgemeine Bedeutung des Worts veSes, wonach es auch von unchelichen Söhnen der Väter, und zwar mehrentheils, gilt, dem Sophokles Gelegenheit, auf das bürgerliche Verhältnifs der vS$wv in F2 44 SÜUVERN Athen und ihre Zurücksetzung darin gegen die yyarisvs vielfach anzuspielen und den erstern das Wort zu reden. Das vierte Fragment thut dies auf die unzweideutigste und ausgezeichnetste Weise. Das erste dagegen vertheidigt den Vorzug der ächten Söhne, wobei gerade die Frage reia rorıs eine Bezie- hung andeutet. Die allgemeine politische Anspielung wäre also sichtbar. Diese konnte aber in der Laune des Satyrspiels leicht Vermittlerin auch von Privatanspielungen werden. Denn ein Thema, wie das angegebne, stimmte ganz zu den Verhältnissen, der Denkungsart und Neigung des Sophokles, der selbst veSevs hatte, welche mit ihren Müttern er sehr liebte, wogegen er mit seinem yvArics lophon entzweit lebte, war also wahrscheinlich nicht ohne Ab- sicht von ihm gewählt. Für geradezu unmöglich kann man es daher nicht erklären, dafs er dieselbe auch durch Anspielungen auf seine eignen Familien- verhältnisse näher angedeutet, und dafs mit ihnen auch der Vers plan yag A Oewgis im Zusammenhange gestanden hätte. Es kommt darauf an, wie die nächsten Verknüpfungen dieses Verses gefafst waren, um ihn auch im Munde eines Chors von Satyrn, der ja die Liebe des Sophokles in dritter Person berühren konnte, nicht unschicklich zu finden. — Wie dem Allen aber auch sein mag, in Hinsicht auf die Biographie kann man aus Athenaeus nichts folgern. Ist es nun auf keine Art zu beweisen, oder auch nur wahrscheinlich zu machen, dafs Sophokles sein Verhältnifs zu Iophon in einem eignen Drama vorgestellt habe, so bleibt nichts übrig, als die Worte der Biographie zai more &v dgauarı eirmyaye rev Iohävra von der indirecten Beziehung einer Rolle in einer Tragödie des Dichters auf Iophon zu deuten. Und dazu liegt doch keine, wenigstens in den noch vorhandenen Tragödien, näher, als die des Polyneikes im Oedipus Coloneus; ja es läfst sich fast an keine andre denken, da eben diese Tragödie mit der Klage des Iophon gegen seinen Vater der Zeit nach zusammentrifft und von dem letztern ohne- hin dabei für sich benutzt wurde. Bei diesem Verhältnifs des Stücks zu dem Rechtshandel kann man die Züge, welche ich als die Beziehungen zwischen Iophon und der Rolle des Polyneikes enthaltend angegeben habe, auch nicht für zu subtil und allgemein gehalten erklären, was nur statthaft sein würde, wenn sie nicht in dem nächsten und unfehlbar allgemeine Auf- merksamkeit erregenden Verhältnisse des Dichters zu seinem Sohne eine Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidıpus. 45 leichte Anwendung hätten finden können, sondern in einem lange nach des- sen Eintritt verfertigten Drama vorkämen. Schwerlich aber sind es jene Be- ziehungen allein, woraus die Notiz des Biographen entstanden ist, sondern in den alten Didaskalien und andern Schriften, aus welchen dieser schöpfte, gab es darüber bestimmte Nachrichten. Dafs Sophokles hiernach die Sache für sein joviales Temperament zu tragisch genommen habe, kann nicht da- gegen sprechen. Die schwere Verletzung der Pietät, deren sich Iophon schuldig machte, der von Sophokles eignem Sohne behauptete Verlust seines edelsten Guts, der Kraft und Besonnenheit des Geistes, die sein Stolz und der Quell seiner Gröfse war, sind in der That an und für sich schon so be- deutend, dafs sie wohl einen erschütternden Eindruck auf den Vater machen und ihn zum tiefsten Unwillen aufregen konnten, wenn dieser auch nicht die bezweckten Folgen eines ihm ungünstigen Erkenntnisses, die Erklärung der Unmündigkeit und der Unfähigkeit sein Vermögen zu verwalten, in Betrach- tung zog. Durch Entziehung eines Theils dessen, was lophon mittelst seiner Beschwerde früher zu erlangen dachte, hat er diesen wenigstens nachher noch gestraft, wenn anders die Nachricht des Hegesandros bei Athenaeus a.a. OÖ. einigen Grund hat, dafs er seiner letzten Geliebten der Archippe einen Theil seines Vermögens vermacht habe (za} roÜ Bisv zAngevanev zarsrırer). Liegt hierin etwas Wahres, so kann es, da ein nach attischem Rechte legiti- mer Erbe des ganzen Vermögens, der lIophon, da war, nichts anders sein als dies, dafs Sophokles noch vor seinem Tode der Archippe eine bedeu- tende Schenkung 5 gleich bei der Verhandlung vor dem Familienrathe mit Jophon versöhnt war machte, was immer von ihm geschehn konnte, wenn er (Böckh gr. tr. prince. p. 135.). Seine Vertheidigung in dieser hat Sophokles, nach dem was darüber in der Biographie berichtet wird, zwar nichts weni- ger als schwerfällig genommen. Aber auch daraus folgt nichts, so wenig gegen den wirklichen Vorgang dieser Verhandlung und die in eine tragische Rolle gelegte Anspielung auf Iophons Benehmen, als für die fingirte Dar- stellung derselben in einem Drama, das man sich weder als Tragödie, noch als Komödie, noch als Satyrstück, weder als aufgeführt noch als blofs zum Vorlesen geschrieben, denken kann. Denn wenn gleich von Iophon der Beweis für seine Anschuldigung hauptsächlich durch die schlechte Wirth- schaft seines Vaters geführt werden mogie, so war die Klage doch nicht etwa 46 SüvErRN. eine din duersias und konnte es auch nicht sein, sondern eine dixy maguvelas. Und da fragt es sich wohl, ob einer solchen Kiage zweckmäfsiger und geist- reicher, als durch die Behauptung: Bin ich Sophokles, so bin ich nicht geistesschwach; bin ich aber geistesschwach, so bin ich nicht Sophokles! ob ihr einleuchtender und vollständiger, als durch Vorlesung des neuesten Gei- stesproducts des Angeschuldigten, oder der schönsten Partie desselben, zum Beleg jener Behauptung, begegnet werden konnte? Dann aber gestattete auch die Verhandlung vor dem Familienrathe, als eine nicht förmlich gericht- liche, ein leichteres Verfahren. Und wenn auch zur völligen Widerlegung der Gründe des Iophon mehr erfordert wurde, so schliefst die Notiz der Biographie, welche sich auf die Vertheidigung des Dichters gegen die eigent- liche Klage beschränkt und ausdrücklich erwähnt, er habe den Oidipus nur nebenbei, als Beleg also für diese, vorgelesen (ragavayvüvaı), ein wei- teres Einlassen des Verklagten auch auf die Gründe seines Gegners nicht aus. Es darf daher diese Erzählung nicht mit W. Dindorf (in dessen höchst schätzbarer diss. de Artstophanis fragmentis p. 56.) der dem Aristo- phanes beigelegten Abfertigung der gegen ihn von Kleon angebrachten Yoga Esvias, welche von der dixn des Sophokles in ihrer Beschaffenheit, im Forum wie in der Form sehr verschieden ist, durch ein Paar homerische Verse, gleich gestellt und wie diese für erdichtet erklärt werden. Nachdem ich nnn meine erste Erklärung nach Kräften vertheidigt, kann ich doch nicht umhin, denen, welche eine Beziehung in der Rolle des Polyneikes auf Iophon bestreiten, selbst noch eine Waffe in die Hand zu geben. Es wird nehmlich &r«ysw nicht allein von dem directen oder indi- recten Vorstellen, sondern auch von dem blofsen Anführen einer Person in einer gewissen Beziehung auf der Bühne gebraucht. Ein entscheidendes Bei- spiel hievon habe ich selbst in der Abhandlung über Aristophanes Wolken p- 40 angeführt. Warum soll nun das eiryyaye der Biographie nicht in die- sem letztern Sinne genommen werden, besonders da die Construction dabei unangefochten bleibt? Denn es hindert dann nichts, vielmehr ist man genö- thigt, $Sevevvra und &yxarsivra, als die Beziehung, in welcher Iophon na- mentlich aufgeführt war, ausdrückend, mit eiryyaye eng zu verbinden. Eine Confusion der ganzen Fassung bestände indefs immer. Denn in den gedach- ten Participien wäre der Bericht von der wirklichen Thatsache mit dem von Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidipus. 47 der dramatischen Anspielung darauf zusammengezogen und ginge dann in & dE — Ereriunrav wieder auf jene allein über. Hieraus aber wäre eben klar, bis wie weit die Anspielung gereicht, und wahrscheinlich, dafs gerade diese ihre Grenze den Biographen bewogen habe, das, was nicht dazu gehörte, durch das Verlassen der Partieipialconstruction von dem, was in ihr berührt war, zu sondern. Dafs in dem Drama, welches diese namentliche Anspie- lung enthielt, auch der Vers or Yag 9 Geugis, und zwar in Verbindung mit jener vorgekommen sei, hätte dann auch grofse Wahrscheinlichkeit. Die Beschwerden des Iophon bei den og@reges konnten schon angefangen haben, als Sophokles dies Drama gab. Dadurch wird nicht aufgehoben, dais die entscheidende Verhandlung Statt gefunden habe, als er seinen Oidipus auf Kolonos gedichtet hatte. Es ist leicht möglich, dafs diese Erklärung die meisten Stimmen für sich gewinnt, bis sichre Data etwas mehr als Conje- eturen über die Sache erlauben. Das Gesetz wissenschaftlicher Unbefangen- heit verbot mir, sie zurückzuhalten. Eine Verbesserung in der Abhandlung und ein Paar Zusätze zu der- selben sei mir erlaubt hier noch anzuhängen. 1) S.7, Z. 18 und S. 9, Z. 17 habe ich das vorher von mir geschriebne Koloniaten, der Note eines Freundes zu voreilig nachgebend, geändert in Koloneier. Jenes ist das Richtige von den Bewohnern des KeAwvos Irrıss, wie Lessing schon bemerkt im Leben des Sophokles (Werke Th. 14, S. 273.), mit Berufung auf Schol. ad Oed. Colon. 65. 2) Zu S. 15, Z.2. Wenn die Übereinstimmung älterer Erklärer eine Autorität dafür, dafs eine unbefangne Auffassung die politische Beziehung auf ein künftiges feindseliges Verhältnifs der Äthenienser nur mit den The- banern im Oedipus Coloneus erblicke, abgeben kann, so mögen als solche das erste Argument zu der Tragödie selbst und die Scholien zu Aristides pro Quatuorv. U, 172. Opp. Vol. II, p.560 ed. Dindorf) gelten. Das erste stimmt auch in den Worten & wv dmopInrous €rerScaı mit meiner S. 18 von V. 1534 gegebnen Erklärung und seiner Beziehung auf das dort angeführte Orakel überein. 48 Süvenrnw: Nachtrag zu der Abhandlung über den Oidıpus. Zu S. 29, Anm. Ähnlich ist der Gebrauch des ris Antig. 1048, wo Teiresias fragt &g eidev dvSpurwv rıs, &pa dealer u. s. w. zwar ganz allgemein, aber mit besondrer Beziehung auf Kreon, welcher die Meinung dabei auch gleich auffafst, indem er rasch einfällt ri xgrua; woiov euro Fayrewvev Akyaıs; wozu ein Scholion richtig bemerkt &reıöy yag depisws Aeyeruu, Enascos &uurev 4 [2 ÜMOTTEUEL Eivai. mer JO EER Dr nn Über die Antigone des Sophokles. Von Hm: BOECKMH. nannnmnanmnann Zweite Abhandlung (*). ARE N EV N En en [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 22. Mai und 10. Juli.] Kıx und Auslegung einzelner Stellen der Alten, ohne den wissenschaft- lichen Zusammenhang eines Gegenstandes, zu dessen Ermittelung diese phi- lologischen Thätigkeiten angewandt wären, sind zu akademischen Schriften so wenig geeignet, dafs ich nur mit Überwindung dem in der ersten Abhand- lung über die Antigone gegebenen Worte nachkomme, den allgemei- nen Betrachtungen über das herrliche Kunstwerk besondre kritische und erklärende Bemerkungen nachfolgen zu lassen, da zumahl manche andere Erwägung davon abschrecken kann. Soll nehmlich die Kritik und Erklärung so durchdachter und aus einem Gufs gebildeter Werke eindringend sein, so erfordern sie theils, dafs man sich stets im Zusammenhange des Ganzen befinde, auf welchen doch bei jeder abgerissenen Anmerkung wieder aus- führlich hinzuweisen ermüdend ist; theils mufs vieles Besondere bemerkt werden, was zumal dann, wenn sogar erst der Sprachgebrauch durch Beweis- stellen und Vergleichungen festgestellt werden mufs, wenigstens für den Augenblick nach verschiedenen Richtungen von der ausschliefslichen Be- trachtung der besprochenen Schrift ablenkt; theils ist, um Unrichtiges zu beseitigen, auf abweichende Vorstellungen Rücksicht zu nehmen, welches gewifs nicht zu den anmuthigsten Beschäftigungen gehört; endlich kann eine (*) Die erste befindet sich in den Schriften der Akademie vom J. 1824, wozu die am Schlusse des genannten Jahrganges herausgegebenen „‚nachträglichen Bemerkungen” ge- hören. Zu letztern ist noch zu vergleichen, was in den Addendis zum Corp. Inser. Gr. N. 172 (Bd. I, S. 906.) bemerkt worden. Hıstor, philolog. Klasse 1828. G 50 Borcku vollständige Erklärung nur in freiem mündlichem Vortrage, welcher durch seine Lebendigkeit überzeugender wirkt, erreicht werden. Verpflichtet je- doch, einiges früher Aufgestellte zu begründen, will ich, damit diese Begrün- dungen nicht zu vereinzelt dastehen, die bedeutendsten Schwierigkeiten der Tragödie, in wie fern ich sie lösen zu können glaube, auch die, welche mit der ersten Abhandlung in keiner wesentlichen Beziehung stehen, der Erwä- gung unterwerfen, um zu versuchen, ob sich die Abwege vermeiden lassen, auf welche die neuere Philologie gerathen ist; ob sich der Ausdruck des Meisters einfach und gerade, ohne den Nothbehelf übermäfsiger Künstelei und die Annahme verschränkter Wendungen auffassen, und von grammati- schen Verwirrungen und Unmöglichkeiten befreien, der Sinn nach dem Zu- sammenhange und der Absicht des Kunstwerkes, der nächsten Umgebung und dem Charakter der Personen hier und da sicherer bestimmen, verderbte Stellen mit wahrscheinlichern Mitteln heilen, und in den Chorgesängen die Versmafse, wo sie noch verunstaltet sind, aus sichern rhythmischen Analo- gien, mit Beobachtung der bekannten Kennzeichen der Versgrenzen, und nach dem Geiste der einzelnen Lieder so bestimmen lassen, dafs statt klein- licher und zerschnittener Glieder und verworrener Massen, sich würdige, fafsliche, übereinstimmende Formen gestalten. Ohne zu vernachlässigen, was von andern aufgestellt worden, berühre ich dasselbe doch nur, wo es mehr oder minder unumgänglich sein dürfte, oder verschweige es ohne Gering- schätzung, weil es auf Zusammenfassen des Fremden nicht abgesehen ist, und entfernt von der Absicht eine fortlaufende Erklärung zu geben, betrachte ich nur einzelne Stellen ausführlicher, und schliefse kleinere Bemerkungen an diese an. Zur Abkürzung schreibe ich jede zu behandelnde Stelle gleich so, wie sie meiner Behandlung nach gelesen werden muß. 1 — 6. °Q zawvov auraderAbev Iruruns n.u0, &g° ci” ürı Zeis av dm’ Oldirou nanav ömelov ouy.ı vov Erı Qwraw TeAel; oudev Yap cur’ ÜAyewöv cur” — arms areg — cur” ainy,pöv our” arınov EI’, bmelov cÜ TÜV Tav TE Kunav our OmWT’ EyW kan. Alle Eigenheiten dieser Stelle, die unseres Erachtens noch nicht richtig gefafst ist, haben ihren Grund in dem Charakter der Sprechenden und der Art, wie sie der Dichter für den Zweck des Stückes darstellen wollte, gleich über die Antigone des Sophokles. 51 vom Anfange seiner Absicht völlig sich bewufst und jedes Wort, jeden Ton, jede Wendung und Färbung des Ausdrucks auf das Gesammte sicher berech- nend. Dies wird sich in der Betrachtung des Einzelnen näher ergeben. Die Verbindung der Ausdrücke or: und öretev ist das erste Anstöfsige. Dürfte man &,rı für örıctv nehmen, welcher Sprachgebrauch gewifs Griechisch ist, aber dennoch für den Sophokles bezweifelt werden kann (Hermann z. Aj. 179.), so verschwände die Schwierigkeit; aber mit Recht setzt Seidler dieser Er- klärung die Wortstellung entgegen, indem Zeis nicht zwischen &,rı und r@v dr’ Oidirsv zurav getreten sein würde, da letzteres doch schwerlich von &rciov, sondern von &,rı abhängig zu denken wäre. Noch unzulässiger ist die auf eine verderbte, nunmehr von Bekker hergestellte Stelle des Isokrates (Archidam. S. 173. Bekk.) gegründete Erklärung. Soll man also zu dem beliebten Hülfsmittel der Vermischung zweier Structuren seine Zuflucht nehmen? Wir wülsten dafür keine brauchbare Analogie; denn dafs auf die Partikel &rı bisweilen der Infinitiv folgt (Heindorfz. Plat. Charm. S. 86. erste Ausg. z. Phäd. S. 30. 226.), ist ein in der Anführung fremder Rede natürlicher Übergang ins Indirecte; und die Stelle unseres Dichters, Oed.K. 1401 f. üge uou neues’, orı ol’ eoya dparas üuw eira deug” idv ömei” ErDUTTEV ads, ist zwar nicht durch &,rı zu verbessern, aber sie enthält auch keine = i Ä & 2 £ Vermischung zweier Structuren, der von &rı und von öreicv oder cicv, sondern ganz regelmäfsig ist der Satz von rı abhängig, und ca nebst örci« sind in der Lebhaftigkeit der Rede gegründete Ausrufungen (Sauwesıza): ‚Erinnert ihr euch, dafs, was doch für Thaten vollendet habend, ich nachher wieder wie grofses doch that?’ Die Ansicht endlich, dafs ö,r: und öreiev zwei in Eins verbundene Fragen seien, wie r®s &x rivos vews Aners, müs TI TovTo Asyaıs, ris 70SIev &, ist in einem Programm von Zehlicke über die Anti- gone (Greifsw. 1826.) gründlich widerlegt, wenn derselbe auch in der Ver- werfung des r&s ri zu weit geht; denn in jener Wendung müssen die Fragen immer bestimmt geschiedene sein, Wie kommst du (und) auf wel- chem Schiff? Wer bist du (und) woher? wogegen ö,rı und öreicv, obgleich letzteres die Beschaffenheit anzeigt, nicht so bestimmt ge- schieden sind: kurz dies %,rı — &rciov gehört zu den grammatischen Unmög- lichkeiten, wozu sich kein Beleg geben läfst; und man bemühe sich nur deutlich den Gedanken vorzustellen, ‚‚was, von welcher Beschaffen- heit, Zeus nicht vollendet,’’um ihn zu verwerfen. Auch Vs. 1324. G2 52 Bosexu ci” Eyw Era mo&s veregev idw, ist eine doppelte Frage unpassend; Kreon kann nur sagen, er wisse nicht wie er den einen und den andern Leichnam anse- hen solle; welchen von beiden, kann er nicht fragen; ganz richtig hat Schneider erkannt, dafs woregov (£x«regev) gemeint sei. Doch um zur Haupt- stelle zurückzukehren, so ist die Lösung äufserst einfach. Was Antigone sagen mufs, ist offenbar dies: ag cd’, orı Zeis Tav #arav Ömeiovouv Teidı, jedwede Art der Übel; dies sagt sie auch, aber auf andere Weise. Gleich von vorn stellt der Dichter sie in voller Leidenschaft dar, und läfst sie lauter emphatische Wendungen gebrauchen; daher schon in den ersten Worten die aus heftiger Bewegung hervorgehende Häufung, @ zowev aüradsAder, die zwar auch anderwärts vorkommt (Soph. Elektr. 12. Aesch. Eum. 89. Eurip. Iphig. T.500.), aber hier diesen Zweck hat; daher gleich hernach die kraftvollen Wiederholungen derselben Worte. So setzt sie statt örcıovovv in höchster Le- bendigkeit eine neue Frage, welche jedoch mit der von &g 79a in keiner Verbindung steht. "Ag eir$« ist nehmlich die Frageform, in welcher der ganze Satz steht; örelev cö aber ist nur das frageweise ausgedrückte Object des Zeit- wortes rerel, und folglich ist durchaus keine Vermischung der Structuren vor- handen. Die Sache ist die. Statt oraovovv, jeglicher Art, sagt man frag- weise rolov oöyt, oder, was einerlei ist, öroiov coyi, welcherlei Art nicht? und gerade cüx; zieht man seiner Kraft wegen hier vor. Nur zur Erläuterung, nicht zum Beweise einer bekannten Sache Dem. v. d. Krone S. 241 unt. ei Erauvousvwv zul üßgıLonevwv nal TI narov oÜy,l FATYovruv müTa N olnouluewm MEOTN yeyevo mgodorwv. Auch Sophokles konnte orı ri ouy. reret schreiben, wenn er es nicht wegen des Folgenden vorgezogen hätte, durch öroiov cöxi die Beschaf- fenheit zu bezeichnen. Sowie öroregos statt moTEdos, und orus statt rös häufig ist (Heindorfz. Plat. Lys. $.21.), so hat öreios statt votes kein Bedenken. Übrigens ist väv &rı Zuraw Genitiv, „bei unsern Lebzeiten,” nicht Dativ „uns dennoch Lebenden,’ und zwar darum nicht, weil Antigone nicht sagen kann, ihnen den noch lebenden, nicht todten, werden diese Übel zugefügt: denn der Zusatz &rı &wrawv wäre nichtig, weil ihnen, waren sie todt, nicht leicht Übel begegnen konnten. Sie sagt nur, dafs die Übel vom Oedi- pus her alle noch vor ihrem Tode einträfen, nicht aber sie vorihrem Tode beträfen: was ihr vernünftiger Weise nicht konnte in den Mund gelegt werden. In ed? ars @reg liegt die Hauptschwierigkeit dieses Einganges, welche Didymos (s. Schol.) kurz und gut angegeben hat: Ardunds purw, örı Ev revras über die Antigone des Sophokles. 53 \ , y > ’ ’ PR ’ ’ \ es FAIXt \ 70 arys @rEp Evavrins TUVTETAATUL TOIS suudgadansvons. Acyeı yag surws" cudev yag > „ > ! 2 > ’ y > ’ A D) 7 e mw „ „ NV ETTIV OUTE AAyEIvVoV, OUTE arng0V; OUTE wTYg0V, 0 0UR EYOILEV TAEIS" UTNS arEd dE ETTE \ 3 70 ayaSev. Gesetzt auch @rns @reg sei Schuldloses, welches jedoch nicht glaublich, so kann dies doch hier nicht passen, weil Schuldloses nicht zu den Übeln gehört, sondern nur schuldloses Übel, welches aber nicht in dem schlichten «rss «reg liegt, auch nicht aus dem Vorhergehenden zuge- dacht werden kann; denn «Aysıwcv und alle andern Begriffe, die ihm ent- sprechen, stehen für sich, und ohne dafs aus dem Vorhergehenden ein Kunov dazu genommen werden dürfte. Die Aushülfe, dafs ir’ airygev cur’ arıncv dem our’ arıs are untergeordnet sei, und also zu übersetzen, ‚‚Nihil nec tristenec absque noxa vel turpe vel ignominiosum,”” ist gewils unzuläng- lich. Wollte der Dichter dies, so schrieb er, damit man erkenne, airygev und &rıuev stehe nicht auf gleicher Linie mit dryavev und &rrs @reg, sondern sei letzterem durch neue Theilung untergeordnet, jedenfalls besser UT” arıs areg &ir” airygev er’ arınev; obgleich nicht geläugnet werden kann, dafs auch eure hier gesagt werden kann; nur mufs man dies o’re (statt 9) nicht mit Antig. 1141. belegen wollen, wenn man nicht eine grammatische Unmöglich- keit möglich machen will. Hier ist die Stelle: Kaducv mageıncı za dcumv "Audicovos, oün ES ömolov Fravr” av drIgwrwv Biov cur” alveram” av ovre nenbaiunv work. Sollte hier das doppelte evre statt des doppelten # stehen, so müfste es einer- lei Verneinung mit dem vorhergegangenen U sein, so dafs dieselbe Vernei- nung nur zur Verstärkung wiederholt wäre, wie wenn man sagte: non odi ullum, nec bonum nec malum: allein da zwischen das erste cVz und die bei- den cUre das relative öreiv getreten, ist dies nicht mehr möglich, weil das Relativ einen völlig gesonderten Satz einleitet. Ja auch der Gedanke, wel- cher entsteht wenn eürs für 7 genommen wird, ‚kein Menschenleben, wie es auch steht, gut oder schlecht, möchte ich preisen oder verachten,’’ ist zu auffallend verkehrt, um ihn anzunehmen; denn das Gute, so lange es da ist, mufs man anerkennen, und auch das Böse. Nur wenn dazu gesetzt wäre (was nicht der Fall), ‚,‚ehe das Leben geen- digt ist,’” würde der Gedanke verständig sein. Vielmehr ist oras Als das bestehende Glück, uud hierauf allein bezieht sich «aiveram’ @v; mit Beach- tung des rer: aber mufs der Satz so gefalst werden: ‚Es giebt kein 54 Borcku irgend wie beschaffnes Leben, was ich nicht, wenn es noch glücklich steht, preisen, und nicht wieder einmahl als un- glücklich tadeln möchte.” Der Bote, der dies spricht, beurtheilt Aristippisch des Lebens Werth nach der Lust (1150 ff.); daher lobt er sich das Glück und tadelt das Unglückliche. Nur dieser Gedanke pafst in den Zusammenhang des Folgenden; denn nun wird eben dieser auf Kreon an- gewandt: ,,So war Kreon beneidenswerth in seinem Glück; jetzt ist alles verloren, und sein Leben ein solches, dafs er einer lebendigen Leiche gleich ist.’” Aber abgesehen davon, dafs eure — cüre in dem Anfange unseres Stückes besser durch &re — eire gegeben sein würde, ist denn der Gedanke, ‚‚nec absque noxa wel turpe vel ignominiosum’’ auch passend’? Ich zweifle. Die Übel, von welchem Antigone spricht, sind r« @r’ Oidirev zard, die Übel vom Oedipus her, wozu auch der Tod der Brüder und die Verunehrung des Polyneikes gehören. Dieser werden die Schwestern schuldlos theilhaft; aber in der vorausgeselzten Erklärung des vorlie- genden Ausdrucks müfste die Schuldlosigkeit dem Thäter selbst zukommen: wie den Thätern selbst auch das @aysıwev, das @rıuov, das airy,gov zukommt. Oder ist etwa dem Oedipus, der Iokaste ihr Übel nicht selbst schmerzlich und schimpflich gewesen? ist Polyneikes nicht selbst im Tode verunehrt? Alles Schmerzliche, alles Schimpfliche der Übel des Hauses wird schon bei unsern Lebzeiten vollendet, sagt Antigone; sie setzt also voraus, es hätte auch geschehen können, nachdem sie schon todt waren, ohne minder schmerz- lich für den Leidenden, minder schimpflich zu sein; diese Eigenschaften kle- ben also der Sache an, und nur durch Mittheilung und Mitempfindung haben die Schwestern daran Theil, so dafs Antigone diese Übel als die ihrigen er- kennt. Folglich müfste die Schuldlosigkeit, die in jenem ‚‚absque noxa”” aus- gedrückt wäre, Eigenschaft der Handlung sein, welches offenbar falsch wäre, da nahmentlich Eteokles und Polyneikes nicht schuldlosssind, und das Schimpf- liche, obgleich auch auf die Verhältnisse des Oedipus zur Mutter und die Er- zeugung aus abscheuvoller Ehe, doch schon vorausgreifend gerade auf Polynei- kes bezüglich ist (Vgl. Zehlicke S. 16.). Kann ferner @ry hier Schuld be- zeichnen? Gewifs nicht. ”Arns arep, schuldlos, würde hier heifsen müssen : „Ohne dafs die jene Übel erdultenden eine ihnen zuzurech- nende Schuld hätten:’’ dies ist aber avsv airi«s, nicht arze. Überhaupt ist arm gewöhnlich Verderben oder verderbender Frevel, selten über die Antıgune des Sophokles. 55 blofs Frevel (Schuld), worüber nächst Buttmann Zehlicke genügend gehandelt hat: und nahmentlich in der Antigone ist es nirgends blofse Schuld; selbst Vs. 1245. ist @Aergiav aryy nicht fremde Schuld, sondern ein von einem andern kommendes Unheil, dem eigene Schuld (aöres üwagruv) entgegensteht. Endlich wenn ars areg auf Schuldlosigkeit der Schwestern bezogen werden sollte, liegt es aufser dem hochfahrenden Wesen der Antigone, sich als schuldloses Opfer darzustellen. Auf eine an- dere Weise hat der scharisinnige Leipziger Kritiker die Schwierigkeit zu beseitigen gesucht, nehmlich so, dafs arns areg in sein Gegentheil umge- wandelt wird, nicht durch Änderung, sondern durch Auslegung; wir stim- men dem Zweck bei, aber nicht dem Erfolg. Indem nehmlich die Formel cödlv cUr” Srura als Grundlage des Satzes angenommen ist, wird our’ &rns areg E79” ömolov eu verbunden, so dafs durch die neu hinzugetretene Verneinung das arrs arep in sein Gegentheil (eix arms areg) übergeht. Wir bedauern nur, dafs wenn dies geschieht, offenbar auch das Zwischenstehende oUr" airygev eur” arıv, welches ganz mit jenem cör” @rns @reg gleich steht, in sein Gegen- theil umspringen mufs, weil dies ja nicht übersprungen werden kann; wo- durch man aus der Skylla in die Charybdis geräth; man wende sich wie man wolle, wird man diesem Unheil auf diesem Wege nicht entgehen, und zu- gleich gestehen müssen, dafs diese Erklärung, gegen welche sich mehrere (Zehlicke S. 17f. Merz de particularum un et u4 «w usu S.25.u.a.) erklärt haben, eine Schwindel erregende Durcheinanderwerfung der Worte voraussetzt, und obendrein einen falschen Gedanken giebt. Denn cüdev TWv Tüv TE nauav cur’ aAyewöv omwma our’ cur arıs areg, heifst: Jedes unse- rer Übel habe ich schmerzlich und mit Unheil begleitet: ge- sehen; aber nachdem Antigone gesagt, jegliche Art von Übel voll- ende Zeus noch bei der Schwestern Lebzeiten, mufs nothwendig folgen: „denn nichts ist schmerzlich, nichts unheilvoll, nichts schimpf- lich, was ich nicht unter unsern Übeln gesehen hätte;” nicht aber kann sie sagen, dafs jedem dieser Übel alle diese Eigenschaften zu- kämen. Ohne Bedenken würde ich, um aus jenen alle ächte Sprachanschauung zerstörenden Spitzfindigkeiten herauszukommen, Koray’s verständige Ände- rung @yrs @reg annehmen, welches soviel als «rAcv (unglücklich) ist, wie Aeschylos aycaıs für &nAwrerw gesagt hat, wenn es nicht ein höchst einfaches, sprachgemäfses, und sich an Charakter und Stimmung der Antigone und den 56 Bozrcxknu Gegenstand des Stückes eng anschliefsendes Mittel gäbe, das zu leisten, was Hermann verlangt hat, nehmlich arys areg durch blofse Erklärung in sein Gegentheil umzugestalten. Dafs sie allerdings auch das ürngov, das hervor- stechendste des Labdakidenlooses, unter ihre Übel rechnen mufs, erkannte Didymos schon ganz richtig; und Sophokles zeugt selbst dafür, wenn er im Oed. T. 1233. in der That nur wieder diese Stelle aufnehmend sagt: Nüv d& no” &v Ausgee TrEvaylos, ary, Savaros, airyUuvn, narav 00” Erri mavrwv evo- nar’, eüdev &rr’ rev. Allein in dem vorliegenden Falle ist die «rn nicht gerade das Hervorstechende, sondern die @rıuia, welche in der Verunehrung des Polyneikes liegt, von welcher die Rede ist; und überdies ist das ürngov so augenfällig in den Schicksalen des Hauses, dafs es ungesagt einleuchtet. Dies führte den feinen Sinn des Dichters dahin, Antigone’n die «rn nicht auf gleicher Linie mit dem &ryewev und airygov, sondern gleichsam nebenbei zu nennen. ”Arzs areg ist nehmlich als Zwischensatz gefafst: Nichts ist schmerzlich, noch—.des frevelvollen Unheils nicht zu ge- denken — noch schmachvoll noch entehrend. So ist die «rn, selbst in dem widersprechend scheinenden &rns @reg, dennoch als vorhanden ausgedrückt, aber nur nebenher, und als etwas, was sich von selbst ver- stehe. Dafs dreg (Eures, Xwpis Hesych.) diesen Zwischensatz bilden könne, ist unzweifelhaft; der Pindarische Ausdruck, Aias sei der tapferste gewesen "Ayıreos dreg (Nem. VII, 27.), den Achill abgerechnet, grenzt schon nahe an diesen Gebrauch, und völlig gleich ist Demosth. v. d. Krone S. 2559. ö yag FOTE EVTTÜS TOAEUOS, AVEU TOL naAv öeEav Eveyneiv, &v TaTI TOIS Kara Tov moreucv dbIovwregcis nal euwvoregans dimyayer Ünas TAS vüv eignuns. Die vorher Verwirrung erregenden Verneinungen sind nun völlig in der Ordnung: das vor dem Zwischensatze stehende cüre ist nehmlich nach demselben rhetorisch wieder aufgenommen, theils um den Zwischensatz sicherer abzugrenzen, theils um durch diese kraftvolle Wiederholung die Heftigkeit der Redenden zu bezeichnen, welches auch durch den Zwischensatz selbst geschieht, in- dem ein solches Nicht zu gedenken eine höchst lebhafte Wendung ist; und dadurch, dafs das @rrg6v nur nebenher genannt, nach dem cöre der Ge- danke durch das zwischengefügte arıs areg aufgehalten, und dann durch das wiederholte cürs stark fortgesetzt wird, hebt sich das Folgende als Haupt- sache, und der ganze Nachdruck fällt auf den Hauptbegriff, das Schimpf- liche, der sich auf die Fabel des Stückes bezieht, und den der Dichter über die Antigone des Sophokles. 57 ebendeshalb verdopfelt ausdrückt: eur’ airygv cur” arınov. Der von So- phokles unterrichtete Schauspieler wird dem Sinne durch zweckmäfsigen Vor- trag schon nachgekonımen sein, damit man sah, wie Antigone gleich von Anfang aufser sich und höchst aufgeregt ist: und wer mitempfindet, mufs erkennen, dafs der Dichter alle Sprachmittel unübertrefflich angewandt hat, um den beabsichtigten Eindruck zu erreichen. Hierzu gehört nun auch noch die Wiederholung einer und derselben Verneinung: örslev od ray rar re züuay oüx Erur’ &ym zarav. Abgerechnet die nicht hierher gehörigen Stellen, wo in der Wiederholung ein ö: hinzutritt, wie Aeschyl. Schutzfl. 897. ir: 2c- zaucy cüdau’ «ler, welches ja etwas ganz gemeines ist, tritt diese Wieder- holung meist, jedoch nicht ausschliefslich, nach Zwischensätzen ein, und hat hier, besonders aber, wenn kein Zwischensatz da ist, den Zweck einer kräftigern und heftigern Verneinung, z.B. Aesch. Agam. 1645. Soph. Philokt. 414. Demosth. Phil. IH. S. 119. 5. (Vgl. Note. erit. z. Pind. S.458. Reisigz. Oed. Kol. Nott. critt. S.239.). Um die Kraft klar zu machen, setze ich nur eine Stelle wörtlich her, Trach. 1014. cö müB, eur Eyyuos rıs övisımev cur @rergele; ‚„‚wird nicht Feuer einer, nicht Gewehr, wird er’s nicht gegen mich abwenden?” Jedoch mufs auch hier wieder er- innert werden, wie bei Antig. 1142. in Bezug auf eörs eben gezeigt worden, dafs eine solche Wiederholung derselbigen Verneinung nicht angenommen werden kann, wenn eine Trennung der Sätze durch ein Relativ eingetreten ist, wie bei Thukyd. I, 122. zai oüx isuev omws rade rumv av ueyiorwv Euubepav oüx arrrrarraı, welche Stelle so mifsverstanden wird, als ob das zweite cz ein überflüssiges, das ist die blofse Wiederholung des ersten sei. Der Sinn ist aber vielmehr: ei nescimus hoc non liberum esse a tribus maximis malis. Eine in andrer Beziehung auffallende Wiederholung derselbigen Verneinung bietet Antiphon Apol. S.635. (s. Herm. zur Antig.) dar, cüde rv zivduvev oUx ünbaresregev, statt eur drbarerregev cüdE rev zivduvov, oder zul Tv zivduvev eöz «rd. in welcher Stelle aber nur die freiere Wortstellung zu lernen ist; denn dafs das folgende @r2« die Wiederholung nöthig gemacht habe, ist nicht richtig, indem, wenn man vor ürbanssregov das ciz austilgt, draa so verständ- lich bleibt wie vorher. 23— 25. ’Ereonrda uev, Üs Asyourı, aüv dien ons Seis Öizale nal vouw nura YSevös Engunbe.reis EvegIev Evrumov vergels. Histor. philolog. Klasse 1828. H 58 Borcku In dieser Stelle liegt eine vorzügliche Trefflichkeit“in dem dien dizare, welche niemanden, der sich in den Gegenstand der Fabel hineingedacht hat, entgehen kann. Antigone erkennt das von Kreon aufgestellte Gesetz und Recht, den Polyneikes nicht zu beerdigen, nicht als ächtes und gerechtes Recht an; im Gegensatz dagegen, und weil sie eben die Todtenbestattung als die heiligste Pflicht betrachtet, sagt sie, den Eteokles habe Kreon ,‚‚mit gerechtem Recht’ beerdigt; und der Dichter giebt durch Zufügung des x vouw noch obendrein zu verstehen, wie viel ihm an Hervorhebung dieses Begriffes gelegen sei, um das Urtheil der Antigone über die Gerechtsame in dieser Sache, welches Reisig (Oed. C. Nott. critt. S. 347.) richtig in diesen Worten erkannt hat, gleich im Anfange stark auszusprechen. Nur sehen wir nicht ein, warum gelesen werden sollte: rüv diar, onsSeis dirale, »al vouw: denn vorausgesetzt, dafs „en Seis von xerrSaı kommt, bedarf es des Datives nicht (Heindorf z. Plat. Soph. 8. 4.), indem nehmlich der Hauptbegriff des Satzes, der hier in ’Eresxreu« liegt, sich von selbst als Dativ zuversteht: so dafs man auch nicht nöthig hat, eine unbeweisliche Fügung ygnrSau av rıvı anzunehmen, oder g 8 wie sie Wunderlich (z. Aeschyl. S. 86.) aufgestellt hat, nach welcher rüv ar eine grammatische Unmöglichkeit, dien KensSeis sein soll: cüv dien, KonsSeis aöry. Letzteres ist eben so undenk- ar, als das, womit man es bewiesen hat, dafs Elektr. 47. &gxw eosrıSeis bar, als das, t b hat, dafs Elektr. 47. ogxw gesnıS heifse: opxu, meoTTıSeis aörov, da vielmehr 1227 moosTıJeis nichts anderes ist, als ‚einem Eide verbindend (seine Aussage).”’ Das einzige Bedenken bleibt übrig, dafs yonsSeis statt Yonraduevos weiter nicht bewiesen werden kann; wo- gegen die passive Bedeutung aus Herodot (VII, 144.) klar ist, bei Demosthe- nes (g. Meid. S. 519. 29.) angenommen werden kann, und auch in der Glosse des Hesychios, Kons Inneren, WEnFiReUFEL, zum Grunde liegt. Da jedoch auch R4 . . Rvyraneves und wrnsSeis ohne wesentlichen Unterschied der Bedeutung vor- handen ist, darf man sich durch jene Schwierigkeit nicht zu ungegründeter Anderung verführen lassen, und am wenigsten ern Seis dizaua (dusta rogatus) & lesen: welches xgrrSeis fälschlich dem Triklinios beigelegt wird, da Trikli- nios vielmehr Yen Sels von Ygau (Sermißu) ableitet, und es durch ragayyır- Seis erklärt, indem nehmlich Eteokles als ragayyeiras (Serrires) erscheine, da er gebeten habe, auf den Fall des Todes ihn selbst zu beerdigen, den Polyneikes aber nicht: welche Erzählung denn auch bei der genannten Ver- besserung vorausgesetzt wird, in aller Weise unstatthaft. DieBitte desEteokles über die Antigone des Sophokles. 59 nehmlich, ihn, wenn er fürs Vaterland sterbe, zu beerdigen, welche hier allein in Betracht kommt, ist zu ungereimt, als dafs sie der Fabel oder dem Dichter zugetraut werden könnte, und Triklinios allein hat sie aus der an- dern, den Polyneikes nicht zu beerdigen, ersonnen; allein selbst die andere, mit welcher verbunden die erstere allein denkbar wäre, wenn sie überhaupt denkbar wäre, kennt unser Dichter nicht, und Aeschylos eben so wenig (Sieben g. Theb. 660. 503. 980 ff.). So häufig auch Kreon und Antigone mit allen Waffen ihr Recht vertheidigen, beruft sich dennoch Kreon nie auf eine solche Bitte des Eteokles, sondern der Dichter schreibt die Beschim- pfung des Leichnams blofs dem Kreon zu, der dies als sein Gebot aus- spricht (194 ff.), wo er den Eteokles nothwendig hätte erwähnen müssen, wenn Sophokles jener Fabel folgte; ja Antigone sagt (511.) selbst, Eteokles werde die Nichtbestattung des Bruders nicht billigen: OU Hagrupnrei Tauy & zarSayay vezus, und darum hofft sie auch dem Eteokles lieb in den Hades zu kommen (890. wo, wie der Zusammenhang lehrt, zastynrev zaga Eteokles ist). Erst Euripides (Phön. 786 ff.) hat es erfunden, dafs Eteokles dem Kreon aufgiebt, den Polyneikes nicht zu beerdigen, indem er die Schuld des Kreon mildern wollte, der daher auch in der Euripideischen Antigone nicht die harte Bufse erleidet wie in der Sophokleischen: aber die Unge- reimtheit, um sein eigenes Begräbnifs zu bitten, hat auch Euripides dem Eteokles nicht in den Mund gelegt. Gleich nach der oben behandelten Stelle Vs. 30. ist eisepans mp6s Xagıv Begäs falsch erklärt worden. Dafs rges xeagıw Begas nicht mit Syravgov zu verbinden, ist an sich klar; und dafs rg6s agıv statt &vez« siehe, hat Brunck hinlänglich gezeigt. Eiscgav ist bisweilen ‚‚mit Wohlgefallen beschauen’ (Sturz Zex. Xenoph.), hier „mit Begierde.’ Der unabgewandte gierige Blick der Raubvögel, die durch Scharfsichtigkeit ausgezeichnet sind, wird vortreffllich durch jene Worte hervorgehoben: ‚‚die lauernd auf ihn blicken ob des Frafses.” 39, 40. TV, M raAaipgev, ei Tao” Ev Tours, 7) Aus’ an "barreusa mgosSerumv mAEoV; Die Gewifsheit der Lesart voraussetzend sind wir nur um die Erklärung be- kümmert. Dafs Brunck ganz richtig ri Av 7g07Ssiunv verbunden habe, lehren schon die häufigen Formeln Agov rı &4w oder ruu, cüdey wei mAEov erra: mp5 IerIau Tı heilst etwas für sich hinzufügen, Atov mgcs9erIaı sich Vortheil hinzufügen oder bringen; und so ist der Gedanke ganz 5 H2 60 Borcku richtig: Welchen Vortheil könnte ich mir (oder uns) bringen? Wogegen wenn man mit Erfurdt ri Adoura 9 &barroura verbindet, in der Bedeutung ‚„‚guid negligens vel observans’” nicht allein die Wörter einen Sinn erhalten, den sie nie gehabt haben, sondern der ganze Gedanke un- passend wird, weil Ismene unmöglich glauben kann, dafs durch Vernach- lässigung etwas genützt werden könne! Was ist denn aber Avew und &pe- rreıy hier? Indem man dazu röv vowov verstanden, hat man jenes durch sol- vere, dies durch adstringere erklärt: aber &barreı heifst nicht adstrin- gere (strenger machen), und selbst dieser Begriff ist nicht passend, da nur der Gesetzgeber, nicht der Unterthan das Gesetz strenger machen kann: und auch Aue rov voucv heifst nur in sofern ‚‚das Gesetz übertreten’’ (was es hier doch wohl nach jener Erklärung bedeuten soll), in wiefern die Übertretung des Gesetzes eine Aufhebung desselben genannt werden soll: in welcher Beziehung dieses Aysıy rev veucv doch zu stark für unsere Stelle zu sein scheint; endlich kann rev vouov auf keine Weise zugedacht werden. Die neueste Er- klärung, ‚‚quid ego conferam solvens potius quam accendens, oder quid conferam ad minuendum potius quam augendum malum,’’ giebt theils einen geschraubten Sinn, theils trennt sie fälschlich das r/ Aeev auseinander, zieht Av zum Particip, uud nimmt es gar für potius und % für guam, und beweiset dies alles mit Eurip. Androm. 679. ruv Ö° Eunv Frgarnylav Aeywv Eu Wpercis av 7 vıyav mAcov, wo doch ganz offenbar Av plus, nicht potius ist, und nicht zum Particip, sondern zum Zeitwort gehört: ,‚Du wirst schweigend mir mehr nützen als redend:’’ und wer wird glauben, dafs &parreıy im Gegensatz von Aleıy anzünden heifse? Man erkennt unmittelbar, dafs hier gangbare Redensarten, sprichwörtliche nennen sie die Alten, zum Grunde liegen, wie einen Knoten knüpfen oder lösen, wie z«Sauna Avsı, cöy, una Aureıs (Eurip. Hippol. 671. u. Schol. Suidas in -z«Sauue Avcıs, Zenob. IV, 46.), #&9arra Avcıs (Hesych.), &vsaura aunara (Phot. Etym. Sud. in aroayyarides). Den vollen Beweis liefert So- phokles selbst Aj. 1304. wo der Chor, als Teukros mit Agamemnon wegen des Ajas Beerdigung in Streit gerathen, zu dem kommenden Odysseus sagt: ei un Euvanduv, dAAa FuAAYrwv mageı. In beiden Stellen bezeichnet @rrewv das Zugreifen, um thätig mitzuhandeln, Ave aber das Auflösen der Schwie- rigkeit durch Vermittelung, nur dafs eben wegen des Sprichwörtlichen sich der Ausdruck etwas anders stellt: ‚‚Was könnte ich hier noch nützen, ö über die Antigone des Sophokles. 61 lösend oder bindend?’ Ismene meint, sie könne weder selbst mit Antigone Hand ans Werk legen, noch gegen Kreon vermittelnd auftreten. Auf das &parrew bezieht sich dann der folgende Vers: &i Zuurevnrais zal Euveg- yarcı, vzor&. Wie nun in dieser Stelle der Sprachgebrauch zu der richtigen Erklärung leitet, ebenso mufs auch Vs 88 bei Yuxgeisı dem Sprachge- brauche gemäfs wieder Erfurdt’s Erklärung zu Ehren kommen, indem die Hellenen Unnützes ‚‚Frostiges’ nennen, niemals aber Schauder- erregendes, wofür das Wortspiel des Aeschylos (Prometh. 693.) Wiyew Yuyav keinen Beweis abgeben kann. Man mufs nehmlich hier nicht wie geschieht, eine grofse Würde des Gedankens suchen, sondern Unwilien der zarten Ismene über die beleidigende Heftigkeit der Schwester, einen Unwil- len, der sich in einem spitzen Ausdrucke Luft macht: ‚‚Du hast ein hitzig Herz bei frostigen Dingen,’’ das ist bei eitlen, nichtigen. Wir bemer- ken noch über den übrigen Prolog ohne Beweis, der leicht zu führen wäre, dafs Vs 48. das von Brunck zugefügte # entbehrlich, Vs 50. 51. nach @rwrero und nicht nach aurraznudruv ein Komma zu setzen, Vs 57. em’ arryrcıy statt des unbewiesenen und sprachwidrigen &rarrnacıv wieder herzu- stellen, und Vs 60. nach mugeZuuev ein Kolon zu setzen ist. 117 — 126. Zras 6° Umeg HEraSowv bovw- varıy dudıyavav aURAy Aoyyas EmTamurv GTouc Ba, wow moI” duerEgwv aiuarwy yevuzıv INT SHval TE zul Frebavuıc mUgywv meunaevI” "Hbaısroy Ereiv. Tolos dudı vor’ Era Tarayos "Ageos dyrızanw Öusyeigwiu Öpdevri. i E Im Anfange dieser Stelle entspricht peviasw oder pawiarı dem Versmaafse nicht, und Erfurdts Umstellung, die nicht einmahl eine reine Entsprechung zur Strophe erreicht, ist gegen alle Wahrscheinlichkeit. Den ganzen Sinn erfüllt devdrausw, und leistet zugleich die genaueste Entsprechung: 75 z«r- Ausrov, devw-raısw. Mordbegierige Lanzen erwartet man; denn alles ist hier auf die Begierde gestellt; und oväv hat Sophokles auch Philokt. 1209. dov&, bev& vecs An (Schol. Savarız, Savarev EmiSvnel, nicht ganz genau): die genauesten Erklärungen davon, um Manches andre zu übergehen, geben 62 Borcexu Galen Gloss. Hippoer. pevi&, Yevevew ErıSunel, Hesych. pevav, 75 Ei dovov uu- verIa: bevara, deveu Emrtuusüre: dovwvrwv, moös övov Sgaruvenevuv ul Mil- veufvwv. An unsrer Stelle sagt der alte Scholiast: rais r@v bevwv owraıs Adyyaus, was eben gerade bevuraısıy scheint. Vs 122. ist vielleicht &urrs- rSäva zu lesen ohne rs, welches von Triklinios zugethan scheint: die vierte Sylbe erlaubt die Länge statt der Kürze. Von wem ist aber diese ganze Ge- genstrophe zu verstehen, und was für ein Bild schwebte dem Dichter vor? Dies zu betrachten, veranlafst besonders das Ende, wo der Drache gewöhn- lich als Bezeichnung der 'Thebaner angesehen wird. Dieser Tag, sagt der Chor, hat den weifsbeschildeten Mann vertrieben, das ist, das in seinem Führer Adrast als Person gedachte Argivische Heer (106 ff.); das Argi- vische Heer aber, sagt das zwischengesetzte System, heranführend flog Po- lyneikes einem Adler gleich in unser Land. Dieser Gedanke ist je- doch nur relativ an den vorigen angeknüpft, ov &b’ üneregge y@ Tloruvsians u.s.w. und Hermann scheint ganz richtig zu bemerken, dafs in der Lücke Vs 112. kein Zeitwort, sondern nur ein Particip ausgefallen ist; ergänzt man also elwa so: cv Eh’ auereg@ ya HloAuveinne dgSeis verzewv EE dubıreymv [dyayav Sougres] &Eka ardlwv ee (WETOS ES Yuav WS UMEDETTFO, so erhält der ganze Satz des Systems, als völlig von dem Relativ ©v abhängig, durchaus keine Selbständigkeit, und es wird klar, dafs das Subject der Ge- genstrophe nicht Polyneikes ist, der nur im relativen Satze genannt war, sondern rr&s sich auf pär« (107.) zurückbezicht, also bei sr«s und dem Folgenden das Argivische Heer zu denken ist, auf welches auch allein alles Folgende pafst, und nicht auf Polyneikes, zumahl da von Flucht die Rede ist (124.), Polyneikes aber nicht floh, sondern das Argivische Heer. Da nun nicht der Argivische Mann oder das Argivische Heer, sondern nur Poly- neikes mit dem Adler verglichen ist, so sieht man gar nicht ein, weshalb die Ausleger das Subject der Gegenstrophe von or«as an, wofür man sogar ras vorgeschlagen hat, unter dem Bilde des Adlers gefafst haben: gleich ar«s pafst nicht wohl zum Adler, zUzAy duprgavav kann er auch nicht füglich heifsen, weil er nicht zugleich um die ganze Stadt herum sein kann; und wenn man hier den Kampf zwischen Adler und Drachen, der öfter erwähnt über die Antigone des Sophokles. 63 wird, von Sophokles berührt glaubte, so mufste ja erst bewiesen sein, dafs das Argivische Heer als Adler, das Thebanische als Drache dargestellt sei; jenes ist aber, wie eben gezeigt, nicht der Fall, und letzteres, wie gleich folgen wird, eben so wenig. Vielmehr führt blofs Polyneikes einem dem Heere voranfliegenden Adler gleich den Argivischen Mann herbei; der Argi- vische Mann aber, anfangs ganz bildlos, steht die Häuser überragend (rras irtg ueraSguv) zum Theil schon auf erstiegener Mauer (131.), ist herumge- gossen mit blutgierigen Lanzen um die Stadt, flieht, ehe er die Thürme angesteckt oder verbrannt, che er, wie nur Tydeus that, die Kiefern mit Thebanischem Blute gesättigt: selbst diefs letztere ist kaum blofs Bild, da ganz bildlos Euripides (Phön. 1176.) von Tydeus sagt: yevuy zaSruarwrev. Um jedoch die grausame und furchtbare Gier des Heeres anzuzeigen, giebt der Dichter ihm Beiwörter wie einem wilden Tbiere: es umgähnt die Stadt mit Lanzen, wie ein Thier mit gezähntem Rachen; Blut saufen will auch das Thier. Die eigenen Formeln mufsten den Dichter allmählig dahin führen, das Argivische Heer zuletzt einen Drachen zu nennen, auf welchen das Ge- sagte vorzüglich pafst. Dies hat der Dichter denn auch zuletzt gethan, ob- gleich die Ausleger es meist nicht anerkennen wollen, weil sie das Vorurtheil gefafst haben, der Drache müfste das Thebanische Heer sein. Im Rücken des fliehenden Heeres erhebt sich gewaltiges Kriegsgetümmel (der TAETayoS des Thebanischen Ares); dies heifst dvrır aa dgaxevrı dusyeiguna; denn die Leseart dvrırarev Ögazevres verdient gewifs keine Berücksichtigung. Da avrı- zury müfsig wäre, wenn nicht der Gegner des (Thebanischen) maraycs "Ageos gemeint wäre, so folgt unmittelbar, dafs dg«zwv das Argivische Heer sei, welchem das Thebanische Kriegsgetümmel ein öusyeigune, ein schwer zu überwindendes ist: wogegen, wenn do«zwv die Thebaner bezeichnete, selbst von Seiten der Sprache, wie auch des Gedankens, kein Ausweg gefun- den werden könnte. Denn dafs hier der Dativ bedeute propter adversa- rium draconem, konnte kein Hörer merken; die neueste Erklärung aber, wonach dusyerwua Ogazevrı ‚„„den wegen des Todes des Eteokles traurigen Sieg” bezeichnen soll, führt ganz aus dem Zusammenhange heraus, da hier nicht von dem Kampfe der Brüder, sondern von dem Sturme auf Theben gesprochen wird, und der Chor den Eteokles eben nicht so liebt, dafs er wegen seines Todes traurig sein sollte (rAav reiv aruyepoiv, sagt er Vs 144.): und überdies ist ja der Chor gleich von Anfang höchst erfreut über 64 Boerceku diesen herrlichen, und keinesweges traurigen Sieg. Dafs übrigens der Drache ein Thebanisches Zeichen sei, weil die Kadmeer Drachensaat (Vs 1112.), ist fast durch nichts zu erweisen, wiewohl auch der Scholiast unter an- dern Meinungen ihn auf Theben, und wieder sehr wunderlich auf der Argiver Führer Polyneikes als Thebaner bezieht; mir ist nur das ziem- lich entfernt liegende Schiffzeichen der Böoter, Kadmos mit einem goldnen Drachen (Eurip. Iph. A. 256.), und der Drache auf Epami- nondas Grab (Pausan. VIII, 11, 5.) bekannt, der aber dafür, dafs der Drache ein Zeichen der Thebaner sei, nichts beweiset, weil dies Zeichen bei Krie- gern oft vorkommt, wie auf dem Schilde eines Haliartiers (Plutarch Ly- sand. 29.), des Ajas, des Menelaos (Welcker Zeitschr. f. Gesch. u. Ausl. d. alten Kunst Bd. 1. S. 574.): die Spartaner werden zwar mit Drachen verglichen, hatten aber nicht dies Zeichen (Corp. Inser. B.I. S.57.). Ganz fälschlich würde man ferner behaupten, wenn die Argiver den Thebanern gegenüber ständen, könnten nur letztere durch den Drachen bezeichnet werden; vielmehr haben die Tragiker, weil der Drache ein furchtbares und blutdürstiges Thier ist, ganz unzweideutig in dem Kampfe der Argiver gegen Theben immer nur jene als Drachen bezeichnet, und Drachen und Schlan- gen ihnen auch als Schildzeichen gegeben; so dafs auch von dieser Seite unsere Erklärung völlig gesichert ist. Bei Aeschylos in den Sieben (276.) fürchtet sich der Thebanische Chor vor den Argivern wie die Taube vor dem Drachen; Tydeus der Argiver brüllt wie ein Drache (365.); Hippo- medon hat Schlangen auf dem Schild (ebendas. 480.). Nach Euripides (Phö- niss. 1151 ff.) sind auf dem Schilde des Adrast hundert Nattern dargestellt; auch eine Hydra ist sein Zeichen, welches ausdrücklich ’Apyeicv auynu« heifst, also wirklich ein prahlendes Feldzeichen der Argiver jener Zeit gewesen sein soll; und man sah an seinem Schilde, wie Drachen mitten aus Thebens Mauern der Kadmeer Kinder wegschleppten: ganz als ob Euripides die Stelle der Antigone vor Augen gehabt hätte. Auch bei Pindar (Pyth. VII, 48.) schwingt der Fpigone Amphiaraos Sohn Alkmaeon, dem dies Zeichen von Melampus her zukommt, den Drachen auf dem Schilde vor Thebens Thor. Wie unrichtig hat man also geurtheilt, dafs es eine Nachlässigkeit des Dich- ters gewesen sein würde, wenn er die Argiver als Drachen vorgestellt hätte! Wir fügen noch einige kürzer gehaltene Bemerkungen über die Pa- rodos bei. Wie wir Vs. 113. üs beibehalten haben, welche ohne Grund über die Antigone des Sophokles. 65 verwiesen worden, so können wir auch Vs 130. die Veränderung Uregerras um so weniger billigen, da der alte Scholiast sowohl als Triklinios nur üreg- errias gelesen haben, welches sie Theils als Genitiv statt ürsgeılias, Theils . .. e d e 4 als Accusativ erklären durch vrsgogovas, Umeoßelnzoras u.s. w. Das erstere, meghgovas, ist aus Triklinios auch der Augsburger Handschrift als Glossem bei- Sn geschrieben. Ich vermuthe, dafs von Ümegomrns Ümegomreia gebildet wurde, wie von &rerrrs Erorrsie (nicht das Amt, sondern das Wesen des &rerrrs, die Aufsicht); davon ist ürsgorri« nur orthographisch verschieden; ürsgorreias hängt aber von öeuuarı ab, und zavayrs von Üregorreias: „Im Strom des - Übermuthes des Goldgeräusches,”’ d.h. des übermüthigen Goldgeräusches. Die Abhängigkeit der gehäuften Genitive von einander ist um so weniger hart, da der erste vom zweiten, der zweite vom dritten abhängt. Vs 134 f. würde es falsche Sprachanschauung sein, wenn man @vrirura bis rugpeges als Zwi- schensatz nehmen wollte: &s bezieht sich eben sowohl auf mugdeges als auf ög- püvra, wie wenn es hiefse: bimrei eguävra Eneivov, Ewere de mupbögcs exeivos, 6 u.s.w. Vs 137. geht ders Eydirrav dveuwv nicht auf Flammen, wie es auch der Scholiast nicht gefafst hat; ‚‚Rasend stürmt er heran mit den feind- seeligsten Windstöfsen,”” d. h. im feinseeligsten Anlauf, wie öir«! aveuwv sehr häufig vorkommt. Vs 138. 139. geht aus den Quellen der Leseart mit Beob- achtung der richtigen metrischen Grundsätze dieses als das hervor, was So- phokles geschrieben haben mufs: eye 0° ara Ta Ev, (-u-2082) ara 0° Em’ arras Erevuna Fruberlluv MEyas "Aons defiöreiges. Hier ist @&22« d& statt r@ de: indem nun letzteres über ersteres Erklärungsweise übergeschrieben wurde, ist die alte Leseart entstanden: eye Ö’ arra. ra usv ara (oder arre) rad’ Er’ arrcıs, wovon wieder Einiges von den durch Ho- moeoteleuta getäuschten Abschreibern ausgelassen wurde. Die Leseart EYE ara uv are, 7a 0°’ Em’ aMrcıs u. s. w. wofür Aeschyl. Zumen. 533. nicht den mindesten Beweis giebt, ist darum schon unmöglich, weil ey are 1% (wofür doch arauws besser gewesen wäre) heifst: Hier gieng es so, dort an- ders zu; worauf nun nicht mehr r« 8° &7’ @arcıs u. s. w. folgen kann, indem dies völlig tautolog wäre. Dafs de£icre:ges durch den Anklang an das deZıov (das Günstige) den glücklichen Ares bezeichne, ist wohl an sich klar, wenn der Ausdruck auch von dem starken rechts gespannten reıgapeges hergenommen Histor. philolog. Klasse 1828. I 66 Boscku ist: und der Dichter will nicht sagen, dafs hier die Argiver, dort die The- baner siegten, sondern durch r« nv und «Ara ö& bezeichnet er nur, dafs an einer Stelle die Argiver so fielen, wie der obengenannte Kapaneus, an an- dern aber wieder auf andere Weise. Vs 143. sind unter rayyarra r&in nicht Waffen zu verstehen, die als Weihgeschenke aufgehängt werden, sondern zu Tropäen geordnete ravorAiaı, wie schon Zyvi Tgomamy zeigt. Auch über das erste Epeisodion fasse ich mich kurz. Im Anfange setzt Kreon seine Regierungsgrundsätze auseinander, wie man besonders aus Vs 178. 184. 194. 207. (revö’ &uöv govaua) sieht, welcher letztere Vers sich genau an Vs 176. (Yuxv re zal Bpcvnna) anschliefst. Vs 175 — 177. schickt Kreon dieser Darstellung seiner Gesinnung einen Spruch voraus, dem Tri- klinios mit Recht das «9x4 avdga deiZeı vergleicht, nehmlich, ‚‚dafs man des Mannes Gesinnung nicht immer erkennen könne, ehe er im Staate thätig erschienen.’” ’Evraußns heifst daher hier nicht bene versatus, sondern blofs versatus oder versans: nähme man das erstere an, so wäre der Gedanke doppelt falsch, weil nichts mehr an ihm zu erkennen ist, sobald man ihn schon als gut erkannt hat, und weil überhaupt nicht vorausgesetzt werden kann, dafs er nur als gut werde erkannt werden, indem man ihn ja auch als schlecht befinden könnte. Vs 208. ist vgeeZer’ u. s. w. wieder herzu- stellen; ‚‚ich werde nie den Schlechten mehr Ehre erzeigen als den Guten’ ist ein hyperbolischer Ausdruck, wie ihn der heftige Eifer liebt, da hier eigentlich nur von Gleichstellung der Schlechten mit den Guten die Rede sein sollte. Die Worte Vs 211. 212. sei raUr’ ügerneı rov Those Öusvav nal rov eümevy mercı können nicht durch Veränderung der Structur erklärt werden, da eine solche Veränderung ganz unveranlafst ist, und jede Veränderung der Structur ihren Grund haben mufs. Der Accusativ rev rpde dusvev u. s. w. ist der gewöhnliche, den man durch z«r« zu erklären pflegt: ‚‚dir gefällt dies in Bezug auf diesen und auf den andern.’’ In der fälschlich verglichenen Stelle Eurip. Zon. 695. (708. Herm.) zörsg’ Eu dermowg rade rogüs Es oUs yeywvAronev rorıv, ist vollends nichts auffällendes, da Aeyew rwa rı be- kannt ist. Vs 225. hat das &rısareıs schon der Scholiast richtig erklärt mit den Worten &rısas &royıraumy. Vs 263. @Ar’ Epevye 70 un eudevaı, muls nach dem Zusammenhange der Sinn sein: sondern jeder behauptete nichts davon zu wissen, wie Vs 531. &£euei ro un eiöevau Dieser Sinn liegt auch in den Worten: Er floh das Wissen; denn px ist nach unserer Sprach- über die Antigone des Sophokles. 67 weise überflüssig, wird aber bei $evyaır gewöhnlich zugesetzt (Buttmann z. Demosth. Meid. 2. Ausg. S. 144.): dies hat bereits Merz de vero ac genuino particularum wa et wg od usu S. AT. bemerkt, auch Zehlicke ausgeführt, und die Ansichten anderer widerlegt. Des Versmaafses wegen ist nur rs zu tilgen, was sehr leicht Erklärungsweise zugefügt sein kann, da man allerdings den Artikel erwartet. Vs 286. ist so zu schreiben: veous FUQWswV re aavasnuare, za yav u. s. w. denn Tempel und Weihgeschenke sind als Gleichartiges zu verbinden. Vs 288. mufs Schäfers Erklärung wieder zu Ehren kommen, dafs 4 dem oregev entspreche, wie der Gedanke leicht lehrt; ‚Ehren die Götter den Polyneikes als Wohlthäter, der recht handelte, oder glaubst du, dafs sie auch den Übelthäter ehren?” Vs 313. lasse man sich die neue Erklärung tor ı\ . . ‚ n steht in Beziehung auf rös wAelovas, welches eben so gut als rAsiovas ohne A . m .. . . wonach 7 von einem gedachten u@Arev abhänge, nicht einreden; Artikel ein # bei sich haben darf, weil der Artikel nichts ändern kann: es wird nichts erfordert, als sich in die Hellenische Anschauungsweise hinein- zufinden, die hier von der Deutschen abweicht. Vs 320. ist @Anu« einzig richtig: der Wächter ist zwar schwatzhaft, aber nicht gerade hier; hier er- scheint er als Spitzfindler, als ein durchtriebener Geselle, worauf auch Vs 324. zouleve zielt; und so ist auch erst die Antwort desselben (321.) ver- ständlich: ‚Du erklärst mich zwar für pfiffig; aber an dieser (listigen) That, der Beerdigung des Polyneikes, bin ich dennoch unschuldig.” Vs 323. ist der nicht von allen getroffene Sinn: ,‚O wahrlich schlimm, wem gut dünkt dafs ihm Falsches dünke,’ d.h. schlimm, wenn jemand beschlossen hat Falsches zu glauben. Das erste Stasimon geht von dem Gedanken aus, dafs der Mensch das Gewaltigste sei: dtv dudgurs deweregov m&rcı; die unter diesen Gedanken un- tergeordneten Einzelheiten sind, wie er Land und Meer, die lebendige Natur wie die todte, sich unterwerfe, sich das Vernunftleben und den Staat er- schaffe, zugleich aber auch in kühnem Streben die Grenzen überschreite, und nur des Todes nicht mächtig werde: alles in genauer Beziehung auf das Wesen des Stückes. Die Verknüpfung des Besondern mit dem Allgemeinen liegt Vs 334. in roüro xl word megav u.5.w. Nimmt man dies rouro für darum, so erscheinen alle Einzelheiten als abgeleitet aus dem allgemeinen Gedanken, der als ausgemacht und sicher vorausgesetzt würde; welches of- fenbar unpassend ist: vielmehr stellt der Dichter den allgemeinen Gedanken 12 68 Boecku voran, um ihn durch alle Einzelheiten erst zu bewähren: ‚‚Nichts ist gewal- tiger als der Mensch; denn er unterwirft sich alles.” Ähnlich Vs 295. Toöro ist also der Mensch; das Neutrum hat aber hier nicht wie gewöhnlich etwas Verächtliches, weil es durch die vorhergehenden Neutra, rerA« r« dewa nädev ardoums deiwvoregov m&rcı, veranlafst ist: der nachmahlige Übergang ins Masculin bedarf keiner Erklärung. In dem ersten Strophenpaar finden wir weiter nach dem Vorgange der frühern nichts zur Lösung der freilich noch nicht sicher entfernten Schwierigkeiten zu bemerken; auch lassen sich die Verse leicht abtheilen; nur ist der Schlufs nicht wie geschieht, mit einer Basis und dem Ithyphallieus zu machen, sondern der erste Spondeus des letzten Verses giebt die Katalexis der vorhergehenden Dactylen, wie von uns und einem andern schon bemerkt ist. Das zweite Strophenpaar setzen wir hierher (352 — 371.): ‚ ’ = —- VUVV- UV Vv-vVv—-yvVv-vu— ’ —- uyv-uv- vu... vo ’ ee ’ ’ v-u-— vo ’ ’ =- UVUUvVvVVv—- vv. uy- Vu u ’ ’ =. —_—_ u. Vu vv. ’ ’ — vv day. Kai pheyua zai Aveucev poovnua nal dsuveues öpyas edidakaro, zal dvsaumwv Tayav [ör]adefe]« za övsouß@ga bevyew Bern. j} Y Fe NN Y \ ’ WUvTomoges aroges Em ädev EOYETaL To MEAAOV "Ad 12 mE 2, - a s 10@ Jovov DEUZIV ER EWUZETAL voruv d’ dunyavay buyas Eunrepgarraı. ’ \ I ’ x > I „7 Zobov Tı TO UNYavoEv TEYVaS Ümeg EATIO EX,wv \ \ [4 Yin 43.7.3753 g \ c/ TOTE EV HaHov, aANoT Em EoUAon EgTEl, ’ ! ’ voluds TragEigwv ylovos, E7 7 , Sewv 7” Evopxov dixav. 4 BD c A \ \ ! ihrroris amorıs, orw To UN AaAov Euvesw. ! I G > N ! TerMaS Yagıy unT Euol TagEsIoe YEvarTo AMT iTov Bgoviv, 05 rud” eoden. über die Antigone des Sophokles. 69 Wie Vs 579 ff. beginnt die Strophe mit ruhigem daktylischem Rhythmus, und geht dann, völlig angemessen dem Gedanken, in gewaltsamere über. Die Verbindung von Rhythmen, die hier den ersten Vers bilden, ist nach sichern Analogien der Lyrik unzweifelhaft; den Schlufs des zweiten Verses, der zu- gleich den ersten Theil der ganzen Strophe endigt, würde ein wohlgewöhntes Ohr auch ohne die Interpunction in der Gegenstrophe finden können; und nun erst gestaltet sich der dritte Vers zu einem passenden Rhythmus, dem der vierte, wie ich ihn gebildet habe, gleich ist, wie auch die darin liegenden Gedanken gleich sind, nahmentlich in der Gegenstrophe; und auch die In- terpunctionen, wie sie meines Erachtens zu setzen, stimmen mit dieser Ab- theilung überein. In der Strophe ist der dritte Vers verderbt; das oben gesetzte UmarIgeia halte ich für sehr unsicher, und gebe es nur Bespielsweise: das &ı der vorletzten Silbe habe ich nur der Deutlichkeit wegen gesetzt, um ı zu bezeichnen, wie diese Silbe in 7 «iSgi« mehrmals lang vorkommt: denn dies lange ı und &ı ist nur orthographisch verschieden, und vrarSgeıss konnte neben ürarSgios eben so gut bestehen als irreıcs neben irzıcs. Die Verbindung des rav- Tomcgos arepes und ülrreris arerıs werdeich nachherrechtfertigen; hier bemerke ich nur, dafs die drei letzten Verse auch zu zwei geformt werden könnten: ’ — — ’ ’ = u VB GV v— vb u- ’ ’ ’ ’ I -V-VUV-V-V-V-v- u-|-u-—_ vw und wenn man in der Gegenstrophe nach reAras %«aw interpungirt, könnte dies wahrscheinlich werden: allein r@ruas %agıw kann eben so gut zum Fol- genden gehören, wodurch in Strophe und Gegenstrophe übereinstimmende Interpunction entsteht. Im Anfange sagt der Dichter: ‚und der Mensch erfand sich die Sprache und luftige Weisheit (9feyua za avsızcev pocvnua) und staatlen- kenden Sinn.’’ $gevnua ist hier offenbar die Weisheit objectiv, wie Hheyua die Sprache; dveucev aber was ist das? So viele Stellen man auch beibringen mag, dafs dveucsıs schnell sei, und die celeritas consilii bezeichnet werde, beweisen sie alle nichts, weil darin nicht vom Geiste die Rede ist, und der Gedanke nichts Passendes hat: ‚‚der Mensch erfand sich schnellen Sinn.’ Eben so fremdartig wäre aber hier die meteorisch-physische Weisheit. So- phokles spricht vom Staat, auf dessen Verhältnisse die gesammte Tragödie sich bezieht; dieser wird durch die Sprache gelenkt; zwischen der Sprache 79 Borcku und dem staatlenkenden Sinn aber nennt er die ‚‚luftige Weisheit,’” höchst geistreich damit eben ‚die im Lufthauch ausgesprochene’ bezeichnend, vor- züglich mit Bezug auf die politische Beredsamkeit, von der dann der Über- gang zu den drruvöneis &gyais höchst natürlich ist, die verwandt mit jener sind, aber damit nicht einerlei. Nachdem nun noch mehreres auf das bürgerliche Leben bezügliche hinzugefügt worden, und zuletzt das duseußga peuyew Bern, folgt das vavrorcges, welches die Neuern zum Vorhergehenden gezogen haben. Dies wäre möglich, wenn mavromeges auf alles Vorhergegangene bezogen wer- den könnte: allein es würde sich der grammatischen Fügung gemäfs blofs an Öusou@ge peiye Bern anschliefsen, und um dabei zu stehen, ist es zu bedeut- sam. Mit richtigem Gefühl hat es daher der Scholiast dem Folgenden ver- bunden; und die Gegenstrophe, wo ülrrers zum Vorhergehenden gezogen wird, kann dagegen nichts beweisen, da vielmehr auch dort üVirers arorıs zu verbinden sein wird. Interpungirt man an beiden Orten so, dann ent- steht auch erst ein passender Rhythmus, indem man der Interpunction fol- gend wavrorogos @regos und ünlimors @rcrıs in Einen Vers bringt: der vor- hergehende wird nehmlich dann dem dritten gleich; und in dem fünften ent- steht eine dem Sinn angemessene Häufung der Kürzen, wodurch nahmentlich in der Strophe das Lebendige und Bewegliche in den Begriffen MavTomögos und @reges gemahlt wird, worauf Sophokles eben so aufmerksam wie Pindar gewesen ist. Endlich hebt sich der Gegensatz der Begriffe auch nur dadurch gehörig, dafs sie in Einem Vers und Satz zu einem Oxymoron (wie Kagis @,«g15) verbunden werden; und mavromöges öv kann kein Kundiger verlangen. Demnach ist der Sinn in der Strophe: Allratherfüllt geht rathlos er zu nichts Künftigem:’ nur ist zu merken, dafs wie in EOWETaL so auch in wayroroges @reges der Begriff des Wandelns liegt. Was nun die Gegen- strophe betrifft, so müfste üireris allerdings zum Vorhergehenden gehören, wenn darin zuerst vom Guten, nachher vom Bösen die Rede wäre, und von letzterem erst in den Worten @rorıs örw u. 8. w. gesprochen würde: allein abgerechnet, dafs hierbei keine rechte Folge der Sätze gewonnen werden kann, auch dann nicht, wenn man die ganze Stelle von veuzs bis Zuvesw oder rexuas %agıy an das vorhergehende Partieip &%wv anschliefst, so liegen zu viele Kennzeichen in der Stelle, dafs sie blofs vom Bösen handle. Sehr richtig hat Hermann ausgeführt, dafs rageigew ein Einfügen oder Ein- reihen des nicht hineingehörigen bezeichnet (FageısQarreı Suid.), über die Antigone des Sophokles. 74 und es ist schon hierdurch und durch Vergleichung von ragaßaivew und ähn- lichen Worten klar, dafs voues vageıpew %9evcs etwas Schlechtes sein müsse, falsch reihen, verwirren, also verletzen. So gefafst, ist es auch pas- send, dafs mit genauer Bestimmung und Nachdruck die Rechte unterschieden und die Heiligkeit des einen wenigstens hervorgehoben wird: Verwirrend der Erde Gesetze, die menschlichen, und das eidliche Recht der Götter; wogegen wenn vom Beobachten der Gesetze die Rede wäre, kein Grund da war, gerade das Eidliche hervorzuheben: eben darin besteht das Bedeutende, dafs selbst Eidliches verletzt wird. Auch die Heftigkeit des Rhythmus räth die Stelle vom Bösen zu verstehen. Kurz das Gute ist zu Anfang nur als Gegensatz neben dem Bösen und nach diesem genannt; weil der Dichter aber in der Tragödie einerseits in Kreon die leidenschaft- liche Verletzung des göttlichen, in Antigone aber die Überschreitung des menschlichen Gesetzes darstellt, führt er nur das in diesem Gesange aus, dafs der Mensch mit den schönsten Gaben ausgestatlet auch das Böse in sei- ner Kühnheit unternehme. Der Schlufs des Chors, &s ad’ egder, erfordert auch nothwendig, das vouss bis dizav auf die Verletzung der Rechte zu be- ziehen, weil im Vorhergehenden keine Thaten weiter erwähnt sind als diese: denn örw 78 mi zurev Euvesw enthält nicht den Begriff einer That. So darf also üirers nicht mehr als der Gute im Gegensatz gegen @rerıs genommen werden, sondern beides geht auf den Rechtverletzenden. ,‚,‚Selbst auf der Höhe des Staates (wie Kreon der Machthaber, Antigone die Königstoch- ter) ist staatlos, wem nicht das Gute beiwohnt.’’ Bald hernach Vs 378. wo die alten Bücher Rarırzcıs haben, dürfte @raysrı zu schreiben sein. Vs 428. ist yausis de vortrefilich und wiederherzustellen. - ! 4 \ Ind 4 ! 446 — A5i. Oü yag ri nor Zeus A ö anguEas ruds, B E ’ n r n old’ n Zuveinos ruv narw Jewv Air, ed ’ 2 > ’ ec [4 ol ToUso Ev dvdgurasw wgLTav vonous. >N\ g (4 a Eu \ ’ oide aeveı ToTourov Wounv Ta Ta 7 \ = „ = wa m nneuyuah’, us Taygarra ndrparg Tewv ’ NW Tee) e m venına Öduvardaı Sunrev v9” Urepöganeiv. Tr N . 1 . . . Wollte man Vs 448. reis für reVsde schreiben, so würden die gesammten Gesetze der menschlichen Gesellschaft gemeint sein, da doch der Zusatz % I m 7 nm . & u . Ewvezos ray zaru Tewv zeigt, dafs nur von den Gesetzen in Bezug auf die 12 Borexu Bestattung die Rede sei. Die aber rovsde festhalten, sehen diese Worte der Antigone gleichsam als eine Parodie der Worte des Kreon an: zu gr’ Erer- nas Touso” üreg@uwe vouous; oder rcvsde in der Rede der Antigone soll wie im Vorhergehenden die Kreontischen Gesetze bezeichnen, Sophokles aber nachlässig gesprochen haben; als ob nehmlich ö ungukas rade nicht gesagt wäre, habe er ol roisd’u.s. w. auf Zeus und Dike bezogen, da eigentlich 4 ousd’ Ev dvßg. dgirev vencvs hätte gesagt werden müssen. Nach jener angeb- lichen Parodie nun fafste Antigone reusde voucvs als die Gesetze, welche Beerdigung gebieten, während Kreon das Entgegengesetzte darunter meinte; allein dies ist etwas ganz unstatthaftes, indem es gar nicht in einen klaren Gedanken gefafst werden kann. Die andere Erklärung dagegen bürdet dem Sophokles, wie oft ganz unbillig geschieht, nicht blofs Nachlässigkeit, sondern in Wahrheit Gedankenverwirrung auf. Ich finde keinen zwingenden Grund, weshalb revsde veucvs in Kreons und Antigone’s Munde denselben Sinn haben sollte; dagegen hat es auch nicht den entgegengesetzten. Kreon meint sein Gesetz, den Polyneikes nicht zu beerdigen; Antigone meint nicht insbe- sondere das Gesetz, die Todten zu beerdigen, sondern die Gattung der Ge- setze überhaupt, nehmlich die Gesetze über Bestattung und Nicht- bestattung. „‚Ich wagte es, sagt sie, deinen Befehl, den Polyneikes nicht zu beerdigen, zu verletzen; denn du nur hast ihn gegeben, nicht Zeus noch Dike, die allein die bindenden Gesetzgeber in Bestattungssachen sind. Hät- ten diese verboten, den Polyneikes zu beerdigen, so würde ich es nicht gethan haben.”’ Der Scholiast, den meist ein richtiger Takt leitet, grenzt nahe an diese Erklärung. Vs 450. habe ich ös s@ygarra geschrieben; us ist untadelich, und der Artikel giebt der Rede mehr Kraft und Bestimmtheit. Fälschlich wird endlich Synröv ou’ Uregöganeiv auf Antigone bezogen; nicht zu gedenken, dafs Sophokles dann besser Syyres co’ geschrieben hätte, wie Eurip. Zon. 992., würde ja üregöganeiv hier übertreten heifsen, da es nur übertreffen oder überwinden heifst: und auch der Sinn des Ganzen erfordert, dafs Syyröv Zvra mit einem aus dem Vorhergehenden gedachten re auf Kreon gehe: ‚‚Nicht solche Gewalt, dachte ich, hätte dein Befehl, dafs du das ungeschriebene und feste Gesetz der Götter überwinden könntest, du der du nur ein Sterblicher bist.” Vs 470. ist mirra weit kräftiger und besser als mirrew. Vs 485. ist die richtige Erklärung des Scholiasten wieder herzustellen, wonach ırov Eramapcı zusammengehört; von erurı@ua hängt über die Antigone des Sophokles. 13 m Bevrsoscı und reVde rev rabeu ab, was jeder einsehen mufs, wer zugleich Meurer Griechisches Sprachgefühl hat, auch ohne dafs wir Beispiele hinzufügen, die nicht schwer zusammen zu finden. Dagegen bleibt die Hermannische Erklärung von xAomeüs Vs 480. sicher, wenn gleich in Erfurdts Anmerkun- gen mehreres falsche ist, nahmentlich dafs zre7eVs nirgends weiter vorkomme (man sehe Soph. Philoct. 77.), und dafs die Wörter auf eüs nur eine ein- mahlige Handlung pflegten anzuzeigen, was lustig genug auch mit yvabeus bewiesen wird. Vs 496. ist die alte Leseart ügesdei wieder herzustellen: ügernew heifst häufig gefällig machen, ügesdivaı also gefällig werden; und” ügerdein (undev) rors ist, also ganz richtig gesagt, Vs 515. ist Ircus wegen der Antwort (516.) offenbar vorzuziehen. Er AL \ \ \ m eX55 T 522 — 526. Kai unv mgo muAwWv 18° Irwnvr, IENEEZ ’ N, » >»n 7 pıraosAba nuru Ourgu ENDEWREVN* [4 N> > 4 co e / vecern 0 Ehpuwv UmEp aiuaroev ern 4 BeIos airyuven, ’ >» 3m R ’ FEYYOUT EUWTU Fageiav. Wenn ich in der Abhandlung über das Allgemeine des Stückes (18) behaup- tet habe, indem Ismene sich Schuld an der Schwester That beimesse, bereue sie keinesweges ihre Schwäche, sondern bewähre nur ihre Liebe, weil sie ohne Antigone nicht leben wolle; so mufs ich hier, obgleich schon der letzte Übersetzer das Bessere angedeutet hat, selber noch die entgegengesetzte An- sicht abwenden, als ob in dieser Stelle von Schmerz, Unwillen, Schaam der Ismene die Rede sei darüber, dafs sie nicht gleicher Schuld mit Antigone theilhaftig sei; diese Empfindung soll nehmlich die Wolke sein, welche ihr Antlitz entstelle, wsrs ainersev yeverSau Abgerechnet den Mifsgedanken, dafs eine Wolke röthen soll, was nur im Morgen- oder Abendroth möglich ist, und dafs die Wolke durch Röthen entstelle, da ein rothes Antliz einer Jungfrau doch wahrlich nichts Häfsliches ist, dafs endlich dieselbe Wolke nun wieder netzen soll, da sie eben röth macht, so hat der Dichter auch nicht entfernt angedeutet, dafs er hier an Schaam und Schmerz wegen einer Unterlassung denke; bleibt man nur recht im Zusammenhange, und fafst das Bildiiche unverworren, so ergiebt sich ein Anderes. Kreon hat Ismenen eben rasend und der Sinne nicht mehr mächtig im Pallaste gesehen (487.); sie ist natürlich in Verzweiflung wegen des Unglücks der Schwester. In dieser Histor. philolog. Klasse 1828. K 74 Borexu Stimmung tritt sie weinend hervor, d1ıA«derA da durgu” eißouevn: wodurch der Dichter ja bestimmt angiebt, dafs sie der Schwester wegen Thränen vergielse, nicht wegen eigenen Fehlers oder eigener Unterlassung. Die Worte vedern 0’ öbpvwv Umeg u. s. w. sind hiervon die nähere Ausführung. Jener Schmerz nehmlich über der Schwester Leiden ist auf ihrer Stirn zu schauen; er ist die dunkle Wolke, die wie auf den Kuppen der Berge, auf ihrer Stirn liegt. Dieser Schmerz entlockt ihr Thränen; demnach benetzt die Wolke ihr Antliz, wie sie Regen ausgiefst, und die Thränenfluth entstellt (eryyve), aber ohne gerade zu röthen. Das Beiwort aiuarcev ist vielmehr hiervon in sofern unabhängig, als höchstens das Weinen zugleich mit Anderem durch die innere Aufregung die Röthe hervorbringen kann. Aiueress, wenn es gleich auch von Rosen gesagt wird, bezeichnet zunächst die Blutröthe; ja auch bei den Rosen bedeutet es nichts anderes. Da nun an ein Zerflei- schen des Gesichts nicht gedacht werden kann, weil dies, was von der be- sonnenen Ismene am wenigsten erwartet wird, klarer gesagt sein müfste, so ist es blofs als Folge der Erhitzung, der vom Dichter ausdrücklich ange- gebenen Raserei anzusehen, die das Blut ins Gesicht getrieben, dafs es hochroth erscheint. So geht ihre Röthe aus derselben Schwesterliebe hervor, aus welcher die Thränen, und von Schaam kann nicht die Rede sein, am wenigsten von Schaam über Nichttheilnahme an der Antigone That; höchstens könnte man zugeben, dafs, da jene Erhitzung und Aufregung aus gemischten Empfindungen entstehen kann, der Dichter sich Ismenen zugleich ängstlich, verlegen und im Voraus Schaam fühlend gedacht habe wegen der Unwahrheit, womit sie eben umgeht, um sich Theil an der That der Schwe- ster anzueignen; denn allerdings hat sie der Dichter wie im Übrigen, so auch hierin scheu gezeichnet, da sie nach des Scholiasten feiner Bemerkung an zwei Stellen (532. deodaxa Tovpyav, eimeg nd’ ömoßscher, 537. dA” Ev nanois Tois colsı u.s. w.) mit hervorbrechender Wahrheitsliebe unstreitig andeutet, dafs ihre Schuld nicht gegründet sei. In den folgenden Reden der Ismene scheint Vs 552. von den Auslegern nicht richtig verstanden zu sein, die ihn meist so nehmen: ,‚Doch nicht ohne dafs ich geredet hätte,’’ was so gut als ohne Sinn ist. Antigone will der Schwester keine Gemeinschaft des Todes mit ihr zugestehen; denn sie habe sich das Leben gewählt, während Antigone den Tod; diese Wahl hatte Ismene in der Unterredung des Prologes getroffen. Sagt hierauf Ismene, &Ar’ oüx Em’ agöyres ye Tols Eueis Aoyaıs, so heifst dies: über die Antigone des Sophokles. 75 ‚„‚doch nicht mit meiner ungesprochenen Überlegung,’ das ist: „‚Aber in meinem Herzen, meinen innern Gedanken wählt’ ich allerdings den Tod.” Daher Antigone erwiedert: ‚Schön du mit deinen unausgesproche- nen Gedanken: doch ich glaubte mit andern in Rede und That überge- gangenen vernünftig zu sein.’ Vs 559. führt die auffallende, wenn auch nicht vollständige Übereinstimmung der verschiedensten Zeugen, des Plu- tarch und Gregorius von Korinth, dahin, dafs @r eö ya zu lesen; diese Citate beweisen wenigstens ein höheres Alter dieser Leseart als das unserer Handschriften. 565 — 572. Kg. Aguucı ya xeregun eiriv yıaı. ‚ ’Iru. Ouy, Ws y’ Eneww Tnde 7’ Av NguorWEV«. Ko. Kaxas &yw yuvalnas vierw FrUyo. a & e e > 1% I ’Avr.’Q diärad” Aluov, Ws 7’ drinagsı Farm. = Y m (3 \ ® \ \ 4 Ko. Ayav ye Aureis nal TU nal TO Tov Acy,os. F \ ’ n \ m ’ Xop. H yag TrEgNTEIS TNSÖE Tov Taurou Yovoyz y <« N e ’ IN \ ’ E77] Ko. Auöns 6 mauswv ToUsde Tovs Yalovs Edv. N ’ ec 7 [4 vv Xop. Asdoyuev’ Ws Ecıze rnvde nardaveiv. Der vierte von diesen Versen wird gewöhnlich der Ismene zugeschrieben, wogegen Turn. Ald. und vielleicht auch eine Handschrift ihn der Anti- gone beilegen. Wie aber Ismene den ihr fremden Bräutigam der Schwester „O liebster Hämon’ nennen könne, ist nach Hellenischer Sitte nicht wohl begreiflich; und wenn Kreon erwiedert, ‚‚Zu sehr zuwider bist du mir und deine Ehe,’’ so ist, da Ismene das Wort Ehe überhaupt nicht gebraucht hat, die Auslegung eben nicht annehmlich, dafs die Ehe gemeint sei, wovon Ismene gesprochen hatte. Wie vortrefllich dagegen, wenn An- tigone, die bisher in ihrem Schmerz verstummt, nun da Kreon sie als schlechtes Weib bezeichnet, ihrer bisher verschwiegenen Liebe geden- kend, mit einer der Ismene nicht einmal angemessenen Bitterkeit ausruft: „OÖ liebster Hämon, wie entehrt dein Vater dich, in mir nehm- lich, auf die er solche Schmähung wirft!”’ In ihrem Munde ist der Ausdruck um so grofsartiger, da sie den ihr zugefügten Schimpf nicht einmahl in sofern beantwortet, als er sie betrifft, sondern nur in wiefern Hämon in ihr verletzt wird. Wenn nun aber Antigone hier spricht, so läfst sich schon schliefsen, dafs Ismene, ihrem Schmerz überlassen bleibend, nicht wieder K2 76 Boercku eingeführt werden wird; und in der That kann sie unmöglich die Worte sprechen, die ihr gewöhnlich beigelegt werden: 7 yag rregyses u.s. w. da sie ja Vs 564. ganz dasselbe schon früher gesagt hat: «Ara xreveis vunbela rev care rexvov; Man gebe mit einer Handschrift diesen Vers dem Chor; dafs dieser nothwendig zwei Verse sprechen müsse, wenn er einmal spricht, kann unmöglich ohne Pedanterei feste Regel der Tragödie gewesen sein. Indessen nach einer Unterbrechung erhält er allerdings noch einen. Denn die Worte Öedoyuev’ us Eoize yvde narhaveiv, kann Ismene noch viel weniger sagen als die vorhergehenden. Nur dem Chor ist diese unterwürfige Kälte angemessen, welche in den Worten offenbar liegt. Nur so endlich erhält die ganze Stelle ihre rhetorische und dichterische Schönheit. Erst mufs sich Ismene, dann auch der Chor noch an Kreon versuchen, um seine äufserste Hartnäckigkeit zu erproben; ist der Chor noch so bescheiden, so wäre es gegen die Natur, ihn ganz schweigen zu lassen; und ihm endlich ziemt es, den letzten Schlufs zu ziehen: Es ist, wie klar, beschlossen, dafs sie sterben soll. Das zweite Stasimon, welches durch Hermanns treffliche Bemer- kungen sehr gewonnen hat, mufs metrisch noch in sofern berichtigt werden, als im ersten Strophenpaar Vs 581 — 582. 591 — 502. ganz sicher einer ist statt zwei: ’ ’ = U- - - DV UV u. —_ DV] >A\ > 2 m EYE | „u e/ oUdEv rise, YEevEas Em mr9e5 Egmov* der logaödische Ausgang schliefst wie 354. 364. (hier sogar mit demselben &greı) durch sein Herabsinken den ersten Theil der Strophe, der gehaltener ist gegen das Folgende. Auch 586. 557. werden besser verbunden: ’ ’ ’ v-—- - U- U. U-U-vo ’ ‚ \ wm \ 4 zurwdaı Qussosev zeravav Siva nal Öusavemor. Im zweiten Strophenpaare gestaltet sich das Versmaafs nach Beobachtung der Anzeigen und nach der rhythmischen Analogie so: x ‚ al, ET I CH a m EL FI I ER 2 mer vu ’ ’ II -—IZE I EHI ET ee ’ - uv- vu. ‚ ’ = vv uv- vu. ’ ’ vv V- —-——_ UVvv_- u u.—_— über die Antigone des Sophokles. Art u.s. w. Der vierte dieser Verse ist nach der Gegenstrophe festgestellt mit Beachtung des Falles, eiderı Ö° oddev eomei, die Strophe mufs aber nach jener gemodelt werden, und unter allen Än- derungen ist die einfachste zu schreiben: dxzdwarcı Jedv eü unves. Der Anfang (579.), Eidaimoves oirı zarwv &yeurros alwav, wird wieder als eine nachlässig geschriebene Stelle betrachtet, indem der Sinn sei: ‚Glücklich wen kein ausgezeichnetes Übel betroffen hat.’’ Allein dies kann nicht der Sinn sein, weil die Worte dies nicht aussagen. Der Gedanke ist ganz einfach: ,,Seelig, wer der Übel nicht gekostet, denn wem der Gott einmal Übel sendet, indem er ihm das Haus erschüttert, dem entsteht dann Übel aus Übel in un- unterbrochener Reihe.” Vs 601. ist kein Grund vorhanden, üregßarix, wie der alte Scholiast las, in den Nominativ zu ändern; vielmehr ist ris dvdg®v, wer der Menschen, ein passenderes Subject des Satzes. Vs 610. hat Hermann sicher richtig &gruv wiederhergestellt, und Egrei ist eine schlechte Verbesserung Älterer in den Handschriften; doch liegt die Schwierigkeit der Stelle nicht darin, indem sie gleich bleibt, man mag’ veuss 68° cüder Eoruv, oder vouos 5 6° oudev Egmei lesen. Das Schwere ist rawrerıs; dies ist auf Jeden Fall jedoch beizubehalten, schon wegen des politischen Inhaltes des Stückes; die Vermuthung r&urervs ist obendrein fast noch dunkler als raurerıs, und gewils bedeutungsloser für den Gedanken. ,‚‚Dies Gesetz, sagt der Dichter, dafs keiner frevelnd des Zeus Macht besiegen kann, wird für alle Zeiten gel- ten, Unheil bringend dem Leben der Sterblichen, weil sie eben die Strafe der Götter durch Übelthaten auf sich ziehen.’ Verbindet man nun Eorwv Faurorıs &rres aras, so wird damit ausgesagt, dafs dies Gesetz nicht ohne Unheil einherschreite für das Leben der Menschen, für den ganzen Staat diese unheilbringende Wirkung äufsernd: was eben bei je- dem grofsen, nahmentlich wie hier in das Staatsleben eingreifenden Verge- hen der Fall ist: denn die Handlung dieser Tragödie erschüttert Königshaus und Staat. Vs 621. ist öAryorrev nicht unum de paucis, woraus auch nicht, wie man meint, die Bedeutung exıgua pars folgen würde: denn eines von wenigen ist nicht einerlei mit einem kleinen Theil. Wie werrssrev, ein Vieltheil, sowohl einen sehr kleinen Theil bezeichnet, als auch einen schr bedeutenden, grofsen Theil, je nachdem man ins Auge fafst, dafs der einzelne Theil des Vieltheiligen ein schr kleiner Theil des 78 Borceku Ganzen wird, oder dafs der einzelne Theil ein grofses Stück des Ganzen ist (ein ver) von demselben), so kann &ruyorrov als Wenigtheil einen grofsen oder auch einen kleinen Theil bezeichnen; und letzteres bezeichnet es hier: Öruyorrös ygöves aber ist &Aryorröv Xpovov, wie medium tempus ist medium temports. Vs 659 ff. hat Hermann mit Kunst und Scharfsinn die Versetzung so wahrscheinlich gemacht, dafs Widerspruch gefährlich scheint; begnügt man sich jedoch mit einem etwas losen Zusammenhange, der in Senienzen nicht anstöfsig ist, bedenkt man, dafs nachdem Kreon bis Vs 558. (daveiraı adv mors Ölraıcs wv) von seiner eigenen Stellung gesprochen hat, und in dem folgenden &srıs d° ümeg@as bis za ravavria, auf Antigone und Hämon übergeht, so ist eben in diesem Übergange von der Stellung des einen zu der des an- dern ein genügender Zusammenhang: ,‚,So viel, was mich betrifft; wer aber, wie Antigone, welcher Hämon noch helfen will, die Gesetze übertritt oder dem Herrscher widerstehen will, kann nicht gelobt werden.’’ Bedeutender ist die andere Schwierigkeit, wie nun folgen könne: al roUrov @v rev avdoa Sap- rei &yw u.s. w. da redrev hier weder auf öv rorıs arareıe bezogen, noch nach dem Scholiasten r0v +3 Rarıre! rerSguevev sein kann. Allein wie eurws Vs 637. sich auf das ganze Vorhergehende mit einer gewissen Breite und Unbe- stimmtheit bezieht, so bezeichnet hier rovrov den Mann, der alles das hat, was früher Theils positiv Theils negativ als das Richtige aufgestellt worden: „Der Mann, der wie ich auch in seinem Hause wohl waltet, nicht wie du den Gesetzen Gewalt anthut und dem Herrscher ungehorsam sein will, der ist der gerechte und tüchtige im Staate, und wird in sich beide Eigenschaften, gut zu herrschen und gut zu gehorchen, vereinigen.’’ Auch so bleibt die Absicht des Dichters, die Athener zum Gehorchen zu ermahnen, weil der Begriff des Gehorchens stärker hervorgehoben ist: wiewohl, da die Absicht des Dichters erst aus der Stelle errathen werden kann, sie nicht von vorn herein hätte als kritischer Entscheidungsgrund angewandt werden sollen. Dafs sich nun der Satz @vagyias yag u. s. w. hinter nevew Öirauov nayadov Ta- garrerm schr gut anknüpft, und nach dieser Anordnung die Erwähnung krie- gerischer Verhältnisse Vs 670 ff. sich viel besser dem Gedanken deges 7’ av u.S.W. nähert, ist einleuchtend. Wir können daher eben so wenig als andere die Umstellung billigen, noch weniger einige Neuerungen in der Erklärung. So hat man in den Versen, über die Antigone des Sophokles. 79 ARA cv merıs Trüreıs, Foüde xon KAUSIV, zu Fuınga za dlzaıa za TÄvavria, gegen Brunck behauptet, r@vavri« beziehe sich blofs auf &zae, und dies mit einer Stelle des Thukydides unterstützt, wo es freilich so ist, weil das evavrıa dort nur das «y@3v gegenüber hat. Hier nennt Kreon zuerst das, worin man leichter gehorcht, welches das Kleinere und das Gerechte ist; aber nicht blofs darin, meint er, mufs man dem Herrscher folgen, sondern selbst in dem, worin man schwerer gehorcht, dem Gegentheil des vorigen, nehmlich gröfsern und mehr Anstrengung fordernden Dingen und selbst nicht gerech- tem Befehl, so dafs eigentlich nach diz«ı« ein Komma zu setzen. Mit feinem Sinne aber sagt der Dichter nur r@vavria, nicht ueyaaa zu adıza, weil es zu anstöfsig wäre, das @dıza auszusprechen. Vs 670. scheint u«yy dsges wie in der von Erfurdt angeführten Stelle Eurip. Zrechth. 1, 21. zu verbinden, da der Rhythmus selbst dahin führt, nicht aber deg6s rger«s, wie Aj. 1254. &v rg0=% deges: wie dem aber auch sei, so ist es ein seltsames Mifsverständnifs, dafs rger&s zaraßönyrurı sei: „‚sie löst die Flucht der Feinde und giebt ihnen den Sieg.’’” Von Feinden sagt ja der Dichter nichts; und warum sollte er auch erst voraussetzen, der Feind sei geschlagen und siege wieder nachher? Jedermann weils, ‘dafs &rzos ingaı eine Wunde brechen oder machen ist, nicht eine Wunde vernichten oder heilen; das Object von onguı ist das was gebrochen wird oder durch Brechen gemacht. ‚Der Ungehorsam, sagt der Dichter, bricht Flucht in die Reihen der Kämpfer,’’ nehmlich eben der nicht gehorchenden: Brechen nennt er es, weil Lücken durch die Flucht entstehen. °Og Scunevwy kann wohl hier schwerlich recht han- delnde, noch auch Sieger (el zarcgSctvra:) bedeuten, sondern nur, was der Scholiast sagt, r&v dgxeusvav, die sich lenken und gleichsam zurecht- setzen lassen: ‚‚derer aber, die sich lenken lassen, meiste errettet ihre Folg- samkeit.’’ Dieser Sprachgebrauch ist bekannt genug. Teils zorusunevas end- lich als Medium gefafst zu erklären is qui nos instruunt, ist sprachwidrig; es könnte nur sein gw sese instruunt: hier ist es Passiv: ,,So mufs man gute Ordnung aufrecht halten.’’ Vs 679. ist die Sentenz wareg, Sei plcurw üvSgwWreis Pgevas u. s.w. weniger durch die Rede des Chors als durch den Grundgedanken des Stückes bestimmt. Vs 699. ist nicht edxAsias ayarua, sondern eixAsias Targes zu verbinden: ,‚Was ist den Kindern gröfseres LE} 80 BoeEcku 299 Kleinod als des Vaters Ruhm?’”’ Vs 713. ist rororev wieder herzustellen, welches unentbehrlich ist, wenn die Rede gut sein soll: ‚‚Ebenso, wer des Schiffes Führer zu scharf das Tau anziehend nichts nachgiebt, der wirft um, und schifft hinfort mit umgekehrten Ruderbänken,,’’ ein ironischer Aus- druck, wie: ‚‚der schifft hinfort in Charons Nachen.’’ Eigentlich schifft er freilich gar nicht mehr, sondern liegtim Wasser: aber eben dies wird vom Dichter nur scharfsinniger ausgedrückt. Unbegreiflich ist die Behauptung, der Scholiast, den man nicht genau genug beigesetzt hat, habe 75 rAclov ge- lesen, und es durch 7» vavv erklärt, was kindisch wäre; der Scholiast sagt: orosbas 78 Acımöv, rAv vauv ÖyAoverı, nach Brunckscher Leseart, nach Elms- ley ohne das genannte Lemma oreeıbas iv vadv, um zu verstehen zu geben, dafs zu orgeVas solle ryy vedv ergänzt werden, eben weil nicht 75 mAciov da- steht: wiewohl auch ray vadv nicht zu ergänzen, sondern die Wortfügung diese ist: Ürriıs gernanı, argebas aürd, vavrıarerau, indem aresbas das an- giebt, wodurch die reruara sind Ürrıe geworden. Nicht minder ist Vs 714. &ize Suucd ganz richtig, und nicht begreiflich, wie es konnte bildlich genannt werden: ‚‚Gehe zurück von deiner Heftigkeit.”” Vs 745. ist die Leseart der Bücher zai scÜ re ganz untadelich. Vs 749. hat der Scholiast einzig das Rich- tige gesehen. Die Erklärung, ‚‚Was ist das für eine Drohung, leeren Grün- den zu widersprechen,’’ giebt einen matten Gedanken; die Erklärung des Scholiasten dagegen gerade einen solchen, wie ihn die Hitze des Streites er- fordert: ‚„‚Wie kann man dem drohen, der aus Unverstand keine Vernunft annimmt?’ Worauf die Antwort des Kreon ganz richtig: ‚,‚Zu deinem Scha- den wirst du mich verständigen, der du selbst leer an Verstand.” Auch Vs 755. ist nicht abzusehen, weshalb &mı Yeyarı mit devvareıs, wobei es über- flüssig, und nicht mit %agwv verbunden werden soll. Vs 771. ist ayos offen- 5 bar nicht Sünde, sondern Sühne, wie Erfurdt bemerkt hat und belegt: die andere Ansicht bedarf keiner Widerlegung, da sie in sich selbst unver- ständlich ist; ob das Komma nach &yss oder uevov zu setzen, kann zweifel- haft sein, doch scheint es besser nach wevev: ‚So viel der Speise, als nur gerade Sühne ist, vorsetzend.”’ Das nächste Stasimon besteht nur aus Einem Strophenpaar, und es entsteht eine verwirrte Ansicht über die Theile der Tragödie, wenn man die zum vierten Epeisodion gehörigen Kounc Vs 800 ff. damit zusammenzählt (als über die Antigone des Sophokles. s1 oro.B’.y’. da sie are. «.®'. zu bezeichnen). Die Versenden sind durch die Interpunctionen meist so deutlich bezeichnet, dafs das Versmaafs sich mit Hülfe der rhythmischen Analogie mit Bestimmtheit so gestaltet: een AED em ’ v- ..— u ._.— x v- wo yo V-UVyo-UV oo ’ ’ —— | VU no Wu x ’ ’ m U m mn a vw ’ - - W-u-- —- uVuv—_-uvu—- vu Die Hauptschwierigkeit in der Erläuteruug, nehmlich was zrzuer: sei, scheint von Passow kürzlich beseitigt, wiewohl, weun zTiUare irgend statt zryvn gebraucht werden konnte, diese Erklärung vorzuziehen wäre. Aufserdem erlaube ich mir zu bemerken, vorzüglich in Bezug auf meine erste Abhand- lung (20), dafs die Unbesiegbarkeit der Liebe im Kampf ("Egws üvizare ucy,av) schwerlich darum hervorgehoben wird, weil Kreon Hämons Liebe nicht be- zwingen konnte in seinem Wortkampfe mit ihm, so dafs Eros unbesiegbar dem Kreon gegenüber wäre, und ich wundere mich, dafs Welcker (Schul- zeitung 1829. S. 214.) (') dies billigt. Der Zusatz uayav bedarf dieser ge- suchten Begründung nicht, da er hinlänglich durch die Vorstellung des Eros als Kämpfer, Theils als Ringer Theils als Schütze, gerechtfertigt ist (vgl. Döderlein Spec. Soph. S. 33.); und man kann auf jenen Gedanken um so weniger kommen, da bei einem Kampfe mit Eros nach allgemeingültiger Vorstellung an einen innern Kampf gedacht wird, den der Liebende selbst mit Eros kämpft. Eben dahin führt auch der Zusammenhang des Folgenden, in welchem gezeigt wird, wie Eros alles Lebende überwinde; und wenn der Dichter in Bezug auf den Streit des Hämon und Kreon sagt, ‚‚Doch es siegt der kräftige Liebreiz vom Auge der lustbettenden Braut,’’ so ist auch hier nur der Sieg der einen Empfindung über die andere in Hämons Gemüthe be- zeichnet. Was im Innern des Menschen vorgeht, wird mythisch dann so vorgestellt, ‚‚jener Liebreiz sei der hohen Rechte Beisitzer im Herrscherrath, (‘) Die hier berührten Bemerkungen meines Freundes Welcker kommen mir eben beim Abdruck der meinigen zu Gesicht; Übereinstimmung sowohl als Verschiedenheit der in beiden vorkommenden Ansichten sind also unabbängig von seiner Abhandlung entstanden. Hıistor. philolog. Klasse 1828. L 82 Borceku und unüberwindlich spiele Aphrodite ihr Spiel:”’ das ist, neben den sittli- chen Gesetzen, die das Leben der Menschen gleich einem herrschenden Rathe regieren, ist auch die Liebessehnsucht eine eigenthümlich wirkende geistige Kraft, die fördert oder stört. Solgers Erklärung, „dafs diese Sehnsucht eine ewige heilige Naturmacht sei, andern göttlichen Naturkräften gleich, und neben den andern ewigen Naturkräften throne, die das Wesen der Welt aus- machen und sie regieren,’’ leiht dem Dichter eine an sich erhabene, aber der sittlichen Bedeutung dieser Tragödie fremde Meteorosophie. Das vierte Epeisodion beginnt mit Kouueis, deren leidenschaftliche Mu- sik, bei den Gesängen der Antigone höchst wahrscheinlich Mixolydische, einen herrlichen Gegensatz gegen die Dorische Ruhe der Anapästen des Chors bildete. Solche Gesänge dürfen nicht durchweg in ungefähr gleichlange Rhyth- men kleinlich zugeschnitten werden, noch auch darf man durchaus gleichar- tige Rhythmen, wie etwa Glykonische suchen ; vielmehr mufs die Leidenschaft nach ihrem Wachsen und Fallen stärkere und schwächere und verschieden- artige Maafse erhalten, anschwellen und ausruhen, sich in langen Reihen aus- hauchen, und in kurzen mächtige Accente geben; für den Schlufs ist nichts passender, als gehäufte zusammenhängende, kräftig aneinanderschlagende Reihen, in welchen sich die Verzweifelte händeringend erschöpfe. Dies lei- stet diese Abtheilung des ersten Strophenpaares: v-.v._ u uv.— = uvm. x ’ x x ’ —_ u UV U [a — u u U v xu x! x x ’ = ve v- vv_- ll vu—_ v a SA) x ’ - u — vu ’ ‚ — =—_— yo—_— UV. vv- |- [Vu - | v_- u vv. v-_ Vs 1. habe ich nur die alte, durch den Rhythmenfall klare Abtheilung wie- derhergestellt, die auch von der Analogie des zweiten Strophenpaars (832 ff.) unterstützt wird; bei dieser Theilung hebt sich dann Vs 2. welcher kräftig vorgetragen werden mufs, das r@v vearav ödov, rav Pouyiav Eevav, welche beide Sätze auch absichtliche Sprachähnlichkeit haben, stärker hervor. Über die Zusammenziehung in rayzAuvras (825.) verweise ich auf meine Abhand- lung über die Kritik der Pindarischen Gedichte (Abschn. 9.) in den Schriften über die Antigone des Sophokles. 83 der Akademie v. 1822 — 1823. Den bekannten mächtigen Schlag, den der trochaisch gemessene Spondeus am Schlufs macht, vertilge man nicht durch iambische Schleifung, ich meine durch Verlegung des Tones von der vor- letzten auf die letzte. Der Schlufs der Strophe (807 — 810.) ist mit Recht der Tautologie wegen anstöfsig befunden worden; ich habe mich aber über- zeugt, dafs der Dichter sich den Grundsatz gebildet hat, der Schmerz gefalle sich in einer solchen, allerdings tautologen Wiederholung, die vorzüglich am Schlufs der Kouusv vorkommt, wie gleich wieder Vs 844. 845. desgleichen 868 — 573. und selbst in den Iamben 908. 909. Aus dem zweiten Strophenpaar der Keuwuei der Antigone setze ich fol- gende Stelle her, 850 — 854. Ynf > + >.,..Xx ‚ EVavras aAYEIVOTETUS EWOL MEQIAVAS \ ’ > TATISS TOIRONTTEV OIATEV mn , e ’ ’ FOU TE WOORAVTOS AMETEIEV MOTWOU m N AN zreweis Audarıdaurıw. Nach der neuesten namhaften Behandlung der Tragödie soll der Strophe wegen rargss in argı verwandelt, und hernach cizev geschrieben werden; aryewvoTarus Hegiuvas, nach welchem interpungirt wird, hänge als Genitiv von &Vaures, der Accusativ cixev von einem nicht dastehenden erefas ab (vide quid possint grammatici, heifst es dagegen Vs 914. in einem sehr ähnlichen Falle), dann aber der Genitiv rörusv wieder von &Vavuras, und der Dativ Außdazidu- ci von rgimerusrov oirev, welches heifse: ‚, Ter conditam a patre (von Oedipus) Labdacidis domum,’’ was der Scholiast und Schneider nicht verstanden hätten, indem sie es sprachwidrig so gefafst hätten, als sei es rgireAcv oder TormoANTeV. Wer möchte uns nicht einige Erbitterung über Sophokles, der so verwirrt sollte schreiben können, oder den Ausleger, der ihm solches an- dichtet, zu gute halten? Denn nicht allein sind die Worte wie durchs Loos durcheinandergewürfelt, sondern auch der Gedanke ist nichtig, da Oedipus den Labdakiden das Haus weder dreimahl noch überhaupt gegründet, son- dern dasselbe zerstört hat. Doch lassen wir den Ausleger und retten wir den Sophokles. Hargcs lesen alle Handschriften; in der Strophe (833.) ist die alte Leseart örsuevav mit Trikl. in eörsuevev zu verwandeln; Sophokles schrieb wie alle seine Zeitgenossen für ev noch blofs o: eürsueves in der Be- deutung untergegangen kommt unzweideutig in zwei völlig unverdächtigen L2 84 Boecku Stellen (Eur. Iph. A. 793. Iph. T. 1109.) vor. Oizev ist zwar eine alte vom Schol. angeführte Leseart; aber auch eixrov, was Brunck ohne Grund in circv verwandelte, las der Schol. mit allen Handschriften, und nur dies, nicht eixov, giebt Sinn. Wie Sıyyavo, Eraupinuw, SO Lavw mit dem Accusativ zu ver- binden, hat keine Schwierigkeit, und hiermit löst sich die Structur von olxrov; unklarer ist, ob negiuvas gleichfalls Accusativ sei, mit dem oixrov in Apposi- tion stehe, oder Genitiv; im erstern Falle sche ich jedoch nicht ein, weshalb der Dichter nicht den Singular uegıuvar vorzog, der eben so kräftig und zu- gleich unzweideutig war. Es scheint daher, dafs Sophokles die Structur "Vayew rıvos rı zum Grunde gelegt hat; die Jammerklage des Vaters (welche über des Vaters Loos von ihm und allen andern geführt wird) ist das, was berührt wird; die Sorge aber ist es, woran gerührt wird: ,‚An der mir schmerzlichsten Sorge rührtest du an des Vaters Jammerklage.’”’ Natür- lich denkt sie zuerst an den Vater, dann an das gesammte Haus: ganz einfach nehmlich verbindet sich das nebeneinanderstehende warges cixrov ToÜ TE FoOmavTos dneregou reruov; um aber @ueregev noch mehr hervor- zuheben, wird es durch »Asweis Außdarıdarıy erläutert, einen Dativ, der nach gewöhnlicher Ansicht statt des Genitivs steht (bekannt genug, doch sehe wer will Matthiä’s Gramm. $. 392.), hier aber um so natürlicher ist, da rerues rıwı das jemanden zukommende Loos bezeichnet, so dafs man deregou eben so gut statt julv als jusv gesetzt denken kann. Was nun end- lich TomoAuoToV betrifft, so hat Schneider dies mit vollem Rechte von roXi- Zei in der Bedeutung rerelv abgeleitet. "Avarerılu statt wwarerew kennen wir aus Pindar; regırerZw ist ebenfalls einerlei mit egirorew, umherwandern, und hängt nur scheinbar mit As zusammen; was wir eine wandernde Truppe nennen, ist den Hellenen megimorusTınn suvodes (Corp. Inser. Gr. n. 349. mit den Anm.). Tormorurros ist also ToLmoANTeS, wie es auch Reisig bereits gefafst hat (Zinarr. Oed. C. S. LXXXVHIL.). Was aber TgmoAnTos nun sei, lehrt am besten des Scholiasten treffliches Sprachgefühl, wenn er sagt: morranıs avamsrernuevev, 7 didrmucv nal Favray,cd ünousuevov nal moAoUuEVvoV, und die Glosse: moRUSgUAAyroV za) mavdnucv Övsruylav, A was &reei. Es ist des Hauses vielberufene, von aller Mund strömende Jammerklage: r&s reurs y’ “Erryvwv Seel, sagt Sophokles von des Geschlechtes Schicksal (Oed.R01.590.). Tgis bezeichnet dasselbe wie in TOISKaTdgaTeS, reisa9rucs u. dgl. Gerade so wird es mit @varereiv verbunden. Pindar Vem. VII. zu Ende: rair« de rois über die Antigone des Sophokles. 85 rerganı 7’ «urorelv, Soph. Philokt. 1238. dis raöra Rovreı zul Tois Avarı- Aetv u’ Ern; und wenn diese Redensart einen spöttischen Sinn gewonnen hat, widerspricht dies unserer Erklärung der Stelle nicht, da der Spott mehr in dem ra«öre liegt, sondern bestätigt vielmehr das Gesagte aus Sophokles eige- nem Munde. In demselben Strophenpaare liegen Vs 844. 862. noch im Argen; in- dessen mag ich darüber keine unsichere Vermuthungen vortragen, sondern begnüge mich auf die metrischen Bemerkungen in der kleinen Abhandlung zu verweisen, welche vor dem Verzeichnifs der Vorlesungen der Universität , v. Sommer 1827. abgedruckt ist; was gegen die dort aufgestellte Lehre von Seiten des Abschnities eingewandt werden könnte, bestätigt sie vielmehr, sobald man an die Stelle der völlig grundlosen jetzt herrschenden Ansicht von der Cäsur die wahre setzt, die längst entwickelt ist. Ich verlasse daher die Koss der Antigone, nur noch das Versmaafs der Epodos (868 ff.) her- setzend: DE ze wu ww vuvvv— u ’ ’ 4 Il uw EEE ER N G iR — uyv— UV UV — UV VUVVV— U ’ EZ ’ ’ — ana > Damme AL RCARR, anime vet Ki nn m en RI a In dem übrigen Theile des vierten Epeisodion bietet sich zunächst die von Jacob für unächt erklärte Stelle Vs 396 — 903. dar, auf welche zurück- zukommen ich mich in der ersten Abhandlung (18) anheischig gemacht habe. Welche Bedeutung diese Stelle für die Fabel des Stückes nach meiner An- sicht habe, brauche ich nicht zu wiederholen; und es kommt daher zunächst darauf an, ob diese Ansicht richtig sei oder nicht. Mir scheint, der Grund- gedanke, wie ich ihn aufgestellt habe, durchzieht das ganze Stück unver- kennbar; scheint jener Grundgedanke zu allgemein und der ganzen Tragödie gemeinsam, so ist dies Theils unwahr, indem nicht alle tragische Stücke, besonders nicht die Aeschyleischen, noch weniger die Euripideischen, die- sen Gedanken enthalten; Theils ist eben die Tragödie die vortrefflichste, welche den Grundgedanken der Tragödie am reinsten darstellt, so dafs sie nur wie der Körper jenes Gedankens erscheint; Theils endlich stelle ich nicht in Abrede, dafs die tragische Handlung, in welcher sich der Gedanke spiegelt, der Widerstreit des Kreon und der Antigone, der Kampf des gött- s6 Bosceku lichen und menschlichen Rechtes sei (15): nur erscheint mir dies als etwas Untergeordnetes, blofs Materiales. Es wird deswegen diese Tragödie von mir nicht als eine blofse Darlegung eines ethischen Grundsatzes angesehen, welches unstreitig nichts Dichterisches wäre, sondern sie ist Darlegung einer Handlung, wie sie sein mufs als Drama; aber allerdings wollte der Dichter in dieser Handlung einen Gedanken erscheinen lassen, der mehr oder min- der zum Bewufstsein gekommen, oder selbst unbewufst nur in der Handlung verkörpert angeschaut, dem Gefühle Befriedigung gäbe. Denn kein alter Dichter, am wenigsten Sophokles und Aeschylos, hatte die neulich von einem grofsen Dichter ausgesprochene Überzeugung, dafs die Dichtung mit der Sittlichkeit nicht in Berührung sei; sie haben alle, wie sich erweisen läfst, einen hohen sittlichen Zweck in ihren Dichtungen verfolgt, und das- selbe forderte von ihnen, selbst von den Musikern, der Staat und die Ge- meine. Nächstdem beruht meine Ansicht der besprochenen Stelle darauf, dafs Antigone nicht völlig unschuldig sei, und dagegen hat sich besonders Schönborn (Über die Ächtheit der Verse 895 — 906. in der Antigone des Sophokles, Bresl. 1827. 4.) erklärt, und zugleich zu beweisen gesucht, Kreon sei lediglich als Tyrann dargestellt, und Antigone verletze nur des Tyrannen, nicht des Staates Gebot. Dafs ich nun das Tyrannische in Kreon nicht ver- kannt habe, brauche ich nicht zu beweisen (man sehe nur in meiner Ab- handlung Abschn. 2. 10. 11. 16. 17. 19.); aber dafs ihn Sophokles als einen edlen, Recht und Ordnung suchenden Alleinherrscher darstelle, wer kann das verkennen? Nur Eigenwillen und Leidenschaft führt ihn zu weit; und nur dadurch wird Kreon eine tragische Person, dafs er neben der Schuld zugleich eine menschliche Entschuldigung hat. Wie man aber auch hierüber urtheile, so hat Antigone ein Unrecht, die Verletzung des Staatswillens; und wieder nur dadurch wird sie eine tragische Rolle. Hat Sophokles, wie ich selbst bemerke (erste Abh. Abschn. 10.), dies gemildert, indem er den Staatswillen blofs in der Person des Herrschers darstellt, so bleibt es doch immer Staatswille, weil Kreon gesetzmäfsiger Selbstherrscher ist: und so lange er nicht herabgeworfen ist, ist sein Gebot rechtskräftig, und wenn er Ungerechtes gebietet, kann zwar durch Umwälzung die Herrschaft dem Ty- rannen aus einer von der Natur gebotenen Nothwendigkeit entzogen werden; ehe dies aber geschehen, ist der, welcher sein Gebot übertritt, dem Staate Bufse schuldig, und wenn auch des Herrschers Wille noch so tyrannisch war. über die Antigone des Sophokles. 87 So denke nicht ich, worauf es nicht ankommt, sondern das ganze Stück lehrt dies; dies lehrt der Chor; dies dachte gewifs auch Sophokles, der viel zu tief dachte, als dafs er eine andere, oberflächlichere politische Überzeu- gung gehabt haben sollte. Warum läfst er Thebens Bürger nicht mit den Waffen aufstehen, wenn sie Kreons Gebot nicht als bindend anerkennen? Erkennen sie es doch an mit klaren Worten! Ja, wenn die besprochene Stelle nicht untergeschoben ist, erkennt Antigone darin selbst an, dafs sie Big re- Zıröv (898) handle, nachdem sie klar gesehen, dafs der Chor Kreons Recht nicht in Abrede stelle. Denn die neulich gegebene Erklärung, Antigone sage nur, sie würde gegen den Willen der Bürger oder des Staates keinen Todten beerdigen, selbst wenn es ihr Gatte oder Kind wäre, den Polynei- kes aber habe sie gar nicht gegen den Willen des Staates beerdigt, ist völlig gegen den Zusammenhang der gesammten Stelle. Vorausgesetzt nun, dafs Antigone nicht ganz schuldlos sei, erscheint sie in dieser Stelle als anstrei- fend an ein Gefühl des Unrechtes, und sucht daher nach entlegenern Grün- den ihrer That; fragt man, warum unter dieser Voraussetzung ‚,Sophokles die Antigone nicht ganz offen ihre Schuld eingestehen lasse; denn die Athe- ner hörten dann aus dem eigenen Munde der Antigone selbst, dafs die Ver- nunft das Beste der Glückseligkeit sei u. s. w.'’ (Schönb. S. 8.) so antworten wir, dafs Sophokles ein zu grofser Dichter war, um Antigonen so zu ver- zeichnen und mit so platten Geständnissen das Stück zu verderben. Nach Beseitigung dieser Einwürfe bleiben nur drei Punkte übrig, die bei Rettung der Stelle in Betracht kommen, nehmlich das Verhältnifs derselben zur He- rodotischen Erzählung (Il, 119.), die Rechtfertigung des Gedankens selbst, wie ihn die Stelle ausdrückt, und die Entfernung des Vorwurfes der Un- menschlichkeit, die auch Schönborn noch darin findet, wenn man sie wie gewöhnlich geschieht fasse. Antigone sagt, wäre sie Mutter von Kindern, wäre ihr der Gatte gestorben, würde sie nicht gegen den Staatswillen Kind oder Gatten beerdigt haben, weil sie wieder einen andern Gatten, ein ande- res Kind bekommen könne; aber einen Bruder könne sie nicht erhalten, da Vater und Mutter todt seien. Ganz so, selbst in Rücksicht der Wendungen, drückt sich bei Herodot das Weib des Intaphernes aus; kaum denkbar ist, dafs beide Stellen von einander unabhängig seien. Aber hätte Herodot die Geschichte von Sophokles entlehnt, so hätte er ja etwas erdichtet; und dafs Herodots Werk vor der Antigone auch nur Theilweise schriftlich, so dafs 83 Borcku der Ausdruck nachgebildet werden konnte, bekannt gewesen, finde ich be- sonders nach der in der ersten Abhandlung (Abschn. 8.) gegebenen Zusam- menstellung sehr unwahrscheinlich. Dagegen kann man füglich annehmen, Sophokles habe dieselbe Sage gekannt, die Herodot erzählt, und Herodot habe bei der Darstellung seiner Erzählung eine freundliche Rücksicht auf Sophokles Ausdruck genommen; was weit entfernt ist von armseeliger Nach- ahmung. Von Seiten des Herodot kann also die Sophokleische Stelle nicht angefochten werden; vielmehr stimmt sie mit der Freundschaft beider, die ich früher wahrscheinlich gemacht habe. Um nun auf den Ausdruck in der verdächtigen Stelle und die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Gedankens (ohne Rücksicht jedoch auf das Sittliche) zu kommen, so ist erstlich die Form des Gedankens so mit dem übrigen verschmolzen, dafs man nicht weifs, wo das Einschiebsel, was überdies Aristoteles schon las, anfangen und enden soll; Vs 895. müfste, wie auch Jacob selbst meint, mit ins Ver- derben gezogen werden, 904 — 906. hängt auch damit zusammen, und selbst 907. knüpfte sich nicht mehr gut an, wenn man das vorige wegläfst. Alle Einwürfe aber, die man gegen den Gedanken selbst machen kann, beweisen nur so viel, dafs, wenn ein tüchtiger Dialektiker dagegen aufträte, er wider- legt werden könnte; aber die Gedanken tragischer Personen brauchen nicht an sich wahr zu sein, sondern nur angemessen den Charakteren und der Handlung; selbst sophistische Gründe mufs das Drama aufbieten. Der Per- son aber ist hier alles angemessen; und es kann wohl nur Scherz sein, wenn in Bezug darauf, dafs Antigone meint, wäre ihr ein Sohn gestorben, könne sie wieder einen andern bekommen, gesagt wird: Ea fiducia bene mulieri conveniret, quae iam plures peperisset liberos: in virgine est mirabilis. Denn es war ja die Voraussetzung: & rexvwv unrng &puv. Auch der Einwurf bei den Worten: „zu rals dr’ ac buwrös, el TeVd Zurraxev, hätte ich diesen Sohn verloren, könnte ich von einem andern Manne wieder einen bekommen,” der Einwurf hierbei sage ich, Cur non ab eodem ? hebt sich nach Antigone’s Rede von selbst, weil sie den Gatten schon als todt voraussetzt, von dessen Tode mit Absicht zuerst gesprochen war, um die Behauptung dahin zu schärfen, dafs sie selbst nach dem Verluste des Gat- ten von einem andern einen Sohn bekommen könnte. Endlich kann man die ganze Stelle als unmenschlich, mindestens als unzart im Munde einer Jungfrau betrachten. Dies ist aber kein Grund, sie dem grofsen Dichter über die dntigone des Sophokles. 89 abzusprechen. Das Alterthum kennt keine Empfindsamkeit; und Antigone als Jungfrau kennt die Mutterliebe noch nicht so, dafs sie die schwesterliche ihr nachsetzen könnte; das Verhältnifs zu dem Gatten aber ist allerdings im Alterthum so lose und auflösbar gewesen, dafs dem Bruder der Gatte unstreitig nachstand. So hat der Gedanke, obgleich als Entschuldigungs- grund sophistisch, dennoch für sie nicht nur eine bedingte Wahrheit, son- dern auch Menschlichkeit. Von der Zartheit zu reden ist kaum nöthig: dafs das Alterthum derb sei, weifs jedermann; und blöde Verschämtheit ist nicht gerade Bildung. Wenn bei Aeschylos (Zumen. 643 ff. 721 ff.) Apoll den Orest von der Strafe des Muttermordes freispricht, weil nicht die Mutter sondern der Vater der erzeugende Theil sei, und die Mutter blofs des Kei- mes Nährerin; wenn auch die Jungfrau Athena darauf eingeht, weil keine Mutter sie geboren, und weil sie durchaus das Männliche liebe, ausgenom- men nicht zu frei’'n: so liegt darin weder mehr Wahrheit noch mehr Mensch- lichkeit und Zartheit als in der Rede der Antigone, beide Stellen haben aber dennoch eine eigenthümliche antike Schönheit. N In IN» > & > 916 — 919. ’ArR’, ei uev ouv Tao’ Erriv Ev Seols zaAd, maScvres av Euyyvolliev NnagrnKores® &i 0’ Id duapravouı, uM mic nard rasasv, 7 zu onrıv Erdinws Eis. Dafs man nicht ueSevres zu schreiben habe, versteht sich von selbst, wenn das Gegebene einen guten Sinn giebt; und dies ist der Fall: nur darf man nicht «Scvres auf die Strafe in der Unterwelt beziehen. Antigone soll jetzt eben für ihren frommen Frevel bestraft werden; wie kann man, da sie im Begriff ist, von Kreon gestraft zu werden, die nackte Erwähnung der Strafe auf eine ganz andere beziehen, als von der gerade jetzt die Rede ist? Der Gedanke ist höchst einfach und vortrefflich: ‚‚Wenn aber dies, dafs ich für diese That gestraft werde, den Göttern als das Rechte erscheint, so werde ich meines Vergehens mir bewufst werden, wenn ich die Strafe erlitten,’ wenn der Tod die Hülle von der Wahrheit weggenommen hat. Gegen den Schlufs des Epeisodion ist zweifelhaft, ob Vs 926 f. @agreiv oüdt FagauuSev- na un oÜ Tads raury KaTaRUgeUTIaL, dem Kreon oder dem Chor gehöre. Man hat sich für letzteres entschieden, weil un eö zweifelnd verneine (Anm. z. Vig. S. 800.), Kreon aber nicht zweifeln könne. Allein, wie auch andere Histor. philolog. Klasse 1828. M 90 Boreku schon bemerkt haben, wird gerade umgekehrt dann un oö gesetzt, wenn man sehr entschieden spricht, man mag übrigens diese zusammengesetzte Par- tikel erklären, wie man will. Unzählige Stellen haben mich davon über- zeugt; und gerade, dafs die Formel gewöhnlich nach negirten negativen Zeit- wörtern mit vorgesetztem verstärkendem Artikel vorkommt, beweiset dies schon im Allgemeinen, z. B. Plat. Rep. I. gegen Ende: cüx drerysunv ro u cüx Emi Touro EAIElv dr’ Exeivov, ich konnte mich nicht enthalten, dafs ich nicht dennoch auf dieses überging; Ant. 96. ist durch &sre un oÖ zarüs Savelv gerade die feste Überzeugung der Antigone ausgesprochen, dafs ihr im schlimmsten Fall gewifs ein schöner Tod nicht entgehen könne. Auch in unserer Stelle hier, wo der letzte Spruch gefällt wird, wäre ein zweifelhafter Ausdruck selbst in des Chores Munde auffallend. Wenn jedoch dieser Entscheidungsgrund auch wegfällt, müssen die Worte doch aus einem andern Grunde dem Chor verbleiben. Kreon hat schon zuerst (922), in- dem er die Henker ob ihres Zauderns schmäht, der Antigone den letzten Trost geraubt, und sie selhst dies erkgnnend sich ihn abgesprochen (924) ; die letzte Bestätigung mufs, damit alle ihre Überzeugung zeigen, der betrach- tende Chor geben. In der folgenden Rede der Jungfrau, a yns Onldns artu rargwev kann Yas Targweov nicht verbunden werden, weil dies keinen Sinn giebt, und y7s von Onlns angezogen wird. Theben ist als Land betrachtet: „O des Landes Theben (mir) väterliche Stadt!’ Noch unglaublicher ist es, dals 932. in riv Barırnida neyvyv Acımyv das Wort Barırmida Prädicat, paeüvny Acımyv Subject sei zu Deutsch die königliche allein übrige. Das vierte Stasimon (935— 974.) besingt ähnliche Schicksale wie der Antigone, nicht sowohl zum Trost für sie als zur Vergleichung, dafs an ihnen die Macht des Verhängnisses und der leidenschaftlichen Verblendung sich zeige; der Hauptvergleichurgspunet aber ist die Grabwohnung, was von den Auslegern nicht gehörig bemerkt worden. Gleich bei der Danae erklären sie die Yarxoderous auras und den ruußnen Scarauov für den schwimmenden Kasten, der doch weder eine «örY noch ein Saraucs ist. Vielmehr ist, was auch beim Schol. schon vorkommt, Danae’s unterirdisches ehernes Gefäng- nifs gemeint, welches ja gerade ein Thalamos genannt wird (Pausan. II, 23, 7. Warroüs SaAanos, ov "Anginıos more basupav Tis Suyargos Eroimrev), jenes von Perilaos zerstörte Argivische Gemach, dessen Wände ohne Zweifel mit eher- nen Platten ausgelegt waren, die mit Nägeln am Stein befestigt salsen, wie über die Antigone des Sophokles. 91 an dem Schatzhause zu Mykenae: dies wird durch xarzedtrevs bezeichnet. Lykurg ferner geuy9n mergwöe narapganros &v derus, worunter nicht Wein- reben zu verstehen sind, wie der Scholiast meint, sondern das Felsgeklüft des Pangaeos (Trikl. eis @vrgov eußarovres, Apollod. II, 5, 1. eis 78 Iayyaiov aurev drayaysvres 505 £önrav). Auch die geblendeten Phineiden waren in ein Grabgemach eingesperrt (Schol. und Diod. IV, 43 f.). Im ersten Strophenpaar ist der zweite Vers derselbe wie 939. 941. indem so zu theilen: x ’ ’ = - -uv-— vv 5% ’ ’ ’ =_- -- uv- vo. ’ x ’ ’ = WU - - wu -—— NER \ ’ et m Erra zaı Auvaus sugavıov bws 2.5 NS > ’ > m arrıukaı deuas Ev yarncderois auddis‘ 4 85 > nt \ ‚ ‚ agurroneva Ö’ Ev rumlngeı Sarauy naregeug, SH. IQ „3./ m ! Zeug, oEuyoAos mus 6 Apvavres, > N m A! ‚ F ns Höuvav Qarıreus, HEgTOWLELS O9 YaıS, > 7 ‚ r > ; m Er Alovuscu mergwder KATUDIARTOS [37 derud. Der Charakter dieser Strophe ist das Feierliche des Todtengesanges. Wie man im zweiten Strophenpaar Vs 966. glauben konnte, dafs der Vers mit äviupeureov yovav- aschliefsen könne, während das Folgende d& von « getrennt wird, ist um so unbegreiflicher, da aufser der starken Interpunction der Kre- tikus vor derselben, der gewöhnlich daktylische Reihen abschliefst, das Ende des Verses unverkennbar anzeigt; wodurch zugleich der zweite Vers, wenn man ihn logaödisch milst, dem ersten so analog wird, dafs sie sich nur durch das verschiedene Maafs der Basis und durch die auch nicht ganz unähnliche Schlufsweise unterscheiden, indem der erste mit -vuv-uZ, der andere mit ---u-endigt. Hat man dies erkannt, so erhellt zugleich, dafs in der Strophe die.Lücke nicht 957. zwischen @yyırorıs und "Ans, sondern vor Saruvdysses ist, wo der Schlufskretikus ausgefallen ist: denn sonst müfste Saruvönr|oos zwischen zwei Verse getheilt werden, und auch dies würde noch nicht dem Maafse genügen. Wie Hermann sehr richtig bemerkt, leitet der Dichter die Erzählung mit der Ortsbezeichnung ein; er will bedeutsam auf- merksam machen auf die Gegend der Greuelthat, die er beschreibt, und häuft daher die geographischen Bestimmungen. Hier war es aber passend, M2 92 Borceku gerade Salmydessos, den schaudervollen Ort, durch ein Beiwort zu heben, welches das Unheimliche bezeichne, und nennt Aeschylos (Prometh. 732.) diesen Ort &4,Sgo£evos, so ist es nicht verwerflich, obgleich unsicher, wenn wir hier «evos einfügen: NER an x ! ‚ = UV WwWeungWwWerngenn Ilap& dt Kuaveuv rerayeuv Ödyumas aAos ara Bor regia 18° 6 Ognrwv [@Zevos] Zaruudyrros, iv’ ayyumeris "Ans disvoisı Pıvaidaıs. x \ [4 , ’ Io Kara de raxoevor MEAEOL MEAEAV FATAV m \ 2 EN t HAaov, MATIOS EXOVTES AvUmdbeurov Yovayı de mega pv apy,aoyovuv avrag’’Egex,Ieidav. Die Verschiedenheit des Maafses der Basis in der Strophe und Gegenstrophe ist zwar elwas in diesen Formen ganz gewöhnliches, hier aber noch durch den Eigennahmen entschuldigt. Das Maafs Sowv —— ist durch 783. 792. und die zu 792. von Erfurdt angeführten Stellen hinlänglich gerechtfertigt, die Auflösung in der Gegenstrophe aber veranlafst durch den Begriff des Stür- mischen des Ares: denn fast nirgends geschieht dergleichen von Sophokles ohne Grund: wie fein der Dichter hierin sei, kann man gleich an Vs 962. 972. in ihrem Verhältnifs zu einander erkennen: I ’ ’ VUWVeUoVU——yu—_ueo vo 3 \ > £ > [4 [4 araov ararregamw OUMATWV KURACS. Bogeus Auımmos 6o9omodes Umeg Fanyov, wo, gelegentlich gesagt, die Leseart @wirrcs metrisch den Eindruck der Schnelligkeit schwächen würde. Der Mythos von den Phineiden wird zwar sehr verschieden erzählt; Sophokles hat sich jedoch so deutlich ausgedrückt, dafs über die von ihm befolgte Sage kein Zweifel bleibt. Ihre Blendung wird von ihm nicht der Mutter zugeschrieben noch dem Vater, sondern einem wilden Eheweib (961); ein Ausdruck, der sehr passend ist zur Bezeichnung der Stiefmutter, welche dem Sophokles Eidothea ist (Schol.): die Mutter Kleopatra wird über die Antigone des Sophokles. 93 jener entgegengesetzt (966), und selbst als ein Beispiel schweren Leidens, wie das der Antigone angeführt, nicht öhne besondern Antheil an ihr als einer Stammverwandten der Athener. Die Hauptschwierigkeit der Stelle hat mei- nes Erachtens Lachmann durch die Verbesserung &gay,Sevruy (963) ganz gehoben; und es scheint nicht nöthip, die Kritik zu widerlegen, welche ohne allen Beweis ein Lemma «regS° wv in den Scholiasten hineinlegt, wo agay, Stv öyyewv steht, statt Ur’ EYKE Ewy ch za c0y, Ur’ &yy,gwv, und damit 3 erwiesen zu haben glaubt, dafs @reg$” &yygwv im Texte gestanden habe: wäh- rend völlig klar ist, dafs der Scholiast die gewöhnliche Leseart vor sich hatte und unverderbt ist: denn «gay, Stv durch rugawSev zu erklären, wie er thut, ist nicht unsinnig, und sein Zusatz reur Terrı yuvarzelaıs bezieht sich nur auf zeoxidwv. Nur Triklinios hat eine Verneinung ersonnen, indem er nach den Handschriften seiner Recensionen und seinen armseeligen metrischen Scholien folgende heillose Anderungen gemacht hat: arasv ara Ze eunarwv FANZIEIE ee! oür Eyygwv arr up ailaarngas Kegat TE nal regniduv aruals. Bogeas auımmos Se=amanz Umso Fayceu Iedv y mais Ara zam’ Eneive Moigaı Kargulwves ETY,V, FUL. Vs 973. ist eo9cmodes Ümeg raycv wahrscheinlich über steilfüfsiger Höhe (auf dem Pangäos, der Boreaden Wohnung): wenigstens kann ich nicht glauben, dafs Sophokles das Eis, worauf man höchst unsicher steht, &o9o- reus genannt habe. Im fünften Epeisodion begnüge ich mich, nach vielen trefflichen Be- merkungen der Ausleger, und nahmentlich Hermanns, mit wenigen meist sprachlichen. Vs 987. will doch Aıunv blofs schlechthin als receptaculum gefafst nicht befriedigen; und es ist auffallend, dafs Bers Auunv Oed. T. 420. auch wie hier gerade von Teiresias gesprochen wird. Dies führt mich auf die Vermuthung, Auunv sei ein technischer Ausdruck der Vogelschaukunst, etwas Ähnliches wie bei den Römern nach Etruskischer Lehre templum. Vs 596. zaı narappueis kangol AaAUmTAS Efereiwro mıuEdds, werden die Adjective 94 Borcku noch nicht allgemein richtig verstanden. Karurr4s ist nicht activisch zu fas- sen, sondern ist von der umgehüllten (um die wngeüs gehüllten) Umwicke- lung zu verstehen. Die Schenkelknochen (ich meine nicht ganz fleischlose, wie Vofs, sondern mit dem daran befindlichen Fleische, indem ich Her- manns Andeutung für richtig halte) heifsen nicht zaraggveis, weil sie herab- gellossen wären aus dem Haufen oder vom Altar, wie Musgrave glaubte, sondern weil die Fettumwickelung von ihnen herabgeflossen ist, wes- halb sie denn blofs lagen (e£exewro). Das nehmlich, wovon oder woran oder woraus etwas fliefst, wird selbst nach antikem Sprachgebrauch fliefsend genannt: wie culter manat cruore; plenus rimarum sum, hac et illac perfluo (Ter. Eunuch.], 2, 25. nach der richtigen Leseart); eben dahin gehören auch die Ausdrücke vom Regnen, coenaculum perpluit, tigna perpluunt; ferner rgcswrov bgwrı beonevov u. dgl. Vs 1049. mufs das Frage- zeichen beibehalten werden: curw yap Non zal dorW To Fev 1Egos; tilgt man nehmlich das Fragezeichen, so bedeutet curw so viel als oüx El negdesw, und es kann folglich nicht übersetzt werden: ‚‚/ta sane me iam puto facere, ut lucri causa illa dicam, nehmlich tui lucri.” Bleibt dagegen die Frage, so nimmt ourw die entgegengesetzte Bedeutung an, &ri zegderı, indem die Verneinung nicht durch eurw wieder aufgenommen wird, ganz wie 1235. bei wsre nach Hermanns richtiger Bemerkung, die nur den Scholiasten, den sie treffen soll, nicht trifft, die Verneinung nicht wieder aufgenommen wird. Der Sinn ist daher: Scheine ich dir denn bereits um des Gewin- nes willen zu sprechen? Hierbei bleibt 75 rev Hegos jedoch noch unklar. Da aber Teiresias längst weils, dafs er dem Kreon scheint Gewinn zu suchen, so kann 7° vöv negos nicht auf dcx@ bezogen werden, sondern auf zegderw, und hierauf bezogen kann es keinen andern Sinn haben als den: ‚‚Was dich anlangt, suche ich doch gewifs keinen Vortheil, das ist, von dir suche ich gewifs keinen Vortheil; denn du wirst alsbald erkennen, dafs ich unbekümmert um deine Gunst dir Böses verkünden werde.” To rev 142925 ist also nur zugesetzt, damit Teiresias Rede schneidender und schnöder werde. Vs 1059. geht @v und Buegevra weder auf Antigone noch auf Poly- neikes; @v ist nicht Masculin, sondern Neutrum, und Aualovraı bezieht sich auf Sex: ,„„ Woran du keinen Theil hast noch die Obergötter, sondern nur durch deine Gewaltthat werden sie (die Obergötter) genöthigt, daran Theil zu haben, indem du den Polyneikes nicht den Untergöttern übergiebst.’’ über die Antigone des Sophokles. 05 Bidlovrau rade ist nach bekannter Weise gebraucht, ganz wie Vs 66. us Rıc- Con rade; dafs aber #y Neutrum sei, ist darum gewils, weil es grammatisch dasselbe sein mufs wie r«de. Auch hier hat der Scholiast wie gewöhnlich das Richtige, und nichts ist der Erklärung des Sophokles so nachtheilig gewesen, als die leichtsinnige Erhebung über den geraden Sinn des Scholiasten. N 59% > , 1064 — 1073. Kai raus’ aIgnrev ei zarngyugwieves N nuneesgrer Tarzan ia Ich \eyw. buve Yag ou Mazxgov Ygsvov Tau > Ev m m ’ ! avdowv, Yuvalzuv Tols donsıs AWHUNATE. > s \ & v / j% EX TEA DE MET TUVTALATTOVFUL FOAES, 2 ! ax ’ r OTOVv TFUGAYWAT N KUVES za9nyırav, an „ \ > .ı\ ’ nOngEss N TIS WTNVos olwvos pegwv [4 \ e m > F Avorıov OTNv ETTIOUNEv Es moAıw. n 14 mw ’ od EL TOELAUTAR Col, AUTEIS Yag, wsTe Togorns idrxa SuuD zapdıas rofeuua ahnra TUaY nagoas TOZEUMUTE ın m \ 12 > n Bela, av cu Surmos ou, Umendgunel. Zu zarnpyugupevos, versilbert, passen die von Erfurdt angeführten Pinda- rischen Stellen nicht, wohl aber dwvav Ümagyugov Pyth. XI, 42. Die Worte cÜ Margeu x,povev rein sind ohne Grund durch Kommata wie zwischenge- sprochen von den übrigen abgetrennt worden, wobei man zu davel als Object rovro ergänzen und zwzUner« als Subject ansehen müfste: ‚„Dies werden bald deinem Hause die Jammerklagen der Männer und Weiber zeigen.’’ Aber dieser Sinn ist unpassend; nicht reis deucis sondern vet müfste es heifsen. Der Gedanke der gewöhnlichen Leseart ist der richtige: „Denn nicht langer Zeit Weile wird deinem Hause der Männer, Weiber Jammerklagen an den Tag bringen,’ in welchem Gedan- ken das reis dausıs eine ganz andere Bestimmung hat, nehmlich anzudeuten, dafs die Klagen der Männer und Weiber des Hauses selbst gemeint sind: denn hier fällt der Begriff des rei doucı mit avdgss und yuvaizes in eins zusam- men: wogegen in der andern Erklärung das Haus das ist, welchem der Män- ner und Weiber Klagen ein Drittes (raör«) zeigen, was sie aber vielmehr dem Kreon selbst zeigen müfsten, nehmlich ob Teiresias als Wahrsager nach echter Begeisterung oder als Bestochener rede. Für die zunächst folgende Stelle hat man die Ansicht gefafst, Teiresias aufgeregt von Kreon verkünde diesem nun nicht mehr allein Familienunglück, sondern auch die künftigen Übel des 96 Borcku Staates, den Krieg der Argivischen Epigonen gegen Theben; ungeachtet gar nicht abzusehen ist, welchen Zusammenhang dieses Staatsunglück mit der Erbitterung gegen Kreon hat. ‚Die Argivischen Führer,’’ schliefst man weiter, ‚‚lagen unbeerdigt; Hunde, wilde Thiere, Vögel verunreinigten ihre Glieder, bringen den unheiligen Geruch in die Vaterstädte jener Führer, und diese Städte werden dadurch gegen die Thebaner aufgeregt.” Allein wo ist irgend in dieser Stelle eine Andeutung des Epigonenkrieges, die Zu- schauern oder Lesern verständlich sein konnte? Wo steht hier ein Wort da- von, dafs die übrigen Führer aufser Polyneikes unbeerdigt gelegen hätten? Wo steht in der ganzen Tragödie davon ein Wort? denn dafs sie dem Mythos nach allerdings nicht sollten beerdigt werden, ehe Theseus dazwischen trat, kann nicht in Betracht kommen, wenn der Dichter im ganzen Stücke davon schweigt. Wo fordert Teiresias, was er doch nach jener Voraussetzung hätte thun müssen, dafs auch die übrigen Führer aufser Polyneikes beerdigt wer- den sollen? Und was brauchen denn die Argivischen Städte, die ja mit Theben in offenem Kampfe sind, erst durch Aasgeruch gegen Theben auf- geregt zu werden? Und gesetzt, so etwas könnte dennoch gesagt werden, soll dieser Aasgeruch erst nach zehn Jahren wirken? Und welches Unge- heuer von Vorstellung ist es, dafs die Vögel, um nicht von den vierfüfsigen Thieren zu reden, den Geruch in die Peloponnesischen Städte tragen sollen! Warum sollen sie gerade dorthin fliegen? Und können sie so weit den Geruch tragen, dann mögen sie freilich ihn auch zu Zeus Thron bringen (1028.). Hiermit fällt zugleich die Erklärung des &%,Sgei durch üsre yiyyerSau &,,°gei. Ganz anders stellt sich die Sache, wenn man im Zusammenhange der Reden des Teiresias bleibt, und mit seinen Gedanken nicht hin und her schweift. Er lehrt (1003 ff.), dafs Hunde und Vögel den Leichenfrafs auf Thebens Altäre und Opferheerde tragen und sie dadurch verunreinigen, und die Götter kein Opfer noch Gebet mehr annehmen. Hierauf hinblickend sagt er, dafs jede Stadt erschüttert werde, wo ein Todter unbeerdigt bleibt; Theben, will er sagen, wird erschüttert, drückt dies aber als allgemein gül- tigen Satz aus: Feindseelig werden alle Staaten erschüttert, wo- rin Vögel und andere Thiere Stücke von Leichen auf die Altäre tragen; diese Erschütterung (dies bezeichnet suvragarrevra:) trifft Theben nun zunächst durch den Sturz des Herrscherhauses, den Tod des Hämon und der Übrigen; ein Unheil, was als Unheil des ganzen Staates anerkannt über die Antigone des Sophokles. 97 wird (1128.); und dafs hiervon auch allein die Rede sei, zeigt ja unmittel- bar vorhergehendes und nachfolgendes: 1065. davei yag od Margev Xgevev raußa avdoav, yuvamav vols domoıs zwaunare, A071. Teure Fov u. Ss. W. rav nU Suar- mos cüx, Ürerdgapei. Dem gemäls ist &4,9gei als feindseelige, verhafste, nehmlich denen von welchen sie erschüttert werden; Errıöyes verıs aber ist wieder eben die Stadt, die jene verunreinigten Buuevs za &ryagas (1003.) ein- schliefst, wie es der mit Unrecht getadelte Scholiast mit sicherem Takt gefafst hat; und es ist befremdlich, wie man in diesem Zusammenhange bei &rrısöyeos an etwasanderes als die &rries der Götter denken konnte. Bei dieser Erklärung bleibt übrigens der Genitiv rwv in derselben Bedeutung, wie bei der andern, und Hermann hat ihn unstreitig richtig für &rwv @vdgäv genommen, welches etwas frei angefügt ist. Dagegen wird derselbe Gelehrte zugeben, dafs seine Erklärung von zaSayıfaw, contaminare, Spiegelfechterei ist, mit welcher man auf die leichtesie Weise zeigen kann, dafs ein Engel ein Teufel sei: obgleich einer für dieses Umspringen der Bedeutung, aber nur mit leerem Schein, das Lateinische sacer anführen könnte. Das Wahre ist überall einfach. KaSayıgev heifst weihen, und auf Todte angewandt die Bestat- tungsehren erweisen; diese Bedeutung hat es auch hier mit sarkastischer Bitterkeit: deren zerrissenen Gliedern Hunde die Bestattungs- weihe geben. Türss euluyer rapaı, sagt Gorgias (b. Longin 3, 2.), auf welche Stelle mich mein Freund Meineke aufmerksam gemacht hat, als ich ihm diese Erklärung mittheilte; wie der Geier bei Ennius (Priscian. VI, 5.683. Putsch.) erudeli condebat membra sepulero, und ebenso ist Elektr. 1480. goes rapevrıv, wv Tevd’ eines Errı uyy,dvew, zu fassen. Das Gegentheil der Bestattung ist also hier aus Bitterkeit Bestattung genannt, wie Vs 510. den Hermann sicher richtig gefafst hat, die durch Polyneikes dem Eteokles erwiesene Ungunst eine Gunst (Kegıs) genannt wird; und ebenso ist Vs 752. yuvaızos av dovrsuma un zwrıAde us, zur nicht garriendo molestus sis, sondern aduleris, ‚‚Lafs bei mir das Schmeicheln, du ein Weiber- knecht,’’ indem Kreon die ihm eben zugefügte, aber im Ausdruck gemil- derte Beleidigung bitter eine Schmeichelei nennt, und zugleich sagen will, bei Weibern wäre Schmeichelei angebracht, nicht bei ihm. Am Schlufs der Stelle, die hier eben von uns behandelt wird, bleibt noch der Zweifel, wes- sen Herz und Muth gemeint sei. Man hat zagdıas re£eunara als die Geschosse erklärt, die das Herz sendet, und führt dazu Oed.T. 392. an: r15 Erı ver’ Ev roisd” Hlistor. phulolog. Klasse 1828. N 08 Boscekn ano Sund Bern ev&eraı Vuy&s auvvew; Allein gerade hier können die Ge- schosse, die die Seele treffen, recht gut gemeint sein, was ich nicht weiter auseinandersetzen will, da die Stelle ohnehin so bestritten ist, dafs man sogar die Leseart verändert hat; und weit unbedenklicher noch in un- serer Stelle: Pfeilschüsse in das Herz, feststeckende, deren Brande (auf das Herz) du nicht entgehen wirst. In der Stelle des Oed. T. ist aber Suu® (die Leseart Syucd scheint keine Berücksichtigung zu verdienen) das Gemüth desselben, dessen die Seele ist; und so mufs es auch hier sein: aber darum ist Suu® eu noch nicht propter iram tuam, sondern der reine Dativ wie im Oed. T. wodurch die Rede erst die wahre Kraft erhält; fehlt der Dativ zu dpaxa, der sagt, wem die Geschosse gesandt sind, so ist sie matt. Die Wendung mit den Geschossen hat übrigens Teiresias absichtlich aus dem Munde des Kreon (1020 f.) genommen, um bitterer zu sprechen. 1077. Tev veiv 7’ ausw av hoevay, n vor degen. m m Av . .. =; Töv boevov, 7 viv beosı hat man nach der bekannten Redeweise erklärt, rı errı e ’ peißev revreu yelu.s.w. (Matihiä Gramm. 8. 450.), wie Lysias g. Theomnest. S.183. ri yap dv ToUToU aviapwrepev yevarro aura 9% reI$vavar; Aber in dieser yag gwregov % D ; Redeweise ist rovrov, 9 reSvavaı gleich dem 9% rcVro, 7 reSvaraı, oder reurev, 8 oo reSvavaı, als dies, nehmlich als Sterben, und die Eigenheit besteht blofs darin, dafs zwei gleich richtige Structuren neben einander gestellt sind, wobei aber der Satz mit # materiell identisch ist mit dem vorhergehenden ) Genitiv und nur dessen Ausführung und Erklärung. Dies ist hier nicht der x m . . m m . . Fall: 4 vöv @egsı ist nicht dasselbe was r®v $geväv: und wollte man, wie in den andern Beispielen, röv &gevöv in die Wendung mit A verwandeln, so be- käme man die sinnlosen Worte: 4 ras pgevas, 4 vöv eger. Ich gestehe offen, nicht zu wissen, was hier zu thun sei. Dafs man rov vevv r@v Pgevav verbinden müsse, kann wenigstens nicht sicher behauptet werden, zumahl da die Wort- & ji > stellung es nicht empfiehlt; «@v vöv @egeı konnte Sophokles schreiben, und man sieht nicht ein, weshalb er es vermied; aber # in @v zu verwandeln ist bedenklich. Kaum wage ich vorzuschlagen: r&v dgsvav y vüv Degen, d. i. dusivw ray 7 vüv degei eevav, des Sinnes, wie er ihn jetzt trägt. Man sieht übrigens leicht, und niemand zweifelt daran, dafs nur von Veränderung des Sinnes in Rücksicht der Einsicht, nicht in Bezug auf Sittlichkeit der Hand- lung gesprochen wird; wohin auch Vs 1085. die eößsvrc« führt: was ich dar- über die Antigone des Sophokles. 99 um bemerke, damit man Vs 1091. zaxopgevas nicht Böses sinnende über- seize, da es hier nur heifst die unverständigen. Die gegen den Schlufs der ersten Abhandlung gemachte Äufserung über die zwei Strophenpaare 1102 — 1139. verpflichten mich, von diesen ausführlicher zu reden. Ich habe nehmlich behauptet, dafs dies ein einge- legtes Tanzlied, und kein Stasimon ist, ebenso wie der Gesang nach der Parodos in den Trachinerinnen (!). Dies erkennt man Theils am Inhalt Theils an der Form. Der Chor hofft und wünscht, dafs Dionysos helfen werde; dies giebt ihm eine gewisse Heiterkeit, die in einer tragischen ’Euue- Acıe sich passend ausdrückt; auch führt der Bacchische Inhalt schon auf Bewegung, da das Bacchische den Tanz liebt. Sodann wäre es wider die Natur, wenn der Chor still stände, während er so viel von Tanz spricht oder Bewegung wenigstens, wie 1114. &vSa Kugizıaı Nuupaı areiyovrı Ba- uy.des, 1132. mgobarnSı Nafıus vals aua megımoroıs, ai TE uaıvousvar MEVVUX,oh WopeVouTı Tov Tania ”I@xy,ev. Überdies mufs man noch die ganze Lebhaf- tigkeit des Chors in Anschlag bringen, die nicht zum Stillstehen pafst. Eben diese Gründe nöthigen auch hier und da noch in den Tragikern Tanzlieder anzunehmen; völlig auf derselben Linie wie diese Partie der Antigone steht der Gesang im Alas 678 ff. "Era Eowri, megıy,aons Ö’ dverrouav, wel- ches ebenfalls ein Bacchisches Tanzlied ist, wie der Dichter deutlich zeigt: bavnS’, wo Sewv wopomor avad, orws nor Nuria Kuwei’ eoxnnar' aurodan Euvav ialys. viv yag Euol mereı Yegeurau Und vergleicht man dies mit dem in der Antigone und den Trachinerinnen, wird man noch mehrere ähnliche Ausdrücke in ihnen finden, durch welche man die Gleickheit derselben in (') Schon in der ersten Abhandlung habe ich meine Überzeugung ausgesprochen, dafs der Chor beim Stasimon wirklich stillsteht; die bekannte Behauptung, dafs der Chor die Strophe gesungen habe, während er sich rechts, die Gegenstrophe, während er sich links bewegt habe, die Epodos aber stehend (Schol. Eurip. Hek. 647.), ist nichts als eine mit andern Seltsamkeiten verbramte Byzantinische Lehre, die aus den sogenannten alten Scholien zu Pindar (S. 11. meiner Ausgabe) entlehnt, und gewifs nicht einmahl für den Pindar wahr ist, noch weniger für die Tragiker. Man braucht daher nicht deswegen, weil Stasima in Strophen und Gegenstrophen geschrieben sind, sie für Gesänge zu halten, wobei der Chor in Bewegung gewesen sei. Andere Schwierigkeiten, die unsere Voraussetzung, die Stasima seien vom stehenden Chor gesungen worden, drücken könnten, übergehe ich hier als zu un- bedeutend, und bemerke nur, dafs mich Kolsters Erklärung des Nahmens Stasimon in sei- ner sehr sorgfältigen Untersuchung de Parabasi S. 12. nicht befriedigen kann. N2 100 Bosrexu Rücksicht der Stimmung und also auch der Art, wie sie dargestellt wurden, bestätigen kann, wie das iw Antig. 1132. Trach. 220. Aj. 679. 693. das mocbavn9ı Ant. 1136. vgl. Aj. 682. Um nun noch vom Rhytlmus des Gesanges in der Antigone zu sprechen, so ist derselbe für den Schritt und eine hüpfende Bewegung vorzüglich geeignet: dahin gehört gleich der die erste Strophe einleitende Paroemiacus, der als anapästisch dem Schritt an- gemessen ist, hiernächst die Rhythmen mit gehäuften Basen und die kreti- schen Füfse, welche an die Kyusı« öoynuare erinnern, und ganz vorzüglich der letzte Vers der zweiten Strophe, von welchem ich wie von einigen an- dern noch besonders reden werde. Die Rhythmen und das Flehende, welche der Charakter des Gedichtes ist, dürften vermuthen lassen, dafs die Melodie Lydisch war. Der Deutlichkeit wegen setze ich zuerst das Gedicht nach mei- ner Anordnung her: ’ GG. vv wu - | - Uveu vo x x ’ _—x—x ‚ u U u Ye U u em ’ — Uy me u ei x x _- -- — v-vu— P ’ ’ 5 ’ ER v— RS BE ES x, x x en er vu v xoı _ = you yamy=yu ' ’ x xor ma EHEN ROSE ’ u = vv vv. ‚ len A 3 ’ II ee an a an WITT it ’ ' v-v-v- wu yo 5 LEER; —_ Kuren mp A N ’ ’ Sa ’ „ org. a. MeAvwvune, Kadusıas vumbas aYaAıa, \ \ ’ 2 \ D\ > F 1105 xaı Aıcs Bugußgeusra YEVoS, AAUTAV 05 AUbEREIS ’ Ss \r ’Irarıav, edeıs de maynowvoıs EAsuriwias [a1 Se Anous Ev KoAmols DJ m m ! 2 w Baxysu, Bazyav unrgororw Onldav ” ec \ n Ge} 1110 varwv rap’ üyoov Irunvov peeSpov 9 v78 ! über die Antigone des Sophokles. 101 343 & ’ L m ‚ aygieu T Em Tmogıe Ögaxovros. I e \ G ‚ ’ „ dvr. a. 28 Ö’ ümeg diropeu mergas aregeV erwre er 5 4 Q r ’ u ‚ ‚N 1115 Auyvus, eva Kupvaıa Nuudaı oreryousı Baxxıdes, , { m Karrarias d& vaua* 7 r ,’ > 4 za ve Nuramwv ogewv [ort Kioangeis OX,Iaı ’ 393 \ ’ ’ 1120 yAwga 7 anra FeAUTTabUAoS FEUTE, > je) 14 N! 32 aulgorwv Emewv Elagovruv, r > m E 4 Onßaas ErıTRoreivr” ayvıds. ' \ > 7 1 2 are. ß. 1125 Tav Ex rarav TIUGS Umegrarav TOrAEWVv q \ ’ argı TUv Hegauvig* ’ e 4 za vuv, us Quaias E} ! & > \ ! ED | G ey,eraı mavöyuos [ana] Forıs Em verou, mu \ e AL ’ 1130 nerev zadugTiw modi Hagvnssıav 5 e \ \ N % Q t UTED AALTUV N TTOVoEevTra FOgI CV. > 1 >\ m ’ I: 13.39 ’ ar. B. io mUg mVEeiovrwv Kogay? agrgwv, vUXmWv ’ > ‚ ” bIeyuarwv EmiTRomE, 1135 7 m ji 0 mar Acc YEverIAov, ’ er N) ’ mgepavnSı Nakuwus vals aua megimoAas [e11 @viaurıy, & TE Waıvoreva Tavvuyot Kegeveunı rev ranıay "Iary,ov. Vs 1. der ersten Strophe giebt der gewöhnliche Schlufs bei Kaöusies keinen befriedigenden Rhythmus; meine Abtheilung weiset der Sinn nach durch die Interpunction; dem trefflich und würdig einschreitenden Paroemiacus ist die trochäische Dipodie zur Clausel angehängt. Vs 2. kann nicht bei yevcs geschlossen werden, welchem in der Gegenstrophe sonst der Spondeus Nyn- pc nicht entsprechen würde, daher auch zeg«: durch Interpolation dafür gesetzt worden: dafs aber Nude ein Tambus sei, wird durch alles, was da- für beigebracht worden, nicht erwiesen: setzt man ganze Verse statt zer- schnittener und charakterloser Glieder, so verschwindet der Schein des Iam- bus alsbald; erst bei dupersis weiset die Interpunction in der Gegenstrophe das Versende durch den Sinn nach, und so gewinnen wir einen köstlichen Bacchischen Tanzrhythmus, 102 Boecku x ’ - I|x—XxX ’ v DA I fast gleich dem heitern Eupolideischen Parabasenvers: der nur statt des Adonius den Choriamben hat. Der Einschnitt in unserem Verse ist jedoch vor der letzten Silbe des Adonius, wie er nach meiner Lehre von der Cäsur der Regel nach seyn mufs. Der Kretikus mit zwei Basen, deren zweite trochäisch-spondeisch bleiben mufs, ist sehr häufig, und kommt auch in den Tragikern nicht selten, noch verkannt vor, wie Oed. C. 1559. Herm. Das Ende von Vs 3. lehrt die starke Interpunction der Gegenstrophe, wohl zu merken vor x«/, welches sowohl um seiner selbst willen als auch, weil sonst in der Strophe eine Wortbrechung sein würde, nicht zu Vs 3. gezogen werden darf. So entsteht für Vs 4. ein Glykoneus; über ’EAevrivias vgl. Hymn. auf Demeter Vs. 105. 266. Antimachos F'rragm. 55. Schellenb. Eratosth. Zragm. Merc. XV, 15. S. 144. Bernh. u. a. in welchen Stellen weder "Ereurivos für ’EAevriwvies noch ein Synizese des ? mit dem folgenden Vocal anzunehmen, da ’EAevrividao doch so nicht erklärt werden kann. Die folgenden fünf Längen noch zuzunehmen zu Vs 4. sind wir nicht veranlafst; sie kehren gleich Vs6. und in der zweiten Strophe Vs 1. wieder als Vers- beginnende, und sind auch darum nicht zu Vs 4. zu nehmen. Da Vs 6. die fünfte Silbe derselben in der Mitte des Verses anceps ist, müssen sie ana- pästisch gemessen werden, nicht daktylisch; das Schleppende und Gedehnte derselben ist passend für den Flehgesang, das Anapästische für den tragischen Tanzschritt. Das Ende von Vs 6. giebt zwar der Rhythmus schon selbst, aber der Hiatus in der Gegenstrophe beweiset es vollständig. Hiernächst hat man zwei Verse gemessen: varwy map’ üypwv aßgorwv Erewv Irunvov beeIgwv dypiou 7 evalorrwv, Onatas den ersten anapästisch, den zweiten daktylisch, deren Widerstreit höchst unangenehm ist; überdies ist der daktylische ganz schlecht, und beide beru- hen auf falschen Lesearten, besonders Triklinischen, die ich der Kürze wegen über die Antigone des Sophokles. 103 in der übrigen Behandlung dieser Gesänge übergangen habe: alle guten Bücher haben öygev und öeeSgev; in der Gegenstrophe empfiehlt sich außpsrwv in der Ald. und der alten Florentinischen Handschrift (La.) schon durch seine Form. Auch r’ zu Ende des Verses ist in einem Chor anstöfsig. Um kurz zu sein, wer für Verstheilung geübtes Gefühl hat, wird gleich darauf geführt, dafs @ygiev 7’ und Onßwies zum folgenden Verse gehören, und nicht üygtov rund Beias, sondern jenes und ®nQaias sich mittelst des unbestimm- ten Maafses der Basis entsprechen; und Sinn und Interpunction bestätigen dies Urtheil. So entsteht nun ein Tanzschrittgemäfser, dem zweiten Vers ähnlicher Rhythmus (£r&wv ist nehmlich zweisilbig), der mit dem Ende des Rhythmus von Vs 2.=.-u- beginnt, und die zwei getrennten Trochäen, welche jenen einleiten, in anderer Form am Schlufs hat. Auch Aristophanes kennt das Maafs *-1.-, worin die Basis nicht, wie man sagt, Trochäus semantus ist, und ein anderes Maafs (Herm. El. D.M. S. 662.) -u.>13- ist die fehlende Basis im Anfang abgerechnet dem Wesen nach dasselbe wie das, was ich hier gesetzt habe. Die Verschiedenheit des Maafses der Strophe und Gegenstrophe erklärt sich hinlänglich daraus, dafs in der Strophe der Begriff des Stroms mit der den Alten eigenen und überall sich bewährenden Kunst, auf die wir auch unten wieder zurückkommen, durch Kürzen gemalt ist (Su - und So); wiewohl wer an der Auflösung der letzten Arsis Anstofs nimmt, $e9gev schreiben kann (Aeschyl. Agam. 214. im Chor) oder minde- stens sprechen: doch halte ich auch dies für schlechter. Verändert ohne Handschriften haben wir nichts. Im zweiten Strophenpaar bietet rvecvrwv, die überlieferte Leseart, eine auf keine Weise erklärliche Kürze statt der Länge dar: nur dochmisch liefse sie sich erklären; aber hier ist gewifs nicht an Dochmien zu denken. IIyeıov- rwv ist die einfachste Aushülfe ; dies ist keine wahre Änderung, da Sophokles doch & blofs mit E geschrieben haben wird: denn auch die Attiker schreiben &ı mit E selbst nach Euklid noch in solehen Wörtern, wo &ı und e verwech- selt werden, wie xeges, Yeıgos: dies beweisen die Inschriften. Kommt TVELOV- rwv in den Tragikern nicht vor, so konnte er der Homeride Sophokles so gut als ie (956.) einmahl gebrauchen, und zwar wie Odyss. ö, 361. vor- züglich in der Arsis, deren Kraft der Verlängerung zu Hülfe kommt. Schliefst man übrigens den Vers mit rıu&s, so erhalten wir gegen die Ana- 104 Boecku logie der ersten Strophe Vs 5. 6. sechs zusammenhängende Längen, und ohne Kennzeichen des Versendes; vielmehr schliefst erst rorewy den Vers, wie hier in der Strophe wenigstens der Sinn einen Abschnitt hat: wie regel- mäfsig hierdurch der Rhythmus wird, sieht jeder; dafs der Glykoneus mit der letzten Silbe von rıu&s und rveicvrwv anfängt, ist nicht nur nicht entge- gen, sondern nach der rechten Lehre von der Cäsur das Bessere, weil da- durch die erste Arsis des Glykoneus mehr Kraft erhält, und die Glieder fester verbunden werden. Vs 4. nimmt der Rhythmus nach vorhergegange- nem mildem Falle einen plötzlichen und ergreifenden Umschwung und bleibt zugleich plötzlich stehen in dem su +3, &yerau Fav-, rgobarnSı, vortrefflich malend das Ergriffenwerden und das Erscheinen, welches beides Theils etwas Gewaltsames, Theils ein Plötzliches ist. Den Schlufs aber des Verses, den schon Erfurdt erkannte, lehrt in der Strophe die Interpunction, des- gleichen der Rhythmenfall, und ganz vorzüglich das Maafs Su -, welches, wenn ein starker Eindruck erreicht werden soll, unzähligemahl den Vers schliefst, wie ich schon zum Pindar bewiesen habe; die Auflösung ist auch hier durch den Gedanken angegeben, in &ri verev durch den Begriff des Er- griffenwerdens von Krankheit, in egrercs durch die Beweglichkeit der tanzenden und rasenden Bacchen. Und wie zart beginnt nach dieser Ab- theilung der folgende Vers, dessen ruhig schmelzender Einschritt das Fle- hende des uereiv in der Strophe ausdrückt, die den Dichter, da er zuerst diese schrieb, zunächst zur Wahl des Rhythmus bestimmte. Die Verdunke- lung dieser Verstheilung mittelst Auslassung des Wortes Over, welches obgleich in einer Handschrift fehlend, höchst unverdächtig ist, und mittelst einer kühnen Umstellung in Verbindung mit Änderung zweier Worte (ezgı- rorcısı zalsıv) in der Gegenstrophe, und eines in der Strophe (Tavd4uıcs), und Zulassung einer unerträglichen Wortbrechung, ist durchaus zu mifsbil- ligen, und nur weil bessere Abhülfe fehlte, zu entschuldigen. Alles bis- herige vorausgesetzt, erhellt, dafs in der Strophe nach ravdyuos ein Spon- deus fehlt, den ich beispielsweise durch @u« ergänzt habe, in der Gegen- strophe aber statt des Dactylus Ovierw, wie in den Handschriften steht, ein Palimbacchius erfordert wird, welcher Oviasıy'ist, eine seltene, aber sichere ‘Form, wie Baxyıdss und Baxyaı gesagt wird. Strabo X, S. 468. Auvurov N 4 a G m m . . de Zeıayvol Te zal Sarugaı za Barya, Ayval re na Ovtaı. Auch die erste Dio- über die Antigone des Sophokles. 105 nysospriesterin, von der fälschlich die Thyiaden benannt sein sollen, heifst @vie (Pausan. X, 6, 2. mit einiger Abweichung des Mythos dieselbe bei Herodot VO, 178. und vielleicht dieselbe, die auch dem Poseidon zur Ge- liebten gegeben wird).. Der letzte Vers, fe FAN yo Are Kogevoucı rov ranıay "Iaxy,ev (dvr.) ümso KAırÜv N Trovevra wog. pov (sre.) hebt durch den Antispasten herrlich den Fufs zum Tanz in dem Worte %o- gedcurı, und malt in örsg zArriy durch erst aufsteigende dann niedersteigende Bewegung ganz zauberisch das Übersteigen der Höhe! Wie dieser Vers dem Tanz zusage, dafür zeugt Pindar auch (Zragm. S. 604.): 6 Moisayeras ne nad yopeüraı. Nur weniges noch zur Erklärung. Vs 1103. mufs vuudn als Braut genommen werden in Bezug auf Zeus; denn Semela ist keine Nymphe, und doch scheint sie (nicht Thebe) gemeint. Die Erwähnung der Orte hier- nächst, wo Dionysos herrscht, ist zum Theil mit Absicht auf die Attischen Verhältnisse berechnet, zum Beispiel auf die Colonien, deren Theoren auch gewifs bei der Aufführung des Stückes an den Dionysien anwesend waren. Italiens Erwähnung nahmentlich hatte gerade damals vorzüglichen Reiz, da wenige Jahre vorher Thurii von den Athenern besetzt worden; dann wird Eleusis genannt. Es ist nehmlich eines der wunderlichsten Mifsver- ständnisse, rayzewcıs ’Ereurwias Aycds Ev z0Arcıs auf den Saronischen Meer- busen zu beziehen, oder gar auf den Busen (die Brust) der Demeter: KoAmos ist ein Thalgrund oder Ebene zwischen Hügeln, die sich von dem Passe von Panakton zwischen Kerata und Diomeia herabziehen durch das Thriasische Feld nach dem Meere: Neueas z2Ar05, z2Arcı Ihres u. dgl. ist bekannt genug aus Pindar. Diese zerrcı heilsen rayzewcı, wie der Scholiast richtig bemerkt, weil dort Favres awayovrau dia ras ravnyigeıs, weshalb Pind. Olymp. VI, 63. Olympia rayzewes 4,@ga heifst. Alles dies sah Musgrave schon. Die Er- wähnung der übrigen Orte beruht höchst wahrscheinlich auf zeraywyisıs, was ich nicht weiter verfolgen will. Die Anführung der Euböischen Nysa gewinnt noch einen eigenthümlichen Reiz für die Athener, da mehre Euböische Orte mit Attischen Kleruchen besetzt waren. Zwar könnte man auch an Histor. philolog. Klasse 1828. 16) 106 BoeEcku die Parnassische Nysa denken; aber es ist bereits von andern bemerkt, dafs Vs 1131. auf Euböa führt. Der Dichter denkt sich nehmlich nach Vs 1130. 1131. Dionysos entweder vom Parnafs oder aus Euböa kommend, wo er auch in Eretria einen Cult hatte (Corp. Inscr. Gr. n. 2144.), und beide Orte nennt er daher auch gleich Anfangs; an die Ankunft von Euböa schliefst sich zugleich Vs 1136. die Erwähnung der Naxischen Nymphen an, die ihn von Naxos über Euböa nach Theben geleiten sollen. Dafs Dionysos Vs 1133. Chorführer der Gestirne genannt werde, kann ich nicht als blofse dich- terische Sprache erkennen, als ob Dionysos, weil er nächtliche Chorreigen führe, und die Gestirne sich scheinbar bewegen, nun auch die Gestirne als einen Theil seines nächtlichen Reigens in Bewegung setze. Wir wollen lie- ber den wurrizov Angev, wie es Eustathios nennt, behalten, indem dem prie- sterlichen Sophokles dieser nicht fremd war: ist denn nicht lacchos der Spender der Güter (1139.) der mystische Gott, ist nicht eben Eleusis er- wähnt, sind die Sühnen (z«$agriv rodi 1130.) nicht mystischer Natur? Und ist ein erhabener Gedanke nicht mehr werth als eine poetische Floskel? Wir wenden uns nun zur Exodos. Vs 1171. ist varrarred FUN: dun- kel: die Musgravische Erklärung, quae in aperiendo intus trahitur, ist falsch, weil die Thüren bekanntlich damals nicht nach innen aufgingen ; im Öffnen oder Herausgehen wird die Thüre nicht nach innen angezogen, sondern im Schliefsen beim Hineingehen, wie in der nicht glücklich vergli- chenen Stelle Xenoph. Hell. VI, 5, 36. Erırzasasa ryv Sugav. Erst wenn man dies bemerkt, erkennt man, dafs Hermann richtig die pessuli re- tractionem in avarrarrsv gesucht hat. Vs 1177. ist maguv ganz überflüssig, wenn es bedeutet guum adsim: raguv heifst als Augenzeuge. Vs 1187. erkennt man nicht sogleich, warum gerade Sarrcls nicht Zirais steht: aber es sind Olivenzweige gemeint, die vorzugsweise SaArcl heifsen, und Oliven- holz wird bei der Todtenbestattung gebraucht (Demosth. g. Makart. 8.1074. 22.). Nach Vs 1204. ist nichts zu vermissen: £ «Sy4uev derröreu hängt von »ereuruacıy ab, und r«de ist der Inhalt des vorhergesagten: ‚Dies betrach- teten wir nach des Herrn Befehlen,’’ und sahen so, was folgt. In den unstreitig Mixolydischen zeuueis der Exodos kommt es daranf an, die Dochmien, die nach einer frühern Bemerkung nicht in grolse Systeme verbunden sind, und in denen Hiatus und Syllaba anceps im Ganzen genom- über die Antigone des Sophokles. 107 men, wiewohl der Hiatus mit Einschränkung, die Versmassen sondern (Mer, Pind. S.321.), in kleinere Parthien zu zerfällen, wodurch Verse gebildet werden. Im ersten Strophenpaar (1246 ff. 1270 £f.) ist hierbei kein Anstofs: v-—- u-|v-—- vu- ’ ‚ ‚ ‚ vv | vu. u. a! a 4 v-—- u | v_——v-. ww nl rı =-uu=-u-|v-- u. I11— 2 vo -- v—|v-uo w ’ vu v-.voo_ nt a) , RISING ee TEN a I 1 m m To Den Schlufs bildet gerade eine gröfsere Masse mit stärkerem Eindruck. Vs 5 5 1275. mufs irgend etwas ausgeworfen werden; wie aber & r«i, welches aus- fe) o ’ geworfen werden soll, könne hereingekommen sein, ist nicht begreiflich, und es scheint nicht überzeugend, dafs ein Diener nicht könne hier & rei senannt werden, wiewohl allerdings es einen Augenblick anstöfsig sein kann: 8 D 5 5 8 dafs & ra hier nicht Hämon sein könne, merkte jeder gleich, weil r! $rs vorangeht, und eben darum läfst es sich füglich beibehalten. Dagegen hat Seidler richtig erkannt, dafs Asycv, dessen schnelle Wiederholung (nach 1273.) auffällt, wegzuwerfen; dies ist ein falsches Glossem zu rıw« veov, und B) 8 ’ die Structur geht vielmehr über die Interjectionen weg, wie in derselben ö ) 5 Stelle der Strophe (1252 ff.). Ich schreibe daher mit geringer Abweichung von Seidler: ri dis, & ra, riva Asyaıs ucı vecv — Der unregelmäfsige erste r Yes I 5 5 Dochmius macht gerade hier den vortrefllichsten Eindruck, und Asyeıs uor veov ist die einzige auf guten Quellen beruhende Leseart, so dafs nach unsrer 5 5 s Anordnung der Stelle gar nichts weder in Strophe noch Gegenstrophe ver- 5 5 ändert wird, als dafs wir Aoycoy wegwerfen. Das zweite und dritte Strophen- ’ 2 5 paar ist bereits in Ordnung; im vierten stimme ich der herkömmlichen Ab- theilung ebenfalls bei, indem der Hiatus Vs 1304. in &y& kein Versende beweiset (vgl. Seidler Dochm. S. 91.): wenn Vs 1304. überdies in neAees die letzte Arsis aufgelöst scheint, so dafs hier kein Versende angenommen werden könnte, das doch der Hiatus der Gegenstrophe und die Symmetrie 02 108 Borcku empfiehlt, so ist es wohl nicht zu gewagt, n£Asos zweisilbig zu lesen. Dage- gen bleibt Vs 1306. R ABATOS, KL NA ayere u’ orı Tays, | ayere u’ Enmodwv ein Anstofs, indem die letzte Silbe des ersten Dochmius mitten im Verse kurz statt lang ist. Auf keine Stelle ist aber die ohnehin durch kein sicheres Beispiel begründete Entschuldigung, dafs das Ausruhen der Stimme in der Ausrufung vor dem wiederholten Worte (@yere) die letzte Silbe verlängere, minder anwendbar als auf diese. Wie, Sophokles dessen Kunst im Ge- brauch der Kürzen wir blofs in diesem Stücke schon so oft nachgewiesen haben und auch an andern Stellen noch nachweisen könnten (357. und Ge- genstr. 972. 1110. 1137. und sonst, man sche noch besonders 108. und Gegenstr.), sollte gerade hier, wo er durch die gehäuften Kürzen die Hef- tigkeit der Leidenschaft und die Raschheit der Bewegung angedeutet hat, nicht blofs etwa eine Länge eintreten lassen, sondern eine Kürze gar verlän- gern durch Äusruhen, und zwar gerade in dem Begriff der Schnelligkeit, in r@y,es? Nimmermehr! Er wufste, so gut als Pindar (Metr. Pind. S. 296.) die Begriffe des rayureruov, rayvraru, rayuras in die Stelle der gehäuften Kürzen legt, dafs der Rhythmus dem Gedanken folgen mufs. Eben darum ist auch die Veränderung r«y,.77’ nicht annehmlich. Die Lösung der Schwie- rigkeit ergiebt sich aus der Gegenstrophe, Vs 1324. 1325. Dort hat man die Worte r& zaı 3%, die in allen Handschriften stehen, als ein Glossem ver- ülgt. Welch ein Glossem! TıSyroucı in einer Handschrift ist Glossem, aber eben zu Sö, welches dadurch erläutert werden soll. Kai ist auch ganz un- verdächtig; weit entfernt, dafs es animi tranquilli et motu vacui sei, wird es immer nur mit Gefühl und Aufregung gesprochner Rede zugesetzt: ri nal PovAouevos radra Asyaıs, ,„,‚Was meinst du doch nur damit, dafs du dies sagst?” Setzt man dieses #& za 30 wieder in seine Rechte ein, und schlägt den Kretikus ravr«a Yag dem folgenden Dochmius vor, so erkennt man, dafs in der Strophe eine Lücke sei, die nun aber nicht nothwendig blofs einen Kretikus umfafst, sondern auch ein Ditrochäus kann ausgefallen sein. So verschwindet die iambische Messung des r«4,0s von selbst mittelst dieser Messung. über die Antigone des Sophokles. 109 nt a 3% On ’ eyw, ba Erumov. iw mooSToAdL, „ se n „ 3 N u - | u ayere W orı Tay.05, | eyere Ko Ermodur. De) N N ee omu mgos moregov Löw, TARUTW FR SER \ 2 [A Sn ne en $ NE , mavra yap | Aeygıa ray wegoiv | ra 0° Emi zgarı moi Zum Schlufs sei es gestattet, mit Übergehung manches Andern zwei iambische Stellen der Exodos zu behandeln. ‘ ! Q> ey» 1263 — 1266. "E£ayy. "N derwoT, Ws eywv TE nal nenrnusvos, \ \ Ta EV mg0, BEA Tade pegwv, Ta Ö° ev deuars Eoizas Arew zul Tax o ET Iaı zaxd. Ko. Ti 8° Errıv ad Rarıcv N kardv eriz In den drei ersten Versen ist die Leseart gewifs richtig gesetzt; an der Er- klärung aber mangelt es, und ich will die verschiedenen Ansichten nicht weiter beurtheilen, da jene sehr einfach geleistet werden kann, sobald man bemerkt, dafs das Ganze, wie häufig solches in Prosa und Dichtung vor- kommt, blofse vocativische Anrede ist, die nur durch besondere Eigen- thümlichkeit des Griechischen Ausdrucks den Schein eines mit dem verbo finito gebildeten Satzes erhalten hat. Schon liegt dem Kreon der Sohn todt vor, jetzt wird ihm der Eurydike Tod berichtet: wie wenn er recht aller Übel Besitzer wäre: dies, und weiter nichts liegt in der Häufung us &ywv Te xal zeurnugves: „„O Herr, der du wie der wahre Inhaber und Besitzer des Unglücks, das eine vor den Händen trägst, das andere aber alsbald zu sehen kommst, wie klar ist.” #egwv ist auf den Vocativ construirt; nun müfste &orzws folgen: allein es ist gewöhnlich, dafs nach einem Partieip mit vv hernach das verbum finitum mit ö& steht, damit die Rede minder schwerfällig sei (Staatsh. d. Athen. Bd.I. S. 148 f.). Im vierten Verse stimme ich, selbst nach dem was Stallbaum neulich zum Philebos beigebracht hat, durch denselben Mann, dessen Hermann erwähnt, in Privatmittheilung überzeugt, dafs man nicht zazıov 9 zardv Slalt zazıov 9 zurd sagen konnte, dennoch nicht der Reiskeschen Änderung bei, welche in den Text aufge- nommen worden: FI 0° Erw ad; wazıov 1 zazdv Eri; Denn die Zerstückelung des Verses in zwei Fragen scheint nicht gut, und es giebt einfachere Hülfe blofs durch Erklärung: ,‚Was ist schlimmeres 110 Boreku wieder oder wasist noch vom Ubel?” Kreon meint, nach so gro- fsem Übel gäbe es überhaupt nichts mehr, was ihm noch unter die Übel gerechnet werden könnte. 1286 — 1290, °H &° öEUSnRTos nde Aunia megıe Ale nerawa Prepapa, nwrisara Ev ToU mol Savovros Meyagews KAEıvoV AEy,0S, auSıs d& rodde: AuınIıcv Ö8 Tel zards ! > 4 E [4 makes EdunvnTara 7w Fadcrrovw. Nach den ersten dieser Verse und überhaupt in der ganzen Stelle ist keine Lücke; die Gründe, weshalb sie angenommen worden, lassen sich leicht be- seitigen, und es ist nicht schwer zu zeigen, dafs so wie es ist alles am besten sei. Die allerdings wahre Bemerkung, Aus r&paga heifse die Augen öffnen, wie im Rhesos ('), und wie auch Pind. Nem.X, 90. Aus öpIarucv vom Öffnen der Augen eines Dritten gebraucht ist, und die andere daraus (') Ich ergreife die Erwähnung des Rhesos, um Hrn. Prof. Hermann einen freilich nach so vielen Beweisen völlig überflüssigen neuen Beweis zu geben, dafs ich falsche An- sichten zurückzunehmen nicht nur sehr geneigt bin, sondern mich beeile. Das Scholion, welches die Meinung des Krates über den Rhesos enthält, stöfst die meinige um; und wäre es im J. 1508. bekannt gewesen, würde ich die meinige nicht aufgestellt haben. Ob jedoch Rhesos Alexandrinisch sei, erlaube ich mir noch zu zweifeln. Übrigens hätte ich ge- wünscht, dafs der genannte Gelehrte in seiner Widerlegung etwas mehr auf den Zusam- menhang und Zweck meiner Rede geachtet hätte. Dann würde er sich die angebliche Nach- weisung falscher Schlufsfolgen haben ersparen können; denn er würde nicht an Neben- gründe, die nicht als zwingende angegeben werden, den Maafsstab nothwendiger Schlufs- folge angelegt, am wenigsten aber die S. 269. seiner Dissertatio de Rheso vorgetragene Aus- stellung gemacht haben. Jeder, der im Zusammenhang ist, erkennt die Richtigkeit der dort angegriffenen Schlufsfolge, dafs, weun der vorhandene Rhesos nicht Euripideisch (das heifst von irgend einem Euripides) sei, entweder die Didaskalien Irriges überlieferten, oder unser Rhesos nicht von ihnen gemeint war. Es scheint mir eine der ungeziemendsten Angewohnheiten, Jemandem falsche Schlüsse aufbürden zu wollen, weil er nicht in Syllo- gismenform schreibt und also den an sich richtigen Schlufs nicht in allen seinen Sätzen voll- ständig ausgedrückt hat; und der Angegriffene geräth hier wirklich in Verlegenheit, ob er lieber seine gute Sache im Stiche lassen, oder den Leser mit Umsetzung seiner Rede in Syl- logismen langweilen will. Auch in gegenwärtiger Abhandlung habe ich es hier und da vorgezogen, die Schlufsreihen selbst auf die Gefahr mifsverstanden zu werden, lieber abzu- kürzen, als durch Weitläuftigkeit beschwerlich zu fallen. über die Antigone des Sophokles. 411 gefolgerte, welche wir bestreiten, es müsse also etwas hier ausgefallen sein, wodurch angezeigt wäre, dafs hier Avcıy Prepaga morte solvere oculos sei, indem auch Kreon hernach (1298.) sein Gemahl als todt voraussetze, ist in sofern ungenau, als Kreon nicht aus dieser Stelle ihren Tod weils, sondern ihn schon Vs 1267. verkündet erhalten hat, und der Leichnam vor ihm liegt (1279. ögav rugerrw u. s. w.); sie erledigt sich zugleich damit, dafs der Zusammenhang des Ganzen hier dahin führt, die Augen seien ihr der Sterbenden gebrochen, dafs die Analogie des Asruvro de yuia u. s. f. auf diese Bedeutung hinführt, und der Zusatz zsr«w« darüber keinen in Zwei- fel lassen konnte, indem er das die Augen umziehende Todesdunkel, nicht schwarze Augen hier bezeichnet. Setzen wir uns nun in den Zusam- menhang der Stelle, so können wir nicht das Mindeste vermissen. Der Bote hatte angegeben, Eurydike habe sich erstochen (1268. 1269.); wie sie sich erstochen habe, giebt er erst Vs 1299, auf Kreons besondere Frage an; wäre aber hier, wo eine Lücke sein soll, eine längere Erzählung gegeben gewe- sen, so hätte, da ja ihr Tod in dem Ava zerava Prepapa erwähnt ist, nothwendig gerade hier angegeben sein müssen, wie sich Eurydike getödtet habe. Da dies nun nicht hier kann gesagt gewesen sein, weil es erst im Folgenden vorkommt, so erkennt man leicht, der Dichter wolle hier dem Boten nichts weiter in den Mund legen, als was den Kreon vorzüglich hart trifft, dafs Eurydike ihn verwünscht habe als Mörder zunächst seines Soh- nes Hämon, aber auch des früher auf Teiresias Dringen hingeopferten Me- gareus, wie ihn mit Sophokles auch Aeschylos nennt (Sieben 449.); dafs dies der Hauptzweck sei, zeigt der weitere Verfolg seiner Rede (1296 £.). Sollte der Mauptzweck nun erreicht werden, so mufste der Dichter zu- erst sagen, dafs sie der beiden Söhne Loos noch in den letzten Augen- blicken beweint habe, welches mit dieser Verwünschung nothwendig ver- knüpft ist, und darum stehen die Worte zwxVrera uv u. s. w. da: alles die- ses aber bedurfte einer kurzen Einleitung, um die Lage der Eurydike, in welcher sie dies that, vor Augen zu bringen; hier aber wäre eine lange Er- zählung eine schlechte Aufhaltung des Affeets des Kreon, den die Kommen je) darstellen sollen; dem ächten Künstler genügte eine kurze und rasche An- deutung. Dafs sie sich erstochen habe, war ja schon gesagt; daran anknü- pfend wird fortgefahren: Von scharfem Stich getroffen, umgeschlun- 112 Borcku: über die Antigone des Sophokles. gen um den Altar, löst sie dieschwarzen Wimpern, bejammernd der Söhne Loos und dich verwünschend. Hier erhält man durch wenige kraftvolle Züge das klarste Bild, was nur der Scholiast wieder geist- reich aufgefafst hat, wenn er sagt, dafs sie wie ein Opferthier am Altar hingesunken; den sie natürlich sterbend in der Todesangst umfassen will, da sie lebend den Trost, den sie dort bei den Hausgöttern suchte, nicht mehr finden konnte. Auch &£USyrres wird besser mit dem Scholiasten in seiner einfachsten Bedeutung öfeiav Aaßsvra FAryav gefafst, wohin schon im Vor- hergehenden Vs 1269. verrsuası mAyynarı jeden aufmerksamen Hörer oder Leser führen mufste. So gefafst läfst die Stelle nicht das Mindeste zu wün- schen übrig, und man kann nicht absehen, was weiter noch hätte erzählt werden sollen, da der Dichter den Boten alles Wesentliche allmählig sagen läfst. —— ED — Über die Poetik des Aristoteles, und sein Verhältnifs zu den neuern Dramatıkern. ei H”- von RAUMER. AAMANDUUVUTUVUT [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 18. Januar 1828.] Mit dem Ansehn des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüjste. Lessınc Dramaturgie II, 68. Einleitung. \ V.rxe. welche zugleich durch den Reichthum und die Schwierigkeit ihres Inhalts anziehen, sind von jeher vorzugsweise ein Gegenstand der Forschung und Erklärung gewesen. Zu diesen Werken gehört die Poetik des Aristote- les. Ihrer innern Beschaffenheit halber wurden aber nicht blofs abweichende, sondern selbst entgegengesetzte Urtheile über sie ausgesprochen, und was dem Einen höchst bewundernswürdig erschien, hiefs dem Andern nicht sel- ten oberflächlich und verkehrt. Mit Übergehung der Meinungen und Be- hauptungen vieler ältern Schriftsteller (z.B. des Vossius, Vavassor, Dacier, Batteux, Rapin, Perrault, Castelvetro u.a.m.) erinnere ich hier zunächst nur an Lessing und A.W.Schlegel. Jener sagt in seiner Dramaturgie (Werke Theil XXV, S.385): ,‚‚Ich stehe nicht an zu bekennen (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden), dafs ich die Poetik des Aristoteles für ein eben so unfehlbares Werk halte, als die Ele- mente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsätze sind eben so wahr und gewifs, nur freilich nicht so fafslich, und daher mehr der Chikane ausgesetzt, als alles, was diese enthalten.” — A.W.Schlegel hingegeu äufsert (Über dra- matische Kunst II, 1,32): ‚‚Wenn Aristoteles von der Redekunst nur die dem Verstande, ohne Einbildungskraft und Gefühl, zugängliche und einem äufsern Zweck dienende Seite gefafst hat; so kann es uns nicht befremden, wenn er das Geheimnifs der Poesie noch weit weniger ergründete, dieser 5 Histor. philolog. Klasse 1828. P 114 von RAUMER Kunst, welche von jedem anderen als ihrem unbedingten Zwecke, Schönes durch freie Dichtung zu erschaffen und in der Sprache darzustellen, losge- sprochen ist.” Dieser Ansicht widersprechend stellt Solger eine dritte auf (Schriften II, 545) des Inhalts: ‚Aristoteles hat nirgends gesagt, dafs er die innersten Gründe der Kunst aufdecken wolle (ob er dies vielleicht mit Unrecht für unmöglich gehalten, geht uns hier nicht an); kurz er will nur ihre Gesetze aufstellen, wie sie sind. Wenn er dieses nun zwar nach empirischen Begrif- fen thut, aber mit steter Beziehung auf das, was die Kunst von allen übrigen Erscheinungen unterscheidet, und folglich mit stiller Voraussetzung eines höhern Grundes, so ist dagegen nichts einzuwenden.” Wenn Jemand, der sich auf keine Weise den Philologen und Philo- sophen beizählen darf, die aristotelische Poetik und die darüber gefällten Urtheile zum Gegenstande seiner Untersuchungen macht, so mufs er mit Recht den Vorwurf der Anmafsung befürchten; in der That ist aber der Versuch nur aus Lernbegier und aus dem Wunsche hervorgegangen, jene ausgezeichneten Männer unter sich und den Aristoteles mit ihnen zu ver- ständigen. Jede Würdigung der Poetik des Aristoteles hängt zuvörderst ohne Zweifel davon ab, wie man überhaupt seine Philosophie betrachtet. Wäh- rend nämlich viele ihn als blofsen Empiriker bezeichnen, welcher, ob der Masse des zu ordnenden Stoffes, sich nie über den Boden der gemeinen Er- fahrung habe erheben können, ist neuerlichst wieder von einem philoso- phischen Meister behauptet worden: Aristoteles habe die Spekulation in ihrer tiefsten und erhabensten Richtung über Platon hinausgeführt, und dem Unbestimmten erst Haltung und Gestalt gegeben. Diese Widersprüche näher zu untersuchen und zu würdigen, geht über unsere Kräfte hinaus; Folgen- des wünschten wir jedoch, behufs der weitern Untersuchung, eingeräumt zu sehn. I. Wer die gesammten Schätze, welche Erfahrung und Geschichte darbieten, wahrhaft begreift und beherrscht, dem sind auch die Stufen ge- geben, welche emporsteigend er das Höchste erreicht; und umgekehrt: wer (wie Platon) über jenem Boden in kühnem Fluge dahinschwebt, dem wird nie die Fähigkeit ganz ermangeln, von oben herab auch das Gegebene in sei- ner Einzelnheit richtig zu erkennen. Bei aller Verschiedenheit der Aufgaben über die Poetik des Aristoteles. 115 und der Standpunkte, gehn hier die Betrachtungen und Ergebnisse in ein- ander über. II. Jeden Meister mufs man aus seiner Natur und Stellung heraus be- urtheilen, und wo Zweifel und Einreden entstehn, einen Mann wie Aristote- les günstig, uziliter, das heifst wo möglich so erklären, wie er sich wohl selbst erklärt haben würde. Wollte also Aristoteles (wie Solger annimmt) nicht die innersten Gründe der Kunst, sondern nur ihre Gesetze wie sie sey aufdecken, jedoch unter Voraussetzung eines höhern Grundes, so ist hiegegen in der That so wenig einzuwenden, als wenn ein Anderer, von der entgegengesetzten Seite her, einen ähnlichen Versuch machte. Beide Forscher müfsten sich doch irgendwo und wie begegnen; nur würde im letzten Falle die Richtigkeit des leitenden Grundsatzes, in jenem die Trefflichkeit des Vorhandenen und Be- urtheilten vorzügliche Beachtung verdienen. An dieser Stelle möchten wir uns gegen den, scheinbar so unläugba- ren Schlufs A.W.Schlegels, von der Rhetorik des Aristoteles auf seine Poe- tik, eine Einwendung erlauben. Wollte man nämlich auch zugeben, Aristo- teles habe dort, wie hier, nur gewisse Regeln von dem empirisch Gegebenen abstrahiren und für gewisse Zwecke zusammenstellen wollen; so hätten doch für die Poetik andere und höhere Ergebnisse wie für die Rhetorik hervor- gehn müssen, weil die Redekunst in Hellas allerdings oft einseitigen Zwecken untergeordnet wurde, die Dichtkunst hingegen zur unabhängigsten, höchsten Ausbildung emporstieg. Indefs schwinden die Vorwürfe, welche sich hienach gegen die Rhe- torik des Aristoteles machen liefsen, fast ganz, sobald wir berücksichtigen, was er bezweckte, und aus welchem Standpunkte er diese Kunst und sein Werk betrachtete. Die gewöhnlichen Rhetoriker (!), so lautet seine Lehre, reden nur von äufserlichen, auf den Hörer Bezug habenden Mitteln; es soll aber nicht blofse Gewohnheit, sondern wahre Einsicht vorwalten, es ist hier von Kunst und Kunstwerken die Rede (rexvns egyev). Jene äufsern Mittel, Überzeugung hervorzurufen, sind nur der Leib der Redekunst (röu« ris F- orews);, ihre Seele ist die Wahrheit selbst. Von dieser soll der Redner also den Richter nicht durch Zorn, Mitleid und dergleichen ablenken, ihn nicht (') Siehe hauptsächlich Rhei.I, c.1, 2, 4. 116 vov RAUMER für das Schlechte zu gewinnen suchen (eö yag dei ra daöra reiSew). Mifs- brauch der Redekunst entscheidet nicht über ihren Werth an sich, denn alles Treffliche, z.B. Reichthum, Gesundheit, Tapferkeit und dergleichen, kann gemifsbraucht werden. Der Zweck, das Vermögen (dvvauıs) der Rhetorik ist, überall das Glaubhafie (rıSavev) darzuthun; den höchsten Glauben aber erweckt das Ethische (zugwrarnv &yeı misw 78 9905). Sonst hat jene Kunst keinen vorher- bestimmten sachlichen Inhalt; sie bezieht sich auf die Form, welche man- nigfachen Inhalt zu verarbeiten bekömmt. Wollte jemand auf die ersten Principien («gy«/) zurückgehn, so befände er sich nicht mehr in der Dialek- tik und Rhetorik, sondern in derjenigen Wissenschaft, von welcher die Prin- cipien hergenommen wären. Wer Rhetorik und Dialektik nicht als Vermö- gen (Övvausıs), als Künste und Kunstmittel, sondern als Wissenschaften (erısräucı) betrachtet, der löset ihre Natur auf und führt sie von dem For- mellen in das Reale. Die Wahrheit, und das Rechte und Richtige für alle Dinge zu finden, über die man reden kann, ist nicht Sache der Rhetorik, es ist Geschäft einer höhern und wahrhaftern Kunst und Erkenntnifs (reyuns Eubgevenrregus zal warrov drnSwns). — Ohne Zweifel richten sich mehre dieser Grundsätze gegen das, was Platon z. B. im Gorgias lehrt; wir können uns jedoch auf keine nähere Prüfung insbesondere der Frage einlassen, ob schlechthin formale Disciplinen möglich sind, und von dem realen Inhalte getrennt werden können. Das hier Mitgetheilte dürfte hinreichen, die Ansichten über die Rhe- torik des Aristoteles zu berichtigen und in mancher andern Beziehung auch über die Poetik Licht zu verbreiten. Wir halten diese weder für einen, von fremder Hand gefertigten Aus- zug eines nicht aristotelischen Werkes, noch für eine Art von Heft, münd- lichen Vorträgen nachgeschrieben ; sie ist vielmehr, unseres Erachtens, gewifs von Aristoteles selbst, obgleich zweifelhaft bleiben mag: ob er den Entwurf später nochmals überarbeiten wollte, oder ob manche Theile verloren gin- gen, oder ob sie niemals geschrieben wurden. Diese Fragen nach Wahr- scheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit umständlich zu untersuchen, ist so wenig unsere Absicht, als einen fortlaufenden Commentar des Werkes zu lie- fern; es sey verstattet zerstreute Bemerkungen, unter gewisse Hauptabschnitte zusammengefafst, vorzulegen. über die Poetik des Aristoteles. AuE7, 1. Von der Nachahmung, als höchstem Grundsatze der Kunst. In der Regel nimmt man an, dafs Philosophen, welche das mensch- liche Denken und Handeln lediglich aus der Erfahrung hervorgehn lassen, alle Kunst auf ein Wiederholen des Erfahrnen zurückführen und die Nach- ahmung als höchsten Grundsatz der Kunst hinstellen müssen. Abgeschn nun von unserer obigen Behauptung, wonach ächte Erfahrung und ächte Spekula- tion immer ineinander übergehn und sich ergänzen, scheint uns jener Grund- satz des blofsen Nachahmens auf einer so ungemein einseitigen Betrachtung der verschiedenen Künste zu beruhen, dafs ihn im gewöhnlichen Sinne kein Philosoph und gewifs nicht der scharfsinnige Aristoteles behaupten konnte. Schon bei der Bildhauerei, wo er sich noch am leichtesten nachweisen läfst, mufs man einer unbedingten Nachahmung z. B. der Augen, Haare und dgl. entsagen; bei der Malerei verschwindet das Körperliche ganz, und jene beschränkt sich hier etwa auf das, was die Bildhauerei (wie z. B. die Farben) nicht nachahmen konnte. Fast noch gröfser ist die Umwandlung in der Poesie: denn so sehr wir auch daran gewöhnt sind Wort und Sache für das- selbe zu nehmen, findet hier doch eine so wunderbare Übersetzung statt, dafs sie in ganz anderem Sinne Nachahmung heifsen müfste, als bei der Bild- nerei. Dasselbe gilt für die Baukunst, wenn man etwa Lust hat sie lediglich auf Nachahmung von Baumstämmen, Höhlen u. dgl. zurückzubringen. Ganz zu Schanden endlich wird jener Grundsatz bei der Musik, welcher Kunst gar kein äufserliches Vorbild zum Nachahmen gegeben ist. Vielmehr gehört es meist zu den Zeichen der Ausartung, wenn natürlicher Lärm in ihren Kreisen nachgeahmt, wenn gesponnen, getrommelt, gekrähet, gebrüllt, geschossen, geschmiedet wird. Eben so wenig hat es mit den sentimentalen Vergleichen auf sich, die von Lerchen und Nachtigallen hergenommen sind, in Wahr- heit aber nur untergeordnete Talente bezeichnen können, die bis zur höch- sten menschlichen Kunst noch nicht durchgedrungen sind. Schon aus diesen Andeutungen scheint uns hervorzugehn, dafs der Grundsatz der Nachahmung nirgends unbedingt, und bei gewissen Künsten gar nicht als Richtschnur aufgestellt werden kann. Auch ist dies dem Aristo- teles niemals eingefallen. Die Worte wiunsıs und wmeirSa werden freilich in der Regel durch Nachahmung und Nachahmen übersetzt, eine nähere Prüfung ergiebt jedoch, dafs diese deutschen Worte keineswegs immer jenen 118 von RAUMER griechischen ganz entsprechen, und der Sinn nicht selten besser getroffen wird, wenn man sagt: Gestaltung, Bildung, Werk, oder vielleicht am Besten, Darstellung ('). Ferner läfst sich aus keiner Stelle erweisen, dafs Aristoteles für irgend eine Kunst die genaueste "Treue und Nachahmung des äufserlich Gegebenen als höchstes Ziel aufstelle, und Veränderungen, Abweichungen von der sogenannten Natur in ihren vereinzelten Erscheinungen, mifsbillige ; nach welchem verkehrten Sinn einige Neuere ihre unhaltbaren Kunstlehren auferbaut haben. Zum Beweise nur Einiges: 4) trennt Aristoteles Inhalt und Form der Poesie, und (?) spricht von an- gemessenem Wechselverhältnisse beider, meint aber nicht, dafs etwa für die verschiedenen Silbenmaafse, irgendwo und wie, von Natur ein nach- zuahmendes Vorbild gegeben sei. 2) Unterscheidet er Poesie von Geschichte, und theilt dem Dichter das Recht und die Pflicht zu, selbst zu schaffen oder doch umzugestalten. 3) Empfiehlt er den Dichtern (gleichwie den Malern) das Gegebene zu verschönern, zu veredeln, zu verklären (XV, 11; XXVI, 28.), und stellt des Zeuxis Verfahren hiebei als Muster auf. Dasselbe wird aber doch niemand so materialistisch erklären, als habe der Künstler Vereinzeltes, disjecta membra, haltungslos aneinander gesetzt; er hat vielmehr durch die Kraft seines Geistes däs Schöne wiedererzeugt und geboren, der- gestalt dafs er und Raphael (welcher sich hierüber in seinem Briefe noch idealistischer ausdrückt) im Wesentlichen doch wohl auf ähnli- chem Wege waren. Wenn Aristoteles 4) ganz einfach sagt: der Dichter müsse sich des Gegebenen angemessen bedienen, aber auch erfinden (evarzew; XIV, 11.); wenn er äufsert: man könne die Dinge auf dreierlei Weise darstellen (XXVI, 1—3.), wie sie sind, wie sie zu sein scheinen, und wie sie sein sollten; so ist der Dichtkunst, mit Beseitiguug untergeordneter Zwecke, als freies Ziel die Erschaffung des Schönen, verträglich mit der Darstellung des Wahren, zugewiesen. Ja das ragadeıyua (XV, 11; XXVI, 28.), was Aristoteles öfter als das Anzustrebende bezeichnet, ist nichts anderes als was wir heutiges Tages Ideal nennen, und worunter man den äufsersten 1,9,12; VI, 6; IX,9; XXIV, 9. I über die Poetik des Aristoteles. 119 Gegensatz einer pedantischen Nachahmung versteht. Oft heifst freilich magadeaıyua nur Beispiel, wenn aber Aristoteles (Rhetor. I, 2, 19.) sagt: es verhalte sich wie ein Theil zum Theile, wie Ahnliches zu Ahnlichem, so steht doch der allgemeinere und höhere Begriff stets im Hintergrunde, und die verschiedenen Beispiele oder Muster (Muster heifst magadaıyua Rhet. III, 14, 1.) läutern sich eben wechselseitig zum Ideale hinauf. Dies erhellt auch daraus dafs Aristoteles äufsert: 75 ragadayua dei Umeg- &ycw (XXVI, 28.), das Muster mufs höher stehn, drüber hinaufreichen ; und dafs er den Sophokles als einen zum Ideellen hingewandten höhern Dichter, den Euripides aber als einen solchen bezeichnet (XXVI, 11.), der sich oft nicht über die niedere Nachahmung erhob. Aristoteles hat also (dies dürften seine Vertheidiger behaupten) die Idee des Schönen nicht blofs durch Zergliederung, sondern auch (gleichwie Platon) durch anschauende Begeisterung erfassen wollen, wenn gleich jener mehr den analytischen, dieser den synthetischen Weg einschlug. Findet sich doch der Grundsatz der Nachahmung selbst bei Platon, indem er sagt (Re- publ. II, 394.): das Trauerspiel und Lustspiel beruhe ganz auf der wiunrıs. Zugegeben, dafs er hierunter nur die dialogische Form im Gegensatz der er- zählenden verstanden, und die Wurzel und Grundlage der ganzen Schönheits- lehre tiefsinniger gefalst habe; so bleibt dem Aristoteles doch das Verdienst genauerer Entwickelung. Denn, sagt Solger (Erwin II, 178.) mit Recht: „wenn wir alles auf die Idee beziehen, alles aus ihr hervor und in sie zu- rückgehn lassen, so erkennen wir die Welt des Schönen mit ihrem ganzen Dasein immer nur so, wie sie in der allgemeinen Idee begriffen ist. Nun aber besteht diese doch auch in dem Besondern und Einzelnen, wie es an dem Umfange jener Welt umherliegt und nur als Einzelnes von unsern Sin- nen wahrgenommen wird. Die Kunst (S. 256.) vollendet sich allemal erst auf dem eigentlichen Scheidepunkte, wo das Wesentliche und Endliche zu- gleich ist. Sie mufs (S. 271.) überall durch Gegenwart erfüllt und geschlos- sen sein; denn das Wirken des Verstandes behandelt alles, Idee und Er- scheinung, als dieselbe gegenwärtige Wirklichkeit.’ Mag Platon (so fahren die Vertheidiger des Aristoteles fort) Schönheit und Dichtkunst noch so sehr preisen und idealisiren; ihr Wesen kann er unmöglich ganz verstanden haben, da er die Dichter alles Ernstes aus seinem Musterstaate hinausweiset. Auch reicht das Lob des Aristoteles, welcher 120 von RAumer ihre Werke für philosophischer und trefflicher hält, als die der Geschicht- schreiber, weit über das hinaus, was Platon irgendwo darüber in unbe- stimmten Worten, oder, mit sich selbst im Widerspruche, beigebracht hat. Wer (dies können wohl Alle zugeben) kleinliche, geistlose, pedan- tisch genaue Nachahmung mit Aristoteles rechtfertigen will, hat ihn so mifs- verstanden, als wer (mit Zurücksetzung aller Wahrheit und Wirklichkeit) gehalt- und gestaltlose, schwebelnde und nebelnde Werke für platonische Ideale ausgiebt. II. Von den Arten des Nachahmens. An die vorstehenden Bemerkungen über den Sinn, welchen Aristote- les mit den Worten Nachahmung und Darstellung überhaupt verbindet, schliefst sich der Versuch einer Erläuterung des zweiten Kapitels an, wo es unter anderem heifst: rei d& wınsüvrar ci mıncuueva modrrovras, üvayın Ö8 TEroUS Nomeduss 7 bauAss eivar (Ta Yap nm Oy,edov dei ToUToIs EroAoudel Movors, Kari Yap za ügern Tan diabegeuri mayrss). Aral Berrievas, 9 zaS iuüs, 9 KEipovas, N za ToloUToUSs dvayın nineir Sau. Brmeg or Ygapeis, Toruyvwros ev HOEITTOUS, Haurwv de Weigeus, Auovürios Ö8 äuoieus eizage. — Und: &v vH aüry de diapege zal y rgaywöia Moos Tv Rwuwdiav Öierrnnev. 9 MV Yap WElgous, n de Rerriovs mneirIar Bovrerar rar vuv. Dies heifst nach Buhles Übersetzung: ‚Da die Nachahmung sich auf Handelnde bezieht, diese aber nothwendig gut oder böse sein müssen, (sofern Sittlichkeit hierauf fast immer allein beschränkt ist, indem in Anse- hung ihrer Sitten sich Alle durch Tugend und Laster unterscheiden), so mufs die Nachahmung entweder die Menschen besser darstellen als sie wirklich sind, oder sehlechter, oder auch wie sie sind. So veredelte Polygnotos un- ter den Malern seine Originale, Pauson verschlechterte sie, Dionysios co- pirte sie natürlich. — Hierin ist auch die Tragödie der Komödie entge- gengesetzt; jene will die Menschen edler darstellen als sie sind, diese schlechter.” Zur richtigen Würdigung des Textes und der Übersetzung gehört zu- vörderst, dafs man den Sinn der von Aristoteles gebrauchten Beiwörter richtig auffafst; denn je nachdem man sie durch das eine oder das andere deutsche Wort wiedergiebt, sind ganz verschiedene Folgerungen daran ge- reiht worden. Man mufs also erklären: oreudasvs und pavrcvs, Berrisvs und welgous, ngeirreus und öuseus. — Der erste Ausdruck, die Nachzuahmenden über die Poetik des Aristoteles. 121 müfsten sein rrovdalcı 4 padrcı, soll offenbar einen bestimmten Gegensatz in sich schliefsen, und die alte lateinische Übersetzung sagt auch ganz einfach boni aut mali. Hermann dagegen setzt, da dieser allgemeine Gegensatz nicht in den Worten liegt, sirenw aut ıgnavi, und kommt damit der Sache im Lateinischen vielleicht so nahe als irgend möglich. Im Deutschen müssen wir die Worte gut und böse aus ähnlichen Gründen verwerfen; über die Wahl anderer entstehen aber Bedenken. Thätig und unthätig, kraftvoll und schwächlich, ernsthaft und leichtsinnig, grofsartig und kleinlich, edel und gering; alle diese und noch anders modificirte Gegensätze liegen darin ver- borgen. Je nachdem man aber den einen oder den andern mit mehr Nach- druck hervorhebt, wird sich die Tragödie und Komödie (auf die zuletzt Aristoteles alles bezieht) zweifelsohne verschieden gestalten (!). Der zweite Gegensatz xsigevs und Rerrieus, meliores und deteriores, besser und schlechter, welcher am Schlufs jener Stelle ausgesprochen ist, würde die richtigste Erläuterung jener Beiwörter geben, wüfste man nur gewils, wer unter den Schlechten, die der Komödie, und den Bessern, die der Tragödie zugewiesen sind, zu verstehen sei? Suchen wir jetzt (da unseres Erachtens der sittliche Gegensatz hier eben so wenig ausreicht, als bei jenen ersten Beiwörtern) Hülfe bei den drei noch übrigen; so findet sich hier das 4385 wieder, statt des Gerrizs steht aber ngeirTss, welche Abweichung und Nebenbestimmung eine Erläuterung giebt, wie bedarf. Der lateinische Text hat aber beide Male meliores, und in gleichem Sinne übersetzt Winkelmann (Gesch.d. Kunst 1,588.): Polygnotos hat seine Figuren besser, Pauson schlechter und Dionysios ähnlicher gemalt. — Diese Übersetzung erscheint uns nicht so gut, als die daran gereihte Erläute- rung. Bleiben wir nämlich zuvörderst bei jener stehn, so hat Aristoteles offenbar keinen der drei Maler ganz verdammen, sondern nur ihr Verhältnifs zu einander ausdrücken wollen. Jene deutschen Worte geben aber gar keine rechte Reihenfolge und keine eigenthümliche Theilung, da das ähnlicher, ohne nähere Bezeichnung, als Vorzug erscheinen und mit dem Bessern meist zusammenfallen würde. Hiezu kommt, dafs laut Aelian (Yariae histor. IV 3.) 1 A . = \ R Ss» A \ 7 es (‘) Immer mufs srovdctos mit @gern zusammengestellt werden: dgerys ıöıcv 0 rov eyovre 17 Taet aredctor. Topie.V,3,3. zTagısre 1av 7o zıTagıgew, sredait Ös #0 eu. Ethik. Nicom.I, 2, wo auch allgemein # zar’ &geryv Urzgoyr, der sr2daorys gleich gesetzt wird. Ferner sind Topic. I1, 11,4. ereuStgen, swchgovizer, Pgoracı nur Arten und Dilferenzen von sredcic. Histor. philolog. Klasse 1828. Q 122 von RAUMER Dionysios in Hinsicht auf Kunst, Ausdruck, Leidenschaft, Stellung und Ge- wänder, dem Polygnotos fast gleich war, und nur in Beziehung auf die Gröfse seiner Gemälde von ihm abwich. Diese Verschiedenheit der Gröfse könnte sich finden bei dem Flächeninhalt der Bilder überhaupt, oder bei den ein- zelnen Gestalten. Jene erste Erklärung hat selbst hinsichtlich des Textes Schwierigkeiten, eher lassen sich die Worte nach der letzten so deuten: Po- lygnotos hat gröfser, kolossal; Dionysios in natürlicher Gröfse, Pauson kleiner, in Miniatur gemalt; wobei aber, weil jede Art, so wie ihr eigenes Maafs so ihren eigenen Werth hat, von besser und schlechter nicht füglich die Rede sein könnte (!). Andere Ausleger behaupten (die Sache innerlicher nehmend): Polygnotos habe Götter und Helden, Dionysios Menschen, Pau- son Thiere gemalt, was sich aber geschichtlich nicht hinreichend erweisen läfst. So kommen wir (womit auch Winkelmann’s Erklärung im Wesent- lichen übereinstimmt) dahin, zu behaupten: xzgeirrovs heifst vollkommner, sofern dies eine Hinwendung auf das Edle, Grofse, Erhabene in sich schliefst; öueiss, einfache, wahre Nachahmung und Darstellung des Gegebenen; xsig£s, geringer, aufs gemeine Leben und die Parodie gewandt (?). Zur ersten Gat- tung gehören Dichter und Maler wie Aeschylos und Michel Angelo, zur _ zweiten manche ältere deutsche Maler, zur dritten viele Niederländer. Diese reichere Gliederung und von der Malerei hergenommene Be- zeichnung, hat man fast niemals richtig auf die Dichtkunst übertragen; son- dern in der Regel alle jene Beiwörter in gut und böse, oder besser und schlechter zusammengeworfen, und die beiden lobenden dem Trauerspiele, die tadelnden dem Lustspiele zugewiesen. Daraus sind dann arge Irrthümer vielfacher Art erwachsen, z. B. dafs die Natur beider Dichtungsarten sich in einem moralischen Gegensatz erschöpfe;, dafs die Tragödie übermenschliche, von allen Unvollkommenheiten gereinigte Geschöpfe darstellen müsse, die Komödie hingegen ein Tummelplatz für die ärgsten und jämmerlichsten Leute sein dürfe; dafs überhaupt die Tragödie weit vornehmer sei und höher stehe als die Komödie u. s. w. An all diese Dinge hat Aristoteles gar nicht gedacht, ja sie wider- sprechen geradehin den Worten und dem Geiste seines Werks. . . .. . > rye3 (') Eher von grandios, entgegengesetzt einer ängstlichern aza2si«. (?) Hiemit ist, wie ich so eben sehe, Meyer einverstanden. Geschichte der bildenden Künste Il, 192. über die Poetik des Aristoteles. 123 - Wie unpassend es sei, das sittlich Bessere der Tragödie, das sittlich Schlechtere dem Lustspiele zuzuweisen, geht auch schon aus der Betrachtung hervor, dafs in diesem nur leichtere Vergehen und Mängel dargestellt und verspottet werden, für schwere Verbrechen aber gar kein Raum vorhanden ist. Insofern wäre das Lustspiel die reinere und sittlichere, das Trauerspiel hingegen die unsittlichere, schlechtere Hälfte der dramatischen Dichtkunst ; von welchem Scheidungsgrunde und Gegensatze vernünftigerweise aber nicht die Rede sein darf. Oder man könnte mifsdeutend auch alle Nachbildung des Wirklichen und Seienden verwerfen, weil hier das dritte Beiwort &ucıss, natürlich, ähnlich, fehlt, und (mit Übergehung des Dionysos) lediglich die Richtungen des Polygnotes und Pauson auf Trauerspiel und Lustspiel an- gewandt sind. In der That darf aber Wahrheit und Ähnlichkeit (jedoch unter den bereits gegebenen nähern Bestimmungen), überall nicht fehlen. Aristoteles hat also wohl nur daran gedacht, dafs man mit geringen und geringhaltigen Personen (und wären sie sonst noch so gut) keine Tragö- die zu Stande bringt, weil der beschränkte Kreis (das pauAcregov) ihres Le- bens nie zu den erforderlichen Thaten und Gemüthsbewegungen gesteigert werden kann. Und umgekehrt läfst sich der Zweck der Komödie selten er- reichen, wenn man Herrschende, Hochgestellte (die srsvdakeı) (!) aus ihren grofsen Kreisen herausreifst, um an ihnen lediglich das Beschränkte mensch- licher Ansichten und Eigenheiten zu entwickeln. Wer also an einem Bauer und Bürger, die höchsten Triebfedern und Erscheinungen des Ehrgeizes, der Herrschsucht, des Heldenmuths, der politischen Triebfedern u. s. w. darstellen wollte, hätte sich hienach eine sehr schwere, unaristotelische Auf- gabe gewählt; und noch verkehrter wäre es, etwa die Königinn Elisabeth zum Mittelpunkt eines Lustspiels zu machen, worin lediglich weibliche Ei- telkeit gerügt und verspottet werden sollte. Inwiefern die Liebe, als allgemeine menschliche Eigenschaft, in allen Formen und Regionen erscheinen und sich geltend machen kann, ist eine anziehende Frage, deren Beantwortung uns aber von unsern diesmaligen Versuchen zu weit abführen würde. (') Die Hochgestellten sind darum nicht immer die Hochgesinnten und Grofsartigen, doch findet eine Wechselwirkung der Stellung, Gesinnung und der Handlungen in der Re- gel statt. Bei dem srovdctos mufs beides zusammentreffen und wirken. Q2 u 124 von RAUMER II. Vom Lustspiele. » Das Vorstehende wird noch deutlicher durch das was Aristoteles im fünften Kapitel über das Lustspiel sagt: % de zwuwdia Erriv uomeg EITOWEV, Mi- unrıs pauAoregwv EV, cÜ HEvTOL Hard Farav raxiav, AAAG TV aiTy,poV, cÜ Erri md yeAoıov Mogıov. ro yag YEAclov Erriv duaprnud m zul ars dvwduveov nal oÜ PIag- rıröv. — Wir würden diese Stelle in freier Übersetzung so fassen: Das Lust- spiel ist, wie wir sagten, eine Darstellung zwar des Geringen, aber nicht des ganz Schlechten und Bösen. Es hebt das Lächerliche hervor, welches ein Theil des Ungeziemenden und ein Mangel ist, der weder Schmerz erregt, noch Verderben herbeiführt. Sobald man an dieser Stelle das Wort «irygev durch lasterhaft oder schändlich, oder auch nur durch häfslich übersetzt, wird die Deutlichkeit nicht gröfser, wohl aber bricht die Verwirrung in verdoppeltem Maafse wie- der herein. Denn das Lasterhafte, Schändliche, was stets mehr als ein auag- rnua, ein Fehler ist, findet, so ganz einfach hin, weder in der Tragödie, noch in der Komödie eine Stelle; es kann nie lächerlich, ohne Schmerz und zerstörende Folge sein. Eben so wenig darf das Lächerliche oder dessen Ausdruck häfslich erscheinen: denn wo sich Freude und Schmerz, Ernst und Scherz in der Kunst ganz von der Schönheit trennen, kommt nur das Unkünstlerische, Fratzenhafte und Widerwärtige zum Vorschein. Auch las- sen sich viele Bestandtheile des alten Lustspiels gar nicht auf jenen angeb- lichen Inhalt zurückbringen, und was man daselbst lasterhaft und schändlich nennen könnte, ward von den Sittenlehrern jener Zeit in viel milderem Lichte betrachtet. Das «airygev ist also vielmehr das Ungeziemende, Un- geschickte, Beschränkte, Widersprechende, Lächerliche, sofern dies alles noch diesseit einer strengen moralischen Zurechnung liegt. Deshalb sagt auch Aristoteles an einer andern Stelle (IV, 12.) ausdrücklich: nicht das an sich Tadelnswerthe, sondern das Belachenswerthe soll in dem Lustspiele dar- gestellt werden. — Wo also die bezeichneten Abstufungen des Begriffs in ein airy,gev übergehn, was man das Anstöfsige nennen köunte, ist die Gränze für das Lustspiel, so wie für das Trauerspiel da vorhanden, wo der Unthat alle edlere Triebfedern und Beziehungen entweichen und sie zu blofser Nie- derträchtigkeit herabsinkt. Doch möchten wir den Gegensatz der Tragödie und Komödie nicht so weit ausspinnen, Ernst und Scherz so schroff trennen, über die Poetik des Aristoteles. 125 dafs kein Bestandtheil des ersten in dieser, des letzten in jener Platz finden könnten. Denn schon im Alterthume sind diese Dinge gewils mehr in ein- ander übergegangen, als man blofs mit Berücksichtigung des Überbliebenen annimmt, und in der neuern Zeit hat (um beim Lustspiele stehn zu bleiben) vor allen Shakspeare das Grofsartige, Würdige, Edle, mit dem durchge- henden Grundcharakter des Scherzes und der Heiterkeit meisterhaft zu ver- binden gewufst. Noch Einiges hierüber zu sagen, wird sich indefs weiter unten bessere Gelegenheit finden. Von der Definition des Trauerspiels. Keine Stelle der aristotelischen Poetik hat die Ausleger mehr beschäf- tigt als die Definition der Tragödie, und in der That giebt sie Gelegenheit zu den mannigfachsten Ansichten und Zweifeln. Sie lautet bei Gräfenhan, dem neuesten Herausgeber der Poetik, p. 12. also: &sıv oüv rs Hiunsis mod£ews oroudalas nal reAeias, MEyEIos EX,OU- ons, Nlusuevw Aoyw, xugis EnaTTou Tav EIdWv Ev Teis Bea un zal cÜ di Eray- yerlas ara di‘ EAcov zul hoßeu 7 mEgaIVOUT« riv rav TOLSUTWV 7 Tasyuarwv xaS agrıw. Vergleichen wir hiemit andere Ausgaben, so geht die Verschiedenheit der Lesarten und der Interpunktion hauptsächlich auf Folgendes. 1. lesen einige statt &xarreu, Enarrw. 2. lesen sie statt nogios, dawvrwv etc., Megicıs dowvruv, und ziehen das letzte Wort zum frühern Satze. 3. lesen einige drwayyerla statt Errayyerias. 4. lassen einige das «?2« hinter diesem Worte hinweg. 5. möchten einige reısirwv weglassen, oder an dessen Stelle revrwv schreiben. Je nachdem man nun lieset, interpungirt, von vorn herein erklärt, oder eine Erklärung in den Text hineinträgt, verändern sich die Übersetzun- gen auf eine interessante Weise. Wir geben deren mehrere zur Probe und Erläuterung. 1. Alte Version (opera 1597. 5°.). Est 18 grtur Tragoedia imulatıo actionis p! obae et per fectae, magnitudinem habentis, suavi sermone, separatim singulis formis in parüibus agentibus, et non per narrationem, sed per misericordiam et metum inducens talium pertur- bationum purgationem. 126 von RAUmMEr 2 Übersetzung von Heinsias. Tragoedia ergo est seriae, absolutae, et quae lustam magnitudinem ha- beat, actionis imitalio; sermone constans ad voluptlatem facto; ita ut singula genera ın singulis partibus habeant locum: utque non enarrando, sed per mi- sericordiam et metum, inducat similium perturbationum expialionem. 3. Ausgabe Oxford 1760. Est ıgitur Tragoedia imitatio actionis seriae et perfectae, magnitudinem habentis, adhibito sermone iucundo, quaque specie suas vices distincte servante, non enarrando sed misericordia et metu similes afjectus purgans. 4. Übersetzung von Goulston, in der Ausgabe von Winstanley, Oxford 1780. Est ergo Tragoedia imitatio actionis studiosae et perfectae, magnitudi- nem idoneam habentis, sermone per formas quasdam condito, ita ut singulae Ulae in partibus Poeseos singulis, separatim agendo imitentur, ei non per enar- ralionem rei, sed per misericordiam metumque faclis expressum eiusmodi ve- hementes animorum perturbationes undiquaque purgans, expiansque. 5. Ausgabe von Harles 1750. Est igitur Tragoedia, imitatio actionis studiosae et perfectae, magniltu- dinem idoneam habentis, cum sermone per formas quasdam condito; ia ut singulae ilae, in partibus poeseos singulis, separatim, agendo imitentur; et non per narralionem rei, sed per misericordiam, metumque factis expressum, eiusmodi vehementes animorum perturbauiones undiq uagne purgans expiansque. 6. Ausgabe von Gooke, Cambridge 1785. Est ergo Tragoedia imitatio actionis gravis et perfectae, habentis ma- gnitudinem, condito sermone, unaquaque formarum separatim in partibus agente, et non per praeceptionem, sed per misericordiam et metum purgationem effi- ciens huiusmodi perturbationum. 7. Ausgabe von Tyrwhitt, Oxford 1794. Est igitur Tragoedia imitatio actionis seriae et perfectae, magnitudinem idoneam habentis; sermone condito; ita ut unaquaeque condimenti species in. über die Poetik des Aristoteles. 127 partibus diversis separatim adhibeatur; agentium et non per narrationem; per misericordiam et metum hwusmodi affectuum purgationem effıiens. $. Ausgabe von Hermann, 1502. Est igitur Tragoedia imitatio actionis strenuae et perfectae, longitudi- nem habentis; facta sermone singulis illecebrarum generibus in singulis partı- bus condito; agentium non per narrationem; miseralione et terrore harum et similium perturbationum purgalionem perficiens. 9. Ausgabe von Haus, Palermo 1516. Tragoedia nimirum actionis est imitatio, gravis et illustris, et absolutae, et magnitudinem aliquam habentis; sermone institula, multa suavitate con- sperso, seorsim tamen, prout parlium eius diversitati convenit: eaque 1psos ın conspectum adducit agentes, haud simpliei narratione contenta; metumque com- movendo et misericordiam, affectiones eiusmodi purgatas administrat. 10. Übersetzung von Alonso Ordoüez, Madrid 1778. La Tragedia es imitacion de accion lustre, perfecta, que lenga gran- deza, con hablar suave distintamente en cada una de sus especies, en las par- tes de los que van representando, conduciendo la expurgacion de los afjectos, no por narracion, sino por via de misericordia y terror. 41. Übersetzung von Goncalez de Salas. La Tragedia es una imitacion severa, que imita e representa alcuna Accion cabal, ide quantitad perfecta, cuya locucion sea agradable i deleitosa, i diversa en los lugares diversos. No pero empleandose en la simple narracıon, que alguno haga, sino que introduciendose dıfjerentes personas, de modo sea Imitada la accion, que mueva a lastima, y a miedo, para que el anımo se purgue de los affectos semejantes. 12. Übersetzung von Castelvetro. E adunque Tragedia rassomislianza d’attione magnifica, comptuta, che 5 5 5 3 B) habbia grandezza, diciascuna delle spetie di coloro, che rappresentaro con favella ‚Jatta dilettevole separalamente per particelle, e non per narratione. E oltra a cıio induca per misertcordia e per ıspavento, purgatione di cosi fatte passiont. 128 von RaAuvmer 13. Übersetzung von Batteux (Memoires sur la Poetique d’Äristote 19). La Tragedie est donc U’imitation d’une action noble, entiere, etendue jusqu’ a un certain point, pas un discours accompagne d’agremens, dramatique dans toules ses parlies et sous toutes ses formes; qui se fait non pas le recit, mais par un spectacle de terreur et de pitie, pour nous faire ressenlir ces deux passions purgees de ce zw les rend desagreables. 14. Übersetzung von Dacier. La Tragedie est donc une imıtation d’une action grave, entiere, et qui a une juste grandeur: dont le style est agreable assaisonne, mais differemment dans toutes ses parties, et qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la terreur, acheve de purger en nous ces sorles des pas- sions, et toutes les autres semblalles. 15. Übersetzung von Pye (Commentary illustrating the Poetic of Aristotle 5. 16.). Tragedy then, is an imitation in ornamented language of an action im- portant and complete, and possessing a certain degree of magnitude, having üs forms distinct in their respective parts, and by the representations of per- sons acling, and not by narration efjecung through the means of pity and ter- ror, Ihe purgation of such passions. 16. Übersetzung von Curtius. Das Trauerspiel ist nämlich die Nachahmung einer ernsthaften, voll- ständigen und eine Gröfse habenden Handlung, durch einen mit fremdem Schmucke versehenen Ausdruck, dessen sämmtliche Theile aber besonders wirken: welche ferner nicht durch die Erzählung des Dichters, sondern (durch Vorstelluug der Handlungen selbst) uns, vermittelst des Schreckens und Mitleidens, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reinigt. 17. Übersetzung von Buhle. Die Tragödie nämlich ist die Darstellung einer wichtigen und voll- ständigen Handlung von bestimmter Gröfse; in einer für das Ohr gefälligen Sprache, jeder besondern Form der einzelnen Theile gemäfs; dramatisch und nicht erzählend; um durch Mitleid und Furcht die Veredlung gewisser Leidenschaften zu bewirken. über die Poetik des Aristoteles. 129 18. Übersetzung von Gräfenhan. Demnach ist das Trauerspiel nachahmende Darstellung einer ernsten Handlung, die abgeschlossen und von einer gewissen Grölse ist, in einer Sprache mit gewissen Annehmlichkeiten, freilich jede der Partien in den jedesmaligen Abtheilungen mit besonderen; von wirklich Handelnden und nicht in einer fortlaufenden Benachrichtigung; jedoch durchgehends durch Mitleid und Furcht, die im Zuschauer erregt werden, die Reinigung eben solcher unwillkührlich entstehenden Gefühle bewirkend. 19. Übersetzung von Weise. Die Tragödie also ist die nachahmende Darstellung einer vollständi- gen Handlung ernster Art, welche Gröfse hat, durch eine verschönerte Sprache, angemessen der besondern Beschaffenheit ihrer einzelnen Theile; durch handelnde Personen und nicht blofse Erzählung; welche durch Mit- leid und Furcht eine Reinigung dieser Gemüthsbewegungen bewirkt. 20. Übersetzung von Valett. Die Tragödie ist demnach eine Darstellung einer anständigen und voll- ständigen Handlung selbstthätiger Wesen, welche einen gewissen Umfang hat und in einem wohlklingenden Ausdrucke abgefafst ist, von welchem jede Art an ihrer Stelle für sich nicht durch Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher Leidenschaften bewirket. 21. Übersetzung von Goethe (Kunst und Alterthum VI, 1, S.55.). Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlos- senen Handlung, die eine gewisse Ausdehnung hat und in anmuthiger Sprache vorgetragen wird, und zwar von abgesonderten Gestalten, deren jede ihre eigene Rolle spielt, und nicht erzählungsweise von einem Einzelnen; nach einem Verlauf aber von Mitleid und Furcht, mit Ausgleichung solcher Lei- denschaften ihr Geschäft abschliefst. Bevor wir darauf eingehn, welche wesentlich verschiedene Ansichten in diesen Übersetzungen ausgesprochen, oder doch angedeutet sind, sei es erlaubt, noch einige Bemerkungen über das Einzelne zu machen. Histor. philolog. Klasse 1828. R 130 von RAUMER 1. piunrıs ist übersetzt: Nachahmung, Darstellung, nachahmende Dar- stellung. Sind unsere obigen Bemerkungen richtig, so bleibt kein Zweifel, was Aristoteles unter dem Worte verstehn, oder nicht verstehn konnte. 2. sroudales ist übersetzt: probus, serius, studiosus, gravis, strenuus, se- verus, Ulustris, magnificus, moble, grave, ernsthaft, wichtig, bedeutend; welche Abweichungen für unsere Ansicht sprechen, dafs nämlich alle diese Abstufungen und Modifikationen in dem Begriffe liegen, ohne sein Wesen und seine Einheit aufzuheben. 3. rer ist übersetzt durch perfeetus, absolutus, compiuto, entier, voll- ständig, abgeschlossen. Das perfeetus ist insofern zweideutig, als auch eine moralische Vollkommenheit darunter verstanden werden kann, oder die Be- ziehung auf Schlufs und Ende vorzugsweise heraustritt. Das griechische Wort und der Sinn verlangt aber eben so sehr einen bestimmten, in sich be- gründeten Anfang, als ein solches Ende; dergestalt dafs, abgeschlossen, den Begriff am angemessensten und vollständigsten ausdrückt. 4. weyeSos ist öfter durch einen Zusatz, ‚‚idoneus, iustus, bestimmt, ge- wifs”, erläutert. Zweifelsohne wollte Aristoteles das zu Kleine, Unbedeu- tende, so wie das durch übertriebene Gröfse Unübersehbare abweisen. 5. Adusuevw Aoyw. Betrachtet und übersetzt man diese Worte für sich, so ist die Schwierigkeit nicht grofs, und anmuthige Sprache für sie wohl der richtigste Ausdruck. Auch hat Aristoteles, wie die von ihm weiter unten beigefügte Erklärung zeigt, gewifs nicht an blofs süfsliche Weichheit der Sprache gedacht. Setzt man dagegen jene Worte mit den gleich folgenden in Verbindung und bildet daraus einen Satz, so wird es weit schwerer zu sa- gen, was Aristoteles eigentlich ausdrücken wollen, und mehre Übersetzungen sind in der That noch dunkler und unverständlicher als der Urtext. Ver- suchen wir diese Dunkelheit aufzuhellen, so ist zuvörderst Mögıov und negos (!) gleichviel, und solcher ugn oder Theile hat die Tragödie nach Aristoteles sechs (VI, 9.): nämlich die Fabel, die Charaktere, den wörtlichen Ausdruck, die Gesinnungen, die Dekoration und die musikalische Begleitung. Diese von Buhle gebrauchten Ausdrücke sind freilich nicht ganz angemessen ; wie man sie aber auch verändere oder berichtige, immer bleibt es unbegreiflich, (') So VIII, A. und negıov ı #76 Ardezrızas. Rhet. I, 2, 7. wogue södumonas. ib. 1,5, 1. desgl. 1,8,3; 1,9,14; 1,13,1. über die Poetik des Aristoteles. 431 wie die anmuthige Rede in Bezug auf jene sechs Theile sich verwandeln, ja bei einigen auch nur irgend zur Anwendung kommen könne. Eher giebt es einen Sinn, wenn man (wie einige Übersetzer zu thun scheinen) unter den Theilen der Tragödie etwa Monolog, Dialog und Chor versteht, und für jeden eine angemessene eigenthümliche Sprache verlangt; wo dann aber, fast noch schwieriger, die Frage hervortritt, was unter &idcs zu verstehn sei? Es bedeutet, wenn wir das Wörterbuch im Allgemeinen befragen: Gestalt, Ansehn, Anblick, Bildung, Art, Beschaffenheit; besser dürfte es indefs zum Ziele führer, wenn wir untersuchen, in welchem Sinne und Zusammen- hange Aristoteles dies Wort in der Poetik selbst gebraucht. I, 4; IV, 22; XXVI, 32 läfst es sich durch Art: XIX,5; XX, 10 vielleicht besser durch Form übersetzen; XXVI, 16 heifst es Angesicht; VI, 11 fällt es fast ganz mit weges zusammen, insofern die oben genannten sechs Theile, auch als sechs Formen, Gestalten, Arten der Kunstmittel betrachtet und bezeichnet werden. Hiemit übereinstimmend übersetzt Buhle an dieser Stelle eidcs durch Darstellungsform. Die Stelle XI, 1 erlaubt dasselbe, nur werden hier vier Stücke, Prolog, Episode, Epodus, Chor, in Bezug auf ihre Gröfse und eigenthümlichen Eigenschaften, zugleich als Theile und Darstellungs- formen (ueges und eiöos) bezeichnet. Bis hieher laufen also beide Wörter neben und durcheinander, und erst XVII, 1, verglichen mit XXIV, 1 giebt einen Gegensatz, wonach jene sechs Theile oder vier Stücke (usgr) auf einer Seite stehn mögen, der Arten, Formen (eiön), der Trauerspiels aber vier sind, die wir einstweilen mit Buhle die verwickelte, pathetische, ethische und einfache nennen wollen (!). Der Sinn wäre also, wie er sich auch in einzelnen Worten näher bestimmen oder verändern liefse, im Allgemeinen der: die anmuthige Rede, soll den einzelnen Theilen und den verschiede- nen Arten des Trauerspiels angemessen, auf eine ihnen eigenthümliche Weise gebildet sein. Diese Auslegung scheint vor mancher andern den Vor- zug zu verdienen, welche ohne inhaltsreichere Bestimmungen, ohne nähere 8 Bezeichnung von negss und eides, eigentlich nur sagt: die Sprache solle an- (') Zur Erläuterung dient noch eine Stelle der Rhetorik (I, 2, 22.), wo es heifst: ?2y% Ö: eiöy uEv rag zu Ttzarrov yevos ilcs meorETEIG; &ıdos läfst sich ferner durch Art übersetzen: Rhet. II, 22,14; IN,1,1; 111, 12,2; 11,18,7. — III, 2,1 und I, 3, 1. heifst es mehr Ge- stalt, Form, Beziehung. R2 132 von RAUMER gemessen sein; was der wortkarge Aristoteles gewifs nicht ohne concretern Gedanken so weitschweifig umschrieben hätte. Wie wichtig nun aber auch jene inhaltsreichere Vorschrift ist und wie oft sie auch übertreten wird, könnte man doch sagen, sie verstünde sich eigentlich von selbst, und wenn etwas umständlicher erklärt werden sollte, hätten andere Ausdrücke, z.B. reAsıos, ueyeSos, Hduruevos, naSagrıs u.s.w. wohl eher ein Recht darauf gehabt. Vielleicht hat dies und ähnliches zu der ganz abweichenden Ansicht geführt, welche sich in der goethischen Überset- zung ausspricht. sides ist hier nicht Art, Theil, Form, es ist Gestalt, es ist Person. Ob der Sprachgebrauch, was wir bezweifeln, diese Annahme er- laube, mögen andere entscheiden; unterstützt wird sie, wenn man dguvrwv mit zum Satze zieht, gewils giebt sie einen eigenthümlichen wichtigen Sinn. Aristoteles verlangt laut desselben 1) dafs die Personen in allen Theilen der Tragödie sich gleich bleiben, die Charaktere fest gezeichnet und gehal- ten sein sollen; 2) dafs nicht gleichartige, sich langweilig wiederhohlende Charaktere, ohne Mannigfaltigkeit und Gegensatz nebeneinander gestellt werden. Obgleich die nächsten Worte nicht ganz so dunkel, als die eben erläu- terten sind, bieten sie doch auch Sehwierigkeiten dar. Lesen wir nämlich: dauvruv zal 8 di’ arayyerias (was uns ohne Zweifel das Angemessenste zu sein scheint), so ist der einfache und bedeutende Sinn: ‚‚in der Tragödie soll Alles in Handlung gesetzt sein und vor unsern Augen sich begeben, nicht aber Erzählung wie in der Epopee statt finden.” Nimmt man aber Öpwvruv zum vorigen Satze und behält «r« bei, so ist der Sinn: „nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und Mitleid wird die Reinigung der Leidenschaften zu Stande gebracht.” Bei dieser Leseweise ist der Gegensatz von Erzählung auf einer, Furcht und Mitleid auf der andern Seite, es ist das „sondern” unklar und unvollständig, wefshalb Einige wohl zur Beseitigung dieses Mangels statt drayysria, erayyerıa lasen. Übersetzen wir dies Wort, oder das lateinische praeceptum, durch Befehl, so schwindet der obige, einigermaafsen noch zu rechtfertigende Sinn ganz und gar (!); übersetzen wir: ‚‚nicht durch Vorschriften, gute Lehren, moralische Redensarten, (') Für die erste Lesart spricht, wenn Plato (Rep. III, 394.) sagt: # av dia murrews &y errıv Te@ywöi TE zu AWmÖLK, Y de 81° arayyenics «ur? r2 roırr2. Vielleicht hat Aristoteles diese Stelle im Sinn gehabt. über die Poetik des Aristoteles. 133 sondern durch Furcht und Mitleid wird die Reinigung der Leidenschaften zu Stande gebracht,’’ so ist der Satz nicht mehr ohne allen Verstand, aber schwerlich die Meinung des Aristoteles getroffen. Lassen wir endlich «ra weg, wie mehrere Handschriften verlangen, so fällt der ganze Gegensatz dahin, und der Siun der letzten Worte wäre unabhängig von dem vorigen: ‚„‚die Reinigung der Leidenschaften wird in der Tragödie durch Furcht und Mitleid zu Stande gebracht.” Was nun aber diese Worte bedeuten, wie sie zu verstehn seien, darüber ist so viel gesagt und gestritten worden, dafs auch wir uns darüber etwas umständlicher verbreiten müssen. V. Von der Reinigung der Leidenschaften. Die Bemerkungen welche sich über diesen wichtigen Gegenstand dar- bieten, dürften sich am Besten den scharfsinnigen Erörterungen Lessings an- reihen. Sie gehn (Dramat. II, 169— 205.) im Wesentlichen dahin: Die Rei- nigung der Leidenschaften erfolgt nicht durch Mitleid und Schrecken, son- dern durch Mitleid und Furcht. Die Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid. Wo diese Furcht fehlt, kann auch kein Mitleid statt finden, und wiederum ist das Mitleid keine von der Furcht ganz getrennte, unabhängige Leidenschaft. Vielmehr wird es, wenn jene Furcht hinzutritt, weit lebhaf- ter, stärker und anziehender. Mitleidige Regungen ohne Furcht für uns selbst, Philanthropie, allgemeines Gefühl der Menschlichkeit, ist zu schwach als dafs es tragische Wirkung thun könnte. Nicht die vorgestellten, nicht alle Leidenschaften können und sollen durch das Trauerspiel gereinigt wer- den, sondern lediglich Mitleid und Furcht, aber diese beiden ungetrennt und in ihrem ganzen Umfange. Sie sind die Leidenschaften, welche wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; durch sie rühren uns die handelnden Personen, ziehn sich aber durch Mitleid und Furcht nicht selbst ihre Unfälle zu. Ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenschaften viel oder wenig beiträgt, ist dem Aristoteles sehr gleichgültig. Zur bessern Prüfung dieser und anderer Erklärungen wird es dienen, wenn wir vorher sehn, wie sich Aristoteles an andern Stellen seiner Werke über diesen Gegenstand äufsert. Der z«Sugrıs, Reinigung, erwähnt er bei der Musik (Polit. VIII, 7.) und stellt sie mit der iargei«, der Heilung, zusammen. Es mufs also, um 134 vov RAUMER sie anzuwenden, ein Mangel vorhanden sein, und die eintretende Verände- rung irgend eine Besserung desselben in sich schliefsen, diese möge nun mo- ralisch, oder anderer Art sein. Über Mitleid und Furcht giebt die Rhetorik (II, 5, 8.) folgende Auskunft: furchtbar ist, was, wenn es einem andern widerfährt, oder be- vorsteht, Mitleid erregt (ereswa Eorı). Das Furchtbare mufs uns nahe er- scheinen (&yyüs daweraı). Wer im höchsten Glücke lebt, oder schon Un- zähliges erduldet hat, fürchtet nicht. — ”EAess, Mitleid, ist Schmerz, Trauer, welche entsteht wenn man sieht, dafs ein verderbliches und schmerz- liches Übel jemand zustöfst, der dasselbe nicht verdient (@v«£ies) (1), wenn dies Übel ferner nahe erscheint und uns selbst oder einen der unsrigen tref- fen könnte. Die ganz Glücklichen, oder ganz Unglücklichen sind vom Mit- leide ausgeschlossen. Desgleichen die, welche im Zorn oder Übermuthe sich um nichts kümmern, und die allzu Furchtsamen, welche über sich an Andere nicht denken können. Aus dem Allen scheint uns Folgendes hervorzugehn: 1. Die Reinigung ist keineswegs, wie einige gedeutet haben, eine Vernichtung der Leidenschaften, sondern (übereinstimmend mit den ethi- schen Grundsätzen des Aristoteles) eine Hinführung auf das Mittlere, mit Ausschliefsung des zu viel und zu wenig. Wer stoisch und puritanisch alle Leidenschaften vernichten will, zerstört wenn nicht jede Kunst, doch ohne Zweifel die tragische. Andererseits war die Katharsis dem Aristoteles gewifs nicht blofs eine quantitative, sondern auch eine qualitative Veränderung; nur kann und soll dieselbe nie an dem schlechthin Bösen, Häfslichen und Gemeinen (was von der wahren Kunst stets ausgeschlossen ist) versucht werden. 2. Davon, dafs Furcht und Mitleid auch ohne Vermittelung der Kunst erregt, gestärkt, gemindert werden können, ist hier nicht die Rede; wichtig aber die Frage: ob innerhalb der künstlerischen Kreise nur die Tragödie jene Kraft habe? Wir glauben, dafs jede Dichtungsart, ja jede Kunst, in gröfserem oder geringerem Maafse, Leidenschaften erregen und reinigen könne; Aristoteles aber defsungeachtet mit Recht dem Trauerspiele vor- (') Die Nemesis ist dem Aristoteles ein Gegenstück zum Mitleide, nämlich Schmerz und Verdrufs darüber, das es dem Unwürdigen wohl geht, venssdv — AuraınSau Emı reis avaftaıs eürgayicıs. Rhet.1l, 9,1. über die Poetik des Aristoteles. 135 zugsweise diese Kraft und Bedeutung zusprach, weil sie sich allerdings hier ganz anders und auf andere Weise geltend macht. Wenn dies aber der Fall ist, so fragt sich: 3. Warum soll die Tragödie blofs Mitleid und Furcht, und nicht alle Leidenschaften reinigen? Sie soll, laut Aristoteles, alle reinigen, sagen diejenigen, welche die Worte r&y razrwv übersetzen (!): „und die ähn- lichen, die vorgestellten, alleandere Leidenschaften.’ Ihnen widerspricht Lessing, nebst allen denen, welche übersetzen oder deuten: „eben dieser, dieser beiden Leidenschaften, Mitleid und Furcht.” Wir glauben, es ist eine Verständigung und Ausgleichung beider Meinungen möglich. Ohne Zweifel werden nicht blofs Mitleid und Furcht, sondern weit öfter alle anderen Leidenschaften auf der Bühne dargestellt. Diese Darstel- lung wirkt auf den Zuschauer, er wird anders berührt wenn Liebe, anders wenn Eifersucht, Ehrgeiz u.s.w. den Hauptinhalt des Trauerspiels ausmacht; es entstehen hienach verschiedene Gedanken und Gefühle, es treten Bewe- gungen, Änderungen ein, die mit dem Gesehenen und Gehörten im genau- sten Zusammenhange stehn. Mithin mufs das Trauerspiel nach Maafsgabe seines Inhalts hier auf die Liebe, dort auf den Ehrgeiz u.s.w. des Zuschauers und auf seine Ansichten darüber Einflufs haben; und dieser Einflufs, diese Veränderung wird eine Stärkung oder Schwächung, eine Erregung oder Be- ruhigung hervorbringen und in sich schliefsen. Wenn aber die tragische Darstellung jeder einzelnen Leidenschaft, auf jede einzelne, aller Leiden- schaften auf alle Leidenschaften wirkt, warum sagt Aristoteles nicht: ‚‚die Tragödie vollbringt die Reinigung aller Leidenschaften”? Warum nennt er Mitleid und Furcht ganz ausdrücklich, statt sie in dem allgemeinen Ausdruck zu begreifen? Warum kommt er immer wieder auf diese Begriffe zurück? Wir denken uns die Sache so: jede Leidenschaft erlaubt eine Reini- gung, durch Bild, Symbol, Lehre, Drohung, Beispiel, Schläge, Marter u.s.w. Diese Mittel liegen aber entweder ganz aufserhalb des Gebietes der Kunst, (') Eine Stelle (Rhet.1,11.), wo es heifst: re d: +8 navSavew ve KO) zur 70 Saumagew, za 7a rawlre dvayın Ya eva ete. liefse sich bei der philologischen Erklärung wohl benut- zen, und für diese erste Ansicht geltend machen, desgl. 1,1,8: dgyr, &Asos, delos, zu Orc ara rocdre. Und: ray Ö2 mar yası ooynv, EriSuniav za va roiadre. 11,12.2. Erzov, 9 do- EA Ss ” Be Bov, % opynv, za 07 TOrRÜTe. Poet. XIX, 4. 136 von RAUMER oder doch der Tragödie (1). Und selbst in der Tragödie werden die vielen Leidenschaften nicht ohne Mittelglied, ohne gemeinsamen Begriff, jede schlechthin nur für sich oder durch sich gereinigt (also nicht Hafs durch Hafs, Eifersucht durch Eifersucht u. s.w); vielmehr bedürfen alle eines ge- meinsamen Elements der Reinigung, und dieses ist Furcht und Mitleid. Wo die Theilnahme nicht bis zu diesen beiden Gefühlen gesteigert wird, wo sie sich nicht wiederum mit jenen einzelnen Leidenschaften verbinden, kommt keine tragische Wirkung, keine Reinigung zu Stande. Warum aber gerade Furcht und Mitleid in die Kreise aller Leidenschaften eingreifen können, ist ganz klar, sobald wir ihre allgemeine Natur zu Tage legen: Mitleid nämlich begreift allen Antheil in sich, den wir an Anderen nehmen, so verschieden die Veranlassung auch sein möge; Furcht hingegen umfafst jede Bezugnahme auf uns selbst. Alle Leidenschaften werden gereinigt, sofern sie durch diese Doppelbeziehung hindurchgehn; keine kann ohne diese Vermittelung eine ächte Reinigung erfahren. Vielleicht liefse sich behaupten: unsere Selbstliebe und unsere Nächstenliebe, die Pflichten gegen uns selbst und die Pflichten gegen unsere Nächsten, lägen in Furcht und Mitleid eingehüllt, und ihre rechte Natur werde im Trauerspiele enthüllt und verklärt; wenn nicht die Frage über den sittlichen Werth der Künste, noch eine besondere Untersuchnng verlangte. Bevor wir darauf kommen, müssen wir aber eines Einwandes erwähnen, der alle bisherigen Erklärungen und Ergebnisse umzu- stofsen scheint. Goethe nämlich behauptet (Kunst und Alterth.VI, 1, 5.85): Aristo- teles rede in der zu deutenden Stelle lediglich von der Konstruktion des Trauerspiels selbst, und habe an die entfernte Wirkung, welche dasselbe vielleicht auf den Zuschauer machen würde, gar nicht gedacht. Wenn es durch einen Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchge- gangen, so müsse es mit Ausgleichung und Versöhnung solcher Leidenschaf- ten zuletzt auf dem Theater seine Arbeit abschliefsen. Unter Katharsis ver- stehe Aristoteles diese aussöhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert werde. (') Manche Beziehung wird deutlicher, wenn man nicht überall das Wort Leidenschaft gebraucht, sondern bisweilen Gemüthsbewegung, Gemüthszustand sagt. über die Poetik des Aristoteles. 137 Von dem Zuschauer, seinen Leidenschaften und deren Reinigung ist, laut Goethe’s Erklärung und Ü bersetzung, also gar nicht, es ist lediglich vom Dichter und seinem Kunstwerke die Rede. Das Erregen von Furcht und Mitleid bezöge sich hienach auf die im Trauerspiele handelnden Perso- nen, und das Ausgleichen wäre ein harmonischer Schlufs, weil kein Kunst- werk mit einer unaufgelöseten Dissonanz zu Ende gehen darf. Alle Fragen über das Verhältnifs der hörenden Zuschauer zum dargebotenen Werke, werden als nicht hieher gehörig abgewiesen, und statt der schwankenden Doppelbeziehung, eine einfache, unzweifelhafte hingestellt. Dennoch entstanden bei uns, nach anfangs beifälliger Freude, mehre Bedenken gegen diese Ansicht. Wenn man nämlich die, Furcht und Mit- leid erregenden, Mittel ohne Beziehung auf den Hörer, lediglich unter den zum Trauerspiel gehörenden Personen zur Anwendung bringt, wenn der Verlauf von Mitleid und Furcht, nur Anordnung und Inhalt des Trauerspiels betrifft; so wird es fast unmöglich zu erklären, warum Aristoteles diese bei- den Gemüthsbewegungen allein nennt und in den Vordergrund stellt. Sie sind weder als solche Hauptinhalt von Tragödien, noch treten sie neben an- dern, vorzugsweise dargestellten Leidenschaften, als vorzügliche Bindungs- mittel und überall hindurchgehende Gründe des Fühlens und Handelns der Mitspielenden heraus. Liebe und Hafs z.B. werden in dem Trauerspiele weit öfter angewendet, machen sich öfter geltend, als Mitleid und Furcht, und der harmonische Schlufs des Kunstwerks offenbart selten eine Aus- gleichung dieser beiden Leidenschaften in den handelnden Personen. Sind dagegen in Goethe’s Übersetzung und Erklärung unter dem Ausdrucke „solcher Leidenschaften” alle, mit Ausschlufs von Mitleid und Furcht, verstanden; so wird es sehr schwer (ohne Beziehung auf den Zuschauer) den Gegensatz, und wiederum die Einigkeit des Geschäfts und der Wirksam- keit jener beiden, und aller übrigen Leidenschaften nachzuweisen, worin uns die eigentliche Lösung des Räthsels zu liegen schien. Das dreizehnte Kapitel der Poetik, welches so oft auf die Wirkung im Zuschauer hinweiset, scheint uns mit Goethe’s Erklärung nicht füglich vereinbar, und noch deutlicher dürfte XIV, 2 ihr widersprechen, wo es heifst: ‚die Fabel mufs so ange- ordnet sein, dafs selbst ohne Aufführung des Trauerspiels, der Hörende zu Furcht und Mitleid bewegt wird.” Eben so wenig können wir Histor. philolog. Klasse 1828. S 138 von RAUMER einräumen, dafs Katharsis, Reinigung, dem Aristoteles nur eine Abrundung bedeute, die von jedem poetischen, ja von jedem andern Kunstwerke zu fordern sei. Er bezog sie gewils, so wie auch bei der Musik, auf den Hö- renden, und fand sie mit Recht vorzugsweise in der Musik und dem Drama. Ist denn aber, so möchten wir zuletzt fragen, dadurch dafs ich alle Gedauken, Gefühle, Handlungen, Leidenschaften lediglich in die Tragödie hineinlege, und mich um den Zuschauer, Hörer und Leser gar nicht bekümmere, wirklich die Sache zu einem in sich genügenden Schlufs gebracht? Wird denn nicht alles Objektive des Kunstwerks, durch sehen, hören, lesen auch subjektiv? Könnten denn im Stücke Leidenschaften dargestellt, gereinigt werden, ohne dafs durch Nachahmung und Wiederholung der Nachahmung, im Geist und Herzen des Zuschauers das Ähnliche vorginge? Dieser verwandelt sich mehr oder weniger in die Personen der Tragödie, und das Wesen derselben wird ganz angemessen durch die Art und Weise bezeichnet, wie man, vermittelst Furcht und Mitleiden, diese Wechselwirkung zu Stande bringt. Inhalt und Zweck unserer bisherigen Erläuterungen wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir sie auf das Lustspiel ausdehnen. Dafs gewisse Leidenschaften gar nicht für dasselbe gehören, und die ihm zugewiesenen eine andere Behandlung als die tragische erfordern, ist als eingeräumt vor- auszusetzen. Wenn wir nun, unsere obige Behauptung hieher übertragend, die eigenthümliche und nothwendige Wirkung des Kunstwerks mit in seine Erklärung aufnehmen, so bringt auch das Lustspiel Veränderungen auf den Zuschauer und in demselben hervor, und diese Veränderungen stehn in un- trennlichem Zusammenhange mit dem Dargestellten. Sie werden ferner in und mit der Lösung und Ausgleichung im Lustspiele selbst, auch eine Reini- gung der verwandten Gefühle und Zustände bei dem Zuschauer bewirken ; nur kann und darf dieselbe nicht durch die tragischen Mittel der Furcht und des Mitleids zu Stande gebracht werden. Wir können aber auch im Lust- spiel den einzelnen Affeet im Zuschauer nicht unmittelbar durch den einzel- nen Affecet des Mitspielenden reinigen, sondern bedürfen allgemeiner Ver- mittelungsglieder und Beziehungen. Sollten diese für das Lustspiel nicht die Gegensätze jener tragischen, nämlich statt der Furcht die Hoffnung, statt des Mitleids die Mitfreude sein? Bringt die Darstellung der einzelnen Ge- müthsbewegungen im Lustspiel es nicht so weit, jene Empfindungen lebhaft 5 zu erresen, so wird es wenigstens seine Hauptwirkung, die eigentlich dra- sen, 5 5» 5 über die Poetik des Aristoteles. 139 matische, verfehlen. Von diesem Punkte aus dürfte sich noch Folgendes be- haupten lassen: 1. Unbedingt nichtige Personen können jene Empfindungen nie erregen, dürfen also auch nicht (wie irrende Erklärer des Wortes Ironie wähnten) als Inhalt eines ganzen Lustspiels vorgeführt werden. 2. In jeder Hoffnung liegt auch eine Furcht, in jeder Mitfreude auch ein Mitleid verborgen. Steigt die Hoffnung über das richtige Maafs, so ge- langt sie durch Selbstvertrauen bis zum frechen Übermuth; so wie das Furchtbare sich in das Widerwärtige, Ekelhafte, Entsetzliche verirren kann. Beide Abwege sind schlechthin verdammlich; in der Mitte bleibt indefs ein bedeutender Spielraum, wo die Tragödie heitere Elemente aufnehmen und ihrem Hauptzwecke unterordnen kann, und das Lustspiel (z.B. Donna Diana des Moreto) bis an das Trauerspiel hinanstreifen darf. 3. Abgesehn von der, gleich näher zu erörternden, Frage über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, bemerken wir hier nur: dafs der höchste Schmerz bisweilen in Lachen übergeht und sich dadurch Luft zu machen sucht, und umgekehrt die höchste Freude gar leicht in Wehmuth umsetzt und ganz natürlich in Freudenthränen ausbricht. Dies beweiset für analogische Betrachtung des Lust- und Trauerspiels, und verstärkt die An- sicht: dafs die von uns aufgestellten zwei und zwei Gemüthsbewegungen, wirklich die allgemeinen, unentbehrlichen Vermittler für alle übrigen Lei- denschaften sind. Über den Grund des Vergnü ens an tragischen Kunstwerken. ) Aristoteles sagt (XIV, 4) (!): die Tragödie solle vermittelst Furcht und Mitleid, Vergnügen (Adevav) erwecken; eine Behauptung, welche durch die tägliche Erfahrung bestätigt wird, aber schwer zu erklären ist. Zur nä- heren Bestimmung der aristotelischen Ansicht dient zuvörderst eine Stelle in der Rhetorik (I, 14, 23), wo es heifst: ‚da es angenehm ist, zu lernen und zu bewundern, so mufs auch das diesem Ähnliche nothwendigerweise ange- nehm sein; mithin das in der Malerei, Bildnerei, Dichtkunst durch Nach- ahmung Dargestellte, gleichwie alles was glücklich nachgeahmt worden ist, (') Desgleichen: Kai &v reis zivSer: zu Seyvas Eyyıyverai sis Hdcvy. Rhet. I, 11, 12. 52 440 von RAUMER wenn auch das, dessen Nachahmung es ist, nicht angenehm sein sollte. — Desgleichen sind angenehm die plötzlichen Umwandlungen der Schicksale (die Peripetien) und das mit Noth geschehene Erreiten aus Gefahren; denn alles dies ist bewundernswürdig.” Diese Stelle erweiset sehr richtig, dafs in der tragischen Nachahmung und Darstellung Manches Vergnügen erwecken könne, was in der Wirk- lichkeit vielleicht nur Entsetzen hervorbringen würde, und dafs die Nach- ahmung auch nicht einmal scheinbar mit der Wirklichkeit ganz zusammen- fallen darf, wenn sie nicht unangenehm werden soll, wie z.B. bemalte Ge- sichter von Bildsäulen, Wachsfiguren und dergleichen erweisen. Eben so wenig macht Furcht und Mitleiden an und für sich, und ohne Vermittelung durch ein Kunstwerk, Vergnügen; und nicht minder wird andererseits die Tragödie und der Mensch von denen herabgewürdigt, welche den ganzen Genufs in das eigensüchtige Bewufstsein setzen, es ergehe dem ruhig da- sitzenden Zuschauer besser, als allen Spielenden und Handelnden. Wollte man, nach dem Sinne einer philosophischen Schule, sagen: das im Elende befindliche Nichtich, sei ein taugliches Mittel der Entwickelung meines Ichs; so liefe dies doch nur auf den eben gerügten Egoismus hinaus. Freilich soll eigene Kraft durch die Aufregung erweckt werden, aber das gemeinsam Menschliche mufs hindurchdringen, und es ist nicht blofs von einem belie- bigen Aufnehmen und Abweisen, sondern davon die Rede: dafs das Subject aus sich selbst heraustrete, sich verwandele, ein mannigfaltiges Leben führe, und, als vielmaliger Doppelgänger, das Pulsiren seines Geistes und Herzens mit dem aller übrigen vor ihm Handelnden in Harmonie bringe (!). Dafs, laut Aristoteles, aus dieser Erhöhung und Vervielfältigung des eigenen, an sich beschränkten Daseins, die höchsten Freuden des Geistes und Herzens erwachsen, läfst sich aus seinen Werken beweisen. In dem be- reits angeführten Kapitel der Rhetorik nennt er das Vergnügen eine Bewe- gung (*), eine Thätigkeit der Seele (zivnsıs), und bald darauf sieht er in dem Beharren und dem Wechsel (sUvnSes und uer«ßer7) Hauptquellen desselben. Fassen wir diese Begriffe allgemeiner auf, so liegt im ersten das Festhalten (') Format enim natura prius nos intus ad omnem Fortunarum habitum. MHorat. ars poet. 108. (*) Eben so Rhet. I, 11,1. über die Poetik des Aristoteles. 441 der Subjektivität, das gerechte Streben, es nicht in anderes Sein und Fühlen ganz auflösen zu lassen, was auch den tragischen Genufs zu schmerzlichem Un- tergange steigern würde. Der zweite Begriff, das ueraßarreı, bezeichnet das Heraustreten aus sich selbst, das Verwandeln in Anderes, welches jenes erste blofs subjektive Beziehung erweitert und verklärt. Beide in richtigem Wech- selverhältnisse, gewähren den ächten Kunstgenufs; vereinzelt, oder mit fal- schem Übergewicht der einen oder der andern Seite, zerstören sie denselben. Diese Betrachtung steht aber mit einer noch allgemeineren in Verbindung, welche wir, ihrer Schwierigkeit halben, umgehn würden, wenn sie sich nicht bei Prüfung der aristotelischen Poetik fast unabweisbar aufdrängte. Von dem Verhältnisse der Kunst und insbesondere des Drama zur Sittlichkeit. Die Art, wie wir im vorigen Abschnitte das Vergnügen an tragischen Gegenständen zu erklären suchten, führte uns in das Gebiet der sittlichen Entwickelung des Menschen. Sind wir denn aber, da Aristoteles nur Ver- gnügen als Zweck des Trauerspiels nennt, hiezu irgend berechtigt? Hat die Kunst überhaupt mit der Sittlichkeit etwas zu schaffen, und ertödten wir nicht ihr Wesen, wenn wir es mit diesem, alles unbedingt beherrschenden Prinzip in irgend eine Verbindung bringen ? Die Begriffe von Sittlichkeit und Kunst, von gut und schön, werden entweder ganz von einander getrennt und jedem sein abgeschlossenes Gebiet angewiesen; oder der eine dem andern untergeordnet; oder sie werden in ein Wechselverhältnifs gestellt, jedoch ohne Aufhebung ihres Wesens und mit eigenthümlichen Kreisen und Verwandlungen. Für die erste Ansicht scheint sich Goethe auszusprechen, wenn er in dem, schon öfter angeführten, Aufsatze über die Poctik des Aristoteles sagt: ‚„‚die Musik vermag, so wenig als irgend eine Kunst, auf die Moralität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein.” Was hiebei zuerst die Musik anbetrifft, so kann sie allerdings nicht unmittelbar moralische Grundsätze beibringen; wohl aber erzeugt das An- hören einer wahrhaft edlen Musik, so wie der Aufenthalt in einem schönen, oder erhabenen Gebäude, eine Menge von Gedanken und Gefühlen der 142 von RAUMmER mannigfachsten Art, die ohne Vermittelung jener Künste nie aus dem unan- geregten Gemüthe hervorgesprofst wären. Bei dieser Wirkung geht aber, wie jeder an sich erproben kann, das Schöne und Gute so miteinander und so ineinander über, dafs eine völlige Trennnng und Entgegensetzung dessel- ben gar nicht zu Stande zu bringen ist. Noch weniger läfst sich bei andern Künsten die Wirkung ihrer Werke auf die Sittlichkeit abläugnen; ja es kann jene oft viel gröfser sein als bei den- jenigen Erzeugnissen, die sie recht von Amtswegen bezwecken. Wer dies alles läugnet, mufs (durch eine erlaubte Umkehrung des Goethischen Satzes) auch zugeben, dafs Kunstwerke gar nicht unsittlich sein und eine unsittliche Wirkung hervorbringen können. Zuletzt erwächst aber jenes Wegweisen des Sittlichen von den Kunst- gebieten nur aus der Furcht: es werde der wahre Künstlergeist dadurch ein- gezwängt und in ungebührliche Sklaverei geworfen werden. Oder es dürf- ten Dichter, aus freien Stücken aber sehr irrig, ihre Kräfte lediglich darauf verwenden, die abstrakten Lehren der Moral, wir möchten sagen, mit Fleisch zu bekleiden. Hierüber nun finden wir in Goethe eine andere treflliche Stelle, welche die obige, wie es uns scheint, so aufklärt und näher bestimmt, dafs es unnöthig wäre, noch ein Wort hinzuzufügen. Sie lautet (Kunst und Alterthum V, 2, 472): ‚‚Es ist ein grofser Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt: die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig falst, erhält auch zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.” Wir kommen itzt zu der grofsen Zahl derer, welche eine Wechsel- wirkung zwischen Kunst und Sittlichkeit annehmen, aber das Gute entweder dem Schönen, oder das Schöne dem Guten unterordnen. Jenes ist minder in der Theorie, als in der Praxis von Künstlern geschehn, hat sich aber an ihren Werken dergestalt gerächt, dafs das Schöne ihnen leicht zum Unedlen, Willkürlichen, blofs Reizenden hinabsank und der höchste Stempel har- monischer Vollendung ausblieb. Öfter sind Philosophen in den umgekehrten Fehler verfallen und haben das Schöne dem Guten untergeordnet. Derjeni- gen nicht zu gedenken, welche der Kunst als einem freien, menschlichen über die Poetik des Aristoteles. 143 Schaffen in ihrem Systeme nicht füglich eine Stelle anweisen können (wo- hin wir Spinoza zählen möchten), verdient unter den Neuern Fichte hier Erwähnung, dem das Schöne nur Vorbildung, Mittel zur Sittlichkeit ist, auf welcher Grundlage und nach welcher Weise dann aber Kunstwerke er- wachsen, wie sie eben Goethe mit Recht nicht will. Auch ergiebt sich der Irrthum einer Unterordnung dieser Ideen schon dadurch, dafs das Gute eben so Mittel zum Schönen, als das Schöne zum Guten werden, oder man end- lich auch sagen kann: in letzter Stelle und höchster Vollendung und Durch- dringung, sei alles Schöne gut und alles Gute schön. Wichtiger aber als die Ansichten neuerer Philosophen über diesen Gegenstand, sind für uns die Platons, weil sie die des Aristoteles in ein hel- leres Licht setzen. Mit Übergehung vereinzelter Stellen halten wir uns hier an das, was jener darüber zusammenhangend in der Republik vorträgt. Es heifst daselbst im Wesentlichen (III, 387-396 und X): Unglück soll der Mensch mit Standhaftigkeit ertragen, sich nicht dem Schmerze und unwür- digen Klagen hingeben, am wenigsten aber den Göttern solcherlei Gemüths- bewegungen beilegen. Die übertriebenen Darstellungen der Tragödie und das unmäfsige Gelächter der Komödie, sind gleichmäfsig zu verwerfen. Beide Dichtungsarten beruhen auf Nachahmung, und nicht auf blofser Erzählung. Jene Nachahmung ist aber eine vielfache und des Verschiedenartigen; sie mufs also, da jeder nur ein Einiger ist und kaum eine Sache recht versteht, nothwendig mangelhaft und oberflächlich sein. Ferner soll, wenn man an- ders nachahmen will, nur das Treflliche, Vollkommene, Tugendhafte nach- geahmt werden, keineswegs aber das Gegentheil von dem Allem, wodurch Natur und Sitte, Leib und Seele nothwendig angesteckt und verderbt wird. Deshalb ist kein Theil der Dichtkunst, welcher auf Nachahmung beruht, in einen vollkommenen Staat aufzunehmen und zu dulden. Hiezu kommt, dafs jede Nachahmung unendlich weit von der Wahr- heit absteht und nothwendig von der Wahrheit hinwegführt. Hätte der Nach- ahmende irgend Einsicht in das Wesen dessen was er nachahmt, er würde es entweder als nichtig zur Seite werfen, oder lieber durch Tüchtiges zu eigenen Thaten und Tugenden veranlafst werden. Diese brächten ihm dann bei der Nachwelt ein ganz anderes Lob, als wenn er sein Leben mit Loben des Unwürdigen verbringt. Nie kommt der Nachahmer über Schönheit und Häfslichkeit ins Klare, vielmehr leitet und bestimmt ihn das Urtheil der 444 von Rauvumer unwissenden Menge. So ist mithin die nachahmende Dichtkunst eine schlechte Gabe, die, mit Schlechtem sich vermischend, nur schlechte Werke erzeugt. Sie bringt den Menschen in Aufruhr, belastet die Seele mit tau- send innern Widersprüchen, und vernichtet Harmonie, Gleichgewicht, Be- sonnenheit und Vernunft. Ja die Thorheit geht so weit, dafs man den, welchem dies am meisten gelingt, als den besten Dichter lobpreiset. Erst wenn die auf Vergnügen gerichtete nachahmende Dichtkunst erweiset, dafs sie in einem wohlgeordneten Staate andern Nutzen hervorzubringen im Stande ist, wollen wir ihre Aufnahme gestatten. Nimmt man an, dafs es dem Platon mit all diesen Äufserungen, so wie mit den ıneisten andern in der Republik gemachten Vorschlägen, kein Ernst war, so ist man freilich aller ernsten Untersuchung leicht überhoben. Uns scheinen indefs die für jene Ansicht beigebrachten Gründe ungenügend, sie mögen von der Person Platons, oder von den Sachen hergenommen sein. Je gröfser nämlich seine Dichtergaben angeschlagen und hervorgehoben wer- den, desto mehr mufs man darin, dafs er sie in den vielbetretenen und be- lobten Bahnen nicht gelten machte, den Ernst jener Widersprüche und die innige Überzeugung erkennen, dafs dort unvertilgbare Mifsbräuche obwal- ten, und ein reines Gemüth sich in die Kreise solcher verunreinigenden Lei- denschaften niemals stürzen dürfe. Wie man aber auch Platons Republik in unsern Tagen deute, gewils nahm Aristoteles die Lehre von Gemeinschaft der Weiber, den Tadel der Dichter u. s. w. für Ernst. | Es fragt sich nun: 1. Läfst sich dieser Tadel Platons rechtfertigen? 2. Wie verhält sich seine Ansicht zu der des Aristoteles? Zuvörderst fafst Platon den Begriff der Nachahmung niedriger auf, als Aristoteles; dergestalt, dafs dem Kunstwerke kein eigenthümliches, wir möch- ten sagen erhöhtes und verklärtes Dasein bleibt, sondern dafs es nur in Bezie- hung auf ein speziell Nachgeahmtes etwas ist, und alsdann nothwendig etwas Unvollkommenes und Geringeres bleibt. Hiebei verschwindet der Gedanke des Ideals, des wahren Schaffens und Veredelns, und trotz der Lehre von den Ideen bleibt dem Platon das was man nachahmt, hier nur ein magadeıyua im Sinn eines Vorbildes, welches, so betrachtet, freilich immer höher steht als das Nachbild. Je ähnlicher dies aber, blofs auf solchem Wege, dem Urbilde über die Poetik des Aristoteles. 145 würde, desto eher müfsten wir den, schon oben wider übertriebenes Nachah- men ausgesprochenen Tadel wiederholen. Auch dürften bei dieser Bezug- nahme auf das Sittliche, die Vorwürfe, welche Plato den Nachbildern ob ihrer Schwäche und Unvollkommenheit macht, oft noch weit mehr die Vor- bilder wegen ihrer Stärke treffen, und eine Reinigung der Leidenschaften weit eher durch jene mittelst der Tragödie, als durch die Thaten selbst zu Stande kommen. Nur die falsche Kunst steht von der Wahrheit, die ihr zukommt, entfernt, und zwar kann diese Unwahrheit, diese Ausartung einbrechen, sowohl wenn sie sich über das im höhern Sinn Wirkliche hin- aus in leere Trugbilder und Fantome versteigt, als auch wenn sie, das Zu- fällige für wesentlich haltend, unter das Wahre und Schöne hinabsinkt. Schutz gegen die verderblichen Wirkungen der falschen Schönheit sucht Plato irrig in der Unterordnung des Schönen überhaupt, unter das Gute, als wenn der Fehler nicht auch auf dieser Seite liegen und das, durch un- genügende Theorien aufgefundene falsche Gute, dem wahren Schönen den Untergang bereiten könnte (!). Aus der Verwechslung des sittlichen und künstlerischen Nachahmens entspringt auch jene irrige Lehre: dem letzten liege ob nur das unbedingt Trefflliche, Tugendhafte, Harmonische darzu- stellen, womit man denn sehr übereilt die ganze dramatische Kunst vernich- tet, der Malerei viele der besten Gegenstände nimmt, und die Musik auf blofse Fortschreitung durch Consonanzen zurückbringt. Nirgends hemmt und beschränkt der Beruf eines wahren Künstlers seine sittliche Ausbildung, nirgends tritt diese der künstlerischen Entwickelung in den Weg; wer jenes behauptet, verwechselt die falsche Schönheit, wer dieses, die falsche Sitt- lichkeit mit der wahren. Ohne Zweifel tritt Aristoteles all jenen Lehren Platons mit Bewufst- sein und Vorsatz entgegen: ihm ist die wuzrıs nicht das unvollkommene Nachmachen eines einzelnen Gegenstandes, mit Ausschlufs des künstleri- schen, über dies Untergeordnete weit hinausreichenden Schaffens; er fürch- tet von der wahren Kunst nichts für die wahre Sittlichkeit, und während (') Wendet man ein: dafs Plato das Schöne dem Guten in der That nicht unterordne, sondern beides coordinire, so erscheint ihm doch vieles nicht mehir wahrhaft schön, was dem Aristoteles auf seinem höchsten Standpunkte noch dafür gilt, und was er so hoch stellt als das Gute. Histor. philolog. Klasse 1823. u 446 von RAuUumEer Platon sie beschuldigt, das Gemüth überall zu verunreinigen und zu martern, hebt jener als edelsten Inhalt und Bestandtheil, die Reinigung des Gemüths und der Leidenschaften hervor, und bringt diese sittliche Wirkung, diese Katharsis, in löbliche Übereinstimmung mit der ästhetischen, dem Vergnü- ’ {o) ? Oo gen, der ndovn. Wollte aber jemand auf das oben, wie wir glauben Widerlegte zurück- ] ’ te) kommen und sprechen: die Katharsis hat keine sittliche Bedeutung, das Ver- gnügen ist dem Aristoteles alleiniger und obenein unsittlicher Zweck der dramatischen Kunst, una eine falsche Glückseligkeitslehre der Inhalt seiner ’ o ganzen Moral, so müfsten wir freilich zur Widerlegung dieser Behauptung Hülfe in den andern Werken des Philosophen, zunächst in seinen Ethiken ji ’ suchen. Da dies indefs zu weit von nnserem Zweck abführen und uns in die schwierigen Streitfragen über die höchsten sittlichen Grundsätze des Aristo- teles verwickeln würde, so mag es hier genügen, aus dem Nebenwerke der b) o o 2) Poetik, aus der Rhetorik, Erläuterungen beizubringen. Das Vergnügen oder » > 5 5 znug noch allgemeiner die Glückseligkeit ist (so lautet die Anklage) dem Aristo- teles höchster Zweck und höchstes Gut. Was versteht er denn aber (diese Untersuchung erscheint unabweislich) unter Glückseligkeit? Buch 1, c. 5 5 ) D > zählt er verschiedene Theile derselben auf, aber an der Spitze aller Erörte- » P rungen steht: sie sei eürgafia nera ügerys. Mag man dies nun übersetzen, Wohlsein mit Tugend, oder Glück mit Tugend, oder Wohlthun mit Tu- gend, immer mufs die Tugend als wesentlicher Bestandtheil festgehalten werden. Ja Aristoteles nennt gleich nachher die vier Haupttugenden (Weis- heit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Mäfsigung) als unentbehrlich zur Glück- seligkeit; an einer andern Stelle (I, 6, 7) werden Vergnügen, Schönheit, Tugend, Glückseligkeit gleichmäfsig als Güter bezeichnet, also keiner die- ser Begriffe allumfassend und allbeherrschend hingestellt; endlich sagt er (Magn. Moral. 1,4): glücklich leben heifst gut leben, und gut leben heifst tu- gendhaft leben. — Wie man aber dies und ähnliches stellen und deuten möge, so viel steht fest: Aristoteles hielt eine Versöhnung der Kunst und Sittlich- keit für möglich, wirklich, nothwendig. Die Ideen des Guten und Schönen behalten ihm ihr eigenes, eigenthümliches Wesen, keine soll die andere ver- . EG . . nichten, oder auch nur unbedingt beherrschen; wohl aber findet zwischen ihnen stete Wechselwirkung und harmonische Zusammenwirkung statt. In 5 5 ähnlichem Sinne mufs man auch die Aussprüche des Horaz verstehn: ut über die Poetik des Aristoteles, 4147 prodesse volunt aut delectare poelae, und: omne tulit punctum quw miscuit utle dulei (‘). Unter den Neuern vertheidigt Schiller, fast mit zu grofsem Vor- walten dieses Bestandtheils, die sittliche Wirksamkeit der dramatischen Kunst (Werke II, 392), und Lessing sagt (Dramat. XXV, 198): ‚,Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst bewei- sen muls; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter giebt, die selbst daran zweifeln.” In der neuesten Zeit ist jedoch von einigen Seiten her behauptet worden: nur aus einer falschen Sittenlehre und Philosophie könne eine Ver- ehrung der dramatischen Dichtkunst und des Schauspiels hervorgehn; nach dem höchsten, dem christlichen Standpunkte, müsse man beides verwerfen. Wäre diese Behauptung richtig, so fiele die Poetik des Aristoteles allerdings in ihren wesentlichsten Theilen zu Boden. Während der ersten Jahrhunderte waren die Christen ohne Zweifel den Schauspielen feindlich gesinnt, jedoch aus Gesichtspunkten, die fast gar keine Anwendung mehr leiden. Während des Mittelalters verschwand die weltliche Schauspielkunst ganz, und die Mysterien hatten einen so verschie- denen Boden und Zweck, dafs man von hier aus weder für ein in den Kirchen zu gründendes geistliches Drama, noch für eine Darstellung des Heiligen auf unserer weltlichen Bühne etwas Erhebliches folgern kann. Selbst das Wohl- gemeinteste war damals gewifs höchst mangelhaft, und erbaute wohl weni- ger, als es zum Spotte reizte. In den Esels- und Narrenfesten brach dieser mehr denn lustig, er brach frech hervor; und wie die Kirche sich mit Recht dagegen erklärte, ist auch seitens der Kunst kein Grund vorhanden, die Ent- wickelung des Lustspiels auf ähnlichem Wege zu versuchen. Als sich die dramatische Kunst im sechzehnten Jahrhunderte mit ver- jüngter Kraft emporhob, und die Reformation von der religiösen Seite her alle Gemüther in Bewegung setzte, kam es zu neuen Erörterungen über das Wechselverhältnifs der Bühne und des Christenthums. Am lebhaftesten er- klärten sich innerhalb der katholischen Kirche die Jansenisten wider das Schauspiel, und wenn man auch nicht die lose Sittenlehre mancher Jesuiten über die ihrige hinaufsetzt, so möchte doch der katholischen Kirche das ver- ständige und gemäfsigte Urtheil des heiligen Thomas von Aquino mehr gel- (‘) Horat. ars poet. 333, 343. 148 vov RAUMER ten, als die leidenschaftlichen Angriffe einiger Jansenisten. Eine Aufzählung dessen was Puritaner, Independenten, Levellers gegen das Schauspiel gesagt haben, kann, willkürlich aus dem Zusammenhange gerissen und künstlich geordnet, dem Unkundigen als Wahrheit und sittliches Bestreben erscheinen; die zweite, fehlende Hälfte der Darstellung zeigt aber jene auch als Bilder- stürmer, Zerstörer von Kirchen und Klöstern, als Feinde der bürgerlichen Ordnung, und nicht Wenige, in ihren Predigten wie in ihren Werken, als arge Heuchler und sündige Schauspieler. Eben so lassen sich Rousseau’s Einwendungen gegen die drama- tische Kunst widerlegen; auch blieb die angeblich so humane Philosophie jener Zeit hiebei nicht stehn, sondern endete folgerecht mit einer Verwer- fung aller Bildung und der Einladung zu dem uranfänglichen Naturstande zurückzukehren, das hiefs Manchem, mit den Thieren in den Wäldern um- herzulaufen. Stellen wir aber die Frage allgemeiner, nämlich dahin: giebt es eine christliche Kunst, und verträgt sich das Christenthum mit der Kunst? so sollten die Eiferer, welche kurzweg mit Nein antworten, bedenken, dafs sie die muhamedanische Ansicht vertheidigen, mit der Kunst folgerecht auch die Wissenschaft, wenigstens ihren Haupttheilen nach, verwerfen, oder als unnütz bezeichnen, und so das Christenthum in eine Religion der Rohheit und Barbarei verwandeln müssen. Berichtigt man jene Behauptung dahin: einige Künste seien mit dem Christenthume verträglich, andere dagegen verwerflich; so entgegnen wir: alle Künste haben eine gleichartige, wesentliche Grundlage und Natur, wes- halb sie eben Künste sind; und das Christenthum mufs entweder mit diesem Wesentlichen in keinem Widerspruche stehn, und dann allen Künsten die Aufnahme verstatten, oder das Wesentliche verdammen, was wieder in die erste barbarische Ansicht zurückwürfe. — Wird hierauf geantwortet:, einige Künste sind der Ausartung mehr, andere weniger unterworfen, so entgegnen wir: das mehr oder weniger giebt keinen Grund unbedingter Billigung oder Mifsbilligung; denn, um der scheinbar frömmsten zu erwäh- nen, es giebt auch eine liederliche Malerei und eine nichtswürdige Musik. Endlich müfste das Christenthum die, einer Reinigung am meisten bedür- fenden Künste, nicht von sich weisen, sondern am eifrigsten unterstützen und vom Verderben zu retten suchen. Denn darüber ist kein Ziteifel, dafs über die Poetik des Aristoteles. 149 die heutige Kunst in vielen Stücken eine andere als die heidnische sein müsse, und keine sich der christlichen Verklärung entziehen dürfe. Soviel zur Berichtigung jenes angeblich christlichen höchsten Stand- punktes; anderwärts haben wir den nähern Beweis geführt, dafs wer die Schauspielkunst verdammt, das Drama zugleich mit verdammt, und dafs wer dieses wagt, nothwendig die ganze Dichtkunst als Abweg und Ausartung bezeichnen mufs. Doch versteht sich von selbst, dafs es leider wahrhafte Ausartungen der Dichtkunst und insbesondere der dramatischen giebt, welche aus sittlichem wie ästhetischem Standpunkte nachdrücklichst zu bekämpfen, eine Pflicht und ein Verdienst ist. VIM. Über Freiheit und Nothwendigkeit, Schicksal und Vorsehung. Es ist nicht meine Absicht, über diese schwierigen Begriffe tiefere Untersuchungen anzustellen, sondern nur auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam zu machen: dafs während mehre Neuere den Kampf zwischen Freiheit und Nothwendigkeit als den wesentlichen Inhalt des Trauerspiels bezeichnen, und unter Schicksalstragödie vorzugsweie die griechische ver- stehen, Aristoteles jene Worte und Begriffe in seiner Definition des Trauer- spiels gar nicht erwähnt hat, ja in der ganzen Poetik kaum eine Stelle ist, die darauf hingedeutet werden könnte. Wollte man nämlioh (und dies wäre wohl der einzig mögliche Versuch) die Worte %Scs und raScs in Gegensatz bringen, und unter jenem alles verstehn, was der Mensch frei aus sich er- zeugt, unter diesem alles, was ihm widerfährt; so würde doch diese herbei- gekünstelte Freiheit und Nothwendigkeit unter dem allgemeinern, wider- sprechenden Sprachgebrauch wieder verschwinden, oder doch auf keinen Fall darzuthun sein, dafs Aristoteles sich die Sache so gedacht, oder irgend eine wichtige Folge daran gereiht habe. Eher liefse sich, ohne Beziehung auf Freiheit und Nothwendigkeit, ein allgemeiner Gegensatz zwischen dievoe und es, zwischen Geist und Herz aufzeigen, indem Aristoteles sagt (VI, 7.): medurev airıa duw av mowEewv eivaı, Ötavaa xal 990. Hal zara raira zul TUyYd- vousı zal dmoruyy,avousi mavres, was man dann übersetzen müfste: es giebt zwei Ursachen der Handlungen, Geist und Herz, und durch beide erreicht oder verfehlt man alles. 150 von RAumeEr Gewifs würde Aristoteles widersprechen, wenn man die Begriffe von Freiheit und Nothwendigkeit aus einem anderen Gebiete ganz unbekleidet in die Kunst einführen, oder jene der Tragödie, diese der Epopee zuweisen wollte. Sie erscheinen dann als dei ex machina, als maschinenartige todte Mittel und Hebel, so vornehm sie sich übrigens auch anstellen mögen. Wir haben in unsern Tagen nur zu viel solcher Tragödien gesehn, wo die Räth- sel der Freiheit und Nothwendigkeit und die Geheimnisse der Weltregierung wie durch eine blofse Formel gelöset werden sollen, die aber so weit von ächten Kunstwerken entfernt sind, als eine trockene Formel von lebendiger Schönheit. Statt dafs manche vermittelst der Freiheit und Nothwendigkeit alles ins Reine und Feine zu bringen wähnen, thäte diesen Begriffen eine recht tüchtige Reinigung selbst noth: denn gewöhnlich laufen beide nach falscher Betrachtungsweise auf ein Gemeinsames, die blofse Willkür hinaus, nur dafs diese bei der sogenannten Freiheit vom Einzelnen, bei der angeblichen Noth- wendigkeit von höhern Mächten ausgeht. Wie darf man ferner den unbe- dingten Sieg des einen Begriffs über den andern als letzten Zweck der Tra- gödie aufstellen, ohne damit deutlicher oder verdeckter zu erklären: die Freiheit sei sträflicher Aufruhr gegen das Nothwendige, oder dies eine un- verständige Beschränkung der Freiheit. Giebt man nun gar dem Nothwen- digen das Schicksal, als nahe damit verwandt, zu Hülfe, so mufs allerdings die Freiheit jedesmal gar Jämmerlich unterliegen, und das letzte und höchste Ergebnifs alles Tragirens wäre ein naseweises Raisonniren über die Dumm- heit und Ungerechtigkeit der Weltregierung. Nicht minder irren diejenigen, welche um jener, blofs abstrakt aufgefafster Begriffe willen, das aus der Tra- gödie ganz verbannen wollen, was der gemeine Sprachgebrauch zufällig nennt. Manche der herrlichsten Trauerspiele würden auf diesem Wege zerstört wer- den, z. B. Oedip und Romeo und Julie. Von andern ist erwiesen worden, dafs sich die Alten unter dem Schick- sale keine blofs willkürliche, blinde, äufsere Gewalt dachten (!), und noch weniger sie vorzugsweise in der Tragödie zum Zerhauen des Knotens ansie- (‘) Vor allen siehe Blümners vortreffliche Abhandlung. über die Idee des Schick- sals u. s. w. — Unter dem hehren Schicksale war auf gleiche Weise das Erhaltende befafst, wie das Zerstörende. Schleiermacher Reden über die Religion S.111. über die Poetik des Aristoteles. 151 delten. Wäre dies aber der Fall, so liefse es sich gar nicht rechtfertigen, wenn Christen, welche sich zum Begriffe der Vorsehung erhoben haben, in so niedrige Ansichten und ein so heidnisches Verfahren zurückfielen. Kann denn aber (wir dürfen dies wichtige Bedenken nicht verschweigen) noch ir- gend eine Tragödie bei Annahme der christlichen Lehre von der Vorsehung geschrieben, ja nur als möglich gedacht werden ? Müfsten wir diese Frage verneinen, wie es manche Schicksalsdichter zu thun scheinen, so würden dadurch die Angriffe übertriebener Puritaner auf die Kunst, ein neues Gewicht erlangen: um so nöthiger thut eine ernst- liche Prüfung. Zuvörderst liegt in dem Begriffe von Christenthum und Vor- sehung keinesweges der Sinn und die Forderung, dafs es kein Übel, keinen Schmerz, kein Leiden mehr gebe, sondern dies mit dem Guten, der Freude und dem Glück zu einem Mittleren, oder sonst wie, zusammenfalle. Dies würde die christliche, und die ihr wesentlich entgegenstehende, den Knoten auch nur zerhauende, stoische Weltansicht gleich setzen. Für den Christen bleiben Krankheit, Verlust geliebter Freunde und Verwandten, Sturz des Vaterlandes und dergleichen, natürliche und gerechte Gründe zu Schmerz und Trauer, zu Furcht und Mitleid; nur ist ihm durch seine Religion ein neuer Trost, eine höhere Katharsis und Reinigung offenbar worden. Trauer- spiele nun, welche dieser höhern Reinigung widersprechen und die höchste Lösung auf einer Stufe und in einer Weltansicht suchen, die noch unter der künstlerischen der Heiden steht, sind von religiösem und ästhetischem Stand- punkte gleich verwerflich; andererseits aber auch diejenigen Versuche eben- falls als mifslungen zu bezeichnen, welche die Kunst ganz in Theologie ver- wandeln und die Dogmatik auf der Bühne durch lehrreiche Beispiele erwei- sen wollen. So lange also noch Freude und Leid in der Christenheit statt finden, so lange die Lehre von der göttlichen Vorsehung, keineswegs menschliche Freiheit und den Gegensatz von gut und böse vertilgt, oder blinden Mechanismus und muhamedanische Vorherbestimmung an ihre Stelle setzt, können Christen Trauerspiele schreihen, in ihnen handeln, sie dar- stellen und darstellen sehn, so dafs nur die Frage übrig bliebe: ob ein ganz vollkommener Christ zum Helden einer Tragödie tauge? Wir könnten diese Frage mit der Behauptung abweisen: dafs es keinen solchen, wohl aber eine sehr reiche Auswahl unter den unvollkommenen Christen gebe; wollen aber, statt hierüber in nähere Untersuchungen einzugehn, nur noch die Bemerkung 152 von RAuMmER beifügen: dafs Aristoteles den Gegensatz einer Schicksalstragödie und einer Tragödie der Leidenschaften aus mehren Gründen, und schon deshalb gar nicht zugeben würde, weil 1) in der Leidenschaft (als Naturrichtung) ja auch ein Schicksal liegt, und die Schickungen wieder Einflufs auf die Leidenschaf- ten haben; 2) weil alle die untergeordneten Wörter und Begriffe (Moira, Nemesis, Adrastea, Aisa, die Parzen u. s. w.) bei ihm in dem höheren Be- griffe der Gottheit zusammengefafst werden; 3) behauptet Aristoteles (Stob. I, p. 206, und Plutarch de placitis Philos. I, 29): das Schicksal (einagyıevn) sei keineswegs eine unbedingte Ursach, sondern nur eine Art derselben, zusam- mentreffend mit dem Nothwendigen. Überhaupt gebe es vier Ursachen aller Ereignisse: Geist, Natur, Nothwendigkeit und Zufall oder Glück (rin); deren jede sich zweifach verhalte, anders nämlich zu menschlichen Angele- genheiten, anders zu den übrigen Dingen. Hienach mifsbilligt er also ohne Zweifel und mit grofsem Rechte, wenn in Trauerspielen statt jener vier Ur- sachen eine allein herrscht, und obenein mit den Menschen so in Verbin- dung gesetzt wird, als wären sie geist- und willenlos einer fremden Willkür und sittenlosen Naturgewalt preis gegeben. IX. Von den drei Einheiten. Die Einheit des Orts und der Zeit hat Aristoteles, wie Lessing und Schlegel einleuchtend erwiesen, weder theoretisch unbedingt vorgeschrie- ben, noch die stete Beobachtung dieser Regel an dem griechischen Drama nachweisen wollen oder nachweisen können. Und weniger als die Griechen, deren Chor gewöhnlich auf der Bühne blieb, hätten wir, nach Einführung der Zwischenakte, Grund darauf streng zu halten. Ja diese Zwischenakte, und Schweigen oder Musik während derselben, vermitteln den Übergang wohl noch besser als mancher euripideische Chor, welcher einen bestimmten, aber nicht zur Sache gehörigen Inhalt hat. Es wäre indefs Pedanterei, nach Home’s Vorschlag genau fünf Veränderungen des Orts und der Zeit nach den fünf Akten zu verstatten, jeden Wechsel oder Sprung während dersel- ben hingegen zu verdammen, Nur dann hat man hiezu ein Recht, wenn Mangel an Einheit des Orts und der Zeit, auch die innere, höhere Einheit der Handlung aufhebt. Entstehen denn aber nicht eben so oft die gröbsten Unschicklichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten aus dem thörichten Festhalten über die Poetik des Aristoteles. 153 des Orts und der Zeit? Es ist unbegreiflich, wie man zugeben konnte: im Schauspielhause stecke eine Königsstadt, die Schauspieler seien Könige und Königinnen, drei Stunden seien 24 Stunden u. s. w., und dann doch eine schlechterdings willkürliche Gränze für Ort, Zeit, Glaube, Phantasie u. dgl. erfand und mit der unduldsamsten Strenge darauf hielt. Nach die- sem System müfste eine Tragödie, die im Winter bei kurzen Tagen spielt, kürzer sein als eine, die in den Sommer fällt; oder wäre die Scene in Spitz- bergen, so dürfte jene ein Vierteljahr lang dauern! Nichts wäre schrecklicher und unpoetischer, als wenn die Darstellungen auf der Bühne genau die Zeit füllten, welche die wirklichen Begebenheiten erforderten; oder wenn wir nur das erführen, was an einem Orte in 12 oder 24 Stunden geschah. Die- jenige Zeit, sagt deshalb Aristoteles (VII, 12), ist die angemessene, binnen welcher der Übergang aus Glück zu Unglück, und aus Unglück zu Glück statt finden kann; und diese Regel dient gleichmäfsig zur Feststellung des Um- fangs der Tragödie überhaupt, und des Orts oder der Orte, wo sie spielt. Während die Franzosen den einfachen Aristoteles verkünstelten, mifs- deuteten und sich Fesseln anlegten, die er nicht geschmiedet hatte, über- traten sie mit der gröfsten Willkür seine deutlichsten Vorschriften über die Handlung. Nicht blofs Deutsche klagen sie deshalb an, sondern selbst Rousseau, indem ersagt: Auf dem französischen Theater giebt es eine Menge Reden und wenig Handlung. Gemeiniglich besteht das Ganze blofs aus schö- nen, zierlich gesetzten und hoch tönenden Dialogen, wo man gleich sieht, dafs die erste Sorge jeder spielenden Person immer darin besteht, vor den andern hervorzuglänzen. Fast alles wird in allgemeinen Sätzen ausgedrückt, und in so heftiger Bewegung sie immer sind, denken sie doch mehr an die Zuschauer als an sich selbst. Eine Sentenz kostet ihnen weniger als eine Empfindung. Wenn man die Stücke des Racine und Moliere ausnimmt, so ist das Ich vom französischen Theater so sorgfältig verbannt, als aus den Schriften des Port-royal: und die menschlichen Leidenschaften reden auf demselben, mit aller Bescheidenheit der christlichen Demuth, niemals anders als durch man. Auch die lebhaftesten Situationen können einen Schrift- steller nicht so weit bringen, dafs er eine schöne Anwendung der Redens- arten, oder den Schauspieler, dafs er eine artige Stellung der spielenden Personen vergäfse: und wenn die Verzweiflung dem letzten den Dolch ins Herz stöfst, so ist es ihm nich! genug, wie Polyxene, mit Anstand zu fallen; Histor, philolog, Klasse 1823. U 154 von RAUMER er fällt gar nicht, der Anstand hält ihn auch nach seinem Tode noch auf- recht, und der, welcher erst gestorben ist, geht den Augenblick nachher auf seinen Füfsen davon (!). Je weniger Nachdruck Aristoteles bei Feststellung des Wesens der Tragödie auf Raum und Zeit legt, desto mehr auf die Einheit der Handlung. Was diese sei, darüber läfst sich streiten, obgleich die Worte des Philoso- phen wohl deutlich genug ergeben, was er sich darunter dachte. Die Hand- lung, sagt er, mufs eine ganze, in sich geschlossene sein. Ein Ganzes ist aber, was Anfang, Mitte und Ende hat. Anfang nenne ich, was nicht noth- wendig nach einem Andern ist, nach welchem aber ein Anderes sein und werden kann. Ende hingegen ist, was nothwendig oder gewöhnlich nach einem Andern ist, dem aber nicht ein Anderes folgt. Mitte endlich heifst, was nach einem Andern ist, auf das ein Anderes folgt. Als verwandt und erläuterud erwähnen wir noch die Forderung des Aristoteles: ein Satz, eine Periode (Rhet.IlI, 9, 3) solle Anfang und Ende in und durch sich selbst haben. : Einige behaupten nun, mit Bezug auf jene erste Stelle: der Anfang der Tragödie beruhe auf der Freiheit, sie schliefse mit der Nothwendigkeit; was uns jedoch in jenen Worten nicht zu liegen scheint, und auch schwer- lich an den Tragödien selbst erweislich sein dürfte. Zugegeben, dafs in dem Begriffe des Anfangs auch ein Anfangender liegt, der eine Reihe von Hand- lungen aus sich beginnen könne; so hat Aristoteles, wie auch eine andere Stelle (XVII, 13) erweiset, doch nicht an ein völliges Abreifsen aller frü- hern und aller Causalverhältnisse gedacht, was für den tragischen Helden schon insofern unmöglich ist, als man ihn zu Anfang doch gleich in gewisse Verhältnisse, Umgebungen u. dgl. hinstellen mufs. Diese sollen aber, indem man sie setzt, auch erklärt sein, ohne dafs man zu ihrer Aufhellung lang und breit von einem Frühern reden müfste, was nichts anders wäre, als ein Anfang vor dem Anfange. Jene Verhältnisse, so wie viele, die im Laufe des Stücks hervortreten, erscheinen als gegeben, als nothwendig, und sehr häufig FR) offenbart sich die menschliche Freiheit weniger im Anfange, als in den Ent- schlüssen zu Ende des Trauerspiels. (') Home’s Grundsätze der Kritik 111, 255. über die Poetik des Aristoteles. 155 Ohne Mitte, ohne Entwickelung, Steigerung, Culmination, fehlte diesem die Gröfse und Ausdehnung, welche zu jedem dramatischen Kunst- werke unentbehrlich ist. Das Ende ist keineswegs ein unbedingtes, dem gar kein nach folgen könnte, sondern nur in dem Sinne, wie der Anfang ein Anfang war; das heifst: dieser ist es wesentlich in Beziehung auf das Fol- gende, und das Ende ist wesentlich ein Ende, in Bezug auf das Vorherge- hende. So sich durch die Mitte hindurch auf einander beziehend, entsteht erst ein Ganzes und löset sich selbständig und abgeschlossen von allem an- dern Frühern, Gleichzeitigen oder Späteren. Dies ist der Fall mit Shak- speare's Heinrichen und Richard I.; jain Calderon’s Firgen del sacrario ist Einheit der Handlung, obgleich das Stück vom 7'” bis zu Ende des 11'* Jahrhunderts spielt. Der Ursprung, der Verlust, das Wiederfinden des Bil- des der heiligen Jungfrau, macht den zusammen gehörigen, nothwendigen Inhalt der drei Akte aus, und die Zeit, welche dazwischen liegt, ist leer, ist in Beziehung arıf das, wovon es sich handelt, gar richt vorhanden. Sehr irrig hat man ferner die Einheit der Handlung übertrieben dahin erklärt, dafs nur von einer einzelnen Handlung eines einzelnen Men- schen die Rede sein solle. Abgesehn von dem Äufsersten, wo diese Erklä- rung das ganze Drama aufheben würde, hat sie doch zu falschen Bestrebun- gen und falschen Würdigungen Veranlassung gegeben, z. B. dafs das ganze Interesse schlechterdings nur auf eine Person hinzuleiten, und alle andern ihr unbedingt unterzuordnen seien; dafs ein zwiefaches Interesse die Wir- kung nie verdoppele, sondern allemal vermindere; dafs mehre einzelne Hand- lungen, ja ganze Reihen von Handlungen, nicht (wie die verschiedenen Or- gane, und Systeme der Organe im menschlichen Leibe) ineinander wirken, und bei aller Verschiedenheit doch die höhere Einheit erzeugen und darstel- len könnten. Nach dieser Ansicht hätte also, um das Interesse ganz für Agamemnon zu gewinnen, Klytemnestra ihn ohne Bezug auf den Tod Iphi- genia’s erschlagen sollen, oder Orest die Klytemnestra ohne Bezug auf Aga- memnon; oder einen der feindlichen Brüder vor Theben hätte der Dichter als Scheusal, den zweiten als tadelloses Tugendbild darstellen, oder Kreon als blofsen Tyrannen der Antigone gegenüberstellen müssen. Eben so falsch wäre es, dafs Lear und Cordelia, Julie und Romeo, Alexander und Darius, Wallenstein und Max unsere Theilnahme gleichmäfsig in Anspruch nehmen. U2 156 von RAuUmMERr Freilich, wenn verschiedene Fabeln und Reihen von Handlungen ganz unverbunden nebeneinander herlaufen, kann von einer Einheit der Hand- lung nicht mehr die Rede sein; aber in welcher neuern, angeblich aristote- lisch zugeschnittenen Tragödie wären die Mitspielenden, die Verliebten, die Vertrauten, wohl in die Haupthandlung so thätig, handelnd und unlösbar verwebt und zu einer ächten Einheit erhoben, wie alle in der Doppelfabel des Kaufmanns von Venedig und des Lear? Diese Kunstwerke, nicht jene Versuche, bestehen vor der Kritik des Aristoteles, welcher den zusammen- gesetzten Fabeln (uuScvs) überhaupt den Vorzug vor den einfachen einräumt. Zwar haben diese Worte bei ihm, zunächst noch eine andere Beziehung (auf Peripetie und Anagnorisis), doch kann man sie analog auch für unsere Be- hauptung anwenden. Nur dann müfsten wir, laut Aristoteles, jene Kunst- werke mangelhaft nennen, wenn einzelne Theile (VIII, 4) sich, unbeschadet des Ganzen, herausnehmen und zur Seite werfen liefsen. Weit besser wäre es überhaupt gewesen, man hätte das, Mifsverständ- nissen ausgesetzte Wort, Einheit, bei der Lehre von den drei Einheiten nicht ausschliefsend hervorgehoben; sondern das Wort Synthesis, dessen sich Aristoteles zu genauerer Erklärung in denselben Kapiteln bedient, mehr berücksichtigt. Dann würde sich ergeben haben, dafs er Einheit in der Mannigfaltigkeit, und Mannigfaltigkeit in der Einheit fordert, keine nume- rische, sondern eine organische Einheit, welche aus Verknüpfung, Zusam- mensetzung erst entsteht und wahrhaft lebendig und künstlerisch ist, wäh- rend jener Zahlbegriff der Einheit viel zu negativ und bestimmungslos er- scheint, als dals er auf diesem Boden allein herrschen dürfte. X. Über das Verhältnils der Dichtkunst zur Geschichte. Das neunte Kapitel, welches hievon handelt, scheint mir eins der schwierigsten in der ganzen Poetik zu sein. Aristoteles sagt daselbst im We- sentlichen: nicht die Darstellung dessen, was geschah, ist die Aufgabe des Dichters; sondern dessen, wie es hätte geschehen können, und des Mög- lichen nach der Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit. Daher ist auch die Dichtkunst philosophischer und bedeutender (srovdaısregev) als die Ge- schichte. Denn jene spricht mehr vom Ganzen, diese vom Einzelnen. Das Ganze, das Allgemeine aber ist, was und wie jemand nach Wahrscheinlich- über die Poetik des Aristoteles. 157 keit reden und handeln würde (und dies bezweckt die Poesie, indem sie Na- men (venere) beilegt); das Einzelne und Besondere aber ist, was Alkibiades that oder erlitt. — Es sei erlaubt, diesem Texte einige Bemerkungen beizu- fügen. 1. Wendet man den ersten Satz so: die Dichtkunst soll darstellen, wie etwas nach Wahrscheinlichkeit und Nothwendigkeit hätte geschehn können; so wäre alle Geschichte Poesie, denn die Thatsachen konnten nicht blofs ge- schehn, sie sind wirklich geschehn. Aristoteles will also ohne Zweifel sagen: der Dichter wird nicht blofs auf das wirklich Geschehene angewiesen, son- dern er darf eben erdichten, erschaffen. Nun ist aber das Unwahre als solches keinesweges Poesie, und eben so wenig liegt diese in dem blofsen Können und der Möglichkeit, dem Sein und der Wirklichkeit gegenüber; vielmehr erscheint der Kreis der Dichtung durch die Gesetze der Wahr- scheinlichkeit und inneren Nothwendigkeit ebenfalls geregelt und heilsam beschränkt. Ferner ist die Geschichte nicht unpoetisch, weil sie wahr ist, sondern oft unendlich poetischer als die willkürlichen Erfindungen schwa- cher Dichter; und nmgekehrt würde und wäre die ächte Dichtung dadurch nicht undichterisch, weil, oder wenn sie etwa geschähe. Der Gegensatz zwischen Geschichte und Poesie ist also kein unbedingter, weder dem In- halt, noch der Form nach, sofern jener gemeinsam sein kann, und ächte Geschichte die Form eines Kunstwerkes haben soll. 2) Wenn Aristoteles sagt: die Dichtkunst sei dıXoTopwregev zul SrEduusregev als die Geschichte, so ist das erste Wort leicht übersetzt, aber nicht leicht gedeutet, das zweite schwierig in beiden Beziehungen. Wie oben (S.17.) finden wir auch hier bei den Übersetzern die mannigfachsten Ausdrücke und Wendungen, z.B. melior, operosior, gravior, diligentior, magis studiosa, ex- cellentius, a more excellent thing, plus instructive, lehrreicher, nützlicher, ernster, ernstbetrachtender u. s. w. Dem ganzen Satze giebt Haus eine eigene Wendung, wenn er übersetzt: Z/ltaque propius ad Philosophiam poesis accedit, studiumque reqwrit impensius quam Historia, desgleichen Dacier, wenn er sagt: la Poesie est plus grave et plus morale que U’Histoire, und Buhle: die Poesie ist mehr ein Werk des Genies und des Studiums, als die Geschichte. Gehn wir zuvörderst auf das erste Beiwort zurück, so nennt Aristote- les unseres Erachtens die Dichtkunst philosophischer als die Geschichte, 158 von RAUMER weil er ihr zugesteht, ja auferlegt, dafs sie aus der Masse des Gegebenen auswähle. Was aber kann sie anders auswählen, als das, worin sich die Weisheit, die Regel am meisten offenbart; was kann sie zur Seite werfen, als was nichts lehrt, woraus nichts folgt und was in seinem blofs zufälligen Sein werthlos und bedeutungslos erscheint. Gegen diese Schlufsfolge läfst sich einwenden: Die Geschichte überwiegt durch die Kraft der Wahrheit ihres Inhalts alle dichterischen Erfindungen, sie ist eben deshalb Iehrreicher und philoso- phischer. So oft dieser scheinbare Einwand auch ausgesprochen worden ist, können wir ihm doch kein grofses Gewicht beilegen. Denn das Vereinzelte, Zufällige, Bedeutungslose giebt sich in der Geschicbte so gut kund, als in der Dichtkunst; es hat im höhern Sinn dort so wenig Wahrheit als hier; und umgekehrt tragen die ächten Schöpfungen der Poesie in diesem höhern Sinne vollkommen dieselbe Kraft der Wahrheit in sich. Man kann, ohne den Idealismus auf eine unhaltbare Spitze zu treiben, doch behaupten: aus des Dichters Hand haben Achilles, Agamemnon, Odysseus erst das rechte Dasein erhalten, und Lear und Hamlet, Romeo und Julia sind wahrer und wirklicher als unzählige Könige, die nach chronologischen Tabellen hier oder dort herrschten, und als unzählige junge Leute, die sich liebten, hei- ratheten und wieder scheiden liefsen, oder aus langer Weile starben. Daher sagt auch der Dichter mit vollem Rechte: Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte, Ich weils es, sie sind ewig, denn sie sind. Wichtiger scheint uns ein zweiter Einwand: dafs nämlich der Ge- schichte, gleichwie der Poesie, das Geschäft des Auswählens und Verwerfens obliegt, und derjenige garnicht den Namen eines Geschichtschreibers verdient, welcher alles Thatsachliche, alles Geschehene ohne Ausnahme in seine Er- zählung aufnehmen will. Es dürften also, bei aller sonstigen Verschieden- heit, Geschichte und Dichtkunst hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Philoso- phie nicht einander unterzuordnen, sondern nebeneinander zu stellen sein. Was nun das zweite Beiwort, das sreudueregev betrifft, so sind einige Übersetzungen und Deutungen schwerlich zu rechtfertigen. So ist z.B. das melior, besser, viel zu allgemein gehalten; das gravior, schwerer, un- zureichend, sofern jedem sein eigenthümlicher Beruf leicht wird, und der fremde schwer erscheint; das ‚,ernster und ernstbetrachtender” nicht von über die Poetik des Aristoteles. 159 der gesammten Dichtkunst, z.B. nicht vom Lustspiel auszusagen. Eben so wenig dürfte sich erweisen lassen, dafs zur Dichtkunst ein gröfseres Studium gehöre als zur Geschichte. In dieser Bedrängnifs kommt uns eine andere Stelle der Poetik zu Hülfe (XXIII, 2), des Sinnes: der Geschichtschreiber habe nicht nöthig, wie der Dichter, alles auf eine innere Einheit zu beziehen und diese durch seine Darstellung zu offenbaren; sondern er reihe alles was und wie es Einem oder Mehren widerfahren, nach der Gleichzeitigkeit oder nach dem Faden der Zeit aneinander. — Offenbar denkt Aristoteles hier blofs an Chronisten und Annalisten, an eine Behandlungsweise, welche gar nicht Anspruch machen kann, ein Kunstwerk zu liefern; und von diesem Standpunkte aus läfst sich das orsudausregev, bedeutender, würdiger, künst- lerischer übersetzen. Fassen wir aber die Kunst der Geschichtschreibung in ihrer höchsten Richtung und nach den Meisterwerken auf, welche sie zu Stande gebracht hat, so ist auch hier kein Grund vorhanden, sie schlecht- hin der Dichtkunst unterzuordnen, vielmehr möchte das sreudueregev, als operosior, mühsamer, auf ihre Seite fallen, weil dem Geschichtschreiber bei derselben Aufgabe ein Kunstwerk zu liefern, durch das Gegebene viel mehr Fesseln angelegt sind, als dem Dichter. Wie kam es aber, könnte man fragen, dafs Aristoteles dem die gröfs- ten hellenischen Geschichtswerke vorlagen, jene Behauptungen aufstellte? Ungeachtet aller Bewunderung des Herodot und Thukydides dürfte man vielleicht antworten: dafs bei jenem die Beziehung auf eine Einheit, zum Vereinigen seiner grolsen Mannigfaltigkeit, allerdings weniger heraustrete, und des letzten Abtheilungen nach Sommern und Wintern dem äufsern Fa- den der Zeit bisweilen gröfseres Gewicht beizulegen scheinen, als dem in- nern Zusammenhange der Dinge. Ein Gegenstand der Untersuchung wäre übrigens noch: ob durch den Ablauf und die Belehrungen zweier Jahrtausende, Geschichte oder Dicht- kunst in Bezug auf die Philosophie mehr verloren oder gewonnen habe und welche von beiden, mit der antiken Ansicht, Bildung und Behandlung ver- glichen, philosophischer geworden sei. Gewils bietet die Universalgeschichte, welche itzt unzählige Thatsachen und Entwickelungsstufen vor sich hat, mehr Veranlassung zu allgemeinen, aus dem Einzelnen hervorgegangenen Ergeb- nissen, als zu den Zeiten der Griechen und Römer; mit gröfserer Sicherheit bieten sich der Geschichtschreiber und der Philosoph die Hand, obwohl es 160 von RAUMER sehr irrig wäre, wenn jener über das Allgemeine und Abstrakte, die reine Auffassung der Thatsache und die Freude an derselben verlöre. — Weniger scheint die Diehtkunst durch den längern Ablauf der Zeit für philosophische Beobachtungen zu gewinnen, da sie immer nur das in sich abgeschlossene Einzelne herausgreift, bildet nnd schmückt; und doch möchte kein neueres historisches Werk eine solche Tiefe der Philosophie in sich schliefsen als Shakspear’s Hamlet, oder Tieck’s Cevennen. Verwerflich ist auf jeden Fall die Forderung, dafs sich Dichter und Geschichtschreiber unbedingt einer herrschenden philosophischen Schule unterordnen und ihre eigene Natur gleichsam opfern sollen. In solcher Schule (z.B. Wolf’s, Kant’s, Fichte’s) erzeugte Gedichte sind todt zur Welt gekommen, und eben so wenig kann umgekehrt die poetische Mode des Tages (Gottsched, Crebillon, Wieland) dem Philosophen schlechthin Maafs und Ziel vorschreiben. 3) Kehren wir itzt wieder zu der oben mitgetheilten Stelle des Aristote- les zurück, so zeigt ihre zweite Hälfte nicht mindere Schwierigkeiten als die erste und hat, wie mehre Ausleger, so insbesondere Lessing beschäftigt (Dramat. AXV, 286). Bleiben wir, ohne alle Meinungen aufzuführen und zu beurtheilen, zunächst bei den Worten stehn, so kommt alles darauf an, was wir unter ra zaSorev und r« zaS' Exarroy verstehn müssen. Die Poesie, übersetzt Lessing, geht mehr auf das Allgemeine, und die Geschichte auf das Besondere. Was ist denn nun aber das Allgemeine und das Besondere? Das Allgemeine, übersetzt Lessing weiter, aber ist, wie so oder so ein Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit sprechen würde; das Besondere hingegen ist, was Alcibiades gethan, oder gelitien hat. Eine andere Stelle der Poetik (XVI, 5), wo von dem #«SeAcv wieder die Rede ist, giebt wenig Licht, weil daselbst nur von Anordnung der tragischen Fa- ‚bel im Allgemeinen, im Gegensatz der Ausarbeitung und Behandlung der Episoden u. s. w. gesprochen wird. Gesellen wir zu der Übersetzung das Allgemeine, das Besondere,” erläuternd die Worte hinzu, ‚‚das Ganze, das Einzelne,’’ so hilft auch dies nicht viel weiter: denn wie kann die Dicht- kunst des Einzelnen und Besondern entbehren, oder wo führte dies Ein- zelne und Besondere, historisch geordnet, nicht zum Ganzen und Allge- meinen ? Lessing erklärt die Sache so: der Dichter führt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Männer über die Poetik des Aristoteles. 461 bekannt zu machen, nicht um das Gedächtnifs derselben zu erneuern, son- dern um uns mit solchen Begegnissen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müssen.” S.305. — Wir geste- hen, dafs uns diese Ansicht keineswegs genügt. Kann es denn einem Dich- ter einfallen, Brutus und Regulus ohne ihre Schicksale vorzuführen, ohne ihr Gedächtnifs erneuern zu wollen? Ihre Namen wären also nur eine Firma für allgemeine Begriffe, Formen, in welche gar vielerlei eingegossen werden dürfte, sofern es nur eine allgemeine Gattungsähnlichkeit hätte? Dies wi- derspräche durchaus den Grundsätzen des Aristoteles und verwandelte die Individuen, der wahren Dichtkunst zuwider, in blofse Begriffe, um die sich fast zufällig dies und das ansetzte und krystallisirte. Auch wäre solch Ver- fahren durchaus das Gegentheil von dem, was Goethe in der oben mitge- theilten Stelle aus den überwiegendsten Gründen gebot, und was in dem Lustspiele, wie in dem Trauerspiele, allein das rechte Leben, die rechte Theilnahme erwecken kann. Wir sagen: in dem Lustspiele, wie in dem Trauerspiele; denn beide bedürfen ebenmäfsig der Personen, der Indivi- duen, und es ist gleich verkehrt, dort etwa nur den Begriff des Geizes, hier des Heldenmuths u. dgl. auftreten zu lassen, und mit bezeichnenden oder nicht bezeichnenden Namen zu belegen. Das abstrakt Allgemeine ist un- brauchbar für die Dichtkunst, in dem concreten Individuum liegt dagegen das lebendig Allgemeine jedesmal mit verborgen. Schlägt das Allgemeine vereinzelt nach aufsen, dafs man es von der Person ablösen, anderwärts hin- tragen und aufkleben kann, so war nie ein ächter Zusammenhang vorhanden. Solche Früchte sind nicht wahrhaft den Bäumen entwachsen, sondern zu kindischer Weihnachtsfreude mit sehr sichtbaren Fäden angebunden. Lassen wir den Begriff des Allgemeinen, Abstrakten, sofern er durch Wegwerfung des Besondern, des Concreten verneinend wird, ganz fallen, und betrachten wir das zaSorcv als das Allgemeingültige, dem Willkürlichen, Zufälligen gegenüber Stehende, so bekommt die Sache, wie wir glauben, eine bessere und deutlichere Wendung. Die Geschichte mufs, dies will Aristoteles alsdann sagen, das Einzelne, wie es auch erscheine in seiner ein- mal gegebenen Ordnung, Stellung und Zeitfolge, in seiner, die Causalver- bindung oft nicht nachweisenden Zufälligkeit vorführen. Ob einer gesund 5 oder krank war, lange lebte oder früh starb, ob ihm dies oder das wider- Histor. phiolog. Klasse 1828. X 162 von RAUMER fuhr, alles gehört zu den einzelnen Erscheinungen, die kein inneres Band der Nothwendigkeit zeigen, nicht das sind, was im Allgemeinen zusammen- hält und ein Ganzes als solches bildet und offenbart. Die Dichtkunst, und insbesondere die dramatische, bezieht dagegen alles auf ein Ganzes, auf einen Mittelpunkt, läfst alle daneben hervorwuchernden, aber bedeutungs- losen Einzelnheiten fallen, und stellt die Person in ihrer Wesenheit viel lebendiger dar, als wenn sie dieselbe mit ungehörigem Schmucke umhüllte. Sie mufs sogar das geschichtliche Wahre, wenn es als zufällig erscheint (@r3 ToV wurond«reU nal 775 TUyAs), verwerfen, sie darf es für ihre Zwecke umge- stalten. Läge also in dem #«SAou des Aristoteles nicht die Lehre vom Idea- lisiren und dem Ideale auf eine verständigere Weise, als man sie so oft vor- trägt oder anwendet? Das eben ist das höchste Kennzeichen des ächten Dichters, dafs er wahre Individuen zu erschaffen und hinzustellen versteht, wozu allerdings ein mühsames Erforschen der geschichtlichen Einzelnheiten keineswegs aus- reicht. Während nämlich manche Geschichtschreiber auf diesem Wege gar vieles sammeln und übereinander stapeln, fallen ihre Personen doch gar zu oft haltungslos auseinander, wogegen Shakspeare’s Coriolan, Cäsar, seine Heinriche u. s. w. ohne unfruchtbare Gelehrsamkeit, durch die schöpferische Kraft seines Genies, wie durch einen Zauberschlag in höchster Wahrheit auf- gefafst und in unantastbarer Ganzheit und Vollendung dargestellt sind. So hat er das #«SeAov des Aristoteles, und überläfst den Sammlern das z«$ exa- orov. Nicht selten gestaltet sich aber die Sache auch umgekehrt, so dafs der Geschichtschreiber jenes Wesentliche und allgemein Gültige darbietet; der Dichter (besonders in manchen geschichtlichen Romanen) hingegen seine Trefflichkeit dadurch zu beweisen meint, dafs er einen Mischmasch von zu- fälligen Kleinigkeiten aneinanderreiht, und die einfache Wahrheit und Schön- heit durch bunte Schminkpflästerchen aller Art entstellt. Aufähnliche Weise fehlen manche Schauspieler, indem sie mit Vernachlässigung des Wesent- lichen bei der Auffassung eines Charakters, ihn aus lauter kleinen Stückchen und Kunststückchen auferbauen wollen. Ob einer so oder so den Fufs stellt, in die Tasche greift, eine Prise nimmt u. dgl., gilt für den Triumph psycho- logischer Darstellung; während dies oft nur untergeordnetes Talent für Ne- bendinge (z«3 &xarrov) zeigt, Kraft und Begeisterung für das Gröfsere aber fehlt. über die Poetik des Aristoteles, 163 An dieser Stelle müssen wir noch die allgemeinere Frage berühren: ob und wie der Dichter die Geschichte umgestalten dürfe? Durch die That legen viele die Überzeugung dar: es finde hiebei gar keine Beschränkung statt. Aber schrankenlose Ansprüche führen immer in Willkür und Regel- losigkeit, und die vorliegenden beruhen insbesondere auf dem Irrthume, dafs die Geschichte an sich unpoetisch sei, und das Poetische zu ihr erst müsse hinzuerfunden werden. Böte aber die Geschichte wirklich nur so Widerstrebendes, so wäre es besser und bequemer sie ganz bei Seite liegen zu lassen, und lediglich erfundene Stoffe zu behandeln. Dies widerspricht indefs nicht blofs dem Gebrauche des Alterthums und den Rathschlägen des Aristoteles, sondern hat auch so grofse innere Schwierigkeiten, dafs viele Dichter, bei aller Geringschätzung des Geschichtlichen, doch ihre Arbeit lieber daran, als an gar nichts anknüpfen. Wie nun dabei zu verfahren sei, ergiebt sich ganz deutlich und genü- gend aus dem Aristoteles, wenn wir Rücksicht nehmen, erstens auf seine allgemeinen Grundsätze über die dichterische Nachahmung; zweitens auf die eben erläuterte Stelle, und drittens auf eine (XIV, 10-11), wo es heifst: ToÜs EV oliv TageIRHUEVEUS HUScus Ausıy cür Errı, und durev (der Dichter) d& eügl- oxeıv dei, nal reis magadedonevars yarraı zaAws. Wir würden hienach des Aristoteles Ansicht so ausdrücken: es wird dem Dichter leichter ein gutes Trauerspiel zu schreiben und Wirkungen hervorzubringen, wenn er einen Stoff behandelt mit dem die Zuschauer bereits bekannt sind, oder der als ein geschichtlicher eher Glauben verdient, als wenn er reine Erfindungen vorträgt, welche umständlichere Erörterun- gen verlangen und gegen deren innere Wahrscheinlichkeit und Nothwendig- keit sich leicht Zweifel erheben. Die blofse Thatsache als solche ist indefs kein Gegenstand unveränderter Übertragung und Nachahmung; vielmehr mufs diese letzte, sofern sie eine künstlerische ist, Veränderungen daran vornehmen, und zwar verschiedene, nach Maafsgabe jeder Kunst und ihrer eigenthümlichen Natur; anders verfährt also der Maler, anders der Dichter, und wiederum anders für das Heldengedicht, als für das Trauerspiel. In diesem Verändern und Erfinden bei dem Nachahmen (dem sügirzew neben der ulunsıs) und in dem Ausscheiden des Wesentlichen und zum Zweck Führen- den (dem zaScAcv), von dem Zufälligen, Erfolglosen, bewährt sich das Ta- lent des Dichters; er ist und wird keiner, wenn es ihm hier nicht gelingt. X2 164 von RAUMER Allein eben so wenig verdient jemand diesen Namen, wenn er, statt das Ge- gebene auf schöne Weise zu benutzen, sich beikommen läfst, die überkom- menen Stoffe aufzulösen und umzuwandeln. ; Der etwänige Einwand: Aristoteles verdamme das letzte Verfahren nur in Beziehung auf Mythen, nicht in Beziehung auf geschichtliche Gegen- stände, wäre ganz grundlos; denn erstens heifst ihm u3Sos ganz allgemein der faktische Inhalt, der Stoff des Trauerspiels, und zweitens wäre es höchst sonderbar, dafs der Dichter über das Ungewisse, ja Erdichtete, weniger Rechte ausüben, weniger Änderungen damit vornehmen dürfte, als mit dem bestimmter Gegebenen. Auch beruht des Aristoteles Vorschrift nicht so- wohl darauf, dafs jene Stoffe religiös für unwandelbar galten, als dafs die Griechen darin, weit mehr als unsere überkritische Zeit, wahre Geschichte sahen. Tragödien also, welche Agamemnon, Ödip und andere Herrscher- familien betrafen, sollten mit dem Wesentlichen, dem geschichtlich Gege- benen übereinstimmen, und die Kraft der Erfindung sich vorzugsweise in dem Anordnen, Zusammenfassen, Ausscheiden, dem Anheben, Entwickeln und Schliefsen offenbaren. Die Hauptthatsachen, die Hauptcharaktere stan- den fest, eine wesentliche Veränderung in dieser Beziehung war unerlaubt, und eine völlige Verkehrung in das Entgegengesetzte, wie sie mehre neue Dichter gewagt haben, würde dem Aristoteles und den Griechen als leere, thörichte Willkür erschienen sein. Solch irrige Auflösung und Umgestaltung des Gegebenen findet nicht blofs auf die eben getadelte Weise, sondern anch dann statt, wenn das Ein- zelne, an sich minder Bedeutende, durch die Stellung und Behandlung eine ganz andere Wichtigkeit erhält, wenn das durch Zeit und Ort Getrennte an- einandergereiht, oder das Zusammenhangende auseinander gerissen wird. Angenommen, ein König wäre in 50 Jahren zehnmal grob oder zehnmal witzig gewesen, und diese Grobheiten oder witzigen Einfälle würden in einer Scene hintereinander hergesagt, so wäre diese scheinbar sehr genaue Benut- zung historischer Züge, doch in Wahrheit eine sehr ungeschichtliche Umge- staltung des Wichtigeren. Was den historischen Roman anbetrifft, so hat man ihn, sobald er nur einen unorganischen Mischmasch von abgerissenen Thatsachen und will- kürlichen Erfindun gen enthielt, mit Recht ganz verworfen; doch erhielt in unsern Tagen manches nur um wenig anders gebildete Werk, grofsen Beifall. über die Poetik des Aristoteles. 165 Wir wollen hier nicht diesem Beifalle, sondern nur der Meinung wider- sprechen, als sei der für geschichtlich ausgegebene Hintergrund oft mit der wahren Geschichte etwa so genau übereinstimmend, wie in Shakspeare’s historischen Stücken. An sich ist es aber nichts weniger als tadeinswerth, den Reichthum der Ereignisse, Gedanken und Gefühle, die sich in untergeordneten Kreisen des Lebens entwickeln, auf dem grofsen geschichtlichen Hintergrunde abzu- spiegeln, mit dem sie unläugbar in mehr oder weniger Zusammenhange ste- hen: Was der Geschichtschreiber nicht hat, kann oder darf, steht hier dem Dichter zu Gebote, und die Verschmelzung der Schicksale der Staaten und der Einzelnen, des- Gröfsten und des Kleinsten, des Allgemeinsten und Individuellsten könnte hier mehr als irgendwo des Aristoteles Ausruf bestä- tigen: die Dichtkunst sei philosophischer, ergreifender, lehrreicher als die Geschichte. Tieck’s Cevennen sind uns, wie gesagt, das einleuchtendste und gröfste Beispiel für dies Gefühl, diese Ansicht, diese Behandlungsweise. Billigen können wir es hingegen nicht, wetn die grofse Weltgeschichte sich in den engen Rahmen eines Familientreibens einklemmen soll, wenn der unbedeutende Romanheld in Ernst oder aus mifsverstandener Ironie so hingestellt wird, als lenke er von des Archimedes allmächtigem Punkte aus das grofse Ganze; wenn die kleinern Verhältnisse keineswegs ihr Licht von den umfassendern erhalten, sondern diese als wesentlich abhängig von jenen erscheinen u. dgl.m. Es ist besser, man entwirft die Dichtung ohne allen geschichtlichen Hintergrund, oder läfst sie ins Unbestimmte verschwinden, als dafs die Erzählung in einen bestimmten Gegensatz zu dem völlig Beglau- bigten tritt, wodurch das Werk, trotz alles Scheins inniger Verknüpfung, in zwei fremdartige Theile zerfällt, von denen der eine nicht poetisch, der andere nicht geschichtlich genug sein dürfte. Lassen sich denn aber die grofsen Ereignisse der Geschichte und die mitwirkenden Stimmungen und Richtungen der Einzelnen nicht dramatisch so darstellen, dafs Tag und Stunde, Ort und Zeit jedes Ereignisses und Ge- spräches aufs genauste festgehalten wäre, dafs man gar keine Thatsache, keine Person, keine Intrigue hinzu erfände, dafs man (in der Überzeugung, das rein Geschichtliche sei an sich hinreichend und auch poetisch genügend) alle Zuthaten, allen fremdartigen Schmuck schlechthin verschmähte? Diese Frage, dieser Vorschlag (wird man erwiedern) ist thöricht, das Resultat 166 von RAumer solch unpoetischen, und zuletzt doch auch ungeschichtlichen Bestrebens, kann nur etwas Haltungsloses, Unförmliches, es mufs (und das ist das Schlimmste) etwas überaus Langweiliges sein. — Noch vor Jahr und Tag würden wir diese Antwort bestätigt haben: allein es geht in manchen Dingen wie mit dem Eie des Kolumbus; ist die Sache geschehen, so begreift man erst das wie und das warum. Ludwig Vitet, ein junger Franzose von 24 Jahren, hat sich jene Aufgabe gestellt, und in den Barricades und den etats de Bloıs auf eine so bewundernswerthe Weise gelöset, dafs wir diese Werke un- bedenklich als Meisterwerke einer ganz neuen, eigenthümlichen Gattung des Drama’s lobpreisen können. Alles ist darin Geschichte, und zugleich alles Poesie. Der Geschichtsforscher könnte jeden Gedanken, jedes Ge- fühl, jedes Wort beschwören, und diese Kraft der historischen Wahrheit erscheint doch überall wiedergebohren und dichteriseh verklärt durch den seltenen Genius des Verfassers. Die Personen treten mit der Kraft des fri- schesten Lebens vor Augen; das Kleinste und Einzelnste, was von ihnen berichtet wird, ist mit dem Gröfsten und Folgereichsten ungemein geschickt in Verbindung gesetzt; die Handlung rückt ohne langweilige, unkünstlerische Exposition in jeder Scene weiter; und das scheinbar nur lose Verknüpfte hat eine innigere Einheit, und wirkt mit gröfserer dramatischer Kraft, als die regelmäfsig zugeschnittenen Tragödien der Franzosen. Obgleich Vitet (wie schon der bescheidene Titel seines Werks, Scenes historiques, zeigt) keinen Anspruch macht, auf das Theater selbst zu wirken, hegen wir doch die Zuversicht, er werde seine Landsleute aus Byzanz, Mexiko und der Ta- tarei nach Frankreich, ihrem Vaterlande, zurückführen, und sie unter dem Schutze des wahren Aristoteles von dem falschen und mifsverstandenen be- freien. XI. Über das Verhältnifs des Aristoteles zur neueren, insbesondere romantischen Dichtkunst. Die gewöhnliche Meinung geht dahin: dafs die theoretischen Ansich- ten des Aristoteles und die romantische Dichtkunst in schroffem Wider- spruche ständen, und man also eins oder das andere schlechthin preis geben müsse. Wir halten diese Meinung für falsch und verkehrt. Diejenigen zu- vörderst, welche den Aristoteles als unbedingten Gesetzgeber für alle Zeiten über die Poetik des Aristoteles. 167 hinstellen, vergessen, dafs sich die Gesetze mit den eintretenden Entwicke- lungen verständigen können und sollen; sie vergessen aber noch weit mehr, dafs sie den Weisen mifsdeuten und vieles sagen lassen, woran er nie gedacht hat. Umgekehrt deuten die Verächter des Aristoteles ihn nicht minder falsch, und meinen: Dinge, einfach natürlich und leicht verständlich, würden über den Gesichtskreis des umfassendsten Geistes des Alterthums hinausgehn, und er, zur Erde zurückkehrend, allein aufser Stande sein sich darauf zurecht zu finden! Wenn man, und mit Recht gesagt hat, Platon würde später geboh- ren gewils einer der gröfsten christlichen Philosophen geworden sein, wenn man seine Ansichten, wie es sich gebührt, verständig, zizliter auslegt; so wäre es zum mindesten unbillig, den Aristoteles anders zu behandeln. Wir behaupten nun: 1. er würde, itzt auftretend, seine Poetik dergestalt weiter entwickeln, dafs Homer wie Dante, Sophokles wie Shakspeare darin Platz fänden. Wer dies läugnet, stellt sich eben höher als den Aristoteles, und ihm liegt hiefür der Beweis ob, nicht uns ihn zu widerlegen. 2. finden sich in der Poetik sowohl mehre Stellen, welche auf eine wei- tere Entwickelung hindeuten und diese weissagen, als auch umgekehrt Stel- len, welche Ausartungen, Mifsbräuche späterer Zeit warnend bezeichnen. 3. würde eine strengere Beobachtung der wahrhaften (und nicht hinein- gedeuteten) aristotelischen Regeln vielen Fehlern vorgebeugt haben, so wie ihre Übertretung dieselben herbeigeführt hat. Für die beiden letzten Punkte liegt uns der Beweis ob, und wir wol- len versuchen, ihn zu führen, erstens durch Ausheben und Erklären meh- rer Stellen der Poetik, zweitens indem wir verschiedene Dramatiker in aller Kürze einer Prüfung nach aristotelischen Grundsätzen unterwerfen. 1. Kapitel I, $.7 behauptet Aristoteles: es könne und dürfe Epopeen, oder im Gegensatze des Drama, überhaupt erzählende Gedichte in Prosa geben (1). Hiedurch wären, der Form nach, nicht blofs Werke wie der Telemach gerechtfertigt, sondern, was noch viel wichtiger ist, unseres Er- achtens auch den Novellen und Romanen ein Recht des Daseins weissagend zugesprochen. (') Dafs z0yo: Yırcı Prosa bedeute, bestätigt auch Rhetor. II, 2, 3 und 6. 168 von RAuUMER 2. Kapitel I, 8. 11 sagt Aristoteles (mit Beziehung auf Empedokles und ähnliche Schriftsteller): dafs unpoetische Gegenstände dadurch, dafs man sie in Versen behandele, keineswegs ihre Natur verwandelten und sich zu Dich- tungswerken erhöben. Er verwirft also gar viele Lehrgedichte, welchen manche neuere Theorie, aus übertriebener Verehrung für das Lehren und Lernen, gern den Vorrang vor allen Dichtungsarten eingeräumt hätte. 3. verwirft er nicht a (IV, 12) alle Komödien, welche, der Hei- terkeit vergessend, Bitterkeit und Tadel vorherrschen lassen. 4. Aristoteles hielt weder alle Formen der Tragödie für erschöpft, noch würde er an dem gröfsern Umfange und der reichern Verwickelung der roman- tischen Anstofs genommen haben, denn er sagt: Es ist (IV, 22) Gegenstand einer besondern Untersuchung, ob bereits alle Formen der Tragödie, so- wohl an und für sich, als in Beziehung auf die Darstellung im Theater, er- schöpft sind. Ferner (XII, 2): die schönste Tragödie kann nicht eine ein- fache, sie mufs eine verwickelte Fabel haben. Endlich (VI, 11-12): die Länge, der Umfang eines Trauerspiels, kann nicht nach äufsern Gründen (z. B. Neigung des Zuhörens und Zuschauens) bestimmt werden; sondern nach dem Wesen der Sache selbst, und hier ist der gröfsere Umfang der schönere, sofern nur Zusammenhang und Übersicht deutlich bleibt. 5. Aristoteles würde nicht blofs die romantische Tragödie verstanden, er würde auch die Oper gebilligt haben. Ja einem Griechen, dessen Tragödie immer mit Tanz und Musik in Verbindung stand, mufs die Oper viel näher lie- gen, viel natürlicher vorkommen, als manchem Neuern, der gar nicht be- greift, wie der vernünftige Mensch aus dem Sprechen ins Singen gerathen kann. Daher gesellt Aristoteles die Musik als zweiten Bestandtheil zu den Worten (ueroreie zu Aefıs), er zählt jene als unentbehrlich beim Drama auf, er nennt sie die gröfste aller Annehmlichkeiten, aller künstlerischen Reize (ueyırrov röv ndusuarwv VI, 5, 9, 27). Aber nur die wahrhaft dramatische Oper läfst sich aus Aristoteles rechtfertigen, wo (wie bei dem ersten aller musikali- schen Dichter, bei Gluck) Wort, Ton und Charakter ein untrennliches, zur höchsten Kraft und Klarheit erhobenes Ganzes bilden; keineswegs aber die Oper, wo dies olıne Verbindung neben einander herläuft, ja in lächer- lichen, oder unsinnigen Widerspruch tritt. Es ist eine schlechte Gewohn- heit und verwerfliche Ausartung, so charakterlose Instrumentalbehandlung über die Poetik des Aristoteles. 169 der Menschenstimme innerhalb der dramatischen Kreise zu dulden, ja über alles Andere zu bewundern. 6. Aristoteles verlangt schon für die gesprochene Tragödie eine anmu- thige, dem Ohre gefällige Sprache ; wie viel mehr würde er diese Forderung machen, wenn die Worte gesungen werden sollten. 7. Aristoteles weifs, wie schädlich das Übermaafs des zu Beschauenden, (der Dekorationen, Feuerwerke und Wasserfälle, Kleidungen u. dgl.) für die dramatische Kunst sind; daher sagt er, eine zu beherzigende Lehre für unsere Zeit (VI, 27): durch das Auge, das Sichtbare (1), werden die Ge- müther zwar angezogen, aber es ist das Unkünstlerischste, und gehört am wenigsten zum Drama, welches auch ohne solche Mittel, ja ohne Darstel- lung und Schauspieler wirken soll. Sonst wird das Geschäft des Handwer- kers wichtiger, als die Kunst des Dichters. 8. Dafs und warum in neuern Trauerspielen der Chor keine rechte Stel- lung finden und wirken kann, ist schon öfter dargethan worden, und die Gründe liefsen sich wohl noch verstärken. Aristoteles würde aber die jetzige Einrichtung verstehn und um so eher anerkennen, da er selbst den antiken Chor nicht sowohl auf die innere Natur des Drama’s gründet, als nur seine geschichtliche Entstehung und die späte Einführung desselben in die Komö- die nachweiset (IV, 16; V, 3). Das Wesentliche liegt ihm darin: dafs der Chor, gleichwie ein einzelner Schauspieler, in die Handlung eingreife, mit- wirke, und nicht (wie schon oft beim Euripides) daneben stehe (XVII, 21). Dies geschieht aber, sobald der Stoff nicht erlaubt, dafs ganze Massen von Personen auftreten, mitreden und mithandeln. Es entstehn selbst in anti- ken Tragödien bedeutende Übelstände durch Aufrechthaltung jener einmal gegebenen Form; und was sollte wohl daraus werden, wenn man Hamlets Freunde, Juliens Amme, Lady Makbeths Kammerfrau, Othellos Fähnrich, Kent im Lear u. s. w. multiplieirte und haufenweise auftreten liefse. Steht dieser Haufe schweigend da, und führt ein Vorredner allein das Wort, so ist sehr selten durch jene Mehrzahl etwas gewirkt und geändert; sollen alle auf einmal sprechen, so klingt’s wie in der ABCschule. Nur in der ächten Oper findet der Chor noch seine Stelle, ja er ist daselbst unentbehrlich, um durch Steigerung die höchste Wirkung hervorzubringen. 9. Bedenklicher erscheint die Frage, wie Aristoteles über die Mischung 5 des Komischen und Tragischen in einem und demselben Drama denken Histor. plulolog. Klasse 1828. Y 170 von RAUMER würde? Wir. meinen: er würde daran keineswegs .Anstofs nehmen, wie so viele, rasch aburtelnd, voraussetzen. Denn: a) hätte er vor Calderon und Shakspeare, diesen gröfsten Meistern, welche so oft jenen Weg betraten, gewils mehr Ehrfurcht, als viele kleine Kritiker; er würde sich in die Gründe des Verfahrens hinein- denken und gegen seine Wirksamkeit nicht verschliefsen. b) besteht jene Mischung ja keineswegs darin, dafs dieselbe Person zweier- lei Charaktere habe und durchführe, der Ernste zugleich scherzhaft, der sroudales ein bavAcreges sei, sondern dafs verschiedene Personen und Elemente, eben durch ihren Gegensatz zu einer höhern harmoni- schen Wirkung und Enthüllung menschlicher Verhältnisse züsammen- treffen. Die Einheit der Handlung, welche Aristoteles verlangt, leidet also in seinem Sinne darunter keineswegs. c) Schon in manchen euripideischen Stücken giebt es Anklänge aus beiden Gegenden (!), die Helena ist fast nur als Operntext erklärlich, die sa- tyrischen Stücke bieten ein Verknüpfungsglied zwischen Tragödie und Komödie, der Übergang beider ineinander ist in der Hilarotragödie und der Tragikomödie ganz deutlich ausgesprochen, und endlich finden wir ja schon im Aristophanes neben dem ausgelassensten Übermuth andere Theile, die an Ernst und Würde dem höchsten gleich stehn, was die Tragödie irgend in dieser Art aufzuweisen hat. Wenngleich diese Andeutungen keinen vollen Beweis in sich schlie- fsen, wie Aristoteles über diesen oder jenen: einzelnen Punkt heutiges Tages denken würde; so scheinen sie uns doch in ihrem Zusammentreffen darzu- ihun, dafs er den gesammten Entwickelungsgang der neueren Dichtkunst wohl, und besser verstanden haben würde, als Unzählige, die unverständig auf seine mifsdeuteten Grundsätze schwören. Uns bleibt itzt nur noch der Versuch übrig, nach Analogie seiner ächten Lehre aufzuspüren, wie Aristo- teles über einzelne romantische Dichter der neueren Zeit in Lob und Tadel sich aussprechen dürfte (?). Wir wiederhohlen, dafs man bei diesen Schlußs- folgen mehr wie irgendwo dem Irrthum ausgesetzt ist, und unsere Absicht (') Ja die Amme in den Choephoren, der Bote in der Antigone, dürften hier erwahnt werden. (?) Das Verhältnifs der Franzosen zu Aristoteles und der alten Tragödie haben Lessing, Schlegei und Enk hinreichend erläutert. über die Poetik des Aristoteles. 171 keineswegs dahin geht, alles Gute und alles Mangelhafte, sondern nur das zu berühren, was mit der Poetik in Übereinstimmung oder Widerspruch erscheint. 1..Calderon. Wenn Aristoteles plötzlich Calderon’s Werke in seine Hände be- käme, es würde ihm in vieler Beziehung eine neue Welt aufgehn, er würde Reichthum der Erfindung, Lebendigkeit der Bilder, Glanz der Beschrei- bungen, Gewandtheit des Ausdrucks, dies und wie vieles Andere bewun- dern. Dafs aber seine Bewunderung ganz uneingeschränkt sein, und zu der Höhe steigen sollte, wie sie einige Male in Deutschland ausgesprochen wor- den, müssen wir bezweifeln, ja bestreiten. Denn ob er gleich kaum irgend einer Einrede der französischen Aristoteliker beitreten könnte, müfßste er doch seinen Grundsätzen zu Folge tadeln: dafs nicht selten das lyrische und epische Element im Calderon übermäfsig viel Raum einnimmt, die Perso- nen über das Empfinden und Erzählen (@rayyerıa), selbst manches Fremd- artigen, nicht zum Handeln kommen, und ihre überlangen Monologen das Gespräch, oft mehr als billig, zurückdrängen. Er würde sich ferner zwar über die Geschicklichkeit freuen, mit welcher reiche Stoffe behandelt sind, bisweilen aber doch bemerken: die Fabel werde ob der überkünstlichen Verwickelung unklar und der, angeblich unerschöpfliche, Bilderreichthum sei weit geringer, als man bei der ersten Bekanntschaft mit diesem Dichter glaube. Ja nicht blofs die Bilder, auch die Stoffe wiederhohlen und stützen sich auf manierirte, blofs conventionelle Begriffe von Liebe, Ehre und Treue, wodurch die Graciosos und Kammermädchen, ja selbst Helden und Heldinnen, der scharfen Persönlichkeit und bestimmten Zeichnung verlustig gehn, und sich in allgemeine Abstraktionen oder Repräsentanten ganzer Gattungen verwandeln (!). Aristoteles könnte ebenmäfsig nicht billigen, dafs manche Hauptpersonen Calderon’s über alle Maafsen tugendhaft, oder über alle Maafsen lasterhaft sind; am wenigsten endlich würde der Philo- soph dem schrankenlosen Lobpreisen der Calderonschen Behandlung reli- giöser Gegenstände beitreten. Billigerweise gehn wir hiebei davon aus: Aristoteles sei alles Ernstes ein Christ geworden, ja er habe, seiner vielseitigen Natur gemäfs, alle Haupt- ('} Hiecher gehören die oft sehr langweiligen, allegorischen Personen in den Autos. Y2 412 von RAUMER formen des Christenthums begriffen und verdamme keine unbedingt. Wir, dürfen ferner annehmen: Benutzung und Behandlung christlicher Gegen- stände erscheine ihm so zulässig, logie und Religionslehre, und er halte die Kirchengeschichte für keinen ge- als zu seiner Zeit die der damaligen Mytho- ringern Schatz tragischer Gegenstände, als die weltliche. Andererseits aber würde er doch (nach des Apostel Paulus Worten, 1 Cor. 1, 22) als ein ächter Grieche sich mit den Zeichen nicht begnügen, sondern nach Weis- heit fragen, und noch weniger das erste beste Wunder als glaubhafte Ge- schichte betrachten und behandeln. Er würde die Kunst nie der Dogmatik einer Schule unterordnen, oder Calderon’s Entschuldigung bei Beurthei- lung eines Drama’s genügend finden: Y perdonad al Poeta Si sus defectos son grandes, Y en esta parte la fe Y la devocion le salve ('). Wenn die Poesie (wie A. W. Schlegel mit Recht behauptet) von jedem andern, als ihrem unbedingten Zwecke, Schönes durch freie Dich- tung zu erschaffen, losgesprochen ist; so hat Calderon diese unabhängige Stellung’ keineswegs immer behauptet, ja er hat die Lehren seines Bekennt- nisses nicht blofs mythisch und idealisch verklärt, sondern sehr realistisch dem wüthigen Verfolgungsgeiste, der Inquisition, den Autos und den Ketzer- gerichten das Wort geredet (?), und sich in Regionen gewagt, wo alle Schön- heit, ja alle Religion ein Ende nimmt. Wenn schen Ehre und Liebe an den Höfen der Philippe sich von dem ächt Menschlichen und Natürlichen oft löseten; so war noch weniger das, was damals in Spanien Religion hiefs, das wahre und höchste Christenthum. Heilige und Engel wollten wir nicht aus dem christlichen und poeti- schen Kreise verweisen, wir räumten ein, dafs die Kirchengeschichte einen Ersatz der alten Mythologie gebe, und richtig behandelt mehr wirke, als die oft, z.B. bei Alfieri, blofs rhetöorische Erneuerung antiker Stoffe; aber (') Firgen del Sagrario am Schlusse. (?) Im AJuto, el santo Rey Don Fernando z. B. wird das Verbrennen der Albigenser aufs Höchste gepriesen, und der König legt selbst Hand an ein, vorgeblich so glorreiches und christliches Werk. über die Poetik des Aristoteles. 1713 es giebt hier, wie gesagt, ein zuviel, wo die Poesie und, was noch schlim- mer ist, mit ihr auch die Sittlichkeit entweicht. Jenes, z. B. wenn die un- befleckte Jungfrauschaft der Maria Wendepunkt eines Drama’s wird, und es von ihr heifst (Firgen del Sagrarıo 410): Toda la Trinidad os perficiona Tanto, qui si en los tres caber pudiera. Persona cuarta (in der Dreieinheit) universal persona Fostra deidad cuarta persona fuera: Dlas si no os pudo hacer cuarta persona, Despues de Dios os hizo la primera. Die Sittlichkeit hingegen entweicht, wenn die gröfsten Schurken und Verbrecher (wie Ludovico im Fegefeuer des heiligen Patrieius, und Eusebio in der Andacht zum Kreuze) ohne alle höhere und tielsinnigere Reinigung und Katharsis, diese lediglich und bequem in der epischen Erzählung ihrer Frevel und in der Beichte finden. Aristoteles würde diese Richtung, diesen Inhalt nicht dramatisch und christlich, er würde sie undramatisch und un- christlich nennen. Nicht als wenn die Lehre von der göttlichen Begnadi- gung und Erlösung des Tiefsinns und der Wahrheit entbehrte; sondern weil durch dieselbe nicht jeder Bösewicht urplötzlich in einen tragischen Helden verwandelt werden kann. So hingestellt, wie mehre Male in Calderon, ohne alle Causalverbindung, ohne inneren Kampf, Entwickelung und Ein- heit der Handlung, erscheint jene Gnadenwahl als blinde Nothwendigkeit oder leere Zufälligkeit, als ein Deus ex machina und ein falsches unerklär- liches Schicksal. Die Auflösung der Verwickelung durch eine am Schlusse ausgespro- chene, oder von vorn herein als entscheidend hingestellte theologische For- mel, würde also dem Aristoteles keineswegs als die höchste Verklärung in und durch das Drama erscheinen; er fordert vielmehr eine individuellere, die aus der Fabel und den Personen selbst, nicht aus Erfabeltem und Fremd- artigem hervorgeht. Reicht ein Glaubenssatz hin zur höchsten dichterischen Lösung aller Räthsel der Welt, so wären Puritaner, Bettelmönche und Bet- schwestern die gröfsten Dichter. Öfter aber noch als auf einem wahren oder scheinbar christlichen Gedanken, beruht bei Calderon die Lösung auf jenen, wie gesagt, conventionellen Begriffen, und die zweite Hochzeit im 474 von RAUMER Arzte seiner Ehre, wird z.B. doch wohl niemand eine Verklärung in Flam- men der Liebe nennen wollen. Im Ganzen dürfte das Urtheil des Aristoteles über Calderon sich mehr an Goethe und Solger, als an Fr. Schlegel anschliefsen (!), und seine Meinung keineswegs dahin gehn: die unbedingte Nachahmung des Spa- niers, insbesondere als eines Hyperkatholiken, sei der einzige oder beste gradus ad Parnassum für die deutschen Dramatiker. x 2. Shakspeare. Ist unsere Erklärung der Poetik des Aristoteles und seiner sonstigen Ansichten richtig, so müfste ihm unter allen dramatischen Dichtern der neuern Zeit Shakspeare ohne Zweifel obenan stehen. Denn von jenen Einreden, die er, unseres Erachtens, wider Calderon erheben würde, fin- det keine einzige auf Shakspeare Anwendung, und wenn wir recht scharf umherforschen, woran er etwa Anstofs nehmen möchte; so findet sich nur ein Punkt des Tadels, den wir einzuräumen nicht abgeneigt wären. Aristo- teles dürfte finden: Shakspeare habe einige Male, z. B. im Titus Andro- nikus und bei der Blendung Glocesters im Lear, das Miagev, das Schreckliche oder Gräfsliche, uns zu nahe und herbe vor die Augen geführt. Nur er- weitere man diesen Tadel nicht über Gebühr, und lege dem Dichter zur Last, was den Schauspieler trifft. So sahen wir in Paris die Ermordung Desdemonas durch Othello, von Kemble in einer Weise, mit Gebrüll, durchdringendem Geschrei und unwürdiger Balgerei vollbringen, die den Shakspeare gewifs noch mehr als uns mit widerwärtigem Entsetzen erfüllt haben würde. Noch weniger folgt aus jener Einrede des Aristoteles: er billige Um- arbeitungen Shakspeare’s, wo etwa Hamlet, Romeo, Lear, Kordelia u. s.w. leben bleiben. Er verwirft vielmehr dies Verfahren bestimmt für die Tra- gödie, nennt es komödienartig und sagt: es geschehe nur schwächlichen Zu- hörern zu Gefallen (XIII, 12). Alle Theile der aristotelischen Definition des Trauerspiels finden bei Shakspeare Anwendung, und auch die sonstigen Vorschriften über die (') Goethe Kunst und Alterth. III, 1,128; Solger’s Schriften II, 606; A.W.Schle- gel’s Dramat. Vorles. II, 123. Die neusten Äufserungen A. W. Schlegel’s, die mir so eben zu Gesicht kommen (Berichtigung einiger Mifsdeutungen S. 10), stimmen mit dem, was ich dem Aristoteles über Calderon in den Mund zu legen wage. über die Preiih: des Aristoteles. 175 Persönlichkeit der Helden, die innere Einheit der Handlung, die Verwicke- lung, den stäten Fortschritt, die Entwickelung aus innern Gründen, die An- gemessenheit des Beginnens und Schliefsens u. s. w. sind so befolgt, dafs wir uns (wenn Ort und Zeit es erlaubte) nachzuweisen getrauen, Shakspeare stimme weit mehr mit dem wahren Aristoteles überein, als alle französischen Tragiker. So sehr aber auch der tiefsinnige, kunstverständige Grieche sich an den Trauerspielen Shakspeare’s erbauen würde, fragt sich doch, ob ihn die Lustspiele nicht noch mehr überraschen und zur Bewunderung fort- reifsen würden. Bisher haben wir versucht, nachzuweisen, wie in der Poe- tik das Rechte überall klar ausgesprochen ist, oder im Keime so verborgen liegt, dafs man es natürlich daraus entwickeln kann; aber seiner Theorie des Lustspiels müfste Aristoteles, um Shakspeare’s willen, eine neue Wen- dung und veränderte Gestalt geben ('). Die Lehre von den geringern Per- sonen, oder wie man die bavAcrega: übersetzen will, von den Mängeln, die weder Schmerz erregen, noch Verderben herbeiführen u. s. w., reicht hier nicht aus, seitdem Oberon und Titania, Könige und Fürsten, die würdig- sten Frauen und Jungfrauen sich in den heitern Kreisen des Lustspiels zau- berisch bewegen. Dafs, wenn man Shakspeare zur Seite stehen läfst, die Komödie selbst scharfsinnigen Kritikern an Würde, Werth und Bedeutung ie) hinter der Tragödie zurückzubleiben scheint, finden wir sehrnatürlich; durch Shakspeare hingegen ist hier eine neue Welt eröffnet, welche von 'Theo- retikern noch nicht genügend erklärt, von andern Dichtern selten nachge- bildet, ohne Zweifel aber reich und grofs genug ist, Lustspiel und Trauer- spiel auf eine gleiche Höhe eigenthümlicher Vollkommenheit zu stellen. "3. Goethe. Goethe’s nach Form oder Inhalt zur alten Welt hingewandte Dra- men, würde Aristoteles zwar nicht als gleichartig mit den handlungsreichern des Sophokles betrachten, aber ihnen in ihrer eigenthümlichen Weise die höchste Treftlichkeit zugestehn, und schwerlich in den Tadel einstimmen: der Iphigenia oder dem Tasso fehle es an Kraft zur Reinigung der Leiden- schaften oder Gemüthsbewegungen, weil nirgends das Maafs gewaltsam über- schritten wird, und die vorherrschende Entwickelung eben der innern Ge- müthswelt, keine äufsern, ungeheuren Thaten hervortreibt. Beim Faust (') Siche am Schlusse der Abhandlung den Zusatz über Plautus und die alte Komödie. 176 von RAUMER müfste er leider bedauern, dafs das Werk nicht abgeschlossen zu Ende ge- bracht, nicht r&Aeıss sei, und vielleicht auf dem eingeschlagenen Wege kaum werden könne; den Götz und Egmont würde er den Shakspearschen historischen Stücken an die Seite setzen, und nirgends wegen Übertrei- bung des dort gerügten Schrecklichen Klage erheben können. Vielleicht fände er aber in Goethe ein wıagev ganz anderer Art, was sich nicht als das Entsetzliche dem Auge darbietet, nicht als Frevel empört, aber Geist und Herz fast noch herber durchschneidet. Diese furchtbare, ungelösete Dissonanz scheint bei Goethe bisweilen aus der zartesten Gemüthsbe- wegung, aus der Liebe hervorzutönen. Die Art und Weise z. B., wie Brakenburgs treues Herz als das Geringere behandelt, und vor dem glanz- reichen Egmont zur Seite geworfen wird, ist im Stücke nicht hinreichend gesänftigt, und doch giebt es (schon auf dieser Unterwelt) einen tiefsinnigen Standpunkt, wo jener bereits gereinigt, die Katharsis an ihm schon vollen- det erscheint, während die angeblich höher stehenden, poetischen Personen ihrer noch bedürfen. Wie weise hat deshalb Shakspeare auf des Paris Liebe zu Julien kein grolses Gewicht gelegt, hier keine Dissonanz unvorbe- reitet eintreten lassen, zu deren Lösung er nirgends die rechte Stelle hätte finden können. Dafs Aristoteles die Verwandlung des geschichtlichen in den Göthischen Egmont mifsbilligen würde, wagen wir um so weniger zu behaup- ten, da er in ihm wohl den Dichter selbst wieder erkannt, und dies sein Ur- theil günstig gestimmt und von allem Kritisiren abgewandt hätte. 4: Schiller. Über das Verhältnifs Schiller’s zu Aristoteles liefse sich eine eigene s schreiben. Es sei indefs der Kürze halben erlaubt, die : 5 Übereinstimmung beider in vielen Punkten als anerkannt vorauszusetzen, lange Abhandlun © damit uns noch Raum bleibe, anzudeuten, worin beide wohl voneinander abweichen. 1. Dürfte Aristoteles (obgleich ein Grieche) die Art und Weise nicht bil- ligen, wie Schiller in der Braut von Messina den Chor herstellte und ver- schiedene Religionssysteme neben und durcheinander wirken liefs. 3. Würde er zwar finden: Wallensteins Glaube an Astrologie sei richtig benutzt, in der Braut von Messina aber das Schicksal, ohne innere Gründe, zu willkürlich eingeführt. über die Poetik des Aristoteles. 4177 3. Gäbe Schiller wohl eine Bestätigung des aristotelischen Satzes (XVII, 8, 12): es sei leichter zu verwickeln, als zu lösen und die Tragödie durch sich selbst völlig abzuschliefsen. Denn wenn man auch den Schlufs der Maria Stuart und des Wallenstein als moralisch vertheidigen wollte, so liegt doch zugleich darin eine Aufhebung der gefundenen Beruhigung, eine neue ungelöset hineintönende Dissonanz, ein Ende, das gewissermaafsen auf neuen Anfang hinweiset. Am wenigsten endlich dürfte sich im Tell das Auf- treten des Parricida rechtfertigen lassen, da es das Verfahren Tells nicht rei- nigt und bekräftigt, sondern in zweideutiges Licht stellt. Man fängt näm- lich an skeptisch zu untersuchen: ob dem Johann nicht auch viel Unrecht geschehen sei, ob er in friedlichem Wege etwas ausrichten konnte? Ob Tell (den man für entschuldigt halten würde, wenn er, statt des Knaben, Gefsler zum Ziele seines Pfeiles nahm) Recht hatte, nachher in der Gasse aufzulauern und ihn niederzuschiefsen u. s. w. 4. Könnte Aristoteles, nach seinen Grundsätzen, mit den Veränderungen schwerlich zufrieden sein, welche Schiller mehre Male mit der Geschichte vorgenommen hat. Ohne zu wiederhohlen, was andere in dieser Beziehung über Wallenstein bemerkten, und ohne Rücksicht auf den sonderbar gestal- teten Don Karlos, beschränken wir uns auf die Jungfrau von Orleans und Maria Stuart. Wir haben oben gesehn, wie Aristoteles das Umbilden gegebener Stoffe nur insofern erlaubte, als es dichterische Zwecke wahrhaft befördere. Das letzte hielt er aber, wie wir ebenfalls darlegten, sehr selten für mög- lich, und hieran reihen wir unsere Behauptung: die wahre Geschichte der Jungfrau von Orleans und der Maria Stuart sei poetischer und tragischer, als das von Schiller hinzu Erfundene. Hinzu erfunden ist aber das ganz moderne Verlieben und die darauf gebaute Haltungslosigkeit Johanna’s, ihr eigensinniges Schweigen, der übereilte Unglaube und der später auch nicht aus genügenden Gründen wiederkehrende Glaube an ihre Unschuld u. s. w. Es giebt freilich in unsern Tagen der schwächlichen Gemüther viele, die da meinen, mit dem Verlieben werde Johanna erst liebenswürdig und kehre zum ächt Menschlichen zurück; ihre Gottbegeisterung stand aber in Wahr- heit so hoch, dafs kein junger, schöner Engländer sie urplötzlich hätte aus aller Fassung und ihrem Berufe heraus werfen können. Die geschichtliche Histor, philolog. Klasse 1828. Zı 178 von Raumer Johanna ist aus einem Stücke, im grofsartigsten Style; die Schillersche bricht in zwei nicht zu verbindende Hälften auseinander. Doch ward aller- dings auch die wahre einen Augenblick lang an ihrem Berufe zweifelhaft und gerieth in viel innerliche und tiefsinnigere Kämpfe, als hochverehrte Geist- liche und Bischöfe sie auf die allgemeine Gebrechlichkeit des Menschlichen und darauf aufmerksam machten: dafs der Teufel die reinsten Gemüther am leichtesten durch die edelsten Vorspiegelungen täusche. Neubekräftigt geht sie aus diesen Zweifeln, in dem Glauben an ihr Recht und ihren Beruf hervor, und die Art und Weise, wie sie während des Prozesses, von allen verkannt und verlassen, bei Todesnöthen weder in stoische Unempfindlich- keit, noch in weichlichen Schmerz verfällt, und Vaterland und König (die sie preis geben) aufs muthigste und edelste vertheidigt; — wir gestehn, dies macht auf uns beim Lesen der einfachen Aktenstücke einen viel gröfsern, tragischern Eindruck, als das Kettenzerreifsen und andere Wunder, worauf Johanna nie Anspruch machte. Und wenn man auch ihre Todesart selbst auf dem Theater nicht darstellen konnte, so liefs sich doch die Geschichte bis zu einem wahrhaften, tief erschütternden und reinigenden Abschlufs füh- ren, ohne auf den willkürlich erfundenen Ausweg zu gerathen, den unsere Theaterdirektionen durch die Zuthat bengalischen Feuers doppelt zu ver- klären meinen. Wenn Shakspeare eine Maria Stuart geschrieben, er hätte uns ge- wifs die Königinn erst auf dem Throne, in ihrem Verhältnissen zu Darnley und Bothwel, zu Protestanten und Katholiken u. s. w. gezeigt, und dann hülflos nach England geführt. Im Schiller, wo sie sogleich als Gefangene auftritt, erhält sie, anderer Bedenken nicht zu erwähnen, durch dies sicht- bare Unglück und das, nur angedeutete, frühere Unrecht ein falsches Über- gewicht im Verhältnifs zu Elisabeth. Nicht dafs wir meinten, der Dichter habe Maria zu gut geschildert; wir meinen nur, er habe Elisabeth zu gering und zu vereinzelt hingestellt. Die Gefahren des Reichs, die einstimmig wie- derhohlte Forderung beider Häuser des Parlaments, dafs Maria Stuart hin- gerichtet werde, treten uns gar nicht in der Kraft der geschichtlichen Wahr- heit vor Augen, und vor Allem giebt die durchaus erfundene Zusammenkunft beider Königinnen (so schr sie auch dem Dichter Gelegenheit gab sich zu zeigen) dem Ganzen als Drama eine schiefe Richtung. Auch knüpfen alle, die von der Geschichte nichts wissen, ihr Urtheil über Elisabeth und den über die Poetik des Aristoteles. 479 Tod Maria’s vorzugsweise an diesen Zank, Burleigh, den Schiller zu schwarz und gefühllos zeichnet, hinderte vielmehr die Zusammenkunft, in- dem er zart und richtig bemerkte: sobald Elisabeth ihre Feindinn sehe und spreche, müsse sie dieselbe frei lassen. Das Interesse für beide Königinnen würde sich bei strengem Festhalten an die wahre Geschichte nicht vermin- dert, sondern gleichmäfsig erhöht haben. Darin liegt ja eben das Tiefste und Ergreifendste dieser Geschichten: dafs Maria trotz aller Bufse dem Rich- terschwerte nicht entgeht; dafs Elisabeth unbemerkt und von Tage zu Tage immer mehr aufser Stande kömmt, das Mifsverhältnifs zu ihrer Nebenbuh- lerinn milder zu lösen; dafs (während sie wähnt, noch alles in ihrer Hand zu haben und, wir möchten sagen überkühn mit Leben und Tod spielt) das Loos ihren Händen enutschlüpft, der Schlag ohne ihr Wissen fällt und sie selbst den argen Flecken nicht verwischen kann, die Nachwelt nicht verwi- schen will, der hiedurch auf ihre sonst so glanzreiche Regierung fällt! Doch genug der Zweifel, die wir, von Aristoteles ausgehend, keines- wegs verhehlen durften, und die man uns hoffentlich nicht als Mifskennen der Verdienste Schillers auslegen wird. Nicht blofs ein Dichter, sondern auch ein Heiliger ist er, Voltaire’s anstöfsigem Machwerke gegenüber, und wer sich Bedenken jener Art wider Maria Stuart zu sehr hingiebt, der darf nur Alfieri’s trockene, eiskalte Tragödie gleiches Namens lesen, um auf den deutschen Genius wieder stolz zu werden. 5. Neuere deutsche Tragiker. Anfangs war unsere Absicht, die Trauerspiele der neusten deutschen Dichter umständlich nach aristotelischen Regeln zu prüfen, aber diese Ab- handlung ist bereits so überlang geworden, dafs wir zum Schlusse nur die, jedoch erweisbare Behauptung hinstellen wollen: genauere Kenntnifs und strengere Rücksicht auf die Vorschriften des alten Weisen würden von vielen Irrthümern zurückgehalten haben. Neben freundlichem Anerkennen des vorhandenen Guten, würde er unseres Erachtens doch mifsbilligen: 1. Tragödien, die mit Episoden überladen sind, oder deren Stoff fast zu einem Epigramme zusammenschwindet (VJ, 2,19; VHL1,4; X,3; XXVIL 13). 2. Deren Hauptperson so unschuldig und unbedeutend ist, dafs sie es selbst nicht bis zu einer rechten Leidenschaft bringt, vielweniger die unsrigen reinigt; oder deren angeblicher Held ein so heilloser Verbrecher ist, dafs wir, statt Mitleid und Furcht, nur Ekel und Abscheu empfinden (XII, 3-5). 22 180 von RAUMER 3. Trauerspiele, wo mehr erzählt als gehandelt wird, und wo die Fabel nur ersonnen ist, um Sitten (97) zu zeigen, oder moralische oder politische Sätze zu erweisen (VI, 12,14, 21; VO, 1; XXV, 2). 4. Wo der Anfang vor dem Anfange, und das Ende diesseit oder jenseit des gegebenen Endes liegt (VIII, 1-4; XXIII, 1). 5. Wo die Personen in Ahndungen, Gefühlen, Weissagungen u. s. w. so schwebeln und nebeln, dafs sie aus Wirklichkeit und Leben in das leere, todte Nichts gerathen (VI, 2, 12-14). 6. Wo die völlig mifsverstandene Lehre vom Schicksale (siehe S. 150) die Handelnden (ohne Kampf, Haltung und innere Thätigkeit) in Maschinen verwandelt, ja durch grund - und bodenlose Nichtswürdigkeit unter das Thier hinabwürdigt (X,6; XVI, 7). 7. Wo statt einer Verklärung des, obgleich minder Schuldigen, doch Zer- knirschten (wie des Ödip zu Kolonos), die Consequenz im Verruchten als ein Triumph bezeichnet, und ein neues Verbrechen, behufs der Katharsis, der Reinigung vollbracht wird (XI, 7). 8. Wo zwar der Inhalt der Fabel eine solche Katharsis bezweckt, aber Motive und Benehmen für die Tragödie zu unedel sind, und auf das Zweite, was Aristoteles neben der Reinigung der Leidenschaften verlangt, die üdevr, das heifst auf Schönheit, Vergnügen und Anmuth gar keine Rücksicht ge- nommen ist (XIV, 5,11; IV, 8). über die Poetik des Aristoteles. 151 Zusatz über Plautus und die Komödie der Alten. In vorstehender Abhandlung ‚‚über die Poetik des Aristoteles” habe ich behauptet: seine Theorie reiche für die Komödie in unseren Zeiten weit weniger aus, als für die Tragödie. Hiedurch ist mittelbar ein Vorwurf gegen die Komödie der Griechen und Römer ausgesprochen, welchen einigermaafsen näher zu begründen dieser Zusatz bezweckt. Zuvörderst rede ich nur von dem, was wir aus jener Zeit wirklich haben und kennen, nicht von dem Verlornen und den Hypothesen über Werth oder Unwerth desselben. Ferner steht Aristophanes (den Formen und dem Inhalte, der Poesie und Politik nach) so allein da, dafs Vergleichun- gen zwischen ihm und den Werken neuerer Dichter unmöglich erscheinen. Es bleibt also nur die mittlere und neue Komödie der Griechen übrig, welche wir fast ausschliefsend durch Plautus und Terenz kennen. Kein Stück die- ser beiden Männer kann für originell und römisch gelten, sie sind nur Nach- ahmer, Bearbeiter, und Werth oder Unwerth ist vorzugsweise den griechi- schen Vorbildern zuzuweisen. Dafs hie und da ein römischer Beamter, eine römische Strafse, ein römisches Thor u. dgl. genannt wird, kann die völlig fremde Sitte und Handlungsweise nicht umgestalten, nicht schaffenden Dich- tergeist erweisen. Betrachten wir nun zuvörderst die Form dieser, besonders der plau- tinischen Lustspiele, so ist die Erklärung des Zusammenhangs, die Expo- sition, gewöhnlich in den Prolog gelegt; ja die Cistellaria hat deren zwei, nämlich Akt I, Scene 2 und Akt I, Scene 3, wo der Gott Juxulium auftritt und dem Dichter allerdings Hülfe leistet, indem er alles Nöthige erzählt. Ferner steht Prolog und Exposition im Miles gloriosus, merkwürdig und ab- weichend, an der Spitze des zweiten Akts. Wer diese Prologe gesprochen habe, ist nicht überall mit Sicherheit abzunehmen; einige Male gewifs eine Person, die weiterhin nicht auftrat, andere Male z.B. im mercator, ein Mit- spielender. 182 von RAUMER Wenn der Tragiker Euripides über die Art, wie er den Prolog be- handelt, getadelt worden ist, so verdient der komische Dichter gleiche Vor- würfe: Aristoteles würde behaupten, der rechte Anfang sei nicht gefunden und die Handlung werde nicht aus und durch sich verständlich. Andererseits ist damit freilich nichts gewonnen, dafs man den Prolog als solchen weg- streicht, lange Erzählungen aber irgend einem Mithandelnden in den Mund legt. Nur zu viel neuere Lust- und Trauerspiele haben solche versteckte, oder vielmehr offenbare Prologe. Als einen, in unsern Zeiten weit weniger hervortretenden Übelstand, betrachte ich dagegen die Unzahl von Monologen und das abwechselnde Sprechen mehrer, ohne sich zu hören und zu antworten. Diese kunstlose Methode löset eigentlich das Drama auf, und führt aus dem Handeln ins blofse Überlegen, ja Schwatzen. So sind ganz, oder doch zum Theil, Mo- nologen: Bacchides Aktll, Scene 1 und 2 hintereinander (wo natürlich der zuerst Sprechende genau abgehn mufs, wenn der andere kömmt), dann Scene 4und5; AktIV, Scene 1,4,5,8 der Schlufs, 9 der Anfang und 10. Ferner Pseudolus I, 4, I, 1,3, IH, 1; IV,3,5 und die erste Hälfte der 7 Scene; IV,8; V,1. In den Menächmen: I, 1,2; I,3; II,t und der Schlufs der 3°" Scene: IV,2 Anfang und Schlufs; V,3,5 Anfang und Schlufs; V, 6; V,7 am Schlusse. Im Mercator: Charinus als Prolog, dann I,1 der Anfang; 1,1; II,3; II, 2; III,4 Anfang und Schlufs; IV,2; IV,4 Schluß; IV,6; V,1, und 2 der Anfang. In den Capteivei folgen drei Scenen als Monologen aufeinander (IH, 1,2,3) u. s. w. Was die jetzige Abtheilung der Stücke in Scenen und Akte anbetrifft, so liefse sich dabei wohl Manches bessern (z. B. in der Aulularia der 3“ Akt mit der 4" Scene des zweiten beginnen u.dgl.); Anderes dürfte, selbst nach einer Verständigung über die leitenden Grundsätze, immer als Unvollkom- menheit zu betrachten sein. Denn wenn man jene Abtheilung nach Akten und Scenen auch nicht für antik will gelten lassen, so bedarf doch jedes Drama einer innern, harmonischen Gliederung, gewisser Abschnitte, Ruhe- und Wendepunkte. Und hiebei finden sich im Plautus sonderbare Erschei- nungen. In der Cistellaria z. B. kommt der Umfang der drei letzten Akte kaum einem gleich; im Miles gloriosus hat der erste, und im Pönulus der zweite Akt nur eine Scene, in der Casina der erste Akt eine, der zweite acht über die Poetik des Aristoteles. 183 Scenen. Der Grundsatz: wo neue Personen aufträten, begänne allemal ein neuer Akt, legt mehr Gewicht auf diesen Nebenumstand, als darauf, ob der Gang der Handlung einen Abschnitt, eine Pause verlangt, und obenein wird er nicht folgerecht durchgeführt, denn in der Casina z. B. ist Stalino während der letzten Scene des zweiten Akts und der ersten des dritten auf der Bühne, und eben so tritt im zweiten Akt der Mostellaria nur eine Per- son zu den übrigen hinzu. Am Schlusse jedes Lustspiels folgt nicht allein regelmäfsig die Bitte um Beifall, sondern einige Male (so in der Casina und Cistellaria), wo die Handlung nicht völlig zu Ende gebracht ist, wird den Zuschauern das Feh- lende zur Beruhigung erzählt und ihneu gesagt, das Stück sei zu Ende, welches Verfahren wohl als ein mangelhaftes zu bezeichnen sein dürfte. Die angeblich aristotelische Regel von der Einheit der Zeit wird oft und (z. B. in den Captivei) sehr überschritten. Ja einige Male legt man so- gar zu wenig Gewicht auf die zur Handlung schlechthin nothwendige Zeit. Im Mercator z.B. (IV,4) geht Syra, während Lysimachus nur zehn Verse spricht, zu dessen Schwiegervater, und kehrt mit der Nachricht zurück, er sei auf dem Lande. In den Bacchides geht Mnesilochus, während Pistoklerus nur vier Verse sagt, zu seinem Vater, erzählt ihm eine sehr verwickelte Sache und verschafft mit Mühe einem betrügenden Sklaven Verzeihung, was inner- halb der Zeit ganz unmöglich ist. Dieser Übelstand fällt dahin, wenn man den Akt mit der fünften Scene schliefst, was aber freilich in andere Schwie- rigkeiten verwickelt. Eben so unbegreiflich bleibt, wann Chrysalus den zweiten Brief von Mnesilochus schreiben läfst? denn IV,4, wo beide sich trennen, ist davon noch nicht die Rede, und sie kommen gar nicht wieder zusammen. Vielleicht erklärte sich die Sache am leichtesten, wenn der Akt nach der achten Scene zu Ende ginge, oder doch ein Zeitablauf angenom- men, und die Bühne leer würde. Genauer, meinen Einige, habe man es mit der Einheit des Orts ge- nommen; kann man denn aber von einer solchen Einheit sprechen, wo der Ort so ganz bestimmungslos, so negativ genommen wird, dafs er eigentlich gar nicht mitspielt, sondern nur einen Raum bezeichnet, hinreichend, dafs Leute daselbst gehn, stehn und reden können? Zuletzt heifst es freilich: dieser Raum sei eine Strafse, mit welcher Erklärung oder Dekoration aber gar nichts gewonnen ist; denn es fragt sich: warum kommen denn die Leute 184 von Raumer auf die Strafse? Ihr Erscheinen und Zusammentreffen ist nur zu oft ganz willkürlich, ja abgeschmackt, z. B. wenn Ennomia in der Aulwlaria (U, 4,14) aus ihrer Wohnung auf die Strafse geht, um sich hier mit ihrem Bruder freundlich und heimlich zu besprechen, Eben so unnatürlich wird im Miles gloriosus die Stralse zu einer geheimen Berathung auserwählt, wo die Sprechenden natürlich in steter Besorgnifs bleiben, dafs jemand um die Ecke kommen und sie sehn werde. Selbst die sonst realistischen Liebessce- nen sind dahin gelegt, weshalb der Sklave Palinurus im Cureulio (I, 3,30) sehr mitleidig sagt: Viden’ ut misere moliuntur! Nequeunt complecti satis. Wäre die Einheit des Orts damit gewonnen, dafs man alle Leute auf die Strafse schickte, so könnte man vielen neuern Lustspielen diesen Vorzug verschaffen. Ich halte es aber vielmehr für einen, wesentlichen Vor- zug, dafs der in den alten Lustspielen ganz abstrakte, leere Raum, in den trefflichsten Lustspielen der neuern Zeit ein concreter, bestimmter, mitspie- lender, individueller geworden ist. Erst dadurch ist die ächte Mannigfaltig- keit zu einer höhern Einheit gefunden, es erheben sich die Umgebungen zu mithandelnden Personen, und ein Reichthum von Gedanken und Gefühlen dringt auf uns ein, der in jenem leeren Raume gar nicht erzeugt werden kann, oder sogleich verschwindet. Zum Beweise versuche man nur einmal Romeo und Julie, oder den Kaufmann von Venedig aller positiven Ortsbestimmun- gen zu entkleiden und in einer negativen Wüste abzuspielen; wie viel von & dem Edelsten und Schönsten müfste dabei zu Grunde gehn, ja rein unmög- lich erscheinen. Obschon diese Einreden gegen das mehr Formale nicht unerheblich sind, läfst sich doch gegen die Fabeln, Charaktere, mit einem Wort gegen alles Wesentliche, noch mehr anführen. So ist zuvörderst die Zahl der erscheinenden Charaktere sehr gering; ja statt der Individuen treten eigentlich nur allgemeine Begriffe auf: ein prahlerischer Soldat, ein Schmarotzer, Alte zu strenge oder zu mild, Söhne ohne Geld, Huren und Hurenwirthe, erschöpfen fast den ganzen Kreis der komischen Begriffe. Dafs nun diese Begriffe in verschiedenen, wenig an- ders gewendeten Fabeln im Ganzen dasselbe abspielen, zeigt eher Armuth, 5 als Reichthum. über die Poetik des Aristoteles. 185 Nicht selten beruhn die Fabeln und Wendungen weit mehr auf Lüge, Willkür und Zufall, als auf den innern, nothwendigen Gang der Handlung; nicht selten sind sie so geringhaltig, ja unwürdig, dafs sie eine künstlerische Behandlung weder verdienen, noch erlauben. Im Cureulio z.B. besteht der Hauptwendepunkt darin, dafs der Parasit einen Ring stiehlt, womit andere betrogen werden. Vor allen Dingen ist aber das Verhältnifs der Geschlech- ter und die Ansicht von der Liebe nicht zu rechtfertigen. Wenn wir nämlich auch zugeben, dafs diese in unsern Tagen oft zu sentimental und schwäch- lich erscheint, Kraft, Muth und Thätigkeit zerstört, und dafs man sich in Andeutung und Behandlung des Physischen viel zu ängstlich benimmt; so finden sich doch in jenen alten Lustspielen weit schwerere Gebrechen. Von würdigen Ehen und edler Liebe ist fast nirgends die Rede, alles dreht sich.um Schulden machen, betrügen und huren. Der Einwand: man würde es im Alterthum für unschicklich gehalten haben, wenn edle Frauen und unbescholtene Mädchen im Lustspiele aufträten, hat seinen guten Grund; verstärkt aber nur unsere Behauptung, dafs man nicht verstand diese höhern Richtungen in die Kunst, zur Reinigung und Verklärung derselben, aufzu- nehmen. Ja wir behaupten mit Schleiermacher (Platons Werke III, 1, S.34), dafs nicht blofs die Komiker, sondern auch die Philosophen (ein- schliefslich Platons) in der blofs sinnlichen Ansicht des Geschlechtsverhält- nisses befangen waren. Mithin hätten zuletzt die ehrbaren Frauen und Mäd- chen keine wesentlich höhere Ansicht auf die Bühne bringen können; die Liebe, in ihrer edelsten Entwickelung, ist eine neuere, germanisch - christ- liche Erscheinung. Im Pseudolus erhebt der Vater grofsen Lärm über die Liebschaft sei- nes Sohnes und die sich daran knüpfenden Ausgaben. Als aber Pseudolus den Hurenwirth um das Mädchen betrogen hat und sagt: ; — Mulier hacce (V, 2,15) Feci cum tuo filio libera accubat; antwortet der Vater: Omnia, ut quidquid egisti ordine, scio! Im Mercator ist der Vater auf unwürdige Weise Nebenbuhler des Soh- nes, und es heifst: Neu quisquam posthac prohibeto adulescentem filium, Quin amet et scorlum ducat (V, 4). Histor, philolog. Klasse 1828. Ara 186 von RAUMER Als Zeichen guter Lebensart rühmt im Miles gloriosus IH, 1 ein Alter von sich: Neque ego usquam alienum scortum subigito in conpivio. In der Casina lieben Vater und Sohn ein Mädchen, und jeder will sie verheirathen, um bequemer mit ihr leben zu können; ja der Alte sagt seinem Bräutigam die Absicht, ohne Widerspruch von ihm zu erfahren. Ein andermal (Bacchides I, 1) mufs ein Pädagog dem jungen Herrn ins Hurenhaus folgen, welcher in dessen Gegenwart manum sub vestimenta ad corpus detulit Bacchidi. Auf Klage des Erziehers giebt der Vater zur Ant- wort: er habe es auch so gemacht, und das Ende ist, dafs apud lenones riva- les filüis fierent patres! Ähnliches geschieht in der Asinaria. Am schwersten zu rechtfertigen unter allen dürfte endlich der Amphi- truo sein. Auf die Gefahr, ein puritanischer Pedant gescholten zu werden, will ich nicht läugnen, dafs mir Merkurs Kuppeln für seinen Vater, die dop- pelte Schwangerschaft, Jupiters Benehmen an dem Tage der Niederkunft, das Verlangen, Amphitruo solle sich alles noch zur Ehre rechnen, dafs dies und Ähnliches mir nicht der ächten, komischen Heiterkeit und Schönheit angemessen erscheint. Ich kann mich der Empfindung nicht erwehren: hier zeige sich ein nıcgev der Sitten und des Gefühls, eine Unnatur in den Ge- schlechtsverhältnissen, eine widerwärtige Stellung von Göttern und Men- schen, die nicht blofs das Conventionelle verspottet, sondern das Edelste und Wesentlichste mit Füfsen tritt, und niemals hätte Gegenstand neuerer Nachahmung werden sollen. Und bei all dieser Freiheit, ja Frechheit der Behandlung, fehlt es doch an recht lustigem und übermüthigem Witze; die meisten Charaktere halten sich in trockener Mittelmäfsigkeit, oder werden Karikaturen, wie z.B. die Schmarotzer und Prahler. Falstaff ist reicher, eigenthümlicher, persönlicher, witziger, als jene verwandte Charaktere des Alterthums. Mit der bisweilen vorgebrachten Rechtfertigung: Charakterkomödien bedürften der Individualität weniger oder gar nicht, kann man sich so wenig be- gnügen, als wenn jemand sagte: die Individuen bedürften keines Charak- ters. Beim Lesen des Plautus ist der Gedanke fast unabweislich: ob denn das Verwickeln und Entwickeln solcher Historien, Betrug, Lügen, Geld- noth, Beischlaf, Prügel u. dgl. wirklich Poesie sei, ob dies, so gestellt, nicht unter derselben liege, und das poetische Lustspiel wesentlich von diesen über die Poetik des Aristoteles. 187 Dramen verschieden sein müsse? Meines Erachtens gehören zu jenem andere Ereignisse, Personen, Ansichten, Leidenschaften, Gefühle. Auch werden die gerügten Mängel keineswegs immer durch Gewandt- heit der Behandlung ausgeßlichen. Manche Scenen kehren durchaus ähnlich wieder, z.B. Prahler und Schmarotzer, Boten, die da schreien und alles vor Eile umzurennen drohn, während sie den nicht erblicken, den sie suchen, weil ihre entbehrlichen, anderweiten Reden noch nicht zu Ende sind (z.B. Curculio U, 3. Epidieus I, 2). Oft rückt die Handlung, solcher breiten Re- den willen, nicht von der Stelle (z. B. Miles gloriosus II, 1, Mercator V, 2), ja in dem letztgenannten Stücke (I, 2) schwatzt ein Sklave 78 Verse, ehe er zu dem kömmt, was er seinem Herrn eiligst erzählen will, und zwar sind diese Umschweife keineswegs so wohlbegründet und lustig, wie etwa die Lanzelot Gobbo’s im Kaufmanne von Venedig. Überhaupt will mir die so oft gepriesene vis comica der plautinischen Lustspiele nicht recht einleuchten. Zu eigentlichen Schlägen des Witzes kömmt es seltener, als zu Schlägen anderer Art, und des Lächerlichen ist weit weniger, als bei den vorzüglich- sten der neueren Lustspieldichter. ‚Wie das falsche Verhältnifs der Geschlechter alle höhere, geistige Liebe, würdige Familienverhältnisse, wechselseitige Hingebung, Bezugnahme auf lebenslängliche Einigung u. s.w. ganz zurückdrängt; so verdirbt das Ver- hältnifs der Sklaven eine Menge von Situationen, die sich itzt freier, und schon deshalb mannigfacher darstellen. Die Heinriche und Pernillen, Be- diente und Kammerjungfern, Gratiosos und Clowns bieten ganze Reihen von Individuen, während sich bei den Alten alle auf zwei bis drei Formen redu- ceiren. Die Wichtigkeit, welche selbst Aristoteles auf die Wiedererkennungen legt, und ihr häufiges Vorkommen deutet ebenfalls einen Mangel der öffent- lichen Verhältnisse an; denn Raub, Verkaufen, Aussetzen der Kinder u. dgl. führt zu jenen Verwickelungen und zufälligen Lösungen. Man stelle den 20 plautinischen Lustspielen 20 von Calderon und Moliere, oder eine geringere Zahl Shakspeare’s gegenüber, und es dürfte leicht werden zu beweisen: dafs hier die Farben reicher sind, die Charaktere mannigfacher und individueller, der Witz treffender, die Handlung sittlicher und edler und der Scherz dennoch lustiger und ergreifender. Aa2 Inhalt. Einleitungzuan. St AR A NER erhielten ae Seite 113 I. Von der Nachahmung, als höchstem Grundsatze der Kunst. 2.222 ccee 2200: - 117 II.. _ Von:den Arten des!Nachahmiens:.s.easss peter sfeleusugean seele ernennen realer eierendte s..- ‚120 U. Vom: Lustspielem: use seen as siegen a are ee ersielenn e snlenn eknerei - 124 IV. Von der Definition des Trauerspiels. ........e-orr-soeosreonnunneonnanns - 125 V. Von der Reinigung der Leidenschaften. .........owesnenonensonnnennnene - 133 VI. Über den Grund des Vergnügens an tragischen Kunstwerken. .....e....... - 139 VI. Von dem Verhältnisse der Kunst und insbesondere des Drama zur Siitlichkeit - 141 VIN. Über Freiheit und Nothwendigkeit, Schicksal und Vorsehung. ...........- - 149 IX. -/Vion.den drei Einheiten? sa. ee. 000 0uc an ais.a fa tn edel nee een sie areas - 152 X. Über das Verhältnifs der Dichtkunst zur Geschichte. 2.2 22222222esee re - 156 XI. Über das Verhältnifs des Aristoteles zur neuern, insbesondere romantischen Dichtkunst ha a ee “ 166 4:>Galderön Han Ms RMENSEHE Des ähle Auen - 171 2. 'Shakspeare. u... a: Asa seat en er - 174 BG oethe nn: Senegal teten enerekereer eek ee Seslnenfitltenge - 175 4: Schiller:s..« .8seysasre sterne etererensiegeretelee Bar leefselat srereterere.e lee ee - 176 vH Neuererdeutsche Tragıkers.. a0. .eeie sie sun ae nelasejelneerrels - 179 Zusatz über Plautus und die Komödie der Alten ... 22.2 2cseeeeeeeeneneee en - 181 nn nn an nn Über Eudoxus. Erste Vorlesung. Y Von 7.7 D mE BR AViITimLiTUrUUn [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 31. Jul. 18283.] Re den griechischen Schriftstellern der bessern Zeit, deren Werke verlo- ren gegangen sind, gehört Eudoxus zu den berühmtesten und verdienstvoll- sten. Die Alten erwähnen ihn überall mit der gröfsten Achtung. Cicero (') nennt ihn in astrologia iudieio doctissimorum hominum facıle princeps, Sextus Empiricus (?) betrachtet ihn und den Hipparch als die Repräsentanten der Sternkunde der Griechen, und Diogenes Laertius versichert (°), man habe ihn seines grofsen Rufs wegen "Evds£es statt Eddofes geheifsen. Es wer- den ihm die Prädikate Geometer, Astronom, Arzt, Philosoph und Gesetzgeber beigelegt (*), und vergleichen wir die zahlreichen Stellen, die seiner gedenken, so überzeugen wir uns, dafs er der erste unter den Griechen war, der die Namen eines Naturforschers und vielseitigen Gelehr- ten verdiente. Besonders viel haben ihm die Geometrie und Astronomie zu verdanken. Die erste erweiterte er durch Entwickelung der wichtigsten Wahrheiten, und zur andern legte er den eigentlichen Grund; denn da sich bis auf ihn die Philosophen meistens begnügt hatten, über kosmologische Gegenstände nach willkührlichen Prämissen zu grübeln, galten ihm Erfah- rung und Beobachtung als die einzigen Quellen der Erkenntnifs im Gebiete (1) De div. II, 42. (?) Adv. Mathem. 1.V. im Anf. (?) De vitis phil. VIU, 91. (*) Eb. und Suidas v. Evdo&os. 190 ö IpvevLer der Naturkunde. Ungeachtet er zu den Philosophen gerechnet wird, gehört doch von den zahlreichen Placitis philosopherum, mit denen uns Plutarch bekannt macht, kein einziges ihm an. Er war ein ganz praktischer Kopf, der für die eben so unfruchtbare als beliebte Naturphilosophie seiner Zeit durchaus keinen Sinn hatte. Wie frei er von Vorurtheilen aller Art war, geht schon daraus hervor, dafs er sich, wie Cicero von ihm rühmt ('), nachdrücklich gegen die Sterndeuterei erklärte, die damals in Griechenland Eingang zu finden begann. Es scheint mir kein unverdienstliches Unternehmen zu sein, die Ge- schichte und Leistungen eines solchen Mannes zum Gegenstande einer eigenen Untersuchung zu machen. Es ist dies bereits in einer 1715 zu Helmstädt er- schienenen akademischen Dissertation geschehn (?); mit welchem Erfolge kann ich nicht sagen, da ich mich vergeblich nach dieser Schrift umgesehen habe. Schwerlich wird sie aber eine Ausnahme von so vielen Monographien ihrer Zeit machen, ich meine etwas mehr sein, als eine magere Compilation einer Masse von Stellen. Dafs die Litteratoren und Geschichtschreiber der Philosophie, Mathematik und Astronomie, Gerhard Johann Vossius und Fabricius, Stanley, Jonsius und Brucker, Heilbronner und Montucla, Weidler, Bailly, Schaubach und Delambre, mehr oder minder ausführlich von Eudoxus handeln, bedarf keiner Erwähnung; allein noch immer bleibt für den Forscher, der sich durch keine Autorität leiten lassen will, manches zu untersuchen, zu beurtheilen und zu berichti- gen übrig. Meine Absicht ist, in gedrängter Kürze eine kritische Übersicht über die Lebensumstände, Schriften und Verdienste des berühmten Griechen zu geben und besonders aus einander zu setzen, wie viel er zur Beförderung der Geometrie und Astronomie unter seinem Volke beigetragen hat. Derihn betreffenden Stellen ist eine grofse Anzahl; ich hoffe aber, dafs mir keine der wichtigeren entgehen soll. Sie stehen sehr zerstreut; denn aufser dem (') Ad Chaldaeorum monstra veniamus, de quibus Eudoxus .... sic opinatur, id quod scriptum reliquit: Chaldaeis in praedictione et in notatione euiusque vilae minime esse credendum. Herodot, zu dessen Zeit blofs erst die Dichter in Griechenland Gebrauch von ihr gemacht haben sollen (11, 82), findet ihren Ursprung in Ägypten; es leidet aber kei- nen Zweifel, dafs sie zuerst von den Chaldäern in ein System gebracht worden ist. (?) Just. Christ. Boehmeri Dissertatio de Eudoxo mathematico, medico et legislatore, respondente Jo. Andrea Schmidt. über Eudoxus. 191 von ihm handelnden Artikel beim Diogenes Laertius (?) findet sich nichts zusammenhängendes über ihn bei den Alten vor. Zu bedauern ist, dafs die Schrift eines gewissen Phanocritus über ihn, deren Athenäus gedenkt(?), und die Geschichte der Astronomie von Eudemus verloren gegan- gen sind. Die Alten bringen überall den Eudoxus mit Plato in Verbindung. Bald nennen sie ihn einen Zeitgenossen (°), bald einen Zuhörer (*), bald einen Freund (°), bald einen Gesellschafter (°) desselben. Um also seine uns sehr schwankend überlieferten Zeitverhältnisse richtiger beurthei- len zu können, wird es nöthig sein, sie an die bekannteren des Plato zu knüpfen. Folgende Zeitbestimmungen werden uns genügen (7). Der Philo- soph wurde im dritten Jahr der 87°“ Olympiade geboren. Euripides starb Ol. 93, 3 und Socrates Ol. 95, 1. Danun Cicero sagt (°): audisse le credo, Platonem, Socrate mortuo, primum in degyptum discendi causa, post in Italiam et in Siciliam contendisse, so kann er Ägypten nicht, wie es beim Diogenes Laertius heifst (°), in Euripides Gesellschaft besucht haben. Noch weniger hat er daselbst, wie Strabo gehört haben will (!°), dreizehn Jahre mit Eudoxus gelebt, denn da er erst nach seiner Rück- kehr aus Ägypten und Sicilien um die 98° Olympiade öffentlich zu lehren angefangen haben kann, so mufs Eudoxus später sein Zuhörer geworden sein, was auch mit allem, was wir sonst von den Verhältnissen beider wis- sen, übereinstimmt. Noch bemerke ich, dafs Plato im ersten Jahr der 108'"Olympiade gestorben ist, nachdem er vierzig Jahre in der Akademie ge- lehrt hatte. (') VIII, 86-91. Gröfstentheils nach Sotion, der ein Werk unter dem Titel Arcöo- ya Tuv biroseduv geschrieben hatte. (©) 1. VII, p. 276. 2) Wezvsrs beim Suidas. *) Äduditor beim Cicero .a.a.O. 5) “Ereisos beim Strabo, 1.XIV, p.656, und beim Proclus, in l.I. Eucl. p.19. ) ) 6) XursSys beim Plutarch, contra Colotem c.32. De SS. Trinitatis Dectrina, 1.11, e.1und 2, p.81 ff. °) De republ. I, 10. ) °) II, 6. ‘0) ].XVII, p. 806. (”) Man vergleiche Jo. Lami’s gründliche Untersuchungen über diesen Gegenstand. e 192 IpevLer Wir wollen nun die zerstreuten Nachrichten, die uns von Eudoxus Lebensumständen überliefert sind, zusammenstellen. Er war ein Sohn des Aeschines und aus Cnidus gebürtig (!). Wir kennen weder sein Geburts- noch Todesjahr. Wenn er aber, wie Sotion beim Diogenes La£rtius versichert, den Plato in seinem drei und zwanzigsten Jahr gehört hat, so kann er nicht vor der 93" Olympiade geboren sein, und da er nicht älter als drei und funfzig Jahre geworden ist, so müssen wir seinen Tod spätestens in die 107“ Olympiade setzen. Er war also etwa zwanzig Jahre jünger als Plato und starb einige Jahre früher. Man sieht demnach, wie sehr Eusebius irrt, wenn er die Blüthe des Eudoxus einmal an Ol. 89, 3, und anderswo an 01.97, 1 knüpft (?). Richtiger setzen sie Apollodorus beim Diogenes Laörtius und der ungenannte Verfasser der "Avaygapı "Oruuriadwv bei Scaliger (°) in die 103' Olympiade (*), oder in die Jahre 368 bis 364 vor Christi Geburt. Als seine Lehrer werden uns Archytas, Philistion und Plato ge- nannt. Dafs er von dem ersten in der Geometrie, von dem zweiten in der Arzneikunde unterrichtet sei, versichert Callimachus beim Diogenes Laertius (°). Er mufs also eine Reise nach Grofsgriechenland gemacht ha- ben, wo beide lebten; wir wissen aber nichts Näheres davon (°). (‘) Das erste sagen Diogenes Laärtius und Suidas; das andere steht an hundert Stellen. (?2) Im den Fragmenten seines Chronicon beim Josephus Scaliger. Im armenischen Text wird nur Ol. 89, 3 genannt. Wenn Gellius N.A. XVII, 21 sagt: Neque multo post (nach der Einnahme Roms durch die Gallier, a.u. 364, 01.97,3) Eudoxus astrologus in terra Graccia nobilitatus est, so ist diese Angabe schon defshalb verdächtig, weil er durch einen argen Anachronismus hinzusetzt: Zacedaemontique ab Atheniensibus apudCorinthum superati duce Phormione. Dieser Sieg gehört in Ol. 87,4. (°) Thes. temp. p.325 ed. 1658. (*) Hieraus macht Scaliger in seinen Anmerkungen zum Eusebius p.107,2 ein Alter von 103 Jahren. (?) Man hatte von dem Dichter Callimachus ein Werk in 120 Büchern des Titels: Ikvexes Tov Ev masn radsig deren arm zul wv Funiygenl av (Su idas ) 3 einen Catalog, worin die Namen, Lebensumstände und Schriften der Autoren kurz angegeben waren. (°) Archytas, bekanntlich ein Tarentiner, war einer der späteren Pythagoreer, wefs- halb Tamblichus (in Nicomachi Geraseni Adrithmetica p.11) und einige Neuere, als über Eudoxus. 493 Früher noch als diese Männer scheint er den Plato gehört zu haben, wenn er damals, wie Sotion beim Diogenes behauptet, wirklich nicht älter als drei und zwanzig Jahre war. Von dem Rufe der Sokratiker getrieben begab er sich mit dem Arzt Theomedon, der ihn bei seiner grofsen Ar- muth unterstützte, nach Athen, und ging vom Piräeus täglich in die Stadt, um die Hörsäle der Philosophen zu besuchen. Schon nach zwei Monaten soll er nach Hause zurückgegangen sein. Dies ist freilich nicht sehr glaub- lich; darum mufs man aber doch mit Meiners (') an der ganzen, auch vom Cicero bestätigten, Nachricht, dafs er Plato’s Schüler gewesen, nicht zweifeln wollen (?). Später, nachdem er sich selbst eine Schule gebildet hatte, kehrte er nach Sotion noch einmal in Begleitung derselben nach Athen zurück, um den Plato zu kränken, weil ihm dieser bei seinem frühern Aufenthalt da- selbst Geringschätzung bewiesen haben soll. Hiernach müfste also zwischen beiden kein besonders freundschaftliches Verhältnifs bestanden haben, was jedoch mit den übrigen Nachrichten keinesweges übereinstimmt. Jene Schule errichtete er in Cyzicus, wo er eine geraume Zeit gelebt und auch die meisten seiner Werke geschrieben haben mufs. Vorher hatte er eine Reise nach Ägypten gemacht. Dafs er, von Wilsbegierde getrieben (*), dieses Land besucht und mit den dortigen Priestern verkehrt habe, läfst sich nicht bezweifeln, wenn gleich die Nachrichten widersprechend lauten. Beim Strabo heifst es (*): ‚Zu Heliopolis zeigte man mir die Behausungen der Priester, wo Plato und Eudoxus gewohnt hatten. Eudoxus ging näm- lich mit Plato dorthin, und sie verweilten daselbst, wie einige sagen, drei- —- Bailly, den Eudoxus ohne Weiteres einen Pythagoreer nennen. Philistion, nach Callimachus cin Siculer, nach anderen ein Locrer, wird von einigen für den Verfasser des Werks regt Ötwrns üyızıvzs gehalten, das den Namen des Hippokrates trägt. S. Fabr. Bibl. Gr. Tom. Xlll, p.366 d.a. A. (') Geschichte der Wissenschaften der Griechen und Römer, Th.I, S.296. (*?) Man sche, was ein Recensent in der Amsterdamer Bibliotheca eritica Vol. 11, P.VIIL S.115 hierüber bemerkt. (°) Nicht um Geld vom Könige zu betteln, wie Philostratus (Fila Apoll. Tyan.1, 35) behauptet, der dasselbe auch den Plato und anderen Philosophen nachsagt. (*) An der schon oben angeführten Stelle des siebzehnten Buchs. Histor. philolog. Klasse 1828. Bb 194 IrD’EIhLENR zehn Jahre im Umgange mit den Priestern. Da diese zwar in der Himmels- kunde sehr bewandert, aber geheimnifsvoll und wenig mittheilend waren, so brachten sie es durch langwierige Aufmerksamkeit und Huldigung endlich so weit, dafs sie einige ihrer Sätze erfuhren; das meiste hielten jedoch die Bar- baren zurück.’ Hier zeigt sich der Geograph schlecht unterrichtet. Nach Allem, was wir von Plato’s Lebensumständen wissen, kann er nicht drei- zehn Jahre in Ägypten gewesen sein (!). Auch lauten die Nachrichten beim Diogenes Lae@rtius ganz anders. Auf die Autorität des Sotion berichtet er, Eudoxus sei, von seinen Freunden unterstützt, in Gesellschaft des Arztes Chrysippus(?) nach Ägypten gegangen, mit Empfehlungsbriefen von Agesilaus an den König Nectanabis, der ihn wieder den Priestern empfohlen, und habe sich daselbst ein Jahr und vier Monate aufgehalten, sich dergestalt ägyptisirend, dafs er sich Bart und Augenbraunen scheren lassen. Es wird nöthig sein, hier einen Blick auf die Geschichte Ägyptens während des in Rede stehenden Zeitraums zu werfen. Unter Darius I (Nothus), Ol. 91, vor Chr. 414, rifs sich Ägypten wieder von der per- sischen Oberherrschaft los, unter der es seit Cambyses gestanden hatte, ) von griechischen Hülfsvölkern unterstützten, Königen. Natürlich ward und genofs nun 64 Jahre lang eine Art von Unabhängigkeit unter eigenen, durch diese politische Verbindung der Verkehr und die gegenseitige Ideen- mittheilung, die schon unter Amasis sehr lebhaft gewesen war, noch aus- gebreiteter und allgemeiner, und die Griechen wurden mehr als je zuvor in Ägypten bekannt. In diese Periode gehören die Reisen des Plato und Eudoxus, die aber nicht gleichzeitig gewesen sein können. Der Necta- nabis oder Nectanebis, dem der letztere Empfehlungsbriefe überbrachte, ist vermuthlich der zweite dieses Namens, welcher von O1. 104,3 bis 107,3, wo sich die Perser unter Artaxerxes Ochus nochmals Ägyptens bemäch- ligten, regierte und mit Agesilaus, der ihm zum Thron verholfen hatte, in Bündnifs stand. Eudoxus kann also nicht früher als 362 v. Chr. in Ägypten gewesen sein. Wollte man annehmen, dafs er schon unter (') Glaublicher sind die drei Jahre in der Epitome des Strabo. (?) Vermuthlich desselben, der nach PliniusH.N.XX, 33 de laudibus brassicae ge- schrieben. über Eudoxus. 195 Nectanabis I dahin gekommen sei, was jedoch minder wahrscheinlich ist, so könnte es immer nicht vor Ol. 101,2, v. Chr, 375, geschehen sein, wo dieser König zur Regierung gelangte. Von seinem Aufenthalt in Agypten reden unter andern Diodor und Seneca. Der erste nennt (!) alle die Griechen, die nach der Versicherung der Priester Agypten besucht haben, und von deren Anwesenheit Bildnisse und andere Monumente Zeugnifs abgelegt haben sollen. Unter diesen ist auch der Astronom Eudoxus. Der andere sagt von ihm (?), er habe zu- erst die Kenntnifs des Laufs der Planeten aus Ägypten nach Griechenland gebracht. Wir werden unten hierauf zurückkommen. Der Priester, mit welchem Eudoxus in Ägypten besonders in Be- rührung kam, hiefs Chonuphi(°). Plutarch (*) schildert ihn als einen unterrichteten Mann, von dem sich Agesilaus die Erklärung gewisser Schriftzüge erbeten. Diogenes La&ertius nennt ihn einen Heliopolitaner und erzählt nach Phavorinus die Anekdote, dafs, als Eudoxus mit ihm in Memphis gewesen, der Apis das Gewand des Griechen geleckt habe, worauf die Priester erklärt hätten, er werde berühmt — &vdo&es — aber von kurzer Lebensdauer sein. Diogenes theilt ein Epigramm auf diese Ge- schichte mit, das er selbst gemacht haben will. Es lautet bei ihm sehr ver- derbt. Lesbarer gibt es die Anthologie (°). In demselben findet sich die Zahl 53 der Lebensjahre des Eudoxus mit Worten ausgedrückt, so dafs über diesen Punkt kein Zweifel obwalten kann. In welche Zeit sein Aufenthalt in seiner Vaterstadt zu setzen sei, läfst sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Strabo gedenkt (°) seiner Stern- warte — oxorn — von der er den tiefeulminirenden Canopus beobachtet habe. Diogenes redet von einem Yydırua, das die grofse Ehre bekundet haben soll, mit der seine Mitbürger den zu ihnen zurückkehrenden aufge- KO)LIST,. e:98, (?) Quaest. Nat. VII, 3. (°} So beim Plutarch de genio Socratis c.7. De Iside et Osiride c.10 steht Chonu- phis, beim Clemens Alexandrinus Strom. 1.I. p.303 ed. Sylb. Conuphis, beim Diogenes Ichonuphy. (*) De genio Socralis c.8. (?) Pag.79 ed. Wechel. (Oekiiep2 119% 196 IDELER nommen hatten. Auf die Autorität des Hermippus, der über die sieben Weisen Griechenlands geschrieben, berichtet er, Eudoxus sei der Ge- setzgeber seiner Mitbürger gewesen. Auch Plutarch versichert (!), dafs er den Cnidiern, so wie Aristoteles den Stagiriten, Gesetze gegeben. Wenn dagegen Theodoretus sagt (?), er sei der Gesetzgeber der Mile- sier gewesen, so emendirt Menagius(°) dreist r@v Kvıöiwv statt r@v MiAy- riwv. Konnten sich aber nicht auch die benachbarten Milesier von ihm Ge- setze erbeten haben, von ihm, der nach Diogenes Laertius in ganz Griechenland in hohem Ansehn stand’? Noch ist der Besuche zu gedenken, die er nach seinem eben genann- ten Biographen dem Könige Mausolus in Carien und nach Aelian (*) dem Tyrannen Dionysius in Syracus abgestattet hat. Der erste starb O1. 106, 4(°), und der jüngere Dionysius, von dem die Rede zu sein scheint, regierte von 01.103,14 bis 109,2. Plato besuchte ihn noch in seinem hohen Alter, wie Gellius sagt (°), bald nach dem Jahr 400 der Stadt Rom oder nach O1. 106,3. Gleichzeitig mufs Eudoxus seine Reise nach Sicilien gemacht haben. Aelian erzählt nämlich von ihm, er habe dem Dionysius, der es ihm sehr Dank gewufst, dafs er zu ihm gekom- men, gegen alle Hofmanier geantwortet, er sehe in ihm blofs einen tüchti- gen Gastwirth — ravderea ayaSov — bei dem auch Plato eingekeht sei. Diese Reise müfste hiernach in eins seiner letzten Lebensjahre gehören. Wenn ein Ungenannter in einem Anhange zu des Ptolemäus Fixstern- erscheinungen von ihm versichert (7), er habe die Gestirne in Asien, Italien und Sicilien beobachtet, so scheint dies vorauszusetzen, dafs er sich eine geraume Zeit in der Insel aufgehalten hat, und dafs die Reise da- hin früher anzusetzen ist. (') Contra Colotem c. 32. (?) Sermo IX. Opp. ed. Syrm. Vol.IV.p. 609. (°) In seinen Anmerkungen zum Diogenes. (4). ‚Zar. Hist.N1}17. (?) Nach Usher’s Annalen. Es scheint dies richtiger, als die Angabe des Plinius (H.N.XXXVI, 4), dafs der König Ol. 106, 2 gestorben sei. XVII 21. Im Uranologium des Petavius p.53 der Ausgabe von 1703. über Eudoxus. 197 Dies ist Alles, was wir von den Lebensumständen des Eudoxus wis- sen. Ob seine drei Töchter Actis, Delphis und Philtis, die Dioge- nes und Suidas nennen, dem Vater wirklich beinahe gleich gekommen sind, wie Eudocia wissen will('), und in welcher Beziehung, lassen wir dahingestellt sein. Wir gehen nun zu seinen Schriften über. Den Inhalt derselben gibt Diogenes im Allgemeinen mit den Worten an: er schrieb dsgorsygueva, rat YEuuergäusva zul Ereg‘ arra aEıoroya, astronomische, geometrische und andere schätzbare Sachen. Dafs hiemit von keinem seiner Werke der eigentliche Titel genannt sei, ist klar, wenn gleich einige Litteratoren Tew- METgSILEVG als einen solchen betrachtet wissen wollen. Seine beiden Haupt- werke im astronomischen Fach führten die Titel "Evorrgev, Spiegel, und »awöusve, Himmelserscheinungen. Ihren Inhalt kennen wir mit Si- cherheit aus dem Commentar, den Hipparch über beide und über die Phaenomena des Aratus geschrieben hat (*). Sie handelten von der Ge- stalt und Stellung der Sternbilder, von den Hauptsternen, von ihren Con- figurationen, von ihren Auf- und Untergängen u.s. w., und waren mit sehr geringen Ausnahmen fast in allen Punkten übereinstimmig (°). Aratus, der nicht selbst Beobachter war, hat in dem astrognostischen Theil seines Gedichts, wie Hipparch versichert und durch viele Zusammenstellungen beweiset, fast nichts weiter geleistet, als dafs er beide Werke, besonders das zweite, von welchem er auch den Titel beibehielt, in Verse übergetra- gen hat. Der ungenannte Verfasser seines Lebens (*) erzählt, der König (') FPiol. S.193 der Anecdota Graeca von Villoison. (2) Tav "Agarz zu Evödc&z bamwonesvuv En ynsewv Rıßrıa y. Das einzige, vielleicht un- wichtigste, Werk dieses grofsen Astronomen, welches auf uns gekommen ist. Es findet sich in der eben gedachten Sammlung des Petavius. 0) Syuhbuve Zare mare y,sdor arAYRCS, mArv orıyan spodge, wie H ipparch L, 2 sagt. Montucla irrt also, wenn er behauptet (Mist. des Mathematiyues, Vol.I, p.184), das Werk "Evorrgov habe die Gestirne beschrieben und das andere von ihren Auf- und Unter- gängen gehandelt. Eben so unrichtig ist des Meursius Ansicht (ad poll. Dysc. p. 123), dafs Bawoueve der allgemeine Titel der Gestirnbeschreibung- des Eudoxus gewesen sei, und dafs das Werk aus zwei Büchern unter den besonderen Titeln ’Evorr bestanden habe. (*) In Buhle’s Ausg. Th. II, S.431. Hier steht Karorrgov statt des von Hipparch so häufig genannten "Evorroov. gov und Paıwcrsve 198 IDvzsLenr Antigonus Gonatas von Macedonien habe dem Dichter, der an seinem Hofe als Arzt lebte, aufgegeben, die prosaisch — »zararoyadyy — geschrie- bene Gestirnbeschreibung des Eudoxus metrisch zu bearbeiten und ihn da- durch noch eüdc£öreges zu machen. Die Folge davon war, dafs die poetische Paraphrase die beiden Originalwerke, denen sie, wie Delambre gewifs nicht ohne Grund urtheilt (1), an Bestimmtheit, Methode und Ausführlich- keit nachstand, verdrängt, und sich, vielfach commentirt, übersetzt und nachgebildet, bis zu uns fortgepflanzt hat. Suidas legt dem Eudoxus eine Astronomie in Hexametern — "Asgevenia di Erav — bei. Plutarch versichert (?), dafs er, eben so wie Hesiodus und Thales, ein astronomisches Gedicht geschrieben habe. Fabricius und Heilbronner (°?) verwerfen diese Notiz, weil die vielen Bruchstücke, die Hipparch aus beiden Gestirnbeschreibungen eitirt, in Prosa sind. Sollte dies aber Grund genug sein, ihm, der von der Stern- kunde so begeistert war, ein Gedicht über seine Lieblingswissenschaft abzu- sprechen? Nach Plutarch (*) soll er geäufsert haben, er wolle gern wie Phaöton verbrennen, wenn es ihm nur vergönnt würde, die Natur der Sonne zu erforschen, und Petronius (°) will gar gehört haben, dafs er bis in sein Alter auf einem hohen Berge gelebt habe, um die Bewegungen der Sterne zu beobachten. Ohne Zweifel ein Mährchen, das aber die hohe Verehrung zu erkennen gibt, die man ihm für die Astronomie zuschrieb. Freilich wenn es mit seinem astronomischen Gedicht nicht besser stand, wie mit de- nen des Hesiodus und Thales, deren Ächtheit schon im Alterthum be- zweifelt wurde, so ist wenig darauf zu geben; auch kann gar wohl eine Ver- wechslung mit Aratus im Spiel sein, der seine Gestirnbeschreibung in Verse brachte. Dem sei wie ihm wolle, Meursius (°) und Menagius (?) haben offenbar den Commentar des Hipparch nicht angesehen (°); sonst würden Histoire de U’ Astronomie ancienne, Th.I. S.61. IS} De Pythiae oraculis c.18. Hist. Matheseos p.146. Quod non suaviter licet vivere secundum Epicurum, c.11. Salyricon c.88, p.102, ed. Rewiczki. Ad Apoll. Dyse. 1.c. Ad Diog. Laert. p.392 ed. Meibom. Der doch schon 1561 von Petrus Victorius zu Florenz herausgegeben ist. “ - a oa 2 PL ee I a el 2 ee en‘ = mm u I 0 über Eudoxus. 199 sie nicht die Meinung aufgestellt haben, dafs das "Everrgev und die Bawousva des Eudoxns in Hexametern abgefafst waren. Suidas, der von Eudoxus sagt: "Erxe mpis dsgeAoyiav Üreppußs, Eygabe re mieisu TE eiöss röre, er war der Astronomie übermälfsig zu- gethan und schrieb das meiste in diesem Fach, legt ihm noch ein Werk des Titels 'Oxraerngis bei. Auch nach Diogenes Laörtius soll er bei seinem Aufenthalt in Ägypten rav Örruerngida geschrieben haben. Es war dies kein historisches Werk, wie der lateinische Übersetzer geglaubt hat, der eine octo annorum historiam daraus macht, sondern ein chronologi- sches. Wir wissen aus Censorinus und anderen, dafs er sich mit der Verbesserung des achtjährigen Cyclus der Griechen beschäftigte, und es ist sehr glaublich, dafs er seine Untersuchungen über denselben in einer eigenen Schrift niedergelegt und dabei die Kenntnifs von dem Sonnen - und Mond- jahr, die er in Ägypten eingesammelt, benutzt hat. In demselben scheint auch sein im Alterthum sehr berühmter Kalender enthalten gewesen zu sein. Noch hat er nach Simplieius(!) eg ray rayurmrwy, über die Geschwindigkeiten, nämlich der Sonne, des Mondes und der Planeten, geschrieben, und in diesem Werk mufs er seine Sphärentheorie vorge- tragen haben. Von seinen geometrischen Schriften nennen uns die Alten keine mit Bestimmtheit; denn dafs Teuuergäueva eine solche gewesen sei, läfst sich eben so wenig annehmen, als dafs man ein Werk des Titels "AspoAoysueva von ihm hatte. Er hat sich aber viel mit geometrischen Forschungen be- schäftigt und selbst ein paar Elementarsätze, die zu den wesentlichen Glie- dern der Kette gehören, zuerst aufgestellt. Es ist daher nicht unwahr- scheinlich, dafs er Elemente — Yroryeia — geschrieben, wie dies auch in einigen neuern Büchern behauptet wird, ob ich gleich keine Stelle gefunden habe, aus der es ganz unzweideutig hervorginge (?). Gehört ihm wirklich (') Im Arist. de coelo, p.120, b. (?) Wenn Proclus, den Euclides erwähnend (p. 20), die Bemerkung macht, es sei dies ö ra sory sie Suvayayar, za WON. av Tor Evdo&s suvrebes u.s.w., so kann r« Elöo&e die geometrischen Schriften des Eudoxus überhaupt bezeichnen, ohne gerade auf das vor- hergehende sre:yz« sich zu beziehen. 200 I:D EL E:R das fünfte von den Proportionen handelnde Buch der euclideischen Ele- mente an, wie eine Handschrift sagt (!), so mufs es einen Bestandtheil der seinigen ausgemacht haben, an welchem Euclides wenig zu verbessern fand. Dafs er sich viel mit der Proportionslehre beschäftigt hat, wissen wir auch anderswoher. In welchen Schriften er seine Untersuchungen über die Schnitte der Körper und über die krummen Linien niedergelegt hat, ‚sagt uns Proclus, der ihrer gedenkt (?), nicht. Auch über die Musik mufs er geschrieben haben. Theon aus Smyrna bemerkt nämlich (?), Eudoxus und Archytas hätten übereinstimmig gelehrt, die Zahlenverhältnisse der höheren und tieferen Töne, von denen die Consonanzen abhingen, würden durch die schnelleren oder langsameren Schwingungen der Saiten bestimmt. Hiernach wäre er also als einer der Urheber der musikalischen Theorie der Griechen zu betrachten. Keine seiner Schriften wird häufiger von den Alten angeführt, als seine T7s megiodes, wovon sich bis acht Bücher eitirt finden (*). Wenn wir alle Stellen, wo dieses Werk erwähnt wird, vergleichen, so sehen wir, dafs es geographisch -historischen Inhalts war und viele die Geschichte und Ge- bräuche aller damals bekannten Völker betreffende Notizen enthielt. Dafs manches Fabelhafte darin vorkam, wird man leicht erachten, aber auch leicht entschuldigen, wenn man bedenkt, dafs Eudoxus nur wenig später als (') Der Codex Mazarini, wie Menagius.ad Diogenem Laöertium p. 392 versichert. (2),,5.19. (°) S.94 der Ausgabe des Bulialdus. ( *) Das erste nennen Sextus Empiricus Pyrrh. hyp. 1,14; AthenäusIX, p.394; Stephanus in "Agmevice und Diogenes La@rtiusiX, 83; das zweite Plutarch de ]s. et Osir. c.6; Stephanus in "Arövvs und Clemens Alexandrinus in Protreptico p- 42 ed. Sylb.; das vierte Stephanus in "Aßdrgx und der Scholiast des Apollonius Rhodius zu I, 922; das sechste Athenäus VII, p.288 und Stephanus in ’Adavıe, in Atyıov und ’Arivz: das siebente Apollonius Dyscolus Aist.comm. c.38 und Porphyrius de vita Pyth. c.7; das achte Harpocration v. Airag«. Das Werk im Allgemeinen citi- ren noch Diog. Laertius pr.8 und VIII, 90, der Scholiast zum Apoll. Rhod. IV, 263, und aus diesem der Scholiast zu Arist. Nub. 397; und den Fudoxus, offenbar mit Be- zug auf dasselbe Werk, Strabo VIII, p.378; IX, p.390; XT, p.510; XHl, p.550 und 562, Plutarch de Is. et Osir. c.21 und Plinius H.N. VI, 36; VII, 2 und XXXI, 13. Plutarch sagt einmal rsgioder, vielleicht weil das Werk aus mehreren Büchern bestand. Quod non suaviter licet vivere secundum Epicurum c.10. über Eudoxus. 201 Herodot lebte und gewifs viele der beschriebenen Länder und Völker nur von Hörensagen kannte. Meiners nennt ihn, sich auf das Urtheil des Strabo berufend, einen leichtgläubigen und unkritischen Autor(!). So viel ich aber sche, führt ihn dieser Geograph nur an einer einzigen Stelle (*) tadelnd auf, wo er sagt, dafs Hellanicus, Herodot und Eudoxus von den um den Borysthenes wohnenden Völkern viele Mährchen erzählten. Anderswo dagegen, bei der Beschreibung von Attika(3), rühmt er ihn als einen Mathematiker, der sich auf die Klimate und die Belegenheit der Örter wohl verstehe. Semler(*) will das Werk nicht unserm Eudoxus, son- dern einem obscuren Geschichtschreiber dieses Namens aus Rhodus beile- gen(°). Durch diese Hypothese liefse sich allerdings Sinn in eine Stelle des Diogenes bringen, die sonst ganz absurd klingt. Nachdem er nämlich bemerkt hat, dafs es drei Schriftsteller des Namens Eudoxus gegeben, den in Rede stehenden, einen zweiten aus Rhodus, der Irsgias geschrieben, und einen dritten aus Sicilien, einen Komödiendichter, fügt er hinzu: ‚‚wir fin- den noch einen Arzt aus Cnidus, von welchem Eudoxus & y%s meguodh be- richtet, er habe gerathen, die Glieder und Sinne stets durch jede Art von Gymnastik zu üben. Eben dieser sagt, Eudoxus aus Cnidus habe um die 103“ Olympiade geblüht”’. Wie man aus dem weitern Verfolge ersieht, soll letzterer kein anderer als eben unser Eudoxus sein, der mithin nicht Verfasser der yAs regiodes sein könnte. Allein diese Verworrenheit, die bei dem Compilator Diogenes gar nicht unerhört ist, kann unmöglich Grund genug sein, das Werk dem berühmten Eudoxus abzusprechen. Denn nicht zu gedenken, dafs der Verfasser desselben nirgends “Podtos, aber mehr- mals Kyidıcs genannt wird (6), führt Strabo in der Vorrede unter mehreren älteren Geographen, die, wie er sagt, Philosophen waren, auch den Eu- doxus als seinen Vorgänger auf, und dafs er keinen andern als unsern Cni- (') Geschichte der Wissenschaften der Griechen und Römer, Th. TI, S.293. (°) 1.XII, p.550. () 1.1X, p.390. (*) Miscellaneae lectiones, Fasc. II, p. 26. () S. Fabricii Bibl. Gr. Vol. IV, p.13.d.n. A. (°) Von SextusEmpiricus, Apall@htns Dyscolus und Athenäus. Histor. philolog Klasse 1828. Ce 202 IDpDEtveEr dier gemeint haben könne, lehrt das Prädikat ueSnuarızes «ng, das er ihm anderswo beilegt. Auch würde Agathemer, der den Democritus und Eudoxus als Verfasser von #egiodceı und regirrcı neben einander stellt (!), nicht unterlassen haben, den Eudoxus näher zu bezeichnen, wenn er einen andern als den allgemein bekannten hätte nennen wollen (?). Noch sind die Kuvöy dueroycı zu erwähnen, welche Diogenes Laer- tius auf die Autorität des Eratosthenes unserm Eudoxus beilegt. An- dere sollen sie jedoch für ein ägyptisches, nur von ihm ins Griechische übersetztes, Produkt gehalten haben. Semler lieset dafür mit vieler Wahrscheinlichkeit vezvwv dieroyor, so dafs der Inhalt den lucianischen Tod- tengesprächen analog gewesen sein müfste. Dies sind sämmtliche Schriften des Eudoxus, die wir genannt fin- den; denn dafs er auch ein Werk #egi Segv zal norus zul ray HETEWEOÄOYSLE- vav, über Götter, Weltall und Himmelskörper, geschrieben, wie Eudocia behauptet, ist vermuthlich ein Irrthum, der dadurch veranlafst worden, dafs er nach Diogenes Laörtius dem Arzte Chrysippus, ver- muthlich demselben, mit welchem er in Ägypten gewesen, Vorlesungen über diese Gegenstände gehalten haben soll. - Von seinen Leistungen als Arzt ist uns nichts bekannt. Auch von seiner Philosophie wissen wir nicht mehr, als was Aristoteles in seiner Ethik (?) anführt, dafs er die ydova für das gröfste Gut gehalten, weil sie von allen Geschöpfen, vernünftigen so wie unvernünftigen, begehrt werde. (‘) 1.1, p.2 der Ausgabe in der Sammlung der Geographi minores. (?) Wenn Strabo1.II, p.100 von den Versuchen spricht, die ein gewisser Eudoxus aus Cyzicus unter Ptolemäus Euergetes II zur Umschiffung Afrikas gemacht haben y 5 5 . \ \ \ ar e ’ E . or . soll, und dabei »sv rear: rov EddoE£ov irogiev erwähnt, so kann damit nichts anders, als die Fr- 9 1 g 5 & 9 ’ zählung eben dieser Versuche gemeint sein, und man mufs dies nicht mit V ossius (de hist. 5 5 ’ Graecis1,6) durch historia seeundum Eudoxum übersetzen und auf die y7s sgtoöos deuten. Vgl. Plin. H.N. 11,67. () X,2. Diogenes versichert eben dies auf die Autorität des Nicomachus, des Sohns des Aristoteles, und er scheint daher gleicher Meinung mit Cicero (de fin. V, 5) gewesen zu sein, der die Ethica nicht dem Vater, sondern dem Sohn beilegt. Allein Casaubonus und Menagius in ihren Anmerkungen zum Diogenes erinnern, dafs Suidas dem Nicomachus nur eine Ethik in sechs Büchern beilege, dafs also Vater und Sohn über diesen Gegenstand geschrieben haben müssen, dafs aber das noch vorhandene Werk dem Vater angehört. über Eudoxus. 203 Philostratus zählt ihn (!) zu den Sophisten wegen seines schönen Vor- trags und besonders wegen seines Talents, aus dem Stegereif zu reden. Desto wichtiger sind die Verdienste, die er sich um die Geometrie erworben hat. Proclus äufsert sich darüber wie folgt (?): Evdo&os d& 5 Kvi- dtos, Eralpos ray eg! IDarwva Yevauevos, mOWTOS TaV KaSors Secpyudrwv TO AN Dos nVEnge, nal Tal; rgiriv avarsyiaıs aAAas rgeis mooseSyre. Kal ra megi Tnv Tommy apymv Aaßcvra maga Iraruvos, eis mANIos mooNyayer, zu Tas dvaruserıw ER auTwv xenrauevos, welche Worte Barocius in seiner Übersetzung (°) also gibt: Eudoxus autem Cnidius, sodalıs Platonis, primus multitudinem eorum theo- rematum, quae universalia appellantur, locupleliorem reddidi, et tribus pro- portionibus adiecit tres alias: et quae circa seclionem a Plutone sumpserant initium, in uberiorem diffudit multitudinem, resolutionibus etiam in ipsis usus. Man sieht, es sind vier Punkte, die Proclus hervorhebt, und es wird sich alles, was hier zu sagen ist, bequem an sie reihen lassen. Zuvörderst also hat Eudoxus die Zahl der allgemeinen Theoreme vermehrt. So gehören ihm nach Archimedes (*) mehrere Sätze der Ste- reometrie an, namentlich die beiden Hauptsätze, welche das Verhältnifs der Pyramide und des Kegels zum Prisma und Cylinder von gleicher Grund- fläche und Höhe betreffen. Diese Sätze, die manche seiner Vorgänger schon geahnet haben mögen, sind von ihm zuerst bewiesen und in das System auf- genommen worden. Proclus hat demnach gewifs vollkommen Recht, wenn er nach Er- wähnung vieler Mathematiker, denen die Geometrie ihre Entwickelung ver- dankt, den Eudoxus zu denen zählt, die sie noch weiter vervoll- kommnet haben — En TEAEIWTEgaV eroimsav nv oAnv Yeupergiav, Es ist schon oben wahrscheinlich gemacht worden, dafs er Elemente geschrie- ben und dadurch dem Euclides vorgearbeitet hat, dessen Verdienst als Verfasser der Sroryei« hauptsächlich darin zu setzen ist, dafs er die von seinen zahlreichen Vorgängern aufgefundenen, zum Theil noch isolirten ('} De vitis Sophist. p. 489. (?) In lüor. I. Eucl. p.19. (°) Diese vortreftliche Übersetzung (Padua 1560, fol.) ist wieder von Th. Taylor ins Englische übergetragen. London 1783, 2 Bände in 4. (‘) De sphaera et cylindro, p.64 ed. Torelli. Cc2 204 I.DEXL ER geometrischen Wahrheiten zuerst in ein vollständiges, fest begründetes System gebracht hat, wobei es nicht fehlen konnte, dafs er noch manche Lücke wahrnahm und auszufüllen Gelegenheit fand. Da Eudoxus eben so, wie mehrere griechische Philosophen, die unter den vornehmsten Erweiterern der Geometrie genannt werden, Tha- les, Pythagoras, Oenopides, Plato, aus der Quelle ägyptischer Weisheit geschöpft hat, so bietet sich hier ganz ungezwungen die Frage dar, ob die Griechen in diesem Fache als Schöpfer, oder blofs als Sammler und Ordner des im Auslande gefundenen zu betrachten sind. Dafs die praktische Geometrie ihren Ursprung in Ägypten ge- nommen, ist die einstimmige Angabe der alten Schriftsteller, eines Hero- dot, Aristoteles, Strabo, Proclus und anderer (!). Es ist auch in der That sehr wahrscheinlich, dafs sie ihre Ausbildung zunächst einem Volke verdankt, welches zuerst das Bedürfnifs einer richtigen Ländereintheilung fühlte. Der Nil zerstört bei seinem periodischen Austreten häufig die Grenzscheidungen der Äcker, was neue Eintheilungen nöthig macht, wenn er in sein Bette zurückgetreten ist. Man mufste also auf ein bequemes und sicheres Verfahren bedacht sein, einem jeden so viel Landes anzuweisen, als er vor der Überschwemmung gehabt hatte. Hierin nun suchen jene Schriftsteller (*) ganz natürlich die Entstehung der praktischen Geometrie, von der die theoretische, wie schon der griechische Name der ganzen Wis- senschaft lehrt, ausgegangen ist. Dazu kam, dafs man bei zunehmender Landeskultur das Wasser des Nil durch Canäle in Gegenden zu leiten suchte, wohin es, sich selbst überlassen, nicht gelangt. Die Anlage solcher Leitungen mulste gleichfalls zur Entwickelung der praktischen Methoden beitragen, so wie auch die Ausführung der kolossalischen Werke der Bau- kunst, der Pyramiden und Tempel, deren Überbleibsel durch ihre Gröfse, Kühnheit und Dauerhaftigkeit noch jetzt Erstaunen erregen. (') Hercdot II, 109; Aristoteles Metaph. 1,1; Strabo XVII, p. 787; Proclus a.a.O. Vergl. ITamblichus vita Pyth. c.29; Hero in seinem Fragment de mensuris, welches die Benedictiner aus seiner noch ungedruckt liegenden Geometrie ans Licht gestellt haben, in der Sammlung Analecta Graeca, p. 311; Servius ad Firg. Eel. 11, 41. (?) Mit Ausnahme des Aristoteles, der die Geometrie als eine Frucht der Mufse der ägyptischen Priester betrachtet wissen will. über Eudoxus. 205 Es leidet also wol keinen Zweifel, dafs die Ägypter, wie lambli- chus versichert (!), im Besitz vieler geometrischen Probleme waren, d.h. die vornehmsten Aufgaben der Elementargeometrie praktisch zu lösen ver- standen. Daraus folgt aber nicht, dafs sie schon eine aus ihren ersten Kei- ınen wissenschaftlich entwickelte Geometrie hatten, wie sie uns die Elemente des Euclides aufstellen. Diese ist nach allem, was uns die Geschichte lehrt, lediglich als eine Schöpfung der griechischen Speculation zu betrach- ten. Wir können noch mit ziemlicher Bestimmtheit den Gang verfolgen, den die sich allmählig ausbildende Elementargeometrie nahm, von den plani- metrischen Sätzen des Thales und Pythagoras an bis zu den stereome- trischen des Archimedes, wodurch der Wissenschaft die Krone aufgesetzt wurde. Auch war die Gelehrsamkeit bei den Ägyptern das Eigenthum der Priester, welche die wichtigsten obrigkeitlichen Ämter bekleideten, dem Könige, der selbst zu ihrem Verein gehörte (*), zur Seite standen und eine Art Oligarchie bildeten. Die Wissenschaften bleiben aber immer in der Kindheit bei Völkern, bei denen sie ausschliefslich einer Kaste angehören, und es ist nicht wahrscheinlich, dafs die ägyptischen Priester in dieser Be- ziehung Vorzüge vor den Brahmanen und Mandarinen hatten. Dazu kommt, dafs sie ihre Wissenschaft absichtlich geheim hielten, was ihnen um so leich- ter fiel, da sie in einer nur ihnen verständlichen Sprache und Schrift fort- gepflanzt wurde. Schon defshalb also können die griechischen Philosophen, die gerade nicht das Talent gehabt zu haben scheinen, sich fremde Idiome und Schriftzüge mit Leichtigkeit anzueignen, nur wenig von ihnen gelernt haben. Als endlich griechische Fürsten den Thron der Pharaonen bestie- gen, wodurch die Mittheilung erleichtert und befördert wurde, hatte Grie- chenland bereits seinen Plato, Eudoxus und Aristoteles gehabt. Auch war das uralte Institut der Priester, das unter Camb yses seinen ersten Stofs erlitten, damals schon sehr in Verfall. Der zweite bei der Würdigung der Verdienste des Eudoxus um die Geometrie von Proclus hervorgehobene Punkt ist, dafs er zu den drei Analogien noch drei andere hinzugefügt haben soll. Was hiermit gemeint sei, ersehen wir aus des Theon Smyrnäus Schrift über die mathema- (!): Ava.O©. (?) Plutarch de Is. et Osir. c. 6. 206 I,D:Eshi eoR tischen Stellen des Plato und aus des Tamblichus Commentar über die Arithmetik des Nicomachus (!). Das Wort Analogie beschränkten die alten Mathematiker eigentlich auf das, was wir geome- trische Proportion nennen. Von der stetigen Proportion insbeson- dere gebrauchten sie die Benennung wererns, medietas, die sie zugleich auch auf anderweitige Relationen ausdehnten, die zwischen drei Zahlen Statt finden können. Pythagoras und seine Schüler, sagt Tamblichus, nahmen drei uercryras an, die arithmetische, geometrische und har- monische, welche auch Plato allein der Berücksichtigung würdig hielt. Eudoxus fügte noch drei andere hinzu, welches eben diejenigen sind, die hier Proclus Analogien nennt. Mit diesen sechs Medietäten hat es fol- gende Bewandnifs. Die dgSuerzn und yewuergizn sind, was jetzt arith- metisches Mittel und mittlere geometrische Proportionalzahl heifst. Die dritte wererns, welche den Namen äguovixn führte, findet zwi- schen drei Zahlen a, db und ee statt, wenn a!vc=a—b:b—.cist, in wel- cher Beziehung z. B. die Zahlen 6, 4, 3 zu einander stehen. Die Betrach- tung dieser Relation war den Alten für ihre ganz auf arithmetische Prinei- pien zurückgeführte Theorie der Musik wichtig. Dies sind die drei älteren veroryra. Von den drei später eingeführten hiefs die eine Ürevayrıa 77 üg- uoviz#; die beiden anderen wurden blofs unter die Benennungen der fünf- ten und sechsten begriffen. Das Wesen derselben stellen die drei Pro- portionen dar: arc—=b—ci!a—b, e:b=a—b:b-—c, bza=a—b:b—c, und Beispiele dafür geben die Zahlen 6, 5, 3; 5, 4, 2 und 6, A, 1. Für den Mathematiker bedarf es der Erinnerung nicht, dafs von diesen sechs Relationen, zu denen nach Iamblichus späterhin Temnonides und Eu- phranor noch vier hinzufügten, heut zu Tage nur die beiden ersten be- rücksichtigt zu werden pflegen, und dafs die übrigen für unsere Arithmetik (') Theonis Smyrnaei Erpositio corum, quae in Mathematicis ad Platonis lectio- nem utilia sunt, c.55-61, und Jamblichus in Nicomachi Geraseni Arithmelica p- 141. ff. Das erste Werk ist von Ismael Bulialdus 1644 zu Paris, und das zweite von Samuel Tennulius 1668 zu Arnheim herausgegeben. über Eudozus. 207 von keinem besondern Nutzen sind, so dafs das Verdienst, welches sich Eudoxus in dieser Beziehung für die Griechen erwarb, für uns ohne Be- deutung ist. Die Theorie der Proportionen, in so fern sie sich auf die Geo- metrie beziehen, mochte ihm einige Erweiterungen verdanken; wir wissen aber nicht, wie viel von dem fünften Buch des Euclides auf seine Rech- nung kommt. Dafs es ihm in einer Handschrift zugeschrieben wird, ist schon bemerkt worden. Weit wichtiger ist der dritte von Proclus angeführte Punkt, dafs nämlich Eudoxus die zuerst von Plato begründete Lehre von den Schnit- ten der Körper weiter ausgebildet haben soll. Durch diese Lehre hat sich Plato ein grofses Verdienst erworben. Es hängt damit die geometrische Analysis, die Theorie der geometrischen Örter, die Lehre von den Kegel- schnitten, kurz die ganze höhere Geometrie zusammen, von der wir ihn mithin als den eigentlichen Urheber zu betrachten haben. Dafs er wirklich der erste war, der auf die Curven, die aus den Schnitten der Körper ent- stehen, seine Aufmerksamkeit richtete, und bereits mehrere derselben kannte, sagt uns Proclus(!), und dafs er, der grofse Dialectiker, der Schöpfer der geometrischen Analysis war, würden wir aus seinen Dialogen abnehmen können, wenn wir es auch nicht durch bestimmte Zeugnisse wüls- ten (?). Man sieht demnach, dafs er nicht blofs die Geometrie nach einer neuen höchst fruchtbaren Seite hin erweitert, sondern zugleich auch die Form aufgestellt hat, unter welcher diese Erweiterung allein gedeihlich sein konnte. Die nähere Veranlassung hiezu gab ihm das delische Problem, das damals die scharfsinnigsten Köpfe Griechenlands beschäftigte. Die fa- belhafte Geschichte von der Verdoppelung eines cubischen Altars, die Apollo zu Delos zur Bedingung des Aufhörens einer pestartigen Krankheit gemacht haben soll, kann man in Plutarch’s Schrift de genio Socratis (*) (') Inlir. I. Euel.p.29. Hier ist nämlich von den verschiedenen Arten von Linien die Rede, die es aufser den beiden einfachsten, der geraden und der Kreislinie, gibt, und es wird Plato’s Ansicht darüber angeführt. Unter den mancherlei krummen Linien — dr zaumurwv yoawızv -- werden von ihm besonders diejenigen hervorgehoben , era zara TES Fonds Fuv segenv Upisercı, von denen er also natürlich schon mehrere gekannt haben mufs. (*) Proclusp.58. Diogenes La@rtius nach Phayorinus II, 24. (>) 088 208 I-D E:ü EuR nachsehen, wo versichert wird, dafs sich die Einwohner von Delos defsfalls an Plato gewendet, und dieser sie wieder an Eudoxus aus Cnidus und an Helicon aus Öyzicus als diejenigen gewiesen habe, die er für eine solche Speculation besonders geeignet hielt (!). Gewifs ist es, dafs er sich selbst schon mit diesem Problem beschäftigt, und über eine einfache, für die Aus- übung bequeme, Methode nachgedacht hat, zwischen zwei gegebenen gera- den Linien zwei mittlere Proportionalen zu finden, als worauf es, wie Hip- pocrates aus Chios zuerst dargethan, bei der Verdoppelung des Würfels eigentlich ankommt. Man vergleiche des Eutocius Commentar über den Archimedes(?), wo ausführliche Auskunft über die verschiedenen von den griechischen Mathematikern versuchten Lösungen des delischen Problems gegeben, und zugleich ein für die Geschichte desselben wichtiges, mit einem Epigramm begleitetes, Schreiben. des Eratosthenes an den Kö- nig Ptolemäus (Euergetes) mitgetheilt wird (°). Plutarch sagt im Leben des Marcellus(*), Archimedes sei als der eigentliche Urheber der Maschinenlehre — ögyavızy — zu betrach- ten. Die erste Anregung dazu hätten Archytas und Eudoxus gegeben, indem sie sich ihrer bedient, gewisse mathematische Aufgaben zu lösen, de- ven Construction sich nicht bequem auf geometrische Principien gründen lasse, z.B. die, zwischen zwei gegebenen geraden Linien zwei mittlere Pro- portionalen zu finden, welche Aufgabe sie vermittelst organischer Vor- richtungen — & ögyavınav zararzeuuv — aufgelöset hätten. Da aber Plato die Anwendung solcher Vorrichtungen auf geometrische Probleme gemifsbilligt, sei die "Opyavızn lange von den Philosophen geringgeschätzt worden, bis sie endlich Archimedes zu Ehren gebracht und zum Range (') Nach Valerius Maximus 1. VIII, c. 12, soll es Euclides gewesen sein, an den Plato die Delier wies. Aber Euclides lebte ein halbes Jahrhundert später. Der Römer hat also vermuthlich Eudoxus geschrieben. (?) De sphaera et cylindro p.135.f. (°) Dies sind die Quellen, aus denen die neuern Forscher, Montucla und Reimer, geschöpft haben, jener in seiner lesenswerthen Histoire des recherches sur la quadrature du cercle, avec une addition concernant les problemes de la duplication du cube et de la {risection de langle; dieser in seiner Historia problematis de cubi duplicatione. ( über Eudoxus. 209 einer Wissenschaft erhoben habe. Auch an einer andern Stelle (!) spricht Plutarch von dieser Mifsbilligung, die um so befremdender ist, da Plato selbst eine mechanische Auflösung des delischen Problems gegeben hat, mit der uns Eutocius bekannt macht. Nach Eratosthenes bediente sich Archytas hiebei der Halbcey- linder — ray Aurzuawögwv — und Eudoxus der Curven — röv Kareuevuv zaumiAwv Yoaamav.. Das: Verfahren des erstern beschreibt Eutocius nach des Eudemus Geschichte der Geometrie(?), das des letztern hinge- gen hat er der Anführung gar nicht würdig geachtet (°). Ich gebe hier seine Worte im Original, das einiger Verbesserungen bedurfie, und in einer Übersetzung. "IHoArüv ÖF »Aswuv avdgav ypabals Evrerungnnane, TE resOrnua Föro EmayyerMouivams, uv rav Elde£s 73 Krıdıs TapyrnFaueta Ygaden. ’Eredn duai mev Ev moeeios Öle zaumUuruwv Yoaumav aüryy eugnzevai, &v rn dmedeikeı moos TO um eye raumiras Ygannals, arAa zul Ömpnusvmv dvamoylar'EÜ- guwv, WS FUveyEi Xofrar omeg Av aromov Vmovohru, Ti Aeyw megi Eüdots, RE megi TaV' zul METQIWS mepl YEwuergiav üvesgaunevuv. ‚Ich bin:auf die Schriften vieler berühmten Männer gestofsen, worin Lösungen dieses Problems gege- ben werden, habe aber die des Eudoxus aus Cnidus anzuführen nicht der Mühe werth gehalten. Er sagt zwar in dem Vorbericht, dafs er dazu krumme Linien gebraucht habe; allein in der Demonstration bedient er sich dersel- ben nicht nur nicht, sondern begeht auch noch den Fehler, dafs er eine diskrete Proportion wie eine stetige behandelt, was man, ich will nicht sa- gen von Eudoxus, ja nicht einmal von einem Manne erwarten sollte, der sich nur oberflächlich mit der Geometrie beschäftigt hat”’. Dieser Tadel ist sehr auffallend. Eratosthenes, der dem Zeitalter des Eudoxus um tausend Jahre näher stand, als Eutocius, bestätigt nicht nur, was der Geo- meter von sich selbst behauptet hatte, dafs er das delische Problem ver- mittelst krummer Linien gelöset habe, sondern setzt auch auf diese Lösung einen so hohen Werth, dafs er ihm in seinem Epigramm den Beinamen des (‘) Sympos. 1.VIN, quaest. U, c.1. @) 8.143. C) S.135. Histor. philolog. Klasse 1828. Dd 210 Iperer gottähnlichen — Sesuöns — beilegt. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dafs Eutocius nichts weiter als einen dürftigen Auszug aus einer Schrift des Eudoxus über jenes Problem vor Augen hatte, worin blofs ein, noch dazu fehlerhaft vorgetragenes, mechanisches Verfahren gelehrt wurde, das er, wie sich aus den angeführten Stellen des Plutarch mit Wahrscheinlich- keit abnehmen läfst,, seiner theoretischen Untersuchung als eine praktische Zugabe für die Delier-beigefügt hatte. Ich stimme in diesem Punkt ganz Hrn. Reimer’s Meinung bei ('). Was es für Curven waren, deren er sich zur Lösung des delischen Problems bedient hat, wissen wir nicht. Diogenes legt ihm die ganze Lehre von den krummen Linien — r« megi Tas RaumrUAaS Yoauuds an als Erfindung bei (), und da er nach Proclus die von Plato zuerst einge- leitete Untersuchung über die Schnitte der Körper weiter: geführt hat, so läfst sich wohl nicht zweifeln, dafs ihm schon einige Eigenschaften der Ke- gelschnitte bekannt waren. . Diese kann er jedoch zu jenem Behuf nicht angewandt haben; denn als den eigentlichen Urheber der Lehre von den Kegelschnitten nennen uns die Alten (°) seinen Schüler Menächmus(*), der auch, wie wir aus Eutocius ersehen (°), zuerst ‘das mehrgedachte Pro- blem. auf eine für die Theorie ganz genügende Weise mit Hülfe zweier Ke- gelschnitte zu lösen gelehrt hat, entweder vermittelst zweier Parabeln oder vermittelst einer Parabel und einer gleichseitigen Hyperbel zwischen ihren Asymptoten (°). Und dafs dieses Verfahren ein ganz anderes als das von (') Historia probl. de dupl. cubi p.54. (2). VII, 90. () Geminus beim Proclusp. 31. Dieser Mathematiker, von welchem wir noch ein schätzbares kosmographisches Werk unter dem Titel einer Einleitung in den Aratus haben, hatte eine aus mehreren Büchern bestehende Oswgi« suv naSynarwv geschrieben, worin nach den Citaten beim Proclus und Eutocius zu urtheilen, viele historische No- tizen über Mathematiker und mathematische Gegenstände enthalten waren. So gab er (Pro- clus S. 11.) eine Eintheilung der mathematischen Wissenschaften, die viel Licht über ih- ren damaligen Zustand verbreitet. Er lebte ums Jahr 70 v.Chr. (*) Dafs Menächmus der &zgsoarys des Eudoxus war, sagt Proclus p. 19. OS LE (°) Diese Methode ist von Cartesius noch dadurch weiter vereinfacht worden, dafs er statt des einen Kegelschnitts den Kreis anzuwenden gelehrt hat. über Eudoxus. 211 Eudoxus sein mufste, geht aus den Versen des Eratosthenes hervor, in denen er dem Könige Ptolemäus seine mechanische Vorrichtung zur Ziehung zweier mittleren Proportionallinien als in der Ausübung sehr nütz- lich und die theoretischen Methoden des Archytas, Menächmus und Eudoxus entbehrlich machend empfiehlt, und von den letztern sagt: A ’ > ’ ’ ”„ ‚ Mnde au y’ ApXUTEw durungara egya nuAvögwv \ ’ m 4 Mnds Mevaryusiss zwvoreueiv Tgıadas ’ \> y N ENG Arcyaı, und’ ei rı Sesdecs Eüdogcıo r 4 3 CNN = U Kaurvrov Ev Ygauıas &ı dos avaygaperar: Ne tu Archytae difhicillimis operationibus cylindrorum, Nec Menaechmeis in cono secandis tergeminis formis Operam impendas, neque si qua divini Eudoxi Curva in lineis species describitur; wo, wie man sieht, die aus dem Kegel zu schneidenden menäch- meischen Dreigestalten (die Ellipse, Parabel und Hyperbel) von der krummlinigen Figur des Eudoxus unterschieden werden. Endlich verdient hier noch der vierte von Proclus in seinem Ur- theil über Eudoxus hervorgehobene Punkt berücksichtigt zu werden, ich meine den, dafs er sich bei seinen Untersuchungen über die Schnitte der Körper der Analysis bedient hat. In dieser ganz eigentlich für die höhere Geometrie gehörigen Methode, deren Wesen Proclus(!) mit den Worten Em" px onchoyeusvny dvaysra vo Curäuevov treffend charakterisirt, haben die Griechen sehr viel geleistet (?), ungeachtet ihnen die Algebra, jenes wich- tige Hülfsmittel, abging, wodurch die Neueren seit Cartesius einen so grofsen Vorsprung vor den Alten gewonnen haben. Dafs als der eigentli- che Schöpfer der Analysis Plato zu betrachten sei, ist oben bereits bemerkt worden. (€) In lör2 12 Buelep.58. (?) Eine gute Belehrung über ihre Analysis gibt Pappus in der Vorrede zum sieben- ten Buch seiner mathematischen Sammlungen. Dd2 212 Ipener über FEudoxus. @ Aus allem Bisherigen ist klar, dafs Eudoxus durch Schriften und Unterricht wesentlich zur Entwickelung der Geometrie beigetragen hat, und dafs er unter den zur Schule des Plato gehörigen Mathematikern eine der vornehmsten Stellen einnimmt. Von einer noch wichtigeren Seite gedenke ich ihn im zweiten Theil dieser Abhandlung darzustellen. RAND BNTNND Bemerku ngen über Veranschaulichungsmittel räumlicher. Verhältnisse bei graphischen Darstellungen durch Form und Zahl. Von HErPREDNEER. rinnen [Gelesen in der Akadeınie der Wissenschaften am 17. Jan. 1528.] FE; sind nur einige Bemerkungen die ich in ihrem unvollendeten Zusam- menhange hier mitzutheilen wage, von denen es allerdings für diesen Ort der Sache angemessener gewesen sein würde, nur die Resultate vorzulegen, wenn nicht zur Erreichung eben dieser Resultate, für gegenwärtigen Augen- blick wenigstens, die Mittel fehlten, und auch unter drängenden Umständen Versuche sich einen wissenschaftlichen Weg erst zu bahnen einige Nach- sicht bei der Beurtheilung erlangen dürften, der Vorschlag selbst aber, zur Herbeischaffung der Mittel um zu wichtigern Resultaten zu gelangen viel- leicht einiger Beachtung werth ist. In einer frühern Abhandlung war es mein Bestreben, das Wesentliche der Verhältnisse geographischer Stellungen und horizontaler Ausbreitungen der festen Erdmassen, oder der Erdtheile für das Ganze zu entwickeln. Dies konnte nur in ganz allgemein geltenden Ausdrücken für die Gesamt- verhältnisse der Oberfläche des Planeten und seiner Haupttheile, und in Be- ziehung auf den Entwicklungsgang des Menschengeschlechtes überhaupt ge- schehen. Sollte aber die Anwendung dieser allgemeinen Verhältnisse fruchtbar zurückwirken auf die Betrachtungsweise jedes besondern Landtheiles und dessen Bewohner, und den speciellen Antheil jedes Länderraumes an jenen allgemeinen mit Klarheit zur Anschauung bringen, so scheint es würde es zur Verständlichmachung der räumlichen Verhältnisse nothwendig sein, sich 214 Rırter: Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel dazu der Form und der Zahl als Mittel zu bedienen, und zwar auf eine bis- her weniger gewöhnliche Weise. Der Form nämlich, in ihren durch die Geometrie bekannten Figuren, die als Anschauungen, ohne Maafsangabe, an sich schon das analoge Ver- hältnifs eines in Rede stehenden Flächenraums vor die Seele führen, und daher jeder weitern Beschreibung überheben können. Der richtige Ge- brauch und die besonnene vergleichende Anwendung geometrischer Figuren für physicalische Räume wäre in einer geographischen Verhältnifslehre ganz dazu geeignet, auf eine schr einfache und verständliche Weise zu bestimm- tern Vorstellungen zu führen. Man würde durch deren sichre Verknüpfung zu neuen Anwendungen derselben gelangen, die zu einer dem Wesen nach zusammengedrängten gleichsam verdichteten Reihe einander deckender An- schauungen erheben, und dadurch unmittelbar in das Licht setzen würden, was eben in den Länderräumen, allen Erscheinungen nach, von ihrer geo- metrischen Figur abhängig werden mufste. Diese Benutzungsweise der geometrischen Figuren ist längst zum gröfs- ten Vortheil in der botanischen Terminologie eingeführt, wo die allgemei- nere Verständlichkeit wohl keineswegs auf Kosten der Genauigkeit für den Zweck der Veranschaulichung berücksichtigt ward. Im der geographischen Wissenschaft ist diese Beihülfe mit wenigen Ausnahmen (hie und da nur auf eine spielende Weise) noch gar nicht benutzt worden, weil man immer bei der jedesmaligen Beschreibung stehen blieb, ohne das Resultat derselben, nämlich den gewonnenen Begriff für die Weiterführung der Wissenschaft zu handhaben. Auf eine consequent für das Ganze der Planetenoberfläche durchgeführte Weise, würde sich diese, ihren horizontalen Räumen nach, auf eine bequem überschauliche Art, in eine gewisse Anzahl keineswegs will- kührlich erdachter, sondern der Natur ihrer Ausbreitungen entsprechender geometrischer Figuren umfassender oder untergeordneter Gröfse zerlegen lassen, mit deren Combination dann die geographische Wissenschaft ein leichteres Spiel haben würde, für elementare wie für wissenschaflliche Be- trachtung (die ja in Eins zusammenfallen), als mit der unübersehbaren Masse schwerfälliger und umständlicher Beschreibungen, die nur zu endlosen Ein- zelnheiten führen. Eben hierin, in der noch nicht gewonnenen Herrschaft der Form über’ den Stoff, sowol im Allgemeinen wie im Besondern, bis in die untergeordnetsten und kleinsten Verhältnisse hinab, scheint ein Haupt- räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 215 grund des scholastischen und compendiarisch so unfruchtbaren allerersten Zuschnittes der Geographie als Schulwissenschaft zu liegen, und jenes Mit- tel der geometrischen Figuren, auf die mannichfaltigste Weise bei ihr in An- wendung gebracht, würde, wie leicht vorauszusehen ist, zu freierer Bewe- gung und besserer Handhabung schon eines bedeutenden Theiles ihres sol- 5 cher geometrischen Construction fähigen Stoffes führen. In jener frühern Abhandlung ward es versucht, einigen Gebrauch von diesen geometrischen Figuren zu allgemeinen Verhältnifsbestimmungen zu machen, bei der Hinweisung auf die Gruppirung der Erdmassen, auf die Stellungen der einzelnen Erdtheile, auf das Verhältnifs ihrer Längen und Breitenausdehnung, und auf ihre Zurundung und Gliederung. Ihr Gebrauch würde auch zur deutlichern Veranschaulichung und da- her zur schnellern und sicheren Vergleichung der besondern Länderräume, wie zur gröfsern Kürze und Bestimmtheit in einer geographischen Termino- logie führen, indem mit dem geometrischen Ausdruck immer das wesentliche der Figur eines Erdraumes bezeichnet sein müßste. Zur genauern Bestim- mung seiner geographischen Figur müfsten, da rein mathematische Figuren in den physicalischen Räumen fehlen, und sie nur als ihre Kern- oder Grund- gestalten gelten könnten — es müfsten also auch die Abweichungen von den geometrisch eingeschlossenen Räumen, nach aufsen oder nach innen der als Basis angenommenen Figuren, durch + oder — angegeben werden; als der Überschufs oder als ein Mangel des bezeichneten geometrischen Raumes, woraus mancher bedeutende Vortheil bei Behandlung der Wissenschaft sich ergeben könnte. Es würde nach dieser Anwendung z.B. das Analoge der Raumver- hältnisse aller Länder, mit der Grundgestalt des Quadrats (wie etwa von Spanien, dem Peloponnes, oder des Rectangels wie Australien), mit der Grundgestalt des Rhomboöders, wie Thessalien und Epirus, des Kreises, der Ellipse, des Dreiecks, Fünfecks u. s. w. von selbst vor die Anschauung treten, und die Verschiedenartigkeit der Berührung, mit den Umgebungen, nach Form und Stoff, zu vielen unmittelbaren Folgerungen auf das bestimm- teste Veranlassung geben. Zu diesen führt die unbestimmte Auffassung, so auf den ersten Blick ganz regellos erscheinender Figuren, wie die mehrsten der Ländergestalten auf Karten sich zeigen, nicht leicht, weil die Menge der kleinern und gröfsern Irregularitäten, den Beschauer nicht zur Abstraction 216 Rırrer: Bemerkungen über Feranschaulichungsmittel von denselben, und zur alleinigen Beachtung des Wesentlichen oder der Kernfigur gelangen läfst, von der doch allein viele der grofsen Hauptbestim- mungen des Länderraumes, seiner Bewässerung, Climate, Productionen u.s. w. einzig und allein ihre Grundbestimmung erhalten und abhängig sind, nicht aber von dem + oder — der Abweichungen. Zu der ersten anfänglichen Betrachtung der Übereinstimmungen der analogen Verhältnisse in diesen gleichartigen Grundgestalten der Länder- räume nach geometrischen Figuren würde dann die Betrachtung der Abwei- chungen (die bei jedem gegebnen Länderraume eigenthümliche sein werden) nach dem Überschufs oder Mangel hinzuzufügen sein. Eben hiedurch wird jeder dieser im übrigen der Gondgesalt nach analogen Länderräume als ein Andrer erscheinen, zu einer bestimmten auch nach dieser Rücksicht schon für sich individualisirten Planetenstelle werden, mit eigenthümlichen, von allen übrigen verschiedenen untergeordneten Erscheinungen, Umständen, Verhältnissen. Die beiden grofsen Triangel-Länder, aus denen z.B. Nord - und Südamerika bestehen, werden dadurch sofort in Vergleich mit dem Triangel von Vorderindien und der Südhälfte von Afrika (um bei den gröfs- ten Länderräumen dieser Art stehen zu bleiben) ihren characteristisch von einander verschiednen, und doch wiederum analogen Verhältnisse zur aul- merksamern Betrachtung darbieten, und zugleich mit diesen unzählige andere weniger beachtete, dem Raume nach weit geringere, bei denen aber alles davon abhängige, wenn auch im kleineren Maafsstabe, doch denselben all- gemeinsten Eh und Folgen unterworfen ist. Es werden auf diese Weise nach dem Gesichtspunct der geometrischen Kernfiguren der Länderräume, gewisse Classen und Classenbegriffe entste- hen, und sich in Bezug auf die Regel und die Abweichung auf das bestimm- teste wissenschaftlich ausbilden lassen, so dafs sich daraus genau ergeben wird, was der ganzen Olasse, was den Unterabtheilungen, was den localen Individualitäten für Verhältnisse und Eigenschaften aus den Figuren zu- kommen. Eben diese Bestimmung, dieses Sprachverständnifs und diese Vernich- tung des vielartigen und fast Rene Stoffs durch die Form scheint das höchste Bedürfnifs der geographischen Wissenschaft in ihrer Fähigma- chung zur Lehre, welche von dieser Seite weit hinter ihren übrigen Schwe- stern der naturbeschreibenden Wissenschaften zurückgeblieben ist, und räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 217 darum die unbehülflichste Masse für den bildenden Schulunterricht wie für die Wissenschaft selbst bis heute bleibt, die durch keine noch so vielfache Anstrengung hat überwältigt werden können. Nicht blos zur Bestimmung der Erdräume überhaupt nach Erdtheilen, Ländern, natürlichen oder selbst willkührlichen Unterabtheilungen, würden diese geometrischen Figuren anwendbar sein, sondern eben so gut auch zur genauern qualitativen Bezeichnung der Erdräume dienen, wenn man auch die Wasserflächen, die Gebirgs- und Plateau-Räume, die Räume welche die Alpenlandschaften, die Ebenen, die Niederungen, die Wüsten, die frucht- baren Landstriche, die zusammenhängenden Waldungen, die von Strom- systemen bewässerten Landschaften, die Getreideländer, die Erzreviere u.s.w. einnehmen, dadurch so weit es sich ihun liefse, bestimmt zusammen- zufassen sich bemühete, und auch hier das + und — als Ergänzung hin- zufügte. Diese zweite Art der Anwendung dieser geometrischen Figuren auf das qualitative Verhältnifs der Räume ist, wie sich leicht einsehen läfst, schon schwieriger als die erste, welche nur die quantitativen Verhältnisse der ho- rizontalen Ausbreitungen in der Figur subsumirt. Diese würde nur eine rein geometrische Operation voraussetzen, um nach den besten vorhandnen Landkarten und den dazu geeigneten Projectionen die zu den Räumen im physicalisch-geographischen Sinne congruenten einfachsten Figuren aufzu- finden, und nach einer gewissen Grenze das Maximum und Minimum der Abweichungen einzelner Theile vom Ganzen, eben das Raumverhältnifs des Überschusses oder des Mangels der Kernfigur zu berechnen. So würde z.B. Europa, um den irregulärsten aller Erdtheile zu nennen, der sich am we- nigsten congruent mit einer geometrischen Figur in diesem Sinne zeigt, und eben hiedurch sich von allen andern Erdtheilen characteristisch unterscheidet, doch seiner Hauptmasse nach als grofses rechtwinkliges Dreieck darstellen, mit der kürzesten Linie von N. gegen S. in der Richtung des Ural als conti- nentale Basis von etwa 300 Meilen Länge gegen Asien gekehrt; der rechte Winkel würde etwa in den Kaukasischen Isthmus an die Mündung der Wolga fallen. Die zweite längere Kathete würde die südliche mediterrane Seite des rechtwinkligen Dreiecks bilden, von Astrakan durch ganz Europa westwärts bis Bayonne, über 500 Meilen, und die oceanische Hypothenuse von da, nord- ostwärts längs den Nordsee- und Östseeländern gegen Archangel bis zum Histor. philolog. Klasse 1828. Ee 218 Rırren: Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel Nordende des Ural ziehen, in einer Länge von mehr als 600 Meilen. Der eingeschlossene Raum dieses Dreiecks würde bei weitem die gröfsere Masse des continentalen Hauptstammes von Europa einnehmen, etwa zwei Drittheile des Ganzen (100000 IJM., wenn der ganze Erdtheil 150000 hielte), aufserhalb desselben würden die drei Halbinseln gegen den Süden, Griechenland, Italien, Spanien, und gegen den Norden die scandinavische fallen; somit würde da- durch sogleich sich 4, auch ganz andre Verhältnisse zukommen. Dies würde hier den Überschufs der des Raumes vom Erdtheile ablösen, dem überhaupt geometrischen Figur bilden, der Mangel würde bei dieser Kernfigur kaum zu beachten sein; aber die Benutzung derselben, zur Veranschaulichung einer grofsen Menge von Verhältnissen, die vom Zusammenhange der Coniinental- flächen, im Gegensatz des durcheinander von Meeres- und Länderflächen abhängig sind, oder des Contrastes von dem, was man Stamm und Gliede- rung der Erdtheile nennen kann, ergibt sich von selbst. In Hinsicht der Temperaturverhältnisse und der Windsysteme, insofern sie abhängig sind von Ländergestaltung und Länderstellung, wird auch dieser geumkrntächeh Figur der Name des climatischen Triangels von Europa mit Recht angehören, wie ausländische Schriftsteller (Triangle Climatique, b. Malte Brun Europe p.48.) ihn kürzlich mit Recht genannt haben, und so werden viele andere Verhält- nisse eingreifend genannt werden müssen, in die jedesmal den Erdräumen (auf die sie sich beziehen) congruenten geometrischen Figuren. Wie lehr- reich würde es sein, dadurch mit leichter Mühe und doch hinreichender Bestimmtheit zu gegenseitigen Vergleichungen, jedesmal einen sehr einfachen und doch allgemein verständlichen Ausdruck zu besitzen, um die jedesmalige verschiedene Verbreitungssphäre der Pflanzen - und Thiergattungen, wie der Völkerstämme und andere Beschaffenheiten damit kurz zu bezeichnen! Ihre Anwendung auf qualitative Verhältnisse der Erdräume kann nur, nach sehr sorgfältig vorhergegangener Specialkenntnifs der Naturbeschaffenheit dersel- ben statt finden; aber dann drängt sie sich auch von selbst auf, wie bei dem, in jeder Hinsicht so lehrreichen, und auch für die grofsartigste Veranschau- lichung gedachter Verhältnisse so meisterhaften Abrifs einer geognostischen Darstellung vom südlichen Amerika, welcher den fünften Theil von Alex. v. Humboldts Reise in die Äquinoctialgegenden des Neuen Üontinents, für die geographische Wissenschaft überhaupt, so ungemein bereichert hat. Aus der Gruppirung der geometrischen Figuren nach quantitativen und qua- räumlicher Ferhaltnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 219 litativen Verhältnissen, mit ihren Unterordnungen aller Art, würde sich der kürzeste Ausdruck für die Characteristik der Erdtheile, Länder, einzelner Gebiete, Provinzen, Distriete ergeben; kurz eine Systematik, als Stellver- treterin allgemeiner und unsichrer Beschreibungen, die durch ihre beständi- gen Wiederholungen gleichartiger Grundlagen die geographische Wissenschaft zu einer widrigen Weitläuftigkeit und Langweiligkeit anschwellen, welche der Überschaulichkeit im höchsten Grade nachtheilig gewesen ist. Ohne weitere Erinnerung ergibt es sich von selbst, welchen Gewinn die Characte- ristik politischer Länderabtheilungen daraus ziehen kann, wenn eben diese willkührlichen Abtheilungen, als leicht bestimmbare Theile und Abschnitte jener geometrischen Figuren betrachtet werden können. Von der Benutzung der Form, zur richtigern und fruchtbaren ver- gleichenden Erkenntnifs der Erdräume, gehen wir zum durchgeführteren Gebrauch der Zahl über, durch welche die numerischen Verhältnisse jener Räume und Figuren zusammengefafst werden können und müssen, um zu einer vollständigern Erkenntnifs derselben zu führen. Es ist hier nicht, wie er so häufig in Statistiken und Geographien vorkommt, von einem Mifs- brauch der Zahlen die Rede, wie er sich nur zu leicht da einschleicht, wo auf die Zahl selbst der Werth gelegt wird, der nur der relativen Bedeutung des Verhältnisses angehört, das die Zahl bezeichnet. Hier soll die Zahl nur als Begriff des Werthes verschiedner Verhältnisse zu deren gegenseitigen Vergleichung und zum Zusammenfassen eines räumlichen Systems von Ver- hältnissen selbst, dienen! Wie in der Pflanzenbeschreibung das Figuriren und Zählen der Gewächstheile, wie der Staubfäden, der Pistille, der Necta- rien, der Blumen und Kelchblätter, der Blatteinschnitte, der Stiel- Zerspal- tungen, des Standes der Inflorescenz, der Wurzelblätter u. s. w. nur zur vollendetern Erkenntnifs des ganzen Gewächsbaus führen, und die Stelle der Reihe bezeichnen soll, zu welcher unter den Pflanzenformen überhaupt die in Rede stehende gehört, weil davon das innere physiologische und or- ganische Leben derselben mit bedingt wird, so wird es auch bei jedem be- stimmten Erdraume eine bedeutende Anzahl physiographisch bestimmbarer und zählbarer Theile und Verhältnisse geben, welche wesentlich zur er- schöpfenden Auffassung ihrer wahren Natur gehören, die nicht gleichgültig nebeneinander stehen, gleichsam zufällig, wie so oder anders zusammenge- würfelte Massen, sondern aus deren Sonderung, Zusammenhang und Grup- Ee2 220 Rırrer: Bemerkungen über Feranschaulichungsmittel pirung ebenfalls verschiedenartige Erd- oder Ländersysteme, oder zusammen- gehörige, ineinandergeschlossene Räume der Planetenrinde hervortreten. Diese Zahlenverhältnisse werden entweder die Distanzen der Räume selbst nach horizontalen und verticalen Dimensionen bezeichnen, und also auf den gemachten Messungen nach Quadratmeilen, Längenmeilen und Fufsen über und unter dem Meeresspiegel für die Höhen und Tiefen beru- hen, oder es werden wirkliche Zählungen verschiedener hiehergehöriger Ob- jecte sein. Die Messungen sind schon allgemein, wenigstens für gewisse Verhält- nisse in Gebrauch gekommen, meistentheils für politische Länderbestimmun- gen; aber für eine wahre geographische Verhältnifslehre kann die Angabe des Areals der politischen Länderräume nicht ausreichen, die natür- lichen Raum-Abtheilungen, wie die geometrischen Figuren sie zusammen- fassen, werden der Quadratmeilenzahl nach, zuerst ausgemittelt werden müssen, um jene dann ihrem verhältnifsmäfsigen Antheile nach an dieser gröfsern Gesammtheit beurtheilen zu können. Bisher hat man immer nur die Gröfse des Quadratinhaltes der Erdtheile im allgemeinen auszumitteln gesucht und das der politischen Staatengebiete im besondern, und diese Be- mühungen sind sehr dankenswerth; aber man sieht sich vergeblich nach den Angaben der räumlichen Gröfse der Naturabtheilungen um, z.B. wie grofs ist das continentale rechtwinklige Dreieck Europa’s im Verhältnifs zu den Gliedern des Erdtheils und zu den durch sie eingeschlossenen mittelländi- schen halb oder fast gänzlich geschlossenen Meeren, Strafsen, Golfen. Und wie stellt sich also der sehr verschiedne Antheil, den diese drei Hauptformen an den wichtigsten Einflüssen auf physicalische und historische Verhältnisse des ganzen Erdtheils hatten und noch bis heute haben. In welcher räum- lichen Gröfse stehen die grofsen und kleinen Halbinselländer gegen einander, gegen die ihnen zugehörigen Inseln und zu den Hauptausbreitungen der von den Meeren unberührten Continentalflächen? Unter welchen Zahlverhält- nissen läfst sich das Areal der verschiednen reichbewässerten grofsen Strom- gebiete der dazwischenliegenden stromarmen oder gänzlich unbewässerten Räume, der Gestadeländer, dıe nur von kurzen Küstenflüssen durchschnitten werden, beurtheilen, die darum auf ganz andre Weise auf die Meere angewie- sen sind, als die dem centralen Theile der Continente angehörigen Länder- räume, welche von weithin ziehenden grofsen Landströmen und ihrem zuge- räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 221 hörigen Geäder bewässert werden. Man sieht sich vergeblich nach dem In- halt der Quadratmeilen, der Fruchtebenen, der Kornkammern, der Ver- sumpfungen, der Torfländer, der Sandstrecken, der Heidegegenden, der Gebirgsländer um, nur etwa von Seen und Waldrevieren hat man angefan- gen, hier und da Zahlenangaben nach sehr dankenswerthen Messungen, oder auch nur nach Schätzungen anzulegen, und in manchen Provinzen das Ver- hältnifs von Seeflächen, Acker- Waldrevieren, und von Wiesenräumen aus- zumitteln. So wichtig diese letztern Ausmittlungen für besondre statistische Zwecke sind, eben so lehrreich würden jene Ausmittlungen für ganz allge- meine historische und geographische Zwecke sein, um die verschiednen Ein- flüsse physicalischer Formen auf Länder- und Völkertheile, nach ihrem Ver- hältnifswerthe in Zahlenreihen bestimmen und vergleichen zu können, was wenig Schwierigkeit unterworfen sein kann, da sie meistens leblose ganz feststehende keine schwankenden Zahlen periodisch auf- und absteigender Reihen von stets wechselnden Lebensverhältnissen betreffen, wie die schwie- rigern Volkszählungen und andere ähnliche. Es würden sich, nach Aus- mittlung dieser natürlichen Länderräume, wenn auch nur in den allgemein- sten Hauptumrissen, auch die, in den verschiedenen Jahrhunderten so ver- schiedenartigen Verschiebungen der Staaten und Völkergrenzen, das Vor- und Rückschreiten ihrer Ausbreitungen in der alten, mittlern und neuern Zeit, die nämliche Verbreitungssphäre der Völker- und Sprachstämme, die Progression der Culturarten von Gewächsen u.dgl.m. richtiger und be- stimmter bezeichnen lassen, und eine grofse Zahl andrer historisch nicht minder wichtiger Verhältnisse, für welche die Sprache ohne solche Hülfe bisher keine passenden Ausdrücke auffinden konnte. Nehmen wir z.B. das Verhältnifs der Lebens- und Geschäftsweise der Menschen nach den ver- schiednen Formen des Bodens der sie nähret, die Gestadevölker, die Ge- birgsvölker, die Bewohner der continentalen culturbaren, des Getreidebaus fähigen oder unfähigen Länderflächen, wie grofs ist der Antheil ihres Ge- bietes an jedem Länder- und Staatensystem, wie greifen sie gegenseitig in einander ein, welche verschiedne Resultate bieten diese schon an sich be- trachtet, in den verschiednen Ländern Europa’s dar. Zu sehr wichtigen Betrachtungen haben diese und ähnliche Arealverhältnisse, die sich sehr vielfach anwenden lassen, wenn ihre Hauptgrundbestimmungen nur einmal ermittelt sind, schon hie und da geführt, in einigen bedeutenden Jüngeren 222 Rırrzer: Bemerkungen über Feranschaulichungsmiltel classischen Werken, die neue Bahnen für historisch - geographisch - statistische Wissenschaften eröffnet haben, wie in Malthus Zssay on the Principles of Population Lond. 1803, wie in Ch. Dupins classischen Arbeiten über Grofsbritannien und Frankreich ( Force maritime, militaire, commercielle et industrielle de la Grande Bretagne 3 Yol. 4. 1824; und Forces productives et commerciales de la France 2 Vol. 4. 1827.), und eben so für Italien, in den classischen Untersuchungen von Lullin de Chateauvieux (Zetres sur U’Italie 8. 4 Vol.) in Hinsicht auf Agricultur. Nicht unwichtig würde es sein, in Beziehung auf jedes beliebige Land der Erde, sei es grofs oder klein, jedesmal in seiner Art, wie A. v. Humboldt die geognostische Schilderung Süd - Amerikas beginnt (5 Th. p. 384.), sagen zu können: Süd- Amerika ist eine jener grofsen Triangular-Massen, welche die drei Conti- nental-Abtheilungen der südlichen Halbkugel unsrer Erde bilden, von dem Areal, das es befafst (571000 TO Seemeilen) ist der vierte Theil (142000 OD] Seemeilen) mit Bergen bedeckt, die theils Gebirgsäste, theils durch ihre Annäherung Gruppen bilden; die übrigen Dreiviertheile sind Flächen, von denen — auf der Ostseite der Anden-Cordillern liegen. Das Bergland P) (142000 I Seemeilen, +- des Ganzen) ist aber so vertheilt, dafs etwas über + den grofsen Zug der Andes-Cordillern oder der westlichen Küstenkette bildet, die an vielen Stellen in die Schneeregion emporragt (50000 I] See- meilen), fast 5 aber des Berglandes (92000 TO Meilen p.389.), von weit niedrigerer Art, das nirgends die Schneeregion erreicht, bedeckt Süd-Ame- rika auf der Ostseite der Andes- Cordilleren und ist so vertheilt u.s.w. Je einfacher die Resultate aus der verwickeltesten Reihe von Forschungen, wie hier, desto lehrreicher. Sogleich drängen sich aus solchen anschaulichen Verhältnifs- Darstellungen die Differenzen und Contraste andrer Erdräume oder ihre Characteristik in ganz andrer Art auf, als aus Beschreibungen ; und man wird sogleich zu weiterer Forschung und Untersuchung ihrer Ei- genthümlichkeiten aufgefordert, z. B. zur Gegeneinanderhaltung der drei gröfsten Alpen-Gebirgsländer der Erde, des amerikanischen der Andes- Cordilleren von 37500 Geogr. Q Meilen (15 auf 1°, oder nach v. Hum- boldts Berechnung 50000 I Seemeilen zu 20 auf 1°), des indischen, näm- lich des Himalaja, von etwa 30000 QMeilen, und des europäischen Alpen- landes, von etwa 6000 QMeilen, sobald nur einmal ihr Areal so wie ihre andern wichtigsten Dimensionen gegeben und kurz zusammengedrängt sind, räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 223 in ihre Verhältnifsbegriffe. Man wird durch solche Verhältnifsreihen so- gleich aufgefordert, zu diesen Massen sich die Natur der Höhen, der Bewäs- serung, der geognostischen Bestandtheile, des Erzreichthums, der Verbrei- tung der Floren und Faunen, der Völkerschaften, der Staaten, ihrer Kräfte, die Zahl der Übergänge, Pässe, der Durchgänge und Ansiedlungen, und so vieles Andre in das richtige Verhältnifs zur Beurtheilung des Ganzen und zu den Umgebungen zu bringen, woran bei gewöhnlichen, selbst den besten Länderbeschreibungen noch bis heute fast nie gedacht wird. Wir erinnern zuletzt noch an Messungen verbunden mit Zählungen der besondern Gegenstände innerhalb der geometrischen Figuren, und der durch das Quadratmaafs beliebig zu erweiternden oder zu verengenden Räume, je nachdem das Bedürfnifs für diesen oder jenen Gesichtspunct es erfordern möchte, ganze Massen jener geometrischen Figuren oder Summen der Areale zusammenzufassen, um etwas allgemeines davon auszusagen, oder sie einzeln betrachtet, wieder für sich zu zerlegen und in untergeordnete Räume beliebig, oder nach historischen, physicalischen oder politischen Eintheilungsgründen zu zerspalten, um von diesen nun jedes Besondere her- vorheben zu können, und dadurch zur speciellen Characteristik auch aller Theile der gröfseren Ganzen zu gelangen. Nur auf einige Gesichtspuncte dabei hinzuweisen wird für jetzt schon hinreichend sein, um auf die Man- nichfaltigkeit der überall sich von selbst darbietenden Aufgaben und Auflö- sungen zuführen. Wir nennen nur: die verschiedne Küstenentwicklung der Länder, die Bewässerungen der Stromgebiete, und die Verhältnisse der mitt- lern Höhen der Bergrücken zu den Gipfelerhebungen wie zu den Einsen- kungen, die mit ihnen in unmittelbarem Contact stehen, um diesen statt al- ler andern einige Beispiele beizufügen. Das Verhältnifs der Küstenentwicklung beruht auf der Länge der Gestadelinie nach geographischen Längenmeilen, zu dem Flächenraum (nach O Meilen), welcher von den zugehörigen Meeren eingeschlossen ist, und einmal im allgemeinen überschlagen werden kann nach der geometrischen Figur, genauer aber auszumitteln ist aus der ganzen Küstenkrümmung, welche das + oder — der geometrischen Figur bildet. Es gibt für jeden gegebnen Flächenraum ein mögliches Maximum und Minimum dieser Gestadeentwick- lung, von der einförmigsten Küstenbildung der Erdtheile, wie bei dem Fest- lande Australiens und Afrika’s, zur eünstigern Entwicklung der Gestade ’ 8 5 5 224 . Rırtrer: Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel Asiens und Amerikas, bis zur vollendetsten Küstenentwicklung wie bei Eu- ropa als Continent, nach Stamm, Gliedern und abgerissenen Theilen oder Inseln. Ja, es gibt ein Übermaafs dieser Entwicklung, wobei die Conti- nente nicht mehr bestehen, dagegen eine völlige Zerreifsung (Zersplitterung), Isolirung der Ländertheile durch Meerestheile eintritt, wodurch die gröfsten Inselgruppen — die dem Raum nach, den sie auf der Planetenrinde einneh- men, dem Umfange ganzer Erdtheile gleichen können (wie die Sundische Inselwelt dem Umfange Europa’s) — bis zu den kleinsten Gruppen hinab, ausgezeichnet sind. Die Relation der Küstenentwicklung zum Areal ist ein Hauptmoment in der Bestimmung des maritimen Characters der Continente, im Gröfsten wie im Kleinsten. Eine frühere Untersuchung zeigte, dafs die Entwicklung der Gestade Europa’s bei dreifach geringerm Areal als Afrika, sich doch fast doppelt so grofs verhalte und die aufserordentliche Länge von 5400 G.M. erreiche, den Umfang der ganzen Erde, die Küstenlänge jenes Erdtheils aber nur 3800, die von Asien, des 5 mal gröfsern Areales als Eu- ropa, nur 7000, und dafs die in dieser Hinsicht sehr abweichenden Werthe der Erdtheile, nach Stamm, Gliederung und ohngefähr den Rs verhältnissen etwa entsprechen: bei Afrika wie 1. bei Asien wie 4.1, 05; bei Europa wie 2. 1, u.s.w. Bedenkt man nun wie hievon in den a Erdtheilen alle Berührungen des Festen und Flüssigen und die unendliche Mannichfaltigkeit ihrer wechselseitigen Einwirkungen auf unbelebte und be- lebte Natur abhängig werden mulste, wie die plastische Gestaltung der Räume dadurch ersrhiäedenäkt bedingt wurde, und die verschiedenartigsten Grup- pirungen der Höhen En Tiefen mit allen bewässerten Eineenkungen dadurch ihre Umgrenzungen, Neigungen und absolut gröfsten Gefälle gegen die ver- schiednen Himmelsgegenden und Meere erhielten, und dafs dieselben Um- stände bei der kleinsten Halbinsel und Insel wie bei dem gröfsten Festlande eintreten, so wird man zugeben müssen, dafs es von dem gröfsten geogra- phischen Interesse sein müfste, überall und immer diese Wassergrenzen in Beziehung auf das zugehörige Areal, auf die Landgrenzen, auf die Binnen- länder, und auf alles übrige, für jede beliebige Erdstelle beurtheilen, in Zahlen, Zahlenreihen, kurz in richtigern Verhältnifsbegriffen auffassen, und für jeden beliebigen Zweck anwenden zu können; diese Verhältnifsbegriffe also auf den graphischen Darstellungen selbst schon jedesmal an der gehö- rigen Stelle angegeben zu finden! Dann erst würde jedwede Begünstigung räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 225 oder Übervortheilung der Gestadeländer durch Stellung gegen Weltmeere und Gegengestade, gegen hemmende oder den Weltverkehr fördernde Mee- res- oder Windbewegungen, oder ihrer Bildung nach Ufergestaltung, ihrer Zugänglichkeit durch sichre Küstenmeere und Hafenreichthum u. dgl. m.in der wissenschaftlichen Beurtheilung ganz characteristisch für jedes Küsten- land und jedes Gestadevolk hervortreten. Eben so könnte durch die Anwendung der Maafs- und Zahlenverhält- nisse die Form der Stromgebiete ungemein fruchtbar für die Betrachtung der wichtigsten Länderräume, welche der Hauptsitz der Cultur der Völker und Staaten zu sein pflegen, gemacht werden, wenn das Wesen ihrer Grund- verhältnisse klar zur Anschauung käme, und zur Vergleichung für die Wis- senschaft sichrer und bequemer als durch die Beschreibung gehandhabt wer- den könnte. Die gänzliche Vernachlässigung dieser Hauptform der Strom- gebiete, welche die merkwürdigsten Landschaften der Erdoberfläche unter die angesehensten der strömenden Wasser der Erde höchst eigenthümlich vertheilt zeigt, ist zu auffallend, um nicht sogleich daran zu erinnern, auf welcher elementaren Stufe die geographische Wissenschaft stehen mufs, um ein so wichtiges Mittel ihrer wesentlichsten Bereicherung ganz unbenutzt am Wege liegen zu lassen. Bei jeder Länderbeschreibung werden die Flüsse zwar aufgezählt, welche den Boden bewässern, und einige Merkwürdigkeiten hinzugefügt; sehr selten schon wird man Angaben über ihr verschiednes Gefälle finden, das dem Strom doch seine Bewegung gibt, oder über die Tiefe und Schiff- barkeit von welcher seine Brauchbarkeit, Fruchtbarkeit u. s. w. abhängig ist, was sich von Strecke zu Strecke und Stufe zu Stufe leicht durch Zahlen anzeigen liefse. Über die Länge in Meilen von der Quelle zur Mündung findet man hie und da schon Angaben, und durch eigne vergleichende Flufs- karten, in welchen die Bedeutung der Ströme, nach der auf eine gerade Linie reducirten Meilenzahl wie dem Range nach geordnet erscheint, hat man Einiges zur Ausfüllung jener Lücke versucht. Am verdienstlichsten sind darüber einige Messungen von Buache (1752), von denen jedoch er selbst wie seine Nachfolger fruchtbare Anwendungen zu machen versäumten (Essai d’un Parallele des Flewes de l’Europe). Aber man übersahe dabei dafs auch hier wie überall ein Zusammenhang der Erscheinungen ist, der sich nicht willkührlich zerschneiden läfst, ohne in sich selbst zu verarmen Histor. philolog. Klasse 1828. Ff 226 Rırrer: Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel und sich selbst zu vernichten. Sehr verschiedne Verhältnisse bei den Strom- systemen wollen zu gleicher Zeit in ihrer gegenseitigen Einwirkung aufgefafst sein, um zur vergleichenden Characteristik aller und zur wahren Bedeutung jedes besondern für den Haushalt der Natur und den Gang der Geschichte zu führen. Die räumlichen Verhältnisse, welche hier die erste Grundlage aller andern bilden, und, zum höchsten Bedürfnifs der Wissenschaft noth- wendig, vor allen übrigen bei allen Hauptströmen der Erde auszumitteln wären, sind aufser dem oben berührten Gefälle, auf den verschiednen Haupt- stufen ihrer Senkungen, von den Höhen zu den Tiefen: einmal, der directe Abstand der Quellen von den Mündungen, oder die kürzeste Distanz welche das Gefälle durchlaufen mufs; zweitens die wahre gekrümmte Linie des Stromlaufs, oder das Maximum der Entwicklung, welche das strömende Gewässer auf dem gegebnen Abstande durch seine Thalbildung wirklich ge- wonnen hat, und drittens das Arealmaafs des ganzen zu einem und demsel- ben Stromsysteme mit allen seinen Verzweigungen zugehörigen Stromge- bietes, oder des Flächenraums, der dem jedesmaligen Systeme seine Bewäs- serung, Befruchtung, und vieles Andere, gewöhnlich die ganze eigenthüm- liche Art seiner natürlichen und historischen Bereicherung, zu verdanken hat. Jedes Stromsystem gewinnt hiedurch seinen geometrisch zu bestim- menden Hauptcharacter, der, wie bei jeder Pflanzenform, so auch bei jed- wedem der grofsen Stromsysteme, deren Eigenthümlichkeiten klar vor die Anschauung treten läfst, und in der Verwirklichung der vielartigsten Com- binationen der Hauptverhältnisse begründet ist. Hiedurch wird es möglich zum Besten einer wissenschaftlichen Behandlung der weitläuftigen Beschrei- bungen (die an ihrer passenden Stelle immer als Vervollständigungen des Begriffs ihr Recht behaupten können) sich zu überheben und durch Verhält- nifsbegriffe Anschauungen hervorzurufen, welche die Grundlage jeder wei- tern Belehrung und Forschung sein werden, welche aber, ohne die Ausmitt- lung derselben nach Maafs und Zahl nicht zum Bewufstsein der Wissenschaft und ihrer Lehre gelangen würden. Ein paar Beispiele werden hinreichen, dies zu verdeutlichen. Der Strom der Wolga durchläuft ungefähr eine ge- krümmte Linie von wenigstens 440 Deutschen Längenmeilen von seiner Quelle zur Mündung, die Donau 381; jene ist also 4- länger, der Rhein nur 175, also mehr denn das Doppelte kürzer als die Donau. Die Längen- werthe dieser Hauptströme könnte man also ungefähr mit den Verhältnifßs- räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u. s.w. 227 zahlen 3, 2, 1 (525, 350, 175) in Beziehung auf den ihnen zugehörigen Erdtheil bezeichnen, den Arealwerth ihrer zugehörigen Stromgebiete aber durch die Zahlen 8, 4, 1, da das der Wolga etwa gleich grofs mit dem des Nil nach runder Summe einen Flächenraum von 30000 Q Meilen einnimmt, das der Donau 14500, das des Rheins nur 3600. In Hinsicht der Stromgefälle und der daraus hervorgehenden Mannichfaltigkeit der Erscheinungen mufs man diese Zahlen aber ganz in umgekehrter Ordnung auf sie anwenden, da die Quellen des Rheins über 10000’ hoch liegen, die der Donau keine 3000, die der Wolga nur 1100’ über dem Spiegel des Oceans; nach der Normal- direction ihres Laufes gegen mehr oder weniger begünstigte Gestade stehen sie in demselben umgekehrten Verhältnifs; in Beziehung auf die Weltgegen- den gegen SO, O und NW aber haben sie eben so viel völlig von einander verschiedne Stellungen, wodurch eben ihre climatischen Verschiedenheiten, ihre Jahreszeiten, periodischen Anschwellungen, Befruchtungen u. s. w. be- dingt werden. So einartig also auch diese Stromlinien auf den Kartenzeich- nungen erscheinen, so verschiedenartig treten sie sogleich in ihren Wir- kungsweisen auf die verschiednen Planetenstellen hervor, wenn auch nur ihre einfachsten Raumverhältnisse genauer bestimmt, und in ihren absoluten und relativen Werthen in Einen Begriff zusammengefafst werden können. Wie viel reichhaltiger ist hievon das Resultat für Erforschung des Ganzen wie des Einzelnen, wenn man alle wichtigsten Momente, die dabei hervor- treten, auf dieselbe Weise beachten wollte. Unter den 6 der bedeutendsten europäischen Ströme, die im südlichen Rufsland zwischen der Kubanmündung vom Kaukasus herab, und der Do- naumündung aus Ungarn her, auf einem verhältnifsmäfsig sehr kurzen Ho- rizontalabstande, von O gegen W nämlich nur von 80 geographischen Mei- len, ihren grofsen Wasserreichthum, den hier schon Herodot bewunderte, aus den weitesten Fernen wie sonst nirgends in Europa in ähnlicher Fülle für einen so kurzen Raum in das Becken des Schwarzen Meeres zusammen- schütten, unter diesen 6 Strömen (Kuban, Don, Dnepr, Bug, Dniester, Donau) ist nächst der schon oben erwähnten Donau der Dnepr der bedeu- tendste, denn sein Stromgebiet ist 3 mal so grofs als das von Rhein und Elbe, 10000 IM. Die gekrümmte Entwicklung seines Stromlaufs 214 G.M. Der directe Abstand seiner Quelle von der Mündung unterhalb Cher- son 134; die Krümmungen des Stroms verlängern also seinen Lauf um volle Ff2 228 Rırter: Bemerkungen über Feranschaulichungsmittel 100 Meilen. Die Folge dieser Entwicklung ist die verhältnifsmäfsig aufser- ordentliche Erweiterung seines natürlichen Stromgebiets, die Menge der Wasserläufe die sich seinem Systeme zuwenden, und die grofse Fruchtbar- keit und Mannichfaltigkeit der Oberflächen, in denen sich sein strömendes Gewässer (das sie in den vielfältigsten Windungen bespült, so lange als es nit der Natur eines Stroms nur verträglich ist) verweilt. Sein westlicher Nachbar der Dniester mit gleicher Normaldirection gegen SO, und unter sehr ähnlichen Localitäten sich erzeugend, weiset doch, gegen ihn, ganz entgegengesetzte Verhältnisse auf. Er ist freilich an Gröfse geringer wie je- ner, aber darin liegt die grofse Differenz beider nicht, sondern jener Ver- hältnifsunterschied gibt ihnen die verschiedenste Characteristik. Der directe Abstand der Dniester- Quelle von der Mündung ist 81 G. Meilen, sein gan- zer Lauf alle Krümmungen miteingerechnet gibt aber nur die Entwicklung von 96 G. Meilen; seine Krümmungen verlängern den Stromlauf also nicht um -- seines directen Abstandes, daher ist sein Stromgebiet, verhältnifs- mäfsig für die Länge seines Laufs, sehr gering ja unbedeutend an Umfang zu nennen, keine anderthalbtausend OM. grofs (1500 OM.), nur halb so grofs als das des Rheins, kaum mit dem des Tajo etwa zu vergleichen, und hieraus geht der geringere relative Werth dieses Stromes im sonst so reichlich aus- gestalteten osteuropäischen hydrographischen Systeme von selbst hervor, im Vergleich mit seinen gröfsern Nachbarn nicht nur, sondern auch’mit andern nicht eben an sich bedeutendern Strombildungen. Durch die am meisten einer geraden Linie genäherte Stromrinne ist sein Stromgebiet verhältnils- mäfsig das kleinste dem Areal nach geblieben, das einem Strome dieser Gröfse nur irgend zu Theil werden kann. Es ist aber auch das einförmigste geblieben, nur zu seinen beiden Seiten ein schmaler Landgürtel von NW gegen SO gezogen; darum fehlen seiner Stromrinne alle bedeutendern Zu- flüsse und seinem Gebiete alle Mannichfaltigkeit von Verhältnissen; er selbst ist weder geographisch, noch historisch für Einheimische oder Fremde durch seine Naturverhältnisse von höherer Bedeutung für den Erdtheil geworden, bis heute kaum einmal beschifft. Sehen wir zuletzt noch auf das Stromsystem der Weichsel, den gröfs- ten Zuflufs des Ostseebeckens, das mit Donau, Elbe und Rhein die 4 mäch- tig strömenden Wasser Mitteleuropas bildet. Der Gröfse nach steht die Weichsel im hydrographischen Systeme des Erdtheils dem Rheinstrom am räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 229 nächsten, und zwar zwischen Elbe und Rhein. Denn der directe Abstand der Weichselquelle von der Mündung zur Ostsee ist 72 G.M., die Strom- entwicklung 123 G.M.; die Krümmungen des Laufes bilden also 51 G.M., das ist weit über 5- des directen Stromlaufes. Hieraus ergibt sich die grofse Bewässerung welche die Weichsel ihrem Stromgebiete gibt. Der directe Abstand der Oderquellen von der Odermündung ist derselbe wie bei der Weichsel, aber die Stromentwicklung der Oder ist weit geringer (um 20 G.M.), daher sie auch verhältnifsmäfsig weit weniger Landschaften bewässert und be- fruchtet als ihr östlicher Nachbar. Der Elbestrom hat zwar gröfsern direc- ten Abstand seiner Quellen von der Mündung als die Weichsel, nämlich 84 G.M., aber das Verhältnifs seiner Stromentwicklung ist dennoch geringer. Der Rheinstrom übertrifft in beiden Verhältnissen die Weichsel an absoluter Gröfse; der directe Abstand seiner Quellen von seinen Mündungen ist an 100 G.M.; die Entwicklung seines herrlichen Stromlaufes 147 G.M.; aber das Verhältnifs seiner Krümmungen macht noch keine volle — seines directen Laufes aus, und ist relativ also geringer als bei der Weichsel. Dadurch stimmt sich der sonst so mächtige Rhein von seiner Gröfse wieder um ein gewisses herab, und nähert sich den Verhältnissen der Weichsel in so fern, dafs die Stromgebiete beider fast ein gleiches Areal einnehmen mit einem Unterschiede weniger Quadratmeilen (das der Weichsel 3578, des Rheins 3598, das der Elbe nur 2800, der Oder 2072). Die Verschiedenheit des Gefälles beider hydrographischen Formen wird in die Analogie ihrer hori- zontalen Dimensionen wieder neue Contraste einführen, wodurch das cha- racteristische und individuelle derselben ganz neue Bestimmungen erhal- ten wird. Wir verlassen aber diese weitere Durchführung, weil es hier nur darum zu thun war, zu zeigen, wie räumliche Verhältnisse bei genauerer Ausmittlung durch Maafs und Zahl zu der Veranschaulichung des Wesens geographischer Verhältnisse überhaupt führen, die ohne sie unbeachtet lie- gen bleiben, durch sie aber einen Ausdruck für die Sprache und Lehre ge- winnen und zu einer wenn man will erschöpfenden Systematik führen, welche für das so wenig geordnete und fast unübersehlich gewordne Material geo- graphischer Wissenschaft immer unentbehrlicher zu werden scheint. Was den dritten oben angegebnen Punct betrifft, die Verhältnisse der mittlern Höhen der Bergrücken zu den Gipfelhöhen, so brauchen wir hier 230 Rırrter: Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel nur im Vorübergehen daran zu erinnern, weil die aufserordentlich frucht- bare Betrachtung derselben erst seit kurzem von dem Erforscher dieses Ver- hältnisses selbst auf die Construction der bedeutendsten Gebirgsmassen der Erde angewendet worden ist, in verschiednen Abhandlungen über die Hoch- gebirge Indiens und in dem neuesten Bande der Reise in die Äquinoctialge- genden des neuen Continents 5 Th. S.390. u.f. Das Verhältnifs der abso- luten Gipfelerhebung, mit dem man sich als Characteristik der Gebirgsmas- sen früherhin ausschliefslich zu beschäftigen pflegte, und das sich bei Pyre- näen, Alpen, Cordilleren und Himalaja in eine wachsende Reihe stellt, wie die Zahlen: 1...1%...2, und... 2%, tritt dadurch, bei Beurtheilung der wesentlichern Höhenverhältnisse der gesammten Gebirgsmassen mehr in den Hintergrund, indem die mittlere Höhe der Gipfellinie derselben, oder der Kamm, weit mehr geeignet ist als Normale der Gebirgssysteme eine richtige Vorstellung ihrer Gestaltung zu geben, wozu die Verhältnisse der isolirten Gipfelerhebung, und andere, dann erst als untergeordnete Bestim- mungen hinzuzufügen sind. Das aufgefundne Constructions-Verhältnifs je- ner vier Gebirgssysteme besteht darin, dafs die mittlere Höhe der Gipfel- linie auf den Anden den höchsten Gipfelpuncten der Pyrenäen gleich ist, die mittlere Höhe der Gipfellinie des Indischen Hochgebirgs aber den höchsten Puncten der Alpen gleichkommt; der Kamm der Pyrenäen aber der Höhe nach fast dem Kamm der Alpen gleich ist, diese aber vor jenen characteri- sirt sind, durch die relativ gröfsere Erhöhung ihrer Gipfel, oder durch deren grofses Erhebungsverhältnifs über dem Kamme des Alpensystems. Man sieht leicht, dafs dies Verhältnifs des Minimum der Gesamthöhen unmittel- bar die Lage der Pässe bestimmt, also die Durchgehbarkeit der Gebirgszüge, und dafs eine nicht unbedeutende Zahl verwandter Verhältnisse sich an je- nes, wie an einen gemeinsamen Kern anschliefsen, dafs es sich auch auf die Profile ganzer Continente und Inseln übertragen läfst, und dafs nach dieser Grundlage bei der Kartenzeichnung vieles andre wesentliche Detail der verti- calen Dimensionen nach Höhen und Tiefen geordnet, auf eine für die An- schauung lehrreiche und bestimmte Weise eingetragen werden könnte; dafs ferner sehr reichhaltige und doch gut zu überschauende Höhentafeln zur endlichen benutzbaren Gruppirung und Vergleichung aller Barome- ter- und anderer Höhenmessungen hienach anzuordnen wären. Wir ha- ben dieses Verhältnifs für verticale Dimensionen nur allein als Fingerzeig räumlicher Verhältnisse bei graphischen Darstellungen u.s.w. 231 hier angeführt statt aller andern, die auf ähnliche Weise noch berücksich- tigt werden konnten. Diese Bemerkungen über Veranschaulichungsmittel räumlicher Ver- hältnisse bei graphischen Darstellungen, deren nur beispielsweise angeführte Zahl leicht noch um vieles vermehrt werden könnte, mögen hinreichen, um zu zeigen, wie vieles von dieser Seite her, sowohl für geographische Wis- senschaft selbst, als auch zur Förderung der Mittheilung ihrer Elemente, abgesehen von allem neuen Material, wie von aller Willkühr der Methodik geschehen könnte und noch geschehen müfste, ehe beide gehörig gedeihen und eine vollendetere Gestalt als bisher werden gewinnen können. Da die Ausmittlung dieser Verhältnisse, obwohl keine aufserordent- lichen Anstrengungen, aber doch eine längere Reihe genau fortgesetzter Ar- beiten messender Art nach den besten vorhandenen Materialien und in einem wissenschaftlichen Zusammenhange zu bestimmten Zwecken voraussetzt, zu denen nicht einem Jeden Zeit und Mittel zu Gebote stehen, so schien es bei der vor kurzem durch Veraltung und Veräufserung des Landkartenverlags der Akademie angeregten Frage: ob sie nicht, im Sinne der frühern Zeit, in der Verbreitung der verbesserten elementaren graphischen Hülfsmittel, wie so lange schon, so auch jetzt noch fortzufahren habe, — so schien es nicht unpassend, eine fruchtbare leicht zu realisirende, so wie ihrer und dem Be- dürfnifs der Wissenschaft würdige Weise anzugeben, sich das früherworbne Verdienst auch noch ferner anzueignen und zu bewahren. Es würde die allmählige Ausarbeitung eines Atlasses der räumlichen Erdverhältnisse sein, der das wesentlichste des ganzen Verhältnifssystems für jedes gröfsere Ganze und dessen Haupttheile durch Messung und Zählung feststellte. Genaueste Ausmittlung des ganzen Systems jener für alle Zweige der historischen und physicalischen, insbesondre der naturhistorischen und geographischen Wis- senschaften nicht unwichtigen Verhältnisse der Erdoberfläche, würde dann die erste Aufgabe sein, zu welcher einem, dem Landkartenwesen vertrauten Geometer der Auftrag und die zweckmäfsige Unterstützung gegeben werden müfste. Die zweite würde es sein, die Resultate dieser Ausmittlungen auf die deutlichste, anschaulichste und unmittelbar zu jeder Art von Anwendung nutzbarste Weise graphisch darzustellen, auf, zu diesem Zweck, und nur durch diese ausgemittelten Verhältnifslinien und Zahlen zu entwerfenden Ge- neralkarten, Tafeln und Specialblättern, auf denen die wichtigsten räum- 232 Rırran: Bemerkungen über Feranschaulichungsmittel u.s.w. lichen Verhältnisse unmittelbar abzulesen sein müfsten, um dieselben für jedes Bedürfnifs combiniren und mit den getroffnen Combinationen zum Besten aller Zweige der Physik, Naturgeschichte, Geognosie, Botanik, Ge- schichte und Geographie, nach Belieben schalten und walten zu können. Die dritte Aufgabe würde es nach solcher wissenschaftlichen Vorarbeit sein, hiedurch einmal der Form und Einrichtung eines Elementar -Schul - Atlasses seine verbesserte Gestalt zu geben, und dabei den wesentlichen Unterschied der Generalkarten oder der Abstraction, wo das Bild des kleinen Maasstabes wegen nothwendig in das Zeichen eines Abbildes verwandelt werden mufs, von der Specialkarte oder dem wirklich verkleinerten Abbilde, den Bezeich- nungs- und Darstellungsarten nach festzustellen, wodurch dem elementaren Schulunterrichte in der Geographie eine neue Bahn eröffnet werden könnte, indem er aus der Beschreibung sich zur, das reiche Material ordnenden, Ver- hältnifslehre erhöbe und zur Construction führte.. —hHE— Über die etruskischen Todten-Kisten. (Fortsetzung.) Von H”- WILHELM UHDEN. rm [Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 8. Mai 18283.] E.. ich die, in meiner Vorlesung vom 10. Mai v. J. angekündigten Be- merkungen über die, aus gebranntem Thon verfertigten Todten -Kisten der Etrusker vorlege, erlaube ich mir, zweier Vorstellungen zu gedenken, die auf mehrern steinernen ähnlichen Kisten gesehen werden, auch in Abbil- dungen bekannt gemacht worden sind, doch ohne genügende Erklärung der dargestellten Mythen. Des einen Reliefs an einer grofsen Todten-Kiste von Volterranischem Alabaster, die zu Todi gefunden, jetzt im Vaticanischen Museum aufgestellt ist, ward schon in der letzten Abhandlung erwähnt. Abbildungen desselben finden sich in dem Mus. Etruse. T.]. tab. 135. und in den Sntchi monu- ment zu Micali’s Werk tab. XLIV. Dieser giebt keine Erklärung bei; Gori eine ganz unrichtige. Es ist hier der Sturz und Tod des Oenomaus mit dem verrätherisch zertrümmerten Rennwagen dargestellt. Zwei Dienerinnen des Verhängnisses stürzen den König 5 Der siegende Pelops ist nach etruskischer Kunstsymbolik bezeichnet durch und bringen Verderben über ihn und die vier Rosse. eines der abgelaufenen Räder des Wagens, welches er auf der Schulter trägt, die Ursach des Sieges. Ihm zur Seite steht die errungene Braut Hippodamia, als Königstochter mit dem Diadem und reichen Gewändern geschmückt. Pelops erscheint in phrygischer Tracht mit der phrygischen Mütze auf dem Haupte und der kurzen Tunica, als ein Nichtgrieche oder Baoßages, weil er ein solcher war, nach einigen ein Lyder, nach andern ein Paphlagonier, Histor. philolog. Klasse 1828. Gg 234 Uupoen wie Tzetzes zur Cassandra v. 150. bemerkt, indem er hinzufügt: Bagßapsı Ö8, ol Te Audel zul ci mabAuyoves. Gori sieht hier die Amazonen gegen die Genossen des Herkules käm- pfend (!), und Micali nennt die Darstellung ein suggetto incerto (?) In dem Museum Etruscum Tom. MI. Clas. III. tab.xxı. scheint die- selbe Vorstellung abgebildet zu sein, doch von ungeübter Hand; Gori hat hier keine Erklärung beigefügt. Die Darstellung der bestraften mörderischen Arglist des Oenomaus gegen den Orakelspruch, möchte auf keiner andern der bis jetzt bekannten Todten-Kisten, als auf den drei erwähnten, gesehen werden. Auch findet sie sich nicht auf Griechischen oder Römischen Bildwerken, so weit solche in Beschreibungen und Abbildungen öffentlich vorliegen. Überhaupt um- fassen die Etruskischen mythischen bildlichen Darstellungen einen weit aus- gedehntern Kreis der einzelnen alten griechischen Staaten und Heroen, als jene, und viele kurze dunkle Andeutungen alter Dichter und Historiker werden durch sie erhellet und bekräftiget. Zu solcher glaube ich auch folgende zählen zu dürfen, die an mehre- ren Todten-Kisten bald mit gröfserer, bald mit geringerer Anzahl von Fi- guren gebildet erscheint, und ein Ereignifs aus dem Leben des Alexanders oder Paris betrifft, welches nur hie und da in den Schriften der Alten an- gedeutet wird, und von Niemandem bis jetzt in diesen oft wiederholten Darstellungen erkannt worden ist. Die an Figuren reichste zeigt eine alabasterne Todten-Kiste in dem öffentlichen Museum zu Volterra. In der Mitte des Reliefs kniet auf einem Altar mit dem rechten Fufs ein Jüngling, den Kopf mit der phrygischen Mütze bedeckt, und mit einer Chlamys bekleidet, in der Rechten hält er ein Schwerdt, in der Linken ei- nen langen Palmzweig, und schaut linkwärts hin. Auf ihn zu eilt von rechts her ein junger Mann mit gezücktem Schwerdt in der Rechten, am linken Arm einen runden Schild, einen Helm auf dem Haupt, um die Schultern die Chlamys, zwischen seinen Füfsen steht ein Harnisch. Vor diesem und nach ihm hinschauend stellt sich eine, jenen Knienden schützende Göttin; sie ist (') Mus. Etrusc. T.1I. p.264. (?) Ant. mon. p.VIN. tab. xrıv. u. xuır. über die etruskischen Todten- Kisten. 235 als solche bezeichnet durch zwei grofse an den Schultern ausgebreitete Flü- gel mit einem menschlichen Auge in jedem derselben, und ist geschmückt mit einem Halsband und einer Buckel zwischen den entblöfsten Brüsten, in welcher sich kreuzweis zwei Schnüre, die über den Schultern und an den Hüften hangen, vereinigen; ein weites Peplum, welches nur den rechten Schenkel deckt, zieht sich hinten hinauf, und wird von ihr mit dem einen zusammengefalteten Zipfel in der erhobenen Linken vor dem Knieenden ge- halten, in der Rechten fafst sie eine Schriftrolle. Einen andern jungen, be- helmten, mit der Chlamys bekleideten Heros, der jenem Angreifenden gegen den Altar zu folgt, fafst, ihn zurückhaltend, ein junges Weib am Arm und an der Schulter. Diese zweite Beschützerin des Knieenden trägt über der Stirn das hohe Diadem, ist geschmückt mit Halsband und Armspangen, be- kleidet mit einer langen Tunica und mit einem Peplum um Hüften und Schenkel. Zu den Figuren dieser Hauptgruppe scheinen noch zwei zu ge- hören, auf der andern Seite des Altars rechts dem Anschauer; beide sind aber so versehrt, dafs nur aus Vergleichung der Überreste derselben mit den entsprechenden besser erhaltenen Figuren auf ähnlichen Reliefs ihr Geschlecht und ihre Handlung sich errathen läfst. Beide sind gegen den Knieenden ge- richtet, die eine männliche ist im Begriff, das Schwerdt aus der Scheide zu ziehen, wird aber von einer Moira, die in der Linken eine umgekehrte bren- nende Fackel hält, mit der Rechten gefafst und zurückgehalten. Diese hier vorgeführten Figuren gehören zu der Haupthandlung; zwei andere, ein bärtiger Mann, in der kurzen Tunica, der die Linke emporhebt, und mit der Rechten einen kleinen Knaben umfafst, scheinen nur in entfern- ter Beziehung auf jene zu stehen. Der Knabe ist mit der Chlamys beklei- det, und hält in der Rechten einen Ball oder eine runde Frucht. Diese beiden Figuren fehlen auf den übrigen bekannten Wiederho- lungen dieser Bildwerke. Auf diesen erscheint die schützende Göttin auch ohne Flügel ('), auch aufser den Fittigen an den Schultern mit kleinen Flü- geln am Haupt (?), wo sie überdem den angegriffenen knieenden Heros mit beiden Armen umfafst. (') Gori Mus. Etrusc. T.11I. Cl. II. tab. xvırı. (?) ibid. tab. ıx. 236 Uupen Der Ort, wo die Handlung vorgeht (ein Umstand, der nicht wenig zur Erklärung derselben beiträgt) ist auf keinem dieser Reliefs so deutlich, als auf dem gröfsern beschriebenen angedeutet. Ein auf dem Hintergrunde gearbeiteter durchgehender Fries von Akanthusblättern, abwechselnd mit dreieckigen architectonischen Ornamenten, wie auch Spuren von Säulen und von einer Bedachung bezeichnen eine Halle, in welcher der Altar steht, auf den der verfolgte Sieger sich geflüchtet hat. Gori glaubte, in diesen, auf Volterranischen Todten-Kisten oft, wie er schon bemerkt, wiederholten Reliefs, sacra mythriaca zu erblicken ('); späterhin gab er selbst indessen diese ganz grundlose Meinung auf, und stimmte seinem Freunde Passeri bei, welcher vermuthete, dafs hier der bekannte blutige Kampf um die Priesterschaft der Taurischen Diana darge- stellt sei. Diana, so benennt er die, den Knieenden schützende Göttin, ziehe vor Abscheu bei dem Anblick des Gemetzels den Schleier vor die Au- gen. Wo erschien aber je in alten Kunstwerken die keusche Göttin so völ- lig entblöfst, wie auf diesen? auch auf Etruskischen Bildwerken wird sie immer bekleidet gesehen, wie z.B. in den nicht seltenen Darstellungen der Opferung der Iphigenia. Wie sollen hier barbarische Skythen im Costüm griechischer Heroen dargestellt sein? — Eben so unstatthaft möchte die Erklärung zu achten sein, die Micali in kurzen Worten von diesen Bildwerken giebt (?). Orestes in Delphi, der sich zum Altar des pythischen Apollo flüchtet, nennt er den Knieenden, ohne sich um die übrigen Figuren zu bekümmern. Wie kommt aber Orestes zu der phrygischen Mütze, wie zu dem Palmzweig? diese Attribute zeugen schon hinlänglich gegen diese Deutung. Eben diese Attribute geben das erwünschte Licht, um den Mythos, der hier bildlich dargestellt ist, aufzufinden. Der, auf dem Altar knieende Jüngling ist von den andern auf ihn eindringenden jungen Männern, welche gewöhnliche griechische Helme tragen, durch die phrygische Mütze, die sein Haupt bedeckt, ausgezeichnet. Diese Hauptbedeckung ist dem Alexandros oder Paris so eigenthümlich, dafs er auf sichern griechischen und etruskischen (') Mus. Eır. T.1. p.346. (*) Monument pag. XI. tab. xıvan. über die etruskischen Todten- Kisten. 237 Bildwerken nie ohne dieselbe geschen wird. Er ist also auch in dem hier verfolgten, durch den Palmzweig als Sieger bezeichneten Jüngling zu erken- nen, und ein weniger bekannter Mythus des Hauses des Königs Priamus be- stätigt die Vermuthung, dafs Paris wirklich hier gemeint sei. Diesen Mythus hat Hygin am vollständigsten aufbewahrt, kürzere Andeutungen desselben finden sich bei Tzetzes und Servius. Nachdem Priamus, so wird erzählt, mit der Hekuba mehrere Söhne erzeugt hatte, ward diese wiederum schwanger, und ihr träumte, dafs sie eine lodernde Fackel gebäre. Alle Zeichendeuter riethen daher, das Kind, das sie zur Welt bringen werde, sogleich zu tödten, damit es nicht dem Va- terlande Verderben bringe. Alexandros ward gebohren, und den Dienern übergeben, um ihn zu tödten. Aus Mitleid, nach andern, auf geheimen Be- fehl der Hekuba, mordeten ihn diese nicht, sondern setzten ihn in einem Walde aus. Hirten fanden das Kind, erzogen es, und gaben ihm den Na- men Paris. Er weidete die Heerden seiner Pflegeältern, und hatte einen schönen Stier seiner Heerde besonders lieb gewonnen. Priamus feierte un- terdessen alljährlich mit Kampfspielen das Andenken seines todtgeglaubten jüngsten Sohnes, und es traf sich, dafs in dem Jahr, wo Paris das Jüng- lingsalter erreicht hatte, Diener des Königs auch aus seiner Heerde einen Stier zum Kampfpreis bei jenem Feste auszusuchen kamen; sie wählten den schönsten, den Liebling des Hirten. Paris begleitete sie, und beschlofs in sich, selbst in den Leichenspielen als Kämpfer, um den ihm so werthen Preis zu gewinnen, aufzutreten. Er kämpfte mit, überwand Alle, auch seine Brüder. Einer derselben, Deiphobus, nach andern Hector, erzürnt über den unbekannten Hirtenknaben, verfolgte ihn mit dem Schwerdte, um ihn zu tödten. Paris flüchtete sich auf den, dem Zeus Herkeios geweihten Hausaltar des Königlichen Pallastes, ihn erkennt die Seherin Cassandra, seine Schwester, und Priamus nimmt den todtgeglaubten Sohn wieder auf. Der etruskische Künstler hat mit der, diesem Volke eigenthümlichen Kunst-Symbolik den Mythos dargestellt. Die Scene der Handlung ist der Vorhof am Pallast des Priamus, die- ser ist mit seinen Hallen angedeutet durch den verzierten Fries, der auf Säu- len ruht. In diesem Vorhof steht der Altar des Zeus Herkeios, des, das Innere im Umfang des Pallastes schützenden Zeus, der jedem Hofraum, wo er aufgestellt war, die Unverletzbarkeit verlieh, die der heilige Heerd dem 238 Uuden Hause selbst gab. Es ist eben der Altar, an welchem Priamus bei der Zer- störung Troja’s, nach den Erzählungen der cyclischen Dichter ermordet wurde. Auf diesen Altar hat sich hier der verfolgte Paris, der Sieger, mit dem Symbol des Siegs, dem Palmzweig in der Linken, geflüchtet. Die ihn schützende Göttin ist vortrefflich als die wahre woovor« be- zeichnet. Auf den schnell überall hin dringenden Blick der Göttin deuten die offnen Augen in den grofsen Fittigen, und das Volumen in ihrer Rechten enthält die unauslöschlich aufgezeichneten Schicksale der Sterblichen. Vor ihr schreckt der nächste Verfolger, Deiphobus zurück, ein andrer wird von Cassandra der Königstochter, als solche durch das Diadem bezeichnet, am Arm zurückgehalten. Auf einem ähnlichen Relief bei Gori(!) scheint der bärtige Alte, der mit aufgehobenem rechten Arm im Akt des Erstaunens vor dem verfolgten Paris steht, der den Sohn erkennende Priamus zu sein. So gewinnt die Reihe der bildlichen Darstellungen griechischer My- then wiederum zwei neue in diesen Werken etruskischer Kunst, welcher wir so manche andre, die weder auf griechischen noch römischen Werken gese- hen wird, verdanken. Es bleibt nun noch übrig, von einer Vorstellung zu reden, die auf zwei Todten-Kisten von Volterranischem Alabaster und auf einer von Tuffo gebildet ist, deren ich kaum erwähnt haben würde, wenn nicht eine dersel- ben, die von den Bearbeitern dieser Monumente nicht gekannt, oder nicht beachtet worden, vielleicht einiges Licht zur Erklärung der sehr seltsamen Bildwerke geben möchte, die sonst unerklärbar erscheinen, so eigenthümlich auf etruskische Weise symbolisirend, und so allen bekannten griechischen Mythen unanzueignend ist ihr Inhalt. In der Mitte der vordern Wand der einen alabasternen Kiste in dem öffentlichen Museum zu Volterra, ist eine runde kannellirte Brunneneinfas- sung, ein Puteal, gebildet, aus dem ein grofses vierfüfsiges Thier bis unter der Brust hervorragt. Das Thier hat am meisten Ähnlichkeit mit einem ungeheuer grofsen Wolf, die Ohren kurz und spitz aufstehend, vier Hunds- krallen an den Fülsen, es weist die Zähne im halbgeöffneten Rachen. Um den Hals des Thieres ist eine Kette geschlungen, deren eines Ende gehalten (') Mus. Etruse. T.III. Cl. II. tab. ıx.1. über die etruskischen Todten- Kisten. 239 wird von einem, rechts neben dem Puteal liegenden jungen Mann, der mit der Tunica und der Chlamys bekleidet ist, und am linken Arm einen Schild trägt. Am andern Ende hat die Kette ergriffen ein Unbewaffneter nur mit der Tunica bekleideter. Jenen Bewaffneten packt das Thier mit der vor- dern Tazze am Kopf. Hinter dem Ungeheuer steht am Puteal ein bärtiger Mann, bekleidet mit der Tunica und einem Pallium, der eine Patera über dem Kopf des Thiers ausschüttet, in der Linken hält er ein kurzes Schwerdt in der Scheide; ein andrer, mit Schild und Schwerdt bewaffnet, steht hinter diesem. Vor dem Thier schlägt ein junger nackter Mann, die Chlamys um die Schultern, mit einer zweischneidigen Axt (rerezus) auf dasselbe los, auf welches noch Einer, mit der Tunica und Chlamys bekleideter, mit Schwerdt und Schild bewaffnet, hinzueilt. Dieselbe Vorstellung ist auf einer Todten-Kiste von Tuffo die ich zu Perugia in der Sammlung der Familie Ugolini fand, mit einigen interessanten Abänderungen gebildet. Hier ragt aus einer niedrigen Brunneneinfassung, die mit rautenförmigen Abtheilungen, in denen vierblättrige Blumen gezeich- net sind, verziert ist, ein starker Mann mit grofsem Wolfskopf und Zähne- fletschendem Rachen hervor. Um den Hals ist ihm ein Strick geschlungen, welches an einem Ende eine der etruskischen Schicksalsdienerinnen fafst, die hinter ihm steht. Diese hat Flügel an den Schultern, ist bekleidet mit einem kurzen um die Hüften von einem breiten Gurt gehaltenen, diese und die Schenkel bis über den Knieen bedeckenden Gewande, mit den Kreuz- schnüren über der Brust, und hält in der Rechten auf der Schulter einen Stab, vermuthlich eine Pelekys, deren Eisen der Kopf der Genie verbirgt. Das Ungeheuer packt mit der rechten starken Hand einen geharnischten Mann am rechten Arm. Dieser ist kurzbärtig, und trägt auf dem Haupte einen konischen Helm, am linken Arm einen runden Schild; zwischen sei- . nen Fülfsen liegt ein Todter oder vor Schreck niedergestürzter mit der Tu- nica bekleideter Mann. Hinter dem Ungeheuer steht, nach demselben mit einem Schwerdte hauend, ein mit Helm, Panzer und Schild Bewaffneter, zwischen dessen Füfsen ein nackter, mit der Chlamys bekleideter Jüngling hinterrücks zu Boden gestreckt liegt. In beiden Reliefs ist offenbar eine und dieselbe Handlung vorgestellt. Ein Ungeheuer, dort ganz Wolf, hier von dem Künstler gesteigert in Men- schengestalt, mit Wolfskopf, wird getödtet, geopfert, und wie ein Verderben 240 Ua p'Eiw bringender Blitzkeil in einem umzäunten fwlguritum, bidental, puteal ver- scharrt. Die Bestimmung des eingefangenen Ungeheuers ist in diesen bei- den Reliefs, ganz verschieden angedeutet, sehr belehrend, und die etruski- sche Kunst-Symbolik klar erläuternd. Auf dem einen wird das Ungeheuer, wie jedes andre Opferthier, durch das Aufstreuen der mola salsa von dem Priester zum Tode geweiht, auf dem andern hat es eine der tödtenden Schicksalsdienerinnen, mit der Axt auf der Schulter, am Strick in ihre Ge- walt genommen. Tod ist dort und hier gleich unvermeidlich ausgesprochen. Die Sonderbarkeit dieser Vorstellungen erregte bald nach der Ent- deckung dieser Monumente die Aufmerksamkeit gelehrter Bearbeiter etrus- kischer Bildwerke. Später gab von der Todten-Kiste zu Perugia, der ge- lehrte, um diese Klasse der Alterthümer, besonders um etruskische Inschrif- ten so sehr verdiente Vermiglioli eine weitläuftige, doch sehr mangelhafte und unrichtige Beschreibung. Er rühmt dabei, etwas unvorsichtig, die Ge- nauigkeit einer Abbildung, die der bekannte Kupferstecher Santi Bartoli sainem Werke über Römische und Etruskische Grabmale (!) beigefügt hat, welche er der Zeichnung in Dempsters Ztruria regali(?) vorzieht. Jener geschickte Künstler, der eine grofse Anzahl alter Denkmäler allerhand Art gezeichnet und in Kupferstichen herausgegeben hat, besticht das Auge durch die Vortrefllichkeit der Ausführung seiner Arbeiten mit der Radirnadel, al- lein Alle sind in Einem Stile gezeichnet, ohne individuellen, den Originalen entsprechenden Karakter, und meist nicht mit der durchaus nothwendigen Genauigkeit und Treue die Details auffassend und darstellend. So hat Bartoli hier ganz willkührlich einen Hauptakt verändert, indem er dem Manne, der nach dem Ungeheuer mit dem Schwerdte haut, das Ende des Stricks in die linke Hand gegeben, dessen Richtung weit besser und mit dem Original übereinstimmend nach der linken Hand der Moira zugeht, wie die Spuren deutlich zeigen, und wie auch schon Buonarotti(°) bemerkt hat. Vermiglioli ist geneigt, der Erklärung, die Passeri, und nach ihm Gori von diesem Relief gaben, beizustimmen. Dieser sieht in dem Unge- heuer den Dämon Lybas oder Alybas, welchem die Einwohner der Stadt (') Feterum sepulera ete, tab.xcr. (°) Tom.l. tab.xxv. (°) additamenta ad Dempst. $.xvru. p. 24. über die etruskischen Todten- Kisten. 241 Tertessa jährlich eine Jungfrau zu opfern gezwungen waren, und den der Heros Euthymus erlegte. Pausanias (1), der umständlicher als Strabo, Suidas, Plinius und Aelian diese Geschichte erzählt, erwähnt überdem, dafs er sich erinnere, diesen Dämon dargestellt gesehn zu haben, pechschwarz von Farbe, von sehr furchtbarer Gestalt, und bekleidet mit einer Wolfshaut. Euthymus ist also, nach der Meinung dieses Gelehrten, der Gewaffnete, der auf den Dämon einhaut, und die zwischen seinen Füfsen rücklings niedergestürzte Figur, die Jungfrau, welche so eben demselben zum Opfer dargebracht, und nun gerettet wurde. Aber diese Figur ist im Original offenbar ein nackter, mit der Chlamys bekleideter Jüngling, wie auch Inghirami, der zuletzt über diese Vorstellung spricht, höflich äufsert. Buonarotti’s Vermuthung, dafs hier das Monstrum Volta, welches das Land der Volsinii verheerte, und durch Beschwörung des Blitzes von diesem erschlagen wurde, erwähne ich nur in wenigen Wonen, da sie völlig ungegründet erscheint, indem Plinius, der dieses Vorfalls gedenkt, das Monstrum nicht beschreibt und die Todes- art gar nicht auf unsere Bildwerke pafst. Inghirami fügt den beiden ziemlich getreuen Abbildungen dieser Todtenkisten, weitläuftige Erklärungen bei, in denen er sich der Meinung des Le Noir anschliefst, welcher hier den arkadischen Tyrannen Lycaon in einen Wolf verwandelt sieht, der als Zeichen des gleichnamigen Sternbildes aus der Cista mystica hervorragt; diese soll hier Symbol des Horizonts im Herbste (wegen der an dem Puteal gearbeiteten vierblättrigen Blumen) seyn, und der auf den Wolf Einhauende, Mars, andeutend, durch die Nähe des Gestirns der Wolf mit dem Planeten Mars das Ende der heitern Jahrszeit des Sommers und das Annahen des trüben Winters, also Symbol der dun- keln Nacht des Todes. Leider ist Inghirami’s Werk über die etruskischen Alterthümer, bei vielen guten Bemerkungen, voll von dergleichen astrolo- gischen, phantastischen Spielereien. Die erwähnten unsichern Erklärungen würden die genannten Gelehr- ten kaum gewagt haben, wenn sie eine Todtenkiste gekannt und beachtet hätten, welche zu Volterra im öffentlichen Museum, nicht weit von jener oben beschriebenen steht; sie ist von Alabaster, und von gleich guter Ar- beit mit jener. (') Haarıc B. cap. vr. Hiıstor. philolog. Klasse 1828. Hh 242 UmenEin Hier ist ebenfalls in der Mitte des vordern Reliefs ein kannelirtes Pu- teal gebildet, aus welchem aber, nicht ein Wolf, oder ein Mann mit Wolfs- haupt hervorragt, sondern ein grofser Greif, an dessen Hals eine, aus run- den Kugeln zusammengesetzte Kette geschlungen ist, die von einem, am Puteal sitzenden, mit der Tunica bekleideten Manne an dem einen Ende ge- halten wird. Vor dem Puteal liegt ein andrer gleich bekleideter hingestürzt, und wird von dem Greif mit beiden Krallen an den Schultern gepackt; der Gestürzte hält in der Rechten eine zweischneidige Axt. Vor ihm steht eine der geflügelten Schicksalsdienerinnen, mit einem blofsen Schwerdt in der techten, hinter dem Greif ein bärtiger Mann mit der Tunica und dem Pe- plum bekleidet, der mit der Rechten eine Patera über dem Kopf des Greifen ausschüttet, und in der Linken ein Schwerdt in der Scheide hält; hinter diesem ein mit Schild und Schwerdt Bewaffneter. Die hier dargestellte Handlung ist offenbar wiederum dieselbe mit den, auf den oben beschriebenen Reliets gebildeten Vorstellungen: der Opfertod eines Ungeheuers in einem geweihten durch feste Einzäunung abgesonder- ten Raum. Das Ungeheuer, das als Wolf auf dem einen Relief sich zeigte, erschien auf dem andern, in einer veränderten Gestalt als Mann mit Wolfs- haupt, und ist nun in einer neuen Verwandlung, als Greif dargestellt. Aus dieser Vertauschung der Gestalt desselben erhellt, dafs bei Erforschung des Sinnes dieser drei Bildwerke, nicht eine Sage von der Vernichtung eines Ungeheuers von einer bestimmten Gestalt aufgesucht werden mufs, sondern vielmehr mit Grund vermuthet werden kann, dafs hier symbolisch die Ver- nichtung eines verderblichen Übels, im allgemeinen Sinn, durch diese Wolts- und Greifenähnliche Gestalten dargestellt ist, insofern Wolf und Greif Eigen- schaften besitzen, welche sie zu Repräsentanten dieser symbolischen Bezeich- nung mit Recht machen können. Diese haben aber beide allerdings. Der räuberische nächtliche Wolf war bei den alten Völkern nach den vorliegenden Zeugnissen, stets ein Gegenstand des Schreckens, ein Bild des Verderbens, und ist es auch bei den neuern geblieben ('). Greife sehen wir auf griechischen und römischen Bildwerken, wie auch auf etruskischen, kämpfend mit bewaffneten Männern, diese verfolgend und tödtend (?). (') Zu vergleichen: Zuege de orig. et usw Obelisc. pag. 307. (32). (*) Gori Mus. Etrusc. Dempst. Etrusc. reg. T.11. p. 464. über die etruskischen Todten- Kisten. 243 Beide, Wolf und Greif sind wie bekannt, dem Apollo vorzüglich ge- weiht, ihm den Heilbringenden, aber auch durch Krankheit und schnelles Vernichten, tödtenden Gott. Wären die Ungeheuer aus diesen Reliefs also vielleicht Symbole von Seuchen? und wäre durch ihren Opfertod die, durch etruskische Beschwörung bewirkte Verschwindung der Seuchen angedeutet ?— Die Bilder in diesem Sinne gedeutet, würden wenigstens dem stillen Behälter, den sie schmücken, der die Asche eines, nun nicht mehr von den Seuchen und Übeln der Welt geschreckten und gepeinigten Menschen umschliefst, ganz anpassend seyn. Zum Schlufs, und in Beziehung auf die Natur des Greifen, erwähne ich noch eines kleinen Greifen von Bronze, der als etruskisches Kunstwerk durch das, mit etruskischer Schrift auf dessen rechtem Schulterblatt einge- grabene Wort: NI4IMNI+ bezeichnet und von Gori publieirt ist. Dasselbe Wort ist an der bekannten Chimäre in der Grofsherzoglichen Gallerie zu Florenz am rechten Vorderfufs eingeschnitten, und dasselbe fand ich an einem kleinen bronzenen Windhund in dem Museum des verstorbenen Ad- vokaten Coltellini zu Cortona. Letzteres etruskisches Werk ist noch nicht bekannt; die beiden andern sind im Mus. Etruse. (1) abgebildet. Aufser an diesen drei mordlustigen Thieren wird dasselbe Wort auch auf einem kleinen bronzenen hohlen Geräth gelesen, welches Lanzi, obwohl er sagt er habe es selbst gesehen, doch ganz unrichtig beschreibt. Es ist nicht De eine Base, wie er meint, sondern wie die hier beigedruckte Aukıldcne genau in der Gröfse des Originals, erweist, der Beschlag des Endes eines etwas verjüngt ausgehenden viereckten Stabes oder Handgriffs, der, in dem von fünf Seiten umschlossenen Beschlag eingeschoben, noch mit einem, durch die in NIA)MMIF zwei Seitenflächen eingeschlagene Löcher (das eine gröfser als das andere) getriebenen Stift befestigt war. Am Rande der einen Fläche ist ö das Wort: I4IMNI+ (?) eingeschnitten, (') T.I. tab.crv. auch in Erruse. reg. T.1. tab. xxıı. (?) Nicht NIVDMNI+F wie bei Lanzi dieses Wort immer gedruckt steht. Hh2 244 Uupen über die etruskischen Todten- Kisten. und auf der zunächst liegenden schmälern folgende Buchstaben noch lesbar: Jinv:ım viav)D Spuren von Pfoten eines vierfüfsigen Thiers, wie Lanzi ebenfalls angiebt, sind nicht zu sehen; aufser einigen Schrammen, ist das Ding auf allen Flächen ganz glatt. In der Voraussetzung dieser Beschlag sei eine Base ge- wesen, behauptet Lanzi das Wort NIJIMNI+ sei der Name des Künst- lers, der das Werk verfertigt, sowohl hier, als auch auf dem Greif, und der Chimära. Sollte aber der Verfertiger eines ganz kunstlosen Beschlags sich auf demselben genannt haben? und würde ein Künstler sein Werk durch Ein- graben seines Namens, noch dazu mit ziemlich grofsen Buchstaben immitten auf den kunstgerecht gearbeiteten Theilen, wie an der Chimära und dem Greif, und dem Windhund verunziert haben? ich zweifle, und möchte ver- muthen, dafs mit diesem, bisher unerklärten etruskischen Worte vielmehr ein äufseres Verhältnifs dieser Kunstwerke, dafs sie Weihgeschenke oder Eigenthum dieses oder jenen heiligen Ortes gewesen, bezeichnet sey, und eben deswegen an recht sichtbaren Stellen jener drei Thierfiguren und mit grofsen Buchstaben. — I IDPIN 4 M DENN. u Pr ei Be n nu ENTER | || Ill | III | — a Eee RR ER EEE