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Abhandlungen

der

Königlichen Akademie der Wissenschaften

zu Berlin.

1849.

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Königlichen

Akademie der Wissenschaften

zu Berlin.

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Aus dem Jahre

1849.

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Berlin. Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften.

1851.

In Commission bei F. Dümmler’s Buchhandlung.

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Br . NR aa ı u u f E) X y £ hi Eyar LIU & (5 ur F 0 Li [2 ri . [] . - Pr on b) D f

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Historische Einleitung ....». se. e.ereeeernerenne ee Seite I Verzeichnifs der Mitglieder und Correspondenten derfAkademie vo dee. - VO Y vGedächtnifsrede auf Italien 680.056 wa 6 686 8806 80006 OR N

Physikalische Abhandlungen.

wY.

Rıess über die Seitenentladung der elektrischen Batterie ..... >». oo... Seite 1

MÜLLER über die Larven und die Metamorphose der Holothurien und Asterien. - 35 v W Gustav Rose über die Krystallform der rhombo@drischen Metalle, namentlich des

DV VII SIEREh S eren teten su siene = 7)

ji VLisk: Bermerkungen über den Bau der Orchideen. Erste Abhandlung... ... - 103

Mathematische Abhandlungen. v WENCKE über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen ... .Seite 1 / Leseune DirichLer über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlen- OIE ee ee ee ee Ra RO - 69

Abhandlungen der philosophisch-historischen Klasse.

VRırTer über räumliche Anordnungen auf der Aulsenseite des Erdballs, und ihre

Funktionen im Entwicklungsgange der Geschichten... .... Seite 1

" PAnorkA: Die griechischen Eigennamen mit KALOX im Zusammenhang mit dem Bilderschmuck auf bemalten Gefälsen ....... er. .00.0 - 37

' Dirksen: Von den Pflichten der Pietät gegen die Person des regierenden römi- SCHEenSKarserse res ans ee eslerunn oSlolenie, oh eriehlege = 127 V“JACoB GRIMM über schule universität akademie ... 2...» » rc eeerene. - 193 “Derselbe über das verbrennen der leichen ... 2... . sr ernennen - 191 TRENDELENBURG über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg... .....» S "Wisneuv: Grimm über Freidank .....o.o20oe.0-.0unnennnnene - 331

“D ensalbesNledeutsche Gespräche '. ... 2... 2... NN. sro nun - 415

Dirrerıcı über den Begriff der Übervölkerung » . ... +...» n0n.. .Seite437 GERHARD über das Metroon zu Athen und über die Göttermutter der griechischen

Mydholostern gen nee ote ER E- UBS Eee - 459 Derselbe über eine Cista mystica des brittischen Museums ........... - 491 ScuorT: Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China ........... ZaAg7 Derselbe: Das Reich Karachatai oder Si-Liao ...- 2 2.2 een er en en ne. = alE RANKE: Zur Kritik Preulsischer Memoiren .. 2... 2 2200er 20er een 5 JAcoB GRIMM: Einige berichtigungen zu der abhandlung über das verbrennen

derüleichen %. :; "02. 1.7.10 Soda at 1 RM nee en are ER TEERR. E - 545

Jahr 189.

zoo

D:. Akademie der Wissenschaften beging am 25. Januar den Jah- restag des Königs Friederichs des Zweiten in einer öffentlichen Sitzung. Der vorsitzende Sekretar Herr Böckh hielt einen einlei- tenden Vortrag, welcher in den Monatsberichten der Akademie ab- gedruckt ist, und schlols ihn den Statuten gemäls mit einem Über- blick über die im abgelaufenen Jahre bei der Akademie erfolgten Personalveränderungen. Sodann las Herr Dove unter Vorlegung von 12 Charten über Linien gleicher Monatswärme. Diese Arbeit ist in- zwischen in den Abhandlungen der Akademie aus dem Jahre 1848 erschienen.

Die öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahres- tages eröffnete Herr Ehrenberg als vorsitzender Sekretar mit einer Einleitungsrede, worin er in Kürze die Gründe der Tagesfeier ent- wickelte und woran er als wissenschaftliche Festgabe Nachrichten über einen in Irland am 14. Apr. d. J. gefallenen schwarzen, tintenartigen Regen anschlofs. Über diesen wissenschaftlichen Inhalt ist das Nä- here in den Monatsbericht der Akademie aufgenommen worden. Hier- auf wurde von Herrn Trendelenburg als Sekretar der philoso- phisch-historischen Klasse folgendes Urtheil über die Preisbewerbung des Tages vorgetragen. „Die Akademie, in der Voraussetzung, dals es oft nur des Antriebs oder Vorschubs bedürfe, um eine zeitge- mälse, vom Stand der Wissenschaft längst geforderte, aber weit aus- sehende Forschung von nicht geringem Belang in erwünschten Gang zu bringen, hatte vor drei Jahren eine Preisaufgabe über die deut- schen Eigennamen gestellt. Unser urkundlicher Vorrath von sol- chen Namen ist fast noch unberührt, geschweige erschöpft, so dals eine geordnete Zusammenstellung derselben nicht nur überraschen,

u

sondern auch von mehr als einem Gesichtspunkte aus bisher unge- ahnte Ergebnisse an den Tag bringen mülste. Um hier die sprach- liche Seite hervorzuheben, so liegt in den Eigennamen eine beträcht- liche Menge von Wurzeln und Formen geborgen, die sich in der laufenden Sprache verloren haben, und deren wieder habhaft zu werden, unserem Alterthum zum Gewinn ausschlagen würde. Nicht weniger Vortheil hätten historische und geographische Untersuchun- gen aus der Sammlung zu ziehen. Der Arbeit grölster Erfolg be- ruhte in ihrer Genauigkeit und Fülle, und wir haben es uns nicht verhehlt, dafs auf die Schultern eines Jeden, der sich ihrer gedeih- lich unterfinge, eine grolse Last gewälzt sein würde. Unausgesetzter Fleils, ja persönliche und selbst örtliche Begünstigung waren nöthig, um innerhalb der gesteckten Frist der Aufgabe Meister zu werden. Die unser Vaterland aller Enden durchdringende öffentliche Bewe- gung und Unruhe konnte diesem mühevollen Geschäft nur Abbruch thun und Gefahr bringen. Wahrscheinlich ist mehr als ein Vorsatz dadurch erstickt worden, oder die Ausführung auf halbem Wege stehen geblieben. Es ist nur eine einzige Schrift eingelaufen, die an ihrer Spitze den Spruch von Göthe führt: „So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muls sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste daran gethan hat.” Der Verfasser hat, ohne sich darüber zu erklären oder zu entschuldigen, sich gestattet, seine Sammlung auf die althochdeutschen Eigennamen zu beschränken, während die Aufgabe, mit gutem Bedacht, sie auch auf die niederdeutschen, friesischen und longobardischen erstreckt wissen wollte. Schon darum kann ihm, der Strenge nach, der Preis nicht zuerkannt: werden. Die Akademie hätte sich vielleicht bewogen gefunden, ihn dennoch einer blolsen Sammlung althochdeutscher Namen zu ertheilen, wenn darin das ihr vorschwebende Ziel in Be- zug auf sie erreicht worden wäre. Allein auch des in dieser Schranke immer noch gewaltigen Stoffes ist der Verfasser keinesweges mäch- tig geworden, da er von den sehr zahlreichen gedruckten Haupt-

III

quellen, nach ungefährem Überschlag, etwa nur die Hälfte genutzt und ausgezogen, noch viel minder gestrebt hat, sich die in bekann- ten Archiven liegenden ungedruckten zugänglich zu machen. Seine Auszüge lassen grolsentheils, und es ist dabei nicht gleichförmig zu Werke geschritten, die hier unumgängliche Schärfe und Bestimmt- heit der Belegstellen vermissen. Die eingereichte Arbeit scheint dem- nach, sowohl ihrer Grundlage als Ausführung nach, ungenügend, und kann nicht gekrönt werden. Gleichwohl bezeugt sie, was aus Lösung der Aufgabe hätte werden können, und die Akademie hat, den Auf- wand angestrengter Mühe, wie er schon aus dem beträchtlichen Um- fang der Sammlung hervortritt, erkennend und zur ferneren Ermun- terung des Verfassers, nach $. 68 ihrer Statuten beschlossen, ihm, ob- wohl nicht den Preis, doch den Werth des Preises, die ausgesetzte Summe von hundert Dukaten zu bewilligen. Der uneröffnet aufbe- wahrte Zettel des Verfassers wird, je nachdem er es verlangt, später eröffnet und sein Name auf geeignetem Wege bekannt gemacht, oder auch ihm uneröffnet zurückgestellt, wenn keines von beiden begehrt sein sollte, in der nächsten Leibnizischen Sitzung öffentlich verbrannt werden. Des Verfassers Anspruch an die zuerkannte Summe ist aber erloschen, falls er die Eröffnung seines Zettels nicht bis zum letzten März 1850 verlangt hat.” Es mag hier bemerkt werden, dals sich später der Akademie Herr Dr. E. Förstemann zu Danzig als Verfasser der eingesandten Schrift genannt hat und ihm nach Entsiegelung des Zet- tels die gedachte Summe ausgezahlt worden. Nach der Verkündigung des Urtheils verlas der vorsitzende Sekretar folgende von der physika- lisch- mathematischen Klasse gestellte neue Preisfrage der Akademie: „Eine Untersuchung des Torfs mit besonderer Rücksicht auf die Anwen- dung desselben und seiner Asche als Düngungsmittel. Die Akademie ver- langt eine chemische und anatomische Untersuchung einer gewöhnlichen Torfpflanze (Sphagnum acutifolium, obtusifolum) in frischem Zustande, in Torf umgeändert und in so vielen Zwischenzuständen, als zur Aufklä- rung dieser Umänderung nöthig ist; die chemische muls sich sowohl auf b

IV

die Zellwände und den Inhalt derselben, so weit dies ausführbar ist, als auf die Asche beziehen. Kleine, abgeschlossene Torfmoore, welche in der Nähe von Berlin häufig vorkommen, die in rascher Fortbildung sich befinden, hauptsächlich aus Sphagnum bestehen, und deren Wasser gleich- falls untersucht werden mülste, sowie ein Hochmoor, wie z. B. das zwi- schen Oldenburg und Leer, würden die besten Materialien zu einer sol- chen Untersuchung liefern. Besonders verdient der Torf der Moore von Linum wegen seiner Güte und seines grolsen Verbrauchs berücksichtigt zu werden. Zugleich würde es der Akademie sehr wünschenswerth sein, wenn auf ähnliche Weise, wie vom Sphagnum, die Untersuchung einer andern, vom Sphagnum in der Zusammensetzung und im Bau wesent- lich verschiedenen Pflanze, welche auf den Mooren wächst und deren Zersetzungsprodukte gewöhnlich einen bedeutenden Theil des Torfs aus- machen, angestellt würde. Aus diesen Untersuchungen wird der Bewer- ber auf die Art, wie der Torf und seine Asche, so wie die Asche der an- dern Pflanzenart, auch Haidearten, als Düngungsmittel angewendet wer- den können, Folgerungen machen und die bisherigen Erfahrungen beur- theilen, auch danach neue Versuche auf eine wissenschaftliche Weise anstellen können. Die ausschlielsende Frist für die Einsendung der Beantwortungen dieser Aufgabe, welche nach der Wahl der Bewerber in deutscher, lateinischer oder französischer Sprache abgefasst sein können, ist der erste März 1852. Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Motto zu versehen und dieses auf dem Äulsern des versiegelten Zettels, welcher den Namen des Verfassers enthält, zu wiederholen. Die Entscheidung über die Zuerkennung des Preises von 100 Dukaten geschieht in der öffentlichen Sitzung am Leibnizischen Jahrestage im Juli 1852.” Endlich las noch Herr Garl Ritter über räumliche Anordnungen auf der Aus- senseite des Erdballs und über Functionen derselben im Entwicklungs- gange der Geschichte. Die Abhandlung ist in den gegenwärtigen Jahr- gang aufgenommen worden.

In der öffentlichen Sitzung zur Nachfeier des Geburtstags Sr. Maj. des Königs hielt der vorsitzende Sekretar Herr Trendelenburg

V

den Vortrag zur Einleitung des Festes, in welchem er die sittliche

Idee des Rechts zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Erörterung

machte, und erstattete über die Thätigkeit der Akademie im letzten

Jahre den in den Statuten geforderten Bericht. Die Einleitungsrede

ist als Beilage dem Monatsberichte der Akademie beigegeben worden.

Hierauf trug Herr Encke die unten folgende Gedächtnilsrede auf

Herrn Eytelwein vor.

Zu wissenschaftlichen Zwecken hat die Akademie in diesem

Jahre folgende Summen bewilligt: 400 Rihlr. zur Herausgabe der akademischen Sternkarten.

Sul, 150 6008; 400 Hd; 422 Se, 300

an Hrn. Prof. Dr. Rammelsberg zu Untersuchungen über die Zusammensetzung des Turmalin. zur Bestreitung kleiner Ausgaben für das beabsichtigte Corpus Inscriptionum Latinarum. zur Unterstützung der Ausgabe des Yajurveda von Dr. Weber für 10 Exemplare des 1sten Bandes. an Hrn. Prof. Dr. Franz für die Bearbeitung des Cor- pus Inscriptionum Graecarum. an Hrn. Dr. Reilsek in Wien, um den Druck seiner für die Bewerbung um die Preisfrage zu spät eingegangenen Schrift „anatomische Untersuchung des Flachses” zu för- dern, für eine aequivalente Anzahl von Exemplaren. für meteorologische Instrumente zur wissenschaftlichen Ausrüstung des Herrn Otto Schomburgk bei seiner Übersiedelung nach Süd-Australien, sammt einem Mi- kroskop aus dem Besitz der Akademie. für eine galvanische Säule zu einer Untersuchung über die Zusammenziehung der Muskeln. zum Druck der koptischen Handschriften gnostischen Inhalts aus dem Nachlasse des verstorbenen Professors Dr. Schwartze.

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VI

100 Rithlr. an Hrn. Dr. Eisenstein für numerische Rechnungen bei seinen Untersuchungen über die Theorie der po- sitiven ternären quadratischen Formen der Zahlen.

200 an Hrn. Dr. Kiepert in Weimar, Beitrag zur Heraus- gabe seiner grolsen Karte der europäischen Türkei.

200 an Hrn. Dr. Karsten in Venezuela zur Fortsetzung von Ausgrabungen eines urweltlichen Skeletts.

Personal - Veränderungen im Jahre 1819.

Wahlen und Ernennungen neuer Mitglieder und Correspon- denten haben nicht stattgefunden. Gestorben sind: Herr Eytelwein, ordentliches Mitglied der physikalisch-mathemati- schen Klasse, am 18. August. Zumpt, ordentliches Mitglied der philosophisch - historischen Klasse, am 26. Juni. Graf von Hoffmansegg in Dresden, Ehrenmitglied, am 13. December. Döbereiner in Jena, Correspondent der physikalisch-mathe- matischen Klasse, am 24. März. Seebeck in Dresden, desgl, am 19. März. von Orelli in Zürich, Correspondent der philosophisch - histo- rischen Klasse, am 6. Januar. Sir Graves Chamney Haughton, desgl., auf einer Reise in Paris am 28. August. Herr Sarti in Rom, desgl., am 27. October.

III

I. Ordentliche Mitglieder.

Verzeichnils der Mitglieder der Akademie

am Schlusse des Jahres 1849.

Physikalisch-mathematische Klasse.

Herr Grüson, Veteran » «

A.v. Humboldt . vw. Buch

Erman, Veteran . Lichtenstein, Veteran . Weiß .

Link

Mitscherlich Karsten

Encke, Sekretar : Dirksen (E.H.).. . Ehrenberg, Sekretar Crelle .

Klug

Datum der Königl. Bestätigung.

„> 1798 Febr. 22. 1800 Aug. 4. 1806 März 27. 1806 März 27. 1814 Mai 14. 1815 Mai 3. 1815 Juli 15. 1822 Febr. 7. 1822 April 18. 1825 Juni 21. 1825 Juni 21. 1827 Juni 18. 1827 Aug. 23. 1830 Jan. 11.

Herr Kunth .

Dirichlet . H. Rose Müller .

G. Rose .. ‚Steiner Jacobi . v.Olfers . . Dove 5 Poggendorff . Magnus Hagen . Riefs

Philosophisch-historische Klasse. Herr Gerhard .

®. Savigny, Veteran Böockh, Veteran. Sekretar . Bekker, Veteran . Ritter .

Bopp

Meineke . Lachmann . ... Hanke 3 20: v. Schelling.

Jac. Grimm

1811 April 29. 1814 Mai 14. 1815 Mai 3. 1822 April 18. 1822 April 18. 1830 Juni 11. 1830 Juni 11. 1832 Febr. 13. 1832 Mai 7. 1832 Mai 7.

Panofka . Neander . .

won der Hagen Wilh. Grinm .

Schott . . .

Dirksen(H.E.) . .

Pertz

Trendelenburg, Sexretar

Dieterici .

vo

Datum der Königl. Bestätigung

1830 Jan. 11. 1832 Febr. 13. 1832 Febr. 13. 1834 Juli 16. 1834 Juli 16. 1834 Juli 16. 1836 April 5. 1837 Jan. 4. 1837 Jan. 4. 1839 Febr. 4. 1840 Jan. 27. 1842 Juni 28. 1842 Juni 28.

1835 März 12. 1836 April 5. 1839 März 14. 1841 März 9. 1841 März 9. 1841 März 9. 1841 März 9. 1843 Jan. 23. 1846 März 11. 1847 Jan. 20.

VIm

I. Auswärtige Mitglieder.

Physikalisch-mathematische Klasse.

Herr Gaufßs in Göttingen ......

Aragonın Daniel usnnn. ener Robert Brown in London. Cauchy in Paris

Sir John Herschel in Hawkhurst in der Grafschaft Kent Herr Faraday in London .

Sir David Brewster in Edinburg .........

Gay-Lussac in Paris

Philosophisch-historische Klasse.

Herr H. Ritter in Göltingen

Eichhorn in Ammern bei Tübingen . Cousin in Paris .

Lobeck in Königsberg 4

H. H. Wilson in Oxford .

Guizot in Paris .

Weleker in Bonn .

Creuzer in Heidelberg

Datum der Königl.

Bestätigung. 1810 Juli 18. 1828 Jan. 4. 1834 März 20. 1836 April 5. 1839 Febr. 4. 1842 Juni 28. 1842 Juni 28. 1846 März 11.

1832 Febr. 13. 1832 Febr. 13. 1832 Mai 7.

1832 Mai 7.

1839 April 21. 1840 Dec. 14. 1846 März 11. 1846 März 11.

IM. Ehren-Mitglieder.

Herr /mbert Delonnes in Paris .

William Hamilton in London . Leake in London Be Te aa IE; General-Feldmarschall Freiherr v. Müffling in Erfurt

Datum der Königl. Bestätigung.

1801 Oct. 22. 1815 Juni 22. 1815 Juni 22. 1823 Juni 23.

v. Hisingerauf Skinskatteberg bei Köping in Schweden 1828 Jan. 4.

Freiherr ®. Zindenau in Altenburg

Bunsen in London SE:

Duca di Serradifalco in Palermo .

Freiherr Prokesch von Osten in Berlin

Duc de Luynes in Paris EL 2 Carl Lucian Bonaparte Prinz von Canino in Rom Merian in Basel Saar 5 Garabed Artin Davoud-Oghlou in Berlin

1828 Jan. 4. 1835 Jan. 7. 1836 Juli 29. 1839 März 14. 1840 Dec. 14. 1843 März 27. 1845 März 8. 1847 Juli 24.

Herr Agassiz in Boston . 5 Biddell Airy in Gresnseich : Amici in Florenz Argelander in Bonn .

®. Baer in St. Petersburg

IV. Correspondenten.

Für die physikalisch-mathematische Klasse.

Becquerel in Paris. P. Berthier in Paris . Biot in Paris . 0 Brandt in St. Peteraburg : Adolphe Brongniart in Paris Bunsen in Marburg

Carlini in Mailand

Carus in Dresden . Chevreul in Paris

v. Dechen in Bonn Dufrenoy in Paris . Duhamel in Paris .

I. B. Dumas in Paris

Elie de Beaumont in Paris

Eschricht in Kopenhagen .

Fechner in Leipzig F.E.L. Fischer in St. Peiersbine.

.

Goithelf Fischer in Moskau .

Flauti in Neapel Fuchs in München Gaudichaud in Paris .

Gergonne in Montpellier C. G. Gmelin in Tübingen L. Gmelin in Heidelberg

Göppert in Breslau Thom. Graham in London Haidinger in Wien .

Datum der Wahl.

1836 März 24. 1834 Juni. 1836 Dec. 1. 1836 März 24. 1834 Febr. 13. 1835 Febr. 19. 1829 Dec. 10. 1820 Juni. 1839 Dec. 19. 1835 Mai 7. 1846 März 19. 1826 Juni 22. 1827 Dec. 13. 1834 Juni 5. 1842 Febr. 3. 1835 Febr. 19. 1847 April 15.

. 1834 Juni 5.

1827 Dec. 13. 1842 April 7. 1841 März 25. 1832 Jan. 19. 1832 Jan. 19. 1829 Dec. 10, 1834 Febr. 13. 1834 Febr. 13. 1832 Jan. 19.

1834 Febr. 13. 1827 Dec. 13. 1839 Juni 6.

1835 Febr. 19. 1842 April 7.

Sir W. R. Hamilton in Dublin Herr Hansen in Gotha - Hansteen in Christiania - Hausmann in Göltingen Sir W. J. Hooker in Kew Herr Jameson in Edinburg - Kämtz in Dorpat . - Kummer in Breslau = ikPameam Paris. 2 2. - w. Ledebour in Heidelberg - Le Ferrier in Paris - Graf Zibri in London - Freiherr ®. Liebig in Gielsen - Zindley in London - Liowville in Paris - w. Martius in München. - Melloni in Neapel . - Milne Edwards in Paris - Möbius in Leipzig ; - Hugo v. Mohl in Tübingen . - Morin in Metz - Moser in Königsberg . } - "Mulder in Utrecht . ....

Sir Roderick Impey Murchison in London .

Herr Naumann in Leipzig . - F. E. Neumann in Königsberg - Oersted in Kopenhagen . - Ohm in München - R. Owen in London . - de Pambour in Paris - Pfaff in Kiel . - Plana iu Turin . - Poncelet in Paris - de Pontecoulant in Paris - Presl in Prag. - Purkinje in Prag - Quetelet in Brüssel - Ratlıke in Königsberg

Datum der Wahl.

1839 Juni 6. 1832 Jan. 19. 1827 Dec. 13. 1812

1834 Febr. 13. 1820 Juni. 1841 März 25. 1839 Juni 6. 1838 Dec. 20. 1832 Jan. 19. 1846 Dec 17. 1832 Jan. 19. 1833 Juni 20. 1834 Febr. 13. 1839 Dec. 19. 1832 Jan. 19. 1836 März 24. 1847 April 15. 1829 Dec. 10. 1847 April 15. 1839 Juni 6. 1843 Febr. 16. 1845 Jan. 23. 1847 April 15. 1846 März 19. 1833 Juni 20. 1820 Nov. 23. 1839 Juni 6. 1836 März 24. 1839 Juni 6. 1812

1832 Jan. 19. 1832 Jan. 19. 1832 Jan. 19. 1838 Mai 3. 1832 Jan. 19. 1832 Jan. 19. 1834 Febr. 13.

C

XI

Xu

Herr

Reemanlt in Paris ; cdılack Ag abis Retzius in Stockholm .

Achille Richard in Paris .

Richelot in Königsberg .

de la Rive in Genf .

Aug. de Saint- Hilaire in Montpellier .

Jul. Cesar de Savigny in Paris

»v. Schlechtendal in Halle . Schumacher in Altona d Marcel de Serres in Montpellier . v. Siebold in Freiburg .

Struye in St. Petersburg

‚Studer in Bern

Sturmam Paris 9,

Tenoresin Neapel)... . . lm! Thenard in Paris AR > Tiedemann in Frankfurt aM... . Tilesius in Leipzig

Treyiranus in Bonn

Aug. Valenciennes in Paris .

Rud. PWYagner in Göttingen . Wahlenberg in Upsala. . . . . Wallich in Calcutta .

E. H. Weber in Leipzig .

W. Weber in Göttingen .

FWöhler in Göttingen

Datum der Wahl.

1847 April 15. 1842 Dec. 8. 1835 Mai 7. 1842 Dec. 8. 1835 Febr. 19. 1834 Febr. 13. 1826 April 13. 1834 Febr. 13. 1826 Juni 22. 1826 April 13. 1841 März 25. 1832 Jan. 19. 1845 Jan. 23. 1835 Febr. 19. 1812

1812

1812

1812

1834 Febr. 13. 1836 März 24. 1841 März 25. 1814 März 17. 1832 Jan. 19. 1827 Dec. 13. 1834 Febr. 13. 1833 Juni 20.

Für die philosophisch-historische Klasse.

Avellino in Neapel e Bancroft in New York. . . . Bartholmess in Paris .

Bergk in Marburg .

Bernhardy in Halle .

Böhmer in Frankfurt a. M. Graf Borghesi in St. Marino Brandis in Bonn

Braun in Rom

Burnouf in Paris

1812

1845 Febr. 27. 1847 Juni 10. 1845 Febr. 27. 1846 März 19. 1845 Febr. 27. 1836 Juni 23. 1832 April 12. 1843 Aug. 3. 1837 Febr. 16.

Herr Cavedoni in Modena .

Chmel n Wien. .... ; Charl. Purton Cooper in London . Dahlmann in Bonn

Direzitin‘ Bonn, » inelkti an abe W.Dindorf in Leipzig. . . : . » Dureau de la Malle in Paris

v. Frähn in St. Petersburg . Freytag in Bonn

Del Furia in Florenz nat: GeellinLeyden.. label u.a Gervinus in Heidelberg .

Göttling in Jena iyk G. F. Grotefend in one ale Guerard in Paris . . . . N

Freih. v. Hammer- Bursnall in a weien

Hase in Paris

Haupt in Leipzig . . s C. F. Hermann in Göttingen Hildebrand in Stockholm . Jomard in Paris

Stanisl. Julien in Paris. Kemble in London .

Kopp in Luzern e Kosegarten in Greifswald . Labus in Mailand .

Lajard in Paris . Lappenberg in Hamburg Lassen in Bonn.

Leemans in Leyden .

Lehrs in Königsberg . Lenormant in Paris

Lepsius in Berlin

Löbell in Bonn .

J. J. da Costa de ae, in ben Madvig in Kopenhagen . Mai ın Rom .

Graf della Marmora in Genua

Datum der Wahl. m

1845 Febr. 27. 1846 März 19.

1836 Febr. 18. 1845 Febr. 27. 1845 Febr. 27.

1846 Dec. 17.

1847 April 15.

1834 Dec. 4.

1829 Dec. 10. 1819 Febr. 4. 1836 Juni 23.

1845 Febr. 27.

1844 Mai 9.

1847 April 15. 1845 Febr. 27. 1814 März 17.

1812

1846 März 19.

1840 Nov.5.

1845 Febr. 27.

1821 Aug. 16.

1842 April 14. 1845 Febr. 27. 1846 März 19.

1829 Dec. 10. 1843 März 2. 1846 Dec. 17.

1845 Febr. 27.

1846 Dec. 17. 1844 Mai 9.

1845 Febr. 27. 1845 Febr. 27.

1844 Mai 9. 1846 Dec. 17. 1838 Febr. 15. 1836 Juni 23. 1822 Febr. 28. 1844 Mai 9.

c2

XIH

XIV

Herr Meier in Halle .

Sir

Molbech in Kopenhagen

Munch in Christiania

Mustoxides in Corfu

C. F. Neumann in München Constantinus Oeconomus in Athen Orti Manara in Verona

Palacky in Prag 3 Francis Palgrave in London .

Herr Peyror in Turin

Sir

Thomas Phillipps in Middlehill :

Herr Prescott in Boston

Et. Quatremere in Paris

Rafn in Kopenhagen Raoul-Rochetie in Paris Ravaisson in Paris

v. Reiffenberg in Brüssel Ritschl in Bonn ae [RoysınElalleur rn. de Santarem in Paris Schaffarik in Prag.

‚Schmeller in München Schömann in Greifswald Secchi in Rom & Sparks in Cambridge bei Boston. Spengel in Heidelberg

Stälin in Stuttgart.

Stenzel in Breslau.

Thiersch in München

Uhland in Tübingen .

Foigt in Königsberg .

Maitz in Göttingen .

de Witte in Paris .

—— IE I

Datum der Wahl, ——

1824 Juni 17. 1845 Febr. 27. 1847 Juni 10. 1815 Juni 22. 1829 Dec. 10. 1832 Dec. 13. 1842 Dec. 22. 1845 Febr. 27. 1836 Febr. 18. 1836 Febr. 18. 1845 Febr. 27. 1845 Febr. 27. 1812

1845 Febr. 27. 1832 April 12. 1847 Juni 10, 1837 Dec. 7. 1845 Febr. 27. 1836 Febr. 18. 1847 Juni 10. 1840 Febr. 13. 1836 Febr. 18. 1824 Juni 17. 1846 März 19. 1845 Febr. 27. 1842 Dec. 22. 1846 Dec. 17. 1845 Febr. 27. 1825 Juni 9. 1845 Febr. 27. 1846 Dec. 17. 1842 April 14. 1845 Fehr. 27.

Gedächtnifsrede auf Eytelwein.

vr Von H” ENCKE.

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B;: zwei Monaten verlor die Akademie, durch den Tod des früheren Oberlandesbaudirektor Eytelwein, eines ihrer ältesten Mitglieder welches, wenn gleich körperliche schwere Leiden seit 18 Jahren seine unmittelbare Theilnahme an unseren Sitzungen gehindert hatten, doch früher mit vielen der schätzbarsten Abhandlungen unsere Sammlung bereicherte, und aufser- dem durch seine lange segensreiche Lehrthätigkeit in einem für den Staat höchst wichtigen Zweige der angewandten Mathematik, und eine vieljährige Oberleitung der Geschäfte desselben in dem ganzen Preufsischen Staate als Lehrer und Beamter, in unserm engeren Vaterlande eine eben so hohe Stelle eingenommen hatte, als in den weiteren wissenschaftlichen Kreisen. Ob- gleich deshalb die gegenwärtige öffentliche Sitzung nicht eigentlich zur Er- innerung an unsere vorausgegangenen Oollegen bestimmt ist, so ist mir doch theils in Rücksicht auf die Bedeutung des Verstorbenen, theils wegen einer besondern hier nicht weiter zu erwähnenden Veranlassung, der Auftrag ge- worden, ein Bild seiner Thätigkeit zu entwerfen, und wenn auch die Ver- schiedenheit meines Faches von dem seinigen mich nicht hoffen läfst, diese Aufgabe mit der nöthigen Vollständigkeit lösen zu können, so bietet doch gerade das Leben von Eytelwein und sein Wirken, so manche Betrach- tungen dar, dafs ich auch trotz dieses wesentlichen Mangels geglaubt habe den Auftrag übernehmen zu dürfen.

Johann Albert Eytelwein, geb. am 31. Debr. 1764 zu Frankfurt am Main, war der Sohn eines dortigen Kaufmanns (Christ. Philipp), und stammte von mütterlicher Seite aus einer Familie Hung. Von seiner Erzie- hung und den ersten Lebensjahren konnten selbst die direkten Nachkommen

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mir keine Auskunft geben. Verwandte in Frankfurt am Main giebt es nicht mehr. Wahrscheinlich verlor sein Vater sein Vermögen, denn ohne weitere Angabe über die Veranlassung, findet sich im Jahre 1779 der junge Eytel- wein als 15 jähriger Knabe in Berlin, und meldet sich zum Eintritt in die preufsische Artillerie als Bombardier bei dem General Tempelhof, schon in diesem jugendlichen Alter ganz allein auf sich und seine inneren Hülfs- quellen angewiesen. Bei einer mündlichen Unterhaltung vor etwa 5 Jahren, in welcher ich unsern Collegen ersuchte, mir von seinem merkwürdigen Lebensgange einiges mitzutheilen, überging er ebenfalls ganz die frühere Periode seiner ersten Erziehung, und begann sogleich ohne weitere Erwäh- nung, die Erzählung dieses Zusammentreffens mit Tempelhof. Bekanntlich gehörte dieser bedeutende Mann zu den Zöglingen des siebenjährigen Krie- ges, und hatte Manches von der rauhen Aufsenseite des damaligen Militairs, eine Rauhheit, die er fast geflissentlich noch bei der Anmeldung junger Fremden verstärkte um bei dem Andrang an die damals erste Kriegerschule in Europa, gleich beim Eintritt die Festigkeit und Charakterstärke der sich Meldenden zu prüfen. Dabei darf aber doch nicht übersehen werden, dafs Tempelhof eine für seine Zeit und seinen Stand ungemein hervorragende wissenschaftliche Bildung besafs, und aufser den reinmilitairischen Schrif- ten, auch über den theoretischen Theil der Artillerie, und selbst über einige astronomische Gegenstände, namentlich über Sonnenfinsternisse, Werke ge- schrieben hat. Aus Eytelwein’s Erzählung ging deutlich hervor, dafs vor- züglich der schon in dem Knaben hervorgetretene Sinn, der sich nicht durch die erste Weigerung abschrecken lies, und der bis in das hohe Alter hin in der äufseren Erscheinung Eytelwein’s ausgeprägt war, zu der Erreichung seines Zieles beigetragen hat. Ich erinnre mich nicht mehr, ob auch die Kenntnisse des jungen Mannes ein Gewicht in die Wagschale gelegt, aber dennoch möchte ich glauben, dafs die Menschenkenntnifs, die so häufig und vorzugsweise in der militairischen Laufbahn bei hochstehenden Militairs sich findet, weil gerade sie alle Stufen selbst durchgemacht haben, und häufig auf sich allein angewiesen gewesen sind, den General Tempelhof günstig für den damals noch zarten frankfurter Ankömmling gestimmt habe, und dafs der ihm einwohnende Sinn für Wissenschaft, die künftige Ausbildung des jungen Aspiranten im Voraus erkennen liefs.

Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XVII

Die Bombardiere der damaligen Zeit, eine Klasse die weder gemeine Artilleristen waren, noch Unteroffiziere, zu welcher Charge sie erst avanciren mufsten, füllten die Stelle der jetzigen jungen Leute aus welche auf Avan- cement dienen. Die damals sehr strenge militairische Zucht, mufste auf der einen Seite eine treffliche Schule werden, in welche sie commandiren lern- ten, weil sie gehorchen mufsten, auf der andern war es natürlich, dafs ge- rade junge Leute die höher strebten, sich durch den äufseren Zwang auf irgend welche Weise zu entschädigen suchten, mit einiger Ausgelassenheit auftraten, wo sie es sich erlauben durften, und eben dadurch mit gleichgesinn- ten Cameraden in ein engeres Schutz und Trutz-Bündnifs traten, ähnlich wie so häufig Schulfreundschaften, gerade auf den Anstalten der strengsten Diseciplin, sich für das Leben bilden. Ein solches Band knüpfte der junge Eytelwein mit zwei Männern, die Bombardiere wie er, später auf ehrenvolle Weise sich hinaufgearbeitet haben, dem nachmaligen Obristlieutenant v. Tex- tor, der sich das Verdienst erworben hat, durch eine trigonometrische Ver- messung die erste Grundlage zu einer genauen Karte von Ostpreufsen gelegt zu haben, und dem nachmaligen schwedischen Artilleriegeneral v. Cardell. Die drei jungen Bombardiere scheinen nach einigen Jahren des Zusammen- lebens, bei der geringen Aussicht auf schnelles Avancement, einmal auf die Idee gekommen zu sein, nach der Türkei auszuwandern, um dort die Bil- dung einer neuen Artillerie zu versuchen. Der Plan wurde indessen bald aufgegeben, und das Kleeblatt zerstreute sich, indem der eine nach Schwe- den ging, der andere, unser Eytelwein, sich auf eine bürgerliche Laufbahn vorbereitete, und nur der dritte den eingeschlagenen Weg beharrlich ver- folgte. Dennoch vereinigte ununterbrochen ein enges Freundschaftsband diese drei Jugendgenossen während ihres ganzen Lebens.

Der innere Trieb, vielleicht auch die praktische Richtung, welche

= damals überall in Preufsen vorherrschte, lenkte Eytelwein re hin. Dabei waren jedoch grofse Hindernisse zu überwinden, die in der da- maligen Gestaltung des öffentlichen Bauwesens ihren Grund hatten. Es fehlte nämlich zu jener Zeit ganz an einer Anstalt, in welcher die vielen Gegenstände mit welchen sich das Baufach zu beschäftigen hat, im Zusam- menhange mit einander gelehrt wurden. Selbst eine Oberbehörde für den Staat war erst seit kurzem für diesen wichtigen Zweig der Staatsverwaltung

eingesetzt. Früher bestanden nämlich in den einzelnen Provinzen, in jeder

XVII Gedächtnifsrede au f Eytelwein.

besonders, Verwaltungen in welchen bei den Krieges und Domänenkam- mern, die Baugeschäfte von den Bau-Direktoren durch die Bau-Inspektoren und Land -Baumeister besorgt wurden. Diese Trennung bewirkte natürlich, dafs die Fortschritte in jeder Provinz von den einzelnen Bau-Direktoren ab- hingen, und eine Einheit nicht vorhanden war. Allerdings waren schon unter Friedrich I. Prachtgebäude für öffentliche Zwecke aufgeführt, und unter Friedrich Wilhelm II. ebenfalls hier in Berlin, einige der jetzt noch sich auszeichnenden Kirchen gebaut, vorzüglich aber von Friedrich II. die grofsen Muster der Baukunst aufgestellt, die wir noch jetzt bewundern. Man denke nur an das königliche Schlofs, das Zeughaus, die Garnisonkir- che, das Opernhaus, das neue Palais, so wie an mehrere der gröfseren Ge- bäude, die früher im Besitze angesehener Familien, zum Theil jetzt in Pri- vathände übergegangen sind. Weniger indessen möchte sich aus den älteren Gebäuden der Privatleute, die aus dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch in ihrer ursprünglichen Form übrig geblieben sind, schlie- fsen lassen, dafs der Geschmack bei den kleineren bürgerlichen Häusern ge- reinigt war. Wenigstens fällt dem der Berlin durchwandert, ein ungemei- ner Abstich dieser älteren Wohnungen, von solchen auf, die jetzt von Pri- vatleuten gebaut werden, und von welchen eines der ersten von unserm Schinkel erbauten Friedrichstr. No. 103. den Typus angiebt. Es lag in je- ner Zeit, dafs fast Alles Bedeutende und Geschmackvolle von der obersten Behörde und einzelnen Familien ausging. Den Privatleuten fehlte die Kraft ohne Unterstützung das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden.

Ein beträchtlicher Fortschritt war es daher, dafs Friedrich II. im Jahr 1770 das Oberbaudepartement gründete, von welchem die Bausachen aller unter dem Generaldirektorium stehenden Provinzen (d. h. aller mit Ausnahme von Schlesien welches ein eigenes Finanzdepartement hatte) res- sortirten. Geht man indessen die Namen durch, welche zuerst dieses Ober- baudepartement bildeten, Struve, Vofs, v. Harlem, Naumann, Boumann, Silberschlag, Gerhardt, Holsche, Seidel, so zeigt sich so viel aus den publi- eirten Werken dieser Männer hervorgeht, dafs Keiner von ihnen mit der theoretischen Behandlung der wichtigen hier vorkommenden Fragen vertraut war, vielleicht mit Ausnahme von Silberschlag, der wenigstens in einigen Werken Lehrbücher für den Wasserbau im Allgemeinen, das Feldmessen, den Mühlenbau gab. Es mag hierin der Grund liegen, dafs der berühmte

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Lambert als Ehrenmitglied dieser Behörde beigegeben war, so wie schon im Jahr 1749, bei einem Gutachten über den Finow-Kanal, der Name des grofsen Euler in der Commission die dazu niedergesetzt war vorkommt. Überhaupt wenn wie jetzt hin und wieder gewichtige Stimmen sich äulsern, die sogenannten Rectificationen und Eindämmungen der Oder zur Austrock- nung der Moräste, die von Friedrich II. mit einer gewissen Leidenschaft be- trieben wurden, dieser für Preufsen so wichtigen Wasserstrafse einen Scha- den zugefügt haben, der bei mehr rationeller Behandlung der Aufgabe hätte vermieden werden können, so möchte man kaum bezweifeln, dafs das Bau- wesen zu jener Zeit hauptsächlich in den Händen reiner sogenannten Prak- tiker war, die den augenblicklichen Zweck ohne die nöthige Voraussicht auf die daran sich knüpfenden Folgen zu eifrig verfolgten, und der gänzliche Mangel einer eigenen Unterrichtsanstalt würde diesen ungünstigen Umstand einfach erklären.

Gewifs ist deshalb die mündliche Äufserung von Eytelwein nicht übertrieben, wenn er mir versicherte, dafs in diesen ersten Jahren seiner

militairischen Anstellung, es ihm unsägliche Anstrengung gekostet habe, die

ES) theoretischen Vorkenntnisse für das Bauwesen sich zu erwerben, und dafs seine Nächte meist mit dem Studium der verschiedensten Werke durchwacht worden wären, deren Auswahl selbst so wie das Verstehen ihm ganz allein überlassen geblieben. Eytelwein war ganz Autodidakt, keine Hülfe eines Lehrers erleichterte ihm seinen mühsamen Weg, aber eben diese Nothwendig- keit der eigenen Kraft allein zu vertrauen, hat auch seine Laufbahn bestimmt, und ist durch sein Leben hindurch der vorherrschende Sporn gewesen. Während sieben Jahre von 1779-1786 war er ausschliefslich bei dem 1. Artillerie Regiment in Berlin amtlich beschäftigt; In dem Todesjahr Friedrich II., im Jahr 1786, vielleicht weil mit dem Hintritte des greisen Helden die militairische Laufbahn ihm vollends wenig lohnend erschien, liefs er sich als Feldmesser examiniren, wobei es nicht unmöglich ist, dafs er diesen Schritt heimlich that. Im folgenden Jahr 1787 ward er Lieutenant, und drei Jahre darauf ward er als Architekt vom Oberbaudepartement (1790) examinirt, worauf er sogleich den Abschied als Lieutenant nahm, und als Deich-Inspector des Oderbruchs in Cüstrin angestellt, so wie zum Comissa- rius zur Regulirung des Oder und des Warthe-Stromes ernannt ward. Hier- durch war ihm sein eigentlicher Lebensberuf schon ziemlich frühzeitig in

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seinem 24sten Jahre angewiesen, dem er ununterbrochen in angestrengter Thätigkeit 40 Jahre hindurch treu geblieben ist, und für welchen auch nach- her noch 19 Jahre zu wirken, oder doch die Fortbildung desselben zu ver- folgen, das gütige Geschick ihm vergönnte.

Der Mangel einer Unterrichtsanstalt für das Bauwesen, scheint sich be- sondersauch dadurch bemerklich gemacht zu haben, dafs die theoretische Be- gründung der Hauptlehren, sowohl in den untern als auch in den oberen Be- hörden selbst, schwach vertreten war. Nach dem frühzeitigen Tode von Lam- bert im Jahre 1777, findet sich unter den Mitgliedern des Oberbaudeparte- ments nur ein Namen, der sich als Mathematiker und doch auch eigentlich nur durch Herausgabe von Tafeln bekannt gemacht hat, nämlich der des Professors Joh. Carl Schultze, der von 1783 bis zu seinem Tode 1790 in dem Oberbaudepartement thätig war. Bedenkt man dafs dieser Behörde nach ihrer Instruktion auch die Examina der Baukandidaten zukamen, und dafs des- halb mindestens ein Mitglied die rein theoretischen Fragen zu behandeln an- gewiesen sein mufste, so liegt die Vermuthung sehr nahe, dafs eine theore- tische Schrift, die erste die Eytelwein publieirte: Aufgaben gröfsten- theils aus der angewandten Mathematik zur Übung der Analysis, 1793 herausgekommen, die nächste Veranlassung war, dafs er schon ein Jahr nachher 1794, nachdem er nur 4 Jahre in dem praktischen Theile des Wasserbaues als Deich-Inspektor thätig gewesen war, in das Oberbaudepar- tement als Geheimer Oberbaurath berufen ward, und sonach in dem lebens- kräftigen Alter von 30 Jahren, mit an die Spitze des Bauwesens trat. Diese Versetzung mufste um so günstiger auf sein Fortstreben wirken, als seit dem Jahre 1787 die Mitglieder durch einen vermehrten Gehaltsetat in den Stand gesetzt waren, sich nur mit den ihrer Stellung eigenthümlichen Geschäften zu befassen, und die bis dahin noch mitverwalteten Nebenämter bei dem Forst- und Bergwerks-Departement, so wie bei der Churmärkischen Kammer, aufzugeben.

Das Fach welchem Eytelwein von dieser Zeit an ausschliefslich seine Kraft zuwandte, die Statik und Mechanik fester und flüssiger Körper, ge- hört zu den Wissenschaften, bei welchen Theorie und Praxis stets engver- bunden mit einander gehen müssen, und nur allzuhäufig, die von der Theo- rie geleitete Erfahrung, mehr nach einem nicht streng zu definirenden Takte, als nach sicheren Principien die Entscheidung zu geben vermag. Denn wenn

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auch unter der Ausnahme, dafs eine doppelte Kraft diejenige sein soll, wel- che so viel wirkt als zwei einfache, die Statik als eine streng mathematische Wissenschaft abgeleitet werden kann, wenn man die Eigenschaft der Körper ebenfalls durch streng mathematische Definitionen ausdrückt, also z. B. ab- solute Festigkeit oder absolute Biegsamkeit annimmt, so findet doch in der Natur ein solcher steter Übergang der einen Eigenschaft in die andere statt, dafs unsere theoretischen Begriffsbestimmungen in der Anwendung nirgends ausreichen, und die Reibung mit ihrer eben so hemmenden als wohlthätigen Einwirkung auf das Bestehen und den Gang der Maschienen, fügt überdem noch ein neues nicht ganz strenge nachzuweisendes, sondern nur muthmafs- lich zu erklärendes Element hinzu, was überall berücksichtigt werden mufs, und niemals aus rein theoretischen Ansichten abgeleitet. werden kann. Be- trachtet man z. B. das Problem, was in der Baukunst immer und bei jeder Gelegenheit vorkommt, die Ermittelung des Druckes der Lasten auf ihre Unterlagen, wenn ihrer mehr als zwei in einer geraden Linie vorkommen, so läfst die reine Theorie wenn absolut starre Körper angenommen werden, das Problem unbestimmt, und die Versuche durch eine Modification dieser Eigenschaft, eine der Natur angemessene Lösung zu erhalten, haben zum Theil wenigstens auf den handgreiflichen Widerspruch geführt, dafs die ent- ferntesten Stützen am meisten tragen. Ein anderes Beispiel von der eigen- thümlichen Schwierigkeit der nothwendigsten Bestimmungen, führe ich hier um so lieber an, als es hin und wieder mifsverstanden, zu einer etwas her- abwürdigenden Ansicht über den Nutzen von Versuchen überhaupt geführt hat. Eytelwein hat durch mühsame Versuche über die Festigkeit der verschiedenen Holzarten, diesen für die Baukunst so hoch wichtigen Gegen- stand auf bestimmte Zahlen zu bringen gesucht. Er hing zu dem Ende an verschiedene Hölzer von bestimmter Dimension in der Mitte Gewichte an, und ermittelte die allmählige Biegung derselben bei vermehrter Last, bis er die Belastung fand, bei der das Holz wirklich brach. Diese Versuche waren in ähnlicher Art von Parent, Musschenbrock, Büffon, Belidor, Girard an- gestellt, aber dabei nicht immer auf Umstände geachtet worden, die wesent- lich einwirken, wie z. B. der ist, dafs die Wirkung einer Belastung auf Bie- gung der Balken nicht momentan ist, und deshalb eine vermehrte oder ver- minderte Länge der Zeit, die man jeder Belastung zur Einwirkung bestimmt, die Versuche wesentlich modifiziren kann. Abgesehen indessen von diesen

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und vielen andern Nebenumständen, dem Grade der Trockenheit des Hol- zes, dem Unterschiede des Bodens auf dem das Holz gewachsen ist, der freieren oder gedeckteren Lage der Bäume von denen es genommen, so giebt das Endresultat der Versuche, nämlich die Zahl von Pfunden, deren Ge- wicht bei der Belastung eines Balkens von bestimmter Dimension denselben zerbricht, noch keine Antwort auf die eigentlich für die Baukunst so wich- tige Frage, wie grols ist die Belastung welche ein Balken mit Sicherheit und auf die Dauer tragen kann. Eytelwein wendet sich deshalb an die Erfahrung, und leitet aus der Betrachtung von Getreideböden, bei welchen die Belastung als gleichmäfsig vertheilt angenommen werden kann, in der ersten Ausgabe seiner Statik 1803, das Resultat ab, dafs ein Balken in sei- ner Mitte, den zwei und dreifsigsten Theil derjenigen Last tragen kann, welche denselben im ersten Augenblicke zu zerbrechen im Stande wäre. In der zweiten Ausgabe der Statik 1832 medifizirt er dieses Resultat, aus den- selben Versuchen und denselben Erfahrungssätzen dahin, dafs ein Balken in seiner Mitte den zwanzigsten Theil derjenigen Last mit der gröfsten Sicher- heit tragen kann, welche denselben im ersten Augenblicke zu zerbrechen im Stande wäre. Brüche von dieser Kleinheit wie 4; und 4, gewähren noth- wendig in der wirklichen Anwendung einen so beträchtlichen Spielraum, dafs wenn auch die Theorie mit einiger Zuverläfsigkeit die Zunahme der Tragfähigkeit bei verschiedenen Dimensionen derselben Holzart anzugeben vermag, die eigene Erfahrung des Baumeisters in jedem speciellen Falle die endliche Entscheidung wird geben müssen, und die leitende Hand der Theo- rie, wohl die Vergleichung ähnlicher Fälle unter sich zu vermitteln, nicht aber das absolute Maafs für jeden einzelnen bestimmt anzugeben vermag. Wenn schon bei festen Körpern Schwierigkeiten solcher Art stattfin- den, bei welchen doch die mathematische Form, von der Annahme unend- lich kleiner Molecüle zu einem zusammenhängenden Continuum aufzustei- gen, und innerhalb einer festen Grenze, entweder eine gleichmäfsige oder eine ungleichmäfsige Vertheilung anzunehmen, sich der wirklich stattfinden- den Massenvertheilung brträchtlich nähert: wie viel gröfser werden die Schwierigkeiten der mathematischen Behandlung werden, bei flüssigen Kör- pern, von deren Natur wir eigentlich gar keine bestimmte Definition geben können. Es fehlt in der That noch ganz an dem bestimmten Begriff, wie sich das flüssige vom festen unterscheidet. Denn die Vorstellung von der

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Zusammensetzung des flüssigen ebenfalls aus unendlich kleinen Theilchen, die mit der gröfsten Leichtigkeit an einander verschiebbar, bei einer be- stimmten Masse, die Form derselben jedesmal nach den Wänden und Kräf- ten welche ihre Verschiebbarkeit hindern, oder das Gleichgewicht herstel- len, ändern können, und bei welchen deshalb ein irgendwo angebrachter Druck, nach allen Richtungen hin in gleicher Stärke sich fortpflanzt, ist eine so wenig das eigentliche Wesen des flüssigen vollständig bestimmende, dafs die allergewöhnlichsten Erscheinungen noch durchaus nicht theoretisch daraus hergeleitet werden können. Die gleich zuerst, bei dem Ausflufs des Wassers aus Öffnungen, sich zeigende Contraction des Wasserstrahls, ist, bis diesen Augenblick noch durch keine Theorie nachgewiesen, sondern höchstens nur als möglich anerkannt, während sie bei jedem Versuche so- gleich sich zeigt. Unsere ganze Hydrostatik und Hydraulik, beruht bis jetzt noch nicht auf der eigentlichen Erkentnifs des Wesens der Flüssigkeit, son- dern auf einer einzelnen Eigenschaft der Fortpflangung des Druckes in jeder Richtung und in gleicher Stärke, welche wir als streng richtig annehmen, während die Cohaesion der Theile unter sich, und die Reibung an den Wän- den, oder vielleicht noch andere Molecularkräfte siemodifiziren, und die eben deshalb bei jeder darauf gegründeten theoretischen Betrachtung, der sehr beträchtlichen und nie zu umgehenden Vermittelung durch direkte Versuche bedarf, damit die theoretische Annahme nicht völlig dem Erfolge wieder- spreche. Weder Newton, der zuerst die Bewegungen der Flüssigkeiten theoretisch behandelte, noch Daniel Bernoulli und d’Alembert, die ihre hervorragenden Talente dieser Untersuchung zuwandten, haben diese in un- sern noch ganz mangelhaften Begriffsbestimmungen begründete Lücke aus- zufüllen vermocht, und die direkten, nur durch die Beihülfe der mangel- haften Theorie geleiteten, Versuche der Italiener und Franzosen, hatten gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts die theoretische Betrachtung eini- germafsen nutzbar gemacht, wozu die praktischen Erfahrungen und Annah- men der deutschen holländischen und englischen Wasserbaumeister, eben- falls ein reiches Material darboten.

Es giebt gewisse Theile der Mathematik, die frei von solchen Hinder- nissen, der reinen Speculation ein offnes Feld darbieten, und da sie sich nur an Begriffe knüpfen, ein eigentlicher Prüfstein der Stärke der mathema- tischen Spekulation genannt werden können; um so mehr als sie ihrer rein

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theoretischen Form wegen, der Unterstützung durch räumliche und bildli- che Darstellung, (für die Meisten so wesentlich um vollständige Deutlich- keit zu bewirken) ganz entbehren. Dieses findet z. B. bei der reinen Zah- lenlehre statt, bei der aus dem Begriffe der Zahl allein, einem völlig ab- strakten, die Eigenschaften der Zahlen unter sich abgeleitet werden. Sie entbehrt der geometrischen Veranschaulichung, oder kann doch ihrer ent- behren, und hat deshalb gerade in der neuesten Zeit, durch die Vereinigung ausgezeichneter Talente, in unserer der reinen Spekulation, häufig freilich auch der unpraktischen Aufstellung von abstrakten Theorien, so sehr ge- neigten Zeit, einen ungewöhnlichen Aufschwung genommen. Aber sie kennt dagegen auch gar nicht die Hindernisse, welche die ganz unerkannten, oder nur halb verstandenen Eigenschaften der Körperwelt, Dem in den Weg le- gen, der nicht blofs das Abstrakte sondern auch das Anwendbare zu er- reichen strebt.

Es giebt andere mathematische Wissenschaften, bei denen die gütige Natur uns gewissermafsen die Möglichkeit dargeboten hat, die reinen Gesetze der Bewegung und des allgemeinen Bandes was die Körperwelt zusammen- hält, zu erkennen und zu prüfen, weil bei ihnen die vielen kleinen Schwan- kungen, welche im gewöhnlichen Leben uns von der Erkenntnifs der reinen Gesetze entfernt halten, durch die gröfsere Entfernung aus welcher wir die Erscheinung betrachten, verschwinden, oder weil durch die Isolirung der einzelnen Theile, das vorhandene System dem gewils mangelhaften, aber für uns bis jetzt nur allein möglichen Begriffe, sich noch am nächsten an- schliefst, wonach das Ganze aus einzelnen Theilen zusammengesetzt ist, die in den meisten Beziehungen als unabhängig von einander gelten können, wäh- rend ihre gegenseitige Abhängigkeit in einer einzelnen Erscheinung um so stärker hervortritt. Eine solche Wissenschaft ist die Astronomie, die gerade deshalb weil sie theoretische Sätze häufig zuerst erkennen, und durch fort- gesetzte Versuche ihre Richtigkeit prüfen und ermitteln liefs, von jeher in beiden Beziehungen für Theorie und Praxis so wohlthätig zur gegenseitigen Förderung beigetragen hat. Aber wenn sie auch nicht ganz frei von allen Hemmungen ist, welche unsere mangelhafte Erkenntnifs der Naturkräfte uns in den Weg legt, so erfreut sie sich doch der Abwesenheit der bei weitem gröfsten Zahl von engeren Verbindungen der in Betrachtung kommenden Körper, die überall wo wir mit irdischen Combinationen zu thun haben,

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die Untersuchung erschweren und verwickeln. Ihre Ausbildung ist wesent- lich bedingt durch ihre Einfachheit, entbehrt aber auch eben deshalb’ des Reizes der vielfachen Combinationen, die in den anderen Naturwissenschaf- ten so glänzend hervortreten.

Es liegt tief in der menschlichen Natur, dafs die reine Abstraction, oder die Verbindung derselben mit Anwendungen, welche wir noch zu be- herrschen vermögen, der inneren Consequenz der Resultate wegen, einen bedeutenden Eindruck auf Alle machen, die nur den Erfolg sehen, ohne die Wege selbst erforscht zu haben. Ob indessen die Ubung des Scharfsinnes, und das Verdienst des Fortschrittes, bei diesen einfacheren Forschungen grölser ist, als bei solchen Untersuchungen, in welchen erst das innere We- sen der Körper mit denen wir uns beschäftigen erforscht oder geahnt werden mufs, um überhaupt nur die Schritte leiten zu können, möchte sehr in Frage gestellt werden. Die Masse der Schwierigkeiten bei Betrachtungen, wo alle die zwar bekannten, aber gewifs nicht erkannten, Kräfte, die wir bei jeder Combination zugleich umfassen müssen, einwirken, übersteigt bis jetzt aller- dings noch die Kraft unseres Geistes. Aber es kann nicht ausbleiben, dafs die Zeit kommen wird, wo auch hier ein zweiter Newton das Licht verbrei- tet, was der erste in so vielen Richtungen verbreitet hat, und so wenig es uns entgehen kann, dafs erst der Anfang von richtiger Behandlung solcher praktischer Aufgaben, wie die Baukunst überhaupt und der Wasserbau ganz besonders sie uns vorlegen, gemacht ist: so gefafst wir bei jeder versuchten Lösung sein müssen, die immer hervortretenden Mängel derselben, für jetzt noch durch das etwas rohe Hülfsmittel von Corrections- Coeffizienten heben zu müssen: um so dankbarer müssen wir den Männern sein, welche wie Eytelwein, den nicht immer lohnenden Weg anbahnen, die Einzelnheiten der Erscheinungen unter allgemeine Formen zusammen zu fassen, und wenn sie auch nicht die Erscheinung selbst vollständig aufklären können, doch die Modificationen angeben welche dieselbe erleidet, wenn die Grundbe- dingungen dieselben bleiben, aber die Dimensionen der Körper die davon betroffen werden sich ändern.

Denn gerade darin möchte ich, so weit meine unvollkommene Kennt- nifs dieser Fächer geht, das Hauptverdienst setzen, was Eytelwein sich um die Baukunst überhaupt, und den Wasserbau besonders, erworben hat. Aus eigener Erfahrung die Nothwendigkeit erkennend, der noch unvollkom-

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menen Theorie durch Zusammenhaltung mit genauen Versuchen zu Hülfe zu kommen, hat er einmal z. B. über die Festigkeit der Materialien, über den Ausflufs des Wassers aus Öffnungen, über den Stofsheber, grofse Rei- hen von höchst schätzbaren Versuchen angestellt, die noch jetzt die Grund- lage für die geltenden Annahmen bilden. Dann aber hat er mit seltenem glücklichen Takte, die theoretischen Formen abgeleitet, so weit die unvoll- kommene Theorie es gestattete, und ihnen die Gestalt gegeben, welche mit der für die Anwendung nöthigen Bequemlichkeit und Genauigkeit, den wirk- lichen Gebrauch derselben sicherten. Hierin liegt der Grund, warum ein sehr grofser Theil der von Eytelwein aufgestellten Normen, noch jetzt nach länger als funfzig Jahren gilt, und das unschätzbare Hülfsmitttel für die auf wirkliche Ausführung angewandte Theorie bildet, welches bei dem jetzigen Stande der Wissenschaften das einzig erreichbare ist. Dieses letz- tere grofse Verdienst war Eytelwein unter seinen Zeitgenossen eigenthüm- lich, und die enge Freundschaftsverbindung, welche ihn mit den ersten Männern seines Faches in Deutschland, wie Langsdorf, v. Gerstner und ganz vorzüglich dem höchst ausgezeichneten Wasserbaudirektor Woltmann in Hamburg verband, gewährte ihm durch die Benutzung der Erfahrungen dieser Männer, eine häufige Gelegenheit, diese durch schickliche Form erst recht eigentlich in das Leben einzuführen.

Dieses Verdienst, und die fortdauernde Einwirkung desselben auch auf die noch jetzt aufgestellten Grundsätze, ist um so höher anzuschlagen, je grölser die Fortschritte sind, die die Mechanik und Baukunst besonders in der Ausführung grofser Wasserbauten in den letzten 50 Jahren gemacht hat. Als ein höchst schlagendes Beispiel der reilsenden Fortschritte in die- sen Fächern erlaube ich mir anzuführen, dafs in dem vortrefflichen früheren Bau-Journal, noch im Jahre 1806, zwei Unternehmungen als hoffnungslos hingestellt sind, ja selbst mit einigem Spotte begleitet, die wir jetzt ausge- führt sehen, und selbst als eine der wichtigeren Entwickelungen des Unter- nehmungsgeistes begrülsen. Es werden gegen einen Tunnel, unter der Themse durch, die gröfsten Bedenklichkeiten erhoben, ein Tunnel der nach Lichtenberg’s witziger Benennung eine negative Brücke ist; und es wird die positive Brücke, die wir jetzt als Seil- oder Kettenbrücke als etwas gewöhnli- ches betrachten, ein Hirngespinst genannt, welches im Ernst nicht hätte ver- öffentlicht werden dürfen, Allerdings war bei den damals angegebenen Seil-

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brücken, die Idee zwar ausgesprochen, aber die vorgeschlagene Ausführung ganz verschieden von der jetzigen, und in der That sehr grofsen Einwürfen ausgesetzt.

Mit dem Eintritte von Eytelwein entwickelte sich in dem Oberbau- departement eine bedeutende Thätigkeit, wozu wahrscheinlich Eytelwein’s Verbindung mit dem älteren und jüngeren Gilly, demselben dem wir die Pflege des Talentes von unserem Schinkel verdanken, wesentlich beitrug. Zwei Jahre nach seinem Eintritte stattete Eytelwein die Übersetzung des wichtigen Werkes von Du Buat, Grundlehren der Hydraulik, mit rei- chen Anmerkungen aus, und gab im Eingange eine Zusammenstellung der Hauptformeln welche er aus den Versuchen abgeleitet, die in gewissem Sinne die Grundlage seiner späteren Ermittelungen ward. Im folgenden Jahre begann 1797 das Bau-Journal: Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten die Baukunst betreffend, herausgegeben von meh- reren Mitgliedern des Öberbaudepartements, welches als das erste in Deutschland, nicht ohne die bedeutendste Einwirkung auf das ganze Bau- wesen sein konnte, und bis zu dem unglücklichen Jahre 1806 fortdauerte. Eytelwein lieferte darin eine bedeutende Reihe von theoretischen und praktischen Abhandlungen, die er später überarbeitet, besonders heraus gab. Der wichtigste Fortschritt indessen war die durch das Oberbaudepartement angeregte Stiftung der Bauakademie, die am 13. April 1799 in das Leben trat. Schon im Jahre 1788 hatte der Oberbaurath Becherer bei dem tiefge- fühlten Bedürfnifs einer Lehranstalt einen Plan eingereicht, um in Verbin- dung mit der königlichen Akademie der Künste, eine allgemeine Bau - Un- terrichtsanstalt zu errichten. Obgleich diese nicht in das Leben trat, so hatte doch von 1790 an eine Lehr-Anstalt bei der Kunstakademie bestan- den, in welcher in einigen besonderen architektonischen Klassen, Vorlesun- gen über Construction der Stadtgebäude und den Geschmack der Baukunst gehalten, so wie Unterricht im Zeichnen gegeben, und auf Bildung von Ge- werbleuten hingewirkt wurde. Zur Ausfüllung der hier noch stattfindenden Lücken, entschlossen sich 4 Mitglieder des Oberbaudepartements, Winter- vorlesungen zu halten, wobei Eytelwein die Statik, Hydrostatik, Hydrau- lik, Maschinenlehre, Deich - und Strombaukunst übernahm. Hieraus ging denn endlich die Bauakademie hervor, zu welcher die Geh. Oberbauräthe Riedel, Gilly und Eytelwein den Plan ausgearbeitet hatten, und welche nach

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XXVII Gedächtnifsrede auf Eytelwein.

erfolgter königlicher Genehmigung, unter der Direktion von Eytelwein in das Leben trat.

Seit dieser Zeit bis zum Jahre 1830, wo Eytelwein den Staatsdienst verliefs, ist die Bauakademie die Pflanzschule für alle Baubeamte des Preu- fsischen Staates gewesen, und selbst dem Unkundigen würden die umfassen- den Bauten an Strafsen, Gebäuden, Strömen, und in der See, die seitdem ausgeführt sind, und in unsern nächsten Umgebungen sowohl als in den ent- ferntesten Theilen der Monarchie unser bürgerliches Leben so gänzlich um- gestaltet haben, das kräftigste Zeugnifs an die Hand geben, dafs die Wirk- samkeit dieser Unterrichtsanstalt, wenn auch Mängel daran hafteten, und zeitgemäfse Umgestaltungen nöthig waren, eine segensreiche gewesen ist. Eytelwein lehrte darin, aulserdem dafs er die Geschäfte der Oberleitung hatte, die Hydrostatik und Hydraulik, so wie er auch eine Zeit lang eine Vorlesung über den Strom- und Deichbau hielt. Später bei der Stiftung der hiesigen Universität hat er auch an dieser, in denselben Fächern und in der Analysis, während der Jahre 1810-1815 als aufserordentlicher Professor Vorlesungen gehalten. Nach dem Zeugnifs seiner noch lebenden Schüler, war seine Lehrgabe eine sehr ausgezeichnete, und dafs sie es sein mufste, zeigen auch die Lehrbücher welche er über diese und andere Fächer heraus- gab. Die bestimmte klare Form in der er die Vorschriften ableitete und aus- sprach, die Ordnung der Eintheilungen, die feste Sprache in der er das was er als das beste erkannte vortrug und einprägte, gab auch in den häufigen Fällen wo ein strenger Beweis nicht geführt werden konnte, dem Schüler in kurzer Fassung das Resultat der besten Erfahrung bis zu dem Zeitpunkte des Vortrages, und gewährte dem Schwankenden dadurch einen sicheren und niemals ungeprüften Anhalt. Wenn diese Festigkeit in einzelnen Fällen, den Zahlenangaben bei dem weniger Selbstprüfenden eine zu grofse Auto- rität verlieh, und hin und wieder von dem eigenen Fortbilden abhalten mochte, so führte sie doch in keinem Falle zu sehr irrigen Anschlägen, und war nur dem unverständigen Gebrauche wie jede andere ausgesetzt.

Vorzüglich zeichnen sich aber diese Lehrbücher, und ganz besonders das über die Hydraulik, wovon die erste Auflage 1801, die zweite 1823, die dritte 1842 erschien, durch eine zweckmäfsige und gedrängte Zusam- menstellung des wahrhaft Brauchbaren und für die Anwendung Wichtigsten aus. Es giebt für diesen grofsen Vorzug das neueste französische Lehrbuch

Gedächtnifsrede auf Eytelwein. HRIX

über die Hydraulik von d’Aubuisson ein sehr redendes Zeugnifs, da sich bei der Vergleichung dieses letzteren mit dem Eytelweinschen, unwillkührlich die Überzeugung aufdrängt, dafs das deutsche Lehrbuch dem französischen zur allgemeinen Grundlage gedient hat, die in einigen Punkten erweitert, doch nirgends die Ähnlichkeit mit dem Urbilde ganz verwischt. Noch schmeichelhafter für Eytelwein, mufste ein anderes öffentliches Zeugnifs sein, was einer der bedeutendsten Männer seiner Zeit, der berühmte Tho- mas Young in England, gleich nach dem ersten Erscheinen der Hydraulik, in dem Nicolsonschen Journal of natural history chemistry and the arts, durch eine ausführliche Beurtheilung ablegte, welche durch die fast voll- ständige Darlegung seines Inhalts, das Buch für die englischen Leser erse- tzen sollte. Young bekanntlich ursprünglich mit medicinischen Studien be- schäftigt, war durch einen längeren Aufenthalt in Göttingen und Berlin mit der deutschen Literatur sehr vertraut geworden, hatte später seine ärztliche sewandter Mathematik be-

8 schäftigt, in der er ausgezeichnetes leistete, und hat durch die überwiegende

Laufbahn verlassen, und sich mit reiner und an

Kraft seines Geistes das ungewöhnliche Beispiel gegeben, dafs ein Physiker der in der Theorie des Lichtes die hochwichtige Entdeckung von den Inter- ferenzen machte, zugleich auch den langgesuchten Schlüssel zu dem Ver- ständnils der Ägyptischen Hieroglyphen fand, und in den letzten Jahren der Astronomie sich widmen konnte. In der That eine der glänzendsten Er- scheinungen unserer Zeit, wenn man die ganz ungewöhnliche Vielseitigkeit, verbunden mit einer musterhaften Gründlichkeit in jedem Fache dem er sich zuwandte, und den hervorragenden Scharfsinn betrachtet, der ihn so zu neuen und ungeahneten Aufschlüssen führte. Gerade ein solcher Mann mulste mehr wie jeder Andere dazu geeignet sein, das Verdienst welches Eytelwein sich durch seine Hydraulik erworben, auf die rechte Weise zu würdigen, und wenn er um seine Worte zu gebrauchen: die grofse Schwie- rigkeit der Untersuchung, die gründliche Zusammenstellung der Hauptdata, welche sich sowohl aus eigenen Versuchen Eytelwein’s, als denen anderer Schriftsteller ergeben haben, und zwar vorzüglich solcher die einer Anwen- dung fähig sind, die zierliche Kürze mit der Alles gesammelt ist, was in Hinsicht auf Hydraulik aus der Theorie abgeleitet werden kann, und die mit einer musterhaften Einfachheit häufig vereinigte vorzügliche Genauigkeit an diesem Werke rühmt, so hat er in der That die Haupt- Vorzüge geistreich e?

KRX Gedächtnifsrede auf Eytelwein.

zusammengefafst, und sein Lob noch dadurch erhöht, dafs die grofsen Vor- züge ihn nicht zu einem blinden Nachtreter gemacht haben, sondern zu ei- nem prüfenden Beurtheiler, welcher im Gefühl der eigenen Kraft, die fremde desto bereitwilliger anerkennt.

Eytelwein hat mehrere Lehrbücher geschrieben über Statik, Hy- draulik, Perspective, Grundlehren der Analysis, und noch in seinem hohen Alter über Auflösung der numerischen Gleichungen. In Allen treten die hier aufgeführten Vorzüge mehr oder minder hervor. Die Rücksicht auf praktische Anwendung überwiegt stets; zahlreiche Beispiele werden immer angeführt, um den Leser gewissermalsen zu nöthigen, nicht blos die For- men in sich auf zu nehmen, sondern sie auch gehörig zu verarbeiten. Diese Hinneigung zum praktischen Gebrauch scheint überhaupt bei Eytelwein die rein theoretischen Speculationen zurückgedrängt zu haben, und die durch sie hervorgebrachte Färbung, tritt überall auch in den Lehrbüchern und Abhandlungen welche anscheinend der reinen Speculation angehören, über- wiegend hervor.

Aufser diesen Lehrbüchern gehört ein grofser Theil der herausgege- benen Werke, der praktischen Anwendung noch unmittelbarer an, in so fern sie die Ausführung bestimmter Bauten im Einzelnen durchgehen, und die leitenden Grundsätze bei jeder einzelnen Vorschrift erläutern. Hieher ge- hört die Anleitung Blitzableiter anzulegen, die Anweisung zu ökonomischen und militairischen Situationskarten, zum Bau der Faschinenwerke an Flüs- sen und Strömen, Anlage einer Brauerei, praktische Anweisung zur Wasser- baukunst, und einige andere minder umfangreiche Publikationen. Unter diesen, die in gewissem Sinne aus den theoretischen Lehrbüchern hervorge- gangen sind, zeichnet sich vor Allem die Anleitung zur Construktion der Faschinenwerke an Flüssen und Strömen aus, welche zuerst in dem erwähn- ten Bau-Journal bekannt gemacht ward, dann 1800 zusammengedruckt er- schien und 1818 die zweite Auflage erhielt. Noch bis zu dieser Zeit ist diese Anweisung das Allerbeste, was über diesen wichtigen Theil der Was- serbauten erschienen ist, und die erste Anstellung Eytelwein’s in den be- sten Jahren der Kraft, als Deich-Inspektor bei den Oder und Warthe-Strö- men, hat unverkennbar in der lebendigen Auffassung der Einzelnheiten, und der genauen Detaillirung der zweckmäfsigen Einrichtungen, ihre schöne Frucht getragen. Schwerlich wird in unserer so rasch vorschreitenden Zeit,

Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XXXI

das Beispiel häufig sich finden, dafs eine Anweisung zu der praktischen Aus- führung gröfserer Werke, nach 50 Jahren noch nicht übertroffen ist.

Aufserdem sind in einzelnen Abhandlungen, die gröfseren Versuchs- reihen welche Eytelwein über verschiedene wichtige Punkte angestellt hat enthalten, unter welchen sich die Bemerkungen über die Wirkung und vor- theilhafteste Anwendung des Stofshebers auszeichnen, die gleich nach dem ersten Bekanntwerden dieser neuen französischen Erfindung, 1805 besonders herausgegeben wurden. Wenn gleich wie es scheint die Erwartung von dem Nutzen dieser merkwürdigen Maschine in der ersten Zeit etwas zu grols war, (so viel bekannt ist er wenig oder gar nicht in Anwendung gekommen) so gewährt doch die genauere Untersuchung dieses Wasserpendels, wie man es wohl nennen könnte ein hohes Interesse, und auch hier hat Eytelwein die Versuche so zweckmäfsig angestellt, dafs sie bis auf die neueste Zeit die eigentliche Grundlage aller Untersuchungen darüber bilden.

Diese sehr grofse literarische Thätigkeit Eytelwein’s, war mit einer eben so grofsen amtlichen verbunden, vielleicht einer noch gröfseren, wenn man die hohe Stellung und den Ernst der schweren Zeiten betrachtet, die Preufsen in den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts erlebt hat. Nach dem er 1799 zum Direktor der Bau-Akademie ernannt war, und 1803 als wirkliches Mitglied in unsere Akademie eingetreten, ward er im Jahre 1809 auch der Direktor der jetzt so benannten Oberbaudeputation, und trat als solcher an die Spitze des gesammten Staatsbauwesens. Ein Jahr später 1810 ward er zum Mitglied und vortragenden Rath im Ministerio für Han- del und Gewerbe ernannt, und nach dem Befreiungskriege zum Oberlandes- baudirektor befördert, ein Titel der nach ihm nur noch unserm Schinkel ertheilt worden ist, zugleich ward er Mitdirektor in dem Ministerium für Handel und Gewerbe, welche Posten er bis zu seinem Austritte aus dem Staatsdienste bekleidete. Schon im Jahre 1825 wo ich ihn zuerst persönlich kennen lernte, hatte er in Folge seiner angestrengten Arbeiten, mit grofsen körperlichen Beschwerden zu kämpfen, welche ihn bewogen bald nach sei- nem 50jährigen Dienstjubilaeum im Jahre 1830 seine Entlassung zu neh- men, und von dieser Zeit an in dem Kreise seiner Familie zurückgezogen zu leben, ohne doch so viel seine Gesundheit es erlaubte, den literarischen Arbeiten zu entsagen. Denn seine letzte gröfsere Schrift über die numeri- schen Gleichungen, kam im Jahre 1837 seinem 73sten Lebensjahre heraus.

XXXIL Gedächtnifsrede auf Eytelwein.

Unter den vielen gröfseren Staats- Verhandlungen an denen er Theil nahm oder die er leitete, zeichnen sich die Regulirungen der Oder, Warthe, Weichsel und des Niemens, die Hafenbauten von Memel, Pillau und Swine- münde, die Grenzregulirung der Rheinprovinz mit dem Königreiche der Niederlande, und die Bestimmung eines definitiven Maafses und Gewichtes für Preufsen aus, welche letztere er in Gemeinschaft mit dem Geh. Rath Pistor, wie die spätere Prüfung der Maafse von Bessel gezeigi hat, mit be- sonderer Genauigkeit ausgeführt hat.

Eytelwein verlebte den Rest seiner Tage theils in Merseburg theils hier. Gegen das achzigste Lebensjahr trat ein Augenübel ein, welches zuletzt fast in völlige Blindheit ausartete. Der Unterricht seiner Enkel in den mathe- matischen Elementen, und zu seiner eigenen Unterhaltung der Entwurf zu ei- nem Systeme der Krystallographie, waren die Beschäftigungen welche sein Al- ter erheiterten. Als in dem Sästen Lebensjahre auch das Gehör seine Dienste versagte, und vielfache körperliche Beschwerden eintraten, ward der immer noch thätige Geist von der Last des Körpers am 18. August 1848 erlöst, und der Schmerz der Trennung bei seiner Familie durch die Befreiung des Leidenden von Übeln gemildert, denen menschliche Kunst keine Erleichte- rung gewähren konnte.

Eytelwein hat sich früh verheirathet in seinem 25sten Jahre, und 39 Jahre hindurch mit seiner Gattin ein musterhaftes Familienleben geführt. Von 7 Töchtern und 2 Söhnen haben ihn 4 Töchter und 1 Sohn überlebt. Ob- gleich das genauere Eingehen in die Familienverhältnisse, bei meiner entfern- teren Stellung, sich von selbst untersagt, so kann ich doch nicht unterlassen einen Zug hier anzuführen, der mir von Eytelwein selbst mitgetheilt, sei- nen Charakter sehr bestimmt bezeichnet. Sein später verstorbener Sohn diente in dem Regimente von Schill, mit welchem dieser im Jahre 1809 den so unglücklich endenden Zug ausführte. Bekanntlich zog Schill von Ber- lin wie zum Exerziren aus, ohne dafs er den eigentlichen Zweck des Aus- marsches irgend Jemanden mitgetheilt hätte. Einige von der Mannschaft . waren deshalb, theils Krankheits halber, theils weil bei dem blofsen Exer- ziren ihr Dienst nicht nöthig that, in Berlin zurückgeblieben. In der Nacht darauf wurde der Vater von einem Offizier des Regiments geweckt, der ei- gentliche Zweck und Marsch nach Wittenberg zu ihm mitgetheilt, und ihm freigestellt ob er den Sohn, der als Ordonnanz in Berlin geblieben war, be-

Gedächtnifsrede auf Eytelwein. XXXIII

nachrichtigen wolle und zur Nachfolge veranlassen oder nicht. Bei der Eile der Zeit beräth sich Eytelwein gleich in der Nacht mit seiner Gattin, und entschlofs sich schnell, den Wünschen seines Sohnes gemäfs, ihn nachzu- senden, um den selbst nach der damals herrschenden Ansicht allerdings höchst gewagten Versuch zur Befreiung des Vaterlandes mitzuwirken nicht zu versäumen. Wenigen Eltern möchte in ähnlicher Lage das immer noch zweifelhafte Opfer so pflichtgemäfs erschienen sein. Es kostete der Familie nach der schnellen Katastrophe grofse Opfer und Verwendungen, um den geliebten Sohn den Folgen seiner patriotischen Gesinnung zu entziehen. Eytelwein gehörte zu den vielen hochstehenden Beamten des Preufsi- schen Staates, die in einem andern deutschen Stamme geboren, frühzeitig sich das neue Vaterland gewählt, und mit warmer Anerkennung ihrer Ver-. dienste, von der, wie man gewöhnlich es ausdrückt, fremden Regierung aufgenommen, zu den höchsten Stellen befördert wurden. Treu seinem gegebenen Worte und anhänglich an den König und die von ihm gewählte Verwaltung, hat er alle seine Kräfte dem ergriffenen Lebenswege zuge- wandt, und wie die letzte Erzählung beweist, sein eigenes Leben und das der Seinigen nicht gezögert aufzuopfern, wenn selbst bei nur schwacher Hoff- nung des Gelingens das wahre Wohl Preufsens auf dem Spiele stand. In einer Zeit wie die jetzige wo Unverstand Hinterlist Undank und überlegte Intrigue sowohl der Einigung und dem Aufblühen des gesammten deutschen Vaterlandes, als auch besonders unseres Staates, von den verschiedensten Seiten her drohende Gefahren bereiten, und der anscheinende Conflikt der Pflichten gegen Deutschland überhaupt und Preufsen insbesondere schwa- che und ängstliche Gemüther hin und her wirft, ohne den einfachen Gedan- ken erfassen zu können, dafs zu einem weit verzweigten Baume nothwendig ein fester gedrungener innerer Korn gehöre und erhalten werden müsse, in einer solchen Zeit des Schwankens und der Wankelmüthigkeit möge auch in diesem Stücke Eytelwein wie in so manchen andern uns ein Vorbild werden für die Fahne die wir ergreifen sollen, uns Allen die ähnlich wie er aus den deutschen Gauen uns hierher gewandt haben. Möge deshalb bei uns wie in dem gesammten deutschen Vaterlande das trübe Dunkel künst- lich hervorgerufener Antipathien immer mehr und mehr sich erhellen und der so wahre als nahe liegende Gedanke immer klarer und klarer sich her-

XXXIV Gedächtnifsrede auf Eytelwein.

ausbilden, dafs in kleineren wie in gröfseren Vereinen die Stärke des Ganzen auf der Stärke der einzelnen Glieder beruht und dem grofsen anzustreben- den Ziele bei richtiger Leitung niemals die Kraft und Blüthe der einzelnen Theile hindernd in den Weg treten kann.

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Physikalische

Abhandlungen

der

Königlichen

Akademie der Wissenschaften

zu Berlin.

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Aus dem Jahre

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Berlin.

Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften.

1851.

In Commission in F. Dümmler’s Buchhaudlung.

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Über die Seitenentladung der elektrischen Batterie.

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[Gelesen in der Gesammtsitzung der Königl. Akademie der Wissenschaften am 15. Februar 1849.]

Einleitung. Versuche über die Seitenentladung $. 1-15. Entstehung derselben $. 16-19. Schlagweite der strömenden Elektricität $&. 20—21. Die Seitenentladung im verzweigten Schlielsungs- drahte und im Nebendrahte $. 22—30.

W.n dem Drahte, der eine elektrische Batterie schliefst, ein Leiter hin- länglich nahe steht, so geht während der Entladung der Batterie, zwischen ihm und dem Schliefsungsdrahte ein Funke über. Diese Erscheinung, Seitenentladung genannt, ist seit lange bekannt. In neuerer Zeit ist ge- funden worden dafs, wenn auch derLeiter dem Drahte zu fern steht, um den Funken erscheinen zu lassen, dennoch im Leiter eine Elektrieitätsbewegung stattfindet, die unter dem Namen des Nebenstromes vielfach untersucht worden ist. Ob diese beiden, dem Scheine nach nahestehenden Erschei- nungen identisch oder, wenn nicht, worin sie von einander verschieden sind, ist eine bisher nicht gelöste Frage. Vor Entdeckung des Nebenstro- mes sind viele Untersuchungen über die Seitenentladung angestellt worden, gröfstentheils der Belehrung wegen, die man von ihnen über die Anlegung von Blitzableitern erwartete; eine kurze Übersicht derselben möge meiner Untersuchung als Einleitung dienen.

Im Jahre 1769 machte Priestley die Erfahrung, (?) dafs wenn eine Metallkette, die von der äufsern Belegung einer geladenen Flasche ausging, auf seinem Arme lag und die Flasche durch einen Theil der Kette entladen wurde, die Haut auch unter dem übrigen Theile der Kette geröthet war,

(') Philosophical Transactions Vol. 59. Priestley Geschichte der EI.* S. 472. Phys. Kl. 1849. A

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der nicht in der Schliefsung gelegen hatte. Er stellte über diese Erscheinung unter der Bezeichnung lateral explosion (Seitenplatzung) im folgenden Jahre eine ausführliche Untersuchung an (!). Ein 7 Fufs langer Pappcylinder, der mit Stanniol bekleidet war, wurde isolirt; + Zoll von einem seiner En- den befand sich der Knopf eines Eisendrahts, der mit der äufsern Belegung einer Flasche verbunden war. Bei der Entladung der Flasche durch eine Metallkette sprang ein Funke von dem Knopfe zum Cylinder über, aber zu Priestley’s Verwunderung war der Cylinder dadurch gar nicht oder nur sehr schwach elektrisch geworden. Die Elektricität des Cylinders, mit feinen Prüfungsmitteln aufgefunden, war positiv, wie die, womit die Flasche di- rekt geladen war. Je kleiner der isolirte Leiter war, der den Funken em- pfing, um so näher mufste er dem Knopfe des Eisendrahts gebracht werden, und desto weniger Elektricität fand sich in ihm vor. Von den vielfachen Abänderungen dieses Versuches verdient die, später in Vergessenheit gera- thene Erfahrung einer Erwähnung, dafs mehrere Seitenentladungen gleich- g erhalten werden konnten.

5 Es wird zum Erscheinen des Funkens eine gewisse Unterbrechung in der

zeitig an verschiedenen Stellen der Schliefsun

Hauptschliefsung nöthig gefunden, die gewöhnlich durch eine Gliederkette bewirkt wurde. Als Grund der Erscheinung wird angegeben, dafs die Elek- trieität der Flasche, auf ihrem Wege zur äufsern Belegung aufgehalten, auf nahe Körper übergehe und zur Schliefsung wieder zurückkehre. Der Fall sei also derselbe, als ob der isolirte Leiter sich in einer Unterbrechung des Schliefsungsbogens befände, nur dafs alsdann die Elektricität der Flasche an verschiedenen Punkten desselben hinein- und hinaustrete, was bei der Seitenentladung an einem und demselben Punkte geschähe.

Henly (?) stellte 1774 einen häufig angeführten Versuch an, von dem es zweifelhaft ist, ob er eine reine Seitenentladung darstellt. An den Conduktor einer Elektrisirmaschine war der Knopf einer Flasche gestellt, von deren äufserer Belegung eine eiserne Kette ausging, die in eine Metall- platte endigte, durch deren Verbindung mit dem Conduktor die Flasche entladen wurde. An einem andern Punkte der äufsern Belegung der Flasche wurde eine lange Messingkette befestigt, an deren Ende ein 8 Zoll langer

(') Philosoph. Transact.* Vol. 60. p. 192. (?) Philosoph. Transact.* Vol. 64. p. 402.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 3

Holzstab angesetzt und mit Sägespänen bestreut war, dessen Ende 4; Zoll von der erwähnten Metallplatte entfernt blieb. Bei der Entladung der Flasche wurden beide Ketten und die Sägespäne auf dem Holzstabe leuchtend. Henly räth nach diesem Versuche davon ab, Ketten zu Blitzableitern zu verwenden, was damals häufig geschah.

In naher Verbindung mit der Seitenentladung steht eine Erscheinung, die Lord Mahon (Graf Stanhope) 1779 entdeckt und sorgfältig untersucht hat (!). Ein Metallcylinder, der einem elektrisirten Conduktor nahe steht, wird an seinem nächsten Ende mit dem Conduktor ungleichnamig, an dem entfernten Ende gleichnamig elektrisch. Entladet man den Conduktor, so vereinigen sich die Elektricitäten wieder. Diese Entladung geschieht mit einem Funken, wenn der Cylinder an einer Stelle durch eine Luftschicht unterbrochen ist. Mahon hat über die Stärke dieser Entladung, die er Rückschlag (returning stroke) nennt, folgenden Versuch angestellt. Dem einen Ende eines 10-41 Fufs langen Eisencylinders war eine Metallkugel sehr nahe und in den Zwischenraum ein Stanniolblatt gestellt. In der Nähe der Kugel, aber aufserhalb der Schlagweite, befand sich der Conduktor einer Elektrisirmaschine, der geladen und sodann durch Funkenziehen ent- laden wurde. Bei der Entladung ging ein starker Funke zwischen Kugel und Cylinder über und schmelzte das Staniolblatt. Der Verfasser suchte durch den Rückschlag den, übrigens nicht constatirten Fall zu erklären, dafs in gröfserer Entfernung von dem Orte, wo ein Blitz einschlug, ein Mann ohne Lichterscheinung getödtet wurde. Obgleich von Reimarus das Irrige dieser Erklärung aufgezeigt worden ist (?), hat dieselbe und zu- weilen auch die ihr beigegebene Abbildung, auf der ein Mensch ohne Noth erschlagen liegt, Eingang in die Lehrbücher gefunden.

Cuthbertson stellte über die Seitenentladung folgende Versuche an (?). Eine Funkenflasche, die sich bei bestimmter Ladung zwischen zwei Kugeln entlud, wurde an den Conduktor einer Elektrisirmaschine gestellt; von ihrer äufsern Belegung ging ein kurzer Draht in die Höhe, der in eine Kugel endigte, und dieser wurde der Knopf einer kleinen leydener Flasche

(') Mahon Principles of electr. 1779. Deutsch * 1789. S. 97— 160. (?) Neuere Bemerk. v. Blitze. * Hamb. 1794. S. 176 Ag. (°) Abhandlung von d. Elektricität.* 1786. S. 204.

A2

4 BnIvENsus

nahe gebracht. Bei der Entladung der grofsen Flasche ging ein Funke zur kleinen über und lud diese mit derselben Elektricitätsart, welche der Con- duktor in die grofse Flasche geführt hatte. Der Verf. schliefst, dafs diese Erscheinung von einer Überladung der Flasche herrühre, der mehr Elektri- cität zugeführt worden als sie habe halten können und dafs diese Elektrieität bei der Entladung zu dem nächsten Leiter übergesprungen sei.

Eine Seitenentladung von einem einfachen Conduktor hat v. Marum mit Hülfe der grofsen Teyler’schen Maschine erhalten (!). Ein grofser Me- tallkörper, auf den von dem Gonduktor der Maschine Funken schlugen, war durch einen } Zoll dicken Kupferstab mit dem feuchten Erdboden ver- bunden. Man konnte von diesem Stabe während des Spieles der Maschine Funken ziehen. Ein zum Theil hieher gehöriger Versuch ist folgender (?). v. Marum spannte einen 12 Zoll langen „1, Zoll dicken Eisendraht in gera- der Linie aus und legte einen 20 Zoll langen 4, Zoll dicken Eisendrath in einen Bogen, dessen Enden dem geraden Drathe bis 3% Zoll nahe, kamen. Die Entladung einer Batterie durch den geraden Drath schmelzte beide Drähte.

In den vorhergehenden Versuchen ist die Seitenentladung von der

o Belegung einer Flasche oder einem derselben nahen Theile des Schliefsungs- bogens ausgegangen; Bohnenberger (?) versuchte die Seitenentladung von der Mitte des Bogens zu erhalten, machte den Versuch aber dadurch zweifelhaft, dafs er diese Mitte durch einen Luftraum unterbrach. Zwei Drähte wurden in gerader Linie gegen einander gestellt, so dafs ihre zuge- kehrten Enden !; Zoll von einander standen. Winkelrecht gegen die Ver- bindungslinie dieser Enden und 3 Linien von ihr entfernt wurde ein dritter Drath angebracht, der mit einem Elektroscope oder dem Knopfe einer klei- nen leydener Flasche in Verbindung stand. Bei der Entladung einer Batterie durch die geraden Drähte wurde Divergenz und gleich darauffolgendes Zu- sammenfallen der Goldblätter des Elektroscops oder eine bleibende sehr schwache l.adung der kleinen Flasche bemerkt. Als Grund der Erscheinung wird angeführt, dafs die äufsere Belegung der Batterie nicht die ganze Menge

(') Beschreibung einer grofsen Electrisirmasch. * Leipzig 1786. S. 11. (2) Derselben erste Fortsetz. * 1788. S. 31. (°) Beschreibung unterschiedl. Elektricitätsverdoppler.* Tüb. 1798. S. 172.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 5

der in ihrem Innern angehäuften Elektrieität aufnehmen kann und diese Menge, indem sie mit grolser Gewalt gegen die äufsere Belegung anprallt, auf nahe Körper durch Mittheilung oder Influenz wirke.

Saxtorph(') rechnet zu den Ursachen des Seitenschlages, und für viele der angeführten Versuche gewifs nicht mit Unrecht, auch die unvoll- kommene Ableitung, die der äufseren Belegung der Batterie zur Erde ge- geben sei, bei welcher der UÜberschufs der Elektrieität der innern Belegung nicht schnell genug abgeleitet werde. Er vermuthet, dafs wenn die äufsere Belegung mit tief in die Erde gehenden Leitern verbunden würde, kein Funke zwischen ihr und einem isolirten Leiter erscheinen würde.

Biot (?) brachte das eine Ende eines isolirten Metalleylinders durch eine Kette mit der äufsern Belegung einer Batterie in Verbindung. Dem- selben Ende des Oylinders stellte er einen ähnlichen isolirten Cylinder nahe, der mit Elektrometerpendeln versehen war. Als durch Verbindung des freien Endes des ersten Cylinders mit dem Innern der Batterie diese entla- den wurde, ging ein Funke zwischen beiden Cylindern über und die Pendel stiegen und fielen in demselben Augenblicke. Die dunkle und schwankende Erklärung dieser Erscheinung, die nahe das Richtige trifft, setze ich mit Biot’s Worten her: Die Elektrieität der Batterie entladet sich nicht in einem untheilbaren Augenblicke, wie gut auch der Leiter sei, den man ihr bietet; sie wirkt während ihres Durchgangs durch Influenz auf die Elektricitäten der Körper, die den Schliefsungsdraht berühren und bringt darin eine augen- blickliche Trennung derselben zu Wege. Man sieht hieraus (par cela meme) dafs diese Wirkung aufserordentlich schwach sein mufs, denn sie wird allein durch Influenz desjenigen Theils von Elektrieität hervorgebracht, der auf einer der Belegungen der Batterie frei bleibt und dessen Repulsivkraft durch die Ausbreitung der Elektrieität auf den dargebotenen Leiter zwar sehr ge- schwächt, aber nicht gänzlich vernichtet wird. In dem später erschiene- nen Precis de physique ist der letzte Satz gestrichen und dafür gesetzt: Es leuchtet hiernach von selbst ein, dafs diese Wirkung um so schwächer sein mufs, je vollkommener und dicker die Leiter sind, durch welche man die Schliefsung der Batterie bewirkt. (°)

(') Electricitätslehre. Deutsch * 1803. Bd. 1. S. 349. (?) Traite de Physique.* Par. 1816. t.2. p.452. (?) Biot Lehrbuch d. Experimentalphysik v. Fechner. * 1829. Bd. 2. S. 288.

6 Rıreisıs

Bei Gelegenheit eines Streites über Blitzableiter auf Schiffen stellte Sturgeon (') Versuche über die Seitenentladung an. Auf eine Metallplatte wurde eine geladene Leydener Flasche und neben dieselbe ein vertikaler Metallstab gestellt. Wurde nun die Flasche entladen, indem das obere Ende des Stabes durch einen Auslader mit dem Knopfe der Flasche verbun- den wurde, so gab der Stab einer seitlich gestellten, am besten nicht iso- lirten Kugel einen Funken. Dasselbe geschah, als die Flasche an der vom Stabe abgewandten Seite durch den Auslader allein entladen wurde, und der Funke gab alle Wirkungen, wie der der Hauptentladung, unter welchen die chemische Zersetzung namentlich aufgeführt wird. Der Funke trat auf, als der Stab von der Metallplatte 50 Fufs entfernt und mit dieser durch einen Draht verbunden war. Der Funke nahm an Stärke ab, als die Aufsen- seite der Flasche eine gute Ableitung zur Erde erhielt, aber er blieb nicht aus, selbst wenn die Aufsenseite und der Metallstab durch Drähte mit einer metallenen Brunnenröhre verbunden waren.

Snow Harris hat sich gegen diese Versuche mit einer leidenschaft- lichen Kritik gewendet (?), die ihn so weit führte, dafs er in ihnen überall nur einen von einem geladenen Conduktor überspringenden Funken erkannte. Er stellte eine geladene Flasche mit einem Metallstabe auf einen isolirten Teller und konnte nach der Entladung von allen Metalltheilen Funken zie- hen; da nun die Entladung so aufserordentlich schnell geschähe, so müsse während der Entladung ein Funke entstehen können, wenn die Flasche auch nicht isolirt sei. Hiernach wird die Seitenentladung, die der Verf. mit Ma- hon’s Rückschlag verwechselt, gänzlich geleugnet. Diese Meinung erhielt 1840 eine sehr gewichtige Stütze.

Es war von der englischen Admiralität eine Commission niedergesetzt worden um über die Anlage von Blitzableitern auf Kriegsschiffen zu berathen. Da diese Ableiter durch die Pulverkammer geführt werden sollten, so rich- tete man an Wheatstone und Faraday die Anfrage, ob eine Seitenent- ladung zu fürchten sei. Wheatstone (?) gab die oben mitgetheilte Biot’sche Darstellung der Seitenentladung und fügte hinzu, dafs von der Seitenentla-

(') Annals of electricity.* Vol. IV. (1839) p. 175. (?) Annals of electricity.* Vol. IV. p. 313. (°) ididem. Vol. V. p. 10.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie 7

dung des Blitzes nur in dem Falle Schaden zu fürchten sei, wenn der Ab- leiter nicht die gehörige Dicke besitze, die ganze Electrieitätsmenge fort- zuführen.

Faraday gab keine Seitenentladung zu, sondern nur eine Ablenkung und Theilung des Hauptstromes, die durch das gute Leitungsvermögen der Schliefsung vermieden werden könne (').

Ich habe die Übersicht der Untersuchungen einer Erscheinung mit einem Ausspruche schliefsen müssen, der die Erscheinung gänzlich in Frage stellt. Die Meinung des grofsen Naturforschers erscheint nicht ganz ungerechtfertigt, wenn man bedenkt, dafs keiner der angeführten Versuche mit der nöthigen Vorsicht angestellt worden ist, um jeden Zweifel zu besei- tigen. Überall sind übermäfsig starke Ladungen der Batterie gebraucht, der Funke ist in grofser Nähe der geladenen Fläche erzeugt worden; es wurde nicht dafür gesorgt, äufsere Belegung und Schliefsungsbogen vollkommen zur Erde abzuleiten und endlich ist nirgends ein durchgängig gut leitender Schlie- fsungsbogen angewandt worden. Frühere Erklärungen der Erscheinung ma- chen diese Unvollkommenheit der Schliefsung zur Bedingung. Biot giebt sie zwar nicht wörtlich zu, aber er zeichnet sie in der seiner Erklärung bei- gegebenen Abbildung, indem er den gröfsten Theil des Schliefsungsbogens aus einer schlaffen Gliederkette bestehen läfst. Dafs dies nicht zufällig sei, beweist die Änderung seiner Erklärung in den spätern Ausgaben des Precis. Eine Entladung aber, welche die Zwischenräume in den losen Gliedern einer Kette zu durchbrechen hat, seitlich abspringen zu sehen, hat nichts Auffal- lendes. Ebenso wenig nöthigte der Fall, wo der Entladungsstrom einen dünnen Draht verläfst um auf einen, von demselben getrennten, dickeren überzugehen, zur Annahme einer eigenthümlichen Wirkung der Entladung.

Ich habe mich daher nicht beschränken dürfen, die bereits vorlie- genden Versuche fortzusetzen; ich hatte von vorn anzufangen und das Vor- handensein der Seitenentladung aufzuzeigen. Nachdem sich ergeben hatte,

(') He was not aware of any phenomenon called lateral discharge, which was not a diversion or division of the primary current and that all liabilities to a diversion of the main charge would decrease in proportion to the capability and goodness of the primary conductor. Annals of elecir. * Vol.V. p.7.

8 RıeEss

dafs auch die schwächste Entladung, die in der vollkommen metallischen Schliefsung keine wahrnehmbare Erwärmung hervorbringt, dennoch eine Sei- tenentladung erzeugt und dafs diese ihre eigenen Gesetze befolgt, war mir darum das weitere Ergebnifs nicht minder überraschend, dafs nämlich, ganz im Gegensatze zu der oben angeführten Behauptung, eine Ablenkung und Theilung des Entladungsstromes erst durch das Vorangehen einer Seiten- entladung möglich gemacht wird. Im Laufe der Untersuchung hatte ich Gelegenheit, ein Gesetz über die Schlagweite der strömenden Elektricität abzuleiten, das mir für die Elektricitätslehre im Allgemeinen von Wichtig- keit zu sein scheint.

I. Versuche über die Seitenentladung. SE

Es soll eine Wirkung des Entladungsstromes untersucht werden und man hat zu vermeiden, dafs dieselbe nicht durch eine Wirkung verwirrt werde, die während der Ladung der Batterie eingeleitet wird. Mit andern Worten, es mufs der Rückschlag an dem Prüfungsinstrumente jener Wir- kung möglichst klein gemacht, dieses daher von der Batterie so weit entfernt werden, dafs es von ihr keine merkbare Einwirkung erfährt. Eine andere Vorsicht zu demselben Zwecke, die auch durch die in der Einleitung be- zeichnete Rücksicht geboten wird, besteht darin, sich nur mäfsiger Ladun- gen der Batterie zu bedienen. Ich habe bei der stärksten der in der Folge angewandten Ladungen ein empfindliches Goldblattelektroscop dem Knopfe der Batterie bis 10 Zoll nähern müssen, um eine Divergenz von einigen Linien zu erhalten. Der Schliefsungsbogen kann mit seinem Ende nicht aus dem Bereiche der merkbaren Influenz durch die Batterie entfernt werden, aber der Theil desselben an dem die Ansätze angebracht wurden, lag nie näher als 24 Zoll von der nächsten geladenen Fläche der Batterie. Der Schliefsungsbogen war aus gut leitenden Stücken zusammengesetzt und in vollkommen leitender Verbindung mit der Erde, wie aus der genauen Be- schreibung der unveränderlichen, den Belegungen der Batterie zunächst lie- genden Theile desselben ersichtlich ist.

6. 2.

Der Schliefsungsbogen geht von der nahe 4zölligen Messingkugel aus,

in welche die Drähte der einzelnen Batterieflaschen eingreifen und die während

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 9

der Ladung durch einen beweglichen Arm mit dem 30 Zoll entfernten Con- duktor der Maschine (einer 5zölligen Kugel) verbunden ist. Eine gekrümmte Messingröhre, 24,1 par. Zoll lang, 4% Lin. dick, geht von der Batterie- kugel nach unten und endigt in eine Kugel, auf welche die Kugel des Ent- ladungsapparates aufschlägt. Es folgt im Schliefsungsbogen der Messingstab des Entladungsapparats, 9 Zoll lang, 3% Lin. dick, das Kugelgelenk, um das sich derselbe dreht, und dann ein aufwärts gehender Messingdraht, 22,2 Zoll lang, 1% Lin. dick, der in einem mit Schraubenverbindungen versehe- nen isolirten Gestelle endigt. In gleicher Höhe mit diesem Gestelle und 25 Zoll von ihm entfernt befindet sich ein zweites Gestell das einen Messingstab trägt, 5,8 Zoll lang 34, Lin. dick, an dem ein vertikaler, mit den Gasröhren des Hauses verbundener Kupferstreifen aufgehängt ist. Dieser Kupferstreifen, 131, Lin. breit /, Lin. dick, wird durch eine Feder gegen den 14, Linie dik- ken Kupferdraht gedrückt, der von dem Metallboden der Batterie zu der Maafsflasche geht. Es gehören vom Kupferstreifen 32,3, von dem Drahte 14, Zoll zum Schliefsungsbogen. Dies sind die unveränderlichen Stücke des Schliefsungsbogens; das veränderliche Stück desselben, das Schlie- fsungsdraht oder Stammdraht heifsen soll, wird mit seinen Enden in den beiden erwähnten Gestellen befestigt. Bei dem kürzesten Schliefsungsdrabte, der aus dickem Messingdraht von 4% Zoll Länge bestand, mifst die Länge des ganzen Schliefsungsbogens von der Batteriekugel bis zum Batterieboden

nahe 138 Zoll.

3.

Um die Seitenentladung zu Stande zu bringen, wird an dem Stamm- drahte, winkelrecht gegen ihn, das Ende eines Drahtes befestigt, der Ast- draht heifsen soll. (Unter Zweigdraht wird ein Draht verstanden, der mit beiden Enden am Stamme befestigt ist). Zur Befestigung des Astes benutzte ich eine doppelte Schraubenklemme, deren Bohrungen winkelrecht auf ein- ander stehen. Das freie Ende des Astes war mit der einen Kugel eines Fun- kenmikrometers verbunden, dessen Vernier die Entfernung der Kugeln di- rekt bis 0,02 par. Lin. angab. Mit der zweiten Kugel war das Ende eines Drahtes verbunden, der Seitendraht, der in der Verlängerung des Ast- drahtes lag. Man hat durch diese Einrichtung das Schema eines horizontal ausgespannten Drahtes (des Stammdrahtes) und eines winkelrecht an ihm

Phys. Kl. 1849. B

10 Ruroe sus

befestigten Drahtes, letzteren durch einen Zwischenraum in zwei Stücke (den Ast und Seitendraht) getheilt.

a

Ast- und Seitendraht wurden mit einander verbunden und das Ende des letzteren an dem Knopfe eines, 51, Fufs von dem Stammdrahte entfern- ten, Goldblattelektroscops befestigt. Als die Entladung der Batterie durch den Stammdraht geschah, zuckten die Blätter des Elektroscops; wurde die- ses mit einem Säulenelektroscope vertauscht, so zuckte das Goldblatt bei der Entladung stets nach derselben Polplatte, positive Elektrieität anzeigend, die hier (wie weiterhin) zur Ladung der Batterie gebraucht wurde. Ein em- pfindliches Luftthermometer (mit Platindraht von rad. 0,0185 Lin.) wurde in den Seitendraht eingeschaltet; es wurde keine Erwärmung des Drahtes bemerkt bei Entladungen solcher Stärke, die ich bei diesen Untersuchungen nicht zu überschreiten gesonnen war. Das Ende des Seitendrahts wurde durch eine Platinspitze verlängert, die auf einem isolirten mit Jodkalium- lösung genäfsten Papiere stand; eine zweite Platinspitze stand von der ersten 4 Linie entfernt und war mit einem isolirten Kupferdrahte verbunden. Es wurde keine Spur von Zersetzung bei der Entladung bemerkt. Das Prü- fungsmittel, das ich bei dem Nebendrahte angegeben ('), nämlich durch das Drahtende auf Pechplatten Staubfiguren zu bilden, habe ich hier nicht an- angewandt. Während dies Mittel dort nützlich geworden war, die von meh- reren Seiten in Frage gestellte Unveränderlichkeit der Richtung des Neben- stromes darzulegen, erschien es bei der Seitenentladung unnütz, für welche ein solcher Zweifel nicht besteht. Ebenso wenig habe ich versucht, mit dem Seitendrahte Stahlnadeln zu magnetisiren, da kein Resultat dieser Versuche eine Frage über die Seitenentladung zu entscheiden geeignet sein konnte.

$. 9.

Der Astdraht wurde von dem Seitendrahte durch die Kugeln des Fun- kenmikrometers getrennt. Ich bemerke, dafs hier und überall in der Folge die Drähte, wenn sie nicht sehr dünn waren, nicht unmittelbar in den Schraubenklemmen des Mikrometers befestigt wurden, da sie sonst durch Gewicht und Starrheit die sichere Einstellung der Kugeln verhindern konn-

(') Poggend. Annalen Bd. 51. S. 351.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 11

ten, sondern dafs zwischen die Drähte und das Mikrometer kleine Spiral- federn eingeschoben waren, die aus einem !; Lin. dicken, 7 Zoll langen gut ausgeglühten Kupferdrahte bestanden. Die Entfernung der Kugeln be- trug hier 1 bis 4 Zehntel Linie. Als eine hinlängliche Electricitätsmenge aus der Batterie durch den Stammdraht entladen wurde, erschien zwischen den Kugeln der allen Beobachtern der Seitenentladung bekannte Funke. Danach erwies sich der ganze Seitendraht elektrisch. Das Ende des Drahtes, an ein Säulenelektroscop gehalten, brachte das Goldblatt zum Anschlagen an die Polplatte und zwar mit positiver, derselben Elektrieität, mit der die Batterie geladen war. An ein Goldblattelektroscop gehalten, brachte das Ende des Seitendrahtes die Goldblätter zu einer Divergenz mit positiver Elektrieität, die 5 bis 10 Grade betrug. Gröfsere Divergenzen traten ein, wenn der Seitendrabt während der Entladung mit dem Elektroscope ver- bunden war. Das Ende des Drahtes wurde an der obern dreizölligen Platte eines Condensators mit Glasplatte befestigt; nach der Entladung war die Platte mit positiver Elektrieität geladen, die am Elektroscope eine Divergenz von 25 bis 40 Graden hervorbrachte. Hieraus folgt, dafs in der Seitenentla- dung einer mit positiver Elektrieität geladenen Batterie eine Bewegung von positiver Elektrieität in der Richtung von dem Aste zum Seitendrahte statt findet. $.r6%

Die Divergenz des mit dem Ende des Seitendrahtes verbundenen Elektroscops ist eine in hohem Grade wandelbare Erscheinung. Bei an- scheinend identischen Versuchen sieht man häufig die Divergenzen vom Ein- fachen bis Vierfachen wechseln, und es kommt nicht selten vor, dafs der Seitendraht fast ganz unelektrisch bleibt. Läfst man den Apparat ungeän- dert und steigert die Elektrieitätsmenge der Batterie, so ist damit keines- weges ein Steigen der Divergenzen bestimmt. So fand ich einmal bei An- wendung der Elektricitätsmengen 14, 15, 16, die Divergenzen des Elek- troscops 20 13 5 Grad, ein anderesmal für die Elektricitätsmengen 16, 17, 18, die Divergenzen 15, 7, 12 Grad. Anderte ich die Entfernung des Astes von dem Seitendrahte und damit die Länge des überspringenden Funkens, wodurch zugleich eine Änderung der Ladung der Batterie geboten wurde, so gab der längere Funke nicht immer die gröfsere Divergenz. So fand ich z.B. in einer Versuchsreihe

B2

12 RızEss

bei der Funkenlänge o,ı Lin. die Divergenz 10 bis 20 Grad.

0,2 0 20 0,% 5 20 0,7 10 20

Trotz dieser unregelmäfsigen Divergenzen wurde eine bestimmte Ab- hängigkeit der Funkenlänge von der Ladung der Batterie bemerkt. Die Di- vergenzen, obgleich von der Seitenentladung herrührend, hängen mit dieser nur in loser Weise zusammen, die sich leicht angeben läfst. Der Seiten- draht, der während der Entladung der Batterie von dem Aste, wie dieser vom Stamme, elektrisch gemacht wird, wird nach der Entladung durch den Ast wieder gröfstentheils entladen. Der Funke zwischen Ast und Seitendraht ist ein doppelter, von der. Bewegung derselben Elektricitätsart nach entge- gengesetzten Richtungen herrührend. Priestley hatte denselben Schlufs aus der, gegen den Glanz des Funkens unverhältnifsmäfsig geringen Elektri- sirung des Seitendrahtes gezogen. Die Entladung des Seitendrahtes ist nach Umständen, welche die Seitenentladung nicht ändern, mehr oder weniger vollständig. Sie kann absichtlich unvollständig gemacht werden, wenn man das Ende des Drathes mit einer Condensatorplatte verbindet ($.5). Es ist daher bei dem Studium der Seitenentladung die Beobachtung der Divergenz des Elektroscops unnütz, wenn man sie nicht, wie ich es gethan, zur ge- legentlichen Unterstützung des Auges bei ungünstiger Stellung des Funken- mikrometers benutzen will. Eine Divergenz des Elektroscops setzt stets einen Funken voraus, aber nicht umgekehrt.

ST7

Durch zahlreiche übereinstimmende Versuche verschiedener Beob- achter ist der Satz festgestellt, dafs eine elektrisirte einfache oder Conden- satorfläche von einem genäherten Körper in einer gröfsten Entfernung (der Schlagweite) entladen wird, die der Dichtigkeit der Elektrieität auf der Fläche proportional ist. Eine Batterie, deren Elektrieität die Dichtigkeit 1 besitzt und von dem Ende des Schliefsungsbogens in der Entfernung 1 entladen wird, wird bei der Dichtigkeit 2 in der Entfernung 2 und in keiner gröfsern entladen; dies ist so sicher, dafs man bei der Batterie die Bezeichnungen Dichtigkeit und Schlagweite häufig mit einander vertauscht. Um so auffal- lender war es mir, dafs schon die ersten Versuche über die Schlagweite des

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 13

Seitenstroms eine andere Abhängigkeit derselben von der Dichtigkeit der Elektrieität in der Batterie auf das Bestimmteste nachwiesen. Es wurde das Mikrometer, dessen Kugeln die Enden des Astes und Seitendrahtes bilden, in verschiedene Entfernungen von einander gestellt und jedesmal die kleinste Elektrieitätsmenge gesucht, deren Entladung aus der Batterie einen Funken im Mikrometer erzeugte. Die Elektricitätsmenge wurde durch die Maafsflasche bestimmt, deren Kugeln in der Entfernung % Linie standen; beim Anfange der Ladung lieferte die Maschine ungefähr 25 Einheiten der Menge durch eine Umdrehung. Es wurde zuerst eine beliebige Elektricitätsmenge ge- braucht, bei der der Funke im Mikrometer erschien, die Menge sodann successiv um eine Einheit vermindert, bis der Funke ausblieb. Gab die letzte gebrauchte Menge, um 1 vermehrt, den Funken wieder, so ist die volle Zahl in der Tabelle angegeben, mufste aber, wie es später vorkam, die Menge um 2 vermehrt werden, um den Funken sicher erscheinen zu las- sen, so ist die Menge, bei welcher der Funke ausblieb, um 11, vermehrt, in die Tabelle aufgenommen.

Schlagweite des Seitenstroms x Elektrieitätsmenge der Batterie beobachtet q berechnet

0,1 par. Lin, 12 12,1

0,20 16 17,1

0,24 18 18,7

0,30 20 20,9

0,34 22 22,3

0,40 25 24,2

0,44 26 25,4

0,48 27 26,5

Die Schlagweiten des Seitenstroms verhalten sich nahe wie die Qua- drate der Elektrieitätsmengen der Batterie, wie aus der Berechnung hervor-

geht, die nach der Relation q = 38,23 Yx geführt ist. 3%

Die Batterie war unverändert geblieben, mit der Elektricitätsmenge also ihre Dichtigkeit in gleichem Verhältnisse geändert worden. Es war nicht zu zweifeln, dafs die Schlagweite allein von der Dichtigkeit abhängt, doch habe ich bei der Wichtigkeit des Gesetzes dies an einer spätern Stelle der Untersuchung, wo der Schliefsungsbogen eine andere Einrichtung besafs,

14 RıeEss

bestätigt und führe die Versuche sogleich an. Es wurden zu zwei Schlag-

weiten die nöthigen Elektrieitätsmengen gesucht, je nachdem 2 bis 7 Fla-

schen gebraucht wurden (jede Flasche von 2,6 par. quadr. Fufs innerer Be-

legung).

Flaschenzahl Schlagweite 0,1 Lin. Schlagweite 0,4 $ beobachtetg berechnet beob.g berechn.

2 6 5,2 11 10,4

3 8 7,8 16 15,6

[N 10 10,4 21 20,7

5 13 13 26 25,9

15 15,6 31 Sn

18 18,1 36 36,3

Die Rechnung ist nach dem Ausdrucke geführt g=8,2.sVx und giebt die Beobachtung vollkommen wieder. Das Gesetz, das sich in dem- selben ausspricht, hat sich in einer grofsen Anzahl von Versuchen ohne Ausnahme bestätigt. Man hat also für die Seitenschlagweite

x=a(*) Ss Die Schlagweite der Seitenentladung ist proportional dem Quadrate der Dichtigkeit der in der Batterie angehäuften Elektrieität.

S.9.

Ich werde auf die Folgerungen, die dies merkwürdige Gesetz zuläfst, weiter unten aufmerksam machen, und gehe zu seiner Anwendung zur Un- tersuchung des Seitenstromes. Der Seitenstrom, das heifst die Elektrici- tätsbewegung, die von dem Stamme durch den Ast und die Luftschicht im Mikrometer sich bis zum Ende des Seitendrahtes fortpflanzt, übt im durch- strömten Drahte keine an den bisher angewandten Instrumenten erkennbare constante Wirkung aus ($. 4). Wir entbehren also eines, an andern elek- irischen Strömen angewandten Maafses für den Seitenstrom und müssen uns an die Schlagweite halten, die keinen Schlufs auf die in Bewegung gesetzte Elektricitätsmenge zuläfst. Ich werde daher für den Seitenstrom die Be- zeichnung Seitenentladung auch ferner beibehalten und diese gröfser oder kleiner nennen, je nachdem sie eine gröfsere oder kleinere Luftschicht zu durchbrechen fähig ist. Um die Änderung der Seitenentladung nach ver- schiedener Anordnung ihrer Leiter zu erfahren, hätte ich Batterie und La-

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 15

dung ungeändert lassen und mit dem Funkenmikrometer in jedem Falle die Schlagweite der Seitenentladung aufsuchen müssen. Diese Methode wäre aber ebenso beschwerlich als sie ungenau ist, da häufig der Fehler beim Einstellen des Mikrometers die wesentlichen Unterschiede verdecken würde. Dieser Übelstand wird zwar vermieden wenn man in der Formel x—=a (= aus verschiedenen Versuchen mit passend gewählten Ladungen den Werth für a sucht, aber die Methode bleibt noch immer sehr zeitraubend.

Leicht ausführbar und für die folgenden Versuche hinreichend ist die Bestimmung von er indem für im Voraus gewählte Schlagweiten die kleinste Elektrieitätsmenge gesucht wird, die eine Seitenentladung liefert. Die Ver- suche können dann immer so eingerichtet werden, dafs der Beobachtungs- fehler, der nahe bis 1 gehen kann, das Resultat nicht wesentlich beeinträch-

tigt. Ich habe in den folgenden Versuchen 3 Flaschen angewendet, für die Constante = 5 das Mittel aus mehreren Beobachtungen genommen und die nach q = 5 V.x berechneten Elektricitätsmengen neben die beobachteten gesetzt. Die Constante 5 giebt die Elektricitätsmenge an, die aus 3 Fla- schen entladen, eine Seitenentladung von 1 Linie Schlagweite liefert; die Stärke der Seitenentladung wird also mit 5 in entgegengesetztem Sinne va-

rliren.

Einflufs des Seiten-, Ast- und Stammdrahtes auf die ; Seitenentladung. S. 10.

Länge des Seitendrahtes. Die eine Kugel des Mikrometers war mit dem Stamme durch einen 35 Zoll langen Draht verbunden, während an die andere Kugel ein kupferner Seitendraht (3 Lin. dick) von verschiedener Länge angesetzt wurde.

Länge Schlagweite Elektrieitätsmenge (g=bVr) des Seitendrahtes ar beobachtet g berechnet Constante 5 7 Zoll 0,1 Lin. 20 19,9 0,2 28 28,1 62,9 56 0,1 12 11,8 0,2 16 16,7 0,3 20 20,4 3753 160,6 0,1 1055 10,3 0,2 14 14,5

0,4 21 20,6 32,5

16 R nie s.8

Eine weitere Verlängerung des Seitendrahtes bis 328 Zoll brachte keine wesentliche Änderung der Entladung hervor. _ Die Seitenentladung nimmt also mit Verlängerung des Seitendrahtes an Stärke zu, aber nur bis zu einer bestimmten Gränze. Bei gleicher Ladung der Batterie verhalten sich die Schlagweiten umgekehrt wie die Quadrate der Constante 5. Hat man bei einem Seitendrahte von 7 Zoll Länge die Seitenschlagweite 1 er- halten, so läfst sich diese, wie man sieht, durch Verlängerung des Drahtes auf 3,75, aber nicht weiter, steigern.

SM.

Länge des Astdrahtes. Der Ast wurde, so weit möglich, auf Null gebracht, indem der Zapfen, auf dem die eine Kugel des Mikrometers steht, unmittelbar in dem Stamme des Schliefsungsbogens angebracht wurde. Als Seitendraht diente hier und überall in der Folge der 160,6 Zoll lange Kupferdraht. Nach Untersuchung der Schlagweite wurde dann das Mikro- meter durch einen 1; Lin. dicken Kupferdraht mit dem Stamme verbunden und die Länge dieses Drahtes verändert.

Länge Schlagweite Electrieitätsmenge (g=b Vz) des Astdrahtes z beobacht. g berechn. Constante 5 ) 0,1 Lin. 8,5 8,1 0,2 1 11,4 0,4 16 16,2 25,6 7 Zoll 0,1 9 8,8 0,2 12 12,5 0,4 18 17,6 27,9 61 0,1 10,5 10,1 0,2 14 14,3 0,4 20 20,2 32,0 188 0,1 11 11 0,2 15,5 15,5 0,4 22 21,9 34,7

Die Seitenentladung nimmt also mit Verlängerung des Astdrahtes ab, aber in sehr geringem Verhältnisse zur gesteigerten Länge. Dies erscheint deutlicher, wenn man die Schlagweite für eine bestimmte Ladung der Bat- terie (z.B. die Elektrieitätsmenge 16) berechnet.

Länge des Astes o 7 61 ıss Zoll Schlagweite 0,39 0,33 0,25 0,21 Linie

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 17

Ne 2

Stellung des Astes am Stamme. Die Stelle des Stammes, von welcher der Ast ausgeht, hat einen bedeutenden Einflufs auf die Stärke der Seitenentladung, wie die folgenden Versuche zeigen. Der Schliefsungsbo- gen enthielt aufser den unveränderlichen Theilen, die $. 2 beschrieben sind, einen Messingdraht von 241, Zoll Länge % Lin. Dicke, der die beiden dort beschriebenen Gestelle verband. Der ganze Schliefsungsbogen, von der Kugel der Batterie bis zu ihrem Boden gemessen, hatte eine Länge von 138 Zoll. Der Astdraht wurde 54 Zoll lang genommen, so dafs das Mikrometer bei der ganzen Versuchsreihe an derselben Stelle stehen blieb. Zur Bezeich- nung der Stelle des Stammes, an welcher der Ast eingefügt war, wird die Länge des Stückes vom Schliefsungsbogen angegeben, das zwischen jener Stelle und der Batteriekugel lag. Die erste brauchbare Stelle des Stammes lag dicht hinter dem Gelenke des Entladungsapparates, 38 Zoll von der Batteriekugel entfernt; die letzte bei 81 Zoll, vor dem Kupferstreifen, der den Draht der Maafsflasche berührte.

Entfernung d. Astes Schlagweite Electricitätsmenge (g=bVx)

v. d. Batteriekugel = beobacht. g berechn. Constante d

38 Zoll otLin. 6,5 6,6

0,2 10 9

0,4 13 13

8,7 1755 17,6 21,0 50 0,1 7,0 7,5

0,2 12 10,6

0,4 14 14,9

0,7 20 19,8 23,7 59 0,1 8 7,8

0,2 11 11

0,4 15 15,6

0,7 21 20,6 24,7 61 0,2 11 1133

0,4 15,5 15,9

0,7 22,5 21,2 25,3 1 0,1 11 10,7

0,2 15,5 15,2

0,4 21 21,5

0,7 28 28,5 34 0,1 14 14,3

0,2 21 20,2

0,4 28 28,6 45,2

Phys. Kl. 1849. C

18 R ne ’sus

Eine constante Electricitätsmenge, z.B. 17,6, würde Seitenentladun- gen mit folgenden Schlagweiten gegeben haben:

Entfernung d. Stelle s so 9 6 n sıZoll Schlagweite 07 056 051 048 027 0,15 Lin.

Die ersten 3 Stellen lagen, wie die letzten, auf einem continuirlichen Drahte und waren durch kein Verbindungsstück von einander getrennt. Bei einem Intervalle von 20 Zollen nimmt die Schlagweite auf dem ersten Drahte im Verhältnisse 10 zu 7, auf dem zweiten wie 10 zu 3ab. Die Schlagweite der Seitenentladung nimmt also ab mit zunehmender Länge des Stückes vom Schliefsungsbogen, das den Ast von dem Innern der Batterie trennt, aber desto schneller, je mehr man sich von der Batterie entfernt.

$. 13.

Dafs diese auffallende Abnahme der Schlagweite nicht durch eine In- fluenz der Batteriekugel bedingt werde, erhellt daraus, dafs die mit 61 be- zeichnete Stelle des Schliefsungsbogens, durch die Luft gemessen, 26 Zoll, die Stelle 71 24 und die Stelle 81 26 Zoll von der Batteriekugel entfernt war. Doch wurde noch folgender Versuch angestellt. Statt des Messing- drathes zwischen den Gestellen wurde ein zweimal im rechten Winkel ge- bogener Kupferdraht von 118 Zoll Länge 5, Lin. Dicke in den Stammdraht eingeschaltet, dessen mittlerer Theil, 38 Zoll lang, über 5 Fufs von der Batteriekugel entfernt war. Dadurch war der ganze Schliefsungsbogen 231 Zoll lang geworden. Das Mikrometer wurde durch einen 7 Zoll langen Astdraht successiv mit 3 verschiedenen Stellen des Stammes verbunden, von welchen die beiden letzten auf dem mittleren Theil des Kupferdrahtes lagen.

Entfernung d. Astes Schlagweite Electricitätsmenge (g=bVx) v. d. Batteriekugel = beobacht. g berechn. Constante 5 61 Zoll 0,2 8 8,2 0,4 11 11,3 0,7 15,5 15 17,9 101 0,1 8 7,9 0,2 11 11,1 0,4 15 15,8 0,7 22 20,9 25,0 136 0,1 At 11,2 0,2 16 16

0,4 23 22,6 35,7

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 19

Die Entladung mit der Elektrieitätsmenge 17,6 würde in der Seiten- entladung folgende Schlagweiten geben.

Entfernung v. d. Batteriekugel ı01 136 Zoll Schlagweite 0,97 0,50 0,24 Auch hier sehen wir die Schlagweiten auf dem der Batterie näheren

Drahtstücke langsamer abnehmen, als auf dem entfernteren; auf dem ersten im Intervall von 40 Zoll im Verhältnisse 1 zu 0,52, auf dem letzten im In- tervalle 35 Zoll wie 1 zu 0,48. Aber besonders auffällig sind die absoluten Werthe der Schlagweiten mit denen des vorigen Paragraphs verglichen, die hier in gleichen Entfernungen viel gröfser sind. So ist hier, für gleiche Elektrieitätsmenge berechnet, die Schlagweite noch bei 136 Zoll gröfser als früher bei 81 Zoll und bei 61 Zoll Entfernung gröfser als früher bei 38. Dieser grofse Unterschied der Schlagweiten kann nicht von der verschiede- nen Länge der Astdrähte herrühren, deren Einflufs nach $. 11 nur gering ist und ebenso wenig von der, durch den veränderten Schliefsungsbogen ver- minderten Stärke des Entladungsstromes, da deren Einflufs nach dem fol- genden $. 14 hier unmerklich bleibt. Diese Vergröfserung der Schlagweite rührt von der veränderten Länge des Schliefsungsbogens her; die Seiten- entladung ist in bestimmter Entfernung vom Innern der Batterie desto grö- fser, je länger der ganze Schliefsungsbogen ist.

S. 14.

Einflufs des Stammdrahtes auf die Seitenentladung. Die Stärke des Entladungsstromes bei constanter Ladung der Batterie hängt be- kanntlich von Beschaffenheit und Dimensionen des Schliefsungsbogens ab. Um den Einflufs dieser Stärke auf die Seitenentladung zu finden, die stets an derselben Stelle des Stammes hervorgebracht wurde, habe ich in den 3 ersten der folgenden Versuchsreihen Länge und Form des Stammes unge- ändert gelassen, in den zwei letzten geändert. Das Mikrometer war an einem 7 Zoll langen Aste dicht an dem ersten Gestelle ($. 2), also 61 Zoll von der Batteriekugel entfernt am Stamme angebracht. Als Seiten- draht diente, wie immer, der 160,6 Zoll lange Kupferdraht. Zwischen bei- den Gestellen wurden verschiedene Drähte befestigt, in den drei ersten Reihen straff gespannt, in den beiden letzten spiralförmig gewunden.

C2

20 Brensnß,

Im Stamme Schlagweite Elektricitätsmenge (ga=b Vr) x beobacht. g berechn. Constante b Messing rad. 2 Lin. Or TKın 9 9 Länge 24,5 Zoll 0,2 12 12,7 0,4 18 18 0,7 25 23,8 28,4 Messing rad. 7 Lin. 0,1 9 8,8 Länge 24,5 Zoll 0,2 12 12,4 0,% 17 155 0,7 24 23,2 27,7 Neusilber rad. 4 Lin. 0,1 s 77 Länge 21,5 Zoll. 0,2 11 10,9 0,4 15 15,4 0,7 20 20,3 24,3 Messing rad. /, Lin. 0,1 M 7 Länge 4s,3 Zoll 0,2 10 9,9 0,4 14 14 0,7 19 18,6 22,2 Neusilber rad. 4 Lin. 0,1 7 6,7 Länge 32 Zoll 0,2 10 9,5 0,4 12 13,5 0,7 18 1758 21,3 g: 19. In bestimmter Entfernung vom Innern der Batterie nimmt also die

[e) E Stärke der Seitenentladung zu, während die Stärke des Entladungsstromes

durch Änderung des Schliefsungsbogens abnimmt, aber in einem aufseror- dentlich geringen Verhältnisse, wie die folgende Berechnung zeigt. Die Stärke des Entladungsstromes bei constanter Ladung der Batterie, oder der

1 1 umgekehrte Werth seiner Dauer, hat den Ausdruck 7 —, wo den

—+-FV b Verzögerungswerth des unveränderten Theils des Schliefsungsbogens, Y den des veränderlichen bezeichnet. Wir wollen 7 für den dicken Messingdraht ES 1 N zur Einheit nehmen und = nach Schätzung = 4 setzen. Der Strom der er-

sten Reihe ist dann £

- und die übrigen Ströme werden Auch Vergleichung

der Werthe Y für die einzelnen Drähte gefunden. Ze wo l Länge, r Radius, & Verzögerungskraft des Metalles bedeutet. Die Entladungsströme haben der Reihe nach die Werthe --, 4,5, 52005 > sısr.: Nimmt man

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. al

den schwächsten Strom zur Einheit und setzt die Schlagweiten der für die Elektrieitätsmenge 23,8 berechneten Seitenentladungen hinzu, so kommt folgende Zusammenstellung:

Stärke des Entladungsstromes 837 168 1,35 926 A

Stärke der Seitenentladung 0,70 0,74 1 1,15 1,25 Linie

Die ersten 3 Spalten, bei welchen der Schliefsungsbogen dieselbe Länge behielt, zeigen, wie gering die Zunahme der Seitenentladung im Ver- hältnisse zur Abnahme des Entladungsstromes ist. Indem der letztere von 620 bis 1 abnimmt, nimmt die Schlagweite nur im Verhältnisse von 7 zu 10 zu. Die vierte Spalte zeigt den überwiegenden Einflufs der Länge des Schliefsungsdrahtes auf die Seitenentladung ($.13). Wäre die Stromstärke 92,6 ohne Änderung der Länge der Schliefsung erhalten worden, so hätte die Schlagweite kaum 0,8 Linien betragen können, statt dafs sie durch Ver- doppelung der Länge des Stammes auf 1,15 gebracht worden ist. In dem Beispiele der öten Spalte endlich wirkten Schwäche des Stromes und Länge des Stammes zusammen, die gröfste Schlagweite herbeizuführen. Es folgt hieraus, dafs die Seitenentladung an einer bestimmten Stelle des Stammes zunimmt, wenn das Leitungsvermögen des Stammes zwischen dieser Stelle und der äufseren Belegung der Batterie verschlechtert wird. Die Zunahme ist bedeutend, wenn die Verringerung der Leitung durch Verlängerung des Stammes, äufserst gering aber, wenn sie durch Änderung der Dicke und

5 des Metalles des Schliefsungsdrahtes bewirkt wird.

Il. Entstehung der Seitenentladung. $. 16.

Nach allen vorhergehenden Versuchen erscheint die Seitenentladung als eine Influenzwirkung des während der Entladung der Batterie elektrisch gewordenen Schliefsungsdrahtes, von dem Rückschlage nur der Richtung nach unterschieden. Nähert man eine positiv elektrische Kugel dem Ende eines Drahtes, so fliefst während der ganzen Zeit der Annäherung ein Strom im Drahte in der Richtung von der Kugel ab. Dieser Strom ist gewöhnlich sehr schwach, nicht seiner Elektricitätsmenge wegen, die sehr grofs sein kann, sondern der langen Zeit wegen, durch welche seine Bewegung dauert.

98 Rıess

Hebt man die Einwirkung der Kugel plötzlich auf, indem man sie entladet, so fliefst im Drahte ein starker Strom, der Rückschlag, in der Richtung auf die Kugel zu. Ein eben so starker Strom, nur in entgegengesetzter Rich- tung mufs entstehen, wenn die Kugel dem Drahte mit grolser Geschwindig- keit genähert wird. Dieser Strom, durch den Schliefsungsbogen erzeugt, bringt die Erscheinung der Seitenentladung hervor. Da der Schliefsungs- bogen in sehr kurzer Zeit elektrisch und wieder unelektrisch wird, so mufs einer jeden Seitenentladung ein Rückschlag folgen, wenn dieser nicht ver- hindert wird. Derselbe hat auf die Gesetze der Seitenentladung aber keinen Einflufs, da der Rückschlag durch Anlegung des Seitendrahtes an eine Condensatorplatte verringert oder, wie wir unten sehen werden, in anderer Weise gänzlich aufgehoben werden kann, ohne dafs die Regelmäfsigkeit der Seitenentladung gestört würde. Me

Die Elektrieitätsbewegung im Stammdrahte, die den Hauptstrom bil- det, hat keinen direkten Antheil an der Bildung des Seitenstromes, wie schon Biot vermuthete. Es ist dafür in den obigen Versuchen der schla- gende Beweis geliefert. Der Hauptstrom nämlich ist an jeder Stelle des Schliefsungsbogens von gleicher Stärke und wird durch Veränderung von Stoff und Dimensionen der Schliefsung durchweg geändert. Wo dieser Strom wirkt, finden sich diese beiden Merkmale wieder. So wirkt der Haupt- strom in die Ferne durch Induktion und man findet den Nebenstrom, den ein bestimmter Theil des Schliefsungsdrahtes erzeugt, von gleicher Stärke, an welcher Stelle auch sich jener Theil befinden mag. Man findet ferner den Nebenstrom verstärkt oder geschwächt, wenn der Hauptstrom verstärkt oder geschwächt wird. Die Seitenentladung hingegen ist auf das Auffal- lendste verschieden nach der Stelle des Schliefsungsdrahtes die sie erzeugt, und ist desto stärker je näher man der inneren Belegung der Batterie kommt ($. 12). Ferner ändert sich die Seitenentladung zwar mit der Stärke des Hauptstromes, aber in äulserst geringem Verhältnisse und in entgegenge- setztem Sinne ($. 15).

$. 18.

Aufser der Elektrieität, die den Hauptstrom bildet, ist noch Elektri- eität auf dem Schliefsungsbogen in Bewegung, die nämlich, welche die in- nere Belegung der Batterie mehr hat, als die äufsere. Diese Elektrieität

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 233

erregt die Seitenentladung und den direkten Beweis dafür giebt dieschon den früheren Beobachtern bekannte Thatsache, dafs die in dem Seitendrahte zurückgebliebene Elektrieität stets mit der Elektrieität im Innern der Bat- terie von derselben Art ist. Entladet man eine isolirte Batterie durch einen isolirten Schliefsungsbogen, so findet man den letztern mit dem Innern der Batterie gleichnamig elektrisch. Es ist der erwähnte Elektrieitätsüberschufs, der bei der Entladung nicht ausgeglichen werden konnte und sich nach den Gesetzen der ruhenden Elektrieität auf der Oberfläche des Schliefsungsbo- gens angeordnet hat. Die Erscheinungen der Seitenentladung zeigen, dafs diese oberflächliche Anordnung einen Augenblick nach dem Aufhören des Entladungsstromes auch auf dem nicht isolirten Schliefsungsbogen statt findet. Alsdann nämlich mufs durch jeden Querschnitt des Schliefsungsbo- gens desto weniger von der überschüssigen Elektrieität strömen, je mehr davon schon zur oberflächlichen Anordnung verwendet ist, je entfernter also dieser Querschnitt von dem Innern der Batterie liegt. Die Seitenentladung ist Folge der Influenz des nächsten Stückes des Stammdrahtes auf den Ast- draht, sie ist desto stärker, je dichter die Elektrieität in diesem Stücke ist. Ich nehme Influenz, nicht Mittheilung der Elektrieität auf dem Astdrahte an (was übrigens für die andern Momente der Erklärung gleichgültig ist), weil wir später sehen werden, dafs die Seitenentladung ungehindert statt findet, wenn auch der Ast gänzlich vom Stamme getrennt ist. Aufser von der Dichtigkeit im Stammdrahte hängt die Influenz auf den Ast und damit die Seitenentladung, wenn auch nur in sehr geringem Grade, von der Zeit ab, während welcher der Stamm elektrisch bleibt. Darauf deutet die Er- fahrung, dafs an einer bestimmten Stelle des Stammes die Seitenentladung etwas gröfser wird, wenn man die Dauer des Entladungsstromes vergröfsert ($. 15). Der grofse Einflufs aber der Verlängerung des Stammes auf die Sei- tenentladung ($. 13) wird hierdurch nicht erklärt und hängt wahrscheinlich ab von der eigenthümlichen Anordnung der Elektricität auf dem Stamme, die ich einer späteren Untersuchung überlasse.

$. 19.

Nach dem Vorhergehenden findet ein wesentlicher Unterschied zwi- schen der Seitenentladung und dem Nebenstrome statt, obgleich beide der Einwirkung von in Bewegung begriffener Elektricität ihr Entstehen verdan-

24 R weiss

ken. Der Nebenstrom entsteht durch gleichzeitige Einwirkung beider Elek- trieitätsarten (Induktion), die Seitenentladung durch Einwirkung nur Einer Elektricitätsart (Influenz) (?).

Der Seitenstrom ist vorhanden, wenn der Seitendraht normal auf dem Stamme steht, der Nebenstrom aber nicht; die Richtung des Seiten- stromes gegen die des Hauptstromes ist von der Lage des Seitendrahtes ab- hängig, er fliefst mit ihm in gleicher oder entgegengesetzter Richtung, je nach der Neigung des Seitendrahtes nach der einen oder andern Seite. Die Rich- tung des Nebenstromes hingegen folgt stets der des Hauptstromes. Dafs der Nebenstrom unmittelbar von der Stärke des Hauptstromes abhängt und proportional mit dieser zu und abnimmt, der Seitenstrom hingegen nur mittelbar und im entgegengesetzten Sinne, ist schon oben bemerkt.

III. Schlagweite der strömenden Elektricität. 6. 20.

Das Gesetz der Schlagweite einer ruhenden Elektrieität ist seit lange bekannt und zuletzt durch meine eigenen Versuche an der Torsionswage in aller Schärfe bestätigt worden (?). Ein Körper, auf dessen Oberfläche die Elektricität im Gleichgewichte ist, hat an jedem Punkte eine Schlagweite, die, unter sonst gleichen Umständen, der elektrischen Dichtigkeit dieses Punk- tes einfach proportional ist. Verändert man die Dichtigkeit des Punktes auf irgend eine Weise, so wird die Schlagweite in gleichem Verhältnisse ge- ändert; geschieht jene Anderung durch verschiedene Elektrisirung, so giebt die Schlagweite das Maafs für die Elektrieitätsmenge, die dem Körper zu-

(') Ich sehe so eben, dafs Hr. Verdet im Dezemberheft der Annales de chimie 1848 zu einem ähnlichen Schlusse gekommen ist. Er sagt nämlich nach Versuchen über den Nebenstrom p. 401: La cause de ces phenomenes est sans doute une action particuliere, resultant du mowvement de PelectricitE et essentiellement distinecte de l’influence que l’elec- tricite libre de la batterie exerce sur les conducteurs voisins. D’ailleurs pour reconnaitre la difference de ses deux ordres de faits, il suffit de remarquer que la direction de la decharge induite change en m&me temps que celle de la decharge inductrice et ne depend pas de la

nature de PelectricitE libre de la batterie,

(2) Poggendorff’s Annalen B. 73. 379.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 25

getheilt worden ist. Welches Gesetz die Schlagweite befolgen würde, wenn der Körper von Elektrieität durchströmt wird und diese Elektrieität, in dem Augenblicke wo sie an seine Oberfläche tritt, entladen wird, war bisher gänzlich unbekannt; dasselbe geht aus den Versuchen mit der Seitenentla- dung klar hervor. Je mehr Elektrieität im Stamme dem Astdraht vorbei- geführt wird, desto mehr Elektrieität muls in dem Aste durch Influenz er- regt werden; die Kugel am Ende des Astes müfste daher, wenn die erregte Elektrieität auf ihrer Oberfläche zur Ruhe käme, eine desto gröfsere Dich- tigkeit und Schlagweite erhalten. Es bezeichne ın das Verhältnifs der Elek- trieitätsmengen auf den Belegungen der Batterie und die Batterie sei mit der Menge g geladen, so führt der Hauptstrom die wirkende Elektricitätsmenge q (1—m) an den Ast vorüber. Aber nicht von dieser Elektrieitätsmenge, sondern von ihrer Dichtigkeit = wo s die geladene Fläche der Batterie bedeutet, hängt die Schlagweite am Astdrahte ab. Wir haben hier den anderweitig begründeten Satz (!) zu beachten, dafs die Entladung der Bat- terie aus einer grolsen Menge Partialentladungen besteht. Wenn die Elek- trieitätsmengen q und 2q mit gleicher Dichtigkeit durch den Schliefsungs- bogen gehen, so wird der Bogen in ganz gleicher Weise beziehungsweise nmal und 2nmal elektrisch. Es wirkt in beiden Fällen gleich dichte Elek- trieität auf den Astdraht ein. Die Dichtigkeit der influencirenden Elektri- eität bringt eine proportionale Dichtigkeit der im Astdrahte influeneirten hervor und dieser Draht wird also von Elektricität durchströmt, deren Dich- tigkeit proportional der Dichtigkeit der Elektrieität in der Batterie ist. Ich habe vor 11 Jahren die Vermuthung ausgesprochen, dafs die Geschwindig- keit einer bewegten Elektricitätsmenge ihrer Dichtigkeit proportional sei (?), und diese Vermuthung hat seitdem mehr und mehr an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Es wird hiernach der Astdraht von Elektrieität durchströmt, deren Geschwindigkeit proportional der elektrischen Dichtigkeit in der Bat- terie ist, und wir können aus den Versuchen über die Schlagweite der Sei- tenentladung mit grofser Wahrscheinlichkeit folgern: die Schlagweite einer beweg'en Elektricitätsmenge ist dem Quadrate ihrer Ge- schwindigkeit proportional.

(') Poggendorff Annalen B. 53. 14. (°) Poggendorff Annalen B. 40. 341. Phys. Kl. 1849. D

26 Ririeus'is

$. D4r

Die Unabhängigkeit der Seitenentladung von der entladenen Elektri- citätsmenge kann nicht in aller Strenge bestehen, da eine doppelte Menge eine doppelte Entladungszeit hat und nach $. 18 die Seitenentladung mit der Zeit zunimmt, während welcher der Schliefsungsbogen elektrisch bleibt. Dieser Einflufs ist aber so gering, dafs wir von ihm gänzlich absehen kön- nen. Als in den 3 ersten Versuchen des $. 15 die Entladungszeit durch Veränderung des Schliefsungsbogens von 1 auf 620 gebracht wurde, nahm die Schlagweite der Seitenentladung im Verhältnisse 7 zu 10 zu. Eine Stei- gerung der Entladungszeit aber durch die Elektrieitätsmenge wird in den ausführbaren Versuchen sehr weit unter der angegebenen und die Zunahme der Schlagweite daher unbemerkt bleiben. Der gefundene Satz erklärt viele bisher auffallende Erscheinungen bei der Entladung der Batterie, wozu ich Folgendes als Beispiel anführe. Die Franklin’sche Batterie besteht aus einzelnen isolirten, in eine Reihe gestellten Batterieen, von welchen die äufsere Belegung jeder Batterie mit der innern der nächst folgenden durch einen Draht verbunden ist; durch Ladung der ersten Batterie werden auch die übrigen geladen. Als Hr. Dove (!) ein Luftthermometer in den Verbin- dungsdraht der ersten und zweiten Batterie eingeschaltet hatte, erhielt der- selbe die Erwärmungen 1, 2, 3, 4, je nachdem 1 bis 4 Batterieen zugleich entladen wurden. Ein Funkenmikrometer, an die Stelle des Thermometers gesetzt, zeigte unter denselben Bedingungen der Entladung die Schlagweiten 1,4, 9, 16. Nach der hypothetischen Bedeutung, die ich meiner Wärme- formel gegeben habe, ist die Erwärmung eines Drahtes in einem constanten Schliefsungsbogen W = En wo z die Entladungszeit der Elektricitäts- menge g bedeutet (?). Nach dem Satze des vorigen Paragraphs ist die Schlagweite einer bewegten Elektrieitätsmenge dem Quadrate ihrer Ge- schwindigkeit proportional. Es mufs also in den beschriebenen Versuchen

die Schlagweite proportional a oder sein, wie der Erfolg in der That

z »

gezeigt hat.

(*) Poggendorff Annalen B. 72. 409 u. 414. (2) Poggendorff Annalen 69. 427.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 27

IV. ‚Die Seitenentladung im verzweigten Schlielsungsdrahte

ö und im Nebendrahte. $. 22.

Bei allen bisher aufgeführten Versuchen ist der Seitendraht isolirt gewesen; es erfolgte aber weder eine Änderung des Funkens noch der Schlagweite, als die Isolation aufgehoben, das Ende des Seitendrahtes auf die Zimmerdiele gelegt oder in eine Spiritusflamme gesteckt war. Als ich hingegen dieses Ende vollkommen zur Erde ableitete, war die Schlagweite geändert und der Funke, der früher lichtschwach und linienförmig war, erschien gleichsam körperlich und mit starkem Glanze. Der Grund hiervon war sogleich klar. Der Schliefsungsbogen und die äufsere Belegung der Batterie waren vollkommen (metallisch) zur Erde abgeleitet, wurde nun der Seitendraht gleichfalls vollkommen abgeleitet, so trat er mit in die Schlie- fsung ein, und es wurden die Schlagweiten in einem verzweigten Schlie- fsungsbogen beobachtet. Da diese Schlagweiten neuerdings wieder zur Sprache gebracht worden sind, ohne Erwähnung der bereits darüber vor- liegenden Erfahrungen, so mögen diese hier angeführt werden. Priestley (!) bog einen dünnen messingenen Draht von 1 Yard Länge in die Form des grofsen Omega (2) und legte die Enden desselben an die Belegungen einer geladenen Flasche. Als die Öffnung des Omega %, Zoll betrug, ging durch sie bei der Entladung ein starker Funke über. Bei einem längeren und dün- neren Eisendrahte konnte so ein Funke von 4 Zoll Länge erhalten werden. Mit 4 bis 5 Yards eines /, Zoll dicken Eisendrahtes war der Funke 4, Zoll lang und ebenso mit einem 3%, Yards langen Eisendrahte von / Zoll Dicke. Als hingegen die Hälfte des letzten Drahtes angewandt wurde, konnte nur ein Funke von !, Zoll Länge erhalten werden, und als das Omega in der Mitte des letzten Drahtes gebildet wurde, so dafs die horizontalen Theile desselben sehr lang blieben, betrug die Länge des Funkens nur % Zoll. Priestley überzeugte sich durch einen eigenen Versuch, dafs überall nicht die ganze Ladung der Flasche, sondern nur ein kleiner Theil den Weg durch die Luft genommen hatte.

(') Geschichte d. Elektricität. 1772. S. 475.

238 RıeEss $. 23.

Aus diesen Versuchen folgt, dafs wenn ein zwiefacher Weg von einer Belegung einer Flasche zur andern führt, der Schliefsungsdraht sich also in Zweige spaltet, die Entladung durch beide Zweige geht, wenn auch der eine Zweig durch eine Luftschicht unterbrochen ist. Diese Unterbrechung darf aber eine gewisse Länge nicht überschreiten, die bei constantem Stamme und derselben Ladung der Flasche mit der Länge des nicht unterbrochenen Zweiges zunimmt. Diese Erfahrung widerspricht dem Gesetze der Thei- lung des Entladungsstromes, nach welchem die durch jeden Zweig hin- durchgehende Elektricitätsmenge dem Verzögerungswerthe dieses Zweiges umgekehrt proportional ist. Der Verzögerungswerth eines unterbrochenen Zweiges ist gegen den eines ganz metallischen unermefslich grofs, und es dürfte daher durch den unterbrochenen Zweig nur eine unendlich kleine Elektricitätsmenge gehen, wogegen man in der That eine in jeder Weise merkbare Menge die Luftschicht durchbrechen sieht. Die Seitenentladung löst diesen Widerspruch. In dem unterbrochenen Zweige sind alle Bedin- gungen zu einer Seitenentladung gegeben und es ist kein Zweifel gestattet, dafs dieselbe wirklich eintritt. Mit dem Übergehen eines Funkens ist aber die Isolation der Luftschicht aufgehoben, ein Schlufs der von Faraday (?) und mir (?) aus ganz verschiedenartigen Versuchen gezogen worden ist. Das- selbe findet selbst für den Voltaischen Strom statt, der nach Herschel’s Ver- such (3) durch eine Luftschicht übergeht, nachdem die Entladung einer ley- dener Flasche sie durchbrochen hat. In dem uns vorliegenden Falle wird die erste Partialentladung des Hauptstromes nicht durch den Zwischenraum im unterbrochenen Zweige gehen, wohl aber daselbst den Funken der Sei- tenentladung erzeugen und dieser Funke es möglich machen, dafs alle fol- genden Partialentladungen des Hauptstromes den Zwischenraum durchbre- chen und den ganzen Zweig ergreifen. Die Versuche bestätigten dies voll- kommen.

G. 24.

Die beiden isolirten Gestelle des Schliefsungsbogen ($. 2) wurden

durch einen 48 Zoll langen, /, Lin. dicken Messingdraht mit einander ver-

(') Experimental researches alin. 1418. (2) Poggendorff Annalen 53. 15. (°) Poggendorff Annalen 49. 122. Sturgeon annals of electr. III, p. 507.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 29

bunden; dicht am ersten Gestelle war der Ast angelegt, 7 Zoll lang % Lin. dick, der Seitendraht war gleichfalls von Kupfer 160,6 Zoll lang % Lin. dick. Das Ende des Seitendrahtes blieb in der ersten Versuchsreihe isolirt, in der zweiten wurde es am Stamme bei dem zweiten Gestelle befestigt, so dafs nun Ast und Seitendraht zusammen einen unterbrochenen Zweig bil- deten. Die Batterie bestand aus 3 Flaschen. Es wurden folgende Elektri- citätsmengen bei verschiedenen Schlagweiten im Zweige beobachtet.

Der Seitendraht isolirt.

Schlagweite x Elektricitätsmenge q (g=bV«x) beobachtet berechnet Constante 5 0,1 Lin. 8 7 0,4 14 14 0,7 19 18,6 22,2

Ast und Seitendraht als Zweig.

0,1 10 8,6 0,2 11,5 12,1 0,4 dm 71 0,6 21,5 21,0 0,7 23,5 22,6 27,1

Ast 54 Zoll lang, vorige Anordnung. 0,1 12 11,4

0,2 17 16,2

0,4 22 22,9

0,7 29 30,4 36,3 $. 3.

In der ersten Reihe findet die reine Seitenentladung mit sehr geringer Elektrieitätsmenge statt, während in der zweiten und dritten Reihe ein Theil des Hauptstromes durch die Unterbrechung im Zweige übergegangen ist. Gehörten die beobachteten Schlagweiten diesem Hauptstrome an, so muls- ten sie nothwendig gröfser sein als die der ersten Reihe, da die Dichtigkeit im Hauptstrom jedenfalls gröfser ist als in dem von ihm durch Influenz er- regten Seitenstrome. Das sind sie aber nicht, wie die Tabelle zeigt und sich noch auffallender herausstellt, wenn wir für die constante Elektricitäts- menge 18,6 die Schlagweiten berechnen.

erste zweite dritte Reihe Schlagweite 0,7 Lin. 0,47 0,34

30 Purseus#s

(In der dritten Reihe ist der Einflufs des längern Astes berücksichtigt und die Constante nach $. 44 reducirt). Die Schlagweiten der Zweigströme sind also nicht nur nicht gröfser als die der Seitenentladung sondern sogar be- deutend kleiner, und wir.können um so bündiger schliefsen, dafs die Schlag- weiten nicht unmittelbar von den Zweigströmen herrühren, sondern durch die Seitenentladung vermittelt sind.

$. 26.

Das quadratische Gesetz der Schlagweite in dem Zweigdrahte findet, je nach der Beschaffenheit der Zweige, in gröfserer oder geringerer Schärfe statt und stellt sich keinesweges allgemein so klar dar, wie in $. 24 oder in allen Versuchen mit der Seitenentladung. Bei mehrfacher Abänderung des vollen Zweiges fand ich bedeutende Abweichungen von diesem Gesetze, aber immer nur in der Weise, dafs die Schlagweiten schneller zunahmen, als nach dem Quadrate der Dichtigkeit erwartet wurde. Annäherungen an die Proportionalität der Schlagweite mit der einfachen Dichtigkeit sind nicht vorgekommen. Eine der stärksten Abweichungen von dem Gesetze zeigte sich in der folgenden Versuchsreihe, wo der volle Zweig aus einem Neusilber- draht von 32 Zoll Länge 4 Lin. Dicke bestand, während der durch das Funkenmikrometer unterbrochene aus dem 7 Zoll langen Aste und 160,6 Zoll langen Seitendrahte, wie früher, gebildet wurde.

Schlagweite x Elektrieitätsmenge gq -— 0,1 12 38,0 0,2 15 33,5 0,4 17 26,9 07 19 22,7

Die Gröfse I- die bei den frühern Versuchen constant war, nimmt hier mit steigender Dichtigkeit bedeutend ab. Diese Abweichungen von der Regel der Schlagweiten können nicht auffallen, da ich bei Untersuchung der Erwärmung in vollen Zweigen, wenn das Leitungsvermögen beider Zweige sehr verschieden war, nicht geringere Abweichungen von dem Ge- setze der Erwärmungen nachgewiesen habe (!). Ich habe damals wahr-

1) Poggendorff Annalen 63. 501. ( 55

über die Seitenentladung der electrischen Batterie. 31

scheinlich gemacht, dafs diese Störungen von Nebenströmen herrühren, die in jedem der beiden Zweige erregt werden und durch den andern Zweig abfliefsen. Hierdurch findet auch die auffallende Verminderung der Schlag- weite durch Zurückführung des Seitendrahtes zum Stamme ($. 25) ihre Er- klärung. Jeder Nebenstrom ist nämlich, wie wir sogleich sehen werden, von zwei Seitenströmen begleitet, die auf einander zu fliefsen. Wenn dem- nach im vorigen Paragraphe bei isolirtem Seitendrahte die Kugel des Astes elektrisch wurde, die des Seitendrahtes unelektrisch blieb, so wurden bei der Zweigentladung beide Kugeln gleichartig elektrisch. Dafs im letzten Falle die Schlagweite für dieselbe Ladung der Batterie kleiner sein mufs als im ersten, ist eine nothwendige Folge bekannter Erfahrungen.

727.

Wenn dem Hauptschliefsungsdrahte der Batterie ein Nebendraht pa- rallel ausgespannt wird und man die Enden des letztern zum Funkenmikro- meter führt, so überzeugt man sich leicht, dafs an diesen Enden zwei Sei- tenströme entstehen, die am Mikrometer mit entgegensetzter Richtung ankommen. An demjenigen Ende des Nebendrahtes, das dem Innern der Batterie zunächst liegt, wird der stärkere Seitenstrom erregt, der die Sei- tenentladung bestimmt, die auf die oben angegebene Weise die Entladung des Nebenstromes möglich macht. Der beobachtete Funke ist daher dem Nebenstrome entsprechend und bei grofsen Induktionsspiralen, selbst für geringe Ladungen der Batterie, voll und glänzend. Das quadratische Gesetz der Schlagweite läfst sich leicht aufzeigen. Es wurde eine ebene Spirale, aus 53 Fufs eines % Linie dicken Kupferdrahtes bestehend, mittels zweier dicken Kupferdrähte zwischen den Gestellen des Schliefsungsbogens ($. 2) eingeschaltet. Derselben gegenüber stand die gleiche Nebenspirale, deren Enden durch 4 Linie dicke Kupferdrähte mit dem 4 Fufs davon entfernten Funkenmikrometer verbunden waren. Es wurden 3 Flaschen gebraucht und folgende Elektricitätsmengen für geänderte Schlagweiten beobachtet. Die Beobachtung ist zweimal, bei zunehmender und abnehmender Schlagweite angestellt.

32 Botıeus Entfernung der Spiralen 3 Linien. Schlagweite x Elektricitätsmenge q Mittel berechnet (g=bVx) Constante b 0,1 Lin. 5,5 5 5,3 5,4 0,2 8 8 8 7,7 0,4 10,5 a 10,8 10,8 0,8 15 15 15 15,3 1,6 21,5 22 21,8 21,6 17,1

Entfernung der Spiralen 9 Linien.

0,1 7 7 7 6,8 0,2 9,5 10 9,8 9,6 0,4 14 13,5 13,8 13,5 0,8 18 18 18 19,1 1,6 26 27 26,5 27,1 21,4

Dafs bei constanter Schlagweite die Dichtigkeit der Ladung zeigten die folgenden Versuche mit geänderter Flaschenzahl und der Schlag-

constant war,

weite 0,2 Linie.

Flaschenzahl 2 3 4 5 6 7

Elektricitätsmenge 5 8 1 13 4165 49

Dichtigkeit 235% 2:2,6.462:;7. 1109,63 wor Bor 6. 28.

Es ist hier das Gesetz der einfachen Seitenentladung beobachtet wor- den; dafs die Schlagweiten in der That der Seitenentladung und nicht dem Nebenstrome zugehören, läfst sich leicht darthun, indem man einen schlecht- leitenden Draht in die Hauptschliefsung bringt. Die Dauer des Nebenstro- mes wird durch diese Einschaltung verlängert, die Seitenentladung aber nach den obigen Versuchen nicht verringert. Gehört die beobachtete Schlag- weite dem Nebenstrome an, so muls sie verringert werden, weil nun die Elektrieität mit geringerer Geschwindigkeit an die Kugeln des Mikrometers tritt. Der Versuch zeigte keine solche Verringerung und gab also den Be- weis, dafs die Schlagweiten der Seitenentladung zugehören, in deren Folge der Nebenstrom überzugehen im Stande ist. Da mir diese Versuche von besonderem Interesse zu sein schienen, so bestimmte ich zum Überflusse die Verzögerung des Nebenstromes durch die Einschaltung im Hauptdrahte und theile die Beobachtungen zum Schlusse ausführlich mit.

über die Seitenentladung der elektrischen Batterie. 33

6. 29.

Die Hauptspirale wurde so in dem Schliefsungsbogen angebracht, dafs vor oder hinter derselben ein Draht eingeschaltet werden konnte; die Lage dieses Drahtes zeigte keinen Einflufs auf die folgenden Versuche. Die Nebenspirale wurde zuerst vollkommen geschlossen, mit Einschaltung eines elektrischen Thermometers, in dessen Kugel sich ein Platindraht, 98,6 Li- nien lang, rad. 0,018, befand. Je nachdem ein Messing- oder Neusilber- - draht in die Hauptschliefsung genommen wurde, gab das Thermometer die folgenden Erwärmungen an:

Einschaltung Messingdraht Neusilberdraht Flaschenzahl Elektrieitätsmenge Erwärmung Erwärmung s q beobacht. 9 berechn. beobacht. 9 berechn. 3 12 21,4 21,1 8,5 8,5 14 28,2 28,7 AO 14,5 16 37,8 37,5 15,2 15,1

2 Für den ersten Nebenstrom hat man d 0,447- für den zweiten

0, 17T; bei gleicher Ladung der Batterie wurden also bei Einschaltung von Messing oder Neusilber im Hauptdrahte, Nebenströme erregt, deren Ent- ladungszeiten sich wie 17 zu 44 verhielten. Die Nebenschliefsung wurde nun durch das Funkenmikrometer unterbrochen und zu verschiedenen Schlagweiten die Elektricitätsmengen gesucht. Beiläufig wurde auch die

Erwärmung im Thermometer beobachtet.

Oo Einschaltung Messingdraht Neusilberdraht Schlagweite Elektricitätsmenge Erwärmung Elektricitätsmenge Erwärmung 0,2 Lin. 5 4,8 0,4 7 9 9 5,8 0,8 11 20,1 11 7.2 1,6 13,5 28 14 12,5

Man sieht hier bei denselben Schlagweiten bewegter Elektricitätsmen- gen sehr verschiedene Erwärmungen, woraus folgt, dafs die Schlagweiten nicht dem Strome zugehören, der die Erwärmung hervorbringt.

$. 30.

Es ist beiläufig auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen den Erwärmungen im Nebenstrom bei voller und unterbrochener Schliefsung stattfindet. Die letzteren zeigen nicht die strenge Gesetzmäfsig- keit der ersten. Dies kann bei dem zusammengeseizten Mechanismus der

Phys. Kl. 1849. E

34 Rırss über die Seiteneniladung der electrischen Batterie.

Entladung des Nebenstromes durch die Unterbrechung hindurch nicht auf- fallen, und wirklich zeigten die Kugeln des Mikrometers durch unregelmäfsig zerstreute Flecke, dafs in den verschiedenen Versuchen die Funken nicht an derselben Stelle der Kugeln übergegangen waren. So giebt auch eine Wiederholung eines Versuches Unterschiede der Erwärmungen, wie sie bei voller Schliefsung niemals vorkommen. Aber fast durchgängig wurden die Erwärmungen bei der Unterbrechung im Nebendrahte gröfser gefunden, als ohne dieselbe. Dies ist besonders auffallend bei den folgenden Versuchen ‚mit verschiedener Flaschenzahl und der constanten Schlagweite 0,4 Linie. Im Hauptschliefsungsdrahte befand sich der oben angewandte Messingdraht.

[o) ds Flaschenzahl Elektricitätsmenge Erwärmung im Nebenstrom wu s q 9 2 6 9,2 0,51 3 9 14 0,52 4 12 17,2 0,48 5 15 20,3 0,45 6 17 28,7 0,60 7 19 26,7 0,52

Wir finden für 2 durchgängig gröfsere Zahlen als 0,44, welcher Werth oben für den geschlossenen Nebenstrom gefunden worden ist. In meiner ersten Untersuchung über den Nebenstrom(!) ist in drei Versuchen, wo eine Unterbrechung im Nebendrahte von 0,1 Linie angebracht war, die tief unter der Schlagweite lag, eine Verminderung der Erwärmung durch die Unterbrechung gefunden worden. Dieser entgegengesetzte Erfolg ist ganz den Versuchen entsprechend, die ich über die Erwärmung im Haupt- drahte bei Unterbrechungen verschiedener Längen angestellt habe(?), und findet in der dort gegebenen Betrachtung eine genügende Erklärung.

(') Poggendorff Annal. B. 47. 67. (°) Poggendorff Annal. B. 43. 78.

—IKau——

Über die Larven und die Metamorphose der Holothurien und Asterien.

Von

H"”- MÜLLER.

mmnnanan ara

[Gelesen in der K. Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 15. November 1849. (') und 18. April 1850.]

I. Über die Larven der Holothurien.

D. jüngsten Holothurien, die man bis jetzt gesehen hat, waren in ihrer Gestalt und in ihrem Bau mit den erwachsenen übereinstimmend, so dafs man sie eben hieran als Holothurien hat erkennen können. Dalyell sagt, die jungen Holothurien gleichen einer weilsen Made, wenn sie die Gröfse eines Gerstenkorns erreicht haben (?). Der embrione dell’o. tubulosa osservato in settembre su l’ulva lattuga, Delle Chiaje, animali senza vertebre, Taf. 116. Fig. 16 18 ist nichts weniger als ein Embryon. Der kleine Wurm der nach den Abbildungen 24 34” Länge hat, besitzt schon alle Eigenschaften einer Holothurie. Man konnte daran den kalki- gen Ring um den Mund, die Tentakeln, Darm und baumförmige Lunge, die weilse Haut mit braunen Flecken, die rauhen mit kalkigen Spicula ver- sehenen Hautpapillen unterscheiden, worauf sogar die Bestimmung der Spe- cies gegründet werden konnte. Dafs die Holothurien, ehe sie ihre definitive Gestalt erreichen, grofsen Metamorphosen unterworfen seien, war zu er-

() Ein Auszug dieser Abhandlung befindet sich im Bericht über die Verhandlungen der K. Pr. Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahre 1849. November. pag. 301. und im Archiv für Anat. u. Physiol. 1849. pag. 364., der Nachtrag im Bericht der Akademie 1850. April.

(*) Report on the Brit. Assoc. 1840. Froriep’s Not. 1840. N. 331.

E2

36 Müırer über die Larven und die Metamorphose

warten nach dem, was über die Metamorphose der Asteriden und Echiniden bekannt geworden. Ein glücklicher Zufall hat mich auf die Larven der Holothurien geführt.

Sie haben in ihrem ersten Stadium mit einer Holothurie nicht die ent- fernteste Ähnlichkeit. Ich kannte sie schon seit einiger Zeit, ehe ich wufste, dafs es Holothurienlarven sind, und meine Kenntnifs reichte nur so weit, dafs es Echinodermenlarven waren. Ein nicht minder glücklicher Zufall hat mich jetzt auf die Metamorphose derselben bis zu Gestalten geführt, in welchen die Holothurien nicht mehr zu verkennen sind.

Die Objecte, von denen ich jetzt handeln werde, sind nur 4 so grofs im Durchmesser, als der sogenannte Embryon der Holothuria tubulosa von Delle Chiaje und dreimal so grofs, als der Dotter eines Eies der Holo- thuria tubulosa (im September). Es sind dem hohen Meer angehörende, durch Wimpern sich bewegende Formen.

In meiner zweiten Abhandlung über die Metamorphose der Echino- dermen (!) beschrieb ich unter den Zusätzen von 1849 eine neue Gattung von Echinodermenlarven, die ich Auricularia nannte, nach Beobachtungen die im Februar und März zu Marseille angestellt sind. Die Auricularien gleichen, oberflächlich betrachtet, einem Wappenschild mit Roccocoverzie- rungen des Randes. Man unterscheidet an ihnen die Bauch- und die Rü- ckenfläche und die concav-ausgefurchten Seitenflächen. Da wo die Rü- cken und Bauchflächen den Seiten begegnen, sind die Ränder in einen welligen Saum ausgezogen, der sich in einige Zipfel verlängert. Die Seiten sind also von zwei Säumen begrenzt, einem dorsalen und ven- tralen Saum. Die Länge des Körpers übertrifft die Breite fast um das Doppelte, in seinem breitern Theile ist er doppelt so breit als dick. Gegen das eine Ende bilden die Rücken- uud Bauchflächen und die ausgehöhlten Seitenflächen eine vierseitige Pyramide, deren Kanten die saumartige Verlängerung der Ränder theilen. An dem entgegengesetzten breitern stumpfen Ende geht die Rückseite gebogen in die Bauchseite über, so zwar, dafs auch der dorsale und ventrale Hautsaum in einander umbiegen und bei dieser Umbiegung rechts und links einen ohrartigen Zipfel bilden.

(') Über die Larven und die Metamorphose der Echinodermen. Zweite Abhandlung. Berlin 1849. p. 26. Abhandlungen der K. Akademie der Wissenschaften zu Berlin a. d.J. 1848. Berlin 1850.

der Holothurien und Asterien. 37

Die Rückseite ist ohne Einschnitt. Die Bauchseite dagegen besitzt eine Querfurche nahe der Mitte der Länge des Körpers, nämlich zwischen dem kürzern pyramidalen und dem längern breiten Theil des Körpers, in der Querfurche liegt der Mund. Vom dorsalen Randsaum ist ein Lappen ge- wöhnlich gegen die Bauchseite und gegen die Querfurche umgebogen. In dem pyramidalen Theil des Körpers liegen keine Eingeweide. Vom Munde beginnt der fleischige Schlund, dieser führt in den Magen, daran schliefst sich der Darm, welcher in der Mitte des Körpers das stumpfe Ende erreicht und gegen die Bauchseite sich biegend, kurz vor dem stumpfen Ende in den After sich endigt. Zur Seite des Magens liegt jederseits ein wurstförmiger Körper, der auch in den Larven der Ophiuren beobachtet wurde; er ist ohne alle Verbindung mit dem Magen.

Die Wimperschnur bekleidet den Rand der beschriebenen Säume, am dorsalen Seitenrande ist sie ununterbrochen, an den ohrartigen Zipfeln des breitern Körperendes geht sie auf den ventralen Saum ihrer Seite über und geht dann an dem Rande der Querfurche von der rechten zur linken über. Am pyramidalen Theil des Körpers bekleidet die dorsale Wimper- schnur den dorsalen Seitenrand der Pyramide oder dessen häutige Ausbrei- tung und biegt an der Spitze der Pyramide auf den ventralen Seitenrand derselben um, um dann an der Querfurche angelangt, den zweiten Rand derselben zu besetzen und auf die andere Seite überzusetzen. Demnach biegt die Wimperschnur sowohl am oberen als unteren Ende von der Rü- ckenseite zur Bauchseite um. Die Umbiegungen am breitern oder stumpfen Ende des Körpers finden an den ohrartigen Zipfeln statt, die Umbiegungs- schlingen sind dagegen am pyramidalen Ende einander genähert und berüh- ren sich an der Spitze der Pyramide. (Über die Larven und die Metamor- phose der Echinodermen. II. Abhand. Berlin 1849. Taf. IV. V. Fig. 1—3.

Die Auricularien ziehen kreisend im Wasser hin, die Pyramide voran. Die Bauch - oder Rückenseite ist meist nach oben gekehrt. Bald sind ihre Bahnen Kreise, bald, indem der ideale Mittelpunkt des Kreises selbst vor- rückt, sind es ebene Spiralen. Dieses Kreisen wird eintreten, wenn die Wimpern auf der rechten oder linken Seite des Körpers stärker wirken. Zuweilen erfolgt bei dem Kreisen auch die Umdrehung des Körpers um seine Längsachse, und dies geschicht ganz gewöhnlich, wenn die Längsachse des Thieres schief steht oder aufgerichtet ist. Hiebei beschreibt der Kör-

38 Mürrer über die Larven und die Metamorphose

per selbst wieder seine Bahnen. Am Körper des Thiers erfolgt aufser der Wimperthätigkeit der Wimperschnüre und des Darmkanals und aufser der Zusammenziehung des Schlundes nie irgend eine Bewegung.

Im vorigen Winter beobachtete ich zu Marseille zwei Arten von Auri- cularia, ich fand sie wieder, als ich in diesem Sommer (1849) in Nizza die Beobachtungen fortsetzte und lernte ihr endliches Ziel kennen. Die Auri- cularien sind die Larven der Holothurien. Die Metamorphose dieser Ab- theilung von Echinodermen hat das Ausgezeichnete, dafs sie in ganz ande- rer Weise als bei den Ophiuren, Seeigeln und Bipinnarien erfolgt. Nicht eine in der Larve als Minimum angelegte Knospe entwickelt sich zur Gestalt des Echinoderms wie dort, sondern die ganze Larve wird in das Echino- derm umgewandelt, so dafs in diesem Fall die Metamorphose alle Ähn- lichkeit mit dem Generationswechsel verliert, welche sie bei den Ophiuren, Seeigeln und gewissen Asterien (Bipinnaria) hat.

Die Metamorphose der Holothurien ist übrigens verwickelter als bei irgend einem andern Echinoderm. Sie durchgehen vom Ei bis zur vollen- deten Form mindestens drei Stufen der Verwandlung. In der ersten sind sie Auricularien und also rein bilateral mit lateraler Wimperschnur; im zwei- ten Stadium sind sie wurmförmig-radial und besitzen kreisförmige Wim- perschnüre, wie die Larven der Anneliden. Jetzt bewegen sie sich noch allein durch die Wimperbewegung, denn ihre spätern locomotiven Organe sind noch nicht hervorgebrochen. Nachdem dies geschehen ist, schwimmen sie durch die Wimperbewegung und kriechen zugleich mit den Mundtenta- keln. In diesem Zustande stimmt ihr innerer Bau schon fast ganz mit den erwachsenen Holothurien, aber sie haben noch keine Füfse und sie bewegen sich noch schwimmend und kreisend durch die Wimperbewegung. Im drit- ten Stadium erst, nachdem sie die Wimperkränze verloren, sind sie allein kriechend.

1. Auricularia und Holothuria mit Kalkrädchen.

Die eine Auricularia von Marseille hat das ausgezeichnete, dafs sich in ihren Ohrzipfeln kleine Kalkrädchen und auf der einen oder andern Seite eben daselbst auch eine rundliche Kalkdruse entwickeln. Zweite Abhand- lung. a. a. O. Taf. IV. Zuerst soll von der Verwandlung dieser Art ge- handelt werden. Während des Aufenthaltes in Nizza vom 19. August bis

der Holothurien und Asterien. 39

Ende September kam diese Auricularia sehr häufig vor. Die mehrsten In- dividuen, bei denen schon diejenige erste Andeutung zur Verwandlung er- kennbar war, die ich in meiner vorigen Abhandlung bezeichnete, hatten 3,” Länge, nur selten erreichten sie eine Gröfse bis 45”. Dem, was über ihren innern Bau schon früher bemerkt worden, konnte ich nur weniges hin- zufügen. In der glasartig durchsichtigen Substanz ihres Körpers bemerkte man zerstreute, theils rundliche, theils unregelmäfsige Kernen ähnlich sehende durchsichtige Körperchen. Taf. I. Fig. 2. 8. der gegenwärtigen Abhand- lung. Der Magen besteht aus einer äufsern durchsichtigen und einer innern zelligen Schicht. Die Zellen des Magens sind gröfser als die Zellen, aus deren Anhäufung der Wimperwulst des Körpers zusammengesetzt ist. Taf. I. Fig. 2. Letztere sind nur + 4 so grofs.

Die Kalkrädchen in den Ohrzipfeln haben 12 16 Speichen. Die Speichen sind leicht gegen den Rand des Rades gebogen, der kreisförmige Kalkreifen, der die Speichen aufnimmt, hat an seinem innern Rande Dop- pelconturen und man unterscheidet an dem Reifen einen äufsern Theil auf welchem die Speichen sich inseriren und einen innern Saum, der dabei nicht betheiligt ist. Die Bildung des Rädchens erfolgt so, dafs um den mittlern kalkigen Kern erst die Speichen sich ansetzen, und dann erst der peripherische Reifen entsteht. In der vorigen Abhandlung habe ich ange- geben, wie dieser Reifen aus vielen kleinern Stückchen zusammengesetzt wird; wenn die Rädchen vollendet sind, verschwindet diese Gliederung wieder und der Reifen ist ganz und ungetheilt. Taf. I. Fig. 7*. Die Zahl der Rädchen in einem Ohrzipfel ist 1 —4, die in einem der Öhrzipfel vor- handene Kalkdruse ist meist nur einmal, zuweilen aber zu 2 oder 3 vor- handen.

In der vorigen Abhandlung habe ich des in den reifern Larven auf- tretenden Sterns von Blinddärmehen gedacht, der die erste Andeutung auf Verwandlung der Auricularia giebt. Er liegt an der Rückseite über dem Anfang des Magens oder bei Magen und Schlund, und immer etwas nach der einen Seite hin. Taf. I. Fig. 7.8. Zwischen den 5 Hauptblättern oder Hauptblinddärmchen kommen noch Spuren von 5 kleineren vor, die mit jenen alterniren und die ganze Rosette hat das Ansehen einer um ein rundes mittleres Feld der Rosette hin und her geschlagenen Membran. So viel war mir bei der ersten Mittheilung bekannt, ich vermuthete daraus, dafs diese

40 Müuter über die Larven und die Metamorphose

Rosette die erste Spur des künftigen Echinoderms sei. Dies war nicht rich- tig: ich weils jetzt aus direeter Beobachtung, dafs der Stern von Blind- därmchen nur die Anlage der Mundtentakeln des Echinoderms (1) ist, wel- che jetzt die Gestalt einer sternförmigen in 5 Zipfel auslaufenden Mütze hat. Auch kann ich dem früher mitgetheilten hinzufügen, dafs die Ro- sette von Blinddärmchen jedesmal durch einen von ihrer Mitte abgehenden, wie eine Röhre aussehenden Strang an die Rückseite der Larve befestigt ist. So wie die Rosette nicht in der Mitte, sondern etwas seitwärts liegt, so ist auch die Insertion des Stranges in die Haut des Rückens nicht in der Mittel- linie des Rückens, sondern beträchtlich seitwärts am Rücken.

Der röhrige Strang scheint mit der Entwickelung der Blinddärmchen im innigsten Zusammenhange zu stehen. Er ist schon vorhanden, wenn statt der Rosette von Blinddärmchen erst ein einfaches Bläschen da ist. Taf. I. Fig. 5. 6. Dies Bläschen ist an den röhrigen Strang befestigt; wo es an der Röhre hängt, ist es offen und zeigt einen freien Rand, aber seine aus Zellen oder Körnern bestehenden Wände sind keine unmittelbare Fort- setzung der Röhre, sondern nur daran befestigt. Taf. I. Fig. 6*. Wenn sich der Schlund zusammenzieht, wird der Magen passiv mitbewegt, nicht aber die Knospe; vielmehr entsteht zwischen der Knospe von Blinddärm- chen und dem Schlund ein Zwischenraum: so zeigt sich, dafs sie weder mit dem Schlund noch mit dem Magen zusammenhängt. Die Substanz der Rosette von Blinddärmchen erscheint bei starken Vergrölserungen aus kör- nerartigen Zellen zusammengesetzt. Einmal wurden auch einige noch ganz geringe Spuren von Kalkabsatz unter dem Kranz von Blinddärmchen wahr- genommen.

Wo die den Mund der Larve enthaltende Querfurche in die Seiten- furchen des Körpers übergeht, befindet sich eine der Länge nach verlaufende erhabene Linie oder Leiste, welche also das Feld der Querfurche, wo der Mund liegt, bestimmter abgrenzt. Taf. I. Fig. 1. 8.

Zuweilen gelingt es, die Auricularia bei aufgerichteter Achse sich drehend zu sehen, dann ist der pyramidale Theil oben, der breitere unten, letzterer wird schon durch das Gewicht der Kalktheile in den Ohrzipfeln nach unten gehalten. Auch wenn die Larve horizontal kreisend hinzieht,

(‘) Hierdurch wird die Deutung der analogen Rosette von Brachiolaria zweifelhaft.

der Holothurien nnd Asterien. 41

ist leicht das Ende wo die Ohrzipfel, tiefer gestellt, oder die eine Seite dieses Endes tiefer, wenn der eine Ohrzipfel mehr Kalktheile enthält als der andere.

Zur selbigen Zeit mit dieser Auricularia kamen bei Nizza und im Golf

am

von Villa franca wurmförmige Thierchen von #” Länge vor, welche ich bald für junge Holothurien und eben so gewils für eine Verwandlung der Auricularia mit Kalkrädchen erkannte. Taf. III. Fig. 2-6. Sie gehören wie die Auricularien der hohen See an. In der Gestalt des Körpers hatten diese Thierchen nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Auricularia. "Das Thier glich einem mit Reifen in regelmäfsigen Abständen umgebenen Fafse, dessen Länge sich zur Breite wie 3:2 verhielt. Die Reifen sind schwach erhabene, mit Wimpern besetzte zirkelförmige Leisten oder Bänder; ihrer sind 5. Der erste liegt am vordern Rande des Schlauchs, oder am Eingang des Fasses, die andern folgen in regelmäfsigen Abständen, der letzte liegt vor dem hintern Ende, welches abgerundet ist. Die Wimpern sind schief nach auswärts rückwärts gerichtet, durch sie bewegt sich das Thierchen vorwärts, indem es sich zugleich um seine Achse dreht. Der Körper ist vollkommen durchsichtig, die Wimperreifen sind gelb pigmentirt. Was das Innere betrifft, so ist der Raum der kleinen Tonne in eine vordere kleinere und hintere gröfsere Abtheilung zu unterscheiden. Die vordere Abtheilung nimmt das erste Drittel des ganzen ein und bildet einen Vorhof vor Mund und Bauchhöhle; er ist von 5 dicken und langen konischen Tentakeln aus- gefüllt, welche, im Kreise stehend, bald in die Aushöhlung des Fäfschens zurückgezogen sind, ohne den Rand des freien Einganges zu überragen, bald auch weit aus diesem Eingang hervorragen und dann sich tastend und haftend umherbewegen. Im letzten Fall ist das hintere abgerundete Ende des Fälschens aufwärts gewandt. Man erkennt dann, dafs der Körper nicht völlig walzenförmig, sondern leicht pentagonal mit abgerundeten Kanten ist. Bei dieser Stellung sieht man auch die Bewegung der Wimpern an den fünf Wimperorganen am schönsten, sie erinnert an die Radbewegung der Wimperorgane der Larven der Anneliden.

Hinter den Basen der 5 Tentakeln, zwischen denen alternirend die ersten Andeutungen von noch anderen 5 Tentakeln sichtbar werden, ist der Eingang in den Darm; dieser beginnt weit und wird nach hinten allmählig enger; in seinem Verlauf biegt er sich um und nachdem er eine Schlinge

Phys. Kl. 1849. F

42 Mürren über die Larven und die Metamorphose

gebildet geht er wieder nach hinten, wo er sich nahe dem hintern Ende, oder vielmehr bei dem hintersten Wimperreifen, also nicht in der hintern Mitte öffnet, die vielmehr von später zu beschreibenden Kalkgebilden ein- genommen ist. Ob diese Öffnung hinter dem hintersten Wimperreifen oder kurz vor demselben liegt, ist mir nicht ganz sicher. In mehreren Fällen wollte es scheinen, als wenn sie noch vor diesem Ringe gelegen wäre. Hin- ter den Tentakeln, am Anfang des Nahrungkanals erscheint in allen Indivi- duen ein Kalkring, gebildet aus 10 aneinander stofsenden Stückchen; jedes Stück ist eine quere Leiste, welche sich an den Enden gabelig theilt, wo- rauf die Gabeläste mit einem Knauf von kurzen Zweigen endigen. Aus- wendig an diesem Kalkringe hängen in regelmäfsen Abständen ringsum 10 rundliche Bläschen, an denen man 2 Membranen unterscheidet. Im Innern dieser Blasen bewegen sich einige (4— 8) Doppelkörner zitternd, wahrschein- lich in Folge von Wimperbewegung. Es sind Körperchen, die aus 2 mit einander verbundenen Körnern bestehen. Hinter dem Kalkring ist der An- fang des Nahrungsschlauches von einem Cirkelkanal umgeben; von diesem gehen in regelmäfsigen Abständen 5 Kanäle nach den fünf Tentakeln; an denselben Ringkanal schliefst sich in der entgegengesetzten Richtung ein sackförmiger Anhang. Im Innern der Bauchhöhle erkennt man noch 5 sich von Zeit zu Zeit bewegende Längsmuskeln in regelmäfsigen Abständen an den Körperwänden. Endlich ist noch in allen Exemplaren ein besonderer Kanal sichtbar, der vorn in der Nähe des Kalkringes beginnt und sich an die Körperwandlung anlegend weit nach rückwärts verfolgt werden kann und welcher sich dadurch auszeichnet, dafs auf seinem vordern Theile nicht weit hinter dem Kalkringe eine bogenförmige, in der Mitte angeschwollene Kalk- leiste aufliegt, was sich in allen Individuen wiederholt. Der Ursprung die- ses Kanals ist mir nicht ganz klar. Es hatte mehrmals das Ansehen, als wenn dieser Kanal mit dem Ringkanal zusammenhänge, bei der später zu beschreibenden zweiten Species von kleinen Holothurien habe ich ihn aber über den Ringkanal hinweg verfolgen können.

Was die Strucktur der Haut betrifft, so besteht dieselbe aus kleinen zellenartigen Körnern; auch die Wände der Tentakeln scheinen aus Zellen zu bestehen; man erkennt länglich-runde Abtheilungen in diesen Wänden, welche senkrecht gegen die Flächen des Tentakels gerichtet sind, die ganze

der Holothurien und Asterien. 43

Masse der Tentakelwände ausmachen, aber nicht so grofs sind, dafs jede Abtheilung durch die ganze Dicke der Tentakelwände durchginge.

Jeder mit der Anatomie der Holothurien Bekannte wird sogleich die genaue Übereinstimmung unserer Thierchen mit den Holothurien erkennen. Der Kalkring der letztern hat dieselbe Zusammensetzung; an ihm befinden sich zehn Bläschen oder zwanzig Blinddärme (Holothuria tubulosa), die mit dem Wassergefälssystem der Tentakeln zusammenhängen. Der Ringkanal um den Schlund, die von ihm abgehenden 5 Kanäle zu den Tentakeln und die Polische Ampulle verhalten sich in beiden Fällen gleich. Die fünf Läns- muskeln des Körpers sind völlig gleich, auch scheint der von der bogenför- migen Kalkleiste umfafste Kanal auf den Ausführungsgang der Genitalien bezogen werden zu können. Wir haben es also ganz gewifs mit einer jun- gen Holothuria zu thun, die jetzt noch erst 5 Tentakeln hat, aber schon die Anlagen von noch 5 andern Tentakeln besitzt.

Unsere junge Holothuria ist ohne Fülschen, ihre Bewegungsorgane sind nur die Mundtentakeln und noch vielmehr die Wimperreifen; und dies steht schon jetzt fest, dafs die Holothurien einen Larvenzustand besitzen, in dem sie statt der locomotiven Füfse mit Wimperreifen gleich den Larven der Anneliden umgeben sind.

Ich komme jetzt zu dem andern Punkt, nämlich zu beweisen, dafs die Auricularia nichts anders als unsere junge Holothuria in einer ganz an- dern Larvenform ist, und dafs die Form der Auricularia sich in die Form der jungen Holothuria mit Wimperreifen verwandelt. Beide Formen sind einander so völlig unähnlich, dafs niemand nur auf den Gedanken kommen kann, ihre Gestalt mit einander zu vergleichen, sobald er sie neben einan- der sieht. Und dennoch besitzt die beschriebene junge Holothuria etwas, das sogleich auf die Auricularia mit Kalkrädchen zurückführt, nämlich die mikroskopischen Kalkgebilde am hintern abgerundeten Ende der jungen Holothuria; dies sind nämlich die Kalkrädehen der Auricularia mit 12 16 Speichen, und auch die in einem der Öhrzipfel neben den Kalkrädchen vorkommende rundliche Kalkdruse. Die Kalkrädchen der jungen Holo- thuria und diejenigen der Auricularia haben genau dieselbe Gestalt und Gröfse, 0,0170, und sie sind platterdings nicht von einander zu unterschei- den, ebenso gleicht sich die Kalkdruse der Holothuria und der Auricularia. Die Kalkgebilde unterscheiden sich bei beiden Thieren nur hinsichtlich ihrer

F2

44 Mürren über die Larven und die Metamorphose

Lage. Bei der Auricularia lagen sie zwar in dem hintern Theil des Körpers, der den After enthält, aber ganz seitwärts, nämlich in den Obrzipfeln; in der jungen Holothurie, die nichts von diesen Zipfeln aufzuweisen hat, lie- gen sie in dem hintern Theil des Körpers, der den After enthält, über dem- selben bei der Mitte, und zwar die Kalkdruse regelmäfsig in der Mitte, die Kalkrädchen herum gruppirt, in veränderlicher Zahl. Was die Zahl der Rädchen betrifft, so zeigen die jungen Holothurien gleiche Verschiedenhei- ten wie die Auricularien; ich sah junge Holothurien mit 1 6 Kalkrädchen, und es ereignet sich selbst, obwohl sehr selten, dafs nur erst die Kalkdruse, aber noch nicht die Kalkrädchen, vorhanden ist, ein Fall, der mir auch schon bei den Auricularien vorgekommen ist. Die Kalkdruse ist meist ein- fach, seltener sieht man mehrere, z. B. 3 rundliche Kalkdrusen bei nur einem Rädchen. Selten fehlt sie ganz; ich sah den Fall, dafs die Mitte des Hinterendes nur von einem einzigen Rädchen, ohne Kalkdruse, eingenom- men war, dies ist eine Parallele zu der eben so seltenen Erscheinung bei Auricularien, dafs einer der Ohrzipfel ein oder mehrere Rädchen enthält, dafs aber in keinem der beiden Ohrzipfel eine Kalkdruse entwickelt ist.

Indem nun für mich der innere Zusammenhang der Auricularia mit Kalkrädchen und der Holothuria mit Kalkrädchen unabweisslich gegeben war, stellte ich mir die Aufgabe, durch direete Beobachtung den Übergang der einen in die andere Form zu ermitteln.

8 reifen aus einer Zeit der Entwickelung aufzufinden, wo die Tentakeln noch

Zuerst gelang es, junge Holothurien in Fäfschenform mit Wimper-

nicht frei waren, vielmehr der ihnen bestimmte Vorhof noch kuppelförmig geschlossen war oder abgerundet anfing, in der Mitte eine kleine Offnung zu bekommen, die vom ersten Wimperreifen umgeben war. Taf. II. Fig. 3. 4. Taf. III. Fig. I. Diese den Östruslarven ähnlichen, an beiden Enden ab- gerundeten, = langen Gestalten, deren Länge sich zur Breite wie 7:4 ver- hielt, waren gleichsam die Puppen. Zuweilen waren diese Formen ein we- nig, aber nur ganz schwach gekrümmt. Die Thierchen bewegten sich lebhaft, aber nur durch die Wimperbewegung ihrer Reifen; sie schwimmen behende, indem sie sich beständig um die Achse drehen. Die Tentakeln bilden jetzt einen in der Höhle vor dem Kalkring liegenden Stern von Blinddärmchen. An dem gewölbten Ende, wo sich die Öffnung bildet, erkennt man rechts

und links noch die Umbiegungsschlinge eines Wulstes, welcher auf die Um-

der Holothurien und Asterien. 45

biegungsschlingen des frühern Wimperwulstes der bilateralen Auricularia zu deuten ist. Werden diese Larven mit einem Glasplättchen bedeckt, so än- dert sich die Gestalt und sie erinnert wieder einigermaafsen an die allgemeine Form der Auricularia. Taf. II. Fig.2. Das obere Ende, vorher abgerun- det, erscheint nun wieder mehr oder weniger ähnlich dem Ende der frühern Pyramide. Diese Änderung der Gestalt durch den Druck scheint davon abzuhängen, dafs die bilaterale Wimperschnur und die frühere Körperan- lage versteckt noch vorhanden sind. Beim Druck mit dem Glasplättchen erscheint die frühere bilaterale Wimperschnur an den Seitenrändern. Ihre grolsen Biegungen sind eingezogen, und ihr Verlauf nur wellig. Man sieht jetzt deutlicher die Endumbiegungsschlingen rechts und links am vordern Ende. Die Ohrzipfel sind ganz eingezogen, aber die Umbiegung der Wim- perschnur ist noch zu erkennen. Nahe dabei liegen in dem Hinterende des Thiers die Kalkrädchen, näher der Mitte die Kalkdruse, zuweilen aber auch noch etwas zur Seite. Man mufs sich den Lauf der frühern bilateralen Wimperschnur an der Puppe mit 5 Wimperreifen so denken, dafs die Bie- gungen der bilateralen Schnur, welche früher vom Körper abstanden, jetzt auf der Oberfläche nur Wellen bilden. Die neuen Wimperreifen laufen gerade über die Wellengipfel herüber. In einer dieser Larven, welche, obgleich schon mit den 5 Wimperreifen versehen, doch noch von dem Zu- stand der Auricularia weniger weit entfernt war, als andere Individuen, erschien das Vestibulum, worin die Tentakeln liegen, als ein besonderer blasenartig geschlossener Raum, in welchem der von den Tentakeln gebil- dete Stern gelegen war. Taf. II. Fig. 2. Dieser Raum erreichte nicht den Gipfel der Pyramide der frühern Auricularia.. An der Basis der Tentakel- anlagen waren die ersten Andeutungen des Kalkringes sichtbar. Vom Mund und Schlund der bilateralen Larve war nichts mehr zu sehen, dagegen war nun von der

einge

das Ende des Magens, in welches früher der Schlund überging,

Tentakelanlage gekrönt.

Auf der andern Seite habe ich auch Auricularien beobachtet, bei de- nen sich der Stern von Blinddärmchen, aus welchen die Tentakeln entste- grofse Ähnlichkeit mit der Anlage der Tentakeln in den Holothurienpuppen besafs, während die Form der Larve im Übrigen noch alle Eigenschaften der Auricularia, ihre

Wimpersäume und noch nichts von den Wimperreifen der Holothurienpup-

hen, bedeutend vergröfsert hatte und bereits eine

46 Mürzer über die Larven und die Metamorphose

pen besafs. In diesem Fall waren bereits kleine Spuren des Kalkabsatzes an dem Kranz der Blinddärmchen sichtbar.

Wenn es nun erlaubt ist, die Lücken zwischen den Beobachtungen ergänzend auszufüllen, so scheint es, dafs die Auricularien zur Zeit ihrer Verwandlung aus ihrem Mittelkörper die walzige Gestalt der Holothurien- puppen entwickeln, während die seitlichen Verlängerungen desselben und der bilaterale Wimperwulst sich verkürzen und einziehen, und bis auf die nachgewiesenen geringen Spuren bald verschwinden, dafs zu dieser Zeit aber die neuen Wimperreifen entstehen. Von der frühern Querfurche der Auricularia, worin ihr Mund, habe ich in den Puppen der Holothurien nichts mehr wahrgenommen. Mund und Schlund der Auricularia scheinen ganz zu verschwinden, wie bei den Larven in den anderen Abtheilungen der Echi- nodermen, statt deren aber ein neuer Mund im Zusammenhang mit dem Tentakelstern sich zu bilden, und die zuerst noch geschlossene Vorhöhle vor dem Munde mit den Tentakeln sich zu öffnen, d. h. die Leibeswan- dungen zu durchbrechen.

An welcher Stelle die Vorhöhle mit den Tentakeln in Beziehung zur frühern Auricularia aufbricht, ist mir nicht ganz klar geworden, so wie ob damit der röhrige Strang im Zusammenhange ist, der die sternförmige An- lage der Tentakeln in der Auricularia seitwärts der Mitte an den Rücken der Larve befestigt, nämlich ob die Vorhöhle für die Tentakeln aus diesem Strang entstanden ist. Aus der directen Beobachtung ergiebt sich aber, dafs der Auf- bruch der Tentakel- Vorhöhle durch die Leibeswandungen in der Nähe der Umbiegungsschlingen der frühern bilateralen Wimperschnur, d. h. in der Nähe der Spitze der Pyramide der Auricularia erfolgt. Denn bei der auf- gebrochenen Stelle sind die Reste der Umbiegungsschlingen der bilateralen Wimperschnur zu erkennen. Eben so gewifs halte ich, dafs der Aufbruch nicht in der Spitze der Pyramide selbst erfolgt, denn die Offnung der Vor- höhle in der Holothurienpuppe befindet sich nicht zwischen den Umbiegungs- schlingen, sondern liegt so, dafs die einander genäherten Reste der Umbie- gungsschlingen in der Leibeswand selbst liegen.

Erwägt man nun, dafs die sternförmige Tentalanlage in der Aurieu- laria an der Rückseite gelegen ist, nämlich an der Rückseite des Anfanges des Magens und des Schlundes der Larve, so wird es schon daraus wahr- scheinlich, dafs das neue Echinoderm an der Rückseite des pyramidalen

der Holothurien und Asterien. 47 Theiles der Larve, welcher unterdefs sich abrundet und wölbt, aufbrechen werde. Damit stimmt auch die directe Beobachtung an einer Holothurien- puppe überein, an welcher zu erkennen war, wie die ganze ventrale Seite der frühern Pyramide der Auricularia mit dem Rest des frühern Wimper- wulstes und mit dem Rest der Umbiegungsschlingen desselben der Wand des Körpers der Holothurienpuppe angehört, wie dagegen die Öffnung auf dem Scheitel der Holothurienpuppe die entgegengesetzte, also dorsale Lei- beswand dicht vor jenen Umbiegungsschlingen durchbrochen hat.

Die Gattung und Species von Holothurien für das Thierchen mit Kalkrädchen zu bestimmen, würde unmöglich sein, wenn diese Kalkrädchen nicht wieder einen wichtigen Anhaltpunkt lieferten. Man mufs vermuthen, dafs die Kalkrädchen, welche an unserer jungen Holothurie dermalen nur den hintersten Theil besetzen, sich später an andern Stellen der Haut des Thiers entwickeln werden. Denn bei allen Holothurien enthält die Haut eigenthümlich geformte Kalkgebilde. Einigemal nahm ich an den fraglichen jungen Holothurien am vordern Theil des Körpers hinter dem Kalkring rosettenartige Körperchen wahr, deren Sitz die Haut zu sein schien; sie gli- chen im Allgemeinen ganz den Kalkrosetien am hintern Theile des Körpers, waren aber etwas (4 1) kleiner, und obwohl die Mitte und die Radien bereits angedeutet waren, fehlte noch die Verkalkung. Sie lagen, drei oder vier in einer einzigen (Juerreihe, auf die Breite des Körpers vertheilt.

Bei Untersuchung der mikroskopischen Kalkgebilde in der Haut vie- ler Arten von Holothurien des Mittelmeers und der nordisch - europäischen Meere wollte es mir nicht gelingen, solche Rädchen mit Speichen wieder- zufinden; und eben so wenig kommen solche unter den Formen vor, wel- che v. Düben und Koren (K. Vet. Akad. Handl. för 1844.) und Frey (über die Bedeckungen der wirbellosen Thiere, Gött. 1848.) aus der Haut der Holothurien beschrieben und abgebildet haben. Dagegen hat Hr. Peters eine analoge Form in der Haut einer von ihm von Mozambique mitgebrachten Chirodota mit 12 gefiederten Tentakeln (Ch. violacea Pet. nov. sp.) beobachtet. Die Kalkrädchen dieser Chirodota befinden sich in den Wärzchen der Haut angehäuft. Die übrige Haut enthält in ihrer Sub- stanz eine Menge klammerartiger, halbmondförmig gebogener Kalkgebilde, wie sie Hr. Valentin aus der Mundröhre des Echinus lividus (Anat. du genre Echinus, Fig. 65.) und wie sie Hr. Ehrenberg aus dem Meeresab-

48 Mürzer über die Larven und die Metamorphose

satz von Veracruz unter der Bezeichnung Spongolithis uncinata abge- bildet haben. (Abh. d. Akad. a. d. J. 1841. Taf. II. Nr. VI. Fig. 37.). Die Rädchen der Chirodota sind ganz nach demselben Typus gebildet, wie die unserer Holothurienlarve und zeigen nur specifische Unterschiede. Das Centrum ist verhältnifsmäfsig kleiner, Speichen sind nur 6 vorhanden und der Umkreis ist am innern Rande sägeförmig gezähnelt. Dagegen sind die Kalkrädchen der Peters’schen Chirodota in allen Punkten mit dem Gebilde übereinstimmend, welches Hr. Ehrenberg aus dem Meeresabsatz von Veracruz unter dem Namen Actinoptychus? hexapterus abgebildet hat (Abh. d. Akad. a. d. J. 1841. Taf. III. Nr. VII. Fig. 2.), und von welchem er selbst schon die Vermuthung ausgesprochen hat, dafs es zu den Zoolitharien und Kalktheilen von Echinodermen gehören könne.

Die nähere Untersuchung der Organe der Chirodota, worin diese Rädchen enthalten sind, bietet noch so viel merkwürdiges dar, dafs ich einen Augenblick dabei verweilen mufs. Bei der Chirodota von Mozambique ste- hen die Wärzchen in einer unordentlichen Reihe zwischen den 5 Längsstrei- fen des Körpers, welche den Stellen entsprechen, wo inwendig die Längs- muskeln liegen. Schneidet man etwas von dem Wärzchen ab, und unter- sucht es unter dem Mikroskop, so sieht man zwar sogleich die wunderlichen Kalkgebilde, allein die sonderbare Art, wie sie in dem Wärzchen enthalten sind, wird dabei nicht erkannt. Diese Einsicht erhält man vielmehr erst durch die Zergliederung. Als nämlich die Wärzchen unter einer Lupe auf- geschnitten wurden, zeigte sich das Innere hohl und mit einer in Windun- gen zusammengelegten Schnur ausgefüllt, welche daraus hervorgezogen gegen 2— 3” lang war. An dieser Schnur sind die Rädchen befestigt, wie Blu- men an einer Guirlande. Taf. II. Fig. 8. Die Achse der Schnur bildet ein Strang von thierischer Masse, der zu der Mitte jedes Rädchens einen Ast als Stiel abgiebt. Einige hundert Rädchen hängen an dem Faden von 2 3" Länge. Zuweilen ist die Schnur mit den Rädchen getheilt, ypsilonför- mig. Ich dachte an Haftorgane, und dafs die Schnur aus dem Säckchen oder der hohlen Warze hervorgetrieben werden könne. Allein ich habe mich von der Existenz einer Öffnung an den Säckchen nicht überzeugen kön- nen; auch scheint an den Rädchen das zu fehlen, was sie besitzen müfsten, wenn sie als Saugnäpfe wirken könnten. Obgleich nämlich die Speichen

der Hololhurien und Asterien. 49

ein wenig gebogen sind, also ein Gewölbe bilden, so sind die Lücken zwi- schen den Speichen doch nicht ausgefüllt.

Aus der Gegenwart der Rädchen bei den Chirodota scheint zu folgen, dafs unsere Auricularia mit Rädchen und die dazu gehörende junge Holo- thurie der Gattung Chirodota angehöre. Mit der allgemeinen Körperge- stalt dieser meist langen wurmartigen Holothurien hat unsere junge Holo- thurie sonst die wenigste Ähnlichkeit.

Die Anatomie der Chirodota palst zu der Organisation unserer jun- gen Holothurie. Der Kalkring, das Wassergefälssystem verhalten sich in

den Chirodota, wie in den übrigen Holothurien. Der Kalkring ist niedrig, wie in der Gattung Holothuria; die ihm aufliegenden Säckchen sind nicht

blinddarmförmig, sondern rund und flach, die Polische Blase ist vorhan-

8 den (!). Nur die grofse Vorhöhle für die Tentakeln stimmt nicht zu den Chirodoten; bei welchen, wie bei den Synapten und eigentlichen Holothu- ria, der Raum vom vordern Rande des Körpers bis zum Kalkring sehr kurz ist. Dagegen findet sich eine grofse Vorhöhle für die Tentakeln bei den Holothuriae pentactae, bei denen der Mundring weit in den Körper zurück- gezogen werden kann.

Die Gattung Chirodota gehört zu der Abtheilung der Holothurien ohne locomotive Füsschen. Zu dieser Abtheilung gehören ferner die Gat- tungen SynaptaEsch., Liosoma Brandt, Molpadia Cuv., Haplo- dactyla Grube, im Ganzen fünf Gattungen. Von diesen sind die Gattun- gen Liosoma, Haplodactyla und Molpadia mit Lungen versehen, die Gat- tungen Chirodota und Synapta ohne Lungen. Im Mittelmeere kommen Thiere der Gattungen Synapta, Molpadia, Haplodactyla vor. Es waren auch von Grube fufslose Holothurien des Mittelmeers unter dem Namen Chirodota beschrieben. Actinien, Echinodermen und Würmer des adriati- schen und Mittelmeers. Königsberg 1840. pag. 41. Nach einer neuern Mittheilung von Grube gehören diese jedoch der Gattung Synapta an und auch Haplodactyla ist ohne Rädchen. Müller’s Arch. f. Anat. u. Physiol. 1850. pag. 111. Die Kalkgebilde in der Haut der Synapten haben keine

(') Die Chirodota violacea Pet. hat mehrere Polische Blasen am Cirkelcanal der Ten- takeln. Eine sehr kleine aber vollständig erhaltene Chirodota im zoologischen Museum zu Hamburg (nur 1” 4” lang), mit 12 gefiederten Tentakeln hat mehrere Polische Blasen. Ihre Kalkrädchen haben 6 Speichen.

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50 Mürrer über die Larven und die Metamorphose

Ähnlichkeit mit unsern Kalkrädchen. Die Kalkscheibchen in der Haut einer Molpadia aus Chili waren gegittert wie bei Holothuria tubulosa. Die Kalk- rädchen sind daher der Gattung Chirodota eigenthümlich. Ich fand sie auch in keinen andern ausländischen Holothurien Gattungen wieder.

Die Zahl der Speichen an den Rädchen der Chirodota scheint bei der Mehrzahl der Arten 6 zu sein. Die zwei von mir untersuchten Arten hatten constant 6. Chirodota discolor Esch. hat nach Grube auch meist 6, zu- weilen jedoch 10 Speichen an den Rädchen. Unter diesen Umständen ist es am wahrscheinlichsten, dafs unser Thierchen mit Kalkrädchen eine noch nicht beobachtete dem Mittelmeere eigene wahre Chirodota sei. Oder es müfsten die Kalkrädchen in unsern Thierchen nur vorübergehende Bildun- gen sein und später in der Haut dieser Holothurie andere Kalkbildungen auftreten.

2. Zweite Art der Auricularia und Holothuria.

Ich wende mich nun zu der zweiten in Marseille und Nizza beobach- teten Art von Auricularia. Da ihre Beschreibung und Abbildung schon vor- liegt, so reicht es hin, das Charakteristische und für die folgende Untersu- chung Wichtige hervorzuheben. Bei dieser Art ist der pyramidale Theil am Ende abgestutzt, daher die Endumbiegungsschlingen der Wimperschnur sich nicht berühren, sondern durch einen kleinen sattelförmigen Zwischen- raum von einander getrennt sind. Das entgegengesetzte breitere Ende des Körpers ist in der Mitte aufgetrieben; in dieser Hervorragung befindet sich eine rundliche Kalkdruse, welche nach innen einige mehr oder weniger verästelte Zacken abwirft. Über ihr, dicht unter der Haut an der hintern Mitte, befindet sich eine graue granulirte Stelle. Zweite Abhandlung a. a. O. Taf. V. Fig. 1 3. Gegenwärtige Abhandlung Taf. IV. Fig. 1 6. Sel- ten kommen statt des einen, 2 oder mehrere Kalkknöpfe in der Mitte bei- sammen vor. Dieses Ende scheint das schwerere zu sein, und steht, wenn die Larve im Wasser schwebt, meist mehr oder weniger tiefer. Die Ohr- zipfel enthalten keine Kalktheile.. Die Wimperschnur ist gelb und roth gefleckt und gelbe Tüpfel sind über den durchsichtigen Körper zerstreut.

In der vorigen Abhandlung machte ich schon auf ein paar Längs- und Querlinien aufmerksam, wovon die erstern den Mittelkörper des Thiers gegen die davon abgehenden Hautsäume begrenzen, die Querlinien aber

der Holothurien und Asterien. 51

von den Längslinien ab über und unter der Querfurche auslaufen. Ich bemerkte, dafs diese Linien beim Verstellen des Focus sich etwas verschie- ben, und dafs die Längslinien mit dem Grunde der Seitenfurchen, die Quer- linien mit den innern Grenzen der Querbucht zu stimmen scheinen. Dieser Deutung wiederspreche jedoch die beim Zusammenhang der Seitenlängs- furche mit der Querbucht fortlaufende Längslinie, welche daher wirklich ein Faden zu sein schien. Daher war ich geneigt, die Linien als Fäden und wegen der kleinen Anschwellungen an der Verbindung der Längs- und Quer- linien als Nervenfäden zu deuten. Die Untersuchung zahlreicher Exemplare auf diesen Punkt hat mich jetzt überzeugt, dafs die Linien constant, dafs sie aber keine Nerven sind. Die vorher genannte andere Deutung ist viel- mehr die richtige. Die Längslinien bezeichnen die Grenzen des Mittelkör- pers, die Querlinien die inneren Grenzen der Querbucht, welche von den sie begleitenden Hautsäumen noch etwas bedeckt ist und daher gröfser ist als sie nach der Entfernung der Hautsäume und ihrer Wimperschnüre zu sein scheint. An der Verbindung der Seitenlängsfurchen mit der Querbucht grenzt sich die Querbucht durch eine erhabene Längsleiste etwas ab, was den Schein hervorbringt, dafs die Längslinie hier ununterbrochen fortgehe.

Mund, Schlund, Magen und Darm verhalten sich wie bei der ande- ren Auricularia. Der After befindet sich auf der Bauchseite des hintern breitern Theiles der Larve.

Bei der Auricularia mit Kalkrädchen ist angegeben, dafs die erste Anlage des Tentakelsterns durch einen röhrigen Strang, seitwärts der Mittel- linie an die Rückenhaut geheftet ist. Jene Röhre habe ich auch bei der gegenwärtigen Larve constant beobachtet.

Die Gröfse dieser Auricularia ist 5 # Linie.

Was für die Wiedererkennung unserer Larve während ihrer Verwand- lung besonders wichtig ist und die Kalkrädchen des ersten Falls vertreten kann, ist theils die Kalkdruse mit Zacken am hintern Ende und die darauf liegende Granulation; theils eine bestimmte Anzahl von Blasen, welche den Körper garniren. (Siehe Taf. V. Fig. 1 --3 der vorigen Abhandlung.) Die- ser Blasen sind 11, davon gehören 10 dem dorsalen Hautsaume an, 5 für jede Seite, die elfte liegt in der Mitte des hintern Endes dicht vor der Kalk- druse. Die 5 seitlichen sind auf die Seiten so vertheilt, dafs die erste in der obern Umbiegungsschlinge der Wimperschnur, die untere in der untern

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32 Mürten über die Larven und die Metamorphose

Umbiegungsschlinge liegt. Bei den im Winter untersuchten Exemplaren dieser Auricularia hatten diese kugelförmigen Blasen ein blasrothes Anse- hen. Die in Nizza zahlreich vorgekommnen Individuen dieser Species waren noch etwas jünger, sie hatten zwar schon die Kalkdruse mit Ae- sten, aber noch nicht die 11 Blasen entwickelt. Gleichwohl müssen die Blasen eine ganz constante Erscheinung an den reifern Larven sein, denn man wird sehen, dafs sie sich constant in der Puppe und jungen Ho- lothurie wiederfinden. Hätte ich die 11 Blasen als Bestandtheil der rei- fern Auricularia nicht vom vorigen Winter gekannt, so würde es mir schwer oder unmöglich gewesen sein, das Thier bei seiner Verwandlung in die radiale Wurmform zu erkennen, jetzt aber gaben mir die 11 Blasen und die ästige Kalkdruse eine gute Anleitung die Thierchen wiederzuer- kennen. Neben den jungen Holothurien mit Kalkrädchen kamen nämlich in Nizza andere im allgemeinen gleichgestaltete und gleichgrofse (7) junge Holothurien mit 5 Wimperreifen vor, welche am Hinterende statt der Kalk- rädchen einen rundlichen Kalkknopf enthielten, der nach vorn einige mehr oder minder ästige Zacken abgab. Taf. IV. Fig. 8. 9. Taf. V. Fig. 4—6. Einmal war zwischen diesem Kalkknopf und der Haut der hintern Mitte noch der graue Körnerhaufen zu erkennen wie bei der Auricularia. Taf. V. Fig. 6. Trotzdem dafs diese jungen Holothurien die drehrunde Gestalt be- safsen, so gaben sie doch ihre bilaterale Abkunft in allen Fällen durch zwei Reihen von durchsichtigen Blasen zu erkennen, welche die entgegengesetz- ten Seiten des Körpers von vorn nach hinten einnehmen, so dafs auf jede Seite 5 Blasen kommen; eine elfte Blase befand sich in der Mitte am hin- tern Ende dicht vor der Kalkdruse, von ihren Ästen gleichsam gekrönt. So verhielten sich die jungen Holothurien, mochten ihre 5 Tentakeln schon frei oder das Vorderende des Körpers noch geschlossen sein. Diese Art hat auch das eigene, dafs ihre Haut bald stark mit gelbem Pigment getüpfelt ist, welches also nicht blos auf die Wimperkreise beschränkt ist, und dafs die 10 Kalkstückchen an der Basis des Tentakelkranzes, wenn gleich von glei- cher Gestalt wie in der Holothurie mit Kalkrädchen, doch viel zarter sind. Dagegen entwickeln sich in der Haut der jungen Holothurien bald eine Menge von kreuzförmigen Kalkfiıguren und Kreuze mit gabeligen Asten.

Der Tentakeln sind 5, dazwischen mit ihnen alternirend bemerkt man die rudimentären Anlagen von noch 5 andern Tentakeln. Die ihnen be-

der Holothurien und Asterien. 53

stimmte Vorhöhle des Körpers nimmt das erste Drittel der Körperhöhle ein, ganz so wie bei der ersten jungen Holothurie. Dies erinnert an die Holo- thuriae pentactae, bei denen die Tentakelvorhöhle sehr grofs ist und der Mundring weit zurückgezogen werden kann. Das Ende der Tentakeln ist abgerundet und geknöpft, nicht konisch, wie in der vorigen Art, der Knopf nimmt zuletzt gelbes Pigment auf. Das Wassergefäfssystem, nämlich der Ringkanal um den Schlund, die davon abgehenden 5 Kanäle nach den Ten- takeln, die Ampulla Poliana, die am Kalkring befestigten runden Bläschen mit Doppel-Körnern, der Darmkanal, alles dies verhält sich durchaus wie in der ersten Art.

Eigenthümlich ist dagegen wieder der auf das Genitalsystem gedeu- tete Kanal ausgezeichnet, welcher an der Stelle wo in der ersten Art eine halbeirkelförmige Kalkleiste den Kanal umfafst, von einem Knauf oder Krone unregelmäfsig gebogener und ästiger Kalkleisten bedeckt ist. Dies Verhalten ist ganz constant und ist vielleicht auf das von Kalkleisten in seinen Wänden stark durchdrungene Säckchen zu deuten, welches einmal oder mehrmal vorhanden bei den Holothurien nach Tiedemann mit dem ausführenden Geschlechtstheil verbunden ist, nach Krohn aber in den Ringkanal einmün- det und dem Steinkanal der Asterien fragweise verglichen wird. Froriep’s N. Not. XVII 1841. p.52.(') Von den Füfschen ist noch keine Spur zu sehen, aber man erkennt bereits 5 Stränge der Länge nach an den Körperwandun- gen herablaufend, welche entweder auf die Längskanäle des Wassergefäfs- systems oder als Muskeln zu deuten sind. Die immer stärkere Färbung der Haut und die beträchtliche Dicke, welche die Wand im Verhältnifs zur Lei- beshöhle annimmt, machen bald eine weitere Einsicht in die innere Organi- sation schwierig. Die Dicke der Körperwandung beträgt aber jeizt gegen 4 des Querdurchmessers der Bauchhöhle. An reifern Individuen, welche die 5 Wimperreifen noch besitzen, aber mit den Mundtentakeln am Boden des Glases umhertasten, bei aufgerichtetem Körper, kann man sich leicht

(') Ich war schon der Ansicht von Tiedemann gefolgt. Was mir bei Pentacta doliolum dafür zu sprechen schien, hat jedoch bei einer Revision der Anatomie der Holo- thurien eine Aufklärung gefunden, welche jener Meinung nicht ferner günstig ist. Siehe meine Anatomische Studien über die Echinodermen. Archiv für Anat. u. Physiol. 1850.

pag- 117.

54 Müruer über die Larven und die Metamorphose

überzeugen, dafs die 11 Blasen in der Dicke der: Wand selbst liegen. An diesen Blasen sind aufser ihrer Vergröfserung weiter keine Veränderungen zu bemerken, blafsroth wie in den Auricularien vom vorigen Winter habe ich die Blasen nicht wiedergesehen, sie waren entweder farblos oder gelb- lich-durchsichtig. Wenn das Thier durch ein Glasplättchen comprimirt wird, oder wenn es ohne äufsern Anlafs auf dem Glase aufliegt, nehmen sie immer die beiden Seiten ein; es ist also bereits Rücken und Bauchseite, rechts und links wie in der erwachsenen Holothurie geschieden, und es feh- len nur die locomotiven Füfschen, von denen noch keine Spur zu erkennen ist und die sich wahrscheinlich erst dann entwickeln, wenn die locomotiven Bewegungsorgane der wurmförmigen Larve, die Wimperkränze schwinden. Von einer baumförmigen Lunge war in der Regel noch nichts zu sehen, nur einmal sah ich etwas, was darauf gedeutet werden könnte, aber zu undeut- lich, als dafs es hätte gezeichnet werden können.

Über die Umwandlung der Auricularia mit Blasen in die Holothuria mit Blasen liegen mir eine Reihe von Beobachtungen und Zeichnungen vor, die keinen Zweifel an dieser Metamorphose übrig lassen, und denen nur wenig fehlt, ein fortlaufendes Ganze zu bilden. Taf. IV. Fig. 7. Taf. V. Fig. 1-3.

Will man den Zustand Puppe nennen, wo das Thierchen einer Oe- struslarve im Allgemeinen ähnlich walzenförmig geworden, mit 5 kreisför- migen Wimperkränzen versehen, die Wimpern der bilateralen Wimperschnur eingebüfst hat, am Vorderende noch rundlich abgeschlossen und ungeöffnet ist Taf. IV. Fig. 7. Taf. V. Fig. 1., so gleicht diese Puppe völlig derjenigen von der anderen Species mit alleiniger Ausnahme der Speciescharactere von den 11 Blasen, der zackigen Kalkdruse und der Kalkkrone auf dem be- zeichneten Kanal. An solchen Puppen läfst sich noch eine Spur der bila- teralen Wimperschnur an den Seiten des Körpers erkennen an Exemplaren, die mit einem Glasplättchen bedeckt sind Taf. V. Fig. 2. 3.; es erscheint dann am Seitenrande ein wellig herablaufender Wulst mit den dunklern Pigmentflecken des früheren bilateralen Wimperwulstes, gekreuzt mit den kreisförmigen Wimperreifen der gegenwärtigen Entwickelungsstufe. Unter denselben Umständen erkennt man auch noch die Endumbiegungsschlingen des frühern bilateralen Wimperwulstes am vordern abgerundeten Ende, dicht an dem vordersten kreisförmigen Wimperreifen, und wenn man die Larven

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frei um ihre Achse sich drehend beobachtet und den Augenblick benutzen kann, wo ihr Vorderende nach oben gerichtet ist, so sieht man die gedach- ten Endumbiegungsschlingen und den ersten Wimperkreis zugleich am ab- gerundeten, noch geschlossenen obern Ende, im Innern aber den Stern der fünf blinddarmförmigen Tentakeln. Bei andern Puppen hat sich das abge- rundete Ende in der Mitte des ersten Wimperreifens schon geöffnet, die Tentakeln fangen an sich zu bewegen, von nun an wird diese Öffnung bald weiter, mit ihr erweitert sich der erste Wimperreifen. Von den 5 Blasen jeder Seite liegt die erste immer am Rande der vordern Öffnung, oder wenn diese noch nicht aufgeschlossen ist, dicht bei dem ersten Wimperreifen.

Worauf diese Blasen zu deuten, ist nicht ganz gewifs. Ich finde in der Haut der Holothuria pudendum regale überall an den Seiten, wie am Bauch und Rücken kleine runde Blasen von einer braun pigmentirten Mem- bran eingestreut. Eine bestimmtere Deutung unserer Holothurie auf Gat- tung und Art ist dermalen unmöglich.

Künstliche Befruchtungsversuche mit Holothurien im Frühjahr ver- anstaltet, werden die Gegenprobe zu unseren Beobachtungen liefern, wie diese bereits für die Beobachtungen über die Seeigellarven durch die von Derbes und Krohn ausgeführten Befruchtungen geliefert ist. Ich selbst hatte bei so vorgerückter Jahreszeit wenig Hoffnung dafs sie noch gelingen könnte. Die Hoden der Männchen der Holothuria tubulosa enthielten zum Theil nur Samen mit Zoospermien und die Ovarien der Weibchen nur zum Theil noch Eier, d. h. einzelne Schläuche waren noch damit gefüllt. Die Eichen waren mit einer dicken Eihaut versehen. Der gelbröthliche Dotter hatte 0,088” Durchmesser. Nach der Vermischung der Eier und des Sa- mens trat bald eine bedeutende Auflockerung und Anschwellung der Eihaut ein, in deren Substanz die Zoospermien eindrangen, aber der Dotter ver- änderte sich nicht und das Keimbläschen blieb unversehrt.

II. Neue Beobachtungen über Tornaria, Bipinnaria, und die Metamorphose der Asterien. 1. Tornaria Taf. VI. Pie. 1-7.

In Marseille habe ich eine eigenthümliche Larvenform beobachtet, welche ich Tornaria nannte und in der vorigen Abhandlung, Taf. V. Fig. 4— 10, abbildete. Sie hat den bilateralen Wimperwulst und zugleich am

55 Mürten über die Larven und die Metamorphose

Hintertheil einen kreisförmigen Wimperreifen, in dessen Mitte der After. Am entgegengesetzten Ende befinden sich zwei schwarze halbmondförmige Pigmentflecke, wie Augenpunkte. Die Wimperschnüre biegen hier um, aber nicht wie bei den Auricularien, sondern wie bei den Bipinnarien von rechts nach links. Ein Strang geht von der Gegend des Innern, wo der Schlund, beim Rücken des Schlundes zu dem Ende des Körpers, wo die augenförmigen Pigmentflecke und inserirt sich in einem farblosen birnförmi- gen Knöpfchen, dessen breiteres Ende unter und zwischen den Schlingen der Wimperschnüre zum Vorschein kommt und hier mit den beiden Augen- punkten besetzt ist. Diese Larve habe ich häufig in Nizza wiedergesehen, aber aus jüngerem Stadium mit weniger gebogenem Verlauf der bilateralen Wimperschnur, die sich ohngefähr wie bei der jüngsten Bipinnaria verhielt, die in meiner zweiten Abhandlung Taf. I. Fig. 1—3 abgebildet ist, dann war das kreisförmige Wimperorgan noch nicht entwickelt. Bei starken Ver- gröfserungen erschien die Oberfläche des Körpers voll feiner querer Run- zeln. Bei diesen Larven habe ich mich überzeugt, dafs der vorhergenannte Strang von der Schlundgegend nach dem oculirten Ende ein Muskel ist. Ich habe ihn öfter im Akt der Contraction gesehen, wobei er plötzlich Ziek- zackform und zugleich Querrunzeln annahm. Das Körperende wurde dann eingezogen, ohne dafs der Schlund selbst in Bewegung oder Zerrung gerieth, so wie auch, wenn der Schlund sich heftig zusammenzog, dieser Strang nicht mitbewegt oder gezerrt wurde. Gerade wo das innere Ende dieses Mus- kels auf die Gegend zwischen Schlund und Magen stöfst, geht ein zweiter Strang nach dem Rücken des Thiers. Der Muskel und der ebenerwähnte Strang stolsen unter einem rechten Winkel zusammen. Dieser letztere Strang ist eine Röhre, deren Wände inwendig mit länglichen Kernen besetzt sind. Die Kerne (oder Zellen) stehen zerstreut auf der Wand und ragen nach in- nen vor, die innerste Grenze der Wand der Röhre scheint noch von einer feinen Haut gebildet zu sein, welche auch über die Kerne hinzieht. Das Ende der Röhre inserirt sich in der Haut des Rückens in der Mitte an einer granulirten runden nabelförmigen Stelle, an welcher beim Druck Doppel- Contouren als 2 concentrische Kreise (ob Öffnung?) zum Vorschein kommen. Von dieser Echinodermen -Larve wissen wir also jetzt, dafs sie früher nur eine bilaterale Wimperschnur besitzt und hernach noch ein kreisförmiges Wimperorgan erhält.

der Holothurien und Asterien. 57

Ich halte sie für die Larve einer Asterie und stütze diese Deutung auf die Übereinstimmung ihrer bilateralen Wimperschnur mit derjenigen der Bipinnaria und ihre Abweichung von der bilateralen Wimperschnur der Ho- lothurienlarve. (') Die gröfsten Individuen der Tornaria, die ich in Nizza

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sah, hatten eine Gröfse von 5”. Kleinere waren häufig (1), die kleinsten

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hatten nicht mehr als 4”.

Bei fortgesetzten Studien über die Metamorphose der Tornaria wird besonders auf die Röhre zu achten sein, welche einerseits an die Rücken- wand, anderseits an den Schlund anstöfst. Es scheint dieselbe Röhre, wel- che schon bei der bilateralen Holothurienlarve beobachtet ist, wo sie den Stamm für den Stern von Blinddärmchen bildet, aus welchen sich das Ten- takelsystem entwickelt. Es ist daher anzunehmen, dafs um diese Röhre auch bei der Tornaria sich die zum Wassergefäfssystem gehörenden Organe der Asterie bilden werden, die aber jetzt noch nicht vorhanden sind. Es bleibt dermalen ungewils, ob die fragliche Röhre in Beziehung steht zu dem spä- tern Munde der Asterie oder vielmehr Stamm des Wassergefälssystems, näm- lich Steinkanal wird. Im letztern Fall wird es von Interesse sein zu erfahren, wo das ventrale und wo das dorsale Ende des Steinkanals ist, ob nämlich das innere auf den Larvenschlund stofsende Ende der Röhre, oder das äufsere nabelförmige Ende die Stelle ist, wo sich die Madreporenplatte der Asterie bildet. Das letztere wäre, sofern überhaupt die Voraussetzung rich- tig, wahrscheinlicher, weil sich bei der Auricularia an dem innern Ende der Röhre der Stern der Tentakeln bildet. Wenn aber die Röhre der Tornaria dem Steinkanal der Asterien entsprechen sollte, so würde eine gleiche An- lage auch bei den Bipinnarien zu erwarten sein, in demjenigen Stadium der Larve, wo sich das Wassergefäls- und Tentakelsystem zu entwickeln be- ginnt. Aus dieser Zeit liegen noch keine Beobachtungen von den Bipini- narien vor. Endlich würde von den Asterien mit mehrfachen Madreporen- platten und Steinkanälen zu erwarten sein, dafs ihre Larven mehrere solche von aufsen nach innen dringende Röhren, wie Tornaria eine hat, besitzen werden.

(') Aus demselben Grunde kann die in Helsingör beobachtete Brachiolaria auch nur die Larve einer Asterie sein.

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58 Mürter über die. Larven und die Metamorphose

2. Wurmförmige Asterienlarve. Taf. VI. Fig. 8 12. Taf. VII. Fig. 1 —4.

Ich beschreibe nun ein junges Echinoderm, von dem es auf den er- sten Blick zweifelhaft sein kann, ob es eine Holothurie oder ein Seestern ist. Denn es ist ein Wurm und ein Stern zugleich, so nahe berühren sich die Typen der verschiedenen radialen Entwickelungen.

Das Thierchen ist }” lang, seine Länge verhält sich zur Breite wie 4:3. Sein wurmförmiger etwas abgeplatteter Körper ist vorn und hinten abgerundet und durch 4 quere Furchen auf der Rückenfläche in 5 Segmente getheilt, von denen das zweite und dritte die gröfsern sind; das letzte Seg- ment ist so kurz, dafs es nur von hinten deutlich gesehen werden kann. Die Oberseite ist braun ins violette stark pigmentirt und dunkel. Die Un- terseite ist bis zum vierten Segment farblos und gleicht hier einem fünflap- pigen Stern, hinter diesem Stern nimmt der Körper auch unten wieder die wurmförmige Gestalt und die Farbe des Rückens an. Die Mitte des hinter- sten Segments ist eingedrückt und dunkel, es blieb ungewils ob diese Stelle geöffnet ist. Auf dem sternförmigen Feld der Unterseite, dessen Mitte dem Munde entspricht, treten, symmetrisch vertheilt, 10 lange, farblose, weiche, eylindrische Tentakeln oder Füfse mit abgerundeten Enden hervor, so zwar, dafs auf jeden der fünf Lappen 2 Füfse kommen. Wimperkränze und Wim- perschnüre sind nicht verhanden. Mit den Füfschen tastet das Thierchen umher; wenn man es auf den Rücken umwendet, so sucht es sich mittelst der Füfschen immer wieder umzuwenden. Ob in der Mitte des Sterns schon die Mundöffnung vorhanden ist, läfst sich nicht erkennen. Jedenfalls ist das Thier noch in der Verwandlung begriffen, wie wir bald sehen werden.

Wir haben es also mit einem auf der Rückseite und am Hintertheil überall wurmförmigen Körper zu thun, dessen Bauchseite auf $ der ganzen Länge in einen gelappten Stern mit 10 Füsschen ausgeprägt ist. Die que- ren Rückenfurchen verlieren sich auf der Bauchseite in die Einschnitte zwi- schen den Lappen oder Strahlen.

Indem einer der 5 Lappen des Sterns nach vorn gerichtet ist und die Unterseite des abgerundeten vordern Endes des Körpers ausmacht, läuft die erste Querfurche des Rückens unten jederseits in die Einschnitte zwi- schen dem vordern Lappen oder Radius des Sterns und dem ersten oder vordern Seitenradius aus. In gleicher Weise läuft die zweite Querfurche

der Holothurien und Asterien. 59

des Rückens jederseits in die Einschnitte zwischen dem vordern und hintern Seitenradius aus. Die dritte Querfurche begrenzt den hintern Rand der beiden bintern Seitenlappen oder Radien.

Anfangs glaubte ich, eine Holothurie mit sehr kurzem Körper und nach abwärts gekrümmtem Mundtheil vor mir zu haben. Diese Lage des Mundes nehmen die erwachsenen Holothurien der Gattung Holothuria, mit ausgeprägtem Unterschied des Rückens und Bauches (nicht die Pentac- tae), sehr gewöhnlich an, die sehr platte Holothuria pudendum regale hat den Mund und seinen Tentakelkranz im contrahirten Zustande des Thiers ganz auf der untern Seite und hinter dem vordern Ende des Thiers. Bei weiterer Untersuchung unseres wurmförmigen Sterns hat sich indefs erge- ben, dafs es keine Holothurie, sondern ein Seestern ist. Uber die Einge- weide habe ich zwar wegen der völligen Undurchsichtigkeit nichts ermitteln können, beim Zerdrücken des Thierchens kommt aber, aufser einem Kalk- netz in der Haut, eine sternförmige Kalkfıgur um die dem Mund entspre- chende Mitte zum Vorschein, und diese Figur pafst in keiner Weise zu dem Kalkring des Mundes einer Holothuria. Dieser Stern mit 5 vorspringenden und 5 eintretenden Winkeln wird von 10 Kalkstücken gebildet, welche sich mit ihren Enden abwechselnd zu Ecken und Winkeln aneinander legen. Die Kalkgebilde gleichen im Allgemeinen denjenigen des Mundringes der jungen Holothurien. Jedes besteht in seinem mittlern Theil aus einer stär- kern Leiste, welche sich auf der Aufsenseite und noch mehr an den Enden stark verzweigt und in ein dichtes Netz endigt. Die Netze zweier Stücke sind auch stellenweise mit einander verbunden. In dem Netzwerk hinter jeder der 10 Leisten zeichnet sich eine gröfsere Masche aus. Aufser der sternförmigen Figur dieses Gebildes ist auch sein Verhalten zu den Lappen oder Radien des Sterns für die Asterie entscheidend. Denn bei den Holo- thurien entsprechen 5 von den 10 Kalkstückchen des Mundringes den 5 Ambulacralfeldern des Thiers und die an diesen Feldern anliegenden Längs- muskeln befestigen sich selbst oder (Holothuriae pentactae) mittelst eines abgegebenen Fleischbündels an dieselben 5 Kalkstücke. Bei den Seester- nen hingegen entspricht nicht ein Kalkstück allein alternirend einem Ambu- lacrum, sondern je zwei zu einem vorspringenden Winkel verbundene. Dies beruht auf dem Unterschied, dafs die Knochenstücke, welche den Mund der Asterien begrenzen, nichts anders, als die Enden des Ambulacralskeletes

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60 Mürrer über die Larven und die Metamorphose

sind, dagegen der Kalkring des Mundes der Holothurien nicht zu der häu- tigen Schale des Thiers gehört, sondern eine darin aufgehängte Basis der Mundtentakeln ist, welche in vielen Holothurien, namentlich in den Pentac- tae, grofser Ortsbewegungen durch Muskeln fähig ist. Dieser Ring ist daher auch nicht den Schalenstücken der Seeigel, sondern den Basaltheilen der Kiefer der Seeigel zu vergleichen.

Bei weiterer Entwickelung unseres Thierchens wird auch die Rück- seite pentagonal und entwickelt 5 Ecken, welche durch gerade Seiten ver- verbunden sind. Die Querfurchen sind auch dann noch vorhanden und eben so das hintere wurmförmige Ende, welches aus der hintern Seite des Pentagons hervortritt. In diesem Zustande sah ich das Thierchen nur ein- mal. Die Haut war bis an die Ecken von einem dichten Kalknetz durch- drungen. Aus jeder der 5 Ecken ragte aus einer Öffnung ein weicher Fort- satz hervor, viel kleiner, als die Fülschen, dessen Bedeutung, ob Anlage eines Stachels, ob Fühler mir unklar geblieben ist. Er wurde nicht wie die Füfschen gekrümmt und zeigte selten nur eine geringe Bewegung. Ich ver- muthe, dafs es einer jener der Rückseite der Seesterne eigenen sogenannten respiratorischen Tentakeln ist, von welchen man nach Tiedemann an- nimmt, dafs sie am Ende offen sind und das Wasser ins Innere der Leibes- höhle des Seesterns führen, welche aber in der That am Ende geschlossen sind. (1) An den 5 Seiten des Pentagons erschienen 1 oder 2 ganz kurze Spitzen, wie Anlagen von Stacheln, welche der Unterseite angehörten.

Dieser Seestern, den ich auf eine bestimmte Gattung und Art nicht zu deuten vermag, vermehrt die Typen der sich entwickelnden Asterien um eine neue vierte Form. Wir kennen nämlich jetzt schon 4 Formen, die unter einander keine Ähnlichkeit darbieten. 1) Typus des Echinaster und Asteracanthion. 2) Typus der Bipinnarien. 3) Typus der Ophiuren. 4) Der Typus unserer Asteride. In dieser entwickelt sich der Stern auf der Seite eines wurmförmigen Körpers, dessen Segmente sich zum Theil in ei-

(') Wenigstens bin ich bei Untersuchung sehr kleiner Exemplare des Asteracanthion violaceus, die ich kürzlich in Flensburg mikroskopisch beobachtete, gewils geworden, dafs diese Röhrchen hier blinddarmförmige Verlängerungen im Zusammenhange mit der Leibes- höhle sind. Die Wimperströmung geht in ihrem Innern auf und abwärts und kehrt am ge- schlossenen Ende um. Ich kann in dieser Hinsicht nur die Angaben von Hrn. Ehren- berg bestätigen. Siehe Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften a. d. J. 1835.

der Holothurien und Asterien. 61

nen, zum Theil in zwei Arme verlängern. Ob der hintere Theil des Wurms das frühere Larvenmaul bildete und das wurmförmige Ende sich in die Madreporenplatte umbildet, oder ob es als der After des Seesterns übrig bleibt, ist ungewils.

Weiter habe ich dieses Echinoderm nicht verfolgen können. Es ist ohne Zweifel eine Asterie, nicht eine Ophiure, und nicht eine Comatula. Bei den Ophiuren entsprechen die vorspringenden Kanten des Skelets am Munde den Interradien, nicht den Radien, wie hier. Die Form des jun- gen Sterns ist diejenige einer Asterie, nicht einer Ophiure und nicht einer Comatula. Gegen letztere spricht auch das Kalkgebilde um die ventrale Mitte. Die Comatula mediterranea zeigt nichts davon in ihrem ventralen Perisom.

Es ist nun noch anzudeuten, dafs der wurmförmige Seestern vielleicht die Fortsetzung der Tornaria sein könnte. Was dieser Vermuthung einiges Recht giebt, ist erstens der Umstand, dafs die Tornaria nur die Larve einer Asterie sein kann und zweitens deutet der wurmförmig gegliederte Körper der zuletzt beschriebenen Asterie darauf hin, dafs er früher vom Wimper- kränzen umgeben war. Ist aber die wurmförmige Asterienlarve die Fort- setzung der Tornaria, dann würde das hintere Ende ohne Zweifel dem After- ende der Tornaria entsprechen, welches von einem Wimperkranz umgeben ist, die der Madreporenplatte entsprechende Stelle würde dann zwischen den hintern Armen zu suchen sein. Es handelt sich also bei der Fortsetzung dieser Untersuchung darum, ob es eine Form von Asterien giebt, welche abweichend von der Metamorphose der Bipinnarien, statt zweier, drei Pha- sen durchläuft, so dafs die anfangs bilaterale Larve in eine wurmförmige Larve mit Wimperkränzen wie bei den Holothurien verwandelt wird.

3. Bipinnariaasterigera. Taf. VII. Fig.5—8.

Koren und Danielssen hatten die Madreporenplatte aus der Tren- nung des Seesterns von der Larve erklärt, wo eine in den Seestern führende Athemröhre der Bipinnaria abreifse. In der zweiten Abhandlung über die Metamorphose der Echinodermen wurde von mir nachgewiesen, dafs diese sogenannte Athemröhre der Mund und Schlund der Larve ist, welche in den im Innern des Seesterns liegenden Magen führt; bei der natürlichen Tren- nung der Larve von dem Seestern mufs daher die Stelle vernarben, wo der

62 Mürrer über die Larven und die Metamorphose

Schlund abgerifsen ist. Nach dem Abreifsen der Larve vom Seestern zeigte sich mir bei dieser Öffnung noch eine zweite, welche in einen Kanal führt, der mit dem spätern Steinkanal gleiche Richtung hat. Auch nach dieser Verbefserung der von den Norwegischen Naturforschern aufgestellten Mei- nung blieb die Erklärung der Madreporenplatte insofern noch unbefriedigend, als bei mehreren Seesternen kein Larventheil sich abstöfst, und als es See- sterne mit mehreren Madreporenplatten giebt. Bei der Larve der Holo- thurie im Zustande der Auricularia wurde eine von einer nabelförmigen Stelle des Rückens entspringende nach innen dringende Röhre erwähnt, an deren innerm Ende sich das Tentakelsystem entwickelt; diese Röhre wurde sowohl bei der Auricularia als bei der Tornaria beobachtet, die mit guten Gründen als die Larve einer Asterie bezeichnet wurde. Es mufste indefs zweifelhaft gelafsen werden, ob die Röhre der Auricularia in Beziehung steht zur Vorhöhle der Tentakeln oder ob die Röhre der Torna- ria Stamm des Wassergefälssystems der Tentakeln wird, verglichen dem aus der porösen Madreporenplatte entspringenden Steinkanal, der als Stamm des Wassergefäfssystems mit dem Cirkelkanal um den Mund zusammenhängt. Wie sich dies auch verhalten möge, es läfst sich jedenfalls jetzt beweisen, dafs die von Koren und Danielssen angeregte Idee über den Ursprung der Madreporenplatte auch nach der angebrachten Verbefserung nicht weiter festgehalten werden kann. Denn es ist mir gelungen an einigen wohlerhal- tenen neuen Exemplaren der Bipinnaria asterigera an dem noch mit der Larve unversehrt zusammenhängenden Seestern die Madreporenplatte zu beobach- ten. Es ist eine kleine mit winzigen Papillen umgebene Hervorragung, an derselben Stelle, wo ich schon früher die zweite Öffnung an dem von der Larve abgerifsenen Seestern gesehen. Diese Warze liegt in der Nähe der Eintrittsstelle des Schlundes in den Seestern, in der Richtung von da nach der Bauchseite (nicht auf der Bauchseite selbst) im Interradius, zwischen den zwei der Larve nächsten Armen des Seesterns. Wenn die Bauchseite des Seesterns nach oben gerichtet, diese beiden Arme gegen den Beobachter ge- richtet sind, so ist die Warze in allen 3 Exemplaren übereinstimmend dem linken Arme des Seesterns etwas näher. An ihr beginnt der sehr deutliche Steinkanal, dieser geht in den ebenso deutlichen Cirkelkanal des Wasserge- fälssystems, aus dem die ebenfalls sichtbaren Längskanäle für die Füfschen der Arme entspringen. Die Madreporenplatte des Seesterns der Bipinnaria

der Holothurien und Asterien. 63

erregt durch ihr Ansehen zuerst die Vorstellung, dafs sie eine von Papillen umgebene Spalte sei, sie scheint aber zwischen den Papillen nur wenig ver- tieft zu sein und eine Nadelspitze hier aufgesetzt, stöfst auf Widerstand, eben so wenig konnte ein Haar dort in den Steinkanal geführt werden. Da diese Stelle auf der Grenze des Seesternes und der Larve liegt, so kann sie beim Abreifsen des Seesterns leicht verletzt werden und so wird die Öff- nung zu erklären sein, welche an den künstlich abgerifsenen Seesternen früher hier von mir bemerkt wurde. Wurde die Haut der Larve auf der Bauch- seite der letztern in der Nähe des Seesternes aufgeschlitzt, so konnte man sich überzeugen, wie die Haut der Larve mit der Haut des Seesterns, die Leibeshöhle der Larve um den Schlund herum mit der Leibeshöhle des Seesternes communicirte, wie der Schlund mit dem Magen zusammenhing und letzterer in den Darm und die Afterröhre sich fortsetzte. An jüngern Exemplaren hängt ein Theil des Magens aus der Bauchöhle des Seesternes bis in die Leibeshöhle der Larve sackartig herunter und die Verbindung der Larve und des Seesternes ist daher breiter als an Exemplaren, wo der See- stern schon gröfser ist. i

Es verdient besonders hervorgehoben zu werden, welche Lage das war- zenförmige Ende des Steinkanals, welcher übrigens noch als einfache Röhre erscheint, in Beziehung zur Rückseite der Larve oder Bipinnaria hat. Die Afterröhre des Seesternes tritt bekanntlich auf der Bauchseite der Larve über dem Munde der Larve hervor. Der Steinkanal endet aber auf der entgegengesetzten Seite, nämlich da wo die Rückseite der Larve an den entsprechenden Interradialraum des Seesternes grenzt. Stellen wir uns einen Augenblick voraussetzend vor, der Steinkanal als Stamm des späteren Was- sergefälssystems wäre vor der Entwickelung des Seesternes schon in der Bi- pinnaria angelegt, so würde sein Ende auf der Rückseite der Bipinnaria sein, so wie der vorher angeführte Kanal der Tornaria auf der Rückseite der- selben endet; auf der Rückseite der Auricularia oder Holothurienlarve endet auch die Röhre, an deren innerm Ende sich das Tentakelsystem entwickelt. Für jetzt läfst sich diese Analogie nicht weiter führen, weitere Untersuchun- gen müfsen zeigen, ob die Vergleichung wirklich identische Theile umfafst oder mehr sinnreich als begründet ist. Wird sich die Analogie bestätigen, so würde damit der Beweis geliefert werden, dafs der Steinkanal oder der Kanal, der bei Tornaria schon vor der Entwickelung der Tentakeln vor-

64 Mürrer über die Larven und die Metamorphose

handen ist, in dieser Larve überhaupt das erste wäre, was von dem ganzen

& tritt. Monatsbericht der Akademie

späteren Echinoderm in Erscheinung

1850 April.

Anmerkung. Ich verdanke die Untersuchung dieser Exemplare der Bi- pinnaria asterigera dem zoologischen Museum in Hamburg, das sie von Hrn. Dr. Krohn erhalten. Sie stammen also wohl aus Sicilien. Den norwegischen Exemplaren gleichen sie sowohl in Gröfse als Gestalt, aber die Wimpeln sind viel länger. Der Seestern ist eben so weit entwickelt als in den früher untersuchten norwegischen Exemplaren.

Unter den in Nizza vorgekommenen Larven war die häufigste ein Thierchen von 4— 4" Durchmesser, welches man wegen seiner Form wohl für eine junge Meduse halten kann; denn man unterscheidet an ihm einen halbsphärischen, später scheibenförmigen Körper, von dessen Mitte ein Schlund herabhängt. Aber diese Larve unterscheidet sich von den jun- gen Medusen, dafs sie sich durch Wimperbewegung kreisend fortbewegt und nie zeigt sie etwas von den zuckenden Bewegungen der jungen Medusen. Sie besitzt mehrere kolbige Fortsätze, gleich den von Sars beschriebenen Larven von Echinaster und Asteracanthion. Diese Fortsätze, deren Zahl (meist 2—3, seltener mehr bis 6) und Gröfse variirt, befinden sich unterhalb der Hemisphäre, zwischen ihr und dem Schlund, auf verschiedene Stellen des Umfanges vertheilt, die Kolben sind mit Wimpern besetzt, ohne Wim- perschnüre, auf ihrer Oberfläche sind einige ovale helle Körnchen zerstreut. Die Kolben sind untereinander sehr ungleich an Gröfse, sie sind steif aus- gestreckt, aber durch die Bewegung ihrer Wimpern entsteht das beständige Kreisen des Thierchens. Der Körper des Thierchens ist fast durchsichtig und hat zuweilen einen bläulichen Schein. Im Innern der Hemisphäre er- kennt man den Magen und darin Rotation von Wimperbewegung. Der Schlund wird zuweilen gegen den Körper und Magen heraufgezogen. Am Umfange des Körpers unterhalb der Hemisphäre stehen auch zwei bis vier kurze steife Röhrchen hervor, auf verschiedene Stellen des Umfanges ver- theilt. Das angewachsene Ende der Röhrchen ist dünner, das andere Ende ist wie quer abgeschnitten und zeigt eine dunkle Contour. (') Die Scheibe

(') An einer jungen Meduse würde hier an Otolithen zu denken sein. Es gelang nicht, sich von dem Vorhandensein eines solchen zu überzeugen, und eben so wenig auszumitteln,

ob die Röhrchen offen sind.

der Holothurien und Asterien. 65

wird hernach eckig, und bildete einmal ein Oktagon mit Einschnitten, was befser auf Medusen als Echinodermen pafst. Kalkabsätze wurden nie gese- hen. Wenn diese Larve wegen ihrer Ahnlichkeit mit den Larven von Sars zu den Echinodermen gehören sollte, so könnte sie nur unter den vielarmi- gen aufgesucht werden. Es wird bei weiterer Beobachtung an Asteracan- thion tenuispinus zu denken sein, der 6 8 Arme bei 2—3 Madreporen- platten besitzt. Auch wird zu ermitteln sein, ob die auf der Oberfläche des Körpers und der Kolben zerstreuten hellen Körnchen nicht die Structur der Nefselorgane der Medusen haben. Während der Beobachtung dieses Thier- chens, das täglich in vielen Exemplaren erschien, schwankte ich in Unge- wifsheit, ob ich es für die Larve eines Echinoderms oder eine junge Meduse zu nehmen hatte und bald war mir das eine, bald das andere wahrscheinlicher. Unter meinen Notizen zu den Zeichnungen finde ich die Deutung der hellen Körnchen als Nefselorgane. Da aber eine detaillirte Zeichnung darüber fehlt, woraus der Bau der Nefselorgane hervorginge, so weifs ich dermalen nicht mehr, worauf diese Zusammenstellung beruht. Ich will also auf diese No- tiz keinen Werth legen und behalte mir vor, diese Frage bei der Wiederbe- obachtung des Thierchens zu entscheiden.

11I. Allgemeine Bemerkungen.

Beim Schlufs der diesjährigen Beobachtungen lassen sich die Variati- onen, welchen die Metamorphose der Echinodermen unterworfen ist, voll- ständiger übersehen.

4) Die Verwandlung der bilateralen Larve in das Echinoderm erfolgt zur Zeit, wo die Larve noch auf dem Embryonentypus steht und allgemein mit Wimpern bedeckt ist, ohne Wimperschnüre. Ein Theil des Larven- körpers nimmt die Form des Echinoderms an; der Rest der Larve wird in die Gestalt des Echinoderms absorbirt. (Ein Theil der Asteriden. Echina- ster. Asteracanthion Mülleri Sars.)

2) Die Verwandlung der bilateralen Larve in das Echinoderm erfolgt zur Zeit, wo die Larve vollkommen organisirt ist d. h. Verdauungsorgane und eine besondere Wimperschnur besitzt. Das Echinoderm wird in dem Pluteus, wie das Gemälde auf seinem Gestell, eine Stickerei in einem

Phys. K1. 1849. I

66 Mürrer über die Larven und die Metamorphose

Stickrahmen aufgeführt, und nimmt sodann das Verdauungsorgan der Larve in sich auf. Hierauf gehen die Larvenreste allmählig zu Grunde (Ophiura, Seeigel) oder werden abgestofsen (Bipinnaria).

3) Die Verwandlung der Larve erfolgt zweimal. Das erstemal geht sie aus dem bilateralen Typus mit seitlicher Wimperschnur in den radialen Typus über und erhält statt der früheren Wimperschnur neue locomotive Larven- organe, die Wimperreifen. Aus diesem Zustand entwickelt sich das Echi- noderm, ohne dafs ein Theil der Larve oder Puppe abgestofsen wird. Ent- weder wird nun das Echinoderm an einem Theil der wurmförmigen Larve ausgebildet und der Rest der Larve in das Echinoderm absorbirt (Tornaria? wurmförmige Asterienlarve), oder die ganze Larve wird gleichzeitig in das Echinoderm verwandelt (Holothurien).

Bezeichnen wir als Embryonentypus den Zustand, wie das Thier aus dem Ei hervorgeht und wo die innern Organe noch nicht ausgebildet sind, so erhalten wir vier Stadien oder Typen, den Embryonentypus, den Lar- ventypus, den Puppentypus und den Typus des Echinoderms. Das Thier kann von jedem der drei ersten aus sogleich in das Echinoderm übergeführt werden, oder sie alle durchlaufen.

Schon lange hatte ich getrachtet, der Entwickelung und Verwandlung der Comatulen auf die Spur zu kommen, um einen Begriff von dem Lar- venplan eines Crinoids und hiedurch einen Standpunkt zu erhalten, geeig- net, das Feld der Entwickelung und Metamorphose der Echinodermen bis in den Naturreichthum der Vorwelt zu übersehen. Da die Eier der Coma- tula im Juli aus den Pinnulae austreten und zu dieser Zeit nach Thompson an den Pinnulae klebend gefunden werden, so mufste man sie aufsuchen und ihre Entwickelung verfolgen. Selbst aufser Stande, im Juli ein Gestade zu besuchen, wo Comatulen reichlich vorkommen, schrieb ich im Sommer dieses Jahres zur rechten Zeit an einen jungen Freund, der mich auf dreien frühern Reisen begleitet hatte, und damals die brittischen Küsten besuchte, und forderte ihn auf, diese Untersuchung anzustellen.

Der Erfolg ist in den Mittheilungen des Hrn. Dr. Busch aus Kirk- wall (Orkneys) über die Larve der Comatula zu ersehen, wovon in der Akademie am 15. November und 20. December 1849 Kenntnifs gegeben ist. Die Larven der Comatula scheinen äufserst rasch das Stadium der

der Holothurien und Asterien. 67

bilateralen Form zu durchlaufen und in das Stadium der Puppenform mit Wimperkränzen einzutreten. (!)

Was die bilateralen Larvenformen, insbesondere die mit Wimper- schnüren betrifft, so lassen sich alle aus einem gemeinsamen Typus, aus einer idealen Grundgestalt entwickeln, so die Larven der Ophiuren, See- igel, die Bipinnarien, Auricularien. Allen ist in der einfachsten Form eine ceirculäre Wimperschnur eigen, welche bilateral an den Seiten her- abgeht und mit einem obern und untern queren Theil über die Bauch- seite weggeht. Zwischen dem obern und untern queren Theil ist im- mer der Mund, bald der einen, bald der andern queren Schleife näher, bald mitten zwischen beiden. Bei den Seeigeln und Ophiuren ist der Mund der untern queren Schleife näher, bei den Bipinnarien und Auricularien gehen sie dicht über und unter ihm weg. Man kann diese circulare Wim- perschnur zur Unterscheidung von solchen Wimperreifen, die quer um den Leib herumgehen, die bilaterale Wimperschnur nennen. Wichtig ist, dafs die Larven der Ophiuren, Seeigel und die Auricularien nur eine einzige bi- laterale Wimperschnur besitzen, die Bipinnarien, Tornarien und Brachiola- rien oder überhaupt die Asterienlarven aber zwei, wovon die eine über, die andere unter dem Munde weggeht. Die verwickelten Formen der verschie- denen Larven entstehen, indem aus der gemeinsamen Grundgestalt an ver- schiedenen Stellen Fortsätze ausgezogen werden, auf welche die Wimper- schnur mit ausgezogen wird. Ich habe eine Tafel schematischer Zeichnun- gen entworfen, auf welcher die Gestalten der verschiedenen Pluteus aus ei- ner Grundgestalt abgeleitet sind. Wegen der Öconomie in den Kupferta- feln habe ich sie bis zur nächsten Abhandlung zurückgestellt, die auch die in der Akademie schon gelesenen Beobachtungen über die Larven der Seeigel des Mittelmeers (?) enthalten wird.

Die Metamorphose ist nunmehr durch alle Abtheilungen der wahren Echinodermen nachgewiesen. Die Sipunculiden sind von den Echinoder- men auszuschliefsen, sie weichen von ihnen schon in einem die Structur be-

(') Bericht der Verhandlungen der Königl. Preuls. Akademie der Wissenschaften 1849. p- 331. und 380. Archiv. f. Anat. u. Physiol. 1849. p. 400. und 439.

(*) Eine vorläufige Notiz über die an der Seeigellarve von Derbes bis zur Entwicke- lung aller Fortsätze, der Wimperepauletten und der Seeigelscheibe angestellten Beobach-

tungen ist im Archiv 1849. p. 112 gegeben. 12

68 Mürrer über die Larven und die Metamorphose

treffenden Hauptcharakter der Echinodermen ab, bei welchen sowohl in den Bedeckungen als in den Eingeweiden eigenthümlich geformte Kalkbil- dungen auftreten, die den Sipunculiden überall fehlen. Defswegen ist auch nicht zu erwarten, dafs man bei der Entwickelung der Sipunculiden auf solche fundamentale Formveränderungen stofsen wird, wie sie in der Classe der Echinodermen charakteristisch sind. (')

(‘) Ein auf einen jungen Sipunculus zu deutendes Thier ist mir einmal in Helgoland vorgekommen, es war 4” lang. Dieser borstenlose mit Mundtentakeln versehene grau- gelbliche halbdurchsichtige Wurm konnte wegen seiner Gestalt nur auf Sipunculus bezogen werden, mit welchem er im äufsern vollkommen übereinstimmte. Ein rothes Blut mit run- den Blutkörperchen führendes Längsgefäls des Körpers verzweigte sich auf die Mundtenta- keln, in denen die Gefälse Schlingen bildeten.

der Holothurien und Asterien. 69

Erklärung der Abbildungen.

Die verschiedenen Vergrölserungen sind nach den in der Abhandlung angegebenen absoluten Gröfsen der Objecete zu beurtheilen.

Taf. I. Auricularien mit Kalkrädchen.

Fig. 1. Unreife Auricularia von der Bauchseite.

a Mund, 5 Schlund, c Magen, dDarm, e After.

Fig. 2. Stärkere Vergrölserung der Rückseite.

Fig. 3. Unreife Auricularia schief von der Seite und auf die Bauchseite angesehen. Bezeichnung dieselbe.

Fig. 4. Dieselbe auf das pyramidale Ende angesehen.

Fig. 5. Auricularia von der Rückseite, f wurstförmige Körper, g röhriger Strang am Rücken einseitig befestigt, % das daran hängende Bläschen, woraus sich das Tentakelsystem entwickelt.

Fig. 6. Dieselbe schief auf die Seite und den Rücken angesehen. Bezeichnung die- selbe.

Fig. 6*. Die Röhre mit dem Bläschen stark vergrölsert.

Fig. 7. Auricularia von der Rückseite. % Der Stern von Blinddärmchen, woraus sich das Tentakelsystem entwickelt.

Fig. 7*. Ein Kalkrädchen bei stärkerer Vergrölserung.

Fig. 8. 9. 10. Eine Auricularia von verschiedenen Seiten. 8. von der Bauchseite. 9. schief vom Rücken, 10. von der Seite. g, die Röhre am Rücken mit dem Stern der Blinddärmchen 2.

Fig. 11. Der Tentakelstern in der zerdrückten Larve bei starker Vergrölserung, g die Röhre, : Kalkabsätze.

Taf. II. Auricularien und Holothurienpuppen mit Ralkrädchen.

Fig. 1. Auricularia aus der Zeit der Verwandlung. Die Ohren sind eingezogen. Man erkennt zwei reifenartige Querleisten, ob quere Theile der bilateralen Wim- perschnur oder kreisförmige Wimperreifen?

Fig. 2. Holothurienpuppe.

Fig. 3. Eine platt gedrückte Holothurienpuppe, bei der die bilaterale Wimperschnur wieder hervor tritt. Man sieht das Vestibulum % für die Tentakeln ausgebil- det, und die Kalkabsätze Z für den Kalkring. m der Darm in Verbindung mit dem Kalkring und Tentakelstern. Bei rn innerhalb des ersten Wimper-

70

Müruer über die Larven und die Metamorphose

reifens ist die Stelle wo später der Aufbruch des Vestibulums für die Tenta- keln erfolgt.

Fig. 4.a—f Holothurienpuppen in verschiedenen Ansichten.

Fig. 5.

Holothurienpuppe unter einem Glasplättchen, so dals die frühere bilaterale Wimperschnur wiedererscheint. Bezeichnung wie in Fig. 3.

Die Figuren 6. a c stellen eine schwimmende Holothurienpuppe vor, in Stellun-

gen, wo sich die Wimperreifen, der die Tentakeln enthaltende Theil des Körpers und

die Reste des bilateralen Wimperwulstes unter verschiedenen jedoch schwer verständ- lichen Ansichten unter dem Mikroskop darstellen.

Taf. III. Holothurienpuppen und junge Holothurien mit Wimperreifen und Kalkrädchen.

Fig. 1.

Fig. 2. Fig. 3.

Fig. 4.

Fig. 5. Fig. 6.

Fig. 7. Fig. 8.

Holothurienpuppe mit Wimperreife, bei welcher unter dem Compressorium die Stelle, welche zum Aufbruch des Vestibulum der Tentakeln bestimmt ist, sich vordrängt. a Darm, c Cirkelcanal des Wassergefälssystems, d Bläschen mit den Doppelkörnern, e Kalkring, f Tentakeln, c Polische Blase.

Junge Holothurie mit 5 Wimperreifen schwimmend. @ Kalkrädchen, & Kalk- druse.

Eine junge Holothurie mit 5 Wimperreifen 5 Kalkrädchen und einer Kalk- druse, im kriechenden Zustande.

Junge Holothurie unter einem Glasplättchen.

a Darm, d After, c Cirkelcanal des Wassergefälssystems, d Bläschen mit den Doppelkörnern, e Kalkring, g Canal mit der halbmondförmig gebogenen Kalkleiste. % Längsmuskeln. i Kalkdruse.

Eine andere Larve, Bezeichnung dieselbe.

Eine junge Holothurie mit Wimperreifen unter einem Glasplättchen, stärker vergrößsert. c Cirkelkanal des Wassergefälssystems. c Polische Blase. ec" 5 Äste des Cirkelcanals nach den Tentakeln. d Bläschen mit den Doppelkör- nern. g Canal mit der halbmondförmigen Kalkleiste. 7% Längsmuskeln. Kalkring, Bläschen mit Doppelkörnern und Tentakeln.

Ein Stück der Schnur mit Kalkrädchen aus einer Hautwarze der Chirodota violacea Pet. Fig. 5.* ein Kalkrädchen stark vergrölsert.

Taf. IV. Zweite Auricularia und Holothuria.

Fig. 1— 5. Unreife Auricularien in verschiedener Stellung und bei verschiedener Ver-

Fig. 1.

Fig. 2.

grölserung. Nizza.

Eine Auricularia von der Bauchseite, a Mund, 5 Schlund, ce Magen, d Darm, e After, f Kalkdruse, g graue Granulation über der Kalkdruse.

Auricularia schief vom Rücken und von der Seite angesehen, durch Wimper- bewegung schwimmend, Bezeichnung dieselbe. g Röhre vom Rücken abge- hend, an deren innerm Ende sich die Tentakelanlage entwickelt.

Fig. 3. 4. 5. Ein anderes Exemplar schwimmend, Fig. 3. von der Bauchseite angese-

hen, Fig. 4. vom Rücken, Fig. 5. von der Seite gesehen. In „ts 5

der Holothurien und Asterien. 71

Fig. 6. Reife Auricularia mit 11 Blasen. Marseille. (Der Darmcanal ist nach den Be-

obachtungen von Nizza verbelsert).

Fig. 7. Holothurienpuppe mit Wimperreifen und Blasen.

Fig. 8 Taf. V.. Hol Fig. 1

. 9. Junge Holothurie mit Wimperreifen, schwimmend und kriechend.

othurienlarven mit Blasen.

3. Drei verschiedene Exemplare, wie sie unter Glasplättchen bei starker Ver- grölserung erscheinen.

Fig. 4. Holothurienlarve mit freien Tentakeln, @ Darm, ec Cirkelcanal des Wasserge-

Fig. 4 Fig. 5

fälssystems, ce polische Blase, ce 5 Äste des Cirkelcanals zu den Tentakeln, e Kalkring, f Tentakeln, g Canal mit der Kalkkrone. 7 die seitlichen Blasen, h die unpare hintere Blase, i die ästige Kalkdruse. % Reste des bilateralen Wimperwulstes, 7 kreislörmige Wimperreifen.

*

Details aus der vorigen Figur.

. Eine ähnliche Larve unter dem Glasplättchen bei stärkerer Vergrölserung.

Fig. 5* Form eines Theils der Kalkkreuze in der Haut, mit mittlerm Knopf.

Fig. 6. Eine Larve bei geringerer Vergrölserung, unter einem Glasplättchen. Es

sind noch die Reste des bilateralen Wimperwulstes erkennbar. Fig. 6* Details des hintern Endes. ; ästige Kalkdruse, i graue Granulation. k Reste des bila- teralen Wimperwulstes.

Taf. VI. Tornaria (Fig. 1 7) und wurmförmige Asterienlarve (Fig. 8 12).

Fig. 1

. Tornaria von der Seite. & Mund, 5 Schlund, ce Magen, d Darm, e After, f Muskel, g Röhre am Rücken befestigt. % Dem Alter entgegengesetztes Ende, wo die beiden halhmondförmigen Pigmentflecke.

Fig. 2. Tornaria von der Bauchseite.

Fig. 3. Desgleichen schief von der Bauchseite.

Fig. 4. Tornaria von der Seite. Fig. 4* Details des dem After entgegengesetzten Endes mit den halbmond[örmigen Pigmenillecken.

Fig. 5. Tornaria von der Bauchseite.

Fig. 6. Tornaria schief von der Seite. Fig. Ansicht des dem After entgegengesetz- ten Endes mit den Schleifen der doppelten Wimperschnur, Schlund, f Mus- kel. % Anschwellung am Ende des Muskels, worauf die Pigmentllecke.

Fig. 7. Details der Eingeweide besonders. Bezeichnung wie in den vorhergehenden Abbildungen.

Fig. 8. Wurmförmige Asterienlarve bei geringer Vergrölserung von der Rückseite an- gesehen.

Fig. 9. Dieselbe von der Seite.

Fig. 10. Dieselbe von unten. a Fülschen.

Fig. 11. Ein anderes Exemplar von oben,

Fig. 12. von unten.

Taf. VII. Wurmförmige Asterienlarve (Fig. 1—4), neue Larve von Nizza

(Fig. 9—11.). Bipinnaria asterigera. (Fig. $—8.).

Mürrer über die Larven und die Metamorphose u. s. w.

Fig. 1 und 2. Wurmförmige Asterienlarve, von oben angesehen.

Fig. 3. Fig. 4. Fig. 5.

Fig. 6.

Fig. 7.

Fig. 8. Fig. 9.

Kalkfıgur bei Comprelsion des Thierchens erscheinend.

Weiter entwickeltes Exemplar von pentagonaler Form, von oben gesehen. Der Seestern der Bipinnaria asterigera in Verbindung mit der Bipinnaria. Die Ansicht ist von der Rückseite der Bipinnaria. a Madreporenplatte, d der durch die Haut des Seesterns durchscheinende Steincanal. 2’ der Cirkelcanal des Wassergefälssystems, 6" die davon entspringenden Längscanäle der Arme, % Haut des Seesternes übergehend in die Haut der Bipinnaria.

Der Seestern der Bipinnaria im Zusammenhang mit der Schlundröhre und Afterröhre, von hinten gesehen. a, 6, wie in der vorigen Figur d Schlund- röhre der Bipinnaria in den Seestern führend, g Afterröhre.

Schlundröhre und Afterröhre im Zusammenhang mit dem Seestern der Bipin- naria von der Bauchseite der letztern. « Obere Wimperschnur über der Huf- eisenförmigen Querfurche, worin der Mund, 3 untere Wimperschnur unter der Querfurche. ce Mund, d Schlundröhre, e Magen, welcher sich nach den Armen des Seesterns und dann auch nach der Bipinnaria hin aussackt. f Darm, so weit er in der Leibeshöhle des Seesternes liegt, mit den Biegungen nach zweien Armen hin. g frei hervorstehende Afterröhre. A Haut des Seesternes in die Haut der Bipinnaria übergehend.

Schlund, Magen und Darm allein. Bezeichnung dieselbe.

Die unbestimmte Larve von Nizza. a Maul. 5 Wimperarme. c Röhrchen.

Fig. 10. Dieselbe auf die Fläche angesehen. Fig. 11. Ein anderes Exemplar mit 4 Röhrchen.

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Über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle, namentlich des Wismuths.

Von Si IPA UÜSTAVIR OSB.

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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 26. April 1849.]

eeantich lassen sich die Krystallformen sämtlicher Metalle aus drei Formen ableiten, nämlich dem regulären Octaöder, einem Rhomboeder von 86-88° und einem Quadratoctaäder von 105° 47’ (in den Endkanten). Zu den octaödrischen Metallen gehören Gold, Silber, Kupfer, Blei; zu den rhombo&@drischen Antimon, Arsenik, Tellur; zu den quadratoctaödrischen, so viel man bis jetzt weils, nur das Zinn, bei welchem diefs von Miller (!) nachgewiesen ist. Das Wismuth wurde bisher immer zu den regulären Me- tallen gerechnet; diefs ist ein Irrthum, ich habe gefunden, dafs es rhombo- edrisch sei, und zu derselben Gruppe gehöre, wie Antimon, Arsenik und Tellur, und dieser Umstand hat mir Veranlassung gegeben, nicht allein die Formen des Wismuths genauer zu untersuchen, sondern auch die aller übri- gen rhomboädrischen Metalle, um sie mit denen des Wismuths vergleichen zu können. Ich will nun meine über diese Metalle angestellten Untersu- chungen der Reihe nach anführen.

1) Antimon.

Das Antimon findet sich in der Natur nicht häufig. Es kommt auf

ö Gängen und Lagern vor und zwar zu Sahla in Schweden, wo es zuerst auf- gefunden wurde, zu Allemont im Dauphine, Andreasberg im Harz und Przi- bram in Böhmen, gewöhnlich nur derb, nur in Andreasberg krystallisirt; aber die derben Massen enthalten grobkörnige Zusammensetzungsstücke ö ie) ö »

(') Poggendorffs Annalen Bd. 58, S. 660, Phys. Kl. 1849. K

74 G. Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

die in mehreren Richtungen deutlich spaltbar sind, dagegen die Krystalle wiederum gewöhnlich sehr zusammengehäuft und schwer erkennbar sind, so dafs aus den derben Massen die Beschaffenheit der Grundform leichter zu erkennen ist, als aus den Krystallen. Künstlich kann man das Antimon wie die meisten der folgenden Krystalle krystallisirt erhalten, wenn man gröfsere Massen in einem Thontiegel schmilzt, die Masse dann soweit er- kalten läfst, dafs sich nur an den Seiten und der Oberfläche eine Kruste bildet, in welche man sodann mit einer glühenden Kohle oder einem spitzen Instrumente ein Loch macht, und die innere noch flüssige Masse in einen kleineren Tiegel giefst, mit der man sodann ebenso verfährt. Zerschlägt man nun die erhaltenen Krusten, so findet man die inneren Seiten mit Kry- stallen besetzt. Die auf diese Weise beim Antimon erhaltenen Krystalle sind jedoch nur klein, und ihre Flächen sind, wie diefs bei den auf die an- gegebene Weise dargestellten Krystallen gewöhnlich der Fall ist, treppen- arlig vertieft, was die genauere Bestimmung der Winkel erschwert. Läfst man die geschmolzene Masse des Antimons ruhig erkalten, so enthält sie oft sehr grofskörnige, deutlich spaltbare Zusammensetzungsstücke, während sich auf der Oberfläche Gruppirungen undeutlicher Krystalle bilden, die den gestrickten Gestalten Werner’s entsprechen.

Haüy ('!) hielt noch die Krystallform des Antimons für nicht ver- schieden von der Form, die man seit Rome de Isle allen Metallen zuzu- schreiben gewöhnt war, nämlich der regulären. Er untersuchte nur die Spaltungsrichtungen der geschmolzenen und langsam erkalteten grofskörni- gen Massen, und bemühte sich zu zeigen, dafs sie sowohl parallel den Flä- chen des Octaöders als auch des Dodeca@ders gehen, so dafs deren also im Ganzen 10 stattfinden. Mohs (?) ist der erste gewesen, der dierhombo&drische Form des Antimons erkannt kat. Er beschrieb sonst ebenfalls nur die der- ben, körnigen Massen, und zeigte, dafs die Spaltungsflächen wohl der Zahl nach so viele vorkommen, wie Haüy angegeben, dafs sie aber parallel einem Rihomboäder von 117° 15, dem zweiten spitzeren Rhomboeder desselben, dem zweiten sechsseitigen Prisma und der geraden Endfläche gehen und unter sich von sehr verschiedener Vollkommenheit sind. Die Spaltungsfläche,

(') Traite de Mineralogie sec. @d. t. 4, p.281; 1822. '@) Anfangsgründe der Mineralogie Th. 1, S.496. 1824.

namentlich des Wismuths. 75

parallel der Endfläche, ist nach ihm die deutlichste und sehr vollkommen, die Spaltungsflächen nach dem Hauptrhomboöder sind zwar noch deutlich und leicht zu erhalten, doch weniger glänzend, und die nach dem zweiten spitzeren Rhomboöder schwieriger zu erhalten und unterbrochen; von de- nen, parallel dem zweiten Prisma finden sich gewöhnlich nur schwache Spu- ren, die schwer wahrzunehmen sind. Da die von Mohs angegebenen Win- kel nur für ungefähre ausgegeben werden (!), so war es sehr schätzenswerth, dafs Marx diese Winkel genauer zu bestimmen suchte (?). Er mafs den Winkel der Endfläche zur Rhömboederfläche und fand ihn in einem Mittel zu 142° 15’, daraus ergiebt sich der Winkel des Rhomboeders zu 116° 59, was von dem Mohs’schen Winkel um 16 Minuten abweicht. Von den Spal- tungsflächen konnte er nur die vier vollkommneren, parallel der Endfläche und den Flächen des Hauptrhomboeders wahrnehmen, die übrigen unvoll- kommneren nahm er daher nicht an, und glaubte in der Annahme derselben von Mohs nur eine Connivenz gegen die Autorität Haüy’s zu sehen.

Marx untersuchte auch die auf die eben angegebene Weise durch Schmelzung dargestellten Krystalle, die er von der Gröfse einer viertel bis zu einer halben Linie erhielt, und zeigte, dafs sie stets das erste, spitzere Rhomboöder des angegebenen, also Rhomboeder von 87° 28’ wären, deren Winkel daher von denen des Hexaöders so wenig abwichen, dafs die frü- here Verwechselung damit wohl verzeihlich gewesen wäre. Diese Krystalle sind entweder einzeln aufgewachsen, oder sie liegen in paralleler Stellung den drei Endkanten eines Rhomboäders entlang, so also dafs die Spaltungs- richtungen in allen in paralleler Richtung hindurch gehen.

Hessel, der in Leonhard’s Jahrbuch einen Auszug der Arbeit von Marx giebt (°), führt dabei an, dafs die von ihm beobachteten künstlichen Krystalle Combinationen des Hauptrhomboeders von 116° 50’ mit dem ersten spitzeren und der geraden Endfläche gewesen wären, die durch Vorherrschen der letztern Fläche eine tafelförmige Gestalt und aufserdem einen Durch- messer von 47 Linie bei einer Dicke einer halben Linie gehabt hätten. Übri-

() A.a. 0. zweite Ausgabe Th. 2, S. 474.

(*) Journal für Chemie und Physik von Schweigger-Seidel 1830 B. 59, S. 211.

(°) Neues Jahrbuch der Mineralogie etc. von v. Leonhard u. Bronn 1833 $. 56.

(°) Neues Jahrbuch der Mineralogie etc. von v.Leonhard u. Bronn 1848 S. 310. :K 2

76 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

gens konnte auch er nur die von Marx angegebenen Spaltungsflächen be- obachten.

Die sehr complieirten Krystalle von Andreasberg sind bisher weder von Mohs noch einem andern Mineralogen untersucht worden, auch er- schwerte der geringe Glanz und die unebene Beschaffenheit der Flächen ihre

genaue Bestimmung. In der neuesten Zeit sind sie wieder häufiger und wie

8 es scheint schöner als früher vorgekommen, und dieses neue Vorkommen ist von Fr. Römer in Clausthal beschrieben. Hiernach erscheinen die Kry- stalle von einer sehr bedeutenden Ausbildung, denn aufser den von Mohs und Marx angegebenen Formen, dem Hauptrhombo&der, dem zweiten spitze- ren Rhombo&der, dem zweiten sechsseitigen Prisma, und der geraden End- fläche, die Römer mit den Buchstaben A, f, d, c bezeichnet, werden hier noch angeführt das erste stumpfere und das erste spitzere Rhomboeder d und o, das erste Prisma /, und ein Skalenoöder, ?, zwischen dem ersten und zweiten spitzeren Rhomboöder, so dafs also die Krystalle Combinatio- nen von 8 einfachen Formen sind. Aber die Flächen des ersten stumpferen Rhomboeders waren durch 2 sich in der Mitte kreuzende Furchen in 4 Theile getheilt, daher Römer annehmen zu dürfen glaubte, dafs die Kry- stallform auf einer Zwillingsbildung beruhe und die mit einander verwach- und 27’ bestehen,

senen Individuen nur aus den drei Rhomboedern A, %r wobei die Flächen des ersten spitzeren Rhomboeders von 4 Individuen in eine Ebene fallen. Die Krystalle erreichen nach Römer eine Gröfse von 8 Linien.

Ich habe sowohl die natürlichen als auch künstlich dargestellten der- ben Massen und Krystalle untersucht. Bei den derben Massen von Cha- lanches und Sahla, sowie auch bei dem gewöhnlich im Handel vorkommen- den Antimon sind die körnigen Stücke so grofs, dafs man die Spaltungsflä- chen sehr gut untersuchen kann, und ich habe sehr gut alle die von Mohs angegebenen gesehen, und von den verschiedenen Graden der Vollkom- menheit, wie Mohs sie anführt, so dafs ich den Angaben von Marx und Hessel, die sie zum Theil abläugnen, nicht beipflichten kann.

Von den künstlichen Krystallen besitze ich schon seit längerer Zeit ein sehr schönes Präparat, das ich der Güte des Hrn. Dr. Elsner verdanke, der es dargestellt hatte, und der mir nun auch auf meine Bitte die übrigen von ihm dargestellten Präparate des hiesigen Gewerbe-Instituts mittheilte.

namentlich des Wismuths. 77

Die Krystalle haben, wie die von Marx beschriebenen Krystalle, die Form des ersten spitzeren Rhomboäders ohne alle weitere Abänderungsflächen, und haben auch ebenso die angegebene Gröfse. Ihre Flächen sind nicht sehr glänzend, aber sie sind immer noch glänzender als die dem Hauptrhom- boöder parallel gehenden Spaltungsflächen, welche Marx gemessen hat, da- her ich es nicht für überflüssig hielt, sie auch zu messen. Ich stellte die Messung bei zwei Krystallen an, bei dem einen mafs ich einen Seitenkanten-, bei dem andern einen Endkantenwinkel, und erhielt folgende Resultate:

1 2. ageltz: 24t' - 134 2. 23

6 en)

- 13 - 26 ST. - 28 el - 25 3 92% 354 92 515 ae

Die Mittel beider Messungen weichen demnach um 33’ von einander ab, daindessen der Krystall, welcher zur zweiten Messung gedient hatte, bessere Bilder reflectirte, als der erstere, so ziehe ich es vor, die erste Mes- sung gänzlich zu verwerfen, als aus beiden das Mittel zunehmen. Der somit gefundene Endkantenwinkel von 87° 35’ liegt zwischen den Winkeln von 87° 39 und 87° 28’, die Mohs und Marx erhalten haben, nähert sich aber mehr dem ersteren. Obgleich er der Beschaffenheit der Flächen halber auch nicht für ganz genau zu halten ist, so kann ich ihn aus den angegebenen Gründen dem von Marx erhaltenen nicht nachstellen, wenngleich derselbe anführt, dafs seine Angabe einen Fehler von nur höchstens 2 Minuten einschliefsen möchte. Es scheint mir ferner zweckmäfsig, dieses Rhomboöder mit dem Endkantenwinkel von 87° 35 als Hauptrhomboeder anzunehmen, da es bei den künstlichen Krystallen in der Regel allein vorkommt, und auch bei den übrigen rhombo&drischen Metallen, wie sich später ergeben wird, in der Regel herrscht. Nimmt man nun bei diesem einen Winkel von 87° 35’ in den Endkanten an, so wird

die Hauptaxe = 1,3068

78 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

und es betragen die Winkel

von R:R in der Endkante ... 87° 35

2r: 2r ( ; ) Pr 5 2. 69723 „+ Ar:$r „9 UMTS a bi ER ale a ne uk 202,29123 7232 en DRITTEN: ee » Zr I ee

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Bei dem einen der erwähnten Präparate sitzen die Rhomboeder ein- zeln auf der Unterlage, bei dem andern sind sie dagegen auf eine bemer- kenswerthe, schon von Marx angedeutete Weise aufeinander gehäuft. Eine Reihe Rhomboeder nämlich, nach oben stetig kleiner werdend, sitzen in paralleler Stellung mit ihren Endecken aufeinander; jedes derselben ist aber mit Schaalen von Rhomboedern bedeckt, die aber bei den oberen in der Mitte der Flächen nicht mehr zusammenhängen, und nach den Seitenecken zu, immer kleiner werden, wie letzteres die Fig. 15 angiebt. Gewöhnlich sind die Schaalen in der Richtung der horizontalen Diagonalen der Flä- chen nicht ausgebildet; sie zerfallen nun nach den Seitenecken zu in im- mer kleiner werdende Rhombo&der, die in der obern Endkante und den zwei unteren Seitenkanten der Seitenecken anliegen, und besonders in der Richtung der horizontalen Diagonalen tiefe Rinnen bilden. Die nach einer Seitenecke auslaufenden Rhomboöder bilden auf diese Weise dreikantige, in der Mitte der Flächen vertiefte Spitzen, von denen nun 3 von einem Mit- telpunkte sich so verbreiten, dafs ihre Axen in einer und derselben Ebene liegen und unter Winkel von 120° aufeinanderstofsen (Fig. 16). Dergleichen dreistrahlige Gruppen liegen nun in vertikaler Richtung aufeinander, werden nach oben immer kleiner (Fig. 17) und die ganze Gruppe erscheint so als die Endecke eines spitzen Rhomboäders, das in der Richtung der schiefen Diagonalen eingesunken ist. Es ist also dieselbe Gruppirung, die so schön im regulären System z.B. bei dem gediegenen Silber oder dem Speisko- balte vorkommt, und die Werner als besondere äufsere Gestalt mit dem

(') Die Form 2r', die beim Wismuth vorkommt, ist beim Antimon nicht beobachtet, wie sich weiter unten ergeben wird, und hier nur desVergleiches halber mit dem Wismuth aufgeführt.

namentlich des Wismuths. 79

Namen der gestrickten bezeichnet hat (1). Dafs übrigens alle einzelnen kleinen Krystalle, die die ganze Gruppe bilden, untereinander parallel sind, sieht man daran, dafs ihre entsprechenden Flächen alle zu gleicher Zeit spie- geln, und die Spaltungsflächen, namentlich die parallel der geraden End- fläche, in gleicher Richtung durch alle hindurchgehen.

In der Hoffnung, dafs das neue Vorkommen von Antimonkrystallen in Andreasberg, dessen Römer erwähnt, besser mefsbare Krystalle darbie- ten konnte, hatte ich mich an Hrn. Römer gewandt mit der Bitte, mir in diesem Falle dergleichen Krystalle zur Messung zu schicken. Obgleich nun auch diese Krystalle sich zu genauen Messungen nicht eigneten, so hatte Hr. Römer doch die Güte mir auf alle Fälle zu schicken, was er besafs, und dabei auch den fraglichen Zwillingskrystall, den er beschrieben. Wenn ich so nun auch die Krystalle nicht zu genauen Messungen benutzen konnte, so hatte ich doch Gelegenheit, diesen merkwürdigen Krystall selbst untersu- chen zu können und es zeigte sich nun bald, dafs der Krystall allerdings eine Zwillingsgruppe sei, und zum Theil auch so wie Hr. Römer vermuthet hatte. Die Flächen, welche Römer für die geraden Endflächen und die Flächen von 4r genommen und mit e und / bezeichnet hat (?), sind nun die geraden Endflächen von lauter verschiedenen Krystallen; aber wenngleich der Krystall mit einem Ende aufgewachsen ist, so sieht man doch, dafs sich von diesen Flächen nicht 8, wie Römer gezeichnet hat, sondern nur 6 fin- den. Die mit in der Richtung der Diagonalen laufenden Furchen versehenen Flächen, die Flächen o von Römer, sind die Flächen des würfelähnlichen oder des Hauptrhomboöäders, die Flächen d darüber, die Flächen des zwei- ten stumpferen Rhomboeders ';r, die bisher beim Antimon noch nicht be- schrieben sind, und das Ganze ist demnach eine Gruppirung von 6 Kry- stallen, von denen je zwei immer mit einer Fläche, die rechtwinklig auf

() In den gestrickten äulseren Gestalten bestehen die einzelnen, das Ganze bildenden Kry- stalle immer nur aus einfachen Krystallen, die in paralleler Richtung aufeinander gruppirt sind, und sie unterscheiden sich dadurch von den regelmälsig baum-, blech- und blatt- förmigen, zahn- und drathförmigen Gestalten, die immer nur aus einer Aneinander- reihung von Zwillingskrystallen in paralleler Richtung nach bestimmten Linien, den Dia- gonalen nämlich der Hexa@derllächen, die in der Zwillingsebene liegen, bestehen. (Vergl. Reise nach dem Ural, dem Altai und dem Kaspischen Meere von Gustav Rose Th. 1, S. 402).

(*) Vgl. die Fig. zu Römer's Abhandlung a.a. O.

S0 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

einer Fläche des ersten stumpferen Rhomboeders steht, miteinander ver- bunden sind; die Zwillingsebene ist daher diese Fläche selbst, es ist die Fläche A, die auch von Römer gezeichnet ist, da sie sich an andern Kry- stallen, die Römer gesehen hat, findet, jedoch an dem übersandten Krystall nicht vorkommt. Es ist dasselbe Gesetz, welches so ausgezeichnet beim Rothgültigerz vorkommt und von Mohs und Haidinger beschrieben ist; doch sind es hier gewöhnlich nur 4 Individuen, die mit einander verwachsen, ein mittleres, an deren dreierlei Endkanten 3 andere angewachsen sind, nicht 6 wie in diesem Fall. Es bilden hier gewissermafsen 2 Krystalle oder ein Zwillingskrystall den Mittelpunkt, um welchen sich die andern 4 Kry- stalle herumgelegt haben, je 2 an die 2 freien Endkanten von jedem der mittleren Krystalle. In der beigefügten Zeichnung, Fig. 10, sind die 6 In- dividuen leicht an den kleinen, dreieckigen Flächen c zu erkennen, welches die geraden Endflächen der 6 Individuen sind; die mittlere ce der 3 vorderen c Flächen mit der ihr gegenüberliegenden hintern (c’), bezeichnen die mitt- leren Individuen, die beiden andern vordern Flächen c, und c,, die an den freien Endkanten des vordern mittleren Individuums, die 2 andern hinteren Flächen (c‘, und c/,) die an den freien Endkanten des hintern mittleren In- dividuums angewachsenen Individuen. Von den Hauptrhomboöderflächen, die rechts und links zwischen den vordern und hintern Individuen liegen, fallen vier in eine Ebene; von denen, die vorn und hinten zwischen den rechten und linken Individuen liegen, drei. Die ersteren, aus den Haupt- rhomboöderflächen von 4 Individuen bestehenden Flächen bilden eine Art Deltoid (dgfh in Fig. 8) () mit zweierlei Seiten aber nur zweierlei Win- keln, nämlich mit 3 Winkeln von 87° 0,5 und einem Winkel von 98° 58',5. Der erste Winkel ist derselbe, wie der spitze ebene Winkel des Hauptrhom- boöders; die Linien de und ef, in welchen die Individuen AR, und A, mit R, und AR, oder auf der andern Seite A, und /i, mit A’, und Zi, aneinan- dergrenzen, fallen in eine gerade Linie, dagegen die Linien ge und eh, in

(') Die gemeinschaftliche Fläche ist hier in horizontaler Projection, also mit unverkürzter Länge der Seiten gezeichnet. dgfA ist ihre Gestalt, wenn, wie in der Natur gewöhnlich, die mit einander verbundenen Krystalle Combinationen des Hauptrhombo&@ders mit —r und der ge- raden Endfläche, oder mit dieser allein sind, und die Flächen dieser Formen bis zu den Seiten- kanten der Hauptrhombo&der reichen. ik/mn würde ihre Gestalt sein, wenn die Krystalle nur aus dem Hauptrhombo@der ohne Combination mit anderen Formen beständen.

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namentlich des Wismuths. Si

welchen R, und AR, mit R, und R/,, oder auf der andern Seite R, und R', mit R, und AR‘, aneinander gränzen, unter einem sehr stumpfen Winkel von 174° 1’ zusammenstofsen. Die Endkanten von AR eines jeden Individuums sind nicht zu sehen, da sie durch die Flächen von 1, r verdrängt sind. Trä- ten die Flächen von 4,7’ des ersten stumpferen Rhomboöäders hinzu, so wür- den sie die sechsflächigen Ecken, in welchen je 2 Individuen aneinander gränzen, abstumpfen, und die Abstumpfungsflächen, obgleich sie zwei In- dividuen angehören, würden stets eine gerade Ebene bilden, da diese die Zwillingsebene ist.

Diese Zwillingsgruppen, die aus Verwachsungen von 6 Individuen be- stehen, scheinen erst in der neuern Zeit vorgekommen zu sein, sie finden sich in den Andreasberger Antimonkrystallen der Königlichen Sammlung nicht, und ebenso wenig auch unter den übrigen Krystallen, die Hr. Römer die Güte hatte mir zu schicken. Unter diesen kommen indessen auch nur Zwillingsgruppen vor, aber sie sind stets nur Verwachsungen von 4 Indivi- duen, die dadurch von einander verschieden sind, dafs sie entweder zu dreien sich um ein mittleres Individuum gruppiren, oder ringförmig und einer Fläche des Hauptrhomboöders parallel aneinander schliefsen. Die erste Art der Gruppirung ist Fig. 11 (!), die zweite 12 u. 13 (2) dargestellt. Die Flächen des zweiten stumpferen Rhomboöders fehlen hier gänzlich oder erscheinen nur als schwache Abstumpfungsflächen der hier stets herrschen- den geraden Endflächen. Die Neigung der Flächen c des einen Individuums gegen c des andern ist gleich der doppelten Neigung der Endkante des Hauptrhombo&ders zur Hauptaxe, und beträgt also 105° 56. Bei der ring- förmigen Gruppirung rücken die Krystalle gewöhnlich mehr aneinander, wie Fig. 13 zeigt; die allen gemeinsame Rhomboöderfläche verschwindet fast gänzlich, und die Krystalle erhalten ein octa@derähnliches Ansehen mit 3

(') Die gerade Endfläche des mittleren Individuums ist hier mit c, bezeichnet; von den 3 seitlichen Rhomboedern liegen die Endflächen von zweien, c, und ce, vorn, von dem dritten hinten. Die Lage des mittleren Individuums ist in der Zeichnung dieselbe, wie in Fig. 10 die von dem hinteren mittleren Individuum, nur dals hier die Kanten, die bei Fig. 10 nach hinten liegen, hier nach vorn gezeichnet sind und umgekehrt.

(*) Die 4 Individuen haben dieselbe Lage, wie in Fig. 10 das vordere und mittlere Indivi- duum und die beiden links liegenden, seitlichen Individuen; nur ist die Figur so gewendet, dals die den 4 Individuen gemeinschaftliche Hauptrhomboäderfläche nach oben gekehrt ist.

Phys. Kl. 1849. ı®

82 G.Rosz über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

Kanten von 105° 46, und einer Kante von 114° 26’, in welcher das erste und vierte Individuum zusammenstofsen. Zuweilen legt sich hier noch ein fünftes Individuum dazwischen, welches mit dem ersten unter einem sehr stumpfen einspringenden Winkel von 172° 0’ zusammenstöfst.

2) Arsenik.

Das Arsenik kommt in der Natur gewöhnlich derb und feinkörnig vor; ich habe es nie krystallisirt gesehen, doch scheint Breithaupt auch natürliche Krystalle untersucht zu haben. Künstlich kann man es durch Sublimation in ziemlich grofsen Krystallen erhalten.

Die Krystalle des Arseniks sind zuerst von Breithaupt (') gemessen und beschrieben worden. Er giebt als Formen desselben an ein spitzes Rhomboöder A, dessen Winkel er annähernd zu 85° 26’ bestimmt, das erste stumpfere desselben 47’ mit einem Winkel von 114° 26’, ein noch stumpfe- res erster Ordnung, das er für das zweite stumpfere };r hält, aber nicht hat messen können, und die gerade Endfläche. Die Krystalle sind nach ihm sehr vollkommen nach der Endfläche spaltbar, aufserdem nach den Rhom- boedern R und 47‘. Andre Beschreibungen sind mir nicht bekannt geworden.

Ich besitze ein Stück krystallisirten Arseniks, das sichtlich durch Sublimation dargestellt ist. Die Masse besteht aus stängligen Zusammen- setzungsstücken, die aber an den Enden in Krystallen auslaufen, welche 1- 3 Linien grofs sind. Die Krystalle sind zwar graulichschwarz angelaufen, haben dessenungeachtet aber noch hinreichenden Glanz, um sich ziemlich gut messen zu lassen; die kleineren sind Combinationen des spitzen Rhom- boöders mit der geraden Endfläche (Fig. 2). Die gröfseren enthalten noch die Fläche eines spitzen Rhomboäders zweiter Ordnung (a: a: 00a:3,c) (?) und stellen so sechsseitige Tafeln mit zugeschärften Randflächen dar (Fig. 3), denn immer herrschen die geraden Endflächen vor. Parallel dieser Fläche sind die Krystalle überaus vollkommen spaltbar, noch vollkommner als An- timon, und die Spaltungsflächen sind spiegelflächig glänzend und vollkom-

(') Schweigger Journal f. Chem. u. Phys. 1828, B.52, S. 167.

(°) Diese Fläche ist mit der des ersten spitzeren Rhomboeders, die ich bei dem Arsenik nicht beobachtet habe, nicht zu verwechseln. Die Combinationskanten mit R sind untereinan- der wohl beinahe, aber nicht vollkommen parallel; sie convergiren bestimmt nach oben.

namentlich des Wismuths. 83

men eben; aufserdem fand ich die Krystalle noch spaltbar nach den Flä- chen von 7’, die ich als Krystallflächen selbst nicht wahrgenommen habe; die Spaltbarkeit nach diesen Flächen ist von der Vollkommenheit, wie die nach denselben Flächen beim Antimon; die von Breithaupt beobachteten Spaltungsflächen nach A habe ich nicht wahrgenommen.

Die Krystalle sind aber gewöhnlich mit andern regelmäfsig verwach- sen, und bald mit diesen nur aneinander, bald durcheinander gewachsen. Das Gesetz ist dasselbe wie beim Antimon, die Zwillingsebene eine Fläche von 47’; die durcheinandergewachsenen Krystalle haben daher das Ansehen von Fig. 5. Die geraden Endflächen ce der beiden Individuen bilden bei ihnen tiefe einspringende Winkel von abwechselnd 102° und 78°, an den stumpfen Winkeln liegen die Flächen von A, von denen die an der Zwil- lingsgränze anliegenden Flächen von beiden Individuen in eine Ebene fallen, während an den scharfen einspringenden Winkeln die Flächen von 3,7" lie- gen, und an der Zwillingsgränze stumpfe ausspringende Winkel bilden. Träten die Flächen von 4 r’ hinzu, so würden sie die Kanten zwischen ‘,r’ und c abstumpfen, und die, welche dem stumpfen einspringenden Winkel von e und c, beider Individuen zunächst liegen, in eine Ebene fallen. Sind die Individuen nur aneinander gewachsen, so sind sie bald mit der Fläche von %r', bald mit einer darauf senkrechten Fläche verbunden; im erstern Fall stofsen die geraden Endflächen unter dem spitzen von 78°, im letztern Falle unter dem stumpfen Winkel von 102° zusammen.

Dafs die Krystalle so häufig in Zwillingskrystallen vorkommen, ist ein sehr glücklicher Umstand für die genaue Bestimmung ihrer Winkel, denn da die Krystalle parallel der Endfläche so vollkommen spaltbar sind, so kann man bei den Zwillingskrystallen durch Benutzung der vollkommenen Spaltungsflächen die Winkel der Endfläche des einen Individuums gegen die Endfläche des andern messen, und erhält so alle Data zur Bestimmung der übrigen Winkel. Da die Flächen der Krystalle wohl glatt, aber angelaufen sind, so würde man diese selbst nicht mit grofser Genauigkeit messen können.

Ich habe aber jene Winkel bei 3 Krystallen gemessen, und jede Mes- sung mehrfach wiederholt. Die Resultate waren folgende:

84 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

1: 2. 3 101° 59’ 102° 1

102 0- 102 3 (e} A, 1 1 102 Er - 0% nz - 41- N u - 2 - 1— - 2— 2 2 101 57— 101 59 - 44 1 1 102 is 102 om - 1

- Din: - 1m - 2 - 4 EN - 0 Mittel 102 1 102 0,22 102 2—

Die zweite Messung war die beste, da die Flächen bei ihr am glän- zendsten waren, auch entfernte sich bei ihr die abweichendste Messung von dem Mittel nur um 1,22’, während sich diese bei der ersten Messung um %/, bei der dritten um 2 entfernte. Legt man daher die zweite Messung für die weitere Berechnung der Winkel zum Grunde, so erhält man für

die Axe c den Werth 1,4025 und es betragen die Winkel von AR:R Endkante 85° 4

Rs —r Sr —_ 113 59

"> ur —r —_ 13535

taeswera so < 121 42

EN 141 0

er: änraae 112 23 3) Tellur.

Das gediegene Tellur ist bis jetzt nur zu Facebay bei Zalathna in Sie- benbürgen gefunden worden, wo es derb und eingesprengt in Quarz auf Gängen vorkommt. Es ist gewöhnlich feinkörnig, aber der begleitende Quarz ist voller kleinerer oder gröfserer Höhlungen, die an den Wänden mit, wenn auch nur äufserst kleinen, doch stark glänzenden Krystallen, die zwischen den hier auch nur kleinen Quarzkrystallen sitzen, besetzt sind (1). Künstlich

(') In diesen Höhlungen, sowie auch in den derben körnigen Massen des Tellurs sitzen auch kleine Krystalle von Gold in der Form von dem Ikositetraäder (3a :3a : a), sowie auch von Eisenkies, und daher schreibt sich auch wohl der kleine Gehalt an Gold und Eisen, den Klaproth in dem gediegenen Tellur angiebt, und der daher demselben nur beigemengt ist. Das reine gediegene Tellur sublimirt im Kolben vor dem Löthrohr ohne den mindesten Rückstand.

namentlich des Wismuths. 85

kann man das Tellur auf mehrere Weise krystallisirt erhalten, theils durch Schmelzung auf dieselbe Weise wie das Antimon, theils durch freiwillige Zersetzung einer Auflösung von Tellurkalium oder Tellurammonium in Wasser.

Die Krystalle des gediegenen Tellurs wurden schon von W.Phillips (') untersucht und drei- und einaxig beschrieben, und es ist daher hierdurch vielleicht zuerst bewiesen worden, dafs die Metalle auch in andern Formen als den regulären krystallisiren können. Phillips beschreibt die Krystalle als Combinationen eines sechsseitigen Prisma mit einem Hexagondodecaöder gleicher Ordnung und der geraden Endfläche. Die Neigung der Flächen des sechsseitigen Prisma zu denen des Hexagondodecaeders giebt er zu 147° 36' an. Rücksichtlich der Structur führt er an, dafs es spaltbar wäre, doch konnte er bei der Kleinheit der Krystalle Zahl und Richtung der Spaltungs- flächen nicht bestimmen.

Breithaupt (*) beschreibt die Krystalle als Combinationen eines stum- pfen Rhomboöders von 115° 12°, das dem des Arseniks ähnlich ist, mit der geraden Endfläche, ohne aber eigene Winkelmessungen anzugeben, da die von ihm angeführten nach den Angaben von Phillips berechnet sind. Die Spaltbarkeit der Krystalle ist nach ihm, wie beim Arsenik, nur sind die Spaltungsflächen nach dem Rhombo&der undeutlicher, die nach der geraden Endfläche dagegen sehr vollkommen.

Hausmann (?) untersuchte künstliches aus dem Tellur-Wismuth re- ducirtes Tellur, das durch den verstorbenen Bergrath Wehrle in Schemnitz dargestellt war. Die untersuchte Masse war derb, bestand aber aus grob- körnigen, deutlich spaltbaren Zusammensetzungsstücken. Die Spaltungs- flächen fand er ganz verschieden von Breithaupt, den Flächen eines regu- lären sechsseitigen Prisma und der geraden Endfläche parallel; die erstern waren sehr vollkommen, die leztern dagegen nur unvollkommen.

Ich habe das natürliche und das künstlich dargestellte Tellur unter- sucht; von dem ersteren kleine Krystalle aus den Höhlungen des Quarzes von einem Stücke der hiesigen Königlichen Sammlung, von dem letzteren

€) Elementary introduction to the knowledge of mineralogy, London 1823, p. 327. (*) A.a. 0. S.16s. (°) Handbuch der Mineralogie Th. II, B. 1, S. 16.

S6 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

sowohl durch Schmelzung des aus Tellurwismuth reducirten Tellurs dar- gestellte Krystalle, die ich schon vor längerer Zeit von Wehrle, von dem auch das von Hausmann untersuchte Tellur stammte, erhalten, als auch durch Zersetzung von Tellurkalium und Tellurammonium gebildete Kry- stalle. Auf leztere hatte mich zuerst Mitscherlich aufmerksam gemacht und mir einige Krystallchen gegeben, die er aber selbst von Wöhler erhalten hatte, der mir auf meine Bitte nun auch gern seinen ganzen kleinen Vorrath zur Untersuchung schickte.

Die Krystalle des gediegenen Tellurs haben die von Phillips beschrie- bene und Fig. 7 dargestellte Form; sie sind zwar nur äufserst klein, fast mikroskopisch, doch waren die Flächen so glatt und so stark glänzend, dafs ich wenigstens einen Krystall mit ziemlich grofser Genauigkeit messen konnte. Namentlich war eine Seitenfläche des Prisma, und die darauf oben, weni- ger die darauf unten aufgesetzte Zuspitzungsfläche mefsbar. Ich erhielt fol- gende Resultate:

1) Neigung der Seitenfläche zur oberen Zuspitzungsfläche. 2) Neigung der Seitenfläche zur unteren Zuspitzungsfläche bei demselben

Krystall.

3) Neigung der Seitenfläche zu einer darauf aufgesetzten Zuspitzungsfläche

bei einem zweiten Krystall.

1 2. 3 OL [o) 31 A) 17 BB 525 330.07 32. 59 @ 4 - 6 33022 3 3 - 4 3 Zi Fe 33 3— SL >= az 2 1 E Fer - 5z 5 3 - 3— 33 4,425

Die Messungen 2. und 3. sind wegen der undeutlich reflectirten Bil- der für die Feststellung der Winkel des Tellurs nicht zu benutzen, indessen zeigt die Messung 2. doch an, dafs die auf einer Seitenfläche oben und unten

namentlich des Wismuths. 87

aufgesetzten Zuspitzungsflächen von einerlei Art sind. Die Neigung der Sei- tenflächen gegeneinander konnte ich bei mehreren Krystallen und zwar sehr gut messen; ich habe bei ihnen stets einen Winkel von 120° erhalten, daher ich das Einzelne nicht anzuführen brauche. Die Spaltbarkeit konnte ich wie Phillips bei der Kleinheit der Krystalle und der körnigen Zusammen- setzungsstücke nicht untersuchen.

Betrachtet man die Krystalle des gediegenen Tellurs als eine Com- bination des Hauptrhomboeders und seines Gegenrhomboeders mit dem er- sten sechsseitigen Prisma, wozu man wegen der Analogie mit den übrigen rhomboedrischen Metallen als auch wegen der übrigen Krystallformen des Tellurs berechtigt ist, und berechnet man nach der ersten angeführten Mes- sung die Winkel des Hauptrhomboeders, so betragen diese in den End- kanten desselben 86° 57’, so dafs hiernach also die Winkel der Grundform des Tellurs von der des Antimons nur um wenig mehr als einen halben Grad verschieden sind.

Die künstlichen durch Schmelzung dargestellten Krystalle safsen in einer Höhlung einer derben Masse, die aus grobkörnigen Zusammensetzungs- stücken bestand, und auf der Oberfläche, wie das geschmolzene und erstarrte Antimon, deutlich gestrickt war. Die Krystalle waren Rhomboöder und zwar dieselben, wie die, welche beim Antimon durch Schmelzung erhalten wer- den, also wie Fig. 1; sie waren auch nicht viel gröfser als diese, aber ihre Flächen noch weniger glänzend; sie konnten daher nur annähernd mit dem Wollaston’schen Goniometer gemessen werden; ich erhielt dabei Winkel von 85 bis 86°. So unvollkommen diese Messungen sind, so geht doch daraus hinreichend hervor, dafs die Grundform des gediegenen Tellurs und der durch Schmelzung dargestellten Krystalle dieselbe ist. Die Spaltbarkeit dieser Krystalle wie auch der derben Masse fand ich genau so, wie sie Haus- mann bei dieser beschrieben hatte, sehr vollkommen nach den Flächen eines sechsseitigen Prisma und nur unvollkommen nach der geraden Endfläche, aber ich konnte bei den Krystallen auch ausmachen, dafs die Spaltbarkeit nach den Flächen des ersten sechsseitigen Prisma oder desjenigen geht, welches bei den Rhomboedern die Abstumpfungsflächen der Seitenecken bildet, und welches auch bei den Krystallen des gediegenen Tellurs vor- kommt, daher nach dessen Flächen wahrscheinlich auch ebenso eine Spalt- barkeit statt finden wird, die nur bei der Kleinheit der Krystalle nicht wahr-

ss G.Rosz über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

genommen werden konnte (1). Eine Spaltbarkeit nach Rihomboederflächen habe ich gar nicht wahrnehmen können; da sie indessen Breithaupt angiebt, so ist wohl anzunehmen, dafs ich sie wegen Kleinheit der Krystalle und der Zusammensetzungsstücke nicht gesehen habe, wenn die Annahme von Breit- haupt auf keiner Verwechslung mit den Spaltungsflächen nach dem Prisma beruht, von denen Breithaupt nichts erwähnt.

Die Krystalle aus dem Tellurkalium waren nadelförmig und stellten, wie Fig. 9 zeigt, reguläre sechsseitige Prismen g dar, die an den Enden mit einem auf den abwechselnden Seitenkanten aufgesetzten Rhombo&der s be- gränzt waren. Ungeachtet die Krystalle nur sehr dünn, und auch nur an den Kanten ausgebildet waren, oder vielmehr nur aus einer Zusammenhäu- fung einer grofsen Menge kleiner Krystalle in paralleler Stellung in der Rich- tung der Kanten der beschriebenen Form bestanden, so dafs die Krystalle dreikantigen, in der Mitte der Flächen vertieften Spitzen glichen, so waren ihre Winkel doch mit ziemlicher Genauigkeit zu bestimmen, nicht blofs die der Seitenflächen, die fast genau von 120° gefunden wurden, sondern auch die der Endkanten. Ich habe gemessen:

4) die Neigung einer Seitenfläche,

2) die Neigung derselben Fläche zu der Rhomboederfläche jenseits der

Endkante,

3) die Neigung der Rhomboederflächen in der Endkante. und fand für den ersten Winkel 144° 5-10’, für den zweiten 35° 40-55’ und für den dritten 71°50-57’. Nimmt man an, dafs das sechsseitige Prisma, welches hier vorkommt, wenngleich es bei der Kleinheit und Zerbrech- lichkeit der Krystalle auf seine Spaltbarkeit nicht untersucht werden konnte, dasselbe ist, welches als Spaltungsgestalt bei den durch Schmelzung dar- gestellten Krystallen erhalten werden kann, und als Krystallform bei dem gediegenen Tellur vorkommt, so folgt aus den angegebenen Messungen, dafs das bei den Krystallen aus dem Tellurkalium herrschende Rhom- boeder s, das Rhomboeder (a:+a:a:c) sei; denn berechnet man jene drei Winkel aus dem bei dem gediegenen Tellur gemessenen Winkel,

(®) Haidinger hat nun in der That auch eine Spaltbarkeit des gediegenen Tellurs nach den Flächen eines regulären sechsseitigen Prisma beobachtet. Vergl. Sitzungsberichte der kais. Akad. d. Wiss. Heft V, S. 150 (späterer Zusatz).

»-f a 1 k oc c di ua, Tr wawer

namentlich des Wismuths. 89

so ergeben sich für sie die Werthe von 144° Y, 35° 51’ und 74° 51’, die mit den durch die Messung gefundenen Werthen so gut übereinstimmen, als man es bei der angegebenen Beschaffenheit der Krystalle nur verlangen kann. Das hier vorkommende Rhomboeder ist also dasselbe, welches Mohs für die Grundform des Tellurs schon angenommen hatte, ohne es beobach- tet zu haben; seine Flächen stehen zu der bei den Krystallen des gediegenen Tellurs vorkommenden Zuspitzung in demselben Verhältnifs, wie die Rhom- benflächen des Quarzes zu der gewöhnlichen sechsflächigen Zuspitzung des- selben; ob nun aber an dem untern Ende, welches bei allen von mir unter- suchten Krystallen nicht ausgebildet war, die parallelen Flächen der oberen, oder wie beim Quarz die nicht parallelen, vorkommen, so dafs die Flächen statt Rhomboeder Trigonoöder bilden, und die Krystalle dann in rechte und linke, wie beim Quarz zu scheiden sind, das war bei der Kleinheit und der Unvollständigkeit der Krystalle nicht zu bestimmen. Vielleicht gelingt es die Krystalle später noch vollständiger und gröfser zu erhalten und diese Fragen zu beantworten, die in vieler Rücksicht von grofsem Interesse sind. Ganz verschieden von den Krystallen aus dem Tellurkalium ist das Ansehen der Krystalle aus dem Tellurammonium. Sie bildeten, so wie sie mir Wöh- ler überschickte, ganz dünne Rinden, die da wo sie auf dem Glase ange- sessen hatten, glatt und glänzend, auf der entgegengesetzten Seite aber von kleinen aufsitzenden Krystallen rauh waren. Betrachtet man diese unter dem Mikroscop bei etwa 100facher Vergröfserung und bei auffallendem Lichte, so sieht man, wie mir schon Wöhler gemeldet hatte, äufserst glatte und glänzende Flächen, die die Gestalt von gleichseitigen Dreiecken haben, die zuweilen an den Ecken schwach abgestumpft sind. Das Ansehen der Flä- chen gleicht ganz dem des krystallisirten Arseniks auf den spiegelflächig glän- zenden Spaltungsflächen, und ich möchte sonach auch die Krystalle für nichts anderes als für sehr dünne basische Rhomboöäder halten.

Nach dem bei dem gediegenen Tellur gemessenen Winkel wird für das Hauptrhomboäder des Tellurs

die Hauptaxe c = 1,3298, und es betragen die Winkel

von R:R ah Pa

Phys. K1. 1849, M

\ (Endkante) . . 86° 577

90 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

ads 146 56 3 TER:

LER, 130 28 » s:s (Endkante). . 71 51 ST ER ei nee 144 9 or ot 110 36

4) Wismuth.

Das Wismuth findet sich in der Natur zwar häufiger als Antimon, kommt aber noch weniger deutlich krystallisirt vor. Derb mit ziemlich grob- körnigen Zusammensetzungsstücken kennt man es von Altenburg in Sachsen, Tuneberg in Schweden und in Monte Video; undeutliche Krystalle finden sich zu Biber bei Hanau; in der gröfsten Menge scheint es in Schneeberg in Sachsen vorzukommen, wo es sich feinkörnig und in regelmäfsig baumför- migen Gestalten mit ganz unkenntlichen Individuen in Speiskobalt und Quarz eingewachsen findet. Künstlich kann man es dagegen auf die beim Antimon angegebene Weise krystallisirt erhalten, doch gehören dazu, um besonders schöne Krystalle darzustellen, einige Vorsichtsmafsregeln, die Quesneville gelehrt hat (!) und die darin bestehen, dafs man in das geschmolzene Wis- muth von Zeit zu Zeit kleine Stückchen Salpeter thut, dabei umrührt und eine zur Zersetzung des Salpeters hinreichende Hitze giebt. Hat man so mehrere Stunden unter beständigem Salpeterzusatz geschmolzen, so kommt ein Zeitpunkt, wo eine herausgenommene Probe nicht mehr, wie bisher ro- senrothe, violette oder indigblaue Farben spielt, die beim Erkalten des Metalls verschwinden, sondern prächtige grüne und goldgelbe Farben, die beim Erkalten bleiben; diefs ist der Zeitpunkt, den man wählen mufs, um die geschmolzene Masse auszugiefsen und auf die beim Antimon angegebene Weise zu behandeln. Diese gebildeten Krystalle erscheinen als gewöhnlich langgezogene Hexaöder, die zuweilen von bedeutender Gröfse sind, und bei mehreren Linien Dicke oft Zoll lang von den Seiten nach der Mitte des Tiegels hineinragen. Auch sind sie für solche Hexaöder bisher immer ge- halten; ich war selbst bisher immer dieser Meinung, obgleich ich mir

') Journ. f. Chem. u. Phys. von Schweigger-Seidel 1830, B. 60, S. 378. ( } ss

namentlich des Wismuths. 91

gleich nach dem Erscheinen der Quesnevilleschen Abhandlung recht schöne Krystalle dargestellt hatte. Zufällig betrachtete ich vor Kurzem einen der abgebrochenen längeren Krystalle und sah, dafs er statt der Endfläche eine sehr flache Zuschärfung hatte, deren Zuschärfungsflächen auf 2 gegenüber- liegenden Kanten aufgesetzt waren. Somit konnte der Krystall kein Hexa- der sein, und die nun angestellte Messung zeigte, dafs die Krystalle die Hexaeöder-ähnlichen Rhomboäder (Fig. 1), wie beim Antimon sind. Die Zwillingskrystalle (Fig. 6) sind ebenso nach dem bekannten Gesetze gebildet, dafs die Zwillingsebene die Fläche des ersten stumpfern Rhomboöders ist; sie unterscheiden sich von denen des Antimons nur dadurch, dafs die Zwil- lingsebene hier auch zu gleicher Zeit die Ebene ist, in welcher die Indivi- duen des Zwillings mit einander verbunden sind, statt dafs beim Antimon die Zusammenwachsungsebene stets rechtwinklig auf der Zwillingsebene steht. Dergleichen Zwillingskrystalle fanden sich bei den von mir dargestell- ten Wismuthkrystallen häufig, andere künstlich dargestellte Krystalle, die ich gesehen habe, waren nur einfach; aber abgesehen von diesen Zwillings- verwachsungen zeigten diese Krystalle gar keine Modificationen, wie diefs auch bei dem künstlich dargestellten Antimon und Tellur der Fall ist, wo nicht einmal die Zwillingskrystalle vorkommen. Dagegen sind die Krystalle wieder in mehreren Richtungen spaltbar, nämlich nach der geraden End- fläche und nach dem ersten stumpferen und dem ersten spitzeren Rhombo- äder. Nach der ersten Richtung sind sie, wie beim Antimon und Arsenik am vollkommensten spalibar, doch sind die Spaltungsflächen bei weitem nicht so eben, wie beim Arsenik und selbst beim Antimon; nach dem ersten spitzeren sind sie etwas weniger vollkommen spaltbar als nach der Endfläche, und nach dem ersten stumpfern Rhombo&äder, am wenigsten deutlich spalt- bar, wodurch sie sich wieder von den Antimon -Krystallen unterscheiden, bei welchen die Spaltungsilächen nach 5’ deutlicher sind als nach 27". Ungeachtet die Krystalle recht glänzende Flächen haben, lassen sich ihre Winkel doch selten mit grofser Genauigkeit bestimmen, da die Flächen nicht sehr eben sind, auch sich gewöhnlich statt ihrer terrassenförmige Ver- tiefungen zeigen. Da auch die deutlichsten Spaltungsflächen nicht eben sind, so erhält man auch kein besseres Resultat, wenn man am Zwilling die Neigung der deutlichsten Spaltungsflächen gegen einander zu messen ver- sucht. Am besten gelingt noch die Messung bei den kleinen Krystallen, M2

92 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

und hier fand ich einen, der ziemlich brauchbar war. Ich erhielt bei ihm folgende Winkel:

87 39,625

Hieraus ergiebt sich ein Werth für die Hauptaxe c = 1,3035, und es betragen hiernach die Winkel:

'

von R:R (Endkante) 87° 40

a an Dir: g:8217 en 69 27 a WEICH nee 123 36 Mn +r An nu 143 2 5 rer 108 23

Die Neigung von einer Fläche von A des einen Individuums zu einer

Fläche von A des andern am Zwilling: 1783216.

Die körnigen Zusammensetzungsstücke des gediegenen Wismuths ha- ben dieselben Spaltungsrichtungen, wie die künstlichen Krystalle. Da die Neigungen derselben gegeneinander 110° 33’ und 108° 23’ betragen, so sind diese von den Winkeln des regulären Octaäders von 109° 28’ so wenig ver- schieden, dafs bei der Unmöglichkeit sie genau zu messen, sie wohl damit verwechselt werden konnten. Indessen hebt doch auch hier jeden Zweifel der nicht zu verkennende Unterschied in der Vollkommenheit der Spaltbar- keit nach der geraden Endfläche und dem ersten spitzeren Rhomboe&der (!).

(') Nachdem ich die gegenwärtige Abhandlung in der Akademie schon längst gelesen hatte, erhielt ich das fünfte Heft der Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, worin sich auch eine Abhandlung über die Form der Wismuthkrystalle und zwar von Haidinger befindet, der dieselben ebenfalls rhombo&@drisch beschreibt. Die Messungen waren auch an durch Schmelzung dargestellten, doch wie es scheint nur unvollkommenen Krystallen angestellt, denn Haidinger berechnet daraus für die Endkanten des würfelähnlichen Rhombo- öders Winkel von 90° 52’, und für die des ersten spitzeren Rhomboeders d. i. des Rhomboäders der Spaltungsflächen Winkel von 70° 53." Aufserdem führt Haidinger an, dafs auch Hörnes aus Beobachtungen an natürlichen Krystallen geschlossen hatte, dals das Wismuth rhombo&drisch

namentlich des Wismuths. 93

5) Das Tellur- Wismuth (Tetradymit).

Das Tellurwismuth wurde zu Schubkau bei Schernowitz unweit Schemnitz in einer Lettenkluft im Trachytconglomerat gefunden und von Wehrle (!) beschrieben und analysirt. Die gründliche Untersuchung der Krystallform verdanken wir Haidinger (?). Hiernach sind die Krystalle Com- binationen eines spitzen Rhomboöders mit der geraden Endfläche; sie kom- men jedoch selten einfach vor, sondern, wie der von Haidinger gewählte Namen andeutet, fast stets in Zwillingsgruppen von 4 Individuen, die so gebildet sind, dafs an ein mittleres Individuum 3 andere so anwachsen, dafs die 3 Endkanten des ersten stumpferen Rhomboeders von dem mittleren Krystalle in gleicher Lage sind, wie 3 Endkanten der ersten stumpferen Rhomboeder von den 3 umgebenden Krystallen, wie diefs Fig. 14 anzeigt. Dieses stumpfere Rhomboeder weicht aber in den Winkeln nicht viel von dem Hauptrhombo&der des Antimons ab; die Verwachsung ist daher ebenso, wie sie bei diesem Metalle vorkommt (Fig. 11), und die Zwillingsgruppe unterscheidet sich demnach nur dadurch von der des Antimons, dafs hier das Rhomboöder, parallel dessen Endkanten die Verwachsung statt findet, selbst vorkommt, dagegen sich beim Tetradymit das erste spitzere vor diesem fin- det. Parallel den Endflächen sind die Krystalle ebenfalls vollkommen und so spaltbar, dafs sie sich in dünne, stark metallisch glänzende Blättchen theilen lassen; da aber die Spaltungsflächen uneben, und die Krystalle da- bei weich und biegsam sind, so läfst sich die Neigung derselben gegenein- ander am Zwilling mit einer grofsen Genauigkeit nicht bestimmen. Den- noch ist man für die Messung der Winkel der Krystalle auf diese beschränkt, da die Flächen der Krystalle selbst ganz matt sind und gar nicht spiegeln. Haidinger findet für die Neigung der Spaltungsflächen den Winkel von 95°, und berechnet daraus für das Rhombo&der nach dessen Endkanten die Ver-

sei; indem er Krystalle von Penzance in Cornwall beobachtet hätte, die Combinationen eines spitzen Rhombo@ders mit einem stumpferen gleicher Ordnung und der geraden Endfläche wä- ren, wobei die den letzteren entsprechenden Flächen so grols wären, dafs die Krystalle tafelar- tig erschienen. Die Flächen der Krystalle waren jedoch zu Messungen mit dem Reflexionsgo- niometer nicht geeignet (späterer Zusatz).

(') Zeitschrift für Phys. und Math. von Baumgärtner und v. Ettinghausen von 1831 B. 9. S. 133, und Poggendorffs Ann. S. 21 S. 595.

(*) A.a. 0. S. 129 und S. 595.

94 G. Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

wachsung geschieht, Endkantenwinkel von 81°, für das gewöhnlich vor- kommende, Endkantenwinkel von 66° 40’. Der erstere Winkel weicht zwar von dem entsprechenden Winkel der übrigen rhombo&drischen Metalle ab, von dem Winkel des Arseniks, das ihm unter den bisher betrachteten Me- tallen am nächsten kommt, schon um volle 4 Grad; dennoch trage ich kein Bedenken ihn als mit diesen isomorph zu betrachten, da die übrige Über- einstimmung in Form und Spaltbarkeit namentlich mit Arsenik, Antimon und Wismuth überaus grofs ist, und die Unvollkommenheit der Messung doch auch annehmen läfst, dafs bei Auffindung von vollkommneren Kry- stallen die Übereinstimmung in den Winkeln gröfser ausfallen werde.

Indessen enthält der Tetradymit nicht blofs Wismuth und Tellur, sondern nach Wehrle, wie auch nach Berzelius, der die Krystalle später ebenfalls untersucht hat, 4,8 - 4,32 pC. Schwefel. Berzelius betrachtet ihn daher als eine Verbindung von Schwefelwismuth mit Tellurwismuth, und stellt für ihn folgende Formel auf:

Bi2.S3 + 2Bi? Te?

Nach dem, was über seine Krystallform gesagt ist, kann man ihn nur für eine Zusammenkrystallisirung von Wismuth, Tellur und Schwefel hal- ten, und zwar von je 2 Atomen der ersteren Metalle mit 1 Atom Schwefel; indessen kann man fragen, ob bei der geringen Menge des letzteren derselbe als wesentlich anzusehen sei, oder aber bei der grofsen Ähnlichkeit, die in chemischer Hinsicht überhaupt zwischen ihm und dem Tellur stattfindet, derselbe nicht in gewissen Fällen die Form des Tellur annehmen und mit ihm zusammen krystallisiren kann, ohne die Form des letzteren zu ändern. Diese letztere Ansicht möchte doch die wahrscheinlichere sein, und es könnte daher wohl sein, dafs diesem Umstande und der Schwierigkeit, die mit dem Krystallisiren des Schwefels in Rhomboödern verbunden zu sein scheint, die Abweichung der Krystallwinkel von denen der übrigen Metalle zuzu- schreiben ist. Bei der Ähnlichkeit des von Breithaupt beschriebenen Arse- nikglanzes mit dem Tetradymit in der Spaltbarkeit und im Ansehen über- haupt möchte es daher auch wohl wahrscheinlich sein, dafs derselbe nur durch eine Zusammenkrystallisation des Arseniks mit dem rhomboöädrischen Schwefel gebildet sei; doch ist um darüber etwas mit Gewifsheit sagen zu können noch nöthig, dafs man die Krystallform selbst kennte, die doch bis jetzt noch gänzlich unbekannt ist.

namentlich des Wismuths. 95

6) Zink. »

Das Zink in reinem Zustande ist in der Natur bis jetzt noch gar nicht vorgekommen; künstlich ist es dagegen mehrfach krystallisirt erhalten wor- den, jedoch stets auf trocknem Wege. Laurent und Holms (1) beobachte- ten kleine Krystalle von Zink, die sich in den Rissen der irdenen Röhren, worin dasselbe destillirt worden war, gebildet hatten. Nöggerath (2) erhielt von der Zinkhütte vom Altenberge bei Henry Chapelle (zwischen Achen und Lüttich) einen Kuchen von Zink, über einen halben Zoll stark, der zum Theil ganz porös, und an den Wänden der Höhlungen mit Krystallen be- setzt war. Nickles (*) beschrieb Krystalle, die Hr. Favre nach dem Verfah- ren von Jacquelin durch Destillation von Zink in einer Atmosphäre von Wasserstoff dargestellt hatte. Nach Laurent sind die Krystalle rhombische Prismen, nach Nöggerath reguläre sechsseitige, an den Enden mit der ge- raden Endfläche besetzte Prismen, nach Nickles Pentagonal-Dodekaöder, die in Allem an die Form des Eisenkieses und des Kobaltglanzes erinnern.

Da Nöggerath erwähnte, dafs sich bei den von ihm beobachteten Krystallen zuweilen auch Abstumpfungsflächen der Endkanten fänden, so bat ich ihn, in der Hoffnung, dafs sich daran noch die Winkel jener Ab- stumpfungsflächen würden bestimmen lassen, mir die von ihm beschriebenen Krystalle zur Ansicht zu schicken. Hr. Nöggerath hatte auch die Güte mir Alles zu schicken, was er noch besafs, und wenngleich er mir schrieb, dafs die besten Stücke, namentlich die mit Krystallen mit Rhomboäderflächen ziemlich ausgesucht wären, so war ich doch so glücklich, noch einige zu finden. Die Krystalle, welche an den Wänden der Höhlungen der über- sandten Stücke safsen, waren 2 bis 3 Linien lang und im allgemeinen dünn. Sie waren in manchen Höhlungen mit Zinkoxyd bedeckt, in andern aber davon frei und glänzend; die Endflächen waren glatt, die Seitenflächen zart in die Quere gestreift, dessen ungeachtet aber mit dem Reflexionsgoniome- ter zu messen, wodurch bestätigt werden konnte, was schon der Augen- schein vermuthen liefs und durch die Messungen von Nöggerath bewiesen

(') Ann. de Chim. et d. Phys. t. 60 p. 333 und L. Gmelins Handbuch der Chemie B. II. S. 3. (*) Poggendorffs Ann. von 1836, B. 39, S. 323.

(°) Poggendorffs Ann, von 1848, B. 74, S. Al2,

96 G. Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

war, dafs die Seitenkantenwinkel sämtlich von 120° wären. Die Endkanten fand ich wohl öfter abgestumpft, aber theils waren die Abstumpfungsflächen nur sehr klein, theils nur wenig glänzend, daher ihre Winkel mit grofser Genauigkeit nicht zu bestimmen waren. An einem Krystalle konnte ich in- dessen die Neigung der Basis zu 3 benachbarten Abstumpfungsflächen mes- sen und fand hier die 3 Winkel von 110° 35-50’, 110° 31-42, 111° 45-50. Wenngleich hierbei der letzte um einen ganzen Grad von den andern ab- weicht, so ist bei der Unvollkommenheit der Messung und der grofsen Wahrscheinlichkeit der Annahme, dafs die Seitenflächen die eines regulären sechsseitigen Prisma sind, auch hier anzunehmen, dafs diese Winkel eigent- lich gleich sind. Auf dem Bruche der Masse, worauf die Krystalle sitzen, sieht man häufig recht vollkommene Spaltungsflächen, die der Basis der sechsseitigen Prismen parallel gehen; andere Spaltungsrichtungen existiren noch, konnten jedoch hier ihrer Lage nach nicht bestimmt werden, was überhaupt bei dem Zink recht schwer ist, da man bei ihm nur auf die Be- trachtung der an dem Stücke gerade vorhandenen Bruchflächen beschränkt ist, und neue Spaltungsflächen durch Absprengung von Kanten und Ecken mit dem Messer bei der Dehnbarkeit des Zinks nicht hervorbringen kann. Auf welche Weise die Zinkkrystalle auf der Zinkhütte am Altenberge erhalten waren, hatte Nöggerath nicht erfahren können; offenbar hatten sie sich wohl durch langsame Abkühlung der geschmolzenen Masse gebildet, wenngleich hierzu immer noch günstige Umstände gebören müssen, da das geschmolzene und erstarrte Zink wohl körnig ist, und Höhlungen aber ge- wöhnlich mit ganz glatten und glanzlosen Wänden hat; ebenso ist auch die Oberfläche der geschlossenen und erstarrten Massen gewöhnlich glatt und matt, und nicht gestrickt, wie beim Antimon oder Tellur. Die Krystallisation des Innern geht dabei immer von der Oberfläche aus; gegossenes Zink von cylindrischer Form besteht aus stängligen Zusammensetzungsstücken, die von der Oberfläche rechtwinklig nach der Axe zulaufen, an deren Stelle sich mehr oder weniger symmetrisch eine Höhlung befindet; plattenförmige Stücke haben in der Mitte eine Nath. Unter den Spaltungsflächen, die man bei den körnigen oder stängligen Zusammensetzungsstücken sieht, ist immer eine die deutlichste, die der geraden Endfläche entspricht. Diese Spaltungs- fläche ist theils ganz glatt, theils parallel den Flächen eines gleichseitigen Dreiecks etwas gestreift. Die Streifung wird durch die Spaltbarkeit parallel

namentlich des Wismuths. 97

den Flächen eines Rhomboeders hervorgebracht, die aber doch nur sehr unvollkommen zu sein scheint, da ich die Winkel dieser Spaltungsflächen nicht habe messen können. Deutlicher, aber auch stets stark horizontal gestreift, sind andere Spaltungsflächen, die wie beim Tellur parallel den Flächen des ersten sechsseitigen Prisma gehen, aber doch viel unvollkomme- ner als bei diesem Metalle sind. Es fragt sich nun aber, wofür die sechs- flächige Zuspitzung bei dem Zinke zu halten sei. Die Neigung der Flächen derselben gegen die Hauptaxe ist wie die der Flächen s beim Tellur, aber theils kommen diese letzteren nurrhomboädrisch vor, theils würden sie nicht auf dem ersten, sondern auf dem zweiten sechsseitigen Prisma gerade aufge- setzt sein. Es mufs also noch dahingestellt bleiben, was es für eine Be- wandnifs mit dieser Zuspitzung hat. Auf jeden Fall sind die von Nögge- rath beschriebenen Krystalle reguläre sechsseitige Prismen, und es ist dem- nach wohl wahrscheinlich, dafs die Angabe von Laurent, als krystallisire das Zink in rhombischen Prismen, auf einem Irrthum beruhe. Dagegen ist die Angabe von Nickles, dafs das Zink auch in Krystallen des regulären Sy- stems krystallisiren könne, nicht unwahrscheinlich, da das Zink in seinen übrigen Eigenschaften sich viel mehr den regulären Metallen anschliefst, und es im Gegentheil auffallend ist, dafs es in sechsseitigen Prismen vorkommt. Das Zink wäre nach dieser Beobachtung dimorph; auffallend wäre dann nur die Form des Pentagonaldodeca@ders, da dieselbe bisher noch bei keinem der regulären Metalle beobachtet ist.

7) u. 8) Iridium und Osmium.-

Iridium kommt mit Osmium in der Natur in mehreren und, wie es scheint stets bestimmten Verhältnissen mit einander verbunden vor. Man kennt durch die Analysen von Berzelius Verbindungen von 1 Atom Iridium mit 1, 3 und 4 Atomen Osmium. Alle diese Verbindungen haben aber, wie ich bei einer früheren Gelegenheit gezeigt habe (!), ein und dieselbe Kry- stallform, woraus sich ergiebt, dafs auch das reine Iridium und das reine Osmium dieselbe Form, wie die in der Natur vorkommenden Verbindungen von Iridium und Osmium haben müssen. Künstlich hat man weder Iridium

(') Poggendorffs Annalen B. 29, S. 232. Phys. Kl. 1849. N

98 G.Rose über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

noch Osmium noch ihre Verbindungen untereinander in deutlich krystalli- sirtem Zustande darzustellen vermocht.

Das Osmium-Iridium findet sich in der Natur in regulären sechssei- tigen Tafeln, zuweilen mit den Flächen eines Hexagondodecaeders als Ab- stumpfungsflächen der Endkanten (Fig. 4). Die Winkel des Hexagondode-

ca@ders betragen nach meinen Messungen

127° 36 in den Endkanten 124 0 in den Seitenkanten.

Hiernach würden die Endkanten dieser Form gegen die Axe unter einem Winkel von 31° 33’ geneigt sein, und die abwechselnden Endkanten wür- den von einem ebenso geneigten Rhomboöder abgestumpft werden, das von dem Rhomboeder des Arseniks, dessen Flächen unter einem Winkel von 31° 42 gegen die Axe geneigt sind, nur wenig verschieden ist. Man kann daher ein Rhomboöder, ähnlich wie es bei den rhomboedrischen Metallen vorkommt, als Grundform des Osmiums und Iridiums betrachten, von wel- chem das vorkommende Hexagondodecaöder nun eine abgeleitete Form ist. Die Winkel der Endkanten dieses Rhomboeders betragen nach den bei dem Hexagondodecaöder gefundenen Winkeln 84° 52, die Hauptaxe erhält hier- nach den Werth 1,4105, und der Ausdruck des Hexagondodecaeders wird (Za:Za:Zza:c).

Die Krystalle sind nach der geraden Endfläche sehr vollkommen spalt- bar, aber die Spaltungsflächen bei der grofsen Härte des Osmium - Iridiums immer nur schwer zu erhalten. Andere als diese Spaltungsflächen sind nicht beobachtet.

9) Palladium.

Das Palladium ist von Zinken in kleinen, fast mikroscopischen, silber- weifsen, sechsseitigen Tafeln, auf Gold aufsitzend, zu Tilkerode am Harz gefunden worden. Bei der Kleinheit der Krystalle haben die Winkel der- selben nicht gemessen werden können, wahrscheinlich jedoch sind die Ta- feln regulär und auch aus einem Rhomboeder, ähnlich denen der übrigen rhomboedrischen Metalle, abzuleiten, was indessen erst mit Gewifsheit aus- gemacht werden kann, wenn gröfsere Krystalle mit gegen die Axe geneigten Flächen gefunden werden.

namentlich des Wismuths. 99

Aus dem Angeführten geht hervor, dafs es 8 untereinander isomorphe rhomboedrische Metalle giebt, die nach dem Zunehmen der Endkanten- winkel geordnet, folgende sind:

Osmium mit einem Rhomboäder von 84° 52’

Enidiumenn > 84 52 Arseniki) „und es ISSN X Tellur a: + Klon Vor Antimon » = 87 35 Wismuth 87 40 Zink noch unbestimmtem Rhomb. Palladium

Osmium und Iridium haben demnach den spitzesten, Wismuth den stumpfesten Winkel. Der Unterschied beträgt 48), derselbe wird aber noch bedeutend vergröfsert, wenn man zu diesen Metallen noch den Tetra- dymit mit einem Winkel von 81° 2/ hinzurechnet; er steigt hierdurch bis auf 64°, und wird allerdings dadurch gröfser, als er sonst bei isomorphen Körpern vorkommt. Indessen ist auch der Winkel des Tetradymits noch nicht mit grofser Genauigkeit bestimmt. Dasselbe gilt auch von dem des Osmium -Iridiums, ungeachtet sein Winkel dem des Arseniks sehr nahe kommt. Arsenik und nächstdem Tellur sind am genauesten bestimmt.

Iridium und wahrscheinlich auch Palladium sind, wie ich schon frü- her gezeigt habe, dimorph, indem sie auch in Hexaödern vorkommen; von dem Zink ist diefs nach dem Vorhergehenden ebenfalls sehr wahrscheinlich, und so möchten auch wohl alle übrigen rhomboedrischen und octa@drischen Metalle isodimorph sein.

Sehr merkwürdig ist aber die Übereinstimmung dieser rhomboedri- schen Metalle in Rücksicht der Form mit gewissen Oxyden, die 3 Atome Sauerstoff auf 2 Atome Basis enthalten, wie namentlich mit dem Eisenoxyd (Eisenglanz), dem Chromoxyd, der Thonerde (Corund) und dem Titan- eisenerz (Eisenoxyd und Titanoxyd), und diese Übereinstimmung wird noch gröfser, als es auch unter diesen Oxyden solche giebt, deren Formen zum regulären Krystallisationssystem gehören, wie das Antimonoxyd, Tellur- oxyd und die arsenichte Säure. Man hat also auch bei diesen Oxyden die- selben zwei Reihen mit octaödrischen und mit rhombo&edrischen Formen wie

bei den Metallen, aber sonderbarer Weise gehören die Oxyde zur octaädri- N2

100 G.Rosz über die Krystallform der rhomboedrischen Metalle,

schen Reihe, deren Metalle zur rhomboedrischen Reihe gehören und um- gekehrt.

Was nun noch das Wismuth betrifft, das hier zuerst zu den rhom- boedrischen Metallen gestellt wird, so war es früher mit den octaödrischen Metallen auch nicht ganz in Übereinstimmung, als es so deutlich spaltbar nach Richtungen ist, die parallel den Flächen des Octaöders angenommen wurden, was bei den übrigen octaedrischen Metallen nicht der Fallist. Durch die richtige Bestimmung der Krystallform des Wismuths wird dieses Metall nun auch rücksichtlich der Form zu den Metallen gestellt, mit denen es in chemischer Hinsicht verwandt ist, d. h. zu dem Antimon und Arsenik. Berzelius nahm deshalb schon in seinem Oxyde 3 Atome Sauerstoff auf 2 Atome Basis an, wie in dem Antimonoxyd und der arsenichten Säure, und ebenso in dem Wismuthglanz 3 Atome Schwefel auf 2 Atome Basis, wie im Antimonglanz und im Auripigment. Diese Annahme wird nicht allein durch die Form des reinen Wismuths, sondern auch des Schwefel-Wismuths und des Wismuthoxydes unterstützt. Es ist schwer, deutliche Krystalle des Wismuthglanzes zu finden, doch besitzt die hiesige Königliche Sammlung prismatische Krystalle von Gillebek bei Drammen in Norwegen, wo sie auf einem Lager von körnigem Kalkstein vorkommen, die zwar wie überall an den Enden nicht auskrystallisirt, doch in Hinsicht der Seitenflächen deutlich mefsbar sind, so dafs ich mich hinreichend von ihrer Übereinstimmung in den Winkeln mit denen des Antimonglanzes überzeugen konnte. Diese Übereinstimmung geht übrigens auch schon aus den Phillipsschen Messun- gen des natürlichen und künstlichen Schwefelwismuths hervor (1). Ebenso ist auch die Spaltbarkeit in Rücksicht der Lage und der Vollkommenheit der Spaltungsflächen in Übereinstimmung mit dem Antimonglanz.

Die Krystalle des Wismuthsoxydes sind mir zwar in Octa@dern nicht bekannt, wie die Krystalle des Antimon- und Telluroxydes und der arse- nichten Säure vorkommen, sie finden sich aber in Hexaädern, gehören also ebenfalls zum regulären System, und sind also insofern auch mit ihnen in Übereinstimmung.

') Poggendorffs Annalen B. 11, S. 476. 1827. ( 88

ZUR 3. . Natürliches Osmium - Irid. S. 98. . Zwillingskrystalle mit durcheinander gewachsenen Individuen bei dem durch Sublima-

12.

13.

14.

15-17.

namentlich des /Wismuths. 101

Erklärung der Figuren.

. Hauptrhomboeder der rhomboädrischen Metalle, wie es bei den durch Schmelzung dar-

gestellten Krystallen des Antimons, Tellurs und Wismuths vorkommt. Seite 77,87 u. 91. Durch Sublimation dargestellte Krystalle des Arseniks. S. 82.

tion dargestellten Arsenik. S. 83.

. Zwillingskrystalle mit aneinander gewachsenen Individuen bei dem durch Schmelzung

dargestellten Wismuth. S. 91.

. Gediegenes Tellur von Facebay. S. 86. . Gestalt der Fläche, in welche bei der Verwachsung von 6 oder 4 Individuen (Fig. 10

u. 13) die Hauptrhomboäderflächen von 4 Individuen zusammenfallen, in horizontaler Projection, also mit unverkürzter Länge der Seiten. S. 30.

. Tellur aus dem Tellurkalium. S. 38. . Gruppe von 6 Individuen beim gediegenen Antimon, bestehend aus 2 mittleren Indivi-

duen, an deren je 2 freien Endkanten 2 andere Individuen angewachsen sind. S. 0.

11. Gruppe von 4 Individuen beim gediegenen Antimon, bestehend aus einem mittleren

Individuum, an deren 3 Endkanten 3 andere Individuen angewachsen sind. S. 81. Gruppe von 4 Individuen beim gediegenen Antimon. Die Gruppirung ist ringförmig, so dals sämmtliche 4 Individuen eine Hauptrhombo&derfläche in gleicher Richtung ha- ben. S. s1.

Dieselbe Gruppirung von 4 Individuen wie in 12, nur sind die Individuen näher anein- ander gerückt, und die allen gemeinschaftliche Fläche ist dadurch kleiner geworden. S. 81.

Gruppe von 4 Individuen beim Tetradymit; die Gruppirung wie in 11. Die Fig. ist der Abhandlung von Haidinger über den Tetradymit entlehnt. S. 93.

Gewöhnliche Gruppirung der durch Schmelzung von Antimon dargestellten Krystalle. S.78.

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Bemerkungen uber den Bau der Orchideen.

Erste Abhandlung.

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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 3. Mai 1849.]

D. Pflanzen, besonders die Phanerogamen, laden durch die Ähnlichkeit ihrer Gestaltung bald dazu ein, für die Erkennung derselben, eine gleich- sam idealische Normalform zu entwerfen, welche dann die Grundlage zu allen Beschreibungen, und selbst zu den systematischen Eintheilungen macht. In den meisten natürlichen Ordnungen ist dieses leicht; die Theile der Blüte lassen sich ohne Schwierigkeiten übereinstimmend angeben, und noch leich- ter geschieht dieses mit Stamm und Blättern, aber einige natürliche Ord- nungen weicher so sehr von der gewöhnlichen Form ab, dafs die Bestim- mung schwieriger wird und zu manchen Verschiedenheiten die Veranlassung gegeben hat. Zu diesen natürlichen Ordnungen gehört besonders die Ord- nung der Orchideen, welche schon früh die Aufmerksamkeit der Botaniker auf sich gezogen und sogar ihre Phantasie beschäftigt hat. Es kommt hier nun darauf an, zuerst ihren äufsern Bau auf jene Normalform zu bringen, dann mag von dem Innern die Rede sein, und da die Blüte der am meisten zusammengesetzte Theil ist, so mögen wir damit anfangen zu bestimmen, was an ihnen Kelch, Blume, Staubfaden, Fruchtknoten, Staubweg zu nennen sei.

Dafs man vor Linne keinen richtigen Begriff von den Blüten der Or- chideen hatte ist wohl zu erwarten, da man vor ihm die Geschlechtstheile übersah. Wir können also die Botaniker vor Linn ganz übergehen. Doch will ich die Charakteristik der Gattung Orchis von Tournefort hier anfüh- ren, weil sie zeigt, wie sehr die Phantasie der Botaniker dabei gespielt hat. So sagt er: Orchis est plantae genus, flore polypetalo, anomalo, sex-petalis

104 Lıne:

scilicet dissimilibus constante, quorum quinque superiora ita disponuntur, ut galeam quodammodo aemulentur, inferiori multiformi capitato ut pluri- mum et caudato, nunc Hominem nudam, modo Papilionem, Fucum, Co- lumbam, Simiam, Lacertam, Psittacum, Muscam caeterave repraesentante. Von dieser Ähnlichkeit haben manche Ophrys-Arten den Namen bekommen wie O. anthropophora, anihropomorpha, myodes, arachnites u. dgl. m., auch ist er für einige z.B. O. myodes sehr passend.

Linn stellt die Orchideen unter die Gynandria Diandria, wo näm- lich Staubgefäfse und Staubwege mit einander verwachsen sind. Seine Be- schreibungen sind gröfstentheils sehr treffend und vielen seiner Nachfol- ger vorzuziehen. Er läugnet den Kelch oder das perianthium, er nennt die fünf äufsern Blätter eine corolla und hat überdies ein neciarium, dem er z.B. bei Orchis (Gener. plant.) eine sehr kurze Oberlippe und eine Unter- lippe zuschreibt, das Zabellum nämlich, wie es jetzt genannt wird. Zu ne- etarium rechnet er bekanntlich alle Theile der Blüte, welche nicht zu den fünf Haupttheilen derselben gehören, und Goethe giebt diesen Namen be- stimmter allen Theilen, welche den Übergang von der Blume (corolla) zu den Staubgefäfsen machen, oder, wollen wir setzen, zwischen Blume und Staubgefäfsen sich befinden. Die übertreibenden Lobredner des grofsen Dichters haben dieses nicht einmal anerkannt. Da jedoch viele Botaniker, besonders die neuern, das Wort nectarium wegen der ersten so zu sagen handgreiflichen Bedeutung verwerfen, so habe ich dafür das Wort paraco- rolla vorgeschlngen. Was hier vorzüglich zu bemerken ist, besteht darin, dafs Linne das labellum mit seinem nectarium verband, und diesem eine Oberlippe zuschrieb, da er doch nur die Europäischen Orchideen kannte. Er zählte zwei Staubgefäfse, er sah die nackten Pollenmassen für Antheren an, ein Fehler, den auch Haller beging.

Adanson hat zuerst (Famill. d. plantes T.2 p. 69 Par. 1763) eine Beschreibung der Orchideen-Blüte gegeben, wie sie sich noch bei den mei- sten Botanikern findet. Statt der Blume schreibt er den Orchideen einen Kelch zu und zwar von 6 Blättern, indem er das labellum mit dazu rechnet. Sehr richtig sah er ein, dafs man die Pollenmassen nicht Antheren nennen dürfe, und in seiner Beschreibung zählt er nur eine, aber zweifächerige An- ihere, worin diese Massen, jede in einem besondern Fache liegen. Die Anthere kommt nun an die Stelle der obern Lippe des neetarium. Adanson

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 105

kannte nur die Europäischen Orchideen genau; die ausländischen waren damals noch ganz unbekannt.

Das Richtige und Genaue, was sich in Adansons Familles des plantes fand, hatte keinen Einflufs auf die Botanik, und erst in den neuesten Zeiten ist der Werth seiner Beobachtungen anerkannt worden. Adanson war ein Gegner Linne’s, der ihn verdunkelte. Dafs er in seinem Werke nicht bis zu den Arten ging, sondern nur die Gattungen (genera) aufführte, diesen statt der Linneischen gutgebildeten, neue, schlechte Namen gab, oft die Linneischen nicht einmal anführte, machten sein Werk vergessen. Dazu kommt noch eine lächerliche Orthographie und eine Menge willkürlicher Urtheile und anderer Fehler, die besonders in dem ersten kritischen Bande auffielen, und die Ursachen waren, dafs man das Richtige aus seinen weit- läufigen Reden nicht aufsuchte.

Jussieu trägt in dem hochberühmten Buche: Genera et species plan- tarum etc. Par. 1789 dieselben Lehren vor, welche schon Adanson gelehrt hatte. Die Orchideen haben nach ihm einen Kelch von 6 Blättern, indem das Zabellum dazu gehört, einen Griffel, ein ausgebreitetes Stigma, welches sich nicht immer am Ende des Griffels befindet, und nur eine zweifächerige Anthere, deren Fächer zuweilen von einander getrennt sind, wie an Cypri- pedium. Die Orchideen sind also nicht diandrae, wie Linne meinte, son- dern monandrae. Er führt Adanson hier nicht an, setzt aber hinzu, dafs sein Oheim Bernard de Jussieu dieses gelehrt habe, und so bleibt es zwei- felhaft, ob diese Ansicht von Bernard de Jussieu oder von Adanson herrührt.

Nun erschien nach langer Zeit der Prodromus Florae novae Hollan- diae von Rob. Brown (1810). Der berühmte Verfasser nimmt ebenfalls sechs Kelch- oder Perianthienblätter an, welche in zwei Reihen stehen und wovon das innerste, sechste, eine Lippe (labellum) darstellt. Er sagt ferner, drei Staubfäden, die unter sich und mit dem Griffel verwachsen sind, von denen aber in der Regel nur der mittlere Staubfaden eine Anthere trägt, ausgenommen Cypripedium, wo der mittlere Staubfaden ohne Anthere ist, die beiden Staubfäden an jeder Seite hingegen Antheren tragen. Übrigens stimmt er im Allgemeinen mit Jussieu überein.

In der Abhandlung über die Organe und die Art der Befruchtung in den Orchideen und Asklepiadeen handelt derselbe Verfasser zuerst von der Angabe, dafs drei Staubfäden mit dem Griffel zu einer Säule (columna) ver-

Phys. Kl. 1849. Ö

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wachsen sind. Die Anhängsel dieser Säule, welche an den Orchideen von Neu-Holland sehr ausgezeichnet erscheinen, und die kleinern an den mei- sten einheimischen Ophrydeen hatten ihn auf den Gedanken gebracht, dafs diese Anhängsel verkümmerte Staubfäden sein möchten. Doch würde die- ses nicht hingereicht haben, sagt R. Brown, diese Hypothese zu gründen, nun sei aber die Beobachtung einer Monstrosität an Habenaria bifolia hin- zugekommen, woran drei Staubfäden sich entwickelt hatten. Allerdings waren auch die Anhängsel an der Säule zugleich vorhanden und überdies wurden in jenen Anhängseln keine Gefäfsbündel gefunden. Doch setzt er hinzu: „Ich sehe jedoch die Abwesenheit von Gefäfsen nicht als einen völ- ligen Beweis an, dafs diese Anhängsel nicht unentwickelte (rudimentary) Staubfäden sein sollten. Auch mufs ich bemerken, dafs in andern Abthei- lungen der Orchideen, in den Gattungen nämlich, wo analoge Anhängsel gefunden werden, und wo allein Fälle von ihrer völligen Entwickelung be- merkt worden sind, Gefäfse nicht nur überhaupt in diesen Anhängseln er- scheinen, sondern auch oft zu ihrem vermutheten Ursprunge können zurück- geführt werden, zu den Strängen nämlich, welche die innern Seiten-Ab- theilungen des perianthium mit Gefäfsen versehen.”

Nun führt R. Brown eine Beobachtung von einem Herrn His an, der die drei innern Abtheilungen des perianthium in Staubfäden verwandelt sah, und setzt hinzu: diese Beobachtung und der sonderbare Bau der Gattung Epistephium von Kunth habe Achill. Richard auf den Gedanken ge- bracht, es fehle den meisten Orchideen der Kelch, die äufsere Reihe des sogenannten perianthium stelle die Blume vor, die innere aber bestehe aus veränderten Staubfäden. R. Brown meint aber, diese Meinung sei unhalt- bar, der äufsere scheinbare Kelch sei nur dem (zufälligen) calyculus einiger Santalaceae, weniger Proteaceae und vielleicht der ZLoranthaceae ähnlich.

Ich habe den calyculus von Epistephium an den vier Arten dieser Gattung im Königl. Herbarium untersucht. Er stellt einen Rand des ova- rium vor, mit dessen drei Theilen auch die drei Theile desselben zusam- menhängen, und in dieselbe geradezu übergehen. Der Rand ist sehr unre- gelmäfsig, und an den Blüten derselben Pflanze ungleich ausgeschnitten; er kann also nicht in die Reihe der regelmäfsig gebildeten Theile treten. Er sieht aus wie die abgelöste äufsere Schicht des untern Theiles des perigo- nium, welche sich von der innern Schicht getrennt hat. Eine solche ver-

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 107

dickte Schicht sieht man an den Perigonien mancher Orchideen, besonders wenn das orarium angeschwollen und die Blüte getrocknet ist. Rob. Brown hat also hier völlig Recht, auch ist Herr Kunth damit einverstanden, wie ich aus dessen mündlicher Äufserung weifs.

Nach der Untersuchung über die Zahl der Staubfäden geht Rob. Brown zum stigma über, und sucht darzuthun, dafs auch hier eine drei- fache Theilung desselben stattfindet. Die Sache war vorher kein Gegen- stand der Untersuchung für die Botaniker gewesen, und Rob. Brown führt den Gegenstand zuerst aus, indem er nur auf die äufsern Verhältnisse der Gestalt Rücksicht nimmt.

Lindley, der mehr als irgend ein andrer Botaniker sich um Beschrei- bung neuer Arten von Orchideen und ihre Zusammenstellung in ein System verdient gemacht hat, dem wir die Bestimmung von mehr als zwei Dritthei- len aller jetzt bekannten Arten zu verdanken haben, folgt in seinem Vege- table Kingdom (Lond. 1846, 174) im Ganzen R. Brown. Er nennt aber die drei äufsern Blätter oder Abtheilungen des Perigonium allein calyx und dessen Blätter sepala, die drei innern aber petala mit dem labellum; an diesem unterscheidet er mehrere Lagen, die oft deutlich zu sehen sind, eine obere epichilium, eine untere hypochilium, und eine mittlere mesochilium, er schreibt diesen Pflanzen mit R. Brown 3 Staubfäden und 3 Abtheilungen des stigma zu. In Rücksicht des letztern macht er auf eine Anomalie auf- merksam, welche darin besteht, dafs die samentragenden Theile des Ova- riums den Abtheilungen des szigma nicht gegenüber stehen, sondern damit wechseln, indem die samenlosen Abtheilungen in einer Linie mit szigma sich befinden und dafs man daher sagen könne, das ovarium bestehe aus sechs Abtheilungen oder Carpellarblättern.

Dies sind die wichtigsten Angaben über die Morphologie der Blüte dieser natürlichen Ordnung. Es sei mir erlaubt, zuerst einige Bemerkungen über das Verfahren zu machen, welches man anwendet oder anwenden mufs, wenn man besondere Formen auf eine allgemeine bringen will. Es scheint mir durchaus nothwendig, dafs man auf die Gefäfsbündel sehen müsse, um die Spuren eines Theils in seiner Verwachsung oder Verschmel- zung mit andern Theilen nachweisen zu können. Denn überall, wo sie in einem Theile sich finden, bilden sie die Grundlage desselben, so dafs man das Zellgewebe nur als eine Umhüllung derselben ansehen kann. Die Ge-

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108 Lıne:

fäfsbündel stellen gleichsam das Skelet eines Theiles vor. Namentlich ist in der Mitte eines jeden Staubfadens ein Gefäfsbündel vorhanden, welches gerade in der Axe desselben liegt, so wie mehr excentrische Gefäfsbündel im Griffel um den Stigmakanal oder Griffelkanal stehen. Auch die Blumen- krone und der Kelch werden immer von Gefäfsbündeln durchzogen. Sind also die Gefäfsbündel für solche Theile vorhanden, auch wo sie nicht deut- lich ausgebildet oder verwachsen sind, so kann man doch ihre Gegenwart annehmen, fehlen sie hingegen, so müssen wir den Theil ebenfalls für feh- lend erklären. Flügelförmige Ansätze ohne Gefäfsbündel können nicht als Andeutung eines Theils angesehen werden.

Das Zabellum in der Blüte der Orchideen machen alle Botaniker aufser Linne zu einer Abtheilung des Perigoniums. Linne rechnete es zum necta- rium, und ob er gleich irrthümlich für den obern Theil dieses nectarium die Anthere ansah, so traf doch sein Scharfblick darin richtig, dafs er es nicht mit den übrigen fünf Blättchen des perigonium zusammenstellte. Denn das Zabellum steht nie in einem Kreise mit den beiden innern Blättern des perigonium, mit welchen Lindley es zur corolla zählt, so dafs er den Or- chideen eine corolla tripetala zuschreibt, welche aus jenen beiden Blättchen und dem labellum besteht. Es ist sogar nicht selten mit der columna ver- wachsen, wie man an vielen Arten der Gattung Epidendrum und Andern sehen kann; Lindley selbst führt dieses schon an und setzt hinzu, dafs an einigen Arten der Gattung Pierygodium das labellum von der Spitze der columna ausgehe. In den meisten Fällen ist es mit der Basis der columna verwachsen und zuweilen so, dafs die Oberhaut der columna in die Ober- haut des Zabellum ohne Unterbrechung übergeht, wie Maxillaria cruenta und manche andre Orchideen zeigen. In den Fällen, wo das labellum ge- trennt von der Säule erscheint, wie es besonders an unsern einheimischen Arten der Gattung Orchis der Fall ist, steht es nicht in einem Kreise mit den beiden innern Blättern des perigonium oder den beiden Blättern der corolla und sogar, wo es unterhalb der Blumenblätter angewachsen ist, wie an Stenorhynchus, schiebt sich doch der dicke untere Rand innerhalb, also über die Blumenblätter hinauf.

Man wird allerdings einwenden, dafs eine innere Reihe des perigonium oder eine Blumenkrone aus zwei Blumen- oder Perigonienblättern in der Klasse der Monokotylen etwas Anomales sei, wo die dreifache Zahl herrscht,

Bemerknngen über den Bau der Orchideen. 109

und dafs man folglich das Zabellum zur Blumenkrone rechnen müsse, um die Zahl drei herzustellen. Aber eine theoretische Forderung darf sich nicht an die Stelle der Wirklichkeit setzen; das Zabellum steht nun einmal nicht im Kreise der Blumenkrone und kann nicht dazu gezählt werden. Will man eine morphologische Erklärung, so mag man sagen, das in der Regel über- grofse Zabellum habe das dritte unter ihm befindliche Blatt der corolla absorbirt.

Da nun das labellum deutlich zur Säule gehört, so müssen wir den innern Bau der Säule untersuchen, ob darin sich vielleicht die Spuren eines dem Zabellum entsprechenden Theiles, einer Oberlippe, finden, wobei zu- gleich erforscht werden kann, ob darin die Spuren von drei Staubfäden zu sehen sind. Wir wollen die Untersuchung mit der Säule der Orchis sam- bucina, einer einheimischen Pflanze, anfangen. Einen Querschnitt durch die Säule, und zwar durch den obern Theil derselben, wo die Aushöhlung des Stigma noch sehr flach ist, stellt T.I, F.1 vor. Hier sieht man ein grolses Gefäfsbündel nach oben und aufsen, und weiter nach unten und innen ein anderes kleineres; auf beiden Seiten aber keine Spur von einem Gefäfsbündel; alles ist lockeres Parenchym. Weiter nach unten, wo die Stigmahöhlung sehr gebogen ist, sieht man, Fig. 2, drei Gefäfsbündel, aber in gerader Linie von der obern Fläche bis zur Höhlung. Es können also die drei Gefäfsbündel nicht drei Staubfäden angehören, da diese eine ganz an- dere Stellung haben würden, als jene Gefäfsbündel wirklich haben. Nur eines derselben liefse sich auf einen Staubfaden deuten, das andere auf den Griffel, das dritte würde dann für einen Theil gelten, welcher oben an die Säule angewachsen, aber nur kurz wäre, weil weiter nach oben das Gefäfs- bündel nicht gefunden wird. Zwar sieht man in den Seitenflügeln der Stig- mahöhlung

d Richtung, können also ebenfalls verwachsenen Staubfäden nicht angehören.

zarte Spiralgefäfse, aber diese verlaufen sich in horizontaler

Unsere einheimischen Orchideen haben meistens eine sehr kurze Säule, aber dieses ist keinesweges der Fall, wenn man viele Vandeen oder Epidendreen betrachtet. Man findet hier die Säule oft sehr lang und dick, mit mancherlei Anhängseln und Flügeln versehen, welche zwar mit ihr innig verwachsen sind, aber doch nur eine Fortsetzung des äufsern Theils der Säule scheinen. Es ist also nöthig, den innern Bau der Säule an solchen Orchideen zu untersuchen, wo sie mehr hervorsteht und mit mehr oder we- niger Anhängseln versehen ist.

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Ich habe schon in den anatom.-botanischen Abbildungen T. 19 und 20 Quer- und Längsschnitte der Säule von Epidendrum elongatum darge- stellt ('). Aufser dem Stigmakanal ohne Papillen ist auch der andre Kanal abgebildet, welcher dadurch entsteht, dafs an Epidendrum das labellum mit der Griffelsäule unten verwachsen ist, worin sich nun die Papillen fin- den, welche das Zabellum und die Blütentheile überhaupt zu bedecken pfle- gen. Hier sieht man nun Taf. 19, Fig. 1 u. 2 eine Menge Gefäfsbündel um die beiden Höhlungen in einem Kreise, jedoch unregelmäfsig stehen, wovon man allerdings drei zu den Staubfäden rechnen könnte, und noch mehr wird dies bestätigt durch Fig. 8, Taf. 20, welche einen Querschnitt vom obern Theile der Säule vorstellt, wo drei grofse Gefäfsbündel sich um die Höhlung befinden und aufserdem vier kleine. Aber dann haben wir kein Bündel für den Griffel selbst, und die vier kleinen Bündel sind nicht zu deuten. Auf derselben Tafel ist Fig. 6 ein Querschnitt der Griffelsäule von Gongora maculata vorgestellt, mit einer Menge Gefäfsbündel umher und nur einem Kanal, weil hier das Zabellum mit der Griffelsäule, da wo der Schnitt geschah, nicht verwachsen ist.

Doch schien es mir zweckmäfsig, die Griffelsäule, columna, ihrem innern Bau nach, von einer andern Orchidee darzustellen, und ich habe dazu Maxillaria cruenta gewählt, wo sich die Säule unten in einem Bogen in das Zabellum, wenigstens äufserlich, fortsetzt. Ein Querschnitt durch den untern Theil der Säule zeigt da, wo sich die Griffelsäule dem Fruchtknoten nähert, in der Mitte einen in vier Flügel ausgehöhlten Kanal, T. 2, F.3 und zuerst nach oben, ein grofses halbmondförmiges Gefäfsbündel, welches sich in vielen Orchideenblüten findet über oder unter den äufsersten Gefäfsbün- deln. Um den Stigmakanal liegen nun in ziemlich unregelmäfsigen Kreisen viele ich zähle 37 Gefäfsbündel, unter denen sich keine so auszeich- nen, dafs man sie auf drei Staubfäden deuten könnte. Wohl aber deuten sie auf eine Umhüllung oder Umgebung, die sich mit den Staubfäden und

dem Griffel in einen Theil innig verbunden hat, und den Durchschnitt

(‘) Durch einen Schreibfehler ist in den Erklärungen der Stigmakanal mit einem andern Kanal verwechselt worden. Dals dieses ein Schreibfehler ist, zeigt die dort gegebene Verwei- sung auf die Grundl. d. Kräuterkunde Th. 2, S. 228, wo deutlich gesagt ist, dals der Stigmakanal keine Papillen habe, wohl aber der andere Kanal.

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 111

durch die Mitte der Säule stellt T.2, F.2 dar. Hier stehen die Gefäfsbün- del nur in einem Kreise um den Stigmakanal, der an dieser Stelle viel we- niger ausgeschnitten ist, als unten, und zwar stehen sie ziemlich regelmäfsig, nämlich nach aufsen, nach dem Rücken der Säule, fünf grofse, nach innen drei ebenfalls grofse, dann folgt auf jeder Seite neben den fünf grofsen, ein kleiner, und endlich stehen auf jeder Seite wiederum zwei grofse. Auch hier ist es schwer, eine Deutung auf Staubfäden zu finden. T.2, Fig. 1 stellt endlich einen Querschnitt durch den obern Theil der Säule vor, wo sich bei allen Orchideen der Stigmakanal seitwärts nach innen öffnet und die Stigmahöhlung bildet. Von den eilf Gefäfsbündeln, welche den Stig- makanal an der äufsern oder Rückenseite umgaben, sind nur neun übrig geblieben, deren Deutung auf drei Staubfäden eben so schwierig bleibt als sie vorher war. Auch möchte sich die Zahl der Gefäfsbündel nicht leicht auf 6 oder 9 oder 12 Staubfäden deuten lassen, wobei man, wie oben schon angegeben, erwägen mufs, dafs sich bei allen Phanerogamen Gefäfsbündel im Griffel um den Stigmakanal befinden.

In dem Baue der Griffelsäule an den Orchideen mit einer Deckel- Anthere (anthera opercularis) ist nun ein dreifacher Bau der Griffelsäule bemerkbar. Der eine Taf. 2, Fig. 1-3 vorgestellte von Maxillaria eruenta hat oben oder nach aufsen ein Gefäfsbündel allein und viele andere weiter nach innen, welche den Griffelkanal umgeben. Hieher gehört auch der Bau der Säule von Gongora maculata s. Anat.-bot. Abbild. T. 20, F. 6. und nach meinen Untersuchungen von mehr Maxillarien, Stanhopeen und andern Vandeen. Der andere ist der T.1, F. 3 abgebildete, nach einem Querschnitt der Griffelsäule von Zygopetalum intermedium, wo drei Gefäfs- bündel in regelmäfsiger Stellung um den Stigmakanal sich befinden, den nach aufsen fünf Gefäfsbündel und zwei Doppelbündel, eins auf jeder Seite, um- geben. Hieher gehört die Abbildung von Epidendrum elongatum Anat.-bot. Abb. T. 19, wo ebenfalls viele Gefäfsbündel nach aufsen und einige zur Seite der drei Bündel am Stigmakanal zu sehen sind. Ferner daselbst T. 20, F. 8 von Epidendrum sinense mit nur zwei Gefäfsbündeln auf jeder Seite des obern der drei Bündel um den Stigmakanal. Am einfachsten ist der Bau der Säule von Calanthe veratrifolia. Hier befinden sich über den drei Gefäfsbündeln um den Stigmakanal noch drei andere in regelmäfsiger Stellung nach oben

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und aufsen. Die dritte Stellung ist die an den einheimischen Arten von Or- chis, T. 1, F.1 u. 2 vorgestellt.

Die Menge von Gefäfsbündeln, welche den Stigmakanal in gar vielen Fällen umgeben, deuten, wie schon erwähnt, auf einen Theil, welcher mit den Staubfäden den Stigmakanal umgiebt und mit ihnen sowohl als mit dem Griffel innig verwachsen ist. Er fällt mit dem Griffel zusammen in einen Kreis bei der ersten oben angegebenen Stellung der Gefäfsbündel, er ist von ihm getrennt in der zweiten Stellung; er ist nur in einer kleinen An- deutung vorhanden in der dritten Stellung. Da er innerhalb des perigonium oder der corolla sich befindet, so würde ihn Linne ein neciarium genannt haben; mir scheint der Name paracorolla, Nebenkrone, zweckmäfsiger. Wie in die corolla oder in das perigonium gehen in einen solchen Theil mehr oder weniger Gefäfsbündel über, welche sich auch mehr oder weniger nach oben verbreiten und sich früher oder später endigen. Dieser Theil tritt an den meisten Orchideen mit einer Deckel-Anthere (anthera opercu- laris) am Rande hervor und umfafst in der Regel mit drei Lappen die An- there. Er hat auch nicht selten oben hervorstehende Spitzen, Anhängsel an den Seiten und andere Auswüchse, welche aber aus blofsem Parenchym bestehen, ohne Spuren von Gefäfsbündeln. Besonders sind die Arten der Gattung Oncidium mit solchen Verzierungen reichlich versehen. Zuweilen, wie an vielen Epidendreen, namentlich Bletia, schiebt sich auch eine vor- springende Leiste unter der Anthere hin und unterstützt sie ganz. Dann ist diese Leiste mit der Leiste verbunden, welche den Stigmarand umgiebt. An den Vandeen unterstützt jene Leiste nur von beiden Seiten die Anthere, wenigstens an den von mir untersuchten. Doch die Verschiedenheiten der Säule überhaupt sind so grofs und so ausgezeichnet, dafs sie Lindley oft mit Glück zur Charakteristik der Gattungen angewendet, und Francis Bauer gezeichnet hat. Aus allem diesem geht hervor, dafs in sehr vielen Orchideen noch ein Theil mit der Säule verwachsen ist, welcher mit dem labellum zusammenhängt, und mit demselben zugleich eine Nebenkrone (paracorolla) darstellt. Diese Nebenkrone hat meistens zwei Lippen, eine mit der Säule verwachsene Oberlippe, und eine freistehende Unterlippe, das Zabellum. Die Oberlippe scheint zuweilen zu fehlen, wie an der Gat- tung Orchis, und diese würde nach der Anthere ein vortreffliches Kennzei- chen darbieten, um Abtheilungen der Orchideen zu unterscheiden, wenn

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 113

es nur leicht zu erkennen wäre. Eine solche Nebenkrone findet sich noch an andern Pflanzen, namentlich den Alpiniaceen, den Asklepiadeen u. a.

Anf dem Zabellum mancher Vandeen findet sich gleichsam noch eine andere Lippe aufgewachsen, welche Lindley sehr treffend epichilium genannt hat. Es ist bei einigen z.B. bei Amdlygottis u. a.m. von dem labellum ge- sondert und nur mit der untern Fläche aufgewachsen. Er steht deutlich mit der Nebenkrone iu Verbindung.

Die Antheren der Neottiaeen haben den innern Bau der Antheren überhaupt, der sich durch die Spiralzellen in ihrem Umfange sehr auszeich- net. Ich habe sie an Stenorhynchus besonders sehr deutlich gesehen. Ver- schieden davon ist die Deckel- Anthere. Der äufsere Theil derselben, der die beiden Fächer äufserlich umgiebt, T. 2, F. 4, enthält einen Bündel Spi- ralgefäfse, welcher den Deckel der Länge nach durchzieht; er ist also nicht der Anthere selbst, sondern dem coanecticulum der Antherenfächer, einem Theile des Staubfadens selbst, analog. Wenn man aber von den beiden Fächern, welche die Pollinarien einschliefsen, und sich auf der innern Seite des Deckels befinden, T. 2, Fig. 5 u. 6, ein Stück ablöst und es betrachtet, so findet man Spiralzellen auf der Oberfläche, worin sich aber die Spiral- fäden auf eine mannigfaltige Weise durcheinander winden. Dieses bestätigt die gegebene Deutung, dafs nämlich der Deckel selbst das connecticulum des Staubgefäfses sei, also das obere nicht mit der Säule verwachsene Stück des Staubfadens, hingegen die beiden Fächer, welche die Pollinarien ein- schliefsen, die Antheren selbst darstellen.

Die Pollenmassen selbst sind sehr verschieden und bilden ein zweck- mäfsiges Kennzeichen zur Unterscheidung der Gattungen, wozu es auch Lindley benutzt hat. Die länglichen, keulenförmigen Pollinarien bestehen aus einem innern oft sehr zarten Körper, der sich aus dem Stiele durch die Masse durchzieht, und aus einem sehr elastischen Zellgewebe besteht. Die Pollenkörner liegen darauf entweder lose, nämlich wenig angeklebt, oder sie sind besonders nach unten fest angeklebt und nach oben loser. An eini- gen Vandeen, z. B. an der Huntleya violacea, sind die Pollinarien mit einer zarten Haut aus vieleckigen Parenchymzellen überzogen, T. 2, F. 7; inner- halb welcher sich, wie bei andern Phanerogamen, die Pollenkörner im An- fange zu vier, in einer zarten Zelle befinden.

Phys. Kl. 1849. P

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Die Stigmadrüse habe ich an einigen Vandeen, wo sie zuweilen sehr grofs ist, untersucht und darin Parenchymzellen gefunden, mit einer kle- brigen Flüssigkeit angefüllt.

Sehr abweichend von den bisher angeführten Orchideen, erscheint die Gattung Cypripedium, welche noch immer zur Gynandria Diandria ge- rechnet wird, indem alle andern zur Monandria gehören. Denn zur An- there gehören zwei Fächer, und diese sind gar deutlich an ihnen zu sehen, wie schon oben im Anfange dieser Abhandlung gesagt worden. An Cypri- pedium hingegen soll der mittlere Staubfaden fehlen, indem die beiden an- dern mit ihrer Anthere entwickelt sind. Aber die beiden sogenannten An- theren kommen aus derselben Basis hervor, und stellen ein zweigetheiltes connecticulum dar, von denen jeder Theil sein Antherenfach trägt, worin sich das kugelförmige pollinarium befindet. Dafs man diesen Körper für eine Anthere, nicht für ein pollinarium gehalten hat, rührt daher, weil der Blütenstaub in eine deutliche, sogar dicke Haut eingeschlossen ist, welche den Pollinarien der meisten Orchideen fehlt, oder doch nur sehr dünn und zart ist. Unter dieser dicken Haut liegen sogleich die Pollenkörner, welche aus einer zarten Haut bestehen, worin ein oder zwei grofse und viele kleine Körner liegen, T.2,F.7. Nähert man die beiden Antherenfächer, so stel- len sie eine Anthere dar. Es giebt hin und wieder Beispiele im Pflanzen- reiche, wo ein conneeticulum die Antherenfächer trennt, ich will nur die Alpiniaceen anführen. Ein Querschnitt durch die Säule von Cypripedium (spectabile), T. 1, F. 3, zeigt in der Mitte einen dreitheiligen Stigmakanal, in den Buchten drei Gefäfsbündel, in jeder Bucht nämlich einen und nach aufsen wiederum drei in einem Dreieck gestellte Bündel, von denen das oberste auf jeder Seite zwei etwas kleinere hat.

Es ist der Ähnlichkeit der Orchideen mit den Alpiniaceen einigemal erwähnt worden, und da die Vergleichung beider mit einander, die oben gegebene Darstellung der Orchideenblüte, wenn auch nicht beweist, doch erläutert, so will ich sie genauer angeben. Die Blüten der Alpiniaceen ha- ben einen Kelch, einen scheidenartigen, dreitheiligen oder dreiblättrigen, welcher mit den drei äufsern Perigonienblättern, Lindley’s calyx, überein- kommt. Dann folgt die Blume (corolla), deren Abtheilungen immer zwei Kreise bilden, wovon der äufsere, bei allen, noch so verschiedenen Gat- tungen, gleichgestaltet ist, nämlich dreitheilig, mit drei schmalen Abthei-

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Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 115

lungen. Dieser äufsere Kreis der Blume würde sich mit dem innern Kreise des Perigoniums der Orchideen, Lindley’s corolla, vergleichen lassen, wenn dieser nicht das dritte Blatt fehlte, indem das /abellum, wie oben gezeigt, damit nicht in einem Kreise sich befindet. Doch es ist schon oben von die- sem Mangel geredet worden, und ihn abgerechnet bleibt die Analogie zwi- schen beiden Kreisen der Blüte (os). Nun finden wir noch eine dritte, innere Reihe in der Blüte der Alpiniaceen, der äufsern ganz unähnlich, und immer durch ein Zabellum ausgezeichnet, so dafs hierin die Alpiniaceen den Orchideen völlig gleichen. In der Regel findet sich auch eine Oberlippe für diese Unterlippe, allerdings nicht mit dem Griffel und den Staubge- fäfsen verwachsen, wie bei den Orchideen, aber immer viel weniger ausge- bildet, als die Unterlippe. Die Oberlippe fehlt sogar einigen Gattungen der Alpiniaceen, wie der Gattung Alpinia selbst. Auch hier finden wir eine Ana- logie bei den Orchideen, indem der Gattung Orchis und einigen verwandten Gattungen die Oberlippe der paracorolla ganz fehlt, oder nur sehr klein ist. Die Alpiniaceen haben nur einen Staubfaden, wie die Orchideen, aber dieser ist gar oft oben in ein Blumenblattartiges connecticulum ausgebreitet, welches die Fächer der Anthere trennt. Auch hier ist eine Analogie in der Blüte der Orchideen; denn was man anthera an Orchis nennt, ist ein con- necticulum, welches zwar die Fächer nicht sondert, jedoch umfafst, und alle Deckel- Antheren sind, wie oben gezeigt worden, connecticula, an de- ren innerer Fläche sich die wahre Anthere in ihren zwei Fächern befindet.

Was nun das Stigma betrifft, so ist kein Zweifel, dafs man es mit Rob. Brown dreilappig nennen mufs. Überall, wo ein Querschnitt durch die Säule gehörig gemacht wurde, sieht man dieses. Sehr oft sind die drei Lappen wiederum in zwei getheilt, wie an Gongora maculata, Zygopeta- lum intermedium, wie die oben angeführten Figuren zeigen. So ist es auch in Stanhopea eburnea, Maxillaria macrochila u.a.m. Lindley’s Meinung, dafs die Kapsel aus 6 Carpellarblättern besteht, wird auch vollkommen be- stätigt, wenn man Querschnitte durch die Spitze des Fruchtknotens macht, wie besonders deutlieh an der eben angeführten Sitanhopea eburnea zu sehen ist.

In den Ausgewählt. botan.-anatom. Abbildungen, F.2, T.7, sind keimende Samen von Orchideen nach ihrem innern Bau abgebildet, woraus hervorging, dafs der ganze Same in einen knollenartigen Körper verwandelt

P2

116 Lımwx: Bemerkungen über den Bau der Orchideen.

war. Die damals untersuchten Orchideen waren solche, welche keine knol- lige Glieder haben. Ich habe nun jung gekeimte Orchideen und zwar von solchen erhalten, welche knollige Glieder haben. Sie stellten Pflänzchen mit zwei grünen Knollen dar, eine über der andern. Die untere fast kugel- förmige Knolle von einer Linie im Durchmesser war unten abgestumpft, mit feinen Zasern besetzt, und zeigte auf der Oberfläche die braunen Spuren von nicht entwickelten Blattscheiden, eine unten und eine in der Mitte. Etwas zur Seite kamen zwei ziemlich dicke Wurzeln, eine auf jeder Seite, hervor. Die obere Knolle war fast von derselben Gröfse, als die untere, aber etwas länglich, und an der Basis von mehreren kurzen Blattscheiden umgeben. Ein Längsschnitt durch die untere Knolle, der aber nur durch eine Wurzel gehen konnte, da beide nicht in einer Ebene lagen, hatte grofse Ähnlichkeit mit der oben angeführten Abbildung. Das Ganze bestand aus Parenchym, mit Kernen (sogenannten Cytoblasten), wie dort, und in der Mitte befand sich ein Gefäfsbündel, welches einen Zweig auf beiden Seiten nach oben aussandte, und nach unten sich in die Wurzel verlängerte. An der Spitze gingen die Gefäfsbündel in die obere Knolle über, und theilten sich dort in mehrere, und zwar in vier Aste. Da die Pflanze hier schon weiter ausgewachsen war, als in der schon früher abgebildeten, so liefsen sich die Unterschiede leicht von dem jüngern Zustande ableiten. Es waren nämlich dort die Gefäfsbündel noch dünner, die Seitenäste gingen weiter nach oben von dem mittleren Bündel ab, und es verlängerte sich das mittlere Bündel nicht in eine Wurzel, weil keine vorhanden war, übrigens fand sich eine völlige Ähnlichkeit. Noch mehr zeigte der innere Bau der obern Knolle, dafs die untere aus der Samenknolle entstanden war, indem die obere sich als ein junges, ausgetriebenes, knolliges Glied darstellte. Die Gefäfsbündel hatten sich in der letzten schon sehr zertheilt; es befanden sich im Quer- schnitt 17, in zwei Kreisen, und überall waren zerstreute runde Lücken, wie sie in den knolligen Gliedern der Orchideen gewöhnlich sind. Die obere Knolle gehört also zum Stamm, die untere war eine Wurzelknolle. Wir finden hier also eine Bestätigung der sonderbaren Erscheinung, dafs sich, wenigstens in vielen Orchideen, der Kern des Samens mit dem Embryo in eine Knolle verwandelt.

Bemerkungen über den Bau der Orchideen.

Zweite Abhandlung.

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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. Februar 1850.]

V. den Blütentheilen der Orchideen ist in der ersten Abhandlung geredet worden; es folgen nun die übrigen Theile dieser sonderbaren Gewächse, Wurzeln, Stamm und Blätter, welche ebenfalls ungewöhnliche Formen darbieten.

Die Monokotylen Pflanzen, zu denen bekanntlich die Orchideen ge- hören, haben ein besonderes Bestreben, Zwiebeln, Rhizome und Knollen zu bilden, indem Zwiebeln bei den Dikotylen fast gar nicht, Rhizome sehr selten und Knollen nicht häufig vorkommen. Es ist offenbar der weniger entwickelte Bau dieser Gewächse, der sich auch in diesen Theilen zeigt, die gleichsam einen ganzen Stamm in sich schliefsen, welcher nicht zur Aus- breitung seiner Theile gelangte. Dieser Mangel an Entwickelung zeigt sich auch an den Orchideen, und zwar hier an Theilen, woran er sonst nicht angetroffen wird; in der Blüte sahen wir Staubgefäfse und Griffel in eine Säule verwachsen, und die Wurzelfasern sind nicht allein zu Knollen ge- worden, sondern auch die Glieder des Stammes selbst.

Die Arten der Gattung Orchis haben bekanntlich zwei Knollen, welche sogar der Gattung den Namen gegeben haben. Sie sind entweder unzer- theilt, oder sie theilen sich an der Spitze in eine unbestimmte Anzahl von Theilen, die kürzere oder längere Wurzelfasern darstellen; die eine dieser Knollen ist frischer als die andere, welche nicht gar selten eingeschrumpft und saftlos erscheini. Wenn man genau nachsieht, so findet man an der letztern die Narbe, welche zeigt, dafs dort früher ein Stamm gewesen ist, welcher abgefallen, oder es zeigen sich noch Spuren von dem verwelkten

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Stamm selbst. Es ist hier also der Fall wie mit den Tulpen; so wie bei diesen die eine Zwiebel wächst, schwindet die andere, und ebenso wird bei Orchis eine Knolle ausgesogen, indem die andre in voller Vegetation sich befindet. Nur ist hier der Unterschied, dafs aus der Zwiebel einer Tulpe der Stamm im künftigen Jahre hervortreibt, dafs hingegen aus der Knolle der Orchis im künftigen Jahre nichts hervorkommt, indem die Knospe für den Stamm des künftigen Jahres am alten Stamm über der Knolle erscheint. Der Unterschied liegt allerdings nur darin, dafs an der Tulpe der Stamm in der Zwiebel steckt, an Orchis hingegen über der Knolle hervortritt.

Die Knolle der Orchis-Arten gehört zu den Wurzeltheilen; sie kommt an derselben Stelle des Stammes hervor, wo die Wurzelfasern sich befinden, sogar in der Regel unter derselben; sie treibt nie, gesondert vom Mutter- stamme, eine Knospe und daraus einen jungen Stamm, wie die wahren Knollen und die Rhizome zu thun pflegen; sie wächst, wie alle Wurzeltheile, nach unten. Herr Irmisch hat dieses sehr gut in einer so eben erschienenen Schrift gezeigt (!).

Jedoch, es ist eine Betrachtung des innern Baues dieses Knollen noth- wendig, um das Verhältnifs derselben zu den Wurzel- oder Stammtheilen genauer darzustellen. Wenn man die Knospe an der Basis des Stammes einer Orchis, z. B. an der Orchis latifolia, 'T. 3, F. 1, untersucht, ehe sie sich entwickelt hat, so sieht man, T. 3, F. 2, dafs sie oben mit ihrem spitzen Theil an dem Stamm dicht anliegt, nach unten aber einen etwas von ihm abstehenden Höcker bildet. Schneidet man die Knospe der Länge nach durch, so zeigt sich oben die Blattknospe, aus zusammengewickelten Blät- tern bestehend, s. T. 3, F.2 a, in der Mitte ein kleiner, fast kugelförmiger Theil 5, und weiter nach unten ein kegelförmiger Theil c, die Andeutung der künftigen Knollen; alles in die gemeinschaftliche Haut eingeschlossen, die den Stamm überzieht. Der mittlere, kleinere Theil ist die Grundlage der ganzen Pflanze. Er steht mit dem Mutterstamme in Verbindung und zeigt bei gehöriger Vergröfserung, T. 3, F. 3, dafs er aus Parenchym be- steht, mit vielen kleinen Amylumkörnern in den Zellen, und einem Gefäfs- bündel in der Mitte, begleitet, wie gewöhnlich, von langen, gestreckten Zel-

€) Zur Morphologie der monokotylischen Knollen- und Zwiebelgewächse von Thilo Ir- misch Berl. 1850. S. 129.

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 119

len, worin sich keine Amylumkörner befinden. Das Gefäfsbündel kommt aus dem Mutterstamm hervor, und ist ein Zweig eines dort aufsteigenden Gefäfsbündels. Das Ganze der Knospe ist mit einer Zwiebel zu vergleichen, der obere Theil, die Blattknospe, ist in beiden gleich; der mittlere Theil ist dem Zwiebelstock ähnlich, welcher sich in jeder Zwiebel befindet, aus welchem nach oben die Blattknospe hervortritt, nach unten aber die Wur- zelfasern entspringen, statt deren hier nur eine einzige, sehr verdickte sich in ihren Anfängen zeigt.

Vergleichen wir nun den innern Bau der Orchisknolle mit dem innern Baue der Wurzelfaser von derselben Pflanze, so zeigt sich hier allerdings eine Verschiedenheit. Der innere Bau der Wurzelfaser ist der gewöhnliche Bau der Monokotylen. S. den Querschnitt einer Wurzelfaser von Orchis palustris, Taf. 3, Fig. 4. Die äufsere Rinde besteht aus einer Schicht oder zwei Schichten von kleinen Parenchymzellen, dann folgt eine verhält- nifsmäfsig sehr dieke mittlere Rinde aus grofsen Parenchymzellen, und gegen die Mitte wiederum Schichten von kleinen Zellen, welche einen Kreis von Gefäfsbündeln umgeben, in deren Mitte sich ein kleinzelliges Parenchym, gleichsam Mark befindet. Die Gefäfsbündel bestehen aus wenigen Spiral- Gefäfsen und liegen in geringen Entfernungen von einander, zu 6 12 in einem Kreise. Ein Stück von dem Querschnitt einer Knolle derselben Pflanze ist T. 3, F. 5 vorgestellt. Eine dünne Rinde aus kleinen Parenchym- zellen umgiebt das Ganze, welches aus ziemlich grofsen Parenchymzellen mit vielen runden Lücken besteht. In diesem Parenchym finden sich nun drei bis vier Kreise von einfachen oder doppelten Gefäfsbündeln, meistens aus Spiralgefälsen, welche von einander ziemlich entfernt stehen, und von einem gelblich gefärbten Zellgewebe begleitet werden. Die Zahl der Kreise von Gefäfsbündeln ist in verschiedenen Knollen verschieden und scheint sich nach der Dicke zu richten, auch stehen die Bündel oft sehr unregel- mäfsig in den Kreisen. Also überhaupt genommen ein sehr einfacher Bau. Die Knollen scheinen also aus vielen verwachsenen Wurzelfasern von unent- wickeltem Bau zu bestehen, auch wachsen sie an den Orchisarten, mit ge- theilten Knollen, oft in wahre Wurzelfasern aus, wie an Orchis latifolia T.3, F.1. Die Lücken habe ich in allen Orchisknollen gefunden, die ich untersucht habe, auch sind sie wegen ihrer regelmäfsig runden Gestalt auf- fallend. Immer enthalten die Zellen der Knollen Amylumkörner, aber in

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den Wurzelfasern habe ich nie dergleichen gefunden: immer wurden die in den Zellen befindlichen Körner durch Jod gelb, nie blau. Ein doppeltes Gefäfsbündel bei a T. 3, F. 5 ist mit den anliegenden kleinern, gelblichen Zellen, den grofsen mit Amylum gefüllten Parenchymzellen und den Lücken vergröfsert T. 3, F. 6 vorgestellt.

Bekanntlich werden die Knollen der Orchis- Arten unter dem Namen Salepknollen zur Arznei angewendet. Es ist ein orientalisches Azzneimittel, und vormals kamen auch die Salepknollen aus dem Orient, wie man meinte von Orchis Morio, und wohl nicht mit Unrecht. Die Knollen von Orchis Morio sind zwar ungetheilt, haben aber zuweilen kleine, hervorstehende Spitzen, Anfänge von Theilung, und dieses bemerkt man auch zuweilen an den käuflichen orientalischen Salepknollen. Auch ist Orchis Morio weit- verbreitet; häufig bei uns in Deutschland, ich fand sie in Portugal, und Sibthorp giebt sie bei Constantinopel und auch in Cypern an. Jetzt sam- melt man Salepknollen in Deutschland, besonders von Orchis mascula. Da die orientalischen Salepknollen fest und hornartig durchscheinend sind, die einheimischen aber geradezu getrocknet welk und runzlicht werden, so wirft man diese, nachdem sie gesammelt und gereinigt worden, in heifses Wasser, worin sie aufschwellen, reibt die äufsere Haut mit einem groben Tuch oder einer Bürste ab, und trocknet sie sehr schnell auf einer erwärmten Platte. Dadurch erhalten sie nun die Dichtigkeit und die hornartige Durchsichtig- keit der orientalischen Salepknollen. Heifses Wasser löst bekanntlich die Stärkekörner auf und verwandelt sie in einen Kleister, der beim Trocknen fest und durchscheinend wird. Da dieser Kleister von den Zellen umschlos- sen wird, auf deren Membran das heifse Wasser keine andre Wirkung hat, als dafs es sie durchdringt, so bleibt der entstandene Kleister in den Zellen eingeschlossen, wie in der gekochten Kartoffel. Ich habe Salepknollen von vielen Orten her, unter diesen auch orientalische untersucht, und in allen die Stärkekörner in eine gleichförniige Masse verwandelt gefunden, ein Zei- chen, dafs man auch im Orient die Salepknoilen mit heifsem Wasser ebenso

behandelt, wie oben angeführt wurde ('). Übrigens ist nicht allein die

(') Das Verfahren, die Knollen von einheimischen Arten der Gattung Orchis durch Be- handlung mit heilsem Wasser den orientalischen Salepknollen ähnlich zu macheu, ist, soviel ich weils, zuerst von A. J. Retzius angewendet. Er nahm die Knollen von Orckis Morio. 8. Ab-

handl. d. Schwedisch. Akadem. d. Wissenschaften f. 1764, S. 251 d. Übersetzung.

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 121

Menge der Stärkekörner, sondern auch ihre Gröfse in vorhandenen Arten von Orchis verschieden; die Knollen von unsern häufigsten Orchis Arten, Orchis latifolia und argustifolia enthalten wenige und sehr kleine Stärke- körner. In den welken Knollen von dem vorhergehenden Jahre sind die meisten Zellen ganz leer, und andere enthalten wenige Körner von Stärk- mehl. Die Körner sind also vor dem Verwelken aufgelöst und dann absor- birt worden, unstreitig zur Ernährung der daneben stehenden Knolle und Pflanze.

Von den Knollen der Spiranthes autumnalis hat Irmisch gezeigt, dafs sie von den Knollen der Orchis Arten in mancher Rücksicht sich auszeich- nen; sie gehören dem Stamme desselben Jahres an; sie sind von unbe- stimmter Anzahl, ein bis drei; sie verwelken auch mit demselben Stamme. Sie scheinen sich also von den Wurzelfasern nur durch die Dicke zu unter- scheiden, die doch auch nur gering ist. Wohl aber ist der innere Bau ver- schieden, den Irmisch nicht untersucht hat, denn es ist nicht ein Gefäfsbün- del allein darin, sondern mehre durchziehen die Knollen, wie in den Orchis Knollen.

Indessen giebt es viele Orchideen, welche wahre Wurzeln dem in- nern Bau nach haben, wenn sie auch zuweilen äufserlich von einer besondern Gestalt sind. Zu diesen gehören viele unserer einheimischen Orchideen aus den Gattungen Epipactis, Listera, Neottia, Corallorhiza, von den letztern Neottia Nidus avis und Corallorhiza innata. Die Wurzeln der Epipactis Arten gleichen den Wurzeln der Monokotylen überhaupt, doch mit dem Unterschiede, dafs sie in der Mitte kein Zellgewebe oder Mark haben, wie es den kleinern Wurzeln der Aloinen u. a. Monokotylen ebenfalls mangelt. Auch die Zweige der zierlich verästelten Wurzeln von Corallorhiza hatten kein Mark. Es ist allerdings affallend, dafs diese Wurzeln, welche selb- ständig ohne Knollen erscheinen, kein Mark haben, da es doch in den Wur- zelfasern der Orchis Arten mit Knollen deutlich vorhanden ist, wie oben beschrieben worden.

Was nun die Wurzeln der ausländischen, meistens tropischen Orchi- deen betrifft, welche sich auch durch ihre knolligen Stammglieder auszeich- nen, so ist es nothwendig zugleich auf die ganze Pflanze namentlich der über- irdischen Theile derselben Rücksicht zu nehmen. Sie kommen fast alle aus niederliegenden oberflächlichen, oder unterirdischen Stämmen hervor,

Phys. Kl. 1849. Q

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welche den Ausläufern völlig gleichen, nur sich sehr verästeln, und holzig werden. Sie treiben nach oben Stämme und nach unten Wurzeln, wie alle Ausläufer. Der erste, ursprüngliche Stamm, welcher aus dem Samen her- vorgeht, scheint keine bedeutende Höhe zu erreichen, sondern sogleich Ausläufer zu treiben und dann zu welken. In dieser Rücksicht scheinen diese Orchideen Ähnlichkeit mit den Farn, namentlich den Polypodium Arten zu haben. Noch niemand hat diese Orchideen von dem Keime an, bis zu einer beträchtlichen Höhe beobachtet. Die Wurzeln, welche nun aus diesen niederliegenden Stämmen hervorkommen, sind ihrem innern Baue nach einander ganz gleich, aber man möchte sagen, wie es sich trifft, unter- irdisch, parasitisch, oder Luftwurzeln, und gar nicht selten kommen diese drei Arten von Wurzeln an einer und derselben Pflanze hervor. Sehr oft sieht man, dafs die Luftwurzeln, wenn sie feuchtes Holz erreichen, darauf anwachsen, auch scheint es, dafs sie unterirdische Wurzeln werden können wenn sie Erde genug haben, oder vielmehr, dafs die Pflanze unterirdische Wurzeln dort treibt, wo sie die Erde berührt, Luftwurzeln hingegen, wo der Stamm über der Erde sich befindet. Doch es ist nöthig die Anatomie einer Luftwurzel, die zugleich eine parasitische ist, nämlich der Stanhopea ebornea zu geben, als Muster für alle Wurzeln dieser Orchideen. Eine solche Wurzel ist oft einige Fufs lang, mit einer Wurzelspitze von gewöhn- licher Form versehen, ganz glatt, aufser da, wo sie feuchtes Holz berührt, an welches sie durch einen Filz gleichsam befestigt ist. Macht man einen Querschnitt durch eine etwa anderthalb Linien dicke Wurzel so findet man (s. T.4, F. 2) zuerst eine verhältnifsmäfsig dicke äufsere Rinde aus Spiral- zellen, worauf die mittlere Rinde folgt, aus grofsen Parenchymzellen, welche nach innen ebenfalls Spiralzellen werden. Der innere Mittel- oder Gefäfs- körper ist von einem Kreise kleiner Parenchymzellen umgeben, innerhalb dessen, die Öffnungen grofser Gefälse in einem Kreise liegen, welcher ein Mark von kleinen Parenchymzellen einschliefst. So erscheint der Bau im Ganzen dem Baue aller Monokotylenwurzeln sehr ähnlich, wie er schon oben beschrieben wurde. Aber die Spiralzellen im Umfange (s. T.4, F. 1) machen schon einen beträchtlichen Unterschied, da sie sich an den Wurzeln anderer Monokotylen nicht finden. Die Spiralfäden in ihnen sind schmaler als sie gewöhnlich zu sein pflegen, locker gewunden, und scheinen den Wänden locker anzuliegen, auch leicht zu zerreifsen, wie man an den Rand-

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 123

zellen sieht, wenn nicht dieser Schein daher rührt, dafs die Spiralfäden stellenweise aufhören oder schwinden. In der Nähe des Mittelkörpers findet man ebenfalls Spiralzellen, (s. T.4, F. 3) welche sich aber von jenen im Umfange unterscheiden, dadurch, dafs die Spiralfäden viel breiter, noch lockerer gewunden, und oft getheilt sind. Der Mittel- oder Gefäfskörper ist in einem Längsschnitt T. 4, F. 4 vorgestellt. Der erstere Ring besteht aus langen, engen mit falschen Poren versehenen Parenchymzellen, worauf viele, noch engere, ebenfalls mit falschen Poren dicht besetzte Prosenchym- zellen folgen, innerhalb welcher die Gefäfse liegen. Diese sind nun soge- nannte Spaltgefäfse, mit hellen mehr durchsichtigen Stellen, scheinbare Spalten; die ziemlich grofsen Spiralgefäfse haben breite, oft getheilte Spiral- fäden, welche hie und da zu schwinden scheinen. Das vorhin angegebene Mark in der Mitte besteht aus langen, engen Prosenchymzellen, mit einzelnen falschen Poren, auch Andeutungen von Spiralfäden. Zuweilen fehlen die schiefen Querwände und dann sieht man in ihnen Luftblasen aufsteigen, nachdem sie mit Wasser getränkt worden. Endlich sind noch die feinen Haare zu betrachten, womit sich die Wurzeln an das feuchte Holz anlegen (s. T.4, F.5). Sie öffnen sich gerade in die Zellen der Oberhaut, wie die Wurzelhaare gewöhnlich zu thun pflegen, aber dann schwinden dort in ihnen die Spiralzellen, so dafs sie leer scheinen. In dem Haare selbst, welches keine Querwände wie gewöhnlich hat, windet sich ein zarter Spiralfaden herum. Diese Haare dringen entweder in die zarten Spalten des Holzes ein, und befestigen dadurch die Wurzel oder sie breiten sich auf der Oberfläche der Rinde aus, und leisten dadurch dasselbe. Die Wurzeln, welche sich an diesen Pflanzen in der Erde befinden, haben durchaus denselben Bau, nur sind sie viel kürzer, dünner und überall mit kleinen Haaren besetzt, welche sich an die Erdtheilchen ansetzen.

Die Function der Spiralfäden in den Gefäfsen sowohl, als in den Zel- len ist uns, wie so manche Gegenstände der Physiologie der Pflanzen, ganz unbekannt. Gewöhnlich sind die Spiralzellen auf der Oberfläche der Pflan- zen, auf den Luftwurzeln der Orchideen, wo sie Meyen zuerst beobachtete, auf den Antheren wo sie Purkinje zuerst beschrieb, und im Epithelium der Samen von Casuarina wo sie Rob. Brown und den Samen von Collomia wo sie Lindley zuerst sah. Im Innern, wie hier an den Wurzeln der Örchi- deen sind sie wenig beobachtet. Dienen sie vielleicht dazu, die jungen Gefäfse

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124 Lıne:

und Zellen offen zu erhalten, und sind sie darum auf der Oberfläche der Or- chideenwurzeln, weil die Zellen hier die Feuchtigkeit aus der Luft einsaugen müssen, um die Pflanze zu nähren? Auch auf der Oberfläche der Antheren möchten sie dieselbe Verrichtung haben, nämlich Feuchtigkeit aus der Luft anzuziehen, weil dahin keine Gefäfse führen. Wozu die Spiralfäden im Epithelium einiger Samen dienen, ist schwerer zu sagen. Die Spiralgefäfse haben bekanntlich grofse Ähnlichkeit mit den Luftröhren der Insekten; Malpighi der Entdecker nannte sie daher tracheae und die Franzosen nen- nen sie noch so. In den Luftröhren der Insekten scheinen sie die Verrich- tung zu haben, diese zarten Röhren offen zu halten, analog den Ringen in der Luftröhre höherer Thiere, und etwas Ähnliches möchte man auch von den Spiralfäden in den Gefäfsen und Zellen der Pflanzen vermuthen, nicht damit sie äufsern Druck widerstehen, sondern damit sie nicht in sich zusam- manfallen. Aber, wird man sagen, warum haben die Luftwurzeln anderer Pflanzen, namentlich der Aroideen, keine Spiralzellen in der äufsern Um- hüllung? Die Antwort ist leicht. Diese Luftwurzeln dienen erst dann zur Ernährung der Pflanzen, wenn sie in die Erde kommen, welches immer ge- schieht, wenn sie nicht in ihrem Wuchs gestört werden, aber die Luftwurzel der Orchideen geht nie in die Erde, wenn man sie ihr auch darbietet. Man wird ferner fragen, warum haben die Wurzeln dieser Orchideen in der Erde auch Spiralzellen, da sie doch den Wurzeln anderer Pflanzen fehlen? Darauf läfst sich antworten, dafs überall in der Natur das Bildungsgesetz vorherrscht, und alle andere Bestimmungen nachstehen. Die Bildung der Spiralfasern in der Umhüllung der Luftwurzeln, welche diesen Pflanzen am nöthigsten sind, ist herrschend geworden, und hat sich auch den Wurzeln mitgetheilt, welche dieser Zellen nicht bedürfen. Die festen Schuppen bedecken die Haut der Fische, und verleihen ihr Schutz, aber in der Haut des Aales sind die feinen Schuppen, wie es scheint, ganz überflüssig.

Man hat die Bemerkung in den Gärten gemacht, deren Hauptzierde die tropischen Orchideen in neuern Zeiten geworden sind, dafs sie nicht leicht blühen, wenn man ihnen viel Erde giebt. Man hängt sie in Körben auf, wo sie wenig oder gar keine Erde bekommen, man bindet sie an Holz- stücken fest, ohne alle Erde, oder wenn man sie in Töpfen ziehen will, be- packt man die Töpfe mıt Stücken gebrannter Ziegel, oder mit Steinen. Nur Wärme und feuchte Luft verlangen sie um schön zu blühen. Die Orchideen-

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 125

gattung Aerides hat den Namen davon, dafs man in China eine Art dieser Gattung in den Häusern frei aufzuhängen pflegt, wo sie blüht, und mit ihrem Wohlgeruch die Wohnung erfüllt. Das Treiben des Krautes ist immer der Gegensatz des Treibens zur Blüte; befördert man jenes, so vermindert man dieses, und umgekehrt.

Aus den niederliegenden, oft sehr verzweigten Stämmen der tropischen Orchideen gehen nur Stämmchen, eigentlich Aste, in die Höhe und Wurzeln nach unten. Der innere Bau dieser niederliegenden Stämme ist der gewöhn- liche der Monokotylen und zwar der Orchideen. Die Rinde, wenn auch doppelt, ist in Rücksicht auf die Gröfse der Parenchymzellen doch dünn; den ganzen innern Raum nimmt Parenchym ein mit einer Menge von Gefäls- bündeln oder Holzbündeln, welche in vielen Kreisen dicht zusammen stehen, und den Stamm oft sehr fest und holzig machen. Die ovalen Gefäfsbündel bestehen auf einer Seite aus Spiralgefäfsen und pseudo-porösen Gefäfsen, auf der andern aus langen und engen Zellen des begleitenden Zellgewebes, wie dieses nicht selten unter den Monokotylen der Fall ist, wo nämlich die beiden grofsen Gefäfse im Holzbündel fehlen. Die Stämmchen, welche aus ihm hervorgehen, bestehen, wie in der Familie der Gräser, aus Gliedern, die mit Scheiden an ihrer Basis umgeben sind, sich aber durch hervorstehende Knoten nicht auszeichnen. Merkwürdig sind nun hier die knolligen Glieder, welche die tropischen Orchideen auszeichnen, und welche sonst in keiner Pflanzenfamilie auf diese Weise vorkommen. Sie entspringen aus den nie- derliegenden Stämmen, meistens mit einem kurzen Stiel, der aber aus meh- rern abgekürzten Gliedern besteht, die nicht gar selten durch Scheiden ge- stützt sind, welche als vertrocknete Hüllen oft mit blofsen Blattnerven die Glieder noch lange nach Zerstörung der Blattsubstanz einhüllen. Aus diesem Stiel treibt dann das knollige Glied hervor, von länglicher Form oben und unten stark zusammengezogen, vorn und hinten etwas zusammengedrückt, glatt oder mit einigen tiefen Furchen von der Basis zur Spitze. Das Ver- hältnifs der Breite zur Länge ist verschieden; sie sind überhaupt 3— 6 Zoll lang, 1—3 Zoll breit, an einigen Epidendren und Leptotes sind sie lang sehr dünn. Aus ihrer Spitze treiben nun Blätter hervor, sehr oft allein, indem die Blütenstiele unten neben dem knolligen Gliede hervorbrechen, doch sieht man auch zuweilen Blütenstiele zwischen den Blättern, wie an einigen Schomburgkien, Epidendren, Oncidien und andere. Die jungen,

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knolligen Glieder kommen an der Seite der ältern hervor oft zugleich mit den davon getrennten Blütenstielen. So stehen diese knolligen Glieder oft sehr dicht und in grofser Menge zusammen, auch bleiben sie noch lange nachdem die Blätter an ihrer Spitze abgefallen sind; endlich aber werden sie ausgesogen und schrumpfen ein. Diese lange Dauer, nachdem die Blät- ter abgefallen sind, ist charakteristisch, und in dieser Rücksicht verdienen sie den Namen pseudo-bulbi, den ihnen Lindley beigelegt hat. An einigen Arten von Cyrtochilum und andern ziehen sich die Scheiden, welche die Blätter an der Basis umgaben, zusammen und werden Stacheln. Es ist sehr merkwürdig, dafs die Amerikanischen tropischen Orchideen gar oft solche knollige Glieder haben, indem sie unter den Asiatischen viel seltener sind. Es giebt auch Übergänge zur gewöhnlichen Form. So haben viele Arten von Catasetum, einige Arten von Cycnoches und andere, unten an den Stämm- chen verdeckte Glieder, mehrere über einander, die einen Cylinder ohne Absätze darstellen, und dadurch mit den knolligen Gliedern übereinstimmen, dafs sie noch lange stehen bleiben, nachdem die Blätter und Blütenstiele an ihrer Spitze verwelkt sind.

Der innere Bau der knolligen Glieder kommt im Ganzen mit dem Baue des niederliegenden Stammes überein. Innerhalb der dünnen Rinde ist der ganze Raum mit Parenchym erfüllt mit vielen Lücken, und grofse und kleine Holzbündel stehen im Kreise umher, auch bestehen die Holz- bündel auf einer Seite aus Gefäfsen auf der andern aus engen Zellen. Wie in den Wurzeln giebt es auch Spiralzellen im Innern. Die äufsere Oberfläche dieser Glieder besteht aus Zellen mit äufserst verdickten Wänden daher die Festigkeit der äufsern Haut die zugleich wellenförmig gebogen sind. Recht auffallend ist dieses an Acropera Loddigesü, Maxillaria cruenta auch andern. Statt der Spaltöffnungen finde ich grofse Öffnungen zwischen den wellenförmigen Zellwänden. Am sonderbarsten sind die Röhren mit warzenartigen Hervorragungen, welche sich im Holzbündel, den Gefäfsen meistens Gefäfsen mit scheinbaren Spalten gegenüber befinden, so dafs sie von diesen durch lange und enge Zellen gesondert werden s. T. 4, F. 6. In der Nähe der Gefälse sind diese Zellen am engsten, und ohne falsche Poren, dann werden sie weiter und haben solche Poren. Jene warzenarti- gen Hervorragungen haben eine regelmäfsige ellipsoidische Gestalt, mit einem innern ebenfalls ellipsoidischen Kern, und stehen auch in regelmäfsigen

Bemerkungen über den Bau der Orchideen. 4197

Entfernungen von einander an den Wänden dieser Röhren, wie es scheint nur an einer Wand und zwar an der von den Gefäfsen und von der Axe ab- gekehrten Wand. Ich will hiebei nur daran erinnern, dafs in den Monoko- tylen, die Gefäfse im Holzbündel immer auf der Seite stehen, welche der Axe zugekehrt ist. Aufser den knolligen Gliedern habe ich diese Hervor- ragungen auch in den Nerven der Blätter an Zygophyllum Mackayi gefunden. Dort liegen sie ebenfalls im Gefäfsbündel, den Gefäfsen gegenüber, von ihnen durch langzelliges pseudo-poröses Gewebe getrennt. Sie sind in allen diesen Fällen ihrer Lage nach Baströhren analog. Übrigens habe ich in den Blättern der Orchideen, die äufserlich sehr wenige Unterschiede zeigen, auch nichts im innern Baue gefunden, was sie von andern Monokotylen mit ähnlichen Blättern unterschiede. Eben dieses gilt auch von den Blüten- stengeln der Orchideen; die Gefäfsbündel oder Holzbündel stehen in Krei- sen, wie gewöhnlich, und sind in Stellung und Bildung den Holzbündeln im niederliegenden Stamme ganz ähnlich, wie sie sich auch in vielen Monoko-

tylen finden.

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Abhandlungen

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Königlichen

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zu Berlin.

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Aus dem Jahre

1849.

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Berlin.

Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften.

1851.

In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung,

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Über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen.

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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 7. Juni 1849.]

D: Untersuchung über den paradoxen Fall bei Planetenbahnen, dafs näm- lich in einzelnen Fällen zwei ganz verschiedene Bahnen denselben drei voll- ständigen Beobachtungen genug thun können, so dafs erst eine vierte Beob- achtung die Entscheidung über die wahre Bahn möglich macht, habe ich im vorigen Jahre der Akademie vorgelegt, und nehme daraus die Veranlassung, das Problem der Bahnbestimmung überhaupt noch näher zu betrachten. Fafst man das Problem der Bahnbestimmung so auf, dafs man nicht mehr Data benutzt, als zur Lösung desselben unumgänglich erforderlich sind, dafs man folglich nur 3 vollständige Beobachtungen zum Grunde legt, diese dann aber auch ganz vollkommen darstellt, so dafs in theoretischer Strenge, den obigen Ausnahmefall ausgenommen, eine andere Bahnbestimmung nicht möglich ist, so ist das Problem allein von Gaufs aufgelöst worden und es er- klärt sich aus diesem Umstande das Mifsglücken der Versuche anderer Ma- thematiker bei der Entdeckung der Ceres, aus den nur wenige Tage umfas- senden Beobachtungen eine elliptische Bahn abzuleiten. Es haben nämlich allerdings Lagrange (Mec. anal. Sect. VII. Chap. I. $.II. III.) und Laplace (Mee. cel. Liv. II. 31. sqq.) Methoden angegeben, wodurch die Elemente gefunden werden können, und beide die Gleichung aufgestellt, die in der ersten Näherung den Punkt im Raume finden lassen, wo der Planet sich be- findet, aber sie haben beide sie nur auf die Parabel angewandt, theils weil noch keine Veranlassung vorhanden war, das Problem für den Kegelschnitt im Allgemeinen zu lösen (Uranus bot keine solche Veranlassung dar), theils

weil die Ableitung der ersten Näherungsgleichung aus den Differentialglei-

Math. Kl. 1849. A

3 Encke

chungen zweiter Ordnung der Bewegung auf der Ermittelung der Werthe der ersten und zweiten Differentiale der beobachteten Gröfsen beruhte. In der ersten Näherung lassen sich diese aus 3 Beobachtungen allerdings finden, allein die genauere Bestimmung der Differentialquotienten, wenn sie auch theoretisch möglich ist, führt auf so verwickelte Rechnungen, dafs Laplace ausdrücklich bemerkt (Liv. II. 32), es sei rathsam, zu dieser Verbesserung mehr als 3 Beobachtungen zu gebrauchen. Bei Cometen, besonders bei der geringeren Genauigkeit, mit der diese damals beobachtet wurden, konnte man die erste Näherung als hinlänglich gelten lassen. Bei Planeten, nament- lich bei der Ceres, verlangten die Umstände, dafs man möglichst scharf das Resultat suchen solle, ohne dafs doch die vorhandenen Data eine wesentliche Verbesserung der numerischen Werthe der Differentialquotienten aus der Benutzung Aller hoffen liefsen. So wie überhaupt dieser Weg eine abschrek- kende Weitläuftigkeit hat. Darum begnügte man sich bei der Ceres mit der Kreisbahn, bis Gaufs den Weg angab, nicht blofs annähernd, sondern völlig strenge das Problem zu lösen. Sein ursprüngliches Verfahren ist zuverläfsig ganz verschieden von dem in der T’heoria motus entwickelten. Aber wenn er auch nicht in dem sehr belehrenden Aufsatze M. C. Bd. XX. pag. 197 ff. der viel früher als die T’heoria motus herauskam niedergeschrieben war, sehr übersichtlich angegeben hätte, von welchem Gesichtspunkte er gleich anfangs ausging, die blofsen Rechnungs-Resultate, deren Vergleichung mit den Beobachtungen er von Anfang an mittheilte, müfsten jeden überzeugen, dafs er im Besitze einer strengen Lösung war. So genau anschliefsend kann kein zufälliges Probiren werden, so wie ebenfalls die sehr nahe Darstellung einer ganzen Reihe von Beobachtungen evident dafür spricht, dafs er schon damals die Methode der kleinsten Quadrate angewandt habe. Nur eine feste Methode kann diese vollständige Erreichung eines vorgesteckten Zieles ver- bürgen.

Die Auflösung, die Gaufs in der T’heoria motus gegeben hat, ist hier- nach in dem strengen Sinne genommen die einzige, welche existirt. Sie ist höchst elegant, namentlich dadurch, dafs sie keine unnützen Gröfsen be- stimmt, jede ermittelte wird auch sicher in Anwendung gebracht, sie stützt sich überall fast auf symmetrische Formeln, wonach aus 3 nebeneinander- liegenden Stücken eines sphärischen Dreiecks immer zugleich die drei übri- gen gefunden werden, sie ist völlig strenge durchaus nicht auf kleine Zwi-

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 3

schenzeiten beschränkt, sondern auf die gröfstmöglichsten auszudehnen. Die geometrische Form der Ableitung und der Verbindung der Formeln ist, wenn man sich damit vertraut gemacht hat, ungemein geschmackvoll und übersicht- lich. Die Rechnung ist verhältnifsmäfsig zu dem Problem unerwartet kurz, so dafs eine Abkürzung auf anderem Wege schwerlich zu hoffen sein dürfte. Endlich ist sie auch so eingerichtet, dafs sie möglichst scharf in jedem ein- zelnen Theile ausgeführt werden kann. Wo es möglich war, ist immer der Mangel vermieden, eine kleine Grölse aus der Differenz zweier beträchtlich gröfseren zu bestimmen.

Diese zahlreichen Vollkommenheiten haben deshalb auch jeden Ver- such einer Änderung, so viel mir wenigstens bekannt geworden, gehindert. Bei der Bestimmung elliptischer Cometenelemente sowohl, als bei der in der neuesten Zeit so häufig nöthig gewordenen Bestimmung neuer Planetenbah- nen, haben alle Berechner sich mit völliger Treue an jede einzelne Vorschrift gehalten. Ja, mir ist selbst kein einziges Lehrbuch bekannt, welches dieses Problem behandelt, in welchem, ich will nicht sagen, eine andere Lösung gegeben wäre, das wäre zu viel verlangt nach der Natur des Problems, aber auch nur der Versuch gemacht wäre, die Form des geometrischen Beweises in die neuerdings so überwiegend vorherrschende des analytischen zu über- setzen. Genau dieselben Figuren, dieselben Buchstaben der Winkel-Schei- tel, wie in der T’heoria motus, finden sich überall wiederholt, als ob die Mehrzahl sich begnügt hätte, von der Richtigkeit des Ganges sich ganz nach den Schritten von Gaufs zu versichern, ohne zu wagen einen andern Weg einzuschlagen, der nothwendig doch eine kleine Variation in die Darstellung hineingebracht haben würde.

Dennoch liegt eine Veranlassung sehr nahe, einen solchen Versuch, den vorgeschriebenen Weg zu verlassen, zu machen. Wir haben ein ganz nahe verwandtes Problem, die Bestimmung der parabolischen Elemente, und dieses Problem ist von Olbers auf eine so vollkommne Art aufgelöst worden, dafs selbst Gaufs wesentlich nichts daran verändert hat, obgleich er in einer besonderen Abhandlung der Göttinger Commentationen sich damit beschäf- tigt hat. Aber dem ersten Anblicke nach ist die Lösung bei der Parabel von der bei der Ellipse ganz und gar verschieden. Betrachtungen, die bei der ersten die Grundlagen sind, scheinen bei der letzten ganz wegzufallen, selbst wenn sie auf keine Eigenschaft sich stützen, die speciell der Parabel angehört.

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4 Encke

Andere Combinationen führen bei der Ellipse zum Ziele, von denen man keinen Grund sieht, warum sie nicht auch bei der Parabel mit Nutzen ange- wandt werden könnten. Ich glaube dieses um so mehr aussprechen zu kön- nen, als gerade das Bestreben, die Verwandtschaft beider Probleme mir deut- lich zu machen, zu den folgenden Betrachtungen geführt hat. Ich ging von dem Gesichtspunkte aus, der, wie sich am Ende gezeigt hat, auch der völlig richtige war. Die einfache Verfolgung desselben würde sofort mich zum Ziele geführt haben. Aber der Wunsch, von jeder Form, welche Gaufs ge- wählt hat, mir speciell Rechenschaft zu geben, führte mich so häufig von dem einfachen Wege ab, dafs bei keinem Problem ich mich erinnere, längere Zeit gebraucht zu haben, um den natürlichen Faden zu finden. Wenn des- halb auch ein wesentlich ganz neues Resultat durchaus nicht erreicht ist, ja wie ich wohl behaupten möchte, nach der Natur des Problems nicht erreicht werden konnte, so glaube ich doch, dafs gerade des erwähnten Umstandes halber die Betrachtungen für Viele Interesse haben werden. Dafs meine Formeln durchaus verschieden sind von den Gaufsischen, wird dazu beitra- gen, das Wesen des Problems klarer dargelegt zu sehen. Dafs übrigens den- noch meine Formeln sich fast sämmtlich auf die in der T’heoria motus in den einzelnen Sectionen entwickelten stützen, brauche ich bei dem Reichthum der Entwickelungen in diesem Werke gewifs nicht zu erwähnen. Wer mit der theorischen Astronomie sich beschäftigt hat, wird selbst gefunden haben, wie schwer es hält, etwas erhebliche Zusätze zu der T’heoria motus zu machen.

Das Problem der Bahnbestimmung mufs für alle Kegelschnitte noth- wendig zum grofsen Theile in seiner Lösung etwas Gemeinschaftliches dar- bieten. Es kommt zuerst darauf an, die Punkte im Raume zu bestimmen, wo der Planet sich zu den Beobachtungszeiten aufhielt. Die erste genäherte Bestimmung ist fast unabhängig von der Natur des Kegelschnittes, erst bei der späteren Verbesserung tritt ein Unterschied ein. Folglich wird dieser Theil allen Kegelschnitten so gut wie gemeinschaftlich sein. Die Bestim- mung der Elemente, welche die Ebene der Bahn festlegen, die Lage der Absidenlinie und der Parameter, so wie die Eccentricität beruht, oder kann wenigstens beruhen auf der allen Kegelschnitten gemeinschaftlichen Polar- gleichung, bei der folglich nur Abkürzungen eintreten können für specielle Fälle und wobei die Natur des Kegelschnittes sich in dem Resultate zu er- kennen giebt. Das einzige Element der Epoche oder die transcendente Glei-

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chung zwischen Zeit und Ort ist für Ellipse und Hyperbel verschieden und ändert sich bei der Parabel in eine algebraische. Da nun eine sehr voll- kommne Auflösung bei der Parabel, die Olbersche, schon vorliegt, so ist es der Mühe werth, den Gang, der bei ihr befolgt wird, zu entkleiden von dem was der Parabel allein angehört und das allen Kegelschnitten Gemeinschaft- liche beizubehalten. Ich werde mich dabei auf die Ellipse beschränken, da theils die Hyperbel so viel seltener vorkommt, theils durch Einführung der hyperbolischen Sinus und Cosinus nebst den dazu gehörigen Tafeln der Aus- druck der Formeln bei der Hyperbel noch geschmeidiger gemacht werden dürfte, wenn sie häufiger in Anwendung käme.

Bei der Parabel geht man von der Bedingung der Ebene aus. Man wendet sie in dreifacher Form in Bezug auf die drei coordinirten Ebenen an, um durch Einführung der Dreiecksflächen den Vortheil einer bequemen An- näherung zu erhalten, indem man statt ihres Verhältnisses das Verhältnifs der Zeiten einführt und dadurch die drei an sich identischen Gleichungen zu drei unter sich verschiedenen zu machen, welche die Möglichkeit darbieten, die drei Abstände näherungsweise zu bestimmen. Das Verhältnifs zweier Ab- stände zu einander läfst sich daraus bis auf Gröfsen zweiter Ordnung bestim- men. Man bedarf bei der Parabel nur eines solchen, weil die Lambertsche Gleichung eine zweite Relation zweier Abstände unter einander darbietet, aus deren Combination mit der ersten Gleichung sich die zwei Abstände bis auf Grölsen zweiter Ordnung genau (bei gleichen Zwischenzeiten auch noch diese letzteren eingeschlossen) ergeben. Bei der Ellipse fällt diese Glei- chung weg Man mufs folglich die Abstände allein aus den Gleichungen für die Bedingung der Ebene bestimmen. Am bequemsten so, dafs man einen, also den mittleren Abstand, durch Versuche ermittelt und das Verhältnifs desselben zu den beiden andern in besondern Gleichungen bestimmt. Dafs man hiebei die Gröfsen zweiter Ordnung in der Reihen -Entwickelung des Ausdrucks der Dreiecksflächen durch die Zeiten gleich mitnehmen mufs, liegt in der Natur der Aufgabe und giebt der Lösung eine verschiedene Form gegen die Parabel, so wie auch eine um eine Ordnung verminderte Genauig- keit. Dagegen werden die Versuche leichter, weil man nur eine Unbekannte aus einer Gleichung herzuleiten hat, während man bei der Parabel zwei Un- bekannte aus zwei Gleichungen durch Versuche bestimmt. Wenigstens

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kommt es bei der Parabel darauf hinaus, da die Bestimmung der Sehne eine solche Combination verlangt.

Sind so die ersten genäherten Werthe der Abstände erlangt, bei der Parabel bedarf es nur zweier, bei der Ellipse dreier, so ist der nächste Schritt die Verbesserung der angenäherten Voraussetzung über das Verhältnifs der Zeiten zu den Dreiecksflächen einzuführen. Gewöhnlich wird bei der Para- bel diese Verbesserung unterlassen, weil theils die Fehler erst von der zwei- ten Ordnung sind, in der Regel zwischen der zweiten und dritten, wegen der niemals grofsen Ungleichheit der Zwischenzeiten, theils die Beobachtungen der Cometen, besonders früher, zu ungenau waren, um von einem ganz ge- nauen Anschlufs an die Data der Beobachtung erheblichen Vortheil erwarten zu können. Immer können auch nur 5 Data von den sechs benutzten voll- ständig in der Parabel wiedergefunden werden. Aber in der theoretischen Form hat man diesen Weg theils durch Reihen-Entwickelung, theils wie Bessel, in Schumacher’s astronomischen Abhandlungen, durch strenge Auf- lösung einer cubischen Gleichung angegeben. Bei der Ellipse pflegt man wenigstens eine Verbesserung für nöthig zu halten, um die hier genaueren Beobachtungen scharf wiederzugeben. Für diese erste Verbesserung würde man nur der Radien-Vectoren bedürfen und könnte diese ohne weitere Er- mittelung anderer Gröfsen sogleich aus den Abständen erhalten. Aber da man für etwanige folgende auch der Winkel zwischen den Radien-Vectoren bedarf, überdem nach der Angabe von Gaufs einer strengen Gleichung zwi- schen den 3 Radienvectoren nebst den Zwischenwinkeln und dem halben Parameter sich mit Vortheil bedient, so ist es der natürlichste Weg, aus den Abständen der ersten Näherung den heliocentrischen Ort und die Ebene der Bahn herzuleiten. Man thut dasselbe in der Parabel, sobald die Versuche beendigt sind, hier freilich gleich zum Zwecke der Bahnbestimmung, wäh- rend man in der Ellipse, wenn man die erste Näherung verbessern will, die Rechnung zu diesem letzteren Zwecke wiederholen mufs. Immer indessen sind die ganz gewöhnlichen Formeln und der Gang vollständig der nämliche und die Analogie bei beiden Kegelschnitten vollkommen.

Übrigens ist in gewöhnlichen Fällen die Verbesserung wirklich unnö- tbig. Denn meistentheils wird auch ohne dieselbe der Anschlufs an die mitt- lere Beobachtung, wenn man die Bahn aus den äufsersten beiden bestimmt, bis auf wenige Secunden stattfinden. Gaufs wendet bei seiner bequemen,

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aber durch Tafeln nur ermöglichten Auflösung immer gleich den Werth der ganz vollständigen Reihe bei jeder Näherung an. Dieses ist aber eigentlich überflüssig. Da man bei der ersten Näherung Fehler der ersten Ordnung be- fürchten muls, so kann man bei der ersten Verbesserung nur das erste Glied der Reihen-Entwickelung, die Gröfsen zweiter Ordnung, verbürgen. Bei der zweiten Verbesserung, wenn man sie anwenden will, wird man nur die zwei ersten Glieder, die Gröfsen vierter Ordnung, erhalten, und so fort nach den geraden Potenzen der Zwischenzeiten die verschiednen Glieder, da die Reihe nach den geraden Potenzen fortgeht.

Sind die Verbesserungen vollständig beendigt, so bleibt noch die Bahnbestimmung übrig, die mit Hülfe der Zwischenzeiten aus zwei Radien- vectoren und dem eingeschlossenen Winkel hergeleitet werden kann. Bei vollständig berichtigten Werthen würde es gleichgültig sein, welches Paar man wählte. Immer wird man am besten thun, der Schärfe der Bestimmung wegen die äufsersten beiden Beobachtungen zu nehmen. Sind zum Behufe der Verbesserungen die heliocentrischen Örter bereits entwickelt, so ist die- ser Theil der Arbeit der allerunbeträchtlichste und wird ganz nach der Ana- logie der Parabel durchgeführt.

Nach diesem einfachen Gange, der eigentlich ganz der Gaufsische ist, aber nur durch die Art der Ableitung etwas versteckt, sind die folgenden Betrachtungen eingerichtet. Am Schlusse habe ich noch den rein analyti- schen Beweis der Gaufsischen Formeln gegeben, aus welchem die völlige Identität beider Wege hervorgeht und die in so ferne einiges Interesse ha- ben kann.

Die Wahl der Unbekannten, auf welche das Problem der Bahnbe- stimmung zurückzuführen ist, kann gar nicht zweifelhaft sein. Da es hier auf die Ermittelung dreier Punkte im Raume und ihr Verhalten zu dem Cen- trum der Sonne ankommt, die Beobachtung aber zwei Polarcoordinaten für jeden Punkt von der Erde aus schon unmittelbar giebt, so sind die einzigen Unbekannten, die man wählen kann, die dritten Polarcoordinaten von der Erde aus, oder doch Gröfsen, welche unmittelbar sich daraus ableiten lassen. Als Grundebene werde ich der Einfachheit wegen die Ekliptik nehmen, die Polarcoordinaten des Himmelskörpers von der Erde mögen mit pee',aad”, RB ER” bezeichnet werden, die ersten drei sind die unbekannten Abstände, die

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folgenden die Längen, die letzten die Breiten, welche beide letztern durch die Beobachtung gegeben sind. Die Abstände der Erde von der Sonne und die Längen der Erde, von der Sonne aus gesehen, mögen R R’ Rh’, 11 1" heifsen. Die heliocentrischen Coordinaten des Himmelskörpers, unter sich rechtwinklich und auf die Ekliptik bezogen, seien za’ x", yyy",z22'z". Man hat folglich in den neun Gleichungen

2 =_cosa cos@+R cos], y=esin«a cos@-+R sin], z=esinß (Ay g cos « cos + R’cos/, = g sin «cos @’ + R'sin/!, 2 g’sin [6%

a g"cos «cos ß’+R”cos!, HZ g’sin «cos "+ R’sin !’, 2’— g’sin @" drei unbekannte Gröfsen 9 9'9” zu ermitteln, wenn die x y z als gegeben be- trachtet werden sollen.

Die erste und einfachste Bedingung, welche zu der Kenninifs der un- bekannten führen kann, ist die der durch die Sonne, dem Anfangspunkte der Coordinaten x, y, s gehende Ebene, in der die drei Punkte liegen. Be- kanntlich erhält man diese Bedingungsgleichung aus der Elimination der zwei Verhältnisse 2, z in der allgemeinen Gleichung der Ebene angewandt auf die drei Punkte, oder aus der Elimination derselben aus den drei Gleichungen:

Ax +By+(Cz= Ax+Bby+C7!=0 Ax+ By’ + Cz=V0 Multiplieirt man die erste mit 2’y'— y"z', die zweite mit y'z—z”y, die dritte mit 2y— y'’z, wozu noch ein willkührlicher Faktor, bei allen drei derselbe, hinzukommen kann, so wird diese Bedingungsgleichung (1) ayz! —ay' 2 +y a2 —a'yz+ayz2 ayz = welche, wenn zwei g gegeben wären, nach der Substitution der obigen Wer- the von x, y, z das dritte kennen lehren würden. So wie diese Faktoren sich auf die Ebene der (x) beziehen, so kann man sie auch auf die Ebene der (xy), oder der (xz) beziehen, und wenn man den willkührlichen Multi- plikator mit WW bezeichnet, so wird die Bedingungsgleichung geschrieben werden können: Way) ya) ae) W az z)y" ("3 x2’)y + ("2 —az’)y}=0 Wir) (ge Ye) +(yz—zy) 0

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In dieser Gestalt treten in jeder Gleichung die doppelten Dreiecksflächen in der Ebene der (xy), (x2) und (2) zwischen dem Anfangspunkte der Coor- dinaten und den Coordinaten je zweier Punkte auf. Diese aber sind nichts anderes, als die Projektionen der doppelten Dreiecksflächen, zwischen dem Anfangspunkte der Coordinaten und je zwei Punkten in der Ebene der Bahn, auf die drei coordinirten Ebenen. Nimmt man also in jeder Gleichung für den willkührlichen Faktor / die Secante der Neigung der Ebene der Bahn gegen jede der coordinirten Ebenen, so kann man die Dreiecke der Ebene der Bahn in alle drei Gleichungen einführen. Sei deshalb das Argument der Breite, oder der Winkel des Radiusvectors mit der Knotenlinie, w, w, w” re- spective, und werden die Radienvectoren mit r, 7’, r” bezeichnet, setzt man auch der Kürze wegen

[rr] = rr' sin (W u), [rr”]=rr” sin (u u), [r’r"] sin (u’— u‘), so werden die drei Formen, unter denen sich die Bedingungsgleichung darstellt: [(77]&" [rr’]x' + [r'r"]e = 0

[7]y" Lr’]y + [rr]y>=0 (2) [77] 2’ [rr"] 2 + [r'r"]z = 0

Dafs diese Formen alle vollkommen identisch sind, sobald man die Werthe der Coordinaten, ausgedrückt durch die Abstände, hineinsubstituirt, erkennt man sogleich, wenn man bedenkt, dafs bei der willkührlichen Lage der Ab- scissenlinie man für x, y, z auch die Form wählen kann:

z2=reösu,y=rsmüeost, z=rsanusn?

und analog für x’ y' 2’, x’ y" 2’. Die Gleichungen drücken folglich nichts

anderes aus, als dafs, wenn man sin(W—u), —sin(u’—u), sin (u u‘)

resp. mit cos u”, cosu', cosu, oder mit sin w”, sin w/, sin u multiplizirt, die Summe sich vernichtet. So lange man deshalb die Abstände überall ein- führt, sind sie vollkommen identisch mit (1).

Anders aber wird der Fall, wenn man aus Betrachtungen, die von den Abständen verschieden sind, die Werthe einiger der hier vorkommenden Gröfsen, also namentlich die Dreiecksflächen bestimmt. Sobald auf diese Weise die Abstände nicht überall mehr unmittelbar eingeführt werden, hört

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die Identität der drei Gleichungen auf, und die verschiedene Form macht sie zu wirklich verschiedenen Ausdrücken. Man hat dann in der dreifachen Gestalt das hinreichende Mittel, um die drei unbekannten 9 bestimmen zu können.

Hiezu bieten sich von selbst die Dreiecksflächen dar. Nach den Kep- lerschen Gesetzen ist nämlich, wenn £ f f” die Beobachtungszeiten bezeich- net und man, um die Zeit-Einheit, welche eigentlich in der theoretischen Astronomie gelten sollte, einzuführen, setzt

(3) kin kin en

wo k die bekannte Constante 0,017 etc. (der log derselben ist 8,2355814,), die Quadratwurzel aus der Sonnenmasse ist, oder die Zeit-Einheit in 7 die- jenige ist, in der ein Körper, auf den die Kraft-Einheit in der Entfernung 1 während der Zeit-Einheit eingewirkt hat, die Raum-Einheit durchlaufen würde, wenn man ferner der Kürze wegen setzt

(4) N, "N, "—r=8,

und den halben Parometer p nennt, der doppelte Flächeninhalt des Aus- schnittes zwischen der ersten und zweiten, zweiten und dritten und ersten und dritten Beobachtung resp. g"Yp, dYp und d'Vp. Die doppelten Dreiecks- flächen, welche denselben Radien-Vectoren entsprechen, werden sämmtlich kleiner sein als diese Ausschnitte, aber um so weniger davon verschieden, je kleiner die Zwischenzeiten sind, so dafs wenn man das Verhältnifs zwi- schen der Dreiecksfläche und dem Ausschnitt mit y bezeichnet, oder setzt

(5) [r)y"=$'Vn, [r)y =®Vp Dr)y=Wp,

die Gröfsen y immer gröfser als 1 sein werden, aber mit kleiner werdenden $ sich der Einheit mehr und mehr nähern und daher bei kleinen # in schnell convergirende, nach Potenzen von # geordnete, Reihen ausgedrückt werden können.

Führt man folglich in (2) statt der Dreiecksflächen die Werthe 2 Fyp, Iyp ein, so wird die Identität der drei Gleichungen aufgehoben, und man hat in ihnen die erforderliche Anzahl von Gleichungen, um alle drei 9

zu bestimmen. Der Gang wegen der jetzt eingeführten y wird dabei der

8 sein, dafs man von einem Näherungswerthe ausgeht, vermittelst desselben

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die g zuerst genähert bestimmt, darauf diese gefundenen Werthe benutzt, um genauere weiter entwickelte Werthe von y zu erhalten, durch deren An- wendung neue genäherte 9 erhält, und diese wechselseitige Correktion so lange fortsetzt, bis eine wiederholte Rechnung keine merkliche Änderung der früher angenommenen y nöthig macht, womit die Versuche geschlossen sind. Aus den definitiven 0 hat man dann die Elemente zu bestimmen. Die- ses ist die Methode von Gaufs, die sich sonach als die allein anwendbare zeigt, und die nur darin allenfalls Abänderungen gestattet, dafs man die Ver- besserungen der Werthe von y, auf dem einen oder dem andern Wege, kür- zer erhält. Dafs der gemeinschaftliche Faktor Yp von selbst herausgeht, sieht man auf den ersten Blick. Man bedarf folglich, wenn die Verbesserungen der y sich erhalten lassen, ohne die Elemente zu bestimmen, keines einzigen Elementes bei den Versuchen.

Als die erste Näherung für die Werthe der y könnte man versucht sein, den Werth derselben für#=0, also y=1 zu setzen. Allein eine ein- fache Bemerkung wird die Unstatthaftigkeit der gleichzeitigen Annahme von y=y=y'=1 auch nur als Näherung zeigen. Es ist nämlich # = 9 + 9" folglich würde jeder Werth vony=y'=y” nach den Gleichungen (5) be- dingen, dafs [rr"] = [rr] + [r'r" raden Linie bewegte. Diese Voraussetzung kann nicht gestattet werden,

]; oder der Himmelskörper sich in einer ge-

weil sie höchstens bei sehr entfernten Himmelskörpern zugelassen werden könnte und etwas annimmt, was der Natur des Problems widerspricht, wel- che die Bewegung in einem Kegelschnitte verlangt. Derselbe Widerspruch mufs sich auch bei der analytischen Behandlung zeigen, und es wird der Mühe werth sein, zu diesem Zweck die analytische Elimination zweier P durchzuführen, um daraus sowohl die Unstatthaftigkeit dieses Näherungs- werthes zu erkennen, als auch zu bestimmen, wie viele Glieder der Entwik- kelung von y nach Potenzen von 9 gleich anfangs mitgenommen werden müssen.

Substituirt man deshalb in (2) die Werthe von xyz aus (4), jedoch mit Beibehaltung von [77], [rr"], [’7’], und führt man der Kürze wegen, da doch nur das Verhältnifs von zwei solchen Dreiecksflächen zu der dritten in allen Gleichungen vorkommt, die Zeichen ein:

BT kasil —n" (6)

len [rr”]

[rr"] in

42 Encke

so werden die drei Gleichungen (5) folgende Gestalt erhalten:

ng cos« cos®+R cost {2'cosa’cos ß'-+ R'cos!} +n"$g" cosa”cosß”+R”cos!} —=0 (6)" ng sin « cos ß+R sin % $7'sin «cos @+R sin!‘ +n"fo” sin a’ cos@” + R” sin!’ 0 ng sin | sin &' +-n}g"sin ß" =0 Um hier og und p” zu eliminiren, multiplizire man die erste mit sin 8 cos E’sin«’— sin@”’cos® sine, die zweite mit sin @’cos@ cos«e sin cos"cose”, die dritte mit cosß cos” sin (a «) und addire die Produkte. Man erhält dann

0=nR$sinß cosß”sin (d’— I) sinß”cosß sin («—L)} 0 $sin ß cos’ cosß” sin (@«’— «') cosß sin cos 9” sin («’ a) +.cosßcosß' sin®” sin («’ «) (7) R'$sinß cos®"sin (a 7) sin” cosß sin («—T')} + n" R'$sinß cos” sin («’ !”) sin ®” cos@sin (a —!”)} eine Form, die sich der Kürze wegen so schreiben läfst: da’=—bR+cnR+dn'K. Man kann hier schreiben für b' = sinß cos” sin («”— !') sin®” cosß sin («—!)) sin (O’+ £) sin + (@’—a«) cos (+ (a +«)—!') sin (@’”—B) cos 4 (@’—«) sin (4 (@’+«)— 7) c' = sinß cosf” sin («’— I) sin” cosß sin («—I) sin (@’+R) sin +(a” —«) cos (+ («’+«)—1) sin (8’—P) cos (a’—a) sin (L(a’+«)—1) d = sin® cosß” sin (a 1”) sin ®” cos® sin («—!”) = sin (O’+ ß) sin 4 («’—«) cos (+ (@’+«) !”) sin (0’—ß) cos4 (@”—«) sin (4 (@’+«)— 1)

woraus hervorgeht, da «”— «a und @’—£ von derselben Ordnung wie #' sind, dafs die Coäfficienten d’, c’, d’ von der ersten Ordnung in Bezug auf die Zwi- schenzeiten sind. Für a’, welches so geschrieben werden kann

ad=.cosß cosß'cosß”ftgß sin («’— a’) —tgR' sin («’— a) +tg” sin (a —a)}

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 13

folgt wegen sin («’— «') sin (@’— e)+sin (@— e)=4sin 4(@— a) sin 4 (@’— a) sin ed) a —=cosßcos@ cosß” $(tgß wr sin SUR «)+(tgß’—tgß)) sin («—«)} +4cosß sin’ cos "sin - 4 («— a) sint 1 (a _ B)sinla Karla: da aber / tw ß=tg0— DL ae age dit a? is"

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n dt d?teß’ twß’—=igß' +9 A +49 Mr Is k v ne na 2d’« sin (@ —e)=9., +59 ze

„de 4 nz d’«' sin («’ a) =9 753 FrzBeR

so folgt, dafs sowohl der erste als der zweite Theil des Ausdrucks von «@ mit einem Gliede von der dritten Ordnung, worin der Faktor 9 9 #” enthal- ten ist, beginnt, und dafs folglich a’ von der dritten Ordnung in Bezug auf die Zwischenzeiten mindestens ist. In speziellen Fällen kann es noch klei- ner werden, und es wird völlig = 0, wenn die durch « ß, « @', «’ 8” be- stimmten Punkte in einem gröfsten Kreise liegen, weil in diesem Falle für den Knoten X und die Neigung I eines gröfsten Kreises, der durch («£) und durch («” 8”) gelegt wird, oder für welchen die Gleichungen

igß = sin (a K)tgI

ig @’= sin («’— K)tgI

tg@' = sin (@— K)tgI

Multiplizirt man aber die erste Gleichung mit sin («”— «'), die zweite mit sin «), die dritte mit sin («a «”), so erhält man a’ secßsec’ sec®’— 0, wenn alle drei Gleichungen zusammen stattfinden.

Vermöge der Form der Gleichung (7) hängt aber die Genauigkeit der Bestimmung von g’ aus

ada’=—bR+cnR+dn’R'

gelten, auch sein wird

wesentlich von der Gröfse oder Kleinheit von a’, oder von der gröfsern oder kleineren Abweichung des mittleren geocentrischen Ortes, von dem gröfsten Kreise durch die äufseren beiden ab. Wird a’ zu klein, so nähert sich auch bei streng theoretischem Werthe der Ausdruck für die Praxis dem 2 allzu- sehr, um noch angewandt werden zu können.

14 EnsckeE

Da nun a’ von der dritten Ordnung ist, 5’ c’ d’ von der ersten, so folgt, dafs man in n und n” nothwendig mindestens die Glieder zweiter Ordnung mitnehmen mufs, damit die Gleichung auch nur näherungsweise in dem er- sten Anfangsgliede der Entwickelung richtig bleibe. Es ist deshalb nicht ge- stattet, bei dem ersten Gliede der Entwickelung von r und X stehenzublei- ben, man mufs die Glieder zweiter Ordnung mitnehmen und hat, wenn man nicht weiter geht, immer einen Fehler in dem so bestimmten Näherungs- werthe von og’ zu fürchten, der sich nach der Reihefolge der Potenzen von $ richtet, nach welchen n entwickelt werden kann; im Allgemeinen also-einen Fehler der ersten Ordnung. Zugleich erhellt hieraus, dafs die Beobachtun- gen einen ungewöhnlichen Grad von Genauigkeit bei kleinen Zwischenzeiten haben müssen, weil die eigentliche Grundlage nur in der Abweichung des mittleren Punktes von einem gröfsten Kreise, der durch die äufseren gelegt werden kann, besteht.

Es ist der Mühe werth, diesen letzten gröfsten Kreis wirklich zu be- stimmen, da sich durch ihn die sämmtlichen Coefficienten leichter ausdrük- ken lassen. Man bestimme also X, den aufsteigenden Knoten, und J, die

- Neigung dieses grölsten Kreises, aus den beiden Gleichungen: 8 tgß —=sin (e —_ K)tisI 6) tg PB’— sin (a K)tgI

wozu man entweder die indirekte Methode anwenden kann, oder die Glei-

chungen: Az > . } 2 e.

sin (1(@’+«) K)tgI= ae u) sec+ («” «)

(8) 2 ° 2cos@cos® 2

eu —_ sin(0"—£) 4 (a"

cos(+(«’ + a) K)tgI= Zros eos COSEC («’— «)

Es wird dann: b' = cosß cos®” sin(«’—«) sin (!—K)tgI cd = cosß cos®” sin («”—a) sin(—K)tgI d = cosß cos®” sin («’— «) sin(!’— K)igI a’ = cosß cos cos®” sin(a«”—«) tg Isin (@— K)—tg®} setzt man also (9) tw @°= sin (@— K)tgI, so wird sin (eo P,

er 2 Mine 10ER El), ad= cosß cos” sin(«”— «) Inte

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 45

und damit die Gleichung (7), mit Weglassung des gemeinschaftlichen Faktors cosß cos” sin («”— «), heifsen:

MEZ e=+KRsin(—K)—nRsin(—K)—n’R’sin(’—K) (10) Ähnliche Gleichungen würden sich für oe und p” finden lassen. Da indessen diese Gleichung durch Versuche aufgelöst werden mufs, in welchen nach und nach für n und n” verbesserte Werthe genommen werden, so ist es beque- mer, die Werthe von g und g” aus dem gefundenen von 2’ herzuleiten. Eli- minirt man deshalb aus (6)" zuerst 7” und 9”, und nachher auch n und 9, was am leichtesten geschieht, wenn man die beiden ersten Gleichungen von (6)* auf zweifache Weise verbindet, nämlich zu:

0 =nfgsin (a—!”) cos RB—R sin (!’— D)} (2 sin (@— 1”) cos ß—R sin (!’—1))

und dann zu: + ng" sin (@’— 1’) cos®”

0 =nesin («—I) cos® $g' sin («—I)cos@’+Rsin(!— 1} +-n}$g" sin («’—I)cosß”+R” sin (’— 1} und verbindet beide mit der dritten Gleichung, so erhält man: Bra ’cosß' „is Blsin (a 1) tg 8” sin (@’— 2”) n.cos® "152 sin (@’— 1”) tg” sin 2”) tg” R’ sin (I" M)—rRsn(!—D) _ ncosß tg A sin (@’— 1”) —tg 0” sin (@«— 1”) ar e’cosl’ „ts sin (@’ —)—tg£'sin («—) Fr n”" cos” Sr («’—1) -tg@”sin (e—1) tg "sin (?— I) —n”R” sin (’— 7) Eros B"* =: sin (@”— 1) tg@” sin (@—2)

Führt man hier statt tg ß& den Werth we +wR'— ig@° ein, so wird in dem Ausdrucke für o:

tg’ sin («”—1”) tgP” sin (@—!") = tg Isin (a”—«') sin (—-K)

+(tgß’— tg£°) sin («’— 7")

tgß sin (d’— 1”) tg@” sin («—1”) = tg 1sin (@’— a) sin (I’— K)

und man kann schreiben für: R sin (’—T!) nRsin (!’ = (Meer n) R sin (!’—)) Ebenso wird in dem Werthe von g": tgß sin («— I) tg’ sin («—1) = tg 1sin(«— «)sin(I—K) (tgß’— 19°) sin («—])

16 EnckE

RER sin (/—)) mi: RR”sin d’—) wi ) R’sin (e 25 I)

igß sin («”— I) tgß” sin («—1) = tg Isin (d’— a)sin(—K),

ER sin (’—I) n”R’” sin ("—I) =

so dafs, wenn man analog für die Erdbahn mit N und N” bezeichnet:

RR” sin (’— 7) „__ RR'sin (’—) kn) N= RR” sin (’—D) N RR”sin (’—)) die Auflösung der drei Gleichungen (6)*, um die drei g daraus zu finden, fol- gende Form erhält: Man berechne folgende Reihe von Hülfsgröfsen, die von den unmit- telbaren Daten der Beobachtung allein abhängen :

Baer (@’— £°) [ a= cos@?tg7

M’ Beco® er, sin (@”’— «') a sin (@”—!”) 0 0sß" sinl@—a) " cosßsin(@”—a) sin(’—K) = R sin (!’—/) „sin («”— K) z cosßsin(@’—«) sin(!’”—K)

, cos’ „sin —.a) a sin (@<—J) N 7= AYZIRT VIEIEBEN Te = cos@” sin(@’—c) cos@”sin(a”—«) sin(I—K) (12) \n n R” sin (7 sin(«—K) 2 c0sQ”sin (@’—a) sin! —K) so wird:

ag=FRsin(— K)— nRsin(l— K) n’R’sin(’— MN # e="f+(2-:)M; = 745);

Es bleibt jetzt nur noch übrig, in diese Gleichungen die nach und nach zu verbessernden Werthe von 2 und n" zu substituiren.

Der jetzt eingeführte Coöffieient von g’ wird von der 2ten Ordnung der Zwischenzeiten sein, da er hervorgegangen ist aus der Division von sin («’— a) in die Gröfse dritter Ordnung a’. Die Formeln für g und 9” sind die der Olberschen Form in der parabolischen Bahn analogen. Ihre Form ist hier nur deshalb so genommen worden, weil die Berechnung nach derselben am schärfsten ist. Der erste Theil von M/ und M/ ist nämlich von der Oten Ordnung, der zweite von der ersten, folglich beträchtlich klei-

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 17

ner, und die Gröfsen, welche wegen ihrer Kleinheit hauptsächlich die Ge- nauigkeit beeinträchtigen könnten, werden unmittelbar aus den Beobach- tungsdaten gefolgert. Die Grölsen M) und MM} sind von der Oten Ordnung. Die Faktoren aber, mit welchen sie in p und e" multiplizirt sind, werden von der zweiten Ordnung. Wären die curtirten Abstände eingeführt, so würde der Ausdruck aller Formeln noch etwas einfacher.

Es bedarf jetzt noch der Bestimmung von n und n” oder der Entwik- kelung von y, y', y', in Reihen nach Potenzen der Zwischenzeiten. Der Weg, welcher sich hierzu darbietet, ist das Zurückgehen auf die Differen- tialgleichungen zweiter Ordnung, aus denen die elliptische Bewegung abge- leitet werden kann. Man hat:

ddx x ddy g% ddz

ee a

Legt man die Ebene der Bahn zum Grunde, wodurch z= 0 wird, so kommt es darauf an, die doppelten Dreiecksflächen::

miese -ay Drleyemay Drei any zu bestimmen. Da die zweiten Differentiale von den ursprünglichen Coor- dinaten abhängen, so wird man alle höhern Differentiale durch die Coordi- naten und die ersten Differentiale bestimmen können. Die bequemste Form für die Anwendung wird die sein, dafs man x, y, &”, y” auf die Form bringt:

= wa w = a = wa rw" 1, = / ag dr Zruger, + Pe dy' dy'

[ U y=wy— We ur Ewz wo w, w, w w” die ersten und höheren Differentiale von 7’ enthalten werden. Es wird dann: [7’r"]=w’Vp [rr’])= (ww,+ww")Vp [rr']= w,Vp

da x’ ar Ey —=Ypist. Wegen

d’x =D B

zen wird:

d’x Surdr: 2 dx zu . X .

3,5 Ar:

d*x (er Yu we Mrdr dx nl, —g a e dr® dr? Bacdz

d’x 12 60. (dr\> 36- dr der au Kar, R “. . . dr? r! + NG: 72 Kar ze + ra a7> 36

Math. Kl. 1849. C

18 Enck®e

und dann wegen der analogen Werthe von —. etc.:

rd du TaLaa Zu N 12 [ar' > 3 der) gr* 2 0 —o— e .—— -e u oo 2. 2 rer Re r? =) al 7%

124 dr! 60 dr'\° 35 dr d’r' 3.2.:d2rn 0 Aa ee ee ge an

R dr r dr r 7 r dr 120 N LE ar 0% a7) I ar ae Zr ee) SIE ne 7 je7 ee, ... 6? RB Raız 1 12 { 2 a A oe ee ee

r r isvez: aka, 60 =) +7 36 d’r 3 C} . rl dr r'6 Ta dr

r 03 a ee > SE

Na

AN 8 L Er

[>7

95 se®# >| 120 r T 120 woraus endlich:

AL ME 1 36 (Ar!\° "5 BTRıT ee za 1%.

ab 207 VEN ars 1 BufarıN 9 un IRRE" Ha ale)e Es in

>, ed) ar De ı N Je a 1 Ba] Vr ie be er re

93 (30”®— 400” 4-36°) EN ER TE 0 5 Net ee

Man erhält daraus den Werth: 9 d?r’) 9”* Te el Te

62 g”3 dr’ 7 dr’ Yyaııtl GH Hits 7 ‚2 4 62 4 DaB air. Mm dr' 9 d’r') #* yaırl, 4. Hits 5 ..

r'’ \dr dr dr” | 120 ea ED

DET A er 2? (39”"2— 469’ +39?) [4 SR + I SP . (5 2 I ah

Man kann hieraus a wie es später gebraucht wird, N Rn... Lo- garithmen ableiten

Igh une +5 ( ae '— a Ze . ° yPyY Or ia 5 = 22 ne “arf ım mw

le h zuM 0? 1 Be 2 36 9 gE 44 BP N a m 65 rl a g2 g’2 (—#”) rt gr Me 2 Ihe ya rn

2% 92 (39”2 499” +39?) 4 : te ar nn 0 7 = u .— ... 40 Tu NZE we

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 19

Diese Glieder enthalten solche Gröfsen, welche man wenigstens nä- herungsweise aus den unmittelbar auf einander folgenden Annäherungen ab- leiten kann. Nimmt man nämlich zuerst die Glieder zweiter Ordnung mit, welche blofs enthalten, so erhält man genäherte Werthe von og 0”, und damit von rr'r”. Für die nächste Entwickelung kann man aus den ersten

Gliedern des Taylorschen Lehrsatzes nehmen:

2 2,7 | a EAN 0 a N, dr’ 1 d2 d’r' v”"z=]7 +9 a ee oder: Bra 02 (r’—r) + 0”? (r"—r') de TE 9.9.9” d’r' __ 2(#”’(r"—r') 9 (r'’—r)) drin 9.9.9”

und auf diese Art die Glieder der höheren Ordnungen berechnen. Dieser Weg, wenn er auch in den meisten Fällen bei der ersten Bahnbestimmung ausreicht, würde indessen mühsam sein und auch auf höhere Glieder, wo n etc. vorkommt, nicht mehr anwendbar.

Aufserdem ist es aber vortheilhaft, mit der Gleichung, aus welcher eg’ abgeleitet wird, eine kleine Änderung vorzunehmen. Statt die beiden

Gröfsen n und n” beizuhalten, deren Verbesserungen nahe gleich sein wer-

den, da: gr ın-n ,Me6-M_-® ar Tr 6 I+ 6 ray 16: Ma Ne mo | MO-M)+9”° ar nat EN!

ist es vortheilhafter, zwei Verbindungen aus ihnen zu wählen, von denen die eine schneller der Wahrheit nahe gebracht werden kann, ohne dafs deshalb die andere dem Grade der Ordnung nach sich mehr davon entfernt. Die Bemerkung, dafs in der Regel die drei Beobachtungen so gewählt werden können, dafs die mittlere nahe in der Mitte der beiden andern liegt, oder 9 nahe gleich 9", läfst sogleich die Wahl auf -— U] undn +2’ ]#L]

r'r” [rr” fallen, von denen die erstere in dem Falle der Gleichheit der Zwischenzei- ten der Einheit sich mehr nähern muls, als n oder n” allein, und die zweite

C2

20 Encke

den charakteristischen Unterschied zwischsn dem Kegelschnitte und der ge- raden Linie A da sie für die letzte =1 ist. Sei deshalb:

u Ka P ee DZ n n\ rer? 17 mer 2 GrT so wird: we; —9")6 6°45"° ar rent 0-99 AE— EEE 5 79 a. 2; a er 2 2 re Pe ara 05 ar BEN Ah m

dr I UN dr re

oder wenn man, um die Glieder zweiter Ordnung EN anfangs zu berück- sichtigen, ausgeht von:

9’ Pr AH” Q P,=7 nn 1-5 =5;5 so wird nn h (00 ') 63-502 dr' „4 2 9 d r' AR u a a ar a + ae I) ae Den e ir ae 2 Alghyp Q,= IP-E+4 (2) —4 ren für 9 = #’ wird folglich 049” ar AlshypP, er a 566” a ur d?r' Alebpl, a al

enes von der dritten, dieses von der zweiten Ordnung, und wenngleich j 5 ö strenge 9 wohl nie gleich 9” sein wird, so wird doch die Annäherung an die Gleichheit die Glieder der zweiten Ordnung bei Alg P,, und der ersten bei AlgQ,, ungemein verringern. Es mögen deshalb an die Stelle von n und n” die neuen durch succes- sive Verbesserungen zu corrigirenden Werthe sein: pa [rr’ ] » n” E: 0" y [rr”] ine = Q=ır" [7 1+l[r lee = er’ (n+n'"—ı) [rr”]

so wird die Gleichung zur Bestimmung von g sich schreiben lassen:

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 2

a en ern fi - wie man unmittelbar erhält, wenn man den Werth n-+.n” als Divisor und Multiplicator der letzten beiden Gröfsen einführt. Die Näherungswerthe, welche für P und Q zuerst angenommen werden können, sind P= nr Q=#%"; womit die Glieder zweiter Ordnung vollständig berücksichtigt sind in der Gleichung. Die Vernachläfsigungen, sowohl bei P als bei Q, bewir- ken im Allgemeinen bei op’ einen Fehler der ersten Ordnung, bei Gleichheit der Zwischenzeiten aber erst einen der zweiten Ordnung. In jedem Falle wird folglich, bei nicht zu ungünstig gelegenen Beobachtungen, der Fehler der ersten Ordnung numerisch beträchtlich verringert.

Zur leichteren Übersicht der Auflösung der Gleichung führe man fol-

gende Bezeichnungen ein:

ß R'sin(—K Es sei: b= En ae) a ar + $R”sin (”— K) + Rsin (— Kt

a

a ee I

a

N 6°—_ ee: K=b— Pr=+5°0 so wird: age £,

Da auf diese Weise die unumgänglich nothwendige Einführung der Glieder zweiter Ordnung auf eine Gleichung zwischen g’ und 7’ führt, so be- darf es noch einer zweiten, um diese beiden unbekannten Gröfsen zu be- stimmen. Diese ergiebt sich aber unmittelbar aus dem Dreiecke Sonne, Erde und Himmelskörper. Sei in diesem Dreiecke der äufsere Winkel an der Erde ..d’... so hat man:

cos d’ = cos (d !') cos, oder wenn man in jedem Falle ö’ scharf haben will:

1% tg («’ 7)

(ZW ya BI nen; 0 = cos y’

232 EnckE

wobei ö’ immer < 180° zu nehmen ist. Die Gleichung zwischen g und 7’

wird damit: Ti

= eg” + R” 2gR’cosd' oder ed = KR cosd’ + Y(r” R’ sin ö’?) Hiernach ist die Gleichung, welche zuerst 7’ finden lehrt:

g' I? u = R'cosd’ + Y(r'” R sin 8°”)

eine Gleichung, welche entwickelt vom Sten Grade ist. Sie hat immer zwei reelle Wurzeln, eine positive und eine negative, kann aber überhaupt nur 4 reelle Wurzeln haben, von denen 3 positive und 1 negativ, wenn Z°(k°+-R’cosö') positiv ist. Um sie leichter aufzulösen, sei R sind’ = using %k° + R’ cosö’ = ucos q

m = 3 TI ERERMDE so wird für ; R sin % r R' sin e= —2) rz SER, 1) = ne sın z sin z z

der Winkel z', und damit 7’ und 2’, gefunden aus: m sinz* = sin (2 9).

Wenn man, was in der Wahl des Quadranten von g steht, m immer positiv nimmt, also 4 immer mit demselben Zeichen behaftet wie 2°, so werden 3 reelle Wurzeln positiv sein, wenn q zwischen 36° 52}2 und + 36° 5252, und m zwischen bestimmten Grenzen liegt, welche von g abhängen. Nur in diesem Falle findet eine wirkliche Planetenkahn stati. Denn da immer eine positive Wurzel dem ! = 0 oder R=j', d.h. dem # = ö’ entspricht, so hat man unter den andern beiden positiven Wurzeln, wenn 3 positive vor- handen sind, zu wählen. In der Regel entscheidet sich die Wahl dadurch, dafs z’ kleiner als d’ sein mufs, wodurch meistens eine der beiden übrigen po- sitiven Wurzeln ausgeschlossen ist. In einzelnen Fällen sind aber beide #<d', und es finden dann zwei verschiedene Bahnen statt. Eine vierte Beobach- tung wird dann erst entscheiden müssen, welches die wahre Bahn ist. Sobald auf diesem Wege z' gefunden ist und damit 7’ und g’ bestimmt,

so erhält man aus at 0 P=-, +; =n+n n 2r

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 23

die Werthe von 2 und n” durch:

n= (145 SE: Ba or und kann folglich aus (12) die Gröfsen 9 und p” bestimmen. Wären die an- genommenen Werthe für P und @ die richtigen, so würde man bei vollkom- men gegebener Lage der drei Punkte im Raum, bei welchen die Bedingung einer und derselben Ebene und einer constanten Flächengeschwindigkeit er- füllt ist, zu der Bestimmung der Elemente schreiten können. Da indessen bei z’ und 2’ ein Fehler der ersten Ordnung zu befürchten ist, so ist eine Ver- besserung der Werthe von P und ©, oder eine Ermittelung der genaueren Werthe von yy'y” erforderlich.

Man würde nach dem Obigen diese erhalten können, wenn man aus 0 und 0” die Werthe von r und 7” bestimmte, etwa durch die Formeln: cosd= cos (e ]) cos® cos d’= cos (a !”) cos”

r=(g— Reosö)’ + R’sinö? 7’’=(g"— R”cos d”)’ + R’* sin d”°

IRZ EL EER i : und damit 7, —, so wie die höheren Glieder der Entwickelung von y

dr’ dr ° 2 y,y" berechnete. Diese Berechnung kann indessen beträchtlich abgekürzt

2

und genauer et Menlen-

Wenn % _— " und 7 doch nur aus "— r und r”— 7’ her geleitet wird, so wird der die es werden, wenn man diese Werthe sogleich einführt, und z. B, bei lg y’ die Entwickelung nicht mehr nach den Ben von r', sondern nach den Potenzen von +(r”+-r) machi. Substituirt man

demzufolge "2

= ++ 0-MI-ıE

so erhält man für die entwickelten Glieder vollständig:

92 6 EAN, 14 lshypy=3 Fr +2+ era, +(r +) = +-—-(r'+r)’ (5 )t- Es kann bei y’ gleichgültig sein, welches 7’ man wählt, da y’ nur von vr” $ und dem zwischenliegenden Winkel abhängt. Nimmt man also für r’ das arithmetische Mittel aus und z”, oder setzt man Nn=z@rr) so wird der eingeklammerte Faktor:

a rider, dr +9r, er

1497,

24 Encke Es folgt aber aus: —=a+y rdr xdx ydy dr dr r dr dr = >) + a „Er d’y dr? Es dr® a: n d’x 3 By: VEIEDDE ar® ar und der bekannten Gleichung GD+)=-:-: Ik zZ" a =) 2 :) = 1 1 ce gr er

woraus der Faktor wird

Be a

Man kann deshalb die Ausdrücke für die verschiedenen y bis zur 4ten Po- tenz der Zwischenzeiten incl. so schreiben: Man bestimme den allerdings x dr! d?r' # B nur genäherten Werth von a, weil I und = blofs näherungsweise aus

r r und 7’ r' hergeleitet werden, aus:

"dr" 3 ee

so wird om N Eh gr r+r lshypy =oz* Gaerp a 7 al (e) ... x RN Ba) en Ichypy = sy + ah (@) h-- N n ‚2 9% 9 r-+r" ebypy=,- Ge en af Tara

Um die Gröfse dieser Correctionen besser schätzen zu können, mö- gen die $ auf Z und der hyperbolische Logarithmus auf die Einheiten der 7ten Stelle des briggischen Logarithmen bezogen werden. Man erhält dann

>

wo die Logarithmen der Coöfficienten sind 3,2338859 und 0,1310176. Die Ausdrücke für yund y’sind analog.

f

ap:

a5 = on 4 (+

(+ n)?

lg br. y” + 1,352

In gewöhnlichen Fällen wird man hier- mit namentlich bei Planeten in der Gegend der Asteroiden ausreichen, weil

über die Bestimmung der elliptischen Elemenie bei Planetenbahnen. 25

bei ihnen +7’ schon beträchtlich gröfser als 1 ist. Bei Cometen könnte auch bei der ersten Bahnbestimmung und kurzen Zwischenzeiten noch das folgende Glied der 6ten Ordnung merklich werden. So z. B. ist in dem zweiten Beispiele von Gaufs T’heor. mot. pag. 182

t—= Nvb. 5,564905 = Nvb. 36,466293 = 76,340208 lg r = 0,3630960 lg 7’ = 0,3507191 lg r" = 0,3369536

Man findet nach den hier gegebenen Formeln für 7’ t = 70,775303, br), 0095476 + 0,0001155 = 0,0096631, wobei lg (a) = 0,4441635. Die strengen Werthe sind lg y’ = 0,0096642..5 ns lg a = 0,4422438. Eine Zwischenzeit von 71 Tagen wird bei einer ersten a ennaung gewils nicht vorkommen, und doch ist der Unterschied von dem strengen Werthe nur 11 Einheiten der 7ten Decimale.

Übrigens geht aus dieser Reihenentwickelung hervor, dafs bei der ersten Verbesserung man in allen Fällen nicht nöthig hat mehr als das erste Glied mitzunehmen, oder zu setzen:

lg brigg y’= 1713,5 see

lg brigg y’ = 1713,5 en

lg brigg y = 1713,35 Be

in Einheiten der siebenten Decimale. Denn da bei den r ein Fehler der

ersten Ordnung stattfinden wird, der höchstens bis zur zweiten sich verklei- nern kann, so kann man das zweite Glied der vierten Ordnung doch nicht richtig erhalten. So findet sich in dem angeführten Beispiele bei Gaufs, dafs er die den genäherten r, 7’, r” der ersten Hypothese genau entsprechen- den Igy = 0,0031921, 1g,y” = 0,0017300 findet. Nach den obigen Formeln werden sie die ganz strengen Endwerthe

lg y = 0,0031659 + 0, 0000132 —= 0,0031791 lg y'’= 0,0017374 + 0,0000037 = 0,0017411

welche bis auf 2 Einheiten der letzten Decimale genau sind. Die Glieder der vierten Ordnung sind hier den stattfindenden Unterschieden zwischen den ersten Bendhenten und den wahren Werthen der Gröfse nach ganz analog.

Überhaupt wird man bei jeder Verbesserung nur immer hoffen können, das

Math. Kl. 1849. D

236 Encke

nächste Glied der Reihenentwickelung von lg y zu erhalten, bei der ersten Verbesserung die Glieder zweiter Ordnung, bei der folgenden die der vier- ten, bei der nächsten die der sechsten u. s. w.

Sollten indessen die höheren Glieder merklich werden, so kann man durch eine etwas vermehrte Rechnung die Annäherung beträchtlich erhöhen. Zur Verbesserung vnP =" = n . 7, bedarf man nur der Gröfse y und y",

n 2

welche sich nur auf die kleineren Zwischenzeiten beziehen und bei welchen eben deshalb in den höheren Gliedern die Verbesserung nur etwa 4; bei den Gliedern der vierten Ordnung und 4, bei den Gliedern der sechsten Ordnung von der Verbesserung von y’ beträgt. Giebt man sich aber die Mühe, nicht blofs die r, sondern auch die zu ihnen gehörigen Zwischenwinkel in der Ebene der Bahn, oder die Gröfsen x ww’ zu bestimmen, so läfst sich aus 3 Radienvectoren nebst den Zwischenwinkeln durch eine geschlossene Formel der Werth von Q, bei dem sonst die Kenntnifs von y’ erforderlich wäre, ebenfalls nur mit Hülfe von y und y” ableiten. Es wird dadurch die Ermit- telung von y', des gröfsten Faktors, völlig entbehrlich, und man wird eine be- trächtlich gröfsere Schnelligkeit der Annäherung bewirken. Denn wenn w der Winkel zwischen Perihel und aufsteigendem Knoten ist, so hat man die drei Gleichungen:

—ı1=ecos (W —u) „—1=ecos (uU’—w)

Multiplizirt man sie respective mit sin (u uw‘), sin (u— u”) und sin (wW— u), so wird die Summe auf der rechten Seite Null, und daher:

p men alu ze) N =sin (u’— uW‘)+ sin (u—u”) + sin (w—u)

r r LE

Die linke Seite dieser Gleichung wird folglich geschrieben werden können:

ler are or;

und die rechte durch eine leichte Transformation, wenn man für w’ u schreibt "— W + wW— u:

4 sin + (W u) sin (u’— u) sin (u u).

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 27

Dann: [root

273 2r'?

so erhält man 2 4r'* sin+(u” u') sin. (uw _ u) 1

cos 4 (u u) p

Setzt man folglich wegen

y Br Ba rr' sin (uw —_ u) Yp= Beer in r I sin (u 79) Pan erT on aaa 1 1 89” 1 m a (N a also p yy’ TREE (w u Pr) Br (a u)

so erhält man den strengen Werth von ®:

69 du Q= Fr

rr" c0s4 (uw u) cos+-(w”— u) cos+(u”— u‘)

aus welchem sich die verbesserten Werthe mit grofser Genauigkeit und Be- quemlichkeit berechnen lassen. Obgleich die Kenntnifs der Winkel für die ersten Verbesserungen, die in der Regel ausreichen werden, nicht nöthig thut nach der obigen ee ekchung so ist der dadurch erlangte Vor- theil doch zu grofs, um nicht die etwas vermehrte Mühe der Berechnung zu ersetzen.

Wenn deshalb die g gg” ermittelt sind, so berechnet man aus ihnen den heliocentrischen Ort nach den bekannten Formeln:

ocosß sin(@e— I) =[rcosv sin (A ]) R+2c0sßcos(a—l) =rcosv cos(A ]) e sin ß sing g’cosf’ sin (@— 7) = r cosv sin (X 7) R’ +9 cosß'cos(@—!) = r' cosv cos (X !) e' sin ß' =r'sinv g"cos?” sin («”—!”) = r” cosv” sin (A”—!”) R'+0'cosß”eos (@’—!’)= r"cosv”cos(A’—!”) eg” sin DB 77 Sins. wo vv'v” die heliocentrischen Breiten, A A?” die heliocentrischen Längen sind. Man kann aus ihnen auf verschiedene Weise die nöthigen Werthe be- kommen. Entweder aus sin z (uw u)’ = cos+(V + v)* sin 1(X A)? + sin 1(" v)’ cost (A 2)? sin z (u’— u)’ = cos + ("+ v)? sin + (X”— 2)” + sin 4 („"— v)* cos4 (X’— 2)? sin z (W'— uw)” = cos+(v’+v')? sin4 (A’— X)” + sin 4 ("—v')* cos+ (A’— 2’)? D2

28 Encks

oder durch ähnliche Formeln das bis jetzt allein nothwendige

cos+(w u)’ =sin+(v’ + v)’ sin4r) A)’ + cos; (v’ v)’ cost(X A)” cos+ (u u)’ =sin# (v"+ v)* sin—(A’— A)” + cos (v’— v)’ cos4 (A’— A)’ cos+ (u —u)’=sin + (v’+V)’ sinz (A’—A)? + c0s4 (v"— v')’ cos (A’— A)”

Man kann auch die Neigung und den Knoten aus den äufsersten bei- den Örtern bestimmen, denen der mittlere dann ebenfalls entsprechen mufs, durch Auflösung der beiden Gleichungen:

tg v =tgisin(A R) tgvV’=tzisin (A— 8)

und daraus u, w, w” ableiten durch

1 u = Ed D tgul= tg (X ad ig u =

cosi cosi cosi °

wobei sich eine Anzahl Controllen findet, dafs z. B. der jetzt gefundene Werth von r’ mit dem aus z abgeleiteten übereinstimmen mufs, dafs tg’ = igisin (X 8), dafs der zum Grunde gelegte Werth von

rr' sin (wW —u ’r" p_ Tino

r'r"

4 _ rr' sin (u SOPETL sin (u’— u) r" sin (w en) oder ı > rr" sin (u u)

so dafs, wenn man diesen Weg wählt, die Bestimmung von r und 7” durch ö und ö” unnöthig ist.

Hat man aber einmal u u’ uw” gesucht, so wird die Reihenentwickelung der y oder Ig y bei weitem einfacher und leichter fortzusetzen sein. Schon

gr2 g”&

die Form, dafs lg y” = ee een, und

folglich für die Parabel bei a ©

Du

lgy” =; TEENS:

führt darauf, die Analogie der Ellipse und Parabel zu benutzen. Bekannt- lich hängt in der letzteren der Werth von y von einer cubischen Gleichung ab, die sich mit Hülfe der in dem Lambertschen Theorem enthaltenen Grö- {sen am leichtesten herleiten läfst. Wenn e die Sehne zwischen den End- punkten von r und z’ ist, und man

TFT Ec=m? r+r—c=n?

über die Bestimmung der elliplischen Elemente bei Planetenbahnen. 29

setzt, so wird wegen ce =r’-+r” 2rr' cos(w u)

2cos+(W—u)Vrr=mn r+r=-+(m’+n?)

und da Fire = 9"yp so wie [7] = 2c0s+ (w' u) Vrr' x sin (uw u) Vrr' . By so wird sin (uw u) Vrr = a le mn y mn oder ee Vp y" mn

Diese Gleichungen gelten für alle Kegelschnitte. In dem speciellen Falle

der Parabel wird Tp=zppigzvtstgzv}

TYp=zppigzVtztgrv”}

wenn v und v’ die wahren Anomalien bedeuten, und folglich wird wegen 2 p

2c0s4v? =

2c0os4v’

"yp=+zpfigtzV—tigtv. fir ZtigzvU + ZtgziiggVUrZztigzUt}

wobei, wenn man statt ı den Werth setzt, der aus der folgenden Gleichung

2cos+(W— r’ entnommen werden kann: ıHtgZvtg;-vV= un me, man erhält:

Wyp=tpptig td) EETITT ig} und damit wegen: _ 2sinZ-(w’— u).Yrr’ 2 p wird die Gleichung geschrieben werden können: sin-(w’— u)?.(rr')2

9"Yp=2c0s+ (u u).Vrr'.sin+ (u u) .Vrr' ++ F

Ä 2 gr3 [Ei er Vr

(mn)? welche übergeht in Gr M. gr ® = g”3 (mn)? i y?

aus welcher cubischen Gleichung sich y ergiebt, sobald

mn = 2cos— (W u).Vrr' bekannt ist.

30 Ecke

Eine analoge Gleichung wird auch bei der Ellipse stattfinden. In der That, wenn E und E’ die excentrischen Anomalien und e die Excentricität,

ot 1“ —E'— E—2esin4(E'— E)cost(E’+E)

a”

undda ecos+(E’+E)= c0s+(E'— EB, zT so wird 9"—= 2c0s+(W— u) .Yrr‘.sin(E'— E) .Va+$E'— E— sin (E’— E)} Nun aber ist auch sin+(E'—E).Va= nn. folglich wird gr _ 9” E'— E— sin (E'— -E) 9”3 =7t ge | a welches die der obigen parabolischen analoge elliptische Gleichung ist. Es wird nämlich bei der Entwickelung E'— E— sin (E’— E) sin4(E’— E)’ oder für E'— E=0 in der Parabel der Faktor +. Zur Auflösung dieser transcendenten Gleichung, wenn blofs w u, und nicht zugleich E’— E gegeben ist, bedarf man noch einer Relation

zwischen E'— E und den übrigen in der Gleichung vorkommenden Grö- fsen, welche sich aus der Gleichung:

RER ! =;+2sin —(E'—-E)’ + - sin 4 (E'—

r+r = 2asin+(E’— E)’ + 2cos— (W u) cos4 (E'— E).Vrr' oder r+r 2c0s+(W—u)Vrr =2asin—(E’— E)’ 1c0s+ (W—u) sin- (E’— E)’Vrr'

ergiebt. Substituirt man hier m und n, so wird

gr2 m—n) =2—4 :—— —2 = (EA): Am-n)'=2!%. In —tmnsin4(E—E) Hiernach, wenn man der Kürze wegen setzt x —=sin-(E'—

wird die cubische Gleichung in der Parabel we in der Ellipse durch die beiden Gleichungen:

über die Bestimmung der ellipiischen Elemente bei Planetenbahnen. 31

u2 1 (m—n)? Me a y (mn) 4mn

gu a 9” 3 == . ae Setzt man 2mn 2c0os + (W— u)Yrr’ a 2. 7 IV =(C0SY mn r+tr so wird mn=(r-+r') cosy PR N. An le} mn cosy _c0sy und man erhält: ö gr? un 10,2 z=sin- (E— E)’—= Sr ne (r+r)’y””cosy cos y 4 ar 6 Fa 8 2 Er eZ—afn wen 308.5 315.7 3 "3 Pi 9 cos (r +r')? y'?

Man kann diese letztere Gleichung auch schreiben: a 1 +! ee ee iz 1 u. 3 3.5 3.5.7 ra (r+r')? cosy? "yr

welche, wenn man den Werth von x Aug wird

1 sin4y? sin, (= gu= 42 er in (I y Er). Tale Y cos y cosy "G+r) cosy? "yrs |_ 18 „Sinzy®, ia ey 3 1 +! = + ——e» a ee z 33 cosy 21 cosy (r+r')°cosy® y”’

+14 _18, sing 1 +12 lapevnaf? » ii] BEN 35 21 cosy "(r+r')? cosy? en (r+r')'?cosy"® y” s

Um hieraus die Reihe für lg hyp y” herzuleiten, dient die Bemerkung,

dafs wenn:

y y 2 4

ie, Fk? Zee ee, an RN er P 5 u. sein wird: NE ‚2 5,2 [71 28 „3 Bhpy'=c."’—- Gi —-e)"+&c—1ee,+c,)n° 8 Asche, + 40; +9,06, c,M°....

32 EnckE

Geht man also bis zu #”° fort, welches die äufserste Grenze ist, bis zu wel- cher eine Reiken-Entwickelung noch rathsam sein möchte, so wird:

DYZ sin- LE 002 ls hyn st SER NAT NEN u don So ° (r+r')’cosy? B cosy a (r-+Hr')? cosy’ "(Fr +r)? cos cos y> —%, ve 'y re A Tara 2 TOO IRBERENN SALE = NE —e.. 35 cos y 6 cosy (r+r)’cosy’ 162 (r+r')°cosy°f (r+r')’cosy? Diese Reihe, bei der die Glieder abwechselnde Zeichen haben, con-

vergirt indessen ungemein langsam, wenn die Gröfse, nach der sie eigentlich g”’2 2 r-+-r')’ co

aus der Formel für Ei: y eich: es noch besser aus der Betrachtung, dafs

geordnet ist, nämlich _ ——, bedeutend wird. Es ist nämlich, wie man

die Sehne zwischen den Endpunkten von r und 7’ = (r+r)siny,

einleuchtend, dafs sin 1 y eine Gröfse der ersten Ordnung, von derselben Ordnung wie 8” ist, EN dafs die Reihe folglich nach den geraden Potenzen der Zwischenzeiten fortschreitet. Vermindert man die Gröfse, deren Po- tenzen in den einzelnen Gliedern auftreten, oder ordnet man die Reihe nach

2 (r+r')’’ 1 cos

Potenzen von indem man für sec y’ substituirt

=1+6sinty” + 24sin Iylı.

so wird sie bei weitem convergirender, und man erhält:

WE sin = De BR Mn er 32, Eh . en ley er Fre 5 H cos y at (r+r')?

+23, =) 9 Sugy®, el it 35 ei cosy (r+r')’ 29 (r+r')® (r+r')?

Die Convergenz wird aber noch gröfser, wenn man auch hier noch für sec y seinen Ausdruck durch sin 4 y” substituirt, nach

seey=1+2sinty’+4isinzY'... Man erhält dann

g”2 g’2 9”? Ne en 32, ea ey 3 (r+r')? + 5 (sin 2 Y 9 "GFrr) (r-+r')? igein,. 0 ES. A 35 IT Teint nt rl ee

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 33

Es wird nämlich dann das zweite Glied entweder positiv, oder erhält doch nur einen kleinen negativen Werth, und das dritte wird seiner Natur nach immer positiv sein, da es gr? 2 92 g”6 4736 BU een! 4189, eh une 8 Immo, a = fein - y 138 Fr! Gr tr 6 Um diese Reihenentwickelung mit der früheren direkt vergleichen zu

können, kann man vermittelst des für die Ellipse modificirten Lambertschen Theorems statt des Winkels y die halbe grofse Axe a hineinbringen. Be- kanntlich gilt für die Ellipse das Lambertsche Theorem mit der Modifica-

tion, dafs in ihr

"= + (m’—n?) + -- «(m ’—n’) +; 2 (m’—n}!).... Substituirt man hier m=(cos;y+sin—y)V(r +r') n= (cos y— sin y)/(r+r')

so wird bis zu dem Gliede - erhalten: 9"? ı r+r 3 fr+r —— Ne er I ( a sin

Hr)” 2 3 r+r' sn gas 1 Be 3 (r+r 2 -R ul = ) pin +v'- e> Pig.nk rl iger sin —y’

2 3 EST 4 Me +77 (=) SNZYe..

und wenn man umkehrt, so wird:

Se ER Ace r+r'\° sın = 4 -4( 1% .—— (ehr)?

ae): 3 zn

a)

und damit

nakin, 2y: r+r ER et =(: er: ee ) )- (r-++r')? a 2 che, 2 4 Er )- E% se Di 16 ("+6

n4& sinty'= Beer, zen 6 a +28 "+ r)®

Math. Kl. 1849. E

34 Encke

Substituirt man diese Werthe in die letzte Reihen -Entwickelung, so wird:

gr ur gr By'=3 ats li) Game (r+r') a (r+r) Itansif, en Per er ii si Bu. 1624 "Gary

welche in den ersten beiden Gliedern völlig mit der oben aus den unmittel- baren Differentialgleichungen der elliptischen Bewegung abgeleiteten über- einstimmt, und damit zu erkennen giebt, dafs die Gröfse, nach der diese Reihe geordnet ist, sich auf verschiedenen Wegen von selbst als die zweck- mälsigste darbietet.

Da r immer zwischen a (1—e) und a (1+ e) liegen mufs, so wird der Coäfficient des zweiten Gliedes, abgesehen von den mit = und den höheren Potenzen multiplieirten Gliedern, immer liegen zwischen:

16 (1+9e) und # (1 9e)

Bei Planeten ist die IM bis jetzt bekannte Eccentricität +, so dafs der gröfste negative Werth >, der gröfste positive +22. Man kann deshalb aus der Gröfse von. = „3 unmittelbar schliefsen, ob das zweite Glied noch merklich ist, da man u Coöfficienten bei diesem Überschlage = 1 setzen kann. Bei den Gliedern vierter Ordnung entspricht hiernach eine Einheit der siebenten Decimale des briggischen Logarithmen etwa - (r+r Ge Tagen, wonach sich die Nothwendigkeit der Berücksichtigung derällben schätzen lassen wird.

Der Coäfficient der Glieder sechster Ordnung liegt auf gleiche Weise

behandelt immer zwischen:

D 6 2 2 BatrerTe ma -merTe

also füre=-+ zwischen + 46 und 42, wofür man zum flüchtigen Über- schlage Chbnfalle die Bisiheit, a kann. Es entspricht dann bei nn eine Einheit der siebenten Decimale des briggischen Logarithmen etwa > (r+r')® Tagen. Nimmt man für die Gel Sa kleinen Planeten als beiksEr Werthe (r-kr')® in runder Zahl = 10 an, so kann man sicher sein, dafs die Glieder 4ter Ordnung bei einem Intervalle von 10 Tagen erst eine Einheit der siebenten Deeimale des briggischen Logarithmen bewirken werden, bei 20 Tagen 16 Einheiten. Die Glieder sechster Ordnung können bei einem

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 35

Intervall von 40 Tagen noch nicht eine solche Einheit betragen, bei 80 Ta- gen noch nicht 64 Einheiten. Bei Cometen, für welche r +7’ selbst bis zu 14 herabsinken kann, wird man viel zeitiger die höheren Glieder berücksich- tigen müssen und dann jedenfalls die strenge Auflösung von Gaufs vorziehen.

Stellt man folglich die nöthigen Formeln zusammen, so bestehen sie in folgenden:

Wenn r'r", u u’ u” gefunden ist, so verbessert man successive P und Q. Es wird das verbesserte

YR gr Y P ze T ‘y IR AH” r'r’

yy" i rr” cos + (u u) cos4 (u u) cos+ (u’— u)

wozu es der Kenntnifs von lg y und Ig y” bedarf. Das erstemal reicht

man aus mit "2

4 0? 4 A lehypy=s 7a: Alghypy mnalım

welches man auch in Einheiten der siebenten Decimale des briggischen Lo- garithmus schreiben kann: lg br y= 17135 ei lg br "= 17135 Er wo der 1g 1713,5 3,2338859. Bei der zweiten Verbesserung berechnet man mit den neuen Wer- then von z, r', r” diese Glieder ebenfalls und fügt hinzu:

2 cos + (u”— u’) Y(r'r” 2cos+ (wW—u)Yrr' a ee NET IK . a a r +r r-+tr

I . 1 6? [E I le hypy = 3 fein 4 y 4

2): ne 9”? g”2 Ar hp = in 4a" dp er

Man kann die ganze Verbesserung, das erste und zweite Glied in Einheiten der 7ten Decimale des Henn Logarithmus, vereinigen in

1 ’— 1)? U" —t)* lgbry = 4112 an eh HB cosy} 1,0817 cr

lg br y’— 4112,4 en . $1T _ cos y”} 1,0817 u

wo 1g4112,4 = 3,6140972, 1g 1,0817 = 0,0341076.

E2

36 EnckE

Bei der dritten Verbesserung berechnet man mit den neuen Werthen von rr'r"yy" die obigen beiden Glieder von neuem und fügt hinzu

: Ä 6? 9* Alshpy=% FE Asinay' —% sinZ y? Gary EREEN er

ve gr2 gr& 3 REN 136 ua. . a ERS . SAN „2 ER a an er er}

Man kann alle drei Glieder in eine Form vereinigen in Einheiten der 7ten Decimale des briggischen Logarithmus durch

lg br y = 48,957 © a . 1257 360 cosy + 138 cos y’}

(Fr 0,019316 sc 5323 267 cos yt + 0,0010149 e . lg br y’—= 48,957 nn . {257 360 cos y’+ 138 cosy’*}

= EN a3 = 2 I 0,019316 Ep {323 67 cos y”t + 0,0010149

1g 48,957 = 1,6898179 1g 0,019316 = 8,2859195 1g 0,0010149 = 7,0064167.

wo die lg sind

Es läfst sich auch der Werth von dem hyperbolischen logar. in fol-

gende Form bringen: 2 cos + (u”— u’) Yr'r”

r+r"

Man berechne

=Ccosy 92 e Gr a

Zsin4y 2 —=A

5 23

. 1. 2 2 sin,” —-$""=B

so wird lshpy= Zn’ fi +A+4AB} + 32° Es sind hier + hate, 8 MB nA A” en -„ AB+= 32 y—=4A?’ lghypy

und die analogen hin für y”.

Um eine Anwendung dieser Formeln zu machen und zu zeigen, wie weit sie in gewöhnlichen Fällen ausreichen werden, habe ich das zweite und dritte Beispiel in der T’heoria motus danach berechnet, zugleich auch die

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 37

Rechnung nach den drei Reihen - Entwickelungen ausgeführt, damit man den beträchtlichen Unterschied der Convergenz derselben bei grofsen Zeitinter- vallen übersehen könne.

In dem dritten Beispiele T’h. m. pag. 187 sind die Werthe ! —t—= 259,88477 lgr = 0,4282792 lg 7’= 0,4062033 u' u = 62° 55’ 16) 64. Die erste Reihenentwickelung giebt für die Glieder der zweiten, vierten und sechsten Ordnung: lg br y” = 0,1305534 0,0763221 + 0,0595854 = 0,1138167 Die zweite giebt eben so lg br y’ = 0,0809493 + 0,0094130 0,054538 0,0849085

Die dritte oder die eben gegebenen Formeln lg br y” = 0,0809493 + 0,0044712 + 0,0006714 = 0,0860919

Der strenge Werth nach Gaufs wird 0,0861151.5, dem sich bei einer Zwi- schenzeit von 260 Tagen der letzte Werth bis auf 233 Einheiten der sieben- ten Decimale nähert, während sich die beiden ersten sehr beträchtlich da- von entfernen. In dem zweiten Beispiele T’}. m. pag. 183 sind die Werthe: ! —t=70,775303 lg r = 0,3630960 lg r'= 0,3369536 uU u= 22° 32% 7)67. Hier giebt die erste Reihenentwickelung lg y’ = 0,0101355 0,0005008 + 0,0000318 = 0,0096665 Die zweite lg y’ = 0,0095476 + 0,0001251 0,0000087 = 0,0096640 Die dritte lg y’ = 0,0095476.2 + 0,000 1160. + 0,0000006.2 = 0,0096642.5. Der strenge Werth nach Gaufs ist 0,0096642.5, so dafs bei einer Zwischen- zeit von 70 Tagen und für Werthe von r und 7’ die in der Gegend der klei-

38 Encke

neren Planeten zu den kleineren gehören, die dritte letzte Form den stren- gen Werth ganz genau wiedergiebt, die erste und zweite sich ihm beträcht- lich nähern.

Bei weiteren Verbesserungen, wenn sie nöthig sein sollten, wird man zu der strengen Gaufsischen Form nebst den dazugehörigen Tafeln sich wen- den müssen, vielleicht ist es schon bei der dritten Verbesserung rathsam. Diese kommt darauf hinaus, dafs Gaufs die transcendente cubische Gleichung, wenn man es so ausdrücken darf, in die Form bringt

1 4 4 u (—(&—8)) (r+r)’cosy’ y"

wo £ eine sehr kleine Gröfse 4ter Ordnung, nämlich

1384 25 = TE x Be PT

Setzt man hier für x seinen Werth

9”? 1 sinty? I (r+r')’cosy? y”? cos y so wird die strenge Form 1 10 g2 MSc Do GE 77 2733 3 ,n3 y s , singy" 1 £ "G+r) cosy’y 6

cosy F+r)’" cosy’y"- sich umwandeln, wenn man

2 6 snZYy P en.

I BaN)

cosy g2 au DIE (r+r')’ cosy? =, setzt in 0", 2 9 n3 1=7 5 = N 1 77m oder in 9. ZN RE:

Bei der Auflösung vernachläfsigt man zuerst E und nimmt

über die Bestimmung der ellipischen Elemente bei Planetenbahnen. 39

Eine Tafel giebt mit den zugehörigen Werth von 1g.y”, und eine zweite giebt den Werth von Z, der £° bezeichnet werden möge, welcher vermöge

zu diesem ersten genäherten Werthe von x gehört. Damit hat man als zweite

Näherung BED N) 5, sin 4y? Zr 6

5

cosy

und sonach ein neues y”, x und £, welches Verfahren so lange fortgesetzt wird, bis keine weitere Verbesserung von £ nöthig thut. Gaufs bezeichnet die Gröfse mit Z und giebt für die Berechnung desselben eine Formel, die vielleicht, obgleich sie den Werth von Z am schärfsten geben mag, doch der lästigste Theil der Rechnung ist. Es scheint, dafs man ohne wesentliche Verminderung der Genauigkeit hier die Abkürzung eintreten lassen kann,

dafs man bestimmt 2c0s+ (u’— u)Yrr’

cosy= A r-+r und damit das Gaufsische g”2 mm= een = (Hr) cosy” _ singy? 005 y mm wodurch ı=-—,—I AA

und die übrigen Rechnungen den angegebenen Gang befolgen.

Hiermit sind die drei Gleichungen, welche die Bedingung einer und derselben Ebene für alle drei Beobachtungen und die der gleichmäfsigen Flächengeschwindigkeit bilden, für das ganze Intervall und seine Theile vollständig und scharf aufgelöst, und es bedarf jetzt nur noch der Bestim- mung der sämmtlichen Elemente. Von diesen kennt man, wenn man u u w" auf die zuletzt angegebene Weise gefunden hat, schon Knoten und Neigung, und unmittelbar hat man

= a Wu) = (ee "sin (w”

40 EnckE

aus deren Logarithmen man das arithmetische Mittel der Sicherheit wegen wählen kann. Die Eccentricität e und den Winkel zwischen & und Perihel ..W... erhält man durch

.- —1=ecos (u—w)

P—ı1=ecos (u"—u)

wozu allenfalls noch, wenn man durch indirekte Versuche sie auflösen will, die Gleichung

—1=ecos (U— uw)

genommen werden kann. Eine direkte Auflösung würde sein

(4 -:) cosu— (2 -:) cosu” r

sın (u u)

EI Eine

sin (u” u)

esnw=

ecosw =

Wenn also & der Eccentrieitäts-Winkel und = die Länge des Perihels ver- langt wird, so hat man

sinp=e v+R)=r Die wahren Anomalien v, v’, v” sind der Reihe nach u—u, W— uw, uU"— u. Die excentrischen E E’ E” werden gefunden durch

gr Ener (u— u) tg + E= tg (15 —— P)tgz (W— u) gg; Et (5 7 Pig (uW— u) und die mittleren M, M’, M” durch M=E-esnE M=E-esinE’ M'—= E'—esin E"

woraus sich wegen der mittleren täglichen siderischen Bewegung ..4.. welche k * ui - = 7 ist, wobei lg k = 3,5500066 ist, wenn a in Bogensekunden gefunden

werden soll, die Epoche der mittleren Anomalie für die Zeit T’ so berech- nen lassen wird, dafs man ableitet

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 41

az 2 Z cos d k

kR=

er zB

M=M—(—T)u M—(!—T)yu = M’— (“—T) u In der Übereinstimmung dieser letzten drei Werthe liegt die letzte Prüfung für die Richtigkeit der ganzen Rechnung. In den bisherigen Formeln habe ich mich bemüht, den Gang der in der Parabel befolgten Methode so ähnlich als möglich zu machen. In der That ist er auch im wesentlichen derselbe. Aus denselben 3 Gleichungen

werden mit Hülfe der zuerst angenäherten, nachher verbesserten, Werthe der doppelten Dreiecksflächen die Abstände abgeleitet. Nur kann man in der Parabel noch die Lambertsche Gleichung zwischen zwei Abständen und der Zwischenzeit zu Hülfe nehmen, wodurch man nur ein Verhältnifs von Ab- ständen aus den drei Gleichungen zu entnehmen braucht. Eigentlich sollten nach den ersten Versuchen auch in der Parabel die annähernden Voraus- setzungen, deren man sich bei der Combination der ursprünglichen drei Gleichungen bedient hat, verbessert werden, wozu man entweder die Reihen- Entwickelungen oder die von Bessel gegebene strenge Auflösung durch zwei cubische Gleichungen benutzen kann, sobald die Werthe von den beiden Abständen gefunden sind und wobei man keine Elemente zu bestimmen braucht. Ganz so wie bei der Ellipse, aber hier freilich nur durch Reihen- Entwickelung, sei es unmittelbar oder durch Tafeln abgekürzt, man die Ver- besserungen einführt. Man thut es gewöhnlich in der Parabel aber nicht, theils weil man kürzere Intervalle benutzen kann, weil eben aus der Mög- lichkeit, aus den drei ursprünglichen Gleichungen nur ein Verhältnifs zu be- nutzen zu haben, die sehr kleine Gröfse a nicht unmittelbar ermittelt werden mufs, was bei der Ellipse unumgänglich nothwendig ist, theils weil eben des- halb die Ordnungen der Fehler um eine Einheit bei der Parabel höher sind, als in der Ellipse. Die Olbers’sche Methode giebt bei ungleichen Zwischen- zeiten in der ersten Annäherung einen Fehler der zweiten Ordnung, bei der

zweiten Annäherung einen Fehler der 4ten, dann der 6ten Ordnung. Bei

8 der Ellipse ist in demselben Falle der erste Fehler von der ersten Ordnung,

Math. Kl. 1849. F

43 Encke

bei der zweiten Annäherung wieder von der dritten, bei der dritten von der fünften etc. Sind die Zwischenzeiten gleich, so ist das Steigen der Ordnun- gen der Fehler in der Parabel nach einander die Ste, bte, Yte Ordnung, bei der Ellipse die 2te, 4te, 6te u.s. w. Bei den kleinen Intervallen der Pa- rabel wird selten ein Fehler, der auch bei ungleichen Zwischenzeiten, da sie doch nahe gleich in der Regel genommen werden, der dritten Ordnung nahe kommt, noch erheblich genug sein, um die Verbesserung hervorzurufen, während bei den gröfseren Intervallen der Ellipse, wo der ursprüngliche Fehler nur der zweiten Ordnung sich nähert, eine Verhesserung in der Regel wünschenswerih ist. Nothwendig wird sie indessen auch hier nicht sein, wenn es blofs auf eine beiläufige Kenntnifs des Laufes in den nächsten Wo- chen abgesehen ist. Bei der ersten Bahnbestimmung der Astraea, bei der die Intervalle freilich nur 7 und 6 Tage waren, habe ich gar keine Verbesse- rung angebracht und erhielt doch so übereinstimmende Resultate unter sich, dafs die abgeleitete Bahn fast für die mehrmonatliche Sichtbarkeit des Pla- neten ausgereicht haben würde, da die Unterschiede nur 3 Minuten betrugen. Sind die Abstände ermittelt, so werden die Elemente in beiden Kegelschnit- ten bestimmt, und auch hier habe ich die einfachsten Formeln aus der T’heo- ria molus gewählt, um mich bei dem Gange in der Ellipse dem in der Pa- rabel möglichst nahe anzuschliefsen.

Zur Vergleichung der Anwendbarkeit der hier gegebenen Formeln, verglichen mit den Gaufsischen, gehört auch noch die Untersuchung, ob die sehr kleine Gröfse 3ter Ordnung, welche in der Gleichung, aus welcher p’ gefunden wird, vorkommt, mit eben der Genauigkeit wie bei Gaufs aus den gegebenen Beobachtungsdaten abgeleitet werden kann. Es kommt hier haupt- sächlich auf den kleinen Winkel 8°, verglichen mit dem Gaufsischen o, an. Diese letztere Gröfse ist der Abstand der mittleren geocentrischen Beob- achtung von demjenigen Punkte des durch die beiden äufseren Beobachtun- gen gelegten gröfsten Kreises, in welchem die Ebene der mittleren Beobach- tung (d. h. die Ebene durch Sonne, mittleren Erdort und mittleren Plane- tenort gelegt) diesen letzteren schneidet. Nennt man den Winkel, den diese beiden Ebenen, die mittlere Beobachtungsebene und der grölste Kreis durch die beiden äufseren geocentrischen Beobachtungen gelegt, mit einan- der machen, ...U, so finden die Gleichungen statt:

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 43 sin a sin U— 27 sin (@' £°) #11C0s)0% sin ($° o) sin U = sin (’— K) sin J cos (0° v) sin U=sin y' cos J sin J cos y' cos (!’— K)

Aus der ersten sieht man, dafs « gröfser und kleiner werden kann als & £°. In der Regel wird es indessen beträchtlich grölser sein als @ 8°, weil in 2 BLRENS sJ . der Regel die @ und auch J klein sind, so dafs pe nur wenig von 1 ver- schieden ist. Aber da Gaufs den Winkel r aus d’— (6 r), also nicht un- mittelbar ableitet, sondern aus Gleichungen, die mit den beiden letzten

gleichbedeutend sind, so wird sich strenge zeigen lassen, dafs die Genauig- keit hier für « und 8 völlig gleich ist. Es ist nämlich

d( —o)=-+sin2(d’—o)dlgtg (d’— ev) dß° = -+ sin 2@°dlg tg

da beide Gröfsen durch die Tangente bestimmt werden, und aus den beiden ersten Gleichungen wird

Sic! sin (@’— £°) __ sin (®’— BP) sin (“—K) sin(ö’— eo) cosß?sin(!—K) Tem STanS "sin e=R) sin (d’— os) __ sine sin (”—K) oder sin O sin(8’=8°) "sin («—K) Daher hat man a(ö’—r) __ sine cos (’—o)sin(”—K) dlgtg (d’—o) aaa sin (822) EcOR sin («—K) 2 alg tg g@°

Es ist nach den gegebenen Formeln leichter den lg tg £° bis auf die unaus- bleiblichen Fehler der letzten Decimale genau zu bestimmen, als den lgtg c). Indessen setze man die Fehler bei beiden gleich. Der Fehler

von co entsteht aus der Combination = (0 0) folglich wird, da ö’ ebenfalls durch die Tangente berechnet werden mufs, ds=d($ —v).V.2. Dagegen ist ©’ unmittelbar aus den Beobachtungen gegeben und folglich

d(@ ) = aß. F2

44 Ewcke

Man hat also dan sine cos (0° 5) sin (’— K) a(@—£°) sin(P’—£°) Teos@?sin(@«—K)

.V2

Man kann auch schreiben

sin tg J sin ’—K)

=nB-P' ing cos (—0).Y2

so dafs im Allgemeinen der Fehler von r in einem noch gröfseren Verhält- nisse gröfser sein wird, als « gröfser als @’— £°. Denn der Faktor auf der rechten Seite aufser diesem letzten Verhältnisse wird in der Regel > 1 sein. Man hat deshalb nur sich die Mühe zu geben, bei £° nicht blofs bei den Hunderttheilen stehen zu bleiben, sondern den ächten Bruch eines Hundert- theils, den die Interpolation ergiebt, beizubehalten, um die Genauigkeit vielleicht noch etwas gröfser auf dem hier angezeigten Wege zu erhalten als bei Gaufs.

Es mögen jetzt hier die Formeln, welche zur Berechnung einer Pla- netenbahn erforderlich sind, zusammengestellt werden:

Als gegeben werden betrachtet

die’Zeiten TE. ala EL die geocentrischen Längen « «' a” die geocentrischen Breiten BSH” die Längen deriErder naar die Abstände der &von® ARRR

Die Correctionen wegen Aberration und Parallaxe werden natürlich bei ganz unbekannter Entfernung eben so berücksichtigt, wie bei Gaufs.

A) Vorbereitungs-Rechnungen, Gröfsen die unabhängig von den Ver- besserungen sind.

"—k (E £) Perl) ek)

der log k = 8,2355814. wi R’R"sin @—7)

T RR” sin (1)

I FRsine’—D TU RR’ sin (’—))

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen.

K) zb: sin (0”-+B) o

® L sin (4 (@’ +0) TEN af)

cos(+(@”+«) K)tg J= =. cosec— (a a J wird immer < 90° genommen. tg = sin («— K) tgJ __ sin (@’— £?) m tg J cos 2? e R'sn(!—K) - jr R” sin (”— K)+ Rsin (—K)t

er nl) Hin (iM),

a t tg y" at 7 si («—!) tg y gi. tg Ge cos y

wobei cos ö’ immer einerlei Zeichen haben mufs mit cos ?’)

M, = [cos ß' sin («’—«') + a So N E

sin(’—K)f cos£sin(@’—«)

we . 22 sin («”—K) 1 a ee en)

zer Re n sin (@e—7) 1 M,;= [cos ß' sin We sin at " cosP” sin («”—e)

sin («—K) 1 sin (—K) " c0s®”sin (e"—«)

0) M!=R'sin("’—))

45

(*) Anmerkung. Wenn die curlirten Ahstände g, 25 25 eingeführt werden, so dafs:

ecoß=n, dcsf'=n, d"csf"=H,

so kann man die einfacheren Formeln anwenden:

ww sin (@”— «') asec®’ sin(e@”—7”) sin (e”’—«) sin(@’—«) sin (@”—K) sin (’—/) sin(@’—K)

M'=R- RL = sin(@’—c) sin(”—K) a sin(e—«) _ _asec B sin(@«—!) sine era sin(@<’—«) sin(—K) Re sin (’—2) „sin(@—K)

sin («” eo) sin/—K)

wenn man nämlich bei der späteren Anwendung auch dort die nöthige Modifikation setzt.

46 Evwcxe

B) Gröfsen für die Auflösung der Gleichungen durch Versuche und Verbesserungen der Werthe

9” 7 bei dem ersten Anfange, nachher werden für P und Q die successiv verbes- serten Werthe gesetzt. Be: Fr 1+-P K—=b—b° D=z=ERO

rsing—=R'sin ö' Rcosg—=k°+R’ cos’

der Quadrant von g wird so bestimmt, dafs u einerlei Zeichen erhält mit 2. = a R'’sinö’? Die Gleichung m sin 2’ = sin (2 9)

wird durch Versuche aufgelöst. Man nimmt eine von den zwei möglichen reellen Wurzeln, für welche sin z’ positiv ist und 0’ >z'.

Pe R'sin ö’ sin 2’ 6) wie R'sin (0’—z’) 8 sin z’ Q 1

ei! =

\ z 2r’Jı+-P n"—=nP

en

n x% 7 M; r N v 2 dere+la-)

R’ cos &’ sin (d’— 2’) sin z’

(*) Anmerkung. Für o, wird 5 = (**) Für go e0 e5 und die Anwendung der modifizirten Werthe von M, My; M; M;% wird der Ausdruck 6 =M, re (- _ )) Ms; n n

N” e/=M} + (5 & ı) Mm;

In den Formeln für den heliocentrischen Ort ist dann statt g cos @....g, und statt p sin @ ....g0 tg Q zu setzen, und analog bei dem zweiten und dritten Orte.

» # über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 47

g cos ß sin (@— 1) =r cosv sin (A ]) R+o cosß cos («—l) = r cosv cos(A |) e sin ß =rsinv 0’ cos sin (7) = r cosv sin (X —7) R' +2 cosP'cos(d—!) = r' cosv’ cos (X —7) ge’ sin ß@' = r'sinv' 0”cos@” sin (@’— 1”) = r” cosv” sin(A’—!”) R"+9"cosß"cos (@’—!")= r”’cosv”cos (A’—!") g”sin & ira“ Erste Prüfung. Der hier gefundene Werth von 7’ mufs mit dem früher berechneten genau übereinstimmen. sin (Z(A+R) B)igi= + (tgv’+tgv) see +(A"— A) cos (ZAHN) R)tgi=- (tgv"+tgv) cosec Z(A’—A) Zweite Prüfung. Es mufs innerhalb der möglichen Grenzen der

Genauigkeit sein: tgvV’ = sin (X S) tzi

Es folgt dann gu— BORD) cos:

au ER 8 FF eos?

_ EAN) 8 dee cos’

Dritte Prüfung. Es mufs sein nach den bei der jedesmaligen Ver- besserung zum Grunde gelegten Werthen von P und Q

rr'sin (u u) —rr”sin.(wW’— uw‘)

0 _rrsin(W—u) + r'r" sin (w’— u’)

1+ —- Sa * 2r!? rr" sin (u”— u) r'r” sin (u” w) oder jean jo nr ° Orr” sin (u’— u) Bra; rr' sin (uw u) a

O rr”sin (u’— u)

C) Verbesserungen der Werthe von P und Qmit den jedesmal in der vorigen Verbesserung erhaltenen Werthen.

0" y 69” Zur

P TEnBN . Q ==,

y" yy” re" c0s4+(wW— u) cos+(w”— u) c0s4(w’— w')

48

EnckE

a) Bei der ersten Verbesserung nimmt man:

lshpy=+- rer) ty 4 gr= [2 kbpy—s ee

oder in Einheiten der siebenten Decimale der briggischen Logarithmen 3 ("—t')? lgbriggy = 1713,5 (RR fe2 [ode] rt lg brigg y’ —17185 Fern) wo der lg 1713,5 = 3,2338859.

b) Bei der zweiten Verbesserung berechnet man

2cos+(u”— u’) Yr’r” cosy= ae, ( IV

r +r" 2c0s+ uw u) Vrr’ cos V— (u! ) Vrr’ r+r' 24 sin ui 2y— 5 2 as! N A 24 5 iniy? __ 32 „12 " zsingy—gı =A

lshypy=+’(1+A) lg hyp u ES Y (1 u A")

Oder in Einheiten der siebenten Decimale der briggischen Logarithmen

lg br y = 119,4 CN gr _

(r +r")

cosy} 1,0817 —— ai

(+r")® lg br y'’= 4112, Bee: cos y’} 1,0817 —— era!

(+ r)° wo der Ig 4112,4 = 3,6140972 lg 1,0817 = 0,0341076

c) Bei der dritten Verbesserung berechnet man

17 ee sin ty? 54" B' lhpy=z fi +4+AB +3 lg hpy'=s dA DH

2y 352 5 6 + 3752

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 49 oder in Einheiten der 7ten Decimale des briggischen Logarithmen

lg br y = 48,957 = 5257 360 cosy + 138 cosy*}

(Hr (r’+r”)? 0,019316 rt = - {323 267 cosy} + 0,0010149 rar Bu lg br y’— 48,957 E = 5257 360 cosy + 138 cosy*} 0,019316 = Br 1323 267 cosy} + 0,0010140 (= wobei lg 48,957 = 1,6898179

1g 0,019316 = 8,2859195 1g 0,0010149 = 7,0064167.

Bei weiteren Verbesserungen und schon bei der dritten wird die Gau- fsische Tafel bequemer sein, so wie sie auch vollkommen strenge ist. Man wird in diesem Falle für das Gaufsische setzen können

mm= (r’-+r”)’ cosy?

D) Bestimmungen der Elemente vermittelst der Werthe der letzten

„= (nt sin (w’ er) = (ee ar

Man nimmt für den logar. das Mittel. Die Übereinstimmung zeigt, dafs die Versuche zu Ende geführt sind. Zur Bestimmung von e und w dienen am bequemsten, da die Zahlen

Verbesserung

von r und 7” schon früher berechnet sind, die Formeln:

ar ge SO ir e sin (3 (W+u) u) = 2rr” sint(w”—u) an (r’+r)p ) 1 c En: =— —1)}- 4 REF U) ) PIAFH cos4 (u”— u)

oder durch indirekte Auflösung die Gleichungen

[E er —1=ecos (u— w)

5 —ı1=ecos (uW'— u)

Math. Kl. 1849. G

50 Enwcks

womit man auch verbinden kann

p 7—1=ecos (W— w)

Es wird dann die Excentricität e = sin ®

die Länge des Perihes = 8 -+w gzE=tg(s—zH)igr(u—u) wg; E=tg(s 4 9)tgr (W— u) wz; E=i(s —-FPp)tgr (W—u) M=E-esnE M=E-esnE' M'"= E'— esin E"

die halbe gr. Axe a=

cos &*

die mittl. tägl. sid. Bew. a = = a:

wo 1g k in Bogensecunden ist 3,5900066;

womit dann endlich übereinstimmend für die Epoche der mittleren Anomalie

M, zur Zeit T gefunden werden muls M,=M—(t—T)u = M—(!— T)u Mi ("— 1) m

welches die letzte Prüfung ist.

Um die Anwendbarkeit dieser Formeln zu zeigen, habe ich das erste Beispiel der Theor. mot. berechnet und setze hier die einzelnen Resultate her:

Die ursprünglichen Data, von denen Gaufs ausgeht, sind

t a ß I Oct. 5,458644 354° 44' 31760 4°59' 3106 12°28’ 277576 » 47.421885 352 34 22,12 6,21 55,07 24:19) 49,05 » 27,393077 351 34 30,01 7 17 50,95 34 16 9,65

Hieraus findet sich lg 9 9,2343285 lg N = 9,6657486 lg 9 9,5767078 lg 0"— 9,3134303 1g N’= 9,7441299

lg A 9,9996826 9,9930979 9,9969678

über die Bestimmung der elliplischen Elemente bei Planetenbahnen. 51

K = 1998’ 49”40 lg tg J = 9,8718247 ß° = 34’ 31,373 lg a = 7,6953112 db = + 77,978464 c = + 73,450702 lg d = 1,5442531 6’ 32° 1% 24”93 lg M} = 9,6306753 lg A717 = 0,3306706 lg M; = 9,7339797 lg M} = 0,6169501 Man kann noch hinzufügen lg R’ sin &’ = 9,7262084 R' cosö’— + 0,84134865

womit die Vorbereitungs-Rechnungen geschlossen sind.

In der ersten Hypothese ist lg P = 0,0791017 lg Q = 8,5477588

(=? 8.958179 i#P

= ++ 76,630694 + 1,347770 18 2 = 0,1311316 g= + 13° 40 5,61 lg m = 0,5997 604

lg

woraus durch wenige Versuche die einzige hier anwendbare Wurzel gefun- den wird: z' = 14° 35 5,72 und damit lg r' = 0,3251273 lg 2’ = 0,0508550 lg n = 9,6584312 lg n’ = 9,7375329

52 EnckE

lg = 0,0668615 lg 0,0997 421 Damit erhält man A lg tg v lgr 2°56' 701 8,6769396r 0,3300109 6 57 13,23 8,8013984n 0,3251273 10 22 34,94 8,8836090r 0,3212757

Die erste Prüfung stimmt vollkommen. Man hat dann aus den äufsersten beiden Beobachtungen 2 = 171°5 48,53 i= 13 2 36,10 Die zweite Prüfung giebt 1g tg v’ = 8,8013977n oder einen Unterschied von 7 Einheiten der 7ten Decimale, entsprechend einer Differenz von 0,02 in v', welche innerhalb der Grenze der Ungenauigkeit der Logarithmentafeln lie-

gen wird. Man hat ferner

u =4192° 8 34510 u"=196 15 17,64 u"—=199 45 3,97 Bei der dritten Prüfung ist log P = 0,0790982, und lgn” = 9,7375313, lg n = 9,6594331. Die Unterschiede, welche 35, 16 und 19 Einheiten be- tragen, deuten auf einen Rechnungsfehler, der aber nicht grofs sein wird, da die Unterschiede durch eine Anderung von 0,055 in w’ weggeschafft werden. Geht man nun zur zweiten Verbesserung über und bringt die Cor- rection wegen Aberration an die Zeiten an, so wird

t Oct. 5,451998 199 = 9,2343152 » 17,415011 189 = 9,5766974 » 27,385898 I1g 9"— 9,3134223 Es wird ferner blofs aus der ersten Formel, nur mit Berücksichtigung der Glieder ?ter Ordnung, lg y = 0,0002284 1g,y” = 0,0003190

und damit in der zweiten Hypothese

lg P'= 0,0790165 18 Q'= 8,5475980

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 53

1—P' = lg = 8,9577075n

= + 76,627288 % —= + 1,351176 1g = 0,1309514 q = 13° 38 5275,03 lg m = 0,5989427 die Wurzel der Gleichung wird z = 14° 33’ 207,067 ferner lg r' = 0,3259832 lg g = 0,0824056 lg n = 9,6584726 lgn’ = 9,7374891 lg 2 = 0,0682466 1g 9" = 0,1014022 damit erhält man > lg tg v lg r

2°55 16,00 8,6775782n 0,3307588 6 55 29,47 8,3020959r 0,3259831 10 20 3,19 8,8843295r 0,3222195

Die erste Prüfung stimmt bis auf eine Einheit der 7ten Decimale. Die

äufsersten Beobachtungen geben

2 = 1710748748

i= 13 6 43,09

Die zweite Prüfung giebt 1g tg v’ = 8,8020955r oder einen Unterschied von 4 Einh. der 7ten Dec., entsprechend einer Differenz von 07012 in v’. Fer- a u = 192° 5' 50776

u = 196 11 44,29

u"—= 199 40 44,88

Bei der dritten Prüfung wird lg P'’= 0,07%145, 1g n = 9,6584737, lg n’ —= 9,7374882. Die Differenzen von 20, 11 und 9 Einheiten werden ver- schwinden, wenn u’ um 0/03 gröfser wird").

*) Wenn AP', An, An” die Differenzen der Ig 2’ Ign Ign” so genommen sind, dals der jetzt berechnete Werth von dem früher gefundenen abgezogen wird und 3 g’2” die logarithmischen

54 Encke

Eine weitere dritte Verbesserung zeigt sich ganz unnöthig, da lg y 2270, lg y’= 3172, also P’nur um 2 Einh. der 7ten Dec. geändert wird und Ig @’= 8,5476111 nur um 131 Einh. verschieden. Bestimmt man folg- lich jetzt aus den äufsersten beiden Beobachtungen die Elemente, so erhält man mit Rücksicht auf die Glieder 4ter Ordnung le y— 410817 lg » = 0,3954768 w—=241 10 13,39 lg e = 9,3896955 $ = 14°11' 58719

Man erhält hieraus Ig bis auf eine Einheit übereinstimmend mit dem obi-

gen und lg a = 0,4224282 u = 824" 9298 ”—=52% 184,87

v E M DM, d. mittl. Beob. 310°55’ 37737 320°5% 19558 329°44’ 28569 332028’ 56,15 315 1 30,90 324 16 33,78 332 28 56,10 56,10 318 30 31,49 327 8 28,22 334 46 0,40 56,14

Hiernach werden die Elemente

Mittl. Länge 1805 . . 41°52' 17792 bei Gaufs 18740

Berihel', 0... 92.181 1,87 » 6,66 EI EEE 171 7 48,48 » 49,15 Meigung s. ziejsafteg: 13 6 43,09 » 49,12 I 14 11 98,19 » 99,94 el. are 0,4224282 » 4392 a N 82478298 » 7983

Differenzen für sin (u’— uw) sin (w— u) sin (u’— u) für 1” sind, so wie Au, Aw, Au” die Correctionen, um die AP, An, An” wegzuschaffen, so ist (&’+ 8) Au’ 2"Au ZAu”—= AP rau (2 ©) Au E’Au’= An” ZAu’ + @’Au + (8 2’) Au”’= An.

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 55

welche mit den von Gaufs abgeleiteten völlig übereinstimmen bis auf Grö- fsen, die nicht verbürgt werden können.

Gaufs hat auch die erste Hypothese ganz bis zur Endbestimmung der Elemente durchgeführt. Geschieht dieses hier ebenfalls, so wird mit p e w aus den äufsersten beiden Beobachtungen Ig 7’ bis auf 3 Einheiten der sie- benten Decimale dargestellt, und für M,, gültig für die Zeit der mittleren Beobachtung, erhält man

332° 27’ 19,73 20,62 19,73

oder eine Übereinstimmung bis auf 0'89, welche, wenn es blofs auf Dar- stellung der Beobachtungen ankommt, gewils ausreicht. Die Elemente selbst weichen indessen stärker von den eben bestimmten ab. Sie sind nämlich:

Mittl. Länge 1805 . . 42°12’ 35526 bei Gaufs 37783

Peribel' , „0... % . . 0902 41 31,05 » 9,81 Ge ei: & 171 9 48,53 » 48,86 Neigung . „Ver. re 2275) » 37,90 Br in elle en 4A DA 14,28 » 27,49 DENKBAR! ihn 0,4228510 » 8944 a a 823,62604 »° 5095

Endlich habe ich noch den Versuch gemacht, die ganze Rechnung mit 5 De- cimalen durchzuführen, wie man es gewöhnlich bei Cometen thut, selbst £° ist nur mit 5 Decimalen berechnet, wenngleich gerade bei dieser Anfangs- bestimmung eine gröfsere Zahl von Deeimalen immer rathsam ist. Die Prü- fungen stimmen auch hier innerhalb der Grenzen der erreichbaren Genauig- keit, der lg tg v’ und 1g 7’ bis auf eine Einheit der fünften Decimale, und bei lgn und Ig n’ werden die Differenzen weggeschafft durch Änderung von w um 25. Endlich wird das M, der mittleren Beobachtung 332298/147 20% 16” also auch nahe genug übereinstimmend. Die Elemente werden

Mittl. Länge 1805 . . 42°19' 13”

Penikseh kun; elle 92 48 49

Re arte

Neigung susleiir „as: 41426

56 Enceke

BE. IT! later... 1042326 EN HENBZDTACT

Man sieht, dafs in vielen Fällen 5 Decimalen ausreichen werden. Die Durch- führung der Rechnungen bis zur Endbestimmung der Elemente bei der ersten Hypothese füllt zwei Octavseiten. Jede neue Hypothese erfordert dann noch etwas weniger als 1 Octavseiten.

Es möge jetzt noch der analytische Beweis für die Gaufsische Form hier folgen, da Gaufs den eleganteren und kürzeren geometrischen Weg ein- geschlagen hat und dieser, wie es scheint, in allen Lehrbüchern unverändert beibehalten ist. Die analytische Ableitung hat in sofern einiges Interesse, als sie die Unterscheidung einzelner Fälle überflüssig macht.

Den heliocentrischen Coordinaten x, y, z, die in den ursprünglichen drei Gleichungen für die Bedingung der Ebene vorkommen, nämlich in

[7] x [7"] x + [77] "= 0 [77’)y—[r’)y+br])y=0 [77] z [rr”] 2 + [77] 2 —=0

kann man mehrere verschiedene Formen geben. Die oben angenommene

x—=gcosPßcosa + Rocosl y=2gcosß sin«-+ ARsin/ z=psin ß

verwandelt sich, wenn man einführt

cos(«e— I) cos® = cosd sin («— I) cos® = sin dcosy sin sin d sin y in x = 2 (cos dcosl— sin dcosysinl)+R cos! y=e (cos ö sinZ + sin dcosycosl) + A sin! 2 =esin dsiny. Es sind hier ö und y bekannte Gröfsen, die sich im Voraus berechnen lassen. Wenn man später den Winkel am Planeten in dem Dreiecke © & Planet ge-

funden hat, er möge mit z bezeichnet werden, so wird

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 57

sind _sin(ö—z) _sinz a I aa "EL, R und daraus auch gcosdö+R=rcos(d— z)

Man kann deshalb auch schreiben x=r (cos (0 2) cos! sin (0 z) sin Z cos y) y=r (cos z) sin + sin (d°— 2)cos/cosy) z =rsin (d 2) siny. Endlich kann man auch, da die Coordinaten in der Ebene der Bahn und be- zogen auf die Knotenlinie 7 cosu und rsinu, oder bei der Fundamental- Ebene der Ekliptik bezogen auf dieselbe Knotenlinie sind r cosu, rsinucosi, r sin usini, schreiben z=r(cosucos®ß sinucosisin 2) y=r(cosusin ® + sinucosicos ) z=rsinusinä woraus sich ergiebt cos u = cos (d— 2) cos (l— 8) sin (d 2) sin (I 8) cos y

sin u cosi = cos (d 2) sin (l— 8) + sin (d 2) cos(l— R) cos y

sin u sin? = sin (0 2) sin y.

Die analogen Gröfsen für die zweite und dritte Beobachtung mögen durch die Accente und unterschieden werden. Die erste und zweite Form enthält in jedem Systeme nur eine unbekannte, nämlich ep. Sie werden bei der ersten Elimination beibehalten werden müssen. Die dritte Form, wel- che in jedem Systeme zwei zusammengehörige Unbekannte r und z enthält, wird darauf in Anwendung kommen, wenn nämlich in einem Systeme diese beiden bestimmt sind, so wird man die analogen der andern Systeme durch Verbindung derselben erhalten, und die letzte Form wird die Ebene der Bahn und die Lage des Radius-Vectors in derselben geben.

Um zuerst og und 9” zu eliminiren, multiplicire man die drei Gleichungen

[7’r"] (gcosa cos ß-+Rocos ) [rr") (0 cos«’ cos @' + BR cos ) + [vr] (g” cosa’ cosß’+ R’cos!”) = 0

[77] (e sin«cos@ + R sin I) [rr"] (g' sin « cos@’ + R’ sin ?') + [7] (g" sin «’cos@” ++ R” sin N)=0

[r’r"] g sin ß [rr”] eg’ sin @’ + [77] 0” sin 8” =(0

Math. Kl. 1849. H

58 EnckE

respective mit C = sin ß cos ß” sin «”— sin B”cosß sin «

C = sin ß’cosß cosa sin ß cosß"cose” C’=cosß cos P” sin (a «") Es wird dann der Coöfficient von [r'r"] A sin ß cos Q" sin («” I) sin ©’ cosß sin («a |) oder wenn man für @” 2 schreibt " "+ !"—1

sin 8 sin d” {sin y’ cos y cos y” sin y cos (’— 2} + sin d cos ö” siny sin (2”"— ]) Setzt man also sin y sin (!”— 1) =sin sin (A"D') sin y’ cosy cos y’ siny cos (2"— I) = sin cos (A”D')

cosy’ cosy + sin y’siny cos(!"— 1) = cose was gestattet ist, weil die Summe der Quadrate auf beiden Seiten = ı wird, so hat man für den Coäfficienten von [r'r"] % den Ausdruck sin ö sin €’ sin (A’D’— Ö') Ebenso wird der Coöffhicient von [rr"] R” sin ß cos B” sin («” 1") sin B” cosß sin (@« !”) oder wenn man statt 2” schreibt «— 2 (l!"—])

= sin dsin d” $sin y cos y’— sin y’ cos y cos (27 D)} + cos ö sin ©” sin y” sin (2” —]) Setzt man also sin y’ sin (2” I) = sin sin (AD) sin ycosy’ + cosy sin y’ cos (!" I) = sin cos (AD') cosy cos y’ + sin y sin y’cos (!" I) = cose

wobei wegen des Ausdrucks von cos der Winkel ' derselbe ist wie vorher, so wird der Coefficient von [rr'] AR”

sin ö” sin €’ sin (A.D’ 6) Nach den angeführten Gleichungen bilden die Gröfsen 2” —1, 4’D', AD', €, y, 180 —y” ein sphärisches Dreieck, dessen Seiten !”— I, A”D',

über die Bestimmung der ellipiischen Elemente bei Planetenbahnen. 59

AD!’ und gegenüberstehende Winkel €, y, 180 y’ sind. Man kann des- halb auch durch die sogenannten Gaufsischen Gleichungen die beiden Sy- steme ersetzen, wie Gauls es vorschreibt. Es möge dieses Dreieck das Drei- eck (II) heifsen.

Der Coöffhicient von [rr”] wird (0 cosö’+R').(C cos!’+C’sin!’)

+ g’sind’ $(Csin 2’ C’ cos!') cosy— C” sin y} Gaufs setzt C"=cosß cos” sin («”— a) —= T’ cost’

C sin !’ C’cos!’= sin®ß cosß”cos (@’”— 1’) sin®”’cosß cos (a—!') = T’ sin? C’cosl!’+ C’ sin !’= sin cos®” sin («’—!') sin ®’cosß sin (a—!') = S’ wodurch die Gleichung wird, wenn g und 9” eliminirt werden: 0=[r'r"] R sin d sin €’ sin (A’D’— 0”) [rr"] fg cosd’+ R’) S’— g' sind. T’ sin !+Yy)} + [rr'] R’ sin ö” sine sin (AD’— 8). Eliminirt man zwei andere p, etwa o’ und p”, so wird man auf eine ganz ähn- liche Form kommen. Setzt man sin y’ sin (!”— 7’) = sine sin (A”’D) sin y’ cosy cosy’ siny’cos(2"—!') = sinecos (4’D) cosy”cosy’ + sin y” sin y' cos ({"— 1") = cose siny” sin 2” 7) = sine sin (A’D) sin y cosy’+cosy'siny’cos (!’— !') = sinecos (AD) cosy’ cosy + siny”sin y cos (2"— !) = coss Formeln, die zu einem sphärischen Dreiecke (I) gehören, dessen Seiten "—l! A’D AD und gegenüberstehende Winkel Y 4180 —y” und welche sich durch die Gaufsischen Gleichungen ersetzten lassen; nimmt

man ferner + cos® cos” sin(@«’”— «')= T cost

sin ®' cos B” cos(«” I) sin B’cos@'cos(@« I) = T sin z sin ' cos 8” sin (@«’ I) sin B’ cos’ sin(@—) = S

so wird die Gleichung, in der blofs noch g vorkommt, H2

60 Encke

0=[rr"] f(e cosd+R)S— ge sind. Tsin (E+y)} [rr”] R' sin ö’ sin e sin (A’D 2”) + [rr'] R” sin 8” sin e sin (A’D 0') und setzt man endlich siny sin (2’— ]) = sin €” sin (A’D”) sin ycosy cosy siny cos (!’ I!) = sin €’ cos (A’D”) cosy cosy + siny siny cos (!’— I) = cose” siny’ sin (’ I) = sin €” sin (A.D”) sin y cos y + sin ycosy cos (2’— I) = sin €” cos(AD”) cosy cos y + sin y sin y’cos (l!’— I) = cose”

Formeln, die zu einem Dreiecke (III) gehören, dessen Seiten !—Z! AD AD"

U

und gegenüberstehende Winkel y 14180—y, und nimmt cosß cos sin (“— «) = T” cost” sin @ cos P’ cos I”) sin R’ cos ß cos (a 1”) = T” sin !” sin 8 cos E sin (a’ !”) sin ®' cosß sin (. !”) = S” so wird die Gleichung, in der blofs g” vorkommt, 0=[rr"] R sin d sin €’ sin (A’D’ ') [rr"] R' sin ö’sin €’ sin (AD" 8) + [rr/] $(e" cos 8” + R’) S”’ g" sin 8”. T” sin ("+ yY”)}.

Der vollständige Coäfficient von p’ in der ersten Gleichung, in welcher g’ allein vorkommt, würde verschwinden, wenn die Linie, deren Richtung durch 0’ y’ angegeben ist, in einer Ebene läge mit den beiden Linien, deren Richtung durch d, y und ö” y” bezeichnet ist. Dieses wird indessen in der Regel nicht der Fall sein, vielmehr wird der allerdings immer nur kleine Unterschied der Richtung der mittleren Distanz von einer mit der Ebene durch d, y und 8”, y’ zusammenfallenden geraden Linie ein wesentliches Mittel zur Bahnbestimmung darbieten. Liege deshalb eine Linie, deren Richtung durch r und y’ gegeben ist, in dieser Ebene, so wird man die auf sie Bezug habende Bedingungsgleichung in den drei Formen erhalten, wenn man den vollständigen Coöffhicienten des g, welches in der Gleichung noch geblieben ist, = 0 und überall statt 8’ substituirt ©’ —r. In 5’ kommt

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 61

nicht vor, es bleibt deshalb unverändert, die Werthe von S und $” aber, welche aus dieser Vertauschung von ö’ mit hervorgehen, mögen mit S, und ‚S/ bezeichnet werden. Man hat dann die drei Formen:

0=[rr"] R sin ösin sin (A"D’ 8”) [rr"] R’ S' + [rr'] AR” sin 8” sin €’ sin (AD’ d) 0=[rr"] RS, [rr"] R sin (8° o) sin e sin (A’D 8”) + [vr] R” sin 6” sinesin(AD— 8’ +) 0=[rr"] R sin d sin €” sin (A’D"— ö’+v) [rr"] R’ sin (& ©) sine” sin (AD' 8) + [rr'] R”S/

Man kann sie auch schreiben:

[r'r 2% Rsinösine’sin (4”D’—8”) a R'S' e— [rr’] " R” sin Ö”sine’sin (AD’— 8) PT " R”sin d” sine’sin (AD) * [r] _ [rr”] RS; [rr”] &’sin (0° 5) sin esin (4”D—8”)

fr] "R”sind”sinesin(AD—d +5) [rr] AR”sinö”sinesin AD-F +0) [r]

und wenn man ähnlich die erste und dritte Gleichung combinirt

m _ [r”] R'S’ [rr] AR” sinö”sine’sin (4D’— 8) ei] [rr”] Rsindsine sin(4’D- 5”) nr [r’r”] Rsindsine’sin(4”D’— 5”)

Dh 5 Al R'sin(8°—o) sin e”sin (4D”’—8) [7] FL SIEH 0= a [7] Rsin ösine” sin (4’D’— ö’+) [rr Zi Rsinösine”sin (AD’—-$’+ >)

woraus sich aus der Vergleichung der Coöfficienten ergiebt, dafs RS— R’ sin (’— o) sin (4”D— 8”) . R” sin ö”sine’sin (A.D’— 8) = R”sinö” sin (dA’D—8’+ r) _ R’sin (’— ) sin (AD’— 8). R sind sin e’sin (4”D’— 8”) Far! Rsinösin (d’D’—0’+->) sin (4’”D 8”) sin (AD’— 8) sin (A’D"— 8’ +7) = sin (4D"— 8) sin (A’D’— 8") sin (AD— +7)

oder

Vermittelst dieses Werthes läfst sich folglich $S’ eliminiren. Aufser- dem aber werden, wenn man den vollständigen Coöfficienten von eg’ wie oben mit a’ bezeichnet, die beiden Gleichungen stattfinden

ag = cos Ss eg’ sin dT sin (! +) 0=2'cos (6' v) S’ g' sin (8° o) T’ sin (’+Y) so dafs man hat ad sin (’ c)= 2 S’ sin

62 Encke und daher der Coefficient von [r7”]

u 6] 2 Vpeme =—-S [n sin (d’— o) oder wenn man die obenerwähnte Form

sinz‘ _ sin(ö’— z')

R' e’

rs: _ sine sin (0 z’)

sin z’sin (0° r)

benutzt:

_RS' sin (z’ SEM sin (0° c)

sin z’ sin

Die Gleichung heifst also 0=[rr'] ER sin d sin sin (A’D’— 8”) [rr"] R’S’ en + [rr'] R” sin 8” sin €’ sin (AD’ ö)

Be T’ sin (+) 2

wo co bestimmt wird durch ... tg (0 o)= und wenn man

den einen der Werthe von $’ substituirt,

Conan R sin ö sin (4”D’— 8”) jr R’sinö’sin(4’D—8”) sin(2’—c) BT as” sind R” sin Ö” sin (4D’—8) ewilen ] 28” (AD-8+o) sinz +[].

Schreibt man sie in den Zeichen von Gaufs

a [#7] B [vr] DEZ + [er]

sın z oder er Tr a und setzt man

[r’r”] ua so wird Q P-+a sin (z’— r) 1 . = ee ee ( A 2r’) P+i sin 2’

Q sin z’ =b5

ar

sin (2 re) sin z’

== (25* —— c08$ r) sin (2— 7) —sine cos (!—r)

wenn also wegen sinz’ _ sin d

R' 7

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 63

der Werth von r’ vermittelst 2’ eliminirt wird und man nimmt

Fee since mE 1 5,0, P+1 2R’ sind’ sine db —— —cosr P-+ra

so hat man die Endgleichung cQsinusinz' =sin(!—w-— ev) in welcher Form Gaufs sie aufstellt.

Sobald aus dieser Gleichung z’ gefunden ist und damit

Sjsin 8 7 sin z’ so hat man wegen Q Br [r’r”] + [rr’] —_P+1

7 [rr”] Fr [rr” ]

ziel R’'sind’(P-+a) [r’r”] ins b sin (’— ce)

und wegen des Werthes von P

[777%, Kal ]

[rr] rip, rer" ]

oder das Verhältnifs der Dreiecksflächen. Um hieraus die Werthe von r, r" und die Zwischenwinkel zu finden, benutze man die zweite Form der Coordinaten. Nach ihr werden die drei Grundgleichungen 0 = [r'r"]r $cos (d —z) cos2— sin (d— z) sin Z cos y}

[rr"]r' $cos (8° z') cos ! sin (d’ 2’) sin I’ cos y’}

+ [rr/]r” $cos (8”— 2’) cos !’ sin (d”— z”) sin 2” cos y”} 0 =[rr"]r fcos (d— z) sin 2+ sin (d z) cos l cos y}

[rr"]r' cos (8° z') sin ! + sin (8° z') cos ! cos y’}

+ [rr']r” $cos (8° 2”) sin 2" + sin (8” 2”) cos !’ cos y”} 0 =[rr"]r sin(d&—z) siny —[rr"]r'sin (0° —z') siny’ + [r']r” sin (&”— 2”) siny”

Man erhält aus ihnen die Elimination von [rr’]r” und von z” zugleich,

wenn man die erste mit sin 2” sin y’, die zweite mit cos !” sin y”, die dritte mit + cos y” multiplieirt, woraus hervorgeht

0 =[r'r"]r $eos(8— 2) sin y” sin (!”— 2) sin (d— 2) $siny” cosy cos (2’—D)— sin ycosy”??

[rr”]r’ eos (9°— 2’) sin y” sin (2”— 7) sin (d°— 2’) $sin y” cos y’ cos (!’—?) sin y’ cosy”}}

64 Encke

Benutzt man hier die Relationen des Dreiecks (II) und des Dreiecks (I), so wird 0 = [r'r"]r sine sin (AD’—8+ 2) [rr"]r' sine sin (A’D—'+37') welches in Verbindung mit zsnz=Rsind r und z ergeben mufs. Setzt man & =4D—d+z odrz=d, AD +6

Il „eige = 77] in r sin &, cos (4D'— 8) a sin(4D’—0)=R sind

so wird rsind,—=

‚sin(4D—d +7)

oder endlich wird r und £, gefunden aus

rsng, = et „SE sin (4D—-! +2)

(777) rsing, ß R sin ö rcosQ, = man °08 (AD 9) aD

Ganz auf die nämliche Weise wird [r’r"]r und z eliminirt, wenn man die drei Gleichungen multiplizirt mit sinZ siny, cos/siny, +4cosy und wenn man die Relationen der Dreiecke (II) und (III) benutzt, ferner setzt

&’=(4’D’—-8"+2z') oder =£’— 4’"D’ +0”

so hat man r' sine = ri BES (4D'— 8 +7) m ) r”’ sin " EN, "sind" ZU eOB., sin (4’D’— 8”) cos (4’D’— De er Dur

Die hier bestimmten Gröfsen 2, und £/ führen fast unmittelbar zur Kennt- nifs von u’— u, oder der Gröfse, welcher man zur Verbesserung von den genäherten Werthen von P und Q bedarf, obne irgend welche Elemente zu bestimmen. Denn die sechs Gleichungen, die schon oben aus der dritten Form der Coordinaten abgeleitet wurden: cos (d z) cos (I SR) sin (d z) sin (— R) cosy = cosu cos (°— 2) sin (I 8) + sin (d— 2) cos ((— R) cosy = sin u cosi sin z) sin y = sin u sinä cos (d’— 2”) cos (!"—8) sin ($”— 2) sin (1’— SR) cosy’— cos u” cos (d”— 2”) sin (”—8) + sin (d’— 2") cos(!"— KR) cosy’—= sin u” cosi sin (d”— 2”) siny” = sin u” sin

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 65

repräsentiren 4 verschiedene Gleichungen, aus denen sich die vier Gröfsen u, u", &,i ableiten lassen müssen, folglich auch v”— u. In der That ist

cos (u’— u) = cos u cos u" + sin u sin u” (cos i’ + sin i?) = cos (d—z) cos (&”— 2”) cos (!"— 1) cos (d 2) sin (d”— 2") sin (!’—I)cosy” sin (d°— 2) cos (0 2”) sin (I’—) cos y + sin (d— z) sin (6” z”) {sin y sin y’+cosy cosy” cos (2” DJ} wie sich aus der paarweisen Multiplikation der 1 sten, 2ten und 3ten Glei- chung in jedem Systeme und ihrer Summirung ergiebt. Aus den Formeln des Dreiecks (II) findet man aber cos(2!"— 1) = cos(AD') cos (#”D') + sin (A.D') sin (A”’D') cos €’ sin (!”— 1) cosy’= cos (AD') sin (4"D') + sin (4D') cos (A"D') cose' sin (!”— I) cosy = sin (AD!) cos (A’D') cos(AD') sin (A’D') cose' sinysiny’+cosycosy’cos(!"—l)—=sin AD’ sin A'D’+cos AD’'cos A’"D' cose und wenn man diese Werthe substituirt, so wird sogleich cos (u u) = cos(AD’— 8 +2) cos(A"D’— 8" +2") + sin (AD’—8-+2) sin (A’D’— 8” +2) cose' = cos £, cos? + sind, sin) cose' Aus der Betrachtung der andern beiden Dreiecke würde man auf die- selbe Weise gefunden haben durch Combinirung der analogen Formeln cos (U u) = cos(AD"— 8 +3) cos (AD"’— 8 +2) + sin (AD"— 8+ 2) sin(AD"’— 8’ +2’) cos ® cos(W’— u) =cos(4D— 8’ +z)cos(A’D— 8" +2) + sin(AD— 8 +2) sin(A’D— 8’ +2") cose Hätte man also bezeichnet # AD" d-E Z oder Zu &, _— AD" + £\ &—=4AD—-!+2z ode Z2=&,—- AD’ + '=AD-!+z odrz=d!'—- AD+ = A"D-8 +7 oder !=2"— A’D+°" so würde man erhalten haben cos(wW u) = cos2, cos, + sin Z,sind, cos €” cos (u"— u) = cos@'cosd” + sind’ sin" cose

Math. Kl. 1849. I

66 EnckE

und damit aus z, z', z’ oder aus Ö,, z', £/ die Winkelunterschiede, deren man zur genauen Bestimmung der wahren Werthe von P und Q bedarf, mit Be- nutzung des Werthes von p vermittelst r 7’ r" und der Winkel, die sie ein- schliefsen. Die Formeln werden wegen der Kleinheit von W— u, u’ —u,

u" uw genauer geschrieben: sin + (U u)? = sin # (&,+8,)” sin4e’ +sin+ (8, ,)’ cos+ €"? sin + (W'— u)? = sin + (&/+2£,)’ sin+e” +sin+(2/—£,)’cos+e* sin + (W"— u)’ =sin+(@— 2)’ sinze? +sin+(&’— ')’ cos+e” Gaufs benutzt indessen nur die mittelste dieser Gleichungen und verbindet sie mit der Grundgleichung für die Bedingung der Ebene: [7r"]r sin u [rr”}r' sin W + [rr]r" sin u’ = 0 in der doppelten Form [r’r"]r sin (u’— u) [rr]r' sin (u'—u‘) = 0 [7r']r" sin (u’—u) [rr"]r' sin (W— u)=0

die sich aus einer blofsen Änderung der Lage der Abseissenaxe in der Ebene ergiebt, um aus u” u und den bekannten Verhältnissen der Dreiecksflächen und den ebenfalls bekannten r, r', r" die Winkel W— u und W"— u zu er- halten. Die Prüfung, ob!" U +uW—u= u u, findet hier ebenfalls statt. Sind dann mit Hülfe der Tafeln die Werthe von P und Q@ vollständig berichtigt, so lassen sich die Gröfsen, welche die Gestalt der Ellipse in ihrer Ebene bestimmen, nämlich e, a, so wie die dem u” u entsprechenden p und pP’ aus rr' und w— u auf eine der beiden in der T’A. motus angegebenen Me- thode bestimmen, und es bleiben noch die Elemente übrig, welche die Lage der Ellipse im Raume festlegen, nämlich # 8 i. Hiezu führen die obigen sechs Gleichungen, die jetzt so geschrieben werden können: cos (AD' —2,) cos (l— 8) sin (AD’—3,) sin (— 8) cosy = cosu cos (AD'—8,) sin (I 2) + sin (AD’— 2) cos (l— 8) cosy = sin u cosi sin (AD’— £,) sin y —= sin u sini cos( A’D’—2!) cos(!’— R) sin (A’D’—£/) sin ("— 8) cos y’'— cos u” cos(A’D’—£!) sin ((’— 8) + sin (d"D’—£/) cos(l"— 8) cos y’= sin u” cosi sin (A’D’—£/) sin y’ = sin u” sini aus denen sich, da wu u schon ermittelt ist, eine Prüfung für die Werthe der drei noch unbekannten w+u, 2 und iergeben mufs, da sie vier unab-

über die Bestimmung der elliptischen Elemente bei Planetenbahnen. 67

hängige Gleichungen bilden, wenn man den berechneten Werth von u als bekannt einführt. Indessen ist hier die geometrische Betrachtung so viel einfacher als die rein analytische, dafs es nicht rathsam sein wird, diese zu verfolgen. Die Gleichung

cos (u u) = cos d, cos 2) + sin £, sin 2’ cos €’

bezieht sich auf ein sphärisches Dreieck, dessen Seiten £, &/ und u’ u sind, so wie der dem u” uw gegenüberstehende Winkel €. Man nenne die den andern Seiten gegenüberstehenden Winkel und zwar den dem £/ gegenüber- stehenden U, und den dem d, gegenüberstehenden 180° U”, so werden die Gleichungen stattfinden

sin (w— u) sin U = sin £! sin €’

sin (u’— u) cos U = sin d,cosl) cos d, sin” cose

sin (u u) sin U"= sin £, sin €’

sin (u’ u) cos U’= sin &’ cosQ,-F cos£ sin £, cos €’

welche in Verbindung mit der obigen Gleichung für cos W"— u durch die Gaufsischen Gleichungen die drei Gröfsen u" u, U und U” auf einmal zu- sammen bestimmen lassen. Da ® der Winkel der beiden Beobachtungs- Ebenen, nämlich der durch Sonne, Erde und Planet gelegten, in der ersten und dritten Beohachtung unter sich ist, so wie AD’ und 4”D’ die Winkel, welche die Durchschnittslinie beider Ebenen mit den Radienvectoren der Erde machen, & z und d°— z’ aber die Winkel, welche die Radienvecto- ren des Planeten mit denen der Erde in derselben Beobachtung machen und die Gleichungen stattfinden

6-z=AD-2L, “2 —=4D_-

so sieht man, dafs £, und 2) die Winkel sind, welche die Durchschnittslinie beider Ebenen mit den Radien-Vectoren des Planeten macht, und folglich U und U” die Winkel, welche die Beobachtungsebene der ersten und drit- ten Beobachtung mit der Planetenbahn macht. Man hat deshalb zwei Drei- ecke, das eine mit

den Seiten u HD =L = Rund den gegenüberstehenden Winkeln 180 y i U das andere mit den Seiten (734 ARDI>L 1 Rund den gegenüberstehenden Winkeln 180 y” i u"

12

68 Excke, über die Bestimmung der ellipt. Elemente bei Planetenbahnen.

aus deren jedem einzelnen sich u (oder w”) {und & vermöge der andern be- kannten Stücke ergeben müssen. Man kann auch hier wieder die Gaufsi- schen Gleichungen benutzen. Der analytische Beweis, dafs U und U” in diesen verschiedenen Dreiecken dieselben Winkel sind, oder überhaupt die Einführung derselben, würde nicht ohne Weitläuftigkeiten geführt werden können, wenngleich die Elimination und Bestimmung der Gröfsen u u Di aus den 6 Gleichungen keine Schwierigkeit hat, nachdem uw” u gefunden ist. Man hat nämlich aus der Verbindung der dritten Gleichungen in jedem

Systeme sinu” __ sin (4”’D’— £/) sin y” sinu sin(4D’'—{)siny

oder da

2 sin u” in u” TELz DIE —1 = Wu int +}

sowohl u als w’, mit deren Hülfe dann iund & ohne Mühe gefunden wer-

den aus sin (4D' 3,) sin y

sin u

cos(AD’ £,) cos (I— 2) sin (AD’ 3) sin (I 2) cosy= cosu

sini=

und den analogen Gleichungen des andern Systemes oder aus andern Com- binationen der sechs Gleichungen.

Der Zweck dieser Abhandlung kann nur sein, ein Problem, was ge- rade jetzt an Interesse gewonnen hat und bei dem fast ausschliefslich ein ganz bestimmter Gang der Auflösung und des Beweises derselben eingehal- ten worden ist, von einer andern Seite zu beleuchten und mit dem einfach- sten Falle der Parabel in nähere Verbindung zu bringen. Die Eleganz und Consequenz der Gaufsischen Auflösung und Formeln wird diesen wahr- scheinlich auch in Zukunft den Vorrang sichern.

Über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie.

Von Ph H”- LEJEUNE DIRICHLET.

nmnnnnnmn

[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 9. August 1849.]

Ossteich die Funktionen, welche in der Theorie der Zahlen betrachtet werden, fast nie durch analytische Ausdrücke darstellbar sind und scheinbar ganz regellos fortschreiten, so tritt doch in den mittleren Werthen derselben eine um so gröfsere Gesetzmäfsigkeit hervor, je weiter man die Reihe der- selben verfolgt, d. h. es giebt bestimmte einfache Ausdrücke, welche den Fortgang der mittleren Werthe mit unaufhörlich wachsender Genauigkeit und gerade so darstellen, wie eine Curve sich dem Laufe einer andern immer näher anschliefst, deren Asymptote sie ist. Man findet namentlich gegen das Ende der öten Sektion der Disquisitiones arithmeticae mehrere höchst merk- würdige Ausdrücke dieser Art, welche sich auf die Theorie der quadrati- schen Formen beziehen. Da weder diese interessanten Resultate, welche dort nur beiläufig und ohne Begründung mitgetheilt werden, bisher bewie- g ähnlicher Fra-

gen bekannt sind, so habe ich mich schon vor mehreren Jahren mit der Auf-

sen worden sind, noch überhaupt Methoden zur Behandlun

suchung dazu geeigneter Mittel beschäftigt. Ich habe jedoch von meiner damaligen Arbeit aufser einigen neuen Resultaten nichts der Öffentlichkeit übergeben, da sich mir die Aussicht darbot, durch fortgesetzte Bemühungen die Behandlung solcher Probleme noch wesentlich zu vereinfachen und na- mentlich von der Integralrechnung unabhängig zu machen. Andere Unter- suchungen haben mich dann längere Zeit von diesem Gegenstande abgezogen. Nachdem ich denselben später wieder aufgenommen, habe ich mich über- zeugt, dafs man in vielen Fällen durch ganz elementare, auf eine höchst ein- fache Reihenumformung gegründete Betrachtungen zum asymptotischen Aus-

70 L£sEUnE DiricHLET

druck des mittleren Werthes gelangt. Ich beschränke mich für jetzt auf eine Reihe von Aufgaben, für welche das angeführte Mittel allein ausreicht. In einer folgenden Abhandlung werde ich mich mit schwierigern Problemen beschäftigen, deren Lösung die Verbindung der eben erwähnten Transfor- mation mit andern Hülfsmitteln erfordert.

1:

Um die Transformation, auf welcher die Lösung der in dieser Ab- handlung behandelten Aufgaben hauptsächlich beruht, in das rechte Licht zu setzen, scheint es zweckmälsig, sogleich mit einer der einfachsten Fragen zu beginnen, die Lösung derselben so weit zu führen, als es ohne jene Um- formung geschehen kann und sie dann mit Hülfe derselben zu vervollständi- gen. Es bezeichne /(n) die Anzahl der Divisoren der ganzen Zahl n, und man stelle sich die Aufgabe, das sogenannte summatorische Glied dieser Funktion, d. h. die Summe

SO)+f@)+-.. +/(m)=F(n) zu bestimmen. Ist s eine ganze Zahl < n, so wird sich in so vielen Glie-

dern unserer Summe eine dem Divisor s entsprechende Einheit befinden, als es unter den Zahlen 1, 2,...n Vielfache von s giebt. Nun ist aber die

. . p n . . er . Anzahl dieser Vielfachen [?]: wenn wir uns, wie überall in der Folge, der Ss eckigen Klammern zur Bezeichnung der gröfsten ganzen Zahl bedienen, wel- che in dem eingeklammerten Werthe enthalten ist. Es folgt daraus

Fn==,[?]

wo sich das Summenzeichen auf s erstreckt. Aus dieser Gleichung ergiebt

sich sogleich eine genäherte Bestimmung, d.h. ein asymptotischer Ausdruck für F(n). Da nämlich = die ganze Zahl & um weniger als eine Einheit Ss übertrifft, so hat man bis auf einen Fehler, der die Grenze z nicht über- steigen kann, Sup F(n) —. 1% == . Nun ist aber

Ss" —-logn+C+-— + etc. 2n

Ss wo C = 0,5772156...

über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 71

Da jedoch der letzte Ausdruck für F’(n) schon mit einem Fehler der Ordnung n behaftet ist, so ist von der unendlichen Reihe nur das erste Glied beizubehalten und man sieht, dafs die Gleichung

F(n)=nlogn

nur bis auf einen Fehler erster Ordnung genau ist, für welchen Fehler sich übrigens leicht eine Grenze angeben lafst, die er nicht überschreiten kann. Ob die Funktion, die von der Ordnung n log n ist, in ihrem asymptotischen Ausdruck ein Glied der Ordnung 2 mit constantem Coöffieienten enthält oder mit andern Worten, ob F(n) logn sich für wachsende Werthe von n

einer festen Grenze nähert, läfst sich auf diesem Wege nicht entscheiden.

92

Die schon erwähnte Umformung, mit welcher wir uns jetzt beschäfti- gen wollen, beruht auf der einfachen Bemerkung, dafs, während die Glieder

der Reihe =) 1--- [2] 1 2 2ER

welche mit dem nten Gliede abbricht, anfangs sehr rasch abnehmen, von einer gewissen Stelle ab jedes Glied dem folgenden entweder gleich ist, oder dasselbe um eine Einheit übertrifft. Es wird dies offenbar der Fall sein, sobald der Unterschied : = =: wer: = )

Bruche gleich geworden ist. Bestimmt man also die kleinste ganze Zahl u,

der Einheit oder einem ächten

welche der Bedingung u (u + 1)2n entspricht, so wird die erwähnte Eigen- schaft spätestens vom unten Gliede incl. ab statt finden. Da es jedoch zu unserem Zwecke ganz unwesentlich ist, ob in die beabsichtigte Umformung ein Glied mehr oder weniger hineingezogen wird, so werden wir der grö- fseren Einfachheit wegen für u die ganze Zahl wählen, welche entweder der Wurzel Yn gleich, oder im Falle der Irrationalität derselben unmittelbar da- rüber liegt. Man hat also a3 n und folglich u(u-+1)>n. Setzt man nun n [1 =, wo, wie leicht zu sehen ist, v höchstens um 2 Einheiten von u verschieden sein kann und bezeichnet mit 2 irgend eine der Zahlen v, v—1,....2, 1, so läfst sich leicht der Zeiger s des vom Anfange entferntesten Gliedes =] be-

stimmen, welchem der Werth z zukommt und auf welches daher ein Glied

72 Leseune DirıcHhLET

mit dem Werthe ?— ı folgt. Der gesuchie Zeiger wird durch die doppelte Bedingung

n n

>

Ri z si —.— gegeben, woraus sogleich

s<-, st1>-, d.h. s=[*] folgt.

Betrachten wir jetzt die Summe

:o+E]P®+-- +[2]e®

wo p, wie sich von selbst versteht, Zn und zugleich > u angenommen wird, oder vielmehr nur den Theil der Summe

1: ]|e®+--- +[2]#9+--- +2] ®

welcher sich vom uten Glied ab erstreckt, so können wir diesen dadurch umformen, dafs wir diejenigen Glieder in Partialsummen vereinigen, für wel- che E | denselben Werth hat, und dann alle Partialsummen addiren.

Lassen wir der gröfsern Gleichförmigkeit wegen aus der ersten Par- tialsumme das s= u entsprechende Glied weg, ziehen dasselbe zu den schon abgesonderten u ı ersten Gliedern und setzen

1; ]= Re so erstrecken sich die Partialsummen nach Obigem respective von

s—= u excl. bis s = [-] incl., und der entsprechende Werth von 4 =v

n n n

se [*] » $ zii » » » » » [*]=-: v vi n

la > og > (lag

pe Er: ae 3 ß Me

Bezeichnet nun ı/(s) das summatorische Glied der Funktion # (s), d.h. 3$(s)

von s= ı bis s=s genommen, so sind die Werthe der Partialsummen

über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 73

‚WE]-7%) eH@[lS]-:ED. ns ne Fe Er)

deren Vereinigung den Ausdruck

n +1 ergiebt. Wir erhalten so die allgemeine Transformationsgleichung

x [eo =stW-"tW +38 [?]eo Hz]

Der bei der Anwendung dieser Gleichung am häufigsten vorkommende Fall ist der, wop=n und folglich g= 1. Man erhält in dieser Voraussetzung

)o=-wo@+=&:[2bo+zn2]2] ©

Wie man sieht, besteht der Vortheil dieser Umformung darin, dafs durch dieselbe eine Reihe, deren Gliederzahl n ist und die in jedem Gliede einen

Ausdruck der Form E enthält, auf zwei andere zurückgeführt wird, in de- nen die Anzahl der ebenfalls [*] enthaltenden Glieder sich auf die Ordnung Vn erniedrigt. Eine ähnliche Umformung bleibt noch ausführbar, wenn an die Stelle des Nenners s in dem Ausdruck [*] eine mit s wachsende Funk- tion von s tritt. Da jedoch eine solche Allgemeinheit zu unserem gegen- wärtigen Zweck überflüssig ist, so beschränken wir uns auf die eben betrach- tete speciellere Reihenform. Ri

Nehmen wir jetzt die in No. 1. behandelte Aufgabe wieder auf, so

erhalten wir, wenn in Gleichung (5), $ (s) = ı und folglich Us) =s gesetzt

" Fw=:B]--w+z[]l+8[l

Setzt man in den beiden Summen = statt [?] so ist der Fehler nur von der Ordnung Yn, und da eben so n2\——n2, - =-nlogn+Cn, uı=n, so folgt bis auf einen Fehler.der Ordnung Yn genau, F(n)=nlogn+(2C—)n. Math. Kl. 1349. K

74 Leseune DikicHLer

Aus dem eben gefundenen asymptotischen Ausdruck für die Funktion F (n) läfst sich nun leicht ein Ausdruck für den mittleren Werth der Divi- sorenanzahl ableiten. Schreibt man die Gleichung zur gröfsern Deutlichkeit in d Balz F(n)=nlogn+(2C—ı)n+£Yn, wo 2 zwar unbekannt ist, aber für ein noch so grofses n numerisch unter einer bestimmten Grenze, die leicht anzugeben wäre, bleiben wird, verwan- delt n inn-+-s, wobei £in £’ übergehe, und dividirt die Differenz beider Gleichungen durch s, so erhält man für das arithmetische Mittel der den s Zahlen n+1,n-+2,...n-+s entsprechenden Faktorenanzahlen

log (a+) +2 C—ı+ 2 log (1 +) + He.

Denkt man sich nun 7 über jede Grenze hinaus wachsend, so nähert sich das letzte Glied der Null, d.h. der Unterschied zwischen dem erwähnten arithmetischen Mittel und dem aus den übrigen Gliedern gebildeten Aus- druck wird kleiner als jede angebbare Gröfse. Verbindet man mit der schon gemachten Annahme noch die, dafs auch = jede Grenze überschreite, so er- hält man für das dieser doppelten Voraussetzung entsprechende Mittel den höchst einfachen asymptotischen Werth

logn + 2C

der, wie leicht zu sehen, auch dann noch gilt, wenn n, statt die der Reihe von s Zahlen, in Bezug auf welche das Mittel genommen wird, unmittelbar vorhergehende Zahl zu bezeichnen, mit einer dieser Zahlen selbst zusammen- fällt. Ist nämlich m eine derselben, so hatmann +i/=m, wot <s, und der Unterschied logm log n nähert sich in Folge obiger Voraussetzung

der Null. 4.

Die oben erhaltene Gleichung = 4 —nlogn+(eC—ı)n,

in welcher der Fehler von der Ordnung Vn ist, giebt zu einer Bemerkung Veranlassung, bei welcher wir einen Augenblick verweilen wollen. Da an-

. Ben drerseits > __—n log n - (m Ss

über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 75

wo der Fehler für jedes n eine feste Grenze nicht überschreitet, so hat man mit einem Fehler der Ordnung Yn,

3; (= _ I) =(1—- C)n. Da hiernach das arithmetische Mittel aus den Werthen der ar nn E -|

welches= 1, 2,..., nm entsprechen, Cd.h.<-+ist, so läfst sich vermuthen, dafs, wenn man n der Reihe nach durch die genannten Zahlen

dividirt, der Fall öfter vorkommen wird, wo der Rest unter dem halben Di- visor liegt, als der entgegengesetzte, wo er demselben gleich ist oder ihn übertrifft. Wir wollen die Richtigkeit dieser Vermuthung zu prüfen und das Verhältnifs, nach welchem die Zahlen ı, 2,... n sich in dieser Beziehung in zwei Gruppen vertheilen, zu bestimmen suchen. Die Zahl s wird den ersten oder den zweiten Fall darbieten, je nachdem

=-[* |<+ oder 3

Da hiernach respective

[-] Be) 4 —=0, oder E [-] —4ist, Ss Ss Ss Ss

so wird die Anzahl der in der zweiten Gruppe enthaltenen Zahlen durch den Ausdruck

gegeben, dessen zweites Glied oben schon bestimmt worden ist. Zur Be- stimmung des ersten dient die Gleichung (a), in welcher n in 2n zu verwan- deln, undp=n, g=2, $(s)=1, Y(s)=s zu setzen ist. Man erhält so

„1 2n 2n 2n = [7 ]= »-#»+=]7]+=&][2]-

Da % die unmittelbar über Y(2n) liegende ganze Zahl und v= = ist, so ist Av von 2n nur um eine Gröfse der Ordnung Vn verschieden und die beiden ersten Glieder heben sich auf. Für die erste Summe erhält man immer mit Vernachläfsigung der Ordnung Yn,

= l*] —ı, ala - =:ın (log +C)=n log en-+2Cn. Derselbe Werth würde auch für die zweite gelten, wenn nicht die beiden

s= ı und 2 entsprechenden Glieder fehlten. Um $' = zu erhalten, hat K2

76 Leseune DiricHLer

man also den eben gefundenen Ausdruck zu verdoppeln und [7] + = =3n abzuziehen. Man findet so für die zweite Gruppe die Gliederzahl (log4— ı)n und also für die erste (2— log4)n. Für ein grofses n verhält sich daher die Anzahl der Divisoren, denen die erste Eigenschaft entspricht, zu der Anzahl

derjenigen, welchen die zweite zukommt, wie 2 log zu logı ı.

d.

Betrachten wir jetzt die Funktion /(n), welche die Summe der Divi- soren von n ausdrückt, oder vielmehr zunächst wieder, wie in No.1., die daraus gebildete Summe F(n)=/(1)-+ f(2)-++...+ /(n). Durch Betrach-

tungen, welche denen ganz ähnlich sind, die wir dort angestellt haben, er- hält man n Fo)=>:s[*].

Durch Anwendung von Gleichung (B) ergiebt sich hieraus

Fo)=—-+@+»»+3s|?]++=:([2]+[2)

Um zu übersehen, von welcher Ordnung die Gröfsen sind, welche man als nicht vollständig bestimmbar vernachläfsigen mufs, betrachte man zunächst den ersten Theil der letzten Summe. Setzt man #4 = _5,wo

Ss Ss

e ein von n und s abhängiger ächter Bruch ist, so erhält man

wo das zweite und dritte Glied, welche resp. die Ordnung nlogrn und Yn nicht überschreiten können, wegen des darin vorkommenden, analytisch nicht ausdrückbaren Bruchs e wegzulassen sind. Es ist daher auch der zweite Theil der Summe, nämlich 8; = den wir schon oben bestimmt haben und welcher von der Ordnung n log n ist, nicht zu berücksichtigen, obgleich dieser Theil bis auf die erste Ordnung incl. genau angebbar ist. Da ferner mit Vernachläfsigung der ersten Ordnung

. ia 4 3 („+e)v=n’, 3:s[*]=»°, so ergiebt sich

über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 77

bis auf einen Fehler der Ordnung nlogrn genau. Da nun andrerseits nach einer bekannten Formel

ARE 1 1 zv uam. —- —- + —elc. Tilge 6 Bari 1 =: - d h.4n'3,z3=,n’—zn Ey

bis auf die erste Ordnung exclusive, so erhält man schliefslich o .) Hin) = n? a:

in welcher Gleichung der Fehler die Ordnung n log n nicht überschreitet. Bestimmt man mit Hülfe des eben gefundenen Ausdrucks den mittle- ren Werth von /(n), so findet man für diesen mittleren Werth

—(Ya+)+...+f(n+9)

den asymptotischen Ausdruck n* N I6.

vorausgesetzt dafs man sich das gleichzeitige Wachsen von s und n so denke, dafs dabei

n und Ry

Ss

log nn

jede endliche Grenze überschreiten. Dieses Resultat hat jedoch, wie leicht zu sehen, eine wesentlich andere Bedeutung, als das am Ende von No. 3. gefundene. Während dort der Unterschied zwischen dem wahren mittleren Werth und seinem asymptotischen Ausdruck kleiner als jede gegebene Gröfse wurde, gilt dies hier nur von dem Verhältnifs dieses Unterschiedes zum wah- ren oder genäherten mittleren Werthe.

6.

In den bisher behandelten Aufgaben, zu denen andere auf ganz ähn- liche Weise zu lösende hinzuzufügen überflüssig scheint, hatte die näherungs- weise zu bestimmende Funktion unmittelbar die Form der Reihe (a). In andern Fällen wird diese Funktion durch eine Gleichung gegeben, welche eine solche Reihe enthält, in deren allgemeinem Gliede die zu bestimmende Funktion vorkommt, so dafs man also nur eine rekurirende Beziehung zwi- schen auf einander folgenden Werthen der Funktion kennt. Das einfachste

78 Leseuse DiricHLET

Beispiel dieser Art bietet die Funktion $ (n) dar, welche die Anzahl der in der Reihe ı, 2,...n enthaltenen relativen Primzahlen zu n ausdrückt und welche in der Theorie der Zahlen eine so grofse Rolle spielt. Bekanntlich ist der Ausdruck für diese Funktion

9 n)=n(1--):(1-;)--

wo.a, b, c,.... die verschiedenen in n aufgehenden Primzahlen bezeichnen. Diese Formel ist jedoch für unsere Untersuchung nicht geeignet, und wir müssen für dieselbe einen andern Ausgangspunkt wählen. Wir gehen von der bekannten Gleichung od (& sn

aus, worin sich das Summenzeichen auf sämmtliche Divisoren ö von n bezieht. Addirt man diese Gleichung und die ähnlichen für n— ı,n 2,....1 gel- tenden, so wird auf der ersten Seite das Glied $ (s), worin s < n so oft vor- kommen, als es in der Reihe ı, 2,...r Vielfache von s giebt, d.h. [-] mal.

Man erhält also = [>] 16) ange + 1 } Ir = 7 zn.

Ehe wir weiter gehen, wollen wir einen Augenblick auf die Formel (6) zurückkommen und die Bemerkung machen, dafs es für manche Aufga- ben, zu denen auch die in der vorigen No. behandelte gehört, eine Ab- kürzung gewährt, wenn die Umformung die ganze Reihe umfafst, obgleich dadurch der in andern Fällen unentbehrliche Vortheil verloren geht, die Anzahl der Glieder auf eine niedrigere Ordnung zu bringen. Um die so mo- difieirte Formel zu erhalten, erwäge man, dafs wenn ganz allgemein eine der Zahlen ı, 2, 3,...r bedeutet, der Werth 2 sich zwar nicht immer unter

den Gliedern & ® N A EBEN Sjem

finden wird, da diese Glieder im Anfange der Reihe sehr rasch abnehmen, dafs es aber immer ein und nur ein Glied geben wird, welches 5 t ist und auf welches ein anderes folgt, dessen Werth < 1 ist. ig Zeiger s dieses

Gliedes mufs, wie oben, die Ungleichheiten " >21: und - <t erfüllen, woraus s—= = ] folgt. Hiernach ist en [: | dp von se ® = =

excl. bis s = E incl., und die Summe aller Glieder, in denen E& den

über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 79

Werth that, = (7 #4 —y [=-]) t, welcher Ausdruck verschwindet und richtig bleibt, wenn keine solche Glieder existiren, d.h. 11-1] wird. Vereinigt man die Werthe des Ausdrucks für = ı, 2,.. .n, und be-

merkt, dafs für2=n das Glied ı[--] oftenbar auf Null zu reduciren ist,

so erhält man :[|eo==v[?] (e)

von welcher Umformung wir nun in unserer Aufgabe Gebrauch machen wol- len. Unsere obige Gleichung wird mit Hülfe derselben

zy][®]=+r°++n Man übersieht bald, dafs der asymptotische Ausdruck für Y(n) die Form

an” haben wird, wo « eine Constante ist. Man könnte diese Constante in

dem folgenden Beweise zunächst unbestimmt lassen, wo sich dann im Laufe der Entwicklung der Werth «= e herausstellen würde. Da jedoch dieser Werth ebenfalls leicht vorherzusehen ist, so werden wir der Kürze wegen sogleich den Ausdruck -, n? betrachten. Wie auch die noch unbekannte

Funktion / (n) beschaffen sein möge, so können wir allgemein setzen 3 Ym)= +°%,(n)

wo auch £ von n abhängt und die Funktion x, (n) beliebig und nur mit der Be- schränkung gewählt werden soll, dafs sie immer positiv bleibe, mit dem Argu- mente wachse und für den Werth n = ı desselben nicht verschwinde. Denkt man sich %, (n) auf die angegebene Weise gewählt, und dann in unsere Glei- chung für n alle Werthe von n= ı bis n—= N eingesetzt, so werden die ent- sprechenden Werthe von Ö alle endlich sein. Es sei nun A der gröfste der so für d erhaltenen numerischen Werthe. Dies vorausgesetzt, bringen wir unsere Gleichung in die Form

Ym)=-=Y]”]|+3”" +4

und betrachten nun die Werthe von n, welche zwischen n=N +1 und

n

n=2N liegen. Da in der Summe | | die Grenze N nicht überschreitet, so Ss

sieht man, dafs der Theil unserer Summe, welcher aus dem Einsetzen des

30 Leseune DiricHLET

zweiten Gliedes des oben Mr U (n) angenommenen Ausdrucks entsteht, nu- merisch kleiner AZ, x, ist. Der vom ersten Gliede herrührende Theil, nämlich =: a if Bi wenn man wieder el = setzt, in

3n 1 6n yn san Er nes Del Br taz: über. Da nun a m be ee

abe u . wo r von der Ordnung ist, und die beiden andern Summen resp. die Or-

dnung logn und n nicht überschreiten können, so erhält man Yn)=zn’+E£ in welcher Gleichung £ numerisch kleiner ist als Pnlogn+ 42,%(-)

wo P eine hinlänglich grofse von IV unabhängige Constante ist. Ver- gleicht man dieses vonn= N +1ıbisn=2N geltende Resultat mit

dem oben für Y(n) angenommenen Ausdruck Zn’ +Lx(n), so ergiebt

sich, dafs für dieses neue Intervall der gröfste Zahlenwerth von 2 das Maxi- mum der in dem genannten Intervall stattfindenden Werthe des Ausdrucks

Pnlogn A n +4 5x() TO BEE TO u nicht überschreitet. Giebt man jetzt der bisher unbestimmt gelassenen Funk- tion ,(n) die Form einer positiven Potenz n°, so erhält man für den in A

multiplieirten Ausdruck

n3< 3=9

und ö läfst sich so zwischen ı und 2 wählen, dafs die Constante q ein ächter Bruch wird. Andrerseits kann man N so grofs wählen, dafs fürn 3 N, RE En “= <k wird, wo die Constante k beliebig klein ist. Bezeichnet man mit R den gröfsten zwischen „= N -+ı undn=2N vorkommenden Zah- lenwerth von £, so hat man

A<Ag+k.

über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 81

Da nun % für ein wachsendes N beliebig klein werden kann, A nicht ab- nimmt, q aber constant bleibt, so ist für ein hinlänglich grofses N, A <A, d.h. das ursprünglich bis n= N geltende Maximum A gilt auch bis 2V, aus demselben Grunde aber auch bis 4IV, sV,..., oder ganz allgemein.

Es ist also / (n) = er n* mit einem Fehler, der die Ordnung nicht überschreiten kann, wo die Constante ö den durch die Gleichung =7 5 —_ gegebenen Werth, wenn auch noch so wenig, übersteigt. Für den mittleren Werth von $(n) ergiebt sich hiernach der Ausdruck

n

Yo

dessen Bedeutung aus Obigem klar ist.

iM.

Als letztes Beispiel wählen wir die Funktion # (n), welche die Anzahl aller möglichen Zerfällungen von r in zwei Faktoren ohne gemeinschaftlichen Theiler bezeichnet und bekanntlich die Potenz zum Ausdruck hat, wenn man unter o die Anzahl der verschiedenen in 2 aufgehenden Primzahlen ver- steht. Setzt man wieder 8!#(s) = \/(n), so wird / (n) in einem einfachen Zusammenhang mit der in Art 1. und 3. behandelten Funktion F(n) stehen. F(n) drückt nämlich offenbar die Anzahl der Zahlenpaare x, y aus, welche der Bedingung xy <n genügen, während \ (n) die Anzahl der Paare der zu einander relativen Primzahlen £, y bezeichnet, für welche ebenfalls Ey < n. Theilt man nun die Paare x, y in Gruppen, deren ste diejenigen Paare x, y enthält, für welche s der gröfste gemeinschaftliche Theiler ist, so dafs also, wenn 2=£s, y=1s gesetzt wird, £ und y relative Primzahlen sind, und dividirt die Ungleichheit durch s’, so kommt Eu < = oder En< [| j:Da nun auch umgekehrt je zwei relative Primzahlen &£, y, welche dieser Bedin- gung entsprechen, durch Multiplikation mit s zwei Zahlen x, y mit dem gröfsten gemeinschaftlichen Theiler s ergeben, für welche vy <n, so folgt, dafs die Anzahl der in der sten Gruppe enthaltenen Paare durch N [:] aus- gedrückt wird. Man erhält so die Gleichung

z+[3] =F(n)=nlogn+(2C—ı)n Math. Kl. 1849. L

32 Leseunge DikicahLer

wo sich die Summe von s=1ı bis s=[Vn] erstreckt, und nach Obigem das vernachläfsigte Glied die Ordnung Vn nicht überschreitet. Es ist hiernach leicht zu übersehen, dafs der asymptotische Ausdruck für Y(n) die Form anlogn+Bn haben wird, wo « und ß zwei noch zu bestimmende Constan- ten bezeichnen. Setzt man nämlich, wie im vorigen Art., in unserer Gleichung

ı (n) =anlogn+Bn+L£n’,

wählt a und & so, dafs sich die Glieder der Ordnung n log und n aufhe-

ben, was die Werthe

6 72C —I(—+r:20-1ı

6 e=—,undß = m 3 ß m? m?

ergiebt, wo die frühere Bedeutung hat und C’’=37 ng: ist, so findet

2 man durch Schlüsse, welche den im vorigen Art. entwickelten ganz analog sind, dafs 2 für ein beliebig grofses n unter einer festen Grenze bleibt, wenn nur d&>-Y, y in der obigen Bedeutung genommen. Aus dem so gefun-

denen Ausdruck für X (n),

anlogn-+Pn

folgt dann in einem durch das eben Gesagte bestimmten Sinne für ® (n) der mittlere Werth

= (logn + +20).

m Mit der eben behandelten Frage hängt der in den Disg. arith. Art. 301 gegebene mittlere Werth für die Anzahl der genera zusammen, welche einer

negativen Determinante n entsprechen. Der Ausdruck für die Anzahl der genera ist nämlich nach bekannten Sätzen, den 5 Linearformen

n=sh, n=sh-+ä, n=ıh-+2, n=4h-+1i, n=4ih+3

entsprechend, ya), Fem) zen) en), = pn).

Andrerseits läfst sich durch nahe liegende, an die vorher angestellten Betrachtungen anzubringende Modifikationen, deren Ausführung wir dem Leser überlassen, der genäherte Werth von /(n) bestimmen, wenn n eine vorgeschriebene Linearform hat und die Summe 3 $(s) = \ (n) nicht mehr über alle Zahlen 1, 2,... rn, sondern nur über die in dieser Reihe enthal- tenen Zahlen dieser Form erstreckt wird, und dann daraus der mittlere

über die Bestimmung der mittleren Werthe in der Zahlentheorie. 83

Werth von $(n) ableiten. Man findet so nach den oben angegebenen Linearformen für diesen mittleren Werth, wenn man zur Abkürzung

logn + < +2C=A setzt, 8 8 3 =(&—zlog2), #(A—log2), = (A + log>), 4 4 „= (&+>log>), = (A+zlog2).

Nach Obigem ergeben diese Ausdrücke, resp. mit ı, 4, +, 1, 4 mul- tiplieirt, die mittleren Anzahlen der genera der Determinante n für die vorher aufgezählten Linearformen, und da von je 8 aufeinander folgenden Zahlen resp. 1, 1, 2, 2, 2 in diesen Formen enthalten sind, so ist die Summe unserer der Reihe nach mit 1.4, 4-5, #-5> 1:5, 5 multiplicirten

Ausdrücke d.h. F „= (4—-+log:)

die gesuchte mittlere Anzahl der genera, welche der Determinante n ent- sprechen, wenn diese allgemein d.h. nicht mehr auf eine besondere Linear- form beschränkt gedacht wird, was mit dem am angeführten Orte gegebenen Resultat übereinstimmt. Dafs übrigens derselbe Ausdruck auch für die po- sitive Determinante n gilt, folgt leicht daraus, dafs die den Linearformen aAh-+1, Ah-+-3 entsprechenden mittleren Werthe von $ (n) zusammenfallen, und dafs andrerseits die bei den quadratischen Determinanten eintretenden Ausnahmen offenbar ohne Einflufs auf das Endresultat sind.

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Abhandlungen der philosophisch - historischen Klasse

der Königlichen Akademie der Wissenschaften

zu Berlin.

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Aus dem Jahre

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Berlin. Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie der Wissensc haften.

In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung.

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RITTER über räumliche Anordnungen auf der Aulsenseite des Erdballs, und ihre Funktionen im Entwicklungsgange der Geschichten... .... PANoFKA: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ im Zusammenhang mit dem Bilderschmuck auf bemalten Gefälsen .. 2... 22222 22.. Dirksen: Von den Pflichten der Pietät gegen die Person des regierenden römi-

SCHEN RAISELSE N N N ee.

Dezselbe über das verbrennen der leichen ....... 2...» eos. 000200. TRENDELENBURG über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg... ..... BSTTHELM GRIMmMeuber-Rreidane ne. 0 oe Seen Bin Hellbrer N deutsches tzesprachemeer nee eat ee ee DiETERICI über den Begriff der Übervölkerung EEE ee a GERHARD über das Metroon zu Athen und über die Göttermutter der griechischen

WieholDEr@do 56,8. 0,8 0,0 8 Sucnae.c.a.0 0,0 © a along Derselbe über eine Cista mystica des brittischen Museums ........... ScuorTT: Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China .......2.... Wienselbies Das Reich Karachataı oder St-Liao . u. un» eu san len BOANSKE: Zur Kritik Preulsischer Memoiren ... 2.2... 22.2.0020 len une JAcoB GrimM: Einige berichtigungen zu der abhandlung über das verbrennen

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Über räumliche Anordnungen auf der Aulsenseite des Erdballs, und ihre Functionen im Entwicklungs- gange der Geschichten. Ton TRITT ToR.

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[Vorgetragen in der Akademie der Wissenschaften am 1. April und in der öffentlichen Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahrestages. ]

Werten wir den Blick auf einen Erdglobus, der, wenn auch im noch so grofsen Maasstabe uns doch nur als winziger und also höchst unvollkomm- ner Repräsentant für die äufserlichste Gestaltung unsers planetarischen Erd- körpers erscheinen kann, aber doch in seiner, eine unendliche Mannichfal- tigkeit als Einheit zusammenfassenden Kugelform, einen sinnlich überwie- genden Eindruck auf die Imagination, und unzählige mit ihr in Verbindung stehende Ideen ausübt, so tritt uns zunächst die in gröfster Zerrissenheit erscheinende Verwirrung seiner in einander und durch einander greifenden Vertheilung der Länder- und Wasserflächen vor das Auge, in denen nicht die geringste Spur von einer scheinbaren Ordnung ihrer Gegensätze wahr- zunehmen. Keine mathematische, von gradlinichten Figuren oder geome- trisch gestalteten Räumen, keine graden Linien in Reihen, keine Puncte, nur das mathematisch darüber hingezogene Netz, das von dem Himmel erst auf die Erde übertragen ward, giebt uns für das, sonst in sich maafslose, ein künstlich zum ersten Anhalt bestimmtes Maafs, und selbst ihre beiden Pole sind nur mathematische, aus ihrer Rotation heraus construirte Puncte, die uns in ihrer Realität noch gänzlich unbekannt geblieben. Keine architecto- nische Symmetrie, an die unser Auge bei menschlichen Kunstwerken so ge- wöhnt ist, nicht einmal die Symmetrie, wie sie in den Organismen der Pflan- zen und Thierwelt, in den individuellen Gestaltungen eines unten und oben, zwischen Basis und Krone der Gewächse, oder einer linken und rechten

Philos.- histor. Kl. 1849. A

2 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs

Seite, in der Gesichts- und Körperbildung der Thiere und Menschen her- vortritt, ist hier wahrzunehmen. Ja dieses völlig unsymmetrische, schein- bar ganz regellose, schwierig mit einem und auch wohl mit vielen wieder- holten Blicken aufzufassende Ganze, hat darin etwas sinneverwirrendes un- heimliches, dem nur die Namengebung und Anderes zu Hülfe kommen mufs, um sich nicht sehr bald von einer blos gedankenlosen chaotisch wid- rig erscheinenden Ansicht abzuwenden. Man hat sich daher auch mehr zu den Einzelnheiten ihres Inhaltes, als an die Betrachtung ihres ganzen zu- sammengehörigen Aufsern gehalten, und die Compendiarische Geographie hat daher ihren Hauptreichthum in der Beschreibung der Theile gesucht. Sie ist daher auch nur elementarisch bei der Benennung und Beschreibung der Einzelnheiten geblieben, sie hat sich nicht zu den Verhältnissen und allgemeinen höhern Gesetzen erhoben, durch welche erst die Wissenschaft zu einer Einheit, zu einem Ganzen gelangen kann.

Obwohl der Planet der Erde in seiner mafslosen Übersichtlichkeit ein ganz Anderes ist, als sein verjüngter Maafsstab im künstlichen Globus, der nur schwache Lineamente von jenem auf seiner Oberfläche und nur symbolisch andeuten kann, so sind wir doch genöthigt gewesen die Sprache, in der vom Erdball als von einem planetarischen Ganzen die Rede ist, erst von seinem schwachen Repräsentanten dieselbe zu abstrahiren. Denn auf diese Weise ist auf dem Abbilde der gröfste Theil jener Terminologie für die räumlichen Verhältnisse der Erde gewonnen, die doch eigentlich aus der Natur des Gegenstandes selbst, und nicht aus dem schwachen Abbild hätte hervorgehen sollen. Da hier jedoch nur gröfstentheils das von aufsen her überhin gesponnene mathematische Netz mafsgebend war, so ist die Sprach- bestimmung sehr einseitig und unvollkommen geblieben, und noch heute in keinerlei Hinsicht ausreichend und erschöpfend für die wissenschaftliche Betrachtung eines organisirten Ganzen, weder für dessen horizontale Aus- breitung, noch für dessen Dimension nach Höhe und Tiefe, und noch we- niger nach seinen Functionen.

Die Werke der Natur zeigen jedoch im Gegensatze der menschlichen Kunst den characteristischen Unterschied, dafs, wenn diese auch den höch- sten Stempel der Vollendung in sich zu tragen scheinen, symmetrisch, schön, anpassend, bis in das kleinste geregelt sich zeigen, doch bei genauerer Un- tersuchung der innere organische Zusammenhang fehlt, und microscopisch

und ihre Functionen im Enwicklungsgange der Geschichten. 3

untersucht, die gröfste Roheit ihrer Composition sich immer mehr und mehr herausstellt, sei es das feinste Gewebe, das eleganteste Uhrwerk, das in schönster Harmonie sich zeigende Gemälde, die glätteste Politur der Mar- mor- oder Metallfläche. Dagegen löfst sich die scheinbare Unsymmetrie, Ordnungslosigkeit, chaotisch auftretende Aufsenseite der Werke der Natur, je tiefer die Betrachtung, die Forschung, selbst die microscopische Unter- suchung eindringt, in immer feinere Elemente und Organisationen auf; sei es im feinsten Faden des Spinnennetzes, dem bewundernswürdigen Baue der Pflanzenzellen, dem Geäder der thierischen Organismen, oder in den cri- stallinischen Formen oder Blätterdurchgängen der unorganischen, fast un- sichtbar für das unbewaffnete Auge gewordenen Cristallisationen und Mole- culen. Aber nicht blos nach der materiellen Feinheit, auch nach der gei- stigen Gröfse der Construction und ihrer Functionen findet dieser Gegen- satz statt, wie die physiologische Forschung lehrt, die überall auf zusammen- hängende Wirkungen der Naturkräfte, auf Systeme und ihre Naturgesetze geführt hat, denen die Wissenschaften der Chemie, Physik, Optik, Mecha- nik und viele andere erst ihr Dasein verdanken.

Sollte dieser Gegensatz bei dem gröfsten der uns näher bekannt ge- wordenen Naturkörper unserm Planeten, und wären wir auch nur mit sei- ner äufserlichsten Oberfläche, und auch mit dieser fürs erste nur noch ganz oberflächlich bekannt, nicht statt finden? und diese, wie durch blinde Na- turgewalt wild zerrissen erscheinende Aufsenseite blos einer zufälligen system - und zwecklosen chaotisch wirkenden neptunischen und plutonischen Dictatur, und gegenseitig sich nur zufällig bedingenden Gewalt, ihre gegenwärtige, bei ei- nem Gesammtüberblick, die Sinne verwirrende Erscheinung angenommen ha- ben. Wie wäre diefsmit dem Geschick ihrer Belebungen, ihrer Bevölkerungen, mit den Schicksalen des Menschengeschlechts seinen Geschichten und Ent- wicklungen zu vereinen, wenn wir auch nur bei dem einen Gedanken stehen bleiben, dafs der Planet, nur als das Erziehungshaus, und mit allen seinen Einrichtungen, als die grofse Erziehungsanstalt des Menschengeschlechts in ihrem irdischen Vorübergange erscheinen kann.

Jede Pflanze will ihren gedeihlichen Boden haben, um von der Wur- zel bis zur Krone blühen und zur Frucht sich entfalten zu können, jedes Ge- schöpf in dem Elemente für das es geboren ist leben und weben, da es sonst untergeht; und der Mensch, die Entfaltung des Menschengeschlechts, so

A2

4 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs

viele Jahrtausende hindurch, in so vielen Millionen seiner Individuen, sollte an einen, blos durch feindliche Antipathien der Naturgewalten, sei es durch Neptun oder Vulkan, in den Erden und ÖOceanen, oder durch Hitze und Kälte in den Lüften gestalteten Wohnort, an ein durch sinnlose Willkühr verzaubertes Wohnhaus gefesselt sein. An eine Heimath, die in keiner Har- monie mit den Bedürfnissen der fortschreitenden Entwicklung seines Ge- schlechtes stände, weil wir in ihr nur erst, wenn schon in einem noch un- erschöpften Reichthum von Mannichfaltigkeiten an ihren Oberflächen, doch nur die geballte Masse eines noch ungeregelten, in seinen elementaren Thei- len festgerannten, erstarrten, sogenannten unorganischen Körpers zu erblicken wähnen, der in sich abgerundet, schon fertig von der Drehbank der Welten, in das Universum geschleudert, durch die grofse rotirende Wurfbewegung nun seinem eignen Schicksale für alle Zukunft überlassen geblieben. Sollte ihm allein die fortbildende Kraft einer innern Organisation versagt worden sein, welche doch für alle seine Geschöpfe auf ihm eine so charac- teristische Mitgift geworden. Wir haben Fingerzeige genug, die uns hin- reichend warnen in dem Moment der Gegenwart nicht den Maafsstab für eine Ewigkeit zu suchen, den auf unsre Sinne wirkenden Eindruck nicht für den Gegenstand der ihn hervorbringt zu halten, das aufgestellte Naturge- setz nicht für das Werk unsers Scharfsinns unserer Systematik anzusehen, sondern für einen glücklichen Fund dessen, was schon längst und immer vorhanden gewesen, nur für uns, wie so Vieles noch verschleiert geblieben und noch nicht von uns erfasst war. Die Genesis der sich bildenden Ne- belflecken zu Welten, der Wind der uns trifft und am andern Ende entsteht als da wo er herzukommen scheint, sind uns, wie unzähliges Andre, leh- rende Beispiele geworden nicht aus der uns scheinbaren Verwirrung und Gesetzlosigkeit auf den Mangel von Zusammenhang und Ordnung zurück- zuschliefsen.

Bei der Anordnung der Aufsenseite unsers Planeten, und dem innern Zusammenhange seiner scheinbar willkührlich zerstreuten Theile, werden wir, je tiefer wir in die Erkenntnifs ihrer Natur eindringen, mehr und mehr eine höhere Symmetrie und Harmonie, wie eine progressive Entwicklung auch ihrer blofs räumlichen Verhältnisse wahrnehmen, je mehr und mehr die Naturwissenschaft und Geschichte uns in ihrer Entschleierung derselben unterstützen. Was hat die astronomische Ortsbestimmung, die Geodäsie,

und ihre Functionen im Entwicklungsgange der Geschichten. 5

die Hypsometrie, die Geognosie, die Meteorologie, die Physik, in dieser Hinsicht nicht schon gethan, und welche Aussicht bietet sich für die Ge- setzmäfsigkeit in der räumlichplanetarischen Anordnung nicht dar, wenn wir auch den Entwicklungsgang der Menschen und der Völkergeschichten, wie die Productionen der Naturreiche nach ihren heimathlichen Erscheinungen mit in die Frage der Verhältnisse der räumlich -planetarischen Formen her- einziehen, wozu hier einige Andeutungen folgen mögen.

Die Anordnung der dreierlei Hüllen, unter deren Formen der Erd- ball sich zeigt: Luft, Wasser und Land, die auf verschiedene Art über dessen Umfang vertheilt wurden, übergehen wir, da sie bekannt genug sind, und bemerken nur, wie die räumliche und die physikalische von beiden harmonirt, da in beiden, das Wasser die mittlere Stellung in jeder Hinsicht einnimmt, in Beziehung auf Genesis, wie auf Metamorphose und Raumverhältnifs.

Wir übergehen eben so das bekannte Verhältnifs der continentalen Massenanhäufung in der nördlichen Hemisphäre, wodurch der maritime Ge- gensatz in der südlichen hervorgerufen wurde, und das Übergewicht der Wärmeverhältnisse, wie der menschlichen Bevölkerungen, nach Zahl und gegenseitiger Berührung, nach Austausch der Productionen, wie der Er- fahrungen und der Ideen, sich in der nördlichen Hemisphäre gegen die arc- tische Seite der Erde anhäufen mufste. Wir haben erst kürzlich die grofsen- theils hierdurch gesetzmäfsige Verschiebung aller allgemeinen Temperatur- verhältnisse, und der speciellen Climatik in ihren Einzelnheiten durch alle Monate und Jahreszeiten um das ganze Erdenrund hindurch, in bestimmten Thatsache kennen lernen.

Auch das Verhälnifs der pyramidalen südlichen Zuspitzung der keil- förmig gestalteten Südenden in der antarctischen Hemisphäre können wir als allgemein bekannt voraussetzen, nach seinen Einwirkungen auf die Anordnung im Ganzen, da, auf diese A. v. Humboldt aufmerksam gemacht hat. Wir erinnern nur daran, dafs alle Südenden der Continente, auch in der nörd- lichen Hemisphäre gegliederter sind (wie in Europa, Asien, America, Au- stralien) als die Nordenden, und daher auch zugänglicher werden sollten für alle Arten der Lebensthätigkeiten.

Weniger beachtet in seinen allgemeinsten wie speciellsten Einwirkungen ist der gröfste Gegensatz auf dem Erdball, den wir die nordöstliche Landhalbku- gelund die südwestliche Wasserhalbkugel genannt haben, oder vorherrschend

6 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

die Land - Welt und 'die Wasser- Welt, die tellurische und die maritime Seite der Erde. In dieser die offenen grofsen Oceane, in denen nur die Insel- gruppen zerstreut liegen und die Enden der Continente hineinragen; in je- ner, wo die überwiegende Masse der rigiden Continentalform die Gewässer nur gleich Binnenmeeren einschliefst. In der einen, Neu-Seeland, der Mittelpunkt des äufsern Wasserkreises; in der andern die Umgebungen der Nordsee, zumal Südengland, die Antipode von Neu-Seeland im Mittel- punkt des Landkreises; durch seine insulare Stellung zu allen Meeresbewe- gungen und dem Binnen -Gestade, der diese Insel umgebenden Landwelt ınaritim am meisten bevorzugt, schon durch die Natur im Mittelpunkt des durchbrochnen mit Meeresgassen nach aufsen verbundnen Landkreises für diesen, zunächst, vom Anfang an, auf die Herrschaft der Meere angewiesen.

In der einen Erdhalbe liegen alle Ländermassen vorherrschend ver- eint, in der andern Wasserhalbe zerstreut, in der einen das Übermaafs des trocknen, in der andern des feuchten Elements. Auf dem grofsen Gür- tel des Gestadelandes zwischen beiden, der den ganzen Erdball, als gröfster Kreis, in diagonaler Richtung zwischen Meridianen und Parallelen gegen NO und SO umgibt, befindet sich dadurch die schmale aber mannichfaltig ge- ränderte und gegliederte Zone des Übergangs, von der einen zur andern Erdhalbe, und eben darum in ihr die Ausgleichung ihrer Gegensätze, die sich überall in diesem Gestadegürtel unmittelbar schon in dem tagtäglichen Wechsel der Land - und See- Winde, wie noch in vielen andern Wechselver- hältnissen ausspricht. Denn in diesen Ring des grofsen Gestadelandes derErde, der die Nord- wie die Süd-Hemisphäre durchschneidet, und gegen den äu- fsern Wasserkreis sich hinneigt, fällt die ganze Ostküste Afrika’s, die ganze Süd und Ostküste Asiens, die ganze Westküste Amerika’s, welche den Ring vollendet, der jedoch gegen den antarctischen Süden ungeschlossen bleibt, denn eben diesem Süden fehlen die Continentalbildungen, und also kann daselbst auch kein Übergang zwischen Land-und Seeflächen statt finden, dem so viele Wechselverhältnisse der Meteore, der Feuchtigkeitsniederschläge, der Windrichtungen, der Küstenströmungen und Fluthendirectionen ihr gere- geltes Dasein verdanken.

Es läfst sich nicht verkennen, dafs schon in diesen für die Physik des Erdganzen, wenn schon nur linearen, jedoch sehr vielseitig sich durchkreu- zenden grandiosen Anordnungen ein höheres Gesetz vorwaltet, für das Le-

und ihre Functionen im Entwicklungsgange der Geschichten. 7

ben der Erde als eine blofs äufserlich für das menschliche Auge symmetri- sche Regulirung darbieten würde, dafs also der scheinbar anfänglich fast sinneverwirrende Anblick der willkührlichen Zerstücklung und Zerrissenheit der Oberfläche der Planetenrinde seiner tiefern organischen Bedingungen nicht entbehren wird, wenn auch zum Beispiel unsre noch zu unvollkommnen Tiefenmessungen der Meere, und unsre nur erst theilweise geognostische Kenntnifs der Bestandtheile und Construction der Continente auch keinen hinreichenden Grund, über die jetzige so ungleiche Vertheilung der Länder - und Wasserflächen auf der ganzen Aufsenseite der Erdrinde ein Urtheil zu fällen gestatten mag.

Eine vorherrschend tellurische und maritime Seite des Erdballs in ihrer diagonalen Ausdehnung über alle Längen - und Breiten- Zonen, mufste auch dieselben Gegensätze in Atmosphäre, Vegetation, Thierwelt, als überall verschiedenartige Modification bedingen; ja das Leben und Weben der Men- schen und Völker mufste in beiderseitig ganz verschiedenartigen Formen auf- treten, in sofern der Mensch abhängig sein sollte von seinem Wohnorte und dessen Natur. Die Erscheinungen in den Menschen- und Völker -Geschich- ten mufsten in beiden ganz verschiedenartige sein, und die Culturgeschich- ten einen ganz entgegengesetzten Gang der Entwicklung nehmen. Die Land- welt mufste sich im Gedränge der Populationen und der übergreifenden Rei- bungen wie des dadurch bedingten Austausches zuerst ceultiviren, die Was- serwelt mufste einen Haufen roher bleibender Völkergruppen beherbergen, bis die Schiffahrt entdeckt und zur Weltschiffahrt vervollkommnet war, und auch für sie aus einem stationairen Zustande, der Tag einer progressiven Entwicklung herannahen sollte. Die Völkerschaften, welche den grofsen Gestadegürtel auf der Grenzzone zweier Gegensätze des Erdballs bewohnten, wurden dagegen durch weit mannichfaltigere Naturimpulse auch schon in ihren elementaren Entwicklungen begünstigt, wie die erythräischen Aethiopier, selbst noch die Aegypter, Araber, die Inder, Chinesen und West- Ameri- kaner, wie sich dies auch in den Azteken-Ruinen Californiens, Mexico’s und Peru’s im Gegensatz der Rückseiten aller dieser Völker kund giebt.

Indem wir in dem Bisherigen von Mittelpuncten, gröfsten Kreisen, Gürteln, Zonen, Erdhalben, Hemisphären, pyramidalen Gliederungen u. s. w. sprechen mufsten, ist es nicht unbeachtet zu lassen, dafs, da in der Physik schon alle diese mathematischen Begriffe von Hälften, Puncten, geraden Li-

8 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

nien, Parallelen blofse Analogien bezeichnen können, diefs bei ihrer Anwen- dung auf Raumerfüllungen der Erdoberfläche, wobei noch das Oseillatorische dieser Verhältnisse im Gegensatz des Stationairen hinzutritt, mehr der Fall sein mufs, und wir uns hier auch für das folgende Sprachverständnifs in geographischen Dingen, der Ausdrücke von geometrischen Figuren, Rhom- boedren, Triangeln, Ovalen u. dergl. in gleichem annäherndem Sinne wohl bedienen dürfen, ohne dadurch Veranlassung zu Begriffsverwirrungen zu geben.

Eine andre Anordnung der äufsern planetaren Oberfläche als die, welche das Neptunische Übergewicht jenes Wasserkreises bedingt, gewinnt dieselbe durch das Übergewicht eines vorherrschend fortwährend wirksamen Feuerkreises, nämlich durch das vulcanische Übergewicht auf der einen Seite des Erdballs, von dem die andre gröfsere Seite desselben, wenn auch nicht ganz, doch gröfstentheils befreit bleibt; und wenn auch bei ihren jetzt fried- lichstillern Hebungen voll von Spuren solcher frühern analogen Thätigkei- ten, doch nur einzelne, sporadisch zerstreute Gruppen derselben auch heute, aber nur in periodisch unterbrochner Wirksamkeit sich zeigen.

Dieser Feuerkreis ununterbrochen thätiger Vulcanreihen, ist von einem der ersten Geognosten unsers Jahrhundertsum das grofse Becken des so mäch- tigen Ost-Oceans, oder der Stillen Südsee nachgewiesen, wo dieser nur zum Theil mit dem so eben genannten gröfsten Kreise des Gestadegürtels zusam- menfällt. Mit einem Theile desselben an den westamerikanischen und den nordostasiatischen Gestade - Curven deckt er sich: in einem andern Theile, dem südostasiatischen zieht er in verschiedenen Parallelen an ihm auf den Reihen der Gestadeinseln vorüber, bis er endlich ganz von jenen divergirend, gegen SO, in die Mitte der Südsee zurückweicht. Hierdurch wird er zu einem, nicht dem gröfsten Kreise wie jener, sondern nur einem kleinern Kreise des Erdenrundes angehörenden Kranze, der nur zum Theil mit dem Gestadegürtel sich deckt aber in seiner Mitte, im Schoofse des Ost- oceans, die Tausende von isolirten, emporgehobnen, kleinern basaltischen Inselchen und Inselgruppen herbergt, die alle gleichartig, nach plutonischen Gebirgsarten und Gebirgsformen, aber längst abgeschwächt in ihrer submarinen Thätigkeit aus den Wassern hervorstiegen. Dieser fortwährend thätige Kranz selbst, fällt im Osten der Südsee mit dem an 1000 Meilen langen Längen- zuge der Cordilleren am Westrande des amerikanischen Continents zusam-

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men, auf dessen Rücken Al. v. Humboldt einige 50 bis 60 noch feuer- speiende Berge und’ Crater zählte, zwischen deren Intervallen noch viele ungezählte sich anreihen. Auf der Westseite des Grofsen Ostoceans fällt aber im Parallellismus mit den Küstenconturen des Australischen und Ost- asiatischen Festlandes die Linie der Reihen -Vulcane die L. v. Buch nachwies, auf den langen Normalzug der langgestreckten Gebirgsinseln. Mit gleich- laufenden, gegen NW. gerichteten, oder unter sich parallellen Längenaxen, ziehen diese, im Innern und Aufsern gleichförmig, ebenfalls an 1000 Meilen weit von der Doppelinsel Neu-Seeland bis zu dem Nordende der Philippi- nen mit einer Gabelung ihrer Direction in den Molukken, von 80 wüthen- den Feuerschlünden, die nur an ihrer Ostspalte hervortreten, fortwährend bewegt. Von da an schliefst sich in grofser convexer Curve der Kranz gegen Nord über die Gruppen von Japan, den Kurilen, Kamtschatka, den Aleuten, Unalaschka mit ihren noch bis zu einem halben Hundert thätiggebliebenen Vulcanen, die, theils wie die australische Reihe, maritim, auf Inseln, theils wie die amerikanische, continental, auf Festland, sich hinzieht. Derselbe Kranz schliefst sich wieder andasNordende des Cordilleren-Zuges mit dem St. Elias Vulcan und dem neben ihm sich erhebenden Cerro de Buen - Tiempo an, so dafs der ungeheure Feuerkreis von mehr als 200 thätigen Vulcanen, fortwährend in Wirksamkeit versetzt, wohl diesen Namen verdienen ma

8.

Nur im Süden bleibt der Ring dieses vulkanisch thätigen Feuer- kranzes ungeschlossen, obwohl er im polaren Norden durch die Trennung der Continente der Alten und der Neuen Welt, welche dort beinahe ver- schwindet, nicht gehindert wurde in seinem tieferwurzelnden Zusammen- hange von dem einen zum andern der grofsen Oontinente fortzuschreiten und subterrestrisch zu verbinden, was maritim geschieden erscheint. Dort convergiren allerdings auch diese Continente NO. Asiens und NW. Ameri- ka's bis auf wenige Stunden Unterbrechung in der Cook-Behrings-Strafse, und dies schon möchte auf die Gleichzeitigkeit der Genesis des Vulcankran- zes, aus der mächtigen Erdspalte mit der Hebung und Aufschwellung ihres im Rücken liegenden ganz flachen Continentes hindeuten. Bestätigung scheint in der Südhemisphäre die entgegengesetzte, negative Erscheinung in der grofsen Lücke des nichtgeschlossenen Ringes, zwischen den auf 1000 Mei- len von einander abstehenden Südhörnern Amerika’s am Cap Horn und Süd- Australiens in Tasmanien darzubieten, wo mit den Continentalbildungen auch

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der sie begleitende Vulcankranz gänzlich verschwindet, wo nun, im Gegen- satz des inselreichen Ost-Oceans im Innern des Feuerkranzes, der inselarme, fast inselleere Ocean aufserhalb desselben Kranzes seinen Anfang nimmt, und über den übrigen noch gröfsern Theil der Erde sich ausbreitet. Denn erstaunen mufs man bei Durchmusterung der aufserhalb desselben liegenden maritimen Seite der Erde so wenig Inselbildungen aus ihrem unendlich wei- tern Schoofse hervortreten zu sehen. Während die Bande der grofsen äqua- torialen Inselzone, die in der diagonalen Richtung der Ecliptik von den Phi- lippinen gegen SO. bis zur einsamen Osterinsel mit ihren noch ungezählten, dichtgedrängten Inselpunkten, die blaue Südsee durchzieht und belebt, wes- halb man sie wohl mit einer sternenreichen Milchstrafse am Himmel vergli- chen hat (deren Inselstrafse auch noch von einer zweiten, obwohl schwächern Inselparallelle in weiterem, nördlichen Abstande, von der Japanischen Gruppe an in gleicher Richtung gegen SO. bis zum colossalen Vulcan der Sandwich- Gruppe begleitet erscheint), findet der Forscher nach Inselbildung dort, aufserhalb des Feuerkranzes, ihre gröfste Armuth. Dem Seecapitän ist diese, im Gegensatz jenes Inselreichthums, wohl bekannt. Der antarctische Welt- umsegler konnte in der ganzen Südhemisphäre, südwärts der genannten Lücke des Vulcankranzes, bis auf die jüngste Entdeckung des Victoria-Lan- des mit seinen Vulkanen durch James Rofs, nur einzelne, vereinsamte Klip- pen und Felsen, nur Splitter, die kaum Inseln zu nemnen sind, bis zu den Klippen Alexander I. und Peter I. auffinden, und in dem grofsen Raume des Südeismeeres den James Weddel (1822) durchschiffte, war keine ein- zige hervorgehoben. Auch in den nördlichern Breiten des grofsen Indischen Weltmeeres, zwischen West-Neuholland und SO. Afrika, sind die oceani- schen Klippen Kerguelens, St. Paul und Amsterdam, als solche kaum des Nennens werth. Das Inselpaar Bourbon und Mauritius ist von allen andern verlassen. In dem atlantischen Weltmeere, aufser den antarctischen Klippen von Sandwichland bis zur Neu Süd-Shettland Gruppe, zeigen sich nur in dessen äthiopischer Breite, zwischen West-Afrika und Ost-Amerika, im Süden des Äquators, die von einander weitabstehenden oceanischen Insel- punkte: Trinidad, St. Helena, Ascension, die aus den gröfsten Tiefen des Oceans die jemals gemessen worden, 14,550 F. Engl., also Montblanchöhe gleich nach James Rofs erster, und nach dessen zweiter Messung sogar aus 27,600F.

I) Tiefe emporsteigen mufsten, um an die Oberfläche des Meeres zu gelangen.

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 11

Erst im Norden des Äquators, als Antipoden der Südsee-Inseln, treten wieder einige zahlreichere, aber immer engbeschränkte, centrale, vulcanische Inselgruppen über der Meeresfläche hervor, wie in den Canarien, Azoren, Faröer, bis nach Island hinauf, das jedoch nicht mehr den offenen oceanischen, sondern den polaren Gestadeinseln zuzuzählen sein wird, wo in der Nähe beider Pole, nordwärts mit John Mayen Insel und südwärts mit Mt. Erebus, 12000 Fufs, wie James Rofs, der Entdecker von Victoria- Land sagt, die Feuerbildungen in verjüngter Kraft und Thätigkeit wieder ihr Territorium gewinnen, das eine lange räumliche Unterbrechung er- litten hat.

Die hebende, sichtbar gewordene Feuer-Gewalt, die also aufserhalb des grofsen Vulcankranzes aus der ungeheuersten Tiefe des Oceans nur auf sparsame Eruptionsstellen concentrirt blieb, die aber um so gröfsere Insel- gruppen hervortrieb, mufste sich einst in unendlich gröfserer Wirksamkeit über den ganzen Boden des Südseebeckens verbreiten, weil aus demselben aufser den sichtbaren Inseln auch eine Unzahl unsichtbar gebliebener aus dem seichteren, mitemporgeschwollenem Seegrunde, als Untiefen, Bänke, Klippen, Tafelinseln, sich nur so eben bis in die Nähe der Seeoberfläche erheben konnten, wo die Tausende von Korallenbänken und Koralleneilan- den, soweit die Undulationen der Fluthen reichten, sich auf ihnen ansie- delten. Aber die hebende, unsichtbar bleibende Dampf- Gewalt auf diese Tausende von einzelnen Punkten vertheilt, scheint doch zu ohnmächtig ge- blieben zu sein, um das Ganze zu einem über der Meeresfläche sichtbar werdenden Continente zu gestalten, dessen submarine Verbreitung nur der- einst durch zusammenhängende Sundirungsreihen zu ermitteln sein wird.

Diese Wirksamkeit auf grofse Strecken, nicht blos auf einzelne Punkte gerichtet, zeigte sich dagegen überall nach der Aufsenseite des Vulcankran- zes, in der Hebung der sichtbar gewordenen Alten wie der Neuen Welt, deren zusammenhängender, höchster Plateaubau seine gewaltigsten Stirnen überall gegen den Vulcankranz emporthürmte; nach der entgegengesetzten, von ihm abgewendeten Seite aber, nämlich gegen das Innere der Landwelt, ihre Hauptsenkungen gewann, die alle gegen Norden, Nordwesten, Westen und Nordosten in der Alten wie in der Neuen Welt, gegen den ihnen Nord- Atlantischen Ocean und die arctische, polare Länderbreite des Planeten in die gröfsten Depressionen übergingen. Unstreitig, weil dahinwärts die he-

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bende Gewalt nach oben in bestimmten Progressionen gegen die Mitte der gemeinsamen Depression abnahm, desto mehr aber in derselben Richtung, in horizontaler Dimension, über die polare Seite des Erdballs sich als seine trockne, aber flache Erdrinde verbreiten konnte. So trat die grofse Conti- nentalbildung im Gegensatz mit der grofsen Inselbildung des Planeten her- vor, durch welche der Entwicklungsgang der Menschengeschichte, für Ver- gangenheit und Zukunft, seine Grundanlage als Mitgift erhielt.

Auf der Westseite der Australischen Reihenvulcane, deren kein ein- ziger auf dem westlich gegenüber liegenden, doch so nahen Boden des Fest- landes bekannt ist, breitet sich das Flachland eines ganzen Erdtheils, die grofse Niederung von Neuholland aus, zu deren massigen, grölsern Empor- hebung die unter dem Südseebecken so thätige plutonische Gewalt schon bei ihrem Entstehen viel zu abgeschwächt war, um sie höher zu heben. So- gar das zwischen ihr und dem vorüberstreichenden Inselzuge von Neu- Guinea beschlossene, so sehr seichte Korallenmeer (the Great Barrier), konnte aus dem Seegrunde nicht mehr als trocken gelegter Landgrund em- porgehoben werden oder sank wieder unter die Wellen zurück.

Dieses grofse Gebiet der australischen Depressionen eines ganzen Erdtheils setzt auch weiter nordwärts des insularischen, sundischen Isth- mus mit seinen vielfachen Durchbrüchen, zwischen Carpentaria und SO. Malacca, auf asiatischen Boden, in den flachen Küstenländern von Hinter- indien, Tunkin und Ost-China’s Seegestade fort, bis die hohe Anschwel- lung des Centralplateaus von Asien in seinem Ostrande, an den Steilküsten von Leaotong und Korea, der isolirten grofsen Vulcangruppe von Japan gegenüber, und weiterhin ihnen die Grenze setzt.

Dieser Erscheinung ganz analog liegen auch in Süd- und Nord - Ame- rika alle grofsen Depressionen des Erdtheils unmittelbar aufserhalb des Vul- cankranzes des continentalen Cordillerenzuges, wie der durch ihn auf seinen Schultern mitemporgetragenen, sehr hohen aber nur schmalen und langge- zogenen Plateaubildungen. Innerhalb der Depressionen zeigt sich in ganz Ost- Amerika, in seinem weiten Areal, kein Vulcan mehr, so wenig wie in Australiens Flachland, eine merkwürdige Analogie; und die Senkungen der grofsen Depressionen, wie ihre Stromsysteme zeigen, gehen hier nur nach der Aufsenseite des Feuerkranzes, der in diesem Erdtheil ganz mit dem grofsen Gestadegürtel zusammenfällt, dessen innere Seite steil zum Tief-

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meere der Grofsen Südsee abstürzt, während die Aufsenseite der continen- talen Depressionen überall in terrassirten Stufenländern sich gegen den Äthiopischen und Atlantischen Ocean mit nur niedrigbleibenden Berggrup- pen hier und da, verflacht.

Gehen wir nun von dieser beachtungswerthen Analogie der Stellun- gen, der anliegenden Depressionen und ihrer Senkungen in beiden Seiten, der Neuen Welt, der amerikanischen wie der australischen, gegen den stets aus den tiefen Spalten seines Hitzheerdes, sich selbst wie seine Nachbar- schaften neugestaltenden und hebenden, continentalen wie insularen Feuer- kranz über, zu dem Gesammtbau des Alten Continentes.

Hier wiederholt sich dasselbe Gesetz der Anordnung des Ganzen in der analogen Construction gemeinsamer Hebungen, Senkungen und De- pressionen, nur mit den Modificationen, die aus seiner südwärts geglieder- ten Form und aus der Entfernung seiner Südgestade von dem gegen Südost in die Südsee zurückkehrenden Feuerkranze der insularen Reihenvulcane hervorgehen mufsten, da der Normalzug seiner Gestadelinie von dieser Ab- wendung vom Feuerkranze an nun gegen Südwest, der Richtung des Gro- fsen Gestadegürtels, von Süd-China, Hinter- und Vorder-Indien, über das Südende Arabiens, der Östspitze Äthiopiens und der ganzen weiten Süd-

‚ostküste Afrika’s, die Madagaskar-Seite entlang, bis zum Cap der Guten Hoffnung folgt.

Hier ist es nun lehrreich für das Ganze, was Al. v. Humboldt für das centrale, rhomboedrisch gestaltete Plateau Ostasiens zuerst nachgewiesen hat, da dessen particulaires Verhalten sich in der Gesammterscheinung als gesetzmälsig wiedererkennen läfst. Nämlich, dafs die Diagonale, welche dieses Centralplateau von SW. gegen NO. durchsetzt und in seine nord- westliche und südöstliche triangulairen Halben (die tibetische und die mon- golische) theilt, zugleich die Axe der gröfsten Anschwellung des ganzen Plateau's bezeichnet, der die gröfste Massenerhebung gegen SO. liegt, ihr gegen NW. aber die gemeinsame Absenkung beginnt. Die gröfste Anschwel- lung gegen SO. ist in der Hochfläche Tibets bis zu 14,000 Fufs, und in den Gipfelerhebungen der Himalaya-Kette über 20,000 und 25,000 Fufs abso- luter Höhe gemessen. Die steil gegen das südchinesische, hinterindische und bengalische vorgelagerte Tiefland abstürzende Stirnwand dieser massi- gen Erhebung scheint sich zu noch gröfseren Höhen, wahrscheinlich den

14 Rırren über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

colossalsten des Planeten, emporzuthürmen. Obwohl noch keine directen Messungen dies darthun, so scheint aufser andern Gründen auch die gegen Ost zunehmende Gipfelerhöhung darauf hinzudeuten, wie dies die jüngste Höhenmessung des Kintschindschinga in Sikim, durch Colonel Waugh und Hooker, zu 26,438 F. par. beweiset, der noch höher als Jawahir, Dhawa- lagiri und Tschamalari in der südöstlichsten Steilwand des Himalaya - Zuges emporsteigt, dem aber noch viele andere ebenbürtige an Riesenhöhe gegen Ost zur Seite stehen.

Jenseit der diagonalen Axe der gröfsten Anschwellung des Central- plateau’s, mit dessen mongolischer, nördlicher Halbe, beginnt aber dessen gegen NW. terrassenförmig, in breiten und langgedehnten Stufen immer niedriger werdende Senkung durch die ganze Alte Welt hindurch bis zum Eismeer am nordsibirischen und nordeuropäischen Gestade.

Diese Senkung vom Südrande der hohen Kobi über Peking, 8000 F. über dem Meer, geht nach dem Nivellement der russischen Akademiker in der Richtung gegen NW. durch die Mitte der Kobi in 5000, 4000, 3400, 2400 Fufs abfallenden Stufenhöhen, bis zur Tiefe des Baikalspiegels 1200, und zu der noch tiefern des Dsaisang-Sees, an den Quellen des Irtysch, zu nur 1000 F. Meereshöhe über. Diese Senkung, die ganze Ausdehnung des alten Continentes verfolgend, schreitet gleichmäfsig gegen West in die grofse und nun schon bekanntere Tiefe des Aral- und Caspischen Sees (— 72%; F.par.) fort; sie erreicht um Tobolsk nur noch 100 F. Meereshöhe und ist längst in die Grofse Depression der Alten Welt, und in der Mitte der ganzen tel- lurischen Erdhalbe, nämlich in die Caspische und Pontisch-baltische Öst- Europa’s übergegangen, wo sie dann noch weiterhin als flache Erdscheibe des Polarlandes, in gleichförmiger Gestaltung und Einheit, in allen drei Welttheilen (Asien, Europa und Amerika) den Nordpol umlagert.

Dasselbe Gesetz der Massenerhebung zu den gröfsten Höhen an den Südoststirnen der Steilabstürze gegen den grofsen Gestadegürtel, sowie ih- rer Senkungen nach den entgegengesetzten Richtungen, gegen das Innere der tellurischen Seite der Erdhalbe zu, wiederholt sich nun auch in allen gröfsern nnd kleinern zusammenhängenden oder abgerückten Plateaubildun- gen in der Richtung des Grofsen Gestadegürtels, und läfst aus den analogen Erscheinungen auf analoge Kräfte und Wirkungen bei der Entstehung zu- rückschliefsen. Die Normaldirection der Axenanschwellung der Massener-

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 15

hebung Central-Asiens fällt aber mit der Allgemeinen Massenerhebung des ganzen Erdballs in dieselbe diagonale Richtung für den ganzen Länderkreis der grofsen Oontinente zusammen; so dafs in dieser particulairen Erhebungs- Diagonale nur das Gesetz der Anschwellung der ganzen Erdrinde in der Richtung einer allgemeinern Erhebungsdiagonale, der gröfsten und höchsten Massen für den ganzen Erdball ausgesprochen erscheint, welche characte- ristisch verschieden ist von der nicht selten diametral entgegengesetzten Rich- tung der Partieularerhebungen der Gebirgszüge, die aus der Direction der Spalten ihren Verlauf angewiesen erhielten, wie diese durch Elie de Beau- mont systematisch und in chronologisch -geologischer Aufeinanderfolge zu gruppiren versucht wurden.

Im Persischen Plateau steigt die Südoststirn in Belludschistan bis zu der bedeutenden Höhe des Tafellandes von Kelat zu 8000 Fufs Meereshöhe empor, während ihre nordwestliche Senkung schon in Ispahan auf die Hälfte, in Teheran auf 3700, in Kom auf 2000 Fufs hinabgesunken ist, und nord- wärts gegen die Bucharei und den Aral-See noch schneller abfällt, zum Südende des Caspischen Sees plötzlich abstürzt unter den Spiegel des Oceans. Das Plateau von Dekan erreicht gegen Süd in den Nilgherri, nahe dem Cap Comorin, seine gröfsten Hebungen, im Plateau von Utacamund 9000 Fufs; es senkt sich mehr und mehr gegen die Hochebene von Mysore, Malwa, Me- war, nordwärts nach dem Vindhyan hinab bis zum Tieflande Sind, dessen Nordende die Himalaya-Mauer entgegentritt. Ebenso hat das Plateau Ara- biens, in Nedsched (d.h. Hochland), im Südostwinkel Hadramaut, Oman und Jemen seine gröfste Höhe erreicht (die Weirauchberge von Makalla 5000, Dschebel Achdar in Oman 6000, Dschebel Taäs über Taäs 7000 F. nach Botta); gegen Sanaa nordwärts schon zu 4000 Fufs, in der Nähe von Mekka zu Taif auf 3000 Fufs in den gröfsten Höhen abgesunken, ist nach der Bahrainküste des persischen Golfs und gegen Syrien das Tiefland gegen den Schat el Arab und die mesopotamischen Flächen die ganze Erdfläche nur noch in weiten Niederungen ausgebreitet. Selbst die Sinai-Gruppe, obwohl in innerster Spaltung des Rothen Meeres, und nur eine particulaire Erhe- bung mit geringer, nördlich angelagerter Plateaubildung, folgt dennoch die- sem allgemeinen Gesetze. Auch sie hat ihre Steilseite zur gröfsten Höhe gegen dieses Rothe Meer emporgerichtet, so wie, im weit colossaleren Maafs- stabe, die ganze Massenanschwellung des südlichen und östlichen Erdtheiles

16 Rırren über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

Afrika’s in seinem Hochlande gegen die Seite des indischen Oceans das Ma- ximum seiner Anschwellungen erhielt: (in den Schneebergen 10000 F.), am Quellgebiet des Orangerivier wenigstens 6000 F. im Süd des Äquators, un- ter diesen westwärts Mombaza bis zur Höhe der Schneeberge nach Reb- mann’s jüngster Entdeckung, im Obern Habesch, auf Shoa’s Plateau um Angololla 9-10000 Fufs nach Harris, und im nördlichen Habesch im Gon- dar 7000 F. nach Rüppel (im Shamen 13000 F.). Die gröfste Senkung Afrika’s geht bekanntlich nordwärts zur Depression der weiten Sahara und der langen Tiefspalte des Nillaufes, also gegen das Innere der grofsen Ge- sammt-Depression der ganzen tellurischen Erdhalbe (zum Theil durch das Mittelmeer bedeckt), zu der ebenso die grofse Vertiefung des flachen Ost- Europa, die Pontische, sich hinabsenkt, sowie die particulaire des Gebirgs- landes von Mittel- Europa gegen die Ostsee und Nordsee.

Nur das System der Meridian -Gebirge ist es, welches diese Gesammt- niederung der Nordwestseite des Erdballs unterbricht, da dieses bekanntlich in den 3 grofsen Gebirgs-Parallelen, des Ural, der Scandinavischen Alpen und der Alleghennys, diese Gesammtsenkung der Nordhemisphäre in ihre untergeordneten Quartiere theilt, die bald mit Land-, bald mit Wasserflä- chen bedeckt sind, und allen drei nördlichen Erdtheilen angehören. Die für sich fortstreichenden Linien der freistehenden Gebirgsketten von O.n. W., wie Kaukasus, Karpaten, Alpen, Pyrenäen, sind unabhängiger hervor- getreten von diesem compacten Gesammtbau, dem nur die Randgebirge der Plateau - Anschwellungen unterworfen waren; sie bilden für sich, zumal gegen den nach Westen hin gegliederten Continent der Alten Welt, selbst- ständiger hervorgetretene Systeme, welche den europäischen Erdtheil cha- rakterisiren.

Wir haben bisher nur 5 bis 6 der auffallendsten äufseren, allgemein- sten Anordnungen in der Physik des Erdballs angedeutet, insofern sich diese in den Raumverhältnissen nachweisen und weiter verfolgen lassen, nur als Thatsachen in den Gesammt-Erscheinungen der Erdrinde, ohne auf ihre möglichen Ursachen oder auf die aus ihnen hervorgehenden Wirkungen im Einzelnen überzugehen, denn diese sind leicht einzusehen. Aus dem letzte- ren grolsen Gesetze der allgemeinen Depression ergiebt es sich zum Beispiel zunächst für unsre Erdseite sogleich von selbst, wie dadurch die grofse zu- sammengehörige Völkerfamilie der alten Cultur-Welt, nur mit geringerer

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 17

Zerstreuung nach den äufsern Gliederungen, nach ihren grofsen Zuglinien im Maximum der räumlichen Annäherung der 3 Erdtheile auch zusammen- geführt wurde auf den Einen grofsen zugänglichern und förderlichern Schau- platz ihrer Thätigkeiten, der eben dadurch der classische Boden der Welt- geschichte werden sollte, zu dem alle Bahnen des Völkerverkehrs, wie Flüsse zu einem gemeinsamen Becken hinleiteten; weil die grofsen Depressionen nach ihren gröfsten Ausdehnungen durch die Mitte der Alten Welt, von Erdtheil zu Erdtheil, innerhalb gleichartiger Temperaturen von O. nach W. (nicht wie in Amerika durch verschiedene von N. nach S. getrennte), die Völkerbindungen und ihre Überlieferungen aller Art ermöglichten. Denn nur nach der Aufsenseite blieb die Stirnwand der undurchbrechbaren Pla- teauerhebungen, die zu schwer überwindliche, völkerhemmende, ja schei- dende Naturform, wie sie selbst das schroffste Gegitter der innerhalb der Senkungen erhobnen Gebirgsketten-Bildungen, die überall mehr oder we- niger durchbrochen sind, dem Gange der Völkerentwickelung nicht ent- gegenstellte.

Es lag hier nur daran, in der scheinbaren Regellosigkeit die Spuren einer höhern Symmetrie und Harmonie hervorzubeben, von welcher die ele- mentare, ungeübte Ansicht bei dem ersten Überblick keine Ahnung haben kann, weil die Naturmannigfaltigkeiten, die schon aus diesem durch- und übereinandergreifenden Netze von Normalen zu grofs ist an Besonderheiten und daraus hervorgehenden Eigenthümlichkeiten (localen Individualitäten), um ohne tiefer eingreifendes Studium auch begreiflich zu sein.

Und doch sind hier nur die grellsten Lineamente und Contouren be- rührt, die von unzähligen feineren modifieirt werden; wir blieben jedoch für's erste bei diesen stehen, weil ihr Netz den ganzen Erdball umspannt.

Gehen wir nun, im zweiten Theil unserer Bemerkungen, zu den Ge- staltungen der Erdtheile über, welche für sich abgeschlossene Individuali- täten der Planetenrinde bilden, die unter dem allgemeinsten Einflufs jener Normalen stehen, aber deren jeder durch die ihm eigenthümlich gewordene Plastik seinen besondern Character in sich trägt: so wird das, was wir Har- monie in den tellurischen Bildungen in Beziehung auf den Gang. der Men- schengeschichte und den progressiven Fortschritt in der Entwickelung des Planetenlebens genannt haben, vielleicht noch klarer als aus früherem her- vorgehen.

Philos.-histor. Kl. 1849. (6

148 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

Dafs schon in der ganzen Gruppirung der Massen des Erdsystems die für alle Zeiten feststehende Gegeneinanderstellung der Erdtheile, die nicht wie die rollenden Planeten-Glieder im Sonnensysteme, veränderte, wech- selnde Stellungen einnehmen sollten, einen mit den Rotationen der Erde harmonirenden Einflufs ausüben mufste, ergiebt sich schon aus den auch historisch gewordenen Gegensätzen von Orient und Occident, die in fort- schreitenden Übergängen sich über den ganzen Erdkreis verbreiten. Denn dieser ist in dem Bewustsein der Völker gegen den Aufgang und den Unter- gang, wie gegen den kalten Norden (Land der Hyperboräer) und den hei- fsen Süden (der Äthiopen), längst vorhanden gewesen und geblieben vor der namentlichen Absonderung von Erdtheilen. Wie die Zeit vom Morgen zum Abend, von Hoffnungen zu Erfüllungen, den heifsen Mittag durchschreitet, bis die alles beschwichtigende Nacht (gleich der polaren Erdseite) aufser- halb jenes Verlaufs, als Gegensatz auftritt, ebenso liegen auch im Raume: Orient in Asien, zum heifsen Libyen und dem Oceident in Europa, und ebenso wieder die ganze Alte Welt gegen die Neue im Westen, als Orient und Occident cosmisch vertheilt. Das hohe Alterthum und die Neuzeit, die Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, die Wiege der Völker, ihrer Geschich- ten und Culturen, in dem Orient; der Fortschritt des entwickeltern Völker- und Staaten-Lebens, wie des ganzen Ideenkreises und seiner Einwirkungen, im Occident Alles dies tritt nur im Causalzusammenhange und gesetz- mäfsig mit der Gruppirung der cosmischen Weltstellung der Gesammtmasse des Planeten hervor; selbst der Völkerstillstand im hellen, heifsen, geistig trägen, materiell übervölkertem Sudan, wie die noch nicht geschehene Völ- kererweckung im sparsam bewohnten, dunkeln und kalten Norden, stehen damit in Einklang und werden auch fortbestehen, so lange nicht Kunstmit- tel im Fortschritt der Menschengesellschaft erfunden sind, Naturhemmun- gen und Naturimpulse völlig zu besiegen, und das Menschengeschlecht mehr und mehr von den Fesseln der Natur, wie der heimatlichen Scholle zu be- freien; wie schon durch die Nautik die Meereseinsamkeiten und Meeres- scheiden überwunden, durch die Lenkung des Dampfes die Raumunter- schiede völlig verändert, und durch die Colonisation und das Plantagewesen die Gaben und Populationen der einen Seite des Erdballs in die andere

übertragen sind.

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 19

Jene Gegensätze gehen schon dem Chinesen in seinem Si-yu (Occi- dens), der Sanskritwelt in ihrem Para (Prasier) und Apara, dem wahren Morgenlande der alten Welt, auf, dessen Götter nur noch weiter im Osten, wie Oannes der Chaldäer, Brahma der Hindu, gleich der Sonne dem Meere entsteigen. Weiter im westlichen Fortschritt wiederholten sich dieselben Gegensätze, wo der Grieche sein Anatolien (dvarorızn sc. Y&g«) in Asia mi- nor, sein Hesperien in Italien, der Römer sein Morgenland in der Levante, sein Hesperien am Westrande der Erde in Spanien und den Insulae fortu- natae erkannte, wie der Araber seinen Occident, den el Magreb, ebenfalls dort einzeichnete. Der Europäer rückt ihn über den Ocean nach der Neuen Welt hinaus, so wie die mit ihm wandernden Begriffe, Anschauungen, Völ- kerverhältnisse, deren räumliche Bedeutung aber mit dem Fortschritt der historischen Ausgleichung dieser Gegensätze mehr und mehr schwinden mufs. Das Land der sonnverbrannten Äthiopen wie der Hyperboräer der Home- rischen Zeiten, im Süden und Norden des griechischen Archipels, ist längst zurückgewichen, wenn auch dem Hindu sein Hyperboräerboden oder Nord- land, Uttara-Kuru, bis heute geblieben und das äthiopische Libyen sich zu einem ganzen Afrikanischen Erdtheil erweitert hat.

Diese an sich reellen Gegensätze mit ihren Naturverhälinissen, konn- ten mit dem Fortgang der Geschichten, die in sie eingreifen, für die Völker zu blos relativen Beziehungen werden, wo die Natureinflüsse der Erdräume durch die Culturverhältnisse ganz andre geworden sind; daher hieraus auch ein wesentlicher Unterschied der Methodik in der Behandlung alter und neuer Geographie hervorgehen müfste.

Die cosmische Gruppirung und Weltstellung der Erdtheile wird im- mer von Einflufs bleiben, wenn dieser auch in seiner einstigen, absoluten Schroffheit durch den Fortschritt der Zeiten, wie z.B. der maritimen Welt- verbindungen, grofsen Modificationen unterworfen war. Der classische, räumliche Boden der Weltgeschichte in dem Maximum der centralen An- näherung der drei Erdtheile der Alten Welt, vom Indus zum Tiberstrome, und vom Nil zum Oxus und Tanais, wird jedoch für alle Hauptbegeben- heiten des sich erst aus der Wiege der Völker entwickelnden Menschenge- schlechts, denen er als gestaltende Folie unterliegt, in den Zeiten früherer Jahrtausende auch der classische Boden bleiben, weil er eben der gestal- tende war; aber die Civilisation hat den für gewisse Perioden bevorzugten

02

20 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

Räumen der einen Seite des Erdballs allerdings den allein herrschenden Ein- flufs genommen und auf andre Räume übertragen.

Die verschiedenen Planetenstellen haben für die verschiedenen Pe- rioden der Geschichte verschiedenartige Mitgift, Begabungen, Empfänglich- keiten, aber auch eigenthümliche Entwickelungsfähigkeiten erhalten, die erst mit dem Fortgang der Geschichten zur Anerkennung kommen können; nur ein geringer Theil derselben hat sich erst in seinen Functionen für das Weltganze offenbart; der Kreislauf ihrer Entwickelungen hat erst begonnen durch die Vergangenheit einiger Jahrtausende sichtbar zu werden: der bei weitem grölsere Theil liegt unsern Augen noch verschleiert. Die gröfsten Tiefen der geistigen Natur des Menschen konnten sich in vielfachen Gestal- tungen uns frühzeitiger offenbaren, weil wir ihr um vieles näher standen; dagegen mufsten die göttlichen Geheimnisse des Planeten dem flüchtigen Erdenbürger weit längere Zeiten verborgen bleiben.

Wenn in der Vergangenheit, zumal die Natur der Meere sammt ihren Functionen, durch die Kunst der Nautik, durch das Segelschiff, erst die Systematik der Winde und der Meeresströmung, durch das Studium der Ha- fenzeiten, die Erscheinung der Fluthen und Ebben, für das Ganze des Erd- balls, und wie viele Productionen desselben erst spät in ihren Heilkräften kund geworden; so haben auch gewisse bevorzugtere Striche der Länder- theile durch die Begünstigung der Civilisation uns erst zu ihrer eigenen ge- naueren Kunde geführt; der bei weitem gröfsere Theil der Planetenober- fläche liegt in dieser Hinsicht aber noch brache, weil nicht blos die Wissen- schaft, sondern auch erst der Geschichtsgang der Culturwelt selbst das Räthsel der Naturgeheimnisse der planetarischen Localitäten zu lösen ver- mag. Wir sind erst noch in der Erkenntnifs der Elemente der Entwicke- lungen der äufsersten Oberfläche unseres Planeten befangen; in der Gegen- wart treten uns so erst ihre geognostischen Verhältnisse aus den Tiefen hervor; welchen Einflufs werden die noch nicht erschöpften Metalllager und Steinkohlenfelder an so vielen Enden der Erde ausüben, welchen, die Übersiedelungen, Colonisationen, Missionen der verschiedensten Art, auch in solchen von der Geschichte noch unberührten Localitäten, oder, wo die Aussaat der Cultur erst spärliche Ernten gab, wo ihre geistige Natur noch keine belebende, das Ganze erwärmende Funken aus dem Boden geschla-

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. PA

gen, wie dies auf dem classischen Gebiet der Weltgeschichte doch an so vielen Stellen schon geschehen war.

In welches neue Stadium der Bedeutung für die ganze planetarische Oberfläche in ihrem Verhältnifs zum Menschengeschlecht sind nicht die Tief- länder, die Ebenen, die Niederungen z. B. erst seit ganz kurzem getreten durch die Eisenbahnlinien wie durch die Canalisation, die im colossalsten Maafsstabe durch die Mitte der Erdtheile ausgeführt, nach einem Durchstich des Isthmus von Suez die indische Welt an die südeuropäische heranrücken würde, wie der Durchschnitt von Panama den Umfang des Erdballs um ein Viertheil verkürzen und die chinesische Welt der westeuropäischen um an- derthalbtausend Längenmeilen in näheren Oontact bringen.

Durch Dampfschifffahrt sind die Stromsysteme in unserer Nähe, wie die colossalsten in jweitester Ferne, vom Ganges bis zum Missisippi, dop- pelseitig rückläufig geworden; auf dem letztern schwärmt täglich eine Flotte von mehr als 350 dieser Fahrzeuge in dessen wasserreichem Flufsnetze gleich Weberschiffen umher, die überall neuen Ansatz bedingen, und durch einige 50 derselben ist schon die früherhin öde, vereinsamte, grölste Seegruppe Nordamerika’s vom Obern- bis zum Erie-See in ein Culturgewässer ver- wandelt, der halben Gröfse des europäischen mittelländischen Culturmeeres gleich. Was die Zukunft hierin bieten kann, ist noch nicht vorauszuschen.

Eine Anlage zur Perfectibilität der verschiedenen Naturformen der Planetenrinde, ein Fortschritt ihrer Organisation für das ganze Planetenrund, wenn die Cultur sich in Harmonie mit der Natur zu setzen versteht, wäre nun wohl nicht abzuweisen; sehen wir noch auf das, was in der besondern Anordnung der Gestaltung der Erdtheile, im Einzelnen, in dieser Hinsicht durch dieselbe fördernd oder hemmend, als Bedingung jener Entwickelun- gen, characteristisch für sie sich hervorthut, wenn wir dies hier auch nur flüchtig anzudeuten im Stande sind.

Frühere Erörterungen über die horizontalen Dimensionen der Erd- theile überheben uns der Nothwendigkeit in das Specielle ihrer Verhältnisse einzugehen. Es genüge hier daran zu erinnern, dafs bei den 3 Erdtheilen der Alten Welt die vorherrschend ovale Ausbreitung Afrika’s, die rhombo- @drische Asiens und die trianguläre Europa’s auch dreierlei Dimensionsver- hältnisse derselben bedingen, deren gröfste Gleichförmigkeit in Afrika (gleiche Länge und Breite in den Richtungen der Meridiane wie der Parallele) der

22 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs

gröfsten Differenz in Europa gegenübersteht, das mit doppelter, fast drei- facher Länge von Ost gegen West mit stufenweis abnehmender Breite die Spitze seines Triangels dem atlantischen Ocean zukehrt, ‚seine gröfste Breite im Osten, im Zusammenhang mit Asien zeigt. Afrika, ein in sich geschlos- sener, compacter Körperstamm, ohne alle Gliederung; Asien ein gleichfalls compacter, aber minder geschlossener, mächtiger Körperstamm, mit reicher und grofsartiger Gliederung gegen Osten und Süden; Europa, ein nach al- len Seiten aufgeschlossener und nicht nur im Süden und Westen, sondern auch im Norden wie im Innern gegliederter Körperstamm, dessen Verzwei- gung gleiche Bedeutung, wie der Stamm, für den Gang seiner Qulturent-

8 wickelung gewinnen konnte, die, bei dem minder colossalen Areal und dem

85 stets überwiegenden Naturreichthum der gesonderten Glieder gegen den Stamm, dessen Massen auch alle Vortheile der Gliederung zuführen konnte. Asiens noch compacter Stamm, nicht wie der Europa’s nach allen Richtun- gen gegen die maritime Seite aufgeschlossen, blieb in der Mitte des Conti- nents noch unberührt von den Meereseinschnitten, wenn diese auch tief in ihn eindrangen, aber doch keine harmonische Ausgleichung zwischen den Gegensätzen von Meer zu Meer, und den ineinandergreifenden Thalformen aller Art, wie dies in Europa der Fall war, herbeiführen konnten. Daher blieb im centralen Asien noch ein mächtiger, langer und breiter Stamm die- ses Erdindividuums (der compacten Masse von ganz Afrika nicht ungleich), ausgeschlossen von dem Seegen seiner reichen Gliederung, die mit ihren Ergebnissen diesen asiatischen Körperstamm noch nicht zu berühren und zu durchdringen vermochte. Die reichste Gliederung des peripherischen Asiens zeigt seine Südseite, die geringere die Nordseite, nicht ohne den dadurch gewonnenen Vorzug oder Nachtheil in beiderlei Richtungen. Die Gesammt- gliederung, obwohl die Einzelheiten derselben zum Theil selbst die Gröfse von halb Europa haben, bleibt jedoch, dem Areal nach, weit gegen das Areal des compacten Stammes zurück, daher diesem doch das entscheidend hemmende Übergewicht in der geringeren Civilisation des ganzen Erdtheils verblieb trotz seiner peripherischen aber unter sich auf den Peninsularsyste- men gesondert gebliebenen, höhern Völkerentwickelungen.

Die gemeinsame, compacte Mitte des asiatischen Stammes blieb daher die gleichförmige Heimath des Nomadenlebens der Völker, während auf den durch die Natur reich begabten und mannigfach ausgestatteten Gliederungen

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 33

seiner Vorländer und Halbinseln, wie in China, Hinterindien, Vorderindien, Arabien, Asia minor, und selbstin den untergeordneteren derselben sich über- all Individualitäten in Land und Bewohner entwickelten, die aber mit ihren gewonnenen Culturen noch nicht im Stande waren die Mitte des Stammes zu durchdringen.

Die ganze Peripherie von Afrika blieb im Küstencontour ungegliedert, daher die absolut-kürzeste Entwickelung seiner Gestadelinie gegen alle an- dern Erdtheile, ein Verhältnifs, dem der geringste Contact seines Binnen- landes mit dem Meere folgen mufste, so wie die gröfste Unzugänglichkeit seiner Mitte. Da alle Individualisirung von Natur- und Völkerverhältnissen seinem ungegliederten Stamme versagt war, dessen Enden nach allen Seiten, wegen Dimensionsgleichheit seiner Gestaltung, der Mitte gleich nahe oder gleich fern lagen, und die astronomisch ebenso gleichförmige Lage zu bei- den Seiten des Aquators nirgends über die tropische und subtropische Kli- matik in andere Gegensätze hinausragt, so sind alle Erscheinungen in diesem Erdindividuum, dem wahren continentalen Süden der Erde, in dem alle Culminationen der Tropenwelt ihr Maximum der Höhe erreichen, doch die einförmigsten, gleichartigsten, wenn schon in sich eigenthümlichsten, doch ohne Mannigfaltigkeit der Gegensätze geblieben. Daher in der Völkerwelt dieses Erdtheils die patriarchalischen Urzustände in der menschlichen Ge- sellschaft gänzlich aufser Berührung mit den Fortschritten der Zeit geblie- ben, und ihr Asyl auch noch Jahrtausende hindurch für den Entwickelungs- gang einer unentschleierten Zukunft aufbewahrt zu sein scheint. Denn nur generelle, keine individuellen Entwickelungen, weder in Pflanzen, Thie- ren noch Völkerschaften oder einzelnen Menschen, zeigen sich auf diesem stationären Boden; die Palme, das Kameel und ihre Gefährten, gleichmäfsig an allen Nord- und Süd-, Ost- und West-Enden, und der vorherrschende Negerstamm, die fast ausschliefslich einheimische Bevölkerung mit dem Ne- gercharacter in allen Richtungen, in compacten Massen, wie der Erdtheil selbst, in geringer, nur genereller, gemeinsamer Entwickelung zurückge- blieben, ohne hervorragende Individualitäten von Culturen, Staatenbildun- gen, Völkerschaften oder Individuen zeichnet ihn aus, selbst mit der gröfs- ten Übereinstimmung ihres gemeinsamen Sprachstammes, der nur dialecto- logisch verschiedenen Negersprachen. Nur sporadische Küstenentwicklung macht an einzelnen begünstigtern Stellen des Erdtheils in schmalen Säumen

24 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

hiervon eine geringe Ausnahme, und auch diese ist meist nur durch Ansatz und Anflug von Aufsen hervorgerufen.

Eine ganz andere Welt von Ercheinungen ist durch die reiche, wenn auch nur theilweise peripherische Küstenentwicklung von Asien hervorge- zaubert, die in ihren Gliederungen überall individualisirt hervortritt, da jede derselben durch ihre continentalen gegenseitigen Absonderungen aber wie- derum unter sich maritimen Vermittelungen eine andere, von der Natur in Lüften, Bergen und Thälern, Strömungen, Meeresanspülungen, Windsy- stemen, Productionen Ausgestattete sein mufste, und so auch in ihren Bevöl- kerungen und Culturen eine immer andere werden sollte, so dafs hier die Individualitäten der Chinesischen, Malaiischen, Indischen, Persischen, Ara- bischen, Kleinasiatischen Welten characteristisch hervortreten konnten. Aber in schroffem, gemeinsamem Gegensatz, gegen den noch geschlossenen Körperstamm der centralen Mitte konnte ihr Culturfortschritt noch nicht das seit Jahrtausenden gleichartig bewegliche Leben, von dessen Nomadischer Bevölkerung, deren Vorfahren sich in weite westliche Räume zu verbreiten hatten und deren Stellvertreter wir heutzutag Mongolen, Turkestanen, Kir- ghisen, Bucharen, Kalmücken u.s.w. nennen, durchdringen, noch weniger den Norden desselben Erdtheils erreichen, dem daher bei allem Glanz der grandiosen, orientalischen Erscheinungen seiner ungeheuren Ausbreitung, die harmonische Einheit einer gemeinsam gewonnenen Civilisation fehlt. Hiezu trugen auch noch die historisch unüberschaulichen und um so schwe- rer durch Civilisation überwindlichen, colossalen Naturformen, die orien- talen, das Ihrige bei, sowie der überwuchernde Reichthum der mannigfal- tigsten Naturgaben, die aus den climatischen Contrasten der Naturproduk- tionen dieses Erdtheils in grellen Gegensätzen hervorgehen. Denn vom Äquator bis in die hohe Polarzone hin ausgebreitet hat dieser die verschie- denartigsten Pflanzen und Thiere erzeugt, jedoch nicht blos in der Richtung der Breiten-Parallele, sondern auch, wegen seiner mächtigen Ausdehnung von Westen nach Osten, in den Abständen der Meridiane, die in eine nicht weniger grell contrastirende Ost- und Westwelt zerfallen, in der wir nur als Repräsentanten characteristischen Gegensatzes die Chinesische gegen die Vorderasiatische QCulturwelt hervorzuheben brauchen. Als deren Repräsen- tanten in den Naturproductionen haben wir nur die Kokos- oder Sago-Palme und den Tiger für den Osten, wie die Dattelpalme und den Löwen für den

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 25

Westen anzuführen, für die Nord- und die Südwelt Asiens aber die Con- traste der Moosvegetation mit den Nadelholzwäldern und dem Rennthier, gegen den Brotfruchtbaum, das Zuckerrohr, den breitblättrigen Pisang mit den Elephanten, Rhinoceroten, Tapirgestalten und Affenschaaren im Süden des Erdtheils.

Solchem unerschöpflichen Reichthum der Naturverhältnisse dieser Seite des Planeten ist auch die Mannigfaltigkeit der Völkerverhältnisse dieses Erdtheils in gleicher Art gefolgt, der trotz seiner Aussendung von Völker- schaaren, vom Anfang der Völkerzüge an und in verschiedenen Weltperio- den, zu seinen verschiedenen Nachbarerdtheilen hin, sich doch keineswegs erschöpfen konnte, ja immer noch unendlich reich an einheimischen Völ- kerindividualitäten geblieben ist, sei es in Racen, Gestalten, Farbe, Le- bensweise, Nationalitäten, religiösen, politischen, geselligen Corporationen, Staatensystemen, Culturen, Sprachstämmen, Völkerstämmen u.a.m. Woge- gen kein anderer Erdtheil, rückwärts bis zu den Uranfängen der Menschenge- schichte, auch nur Analogien aufzuweisen im Stande wäre, weshalb er auch zum Vorgang und Ausgang für alle andern vom Anfange an ausgerüstet und organisirt sein mufste.

Europa ist die breite Fortsetzung von Mittelasien, die aber in west- lich fortschreitender Progression zu immer selbstständigerer, räumlicher Entwicklung, und durch den relativ überwiegendsten Reichthum seiner Glie- der selbst darin seinen orientalen Nachbarerdtheil überbietet, dafs keine hemmende, centrale Form weder an Breite noch Höhe diese, absolut, gegen- seitig von einander scheidet. Hierdurch ist eine alles ausgleichende, har- monische Entwicklung des vielgespaltenen Erdindividuums möglich gewor- den, die dessen Culturcharacter schon von der ersten Schöpfungsanlage an bedingte, und der Harmonie der Form das Übergewicht über die Macht der Materie verlieh, wodurch Europa, der kleinste der Erdtheile, doch die Herrschaft über das Gröfste davon zu tragen bestimmt war. Wie Asien, durch alle drei Zonen gelagert, an Massen und Naturgaben überwiegend, durch seine plastischen Gestaltungen so ausgestattet war, dafs es mit seiner Naturfülle und mit allen Schätzen die Nachbarerdtheile überschütten konnte vom Anfang des Werdens an, ohne selbst zu verarmen; so war Europa in den für seine Bevölkerung überschaulichern, auf die temperirte Zone be- schränkten, reich gegliederteu, in allen maritimen und plastischen Formen

Philos.- histor. Kl. 1849. D

26 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. dufsenseite d. Erdballs

in einander wirkenden Gestaltungen, ohne die Extreme und jene Überfül-

lung, doch eben dadurch mit gröfster Empfänglichkeit für die Aufnahme

o? des Fremden ausgestattet, und durch die Natur seiner Werkstätten, wie die Energie seiner Völkergeschlechter, zur Verarbeitung des Einheimischen dazu begabt, die planetarische Mitgift in dem Culturcharacter seiner Heimat zu einer humanen Civilisation zu steigern, die durch ihre innerlich gewonnene Harmonie, als Durchgangspunkt, eben die Gewähr trüge der möglichsten Empfänglichkeit und Aufnahme auch für alle andern Völkergeschlechter der weiten Erde. Dafs diese Bestimmung des unendlichen Reichthums der For- men in den individuellen Entwickelungen und ihren harmonischen Ausglei- chungen dieser Gesichtsseite, der europäischen, des Planeten, sich in dem Fortgange der Weltgeschichte auch bewährte, ist bekannt; dafs sie aber schon aus der ganzen planetarischen Anordnung seit der ersten Schöpfungs- anlage auf allen Puncten hervorleuchtet, ist, da man in der Historie gewöhn- lich dem Menschen, und bei dieser Erscheinung dem Europäer die Ehre allein giebt, die ihm jedoch nur zum Theil gebührt, weniger beachtet. Wir heben aus der grofsen Summe solcher leuchtenden Puncte hier, um der Kürze willen, nur drei characteristische Verhältnisse in der Anordnung der Grundgestaltung Europa’s hervor, nämlich dessen Küstenentwicklung, seine

nördliche Gliederung, seine Inselbildung.

I)

Die Küstenentwicklung Europa’s ist verhältnifsmäfsig zum Areal die absolut gröfste aller Erdtheile; während Asien zwar 7000, da es fünfmal gröfser als Europa, Afrika, obschon 3mal gröfser, doch nur 3800 Längen- meilen erhalten hat, so würde dagegen Europa’s Gestade von 5400 Längen- meilen, um den ganzen gröfsten Äquatorialkreis der Erde reichen, woraus hervorgeht, dafs es, obwohl in der Mitte der grolsen Landwelt gelegen, doch wegen seiner allseitigen Gliederung gegen die Seiten der durchbrechenden Meeresgassen hin unter allen Erdtheilen der alten Welt dennoch in den re- lativ reichsten Contact mit der Wasserwelt überhaupt getreten ist. Zu die- sem Verhältnifs tritt seine begünstigte, maritime Stellung zu den Bewegungs- verhältnissen der Meere und der Windsysteme, wie der vorwaltende Reich- thum seiner Buchten- und Hafenbildungen, deren Aufgeschlossenheiten, eine natürliche Folge seiner Gliederungen, ihm zu der Alles überflügelnden Kunst der Nautik und der allgemeinen Beherrschung der Oceane verhalf;

in der, für die neue Zeit, die hafenreichste und gegliedertste Inselgruppe,

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 27

Grofsbritanien und Irland, voransteht, wie für die alte Zeit dem in sich reichgegliedertsten Peninsularsysteme der alten Welt, Griechenland, in der Blüthezeit, die Seeherrschaft des beschlossenen Mittelmeers zu Theil wer- den konnte. Die subpolare Gliederung Nord-Europa’s durch die Binnen- meere der Ostsee und Nordsee, wie des tiefeinschneidenden Weifsen Meeres, zu den verschiedenen scandinavischen Vorländern, Halbinseln und Inseln, hat dieser Nordseite des Erdtheils eine ebenso reiche Entwicklung gesichert, wie seiner Südseite in den drei schön gestalteten und begabten Halbinseln Griechenland, Ttalien, Spanien. Dem Norden Europa’s ist durch jene Scan- dinavische Welt ein grofses Übergewicht über seinen asiatischen Nachbar zu Theil geworden, dessen flache, sibirische Nordwelt durch die völlige Ver- sagung einer analogen Gliederung, mit ihrer hemmenden Abscheidung von der höher entwickelten asiatischen Südwelt, und der doppelt ungünstigen polaren Unterstellung unter das hohe, nomadisch gebliebene Centralasien, bei den unzureichenden Mitteln und Naturimpulsen einheimischer Begabung, in seinem Fortschritt der Entwicklung und Civilisation auf den Nord-Osten Europa’s angewiesen war.

Endlich so ist die Inselbildung Europa’s vor allen andern Erdtheilen sehr ausgezeichnet zu nennen, insofern sie, als Gestadeinseln im Bereiche des Gontinents, die trabantenartig umgebenden, oceanischen Erweiterungen (als seine Seestationen), das Ganze auf gesteigerte Weise bereichern, da sie in relativ bedeutendem Gröfsenverhältnifs zum Stamm und den Gliedern, ein weites Areal mit sehr günstiger Oberflächenbildung für zahlreiche Bevöl- kerungen und Culturverhältnisse darboten, die denen ihrer Gegengestade analog, nicht blos zu räumlicher Verdoppelung, sondern noch weit mehr, zu intensiv unendlich gesteigerter Entwicklung ein Vielfaches beitragen mufs- ten. Denn nicht einzelne Inselfragmente oder langgereihete, oceanische Felsenketten, oder schwerzugängliche, öde Pikgestaltungen sind es; denn Südengland ist eine natürliche, analog gebildete Fortsetzung Nordfrankreichs, ebenso Sicilien von Calabrien, Candia von Morea u.a.m. Um uns kurz zu fassen sagen wir nur, man denke sich die Grofsbritannische Inselgruppe von der Karte Nordwest-Europa’s weggelöscht, welche Verarmung in dessen einheimischen wie transmarinen Entwicklungsgeschichten; ohne Seeland und Fünen würde die Halbinsel Jütland’s zu einer blofsen Sandzunge; in der

alten Zeit wäre Roms und Italiens Geschichte ohne Siciliens Kornkammer D2

38 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

eine ganz andere geworden, und mit Creta schlugen die Ägäischen wie die Jonischen Inselgruppen die Brücken der Civilisation von Jonien und Vor- der-Asien nach Griechenland und Hesperien.

Es würde uns hier zu weit führen, in die Folgen des völligen Insel- mangels der Afrikanischen Gestade, denen selbst die grofse Madagascar, als eine durch Meeresströmungen zu weit abgerückte, schon oceanische Insel, nicht einmal angehört, sowie in die Specialitäten der übergrofsen Inselfülle der südöstlichen malayischen, maritimen Erweiterungen Asiens, nämlich der hinterindischen Sundisch- australischen Gruppe einzugehen, welche die reichbegabteste an Individualitäten und die absolut gröfste des Planeten ist, die in ihrer triangulären Ausbreitung an Umfang das Areal von Europa ein- nimmt, und in ihrer langen Inselreihe der kleinen Sundakette jenen unter- brochenen Isthmus nach Nord-Neuholland und Neu-Guinea hinüberschlägt, der in seiner Stellung, zwischen 2 Continenten im Norden und Süden, eine gewisse Analogie mit dem noch zusammenhängenden, dem amerikanischen Isthmus von Panama zeigt. Wir bemerken nur, dafs die zu dicht gedrängte und übergrofse Zahl dieser so reichbegabtesten, colossalen Inselbildungen sie eben deshalb zu einem mehr für sich bestehenden insularischen Welttheil, mit der einheimischen Bevölkerung, nämlich der der Malayen (in dem Sun- dischen Polynesien), ganz selbständig zu sein auch befähigte, als dafs sie nur als abgesprengte, abhängige Glieder des benachbarten Continents und seiner Gestadewelt betrachtet werden könnte, die dieser Selbständigkeit wegen, ihrer Nachbarschaft ungeachtet, eben darum auch von ihr weniger bereichert ward, als dies bei andern vom Continente abhängigeren Gestadeinseln der Fall sein mufste.

Die Bemerkung, die schon Strabo bei Gelegenheit von Sicilien ge- macht hat, dafs die Gliederungen gegen die Oontinente, insbesondere die Inseln, die am reichsten ausgestatteten Theile der Erde seien, bestätigt sich bei dieser Inselgruppe von Ceylon an bis Neu-Guinea, so vollständig, dafs jeder der einzelnen von diesen gleichsam ein individueller, characteristischer Naturschatz zur Function für den grofsen Entwieklungsgang des planetari- schen Weltverkehrs in der Äquatorialzone mitgegeben erscheint: so die wei- fsen Elephanten, Perlen, Zimmtwälder und Rubine auf Ceylon, die colos- salsten Thierformen der Rhinocerote, Tapire, Orangutangs, und die edel- sten Farbestoffe und Holzarten auf Sumatra, in Banka, das reichste

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 29

Zinnland der Erde; Borneo, das Land des Goldes, der Diamanten und hundert andrer Kostbarkeiten; Java, schon bei Ptolemaeus die Gersteninsel mit den reichsten Nahrungsstoffen in Kornarten, Brotfruchtbaum, Zucker- rohr; die folgenden Inseln, jede mit ihrer eigenthümlichen Gewürzart, bis zu den bekannten Molucken und Neu-Guinea, wo der ächte Kampherbaum, die Sagopalmen, die Kohlpalmen, mit den reichsten Nahrungsstoffen, die Paradiesvögel und so viele andre der edelsten Productionen aller drei Na- turreiche, ihre einheimisch, ursprünglich localbeschränkte, nicht auf das continentale Asien übergehende, ganz individuelle Heimat erhalten haben. Hätte da, wo das physikalische Leben des Erdballs in seiner höchsten Po- tenz erscheint (im innigsten Verein der Wasser-, Land- und Tropenwelt mit den reichsten Productionen aller 3 Naturreiche), auch die höchste Steige- rung einer Culturentwicklung der Völker mit einer Planetenstelle zusammen- fallen sollen, so würde hier das Locale dazu gewesen sein. Das Gesetz, das die Geister lenkt, war aber ein andres als das der Physik der Körperwelt. g, ohne allen continentalen Zusam- menhang, das allgemeine Princip der Erdanordnung geworden, wie wir es

Wäre ähnliche insulare Zerspaltun

hier in der höchsten Steigerung erblicken (wo dann z.B. Europa’s Continent von 150,000 Quadratmeilen etwa in 15 grofse Inseln, wie Borneo, Suma- tra, Celebes, oder wie Anadoli oder Spaniens Areal sich zerspalten haben könnte), so würde allerdings gänzliche Unverbundenheit für die Völker der Erde daraus hervorgegangen sein. In Europa’s Gestaltung finden wir dage- gen die günstigste Berührung und Durchdringung, wie die vollkommenste Ausgleichung der Gegensätze der flüssigen und festen Formen auf dem gan- zen Planetenrund realisirt, ohne die Nachtheile jener zu starken Gliederung oder Zerreilsung der Sundischen Welt, welche den vollkommensten Gegen- satz zu dem Mangel aller Gliederung in der gröfsten Concentration der Mas- sen zeigt. Zwei Extreme von Länderbildungen, in der Zerreifsung der Planetenrinde jenes Polynesiens, wie in der compactesten Massenanhäufung Afrika’s, die beide ungleichartig und entgegengesetzt auf Natur- und Völker- verhältnisse, aber beide hemmende, nachtheilige Einflüsse auf die Entwik- kelung der ursprünglichen Bewohner ihrer Räume ausüben mufsten. Dort, im Maximum der Zerspaltung, die Malayenvölker der Sundagruppe, der am meisten in sich feindlich zerrissene Völkerstamm der Erde; hier, im Maxi- mum der compactesten Massen, auch die dichtgedrängtesten, schwarzen

s

30 Rırren über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

Völkergruppen in den einartigsten Naturumgebungen und am einförmigsten wie am wenigsten entwickelt.

Beides relativ ungünstigere tellurische Formen für primitive Völker- entwicklung aus dem Zustande der Rohheit heraus zwischen beiderlei Extreme, hinsichtlich dieser Formen nicht hemmend, sondern fördernd, wurde Europa gestellt, das auch durch diese Mitgift, wie die seines gerin- gern, überschaulichern und daher historisch frühzeitiger zu beherrschenden Areals, durch Küstenentwicklung, Gliederung, Insulirung, zu jenen oben bezeichneten Stellnngen die Vervollständigung aller räumlichen Naturbedin- gungen erhielt zur frühzeitigsten Realisirung seiner schon in der Uranlage bedingten planetarischen Function. Nämlich als Erdindividuum, wenn schon das scheinbar ärmere an frappanten Naturschätzen, doch eine verarbeitende Werkstätte aller Gaben und Überlieferungen der Alten Welt, aber zugleich auch der geistig gesteigerten, das gesammte Menschengeschlecht umfassen- den und organisirenden Völkerthätigkeit zu werden, in der zweiten Hälfte der Zeiten für das ganze, weite Erziehungshaus der Alten wie der Neuen Welt, weil sie, da die Werkstätte für Alles am empfänglichsten war, auch am freiesten von den Naturgewalten und Naturfesseln der besondern Loca- litäten des Erdballs sich bewegen lehrte, und ihre Bevölkerungen am hu- mansten sich entfalten konnten.

In dem Causalzusammenhange der Erscheinungen, welche uns Natur und Geschichte zeigen, wird bei einer höhern Bestimmung des Planeten, die sich eben in jenem historischen Zusammenhange offenbart, auch eine höhere planetarische, nicht blos physicalische Organisation desselben vor- auszusetzen sein; eine specifisch andere, als die bei den von ihm getragenen und auf ihm sich bewegenden Organismen, die nur für eine kurze Dauer ihr Dasein auf ihm erhielten, welche die seinige für alles irdische Dasein, für alle Zeiten überbietet. Wenn daher die in den übrigen Anschauungen gewonnene Begriffswelt des Menschen in der Anschauungsweise seiner un- symmetrisch-chaotisch scheinenden Aufsenseite übersichtlich keine Befrie- digung finden kann, sondern nur unmittelbar sinnverwirrend berührt wird, so liegt dies nicht in dem Mangel einer systematischen Anordnung seiner räumlichen Verhältnisse, die nur in einem tieferen Grunde erforscht wer- den kann.

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 31

Eben in der Ungleichheit der Areale wie der Formen, in dem schein- baren Durcheinander und Gewirre für den ungeübten Blick, liegt das Ge- heimnifs der systematischen, innern, höhern, planetarischen Anordnung einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Kräften und ihrer unsichtbaren, in- einandergreifenden Wirkungen, durch welche Natur und Geschichte ihren gestaltenden Einflufs gewinnen, gewissermafsen analog der physiologischen Thätigkeit, an welche das Leben der Organismen bei Pflanzen und Thieren gebunden erscheint.

Eben in der ungleichartigen Vertheilung und ungleichen Verbreitung der Länder- und Wasserflächen liegt, wie in den wechselnden, nothwendig sie begleitenden Temperaturen und scheinbar regellosen Windbewegungen, so auch in jenen ein systematischer Grund ihres allseitigen, Alles durchdrin- genden, gegenseitigen Einflusses; in den abweichenden Arealgröfsen der Erdtheile liegt ein Hauptgrund zu der Macht der Bevölkerungen und der Beherrschbarkeit ihrer Einflüsse; in dem scheinbar zufälligen Nebeneinan- derliegen der Massen ein höheres cosmisches Gesetz der Weltstellung, das den ganzen Entwicklungsgang des Menschengeschlechts bedingen sollte; in der scheinbar blos physischen Abtrennung der Alten von der Neuen Welt und der Continente von den Inseln, eben das Motiv einer allseitigen Ver- bindung; in der ungleichen Begabung der Localitäten der mannigfaltigste Impuls zur Entwicklung und des Weltverkehrs; in der Beschränktheit des europäischen Areals und der Harmonie seiner unscheinbaren Formen die Bedingung seiner Herrschergröfse wie seiner Freiheit.

In Zahlen ausgedrückt können nur direct materielle Verhältnisse be- zeichnet werden, wenn wir sagen: Europa mache von Asien nur £, von Afrika etwas über !;, aus; Amerika stehe an Gröfse zwischen beiden, Austra- lien unter Europa, das von den grofsen Continenten etwa ‚}; von allen Län- derflächen, mit den Inselräumen nur etwa }; ausmacht. Aber diese abso- luten Raumverhältnisse sind es nicht, die in der Geschichte der Erdtheile den Ausschlag gaben; hiezu gehören auch die relativen und ihre Anordnun- gen, denn das eine ;{, Theil wurde zur vorherrschenden Gröfse der übrigen 2% Theile in der zweiten Hälfte der Zeiten.

Zu den verschiedenen Bedingungen dieser Erscheinung kam, als eine der wichtigsten in Beziehung auf räumliche Gestaltung, auch die Form, und

zumal der verschieden überwiegende Werth der Erdtheile nach ihren rela-

32 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite d. Erdballs

tiven Verhältnissen von Stamm, Gliederung, Insulirung, welche etwa fol- genden Zahlenverhältnissen entsprechen:

Stamm Gliederung Insulirung

bei Afrika wie 1 0) En bei Asien 4 1 L bei Europa 2 1 en

Doch dies sind nur Formeln, kürzeste Ausdrücke, welche die physischen Functionen der verschiedenen Räume unsers Planeten nach der horizontalen Gestaltung seiner Oberfläche bezeichnen können, für deren Verhältnisse wir leider noch keinen bestimmten Kanon besitzen.

Ganz andere Verhältnisse in den räumlichen Entfaltungen bietet Ame- rika, die Neue Welt, als Erdindividuum, indem es die Gegensätze und die Verdoppelungen der Formen der Alten Welt wiederholend, doch in andern Normalrichtungen, nicht von O. nach W., sondern von Nord nach Süd, in sich vereinigte. Da wir dies schon anderwärts in der Characteristik des Ganzen nachgewiesen und gezeigt haben, wie der Norden Amerika’s durch seine reichste polare und nordöstliche Gliederung ein grofses Übergewicht über das Sibirische Nordasien davon trug; durch seine innere orographische und hydrographische Entwicklung und allseitige Radiation seiner Stromsy- steme aus gemeinsamen (uellgebieten ohne hemmende Plateauformen, durch seine doppelten Binnenmeere im Süden und Norden, na Analogie mit Europa’s Gestaltung als Mitgift erhalten, dessen reichste Gestadewelt mit Hafen und insularer Fülle gegen die atlantische, also europäische Oul- turseite der Alten Welt gerichiet ist, mit der auch das maritime Gängelband der Völker, die Meeresströmung, in doppelten Hin- und Herwegen beide Nord - Atlantische Gestadeseiten in natürliche gegenseitige Verbindung setzte; so können wir, für diesmal, hier durch einige allgemeine Resultate schon zum Schlufs unsrer jetzigen Betrachtung gelangen.

Nord-Amerika war durch seine maritime Lage zur nothwendigen, wiederholten Schiffer-Entdeckung von Europa (nicht von Asien) aus, be- stimmt, von wo aber, durch Handreichung polarer Vorländer, wohl eine Bevölkerung kommen konnte. Durch die günstigste Hafenbildung, Insuli- rung und Küstenstellung gegen die nordostatlantische Westseite Europa’s mit analogen Temperaturverhältnissen, wurde das so hafenreiche Ostgestade Nordamerika’s, von Anfang an, ganz vorzüglich am empfänglichsten ausge-

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 33

rüstet für die Aufnahme einer europäischen Civilisation. Die flache, im verjüngteren Maafsstabe realisirte, plastische Modellirung des Nordameri- kanischen Stammes, seines Binnenlandes, analog dem europäischen, mit nach allen Seiten aus der gemeinsamen Mitte sich sanft senkenden Stufenländern, konnte diese Civilisation auch allseitig, ohne Hemmungen, ihren Fortschritt von Ost gegen West sichern.

Mit den nordwärts sanft sich senkenden Stufenländern schiffbarer Stromsysteme nach der polaren Seite, zu der reichsten Inselgruppirung und Gliederung im Polar-Meere, ist zugleich die Hinweisung gegeben, dafs diese Planetenseite noch mehr als Europa, dazu berufen ward die Cultur des Men- schengeschlechts am frühzeitigsten und meisten gegen den Norden der Erde zu verbreiten. Schon heute, nach so kurzem Verlauf der Zeiten, ist die Civilisation der Westküste der Grönlandsgruppe bis zu 70°NBr. vorgedrun- gen; die dortigen Eismeere durchschwärmen schon alljährlich Fischer und Schifferflotten, die noch vorhandenen Hemmungen der Natur werden nach Jahrhunderten der hinzugetretenen Kunst der Civilisation nicht unüberwind- bar bleiben.

So war das früherhin Terra incognita gebliebene Südende Australiens der Centralverein des gröfsten Hafenreichthums im kleinsten Umkreis der ganzen Erde, die Tasmania-Gruppe, als Mittelpunkt, mit ihrer nächsten Hafen- und Buchtenumgebung, dazu längst vorbereitet und organisirt, im kürzesten Verlauf weniger Jahrzehende, die Südhemisphäre in ihren weitesten Umkreisen neu zu beleben. Beides jedoch nur in Folge der Rückwirkungen von Europa.

Der Norden Asiens war durch die Natur ursprünglich auf das Quell- land seiner Stromsysteme, auf Centralasien in seinen Civilisationsanfängen angewiesen, von woher er auch seine Bevölkerungen erhielt, bis ihn der Fortschritt der Culturverhältnisse seines Nachbarerdtheils von Osteuropa her zu Theil werden mufste, da das Meridiangebirge des Uralsystems hier keine Hemmung, sondern, durch Metallschätze, eine Vermittlung ward. Raum- verhältnisse und Weltstellung waren die Grundlage, die einst, vom Westen Asiens, durch ein gleichartig das Innere der 3 Erdtheile bespülende Mittel- ländische Meer auch der Entwicklung Süd-Europa’s zu Gute kamen; doch nur ein temporäres Verhältnifs, das in neueren Zeiten zu einem rückwirken- den werden mufste.

Philos.-hist. Kl. 1849. E

34 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Au/senseite d. Erdballs

Jedem der Erdtheile war schon durch seine Gestaltung und Stellung vom Anfang des Werdens an, als Organ des planetarischen Organismus, eine eigenthümliche Function in dem Gange der Weltentwicklung zugetheilt.

Asien wurde in seinem Süden und Osten auf seine eigenen Gestade angewiesen zur höhern Entwicklung, wo seine reichsten Gliederungen, wo demnach Jahrtausende hindurch die Indische Welt den belebendsten An- ziehungspunkt darbot.

Die Form der begabtesten Gliederung der 3 Culturhalbinseln Süd- Asiens, die beiden Indischen und die Arabische, wiederholt sich, wenn schon in kleinerem Maafsstabe, an der Südseite Europa’s, an dessen 3 an- ders gestalteten, aber doch auch peninsularen Bildungen: Italien in der Mitte, Griechenland und Spanien zu beiden Seiten. Nur sind diese nicht mehr in der tropischen Nähe des Äquators, sondern um 20 Breitengrade weiter in die gemäfsigte Zone hinaufgerückt, wodurch ihre Functionen für einen andern Länder-, Völker- und Ideenkreis schon ganz andere werden mufsten.

Beide Gruppen, die in SO. Asien und die westlichere in Süd-Europa, jede von 3 Culturhalbinseln mit individueller und doch gemeinsamer ana- loger Ausstattung physischer und geistiger Kräfte, gehören zu den gröfsten Bereicherungen der Südenden der Erde. Durch sie hatten Asien in der heifsen Zone, Europa in der gemäfsigten, für die Culturanfänge der Men- schengeschichte die reichste planetarische Mitgift in der Gliederung und Ent- wicklung erhalten, wie sie in dem Norden Amerika’s und dem Süden Van- diemensland’s oder Tasmaniens gegen die polare, arctische wie antaretische Zone hin, für die Forisetzung der Zeiten im Schoofse des Planeten noch verschleiert, doch nicht mehr verborgen liegt und schon ihre Keime treibt.

So läfst sich schon gegenwärtig das dereinstige Übergewicht des noch jugendlichen Amerikanischen Doppelcontinents in seiner wahrhaft colossalen meridianen Entfaliung zumal Nord-Amerika’s, zunächst in der Weltstellung seiner südlichen Gliederungen, über die Halbinselbildungen Südasiens und Südeuropas leicht voraussehen, da sich dies schon gegenwärtig in elemen- taren Zügen bemerklich macht, wie es aber dereinst noch weit glänzender hervortreten mufs, wenn sein südlicher Nachbar, gleich dem nördlichen, in dem Fortschritt der Civilisation und der Cultur das Gleichgewicht errin- gen lernt. Denn wenn die südlichen Halbinseln Asiens sich, zum Theil we-

und ihre Functionen im Entwickelungsgange der Geschichten. 35

nigstens, nur in einen insel- und menschen-leeren Indischen Ocean aus- dehnen, die südlichen Halbinseln Europa’s aber nur meist einem unwirth- baren und schwer besiegbaren Libyen, Algerien, Mauritanien sich entgegen- strecken; so breitet sich dagegen vor den südlichen Gliederungen Nordame- rika’s (Carolina, Georgia, Florida, Louisiana, Texas, Mexico, Californien) ein von der Natur ebenso reichlich ausgestattetes benachbartes Gegengestade, ja das ganze dahinterliegende tropische und subtropische Süd-Amerika aus, das, wie in der Vorzeit Europa für das früher herangereifte Asien als des- sen aufsteigender Occident im Westen vorlag, so, dort dem vorangeschritte- nen Norden Amerika’s die Aussicht auf eine neue, strahlende Welt der Zu- kunft im Süden gestellt ist. Für beide wird die vermittelnde Gruppe der Antillen mit dem Fortschritt der Zeiten gegenseitig noch mehr die Hände reichen, als dies heute der Fall ist.

Wenn die Bevorzugung der Alten Welt vergangener Jahrtausende in ihrem immer neu sich gestaltenden, historischen Fortschritt von OÖ. nach W. durch analoge Länderräume und Temperaturen hindurch, aus einem Orient zum Occident, wie in Bevölkerungen, Verhältnissen und Culturen aller Art, dem Amerikanischen Erdtheile versagt war durch die äufsere Anordnung des Planeten: so wurde dieser dagegen entschädigt durch die in der Grund- anlage bedingte Möglichkeit eines frischern Entwicklungsprocesses in der entgegengesetzten Hauptrichtung des Planeten, nämlich gegen einen Norden und Süden.

Die historische Ausgleichung dieser Gegensätze durch den ganzen gro- fsen Wechsel der Climatik von Pol zu Pol, durch alle temperirte und tro- pische Länderräume hindurch, wurde ihm, für die Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts, zur völligen Bemeisterung seiner irdischen Heimat, als eine neu zu lösende, allerdings schwierigere Aufgabe für künftige Jahr- tausende gestellt, wozu ihm aber die durch vorangegangene Jahrtausende geschaffenen Kunstmittel zum Siege über die Natur aus der Alten Welt, als Mitgift für die Neue Welt, bei ihrem Werden, schon in der Wiege ihrer Geschichte mit überliefert wurden.

Die reichere Ausstattung so mancher Stellen des Planeten durch die formalen Verhältnisse, kann erst mit dem Verlauf der Zeiten auch auf die minderbegabten oder auf die historisch noch brach liegenden übertragen werden.

E2

36 Rırrer über räumliche Anordnungen auf d. Aufsenseite u. s. w.

In welchem Maafse dies durch den Fortschritt planetarischer Entwick- lung geschehen kann, ist uns einerseits schon durch den Gegensatz der Alten und Neuen Geschichte offenbart: auf die schlagendste und grandioseste Weise in der Belebung und Befruchtung, welche wir durch die Kunst der Weltschiffahrt auf die ganze Gestadeseite der Continente und auf alle ocea- nische Inselgruppen der Wasserwelt übertragen sehen, erzeugt durch ein Element der europäischen Culturwelt.

Andrerseits läfst die gröfsere Empfänglichkeit und mit jener wettei- fernde Perfectibilität der Landwelt,. nämlich der trocknen Seite der Pla- netenrinde, der continentalen im engern Sinne, kaum einen Zweifel mehr übrig, dafs auch auf ihr die Möglichkeit gleichgrofsartiger Umwandlungen durch Kunstmittel gegeben ist für neue Functionen derselben in dem Ent- wicklungsgange der Menschengeschichten.

>

Die griechischen Eigennamen mit KALOz im Zusammen- hang mit dem Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen.

“Von

H" PANOFKA.

[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 20. December 1849.]

\ , J \ \ FE, 2) 7 Qr IaAaıa magole, OrL AaAETE TE ARE EITiV omn Eye Mae * \ on 4 \ " N Er E U > e q A, A Ey .S za On AR megL FUv Ovomaruv OU olımgov TUYYaVvEr oV [Anja

Plat. Cratyl. 2. p. 384b.

As in der ersten Periode der Ausgrabungen bemalter Thongefäfse hie und da über oder neben den Malereien derselben die Inschriften KALOZ und KANE, so wie die vollständigeren KALOZ HO MIAIZ und KALE HE MAIZ, oder dasselbe KALOZ und KALE mit vor- oder nachgesetztem männ- lichen oder weiblichen Eigennamen zum Vorschein kamen: machte sich unter den Archäologen (!) die Ansicht geltend, dafs die Beiwörter z«Aos und »aAe wörtlich als schön mit Bezug auf vollendete Körperbildung(?) aufzu- fassen seien, und auf Empfänger oder Empfängerin des Gefäfses sich bezie- hen. Eingedenk der unzweideutigen literarischen Zeugnisse (?) zu Gunsten

(') Keine Beachtung verdient des Hrn. Vivenzio (Lett. all’ abb. Guattani Memor. Enciclop. 1805, 13) von Hrn. v. Italinsky getheilte Meinung, der Töpfer habe z«Aos über die Figur gemalt, welche während der Ausstellung seines Werkes den öffentlichen Beifall fand. Denn dieser Ansicht widersprechen sowohl die Vasen mit z«Ae neben ge- malter männlicher Figur, als die Trinkschalen mit weiblichem Bildnifs und drunter stehen- dem männlichen Eigennamen mit z«ros (siehe unsere Taf. IV, 13).

(?) Mazocchi Tab. Heracl. 138: vom Künstler oder Vasenbesitzer ist dieser galante Zuruf auf den Gegenstand seiner Liebe aufzufassen. Böttiger Vasengemälde III, 20 pflichtet dieser Ansicht bei. Millingen Peint d. Vas. Grecs (Rome 1813) Introd. p. II. und p. XI. bezieht den Eigennamen auf den, welcher die Vase geschenkt erhielt, und das z«Aos auf Körperschönheit.

(°) Schol. zu Aristoph. Vesp. 97. Xanthias:

\ \ nn x El y za vn Ar vv on YE moU YErygaljaevov

38 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

hellenischer Sitte den Namen der Geliebten mit beigefügtem »aAes in die Rinden der Bäume, Mauern und Thüren der Häuser, und wo es sonst an- ging, einzukratzen, trugen diese Alterthumsforscher um so weniger Bedenken die genannte Gattung epigraphischer Vasen als Pfänder der Liebe zu betrachten, je unleugbarer die Ausbreitung der Männerfreundschaft in Hellas neben den Liebesverhältnissen zum schönen Geschlecht, sie mochten dem ehelichen, oder freieren Bunde vorangehn, oder zur Seite stehen, Anlafs zu dergleichen Geschenken darbot.

So oft die Bilder der Vasen mit diesen paederotischen, hetärischen oder gamelischen Beziehungen, welche die Anwesenheit eines z«Aos oder »aAe vorauszusetzen geneigt machte, in Einklang stehen: dürfte diese An- sicht von der Bestimmung solcher Gefäfse keinem erheblichen Widerspruch ausgesetzt sein. Allein es bleibt eine viel gröfsere Zahl anderer mit gleichen Inschriften versehener Vasenbilder übrig, welche den Gedanken ähnlicher Liebesverhältnisse kaum zulassen. Dieser lezteren kömmt die früher un- beachtete Erwägung zu statten, dafs die Hellenen, so hoch sie auch die Aus- bildung des Körpers anschlugen, dennoch gleichzeitig der harmonischen Entwicklung des Geistes die gröfste Sorgfalt schenkten: weshalb das Bei- wort zaros schön, bei den Griechen gleichbedeutend mit ausgezeichnet und vollendet, wie das italienische bravo, zugleich einen Lobesruf für geistige Virtuosität der verschiedensten Art Kerucken vermag, und dem Sieger in musischen, wie in gymnischen Wettkämpfen, dem Redner wie dem Philosophen mit gleichem Rechte zukam, wie dem Eromenos es sein Erast entgegenrief. Solche Auffassung des zaAdos als anerkennender Ruf der Aus- zeichnung gewährt den sralken Vortheil, dafs sie die Anspielung auf die

viov Ivoırdurovus ev Suoe Afhov zarov, iov a ale wiuFIoV" 2YMOS zaR0s. Emeygaadpov d2 0 "Adyvaloı vd rov zardv Övonarae oyrws“ 6 dev zeAdc. Eygeecbov de zur Ev rol-

yaıs zur Ev Sügems zei &mov rüyn. Cf. Schol. ad Aristoph. Acharn. v. 142. Theoros:

za Öyre PıraSyvaos yv Umsopvns

Unav Zauoris Yv AySus, were za:

Ev Tosı Tayoıs Erygecch” ’ASyvaloı zaroı. Suid. ö deiv@ zurds. ed. Küster. Eustath. ad Il. B, p. 633. Plutarch Gryll. 7. T. V. p. 2310. Lucian Diat. Meretric. IV, p. 287 und Lucian. Amor. 16. T. II. p. 416 R. z&s narazoo dzvögov dAoos "Abgodiryv zaAnv Ernguss ev. Böttiger Vasengem. III, S. 64-74. Bekker Charikles. II, S. 405-7.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 39

verschiedensten Lebensbeziehungen und Beschäftigungen, immer freilich unter der Voraussetzung wirklicher Virtuosität in sich aufnimmt und bei der grofsen Mannigfaltigkeit griechischer Vasenmalereien einen Z usammenhang zwischen Inschrift und Bild nicht ausschliefst.

Demnach irren wir wohl nicht, wenn wir die Vasen mit zaAos und zare sämmtlich als Geschenke betrachten, so dafs dies Beiwort in den meisten Fällen aus dem Munde des Gebers zu Ehren des Empfängers fliefst (*). Den Anlafs zu solchen Geschenken bietet aber das Leben in seinen buntesten Äufserungen von der Wiege bis ans Grab, wofür ein zaAos 5 raıs beim klei- nen Herakles (°) im Arm des Kinderwärter Hermes (Taf. IV, 11), ein HO- nOz MIEZ ZOE(vw) KALE über einem laufenden bekränzten Epheben mit Weinamphora(°), und ein FAYKQ KALA auf dem Grabsteine der seeligen Glyko der eine Verwandte Todtenopfer darbringt(?), hinlängliche Bürg- schaft leisten. Zwischen diese äufsersten Grenzen menschlichen Lebens fällt die mannigfaltige Entwicklung und Ausbildung beider Geschlechter und die Verschiedenheit der Lebensverhältnisse in denen sie sich bewegen, welche die Vasenbilder genügender als andre Denkmälergattungen antiker Kunst uns veranschaulichen.

Eine bedeutende Stelle nehmen die Preisgefäfse(®) ein, an die Siege in Gymnastik und Musik sich anschliefsend, sie mochten im Gymna-

(*) Lanzi Sopra i Vasi dipinti 1806 p. 199 modifizirt die Mazocchische Ansicht, indem z@%os nicht blos auf Liebe, sondern auch auf Freundschaft, Achtung und Dankbar- keit sich bezieht.

(°) Micali Monum. LXXI, 2. Das XAIPE ZY aufser dem zar0s 6 reıs zeugt als Glück- wunsch noch entschiedner für die Bestimmung dieses Gefälses.

(°) Catal. di scelte antichitä del pr. di Canino No. 575. p. 85.

(”) Im Musee Blacas No. 204. Panofka Griechinnen No. 18. Ch. Newton Manners and ceustoms of the Greks p. 18. not. 4. widerspricht meiner sepulkralen Deutung und meint der Name mit z«Aos stehe wie gewöhnlich nicht in Beziehung mit dem Gegenstand der Vase, sich berufend auf Thiersch über die hellen. bemalt. Vas. Abh. d. Bayer. Akad. d. Wiss. 1844. IV, ı, S. 68.

(°) Eine Zusammenstellung dieser Gattung Gefäfse beabsichtigte ich vor 24 Jahren her- auszugeben, nachweisend, dafs die den panathenäischen Preisgefälsen zum Grunde liegende Theorie der Bemalung auch bei den cerealischen, dionysischen und apollinischen sich wahr- nehmen lasse, indem die Vorderseite gewöhnlich das Bild der Gottheit kennen lehrt, deren Fest gefeiert ward, und die Rückseite die Gattung der Spiele verräth in denen die Sterb- lichen den Siegerpreis davontrugen. Der erste fascicolo dieser meiner Vasi di Premio erschien Firenze 1826.

40 Panworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

sium oder in den berühmten heiligen Spielen errungen, von Verwandten und Freunden als Privatgeschenke, oder als öffentlich zuerkannte Auszeich- nung nur um so werth- und ehrenvoller, ihnen zu Theil geworden sein. Dieser Abtheilung steht eine andre auf Liebesverhältnisse und Hoch- zeit bezügliche, an Zahl und Bedeutung nur wenignach, und verdiente schon längst um so mehr eine selbständige Prüfung und Behandlung, je deutlicher Sinn und Bestimmung dieser Vasen inBild und Form derselben hervortritt(?), und je belehrender die Wahl bestimmter Mythen für diese Anlässe (!°) ver- möge der Analogie auch auf das richtigere Verständnifs andrer Abtheilungen von Vasen einzuwirken vermöchte. Nachdem wir somit für die Vasen mit zarcos und zars, insofern dieser Ausruf zu Ehren des Vasenempfängers aus dem Munde eines Freundes fliefst, der meistens unter dem Bilde einer der mythischen Figuren des Vasengemäldes sich verbirgt, ein Verhältnifs der Innigkeit, Schenkung und Belobung festgestellt: gehen wir nun zu der wichtigeren Untersuchung über, welche die mit z«Acs verbundnen Eigennamen auf Vasen betrifft.

Eine genauere Prüfung des gröfsten Theils der bisher ausgegrabnen Vasen mit Eigennamen und zaAos nicht blos der in umfassenderen Wer- ken und Abhandlungen durch Stich, oder in Zeitschriften und Verzeichnissen durch Beschreibung veröffentlichten, sondern auch der meisten in den öf- fentlichen und Privatsammlungen Europa’s zerstreut aufgestellten und unbe- kannten hat uns zu der wichtigen Entdeckung geführt

a) dafs zwischen Bild und Eigennamen derselben Vase eine

Wahlverwandtschaft Statt zu finden pflegt (!!), in gleicher

Weise wie wir dieselbe in Betreff der Vasenbilder und Vasenbildner-

(°) Panofka Recherches sur les noms des vas. p. 39. (%) Panofka Mus. Blacas pag. 5.

(') Wie wir es schon vor 25 Jahren ahndeten und in Neapels Antiken S. 385 aus- sprachen (siehe die Beilage zur gegenwärtigen Abhandlung). Ein schlagendes Beispiel für diese Ansicht liefert eine panathenäische Hydria aus Bomarzo, worauf Peleus gemalt ist Thetis raubend, zu deren Fülsen eine Schlange; Chiron ist zugegen. Die Rückseite zeigt Thetis spendend. Laut Hrn. Fossati (Bull. d. Instit. arch. 1831. p. 6. 90. Gerhard Rapp. Volc. p- 189, not. 795) trug die Grotte, in der diese Vase sich befand, auf dem Architray die Inschrift 3N3”7] Pele, wodurch der Name des Todten mit dem des Gatten der Thetis sich identificirt.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 41

namen in unsrer vorjährigen akademischen Abhandlung (!?) nachzu- weisen Gelegenheit fanden;

b) dafs aber diese Sitte hellenischer Vasenmalerei für be- stimmte Zwecke, zugleich einen unerwarteten und über- aus folgenreichen Vortheil für die gesammte Vasenerklä- rung gewährt, insofern nicht selten bei dunklem, schwer zu enträthselnden Vasenbild das Licht der Erkenntnifs erst von der Bedeutung des Eigennamens entgegenstrahlt.

Die Methode, welche ich dieser Untersuchung zum Grunde legte, besteht darin, dafs eine möglichst vollständige Zahl Vasenbilder mit Eigennamen und xaAcs

4) hinsicht des Sinnes ihrer Vorstellung,

2) hinsicht der Bedeutung des mit zaAos verbundnen ange-

malten Eigennamens scharf ins Auge gefafst ward; woraus

3) die Erkenntnifs des Bündnisses zwischen Bild und Eigen-

namen sich von selbst ergab.

In Betreff der Folge, in welcher diese Vasenbilderprüfung vorzunehmen sei, erschien das Gesetz „vom Bekannten zum Unbekannten vorzuschreiten” als maafsgebend; daher wir in das Vordertreffen eine Abtheilung solcher Vasen stellen, bei denen selbst die geborensten Skeptiker den Zusammen- hang zwischen Bild und Eigennamen zu leugnen nicht vermöchten.

Eine nolanische rothfigurige Diota (Taf. I, 1) ist mit der Morgengöttin geschmückt, die den Jäger des Tagesanbruchs zu erfassen strebt. Während vor Kephalos die Inschrift KEBALOZ KALOZ steht, liest man über ihr nicht HRZ KALE, sondern nur HNZ(!?). So unverkennbar der hier dargestellte Kephalosmythos ist, so sicher die Worte KebaAos zaAos zunächst aus dem Munde der Eos fliefsend, zu Gunsten des verfolgten Geliebten sich sehr wohl eignen: so dürfen wir doch hiebei den Umstand nicht übersehen, dafs die Worte zaros und zare in der Regel sich an Eigennamen lebender Personen anschliefsen, während die zur Charakterisirung der Götter- und Heroenfiguren beigeschriebnen Namen fastimmer

(7) Panofka Von den Namen der Vasenbildner in Beziehung zu ihren bildlichen Dar- stellnngen (Abhandl. der Königl. Akad. d. Wiss. 1848). (”) Tischbein Vas. d’Hamilton IV, 12; Millin Gal. myth. XXIV, 94. Paus. I, u, 1. Philos.-histor. Kl. 1849. F

49 Pınworka: Die griechisch en Eigennamen mit KALOZ

des z«aAos entbehren(!*). Areas folgt, dafs die Inschrift Kesarcs zadcs einen in Nola lebenden Griechen dieses Namens verräth, der von seiner Geliebten diese mit dem beziehungsreichen Mythos des homonymen Heros und Schutzpatrons geschmückte Vase zum Geschenk erhielt.

Fast noch deutlicher tritt dieselbe Erscheinung auf einer nolanischen rothfarbigen Hydriske (Taf. I, 3) des Blacas’schen Museums('?) hervor. Während auf der Hauptseite Perseus, dessen fast knabenhafte Gestalt noth- wendig überrascht, durch Flügelhut, Harpe (1%) und Kibisis, worin das Me- dusenhaupt steckt, unverkennbar, im Laufe begriffen ist, vor sich NEPZEZ KALO=: sinkt hinter ihm (auf der Rückseite) die enthauptete Meduse, der reiche Blutströme aus dem Hals fliefsen, zu Boden, weder durch Namen, noch durch zare ausgezeichnet. Erwägt man, dafs die Inschrift Ifegres, nicht Heorevs lautet, so drängt sich in Verbindung mit der eben erwähnten Bemer- kung hinsicht der Karcslosigkeit der Götter- und Heroennamen unwillkürlich die Vermuthung uns auf, die Vase sei für einen Nolaner mit Namen Perses zum Geschenk bestimmt, höchst sinnig mit der Grofsthat seines Schutzpatron Perseus geschmückt worden.

EMIAPOMAZ KALOZ schön ist Epidromas lautet die Umschrift auf dem Innenbild einer rothfigurigen volcenter Kylix (17), wo eine jugend- liche Mantelfigur einen Hasen bei den Ohren hält, während ein Jagdhund zu dessen Füfsen steht (!°).

Auf dem Innenbild einer andren volcenter Kylix (Taf. I, 7) treffen wir dieselbe Inschrift hinter einer bekränzten bärtigen Mantelfigur, welche Knotenstab, und oberhalb aufgehängter Strigil, Schwamm und Salbfläsch- chen als Paedotriben bezeichnen; ein Jagdhund läuft daneben (!?). Da emı-

() S.den Anhang zu dieser Abhandl.: Ka?os und Kare über den Bildern von Gottheiten.

(”) Panofka Mus. Blacas Pl. XT, 1. pag. 36, not. 13.

('%) Perses Sohn des Titanen Krios und der Eurybia, Gemal der Asteria, Vater der Hekate (Hes. Theog. 577. 409. Apollod. I, 2). Ein anderer ist Sohn des Perseus und der Andromeda, Stammvater der Perser (Herod. VII, 61. Apollod. II, 4.). Vergl. Hesiod. Opp- 299: Eoyagev, Ilzosr, Alov yevos, ocbge TE Ars "EySaien, dıren de eüsrebevog Ar- uneng: Perses, der Bruder des Hesiod, an den das Gedicht gerichtet ist.

('”) Mus. Etr. du Pr. de Canino 1425. Le chasseur.

(%) Vergl. das Gemälde des Branchos und Apoll bei Lucian de Domo (Vol. VII, p. 110 ed. Bip.) 24.

('?) Nach einer durch Gerhard mir gefälligst mitgetheilten Zeichnung. Mus. Etr. du Pr. de Canino 1473.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 43

down der Zulauf, Anlauf, Anfall heifst und Eriögeues anlaufend, so leuchtet ein wie passend der Jagdhund einmal als Begleiter des Epidromas, das anderemal als dessen Sinnbild hier gemalt ist. Allein auch zu Gunsten des erjagten Hasen ist des Hesychius Glosse: dpcuarss- Aaywos 5 &v Öacmors arısaöuevos nicht zu verschmähen. Auf der lezteren Kylix beziehen sich die vom Erasten ausgesprochenen Worte offenbar auf den Eromenos: beide Trinkschalen bekam nämlich Epidromas zugleich geschenkt, die eine mit seinem Bilde geschmückt, die andere mit dem seines Liebhabers; bei lezterer vertritt der Hund symbolisch die Stelle des Epidromas.

Zur Begründung dieser Namensanspielung in den Einzelheiten des Bil- des lege ich eine dritte (?°) Trinkschale (Taf. I, 4) vor mit gleicher Inschrift Eriögonas zaros vor einem bekränzten Epheben mit vorgestreckten Händen wie auf einen Angriff beim Ringekampf gefafst. Die hinter seinem Rücken sichtbare Stele bezeichnet wohl die Palästra. Den Ring am Knöchel des rechten Fulfses reAAyrns habe ich erst neulich (?!) als charakteristisches Attri- but der ögoueis nachgewiesen: ich darf daher ohne Furcht vor Widerspruch dieselbe Deutung auch für Epidromas geltend machen theils wegen seiner Fertigkeit im Lauf, theils als Anspielung auf seinen Eigennamen.

Auf einer nolanischen rothfigurigen Diota (Taf. I, 9) im Cabinet Luynes bringt eine Nike eine Taenia einem Jüngling der das langgelockte Haar mit einer Binde geschmückt, vom Peplos bis auf rechte Brust und Arm bedeckt, mit der erhobenen Rechten einen gesenkten Speer aufstützt. Zwischen beiden Figuren erhebt sich ein Altar mit einem Kranz darauf. VorNike liest man NIKON, unten KALOE. Die Rückseite zeigt einen Epheben miteinerWachtelimVogelbauer(??)

(°) Aus gleicher Quelle wie die vorige Zeichnung mir vergönnt.

() In Gerhards Arch. Anzeiger No. 6. 7. zur Arch. Zeit. Jahrg. VII. Juni. Juli 1849. S. 70.

() Duc de Luynes Choix. d. Vas. Pl. XXXVII. In dem Antikenmagazin der HH. Decrescenzi zu Neapel sah ich im Sommer 1847 eine rothfigurige in Capua ausgegrabene Scaphe: auf der Vorderseite steht eine Mantelfigur mit einem Stab vor gleicher auf einem Cubus sitzender Figur ohne Stab, oberhalb zwischen beiden das kreuzähnliche Symbol mit kleinem Kreis in der Mitte: HAMIO=Z. Die Rückseite zeigt dieselben Figuren, mitten

KALOzZ einen schwarzen Vogel im Käfig. Cf. Cratini @ggrr«ı IV. (Meincke fragm. poet. com. II, 1, pag- 63: "Es rov zarlov Hy ruyn, #«eSeroyvureu. Poll. X, 160. oizirzos ögv>sios maoc “Hgo- dorw zur "ApyıRoy,os. Vergl. Tischbein Vas. d’Hamilton IV, 17. Nike mit Oenocho& und Patera vor einer Mantelfrau; zwischen beiden steht ein Kalathus; hinter Nike liest

F2

44 Pıvworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

herannahend. Der berühmte Besitzer und Herausgeber (??) der Vase be- zeichnet mit Recht den Altar als den der Siegesgöttin und erkennt treffend in der Wachtel ein Geschenk für den Sieger, vermuthlich von Seiten eines Freundes(?*), hebt aber nicht hinlänglich hervor, dafs weil der Sieger und Empfänger der Vase Nikon hiefs, das Bild der Namenverleihenden Göttin Nike in einem Moment wo ihr Schutz ihn beglückt, um so passender gewählt wurde. Hierdurch gewinnt diese Vase an Bedeutung, insofern sie einen werthvollen Eckstein für den Bau der KaAos-theorie liefert. Auf einer pa- nathenäischen Amphora aus Vulei (?°) begegnen wir derselben Inschrift ohne Zweifel mit Bezug auf den Sieger der nach dem Bilde zu urtheilen als Sieger im Wagenwettrennen diesen ölgefüllten Preis an den Panathenäen erwor- ben hatte.

Den Hals einer volcenter Hydria (?°) schmücken zwei Wagenlenker auf Quadrigen im raschen Lauf; unter den Pferden der ersten liest man NIKIAZ KALOZ, unter den Pferden der zweiten Hippion. Es unterliegt wohl keinem Zweifel dafs der vorderste Nikias auch den Sieg im Wagenrennen davon trug, wefshalb der zweite Hippion des ehrenden Beiwortes Kados entbehrt.

Dieselbe Anspielung liegt einer merkwürdigen mit dem Argonauten- opfer des Herakles (Taf. III, 5) bemalten Vase (?”) zum Grunde, welche diesen Heros und Argonautenführer als Priester am Altar opfernd mit dem Namen APXENAYTES, Nike heranschwebend, dahinter zwei Epheben mit Fett am Spiefs, über beide NIKOAHMOE KALOEZ, und hinter ihnen den Flötenbläser Z(Y)EIBOXZ uns vorführt. Dafs der Eigenname Nikodemos mit Absicht an

man IKAZ KALO=S: offenbar stand ursprünglich NIKAZ KALOX wie auf einer Münze von Kos (Mionnet Descr. III, p. 406, No. 56.) derselbe Name Nikas vorkömmt (Gerhards Denkm. u. Forsch. Archäol. Zeit. Jahrg. VII. No. 12, Dec. 1849. Arch. Anzeiger S. 128).

(@°) Duc de Luynes Choix d. Vas. XXX VI p. 21.

(**) Aristophan. Aves 707. ö uzv Opruye dous.

(®) Pr. de Canino Mus. Etr. No. 11. pag. 35. Tav. II. Gerhard Rapporto Volcente not. 834* Ann. d. Institut. arch. IH, p. 192. Dubois Notice d’une Collect. d. Vas. du Pr. de Canino 27. Athene mit Vordertheil des Pegasus als Schildzeichen. Auf der Rück- seite steht eine bärtige Figur auf sprengender Quadriga E (Aa e) LA NIKON KALOS.

() Braun Bull. dell’ Institut. arch. 1843. p. 76. Am Bauch ist der nächtliche Besuch des Priamos im Lager der Griechen um die Leiche des Hektor zu lösen abgebildet.

() Gerhard auserlesene Vasenbild. II, cLv. Archäol. Zeit. 1845. Taf. XXXV, 4. S.177 u. ff. Vergl. Böttiger Vasengemälde I, 2tes Heft S. 48.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 45

der Stelle gemalt ist wo Nike und die den dy1os vertretenden beiden Epheben gleichzeitig zur bildlichen Inschrift dienen können, ja dafs selbst das Fett am Spiefs dieser Epheben, auf griechisch öyucs, als Element zur Hierogly- phik des Namens benutzt werden konnte, dessen wurden die gelehrten Her- ausgeber (?°) dieser Vase sich ebensowenig bewufst, als dafs der Name Zuridos, dem lateinischen zitubans entsprechend, den Flötner bezeichnet.

Eine volcenter archaische Hydria (?°) zeigt am Hals einen Wagenlenker mit Viergespann; am Bauch schauen dem Ringekampf des Herakles und Nereus als Zeugen Ampbhitrite und ein weifshaariger Gott mit Scepter zu; der einzige ohne Inschrift, offenbar Poseidon in seiner Eigenschaft als“Irrıes und ‘IrrorSevrs, als Schutzpatron und Namengeber des im Feld der Scene angeschriebenen Vasenbesitzers NIKEZINOZ KALOZ ausgezeichnet ist Nikesippos.

Wenn eine archaische volcenter Amphora (°°) neben der von Jolaos geführten Quadriga des Herakles die Inschrift HINOKPATEZ KALOX an- giebt, so erhellt dafs der Besitzer der Vase Hippokrates Rofsmächtig in einem Verwandtschaftsverhältnifs zu dem berühmten Wagenlenker Jolaos zu denken ist.

Dasselbe Verhältnifs nehmen wir auf einer archaischen, mit Giganten- kämpfen geschmückten Kylix des kgl. Museum (°!) wahr, unter deren einem Henkel HINOKPITO&Z KALLIETOX steht. Auch hier übersah der Erklärer dafs im Zusammenhang mit dem Eigennamen des Siegers und Vasenempfäng- gers Hippokritos das Innenbild eine Quadriga vorstellt, und dafs selbst auf den Aufsenseiten sowohl Ares, als Athene in eigenem Viergespann streiten.

Umsomehr Anerkennung verdient daher Herr Roulez (3?) der bei Ver-

öffentlichung einer rothfigurigen Kylix des Epiktet wegen der beigefügten

(*) Das gleiche Wortspiel von Fett, als Sohn des Feuerglanzes macht Aristoph. Vesp. v. 97: viöv Ivgrdurous Ev Fuge Ayuov zarov. (wahrscheinlich Arudv zu lesen): Örues das Fett worin alles Opferfleisch gewickelt wurde.

(°) Dubois Notice d. Vas. Etr. du Pr. de Canino 11.

(°°) Mereur voran. Rv. Dionysos auf der Kline; Eumelpes Krotalen schlagend rechts, Hiachos tanzend links, rothe Figuren im Gegensatz der schwarzen der Vorderseite. Bull. d. Instit. arch. 1829. p. 76.

() No. 746. Gerhard Auserles. Vasenbilder I, LXI, LXH. wo fälschlich NIKOKPITO= gelesen ward.

(”) Roulez Melanges archeol. IV, 4.

46 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Inschrift HINOKPITOZ KALOZ einen Epheben der zwei widerspenstige Pferde anspannen will, im Zusammenhang mit diesem Eigennamen deutete: und mit offenbarem Unrecht protestirt Hr. O. Jahn (°?) dagegen, statt seine Mifsbilligung auf die von Roulez vorgeschlagene mythische Beziehung auf den von seinen Pferden zerrissenen Abderos, insofern sie aus dem Vasenbilde keineswegs hervorleuchtet, zu beschränken.

Auf einer gelbfigurigen Kylix verfolgt ein Jüngling, das Haupt mit Blättern und weifsen Blumen bekränzt, einen laufenden Stier und hält in der Rechten einen Strick um das Thier zu binden. In Bezug auf die Widmungs- inschrift AIOXZIMOZ KALOX über seinem Haupt bemerkte schon Dr. Hor- kel(3*), dieser Name deute die Handlung an, mit welcher dieser unser Dioxip- pos sich abgiebt, indem die Verfolgung (diw&ıs) des genannten Thieres ihn ganz in Anspruch nimmt, übersah aber dafs sowohl die Bekränzung des Epheben, als die Schlinge womit er den Stier zu fangen sucht, deutlich auf das Fest der TavgozaSabıe hinweist, von dem andere Bildwerke (°°) uns ein vollständigeres Bild geben.

Eine rothfigurige volcenter Kylix deren Innenbild im Einklang mit der Inschrift AYZIZ KALOZ HO MAIZ KALOZ den schönen Lysis als Empfänger dieses Erastengeschenkes bezeichnet (°°), ist auf den Aufsenseiten mit der Rückführung des Hephaistos in den Olymp durch Dionysos und

(@°) ©. Jahn Archäol. Aufs. S. 139.

(°*) Braun Bullet di Corrisp. archeol. 1844. p. 101. Rv. Zwei Hetären auf Kissen an der Erde, die eine doppelflötend, die andere eine Kylix reichend worauf MINEKAIZY steht.

(°) S. das Arundellische Marmorrelief (Marmor Oxon. p. 266 mit Prideaux Anmerk. Millin Peint. d. Vas. II, ıxxvuu, 7.) Böttiger griechische Vasengemälde I, ım, S. 95 Note.

(°°%) Dubois Notice d. Vas. Etr. du Pr. de Canino. 99. Im Innern bärtiger Mann auf einer Kline, neben ihm Flötenspielerin; auf kleinem Postament steht AYZIZ KAAOSE HO MAIE KALO=E. Aufserhalb Vulcan mit Beil und Kantharus zu Maulthier, geführt von einem Satyr mit Krotalen, gefolgt von einem mit Trinkhorn und einem andern. Rückseite: Bacchus mit Weinstamm und Kantharus; voran flötender Satyr und Maenade mit Krotalen, eine zweite mit Thyrsus und Krotalen hinter ihm. Vgl. Gerhard Berlins Ant. Bildw. 879: Ruhebett Kylix. In der Mitte dieser Schale von vorzüglich feiner Zeichnung zeigt sich ein bärtiger und bekränzter Mann unterhalb bekleidet, auf einem gepolsterten Ruhebett. Er hält eine zierliche Schale in seiner Linken, über ihm steht das Lob eines Lysis AYZIEZ KALOZ geschrieben. Vor dem Lager steht ein einfacher auf Fülsen mit Löwen- klauen ruhender Tisch, von welchem drei Zweige berabhängen. Eine sehr zierliche Stele bemerkt man überdies am Ende des Ruhebetts; ungewils ob als eine zu demselben gehörige Stütze oder als ein anderes Gestell für einen Leuchter.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 47

seinen Thiasos geschmückt: ich zweifle nicht, dafs der Gegenstand der Erlösung Avsıs in welcher Dionysos als Befreier Avrıcs erscheint, ab- sichtlich für diese Kylix des Lysis in Anspruch genommen ward. Zur Stütze dieser Erklärung erinnere ich an den Cultus des Dionysos Lysios in Korinth mit Bezug auf den zerrissenen Pentheus eingeführt (37), an den gleichen Cultus in Sieyon (°*), an den Naos des Dionysos Lysios in Theben wegen Befreiung der Gefangenen aus den Händen der Thraker (°) ; daselbst sah Pausanias auch das Standbild der Semele, offenbar mit Rück- sicht aufihre Heraufholung aus der Unterwelt, und demnach voll- kommen gleichbedeutend mit dem Mythos unsrer Lysisschale. Das Innenbild einer andern rothfigurigen für denselben Lysis bestimmten Kylix (*°) stellt den Centauren Pholus mit einem Baumstamm dar, im Begriff von dem grofsen Weinfafs den Deckel aufzuheben. Diese Öffnung Avrıs steht offenbar im Zusammenhang mit der begleitenden Inschrift AYzZI£ KALOz HO NAIE KALO=.

Des Theseus Lanzenkampf gegen die asiatisch gekleidete Amazone Hippolyte zu Pferd ist auf einem rothfigurigen Stamnos (Taf. IV, 5) von der Inschrift ENIMEAEZ KALOZ begleitet (*'). Den Eigennamen Epimedes, ’Erıundys, übersetze ich Mederfeind: als solcher erscheint Theseus auf diesem Bilde.

Zu gleicher Bemerkung giebt eine rothfigurige nolanische (Taf. I, 2) Diota Anlafs den Kampf des Theseus mit dem die Reisenden ins Folterbett einspannenden Prokrustes darstellend (*?), nebst der Inschrift AAKIMAXO& KALOZ, insofern der Eigenname dessen, für den das Gefäfs zum Geschenk bestimmt war, Tapferkampf bedeutend, sich zum Epitheton des attischen Heros vorzüglich eignete, zumal seine Schutzgöttin Athene unter dem Namen "Arrınayn (*) angerufen ward.

BeiPaus. II, 11, 9.6.

(°) Paus. II, vo, 6.

(Baus. IX, xvı, 4.

(*) De Witte Deser. d. Vas. de P’Etrur. 77. Cyl. f. r. AYZIZ KALOZ.

(*) De Witte Cab. Durand 346. Stamnos de Vulci. Rv. EINIE zwischen zwei ver- hüllten Frauen, die die Hand ausstrecken. Epimedes einer der Kureten, Paus. V, vır, 4; V,xıv,5. Abweichende, wohl genauere Abbildung bei Gerhard Auserl. Vasenbild. II, cıxın.

(“) Millingen Peint. d. Vas. gr. Pl. IX.

(*) Suid. s. v.

48 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Eine nolanische Hydria (Taf. I, 6) im Musee Blacas(“*) zeigt den jugendlichen Herakles mit dem geraubten Dreifufs fliehend und die Keule schwingend gegen den mit Bogen in der Rechten ihn verfolgenden und den Raub zurückfordernden Apoll. AAKIMAXNEZ KALNZ zunächst auf den Be- sitzer der Vase, der einen Dreifufs als Siegespreis aus den Spielen heim- brachte, bezüglich, verbirgt zugleich eine Anspielung auf Herakles, sowie der Name EMIXAPOZ mit vergessenem M, Erıyapuos, wohl den Geber an- deutet nicht ohne geheime Beziehung zum Charitenführer Apoll. Demselben Eigennamen Alkimachos in gleicher Inschrift begegnen wir auf einer andern Vase (Taf. I, 5) die durch Feinheit der Zeichnung Epoche macht(”°). Ein bekränzter bärtiger Silen mit Thyrsus und Kantharus blickt im Weggehen zurück auf eine vor einem Fels stehende Jungfrau mit Haube und zierlich gesticktem Himation über dem langen Chiton: sie hält mit beiden vorge- streckten Händen das Fell eines Rehkalbs. Zwischen beiden Figuren zieht sich AAKIMAXNZ. Nur wenn man sich vergegenwärtigt, dafs zur Zeit des

KALQDZ Deukalioniden Amphiktyon Dionysos nach Attika kam und von Semachos gastlich aufgenommen, zum Dank dessen Tochter mit einem Rehfell be- schenkte(“), wird man den Sinn dieses Vasenbildes wo der Silen Akratos der Semachostochter das Rehfell von Dionysos überbracht hat, richtig auf- fassen; zugleich aber fühlen wir uns berechtigt den Namen Alkimachos für den Silen Akratos insofern in Anspruch zu nehmen als der leztere Name ebenfalls den Übermächtigen, Unbesiegbaren, Starken (°7) ausdrückt, und damit in Übereinstimmung die Bildwerke diesen Silen öfter in voll- ständiger Rüstung zum Kriegszug des Dionysos bereit (**) uns kennen lehren.

(°*) Monum. de l’Institut. arch. Tom. 1, Pl. IX, 3, im Musee Blacas.

(*) Tischbein Vas. d’Hamilton I, 37. Millin Peint. gr. I, 9.

(*) Euseb. Chronic. I, p. 30. Steph. Byz. Yruexiöcr. Hesych. und Phot. Arnob. adv. gentes V,39. Nebridarum familiam pellicula cohonestavit hinnulae. Panofka der Vasen- bildner Panphaios 'Taf. III.

(”) Vergl. den Giganten Akratos (auf einem etruskischen Spiegel) dem Athene den Arm als Sitz der Kraft und Stärke 290706 ausreilst (Gerhard Etrusk. Spiegel T. LX VIII.) und den Agathodaemon Akratos in seiner Eigenschaft als starker, ungemischter Wein (Panofka Terracotten d. kgl. Mus. S. 135).

(*) Panofka Cabinet Pourtales Pl. IX, 2. Nonni Dionys. ed. Gräve Vignette auf dem Titel des zweiten Theiles.

im Zusammenhang mit ie Bilderschmuck auf bemallten Gefäfsen. 49

An diese Vase reiht sich wegen desselben Namens und entsprechender Bemalung eine Önochoä (“) von feiner schwarzer Umrifszeichnung auf gelbem Eh im neapler Museum. Eine in schwarzes Gewand gehüllte Frau sitzt auf einem Lehnstuhl, in der Linken einen Spiegel haltend ; rechts bringt ihr eine langbekleidete Frau eine Schale mit einem Granatapfel und Ba: oberhalb hängt ein Salbfläschen und eine Önochoö; beide Ge- fäfse sind schwarz. Sowohl .das schwarze Trauerkleid, als die re und die beiden aufgehängten kleinen schwarzen Vasen weisen zu bestimmt auf Todtendienst hin der hier wahrscheinlich bevorsteht, als dafs wir nicht die Inschrift Arzıuaxos zaros seelig ist Alkimachos übersetzen sollten, für dessen Grab diese Vase nebst anderen Gaben bestimmt war.

Die grofse Verschiedenheit des Styls zwischen den beiden lezten Vasen des Alkimachos und den zwei ersterwähnten könnte leicht zu dem Glauben verleiten, es gelte hier Geschenke für zwei verschiedne Alkimachos. Indefs die bisher völlig übersehne Gestalt des Bettes des Prokrustes, insofern sie das Bild eines Hirschkalbs in Gestalt, Gurt und Füfsen versinnlicht, dient zwar zunächst da die Hirschkuh bei den Griechen mit dem Worte dauazrız, bei den Römern als dama bezeichnet wurde, und der Verfertiger und Be- nutzer dieses Bettes nicht blofs Prokrustes, sondern auch Damastes(°°) hiefs, zur bildlichen Inschrift für Damastes; allein sie weist gleichzeitig wegen identischer Widmungsinschrift, auf das Vasenbild des Rehfells als Geschenk für Semachos zurück, und bestimmt uns auch diese Vase ein und demselben Alkimachos als Geschenk zuzuerkennen. Ebenso lehrt die Schreibart Adzınay,ws Karws auf der Vase des Dreifufsraubs, wie auf der des Hirschfellgeschenkes, dafs die Verschiedenheit des Styls der Malerei keines- wegs berechtigt zwei von einander verschiedne Alkimachos als Eigenthümer dieser Vasen vorauszusetzen.

Das berühmte rothfigurige Blumengefäfs aus Agrigent (Taf. I, 11) im münchener Museum (°!) den N Wettstreit des Alkaios und der Sappho verherrlichend, verdient wegen der den Alkaios umgebenden Inschrift AAMA KALOE siegreich ist Damas, auf den Empfänger bezüglich, um so

(°) Panofka Neapels Antiken S. 385. Zimm. VIII, Schr. 7, F. 2, No. 1925.

(°%) Plutarch Thes. XI.

(°‘) Millingen anc. unedit. monum. Pl. XXXII. Panofka Bilder antik. Lebens Taf. BV7. Griechinnen No. 10.

Philos.-histor. Kl. 1849. G

50 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

gröfsere Beachtung, als einerseits der Rehkalbfufs zum Plektron für Alkaios dienend, auf danarıs, dama die Hirschkuh hinweist (°?), somit eine Anspielung auf Damas verbirgt, und andrerseits die bisher übersehene Syno- nymie von’ARzaıs Starke und Aauas Bändiger genau dieselbe ist, welche wir bereits an Alkimachos und Damastes nachzuweisen Gelegenheit fan- den(°°). Die Erwähnung des Alkaios führt uns zur Betrachtung einer nola- nischen Diota des kgl. Museums (°*), wo man die Inschrift AAKAIOZ KALOZ bei einem Hopliten liest mit einem Stern auf dem Schild; ihm gegenüber zeigt die Rückseite eine bärtige Mantelfigur. Dafs die Vase einen in den Krieg ziehenden Nolaner Alkaios veranschaulicht ist höchst wahrscheinlich: allein diese individuelle Deutung des Bildes überhebt noch keineswegs der Frage, ob nicht zugleich auch an jenen berühmteren mythischen Alkaios hier zu denken sei, welcher ein Sohn des Androgeos und Enkel des Minos, hier dem Rhadamantys gegenüber stände (°°), der ihn mit der Insel Paros be- schenkte? Dieser Auffassung käme das Schildemblem des Alkaios wesent- lich zu statten, sei es dafs der Lichtcharakter des Inselnamens Paros es zu rechtfertigen vermag, oder des Alkaios nahe Verwandtschaft mit des Minos Sohn(°°) Asterios. Es nähme uns aber auch nicht Wunder wenn in Zu- kunft mit gleicher Inschrift eine mit Herkulesthat bemalte Vase ans Licht träte, da ’AAxalss auch als ursprünglicher Name für Herakles bezeugt wird. Zur Begründung dieser mit der individuellen parallell gehenden my- thischen Erklärung dient eine andere rothfigurige nolanische Diota (Taf. I, 13 u. 13a) mit der Inschrift APFOZ KALOZ neben einem lanzewerfenden

(°) Vergl. de Witte le geant Ascus (Revue Numismat. 1844. p.13) Pl.I, 3. und Pl. II, 8. 10 Münzen von Damascus. Vaillant Numism. aer. Imperat. in colon. Tom. I, p: 232, 233.

(°) Die aus dem Munde des Alkaios ausgehenden Punkte blieben bis jetzt unberück- sichtigt und unerklärt: sie bezeichnen meines Erachtens den Alcaeus als Sieger, sei es, dals sie den wollnen Siegerbinden (cf. Combe Mus. Hunt. T.22, V. die gleiche Perlschnur am Dreifufs der Silbermünzen von Kroton und T. 35, IX in der Hand des Apoll am Dreifuls auf Münzen von Magnesia.) sich assimiliren, oder dafs sie durch Horaz Epistol. II, 2, 99: Discedo Alcaeus puncto illius: Üle ımeo quis? und Ep. ad Pison. v. 343 Omne zulit punctum qui miscuit utile dulei, einiges Licht erhalten.

(°*) No. 799 „Ausrüstung. Rv. sein vormaliger Aufseher.” Gerhard Berlins ant. Bildw. S. 237.

(°) Apollod. I, 5, 9. Diod. Sie. V, 79.

(°°%) Der auch Minotauros hiefs (Apollod. III, 1, 4).

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemallen Gefäfsen. 51

Krieger, der Augen nicht blos wie viele andere an der Schildfahne, sondern auch am Panzer und Schildgriff uns zeigt. Auf der Rückseite (Taf, I, 13 a) steht ein Schleuderer (s$evdovyrys) mit einem Fellhelm das Haupt und mit einem Fell über dem linken Arm bedeckt (57). Ihm zur Seite liest man KYAKO=S EN (KvAxos Eygabe). Dafs der hier dargestellte Argos eine Anspielung auf seinen Ahnherrn ArgosPanoptes den Alläugigen(°°) in der Augenverzierung der verschiedenen Theile seiner Rüstung ausspricht, läfst sich kaum bestrei- ten. Die Erwägung, dafs die Trinkschale zur:£ von der Töpferscheibe zuxAss, TOOX,os neganızcs, an der sie gearbeitet wird, ihren Namen erhielt, und dafs das Spiel der @yzUAy am Ende des Gastmals in einem Weinnegen zielen und schleudern bestand, berechtigt aber auch in der Figur des Schleuderers neben dem KvAxos &y steht, eine geheime Beziehung zu dem Maler Kylkos (5°) zu vermuthen. Thucydides (°) führt die Akarnaner als die besten Schleuderer auf. Ein Fragment des Pindar (°!) nennt die Doloper unter Phoenix Anfüh- rung alsSchleuderer, für welche auch dieFellbekleidung die auch den Dolon charakterisirt, sich sehr wohl eignet. Als ähnlicher Kampf aus mythischer Zeit bietet sich der des Hermes mit Argos Panoptes dar, insofern lezterer durch einen Steinwurf des Hermes seinen Tod fand (°2).

Im Innern einer rothfigurigen volcenter Kylix mit einem jungen myr- tenbekränzten Lyraspieler bemalt, der sich auf eine Art Keule stützt(6), lesen wir beigeschrieben APIETAPXOZ KALOX und vermuthen in der be- schriebenen Figur den Aristarchos selbst, indem auf diesen seinen Namen, wohl in Verbindung mit seinem Stand eines Musiklehrers oder Komarchos ($*)

(°) Gargiulo Raccolta Vol. II, Tav. 40.

(°°) Panofka Argos Panoptes (Abh. d. kgl. Akad. d. Wiss. 1837.)

(°) Vergl. Kvzrevs Vater des Dichter Arion (Suid. s. v.), einen Argiver KuzAwv bei Xenoph. Hellen. IH, 5, 1; und den Achäer Kvzrıades bei Pollux XVII, ı, 2. XVII, xyu, 4. Hesych. v. Kyzaroı: FeOyoL, chIaAmoı.

(°) Thucyd. I, 81; Pollux I, x, 149.

(©) Ap. Strab. IX, 659 A. Heyne ad Apollod. p. 317. Cavedoni im Bull. d. Institut. 1850 Genn. p. 13. zur Erklärung des Schleuderers auf den Münzen der Aenianer. Vergl. auch Plin. H. N. II, v. Balcares funda bellicosas, Graeci Gymnasias dicere.

(°) Apollod. II, 1. 3.

(°°) Dubois Notice d. Vas. du Pr. de Canino 97. Aufserhalb tragen drei myrten- bekränzte Männer verschiedene Gegenstände, der eine bläst die Doppelflöte; Rv. ein Flö- tenspieler und zwei Epheben, einer mit einer Kylix, der andere mit einer Önochoe.

(°°) Panofka Namen der Vasenbildner (Abh. d. Akad. d. Wiss. 1840) Taf. IV, 2. G2

52 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

die Keule, welche den ägxes andeutet und daher auf einer nolanischen Diota (°°) und einer nolanischen Hydria(°°) in der Hand einer Tanzlehrerin sich findet, offenbar zu beziehen ist. Hiermit stimmt eine Erzmünze von Patrae(°7) genau überein, insofern sie unter der Umschrift APICTAPXOC AAMQNOC MATPERN nächst der Hauptfigur des Poseidon im Felde eine Keule mit Heroldstab darüber uns zeigt.

Dies Vasenbild wirft vielleicht einiges Licht auf das Aristarcheion in Elis worunter man das Hieron der Artemis Episkopos in Olympia ver- stand (6°). Insofern nemlich der Beiname ’Erirzores Aufseher dem dersel- ben Göttin beigelegten ’Agirra«gx;es entspricht, läfst sich vermuthen dafs diese Artemis daselbst, wie in einigen Culten Athene, mit einem Keulenstab (°°) versehen dargestellt wurde.

IKETAZ KALO®& edelist Hiketas lesen wir im Innenbild einer roth- figurigen Kylix (Taf. I, 10) des königl. Museums neben einer auf ihren Kno- tenstab gestützten jugendlichen Mantelfigur, offenbar Hiketas selbst, den eine Frau im Zimmer bei seiner unerwarteten Ankunft umarmt; links steht eine Kline, oben hängt ein Lekythos, rechts ist eine Thür(’°). Der Ver- gleich dieses Hiketas mit dem vom archäologischen Institut (?!) veröffentlich- ten Vasenbild wo Orest als Schutzflehender ixerys auf einen Stab gestützt auf dem Altar sitzt, Iphigenia rechts, Pylades links, oben Apoll, Artemis und Tempel, läfst keinen Zweifel zu, dafs auch in unserem Bilde derselbe Orest gemeint sei. Die Scene ist indefs eine verschiedene: die Abwesenheit des Pylades und des Altars verbietet uns Iphigenia in Tauri hier zu vermuthen. Dagegen glauben wir nicht zu irren wenn wir Electra in der Erkennungsscene

(°) Gerhard Antike Bildw. Taf. LXVI. Panofka Griechinnen No. 11.

(°) Im Blacasschen Museum No. 233, unedirt.

(°”) Sestini Deser. num. vet. p. 192. No. 2. Mionn. S. IV, p. 133, No. 900.

(°) Plutarch Qu. Gr. XLVI. Vielleicht dieselbe, welche Pausanias VI, xx, 6 pirousioe& Knabenfreundin nennt, weil ihr Hieron nah beim Gymnasion stand. Vergl. den Naos der Aphrodite Kareszori« in Troezen beim Stadion des Hippolyt. Paus. II, xxxıı, 3. Statue des Eleer Aristarchos in Olympia Paus. VI, xvI, 5. Aristarchos Exeget zu Olympia PausnVL 33002

(69) Vergl. die auf Knotenstab gestützte Artemis von ’Iz2«g0s (Dumersan Catal. des Med. du Cab. Allier de Haute Roche Pl. XVI, 8).

(°°%) Nach einer unedirten Zeichung im Besitze Gerhards verkleinert.

(”') Monum. d. Instit. arch. T. II, Pl. xuıu.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 53

und Umarmung ihres Bruders hier ("?) nachweisen. Diese Vase bisher namen- los und unbeachtet giebt ein glänzendes Zeugnifs für die Wichtigkeit unsrer Entdeckung des geheimen Bundes zwischen den Eigennamen mit Karcs und den sie begleitenden Bildern, indem sie zeigt welche neue Quelle für die Erklärung schwieriger und dunkler Vasenbilder dadurch eröffnet wird.

‘Ich gehe auf ein Thonbild unsres Museums (Taf. I, 12 u. 12 a) über, das vor mehr als zwanzig Jahren veröffentlicht ward (7°), ohne dafs weder der Herausgeber, noch irgend ein andrer Wissenschaftsgenosse bis jetzt die charakteristische Belehrung dieses merkwürdigen Bildwerks erkannt hätte. So gewöhnlich auch im Allgemeinen Bilder palästrischen Lebens auf griechi- schen Vasen uns begegnen, so unterscheidet sich doch diese Malerei von andern schon durch den naiven Zug, dafs der ältere Ephebe, wahrscheinlich der Erast, in dem Haar des Knaben (und Eromenos) sich die vom Öleinrei- ben noch fettige Hand abzuwischen und abzutrocken versucht. Der Haupt- werth der Gefäfses liegt aber in dem ungeahndeten Einklang zwischen dem Namen des Empfängers dieser Terrakotte, ANTIDON KALOZ, der eigen- thümlichen Form derselben und ihren Bildern. Dem ersten Herausgeber war es nicht entgangen, dafs die Malereien hier nicht einer Vase, sondern einem Leuchter oder einer Lampenträgerform (Taf. I, 12a) zum Schmuck dienen. Die Frage aber nach der Bedeutung des Namens Anti- phon kam nicht in Anregung, wiewohl der Name AvSmAuos für Yeryın (7), der Sonnenstelle, Gegensonne für Mond schon hinreicht, unsern Eigennamen Antiphon als Lichtstelle aufzufassen, wodurch nicht blos die besondre Form des Geschenks sich erklärt, sondern auch die in beiden Gruppen angebrachten Ölfläschchen, sowie der Akt des Ölabtrocknens

72) Sophocl. Electra v. 1224—1226: HA. 3 dirrarov dus. pP p p

Im - OP. dir rarov, Evpegrugn. cu a! > HA. u doeyu, abizov ; nn, OP. Wyzer aA TEev RU.

HA. Ey,w ve Yeociv; OP. us va Acım Ex,ors dei. Vergl. die Marmorgruppe Orest und Electra in Villa Ludovisi (Clarac Stat. ant. de l’Europe Pl. 336, No. 2094.). (”) Gerhard Ant. Bildw. Taf. LVII. Berlins Ant. Bildw. 797. Palaestriten. Panofka Bilder antik. Lebens Taf. I, 8. (°°) BHesych. =. v.

54 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

motivirt werden, insofern sie auf das zur Beleuchtung so nöthige ÖL auf- merksam machen sollen. Denselben Gedanken, den wir hier angedeutet finden, spricht auch die mythische Genealogie des Lychnos (Leuchter, Lampe) aus, insofern sie als dessen Eltern den Feuergott Hephaistos und die Schöpferin des Ölbaumes Athene angiebt (5).

Einen kleinen Kantharus lukanischen Styls, gegenwärtig im brittischen

Museum, beschreibt Hr. S. Birch (’°), einerseits mit einer Art netzförmi- gem Zeug, andrerseits mit einer Wellenverzierung geschmückt: auf demselben liest man die Inschrift EYNOAIZ KALes trefflich ist Eupolis. Erwägt man, dafs dem Worte ers das m&reıw zum Grunde liegt und dafs das netzförmige Zeug den auf Vasenbildern so häufig veranschaulichten Tep- pich auf Stühlen der rerxce hiels, bezeichnet; und erinnert man sich zu- gleich, dafs die Athene Polias von Erythrae (7) mit einer Spindel in jeder Hand dargestellt wurde: so leuchtet der Zusammenhang dieses Bilder- schmucks mit dem Namen Eupolis von selbst ein; die Wellen der Rückseite mit dem Beinamen ira und ygalaı die Weifsen, die Grauen charakte- risirt, spielen vielleicht auf gleiche Weise auf den Namen Eupolis an, falls sie nicht etwa wollne Franzen vorstellen und dann der erst angegebenen Deutung des Eigennamen Eupolis anheim fallen.

Auf die acht und zwanzig Beispiele einleuchtenden Zusam- menhangs zwischen Bild und Eigennamen lassen wir fünf und vierzig zum Theil versteckteren Zusammenhangs folgen, die sich fast sämmtlich an Götternamen anschliefsen.

Auf einer nolanischen Diota (Taf. II, 7) schwebt Eros mit entfalteten Fittigen, das myrtenbekränzte Haupt links zurückgewandt; er hält in der Rechten einen kleinen Stab, um den vor ihm befindlichen Reifen (r90%s) in Bewegung zu setzen; seine Linke hält eine Taube SONAN >33NN01A Diokles ist schön liest man daneben. Auf der Rückseite streckt eine myrtenbekränzte jugendliche Mantelfigur den Arm nach vorn. Die Inschrift

() Die Erläuterung dieser Vase wirft zugleich ein unerwartetes Licht auf folgende Verse des Komiker Platon (von Galen ad Hippocrat. Aphorism. Vol. V, p. 322 ed. Bas. eitirt) der den Kinesias erwähnt iryagas zezaunsvos IMeioras im Eiguhavros Ev Tu Furt.

(°%) In Gerhard’s Archäol. Zeit. N. F. N. 10. Oct. 1844, S. 135.

(a) ErBaus= VII, 0,242

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 55

KALOZ neben ihm(?°). Dieser schöne ist offenbar Diokles, des Zeus Herrlichkeit, Ganymed, an welchen Eros Reifenspiel und Taube als Liebesgeschenke (”?) des Zeus überbringt. In Megara wurden die Heroen Alkathoos und Diokles mit Festspielen A:ozrsia gefeiert (°), deren auf Lie- besverhältnifs hinweisenden Charakter folgende Verse des Theocrit Idyll. XI, 27—31 unwiderleglich ans Licht stellen:

Niratcı, Meyagnss agınreuovres Egerueis,

orßıcı oinsioıre, Tov Arrırov ws megianna

Eeivov ErıunsarIe AuoxAta rov pırRormarda.

alsı ol mepl ruußov doAAees elagı mourw

woüpoı Egidmaivounı bıAnuaros eng pegerSaı. Zum besseren Verständnifs des Namens A:ox295 trägt wohl auch der Hellenen Bezeichnung Ars @yyeros Frühlingsbote für Schwalbe und Nachtigall bei, indem hier des heitern Himmels Herrlichkeit (Aus xr&os) für Som- meranfang mit der für Diokles bestimmten, Wärme symbolisirenden (°!) Taube wohl übereinstimmt.

Auf einer nolanischen Diota (Taf. I, 12) erblicken wir Poseidon mit

Dreizack, in ausgestreckter Linken einen Delphin reichend, über dem Arm KALOZ;, mitten geht ein MEAHTOEZ herab, Schön ist Meletos, offen-

(°°) Raoul Rochette Monum. indd. Pl. XLIX, 1.

() Petron. Cap. XLV: Domina, inquam, Venus, si ego hunc puerum basiavero ita ut ille non sentiat, ceras illi par columbarum donabo. Cap. XLVI. Proxima nocte cum idem liceret, mutavi optionem: et, si hunc, inquam, tractavero improba manu, et ille non senserit, gallos gallinaceos pugnacissimos duos donabo patienti. Aristoph. Av. 705—707. Chor:

Ilorrcis d2 Karoüs AmOuWMOZOTES eds maos Teguaeıv uns die Fyv iryuv FyV Aneregav dsurgısav audgss Zoasrei, 6 nv ogruya dous, ö ö: moppugiav, ö de Yav, ö 8 megTıR0V ogvır.

() Schol. Pind. Olymp. XII, 155. Arist. Acharn. 774. Welcker ad Theogn. p. LXX VIN. C. Fr. Hermann Gottesdienstl. Alterth. $. 52. Unbewufst liefert Welcker (Rhein. Mus. HI Jahrg. 1834. S. 226.) den Commentar zu unserem Vasenbild: „Auch an den Diokleen in Megara, dem Wettkampf der schönen Jünglinge im reizenden Kuls, wobei der Kampfrichter den Ganymedes anrief, war die Legende wie in Chalkis, dafs der als Heros gefeierte Lieb- haber seinen Liebling rettend in einer Schlacht gefallen sei (Sch. Theocrit. XII, 28), und mit solchen Sagen steht auch der Gebrauch der Sparter vor den Schlachten dem Eros zu opfern in Verbindung (Athen. XII, p. 561 e.).”— Vergl. den Morgenstern als Siegel des Dioklees EMI AIOKAEYC AFTAOEINOY KNIAIOY auf irdnem Vasenhenkel bei Thiersch Abh. d. Münchn. Akad. Bd. XV, 1838.

(*) Panofka in Gerhard’s Archaeol. Zeit. 1843. Taf. IV. Mon. d. Instit. Tom IV, IH.

56 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

bar Name des Empfängers der Vase, auf den sich auf der Rückseite das Bild eines den Poseidon anschauenden Epheben bezieht, der mit der Tänia der Eingeweihten dasHaar umbunden und ganz in den Mantel gehüllt auftritt ($?). Wenn der Herausgeber der Vase die feindliche Stellung des Poseidon her- vorhebt und daran die Vermuthung knüpft ‚‚die Vase sei für das Grab eines jungen Schiffbrüchigen bestimmt gewesen,” so bedauern wir in beiden Punk- ten die Ansicht unsres genialen Collegen nicht theilen zu können, da das Hinreichen eines Delphin von Seiten des Poseidon, vergleichbar dem eines Hahnes von Seiten des Zeus an Ganymedes, oder einer Taube oder eines Hasen von Seiten des Eros, entschieden Liebesbeziehungen andeutet, für welche sich auch dasBild des Epheben auf der Rückseite in seiner Verhüllung als männliche vuupn d. i. als vuubes, sehr wohl eignet. Des Meletos Busen hiefs der Busen von Smyrna vom Flusse Meletos, wie Hekatäus in seinen aeolischen Geschichten berichtet (°°). Den Namen Melite MEAITE führt auf einer volcenter Vase (°*) eine bei der Hochzeit des Peleus und Thetis gegen- wärtige Nereide. Demnach vergegenwärtigt das Vasenbild vielmehr ein in- niges Verhältnifs zwischen Poseidon und Meletos, ähnlich dem zu Pelops. Die Namengemeinschaft des Lieblings des Meergottes, Meletos mit dem Empfänger dieses Liebesgeschenkes motivirte die Wahl des Bildes. Oder sollte hier dem Poseidon der mit Ino ins Meer gestürzte, von einem Del- phin aufgenommene, und nachher zum rettenden Meergott Palaemon, bei den Römern Portumnus, erhobne Melikertes(°°) gegenübertreten, für welchen der Name Meletos sich fast als Synonym auffassen liefse? MYOOKLEZ KALOZ schön ist Pythokles lautet die Inschrift, welche auf einer archaistischen Hydria (Taf. II, 1) längs der Rosse einer Quadriga sich hinzieht auf der Aphrodite und Poseidon durch Inschrift gesichert ein- herfahren. (°°) Pythokles also empfing die Vase zum Geschenk, vielleicht

(#) Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXIII.

(®) St. Byz. v. Meryrou z0rr0s. Meletos mit Schilf und Urne liegend auf Münzen von Smyrna (Mionn. D. III, p. 210, No. 1158). Der Fluls Meles die Rechte auf die Lyra gestützt, als Sänger, den linken Arm auf eine wasserausströmende Hydria, auf Münzen von Amastris in Paphlagonien (Mionn. D. II, p. 391, No. 20. 21.).

(@*) Gerhard Auserlesene Vasenbild. III, cLxXx1.

(@) Apollod. III, 4, 3. Ovid. Metam. IV, 520 u. ff. Hyg. f. 2. Paus. II, ı, 3. Plut. Sympos. V, 3. Schol. Pind. p. 515. Böckh.

(°°) Lenormant et de Witte Elite Ceramogr. III, Pl. XV.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 57

in Folge eines Wagensieges in isthmischen oder sonstigen Spielen desPoseidon Hippios. Allein der Name Pythokles, Pythoschlüssel, den dieser Hellene führte, gehörte vermuthlich anfangs dem Poseidon selbst, insofern dieser Gott mit Ge der älteste Inhaber von Delphi und seinem Orakel war, das er erst nachher gegen Kalauria dem Apoll überliefs(°”). Durch diese Erwägung erschliefst sich uns die geheime Verwandtschaft zwischen Pythokles und dem Poseidonbild unsrer Vase.

KALE NENAIZ Schön ist Nelais zieht sich auf einem gelbfigurigen lukanischen Lekythos(°®) des kgl. Museums (Taf. III, 9) vor einer langbe- kleideten Flügelfrau, welche in der ausgestreckten Rechten einen Schiffs- schnabel hält, die Linke auf das Steuer stützt und vor einem niedrigen Altar steht, auf dessen Mitte ein Apfel zu liegen scheint. Von dem ersten Heraus- geber, Millingen (°°), wie von andern Archäologen ward diese Figur als See- siegsgöttin gedeutet, bis Welcker(®°) das früher als Scepter aufgefafste Steuer hervorhebend und den (nach dem Ufer) zurückgewandten Kopf der Frau berücksichtigend und auf Abschied beziehend, derselben den Namen EörAcie die gute Schiffahrt beilegte. Auffallender Weise haben bis zur gegenwärtigen Stunde die ausgezeichnetsten Archäologen den auf der Vase deutlich geschriebnen Eigennamen übersehen und sämmtlich KALE HEMAIE gelesen. Allein die Lesart NEAAIZ (wie sie die HH. Lenormant und de Witte in der Elite ceramographique (?') richtig publizirt haben) unterliegt keinem Zweifel und kann als weiblicher Eigenname um so weniger befrem- den, als sie in der Form NyAris, der Neleustochter Pero (°?), und in der männlichen Form Neraidus, Name eines olympischen Siegers aus Elis (°3), ihren Stützpunkt besitzt, andrerseits aber in Folge unsrer Entdeckung des Zusam- menhangs zwischen Bild und Eigennamen ihre befriedigende Bestätigung findet. Denn der Name Nerais läfst sich nur von veös, vews und Aaw das

Schiff treiben erklären, sowie verAarns der Steuermann heifst, und im

(©) Pausan. X, v, 3. Panofka Ann. de l’Instit. arch. XVII, p. 65. Gerhard Etrusk. Spiegel Taf. LXXVI. Mus. Etr. Gregor. I, Tab. XXIV.

(°) No. 835. Gerhard Berlins ant. Bildw. S. 242. Panofka Mus. Bartold. p. 104—108.

(#) Millingen anc. unedit. Monum. pl. XXIX.

(°) Annal. dell’ Instit. arch. Vol. III, p. 420.

(°') Elite Ceramogr. I, xcım. daselbst wird dennoch z«r= 5 «ıs vermuthet.

() Apoll. Rh. I, 120. Vgl. auch Ny2« Stadt in Magnesia in Thessalien Strab. IX, 436.

(®) Paus. VI, 16, 8.

Philos.-hist. Kl. 1849. H

58 PınorkaA . Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Einklang mit diesem Namen Nelais stehen sowohl das Steuer, als das mit einem Auge geschmückte, nicht Vorder- sondern Hintertheil des Schiffes, sowie die auf den Wind sich beziehenden Flügel. Demnach hat der Vasen- maler hier nicht EörAci« bei der ein Peplos als Seegel unerläfslich wäre, sondern eine dieser nahverwandte göttliche Personifikation NrAais die Schiffslenkerin dargestellt, von welcher Nelais für die das Salbgefäfs bestimmt war, ihren Namen ableitete.

Eine schwarzfigurige Amphora (Taf. II, 5) zeigt auf der einen Seite nach der Ansicht der Herausgeber (?*) sieben Nereiden spinnend, die am Ende sitzend und die Inschrift NEAIEYZ KALOZ, auf der andern Seite Poseidon und Amphitrite, Hermes und Hestia als stehende Umgebung der sitzenden Athene(°). Die Worte Iledievs Kadcs, die man links bei der am äufsersten Ende sitzenden sogenannten Nereide liest, beziehen sich als Aus- ruf der Vasenschenkerin zunächst auf den Empfänger der Vase, welcher Pedieus hiefs. Dafs die beiden geistreichen Herausgeber dieser Vase über den Sinn der Vorstellungen sich so täuschen konnten nimmt mich Wunder. Denn sowohl der Mangel jeglichen Wassersymbols in der Nähe der mit einer Spindel versehenen Frau, als die Dreizahl derselben verbietet Nereiden hier zu erkennen, sondern weiset am natürlichsten auf dieMoeren, deren mittlere einen zu Wolle bestimmten Korb x«ar«Scs bringend den NamenKlotho verdient, während die eine der Spindelhalterinnen Lachesis, die andre Atropos heifsen mufs. Die beiden am Ende der Scene sitzenden Frauen vor welchen je eine Moira mit Spindel hintritt, lassen wegen der Nähe dieser Göttinnen und wegen ihres Dualismus die Benennung der beiden Fortunen Tuyaı zu; die eine, rechts sitzend, mit einer Blume in der Hand, assimilirt sich der Kora oder Aphrodite; die andre ihr gegenüber, wohl eher ein Steuerruder hal- tend, der Themis(°°), als mit einem Zaum der Nemesis. Die im Centrum auf einem mit Pantherfüfsen ausgezeichneten Klappstuhl sitzende Göttin

(°*) Lenormant et de Witte Elite c&ram. III, Pl. XXXVIB. Das bisher unerkannte Seitenstück zu dieser Vase bildet eine gleichförmige mit Hesperiden oder Oschophoren bemalt Elite III, xtır. Dieselbe Verwechslung von Nereiden und Moeren findet in Bezug auf einen Altar in Corcyra, zum Andenken an die Hochzeit von Jason und Medea gestiftet, statt (Timaeus ap. Schol. Apoll. Rh. Argon. IV, 1217. Apoll. Argon. IV, 1215—17.).

() Ibid. Pl. XXXVIA. De Witte Deser. d. Vas. de l’Etrurie 66.

(°%) Paus. X, xxIv, 4. Vergl. Mon. de l’Instit. I, ıvır, 12 das Ruder auf der Münze von Neapolis.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 59

halte ich für Demeter, ohne zu bestimmen, in Ermanglung der Autopsie der Vase, ob sie Ähren, oder Wolle, oder was sonst mit beiden Händen hält, Neben ihr steht vielleicht ihre Tochter Despoina, im Gespräch mit Klotho.

Sollte dies Vasenbild uns nicht die schwarze Demeter im Zorn über die Gewaltthat des Poseidon vergegenwärtigen und zwar in dem Mo- ment wo die von Zeus abgeschickten Moeren ihren Zorn besänftigen, so dafs sie ihre Trauer ablegte (°”)? Erwägt man hierbei, dafs dieser Mythos auf dem Ölberg "Eraicv in Arkadien spielt, so dürfte auch der über die ganze Scene sich ausbreitende Olzweig diese Lokalität zu versinnlichen sich eignen. Zur Erklärung des Namens Pedieus(°°), der mit redev Boden, Erde, und dessen Diminutiv r&diev Ebne zusammenhängt, trägt der Verein ausschliefsend chthonischer Gottheiten auf unsrer Vase wesentlich bei. Sollte man aber vorziehen den Namen Iledisvs mit wedıev dem Diminutiv von redy, Band, Strick, Zaum, Fufsfessel, in Verbindung zu setzen, so dürfen wir zu Gunsten dieser Ableitung des Namens Pedieus, den vermutheten Zaum in der Hand der auf Nemesis gedeuteten Göttin links um so wahrscheinlicher beziehen, als gerade über dem Haupte dieser Figur die erste Sylbe des Na- mens FIEA zu lesen ist, und andrerseits für die Verbindung des so aufgefafs- ten Eigennamens Pedeus mit den Moeren sowohl Pindar Pyth. V, 49 Helga aörcv emednce, als Homer Il. IV, 517 Meig ereöncev und I. XXIL, 5 "Exroga Ö° aurcl uelvaı, öAcn Meig Ereönrev zu zeugen vermögen.

Eine volcenter rothfigurige Kylix (*) des kgl. Museums (Taf. II, 11) zeigt im Innenbild auf Flügelwagen sitzend, gleich Triptolem, einen myrten- bekränzten bärtigen Dionysos in langeın Armelchiton und Peplos; in der Rechten ('°°) hält er horizontal einen geleerten schwarzen Kantharus, in der Linken einen Hammer. Ringsum zieht sich KEDITOX KALO&('''!). Dafs

7) Paus. VII, xumm, 3.

() Pedias Tochter des Menys aus Lacedämon, Gemalin des Königs Kranaos in Attika (Apollod. III, 14, 5). Pedieus athenischer Archont Ol. 82, 4, (Diod. S. XII, 4.). Ieöics, Phyle von Attica, (St. Byz.) und ein Demos (Plat. Themist. 14.).

() No. 1757. Gerhard Auserlesne Vasenb. I, Lvur, 1. 2. Lenormant et de Witte Elite c@ramogr. I, xXxVIn.

('”) Voreilig äufsert Böttiger griech. Vasengem. I, ı1, S. 194, Note: „Die Hephästi- schen Wagen der höheren Olympier sind alles Automaten, oder durch die inwohnende

Kraft zu Luftwagen geeignet. Hier ist also an gar keine Beflüglung zu denken.”

('”) Bei Gerhard falsch publizirt Kvsdıros Karcs, bei Lenormant falsch gelesen HEYalsTOZ KALO&, H2

60 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

die auf Münzen von Lipara (!%*) sich wiederholende Vorstellung der Gott- heit feuerspeiender Berge an deren Fufs der Weinbau beson- ders gedeiht, hier uns vor Augen tritt, unterliegt wohl keinem Zweifel. Der Eigenname des Vasenempfängers Kephitos war ursprünglich wohl ein Epitheton des Gottes selbst, wie aus Hesychius Glossen Kybuwdeis: rerubw- nevor, zararerıyarneva, insofern Typhos den Repräsentanten der Vulkane bildet, und Kypırıeis- yevos 'ISayevav scil. aöroy,Sovwv für Erdgeboren, und KarVTrcwv &amvenvy mit Wahrscheinlichkeit sich schliefsen läfst, und unab- hängig davon bei der dorischen Form dieses Namens Kagıros der Gedanke an Dampf und Rauch xa@vcs sich darbietet.

Auf der berühmten rothfigurigen Kylix der Erzgiefserei (1°) im königl. Mu3eum liest man AIOTENEZ KALOZ NAIXI über einem Epheben dessen Linke an die Seite gestützt ist, während die Rechte auf dem am Boden an- gestemmten Hammer ruht: er blickt nach den glühenden Kohlen, die ein bärtiger sitzender Mann mit Vulcansmütze mit einer Hakenstange anschürt: neben ihm arbeitet ein bärtiger Künstler mit dem Hammer. Bedenkt man dafs das Innenbild dieser Kylix Hephaistos die Rüstung des Achill für die vor ihm stehende Thetis beschaffend darstellt, so liegt es nahe mit Rücksicht auf das an der Wand hängende Bild eines Kabiren, in dem schönen Diogenes selbsteinenErzbildner und Schützling des Hephaistoszu vermuthen, dem nie- mand den Namen Zeussprof[s Auoyeves streitig machen konnte, da Homer(?*) ihn nicht blofs als Sohn der Hera, sondern des Zeus und der Hera anführt.

Auf dem Innenbild einer andern volcenter Kylix palästrischen In- halts (!%°) schreitet eine unbärtige Mantelfigur mit Krückenstab und Gerte

('%) Combe Mus. Hunt. T. 33, XIX. Panofka Einfluls d. Gotth. auf d. Ortsnamen Mars, 1o:

('®) No. 1608. Gerhard Trinkschal. d. Kgl. Mus. Taf. XII. XIII. Panofka Bilder ant. Leb. VIII, 5.

(‘%) Hom. I. I, 578; XIV, 338. Odyss. VIII, 312. Vergl. Hesiod. Opp. 299 Ilzosr, Atou yevos.

('®) Roulez Mm. de l’Acad. Belg. d. Sciences T. XV, pl. IH. Aufsenseiten Pl. I. Ringekampf zweier Epheben, rechts bärtiger Paedotribe mit Stab und Gerte, über dem Ringer HO MAIZ. Diesem im Rücken Ephebe mit Schurz und Hammer, Binde, KALOg, im Gespräch mit einem, der eine lange Schnur mit beiden Händen hält. Sollte vielleicht diese Schnur nächst ihrer Bestimmung als Cestus, hier wie im Innenbild auf die Mels- schnur desKünstlers eine Anspielung verbergen? Pl.II. Die Rückseite zeigt Cestuskäm- pfer, einen Paedotriben, links einen Jüngling mit einer Schnur, rechts einen mit Halteren,

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 61

vorwärts, sich umblickend nach einem Epheben mit Binde um den Kopf, der in der Linken einen Wurfspiefs, in der Rechten eine Schnur wie für Cestushält. Hinter ihm liest man AIOAENES, vor ihm KALOZ. Der Cestus erinnert an den berühmtesten Cestuskämpfer der griechischen Mythologie, an Polydeukes, und da dieser als einer der Auosxegoı auf den Namen Auc- yevys gerechte Ansprüche hat, so erkenne ich zwar zunächst in diesem Bilde des Diogenes Virtuosität im Cestuskampf, gleichzeitig aber das Verhältnifs des Schutzheros in welchem Polydeukes zu Diogenes stand.

Für die oben aufgestellte Vermuthung, dafs Diogenes ein Bildhauer gewesen, spricht auch auf dieser Kylix auf einer der Aufsenseiten seine mit Karos überschriebne Persönlichkeit mit Binde ums Haupt, durch Künst- lerschurz und Beil angedeutet, und an den bärtigen Künstler der ersten Kylix mit Hammer und gleichem Schurz lebhaft erinnernd.

Eine rothfigurige volcenter Kylix des Maler Peithinos (!°°), auf den Aufsenseiten mit Scenen von Männerliebe geschmückt, zeigt im Innenbild den Ringekampf von Peleus und Thetis, nah bei diesem und der für Thetis kämpfenden Schlange zieht sich AOENOAOTOZ KALOZ herab. Der Athe- negegebne ist hier kein andrer als ihr Sohn von Hephaistos, das Erdkind Erichthonios (''7), welches unter dem Bilde der Schlange dargestellt wurde (!°°). Dies darf uns aber nicht hindern uns zu vergegenwärtigen, dafs einerseits Peleus von Erichthonios der Bedeutung nach nicht verschieden ist, insofern r7Aos Lehm und %S&v Erde dasselbe bezeichnen: dafs aber andrerseits Peleus als raraiwv Ringer in dieser Kampfscene mit Thetis auf- tritt, und insofern Pallas als Göttin der gymnastischen Spiele gilt, zugleich das ’ASevoderos des Schützlings dieser Göttin auf ihn seine Anwendung findet.

Auf einer andern rothfigurigen volcenter Kylix erscheint im Innen- bild (1%) ein bekränzter Ephebe in der Höhlung der Linken ein Trinkgefäfs, in der Rechten einen Stab als Gleichgewicht haltend; dabei liest man ABOENOAOTOZ KALOZ. Auf den Aufsenseiten umgeben vier Epheben

(‘°) No.1005. Gerhard Trinkschalen d. Königl. Mus. Taf. XIH, XIV, XV. Panofka Namen d. Vasenbildner Taf. I, 1. 2.

(‘°) Hygin. Poet. astron. II, 13. Fab. 166. Apollod. II, 14, 6. Euripid. Jon 260. Paus. I, u, 5.

(23) Hygm-2PFA. II, 13:

('°) Mus. Etrusq. du Pr. de Canino 144.

62 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

mit Körben, Amphoren und Krotalen je zwei eine Auletria und eine Aequi- libristin mit gleichem Stab in der Rechten, und derselben Inschrift ASevo- deros Karos. Die Wiederholung des Balancirens im Innenbild, welches den Athenodotos als r«AAwv uns darstellt, und auf der einen Aufsenseite wo eine Frau in gleicher Aktion uns entgegentritt, finden beide ihre Erledigung, sobald wir uns klar machen, dafs Athene den Namen Nearr«s als Schwin- gerin und Tänzerin(!!') führt.

Einem sicilischen Töpfer gehörig, mit eingedrücktem AOANO und

AOTOY

Füllhorn daneben, traf ich denselben Eigennamen auf einem Vasenhenkel aus gebrannter Erde bei dem ausgezeichneten Numismaten Principe San Giorgio in Neapel: zu dieses Athanodotos Erklärung genügt es daran zu er- innern, dafs zu Thespiae Plutos mit Athena Ergane(!!!) im engsten Zu- sammenhang aufgestellt ward, und dafs auf der Akropolis zu Rhodos ein geflügelter Plutos gemalt war wegen des Goldregens bei der Geburt der Athene(!!2).

Dieselbe Erscheinung des Zusammenhangs zwischen Eigennamen und Bild überrascht uns auf einer einhenkligen gelbfigurigen Vase (!!?) mit der Inschrift NYOOANPOZ KALOZ und einem Thieropfer bemalt, welches drei lorbeerbekränzte Jünglinge (zwei davon mit dem Peplos bekleidet, der klei- nere nackt), der eine mit einer Fackel (!!%), der andre als Priester mit einer Schale vor dem lodernden Altar verrichten. Indem die Lorbeerbekrän- zung Apollinisches Opfer bezeugt, liegt es nahe hiemit in Verbindung den Eigennamen Pythodoros, Pythobeschenkter, auf Apoll zurückzu- führen, welcher von Poseidon Pytho zum Geschenk für Kalauria er- halten hatte.

Auf gleiche Weise treffen wir auf einer archaischen Amphora (Taf.II, 4) die Inschrift schön ist Pasikles NAZIKAE£ KALO& hinter dem Kitha-

(*'%) Plato Cratyl. 51. p. 406. To yaa mou m aurev 4 @ARo0 Merewoigem n dmo rus yns 9 Ev reis YEorı marAEıV ve za maAdssIaı zur ots Dar zaKoÜlLEV.

(U) Baus 2losel:

(‘') Philostrat. Imagg. II, 27.

('') Mus. Etr. du Pr. de Canino No. 537. Le sacrifice. Gerhard Rapp. volcente Ann. III, pag. 191, not. 815 liest IvSoözAos Kareos.

(+) Oder etwa Spiels mit Fettstücken ’?

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 63

roden Apoll zwischen Artemis und Leto('!5). Man mag nun diesen Eigennamen Allberühmt, richtiger Schlüssel für Alle, oder Pasiphae zu Hülfe rufend, rarıs für parıs, wie vavcs identisch mit $avös auffassend, Lichtschlüssel übersetzen: so bleibt im einen wie im andren Fall der Name für Apollo vorzugsweise geeignet, den der Empfänger der Vase wohl als Schutzgott verehrte.

So ruft auf einer rothfigurigen volcenter Diota (Taf. II, 10) der be- kränzte Apoll mit Pfeil in der Rechten und Bogen in der Linken, den Köcher auf dem Rücken, durch die Worte KALOZ KALLIKLEE seinen schönen Lieb- ling Kallikles an, der mit Binde ums Haupt, im Mantel gehüllt, auf einen Stab gestützt, auf der Rückseite der Vase dem Gotte gegenübersteht (!!6). Ob dem Apoll hier als schöner Eromenos Hyakinthos, Linos oder Branchos entgegenkommt, oder ob vielmehr der einzige von den Todespfeilen des Apoll verschonte Niobesohn Amphion, oder Amyklas (!!7), läfst sich nicht bestimmen. Dagegen dürfte der Name Kallikles als Schönheitsschlüssel oder als Schönheitsruf, ursprünglich einem Liebling des für Knaben- schönheit besonders empfänglichen Apoll, vor dessen Schenkel dieser Name steht, angehört haben, und erst später als Eigenname in das wirkliche Leben übergegangen sein.

EYOINETOZ Wohlgeliebt heifst der Besitzer einer archaischen (13) Önocho& (Taf. II, 6) gewils in enger Beziehung zum jugendlichen Kitharoden den diesmal nicht wie sonst die zwei andren delphischen Gottheiten Artemis und Leto, sondern entweder die drei Grazien als die Göttinnen der Liebe und Freundschaft, oder die drei Horen in ihre Mitte neh- men(1!?). Die Inschrift KALE vor Apoll, sowie die Eögireros hinter der mit

('®) Gerhard Auserl. Vasenb. I, xxv. Lenormant et de Witte Elite c&ramogr. II, xxıu. Man mag Ilesızays oder Hasızras lesen, beide Namen eignen sich für Apoll. Vgl. Am- phikleia, früher Amphikaeia benannt, Stadt in Phocis wo Dionysos im Traum Krank- heiten heilte Paus. X, xxxıı, 5.

(‘'%) Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXIV.

(*'”) Paus. V, xv1, 3. Apollod. III, 5, 6.

(‘'%) Lenormant et de Witte Elite Cram. II, xxxIr.

(“'?) Vergl. den Apoll mit den drei Grazien auf der Hand (Paus. IX, xxxv, 1. Plut. de Mus. T. X, p. 664 ed. Reiske); sowie den athenischen Flottenführer Sohn des Euphile- tos, Xagotörs bei Thucyd. III, 86; Xagicörs bei Justin. IV, 3. Für die Horen von denen Apoll auch wohlgeliebt wird, sprechen die Namen Kare Frühling und Sommer, Niperis identisch mit Chione Winter, und OivavSy Herbst.

64 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

einer Blume dem Sänger entgegentretenden Charis sind als aus dem Munde beider kommend zu denken, und verrathen das Liebesverhältnifs der Vasen- schenkerin zu dem Empfänger.

Die geheime Beziehung zwischen Euphiletos und Apoll leuchtet nicht minder deutlich auf einer archaischen Hydria hervor um deren Halsrand ZONAN ZOT3NIOY3 schön ist Euphiletos zu lesen ist. Die Malerei zeigt Apoll in Begleitung der Artemis, bemüht den von Herakles geraubten Drei- fufs wiederzunehmen; hinter Herakles stehen Minerva und Mercur(!?°). Den Streit des Herakles und Apoll sucht eine zwischen beide iretende bärtige Figur, Hephaistos (?2) zu schlichten. Der schöne Wohlgeliebte zunächst den Vasenempfänger angehend, trifft aber zugleich auch hier den Apoll und seinen Dreifufs als seinen wohlgeliebten Sitz.

Wenn drittens unser Euphiletos sich auf einer panathenaischen Preis- amphora als Sieger im Wettlauf der Panathenäen bekundet, und sein Name mit Karcs sich rings um ein Rad als Emblem des Schildes der Athene herum- zieht(!?!), so lehrt schon der männliche Name mit Karos, dafs Inschrift und Schildwappen nicht der Athene sich anschliefsen, sondern dem Sieger als sein Privatsiegel zufallen, wobei mit Vergleich der lezterklärten Vase das Rad als xUxAres wevrızes, ein Haupttheil des Dreifufses, als Sitz des orakel- gebenden Gottes oder seiner Priesterin, auf den Orakelgott Apoll zurückfüh- rend uns sehr zu statten kömmt.

Auf einer nolanischen Diota (Taf. II, 9) erscheint Artemis mit einem Bogen in der Linken, mit der Rechten einen Pfeil aus dem Köcher am Rücken nehmend, mit Haube, Ohrringen und einem Peplos über dem langen Chiton vorschreitend: vor ihrem Munde liest man KALOZ, vor ihrem Un- terkörper FTAAYKON „‚Glaukon ist schön.” Ihr entgegen kömmt auf der Rückseite eine Frau mit Haube, einem Peplos über dem langen Chiton, in der Rechten eine lodernde Fackel(!??), vermuthlich die mit der Nacht in

('?°) De Witte Cabin Durand Vas. p. 314.

('*') Braun Bull. 1841. p. 135. Gerhard Etr. und Kampan. Vas. d. Kgl. Mus. A. 5. Vgl. B. 15. wo im Rad drei Schwäne die Stelle der Speichen vertreten. Vgl. Aeschyl. Sept. c. Theb. v. 113. 414:

’Q Yeusomyane Öalaov, Erid Emıde Tav meorw, dv Mor södıryrav &Iov.

(') Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXV. Lenormant et de Witte Elite cera-

mogr. II, xvıu.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 65

einen Begriff zusammenfallende Göttin der Verborgenheit, Leto. Der Mei- nung des gelehrten Herausgebers ‚,‚ein junges Mädchen von den Pfeilen der Artemis getödtet und auf der Rückseite dargestellt, sei die Veranlassung dieses Vasenbildes,” kann ich schon deshalb nicht beiflichten, weil die grie- chischen Jungfrauen wie die unsrigen sich grade durch eine eigenthümliche Haaranordnung und Hauben- wie Schleierlosigkeit von den verheiratheten Frauen unterschieden. Warum aber grade dieser Gegenstand für eine Vase zum Geschenk an Glaukon gewählt ward, erläutern vielmehr folgende Worte des Cicero de Nat. Deor. II, 28: ‚‚der dritten Diana wird Upis als Vater und Glauke als Mutter beigegeben:: die die Griechen oft nach dem Vater- namen selbst Upis nennen.” Demnach dürfte die auf der Rückseite befind- liche fackeltragende Frau, mit Leto und der Nacht gleichbedeutend, als Mutter der Artemis auf den Namen Glauke gerechte Ansprüche haben und die Fackel in der Bedeutung des Lichts der Nacht die Stelle der Eule, yaav£, vertreten.

Ein einhenkliges rothfiguriges volcenter Gefäfs (!??) mit derselben Inschrift TAauxov Kadss zeigt einen mantelbekleideten jungen Mann, das Haupt mit einer Binde geschmückt: insofern er in der Rechten einen Pfeil hält, erinnert er unwillkührlich an die einen Pfeil aus dem Köcher holende Arte- mis der eben erläuterten Vase und giebt zu der Vermuthung Anlafs, der Bruder jener Artemis, Apoll als Schutzgott des Glaukon, für den diese Vase bestimmt war, sei hier abgebildet ('!**).

Eine rothfigurige volcenter Kylix auf den Aussenseiten mit Kämpfen der Griechen und Barbaren geschmückt, ist im Innern mit einem auf seine Lanze gestützten Krieger bemalt, der an der Linken einen Schild mit Stier- emblem trägt, auf dem Kopf einen Helm mit doppeltem Federbusch: nah dabei ist ein Knabe dessen Obertheil nicht mehr vorhanden. Wenn Herr Dubois(!?5) die Inschrift FAAYKOZ KANOZ schön ist Glaukos richtig

('?) Mus. Etr. du Pr. de Canino No. 553.

(*) Vergl. die nolanische Diota eines Glaukon der aus der Akamantischen Phyle als Choregos und Sieger durch eine dem Dreifuls sich mit Taenia nähernde Nike bezeichnet wird und in der Mantelfigur der Rückseite sich selbst offenbart. Panofka Mus. Blacas Pl. I. Abweichend äufsert sich Welcker Rhein. Mus. Bd. II, 1834. (Anzeige des Ibyei Fragm. ed. Schneidewin) $. 253: So ist auch der Name Glaukos (ausgenommen bei dem Seegott Glaukias) an einer volcenter Vase KALOZ TAAYKQNN nur von den Augen zu verstehen.

('?) Dubois Notice de Vas. du Pr. de Canino. 76.

Philos.-histor. Kl. 1849, I

66 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

gelesen, so dürfte das Bild den Trojaner Glaukos veranschaulichen, der mit Diomedes durch Gastrecht von Oeneus her befreundet, die Rüstung mit diesem tauschte ('?%), und beim Kampf um die Leiche des Achill dieselbe auf die Seite der Trojaner zu ziehen versuchte, nachdem die Lanze des Ajas ihm bereits eine tödtliche Wunde beigebracht hatte (177).

Auf einer archaistischen Hydria im brittischen Museum (!??) lesen wir AYZIMNMIAEZ KALOZ POAON KALE bei dem vierspännigen Hochzeitswagen auf welchem Braut und Bräutigam dieses Namens vom Kitharoden Apoll und zwei andren bekleideten Figuren, etwa Grazien, begleitet, einherfahren ; der Hals der Hydria ist mit dem Kampf um den Leichnam des Antilochos zwischen Achill und Memnon unter den Augen ihrer Mütter Thetis und Eos bemalt. Um den Zusammenhang zwischen dem Brautnamen 'Podev (Rose) und der Göttin des Morgenroths zu begründen und zu Gunsten des einen Vasenbildes wo Eos dem Memnonskampf zuschaut geltend zu machen, reicht es hin, an die rosenfingrige und rosenarmige Eos bei Homer (!??) zu erin- nern, sowie an Rhode, des Poseidon und der Amphitrite Tochter, die Ge- malin des Helios, welche Apollodor ('?°) als Mutter des Phaöthon bezeichnet, während Pausanius('?‘) dieselbe Hemera nennt. Auf gleiche Weise führt der Eigenname Lysippides auf den mit gelöstem Zügel des Viergespannes einherfahrenden Sonnengott (!°?), der ursprünglich wohl unter diesem Namen angerufen ward. Insofern aber der Name Rhodon uns zugleich nach der Insel Rhodos hinweist wo des Helios sprengendes Viergespann, der Kolofs des Lysippos, eins der sieben Wunderwerke der alten Welt, aufgestellt war: gewinnen wir hinlängliche Beweise dafür, dafs die Bilder der Braut- leute Lysippides und Rhodon nicht blos als Anspielung auf den Namen Ly- sippides auf der Quadriga erscheinen, sondern zugleich als Schützlinge der

(=) Hom&IlSVT,, 232.

('”) Monum. de l’Instit. arch. I, L1. Ann. Vol. V, p. 227 sqq. Qu. Smyrn. III, v. 277.

('®) Mus. Etr. 1547. Bei Gerhard Rapporto Volc. Ann. d. Instit. 1831, p. 83 AYZIAAEE.

(') Hom. Od. X, 187. H. in Sol. 6.

(3°) Apollodor. I, 4, 4.

@3 Pause

(2) Hom. h. in Sol. v. 7—9: "Harıv Fo azamavr, erısizerov aSIavaroısı,

ö5 baiveı Suyrası za aIavarosı Tedırıy,

7) Kran Immo EuLEehaws.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 67

Tagesgottheiten Helios und Eos, wie sie auf ein und demselben Wagen aus den Fluthen des Meeres aufsteigend schon apulische Vasenbilder seit längerer Zeit uns veranschaulicht haben. Zum belehrenden Vergleich mit dem Brautpaar Lysippides und Rhodon unsrer Vase bietet sich endlich noch ein Ehepaar aus der Danaidenmythologie, Hippolytus (Rofszerrissen wie Phaethon) und Rhode('#°) uns dar, das der Synonymie wegen Beachtung verdient. E

Auf einer andern nolanischen Diota des Wiener Antikenkabinets (Taf. III, 1) bringt eine herabschwebende Flügelfrau eine Kithara mit breiter gestickter Siegerbinde einer auf der Rückseite gemalten sie erwartenden ju- gendlichen Mantelfigur mit einem Stab in der Rechten ('’*). Ein Karcs Tırovidss schön ist Tisonides auf der Seite der Flügelfrau und von ihr ausgesprochen zu denken, verkündet den Namen dieser Mantelfigur, welcher als Sieger in der Kitharodie an apollinischen Festspielen Nike den Preis zu übergeben scheint. Indefs der Name Tisonides vor der Flügelfrau lenkt unsre Aufmerksamkeit auf jene berühmte rothfigurige volcenter Diota wo den mit einer Lyra versehenen Manteljüngling Tithonos die Göttin Eos ver- folgt aus deren Munde die Worte ou zavres earı zara KogwSes „‚„das schöne Korinth gehört nicht jedermann” um so treffender fliefsen, als die Morgen- göttin zu den gefeiertesten Gottheiten Korinths sich zählen durfte (133). Da- her wird es wahrscheinlich, dafs Tisonides mit Rücksicht auf Tithonos, den Sohn der Eos und des Kephalos('‘°), das Bild der Eos mit dem Saiteninstru- ment des Tithonos auf der für ihn bestimmten Vase bemalt bekam.

Auf einer rothfigurigen volcenter Kylix (Taf. IV, 1) kämpft einerseits Herakles mit dem nemeischen Löwen unter den Augen der Athene; drüber zieht sich ein KAL(os) NAIXI. Andrerseits verfolgt der jugendliche Dionysos mit einem Thyrsus eine Bacchantin mit Schlange und Krotalen, für Ariadne erklärt (177); oberhalb liest man KALOZ XAPODE. Dafs der Löwe bei

(°) Apollod. II, ı, 4.

(°) Laborde Vas. Lamberg T. II. Pl. XXXVII. Lenormant et de Witte Elite cera- mogr. I, xcvıut.

(*”°) Panofka Ann. de /’Instit. arch. Tom. XIX, p. 231—233. Braun. Bull. d. Instit. arch. 1848. p. 41, der ravroFeve z0).« KogwSco: liest.

(°°) Apollod. III, 14, 3. Welcker Rhein. Mus. II. Jahrg. 1834. S. 188.

(*”) Monum. d. Instit. archeol. I, xxvır, 41. Gerhard, Annali Vol. IH, p. 83. De Witte Cabin. Magnoncourt 33.

I2

68 Pıvorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Dichtern ('?®) mit dem Namen xapwv bezeichnet ward «rd 776 Yagemwerires, verdiente bei dieser Gelegenheit wohl ebenso ernste Beachtung, als die auf dem Berg Laphystion in Böotien aufgestellte Statue des Herakles (1°?), welche den Beinamen Kap führte, weil nach Böoter Sage Herakles hier mit dem Hund des Hades heraufgestiegen sei. Denn so würde der Name Charops als ursprünglicher Beiname des Herakles sowohl, als des aus der Unterwelt Semele heraufholenden Dionysos sich rechtfertigen, im Zusammenhang mit Charon, dem Fährmann der Gestorbenen, und die Verbindung zwischen Herrn Charops dem Besitzer der Vase und den Bildern der beiden Aussen- seiten zur Genüge einleuchten.

Auf einer rothfigurigen volcenter Kylix (1%) deren Aussenbilder einer- seits der Angriff des Peleus auf Thetis in der Umgebung von vier Nereiden, andrerseits drei Erasten mit drei Eromenen gruppirt zeigen, unter denen ein Ephebe mit der Überschrift EMEAIOZ KALOZ einen Skyphos aus dem Weinkrater füllt und trinkt, erblicken wir im Innenbild einen efeubekränz- ten, ithyphallischen Silen hingekauert mit einem Schlauch, den er zu öffnen beabsichtigt um einen efeubekränzten Krater damit zu füllen. Die Um- schrift dieser Figur lautet ZIAANOZ TEPMON HAYZ HOINOZ KALOZ ENEAEIOZ. Den frohen Silen mit Namen Komos sowohl, als mit Namen Oinos oder Hedyoinos, und dem Symbol des vollen Weinschlauches, haben als Repräsentanten des Lustweckenden Weinelementes schon längst entdeckte

(Gö)rBlesissiv:

(1?) Paus. IX, xxxıv, 4.

(*) De Witte Descript. d. Vas. &tr. 135. MEAEYZ, OETIZ, KAAYKA mit Del- phin, neben ihr angezündeter Altar, falsch von Hrn. Raoul Rochette auf das 'Thetidion be- zogen, oder die Verwandlung der Thetis in Feuer. Vielmehr bezeichnet Karvyzy caligo die Finsternils und bedarf als solche des leuchtenden Feuerheerdes, wie die Nacht einer brennenden Fackel zu ihrer Charakteristik; noch vier andre Nereiden tragen Na- mensinschriften, XOPO die Tänzerin, mit Helixpflanze, EPATO die Liebenswür- dige, IPIZIA mit einem Delphin, die Binde um den Kopf mit Wogen geschmückt, (vermuthlich wellenförmig liegende Wolle mit Bezug auf ihren Namen und 2: Wolle, etow ich winde, wickle): endlich KYMATOOAI die ihre Tunika aufhebt: die schon ge- rügte Phischeu (Panofka der Vasenbildner Panphaios S. 1.) verleitete auch hier KunaroSa: statt Kunerobern die Wogenzeigerin zu lesen. Die Rückseite schmücken drei Erasten und drei Eromenen. ON..OEOZ (schwerlich Hoplotheos, eher OrsıSeos) KALOZE NAIXI,IEMAXO= KALOZ,EMENOZKALOS bei einem Jüngling, der einen Skyphos aus dem Krater füllt und trinkt. OEOAOPOXZ KALOZ HO MAIZ KALOZ NAIXI.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 69

Vasenbilder uns kennen gelehrt. Dagegen tritt die bisher unbeachtet ge- bliebne Beziehung dieses Silen zu dem Eigennamen EreAıs und Erecıs hier zum erstenmal hervor und giebt diesem Vasenbild einen höheren Reiz. Der Name Epelios oder Epeleios ruft nemlich die Stadt Elis ins Gedächtnifs, wo dem Silenos besonders und nicht zugleich mit Dionysos ein Naos geweiht war: mit der Statue dieses vermuthlich auf einem Fels sitzenden Silen sah man Methe gruppirt dieihm Wein in einem Trinkbecher reichte('*!).

KALOzZ DEIAON schön ist Pheidon lesen wir auf dem Innenbild einer rothfigurigen Kylix (Taf. III, 7) neben einem bärtigen ithyphallischen Mann, der sich an die Erde bückt und in der Rechten sein Rhyton hält. Die Aussenseiten zeigen Nereidenumgeben einerseits Peleus und Thetis, andrerseits Nereus und Hermes (!*?). Da Hesychius geira: durch güran, Cucaı erklärt, so berechtigt er wohl das Rhyton in der Hand des Pheidon zu- gleich als Symbol seines Namens zu betrachten, unbeschadet des unbezwei- felten Gebrauchs beim Trinkgelage, für welches das Wort »edirıov womit die Lacedämonier ihre gemeinsamen öffentlichen Male bezeichneten, sich an- führen läfst.

OINANOE KALE schön ist Oinanthe lesen wir auf einer rothfigu- rigen volcenter Hydria (Taf. II, 8) über einer Frau, die sich auf Zeus’ Schul- ter lehnt zuschauend wie Ge den kleinen Dionysos der Athene heraufgiebt: rechts eilt die geflügelte Ilithyia mit einer Tänia herbei: den Hals der Vase schmückt ein Efeukranz ('*?). Dafs die Vase zum Wochengeschenk der Frau Oenanthe diente macht die Wahl des Bildes in Verbindung mit dem Namen sehr wahrscheinlich: allein ebenso berechtigt ist die Vermuthung, der Name Oinanthe Weinblüthe, den die Empfängerin führte, habe den Anlafs zu der auf Zeus’ Schulter sich auflehnenden Frau gegeben, in der wir der Oenanthe Schutzgöttin, nemlich die in Phlius und Sieyon mit dem Fest der

(On) Baus. VI, xxıv, 6.

(‘*) Gerhard Auserl. Vasenb. II, CLXXVII, CLXXIX. De Witte Cab. Durand 378. Vgl. Pheidon König der 'Thesproten bei Homer Odyss. XIV, 316, und das Füllhorn als Siegel des Pheidon QAZIO DEIAO auf irdenem Vasenhenkel bei Thiersch Abhandl. d. Münchn. Akad. d. Wiss. XV Bd. 1838.

(*) Lenormant et de Witte Elite Ceramogr. I, Lxxxv. Gerhard Auserl. Vasenb. II, cıı.

70 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Efeuschnitter verehrte Zeusgeliebte Weinschenkin Dia, Hebe, auch Gany- meda angerufen, erkennen (!’*).

KALOZ KAPYZZTOZ schön ist Karystos lautet die Inschrift auf einer archaischen Oenochoö (Taf. I, 3), worauf Hermes mit ungewöhnlich langem Heroldstab xguzeiov und Phiale, der Maja die einen Kranz hält, ge- genüber gemalt ist (1#5). Der Eigennamen Karystos hängt mit zagussw ver- künden zusammen; die Länge des Kerykeion steht damit in derselben Verbindung, die ich an dem Speer dogu von auffallender Länge und dem Vasenbildnernamen Asgıs auf einer Kylix des kgl. Museums zu beobachten schon früher Gelegenheit (!*%) fand. Die Münzen der Stadt Karystos (!’7) tragen aus diesem Grunde den Typus des Hahnes, als des dem Hermes ge- weihten Thieres und Tagverkünders; auf ähnliche Weise schmückt ein Her- mes als Botengott die Erzmünzen von Korykion ('*?).

EPINO=Z KALO& schön ist Erilos lesen wir um das Innenbild einer vothfigurigen Kylix (Taf. II, 2) neben einem bärtigen Mercur mit einer Ky- nee, Chlamys und Flügelstiefeln; im Vorwärtsschreiten begriffen trägt er einen Widder über dem Rücken und hält in der Linken einen Heroldstab (!*°). Dafs der Name Egıros mit egıov Wolle zusammenhängt und dadurch die Wid- deranwesenheit motivirt, habe ich schon früher ('5°) bemerkt. Allein auch der Begriff des £geiv reden, zumal mit Rücksicht auf den mit Sprache be- gabten Widder des Hermes und Phrixus ('5') verdient nicht mindere Be- achtung.

Der Inschrift KALOZ TIMAXZENOZ begegnen wir auf einer nolani- schen Diota (Taf. III, 2) des Blacas’schen Museums vor einem schreitenden

(‘*) Paus. II, xıu, 3. V,xxıı, 4.5. Panofka Zeus und Aegina (Abh. d. K. Akad. d. Wiss. 1835) cf. Pindar. Nem. V, 11. Thbeophrast. Char. pl. III, 19. Aristot. h. anim. V, 18. Aristoph. Ran. 1320. Eurip. Phoeniss. 238. Aristoph. Av. 588.

('*) Gerhard Auserl. Vasenb. I, xıx, 1. Panofka antik. Weibgeschenke S. 15. Mionn. D. II, p- 302.

('*) Panofka Namen der Vasenbildner Taf. I, 4. S. 164.

('”) Panofka Einfluss d. Gottheiten auf d. Ortsnamen 2ter Theil Taf. I, 8. S. 2.

(‘*) Einf. d. Gottb. 2ter "Th. Taf. I, 2.

(*) Mus. Chiusino Tav. XXXV.

('°°) Die Heilgötter der Griechen (Abh. d. kgl. Akad. d. Wiss. 1845) Taf. I, 7.

('’') Gerhard Winckelmann’s Programm Phrixus.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 74

bärtigen Hermes mit Petasus, Chlamys und Caduceus, während die Haupt- seite das Urtheil des Paris vorstellt. XAAMIAE= KALOX liest man unter dem auf der Hand der Aphrodite sitzenden Eros: vor dieser Göttin schrei- tet Athene mit einem Helm in der Hand und Hera mit Apfelhälfte zu dem auf einem Fels thierumgeben sitzenden Paris mit einer Lyra, welcher sich wie vor Schaam den Peplos vor die Augen hält ('%?). Hier erscheinen die drei Göttinnen als die Zevaı die Fremden; in Memphis hatte Aphrodite mit dem Beinamen Zeivn, gleichbedeutend mit Helena ('°°), ein Heiligthum im Hain des Proteus der Helena gastlich aufgenommen hatte (!°%). Hermes, der sie zu Paris führt, hat auf den Namen Tiuafevos Fremdenehrer gerechte Ansprüche. Der andere Name Xagpıdes unter Eros verbirgt um so sicherer eine Anspielung auf den Liebesgott selbst, als y«gu« Freude, Reiz, charme der Franzosen, Aapıres die Begleiterinnen der Aphrodite, und endlich das Standbild des Eros von Charmos ('?5) dafür sprechen.

Auf einer andern nolanischen Diota stehen dieselben Worte Xaguıdes xaAcs neben einem fliegenden Eros, der mit der Rechten die Lanze schwingt, und an der Linken den Schild mit dem öxavov am Arm befestigt hat. Herr Dr. Schulz ('5°), dem wir die Beschreibung dieser Vase verdanken, fügt hinzu, es scheine zweifelhaft ob dieser Eros mit der jugendlichen Mantelfi- gur der Rückseite in Verbindung stehe. Ich trage kein Bedenken in der Figur der Rückseite den Charmides selbst zu erkennen, welchem Eros Lanze und Schild überbringt als Tropäum, zumal des Hesychius Glosse xaguns' Mayns ihrerseits uns lehrt, dafs in dem Namen Charmides der Begriff des Scharmützels sich nicht ausschliefsen läfst. Nächst dieser individuellen Beziehung lassen aber die Waffen in der Hand des Eros noch in demselben einen Eros Uranios (57) oder ’Avızyrcs, den Gefährten der Aphrodite Urania, Nien, ürdıruevn, erkennen, und da bei dem Göttinnenstreit der vorherbe- schriebenen Diota Aphrodite ebenfalls den Sieg davonträgt, so leuchtet ein,

(”?) Gerhard Ant. Bildw. XXX.

(*”) Bulletino Archeol. Napolet. 1847. Agosto.

('”*) Herod. II, 112. Strab. XVII, p. 807. Hor. Od. III, xxvı, 9. ('”) Paus. I, xxx, 1. Plut. Solon. 1.

(*”°) Bull. dell’ Instituto arch. 1842. p. 13.

(””) Panofka Terracotten d. Kgl. Mus. Taf. XXX. S. 96.

7 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

dafs auf beiden Vasen der dem Eros zum Grunde liegende Charakter, im Einklang mit der ihn begleitenden Namensinschrift Xaguiöys, auf einen Eros Aniketos hinweist.

Denselben Ausruf Xaguides zaros treffen wir auf einer andern nolani- schen Diota, offenbar aus dem Munde kommend einer vor einem Korb sitzen- den Frau ('°®), welche einen Myrten- oder Oelkranz eben gebunden hat und für den Charmides der Rückseite bestimmt. Von der Natur des Kran- zes hängt die Entscheidung ab, ob hier ein blofses Liebesverhältnifs oder der Ruhm eines Siegers das Vasenbild hervorgerufen; im einen wie im an- dern Fall bleibt aber unsere frühere Deutung des Eigennamens Xagyudes und dessen Beziehung zu dieser Vorstellung in voller Kraft.

KALO=Z XAPMIAES schön ist Charmides ruft auf einer nolanischen Diota des Cabinet Luynes (Taf. IV, 12) eine Flügelfrau, die nach einem Epheben mit Lyra hascht, während auf der Rückseite ein zweiter Ephebe mit vor Schreck ausgestreckten Händen flieht ('°%). Offenbar verfolgt hier Eos den Tithonos, dem sowohl wegen des Reizes seiner Schönheit als we- gen des Zaubers seines Saitenspiels der Name Xaguıdys vermuthlich beigelegt wurde. Merkwürdiger Weise kehrt dieselbe Inschrift auf dem Bilde einer andern Vase (!°0%) wieder hinter einem Herscher, der mit offnen erhobnen Händen vor einem Tisch mit Opfergaben in Früchten, Kuchen und Binden bestehend sein Gebet verrichtet, vor ihm OEOI, hinter ihm Scepter mit Blume. Auf der Rückseite streckt eine langbekleidete Frau mit sterngestick- ter Mütze die Rechte nach dem Tische hin. In dieser lezteren Figur ver- muthe ich wiederum Eos und in dem bisher als Priester gedeuteten Fürsten ihren Gemal Laomedon: die Inschrift Xaguıdes zarcs bezieht sich alsdann wie auf der vorigen Vase, auf ihren Sohn Tithonos, und der Anruf OEOI gilt der Eos selbst, sei es dafs man ihn für EOI mit der Aspiration des & auslegt, oder mit dem etruskischen Namen Thesan für Eos vergleichend, Sew gleich Seavw, die Schauende übersetzt ('%').

('°®) Ihre Haube ist mit Sternen gestickt; hinter ihr bringt eine Dienerin ein Eimer- ähnliches Gefäfs (Tischbein Vas. Hamilton IV, 31. Inghirami Vas. fittili I, Tav. XIX).

(°) Duc de Luynes Choix d. Vas. Pl. XXXIX.

('°) De Witte Cab. Durand 628, jetzt im Muse Blacas.

('*) Braun Bull. d. Instit. arch. 1837 p. 80. Mus. Gregor. I, xxxı, 1.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 73

TIMAXZENO& KALOZ schön ist Timaxenos steht auf einer no- lanischen (Taf. III, 8) Diota über einem horizontal schwebenden Eros, des- sen Hände nach unten ausgestreckt sind, um einen unter ihm laufenden Hasen zu erhaschen. Auf der Rückseite hält ein andrer fliegender Eros eine Binde mit beiden Händen (!°): KALOX steht neben ihm. In dem Gemälde die Eroten (L.I, 6) lehrt der ältere Philostratos dafs „die Liebesgötter nach dem Hasen nicht mit ihren Pfeilen zielen, sondern ihn vielmehr mit den Händen zu fangen sich bemühen, als das der Göttin werthe Thier.” Des- halb sucht Eros den Hasen hier mit den Händen zu fassen. Vermuthlich stellen die beiden Eroten Eros und Anteros oder Pothos und Himeros dar: der Eigenname des Vasenempfängers Timaxenos gehörte ursprünglich dem Eros, welcher hier den flüchtigen Hasen aufzunehmen bemüht ist, und als solcher sinnbildlich andeutet, dafs er die Zeva, zu denen die izeraı auch ge- hören, durch Hirsch (1°) und laufenden Hasen in Sprache und Kunst sinnig vertreten, zu ehren weils. In dem Eros mit Binde auf der Rückseite ver- muthen wir als Geber der Vase den Charmides versteckt, den wir schon auf mehreren andren Vasen sowohl als Eros Aniketos, als in Verbindung mit Siegeszeichen, nachgewiesen haben.

Das enge Verhältnifs zwischen Timaxenos und Charmides, auf wel- ches die Diota mit dem Parisurtheil zu schliefsen berechtigte, verräth noch eine andre nolanische unedirte (!%) Diota im Blacas’schen Museum. Zwei bärtige Satyrn, die linke Hand erhoben, die Rechte rückwärts gehalten, suchen eine thyrsushaltende Bacchantin zu ergreifen, die auf der Rückseite, mit fliegendem Haar, mit der Rechten das Ende ihres Chiton haltend, ent- flieht, den Kopf nach ihren beiden Verfolgern zurückgewandt. Vor dem Kopf des Satyr links steht XAPMIAEZ KALOZ, vor dem rechts TIMAXZE- NOzZ KALOE.

Die Inschrift NIKOZTPATOZ KALOX& befindet sich auf einer archai- schen Amphora, deren Hauptseite Athene mit Herakles, zu Viergespann gegen einen Giganten kämpfend, darstellt, während auf der Rückseite Athene

(‘°) Gerhard Ant. Bildw. LVI. R. Rochette Monum. Inedits Pl. XLIV. De Witte Cab. Durand 46. Vgl. die Münze von Kyzikos Mon. d. Instit. I, ıvır. B. n.5. (‘*) Plut. Qu. Gr. XXXIX: Kat yao &rados 5 Eulas zarsiran. (‘) Diota Nolana im Musde Blacas No. 74. Philos.- histor. Kl. 1849. K

74 Paınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

bei dem Zweikampf zweier Panopliten dazwischen tritt (1%) So gewifs we- nig Beinamen für Athene besser passen als der Nixorrgaroes Heeressieg, so nehmen wir doch wegen der männlichen Form Anstand ihn vollständig der Göttin zuzuweisen, sondern können ihr nur die erste Hälfte desselben zuerkennen, insofern sie unter dem Namen Nike in Athen und anderwärts Anbetung genofs, und besonders wenn Herakles neben ihr auf der Quadriga fährt, den Charakter der Nike auch ohne ein Emporsteigen nach dem Olymp für sich in Anspruch zu nehmen vermag. Den Namen Nikostratos aber weisen wir dem Herakles zu und stützen uns hiebei auf die Verse des Ko- mikers Ephippos in den Peltasten ('°°):

Mevergarns ev Ebannev eivar Zeus Seos;

Ninoorgaros Ö° "Apyelos Eregos Hoandrs;

Derselben Inschrift NIKOZTPATOZ KALOZ begegnen wir auf einem rothfigurigen Stamnos von Chiusi, geschmückt mit dem Bilde des Braut- paars MEAEYZ und OETIE, die ersterer dem Centaur XIPON als Yano- eroros zuführt. Die hinter Peleus lesbare Inschrift „trefflich ist Niko- stratos” lehrt den Namen des Vasenempfängers kennen, der als Ringer und Streiter mit IIeAeös wahrscheinlich in ähnlicher Sinnverwandtschaft stand, wie Nikostratos mit Herakles und Athene ('7).

Zur Erläuterung dieses Namens füge ich die bei Plutarch Arat. 18 erwähnte Erzählung bei, dafs auf Befehl des Aratus der Maler Nealkes den Aristratos aus seinem Gemälde wegzulöschen genöthigt, an dessen Stelle nur eine Palme malte, nichts andres hinzuzusetzen wagte. Offenbar diente die Palme hier zur bildlichen Inschrift des Aristratos Heertapfersten oder Heervernichters.

Auf dem Innenbild einer rothfigurigen Kylix (1%) des Malers Doris liest man XAIPEZTPATOX KALOZ auf einen Epheben bezüglich, der Bin- den (reiauüves) hält und seine Hand nach einem Altar richtet. Die Binden

('®) Mus. Gregor. P. II, Tav. XLI, 1.

('%°) Apud Athen. VII, p. 289b.

(‘°) Mus. Chiusino XLVI, XL. Gerhard Bull. archeol. 1831 p. 143. Panofka Mus. Blacas p. 38. Vgl. Hes. Ilarainwv" 6 “HoazAds.

(‘%) Dubois notice d’une Coll. d. Vas. du Pr. de Canino 214. Die Aussenseite stellt einen Paedotriben dar, der zwei Ringergruppen beaufsichtigt, AOPIZ EFPAYZEN, Ky- lix im Besitz des Hrn. R. Rochette.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 75

offenbaren den Sieg des Chairestratos, ausgestreckte Hand und Altar seinen Dank an die Gottheit. .

Derselbe Maler Doris schmückte einen rothfigurigen Kantharus (169) einerseits mit dem Kampf des Herakles gegen vier Amazonen, andrerseits mit dem des Telamon in voller Rüstung gegen eine gleiche Zahl Kriege- rinnen und XAIPEZTPATOZ KALOZ. Bei der Belagerung von Ilios durch Herakles brach Telamon zuerst in die Stadt; dann Herakles, der über Te- lamon’s Zuvorkommen so erbittert war, dafs er ihn tödten wollte. Telamon ‚aber sammelte schnell die umherliegenden Steine und antwortete auf Hera- kles Frage was er beginne: er baue dem Herakles Kallinikos einen Altar (17°). Da lobte ihn Herakles und gab ihm die Hesione zum Siegespreis. Irre ich nicht, so steht der Name Nager rgaros Heeresgrufs gleichbedeutend mit Nirosrgaros Heeressieg, in einem geheimen Zusammenhang mit Telamon, auf dieselbe Weise wie in dem angeführten Mythos dieser leztere zu Kal- linikos.

Neben dem Ringekampf des Herakles und Nereus steht auf einer ar- chaischen tyrrhenischen Amphora (!7!) LSQETPATOZ KALOZ KAPTA „So- stratos ist sehr schön”, offenbar der Name des Empfängers dieser Vase. Obwohl der Name Heereshort zunächst an Ares erinnert, den hier aller- dings Nereus (!7”) zu vertreten vermöchte, wie Neriene als Kriegsgöttin der Athene gleich angerufen ward: so erscheint es doch angemessener ihn mit Herakles in Verbindung zu setzen, zumal auch einer seiner Lieblinge, dem bei Dymae in Achaja Todtenopfer dargebracht wurden, denselben Namen Sostratos führte (!73).

(‘°) Gerhard’s Archäol. Zeitung 1846 No. 42. S. 287. AORIZEFRAGBZEN KAl ENIDIESEN. Vgl. Dubois Notice d. Vas. du Pr. de Canino 43. Amphora. Ein jun- ger Krieger besteigt eine Quadriga und scheint auf die Rede eines andern vor dem Wa- gen stehenden zu hören. Vor den Pferden hält sich ein Stallknabe beim Gezäum beschäf-

tigt A. MAZ (etwa Acuas?) KAIPEZTPATOE KALOE. Rv. Eine in einen Peplos

gehüllte Frau reicht einen Kranz einem Jüngling, dessen Haupt mit Smilaxblättern umwun- den ist. Zwischen beiden Figuren liest man XAIPETE. Hinter der Frau stützt sich eine mit Smilax bekränzte bärtige Mantelfigur auf einen Stab. Vor ihm steht zOPEMOZ?

(‘”°) S. Birch in Gerhard’s Arch. Zeit. N. F. Beilage No. 7. Sept. 1848. S. 107 *. ("') De Witte Descr. d. Vas. etr. 83. Rv. Bacchus zwischen zwei Satyrn. (‘””) In Geronthrae in Laconien Paus. III, xxı, 8. (2) Baus syn 4, K2

76 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Eine archaische Prachtvase des Kgl. Museums (!7*) ist mit der Be- wältigung des Triton Nereus durch Herakles nebst den Inschriften HEPA- KAEZ TPITONNOE und (K?)TEZINEOZ KALOZ bemalt. Obwohl $r4- cırews mit gleichem Recht wie Krarirsws sich ergänzen liefse, da Herodot(!7°) einen Sohn des Thrasylus als Heerführer der Athener bei Marathon, mit Namen Stesileos erwähnt: so neigen wir doch mehr zu der bereits vom Her- ausgeber aufgestellten Lesart KreriRsos hin. Denn wenn Hesychius urndwv wie »reıs für Kamm und Dreizack (!’°), xrevwry durch üpavry gewebt erklärt: und Sophocles ('7) die Wolle xrnricv Bored Aay,ıyv nennt; so erse- hen wir daraus, dafs zr&w den Stamm von zreivw nicht nur, sondern auch von xrevw bildet und dürfen wohl KrysiRews durch Weberumschlinger übersetzen und von Herakles verstehen, der den Weber (vrnrıss) Nereus umschlingt (iv). Von dieses Heros Beinamen leitete der Empfänger der Vase seinen gleichlautenden Eigennamen her.

AEATPOZ KALOZ und OAYMNIOAOPOZ KALOZ lesen wir auf einer volcenter Amphora neben zwei bärtigen Reitern zu Pferd, deren eines den Namen APETE Tapferkeit, das andre den Namen OPAZOZ Kühn- heit führt (17%). Da Olympiodoros nur den vom Olympier Zeus gegebenen, das ist Polydeukes (!’?), zu bezeichnen vermag, so folgt hieraus, dafs Leagros auf Kastor zu beziehen ist und zwar mit Rücksicht auf dessen kriegerischen Charakter, der im Worte xzagew rüsten sich aus- spricht, läfst der Name Asayges wohl am schicklichsten sich Beutesamm- ler übersetzen. :

Auf einer berühmten Kylix des Kachrylion und Euphronios, wo einer- seits Herakles den Geryones bekämpft, andrerseits Jolaos dessen Rinder schon als Beute fortführt, lesen wir auf jeder Seite die gleiche Inschrift

(”*) No. 697. Gerhard Etr. und Kamp. Vas. d. K. Mus. Taf. XV, xvı, 5. ('”) Herod. L. VII, 114.

('”%) Monum. d. Instit. arch. Tom. II, Pl. XXX. ('”) Trachin. v. 690. ('”) Mus. Gregor. P.II, Tav. VIII, 2b.

(‘”) Pindar. Nem. X, 80 (150), Sch. Theocr. XXIV, 130. Apollod. III, 10, 7. Hygin. F. 77. Tzetz. Lycophr. 511.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 77

„Leagros ist schön”, einmal als Synonym von Herakles, das andremal bei Jolaos (!?°).

Eine andre Kylix des Kachrylion (!°!) zeigt „einerseits Aegisth von dem wüthenden Orest zu Boden geworfen, der mit der einen Hand ihn bei den Haaren hält, mit der andren das Schwert erhebt um ihn zu durchboh- ren: eine schwerbekleidete Matrone, Klytämnestra, hält den Degen zurück: Elektra läuft mit einer Art Keule in der Rechten herbei. In der Nähe des gesunknen Aegisth ermuthigt ein Jüngling, Pylades, durch Geberden, die Rache zu vollziehen. Auf der Rückseite kämpfen zwei Krieger mit der Lanze, der eine hat einen Raben als Schildemblem; zwei jugendliche Augurn(?) halten das Schwert erhoben über einem Hasen und kleinen Eber, den Ausgang des Kampfes abwartend, um die Opferthiere zu schlachten;; drei andre Krieger sehen aufmerksam der Scene zu. AEAAPOZ KALOE steht über jeder der beiden Vasenmalereien (!??).” Deuten wir dies leztere Bild richtig auf den Zweikampf des Eteokles und Polyneikes, den der Rabe als Schildemblem zu charakterisiren vermag, so läfst sich der Name Acaypos Beutesammler auf ihn, der, Vielstreit heifsend, ein Synonym des Kriegsgottes darstellt, als namengebenden Schutzheros zurückführen. Auf dem Vorderbild dagegen halte ich Leagros für ein Synonym des Ore- stes, insofern dieser Eigenname auch den Hasenfänger bedeutet, da Asws lepus mit Aaus, Aayws übereinkömmt und andrerseits "Ogerrys den Berg- und Waidmann und deshalb insbesondere den Kentauros, den Hasen- spicker bezeichnet ('°°).

(°) Monum. d. Instit. arch. II, xxıı. Panofka Namen d. Vasenbildner Taf. IV, 9 u. 10. (°) Mus. Etr. du Pr. de Canino 1186.

('%) Im Innern liest man um einen Silen mit Schlauch und Trinkhorn KAXPYAION EMOIEZEN. Vgl. Mus. Etr. du Pr. de Canino 584. rothfigurige Kylix, innen halb- nackte Frau mit Krotalen in den Händen; AEAAPOZ;, und Dubois Notice de Vas. etr. du Pr. de Canino 36. nolanische Amphora: einerseits rebenbekränzte halbliegende Frau, die zehnsaitige Lyra spielend: neben ihrem Munde liest man MAME KAIMOTEO. Im Feld NEAMPOZ KALOE. Rv. ein Ephebe, den efeubekränzten Kopf umwendend, nur un- terhalb bekleidet, liegt auf einem grolsen Kissen, den Ellenbogen aufgestützt, die Kylix zum Kottabos bereit haltend; AEAAPO=Z KALO=E MAIS.

('®) Vgl. die Münzen der Orestae mit Centaurentypus Mionn. Suppl. III, Pl.VIH, 1u. 3 pag. 85, No. 520. Vgl. S. Birch Deser. of a fict. Vase (Archaeologia Vol. XXXH, p. 165), der den Namen ATPIOXZ über dem Kopf des Orestes auf einer apulischen Vase des Sir

78 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Zur Beleuchtung künftig zu entdeckender Vasenbilder mit As@yges »aAos erinnere ich, dafs Ergaios, ein Nachkomme des Diomedes, von Te- menos überredet, das Palladium aus Argos unter Mitwissen des Lea- gros stahl. Dieser erzürnt, bringt es später nach Lacedämon ('°*) und stellt es neben dem Heiligthum der Leucippidinnen (1%), Gemalinnen der Dioscuren, auf. Zum Wächter wird einer der früheren Diebe, Odysseus, nicht ohne Rücksicht auf Penelope, die auch daneben ein Heroum hat, gewählt.

Eine volcenter archaische Hydria (!°%) zeigt am Bauch zwei Wagen- lenker auf Biga und zwei Heroen mit Helm, ohne Lanze, die noch nicht aufgestiegen sind. Die Inschrift KALOZ AEOKPATEE lehrt Leokrates als Empfänger der Vase kennen. Am Hals derselben sehen wir Achill und Memnon im Zweikampf in Gegenwart ihrer Mütter. Die Namenähnlichkeit zwischen AyxAews und Asoxgarys motivirte wahrscheinlich die Wahl die- ses Bildes.

An die Prüfung dieser dreiundsiebenzig Vasenbilder im Zusam- menhang mit ihren Eigennamen mit »«aAos schlielse ich zur Begründung unse- rer Entdeckung und zur Vervollständigung dieser Vasenepigraphie Betrach- tungen gleichen Inhalts über siebenundzwanzig andere Vasenbilder, die theils dem Heroenkreise, theils dem wirklichen Leben anheimfallen, aber an Belehrung die bisher geprüften wo möglich noch übertreffen.

Auf einer volcenter Amphora (Taf. III, 4) sitzt Thamyras in Odry- sentracht auf einer Anhöhe die Lyra spielend: links stehen zwei Jungfrauen auf einander gelehnt und hören aufmerksam seinem Gesange zu; nach der Überschrift XOPONIKE zu urtheilen, vielleicht als Chor einfallend und be- gleitend. Rechts tanzt ihm entgegen mit einem Zweig in der erhobenen Rechten eine weifshaarige Frau, deren dorische Kleidung sie von der atti-

William Hamilton (d’Hancarville II, 68); durch die Scholien des Proclus (p. 47, 48. s. 86. ed. Boissonade) zu Plato Cratylus s. 26 gelehrt erläutert.

(‘*) Plut. Qu. gr. XLVII.

('®) Dieser Mythos liegt wahrscheinlich dem von Gerbard Archaeol. Zeitung N. F. 1848. Taf. XVI, ı publizirten, aber nicht glücklich erklärten Vasenbild zum Grunde: die Identität der Frau auf der Quadriga mit der Leucippidin auf der Midiasvase im brittischen Museum (Gerhard die Vase des Midias Abh. d. Akad. d. Wiss. 1839) springt in die Augen.

('°) Bull. d. Instit. arch. 1829, p. 82.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 79

schen der vorgenannten Jungfrauen unterscheidet (1%), Hinter ihr liest man die Inschrift EYAION KAAOZ, aus ihrem Munde kommend zu denken; auf den Eigenthümer der Vase zunächst bezüglich, verbirgt dieser Ausruf zu- gleich eine Anspielung auf Thamyras, die einzige männliche Gestalt und Hauptfigur des Vasenbildes. Der Wettstreit des Thamyras mit den Musen zu Dorion oder Dotion berechtigt in dem Schwesterpaar zwei Musen zu er- kennen; die Alte ('°°) dagegen dürfte am passendsten auf Argiope, eine am Parnafs wohnende Nymphe und Mutter des Thamyras (!3°), zu be- ziehen sein, da einerseits ihr Charakter als Lokalnymphe und als Mutter den Zweig in ihrer Hand doppelt rechtfertigt und andrerseits ihre Weifs- haarigkeit als Übersetzung des Namens "Apyıoarn die weifsaussehende gel- ten kann. Der Eigenname Euaion (!°) Eiaiwv endlich enthält sicher den Wunsch eines guten Lebenslaufs und birgt den Gedanken „möge es dir gut gehen!” In diesem Sinne verbindet Aeschylus (!°!) edaiwva mit Rio- rev und Callimachus (1%?) setzt edawva neben öAßırrev „sehr glücklich”, in- dem er singt „Autono& wird in Vergleich zu ihrem Loos dich (Chariklo, Mutter des Tiresias) überglücklich und wohllebend preisen, da du aus den Bergen den blinden Sohn wieder zurückbekamst.” In Übereinstim- mung hiemit erklärt Hesychius euaswv durch eüyngus, eüneigws gutes Alter, gutes Loos erlangend. Über dem Haupt des Thamyras breitet sich lie- gend wie ein Ast aus, etwa mit Anspielung auf den Namen Oanupas, ein San- vos, den Hesychius durch ruSunv Öevögou 7 62a moNous nAQdous EnmeuToUT« erläutert.

(*) Monum. d. Instit. arch. II, xxıv. Annal. Tom. VII, p. 231-38. Mus. Gregor. P. II, Tav. XIII, 2.

(**®) Nach genauer Prüfung des Originals im Frühling 1847 zu Rom habe ich mich überzeugt, dals die von den Herren Braun und Welcker aufgestellte Ansicht „‚die Alte sei ein Mann, weil sie keine Brüste habe und weil Evarov zaAos bei ihr stände”, unhaltbar sei und schon im Costüm, das dem der rzobo gleichkömmt (Millingen Peint. des Vas. Gr. Pl. XXXIX), ihre entschiedenste Widerlegung findet.

(‘) Apollod. I, ım, 3. Paus. IV, xxxıı, 4.

(a) er Callimach. H. in Delum v. 292: Ovris re AoEw re zar edalav ‘Exezoyn* Schol. ad h. I. eiawv* % Mzgiee.

('?') Aeschyl. Pers. v. 711. ('?) Callimach. Lavacr. Pallad. v. 117.

s0 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Wir hatten die Vermuthung aufgestellt ('??), dafs Euaion die Vase von Seiten eines Verwandten oder Freundes geschenkt empfing auf Anlafs seines Choregensiegs, als er die Kosten der scenischen Aufführung des so- phocleischen Drama’s Thamyras bestritten. Welcker ('%*) behauptet, dafs unser Vasenbild nicht den mythischen Sänger Thamyras, sondern einen jungen Citharöden dieses Namens angehe, ohne zu erwägen, dafs in diesem Falle der Name von einem xa%os begleitet sein mufste.

Demselben Euaion begegnen wir auf einer andern volcenter Amphora (Taf. III, 6) im Bilde eines glücklich heimkehrenden Kriegers mit der Über- schrift AYKAON Lykaon. Die Siegesgöttin NIKE spendet ihm aus ihrer Oenocho& Wein in seine Phiale und richtet an ihn die vor Lykaon sich hin- ziehenden Worte Evamwv »aros. Rechts steht wohl des Lykaon bärtiger Va- ter mit einem Krückenstab und der Überschrift ANTANAPOZ (19°). Dieser leztere Name Antandros Mannesstatt in so naher Verbindung mit Ly- kaon Verwolfer mufste den Griechen jenen Lykaon Arkadiens, den Sohn des Pelasgos, ins Gedächtnifs rufen, welcher, seinen eignen Sohn dem Zeus Lykaios opfernd, aus einem Menschen in einen Wolf am Altar verwandelt ward ('%%), zumal Pausanias bald darauf (!?7) von einem noch gröfseren Wun- der berichtet, später sei einer bei gleichem Menschenopfer in einen Wolf verwandelt worden, aber es nicht zeitlebens geblieben, sondern sobald er sich als Wolf zehn Jahre des Menschenfleisches enthalten hatte, sei er wieder aus einem Wolf zu einem Menschen geworden: "Ev de ru ravrı alavı moAA« nlv maraı vunßavra * Ö8 zul erı yıwonsva, amırra Eva meromnarı & ToÜs MoA- Aous ol reis aAyIerw Emoinodoueuvres eVeusueva. Acycurı Yap M, ws Auxaovos Ünregov On rıs EE dvIgwweu Aunos Yevamro Emi TH Yuoie Tov Aunalou Aus, Yıy- vorro Ö oüx Es aravra rov Blov etc.

Übersehen ward auch bisher der innere Schmuck des Schildes des Lykaon, Zweigund Sterne. Der Zweig oder Kranz, wohl von Waiden- blättern, Auyos, kann wie die beiden Sterne, auf die beiden mit der Auzn,

(9) Annal. de l’Instit. arch. Tom. VII, pag. 237. (”*) D. epische Cyklus S. 150. Not. 185.

('”) Gerhard Auserlesene Vasenb. II, cr.

(26) "Baus VI, ımelr

2) Paus: NIE, 27,8:

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 81

Asury, alba, im engsten Zusammenhang stehenden Morgen- und Abendsterne, Castor und Polluces, hinweisend als Sinnbild für Lykaon gelten, so gut wie der Pegasos auf dem Helm, das Rofs der Eos, wobei das Pegasossiegel des Vasenbildners Panphaios uns als Analogie zu Statten kömmt (19%). Beachtung verdiente ferner noch, dafs die beiden bisher entdeckten Vasen des Euaion dessen Siege zu Leier und Schwert, wie die Inschriften Xopovine und Nire unwiderleglich beweisen, zu verherrlichen bestimmt sind.

Als Letronne ('??) die Eigennamen Evnuegos, Evpmvos und Everns her- vorhob als die verschiednen Zeitsbschnitte von Tag, Monat und Jahr in sich schliefsend, vergafs er auffallender Weise unsern Evamwv als Schlufs- stein hinzuzufügen. Seine Übersetzung „in einem guten Tag, Monat, Jahr geboren” scheint mir weniger gerechtfertigt als die von uns oben für Edawwv geltend gemachte eines Glückwunsches mit Rücksicht auf gutes, langes Le- ben; sodafs wir die vier griechischen Eigennamen lieber durch Gutentag, Gutmond, Gutjahr, Gutalter verdeutschen möchten. In diesem Sinne vermag das graue Haar zugleich auf den Namen „Gutalter” anzuspielen.

Auf einer rothfigurigen nolanischen Diota (Taf. IV, 10) im Blacas’- schen Museum erblicken wir einen bärtigen, hauptbekränzten Mann, mit hinten am Hals angebundenen Petasos; die Chlamys hängt über der ausge- streckten Linken, die Scheide am Gürtel an der Seite; das Schwert hält er gezückt in der Rechten, weit ausschreitend und bedrohend eine vor ihm fliehende Frau im Peplos über dem langen Chiton, das Haupt mit einer Stephane, die Arme mit Armbändern geschmückt. Während sie mit der Linken das Kleid wohl für leichtere Flucht in die Höhe hebt, richtet sie Blick und Rechte Mitleid erflehend nach dem Verfolger, vor dem man die Inschrift OIONOKAEZ liest. Auf der Rückseite des Gefäfses eilt ein kahl-

KALOZ köpfiger mit Binde geschmückter Alter im Peplos über dem langen Chiton, mit ausgestreckter Rechten, einen Krückenstab in der Linken haltend hinzu, KALOZ KALMAZ ruft er aus (2°). Irren wir nicht, so stellt dies Vasenge-

(‘*) Panofka der Vasenbildner Panphaios Taf. II, II. (‘”) In der Rey. Archeol. 5 Anne, 2. Livr. 15. Mai 1848. p. 119: nd dans un jour, mois, an heureux.

(°°) Unedirt No.118. Vgl. das Vasenbild mit gleichem Namen bei Tischbein Vas. d’Ha- milton IV, 50. wo der Angreifende im kurzen, gefalteten, umgürteten Ärmelchiton unter

Philos. -histor. Kl. 1849. L

32 Paworza: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

mälde Alkmaeon dar, Rache nehmend an seiner Mutter Eriphyle für seinen Vater Amphiaraos (?°!), dessen Geist aufregend auf der Rückseite aus dem Grabe aufsteigend zu denken ist (2°). Die Worte OssvorAes zaros in dem Munde des Alkmaeon beziehen sich auf den edlen Amphiaraos, indem Ossvo- »Ass den Vogelrufer bedeutet und mit oiwvorcrc zu vergleichen ist, das Hesychius durch navreıs, ögveosaoror, öpviSouavreis erläutert, wie er denn eiwves nicht minder treffend durch eis, die Orakel versinnbildende Schlange erklärt. Das »arcg aus dem Munde des Amphiaraos gilt dem Alkmäon als Beifallruf für die Rache. Die Vase selbst scheint von dem Ritter Kallias (20) für seinen Schwiegervater Oionokles zum Geschenk bestimmt.

Eine andre nolanische Diota mit rothen Figuren im Cabinet Luynes (Taf. IV, 8) zeigt Eos schwebend, die Arme ausstreckend nach einem flie- henden zurückschauenden Jüngling mit bekränztem Haar, einer Lyra in der Rechten, über der Linken die Chläna, KALOZ OIONOKAEZ£. Auf der Rückseite sieht man einen kahlköpfigen Alten mit einem Peplos über dem Chiton, auf einen Stab gestützt (2%) OIONOKAEZ KANOE.

dem Peplos erscheint, die Scheide mit Gürtel in der Linken, mit einfacher Binde um’s Haupt, O:rovoxAss zaros fast an gleicher Stelle. Die Frau trägt ein einfaches Haarband, gleiche Kleidung, die Linke auch vorgestreckt um Gnade flehend. Vor ihrem Kopf NONTAMA. Unter ihrer linken Hand schlängelt sich KALLIAE.

(@°*) Apollod. III, vır, 2. Paus. I, xxıv, 2. (@) Vgl. das Eidolon des Aietes bei Millin Tombeaux de Canosa Pl. VII.

(®) Eine nolanische Diota, wo Theseus die Amazone Antiope als Gattin heimführt, trägt die Inschrift KAL KALLIAZ und diente wahrscheinlich als Hochzeitsgeschenk für Kallias, der vielleicht wie Theseus durch das Schwert zu seiner Braut gekommen war. Dafs aber Kallias dem Kriegerstande angehörte dafür spricht auch ein ihm geschenktes Gefäls mit dem Zweikampf des Achill und sinkenden Memnon (?) und gleicher Inschrift KALLIAE KALOZ bei Dubois Maisonneuve Introduct. Pl. XXIII. Gerhard Berlins Ant. Bildw. No. 847. Ausrüstung. nol. Amphora. Eine mit Stirnkrone geschmückte Frau bringt Speer und Helm einem Jüngling. Schild mit Schlange steht an ihrem Körper, KALOSE KALLIAE. Rv. ein andrer Palästrit in Mantel gehüllt und auf einen Stab gestützt. Stele vor ihm und auf derselben ein Bravoruf für Charmides, XAPMIAE=E KALOE. Schulz im Bull. Archeol. 4842. auf einem Krater von Sorrent KALLIAZ KALO=S. Gerhard’s Archaeolog. Zeitung N. F. No. 4. Febr. 1848. S. 224.

(*) Monum. d. Instit. arch. I, v, 3. Duc de Luynes Choix de Vas. XXXVIIL Mil- lingen nennt die Flügelfrau Harpyie. Annal. de P’Instit. Tom. I, p. 272.

e

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 83

Die Entdeckung der ausgezeichneten bei Gelegenheit des Tisonides 5) angeführten volcenter Diota berechtigt hier wegen der Gleichheit der Vor- stellung den von Eos verfolgten Epheben mit der Lyra Tithonos zu nen- nen, wodurch zugleich für den Alten auf der Rückseite der Name Laome- don als Vater des Tithonos (?°°) gewonnen wird. Wie nahe aber Tithonos, der Geliebte der Morgenröthe, in seiner äufseren Erscheinung dem Apoll selbst kömmt, für den der Name Oionokles sich vorzugsweise eignet, leuch- tet auf den ersten Blick dieses Vasengemäldes ein und findet seine Parallele in Oionos, dem Sohn des Likymnios (Süfssang), den der Mythos uns als Gefährten und Liebling des Herakles schildert (2).

Durch schöne, bis ins Kleinste sorgfältig ausgeführte Zeichnung, nicht minder als durch Eigenthümlichkeit der Darstellung, empfiehlt sich eine gelbfigurige nolanische unedirte Diota (Taf. IV, 9). gegenwärtig im Bla- cas’schen Museum (°°®). Ein Ephebe mit einem um Rücken und linken Arm geschlungenen Peplos leicht bekleidet, das lockige Haar mit einer Tänia umbunden, verläfst flüchtigen Fufses, in seinem Blick wie in den beiden ausgestreckten Händen Schreck und Gnadeflehn verrathend, einen Altar, den die jonischen Voluten sowohl, als die herabhängenden Binden als Grab- mal (uvnue) bezeichnen: ein auf demselben wohl zum Gedächtnifs der Ma- nen des Verstorbenen niedergelegter Blätterzweig erheischt besonders unsre Aufmerksamkeit, insofern ihn der fliehende Jüngling, wie es scheint, zu rauben die Absicht hatte, als bei dieser That die Erscheinung eines Epheben ihn störte, der links mit grofsen ausgespannten Flügeln zu dem Altar herab- schwebt, und nach dem Ausdruck seines Gesichts und der Haltung der erhobnen flachen Hand zu schliefsen, abwehrend Stillstehn gebietet: seine mit mehreren kleinen Knoten an den drei Riemen versehene Peitsche hält der Flügeljüngling horizontal in der gesenkten Rechten und scheint damit nicht sowohl dem Flüchtling Züchtigung zu drohen, als vielmehr Altar und Zweig zu schützen, zugleich aber durch das ungewöhnliche Attribut seinen eignen Charakter deutlicher zu offenbaren.

(9) Siehe S. 67 dieser Abhandlung. (°°) Hom. Il. XX, 236 ff. VI, 23. Tzetz. Lycophr. 18. Pind. Ol. XI, 69. (©) Apollod. II, VII, 3. Paus. II, xv, 4 u. 5. (°) Kunstblatt 1825. No. 39. Hyperbor. röm. Stud. S. 160. 52

®

54 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Eine Tänia schmückt ebenfalls das Apolloähnlich langgelockte Haar dieses Flügeljünglings. Auf der Rückseite drückt ein kahlköpfiger, mit Tä- nia geschmückter Greis durch die erhobne Rechte sein Entsetzen über den Vorgang der Hauptseite aus. Während sein übriger Körper ganz vom Pe- plos über dem langen Chiton bedeckt wird, hält die freie, linke Hand einen Krückenstab, @axrngie, erhoben in der Mitte (2%). Die gleich sorgfältige Zeichnung dieser Figur und der ohne Absatz unterhalb der drei Figuren fortlaufende Mäander zeugen für den engen Zusammenhang von Vorder- und Rückseite. Ein x«As mitten vor dem schwebenden Epheben scheint am na- türlichsten auf diesen sich zu beziehen; dagegen ein zweites »zaAos in ent- gegengesetzter Richtung aus dem Munde des fliehenden, wohl zu Gunsten des mit dem Blätterzweig beehrten Todten, dem dies Grabmal gehört, auf- zufassen sein möchte (?!?). Die verschiedne Schreibart der beiden Worte

(°) Der Vergleich dieser kahlköpfigen, mit Krückenstab versehenen Mantelfiguren auf der Rückseite nolanischer Dioten beweist, dals die Alten sich bei der Vasenmalerei nicht desselben Patron auf verschiedenen Gefälsen bedienten, sondern aus freier Hand zeichneten, daher trotz grolser Ähnlichkeit im Ganzen, die augenfälligen Abweichungen in den Einzel- heiten bei jedem Gefäls entspringen. Dafs dieselbe Figur in verschiedenen Zusammenhang mit mythischen Scenen der Hauptseite gebracht, auch verschiedene Individualitäten darzu- stellen bestimmt war, läfst sich wohl ohne Furcht vor Widerspruch behaupten.

('°) Vgl. Dr. Schulz im Bull. d. Instit. archeol. 1842, p. 13. Anfora nolana.. Amore di forma adulta che insegue colla frusta un efebo fuggitivo innanzi a lui, presso il quale trovası l’iscrizione KALO=Z. Cotal rappresentanza potrebbe riferirsi con egual diritto a rapporti palestrici come ad erotici. Accettando quest’ ultima spiegazione ci of- frirebbe il seguito della scena una Kylix ancora ultimamente scavata a Nola, comprata dal Prof. Gerhard, nell’ interno della quale scorgesi l’Amore che ha raggiunto l’efebo ed al- zasi con lui a volo, stringendolo fralle braccia. Dall’ altro lato della lancella vedesi un vecchio mantato, forse il pedagogo appoggiato sul bastone, coll’ iscrizione KALO=E KALLIAZ relativa senza dubbio all’ efebo, pel quale era quel vaso assegnato. Die Ähn- lichkeit dieser Vase mit der von Akestorides überrascht so sehr, dafs ich doppelt bedauere Autopsie und Zeichnung dieser letzteren zu entbehren. Noch eine andere Vase verdient hier Berücksichtigung, ebenfalls leider nur durch Beschreibung des Cav. Gargallo sopra di un antico bassorilievo di argilla Lettera al Duca di Serradifalco 1849, p. 8. zu unsrer Kennt- nifs gelangt: In questo vaso (ampolla nolana nella raccolta de’ signori Descrescenzo in Na- poli) di fatti mentre si osserva l’identica composizione di un efebo che vola verso una donna fuggente, leggesi accanto alla virile figura la scritta OANATOS che la di- chiara effigie della morte. Ed oltraccio vien dessa caralterizzata dal proprio atteg- giamento, minacciando percuotere lasua vittima con la ferza di cui ha armata la destra; giacche siffatto gesto &, a dir cosi, la grafica versione dell’ epiteto «cv, invece di mamv percuotitore che fu dato dai tragici al demone ferale, Müller Dorer II, 6, 4.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 85

KaAcos Anerrogides, von denen das Erste von der Rechten zur Linken, das Leztere von der Linken zur Rechten geschrieben ist, scheint darauf hinzu- weisen, dafs dies #«@Acs mit dem hinter dem Fliehenden sichtbaren Eigen- namen nicht in Verbindung steht.

Bei der grofsen Schwierigkeit für die wie wir glauben richtig ver- standene Scene nun auch die richtigen mythischen oder individuellen Na- men zu entdecken, kömmt uns die an einer Reihe von bemalten Gefäfsen wahrgenommene Beziehung zwischen dem dargestellten Gegenstand und dem mit #aAos angegebenen Eigennamen des Besitzers der Vase zu Statten und läfst sich vielleicht auch zur Aufhellung dieses Vasenbildes mit Nutzen in Erwägung ziehen, indem der Name Akestorides zu Nachforschungen über ihn selbst sowie über seinen Vater Akestor uns einladet. Ehe wir aber die- ser Spur folgen, richten wir zu Gunsten dieser Erklärungsmethode noch einmal einen Blick auf die Nikonvase im Cabinet Luynes, die wir schon S. 43, 44 Taf. I, 9 kurz erläutert haben, um auf die Übereinstimmung der Handlung der Nike, die eine Siegerbinde darbringt, mit dem Eigennamen des Besitzers Nikon, der im Epheben am Altar uns entgegentritt, aufmerksam zu machen, und den Platz dieser Inschrift hervorzuheben, insofern NIKQN vor der Nike statt bei dem Epheben geschrieben steht.

Schreiten wir nun zur Aufhellung unseres schwierigen Vasenbildes und suchen über Akestor und seine Familie in mythischer Zeit etwas näheres zu erfahren, so dürfte vielleicht folgende Erzählung Plutarch’s (?!!) auf unser Vasenbild ein unerwartetes Licht werfen:

I x m ß , GI Blut; Qu: gr. XXXVU. „Ar ri Taveypaicıs mo ns moAews estw "AyırAsıov, To- u 7 Ei Q x ee m a. A , \ x MOS OUTW MEOSaYogevoWEvos; EX,IgE Yap aurw MaAAov 9 dire Asyeraı Yeyovevar mgos Tyv mOo- PN x ER $ l S, F zu MI oe x J, Se er id, iv, Egmacavrı ev zyv Wrrege (lege Suyersge) voÜ Tomevögov, Srparovizyv, dmozreivavrı q [3 > 7 e} I - . - de viov "Ebirmov (lege Epımmov) "Azesroge.” (Vgl. die Vasenbilder, wo Achill die Was- serholende Hemithea und Polyxena mit dem Schwert verfolgt und den kleinen zu Pferd .. Fi > \ „7 m m x d flüchtenden Troilos). Hoisavögos Favuv 6 Edirrzov Maryp, Er 775 Tavaygızns ARTE AWIARS > 1 £} m u —_! SR 93 m Ne \ \ DLEH Ss DIHOUMEDyS Ev FW zaAounzvu Drecbovre MoAropzounsvos Uno zuv Aycııv, dıa 70 um BovrsrIa , , x B m \ \ IN} x \r SUTTERTEUEIW, EEeAıme TO Ywglov Exelvo vuzrwg, #01 zyv Homevogav Ereiyire. Ileasuv de Iloruzgı- Ios 6 dayırzz Ö vÄg : Eoye zu yerAav, UmsorAaro ri ebaov. 6 Seis 6 EXTEeRrWv OtabavAıguv ra Eoye za zarayeAov, UmeoyAaro nv Tabgov. OgyısıSeis Ö R) 2 9m, > m >= , A 2 > Im Y > m En Homevdgos wonnse Artov zußarsiv wUrw Meyer, 05 yv auroSı ZErgUMMEVOS Er maAaIoÜ, vurreAloıs m > m Ü I N n \ m \ Ü tegors AMOREIMEVOG" ToUFov Avasmasas Um ayvoms 6 Hloisavögos Elars, zur zo0 Ev IloAuzgeSov N Pen x x eo‘ > B un \ 5 x x > m Ömmagre, Asuxımmov de ToV Vıov amtzrewev. Eds mv olv zard rov vouov dx vNs Borwries sre- m DE NE & E} 8. RN Su oa. > \ ornva, ecbesriov zu ineryv Eevov yevonevov‘ our 7u de dadıov eußel@Anzorwv eis syv Taveygaı-

\ m = E} \ \ E} ı N‘ x m > zyv suv Ayamv. Ersuev oUv Eobımmov rov vv "Ayındews Ösnrolevov’ 6 de zu FoUrov eig-

6 Pıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

„Weshalb ist bei den Tanagräern vor der Stadt ein Ort der Achil- leion genannt wird? da Achill vielmehr in Feindschaft als Freundschaft mit der Stadt gestanden, insofern er des Poimandros Tochter Stratonike ge- raubt und den Sohn des Ephippos Akestor (?!?) getödtet hatte. Poiman- dros nemlich, der Vater des Ephippos, ward, als das tanagräische Gebiet noch nach Flecken bewohnt ward, in dem Orte der Stephon hiefs, von den Achäern belagert, weil er nicht mit ihnen zu Felde ziehen wollte, verliefs des Nachts diesen Ort und befestigte einen andern, Poimandrion. Da kam der Baumeister Polykrithos, machte die Befestigungswerke schlecht und verspotiete sie und sprang über den Graben. Poimandros, darüber aufge- bracht, suchte einen grofsen Stein auf ihn zu werfen, der daselbst von alter Zeit her verborgen war, zu nächtlichen Weihen bei Seite gelegt: diesen rifs Poimandros aus Unkunde heraus, warf damit, verfehlte aber den Polykri- thos, und tödtete vielmehr seinen eignen Sohn Leukippos. Zufolge des Gesetzes mufste nun Poimandros Böotien verlassen und in der Fremde Schutz und Zuflucht suchen. Da dies aber während des Einfalls der Achäer ins tanagräische Gebiet nicht leicht war, so schickte er seinen Sohn Ephip- pos, Achill um Beistand zu bitten. Dieser bewegt auch den Achill dazu, den Tlepolemos, Sohn des Herakles, und den Peneleos, Sohn des Hip- palkmos, die sämtlich seine Verwandte waren. Von diesen wird Poiman- dros nach Chalkis geschickt, wo Elephenor ihn vom Morde sühnt, und er die Männer ehrte, indem er ihnen Haine weihte, unter denen der des Achill noch seinen Namen erhalten hat.”

Sollte unser Vasenmaler in dem Grabaltar das Achilleion, in dem einen Zweig darbringenden Jüngling Ephippos, in dem erschreckten Al- ten des Ephippos Vater Poimandros haben darstellen wollen? während andrerseits der Flügeljüngling, heranschwebend, um dies tvayırua abzuweh-

aysı MEITaG, za Trymorsuov FoV “HoazAous, ze Irvirewv F0v Irmarzuov (Irmeiypou?), cuy- yeveis dravras aurw ovras. Up wv 6 Ileiscvögos sis Karzida suvermepbIeis zur za IagSeis mag "Erscyvogt Fov cbovov, Erinyse ToUg audgus za rau mar 2Eeire, wv 70 ’AyındEws zaL Touvome ÖLareryonzer. Poimandros hat mit Tanagra eine Tochter Stratonike und zwei Söhne, Ephippos und Leukippos. Sohn des Ephippos ist der von Achill getödtete Akestor.

(°') Wenn der Namengeber der sizilischen Stadt Segesta bald ’Azerrys, bald Aiyersng genannt wurde: so dürfte hier der Name Akestor mit dem seines Grolsvaters Poiman- dros soviel wie ray Hirt, sich identifiziren.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 87

ren und warnend den Dämon des von Achill ermordeten Akestor bezeichnet, dessen Erscheinung Schrecken erregt dem Ephippos sowohl als dem Poimandros?

Für die Deutung des Altars als Grabmal des Achill liefse sich noch folgende Stelle des Pausanias (*!°) anführen: „Im Gymnasium IReSgiov in Elis hat Achill keinen Altar, sondern ein Cenotaph zufolge eines Orakels. Wenn die Festfeier beginnt am angegebenen Tage bei Sonnenuntergang, thun die Eleerinnen andres zur Ehre des Achill und pflegen auch sich für ihn an die Brust zu schlagen.”

Zu Gunsten der Auffassung des Flügeljünglings als "Anerrup lassen sich die Worte des Orest aus Euripides Andromache v. 900:

u iQ’ GnEOTUp, mynarwv doms Aucıv anführen, insofern wir dabei nicht übersehen, dafs dem Phoibos als Lenker des Sonnenwagens die Peitsche vorzugsweise zukönmt, die, eins der sel- tensten Attribute griechischer Kunst und Religion, wir hier in der Hand unsres Dämons antreffen und um so geeigneter für einen Dämon dieses Na- mens erachten (?!*), als der Begriff des Heilens, der diesem Worte un- streitig zum Grunde liegt, in der ältesten Zeit in die Person des Schlä- gers, Paeon, sich hüllte, ehe er in Gestalt des Apollo Akesios und Askle- pios den Gott der Heilkunde versinnlichte (?'°). Eine Peitsche dieser Art mit Knoten oder Knöcheln an den Schnüren hiefs drrgayaluwros und zegxvu- gaia narrıe (*!%). In den Händen des Dämons Akestor richtet sie zugleich unsre Aufmerksamkeit auf die kerkyräische Halle in Elis, nach deren Er- wähnung Pausanias (217) unmittelbar als das berühmteste auf freiem Markt den Naos und die Statue des Apollo Akesios beschreibt, dessen Name nichts andres bedeutet als der sogenannte ’Arsäizaxos in Athen. Sollte nicht dieser Apollo Akesios mit einer kerkyräischen Peitsche zu denken sein?

Co Bas! VL xx, 2,

(*) Apud Schol. Aristophan. Av. 31. Cratini Cleobulinae I (Meineke Fragm. com. poet. II, ı, p. 69) "Aztoroga Yag Olus eins Anßeiv HAyyas, Eav Fuaraecn 7 Ton yunre.

(*°) Panofka Asklepios S.18. Letronne Journ. des Savans Mars 1846. p. 163.

(*°) Schol. Aristoph. Av. 1463. et intpp. Hesych. v. zegzugeie.

Er PausaV Ray AN9.

88 Paıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

demnach wird der Nachkomme des Akestor, Akestorides (*!°), diese Vase mit dem Mythos seines Vorfahren geschmückt, vielleicht zu sepulkraler Be- stimmung geschenkt erhalten haben.

Denselben Dienst der Erklärung leistet unsre Entdeckung dem bisher unerklärten Innenbild einer rothfigurigen (Taf. III, 10) volcenter Kylix des Hieron. Während dessen Aufsenseiten das Urtheil des Paris und die Ent- führung der Helena veranschaulichen, erblicken wir im Innern ein „palä- strisch” gedeutetes und also beschriebenes (?!?) Gemälde: „Ein bärtiger, bekränzter Mann mit knotigem Stab bückt sich vertraulich nach einem in ihren Mantel gehüllten Mädchen mit Ohrringen. Mangel an Beschuhung, der Name HıM(s2)JAAMAZ und ein am Bande gehaltenes Häschen machen es wahrscheinlich, dafs es ein Knabe sei.”

Wenn die Mädchenbekleidung des Epheben uns unwillkürlich an Achills Versteck auf Skyros (°?°) erinnert, wo die von ihm geliebte Königs- tochter, bisweilen Hippodamia statt Deidamia genannt (??!), zu Gunsten der männlichen Namensform Hippodamas für Achill zu zeugen vermag: so kömmt davon unabhängig die Bedeutung Rossebändiger für Achill als Thessalerfürst (?°?), so gut wie anderwärts ein sprengendes Rofs als sein Schildemblem (22?) und ein geflügeltes Rofs als Helmverzierung, unsrer Deu- tung nicht minder zu Statten. Der am Bande geführte Hase verräth das Lie-

(@'°) "Azerrogidcı bielsen die Nachkommen des Akestor, eine vornehme Familie in Ar- gos, aus der die Priesterinnen der Pallas gewählt wurden (Callim. Lavacr. Pallad. 34): etwa der Athene Akria, in deren Tempel das Grab des Akrisios sich befand (Clem. Alex. Pro- trept. p. 29 ed. Sylb.). Vgl. "Azer@s, einen Cyprier, der den ersten Peplos für die Athene webte (Athen. II, 18b.): «zerrg« die Nadel, @zesrogis die Heilende (Hippocrat. p. 295, 48) davon kontrahirt @zerraiöss p. 309 die Hebammen.

('?) No. 1766 Gerhard Zuwachs d. Vasensammlung d. Kgl. Museums. Vasen und Trink- schalen d. Kgl. Mus. Taf. XI. XII.

(@°) Cyclici ap. Schol. Hom. Il. T. 388. Apollod. III, 13,8. Hygin f. 96. Lucian de Saltat. 46.

(@') Des Peirithoos Gemalin, gewöhnlich Hippodamia genannt, nennt Plut. Thes. 30 Aridausıev. Vgl. Hesych. Irroöausıe" 4 Barryıs (Achills Geliebte) za "Agodiry.

(2) Auf einer Silbermünze von Larissa (Dumersan Cab. d. Med. d’Allier de Haute- roche Pl. V, 17.) sieht man mit der Überschrift AXIAAEYE den Kopf der berühmten Marmorstatue im Louvre, sein Helm ist mit einem Flügelrofs geschmückt. Die Rückseite zeigt ein sprengendes Rols und NIKOMAXOY.

(@°) Gerhard Auserlene Vasenb. III, ccxxvı.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäf/sen. 89

besverhältnifs (?2*) zwischen dem mädchenhaften Epheben und dem älteren Manne gegenüber, für den sich der Name Lykomedes um so zuversichtlicher vorschlagen läfst als die vom Herausgeber nicht in Erwägung gezogene Zot- tigkeit seiner Brust dazu beiträgt, Lykomedes zu charakterisiren. Denn diese beim Silen Akratos vorzugsweise sichtbare, sonst aber höchst selten wiederkehrende Eigenthümlichkeit spielt auf das Wolfsfell an, mit dem Do- lon (??°) sowohl, als der schlaue Ulyss (*°°) sich mit Rücksicht auf die das Dunkel liebende List ihres Wesens, bekleideten. Daher erklärt Hesychius Aarıos durch darls 76 or1Ios N Tuveros, Öurunandcs, moAurgiyos- und Aa- Floıcı“ danesı ornIeri, AaTicıs. Endeyevramıves dmo TuV eEwSev Eribaveias av- dawderuv, aa TUXVoIls zal nuverois.

Das Innenbild einer rothfigurigen (Taf. IV, 4) Trinkschale des Kgl. Museums, wofür der Herausgeber (°”’) den Namen Kapaneus vorschlug, liefert für die von uns entwickelte Theorie einen der merkwürdigsten Belege. In der Regel trägt der Mangel einer richtigen Methode die Hauptschuld ver- unglückter Erklärungen; daher müssen wir zuvörderst, abgesehen von der begleitenden Inschrift, die Figur selbst scharf in’s Auge fassen, über ihre Lage und ihren Gemüthszustand in’s Klare kommen, und alsdann auf die charakteristischen Einzelheiten ihrer Erscheinung näher eingehen, um mit ihrer Hülfe den rechten Namen nebst dem damit zusammenhängenden My- thos zu enträthseln. Gelingt es uns auf diese Weise das Vasenbild zu er- klären, so beginnt alsdann der zweite Theil der Untersuchung, indem wir uns zunächst von der Bedeutung des das Bild begleitenden Eigennamens Rechenschaft geben, alsdann vergleichen, in wie weit dieselbe mit der Si- tuation der bereits erkannten und benannten mythischen Figur überein- stimmt, und endlich ob in einzelnen Theilen dieser gemalten Figur Anspie- lungen auf den Eigennamen sich wahrnehmen lassen.

Dals dieser Krieger nicht in der Begeisterung kühnen Angriffs uns entgegentritt, sondern bereits ohne Waffe, in äufserster Gefahr, fliehend und mit dem Blick nach oben und der ausgestreckten Rechten Gnade erfle-

(”*) Siehe S. 93 unsrer Abhandlung. (”) Monum. de l’Institut II, x. Avellino Bull. archeol. Napol. T. I, Tav. VI. (°”°) Leprevöt Vas. d’argent de Bernay Pl. X. (°) Gerhard Vasen und Trinkschalen d. Kgl. Mus. Taf. VI, VII, 5. Philos. - histor. Kl. 1849. M

90 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

hend, wird man ohne Schwierigkeit uns einräumen. Die Unsichtbarkeit der Feinde in Verbindung mit den von oben herabschwirrenden Pfeilen und des flüchtigen Kriegers Blick in die Höhe schliefst die Idee des sonst gewöhnli- chen nahen Zweikampfes aus und giebt vielmehr der Vermuthung eines Kampfes zwischen Belagerten, die von den Zinnen herabschiefsen auf an- greifende Feinde, eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit. Gehen wir nun auf die Einzelnheiten der Tracht näher ein, so bietet die völlig übersehene Schürzung des Peplos den Schlüssel zur Erkenntnifs des Vasenbildes uns dar. Dieselbe ist so eigenthümlich, dafs wir dreist viele Hunderte von Kriegern auf Vasenbildern betrachten können, ohne sie auch nur an einem von ihnen wiederzufinden. Dagegen bildet sie das unzweideutige Abzeichen der Künstler und Handwerker; daher wir sie sowohl bei dem Gott- Künstler, bei Hephästos, wenn er für Achill Waffen anfertigt (??°), als auch namentlich bei dem Verfertiger des Kastens für Dana& auf einer rothfiguri- gen volcenter Prachtvase im Museo Campana zu Rom, und bei einem ähn- lichen bekränzten Kastenanfertiger mit Beil in der Rechten im Innern einer volcenter Kylix (°”°) antreffen.

Steht es aber einmal fest, dafs der fliehende und flehende Krieger dem Künstlerstande angehört, so liegt der Gedanke an Epeios am näch- sten. Für diesen spricht auch das Schildemblem des Pferdes, theils als Anspielung auf das hölzerne Pferd vor Troja, das er gearbeitet (?°°), theils aber auch als Hieroglyphe seines Namens Epeios, worauf die bei den Rö- mern verehrte Schutzgöttin der Pferde Epona (*°!) schon hindeutet. Nicht unpassend dürfte bei diesem Anlafs an das gleiche Emblem eines Pferde- hintertheils (2°) auf dem Schild des gegen Poseidon kämpfenden Epbhi- altes zu erinnern sein, da im ersten Theil dieses Eigennamens der gleiche Name des Pferdes enthalten zu sein scheint. Wenn in der Lesche zu Delphi

(2) Gerhard Trinksch. d. Kgl. Mus. Taf. XII. XII. Panofka Bilder ant. Lebens Taf. VIII, 5.

(2°) Lenormant et de Witte Elite C&ramogr. I, xxxvır. Vgl. Roulez Memoires de l’Acad. d. Sciences de Bruxelles Tom. XV, pl. 1.

(2°) Paus. X, xxvı, 1. Justin. XX, 2. Dictys I, 17. (@°') Apulej. III, xxvıI, et intpp. (?) Lenormant et de Witte Elite c@ramogr. I, pl. V.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 9

Polygnot (233) den Epeios gemalt hatte wie er die troische Mauer niederwirft, über welcher das hölzerne Pferd mit dem Kopf hervorragt: so führt unser Vasenmaler den Epeios zwar auch als Belagerer uns vor, aber statt ihn von einer so tapferen Seite zu zeigen, hält er sich vielmehr an die Sage, nach welcher Hesychius versichert, Epeios bedeute Feigmachun

g,

Fragen wir nun nach der Bedeutung des ech namens Anrien, so leuch- tet zunächst ein, dafs er mit dvrıcw zusammenhängend, den flehenden ausdrückt. Allein die besondere Haltung des Halses sowohl, als die lang herabwallenden Hinterlocken verdienen eine gleiche Beachtung. Denn der Grieche bezeichnete mit 7 @vries die Mandeln am Halse, vorzüglich die in Krankheit geschwollenen, und mit avrıcı die von den Ohren herabhängen- den Locken (?°*). Demnach unterliegt es wohl keinem Zweifel, dafs die Wahl des feigen Epeios mit Rücksicht auf den Eigenthümer der Vase, An- tias (Fleher) erfolgte, sowie dafs die Einzelheiten des Bildes selbst mit An- spielung auf den Eigennamen Antias ausgeführt wurden.

Eine ähnliche Belehrung schöpfen wir aus dem Innenbild einer an- dern rothfigurigen volcenter Kylix (Taf. I, 8) des Kgl. Museums, in wel- chem ein nackter Palästrit nicht wie der Herausgeber (2°) wähnt, mit einem Cestus die rechte Hand umwunden hat, und ebensowenig einen Schwamm gegen die andre Hand auszupressen scheint, sondern den Ring, an welchem Strigel, Salbfläschchen und Schwamm beim Weg nach Palästra oder Bad zusammen aufgehängt wurden, in der Hand selbst aber das kleine zwiebel- förmige und mit kleinen Troddeln ringsum versehene Salbfläschchen (235) von Erz hält, während dessen am Hals befestigte und zum Tragen nöthige Bindfäden herabhängen und mit der andern Hand gehalten werden. Der

vor ihm schräg stehende Krückenstab vertritt offenbar die Stelle der wegen

(*°) Pausan. X, xxvI, 1. Fr. Hermann Epikrit. Betrachtungen über d. Polygnot. Ge- mälde S. 7, 8, 29.

(°*) Apulej. Fiorid. I, n. III. Jam primum, inquit, erines eius (sc. Apollinis) praemul- sis antiıs et promulsis caproneis anteventuli et propenduli. Isidor. Origg. XIX, 31. Antiae sunt cineinni dependentes prope auriculas graeco vocabulo ab auribus. Antias deductas ab antibus sive oris et extremitatibus. Caproneae sunt crines in frontem proni.

(°”) Gerhard Vasen und Trinkschalen d. Kgl. Museums Taf. XII, 6.

(*°) Ein ähnliches hält Apoll auf der Amymonevase bei Avellino Bull. Archeol. Nap. Tom. II, Tav. II. Gargiulo Racc. dei Monum. Tom. II, Tav. 68.

M2

93 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Mangel an Raum fehlenden Mantelfigur des Paedotriben selbst, der als Erast (7) die Kylix seinem Geliebten schenkte, und sowohl durch die eben- falls bisher übersehene dicke Siegerbinde, @vaöyua, über dem Kapitäl der Säule hinter ihm hängend, als durch die Inschrift ö raıs varyı zaA(os) „der Knabe ist wirklich vortrefflich” seine Gefühle uns nicht verschweigt. Den Namen des Lieblings entdecken wir, gewifs mit Absicht, auf dessen rechtem Schenkel (2°), wo sich AAXEZ KALOZ „schön ist Laches” herabzieht. Die eigenthümliche Haarbeschaffenheit und Anordnung sowie die Bewegung des scheinbaren Wollfädenherabziehens wird erst als Anspielung auf den Eigennamen Aaxss verständlich, indem Aayrs im Zusammenhang mit Aayın Wolle, wolliges Haar, und mit Auxyaics wollig, haarig, zottig, rauh steht, und andrerseits an Lachesis, die den Lebensfaden spinnende Moira erinnert.

Mit dieser durch den Namen Laches motivirten Aufziehung der Salb- fläschehenbänder oder Riemen verdient das ganz ähnliche Aufziehen der Stockbänder von Seiten des Palästralehrers Xanthias auf einer Komödien- vase des Cabinet Pourtales Pl. IX. verglichen zu werden, insofern es eben- falls durch den Namen ZavSıas hervorgerufen wird, der von £aivew Wolle krempeln, spinnen, weben herrührt. Ein drittes bisher ebenfalls unbeach- tetes Beispiel gewährt ein Vasenbild des wiener Antikenkabinets (*°°), in welchem ich den kahlköpfigen Nestor sitzend erkenne, wie er dem in den Krieg ziehenden Antilochos beim Scheiden die Hand drückt. Vor Nestor hängt oben ein durch die allseits herabhängenden Fäden Spinnen ähnliches Salbfläschchen, dessen Bild als Spinne offenbar auf den der Bedeutung

nach mit Nereus (Spinner) zusammenfallenden yegyviss Nerrug anspielt.

(®”) Das Innenbild einer andern volcenter Kylix (Mus. Gregor. P. II, Lxxxv) macht uns mit diesem Erasten bekannt, einer bärtigen Mantelfigur mit einem Stab; oben hängen Strigel, Schwamm und Lekythos: die Umschrift ist KAXEZ KALOZ publieirt, offenbar falsch gelesen statt AAXEZ KALOZ. Die Aufsenbilder zeigen einerseits einen Lapithen mit dem Schildemblem eines Stieres, im Kampf gegen zwei felswerfende Centauren, an- drerseits drei Centauren.

(2°) Aristoph. Aves v. 705-707 Chor: x \ \ > 2 m \ u IlodroUs de zaAoUs aronwmozores maidas mgOS FEpAaTıV woRs dd zyv irylv Thv Änerionv Öısmroesev avdass korerar v IFN, TyV NAETEg teypt avöges EILROTTEL,

h N 6 « S: > £3 x De) \ \ be 0 EV 0ETUYE ous, 0 0E mogıbvawv , ° de Anv a [e) de TEOTIROV ogviv.

(2°) Laborde Vas. Lamberg. I, xxıı.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 983

Auf einer rothfigurigen volcenter Kylix des brittischen Museums (24°) erblickt man Anakreon durch Namensinschrift ANAKPEON gesichert, ' mit kahler Platte, bärtig und efeubekränzt, das Saiteninstrument Ragßıres spie- lend : vor ihm stehen zwei Epheben, der eine myrten-, der andre lorbeer- bekränzt, die rechte Hand nach Anakreon ausstreckend; der eine trägt die Chlamys auf dem Arm, der andre ist in den Tribon gehüllt: zwischen ih- nen liest man NY®EZ, hinter Anakreon KALOZ, Nyphes ist schön. Dies Innenbild stellt eine nackte Frau mit Mütze, im Begriff sich die Sandalen zu binden vor, begleitet von der Umschrift MEMNON KALOS. Dafs in den beiden Epheben die Eromenen des Anakreon und zwar in dem lorbeerbe- kränzten der von Anakreon selbst (**') dem Apoll gleichgestellte Bathyllos gemeint sei, war nicht zu verkennen. Allein ebenso entschieden deutet der Eigenname Nyugys in Verbindung mit der Manteleinhüllung (**?) den Cha- rakter der männlichen vun an, den der myrtenbekränzte Eromenos bei Anakreon bekleidete (°*°), und wahrscheinlich auch das Verhältnifs des Em- pfängers dieser Vase zu dem Geber derselben. Der Ruf MEMNON KALOzZ bei dem Bilde einer Frau läfst zunächst an Eos denken, zumal sowohl Nachthaube als Akt des Ankleidens sich vorzugsweise für diese schicken: den Memnon selbst dürfen wir aber mit Sicherheit in dem lorbeerbekränz- ten auf Bathyllos gedeuteten Epheben, dem Gefährten des Nymphes, erkennen.

Auf den Zusammenhang zwischen Anakreon und den beiden Epheben Bathyllos und Nyphes für Nymphes wirft eine unter dem Hügel des Tem- pels der Hera Teleia in Megalopolis gelegne Quelle Bathyllos genannt (**%)

(°) De Witte Cabin. Durand. Vas. No. 392. p.428. 428, p. 162. S. Birch Archaeo- logia p. 196. 222. 236.

(°*') Anacreon Od. XXIX. v. 43: Tev "Arcrruve de roürov

KaSerdv, voisı BaSvArov. "Hu © Nanov wor &r9ye. Toape Sorßov Ex BaSvVrRov.

(*”) Vgl. die Kylix des Peithinos bei Gerhard Trinkschalen d. Kgl. Mus. Taf. XIII, XIV, XV. (Panofka Namen der Vasenbildner Taf. I, 2. S. 6).

(*°) Das ist der wahre Sinn jener Nyuei auf Lapidarinschriften z. B. von Acrae in Sieilien (siehe meine Lett. al. Duca di Serradifalco sopra le iscriz. del teatro di Siracusa Fiesole 1825).

(©) Paus. VIII, xxxr, 6.

94 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

ein unerwartetes Licht, indem der Name Nymphes auf diese Quelle hinzuwei- sen vermag, wie andrerseits die Hera Teleia auf die Hauptgöttin von Samos, in deren Tempel Polykrates eine Bildsäule des Bathyllos (*“5) geweiht hatte.

Den Memnon selbst als Schützling des Sohns der Eos veranschau- licht das Innenbild einer andern rothfigurigen Kylix (°*) in einem efeube- kränzten, unterhalb bedeckten Epheben, der mit einem Myrten- oder Lor- beerzweig in der Linken auf einem Klappstuhl sitzt und die Umschrift MEMNON KALOE hat. Auf einer der Aufsenseiten erblicken wir einen jun- gen Griechen mit einem Pferd, eine Kanephore KALIZ, ferner NY®bEZ mit phrygischer Mütze und Anaxyrides, ein Pferd führend, endlich einen Griechen KALIZOENEE, ebenfalls ein Pferd führend. Danach der blofsen Beschreibung ohne Anschauung des Originals oder einer Zeichnung der Sinn dieser Scene sich kaum mit Wahrscheinlichkeit ermitteln läfst, indem die Rosse wie andre Male zur Anspannung vor einem Wagen herbeigeführt, aber ebenso gut je- dem der Führer zu Reitpferden dienen können: so darf man dem Gedan- ken, Paris trete in dieser Scene mit auf und zwar in der NY®EE überschrie- benen Figur, keine weitere Folge geben, sondern sich begnügen darauf auf- merksam zu machen, dafs auf dieser Vase, wie auf der des Anakreon, Ny- phes und Memnon zusammen, jeder als z«Aos genannt vorkommen. Auf der Vorderseite dieser Kylix fordert Priamos den Leichnam des Hektor von Achill zurück; EPOAOPOZ (nicht $egcöwgos zu emendiren) bringt Vasen als Preis für Hektor. Ob dieser Name mit Recht auf Todtengeschenke zu beziehen sei, wie bisher allgemein (?*’) angenommen wird, trage ich Beden- ken zu glauben, seitdem der Vergleich des Bathyllos der samischen Hera auf der erstgenannten Vase zu der Vermuthung leitet, EPOAOPOZ stehe für HEPOAOPOZ ‘Hgodwges, soviel wie “Hgodoros der Heragegebne.

In gleichem Sinne erklären wir das Innenbild einer rothfigurigen vol- center Schale (°**), einen kniebeugenden Krieger in voller Bewaffnung dar-

(@) Appulej. Florid. II, p. 15 apud deae aram.

(*) Inghirami Gall. Omer. Tay. CCXXXVII, CCXXXIX. De Witte Catal. de la coll. Magnoncourt No. 144. p. 92.

(@”) De Witte I. c. vermuthet Pegcöwgos Geschenkebringer.

(@*) Mus. Etr. du Pr. de Canino No. 1434. p. 127. Linus. S. Birch in Gerhards Ar- chäol. Anzeiger No. 4. 5. 1849. S. 54. Aulsenseiten einerseits QALINOX leierspielend, zwischen zwei zuhörenden MOLNOZ und XZANOOZ: andrerseits drei nackte Ephe-

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 95

stellend, mit Köcher an der Seite und kurzem argolischem Schild, worauf das Emblem eines Adlers, der eine Schlange ergriffen hat, aus Rücksicht für die begleitende Inschrift MEMNON KALOS, nicht für Teukros oder Ido- meneus, sondern für Memnon. Denselben Memnon veranschaulicht wohl auch das Innenbild einer andern volcenter Kylix mit gleicher Inschrift um einen jungen behelmten Krieger, der eine Schleuder zu werfen im Begriff steht (?*). Aufserhalb umschliefsen zwei Augen einerseits ein Blatt, an- drerseits einen Esel. Wie der Esel mit Memnon zusammenhängt fiel kei- nem meiner Collegen anzugeben ein, obschon des Hesychius Glosse M&uvuv 6 övos- Meuvovia" Ta ovsıa »gea* zur Lösung dieses Räthsels ausreichte, zu- mal die gelehrten Philologen den Namen Memnon als Bleiber richtig deu- teten, insofern dieses Thier jeden Augenblick stille steht.

Denselben Zusammenhang zwischen Bild und Eigennamen verräth eine Kylix (?°°) im Innern mit einem Jüngling geschmückt, „der ein Gefäfs oder Feuerbecken mit drei Füfsen trägt.” Der Vergleich des ähnlichen Ge- fäfses als Siegel des Münzbeamten Mnaseas Freier auf einer Tetradrachme von Athen (?') und die für dasselbe festgestellte Hochzeitsbezeichnung (*°?) berechtigt diesen Jüngling auf gleiche Weise aufzufassen und den Eigenna- men Meuvwv diesmal als Meuv@v identisch mit Mnaseas, Freier zu erklären.

Eine unedirte volcenter Kylix archaischen Styls (Taf. IV, 3) zeigt auf jeder Seite dasselbe weibliche Brustbild in gefaltetem Chiton, das Haupt- haar oben mit einem breitem Strophion befestigt und hinten mit einer dicken Haarflechte, die spitz ausläuft, mehrfach umbunden: ein Perlhalsband und Ohrringe in Form eines Kreises mit an drei Seiten hervortretenden Stäbchen bilden den weiblichen Schmuck. Die Unterschrift der einen Seite lautet

ben ZOLON KALO=E XILON NIKON KALOSE. Das Seitenstück dazu bildet Mus. Etr. du Pr. de Canino No. 1617, p. 148. eine Kylix innen mit einem Amphora tragenden

nackten Epheben und MEMNAN KALOZ geschmückt: Aufsen erblickt man einerseits drei Krieger und eine Amazone; der eine derselben hat einen Adler (?) auf dem Schild, der andre eine Schlange: andrerseits vier junge Krieger im Kampf, einer darunter mit

Schlange auf dem Schild KALO=E MEMNON. (*) Dubois Notice d’une coll. d. Vas. peints du Pr. de Canino (1845) No. 125. (°°) Gerhard Rapporto Volc. not. 825. Ann. d. Instit. III, p. 191. Mus. Etr. 790. (*‘) Combe Mus. Hunt. T. 9,xvır. Panofka Antikenschau. Erläuterungstafel No. 13. (2?) Antikenschau S. 22, 23.

96 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

ZTPOIBOZ KALOZ, die der andern XAlPE KAI MIEI. Es kann wohl kei- nem Zweifel unterliegen, dafs hier der schöne Stroibos (°°°) von seiner Ge- liebten diese Trinkschale mit ihrem Portrait und dem bekannten Wunsch: „Sei gegrüfst und trinke” empfing. Allein die Erwägung dafs orgcılts, roo- Res Wirbel, Kreisel, gleichbedeutend mit eargewss ist, bestimmt uns, gestützt auf Aeschyl. Supplie. v. 473 orgeßeus Zuvasre, sowohl in der brei- ten wollenen Kopfbinde rrg&pıev eine Anspielung auf den Namen Stroibos wahrzunehmen, als in dem höchst eigenthümlichen, mehrfach umbundenen Haarwulst am Hinterkopf, der als orosıldes durch ürgemmviov erläutert wird (?°*), und bei seinem spitzen Auslaufen, vermuthlich im Vergleich zu dem Tann- zapfen, den Namen orgößırcs führte. Drittens endlich halte ich die Wahl des Ohrenschmucks nicht für gleichgültig (°°°), sondern erkenne in diesen Ohrringen den von Pollux (°°°) als weiblicher Goldschmuck angeführten roo- Rıros, vermuthlich ein Synonym von orgeßavisuos, das Hesychius durch Tel- reus Dreifufs erörtert.

Auf einer volcenter Kyathis (Taf. III, 11) liest man MANAITIOE über einem sitzenden, aus einer Rolle lesenden Lehrer, dem zwei auf Stäbe ge- stützte jugendliche Mantelfiguren eifrig zuhören (°°7), jeder von einem KA- LO& begleitet; sie erscheinen als seine Zuhörer, und wie dies so häufig in Hellas der Fall war, zugleich als seine Lieblinge. Dafs sein Vortrag sich auf Heilkunde bezieht, darf man aus der Inschrift XIPONEIA Chirons Lehre, auf dem vor ihm stehenden Heilmittelkasten (°°°) mit Wahrscheinlichkeit

schliessen und zugleich in Panaitios selbst einen Heilkünstler vermuthen.

(°) Vgl. Gerhard Auserl. Vasenb. III, cxc. cxc1. archaische Kylix. Kampf um die Leiche des Patroklos, der wohl auf der Seite des Hektor liegt, zwischen Ajas, Menelaos, Idome- neus und Ajas dem Locrer, gegen Hektor, Glaukos, Aeneas und Paris, jederseits drei junge Männer mit Lanzen zu Pferd. Rv. Drei Quadrigen, umstanden von bärtigen Männern und verschleierten Frauen: zwei Reiter sprengen hier den Quadrigen entgegen; unter einem Henkel ETPOIBOZ KALOZ. Vgl. Hesych. V. argo@gv° dvrirrgeew.

(@°) Schol. Gregor. Naz. Steliteut. 2. p. 80.

(5) Vgl. die Ohrringe mit Oenocho&@, welche Ariadne auf einer Silbermünze von Histiaea (Panofka Antikenschau, Erläuterungstaf. No. 7) trägt, und die mit Weinblatt in den Ohren der Lesbierinn Sappho (ebendas. No. 2).

(2°) Pollux. V, Segm. 97.

(”) Micali Monum. Tav. CIII. Panofka Bild. ant. Leb. Taf. I, 11.

(°°®) Braun Bull. d. Instit. 1849 Adun. d. 19. Genn. in Gerhards Archaeol. Anz. 1849 S.35.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 97

Doch zwingt uns das auf demselben Kasten unter Xıpevei« lesbare zare, un- beschadet der bisherigen Deutung, zugleich eine schöne Chironeia hier zu erkennen (*°), welcher Panaitios dies Trinkgefäfs zum Geschenk be- stimmte.

In der Ansicht, dafs Panaitios die Heilkunde ausübte, vermag uns vielleicht auf einer das Seitenstück der erklärten bildenden Kyathis (Taf. IV, 42) die Wiederkehr der Inschrift NMANAITIOZ zu bestärken über einem von einer grolsen Schlange als Verbündeten des Dionysos umwundenen Giganten in voller Rüstung, der gegen den mit Lanze und Panther zur Seite sich vertheidigenden Weingott kämpft, wahrscheinlich Eurytos (26%), wäh- rend andrerseits ein zweiter Gigant gegen Dionysos die Lanze ausstreckt (261). Ich glaube nicht zu irren, wenn ich in Erwägung, dafs die Schlange als Sym- bol der Heilkunde dem Asklepios vorzugsweise zukommt, deren ungewöhn- liche Erscheinung bei einem Giganten in voller Rüstung der die Überschrift Panaitios hat, als geheime Anspielung auf den ärztlichen Beruf des Panaitios erkläre. Dessen unbeschadet kann dieselbe ein Wächter der Quellen und Ausdruck für Flüssigkeit, zugleich als hieroglyphische Inschrift für Eurytos Wohlstrom, dienen. Zum richtigen Verständnifs des Eigennamens II«- vairıos tragen wesentlich zwei Stellen des Aeschylus bei, die eine Eumenid. v.198: avaf "ArcAAov, dvraxousov &v JAEQEL®

auros CU Touruv co) Merairos werd,

GN eis Tb mav Empakas us mavalrıos. die andre Agamemn. v.1507. Chor.

id, im dıar Ass

Favamriou mavepyera.

Ti yap Rgoreis üvev Aus reAdiraı;

Ti Tavd ou Jeongavröv er;

Diese unsere Vermuthung, dafs die Schlange im Zusammenhang mit Panaitios eine Anspielung auf dessen Stand als Heilkünstler verberge, ge-

(°®) Wie Hr. Ch. Newton in Manners and customs of the Greks from the german of Th. Panofka p. 24, not. 3 schon sehr richtig bemerkte, mit Unrecht die andre Erklärungs- weise verwerfend.

(°°) Apollod. TI, 6, 2.

(°) Gerhard Auserl. Vasenb. I, rı.

Philos. - histor. Kl. 1849. N

98 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

winnt an Wahrscheinlichkeit, sobald wir noch das Innenbild einer Kylix (Taf. IV, 7) damit vergleichen, welches den Liebesangriff eines bärtigen mit Pardelfell bekleideten Silen auf eine Bacchantin darstellt, die in der Linken einen Thyrsus, in der Rechten aber eine Schlange hält, welche sich längs seines Oberkörpers bis nach der kahlen Platte des Kopfes hinzieht, von der daneben sich ausbreitenden Inschrift MANAITIOX begleitet, woran rechts ein KALOZ unter ihrem Arm sich anschliefst (2°). Da die schlangenhal- tende Bacchantin an Hygia erinnert, so läfst sich wohl in ihrem Bild eine Anspielung auf Chironeia, des Panaitios Geliebte, voraussetzen.

Das Innenbild einer rothfigurigen in Chiusi ausgegrabenen Trink- schale (2°) zeigt den Silen Akratos, Daimon Agathos, mit der Umschrift MANAITIOZ; er kniet auf einem vollen Weinschlauch worauf KALOZ zu lesen.

Wegen ringsumlaufenden NANAITIOZ KALOZ vermuthe ich densel- ben Heilkünstler auch in dem Innenbild einer rothfigurigen Kylix des Euphronios, das Hr. de Witte (?°*) folgendermafsen beschreibt: Innen sitzt ein bärtiger Mann, Kaufmann oder Reisender, auf einem niedrigen Stuhl, myrtenbekränzt, beschuht, einen Knotenstab in der Rechten haltend. Er scheint mit einer Hetäre vor ihm zu sprechen, sie trägt einen sehr feinen, gefalteten und durchsichtigen coischen (°%) Chiton und nimmt den Gürtel; eine gestickte Mütze hat sie auf dem Kopf: neben ihr ist eine Leier. Da Cos einer der Hauptsitze des Asklepioskultus und der Asklepiaden war, so begünstigt die Tracht dieser mit Panaitios hier in Beziehung tretenden, wohl mit Unrecht als Hetäre gedeuteten Frau, welche weit eher die schöne Chi- roneia der berliner Kyathis veranschaulicht, unsre Vermuthung, dafs .Pa- naitios dem Stande der Ärzte angehörte. Wahrscheinlich hatte er diese Kylix von derselben als Gegengeschenk für jene Kyathis erhalten.

Diese unsre Entdeckung verleitet uns auch auf der volcenter Oino-

8 cho€ mit kleinem Dialog (?°°) in der bisher für Vogel oder Schiff (27) ge-

(°2) Nach einer durch Gerhard’s Güte mir mitgetheilten Zeichnung.

(®) Inghirami Museo Chiusino Tav. XLVII.

(°*) De Witte Catal. Durand. 61. Panofka d. Vasenmaler Euthymides u. Euphronios S. 17. (®) Kylix des Peithinos bei Panofka Namen der Vasenbildner Taf. I, 2. S. 6.

(<°) Monum. de l’Institut arch£ol. I, xxxıx. Ann. V, p. 357 sqgq.

(*°) Lepsius Ann. V, p. 358.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 99

deuteten Figur eine kleine Nike zu vermuthen und sie in Verbindung mit der Palmetten verzierung rings um den Hals der Vase als Symbol des Sie- ges aufzufassen, der in dem kleinen Dialog offenkundig sich ausspricht, und vielleicht enthält diese Nike dicht bei NIKOAA Nikolas, an den die Rede zuerst gerichtet wird, noch eine besondere Anspielung auf diesen Eigennamen.

Auf einer archaischen Amphora des Vasenbildners Exekias (268), einer- seits mit Ajas und Achill beim Würfelspiel geschmückt, steht ONETOPIAE=Z KALOZ hinter Ajas: auf der Rückseite zieht sich dieselbe Inschrift längs des Unterkörpers des mit seinem Pferd heimkehrenden Kastor.

Eine andre Amphora desselben Exekias (°%) offenbart dieselbe In- schrift ONETOPIAEZ KALOZ hinter der Amazone Penthesilea, die im Zweikampf von der Lanze des Achill verwundet hinsinkt.

Eine dritte Amphora des Künstlers Exekias im kgl. Museum (27°) of- fenbart dieselbe Widmungsinschrift vor Demophon, der hinter seinem Bru- der Akamas, jeder Dioscurenähnlich sein Rofs führend, uns entgegentritt.

Da es uns bis jetzt nicht gelungen ist die Geistesverwandtschaft zwi- schen dem Namen Önetorides und den mythischen Namen Kastor, Akamas, Ajas und Penthesilea zu entdecken, so müssen wir uns vorläufig damit be- gnügen die merkwürdige Thatsache hervorzuheben, dafs Exekias drei für Onetorides bestimmte Vasen anfertigte, und nächstdem daran erinnern, dafs der Theseide Akamas sich in symbolischer Auffassung mit dem Tyndari- den Kastor assimilirt, so wie andrerseits die Namen IlevSerwAsia (271) und Aıas den Begriff der Trauer mit einander gemein haben.

Die Verbindung des Onetorides mit Ajas leitet unsre Aufmerksamkeit auf eine archaische volcenter Amphora des kgl. Museums (272), auf deren

(*®) Monum. de I’Instit. arch&ol. Tom. II, Pl. XXI. Mus. Gregor. P. II, Tav. LI, 1.2. Gerhard Kampan. Vas. d. Kgl. Mus. Taf. E, 2.3. Panofka Bilder ant. Leb. Taf. x? 10. Namen der Vasenbildner Taf. II, 1.

(*°®) Gerhard Auserl. Vasenb. II, ccvı. Panofka Namen der Vasenbildner Taf. II, 8.

(”°) No. 651. Gerhard Kampan. Vas. d. Kgl. Mus. Taf. XI. Panofka Nam. d. Vasen- bildner Taf. II, 4.

(*') Monum. dell’ Institut. II, ıx, 8.

(*”) Gerhard Berlins Ant. Bildw. No. 688. Rückseite Theseus den Minotaur bekim- plend, von zwei Frauen umgeben.

N2

100 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Hauptseite Herakles im siegreichen Kampf mit Andromache und einer an- dern Amazone erscheint, indem die dabei befindliche Widmungsinschrift ONETOP KALOZ dem Bilde einen höheren Werth giebt. Denn sobald wir uns des Herakles Freundschaft mit Telamon (?’?) ins Gedächtnifs rufen, der nicht blos auf dem Zuge gegen Troja (°*), sondern auch auf dem gegen die Amazonen (7°) den thebanischen Heros siegreich begleitete, so drängt sich unwillkührlich die Vermuthung auf, es möchte ein ähnlicher Parallelis- mus wie der oben zwischen Onetorides und Ajas wahrgenommene, hier zwischen ihren Vätern Onetor (?”°) und Telamon zum Grunde liegen.

Dieselbe Inschrift treffen wir auf einer vorzüglichen archaischen Am- phora (?'7) des brittischen Museums, auf welcher die beiden Dioskuren KAZTOP MOAYAEYKEXZ mit Lanzen zu Pferde erscheinen; davor sitzt TYNAAPEOZ; hinter ihnen schreitet ihre Schwester EAANA mit sternge- sticktem Chiton und ein andrer Ephebe, wohl Echedemos (?’°) oder Mara- thos (27°), welche die Dioskuren auf ihrem Zuge nach Attika zur Befreiung der Helena begleitet hatten. Bei diesem Epheben liest man O()ETOP KALOE.

Eine gelbfigurige Kylix der Münchner Vasensammlung (°®°) stellt die Trunkenheit in ihren lascivsten Folgen dar, einerseits Dionysos zwischen zwei Silenen, und Kora desgleichen, nebst der Inschrift OLI ®PAZZMON KALOZ, andrerseits eine Thyade zwischen zwei Silenen und einen Silen

(@®) Sch. Apollon. A. I, 1289. Theocrit Id. XIII, 38. Pindar Isthm. VI, 65.

(@”*) Apollod. II, 6,4. Tzetz. ad Lycoph. Cass. 34.

(@®) Pind. Nem. III, 65. c. Schol. Vgl. den rothfigurigen Kantharus des Vasenbildners Doris im Museo Campana (Gerhards Arch. Zeit. 1846 No. 42. S. 287), wo einerseits He- rakles vier Amazonen bekämpft, andrerseits Telamon als Panoplit gegen eine gleiche Zahl ficht.

(7°) Hesych. övyrwg* Ovrsw eguw. users bedeutet einen Käufer, Pächter. ’Ovy- rogiöns, Vater des Diemporos, und da der Enkel gewöhnlich den Namen des Grolsvaters führt, so folgt hieraus, dafs Diemporos = Onetor, was mit der sprachlichen Bedeutung beider Worte, Handelsmann, sich wohl verträgt. Onetor ist auch der Name eines Priesters des ldaeischen Zeus zu Troja (Hom. Il. XVI, 604).

(@) Archaeol. Zeit. N. F. Juni 1847. Beilage No. 2. S. 24*. (@®) Steph. Byz. v. Ezaödrusıe. Plut. Thes. 32. CR) WRlut-AlRe:

(°°°) Durch eine von Gerhard mir mitgetheilte Zeichnung zu meiner Kenntnils gelangt.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 101

zwischen zwei Thyiaden, dabei MOLY®PAZ; innen einen bärtigen Mann mit einer Haube, Krückenstab und Flötenfutteral, in der erhobenen Rech- ten eine Trinkschale haltend; zu ihm kommt ein bärtiger mit Weinamphora in der Linken und gefüllter Schale in der Rechten ®P N KALOZ, wahr- scheinlich HoAupgasuwv zaros. Erwägt man, dafs der Wein die Zunge löst und gesprächig macht, und dafs Euphrades bei Hesychius als Pataeke und Vorstand des Tisches, offenbar in der Eigenschaft des Silen Agathodaemon auftritt: so wird man uns den Zusammenhang zwischen Vasenvorstellung und Name des Empfängers (°°!) ohne Schwierigkeit einräumen.

Bei Besichtigung der Feoli’schen Vasensammlung in Rom, im Früh- jahr 1847, zog mich auf einer archaischen Amphora die Inschrift OPOA- FOPA KALOZ an nebst vier Epheben, von denen zwei mit weilsem Petasos in Chiton bekleidet, einer mit schwarzem und einer mit rothem zu Pferde sitzen: die Rückseite zeigt die zwei Dioskuren. Ohne Zweifel vergegen- wärtigt einer der Epheben mit weifsem Petasos den Empfänger der Vase Orthagoras Morgenansager, weshalb auch auf der Rückseite sein Schutz- patron Kastor neben seinem Bruder Polydeukes erscheint. Derselbe Ge- danke rief auf den Silber- und Erzmünzen (2?) der macedonischen Stadt Orthagoria als Rückseite eines Dianenkopfes mit Köcher bald den Pileus mit Stern, bald den Helm, beides Attribute zur Bezeichnung des Morgen- sterns Kastor hervor.

KAAOZ und KAAE über den Bildern von Gottheiten.

Zur Begründung des S. 41,42 aufgestellten Satzes, dafs die Namen der Gottheiten fast nie von dem Beiwort xaros sich begleiten lassen, schien es mir nöthig einige Vasenbilder zu veröffentlichen, die für den oberflächlichen Beschauer mit dieser Behauptung im Widerspruch zu stehen scheinen, bei gründlicherer Prüfung aber vielmehr ein höchst belehrendes Zeugnifs für unsre Ansicht ablegen.

(32), OiHes: poager derzuVen, Paaduis* Poworızus, bavepws. V= Eiboaöys TÜrFaI- , . . . . #05 Emrrgemeg:os: der auf Kline ruhende Agathodaemon mit orientalischem Turban.

(@®) Mionn. Suppl. III, p. 87, n. 526-29.

102 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Das eine Gefäfs (Taf. II, 3), ein Krater aus Agrigent (?°3), zeigt die Rückführung des Hephaistos in den Olymp durch Dionysos und den Barbi- tosspielenden Silen Marsyas £YA(s). Während neben dem Kopf des bärti- gen, langbekleideten Weingottes mit Thyrsus und Kantharus der Name AIONYZOE steht, liest man eine Linie tiefer vor dem Haupt des auf ithy- phallischem Esel reitenden Hephaistos das Wort KALOZ im Einklang mit der schönen schlanken Jünglingsgestalt, in der Niemand die Person des Vulcan zu vermuthen berechtigt wäre, wenn nicht ein Panzer, die Zange in seiner Linken und das Maulthier, das er reitet, zu seinen Gunsten zu zeu- gen (2°*) vermöchten. Je weniger sich annehmen läfst, dafs der griechische Vasenmaler von der schon bei Homer (°°) scharf gezeichneten Individualität des durch gedrungene, unedle Gestalt characterisirten hinkenden Handwer- kergottes keine Kenntnifs besafs, desto mehr müssen wir vermuthen, dafs derselbe, indem er hiermit im Widerspruch einen schönen, schlanken Jüng- ling malte, und ihm das ehrende, aber hier wohlverdiente Beiwort xaAcs beifügte, eine bestimmte Absicht uns offenbart. Einmal nemlich spielt er auf das Liebesverhältnifs zwischen Dionysos und Hephaistos an, in welchem lezterer den Eromenos abgab; für's andre aber zog er die Wahl dieses Ge- genstandes jeder andren deshalb vor, weil der Empfänger der Vase hier mit den Attributen des Hephaistos dargestellt, vermuthlich Hephaistion hiefs, oder weil dessen Liebhaber und Vasenschenker, wohl auch ein Agrigentiner, den Namen Dionysios (*°°) führte und hier unter dem Bilde des Gottes Di- onysos, der seinen Geliebten in den Olymp zurückführt, uns entgegentritt.

Derselbe Gedanke spricht sich wohl auch auf einer agrigentiner (*37)

mit demselben Mythos geschmückten Kylix aus, wo Hephaistos, als zeis in

(®) R. Politi Quattro Vasi fittili Palermo 1829. Lenormant et de Witte Elite Cera- mogr. I, XLVvIa.

(25%) Tischbein Vas. d’Hamilton III, 9; IV, 38. Lenormant et de Witte EI. Cer. I, XLI, XLVII, XLIX.

(5) Homer. Il. XVIII, 410. Odyss. VIII, 311, 330. Il. XVII, 415. XX, 36.

(°) Vgl. Dionysios Tyrann in Syrakus, der Ältere, Sohn des Hermokrates (405-368) und den Jüngeren, dessen Sohn; hinsichts vieler andern gleichen Namens s. Pape Wörterb. d. gr. Eigennamen S. 122.

(”) R. Politi Sulla tazza dell’ amicizia Palermo 1834. Lenormant et de Witte Elite Ceram. ]J, xLvI1a.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 103

kurzem Chiton und durch einen Blasebalg charakterisirt, zu Maulthier sitzend, die dionysische Procession beschliefst.

Eine andre durch Schönheit der Zeichnung sich besonders empfeh- lende (Taf. IV, 2) Vase aus Cumae vergegenwärtigt uns die Dreizahl der Erdgottheiten, Demeter, Triptolemos und Kora, und zwar die erstere mit Ähren in der Hand und spendend dem auf Flügelwagen sitzenden Triptole- mos. Hinter diesem steht die Demetertochter Kora, die Deichsel eines Pfluges (°°°) haltend. Über ihrem Kopf steht KALE, über seinem KALOE. Erwägt man, dafs das Bild pflügender Stiere der Bezeichnung der Ehe zum Grunde liegt, die mit dem Worte Lüyos, conjugium, Zusa mmenJo- chung, ausgedrückt wird, und erinnert sich zugleich der Worte des Kreon v. 569 der Sophocleischen Antigone:

„Auch Andrer Fluren lassen sich bepflügen noch”, so wird man ohne Schwierigkeit uns einräumen, dafs der junge Ehemann hier ebenso passend unter dem Bilde des Säemanns erscheint, als seine Frau hinter ihm mit einem Pflugschaar, den sie zur Ackerlockerung herbeibringt. Die Vase selbst ist ein Hochzeitsgeschenk mit dem Bilde der jungen Eheleute (?°) und ihrer Mutter.

Dieselbe Beziehung auf Hochzeit setze ich bei einer Vase (?°°) voraus, bemalt mit des Tityos Angriff auf Leto, den des Apoll und der Artemis Pfeile zur rechten Zeit abzuwehren bemüht sind. Denn ein KALE über Ar- temis und ein KALOE vor Apollon dürften unzweideutig auf ein junges Ehe- paar hinweisen, sowie andrerseits ein KALOZ über Tityos mit Bezug auf die Leidenschaft des Verliebten nicht ungehörig erscheint.

(°®) Beschrieben von Dr. Schulz im Bull. d. Instit. arch. Genn. 1842; und von Mi- nervini in Avellino’s Bull. arch. napolet. 1843 p. 6. publizirt Tav. II; auch von Lenormant und de Witte Elite Ceramogr. III, Lxıv. Ovid. Metam. V, 645 -47:

„Wo Triptolemos, ihn (den Drachenwagen) besteigend,

Ausstreut, und in den Schoos der unbebaueten Erde

Wie der früher bebauten, wirft, die lange geruht hat.” Virgil ruft zu Anfang seiner Georgica den Triptolem als den Jüngling des hakigen Pflugs Erfinder an.

(°°°) Vgl. Panofka Antikenschau Erläuterungstafel No. 10.

(°) Annal. de Institut arch&ol. Vol. II, Tav. d’agg. H. Lenormant et de Witte Elite cer. T. II, Pl. LVII.

104 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

In die gleiche Kategorie setze ich auch den berühmten, von Abb. Denti zuerst publizirten Hochzeitskrater im Kloster S. Martino bei Pa- lermo (?°!), indem ich für die darauf befindlichen Inschriften eine von den bisher angenommenen abweichende Beziehung und Deutung vorschlage. Der Name PAO&Z KALOE gilt nemlich nicht dem im obern durch eine Bergrük- kenlinie gesonderten Raum als Brustbild hervorschauenden Pan, sondern seinem unter ihm gemalten Schützling, dem Protagonisten des ganzen Bil- des, dem schönen Phaon als Bräutigam. Auf gleiche Weise verstehe ich die Inschrift EPOE KALOZ nicht von dem im oberen Felde auf zwei Maulthieren reitenden Eros, dessen Charakter als “Ineges, Cupido, Begier, in der Natur dieser Thiere ebenso bestimmt sich ausspricht, als durch sein Verhältnifs zu Pan, sondern von dem Eros in Ephebengestalt zur Seite des Bräutigams, für den in seiner Eigenschaft als Hymenaeus (°”?) der Name schöner Eros sich vorzugsweise eignet. Analog dieser Auffassung finden wir die Inschrift XPYZH ®IAOMHAH neben der Braut, deren Name gol- dene Äpfelfreundin zunächt an Aphrodite zu denken gebietet, zumal diese Göttin aus Liebe zu Phaon, ihm, dem gealterten, Jugend und Schön- heit zurückgab (2°). Allein, wenn wir erwägen, dafs mit Rücksicht auf die drei Grazien, welche je eine dem Brautpaar und Hymenaeus zur Seite ste- hen, die durch hohe Stephane sich auszeichnende vierte Frau mitten zwi- schen Braut und Bräutigam, wohl nur Aphrodite vorstellen kann: so bleibt uns nichts übrig, als in der goldnen Philomele die Lesbierin (°°%) Sappho zu vermuthen, die bekanntlich gleich Aphrodite für den schönen

(2°!) Gerhard Antike Bildw. Taf. LIX. (°°) Zoega Bassir. Tav. XCH.

(@®) Aelian V.H. XII, 18. Palaephat. 49. Lucian D. M. 9. Vgl. Aphrodite- Ambolo- geras in Sparta (Paus III, xvırı, 1; Plut. Qu. Conviv. III, 6).

(@*) Vgl. Philomeleides, Sohn der Philomela, König auf Lesbos, der seine Gäste zum Wettkampf mit ihm im Ringen zwang und von Odysseus besiegt ward (Hom. Od. IV, 343. XVII, 134. Eustath. ad h. 1.). Letronne in den Ann. de l’Instit. arch. Vol. XVII, p. 307, not. 4: BircuyAos ou PrAoasıros (beotiquement) ne fait pas exception. Car selon la remarque de M. Welcker (D. ep. Cycl. p. 274. not. 443) dans PirourAos et TinourAos (ou 121%05) la finale #72.05 n’est que #:%os, dont la premiere syllabe est rendue longue, comme dans ElurAos, KrsourRos.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 105

Phaon schwärmte (29%), und deren Namen, gleichbedeutend mit &ydwv (296), die Sängerin versteckt zu bezeichnen im Stande ist: weshalb ihr auch, wie sonst dem Apoll (9), Orpheus (?°°) und Paris (*°%) das musikliebende Hirschkalb gehört, das hier zu Aphrodite aufblickt.

Allein nicht blos Götterbilder wählten die griechischen Künstler um persönliche Liebesbeziehungen der Sterblichen auf geheime Weise zu versinnlichen: auch Thiere gebrauchten sie zu gleichem Zweck.

Ein einhenkliges agrigentiner (°°°) Salbgefäfs (Taf. IV, 6), am Hals mit Hahn und Henne nebst den Braut und Bräutigam (°!) bezeich- nenden Überschriften KALO& und KALE geschmückt, dient zur Begründung unsrer Ansicht, wobei uns Aelians (0°) Bericht zu Statten kömmt, wonach die Hennen im Tempel der Hebe sich aufhalten, während die Hähne im Naos des Herakles wohnen (°°). Mit dem Bilderschmuck dieses sicilischen Gefäfses verdienen die Silbermünztypen der sicilischen Stadt Himera vergli- chen zu werden, auf der Vorderseite einen Hahn, auf der Rückseite eine Henne zeigend, insofern die Natur dieser Thiere sie vorzugsweise zum Symbol einer Stadt eignete, die von Himeros, dem Genius der Begier und Wollust, ihren Namen entlehnte.

Als Zeugnifs für die zaroslosigkeit der Götter und Heroennamen führe ich noch zum Schlufs die volcenter Amphora (Taf. IV, 11) mit dem Her- mes, der den kleinen Herakles in den Armen trägt (°°*) und den Inschriften HEPMEZ und HEPAKAEXZ an, indem unabhängig hiervon ein längs des Hereculeskindes sich hinziehendes KALOZ HO MAIX die individuelle Bestim- mung der Vase zum Wochengeschenk, im Einklang mit der Wahl des Va- senbildes andeutet.

(°”) Palaephat. 49. Aelian V.H. XII, 18. (°) Hom. Od. XIX, 518. Aeschyl. Agam. 1159. (°””) Gerhard Auserl. Vasenb. I, xxVI. xXVIL. XXIX. XXXII. XXXV. XXXIX. LXXII. LXXVIIL.

(°”®) Panofka Cabin. Pourtales Pi. XXIX, 1. (°”) Gerhard Ant. Bild. XXXIH. S. unsre Taf. II, 2.

(°°) R. Politi Due parole su tre Vasi fittili Palermo 1833. (°') Antikenschau Erläuterungstaf. No. 10. (2) Aelian H. A. XVIIT, 46. (°°®) Panofka in der Archaeol. Zeit. N. F. No. 12. Dec. 1847. S. 191. (°°’) Micali Monum. ant. LXXVII, 2. Philos.- histor. Kl. 1849. Ö

106 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Zu bequemerer Übersicht fassen wir die Hauptresultate unserer Ent- deckung und Untersuchung in folgende Sätze kurz zusammen:

1) Die Beiwörter KALOZ, KALE, sie mögen von einem gewöhnlich vor- anstehenden Eigennamen begleitet sein oder nicht, bezeichnen die Person für welche die Vase bestimmt ist.

2) Sie offenbaren zugleich die Bestimmung der Vasen zu Geschenken.

3) Hiebei sind zu unterscheiden:

a) Preisgefäfse für Siege in öffentlichen Spielen sowohl, als im Gymnasion; b) Privatgeschenke bei gleichem doppeltem Anlafs; c) Liebesgaben, theils von Männerverhältnifs, theils von Frauen- freundschaft hervorgerufen ; d) Hochzeitsgeschenke; e) Entbindungsgeschenke; J/) Grabgeschenke.

4) Die Wahl der Bilder steht in Beziehung zu dem jedesmaligen Anlafs des Geschenkes.

5) Zwischen dem Vasenbild und dem Eigennamen für den es bestimmt ist, herrscht ein geheimer Bund, ein Zusammenhang, auch wenn des- sen Aufspürung diesem oder jenem Erklärungsversuch mifsglücken sollte.

6) Die Bedeutung des Eigennamens erklärt in den meisten Fällen die Be- vorzugung dieses oder jenes mythischen Stoffes vor vielen andern bei Bemalung des Gefäfses.

7) Daher bei schwer zu enträthselndem Vasenbild die bisher gänzlich ver- nachlässigte Eigennamenetymologie eine neue und höchst er- spriesliche Quelle für das Verständnifs der Bildwerke er- öffnet.

Auffallend gering ist die Zahl der Frauennamen (°°) mit KALE im Verhältnifs zu der der Männer; ansehnlich aber die Zahl der Vasen mit KALE ohne hinzugefügten Frauennamen. Diese bisher unbeach- tet gebliebene Erscheinung beruht wohl auf dem Zartgefühl der Hel-

je

(”) Die Frauennamen mit z«@%e auf mehreren volc. Hydrien, Hydrophorien darstellend, kommen hiebei weniger in Anschlag. Vgl. Gerhard Rapporto Volcente pag. 190, not. 797.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 107

lenen gegen die anständigen Frauen, und stimmt mit der Lezteren

stillen, zurückgezogenen, jedweder Publieität entrückten Lebensweise

sehr wohl überein. 9) Die Namen der Gottheiten entbehren mit Ausnahme von EPNSZ und

NIKH in der Regel des Beiworts KALO& und KALE.

10) Dagegen stehen diese Beiwörter allein über den Häuptern von Göttern und Göttinnen, sobald dieselben als Schutzgottheiten gewisser Sterb- lichen erscheinen, die unter ihrem Bilde versteckt auftreten: z. B. ein Hephaistion in der Gestalt des Hephaistos, mit Überschrift eines blofsen KALOZ, ein Dionysios in dem Bilde des Dionysos mit glei- chem Beiwort, eine Korinna unter den Zügen der Göttin Kora mit blofsem KALA.

11) Selbst Thiere verschiedenen Geschlechts, namentlich Hahn und Henne, dienen mit den Überschriften KALOZ und KALE zur Ver- sinnbildung eines Ehepaares und schmücken Hochzeitsvasen verschie- dener Form.

Die geeignetsten Schlufsworte für unsre Abhandlung entlehnen wir dem für die gesammte Alterthumswissenschaft unersetzlichen Pariser Ar- chäologen Letronne, der seine treffliche Etude des noms propres grecs An- nal. de I’Institut archeol. Vol. XVII, p. 346 mit folgenden Bemerkungen endete:

„Je les invite a ne pas craindre, plus que je ne Vai fait, de s’ecarter de l’opinion commune et de proposer les conjectures, qui leur sembleraient probables, dussent-elles ne pas se verifier plus tard. Dans une matiere presque neuve, quand on a l’analogie pour soi, il ne faut pas se laisser ar- reter par la crainte de ne pas rencontrer juste. C’est un petit malheur dont on devra meme s’applaudir, si, d’un autre cote, on a pu suggerer des vues ou des recherches nouvelles. Ceux que vous aurez mis sur une voie heu- reuse et feconde auraient mauvaise gräce A ne pas vous en savoir gre, etä ne pas dire avec vous felix culpa.”

108 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Beilage.

Ansichten von sieben Archäologen über die Bedeutung von

KALO=E mit Eigennamen.

1. €. 4. Bötiiger. Griechische Vasengemälde. Ersten Bandes drittes Heft. Magdeburg 1800. S. 54 ff.

Weit wichtiger ist die Frage, wem dies: Schön! auf dieser Vase eigentlich gelte. Hr. v. Italinsky glaubt, dafs der Künstler, der diese reizende Zeichnung verfertigte, im Wohlgefallen an seiner eignen Schöpfung hinzugeschrieben habe: schön! Allein dies widerspricht allem, was wir von ähnlichen Inschriften aus dem Alterthum wissen, und kein Künstler würde es je gewagt haben, die Nemesis durch eine solche Äufserung der Selbstzu- friedenheit zum Zorne zu reizen. Auch auf die Frau die hier sitzt, kann es nicht gehen, dann müfste es ja zn die schöne! heifsen. Es kann also nur einem schönen Jüngling oder Mann gelten, dessen hier nicht ausge- drückten (vielleicht auch nur durch die Zeit verbleichten) Eigennamen man freilich hinzudenken mülste. Dies bezieht sich auf eine bei den Griechen sehr häufig vorkommende Sitte, den Namen geliebter Knaben überall an- zuschreiben, und ihnen durch solche Inschriften öffentlich den Preis der Schönheit zuzutheilen. Zuerst also noch einige Worte über diese. Die zu- erst aus edlen Waffenverbrüderungen entsprossene, und dann in den Gym- nasien und Ringschulen ernährte Knaben- und Männerliebe der Griechen hatte in den Augen des griechischen Publikums so wenig anstöfsiges, dafs man nicht das geringste Bedenken trug sie auch öffentlich zur Schau zu stellen. Die Art wie man es that, war eben so einfach, als vielbedeutend.

Schön (zaAss) wurde das auszeichnende Beiwort des geliebten Kna- ben oder Jünglings, und bedeutete bald allgemein einen Ganymed im Ver- hältnifs zu seinem Jupiter (!). Und mit diesem Beiworte schmückte man

(*) Beispiele dieses Sprachgebrauchs giebt schon der einzige "Eaurızos des Plutarch in Menge. So braucht es Aelian von den Spartanischen Lieblingen o& rag’ aurcts zero V.H.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefä/sen. 109

nun seinen Liebling, wo und wie man nur konnte. Nichts war z.B. an sich unschuldiger als die fröhliche Schäfersitte, den Namen des geliebten Jüng- lings oder Mädchens den zarten Baumrinden einzuschneiden (?). Vom Land- leben und aus der Schäferwelt entlehnten diese Sitte städtische Liebhaber, die nun besonders an solchen Orten, wo sich die meisten Spaziergänger ver- sammelten, wie z. B. zu Athen im Ceramicus, jede Wand mit der Inschrift der oder dieist schön, bemalten (°). Man kennt den schönen Demos des Pyrilampos aus den Wortspielen der alten Comödie (*) und die witzige Anwendung, die Aristophanes von dieser Sitte macht, wenn er den thrazischen Sitalkas als einen recht eingefleischten Athenerfreund schildern will (Acharn. 143 ff. mit Bergler’s Anmerk.):

Er ist Athenerfreund im Übermaafs

Und liebt auch so, dafs er schon oft: die schönen

Athenienser! an die Wände schrieb.

Natürlich vervielfältigte sich diese Huldigungsformel der Schönheit bei den erfinderischen Griechen ins Unendliche. In den Symposien wurde bei dem Cottabismus und der damit verbundenen Ausbringung der Gesund- heit nur der schöne Liebling genannt (°). Auch die schönen Frauen beka-

III, 10 und beim Suidas s. v. M&Aıros T. II, p. 526 „der Liebhaber hiefs Melitos, der z«cs aber Timagoras.” So e&pn@os z«20s Maxim. Tyr. T. II, p. 28. Reiske. In der Folge blieb freilich z«ros herrschend, und man nannte auch Dichter, Redner u. s. w. ö zu2cs. Siehe z.B. d’Orville zu Chariton p. 212 Lips. denn für die Lieblinge wurde der Ausdruck r& meıdıze gewöhnlicher.

(?) Die reichsten Collectaneen bei Cerda zu Virg. Eclog. X, 54. Passerat zu Propert. I, 18, 21.

(°) S. Suidas s. v. ö öslve zurds, eigentlich aus den Schol. des Aristophanes Acharn. 143 mit Zusätzen bei Eustathius Iliad. B. p. 633. Vom Ceramicus, dem volkreichsten Platz in der Stadt und der Sitte, dort die Namen der Schönen anzuschreiben, giebt Lucian Dial. Meretric. X. T. III, p. 308, und Meursius in Ceramico gemino ce. 18. T. IV, c. 999. Thes. Gronoy. Nachricht. Von der Sitte überhaupt haben sehr viele gehandelt, die Valckenaer ad Callimachi Elegiarum Fragm. p. 211 anführt.

(*) Die Hauptstellen dieses lustigen Wortspiels sind beim Aristoph. Vesp. 97. 98 und in Platons Gorgias. Alles hieher gehörige findet man bei Küster zum Suidas T. II, p. 235 und Alberti zu Hesych. T.I. c. 932, 18 gesammelt.

(°) Man kennt ja das bekannte Wort des Theramenes, der den Rest des Schierlings ausspritzt: Karri@ 7S zur Xenoph. Hellen. II, 3. p. 103. Schneid. Cie. Tuscul. I, 40 und die Erläuterungen bei Valckenaer zu Callimachus Elegieen p. 214.

110 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

nen, wie billig, ihren Antheil daran (°). In Theophrast’s Charakteren zeigt sich die kleinliche Ruhmsucht sogar darin, dafs ein mit dieser Schwäche behafteter Thor selbst auf den Grabstein eines melitäischen Schoofshünd- chens die Inschrift setzt: der schöne Melitäer (7).

Natürlich ging nun dieser Schönheitspreis auch auf die Künstler über, die ihn ihren Kunstwerken auf mancherlei Weise aufzudrücken wufsten. Wir haben noch geschnittene Steine mit Schrift (gemmae literatae), wo blos eine solche Huldigungsformel eingegraben ist (°). Aber das merkwürdigste Beispiel ist das des groflsen Phidias, der nach einer oft wiederholten und von den eifrigen Kirchenvätern besonders benutzten Sage, auf einen Finger der rechten Hand des allgepriesenen olympischen Jupiters die Inschrift ein- grub: der schöne Pantarkes (?). Denn so hiefs der schöne Knabe aus

(°) Wer erinnert sich nicht der Kuörrrn zary des Acontius beim Aristaenet. I, 10. p- 25. Abresch nebst Mercers Anmerk. So der wahnsinnige Liebhaber des Marmorbildes der Cnidischen Venus beim Lucian. Amor. c. 16. T. II, p. 416. rayos arcs EY,RGETTETO zur müs amanoo devögov brcıs ABPOAITHN KAAHN ExngUscero. So die Stimme der allgemeinen Bewundrung, als die schöne Anthia bei der Procession des Dianenfestes zu Epbesus erscheint, 'AvSi« 5 z«r% Xenoph. Ephes. I, 2. p. 5. Loccell.

(”) Ich halte nemlich die witzige Verbesserung Toups Em. in Suid. T. II, p. 129 (ed. Oxon. 1790), welcher statt der gewöhnlichen Lesart #.«ö0s Merurcios, zu lesen vorschlägt zu.0g Merıretos für die einzig richtige.

(°) Einen sehr merkwürdigen Carneol mit der Inschrift: Asvzas KAAH Age giebt Caylus Recueil d’Antig. T. II, pl. LII, 2. mit Caylus Bemerk. p. 158.

(°) Diese Anekdote führen die Kirchenväter mit strafendem Unwillen gegen den Künst- ler, der das heilige Jupiterbild mit seiner unreinen Knabenliebe zu beflecken wagte, häufig an. S. Clem. Alex. Protept. p. 35. C. Sylb. Arnob. adv. gent. VI, p. 199. Gregor. Na- zianz. Carm. Jamb. XVIIT. vgl. Junius Catal. p. 155. Valois zu Harpocration p. 328 Gronov. Einer älteren Quelle folgte vielleicht Suidas s. v. “Pewvovsıe T. II, p. 250 nach Canters Verbesserung. ’Oryumesı Öurrirm Tod Ars Emeygabev‘ Tavragens z0)0s. Ich habe oben gesetzt auf einen Finger der rechten Hand welche eine Siegesgöttin hielt die eine krän- zende Siegesbinde in der Hand trug. Derselbe Pantarkes siegte als Knabe in den Ring- kämpfen zu Olympia, und wurde auch später ein Wohlthäter seines Vaterlandes. Pausanias erwähnt ausdrücklich V, 11, p. 45 eines am Thron des Jupiter befindlichen Bildes eines siegreichen Knaben, der sich selbst die Siegerbinde um das Haupt windet, und von wel- chem man sage, es sei der Pantarkes aus Elis radıza 700 Beöiov. Aufser diesem befanden sich noch andre Bilder des siegenden Pantarkes zu Olympia. S. Paus. VI, 10. p. 162. 15. p- 182. Wie nun, wenn Phidias aufser der allgemeinen Bedeutung die diese Nike natürlich auf der Hand des Jupiters haben mulste, noch eine heimliche Beziehung auf den geliebten und siegreichen Pantarkes, dessen Namen er auf den Finger dieser Hand eingrub, gedacht hätte?

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 411

Elis, den sich der Künstler, während er das grofse Werk vollendete, zu seinem Liebling gewählt hatte. Sollten nicht auf ähnliche Weise die alten griechischen Vasenmaler, ihre oder auch nur ihrer Kunden und Käufer Lieblinge auf die Vasen geschrieben haben? Die Sache leidet keinen Zweifel, da sich mehrere Vasen und Paterae vorfinden, wo dem (KAAO&) schön, der Name eines Jünglings ausdrücklich beigeschrieben steht (1°).

Und sind wir nun nicht eben dadurch zu dem Schlufs berechtigt, dafs auch auf solchen Vasen, wo der Eigenname des Lieblings fehlt, dieser ent- weder nur verblichen, oder absichtlich ausgelassen sei, damit ihn jeder nach Belieben selbst hinzudenken könne? Visconti, der sich ganz für diese Deutung erklärt, glaubt, man habe die Namen da, wo sie anfangs fehlten, später noch auf den Vasen nachgetragen (!'), ohngefähr wie man die Ge- sichtszüge der Figuren auf den Reliefs marmorner Sarkophage absichtlich unvollendet liefs, um ihnen dann eine selbstbeliebige Ahnlichkeit für den Käufer zu geben (!?). So wenig ich nun darin mit Visconti übereinstim- men kann, dafs man diese Namen erst später noch hinzugesetzt habe denn wie hätte man dies füglich thun können, ohne die Vase einem neuen

(%) Schon Mazocchi ad tabb. Heracleens. p. 138. gab aus der schönen Mastrillischen Vasensammlung, die später mit der ersten Hamilton’schen vereinigt ins brittische Museum kam, 3 Vasen, wo die Inschriften z&ros Nızwv, zar0os Yorwv, zaros KarrızAes durchaus nicht auf die Abbildungen der Vasen selbst, opfernde Priesterinnen und Priester, bezogen wer- den können, sondern als Huldigung an schöne Knaben, die der Künstler hinzudachte, ange- sehen werden müssen. So finden wir in der Tischbein’schen Sammlung T. IV, 17 z«res Iz«s der schöne Hikkas. T.IV, 31 z«ros Xaguöes der schöne Charmides, wo doch bei- demal der schöne Knabe selbst auf den nur weibliche Figuren enthaltenden Vasen nicht erscheint. Vgl. T. I, 37. Dagegen ist der Raub des schönen Cephalus durch die geflügelte Eos T. IV, 12 auch mit der Inschrift übereinstimmend Kebe«Aos #«r.0s.. Nun kömmt aber auch der z«?%os allein mehrmals vor, wo, wie auf unsrer Vase, der Name des schönen Jünglings weder im Bilde noch im Buchstaben steht, als T. IV, 50 u. T. IV, 30, wo an dem Badekessel, in welchem 3 schöne nackte Frauen sich waschen, angeschrieben steht #705 &ı: aber du bist doch schön, wo der Anschreibende gewils, wie dort in Lucian’s Amoribus Callicratides dachte. Zweifelhafter sind die Vorstellungen T.I, 50. T. II, 44, wo das »«?0s doch auch auf den schönen in Geniusgestalt flötenden Knaben gehen kann. Aus allem angeführten erhellt, dafs die Künstler, welche dies z«?cs anschrieben, nicht im- mer dasseibe dabei dachten, und bald den gegenwärtigen schönen Knaben, bald einen ab- wesenden damit bezeichneten.

(‘‘) Mus. Pio Clem. T. V, Tav. XII, p. 25. u. not. f. (') Visconti Mus. Pio Clem. T. IV, t. 14. p. 19. not. b.

4112 Pınworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Brand im Glühofen auszustellen? so gewifs scheint mir doch im übrigen die allgemeine Deutung auf einen schönen Liebling auch auf unsrer Vase.

2) Panofka in Neapels Antike Biidwerke (Stuttgard 1828) S. 385. Vase 1925:

„Daneben der Name des Besitzers Alkimachos. Derselbe Name fin- der sich auf zwei andern Vasen, deren eine (Tischbein Vol. I, Pl. 37) einen bärtigen Satyr mit Thyrsus und Cantharus, gegenüber einer Bacchantin mit Hirschfell in den Händen darstellt: die zweite (Millin Coll. d. peint. gr. T.I, pl. 9) zeigt den myrtenbekränzten Theseus, mit einem Beil in der Lin- ken, und mit der Rechten den um Gnade flehenden Räuber Procrustes hal- tend, hinter welchem das Menschen aus- und einspannende Bett steht. Alle drei Vasen verrathen denselben zierlichen Stiel der Zeichnung und mögen wohl von demselben nolanischen Künstler herrühren; die Verschiedenheit der Vorstellungen macht es wahrscheinlich, dafs Alkimachos dieselben als Geschenke bei verschiedenen Gelegenheiten erhielt: die Bacchische etwa bei Einweihung in dionysische Mysterien, die Thebeische als Preis in Spie- len, und die mit den beiden Frauen etwa am Feste seiner Vermälung. Auf- fallend bleibt es, dafs die Herausgeber und Erklärer von Vasen nicht auf die oft mehrfache Wiederholung der Eigennamen geachtet haben. Statt der neuen Namen die man erwartet, sieht man bei neu ausgegrabnen nola- nischen Vasen, immer die schon vor Jahrzehenden bekannt gemachten wie- derkehren, bald einzeln, bald in Gesellschaft eines zweiten wohl auch drit- ten Eigennamens. Im letzten Fall deuten sie, zumal in Übereinstimmung mit den auf ihnen befindlichen gymnastischen Vorstellungen, auf Preise in Spielen, so dafs der Name des einen, oder der zwei Sieger nebst dem Flö- tenspieler, dessen es zu den gymnastischen Spielen als Begleitung be- durfte, auf solche Weise verewigt ward. Daher können Vasen mit drei glei- chen Namen an drei verschiedenen Orten ausgegraben sein, indem man auf der Vase eines jeden der drei Individuen zugleich die Namen der beiden übrigen zu setzen nicht unterliefs. Wer durch diese oft wiederkehrenden Namen geleitet, die Vasen mit ihren Darstellungen genauer ins Auge falste, den würden diese Monumente leicht zu Biographieen von Timaxenos, Char- mides, Oionocles, dem Flötenspieler Kallias und andern Bewohnern Cam- paniens veranlassen, da die verschiednen Darstellungen auf die wichtigsten Lebensmomente der Personen bezüglich, als sichere Quellen dazu sich be-

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nutzen liefsen. Hieran schlösse sich als zweite Untersuchung die artistische, ob nemlich die Vasen mit demselben Eigennamen auch dieselbe Künstler- hand verrathen, was nicht gradezu nothwendig ist, da sie ja in verschiede- nen Jahren bei verschiedenen Künstlern bestellt sein konnten; auf solchem Wege könnten wir, wenn gleich der Name des Meisters uns verschwiegen bleibt, doch zu einer klaren Anschauung der Schule uns erheben.

3) E. Gerhard Rapporto Volcente, Annali dell’ Instituto archeol. III, p. 81: „Während die gefirnifsten Töpfe griechischer und italo-griechischer Herkunft bis jetzt verschiedne Exemplare geliefert haben mit dem unleug- baren Namen der Besitzer (792), bieten die volcenter Geschirre, wenn gleich weit reicher an Inschriften, keine Anzeige von ähnlichem Inhalt oder ähn- licher Klarheit, ausgenommen einige etruskische Inschriften, die sich auf die Eigenthümer zu beziehen scheinen (679,ss.) und in einem sehr seltenen Falle auch unter dem Fufs einer schönen Malerei (793). Indefs diesen Man- gel an einfachen und offenen Erklärungen ersetzt hinreichend bei unserm Geschirr die sehr häufige Erwähnung von Eigennamen mit z«aAss: ein Wort das, wenn es nicht aufser Beziehung stehen kann zu der gemalten Person neben welcher es steht, dazu dient, mit gröfserer Gewifsheit auf den Namen des ehemaligen Besitzers der Vase zu schliefsen.

Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit des KALOZ in der Vasenarchäolo- gie und auf das Mifstrauen, das hinsichts seines Sinnes die verschiedenar- tigsten Erklärungen veranlafst hat, will ich zwei Schwierigkeiten beseitigen,

die unsrer Auffassungsweise entgegenzustehn scheinen könnten. Die eine

8 ist, dafs in einigen Beispielen z«ros sich neben einer mythischen Person ge- funden hat: diese Beispiele, bekannt von einigen nolanischen Gefäfsen, de- nen bis jetzt keine volcenter entsprochen haben, sind so selten, dafs die geistreiche Art, sie einer Anspielung auf den identischen Namen des Be- sitzers zuzuschreiben, so dafs ein Mlegres zaros und KedaAcs zaAcs sowohl von den dargestellten Heroen, als von einem Perseus und Cephalus, dem das bemalte Gefäfs gehörte (794) zu verstehen, mir mehr annehmbar als will- kührlich erscheint, indem ich die Seltenheit solcher Beispiele beherzige, wo heroische Personen das zaAss bei sich haben und zugleich die Unzahl von individuellen Namen, welche gerade dies xaAcs begleitet: bei welcher Ge- legenheit man sich erinnern mufs, dafs ein Grab mit der etruskischen In-

Philos.- histor. Kl. 1849. B

114 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

schrift eines Peleus bezeichnet, eine Vase mit der Malerei des Vaters des Achill in sich schlofs (795). Die andre Schwierigkeit, wenn man beständig das xaAss auf den Namen des Besitzers beziehn will, liegt darin, dafs man es bisweilen mit Namen verschiedner Personen verbunden antrifft: aber ein solcher Verein mannigfacher Belobungen, wahrnehmbar auf den Bildern sowohl gymnastischer als nuptialer Beziehung, weit entfernt Zweifel zu er- regen, ob der Besitzer unter einem der angeschriebenen Namen sich auch wirklich findet, zeigt vielmehr nur das Zartgefühl des Gebers, der zugleich mit dem Namen dessen, der den Preis erhielt, auch den des Conkurrenten, bisweilen auch den des Meisters nicht verschweigen wollte. Dieselbe Ver- bindung mehrerer Eigennamen mit zares lehrt auch, dafs die Hochzeitsbil- der nicht blos wechselseitige Geschenke zwischen Braut und Bräutigam waren, sondern meistens von Eltern oder Freunden kamen, denen es gefiel mit zaAos und »aAy Bräutigam und Braut zu preisen, wenn auch gleich nur für den einen oder die andre das Gefäfs zum Geschenk bestimmt war.” Gerhard Berlins Antike Bildwerke 1836. S. 163: „die Vasen- inschriften als rühmende Hindeutungen auf Individuen mit dem be- kannten Beifallsruf #«Ass. Die Zahl der Namen, welche auf Vasen mit diesem Beiwort verbunden erscheinen, ist ziemlich beträchtlich; es liegt am nächsten, in den erwähnten Personen diejenigen zu erkennen, denen das so bezeichnete Gefäls als Besitz zugeeignet wurde. Da jedoch andrerseits grade für die an solchen Inschriften vorzüglich reichen Vasen Etruriens und Nola’s die Überzeugung am festesten steht, dafs oft auch die individuellsten bildlichen Darstellungen derselben, statt dem dargestellten und benannten Individuum anzugehören, nur für einen ähnlichen Anlafs von dem Fabri-

kanten erborgt waren, so kann jene Beziehung der Formeln »«uAss und

ö zarn auf Besitzer und Besitzerinnen, der Gesammtanwendung ähnlicher Ge- fäfse gemäls, nur insofern ihre Gültigkeit haben, als von ihrem ursprüngli- chen Gebrauch die Rede ist. In diesem Zusammenhange, der uns gebietet bei den durch Vaseninschrift gefeierten Schönheiten eher an Athens als an Italiens Jünglinge und Jungfrauen zu denken, erklärt sich denn auch der Umstand, dafs gewisse beliebte, durch die Beiwörter zarss und zary aus- gezeichnete Namen auf Gefäfsen des verschiedensten Fundorts sich wieder- holt haben.”

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 415

Gerhard Berlin’s antike Bildwerke. Vase 847: „Beide Namen »«@ros KALLIAZ und XAPMIAEX KALOZ gehören zu den bekanntesten unter denjenigen, welche sich auf Vasenbildern sehr verschiedener Provinzen vor- finden, und somit die an und für sich natürliche Voraussetzung beschränken, als sei der mit zaA6s bezeichnete Name allezeit der Name des jedesmaligen Besitzers.”

4) C. Ottf. Müller Göttinger gelehrte Anzeigen 134. 135 St. d. 25. Aug. 1831. S. 1331-34. Vorlesung de origine pictorum vasorum, quae per hos annos in Etruriae agris, quos olim Voleientes tenuere, effossa sunt.

„Wie auf zahllosen andern Vasen in allen Gegenden, wohin die Hel- lenen sich ausgebreitet: so tritt auch auf sehr vielen von diesen die Sitte hervor, durch Schönheit ausgezeichneten Personen beider Geschlechter, besonders aber des männlichen, durch das Epitheton x«aros zu huldigen. Bei weitem am gewöhnlichsten ist zuAos 5 rais oder ö rals zarcs ohne Nen- nung des Namens, wobei bemerkt zu werden verdient, dafs das Wort r«is niemals wie so häufig auf den unteritalischen Vasen in raus, reve, roas, cor- rumpirt erscheint. Öfter kommt zu diesem Satz auf diesen Vasen ein be- theuerndes very; hinzu, grade wie in einem bekannten Epigramm des Kal- limachos; auch liest man die Begrüfsungsformel xaAss 7,«ige; mehrmals steht auch z«Acs zarn (KALE) zusammen, welches eine hochzeitliche Beziehung zu haben scheint. Häufig sind nun aber auch die z«aAei namentlich genannt, welche die Vase ehren will, und wir finden auf diesen Gefäfsen in dieser Beziehung angegeben die Namen Megakles, Hipparchos, Diogenes, Leagros, Akephitos (?), Epidromos, Nikon, Solon, Memnon, Athenodotos, Labotos, Simiades, Pantätios, Phlebippos, Euphiletos, Hippokrates, Leokrates, Kte- sileos, Onetor, von welchen Namen einige, wie besonders Leagros, meh- reremal wiederkehren. Auch sieht man auf einer Vase ein Brautpaar, wel- ches auf dem hochzeitlichen Wagen einherfährt, durch die Beischriften Avsırridns (AYZITNAHE) zaros und Podeov zar ausgezeichnet; mit dieser ist aber eine andre zusammengefunden worden, welche vier Frauen oder Jung- frauen aus einer architektonisch verzierten Fontäne Wasser schöpfend zeigt mit beigeschriebenen Namen, von denen drei deutlich Mnesilla, Anthyle und Rhodon gelesen werden, der letzte bezeichnet offenbar die Braut des Lysippides selbst. Wer gedenkt hier nicht des athenischen Gebrauchs, aus der Fontäne Kallirrhoe oder Enneakrunos, welche in der Zeit der Pisistra-

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116 Paıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

tiden architektonisch ausgeschmückt worden war, das Wasser für das bräut- liche Bad zu holen, wie noch in Thukydides Zeit geschah. Auch jene Na- men von Jünglingen erinnern wieder auffallend an Athen; und wenn mit Hipparchos nicht grade der Peisistratide gemeint sein soll: so dürfte es doch natürlich sein, bei Megakles an einen Alkmäoniden des Namens zu denken, da in diesem glänzenden Geschlecht der Name sich gewissermafsen erblich fortpflanzte, bei dem öfter gepriesenen Leagros aber an den Sohn des Glau- kon, der in dem Lajos des Komikers Platon als Weichling, wie es scheint, verspottet wurde. Leokrates endlich könnte der schöne Sohn des Stroibos sein, auf den wir ein dem Simonides zugeschriebnes Epigramm haben und dessen Jugend in die Zeit gleich nach den Perserkriegen fällt. Nun mufs es freilich Wunder nehmen, dafs wir diese Schmeicheleien, welche athenischen Jünglingen bestimmt sind, auf Vasen finden, die in den Grabmälern der Vuleienter Ranusa, Fipi u. s.w. aufgestellt sind, indem man sich gewöhn- ‚lich vorstellt, dafs solche Gefäfse speciell dazu verfertigt und benutzt wur- den, um den Jünglingen bei wichtigen Lebensmomenten, einer gymnasti- schen Auszeichnung oder dem Eintritt in das Alter der Mellepheben und Epheben, als Angebinde dargebracht zu werden, worauf allerdings auch die Anreden xalge zuros, Yaige rü, zaros ei führen, auch auf den Caninova- sen vorkommen. Allein ebenso sicher bestand in Athen zu den Zeiten des Aristophanes und später die Sitte, die Namen schöner Personen überall, wo sich Raum zur Schrift bot, mit einem ehrenden x«Ass anzumalen oder einzuschneiden; HupıAaumev Aruos xaros las man damals in Athen an allen Thürpfosten; später findet man besonders die Mauern des Kerameikos mit solchen erotischen Inschriften beschrieben; der wahnsinnige Liebhaber der knidischen Aphrodite bei Lukian kratzt sein »aAn "Abgedirn in jede Wand und jede glatte Baumrinde; und Phidias wagte, nach bekannter Erzählung, ein zaAos Havraguns am Finger des Olympischen Jupiters verstohlen anzu- bringen. So darf es uns denn auch nicht wundern, dafs auch die Topfma- ler, es sei nun in Athen oder in einer andern griechischen Stadt, die Namen schöner Knaben, von denen die ganze Stadt sprach, auf Gefälse setzten, die hernach in ganz fremde Gegenden gerathen konnten, obgleich bei man- chen solchen Gefäfsen die eigentliche Bestimmung doch ohne Zweifel die war, als Angebinde zu dienen, wie eben jene Anreden beweisen. Und so konnte auch jene Hochzeit der schönen Rhodon und des Lysippides, wenn

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 117

sie ein allgemeines Interesse erregt hatte, auf Gefäfse gemalt werden, die zum Kauf ausstanden und sich am Ende in das Grab eines Vulcienters ver- loren, der sich wohl sehr wenig um jene Personen kümmern mochte.

Auch gymnastische Kampfscenen sind auf diesen Vasen mit Inschriften versehen, wo also an wirkliche Scenen aus den gymnastischen Kämpfen eines Festes zu denken sein wird; auf einer grofsen Schale von der vortrefflichsten Zeichnung sind diese Inschriften in die hellfarbigen Fi- guren selbst hineingeschrieben kein ausschliefslich etruskischer Gebrauch und geben, soviel wir erkennen, die Namen: Asopokles, Antimachos, Olympiodoros, Batrachos zar5s, Dorotheos »aros, Ambrosios, Kephisophon »a2os, Antias, Phormos, Eratosthenes, Kleisophos, Epichares, Timon, Kleon, Euagoras, Kleibulos. Wer fühlt sich nicht wieder durch die Mehrzahl die- ser Namen mitten nach Attika versetzt, wo es z.B. der Kephisophon’s so viele gab; möglich auch, dafs der Epichares, der hier als Faustkämpfer er- scheint, derselbe junge Athener ist, der gegen die Zeit des peloponnesischen Krieges zu Olympia unter den Knaben im Stadion siegte.”

5) F.G. Welcker im Bullet. d. Instit. archeol. 1833. p. 151.

„Auch in der Inschrift KALOZ KAAANIOEZ, welche Hr. Millingen (Anc. Monum. I, tav. 91) auf den Besitzer der Vase bezieht, glaube ich ist Theseus gemeint. Panofka im Mus. Bartoldiano p. 108 giebt KAANIAZ statt KAANIOEZ, wahrscheinlich weil diese leztere Form weniger den Gesetzen der griechischen Sprache angemessen erscheint. Die gewöhnliche Genauig- keit des Hrn. Millingen erlaubt uns jedoch nicht einen solchen Irrthum vor- auszusetzen, und so bilde ich mir ein, dafs die Endsilbe weggelassen ist, wie wir es nicht selten auf Vasen und Münzen sehen, und dafs KAANIOE- ZEYZ zu verstehen sei (? dann doch wohl eher nach der Analogie von Eury- stheus KAANIZOEYZ oder KAANIZOENEZ wie NIKOZOENEXZ T%. P.). Es ist bekannt, dafs die Vasen bisweilen poetische Zunamen der Personen statt ihrer Eigennamen geben; so z. B. findet sich auf einer Eriphile als Karura und als KaAriboga, auf einer schönen volcenter Hydria der Campa- narischen Sammlung zu London Argos als MANONZ (Navw\, Havorrns) ; und gut eignet sich für Theseus ein Zuname von der Schönheit herrührend, der er eine so wunderbare Gunst (nemlich die Liebe der Amazone Antiope) zu verdanken hatte. So glaube ich auf einer andern Vase in der ersten Sammlung von Millingen Tav. 9, wo Theseus den Prokrustes züchtigt, be-

118 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

zeichnet die Inschrift AAKIMAXOZ KAAOZ, welche wohl zur Handlung selbst pafst, den Theseus selbst und nicht denjenigen, welchem das Gefäfs geschenkt ward.” Vgl. Rhein. Mus. I, S.333 und Hyperboreisch röm. Stud. S. 306 £.

6) Otto Jahn Archäologische Aufsätze, Greifsw. 1845. S.80,81.

„Vielleicht bezweifelt man aber das Recht, die Inschrift OINANOE KANE auf die Person zu beziehen, welcher sie beigeschrieben ist, wie man denn früher entschieden geläugnet hat, dafs ein KANOZ, KANE je auf die dargestellten Personen gehe (?”). Allein die Beispiele welche dies beweisen, sind zu zahlreich geworden, als dafs sich jetzt daran zweifeln liefse, wenn sie gleich immer noch im Verbältnifs zu dem so häufigen KA- AO zu den Ausnahmen gehören (%). So findet sich neben Hephaistos auf dem Flügelwagen beigeschrieben HEBAITTOZ KAAOX (Gerhard Aus- erl. Vasenb. T. 57, 1,2. Elite Ceramogr. I, T. 38), neben Hermes HEPMEZ KANOZ (de Witte Catal. etr. n. 71, vgl. n. 98), bei Dionysos, der den Hephaistos in den Olymp zurück führt, liest man AIONYZOZ KAAOZ (Po- liti Ullustr. sul dipinto Agrig. 1829 Tav.4. Elite ceram. I, T.46A), auch sein Gefährte Gelos führt diesen Beinamen (de Witte Cab. Dur. n. 85), sowie auch die Liebesgötter EPOZ KAAOZ (Gerhard Ant. Bild. T. 57. In- ghirami Vasi fitt. III, T. 256) ("*), MO®OX KANOX (Tischb. I, T.44.[50] vgl. Hermann, de trag. com. lyr. p. 25), KANO& IMEPO& (M. J. d. J. 1, T.8). Ferner ist beim Raube der Thetis diese durch die Beischrift BETIZ KAAE bezeichnet (de Witte Cat. etr. n. 133), sowie Kephalos, den Eos entführt, als KEBANAOZ KAAOXZ (Tischbein IV, T.41, Par. A. Inghirami Vas. fitt. I, T. 18), nicht minder findet sich MEPZEX (*°) KAAOZ

(”) Gerhard Bull. 1830 p. 70. vgl. Arch. Intell. Bl. 1834 p. 8. Auserl. Vasenb. I, p- 187.

(®) Schon Welcker hat mehrere Beispiele zusammengestellt Rhein. Mus. I, S. 330. Vgl. Elite c&ram. I, p. 105.

(°) Die Inschrift BANN KAAOEZ (denn so ist statt DANZ KAAOZ zu lesen (s. Gerhard Arch. Intell. Bl. 1834 p. 60), welche sich auf demselben Vasenbild neben einem Satyriskos befindet, übergehe ich, da es mir nicht ganz sicher scheint, dals sie sich auf den- selben beziehe (vgl. Panofka Terrac. p. 67. 126).

(°°%) Diese Form ist auf Vasen nicht selten, vgl. de Witte Cat. tr. p.64. Welcker N. Ann. II, p. 380.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 119

(Mus. Blacas T. 11, 1), KAAOZ EKTNP (Bull. 1834, p. 60. Arch. Intellig. Bl. 1834, S. 8. 1837, S. 73. Mus. Gregor. II, T. 60,2. Gerhard Auserl. Vasenb. T. 189), IOAEOZ KANAOZ (Mus. tr. n. 1003 bis) und bei mehre- ren Amazonen ANAPOMAXE KAAE, KANE INMOAYTE KANE (Mus. Borb. X, T. 63. Panofka Neap. ant. Bildw. S. 350). In allen diesen Fällen ist kein Zweifel, dafs wirklich die vorgestellte Person gemeint sei (°') und wollte man auch annehmen, es sei eine Beziehung auf den wirklichen Na- men des Besitzers im Spiel (°?), so ist das an und für sich mifslich, keines- wegs auf alle Fälle anwendbar, da schwerlich alle diese Namen im gewöhn- lichen Verkehr üblich waren (*?), um jedenfalls die Doppelbeziehung zuzu- geben.” Vgl. O. Jahn Arch. Aufs. S. 140.

7) Th. Bergk in der Allgemeinen Literatur- Zeitung n. 132. Juni 1846. S. 1049-1052. Recension der Bilder antiken Lebens von Th. Panofka.

„Dafs man bei dem Namen Panaetios nicht an den Philosophen den- ken dürfe, bemerkt O. Jahn a.a. O. mit Recht; Hr. P. meint, es sei dies der Name des Epheben; allein bei solchen Scenen, welche, wie die vor- liegende, Situationen und Handlungen des täglichen Lebens vorführen, darf man nicht an bestimmte Individuen denken; eben deshalb kann IIavarrıcs auch nicht auf den Epheben sich beziehen. Entschieden widerstreben sol- cher Deutung Vasenbilder, wie das auf T. I, n.8, wo zwei verschiednen Epheben derselbe Name ANTI®ON, das eine mal mit dem Zusatze KALO&Z beigefügt ist. Noch mehr solche Fälle, wo dieselben Namen bei den aller- verschiedenartigsten Vorstellungen sich finden: so sind die Namen Tiuaf£evos und Kapındys auf einer nolanischen Vase bei Millin Vas. inedits Tom. Il, pl. XIV neben zwei Kriegern geschrieben, auf einer andern nolanischen Vase, beschrieben in den Hyperboreisch-Römischen Studien S. 157, ist neben einer Pallas Xaguidrs zarcs, neben einem Hermes xarss Tiuafevos zu

(°') Ich habe absichtlich die Fälle übergangen, wo KAAOZ neben einer durch einen charakteristischen Beinamen bezeichneten mythischen Person steht, siehe n. IX.

(°) Panofka Mus. Blacas p. 36; über eine Anzahl Weihgeschenke p.16. Gerhard Ann. IH, p. 81 £.

(®) Oinanthe ist allerdings ein gebräuchlicher Name (Dem. c. Macart. 36, p. 1061); so hiefs die Mutter der Agathokleia, der Geliebten des Ptolemaios Tryphon, s. Schömann zu Plut. Cleom. 33,1.

120 Panworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

lesen, wobei noch eine dritte Vase erwähnt wird, wo ganz dieselben Namen zwei tanzenden Satyren beigeschrieben sind. Auch bei Tischbein IV, 31 findet sich Xaguiöns zarcs. Im ähnlicher Weise ist auf einem Vasenbilde, was den Wettstreit des Thamyras darstellt (Mus. Gregor. II, t. 13. 2), Evaiwv zu lesen, was mit den handelnden Personen nichts zu schaffen hat, und auf einem andern Vasenbilde (bei Gerhard Auserl. Vasenb. Taf. 150), wo eine Libation dargestellt ist und alle handelnden Personen namentlich bezeichnet sind, findet sich die Beischrift EYAION KALOZ. Ebensowenig kann ich einer Erklärungsweise beipflichten, welche Hr. P. nach dem Vorgange An- derer wiederholt angewendet hat, dafs nämlich solche Namen den Besitzer des Gefäfses bezeichnen, oder auch, wo zwei sich finden, den Geber und Empfänger. Diese Erklärung wendet Hr. P. besonders da an, wo die dar- gestellten Personen schon durch anderweitige Namen hinlänglich bezeichnet sind, wie z. B. auf Taf. IV, n.7, wo nicht nur die beiden handelnden Per- sonen, Sappho und Alkaios benannt sind, sondern aufserdem AAMA KALOZ zu lesen ist, oder Taf. X, n. 10, wo neben den würfelspielenden Heroen Ajas und Achilles auch ein Ovnrogiöns KaAos beigeschrieben ist. Ganz abge- sehen von dem Mifslichen, was es hat, so in jedem einzelnen Falle zwischen zwei verschiedenen Deutungen wählen zu müssen, kann ich mich durchaus nicht überzeugen, dafs man den Namen des Besitzers, und am wenigsten, dafs man ihn in dieser Weise beigefügt habe; denn alle diese Vasen sind ja nicht sowohl umfangreiche und grofsartige Kunstwerke, welche im Auf- trage für ein bestimmtes Individuum verfertigt werden, sondern Fabrikar- beiten, für den Verkauf, zum Theil für die Ausfuhr in die entferntesten Gegenden bestimmt. Wenn solche Namen, wie Hr. P. will, den Besitzer bezeichneten, wie will man es ferner erklären, dafs derselbe Name wieder- holt auf Vasen vorkommt, die noch dazu zum Theil an den verschiedensten Orten gefunden sind? Wo aber einmal wirklich der Name des Besitzers er- scheint, da geschieht dessen Nennung in ganz andrer Weise, wie die be- kannten Beispiele Auvuriou & Aayu9os und Kypırop@vros 1 zurı& darthun. Ich glaube vielmehr, dafs alle Fälle, wo solche Inschriften sich finden, nur aus der verliebten Stimmung des Vasenmalers zu erklären sind. Wie man in Griechenland, vor allen in Athen, an öffentlichen Orten, namentlich an den Wänden durch solche Inschriften seine Neigung kund gab, gerade so haben auch die Vasenmaler auf diese Art den Namen

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 121

ihrer Lieblinge verherrlicht. Zum Verständnifs der Vasenbilder selbst sind daher solche Inschriften völlig unnütz, allein sie sind insofern von In- teresse, als wir annehmen können, dafs, wo auf mehreren Vasen dieselben Namen wiederkehren, diese Gemälde von einem und demselben Künstler herrühren; wie z. B. die obenerwähnten drei Nolanischen Gefäfse mit den Namen des Tıuafevos und Xagnidye: so ersetzen sie also gewissermafsen den Namen des Künstlers selbst. Ubrigens ging man bald einen Schritt weiter und fügte ein Karos oder KaAy bei mythischen Darstellungen den Namen der Heroen bei; ich verweise auf die Zusammenstellung bei ©. Jahn Archäol.

Aufs. S. 80. ff.”

Philos. - histor. Kl. 1849. Q

12

6.

I

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9:

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19»

3 Paıworka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Inhalt der Erläuterungstafeln.

ee

. Eos (Hsoc) und Kephalos (Keparos 22.05); nolanische Diota (Tischbein Vas. d’ Hamilton

ıv, 12.)

. Theseus und Damastes mit Arziueyos zeros; Rückseite: Frau mit Trinkschale. Nola-

nische Diota (Millingen Peint. d. Vas. gr. Pl. ıx.)

. Enthauptete Meduse; Rückseite: Perseus mit Isores z«ros; nolanische Hydriske (Panofka

Musee Blacas pl. x1, 1.).

. Myrtenbekränzter Ephebe wie zum Ringen bereit Emigones; unedirtes Innenbild einer

volcenter Kylix (nach einer von Gerbard gefälligst mitgetheilten Zeichnung).

. Epheubekränzter Silen mit Kantharos und Thyrsus, Akratos, der der Semachostochter

ein Rehfell gebracht hat. Arzınayws zar.us. (Tischbein Vas. d’Hamilton I, 37). Herkules der Dreifulsräuber mit geschwungener Keule und Apoll mit Bogen ihn zurück- fordernd. Arzınayws zarws Erıy,egos (Mon. de l’Instit. arch. ı, Pl. ıx, 3).

. Bekränzter Gymnasiarch auf Knotenstab gestützt, einen Hund neben sich, Schwamm,

Salbfläschchen und Strigel oberhalb. Ertögoues «rs; unedirtes Innenbild einer volcen- ter Kylix (nach einer von Gerbard gefälligst mitgetheilten Zeichnung).

. Ephebe mit Ring an dem Strigel, Schwamm und Salbfläschen angehängt zu werden pfle-

gen, am rechten Arm, die Bindfäden an denen das Salbfläschen hängt, mit beiden Händen aufziehend: längs seines rechten Schenkels zieht sich Aayss z«ros; hinter ihm ist eine Säule am Kapitell mit einer Tänia umbunden: an ihrem Schaft liest man 6 as varyı z«2(05). Der queer stehende Krückenstab vertritt die Stelle des Gymnasiarch. Innen- bild einer volcenter Trinkschale im Kgl. Mus. (Gerhard Vas. u. Trinksch. d. Kgl. Mus. Taf. xIIT, 6.).

Nike bringt eine Taenia einem langgelockten Manteljüngling mit Wurfspiels; zwischen beiden steht ein Altar mit Kranz. Darauf: Nızov z«ros. Auf der Rückseite bringt ein Manteljüngling einen Vogel im Vogelbauer. Nolanische Diota (Duc de Luynes Choix de Vas. Pl. xxXvIl.). Wiedererkennungsscene von Orest und Elektra “Izer(@s) z«ros. Unedirtes Innenbild einer volcenter Trinkschale (nach einer von Gerhard mir gefälligst mitgetheilten Zeich- nung).

Musikalischer Wettstreit zwischen Alcaeus (AAz«ıos) und Sapho (Zapo). Auue zwAos: agrigentinisches Blumengefäls (Millingen anc. unedit. monum. Pl.xxxıır. Panofka Bild. ant. Leb. Taf. ıv, 7.) im Münchner Museum.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalien Gefäfsen. 123

12. Ephebe mit Springgeräth, vor ihm Avrıpev und Strigel, Lekythion und Schwamm, ge- genüber einem anderen mit Wurfspiels; Ephebe mit Strigel die ölige Hand sich im Haar seines «is abtrocknend der seinen Mantel auf der Schulter, Krückenstab in der einen, und Lekythion in der anderen Hand hält, Avrıyov zeros. Gerhard Ant. Bildw. Taf. vu. Panofka Bild. ant. Leb. Taf. 1, 8.).

12a. Leuchter dem das Bild no. 12. zum Schmucke dient, im kgl. Mus. zu Berlin.

13. Panoplite mit Augen an der Schildfahne und am Panzer, lanzenwerfend Agyos z«.(0)s binter ihm.

13a. Rückseite: Mit Helm, Fell und Chiton bekleideter Schleuderer, hinter ihm Kurzos = (e«be) auf nolanischer Diota (Gargiulo Raccolta Vol. ıı, Tay. 40.).

Taf. IT.

1. Aphrodite (Abgoö:res) mit gestirnter Aegis neben Poseidon (Hoss:dovos) ein sprengendes Viergespann lenkend IlvSozres zaros. Archaische volcenter Hydria (Lenormant et de Witte Elite Ceram. ııı, Pl. xv.).

2. Hermes der Widderträger mit sehr langem Caduceus, Egıros #0%05 (Inghirami Mus. Chiusino Tav. xXXV.).

3. Maja (Maı«) einen Kranz reichend dem Hermes (...7s5) mit Caduceus der eine Schale hinhält z&ros Kagussros. Archaische volcenter Oenocho& (Gerhard Auserl. Vas. I, xıx, 1.).

4. Leto (Asros) und Apollo (Aroro) Citharoedus, gegenüber Artemis (Agrenıdos); hinter Apoll HasızAes zaros; archaische volcenter Amphora (Gerhard Auserl. Vasenb. I, xxv.).

9. Tyche mit Ruder sitzend, vor ihr steht 'Atropos mit Spindel, ihr im Rücken tritt Lachesis mit Kalathos vor der auf einem Stuhl sitzenden Demeter, welcher Kora zur Seite steht. Dieser Mittelgruppe kehrt Klotho mit Spindel den Rücken, der sitzenden Aphrodite mit Blumen zugewandt; oberhalb Ölzweig, darunter Ilsdıeus 2aros. Archai- sche tyrrhenische Amphora (Lenormant. et de Witte Elite Ceramograph ııı, pl. xxxvı B.).

6. Apollo Citharoedus zwischen den drei Grazien Kadz, Niper(is) OwaSve für OwavSe, drei Horennamen Kare Frühling und Sommer, Niwer:s identisch mit Chione, W in- ter, und OwavSy, identisch mit 'Orwg« Herbst. Archaische Amphora (Lenormant et de Witte Elite Ceramog. I1, XXXIL.).

7. Myrtenbekränzter Ganymed die Rechte ausstreckend nach dem (auf der Vorderseite ) mit Taube, Stäbehen und Reifen in Zeus Namen heranschwebenden Eros; ArozAsss zuAos. Nolanische Diota (R. Rochette Mon. ined. Pl. xLıx, 1.).

8. Ge giebt den kleinen Dionysos seiner Erzieherin Athene die ihn in ihren Peplos auf- nimmt: links eilt die geflügelte INithyia statt Ino Leukothea mit dem Kredemnon herbei; rechts schaut theilnehmend Zeus und auf seine Schulter gestützt Dia auf das Kind: über ihrem Kopf OwevSe zars. Volcenter Hydria. (Lenormant et de Witte Elite Ceeram. 1, LXXXvV. Gerhard Auserl. Vasenb. 1IL, CL1.).

9. Artemis mit Bogen in der Linken, einen Pfeil mit der Rechten aus dem Köcher zie- hend, z«r05 ITAeuzov. Rückseite: ihre Mutter Glauke oder Leto, ganz verhüllt, mit angezündeter Fackel: nolanische Diota (D. de Luynes Choix d. Vas. Pl. xxv. Lenormant et de Witte Elite Ceramogr. ı1, Xvıu.).

Q2

194 Pınorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

10.

11.

12

10.

a4.

Lorberbekränzter Apoll, wegen schwererer Kleidung und scythischen Bogen als Hyper- boräer, in der Rechten den Pfeil; Karrızres zaros. Rückseite: jugendliche Mantelfigur mit Stab. Nolanische Diota (D. de Luynes Choix d. Vas. Pl. xxv.).

Hephaistos- Dionysos mit Hammer und Kantharos auf Flügelwagen; Kegıros 27.05. In- nenbild einer volcenter Kylix im kgl. Museum (Gerhard Auserl. Vas. I, Lvır, 1. 2.). Poseidon mit Dreizack einen Delphin reichend, z«%os Meryros, seinem auf der Rück- seite sichtbaren ganz verhüllten (vunddc) Liebling; nolanische Diota (D. d. Luynes Choix d. Vas. Pl. xxıır.).

Taf. II.

. Eos mit Kithara und breiter gestickter Binde heranschwebend, z«7.0s Tırovidss. Rück-

seite: Mantelfigur sie erwartend. Nolanische Diota (Laborde vas. Lamberg II, XxXVIl.).

. Paris auf einem Hügel, Hera mit Apfel und Scepter, Atbene mit Helm und Speer, Aphro-

dite mit Eros auf der Hand und Schleier treten vor ihn. Vor Hera steht z@?e, vor Aphro- dite desgleichen, unter dem Eros Xagu(ıö)es z@r(o)s.. Auf der Rückseite eilt Hermes zu Paris hin z&ros Tiueyre(vo)s. Nolanische Diota im Blacasschen Museum (Gerhard Ant. Bildw. xXXIl.).

. Hephaistos zu Maulthier, in den Olymp zurückgeführt von Dionysos und dem Barbitos-

spielenden Marsyas. z«?ros vor Hephaistos. Nolanischer Stamnos aus Cumae (R. Politi Quattro Vasi Fittili Palermo 1829.).

. Der Sänger Thamyras (Oxvo«s), zwei den Chor bildende Sängerinnen (Xogovize), die

Nymphe Argiope, Evamv zaros. Volcenter Hydria im Gregorianischen Museum (Mon. d. Instit. arch. II, xxıv.).

. Hercules als Argonautenanführer (Agysvavrrs) und Priester, zwei Opferdiener, über ihnen

Nızoöywos zeros; der Flötner Sysiphos, (3.rıpos); über dem Opferaltar schwebt Nike dem Herakles zu. (Gerhard Auserl. Vasenb. ııı, cLv. Arch. Zeit. 1845. Taf. xxxv, 4.).

. Nike (Nize) mit Caduceus spendet aus der Oenocho& in die Schale des Krieger Lykaon

(Avzeov) neben dem sein Vater Antandros (Avr«vösos) sich befindet: Nach Lykaon zu liest man Evaıov z«r0s (Gerhard Auserl. Vasenb. II, CL.).

. Bärtiger ithyphallischer Mann mit vollem Trinkhorn zaros bsıdov. Innenbild einer vol-

center Trinkschale (Gerhard Auserl. Vasenb. III, CLXXVII, CLXXIX.). e)

. Eros einen Hasen haschend, Tısayrevos zeres. Rückseite: Eros eine Tänia bringend.

Nolanische Diota (R. Rochette Mon. ined. Pl. xL1Vv.).

. Nelais mit Steuer und Schiffsnabel, z«As Ner«ıs. Lekythos im kgl. Mus. zu Berlin. (Mil-

lingen unedit. Monum. Pl. xxıx.).

Achill im Frauenpeplos mit Häschen an einer Schnur gegenüber dem Lykomedes mit zottiger Brust; Irzoöcpes hinter Achill. Innenbild einer volcenter Kylix des kgl. Mus. (Gerhard Vas. u. Trinksch. d. kgl. Mus. Taf. xt, xır.).

Ein Mediziner hält Vorlesungen; vor ihm steht sein Kasten mit Heilmitteln, am Deckel XIPONEIA, drunter am Kasten selbst KANE; über ihm Ilevarrıos. Zu beiden Seiten be- findet sich auf Knotenstab gestützt, ein Zuhörer, hinter dessen Rücken ein za%os sich hinzieht. Volcenter Kyathis im kgl. Mus. zu Berlin (Micali |’ Italia avanti il dominio dei Romanı Atlas Tay. cım. Panofka Bild. antik. Leb. ı, 11.).

[5

41.

12.

im Zusammenhang mit d. Bilderschmuck auf bemalten Gefäfsen. 125

. Dionysos mit einem Panther auf der Linken kämpft mit Speer gegen einen drachenum-

wundnen schon gesunkenen Giganten dem ein anderer zu Hülfe kommt, den Gott mit der Lanze bedrohend. Hlavarrıos steht über dem gesunkenen; #«70s hinter Dionysos, ein zweites z«7os vor dem helfenden Giganten. Volcenter Kyathis (Gerhard Auserl. Vasen-

bild. 1, L1.). Taf, IV;

. Jugendlicher Dionysos mit Kantharos und Thyrsus, Bacchantin mit Schlange und Krottalen

#«2.05 Nagcops; volcenter Kylix (Monum. d. Instit. arch. Tom. ı. Tav. xxvuı, 41.).

. Triptolemos den Flügelwagen besteigend, spricht noch mit Demeter die in ihren Hän-

den eine hoch gehaltene und eine gesenkte lodernde Fackel hat: hinter ihr steht Per- sephone mit einem Pflug: vor ihr zaAs, vor Triptolemos #«Aos. Cumanischer Stamnos

(Avellino Bull. arch. nap. 1843. Tav. ı1.).

. Weibliches Brustbild im sogenannten phönizischen Styl, darunter Irzc@os zurcs auf

jeder Seite einer volcenter Kylix (Tav. d’agg. der Annali dell "Instituto archeol. 1851.).

. Epeios mit einem Pferd auf dem Schild, schwirrende Pfeile rings um ihn, Avrıcs zuA2os:

Innenbild einer Kylix im kgl. Mus. (Gerhard Vas. u. Trinksch. d. kgl. Mus. Taf. vı, vuu, 4.).

. Die Amazone Hippolyte mit Streitaxt zu Pferd bekämpft von der Lanze des Theseus:

Erısdss zaros. (Gerhard Auserl. Vasenbilder ıı, cLxzL.).

. Hahn und Henne z«Aos und z«Ase am Hals einer agrigentiner Olpe (R. Politi Quattro

Vası fittili Palermo 1829.).

. Silen eine Bacchantin mit Thyrsus und Schlange umfassend, Havcurıos zeros. Innenbild

einer volcenter Trinkschale, unedirt.

Eos und Tithonos, z&Aos O:ovozAss: Rückseite dieselben Worte vor Laomedon. (Monum. d. Instit. arch. 1, v,3. Duc d. Luynes Choix d. Vas. xxxvı1.).

Dämon des Akestor abwehrend den auf das Achilleion einen Zweig darbringenden Ephippos, z&r0s Azerrogiöes zaros: auf der Rückseite ein erschreckter Alter, des Ephippos Vater, Poimandros. Nolanische unedirte Diota des Blacasschen Museums.

. Alkmaeon bedroht Eriphyle mit dem Schwert, Orovoxrss zaros; die Rückseite zeigt den

Schatten des Ampbhiaraos z«?o. Nolanische Diota des Blacasschen Museums, unedirt. Hermes mit dem kleinen Herakles im Arm: z«Aos 5 mus und %aıze zu‘ archaisirende volcenter Amphora (Micali Monum. Tav. LXXVI, 2.).

Eos und Tithonos, z«rss Xagwöes; auf der Rückseite flieht etwa Dardanos; nolanische Diota (D. de Luynes Choix d. Vas. Pl. xxxıx.).

126 Panorka: Die griechischen Eigennamen mit KALOZ

Männernamen.

Akestorides Alkaios Alkimachos Antias Antıphon Argos Aristarchos Athenodotos Chairestratos Charmides Charops Damas Diogenes Diokles Dioxippos Epeleios Epidromas Epimedes Erilos Euaion Euphiletos Eupolis Glaukon Glaukos Hiketas Hippodamas Hippokrates Hippokritos Kallikles Karysstos Kephalos

Verzeichnils der Eigennamen.

Frauennamen. Kephitos Glyko Ktesileos Nelais Laches Oinanthe Leagros Philomele Leokrates Phodon Lykaon Stheno. Lysippides Lysis Meletos Memnon

Nikesippos Nikias Nikodemos Nikolaos Nikon Nikostratos Nyphes Oionokles Oly(m)piodoros Onetor Onetorides Orthagoras Panaitios Pasikles Pedieus Perses Phaos Pheidon Polyphrassmon Pythodoros Pythokles.

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Tafel.

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Von den Pflichten der Pietät gegen die Person des regierenden römischen Kaisers.

Von HT: H..E. Bann.

[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 1. Februar. 1849.]

D ie classischen Geschichtschreiber Rom’s, aus dem ersten und zweiten Jahr- hundert der christlichen Zeitrechnung, namentlich Tacitus, (') Appian (?) und Dio Cassius, (?) indem sie den Übergang der römischen Staatsverfas- sung aus der republicanischen in die monarchische Form im Zusammenhange besprechen, unterstützen durchaus nicht die Ansicht, welche bei den nam- haftesten Stimmführern unserer Tage (*) besondere Gunst gefunden hat, dafs nämlich die Cumulirung verschiedener republicanischer Magistraturen, in der Person von Julius Cäsar und August, unmittelbar zur Bildung des Principates geführt habe. Jene Classiker deuten vielmehr an, dafs die ge- nannten Gewalthaber und deren Nachfolger die Übertragung der Befugnisse einiger der hervorragendsten republicanischen Beamten sich gefallen lielsen, um dadurch die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu stimmen, und dafs sie überhaupt die Überlieferung des politischen Schematismus aus der Zeit des Freistaates nur insoweit festhielten, als die Förderung ihrer monarchi- schen Bestrebungen dabei betheiligt erschien (?). Dagegen zeigten sie sich vorzugsweise beflissen, in den Besitz anderer selbstständiger Gewaltsrechte

(‘) Annal.1.ı.2.

(2) Histor. rom. Praefat. c. 6.— c. 8.

(?) Hist. R. LI. 1. LI. ı7. 18. Andere machen sogar ausdrücklich aufmerksam auf die In- comparabilität des Principates und der republican. Magistraturen. S. Quinctilian. inst. orat. VI.128385.

(*) Vergl. Puchta Curs. d. Institution. Bd. 1. $. 87. Auch Savigny (Syst. d. heut. R. Rs. Bd. 1. 8.23. S. 122. fg. Bd. 6. $. 285. z. Anf. vergl. S. 495. fg.) darf dahin gezählt werden.

(5) S. den Bericht des Dio Cassius LIM. 18. LIV. 2. über das nomen censorium der Kai- ser. Vergl. Plin. panegyr. c. 45.

128 H. E. Dirksen: von den Pflichten der Pietät

zu gelangen, welche die Befugnisse eines jeden Staatsbeamten weit überrag- ten. Es mag hier nicht der verschwenderischen Vergebung aller wesentli- chen Hoheitsrechte an Jul. Cäsar, von Seiten des römischen Senates und Volkes, (%) gedacht werden. Wir erinnern nur an die, bis auf August (7) zurückreichende, und sämmtlichen Nachfolgern desselben bewilligte, Frei- sprechung der Person des Staatsoberhauptes von der Verbindungskraft der Landesgesetze. (°) Daneben geschieht der unbestrittenen Befugnis des Kai- sers Erwähnung, einzelne seiner eigenen Hoheitsrechte auf die Person seiner Gemahlin zu übertragen. (°)

Nicht weniger beachtenswerth ist die Beflissenheit, mit der schon Jul. Cäsar und August die freiwillig ihnen dargebrachten Huldigungen, der Pri- vaten gleichwie der Behörden, benutzten um ihre eigene Person, und zum Theil auch die Persönlichkeit ihrer nächsten Angehörigen, als den Gegen- stand einer ostensibeln Pietät, um nicht zu sagen als den Mittelpunkt eines eigenen Cultus, für sämmtliche Bewohner der römischen Welt zu bezeich- nen. (!°) Als ein zur Förderung dieses Zweckes geeignetes Mittel erkannten die genannten Gewalthaber das, dem Staatsoberhaupte zugestandene, Prä- dicat des Vaters des Vaterlandes, so wie die Sitte, beim Jahresbeginn die Geltung der erlassenen Verfügungen der Kaiser durch die Staatsbehörden

(6) Ders. XLII. 20. XLIM. 14. 45.

(7) Ebenders. LIV. 10.

(*) Ders. LIII. 18. Zonaras annal. X. 32. a. E.Plin. a.a. O. c. 65. Fr. 31. D. de legib, 1. 3. Vlpianus lib. 13. ad. L. Jul. et Pap. „Princeps legibus solutus est; Augusta autem, licet legi- bus soluta non est, Principes tamen eadem illi privilegia tribuunt, quae ipsi habent.” Vergl. H. Grotius flor. spars. ad ius Just. h. 1.

(°) Schon August hatte die persönliche Unverletzlichkeit der Volkstribunen seiner Gemahlin Livia und seiner Schwester Octavia bewilligt. Dio Cass. XLIX. 38. Das Zugeständnifs des Prädicates Augusta für die Kaiserin erfolgte in späterer Zeit gewöhnlich auf den Antrag des Senates. Plin.a.a. O.c. 84. Capitolin in Ant. Pio. c. 5. in Pertin. c. 5. sq. Spartian in D. Julian e. 3.sq. Ähnlich verhielt es sich mit der Bewilligung göttlicher Verehrung für die verstorbene Kaiserin, welche unter den ersten Kaisern nur ausnahmsweis vorkam, (vergl. Corp. inscription. graecar. Vol. I. P. 2. Cl. 7. no. 313. P. 3. no. 1073. P. 14. no. 2965. sq.) und erst in der folgenden Zeit zur Regel erhoben wurde. Capitolin in Marco c. 26.

('°) Sueton. in Octay. c. 25. z. Anf. Plin. Ep. X. 24. 25. 75. 97. Panegyr. c. 1.sq.7.52. Die ausgesprochene Geltung des Begriffes eines selbstständigen Principates ist, neben der thatsächli- chen Anerkennung, nicht bereits unter der Herrschaft von Julius Cäsar und August vorauszu-

setzen. Vergl. des Verf. Abhdlg: Üb. Valer. Maxim. Jahrg. 1845. S. 119. dieser Abhdlgg.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 129

beschwören und für die Wohlfahrt der regierenden Dynastie öffentlich Ge- lübde ablegen zu lassen.

Dio Cassius (!') hebt unter den amtlichen Beinamen der römischen Kaiser den des Vaters des Vaterlandes besonders hervor, indem er bemerk- lich macht, dafs derselbe zwar nicht als die Quelle selbstständiger Rechts- ansprüche zu betrachten sei, wohl aber als die sichtbare Bezeichnung der väterlichen Gesinnung des Staatsoberhauptes gegen die Untergebenen, und der kindlichen Verehrung, welche diese jenem schuldig seien. Die Nutz- anwendung davon findet man bereits in Beziehung auf die Person des Jul. Cäsar gemacht. Dieser hatte nämlich zuerst den fraglichen Ehrennamen beigelegt erhalten, (!?) und seine Ermordung wurde als ein Elternmord ge- brandmarkt, (1?) um so mehr da der römische Senat für die Unverletzlichkeit von dessen Person sich eidlich verpflichtet hatte. ('%) August liefs gleichfalls das Prädicat eines Vaters des Vaterlandes sich selbst beilegen, (!°) welches seitdem zu den stehenden Attributionen für sämmtliche römische Kaiser er- hoben wurde. (!%) Denn das Verfahren der unmittelbaren Nachfolger Au-

CH) ELIEFISS CH yao 4 Fo0 Kaisagos n re ou Auyousrou meosenıs Ölvarıy 18V dvdsniav durois dızeiav Moss IyTt, ÖnAct Ö raus To MeV, vrv Toü yevous dav Öedoyrnw, Fo ö8, Frv FoU «Eimneros Aaumaoryre. za Y Ye Too margos Erwvunie Tayc PR? 2Eovsiav Five Aurois, Yv more oi maregss im ToÜg mails EcXov, zarc mavrwv Yaav Ölödwew. gu evror zu dmı FoÜro apymv Eyevero, RAR 85 ve rıuyv za 25 magavesw, ve @ura TE roüs doy,auzvous, ws zu maidas Ayarwev, za 2xelvor ebäs, ws za1 marsges audavrat.

(1?) Ebendas. XLIV. 4. Appian. De B. €. II. 106. Sueton. in Julio c. 76. c. 85. Florus epit. rer. R. IV. 2.a. E. Zonaras Annal. X. 12.

(13) Dio Cass. 1.1. c. 49. Appian l.1. c. 118. II. 62. 64. sı. IV. 9. 132. 134. Florus IV. 7. Sueton. in Julio. c. 88. Valer. Max. I. 6. $. 13. Der zuletzt genannte hat an einem an- dern Orte (IX. 11. ext. $. 4.) auch Sejan’s Verschwörung gegen Tiberius als den Versuch eines parricidium bezeichnet. Vergl. die zuvor (Anm. 10.) angeführte Abhdlg. des Verf. Anm. 95.

(1#) Sueton.a.a.O. c. 84.

(1?) Ders. in Octav. c. 58. Aurel. Victor de Caesarib. c. 1. Florus IV. 12. a. E. Orelli colleet. inscript. lat. no. 602. 606. 642. sq. In dem Fragm. Praenestin. der Calendar. marmor. (ebendas. Vol. II. p. 384.) heilst es beim 5ten Februar. „D. Non. N. Concordiae. In. Arce. Feriae. Ex. $.C. Quod. Eo. Die. Imperator. Caesar. Pontifex. Max. Trib. Potest. XXI. Cos. XIII. A. S. P. Q. R. Pater. Patriae. Appellatus.” Vergl. Th. Reinesii Epist. ad. Hoffmann. et Rupert. Ep. 28. p. 132. sq. Lips. 1660. 4.

(16) S. oben Anm. 11. und Reimarus, in seiner Ausg. d. Dio Cass. zu XLIV.4. Plinius H. N. XXXVIL 2. Auch dem Commodus wurde diese Beehrung nicht versagt. S. Orelli a. a. O. no. 887.

Philos-histor. Kl. 1849. R

130 H. E. Diesen: von den Pflichten der Pietät

gust’s war in diesem Punkte blos hinsichtlich des Grades der Eilfertigkeit verschieden, die sie bei der Annahme jenes Namens an den Tag legten. (?7) Nur der Antrag, welchen einige Mitglieder des Senates machten, die Ge- mahlin August’s durch den Titel einer Mutter des Vaterlandes zu beehren, blieb ohne Erfolg. ('°)

Die Sitte, bei dem Beginne des Jahres die Ablegung eines feierlichen Eides der höchsten Staats- Behörden (!°*) in Beziehung auf die Acte des ge- genwärtigen Staatsoberhauptes gleichwie auf jene von dessen Regierungs- Vorfahren zu veranlassen, wird mit der Person des Jul. Cäsar in Verbindung 3 öffentlicher Gelübde für das Wohl des jedesmaligen Gewalthabers als eine zuerst dem Pompeius wiederfahrene Auszeichnung schildern. Dio Cassius (!?) nämlich führt als

gebracht; während einige Referenten die Leistun

Beweis an für die allgemeine Verehrung‘, welche Pompeius zur Zeit der Blüthe seines politischen Einflusses genossen, dafs während der schweren Krankheit, die denselben vor dem Ausbruche des Krieges gegen J. Cäsar befallen hatte, in allen Städten Italiens öffentliche Fürbitten wegen seiner Genesung veranstaltet worden seien. Dieser Berichterstatter fügt noch hinzu, dafs man die gleiche Auszeichnung hinterher auch für die Kaiser in Anwen-

(17) Über Tiberius vergl. Sueton. in Tiber. c. 26. c. 67. Dio Cass. LVII. 8. LVIH. 12. Über Caligula, Claudius und Nero: denselb. LIX. 3. LX. 3. Josephus Antiquit. Judaic. XX. 1. $. 2. Sueton. in Neron. c. 8. Orelli a. a. O. no. 2267. Über Trajan: Plin. in panegyr. c. 21. c. 94. Über Hadrian, Piusund Marc. Antonin: Spartian. in Hadr. c. 6. Capitolin in Ant. Pio. c. 6. in Marco c. 9. c. 12. Eusebius chronic. P. II. Olymp. 226. 230. p- 285. 287. ed. J. B. Aucher. Venet. 1818. 4. Über Vespasian, Pertinax und die folgenden Kaiser: Sueton in Vespas. c. 12. Capitolin. in Pertin. c. 5. in Max. et Balb. c. 8. Spartian. in Jul. c. 4. Lamprid. in Alex. c. 1.sq. Auch gehört hierher die allgemeine Äufserung des Appian. de B. C. II. 7. und Plin. a. a. O. so wie die umschreibende Bezeichnung bei Vopis- cus in Probo. c. 12. a. E.

(13) Dio Cass. LVII. 12. Sueton. in Tiber. c. 50. Dennoch ist auf Münzen dieses Prä- dicat der genannten Kaiserin wirklich beigelegt. Vergl. Reimarus in d. Anmerkgg. zu Dio Cass. LVIIL 2. S. 18. und die Ausleger des Sueton. a.a. O. Hiermit nicht zu verwechseln ist die Bewilligung des Prädicates Augusta. S. oben Anm. 9. und Eusebiusa. a. O. Olymp. 215. 216. pag. 277. 285. Über die Ansprüche, welche Livia zu Anfang der Regierung des Tiberius geltend zu machen versuchte, vergl. Zonaras Ann. XI. I.

(18°) Fr. 233. $. 1. D. de R. J. 50. 17. Vergl. H. Grotius for. spars. ad ius Just. h. 1.

(9) Hist R. XLI. 6.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 131

dung gebracht habe. (°°) Das Beschwören der Acte des Staatsoberhauptes am ersten Tage des Jahres soll zuerst unter dem Triumvirate im Jahre Rom’s 712 feierlich begangen sein, und zwar in Beziehung auf die Acta des Jul. Cäsar ('). Allein unter August’s Regierung scheint die Beeidigung der Acte des Kaisers nur ausnahmsweis durch den Senat vollzogen zu sein, (2?) nicht aber regelmäfsig; und gleiches gilt auch von der bezüglichen Eideslei- stung der Beamten. Tiberius erhob das Beschwören der Acte des ver- storbenen Kaisers abseiten der Behörden zu einer ordnungsmässigen Feier- lichkeit (22°); das Ablegen von öffentlichen Gelübden für den lebenden Kaiser scheint er gestattet zu haben, dagegen nicht die eidliche Anerkennung von dessen Regierungsmaafsregeln (*?), ausgenommen gegen das Ende seiner eigenen Regierung, wo nach der Unterdrückung von Sejan's Verschwörung einer derartigen feierlichen Eidesleistung Erwähnung geschieht. (°*) Bei dem Regierungs-Antritte Caligula’s trug es sich zu, dafs der Kaiser nicht allein für seine Person, sondern auch für seine noch lebenden mütterlichen Ascen- denten und für seine Schwester, die Ablegung feierlicher Gelübde so wie den Eid der Treue von den Behörden verlangte, in der Art dafs dieselben sich verpflichteten, die Förderung des Wohles des kaiserlichen Hauses sich angelegen sein zu lassen, selbst auf Gefahr des eigenen Lebens gleichwie

(°°) Allein etwas ähnliches kommt schon vor unter den Bewilligungen des Senates an J. Cäsar (ebendas. XLIV.6. Appian.a.a. O. 11. 106. Zonaras das. X. 12.) und an Octavian. (Dio Cass. LI. 19. Appian. das. V. ı32.). Beispiele gleicher Auszeichnung für besonders populäre Männer werden auch schon vor der Zeit des Pompeius erwähnt. (Aurel. Victor de vir. illustr. c. 66.). Über die später zu den Feierlichkeiten des Jahreswechsels gezogene Ablegung solcher Fürbitten für den Kaiser vergl. auch Plutarch in Ciceron. c. 2.

(1) Dio Cass. XLVII. 18.

(°?) Ders. LIM. 8.

(”) Puchta a.a. 0.8 87. S. 374. Ausg. 2. hat diese leere Förmlichkeit als eine Nachahm- ung des Rechenschafts-Berichts, welchen unter der Republik die Consuln am Schlusse des Amtsjahres dem Senate erstatteten, geltend zu machen versucht und eine Bestätigung seiner Ansicht von dem Wesen des röm. Principates (vergl. oben Anm. 4.) darin zu finden geglaubt.

(°°) Sueton. in Tiber. ec. 26. c. 67. Dio Cass. LVII. s. Wie denn auch noch in späte- rer Zeit die Ablegung der vota solennia pro incolumitate Principis da vorkommen konnte, wo die Anknüpfung einer Beeidigung der acta Principis von selbst hinwegfiel; nämlich aufserhalb Rom’s, z. B. in den Provinzen. Plin. Ep. X. 44. sq. 60. sq. 101. sq.

(**) Ebends. LVII. 17. vergl. Taeitus Hist. VI. 2.

R2

132 H. E. Disgsen: Yon den Pflichten der Pietät

jenes der Ihrigen. (*°) Anderntheils unterliefsen es die Behörden, die Acte des Tiberius nach dessen Tode eidlich zu bekräftigen, und es wird ausdrück- lich berichtet, (2°) dafs auch in der Folgezeit in dem Eidesformular der Behörden den Acten dieses Kaisers niemals ein Platz gegönnt worden sei. Ähnliches wiederholte sich unter der Herrschaft des Claudius. Dieser Re- gent wollte anfangs das Beschwören seiner eigenen Acta nicht zugeben, wäh- rend er später es genehmigte. (*") Von den Regierungsmafsregeln des Cali- gula hatte er zwar nur die besonders schädlichen ausdrücklich aufgehoben; allein den Acten des letzteren wurde ebensowenig wie jenen des Tiberius die Aufnahme in das feierliche Eidesformular der Behörden zu Theil. (?°) Diese Thatsachen darf man nicht unbenutzt lassen bei der Rechtfertigung der Erscheinung, dafs in juristischen und nichtjuristischen Quellen des rö- mischen Rechts zwar der Geltung mancher Volks- und Senats-Schlüsse aus der Regierung des Tiberius Meldung geschieht, dagegen auf einzelne Con- stitutionen des genannten Kaisers und seines unmittelbaren Regierungs - Nachfolgers nur beiläufig Bezug genommen wird. (?°)

(?) Dio Gass. LIX. 3. 9. Sueton. in Calig. ce. 15. Tiberius hatte aus Eifersucht nicht ge- statten mögen, dafs andern Mitgliedern seiner Familie die Ehre der vota publica zu Theil würde. Ders. in Tiber. c. 54. Von Caligula ist es bekannt, dals er die Verehrung seiner Person, mit- tels Errichtung von Standbildern in den öffentlichen Tempeln, auch gegenüber den Juden, deren Religionslehren einer solchen Abgötterei entgegen waren, selbst mit Gewalt durchge- setzt wissen wollte. Josephus a. a. O. XVII. 8. $S$. 1. sqq. XIX. 5. 8. 2. c. 6. $. 3. Suidas v. Böcruyue Eonuweews v. Iyueice. Zonaras Ann. III. 10. VI. 4. 10. sq. XI. 7. (Über die zum Theil abweichende Erzählung des G. Cedrenus vergl. dessen Histor. comp. p. 192. 226. 249. ed. Becker. Vol. I. p. 337. 397. 438.). Verschieden von diesem Ansinnen war die Beehrung des regierenden Kaisers durch Opferhandlungen vor dessen Standbilde (Plinius Epist. X. 97.) und durch eigene demselben zu errichtende Tempel; was schon unter August’s Regierung in den Provinzen allgemein vorkam, (Estr& Horat. prosopograph. p. 361. Amstel. 1846. 8.) und so- gar bei den Juden keinen Widerstand hervorrief, während es den Abscheu der Christen er- regte. Josephus de bello Ju. d. I. 21. $. 3. II. 9. 10. 17. $. 2. Tertulliani apologetic. c. 13. c.

16. c. 31. sq. ad nation. 1.17. (2°) Dio Cassa20: (27) Ebends. LX. 10. 25. (2?) Ders. LX. 4. Sueton in Claud. c. 11. (°) Vgl. Bach Hist. iurispr. R. IH. 1. Sect. 2. $. 16. Sect. 3. $$. 3. sq. Sect. 4.$$. 9. sg. Sa-

vignya.a.O.Bd. ı. 8.23. S. 123. Anm. d. Eines Rescriptes von Tiberius Caesar findet man gedacht in Fr. 38. $.10.D. ad. L. Jul. de adulter. 48. 5. S. auch Fr. 41. D. de hered. inst. 28. 5.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 133

Aus der bisherigen Ausführung (°°) ist zu entnehmen, dafs die Bestrebungen der einzelnen Kaiser den Absichten des römischen Senates (°') entsprachen, die Gesammtheit der freien Einwohner des römischen Rei- ches an die Person gleichwie an die Familie des jedesmaligen Staatsoberhaup- tes zu knüpfen, nicht blos durch den Einflufs der politischen Interessen, son- dern gleichzeitig durch die moralischen und religiösen Motive der Pietät und des eidlich bekräftigten Versprechens. Indem wir es nunmehr versuchen, einzelne selbstständige Resultate zu bezeichnen, (°?) welche aus diesen Einflüs- sen hervorgegangen sind, glauben wir uns auf die folgenden drei Punkte beschränken zu dürfen. Zunächst auf die Sitte, das Leben eines einzelnen Staatsbürgers zur Rettung der bedrohten Persönlichkeit des Kaisers einzu- setzen. Sodann auf die geschichtliche Thatsache, dafs die Vollziehung frei- gebiger Zuwendungen an das Staatsoberhaupt in den Testamenten sämtlicher Staatsbürger, seit dem Beginne der Kaiserregierung, zu den Ereignissen des Tages gehörte. Endlich auf dieses Prineip, dafs die geringste Verletzung der Ehrfurcht gegen den Kaiser ohne weiteres die Verhängung einer Capi- talstrafe zur Folge haben konnte. (*°)

(3°) Dieselbe ist vorsätzlich beschränkt worden auf die Person des Kaisers und auf dessen Familie. Auch ist ganz abgesehen von den priesterlichen Feierlichkeiten zu Fürbitten für den re- gierenden Kaiser und dessen Haus, worüber die Inschriften vielfach berichten, zumal die Acia Fratrum Arvalum. (Vergl. Orellia.a. O. no.947. no. 2267. sqq.). Die Berücksichtigung der kaiserlichen Günstlinge mulste hier ganz ausgeschlossen bleiben. Denn obgleich einigen von diesen, namentlich den prätorianischen Präfecten Sejanus und Plautianus, entsprechende Auszeichnungen gleich jenen des Kaisers bewilligt wurden, (Dio Cass. LVII. 2. LXXV. 14.) so ging daraus doch nicht eine feste Norm für die Zukunft hervor.

(°!) Dieser beehrte z. B. den L. Vitellius, den Vater des nachherigen Kaisers, wegen der Anhänglichkeit an die Person des K. Claudius, nach seinem Tode mit einem Standbilde, wel- ches die Inschrift führte: „Pietatis immobilis erga Principem.” (Sueton. in Vitell. c. 3.). In ähnlicher Weise suchte auch die Bellissenheit städtischer Communen den Ausdruck ihrer Devo- tion gegen die Person des Herrschers auf Denkmälern zu verewigen. S. bei Orellia.a.O. V. II. no. 3734. 4074.

(°?) Minder auffallende Äufserungen derartiger Pietät mögen hier unberührt bleiben, z. B. die bannale Phrase auf Inschriften für angesehene Beamtete: „piAdzurag zur hiAomargıs.” (Corp. inser. graec. V. 1. P. 4. no. 1363. sq. 1369. sq. 1375. 1379. P. 5. 1613.). Diesem entspricht bei Nichtrömern die Formel: „piARozUTER zer dirogumaıos.” (Ebendas. P. 11. no. 2108. c. u. f. no. 2123. sq. P. 13. no. 2719. Addend. p. 1005. zu no. 2114. bb. p. 1008.).

(°°) Begreiflich ist an diesem Orte nur zu handeln von den Erscheinungen der Pietät gegen die Person des noch lebenden Kaisers. In die Verehrung, die dem bereits verstorbenen

134 H. E. Disksen: Yon den Pflichten der Pietät

I.

Dio Cassius (°*) berichtet, dafs die zu seiner Zeit in die Hof- und Umgangs-Sprache übertragene Formel: „dem Kaiser seine Devotion bezei- gen,” aus dem nachbenannten geschichtlichen Vorfall geflossen sei. Nachdem sämmtliche Hoheitsrechte auf August waren übertragen worden, hätten ein- zelne Beamte und Senatoren noch versucht einander zu überbieten durch die Ermittelung neuer Schmeicheleien gegen den Gewalthaber. So sei im Jahre d. St. 727. einer der Volkstribunen, Namens Sex. Pacuvius, (wel- cher auch ein Plebiscit des Inhaltes durchsetzte, dafs der Monat Sextilis fortan den Namen Augustus führen sollte, (°°)) im versammelten Senate mit der Erklärung aufgetreten, er stelle hiermit, gemäfs der in Spanien herr- schenden Sitte, (°°) dem gegenwärtigen Staatsoberhaupte seine eigene Person und sein Leben zur freien Verfügung; indem er gleichzeitig die Hoffnung ausprach, dafs alle Senatoren seinem Beispiele folgen würden. Da aber der in der Versammlung anwesende Kaiser diese Demonstration nicht habe dul- den wollen, so sei der Tribun auf die öffentlichen Strafsen und Plätze ge- eilt, um die dort versammelten Bürger zur Vollziehung eines solchen Devo- tionsactes zu vermögen, zugleich auch die Bestätigung desselben durch ein

Opfer zu bewirken.

nach erfolgter Apotheose gezollt ward, mischten sich Beziehungen des Sacralrechts. (S.Sueton. in Octav.c.5.c.6.). Freilich ist hier die Grenze leicht überschritten, indem die überschwängli- chen Ausdrücke der Schmeichelei gegen den lebenden Kaiser nahezu an die Formen göttlicher Verehrung des verstorbenen streifen (z. B. Numini, v. genio, maiestatique Imp. Caes. Orellia. a. O. V. I. no. 980. 996. 999. sq. 1003. sq. 1020. 1024. 1718. V. II. no. 4985. Omnium seculorum, o. virtutum, sacratissimo Principi. Ebds. V. I. no. 202. 596. 1049. Custodi. imperü rom. totius- que orbis terrarum praesidi. Ds. n. 6/3. Subiugatori, vo. Pacatori, Restitutori, orbis terrarum. Ds. no. 838. 859. 885. 927. 1030. 1089. sq. 1102. sq.). Anderntheils bleibt es unserer Aufgabe nicht minder fremd, von den Feierlichkeiten zu handeln, durch welche bei einem Regierungs- wechsel die Behörden ihre Pflichten gegen die Person des neuen Kaisers zu bethätigen pflegten. Unter diesen hat die Eidesleistung der Beamten, und die nachgesuchte Bestätigung in ihrem Amte durch den antretenden Herrscher, sich bis auf die späteste Zeit erhalten. S. Canta- cuzeni Historiar. I. 2.

@% Hist. R. LII. 20.

(°?) Macrobius Saturnal. I. 12. II. 4.

(°°) Reimarus, zu Dio Cass. a. a. O., verweist auf J. Lipsius Antiqu. lection. V. 8. (Opp- T. I. p. 128.) und auf Casaubonus zu Strabo geogr. III. p. 77.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 135

In der Fortsetzung seines Geschichtswerkes (37) liest man bei demsel- ben Referenten: es seien unter Caligula’s Regierung zwei Römer das grau- same Opfer einer ähnlichen, gegen den Kaiser gerichteten, Schmeichelei geworden. Während einer bedenklichen Krankheit Caligula’s hätte nämlich ein Plebejer, P. Afranius Potitus, und ein römischer Ritter Namens Atanius Secundus, durch einen Eid sich verpflichtet, für den Fall der Genesung des Kaisers das eigene Leben zum Opfer zu bringen, und beziehungsweis in Fechterspielen zu kämpfen. Nach wiedererlangter Gesundheit habe nun wirklich Caligula die beiden an ihren Eid gemahnt und sie genöthigt den Tod zu erleiden.

Aufserdem gehört hierher ein anderer Bericht des Dio Cassius, (°°) der durch die Angaben des Biographen Hadrian’s (°?) unterstützt wird, ‚über den Tod des Antinous. Es heifst bei diesen Referenten, dafs die eigene Meldung Hadrian’s wenig Glauben verdiene, als ob der in seinem Gefolge Ägypten bereisende Antinous bei einer Fahrt auf dem Nil verunglückt sei. Für ungleich wahrscheinlicher habe man vielmehr diese Version zu halten, dafs der den geheimen Künsten der Zeichendeuterei und Zauberei ergebene Kaiser dem Aberglauben gefröhnt habe, als ob die freiwillige Opferung ei- nes ihm geweihten fremden Menschenlebens die unerlässliche Bedingung zur Sicherstellung des eigenen Wohlergehens sei. Zu einem solchen Opfer nun wäre Antinous, durch freie Entschliefsung geleitet, oder bestimmt durch Hadrian’s Bitten, ausersehn worden. (*°)

Aus diesen Mittheilungen erhellet, dafs nur von solchen Devotionen hier die Rede ist, die als ein Zeichen aufopfernder Liebe zur Erreichung des Zweckes dienen sollten, durch den Untergang der eigenen Person die Rettung eines fremden Lebens zu sichern. Verschieden von den Devotio- nen der entgegengesetzten Art, (*!) die in der Anwendung von Beschwörun-

7) Dio Cass. LIX. 8. Vergl. auch den noch mehr in’s einzelne gehenden Bericht des Sueton. in Calig. c. 27.

(°) Hist. R. LXIX. 11. vergl. c. 22.

(°) Spartian in Hadr. e. 14. vergl. Aurel. Vietor de Caesarib. c. 14. $$. 7. sqq.

(9) Die kurze Angabe in des Eusebius Chronic. P. I. Vol. 2. p. 235. ed. Aucher, über des Antinous Tod deutet gleichfalls auf einen Zusammenhang mit den vaticinia. Unerheb- lich ist die beiläufige Äufserung Tertullian’s ad nation. II. 10.

(*') Vergl. Sueton. in Calig. c. 3., wo von Germanicus gesagt ist: Obtrectatoribus etiam, qualescunque et quantacunque de causa nactus esset, lenis adeo et innoxius, ut Pisoni

136 H. E. Diegsen: Yon den Pflichten der Pietät

gen bestanden, um eine verhafste Persönlichkeit einseitig dem Untergange zu weihen; (**) oder welche die gewaltsame Opferung eines fremden Men- schenlebens erforderten, um den durch äufsere Zeichen kundgewordenen Zorn der Götter von unserer eigenen Person abzulenken. (*) Allein auch jene Selbstopferungen aus persönlicher Zuneigung waren wiederum gedop- pelter Art. Der Aberglaube der alten Welt (*”) hatte dieselben eingeführt als ein sinnlich wahrnehmbares Mittel, um durch die freiwillige Opferung eines andern Lebens die Wohlfahrt des von dem Zorn der Götter bedrohten Individuum’s sicherzustellen. Es war ursprünglich davon nur die Rede bei einer gegenwärtigen oder nahe bevorstehenden Lebensgefahr, und der Tod des der erzürnten Gottheit sich preisgebenden Menschen mufste unmittelbar erfolgen, damit die Lebensrettung der geliebten Person dadurch herbeige- führt werden möchte. Selbstopferungen dieser Art sollen auch den Römern nicht unbekannt gewesen, und zwar zwischen Ehegatten oder Liebenden, gleichwie zwischen Eltern und Kindern vorgekommen sein. (**) Zu diesen Beispielen würde denn auch der Tod des Antinous gezählt werden können, sobald es feststünde, dafs derselbe wirklich unter den zuvor als wahrschein- lich bezeichneten Voraussetzungen erfolgt wäre. Ganz anders verhielt es sich dagegen mit den andern oben berührten Fällen der Devotion, die aus der Periode von August’s und Caligula’s Regierung berichtet werden. Dies waren entweder Weihungen der eigenen Person, die ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Lebensgefahr des Kaisers als allgemeine Betheuerungen schrankenloser Ergebenheit, mithin als inbaltleere Ceremonien sich darstell-

decreta sua rescindenti, clientelas diu vexanti, non prius succensere in animum induxerit, quam veneficiis quoque et devotionibus impugnari se comperisset.” S.d. Ausleger zu dieser Stelle.

(*?) Die Quellen des römischen Rechts zählen diese Operation zu den sacra impia, nocturna. PaulusR. S. V. 23.8. 15.

(#3) Sueton. in Neron. c. 36.

(BIYFPHn HN. €. 1.2 Eric. 2:

(**) Vergl. die Ausleger des Spartian. a.a. O. Bei dem Lehrsatze der römischen Rechts- doctrin: dals, im Fall des, bei gleichzeitiger Veranlassung erfolgten, Ablebens von Vater und Kind, der früher erfolgte Tod des ersteren präsumirt werden solle, ausgenommen wenn das Kind noch unmündig gewesen, indem alsdann die Vermuthung für das Gegentheil streite, (Fr. 9. 8. 4. vgl. S$. 1. fg. D. de reb. dub. 34.5. Savigny’s System. II. S. 20. fg.) ist an eine Bezie- hung auf derartige Liebes- Opferung nicht zu denken. Vielmehr liegt diesem Räsonnement lediglich die Rücksicht auf die grölsere Widerstandskraft eines schon entwickelten und noch nicht abgenutzten physischen Organismus zu Grunde.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 137

ten, wie z. B. der theatralische Auftritt, den der Volkstribun Sext. Pacuvius herbeiführte; (*) oder es stellten dieselben sich dar als blofse eventuelle Zu- sicherungen einer künftigen Devotion, die nicht eher in Vollzug treten sollte als bis die Lebensrettung des bedrohten Individuums im gewöhnlichen Wege erfolgt sein würde. Von dieser letzten Gattung waren die beschworenen Weihungen der beiden Schmeichler, zur Zeit der schweren Erkrankung Ca- ligula’s. (*%) Die grausame Ironie, mit welcher der wieder genesene Kaiser in diesem Falle auf Vollziehung der Devotion bestand, erschien um so em- pörender, da ein erzwungenes Menschenopfer nach bereits beseitigter Gefahr nicht einmal dem Aberglauben genügen konnte, und da überdem bei Cali- gula jederzeit der Nebenzweck vorausgesetzt werden durfte, dafs der Kaiser seine Opfer nur wähle um deren Vermögen für sich selbst zu gewinnen. (*7) Der Biograph Caligula’s berichtet an einem andern Orte, (**) dafs dieser Kaiser nach einer stürmischen Seefahrt seinen Schwiegervater M. Silanus, der ihn auf dieser Reise nicht hatte begleiten wollen, zum Selbstmorde ge- nöthigt habe, indem er ihn staatsgefährlicher Pläne beschuldigte, die für den Fall des Unterganges des Kaisers hätten zur Ausführung gelangen sollen. An eine Ahndung wegen unterlassener Devotion für das Leben des Staats- oberhauptes ist dabei wohl nicht zu denken; und eben so wenig mag das, in den Vatic. Frr. berichtete, saerum in portu pro salute Impera- torisfaciendum, in unmittelbarer Verbindung gestanden sein mit der Weih- ung eines Menschenlebens zur Förderung der Wohlfahrt des Kaisers. Jeden- falls aber berührt diese denkwürdige Mittheilung den hier zu besprechenden Gegenstand überhaupt, nämlich die Pietät gegen die kaiserliche Person; und da die Auslegung der fraglichen Textesworte mit nichten als abgeschlos- sen zu betrachten ist, so dürfte eine wieder anzustellende Prüfung derselben kaum als ein unzeitiges Unternehmen bezeichnet werden.

Die Ausdrücke jener Stelle der Vatic. Frr. lauten nach der gang- baren Textes-Recension also: $. 148. Is qui in portu pro salute Im-

(*3) Ähnliches gilt von der Schmeichelei, deren gedacht ist bei Sueton. in Octav. c. 59. „Nonnulli patrumfamiliarum testamento caverunt, ut ab heredibus suis praelato victimae titulo in capitolium ducerentur, votumque pro se solvereiur: Quod superstitem Augustum reliquissent.”

(*°) S. oben Anm. 37.

(+7) Vergl. die Erzählung des Sueton. in Calig. c. 41.

(+3) Ebendas. c. 23.

Philos. - histor. Kl. 1849. S

138 H. E. Diresen: Yon den Pflichten der Pietät

peratoris sacrum facit ex vaticinatione archigalli, a tutelis exeu- satur. Da jedoch die Handschrift entschieden liest: ii, und excusan- tur, so dürfte dies beizubehalten und demnach facit in faciunt umzu- ändern sein; ganz abgesehen davon, dafs verschiedene uns erhaltene Inschrif- ten das, nach dem Ritus des Cybelen-Dienstes, für die Wohlfahrt des regierenden Kaisers und dessen Familie veranstaltete Opfer als ein solches bezeichnen, welches der oberste Priester dieses Cultus unter der Mitwir- kung anderer Priester und Priesterinnen vollzogen habe. (‘”) Dafs aber in dem obigen Texte die priesterliche Eigenschaft der, mit der Immunität vom vormundschaftlichen Amte beliehenen Subjecte nicht direct angedeutet ist, kann durch die folgende Bemerkung gerechtfertigt werden. Zunächst kommt in Erwägung, dafs das von dem Archigallus formulirte sacrum durch Prie- ster der verschiedensten Gattungen (°°) begangen werden konnte. Sodann ist zu beachten, dafs im Zeitalter der christlichen Kaiser, welchem die Com- pilation der Vatie. Frr. unbestritten angehört, der Aberglauben des Heiden- thums, insofern er sich auf die Förderung der Wohlfahrt des kaiserlichen Hauses bezog, oder mit den öffentlichen Belustigungen des Volkes in Berühr- ung stand, zwar geduldet wurde, jedoch ohne die ausdrückliche Anerkenn- ung seiner Geltung. (°') Überdem fehlt es in dem vorstehenden Falle nicht an einer anderweiten Hindeutung auf ein blofses beschränktes Transigiren zwischen der Staatsklugheit der christlichen Kaiser und den Lehrsätzen der neuen Staatsreligion. Es ist nämlich hier nicht die Rede von den gewöhn- lichen Gelübden und Opfern für das Leben und Glück des Kaisers, so wie seiner Familie, von denen die epigraphischen Monumente vorzugsweis spre- chen, (5?) und die zum Theil im Namen eines Priestercollegiums feierlich ver-

(*) Orelli.a. a. O. Vol. I. no. 2322. 2330. 2332.

(°°) Bald ist ein Sacerdos schlechthin genannt, als einer der XVviri S. F., oder der Sa- cerdos civitatis, (Orelli das. no. 2322. 2325. 2328. sq. 2332. sq.) bald der Haruspex pub. primarius. (Ebends. no. 2330.).

(°!) Theod. God. XVI. 10. c. 1. c. 3. de pagan. sacrif. Vergl. A. de Buchholtz iur. civ. Ante-Just. Vatic. Frr. $. 148. p. 126. Regimont. 1828. 8. Glück Ausführl. Erläut. d. Pandekt. Bd. 31. S. 299. fg. Rudorff das R. d. Vormdschft. Bd. 2. $. 89. S. 103. Berl. 1833. 8. Rein das Crim. R. d. Röm. S. 908. fg. Leipz. 1844. 8.

(©?) Z.B. Supplicationes diis immortalibus pro Imp. Caes. (Orellia.a. O. V. I. no. 3187. V. II. no. 4945.). Pro salute et reditu, oder Pro reditu et itu, dn. imp. Caesaris. (ebds. V. I. no. 901. 1256. 1759. 1869. 1888. 2129.). Bono eventu profectionis

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 139

handelt wurden. (°%) Vielmehr wird nur gesprochen von demjenigen heiligen Ritus, der für das Wohl des Staatsoberhauptes in einem Hafen zu vollziehen war, und zwar nach der Inspiration des Oberpriesters der Cybele. Dadurch sind wir zu der Annahme berechtigt, dafs das fragliche Opfer lediglich Be- zug gehabt habe auf die, entweder bevorstehende oder bereits glücklich über- wundene, Gefahr einer Seereise des Kaisers, und nicht auf die einfachen vota publica pro itu et reditu Principis suscepta. (5*) Je unvoll- kommener aber die Schiffahrtskunde bei den Griechen und Römern war, desto eifriger wurde von den zur See Reisenden und deren Angehörigen der Dienst der Schutzgötter in den Hafenplätzen beschickt. Dies bezeugen die Orakel an einigen solcher Tempel, die über den Erfolg einer anzutretenden Seereise befragt zu werden pflegten; (°°) auch wird dies beglaubigt durch die bei den Rhetoren besprochenen Beispiele von Opfergelübden der Seefahrer. (5°) Besonders weisen dieGeographen und Periplisten auf diejenigen Heiligthümer hin, welche an jedem namhaften Hafenplatz der für die Schiffahrt mehr als gewöhnlich gefährlichen Meere anzutreffen waren, (°7) und ihren Aussagen

orientalis et reditus Augustorum etc. (ebds. no. 907.). Pro salute et victoria, v. incolumitate, v. perpetuitate, Imperatoris etc. (das. no. 917. sq. 924. sg. 931. 941. 947. 972. 1230. sqq.). Ob salutem Imp. (das. no. 815. V. II. no. 4957.). Vergl. Brisson. de Formul. I. 173.

(°?) Man vergl. z. B. die, unter den Monumenta Fratrum Arvalium erhaltene, Tafel über die vota für den K. Domitian; bei Orellia. a. OÖ. no. 2269. und den Vermerk in dem Fr. Amiternin. der Calendar. marmor. zum 11ten Octob. Ebendas. V. II. pag. 400.

C+) Vergl. Anm. 52. Sueton. in Tiber. c. 38. in Calig. ce. 14. Lamprid. in Comm. c. 12. Damit ist freilich nicht geleugnet, dafs auch dergleichen vota zu grolsartigen Spenden führen konnten: wovon die auf Inschriften erhaltenen Widmungen Zeugnils geben. Man S. unter an- dern das über die Ausschmückung des Templum Jovis reducis berichtete, (Orellia. a. O. Vol. I. no. 925. 1256.) imgleichen die Votiv-Denkmäler, die dem Mercurius redux, (ebds. no. 1413.) oder der Fortuna, (das. no. 1756. 1759. sq. 4247.) oder einer nicht näher bezeich- neten Gottheit, mit Beziehung auf die Wohlfahrt des Kaisers und seiner Familie gestiftet wurden. (Ebds. V. II. no. 3771. 4902. 4922.). Als Bethätigung brüderlicher Liebe werden auch die Ge- lübde geschildert, welche Marc- Antonin ablegte, als sein Bruder Verus beim Antritt des parthi- schen Kriegszuges erkrankt war. Capitolin in Marco c. 8.

(°?) Sueton. in Tito. c. 5.

(°°) Cicero rhetoricor. II. 31. Suidas v. E’Eırrgious euyae.

(°’) Strabo geograph. XI. 3. 8.17. XII. 4. 8.2. Arriani Epist. ad Hadrian. in qua periplus ponti Euxini. pag. 6. 9. sq. und Marciani Heracleotae periplus. pag. 69. (in Geograph. vet. scriptor. graec. minor. Vol. I. Oxon. 1698. 8.) Suidas v.’Eg "isgev.

52

140 H. E. Dirgsen: Yon den Pflichten der Pietät

fehlt es nicht an der Unterstützung durch epigraphische Denkmäler. ($7°) Bei gröfseren See-Expeditionen geschieht überdem der, die Abfahrt so wie die Rückkehr begleitenden, feierlichen gottesdienstlichen Handlungen Er- wähnung, verbunden mit der Meldung, dass verfallene Heiligthümer an be- deutenden Küstenpunkten hergestellt, oder neue daselbst gegründet worden seien. (°°)

Was ferner die Besorgung des Oybelen-Dienstes durch entmannte Priester (Galli) (5%) anbelangt, deren Vorgesetzter unter der Benennung: Archigallus (matris deim magnae Idaeae) vorkommt, so ist davon auf Inschriften (5°), gleichwie bei den Classikern des heidnischen (°°) und des christlichen Glaubensbekenntnisses (°') vielfach die Rede. Wir erfahren aus diesen Mittheilungen, dass im Verlaufe der römischen Geschichte, bei grofser Bedrängnis des Gemeinwesens durch Seuchen oder Feindesgefahr, dem römischen Volke mehrmals Rettung sei verheifsen worden durch den Mund der Cybelen-Priester, die bei dem ersten Auftreten in Rom der Be- völkerung als Betrüger erschienen und des Schutzes der Behörden bedurf- ten; (°2) bis dass endlich, nach der Vorschrift der sibyllinischen Schicksals- bücher, das Heiligthum der Göttin selbst nach Rom versetzt und ein förm-

(7°) Vergl. die folgende Inschrift einer einfachen Ara, welche im J. 1843. in der Nähe des Tempels der Juno am Laeinischen Vorgebirge entdeckt wurde: „Herae. Laciniae. Sacrum. Pro. Salute. Marcianae. Sororis. Aug. Oecius. Lib. Proc.” (Braun, in d. Neuen Jen. A.L. Z. 1847. no. 282.).

(°®) Xenophon. anabas. IV. 8. $. 17. VI. 5. $$. 15. 18. Appian. de reb. Hispan. c. 2. de reb. Syriac. c. 63. Plinii H. N. VI. 17. a. E. Arriani Epist. ad. Hadr. 1. 1. pag. 1.sq. Nearchi paraplus. p. 3. 28. sq. 38.

(28°) 'Plinii H.N. V. 32. XXXV. 12.2. E.

(°) Orellia.a. ©. no. 2320. sqq. Doni inscription. antiqu. IV. 5. p. 134. Vgl. Reinesii Epistol. ad Hoffmann. et Rupert. Ep. 69. p. 616. sq. 648. sq. Lips. 1660. 4.

(°°) Festus v. Galli (p. 95. ed. ©. Müller.) Servius ad Virgil. Aen. IX. 116. X. 220. Strabo geogr. X. 3. $$. 12. sqq. XII. 5. $. 3. XIV. ı. $$. 37. 40. Plinii H. N. II. 93. Sue- ton. in Domit. c. 1. Herodian. Histor. I. 11. Juvenal. satyr. IX. 62. und Schol. in h. sat. III. 137.

(°!) Augustinus de €. D. II. 4. sq. 7. 26. sq. VL. 7. sq. VII. 2/.sq. Arnobius ady. gent. V. 5. sgq. 16 sqqg. Tertulliani apologet. c. 23. c. 25. Ad nation. II. 7. Minuc. Felix in Octay. (Anhg. zu Arnob. 1. 1. ed. G. Elmenhorst. p. 376. sq. Hanov. 1603. 8.) Firmie. Maternus de err. prof. relig. c. 4. c. 28. a. E. Suidas v. Dvatos. S. Reinesius a. a. O.

(°?) Vergl. Drumann Gesch. Rom’s. Bd. 2. S. 178. Bd. 4. S. 314. fg.

Te,

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 141

{eo}

licher Dienst derselben dort gegründet wurde. (°%) Die Aussprüche des Archigallus sind, in Übereinstimmung mit der vorstehenden Äufserung der Vatic. Frr., uch auf Inschriften (°*) als vaticinationes bezeichnet. Sie kommen jedoch an einigen Orten (°°) unter der einfacheren Umschreibung vor: Indictum iussu, v. Factum ex imperio, matris deüm.(°) Jedenfalls aber dürfte hier nicht an die eigenthümliche Art des Opfers zu denken sein, welche angeblich (°%) der Archigallus zur Zeit der letzten Krankheit des Marc-Aurel, um die Todesgefahr vom Kaiser abzuwenden, vollzogen haben soll; vielmehr an ein Ritual von ungleich späterem Datum, zu welchem viel- leicht die gefahrvolle Expedition, welche Constans zu Anfang des J. 343. n. Chr. nach Britannien unternahm, (°%) den Anlafs gegeben haben mag.

11.

Von dem nämlichen Tribun Pacuvius, der die römischen Bürger zu bestimmen suchte, nach seinem Beispiele mit Leib und Leben sich der Per- son August’s zu devoviren, berichtet Dio Cassius (7) ferner, es habe der- selbe dem versammelten Volke erklärt, dafs es seine Absicht sei, neben

(°%) Appian. de bello Hannib. c. 56. Schol. in Iuvenal. sat. IH. 137. Dadurch wurde frei- lich die Persönlichkeit der entmannten Priester in der öffentlichen Meinung keineswegs gehoben. S. ebendas. II. 16. v. Peribomius. VI. 513. spp. 531. sq. 542. VII. 207. (A. G. Cramer in Iu- venal. sat. comm. vet. p. 48. sq. 252. sq. 3/3. Hamb. 1823. 8.) Darauf beruht die, von Valerius Max. VII. 7. $ 6. berichtete Entscheidung eines Rechtsfalls, nach welcher die Erbeinsetzung eines solchen Cybelen-Priesters, mit Übergehung des Patrons des Erblassers, als nicht zu Recht bestehend behandelt wurde. Der eingesetzte Erbe, als ein „homo non integrae existimationis,” konnte gegenüber dem Patron nicht als ein gültiger Testamentserbe angesehen werden. Eine andere künstlichere Auslegung findet man bei Savigny: Syst. d. heut. R. Rs. VI. S. 493. fg.

(64) S. Orelli a.a. O.no. 2325.

(63) Ebendas. no. 2322. 2327. sq.

(66) Z. B. in dem Berichte von einem: „Taurobolium matris D.M. id quod factum est ex imperio matris D. deum, pro salute Imperatoris Caes. etc” Ebendas. no. 2322. 2325. sq.

(°°°) Tertulliani Apologet. c.25. „Itaque maiestatis suae in Urbem collatae grande docu- mentum nostrae etiam aetati proposuit (sc. Cybele,) cum Marco Aurelio apud Sirmium reipub. exemto, die XVI. Calend. April. Archigallus ille sanetissimus, die IX. Calendar. earundem, quo sanguinem impurum lacertos quoque libando castrabat pro salute imperatoris Marci iam interemti, solita aeque imperia mandavit.”

(°6°) Firm. Maternus a. a. ©. c. 28. ed. Münter not. 12. Havn. 1826. 8.

(7) Hist. LIII. 20.

142 H. E. Disgsen: Yon den Pflichten der Pietät

seinem eigenen Sohne den Kaiser zu gleichem Antheil als Erben im Testament einzusetzen. Dieser Plan sei auch von ihm ausgeführt worden, und zwar nicht ohne die, durch den vollständigsten Erfolg gekrönte Nebenabsicht, noch bei seinem Leben sein Vermögen durch Zuwendungen der kaiserlichen Freigebigkeit vergrössert zu sehen. Man kann dies Beispiel freilich nicht unterstützen durch die Erzählung desselben Historikers (°°) von dem Testa- mente des Mäcenas, in welchem August als der alleinige Erbe der reichen Verlassenschaft bezeichnet war, während dasselbe für die nächsten Bekannten des Erblassers nur fideicommissarische Zuweisungen enthielt. (°) Denn es wird ausdrücklich erinnert, dass diese letztwillige Anordnung durch das enge persönliche Verhältnis zwischen August und Mäcen, welches ungeachtet vor- gefallener Störungen bis zum Tode des letztern fortbestand, begründet ge- wesen sei; (’°) auch weiss man aus einer andern Quelle, (') wie eifersüchtig August darüber wachte, in den letztwilligen Verfügungen seiner Freunde nicht unbedacht zu bleiben. Dagegen fehlt es nicht an sonstigen unverwerf- lichen Zeugnissen dafür, dass das durch Pacuvius gegebene Beispiel der Erbeseinsetzung des regierenden Kaisers mehrfache Nachahmungen gefunden habe von Seiten testirender Privatpersonen. Es wird nämlich beim Tode August’s erinnert, dass dieser Kaiser die ihm zugewendeten Erbschaften rö- mischer Bürger, welche Kinder hinterlassen, zwar selbst angetreten, jedoch nur als Geschäftsführer solcher Descendenten bis zu deren Mündigkeit ver- waltet, und die Herausgabe aller solcher bei seinem Leben noch nicht resti- tuirten Erbmassen in seinem eigenen Testament verordnet habe. (’?) Ein gleiches Verfahren wird auch den besseren unter seinen Regierungs-Nachfol- gern nachgerühmt, indem dieselben ihre Erbeseinsetzung in den Nachlass

5 fremder Personen gar nicht anerkannten, sobald entweder Leibeserben des

(63) ‚Das; LV...7.

(69) Denn so ist die Äulserung Dio’s zu verstehen, es sei lediglich dem Ermessen August’s anheimgestellt gewesen, ob er den Freunden des Erblassers etwas oder nichts wolle verabfolgen lassen. Die bekannte Verfügung dieses Kaisers, über die rechtliche Verpflichtung des Erben zur Erfüllung fideicommissarischer Auflagen, (Pr. I. de fideie. heredit. 2. 23. Pr. I. de codicill. 2.25.) dürfte demnach späteren Ursprunges gewesen sein als dieses Ereignils.

(9) 2.2.0: LIV.AELV..7.

(!) Sueton. in Octay. c. 66.

(2) Ders. a. a. O. Dio Cass. LVI.32. Vergl. des Verf. Scriptor. hist. Aug. S.240. Anm. 26. Leipzig 1842. 8.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 143

Verstorbenen, oder wohl gar auch dann wenn überhaupt gesetzliche Erben vorhanden waren. (?°) Dagegen unter der Herrschaft despotischer Kaiser wurden durchaus abweichende Grundsätze geltend gemacht. Schon Tibe- rius brachte gegen das Ende seiner Regierung eine neue Quelle des Geld- erwerbes mittels des Verfahrens zur Anwendung, begüterte Personen durch Bedrohung ihres Lebens zu bestimmen, ihren Frieden mit dem Kaiser auf dem Wege zu verhandeln, dass sie denselben im Testamente mit einem Theile ihrer Erbschaft bedachten. Dies Auskunftsmittel erreichte freilich nicht immer seinen Zweck. Allein der Kaiser versäumte jedenfalls nicht von seinem also begründeten Erbfolgerecht Gebrauch zu machen, sogar dann wenn der übrige Inhalt des Testaments ehrenrührige Äusserungen über dessen Person darbot. (”*) In ähnlicher Weise gingen Caligula, Nero und die den- selben gleichgesinnten Kaiser zu Werke. (7°) Selbst unter den mehr geregel- ten Regierungen der folgenden Gewalthaber erhielten die Ansprüche des Fiscus an die testamentarische Verlassenschaft von Privaten eine, mit den Forderungen der Gerechtigkeit durchaus nicht zu vereinigende Ausdehnung. Es wurden nämlich dem Kaiser auch solche Erbschaften zugesprochen, für welche derselbe in einem unvollständigen, und mithin zur Ausschliessung der gesetzlichen Erbfolge nicht rechtskräftigen, Testament als Erbe berufen war; (7°) gleichwie die Sitte sich gebildet hatte, den Landesherrn im letzten Willen unter der ausdrücklichen Bedingung zu instituiren, dass er einen be- stimmt bezeichneten Rechtsstreit des Erblassers fortsetzen möge. Gegen diese beiden Misbräuche waren verschiedene Verfügungen gutgesinnter Kaiser

8 gerichtet, unter welchen, um der minder genau charakterisirten Fälle (°° )

(3) So z. B. dem Tiberius, zu Anfang seiner Regierung; (Dio Cass. LVO. 17. Taci- tus Annal. II. 48.) denn im Verfolge derselben machte bei ihm, gleichwie bei Domitian, das entgegengesetzte Princip sich geltend. (Dio Cass. LVIII. 16. Sueton. in Domit. c. 9. c 12.) Ferner gehören hierher Claudius, (Dio Cass. LX. 6. Zonaras Ann. XI. 8.) Hadrian und die Antonine, (Spartian. in Hadr. c. 18. Capitolin. in Ant. Pio. c. S. in Marco. c. 7.)

(%), Dio Cass. LVII. c. 4. c. 25.

(3) Ders. LIX. 15. LXIM. 11. Sueton. in Calig. c. 38. in Vitell. e. 14. in Domit. c. 12. Plin. in panegyr. c. 34. Lamprid. in Comm. c. 5. c. 19.

(76) Ja dass man auch noch weiter gegangen sei, zeigt Sueton. ın Domit. c. 12. („Con- fiscabantur alienissimae hereditates, vel exsistente uno qui diceret, audisse se ex defuncto, cum viveret, heredem sibi Caesarem esse.”) Vergl. in Calig. a. a. O. Lamprid. a. a. 0.

(162 ) Dahin gehört, was Plinius als das unter Trajan’s Regierung in Aufnahme gekommene Verfahren rühmt, ohne dasselbe auf eine vereinzelte Verordnung dieses Kaisers zurückzuführen.

144 H. E. Dıirksen: von den Pflichten der Pietät

nicht zu gedenken, am meisten ausgezeichnet wird eine Oratio des Perti- nax. (7) In den entsprechenden Rescripten Sever’s, Oaracalla’s und Alexander’s (”°) ist dieses Motiv hervorgehoben: „Licet lex imperü solem- nibus iuris Imperatorem solverit, nihil iamen tam proprium imperü est quam legibus vivere;” um dadurch anzudeuten, dafs die Rechtfertigung des früheren entgegengesetzten Verfahrens, mittels des Principes der den römischen Kaisern bewilligten Befreiung von der Verbindungskraft der Landesgesetze, zwar der Form nach rechtlich begründet sei, allein dem Herkommen und der Staats- klugheit nicht entspreche. Es liegt jedoch zu Tage, dass nur eine willkühr- liche Auslegung jenem Principe Anwendung auf den in Frage stehenden Fall bewilligen konnte; (?*) auch waren die ersten Kaiser weit entfernt davon, sich dieser Argumentation zur Vermittelung eines solchen Resultates zu bedienen. Denn es wird berichtet, (?°) dass Caligula anfangs durch einen eigenen Senats- beschlufs sich von den Beschränkungen des Papischen Gesetzes habe ent- binden lassen, um als unbeweibt und kinderlos dennoch Erwerbungen aus fremden Tastamenten vollziehen zu können.

Geht man nun zurück auf den wahrscheinlichen Ursprung jener, seit dem Beginne der Kaiserregierung allgemein verbreiteten Sitte, in Folge deren

ö die durch Rang oder Vermögen ausgezeichneten römischen Bürger den regie- renden Kaiser, und beziehungsweis den Thronfolger (?') oder auch wohl die Gemahlin und die Mutter des Kaisers, (#?) in ihrem letzten Willen zu be- denken pflegten; so kann man denselben nicht gerade in die Periode der

despotischen Regenten verlegen und etwa bis auf die Gewaltherrschaft der

Panegyr. c. 43. „In eodem genere ponendum est, quod testamenta nostra secura sunt; nec unus „omnium, nunc quia scriptus, nunc quia non scriptus, heres es. Non tu falsis, non tu iniquis „tabulis advocaris. Scriberis ab amicis, ab ignotis praeteriris.”

(7) Capitolin. in Pertin. c. 7. Inst. Iust. $$. 7. 8. Qu. mod. testam. infirm. 2. 17. Müh- lenbruch in Glück’s Ausführl. Erläut. d. Pand. Bd. 39. $. 1438. a. S. 300 fg. und des Verf. Scriptores histor. Aug. S. 238. fg.

(3) &.8. 1.1.1.2. 17. Cod. Iust. c. 3. de testam. 6. 23. Fr. 23. D. de legat. III. (32.) vergl. Fr. 57. de legat. II. (31.)

(79) Vergl. Mühlenbruch a. a. O. S. 310. fg.

(80) Dio Cass. LIX. 135.

($!) Capitolin. in Marco c. 7. Lamprid. in Heliogab. c. 31.

(32) Schol. in Iuvenal. sat. IV. 81. „Perit (sc. Crispus) per fraudem Agrippinae, quam here- dem reliquerat, et funere publico elatus est.” Bisweilen verlangte auch wohl der Präfect der Prä- torianer einen Antheil für sich, neben der Erbeseinsetzung des Kaisers. Dio Cass. LXIM. 11.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 145

Usurpatoren vor August zurückführen. (%?) Freilich sehen wir unter Tiberius, Caligula’s, Nero’s Regierung die Erbeseinsetzung des Kaisers durch reiche Leute als eines von den vielgestaltigen Mitteln (°*) benutzt, um durch die Aufopferung eines Theiles ihres Vermögens den Rest desselben und daneben das eigene Leben zu retten. Die mit dem Tode bedrohten Individuen such- ten auch wohl den Inhalt eines solchen Testaments, in welchem sie das Staatsoberhaupt bedacht hatten, zu veröffentlichen, um dadurch ferneren Lebensnachstellungen zu entgehen. (*°)

Zur Zeit des Triumvirats, gleichwie unter der Regierung der ersten römischen Kaiser, sehen wir die von den alten Römern mit religiöser Strenge bewahrte Freiheit und Heiligkeit der Testamente unter dem Einflusse poli- tischer Motive mannichfach beeinträchtigt. Als nämlich Octavian (8%) die Eröffnung des Feldzuges gegen M. Antonius öffentlich zu rechtfertigen wünschte, glaubte er dies am sichersten zu erreichen durch die Bekanntmachung des Inhaltes von dessen Testament, der ihm durch die Zeugen des Testa- ments-Actes verrathen worden war, und der allerdings dem politischen Cha- rakter sowie dem moralischen Gefühl des Verfassers keineswegs zur Ehre gereichte. (°”) Die Vestalinnen, in deren Archiv die Urkunde dieser letzt- willigen Verfügung niedergelegt war, weigerten anfangs deren Herausgabe

(°°) Als ganz unverbürgt ist die folgende Mittheilung des Zonaras annal. XII. 1. a.E. zu betrachten, der von Antoninus Pius, unter andern ungenau berichteten Einrichtungen, auch die- sen Act der Gesetzgebung schildert: Ilegi rourov duroxgaroges wdera orı nal TO Tns Tuy- uAyrou narerause Iybırua, 6 nar Emırayav rou Teuriov yeyove Karragos, Sermiov undevi EbeirIar diaSguny mov, ei um MEgos WgLmlevov Tw nowd nararenbeı Tausin. 09ev vonißeran nal ueygı revde rals diaSyraus eyygaperIaı orı „nu 70 Basırad Taeiy kararınmayu Tode.”

(°*) Zu den sonst bekannten Mitteln für diesen Zweck sind zu zählen: Ankauf von Gegen- ständen des kaiserlichen Privateigenthums, um eine unverhältnismässig hohe Erwerbsumme; (Dio Cass. LIX. 14.) ferner baare Beisteuern zu kostbaren Bauunternehmungen, cder zu Ver- gnügungs-Anstalten für den Kaiser; (ebends. LXII. 25. LXXVII. 9. sq. Sueton. in Calig. c. 22. €. 38. sq.) endlich unverschleiertes Erkaufen des eigenen Lebens gegen Aufopferung bedeutender Geldsummen. (Dio Cass. LXXI. 16.)

(°°) Ebends. LVII. 4. vergl. Tacitus Hist. VI. 14. Plin. H. N. XX. ı4. a. E.

(°) Früher hatte schon J. Cäsar, um seinem Einverständnis mit Pompeius die grösste Öffent- lichkeit zu verleihen, dem versammelten Heere sein eigenes Testament vorgelesen, in welchem Pompeius zum Erben eingesetzt war. Sueton. in Jul. c. 83.

(87) Ders. in Octav. e. 17. Dio Cass. L.3. Zonaras. X. 28.

Philos. - histor. Kl. 1849. iR

146 H. E. Diexsen: Von den Pflichten der Pietät

und wichen zuletzt nur der Gewalt; (%°) während sie sonst kein Bedenken trugen, die ihrem Gewahrsam anvertrauten politischen Actenstücke dem jedesmaligen Gewalthaber auszuhändigen. (°) Es wird ferner von August berichtet, dafs er im Jahre d. St. 731., nach der Herstellung von einer lebensgefährlichen Krankheit, sein eigenes früher errichtetes Testament in die Senatsversammlung mitgebracht habe, um durch dessen Vorlesung zu zeigen, es sei darin kein Regierungs-Nachfolger von ihm ernannt wor- den. (°°) Ähnlich soll Tiberius, im Jahre 748. d. St. vor seinem Abgange nach Rhodus, in Gegenwart des Augustus und der Livia sein Testament er- öffnet haben, um durch die vollständige Mittheilung von dessen Inhalt die gegen ihn genährte Verdächtigung seiner Pläne für die Zukunft zu ent- fernen. (°')

Diese Beispiele, (°*) welche, gleich vielen anderen, (9°) für jenen trüben Zeitraum der römischen Geschichte die Verirrungen der Politik und den gesunkenen Zustand der Moralität in beredter Weise beglaubigen, sind schwerlich geeignet den Ursprung einer Sitte zu erklären, welche zur Zeit eines geordneten Rechtszustandes in Rom sich festgesetzt hatte und deren Rechtmäfsigkeit auch niemals bezweifelt worden ist. Denn es wurde schon zuvor (%*) ausgeführt, dass die Erbeseinsetzung des Staatsoberhauptes in den Testamenten der Privaten unter August’s Alleinherrschaft bereits als ein all- gemein verbreitetes Institut sich darstellt. Wir glauben den Grund desselben in dem, durch die Schmeicheleien des Senates sowie der Umgebung des Kaisers hervorgerufenen, durch die Politik August’s und seiner Nachfolger

(°°) Plutarch. in Antonio. c. 58. Vergl. Fr. 1. 88. 4. fgg. D. de L. Corn. de fals. 48. 10.

(89) Dio Cass. XLVII. 12. 36. sq. 46. vergl. Zonaras. X. 22.

(29) Dio Cass. LIH. 30. sq. Zonaras. X. 33.

(°1) Dies berichtet Dio Cass. LV.9. Dagegen Sueton. in Tiber. c. 10. sqq. schweigt davon.

(22) Man könnte deren Anzahl noch ansehnlich vermehren, namentlich durch die Berichte von der Behandlung des Testaments des Regierungs-Vorfahren abseiten des Nachfolgers. Dio Cass. LIX. 1. sq. LXL. 1. Der Beispiele gar nicht zu gedenken, wo die Parteien vor Gericht ihr eigenes Testament producirten, um durch die bei dem Testamentsact zugezogenen Personen, oder durch den Inhalt ihrer letztwilligen Anordnung, die behauptete freundliche Gesinnung in Beziehung auf bestimmte Individuen zu bekräftigen. Vergl. Plin. Ep. VI. 22.

(3) Zu vergleichen ist unter andern die Mittheilung des Sueton. a.a. O. c. 51. über die Ursachen der Verfeindung Tiber’s und seiner Mutter, in den letzten Lebensjahren derselben.

(°*) S. oben Anm. 72.

ezen die Person des regierenden römischen Kaisers. 147 ge 8

aber genährten Prineipe wiederzufinden, dass die Person des Staatsober- hauptes allen Bürgern in der Stellung eines Vaters gegenüber stehe, und demnach die Erfüllung der Pflichten der Pietät von denselben ansprechen dürfe. Zu diesen Pflichten gehörte unter andern, nach altrömischer Volks- ansicht, auch die Berücksichtigung im Testament. (°5) Diese beschränkte sich keineswegs auf die nächsten Verwandten des Erblassers , (2°) sie um- schloss auch die demselben befreundeten Personen, sowie alle diejenigen, 8 ver-

5 gelten zu müssen. Das letztwillige Bedachtwerden eines Freundes galt

deren Liebesdienste er glaubte durch ein Zeichen seiner Anerkennun

als ein Beweis unveränderter Gesinnung, während das Gegentheil fast als eine Aufkündigung der Freundschaft gedeutet wurde. (°”) Und dies blieb nicht ohne Einfluss auf die Sitte, den Inhalt eines vorlängst errichteten Testamentes, in Folge veränderter persönlicher Beziehungen hinterher zu ergänzen. (*°)

IM.

Es ist an einem andern Orte (°°) ausgeführt worden, dass die seit der Alleinherrschaft August’s anerkannte Übertragung der Strafbarkeit der Ma- jestätsbeleidigung auf Angriffe und Verunglimpfungen der Person des Staats- oberhauptes, nicht durch ein selbstständiges Gesetz bewirkt worden sei, sondern durch die einfache Anwendung der bestehenden Gesetze über das

(°°) So hatte z. B. August in seinem Testament Grundstücke und Capitalien auch an solche Individuen vermacht, die ihm im Leben eigentlich ferne gestanden waren. Dio Cass. LVI. 32.

(2°) Bei entfernteren Verwandten, und bei Verschwägerten, war die Berücksichtigung im Testament ein Zeichen besondern persönlichen Verdienstes und die Belohnung unzweideutiger Pietät. Capitolin in Ant. Pio. c. 1. a. E.

(°7) Ebends. c. 12. a. E. Vergl. auch das oben Anm. 71. über August erinnerte, und die Äusserung des Plin. Ep. VII. 20. 31. Ferner gehört hierher der briefliche Bericht Fronto’s an Antoninus Pius über die letztwillige Verfügung des Niger, eines ihm befreundeten „‚vir consularis et censorius.” (Corn. Frontonis reliquiae. ed. Niebuhr. Epist. ad Ant. Pium. 3. 4.7. Berol. 1816. 8.) So pflegten denn auch Caligula und Nero die Testamente derjenigen, welche keine Vergabung an den Kaiser enthielten, auf Grund der Undankbarkeit des Erblassers für nichtig zu erklären und den Nachlass dem Fiscus zu überweisen. Sueton. in Calig. c. 38. in Neron. ce. 32. in Vitell. c. 14.

@°) S. Plinius Epav.>.

(°°) Vergl. des Verf. Seriptor. histor. Aug. II. 4. SS. A. fgg. S. 246. fgg.

72

148 H. E. Disgsen: Yon den Pflichten der Pietät

Majestätsverbrechen auf den Kaiser, als den Inhaber der gesammten Hoheits- rechte des Volkes, welchem noch aufserdem die persönliche Unverletzlich- keit der Volkstribunen ausdrücklich gewährleistet worden war. Diese Zusicherung, welche schon Julius Cäsar erhalten hatte, (10%) wurde dem Augustus zu wiederholten malen ertheilt,('%') während den Nachfolgern desselben die gleiche Bevorrechtung schon bei ihrem Regierungs-Antritte zufiel, durch die bleibende Verleihung der Tribunicia potestas.. Es konnte demnach nicht die Berechtigung in Zweifel gezogen werden, sondern nur die Räthlichkeit des Verfahrens, bei jeder Verletzung der Person des Kaisers und der, mit gleichen Hoheitsrechten durch ihn ausgestatteten, Glie- der seiner Familie, (1°) der Majestäts-Anklage Folge zu geben. Und wären in solchen Fällen nur wenigstens die Formen des gerichtlichen Verfahrens gewissenhaft beobachtet worden, so würden selbst die zahlreichen Beispiele der Verfolgung angeblicher Majestäts-Beleidiger, denen wir unter der Re- gierung despotischer Kaiser begegnen, schwerlich die Fülle des öffentlichen Unglücks haben hervorrufen können, welches die Geschichtschreiber der römischen Kaiserherrschaft mit der Beredsamkeit eines edeln Unwillens schildern. Die Quelle schrankenloser Willkühr und der offenbarsten Ver- höhnung des gesetzlichen Rechts, welche in diesen Darstellungen uns ent- gegentreten, muss anderswo gesucht werden. Zunächst in dem That- umstand, dass der förmlich angeklagte Majestätsverbrecher gewöhnlich seinem ordentlichen Richter entzogen, und entweder an den römischen Se- nat, (1%) oder an einen kaiserlichen Specialeommissarius, mithin vor ein Forum gewiesen wurde, welches die Bürgschaft einer gründlichen parteilosen Untersuchung und Beweisführung nicht gewährte, die das Verfahren vor dem Volksgericht wenigstens hoffen liefs. Ungleich folgenreicher war indess ein anderes Moment, nämlich die Benutzung der Anschuldigung einer gegen den regierenden Kaiser begangenen Impietät. Denn das crimen impietatis erforderte durchaus nicht die Begründung der Anklage durch irgend eine von den Majestäts-Gesetzen verpönte Thatsache. Es genügte dazu eine jede

(19%) Zonaras Annal. X. 12.

(191) Dio Cass. XLIX. 15. sq. 38.

(102) S. oben Anm. 9. Vergl. auch die Übersicht der einzelnen iudicia maiestatis unter den Kaisern, in Rein’s Criminal R. d. Röm. S. 543. fgg. Leipz. 1844. 8.

(19) Vergl. des Verf. Civilist. Abhdlgg. Bd. I. S. 161. fgg.

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 149

Verdächtigung der kindlichen Ehrfurcht und Dankbarkeit eines einzelnen Bürgers gegen den Kaiser, als den Vater des Vaterlandes. Ja es bedurfte nicht einmal einer förmlichen Anklage, sondern das Verfahren gegen einen solchen Capitalverbrecher wurde in der Regel mit der Execution begonnen, gleichsam als ob eine Versündigung gegen die Gottheit zu büssen wäre, wegen Verletzung des, auf die Unantastbarkeit der Person des Kaisers und seiner Angehörigen abgelegten Eides. (!'*)

Dieses Impietäts-Verfahren wird mit den eigentlichen Majestäts- Pro- cessen nicht selten vermengt, selbst von den glaubwürdigsten classischen Referenten. Und dies nicht ohne den scheinbaren Grund, dass bereits unter der Republik ein solches Beispiel der Übertragung des Majestäts-Ver- fahrens auf den Fall einer Anrufung der Götter, welche gegen die Wohlfahrt des römischen Volkes gerichtet war, vorgekommen sein soll. (1%) Dennoch fehlt es nicht an andern Berichten, welche die &yzayuara 775 areßsias als wesentlich verschieden von jenen gerichtlichen Majestäts-Verfolgungen dar- stellen. (!°%) Dazu kommt dass gerechte und milde Regenten, z. B. Vespa- sian, Titus u. a.m. die Geltendmachung der crimina impietalis, als eine unversiegbare (Juelle des Misbrauches, durchaus beseitigt wissen woll- ten. (17) Ja schon von August wird berichtet, (!%%) dass er der frivolen Anklage geachteter Personen, denen schuld gegeben wurde: quod male opi- nari de Caesare solerent, mit Nachdruck entgegengetreten sei. Und ähnlich mögen auch die allgemeinen Äusserungen der Classiker, über die zu Anfang von Caligula’s Regierung, gleichwie durch Trajan und Hadrian, bewirkte Beseitigung der iudicia maiestatis gedeutet werden können. ('!") Anderer-

(19%) Sueton. in Calig. c. 15. c. 24.

(105) Ders. in Tiber. c. 2. Vergl. Valer. Max. VII. 1. damnat. $. 4.

(106) Dio Cass. LIX. 4. Wir sehen hier ganz ab von solchen Zeugnissen, die wegen der Unbestimmtheit des Redeausdruckes eine Beziehung auf andere Richtungen der Impietät, als jene gegen das Staatsoberhaupt, nicht ganz ausschliessen. Vergl. z.B. die Äusserung in des Plinius Epist. I. 5.

(197) Dio Cass. LIX. c. 4. c. 16. LX. 3. sqg. LXVI. 9. 19. LXVIIL. 1. LXXIH. 5. Plin. a.a. O. X. 85. 86. in panegyr. c. 43,

(19) Sueton. in Octav. c. 51.

(199) Zonaras Ann. XI. 4.a.E, 21. Plinius panegyr. c. 42. sq. 53.sq. Spartian in Hadr. c. 18. Vergl. H. Grotius flor. spars. ad ius Iust. Dig. 48. 4. Fr. 7. und des Verf. Scriptor. Hist. Aug. S. 252. fg.

150 H. E. Dirksen: Yon den Pflichten der Pietät

seits erklärt es sich aus dem obigen, dass unter der Herrschaft despotischer Kaiser die grundlosesten Vorwände zur Anschuldigung der Impietät für aus- reichend gehalten wurden, (11°) während dieselben zur Einleitung eines Ma- jestäts-Verfahrens auch nicht einmal scheinbar hätten dienen können. (!!!) Ein solches System leidenschaftlicher Verfolgungen, bei denen das Leben des Schlachtopfers nicht selten nur verlangt wurde, um unbehindert dessen Vermögen dem Staate anzueignen, ('!?) obwohl es auch für eine blos launenhafte Schlächterei an Beispielen keineswegs fehlte, (11%) konnte nicht ermangeln auf Religion und Sittlichkeit den nachtheiligsten Einfluss zu äussern. (1%) Die Begünstigung der Spionerie und falschen Anklagen gehört zwar zu den bittersten Früchten dieser Saat, allein sie stand nicht vereinzelt

(110) Z. B. wegen Entkleidens vor dem Standbilde des regierenden Fürsten; (Dio Cass. LXVII. 12.) wegen Träume dritter Personen, in denen man als Inhaber der höchsten Gewalt erschienen war; (ebendas. LXXVI. 5.) oder weil man ein Orakel befragt hatte; (das. LXX VII. 20.) oder wegen Unehrerbietigkeit gegen den Namen eines Verstorbenen, dem der regierende Kaiser besondere Verehrung gewidmet hatte, wie z. B. Caracalla dem macedonischen Alexander; (das. LXX VII. 7. sq. 12. LXXVIII. 19. Spartian in Carac. c. 2.) ja sogar wegen rhetorischer Declamationen gegen die Tyrannen überhaupt. (Dio Cass. LXVII. 12. sq.) Die sinnlosesten Beschuldigungen dieser Art wurden geltend gemacht unter der Regierung Tiber’s, (Sueton. in Tiber. c. 58. c. 61.) Nero’s und Domitian’s, (ders. in Nerone. c. 36. sq. in Domit. c. 10. sg. Plin. panegyr. c. 53. sq. Dio Cass. LX. ı8. 26. sqqg. Zonaras. XI. 19.) Commodus, Ca- racalla’s und Heliogabal’s. (Lamprid. in Comm. c. 10.sq. Spartian. in Carac. c.5. Dio Cass. LXXIX. 4. sq. Vergl. auch Rein a. a. O.)

(111) Ausser wenn die schamlose Anweisung Nero’s geltend gemacht wurde: „U lege maie- statis facta dietaque omnia, quibus modo delator non deesset, tenerentur.” Sueton. in Ne- rone. c. 32.

(112) Dio Cass. LXVII. 4. Sueton. in Domit. c. 12. vergl. in Tiber. c. 49. Zonaras. XI. 5. a.E. Auch erlangt dadurch die Anpreisung der Enthaltsamkeit bei besser gesinnten Kaisern (Lamprid. in Alexand. c. 40.) besondere Bedeutung.

(113) Dio Cass. LXXI. 4. 14. LXXVIL. 4. 11. 16. 18. LXXIX. 3. sq. und Exce. bist. R. Dionis, p. 204. ed. A. Maii. p. 93. edit. Sturz. V. 9. Lips. 1836. Sueton. in Calig. c. 27. sgg- c. 38. in Nerone. c. 36. sq. Plin. in panegyr. c. 33. Spartian. in Carac. c. 3. sq. Capitolin, in Maximin. duob. e. 10.sq. Zonaras. XII 4.sq. Suidas v. Kapivos. Von dem statistischen Problem ist hier nicht weiter zu handeln, dass sämmtliche politische Illustrationen aus der Pe- riode der kaiserlichen Tyrannei in verhältnismäßig kurzer Frist aus dem Leben geschieden waren. S. Plinius Epist. III. 7. Vergl. Plinii H. N. VII. 48.

(114) So verfehlte der knechtisch gesinnte Senat nicht, die Überführung solcher Angeklag- ten, als ein das Wohl des Vaterlandes begünstigendes Ereignis, zu einem Erinnerungsfest für die kommenden Geschlechter zu erheben. Vergl. in dem Frag. Amiternin. der Calendar. marmor.

die Bemerkung zum 10ten September. (Orelli a. a. O. Vol. II. p. 398.)

gegen die Person des regierenden römischen Kaisers. 151

da. Manche andere Erscheinung von allgemeiner moralischer Versunkenheit wird von den gleichzeitigen Historikern berichtet, die der Menschenfreund von der Tafel der Geschichte getilgt wissen möchte. (115) Und von eigen- thümlicher Beredsamkeit sind hier vereinzelte beiläufige Äusserungen der Zeitgenossen Domitian’s und seiner Consorten. So die Bemerkung des ältern Plinius, (!!%) dass es dem unvollkommenen Menschen zum Trost gereiche, manches zu vermögen was selbst seinen Göttern versagt sei; wozu namentlich die Freiheit des Selbstmordes gehöre, dieses unschätzbaren Mit- tels der Abhülfe gegenüber den schweren Drangsalen des irdischen Daseins.

(15) Vergl. z.B. den Bericht des Dio Cass. LXVII. 4. LXXII. 14. (16) H. N. IL. 7. a. E. vergl. XXVII. ı. a. E.

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ÜBER SCHULE UNIVERSITÄT ACADEMIE

von herrn JACOB VERIMM.

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[gelesen am 8. nov. 1849.]

Er... tage trat, aus mehr als einer ursache, es an mich nahe, einen die genossenschaft, der wir zu gehören, unmittelbar betreffenden, ohne zweifel auch von vielen unter uns oft erwogenen gegenstand in neue betrachtung zu ziehen. rechenschaft geben wollte ich mir über das eigentliche verhältnis der academie zu andern wissenschaftlichen anstalten, über das was bei ver- schiedenen anlässen academisch sei oder nicht. Auf unser statut zurück gewiesen zu werden besorge ich kaum, da dessen schon mehrmals (am letz- ten 1812 und 1835) eingetretene änderung selbst darthut wie wenig dieser verein von gelehrten männern für in sich abgeschlossen und fertig zu erachten oder gegen der zeit und des allgemeinen menschlichen fortgangs allmächtigen einflufs unempfindlich sei. Das uns bei der stiftung übergeworfne erste kleid haben wir längst verwachsen, und die muster nach welchen es geschnitten wurde gelten auch sonst nicht mehr, so wenig als für irgend eine der deut- schen universitäten die Heidelberger satzung von 1346 mafsgebend geblieben ist. Dennoch darf es ein glück heifsen und eine wolthat, dafs damals zu Berlin oder in der Pfalz halb tactvoll, halb unbewust, das rechte und an- gemessene getroffen wurde. Desto ruhiger abwarten oder im geiste voraus ahnen dürfen wir, die academie werde über lang oder kurz sich zu verjüngen und erweitern alle fähigkeit in sich tragen, und wohin mein blick gerichtet sei soll hernach unverhalten sein.

Wer über das wesen der academie nach zu sinnen beginnt kann sich schon bei dem klang ihres namens an die universität zu denken kaum ent- schlagen, welche gleichfalls academie zu heifsen pflegt. Aber auch hier läfst sich noch nicht einhalten, da zwar keine academie, doch die universität auf die benennung einer hohen schule anspruch hat, so dafs in den ganzen kreis dieser begriffe und erörterungen nicht minder die schule gezogen wer-

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den mufs. Und wie solchergestalt die verwandtschaft zwar nothwendig geschiedner aber in einander über greifender behörden bereits in ihren namen vorbricht, findet sie hier in Preufsen dadurch ausdrückliche bestä- tigung, dafs nicht selten vorragende lehrer an den gymnasien zugleich als professoren der universität auftreten und alle mitglieder der academie auf sämtlichen landesuniversitäten vorlesungen zu eröfnen berechtigt sind. Kann demnach an vielfacher, innerer wie äufserer berührung dieser drei öf- fentlichen anstalten im voraus nicht gezweifelt werden, so soll das ergebnis meiner nachfolgenden untersuchung darlegen, wie und auf welche weise in ihren mitteln und erfolgen sie ganz von einander abweichen, um so sicherer aber eine sich stützende stufenartige trilogie bilden, welche solange die academie ihr abgieng unvollständig erfafst war, man darf auch sagen, solange die academie ihrem wesen nach unzureichend aufgestellt ist, immer noch mangelhaft begriffen wird.

Es braucht nicht zu verwundern, dafs diese anstalten insgesamt, deren entschiedenes deutsches gepräge bald ins auge fällt, nur mit fremden wörtern bezeichnet werden können und unsere jetzige sprache für sie gar keine hei- mischen ausdrücke darbietet. denn gleich der sache sind die namen zwar zu sehr verschiedener, doch einer solchen zeit, wo die in unserm volke selbst gelegnen bildsamen triebe zurück standen, uns von süden und westen her über die Alpen und den Rhein zu gebracht worden; wie es bei manchem andern von aufsen aufgedrungenen der fall war, haben wir ihren begrif all- mälich abgeklärt und vertieft, so dafs nichts weiter an der ihnen ursprünglich zugestandnen oder im verfolg anderswo beigemessenen bedeutung gelegen scheint. Wir Deutschen, denen zu heifs drückender schmach das ersehnteste recht eines freien volkes, das seiner ungehemmten einheit bisher noch vor- enthalten wird, erblicken einem solchen gebrechen gegenüber zwar gering- fügigen, an sich dennoch grofsen ersatz oder trost dafür in dem anerkannten ruf, dafs was auf wissenschaft und deren förderung bezogen werden kann, alles bei uns fast in höherem grade vorhanden ist, als bei den mächtigsten, einsichtsvollsten völkern der gegenwart. Wie viel unherstellbares in unserm öffentlichen leben uns mislungen, wie viel auch des gelingenden bald wieder verkommen und untergegangen sei, alles noch rettbare gedeihen scheint sich nach einer seite hin geflüchtet zu haben, und in den meisten der wissenschaft gehörenden einrichtungen die gunst eines frohen und anhaltenden fortschritts

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uns immer unversagt. Und vermag der geist einen hinfälligen leib aufrecht zu erhalten und zu fristen, so kann ohne ruhmredigkeit behauptet werden, dafs unsere wissenschaft und errungene literatur, das untilgbare gefühl für sprache und poesie es gewesen sind, die in zeiten härtester trübsal und tief- ster ohnmacht des deutschen reichs das volk gestärkt, innerlich angefacht und erhoben, ja den sonst nichts hätte aufhalten mögen vor untergang uns bewahrt haben. Franzosen und Engländer, ihren blick theilnahmlos und un- gläubig von unserm politischen ringen abwendend, wo nicht gar es höhnend, erkennen auf dem felde der wissenschaft uns als ihnen ebenbürtig oder selbst überlegen an; sie sind längst bestrebt unsre leistungen und anstalten kennen zu lernen und vielleicht nachzuahmen. Was auch in ihren augen und mit verzehnfachtem selbstgefühl würden wir ausgerichtet haben, hätte aller unsrer wissenschaft, das heifst der erhebung des geistes auch ein stolzes bewustsein der stärke und macht des vaterlandes, als eines bodens, von dem der geist sich schwingen, auf den er weilend sich nieder lassen könne, zum grunde gelegen? oder welch unerfülltes glanzenderes geschick ruht für uns auf jetzt noch unnahbaren knien der götter? Wem solch ein lob zu voll, diese hof- nungen malslos und überspannt erscheinen, der möge hernach gewahren, dafs ich herben tadel unter zu mischen und von den wissenschaftlichen an- sprüchen, zu denen wir befugt sein könnten, grofse stücke abzuziehen nicht säumen werde. Von andern seiten her erschallen ja misbehagen und unzu- friedenheit viel anhaltender und lauter. Es ist eine seltsame erscheinung, dafs gerade was dem ausland an den sonst um nichts geneideten neidenswerth vorkommt, unsre schulen und universitäten, bei mitlebenden unter uns her- abgesetzt und als wesentlicher umwandlung bedürftig dargestellt zu werden pflegt. War jener vorzug nur eingebildet, oder steht er so fest, dafs alle gemachten vorwürfe von ihm abgleiten? Niemand der gesundes sinnes ist, wird frevelnden neuerern das wort reden, die jede gute gewohnheit herge- brachter sitte ruchlos untergraben möchten, niemand aber auch den auf ihren zinnen über alle und jede neuerung zeter schreienden Zionswächtern sich beigesellen wollen.

Ich erbitte mir nachsicht dafür, dafs ich, wie man schon gewahren wird, mit anspruchloser offenheit keinem anstofs oder bedenken ausweichen will, was einige meiner ansichten mit sich führen können; hinten zu halten und mich zu bergen war meine sache nie.

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Von der wissenschaft hege ich die höchste vorstellung. alles wissen hat eine elementarische kraft und gleicht dem entsprungnen wasser, das unablässig fortrinnt, der flamme, die einmal geweckt ströme von licht und wärme aus sich ergiefst. Solang es menschen gibt, kann dieser lechzende durst nach wissen, wie vielfach er gestillt wurde, nie völlig erlöschen. Eigenheit der elemente ist es aber aller enden hin in ungemessene weite zu wirken und darum verdriefst es die wissenschaft jeder ihr in den weg ge- rückten schranke und sie findet sich nicht eher zufrieden gestellt, bis sie eine nach der andern überstiegen hat. Ihrer unermessenheit zufolge scheint sie nothwendig unpractisch in der meinung, dafs sie nicht auf irgend ein be- stimmtes ziel einzuengen, sondern der guten fabel ähnlich statt auf einzelne nutzanwendungen vielmehr auf jeden nutzen gerecht und bei aller gelegen- heit diensam ist. Dieser reiche unabschliefsende gehalt der wissenschaft äufsert sich auch darin, dafs aus ihrem scholse zweige und äste, wie aus der pflanze entspriefsen und treiben, die sich bald ihr neues gesetz schreiben und dann gesondert als einzelne wissenschaften neue frucht bringen. das beispiel der vergleichenden sprachforschung soll mir hier zu statten kommen, die in unsern tagen, in gegenwart und vor augen dieser academie selbst, sich eignen weg gebrochen hat, der zu ganz andern ausgängen führt als den von der alten philologie verfolgten. denn während diese sich nur der classischen sprache bemächtigte und in deren umfang meisterin war, muste die compara- tive grammatik ebenwol alle rohen, von jener über die achsel angeblickten idiome und alle halbgebildeten sprachen in ihren kreis ziehen, wodurch sie zu ergebnissen gelangte, von denen früher keine ahnung war. Ich scheue mich nicht hinzuzufügen, dafs in gleicher weise dem betrieb der classischen mythologie, die sich zur seite unbeachtet liegen liefs was von mythen sagen und bräuchen aus dem lebendigen volksmunde des gesamten heutigen Euro- pas im überschwank zu sammeln steht, bald auch eine vergleichende sagen forschung sich erzeugen werde, deren ernste resultate nicht blofs einigen regeln zum correctiv dienen können, die aus dem griechischen und römi- schen alterthum bisher geschöpft und zwar reichströmend, doch allzu einsei- tig abgeleitet waren.

Fragt es sich nun aber im allgemeinen nach dem boden, wo jede ein- zelne wissenschaft wie alle zusammen wurzeln, was sie zeuge, nähre und sättige? so wird beständig auf eine innere und äufsere ursache zu weisen sein,

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die fast unzertrennlich in einander greifen und kaum ohne einander zu denken sind, ich meine den trieb des lernens und lehrens. Auch sind beinahe in allen zungen bedeutsam die wörter des lernens und lehrens (deren sammlung ich anderswo mittheilen werde) unmittelbar von einander gebildet, und ent- weder wird das lehren als ein übertragen des gelernten, als ein wissen machen, oder das lernen als ein gelehrtwerden und sich selbst lehren, überhaupt aber als ein weise und gewis werden erfafst. Wer nun wollte, sofern man beide fähigkeiten getrennt abwägt, nicht dem lernen den rang lassen vor dem leh- ren? wie dem hören ein innerer sinn des vernehmens, dem sprechen ein denken, dem singen ein dichten, mufs nothwendig dem lehren ein lernen voraus gegangen sein. im lernen waltet unschuldiges behagen und gröfsere freiheit; die lehre erscheint im geleite einer von ihr unzertrennlichen und dem freien wissen eintrag thuenden autorität. je mehr der mensch lernen kann, desto gelehrter mag er werden, nicht aber gilt das umgedrehte, dafs je mehr er gelehrt werde, er desto mehr auch lerne, und blofser gelehr- samkeit haftet ein nebenbegrif des angelernten bei, während die eigentliche wissenschaft vorzugsweise aus sich selbst hervor gestiegen ist. das lernen ist findend und schöpferisch, die lehre nur festigend und gestaltend; nimmer würde sogar die treflichste lehre ihr werk verrichten, träte ihr nicht aus dem lernenden ein empfängliches und mitfruchtendes verständnis gegenüber, was der dichter in den schönen worten anerkennt: erquickung hast du nicht gewonnen, wenn sie dir nicht aus eigner seele quillt.

Menschlich aber ist es dafs beide, lernbegier und lehre in wechselwirkung zusammen treten, und streng genommen gibt es darum weder autodidacten, noch solche die nur durch die lehre wissend geworden wären. wer sich in waldes einsamkeit von aller menschlichen gesellschaft flüchtete, könnte immer nicht umhin, die ihm selbst durch die sprache eingeimpften und vor der zeit, wo er den entschluls zur absonderung fafste, gesognen vorstellungen seinem beschaulichen nachdenken unter zu legen, geschweige jeder andere, den einflüssen seiner mitlebenden willig hingegebne mensch. Alle mittheilung ge- schieht in zwiefacher absicht, entweder will der mittheilende beifall oder tadel über das mitgetheilte vernehmen, oder er will es auf andere übertragen und nur diese letzte richtung heifst lehre im eigentlichen sinn. im ersten fall läfst er sein eignes forschen eine probe bestehen, die er selbst anzustellen nicht

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vermag; im andern fall fühlt der lernende sich von dem lehrenden entzün- det, der lehrende durch das entgegenkommen des lernenden tiefer angeregt.

Ich kann jetzt die anwendung machen auf unsere drei anstalten. in zweien, der schule und universität waltet die lehre, die academie ist von ihr entbunden. die schule zeigt aber lehrzwang, die universität lehrfreiheit. Kein schüler hat die wahl der lehre, er kann sich nicht aussuchen was er lernen will, und der lehrer soll lehren, was im schulplan liegt. Der student hin- gegen darf sich frei entscheiden für alles wozu ihn innere neigung trägt; was diese freiheit einschränkt ist vom übel und verfälscht. Den professor bindet bei seinen vorlesungen eine nothwendige rücksicht, ihren inhalt dem lehr- zweck und den bedürfnissen der zuhörer anzupassen, und die alljährliche, wenn auch noch so freie und unmechanische wiederholung kann quälend werden oder gefahr laufen sich abzustumpfen. In der schule ist alles praxis und zwischen schüler und meister eine grofse kluft, es gibt nur sachen die jenem schwer, diesem leicht fallen. Auf der universität hat sich der abstand mehr ausgeglichen, die fähigkeit des lernenden erhöht und der des lehrenden genähert, welcher um so geneigter wird herab zu steigen und seiner lehrgabe die eigne lernbegierde unter zu ordnen. Für den academiker ist, im gegen- satz zum schulmeister und professor, die volle lust und mufse des lernens hergestellt, er darf immer oben bleiben oder seine höchste formel ausspre- chen, und nur das beispiel legt ihm eine wolthätige fessel an oder einen zugleich seine innerste kraft stärkenden zaum. Schon nach dieser allgemei- nen darlegung wird die academie oder der academische betrieb der wissen- schaft als gipfel aller wissenschaftlichen einrichtungen erscheinen und wie die universität über die schule ihrerseits über die universität hinaus ragen.

Bevor jedoch zur nähern entwickelung und begründung meiner sätze im einzelnen geschritten werden kann, ist erforderlich erst einer andern bis- her unerwähnten und grofsartigeren erscheinung zu gedenken, als schule, universität und academie zusammen genommen sind, einer anstalt, die zu- gleich über lehre und lernen ihre wiewol erschütterte, immer noch unge- brochne gewalt behauptet.

Das christenthum und die aus ihm hervorgegangene kirche bezeichnen insgemein einen so durchdringenden wendepunct der geschichte wie aller ein- zelnen richtungen unsers welttheils, dafs auch die fortpflanzung des mensch- lichen wissens in allen seinen fugen davon berührt werden muste.

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Der heidnische glaube der alten welt wurzelte volksmäfsig, man könnte sagen durch eine stille macht der überlieferung in den gemütern, und be- durfte nicht für die grofse masse, nur für eingeweihtere der lehre und des ausdrücklichen bekenntnisses; alles andere wissen wuchs neben ihm frei und unabhängig empor. Die christliche kirche dagegen war von anfang und zu allen zeiten eine lehrende, die nicht blofs ihren glauben streng einzuprägen, sondern auch jegliche wissenschaft zuletzt auf ihn zu beziehen trachtete. je straffer ihren zügel sie anzog, desto strenger pflegte sie erziehung und öffent- lichen unterricht zu leiten und auf allen gebieten menschlicher erkenntnis im hintergrund eine mauer zu errichten, vor welcher still zu stehen geboten, die zu überschreiten untersagt war. Das christenthum that durch seine milde wärme dem innern menschen vorschub, machte ihn also für das wissen an sich empfänglich; allein die leiter der christlichen gemeinde hemmten und beschränkten diese wolthätige wirkung, sie führten eine reihe dunkler jahr- hunderte herauf, in denen sich keine freiere menschlichkeit entfaltete. Konnte auch im geleite der kirche und von ihr geschützt die wissenschaft eine strecke des wegs zurück legen; allmälich begannen beide sich zu scheiden und feind- selig einander entgegen zu setzen. die wissenschaft will nur glauben was sie weifs, die kirche nur wissen was sie glaubt. Nie hat es die kirche gescheut und unterlassen aus ihrer geringschätzung alles menschlichen erkennens ge- genüber den von ihr verfolgten zwecken ein hehl zu machen, und mit sol- chem ausspruch, wenn er gälte, fiele die wissenschaft zu boden. Dem tode verfallen sein ist unserm leib, nach dem ewigen grunde des wissens zu drin- gen ist unserm geist voraus bestimmt. die kirche will aber allein beseligen und bietet der menschlichen auf zahllosen wegen zur erkenntnis gottes vor- strebenden natur trotz. Nach dieser durchgehends verfochtenen ausschliefs- lichkeit der kirche musten alle von den heiden, die auch am schleier gelüftet hatten, eingeschlagenen mittel wo nicht verkehrt, doch unzulänglich befin- den, jede rückkehr zu den die vorwelt schon erregenden und befruchtenden gedanken auf einem gewissen punct für ketzerei verschrien werden, bis end- lich eine solche ketzerei zu ewiger ehre unsers vaterlandes durchschlug. Die reformation verhält sich zur catholischen kirche fast wie das christenthum seines stifters und der apostel zu dem glauben der eifernden jüdischen prie- ster, und alle heilsamen folgen der glaubensreinigung musten der ganzen

8 welt, ja wider ihren willen und in weiterer ferne selbst der alten kirche zu

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gute kommen. Diese ihrem wesen nach unvollendete und unabgeschlossene glaubensläuterung ist es, die auch, indem sie der wissenschaft ketten allmä- lich sprengte, dem alterihum der Griechen und Römer seinen lange verhalt- nen athemzug wieder löste. Man hat es ihr schwer aufgebürdet mit einem- mal die politische einheit der Deutschen gebrochen und einen noch heute klaffenden spalt zwischen brüdern hervorgebracht zu haben. Wessen war aber die schuld, der vorschreitenden protestanten oder der zurückbleibenden catholiken? von jeher galt forigang für des menschen würdiger als stillstand, und es ist, wer genauer schauen und den finger der vorsehung erkennen will, ein in Deutschland vorher gestörtes gleichgewicht eben dadurch auf andere weise hergestellt worden. Da nemlich früher die herschaft der hochdeutschen in Süddeutschland entsprungenen sprache aus bekannten ursachen auch über Norddeutschland erstreckt worden war, scheint durch ein nach der andern seite fallendes lofs die der südlichen hälfte unseres vaterlands mehr entzogne geistige ausbildung deutscher sprache und dichtkunst eine zeitlang der nörd- lichen überwiesen, damit auch für sie die spracheigenheit selbst gerechtfertigt und erworben würde. Östreich und Baiern musten nach der glaubensver- besserung, an der sie sich nicht betheiligten, die früher bei ihnen zu hause wohnende und erblühte macht der poesie in norddeutsche landtheile aus- ziehen sehn, von wannen erst nach und nach die wirkung wieder auf sie zu- rück scheinen konnte. Die protestantische kirche jedoch, deren gröfsere freiheit seit Luther der sprache und wissenschaft zu gewinn ausschlug und ihnen beiden einen unverkennbar protestantischen character aufdrückte, hat auch nach unerfreuenden rückschritten jene wiewol geminderte opposition gegen die wissenschaft nie ganz aufhören lassen. Wenn einmal die gesamte, catholische wie protestantische kirche zu ruhigem vollbesitz ihrer menschen- beglückenden kraft gelangen, ihr glaubens und sittengesetz auf eine geringe zahl einfacher gebote beschränken wollte und darüber hinaus jeden menschen mit sich selbst und seinem gewissen, wie es die duldsamen alten thaten, fertig werden liefse; so brauchte sie nicht länger proselyten zu werben, nicht mehr liebe und hafs aus demselben gefäfs zu gielsen, und wäre der in vielen zeit- altern umsonst erschollenen, endlich abgenutzten klage über die sündhaftig- keit und den verfall der welt enthoben. Je mehr sie sich aber dieser wahr- haft menschlichen, jene kluft allein heilenden richtung zukehrt, in derselben

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mafse werden sich auch einmal alle fragen nach unsrer besten erziehung und wissenschaft vereinfachen, alle mittel dazu erleichtern. Jetzt deckt uns den himmel noch ein grofses stück gewölke.

DIE SCHULE.

Bei der schule, von derich nun anhebe, kann nicht umgangen werden eine niedere und höhere zu sondern, das darreichen der ersten milch alles unterrichts von einer zubereiteten festern nahrung. Während die höhere unter uns in blüte zu stehen und ihr rechtes mals fast zu erfüllen scheint, erblicken wir den stand der elementarschule heutzutage sehr unbefriedigend und verworren.

Diese niedere schule ist allgemeine spenderin einer lehre ohne unter- schied, die heerstrafse für alle kinder, gleichsam das gröbste sieb, durch welches deren frühste anlagen gebeutelt werden.

Mufs denn der mensch zu schule gehen? das insect, sobald es aus der larve geschloffen ist, reckt einige augenblicke seine flügel und schwingt sich dann leicht und gewandt in die lüfte. Zwar heifsts der vogel lehre seine jungen fliegen, der adler führe sie der sonne entgegen, was doch die natur- geschichte unbestätigt läfst. Wer lauscht wird gewahren, wie die flücken, dem flaum entwachsnen nestlinge eigenmächtig ihr gefieder rühren und nach geringem flattern mit den alten um die wette ihre bahn durchschneiden. Dem anfangs unbeholfnen, langsam gedeihenden, zum bewältiger aller thiere und der ganzen welt ausersehnen menschen stärkt sich dennoch jede leibes- kraft von freien stücken und bedarf nur selten des gängelbandes. Einfache speise bringt ihn empor und fast mit der fülse erstem treten auf den boden beginnt ihm auch seine wunderbarste, dem thier versagte, dem erwachenden denkvermögen innig verwandte fähigkeit, die der sprache, wie anzuwach- sen.(!) Gleich dem vernommenen wort haftet sodann in des kindes reinem, unversehrtem gedächtnis alles was es eltern, geschwistern, nachbarn abzu- sehen oder abzuhhören vermag mit der schnellen aber zähen gewalt des beispiels. Wie nun, seit das kind den tag von der nacht, gutes von bösem unterscheidet, sollen sich ihm nicht auch tugend und sitte gleich handgriffen

(') Wenn das kind laufen lernt, lacht es, wie die menschliche natur überhaupt, sobald ihr schweres gelungen ist, still lacht; zwischen dem vermögen zu lachen und zu sprechen besteht aber analogie, und beides ist den thieren unyerliehen.

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einüben, die vor seinen augen gemacht werden? wie der vater sein söhnlein die rechte hand gebrauchen lehrt, ihm die zahlen an den fingern vorsagt, wird er auf der stelle lüge und ungehorsam an ihm strafen und ihm bei jedem anlafs den namen gottes mit ehrfurcht aussprechen. Des lernens kraft eilt auch hier schon der lehre zuvor und reicht über sie hinaus, dem kind wächst die seele von innen, der leib von aufsen, und das ist die schönste, leichteste und sicherste erziehung, die dem sich öfnenden und faltenden verständnis und fassungsvermögen des kindes von eltern und hausgenossen unvermerkt und ungesucht dargeboten wird.

Der ackermann nimmt seinen sohn mit aufs feld, der schiffer aufs wasser, der hirt auf die weide, und läfst ihn erst kleine geschäfte ausrichten, über welchen er allmälich auch die schwereren lerne. Wo stand und lebens- art sich wenig oder nicht verrücken, ist nichts natürlicher als ein so unmit- telbarer übergang der gaben von vater auf sohn, von mutter auf tochter, und den sich ablösenden geschlechtern alle wesentliche unterweisung dadurch gleichsam von selbst verliehen.

Lafst aus irgend welchem grund ein mädchen die schule nicht besu- chen, sondern daheim unter dem eindruck der eltern und ihres umgangs auf- wachsen, und seht zu, ob es nicht mutterwitzig, lebendiger rede kundig, wolgeartet und haushältig werde vor allen schülerinnen, die sich mit man- chem geplagt haben, was sie ohne schaden wieder vergessen können.

Hiermit aber soll blofs der eingebornen anlage des menschlichen geistes, die es allen vorbereitungen beinahe gleich thun und sie sogar über- holen kann, ihr recht geschehen, keineswegs die heilsamkeit oder das be- dürfnis der schule unter gesitteten und gebildeten völkern, die der einfachen lebensweise ihrer vorzeit längst entrückt in gemischte und vielfach verwickelte verhältnisse der gesellschaft eingetreten sind, verabredet werden.

Es ist für eltern wie für kinder unentbehrliche wolthat, dafs öffent- liche anstalten bestehen, denen mit vollem vertrauen ein grofser theil der erziehung überlassen werden könne. Nicht allein entfernen die eltern den lärm und die unstille der in die schule abgegebnen kinder dadurch aus dem haus, sei es auch nur um stunden und halbe tage lang, wie mütter sagen, die müle abzuschützen, und auf das geräusch ruhe eintreten zu lassen, deren sie für ihre geschäfte und verrichtungen bedürftig sind; der hauptgrund, und der natur der dinge gemäfs ist es, dafs gleichfalls das kind aus dem

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weiteren kreise des zerstreuenden hauses mit andern gespielen in engere, stillere, fruchtbar zum eifer weckende gemeinschaft unter aufsicht eines leh- rers gesammelt werde, der die angefangne und daneben waltende hauszucht in geregelter ordnung fortseize und erhöhe. Welch süfser lohn für ihn alle keime und knospen der unschuldig vordringenden kinderseelen in ihrer manigfaltigsten gabe vor sich auf der bank zu haben, zu betrachten und lieb- reich zu heben.

Solch ein lehrer, wie die amme ihre brust dem säugling hinhält, flöfst dem knaben die noch leichte speise des ersten wissens ein, nährt, erzieht, baut auf und meistert ihn in allen dingen. (')

Nichts besser zu statten kommt ihm dabei als die unersättliche wifs- begier der an des meisters munde hängenden, ihn einem könige gleich hoch- haltenden jugend selbst; doch hat diese freudige lernfähigkeit auch ihre schranke, die eingehalten sein will. So unverdrossen der schüler lernt, er- sehnt er zugleich die ausschlagende, ihn der vier engen wände entlassenden und zur freien luft fördernden stunde. Mit welcher empfindung das kind seine bürde auf und ab lade, sagt in einer unnachahmlichen stelle, wo er die lust der knaben in die schule und aus ihr zu gehn der lust liebender von und zu einander zu gehen treffend entgegen setzt, Shakespeare:

love goes toward love as schoolboys from their books, but love from love, toward school with heavy looks. Und von Tristan redend, der aus der freiheit seiner aufblühenden jahre in des meisters hand gegeben wurde, hat schon Gotfried dasselbe gefühl in den worten ausgedrückt: der buoche l&re und ir getwanc was siner sorgen anevanc.

Eines schulmeisters leben, wenn er genügsam sich bescheidet, nicht über seinen stand hinaus strebt, könnte das friedlichste und glücklichste von der welt sein. Jahr aus jahr ein unterweist er in hergebrachtem gleise, sieht immer frische gesichter um sich versammelt und waltet in deren mitte beinahe unumschränkt, denn in keiner andern lage des lebens wird dem vorgesetzten

(') Daher erziehen, unterrichten, instruere. Dals erziehen von der amme entnommen wurde, lehrt eine stelle Varrons bei Nonius 5, 105: educit obstetrix, educat nutrix, instituit paedagogus, docet magister. auch praecipere gilt von diesem ersten unterricht. Unsre alte sprache nannte den lehrer magazoho d. i. qui filium educat.

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von seinen untergebnen so viel williger und unterwürfiger gehorsam bewiesen wie ihm von den schülern. Nur mäfsig angestrengt sind dabei seine kräfte und überall vermag er mit unbefangenster sicherheit aufzutreten. Wie man- che seiner zöglinge schon nach wenig jahren ihm entschieden überlegen sein werden, jetzt steht er ihnen allen noch riesengrofs und vorbild gebend. Jene beständige wiederholung und der langsame schritt seines unterrichts gleichen der geduld des landmanns, der viele sonnen wieder kehren sieht, bevor die saat zur ernte reift, aber sie festigen ihm auch alles was er weils und das bekannte docendo discimus lautet auf deutsch sinnlicher ausge- drückt: ein tag ist des andern schulknabe. Stunden zur erholung, ruhe, ja inneren ausbildung, wenn sie in ihm auftaucht, bleiben dem schulmeister genug vergönnt; aber zufriedenheit mit seinem stillen lofs mufs ihm eigen, alles sich überheben, aller aufwand fremd sein.

Das mittelalter hatte die ganze schule in die hand der kirche gelegt und nur zu den geistlichen, oder wo es klöster gab, zu den mönchen giengen die knaben, zu den nonnen die mädchen in unterricht. Mädchen empfiengen fast nur im glauben und in weiblicher handarbeit unterweisung, knaben ward eine reihe von jahren hindurch das sogenannte trivium pedantisch eingeübt, denn auf diesem boden gerade ist eines begriffes ursprung zu suchen, über den ich mich bei andrer gelegenheit hier ausgelassen habe. Hauptanliegen war, dafs man die knaben alle glaubensartikel, ein dichtes bündel von gebeten (deren nachplappern auch den erwachsenen das ganze leben hindurch auf- erlegt blieb), etwas gesang und einzelne kirchliche dienstleistungen lehrte; zum lesen oder schreiben brachten es nur weiter vorgeschrittene, ja verschie- dentlich scheint diese kunst vorzugsweise frauen mitgetheilt worden zu sein. Damals konnte die schule überhaupt nichts anders als ein abbild, einen ge- schwächten wiederabdruck der geistlichkeit darstellen und hätte schon darum alles was die kirche von sich wies ängstlich meiden müssen. Doch ist hervor- zuheben, dafs die bettelmönche, wie sie insgemein auf das volk näher einzu- wirken trachteten, auch von der kirche unabhängigere, wenigstens unbewust nach dieser unabhängigkeit strebende volksschulen förderten und stifteten. Weil aber keine zeit ganz ohne freiheit und licht sein kann, und die der menschlichen natur inwohnende liebe selbst unbeholfnen die hand leitet; wird es auch im mittelalter an freudigen schulmeistern und erziehern nicht gemangelt haben, die es verstanden das schlummernde talent der kinder

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zu wecken und zu leiten, ich verweise nur auf die schilderung der erziehung Tristans oder des fündlings Gregorius bei Gotfried und Hartmann.

Aller beschränktheit und geistesarmut der schule steuerte endlich zwar die reformation, indem sie an den platz des mönchischen quadriviums so- genannte humaniora (statt des stärkern positivs humana) einsetzte, die das elassische alterthum neben der christlichen glaubenslehre aufrichteten. Nur in den ersatz des freilich allzuwenig enthaltenden triviums wurde nunmehr allzuviel gelegt und ein nüchtern überladner elementarunterricht gegründet, der seinen pedantischen anstrich steigernd zugleich die strenge der zucht schärfte. Nach wie vor blieb er dann halbgebildeten kirchendienern, küstern und kantoren anvertraut, die wie man sich denken kann, nichts von dem erliefsen, was in die zuziehung der knaben beim gesang und bei jeder andern öffentlichen gelegenheit ihres amtes einschlug, so dafs in gewissem sinn auch die evangelischen schüler fortwährend chorknaben, acolythen und psalmisten der kirche waren; welcher brauch doch allmälich ermäfsigt und heute bei- nahe erloschen ist. übung der musik und des gesanges muste zugleich die herbe der schule mildern und erheitern.

Wenn im mittelalter diese elementarschulen der regierung des landes gar keine ausgabe verursachten, kosteten sie auch in den nächsten jahrhun- derten nach der reformation noch nicht viel. Den meisten ländlichen ämtern pflegte vor alters ihr gehalt fast nur in naturalien ausgesetzt zu sein, die die gemeinde lieferte, und am längsten konnte dieser gebrauch sich bei pfarrern und schulmeistern fortpflanzen. Zu der ständigen, meistentheils geringen besoldung des schulmeisters traten die schulgelder und andere von den eltern der kinder entrichtete beiträge; wenn der vater seinen sohn dem lehrer zu führte, brachte er ihm auch eine gabe von lebensmitteln. Ich entsinne mich, in der schule, wo ich selbst den ersten unterricht empfangen habe, (') und gewis damals noch in vielen andern, nahm jeder schüler des morgens ein scheit brennholz für den ofen mit und warf es auf den haufen, wie bis auf heute in Irland beim täglichen schulgang jedes kind sein stück torf unterm arm trägt, das es zum vorrat des lehrers hinbringt. (?) Wer alle schul- bräuche der vorzeit, die feste und freuden der kinder, aber auch die für sie

(') Zu Steinau, in der hanauischen obergrafschaft. der praeceptor hiels Zinkhahn. (2) Irische sagen und märchen, zweiter theil. Stuttg. 1849. s. 461.

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bereit gehaltnen strafen sammeln wollte, könnte ein anziehendes buch davon schreiben. Ich wünsche dem volk möglichst geringe abgaben, doch wie almosen dem einschufs in armencassen sind auch schulgelder und collegien- honorare der ihres abgangs wegen nöthig werdenden erhöhung der besoldung für schulmeister und professoren aus staatsmitteln vorzuziehen, schon aus dem natürlichen grunde, weil die unmittelbar bezahlte schule und vorlesung immer fleifsiger besucht zu werden pflegt. wer sich ein buch gekauft hat liest es weit genauer, als der es leihen kann.

An der einfachen althergebrachten stellung der landschulmeister haben die einflüsse der neueren zeit viel gerüttelt und manches verdorben, nicht ohne misgriffe der ihnen vorgesetzten behörden, die mehr aus der schule machen wollten, als ihr zu sein gebürte. Der erste jugendunterricht ist von natur so beschaffen, dafs er einen niedern stand halten mufs und sich nicht gewaltsam in die höhe schrauben läfst,; über das mafs gehende ansprüche schaden hier nicht blofs den schülern sondern auch den lehrern. Soviel man nun für sie bedacht gewesen ist, waltet nirgends tieferes misbehagen als ge- rade unter unsern schulmeistern, wie sie nicht einmal gern heifsen mögen; sie ziehen dem mehrsagenden alten namen den weniger enthaltenden vor. Die Frankfurter nationalversammlung sah sich mit bittschriften und anträgen der schullehrer fast überflutet, die höher und unabhängiger gestellt zu werden forderten und gern das ganze unentworfne reich in ein schulregiment umge- wandelt hätten. Es ist auch nicht unbekannt, welcher zusammenhang zwischen unruhigen schullehrern, communisten und proletariern fast durchgehends statt fand und nicht ohne gefahr für die gemeinde bleiben konnte; den schlüpfri- gen abweg selbst betretend trugen sie eifrig dazu bei das volk auf ihn zu ver- leiten. Dem grofsen haufen pflegt ein grund, dessen sie zu geltendmachung ihres verlangens sich bedienen, scheinbar einzuleuchten. Da ihnen, sagen sie, das edelste, kostbarste gut aller menschen, die kinder und deren geistige ent- faltung empfohlen sei, könne man sie nicht gering wie handwerker seizen, die nur dem leiblichen wol fröhnen, vielmehr amt und beruf müsse ihnen die an- sprüche wahrer staatsdiener auf anständiges auskommen, genügende versor-

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sung im alter und witwengehalte sichern. Hier aber wird offenbar der werth

uns dessen, dem man einen dienst leistet, mit dem werthe des dienstes selbst verwechselt: es ist nicht abzusehen, warum wir milch und brot für die kin-

der theurer einkaufen sollen als sie jedem alter gelten oder so theuer wie andre

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schwere speisen. Die fähigkeit, die wir vom schullehrer fordern und die er uns aufwendet, scheint mir an sich unter der eines ausgezeichneten sinn- reichen handwerkers zu stehen, der in seiner art das höchste hervorbringt, während der lehrer ein fast jedem zugängliches mittelgut darreicht und sein talent leicht überboten werden kann. Wir sehn nicht selten männer, die in andern ständen verunglücken, sich hintendrein dem lehrgeschäft als einer ihnen noch gebliebenen zuflucht widmen, ungefähr wie alte jungfern, die nicht geheiratet haben, zu kleinkinderbewahranstalten übertreten. Dies soll keine herabsetzung des lehramtes ausdrücken, sondern klar machen, wie es durch eine verhältnismäfsig niedre kraft bedingt sei. Man hat auch geringere leistungen zu achten, die aus reinem willen hervorgehen und wird sie dop- pelt hoch anschlagen, wenn sie für einen uns theuern gegenstand erfolgten.

Das heute oft und mit heiserem schrei erschallende begehren voller freiheit des unterrichts, die vielen zur freiheit ausschlagen würde nicht zu unterrichten noch unterrichtet zu werden, ist so vieldeutig, dafs ihm wieder alle eigentliche bedeutung entgeht. Wird es von einer kirchenpartei erhoben, die herschen möchte da wo sie über druck klagt, so kann sie sich in der elementarschule am leichtesten beruhigen, falls sie nur die natürliche schranke in glaubenssachen einhält. Zu wünschen aber, dafs die lehrgegenstände eher verringert als ausgedehnt werden mögen, wäre nicht unbillig und bezeichnete keinen rück- schritt. Die wahl der lehrer würde ich den umständen nach bald vom staat, bald von der kirche, bald von der gemeinde ausgehen lassen. Was ich von den bestehenden schulseminarien in erfahrung gebracht habe macht mir ihren nutzen mehr als zweifelhaft, sie erfüllen den angehenden lehrer mit kennt- nissen, die ihm in der schule hernach nicht frommen; ist es milch und brot des glaubens und der vaterlandsliebe, was dieser noih thut, so werde auch nicht viel anders darunter gegossen. Über die nothwendigkeit des lesens und schreibens für alle kinder ohne ausnahme ist freilich längst nicht mehr hin- weg zu kommen, auch wenn man einsieht, wie viel die angeborne sprach- regel unter dem schreiben in der schule verdorben wird.

Deutschland ist ein wahres land der schulmeister, etwa wie Italien und Spanien das land der geistlichen. Rechnet man für ganz Preufsen auf 15 millionen menschen 30000 schulmeister, so kommt einer auf 500 ein- wohner, unter welchen im durchschnitt 50 schulbesuchende kinder voraus zu setzen sind. Wenn nun die übrigen deutschen länder fast noch einmal

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so viel annehmen lassen, entspringt ein heer von 50000 60000 lehrern, dem schwerlich ein gleich grofses in andern ländern derselben bevölkerung zur seite treten kann und dessen sold den staatshaushalt mächtig belastet. In die- ser menge ist sicher auch eine grofse zahl von männern, die ihren beruf getreu erfüllen und die ihnen aufgetragne erziehung der jugend gewissenhaft leiten; als nebengeschäfte für sie eignen sich vorzugsweise musik, gartenbau, ver- edlung des obstes und bienenzucht, aus welchen allen sie treffende gleich- nisse und bilder für das gelingen ihrer hauptarbeit schöpfen mögen. Zu gewissen, in der gegenwärtigen lage unsrer literatur unumgänglichen nachfor- schungen, ich meine das sammeln der sprache und sage des gemeinen volks, welche vertrauten umgang mit diesem und völlige eingewohnheit im lande voraussetzen, taugte niemand besser als verständige schulmeister.

Fast aller tadel, der an den niedern schulen, wie sie heute beschaffen sind, haftet, schlägt um in lob, wenn ich auf die höheren, heifsen sie nun gymnasien, Iyceen oder noch anders, zu sprechen komme. Vorzugsweise zwar für weiter schreitende, aus dem grofsen haufen bereits geschiedne jünger der wissenschaft gegründet werden sie doch auch noch von andern schülern, die demnächst in das gewerbe oder den kriegerstand eintreten, vortheilhaft durchlaufen. Hier athmet nun das meiste, seit der kirchenverbesserung, classisches alterthum, und nicht blofs bei den protestanten, auch den ca- tholiken, die ofner nachahmung ausweichend ganz in der stille sich manche einrichtungen unsrer gymnasien löblich angeeignet haben.

Ich darf mich darüber kurz fassen, da die art und weise dieser höhe- ren unterrichtsanstalten vielseitig und mit befriedigender klarheit auseinander gesetzt worden ist. Unserm volk, das aus ihnen grofse vortheile gezogen und tüchtige männer in menge gewonnen hat, sind sie ein gerechter und bleibender stolz.

Doch fallen mir unter meinem gesichtskreis einige drohende anzeichen ins auge, die sich gegen den unveränderten bestand dieser schulen aus der ferne erheben. unterliegen ja, den umständen nach, alle irdischen dinge dem wechsel.

Ein wahres unheil scheint hier die immer steigende verlegenheit brin- gende überfülle der lehrgegenstände, da sich in allen wissenschaften stoffe so- wol als einsichten und ergebnisse häufen. Wie viel weniger von der geschichte hatte noch im sechzehnten jahrhundert ein jüngling zu erfassen. er lernte

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die hergebrachten vier monarchien, und brauchte eigentlich nur in der rö- mischen, allenfalls griechischen geschichte auf genaue kunde bedacht zu sein. In die nebel der einheimischen alten drang er gar noch nicht ein, wie viel neues, welthistorisches hat sich seitdem zugetragen und ist, bei erleichterung aller mittel des aufbewahrens, bis ins einzelne auf das reichste verzeichnet worden; von geschichte der literatur und dichtkunst, wie sie gegenwärtig angebaut werden, hatte man ehmals nicht die ahnung. Auf dem felde der philologie war der lernbegierigen jugend aufser den beiden classischen spra- chen nur noch die hebräische dargeboten, aber auskunft über die neueren und vollends die muttersprache trat erst viel später hinzu, geschweige dafs auch die kenntnis jener classischen sich beständig vertiefte und in ihnen nun ein ungleich ansehnlicheres material zu bewältigen bleibt. Nicht anders hat die fülle geographischer entdeckungen zugenommen, und die naturwissen- schaften, deren eingänge schon in der schule aufgethan werden sollen, brei- ten allenthalben das weiteste feld aus. Wie natürlich, dafs ehmals alle kraft unzersplittert dem classischen studium zu statten kommen und alle praxis in ihm gefördert sein konnte.

Will oder mufs man, da die zeit der lehre wie des lebens immer kurz gespannt ist, dem classischen alterthum einen noch gröfsern theil des bisher innne gehabten raums abdringen, als unvermerkt schon geschehen ist, und dem neuen wissen eingeben? es kann von einsichtigen, redlichen lehrern be- zweifelt werden, ob der erlittene verlust durch gewinne auf der andern seite sich ausgleiche.

Wir haben uns alle lang in das alterthum eingelebt und sind mehr als wir selbst wissen mit ihm verwachsen, so dafs beim losreifsen von ihm stücke der eignen haut mit abgehen würden. Es war uns stets ein weiser und siche- rer führer, an dessen starkem arm wir uns aus der eignen barbarei empor gewunden haben. Die classischen sprachen sind uns mittel und handhabe für unzähliges, fast unberechenbares geworden, sie wecken sinn, geist und herz zusammen und flöfsen uns kraft und tugend in ihren reichen denkmälern ein. ‘Was soll aufser ihnen gelesen werden? gewährt halben, um nicht zu sagen vollen ersatz ihrer natur, frische und würde irgend eine der neueren sprachen? in dieser classischen literatur ist uns vernunft, freiheit und poesie gegeben. Beide, die lateinische, noch mehr die griechische sprache gelang- ten zu hoher ausbildung und festigung, als ihre form noch sinnlich stark und

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unabgeschliffen war, so dafs leibliches und geistiges element auf das gün- stigste einander vermittelten und erhöhten. die gewalt reizender for- men erzeigt sich in einer blüte der dichtkunst und stärke der prosa, wie sie nur aus der ungehemmtesten natur des volks hervorgehn konn ten. Wir Deutschen um der edlen, reichen form auch unserer zunge zu gewahren, müssen immer erst in den eng ausgebauten schacht unsrer geschichte fahren. Unser heutiger sprachstand kündigt uns lauter ver- luste an, und der bildende wurf war ihm nur in zwei absätzen, das letzte- mal allzuspät gelungen. Man sagt, dafs deutsche sprachregel nicht überall nach lateinischer zu ermessen sei; gleich wahr ist, dafs wir selbst feinheiten unsrer eignen sprache erst an den classischen fühlen und erkennen lernen. Wie aber mit der form, ist es auch mit dem ganzen gehalt dieser alten spra- chen beschaffen, und wo wir eine neue untersuchung in ihnen anheben, oder eine längst begonnene tiefer dringend wiederholen, öfnet sich alsbald ein weiter kreis und grofser zusammenhang, während in unsrer deutschen ein- heimischen die meisten verhältnisse schmäler gezogen, die ergebnisse darum sparsamer und trockner bleiben.

Allein abgesehen von diesem gegensatz des classischen wissens zu dem unclassischen, ja trotz ihm, beginnt dennoch das volksgefühl immer unver- haltner und unverhaltbarer sich zu regen. man steigere alles, was sich zu gunsten des classischen studiums sagen läfst, noch höher, ein zug von unna- tur liegt darin, dafs ein vaterlandliebendes, ich will hoffen einmal stolzeres volk seine erste anschauung und späteste weisheit aus dem gefäls einer frem- den sprache, und sei sie die herlichste, schöpfen solle. Selbst den Römern schlug es nicht zum vortheil aus, dafs der erziehung ihrer höheren stände wenigstens griechische unterlage gegeben und jahrhunderte hindurch griechi- sche neben römischen werken zu Rom geschrieben wurden, welche ausbrei- tung griechischer sprachesund denkweise sicher auch den auszug des reichs nach Byzanz, wo nicht herbei geführt, wesentlich erleichtert und beschönigt hat. Nimmermehr wird sich in der welt das wunder wiederholen, dafs die sprache eines untergegangnen volks wie des römischen (dessen nachfolger man in den romanischen keineswegs erblicken darf) sich zum zweitenmal er- gossen habe und als todte sprache forthersche. Ich lese lateinisch geschrie- bene reden lebender gelehrten mit der empfindung, dafs keine andre zunge der erde sich zu so bemessenem, gedrungenem und wollautendem ausdruck

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hergäbe, dafs nirgend sonst so anständig, reingewaschen und wolgefällig ein- hergeschritten werden könnte; doch zugleich mit dem gefühl, gewisse stellen und wendungen würde die heimische immer mit gröfserer wärme und wahr- heit ausstatten, weil sie bei jedem zug sich ihrer lebendiger bewust bleibt und dies bewustsein in anwendung eines fremden idoms unausbleiblich sich erkältet. ein heutzutage latein schreibender oder redender ist in gefahr ge- rade da aus dem ton zu fallen, wo ihm die sichtbarste fülle classischer re- densarten flielst und zu gebot steht.

Wir gewahren nicht einmal, sondern zehnmal, dafs alle erfolge, auch in der literatur, am ende doch nur mit eignen waffen erfochten sein wollen, und führt uns etwas diese wahrheit zu gemüt, so ist es die geschichte der deutschen dichtkunst seit hundert jahren. Kein zweifel dafs, als eine fri- schere bewegung sich zu äufsern anfieng, sie damals von deutschen Hellenisten und Romanisten am lautesten in zweifel gezogen und verspottet wurde. vor ihren augen lag neben jener classicität die einheimische barbarei so dicht dafs ihnen, bei der ehrlichsten meinung, im voraus anstofs geben muste, was nicht lange hernach glänzend sich bewährte. Jetzt besitzen wir gedichte von Göthe, deren gehalt wie form in einer lateinischen oder griechischen übertragung ungefähr ebenso untergienge oder geschwächt erschiene, wie die eines classischen gedichts in jeder verdeutschung, weil nur ein in der dich- terseele selbst aufgestiegnes original originell zu bleiben und allen gedanken und worten freie gewähr und vollen einklang zu lassen vermag. Das ist der auf allem vaterländischen ruhende segen, dafs man mit ihm grofses ausrichten kann, wie beschränkt seine mittel scheinen oder gar seien; ein stück haus- backnen brotes ist uns gesünder als der fremde fladen. darum hatten begabte dichter des sechzehnten jahrhunderts z. b. Eobanus Hessus ihre kraft ver- geudet als sie zur lateinischen sprache griffen und ihre ungebildete heimische zu bilden verschmähten; deutsche verse von ihm würde man noch heute le- sen, seine sylvae, bucolica und heroides liegen in vergessenheit. Zuletzt wird jeden dichter und jedes volk dıe geschichte nicht danach beurtheilen, was sie sich von andern anzueignen, nur danach was sie selbst hervor zu bringen im stande waren.

Wende ich diese gedankenfolge an auf die uns vorliegende frage, so wird zu antworten sein, dafs die zeit zwar uneingetreten scheint, in welcher die classischen sprachen auf der schule da weichen müssen, wo die einhei-

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mische vorrückt, einzelne vorboten diesen rückzug gleichwol ankündigen, wohin die öffentlichen deutschen reden auf der universität bedeutsam gehö- ren. Entscheiden wird ihn erst, dafs es unserm volk künftig gelinge eins und mächtig zu werden, und der deutschen poesie ein ins volk gedrungnes drama zu theil geworden sei, wodurch allein wir einen hinterhalt erlangen können, wie die Engländer an ihrem Shakespeare, selbst die Franzosen an ihren sogenannten classikern haben. Dann glaube ich wird der augenblick herannahen, dafs auch die deutsche sprache dem ganzen volke zu fleisch und blute gehn, und nicht länger nur verstolen und matten niderschlags, sondern mit vollem segel in alle unsre bildungsanstalten bleibend einziehen darf. dann kann jeder practische gebrauch der classischen sprachen und alle zu- rüstung darauf erlassen bleiben, ihr historisches studium desto angestrengter und so zu sagen uneigennütziger betrieben werden; wie sollte es je erlöschen? Bevor aber jene mächtigen ursachen eingreifen, mögen unsre dieser neuerung abholden schulmänner ihre furcht sinken lassen. Nur dafs die auch ihnen durch noch geschlofsne thüren fühlbare erhöhung des nationalen elements gegenwärtig schon den gewinn getragen hat, uns der geschrobnen, dem clas- sischen stil nachgeahmten phrasen in deutscher schreibart beinahe zu enthe- ben: was lateinischem oder griechischem munde und der reichen flexions- fähigkeit dieser sprachen gemäfs ist, klingt bei abgang solcher redefugen dem

Deutschen unnatürlich und gezwungen.

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Eine weitere, wiewol auch auf andere wissenschaften gerechte wahr- nehmung hat sich mir doch an der philologie zunächst aufgedrängt. Bei dem blühenden zustand aller philologischen disciplinen in Deutschland und bei der grofsen zahl befähigter aus den höheren schulen vollgerüstet entlassener jünglinge mufs befremden, dafs mit dieser gelungenen anstrengung der ent- springende wissenschaftliche vortheil aufser verhältnis zu stehen scheint. unsere gymnasien, wofern mir der vergleich nicht übel ausgelegt wird, er- ziehen schönes glänzendes laub in fülle, lange nicht so viel früchte als dies laub neben sich tragen könnte. die meisten philologen erzeigen sich so vor- bereitet, dafs man darauf gefafst sein sollte, aus ihrer hand nun die wichtig- sten bereicherungen der grammatik, critik und geschichte hervor gehen zu sehen; allein was leisten sie hernach? in der mehrheit werden sie brauchbare, aber bei der mittleren stufe beharrende lehrer, denen es fast genügt die wis- senschaft auf dem standpunct zu erhalten und fort zu überliefern, auf welchem

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sie ihnen zugeliefert wurde. auch diese überlieferung hat ihren grofsen werth, ist aber nicht unser letztes ziel. Ich möchte unsere statistiker, die für rathsam erachten alle dinge zu zählen, einmal auffordern in dürren zah- len zu ermitteln, wie viel tüchtige gelehrte aus schulen von grofsem, oder denen von geringem ruf, aus den leuchtenden anstalten unsrer gegenwart oder manchen dunklen vergangner zeit hervor gegangen sind. Auch hier, dünkt mich, würde mein glaube sich bewähren, dafs der trieb des lernens heftiger und wiksamer sei als der erfolg der lehre. Man hat aber die reiche, an und für sich voll genügende privatgelehrsamkeit ausgezeichneter lehrer zu unterscheiden von einer auf die gymnasiasten entweder nicht angewandten oder an ihnen verschwendeten. Ist es nun undenkbar, dafs die hohe begabt- heit eines meisters keine funken schlage an den schülern, die er behandelt; so erkläre ich mir das ausbleiben nachhaltiger wirkungen bei der gröfsten zahl derselben aus einem stillstehnbleiben vor der allzu gewaltig aufgetretnen lehre und aus einem mehr begeistert scheinenden als begeisterten schwören in die worte. ich halte den wahren enthusiasmus hoch, wo er nur herscht, doch der stille wachsthum des lernens, das gefühl innerer fortschritte scheint vorzugsweise abhängig von einem anspruchlosen zuschnitt der lehrgegen- stände, wodurch ich mir wenigstens deutlich zu machen suche, dafs aus ge- ringen gymnasien wie aus kleinen universitäten eine gleich ansehnliche wo nicht stärkere zahl gelehrter männer geschritten sei. denn beiderlei anstalten gewähren alle grade des wissens, deren ein lernender bedarf, und aus der finstere bricht das licht hervor.

Es sei noch eine bemerkung über die classischen philologen hier nicht zurück gehalten. vermöge ihrer vertrautheit mit dem alterthum der freiheit und einer unbevorzugten stellung der menschen an sich zu gethan sind sie gewis keine vertheidiger des heute unbeliebten, und es scheint fast entbehr- lich gewordnen adelstandes. wie geschieht es, dafs sie so gern einen philo- logischen stolz zeigen, der bessern grund hat als adelstolz, aber ihm doch vergleichbar ist? keine unter allen wissenschaften ist hochmütiger, vorneh- mer, streitsüchtiger als die philologie und gegen fehler unbarmherziger. Den mafsstab der schule, auf welcher grammatische verstöfse für die schimpflich- sten gelten und in andern aufgaben zurück zu bleiben entschuldigung findet, räth uns der zweck des eigentlichen lebens an bei seite zu legen und nach einer gleichmäfsigen gerechtigkeit und milde in allen dingen zu streben.

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DIE UNIVERSITÄT.

Von der niederen zur höheren schule besteht ein oft unmerklicher übergang, vom gymnasium zur universität kein fortgang, sondern ein sprung. beide anstalten sind fast in allem anders, und nicht zu geringem schaden aus- geschlagen ist es immer den gymnasien, wenn man sie zu universitätisch, den universitäten, wenn man sie zu gymnastisch einrichten wollte.

Natur und wesen der universität sind in geistreichen abhandlungen wie- derholt erörtert und so treffend beleuchtet worden, dafs ich mich auch hier kurz fassen will und nur einzelne beobachtungen zufüge. Die geschichte der letzten funfzig jahre wird bezeugen, dafs die universitäten immer ein heiliger herd der vaterlandsliebe wie deutscher gesinnung waren und blieben; wenn unsre feinde ihren ärger ausschütten wollen, so schelten sie unser edelstes streben professoren politik und studenten renommisterei, wir aber kümmern uns ibrer nicht und weichen keinen schritt vom rechten weg. das geschieht oft in der welt, dafs die aus erkenntnis hervor gehende, den nicht wissenden unglaubliche willenskraft unglimpf erleide.

Die universität hat ihren ersten im mittelalter empfangnen zuschnitt oder anstrich viel weniger verwunden als das gymnasium seinen scholasti- schen, von ihrer grundeinrichtung in facultäten an bis auf die allerjüngst, unbillig und dem zeitgeist zum ärger aus der plunderkammer hervor gelangte professorentracht.

Doch das meiste von diesem altfränkischen ist äufserlich und wird bald einmal ganz abgeworfen sein. innerlich haben sich die deutschen universitä- ten, den fremden gegenüber, frisch und in so sichtbarem fortschritt erhalten, dafs jene nebendinge ihnen keinen abbruch thun, und sie aus sich selbst im- mer neue kraft und lebensfähigkeit gewinnen.

Die universität, wenn schon zuerst entlehnt, ist eine eigenthümlich deutsche pflanzung geworden, die auf fremdem boden nicht mehr so gedeiht. hier treffen alle kennzeichen der deutschen volksart zusammen, innere lust zur wissenschaft, eifriges beharren, unmittelbares nie ermüdendes streben nach dem ziel mit hintansetzung

5 unvergleichliche combinationsgabe. aller andern lust vergessend sitzt der

eitler nebenrücksichten, treues erfassen,

deutsche gelehrte froh über seiner arbeit, dafs ihm die augen sich röthen und

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die knie schlottern (1); dem student ist dieselbe weise wie angeboren und es bedarf für ihn keines andern antriebs.

Dieser anregenden und empfänglichen universitätszeit, gleich als hör- ten sie nachher auf und dauerten nicht über das ganze leben hin, werden vorzugsweise studien beigelegt. gegen das alte wort student verhält sich aber das neue studierender fast wie zu schulmeister schullehrer. (?)

Die flut und ebbe der studenten auf der universität ist doch etwas an- ders als der schüler zu und abgang auf dem gymnasium. das halb unfrei- willige beugen unter die zucht des lehrers hat sich umgewandelt in ein ge- wählteres verhältnis, das auf beiden seiten entweder näher anziehen oder ferner abstofsen kann.

Mit wonne räumt der student die enge schulluft und tritt in sorglose, fast ungezügelte gesellenschaft, heimlich ahnend dafs hernach im leben dieser lust ein ende sei. die damals, gleich den auf der schulbank, geschlofsnen freundesbünde überdauern alle späteren, wie das gedächtnis des alters am festesten und liebsten haftet an dieser zeit.

Solche lust aber, solche aufheiterung brüderlichen zusammenwohnens, scheint es mir, herschte vorzugsweise auf kleineren universitäten und hat sich auf den grofsen schon gedämpft oder entfärbt, obschon hier andere, nicht gering anzuschlagende vortheile entsprungen und zeitgemäfs gesichert wor- den sind.

Der studierende jüngling fühlt sich plötzlich erstarkt und aller geistes- kräfte mächtig. sein verstand und scharfsinn sind um kein haar anders als der des mannes und greises; was ihm an übung abgeht und an erfahrenheit ver- güten heiterer sinn und frische der gedanken in reichem ersatz. mit der #2:- xia yaucu hat sich auch eine #04 vev, die zu mannesthaten befähigt, voll eingefunden. Erstaunenswerth, dafs der mensch zwanzig jahre nachdem er in die welt geboren wurde, den gesetzen des geistes und lebens nach zu spü- ren und die uralten bahnen der gestirne zu überrechnen vermag.

Mich hat, als ich jung war, manchmal verletzt, wenn man der er- wachsnen jugend an ihrem recht abziehen wollte, und nun ins alter getreten

(') Studierte, daz ime daz gebeine slotterte in siner hüt. myst. 210, 7.

(2) Ist doch student ein so deutliches participium von studere wie studierender von stu- dieren, und niemand sucht für docent, practicant, soldat ein vornehmeres docierender, practi- eierender, exercierender.

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fühle ich noch mit jugendlicher heftigkeit. diese jugend wird in allmälichem erwerb sich eine fülle von kenntnissen erringen und nachholen, an sich aber ist sie schon zu allen entschlüssen des willens, zu allen schlüssen der vernunft ausgestattet. Ich weifs, dafs die Spartaner erst mit dem dreifsigsten jahr auserzogen, und dafs nach einem volksscherz die Schwaben gar im vier- zigsten volle klugheit erlangten.

Mistrauische vorsicht in dingen, die von natur freien lauf haben sol- len, erreicht selten ihren zweck. ein grundübel unsrer zeit scheint mir das anhäufen wiederholter endloser prüfungen, wodurch sich der staat gegen den andrang der unwissenheit zu sichern und überall des besten habhaft zu wer- den glaubt. das erschwerte spiel macht er sich damit doch zu leicht.

Auf der schule mag man in besiimmten fristen die kraft der schüler öffentlich versuchen, weil daraus edler wetteifer entspringt und der knabe gewöhnt wird hervor zu treten und gewandtheit der rede sich anzueignen. sein talent zu wägen ist der lehrer fortwährend im stand und man kann sa- gen, dafs dieser beständig die ungezwungensten messungen mit ihm anstelle.

Verwerflicher scheint das den eingang der universität bedingende und erschwerende abiturientenexamen. Der gymnasiast mufs befugt sein end- lich die schule zu verlassen, von seinem abgang an lösen sich zwischen ihr und ihm die bande und welchen weg er nun einschlagen will steht in sei- ner wahl. Wie kirche und schauspiel dem eintretenden offen gehalten sind, sollte jedem jüngling das thor der universität aufgethan und ihm selbst über- lassen sein, allen nachtheil zu empfinden und zu tragen, wenn er unausge- rüstet in diese hallen getreten ist. denn die befähigung der menschen hat ihre eignen, stillen gänge und thut unerwartet sprünge; wie sollten alle glei- chen schritt halten, den der prüfung zwängendes mals fordert? den schlum- mernden funken kann die erste gehörte vorlesung oder eine der folgenden plötzlich wecken, und der bisher scheu und verschlossen gewesene thut es nun auf einmal denen weit zuvor, die ihn anfangs übertroffen hatten.

Vorausgesetzt werden mufs aber, wenn alles so beschaffen ist, wie es sein sollte, dafs jeder aus innerm trieb und für seine eigne ausbildung stu- diere, nicht um dadurch ein amt zu erwerben. Dringt einmal diese würdigere ansicht der studien und des lebens durch, so wird der staat selbst zuletzt seine ungebührlich vielen dienste verringern dürfen und der wissenschaft ihre ganze uneigennützigkeit zurück gegeben werden. Bei der anmeldung

über schule universität academie. 177

zum amt mag die ernsteste prüfung den ausschlag thun, der durchfallende aber desto leichter eine andre lebensart ergreifen, als er sich den des dien- stes überhaupt nicht begehrenden anreihen kann. Mit der einen prüfung sollte es jedoch sein bewenden haben, und nicht, wie zu priestergraden, eine zweite und dritte, immer unöffentlich unter vier wänden erfolgende nach verlangt werden, die nur erhitzte vorbereitungen und treibhausfrüchte zu erzeugen pflegt, welche unreif abfallen, nachdem das examen bestan- den ist, also der innern echten triebkraft unvermerkten abbruch thun.

Unschädlicher allein fast zwecklos sind die im lauf der studienzeit geforderten zeugnisse über besuch der vorlesungen; verderblich alle ertheil- ten vorschriften über den besuch unumgänglicher vorlesungen, wodurch die andern zu gleichgültigen oder unnöthigen herabgesetzt werden, denn nichts wissenschaftliches ist an seiner rechten stelle ohne innere nothwendigkeit, und die auswahl mufs den studierenden, oder dem beispiel und einer sich von selbst einfindenden, nicht zu greifenden aber zu fühlenden autorität der lehrer in bezug auf die güte ihrer vorträge ruhig überlassen bleiben. Der mensch hat auch ein recht darauf mit unter faul zu sein oder zu scheinen, und sich, wie er will, gehn zu lassen, oder über die wahl eines lehrers oder seine eigne neigung gänzlich zu teuschen. das alles ist seine sache, nicht die anderer, und soll ihm nicht nachgetragen werden.

Der professor mag beim bestimmen seiner vorlesungen an eine abrede mit seinen genossen, oder einen hergebrachten wechsel gebunden sein; ihr inneres wird er frei und unabhängig nach seinem gutdünken gestalten.

Was wollen hier alle engherzigen gesetze? sie meinen das schlechte auszuscheiden, begünstigen eigentlich nur das mittelgut und sperren dem höheren oft ohne noth und ärgerlich den weg. das genie sprudelt wie ein brünnlein an verborgner stelle und seine niedergänge und steige weifs doch niemand.

Zum wesen der universitäten gehört, dafs auf ihnen alle wissenschaf- ten zulässig seien, (!) was durch die vier facultäten freilich nur unvoll- ständig bezeichnet werden kann. offenbar ist solches nebeneinanderwirken der wissenschaften ungemein belebend und für professoren wie studenten höchst fördersam;, unerwartete berührungen brechen daraus von allen seiten

(') Dat mene studium. Detmar 2, 506.

Philos. - histor. Kl. 1849. Z

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hervor und können alsogleich verfolgt werden. Universitäten, die, wie in Frankreich, einzelne zweige der wissenschaft ausschliefsen, arten in blofse Sorbonnen, rechtsschulen, arzneischulen aus.

Unter den facultäten wies das mittelalter, wie sich von selbst versteht, der theologischen den ersten rang an, welchen sie auch bei den protestanten nicht ohne versuch einer oberaufsicht über die andern fort behauptete. noch heute ist auf catholischen universitäten diese stellung und damit eine gewisse herschaft der kirche unbeseitigt. Allen zeitgemäfsen umwandlungen der universitäten in England stemmt sich die theologische facultät immer hart- näckig entgegen.

In jeder der drei ersten facultäten tauchen practische zwecke auf, die der vierten, und darum wissenschaftlich mächtigsten fremd bleiben, in welchen vorzug ich nachher noch näher eingehen werde. Theologische pro- fessoren können zugleich einem predigamt in der kirche vorstehen, die juri- stische facultät fafst in schwebenden rechtsstreiten ihre vor gericht gültigen urtheile ab und noch deutlicher tritt in der medicinischen eine practische bestimmung auf, da alle professoren auch kranke heilen dürfen, was wört- lich practicieren heifst. Dafs einzelne übertritte ausgezeichneter gymnasial- lehrer zur universität stattfinden ist vielleicht nichts als bequemer misbrauch. entweder sollten diese männer von hervorleuchtendem talent der universität ganz gewonnen und aller last der schule entbunden, oder des gelockerten schulverbandes dadurch nicht ungewohnt und überdrüfsig werden, dafs sie auch die gröfsere unabhängigkeit der universität schmecken.

Fruchtbringend und glücklich scheint die einrichtung der privat- docentenschaft, ein freier eingang zur professur, wodurch junge männer sich vortreflich bilden, erzeigen und auszeichnen können. Sollte der staat seine professoren blofs aus schriftstellern, die in der lehre vielleicht ganz ungeübt sind, wählen, er würde oft in verlegenheit geraten und straucheln. der pri- vatdocent ist ein selbstwachsener professor, und nicht übel wäre, dafs auch in andern ämtern beständiger nachwuchs junger leute unverhinderten zutritt fände, ohne dafs die schwächeren und unanstelligen unter ihnen befördert zu werden brauchten.

Die wahl der professoren überhaupt hat aber der staat nicht aus seiner hand zu lassen, da collegialischen, von der facultät vorgenommnen wahlen die allermeiste erfahrung widerstreitet. Selbst über reingestimmte, redliche

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männer äufsert die scheu vor nebenbuhlern im amt eine gewisse gewalt. Die universitäten haben sich unter curatelen oft ausgezeichnet wol, unter dem einflufs anwesender regierungsbevollmächtigter immer übel befunden. Aus- wärtige gelehrte und professoren können sich ohne gefahr dem curator melden, wogegen jeder antrag bei wahlberechtigten facultäten bedenklich erschiene.

Auf universitäten weht durchgehends gelehrte luft, eine dünnere als in der es einsamen und stillen dienern der wissenschaft wol wird, an die man sich doch bald, nicht ohne das gefühl innerer stärkung, gewöhnt. es herscht da eine ansehnliche buchgelehrsamkeit, die sich hebt und fortirägt, aber un- gewöhnliche arbeiten, ehe sie geltung erlangt haben, vorläufig abweist. uni- versitäten sind gartenanlagen, die ungern etwas wild wachsen lassen. Unter diesem gesichtspunct sagen sie der regierung aufs höchste zu und es wird ihnen, wie begünstigten kindern, oft durch die finger gesehen; nur nicht die jüngste zeit her.

In unsern tagen sind die grofsen universitäten den academien in einige hauptstädte nachgezogen und haben eine engere verknüpfung beider anstalten entweder schon hervorgebracht, oder lassen sie voraussehen; doch steht zu hoffen, dafs auch die kleinen halbländlichen universitäten sich daneben be- haupten werden. An dieser stelle lenkt sich meine betrachtung unmittelbar

auf ihren dritten gegenstand,

DIE ACADEMIE.

Das wesen der academie, glaube ich, hat sich, und man begreift warum, erst viel unvollständiger entfaltet als das jener andern wissenschaft- lichen anstalten. es wird sich, triegen die zeichen nicht, in der zukunft mehr luft machen.

Ihr name reicht auf die Griechen zurück, ist aber nicht von diesen selbst entlehnt, sondern aus Italien und Frankreich her uns zugeliefert wor- den, und bezeichnet auch eine ganz andre vorstellung als die man zu Platons zeit damit verband. Zwar hatte gerade unter dem namen einer platonischen academie schon im 15 Jahrhundert Cosmo von Medici zu Florenz eine geistige anstalt eröfnet, deren wirkungen nicht von dauer waren, als Italien aufhörte mittelpunkt der gelehrsamkeit zu sein und die grofse kirchenbewegung Frank- reich und Deutschland in den vordergrund rückte. Die im laufe des 17 jahrh. auftauchenden, von jenem muster ganz abgefallnen italienischen academien

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regten auch anderwärts nur zu geistlosen, mit der gelehrsamkeit spielenden gesellschaften voll tödlicher langweile an, bis endlich Ludwig des XIV (von Richelieu 1635 gestiftete, schon seit 1629 als privatverein hervorgegangne) academie besser und stärker anschlug, denn nun wollten gleich ihm andere fürsten und könige ihre academien einführen und unterhalten. Alle deut- schen academien haben höfischen ursprung und französischen zuschnitt, wäh- rend jene nach italienischem muster voraus gegangnen nur privatgesellschaf- ten, wiewol vorherschend der gebildeten und vornehmen welt waren. All- mälich haben die höfe der gelehrten überdrüfsig den geschmack an der academie wieder verloren, wofür sich ein nationales ihre fortdauer verbür- gendes element in ihnen kund that. Den academien kommt zu statten, dafs sich der zeitgeist längst und immer stärker zu vereinen hinneigt, deren unmit- telbare thätigkeit von natur wärmer ist, als sie der staat aus seinen mitteln an zu fachen oder zu nähren vermag oder auch immer lust hat. Spanien und Frankreich ertragen nur eine einzige academie, wir in folge unsrer zerrissen- heit, und Italien aus gleicher ursache, besitzen ihrer eine ziemliche und fast überflüssige anzahl.

Man mufs es eingestehen, dafs auch auf der höhe nationaler academien tonangebend immer noch die französische stehe und und unter allen die ein- flufsreichste sei; niemand in Frankreich wird ihr einen rang streitig machen, der sie über alle französischen universitäten erhebt. In England dagegen hat die academische thätigkeit weniger tief gewurzelt und die universität mehr ansehen behauptet.

Ich wende meinen blick auch hier von allen fremden vorbildern ab und suche in das innere wesen der academien, wie es sich nun in Deutsch- land klarer bestimmt und festgesetzt hat, zu dringen.

Sie sind freie unabhängig gestellte vereine von gelehrten männern an der spitze der wissenschaft; über ihnen schweben kann nur die unmefsbare geistesgröfse einzelner, auch im wissen und in der erkenntnis voran gehen- der menschen.

Schon weil jüngerer stiftung sind sie kirchlichem einflufs, selbst in catholischen ländern entzogen, welche versuche auch gemacht worden seien ihm geltung zu bereiten. Doch getraue ich mir in einem punct, über welchen hinaus das gleichnis alsbald hinken würde, sie mit einer richtung des kirch- lichen lebens selbst zu vergleichen. es zieht an, unter den verschiedensten

über schule universität academie. 181

umständen, ja ohne irgend nachweisbaren zusammenhang zu gewahren, wie sich das geistige bedürfnis der menschen auf seinen wegen dennoch begegnet.

Jede academie ohne zweifel wird eine zahl von amtlosen männern auf zuweisen haben, die nicht des lernens, vielleicht der lehre müde in sie, wie in einen hafen, eingelaufen sind. So nahm im mittelalter auch die klösterliche mauer mönche auf, die dort in geselligkeit ihrer inneren pflicht ernster und strenger oblagen, als sie es aufserhalb im gewühl der welt gekonnt hätten. Die geringere zahl der klosterleute steht der menge anderer cleriker, die in der kirche practisch unterweisen gegenüber; die gröfsere wirksamkeit der welt- geistlichen und bischöfe gleicht also einigermalsen der der schullehrer und pro- fessoren. doch die wissenschaft jener zeit hatte ihren hauptsitz im kloster auf- geschlagen. Mit dieser äbnlichkeit will ich weder die academiker ihrer welt- kindschaft entheben noch die wissenschaft irgend in die academie einschränken.

Die academie hat einen turnus, keinen cursus, eine freie reihefolge, keinen unaussetzbaren lehrgang, und ist der zwar festigenden und anregen- den wiederholung überhoben, die, wie ich schon oben sagte, zur last werden und zu pedantischem mechanismus sich ertödten kann. Ein lesender oder lernender thut es aus innerm trieb oder bedürfnis, dafs er mehr als einmal lese, das lectio lecta placet, decies repetita placebit ist auf ihn gerecht, we- niger auf den lehrenden. Des schulmeisters halbjährliche rückkehr immer zu demselben gegenstand bleibt, weil er auf den ihm aufsagenden und ant- wortenden schüler alsbald einwirkt, insofern lebendiger als des professors vortrag auf den stumm hörenden studenten; gleichwol besteht zwischen bei- den die analogie einer auf ansehen ausgehenden und sich beim schüler oder studenten geltend machenden autorität. (1!) Der academiker hingegen, wie jedesmal er selbst anderes vorträgt, hört auch nur immer anderes vortragen, das nie als lehre, nur als mittheilung auf ihn eindringt; dem wesen der academie nach wird wissenschaftliches frei gegeben, frei genommen.

Aller auffallendste eigenheit der academien scheint mir der drei ersten facultäten ausschlufs, nur die wissenschaften vierter facultät 'gehören ihnen an. Vorhin wurde die allgemeinheit der universitäten ihrem vollen werth

(') Der alte Reuls zu Göttingen pllegte seiner collegen, die sich wegen zu haltender vor- lesungen theilweise der bibliothek entzogen, zu spotten, und zu sagen, dals sie den schul- meister machen wollten; er selbst hatte nie vor studenten gestanden, noch wäre er dazu fähig gewesen.

182 Jacos Grimm“

nach anerkannt, und auf den ersten blick erscheint der abgang der drei ersten facultäten in der academie ein nachtheil; er wird sich bei genauerer betrach- tung als ein vorzug erweisen.

Wenn unser statut die academie verweist auf „die allgemeinen wissen- schaften”, so will das nichts anderes bedeuten als jene beschränkung. Mir entgeht, ob dieser ausdruck, wie ich vermute, einem „sciences universelles” abgeborgt ist, man hätte die älteren reglements de l!’academie nachzuschlagen. doch das jetzt gültige Pariser meidet ihn und zählt deutlicher alle einzelnen der academie zuständigen wissenschaften auf, unter welchen nicht das ge- ringste von theologie, jurisprudenz und medicin erwähnt wird. Auch in allen übrigen mir bekannten academien, den jüngstgestifteten zumal, finden sich diese drei wissenschaften nie als bestandtheil genannt.

Ihre absonderung kann nicht so gemeint sein, dafs theologen, juristen, ärzte persönlich ausgeschlossen seien; in unserm kreise gerade verehren wir vorragende männer dieser drei ersten facultäten als höchst thätige mitglieder. blofs ihre facultätswissenschaft als solche ist es, die unacademisch erscheint. Wir besitzen eine physicalischmathematische und philosophischhistorische classe, keine theologische, juristische, medieinische. In unsern denkschrif- ten gibt es nur physicalische, mathematische, philologischhistorische ab- handlungen; von ausbildung der philologie war unmittelbar auch die fran- zösische academie ausgegangen und andere wissenschaften hatten sich allmälich angereiht.

Es leuchtet ein, dafs jene drei facultätswissenschaften keine sind noch sein können im sinne der academischen. Entkleidet man sie dessen, was in ihnen schon andern wissenschaften angehört, so bleibt ihnen eine feste, un- bewegliche satzung zurück, die bei noch so hohem werthe wissenschaftliches gehalts ermangelt. Man nehme der theologie kirchengeschichte, orientalische und classische sprachstudien und moral, welche bereits stücke der historie, philologie und philosophie sind, oder der jurisprudenz ihre überreiche rechts- geschichte, die einen glänzenden theil aller und jeder geschichtsforschung bildet, und deren gegensatz das naturrecht; so sieht sich der theolog auf sein dogma, der rechtsgelehrte auf sein ständiges gesetzbuch gewiesen, denen sie beide geltung verschaffen möchten und die nur der lehre, nicht mehr des unendlichen forschens bedürfen. Die heilkunde fordert zur erkenntnis der krankheiten und arzneien umfassende studien in der naturgeschichte und

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chemie; allein der sie ausübende arzt unterscheidet sich von dem wissen- schaftlichen naturforscher, wie das studium der anatomie weit über den bedarf des chirurgen hinaus zu hohen ergebnissen führt. Die ergründung der gestörten gesundheit und die kunst sie herzustellen ist durch jene wis- senschaften bedingt, ungefähr wie die kriegskunst in mathematik, geographie und geschichte, die politik in philosophie und geschichte schöpfen. Hieraus folgt, dafs die drei ersten facultäten keine neuen wissenschaftlichen gesetze entfalten, nur die geltenden anwenden.

Das forschen nannte ich ein unendliches, es mufs so endlos sein wie der sich über uns dehnende raum, in dessen unermessene fernen wir immer weiter vordringen. Jede wissenschaft ist ein sich wölbender tempel, am giebel aber bleibt eine öfnung, die nicht kann zugemauert werden, gleichsam ein anblick des menschlichen augen undurchdringbaren himmels. man könnte der philosophie, die kühne bauten aufführt, vorhalten, dafs sie der theolo- gie nachgebend jenes giebelloch öfter als es ihr frommte zu schliefsen unter- nommen hat. In keiner einzigen wissenschaft stimmen theorie und praxis so edel und sicher zusammen wie in der astronomie und mathematik; die phi- lologie ist fast nur theorie, ohne lebendige praxis, womit blofs eine wis- senschaftliche, nicht eine solche gemeint sein kann, die beim lehren und lernen alter oder neuer sprachen gewöhnlich stattfindet, und sich oft eine grofse fertigkeit zu eigen gemacht haben mag.

Gehe ich nun auf die academischen obliegenheiten und leistungen näher ein, so kann wesentliche aufgabe und zweck der academie kein andrer sein, als, wie ein mächtiges schif die hohe see, die höhe der wissenschaft zu halten, und in tonangebenden, schöpferischen vorträgen und mittheilungen alle auftauchenden spitzen der forschung neu und frisch hervor zu heben und weiter zu verbreiten. Da keine wissenschaft erschöpft oder erschöpflich ist, so wird an jeder stelle, wo man in sie eindringe, gewinn aus ihr erbeu- tet werden, wie aus dem boden, wo man in ihn senke, quellendes wasser zu ziehen ist. Bei jedem wissenschaftlich arbeitenden soll sich aber ein untrügliches gefühl einfinden für die unterscheidung dessen was abgethan und erledigt sei von dem was sich vorbereitet habe und in raschen angrif ge- nommen werden müsse: hier und nicht dort ist die kraft anzusetzen.

Nach einer wolthätig zwingenden reihe, die doch nie so feststeht, dafs nicht änderungen verabredet werden könnten, sieht jedes mitglied der

184 Jacog Grimm

academie im voraus langsam den tag nahen, an welchem ihm einmal, höch- stens zweimal jährlich auferlegt ist eine umfassendere abhandlung vorzutra- gen, während ihm unbenommen bleibt mit minder ausgearbeiteten, kleineren in jeder wöchentlichen zusammenkunft aufzutreten. Allen abhandlungen aber, da sie gar nicht lehrhaft und populär sein sollen, gebührt streng wis- senschaftliche form, wobei nicht einmal auf verständlichmachung der gegen- stände für die verschiedenen classen der academie selbst bedacht zu nehmen ist. Zu ihrem nicht geringen nutzen erfahren nemlich die mitglieder, dafs auch an fremdliegenden stoffen mindestens durch das beispiel der behand- lung zu lernen sei und allenthalben früher nicht geahnte analogien sich er- geben können. Vorträge, die unter den gefrierpunct der aufmerksamkeit fielen, sind darum fast nicht denkbar, oder es wäre ein zeichen, dafs sie völlig fehlgegriffen hätten. Keinen bestimmten academischen stil gibt es, nur einen solchen der in die sache dringt, und alles rhetorische wird eben dadurch ferngehalten, dafs ein ruhiges vorlesen beinahe druckfertiger ab- handlungen wenigstens die regel bildet.

Als die gelungensten erscheinen solche vorlesungen, welche nicht in ein bereits ausgedachtes werk sich fügen, oder ein schon bekannt gemachtes blofs erg

5 material zu wissenschaftlichem gebrauch fruchtbar darlegen. Unacademisch

änzen, vielmehr keime neuer, künftiger werke in sich tragen oder reiches

hingegen würde es sein als beitrag zu entrichten was ohnehin in fertigen bü- chern bald heraus zu kommen bestimmt ist, es sei denn dafs durch dessen vorlage einzelne erhebliche betrachtungen auf die wage gelegt oder geschärft werden sollen.

Sich wenigstens wöchentlich zu versammeln hat sich als nothwendig bewährt, damit die theilnahme in längeren fristen nicht erkalte und raum für die manigfaltigkeit der vorträge gewonnen werde, die bei seltneren zusam- menkünften zurückstehn oder allzulangen aufschub erfahren müsten.

Aus derselben ursache und um mit dem publicum in regere berührung zu treten oder die schon eingetretne für die academie selbst nicht veralten zu lassen scheint auch eine unausgesetzte schnelle herausgabe der academi- schen abhandlungen wünschenswerth; dafs sie in dem jahr, wo sie gelesen werden, erfolgen kann, zeigt uns England. unabhängig von der bleibenden güte solcher abhandlungen steigt in ihnen, wie bei eingegossenem getränk

ein augenblicklicher schaum ihrer geistigsten bestandtheile auf, den es zu

über schule universität academie. 185

kosten freut, und der nach einiger zeit schon verflogen ist. Meinem gefühl nach dürfte ihrer bekanntmachung nicht die leiseste, immer verletzende cen- sur vorausgehn, sondern jeder academiker darauf ein recht haben, seine vorgelesene arbeit, wenn er will, und es nicht für gut findet sie bei sich zu halten, in den denkschriften der academie erscheinen zu lassen. dadurch dafs die academie den einzelnen in ihren schofs wählte, drückt sie zugleich ein unbegrenztes vertrauen in seine befähigung aus, das durch jene aufsicht geschmälert oder versehrt erschiene. schwächere oder unreife arbeiten wer- den von selbst darauf bedacht sein sich zurück zu ziehen. Noch nachtheiliger wirkt jede rücksicht der einschränkung jährlich zu veröffentlichender vorträge auf die bestimmte stärke eines zu füllenden bandes; denn ist stof zu mehr bänden vorhanden, desto besser, und der dadurch erhöhte aufwand kann nicht in betracht kommen, weil es sich hier um den wesentlichen zweck der academie handelt, von dem ihre wirksamkeit hauptsächlich abhängt.

Den verkehr unterhalten monatliche berichte desto sicherer, wenn ihnen gleichmäfsige iheilnahme von allen seiten der academie zu statten kommt und nicht eine oder die andere richtung darin überwiegt. Auch diese berichte könnten vortheilhaft auf mehrere bände im jahrgang erhöht werden, und das rechte verhältnis zwischen dem was ihnen oder den abhandlungen ge- bührt, mufs sich von selbst ergeben, sobald letztere rascher heraus kommen.

Ohne zweifel wäre den meisten mitgliedern willkommen, dafs jedesmal acht tage vorher im sitzungssal angeschlagen würde, wer wirklich vorlesen wird und über welchen gegenstand. Es ist angenehm einen vortrag zu hören, auf den man sich zugerüstet hat, oder ihm, wenn er uns gar nichts verspricht, auszuweichen. Auch können sich dann leicht erörterungen entspinnen, die unvorbereitet in der regel abgeschnitten sind. Nachlässiger besuch, so we- nig das ausbleiben an sich gehindert sein soll, bringt dem academischen leben immer schaden, weil darunter die lebendige theilnahme leidet und aller zu- sammenhang unterbrochen wird.

Löblich wäre die nachahmung der französischen gewohnheit, das an- denken an verstorbene mitglieder feierlicher zu begehn, als es in unsern öffentlichen sitzungen zu geschehen pflegt, da durch langjährigen verkehr mit denselben die academie leichter als andre in den stand gesetzt ist nach- richten zu erkunden, die sonst untergehn. Doch ist uns dafür, wie die vorzeit ewige leuchten über gräbern stiftete, alljährlich auferlegt, einen

Philos.-histor. Kl. 1849. Aa

186 Jacos Grimm

grofsen mann und einen grofsen könig zu feiern, deren werke und thaten unversiegenden grund des preises darbieten.

Mit recht sind diese festtage öffentlich, denn aufserdem soll und kann die academie nicht populär werden in dem sinn, dafs sie die feinsten spitzen ihrer untersuchung abzubrechen hätte einem gemischten und: mittleren ver- ständnis zu gefallen, das ohne innern beruf vorlaut sich gern heran drängt. Die wissenschaft hat kein geheimnis und doch ihre heimlichkeit, sie mag nicht oft auf der grofsen heerstrafse weilen, sondern lieber sich in alle wege, pfade und steige ausdehnen, die ihr neue aussichten öfnen, wo ihr jedes geleit zur last wird. in der ebene treibt sich das gewühl der menge, anhöhen und berge werden immer nur von wenigen erklommen. Erfolglos haben wir darum, wie mich bedünkt, einem unbefugten verlangen statt gegeben und stüle gestellt, auf welche der staub sich nieder setzen kann, weil sie von niemanden eingenommen werden. In die hörsäle der universität mag jeder gast unangemeldet eintreten, der academischen beschäftigung sollten nur die jedesmal eingeführten dürfen beiwohnen. Dagegen unterscheidet von der universität die academie sich auch darin, dafs sie mit dem entlegensten aus- land fördernden verkehr und austausch unterhält, zumal sind es astronomie und naturforschung die so weit in die ferne reichen müssen, dafs sie das vaterland ganz aus dem auge verlieren, geschichte und philologie, obschon auch ausholend, versäumen die heimat am wenigsten.

Hiermit ist die eigentliche und innere thätigkeit der academie an sich selbst umschrieben; es pflegen aber noch zwei andre wirksamkeiten vorzugs- weise von ihr auszugehn, denen ein ausgezeichneter werth nicht abgesprochen werden kann. Einmal werden wissenschaftliche reisen oder kostspielige gröfsere werke einzelner gelehrten durch ihre geldmittel unterstützt und her- ausgegeben, dann aber über schwierige fragen der wissenschaft preise gestellt und den siegreichen bewerbern zuerkannt. Es scheint an sich angemessen und ist auch althergebracht durch solche preise die aufmerksamkeit auf un- erhellte und mühsam erforschbare puncte der einzelnen wissenschaften zu leiten und deren beseitigung zu veranlassen. man wird gleichwol academische strengwissenschaftliche preisaufgaben unterscheiden müssen von den auch auf der universität dem wetteifer der jünglinge ausgesetzten, bei welchen es noch mehr auf deren übung als auf den gegenstand selbst abgesehen ist, wenn schon diesem dadurch oft ein unerwarteter dienst geleistet wird. Preisfragen

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der zweiten art mögen es auch an zweckmäfsigkeit und wahrem nutzen den academischen zuvor thun, wider welche sich manches bedenken aussprechen läfst. Ungeübten jünglingen ziemt es nach einem äufsern lohn zu ringen, da- gegen hat es etwas niederschlagendes sich der lösung einer weittragenden aufgabe erst dann und nur darum zu unterziehen, wenn ein gewinn daran geknüpft ist. der wahre entschlufs zu ihr sollte von innen aufgestiegen sein und würde einmal zu fruchtbaren ergebnissen gelangt diesen auf den viel- fachen unsrer literatur nunmehr offen stehenden wegen auch luft gemacht haben. Überall ist es leichter zu fragen als zu antworten, und die der preis- aufgabe beigefügte richtschnur scheint, wie geschickt erwogen, wie fein über- legt sie sei, dennoch fähig die freie unbefangne untersuchung mehr zu fesseln und zu hemmen, als förderlich zu erleichtern. der eigenthümlichkeit des bewerbers hätte es etwa zugesagt, einige seiten des gegenstandes, die hervor gehoben sind, liegen zu lassen oder liegen gelassene hervor zu heben, und dieser zwang hat auf seine ganze arbeit nachtheiligen einflufs. So geschieht es denn oft, dafs entweder zu viel aufgegeben oder von der aufgabe die wahre endweite der forschung, die erst aus dieser selbst erwachsen kann, unerkannt geblieben ist. Für das urtheil, zumal ein collegialisches urtheil über die eingelaufne werbeschrift entspringen aber eigenthümliche verlegen- heiten. sie geht zu ende der gesetzten frist plötzlich ein und überfällt den mitten in andern arbeiten steckenden aufgabesteller, der sie nun zu be- gutachten und seine entscheidung den übrigen mitgliedern vorzulegen hat, die ihr in gleicher unmulfse meistens beipflichten, so dafs einzelne abweich- ungen des urtheils durch die mehrheit im voraus abgestimmt und verworfen sind. auf die entscheidung selbst pflegt aber höchst menschlich nicht nur ein gefühl des schonens für das dargebrachte einzufliefsen und die gute absicht den bewerber, der nicht ohne einige vortheilhafte seiten erscheinen wird, zu ermuntern, sondern auch die unangenehme empfindung einer sonst un- angerührt bleibenden aufgabe, wie man dem handwerker eine bestellte arbeit abnimmt, die man von freien stücken nie gekauft hätte. dazu kommt endlich, dafs ein angewiesner fonds vorrätig liegt, den man nicht unverwandt lassen und los sein möchte. Überlege ich uneingenommen alle diese freilich hier grell zusammengestellten und im besondern fall vielfach gemilderten übel- stände, so ergibt sich mir die ansicht, dafs academische preisaufgaben auf- gehört haben zeitgemäfs zu sein und an ihre stelle wol etwas heilsameres

Aa?

188 Jıcog Grimm

treten könnte. Weit schöner und edler scheint es einen lohn zu empfangen, um den man nicht geworben, als um den man geworben hat. Triftige und geistvolle forschungen treten schon, ohne dafs es nöthig wäre, sie hervor zu locken, von selbst ans licht und die academie kann nicht umhin ihrer bald zu gewahren. erkenne sie von zeit zu zeit, ohne durch bestimmte fristen dabei sich zwang anzulegen, in besonnener, gerechter würdigung des sich kund gebenden verdienstes, munera, nicht mehr pretia, ehrende zeichen ihres anerkenntnisses, die wie ein leuchtender strahl auf das haupt des aus- gezeichneten sich niedersenken, und auch ihr eignes ansehn wird durch sol- che aussprüche vor der gelehrten welt und dem volke dauernd steigen, wäh- rend die erinnerung zuerkannter preise schnell vergeht.

Es bleibt mir übrig die wichtigste, ich gestehe auch schwierigste ange- legenheit der academie, ohne rückhalt, zur sprache zu bringen, die der erneuerung und ergänzung ihrer abgänge, worauf nicht allein ihre ganze zu- kunft, sondern eben auch ein erhöhter und fortschreitender wachsthum beruben mufs. ist es unleugbar, dafs die academien im stand ihrer gegen- wärtigen entfaltung noch nicht wirksam genug sind, gleichwol alle keime einer zweiten oder dritten wiedergeburt in sich tragen, um desto offenbarer ihre gebührende und heilsame stelle an der spitze der wissenschaft einzu- nehmen; so fällt in die augen, dieser gröfsere zweck müsse und könne we- niger durch ihre zum beispiel und zur bürgschaft gereichende thätigkeit, als durch die freie und ungehemmte wahl neu zutretender mitglieder erreicht werden. An den höheren schulen und universitäten sahen wir die beste und tauglichste ergänzung durch den staat selbst geschehen, der leicht ein sicheres augenmerk für die ersatzmänner gewinnt und selbst auf erfolgende anmel- dungen einzugehn sich bewogen finden wird. die gesamte stellung der aca- demie hingegen gründet sich wesentlich und unerläfslich auf gesellschaftliche wahl, die wenn sie im weiten kreise umschauen kann, fast nicht irre geht. diese wahl ist ein aus schwankender meinungsverschiedenheit zur einstim- mung der mehrheit durchgedrungnes erbieten, das den gewählten gleich einer angethanen ehre überraschen, gleich einem unerwarteten gruls erfreuen mufs. Anträge und meldungen von seiten des candidaten, wie sie zu Paris statt- finden oder in Östreich für einige ordensverleihungen, scheinen unangemes- sen: sie heben die wolthat ganz freier ernennungen auf, hinterlassen dem

5 durchgefallnen verdrufs oder können auf die unparteilichkeit der handlung

über schule universität academie. 189

nachtheilig wirken, weil eine ablehnung des antrags als härte, der man gern ausweicht, erscheinen würde. Keine bedeutende fähigkeit wird dem ge- schärften blicke vieler und kundiger wähler entgehen; dafs wir in unsrer academie bei vornahme der wahlen ordentlicher mitglieder auf die hauptstadt und die nähe Berlins beengt sind, mufs für einen empfindlichen übelstand gelten, den die uneingeschränkte wahl auswärtiger mitglieder und correspon- denten lange nicht aufwiegt. unter örtlichen rücksichten oder landschaft- lichen bedingungen mögen besondere gesellschaften nicht verkümmern, sogar gedeihen; einer academie der wissenschaften schadet, dafs ihre freie wahl nicht einmal auf alle Preufsen, geschweige auf alle Deutschen gehn kann, wie es doch längst hergebracht und bewährt ist, lücken der universität aus dem gesammten Deutschland her zu füllen. Erforderlich aber wäre, dafs dann auch die mittel der academie ausreichten, um allen erwählten, ohne den zwischentritt andrer zugleich übernommner ämter ihre äufsere stellung und die ganze ruhe der arbeit zu sichern.

Dafs einmal solche schranke falle, hat der verlauf der zeit im stillen, die anders gewordne öffentliche stimmung durch mehr als ein lautes zeichen schon eingeleitet. wenn, was niemand leugnet, die wissenschaft selbst allen Deutschen gemeinschaftlich ist, wie sollten deren vertreter es nicht sein? würde jede wissenschaftliche academie des ihr anklebenden örtlichen ledig, so könnte sie die anhänglichkeit an unser grofses, aus langen geburtswehen, wie alle guten hoffen, endlich erstehendes vaterland wärmer hegen und näh- ren. Erst eine deutsche academie, dann das reinste bild unsrer wissenschaft, würde mit ganz anderm gewicht einer fremden nationalacademie gegenüber stehn, als jetzt unsre, gleich uns selbst, zersprengten academien miteinander.

In der menschlichen seele glimmen alle wissenschaften und können unmittelbar aus ihr zur flamme aufschlagen. aber der genügsamen beschau- lichkeit indischer waldeinsiedler hat sich die welt längst entrückt und unab- lässig gestrebt ein aus der vorfahren hand empfangnes, in sich wucherndes erbe der hand der nachkommen zu überliefern, wie es nur durch eine frei und unabhängig waltende, vollkommen tolerante, gesellige doctrin und selbst- leitung geschieht, möge sie academie zu heifsen fortfahren, oder zu höherer entfaltung ihrer ziele emporgetragen sich auch einen neuen namen finden.

Die gedanken des verfassers, wie man erwarten kann, diesmal zunächst bei der academie stehend musten von ihr auf die universität, von der univer-

190 Jaıcos Grimm über schule universität academie.

sität auf die schule zurück gleiten, haben sich jedoch in umgedrehter ordnung entwickelt. er bescheidet sich sie unbefangen, ohne alle absicht auf den be- stand der gegenwart irgendwie einwirken zu wollen, mitgetheilt zu haben und stellt sie künftigen und späteren lesern sogar lieber als heutigen anheim. auch ist in der kurzen zeit, dafs er diese worte gesprochen hat und nun zu drucke gibt, unsre öffentliche lage noch schlimmer und düsterer geworden, und selbst dem an ihr nicht verzweifelnden müssen die nächsten forderungen und begehren der wissenschaft jetzt als wünsche in die ferne treten.

IR

ÜBER DAS VERBRENNEN DER LEICHEN

V von herrn JACOB GRIMM.

nur

[gelesen am 29. nov. 1849.]

Mitten im geräusch und in der arbeit des lebens werden wir allenthalben an seinen ausgang gemahnt, dessen ernster betrachtung unser nachdenken nicht ausweichen kann; nur kurze schnell vorbei rauschende zeit und wir sind selbst unter dem grofsen heer versammelt, in das jeder einrücken mufs und von wannen keiner wiederkehrt.

Vor den todten empfindet der mensch ein grauen. mit dem ausge- stofsnen letzten athem sind sie uns abgeschieden und einem fremden unbe- kannten land anheim gefallen, das alle festhält; der erkaltete leib beginnt sich aus seiner fuge zu lösen und unaufhaltsam zu zerstören. Zwar pflegt den ersten tag oder die erste nacht nach dem tode noch einmal des verstorb- nen antlitz sich abzuklären und was der schwere kampf verzerrt hatte, rein und ruhig aus zu prägen (1); bald aber melden sich alle boten der verwe- sung, und der leiche anblick und dunst werden unerträglich. den meisten völkern galt wer sie anrührte, wie das haus, worin sie liegt, für verunreinigt und schon um der lebenden willen ist es geboten sie bei seite zu schaffen. Selbst unter den thieren, die sonst für den tod von ihres gleichen gefühllos scheinen, sollen die, deren haushalt dem menschlichen ähnelt, uns hier ent- weder nachahmen oder vorbild geben. ich ziehe Virgils schöne worte von den bienen an (Georg. 4, 255):

tum corpora luce carentum exportant tectis et tristia funera ducunt,

(') Wie die gebrochne blume fortglänzt und duftet: cui neque fulgor adhuc, nec dum sua forma recessit.

1923 Jacog Grimm

und was Plinius den ameisen nachsagt: sepeliunt inter se viventium solae praeter hominem.

Nur die rohsten grausamsten menschen könnten es über sich gewinnen ihre todten offen auf das gefilde zu legen, wo sie den wölfen und vögeln zur beute würden. das sprechen die dichter blofs als herbes geschick der ge- fallnen, (!) als drohenden fluch oder verwünschung aus, und davon genau zu unterscheiden ist, dafs einzelne alte oder wilde völker ihre leichen wirk- lich aussetzten, gerade mit bezug auf geheiligte thiere, denen sie überlassen bleiben sollten. (?)

Das menschengeschlecht, durch vielfache bande an einander hängend würde aber seine ganze natur verleugnen, wenn jenem recht der lebendigen sich der todten zu entledigen, nicht auch von jeher gleichsam ein letztes recht der todten beigemischt erschiene. angehörigen und verwandten, an die unser herz gefesselt war, soll nicht nur eine ehre, deren sie würdig sind, sondern auch ein dienst erwiesen werden, dessen sie bei der überfart und zur auf- nahme in eine andere welt bedürfen. Diese kann nun bald als über uns im himmel, bald als unter uns im abgrund der erde gelegen erscheinen und gleich den himmlischen mächten erheben auch die unterirdischen ihren an- spruch auf die todten, der ihnen nicht verkürzt werden darf. In solchen rücksichten allen liegt ein grund zum begang der leichenfeier, die wir auf manigfalte weise bei den verschiednen völkern der erde veranstaltet sehn.

Die beiden ältesten über die ganze erde am weitesten verbreiteten ar- ten des bestattens, welchem ausdruck ich hier den allgemeinen begrif des lateinischen sepelire beilege, sind das begraben und verbrennen, und je tiefer man in ihr wesen eindringt, desto stärker überzeugen wird man sich, dafs sie eine nothwendige, den bedürfnissen und der entwicklung der völker unentbehrliche unterscheidung darstellen.

Erwägen wir beide weisen für sich, so scheint das begraben vorange-

gangen, im verbrennen ein fortschritt geistiger volksbildung gelegen zu sein,

D

(') Kurt zuge YeverTea, olmvorsıw up zar wUgrmee yeverScı bei Homer, die heilige schrift redet von adlern (Luc. 17, 37. Matth. 24, 28), die poesie unseres alterthums von wölfen, adlern, raben; stellen habe ich gesammelt Andr. und El. XXV—XXVII. in einem schwedischen volks- lied Sv. vis. 2, 82 heilst es: liggen nu här för hund och för raven!

(2) Bekanntlich warfen die Perser und Hyrcanier ihre leichen den hunden vor, wie noch heute die Mongolen den hunden und raubvögeln. Klemms eulturgeschichte 3, 173. die Kaffern den wölfen, welche selbst für unverletzbare ihiere gelten. Klemm 3, 294.

über das verbrennen der leichen. 193

von welchem zuletzt wieder abgewichen wurde, als die menschheit fähig ge- worden war noch allgemeinere stufen ihrer veredlung zu betreten.

Unleugbar sagt es dem nächsten menschlichen gefühl zu, dafs die leiche unangetastet und sich selbst überlassen bleibe. deckt sie der lebende mit erde oder birgt er sie tiefer in der erde schofs, so geschieht seiner pflicht genüge und es tröstet ihn, dafs der geliebte todte noch unter dem nahen hügel weile. dem todten hat sich das auge wie im schlaf geschlossen, er heifst ein entschlafner, es ist kindlichem glauben gemäfs, dafs er aus diesem schlum- mer wieder erwachen werde, wer wollte den schlummernden verletzen? (t) Sein gebein soll sanft ruhen und von der erde nicht gedrückt. (2) Einer mutter gleich hat die erde den aus ihr gebornen in sich zurück empfangen und lieblich nannten die Griechen einen todten Önunrgiss, den der mutter ge- hörigen; in das element das ihn erzeugt hatte wird er aufgelöst und gleich dem fruchtkorn eingesenkt. at mihi quidem, sagt Cicero (de legib. 2. 22, 26) antiquissimum sepulturae genus illud fuisse videtur, quo apud Xeno- phontem Cyrus utitur. redditur enim terrae corpus, et ita locatum ac situm quasi operimento matris obducitur. Einem nackt liegenden erschlagnen wirft der vorübergehende und erbarmende eine handvoll erde auf die brust, gleich- sam um jenes recht der unterwelt, dem er nicht entzogen werden soll, sym- bolisch anzuerkennen. (?) Staub soll wieder zu staub werden. (*)

Allein auch dem verbrennen liegen sehr einfache und erhebende vor- stellungen unter. Von anfang an war dem menschen das feuer heilig, dessen gebıauch ihn wesentlich von allen thieren abscheidet,; im feuer bringt er

(') Auch läfst der volksglaube den begrabnen ein gewisses leben fortsetzen, d. h. unzer- stört bleiben. um ihn geweinte thränen lebender netzen dem todten das hemd; mitternachts tritt die mutter aus ihrer gruft und geht heim den verwaisten säugling zu stillen, die kinder zu kämmen. der sohn naht sich des vaters grab, zwingt ihn zur rede und heifst sich das schwert heraus reichen. andern begrabnen soll ein fenster im hügel offen stehn bleiben, durch welches ihnen die nachtigall den frühling ansingen könne. alle diese vorstellungen müssen auf- hören sobald man sich den leib in staub zerfallen denkt.

(2) Daher die schönen formeln: sit tibi terra levis! ne gravis esse velis! tu levis ossa tegas! molliter ossa cubent! amica tellus ut des hospitium ossibus u. s. w.

(%) Wo das rothkelchen einen erschlagnen im walde liegen sieht, läfst es der volksglaube hinzu fliegen, einen zweig und blätter auf ihn tragen. dasselbe thun menschen, Parz. 159, 12:

Iwänet üf in brach der liehten bluomen zeime dach. (*) Daz ze molten wurde diu molte. Seryat. 1720.

Philos.- histor. Kl. 1849. Bb

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seinen göttern opfer dar, ausdrücklich benennt unsre alte sprache opfern blötan, was dem gr. $Acıdevv, d.i. entzünden, brennen entspricht. ein von den göttern ungnädig angesehnes opfer lodert gedämpft nicht in flammen auf, das ihnen willkommne steigt mit hoher rauchseule in die lüfte empor. das feuer, den dargebrachten gegenstand verzehrend hat ihn gleichsam da- durch vermittelt. Den menschen muste also anliegen auch ihre todten den göttern darzubringen und gen himmel zu senden; wie das grab den irdischen stof der erde, erstattete die brunst den seinen dem element des feuers, von welchem alle lebenswärme ausgegangen war. man glaubte die seelen der ab- geschiednen zu beruhigen und begütigen, wenn man sie des ihnen gebühren- den feuers theilhaft werden liefs. (1)

Die leichte flamme leckt aufwärts, während die schwere erde nieder strebt; aus des scheiterhaufens feuer hebt sich der entbundne geist zum va- ter, den unsre vorfahren altvater, die Römer Jupiter nennen, wie durch die erde der leib in der göttlichen mutter arme zurück sinkt. eine gr. grabschrift (Böckh no. 1001) sagt ausdrücklich

yala de KEUTeL

raue" mvonv Ö along Eralev mar, osmeo edwxs, oder eine andre (no. 938)

Aa ya uv neuSe Hirga zevis AudıyuSeiTa,

Yuyav Er Merewv oügavas eüpus exe. (?)

Alle erfahrung lehrt uns, dafs die der erde anvertrauten leichen faulen und in staub gewandelt werden; das feuer geht demnach mit den todten nicht härter um als die erde, nur dafs es schnell vollbringt was diese langsam ver- richtet. Hat den noch unentstellten leib die gefräfsige flamme verschlungen und sinkt sie zusammen, so enthält die hinterbleibende asche keinen andern bestandtheil als den staub des grabes, dessen enge, moder und leides ge- würm den gedanken peinigen. Nach dem brand werden jene überreste, gleichsam ein alsbald auf sich zurück geführter auszug des geläuterten leibes gesammelt in krüge und beigesetzt, so dafs aufser dem feuer zugleich noch der erde genüge geschieht: das verbrennen war immer mit einem hegen der brandstätte und bergen der knochen verbunden, darum ist auch auf den

(!) Ilvgös neihırseaev DM. 7, 410, auch muacs AagıgesIcu. (2) Zwei seelen gehn mit dem leib verloren, die dritte bleibt: bustoque superstes evolat. Claudian IV cons. Hon. 228 35.

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grabinschriften verbrannter das xeinaı, xeiraı, zarazeıra und das sit ei terra levis gerecht.

Wie schön ist, wenn verwandte oder freunde in weiter ferne sterben, dafs ihre asche ohne mühe gefafst und heim getragen werden kann, (!) da das fortschaffen der ganzen leiche grofsen schwierigkeiten ausgesetzt bleibt. (?) Und alle todtenkrüge lassen in gedrängter schicht sich von schwachen hügeln decken, ihre ausdünstung gefährdet nicht, wogegen die den völligen leich- nam umschliefsenden gräber weit gröfsern raum und entlegne stätte begehren.

Wer wollte miskennen, dafs die gewohnheit des leichenbrandes uns höher stehende völker und ihren freieren blick in die natur der dinge kund thut? dieser brauch hängt zusammen mit einer schon durchgedrungnen hei- teren auschmückung des menschlichen lebens, dessen ende selbst feste her- bei führen, die die trauer mäfsigen und erheben. was anders hätte dem aus- gang des grofsen griechischen epos solche ruhe verliehen, wie es der beiden helden bestattung und eines jeden unter eignen beschwichtigenden eindrücken vermag‘ Feierliches ausstellen, opfer, gastmal, leichenspiel, das ergreifende mitsterben der gattin, des freundes, der diener und hausthiere, alle diese zurüstungen konnten eigentlich nur beim verbrennen, und entweder gar nicht oder nur nach kleinerem mafsstab beim begraben der leichen eintreten, da sich schon neben dem leichnam für die der rosse und übrigen menschen im hügel kein raum geboten hätte. Selbst allgemeine, unter den völkern des alterthums weitverbreitete vorstellungen von einem ungeheuren brand, der an aller dinge ende die erde und zugleich die ganze welt verzehren solle, dürfen nicht ausgeschlossen bleiben, wenn man sich wie tief diese sitte vor- walte vollkommen erklären will: in dem was den sterbenden menschen ge- schieht erscheint vortypisch der ausgang der sterbenden welt.

Alles wessen sich die dichtkunst grofsartig bemächtigen kann, das muls im leben der menschen wahrhafte wurzel geschlagen haben. Auf diese poesie des verbrennens folgte zuletzt wieder eine rückkehr zur prosa des begrabens, das zwar nie ganz aufser gebrauch gerathen, sondern neben dem brennen für einzelne zustände beibehalten worden war, auf welche meine

(‘) Zu Elektra sagt Orestes bei Sophocl. Electr. 1113: degovres aurod omızge Asılav Ev Boaxei Feuysı Savdvros, Ws Öpds, Rolıgoner.

(2) Im mittelalter pflegte man die im kampf gefallnen armen zu begraben, die edlen auf bahren zu lande zu führen. Wh. 451, 12. 462, 29.

Bb2

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nachfolgende untersuchung sorgsam bedacht nehmen wird. Es gibt sodann einen allgemeinen fall, in welchem jederzeit das brennen ausgesetzt werden muste, den der kein gebot kennenden noth. War in einer schlacht und in holzarmer gegend eine menge zugleich gefallen, so blieb nichts anders übrig als sie in grofse gruben auch unverbrannt zu senken, wie dann noch heut- zutage unsre krieger uneingesargt vergraben werden; aus derselben ursache unterblieb der brand, wenn eine verheerende seuche plötzlich zahllose opfer forderte. (!) Da wo aber sonst beide bestattungen neben einander gelten, scheint der leichenbrand vorzugsweise für die edleren, höheren bestandtheile des volks, namentlich für die herschenden männer und krieger angewandt worden zu sein, während mindestens bei einzelnen völkern frauen, kinder, unfreie meistentheils nur des begräbnisses theilhaftig wurden. Im verlauf der zeit aber begann überhaupt wie in andern lebenszuständen ein menschlich strenger und herber sinn um zu greifen, welchem der mühsame aufwand des todtenverbrennens lästig geworden war, und der gern die älteste, schein- bar einfachste weise des bestattens allgemein geltend zu machen trachtete. Am leichtesten läfst sich der gegensatz beider bestattungen durch die annahme fassen, dafs das verbrennen nomadischen, kriegerischen völkern, das grab aber ackerbauenden angemessen erscheint. dem schweifenden unstäten hirten war feuer sein unentbehrlichstes element, dessen er zum bra- ten und opfern täglich bedurfte. die grofsen festfeuer durch welche das vieh getrieben wurde, rühren aus der nomaden zeit, wälder und selbst auf weit- gestreckten steppen sattsames gesträuch nährte die flammen; welche bestat- tung wünschen können hätte sich der krieger als vor den augen des volks, geschmückt und begleitet, von der flamme verzehrt zu werden? dem ein- sameren ackermann sagte stille beisetzung im engen hause zu; wer das korn in die erde grub dem muste geziemen auch selbst in die erde versenkt zu sein. Man hat nunmehr der äufsern gestalt und dem inhalt der alten gräber, wie sie fast durch ganz Europa sich erstrecken, die nothwendige sorgfalt gewidmet und einen unterschied nicht übersehn können, der den angegebnen weisen der leichbestattung auffallend zu begegnen scheint. In mächtigen steinkammern, deren bauart fernste vorzeit verräth, sind beigesetzte leich-

(') So heutzutage in Siam, wo wie in Indien noch verbrannt wird, als die cholera über- hand genommen hatte, vergl. deutsche zeitung 1849 s. 2655.

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name mit steinwaffen, in erdgräbern aschkrüge mit verbrannten knochen und ehernem geräth, (') in noch andern hügeln ganz, sei es in gestreckter oder hockender, kauernder gestalt, bestattete leichen mit eisernen waffen anzu- treffen. Hiernach ergäbe sich ein steinalter, erzalter, eisenalter, die zugleich als grabalter, brennalter und anderes grabalter betrachtet und auf die her- gebrachte, doch in abweichendem sinn entsprungne unterscheidung eines goldnen, ehernen und eisernen weltalters bezogen werden könnten. Auch gewänne es allen anschein, dafs die steinbauten einem fremden in unvordenk- licher vorzeit das land bewohnenden volke beizumessen seien, wogegen erz- alter und eisenalter füglich von demselben stamm, der nach dem verbrennen sich wieder dem begraben seiner todten zuwandte, gelten dürfen, wie die ackerbauer aus den hirten des nemlichen und nicht eines andern volks her- vorgegangen sind. Dennoch bleibt diese ganze, wiewol im allgemeinen nicht unhaltbare ansicht einer menge von ausnahmen und näheren bestimmungen im einzelnen bedürftig, da sich in felsengräbern verschiedner gegenden nicht nur eisengeräth sondern auch aschkrüge finden, und ohne zweifel eine schon in vollen besitz des erzes gesetzte, ihre leichen brennende heroenzeit zugleich auf den brandstätten steindenkmale thürmte. weder ist dem stein- alter aller leichenbrand, noch dem brennalter aller gebrauch des eisengeräths abzuleugnen, wie das ganze brennalter hindurch neben dem brennen zugleich ein begraben mehr oder minder sitte geblieben scheint.

Unter den Heiden des alterthums überwog bei weitem, wie meine forschung offenbaren soll, das verbrennen der leichen, welches Juden und Christen, die von anfang an immer begruben, unerträglicher greuel schien. In der jetzigen welt hat längst das begraben über das verbrennen, dessen anwendung sich stets enger beschränkt, den sieg davon getragen. Chinesen, Mahomedaner, Christen, deren glaube über den ansehnlichsten theil der bewohnten erde vorgeschritten ist, beerdigen ihre todten. wohin das chri- stenthum drang, da erloschen vor ihm alle leichenbrände. Die Christen be- gruben, weil im alten testament, soweit dessen kunde reicht, nur begraben worden und weil Christus aus dem grab erstanden war; hierzu trat dafs die christliche lehre ihrem ausgleichenden wesen nach den unterschied der stände

(') Der heroenzeit gibt Pausanias II. 3, 6 eherne waffen, an deren stelle hernach eiserne traten; die benennung %arzeVs für den schmied galt später fort, als er auch eisen bearbeitete. Nach Strabo XI p. 781 hatten die Massageten genug kupfer und gold, kein silber und eisen.

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aufhob und den armen wie den reichen, den knecht wie den herrn bestattet wissen wollte, also ein vorrecht des adels auf den leichenbrand nicht länger bestehen durfte: denn der adel hat überhaupt ein heidnisches, folglich un- christliches element. Dem allgemein werden des begrabens kam sicher auch zu statten, dafs ihm im voraus ansehnliche, noch heidnische secten huldig- ten und der einflufsreiche buddhismus zu gethan war: den ganzen im mittel- alter abgöttisch betriebnen reliquiencultus sehn wir wesentlich auf dem be- graben der leichname beruhen.

Wo sich einer neuen untersuchung vielfacher anhalt darbietet, darf sie weder unergibig noch überflüssig zu sein fürchten. Das classische alter- thum, wie man sich denken kann, liegt auch auf dieser strecke nicht unan- gebaut, hat aber so reichen vorrath, dafs er von immer unangerührten seiten her versucht und erschöpft, vielleicht auch aus der gemeinschaft mit barbarischen völkern neu beleuchtet werden mag. Unsre eigne vorzeit, in dieser beziehung wie den meisten andern wissenschaftlich ganz vernachlässigt, reicht uns jetzt nur bruchstücke dar, die gleich allem abgebrochnen die ein- bildungskraft desto stärker anregen und lichter streifen lassen können auf jene reicheren, darum doch nicht alle fragen beantwortenden denkmäler der Griechen und Römer. dieselbe bewandtnis hat es beinahe um das alterthum der übrigen europäischen völker, und nur das indische, mit welchem meine betrachtung endigen wird, darf hier dem classischen gewachsen oder gar überlegen sein.

Meine abhandlung schliefst das begräbnis, dessen bräuche vieler und anziehender erörterungen bedürfen, von sich aus, insofern sie nicht allzu nahe mit ihr zusammen hängen. hervor zu heben ist, in welchen fällen und aus welcher ursache neben dem brennen begraben wurde; über diesen wich- tigen punct ertheilen uns die quellen freilich lange nicht befriedigende aus- kunft. Bei beurtheilung der geschichteten und entzündeten scheiterhaufen wird an sich gar nichts verschlagen, ob sie für ein heiliges opfer oder fest, zum verbrennen der lebendigen oder todten bestimmt waren. denn wir sahen auch dem brennen der leichen die vorstellung eines opfers unterliegen, und der sich freiwillig noch in den letzten stunden seines lebens den flammen weihende held, die dem todten gatten folgende gattin wollen sich selbst zum opfer darbringen, ja der dem feuer übergebne missethäter (RA. 699) soll als sühnopfer sterben, und was dem todten zur ehre, konnte dem lebenden zur

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strafe gereichen, gerade wie gleich den leichen auch verbrecher lebendig in die erde gegraben wurden. es scheint demnach die gewohnheit der men- schenopfer durch das feuer und des feuertodes der verbrecher für das ver- brennen der leichen wo nicht voll zu beweisen, doch die vermutung zu begründen, dafs unter dem stamm, der sich einem dieser bräuche ergab, wenigstens früher auch die andern im gang gewesen seien. (!) unsere deut- schen Oster und Johannisfeuer z. b. müssen ursprünglich als heidnische opfer angesehen werden und die schichtung ihrer scheiterhaufen wird wahr- scheinlich denselben gebräuchen unterlegen haben, die beim leichenbrand herschten; selbst wo ketzer und zauberinnen im späten mittelalter verbrannt wurden konnte sich durch überlieferung manches von der beim brennen der todten früher gültigen weise erhalten. Die gewohnheiten und deren anlässe, auf welche hier rücksicht genommen werden mufs, sind also höchst manig- faltig, der gewinn kann aber nicht gering angeschlagen warden, der aus einer genaueren bekanntschaft mit ihnen allen für die sage wie die geschichte des alterthums hervorgehn mufs.

Nach dieser einleitung gehe ich auf die verhältnisse des leichenbrandes bei den verschiednen völkern selbst ein.

Für die GRIECHEN, von welchen billig auch hier anzuheben ist, um sogleich festen und rechten anhalt zu gewinnen, bewähren das verbren- nen der todten sowol mythische als historische zeugnisse. Ein scholiast zum ersten buch der Ilias(?) leitet der ganzen sitte ursprung ab von Herakles, welcher dem Likymnios verheifsen seinen sohn aus dem heerzug heim zu führen, und den gefallnen verbrannt habe, um wenigstens asche und gebein dem trauernden vater zurück zu bringen. Man weifs dafs dieser halbgott selbst von schmerzen gequält auf der thessalischen Oeta seinen eignen holz- stofs erbaute und dann anzünden liefs; wie sollten nach solchen beispielen die leichen andrer heroen den flammen entzogen worden sein? Bei Homer sind uns drei grofse scheiterhaufen in allgemein bekannten stellen geschil-

('!) Verschieden von dem förmlichen verbrennen einzelner menschen ist das in unserm alterthum häufige anzünden eines hauses, worin sich viele zusammen befanden und ihren tod finden musten, wenn sie den jeden ausgang sperrenden feinden nicht entrinnen konnten. be- rühmte beispiele liefern das “vereiten des sals in den Nibelungen XX und die Niälsbrenna, vergl. RA. s. 700.

(2) Schol. Il. A, 52, vergl. fragm. hist. gr. ed. C. et Th. Müller 2, 350 b.

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dert, des Patroklos im 23, des Hektor im 24 buch der Ilias, und des Achil- leus im 24 der Odyssee, unter welchen doch die erste die ausführlichste und ergreifendste ist. Nachdem holz im walde gefällt und das gerüste errichtet war, wird des Patroklos leiche darauf gehoben, Achilleus schneidet sich sein haupthaar ab und legt es in des todten freundes hand, wirft dann vier hohe rosse, zwei von neun haushunden geschlachtet und zwölf getödtete zum sühn- opfer ausersehne Troer aufs gehölz, das nun die flammen verzehren. Ze- phyros und Boreas werden angerufen die glut anzufachen, als das gerüste zusammen gesunken und die flamme gestillt war, NOS mupzai Euagaivero, mauraro 8 BAcE,

kehrten die winde heim, die krieger sammelten das weilse gebein aus der asche, (') legten es in ein goldgefäfs und schütteten darüber auf der brand- stätte selbst den hügel. Ebenso verfahren die Troer mit Hektors leichnam, nur dafs keines mitverbrennens der thiere, noch begreiflich der gefangnen erwähnung geschieht. Sowol des Patroklos als Hektors leiche waren mehrere tage liegen geblieben bevor sie zum brand gelangten, ausdrücklich heifst in der Odyssee von Achilleus, dafs er erst am achtzehnten tag nach dem tode sei verbrannt worden. Auf die bestattung selbst folgten bei Achilleus wie Patroklos leichenspiele, kampf und wagenrennen.(?) Beim heerzug der sieben gegen Thebae standen, wie Pindar sagt (Nem. 9, 54. Ol. 6, 23) &rr« rugai vor der stadt sieben thoren, man hat doch anzunehmen, eigentlich nur um die leichen der gefallnen Thebaner zu verbrennen. Wahrscheinlich zehrten stattliche scheiterhaufen, wenn ihre menge nicht zu grofs war, alle im treffen gefallnen krieger gemeinschaftlich auf (11.7, 333—336) und was von der zeit verheerender seuche gilt mufs sich auch auf die die des kriegs anwenden lassen.

Dafs bei den Griechen verbrennen der leichen vorwaltete lehrt am deutlichsten der technische ausdruck Sarrew, der gar nicht weiter aufs ver- brennen andrer gegenstände angewandt wird, da er doch ursprünglich der unmittelbaren wirkung des feuers gehörte, wie die sanskritwurzel tap cale- facere, urere, pers. taften, lat. tepere, folglich auch das ags. befjan, ahd. depan, vgl. nhd. dampfen weisen. doch hat sich das wort repga cinis, wel- chem ich jetzt, der unterbrochnen lautverschiebung ungeachtet, das ags.

(!) "Osrsoroyie, ÖrroAoyie Diodor 4, 38. lat. ossilegium. (2) Leichenspiele Il. 23, 258. Od. s, 100. 24, 70. Statius Theb. 6, 296. Virg. Aen. 5, 104.

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tifor, ahd. zepar d.i. opfer zu vergleichen geneigt bin. Sarrw aber, wie gesagt, bezeichnet nicht mehr das brennen selbst, wofür zaw gebraucht wird, sondern das bestatten der verbrannten leiche, sowie rabes und rapy ursprüng- lich brandstätte aussagen musten, allmälich das auf ihr geschüttete mal, folg- lich grab und grabmal ausdrücken. nah verwandt liegen rUußes und rupew dampfen, rauchen. Sarrew wird demnach Il. 21, 323. Od. 12, 12. 24, 447 in der sache richtig durch verbrennen aus zu legen sein, Od. 12, 13 folgt auch unmittelbar &rei vergos &xan, und ein gedicht der anthologie darf treffend mug Sarrew igne sepelire verwenden. Wenn Herodot 9, 85 die bestattung der leichen auf dem schlachtfelde von Plataea (479 vor Chr.) schildernd sich nur der ausdrücke Sarreıv und rades bedient, nie von xaieıv redet, so könnte zwar angenommen werden, dafs er den bekannten brauch des brandes voraus setzt; richtiger aber scheint mir hier jene unthunlichkeit des verbrennens eingetreten zu sein, wie die grofse menge der todten aus dem hervor heben der einzelnen griechischen stämme bei diesem begraben hinweist. Thukydi- des hingegen bei darstellung des grofsen athenischen sterbens (434 vor Chr.) läfst 2, 52 neben Sarrew und ra«py die wörter rug« und zairSau einflie- fsen, so dafs kein zweifel bleibt, dafs das allmäliche fallen der opfer dennoch den brand gestattete. Bei Sophokles als Antigone auf den nackt liegenden bruder Polynikes durstigen staub (dıliav xevı) schüttet, werden Surrew, rapw zaAurreıv oder nOUTTEW, arades und aSarros überall auf begraben bezogen, ohne dafs die vorstellung des verbrennens ausdrücklich hinzu träte. Im Phaedo p. 115 läfst Plato den Sokrates von Krito gefragt werden: Sarrwusv Ö& we riva oomcv; und der antwortende stellt ihm art und weise des bestattens gänzlich frei, unterscheidet aber ein swu« kasuevov und HATOQUTTOJEVOV, so dafs beide arten damals im schwang gewesen sein müssen, (1) #«rogurrew drückt humare im eigentlichen sinn aus. Kyrews rad bei Diodor 19, 34 ist deutlich die stelle wo Ceteus eben erst soll verbrannt werden, folglich kann auch hernach i rau rersAeurnaerwv rabn auf ein verbrennen aller andern in der schlacht gefallnen gehn. Schwerlich dürfte in älterer zeit Sarrew für ein bestimmtes ögurrew, d.h. eingraben unverbrannter leichen gesetzt werden,

. . D7 z De insel Delos ein todter weder begraben noch verbrannt werden durfte: od yag eEesrw Ev aurn N Andy Scrrew oüde zuisw vergov. so war auf der insel Reichenau im Rhein ein ungetauftes kind zu bestatten untersagt. (d. mythol. s. 567 anm.)

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obschon rapgev ögurcew bereits in der Ilias graben ziehen bedeutet. ein noch allgemeinerer ausdruck des bestattens war #ndevew von »Ados sorge, trauer und leichbegängnis. Aber noch Lucian (de luctu cap. 21) als er die characteristi- schen leichenbestattungsarten der verschiednen völker angibt, stellt verbren- nende Griechen den begrabenden Persern entgegen: 5 nv "EAAyv Enausev, ö de Ilegons eIunbe.

Um beispiele berühmter männer, deren leichen verbrannt wurden, auszuheben, so gehören nach Plutarch dahin Solon, Aleibiades, Timoleon und Pyrrhus. Alexanders des grofsen leichnam kam bekanntlich auf keinen holzstofs, sondern wurde einbalsamiert und nach Agypten gesandt. Ge- wöhnlich aber mangelt die angabe der bestattungsart oder lautet unbestimmt; wenn es bei Arnobius 6, 6 von Cecrops heifst ‘terrae mandatus’, so schliefst das kein vorgängiges verbrennen aus, wiewol nach Cicero de leg. 2, 25 dieser von Äeypten hergekommne Cecrops in Athen gerade die humation eingeführt haben soll.

Die griechische sage und geschichte ist voll treuer knechte, freunde und frauen, die sich aufzuopfern bereit sind. Evadne, als Kapaneus ihr gemahl verbrannt wurde, stürzte sich in den scheiterhaufen um den tod mit ihm zu theilen, wie aus den supplices des Euripides erhellt. Pausanias 4, 2 meldet, dafs Marpessa, Kleopatra und Polydora, drei messenische frauen desselben geschlechts, nach ihrer männer absterben sich selbst tödteten, Eauras Eriraresdafav, man darf folgern dafs sie hernach auch mit ihnen ver- brannt wurden. Lucian de luctu cap. 14 von den mit verbrannten pferden, kebsen, weinschenken und kleidern redend bedient sich gerade so der aus- drücke rızarerpafav und vuyzaresrsfav. Nach einer angabe des Duris Samius (fragm. hist. gr. 2, 486) war es griechischer, wenigstens makedonischer brauch, dafs die töchter bei der leiche des vaters den scheiterhaufen anzündeten.

Den scheiterhaufen nannten die Griechen rug« oder rugraia, was feuer- stätte allgemein bezeichnet, den aschenkrug oder die urne regos. Pindar Pyth. 3, 68 bedient sich der worte reiyos Evrwev, hölzerner wall, welches ich im sinne von cratesnehme. Als desPatroclus leiche verbrannt werden sollte, giengen die männer zur waldanhöhe, fällten hohe bäume, die sie spalteten (dia mryrrovres) und auf mäuler geschnürt zur ebne hinab trugen; nun wurde die ug4 hundert fuls ins gevierte (Enarouredes EvSa nal &vIa) errichtet, es kommt zumal auf den ausdruck an vyeov UAyv, wevosizea vyeov VAyv 11.23, 139. 163

über das verbrennen der leichen. 203

und vergeüs mupzains Emrevyveov 11. 7, 428. ABl. man pflegt mugav vncaı häufen oder schichten des holzes auszulegen, ich möchte den gewöhnlichen sinn von vew, nemlich nere und nectere festhalten, wie auch lat. nere für nectere, plectere verwandt wird, Plinius 17. 20, 33 sagt von sich schlingenden pflan- zen: inter se radices serpunt, mutuoque discursu nentur. das lat. glomerare kann lehren, wie aus nectere, involvere der begrif übergeht in den von owgevew. (1) Für den scheiterhaufen lag es daran schnellentzündbares holz zu schaffen und die frischgehaunen waldbäume würden dazu ohne zwischen- geflochtne dörner nicht gedient haben: die bäume gaben blofs den festen itheil des gerüstes ab, das mit reisig durchwebt werden muste. das scheint mir wugav vyocı und für meine ganze abhandlung wird entscheidend, dafs ich gewicht darauf lege. Dabei kommt mir eine stelle Theocrits 24, 87 zu stat- ten, die zwar von keinem holzstofs für menschliche leiche redet, vielmehr worauf giftiges gewürm verbrannt werden soll. eben hat die schlangen des jungen Herakles kraft erdrückt, und Tiresias ermahnt Alkmenen

AA yuvaı a) Ev Tor ÜMO OmodD eurunov Erw,

zayrava armaraIw Eur Eromarar D) marıoupw

n Barw dveuw dedovnuevov avov anegdev

nule de Twd” dypmaw Emi oxicnmı dadrovre. armaraSos ist ein dornstrauch, wofür es aber einen bestimmten deutschen namen geben muls, raArcugos (sonst fauves) unser hagedorn, Bares weifsdorn, dy,epdas zaundorn, also vier dornarten, gewis mit absicht und nach alter vorschrift auserlesen; das zasıy aygimsw Em oxCysı stimmt zu einem &ygioıs zarazadraı Evrcıs bei Phrynichus dem grammatiker, (?) der, wie ich belehrt werde, seine beispiele gewöhnlich attischen dichtern, zumal comikern entlehnt. Ich mut- mafse, als die Griechen noch nomaden waren, bedienten sie sich zum leichenbrand bestimmter vielleicht geheiligter dörner, deren bedeutsamkeit allmälich verloren gieng und im andenken des volks zuletzt nur noch für das verbrennen von drachen und ungeheuern haftete, wie in manchem andern

(') Hegwzew Ürn 70 @?r0s, nemus eircumnectere lignis Her. 6, 80; freilich cirev razavnveov &v zevtosı Od. 1, 147. 16, 51 heilst sie legten, schichteten brot in körben, und au«£es pgu- yavav Emweovsı Her. 4, 62 sie beladen wagen mit reisern. vyros ist gesponnen, gewunden und dann gehäuft, wie sich gewundnes garn um den glomus häuft. vnvew mag aus dvaviu entsprungen sein.

(?) Bekkers anecd. gr. 10, 26.

Ce?

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fall auf thiere die längste anwendung behielt, was vordem für menschen recht und sitte war. im allgemeinen dürfen solche dörner davyava heifsen von douyu devrew torreo. Homer nennt sie schon nicht mehr, wenn er nicht unter jenem vyraı dörner flechten verstand.

Ohne zweifel war von allen bestattungsarten wenigstens im höhern alterthum der Griechen verbrennen die vorherschende und nicht auf krieger und vornehme, deren scheiterhaufen nur prächtiger eingerichtet wurden, be- schränkt. Dafs nicht allein die durchs schwert getödteten, auch die von der pest weggeraften der flamme verfielen lehrt schon der homerische, vers

aieı Ö& mugal veruuv xalovro Iaueıci, als Phoebus Apollon seinen pfeil im lager hatte erklingen lassen, und noch mehr die schon vorhin angezogne beschreibung des grofsen sterbens zu Athen bei Thucydides. Aber die nEgauvwJeuTes, weil sie der himlische strahl ge- troffen hatte, blieben des irdischen feuers untheilhaft, und wurden, wie Artemidor 2, 8 meldet, alsbald an der stelle begraben, wo der blitz sie ge- rührt hatte. Über Kapaneus müssen des Euripides supplices 934 ff. ver- glichen werden. Nicht anders liefs man selbstmörder, die das feuer verun- reinigt hätten, unverbrannt, wofür Philostratus imag. 2, 7 des Ajas beispiel anführt, den Agamemnon, ohne ihn den flammen übergeben zu haben, ein- graben liefs und bei dessen tod auch Sophocles keines feuers gedenkt. (1) Beides sind jedoch nur seltne ausnahmen, die gegen die häufige anwendung des brands bei den Griechen kaum in betracht kommen. Gröfsern eintrag gethan haben mufs ihm schon frühe die absonderung zahlreicher theiledes volks in bestimmte gesellschaften, wobei ich vorzüglich die anhänger der Eleusinien, so wie die Pythagoraeer ins auge fasse. Die richtung der weit- verbreiteten Eleusinier auf geheimnisse der Demeter und Trioptolems durfte, scheint es, grundsätzlich zwar reinigungen durch mystisches feuer, ‚keinen leichenbrand gestatten und auch in den verstorbnen nur Anumreious oder Ce- reales anerkennen. darum wird in des Dialogos grabschrift Ev9ade AuaAoyos naSapy mugi yuia nasngas Ürnerys Tobıns WXET &s aSavarous

die reine flamme der ug«, keine eleusinische gemeint. Nicht minder galt bei den Pythagoraeern, dafs keine todten verbrannt würden; die Platoniker

(') Auch nach dem volksglauben des mittelalters kommen selbstmörder nicht: auf die grüne wiese (ins paradies.) Flore 2422.

über das verbrennen der leichen. 205

ir liefsen sich beides, verbrennen oder. begraben gefallen. Der Stoa, welche sich das feuer göttlich, einen weltbrand am ende aller dinge dachte, hätte eine Enmugweis auch für die leichen nicht können decken, doch weils ich kein zeugnis dafür. Wer alle mysterien und philosophischen systeme bei den Griechen in dieser beziehung untersuchen wollte, dem würde vielleicht ausbeute lohnen. man darf wol annehmen, dafs in den letzten drei jahrh. vor Christus das verbrennen der leichen zwar noch in Griechenland fort- dauerte, dafs aber auch häufig blofs beerdigt wurde.

Unter den RÖMERN sind Cicero und Plinius einverstanden darin, dafs für ihr volk dem brennen ein älteres begraben der todten voraus gegan- gen sei, welches zu jener annahme eines steinalters vor dem brennalter siim- men würde. Ipsum cremare, drückt sich der letztere schriftsteller 7, 54 aus, apud Romanos non fuit veteris instituti; terra condebantur. at postquam longinquis bellis obrutos eruiscognovere, tune institutum. et tamen multae familiae priscos servavere ritus, sicut in Cornelia nemo ante Sullam dictato- rem traditur crematus, idque eum voluisse veritum talionem, eruto ©. Marii cadavere. Cicero, in der dem Plinius augenscheinlich vorliegenden stelle de legibus II. 22, 26 vom alterthum des beerdigens redend fährt also fort: eodemque ritu in eo sepulero, quod ad Fontis aras, regem nostrum Numam conditum accepimus, gentemque Corneliam usque ad memoriam nostram hac sepultera scimus esse usam. C. Marii sitas reliquias apud Anienem dissi- pari jussit Sulla victor, 'acerbiore odio incitatus, quam si tam sapiens fuisset, quam fuit vehemens. quod haud scio an timens suo corpori posse accidere, primus e patriciis Corneliüis igni voluit cremari. Das hier von Numa gesagte findet sich auch bei Plutarch cap. 22 bestätigt, nach welchem Numa seinen leichnam zu verbrennen selbst untersagt hatte, so dafs gleichwol der leichen- brand als bereits vorherschend angenommen werden mufs. war dies aber der fall zu Numas zeit, so mag 300 jahr später, als die zwölf tafeln gegeben

wurden, das brennen noch Enke er im schwang gewesen sein, wie das

5 “hominem mortuum in urbe ne sepelito neve urito’, das 'rogum ascia ne po- lito‘, ‘vino rogum ne respergito’, und 'homini mortuo ossa ne legito’ ver- kündigen.

Virgil läfst in seinem gedicht, dessen eilfies buch die grofse leichen- feier so schön darstellt, auf seite der Trojaner alle todten verbrennen, auf

seite der Latiner.auch viele beerdigen (11, 204), was vielleicht die ansicht

206 Jacos GrimM

a a

ausdrücken soll, dafs die alten landesbewohner, im gegensatz zu den troja- nischen ankömmlingen, noch dieser gewohnheit huldigten. auch des troja- nischen Misenus leiche wird den flammen übergeben. wer aber wollte glauben, dafs die Trojaner die sitte des leichenbrandes erst in Latium ein- geführt hätten? man kann blofs das ‚einräumen, dafs von altersher da- neben auch unverbrannte leichen in die erde gesenkt wurden und einzelne geschlechter, wie das cornelische, diesem brauch lange anhiengen. sicher aber wurde das verbrennen nicht gebräuchlich, um dem zerstören der gräber einhalt zu ihun, da man auch die urnen in hügeln beisetzte, die umgewühlt werden konnten. Plutarch tom. 2 p. 499 (ed. paris. 1841. 3, 604) meldet, dafs ein Decius (welchen der dreie meint er?) auf einem in der mitte des heeres errichteten scheiterhaufen (rugav vyr«s) dem Saturn sich geweiht habe, was die sitte des leichenbrands und deren zusammenhang mit opfern vor- aussetzi.

Man weifs, dafs die berühmtesten männer der römischen geschichte auf scheiterhaufen verbrannt wurden, ich will hier blofs Antonius, Brutus, Julius Caesar, Pompejus, Octavius Augustus, Tiberius, Caligula und Nero nennen. (!) Erst mit dem vordringen des christenthums im römischen reich begann das verbrennen aufser gebrauch zu gerathen, im dritten Jahrhundert hatte es zu Rom völlig aufgehört (?) und gegen den schiufs des vierten be- zeugt dies aufhören Macrobius Saturn. 7, 7, der uns noch eine ihm bekannt gewordne merkwürdige nachricht aufbewahrt: (*) licet urendi corpora de- functorum usus nostro seculo nullus sit, lectio tamen docet, eo tempore quo ig simul incenderentur, solitos fuisse fuınerum ministros denis virorum corpo-

ni dari honor mortuis habebatur, si quando usu venisset ut plura corpora

ribus adjicere singula muliebria, et unius adjutu quasi natura flammei et

(!) Die Poppaea liefs Nero einbalsamieren: corpus non igni abolitum, ut romanus mos, sed regum externorum consuetudine differtum odoribus conditur, tumuloque Juliorum infertur. Tac. ann. 16, 6.

(2) Apollinaris Sidonius, ein christlicher schriftsteller aus der zweiten hälfte des fünften jahrh. bedient sich epist. 3, 13 eines vom leichenbrand entnommnen gleichnisses, ohne dals man daraus folgern dürfte, die sitte habe sich vielleicht in Gallien länger behauptet: enimvero illa (persona) sordidior atque deformior est cadavere rogali, quod facibus admotis semicom- bustum, moxque sidente strue torrium devolutum reddere pyrae jam fastidiosus pollinetor exhorret.

(3) Ich gewahre, dafs schon früher Plutarch quaest. conviv. 3, 4 dasselbe berichtet.

über das verbrennen der leichen. 207

ideo celeriter ardentis cetera flagrabant. ita nec veteribus calor mulierum habebatur incognitus. Ob das wahrnehmungen neuerer physiologen bestä- tigen weils ich nicht, nach diesem zeugnis gehörten also die Römer nicht zu den das verbrennen auf männer einschränkenden völkern, und zugleich er- hellt, dafs ein und derselbe scheiterhaufe mehrere leichen zu umfassen pflegte. Stellen Tertullians lehren dafs wenigstens im zweiten Jahrhundert der leichenbrand zu Carthago üblich war. de corona militis cap. 9: et cre- mabitur ex disciplina castrensi Christianus, cui cremare non licuit, cui Chri- stus merita ignis indulsit? de resurr. carnis cap. 1: sed vulgus invidet, existimans nihil superesse post mortem. et tamen defunctis parentant et quidem impensissimo officio pro moribus eorum, pro temporibus sepulto- rum, ut quos negant sentire quicquam, etiam desiderare praesumant. at ego magis ridebo vulgus tunce quoque cum ipsos defunctos atrocissime exurit, quos postmodum gulosissime nutrit, iisdem ignibus et promerens et offen- dens. o pietatem de cerudelitate ludentem: sacrificat an insultat, quum cre- matis cremat. gemeint scheinen die zum dienst der verbrannten leichen mit- verbrannten sachen.

Die römischen dichter liefern uns erhebende, für den gebrauch lehr- reiche darstellungen des leichenbrandes. aufser Virgils lieblicher schilderung des bestatteten Pallas (11, 64—192) (!) und der des Misenus (6, 179— 230) sei hier nur auf Tibulls zweite elegie des dritten buchs gewiesen, wo es unter anderm heifst

"3 ergo cum tenuem fuero mutatus in umbram

candidaque ossa super nigra favilla teget,

ante meum veniat longos incompta capillos et fleat ante meum maesta Neaera rogum.

sed veniat carae matris comitata dolore: maereat haec genero, maereat illa viro.

praefatae ante meos manes animamque precatae perfusaeque pias ante liquore manus,

pars quae sola mei superabit corporis, 0ssa incinetae nigra candida veste legent,

et primum annoso spargent collecta Lyaeo, mox etiam niveo fundere lacte parent,

(') Dies grab des Pallas wollte man im mittelalter gefunden und eröfnet haben, nach Veldeckes Eneit 8324 ff. zur zeit kaiser Friedrich Rothbarts im jahre 1150, nach den chronisten schon früher unter Heinrich dem dritten um das jahr 1045, vergl. Pistorius 1, 1140, 3, 117 und Fel. Fabri evagatorium 3, 54.

208 Jıcos Grimm

post haec carbaseis humorem tollere velis atque in marmorea ponere sicca domo.

Aber noch mehr aus dem menschlichen leben gegriffen sind die zahlreichen epitaphe, voll des herzlichsten gefühls; ich meine, kein volk der erde war so bereit und gerüstet zu einfachen sinnreichen inschriften bei allen anlässen des lebens, aber auch keine andre sprache so geschickt dafür wie die lateinische, zumal wo in prosa abgefalst wird, denn in metrischen grabschriften möchten es die Griechen den Römern noch zuvor thun. welchen schatz von kennt- nissen verdankt die nachwelt diesen in marmor gehaunen klaren buchstaben; rechten gegensatz bildet die dürre des inhalts der runen auf nordischen grä- bern, oder das barbarische zwar wortreiche doch gedankenarme deutsch auf den leichensteinen unsrer kirchhöfe, dessen schnelles verwittern kommenden zeiten keine sehnsucht wecken wird.

Die Römer gebrauchen sepelire für bestatten in so allgemeinem sinn, dafs es bald terra condere, humare, bald auch concremare und comburere ausdrücken kann.(!) bustum deutete ich in einer jüngst vorgelesenen abhand- lung über die wörter des leuchtens und brennens aus ambustum, was die verba amburere und comburere bestätigen. Festus sagt, bustum proprie dieitur locus in quo mortuus est combustus et sepultus, dieiturque bustum quasi bene ustum; ubi vero combustus quis tantummodo, alibi vero sepul- tus, is locus ab urendo ustrina vocatur, sed modo busta sepulera vocamus. demnach ist bustum gleich dem gr. r@pes aus seinem ursprünglichen begrif einer brandstätte in den des grabs allgemein übergegangen, nur dals < Römern der bezug auf urere fühlbarer blieb als den Griechen bei Tabos und Sarrew. auch den namen urna, der häufig vom aschkrug des grabes gilt (man sagte cineres in urnam condere und caelo tegitur qui non habet urnam) leite ich lieber als vom skr. väri aqua oder vom gr. cügelv und cugavn einfach ab vom lat. uro selbst, sei damit der gebrannte thon oder die verbrannte asche gemeint. Dem scheiterhaufen gaben die Römer bald die gr. benennung pyra, bald die ihnen eigne rogus, welches von regere, wie toga von tegere stammt; regere mag ursprünglich ausdrücken struere, congerere und dem goth. rikan entsprechen, so dafs sich für rogus der begrif von strues, con- geries von selbst einfindet. der genauere sprachgebrauch wendet auch pyra

(') Plaut. Men. I. 2, 43 ist sepulcrum brandstätte, wie das folgende comburamus und incendo rogum ergibt.

über das verbrennen der leichen. 209

auf den ignis rogi an, rogus auf die strues lignorum, in qua imposita cada- vera cremantur. man sagte in rogum imponere, inferre und ascendere rogum.

Ich kann hier anzuführen nicht umhin, dafs nach Pollux 9, 46 (ed. Bekker p. 369) $eyot auch kornschober und sıroßerıe hiefsen, wie gr. Topös todtenbehälter an swgös getraidehaufe und haufe überhaupt mahnt. dazu verglich ich gesch. der deutschen spr. s. 235 ein thrakisches eıgos sirus, welches getraidehöle bezeichnet mit deutschen und finnischen wörtern; jetzt liegt mir an hervorzuheben, dafs den Etrusken oder Tusken die pforte der unterwelt für einen kornbehälter galt und der erde segen mit dem wirken einer unterirdischen welt in berührung stand (O. Müller 2, 98), wie die aegyptischen pyramiden so wol königsgräber als kornkammern, wgeia Barırza cırodoy,& heifsen, (') wir werden noch mehr ausdrücken begegnen, die zu- gleich scheiterhaufen und kornschober bezeichnen. pila, was sonst columna, xiwy aussagt, findet sich nicht für rogus, doch das mlat. pila nimmt den sinn von strues an, woher das engl. pile, scheiterhaufe.

Das zündbare holz hiefs eremium, lignum aridum, quia facile crema- tur, aber auch sarmen (von sarpo): ignem et sarmen eircumdari. Plaut. Most. V.2,65; ligna et sarmenta eircumdari, ignemque subjicere. Cie. Verr. II. 1, 27. inschriften haben die formel: subito conlectitioque igne cremare, wofür dörner sich eignen. dennoch finde ich nie einen der ausdrücke, woran das latein reich ist, spinus, rubus, dumus, prunus, vepris, sentis (neben sentix und dem ad). sentus) beim entzünden des rogus verwandt, und weifs nicht, ob Catull, wenn er carm. 34 des Volusius seripta ‘infelieibus ustulanda lignis’ bezeichnet, infelix etwan im sinn jenes gr. @ygıos setzt. Zur zeit aus welcher uns schilderungen römischer scheiterhaufen zustehn hinterbleibt also von je- nem nomadischen gebrauch der dörner zwar keine spur; doch beachte man, dafs prunus durch seine verwandtschaft mit pruna und prurio, rubus durch die mit rubeo gleichwol auf die vorstellung des brennens weisen. (?) Auf schnel- les niederbrennen des holzstofses und volles zerstören der leiche wurde be- dacht genommen. Wenn bei Sueton im Caligula gesagt wird cap. 59: cadaver tumultuario rogo semiambustum, so drückt das verachtung aus, und bei dem im voraus um seine leiche besorgten Nero heifst es, dafs sein gefolge mit

(') Etymol. magn. 632, vergl. Gregor. turon. 1, 10. (?) Schon Isidor: pruna a perurendo; man nimmt sonst pruna carbo für prusna, wie dumus für dusmus, leitet aber prunus vom gr. mgoÜvos = rgoJuvos.

Philos.- histor. Kl. 1849. Dd

210 Jacog Grimm

mühe erlangte ut totus cremaretur, wie auch bei Tibers bestattung der ruf er- schollen war: in amphitheatro semiustulandum. nichts anders will ambustulare sagen: ambustulatum objieiam magnis avibus pabulum. Plaut. Rud. 4, 65.

Man pflegte das holzgerüste auszuhobeln (wie jenes zwölftafelverbot lehrt), mit tüchern, gewändern und waffen zu schmücken, auch anzumahlen und starkduftende cypressen rings aufzustellen. Wer anzündete, und gewöhn- lich war es der nächste verwandte, wandte das gesicht ab (subjectam more pa- rentum aversi tenuere facem.) Blumen, vögel und andere opferthiere wurden reichlich auf die flamme geworfen und mitverbrannt, wein und wolgerüche gesprengt; eines mitverbrennens der frauen und witwen gedenken römische quellen nicht. (!) die aus dem brand gelesnen knochen und aschen setzte man in hügeln und gräbern bei. columbarium hiefs der raum des grabs, wo die aschkrüge zusammengestellt waren; da dieser ausdruck eigentlich das lager der tauben im gebälk, von wo sie ausfliegen, bezeichnet, darf man vielleicht einen bezug auf den flug der seelen vermuten, die oft den tauben verglichen werden.

Ausgenommen vom brand waren einmal kinder die noch nicht gezahnt hatten. Plinius 7, 16 spricht es als allgemeinen brauch aus: hominem prius- quam genito dente cremari mos gentium non est; des kindes knochen sind noch unfest und dem feuer widerstand zu leisten unfähig. auch Juve- nal 15, 138:

naturae imperio gemimus, quum funus adultae

virginis occurrit, vel terra clauditur infans et minor igne rogi,

durch welchen gebrauch die erst beim zahnen erfolgenden geschenke für das kind in unserm alterthum bedeutsamkeit erlangen.

Ferner blieben unverbrannt fulguriti (Plin. 2, 54), wegen der heilig- keit des vom blitz getrofnen bodens. Ob der tod durch krankheit oder in der schlacht erfolgte scheint keinen unterschied der bestattungen zur folge zu haben, und dafs frauen neben männern verbrannt wurden, lehrt Macrob. Wichtig aber wäre genauer zu wissen, welche altrömischen geschlechter aufser dem cornelischen ihre todten, während der leichenbrand vorherschte,

unverbrannt begraben liefsen. Wahrscheinlich bestanden auch schon vor

(') Wenn es bei Plautus im Rudens III. 4, 62 von zwei mädchen heilst: imo hasce ambas hic in ara ut vivas comburam, so sollen sie als brandopfer der Venus fallen, und die stelle ist nachahmung einer griechischen.

über das verbrennen der leichen. 211

dem sieg des christenthums, seit griechische, jüdische und christliche secten vordrangen, genug anhänger derselben, die ihre leichen der flamme entzogen.

Die bestattungsgebräuche der ALTITALISCHEN völker, von jenem durchbrechenden gegensatz zwischen Latinern und Trojanern abgesehen, sind uns verschollen. Auch in Etrurien scheint beerdigung ältere sitte, die später dem verbrennen wich und nur noch für blitzerschlagene beibehalten wurde. in den gräbern finden sich ganze leichen eingescharrt und grofse steinsärge neben den gewöhnlichen urnen aufgestellt (O. Müller 2, 160.)

Von den leichen der GALLIER ertheilt Julius Caesar wichtige nach- richt 6, 19: funera sunt pro cultu Gallorum magnifica et sumtuosa, omnia- que quae vivis cordi fuisse arbitrantur in ignem inferunt, etiam animalia, ac paullo supra hanc memoriam servi et clientes, quos ab iis dilectos esse con- stabat, justis funeribus confectis, una cremabantur. das brennen ist also hier unzweifelhaft und zum überflufs sagt Mela III. 2, 3: itaque cum mortuis cremant ac defodiunt apta viventibus. olim negotiorum ratio etiam et exactio erediti deferebatur ad inferos, erantque qui se in rogos suorum velut una vietori libenter immitterent. Mit Caesars meldung mufs man aber noch ver- binden, was er 6, 17 voraus geschickt hatte: alii immani magnitudine simu- lacra habent, quorum contexta viminibus membra vivis hominibus complent, quibus succensis circumventi flamma exanimantur homines. hier handelt es sich nicht von leichen, sondern von menschen, verbrechern oder unschul- digen, die den göttern zum opfer dargebracht und der flamme übergeben werden; das weidengeflecht (sarmen) mahnt wieder ans vyraı rugav, und an die zurüstung des scheiterhaufens bei andern völkern. Busta Gallorum hiefs ein ort in den Apenninen, wo eine niederlage der Gallier erfolgt war (Procop. b. goth. 4, 29.)

Aus dem spätern alterthum der Kelten weifs ich kein zeugnis für den leichenbrand aufzuweisen und es befremdet darüber gar nichts weder in irischen noch welschen quellen zu entdecken; Ossians nebelgeister der hel- den sind sich keines verbrennens, bevor sie der hügel deckte, bewust. Aber nichts wird auch einzuwenden sein gegen die aschenurnen und brandüber- reste, die in entschieden keltischen gräbern allenthalben wahrzunehmen sind. Und sollte nicht das ir. draighean, gal. draighionn dorn, draighneach schwarz- dorn, draighbiorasg zunder, drag feuer auf das entzünden des feuers mit dörnern leiten? draighean ist das welsche draen, armor. drean = sl. tr'n”,

Dd2

312 Jacos Grimm

goth. paurnus, hd. dorn, die nicht minder den begrif des brennens in sich zu tragen scheinen; ja eine andre wurzel, das ir. gal. teine, welsche tän feuer schliefst sich, obschon ohne lautverschiebung, an das goth. tains, ags. tän, altn. teinn, ahd. zein virgula, vimen, sarmentum, vielleicht sogar an goth. tandjan, ahd. zuntan incendere.

Von der bestattungsweise bei den SKYTHEN hätte man gern genauere auskunft. Herodot 4, 71 beschreibt höchst lebendig das verfahren der am Borysthenes wohnenden Gerrhen mit der leiche ihres königs. erst wird eine grube gegraben, dann der leichnam einbalsamiert und auf einem wagen bei allen unterwürfigen völkern herum geführt. darauf kommt er in die grube, auf beiden seiten werden spere in die erde gesteckt, hölzer darüber gelegt und mit geflecht bedeckt. in dem grabe wird auch eine der frauen, vorher erdrosselt, bestattet, der weinschenk, koch, marschall und bote, dann pferde, erstlinge von allen andern sachen und goldschalen, zuletzt erde aufgeworfen und ein grofser hügel errichtet. Nach verlauf eines jahres werden funfzig diener und eben so viel pferde getödtet, allen der leib aufgeschnitten und an die stelle des ausgenommnen eingeweides mit stroh gefüllt und wieder zu genäht. Dann festigen sie halbe radfelgen auf zwei hölzern in die erde, sto- fsen eine stange der länge nach bis zum hals durch die pferde und setzen sie auf die felgen, legen den pferden zaum und gebifs an und lassen auf jedes pferd einen der funfzig jünglinge nieder, denen eine stange durch den rück- grat bis zum halse getrieben ist, deren unteres ende in dem durch die pferde reichenden holze haftet. dies gerüste bleibt um das grab aufgestellt. Das ganze gerüste gleicht nun auffallend der pyra equinis sellis constructa, auf welcher der verwundete Attila, um nicht seinen feinden in die hände zu fal- len, sich selbst verbrennen wollte (Iornandes cap. 40) und wahrscheinlich war auch die später über seinem grabe errichtete strava d.i. strues (vom goth. straujan sternere, Iornand. cap. 49) ebenso errichtet, auch das im Sachsenspiegel geschilderte alterthümliche wergeldsgerüste und die anordnung nordischer und angelsächsischer scheiterhaufen wird licht darauf werfen. Herodot gedenkt dabei keines feuerbrands (wie auch in Lucians Toxaris cap. 43. 59 blofs von Sarrew geredet wird); man darf ihn aber sich hinzu denken, wie auch die ra«pcı varguıcı der Skythen, nach allem was vorhin über den gr. sprachgebrauch erörtert wurde, verbrennen nicht ausschliefsen. Der Skythen vorwaltende neigung zu feierlichen gerüsten erhellt am aller deut-

über das verbrennen der leichen. 913

lichsten aus dem drei stadien langen und breiten reiserhaufen, oyxos pguyavwr, welchem jährlich 150 wagen frischen vorrath zuführten (Herod. 4, 62.) da sich pguyavor von peursw ableitet, mutmafse ich, dafs die dörner eben zum zünden der opfer dienten, die hier dem Ares gebracht wurden, dessen altes eisernes schwert oben auf der spitze des haufens prangte.

er Nicolaus Damascenus fragm. 117 (fr. hist. gr. 3, 459) berichtet von wahrscheinlich pontischen Kianern; Kio reis aroSavevras naranavravres zul ÖnToAoyyravrss Ev OAuw Ta ÖTTE KHUTamTisTounw, Era EuSevres Eis TAolov ul #onnwov Aulovres dvamıssurıv eis FEAaYoS nal moos Tev Avsuov &Eodialourw, aygıs av Favra EndurySg za apavf yeınra (1).

THRAKISCHER gräber gedenkt Herodot 5,5 bei den Krestonaeern, einem den Geten und Trausen nahverwandien stamm. die geehrteste und geliebteste frau wird auf des verstorbnen mannes hügel vom nächsten freund getödtet und mitbegraben: Shader Es Tov radov ÜmS TU oirmwrarcu Ewuris, oday,Seira de auvSarreraı 79 üvdg. auch hier darf unter r«bos vorzugs- ‚weise die brandstätte verstanden werden, da das mitsterben der frauen ursprünglichen leichenbrand voraussetzt. dazu sagt Mela II.2, 4 von den thrakischen frauen: super mortuorum corpora interfiei simulque sepeliri vo- tum eximium habent, und gleich darauf arma opesque ad rogos deferunt.

Überall, wo mitverbrennen lebender statt fand, liefs man ein er- würgen vorausgehen.

Indem ich mich nun zu der untersuchung wende, ob leichenbrand oder bestattung unverbrannter leichen bei den DEUTSCHEN der vorzeit gegolten habe; so überhebt uns ein kostbares zeugnis des römischen schrift- stellers, ohne welchen insgemein unser frühstes alterthum dunkel und glanz- los geblieben wäre, aller zweifel. diese unverwerfliche beochtung des Tacitus (denn Caesar hat hier von den Germanen gar nichts berichtet) mufs demnach an die spitze aller übrigen nachrichten treten. er sagt cap. 27: funerum nulla ambitio. id solum observatur, ut corpora clarorum virorum certis lignis crementur. struem nec vestibus nec odoribus cumulant: sua cuique arma, quorundam igni et equus adjieitur. sepulerum cespes erigit; monu-

(') Im Ruodlieb 6, 48 bittet eine verbrecherin selbst den richter: sed rogo, post triduum corpus tollatis ut ipsum et comburatis, in aquam cinerem jaciatis, ne jubar abscondat sol, aut aer neget imbrem, ne per me grando dicatur laedere mundo.

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mentorum arduum et operosum honorem ut gravem defunctis aspernantur. Diese kunde, obgleich auf wahrnehmungen gestützt, die den Römern an westlichen Germanen zu gebot standen, wird sich vollständig bewähren, auf die worte ‘ut corpora clarorum virorum certis lignis crementur’ mufs ich so- wol nach dem was schon voraus gesagt worden ist als nach allen ergebnissen der folgenden forschung das entschiedenste gewicht legen. wie sollte irge ein volk der Germanen, die zwischen leichbrennenden Galliern, Römern, Griechen, Thrakern, Littauern und Slaven eingeschlossen wohnten, sich dieser sitte entzogen haben?

Billig aber nehme ich zuerst auf die GOTHEN rücksicht, welche öst- lichst gesessen, in sprache und gebräuchen vorzugsweise unsern zusammen- hang mit andern völkern des alterthums am reinsten kund geben. wir lernen aus Procops bericht (bell. goth. 2, 14), dafs unter den unleugbar gothischen Herulen noch bis in das fünfte, sechste jahrh. nach Chr. die vorhin bei den thrakischen Krestonaeern angetrofne sitte des mitbestattens der frauen sich fortgepflanzt hatte. die wiederum mangelnde ausdrückliche angabe des lei- chenbrandes darf aus der natur des ganzen gebrauchs, noch sichrer aus dem zusammenhang der stelle selbst gefolgert werden, da unmittelbar vorangeht, dafs nach herulischer gewohnheit auch die alten und kranken, nach vorher beigebrachtem todesstofs auf scheiterhaufen verbrannt wurden: sure yag yn- garnouow oure vorsusw aurois Quorevew Efnv, AAN Ereidav Tıs aürwv D) Yioe N verw dAum, Emavaynes ol &yıwero Tous Zuyyeyeis aireis9aı orı rayırra EE dvSaw- Fwv aürov übaview. ci de Eva moAAa Es meya üos Zuvunravres, naSıravres TE ToV avSpwrav Ev rn Twv EvAwv Umeglcrn, Tuv TIva "Egourw», aNAorgıov KEV- ra, aüv Eipidiy mag aurev Emeumev. Euyyeri yap aurd Tov hovea eva cu Jens. Emeidav di alreis 5 Tou EZuyyevous hoveis Eravpeı, Euuravra Eraiov auTiRa TE Evra, Er rau ETY,arwv pkauevon Tausuueıns TE aurols Ts hAoyes EvANekavres Ta ö0TE TO FAgaUTIR« nm EngumTov. "Egeudcu de üvdoos TEAEUTHTAVTOS ERd- vayass 77 Yuvalnı agerns Heramosumery nal nAcos aury EIeAoucy AcımerIa Bgo- yov avanbarevn Tage Tov TV dvögos rabov cün Eis anpov Syyarew. Feiwusy TE Taura megeisrmrei TO Acımov ddeEw TE Elvar nal Teis ToD dvdgos Evyyevese WOOSHENgEUNEVGL. rasureis Ev Eyguvro "EgovAcı To marav veucis. die hochge- schichteten reiser gleichen dem skythischen &yxos $guyavwv und nicht zu übersehen ist, dafs zwar die verwandten die scheiter anzünden, den todes- stofs jedoch durch einen fremden beibringen lassen.

über das verbrennen der leichen. 915

Die gothische geschichte selbst reicht nicht weit genug ins heidenthum zurück um uns andrer beispiele des leichenbrands zu versichern. Eine stelle des Sidonius Apollinaris gestattet vielleicht folgerungen, epist. 3, 12 von einem bestattungsplatz der todten redend drückt er sich so aus: campus autem ipse dudum refertus tam bustualibus favillis, quam cadaveribus nul- lam jam diu scrobem recipiebat. damals in der zweiten hälfte des fünften jahrh. waren die Gallier längst Christen und dem leichenbrand fremd, aber Westgothen hausten zugleich in jenen landstrichen, entweder noch heid- nische oder arianische, und es ist möglich, dafs sogar die Arianer ein ver- brennen der todten gestatteten; die bustuales favillae können hier aber auch uralte römische oder gallische grabhügel meinen. epist. 3, 3, als des Ecdi- cius sieg über die Gothen (um 470) geschildert wird, heifst es von diesen: tum demum palam offieiis exequialibus oceupabantur, .... sic tamen, quod nec ossa tumultuarii cespitis mole tumulabant, quibus nec elutis vestimenta, nec vestitis sepulcra tribuebant, juste sic mortuis talia justa solventes. ja- cebant corpora undique locorum plaustris convecta rorantibus, quae raptim succensis conclusa domieiliis culminum super labentium rogalibus fragmentis funerabantur; es scheint dafs die Gothen, vom feinde gedrängt, ihre leichen auf den wagen verbrannten.

Das bruchstück eines gothischen calenders verzeichnet uns ein ge- dächtnis oder gaminpi marytr& pize bi Verekan papan jah Batvin bilaif aik- klesjöns fullaizös ana Gutpiudai gabrannidaize, das waren christliche bei noch unbekehrten Gothen im feuer verbrannte märtyrer; die strafart wird auch auf das verbrennen der leichen einen schlufs gestatten. Noch deutli- cher weisen dahin einzelne ausdrücke, deren sich Ulfilas in seiner verdeut- schung bedient. Marc. 5, 2. 3. 5 bei dem besessenen, der in bergen und gräbern hauste, wird das gr. uvju«@ dreimal ausgedrückt aurahi oder aurahjo, wo die vulg. monumentum setzt. was ist dies bisher ungedeutete wort? ich halte es für genau entsprechend dem lat. urceus, was hier den heidnischen rabes, worin die verbrannte leiche bestattet war, bezeichnet;, für das männ- liche urceus galt dem Gothen ein weibliches aurahi mit dem sinn von urna; der bischof stand nicht an, die wohnstätte eines ungeheuern gespenstes mit dem für das heidnische grab hergebrachten ausdruck zu verdeutschen, und es scheint uns damit die sitte des leichenbrands unter den Gothen erwiesen, der aschkrug oder die urne setzen sie voraus. Luc. 8, 27 steht für uyyuara

216 Jacos Grimm

das goth. hlaivasnös gräber, hügel, wie auch sonst das bekannte und ein- fache hlaiv, ahd. hl&o = lat. clivus verwandt wird. Nun dürfte selbst der ahd. ortsname Uraha, das heutige Urach in Schwaben (Graff 1, 459. Stälin 2, 453) auf heidengräber bezogen werden (!); dem urceus und urceolus ent- sprach sonst ein ahd. urchal, mhd. urgel (Diut. 1, 480. 486) und mit über- gang in zischlauturzalurzil, wofür ich bishernurdie bedeutung scyphus, nicht die von urna sepulcralis nachweisen kann. Ürzel heifst ein dor 'fam Vogelsberg.

Aber noch wichtiger wird ein andres goth. wort. wie in aller welt gelangt Ulfilas dazu, das einfache gr. Baros, in der vulg. rubus, zu übertra- gen aihvatundi, was doch wörtlich besagt equi incensio oder combustio? denn ist auch Marc. 12, 26. Luc. 20, 37 gerade der brennende busch ge- meint, in welchem gott dem Moses erschien, so wird doch Luc. 6, 44 nichts als der blofse strauch verstanden. offenbar mufs dieser rubus oder was sich Ulfilas unter Bares dachte den Gothen ganz allgemein eine heilige bestim- mung zum opfer gehabt haben, und hier liegt uns wieder das certum lignum des Tacitus oder das dornreisig bei Theocrit vor augen. zunächst zwar geht aihvatundi auf das den Germanen wie andern Heiden feierliche pferdeopfer, warum sollte der strauch der dies zündete nicht auch für den scheiterhaufen des leichenbrands gedient haben? selbst der gr. name rugaxavSa, den ich für einen wildwachsenden strauch gebraucht finde, scheint mir anzuklingen. unter crataegus oxyacanthus, mespilus pyracantha hat Nemnich die gangbaren benennungen feuerdorn, feuriger busch, brennender busch, buisson ardent, und selbst dem brennenden busch des alten testaments dürfen wir schon mythischen sinn beilegen (?), so dafs der Gothe mit vollem fug sein aihva-

(') Falls man keinen bach (aha) darin sehn will, wie in der thüringischen Oraha (Pertz 2, 344.) (2) Die dichter des MA. wenden den brennenden busch auf Maria an: iu in deme gespreidach Moyses ein fiur gesach, daz holz niene bran; den louch sah er obenan, der was lanc unde breit: daz bezeichent dine magetheit. Hoffm. 2,142, vgl. Wernher vom Niederrhein 43,17 ff. ein provenz. dichter, P. de Corbiac sagt: domna vos etz laiglentina, que trobet vert Moysens entre las flamas ardens.

über das verbrennen der leichen. 917

tundi für Qares, rubus, weifsdorn verwendet im gegensatz zu Paurnus, @zavSa, spina, schwarzdorn. beide dornarten dienten wol zu verschiednen opfern. denn das merkwürdigste ist, dafs auch Pbaurnus unser dorn auf feuer hin- leitet und einer verlornen wurzel bairan = reigew, lat. terere angehört, folg- lich geriebnes feuer aussagt (!); das n in baurnus trat der wurzel zu und ist ihr unwesentlich wie in horn, korn, u.a. m. hierzu halte man die vorhin beim keltischen draighean und draen vorgetragnen bemerkungen.

Die geschichte der HOCHDEUTSCHEN volkstämme hat uns nicht die geringste kunde von einem heidnischen verbrennen der todten überlie- fert; als Schwaben, Baiern, Burgunder, Langobarden bekannter werden, war die christliche begräbnisweise schon durchgedrungen. keins ihrer volks- rechte enthält verbote des brandes, das bairische redet 18, 6 ganz entschie- den von humation und erdwurf auf den todten. Allein zahllose in alaman- nischer, bairischer, burgundischer erde aufgedeckte, weder römische noch keltische grabhügel zeigen uns in ihren aschkrügen spuren des leichenbrands, oft noch neben beerdigten ganzen gerippen; es genügt mir hier auf die zu- letzt entdeckten gräber bei Oberflacht in Schwaben (*) und Selzen unweit Mainz (°) zu verweisen. beide rühren wahrscheinlich von Alamannen her und die letztern reichen, weil sie münzen aus dem constantinischen haus und von Justinian gewähren, nothwendig bis ins 6 Jahrhundert herab.

Entgienge uns aber diese geschichtliche und örtliche bestätigung, die ahd. sprache würde in einer reihe bisher unbeachtet gebliebner ausdrücke uns des leichenbrands versichern. warum sollten ahd. wie goth. unmittel- bar von ihm entnommne wörter ohne anlafs dazu gebraucht worden sein, wären sie nicht vollkommen gangbar und damals noch unausgerottet gewesen?

Für rogus und pyra liefern ahd. glossen den ausdruck eit (Graff 1,152), dem ags. äd entsprechend; die bedeutung ist ganz die des gr. ug«, feuer und brand. unverstanden aber war ein in den gl. Jun. 191 und in andern bei

für aiglentina sagen die Nordfranzosen aiglantier, agalancier, agarancier, garancier; ein ortsname Garencieres heilst bei Irmino 262b. Warenceras, vergleichbar dem flecken Ilerisygos in Cyre- naica (Strabo XVII, 839) oder dem slav. Glogau, poln. Glogow von glog hagedorn.

(!) Graff 5, 699 hat zura paliurus, was ich nicht von zeran, goth. tairan leite, sondern von jenem pairan , mit verworrener lautverschiebung.

(2) Im dritten heft des würtembergischen alterthumsvereins.

(3) Dargestellt und erläutert von den gebrüdern W. und L. Lindenschmit, Mainz 1848.

Philos-histor. Kl. 1849. Ee

218 Jıcos Grimm

Graff 6, 148. 149 enthaltnes saccari rogus, ignis, pyra, zu welchem kein andrer deutscher dialeet etwas ähnliches darbietet (1). desto bedeutsamer ezeigt sich hier eine noch in mehr uralten wörtern vorbrechende verwandt- schaft mit der littauischen sprache, die uns Zagaras oder Zagarai und die vorstellung eines trocknen strauches an hand gibt. saccari also, dürfen wir mit hoher wahrscheinlichkeit annehmen, bezeichnete unsern vorfahren den scheiterhaufen im sinn eines zum brand heran getragnen, aufgerichteten und verflochtnen strauchwerks, wobei man natürlich an eine bestimmte dazu aus- erwählte dornart zu denken hat. ich stelle dem Zagarai das lettische sarri, pasarri strauchwerk, sars zweig, rebe an seite, da litt. Z und lett. s einander begegnen (litt. zole, lett. sahle gras; litt. Zaltis, lett. saltis schlange), sarri

{eo}

scheint aus sag

lettische sprache noch heute sahrts für scheiterhaufe, sahrti für strauch-

ari, sars aus sagars gekürzt. mit übergang des s in $ hat die

schichte in rodungen, $ahrtös kraut für strauchwerk zum verbrennen schich- ten aufbewahrt. u

Gleichen oder noch höheren werth hat die ahd. glosse depandorn rhamnus (gl. Hrab. 973 a. Graff 5, 227), welche vielleicht | A zu berichtigen wäre und dem ags. befedorn spina, rhamnus, anderwärts byfe- dorn sentis qui prehendit, sentis ursinus, Pyfel frutex, sentis entspricht. zwar scheint dies Pyfedorn auf beof fur zu leiten, wie das latein. servos fu- races, an denen was sie anrühren hängen bleibt, sentes nennt (?), allein dann würde beofesdorn gesetzt sein, und die herleitung von deba, diba, was in den malb. gl. incendium aussagt, ist weit vorzuziehen. depadorn scheint demnach brenndorn, der gleich goth. aihvatundi und saccari das cremium beim anzünden der pyra hergab. ich habe mit diesem deba befe incendium und einem verbum debian incendere, ags. befian aestuare gewagt (gesch. d. deutsch. spr. s. 232) die mythischen namen Tamfana und Tabiti = Vesta zu verknüpfen, welche gleichfalls der wurzel tap, tepere und Sarrev zu- fallen, und den uralten bezug von depadorn auf todtenverbrennung bestär- ken. die urkundliche form depandorn liefse sich vollkommen rechtfertigen,

wenn in d&pan das starke part. praet. von depan dap (wie köpan kap k&pan)

(') Ziemanns mhd. sackiere ist unbefugt nach dem ahd. erfunden.

(2) Plauti Casina II. 6, ı lälst den Olympio zum koch sagen: vide fur, ut senteis sub signis ducas. cocus: qui vero sunt sentes ? Ol. quia quod tetigere, illico rapiunt: si eas ereptum, illico scindunt,

über das verbrennen der leichen. 919

gelegen iistundcombustus, 'accensus aussagt. enthält aber schon dorn an sich denselben begrif, so bietet depandorn einen unsrer alten sprache höchst angemessenen pleonasmus dar. welche fülle von uralten bezügen erschliefst uns eine einzige glosse. weit jüngere nachrichten vom anzünden der oster- feuer melden ausdrücklich, dafs man vorzugsweise dazu des bocksdorns rgayarav9a sich bedient, ja das sunwends oder Johannisfeuer selbst “bocks- dorn’ geheifsen habe (d. myth. s.583); diese feuer gehn augenscheinlich zu- rück auf heidnische opfer, und beim darbringen des rosses oder bocks galt ohne zweifel die anzündungsweise des leichenbrands, der auch ein opfer war.

Allgemeiner verbreitet also wralt ist der ahd. ausdruck hurt, welcher den buchstaben wie dem sinne nach dem lat. erates genau entspricht; das r hat nur seine stelle gewechselt. bezeichnet dadurch wird wiederum ein geflecht von weiden und reisig zu vielfachem gebrauch, namentlich zu kähnen und brücken, weshalb es liburna und pons glossiert (Graff 4, 1034) man flocht aber auch körbe, schilde und vorgehängte thüren, das goth. haurds, altn. hurd stehn gerade zu für thür; ags. ist hyrdel crates, craticula, engl. hurdle, thornhurdle, mhd. hurt das geflochtne oder geschichtete reisig

8 auf welchem einer verbrannt wurde:

P\ diu hurt was bereit Bi untz viur dar under geleit. Iw. 5155. ’E ir werdet beide erhangen o oder üf einer hurt verbrant. Trist. 324, 31.

üf einer hürde, diu fiurie si. Wh. 44, 29.

in den gesetzen des mittelalters heifst es “mit der hüt-de rihten’, im Ssp. 2, upper hort bernen, d.i. auf dem scheiterhaufen. mnl. findet sich horde

für'geflecht, z. b. bei Potter 4, 2006; nhd. hat sich hürde zumal für den um die schafherde geflochtnen zaun erhalten. Zur eignen bestätigung des wortes und seines sinnes gereicht aber das altfranzösische re, welches ich aus crates (wie ne aus natus) entsprungen glaube und wie unser hurt für bücher verwandt finde. man sagte ‘ardoir en re’ Trist. 161. 846. 1180 von verbrechern, die den feuertod erieiden sollten:

mende fu la roine

jusques au r@ ardant d’espine, Trist. 1066, also wieder zum brennenden dornbusch oder depandorn, wofür noch be- deutsamer eine vorausgehende stelle spricht, nach welcher könig Marc die

Ee2

220 Jacos GrımMm

weifsen und schwarzen dörner zum verbrennen der königin sammeln läfst, 831:

li rois commande espines querre

et un foss@ faire en terre.

li rois tranchanz de maintenant

partot fait querre les sarmenz,

et asenbler o les espines

aubes et noires o racines. dieser dichter mag noch gewust haben, warum für Iseuts feuertod gewisse dörner (sarmenta, spinae albae et nigrae) auserlesen wurden. auch in Chre- tiens chevalier de la charrette, Reims 1849 p. 16 heifst es: ars en feu d’e- spinel, verbrannt auf dornfener.

Bis in die heutige sprache hinab reicht das ahd. pigo oder piga, congeries, acervus, strues sowol lignorum als manipulorum. bair. beige, holzbeige (Schm. 1, 158), schweiz. beige, byge, ordentlich geschichteter haufe, holzbeige, holzstapel (Stald. 1, 153), big schitter, holzstofs, scheiterhaufe (Tobler 52), schwäb. beug, holzbeug (Schmid 57) (!); ich finde auch in östr. mundart schwanken zwischen vierter und fünfter ablautsreihe. ein ort in Östreich heifst Jedenspeigen, ein andrer Persenbeug, und jener in ältern urkunden Iedungespiuge Idungsspiuge (gesch. d. deutsch. spr. 500) Yduns- peugen (Wiener quellen und forsch. s. 167b.) das ahd. piugo sinus, eur- vatura scheint dafür wenig passend, Iedunges bige aber congeries Tedungi, verstehe man es von geschichtetem holz oder getraide, wobei sich wiederum die behälter für feuer und korn begegneten. denkt man an den alten volks- namen Iedunc Iodunc, so würde ledunges pigo combustura Iedungi, den ort bezeichnen, wo vielleicht im heidenthum ein berühmter held dieses alt- suevischen stammes als leiche verbrannt wurde.

Neben piga setzen ahd. glossen fin, welches denselben begrif von vogus und strues ausdrückt, Otfried sagt fina, und sein versmafs räth langen vocal anzusetzen. von Abraham, als er Isaac opfern wollte, heifst es II. 9,48:

in then alteri er nan legita, druhtin imo sag£ta,

thia liebün sela sina ufan thia wituvina,

joh es ouh ni dualti suntar nan firbranti.

diesem worte entspricht das ags. vudufin und umgesetzt finvudu strues ligni;

(1) Auch die italienische sprache hat dies bica congeries in sich aufgenommen.

über das verbrennen der leichen. 3231

noch im westfälischen holting to Ettelen von 1411 (weisth. 3,82. 83) liest man vineholt. Den Finnen ist pino strues lignorum ordinata, den Esten pinno, den Lappen fino acervus, muora fino acervus lignorum, von muor arbor, lignum, und diese vewandtschaften verbürgen ein sicher in das heidenthum zurückgehendes uraltes wort.

Nicht minder scheint unser heutiges allgemein gültiges haufe, ahd. hüfo und houf strues, agger (Graff 4, 833. 835) und wituhüfo witufina, ags. heap acervus, congeries früher zugleich die vorstellung des scheiter- haufens in sich zu enthalten, denn in den gl. argent. (Diut. 2 194) wird zur redensart rogum sibi construit ein alts. Bäp gefügt. unsre schtepjiehlde zusammensetzung scheiterhaufe mag nicht weit über die letzten jahrhunderte hinaufreichen, Luther verwendet sie nie, doch hat sie Aventin (Frankf. 1580 fol.56b.) hüfo und houf entsprechen dem slav. koupa acervus und litt. kaupas haufe, kapas hügel, grabhügel, todtenmal, kapezius grenzhügel, so dafs uns auch diese benennung zugleich auf leichenbrand und grab leitet.

Die unerforschte wurzel von hüfo houf getraue ich mir in hiufan lugere, ululare zu suchen, dessen praet. houf pl. hufum lautet (Graff 4, 837), die labialis schwankt in hiuban, hiupan, was sich zum goth. hiufan hauf hufum Senveiv, agS. he&ofan oder heofian schickt. hiernach ist hüfo oder houf entwe- der rogus oder sepulerum, wobei geweint, gejammert wird, holzstofs, öyxes, hügel des weinens, der wehklage, ein treffender ausdruck für den scheiter- haufen des alterthums, der allmälich in den begrif der anhäufung überhaupt erkaltete. zugleich würde nun verständlich, warum ahd. hiufo und hiufal- tar rubus, tribulus, paliurus bezeichnen (Graff 4, 836), denselben strauch, der zum leichenbrand geschichtet wird, den dorn des trauerns. das ags. heope, hiope ist rosa silvestris, dornröschen, mhd. hiefe, engl. hep, hip, dän. hybe, schwed. njupon; dem dorn selbst legt der volksglaube fortwäh- rend eine heilige bedeutung bei, wofür auch der name schlafdorn, altn. svefnborn zu erwägen bleibt. merkwürdig scheinen das slavische koupa acervus und kupina rubus in gleicher weise einander zu begegnen. früher nahm ich verwandtschaft zwischen unserm haufe und dem lat. copia an, welche aber schon der wahrscheinlichkeit weichen mufs, dafs copia zu ops und opus gehöre und aus conopia, dessen zusammenziehung das o verlän- gerte, entspringe. ja mit kupa oder kupina könnte selbst kupalo, die sl. benennung des Johannisfeuers, gleich jenem bocksdorn, zusammenhän-

9392 Jıcos GRIMM

gen, oder das altsl. schipok rosa canina, russ. schip’.dorn, böhm. Sip, Sjpek hagedorn mit jenem hiufo, hiefo, da slav. sch öfter unserm h entspricht.

Bustum wird in ahd. glossen (Diut. 1, 167), nach beiden lateinischen bedeutungen, übertragen fiuristat, dar man prinnant, edo daz crap taotero, ubi homines comburuntur aut sepultura mortuorum; dann auch durch aimu- ria, eimurra, altn. eimyrja, ags. aemyrie, d.i. glühende asche im gegensatz zu falawisca, der todten asche. die tradit. fuld. nennen ein dorf Beinrestat, d.i, peinirö stat, locus ossium,

Zuletzt sei noch einer in alemannischen landstrichen gangbaren benen- nung gedacht, mit welcher man vorchristliche, heidnische grabhügel unter dem volke kennzeichnet. sie heilsen dort schelmenacker, schelmengrube, schel- mengasse, oder auch blofs schelm und schelme (!). ahd. scalmo scelmo, drü- cken aus pestis, lues (Graff 6, 451), jener name scheint also auf die durch eine seuche oder schlacht weggeraften menschen zu gehn, wie ahd. wuol strages clades, das ags. völ hingegen lues, pestis besagt, beide rühren an den begrif der walstätte. Beachtenswerth ist eine von Mone s. 215 beige- brachte angabe aus dem j. 1475 “im brand zen haidengrebern’, hier hat sich, scheint es, unter dem volk die erinnerung an das verbrennen fortgepflanzt.

Ich wende mich zu den FRANKEN. auch bei diesem tief in Gallien eingedrungnen volksstamm, dessen übergewicht und frühere geschichtschrei- bung vorzugsweise nachricht über die bestattung der todten erwarten lassen sollte, gehn wir leer aus an unmittelbaren zeugnissen. Gregor und Frede- gar, denen der heidnische brauch sicher noch bekannt sein muste, enthalten sich seiner zu erwähnen (?). Im jahr 1653 wurde zu Tournay ein reiches grab entdeckt, in welchem sich ein schwert mit goldnem grif, eine gold- schnalle, über hundert römische goldmünzen, alle des 5 jahrh., dreihundert goldne bienen, die knochen eines grofsgewachsnen mannes, daneben der schä- del eines jünglings fanden. die eisenklinge des schwertes zerfiel an der luft, alles übrige ist sorgsam zu Paris aufbewahrt (?). höchst wahrscheinlich sind die überreste Childerichs, der im j. 481 noch als Heide starb (erst sechzehn

(') Mones urgeschichte des badischen landes 1,215-218 hat eine menge von belegen.

(2) Freilich im Hunibald steht einmal: Salagastus moritur et combustus urnae imponitur. Trithemii opera, Francof. 1601 fol. p. 83.

(3) Chifletii anastasis Childerici. Antv. 1661. Mabillon c&r@monies sepulerales des rois de France.

über das verbrennen der leichen. 923

jahr später gieng sein sohn Chlodovech über zum christenthum) und im kö- nigssitze Tornacum bestattet wurde. Diese merkwürdigen alterthümer, er- neuter betrachtung werth und bedürftig, lassen gleichwol nicht bestimmt auf einen dem bestatten vorausgegangnen leichenbrand schliefsen, obschon jenes jünglings vom rumpf gelöster schädel, als eines mit verbrannten, viel- leicht dahin weist.

Das salische noch zur zeit des heidenthums abgefafste volksrecht konnte fast nur da, wo aus missethaten anlafs zur composition entsprang, also wo von beraubung der grabhügel die rede ist, gelegenheit haben des leichenbrands zu denken. in der that liefert titel 55 de corporibus exspo- liatis zwar nicht durch die fassung des textes selbst, wol aber durch die bei- gefügten malbergischen glossen, wenn ihnen die rechte auslegung abgewonnen wird, unverkennbare beweise.

Es sind hier zwei fälle unterschieden, der erste, si quis corpus oceisi hominis antequam in terra mittatur, exspoliaverit, worauf blofs 2500 denare stehn, und si quis corpus jam sepultum effodierit et exspoliaverit, wofür 8000 denare zu entrichten sind, aufserdem dafs der thäter zugleich aus dem lande verbannt wird und von niemand aufgenommen und beherbergt werden darf, bis er sich mit den verwandten des todten ausgesöhnt habe. es scheint jedoch nur von bestattung des leichnams und ausgraben des bestatteten die rede, ein vorgängiges verbrennen durch den ausdruck corpus, der für asche und gebein nicht recht taugt, fast ausgeschlossen.

Indessen findet sich zu dieser verletzung des grabs und ausgrabung der leiche die merkwürdige glosse thornechale, thurnichale LV, 3; turnicale, tornechallis sive odocarina (!), thurnichalt (l. thurnichall oder chali) 3, 4;

borechales, turnichalis 143, 1. in thurni, thorne liegt ganz deutlich das goth. paurnus, ahd. dorn vor augen, dessen bezug auf den leichenbrand schon soviel andere benennungen rechtfertigen, in chale chali chalis challis erblicke ich das im text selbst tit. XLI und 227 erscheinende, durch die zusammenstellung mit ramis erläuterte callis hallis allis. challus oder challa vergleicht sich dem ahd. hala siliqua, wintarhalla labrusca (Graff 4,851. 859); winterhehlen heifsen nach Nemnich noch in Östreich herlinge; thurnichallus

(') Odocarina berichtige ich in chre&otargina cadaveris sepimentum. lex sal. ed. Merkel s. LI.

334 Jaıcog Grimm

oder wie man die endung bilden wolle, drückt also dorngezweig, dornge- flecht, dornschichte aus, womit man ursprünglich den scheiterhaufen, dann aber, wie bustum und r«des in den begrif des grabs übergiengen, den grab- hügel bezeichnete. man dürfte bei challus auch ans goth. hallus petra, altn. hallr lapis und höll aula, ags. heal, ahd. halla steinsal denken und thur- nichallis auffassen als dornhalle, dornstein; seit das verbrennen mit dem begraben tauschte, konnte es natürlich sein, dafs der bisher geheiligte dorn- strauch auch auf das unverbrannte leichen umschliefsende grab gepflanzt wurde, es geschah vielleicht aus ähnlichem grund auch bei den hügeln ver- brannter leichen. hierzu stimmt sogar die ahd. glosse thornhüs ram (gl. Ker. 236. Hattemer 203b.) dornhüs rar (Diut. 1,270), wo ich statt des sinnlosen rar und ram vorschlage zu lesen ramnus, rhamnus oder ein roma- nisches ramale, ramata, in beiden fällen scheint damit ein bedornter grab- hügel gemeint. ferner dürfte man tit. XLI de ramis aut hallis cooperuerit’ durch ein bedecken mit ästen und steinen deuten; dadurch wird nun auch in einer urkunde des j. 786 bei Wenk im dritten band der ausdruck "tumuli qui vocantur hagenhougi’ vollkommen erläutert, es sind dornhügel, von ha- gan paliurus und houc tumulus. Diese einzige glosse thurnichallis versichert uns also, wenn man meinen erörterungen folgen mag, dafs die Franken, gleich den übrigen Deutschen, ihre todten auf dörnern verbrannten und zugleich einen dorn über der grabstätte pflanzten.

Noch unsern volksliedern ist es unvergessen, dafs auf oder vielmehr aus gräbern dorn und weilsdorn spriefsen. in der sageberühmten schlacht Carls des grofsen mit den Heiden, als der gefallnen leichen unerkennbar untereinander lagen, geschah ein wunder: man fand bei anbrechendem tag durch jeden Heiden einen hagedorn, bei jedes Christen haupt eine weifse blume gewachsen, ich will Strickers worte selbst ausheben, 118 b.:

zwei ungelichiu wunder

sach man an in beiden:

durch iegelichen heiden,

der ze töde was erslagen, gewahsen was ein süre hagen; (23

(‘) Aus hagan, mhd. hagen paliurus entsprang das nhd. hain, eigentlich dumus, dumetum, zuletzt lucus, silva überhaupt.

(2) Bei Schilter: was gewahsen ein hagen; ich bessere nach Trist. 449, 12 und schalte in der folgenden zeile 'heiden’ ein, da das sechsjährige aussehn, in verschrumpfter zwerggestalt, auf die hagendörner selbst nicht zu beziehen ist.

[80] [80] ou

über das verbrennen der leichen.

die heiden wären rehte gestalt, als wren si sehs jär alt,

sus lägen die unwerden gezwicket zuo der erden;

die cristen lagen baz hindan, sach man iegelichem man gar bi sinem houbte stän

ein wizen bluomen wol getän. die werden pilgerine

von des liehten tages schine die hagendorne sähen, begunden sie dar gähen

und sähen die heiden geschant, daz bime zeichen wart erkant, ir sele verlorn w.eren

und aller genäde enbzren ;

die cristen lägen michels baz, got het an in erzeiget daz, daz er ir helfer wolte wesen, dös alsö lägen üz gelesen gezieret mit den bluomen wiz: got het siner genäden fliz

an ir lichnämen bewant.

In des pfaffen Conrad überlieferung, wie bei Turpin selbst, geht das alles verloren; doch auch eins der altfranzösischen gedichte meldet, dafs um die beerdigung der auf dem schlachtfeld vermischt liegenden leichen zu vollbrin- gen ein gebet wunder gewirkt habe und früh morgens alle Heiden in dörner verwandelt gewesen seien, die nicht blühen können (!). darunter scheint offenbar der schwarzdorn, spina, verstanden, der, wo genau gesprochen wird, dem weilsdorn rubus entgegen steht, und den Heiden zum opferbrand dien- sam war. Bedeutungsvoll aber nannten die Franken jene grofse walstätte Ronceval, span. Roncesvalles, bei Turpin Runciae vallis, von runcia, franz. ronce rubus, sentis, und dieser altfränkischen sage (?) traue ich noch ein

nachgefühl des heidnischen begriffes thurnichallis zu.

(1) Monin roman de Roncevaux. Paris 1832 p. 52. Den helden Olivier läfst diese sage (p. 38) wol mit absicht bei einem weilsdorn sterben: desoz un pin, delez un aiglentier, la trova mort le cortois Olivier. (2) Die geschichte redet blo[s von einem treffen der Franken mit den Vasconen im j. 778. Eginhart cap. 9.

Philos.- histor. Kl. 1849. Ff

296 Jacos Grimm

Um nochmals zum salischen gesetze zurückzukehren, nimmt man tit. XLI, wo von einem werfen des getödteten in den brunnen und zudecken mit reisern und dörnern die rede ist, callis entschieden für dörner, so ver- dient der zusatz “aut incenderit' in 318 (ed. Merkel s. 86) hervor gehoben zu werden, weil cooperire et incendere an den leichenbrand mahnt und for- melhaft hierher übertragen scheint, wo gar kein brand angewandt wäre. diese worte gewährten dann den einzigen bestimmten ausdruck des textes selbst für das verbrennen.

Was bedeuten die worte: si quis cheristadona (cheristaduna, arista- tonem) super hominem mortuum capulaverit, mit der malb. glosse madoalle oder mandoado 144 und 256°? charistado cheristado haristato aristato scheint mir eine auf dem grabhügel am ofnen weg, wohin die heidnischen gräber ge- legt zu werden pflegten, errichtete heerseule oder irmenseule. die kaiser- chronik meldet z. 624, dafs die Römer des getödteten Julius Caesar gebein auf (vielmehr unter) einer irmenseule begruben, ganz wie die griechischen hermen auch am wege standen. Aus Paulus Diaconus wissen wir, dafs die Langobarden stangen (perticas id est trabes) an ihren gräbern errichteten, und der charistadonen scheinen mehrere auf einem grab gewesen zu sein, da von einem jeden (unoquoque) die gesetzte bufse von 600 denaren zu zahlen ist. 339 heifst es schlecht erläuternd: si quis aristatonem, hoc est stapplus super mortuum missus, capulaverit, aut mandualem, quod est ea structura sive selave, qui est ponticulus, sicut mos antiquorum faciendum fuit, qui hoc distruxerit aut mortuum exinde expoliaverit, de unamquamque de istis 600 denarios culpabilis judicetur. in diesem barbarischen satz ist staplus das ags. stapol, ahd. staphol, altn. stöpull columna, basis, fulerum, dän. stabel pila; mandualis oder mandoalle ein gitter, wenn das ags. mond, engl. mound corbis u. Ducange s. v. mandalus, clausura zur erklärung genom- men werden darf. selave, silaue, 144, 4 sogar si levaverit, vermag ich gar nicht zu deuten. Endlich 145: si quis hominem mortuum super alterum in nauco (naufo naupho naucho) aut in petra miserit, malb. edulcus (idulgus), sol. 35

(') Vgl. deutsche myth. s. 105. 107. Heinrichs von Müglein ungrische chronik (nach Keza) erzählt, wie Kewe der Heunen feldherr bei Tulna in der schlacht gegen Dieterich von Bern blieb: do kamen die Hewnen und huben iren haubtmann auf und machten ein steinen sewl pei der strasze und pestaten in mit seiner geselschaft, die des wirdig waren. Man halte hierzu her- nach den slavischen bestattungsbrauch.

über das verbrennen der leichen. 2237

eulpabilis judicetur. naufus scheint ein sarg zu sein, denn Gregorius turon. de gloria confess. sagt: sancta corpora pallis ac naufis exornata, reliquien in kostbare tücher gewunden und in särge gelegt; vielleicht hängt nauchus nauphus mit unserm nachen und dem lat. navis zusammen (vgl. altn. nöi vasculum) und mit dem heidnischen brauch im schiffe zu begraben, in schif- fen leichen zu verbrennen oder den särgen und gräbern gestalt des schiffes zu geben. beides zu schiffen und särgen werden bäume ausgehölt, und wenn tit. 18 der lex Bajuv. de mortuis et eorum causis mit einem capitel de navi- bus schliefst, so kann dabei dieser zusammenhang obwalten.

Alle diese in erwägung gezognen stellen des salischen gesetzes bieten noch mehrfache dunkelheit dar und lassen zwar in der glossethurnechallis den leichenbrand vorblicken, gewähren aber über das begräbnis selbst so vielfache bestimmungen, dafs man der annahme sich kaum enthalten kann, unter den Franken habe schon vor ihrer bekehrung auch das begraben neben dem ver- brennen geherscht. Was in Benedicts capitularien 2, 197 (Pertz 4b., 83) gesagt ist: admoneantur fideles ut ad suos mortuos non agant ea, quae de paganorum ritu remanserunt, ist zu unbestimmt, als dafs man daraus für die eine oder andre bestattungsweise etwas folgern dürfte. Rogge (über das gerichtswesen der Germanen s. 38. 39) stellt mit gewohnter kühnheit auf, das begraben sei die regel gewesen und habe für den natürlichen tod, das verbrennen für die ermordeten, in der fehde und dem volkskrieg gefallnen gegolten. an beweisen hierfür gebricht es ganz.

Die, wie es scheint, zu anfang des achten jahrh. abgefafste, in Ma- billons acta Bened. gedruckte vita Arnulfi metensis enthält cap. 12 eine wichtige meldung, nach welcher sich nicht zweifeln läfst, dafs zur zeit Da- gobert des ersten, folglich noch in des siebenten jahrh. erster hälfte die heidnischen THÜRINGE ihre todten brannten. Als nemlich im gefolge des Frankenkönigs Arnulf nach Thüringen gelangt sei (patrias Thuringorum intrasset), habe sich an einem orte daselbst ein kranker, dem sterben naher jüngling befunden, mit welchem Oddilo, einer der vornehmen in des königs geleite, verwandt und befreundet war. bei der bevorstehenden abreise des königs sei nun diesem Oddilo in seiner bekümmernis und angst kein andrer rath geblieben als den befehl zu ertheilen: ut languentis capite amputato, cadaver “more gentilium’ ignibus traderetur; vielleicht wollte er die asche mit sich führen, Arnulf jedoch um hilfe angegangen, habe durch sein gebet

Ff2

238 Jaıcos Grimm

des kranken gesundheit hergestellt. Das abschneiden des haupts erklärt etwa den unverbrannt bestatteten jünglingsschädel in Childerichs grab; ge- nau aber stimmt zu der herulischen sitte sich ihrer abgelebten greise zu entledigen oder der skythischen und altnordischen ihre alten vom fels zu stürzen, dafs auch in Thüringen gestattet war, aufgegebnen und verzwei- felten siechen, bevor der natürliche tod eintrat, das leben zu nehmen, wo- durch sie wol gar erst des feuerbrandes würdig wurden. Aus der lex An- gliorum et Werinorum steht für diesen nicht das geringste zu gewinnen.

Noch minder als bei Franken und Thüringen läfst sich unter den länger dem heidenthum anhängenden SACHSEN das verbrennen der todten in abrede stellen. Die epist. 72 Bonifacii (ed. Würdtw. p. 192) vom j. 745 besagt: nam in antiqua Saxonia si virgo paternam domum cum adulterio maculaverit, aliquando cogunt eam propria manu per lagueum suspensam vitam finire, et super bustum illius incensae et concrematae corruptorem ejus suspendunt; die an sich selbst hand an zu legen genöthigte wurde nach- her verbrannt, weil es brauch war alle todten zu verbrennen. Das im j. 785, wahrscheinlich zu Paderborn ergangne capitular Carl des grofsen verordnet cap. 7 (Pertz 3, 49): si quis corpus defuncti hominis secundum ritum Pa- ganorum flamma consumi fecerit et ossa ejus ad cinerem redegerit, capite punietur; und cap. 22: jubemus ut corpora Christianorum Saxanorum ad cimeteria ecclesiae deferantur et non ad tumulos Paganorum. diese an ihrer gestalt kennbaren tumuli und der brand war den bekehrern ein so grofser greuel als das essen des pferdefleisches.

Dafs im zehnten und eilften jahrh. unter dem niederdeutschen volk noch manche erinnerung an das verbrennen der todten haftete, verraten uns züge bei den geschichtschreibern. Thietmar von Merseburg erzählt 1,7, zur zeit bischofs Balderich von Utrecht (928 bis 977) habe ein priester in der morgendämmerung eine neuerbaute kirche zu Deventeri betretend die todten opfer bringen sehn und sei in der folgenden nacht, als er auf des bischofs geheifs in der kirche wache hielt, von den geistern heraus geworfen, endlich in der dritten nacht von ihnen ergriffen und dem altar gegenüber zu asche verbrannt worden: et ecce solita venientes hora elevaverunt eum, coram altari eum ponentes et in favillas tenues corpus ejus resolventes. der volkswahn liefs diesen verstorbnen geistlichen von (heidnischen) geistern,

denen der kirchenbau zuwider war, den flammen übergeben. Als im j. 1017

über das verbrennen der leichen. 339

zu Magdeburg feuer ausgebrochen und ein geistlicher darin verbrannt war, sammelte man sorgfältig die asche: corporis perusti tenues favillas mane patres sumopere colligentes suis apposuere praedecessoribus. Thietmar 7, 43. das wäre nichts heidnisches und noch heute bleibt das gebein der im feuer verunglückten nicht unbegraben; allein der beidemal gebrauchte ausdruck “tenues favillae’ scheint mir noch einen unterschied zwischen der asche des leibs und des holzes anzudeuten, auf welchen man sich bei verbrennung der leichen ohne zweifel wol verstand: es ist das was Horaz ‘favilla nigra’ nennt im gegensatz zum ceinis e carbonibus.

Gewis deuten einzelne ortsnamen sächsischer gegenden auf heidnische brennstätten; ich will einige hervorheben. in Geldern liegt ein dorf Eede, wahrscheinlich von &d, ags. äd, ahd. eit ignis rogi. Kemble no. 983 hat Adeshäm, heute Adisham in Kent, was in ahd. Eitesheim zu übertragen wäre. Balahornon der trad. corb. 9.51, Balehornon in pago Pathergö des registr. Sarachonis 209, Baleharnon in der Freckenhorster rolle und in Kindlingers münst. beitr. 2,59, die heutige bauerschaft Ballhorn im kirch- spiel Enniger und wol noch anderwärts in Niedersachsen (1), leitet sich zurück auf bäl rogus, ags. b:iel, altn. bäl und horna angulus, ags. hyrne, fries. herne, weil man wahrscheinlich in jedem landstrich gewisse abgelegne örter zum leichenbrand ausersah. im ags. Bxle bei Kemble haben wir das einfache, jenem Eede vergleichbare wort selbst, und in Bxleshäm, heute Balsham ein gegenstück zu Adeshäm (?). Falke trad. corb. 792. 795 führt aus braunschweigischen urkunden eine villa Sekere an, die ich einmal wagen will jenem ahd. saccari rogus an die seite zu stellen, wenigstens sonst gar nicht auslegen könnte. sollte nicht im itiner. Antonini der ortsname Com- busta oder ein Combustica in Mysien, gleich jenem Busta Gallorum und Je- gen?

Die trad. corbeienses 229 gewähren den seltnen mannsnamen Horo-

densbeige in Östreich stätten des leichenbrands anzei

bolla, welcher ungefähr bedeuten mufs urna lutea, aschenkrug. In niederdeutschen gräbern finden sich nicht allein verbrannte men- schenknochen und geräth, das vom leichenbrand verbogen und gesprengt

(*) Auch die trad. fuld. cap. 6 p.41 ed. Dronke haben “in villa Balhurne’, man sieht nicht wo gelegen.

(?) Svilberg, der name eines sächsischen gaus, scheint brennberg, ahd, Sulziberg cod. lau- resh. 2703 für Suilizoberg, von suilizo incendium.

230 Jıcos Grimm

wurde, sondern auch unverbrannte, und sachen, die keinem brand ausgesetzt waren ('). gehören diese hügel dem Sachsenvolk oder einem andern deut- schen an, so ist offenbar, dafs die leichen, nach einem uns unbekannten unterschied bald verbrannt, bald unverbrannt begraben wurden.

Alle bisher für den leichenbrand unter gothischen, hoch und nieder- deutschen volkstämmen aufgebrachten beweise sind mühsam aus einzelnen glossen und ortsnamen oder vereinzelten nachrichten der gesetze und ge- schichtschreiber zusammen gestellt worden; ungleich lebendigere und be- deutendere meldungen gehen aus angelsächsischen und altnordischen quellen hervor, nicht nur weil diese auf einer längeren dauer des heidenthums und seiner denkmäler sondern auch auf der bei jenen stämmen fast erloschnen einheimischen poesie beruhen.

Für die ANGELSACHSEN liefert uns das epos von Beovulf, dessen jetzige gestalt höchstens dem siebenten oder gar achten jahrh. angehört, dessen grundlage schon von den auswandernden Angeln und Sachsen nach Britannien mitgebracht wurde, die schilderung zweier grofser scheiterhaufen, die freilich prächtiger und geschmückter hervor treten, als des Römers ein- fache beschreibung ergab. Der erste leichenbrand ist der des helden Hnäf (ahd. Hnebi), nach dem es auch in einer urk. von 976 bei Kemble 3, 130 heifst Hnäfes scylfe, zur bank oder zum stul (engl. shelf) des Hnäf. die ganze von 2207-42 reichende stelle muls hier ausgehoben und erwogen

werden. äd väs geäfned and iege gold ähäfen of horde herescyldinga, betst beadorinca väs on bl gearu. ät päm äde väs &dgesyne svätfäh syrce, svin ealgylden, eofer irenheard, ädeling manig vundum ävyrded, sume on väle crungon. het Hildeburh ät Hnäfes äde hire selfre sunu sveolode befästan, bänfatu bärnan and on bl dön, earme on eaxle. ides gnornode, geomrode giddum, güdrinc ästäh, vand volenum välfyra mzest, hlynode for hläve, hafelan multon,

(1) Lisch meklenb. jb. 11,368-372. Was alles Bolten (Ditmarsische gesch. 1, 315-310) von gräbern und leichenbrand meldet ist schmählich erdichtet.

über das verbrennen der leichen. 931

bengeato burston, bonne blöd ätspranc, lädbite lices lig ealle forsvealg,,

gesta gifrost pära pe per güd fornam bega folces, väs hira blaed scacen.

da die ganze erzählung von Hnäf nur eine episode des gedichts bildet, ‚bleibt in den persönlichen verhältnissen einiges dunkel. Hnäf war, wie aus Vid- sides liede erhellt, ein Höcing, also chaukisches geschlechts, und die schlacht, worin er fiel, auf friesischem grunde geschlagen, weshalb alle diese gebräuche für Friesland mitgelten müssen. Hildeburg, Höces tochter (2146) verlor in der schlacht geliebte kinder und brüder, ich nehme den Hnäf für ihren bruder, auf dessen scheiterhaufen sie zugleich den gefallnen sohn bringen, und mit dem arm an jenes achsel stellen liefs, earm& scheint instrumentalis. sveolod von svelan brennen ist ein mit äd gleichbedeutiges wort für die glut. aufserdem waren andre im kampf gebliebne krieger, das blutige hemd des Hnäf, sein eberhelm und schweres gold auf den holzstofs gelegt. unter lau- tem wehklagen Hildeburgs erhob sich nun die gierige um den hügel spielende flamme und des helden geist erstieg mit ihr in die luft: so glaube ich das “güdrine ästäh’ auslegen zu dürfen, denn ein steigen des todten auf den scheiterhaufen kann unmöglich damit gemeint sein; oder wäre zu ändern güdrec, heftiger rauch?

Die zweite stelle am ende des ganzen lieds geht auf den gefallnen Beovulf selbst 6268 -90

him gegiredon Geäta leode

äd on eordan unväclicne helmbehongne, hildebordum, beorhtum byrnum, svä he b@na väs. älegdon t6 middes mzerne beoden häled hiofende hläford leofne. ongunnon on beorge bielfyra mzxst vigend veccan: vudurec astäh

sveart of svichole, svögende let

vöpe bevunden, vindblond (ne) geläg, od pät he bänhüs gebrocen häfde hät on hredre.

die helden behiengen den scheiterhaufen mit helmen, schilden, brunien, legten ihren geliebten herrn in deren mitte und begannen das feuer zu wecken, das nun den leichnam verzehrte. wie dort välfyra mzst heifst der

2332 Jacos Grimm

brand hier balfyra mest; vudurec ästäh käme dem vorhin gemutmasten güdree ästäh zu statten: schwarzer rauch stieg unter wehklagen (hiofan s. 221) der leute prasselnd aus der glut (vielleicht für svicpole zu lesen sviolode?) und der wind legte sich nicht, bis das beinhaus (der leichnam) gebrochen war. In den folgenden leider beschädigten versen wird hinzuge- fügt, wie die männer über der brandstätte einen hohen und breiten hügel aufwarfen, zwölf heldenden hügel umritten und ihres herrn preis ausspra- chen. mitverbrannter rosse ist in keiner der beiden stellen gedacht.

Hier sind noch einige andere desselben gedichts:

bronde forbärnan, on bzxl hladan. 4247.

hlev gevyrcean beorhtne äfter bzele. 5600.

wer he bel cure, häte headovylmas. 5632.

sceal brond fretan, äled peccean. 6025.

pe us beägas geaf on ädfere

ne sceal änes hvät meltan mid pam mödigan. 6012.

heht pät hie bzelvudu feorran feredon. 6219; die letzten worte mahnen an das herbeischaffen des holzes zur pyra im ho- merischen epos, welches holz unter baelvudu gemeint sei, möchte man wissen.

Cxdmon, da wo Abraham und Isaac, oder die drei männer im feu- rigen ofen besungen werden, verwendet überall noch die heidnischen aus- drücke; er sagt äd hladan 175, 25, äd und balfyr 173,3. 4. on ba»l ähöf 175, 30. 177, 14. ädfyr onbran 203, 4. bzelblyse 203, 9. 230, 12. baele gebeodan 242,4. die schottische sprache hat bail für feuer und flamme bewahrt; es klingt auch an das galische bealteine, beilteine an.

In den ags. gesetzen begegnen ebensowenig verbote des heidnischen leichenbrands als in den fränkischen und thüringischen; mehr fällt auf, dafs die canones Edgari, capitula Theodori, das confessionale Ecgberhti unter- lassen abergläubische überreste des gebrauchs zu rügen, er scheint schon verschollen. Was bei Beda 3, 16, als vom anzünden einer stadt die rede ist, gesagt wird: advexit illo plurimam congeriem trabium, tignorum, parietum virgearum et tecti foenei, lautet in der übersetzung: micelne äd gesomnode on beamum and on räftrum and on vägum and on vatelum and on bacum. hier drückt äd nicht die flamme aus, sondern den gehäuften, geschichteten holzstofs und die parietes virgeae sind crates.

Noch länger als unter den Sachsen dauerte der heidnische glaube bei

den SCANDINAVEN, noch reichlicher verzeichnet sind hier die denk-

über das verbrennen der leichen. 933

mäler in gedicht wie prosa, und hier werden die ausführlichsten nachrichten und beispiele für das verbrennen der leichen anzutreffen sein. selbst die heutigen sagen und lieder weisen noch manigfach darauf zurück.

Snorri in der vorrede zu seinen königssagen geht sogar vom verbren- nen aus und meldet, das erste zeitalter habe brunaöld geheifsen, wo man alle todten menschen brannte und über ihnen bautasteine aufwarf; als aber Freyr unverbrannt im hügel, dem man drei fenster offen liefs, nachher auch der dänische könig Danr samt waffen, rüstung, pferd und sattelzeug gleichfalls im hügel beigesetzt worden sei, habe dieser brauch zumal in Dänmark um sich gegriffen und ein haugs öld begonnen, in Schweden und Norwegen das brennen länger angehalten. In Ynglingasaga cap. 8 folgt aber die bestimm- tere angabe, dafs erst Odinn das brennen der leichen auf dem scheiterhaufen verordnet und jedem verbrannten aufnahme in Valhöll zugesichert habe: so viel von eines gut auf den scheiterhaufen gebracht sei, werde ihm nachfolgen, die asche solle man ins meer schütten oder in die erde begraben (also das vom feuer übrig gelassene den andern elementen zuführen.) Nach dieser vorstellung ist anzunehmen, dafs vor Odins zeit gleichfalls begraben und später dazu wiedergekehrt wurde. cap. 10 sagt, nach seinem ableben sei Odinn selbst verbrannt und nun das brennen allgemein geworden; man habe geglaubt, je höher der rauch in die luft aufsteige, desto geehrter sei der verbrannte im himmel, wodurch sich der vom ags. dichter gewählte ausdruck “ästigan” bestätigt: jeder natürliche mensch beim anblick des leichenbrands muste so empfinden (1).

Gleich Odinn war auch Niördr und Odins sohn Baldr verbrannt wor- den, an Freys leichnam glaubten die Schweden seien fruchtbarkeit und friede im land gebunden, darum wollten sie ihn nicht brennen, sondern unversehrt im hügel beisetzen. Von den folgenden königen wurden Vanlandi, Visbur, Domarr, Agni, Haki dennoch verbrannt, dazwischen auch einer oder der andre begraben, bis endlich die gewohnheit des blofsen begrabens allgemei- ner um sich grif. nach Yngl. saga 24 Alfr oc Yngvi heygdr, ebenso Ön,

Egill, Adils, Yngvar, Hälfdan (das. 29. 30. 33. 36. 49.) Hälfdan svarti

(') Maria 158, 1 von einem opfer: er brant beidiu fleisch und bein; sich der rouch üf bouc, der engel al damite flouc.

Philos. - histor. Kl. 1849, Gg

234 Jacog GrımMm

wurde in vier stücke zerlegt und an vier stätten beerdigt, um dem land fruchtbarkeit zu verleihen, es gab daher mehrere Hälfdanar haugar. Harald wurde unverbrannt in den hügel gelegt, nicht anders Häkon gödi samt sei- nen waffen.

Neuere scandinavische gelehrten sind geneigt, alle gräber mit eher- nem geräth für keltisch zu erklären, die mit eisernem und verbrannten leichen den Schweden und Norwegern, grablager mit unverbrannten leichen und zugabe des rosses den Dänen anzueignen. gleichwol ist jene sage von Dan nicht unmythischer als die von Frey, und ich bezweifle kaum, dafs auch bei den Dänen, wie bei den Gothen und den übrigen Germanen in bestimm- ter zeit leichenbrand herschte; nur hat er in Norwegen und Schweden, wie das heidenthum insgemein, sich länger behauptet.

Odinn selbst, wo er auftritt, ist blofs im licht des mythus, nie der ge- schichte zu fassen. verlege man seinen zug aus Skythien oder Thrakien vor oder nach Christus, wir wissen durch Tacitus, dafs zu beginn unsrer zeit- rechnung die Germanen verbrannten; die sitte mufs nothwendig unter ihnen weit älter gewesen sein und ihre einführung kann gar nicht von dem vor- dringen der asen gegen westen und norden abhängen.

Diese halbgöttlichen asen und die von ihnen entsprofsnen helden und könige unterlagen wie der griechische Herakles, gleich allen andern sterb- lichen, dem tod und scheiterhaufen; wie sollte dessen gebrauch bei dem deutschen volk überhaupt nicht in ein unvordenkliches alterthum zurück reichen’?

Ein berühmteres beispiel des leichenbrands gibt es nicht als das von Baldr Odinssohn: nachdem er durch verrat allen unerwartet und zutiefer trauer gefallen war, brachten die asen seine leiche zur see auf ein schif und errich- teten da den scheiterhaufen. Nanna seine frau starb vor grofsem harm und wurde auch in die flammen gelegt, welche Thörr mit seinem hammer weihte; einen ihm vor den füfsen laufenden zwerg (!) stiefs er gleichfalls in die glut. Baldrs pferd wurde herangeleitet und mit allem sattelzeug verbrannt, Odinn that seinen kostbaren ring Draupnir hinzu und hatte dem geliebten sohn,

(') Litr, vielleicht Liotr, deformis, denn die zwerge waren hälslich. der zug mahnt an den mexicanischen brauch, auf dem scheiterhaufen des königs aulser seinen dienern auch einige unge- stalte männer mit zu verbrennen, die er zum zeitvertreib in seinem palast unterhalten hatte. Klemm 5, 51.

über das verbrennen der leichen. 235

bevor ihn die flamme verzehrte noch worte ins ohr geraunt (1). Noch dem könig Heidrekr legt in Hervararsaga cap. 15 Gestr die frage vor: hvat m«elti Odinn i eyra Baldri, ädr hann var ä bäl borinn? wie Vegtamr die vala fragt: hverr mun hefnt Hedi heipt of vinna, eda Baldurs bana ä bäl vega? woraus sich ergibt, dafs Hödr, der den Baldr unwissend erschossen hatte, zu vergeltung (von Rindrs neugebornem sohne Vali) getödtet und auf dem scheiterhaufen verbrannt werden sollte; das wird auch gesagt in Vö- luspä 38. Bei dieser leichenfeier Baldrs treffen wir also das mitverbrennen der gattin, des rosses und andrer gegenstände als wesentliche grundzüge; dafs im mittelalter bis auf heute das ritterpferd der leiche folgen mufs, er- klärt sich aus diesem mitverbrennen, hat aber seinen rechten sinn verloren.

Wenn es Völuspä 26 heifst

er Gullveigo geirom studdo,

ok i höll Härs hana brendo:

brisvar brendo prisvar borna, so drückt das der dreimal wiedergebornen Gullveig dreimaliges verbrennen aus, auf jede geburt in die welt folgt zuletzt die bestattung. das geirom stydja läfst ein feierliches legen oder erheben auf sperschäften beim brand vermuten.

Rührend ist in der eddischen Brynhildargvida Sigurds und Brynhilds scheiterhaufe besungen; das muste in den hörern des lieds ganz andern ein- druck hervorbringen, als Siegfrieds, wenn auch ergreifend dargestellte be- vilde in den Nibelungen. Brynhildr läfst zwischen sich und Sigurd das schwert legen, wie es einmal im bett zwischen beiden gelegen hatte; ihr zur seite soll der geliebte mann brennen; ihm zur seite ihre geschmückten dienstboten, zwei zu häupten und zwei habichte; wenn ihm fünf mägde und acht diener folgen, kann die thür der unterwelt nicht auf seine füfse fallen. Die einfachen worte selbst lauten so:

lättu svä breida borg ä velli, at undir oss öllum iafnrümt se,

(2) Auf Baldrs scheiterhaufen beziehen sich stellen der hüsdräpa. Laxd. saga p. 387. 388.

Gg2

9336 Jacos Grimm

beim er sulto med Sigurdi.

tialdi par um borg tiöldom ok skiöldom, valaript vel fäd ok vala mengi, brenni mer inn hunska ä hlid adra.

brenni enum hunska ä hlid adra

mina piona menjum göfga,

iveir at höfdum ok tveir haukar:

er öllu skipt til iafnadar.

liggi ockar enn i milli mälmr hringvaridr, egghvast iarn svä endr lagit,

er vit biedi bed einn stigom,

ok h&tom hiona nafnı.

hrynja hänom ä hxl Peigi

hlunnblik hallar hringi litkod,

ef hänom fylgir ferd min hedan,

beigi mun vär för aumlig Pyckja,

pviat hänom fylgja fimm amböttir,

ätta Pionar edlom gödir,

föstrman mitt ok faderni,

hat er Budli gaf barni sino.

auch ihre milchschwester (föstrman, coalumna) und all ihre väterliche mit- gift (faderni) ward verbrannt. Mit bemerkenswerther abweichung heifst es in dem prolog zu helreid Brynhildar, nach ihrem tode seien zwei holzstöfse errichtet worden, einer für Sigurd, der brann zuerst, und Brynhild ward hernach verbrannt, sie fuhr auf einem mit kostbarem gewand bedeckten wa- gen ihren helweg; vgl. Nornagests saga cap. 9.

Diener, rosse, hunde, falken, waffen wurden mit verbrannt, um den helden bei ihrer ankunft in der unterwelt alsbald wieder zur hand zu sein, weil man sich vorstellte, dafs dort die irdische lebensart ganz auf die alte weise fortgesetzt werden sollte. In der Vilkinasaga cap. 246. 247 ist be- richtet, wie Dietrich von Bern den Iron unter einem hoch von balken auf- gerichteten gerüste bestatten liefs und auf dem gebälk pferd, hunde und habichte des todten standen. Hier hatte die sage das verbrennen schon ver- gessen und doch die zurüstung des scheiterhaufens beibehalten (').

Das mitsterben der ehefrau, obgleich weit unter den völkern ver- breitet, scheint vorzugsweise der nordischen und germanischen sinnesart

(') Müllers sagabibliothek 2, 611. 612 theilt eine offenbar jüngere märchenhafte entstellung der sitte mit. in den hügel werden das gesattelte pferd, waffen, habicht und hund lebendig ein- geschlossen, der todte steht nachts auf, frilst habicht und hund auf u. s. w.

über das verbrennen der leichen. 9237

überhaupt zusagend. als im j. 1011 dem berühmten Niall von seinen feinden das haus über dem haupt angezündet wurde, wodurch er das leben verlor, wollten sie Bergthora, Nials frau, herausgehn lassen, sie sagte ich bin dem Niall jung vermählt worden und habe ihm gelobt, dafs ein schicksal über uns beide ergehn solle: ek var üng gefin Niäli, hefi ek Pvi heitid honum at eitt skyldi gänga yfır okkr bedi; sie wich nicht aus dem haus und liefs sich mit verbrennen. schon Taecitus cap. 15 versichert von den germanischen ehfrauen: ipsis ineipientis matrimonii auspieiis admonetur venire se laborum periculorumque sociam, idem in pace, idem in proelio passuram ausuram- que. die frau erscheint hier nicht gleich einer dienenden magd im geleite des mannes, es war ihr freier wille mit ihm zu leben und zu sterben. ein rührendes beispiel dieser treue gaben Hagbarth und Sygne bei Saxo 132 St. 345 M., das viele volkslieder feierten; auch Gunnilda nach Asmunds tod, bei Saxo 46.M.

Dafs aber nicht blofs ehfrauen mitverbrannt, sondern auch andre frauen nach ihrem tod verbrannt wurden, lehrt vor allem ein allgemeiner spruch in Hävamäl 80, dafs man den tag erst zu abend loben solle, eine frau erst wenn sie verbrannt ist, d.h. nach ihrem tod:

at qveldi skal dag leyfa,

kono er brend er, wie ein andrer spruch 70 blindr er betr enn brendr se nichts ausdrückt als dafs blindheit dem tode vorzuziehen sei. Snafridr, Haralds härf. vor ihm versterbende gemahlin wurde auf dem bäl verbrannt. Haralds saga cap. 25. fornm. sög. 10, 207.208. Ich finde nirgend eine angabe, dafs frauen ge- ringeres standes vom leichenbrand ausgeschlossen waren. Ebenso wenig findet sich auskunft über das begräbnis noch ungezahnter kinder.

Ich will andere zeugnisse für den leichenbrand im Norden anführen, die zugleich seinen übergang in das blofse begräbnis anschaulich machen (').

Als in der grofsen Bravallaschlacht (ums j. 720) könig Haraldr ge- fallen war, liefs könig Hringr des gegners leiche waschen, schmücken und auf dessen wagen setzen, dann einen grofsen hügel weihen, die leiche samt

(') Auch in der fremde hielten die Normannen den brauch ihre todten zu verbrennen fest, wie uns Regino zum j. 879 (Pertz 1, 591) bezeugt: Nordmanni cadavera suorum flammis exu- rentes noctu diffugiunt et ad classem dirigunt gressum, gleich den Gothen bei Sidonius.

238 Jacog Grimm

wagen und pferd in den hügel fahren und das pferd tödten. darauf nahm er seinen eignen sattel und übergab ihn Haralds leiche, nun zu thun was er wolle, nach Valhöll reiten oder fahren. alle helden, bevor der hügel ge- schlossen wurde, warfen ringe und waffen hinein. So meldet das sögubrot in fornald. sög. 1,387 und hier scheint das verbrennen ausgeschlossen. Saxo gramm. gibt p. 147 Steph. 391 Müll. bei demselben anlafs folgenden be- richt: tandem cum corpore reperta clava Haraldi manibus parentandum ratus equum, quem insidebat, regio applicatum currui aureisque subselliis decenter instratum ejus titulis dedicavit. inde vota nuncupat adjieitque pre- cem, uti Haraldus eo vectore usus fati consortes ad tartara antecederet atque apud praestitem orci Plutonem sociis hostibusque placidas expeteret sedes. deinde rogum exstruit, Danis inauratam regis sui puppim in flanmae fomen- tum conjicere jussis. Oumque superjeetum ignis cadaver absumeret, moe- rentes circuire proceres impensiusque cunctos hortari coepit, uti arma, aurum et quodeunque opimum (l. optimum) esset liberaliter in nutrimentum rogi sub tanti taliterque apud omnes meriti regis veneratione transmitterent. Cineres quoque perusti corporis urnae contraditos Lethram perferıi ibique cum equo et armis regio more funerari praecepit. Unbedenklich trägt hier Saxos erzählung kennzeichen höheres alterthums, lehrt aber mit jenem be- richt des sögubrot verglichen, wie auch in ähnlichen fällen die angabe des leichenbrands verwischt wurde.

In dieselbe heldenzeit fällt Starkadr. als Saxo p. 158 Steph. 406 Müll. dessen tod erzählt, fügt er hinzu: verum ne tantum athletam busti inopem jacere pateretur, corpus eius in campo, qui vulgo Roelung dieitur, sepul- turae mandandum curavit. hier kann nicht einmal bustum bestimmt auf verbrennen bezogen werden, es meint blofs grab (').

(‘) Das christenthum drang auf Island in den jahren 995-1000 ein, aber schon vorher war daselbst begraben und beerdigen (heygja, iarda) unverbrannter leichen üblich. im j. 946 öfnete man einen hügel, um eine neue leiche in ihm beizulegen. Egilssaga s. 601. Egill selbst, der noch als heide nach 980 starb, wurde mit waffen und kleidern bestattet, und man fand später sein gebein. ebenda s. 768. 769. Nicht anders war Thorolf im j. 926 mit waffen und kleidern bestattet worden. ebenda s. 300. Skalagrim im j. 934 ins schif geführt und mit pferd und waf- fen begraben. ebenda s. 399. Die Laxdoelasaga redet von i haug setja s. 20, haug kasta, verpa s. 104. 142. 152, nie von verbrennen; doch wurde sie erst im 13 jahrh. abgefalst und die einzel- nen ausdrücke können schon nach dem späteren brauch gewählt sein. s. 16 liest man: Unnr var lögd i skip i hauginum ok mikit f& war i haug lagt hia henni, var eptir pat aptr kastadr haugrinn.

über das verbrennen der leichen. 9339

Nicht übergangen werden darf aber was Saxo p. 87 Steph. 234 Müll. von seinem dritten Frotho anführt: lege cavit, ut quisquis paterfamilias eo conciderat bello cum equo omnibusque armaturae suae insignibus tumulo mandaretur. quem si quis vespillonum scelesta cupiditate tentasset, poenas non solum sanguine, sed etiam inhumato cadavere daret, busto atque inferiis cariturus. si quidem par esse credebat, ut alieni corruptor eineris nullo funeris obsequio donaretur, sortemque proprio referret corpore, quam in alieno perpetrasset, centurionis vero vel satrapae corpus rogo propria nave constructo funerandum constituit; dena autem gubernatorum corpora unius puppis igne consumi praecepit; ducem quempiam aut regem proprio injectum navigio concremari. Dies alles scheint kein allgemeines leichengesetz, son- dern blofse anordnung für den eben beendigten heerzug, daher auch der frauen und unfreien nicht erwähnt wird; aber die abstufung der verschiednen bestattungsweisen ist merkwürdig. die vornehmen sollen auf holzstöfsen im schif, zehn zusammen oder einzeln verbrannt, die übrigen krieger blofs mit pferd und rüstung im hügel beerdigt werden; es wird für sie keiner bren- nung gedacht und doch könnte sie vorausgesetzt sein, da der hier bedrohte leichenraub auch an hügeln verbrannter denkbar wäre.

Von Hotherus heifst es p. 41 St. 119 Müll.: Gelderum Saxoniae re- gem, eodem consumptnm bello, remigum suorum cadaveribus superjectum ac rogo naviglis exstructo impositum pulcherrimo funeris obsequio extulit. eineres ejus perinde ac regii corporis reliquias non solum insigni tumulo tra- didit, verum etiam plenis venerationis exequiis decoravit.

‚Nach dieser stelle, nach Frothos anordnung und nach dem mythus von Balders tod wurden die leichname der asen, könige, und helden auf schiffen verbrannt, die man sobald der scheiterhaufe entzündet war, der flutenden see überliefs; nach Yngl. saga cap. 27 befahl der todwunde Haki auf einem schif den scheiterhaufen zu entzünden: göra bäl ä skipinu, Haki var lagidr ä bälit, geck skipit logandi üt um eyjar i haf. Hier also empfien- gen beide elemente, feuer und wasser, den todten gemeinschaftlich. dieser merkwürdige gebrauch scheint zusammenzuhängen mit der weit umgreifenden

Während in Islendinga bök cap. 7 das aussetzen der kinder und essen des pferdefleisches (barn- ütburd, hrossakiötsät) als heidnisch bezeichnet ist, steht der leichenbrand (daudra brenna) nicht auf gleicher linie und muls früher abgekommen sein.

340 Jıcos Grimm

vorstellung des alterthums, dafs der todte über das gewässer in ein fernes land, auf eine insel der seligen fahren müsse, wovon ich in der deutschen mythologie s. 790 ff. ausführlich gehandelt habe. daher mag auch in spä- terer zeit, als man vom verbrennen zum begraben zurückgekehrt war, sich eine zwiefache sitte herleiten, einmal dafs man die leichen in schiffen selbst oder in schifsförmig gestalteten särgen dem erdhügel übergab, dann dafs man auf dem hügel steine und felsen in gestalt eines schiffes ordnete. sol- cher schifssetzungen haben sich zumal in Schweden manche erhalten, man sieht die seiten und schnäbel des schifs deutlich gelegt, in der mitte aber einen höheren felsenrif als mast sich erheben. wirkliche schiffe sind zwar nirgend in nordischen noch deutschen gräbern aufgefunden worden, wol aber die schwäbischen todtenbäume aus stämmen ganz wie nachen gehölt, und nicht blofs altnordische auch deutsche sagen erzählen ausdrücklich von leich- bestattungen im schif(!). dieser volksglaube mag also allgemein und über den norden hinaus unter unsern vorfahren und viel weiter noch gehaftet haben (?).

Für rogus findet sich altn. kein dem ahd. eit, ags. äd gleiches eidr (denn eidr jusjurandum, ahd. eid, ags. äd ist unterschieden davon); der übliche ausdruck lautet bäl, dem ags. bl und vermuteten alts. bäl entspre- chend, wogegen kein ahd. päl zu bestehn scheint. die goth. völlig zweifel- hafte form wäre bel; schwed. gilt bäl, dän. baal. dies bäl bezeichnet mehr den holzstofs als die flamme selbst, gleichviel ob zum verbrennen der lei- chen oder zu andern zwecken dienend; bei der berühmten Niälsbrenna heifst es cap. 130: töku eld ok gerdu bäl mikit fyrir dyrunum. Egilssaga cap. 45 s. 222: bäl mikit, lögdu par i eld, es mus also, wenn das geschich- tete bäl brennen soll, erst feuer dazu kommen. in den altschwedischen gesetzen z. b. Uplandslag p. 150. 254 wird häufig das ‘i bäli brinnä, der scheiterhaufe, als strafe des verbrechers ausgesprochen, in den norwegischen das “deema til brands ok til bäls” Schwedische volkslieder schildern diese strafe dichterisch, z. b. eins bei Arwidsson 1, 312, der könig entsendet seine diener in den wald holz zu hauen:

i gän ät skogen och huggen ett bäl!

(‘) Im goldnen schif begraben, sage bei Müllenhoff n. 501. (2) Noch heute pflegt in China den särgen schifsgestalt ertheilt zu werden. Klemms cultur- geschichte 6, 131.

über das verbrennen der leichen. 941

als es geschichtet ist, werfen sie die unschuldige ins feuer: kastade de liten Kerstin rödaste bäl,

und sie jammert über das rothe kissen, den blauen polster, auf welchen sie schlafen solle:

mina dynor brinna röda, mina bolstrar brinna bla,

gud näde mig liten Kerstin, som skall sofva deruppä! man vergleiche dazu die ausdrucksweisen s. 315. 317. 319 und zumal 352. 373, so wie in dänischen liedern (D. V. 3, 339. 340).

Dennoch mag in bäl ursprünglich der begrif der flamme selbst gelegen haben, wie ich aus dem lappischen buolam flagro, finnischen palan flagro, palo incendium, slavischen paliti urere folgre, und jenes irische bealteine, worin man tine durch feuer, beal aus eines gottes namen deutet (deutsche myth. s.379), ja der name des verbrannten gottes Baldr, ags. Baldäg könnte dabei in betracht kommen. jedenfalls schlägt hier eine uralte, weitverbrei- tete wurzel ein. In Bohuslän heifst mittsommer oder das sunwendfeuer noch heute häbäln, das hochfeuer, der hohe scheiterhaufe (!).

Seltner als bäl wird das altn. hladi strues verwandt, von hlada struere, acervare, ags. bxl hladan, slav. klasti; ferner altn. köstr, gleichfalls strues von kasta aufwerfen, wozu sich noch das einfachere kös congeries, vielleicht das dän. kost (besen, a congerendo, converrendo) halten läfst. Sxzm. 268 b. heifst es:

hladit er iarlar eikiköstinn,

lätid hann und himni hx#stan verda, schichtet den eichnen haufen, lafst ihn hoch aufsteigen unter dem himmel. Noch einen ausdruk weifs ich nicht befriedigend zu deuten, die wörterbü- cher geben budlüngr (auch bolüngr, bulüngr), rafta budlüngr strues ligno- rum. nun ist raftr, ags. räfter tignum; bezeichnete budli, ahd. putilo praeco, lietor, so wäre rafta budlüngr, perticarum praeco, princeps =rogus? wahr- scheinlich geht die benennung blofs auf die holzschicht und nicht auf pyra.

Die Dänen nennen einen scheiterhaufen brändestabel oder vedkast, den entzündeten, brennenden aber baun, den hügel, worauf er glüht, bau- nehöi. in diesem worte hat man den diphthong au wie anderwärts (gramm. 1,523) zu fassen, folglich wird baun hervorgegangen sein aus baven = ags.

(1) Dybecks runa 1844 s. 21. Philos.-histor. Kl. 1849. Hh

242 - Jacog Grimm

beäcen, ahd. pouchan zeichen und dann feuerzeichen auf berg und hügel. doch ist das altn. bünki congeries zu erwägen.

Gern empfienge man bestimmte nachrichten über die besonderheit des zum altn. scheiterhaufen verwandten holzes. eikiköstr, strues ilignea fanden wir vorhin in der edda, und wie bei Homer gehn im schwed. volks- lied die männer zu walde, holz für den scheiterhaufen zu fällen; es heifst (Arwidsson 1, 317) huggen den veden af eken. Doch Yngl. saga cap. 27 steht einmal leggja eld i tyrvid, ignem imponere cremio, tyrvidr oder tyr- vidi scheint harzholz, cremium zu bezeichnen, wofür ich sonst auch eldsneyti, ignis consortium finde. Olaus Magnus 16, 11 gibt an, man habe sich zum leichenbrand des wacholders (schwed. enbär, enbusk) bedient, der zwar kein dorn ist, aber gleich ihm einen verworrenen, stachelichten strauch bil- det, den man allgemein zu reinigendem räuchern verwendet und der im al- terthum für heilig galt. ich denke zumal an den weitverbreiteten mythus vom gemordeten knaben, dessen aufgelesnes, zusammengebundnes gebein die treue schwester unter einen machandelbaum legt: aus dem immergrünen gezweige erhebt sich ein neubelebter vogel. sogar die bekannte deutung des lat. wortes juniperus (a junior et pario, quod juniores et novellos fructus pariat antiquis maturescentibus), liefse sich hinzunehmen. ags. evicbeäm.

Nicht zu verkennen ist sodann die bedeutsamkeit verschiedner arten des dornstrauchs auch in altn. sage, wie in unserm alterthum überhaupt. mit dem schlafdorn (svefnbomi) stach Odinn die valkyrie Brynhild, d.h. er steckte ihn an ihr gewand, worauf sie in todähnlichen schlummer sank; noch jetzt heifst uns die dornrose (sentis canina) schlafrose und ein moosartiger auswuchs daran schlafapfel. diese Brynhild ist nun dieselbe, welche, wie wir vorhin sahen, auf prächtigem scheiterhaufen neben Sigurd verbrannt wurde und im deutschen märchen das von der spindel gestochne schlafende Dornröschen genannt wird, weil eine undurchdringliche hecke von dornen um sie gewachsen war. Es wird sich im verfolg ausweisen, dafs der süd- schwedische volksglaube einen dorn auf gräber pflanzt und für heilig hält; dort ist auch die sage verbreitet, dafs die trolle frühlings, wenn sie ihr gold sonnen, es auf dornsträuche hängen und diese in der meinung der leute dann brennend erscheinen (1), was nochmals auf den brennenden busch

(!) Dybecks runa 1847 s. 19.

über das verbrennen der leichen. 943

führt. unmittelbarer weist zum verbrennen der gebrauch, dafs für das bäl der mittsommernacht, wie in Deutschland beim Oster und Johannisfeuer neunerlei holz und neunerlei blumen verwandt werden müssen (1).

Was uns jedoch keine der altnordischen sagen gewährt, die sicherste, ihrem ganzen gepräge nach auf das höchste alterthum zurückgehende nach- richt vom schichten der scheiterhaufen hat ein in Smäland überliefertes kin- dermärchen (?) bewahrt, dessen beweiskraft von denen nicht unterschätzt werden wird, die auch in Perraults belle au bois dormant reste altfränkischer überlieferungen von Brunihild anzuerkennen bereit sind. alle hierher gehö- rigen züge verdienen hier sorgsam ausgehoben zu werden.

Eine königstochter zum frosch verwünscht hauste ihrer erlösung har- rend einsam in entlegnem prächtigem hof und garten. sie hatte einen jüng- ling als diener angenommen, wies ihm im garten “einen grofsen strauch, desgleichen ihm nie vor augen gekommen war’, und trug ihm auf jeden tag, wo die sonne am himmel stehe, sonntag wie montag, jultag wie miltsom- mertag einen zweig von dem strauch zu schneiden, mehr aber nicht. weiter hatte er das ganze jahr durch nichts zu verrichten und lebte ruhig in allem überflufs. Als der letzte zweig geschnitten war, hüpfte der frosch heran und schenkte ihm ein wunderbares tuch, das er mit nach haus nehmen und zu julabend auf seines vaters tisch breiten solle. Die weiteren begebenheiten fallen nun hier aus, nach jahresablauf gelangte der jüngling von neuem in den froschgarten, wurde wieder in dienst genommen und empfieng diesmal den auftrag von einem ihm überreichten garnknäuel (bundt efsingar) jeden tag einen faden an einen der voriges jahr (i fjol) abgeschnittnen zweige zu knüpfen, doch wieder nicht mehr als einen, sowol sonntags als montags, jultags und mittsommertags. Auch dies geschäft verrichtete er genau nach der vorschrift und empfieng, als der letzte zweig gebunden war, vom frosch einen kostbaren trinkbecher geschenkt, den er daheim julabends seinem vater auf den tisch setzen solle. Es war ihm aber beschieden nochmals in denselben garten zurückzukehren, wo ihm zum drittenmal die aufgabe ge- schah, jeden tag, an dem die sonne leuchte, mittwoch wie donnerstag, jul-

(‘) Dybecks runa 1844 s. 22. (2) Svenska folksagor of äfventyr samlade och utgifna af Cavallius och Stephens. Stock- holm 1844. 1, 251-363.

Hh2

244 Jacog Grimm

tag und mittsommertag einen der geschnittnen und gebundnen zweige im hof zu schichten, immer nur alltäglich einen einzigen, nach ablauf des jahrs aber, sobald der letzte zweig geschichtet sei, den haufen (bälet) anzuzünden und was in der asche übrig bleibe zu bergen. Der jüngling that alles wie ihm geboten war, und als der grofse reiserhaufe stand, entzündet wurde, aufloderte und verglomm, erhob plötzlich aus der asche sich eine wunder- schöne jungfrau, die der jüngling eilends der glut entrifs und die nunmehr seine braut ward.

Hier scheint lange Jahrhunderte hindurch in märchenhafter verklei- dung unter dem volk sich noch ein unverkennbares andenken an das heidnische bäl und die gänze art und weise vielleicht seines feierlichsten auf- schichtens fortgepflanzt zu haben. den dazu ausersehnen oder erforderlichen dornstrauch nennt die aufgezeichnete überlieferung nicht, doch sie bezeich- net ihn; das langsame schneiden und binden der zweige verkündet heiligen opferbrauch und gemahnt ans skythische dorngerüste oder ans aufhängen des sächsischen wergelds, das aus verglühender asche emporsteigende neue leben an die dem leichbrand nothwendig zum grund liegende vorstellung, dafs aus den flammen die unsterbliche seele sich gen himmel erhebe. Diese unversehrte frische einer schwedischen bauersage, die keine phantasie so ersonnen hätte, gewährt uns einfachen aufschlufs über das verbrennen der leichen bei unsern vorfahren insgemein: wie die erlöste königstochter in des jJünglings arme, werden sie geglaubt haben, dafs auch Brunhild in Siegfrieds aus der glut gesprungen sei.

Hier darf ich aber noch etwas geltend zu machen nicht säumen. Nils- son(!), von ganz andern gesichtspuncten als ich ausgehend, hat 6, 4. 5 bei scharfer und sorgsamer untersuchung der auf Schonen liegenden grabhügel wahrgenommen, dafs alle dem brenn oder erzalter angehörigen von ihm für keltisch gehaltnen gräber durch einen dorn (crataegus oxyacantha) ge- kennzeichnet sind und dafs dieser dorn bei dem volk noch jetzt für heilig erachtet, von keinem beil angegriffen wird und ein hohes alter erreicht. mich dünkt vollkommen zulässig dergleichen dornhügel auch dem germa- nischen und skandischen alterthum anzueignen, da die heiligkeit des dorn-

(') Skandinaviska nordens urinyänare. Lund 1838 - 1843; man vgl. Dybecks runa 1847 s. 19. 20. ;

über das verbrennen der leichen. 245

strauchs ebensowol in deutscher sage vorbricht und in dem altfränkischen thornichallis gerade ihre sicherste gefähr findet. Schonische grabhügel führen nicht blofs den namen Bälhögen (brandhügel) sondern auch Tornhögen (dornhügel) ('), die zeugnisse dafür haben im fortgang der untersuchung sich so ansehnlich gemehrt, dafs sie nun wechselsweise einander unterstützen. Noch aber bin ich mit dem deutschen gebrauch hier nicht zu ende, falls ich grund hatte, gleich den alten Aestiern auch spätere ESTEN für Germanen zu erklären (?), deren name zuletzt an einem benachbarten und nachrückenden finnischen stamm haftete; auf solche weise war der keltischen Bojen name mit dem besitz des landes erst auf die deutschen Baiern, zuletzt auf die slavischen Böhmen übergegangen. an jener nordöstlichen seeküste hatte bereits Pytheas Ostiaeer neben Guttonen gekannt, Tacitus hernach die ihm noch unzweifelhaft germanischen Aestier am suevischen meer den Sueven, wenn auch in bezug auf ihre sprache nicht ganz verglichen; viel später unterhielt mit ihnen verbindung der gothische Theodorich. Finnen standen bereits im ersten Jahrhundert und warum nicht weit früher in oder an diesem landstrich neben Germanen; wer könnte sagen, wann der ger- manische stamm ausgezogen, der finnische an dessen stelle getreten, wann vielleicht eine mischung zwischen beiden entsprungen sei? war was im

e) neunten jahrhundert Esten heifst entschieden ungermanisch und schon fin- nisch oder waltete damals noch das deutsche element vor? auch wenn man letzteres für möglich hält, konnte sprache und sitte durch manchen einflufs von aufsen her gestört und verändert worden sein.

Vulfstän hat uns in einer Älfreds Orosius eingeschalteten nachricht

folgendes über die estische leichbestattung

0)

wie sie, wir wollen annehmen, zur zeit des neunten jahrhunderts galt, mitgetheilt.

Stirbt unter den Esten ein mann, so bleibt er bei seinen verwandten einen monat, bisweilen zwei unverbrannt, ja reichere und könige noch län- gere zeit. in dem haus, wo der todte liegt, ist trinkgelag und spiel bis dafs er verbrannt wird. am tage aber, wo sie ihn zum scheiterhaufen tragen, theilen sie seine habe, so viel von dem trinken und spielen noch übrig ist, in fünf, sechs oder mehr theile. diese legen sie dann auf einer mindestens

(') Sjöborgs nomenklatur för nordiska fornlemningar. Stockh. 1845 s. 73, 74. (2) Geschichte der deutschen sprache s. 719.

246 Jaıcos Grimm

meilenlangen strecke aus, so dafs der gröfste haufe am fernsten, der kleinste am nächsten dem hause des todten liegt. hierauf sammeln sich alle, die im land die schnellsten pferde besitzen, wenigstens fünf oder sechs meilen von dem ausgelegten gut und reiten nnn zusammen um die wette darnach. wer das schnellste pferd hat, erlangt den gröfsten haufen und so jeder nach dem andern, bis alles weg genommen ist, der geringste fällt dem zu, welcher dem hause zunächst bleiben muste. Ist auf solche weise des todten ganze habe ausgetheilt, so trägt man ihn aus und verbrennt ihn mit seinen waffen und kleidern. Durch das lange einlager und auslegen der güter auf dem weg wird die habe schnell verschwendet. Übrigens verbrennen die Esten alle ihre leichen und wo man ein unverbranntes gebein findet, mufs starke hufse dafür erlegt werden. sie verstehn sich aber darauf kälte hervor zu bringen und darum können die todten bei ihnen lange liegen ohne zu faulen.

Diese zauberei sieht eher lappisch und finnisch als deutsch aus und auch die grofse güterverschwendung scheint dem geregelten erbrecht unsres geschlechts widerstrebend; doch wem wird Vulfstans beobachtung ganz ge- nügen? leichenmale, leichenwachen und spiele waren auch unserm alter- thum gemäfs. das wettrennen, wen mahnt es nicht ans pferderennen bei Patroklus leiche? aber um Beovulfs brandhügel ritten gleichfalls die hel- den (6332).

Vierhundert jahre später kann es nur undeutsche, finnisch redende Esten geben. Heinrich der Lette ( um 1228) (!) meldet zum j. 1210: sed Estones tristia funera multis diebus colligentes et igne eremantes, exsequias cum lamentationibus et potationibus multis more celebrabant. und zum j. 1225: et receperunt uxores suas tempore christianitatis suae demissas, et corpora mortuorum suorum in coemeterüs sepulta de sepulchris effoderunt et more paganorum pristino cremaverunt. wie man sonst verbrannte leichen begrub, werden begrabne hier wieder ausgegraben um sie des heiligen bran- des theilhaft werden zu lassen. Auch von den Kuren wird das verbrennen der todten p. 68 zum j. 1209 versichert: Curones a eivitate recedunt et col- lectis interfeetis suis ad naves revertuntur et transita Duna triduo quiescentes et mortuos suos cremantes fecerunt planetum suum super eos. In diesen kurzen nachrichten Heinrichs ist nichts was denen Vulfstans widerspräche,

(') In Grubers origines Livoniae sacrae et ciyilis. Francof. et Lips. 1740 p. 58. 155.

über das verbrennen der leichen. 247

aber auch nichts was sie bestätigte. niemand wird in zweifel ziehen, dafs die finnischen Esten gleich den germanischen, littauischen und slavischen Heiden ihre todten der flamme übergaben. Ich werde hernach noch auf die Finnen zurückkommen und will zuvor von den Littauern und Slaven reden.

Den alten Aestiern wie den späteren Esten unmittelbar anstofsend lagen die LITTAUISCHEN völker, deren alterthümliche sprache und sitte der unsrer vorzeit so oft begegnet. grofses gewicht in der hier angestellten untersuchung empfängt der wahrgenommene einklang des littauischen zaga- ras und ahd. sakkari. das littauische wörterbuch kennt aber Zagaras nur im ursprünglichen sinne von dornstrauch, nicht in dem von scheiterhaufen, wo- für ich läauzas angegeben finde, das zu läuzu ich breche gehörig scheint. doch im lettischen $Sahrts scheiterhaufe und strauchschicht, das ich zu sarri = Zagaras nehme, walten beide bedeutungen.

Da die littauischen völker zum theil bis ins vierzehnte, fünfzehnte jh. heidnisch blieben, darf nicht verwundern, dafs sich bei ihnen noch ganz späte beispiele des leichenbrands aufzeigen lassen. In einer urkunde von 1249, worin die neubekehrten Preufsen mit dem deutschen orden vertra- gen werden (!), geloben sie, quod ipsi et heredes eorum in mortuis com- burendis vel subterrandis cum equis sive hominibus, vel cum armis seu vestibus vel quibuscunque aliis preciosis rebus, vel etiam in aliis quibuscun- que ritus gentilium de cetero non servabunt, sed mortuos suos juxta morem Christianorum in cemiteriis sepelient et non extra; wonach also verbrennen und begraben nebeneinander zulässig gewesen scheint. Die dem ausgang des dreizehnten jahrh. zufallende livländische reimchronik berichtet von den etwa zur mitte des jahrh. bekriegten Samen z. 3869-3838:

in disen dingen wurden brächt ir liute, die lägen töt;

sän ir wisten in geböt,

daz sie die töten branten

und von hinnen santen

mit ir wäpen ungespart:

sie solden dort ouch hervart unde reise riten;

des geloubtens bi den ziten.

(') Dregers cod. diplom. Pomeraniae no. 191 p. 286-294.

248 Jacos Grimm

der rede volgeten sie mite, wan ez was der liute site.

üf höher ze hant si träten,

ir töten, die sie häten,

die brantens mit ir ziuge (vürwär ich niht enliuge): spere, schilde, brünje, pfert, helme, keyen unde swert brante man durch ir willen,

mit solden sie stillen

den tiuvel in jener werlte dort. gröz törheit wart nie gehört.

von dem was seine eignen vorfahren thaten hatte dieser dichter nichts ge- hört. die mitverbrannten waffen und thiere, wähnte man, würden gleich den ins grab gelegten gegenständen im neuen leben hergestellt und ihren alten eignern zu dienste sein. Diese Samen bildeten den kern der alten Preufsen, welche zum littauischen stamm gehörend, auch den Samogeten (im gedicht Sameiten genannt) benachbart und verwandt waren. die Sa- meiten müssen aber nicht minder ihre todten verbrannt haben, wie schon daraus folgt, dafs sie ihren göttern menschen zum opfer brannten, z. 4700:

die gote die sint wol wert, daz man brünjen unde pfert und ouch rische man mite brenne näch unser site.

Dirc Potter, ein holländischer dichter schon aus dem beginn des 15 jahrh. erzählt in der Minnen löp 1, 509-524 von einem heidnischen volk, das er nicht näher nennt:

want het is noch huden mede

over al heidenscip ene sede,

als conince of hoghe vorsten sterven, so plachmen him daer bi te werven horen heimelixten camerline

ende merrien melc, dits ware dinc, die graeftmen mede mitten here, dat houden si vor grote ere,

want si meinen, twaer grote schande, dat hoer her in enen anderen lande comen soude sonder ghesinde

ende sonder dranc diemen minde:

über das verbrennen der leichen. 249

want melc van merrien houden si daer vor den edelsten dranc vor waer, die men den heren schenken mach.

diese ausstattung des herrn durch mitbegraben seines vertrautesten dieners und ein gefäfs stutenmilch stimmt zu jenem samländischen glauben; auch in deutschen gräbern werden die meistens zu fülsen der gerippe gestellten krüge oft den mitbegrabnen trank enthalten haben. stutenmilch war bei den alten Samen wie bei den Skythen beliebt ('). woher Potter den ihm all- gemein heidnisch erscheinenden brauch schöpfte weils ich nicht. Bartholo- maeus anglicus oder Glanvil (um 1350) schreibt von den Livonen: mortuo- rum cadavera tumulo non tradebant, sed populus facto rogo maximo usque ad cineres comburebat. post mortem autem suos amicos novis vestibus ve- stiebant et eis pro viatico oves et boves et alia animantia exhibebant. servos etiam et ancillas cum rebus aliis ipsis assignanles una cum mortuo et rebus aliis incendebant, credentes sic incensos ad quandam vivorum regionem fe- lieiter pertingere et ibidem cum pecorum et servorum sic ob gratiam domini combustorum multitudine felicitatis et vitae temporalis patriam invenire. Lasicz aber de diis Samagitarum p. 57 (bei Haupt 1, 148. 149) überliefert merkwürdige, mit dem vorgetragnen oft eintreffende züge: defunctorum cadavera vestibus induuntur et erecta super sellam locantur, quibus assiden- tes propinqui perpotant ac helluantur. Lamentatione absolute dantur cada- veri munuscula, mulieri fila cum acu, viro linteolum collo ejus implicatum. Cum ad sepulturam effertur cadaver, plerique equis funus prosequuntur et ad currum obequitant, quo cadaver vehitur, striclisque gladiis verberant auras vociferantes ‘geigeite begaite pekelle!’ eia fugite daemones in orcum! qui funus mortuo faciunt numos projieiunt in sepulerum, futurum mortui viaticum. panem quoque et lagenam cerevisiae plenam ad caput cadaveris in sepulerum illati, ne anima vel sitiat vel esuriat collocant. Des verbren- nens geschieht bei Lasiez noch Potter keine meldung, ihre nachricht rührt schon aus einer zeit, wo nur begraben wurde, die einzelnen bräuche dabei stimmen aber zu denen des leichenbrandes, wie schon die vergleichung mit Bartholomaeus lehrt. das setzen der leiche auf den sattel mahnt bündig an

(') Geschichte der deutschen sprache s. 721. Montevilla p. m. 170 erzählt, dals die Tataren der milch wegen stuten samt ihrem füllen mitbegraben.

Philos.- histor. Kl. 1849. Ti

350 Jaıcos Grimm

die pyra equinis sellis constructa des Attila und das skythische grabgerüste, das reiten der schwertschwingenden an das estische pferderennen. begaite ist von begti currere zu erklären und pekelle entweder von pekla hölle oder pekulas, pikulas dem höllischen geist.

Sebastian Munsters cosmographie, buch 4 s. 907 der ausgabe von 1559 bemerkt von den Samogeten und ihren heiligen wäldern ausdrücklich: habebant praeterea in silvis praefatis focos, familias et domos distinctas, in quibus omnibus carorum et familiarium cadavera cum equis, sellis et vesti- mentis potioribus incendebant. locabant etiam ad focos hujusmodi ex subere facto sedilia, in quibus escas ex farre in casei modum praeparatas depone- bant, medonemque focis infundebant, ea ceredulitate illusi, guod mortuorum suorum animae, quorum illie combusta fuerunt corpora, nocte venirent esca- que se reficerent. Nicht viel später bezeugt Matth. Stryikowski in seiner polnisch geschriebnen, zu Königsberg 1582, Warschau 1766 gedruckten chronik s. 148 von denselben samogetischen Littauern, dafs sie mit ihren todten die klauen von lüchsen und bären (rysie i niedZwiedzie paznokeie) zu verbrennen pflegen, durch deren schärfe ihnen das übersteigen eines furchtbar steilen bergs in der unterwelt erleichtert werden solle. dieser glä- serne berg heifst Anafielas und auf ihm wohnt ein die thaten der menschen richtender kriwe kriweito, worüber Narbutts litt. mythologie s. 385 nach- zulesen ist. Die jüngste mittheilung rührt von Alexander Guagnini, einem Italiener her, der lang in sarmatischen ländern gelebt hatte und 1614 zu Cracau starb; in seinem buch de origine Lithuanorum (Pistorii script. rer. polon. 2, 391) schildert er die littauischen bestattungen folgender gestalt: corpora mortuorum cum pretiosissima supellectile, qua vivi maxime uteban- tur, cum equis, armis et duobus venatoriis canibus falconeque cremabant, servum etiam fideliorem vivum cum domino mortuo, praecipue vero magno viro cremare solebant, amicosque servi et consanguineos pro hac re maxime donabant. ad busta propinquorum lacte, melle mulsato et cerevisia paren- tabant, choreasque ducebant tubas inflantes et tympana perentientes. hie mos adhuc hodie in partibus Samogitiae confinibus Curlandiae ab agrestibus quibusdam observatur.

Wir schreiten fort zum leichenbrand bei den SLAVEN, wofür es an alten und lehrreichen nachrichten nicht gebricht.

über das verbrennen der leichen. 351

Die frühste darunter bezieht sich auf die den Norddeutschen zunächst wohnenden Wenden und ist in einem briefe des Bonifacius vom j. 745 (ed. Würdtwein no. 72 p. 191) enthalten: ad Ethibaldum regem Merciorum: laudabilis mulier inter illas (mulieres Winedorum) esse judicatur, quae pro- pria manu sibi mortem intulit, ut in una strue pariter ardeat cum viro suo. die frau tödtet sich selbst um des scheiterhaufens mit ihrem gatten theilhaft zu werden.

Für die Polen zeugt einige jahrhunderte später Thietmar von Merse- burg, der 8, 2 mehrere gebräuche dieses volks unter Bolislaus verzeichnet, dessen sohn Otto im j. 1018 mit Oda, des markgrafen Ekkehard tochter vermählt wurde: in tempore patris sui, heifst es, cum is jam (d.i. adhuc) gentilis esset, unaquaeque mulier post viri exequias sui igne cremati decol- lata subsequitur. sie wurde, hat man anzunehmen, nicht blofs enthauptet, sondern auch mit verbrannt, denn ihre tödtung

5 sicht. Bei den Littauern und Esten war gerade von gemeinschaft des todes

geschah eben in dieser ab-

zwischen den ehegatten keine rede. heutzutage nennen die Polen den schei- terhaufen gorzelina oder stos drewny (holzstofs). Was die Böhmen angeht, so findet sich in der mater verborum 17a. (ed. 1840 p. 230 b.): piram, rogum, i. lignorum constructionem, in quo (rogo) mortui comburuntur, sarouisce, oder nach der heutigen schreibung Zarowisce, Zarowiste (Jungmann 5, 830), von Zarjti accendere. jetzt pflegt man scheiterhaufe durch hranice acervus, hranice dijwj acervus lignorum auszudrücken. Eine stelle der Königinhofer handschrift, gegen den schlufs des liedes von Cestmir a Wlaslaw (1829 s. 106), wo gesagt ist, dafs die dem mund entfliegende seele von baum zu baum flattre, doniZ mrtew nezien, bis der todte verbrannt sei, diese stelle würde man mit vertrauen hierher nehmen, wenn nicht verdacht wider alle dichtungen der handschrift (1) geweckt wäre. Cosmas von herzog Bretislaw redend, der sich im 7. 1093 mühte die überreste des heidenthums unter den Böhmen auszurotten, sagt p- 112: similiter et lucos sive arbores, quas in multis locis colebat vulgus ignobile, exstirpavit et igne cremavit. item ..... sepulturas, quae fiebant

(') Gesteigert hat ihn zuletzt Haupts beweis, dals das zwar nicht in ihr enthaltne, aber ähnlich klingende minnelied könig Wenzels trug ist (berichte über die verhandlun- gen der gesellschaft der wissenschaften zu Leipzig 1847 s. 257-265).

112

352 Jıcos Grimm

in silvis et in campis, atque scenas, quas ex gentili ritu faciebant in biviis et in triviis, quasi ob animarum pausationem, item et Jocos profanos, quos super mortuos, inanes eientes manes ac induti faciem larvis bacchando exer- cebant ... exterminavit (!). leichenbrandes wird dabei nicht erwähnt, er hat wahrscheinlich dennoch stattgefunden; die auf scheidewegen, wo man oft grabhügel findet, errichteten hütten gleichen dem was Munster bei den Samogeten häuser nennt, und auch der vorhin angeführte Guagnini versi- chert von den Sarmaten und Slaven insgemein: sepulturae eorum erant in silvis et agris, tumulosque aggestis lapidibus vestientes eminenter muniebant, quod genus in Prussiae regionibus passim adhue visuntnr: nonnulli quoque more romano cadavera cremare, cineresque collectos in urnas recondere solebant. an krügen mit asche und verbrannten knochen ist auch in slavi- schen gräbern überflufs. Den technischen ausdruck trizna liefert die mater verborum 11b. (ed. 1840 p. 228) für inferiae, placatio inferorum vel ob- sequiae, vel infernalium deorum sacrificia, mortuorum sepulturae debitae; wir werden ihm gleich noch bei Nestor begegnen, der aber trysna schreibt. Kopitar im Glagolita hat trizna lucta, Miklosich trizna @ywv certamen, vgl. Jungmann unter tryzna.

Bei den südlichen Slaven, sowol Slovenen als Serben und Kroaten hat sich keine kunde des leichbrandes erhalten, in den serbischen liedern keine anspielung darauf. ich vermag nur einige benennungen des scheiter- haufens hervorzuheben. den Slovenen in Krain und Steier heifst er germada, germazha, was von germ strauch, busch abstammt; das serb. grm bezeichnet nach Vuk eine art eiche, ich vermute robur, donnereiche, von grmiti don- nern; gromila oder mit ausgestofsnem r gomila bedeutet acervus. sollte nicht auch das russ. poln. gromada, böhm. hromada, obwol ihnen die be- deutung von rogus gebricht, gleich unserm haurds und hürde auf die vor- stellung geschichteter reiser und zweige zurück zu leiten sein? darin bestärkt mich ein slovenisches koster und kust rogus, russ. koster”, was wieder von kust” gesträuch stammt, aber auch dem altn. kostr an die seite treten dürfte. Des sl. tr’n’= goth. paurnus, ahd. dorn, sowie koupa, kupina und kupalo geschah oben erwähnung.

(') Auch bei Helmold 1, 83 $. 18 von den obotritischen Slaven: et praecepit comes populo Slavorum, ut transferrent mortuos suos tumulandos in atrium ecclesiae.

über das verbrennen der leichen. 253

Ungleich wichtigeres ergibt sich über die heidnischen Russen. Nestor, der seine chronik nach dem j. 1110 zu Kijev vollendete, berichtet (Schlözer s. 12. Jos. Müller s. 76) uns das brennen der leichen bei den noch unbe- kehrten Radimitschen, Wjatitschen und Sjeveriern; es mufs unbedenklich für alle altrussischen stämme gelten. Starb ein mann, so wurde trysna über ihn veranstaltet, dann eine grofse klada geschichtet und darauf die leiche verbrannt. die nach dem brand gesammelten knochen legten sie in einen krug (sosud”) und stellten ihn auf eine seule am weg; so thun namentlich die Wjatitschen, aber auch die Kriwitschen und andere Heiden mehr. klada stammt von klast’ schichten, legen und entspricht genau dem ags. hladan, altn. hlada. Vom begang dieser trysna ist oft die rede (Jos. Müller s. 117. 118. 120. 185), sie mufs leichenmal und leichenspiel gewesen sein, weil das wort lucta, certamen ausdrückt, und die bräuche der ags., estischen und littauischen leichenfeier gleichen. das stellen der todtenseule an die heer- strafse kommt meiner deutung des salischen haristato, cheristado, der her- men und irmenseulen zu statten, begegnet auch dem böhmischen gebrauch an den kreuzwegen.

Es gibt aber eine fast zweihundert jahre ältere, höchst anschauliche und lebendige schilderung des russischen leichenbrands von dem Araber Ibn Foszlan, der im j. 921 und 922 nach Chr. auf seiner gesandtschaftsreise von Bagdad zum könig der Slaven, d. i. der Wolgabulgaren die sitten und gebräuche der heidnischen Russen erkundigte. wir besitzen seine schrift gleichwol nur in dem auszug, welchen ein späterer schriftsteller namens Jakut, der von 1178 bis 1229 lebte, einem umfassenden geographischen lexicon unter dem worte Rus einfügte; danach ist sie durch Frähn zu Pe- tersburg 1823 herausgegeben und verdeutscht worden.

Ibn Foszlan sah diese Russen am Il (an der Wolga) wohin sie mit ihren schiffen aus dem innern land gekommen waren. man hatte ihm vom verbrennen ihrer todten erzählt, er war neugierig die gebräuche kennen zu lernen, als man gerade den tod eines ihrer grofsen meldete.

Sie legten den todten in ein grab und schlugen ein dach darüber für zehn tage, bis sie mit dem zuschneiden und nähen seiner kleider fertig waren. Ist ihnen ein armer mann gestorben, so bauen sie für ihn ein kleines schif, legen ihn hinein und verbrennen es. beim tode eines reichen aber sammeln sie seine habe und theilen sie in drei theile. das eine drittel ist für seine

254 Jacog Grimm

familie, für das zweite schneiden sie ihm kleider zu, für das dritte kaufen sie berauschendes getränke.

Sobald unter ihnen ein oberhaupt verschieden ist, fragt man dessen mädchen und diener “wer von euch will mit ihm sterben?’ dann antwortet einer ‘ich’, und hat er dies wort ausgesprochen, so ist er gebunden und darf es nicht zurückziehen. meistentheils aber sinds die mädchen die es thun. Bei jenes mannes tode war schon die frage ergangen und eins der mädchen hatte geantwortet: ich. man vertraute sie nun zwein andern mäd- chen, die sie bewachten, überall wohin sie nur gieng begleiteten und ihr bisweilen die füfse wuschen. Während die kleider bereitet und alle übrigen zurüstungen getroffen wurden, blieb das mädchen frölich, trank und sang.

Als der tag des verbrennens herangekommen war, zog man das schif des verstorbnen ans ufer, trug eine ruhebank darauf, über welche ein altes weib, das sie den todesengel nennen, gesteppte tücher, goldstoffe und kopf- kissen spreitete. Dann giengen sie zum grabe, räumten die erde vom holz- dach und zogen den todten samt dem leichentuch, worin er gestorben war, heraus, kleideten ihn in prächtiges gewand, und trugen ihn unter das schifs- zelt auf die gesteppte decke, indem sie sein haupt mit dem kopfkissen un- terstützten. berauschendes getränk, früchte und basilienkraut wurden neben, brot, fleisch und zwiebeln vor ihn hingelegt. darauf brachten sie einen hund, schnitten ihn in zwei theile und warfen beide ins schif, legten dann dem todten alle seine waffen zur seite und führten zwei pferde herbei, die so lange, bis sie von schweilse troffen, gejagt und dann auch mit schwertern zerhauen und alle stücke ihres fleisches ins schif geworfen wurden. auf gleiche weise verfuhren sie mit zwei ochsen, einem hahn und huhn, die sie gleichfalls zerhieben und ins schif warfen.

Das dem tode geweihte mädchen wurde nunmehr zu einem vorsprin- genden, dem gesims einer thür ähnlichen gerüste geleitet, indem sie ihre füfse auf die flachen hände der männer setzte emporgehoben und nachdem sie auf das gesimse niederschauend einige worte gesprochen hatte, wieder herabgelassen. alles dies wurde zum zweiten und drittenmal wiederholt. alsdann reichten sie ihr eine henne hin, deren kopf sie abschnitt und weg- warf; die henne selbst nahm man und warf sie auch ins schif.

Als der Araber sich nach den ihm unverständlichen worten erkundigte, die das mädchen gesprochen hatte, antwortete der dolmetsch: das erstemal

über das verbrennen der leichen. 255

sagte sie “sieh, hier sehe ich meinen vater und meine mutter.” das zweitemal “sieh, jetzt sehe ich alle meine verstorbnen anverwandten sitzen.’ das dritte- mal aber ‘sieh, dort ist mein herr, er sitzt im paradiese, das paradies ist so schön, so grün. bei ihm sind die männer und diener, er ruft mich: so bringt mich denn zu ihm!”

Nun nahmen und führten sie sie zum schiffe hin. sie aber zog ihre beiden armbänder ab und gab sie dem weibe, das man den todesengel nennt und das sie morden wird. auch ihre beiden beinringe zog sie ab und reichte sie den zwei ihr dienenden mädchen, töchtern des todesengels.

Dann hob man sie auf das schif, liefs sie aber noch nicht ins gezelt, sondern männer kamen mit schildern und stäben und reichten ihr einen be- cher berauschenden getränks, den sie annahm und singend leerte. hiermit, sagte der dolmetsch, nimmt sie abschied von ihren lieben. darauf ward ihr ein andrer becher gereicht, den sie auch nahm und ein langes lied anstimmte. die alte aber hiefs sie eilen und ins zelt treten, wo ihr herr lag. Das mädchen schien jetzt bestürzt und unentschlossen, sie steckte nur den kopf zwischen zelt und schif; stracks falste die alte sie beim haupt, brachte sie ins gezelt und trat selbst ein, die männer begannen mit den stäben auf die schilder zu schlagen, dafs kein laut der schreienden gehört würde, der andre mädchen erschrecken und abgeneigt machen könnte auch einmal mit ihrem herrn in den tod zu gehn. Dann traten sechs männer ins gezelt, streckten sie an des todten seite nieder, indem zwei ihre fülse, zwei ihre hände fafsten, und die alte, welche todesengel heifst, ihr einen strick um den hals legte, dessen ende sie dem fünften und sechsten mann reichte; mit einem grofsen breit- klingigen messer selbst hinzu tretend, stiefs sie dem mädchen zwischen die rippen das messer ein und zog es wieder aus. die beiden männer aber würg- ten mit dem stricke bis es todt war.

Nun kam nackend der nächste anverwandte des verstorbnen, nahm ein scheit holz, zündete es an und gieng rückwärts zum schiffe, das holz in der einen hand haltend, die andere auf seinen rücken gelegt, bis das unter das schif gesteckte holz entzündet war. darauf nahten auch die übrigen mit g ein stück das oben schon brannte

8 und warf es auf den haufen. bald ergrif diesen das feuer, hernach das schif,

zündholz und anderm holze, jeder tru

dann das zelt, den mann, das mädchen und alles was im schiffe war. es

356 Jacog Grimm

blies ein heftiger sturm, wodurch die flamme verstärkt, die lohe noch mehr angefacht wurde. i

Neben dem botschafter des chalifen stand einer von den Russen, den er mit dem dolmetsch sprechen hörte und nach dessen worten er sich er- kundigte. es waren diese: ‘ihr Araber seid doch ein dummes volk. ihr nehmt den, der euch unter den menschen der geliebteste und geehrteste ist, und werft ihn in die erde, wo ihn die kriechenden thiere und würmer fres- sen. wir dagegen verbrennen ihn in einem nu, so dafs er ohne aufenthalt ins paradies eingeht! dann in unbändiges lachen ausbrechend fügte der Russe hinzu: “seines gottes liebe zu ihm machts, dafs schon der wind weht und ihn im augenblick wegraffen wird. und traun, keine stunde vergieng, so war schif und holz und mädchen mit dem verstorbnen zu asche gebrannt.

An der stelle, wo das aus dem flufs gezogne schif gestanden hatte, führten sie einen runden hügel auf, in dessen mitte an einem grofsen bü- chenscheit der name des verstorbnen und des königs der Russen geschrieben wurde. alsdann begaben sie sich weg.

So weit reicht Ibn Foszlans nachricht, welcher Frähn s. 104. 105 noch ein paar andere aus arabischen schriftstellern beifügt. Masudy sagt von den Russen und Slaven, die einen theil der Chasarenhauptstadt Itil be- wohnten: hi defunctorum cadavera una cum jumentis, supellectili et ornatu comburunt. uxores cum maritis defunctis cremantur, non item viri cum uxoribus. si quis caelebs moriatur, mortuo tamen feminam uxoris loco ad- dunt. hae autem omnes hoc mortis genus comprimis expetunt, sic enim aeternam felicitatem adepturos esse credunt. hactenus autem illi populi ab Indis hac in re differunt, quod apud hos nulla uxor, si noluerit, cum viro comburitur. Von den heidnischen Slaven (Saklab) berichtet Schemseddin Dimeschky: diese verbrennen ihre könige, wenn sie gestorben sind, und mit ihnen knechte, mägde, weiber und alle, die zu ihrer nächsten umge- bung gehörten, den schreiber, wesir, den gesellschafter beim becher und den arzt.

Auch der Byzantiner Leo Diaconus, der um die mitte des zehnten jahrh. in Kleinasien geboren, im j. 966 nach Constantinopel gekommen, von den verhandlungen zwischen Johannes Zimisces und Syätoslav (IpevderIAu- Res) aber genau unterrichtet war, erwähnt (ed. bonn. p. 149 ff.) unter dem j. 972 von den ihm als Skythen erscheinenden Rös d.i. Russen folgendes:

über das verbrennen der leichen. 257

An dE vunrös naranyelens nal As ununs mAnTıdacts curns nar& To mediov EEEA- Sovres Tels Fberegeus avelnAapuv vergous: oUs nal Cuvarıravres mg0 ToU megı- Borsu zul mugas Sanıras dravanvavrss, KaTszaucav, MATTOUS TÜV aiyuaAuTwv, avögas kal yuvamı, Em’ autos nare. Tov marTgıov vowov Eravanpakavrss. Evayızlaous TE memamnores, Emi Tov "Ioroov Uronalıu Raepn za @Nerrgucvas dvervıfav, TO boSu TOU MOTRUO TADTE AUTAMOVTWTAVTES. AcyEral yag EAAyvircis opyioıs nar- } Y

ON,EUS OVTaS.

Wer wollte hier griechischen brauch suchen? dringender ist es nach dem einflufs zu fragen, den warjagische einwanderung seit der mitte des neunten jh. auch auf die sitte des nördlichen Slavenlands gewonnen haben könnte. in der that gleicht die von dem Araber gelieferte schilderung des russischen leichenbrandes auffallend dem altnordischen, zumal darin, dafs der scheiterhaufe auf dem schif geschichtet wird und das sich aufopfernde mädchen unmittelbar in das grüne paradies überzugehn wähnt, wie unsre vorfahren in den grünen wang oder heim der götter (mythol. s. 782. 783). mit dem schlachten der pferde stimmt auch die altdeutsche gewohnheit und zu dem nochmals durch Leo Diaconus bestätigten würgen der hennen oder hähne darf das galli caput bei Saxo gramm. (St.17. Müll. 51) gehalten wer- den, nach dessen wurf über die mauer der vogel neues leben empfängt. Allein verbrennen zu schiffe war hier den auf der Wolga fahrenden, sonst im land fremden Russen von selbst geboten und mitopfer der thiere ein fast allgemeiner, bei den meisten, zumal auch littauischen scheiterhaufen wiederkehrender zug, den man gar nicht erst nöthig hat aus Scandinavien herzuleiten. Aufserdem ist in des Ibn Foszlan schilderung, der überhaupt diese Russen als ein höchst unreinliches und wollüstiges volk darstellt, von mir absichtlich vorhin etwas empörendes unterdrückt worden; er berichtet nemlich, dafs die sechs ins gezelt getretnen männer, welche dem mädchen hände und füfse halten und es mit dem strick erdrosseln musten, ihm zuvor samt und sonders beigewohnt hätten. Solch eine unthat stände aber altnor- discher wie altdeutscher sitte fern, und nimmt man hierzu, dafs auch unter den übrigen Slaven, namentlich Wineden und Polen das verbrennen der todten üblich war und Nestor für die Wjatitschen und Radimitischen sich dabei des slavischen aber undeutschen ausdrucks trysna bedient; so sehe ich keine ursache, den an der Wolga unter den Russen des zehnten jh. be-

Philos.- histor. Kl. 1849. Kk

258 Jıcog Grimm

obachteten hergang auf scandinavische Warjager zurück zu leiten. (1) Die natürlichste annahme bleibt, dafs unter Slaven und Germanen von altersher dies verbrennen der leichen auf sehr ähnliche obwol im einzelnen abwei- chende weise im schwange gieng; wir würden uns davon noch besser über- zeugen, wenn unsre einheimischen schriftsteller es verstanden hätten, die gebräuche so anschaulich darzustellen, wie bei Herodot der skythische, bei Procop der herulische, bei Vulfstan estische, bei Ibn Foszlan der russische beschrieben sind.

FINNISCHE überlieferungen von dem brand der leichen sind mir unbekannt oder jetzt noch unzugänglich. in Kalevala kommt vor, dafs der riese Vipunen mit ganzem leib, also unverbrannt, zu grabe liegt, was ans steinalter und die steinkammer der riesenzeit erinnert. Die neue ausgabe des finnischen epos (?) gewährt aber XXXI, 145-160 die umständliche be- schreibung eines scheiterhaufens, den Untamo schichten läfst, um darauf den knaben Kullervo zu tödten, welchen er vorher schon im wasser vergeblich umzubringen gesucht hatte. es heifst mit wieder kehrenden zeilen:

käski orjansa kerätä koivuja kovia puita, honkia satahavuja,

tuohia tuhat rekeä,

sata syltä saarnipuita, er liefs die knechte sammeln weiflser birke hölzer, tannenzweige hundert- nadliche, .... harzige, birkenrinde tausend schlitten, hundert klaftern eschen- holz. hier wird kein dorn genannt, aber die zusammenfügung aus birken, tannen und eschenholz in grofsen haufen mahnt an den skythischen oyxes heuyavuv. Für den scheiterhaufen besitzt die finnische sprache den namen pino, strues lignorum ordinata, dessen schon oben beim ahd. fina meldung geschah, sonst gilt auch kokko für strues lignea. kanto, bei Renvall caudex, truncus arboris, bezeichnet nach Juslenius zugleich bäl, und diese bedeu- tung legt er dem worte miehusta bei, das nach Renvall truncus corporis hu- mani ausdrückt.

(') wie Ernst Kunik in seinem reichhaltigen und belehrenden werke über die schwedi- schen Rodsen, Petersburg 1844. 1845 2, Ad. 453-458 thut. (2) Kalevala. toinen painos. Helsingissä 1849.

über das verbrennen der leichen. 259

Das UNGRISCHE wörterbuch gewährt rakas fa und rakas tüz, d.i. holzhaufe und feuerhaufe, rakas aber scheint wieder an rogus und das goth. rikan acervare zu klingen. Den wirklichen und alte brauch des lei henbra 1- des bei den Ungern setzt uns aber ein zeugnis des Ekkehardus 1} 2,105 aufser zweifel; als sie im ]- 925 zu S Br: Gallen einbrache und zwei ihrer leute umkamen, heifst es: quos bos inter postes Yalvan cre flammivorus super liminare et lager veheme ter inv

massent, rogusque nequaquam templu

deret, contisque incendio certatim plures Miscerent, m Galli .. . .incendere que. ie thaten gleich jenen Gothen, Norı annen, Esten und Russen nach der schlacht. a

Forscht man von der ungrischen und finnischen sprache ab weiter gegen osten, so wird sich für den begrif des scheiterhaufens eine reihe sol- cher wörter, die bald’ der flamme, bald dem geschichteten holz entnommen sind, ergeben. zu anziehendem aufschlufs könnte erst eine vollständigere samlung derselben führen. jetzt genüge an wenigem. der TURKISCHE ausdruck ujum urum mag zusammen hängen mit dem MOÖNGOLISCHEN norom, dies aber mit norma glühender asche. auch mandschuisch bedeutet noran den scheiterhaufen und nora den haufen schichten. tibetisch sching- krov holzstofs. In der mongolischen sage von Gesser Chan s. 34 wird aus- drücklich das verbrennen der todten auf dem holzstofs berichtet.

Von uralter zeit an bis auf heute herscht in INDIEN unvertilgbar die gewohnheit des leichenbrands und ohne zweifel hat auch die festigkeit in- discher kasteneinrichtungen dazu beigetragen ihn unverändert zu erhalten, obschon sie ihn zugleich einschränkten. denn abgesehn von den Brachmanen wird er hauptsächlich den Kschatrijas d.h. helden und kriegern zu theil, während die kaste der kaufleute, ackerbauer und handwerker von ihm aus- geschlossen bleibt. er zeigt sich also wiederum als vorrecht und auszeich- nung der höheren stände.

Abbruch thut ihm sodann der unterschied der glaubenssecten. die anhänger Vischnus sind ihm ergeben, die des Siva sollen ihn verabscheuen oder doch meiden. (!) Aufserdem brennen auch die zahlreichen Buddhisten ihre todten nicht, sondern übergeben sie der erde, was sich von den in In-

(') Vischnus anhänger verbrennen ihre leichen, um nicht das wasser durch sie zu verun- : 2. N - reinigen; die des Siva als feueranbeter werfen sie in den Ganges oder begraben sie.

Kk2

*

260 Jıcos Grimm

dien TerbuEiläien ak. Ari von selbst versteht. Wie ig das hier ©

ordnen, wenn der ft Rn er eine een u eit en

4

Der sterbende, wenn ein Südra, wird auf ein bett von kusagras, wenn von einer andern kaste in die freie luft getragen. 7%

Der ieichnam wird gewaschen, ein stück gold in seinen mund, in die nasenlöcher und ohren gelegt; dann trägt man ihn zu einer heiligen stelle im wald oder am wasser und legt ihn auf ein kusalager mit dem haupt ge- gen süden. die söhne oder nächsten verwandten rüsten den scheiterhaufen, auf welchen nach nochmaliger waschung die leiche mit dem haupt gegen norden gelegt wird. blumen schmücken den scheiterhaufen, ein gewand ist darüber gespreitet, der berechtigte verwandte entzündet ihn mit den wor- ten: mögen die götter mit flammenden mund diese leiche verbrennen! er entzündet ihn zunächst am haupt des todten gegen süden schauend und das linke knie beugend und ruft aus: namö namah! Das feuer wird so einge- richtet, dafs einige knochen aufgelesen werden können. Die verwandten nehmen sieben spannen lange holzstücke, wandeln um den scheiterhaufen und die stücke über ihre schulter ins feuer werfend rufen sie: grufs dir, der du das fleisch verzehrst! Ist die leiche verbrannt, so gehn die verwandten nochmals um den scheiterhaufen, doch ohne in die glut zu schauen, dann nahen sie sich dem wasser und reinigen sich; es folgen gebete, opfer und fasten. Die knochenlese geschieht (nach Rämaj. 2, 62 erst den dreizehnten tag nach dem brand) in ein irdnes gefäfs, eine tiefe grube am flufs wird mit kusa bestreut, mit gelbem gewande bedegkt, dann das irdne gefäls einge- stellt, lehm, dörner und moos darüber geworfen und ein baum gepflanzt,

über das verbrennen der leichen. 961

oder ein damm aufgemauert und eine fahne errichtet. den schlufs machen lustrationen, opfer und geschenke. Wird die leichenfeier eines in fremdem 5 verstorbnen od dessen

R " di bein nicht 1 ist dert und sechzig blättern

gen, so bilden sie eine estalt aus c strauches butea, oder eben so viel wo.

e-

äden, womit sie die verschiednen theile des menschlichen leibs dar-

tellen nach bestimmten zahlenverhältnissen,; um die ganze gestalt eisen lederner rieme von der haut einer schwarzen antelope und darüber noch ein wollenfaden geknüpft werden, dann bestreichen sie diese figur mit ger- stenmehl und wasser und verbrennen sie als ein sinnbild des leichnams. wen überrascht nicht die höchst bedeutsame übereinstimmung dieses gebrauchs mit dem uns im schwedischen märchen aufbewahrten‘ (!)

Vom mitverbrennen der indischen witwen hatten römische und grie- chische schriftsteller längst kunde. (?) Cicero (tuse. disp. V. 27, 78) sagt: mulieres in India quum est cujusvis earum vir mortuus, in certamen judi- eiumque veniunt, quam plurimum ille dilexerit: plures enim singulis solent esse nuptae. quae est victrix, ea laeta, prosequentibus suis, una cum viro in rogum imponitur; illa vieta maesta discedit. Propertius IV. 12,15:

felix Eois lex funeris una maritis, quos Aurora suis rubra colorat equis. namque ubi mortifero jacta est fax ultima lecto, uxorum positis stat pia turba comis: et certamen habent leti, quae viva sequatur conjugium, pudor est non licuisse mori. ardent victrices et flammae pectora praebent, imponuntque suis ora perusta viris. Herodot 3, 38 gedenkt des verbrennens der eltern, nicht der frauen, was er nicht unangeführt gelassen haben würde, wäre es ihm zu ohren gekommen;

(*) die indischen leichengebräuche schöpfe ich hauptsächlich aus H. T. Colebrooke on the religious ceremonies of the Hindus, nach den asiatic researches, Calcutta 1795, wieder abge- druckt in seinen miscellaneous essays, London 1837 vol. 1, wo die funeral rites p.155-186 und die schilderung der figur aus butealaub p. 159 enthalten ist. die abhandlung on the duties of a faithful Hindu widow findet sich p. 114-122.

(?) auch in unser mittelalter war sie gedrungen, man vgl. z. b. das niederländische gedicht die kinderen van Limborch s, 322.

962 Jacos Grimm

auf jenes kommt er zu sprechen, als er den Darius Hystaspes sohn erst Grie- chen, dann indische Kalatier (oder Kalantier) nach dem aufzehren der el-

en läfst. die Griechen w

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juarı def "av TEAEUTEOVTaS ToUs maregus naranaleıy mugi: ci ö8 dußweavres = eehnuee Exerevov. Allgemein aber bezeugt Plutarch tom. 2, nicht blofs das mitverbrennen der frauen, sondern das verbrennen der lei- ber bei den Indern überhaupt: 'Ivdav d& Qiravögcı nal nupgoves Yuvalzcs ümtg ToU mUgos Ealdoucı zul Mayovras mgos GAMAas, Try Ö8 virnrarav reIunaori To @v- da TuyzarapAsyAvaı, Haxagıav adevew ai Acımaı. Tüv de &xel vohlv edles N- Awros oUde Warugırros or, av um Cav erı Hal Hrovav zul Uyıawwv, ToU FTWuarss any un mugi darrysy, zul zaSagos &x@H ans Gapnes, invnbausvos To Iunrov. Nicolaus Damascenus fragm. 143 (fragm. hist. gr. 3, 463): "Ivdai ruyzara- Halsurıw Erav TEAEUTATUTL TOV Yuvanzav TyV meondıRerrarm. aurav de Eneivwv üyav HEYITTOS Yıyverai, omovdalovrwv virjrar Enasıyv ruv dlAwv. Das wenige was Strabo p.699 vom mitverbrennen der witwen meldet, entnahm er aus One- sikritos und Aristobulos und bezieht es blofs auf die landstriche Kathaea und Toxila: idıov de av Kaaıwv zal To TuyraranasıIaı TEIVENTı TOls. dv- dgası TS YUvalKıds Kara TelayTyv airıav" orı, ggwraı WOoTE Tüv vewv, KbiTTavro Tav avdgav, 7 Hapmanevsıev aureus’ veuov olv IerIaı Teürov, WS TauTcuems TAG bagnaneıus mıSavws ulv oiv 6 vonos, old’ 9 airia Asyeraı. p. 714: mag qırı dxovew duri, zul FUYRAaTanaloEvaSs TAS Yuvalzas Tols dvdganıv drusvas Ta de uN Ümsneveuras, ddofeiv- eloyraı zal aArcıs raura. Denselben nichtigen grund des gesetzes führt auch Diodor 17, 91, wo von Alexanders heerzug gegen die Kathaer die rede ist, an: waga Ö& Teure vonınov Av Tas yuvalnas Tols @v- dgusı TuynaranalıIu. route 0’ ErvowSy 78 doyua maga Teis Bagßagaıs dia Miav yuvalza Papuancıs dveAsurav Tov dvdga.

Diodor berichtet aber 19, 33. 34 ausführlich ein in die schlacht zwi- schen dem macedonischen Antigonus und Eumenes (Ol. 116,1. 316 vor Chr.) fallendes ereignis. Ceteus, anführer der aus Indien angelangten krieger war geblieben und hinterliefs zwei frauen, die ihm ins lager gefolgt waren. ein altes gesetz der Inder verordnete, OmUS Tuyrararulwvrar TEIS TETEREUTNROTW

> ' e n \ nn E) ' N m > e dvögarıy ai yuvalııs many Tav Eyauay n TÜV &xcuruv rexva. doch durfte nur

über das verbrennen der leichen. 263

eine der frauen mit verbrannt werden und nun entsprang zwischen beiden wettstreit, der weil die ältere sich schwanger befand, zu gunsten der jünge- ren entschieden wurde. 7 de &mı f vian megıy,agns amyeı meös Tau mugav, GreE- bavoumeın WEV nirgas ÜTO TUV oineimv Yuvamıv, neronuem ÖL Namgemus urTEp eis TIva yanov mooemeumero Ümo TÜV Fuyyevav ddovruv Unvev Eis nV agernv aurns. Us Ö° Eyyls EyeunSm TuS mugas, mEgLaIgOUJALEVN Tov zoouov Eauris diedideu reis oi- neloıs nal hiAas, Ws av Era Tıs, naraÄsimcusa Tols dyararı Mnusior. 6 08 #0- Tuos Av megı uEv Tas Xelgas danrurwv TE mANIos Evdedeusvwv ArSoıs TE MOAUTE- Aesı nal dimAAayuevas Tols Ygwmarı, megi de nv nebaAnv Ygurüv arregirauv cr ödıyos dgıduos mavrodameis Afcıs disıinunevuv, Tüv Ö° Er TV nar” öriyov dei za’ ÜmegIerw meılovuv. TE ÖE TEAEUTALOV ÄTTATAMEM ToUs oinsious Ümo TÜdeAGoD MeV eri TuV mupav aveßı dar Sn, bmo dt rov Fuvdoaovros em Tyv Seav minIous Sav- parIera narestoeibev nguurus rev Riev. n mer yag duvanıs Ev Tols OrAus Tara mei ünrerSar nv mupav Tais megmASer, aurm de Tavögı mapanıSeica, Kal Kara nv ToU mupäs öpumv oudemiav dwuAv dyevun moosnEuM, mgoERaAETaTo av ögwvrwv ToUS WEV EIS EAeov, ToLs Ö° eis Umeo@orn £rawuv. das austheilen des schmucks erfolgt gerade wie beim russischen mädchen.

Was Strabo und Diodor hier vewos und veuıusv nannten mag auf ge- heiligte sitte und herkommen, nicht gerade auf geschriebnes gesetz bezogen werden; auch die geseize unseres oder des griechischen alterthums enthiel- ten kein gebot des verbrennens oder mitverbrennens, erst einschränkung des aufwands und zuletzt verbot pflegten sie auszusprechen. Ebensowenig gebietet das gesetz des Manu das mitverbrennen der ehefrau; im Rigveda reden jedoch mehrere stellen ausdrücklich vom feuertod, den getreue wit- wen freiwillig erwählen: er soll für keinen selbstmord gelten; die vom Brachman bei solchen scheiterhaufen gesprochnen gebete werden mitge- theilt. In den Puränas heifst es, das mitverbrennen der frau solle des man- nes sünde, selbst wenn er einen Brachmanen getödtet, einen freund ermor- det habe, sühnen. an der stelle, wo sie sich verbrannte, wird der witwe ein denkmal gesetzt und wer ihrem zuge zu fufs folgt soll für jeden dabei ge- thanen schritt dasselbe verdienst sich erwerben, als hätte er das feierlichste opfer, ein asvamedha d.h. pferdeopfer dargebracht. Nach Lassen 1,639 ist das älteste beispiel das verbrennen der Mädr& auf dem scheiterhaufen ihres

gemahls Pändu aus dem Mahäbhärata.

264 Jıcos Grimm

Die gebräuche selbst werden so geschildert: wenn die witwe gebadet und in reine gewänder gekleidet ist, fafst sie heiliges gras (!) und schlürft wasser aus ihrer hand. dann schaut sie gen osten und norden, während der brachmane das geheimnifsvolle wort om ausspricht; hierauf neigt sie sich Näräyana und spricht das sankalpa aus: in diesem monat möge ich zu Arun- dhati (gemahlin des Vasishtha) kommen und in Syarga (dem himmel) woh- nen; mögen die jahre meines wesens zahlreich sein wie die haare des mensch- lichen leibs, möge ich mit meinem gemahl die wonne des himmels geniefsen, meine väterlichen und mütterlichen vorfahren und die voreltern des vaters meines gemahls heiligen und selig sein mit meinem herrn in den reichen der vierzehn Indras. ich rufe zu euch, ihr hüter der acht welttheile, zu sonne, mond, luft, feuer, aether, erde, wasser, zu meiner eignen seele, Jama, tag, nacht und zwielicht! und du gewissen, sei mir zeuge, ich folge meines ge- mahls leiche auf den scheiterhaufen! Dann das sankalpa wiederholend wan- delt sie dreimal um den holzstofs, und der Brachmane spricht: om! lafs diese gute frau, unyerwitwet, gesalbt und klare butter haltend sich dem feuer weihen! unsterblich, weder kinderlos noch gemahllos, geziert mit edlem gestein lafs sie ins feuer eingehn, dessen element das wasser ist! (*) om, lafs diese treue frau sich selbst rein und schön dem feuer übergeben mit der leiche ihres mannes.

Der sohn oder ein andrer naher verwandter des verstorbnen zündet darauf den holzstofs an.

Keine schwangere oder unreine darf ihn beschreiten. Stirbt und wird ein Brachmana in der ferne verbrannt, so darf seine frau in der heimat nicht einen zweiten scheiterbaufen besteigen. wol aber ist dies der frau eines Kschatrija gestattet; sie mufs dann etwas von des ferngestorbnen gatten ge- räth, namentlich seine sandalen auf ihrer brust zum feuer tragen.

(') herba pura, chreneerüda, skr. kusa, poa cynosuroides, welche die Inder in heiligen gebräuchen oft verwenden. durva agrostis linearis, ein anderes heiliges gras, entspricht dem ags. torf cespes, ahd. zorba.

(2) Rigveda VII. 6. 27. 2

imä närir avid’aväh supatnir äriganena sarpisä samvisantu | anasravo ’namiväh suratnä ärohantu ganayo yonim agre ıı

diese frauen, unverwitwet, gute gattinnen heran mögen sie mit salbe und butter treten,

ohne ihränen, ohne krankheit, mit ihrem schmuck die mütter zuerst den schols betreten.

über das verbrennen der leichen. 365

Nicht allein witwen verbrennen sich mit dem gemahl, es kommt auch vor dafs eltern der leiche des geliebten sohns in die flamme folgen; so star- ben in einer episode des Rämäjana der blinde vater und die mutter des ein- siedlers, den Dasaratha aus versehn erschlagen hatte. (1!) Im Vetälapanda- vinsati verbrennt sich ein freier mit der gestorbnen geliebten.

Unheilbare kranke veranstalten selbst ihre verbrennung und bringen sich auf diese weise ums leben, was an Herakles und den herulischen wie thüringischen brand erinnert.

Überall aber stand es im freien willen der witwen, ob sie sich mit- verbrennen wollten und nicht zu bezweifeln ist, dafs es oft unterblieb, wie auch, wenigstens neuere reisende das mitverbrennen als ausnahme darstel- len, die jedesmal grofses aufsehn errege. (?)

Der scheiterhaufe heifst im skr. tschitä oder auch tschajana, beide von der wurzel tschi colligere (Bopp 119" 123° 124°), d.i. der geschichtete holz und reiserhaufe, ignis collectitius. Im Rämäjana 2,76 findet sich aber eine ausführliche, lehrreiche schilderung des holzstofses, auf welchem Da- saratha verbrannt wurde und auch seine gemahlin Kausalija mitsterben wollte, obgleich es nicht dazu kam. Der leichnam wird auf einer bahre aus- getragen, gold und gewänder werden vor ihm gestreut. geschichtet aber wird der scheiterhaufe aus devadäruholz, götterbaumholz, pinus devadäru (Lassen 1,46. 252); in Bengalen verwendet man dazu die uvaria longifolia, im Dekhan erythroxylon sideroxyloides, welches ein wilder dornstrauch ist, prunus silvestris, so dafs unsre aufmerksamkeit hier wieder dahin gerich- tet wird, wo wir schon die einstimmung des griechischen und altdeutschen brauchs wahrnahmen (°); auch in unserm alterthum müssen bestimmte holzarten heiliges feuerholz gewesen sein. duftende gerüche werden ge- sprengt und unter priesterlichem weihgesang die scheiter entzündet.

(‘) Holtzmanns Valmiki s. 137.

(2) man vergleiche die anziehenden beispiele, welche Arnkiel im eimbrischen heidenthum 3. 104-110 und Klemm in seiner culturgeschichte 7, 143-147 gesammelt haben.

(3) Colebrooke 1,151 sagt: the fuel used at sacrifices must be wood of the racemiferous figtree, the leafy butea, or the catechu mimosa. it should seem however, that the prickly ade- nanthera (sami, adenanthera aculeata, ein dornstrauch) or even the mango may be used. the wood is cut into small loges, a span long, and not thicker than a mans fist. anderwärts finde ich noch andre sträuche und hölzer genannt.

Philos.-histor. Kl. 1849. Ll

266 Jacos Grimm

Es kann nicht meine absicht sein die sitte des leichenbrandes in glei- cher ausführlichkeit über den ganzen erdboden zu verfolgen; ich wollte, die deutschen völker im auge habend, auf alle ihnen benachbarten und ur- verwandten mich erstrecken und so den weg nachweisen auf welchem die gebräuche aus Europa zurück nach Asien verfolgt werden mögen. Nur mit wenigem sei hier angemerkt, dafs gleich den Hebraeern die Araber und na- mentlich Beduinen nur begraben, nicht verbrennen, weshalb auch dies den Mahomedanern insgemein fremd blieb. Da die heidnischen Canaaniten ihren göttern menschenopfer brannten, ihre erstgeburt durchs feuer gehn liefsen, darf man vermuten, dafs sie auch ihre todten den flammen übergaben. Abra- ham sollte seinen sohn im feuer opfern, und der brennende busch des alten testaments verräth zusammenhang mit feuercultus; ich weils nicht, ob man daraus einen älteren leichenbrand folgern darf. (1) Wahrscheinlich brann- ten die alten Assyrier ihre leichen, Sardanapal liefs für sich und seine frauen den prächtigsten scheiterhaufen rüsten, welchen aus Ctesias Athenaeus p.529 (12,38) umständlich beschreibt. Chinesen, Japaner, Mongolen begraben zwar, doch spuren des brennens treten auch bei ihnen vor. (*) Alle indogermani- schen völker hiengen wesentlich dem brennen an und was davon abweicht, bleibt blofs näher zu untersuchen und zu begründen. So mufs die zendische lehre, weil sie das feuer hoch heiligte, brennen der todten, gleich den zahl- reichen Sivadienern, untersagt haben (?); manche bräuche der blofs begra- benden Buddhisten stehn mit christlichen in zusammenhang. Während die alten Mexicaner brannten, begruben die Araukaner (Klemm 5, 50. 51). in Australien pflegen jüngere begraben, ältere verbrannt zu werden. ertrun- kene oder an bestimmten krankheiten gestorbene wurden des verbrennens

(') auch im buch der richter 9, 15 wird der dornbusch (bei Gerh. von Minden n°33 der blanke hagedorn) zum könig der bäume erwählt und feuer soll aus ihm gehn.

(2) nach Thunbergs reisen 2,2 s. 31.32 war in Japan der leichenbrand ehmals allgemein und gilt jetzt nur noch für die vornehmen.

(3) was aber nicht hindert, dals art und weise der anzündung heiliger opfer und spenden vielfach mit der des scheiterhaufens übereinstimme. nach Vendidad Sade (herausg. von Brock- haus, Leipz. 1850) heilst es s.315: ba@vare vazjanam aecmanam khraojdvanam pairistanam äthre Ahurah@ Mazdäo ashaja vanhuja urune cithim nigarenujät, d. i. zehntausend wagen von hart sein müssenden trocknen ausgewählten scheiten spende er dem feuer des Ahura Mazdah um guter reinheit willen als bulse für seine seele. ich folge der von Benfey in den Gött. anz. 1850 s.1225 gegebnen übersetzung.

über das verbrennen der leichen. 267

-

nicht theilhaftig (Klemm 5, 51). oft scheinen die beobachtungen ungenü-

gend.

Des Taeitus ausspruch, der den Germanen einfachen leichenbrand mit bestimmten holzarten zuschreibt, hat sich vollkommen bewährt. man wird es für mehr als blofsen zufall ansehn müssen, dafs die ältesten aus- drücke für den scheiterhaufen von dörnern, die für viele dörner vom feuer entnommen sind. es war hirtenvölkern natürlich zündbares reisig zum brand zu verwenden (!) und einzelne dornarten auszuwählen, die ihnen für dies heilige geschäft die geschicktesten zu sein schienen. alle in Europa einge- zognen stämme brachten die sitte ihre todten zu verbrennen schon aus Asien mit.

Der einklang unseres alterthums mit dem indischen fällt in die augen, wie die wörter unsrer sprache denen des sanskrit, begegnen deutsche bräuche den indischen. ich kenne kein schlagenderes beispiel solches zusammen- treffens als das der Jahrtausende hindurch fort getragnen überlieferung eines schwedischen märchens mit dem indischen leichenbrand. die ein volles jahr hindurch zu brechenden, fädelnden und schichtenden zweige eines baums gleichen den 360 blättern des indischen baums und dem knüpfen der wol- lenfäden vollkommen.

In diesen bezügen des grases, der kräuter und aller elemente auf die ereignisse und handlungen des menschlichen lebens offenbart sich ein un- schuldiger glaube, eine kindliche feierlichkeit der vorzeit, die uns noch so roh dünken kann und doch einnehmen und rühren wird. der mensch je weiter er in der weltgeschichte vorschreitet fühlt sich immer ernsthafter ge- stimmt und zu dem wesentlichen von dem zufälligen, zum gehalt der sache von dem blofsen bild hingezogen. Hochzeit und leichenfeier gehn heute schnell an uns vorüber, wie ein schauspiel, erscheinen nicht mehr gipfel aller lust und trauer des lebens; längst wurden dem volk seine frohen braut- läufte und leichenmale verkümmert und abgeschnitten, unter dem vorwand oder im wahn es müsse dem aufwand gesteuert werden da, wo er gerade an der rechten stelle ist.

Es war ein heiterer der menschheit würdiger gedanke ihre todten der

(1) man sagt noch heute “reiser zum scheiterhaufen tragen’ für einen beitrag geben.

L12

268 Jacos Grimm

hellen und reinen flamme, statt der trägen erde zu überlassen; vom ver- brennen der leiche bis zum einbalsamieren und verharzen ist aber der gröfste abstand den man sich denken kann. die brennenden völker erkannten kla- res auges, was für den leiblichen stof gar nicht ausbleibe (1); aegyptische schwermut und befangenheit wähnte ihn gerade festzuhalten. den blofs ein- gewundenen, der erde übergebnen leichnam erreicht verwesung ungehindert; des hölzernen kastens bretter, den die griechische sprache fleischfressend, unser schwäbischer landmann noch heute todtenbaum nennt (?), halten sie doch nur kurze zeit auf; schwere särge, wie sie bei Chinesen üblich sind, oder die doppelten, metallnen unserer fürstengrüfte, hemmen sie ein klein wenig länger und nähern die leiche dem zustand eingemachter mumie.

Wie hat sich die oft gefühllose weichherzigkeit der neueren luft ge- macht gegen den herben brauch des mitverbrennens der frauen im alter- thum, und doch billigen wir, dafs die ehe, wenn sie ihres (gesetz ausdrücken- den) namens werth sei, ewig und unauflösbar heifse, und preisen als seltnes glück, dafs hochbejahrte ehleute auf denselben tag hingeraft werden. denn erhebend ist es wenn gesagt werden konnte

bis sex lustra tori nox mitis et ultima clausit, arserunt uno funera bina rogo.

Wer es versteht, dafs bürger für das vaterland, freund für den freund, ge- liebter für die geliebte, so lange die welt steht, starben und sterben, wird nicht zweifeln, dafs die meisten frauen freudig mit den männern gestorben sind (°); selbst die starke macht der sitte muste ihren freiwilligen und viele ausnahmen duldenden entschlufs bestimmen, und niemand schilt gewohn- heit oder gesetz, die ein kriegsheer zur schlacht entsenden, in welchem auch unentschlossene oder unfreiwillige mitstreiten und fallen. Barbarisch und grausam sollten also nicht die heidnischen völker heifsen, deren ehefrauen mit den männern verbrannt werden durften, sondern die christlichen, unter denen haufenweis ketzer und hexen unmenschlich der flamme überliefert wurden; jenes beruhte auf einem geheiligten band der natur, dies auf der priester verblendetem eifer.

(=) za Ti Osodugw jaerer, möTegov Unsp yrS % Ur0 yns oymercı; Plutarch II p- 499.

(2) auch in der Schweiz todiabomm sarg, bömmli kindersarg.

(3) nach Caesarius von Heisterbach 5, 19 verbrannte sich eine jungfrau freiwillig mit dem ketzer Arnold, ihrem lehrer.

über das verbrennen der leichen. l 269

Kein volk, meines wissens, war von den schauern des engen dumpfen grabes stärker ergriffen, als das der alten Sachsen und Friesen, seit sie vom brennen zum begraben sich zurück gewandt hatten. lese man nur die ge- spräche der seele mit dem begrabnen leichnam im cod. exon. s. 367-377 (4) oder ein kleines “das grab’ überschriebnes gedicht in Thorpes analecten s.142, dessen worte und wendungen denen des friesischen rechtsbuchs be- gegnen, wo ein kind klagt um seinen vater, der es gegen hunger und nebel- kalten winter schützen sollte: quod ille tam profunde et tam obscure cum illis quatuor clavis est sub quercu et pulvere conclusus et coopertus, ich habe die lateinische fassung ausgehoben, obgleich die ursprüngliche friesi- sche noch einfacher klingt. Liegt in dieser unbeschreiblichen wehmut auch etwas keltisches? denn bei Ossian heifst es öfter ‘ans an talla chaol gun leus’, im engen dunkeln hause ohne licht.

Wir nennen das grab ein bett (?), eine ruhestätte der entschlafnen (zoumrngiev), wo sie nach irdischer arbeit ungestört rasten, ein haus des frie- dens (*) und der stille. das mag viel mehr von den heidnischen grabhügeln, die noch kein pflug aufgeackert, keine habsucht oder neugier erbrochen hat, als von den gräbern christlicher kirchhöfe gelten; der todtengräber und die clowns im Hamlet wissen, wie lang es dauert, bis ein platz für neue gräber wieder umgegraben werden mufs. es gibt keine unsrer städte, in der nicht stralsen über alten kirchhöfen gepflastert wären; so mächtig waltet das be- dürfnis der lebenden raumbeengten menschen, dafs es nur wenig rücksicht auf die todten zu nehmen gestattet. kaum wird auf unsern todtenhöfen ein grab nachzuweisen sein, das sich über einige Jahrhunderte hinaus behauptet hätte, und bald liegt alles vergraset, verrostet, verwittert (4), das sind keine houses which last till doomsday; wie tiefe wahrheit liegt in jenen worten des Tacitus von den Germanen: sepulerum cespes erigit, monumentorum

(!) auch in mhd. gedichten: ich sihe din gebeine rozzen,

daz hät diu erde gar vernozzen.

tödes gehügde 631.

(2) intheket mir thaz ketli,

thaz mines friuntes betti.

O. III. 24, 82. (°) friedhof, mhd. vrithof, ahd. frithof atrium, geschützter, eingefriedigter raum. (*) schon Sidonius Apollinaris epist. 3, 12: jam niger cespes ex viridi, Jam supra antiguum sepulcrum glebae recentes.

270 Jacos GrImM

arduum et operosum honorem ut gravem defunctis aspernantur. was hilfts schweren stein über denen zu thürmen, welchen die erde leicht sein soll? Wollte man für jeden der zahllosen millionen von gestorbnen menschen ge- hegten grabraum fordern, die oberfläche würde sich bald mit hügeln decken. Es läfst sich ein grauenvollerer anblick nicht denken, als den das schichten menschlicher gerippe und schädel in den grüften einiger italienischer klöster gewährt. für die angemessenste, das andenken am längsten sichernde be-

8 wahrung unsrer überreste wird die gelten müssen, welche den geringsten raum kostet und die vergehende gestalt zu erhalten aufgibt.

Unter der mähenden sense gefallne gräser und kräuter duften wol- geruch, die verwesung des entseelten fleisches wird unsern sinnen unerträg- lich. Nicht das rohe bedürfnis sich der leiche, die man nicht bei sich be- halten konnte, um jeden preis zu entledigen war es, was die menschen an- trieb sie tief in die erde zu graben, durch die reinigende flamme zu verbren- nen oder gar den raubthieren als beute hinzuwerfen; sondern liebreiche sorge um die todten selbst, deren gebein gehegt, ehrbietige rücksicht auf die götter, welchen sie geweiht werden sollten, walteten ob. wol hat ein

8

strenges gesetz des bestattens aufwand einschränken zu müssen geglaubt, mangel an holz und gedörn in der wüste den leichenbrand untersagt, nie aber forstmännische furcht vor waldverödung, erst der veränderte lauf des glaubens eine so mächtige sitte abkommen lassen.

Wir können nicht wieder zu den gebräuchen ferner vergangenheit umkehren, nachdem sie einmal seit lange abgelegt worden sind. sie stehn jetzt aufser bezug auf unsre übrige eingewohnte lebensart und würden neu eingeführt den seltsamsten eindruck machen, obgleich selbst der sprach- gebrauch immer noch duldet von der asche unsrer unverbrannten eltern zu reden.

g ist eine höchst ein- fache, ehrwürdige. der entschlafne erwacht, die müden gebeine erheben

Die vorstellung der dvarrarıs oder auferstehun

sich mit neuer kraft und stehn auf, die vorige gestalt durch ein göttliches wunder wird geläutert hergestellt. sammeln und wiederbeleben der aufbe- wahrten knochen, sogar von thieren, war auch der heidnischen fabel be- kannt. An mehrern orten hat man alte gräber eröfnet, in welchem die lei- chen weder der länge nach gestreckt noch sitzend, sondern mit händen, haupt und beinen zusammengebogen lagen, gleichsam um den leib wieder

über das verbrennen der leichen. 271

in dieselbe richtung zu versetzen, die er vor der geburt im-schofs der mut- ter eingenommen habe (!), so dafs die rückkehr in die mütterliche erde an- zeichen werde künftiger neuer geburt und auferstehung des embryons.

Kein nachdenkender kann umhin den begrif des auferständnisses von dem der fortdauer oder des künftigen lebens zu unterscheiden. Selbst dem auferstehn ist das verbrennen der leiche nicht mehr entgegen als das begra- ben, da wir aus erfahrung wissen, dafs alle bänder und fugen des leibs im verwesen gerade wie im brand aufgelöst werden. von allen bestattungs- weisen wäre, sinnlich angesehn, das einbalsamieren den gekleisterten und verklebten gliedern und beinen wiederaufzustehn am hinderlichsten. aber der unsäglich viele menschen quälenden vorstellung des lebendig begrabens machte das verbrennen ein unmittelbares ende.

Für ein sacrament der christenheit kann weder das begraben gelten, noch das verbrennen für ein hindernis der seligkeit, welche niemand den sonst in flammen oder im wasser umgekommnen abspricht. die kirche aber befiehlt den todten zu begraben, wie sie befiehlt das neugeborne kind, nicht erst das erwachsne, seiner vernunft mächtig gewordne zu taufen. man weifs dafs auch viele heiden die neugebornen mit wasser besprengten, also beim eintritt ins leben wie beim austritt durch die beiden elemente des wassers und feuers weihten.

Bei dem durchdringenden gefühl dafs unser irdischer theil verloren gehe, raunt in der innersten brust eine geheimnisvolle stimme uns unwider- stehlich zu, der seelische theil bleibe erhalten.

Oben führte ich das beispiel einzelner thiere an, die gleich dem men- schen ibre todten unter der erde bergen sollen. in erhebender dichtung stellen uns sage und poesie des alterthums einen fabelhaften vogel dar, von dem sich behaupten liefse, dafs er beide bestattungsweisen des menschlichen geschlechts zusammen geübt habe. Herodot 2,73 vernahm zu Heliopolis, dorthin alle fünfhundert jahre komme aus Arabien der Phoenix geflogen, um in des Helios heiligthum seinen verstorbnen vater zu begraben. er be- reite aus myrrhen ein ei, so grofs ers tragen könne, höle es, lege seinen va- ter hinein und klebe es mit myrrhen zu; dann sei das ei gerade wieder so

(') wie eng er lege gevangen, im knie und diu wangen ruorten sich. Renner 19019. D

972 Jıcos Grimm

schwer als da es noch nicht ausgehölt war. Das legt Tacitus ann. 6, 28 an- ders aus: confecto annorum numero, ubi mors propinquat, suis in terris struere nidum eique vim genitalem adfundere, ex qua fetum oriri; et pri- mum adulto curam sepeliendi patris, neque id temere, sed sublato myrrhae pondere tentatoque per longum iter, ubi par oneri, par meatui sit, subire patrium corpus inque Solis aram perferre atque adolere. adolere hier, wie oft, verbrennen. Noch andre sagen ausdrücklich, wenn der phoenix fünf- hundert jahre erfülle, baue er einen scheiterhaufen von gewürz, verbrenne sich auf ihm und sterbe; aus der verwesung gebäre er sich new und trage grofs geworden die gebeine seines alten leibs in myrrhen geschlossen nach Heliopolis, wo er sie verbrenne. Pomp. Mela 3, 8.

Dies schöne edle beispiel für des lebens erneuerung nach dem tode ist auch von christlichen dichtern oft aufgenommen und eingeprägt worden. dem verbrennen der todten widersetzten sich Juden und Christen, weil Abra- ham und Sara (von keinem ihrer vorfahren sagt es die schrift), Jacob, und dann alle bis auf Lazarus herab begraben wurden, und Christus, unsers glaubens stifter, aus dem grab erstand.

Das ist dem menschen eingeimpft, dafs er an wunder, die ihn zu gott führen, glaube. ich glaube an ein wunder des samens, der in die erde ge- legt aus seinem inneren haft hinauf treibt und sich zu zartem, farbigem, duf- tigem kraut entfaltet; ich glaube nicht, dafs das zerstörte auseinander fal- lende haftlose korn in dem boden treiben würde. selbst die geheimnisse sind den gesetzen der natur unterworfen. Wie vermöchte der an seiner seele fortdauer gläubige, neues leben ahnende mensch für wahr zu halten, dafs die durch feuer oder erde, schnell oder langsam, verflüchtigten theile seines vergänglichen und vergehenden leibs ihrem stoffe nach wieder zusammen- geheftet würden; wie könnte ihm die auferstehung oder das emporsteigen der rauchseule mehr als ein bild jener geistigen fortdauer sein? des mit höchster weisheit auf die sinne eingerichteten leibes fleischliche herstellung müste ein anderes sinnliches leben nach sich ziehen und ein höheres hin- dern; die art und weise der uns geschehenden erhöhung oder vergeistigung spricht aber keine zunge aus.

Desto gleichmütiger dürfen wir dem verbrennen der leichen sein ge- schichtliches recht widerfahren lassen und von diesem standpunct her die wahrheit der werte des dichters empfinden,

s. 200.

20%:

über das verbrennen der leichen. 373

höre mutter nun die letzte bitte: einen scheiterhaufen schichte du, öfne meine bange kleine hütte, bring in flammen liebende zur ruh. wenn der funke sprüht,

wenn die asche glüht,

eilen wir den alten göttern zu.

Nachträge.

die leiche kam ganz oben auf den scheiterhaufen £v mueH Ümarn zu liegen. 11. 23, 165. 24, 787. die tragiker denken sich zwar unter Sarreay und rades gewöhnlich ein beerdigen ohne die vorstellung des brandes; bei Aeschylos in den Choeph. 894 sagt Orestes zu Klytaemnestra Toryap Ev raury Tapw xeise,

und 906 rourw Savooca Euyraleud” wo das zusammenliegen, zusammenschlafen eher auf unverbrannte leichen geht. Doch tritt das verbrennen, schon dem mythus nach, nicht selten deutlich vor, in des Sophocles Antigone 1201 wird des Polynices leib zuletzt auf frisch gebrochnen zweigen (&v veorwarw Sar- Acıs) verbrannt, und in der Electra ist des Orestes list darauf be- rechnet, dafs sein verbranntes gebein im aschenkrug heran getragen werde: 86 ömus Acyw nAemrovrss Adelav barıy

degwmev aurels Toumov Ws Egpei demas

bAoyırrov non zal naryvIgarwuevov.

757 xal vw mup& neavres eüSus &v Roaxer

YaAAD nEyırTov Füna deiaias Fmodc)

Begovmn. Im Ajas aber 1065 soll dieser unbegraben den vögeln anheimfallen, 1089 nal go moobwa rövde u Sumrew, Gmws

\ [4 U SEN > \ pm Tovde Sarrwv autos eis Tahas merys, wo kein gedanke an brennen ist, wie sie ihm auch zuletzt die gruft ie) > ) bereiten, xoAyv zarerov, 1403. Wenn aber auch das begraben häu- . \v figer wurde, geschieht des brennens dennoch meldung: ra d& Aenba-

Philos. - histor. Kl. 1849. Mm

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Jacog Grimm über das verbrennen der leichen.

va To0 OWMaTos Enasrov moAUv Kpovov mapuevew, Eus av y zarazaudn 7 xarasary. Platons Phaedon 86. Caesar in foro combustus. Cie. ad Atticum lib. 14 ep. 10. der lat. sprache scheint es mit sepelire, das ich sonst dem goth. fil- han commendare verglich, nicht anders ergangen als der griechischen mit Sarrew, auch sepelire mag ursprünglich brennen, leuchten aus- gesagt haben und zum sl. paliti, planutise, wie zum gr. pAeyew, aber auch zum finn. palan, palo und altn. bäl fallen; das se in sepelire sepultus verhält sich wie in sejungere abbinden, sevocare abrufen, nur mit eingetretner kürzung des e: sepelire ist abbrennen, verbren- nen, verbrennen und verwandt vielleicht pulcer, pulcher nitens, splendidus. aber schon sehr frühe artete es in die vorstellung des begrabens oder bestattens überhaupt aus, wenn die zwölf tafeln sa- gen: hominem mortuum in urbe ne sepelito neve urito; si cui auro dentes vincti escint, im cum illo sepelire urereve se fraude esto, wird es als beerdigen dem verbrennen gegenübergestellt, wie es auch rogum bustumve novum heifst, wo bustum, die brandstätte wieder- um als grab zur seite steht. Bei den uralten redensarten sepultus morte meroque Festus 340; urbem somno vinoque sepultam Virg. Aen.2,265; lingua sepulta mero Prop. III, 956 dachte längst kein mensch weiter an brennen. auch KoWeTos ist beides wasserkrug und graburne, aschenkrug. unsre dichter des mittelalters hatten natürlich kunde des römischen leichenbrandes:

ir töten sie branden,

alse man zuo den geziten pflac, En. 7913, vgl. Herbort 8106. 8120, ohne die leiseste erinnerung an den alteinheimischen brand.

ik

Über Spinoza s Grundgedanken und dessen Erfolg.

w . Von

H” TRENDELENBURG.

name

[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 1. März 1849.]

ei hat seiner Lehre, wenn man den Grundgedanken betrachtet, un- ter den Systemen eine ursprüngliche und eigenthümliche Stellung gegeben, eine Stellung, die noch nicht da gewesen war.

Sie wurde bereits in einer frühern Abhandlung „über den letzten Un- terschied der philosophischen Systeme” bezeichnet (!), aber einer nähern Untersuchuug vorbehalten. Indem dort dargethan wurde, dafs sich der Grundunterschied der philosophischen Systeme um das Verhältnifs des letz- ten und gröfsten Gegensatzes drehe und drehen müsse, um den Gegen- satz der blinden Kräfte und des bewufsten Gedankens: ergab sich ein drei- facher Entwurf einer Weltansicht, welchen auch in der That die Geschichte der Philosophie in ihrem Ablauf verwirklicht und ausgebildet hat.

Wenn wir nämlich nackte Kraft und bewufsten Gedanken als die bei- den Endpunkte eines grofsen Gegensatzes einander gegenüber stellen und die Richtung auf die Einheit voraussetzen: so können sie sich in der Eini- gung auf dreifache Weise zu einander verhalten. Entweder steht die Kraft der wirkenden Ursache vor und über dem Gedanken, so dafs der Gedanke nicht das Ursprüngliche ist, sondern Ergebnifs, Product und Accidenz der blinden Kräfte; oder der Gedanke steht vor und über der Kraft, so dafs die blinde Kraft für sich nicht das Ursprüngliche ist, sondern der Ausflufs und die Wirkung des Gedankens; oder endlich Gedanke und Kraft sind im Grunde dieselben und unterscheiden sich nur in dem auffassenden Ver- stande.

(') Denkschriften der K. Akademie der Wissenschaften. Philologische und historische Abhandlungen 1847. S. 219. Mm 2

276 TRENDELENBURG

Es kann nur diese drei Stellungen von Gedanken und Kraft geben; und da nur Eine der drei möglichen die wirklicke und wahre sein kann, so sind die Systeme, je nachdem sie eine der drei sich einander auschliefsen- den Stellungen durchführen und zum letzten Stützpunkt ihrer Bewegungen machen, in einem durchgehenden Streit begriffen.

Bis Spinoza handelte es sich um die beiden ersten Auffassungen. In den materialistischen Systemen erfüllte sich die erste Möglichkeit, in wel- cher die Kraft der wirkenden Ursache als das Ursprüngliche vor und über den Gedanken gestellt wird; in den idealen Systemen, im Platonismus, zu welchem der Aristotelismus, die Stoa und die Philosophie der christlichen Kirche wie Verwandlungen einer Grundgestalt gehören, erfüllte sich die andere Möglichkeit, in welcher der Gedanke als das Ursprüngliche vor und über die Kraft gestellt wird, sie richtend und regierend.

Bei Spinoza erscheint die dritte Möglichkeit mit der vollen Wucht ihrer Eigenthümlichkeit. In Cartesius, von dem Spinoza ausging, war der ursprüngliche Gegensatz von Neuem scharf hervorgetreten und zwar in der Gestalt zweier Substanzen, der denkenden und der ausgedehnten, der sub- stanlia cogitans und der substantia extensa, die sich einander schlechtweg ausschliefsen. Dieser Dualismus, schroff im Prineip, ist von Cartesius durch die Annahme einer dritten Substanz, die über beiden steht, durch die her- beigerufene Substanz Gottes, der die beiden andern äufserlich zusammen- bringt und vermittelt, nur scheinbar gemildert und eigentlich nur für das schwächere Auge verwischt worden. Daher weckte er in dem schärfern Geiste das Bedürfnifs der innern Einigung desto entschiedener.

In Spinoza erscheint nun derselbe Gegensatz; er erscheint als Den- ken und Ausdehnung, cogitatio und extensio. Aber Spinoza greift ihn eigen- thümlich und in einer Weise, welche allein noch nicht vertreten war. Wenn bis dahin in den Systemen Gedanken und blind wirkende Kraft dergestalt mit einander gestritten hatten, dafs entweder, wie in den teleologischen seit Plato, der Gedanke über die Kräfte, oder, wie in den mechanischen seit Demokrit, die Kräfte über den Gedanken siegen wollten: so fafste Spinoza ohne solche Überordnung und Unterordnung beide in eins. Es wirkt weder das Denken auf die Ausdehnung, noch die Ausdehnung auf das Denken; es tritt weder der Gedanke vor die Kraft, noch die blinde Kraft vor den Ge- danken. Sie sind in ihrem Grunde nicht verschieden; denn sie drücken Eine

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 277

Sache nur auf verschiedene Weise aus. Denken und Ausdehnung sind nur die beiden nothwendigen Weisen, unter welchen sich der Verstand das We- sen der unendlichen Substanz vorstellt. Indem Spinoza seine ganze Lehre auf dieser Grundlage bauet, erfüllt er die dritte, oben bezeichnete Mög- lichkeit.

Es wird zweckmäfsig sein, zunächst diesen Grundgedanken in Spinoza nachzuweisen und in seinen nächsten Folgen darzulegen, damit die That- sache feststehe und ihre Bedeutung erhelle.

Es kann in Wahrheit, lehrt Spinoza, nur Eine Substanz geben, wenn es anders ihr Wesen ist, dafs sie keines andern bedürfe, sondern schlecht- hin in sich sei und aus sich begriffen werde. Diese Eine Substanz, Gott, ist alles Sein und aufser ihr ist kein Sein; alles Endliche ist als solches nicht aus sich, sondern in ihr als Weise, als Modus des Daseins. Attribut der Substanz ist dasjenige, was der Verstand als ihr Wesen ausmachend an der Substanz denkt. Während nun die Eine Substanz, Ursache ihrer selbst, schlechthin unendlich ist, sind die Dinge begrenzt und bestimmt (res deter- minatae). Diese Bestimmung geschieht in den beiden Attributen des Den- kens und der Ausdehnung und innerhalb derselben; aber jedes Attribut der Einen Substanz mufs aus sich selbst begriffen werden (eth. I, 10) (!). Die Bestimmungen des Einen Attributs bedingen nicht die Bestimmungen des andern (eth. II, 6) (?); sie sind grundverschiedene Anschauungsweisen des Wesens.

In der Auffassung von Seele und Leib stellt sich dies allgemeine Ver- hältnifs im Besondern dar.

Der Leib drückt Gottes Wesen, inwiefern er als ausgedehnt betrach- tet wird, auf bestimmte und begrenzte Weise aus; die Seele hingegen als bestimmte Weise des Denkens (modus cogitandi). Die endlichen Modi als Leib und Seele drücken nur Eine und dieselbe Sache aus, die einmal von der Seite der Ausdehnung und dann von der Seite des Denkens aufgefafst wird, und im ersten Falle Leib, im zweiten Seele heifst. Was der Leib der wirklichen Gestalt nach ist (formaliter), das ist die Seele in der Weise des

(') Eth. I, 10. Unumquodque unius substantiae attributum per se concipi debet. (2) Eth. I, 6. Cuiuscunque attributi modi Deum, quatenus tantum sub illo attributo, cu- ius modi sunt, et non, quatenus sub ullo alio consideratur, pro causa habent.

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Denkens (odjective nach dem damaligen Sprachgebrauch). Was in der Aus- dehnung vorgeht, geht auch im Denken vor. Es kann weder der Körper die Seele zum Denken, noch die Seele den Körper zur Bewegung und Ruhe bestimmen (eth. III, 2). Alle Weisen des Denkens haben Gott, inwiefern er unter dem Attribut des Denkens, und nicht unter einem andern Atiribut betrachtet wird, zur Ursache; und umgekehrt haben alle Weisen der Aus- dehnung Gott nur, inwiefern er unter dem Attribut der Ausdehnung betrach- tet wird, zur Ursache. Hiernach laufen in beiden Attributen die Modi mit einander parallel; aber die Erklärung in dem einen Attribut kann nicht auf das andere übertragen werden. Diese Übereinstimmung in beideu Attribu- ten ist der eigentliche Sinn des aus Spinoza oft angeführten Satzes, dafs die Ordnung und der Zusammenhang der Vorstellungen derselbe sei als die Ordnung und der Zusammenhang der Dinge (').

Aus diesem Grundverhältnifs ergeben sich unmittelbar die wichtig- sten Folgen und Spinoza zog sie wirklich.

Indem das Denken nicht auf die Ausdehnung wirkt, kann es den Be- griff nicht geben, der voraussetzt, dafs ein Gedanke, eine Idee, die Gestal- ten der Ausdehnung in ihrem Wesen bestimme. Der Zweck ist daher nach dieser Ansicht nur eine menschliche Erfindung. Wie Gott um keines Zwek- kes willen da ist, so wirkt er auch um keines Zweckes willen. Alle Philo- sophen irren, die, wie Plato that, behaupten, dafs Gott nach der Idee des Guten wirke (eth. I, 33 schol. 2). Das Gute wäre durch den Zweck be- stimmt. Vielmehr ist das Gute, wie der Zweck, nichts Wirkliches in den Dingen, sondern nur eine Weise des Denkens. Das wirkliche Sein der Dinge, inwiefern sie nicht Weisen des Denkens sind, folgt nicht deswegen aus der göttlichen Natur, weil diese die Dinge vorher erkannt hätte (eth. II. 6. coroll.)(?). Es kommt vielmehr der Natur eines Dinges nichts zu, was nicht aus der Nothwendigkeit des Wesens der wirkenden Ursache folgt; und was aus der Nothwendigkeit des Wesens der wirkenden Ursache folgt, das geschieht nothwendig. (eih. IV. praef.)

Dem Begriff des Zweckes ist kein anderer an Bedeutung zu verglei-

(') Eth. II, 7. Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum. (2) Eth. II, 6. coroll. Esse formale rerum, quae modi non sunt cogitandi, non sequitur ideo

ex divina natura, quia res prius cognovit.

über Spinoza'’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 979

chen, wenn man ihn nur nicht im Sinne des äufsern Nutzens, sondern des innern Wesens nimmt. Ohne ihn giebt es namentlich kein Örganisches; und wenn das Ethische ein frei gewordenes Örganisches ist, auch kein Ethisches, kein Ideales in der Natur und im Menschengeiste. Daher hat für Spinoza, wie bereits an einem andern Orte gezeigt ist (!), die Aufhebung des Zwek- kes die ausgedehntesten Folgen, welche in seiner Lehre sich nirgends ver- läugnen. Die Sätze z. B. über den menschlichen Leib, welche Spinoza im 2“ Theil der Ethik als Lemmata und Postulate einschiebt (eth. II. vor prop. 14), zeigen durchweg die mechanische Auffassung. Es giebt überhaupt für Spinoza keine innere Übereinstimmung in der Natur der Dinge. Ordnung und Verwirrung bedeuten nichts, wenn man an sich die Dinge betrachtet, und beziehen sich nur auf unsere Vorstellung (Brief 15) (?). Wenn die Schön- heit einen innern Grund hat, so liegt er ohne Zweifel im Organischen; sie ist unter dieser Voraussetzung die Erscheinung harmonischer Zwecke. Aber in Spinoza hat eine solche Betrachtung keinen Ort. Die Schönheit kann ihm nicht die erscheinende Idee sein. Sie ist ihm keine Eigenschaft des Ge- genstandes, sondern nur eine Wirkung der Dinge in dem Beschauer. Die Dinge, in sich betrachtet oder auf Gott bezogen, sind weder schön noch häfslich (°).

Indem umgekehrt auch die Ausdehnung nicht auf das Denken wirkt, mufs nach dem Princip jene Ansicht fern bleiben, welche den Gedanhen als ein Accidens der materiellen Kräfte betrachtet, der Materialismus, und der deutliche Ausdruck dieser Folge ist der Satz, dafs weder der Körper

(!) Logische Untersuchungen II. S. 39 ff.

(2) Der 15'* Brief ist belehrend, weil darin die Frage beantwortet wird, wie es zu denken sei, dals die Theile der Natur mit ihrem Ganzen zusammeustimmen. p. 498. ed. Paul. prius monere velim, me naturae non tribuere pulchritudinem, deformitatem, ordinem atque confusio- nem; nam res non nisi respective ad nostram imaginationem possunt dici pulchrae aut defor- mes, ordinatae aut confusae.

(?) Brief 58. vgl. eth. I. append. besonders p. 74. ed. Paul. Wenn bei Plato die Idee des Guten die Weltbildung leitet und das Gute wiederum in Wahrheit, Ebenmals und Schönheit zerlegt wird: so kann man in diesem Zusammenhang auch die Schönheit als Grund der Welt- bildung ansehn. Gegen eine solche Auffassung ihut Spinoza in dem Brief 58 Einsage p. 648. -.... mundum naturae divinae necessarium esse effectum u. s. w. p. 6/49. pulchritudo non tam obiecti, quod conspieitur, est qualitas, quam in eo, qui conspicit, effectus. ..... adeo ut res in se spectatae vel ad Deum relatae nec pulchrae nec deformes sint.

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den Geist zum Denken, noch der Geist den Körper zur Bewegung oder Ruhe bestimmen kann (eth. III, 2) (!).

Auf diese Weise offenbart sich der angegebene Standpunkt, indem er Teleologie und Materialismus gleicher Weise verneint; und er darf in seiner Eigenthümlichkeit, wiewol es oft geschehn ist, nicht verkannt wer- den. Jacobi z. B. macht das System des Spinoza schlechthin zu einem Sy- stem der mechanischen Ursachen. Er schreibt in den Beilagen zu den Brie- fen über Spinoza (?): „Eine nicht mechanische Verkettung ist eine Verket- tung nach Absichten oder vorgesetzten Zwecken. Sie schliefst die wirkende Ursache, folglich auch Mechanismus und Nothwendigkeit nicht aus, sondern hat allein zum wesentlichen Unterschied, dafs bei ihr das Resultat des Me- chanismus als Begriff vorhergeht und die mechanische Verknüpfung durch den Begriff, und nicht, wie im andern Fall, der Begriff im Mechanismus gegeben wird. Dieses System wird das System der Endursachen oder der vernünftigen Freiheit genannt; jenes das System der blos wirkenden Ur- sachen oder der Naturnothwendigkeit. Ein drittes ist nicht möglich, wenn man nicht zwei Urwesen annehmen will”. Indessen nimmt Spinoza, wie ge- zeigt wurde, gerade eine dritte Stellung ein. Nur inwiefern er den Zweck in Abrede stellt, geräth er in die nächste Verwandtschaft mit den Systemen der blos wirkenden Ursachen; und es konnte daher leicht geschehen, dafs er früh für einen Materialisten erklärt wurde (°). An sich ist Spinoza von dem Materialismus wie von der Teleologie gleich weit entfernt. Jedes At- tribut der Einen Substanz mufs aus sich begriffen werden (eth. I, 10); die Erzeugnisse des Gedankens aus dem Attribut des Denkens, die Gestalten der Ausdehnung aus dem Attribut der Ausdehnung; und man kann von Spi- noza nicht sagen, dafs bei ihm der Begriff im Mechanismus gegeben wird.

Es fragt sich nun, wie es dem Spinoza gelinge, diesen eigenthüm- lichen Grundgedanken, nach welchem Denken und Ausdehnung nur ein ver- schiedener Ausdruck einer und derselben Substanz sind, sowol in sich als den Erscheinungen gegenüber durchzuführen. Es fragt sich, wie weit er

') Eıth, III, 2. Nec corpus mentem ad cogitandum, nec mens corpus ad motum, neque ad ji 5 1% „.neg quietem, nec ad aliquid (si quid est) aliud determinare potest. (2) Jacobi, Werke IV, 2. S. 95. (3) vgl. z.B. Colerus, das Leben Spinoza’s, deutsch mit Anm. 1733. p.15. Anm. e. Jacobi Bruckeri historia critica philosophiae. 1744. IV, 2. p. 707. p P DDP.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 2381

ihm treu bleiben könne, ohne von den Erscheinungen genöthigt, in die bei- den nebenstehenden Betrachtungsweisen, sei es in die eine oder in die an- dere, in die teleologische (organische) oder die mechanische zu verfallen. Es kommt auf diese Frage als auf die Grundfrage alles an. In ihr entschei- det es sich, ob Spinoza’s Lehre als System stehe oder falle, und ob sie eine Basis sei, auf welcher sich weiter bauen lasse.

Es ist über Spinoza und zur Kritik Spinoza’s viel geschrieben. Aber die bisherige Kritik geht weder von diesem Punkte aus, noch zu diesem Punkte hin. Erst in dem Grundgedanken und dessen Erfolg, erst in der Aufgabe, die der Grundgedanke stellt, und in dem Erfolg der Lösung mes- sen wir ein System nicht nach fremdem Gewicht, sondern nach eigenem Mafs.

Eine solche immanente Kritik mufs nach dem dargelegten Zusammen- hange für Spinoza um so wichtiger sein, weil dadurch jener Kampf der Weltansichten, die in der bezeichneten dreifachen Stellung ihren ursprüng- lichen Ausdruck haben, wenigstens in Einem Gliede der Entscheidung ent- gegengeführt wird.

Wir richten unsere Untersuchung auf dies Ziel und wollen so ver- fahren, dafs wir zuerst den ganzen Gedankengang Spinoza’s in der Kürze überblicken, und dann die Angeln prüfen, in welchen sich das Ganze be- wegt. Sollte sich die Untersuchung hie und da von der Grundfrage entfer- nen, weil die Kritik von Glied zu Glied führt: so werden doch am Schlusse die Ergebnisse von selbst dahin zurückbiegen.

Wir erinnern also zunächst an den Zusammenhang des Ganzen.

Das System ist in den 5 Büchern der Ethik einfach angelegt. Von der Metaphysik der Einen Substanz ausgehend (Buch 1) läuft es durch die Erkenntnifslehre des Geistes (B. 2) und durch die Psychologie der leiden- den Zustände hindurch (B. 3 u. 4) und erreicht in der Ethik der befreien- den Erkenntnifs sein Ziel (B. 5).

Gott ist die Eine Substanz, deren Wesen der Verstand in zwei verschie- denen Ausdrücken als Denken und Ausdehnung auffafst (1). Es darf jedoch

(') Eth. I. def. 4. Per attributum intelligo id, quod intelleetus de substantia percipit tan- quam eiusdem essentiam constituens, vgl. eth. II. def. 2. Ad essentiam alicuius rei id pertinere dico, quo dato res necessario ponitur et quo sublato res necessario tollitur; vel id, sine quo res et vice versa quod sine re nec esse nec concipi potest. Also Gott kann nicht ohne Den- ken und Ausdehnung, und Denken und Ausdehnung nicht ohne Gott gedacht werden.

Philos.- histor. Kl. 1849. Nn

9382 TRENDELENBURG

dies Verhältnifs nicht so vorgestellt werden, wie es öfter geschieht, als ob Denken und Ausdehnung, der Substanz fremd, erst durch den Verstand von aufsen an die Substanz herangebracht würden. Wie wäre dies für die Sub- stanz, für welche es kein Aufsen und kein Innen giebt, zu denken? Viel- mehr sind die Attribute Gottes ewig d.h. inwiefern das Nothwendige sein Dasein immer bejaht, nothwendig. (!)

Aufser Gott giebt es keine Substanz; das Endliche und Einzelne ist daher nicht in sich, sondern nur eine Weise in Gott (modus). Gott ist die wirkende Ursache des Wesens, wie des Daseins der Dinge.

Das Unendliche (Gott) ist der schlechthin positive (bejahende) Be- griff; das Endliche hingegen ist begrenzt und bestimmt, und jede Begren- zung und Bestimmung ist eine Verneinun

8. Es giebt in der Natur nichts Zufälliges; denn Gott, in welchem alles ist, was da ist, ist auf nothwendige Weise da; sein Wesen schliefst sein Da- sein ein (eth. I, 29). Gottes Macht ist sein Wesen; denn er ist Ursache sei- ner selbst (I, 34); und was in Gottes Macht liegt, ist nothwendig (I, 35).

Die endlichen Dinge entspringen aus Gott oder einem seiner Attri- bute, insofern dasselbe durch einen Modus affıeirt betrachtet wird, die Aus- dehnung durch Ruhe oder Bewegung, das Denken als Verstand und Wille. Alles Einzelne oder jedes Ding, welches endlich ist und ein bestimmtes Da- sein hat, wird durch eine andere Ursache, welche auch endlich ist und ein bestimmtes Dasein hat, zum Dasein und Wirken bestimmt und so fort ins Unendliche. Dies gilt nach dem durchgängigen Parallelismus der beiden At- tribute vom Endlichen ebenso im Denken als in der Ausdehnung.

Die ganze Natur ist Ein Individuum, dessen Theile, die Körper, auf unendliche Weise wechseln ohne irgend eine Veränderung des ganzen In- dividuums (II. lemma 7. schol. p. 94).

Auf ähnliche Weise sind die menschlichen Geister Theile des unend- lichen göttlichen Verstandes (II, 11. coroll. V, 40).

Seele und Leib sind Ein und dasselbe Individuum, welches einmal

(') Eth. I, 19. Deus sive omnia Dei attributa sunt aeterna. Vgl. in der Demonstration: per Dei attributa intelligendum est id, quod divinae substantiae essentiam exprimit, hoc est, id quod ad substantiam pertinet: id ipsum, inquam, ipsa attributa involvere debent. Atqui ad naturam substantiae pertinet aeternitas, ergo unumquodque attributorum aeternitatem invol- vere debet, adeoque omnia sunt aeterna.

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 283

unter dem Attribut des Denkens und dann wieder unter dem Attribut der Ausdehnung begriffen wird (eth. II, 21. schol.).

Jedes Wesen, sei es Ding sei es Gedanke, sucht sich in seinem Sein zu behaupten (eth. III, 6). Dieses Streben ist nichts als seine wirkliche Na- tur. Der Geist sucht sich daher, sowol inwiefern er klare und deutliche, als inwiefern er verworrene Vorstellungen hat, in seinem Sein zu behaupten.

Es kann keine Vorstellung in unserm Geiste geben, welche das Da- sein unsers Leibes ausschliefst. Vielmehr was die Thätigkeit unsers Leibes mehrt oder mindert, fördert oder hemmt, dessen Vorstellung mehrt oder mindert, fördert oder hemmt das denkende Vermögen unsers Geistes.

Unter Lust wird der leidende Zustand begriffen, durch den der Geist zu gröfserer Vollkommenheit übergeht; unter Unlust derjenige leidende Zu- stand, durch den er zu geringerer Vollkommenheit übergeht.

Indem nun die Seele das sich vorzustellen strebt, was ihre oder des Leibes Thätigkeit mehrt und das Gegentheil ausschliefst, entsteht aus die- sem Streben Liebe und Hafs, d.h. Lust und Unlust, begleitet von der Vor- stellung der äufsern Ursache.

Zunächst begleiten wir die real wirkende Ursache der Lust und Un- lust mit Liebe und Hafs, dann die in der Vorstellung Lust und Unlust her- vorbringende Ursache mit Liebe und Hafs. Daher bestimmt, abgesehen von der Verkettung der wirklichen Ursachen, auch das Gesetz, das Vorstellun- gen mit einander verkettet,— man nannte es später die Ideenassociation— die leidenden Zustände unserer Seele in Liebe und Hafs. Die Vorstellungen, die einander rufen, theilen einander, wenn sie nicht im Gegensatz stehen, die Lust und Unlust und dadurch die Liebe und den Hafs mit, welche ih- nen einwohnen. Ferner bejahen und verneinen wir uns in Andern, inwie- fern wir sie in Beziehung zu uns setzen. Aus diesen Quellen fliefsen Sym- pathie und Antipathie, Mitleiden und Wohlwollen, Undank und Schaden- freude, Neid und selbst Bewunderung, Feindschaft und selbst Grofsmuth, lauter leidende Zustände, welche hiernach aus dem Naturgesetz der Selbst- erhaltung hervorgehen.

Die Macht dieser leidenden Zustände liegt in den inadaequaten Vor- stellungen, und diese entstehen in uns daraus, dafs wir nur Theile eines denkenden Wesens sind, von dem zwar einige Gedanken ganz, aber andere nur theilweise unsern Geist ausmachen (de intellecius emendatione p. 441).

Nn2

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Wir verhalten uns überhaupt insofern leidend, als wir ein Theil der Natur sind, der an sich ohne die andern nicht kann begriffen werden (eth. IV, 2).

Wie der Mensch desto mehr leidenden Zuständen unterworfen ist, je mehr inadaequate Vorstellungen er hat: so ist er desto thätiger (freier), je mehr adaequate er hat.

Daher führt das imaginari, die Quelle der inadaequaten Vorstellun- gen, zur Knechtschaft, das intelligere, die Quelle der adaequaten, zur Frei- heit. Nos eatenus tantum agimus, quatenus intelligimus. Wir sind nur so weit thätig, als wir begreifen (eth. IV, 24).

Wie die Gedanken im Geiste geordnet werden, so ordnen sich die Affectionen, die Bilder der Dinge, im Leibe (eth. V, 1. vgl. V,10). Der Af- fect, der ein leidender Zustand ist, hört auf leidend zu sein, sobald wir von ihm eine klare und deutliche Vorstellung bilden (eth. V,3. vgl. V,11). Alle Begierden sind nur insoweit leidende Zustände, als sie aus inadaequaten Vorstellungen entstehen und dieselben werden der Tugend zugerechnet, in- sofern sie von adaequaten Vorstellungen erregt oder erzeugt werden (eth. V, 4. schol.). Auf diese Weise löst sich die Knechtschaft der leidenden Zu- stände in Freiheit.

Tugend und Macht (virtus und potentia) sind dasselbe, und Tugend auf den Menschen bezogen ist die Macht, etwas hervorzubringen, was nur aus den Gesetzen seiner Natur eingesehen werden kann (eth. IV. def. 8). In demselben Sinne ist die Macht auch das Recht; und jedes Ding hat von Natur soviel Recht, als es zum Dasein und zum Wirken Macht hat (tractat. pol. c.2. p. 307. tractat. theolog. pol. c. 16. p. 359. ed. Paul.).

Jedes Wesen strebt sich selbst zu erhalten, oder, was dasselbe ist, seine Macht zu behaupten und zu mehren. Es ist daher das Streben sein eigenthümliches Sein zu erhalten die Grundlage der Tugend (eth. IV, 18. schol. p.216), also für den Geist das Streben zu begreifen (intelligendi co- natus) die erste und einzige Grundlage (eth. IV, 26 u. 27).

Diese Einsicht giebt die höhere Macht und daher auch die eigent- liche Tugend.

Die menschliche Macht wächst, wenn alle Menschen in Allem so zu- sammenstimmen, dafs aller Geister und Leiber Einen Geist und Einen Leib bilden und alle zugleich, so weit sie können, das eigene Sein zu behaupten streben und das gemeinsame Beste aller suchen. Daraus folgt, dafs die Men-

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 285

schen, welche nach der Vernunft ihren Nutzen suchen, nichts für sich er- streben, was sie nicht auch den übrigen Menschen wünschen und dafs sie daher gerecht, treu und sittlich sein werden (IV, 18. schol.). Was Eintracht erzeugt, erzeugt grölsere Macht und ist das, was zur Gerechtigkeit, Billig- keit und Sittlichkeit gehört (eth. IV. app. c.15. p.262. vgl. tractat. theo- log. ce. 16).

Inwiefern jedoch Menschen Leidenschaften unterworfen sind, sind sie einander entgegen und kommen unter sich nicht überein (eth. IV, 32). Da- her mufs man die Leidenschaften meiden. Wer vernünftig lebt, wird dahin streben, dafs er nicht von den Affecten des Hasses beunruhigt werde und folglich dahin wirken, dafs auch kein anderer dieselben Affecte leide (eth. IV,46). Er wird daher, so viel er kann, des Andern Hafs und Zorn und Verachtung durch Liebe oder Grofsmuth ausgleichen.

Das intelligere, die Erkenntnifs des Nothwendigen und Ewigen, ist auch von dieser Seite die Quelle des Sittlichen; denn Wille und Verstand sind eins und dasselbe (eth. II, 49. coroll.). Inwiefern wir erkennen (quate- nus intelligimus), können wir nichts begehren aufser dem, was nothwendig ist, und uns schlechthin nur im Wahren befriedigen; und insofern stimmt das Streben unsers bessern Theils mit der Ordnung der ganzen Natur zu- sammen (eth. IV. c. 32. p. 267).

Inwiefern unser Geist erkennt, ist er eine ewige Weise des Denkens, die von einer andern ewigen Weise des Denkens bestimmt wird, und diese wiederum von einer andern und so ins Unendliche, so dafs alle zusammen den ewigen und unendlichen Verstand Gottes ausmachen (eth. V, 31).

Je mehr wir nun uns und unsere Affecte, je mehr wir die einzelnen Dinge begreifen, desto mehr begreifen und lieben wir Gott; und so weit wir Gott betrachten, so weit sind wir thätig (eth. V, 16. 18.24). Es ist das höchste Gut des Menschen Gott zu erkennen (eth. IV,28). Es entspringt daraus die intellectuale Liebe des Geistes zu Gott, welche, da Gott alles Sein ist, ein Theil der unendlichen Liebe ist, mit welcher Gott sich selbst liebt, und zwar inwiefern er durch das Wesen des menschlichen Geistes, wenn es unter der Form der Ewigkeit betrachtet wird, begriffen werden kann.

Aus diesen Grundzügen der Lehre heben wir nun die wesentlichen Punkte hervor, welche wir erörtern müssen, wenn wir über die Bündigkeit und den Erfolg des Grundgedankens urtheilen wollen.

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Zuvörderst thun wir einen Blick in die Form und Structur des Gan- zen (!).

Spinoza überschreibt sein System: ethica ordine geometrico demon- strata, und bildet in der methodischen Form die Elemente des Euklides nach. Wie er überhaupt die mathematische Nothwendigkeit sucht, so bringt er sie in der geschlossenen Gestalt der geometrischen Methode zur Darstellung. Der Leser hat dabei den grofsen Vortheil, dafs es ihm an jedem Punkt leicht wird, in der Verkettung der Beweise von Glied zu Glied bis zur ersten Be- festigung zurückzugehen und die Strenge der Verknüpfung zu überwachen. Auch jene Darstellungsweise, deren Schmuck das Schmucklose ist, und der eigentliche Ausdruck, der immer die Sache trifft, sind Tugenden, welche dem geometrischen Vorbilde entsprechen. Aber in der Absicht der Anlage liegt mehr. Es soll die metaphysische Ableitung zu derselben Bündigkeit geführt werden, deren die geometrische Beweisführung fähig ist. Es fragt sich indessen, ob nach der Natur der Sache die geometrische Methode des Euklides zum Paradigma der metaphysischen und philosophischen werden kann. Es treten dabei sogleich wesentliche Unterschiede hervor. Die Geo- metrie geht von einer Anzahl Axiomen und Postulaten aus und unbeküm- mert um die Einheit des Ursprungs überläfst sie ihre Erörterung einer frem- den, der philosophischen Betrachtung. Wenn indessen die Lehre des Spinoza, welche mehr als irgend eine auf die Einheit gerichtet ist, mit zerstreueten, vorausgesetzten Axiomen beginnt, wenn darin selbst Begriffe, wie z.B. die Causalität (eth. I. def. 3. 4) aufgenommen sind: so fragen wir umsonst, wohin denn die Erörterung dieser Axiome falle. Spinoza hebt ferner mit Defini- tionen an, z. B. der causa sui, der Substanz, des Attributs u. s. w., wie Eu- klides mit den Definitionen der einfachsten ebenen Figuren anfängt. Indes- sen haben bei Euklides die Definitionen früher gar keinen Werth und gar keine Anwendung, als bis er ihre reale Möglichkeit nachgewiesen, bis er sie construirt hat. Bei Euklides wird z. B. das Quadrat schon Buch 1. Def. 30 erklärt, aber es ist für das System noch gar nicht da, bis es am Schlusse des ersten Buches, nachdem die Lehre von den Parallelen vorangegangen ist, construirt worden (Satz 46). Die Evidenz hängt von der Construction der Definition ab. Spinoza müfste, um dieselbe Evidenz zu erreichen, die von

(') vgl. des Verf. logische Untersuchungen II. S. 110.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 287

ihm definirten Begriffe construiren können. Erst dadurch würde die Vor- stellung gegen Erdichtung gesichert; erst dadurch würde die innere Mög- lichkeit der Definition verbürgt. Spinoza behandelt indessen seine Erklä- rungen, die eigentlich nur Namenerklärungen sind, sogleich als solche Sach- erklärungen, welche die Gewähr ihrer Wirklichkeit in sich selbst tragen. Bei der richtigen Definition des unerschaffenen Wesens soll für die Frage, ob es sei, kein Raum übrig bleiben (d. intell. emend. p. 451). Ihm fehlen, da es sich um die letzten metaphysischen Begriffe handelt, die Mittel der Construction; und er setzt daher in seinen Definitionen stillschweigend vor- aus, was Euklides bei den seinigen erst werden läfst und beweist. Dies gilt nicht nur von den Definitionen des ersten Buches, sondern auch von den wesentlichsten der andern. Man vgl. z. B. Buch II. def. 3 und 4. III. def. 1 und 2. IV. def. 8. Bei allem was an diesen Stellen erklärt ist, wird man fragen müssen: wie geschieht das?— und man steht dann bei dieser Frage nach dem realen Vorgange mitten in ungelösten Schwierigkeiten. Solche Subreptionen gefährden die ganze Lehre und untergraben namentlich, wie sich später zeigen wird, den Halt des Grundgedankens.

Der weitere Gang unserer Untersuchung wird im Grofsen und Gan- zen dem Gang in Spinoza’s Ethik folgen, indem zuerst der metaphysische Begriff Gottes, darauf die logische, endlich die psychologische und ethische Seite der Lehre werden zur Sprache kommen.

Wir verweilen hiernach zunächst bei dem Begriffe Gottes; denn Gott, die Ursache seiner selbst, ist die Grundlage und die intellectuale Liebe Gottes ist der Schlufsstein des Systems.

Bei Spinoza verschlingt sich im Begriff Gottes die ontologische und kosmologische Betrachtung auf eigenthümliche Weise.

Spinoza hält die Definition Gottes als des höchst vollkommenen We- sens nicht für die ursprüngliche (ep. 64). Indessen geht er selbst nicht im- mer von einer und derselben Erklärung aus. In der Ethik (B. 1. def. 6) be- stimmt er Gott als das schlechthin unendliche Wesen und die Ursache sei- ner selbst (causa swi) als dasjenige, dessen Wesen sein Dasein einschliefst und zieht beide Begriffe erst im Verfolg der Beweise dergestalt in eins zu- sammen, dafs beides die Substanz ist, die in sich ist und durch sich begrif- fen wird.

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In den Briefen (ep. 39. 40. 41. vgl. 72) bestimmt er Gott unmittelbar in derselben Weise, wie er in der Ethik zunächst die causa sui bestimmt, so dafs Gott als das begriffen wird, zu dessen Wesen das Dasein gehört, und leitet daraus ab, dafs Gott Einer ist, ewig, einfach, unendlich u. s. w.

Beides hängt indessen auf das Engste zusammen und läuft auf das- selbe aus.

Es herrscht in dem ontologischen Beweise vom Dasein Gottes die Ansicht, dafs sein Wesen nothwendiges Dasein einschliefse. Aus diesem Be- griff folgert Spinoza, dafs Gott keine Unvollkommenheit in sich trage, son- dern nur Vollkommenheit ausdrücke; denn alle Vollkommenheit liegt im Sein und alle Unvollkommenheit in der Beraubung des Seins (ep. 40. 41). Während Cariesius den Begriff des vollkommensten Wesens zum Grunde legte und daraus das Dasein als Eine unter seinen Vollkommenheiten er- schlofs: setzt Spinoza umgekehrt das nothwendige Dasein voraus und leitet den Begriff des vollkommensten Wesens daraus ab. Da ferner Vollkom- menheit Sein und Sein Macht ist, so hat das vollkommenste Wesen keine Macht aufser sich; es ist aus eigener Macht da. Es nimmt darin der onto- logische Anfang eine kosmologische Wendung. Denn die zufälligen Dinge sind durch eine fremde Ursache. Gott ist das nothwendige Wesen und da- her alles Sein und aufser ihm kein Sein.

Wird Gott nach der andern Erklärung (eth.I. def. 6) als das schlecht- hin unendliche Wesen gefafst, so ist das Unendliche die Bejahung schlecht- hin (eth. I, 8. schol. 1) und alles Endliche ist, inwiefern es bestimmt ist, Verneinung, und was, darin Bejahung ist, das stammt aus jener Bejahung schlechthin. Das Unendliche ist daher auch Bejahung des Daseins, oder, was dasselbe ist, sein Wesen schliefst das Dasein ein.

Beide Erklärungen wollen also dasselbe. Wie der kosmologische Be- weis im Gegensatz gegen die zufälligen Dinge ein nothwendiges Wesen sucht und der ontologische das Dasein im Begriff Gottes findet: so verschmilzt Spinoza beide Betrachtungen. Zwar beweist er nicht das Dasein Gottes; denn seine metaphysischen Definitionen, eigentlich nur Namenerklärungen, gelten ihm ohne Nachweis der innern Möglichkeit als Erklärungen eines Wirklichen. Spinoza setzt den Begriff und folgert daraus weiter (vgl. eth. 1.7 und 1,19).

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 289

Aus Obigem ergiebt sich, dafs Gott das Nothwendige (1) und in die- sem Sinne (I. def. 8. ep. 29) das Ewige ist.

Wir dürfen uns im Geist des Spinoza den Zusammenhang des Noth- wendigen mit demjenigen, dessen Wesen das Dasein einschliefst, durch ein Beispiel erläutern. Das Wesen des Dreiecks schliefst das Dasein von be- stimmten Eigenschaften, die in ihm nothwendig sind, ein. Wenn ein Drei- eck ist, so folgt aus seinem Wesen, dafs seine 3 Winkel=2R. sind. Was in solchen Beispielen hypothetische Nothwendigkeit ist, denn man kann nicht sagen, das Wesen jener Eigenschaften schliefse ihr Dasein ein das ist in jener Definition Gottes absolute (?).

Das Nothwendige ist der leuchtende Punkt in Spinoza’s Gottesbe- griff. Daher geschieht es denn auch, dafs etwas in seiner Nothwendigkeit betrachten und auf Gott beziehen bei Spinoza dasselbe bedeutet (3), und dafs das Begreifen d. h. die Einsicht in die Nothwendigkeit die intellec- tuale Liebe Gottes erzeugt. Es ist der metaphysische Griff Spinoza’s, dafs er das All unter diese Betrachtung des Nothwendigen falst. Gott, d.h. das Nothwendige ist alles Sein und aufser ihm giebt es kein Sein. Daher hängt er von keinem andern ab, sondern ist in sich gegründet und insofern frei (eth. I, 17. ep. 60. 62).

Diese Nothwendigkeit ist in voller Übereinstimmung mit dem Grund- gedanken nicht die Nothwendigkeit des Zweckes oder des das Sein bestim- menden ursprünglichen Gedankens; denn die Attribute des Denkens und der Ausdehnung wirken nicht auf einander und der Zweck ist daher nur

5 eine menschliche Erfindung sondern lediglich die Nothwendigkeit der

(') vgl. unter anderm eth. I, 17. schol. Das Deus agit und das ex sola divinae naturae ne- cessitate sequi wird gleichbedeutend. Damit hängt auch zusammen, dafs Spinoza mit dem pas- siven Ausdruck des Hervorgebrachten, der natura nazurata im Gegensatz zu der natura na- Zurans die in sich ist und aus sich begriffen wird, das bezeichnet, was aus der Nothwendig- keit der göttlichen Natur folgt. Natura naturans und natura naturata verhalten sich ohne Zweifel zu einander wie constituens und consecutivum. Vgl. die Erklärung eth. I, 29. schol., wornach Erdmanns Ansicht (vermischte Aufsätze 1846. $.134), der sie wie richtige und ab- stracte Auffassung unterschieden wissen will, zu ändern sein möchte.

(2) d. intell. emend. p.431. Rem..... necessariam (voco), cuius natura implicat contra- dietionem, ut ea non existat.

(3) vgl. z.B. ep. 58: res in se spectatae vel ad Deum relatae.

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wirkenden Ursache (vgl. ep. 60) (!), die mathematische Nothwendigkeit, inwiefern die Mathematik aus der wirkenden Ursache das Wesen ihrer Ge- genstände bestimmt und aus dem dergestalt bestimmten Wesen die Eigen- schaften beweist (vgl. ep. 64).

Gott, das schlechthin Unendliche und in sich Nothwendige, ist ein denkendes und ausgedehntes Wesen. Diese Attribute des Denkens und der Ausdehnung werden von Spinoza nicht aus der Natur Gottes abgeleitet, son- dern aus den endlichen Dingen dargethan, inwiefern sie Weisen sind, welche Gottes Wesen auf eine bestimmte Art ausdrücken. Die endlichen Gedanken und die endlichen ausgedehnten Dinge, die wir vorfinden, führen auf diese und keine andere Attribute und der menschliche Geist, welcher der Begriff des Leibes ist (corporis humani idea), ergiebt keine andere und drückt keine andere aus (eth. II, 1 und 2. vgl. ep. 66).

An dieser Stelle liegt der Grundgedanke; und man darf es sich nicht verschweigen, dafs an derselben Stelle eine Schwäche liegt. Denken und Ausdehnung sind ohne Vermittelung aufgenommen und zwar nur indem die endlichen Modi ins Unendliche übersetzt und erweitert werden. Spinoza geht dabei, genau genommen, von der Erfahrung aus, obwol es Stellen giebt (ep. 28. 41), in welchen es scheint, als ob die Attribute, inwiefern sie das Wesen der Substanz ausdrücken, sich darin wie die Substanz verhalten sol- len, dafs ihr Dasein von ihrem Wesen nicht verschieden ist, und dafs z. B. die Ausdehnung nothwendiges Dasein in sich schliefst. Wo jedoch Spinoza die Sache so fafst, setzt er diese Bestimmung, ohne sie abzuleiten. Fragt man weiter, warum die Modi der Ausdehnung und die Modi des Denkens unter sich in keinem Zusammenhang des Grundes stehen, sondern was in der Ausdehnung vorgeht, nur aus der Ausdehnung, und was im Denken, nur aus dem Denken soll begriffen werden (eth. II, 6): so stützt sich die Antwort nur auf formale metaphysische Bestimmungen. Denken und Aus- dehnung sind Attribute; aber Attribute drücken das Wesen der Substanz aus, und können daher, da diese nur aus sich begriffen wird, gleicher Weise nur aus sich selbst begriffen werden (eth. I, 10. demonstr.); denn sie sind mit dem Wesen der Substanz eins. Indem also schlechtweg angenommen

(!) z. B. tractat. theologico polit. c.3. p.192. Per Dei directionem intelligo fixum illum et immutabilem rerum ordinem sive rerum naturalium concatenationem.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 291

und gesetzt wird, dafs Denken und Ausdehnung in diesem Sinne Attribute der Substanz sind, wird die reale Untersuchung abgeschnitten, ob Denken und Ausdehnung wirklich nichts Gemeinsames haben, so dafs das eine we- der aus dem andern begriffen werden noch auf das andere wirken könne (eth.1, 3). In dieser wichtigsten aller Fragen kommt man mit blofsen De- finitionen nicht fort, zumal wenn sie, wie bei Spinoza, eigentlich nur Na- menerklärungen sind.

Dies Versäumnifs rächt sich auch durch Widersprüche in den Folgen, welche schwerlich blofs Widersprüche im Ausdruck sind. In Ubereinstim- mung mit seinem Grundgedanken lehrt Spinoza (ethic. I, 5): die Vorstel- lungen der einzelnen Dinge haben nicht die wahrgenommenen Dinge zu ih- rer Ursache, sondern Gott selbst, inwiefern er ein denkendes Wesen ist. Die Bilder der Wahrnehmungen folgen also aus dem Attribut des Denkens und nicht aus der Ausdehnung (!). Nach der gewöhnlichen Ansicht wirkt in der Sinneswahrnehmung die materielle Ausdehnung auf die Vorstellung, die ihr Abbild ist. Spinoza kann einer solchen Betrachtung keine Stelle ein- räumen; denn er würde sonst eine Einwirkung des Einen Attributs auf das andere setzen. Sollte indessen Spinoza’s Ansicht, dafs die Vorstellungen nicht die wahrgenommenen Dinge, sondern Gott als denkendes Wesen zur Ursache habe, siegen: so mufste Spinoza den Vorgang des Denkens dar- stellen, der ohne Einwirkung des Dinges die Vorstellung desselben erzeuge. Die blofse Definition thut’s nicht. Sie setzt, aber begründet nicht (?). Hin- gegen fällt Spinoza bisweilen in die gewöhnliche Betrachtungsweise zurück und spricht von Vorstellungen, welche im Gegensatz gegen die reinen aus zufälligen Bewegungen des Körpers entspringen (°).

(') eth. I, 5. p.80: ..... rerum singularium ideae non ipsa ideata sive res perceptas pro causa efficiente agnoscunt, sed ipsum Deum, quatenus est res cogitans. Vgl. ep. 42. p. 599. 600.

(2) eth. II. def. 3. Per ideam intelligo mentis conceptum, quem mens format, propterea quod res est cogitans. Explic. Dico potius conceptum quam perceptionem, quia perceptionis nomen indicare videtur, mentem ab obiecto pati. At conceplus actionem mentis exprimere vi- detur. def. 4. Per ideam adaequatam intelligo ideam, quae, quatenus in se sine relatione ad obiectum consideratur, omnes verae ideae proprietates sive denominationes intrinsecas habet. Explic. Dico intrinsecas, ut illam sec/udarn, quae extrinseca est, nempe convenientiam ideae cum suo ideato.

(°) de intell. emendat. p.441. ostendimusque quod ideae fictae, falsae et caeterae habeant suam originem ab imaginatione, hoc est, @ quibusdam sensationibus fortuitis (ut sic loquar)

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So wenig als Spinoza nachgewiesen hat, dafs bestimmte Gestalten der Dinge, wie die organischen, ohne den einwirkenden bildenden Gedanken können begriffen werden: so wenig hat er nachgewiesen, dafs bestimmte Ge- stalten des Denkens, wie die Vorstellungen der Dinge, ohne die einwir- kende Ausdehnung zu verstehen sind.

Die unendliche Substanz stellt sich als unendliches Denken und un- endliche Ausdehnung dar. Wie das Unendliche nichts aufser sich hat, von dem es könnte bestimmt werden: so ist es auch durch nichts als durch sich selbst bestimmt. Das Endliche hingegen ist durch ein Ding seiner Art be- stimmt und begrenzt, der endliche Gedanke von einem andern Gedanken, dieser wieder von einem andern, und so fort ins Unendliche; der endliche Körper von einem andern Körper, dieser wieder von einem andern, und so fort ins Unendliche. Die endlichen Gedanken, welche von einander ins Unendliche bestimmt werden, bilden zusammen den unendlichen Verstand Gottes (eth. II, 11. coroll. vgl. V,40). Die endlichen Körper, welche von einander ins Unendliche bestimmt werden, bilden zusammen das Eine In- dividuum der ganzen Natur (eth. II. lemma 7. schol. p. 94. vgl. eth. I, 28). Dafs das Endliche ins Unendliche hinaus bestimmt wird, soll offenbar auf die unendliche Substanz hinweisen (!).

In diesem Sinne wird Gott, die unendliche Substanz, zum unbeding- ten Ganzen und die endlichen Dinge werden seine "Theile. Spinoza fafst sie wiederholt unter diesen Gesichtspunkt z.B. epist. 15. p.500.(?) eth. II, 11. Der menschliche Geist sei ein Theil des unendlichen Verstandes Gottes

atque solutis, quae non oriantur ab ipsa mentis potentia, sed a causis externis, prout corpus sive somniando sive vigilando varios accipit motus. p.449. scopus itaque est claras et distinctas habere ideas, tales videlicet quae ex pura mente et non ex fortuitis motibus corporis factae sunt.

(!) vgl. die Fassung V, 40. schol. Mens nostra, quatenus intelligit, aeternus modus cogi- tandı est, qui alio aeterno cogitandi modo determinatur et hic iterum ab alio et sie in infini- tum, ita ut omnes simul Dei aeternum et infinitum intellectum constituant. Vgl. ep. 29. geg. d. Ende p.532, wo der Fortschritt der Ursachen ins Unendliche unter der Voraussetzung, dals es ein Unendliches giebt, das aus sich nothwendiges Dasein hat, für nichts Unmögliches gilt.

(2) ep-15. p.500. Paul. Vides igitur qua ratione et rationem cur sentiam, corpus huma- num partem esse naturae: quod autem ad mentem humanam attinet, eam etiam partem naturae esse censeo, nempe quia statuo dari etiam in natura potentiam infinitam cogitandi, quae, qua- tenus infinita, in se continet totam naturam obiective et cuius cogitationes procedunt eodem modo, ac natura eius, nimirum idearum.

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 293 (vgl. de intell. emend. p. 441. eth. II. lemma 7. schol. p.94) ('). Die Theile

determiniren sich unter einander, während das Ganze, Ursache seiner selbst, in sich unendlich und nichts aufser sich habend, undeterminirt ist (non de- terminatum ep. 40). Das Unendliche wird wol nur darum seltener von Spi- noza als Ganzes bezeichnet, weil wir nach sinnlicher Analogie mit dem Gan- zen eine Vorstellung des Geschlossenen und daher Endlichen zu verknüpfen pflegen. Es spricht jedoch ein Ausdruck wie eth. II. lemma 7. schol. deut- lich genug, inwiefern dort die ganze Natur, die nichts ist als die Substanz unter dem Attribut der unendlichen Ausdehnung gefafst, als Ein Indivi- duum erklärt wird.

Indessen schliefst Spinoza an anderen Stellen diese Betrachtung der Theile aus. Gott, lehrt er, dessen Wesen das Dasein einschliefst, ist un- theilbar (indiwsibilis), denn sonst wäre er entweder auflösbar oder doch nicht mehr einfach (ep. 40. 41). Theile setzen das Unendliche nicht zusam- men, so wenig als eine Linie aus Punkten zusammengesetzt ist (eth. I, 15. schol. vgl. ep. 29. p.528).

Beides scheint sich zu widersprechen. Um in Spinoza’s Sinne die Ausgleichung zu finden, mufs auf Folgendes geachtet werden.

Spinoza will zweierlei vermeiden, indem er gegen die Theilung der Substanz Einsage thut. Wenn man die Substanz aus Theilen zusammen- setzte, so würden einmal die Theile zu dem Ursprünglichen und Ersten und sie würden dadurch zweitens als für sich bestehend d.h. als Substanzen ge- dacht (?). Beides gilt ihm für unmöglich. Der Satz, dafs das Unendliche nicht theilbar ist, soll also heifsen, Theile werden weder zum Unendlichen zusammengesetzt noch sind sie so abtrennbar, dafs sie selbst Substanzen würden, wie etwa zwei Linien durch Theilung entstanden als solche selbst-

(') eth. II. lemma 7. schol. p. 94. ed. Paul. Et si sic porro in infinitum pergamus, facile concipiemus totam naturam unum esse individuum, cuius partes, hoc est, omnia corpora infini- tis modis variant, absque ulla totius individui mutatione.

(2) vgl. z.B. ep. 40. p. 592. Partes namque componentes natura et cognitione priores sint oportet, quam id quod compositum est; quod in eo, quod sua natura aeternum est, locum non habet. eth. I, 15. schol. Nam si substantia corporea ita posset dividi, ut eius partes realiter distinetae essent; cur ergo una pars non posset annihilari, manentibus reliquis, ut ante, inter se connexis? et cur omnes ita aptari debent, ne detur vacuum? Sane rerum, quae realiter ab invicem distinetae sunt, una sine alia esse et in suo statu manere potest.

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ständige Individuen mögen gedacht werden. Hält man diese Vorstellungen von dem Begriff des Ganzen und der Theile fern, so ergiebt sich Spinoza’s Sinn. In Bezug auf die Materie, die unendliche Ausdehnung, drücklich: unde eius partes modaliter tantum distinguuntur, non autem rea- liter. Wenn daher z. B. Spinoza lehrt (eth. IV, 4. dem.), die wirkliche Macht des Menschen sei ein Theil der unendlichen Macht Gottes oder der

Natur: so mufs man dies so verstehen, dafs Gottes unendliche Macht alles

sagt er aus-

Sein ist und in ihr und von ihr untrennbar die Macht des Menschen nur als eine Art und Weise derselben unterschieden wird.

Wir vollziehen diese Vorstellung in dem Attribute der Ausdehnung ohne Schwierigkeit, indem wir das Continuum von Körper zu Körper fort- setzen, so dafs die ganze Natur ein Individuum wird, dessen Theile, die Körper, auf unendliche Weise wechseln, ohne dafs das ganze Individuum sich verändert (eth. II. lemma 7. schol.). Das umfassende Unendliche bleibt, indem sich die Theile darin bewegen.

Indessen fügt sich dieselbe Vorstellung in dem Attribute des Denkens nicht so leicht. Wir sehen da kein ähnliches Continuum von Gedanken zu Gedanken, so dafs sie wie Theile Ein Ganzes bilden könnten. Es müfsten allen Körpern und ihren Lagen Gedanken entsprechen; aber den wirklichen Dingen entsprechen nur zu geringem Theile wahre Gedanken. Der Mensch denkt; aber unendlich mehr Wesen denken nicht. Wenn in Spinoza’s Geiste Gott das Nothwendige ist, aber das Nothwendige aus dem Wesen des Gan- zen stammıt: so mülste vor allem der Gedanke des unendlichen Ganzen in der Einheit gefordert werden, aus welcher die Vielheit fliefst. Dies wäre für Spinoza’s Gott das Selbstbewulstsein, das man in ihm öfter vermifst hat. Soll alles aus der Nothwendigkeit der wirkenden Ursache folgen und sich daher Verstand und Wille in Gott nicht scheiden können (eth. I, 17. schol.): so wird es in Spinoza’s Sinne keine andere Persönlichkeit, kein anderes Selbstbewufstsein Gottes geben können, als den Gedanken des unendlichen Ganzen und der daraus herstammenden Nothwendigkeit. Wie aus dem We- sen des Dreiecks die trigonometrischen Eigenschaften folgen und der mathe- matische Verstand der Gedanke ihrer Nothwendigkeit ist: so folgen aus der Natur der unendlichen Substanz die Dinge; in demselben Sinne als Gott Ursache seiner selbst ist, ist er auch Ursache der Dinge (eth. I, 16. cor. 1.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 295

eth. I, 25. schol.) ('), und der Gedanke dieser alles umfassenden Nothwen- digkeit wäre Gottes Bewulstsein.

Es fragt sich erstens, ob Spinoza dies lehrte und zweitens wie eine solche Lehre zu den übrigen Theilen stimmt.

Was das Erste betrifft, so ist es bekannt, dafs das Selbstbewufstsein "Gottes, die persönliche Einheit seines Wesens, im Verständnifs des Spinoza eine Streitfrage ist. Wenn man sich darunter, wie im Menschen, Verstand und Willen, und insbesondere beide nach Zweckbegriffen thätig, vorstellt: fo ist diese Auffassung von Spinoza’s Lehre ausgeschlossen. Die Nothwen- digkeit der wirkenden Ursache, welche es allein giebt, läfst keinen Willen zu. Wenn man aber weiter geht, und den infinitus intellectus Dei insbeson- dere nach einer Stelle eth. V, 40. schol. für nichts aufser den einzelnen menschlichen Intellecten erklärt, so dafs sich die Idee des Wesens Gottes und alles in ihm Begriffenen in Gott nicht findet, sofern er Substanz ist, sondern sofern er das Wesen der sämtlichen endlichen Geister ausmacht (vgl. z. B. Straufs Glaubenslehre, 1840. I. S. 508): so widersprechen einer solchen Auffassung sowol der Zusammenhang des Grundgedankens als ein- zelne ausdrückliche Bestimmungen Spinoza’s.

Gottes Macht zu denken ist seiner wirklichen Macht zu wirken gleich. Was aus der unendlichen Natur Gottes in der Wirklichkeit folgt, das folgt alles in Gott aus Gottes Begriff und zwar in derselben Ordnung und der- selben Verbindung als Gedanke (*). Hiernach entsprechen allen wirklichen Dingen, also auch solchen, welche von den endlichen Geistern nicht ge- dacht oder irrig gedacht werden, (und deren sind unzählig viele), wah- re Gedanken in Gott, inwiefern sie in demselben Zusammenhang stehen, in welchem die Dinge aus Gottes unendlicher Natur fliefsen. Wenn nach dem Grundgedanken unendliches Denken und unendliche Ausdehnung nur die verschiedenen Ausdrucksweisen Einer und derselben Substanz sind, so

(') eth. I, 25. schol. eo sensu, quo Deus dicitur causa sui, eliam omnium rerum causa di- cendus est.

(2) eth. II, 7. coroll. Hinc sequitur quod Dei cogitandi potentia aequalis est ipsius actualı agendi potentiae. Hoc est: Quidquid ex infinita Dei natura sequitur formaliter, id omne ex Dei idea eodem ordine eademque connexione sequitur in Deo obiective, d.h. als Gegenstand des Denkens. Vgl. über den veränderten Sprachgebrauch die Anm. zu des Vf. elementa logi- ces Aristoteleae $ 1.

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mufs in Gott jede Nothwendigkeit der Dinge, wie seine eigene, in der Noth- wendigkeit eines Gedankens ihren Ausdruck haben.

Mehr kann man von Spinoza nicht verlangen. Was wir sonst Selbst- bewufstsein nennen, schliefst eine Empfindung des Ich ein, um die es sich in Gott nicht handelt. Wenn man noch den Gedanken des Gedankens (das Bewufstsein des Gedankens) fordert, so ist dieser dem Spinoza mit dem sich selbst offenbarenden Gedanken eins (eth. II, 21. schol. II, 43. schol.) (!). Indem Gott die Nothwendigkeit seines Wesens weils, so weils er auch da- mit dies Wissen; denn sonst wülste er in seinem Wesen etwas noch nicht.

Im Besondern spricht sich bei Spinoza diese Ansicht öfter aus. In Gott giebt es nothwendig, heifst es im 3" Lehrsatz des zweiten Buchs, einen Begriff sowol seines Wesens, als alles dessen, was aus seinem Wesen noth- wendig folgt (?). Gott wirkt mit derselben Nothwendigkeit, mit welcher er sich begreift (eth. II, 3. shol.) (*). Alle Vorstellungen, die in Gott sind, kommen mit ihrem Gegenstande überein (eth. II, 32. dem.), ein Ausspruch, der unmöglich wäre, wenn Gottes unendlicher Verstand nur die endlichen Gedanken wäre; denn dann ständen Vorstellung und Gegenstand noch viel öfter in Widerspruch. In Gott giebt es eine adaequate Erkenntnifs der Welt- ordnung, heifst es an einer andern Stelle (eth. II, 30. dem.) (*), inwiefern er die Vorstellung aller Dinge und nicht inwiefern er blos die Vorstellung

(') eth. II, 21. schol. Simulac enim quis aliquid seit, eo ipso scit, se id scire et simul seit, se scire, quod seit et sic in infinitum. Vgl. de intell. em. p. 425.

(2) eth. IL, 3. schol. In Deo datur necessario idea tam eius essentiae, quam omnium, quae ex ipsius essentia necessario sequuntur, vgl. II, 8.

(>) eth.II, 3. schol. ostendimus (1,16), Deum eadem necessitate agere, qua se ipsum intelligit, hoc est, sicuti ex necessitate divinae naturae sequitur (sicut omnes uno ore statuunt) ut Deus se ipsum intelligat, eadem etiam necessitate sequitur, ut Deus infinita infinitis modis agat. Vgl. epist. 22. 49. 60. Vergleicht man diese Stellen, so wird man sich überzeugen, dals das deum se ipsum intelligere nicht blos aus der Vorstellung der Menschen aufgenommen ist, sondern in dem angegebenen Sinne zur Lehre des Spinoza gehört.

(*) eth. II, 30. dem. p.107. Qua autem ratione res constitutae sint, eius rei adaequata co- gnitio datur in Deo, quatenus earum omnium ideas et non quatenus tantum humani corporis ideam habet. In Gott also giebt es eine adaequate Erkenntnils aller Dinge; in den Menschen von vielen Dingen nicht einmal eine inadaequate. Es ist in solchen Stellen ein Verständnils un- möglich, wenn man in Gott keine andern Gedanken annimmt, als die Gedanken der endlichen Geister, wenn man in Spinoza die moderne Lehre hineinlegt, dals Gott sich erst im Menschen bewulst wird.

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 397

des menschlichen Leibes hat. Vorstellungen, welche im Geiste inadaequat sind, sagt Spinoza anderswo (eth. III, 1. dem.), sind in Gott adaequat, inwie- fern er auch die Geister der übrigen Dinge in sich zumal enthält (!). Offenbar würden Irrthümer in uns nimmer in Gott zur Wahrheit werden, wenn Gott das Nothwendige nicht in sich erkennete. Endlich liebt Gott sich selbst, wie Spinoza lehrt (eth. III, 35), mit unendlicher intellectualer Liebe; denn da die Vorstellung seiner selbst als seiner Ursache sein unendliches Sein be- gleitet, so entsteht die intelleetuale Liebe Gottes zu sich selbst (2).

Auf diese Weise kann es nicht ungewils sein, was Spinoza meinte und nach dem Grundgedanken der beiden Attribute meinen mufste. Und doch entsprechen sich, genauer genommen, die beiden Attribute, unend- liches Denken und unendliche Ausdehnung, einander nicht so, wie sie sich in eigener Absicht entsprechen mülsten. Die unendliche Ausdehnung ist keine andere als der Inbegriff der endlichen Körper, ihrer Modi; aber das unendliche Denken kann nicht in gleicher Weise, wie es sein müfste, die endlichen Gedanken sein und darin aufgehen; während es die unwahren von sich ausschliefsen mufs, nimmt es zwar die wahren, als ewige Weisen des Denkens, in sich auf; aber das unendliche Denken, die Nothwendigkeit des Ganzen, welche die Nothwendigkeit der Theile in sich trägt, ist ein an- derer Gedanke als der Gedanke von vereinzelten und zerstreueten wahren Gedanken, die nur die lückenhafte Erkenntnifs einzelner Theile darstellen.

Wir sind nach Spinoza Theile eines denkenden Wesens (alicuius entis cogitaniis, de intell. emend. p. 441. vgl. ep. 15. p.500). Aber unsere Ge- danken sind ebenso irrig als wahr und noch mehr irrig als wahr. Wie stel- len wir uns diese irrigen Gedanken als Theile des vollkommen denkenden Wesens vor? und wenn nur die wahren den unendlichen Verstand Gottes ausmachen, wo bleiben die irrigen? In den endlichen Geistern sind die wah- ren Gedanken Bruchstücke. Wenn nun die unendliche Ausdehnung keine andere ist, als diejenige, welche durch die endlichen Körper hindurchgeht:

(‘) eth. II, 1. dem. p.133. ..... quae inadaequatae sunt in mente (ideae), sunt etiam in Deo adaequatae, non quatenus eiusdem solummodo mentis essentiam, sed eliam quatenus aliarum rerum mentes in se simul continet. Es giebt also in Gott eine Vorstellung, die im Gegensatz gegen die vereinzelten Vorstellungen das Zusammenwirken der Dinge begreift.

(?) eth. V, 35. dem. Dei natura gaudet infinita perfectione idque concomitante idea sui, hoc est, idea suae causae.

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so müfste auch der göttliche Gedanke kein anderer sein, als derjenige, wel- cher durch die endlichen Geister hindurchgeht. Aber dann läuft der un- endliche Gedanke Gefahr sich mit Irrthum zu versetzen und im Endlichen zu Bruchstücken ohne Zusammenhang zu werden.

Es gilt vom Gedanken wie von der Ausdehnung, dafs Gott alles Sein ist und aufser ihm kein Sein. Wo bleiben denn die irrigen Gedanken der endlichen Geister, die in dem unendlichen Denken keine Stelle haben können?

Diese Frage greift schon in eine andere Seite ein. Wir betrachteten zuerst den Begriff Gottes, die eigentliche metaphysische Seite des Systems. Es handelt sich nun zweitens von der Erkenntnifs des Menschen und es kommt dabei zunächst auf das Wesen und den Ursprung von Vorstellen und Begreifen, imaginari und intelligere an, auf den Gegensatz jener Begriffe, in welchen Knechtschaft und Befreiung des menschlichen Geistes beschlos- sen liegt. Wir müssen sie daher untersuchen, und zu dem Ende zunächst fragen, wie Spinoza ihr Wesen und ihr gegenseitiges Verhältnifs bestimme.

An vielen Stellen spricht Spinoza von der blofsen Erkenntnifs des reinen Verstandes und setzt sie der Vorstellung in Bildern nnd Worten ent- gegen (1). Es ist dadurch gesagt, was sie nicht ist, und zugleich angedeutet, dafs der Grund ihres Wesens in dem zu suchen ist, was über das Bild hin- ausliegt. Jedes Bild ist endlich; die Betrachtung des reinen Verstandes ist das Unendliche. Wo das Unendliche, das keine Vorstellung erreicht, die Bedingung der Erkenntnifs ist, da offenbart sich der Verstand (intellectus). Daher ist Gott, die unendliche Substanz, die Ursache seiner selbst, allein ein Begriff des Verstandes. Wenn wir in demselben Sinne die körperliche Substanz und die Quantität als unendlich und ewig und daher nicht als ge- theilt und beschränkt auffassen, so fassen wir sie als Attribut Gottes adae- quat; wir stellen sie dann nicht unserer Einbildung vor, sondern begreifen sie (?). Es kommt daher darauf an, diese Betrachtung zur Grundlage zu

(!) z.B. tractatus theologico politicus ce. 4. p. 214. ed. Paul.: tum enim res intelligitur, cum ipsa pura mente ewzra verba et imagines percipitur. vgl. epist. 42. p. 600. sola puri intelle- ctus cognitio. ep. 29. p.529. de intell. emend. p. 447 u. s. w.

(2) eth. I, 15. schol. p. 50. Si itaque ad quantitatem attendimus, prout in imaginatione est, quod saepe et facilius a nobis fit, reperietur finita, divisibilis et ex parlibus conflata; si autem ad ipsam, prout in intellectu est, attendimus et eam, qualenus substantia est, concipimus, quod

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machen; und wenn Spinoza drei Stufen der Erkenntnifs unterscheidet, so geschieht dies auf jener dritten Stufe, auf welcher die Erkenntnifs von dem adaequaten Begriff der Attribute Gottes zu dem adaequaten Begriff des We- sens der Dinge fortschreitet. Spinoza nennt diese Stufe offenbar darum in- tuitive Erkenntnifs, weil sie von dem Blick des einfachen Ganzen bestimmt wird (!). Es liegt an dieser Stelle der Grund alles Nothwendigen, denn Gott ist das Nothwendige. Daher gilt intelligere und res sub specie aeterni contemplari dem Spinoza für gleichbedeutend.

Nach dem oben angegebenen Zusammenhang folgt noch mehr, inwie- fern alles Endliche, sei es Körper oder Gedanke, als Theil des Unendlichen betrachtet wird, und also das Unendliche das Ganze ist, auf welchem die Nothwendigkeit beruht. Denn was nun auf gleiche Weise im Theil wie im Ganzen erkannt wird, bildet einen adaequaten Begriff des Geistes (?). Da- hin gehört namentlich die Erkenntnifs des ewigen und unendlichen Wesens Gottes, weil sie auf gleiche Weise im Theil als im Ganzen liegt und die Möglichkeit, dafs jeder der intuitiven Erkenntnifs theilhaft werden kann (°). Da unser Gedanke und unser Leib ein Theil des Ganzen ist und mithin in ihm das Ganze sich fortsetzt: so stammen daher unsere wahren Allgemein- begriffe (notiones communes), welche die Grundlagen unsrer Schlüsse sind. Sie sind die eigene Macht des Geistes, an der alle Theil haben (*), und unterscheiden sich von den Universalien, welche verworrene Vorstellungen sind und dann entstehen, wenn sich die Bilder des Einzelnen zu unbestimm-

diffieillime fit, tum, ut iam satis demonstravimus, infinita, unica et indivisibilis reperietur. Vgl. besonders ep. 29.

(!) eth. II, 49. schol. 2.

(2) eth. II, 38. Illa, quae omnibus communia quaeque aeque in parte ac in tolo sunt, non possunt coneipi nisi adaequate. II, 44. coroll. 2. demonstr. Adde quod fundamenta rationis notiones sunt, quae illa explicant quae omnibus communia sunt quaeque nullius rei singularis essentiam explicant; quaeque propterea absque ulla temporis relatione sed sub quadam aeter- nitatis specie debent concipi.

(2) eth. II, 46. dem. p. 120. id, quod cognitionem aeternae et infinitae essentiae Dei dat, omnibus commune et aeque in parte ac in toto est, adeoque erit haec cognitio adaequata. vgl. II, 47. schol. ... sequitur, nos ex cognitione hac plurima posse deducere, quae adaequate co- gnoscamus atque adeo tertium illud cognitionis genus formare. tractat. theol. polit. e. 1. p. 157.

(*) de intell. emend. p. 456. vı. Ideae, quas claras et distinctas formamus, ita ex sola ne- cessitate nostrae naturae sequi videntur, ut absolute a sola nostra potentia pendere videantur; confusae autem contra. Nobis enim invitis saepe formantur. vgl. ep. 42. p. 600.

Pp2

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ten Gemeinbildern vermengen (!). Während diese ein Erzeugnifs der Ima- gination sind, inwiefern sie unvermögend ist, viele Bilder des Einzelnen ne- ben einander vorzustellen, gehören jene dem Intellectus an und sind die Bedingungen alles Begreifens. Man darf daher dies Wesen der Dinge nicht mit abstracten Vorstellungen vermengen, welche aus vager Erfahrung ent- stehen, sondern man mufs von dem Quell und Ursprung der Natur aus- gehen (?). In demselben Sinne tadelt z.B. Spinoza die Ansicht des Baco, nach welcher der menschliche Verstand alles nach der Analogie der eige- nen Natur und nicht nach der Analogie des Universums bilde (?). Wenn es auch weit über die Kräfte des menschlichen Verstandes hinausgeht, alles zugleich und zumal aufzufassen, wie im Ewigen seiner Natur nach alles zu- mal ist (*): so betrachtet doch der Verstand die Dinge in demselben Mafse klar und deutlich, als er sie von innen d. h. mehrere Dinge zugleich auf- fafst (°). In dieser Bestimmung, die Dinge zugleich aufzufassen, stellt sich äufserlich die Richtung auf das Ganze dar. Dieselbe Richtung erscheint in einer andern Beziehung. Weil alle Verwirrung daraus hervorgeht, dafs der Geist eine ganze Sache nur zum Theil kennt: so kann es folglich von einem einfachen Dinge nur eine klare und deutliche Vorstellung geben; denn ein solches Ding kann nicht theilweise, sondern entweder ganz oder gar nicht erkannt werden. Das Einfache wird daher begriffen (°). Es hängt damit zusammen, dafs die Substanz, deren Wesen das Dasein in sich schliefst, der eigentliche Gegenstand des Begreifens (intelligere), aus ihrem Begriff als ein- fach bestimmt wird (7). Als Begriffe, welche allein durch den Verstand und

(‘) eth. II, 40. schol. 1.

(2) de intell. emend. p.442. Oritur denique (deceptio) eliam ex eo, quod prima elementa totius naturae non intelligunt; unde sine ordine procedendo et naturam cum abstraetis, quam- vis sint vera axiomata, confundendo se ipsos confundunt ordinemque naturae pervertunt. No- bis autem, si quam minime abstracte procedamus et a primis elementis, hoc est, a fonte et ori- gine naturae, quam primum fieri potest, incipiamus, nullo modo talis deceptio erit metuenda.

(3) epist. 2. p. 452.

(*) de intell. emend. p.453.

(5) eth. II, 29. schol. ... quoties interne, ex eo scilicet quod res plures simul contempla- tur, determinatur ad earundem convenientias, differentias et oppugnantias intelligendum, .... 2... res clare et distinete contemplatur.

(°) de intell. emend. p. 437 sqgq.

(7) epist. 40. p. 592.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 301

nicht durch die Vorstellung erreicht werden können, bezeichnet Spinoza beispielsweise sudstantia, aeternitas ('), welche das Unendliche ausdrücken, aber weder enwickelt er noch entwirft er vollständig die Begriffe des reinen Verstandes. Da alle klare und deutliche Vorstellungen, welche wir bilden, aus andern klaren und deutlichen Vorstellungen, welche in uns sind, stam- men, und keine andere äufsere Ursache kennen: so hängen sie allein von unserer Natur und ihren festen Gesetzen d.h. von unserer Macht und nicht vom Zufall ab (?). Der Verstand bildet einige Vorstellungen ursprünglich, andere aus andern, z. B. die Vorstellung der Quantität ursprünglich, unab- hängig von andern Vorstellungen, hingegen die Vorstellung der Bewegung nur dadurch, dafs er auf die Vorstellung der Quantität achtet. Die Vor- stellungen, welche er ursprünglich bildet, drücken die Unendlichkeit aus, während er die begrenzten und endlichen (ideas determinatas) aus andern bildet, und da sie nicht ursprünglich sind, auf mannigfache Weise ableitet. Indem nun das Unendliche schlechthin die Bejahung des Daseins ist und das Endliche theilweise Verneinung (eth. I, 8. schol.): so bildet er die be- jahenden Vorstellungen früher, als die verneinenden (°).

Durch den Gegensatz gegen den intellectus ergiebt sich schon die Na- tur der imaginatio als einer Quelle der inadaequaten Vorstellungen. Wenn der intellectus da sein Wesen hat, wo es sich um das Unendliche handelt, so bewegt sich die imaginatio nur im Endlichen. Wenn der intellectus das ungetheilte und einfache Sein erfalst, so betrachtet die imaginatio das Sei- ende nur in der Weise des Theils. Während die adaequate Vorstellung, vom Intellectus ausgehend, das Gemeinsame zum Gegenstand hat, was auf gleiche Weise im Theil wie im Ganzen gilt (aeque in parte ac in toto): ent- steht die inadaequate Vorstellung, wenn nur der Theil betrachtet wird. Da- her gilt es gleich, eine Sache nur zum Theil oder inadaequat auffassen. Dies geschieht dann, wenn wir nicht blos eine Vorstellung haben, welche das Wesen des menschlichen Geistes ausmacht, sondern welche zugleich mit dem menschlichen Geiste auf ein fremdes Ding geht (*), wenn also nicht

(!) epist. 29. p. 529.

(2) epist. 42. p.599. vgl. de intell. emend. p. 440.

(3) de intell. emend. p. 455, wo Spinoza zum Schluls das Eigenthümliche des inzelleetus zusammenfalst.

(°) eth. II, 11. coroll. Hinc sequitur mentem humanam partem esse infiniti intellectus Dei;

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der Theil aus dem Ganzen, sondern nur ein Theil mit einem andern auf- gefafst wird. Indem das Getheilte und Endliche Gegenstand der Imaginatio ist, wird Zahl und Mafs zu nichts anderm, als zu Weisen des Imaginirens; denn sie dienen dazu, die Affectionen der Substanz zu determiniren (!); sie sind die Hülfsmittel der Imaginatio,; und wer aus ihnen die Substanz, die nur dem Intellectus zugänglich ist, verstehen und den Fortschritt der Natur begreifen will, verwickelt sich in Ungereimtheiten und Widersprüche. Wäh- rend der Intellectus die Dinge als nothwendig und in der Weise des Ewigen fafst, stammt aus der Imagination das Zufällige, die conlingentia im Gegen- satz gegen die aefernitas. Es ist die Sache der Vernunft, die Dinge nicht als zufällig, tion, wenn dieselbe Sache in verschiedener Zeit wahrgenommen wurde, eine

sondern als nothwendig zu betrachten. Aber inwiefern die Imagina-

verschiedene Erwartung der Zeit mit der Sache verknüpft und ihr daher die Vorstellung der Zeit schwankt: so entsteht die Vorstellung des Zufäl- ligen (?). Während die klaren und deutlichen Vorstellungen des Intellectus allein von dessen Macht und Natur abhängen und insofern in sich wahr sind: so tritt der Geist, wenn er imaginirt, vielmehr in das Verhältnifs eines Lei- denden, indem zufällige und vereinzelte Sinneswahrnehmungen das Bestim- mende werden (?). Es entsteht eine verworrene Vorstellung, so oft der Geist

ac proinde cum dieimus, mentem humanam hoc vel illud percipere, nihil aliud dicimus, quam quod Deus, non quatenus infinitus est, sed quatenus per naluram humanae mentis explicatur sive quatenus humanae mentis essentiam constiluit, hanc vel illam habet ideam ; et cum dicimus Deum hanc vel illam ideam habere, non tantum, quatenus naturam humanae mentis constituit, sed qua- tenus simul cum mente humana alterius rei etiam habet ideam, tum dieimus mentem humanam rem ex parte sive inadaequate percipere.

(') epist. 29. p. 529. Ex quibus clare videre est, mensuram, tempus et numerum nihil esse praeter cogitandi seu potius imaginandi modos; und bald darauf: auxilia imaginationis, vgl. ep. 40. p. 592. ep. 41. p. 595 sq., woraus erhellt, dafs der Begriff des Theils nicht in Gott, also nicht in der Wahrheit der Substanz gedacht werden kann.

(2) eth. II, 44. coroll. 1. Hinc sequitur a sola imaginatione pendere, quod res tam respectu praeteriti quam futuri ut contingentes contemplemur. In dem angefügten Scholion wird die Vorstellung des Zufälligen eigentlich aus dem Gesetze der später sogenannten Ideenassoeiation abgeleitet. Wenn eine Sache öfter und zwar zu verschiedenen Zeiten wahrgenommen ist, so schwankt die Vorstellung der Zeit in der Erinnerung und Erwartung. Indem die bestimmte Zeit gegen das Ding gleichgültig wird, erscheint es als zufällig.

(°) de intell. emend. p. A441. ostendimusque quod ideae fictae, falsae et caeterae habeant suam originem ab imaginatione, hoc est, a quibusdam sensationibus fortuitis (ut sic loquar)

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von aufsen, nämlich aus dem zufälligen Zusammentreffen der Dinge dies oder jenes zu betrachten bestimmt wird, und nicht vielmehr von innen, in- dem er mehrere Dinge zugleich betrachtet, um ihre Übereinkunft und ihre Unterschiede zu verstehen ('). Wie die Vorstellungen inadaequat werden, weil sie statt des Ganzen nur einen Theil fassen: so geschieht dies dadurch, dafs wir uns selbst nur als Theile verhalten. Wenn es, sagt Spinoza, zur Natur eines denkenden Wesens gehört, wahre oder adaequate Gedanken zu bilden: so ist es gewifs, dafs die inadaequaten Vorstellungen nur daraus in uns entstehen, weil wir ein Theil sind eines denkenden Wesens, von dem einige Gedanken ganz, andere nur theilweise unsern Geist ausmachen (2). Die Vorstellungen sind daher nur inadaequat und verworren, inwiefern sie nicht auf Gott, d.h. das Nothwendige und Ganze, sondern lediglich auf den einzelnen Geist eines Menschen bezogen werden (°).

Nach diesem Zusammenhang geht alles Verständnifs auf das Ganze, aller Irrthum auf den Theil zurück. Es fragt sich daher, was der Theil im System des Spinoza bedeuten könne. Es giebt nur Eine Substanz; und da- her sind die Theile nichts Wirkliches in sich, sondern werden nur als Art und Weise an der Substanz unterschieden (*). In der sich fortsetzenden Verkettung der wirkenden Ursache giebt es keinen Theil, der etwas für sich

atque solutis, quae non oriuntur ab ipsa mentis potentia, sed a causis externis, prout corpus sive somniando sive vigilando varios accipit motus. p.449. scopus itaque est claras et distin- ctas habere ideas, tales videlicet quae ex pura mente et non ex fortuitis motibus corporis factae sunt. p. 447....animam circa imaginationem tantum habere rationem patientis. Vgl. eth. IV. app- c. 2. p. 259.

(!) eth. II, 29. schol. ... sed confusam tantum cognitionem quoties ex communi naturae ordine res percipit, hoc est, quoties externe, ex rerum nempe fortuito occursu, determinatur ad hoc vel illud contemplandum et non quoties interne, ex eo scilicet quod res plures simul con- templatur, determinatur ad earundem convenientias, differentias et oppugnantias intelligendum; quoties enim hoc vel alio modo interne disponitur, tum res clare et distincte contemplatur.

(2) de intell. emend. p.441. Quod si de natura entis cogitantis sit, uti prima fronte vide- tur, cogilationes veras sive adaequatas formare, certum est, ideas inadaequatas ex eo tantum in nobis oriri, quod pars sumus alicuius entis cogitantis, cuius quaedam cogitationes ex toto, quae- dam ex parte tantum nostram mentem constituunt.

(2) eth. II, 36. dem. Ideae, quatenus ad Deum referuntur, sunt verae, adaequatae; adeoque nullae inadaequatae nec confusae sunt, nisi quatenus ad singularem alicuius mentem referuntur.

(*) vgl. z.B. eth. I, 15. schol. p.50. unde eius (materiae) partes modaliter tantum distin- guuntur, non autem realiter.

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sein könnte. Und doch ist in dieser Verbindung dem Theil als solchen eine wichtige Wirkung zugeschrieben, die verwirrende Thätigkeit des Irrihums. Wie ein Theil, der in sich keine Sache ist, sondern nur als Art und Weise unterschieden wird, dennoch diese Kraft habe: das hätte wol der Erörte- rung bedurft.

Es ist die imaginatio dem intelleeius, die Vorstellung im Bilde dem Begriffe entgegengesetzt. Wenn aus jener, inwiefern sie für sich thätig ist, die inadaequate Weise der Erkenntnifs stammt, so giebt es doch auch Vor- stellungen der Imagination, welche mit dem Intellectus übereinkommen (t). Es sind offenbar diejenigen Vorstellungen, die in demselben Verhältnifs aus einander folgen, als in den Gegenständen die Wirkung aus der Ursache. Hiernach hat nothwendig die imaginatio auch ein positives Verhältnifs zum intellectus, und sie wird nicht einseitig nur an verworrenen Vorstellungen schuld sein, sondern sie wird auch klare und deutliche zulassen oder er- zeugen. Die Imagination des Geistes in sich betrachtet, sagt Spinoza (eth. II, 17. schol.), enthält keinen Irrthum, sondern nur inwiefern sie die Dinge, welche sie sich als gegenwärtig vorstellt, als wirklich setzt und dabei der Vorstellung entbehrt, welche dies Dasein verneint. Denn wenn der Geist, indem er sich, was nicht da ist, als gegenwärtig vorstellt, zugleich wüfste, dafs jene Dinge in Wahrheit nicht da sind: so würde er eine solche Kraft zu bilden sich zur Tugend und nicht zum Fehler anrechnen; insbesondere wenn dieses Vermögen zu bilden von seiner Natur allein abhinge d.h. wenn die Imag

8 Imagination diese freie Kraft ist, Bilder entwerfend, ohne, was sie vorstellt,

ination des Geistes frei wäre (?). Wenn wir fragen, wo denn die

als ein daseiendes Ding zu setzen: so müssen wir, scheint es, an das mathe- matische Gebiet denken, auf welchem das Bild der Vorstellung mit dem Be-

(!) de emend. intell. p. 447. nec etiam mirabimur, cur quaedam intelligamus, quae nullo modo sub imaginationem cadunt, et alia sint in imaginatione, quae prorsus oppugnant intel- lectum, alia denique cum intellectu conveniant.

(e)Fethll, Ar schol@p.98.2........ notetis velim, mentis imaginationes in se spectatas nihil erroris conlinere, siye mentem ex eo, quod imaginatur, non errare; sed tantum, quatenus con- sideratur, carere idea, quae existentiam illarum rerum, quas sibi praesentes imaginatur, secludat. Nam si mens, dum res non existentes ut sibi praesentes imaginatur, simul sciret res illas revera non existere, hanc sane imaginandi potentiam virtuti suae nalurae, non vitio tribueret; prae- sertim si haec imaginandi facultas a sola sua natura penderet, hoc est, si haec mentis imagi- nandi facultas libera esset.

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 305

griff des Verstandes in Übereinstimmung zu kommen vermag. Indem der Verstand die unendliche Quantität unter dem Begriff der Ursache auffafst, wie z. B. wenn er sie durch die Bewegung eines Punktes determinirt: bil- det er durch die Imagination klare und deutliche Vorstellungen (vgl. de in- tell. emend. p.455 f.). Spinoza hat oft genug auf die Mathematik, welche die Lehrmeisterin des Nothwendigen sei, hingewiesen, und wir haben da- durch in seinem Sinne das Recht, Zahl und Mafs, wenn sie von ihm für Hülfsmittel der Imagination, für Weisen des Entwerfens (modi imaginandi) erklärt werden, dessenungeachtet nicht für Ursachen der verworrenen Vor- stellungen zu halten. Wir sind indessen zu einem Punkt gelangt, auf wel- chem der Zusammenhang abbricht. Spinoza hat weder gesagt, wie sich der Begriff zum Bild, der intellectus zur imaginatio verhalte, noch auch wie das Unendliche sich zum Endlichen determinire. Der Verstand (intelleetus), sagt Spinoza (de intell. emend. p.455), bildet die positiven Vorstellungen früher als die negativen. Es ist dies folgerecht, da die Substanz, sein eigentlicher Gegenstand, unendlich ist und das Unendliche, welches durch und durch Bejahung ist, keine Verneinung in sich trägt. Aber Spinoza zeigt nicht, wie denn der Verstand vom Unendlichen zum Endlichen, von den positiven Vorstellungen zu der Begrenzung der negativen übergehe. Wenn in der Fi- gur der Verstand die unendliche Quantität als determinirt durch die Bewe- gung z. B. eines Punktes auffafst, so ist doch nirgends nachgewiesen, woher er die Bewegung habe (1) und wie die Bewegung oder irgend etwas anderes das Unendliche und nur Positive determiniren könne. Ebenso wenig zeigt Spinoza, wie die unendliche Substanz dazu komme sich in das Endliche zu fassen. Jede Bestimmung ist dem Spinoza Verneinung. Omnis determinatio negatio. Wenn das Unendliche, die absolute Bejahung des Daseins, alle Verneinung von sich ausschliefst (vgl. z.B. eth. I, 8. schol. 1): so hätte ge- zeigt werden müssen, woher dennoch die Besonderung und Bestimmung zum Endlichen stamme (?). Weil das Prineip der Unterscheidung in der

(') Auch in den Körpern ist dieser wichtige Begriff als durch sich bekannt vorausgesetzt und auf keine Weise abgeleitet. s. eth. II. nach prop. 13. lemma 1. dem. p. 90.

(2) Noch im Jahre vor seinem Tode antwortet Spinoza auf die Frage, wie sich aus der Ausdehnung die Mannigfaltigkeit der Dinge ableiten lasse, sehr unbestimmt. Sed de his forsan aliquando, si vita suppetit, clarius tecum agam. Nam hucusque nihil de his ordine disponere mihi licuit. epist. 72. p. 680.

Philos. - histor. Kl. 1849. Qq

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Einheit des Realen fehlt, so ist auch das rechte Verhältnifs der imaginatio zum intellectus nicht erkannt. Beides hängt genau zusammen. Inwiefern die adaequaten Vorstellungen aus demjenigen stammen, was allem gemein und gleicher Weise im Ganzen wie im Theil ist, erreichen sie das eigenthümliche Wesen des Einzelnen nicht; denn Spinoza lehrt ausdrücklich (eth. II, 37), was allem gemeinsam und gleicher Weise im Ganzen und im Theil ist, bil- det von keiner einzelnen Sache das Wesen.

Im Vorstehenden ergab sich eine Lücke. Es fehlt der Zusammenhang zwischen dem Begriff und dem Bilde, dem intellectus und der imaginalio; es fehlt aber damit die Erklärung der verworrenen und irrigen Vorstellung in der Consequenz des Systems. Dessenungeachtet lehrt Spinoza (!), dafs die inadaequaten und verworrenen Vorstellungen mit derselben Nothwen- digkeit folgen, als die adaequaten. Denn alle Vorstellungen sind in Gott.

Um den Parallelismus des Grundgedankens, die neben einander lau- fenden Vorgänge im Denken und in der Ausdehnung, welche einander ent- sprechen müssen, weil sie nur der verschiedene Ausdruck Einer und der- selben Substanz sind, folgerecht festzuhalten, hat Erdmann (?) die Lehre von den einfachen und zusammengesetzten Körpern und deren Bewegung, welche Spinoza nur lemmatisch dem zweiten Buche der Ethik einfügt, mit der Lehre von der Imagination in Übereinstimmung gesetzt. Er bezeichnet dabei folgende Punkte. Spinoza nimmt einfachste Körper an, corpora sim- plicissima (eth. II. lemma 3. ax.2. p.92), welche sich nur durch Bewegung und Ruhe, schnellere oder langsamere Bewegung von einander unterscheiden. Diesen sollen wahre, adaequate Vorstellungen entsprechen, inwiefern es in den einfachsten Körpern keine Störung der Bewegung geben könne. Wenn aber Spinoza ferner zusammengesetzte Körper annimmt, welche aus den einfachsten bestehen, so sollen sich diese durch Richtungen der Bewegung unterscheiden, z.B. durch geradlinige, krummlinige, und da die Körper zu- sammen sind und zusammen einen Körper höherer Ordnung bilden, soll es möglich sein, dafs sich die Bewegungen hemmen und stören, und daher die Körper niederer Ordnung, die den höheren bilden, nur zum Theil Ursache

(') eth. II, 36. Ideae inadaequatae et confusae eadem necessitate consequuntur, ac adaequa- tae sive clarae ac distinctae ideae.

(2) J.E. Erdmann vermischte Aufsätze, Leipzig 1846. S. 162. 168. in der dritten Abhand- lung: die Grundbegriffe des Spinozismus.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 307

ihrer Bewegungen sind. Diesem Verhältnifs der Körper, dieser Störung der Bewegung soll im Denken die inadaequate Vorstellung entsprechen, indem diese nur zum Theil das Wesen des menschlichen Geistes ausmache. Wie endlich das Eine umfassende Individuum der Natur (eth. II. lemma 7. schol. p-94) alle Bewegungen in sich hat, ohne sich selbst zu verändern, so ent- halte auch das unendliohe Denken alle Vorstellungen ganz; es ist die adae- quate Ursache aller, und ebendaher sind auch in ihm alle Vorstellungen adaequat. Es fragt sich, ob diese Übereinstimmung den Sinn des Spinoza treffe und wie weit. Zunächst mufs in dieser Böclehifäs bemerkt werden, dafs Spinoza dem zweiten Buche der Ethik die Lemmata über den Körper = haupt nirgends jene Coinzidenzpunkte andeutet. Erdmann hat sie im Sinne

nicht zu diesem Zweck der Vergleichung eingefügt hat, und dafs er über-

des Systems zusammengestellt. Dem einfachen Gegenstand entspricht aller- dings eine adaequate Vursakllkung; aber nicht weil der einfache Körper von störender Bewegung frei ist, sondern weil er keine Theile hat und daher entweder ganz oder gar nicht aufgefafst wird (de intell. emend. p. 437). Viel- mehr kann der einfache Körper, da er doch Bewegung hat, nothwendig auch in seiner Bewegung gehemmt werden. Wenn jede Idee, wie Erdmann sagt ('), „für sich genommen” wahr oder adaequat sein soll, wie jedes corpus simpli- cissimum frei von störenden Bewegungen sei: so geht dann die Wahrheit auf atomistische Theilung zurück und nicht auf die Eine Substanz. Der Gegen- satz der einfachsten und zusammengesetzten Körper liegt nicht darin, dafs jene nur in der Intensität der Bewegung als schnellere oder langsamere, diese auch durch die Richtung (geradlinige, krummlinige) unterschieden werden. Wo Bewegung ist, mufs auch Richtung sein und wenn Spinoza sagt, dafs die einfachsten Körper nur durch die Bewegung unterschieden werden: so bedeutet das nichts anders, als dafs sie nicht, wie die zusammengesetzten, in den Theilen und deren gegenseitigem Verhältnifs Unterschiede zeigen. Es mufs also in Abrede gestellt werden, dafs den einfachsten Körpern

(') Vgl. schon die verwandte Auffassung bei Thomas Spinozae systema philosophicum. Regi- montii, 1835. 88.4.5. Karl Thomas Spinoza als Metaphysiker vom Standpunkte der histo- rischen Kritik, Königsberg 1840. vgl. z. B. S. 98. S.163. Der Vf. ist darin consequent, dafs er wirklich in Spinoza, indem er zwischen den Zeilen liest, im Physischen und Logischen, in der Ausdehnung und im Denken einen unter sich parallel laufenden Atomismus und „Automatis- mus” annimmt. Aber so wenig als im Euklid darf man im Spinoza die Lehre zwischen den Zeilen lesen. Q q 9)

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darum wahre Vorstellungen entsprechen, weil in ihnen keine Bewegung sei; sie selbst haben Bewegung, wenn es in ihnen auch keine Theile giebt, die sich bewegen könnten. Wenn hingegen ein Individuum, sei es einfach oder zusammengesetzt, eine eigenthümliche Richtung hat, die in seinem Wesen liegt: so wird es gegen eine Störung der Bewegung als gegen eine Minde- rung seiner Macht in seinem Sein zu beharren streben, und es gehen daraus im Menschen leidende Zustände hervor, die von inadaequaten Vorstellun- gen begleitet werden. In dieser beschränkten Sphäre, in der Verdunklung der klaren Vorstellung durch die Leidenschaft, stimmt jene Erklärung mit Spinoza’s Grundgedanken überein. Aber die inadaequaten Vorstellungen ge- hen weiter, wie z. B. in der oberflächlichen Abstraction. Wo sie rein theo- retischer Natur sind, können sie nur mit Mühe und nicht ohne Gewalt auf diese Erklärung des ursprünglichen Parallelismus zurückgebracht werden.

Auf jeden Fall bleibt die eigentliche Schwierigkeit auch bei dieser Ansicht stehen. Die Bewegungen, wie sie sich auch kreuzen, sind wirklich und gehen daher in die unendliche Ausdehnung ein. Die inadaequaten Vor- stellungen hingegen sind unwahr und sie lassen sich daher nicht auf dieselbe Weise in das unendliche Denken aufnehmen. Der Parallelismus des Grund- gedankens wäre erst dann zu halten, wenn allen wirklichen Bewegungen, seien sie ursprünglich oder, wie in der Störung, zusammengesetzt, wahre Vorstellungen entsprächen— woran viel, wenn nicht alles fehlt.

Wir haben bis dahin die logische Seite des intelligere verfolgt; aber dasselbe hat auch, wie wir oben sahen, eine ethische; ja es liegt darin die ganze Macht des Sittlichen. Spinoza und Sokrates, wie unähnlich sie sonst seien, begegnen sich darin, dafs ihnen die Tugend Erkenntnifs ist. Unsere Untersuchung rückt daher nun in den Inhalt des dritten, vierten und fünf- ten Buchs vor, in die psychologische Frage über den Ursprung der Affecte, und in die ethische über den Ursprung der sittlichen Begriffe.

Bis jetzt ist die einfache und bündige Weise nicht übertroffen, mit welcher Spinoza im 3'" Buche der Ethik aus dem blinden Grunde der Selbst- erhaltung und der Ideenassociation die leidenden Zustände und Strebungen der Seele ableitet. Im neuen Testament ist oft von dem natürlichen Men- schen im Gegensatz gegen den geistigen die Rede; was er sei, wird dort dem sittlichen Tact der eigenen Erfahrung überlassen. Spinoza hat, wie man behaupten darf, dies Naturgesetz des natürlichen Menschen in seiner Ent-

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stehung und der furchtbaren Gewalt seiner vielgestaltigen Formen enthüllt und entwickelt; und, dafs der Mensch ihm unterthan ist, hat er im 4" Buche als die menschliche Knechtschaft bezeichnet. Die Befreiung aus dieser Macht geschieht, wie Spinoza im 5“ Buche zeigt, nur durch die adaequate Erkennt- nifs, durch das intelligere.

Die ganze Entwicklung geht von dem Satz aus, dafs jedes Ding, so- weit es in sich ist, in seinem Sein zu beharren trachtet (eth. III, 6) (!). Dar- an knüpft sich das Streben, was dem eigenen Sein Eintrag thut, abzuweh- ren, und was die eigene Macht vermehrt, zu suchen; daran, wenn die Vor- stellung der äufsern Ursache hinzutritt, Liebe und Hafs; daran der Trieb des Geistes, die eine Vorstellung herbeizuziehen, die andere auszuschliefsen, und auf die Dinge, je nachdem sie die Vorstellungen in uns freundlich oder feindlich treffen, Licht oder Schatten, Liebe oder Hafs zu werfen. Von die- sem einfachen Grunde der Selbsterhaltung und dem Gesetz der sich einan- der rufenden Vorstellungen geht das mannigfaltige, vielfach verwickelte Ge- triebe der leidenden Zustände und Strebungen aus. Spinoza hat ohne Zwei- fel den rechten Grund bezeichnet; aber wir fragen, welche Stellung jener fruchtbare Satz, dafs jedes Ding, soweit es in sich sei, in seinem Sein zu beharren strebe, zu dem Grundgedanken des Systems habe. Darauf kommt es uns an.

Wir dürfen bei dieser Frage das Verhältnifs des Einzelnen nicht aufser Acht lassen. Es giebt nur Eine Substanz, die in sich ist; und die Sache, die in ihrem Sein zu beharren strebt, ist keine Substanz; hat doch Spinoza dies von dem Menschen, um den es sich hier handelt, noch besonders bewie- sen? (?) Jene Sache ist nur ein Theil der Einen Substanz und alle Theile sind nur als Weisen des Daseins und nicht als wirkliche Dinge unterschie- den (modaliter tantum, non realiter). Bestimmt von andern Theilen kann der Theil nach dieser Ansicht nichts in sich sein; und noch viel weniger streben, in seinem Sein zu beharren. Es fehlt der Mittelpunkt, in welchem sich der Theil selbst besäfse und von welchem sein Streben ausgehen könnte. Spinoza ist sogar geneigt, die Begriffe, welche den Theil als solchen be-

(°) eth. III, 6. Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur. (2) eth. II, 10. Ad essentiam hominis non pertinet esse substantiae, sive substantia formam hominis non constituit,

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stimmen, wie Zahl und Mafs, zu blofsen Weisen der Vorstellung zu machen. Sollen nun die Theile nur in der Betrachtung der Imagination bestehen, wie Spinoza doch eigentlich will: so kommt damit das Gesetz der Selbstbe- hauptung, in welchem der Theil etwas in sich ist, in Widerspruch. Die end- liche Sache (res finita) ist bei Spinoza nicht nachgewiesen, sondern aus der Definition, als verstände sich damit ihr Dasein von selbst, aufgenommen (eth. I. def. 2. vgl. II. def. 7). Als Modus ist sie in einem Andern und nicht in sich und wird nur durch jenes Andere begriffen (eth. I. def. 5). Wenn die Substanz, das Ursprüngliche, ihrem Wesen nach unendlich und allein in sich ist: so hätte dargethan werden müssen, wie das Endliche werde und wie es überhaupt in sich sein könne (unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conalur). Wenn das bestimmte Ding in seinem We- sen beharrt, so beharrt es in der Schranke, in der Negation. Wie reimt sich dies mit der Lehre von der unbeschränkten Substanz? Spinoza umgeht in Übereinstimmung mit seinem Grundgedanken und mit seiner ausdrücklichen Lehre auf jede Weise den Zweck. Der Leib z. B. wird nicht als ein Orga- nismus bestimmt, als ein Körper, der für die Zwecke des Lebens Werkzeuge hätte, sondern nur als ein vielfach zusammengesetzter, der mit andern Kör- pern eine vielseitige Gemeinschaft hat (vgl. z.B. eth. II, 39. coroll.). Es fehlt daher beim Spinoza das ideale Centrum, durch welches eine Sache et- was in sich ist und um welches die Kräfte sich bewegen. Es fehlt ihm das ideale Band des Zweckes, durch welches verschiedene wirkende Ursachen zu der Einheit eines Ganzen, eines wirklichen Individuums verknüpft wer- den. Er nimmt nur in der Definition an (!), dafs mehrere Individuen (ato- mistisch gedacht) in Einer Thätigkeit dergestalt zusammenkommen können, um alle zugleich die Ursache Einer Wirkung zu sein. Wie dies geschehe, zeigt er nicht und will nur solche zusammenwirkende Individuen als Eine einzelne Sache betrachten. Wenn man ferner den Beweis prüft, den Spi- noza von dem Satz giebt, dafs jedes Ding, soweit es in sich ist, in seinem Wesen zu verharren strebt: so ist er nur negativ. Das einzelne Ding, heifst es nämlich, kann nichts in sich haben, wodurch es sein Wesen vernichtet,

(') eth. II. def. 7. Per res singulares intelligo res, quae finitae sunt et determinatam ha- bent existentiam. Quod si plura individua in una actione ita concurrant, ut omnia simul unius effectus sint causa, eadem omnia eatenus ut unam rem singularem considero.

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 311

und kann nur von einer äufsern Ursache zerstört werden (vgl. eth. III, 4 bis 6). Hierin ist nur die Kraft der Trägheit, die vis inertiae und nichts mehr bewiesen (1); und die Selbstbehauptung einer wirkenden Ursache kann auch keinen andern Sinn haben; denn es ist kein wahres Selbst vorhanden. Aber Spinoza hat dessenungeachtet in jenem Streben, sich selbst zu erhal- ten und die eigene Macht zu mehren, so wie in den Vorstellungen, die sich in dieser Richtung erzeugen, mehr gedacht, als in diesen Praemissen liegt. Es sind darin die Zwecke des individuellen Lebens vorausgesetzt, und erst dadurch bekommt der Ausdruck, dafs jedes Ding, soweit es in sich ist, in seinem Wesen zu beharren strebe, wirkliche Bedeutung.

Spinoza sagt in derselben Richtung (eth. IV. def. 8): Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe, d.h. die Tugend, inwiefern sie auf den Menschen bezogen wird, ist das Wesen des Menschen selbst, inwiefern er die Macht hat, einiges zu bewirken, was allein aus den Gesetzen seiner Na- tur kann verstanden werden (*). In demselben Sinne setzt Spinoza (eth. IV, 37. schol. 1) die wahre Tugend, welche nichts anders ist, als allein nach der Vernunft leben, in das, was die Natur des Menschen selbst und zwar in sich allein betrachtet, fordert (?). Wenn es das Princip des Spinoza ist, alles aus der Einen Substanz zu verstehen: so macht sich hier das entgegen- gesetzte geltend, etwas aus dem Theil als solchem, aus den Gesetzen der Natur des Menschen allein zu verstehen. Der Theil ist nun nicht mehr blos in der Betrachtung da; er ist etwas in sich. Aber wie er dies sein könne, hat Spinoza nicht gesagt. Wenn das Endliche determinirt und alle Deter- mination Verneinung ist, so liegt dennoch in dem determinirten Wesen, wie es da erscheint, wo allein aus den Gesetzen der eigenen Natur Wirkungen sollen begriffen werden, etwas Positives, das über die blofse Schranke hin-

(') Cartesius war einer der ersten, der das Gesetz der Trägheit für Ruhe und Bewegung der Körper aussprach; Spinoza überträgt es auf die Strebungen der Seele. Vgl. Cartes. prin- cip. philos. I, 37”. Harum prima est (lex naturae), unamquamque rem, quatenus est simplex et indivisa, manere quantum in se est in eodem semper statu nec unqguam mutari nisi a causis ex- ternis. vgl. Spinoz. princ. philos. Cartes. II, 14, wo auch der Ausdruck Übereinstimmung mit eth. III, 6. zeigt.

(2) eth. IV. def. 8. Per virtutem et potentiam idem intelligo, hoc est, virtus, quatenus ad hominem refertur, est ipsa hominis essentia seu natura, quatenus potestatem habet, quaedam efficiendi, quae per solas ipsius naturae leges possunt intelligi.

(3) eth. IV, 37. schol. quae ipsa ipsius natura in se sola considerata postulat.

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ausgeht. Spinoza setzt hier, ohne abzuleiten. Es kommt auf den Grund der Unterscheidung an, der, wenn die wirkende Ursache nicht genügt, um die Thatsache des Organischen zu begreifen, auf einen die Determination be- stimmenden Gedanken und damit auf jene Teleologie führen wird, welche der Grundgedanke des Spinoza nicht verträgt. Um die Lücke auszufüllen, mufs man an dieser Stelle stillschweigend die Vorstellung des zweckbe- stimmten Lebens unterschieben.

Wenn es das Wesen des Zweckes ist, dafs aus dem Ganzen die Be- stimmung der Theile und nicht aus den Theilen die Bestimmung des Gan- zen genommen wird: so begegnen wir bei Spinoza auch diesem Kennzeichen des verborgen zum Grunde liegenden Zweckes. Die Lust z. B., die an sich gut ist, da sie entsteht, wenn das Wesen zu höherer Vollkommenheit über- geht, wird aus dem Ganzen heraus gemäfsigt; denn die Lust des Theils, z.B. Kitzel, Liebe und Begierde, kann die Thätigkeiten des Ganzen hin- dern oder besiegen (eth. IV, 43. 44 und eth. IV. app. c.30). In derjenigen Lust, in welcher kein Übermafs möglich ist, in der Ailaritas, müssen sich alle Theile des Körpers gleichmäfsig verhalten (eth. IV, 42. vgl. TII, 11. schol. eth. IV. app. c.30). Solche Betrachtungen haben erst im Sinne des Zweckes volle Wahrheit (vgl. eth. IV, 60).

Wenn in diesem Zusammenhang mitten im Grunde der Dinge der Zweck mitarbeitet, so bestimmt der Gedanke die Ausdehnung, das Eine At- tribut das andere was mit der Grundvoraussetzung streitet.

Im Streben der Selbsterhaltung zieht die Seele Vorstellungen an und stöfst Vorstellungen ab, um darin ihre Macht zu behaupten oder zu meh- ren; sie thut es, indem sie nur sich sucht. In diesem selbstsüchtigen Stre- ben werden alle Vorstellungen einseitig; sie haben kein anderes Mafs als den Bezug auf die Lust oder Unlust des Eigenlebens und keinen andern Zweck, als die Seele in diesem Streben der Selbstbehauptung zu befestigen. Die Vorstellungen stehen mit den leidenden Zuständen in dieser Wechsel- wirkung. Sie werden von ihnen hervorgetrieben und treiben sie ihres Theils weiter. Der Mensch geräth auf diese Weise unfehlbar in die Knechtschaft seiner Affecte.

Spinoza löst diesen Bann, der durch die imaginirende Vorstellung mächtig ist, durch das intelligere, durch welches der Mensch allein Herr- schaft über die Affecte gewinnt. Es mufs daher hier, wenn oben das ima-

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. lo

ginari und intelligere von der theoretischen Seite als Quelle des falschen und wahren Urtheils betrachtet wurde, derselbe Gegensatz als Grund des unfreien und freien, des leidenschaftlichen und vernünftigen Handelns un- tersucht werden. Wir müssen dabei auf einige allgemeinere Verhältnisse zurückgehen, und zwar zunächst auf Spinoza’s Begriffsbestimmungen des Willens.

Cartesius hatte in den Meditationen den Grund des Irrthums darin gesucht, dafs der Wille, weiter als der Verstand, über diesen übergreife und da bejahe, wo der Verstand verneinen sollte und umgekehrt. Dagegen richtet Spinoza den Satz, dafs Wille und Verstand eins und dasselbe sind. Sie sind nicht eigene Vermögen, sondern von den einzelnen Thätigkeiten des. Wollens und Denkens nicht verschieden. Beide fallen zusammen; und wollen ist nichts anders als bejahen und verneinen. Jede Vorstellung, z.B. die Vorstellung eines Dreiecks, schliefst Bejahungen und Verneinungen ein; und es giebt im Geiste kein Wollen, oder was dasselbe ist, keine Bejahung und Verneinung

8 enthält ('). Von dieser Bestimmung, welche das Wollen in Bejahung und

aulser derjenigen, welche die Vorstellung als Vorstellung

Verneinung verwandelt, hängt viel ab. Denn darnach mufs die richtige Vor- stellung auch den richtigen Willen nach sich ziehen oder vielmehr ist die richtige Vorstellung schon an sich der richtige Wille. In demselben Sinne wird gelehrt, dafs der Geist so weit thätig ist, als er adaequate Vorstellun- gen und so weit leidend, als er inadaequate hat (?). Unsere Freiheit, heifst es an einer andern Stelle übereinstimmend (?), besteht nicht in Zufälligkeit oder Unentschiedenheit, sondern in einer Weise des Bejahens und Vernei- nens; und wir sind desto freier, je weniger unentschieden wir eine Sache bejahen oder verneinen.

Indessen ist die Begründung des Satzes, dafs wollen nur bejahen und verneinen sei, sehr mangelhaft. Es wird nur von der theoretischen Vorstel- lung z. B. des Dreiecks nachgewiesen, dafs sie nothwendig Bejahungen und Verneinungen in sich schliefst, welche ohne die Vorstellungen nicht gedacht werden können. Es wird gar nicht erwogen, ob die Sache da nicht anders

(') eth. II, 48. schol. und 49. demonstr. (Seth: IA:

(?) epist. 34. p.568 sq. .... adeo ut, quo rem aliguam minus indifferenter affırmamus aut

negamus, eo liberiores simus.

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sei, wo der Mensch sich praktisch verhält, z. B. in den Trieben, in welchen die Vorstellung nicht selten erst das Zweite ist. Ja, Spinoza sagt ausdrück- lich, er wolle unter Willen nur das Vermögen zu bejahen und zu verneinen verstehen, nicht aber die Begierde, wornach der Geist die Dinge erstrebt oder verabscheuet (!). Wenn die Bedeutung auf diese Weise eingeschränkt und die Begierde ausgeschlossen wird, deren Macht man offenbar mit im Sinne hat, wenn man dem Denken das Wollen entgegen setzt: so ist der Beweis überflüssig. Die Identität ist dann vorweg genommen. Es wird hier- nach, wenn man auf die Begründung sieht, das Gebiet, auf welchem der Satz gilt, enger begrenzt; und er mag hinreichen, um auf dem rein theore- tischen Gebiete die Erklärung des Irrthums, die Cartesius gab, zu wider- legen, aber nicht um das Verhältnifs von Vorstellen und Begehren zu er- ledigen.

An einer andern Stelle wird daher der Wille anders gefafst. Zwar wird er aus den klaren oder verworrenen Vorstellungen abgeleitet, aber doch erst, inwiefern daraus dem Geiste das Streben entsteht, sich in seinem Sein zu erhalten (eth. III, 9). Wenn dies Streben, wird hinzugesetzt, auf den Geist allein bezogen wird, heifst es Wille (voluntas); wenn auf den Geist und Leib zugleich, Begehren (appetitus), welches durchaus nichts an- ders ist, als das Wesen des Menschen selbst, aus dem nothwendig folgt, was zur Selbsterhaltung dient, so dafs der Mensch dadurch gerade dies zu thun bestimmt wird. Wir begehren nichts, weil wir es für gut halten, sondern wir halten es für gut, weil wir es begehren (?). An dieser Stelle ist nicht die Bejahung und Verneinung der Vorstellung das Erste, sondern das indi- viduelle Wesen, das sich selbst behauptet. Aus seinem Grunde stammt das

(!) eth. II, 48. schol. .... notandum, me per voluntatem affırmandi et negandi facultatem, non autem cupiditatem intelligere; facultatem, inquam, intelligo, qua mens, quid verum quid- ve falsum sit, affırmat vel negat, et non cupiditatem, qua mens res appetit vel aversatur.

(2) eth. III, 9. Mens tam quatenus claras et distinetas, quam quatenus confusas habet ideas conatur in suo esse perseverare indefinita quadam duratione et huius sui conatus est conseia. .... Hic conatus cum ad mentem solam refertur, voluntas appellatur; sed cum ad mentem et corpus simul refertur, vocatur appetitus, qui proinde nihil aliud est, quam ipsa hominis essen- tia, ex cuius natura ea, quae ipsius conservationi inserviunt, necessario sequuntur, atque adeo homo ad eadem agendum determinatus est. .... Constat itaque ex his omnibus, nihil nos co- nari, velle, appetere, neque cupere, quia id bonum esse iudicamus; sed contra nos propterea aliquid bonum esse iudicare, quia id conamur, volumus, appetimus atque cupimus.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 315

Begehren, das die Einheit des Leiblichen und Geistigen ausdrücken soll, während der Wille nur ein Ausdruck desselbigen im Denken ist; dafs wir etwas für gut halten, ist insofern nur die Folge unsers Begehrens.

Wäre der Wille nichts anders als Bejahung und Verneinung der Er- kenntnifs, so müfste die wahre Erkenntnifs zugleich der wahre Wille sein, gegen den es keinen Widerstand gäbe. Aber Spinoza lehrt selbst (eth. IV, 14): Die wahre Erkenntnifs des Guten und Bösen, inwiefern sie wahr ist, kann keinen Affeet einschränken, sondern nur inwiefern sie als Affeet be- trachtet wird, d. h. inwiefern sie unser eigenes Sein angeht und also die Empfindung der Lust oder Unlust in sich trägt (!). Wenn man tiefer blickt, so wird dadurch von Neuem auf den Grund des individuellen Seins hinge- wiesen, der sich in Lust und Unlust äufsert. Der Wille wurzelt nicht blos in der Bejahung und Verneinung der Vorstellung, wie die Theorie wollte, sondern wesentlich auch in diesem Grunde, der indessen, wie wir sahen, aus Spinoza’s Praemissen nicht folgt.

In dem Sinne, dafs Verstand und Wille dieselben sind, wird ferner die Befreiung von den Affeeten in den Verstand, das intelligere gesetzt. Wie sich die Gedanken und Vorstellungen der Dinge im Geiste ordnen und ver- ketten, genau so ordnen sich oder verketten sich die Affectionen des Kör- pers oder die Bilder der Dinge im Körper. Denn die Ordnung und Ver- knüpfung der Dinge ist dieselbe, als die Ordnung und Verknüpfung der Vorstellungen (?). Da nun der Affect als leidender Zustand eine verwor- rene Vorstellung ist, so hört er auf ein leidender Zustand (passio) zu sein, sobald wir uns von ihm eine klare und deutliche Vorstellung bilden (3). Wir haben so lange die Macht, nach der Ordnung des Verstandes die Affectionen des Körpers zu ordnen und zu verketten, als wir nicht von Affecten, die das Denken verhindern, bewegt werden (eth. V, 10).

Offenbar sucht Spinoza in dem intelligere eine Macht zu gründen, die

5 der Mensch in seiner Hand habe, um die Affecte, wenn nicht aufzuheben,

(') eth. IV, 14. Vera boni et mali cognitio, quatenus vera, nullum affectum coercere po- test, sed tantum quatenus ut affeetus consideratur. vgl. IV, 7.

(2) eth. V,1. Prout cogitationes rerumque ideae ordinantur et concatenantur in mente, ita corporis alfectiones seu rerum imagines ad amussim ordinantur et concatenantur in corpore.

(%) eth. V, 3. Affectus, qui passio est, desinit esse passio, simulatque eius claram et distin- ctam formamus ideam.

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doch zu mildern ('). Aber nach dem Grundgedanken giebt es von der Seele zum Leibe, vom Denken zur Ausdehnung und umgekehrt keinen Causal- nexus. Jener Satz, dafs die Ordnung und der Zusammenhang der Vorstel- lungen derselbe ist, als die Ordnung und der Zusammenhang der Dinge, soll nach der Ableitung (eth. II, 7) nicht eine Wirkung des Einen auf das Andere bezeichnen, sondern vielmehr dafs sie ohne Zusammenhang unter einander nur zwei gleiche Ausdrücke Eines und desselbigen sind. Von die- sem innern Punkt der Einheit ordnet sich daher beides zugleich, und es ist dem Grundgedanken entgegen, dafs das intelligere etwas ordne oder dals wir das Eine nach dem andern ordnen. Wenn man auf die Sache sieht, und nicht auf den die Sache hie und da verhüllenden Ausdruck, so empfängt hier das intellisere an und für sich betrachtet, die mens in se sola conside- rata, eine in das Leibliche übergreifende Kraft. Spinoza darf auch eigent- lich nicht von Affectionen des Körpers sprechen, welche das Denken hin- dern, wie er es doch thut (eth. V, 10. dem.). Wo Spinoza die Macht der leidenden Zustände darstellt (B.3 und 4) und dabei immer den Körper und seine Kraft thätig zu sein als die durchgehende Voraussetzung und das The- ma der Affecte festhält: da hilft derselbe Satz der Einheit, das Geistige dem Materiellen gleich zu setzen (vgl. z.B. eth. III, 2. schol.). Hier wird er um- gekehrt angewandt, um dem intelligere eine Macht über die leidenden Zu- stände des Leibes zu verleihen.

Daher geht von diesem Punkte ein Schwanken aus. In der Betrach- tung der frühern Bücher überwiegt die blind wirkende Ursache des Leib- lichen, die sich von selbst in der Vorstellung wieder spiegelt, in dem fünften Buche überwiegt hingegen die Einsicht in diese wirkende Ursache; in jenen ist die Vorstellung, der Ausdruck im Denken, nur ein Zweites und Folgen- des; in diesem sind die leiblichen Affectionen, die sich nach der Einsicht ordnen, ein solches Consequens. Beides fällt von dem allgemeinen Grund- gedanken ab.

Aber die Sache ist auch im Einzelnen schwierig, wenn man nämlich darauf sieht, wie diese Einsicht geschehe. Der Geist kann bewirken, lehrt Spinoza, dafs alle Affectionen des Körpers oder Bilder der Dinge auf Got- tes Vorstellung zurückgeführt werden; denn es giebt keinen Zustand des

(') eth. V, 20. schol. quod mens in se sola considerata adversus affectus potest.

über Spinoza'’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 37,

Körpers, von dem wir nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden kön- nen (eth. V, 14. vgl. V,4) (!). Wenn wir unsere Affecte klar und deutlich einsehen, so freuen wir uns und diese Freude ist von der Vorstellung Gottes begleitet— welches der Ursprung der Liebe zu Gott ist.

Jene Zurückführung auf die Vorstellung Gottes, die Betrachtung un- ter der Form des Ewigen, ist, wie oben erhellte, in ihrem Grunde die Er- kenntnifs des Nothwendigen. Es ist daher eine grolse Verheifsung, dafs der Geist alle Affectionen des Körpers klar und deutlich einsehen und in ihrer Nothwendigkeit begreifen könne. Woher nähme er zu einer solchen vollen- deten Erkenntnifs des Leiblichen die Mittel, zumal sie erst mit der vollende- ten Erkenntnifs der ganzen Natur möglich wäre? Die Erfahrung zeigt uns hier überall Schranken, an deren Erweiterung das Menschengeschlecht fort und fort arbeitet. Welche Mittel weist denn Spinoza zu einer solchen Er- kenntnifs nach? Vergebens betrachten wir den Beweis jener Sätze. Spinoza geht darin über metaphysische Allgemeinheiten nicht hinaus, die noch dazu so dürftig bleiben, wie der begründende Satz, dals, was allen gemeinsam sei, also der Körper, nur adaequat gefalst werden könne. Man vergleiche den Beweis des vierten Lehrsatzes im fünften Buch und die dabei zu Hülfe gezogenen Sätze eth. II, 12 und lemma 2 nach II, 13. Die reale Möglich- keit, der Weg einer solchen Erkenntnifs ist dort mit keiner Silbe angedeu- tet. Wenn es auch in Gott eine solche Erkenntnifs giebt und der mensch- liche Geist ein Theil des unendlichen Verstandes Gottes ist: so hat man dadurch doch keine Einsicht in den Vorgang, durch welchen die verworrene Vorstellung, die den leidenden Zustand ausmacht, in die klare und deut- liche verwandelt, das Leibliche auf Gott zurückgeführt, und das Endliche und Zufällige von der Substanz aus erkannt werde (?).

(!) eth. V, 14. Mens efficere potest, ut omnes corporis affectiones seu rerum imagines ad dei ideam referantur; welches auf den Satz zurückgeht V, 4: Nulla est corporis affectio, cuius aliquem clarum et distinetum non possumus formare conceptum.

(2) Damit man sich überzeuge, wie auch in diesem wichtigsten Punkt, dem Ursprung der intelleetualen Liebe, die Sache nur formal gehalten ist, heben wir die Momente heraus, auf welche Spinoza zurückweist. Zu dem Satz eth. V,4 Nulla est corporis affectio, cuius aliquem clarum et distinetum non possumus formare conceptum wird als Beweis hinzugefügt: Quae omnibus communia sunt, non possunt concipi nisi adaequate; vgl. II, 38. ılla, quae omnibus communia quaeque aeque in parte ac in toto sunt, non possunt concipi nisi adaequate; und

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Das intelligere ist noch nach einer andern Seite thätig, indem es den Trieb der Selbsterhaltung über das Eigenleben hinausführt und die Begriffe der sittlichen Gemeinschaft gründet. Dies geschieht auf folgende Weise (1).

Die wirkende Ursache, die bei Spinoza allein berechtigte Betrach- tung, falst sich, wenn wir sie auf das Wesen des Einzelnen beziehen, in der Macht (potentia) eines jeden zusammen. Indem jeder in seinem Sein zu be- harren strebt, welches das durchgängige und unbedingte Naturgesetz des Menschen ist trachtet er diese Macht zu mehren und alles, was sie min- dert, auszuschliefsen. Seine Macht ist sein Recht. Aber die Macht wächst durch Vereinigung. Wenn sich z. B. zwei Individuuen derselben Natur zu- sammen verbinden, so bilden sie ein Individuum doppelt so mächtig als der Einzelne. Daher können die Menschen, um ihr Sein zu behaupten, nichts Besseres wünschen, als eine solche Übereinstimmung aller in allem, dafs al- ler Geister und Leiber gleichsam Einen Geist und Einen Leib bilden und alle zusammen nach dem gemeinsamen Nutzen aller streben. Was Eintracht erzeugt, erzeugt grölsere Macht und ist das was zur Gerechtigkeit, Billigkeit und Sittlichkeit gehört. Es folgt daraus, dafs vernünftige Menschen d.h. Menschen, welche vernünftig ihren Nutzen suchen, nichts sich selbst begeh- ren, was sie nicht auch andern wünschen und dafs sie eben deswegen ge- recht, treu und rechtschaffen sind (*). Die Selbsterhaltung und der eigene

daraus wird jener Satz durch die blofse Rückbeziehung auf eth. II, 12 und das darauf folgende lemma 2 geschlossen. Dieses bietet nur den Satz: omnia corpora in quibusdam conveniunt; jene propositio lautet: quidquid in obiecto ideae humanam mentem constituentis contingit, id ab humana mente debet percipi sive eius rei dabitur in mente necessario idea, hoc est, si ob- iectum ideae humanam mentem constituentis sit corpus, nihil in eo corpore poterit contingere, quod a mente non percipiatur, was zuletzt wiederum zurückgeführt wird auf jenes allge- meine (II, 7) ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum. Erst wenn der Körper dem Geiste durchsichtig würde, erfüllte sich diese metaphysische Verheilsung. Und doch kommt jene selige Beruhigung (acquiescentia) des Geistes immer darauf zurück, das Wesen des Körpers unter der Form der Ewigkeit aufzufassen, eth. V, 29. vgl. V, 31. demonstr. Mens nihil sub aeternitatis specie concipit, nisi quatenus sui corporis essentiam sub aeternitatis spe- cie concipit. Soll die ethische Befreiung von der Einsicht in das Naturgesetz des Körpers ab- hängen, so ist der Weg dazu in Wahrheit lang, und Spinoza’s metaphysischer Sprung erreicht das Ziel nicht.

(‘) vgl. eth. IV, 15 ff. p. 215 ff. tractat. theolog. polit. e.16. p.359 ff. tractat. polit. c. 2. p- 306 ff. epist. 50.

(2) Dieser Grund des Sittlichen wird mit obigen Worten bezeichnet eth. IV, 18. schol.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 319

Nutzen bleibt hiebei die Grundlage; denn da Tugend Macht ist, so kann es keine Tugend geben, die früher wäre, als dieser Trieb der Selbsterhaltung. Der erkennende Geist sucht ebenso in seinem Sein zu beharren (!), und es ent- springen daher aus der Erkenntnifs neue Strebungen. Das intelligere wird das Mafs des Guten und Bösen; und es folgt daraus, dafs das höchste Gut allen gemeinsam ist (eth. IV, 36. schol.). Wenn erkannt wird, dafs die Überein- kunft aller in allem die Macht verstärkt, so wird der Vernünftige dahin stre- ken, dafs die Menschen keinen Leidenschaften unterworfen sind; denn durch die Leidenschaften sind sie einander feindlich; er wird folglich die Leiden- schaften auch in sich selbst bekämpfen (eth. IV, 32). Inwiefern daher die Menschen vernünftig leben, thun sie insofern nothwendig das, was der menschlichen Natur überhaupt und daher jedem Menschen nothwendig ist d.h. was mit der Natur eines jeden Menschen übereinstimmt (eth. IV, 35. demonstr.). Wenn nun die Triebe und Strebungen nicht aus verworrenen Vorstellungen entstehen, sondern von adaequater Erkenntnifs erzeugt wer- den, so sind sie keine leidende Zustände, sondern werden der Tugend zu- gerechnet (?). Auf diese Weise folgen Handlungen aus solchen Affecten, welche auf den Geist, insofern er Einsicht hat, zurückgeführt werden und Spinoza begreift Handlungen dieser Art mit dem Namen der Seelenkraft (fortitudo) und theilt dieselbe in muthige und in edele Gesinnung (animosi- tas und generositas). Unter muthiger Gesinnung (animositas) versteht er das Bestreben, wodurch jeder sein Wesen nur nach der Vorschrift der Vernunft zu behaupten trachtet; unter edeler Gesinnung (generositas) das Bestreben, wodurch ein jeder nur nach der Vorschrift der Vernunft andere zu unter- stützen und sich zu Freunden zu machen trachtet. Die Handlungen, welche

p- 216. vgl. eth. IV. append. c.15. p. 262. Quae concordiam gignunt, sunt illa, quae ad iusti- tiam, aequitatem et honestatem referuntur. Spinoza setzt in die Bestimmung, welche von die- ser Einsicht ausgeht, das ex duczu rationis vivere. Denn es ist im Unterschied von jener hö- hern intuitiven Erkenntnils, welche von der Anschauung der Substanz und ihrer Attribute aus- geht, und von jener sinnlichen Erfahrung des Einzelnen, welche unbestimmt und verworren ist, Sache der ratio, richtige Gemeinbegriffe zu haben. eth. II, 40. schol. 2.

(') eth. IV, 26. demonstr. hic intelligendi conatus primum et unicum yirtutis funda- mentum.

(2) eth. V, 4. schol. Appetitus seu cupiditates eatenus tantum passiones sunt, quatenus ex ideis inadaequatis oriuntur, atque eaedem virtuti accensentur, quando ab ideis adaequatis exci- tantur vel generantur.

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unter dieser Bedingung allein den Nutzen des Handelnden bezwecken, ge- hören hiernach der muthigen Gesinnung (animositas) an, welche aber den Nutzen des andern bezwecken, der edeln Gesinnung (generositas), Mäfsig- keit z. B., Geistesgegenwart u. s. w. sind Arten der erstern; Bescheidenheit, Güte u. s. w. Arten der leiztern (!). Die Tugend kann dieselbe Aufsenseite haben, wie ein leidender Zustand, der lediglich aus dem Streben der Selbst- behauptung entspringt; aber sie ist im Grunde verschieden. Z. B. aus dem Naturgesetz, dafs wir ein Wesen nicht hassen können, das wir bemitlei- den (eth. II, 27. cor.2), folgt die natürliche Grofsmuth eines Mächtigen, inwiefern er mehr Grund hat, einen Schwachen zu bemitleiden, als zu has- sen. Aber von dieser natürlichen Grofsmuth, die aus entgegengesetzten Strebungen entsteht, ist die edle Gesinnung der Grofsmuth verschieden, die aus der Einsicht (dem intelligere) stammt. Auf diese Weise gewinnt Spi- noza, dem alle Tugend in selbstsüchtige Selbsterhaltung zu entweichen drohte, die Tugend wieder, die nun ihren Ursprung im intelligere hat und zwar in der Erkenntnifs, dafs durch Vereinigung die menschliche Macht wachse und für die Vereinigung nur das zu erstreben sei, was mit der menschlichen Natur überhaupt übereinkomme. In diesem Allgemeinen hat die Selbsterhaltung eine höhere Richtung.

Wenn es nun darauf ankommt, das zu thun, was mit der menschli- chen Natur überhaupt übereinstimmt, und wenn darauf allein die Vernunft hingeht : so ist der allgemeine Begriff des Menschen das Vorbild, dem wir uns nähern müssen, der Zweck, dem wir nachstreben. Von hier aus kehrt die von Spinoza verworfene Endursache (causa finalis) dennoch in die Be- trachtung zurück (?). Daher finden sich bei Spinoza solche Ausdrücke, wie

(') eth. III, 59. schol. Omnes actiones, quae sequuntur ex affeetibus, qui ad mentem refe- runtur, quatenus intelligit, ad fortitudinem refero, quam in animositatem et generositatem distin- guo. Nam per animosilatem intelligo cupiditatem, qua unusquisque conatur suum esse ex solo rationis dictamine conservare. Per generositatem autem eupiditatem intelligo, qua unusquisque ex solo rationis dietamine conatur religuos homines iuvare et sibi amicitia iungere. Eas ilaque actiones, quae solum agentis utile intendunt, ad animositatem, et quae alterius eliam utile inten- dunt, ad generositatem refero. Temperantia igitur, sobrietas et animi in periculis praesentia etc. animositatis sunt species; modestia autem elementia etc. species generositatis sunt.

(2) Nachdem Spinoza in der Vorrede zum 4“ Theil der Ethik den Zweck und die Muster- bilder der Dinge und darnach Vollkommenheit und Unvollkommenheit, gut und böse für blofse Weisen des Vorstellens erklärt hat, sagt er p.202 einlenkend: Verum quamyis res ita se habeat,

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 3

diese, dafs es des vernünftigen Menschen letzter Zweck sei, sich und die Dinge, die Gegenstand seines Denkens sind, adaequat aufzufassen (eth. IV. append. c. IV. p. 260), oder es sei der Zweck die Erkenntnil[s der Einheit, welche der Geist mit der ganzen Natur habe (de intell. emend. p-417), oder es sei der Zweck des Staates Friede und Sicherheit (tractat. polit. V. c. 2. p- 329).

Man darf indessen diese Ausdrücke nicht anders nehmen, als der strenge Sinn des Ganzen zuläfst. Der Zweck ist nur ein anderer Name für die wirkende Ursache des Begehrens und Verlangens.

Bei Spinoza giebt es nur die Nothwendigkeit der wirkenden Ursache. Was geschieht, hat ein Recht, zu geschehen. Gut und böse liegt nur in un- serer Vorstellung (!). Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Sünde und Ver- dienst sind äufserliche Begriffe, aber keine nothwendigen Figenschaften, welche die Natur des Geistes erklären (?). Die Strebungen, welche aus der Vernunft entspringen und die Begierden, welche sich aus andern Ursachen in uns erzeugen, sind insofern nicht verschieden, als diese, wie jene, Wir- kungen der Natur sind und die natürliche Kraft darstellen, wodurch der Mensch in seinem Wesen zu beharren trachtet (°).

Wir können daher folgerecht die Sache nur so fassen. Spinoza will das Naturgesetz (potentia) und darnach ist alles oder nichts gut; gut und übel sind nur Weisen des Denkens und blofse Vergleichungen. Die durch

nobis tamen haec vocabula retinenda sunt. Nam quia ideam hominis, tanquam naturae humanae exemplar, quod intueamur, formare cupimus, nobis ex usu erit, haec eadem vocabula eo quo dixi sensu retinere. Per bonum itaque in sequentibus intelligam id, quod certo scimus, medium esse, ut ad exemplar humanae naturae, quod nobis proponimus, magis magisque accedamus. Per malum autem id, quod certo scimus impedire, quo minus idem exemplar referamus.

(') eth. IV. praef. p. 202. Bonum et malum quod attinet, nihil etiam positivum in rebus, in se scilicet consideratis, indicant, nec aliud sunt praeter cogitandi modos, seu notiones, quas formamus ex eo, quod res ad invicem comparamus.

(2) eth. IV, 37. schol. 2. p. 233.

(3) tractat. polit. c.2. $.5. p.308. ...nullam hie agnoscere possumus differentiam inter cupiditates, quae ex ratione et inter illas, quae ex aliis causis in nobis ingenerantur: quando- quidem tam hae quam illae effectus naturae sunt vimque naturalem explicant, qua homo in suo esse perseverare conatur. Vgl. epist. 36. p. 56/4, besonders p.566. eth.IV. append. c. 6. p. 260. omnia illa, quorum homo efhieiens est causa, necessario bona sunt. tractat. polit. e. 2. $.18. p- 314. homines maxime appetitu sine ratione ducuntur, nec tamen naturae ordinem pertur- bant, sed necessario sequuntur.

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Vereinigung verstärkte Macht, woraus dem Spinoza die sittlichen Begriffe fliefsen, wirkt ebenso und zwar indem sie vorgestellt wird, als Naturgesetz, und daraus entstehen in der Vorstellung Begriffe, wie gut und böse, Zweck, Vorbild (finis, exemplar) (!). Sie wirken nothwendig und als Naturgesetze; aber wo sie nicht wirken, ist dies auch nur nach Naturgesetzen geschehen. Recht und Unrecht entspringen daher erst aus den bürgerlichen Gesetzen, die wiederum wirken, indem sie sich an das Naturgesetz der Affecte, die Furcht, wenden (?).

Spinoza’s intelligere ist nach dieser sittlichen Seite nur Einsicht in die durch Vereinigung verstärkte Macht und in das, was nothwendig folgt, wenn diese gewollt wird. Es ist eine Art jenes allgemeinen intelligere, jener Ein- sicht in die Nothwendigkeit der Natur überhaupt, welcher auf der höchsten Stufe die intellectuale Liebe Gottes folgt.

Die Macht bleibt, wenn auch die Verstärkung der Gesichtspunkt wird, immer der treibende Grund. Die sittlichen Begriffe folgen erst aus dieser Quelle; sie haben nicht an und für sich Werth, sondern nur um der zu ver- stärkenden Macht willen (ex accidente); die Gerechtigkeit z. B. nicht an sich, sondern nur um der Eintracht willen, die stark macht. Die Leiden- schaften, aus inadaequaten Vorstellungen entspringend, stellen nicht die Macht, sondern die Ohnmacht des Geistes dar (eth. IV, 32). Wir müssen in andern die Leidenscheften dämpfen, weil Leidenschaften Leidenschaften er- regen und daher durch Entzweiung die Macht theilen.

Dieser sittliche Grund der Macht hat übrigens, wenn man prüft, wel- ches Gewicht er tragen kann, in vielen Fällen eine zweifelhafte Stärke; denn er kann nur nach seiner eigenen Richtung in den Köpfen wirken. Wenn es allein auf die Macht ankommt, so fragt es sich, wie diese zu erreichen sei, welches lediglich eine Frage der äufsern Zweckmäfsigkeit ist. Wer den Feind todtschlägt, kann dabei in gegebenen Fällen leichter zum Ziel kommen, als wer ihn anerkennt und gegen ihn gerecht ist. Auf den Grund, die Verstär- kung der Macht, wird sich daher ebenso gut Ungerechtigkeit, als Gerechtig- keit reimen lassen. Spinoza will dies freilich nicht. Vielmehr beweist er

(?) Diese Auffassung stimmt mit der Weise überein, wie Spinoza (eth. IV. praef.) die Ent- stehung des Zweckbegriffs in der menschlichen Vorstellung erklärt. (2) eth. IV, 37. schol. 2. p. 231 ff. tractat. polit. c. 2. $ 21.

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 323

(eth. IV, 72), dafs ein freier Mensch, selbst nicht um sein Leben zu erhal- ten, treulos sein würde. Aber er beweist es aus einem Grunde, welcher von der durch die Vereinigung verstärkten Macht sich schon entfernt und den Menschen einem Allgemeinen unterwirft, das tiefer geht, als das Motiv der Macht und der Selbsterhaltung. Wenn die Vernunft es Einem gestattete, sagt Spinoza, so würde sie es allen gestatten, dann gäbe es aber keine ge- meinsamen Rechte mehr (!). In dieser Begründung sind die gemeinsamen Rechte die feste Voraussetzung, die mehr gilt und höher steht, als das Prin- cip selbst, die Erhaltung des eigenen Seins. Spinoza hat allerdings in seinen sittlichen Begriffen eine edele Richtung; aber sollen sie Halt haben und fest werden, so müssen sie in dem menschlichen Wesen ursprünglicher ge- gründet sein, als in der berechnenden Klugheit der sich durch sie verstär- kenden Macht.

Die berechnende Klugheit ist im Innern selbst da die bewegende Seele, wo nach aufsen die reinste Vorschrift der edelsten Ethik erreicht wird. So lehrt z. B. Spinoza (IV, 46), wer vernünftig lebe, der suche des andern Hafs und Zorn und Verachtung gegen ihn durch Liebe und Edel- sinn auszugleichen; aber er beweist den Satz lediglich aus dem eigenen Nutzen der Selbsterhaltung. Wer vernünftig lebe, werde dahin streben, dafs er nicht von der Leidenschaft des Hasses beunruhigt werde, und folglich werde er dahin streben, dafs auch kein anderer diesen Leidenschaften er- liege (*).

Der sittliche Werth wird nur an der durch die Vereinigung sich ver- stärkenden Macht gemessen; und das Sittliche wird für diesen Zweck zum Mittel.

(1) eth. IV, 72. homo liber nunquam dolo malo, sed semper cum fide agit. schol.: Si iam quaeratur, quid si homo se perfidia a praesenti mortis periculo posset liberare, an non ra- tio suum esse conservandi omnino suadet, ut perfidus sit? Respondebitur eodem modo, quod si ratio id suadeat, suadet ergo id omnibus hominibus, atque adeo ratio omnino suadet homi- nibus, ne, nisi dolo malo, paciscantur, vires coniungere et iura habere communia, hoc est, ne revera iura habeant communia, quod est absurdum.

(2) eth.IV,46. Qui ex ductu rationis vivit, quantum potest, conatur alterius in ipsum odium, iram, conlemtum amore contra sive generositate compensare. Im Beweis wird gesagt: cona- bitur effhicere, ne odii affectibus conflictetur et consequenter conabitur, ne etiam alius eosdem patiatur affectus. Dabei wird eth. IV, 37 angeführt, ein Satz, der auch nur auf dem Nutzen beruht.

Ss?

324 TRENDELENBURG

Der Grundbegriff des Staates ist hiernach die Eintracht. Die Ge- setze dingen dem Eigennutz und den Leidenschaften des Einzelnen so viel ab, um diesen Begriff der durch Vereinigung wachsenden Macht zu verwirk- lichen; und setzen dafür die letzten Hebel des mechanisch von dem Druck und Stofs der wirkenden Ursache bestimmten Menschen, nämlich Furcht und Hoffnung, in Bewegung (!). Der höchste Zweck des Staats ist Friede und Sicherheit (?); alle andern Zwecke folgen aus ihm oder liegen neben- bei. Und doch blickt bei Spinoza, den die sittliche Richtung nie verläfst, nicht selten ein tieferer Gedanke durch, der der ursprüngliche sein mülste, statt dafs er kaum aus jener nackten Macht, die verstärkt werden soll, ab- zuleiten ist. So sagt er z. B., zu diesen Rücksichten, die Macht durch Ver- einigung zu vermehren, komme noch hinzu, dafs die Menschen ohne wechselseitige Hülfe kaum das Leben fristen und den Geist ausbilden können (°). Der Staat, sagt Spinoza an einer andern Stelle, dessen Unter- thanen nur aus Furcht nicht die Waffen ergreifen, ist eigentlich nur ohne Krieg, hat aber keinen Frieden. Denn Frieden ist nicht blofse Verneinung des Krieges, sondern eine Tugend, die aus Seelenstärke entspringt; denn Gehorsam ist der beständige Wille das zu thun, was nach dem gemeinsamen Beschlufs des Staates geschehen soll. Spinoza will keinen Frieden, der nur von der Trägheit der Unterthanen abhängt, die, um Knechte zu sein, wie das Vieh gehalten werden. Wenn er den Staat für den besten achtet, in wel- chem Menschen einträchtig leben, so versteht er unter leben ein mensch- liches Leben, welches nicht allein durch den Umlauf des Blutes und andere Dinge, die der Mensch mit den Thieren gemeinsam hat, sondern hauptsäch- lich durch Vernunft, die wahre Tugend und das wahre Leben des Geistes bestimmt wird (*). In Stellen dieser Art wird auf menschliches Leben als

(') tractat. polit. c.3. $ 8. sequitur, quod ea omnia, ad quae agenda nemo praemiis aut minis induci potest, ad iura civitatis non pertineant. vgl. eth. IV, 37. schol. 2. p.232. Es stimmt dies mit der Stelle eines Briefes überein (epist. /9. p. 630), in welcher er die ethischen Conse- quenzen des Determinismus abwendet und darauf hinweist, dals immer Furcht und Hoffnung als das den Menschen Bestimmende übrig bleiben.

(2) tractat. polit. c.5. $ 2. p.329. (finis status cıvilis) nullus alius est, quam pax vitaeque securitas.

(3) tractat. polit. c.2. $ 15. p.313: His accedit, quod homines vix absque mutuo auxilio vitam sustenlare et mentern colere possint.

(*) tractat. polit. c.5. $4u.5. Civitas, cuius subdili metu territi arma non capiunt, po-

über Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. 325

solches alles Gewicht gelegt, so dafs dieses in sich Werth hat und nicht mit jedem Naturgesetz auf Einer Linie steht. Erst auf Umwegen wird dies mit der die Macht mehrenden Eintracht in Zusammenhang zu setzen sein, näm- lich inwiefern die wahre Tugend des Geistes Macht ist und Macht giebt (eatenus Zantum agimus, qualenus intelligimus).

Offenbar wirkt hier ein Zweck, um den besten Staat zu bilden; jene Aufgabe, die Vereinigung unter solche Gesetze zu bringen, dafs mensch- liches Leben als solches möglich sei. Wenn dieser Zweck nicht gemacht, sondern nothwendig ist, so ist er im Wesen des Menschen gegründet; und er käme nie heraus, wenn er ihm nicht ursprünglich zum Grunde läge. Der Staat behauptet sein Wesen, wie der Einzelne, nicht blos, weil er es kann, sondern weil er dazu nach dem Mafs des ihm inwohnenden Zweckes be- rechtigt ist. Spinoza muls in dieser Consequenz anerkennen, dafs es noch ein anderes Recht gebe als die Macht, und wenn er dies anerkennen mufs, so steht er nicht mehr auf seinem Standpunkt, sondern auf dem Stand- punkt seines Gegners, der ursprünglichen Teleologie, in welcher der Ge- danke die Ausdehnung bestimmt und nicht blos ein anderer Ausdruck des- selbigen ist.

Es ist oft und auch oben bemerkt, dafs dem Spinoza ein Princip der Unterscheidung fehlt, welches erst mit einer sich gliedernden Idee gewonnen 2. Die ethische Einsicht,

8 das intelligere im sittlichen Sinne (ex duetw rationis vivere) führt dahin, das

werden kann. Wir finden auch hier die Bestätigun

Besondere, das zwieträchtig macht, aufzuheben und nur das zu suchen, was der menschlichen Natur gemäfs ist oder mit der Natur eines jeden überein- stimmt. Was nun aber jene menschliche Natur überhaupt sei, wird nicht gesagt und wird um so mehr vermilst, da wir sie nach Spinoza sonst nur in dem allgemeinen Naturgesetz der Selbsterhaltung und der dadurch beding-

tius dicenda est, quod sine bello sit, gquam quod pacem habeat. Pax enim non belli privatio, sed virtus est, quae ex animi fortitudine oritur: est namque obsequium constans voluntas id exse- quendi, quod ex communt civitatis decreto fieri debet. Illa praeterea civitas, cuius pax a sub- ditorum inertia pendet, qui scilicet veluti pecora ducuntur, ut tantum servire discant, rectius solitudo quam civitas dici potest. .... Cum ergo dieimus illud imperium optimum esse, ubi homines concorditer vitam transigunt, vitam humanam intelligo, quae non sola sangninis cir- culatione et aliis, gquae omnibus animalibus sunt communia, sed quae maxime ratione, vera men- tis virtute et vita definitur.

326 TRENDELENBURG

ten Affecte kennen. Wenn überall die adaequate Vorstellung sich nur im Allgemeinen bewegt, in demjenigen, was gleicher Weise im Ganzen und im Theil ist: so kann auch im Eithischen, insofern es auf dem intelligere ruht, das Besondere in seiner Eigenthümlichkeit nicht zum Rechte kommen. Dafs bei Spinoza die Unterscheidung fehlt, die aus dem Allgemeinen heraus ge- staltet und die in diesem Falle nur in den Zwecken der menschlichen Natur und ihrer Unterordnung gefunden werden kann, zeigt sich bei Spinoza auch äufserlich. Wo er, wie im Zracialus polilicus, von Verfassungen und Ge- setzen handelt, nimmt er ohne Ableitung Gegebenes auf und verknüpft es für den äufsern Zweck des Bestandes und der Einheit.

Wir haben die theoretische und praktische Seite des intelligere ver- folgt und sahen darin mehrfach den Grundgedanken durchbrochen, indem das Denken eine höhere Bedeutung gewinnt, als dıe ist, in welcher es nur den mit der Ausdehnung gleichlaufenden Ausdruck Einer und derselben Substanz bildet.

Vielleicht tritt dasselbe schliefslich in den Worten hervor, mit wel- chen Spinoza am Ende des vierten Buchs die Ergebnisse zusammenfafst: „Wir sind ein Theil der ganzen Natur, deren Ordnung‘ wir folgen. Wenn wir klar und deutlich einsehen, so wird der Theil von uns, der als Verstand bestimmt wird, d.h. unser besserer Theil, daran Genüge haben und in die- ser Genüge zu verharren trachten. Denn inwiefern wir Einsicht haben, können wir nur begehren, was nothwendig ist, und schlechthin nur im Wah- ren Genüge haben. Inwiefern wir daher dies richtig einsehen, kommt das Bestreben unsers bessern Theils mit der Ordnung der ganzen Natur über- ein” (!). Wo Spinoza sonst den Ausdruck „übereinkommen” (convenire) gebraucht, z. B. wenn er sagt (eth. IV, 31), dafs eine Sache, soweit als sie mit unserer Natur übereinkomme, nothwendig gut sei, bezeichnet er jene Verbindung, welche unsere Macht verstärkt. Schwerlich gilt diese Bedeu- tung hier, da von der Ordnung der Natur die Rede ist. Wenn aber jene

() ‚eth. IV. app. ec. 32.7... nosque partem totius naturae esse, cuius ordinem sequimur. Quodsi clare et distincte intelligamus, pars illa nostri, quae intelligentia definitur, hoc est, pars melior nostri, in eo plane acquiescet et in ea acquiescentia perseverare conabitur. Nam quatenus intelligimus, nihil appetere, nisi id quod necessarium est, nec absolute nisi in veris acquiescere possumus; adeoque quatenus haec recte intelligimus, eatenus conatus melioris par- tis nostri cum ordine totius naturae conyenit.

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 327

Harmonie gemeint wäre, in welche wir mit der Ordnung des Ganzen treten: so liegt dieser Verheifsung eine Einheit in der Entzweiung zum Grunde, welche sonst das Zeichen der durch einen innern Gedanken geforderten Theile ist. Wäre dies der Fall, so schweifte hier Spinoza über seinen Grund- gedanken hinaus.

Sicherlich thut er es in der Bezeichnung des „bessern Theils von uns” (pars melior nostri), die wir bei seiner Richtung auf scharfen und eigent- lichen Ausdruck auch dann nicht für eine Metapher halten würden, wenn sie nicht in anderen Schriften wiederkehrte, z. B. in dem tractatus theolo- gico politicus c.4 ('). Es hängt die Ansicht von einer pars melior nostri mit Spinoza’s Lehre zusammen (eth. V, 23. vgl. V, 49), dafs der menschliche Geist nicht mit dem Leibe schlechthin zerstört werden kann, sondern dafs etwas von ihm übrig bleibt, das ewig ist. Während die Vorstellung in Bil- dern (das imaginari) nur während der Dauer des Leibes möglich ist, hängt das Begreifen (intelligere) davon nicht ab, denn die Beweise (*), die das Nothwendige ergreifen, sind die Augen des Geistes. Aus der Erkenntnifs des Nothwendigen entspringt, wenn sie von der Vorstellung Gottes begleitet wird, die intellectuale Liebe Gottes, welche ewig ist (eth. V, 33), und so- weit diese den Geist ausmacht, ist er ewig (eth. V,39. dem.).

Auf solche Weise wird das intelligere zu einer Macht für sich, zu dem bessern und ewigen Theil unserer selbst. Es tritt darin deutlich die Rich- tung hervor, dem Geiste oder einem Theil desselben nachträglich einen Vor- zug zu geben, welchen die Grundansicht nicht gestattet. Denken und Aus- dehnung, die beiden Attribute, drücken Eine und dieselbe Substanz nur

ec und der Zusam-

verschieden aus. Beide gehen daher parallel. Die Ordnung

menhang der Vorstellungen ist derselbe, als die Ordnung und der Zusam- menhang der Dinge und umgekehrt. Wenn nun der Leib vergangen und ein

Theil des Geistes übrig bleibt, wo ist denn da noch das gleichlaufende Cor- relat in der Ausdehnung? Während früher (vgl. besonders eth. III, 2. schol.) dem Geiste nichts gelassen wird, als dafs er mit dem Körper eine und die-

(!) tractat. theolog. polit. c.4. p.208. cum melior pars nostri sit intellectus etc.

(2) eth. V, 23. schol. At nihilominus sentimus experimurque nos aeternos esse. Nam mens non minus res illas sentit, quas intelligendo concipit, quam quas in memoria habet. Mentis enim oculi, quibus res videt observatque, sunt ipsae demonstrationes.

328 TRENDELENBURG

selbe Sache sei, die bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem Attribut der Ausdehnung aufgefafst werde: so wird nun ein Theil vom Leibe abgetrennt, so dals ihm im Attribute der Ausdehnung nichts Wirkliches mehr entspricht. Es fällt dies um so mehr auf, da sonst nach Spinoza der Theil nichts in den Dingen, sondern nur eine Weise des Denkens ist.

Es leuchtet hieraus ein, dafs diese Ansicht in doppeltem Betracht von dem Grundgedanken abfällt, einmal inwiefern der Parallelismus zwischen Denken und Sein als verschiedenem Ausdruck Einer und derselben Sache abgebrochen ist, sodann weil dem Denken über die Ausdehnung, obwol sie beide als Ausdrücke Eines und desselbigen gleich berechtigt sein müssen, plötzlich ein wesentliches Übergewicht gegeben wird. Wenn in den frühern Büchern der Bezug auf das Leibliche dergestalt vorherscht, dafs die Vor- stellung fast nur wie ein Abbild desselben erscheint: so wird zuletzt dem Gedanken als dem ewigen vor dem vergänglichen Leibe die Ehre gegeben. Ein solches Schwanken steht mit dem festen Grundgedanken in Wider- spruch, aber es ist, wie wir sahen, nach den verschiedensten Richtungen da.

Aus diesem Schwanken erklärt sich auch die entgegengesetzte Wir- kung, welche Spinoza in der Geschichte der Philosophie auf die Geister ge- habt hat. Bald folgten ihm solche, welche allein den Determinismus der materiellen Ursache wollen, wie in neuester Zeit viele; bald erhoben ihn solche, welche, wie Schelling und Schleiermacher, auf der Seite eines idea- len Platonismus stehen. Beides liefse sich kaum neben einander denken, wenn nicht dazu im Spinoza selbst die Veranlassung läge.

Spinoza’s Grundgedanke steht klar da, wenn er Denken und Ausdeh- nung als die Attribute bestimmt, die, unter sich in keinem Causalzusammen- hang, nur für den Verstand die verschiedenen Ausdrücke Einer und der- selben Substanz sind.

Zur Kritik dieser eigenthümlichen Auffassung ergab sich, wenn wir die entscheidenden Punkte aus der Verflechtung ablösen, Folgendes.

Zunächst ist die ganze Ansicht formal gehalten und die reale Unter- suchung, ob die Ausdehnung auf das Denken und das Denken auf die Aus- dehnung wirken könne, durch die gleich Axiomen gesetzten Definitionen von vorn herein abgeschnitten (s. oben $.286 f. 5.290 ff.).

Ferner läfst sich der Parallelismus zwischen den Erzeugnissen des Denkens und den Gestalten der Ausdehnung, inwiefern die einen den un-

über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg. 329

endlichen Gedanken Gottes, die andern die unendliche Ausdehnung bilden, aber beide nur der verschiedene Ausdruck einer und derselben Substanz sein sollen, nicht durchführen. Das Continuum der Körper bildet die un- endliche Ausdehnung, aber es läfst sich nicht auf gleiche Weise ein Conti- tinuum der Gedanken vorstellen, welche zusammen den Verstand Gottes bildeten. Wo blieben in Gottes unendlichem Gedanken die irrigen Vorstel- lungen der Menschen? und wo entsprächen allen wirklichen Bewegungen wahre Vorstellungen? (s. oben S. 297. S. 308)

Die inadaequaten Vorstellungen wurzeln in der Imagination, inwie- fern wir als Theile eines denkenden Wesens Theile auffassen, aber der Be- griff der Theile, der hier den Irrthum erzeugt, ist in der Lehre des Spinoza so wenig erklärt, als die Determination, wodurch es geschieht, dafs der In- tellectus vom Unendlichen zum Endlichen übergeht und im Endlichen wahre Vorstellungen bildet. Soll wirklich eingesehen werden, dafs Denken und Ausdehnung nur verschiedene Ausdrücke einer und derselben Substanz sind: so darf diese Frage, wie sich das Denken bestimme, so wenig uner ledigt bleiben, als die Frage, wie sich die Ausdehnung determinire (s. oben S.304. 305).

Spinoza leitet alle Affecte aus dem Satze ab, dafs jedes Wesen sich in seinem Sein zu behaupten strebe, und alle Tugend aus der Macht etwas zu bewirken, was aus den Gesetzen der eigenen Natur verstanden werden kann (s. oben S.309. 311). In diesen Sätzen verbirgt sich das individuelle Leben, das in seiner Determination keine blofse Negation, sondern Bejahung ist, aber ohne die zum Grunde liegenden Zwecke nicht gedacht werden kann. Spinoza setzt mitten in dieser Betrachtung der Naturgesetze der Seele den teleologischen Standpunkt voraus (s. oben S. 311. 312).

Wie die verworrene Vorstellung, das imaginari, die leidenden Zu- stände der Seele bedingt und festhält, so werden wir von denselben durch die Einsicht, das inzelligere, befreiet, indem sich die Zustände des Leibes nach den Bedingungen des Begriffs ordnen. Dem intelligere wird darin eine Wirkung auf die leiblichen Zustände zugeschrieben, welche der Grund- gedanke nicht erträgt (s. oben S. 315. 316).

Im Ethischen führt das inzelligere, die Einsicht in die durch Vereini- gung verstärkte Macht zur Anerkennung von Zwecken, z.B. der allgemei- nen Gerechtigkeit, die ursprünglicher sind, als dafs sie sich aus der blofsen

Philos. - histor. Kl. 1849. Pt

330 TRENnDELENBURG über Spinoza's Grundgedanken und dessen Erfolg.

wirkenden Ursache ableiten liefsen. Auf diese pafst Spinoza’s Wort nicht, dafs die Zwecke nur eine menschliche Erfindung sind (s. oben S. 320. 322. 325).

Endlich ist es in der Consequenz der Grundansicht, dafs Denken und Ausdehnung nur der nothwendige Ausdruck einer und derselben Substanz seien, nicht zu begreifen, wie der Intellectus, als der bessere und ewige Theil von uns, der übrig bleibe, wenn der Körper zerstört wird, bezeichnet werden könne (s. oben S. 326 ff.).

Diese Einwürfe ergeben sich, wenn man Spinoza auf seinem eigenen Wege verfolgt und alle Hauptpunkte an der Consequenz oder Inconsequenz mit dem Grundgedanken mifst.

Wenn Spinoza seiner Lehre, wie im Eingang bemerkt wurde, unter den Systemen von der Wurzel aus eine neue Stellung gegeben hatte: so er- hellt aus dieser Untersuchung, dafs der Grundgedanke in den wichtigsten Punkten, in denen er sich bewähren sollte, von sich abfällt und in die bei- den andern Betrachtungsweisen, bald in die teleologische, bald in die mate- rialistische übergeht. Zwischen diesen beiden allein geht nun der Kampf der Prineipien fort, wenn nach dem grofsen, aber vergeblichen Versuch die Grundansicht Spinoza’s, jene dritte Möglichkeit, um die Einigung von Ge- danken und Kraft zu begreifen, aus der Reihe der Streitenden ausscheidet.

Die meisten der hervorgehobenen Punkte weisen auf eine Idee im Grunde der Dinge hin, und obwol Spinoza die Idee nicht anerkennt, so dienen ihr doch die Naturgesetze des Geistes, welche er selbst, wie im drit- ten und vierten Buch der Ethik, scharfsinnig dargestellt hat.

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ÜBER FREIDANK

von BR h”"- WILHELM GRIMM.

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[gelesen in der akademie der wissenschaften am 15. märz 1849.]

D. name den unfer dichter fich felbft beilegt wird von W. Wackernagel im gloffar zu feinem lefebuch durch Freidenker überfetzt, gewis richtig, wenn man von dem nebenbegriff abfieht, der diefem ausdruck gegenwärtig an- hängt, jener zeit aber fremd war. damals wird niemand über die bedeutung des gewählten, auf den inhalt des gedichts bezüglichen namens in zweifel gewelen fein, fo wenig als jemand in Frauenlob, in dem Unverzagten, oder in dem Freudeleeren (Haupts zeitfchr. 5, 243. 7,530) und andern den ei- gentlichen namen des dichters fah. noch mehr, da es kein gefchlecht gab, das von der Vogelweide hiefs, fo mag auch Walther einen dichterifchen na- men angenommen haben. daher erklärt fich warum er, wie der Spervogel, der auch nur diefen dichternamen (MS. 2, 226°) vorbringt, von fich in der dritten perfon redet (18, 6 folg.) und fich felbft (119, 12) min trütgefelle von der Vogelweide anredet, von dem er beiftand im gefang fordert: oder warum er dem, den man von der Fogelweide nande (108,7) eine art grab- fchrift dichtet; es ift nicht nöthig diefe lieder andern beizulegen. Frei- dank als eigenname kommt erft im vierzehnten jahrhundert vor, ohne zwei- fel veranlafst durch das in grofsem anfehen ftehende gedicht, wie auf gleiche weife ein Walther der Vogelweid von Veltheim in einer urkunde vom jahr 1349 (Haupts zeitfchrift 4, 578) erfcheint. dafs Freidank, der urfache hatte fich zu verbergen, zu feiner zeit nur unter dem angenommenen namen be- kannt war, zeigt eine kürzlich gefundene ftelle in den colmarifchen Annalen aus dem dreizehnten Jahrhundert (Haupts zeitfchrift 4,573), Frydankus va- gus fecit rithmos theutonicos gratiofos: woraus wir zugleich erfehen dafs er ein herumziehender fänger war, auch darin dem berühmten Walther ähn-

lich. beide klagen über mangelnde freigebigkeit der fürften (anmerk. zu Tt2

332 WiLHELMm Grimm

Freid. 87,6. 7 und 8). eine durch Schedel bewahrte nachricht von einem grabmal Freidanks und einer infchrift darauf, habe ich der forfchung nicht vorenthalten wollen, fondern in Haupts zeitfchr. 1, 30. 31 bekannt gemacht, wo auch die gründe auseinander gefetzt find, weshalb ich glaube dafs man fie nicht auf unfern dichter beziehen darf. das ift nicht der gute ftil des drei- zehnten jahrhunderts. die erfte zeile entbehrt des versmafses und lautet roh hie lit Fridanc, kläglich ift der zufatz gar än allen finen danc: Veldeke fagt (MS. 1,20°) wan ez got ni geböt daz dehein man gerne Jolte fterben. wie zierlich gedacht, wie reinlich ausgedrückt ift der bekannte fpruch auf dem fchwerte Konrads von Winterfteten.

Von den lebensumftänden des dichters fcheint keiner feiner zeitge- noffen etwas gewufst zu haben; uns bleibt nichts übrig als einzelne andeu- tungen aus dem eigenen werk zufammen zu lefen. felbft über feinen ftand, ob er von adel war oder nicht, hatte man keine gewisheit. bei einigen heifst er meifter, bei andern her: ich habe die fiellen in der einleitung zur Be- fcheidenheit f. xxxıx. xu nachgewiefen und trage nur Tanhaufers hofzuht (Haupts zeitfchr. 6, 488), die von Ettmüller herausgegebenen fechs briefe 9,32, Helbling 2, 147 und Teichner (Drefden. handfchr. nr 67. bl.5". 18°) nach, wo er immer her genannt wird. der ältefte von denen, die ihn nen- nen, Rudolf von Ems, bezeichnet ihn zweimal als meifter, einmal ohne zu- fatz: aber er nennt auch (Orlens 4481) den Walther mei/ter, obgleich diefer gewis zum adel gehörte. Rudolf bekümmerte fich fchwerlich um Freidanks lebensverhältniffe oder, was am wahrlcheinlichften ift, er wufste nichts be- ftiimmtes. ebenfo fchwankt Hugo vom Trimberg, der ihm doch die gröfste verehrung zollt, zwifchen her und meifter; hätte er etwas näheres von ihm fagen können, er würde, zumal bei feiner redfeligkeit, es ficher nicht zurück gehalten haben.

I

Die mehrmals angeregte frage ob Freidank noch andere gedichte als die Befcheidenheit verfalst habe, verdient erft aufmerkfamkeit wenn man gründe dafür beibringen kann. in jener grabfchrift heifst es der alwege /prach und nie fanc, angenommen fie fei echt d.h. aus dem dreizehnten jahrhundert, fo beweilt fie weiter nichts als dafs der verfaffer derfelben kei- ne Iyrifche gedichte von Freidank kannte, und es ift auch nicht glaublich dafs er folche unter diefem namen habe ausgehen laffen. aufserdem fcheint

über Freidank. 333

für jene zeit /prechen und fingen nicht ausreichend einen gegenfatz auszu- drücken: fagt doch Frauenlob (Ettmüller feite 114. 115) /waz ie gefane Reinmär und der von E/chenbach, fwaz ie ge/prach der von der V ogelweide, und das wird niemand fo verftehen als habe Wolfram wie Reinmar nur lie- der gefungen, Walther erzählungen oder fpruchgedichte vorgetragen. Hein- zelein von Konftanz äufsert in der Minnenlehre her Fridanc der ie [eite unde Janc fteteclich die wärheit, was auch nichts als ein allgemeiner ausdruck ift. hätten nur die colmarifchen annalen ein paar worte mehr zugefügt! doch rhythmi teutoniei gratiofi bezeichnen eher Iyrifche gedichte als die fprüche der Befcheidenheit, die für den vortrag eines fahrenden fängers wenig ge- eignet fcheinen. wenn die worte nun auf die lieder Walthers zu beziehen wären? Was Rudolf von Ems im Alexander fagt, der finneriche Fridanc, dem äne valfchen wanc elliu rede volge jach, fwaz er in diut/cher zungen /prach, hilft auch nicht weiter: der finneriche heifst er zumal in zufammen- hang mit dem, was noch vorher geht, als dichter der Be/cheidenheit: die letzte zeile könnte man verftehen als habe er auch in anderer, etwa in latei- nifcher oder romanifcher fprache gedichtet, wo feine rede nicht fo fliefsend gewefen fei: aber das ift doch fehr unwahrfcheinlich; dagegen könnte fie allerdings darauf hindeuten, dafs das fpruchgedicht nicht fein einziges werk gewefen fei.

Die abfchnitte von Rom und Akers unterfcheiden fich durch die ge- fchichtliche haltung fo beftimmt von der lehrhaften weife des übrigen grö- fsern theils dafs ich fchon bei der herausgabe der Befcheidenheit auf den ge- danken geraten war, fie feien ftücke aus einem andern werk und hier nur eingefchoben. ich bin feitdem in diefer anficht beftärkt worden. es ift [chon auffallend dafs nur wenige handfchriften den abfchnitt von Akers kennen, nur A von der erften und Bb von der zweiten ordnung: die einer ganz an- dern aufftellung folgenden handfchriften X 3 haben nichts daraus, ebenfo- wenig [cheinen Hugo von Trimberg und Boner ihn gekannt zu haben. in Bb bricht diefe gefchichtliche erzählung ohne allen zufammenhang mit dem an- dern plötzlich hervor. endlich haben A und Bb die quelle nicht gleichmäfsig benutzt, A hat 162,25—163,12, Bb 157,1—162,25, ein noch gröfseres ftück, ganz allein. immer aber muls diefe vermifchung fchon frühe ftatt gefunden haben, da fie fich bereits in der älteften und beften, ficher in das 13" jahrh. gehörigen handfchrift zeigt. der abfchnitt von Rom pafste mehr in den plan

334 Wirnerm Grimm

der Befcheidenheit. das alles fcheint mir darauf zu deuten, dafs wir nur bruchftücke eines grölsern werks vor uns haben. gleichzeitig mit dem übri- gen find fie nicht gewefen, das erweift eine andere bemerkung: dort näm- lich (46, 15. 130,10) begegnen wir mehrmals der klage über nichtachtung des päbftlichen bannes, hier (148, 19) dagegen einer herben äufserung über die käuflichkeit deffelben zu Rom, ja der über den keifer Friedrich ausgefprochene bann (157,19. 21. 158, 2. 160, 10. 19. 162, 4) wird gerade- zu als ungerecht und unkräftig betrachtet. der dichter redet von Rom, wo er gras in den alten paläften gefunden hat (148,23), als augenzeuge: er mag auf dem zug nach Syrien dort gewelfen fein und befchreibt diefen aufent- halt hernach als er fich in Akers befindet. jetzt verfteht man auch wie eine ftelle doppelt vorkommen kan, in dem früheren gedicht (132, 26—133, 4) als gemeines fprichwort, in dem fpätern (158, 16—21) mit paffender an- wendung auf den keifer und den fultan.

Läfst fich keine hinweifung auf das verlorene werk finden? ich mufs auf eine vielfach angefochtene ftelle in Rudolfs Wilhelm von Orlens zurück kommen, die in allen, ziemlich zahlreichen handfchriften immer gleichlau- tend erfcheint,

wold iuch meifter Fridanc getihtet han, jo waret ir

baz für komen danne an mir, oder von Abjalone:

het er iuch alfo fehone berihtet als dıu mere

wie der edel Stoufcere,

der keifer Friderich verdarp und lebende hohez lop erwarp.

od der, wie ich in der vierten zeile lefe, ift kaum eine änderung, aber Abj/alöne kann nicht richtig fein, da ein ortsname folgen mufs. zu den bis- herigen vorfchlägen, die den fchwierigen namen ändern oder mit noch grö- fserer kühnheit eine lücke voraus fetzen und einige zeilen einfchieben, oder eine anfpielung auf unbekannte ereigniffe darin erblicken, will ich einen neuen fügen, der nicht kecker ift als der mäfsigfte von jenen. ich lefe näm- lich Akoöne oder Akaröne, und der dichter jener beiden abfchnitte ift damit

gemeint, der füglich fo genannt werden konnte, da er in Akers eine zeitlang

über Freidank. 335

lebte und dort das werk dichtete, von dem diefe bruchftücke uns erhalten find. Akers ift die gewöhnliche form, die im Lanzelet (8847), im Herzog Ernft (5233), bei dem Marner (MS. 2,174”), Enenkel (f. 289), bruder Wern- her (MS. 2,164°), Hugo von Trimberg (7505. 15845), Püterich (ftr. 110) gebraucht wird: Akön finde ich bei Heinrich von Neuftadt (Apollon. 18217. 20617) im reim auf Edrön: endlich Acharön bei Odo, dem verfaffer des lateinifchen Ernft (5233). nichts fcheint natürlicher als dafs der, welcher die fchickfale Friedrichs bei dem kreuzzug erzählte, auch Barbaroffas und feines traurigen untergangs gedachte.

Hier entfteht die frage wen wir als verfaffer der beiden abfchnitte zu betrachten haben. Rudolf von Ems meint wohl einen andern als Freidank, weil er fechzehn dichter anführen will und fonft nur fünfzehn genannt hätte. das hat weiter kein gewicht, da der von Akers fchon der heftigen äufserun- gen wegen, die er fich erlaubt, feinen namen wird geheim gehalten haben und ihn Rudolf auf diefe weife am natürlichften bezeichnete; nur fo viel ift ficher dafs er ihn als einen zeitgenoffen Freidanks betrachtete. beide für eine perfon zu halten, find wir durch die einmifchung diefer abfchnitte in die Befcheidenheit, weil fie fchon frühe ftatt fand, veranlafst: ein ftärkerer be- weis liegt in der übereinftiimmung der fprache und des dem dichter ge- läufigen ausdrucks, die ich hier nachweifen will. den glouben bezzern 148, 13: die krifienheit bezzern 76,2. äne [chame 148,17: 53,5. 112,15. fchal- keit 149,3: 143,5. 20. diu kriften 149,14. 153,20: 10,26. kunft gewalt noch lift 149,18: kunft noch lift 19,22. 126,17. kunft und al der werlde lift 79,6. guot bilde geben 149, 20. 152,7: 69, 21. 71,5. gefünden 149,23: 180,10. einen an liegen 150, 7: 102,13. 106, 15. 170,5.7. /waere fenften 150,11: zorn fenften 64,12. gouch narr 150, 25: 54, 22. 98,12. gouches töre 83,11. laefen befreien 151,3: 20,16. 39,19. 130,9. 181,4. fich haben an einen 151,6: 55,11. 96, 27. zer helle varn 151,12: 105, 9. 180,1. dri- zec lant, her u.s.w. 151,16. 155,10: 4,17. 46,1. 57,7.102,15. wan alle krümbe werdent fleht 152,2: daz mich krümbe dunke fleht 50, 24. bürge unt lant 152, 20: 75,13. ze langer frift 154, 2: 31,9. 33, 3. 96, 24. pfluoc bildlich 155, 18: 27, 15. 168,13. über lüt 155, 22: 168,18. valfch flahen 156,15: 46,21. über daz 156,19: 6,8. daz befte tuon 156, 22. 160,18: 82,25. 99, 4. 110, 24. 149,22. tödes grunt 156, 24: meres grunt 11,3. helle grunt 11,17. bi gefiän 158,1: 16,13. krump oder fleht 158,2: 10,21.

336 WirLseLm Grimm

widerfatz 158, 26: 172,15. 173,3. figen 160,1: 46, 17. nider figen 117,27. die firäze offen ftänt 161,21: 66, 6. verbannen 162, 8.14: 51,1. z’ende komen 162,19: 111,13. gehanen 162,23: 68,13. michels baz 163,12: mi- chels lieber 156, 2. michels gerner 59,11. des libes röft 163, 25: einen üf den röft fetzen 168, 10.

Von den metrifchen gefetzen Freidanks, die unten näher betrachtet werden follen, zeigt fich in den beiden abfehnitten keine abweichung. wie dort wird in jeder zeile nie mehr als einmal die fenkung ausgelaffen, gelten im erften fufs drei filben, wovon die mittlere amı mindeften betont wird, und ift ein dreifilbiger auftact unerlaubt: wie dort findet man nur wenige und leichte kürzungen, und, was vielleicht am ftärkften wiegt, unz in der letzten fenkung vor ftumpfem reim, nur, wenn i oder 2 deffen anlaut bildet: alfo un? tac 154,15, unt lant 156, 17. ebenfo in den reimen diefelben eigenthümlich- keiten, erwert: ernert 163, 3. 4 wie erwern: ernern 63,7. 69,13. 14 und be- fonders wirt: wirt 156, 20: 87,10.

II

Sind die gefchichtlichen abfchnitte zuthat aus einem zweiten werk, fo haben wir das alter der Befcheidenheit erft zu ermitteln, denn nur von dem über Akers wiffen wir gewis dafs er im jahr 1229 in Syrien ift gedichtet worden. wir müffen uns nach zeugniffen umfehen, ich führe jenes zuerft an, das ich in einer ftelle der überarbeiteten Klage 3540 —46 gefunden und in der einlei- tung zu Freidank f.xxxvu—vıu fchon geltend gemacht habe: es fteht dort in einem zufatz mit der abficht einen fpruch aus der Befcheidenheit einzu- rücken, der unverändert geblieben ift. ich beharre bei der fchon früher (f.cxvu—cxx) begründeten behauptung, dafs wörtliche übereinftiimmung mit Freidank auf ein abborgen aus feinem gedicht mit ficherheit fchliefsen läfst. man kann einwenden er habe feine fprüche aus dem munde des volks ge- fchöpft, aber die herftellung des reinen reims, um den fich das volk wenig bemühte, veranlafste fo gut änderungen als die handhabung des regelrechten versmalses. wie felten mag es fich gefügt haben dafs die ohnehin beftändiger umwandlung preis gegebene überlieferung des fprichworts geradezu konnte beibehalten werden: wie grofs die verfchiedenheit in der auffaffung einzel- ner fprichwörter war, erlieht man aus dem, was ich feite xc—cy neben ein- ander geftellt habe. nach meinem gefühl trägt der ausdruck überall Frei-

über Freidank. 337

danks eigenthümlichkeit und die erblicke ich gerade in den von der über- arbeiteten Klage wiederholten worten 117,21.22 der töt liep von liebe [chelt uns er uns alle hin gezelt. fcheln in diefer bildlichen bedeutung gebrauchen nur wenige (ich kenne nur die zur Goldnen fchmiede 52 angeführten ftellen, wozu noch Tro). krieg 10068 kommt), das gewöhnliche war wohl, wie Hart- mann im Erek 2208 —10 fagt, der töt allez liep leidet, fo er liep von liebe feheidet, ebenfo Hug von Langenltein (Martina bl. 125") der tot fröude leidet und lieb von liebe fcheidet, und Friedrich von Sunburg (Mgb. 22°) frou Werlt, ihr kunnet liep von leide fcheiden;, zwei handfchriften von Frei- dank haben den ausdruck wirklich nicht verflanden und fcheidet gefetzt, die eine ändert auch die folgende zeile, die andere entftellt den reim. Lachmann hat zu den Nibelungen 353, 2 die gründe angegeben wes- halb die überarbeitung der Klage vor dem jahr 1225 mufs vollendet gewe- fen fein: möglicherweile war fie fchon zehn jahre früher vorhanden, immer aber muls die Befcheidenheit voran gegangen fein. vielleicht können wir noch weiter zurück fchreiten: ich habe in der Einleitung f. cxxvı den ausdruck unwip hervor gehoben, der bei Walther und Freidank zuerft [ich zeige, jetzt aber gefunden dafs auch in der echten Klage 361 unwiplicher muot fteht. ich will hier noch keinen fchlufs ziehen, immer aber haben wir durch die ftelle in der überarbeiteten Klage einen fichern anfangspunct gewonnen und müffen zunächft nachfuchen ob wir bei den dichtern aus dem ende des zwölften und anfang des dreizehnten Jahrhunderts eine {pur von Freidank entdecken können. Hartman fagt im zweiten Büchlein 193 er bedarf un- muoze wol, [wer zwein herren dienen fol: Freidank (ABa£A) 50, 6 fwer zwein herren dienen fol, der bedarf gelückes wol; Hartmanns unmuoze fcheint mir beffer und könnte die echte lesart fein. in demfelben büchlein 701 des wip fint gehoenet, des well wir fin gekroenet: Freidank 102, 18 die man vil manegez kranet, des wip fint gehoenet. Erek 431 wen dife edeln armen nihl wolden erbarmen: Freid. 40,15 man fol fich gerne erbarmen über die edeln armen. Erek 4800 nit mac doch daz nieman bewarn, daz im gefchehen Jol: Freid. 132, 6 fwaz gefchehen fol, daz gefchiht. Gregor 525 wan im niemer miffegät, der fich ze rehte an in (gott) verlät: Freid. 2,14 vil felten ieman miffegät, [wer finiu dinc an got verlät. Gregor 3400 (etwas verfchieden Armer Heinrich 26— 28) wir haben daz von fime gebote, [wer umbe den an- dern (nach der Wiener handf. Lachmann in Haupts zeitfchr. 5,65) bite, loes er Philos.- histor. Kl. 1849. Uu

338 WicneLm Grimm

fich felben mite: Freid. 39,18 merket, [wer für den andern bite, fich felben Ioefet er mite. Armer Heinrich 101 des muge wir an der kerzen fehen ein wärez bilde gefchehen, daz fi zeiner e/chen wirt enmitten fi lieht birt: Freid. 71,7 diw kerze lieht den liuten birt unz daz fi felbe za/chen wirt. Iwein 2964 mit lachendem munde truobetn im diu ougen: Freid. 32,15 daz herze weinet manege ftunt, doch lachen muoz Be munt. Freidanks auf- faffung fteht in allen diefen (prüchen nahe, und feine worte klingen durch, ja der reim ift faft immer beibehalten. hierzu kommt dafs auch Hartmanns nachahmer und zeitgenoffe, Wirnt, fichtbar einen fpruch aus der Be/chei- denheit entlehnt hat, Wigalois 167,7 er (gott) nidert höchgemüete und hee- het alle güete: Freid. 2,5 got haehet alle güete und nidert höchgemüete. Wolfram und Gottfried waren von der macht des eigenen geiftes zu (ehr er- füllt als dafs fie von andern etwas hätten annehmen follen: wenigftens finde ich bei ihnen keine ftelle, die bekanntfchaft mit Freidank verriete. Wolfram bringt zwar einige fprichwörter vor, aber eigenthümliche, und da, wo dere eedabke vorkommt, ift er gedrungener und fchöner ausgedrückt. Parz.272,12 weinde ougen hänt füezen munt: Freid. 32,14 daz herze weinet manege We doch lachen muoz der munt, und Parz. 338, 11 im waere der liute volge guot, [wer dicke lop mit wärheit tuot liegt fern von Freid. 60,23 merket, [wer fich felben lobet äne volge, daz er tobet; felbft der volksmälsige, auch ander- wärts (Einleitung xcv) übereinftimmende fpruch 31,16 Aiute liep, morne leit lautet im Parzival 103, 24 hiute freude, morgen leit oder 548, 8 hiute riuwe, morgen frö. bruchftücke aus einem unbekannten gedicht, das ftil und fpra- che in die befte zeit des dreizehnten jahrhunderts weifen (Mones anzeiger 4, 314—21), enthalten z.122—24 folgendes, mir ift ouch für wär gefeil daz er lihte friunde fich bewiget, [wer alle zit niugerne pfliget. ich glaube dafs wir hier den echten text eines fpruches aus der Be/cheidenheit vor uns haben, den wir nur aus wenigen und zumal fpäteren handfchriften kennen, 97,26 des friundes [chiere fich verwiget, der niuwer friunde pfliget. das au- {ser gebrauch gekommene fubftantiv niugerne, das ich nur im Erek 7635 und Lanzelet 7983 nachweifen kann und wofür Graffs fprachfchatz 4, 236 nur einen einzigen beleg hat, mag veranlaflung gewelen fein mit abfchwächung des gedankens die eebohung ee ade zu fetzen. das feltene wort war auch dem verfaffer des lateinifehdeutfchen Freidanks unbekannt, denn er bringt (Göttweig. hf. 4. alt. druck 5°) etwas anderes, ganz gehaltlofes vor,

über Freidank. 339

der friunde fich verwiget, [welch man lügen pfliget: die lateinifche über- fetzung verftändiger, doch abermals abweichend, qui fimilis vento nobilitatis (l. mobilitatis) labe notatur, foedus amicitie modicum curare probatur. die Karlsruher hf. feite 111” entftellt das ihr unverftändliche wort ‘Der frunde er fich fehier verwiget Wellich man ierunge pfliget’. die handfchrift jener bruchftücke ift alt und gut, das zeigen die fprachformen, aber dafs fie, wie Mone behauptet, gerade in den anfang des dreizehnten jahrhunderts ge- hören, wird mit ficherheit fich nicht erweifen laffen, fo erwünfcht es wäre. der Winsbeke und die Winsbekin, die nach Wolframs Parzival müffen ge- dichtet fein, aber wenn Pfeiffers vermutung, wonach (Wigalois xvı) Wirnt fie benutzt hat, richtig ift, fehon vor 1208—1210, gewähren eine anzahl fprüche, die wir auch aus der Be/cheidenheit kennen. Der Winsb. 3,1 fun, merke wie daz kerzen lieht die wile ez brinnei fwindet gar: Freid. 71,7 diw kerze lieht den liuten birt unz daz fi felbe za/chen wirt. der W. 23,4 der man ift näch dem finne min dar näch und er gefellet fich: Freid. 64, 4 /wer den man erkennen welle, der werde fin gefelle. der W. 25,1 fun, bezzer ift gemezzen zwir danne verhowen äne fin: Freid. 131,23 bezzer ift zwir ge- mezzen dan zeinem mäl vergezzen. der W. 25,7 daz wort mac niht hinwi- der in und ift doch fehiere für den munt: Freid. 80,12 mit witze [prechen daz ift fin: daz wort enkumt niht wider in. der W. 28,5 der tugent hät, derft wol geborn und Eret fin geflehte wol: Freid. 54, 6 fer tugende hät, derft wol geborn: än tugent ifi adel gar verlorn und 64,13 wer rehte tuot, derfi wol geborn. der W.33, 4 fwer gerne ie über houbet vaht, der mohte defie wirs gefigen: Freid. 126, 21 vil lihte er fchaden fehouwet, der über fin houbet houwet. der W. 33,8 muotes alze geeher man vil Iregen efel riten fol: Freid. 116, 25 /wem gäch ift zallen ziten, der fol den efel riten. der W.41,5 ein ieglich man hat eren vil, der rehte in finer mäze lebet und übermizzet niht fin zil: Freid. 114,9 wer fchöne in finer mäze kan geleben, derft ein feelice man: bi mit fpolte maneger lebet, der üz der mäze höhe Sirebet. der W.45,4 fi machent breite huoben fmal: Freid. 120,5 breite huoben werdent /mal. der W.60,9 ez ift ein lop ob allem lobe, der an dem ende rehle tuot: Freid. 63,20 ichn fchilte niht [waz iemen tuot, machet er daz ende guot. der W. 63,6 wir koufen in dem facke niht: Freid. 85,5 wer inme facke koufet. die Winsbekin 15,1 gedanke fint den liuten fri und wün- [ehe fam: weiftu des niht? Freid. 115,14 diu bant kan niemen vinden, diu Uu 2

340 WirHELMm Gkimm

gedanke mugen binden. man vähet wip unde man, gedanke nieman vähen kan. die W. 16,6 ze fwacher heimlich wirt man fiech: Freid. 93,14 un- rechtiu heimeliche tuot nieman @ren riche. die W.19,2 fi [agent 'wip hänt kurzen muot, bi doch ein vil langez här’: Freid. 182, 3 die frouwen hänt langez här und kurz gemüete; daz ift wär. die W. 20,1 @ft komen her in alten fiten vor mangen jären unde tagen daz man diu wip fol güetlich biten und lieplich in dem herzen tragen. fuln fie zühteclich verfagen od aber finneclich gewern daz fi iht her näch beginnen klagen: Freid. 100, 20 diu wip man iemer biten fol, iedoch flät in verzihen wol und 100, 24 ver- zihen ifl der wibe fite, doch ift in liep daz man fi bite. die W. 32, 4 betwun- gen liebe if gar ein wiht: Freid. 101,13 beiwungeniu liebe wirt dicke ze diebe. die W. 41,3 wer finem rehte unrehte tuot, der eren niht gehüeten kan: Freid. 106,20 wer finem dine unrehte tuot, dem wirt daz ende felten guot. bei der verfchiedenheit des ausdrucks im einzelnen ift die übereinflimmung im ganzen fo grofs dafs der einflufs Freidanks fehr wahrfcheinlich wird, zumal das ftrophifche versmafs und die verfchiedene haltung des gedichts nothwen- dig zu änderungen führen mufte. bei Thomafın ift mir bekanntfchaft mit Frei- dank noch wahrfcheinlicher, Welfcher gaft pfälz. handfchrift wer fru- mer liute lop hät, der mac wol tuon der boefen rät: Freid. 89, 22 wer der ‚frumen hulde hät, der tuot der befen lihten rät. W.g. 11° wer in zorn hat Jehene fite, dem volget guotiu zuht mite: Freid. 64,18 wer in zorn ift wol gezogen, hät tugent untugent betrogen. W.g.15° her üz (dem fals) kumt ze keiner frift niuwan daz innerhalben ift: Freid. 111,2 üz iegelichem vazze gät daz ez innerhalben hät. W.g.19" fi (minne) blendet wifes mannes muot und fchadet [ fele lip] ere unde guot: Freid. 99, 11 minne blendet wifen. man, der fich vor ir niht hüeten kan. W.g. 43° [welh man hät einen richen muot, derft niht arm mit kleinem guot: Freid. 43, 20 fwa@ ift frelich armuot ift richeit äne guot. W.g. 44° fwer finem guot niht herfchen kan, derft der pfenninge [dienfiJman: Freid.56,15 nieman der ze herren zimt, der fin guot ze herren nimt. W. g. 42° [wen niht genüeget des er hät, des armuot mac niht werden rät: Freid. 43,10 fwen genüeget des er hät, der ift riche, Siwiez ergät. W.g. 44" fwelh man verkouft fin frien muot, der nimt niht gelichez guot: Freid. 131,3 ichn gabe minen frien muot umbe keiner flahte guot. dazu kommt dals ich diefe fprichwörter grofsentheils nur bei beiden gefunden habe. Heinrich von Türlein, der etwa im jahr 1220 die Krone

über Freidanl.. 341

dichtete, gewährt kein zeugnis über Freidank, wenigftens nicht in der mir allein zugänglichen Wiener handfchrift die unvollftändiger ift als die Heidel- berger; in. einem fpruch falst er fich ganz anders, f. unten die anmerkung zu 88,15. Lichtenftein fcheint fich nur um die diehtungen von Artus und der Tafelrunde bekümmert zu haben: mit Freidank kommt einiges gemein- fame vor, doch die übereinfiimmung müfte entfchiedener fein. Frauen- dienft 95, 14 ich was der befte niht: ich was ouch niht der beefie gar: Freidank 90,25 wer mac die beflen üz gelefen, wan nieman wil der boefte wefen? Frauend. 340,25 guot gedinge derft vil guot: lieber wän noch Janf- ter tuot: Freid. 134,22 diu grefte fröide die wir hän, däft guot gedinge und lieber wän. Frauend. 475, 21 der edele fol erbarmen fich über die armen; daz rät ich: Freid. 40,15 man foll fich gerne erbarmen über die edeln armen. Fleck hat die Befcheidenheit nicht gekannt (vergl. anm. zu 107, 23), auch nicht Stricker, der im jahr 1240 ftarb: da, wo er von ketzern fpricht (Hahn kleinere gedichte von Stricker 12,503 folg.), hat er gar nichts mit Freidank gemein, fo ähnlich im allgemeinen gedanken und anfıchten find. auffallender ift es, dafs Ulrich von Türheim, der in feinem um das jahr 1250 gedichteten Wilhelm fprichwörter genug vorbringt, nichts von ihm zu wiffen fcheint. die einzige ftelle, in der man etwas ähnliches findet, ift doch zu verlchieden gefafst, pfälz. handfchr. 152. Caffel. 120° ez ift ein al- tiu lere daz fich der man gefellet als fin leben ift geftellet lautet in der Be- Jeheidenheit befler, 64, 4 wer den man erkennen welle, der werde fin ge- ‚felle. ob die dichter der folgenden zeit, wenn fie ähnliche fprichwörter ge- brauchen, aus Freidank geborgt haben oder nicht, kann uns hier gleich- gültig fein; fie find im zwölften abfchnitt der Einleitung nachzufehen. dort (f.xxxıx— xt) find auch diejenigen nachgewielen, die ihn als ihre quelle aus- drücklich nennen, oder bei welchen man ihn mit ficherheit voraus fetzen kann. Rudolf von Ems ift der erfte unter diefen. er ftarb ehe fein letztes werk, die Weltchronik, vollendet war, zwifchen 1250-54. Wilhelm von Orlens ift vor 1241, Alexander nachher gedichte: jenem voran giengen Bar- laam und der gute Gerhard. in dem letztgenannten werk benutzt er Frei- dank ohne ihn zu nennen, auch nicht ohne einiges zu ändern, 37.38 die wifen jehent ‘wer fich lobe [under volge daz er tobe’: Freid. 60,23 merket, wer Jich ‚Jelben lobet äne volge, daz er tobet. Gerh.152—58 des nam er ein ur- künde dort an der Jehrift der wärheit, diu von dem almuofen Jeit, wer ez

3423 WicHELMm Grimm

mit guoltem muole git, daz ez lefchet zaller zit die ‚Sünde alfam daz wazzer tuot daz fiur: Freid. 39,6 wazzer lefcht fiur unde gluot, almuofen rehte dez felbe tuot: daz lefchet fünde zaller zit, manz mit guolem willen git. dies ift ein biblifeher fpruch und feine quelle der Ecclehafticus 3, 33 ignem ardentem extinguit aqua et eleemofyna refiftit peccatis,; der zufatz wer ez mit guolem willen git und zaller zit, den beide haben, beweift die abhängig- keit der auffaffung. Gerh. 6670 der hehften tugent werdekeit diu aller tu- gende kröne treit (Wilh. von Orlens im eingang be/cheidenheit diu aller tugende kröne treit) wie Freid. 1,2. Gerh. 6741 tüfent jär fint ein tac: Freid. 4,7 ein tac fi tüfent jär. endlich kommt auch im Gerh. 3213 das adjectiv. unwipliche vor, was ich zur Einleitung cxxvı nachtrage. könnten wir nur mit ficherheit die zeit beftimmen, in welcher Gerhard entftand: ift die Be- ‚[cheidenheit älter als der gefchichtliche abfchnitt von Akers, fo wird auch die jugendarbeit Rudolfs in eine frühere zeit fallen. lebte Freidank damals noch, weil ihn Rudolf noch nicht nennt, und nennt diefer ihn erft rühmend im Wilhelm und Alexander, weil er nicht mehr lebte? hier ift mir willkommen was Haupt (Gerh. ıx) nachweift, dafs Rudolf von Steinach, deffen bitte wir den Gerhard verdanken, fchon in urkunden vom jahr 1209 1221 erfcheint.

Ich habe noch einige aus fpäterer zeit nachzutragen, die [prüche von Freidank in ihre gedichte eingerückt haben. Buch der rügen (Haupts zeit- fchrift 2) das in das jahr 1276-77 fällt, 315 ir enrouchet wer diu fehäfe fehirt (\. fehäf befchirt), daz ot iu diu wolle wirt ilt geradezu aus Frei- dank 153,11.12 genommen. in einer andern ftelle ift ein gleichnis von ihm umfchrieben, 711—15 wie fit ir fo grundelös als daz mer, wazzer gröz Steele in fliezent und fich dar in befliezent: und kan doch nimmer werden vol! bei Freidank 41,18—21 die gitegen und die richen fol man dem mere gelichen: wie vil zem mere wazzers g£, e2 hete doch gerne wazzers me. 'Tan- haufers hofzucht (Haupts zeitfchr. 6) 201 hie vor /prach her Fridanc guot win fi der befie trance, wie Haupt richtig anmerkt “in einem verlorenen fpruch, oder ift es ungenaue erinnerung an 95, 2 folg.?” 213—16 wer ma- chet eine höchzit, [wie manege traht man gü, mac kein wirtfchaft fin, da enfi guot bröt unde win: Freid. 15, 15—18 hät ein herre ein höchgezit, man fiben trahte git, mac niht volliu wirt/chaft fin äne brot und äne win. Otacker hat einiges aus Freidank geborgt, wie Haupt zeitfchr. 3, 278 nachweilt; eine ftelle war fchon Einleit. cxır angemerkt. in ein kleines ge-

über Freidank. 343

dicht, das eine anmahnung zur minne enthält (Fragmente 32, 243—245), find drei fprüche aus Freidank (100, 24. 25. 100, 4.5. 101,3. 4) am fehlufs zugefügt: einige ftehen mitten in dem .text der erzählung von dem fperber (Liederfaal 1,232: F.71,17.18) und in ein paar andern gedichten (Liederf. 9,423,145—148: F. 102,20 23, fodann 3, 707,425 426: F. 100, 24— 25). endlich find in die verfchiedenen bearbeitungen von Catos fprüchen verfchie- dene ftellen aus Freidank eingegangen, ohne dafs er genannt wäre, 41,4.5 (Liederf. 3,171 2.319.320). 48, 9—12 (Ald. blätter 2, 31 2.557 —559. Hätz- lerin 276 z.183. 184). 52, 16.17 (Hätzlerin 276 z.173. 174). 59, 20. 21 (Altd. bl. 2, 26 z. 325. 326. Liederf. 3,171 2.319. 320). 69, 9—12 (Liederf. 1,564 z.171—174). 108, 11. 12 (Hätzlerin 275 z.117.118). Gerhard von Minden hat ihn gekannt: in feinen niederdeutfchen beifpielen vom jahr 1370 (Wiggerts zweites fcherflein 31) bezieht er fich auf Freidanks worte 85, 13, “mit dummen dum, mit wifen wis, fegt Fridank, “ift der werlde pris’.

Nach dem was ich ausgeführt habe, gelange ich zu dem fchlufs dafs Freidank fchon im beginn des dreizehnten jahrhunderts in dichterifcher thä- tigkeit fich zeigte und zwar als ein die welt beobachtender, wohl erfahrner mann, auch in diefer hinficht mit Walther vergleichbar. rücke ich ihn in diefe zeit, [o wird es mir vergönnt fein mit hinweifung auf die einzelnen anmerkun- gen eine anzahl wörter zufammen zu ftellen, die zwar im althochdeutfchen bekannt find, aber bei den dichtern des 13 jahrh. veraltet oder als unhöfifch nicht geachtet waren, oder folche, die bei ihm allein vorkommen, kriften 10,26. reizer 47,24. jäherre 50,2. wizzecliche 51,7. hulwe 70,9. felbfelbe 85,23. daz luter 88, 17. laftern) 92, 12. nötgeftalle 96, 8. niugerne 97, 27. lönelin 103, 17. verniugernen 105, 6. des tiuvels er engiltet 105, 19. nüfchel 115,2. frete 127,18. Samekarc 132,26. 133,2. 158, 16.17. rihtic 134, 21. narreht 140,18. miteteileere 147,14. horter 147,15. über daz 6, 8. 156,19. meifteil 164, 8. 21. lanclip 177,5.

IV

Ich kann die ftelle die Freidanks fpruchgedicht einnimmt nicht näher beftimmen, wenn ich nicht zuvor einige blicke auf den urfprung und die ent- wicklung des lehrgedichts werfen darf. ein berühmter mann hat behauptet dafs mit dem lehrgedicht die poefie beginne, aber ich kan nicht dahin zäh- len jene uralten lieder, welche, wie die Merfeburger fragmente, das Weffo-

344 Wıruerm Grimm

brunner gebet, oder die nordifche Edda, von erfcheinung der götter, der erfchaflung und dem untergang der welt fingen: fie lehren nicht, fie ftel- len keine betrachtungen an, fie verkünden überlieferte geheimnille, begei- ftert im höchften finne des worts. die heldendichtung ift durch und durch menfchlich, fie drängt die mytbifchen überlieferungen zurück oder verletzt fie in irdifche verhältniffe. der erzählung grofser thaten und der darftellung erhabener, von den edelften oder furchtbarften leidenfchaften bewegter men- fchen bleibt es überlallen die lehre in dem gemüt der zuhörer zu erwecken. kaum dafs das Nibelungelied am fchlufs mit den worten ie diu liebe leide ze aller jungifte git etwas der art andeulet, oder eine unechte ftrophe (1022, 2) den allgemeinen fatz niemen lebet Jo Starker, ern mücze ligen töl für be- fondere verhältniffe geltend macht, wie in gleicher anwendung Gudrun (5512 —=1377,4) fagt der vert lachete, den lat hiure weinen. das it der freien dich- tung gemäls, die noch den geift des ganzen volkes abfpiegelt, und wie die richtungen ver[chiedener zeiten wechleln, der fage auch einen andern mittel- punct verleiht. beginnt aber mit dem heldenleben zugleich das gefühl für das epos zu finken, fo geht die abgelöfte poefie in die hände einzelner über, die ihr ein voraus beftimmtes ziel ftecken und die eigene betrachtung ein- mifchen, um den gewinn felbft abzufchöpfen. in diefe zeit des einfamen nachfinnens fällt die entftehung des lehrgedichts. Otfried, der hervor tre- ten konnte, weil die fchaffende kraft des epos fchon zu verliegen begann, das fortan von feinem erworbenen gut zehrte, fah gewis die moralifche lehre, womit er die erzählung des evangeliums umgibt, als die hauptfache und als feine eigentliche aufgabe an; auch dem dichter des Heljands find betrachtungen nicht fremd, felbft in Mufpilli zeigen fie fich fchon. in der langen zeit, in welcher geiftliche fich der dichtkunft bemächtigt hatten, begegnen wir faft nur fittlichen betrachtungen, myftifchreligiöfen auslegun- gen der bibel, felbft der naiurgefchichte, oder theologifchen fpitzfindigkei- ten. fie fehen mit verachtung auf andere dichtungen herab: in dem allego- rifchen gedicht von dem himmlifchen Jerufalem wird gefagt (Vorau. hand- fchr.) fd man eine guote rede 1uot, (fö ift fie) dem tumben unmäre: der haizet ime fingen von werltlichen dingen und von degenhaite. nur in den bruchftücken eines lehrgedichts, das Docen (Mafsmanns denkmäler 80—82) bekannt gemacht hat, finde ich gemüt und natürliches gefühl mit lebendigem ausdruck vereinigt. wo man des gefchichtlichen nicht ganz entraten kann,

über Freidank. 345

da wird es dem dichter eine laft und felbft da, wo es den ftoff zu einer fchö- nen dichtung gewährte, wie z.b. in dem gedicht von dem verlornen fohn (f. Karajans denkmäler), mit wenigen zeilen abgefunden. nur bei religiö- fen mythen, wie man die fage vom Antichrift und dem untergang der welt, von Pilatus und der heil. Veronica nennen kann, war eine poetifche bele- bung geftattet, doch nirgend zeigt fich eine fpur jener frifchen lebensluft, die in dem Archipoeta fo wild überfchäumt, der fich vielleicht eben deshalb der fremden fprache bediente. als in der zweiten hälfte des zwölften jahr- hunderts die kunftdichtung wieder zu den laien übergieng, begann fie freier zu athmen; wir haben aus diefer zeit fchöne zeugniffe dichterifcher kräfte. auch die betrachtung durfte fich menfchlichen gefühlen und weltlichen ver- hältniffen zuwenden. wie fchlicht und natürlich ift der gute rat, den ein minnebrief aus diefer zeit (Docen misc. 2, 306) ertheilt: wie ernft und edel die väterliche ermahnung des königs Tirol, wo mir gedanken und ausdruck auch noch in das zwölfte Jahrhundert zu reichen fcheinen. die einfache fpra- che und die innigkeit des gefühls in den Iyrifchen gedichten jener zeit geht überall, felbft in dem religiöfen lied des Kolmas, mehr zu herzen als die nicht felten erkünftelte und dabei doch eintönige ausbildung der fpätern. fogar in den gedichten Walthers von der Vogelweide fehen wir den lebens- vollen dichter von dem nachdenken und der klage über die welt zwar nicht gefelfelt aber doch gehemmt. man glaubt kaum dafs es derfelbe Gottfried ift, der im Triftan die luft der finne mit glühenden farben malt und in den liedern (MS. 2, 183 185) gottes minne zu fuchen mahnt oder armut und demut empfiehlt. weiter fchreitend bei bruder Wernher, dem gedankenreichen Reinmar von Zweter, bei Raumeland, Friedrich von Sunburg wuchert die lehre, die fich rankenartig ausftreckt und die freiheit des unmittelbaren poetifchen gefühls faft erftickt. Konrad von Würzburg ift ihr befonders zugethan und behandelt fie zwar mit gefchick, vorzüglich in fei- nen liedern, bleibt aber meift an der oberfläche haften. in den beiden büch- lein Hartmanns, zumal wo herz und leib fich unterreden, hat fie fchon einen philofophifchen anftrich gewonnen, ja im Welfchen gaft legt Thomafın ein philofophifchmoralifches fyltem mit unerträglicher breite auseinander. Lichtenfteins frauenbuch mit feinen hohlen gedanken kann niemand ergötzen.

Das echte volksmäfsige fprichwort enthält keine abfichtliche lehre. es ift nicht der ertrag einfamer betrachtung, fondern in ihm bricht eine längft

Philos. - histor. Kl. 1849. Xx

346 Wirserm Grimm

empfundene wahrheit blitzartig hervor und findet den höhern ausdruck von felbft: welche kraft hat ein glückliches bild, es kann mild und ernft fein, zierlich und witzig, aber es kann auch wie ein [chwert fcharf einfehneiden. diefe erhebung des gedankens in eine reinere luft fichert dem fprichwort innern gehalt, weite verbreitung und geltung durch Jahrhunderte: es ift, wenn man will, eine freiere und kühnere, dem ganzen volk verftändliche fprache, deren gebrauch eine geiftige belebung voraus fetzt: es ift auch die volksmäfsige grundlage des lehrgedichts, das fich erft breit machen konnte, als die neigung zu philofophieren eingang in die diehtung fand. bei uns zeigt fich das fprichwort fchon in frühlter zeit, aber ich glaube dafs es, wie das poetifche gleichnis, erft bei freierer beweglichkeit des geiftes zur eigentlichen ausbildung gelangte. mit recht bemerkt Wackernagel (Gefchichte der deutfchen literatur f.57) dafs in Mufpilli, dem Hildebrandslied gegen- über, die fpruchweisheit mehr zu wort komme. in der Kaiferchronik habe ich es, wenn auch nicht häufig, in der auffaflung gefunden, in welcher es in dem dreizehnten jahrhundert fo oft erfcheint. Spervogel ift zuerft, foviel ich weils, auf den gedanken geraten fprichwörter, die fich ihm bereits in fülle darbieten, als lehre und ermahnung in einem gröfsern lied (MS. 2,226. Mgb. 5) an einander zu reihen. weiter fortgebildet ift diefer gedanke in dem Winsbeke, wo fie nur mäfsiger eingewebt find. daran fchliefst fich ein in der pfälzifchen handfchrift Freidanks befindliches, jetzt in Hagens minnefingern 3, 46817! abgedrucktes gedicht, in welchem fprüche aus der Befcheidenheit ohne grofses gefchick an einander gelchoben find. ich gedenke nur noch einer ftrophe diefer art bei dem Marner (MSHag. 3, 452°) und einiger fpruch- gedichte aus dem vierzehnten jahrhundert (im dritten bande des Liederfaals), die einzelne fprichwörter ohne innern zufammenhang neben einander ftellen.

Freidank hat einen eigenthümlichen weg eingefchlagen: er wollte feiner zeit einen fpiegel vorhalten und glaubte die anfichten über göttliche und welt- liche dinge, über geift und natur, wie fie damals herfchten, in fprüchen und fprichwörtern des volks am beften ausdrücken. unmittelbar belehren wollte er nicht, auch nicht geradezu geltend machen was er fagt: ja fein ftandpunkt erlaubte ihm widerfprechendes, wenn er es vorfand, hinzuftellen. als die innere kraft der poefie in dem letzten viertel des dreizehnten jahrhun- derts aufgezehrt war, blieb fie, ihrer fehwungfedern beraubt, auf dem boden fitzen und ftreute die körner ihrer weisheit aus. die umwandelung der dinge

über Freidank. 347

zeigt Frauenlob am deutlichften, der von natur nicht unbegabt war und welt und menfchen kannte. wenn feine leiche und geiftlichen lieder faft im- mer durch die hinauf gefchraubte fehwierige fprache, oder durch die über- treibung myftifchreligiöfer anfichten einen peinlichen eindruck machen, fo zeigt er fich doch in feinen zahlreichen fpruchgedichten, die uns nicht we- nige echte fprichwörter bewahrt haben (Freidanks Be/fcheidenheit war ihm, fcheint es, unbekannt), als einen finnvollen man, der fich klug und ge- fchickt auszudrücken weils. wenn er auch hier die fprache eigenwillig hand- habt, fo läfst er fich doch einige male herab fchlicht und natürlich zu reden wie in ein paar minneliedern und in dem ftreit zwifchen Welt und Minne, als fei er ein ganz anderer. aber ihm mangelt das gefühl von dem höhern werth der früheren dichter, ja er ift unwillig (feite 184) dafs man die alten meifter preife und erhebe: unerfchöpflich fei der born der erkenntnis, natur theile die gaben aus, die, gleich regen und wind, heute fich ebenlo wirkfam zeigen könnten wie vordem. er geht noch weiter, in einem wetiftreit mit Regenboge läfst er fich (feite 114. 115) von diefem fagen dafs Walthers und Reinmars lieder mehr anklang in den landen fänden als die feinigen, erwi- dert aber mit ftolz fwaz ie gefane Reinmär und der von E/chenbach, Jwaz ie ge/prach der von der Vogelweide zuo vergoltem kleide: ich Frouwenlop vergulde ir fanc, als ich iuch befcheide. fi hänt gefungen von dem veim, den grunt hänt fi verläzen: üf kezzels grunde gät min kunft. fie haben nur die oberfläche berührt, er holt die gedanken aus der tiefe des grundes und verleiht der dichtung erft gehalt. die worte zuo vergoltem kleide erklärt Ett- müller als einen höhnifchen hinblick darauf, dafs jene dichter kleider für ihren gelang als bezahlung genommen hätten: gewis mit unrecht, denn es ift nicht glaublich dafs Wolfram und Reinmar fich würden erniedrigt haben, eine folche gabe anzunehmen, die noch der fpätere Buwenburg verachtet, MS. 2, 181° /wer getragener kleider gert, der ift niht minnefanges wert, und Geltar klagt MS. 2, 119° /6 ift mir nöt näch aller wät daz ich niht von Jrouwen finge: mir woern vier kappen lieber danne ein krenzelin. Walther, auf den jene worte Frauenlobs allein gehen, erklärt fich gerade dagegen, wenn er (63,3) fagt dafs er geiragene wät von niemand als von feiner ge- liebten annehmen würde, und meint bildlich damit ihre fchöne geftalt, den reinen lip. fo gilt auch bei Frauenlob das goldgezierte kleid für die äufsere glänzende form des gedichts. was er durch veim bezeichnet, fetzt ein an-

Xx?2

348 WirHeLm Grimm

derer fpruch (feite 120) aufser zweifel, /wer der materjen kleit & gap von pfelle, famit, rich gewant, durchblüemet ende unde urhap mit fprüchen ganz, fin, riche erkant: danc habe fin herze und ouch fin fin. kumt aber der ma- terjen Juoch, kleid ichs in ein getriuwez tuoch. ich glaube er will damit feine ftellung zu Walther bezeichnen.

Entfchädigt Frauenlob durch finn und verftand feiner fprüche für das gekünftelte des ausdrucks, fo tritt bei andern die lehre in höchfter fchwer- # fälligkeit hervor, wie bei Regenboge, oder in voller dürre, wie in Hugo von Langenfteins kläglichem gedicht von der heiligen Martina. wollte ich noch in das vierzehnte jahrhundert blicken, fo müfte ich hier vor allen den öft- reichifchen Teichner nennen, deffen fpruchgedichte (*) fich zur aufgabe ma- chen meift eine einzelne, an die fpitze gefetzte moralifche frage in ermüden- der weife zu beantworten. aber zu der zeit mit der ich abfchliefse, im aus- gang des dreizehnten jahrhunderts, ftieg Freidanks anfehen immer mehr: man legte ihm die gemeinere anfıcht bei und fah in ihm einen genoflfen. Boner rückte eine nicht geringe anzahl feiner fprüche aus der Be/fcheidenheit in feine fabeln, ohne ihn ein einzigesmal zu nennen. felbft in den Schwaben- fpiegel (f. unten zu 54, 4.5) hatte fchon eine ftelle eingang gefunden. einzelne fprüche dienten im vierzehnten jahrhundert als infchriften in dem rathaus zu Erfurt (Ledeburs archiv für gefchichtskunde in Preufsen 14, 175. 176). Hug von Trimberg, dem es an practifchem blick und lebendigkeit nicht fehlt, der aber die ganze welt belehren richten und ftrafen will, und dabei, wie er felbft fagt, feines herzens fegel vom winde planlos treiben läfst, hat nicht worte genug zu Freidanks preis. gleichzeitig zwifchen 1295 —98 dich- tete fchon, wie Hug, in vorgerückten jahren Seifried Helbeling fein lehr- haftes büchlein, in welchem wir abermals beziehungen auf Freidank finden. es tritt hier eine befondere frage ein, weshalb ich bei ihm etwas länger ver- weilen und die einzelnen ftellen fämtlich anführen mufs.

(a) 1,250 fiwer efel niht erkennet, der fehe in bi den oren. alfo ıft dem toren, der fiellet fich nach finer art. (*) man lernt fie [chon hinlänglich aus dem Liederfaal kennen, wo (gleich 1, 395 502) eine ziemliche anzahl abgedruckt ilt; nur der jedesmal am [chluls vorgebrachte name muls hergeltellt werden.

über Freidank. 349

(b) II,147 über fprach her Fridane einen fpruch niht ze lanc, [er Sprach] ‘dicke worden ift ze hoen

getwungen dienft, geribeniu fehoen. und nochmals VI, 46 getwungener dienft, geribeniu fchoen

dicke worden ift ze hoen.

(c) VI, 186 ez fprach her Bernhart Fridanc ‘zwiu fol der richen witewen lat (lade geldkifte) än daz fi deftme bitel hät? ir groz guöt wol füegen kan daz fie nimt ein junger man. für ir alte runzen güt fi im filberpunzen: die kan er wol nützen,

und rent ir üf die [prützen.

(d) VII,A1 ‘aller wisheit anevanc ift vorhte fünder wanc’ /prach der wife Salomon.

(e) VII, 488 ez fprach her Bernhart Fridanc "hochvertigiu armuot daz ift richeit ane guot:

(f) armiu hochvart niht mer hät wan hohe gedanke, an eren fpot.

gegenüber ftelle ich die fprüche, wie fie in der echten Befcheidenheit lauten, (a) 82,10 bi rede erkennich toren, den efel bi den oren. (b) 104,20 man fihet manege fehcene, diu doch ift wil hoene. (d) 1,5 gote dienen dne wanc, deift aller wisheit anevanc. (e) 43,20 fiva ift froelich armuot, da ift richeit dne guot. (f) 29,6 armiu hochvart deift ein fpot:

riche demuot minnet got.

man fieht jeder diefer fprüche hat ftarke änderungen erlitten den worten wie

350 WiLseLm Grimm

dem finn nach, zugleich ift der unerträgliche reim @:o zugelaffen; denn dafs /pot nicht als falfche lesart gebeflert werden muls, zeigt der echte text, der das wort hier ebenfalls gebraucht und keine änderung zuläfst. eine ftelle (c) kommt gar nicht in der Befcheidenheit vor, und darf nicht als eine ver- lorne betrachtet werden, da fie Freidanks geift widerftrebt, über deffen lip- pen die gemeine zote der fchlufszeile (vergl. Bernd die deutfche fprache in Pofen f.291) unmöglich kann gekommen fein; die kürzung lat für lade, die auf hät reimen mufs und für Freidank unmöglich ift, brauche ich nicht ein- mal in anfchlag zu bringen. Haupt (von ihm rühren die worte in der Zeit- fchrift 4, 264) hat diefelbe anficht geäufsert, “Bernhart Freidank fcheint mir ein zeitgenoffe und landsmann Seifrieds zu fein, wie fchon der reim Aät: Jpet $, 491 zeigt. dafs er mit dem bisher bekannten Freidank nichts gemein ger als

5 die von Seifried angeführten ftellen fich des ältern Freidanks unwürdig zei-

habe, braucht demnach wohl kaum erwähnt zu werden: umfoweni

gen. wie es fcheint kannte Seifried das fpruchgedicht nur aus der über- arbeitung Bernharts, die des alten gedichts edle haltung herabgewürdigt und den ausdruck vergröbert, zugleich aber dem überlieferten namen den eigenen zur unterfcheidung beigefetzt hatte. gieng doch der bedeutungsvolle name auf andere gedichte diefer art über: ein diefer zeit zugehöriges, das nur einzelne ftellen aus der Befcheidenheit aufgenommen hat, nennt fich der minne Fridanc, (Docen misc. 2,172. vergl. Lachmann zu Walther f. 128). ja ein fpruchgedicht, von welchem Mones anzeiger 3, 183 nachricht gibt, ift überfchrieben daz buoch daz her Fridanc gelihtet hät, ohne dafs das ge- ringfte darin von ihm vorkäme.

Ich kann noch nähere auskunft über Bernharts werk geben. in Mones Anzeiger 1838 f. 367—70 wird eine auf der bibliothek zu Innsbruck befind- liche papierhandfchrift vom jahr 1430 befchrieben und angedeutet dafs fich darin auch fprüche von Freidank Bernhardus befänden. der gefälligkeit des hn D. Adolf Pichler dafelbft verdanke ich nähere nachricht und eine ab- fchrift der hierher gehörigen ftellen; zu gleicher zeit war hr Jofeph Diemer, mitglied der kaiferlichen akademie zu Wien, fo gütig, mir von einer andern papierhandfchrift, welche diefelbe zufammenftellung von fprüchen enthielt, eine abfchrift mitzutheilen. die fprüche aus Freidank ftehen nicht neben einander, fondern zerftreut zwifchen andern von Seneca, Salomon, Jeremias, Paulus u. f.w. es find folgende,

über Freidank. 351

BERNHARDUS 1 ‘Seyt der tod niemandes jehont Wer fol dan die welt lieb haben Die welt felten yemand lont Ob du es reht wild befinnen.

ich glaube es ift zu lefen

Sit der tot niemannes fehonet und diu welt felien ieman lonet, wer fol dan die welt liep han, ob di ez rehte wilt verfiän ? BERNHARDUS 2 ‘Das ift ein heilig veyertag Als man won funden geveyern mag Die tugent uber alle tugent get Der einen bofen willen widerftet. FREYDANKCH 3 ‘Wer reht fucht und befchaidenheit Der felbig ift wol der der tugent ain kron trait (der felb wol der tugent ein chron trait Diemer) So han ich nicht pefferes gefechen Denn wol tun und froleich wefen.! BERNHARDUS 4 ‘Der nicht erhort die fiymme des armen Und lat fich ihr prefien nicht erparmen Den wil auch got erhoren nicht Wenn er kumt in fein grofs verdriefs’ (l. geriht). FREYDANKCH 5 ‘Pil gegerd und nicht gevangen Wil gehort und nicht verftanden Pil gefait und nicht gemerkceht Das find alles verloren werich. bei Diemer fehlt der zweite fpruch, dagegen hat diefe handfchrift zwei mehr, FREYDANK 6 ‘Ich hab gut das ift mein Ach got wes mag es fein Ez enfiet nicht mer in meine gepot dan ich vertzer und gib durch got.

352 WILHELM Grimm.

und unter einer falfchen überfchrift, HELYFAS 7 ‘Wer diefe churcze zeit fur die ebig fraude nympt (l. git) der hat fich felber betrogn

nd czimert auff den regen pogen.

in der Wolfenbüttler handfchrift 8, wo dem ältern Freidank noch fehr ver- fchiedenartige dinge beigebunden find, in den fogar, wie wir unten fehen werden, wahrfcheinlich ein fpruch von Bernhart eingerückt ift, fteht in der letzten, befonders paginierten abtheilung unter mancherlei kleinen ge- dichten ganz vereinzelt feite 65° auch der fechfte fpruch in befferer falfung, FREYDANCK

‘Hort ich hab güt das ifi nit mein

ach lieber got wes mags dan fein

es ftet nit mer zu meim gepot

Dan ich verzer und gib durch got.

diefe fprüche find aus Bernharts überarbeitung genommen, das zeigen die veränderungen, zufätze und die fchlechten reime, nur der fiebente, der ihm auch nicht zugefchrieben wird, mag aus dem echten Freidank 1, 7— 10 ftam- men, es müfte ihn denn Bernhart unberührt gelaffen haben, was er wohl mitunter that. der fammler hat beide namen getrennt, man kan nicht wiffen aus welchem grund, aber mit richtigem gefühl. den erften und fünften fpruch fcheint Bernhart zugefetzt zu haben, der zweite entfpricht Freid. 56, 24 und 54, 3, der dritte dem eingang der Be/cheidenheit, der vierte fteht 40,145. der fechfte ift dort nicht zu finden, aber er ift des echten textes nicht unwert, und könnte zu den verlornen gehören; vielleicht lautete er

ich han guot daz ift niht min,

herre got, wes mac ez fin?

ez ftät niht mer ze mime gebot

dan ich verzer und gibe durch got.

In einer Strafsburger handfchrift vom jahr 1385 find gleicherweife einzelne fprichwörter in reimen und profa gefammelt, die Graff in der Diu- tifka 1,323 —326 bekannt gemacht hat: einiges ift aus Freidank entlehnt, der dabei nicht genannt wird. eine ftelle, die Graff ihrer anftöfsigkeit wegen übergangen, profeffor Mafsmann mir aber mitgetheilt hat, darf ich hier nicht

über Freidank. 353

zurück halten, “Alter der tivfel mus din walten aim pfärit nimeft finen zug Ainem falken finen flug einem hunt fin geferti (|. geverte) und ainem za- gel fini herti (hier feheint eine zeile zu fehlen) Ainem men/chen fine hiz ainem man mache/t den zagel blaw V'nd dz hopt graw vnd die hoden lang Sprichet maifter fridang! ich vermute der unfaubere fpruch ift ebenfalls aus Bernharts werk genommen, deflen er ganz würdig erfcheint, und dem auch wohl noch ein zweites ftück zugehört, das man unten in der anmer- kung zu 51,17—22 findet. ein Freidank diefer Art mag nach Trevifo be- rufen und dort begraben fein.

Endlich will ich noch den prolog mittheilen, den die Wolfenbüttler handfchrift der Befcheidenheit (bl.77°) allein enthält und der, ftil und fpra- che nach zu urtheilen, im vierzehnten Jahrhundert mit beziehung auf 151, 7—12 ift hinzu gedichtet oder, was am wahrfcheinlichften ift, aus Bern- harts umarbeitung entlehnt worden. er zeigt wie in diefer zeit Freidank an- gefehen ward, nicht als eine wirkliche fondern als eine fymbolifche perfon, fo dafs feine unterredung mit dem pabft gar wohl mit feinem grabmal in Ita- lien kann zufammen geftellt werden.

WIE DER PABST FRIDANC SINE SÜNDE WOLTE VERGEBEN.

Der pabft näch Fridanc het gefant:

fragt ob er were ein perfofant.

'gefii für ritter und für knehte,

und fwie di habefi in dime getrehte,

Jwie dich einer müge gefrägen,

daz kündefii eime gerimt wol fagen:

daz (l. des) foltü hie befcheider mich,

daz (l. des) wil ich abfolwieren dich:

und wil dir al dine fünde vergeben,

näch dinem ende dez ewege leben!

[der] Fridane fprach, 'heiliger vater,

kunt ir voller und jo fater

die fünde dn riwwe und leit vergeben, und kume wir‘alfo_(l. füus) inz ewege leben, wirt uns diu helle än buoz gewunen (l. genomen), JO Jule wir al\in himel komen.

[und] alfö die herolt gar klein wägen

und torfien wol die warheit Jagen:

Philos.- hislor. Kl. 1849. NS

394

WILHELM Grimm

wor küngen fürften fi nit vermiten

daz fi diu tifchtüecher vor in zefchniten, (*) fi weften üf einen eine tat.

daz felbe ni gar vafte ab gat,

daz fi die warheit niemer jagen:

des fürht ieglich fins kopfs ab lagen.

v

Zu den fprichwörtern, die andere unferm Freidank beilegen, aber in

dem text der Befcheidenheit, den wir kennen, fich nicht finden, und die ich feite 182 gefammelt habe, will ich einige nachträge liefern. in Rudolfs Wil- helm von Orlens kommt (Caffel. handfchr. 9166 —80) folgende ftelle vor,

der edel wife wigant

was fines heiles alfö frö

daz ime was gefchehen fo

daz er die wege niht wol befach. ime gefchach als einer fprach,

der fich verftuont des befien wol, ‘nieman fich fines liebes fol

ze fere fröun in finem muot:

ouch ifiz dem manne niht guot daz er [fin] unfelekeit fo | fere] klage daz er an freuden gar verzage. durch liep durch leit fol niemen fich wergähen; daz ift wislich.

eft war, jfö ie gaher,

ie gar unneher!

ich finde in diefen fprüchen Freidanks geift und ausdruck (man vergleiche zu dem letzten fpruch 32, 19.20) und glaube dafs fie aus der Befcheidenheit genommen find; paffend bezeichnet ihn der ausdruck der fich ver/ftuont des

beften wol. In den von Ettmüller heraus gegebenen fechs briefen heifst es z.29

folg. nach Haupts herftellung (Zeitfchrift 4, 398)

(‘) die verborgene unthat aufdeckten.

über Freidank. 399

Swer ane finne minnet,

wie felten der gewinnet

keine wünnecliche zit!

wan her Fridanc der kwit ‘ein man der rehte minne hat, wie dicke er von den liuten gat! er trüret zallen fiunden

und klaget fine wunden,

diu noch unverbunden Jiat, wande fi nieman enhat

der fie gebinden kunde,

Jo fi bluoten begunde.

Zu der ftelle aus der Minnenlehre Heinzeleins von Konftanz bemerke ich dafs auch Kirchhof im Wendunmut (Frankf. 1581) feite 145° diefes fprichwort, doch mit andrer wendung anführt,

Lafs aufs dem Hof führn deinen Mift Mit Vortheil weil du Schultheijs bift, Aber doch bauw zuvor ein Haufs

Der Mift kompt hernach auch hinaufs.

Es ift kein grund vorhanden das zeugnis diefer ftellen zu verwerfen, und der fchlufs ergibt fich von felbft (vergl. Einleitung xxxr), dafs wir Frei- danks werk nicht mehr vollftändig befitzen. der verluft eines beträchtlichen theils ift nicht wahrfcheinlich, fchon deshalb nicht, weil in der bedeutenden zahl von fprüchen, die Hug im Renner dem Freidank ausdrücklich beilegt,

nicht ein einziger vorkommt, der noch unbekannt wäre.

vu

Von den feit 1834 aufgefundenen und mir zug handfchriften Freidanks werde ich bei der neuen ausgabe nachricht geben: hier berühre ich nur die, welche bisher noch nicht bekannte ftellen enthal- ten. mittheilungen aus der Karlsruher handfchrift machte Mone (Anzeiger 4, 57— 60), die mich zu einigen bemerkungen (Göttinger anzeigen 1835 ftück 45) veranlafsten; er hatte über hundert zeilen ausgehoben, die in mei- ner ausgabe fehlen follen, die aber darin ftehen. eigene einficht in die hand- fchrift, die ich der grofsherzoglichen bibliothek verdanke, macht es mir möglich genau nachzuweifen was fie bisher unbekanntes gewährt.

Yy2

änglich gewordenen

356 WitHeLm Grimm

23 hänt zwene herren Einen kneht, er dient in beden jelten reht.

vielleicht nur eine entftellung von 50, 6. die kürzung reht für rehte an die- fer ftelle ift für Freidank auffallend, doch vergl. unten 934; vielleicht ift auch hier zu lefen deden niht ze reht.

155 gedanc hoeren unde jehen die wellent nieman tete jehen. in Einen muote niemen ınac

beliben einen ganzen tac.

wie man hernach fehen wird, kommen diefe vier zeilen, gleicherweife auf einander folgend, auch im lateinifchdeutfchen Freidank vor: in mei- ner ausgabe ftehen die beiden letzten 58, 11. 12, wo nur die worte äne Jorge ftatt in Einem muote den finn ändern, fo dafs ein anderer fpruch dar- aus wird, der feine berechtigung durch eine in der anmerkung beigebrachte, entfprechende ftelle bei Walther erhält. die handfchrift A (110°) fiimmt

wieder mit dem texte hier überein.

249 ez fint driu dine (l. driu dinc fint) alleine aller manne gemeine, pfaffen wip und fpiler win:

begozzen brot magz dritte fin.

pfaffen wip meretrix, Berthold fagt 359 pfäffinne; vergl. Freid. 16, 17. /piler win wohl ein wein geringer art, der fpielern gereicht wird. begozzen dröt find mit heifsem fett beträufelte brotfchnitten: näheres bei Hadlaub MS. 2,191’ (vergl. MSHag. 2, 299°), der haven walle und daz veize drin- ne [wimme, fo begiuz in (den gäften) wiziu brot: Wackernagel (Haupts zeit- fchrift 6, 269) bezeichnet es als vorkoft. ein ftadtpfleger zu Augsburg war im jahr 1347 her Heinrich der Begozzenbröt genannt. eine profaifche auf- löfung des fpruchs in einer Strafsburger handfchrift (Diutifka 1, 325) lautet ‚/piler win, pfa/fen wip und begozzen bröt daz fint driu dinc diu gemei- ne fint. 307 [wer fich vor fünden bewart (]. hat bewart), der hat begangen [ein] guote wart. 311 fiver offenbare fünde tuot, der habe worhte; daz ift guot.

über Freidank. 397

315 fiwelher äne riuwe ift, dem wirt gegeben kleine frift. Swaz man ane riuwe tuot, daz wirt wil felten guot. 321 fiver fich niht liegens fehamen wil, der volget eime boefen jpil. 493 zwivel grozen fehaden tuot, er wvelfchet manegen hohen muot. 933 under wilen [der] fehalkhaftigen (1. fchalkhaft) kneht durch trügenheit dient wol (l. dient ze) reht.

Eine von Wiggert im zweiten Scherflein f.70—78 befchriebene und mir durch freundliche mittheilung feiner eigenhändigen abfchrift näher be- kannt gewordene Magdeburger papierhandfchrift, von der fchon oben die rede war, ift im jahr 1460 gefchrieben und enthält in etwa 3700 zeilen, die der zweiten ordnung folgen, eine niederdeutfche überfetzung, deren ver- faffer wahrfcheinlich das am fchlufs ftehende gebet hinzugefügt hat. einige ftellen find hier allein erhalten.

bl. 21 ‘de logen mot dat fiwerent lan, Schal fe jenighe getruwere han. ich fchreibe den fpruch wie die folgenden gleich ins hochdeutfche um, die lüge muoz daz fwern län, Jol fi iender triuwe han. echt fcheinen die beiden zeilen, denn in der handfchrift e ift Freid. 126, 15 ftatt diu glocke muoz den klüpfel hän, wie es gewis richtig heifst, die erfte fälfchlich eingefchoben, “Die lügene müs dan claffen hän. bl. 54° ‘dat hebbe wy beyde gehort vn gefeen’ (l. fwaz wir beide han gefehen,) daz ifi wil dicke gefchehen. wirp felbe diniu dinc, Jo kürzet fich daz tegedine. von füren herzen hövefcheit, daz ift verlorn arebeit. (alter) pfaffen kuonheit, unde (l. junger) nunnen fietekeit unde ohfen zelten [diu] werdent (l. wirt) gelobet Jelten.

358 WILHELM Grimm

junges mannes .... firit und altes wibes hochgezit und kleines pferdes loufen, diu fol nieman |ze] tiure koufen. beffer (a) im Liederfaal 3, 201 und (b) in der Strafsburger handfchrift vom jahr 1385 (Diutifka 1, 324), (a) alter wibe minne (b) iunger liute finne und junger liute finne und alter liute minne und kleiner rofje loufen und kleiner pferde loufen Jol nieman tiure koufen. ol nieman tiure koufen.

In die fammlung der Clara Hätzlerin find auch einzelne ftücke aus der Befcheidenheit, etwa 400 zeilen, eingerückt, wie es fcheint, nach der zweiten ordnung. darin finde ich (feite 294”) zwei noch unbekannte fprüche

ez fint morgen alle liute

dem tode näher [vil] danne hiute. der tot die liute von uns fiilt rehte als der fchächzabels fpilt.

Mones anzeiger 1839 f.20 fpricht von einer zu Wien in privathänden befindlichen papierhandfchrift vom jahr 1501, die ein bruchftück von 74 ver- fen aus dem Freidank enthält. nur die beiden anfangszeilen werden mitge- theilt, aber diefe liefern einen fpruch, der fonft nicht vorkommt,

wvil fchiere hät verlorn ein man daz er in langer zit gewan.

Von dem lateinifchdeutfchen Freidank hat Efchenburg (Denkmäler 1441—118) nachricht gegeben: ich kenne ihn aus dem fehr feltenen, wahr- fcheinlich noch in das 15" jahrhundert gehörigen druck, der fich in der meu- febachifchen bibliothek befindet, fodann aus einer Göttweiger papierhand- fchrift in klein folio, deren mittheilung ich der zuvorkommenden güte des hn Diemer verdanke, wo diefer text verfchiedenartigen lateinifchen ftücken bei- gebunden ift. der druck enthält etwa 1080, die handfchrift gegen 900 deut- fche zeilen: fie fimmen wenig mit einander und gewähren nur zum theil diefelben fprüche; wahrfcheinlich liefern fie auszüge aus einer vollftändigern überfetzung. auch die Strafsburger handfchrift, von der Efchenburg f. 112 und Graff in der Diutifka 1, 324 fprechen, fcheint, zumal fie nicht mehr als 372 deutfche zeilen enthält, gleicher art zu fein. die lateinifche überfetzung,

über Freidank. 359

die den deutfchen text nicht ändern will, aber oft fehr verderbt vorbringt, ift wohl im 14“ Jahrhundert entftanden: die Strafsburger pergamenthand- fchrift fällt in das jahr 1385. der deutfche text verdient berückfichtigung, da er einige gute lesarten (vergl. die anmerkung zu 72, 12) bewahrt oder beftätigt. die fonfther nicht bekannten fprüche lafle ich hier folgen. Göttw. h[. alter druck gedenken (gedanke Göttw.) hoeren unde fehen

diu wellent (Dy wyjen Göttw.) nieman (nymmer a. dr.)

Siete jehen. in Einem muote niemen mac geleben einen ganzen tac.

diefe vier zeilen find vorhin auch aus der Karlsruher hf. mitgetheilt, der alte druck hat nur die beiden erften. Göttw. unkiufchiu wort diu machent daz boefe (l. guote) fite [mit] fwachent. 10° des wifen mannes forgen Jehaft im gemach vor borgen. 10: fiver den wiben übel fpricht, der ift an ir minne enwiht. 14° fwie dem menfchen gefchiht (1. liep gefchiht), ez gloubt doch einr dem andern niht. 15° ezn wart nie müeje alfö gröz, [ön] der [do] wirt boefes wibes gnöz. alter druck 1? ‘/Ver wiechen wyl dem czukunftigen czoren Der volge nach crifio und feynem orden. offenbar ganz verderbt, lateinifch Cedere venture quifquis vult iudieis ire Debet poft Criftum filiatis paffibus ire. 5: ‘Es wart nye fo fiet kein menjchen mud Der zu aller ftundt rutht. die erfte zeit ift unmetrifch, der reim unzuläffig. die lateinifche überfetzung lautet ‘Non eft cuiusque mens fubdita fit requiei Ut non mutetur fpacio quo- cunque diei” ich glaube es ift nichts als eine entftellung des oben mitge- theilten fpruchs der Karlsruher hf. z. 157. 158.

19° niumere grözen fchaden tuot, ‚Ji velfchet manegen fieeten muot.

360 WirneLm Grimm

24» der richtuom ift für niht gar, des man niht gebrüchen tar. 25° Swer fich ze fünden (l. Swer ze fünden fi) bereit, daft diu groefte unfelekeit. lateinifch Hic ad peccandum qui cernitur effe paratus Poft erit infelix multo- que dolore grauatus. 28: ‘Der libet aufs vnordetlicher libe Dem wil eyn füundt der andern zu fchibe! fichtbar entftellt, das lateinifche lautet Cum quis illicito fefe fupponit amori Hic fenfus veniet ex fenfu deteriori. 30° eim boefen giftigen man Jol man legen pin an. Qui colubrum fuadet emittere dira venena Illum fi fequitur non mirum con- grua pena. In der Wolfenbüttler handfchrift, die ich ® bezeichnet habe, finde ich einiges was fonft nicht vorkommt. bl.110° ich mide wifehe manegen tac, Jo ich ir niht gehaben (\. haben) mac. 120° ‘darümb lafs dich lieb nit vber gen und gedenck daz du ir mügft vor geften wiltu aber ye ein lieb haben Jo fweig vnd lafs dich nit vberladen. angerückt ift diefer fpruch an 99,19. der mangel an versmafs und der un- genaue reim zeigen die unechtheit an. das pafst für Bernhart Freidank, und ich glaube dafs er aus diefem, den die handfchrift 8 kennt, hierher gera- ten ift.

vu

Gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer von Ja- cob Grimm 1844 wird [. 113 gefagt “einen abftand Waltbers und Freidanks aus ihrer fpracheigenthümlichkeit darzuthun fällt fchwer, da von beiden wir nicht text genug vor-uns haben, Freidank aber bei zufammenftellung fchon überlieferter fprüche leicht ausdrücke und wendungen behielt, die nicht ein- mal in feiner mundart vorhanden waren. es kommt hinzu, dafs feine Be- feheidenheit nicht in ihrer echten geftalt aufbewahrt und auf die jüngeren

über Freidank. 361

mehr unvollfiändigen als interpolierten abfchriften kein verlafs ift; die we- nigen gerade auch in unfere Münchner lateinifche fammlung f. 110" aufge- nommnen und daraus in Docens mifcellaneen 2, 195.196 abgedruckten fprü- che gewähren ältefte urkunde. ich kan dem nicht beifiimmen. zwar ift, wie ich gezeigt habe, die alte ordnung nicht mehr herzuftellen und in ein paar ein- zelnen fprüchen das urfprüngliche geftört, aber bei der überwiegenden mehr- zahl ift der text gefichert und zwar so gut gefichert als in den meiften denk- mälern jener zeit. eine anfehnliche reihe von handfchriften gewährt hinläng- liche beglaubigung, ja es liegt gerade ein zeugnis für die echtheit des textes darin dafs, der verfchiedenen umftellungen und änderungen der reihenfolge ungeachtet, er fo gleichlautend und übereinftimmend fich erhalten hat; und wer darauf befteht den höchften grad der verderbnis voraus zu fetzen, der kan doch unmöglich annehmen der urfprüngliche text würde abweichungen von Walthers fprachformen gezeigt haben: dann mülte die vermutete ver- derbnis abfichtlich darauf ausgegangen fein diefe verfchiedenheit zu tilgen, daneben aber das übereinftiimmende ftehen zu laflen: ja die urheber der verfälfehungen (mehrere natürlich, denn einer allein konnte den echten text in allen handfchriften unmöglich vernichten) müften fich in diefem fireben die hand geboten haben. ich zweifle nicht der text der reinften handfchrift würde ebenfowenig verfchiedenheiten von Walther zu tage bringen als der den wir befitzen, wahrfcheinlich aber noch einige übereinfiimmungen mehr. die Heidelberger handfchrift A, welche die grundlage meiner ausgabe ge- währte, ift mindeftens ebenfo alt als jenes Münchner bruchftück, das Schmel- lers carmina burana f.107—109 genauer als Docen mittheilen: fie ift eine gute wenn auch nicht vortreffliche zu nennen und ftellt die erfte ordnung dar. da fie im ganzen unbezweifelt beflere lesarten liefert, fo habe ich ihr in den meilten fällen der zweiten ordnung gegenüber den vorzug gegeben, jedoch bei der neuen bearbeitung des textes von diefer firenge etwas nachgelaffen. das Münchner nur aus 56 zeilen beftehende bruchftück folgt der zweiten fpätern ordnung, und da es den vorzug verdienen foll, fo habe ich die mühe nicht gefcheut, es mit A genau zu vergleichen. es ftellte fich heraus dafs feine abweichungen, die niemals den finn berühren und im ge- ringften nicht einen gegenfatz von echtem und überarbeitetem text auch nur andeuten, überall fehlerhaftes oder verwerfliches liefern. 105, 6 flickt es gegen das versmafs gar ein und fchreibt fälfchlich verniugeret. 136,12 fiht Philos.- histor. Kl. 1849. Zz

362 WirHerm Grimm

für das richtige enfiht der erften ordnung. 136,13 wo A das fchwierige ge- tagen hat und die handfchriften der zweiten ordnung, die das wort nicht verftanden, immer etwas anders vorbringen, zeigt es ein unverftändliches lagen. 138,6 fteht das weniger beglaubigte ;/i dem beflern were nach. 141, 20 kommt die metrifch fchon unzuläffige form florchen vor. 142,10 fwenne ftatt /wd gegen A und alle übrigen handfchriften habe ich mit recht zurück geftellt. es ift gar nichts aus diefem bruchftück zu gewinnen.

In Hattemers denkmälern des mittelalters 1, 421 wird aus einer hand- fchrift der füftsbibliothek zu Sanct Gallen eine einzelne ftelle angeführt, welche zwei fprüche aus Freidank (110, 21.22. 84, 6. 7) enthält; bei dem zweiten fehlen die beiden reimwörter. die handfchrift foll angeblich in das neunte jahrhundert gehören: das ift fehon der fprachformen wegen ganz un- möglich, aber fie mag doch aus dem anfang des dreizehnten fein. der text weicht von dem bekannten nicht ab und ift nur infoweit fchlechter als fich in die erfte zeile felbes fälfchlich eingedrängt hat.

VIH

Gegen meine vermutung dafs hinter den namen Walther von der Vo- gelweide und Freidank ein und derfelbe dichter fich verberge, habe ich den von der gleich in die augen fallenden verfchiedenheit beider gedichte ge- nommenen einwand, den einzigen der gewicht hat, gleich anfänglich felbft mir gemacht, aber er fcheint mir entkräftet durch den natürlichen abftand zwifchen kunftreichen liedern, die zum gefang beftimmt find, und einem die gegenwart ernft und hart angreifenden, grofsentheils aus fprichwörtern zu- fammen gefetzten, in einfachen reimpaaren abgefalsten werk, das gelefen ward. wo zeigt fich Freidank in gedanken fprache und gefinnung Walthers unwürdig? was unterfcheidet fie beide anders als der äufsere ftandpunct, und was hindert einen beweglichen, nicht an Eine form fich bindenden geift diefen oder jenen nach wohlgefallen einzunehmen? hier redet der dichter fchlicht, volksmäfsig, wie es fein zweck fordert, dort mit dem fchwung der erhebung und mit den blühenden worten eines fängers, und doch fehlt auch diefem, der ars und mäne ins gleichnis bringt, nicht die gefunde derbheit des andern. als ob Göthe der liederdichter nicht auch die weiflfagungen des Bakis habe fchreiben dürfen? gemahnt Freidank wie eine fchwächliche und abhängige natur, die ihre dünnen wurzeln erft aus fremder quelle be-

über Freidank. 363

giefsen mufs? weils er nicht felbft üs iegelichem vazze gät daz ez innerhal- ben hät? ich glaube mich nicht zu teufeben, wenn ich, wie ich fchon in der Einleitung cxx gefagt habe, in dem gedicht Freidanks den beigefchmack einer eigenthümlichen perfönlichkeit und zugleich Walthers befondere gemüts- füimmung empfinde. ich kann ein paar ähnliche oder vielmehr fchärfere ge- genfätze aus jener zeit nachweifen. wer erkennt den lebensfrifchen dichter von Erek, Gregor, Iwein, dem armen Heinrich in den mit ermüdenden, ziem- lich dürftigen betrachtungen erfüllten zwei Büchlein wieder? Lichtenfteins minnelieder find, wenn auch ohne tiefe des gefühls, zierlich gedacht und in einer gewandten, höfilch gebildeten fprache anmutig ausgedrückt: würde man glauben, wenn man deffen nicht ficher wäre, dafs ein von aller phanta- fie entblöfstes gedicht, ich meine den Frauendienft, von demfelben verfaffer ausgegangen fei? ich will nicht von dem oft widerwärtigen, oft abgefchmack- ten inhalt reden, fondern denke hier nur an die trockene chronikartige er- zählung, die es nirgend auch nur zu einem geringen grad von lebendigkeit bringt; der gegenfatz ift viel gröfser als zwifchen Walther und Freidank. aber es foll ‘fchwer fallen den abftand ihrer fpracheigenthümlichkeit darzu- thun, da wir von beiden nicht text genug vor uns haben. das will mir nicht einleuchten. Walthers lieder enthalten etwa 5000, Freidanks werk gegen 4000 zeilen: auf einem felde von diefem umfang konnten fprachverfchiedenheiten genug aufwachfen. ift doch der umgekehrte verfuch gemacht worden (Haupts zeitfchrift 5, 74. 75) aus fieben vereinzelten, nicht mehr als 64 zeilen ent- haltenden bruchftücken eines verlornen gedichts von frau Treibe gleichzei- tigkeit und ähnlichkeit der lautverhältniffe wie des fiils mit dem aus 1300 zeilen beftehenden gedicht vom grafen Rudolf nachzuweifen, während dort vollkommene, hier unvollkommene reime beide gedichte weit genug aus- einander fetzen. dann aber ift die übereinfiimmung in den [prachformen Walthers und Freidanks, wie merkwürdig und wichtig an fich, nicht einmal die hauptfache, fondern der einklang in fittlichen fowohl als politifchen an- fichten, die nur in liedern fich tiefer und fchärfer ausfprechen konnten: fer- ner der einklang in bildern, wendungen und redensarten, die fich bei einem einzelnen feft zu fetzen pflegen und die ein anderer ohne mühlame anftren- gung, zu der fich hier kein natürlicher grund denken läfst, nicht ablernen kann. ift etwa jene ängftliche übereinftiimmung zu bemerken, wie bei einem der fich von dem andern gedanken und worte holt? ich finde auf beiden Zz2

364 WirseıLm Grimm

feiten freie und ungezwungene auffaflung: es gibt einfache fprüche bei Frei- dank, die mit der reichern ausführung in Walthers ftrophen zufammen kom- men (f. die anmerkungen zu 100, 6.7. 103, 25. 26). man erkläre diefe er- fcheinung, wenn hier zwei verfchiedene fprechen, auf eine befriedigende weife nur nicht durch kleinliche nachahmung oder angewöhnung, die bei dem fo felbftändig und fcharf fich äufsernden Freidank nicht an der ftelle ift: welch ein armfeliger, aller eigenen mittel entblöfster geift müfte er gewefen fein. wo man einen folchen einflufs am erften fucht, bei Walthers fchüler, dem von Singenberg, da habe ich ihn gerade nicht gefunden: hingegen wie leicht erkennbar ift die nachahmung Hartmanns bei Wirnt und Fleck, die fich wie- derum fo deutlich von ihrem vorbilde unterfcheiden.

Ich will die in der Einleitung exxın— vır ausgehobenen übereinftim- mungen, fo genügend fie mir fcheinen, noch mit einer reihe anderer ver- mehren, wobei ich abfichtlich auch auf weniger hervor tretende, doch nicht überall vorkommende gedanken und ausdrücke rückficht nehme, weil mir darin eine befondere beweiskraft gegen abfichtliche nachahmung zu liegen feheint; dergleichen borgt niemand ab. der armet an der fele Walther in W. Wackernagels lefebuch I. 388, 36: der armet an dem muote Freid. 56, 12. in finem füezen honge lit ein giftie nagel W.29,12: feht daz honc, Swie füeze ez fi, da ift doch lihte ein angel bi F. 56,12. verderbeft dich mite W. 60,29: fie verderbent fich mite F. 42,26. fo ift vaz und tranc ein wiht W.106,22: wirt elliu fünde ein wiht F. 35,9. daz iu fanfte tuot W. 56,20: daz mir fanfte tuot F. 40,9. daz fi heizent minne, deis niewan fenede leit W. 88, 19.20: minne (bringet) fenede leit F. 51,16. doich Je wünnecliche was in troume riche, taget ez und muos ich wachen W. 75, 22—24: dem blinden ift im troume wol, wachend ift er leides vol F.55, 1.2. für kan nieman keinen lift W. 56,8: dd für enkan ich keinen lift F. 65,19. die unrehten die daz riche weenent fleeren W.10,23: der fürften ebenhere fioert noch der riches ere F.73,8.9. wa fo liep bi liebe lit gar vor allen forgen fri W. 92,1: wer liep hät, der wirt felten fri vor forgen F. 101,25. 26. der kalte winter was mir gar unma@re W.118, 33: der fu- mer würde gar unmare F. 117,6. huobe W.125,6: F.120, 6. faget war umbe er fine lere von den buochen fehabe W. 31,31 und daz er mich von dem briefe [chabe W. 100, 27: reht gerihte ift abe gefchaben F. 162,17 und dins glouben Ere ift abe gefchaben F. 152, 27. ich merte ie dem tieyel finen

über Freidank. 365

Jehal W.123, 22: des hät der tiuvel grözen fchal F. 168,16. des fi dir lop und ere gefeit W. 3, 71: F. 181,1. an iu fin fröide ftät W. 113,16 vergl. 81,18. 97,17. 121,15: an der des glouben fröide fıät F.161,8. daz dich Jehiere got gehoene W. 64, 34: got mohte den tiuvel niemer baz gehoenen F. 68,12.13. diu nahtegale fane W. 94,19: F.139, 22, beide gebrau- chen daneben die ftarke form nahtegal W. 65, 23: F. 142, 7. gröze höve (der plur. ift felten) W. 65,29: F. 88,18. 52 eigenem fiure W. 28,3: bi eigenem bröt F.28, 3. halfen triuten W. 92,1: F. 100,6. al diu welt W. 58, 24. 111,8. al die werk W.28, 31: F. 101,23. über al der welte W. 76, 27: F. 109, 11. der boefte, der befte W. 26, 29— 32: F. 90, 26. 105,15. 110, 24. zer helle varn W.15, 27: F.405, 9. 151, 12. 180,1. zorn fenften W. 7,21: F. 64,12. arger lift W. 34,17: F.14, 11. enger rät W. feite 148: F. 72,16. boefer rät W. 83, 31: F. 162,2. fchanden mäl W. 30,23: F. 118,6. fel- den fluz W.18, 25: fehatzes flüzze F. 148,4. üz der nöt komen W. 15,23: F. 35,7. zende komen W. 84,2: F.111,13. 162,19. reife varn W. 29,18: F. 12,12. den muot befwaren W. 62, 27. 88, 30. 90,12: F. 109, 5. leben näch wäne W. 33, 31: F. 116,7. daz befte tuon W. 14,21: F. 82,23. 99, 4. 110,11. 149, 22. 156, 22. 160,18. aber als W. 88,38: F. 88,18. michels baz W. 112,31: F. 163,12. muoter barn W.5,40: F. 151,11. lüter brunne W. 94,17: F. 71,23. guote finne W. 33, 32. 123, 36 u. f. w.: F. 143,18. der wäre Krift W. 4,26. 5,18: F. 173,10. weizgot W. 32,26: F. 175,5. grunt bildlich, herzen grunt W. 6,12. 27,26. 36: tödes grunt F. 156,24. fuontac W. 95,7: fuones tac F.169,5. offen ften W.74,15.17.19: F. 12,20. 66, 6. 161, 21. fere fireben W. 80,5: F.154, 23. vor gän W. 33,13: F. 122,10. fich haben an einen W. 31,22: F. 55, 11. 96, 27. 151,6. einem bi geftän W. 45, 29: F. 16,12. 158,1. fich teren län W. 10, 20: F. 67,2. befcheenen W. 104, 4. 106,6: F.162, 22. fich befprechen W. 79,7: F. 64, 21. grinen W. 29,9: F. 138,12. drogen W. 12,10: F. 147,7. rünen W. 53,12: F. 54, 23. loefen befreien W. 76, 36. 78, 34: F. 20,17. 39,19. 130,9. 151,3. 181, 4. niuwe fubft. W. 17,30: F. 119, 4. gouch narr W. 10,7. 24,7. 79,2: F. 54,22. 83,12. 98, 12. 150,21. gehörfam W.11,7: lobefam F.13,13; vergl. Haupt zu Engelhart f. 247. offenliche W. 10,14. 44,78: F. 162,27. her bis- her W. 21,26. 32,1, 94, 3. 98,28: F. 176,8. zu unwip (Einleitung cxxvı) mufs ich nachtragen dafs in der Klage 361, im Iwein 2299 unwiplich, bei Herbort 17254 und Lichtenftein 566, 19 unwipliche, im Gerhard 3213 un-

366 WirHELm Gkimm

wiplichen, in Türheims Wilhelm bl. 161° unwiplichez wip vorkommt. die früheren anmerkungen zu 58, 12. 67,25. 126, 18, die übereinfimmungen nachweifen und hier berückfichtigung verdienen, habe ich anfehnlich ver- mehrt zu 4,17. 16, 25. 33, 23. 35, 5. 44, 3. 55, 16. 57,2. 58, 11. 87,6. 87, 8. 89, 2. 95, 16. 103, 25. 123,12. 123, 21. 124,5. 126,18. 140, 9. 155, 4, 158, 8. 158, 27. 164, 8.

Man kann einzelne übereinfiimmungen für einen zufall erklären, aber unmöglich eine fo grofse anzahl. von einem wort will ich noch befonders reden, weil es bei unferer frage vor allen andern gewicht hat. bei Frei- dank findet fich diu kriften für kriftenheit 10,26. 149, 14, und das vers- mafs verlangt es auch 13, 22. 153, 30: es entfpricht dem althochdeutfchen criftani, kommt aber in diefer zeit fonft nirgend vor. zwar auch nicht bei Walther, doch fcheint er das auf gleiche weife gebildete heiden zu gebrau- chen; vergl. zu Roland 3, 23 und Lachmann zu Walther 15,19.

Übereinfiimmungen in einzelnen fprachformen habe ich fchon in der Einleitung cxxvır nachgewiefen und füge hier einiges hinzu. ob anderz W. 32, 31. 92,13: F. 12,12, die flectierte form des neutrums in diefer zeit noch fonft vorkommt aufser im Iwein 7112, wo fie aber die befte handfchrift nieht gewährt, ift mir unbekannt. dem gekürzten infinitiv pröfe F. 85,22 entfpricbt büeze W. 37,13, wiewohl Lachmann die echtheit diefes liedes bezweifelt. ich bemerke auch W. 17,37. 67,1. 117,2: F. 43, 2. 103, 27. beide ge- brauchen fanc als mafe. W. 14,5. 29, 3. 32, 33 u. f. w.: F. 143,18, fodann den plur. friunt W. 74,10. 79, 21 (auch 31,2 ift wohl gewi/fe zu lefen): F. 12,12 und das part. praet. verbrennet W. 4,16: F. 151,16. W. gebraucht 7, 20. 91,25. 105,17 offenbäre, aber 87, 18.23, gerade in dem lied, in wel- chem eine ftrophe mit F. flimmt, offenbär, wie es diefer 23, 17. 42,16 thut. beide verwenden vzent vint vinde W. 53, 14. 29,20: F. 47,7. 62,2. 72,10. 73,7. 113,15. 128,4. verfchiedenheiten habe ich auch bei erneuter aufmerkl[amkeit nicht finden können; ein umftand der nicht geringeres gewicht hat. denn dafs F. 60,1 einmal im reim den nom. pl. herzen anwendet, W. nur Aerze, brauche ich kaum anzuführen: warum follte F. fich nicht der andern fo be- kannten form bedient haben, da ja auch W. bei firäze die ftarke und fchwa- che form zuläfst? zudem ift eine änderung leicht, man braucht nur in der folgenden zeile manege fmerze zu lefen, dem althochdeutfchen /merza ent-

über Freidank. 367

fprechend. diefes wort kommt fonft bei F. nicht vor, gar nicht bei W., und ift überhaupt in diefer zeit felten.

Die fprache ift in beiden denkmälern rein oberdeutfch und zeigt nicht, wie im mitteldeutfchen, einmifchungen der niedern mundart; fie verraten auch darin eine gemeinfame heimat. ich hätte daher auch nicht die mittel- deutfche form terre (8, 22. 19,1. 59, 4. 108, 3) gegen die lesarten ferne fefthalten follen, zumal diefe bei Walther erfcheint; indeffen begegnen wir ‚Sterre auch im Servatius 648 und bei dem füddeutfchen Berthold: auch reimt in dem gedicht von Bonus (Haupt zeitfchr. 2.211,87) flerre: herre, und in einem öftreichifchen gedicht (Rauch feriptores 1, 374) fterren : merren. ebenfo verhält es fich mit martel 9, 23. 26,16. 173,2, marteler, wie 67,24 ftehen mufs, und gemartelot 173,9, wolür marter marterer gemarteröt zu fetzen ift, wiewohl es fchwer zu begründen fällt dafs die oberdeutfche fpra- che diefe form nothwendig verlange, weil es zwar reime auf marter, nicht aber auf martel gibt. ich ziehe marter gerne vor, da ich es auch bei Wal- ther finde: ein ihm beigelegtes lied (MS.1,134°) zeigt es im reim. dagegen ge- braucht Otfried fchon martelön und Berthold häufig martel f.28. 31. 35.101 u.f. w. wie martelen f.82.88. 150: ebenfo Heinzelein von Konftanz (Diu- tifka 2, 255) martel. umgekehrt aber reimt der mitteldeutfche dichter des Lohengrin zweimal (f.84. 194) marter : zarter, felbft im hl. Anno 87 findet man merlirere, bei Herman dem Damen 384, im Wartburger krieg (MSHag. 3,179°) und im Paffional 4,20 marter, 128,19. 259, 93 martercere, ja die niederdeutfche überfetzung Freidanks fchreibt in allen fiellen marzer und nur einmal (67,24) mertelere.

IX

Ich bin bei der herausgabe von Freidanks werk der anficht gefolgt, dafs man, weil er nicht wenige fprüche aus volksmäfsiger überlieferung auf- genommen habe, eine ftrenge beachtung der metrifchen gefetze nicht fuchen dürfte und glaubte ihn entfchuldigt, wenn man fchweren auftact, nachläffige behandlung der fenkungen und andere verftölse gegen die kunftgerechte form wahr nahm. von diefem vorurtheil bin ich zurück gekommen: ich glaube vielmehr dafs er den beften dichtern in diefer beziehung nicht nach- fteht und hofle dafs eine neue (diefer abhandlung fchon zu grund liegende)

368 WirHeLm Grimm

bearbeitung des textes davon überzeugen wird. auch hierin tritt die über- einftimmung mit Walther hervor, fo weit fie bei der verfchiedenheit der dichtungsart möglich ift.

In der abneigung vor ftarken kürzungen ftehen beide dichter den zeit- genoffen Wolfram und Hartmann gegenüber; man könnte darin eine einwir- kung von Walthers aufenthalt in Mitteldeutfchland fehen, wo fie nicht be- liebt waren.

Das auslautende tonlofe e kann, wenn ein langer vocal voran geht, nach den liquiden wegfallen, ich wen W. 22,30. 34,20: F. 111, 14. 120,15. ich mein F. 75,19. än W.7,15. 29,1. 90, 25. 73,8: F.7,7. 37,25. 43,16. 411,19. 120,19. 126, 11. fin (fuam) W. 7,19. 29,14. 37,20: F.6, 4. 36,7. 37,17. 66, 24. 128, 27.129,11; -vergl. Lachmann zu W. 20,13 und 61, 22, der nachahmung der gemeinen fprache darin fieht. min (meam) W. 36, 28. 46, 31: F. 113,17. wer W. 23,17: F. 75,11. 80, 23. 85,10. 89, 18. 136, 6. 145, 7. fuor W. 20,13. nach einer muta bei voraus gehendem langen vocal nur in wenigen fällen, umd W. 11,5. 83, 38. 85,19. 111,4: F. 13,22. 55,4. 139, 24. ich wolt W. 26, 33: F. 91,8. flüent F. 3, 26. ged@t wir W.10, 2. tet W. 89, 30; vergl. Lachm. z. 20,13. bei voran gehendem kurzem vocal nur ein einziges auffallendes beilpiel /Zat W. 110, 34; vergl. Lachm. f. 172. 218. W. hat auch ich ih 82,14. diefes e fällt ferner im inlaut einige male zwifchen liquiden aus. einr W. 26,17: F. 73,5. 105,2. 177,20; ich habe kein beifpiel aus einem andern dichter. hüenr W. 34,12: F. 73,5. 177,20; ich finde diefe kürzung nur noch bei Gervelein MSHag. 3, 37, der aber die ganze zeile aus Walther wird genommen haben, wie eine andere ftr. 8,1 aus W. 850,20. dinr W.5,24. viern F. 109, 21; das wort kommt nur in der einen ftelle vor, bei W. gar nicht. zeiln F. 28,13. hern F. 90, 24. ein, der artikel, für einen F. 2, 27. 6, 3. 46, 22. 70,14. 77,4. 131,15. 156, 27. 170, 14. auffallend F. 122,2 näch dem fin, aber das fubftantivum in der voran gehenden zeile nöch dem fchaden min wirkt noch fort. der acc. dehein 141, 4 im reim auf @hein entfcheidet für die fchreibung. in den liedern enthält fich W. diefer kürzung. häufiger ift der wegfall zwifchen liq. und mut. eins, der artikel, W.19,5.8: F., der artikel, 80,16. 82,4. 98, 21. 22. 412,6. 138, 3 und zahlwort 18, 22. einz, zahlwort W. 18, 9: F. 87,25. keinz F. 2, 97. 19,19. 116,16. deheinz F. 12,1. mins W. 54,6. 73,16. 74,9: E..122,5, 179,25. /ins W. 18, 27: F. 23, 21.73, 3. 138,18. am häufigften in der drit-

über Freidank. 369

ten perfon des präf. fowohl nach liquida als muta, erteilt F. 89,17. erkennt F. 32,14. went F. 44, 5.59,19. 99, 4. 126, 20. verdient F. 81,27 und part. pret. unverdient F. 92, 96. grint F. 138,12. verniugernt F. 105,6. ert F. 56, 25.27. .oheert. F. 35, 17.1895 6:1:68,3. 95,10. 100, 32. 118, 25..121,9. 136,12. 149,16. haernt F. 144,16. fieert F.73,19. kert F. 61,26. 67,15. 18. 68,18. 23. 103, 20. 105, 26. lert F. 36, 27. lert ir F.142, 22. mert F. 41,17. volgt F. 36,19. bringt F.172,14. rüegt F. 34,5. lefcht F. 39, 6. fücht F. 45,13. wirbt F. 111,11. /liuht F. 100, 8. halfı F.100, 6. vät (für väht) F. 73,17. 78,13. kouft F. 66,19. verliuft F. 40, 23. 82, 3. 105, 12. dazu die part. prät. gelouft : verkouft F. 45, 24.25, wo auch getoufet : ver- koufet zuläffig wäre. diefe kürzungen des präf. und partic. prät. fagen dem fingbaren lied nicht zu, deshalb wendet fie Walther feltener an, doch ent- fchlüpft ihm weint 37,9. kert 29,14. lert 86,13. fticht 54,24. ich will noch bei Freidank däbft 154,7.13. bäbftes 151,21. 153,15. jungften 178, 14 anmerken, wo Walther nicht kürzt. endlich, geht wurzelhaftes z vor- an, fo läfst F. im präf. die endigung et, wenn es nöthig ift, ganz fallen. de- riht 24,4. 28,11.70,20. geriht 72,5. geret 133, 24. fürht 136,11. 178,7. viht 140,11. fchilt 62,24. brift 108,2. mich tröft 176,12. ir tröft 178, 21. verleit 104, 17. briut 177,20. triut 100, 6. W. lälst nur einmal /röft 85,7 durch, denn ri (Lachmann f. 152) ift fchwerlich echt. geht d voran, fo habe ich dt gefchrieben, vindt 62,12. 81,20. 82,17.18. fendt 68, 26.

Zufammenziehungen und verfchleifungen gehen bei Freidank nicht über die gemäfsigten grenzen Walthers hinaus, und finden fich falt fämmt- lich bei diefem wieder, find auch nicht häufiger: wenige, die der lieder- dichter nicht anwenden wollte, oder wozu keine veranlaffung war, däz F. 96,10. sandern F. 57,4. habem F. 150,2. habern F.150,5. da fie bei den meilten dichtern vorkommen, fo wäre es überflüffig ins einzelne zu gehen, uur ein paar beifpiele, däft W. 15, 25. 90, 30: F. 9,2. 11,7. 145,24. derft W.12, 4.26, 27: F..16,1. 54, 6. 135,19. foft W. 45,19. 69,10: F. 41,9. 53, 18.128,23. 144, 25. .öft W. 15,31: F. 22,3. 40,11. 179,6. der W. 19, 30. 84,21: F. 52, 19..114,14. däs W. 54, 26: F. 154,11.

x

Der einfilbige auftact, der den vers belebt, ift natürlich oft angewen- det, der dreifilbige, der ihn beläftigt, vermieden, der zweililbige nie unge-

Philos.- histor. Kl. 1849. Aaa

370 WirueLm Grimm.

bührlich befchwert, wie dies z. b. bei Fleck gefchieht. gleich andern ge- bildeten dichtern vergönnt Freidank dem erften fuls manchmal drei filben, g zur dritten darüber hin gleitet: immer aber fteht ein zweililbiges wort voran; fo hält es auch der dichter des Athis (z. b. E, 80 zwonde daz) und Konrad (Haupt zu Engelh. 3056). ich will die ftellen bei Freidank anführen, /wenner in 15, 12. danne diu 21,17. beidiu zen 22,17. woltens niht 77,1. izzet er 88,11.12. Ere muos 93,10. re mac 93,18. geber mit 93,19. [wannez ze 94,18. un- der den 133, 8. 158,19. /welher dem 140,1. prechent 156,11. zAkers fint 157,1.5.

Freidank geftattet, wiewohl nicht oft, eine hebung ohne fenkung, aber

wovon die mittlere am mindeften gewicht hat, indem die betonun

immer nur einmal in der zeile; darin ftellt er fich dem dichter des Athis zur feite, bei dem ich (f.25) ein gleiches bemerkt habe. zwar kann die eine [en-

kung an jeder ftelle des verfes ausbleiben, aber am meiften fehlt doch die

letzte und auch hier überwiegend öfter, wenn Ein wort die zwei letzten he- bungen gewährt: fo z. b. Fridäne hirdt wisfagen rätgeben nölzöget und lantman weizgöt oder fchilline pfennine weitin guldin. bei zufammenfetzun- gen wie in bärfuoz 119,15 und dem zweifelhaften Sämkarc 132, 26. 158, 14 kann auch die erfte kurz fein. wenn dagegen der fchlufs aus zwei wörtern befteht, fo find es zwei längen wie arm ift 40,12. zwelf jür 42,3. Schäf ift 67,27. liep hät 102,1. wip hät 104,10. guot ift 108,1. wär fügen 124,1. dri märe 132, 27. 185,15, oder eine länge und eine kürze, Sliz an 61, 26. werlt kan 31,18. geliton mäc 31,18. es fcheint zufall, wenn keine ftelle vorkommt, wo die hebung auf einer kürze voran geht, wie bei andern, z. b. der ift Iwein 208. taec nie Iw. 1743. /läac flüoc Iw. 6505. fin min Parz. 128,3. aber wohl abfichtlich verwendet Freidank nicht zwei kürzen, wie wär nam Äneide 2461. /rium man Iw. 1849. 1861. göt gan Iw. 1928. 2324. wol gän Iw. 2492. mir wer 3617. man nam 4119. daz er Büchlein 1, 1503. Konrad bedient fich zweier wörter, aber nur unter befondern bedingungen, die Haupt zu Engelhart feite 226 nachweilt: Eines wortes bedient er fich oft und erlaubt überhaupt nur den wegfall der fenkung an diefer ftelle. bei- fpiele aus Silvefter in Haupts zeitfchrift 2, 373. 74. wenn Konrad mehr- mals am fchlufs pälds, allo Ein wort mit zwei kurzen filben, fetzt, fo ift zu erwägen dafs an einem fremden wort die erfte filbe fchwerer betont wird,

über Freidank. 371

auf gleiche weife fteht es Graf Rudolf 15, 28. Lambr. Alexander 52692. 5284. Klage 790..1139.. Parz. 23, 15..27,16. 32,12. 45,9. 53,14. 61,2. 69,22 u.f.w. Wilh. 97, 17. 140, 23. 144,1. Flore 6425. Mai 60, 28. 214, 12, Barlaam 23, 9. 316, 21; vergl. Lachmann zu Nibel. 557,3, zu Iwein 6144 und f. 475. ebenlo fteht walap Parz. 173,29. 211,3. 295, 10. Wigalois 216, 38. Stricker Karl 41°. in Walthers liedern wird man eine folche unterdrük- kung der fenkung nicht fuchen, doch finde ich 95,7 /uontde mit der lesart endes ac, wo aber, glaube ich, Freidanks fuones tac (vergl. zu 35,27) zu fetzen ift.

Die regel welche kunftgerechte dichter bei dem auslaut der letzten fenkung beobachten, wenn diefe auf eine betonte filbe mit kurzem vocal fällt und der darauf folgende ftumpfe reim vocalifch anlautet, hat Lachmann zu Iwein 4098 angegeben wie die abweichungen die fich andere, felbft Wolt- ram, Hartmann und Gottfried erlauben. bei Walther und Freidank kommt in allen, ziemlich zahlreichen fällen kein verftofs gegen die ftrengften bedin- gungen vor: der gewis zufällige unterfchied befteht nur darin dafs F. ein- mal ez ouch 54, 23 fetzt, was ftatthaft ift, aber bei W. nicht erfcheint, die- fer dagegen allein das ebenfo zuläffige daz ich 49, 31. daz iht 124, 3. daz ort 28,18. 63,25; ftatt des fehlerhaften was ich 40, 30 fchlägt Lachmann bin ıch vor.

Vor dem ftumpfen vocalilch anlautenden reim find abkürzungen nur unter bedingungen erlaubt, die Lachmann zu Iwein feite 556 feft ftellt. die- fen gemäfs läfst fie Freidank einige male zu, und ich wiederhole hier Lach- manns zufammenftellung ([.558), zumal jetzt ein beifpiel wegfällt, liebeft ift 28,14. leideft ift 65,18. cheltenn ift 62, 9. lebenn ift 68, 22. der efel art 72,25. dan 133,20. für das lied war wohl diefe kürzung zu ftark, doch findet fich auch bei W. fung ich, weshalb Lachmann die echtheit der ftrophe (z.110, 33) anzweifelt.

Am auffallendften zeigt fich die übereinftimmung beider dichter in dem gebrauch des gekürzten, in die letzte fenkung fallenden unt vor ftum- pfem reim, wo auch beide die bedingung (f. Haupt zu Engelhart 463) enger und formelhafter einigung der wörter durch unt immer erfüllen. F. läfst es nur dann zu, wenn der reim mit @ und 7, £ und Z beginnt, alfo ere unt amt 16, 23. /cheene unt jugent 176,16. vogele unt tier 5,13. 10,13. bihte unt touf 16, 6. naht unt tac 154,15. zuht unt tugent 52,21. fehoene unt tugent

Aaa?

372 WirseLm Grimm

176,17. bürge unt lant 75,13. 79,26. 152,20. Ziute unt lant 156,17. Walther vor a und i, d und /, üfunt abe S1,14. junc unt alt 56,7. trege unt alt 124,9. er unt ich 40,15. üz unt in 55,11. jenen unt difen 81,8. liep unt leit 116,28. j und 2 bei Freidank und i und d bei Walther kann einen unterfchied nicht begründen. andere und gute dichter befchränken fich nicht fo weit oder auf andere weife; ich will um das gewicht zu zeigen, das in der übereinftimmung beider liegt, diejenigen gegenüber ftellen, die hauptfächlich hierbei in betracht kommen. Hartmann verwendet diefes unt viel feltner, nur einmal im Iwein und Gregor, einige male im Erek: er fetzt es nicht vor einem vocal, aber vor dt hund m (höch unt die Erek 7845. Iw. 4365. naht unt tage Greg. 2956. fuor hin ze hove unt tete Erek 5699, wo, wie Haupt zu Engelhart {.233 anmerkt, das formelhafte vernachläffigt ift. hin uni her Er. 3873. wip unt man Er. 5281. iu unt mir Er. 6446); fund g (dürre unt vlach Iw. 449. riterlich unt guoti 1w.905) hat Lachmann (z. Iw. f. 482) ausgewiefen. Wolfram vor aiou und di (belege liefert Haupt zu Engelhart f. 233), auch vor m (ros uni man Wilh. 365, 23). Gottfried von Strafsburg im Triftan vor @ ei ei (an unt abe 204, 25. üz unt abe 329, 32. edelich unt alt 385, 32. unt er 235, 7. pfert unt ich 69, 30. got unt ich 103, 33. und zwäre, folt du le- ben unt ich 109, 20. min frouwe unt ich 287,11. ir unt ich 372, 27. fi unt in 281,1. 346,10. mich unt in 377,21. triuwe unt eit 163,10. ein unt ein 327,17), fodann vor bd hm w (baz unt baz 73,10. 184,9. ich unt duo 250,32. diz unt daz 353,35. hin unt her 66,19. 97,3. m& unt me 344,29. unt wie 409, 8), aber nicht vor /, denn 87,17 ift mit einer handfchrift Jeheene zu ftreichen und 413,33 ift das feltfame finen wuocher bern unt fpil gewis nicht richtig, ich ändere fin wuocher berndez fpil. auch wohl nicht vor g und r, da wahrf[cheinlich 121, 24 vil unt zu ftreichen und von der ge- denke ich genuoc zu lefen ift. löfcht man 258, 34 das überflüffige was vor übel, fo bleibt ein herze übel unde guot. 238,20 maneges herzen fröude unt rät lautet fchon befremdlich, ich beffere fröuden rät. in Gottfrieds lob- gefang nichts der art und nur einmal in einem liede (MSHag. 2, 277°) an unt abe. in der älteften und beften handfchrift von Neidharts liedern, in der Riedegger fteht unt lediglich vor d und zwar nur zwei mal (hie unt dort 24,9. 36,6), in der Parifer (MS, 1,79 vollftändig bei Hagen 2, 113. 114) be- findet fich ein lied, in welchem nicht blofs her unt dar, fondern auch hin unt her, zwei untl zwei vorkommt: ob es ein echtes ift, wird Haupts ausgabe

über Freidank. 373

nachweifen; das gilt auch von einem lied (MS. 2, 82") wo wider unt für fich zeigt. die aus andern quellen genommenen und im dritten band der MSHag. ihm beigelegten lieder feheinen keine regel mehr zu beachten, bier wird unt gefetzt voraeghjklmnp/ftw (junc unt alt 195". 312°. unt er 313°. /piez unt gabel 266°. röt unt gel 296°. hin unt her 202°. 203. 204®. hei unt hei 283°. kumt unt jagt 243°. kopf unt kragen 187®. kurz unt lanc 229°. milz unt leber 291". hals unt munt 201°. freude unt muot 296°. wip unt man 292°. unt nern 290°. tage unt naht 294°. unt pfunt 201°. wart unt Jpür 197°. gröz unt wer 300°. fruo untl Spät 313%. berc unt tal 383°, breit unt wit 190°. hel unt wit 190°. rife unt wint 286°); fchon aus diefem grund wird man fie zu den untergefchobenen rechnen müffen. bei Lichtenftein finde ich unf nur einmal vor i (daz ez mir fchadet unt ir 415,4), defto öfter vorddfghlmnftw (baz unt baz 126, 32. lewen unt bern 473, 27. arme unt bein 583,2. dife unt die 76,26. her unt dar 90,5. 102, 10. 314,17. her unt dan 91,2. dan unt dar 103,18. hie unt 69, 17. 171,15. 247,20. 535, 25. hie unt dort 287,19. 493, 5. 584,14. fruo unt fruo 72,9. pät unt fruo 629,17. gemach unt guot 314,11. ich fluont üf willeclich unt gie 539, 9 ift die regel des formelhaften nicht beachtet. gemach unt guot 314,

8 11. Sehen unt guot 594, 17. 599, 25. 610, 31. dort unt hie 84, 27. 88,19. 193, 11.173,18. 211,8. 264, 21. 282, 28. 385,15. 405, 21. 452, 31. 455,

22. 480, 32. 489,1. hin unt her 489, 23. 491,10. fehene unt lanc 207,1. tuon unt län 654,27. nafen unt munt 220,6. wip unt man 579,2. mer unt me 589,9. tac unt naht 344,8. herz unt fin 382,23. lip unt fin 590,4. fus unt fo 452,23. 476,23. 551,17. naht unt tac 324,29. 579,11. 588, 17. 642, 31. bröt unt win 334,11). bei Rudolf von Ems mehrmals vor i (er unt ich Gerh. 2586. min fun unt ich 3415. 4251. min herre unt ich 6574. unt ich Wilh. v. Orlens 6278. ich unt ir Gerh. 26, 56. dich unt in Wh. v. Orl. 12653. unformelhaft fteht im Baarlam, daz ir fus wollet teren mich, daz ich ver- kerte mich, unt ich erfehe in mittes tages [chin 278, 4. nicht unmittelbare verbindung beider wörter in einer andern Stelle, daz kumet iu gar wol unt ir 12846). fodann vor dg hm tw (hie unt Barl. 32,18. Wilh. v. Orl. 8149. diz unt daz Barl. 293, 27. dar unt dar Wh. v. Orl. 12041. ich unt 12736. @re unt guot Gerh. 521. her unt hin Gerh. 3052. Wh. v. Orl. 3924. gote uni mich Barl. 218, 21. naht unt {ac Wh. v. Orl. 11731. guot unt wis 6334. erde unt wafen 12996). der dichter der Guten frau vor m und w

374 WirseLm Grimm

(mäge unt man 2135. unt 2806). Konrad von Würzburg zeigt diefes unt (vor dem perfönlichen pronomen bei ihm auch und) felten, hat aber die bedingung zufammen gehöriger wörter nicht immer feft gehalten, wie Haupt zum Engelhart [.233 nachweift; dort findet man auch die von Lachmann z. Iwein f.557 fchon gefammelten beifpiele. bei ihm fteht es vor aeiiei (an unt abe Tro). kr. 18390. üf unt abe 22006. june unt alt MSHag. 2, 317°. Alexius 1271. Silv. 536. 989. Gold. fehmiede 1388. 1532. Troj. kr. 2105. 12916. kapelläne und er Silv. 869. fin fun und er 2898. beide fchibe und er Pantal. 1545. tracke und er Troj. kr. 9872. fin mäc und er 10217. fin maj//enie und er 10896. Deidamie und er 15453. er und ich Engelh. 600. Thelamön und ich Troj. kr. 11727. 11769. ir und ich 22222. mich und in 3531. fi und in Engelh. 5094. er und ir Troj. kr. 11152. üz unt in. Turnier 62,2. ein unt ein Engelh. 463), fonft nur vor d und, wenn man den um- fang von Konrads werken betrachtet, äufserft felten (ich unt Engelh. 526. dirre unt der Silv. 2617. mir unt dir 'Troj. kr. 5704. dort unt 19568), vielleicht auch einmal vor Z (az unt trance Alexius 670). das volksepos ge- währt nur wenige beifpiele, vor einem vocal fteht unt weder im Nibelunge- lied noch in der Gudrun: dort vor confonanten nur drei mal und zwar vor m und d (wip unt man 1462, 3. wider unt dan 2229, 1 und in einer un- echten ftrophe mäge unt man 1793,1): nach einer lesart auch einmal vor 2 (Jorge unt leit 934, 2; vergl. die anmerkung von Lachmann). in den ech- ten ftrophen der Gudrun nur zweimal vor g und w (flolz unt guot 115, 2. gerne unt wol 240, 2), in den verdächtigen vor / und w (michel höch unt ‚Starc 65, 2, wo aber wahrfcheinlich michel unde ftare zu lefen ift. man unt wip 127,1). Dietleib und die Klage haben fich noch reiner gehalten: in bei- den gedichten habe ich kein un? gefunden, denn in dem erfigenannten ift zeile 12047 ohne zweifel zu lefen die helde küene unde junc. dem natür- lichen gehör war die kürzung uni vor dem ftumpfen reim zu ftark. auch bei den liederdichtern des zwölften jahrhundert, Reinmar mit eingefchloffen, im Eraclius (z. 5077 ift figelös unde wunt zu lefen), im Lanzelet, im Athis und bei Herbort habe ich es vergeblich gefucht. der dichter des Servatius fetzt es nicht vor einem vocal, aber vor g hn / (unt guot 3231. hin unt her 1889. tac unt naht 667. unt fage 1973). merkenswerth dafs Veldeke nur in dem früher gedichteten gröfsern theil der Äneide fich deffen enthält: zu- erft erfcheint es 10460 dar näch fereip fiu (fo in der Berlin. hf. aber /chreip

über Freidank. 379

fie ein im druck) ein a unt s und deshalb ift mir fehr wahrfcheinlich dafs die nach neunjährigem zwifchenraum unternommene fortfetzung nicht 10766 fon- dern fchon 10454 beginnt. es kommt dann noch öfter vor und zwar vor @ k ft (wan er unmehtic was unt alt 13086; in der Berlin. hf. fehlt die zeile, in der Wiener wan er waz gar ali. Minne, al daz ich mac unt kan 10907. wan fie ir fere dröut unt fehalt 10550, die Berliner lieft ‘wande fi ir drowet vn fchalt’, in der Wiener fehlt die ftelle. rihte fie fich üf unt fprach 10558. fünde unt [cholt 10987. naht unt täc 11174). in den liedern Veldekes erfcheint es nicht, denn ftatt /under wig und wan’ MS. 1,90: ift funder wich und äne wän zu lefen. doch Eilhart von Oberge, deffen Triftant Veldekes Äneide mufs vorangegangen fein und der die feineren metrifchen gefetze fehon kannte und beachtete, gebraucht diefes unt: er fetzt es nicht vor vo- calen, aber vor dZ!m fw (des volkes zöch vil hin unt dar 6321. da im was [vor] gefchehen liep unt leit 4069. 7222. daz was beidiu wip unt man. 3802. er legete ez zwifchen in unt fie 3887. daz er haben fol unt wil 3577).

XI

Schon in der Einleitung zur Befcheidenheit cxxvır habe ich darauf hingewiefen dafs bei Freidank kein reim fich zeige, der nicht auch bei Wal- ther zuläffig wäre: hier trage ich nach dafs fich zwifchen beiden eine mer- kenswerthe übereinftimmung findet. fie gebrauchen nemlich nur Zch, nicht lich mit kurzem vocal, was bei andern entfchieden vorherfcht. lich reimt bei Freidank blofs auf rich 11,23. 16, 8. 41,8. 43, 22. 58, 25. 91, 12. 103,3. 108,7. 115, 20. 122,7. 126,7. 11. 155, 23, ebenfo bei Walther aufser ein- mal auf enitwich, wie man in Hornigs gloffar f.418 und 421 nachfehen kann. die paar ftellen, worin bei Freidank Zch erfcheint, find auch aus andern grün- den unecht, wie unten die anmerkung zu 141,7 dar thut. die von Freidank bei dem fehwachen verbum gebrauchte form öt, verzwivelöt 66,7 und gemarte- röt 173,9, hat Walther nicht angewendet, was vielleicht nur zufällig ift, oder ihm fchien diefe alterthümlichkeit der gehobenen fprache des liedes nicht mehr angemeflen. in den denkmälern des elften und zwölften jahr- hunderts, zumal in denen, die in die erfte hälfte deffelben fallen, zeigt fich öt fo häufig, dafs ich mich der beifpiele enthalte. ein gleiches gilt vom Ro- ther und Wernhers Maria, felbft in der überarbeitung, die wir befitzen. im jüngern Anegenge, geergeröt 3, 33. ordenot 3, 67. geordenöte 8, 61. hun-

376 WiLHELM Grimm

geröt 37,36. in dem lied auf die jungfrau Maria (Wackernagels lefebuch 1, 197) ungebrächöt, richfenöt. in den 17000 zeilen der alten Kaiferchronik etwa vierzigmal. in gleichem verhältnis in den alten bruchftücken von Rein- hart fuchs, gewarndt 1557. gehandelöt 1617.1750. gevolgöt 1645. gelägöt 1697. gedihtöt 1798, die alle in der fpätern überarbeitung getilgt find. in dem gedicht vom Antichrift Elias und Enoch (Fundgr. 2) iroffendt 109,13. gebildöt 116, 39. weigeröt 123, 34. gelonöt 125,15. verwandelöi 130, 12. gefamenot 134, 3. in den bruchftücken von Ägidius gelonöt, goffenot, vir- dienöt. in der heil. Margareta gemaheloöt : erwellöt : töt 181. 213. etwas feltner in Hartmanns Credo 9. 10. 629. 816. 1872. im Rolandslied gemar- teröt 111,31. gewarnöt 203, 22. vorderöten 246, 4. Carmina burana ver- wandelot : nöt feite 204. in Albers Tundalus verwandeldt 44,72. 58,17. ge- voderdt 47,62. in Eilharts Triftant gemarteröt 3543. im Servatius erziugote 837. gefamnote 869. zeichenote 1597. ordenote 1787. bezzerote 2053. kefti- goten 2212 immer im reim auf gote bote geboten, der zeigt dafs ö fchon in o abgefchwächt ift. im Anno fehlt es, gleicherweife in den bruchftücken vom Grafen Rudolf, von Ernft, und von Athis. Heinrich von Veldeke meidet es in der Äneide wie in feinen liedern gewis abfichtlich. auch in dem heil. Ul- rich des Albertus habe ich es nicht gefunden, mit dem wir zum fchlufs des zwölften jahrhunderts gelangen. von da an fchlüpft es nur einzeln durch. Dietleip entwapenöt 8910. verferot 9536. gefenfiot 12374. Klage gebäröt 566. Nibel. ermorderöt 953, 3. gewarnöt 1685, 3; beide ftrophen gehören zu den echten. Gudrun hat es nicht gebraucht. bruchftück von Ecken aus- fahrt unverdienöt fir. 26. minnöt 27. Reinmar verwandelöt MS. 1,78®. 82», Eraclius gemarterdt 5042. Konrad von Fufsesbrunnen in der Kindheit Chri- fti geoffenöt 81, 16. Konrad von Heimesfurt gefegenöt 1057. Welfcher gaft marteröt bl. 178°. Neidhart verwandelöt MSHag. 2, 98°. 103°. 3, 257°. ge- ringelöt MSHag. 3, 205". 236°. Warnung vernagelöt 1233 und verwandelöt 3051. als alterthümliche form in Dieterichs flucht 9277 recken die man hei- zeit genöligöt wiganl. hernach erlifcht die form in der gebildeten fprache der dichter gänzlich, in der volksfprache oder in mundarten wird fie fort- gedauert haben, das beweift ihre häufige anwendung in Grieshabers predig- ten. in betracht kommen daher nicht rohe dichtungen, wie Morolt verwan- delöt 7°. 8°. Enenkel erarnöt Haupts zeitfchr. 5, 278. gewäfenöte Chronik feite 346. Wigamur gefatelöt 18° oder fpätere wie Rüdiger von Hindihofen

über Freidank. 377

durchwieröt Wittich vom Jordan bl. 10 gotha. handfchr. Wigamur röt : ge- Jatelöt 1750. auch zeigt fich fehon kürze des vocals, Heinzelein von Kon- ftanz gefegnot : gebot Diutifka 2, 255. Hug von Langenftein verdampnot Martina bl. 42°. 68° gewandelot: gehandelot 59". gekeftegot 56°.179°. kefte- gotie 170°. predigot 193°. gefegenoten 208°. Leben Chrifti von Wernher ge- ‚Jegenot : dienot MSHag. 4, 515. Fragm. 21° got : gejagot. Liederfaal 3, 262 verdamnot : got. meift folgen diefe fchweizerifehen mundarten.

So wenig als Walther (vergl. Lachmann zu 98, 40) reimt Freidank fagie : dagte, gerlen : werten, was Hartmann, Wolfram und Konrad unbe- denklich thun. bei F. erfcheint die dritte perfon Zete 36, 3. 100, 12.23 und tet 5, 16. 108, 26. 180, 21, die Walthers lieder wohl der fchwankenden form wegen im reime meiden. W. reimt hein : flein 30, 26. genan : man 63, 3. kan (kam) : man 106, 26. F. ruon : tuon 99, 3. ahein : dehein 141, 3. wenn Walther nicht an :än reimt, wie F. einige male, fo wird niemand darauf gewicht legen, zumal das lied immer ftrengere regeln forderte; da- gegen läfst W. einmal rich : ich zu (Lachmann f. 197), dem ich bei F. nicht begegne. auch gedrön (: lon) fieht bei F. 87,12 allein, wie gedröt (: brot) 123, 24, was Hartmann im Armen Heinrich 1075 gebraucht; vergl. Gramm. 1°,196. das feltene vals(: hals) F. 45,4 kommt bei W. nicht vor, und da über- haupt nur walfch (Parz. 357,7. Paflional 221,21) als reim dazu vorhanden gewelen wäre, fo blieb für das fprichwort nichts übrig als fich diefer frei- heit zu bedienen; ähnlicherweile reimt Wolfram Parz. 18, 3. 27,15. 105,9. 154,5 harnas : was : palas, neben Wilh. 305, 12. 376, 17. 416,13 harnafch :verlafch und 439, 10 harnafch : pfafeh, der dichter des Eraclius 4726 harnas : Kofdröas und 4683 harnas : was wie Ulrich von Zazichofen im Lanz. 1366. 6495, der auch 3697 wunjle : brunfte zuläfst, Thomafın im Wel- fchen gaft bl. 142%. 143° kunft : wunft, ein beifpiel aus dem zwölften jahr- hundert im jüngern Anegenge 20,5 was : dras (drafch).

Freidank bedient fich zwar des rührenden reims, doch nur mit wirt (fubft.) : wirt (verbum), aber zweimal 87,10. 156,20; auch bei Walther nur ein beifpiel, das auf einer verbefferung beruht, Z@te (verbum) : /@te (fubft.) 30,10. ein lied 122, 24—123, worin diefer reim öfter vorkommt, halte ich ich für unecht; ich werde mich darüber an einem andern ort ausführlich äufsern. aus der abneigung gegen den rührenden reim erklärt fich wohl der auffallende umftand dafs beide dichter die zufammenfetzungen mit lich liche

Philos.- histor. Kl. 1849. Bbb

378 WiLHELM Grimm

lichen dafür nicht verwenden, was aufser ihnen, wie es fcheint, nur noch Gottfried thut. eine ausnahme wäre gelich : wunderlich 126,7, aber der fpruch ift ficher unecht und noch dazu der text verderbt.

Den fchlagreim gebraucht Freidank in den beiden zeilen eines fpru- ches, fingen /pringen fol diu jugent: die alten walten alter tugent 52, 6.7, auch ift in dem 48““ capitel f.165—169 in dem anfang der zeilen Ziegen : triegen durchgeführt. er findet fich angehäuft in einer ftrophe unter Wal- thers liedern 47, 16, ich bin nur zweifelhaft ob diefe ftrophe von ihm her- rührt, und werde dies anderwärts näher erörtern. es ift nicht unwahrfchein- lich dafs Walther und Freidank den fchlagreim in diefer weife zuerft ge- braucht haben. ich merke hier noch an dafs er fpäterhin nur in ftrophifchen gedichten vorkommt und Freidank der einzige ift, der ihn bei dem kurzen reimpaar anwendet.

Eine eigenthümlichkeit Freidanks ift der mittelreim, wo in der kur- zen zeile ein wort mit dem endreim zufammenklingt ohne an ihn zu ftofsen, z. b. diu Krift gebar än argen lift 7,14. öft lützel namen äne fchamen 53, 13: auch bei Walther gotes fun hien erde gie 11,18. ich habe diefen mit- telreim noch bei ein paar fpätern dichtern des dreizehnten Jahrhunderts be- merkt, doch auch in dem gedicht von dem Himmelreich aus dem zwölften, das aus langzeilen befteht (Haupts zeitfchrift 8, 145), findet fich an daz fiur ne leget me neweder bloh noch ftoch 248 und daz uns gewerren ne mege nd- hen noch verren 338, und bei Wernher von Tegernfee (Iwein 329) bift min, ich bin din. einmal läfst Freidank die zwei erften worte eines zwei- zeiligen fpruchs auf einander reimen, /wä ift frelich armuot, ift richeit äne guot 43,19.

Die leichtefte erweiterung des reims wird durch eine vorpartikel be- wirkt und kommt wohl bei allen dichtern vor. häufig ift völlige gleichheit der partikel, und ge: ge findet man überall, bei Freidank z. b. geftän : getän 16,12. genuoc : getruoc 69,17. gelogen : gezogen 159, 9, bei Walther ge- walt : geftalt 16,12. gefchozzen : genozzen 40, 32. gemuot : getuot 116, 18 u.f. w. feltner ift de: be, Freidank hat nur begät : befiät 14,10, Walther betaget : behaget 1,28. benomen : bekomen 65, 29. 73, 23. er: er zeigt fich nur bei Freidank in erwern : ernern 63, 8. 69, 13. ernert : erwert 169, 3. erbal: erfchal 109,10; es kann nur zufall fein, wenn es bei Walther nicht vorkommt. ver:ver bei beiden öfter. un:un zweimal bei Freidank, unmin-

über Freidank. 379

ne : unfinne 101,1. unflete : unger«te 117,22, bei Walther finde ich es nicht, für den liederdichter war vielleicht die partikel zu gewichtig. ze: ze oder zer: zer fehlt bei beiden. fodann ge: be, er: ver bei beiden häufig, ein- mal bei F. zebrochen : gerochen 4,4.

Diefe vorfchlagfylbe wird flüchtig ausgefprochen und ge manchmal nicht mitgezählt, fie ift alfo bis auf un dem ohr wenig bemerkbar. von einem doppelten reim kann erft die rede fein, wenn vor dem endreim abermals auf einander reimende abgetrennte wörter ftehen, die in der regel daflelbe wort wiederholen. Freidank und Walther verwenden dazu nicht blofs artikel pro- nomen und partikel fondern auch fubftantivum adjectivum adverbium und ver- bum. hier nur einige beifpiele, ein baft : ein gaft F. 13,14. ich war : ich var F. 124,16. umbe minne : umbe gewinne F. 58,19. unde katzen : unde kraizen F. 138,15. unde reht : unde kneht W. 9,6. dine tage : mine klage W. 64, 18. fodann affen wil: affen fpil F.83,5. ander tugent : ander jugent F.52,18. gerne flilt : gerne fpilt F. 49,5. wären driu : wären diu F. 19,25. dunke reht : dunke fleht F.50, 25. mit nicht völligem gleichlaut behuote fich : behüete mich W.113, 24. es ftehen auch zwei wörter voran, fol man vähen : fol man hähen F. 47,18. zerehte hän : ze rehte ftän F. 50,16. der ift frö : der ift [6 W.110, 28. alle frowen var : alle frowen gar W. 49,7.

Alle dichter von Otfried an geftatten die wiederholung desfelben reims in zwei unmittelbar an einander ftofsenden reimpaaren, Veldeke fcheint zu- erft darüber hinaus gegangen zu fein, und läfst einigemale denfelben reim zehn - und zwölfmal wiederkehren. auch Freidank liebt folche anhäufungen, die nur in der zweiten ordnung der handfchriften durch andere ftellung der fprüche zum,theil verfchwunden find. fo läfst er z. b. achtmal zugent und jugent (52,18—25) auf einander reimen, zwei und zwanzigmal woi (106,18 107,15), fechsmal (138, 3—8) unt und (80, 6—11) an än. bei Walther diefelbe neigung; es genügt hier die hinweifung auf fünf fiebenzeilige ftro- phen (f.75.77), wovon jede einen der langen vocale zum auslaut hat.

XI Hier mögen noch weitere erläuterungen zu den einzelnen fprüchen Freidanks eine ftelle finden.

14,1. in Konrads klage der kunft 9,4. 23, 4 erfcheint frau Befcheidenheit in wünneclicher weete und fpricht das urtheil.

Bbb 2

380 WiLHEeLm Grimm

1,10 büwen üf den regenbogen auch in Türleins Wilhelm 107° und bei Jo- hannes von Würzburg im Wilhelm von Öftreich bl. 43°. 52°. Liegnitz. handfchrift. vergl. Deutfche mythol. 695.

2,27 Renner 16197 wer giht daz der men/ch niht tobe, der gotes ge- Jchepfde wolde [wachen und felbe einen flöch niht kunde machen. 3,9—14 Welfcher gaft pfälz. handfchr. f.74° got fiht den muot baz dan daz der man getuot. fi daz ein man tuot rehle wol, fin gelät doch heizen

fol übel ode guot dar näch und ime flät fin muot.

3,18 den genitiv bei wan hat Lachmann zu Nibel. feite 245 erörtert.

3,27.181,20 vergl. D. mythol. 290.

4,17 wie Freidank verwendet auch Walther drizec 19,21. 25, 32. 27,7. 88, DAN:

4,27 der ftrengen regel gemäfs müfste an diefer ftelle werkn gefchrieben

g zu ftark.

6,8 über das wie 156,19 das heutige überdies, im althochdeutfchen nicht felten (Sprachfchatz 5, 27), finde ich nur bei Boethius (Wackernagel lefebuch I. 139, 21) und in Gottfrieds Triftan 449,3.

6,10.158, 27 daz fcheide got ift Grammatik 4, 334 befprochen.

6,21.19,21.24. 25,23 mufs gfchepfede gelprochen werden, wenn man die regel herftellen will, wie Goldene fchmiede 1384; unverkürzt fteht das wort 11,23. 12,11. 180,24. /chepfede würde als niederdeutfch nicht zuläffig fein, denn die handfchrift e, die 19, 20. 180, 24 fcheffede ge- währt, mifcht folche formen ein. ebenfo verhält es fich 29, 13 mit ge- ‚elle, das, wie bei Walther, fonft (63,22. 82,20) unverkürzt fteht. ge- ‚elle kommt hier nicht allein vor, Iwein 4959. 7567. Wolfyams lieder 4, 27. Helmbrecht 1271 ift, immer gegen die handfchriften, fellefchaft ‚felle fellen geändert: im Engelhart 1469 hat Haupt auf anderm weg zu helfen gefucht: in Hartmanns Erek 3163 und bei Fleck (Sommer z.Flore 158) ift es beibehalten: im Rother 1645 und Graf Rudolf 13,1 war es zuläffig, vielleicht auch bei Gottfried er fellete fich Lobgefang 31,5 mit der lesart gefellet; vergl. Lachmann z. Iwein 2704. ferner fteht

werden, aber für Freidank fcheint mir die kürzun

hier 49, 14. 151,21. 175, 2.7 gebot, oder man mülste das niederdeut- fche bot annehmen, 121,19 gebüren, 129,17 geladen, 13,22 gemeine, 37,14 gedanke, 156,8 gevaterfchaft, 132,9 gefchehen, 142,20 gewar, 154,16. 160, 21 gefchiht, 161,2 genefen, wo man wohl gnefen fchrei-

über Freidank. 381

ben könnte: ebenfo Athis E,142 gevertin, Gerhart 892 geburt. glei- cherweife hier 154,11 betrogen und Flore 3070. 7398 begunden begün- den: dagegen ift Flore 7423 glegenheit geletzt.

7,1 über erfchellen vergl. Lachmann zum eingang des Parzivals f. 10.

7,4 ich wife gerne eine meere wie Lanzelet 2434, ich hörte gerne, ich wollte es könnte mir einer lagen.

7,10.11 Kailerchronik pfälz. hf. bl.57° unfern vater Adam diu erde maget- liche gewan. diu erde was magel reine, fi ne genam töten nine keinen, noch enphie nie mennifken bluot unz Cäin finen bruoder erfluoc. daz bluot daz von im ran, der erde iz ir magetuom nam. Anegenge 20, 17 —23 do was Cäin leit daz got fin opher vermeit unt ze deme Äbeles Jach: vil flarke er ez über in rach: ze töde er in dar umbe fluoc. do gemeille daz bluot die magetreinen erde, daz der gotes werde vor fi nem bruoder üz go2. Wartburger krieg (MSHag. 3,179) diu erde Adä- mes muoter was. vergl. Silvefter 3450 —61.

8,5 däne mannes rät fcheint der hier übliche ausdruck: fo Wernhers Maria 203,2 und andere denkmäler des zwölften jahrhunderts in W. Wacker- nagels lefebuch 192, 20. 125, 20. Diemer Vorau. hf. 230, 11.

9,11 ezift noch manec fräge, diu niht hät antwurt Liederf. 3. 561, 34.

9,25 Evangelien aus dem elften jahrh. (Vorau. 328, 6) von dem töde (Chrifti) /tarp der töt. Marienlieder aus dem zwölften jahrh. hanöy. hf. 28° dit Jineme döde döde unfen dot. Pallional 112, 61 und unfen töt ze töde erfluoc mit fime töde.

10,7—16 ich finde diefe lehre fehon bei Dietmar von Merfeburg, der im an- fang des elften Jahrhunderts fchrieb und fie wahrfcheinlich von andern empfangen hatte, etwas ausführlicher entwickelt, Chronicon 1,7 tres namque funt anime, non equaliter incipientes nec fimul finientes. pri- ma angelorum incorporeorum, qu& cum eis eft fine inicio et termino. fecunda hominum, qu& cum eis fumit exordium fed in fine non habens participium. namque immortalis eft et, ut quidam gentiles opinantur, in futuro non habens hoc offieium quod in hoc seculo. tercia fpecies eft pecudum ac volatilium, qua cum corpore parem inicii finisque for- titur equalitatem.

10,26 kriften ift oben f. 366 erläutert.

11,3.4 Hermann der Damen 672.73 wä@ ane himel und erde hangen, min

WirHELMm Grimm

fin kan des niht erlangen: got habets in finer zangen, und ift im niht were.

11,5 verfchiedene erklärungen der drei himmel bei Herman von Fritzlar 98,

14—32. der erfte himmel ift die luft: der zweite der, an dem fterne fonne und mond ftehen: der dritte der feurige, in welchem fich die heiligen und die engel befinden. nach andern ift der erfte himmel das natürliche licht, darin die heiden gott fchaueten: der zweite das licht des glaubens, darin wir gott erkennen, über dem licht der natur: der dritte das licht der glorien, darin die heiligen gott fchauen. ferner, der erfte himmel ift die perfon des heiligen geiftes, der zweite die perfon des fohnes, der dritte die perfon des vaters. auch die drei hierarchien follen damit angezeigt werden. endlich eine ganz überfinnliche deu- tung, finnelich gewerp des men/chen ift der Erfte himel: der ander hi- mel ift redelich gewerp des geiftes: der dritte himel ift vernunftie ge- werp des geiftes. das loblied auf den hl. geift aus dem zwölften jahrh. (Diemer 341,8) nimmt fieben himmel an, wenn hier nicht ein fehler dahinter ift, fibene fint der himele, unte loufent dar nebene fternen fi- bene liehte.

11,9.10 Wernhers Maria 178, 32. 33 & diu erde begunde fiän unt der himel

Jwebende wurde.

11,16 Marienlieder hanöv. hf. 10° in himele inde in erden enis engein hol, it

fi dines heiligen namen vol.

11,21 der befte roup bezieht fich auf die niederfahrt Chrifti zur hölle, wo

er diejenigen erlöfte und durch den erzengel Michael hinweg führen liefs, die ungetauft in der vorhölle fchmachteten, Adam und Eva, die unfchuldigen kinder u. f. w. Evangelien (Vorau. 328,7) diu helle wart beroubet, daz maere öfterlamp fur unfich geopferel wart. Hochzeit (Karajans fprachdenkmale) 43, 3 folg. daz was ein [chöniu hervart, diu helle beroubet wart, got die fine knehte brähte zuo ir rehte, ze Siner brütloufte mit finir marlir er fie koufle. Anegenge 39, 64—67 der gewihete gotes [un den roup deme an gewan, den er weenen wolte daz ern immer haben folte. Wernher vom Niederrhein 62, 17 21 unfi herre di brach di hellin undi nam einen kreftigin roub.

(d.i. dö) rou den düvil der kouf, den Jüdas det mit fineme räde; di

über Freidank. 383

rüwe was alze fpäde. Paffional 101,55 —61 diu helle wart beroubet, wand ir der guoten her entfioup. Krift bevalch difen roup an maneger heiligen fele dem erzengel Michäcle, daz er fi brähte an vriundes wis in das vröne paradis. 112, 64.65 wie er (Chriftus) uns üz der helle mit gewalde roubete.

11,25. 26. 12,1.2 Legenda aurea cap. 2 in der fage vom heil. Andreas, quid

eft magis mirabile quod deus in parya re fecerit? diverfitas et excellen-

5 tia facierum. Haupts zeitfchr. 3, 28. 29 ‚fräge, welhez daz groefte wun- der gotes fi. antwürte, daz er vil menfchen gefchaffen hät, doch keinz dem andern gelich ift. Konrad von Würzbürg ftellt diefelbe be- trachtung an MS. 2, 203°, an liuten hät diu gotes kraft für elliu dinc gewundert. befchouwe ich menfchen tüfent hundert äne valfchen lift, bi den allen, wizze Krift, fint zwöne gelich einander niht.

12,12—13,22 den abfchnitt von dem av& Marid, der nur in zwei papier- handfchriften, denn auch B ift eine folche, vorkommt, halte ich für unecht, nicht blofs weil ihm Freidanks geift und gedrängter ausdruck fehlt, fondern auch wegen des reims muoter : tuoter (vergl. z. Athis feite 26) und des worts lZobe/am, das Freidank und Walther nicht ge- brauchen; vergl. Haupt zu Engelhart feite 247.

13,20 MS. 2. 172° fit din fun dir niht verfeit.

14,17 Hartmanns Credo 3679 mit aller himelifehen herfchaft: di heiligen engele fint daz. Pfaffenleben 280 elliu englifche herfchaft.

15,7.8 Heinrich vom gemeinen leben (W. Wackernagels lefebuch) 222, 6— 9 /wenne des briefters hant wandelet gotes lichnamen, fol fi fich danne niht zamen von wiplichen ane grifen?

15,19 Welfcher gaft bl. 158° die tagzit wol begen und mit guotem herzen ze kirchen fien;, vergl. Gerhard 1190. Diemer zu der Vorau. handfchr. 354,10. Frommann zu Hermann von Fritzlar 30,40. Reineke vos von Heinr. Hoffmann 3323. 4373.

16,24 folg. vergl. D. mythol. 829.

16,25 Walther fagt 12,30 got güt zu künege fwen er wil; vergl. Sommer z. Flore 710.

18,2 Wackernagel (Haupts zeitfchrift 6, 284) macht hier dläs in der bedeu- tung von fpahn, windlicht, die auch bei Frauenlob (vergl. Ettmüller

384 WirseıLm Grimm

f.334) vorkommt, geltend, doch in den Sumerlaten 8, 62 fteht bläs flatus, und diefe bedeutung fcheint hier natürlicher, ebenfo beim bru- der Wernher (Einleit. xexr), der vielleicht Freidanks fpruch kannte.

21,6 der töt ein feharpfer bote ilt in der Deutfchen mythol. f.808 erklärt.

21,11 Welfch. gaft bl. 146° j@ hät ieglich man und wip fünf tür in finem lip. Karl Roths predigten 27 unferiu venfler daz fint diu ören diu nafe diu ougen und der munt. Erznarren von Chriftian Weife f. 330 einen jeglichen bei feinen neun augen la/fen.

21,16 durch boefen namen weil man fchlecht von mir fpricht.

21,19 Gottfrieds lobgelang 56,6 mich vil armen fac.

22,18.19 über dem eingang des kirchhofs zu Eilenburg befindet fich die in- fchrift was ihr feid, das waren wir; was wir find, das werdet ihr. eben- fo über der kirchhofsthüre zu Avignon nous elions ce que vous £les, et vous ferez ce que nous fommes; f. Blätter für litter. unterhaltung 1834 nr 335 feite 384. der von Singenberg MS. 1,157° wol ime der denket waz er was und ift und aber [chiere wirt. Sülskind von Trimberg MS. 2, 178° /wenne ich gedenke waz ich was ald waz ich bin ald waz ich werden muoz, ift al min Jröude [dä] hin.

22,26. 101,6.122,17 dafs auch Walther von der freiheit der gedanken fpricht, ift in der Einleitung cexxıy bemerkt: Wolfram thut es im Parzival 466, 16 folg. und Süfskind MS. 2,178° in einer befondern ftrophe.

24,15 ir fin ift blint bezieht fich, wie mir Benecke richtig bemerkt hat, auf die juden: ihnen mangelt die wahre einficht.

25,15 fo muoz der keizer lere fin in winkeln und in vinfterin, dazu gehört Welfch. gaft bl.88" eines vinftern winkels muot.

26,22.29,31 Zivel, wie auch in einer alten erzählung (Reinh. 390, 520), bei Konrad von Fufsesbrunnen in der Kindheit Jefu 97,29 und Stricker XI, 587 zu fchreiben ift: die vatican. handIchr. von Hartmanns Gre- gor 230 hat der tivel der fehanden; die kürzung liufl im Servatius 180 fcheint mir für Freidank zu ftark.

26,23 eine formel wie Erek 3187 unfer herre enfi der dich ner.

27,21—28,2 allgemeiner falst Frauenlob den fpruch (Ettm. feite 199), daz

men/fche wirt in driu gelich, fwenne ez von hinnen vert: fin fele aldä ze himelrich, ob ez der licham hät befchert: daz fleifch den würmen alfe [peech, daz hänt fi fchiere verzert: daz guot den erben näch fim

6, 7,

29,19

29,24.

30,23.

31,16 33,8

33,22

33,23 39,9

über Freidank. 385

leben menfchliche vollebräht. vert er ze helle durch Jin fireben, fin wirt niht mer gedäht.

fo waent ein löre er fi got wird durch ähnliche ftellen erläutert in Mafsmanns Eraclius feite 502. 503.

25 gedicht von den fieben todfünden aus dem zwölften jahrhundert (Mones anzeiger 1839. £.58. Altdeutfche blätter 1, 363) höchvart lei- dir vil gewalles hät: fi ifl in armir alfe in richir wät. auch der Wel- fche galt handelt im achten buch von der höchvart. Frauenlob dage- gen (Ettmüller feite 61. 62) nimmt höchvart in der edelften bedeu- tung als ftreben nach dem höhern, und weils fie nicht genug zu prei- fen: ir füezer fite kan allez adel vergulden;, ihr fteht übermuot ent- gegen.

24 Veldeke MS. 1, 21° die ir (der welt) volgent die jehent daz fi be- ‚Jet ie lanc me. MSHag. 3, 438° frou Werlt, ir altet unde böfet. Frauenlob (Ettmüller feite 189) ie elter und ie erger wirt der werlde leben.

lied des herrn von Kolmas (Altdeutfche blätter 2,122. MSHag. 3 468") uns ift diu bitter galle in dem honge verborgen. Wellch. gaft bl.22° ze gallen keret valfch die füeze. Altd. blätter 1.86, 280 wan uns lit verborgen in dem hone diu bitter galle. Jüng. Titurel 1070, 4

b)

hiute füeze, morgen füre: ir (der welt) honic hät verborgen bitter gal- len. Frauenlob Ettm. feite 110 mit gallen füezen einen honee. f.117 ob meres fluz wer galle gar, mit honc ez überfüezen. {.146 in honie biute ich gallen. f.167 ich fpür gallen in des honges lift.

MSHag. 2, 364° hiute füeze, morne für. f. oben [.338.

Welfch. galt bl.76 wan der guote und der unguote fuln haben in ir muole böde gedinge und vorhle ze got.

Berthold 91 fwer finen riuwen und fine buoze unz an denfelben (jun- geflen)) tac part, daz ift ihm ze nihle guot.

Walther 77,30. 31 fwer fich von zwivel keret, der hat den geift bewart. Walther 7,40 hilf uns daz wir fi (die fchulde) abe gebaden mit fleete wernder riuwe. Armer Heinrich 518 fi bereite aber ein bat mit wei- nenden ougen. Welfch. gaft bl.105° mit tugende und mit güete jol er baden fin gemüete. Gerhart 2311 ir weinen was güetlich daz munt und ougen beidiu mich baden hiezen funder danc: ir kintlich

Philos.- histor. Kl. 1849. Ccec

336 WirLHueLm Grimm.

weinen mich betiwanc daz ich mit ir weinde. der Winsbeke 64,1. die Winsbekin 17,10 üz ougen muo/t er wangen baden: von herzeliebe daz gefchach. pfälz. handfchrift 341. bl.89 mich dunket wir müezen baden alrerfi üz den ‚fünden mit reines herzen ünden, die üf ze berge fehiezen und üz den ougen fliezen. Neidhart 20, 3 Ben. wene ich ‚fündehafter in den riuwen baden. Ald. wälder I. 44,277 min herze mit manegen leiden ift vil ftarke überladen: ez muoz in grözen for- gen baden. Frauenlob Eitm. feite 35 fünder, wilt die buoze leiften, bihte wol. din ougenregen dich wefchet ab.

35,10 Loblied auf die jungfrau Maria aus dem zwölften jahrh. (Diemer 299, 7) nift miner Junden nie vil, finer guote ne fi märe.

35,23.24. Roland 183,4 daz her allenthalben vor in fwant, [am der funne tuot den fne. Konrads trojan. krieg Strafsb. hf. bl. 228° fi kunden liute [wenden (im kampf), alfam diu funne tuot das is.

35,27 Juonestac auch Lanz. 8848. Paflional 264,58. 321,30: aber fchon im zwölften jahrhundert (Karajans fprachdenkmale 96, 3) /uonstae. 39,6.7 Ecclefiafticus 3, 33 ignem ardentem extinguit aqua et eleemofyna re-

fiftit peccatis.

41,4.5 Konrad von Fufsesbrunnen in der Kindheit Jefu 80, 21 ouch ift uns dicke gejeit ez fi ein groziu felikeit, [wer fine freude und fin klagen in rehler mäze künne tragen. Cato (Liederfaal I. 572, 471.72) folt ouch ze keinen tagen ze vil von diner armuot jagen.

41,18 Buch der rügen 711—716 wie fit ir grundeloös als daz mer, waz- zer grös [lete in fliezent und fich dar in befliezent, und kan doch nie- mer werden vol.

IS [8] [80]

die form huot auch im zwölften jahrhundert, Heil. Margareta (Haupts zeitfchrift 1) 161 neben Auote 287: ferner Dieterichs flucht 368. Py- ramus (Haupts zeitfchr. 6) 178.

42,27 der dat. pl. walden auch im Lanzelet 7082 im reim auf halden. 43,4.5 in dem bruchftück eines lehrgedichts aus dem zwölften Jahrhundert (Docen mife. 2, 306. 7) heifst es nuo ift maneger dem daz wirret, daz in fin armuot irret daz er niet mac vollebringen finen willen an mane- gen dingen, als er doch gerne täte: der tuo als ich im räte. er bedecke fin armuote mit fuoge und mit guote....fwaz er tugende mag gefuo-

45,12

47,9

über Freidank. 387

ren, die uobe er naht unde tag, und /wenne ers niht getuon mag, [6 befcheine er guoten (willen) doh.

Phyfiologus (Fundgr. 1,29) zellit daz diu natra driu geflahte habe. ir Erift geflahte ift, fiu eraltet, ne gefihit fi nieht: [6 vaftet fi den- ne vierzich tage und naht unze fich daz vel ab ir lofit. J6 Juochet fi denne ein engiz loch an eineme fleine unte fliufet durch: JS vert ir diu obere hüt abe; fo wirt fi gejunget. vergl. Karajans denkm. 88, 16 folg.

vielleicht ift vorm zu ftreichen; vergl. Lachmann zu Nibel. 959, 3.

47,25 reizer althochd. reizari (Sprachfeh. 2,259) nur noch im Tundalus 45,

48,9

74 ein reizere zornes unde firites. Meifner (MSHag. 3, 101°) reizelere. irriu wip liederliche, der ausdruck kommt im Iwein 2895 vor und fchon im zwölften Jahrhundert Pfaffenleben 650 (Altd. blätter 1,234). auch Stricker gebraucht ihn, denn ich lefe bei Hahn 12,263 ich klage daz win und irriu wip mer fröwent denne frowen lip. der Sachfenfpiegel nennt fie varendiu, anderwärts heilsen fie unfletiu, Türheims Wilhelm bl.246° keinen gebreften fi (die in den zelten liegenden ritter) heten, wan fi der unfleten wibe gar enbären. fo auch Reinhart fuchs 351, wo 1623. 1627 zu lefen ift und gerätent verwenden (lafeivire nach Diutifka 2, 320°); vergl. Konrads troj. krieg 21614. deutfcher Cato (Birkenftock. hf. f. 322. Liederfaal 2,177. Altd. blätter 2, 31) irriu

wip und fpiles liebe machent manegen man ze diebe.

49,21 vergl. 115,1.

51,7

auch im Sprachfchatz 1,1102 wizzielichen.

51,17—22 verändert und verfchlechtert fteht der fpruch aus der Strafsbur-

ger handfchrift vom jahr 1385 in der Diutifka 1, 326 abgedruckt; er fcheint mir aus Bernharts überarbeitung genommen.

‘Alter lüte minne

So ich mich reht befynne

Dryer hant fchaden hat

wie es darnach ergat.

Zu dem erfien fint fy unwerd

won man ir nit vil begerd

So nimt (es) och kranken grüs

wnd daz felb er och tur bezallen [er] müs. Ccc 2

388 WiLHeLMm Gkimm

53,9.10 Kanzler MS. 2, 247° die pflegent alle tumber fite, die fich des fcha- ment, des fi doch fint geret.

53,19.16 es heilst hier vorhte machei lewen zam, da aber der angeborne mut des löwen in allen dichtungen gepriefen wird, fo mufs fich diefe be- hauptung auf eine befondere veranlaflung beziehen, wo der löwe von furcht fich bezähmen läfst. der alte Phyfiologus (Fundgruben 1, 17. vergl. 21) gibt auskunft, fo fer gät in demo walde und er de jagere geflinkit, fo verliligöt er daz fper mit finemo zagele zediu daz fien nine vinden. ebenfo der Welfche gaft pfälz. handfchr. bl. 198” der lewe enpfindet wol [wanne man in-jagen fol, verflreichet er Jin Jpor gar mit dem zagele; daz ifl wär. mite wil er daz erwinden, daz in nin müge der jeger vinden. bei der folgenden zeile, ören befme daz ift Jeham, erklärt Benecke (Wörterbuch 108) den ganzen fpruch dahin, ‘fo wie man den löwen durch furcht zähmt, fo zieht die ehre den men- fchen durch fcham! zu diefer den gedanken abfehwächenden deutung kann ich mich nicht bekehren. wer zähmt den löwen durch furcht und auf welche weife jagt man ihm furcht ein? wenn noch gefagt wäre “durch hunger’. die zweite zeile bezieht fich gleicher weife auf das thier und feine eigenthümliche natur. das zeigt ebenfalls der Welfche gaft an jener ftelle, /wan fich der lewe rechen wil und hät zornes niht fo vil als er wolde, er tuot im mit Jlegen des zagels harle wE: er treibt fich felbft an. dren befme ift alfo der zagel, der wegen des büfchels in den er endigt, hier zuchtruthe heifst, wie Walther (23,29) das wort gebraucht. diefen edlen trieb des löwen kannte auch Boppe MSHag. 2, 379° fins zagels [wanc in zornes Iwinget.

54,4.5 in den Schwabenfpiegel 71,18. 19 aufgenommen.

54,22.23 Mofis (Diemer 87,3—6) /wer dumben herfet, der fliufet fin are- beit: [wer winket dem plinten, der verliufet fine flunde.

55,16.17 der angel ift der ftachel der biene und anderer infecten, wie er nach Stalder noch jetzt in der Schweiz, nach Schmeller 1,78 in Baiern heifst. man glaubt man müffe den ftachel drücken oder daran fau- gen, dann komme der honig, dem aber der ftich folge. auch Walther

gebraucht das gleichnis, er fagt von den doppelzüngigen 29,12 in fz-

me füezen honge lit ein giftee nagel. bei Frauenlob (Ettmüller f. 238)

fagt die Werli zu der Alinne “in diner freude ein dorn unwert, in diner

über Freidank. 389

füeze ein angel tougen lüzen kan! ich laffe einige beweifende ftellen folgen. Antichrift 111,42 (Fundgruben 2) von den heufchrecken, man Jagit daz fie fich vlizin wie fie verholne bizin. die angle tragint fie in den mundin, mite tuon fie wundin. Pfaffenleben 561 (Altd. blätter 1, 231) wiler daz honic ezzen, fo fouge er den angel. Reinbots Georg 718 auf freude folgt leid als daz honc, dar näch der angel. jüng. Titurel 2399, 3 näch honge [charfen angel bieten. Liederfaal 2,181 diu mir unfüezen angel in füezez honc geworfen hät. andere ftellen in Be- neckes wörterbuch feite 45 und 362, wo aber die erklärung ‘in den an- gel beifsen’ unzuläflig ift.

57,2.3 Walther 31,15 diu meifte menege enruochet wies erwirbet guot.

57,7 Frauenlob Ettm. feite 56 ein ritter drizic jären riliche mac gebären.

57,8.9 Iwein 3580 —83 ich möhte mich wol änen ritterliches muotes: libes unde guotes der gebrift mir beider.

58,5.6 Flore 7930 wan daz herze der haz inne lit verborgen, daz verfmel- zent forgen fam der roft das ifen, ähnliche redensarten weift Som- mers anmerkung nach. Freidanks auflaffung näher im jüng. Titurel 5833, 3.4 alfam daz ro/t den fiahel und ifen izzet, alfo tuot leit dem herzen, fwä liebe rehte niht vergizzet. Berthold 200. 201 wendet das gleichnis auf den hafs an, wan in (den menfchen) izzet der haz in dem herzen, als der roft tuot ifen.

58,11.12 Walther 42,7.8 ich bin einer der nie halben tac mit ganzen fröi- den hät vertriben.

59,20.21 der fpruch mit denfelben worten in dem deutfchen Cato (Lieder- faal 3,171. Birkenftock. handfchr. f. 312).

60,23.24. 61,1.2. Frauenlob Ettm. feite 63 ein lop daz mit der volge üz wi- Sem munde gät, daz lop beftät, vergl. Einleit. xcıv.

62,2.3 Reinart 181.182 en hout bifpel, viants mont feit felden wol.

63,14 /wer fich [cheltens wil begän erklärt die anmerkung z. Flore 3146 ‘wer vom fchelten leben will, wer das fchelten zu feinem gewerbe macht’: war um nicht einfacher “wer fich auf fchelten einlaffen, mit fchelten befaffen will’, wie unten 171,11 und bei Walther häufig: Hermann von Fritzlar 213,15 fich koufes begän, Engelhart 1075 des diu natüre fich begät.

63,20 Konrad von Würzb. MS. 2,205" fwer an dem ende wol gevert, den hät

Selde geret. jüng. Titurel 5900, 3. 4 /waz grözer wirde hät ein 8 ] &

390 WirHELMm Grimm

anegenge, nimt ez ein Jwachez ende, fin eren don der klinget niht die lenge. f. Einleit. xcı.

64,12 Prov. 15,1 refponfio mollis frangit iram. Rabenfchlacht 121,5.6 uns Jaget dicke dez mere "füeziu wort benement gröze were‘.

64,18.19 Welfch. gaft bl. 11° wer in zorn hät fcheene fite, dem volget guo- tiu zuht mite. der Winsbeke 24, 6 gezoumet rehte fi din zorn.

64,24 /wer im zorne fräget wer er erklärte mir Benecke durch die annahme er fei der gegner, den der zornige anrede und den er durch die frage herab würdigen wolle; aber kühn wäre dies er hier gefetzt. foll durch die frage die bewufstlofigkeit in der leidenfchaft ausgedrückt werden? Heinrich von Morunge MS. 1, 53° ich weiz wol daz fi lachet, [wenne ich vor ir [län und enweiz wer ich bin.

65,5 —11 fchon Ifidor fagt lib. fententiar. 1,27 erunt autem quatuor ordines in judicio und fo auch in einem gedicht der Vorauer handfchrift; vergl. Diemer z. 102,14. fodann gehört noch hierher eine ftelle aus einem bei- fpiel Strickers, die in Lachmanns abhandlung über den eingang des Par- zivals {.5. mitgetheilt wird, und die eine verfchiedene auffaffung enthält. danach ift bei dem jüngften gericht ein viertel der menfchen der helle unabwendbar verfallen und zwar auf dreifachem wege. erftlich die im unglauben verharren: fodann die verzweifeln, fich für verloren halten und keine hilfe fuchen: endlich die auf gott zu grofses vertrauen fetzen, die fich nemlich darauf verlaffen dafs er ihnen, wie fie immer leben, das himmelreich öffnen werde, weil Chriftus die bufse für fie über- nommen habe. diefe letzte ift die dritte ftrafse, die Freidank nicht näher bezeichnet: aber auf das, was Stricker fagt, geht hinaus, was in dem gedicht der handfchrift & vorkommt, diw dritte (/iräze) ift, [wer ‚fündet üf gedingen und troeftet fich unfteter jugent. fchade dafs der Renner 20877—89 nur von dem wege zum himmelreich redet, indem er Freidanks worte 66,13—20 umfchreibt.

66,20 der alles was er hat hingibt und felbft von almofen lebt.

67,6.7 ich beharre bei meiner erklärung und verwerfe die erkünftelte, die Be- necke im Wörterbuch £. 254° vorbringt, ‘durch zauberfprüche kann man nie glühendes eifen befprechen, dafs jedermann es anfaflen kann ohne dadurch verbrannt zu werden. es ilt ja hier von der kraft der zauber- fprüche die rede, nicht von ihrer unzulänglichkeit; öfen ift der nominat.

über Freidank. 391

67,19—22 derfelbe gedanke in der ftrophe eines unbekannten dichters (MS Hag. 3, 440°). Der tiwel ift ein lügen«re und ift doch da bi wil geweere, der im gedienet, daz er deme nimmer ungelönet lat. nit willen kan er dienft vergelten: daz tuont die kargen herren jelten, die vergezzent maneges dienftes, des man in gedienet hat. des entuot der tiwel niht: Swie gar er fi ein bafe wiht, er lonet doch in allen, die im gedienet hant mit flize. den boefen herren zitewize kan er fchallen, die dienftes ungelönet lazent daz fi defie wirs gevallen.

67,25 vergl. Haupt z. Winsbeke 8, 9.

69,5—8 noch eine ftelle aus dem Welfchen gaft bl. 211° daz fiur unde der arge man diu gelichent fich dar an, daz in beden niht genüeget. daz fiur brinnt, diu erge füeget wie fie erfülle dez guot.

69,9—12 Cato (Liederfaal 1,563. 564) folt ouch wizzen, fwd du gäft, daz dri vient häft. die vinde nemne ich alleine: der erfte ift diu welt unreine, din eigen lip der ander ift, der dritte des argen tiuvels lift.

69,21.23 Welfch. gaft bl. 121° der (pfaffe) fol guotiu bilde geben mit kiu- Jehem libe, mit reinem leben, mit guotem werc, mit rede ‚Sehsene, und nochmals bl. 134° kommt er darauf zurück. Grieshabers predigten 2,34 von fo were einem ieglichen lerer nöt daz er finen under- tänen guoliu bilde für trüege.

70,9 weitere nachweifungen über Aulwe liefert Hahn zu Strickers kleinern gedichten XII, 199; auch bei Enenkel (Rauch feript. rer. Auftr. 1,294) werfen in ein hulben.

70,13 zu der redensart wer des hele niht enhät vergl. Grammatik 4, 247.

71,7.8 Wackernagel in Haupts zeitfchrift 6, 283. Diez poesie der troubad. 129.

71,17.18 diefer fpruch aus Freidank in der erzählung vom fperber (Lieder- faal I. 232, 349. 50).

72,1 Ulrichs Wilhelm pfälz. hf. bl. 164° diw diet ift unberihtet, fwä der kü- nec ift ein kint.

392 72,8

72,16

723,17:

Wirnerm Grimm

guol umb Ere nemen eine fprichwörtliche redensart, ehre für äufsern vortheil und gewinn aufgeben: man fol re für daz guol nemen. Sper- vogel MS. 2,227° erft tumb fwer guot vor Eren fpart. Hartmann vom fahrenden volk, Erek 2165.66 /waz der diete dar kam, der guot umbe ere nam, der tel man niht eines rät. Stwickers Karl die guot umb re nämen. meilter Kelin MSHag. 3, 22° vil maneger fprichet “ich nim guot umb ere’. Reinmar MS. 1, 79° mer umb £re fol ein man Jorgen denn umb ander guot. Lutolt von Seven MSHag. 3, 323° die biderben nämen £re für daz guot. Friedrich von Sunburg MS. 2, 211° [wer giht der guot dur Ere neme, daz fich der füre fünde, der luget alde ez fündet der, der aller meift git dem kriften, juden. Kanzler MS. 2,239" wer guot für Ere minnet, fin guot än €re gar zergät. Schwabenfpiegel 16, 30—32 ob ein fun ze einem fpilmanne wirt, daz er guol für ere nimt wider fines vater willen, unde daz der vater nie guot für Ere genam, dann verliert der fohn das erbrecht; vergl. 255, 14. in Konrads von Würzburg Klage der kunft MSHag. 3, 336° wird der verurtheilt, der künftelofer diete guot umb Ere gebe um von ihnen, den unwürdigen, geprielen zu werden.

engen rat erkläre ich jetzt durch einen kurz und fcharf gefafsten, ent- fcheidenden, nicht, wie W. Wackernagel im gloffar zum Lefebuch, durch einen befchränkten: fo fteht in Türleins Wilhelm enge be- diuten. zu den fchon angeführten ftellen noch folgende, Herbort 6694 rede kurz enge und fmal. Pafhıonal 314,23 diu künegin was vil fwinde dar üf an engem räte. Konrads troj. krieg Strafsb. hand[chr. b1.296° mit wifen liuten enger rät die befte kraft an räte hät. Renner 4223 fi fäzen in engem räle, als eine entfcheidung mufte gefafst werden. noch Hans Sachs gebraucht den ausdruck in diefem finn; die ftelle ift Grammatik 4,883 angeführt. der gegenfatz ift langer rät, Welfch. gaft bl. 201° man fol lange gedenken waz man tuo und fnelle tuon daz; ielwederz fin reht hät, länger rät und nelliu gelät. vergl. Rei- naert 2492 Zfingrin ende Brüne die vraet hebben nu den nauwen raet mellen coninc openbare.

18 wenn man einem fürften rat ertheilt, fo merkt man auf welche weife er will gerühmt werden, auf welches lob er anfpruch macht. denfelben finn gewährt der fpruch in dem alten druck des deutfch-

73,7

über Freidank. 393

lateinifchen Freidanks bl. 33" man fiht bi dem nefte wol wie man den vogel loben fol. leicht möchte diefer bildliche ausdruck der ur- fprüngliche fein, zumal er in ähnlicher weife noch heutzutage fortlebt, Simrocks deutfche fprichwörter 353 ‘man fiehts wol am neft was für vögel darin find.’

die alten erben in der bedeutung von vorfahren, eltern. auch in dem alten bruchftück von Ernft (Fundgruben 230, 1) min lant dat mir von allen (l. alten) erven ane kumen is.

73,18 Der jüngfte tag (Haupts zeitfchr. 1,123) 222 vervallent die bürge

74,4

die durch übermuot geworht wurden. Renner 23357 alle künge üf erden mit ir hern mügen fich der flöhe niht

erwern,

74,18 Chronicon falernitanum ce. 11 (Pertz 5. 478, 46) kaifer Karl verlangt

dafs fich ihm Arichis der langbardifche herzog von Benevent unter- werfe, ‘unum eft quod qu&ro, ut armiger meus unus miliarius fiat’. fo trägt man daz wäfen der minne (Parz. 130, 4), des todes (z. Wigal. 7797), der unfreude (Stricker XII, 21), der welt (Docen mife. 2, 221); vergl. D. mythol. 807.

74,26 Schwabenfpiegel 147, 12 Wackern. der der wärheit ze vil [wert, der

wirt der werlde unwert;, vergl. Finleitung xc.

75,2.3 /wer die wärheit fuorte und die ze rehte ruorte wer die wahrheit vor-

brächte, aufführte, eigen hätte und fie, wie es recht ift, förderte, gel- tend machte. fo in Strickers kleinen gedichten 7,63 ob die wärheit füereft und die lüge ninder rüereft. Gudrun 195,2 brant füeren her- bei führen, ftiften. Konrads Alexius 1298 den fiechen allen wart be- Jehert daz fi gefuntheit fuorten ihnen zu theil ward. wir fagen in die- fem finne “ich führe den namen’. rüeren hat eine ähnliche bedeu- tung, anregen, Servatius 1454 die wärheit begunde er rüeren. 608 diu Jehrift niender rüeret daz ie iemen finen gelichen erfunde. Erek 5955 verfluochet fi der tac, daz ich die rede ruorte. Winsbeke 21,5 dem ors die kraft rüeren, vergl. Rabenfchlacht 648,3. Strickers Karl 69!. 72°. Konrad von Würzburg MS. 2, 202° /wer lüter lop wil rüeren, des er niht fol füeren, dem wirt ez [chedelich daz der dar an verferet wirt. Palfional 174, 48 daz houbet rüeren. 272,69 daz wort daz ich hie rüere. Lohengrin feite 131 gein dem min herze ie haz von [chul-

Philos.- histor. Kl. 1849. Ddd

394 WiLHELM Grimm

den ruorte. Teichner (Liederfaal 2,538) fit ich fwigen müefte, daz mich nieman fchelten liez und mich ouch zer tür üz fliez, ich die wärheit ruorte an und (2, 536) in anderer faffung wer die wär- heit wirft enbor, vor den fpert man tür unt tor.

75,7 die heimliche ehe ift gemeint.

76,21.22 ähnlich im Welfchen gaft bl.166° /wer niht behaltet herren reht, der fol billichen fin kneht.

77,8.9 Welfch. gaft bl. 197° wan die übelen fol er verdrücken und die guo- ien zuozim zücken. Helbling 4, 337 —340 die mir ze Wienne fint ge- reht, die wil ich für zücken und die nider drücken, fi fin ali oder kint, die näch dem herzogen fint.

77,16.17 auch bei Frauenlob (Eittmüller feite 221) fchepfte ich wazzer mit eim fibe. Teichner (Liederfaal 2,536) ein [ip daz wirt niemer wazzers vol, [vaz man dar in [chepfen tuot.

78,11 Karajans denkmale 10,5. 15,20 nieman ift gotes kint wan die daz reht wurkende int.

78,22 driu, auch metrifch beffer, ift die richtige lesart, denn was z.21 ent- hält, wird nicht mitgezählt und dient als ein gemeinplatz nur zur aus- füllung.

79,7 meifter Stolle MSHag. 3,10° fagt von der frau Ehre ji kleit daz wis- heit erbet niht und edeliu tugent; daz fi got gekleit.

79,16 tübel döbel, ftumpfer hölzerner pflock, womit die bodenftücke des faffes feft verbunden werden, was bei Ducange unter incaftrature er- klärt wird; vergl. Sprachfchatz 5, 352 iudil fehlucht, einfchnitt (noch heute in der Schweiz gebräuchlich): zubili gitubili incaftratura. Hein- rich von Meifen 4053 daz vil freislich übel, daz in uns haftet als ein tübel. Renner 957 lüge ift fünden und fehanden tübel. 16607 vorhte und fchame [int Eren tübel.

79,19—24 verderbt als rätfel in Haupts zeitfchrift 3, 28 ein nagel helt ein eifen, ein eifen ein pferdt, ein man ein fchlofs, ein fchlofs ein man; vergl. Einleit. xevır.

79,29 folher ere, wie auch die Magdeb. handfchrift hat.

80,10.11 fwigen ift diu befte wilze in manegen liuten Liederfaal 3. 562, 54.

80,25 fwer in guot und £re feit zulpricht, ihnen als eigen beilegt. Parzival 165, 22 fin wunde und harnafch fwere—im müede unde hunger fa-

über Freidank. 395

gete. heil. Elfabeth (Diut. 1,477) gott, dem &re und ewecliche lugent gefaget

80,26 wa AC, wa Bed. beffer wohl eine frage, diu witze wefen fol?

81,21 wenn die glocke geläutet wird, laufen die narren zufammen.

82,8.6 vergl. Deutfche mythol. 645. in der anmerkung ift verdruckt Calen- berger für Lalenberger. Diutifka 2, 77.107 und Hätzlerin 270* unwifiu wort und tumbiu werc tribe ich Elblin von E/elberc;, Graff meint es fei der name des dichters. Pfälz. handfchr. 341. bl.78 die werdent äne meil und kument ze fletem heil üf die burc ze Tugentberc; Jint erkant des wifen werc. in der erzählung von der frau Ehrenkranz (Liederfaal 1, 385) heifst es in minem hüs Belibentriu und ze Har- renberc in dem lant Hoffenheil. vergl. Haupt z. Winsbeke 45, 7.

82,11 Reinmar von Zweter MSHag. 2,186: fo erkent man doch den efel bi den ören.

82,14 Reinmar von Zweter MS. 2,128 die mit entlöhenter wirde fuoren.

85,5 über die redensart im facke koufen, die auch Diutifka 1,325 aus Frei- dank genommen ift, vergl. Haupt z. Winsbeke 63, 6.

85,19 pfälz. handfchr. 341. bl. 127 doch hän ich micheln man gejfehen, dem man zuht und Juoge muo/te jehen, und einen kleinen Jo ungefüegen, daz al die werlt mohle genüegen.

85,23 Magdeb. handfchr. bl. 25" id enis neyn fulues mer. eine verderbte ftelle bei Helbling 15, 372 “deham felb ift niur einer’: dez ift daz lant allez vol enthält wohl denfelben fpruch, denn ich beffere dehein felb- felbe ift mE wan einer ‘nur einer ift von niemand unabhängig’, womit gott gemeint wird, deffen macht, wie Helbling hinzufetzt, überall durchdringt, die erde erfüllt. denfelben gedanken drückt Frauenlob (Ettm. f.159) anders aus, got ift ein ungefchaffen wefen. allein der fpruch war wohl alt und man kann fagen kirchlich, in Notkers pfal- menüberfetzung (f.11) fteht got der (id ipfum) felbfelbo heizet. in den denkmälern der folgenden zeit habe ich zwar diefe eigenthümliche zufammenfetzung nur noch bei dem öftreichifchen Enenkel (Rauch f.287) gefunden, und als ungewöhnlich wird fie in den handfchriften Freidanks und Helblings verfchwunden fein, aber ich trage kein be- denken fie herzuftellen, zumal bei Freidank das metrum dies for- dert und das wort im fiebenzehnten jahrhundert wieder auftaucht:

Ddd 2

396 WiLHELm GRIMM

Opitz 2, 224 (Amfierd. 1645) fagt felbfelbften, ein anderes beifpiel Grammatik 3, 6.

87,6.7 B allein hat die richtige lesart. die eule ift nicht freigebig und hält das zufammen gefcharrte feft. die Schande rät dem ungaftlichen rit- ter (Liederfaal 1,525) den harfen - und fpielmännern fein thor zu ver- fchliefsen: frau Ehre wirft ihr daher vor fo lereft du'n in hiuwen wife leben. Freidank klagt hier wie Walther (26, 33— 35. 84, 18.19) über den mangel an freigebigkeit bei den fürftlichen höfen.

87,8 Walther fagt (84, 17.18) gleicherweile ze Nüerenberc was guot ge- rihte, daz fage ich ze mere. umb ir milte fräget varndez vole: daz kan wol fpehen. die feiten mir ir malhen Jehieden danne lere.

88,15 Heinrichs Krone bl. /wer den rühen ziegel tweht, der fiht ie lenger dicker hor.

89,2—9 der gegenfatz zwifchen befte und befte auch 90, 25. 26. 105,15. 440, 24. 120, 14. Walther 26, 29. 30 diene manne beeftem, daz dir manne be/te löne. Gudrun 1263, 3 was ich diu befte, hät man mich zer beeften;, vergl. 1264, 1. Iwein 144. 145 der bagfte ift dir der befte und der befte der bafte.

89,11 der fwache gruoz ift verächtliche behandlung, geringfchätzung; vergl. Nibel. 1796, 2.

89,12 Tanhaufers hofzucht (Haupts zeitfchrift 6) 141 ich hoere von fümeli- chen fagen (daz ift wär, daz zimet übel) daz fi ezzen ungetwagen.

90,19.20 auch dieMagdeb. hf. hat den fpruch zweimal, bl. 16° und 39°, doch jedesmal in diefem zufammenhang mit 17.18.

92,12 laftern finde ich nur Anno 816. Diemer 356, 22. Reinhart fuchs 1399. Hermann von Fritzlar 165, 30 und Ortnit f.71, fpäterhin bei dichtern nicht mehr; das althochdeutfche Zaftarön (Sprachfchatz 2,99) kommt häufig vor.

93,8 der wallach war kein ritterliches pferd, Wackernagels lefebuch 589, 43 man fiht nu hengeftritter vil, die doch wol ro/fe waeren wert.

95,11 daz ift wol, wie 179,6 ez ift wol; vergl. zu 127,3.

95,16. 17 Walther 79, 24 mäc hilfet wol, friunt verre baz.

95,18.19 W. Wackernagels Bafler handfchriften feite 36 aus dem vierzehnten jahrhundert bewerter friunt [und], geftanden fwert diu zwei fint grö- zes guotes wert.

über Freidank. 397

96, 16 Kolocz. 103 und woere ich in dem vierden lant, ich wolde gerne ko- men her, vergl. Grammatik 4, 958.

97,26 f. oben feite 338.

98, 11 Herant von Wildonie 23,159 wiplin diu man vindet ringe veil; vergl. Freid. 16. 17.

99,17 Tirol und Fridebrant MS. 250° fun, du folt din &lich wip haben liep Jam din felbes lip.

100,6.7 Walther 91,35— 92,2 ift aber daz dir wol gelinget, daz ein guot wip din gendde hat, hei waz dir danne fröiden bringet, fi [under wer vor dir geftät, halfen, triuten, bi gelegen. von folher herzeliebe muoft fröiden pflegen.

100,8.9 Heinrichs Krone bl. 69° wan minne den fchiuhet, der ir allez fliuhet vor. Konrads troj. krieg 2421 die lute—fprechent der fi (die minne) Juochen beginne, daz fie fliehe den.

101,4 Kaiferchronik bl. 27° bit fi vlizecliche des libes.

101,11.12 Lanzelet 5879—83 flarkiu huote und ungetriuwer muot diu ma- chent fteetiu wip unguot. MSHag. 3, 418° huote machet tete frou- wen wankelgemuot.

101,13.14 David von Augsburg (Pfeiffers myftiker 1) 368, 23 minne wil fri fin: ift fie betwungen, f6 ift fi niht minne, wan fi felbe mac niht be- iwungen werden. vergl. Haupt z. der Winsbekin 32, 4.

102,15.16 Teichner (Liederfaal 3. 367—70) maneger hirät üz den landen näch dem glanz mit zehen fehanden und lät eine neben fich niur mit eime brejlelin.

102,20—23 Welfcher gaft bl.64° fwaz ein man mit wiben tuot, daz fol al- lez wefen guot: daz reht habe wir uns gemaht mit unfers gewaltes kraft; vergl. Simonides Amorginus von Welker f.48. Leutolt von Seven (MS. 1,163°) vinden wir an Einer libe miffetät, bi Einiu tüfent wibe lugende hät.

103,1.2 Renner 12776 od ein frouwe miffetuot, bi hänt hundert fieten muot: fwer die mit jener [chelten wolte, der tete anders denne er folte.

104,26. 27 Frauenturnier (Kolocz. 87, 406—410) fi kunnen brechen hertiu Jper: daz ift ein michel wunder, fi ligent tete under unde behaltent doch den pris, der man fi junc (l. tump) oder wis.

398 WirLHeLM Grimm

105,1.2 Reineke vos 1157 de heft fyne ere nicht wol vorwart, de fus fyn wyf mit ener andern part.

105,8 Flore 5334 ez ift ein nöt fwer eine äne geyellen treit nähe gändiu herzeleit in Jime herzen verborgen.

105,19 des tiuvels er engiltet er macht nichts daraus, wie wir fagen ‘er küm- mert fich den teufel darum’; vergl. Deutfche mythol. 966.

106,6—9 Marienlieder aus dem zwölften jahrh. hanöv. handfchr. bl. 23° d& heizes vrowe inde bis ouch alfö: wan dü, vrowe, häs gemachet vrö wat in himele inde in erden is. vrowe van vroweden geheizen bis, wan trürikheit enruorde dich nit. darum nennt Konrad (MS Hag. 2, 330°) Maria frouwe aller freude. Konrad von Heimesfurt 215 —17 läfst den engel Gabriel zur jungfrau Maria fagen aller fröuden Jrouwe, fröuwe dich: joch fröwet von dinen fröuden fich Swaz fröu- de ze himel ift. Stricker (Haupts zeitfchr. 7,495) fi fint guot ‚für allez guot, die frouwen fint und fröude gebent. wenn Lichten- ftein 660, 9 fagt fi frowe ob al den freuden min fo bezieht fich das wol auf diefe etymologie, möglicherweife auch Gudrun 4422 (1105, 2) diu freudenlöfe frouwe. noch weiter führt fie aus Frauenlob f. 111 Ettmüller, frö von der luft, w@ von der burt, und f.113 we üf ein frö geftempfet, wan fi uns tragent ein lebendez rs in Jpünder ou- genweide. ein frowe diu mac fich fröuwen wol an lebender fruht. Morolt 2,1144 fwd frouwen fint, da ift freude vil. MSHag. 3, 417° frouwen fröuwent verre baz danne ein röfe in touwe naz. vergl. z. 103, 25. 26.

106,10.11 Karajans denkmale 12,12 er ift charl, ift Si chone (daz ift ein vil altiu gewone), daz kint daz ift daz dritte reht.

106,20.21 meifter Kelin (MSHag. 3, 22°) fwer fime dinge in dirre werlde rehte tuot, dem mac an fime adel wol gelingen. Türheims Wilhelm bl.125° fwä man dem rehte reht tuot, wirt daz reht behalten.

107,23 vergl. Sommer z. Flore 36 wan ie daz lihter befer ift.

107,24—27 Dieterichs flucht 7935 betwungen dienft wirt nimmer guot, fwer dienft betwungenlichen tuot, mac wol Schade von üf ftän.

108,7 Helbling 8,1 gewonheit diu ift riche. jüng. Titurel 5344, 3 gewon- heit ift noch richer dan natüre. vergl. z. Flore 7635.

über Freidank. 399

108,11.12 Hätzlerin feite 144,109 ein ieglich herz fich näch Jent als ez *dan vor ift gewent.

108,15.16 Walther 108, 17.18 der guote win wirt felten guot, wan in dem guoten vazze: wirt daz bereit ze rehte wol, habet ez den win. Frauenlob Ettm. feite 58 edel win muoz nieten von Swachem vazze äfmackes fich;, vergl. Einleit. xc.

108, 17.18 latein. fprichwörter aus dem zwölften Jahrhundert (Altdeutfche blätter I. 11,46) unde homo confuefeit vix unquam linguere nefeit; vergl. Einleit. c.

109,6.7 vaftet, wie alle handfchriften lefen, ift in der bedeutung von büezen, die fich leicht ergibt, fchon durch den Schwabenfpiegel (cap. 287 f.268 Wackernagel) und andere ftellen beglaubigt. volle ficherheit meiner erklärung des fpruches gewährt Türheims Wilhelm bl. 197°, wo er ebenfalls vorgebracht und nur in entgegen gefetztem finne angewendet wird, ld dinen unträft rafien: den man fol niemen vaften, er doch vor im iöt gelät. ftatt lahen hat die Magdeb. hf. ir- Jelan. entfcheidend ift auch eine ftelle in einem gedicht des zwölften Jahrhunderts (Vorauer handfchr. bei Diemer 348. 349), fwanne der man vihtet, fin wäfen üf rihtet, 9 keret der manflecke deme werte daz eine ecke uber fin felbes haubet: wirt diu fele ertaupet. den lemtigen fol er (l. man) va/ften, den töt läzen ra/ten; im nift dere vaflen pornöt: er hät ime felben getän den töt. hierher gehört viel- leicht auch eine andere ftelle bei Diemer 308, 12.13.

109,12 Räthfel und fragen in Haupts zeitfchrift 3, 34 ein fräge, wer ge- Jehrien habe daz ez diu ganze welt hörte. antwurt, der efel in der archen Nöe.

109,18 gamäliön ift das chamäleon (lacerta chamzleon), von dem fchon die alten, weil es lange ohne fpeife aushält, glaubten es lebe von der luft; mehr fagt auch Freidank nicht, der Meifner Mgb. 38°, Frauen- lob Ettm. feite 27. Hug im Renner 18734 folg. ausführlicher ein tier heizt gamäliön (fo in der Frankfurter handfchrift, der druck hat ca- melion), fchribent die meifter wunder von, daz der luft fin pife Si und fwelher varwe ez wone bi, näch der werde fin bale gevar. ironifch äufsert Boppe MS. 2, 236° bei der forderung unmöglicher

400 WILHELM Grimn.

dinge gamäleön fol niht wan der erde leben. Reinbot geht weiter, 3879 —80 gamaleon des luftes lebet, der fiben mile über de# erden Swebet, und der jüngere Titurel 2757 gamaniol (l. gamäliön) vil höch gelente vierzehn mile oberhalp der erde, und lebet niht wan luf- les: ferner 4755 von dem galadröt (l. gamäliön) fagt er mere wie er in den lüften get nu Jwebende und fine jungen brüetet, biz daz fi mit im jehöne fliegent lebende. Heinrich von Müglin (heraus gegeben von Wilh. Müller) feite 24 ich lebe dins tröftes [under wän reht [am der luft gamälion. Hätzlerin 219°, 104 freut in den lüften fich gamaliön gen miner wünne. Liederfaal 1,203 wird gefagt ga- mäliön nehme die farbe nach der luft an. über die verwechfelung des gamäliön mit dem karadrius f. unten z. 143,7.

109,26 Neidhart MSHag. 3, 225° hunt an einer lannen. Morolt 51? twingft den alten hunt in bant, fo maht hüeten diner hant.

110,17 gelückes rat ift von W. Wackernagel in Haupts zeitfchrift 6, 135. 136 erörtert.

110,25.26 Stricker (Jahrb. der Berlin. gefellfchaft 8, 289) diu werc werdent Jelten guot, diu man än guoten willen tuot.

111,6.7 jüng. Titurel 4151,1.2 [/terne] würze wort und ouch gefleine diu hänt krefte niht wan von des krefte, der kraft an allen dingen was gebende.

112,1.2 Welfcher gaft bl. 218° /welh man git und git drat, wizzet daz er zwir gegeben hät; f. Einleit. xcıx.

112,3 Welfcher gaft bl.220° er fprichet alle tage morgen’.

112,4 vergl. Erek 4073, wo wohl zu lefen ift wen ein abeleite bift.

114,23 wer das gold als fchmuck am leib trägt. Hochzeit (Karajans denkm.) 19,5—15 die frowen zieret daz golt: von diu ift fi ime holt. diw ift nie fo here noch fo riche, fi treit an barer liche die bouge joch daz vingerlin: wie mag iz ir luffamer fin? fiu [pannet fur ir brufle (daz ift geworht mit liften) ein guldin gewiere, daz iz ir den lip zie- re, wan fi [ehöne mite gät. Gottfvieds lobgefang 70, 6 du fpien din golt an blöze hüt.

114,27 Gudrun 2596 (649,2) gelücke daz ift finewel Jam ein bal.

415,2. 3 Lanzelet 5989 91 da enwas nieman ze ftunde, der ir den nüjfchel kunde gelegen wol ze rehte, das wort war früberhin häufig in ge-

über Freidank. 401

brauch: nufche Anno 648. Rother 3087. nu/ke Diemer 20, 8. 286, 1. nüfchel Rother 392. Äneide 780. 1306. 12687. ferner Lanzelet 6035. 6045: auch nufche 5612. im 13 Jahrhundert wird es felten, ich finde es nur noch in Heinrichs Krone bl. 90° und bei Neidhart 24,2 Ben. nüfchelin; die andern dichter verfchmähten es. erft in einem ofterfpiel des 15“ Jahrhunderts (Wackernagels lefeb. 1015,39) kommt es wieder zu tag.

115,14—17 von der freiheit der gedanken redet Walther 62,19 wie Frei- dank hier und 101,6. 122, 7, ftellen bei anderen habe ich in der Einleitung xcr nachgewielen: dazu füge ich noch Hartmanns büch- lein 1,916. 917 ich han gewaltes wan den muot und den frien ge- danc. die Winsbekin 15,1 gedanke fint den liuten fri und wünfche Jam. Reinmar von Zweter MSHag. 2, 188° gewali mac melden un- derftän. gedanke muoz man ledicfri ungevangen läzen gän; ez wart nie keifer künec her, der gedanc und merken künne erwern. Hel- beling 4, 233. 315 gedanke fint fri.

115,22.23 eingerückt ift der fpruch in die erzählung Frauenlift (Kolocz 113, 642. 43), wo er aber nach unferm text wird zu beflern fein.

115,27 Teichner (Liederfaal 1,457) ich bin ungeflaht daz ich niempt niht mer gelrou denn daz ich mit den ougen fchou oder vor in henden hän.

116,1 Hartmann büchlein 1,1186 du folt än Kundich helfen mir. Tanhau- fer MS. 2, 67® her Schaffeniht. jude Süfskind MS. 2, 178+. 179: Wähebüf, Nihtenvint, her Bigenöt von Darbiän, her Dünnehabe. Helbeling 15, 512 Getrütfinniht. Apollonius 3764 Entriuwfinniht. Rauch feript. rer. auftr. 2, 311.312 ein ort Trüfinniht.

116,10 züfent manne fin fagt ebenfo Veldeke Äneide 109, 41. Reinmar MS Hag. 1, 188°. Lichtenftein 48,7. Strickers Karl 121°.

116,25.26 Friedrich von Schwaben (Berlin. handfchr. 1.129) ir fit üf iu- werm pfert ze gaehe: ir full riten efel waehe.

117,26.27 Morolf II. 642.43 häft gefprochen fider ‘die einen gent üf, die andern nider’.

118,23 Renner 1238 /wer tihten welle, der tihte daz weder ze nider noch ze fins finnes flüge daz mittel halten. Kindheit Jefu 97, 37 fin lere er im her für zöch weder ze nider noch ze hoch.

Philos.- histor. Kl. 1849. Eee

402

WirueLm Grimm

118,27.119,1 Kaiferchonik bl. 79° von Juftinian der fleic von tugenden ze

tugenden. Roland 1,24 von Rarl ie baz unde baz fleic der herre ze tugende. Albertus 788 von Ulrich fus er von tugende hin ze tugende irat.

419,9 Welfcher gaft bl. 154° ir (der unmäze) gefchoz ift äne veder gar. 119,18 aus dem zehnten jahrh. (Wackernagels lefebuch 1,123) ube man al-

liu dier furhtin fal, nehein harto den man.

120,5 Spervogel MSHag. 2, 373° ft hiute min, morne din: teilet man

die huoben. Lichtenftein 207,20 fie wären breiten huoben holt.

120,14 der gegenfatz auch bei Walther 26, 29 fun, diene manne beftem, daz

dir manne befte löne.

120,27 mate habe ich vorgezogen weil es die handfchrift der erften ord-

nung (hier die einzige) gewährt, gegen wife der fieben andern hand- fchriften der zweiten, denn wi/ke in der Magdeb. ift die niederdeutfche form; überdies würde das feltnere wort die vermutung für fich ha- ben. wife gebrauchen füddeutfche wie norddeutfche dichter, Her- bort 14339. Athis A*, 85. B, 142. Erek 186. 7035. Iwein 4464. Wolframs Wilh. 56, 12. Strickers Karl 26°. Reinbots Georg 3036. Göli MS. 2, 57°. Konrads tro;an. krieg 3970. 14561. Ortnit feite 69. Lohengrin f.44; bei Walther kommt das wort nicht vor. der Sprach- fchatz 2,658 hat keinen beleg von matä@: im 13“ jahrh. ift es felten, Lanzelet 2671.3327 Fragm. bei Müller bl.14» eine maten majen;, Trau- gemundslied 833,37. 834,7 die matten grüene; Fleck gebraucht zwar 3326 mate, aber bald hernach 2425 wife: doch hier war er wohl an die überlieferung gebunden, die von einer wiele [prach, auf der die feligen wandeln, deren auch Steinmar (MS. 1,105’) gedenkt, ich wart aller fröuden vol als ein fele von der wife, diu ze himelriche fol. war das eine heilige itiswi/@? Schwabenfpiegel 179,4 Wackern. wife, aber in einer andern handfchrift matte. [päterhin erfcheint mate in elfäfsifehen und fchwarzwaldrheinifchen weisthümern (Gedichte auf Friedrich I. £. 114) und ift noch heute in der Schweiz geläufig.

121,17 Tirol und Fridebant MS. 2,249" folt wizzen, liebez kint, gegen

ift elliu lere blint, din liute folt du willee hän.

423,12 —17 auf den gegenfatz zwifchen worten und werken kommt auch

Walther mehrmals zurück, 7,12. 14, 6. 7. 33, 27. 37. 34, 27. 100, 22.

über Freidank. 403

123,20 —24 Engelhart 4080—84 ich hän vil manegen doners blic gefehen harte freisfam, dar näch ein kleinez weter kam unde ein vil gefüeger /lac. Boner hat 29,19.20 den fpruch aus Freidank genommen, aber 21,22 nähert er fich der faflung im Engelhart.

123,21.22 Walther 76,13.14 min herze fwebt in funnen ho: daz Jaget der winter in ein firö. MSHag. 3, 448° die bafen wifen in daz ftrö. Türleins Wilh. 96° ir höch gewalt ift worden ftrö.

124,1. 2 vielleicht ift die lesart von a die echte, fie wird auch in Mgd. durch und, das ftehen geblieben ift, angezeigt und gewährt einen guten finn, der arme, geringe mann foll fich nur mit wahrfagen abgeben, das ift fein gefchäft (Deutfche mythol. 995): feine not foll er nicht kla- gen, denn nur für jenes erhält er lohn; kumber klagen ift der ge- bräuchliche ausdruck, Tirol MS. 2, 250° fen dine liute kumber kla- gen, 250" /wenne der gernde kumber klaget. der finn der andern, bef- fer beglaubigten lesart ift auch nicht verwerflich, ‘ich will mich auf das wahrfagen des armen nicht einlaffen, es ift trügerifch’. das deutet auch die ftelle aus dem Marner an, wie die andere aus der predigt, wo aller- dings von prophezeien die rede ift, dem man nur keinen glauben beilegt. gleicherweile fagt & zummen witze und lören fchatz und ar- mes wisfagen rät gedihet kranker mäze. eine ftelle im Welfchen gaft nimmt abfichtlich wärfagen für wär fagen bl.59'° dar umbe Jol ein ieglich man, der an reht gedenken kan, den armen überfehen niht. Jwelhen ze gebenne gefchiht varnden liuten dazs von in liegen, die haben ouch den fin dazs der armen niht vergezzen gar, wan fi von in [agent wär.

124,3.4 über den finn von widergüefen, das den wiederhall bezeichnet, kann hier kein zweifel fein: er wird beftätigt durch die in der Ein- leitung xcvıtr angeführte ftelle aus Heinrich von Morunge, der ant- würten dafür gebraucht. das wort kommt, wie ich dort fchon be- merkt habe, auch im Beljand bl.80 vor: ich will die ftelle vollftändig herfetzen, weil fich daraus ergibt dafs man güefen annehmen mufs, mit grimme vil hlegelicher flimme fie näch ir guoften: fi fehrirn unde ruofien mit klegelicher herte.

124,5. 6 Walther 11,13—15 wer dich Jegene, fi gefegent: [wer dir fluo- che, fi verfluochet.

Eee 2

404

WirseLm Grimm

125,15 Berthold 383. 401 frouwen die gemäleten und geverweten. 125,20 der golt fuochle und kupfer vant, ilt vergoldetes kupfer gemeint?

MS. 2, 97° mit golde kupfer überzogen. Reinmar von Zweler 2, 141 verguldet kupfer.

425,23 obezin kann nicht durch die aus Reinmar von Zweter MS. 2, 141°

angeführte ftelle gerechtfertigt werden, wo zu lefen ift filberfchin ob zin. Freidanks fpruch ode filber widere zin, des ein flücke dez ander hin verftehe ich jetzt ‘wenn filber dem zinn widerftrebt, weil fie beide zu verfchiedenartig find, fo gehen beide zu grund’, fei nun an eine mifchung gedacht oder an verfilbertes zinn. im Wigalois 11367 wird fogar bildlich gefagt min rötez golt gar überzint. einen ähnlichen gedanken drückt Frauenlob feite 52 aus, und ift bi guote ein [wacher fin, guot lät den namen hie. wol hin, von guole entrin. din golt hät zin: bift fin golt und effeft in. dafs man zinn mit gold und filber verfetzte, fehen wir aus Berthold 244.

126,2 glas für rubin erläutert W. Wackernagel in Haupts zeitfchr. 6, 306. 126,4 vielleicht ift das richtige für zobel, der ift wife niht. 426,7.8 ich weifs nicht was hier foll angedeutet werden und worin die fpitze

des gedankens liegt, wozu kommt dafs die kürzung vatr bei Freidank ganz unzuläffig ift wie der reim gelich : wunderlich. die ftelle ift un- echt wie alle, worin die flickworte daz ifti wunderlich erfcheinen, alfo 109, 16. 137,8. 142,5; fie verraten fich fchon durch geiftlofe auffaffung und rohen ausdruck. will man den immer fremden fpruch ändern, fo mülste man kühn fein, wart ie fliefkint gelich dem edeln vater, daz wundert mich. es wäre dann ein im ehebruch erzeugtes kint gemeint, wie Spervogel MS. 230° fagt, mac ein höchvart von gefchehen, daz fi ime ein fliefkint toufte. die Karlsruher handl[chr. lieft lich kint, dann wäre wohl unelich zu bellern, und /tiefvater könnte bleiben. im lateinifehdeutfchen Freidank (alter druck 31°) fteht daz kint, und die zeile lautet ‘fi pure ingenuus facie vitrico fimi- letur”.

126,18 Lachmann z. Walther feite 141 we daz ir bein ir arme ir hant ir zun-

gen niht erlament! Engelhart 3666 fin zunge müeze im noch erla- men, eine verwünfchung, die auch der Unverzagte (MSHag. 3, 44°) und der Meifner (Mgb. 39°) ausfpricht. in einem moralifchen ge-

über Freidank. 405

dicht der birkenftock. handfchrift feite 72 heifst es, der fweiger kan

manegen lift durch der [armen] fünder ungenift, miter die zun-

gen machet lam; er gefweiget einen mit der fJeham.

126,22 über houbet mit übertriebnem eifer, unbefonnen, mafslos: fo auch Winsbeke 33,3 fwer gerne ie über houbet vaht, der mohte defte wirs gefigen und Livländifche reimchronik 3084. 85 wer iuwer (1. über) houbet houwen wil, der mae niht lange türen. Reinmar von Zweter (MSHag. 2,194”) er ift ein töre, der getar vaft über houbet gräzen dar, fin getät im felben fchaden fchaffet. Frauenlob feite 242 /wer über houbet vehet (l. vihtet), daz enift niht guot. ohne mis- billisung Reinbots Georg 1257 alfus hän ich über houbet gerun- gen, mit gröfster anftrengung. Schwabenfpiegel 31,6 Gerolt von Swäben gewan Rome über houbet mit der Swäben helfe. dafelbft 70,3 er phendet wel über houbet mit rehte ohne fich zu befchränken. der bildliche ausdruck wird noch weiter geführt, Meifener (Mgb. 44®) diz bifpel merket al gemeine, fwer über houbet vihlet, wider Sircm Jwimmet, dem rifent /pene in finen buofem; ez ift üz minem räte. Fragm. 44" man feit [wer von der erden höhe über fich houwet, daz /pene im rifent in die gefiht (}. fiht). Hugs Martina 726° über hou- bet fie houwent, die die hohen went erkunnen. Brants Narrenfchif 7, 120 wer über fich vil howen wil, dem fallen fpäne in die ougen vil. Kirchhofs Wendunmut (Frankf. 1581 f. 214°) wer [pen vber dem kopf will hauwen, der nimmt fchaden.

126,26 der fchwere auftact fie ff, wie ihn Freidank fich nie erlaubt, verrät fchon die unechtheit.

127,13 Herbort 83 fo zele man mich zem fünflen rade.

127,18 ein adjectiv frat in folgenden ftellen, Paffional 70, 32 im was der lip gar durchflagen und alfö bluotee unde frat. 156, 50 ouch was im fin antlitze von der trene hitze dicke übergangen das er an den wangen her unde dar an maneger flät was durchfrezzen unde frat. Apollonius von Tyrl. 10036 ougen röt unde frat.

128,14.15 Heinrich vom gemeinen leben 241 —45 die muniche folden hin- den unde vorne der ougen alfö wefen vol, daz fi allenthalben wol die viende gefehen fi fich wolden nehen ze den die in bevolhen Jint.

129,15.16 beide zeilen, die nur in zwei fpätern handfchriften vorkommen,

406 a Grimm

find fchon metrifch unzuläfig; der gedanke ift mit unpaffender an- wendung dem vorhergehenden fpruch abgeborgt.

130,24.25 ich vermute zwöne herte fteine malent felten kleine; vergl. Sprach- fchatz 2,711 chleino gemalnemo pulvere.

131,9.10 Kirchhofs militaris disciplina feite 101 das /prüchwort der Teutfchen lehret Ein gut Weg vmb mach keine Krümb.

131,14.12 Heinrichs Krone bl. 30° ein man flüege wol ein her ob ez waere äne wer. Gliers (Benecke beiträge 132) ein man ift tüfent manne her, die alle wen fin äne wer. vergl. z. Athis F, 71.

131,23.24 derfelbe {pruch im Liederfaal 1, 334, wo aber die zweite zeile entftellt ift.

132,2 —4 das vorangehende wird durch ein beifpiel erläutert, wie ftolz auch einer darauf fei, dafs er fich in geftalt eines fackes gefchaffen (die lesart /tellet, gebeflert in flalte wäre auch zuläffig) habe, fo hängen doch, weil er dann keine arme hätte, die ermel (die fchwache form ermelen ift Athis [. 69. 70 nachgewiefen) an feinem rock herab, wie bei einem verftümmelten (handelöfer mancus Sprachfchatz 2, 71. Renner 12744. 23565). die lesart /chalkes wis mag ein anderes ver- ftändnis von /ac veranlalst haben; möglicher weife ift fie die echte. gemeine leute, knechte trugen mäntel von grobem facktuch, von welchen, wenn fie umgeworfen wurden, die ermel leer herab hien- gen, gerade wie fie die Slowacken in Böhmen noch heutzutage tra- gen und bei ihnen gewis altherkömmlich find. darauf weift auch ein anderes fprichwort (oben 49,19) “wenn der knecht einen zobelpelz anzieht, fo bleibt er darin doch ein knecht’. von dem hirten Paris fagt Konrad (Trojan. krieg 1652) fin roc was ge/niten üz eime grä- wen facke und hience an fime nacke ein gräwer mantel niht ze guot: der jüngere Titurel (5070,1) von Parzival zimiere was er fparende, er fuor in fackes kleiden. fo verftehe ich auch Parzival 364, 12.13 üz [childes ambt in einen fac wolt ich mich ziehen, [6 verre üz arde ‚fliehen mich niemn erkande.

132,16 —19 vergl. W. Wackernagel in Haupts zeitfchrift 6, 273 anm.

432,26 ich ziehe jetzt die lesart Samkarc Gleichfchlau, der andern Säme- karc Halbfchlau vor, weil jene einen noch beflern finn gewährt.

134,2 der Selden kint erklärt die Deutfche mythologie 827.

über Freidank. 407

134,18 unrehte bezieht fich hier auf ketzerifche irrlehren; vergl. Wacker- nagels lefebuch 165, 28.

134,21 rihtic dem recht gemäfs, fchon im althochdeutfchen (Sprachfch. 2, 418): die abfchreiber änderten, weil das wort nicht mehr üblich war, denn ich finde es fonft nicht.

136,1 diu beefen mere werdent wit breiten fich aus, wie 14,2 der funnen Jehin ift harte wit. dagegen MS.2,156° fo wirt fin lob vil wite;, vergl. Hartmanns lieder 6, 8 des liez ich wite mere komen, wo auch nach Lachmanns anmerkung das adverbium gefetzt ift.

136,3 daz mare fliuget, vergl. Deutfche mythol. 850—51. Frommann z. Herbort 13704.

136,9 Prov. 9,17 aqux furtive dulciores funt.

136,20 Boppe MS. 2, 231. 232 berichtet dasfelbe, was wahrfcheinlich aus einem alten Phyfiologus genommen ift, Pardüs ein tier genant ift küne unde balt, ze mäze groöz, in rehter forme wol geftalt, dem fin natüre fremde minne bringet. daz felbe tier daz wonet [tete der lewin bi, fwie doch des lewen kraft und minne bezzer fi, und wie [ins za- gels fwanc in zornes Iwinget.

137,11 Spervogel MS.2,230° /wer den wolf ze hirten nimt, der vät fin [chaden.

137,23 vergl. Reinhart fuchs xxxvı. Sigeher MS. 2, 222 dem in lambes mun- de wahfent wolves zende.

138,7.8 Engelhart 3534—37 ez ift noch ein beweret dinc, [6 man den frem- den hunt ze vil ftreichen unde triuten wil, daz er enblecket finen zan; vergl. Haupts anmerkung.

138,17 im zehnten jahrhundert (Wackernagels lefeb. 1,123) fone demo lim- ble beginnit tir hunt leder ezzen.

138,21.22 Morolt 2, 605 der fuhs der fich mitfens fchamt, von hunger er ergramt. Frauenlob feite 75 ein fuhs und ouch ein müsar der mü- ‚Jet näch finer art.

139,19.20 Marner (MS. 2,172°) ein fnecke für einen (]. den) lebart wol tü- ‚ent klafter [lane] fpranc. Reinmar von Zweter (MSHag. 2, 206*) ein fnecke wolte fpringen für den lebart beide berc unt tal.

140,7 ich habe die lesart gurre? zurück gefetzt, obgleich fie ziemlich ver- bürgt ift, weil ich glaube dafs fie auf einem misverftändnis beruht. kerren bezeichnet das ausltoflen thierifcher laute (Parz. 69, 12 diu

408

WirHEeLm Grimm

ors von flichen kurren. Neidh. MSHag. 3, 189° diu fwin hörtich ker- ren), und gurren kommt in diefem finne nicht vor. ergurret heifst im Lanzelet vor alter fchwach geworden (1455 das pferd was niht lam, ergurret, mager noch ze kranc), und in gleicher bedeutung braucht der Teichner vergurret, er fpricht (Liederfaal 1,457) von einem pferd, das man übertriben hät und einen trit nit mac von tat: Jwaz man flahe üf im, ez murret. alfo ift diu welt vergurret, daz ein zuc nit ziehen wil in der alten tugent fil. das verbum ift gebildet von gurre, das einen alten gliederlahmen gaul bezeichnet und von kerren abftammen kann, da der alte müde gaul ächzt und ftöhnt. gurre erfcheint im althochdeutfchen noch nicht, ich finde es zuerft im alten Laurin (Nyerup fymb. 8), Eraclius 1451, dann bei Reinmar MS. 1,80®. Berthold 356 und andern.

140,9 efel und gouch ftellt auch Walther 73,31 zufammen.

141,5.6 zu den in der Einleitung ıxxxvı angeführten gründen, weshalb ich

diefe zeilen für unecht halte, füge ich noch dafs r& eine niederdeut- fche form ift, vergl. Athis f. 15. 16.

141,7. 8 die ftelle, die nur in Aa vorkommt, ift unecht, fchon weil Freidank

wie Walther im reim nicht ich mit kurzem vocal gebraucht; vergl.

z. 126,7 und oben [f. 377. 378.

142,5 Dietleib 11144 näch der krebze fite gan. 442,14 bei den dichtern ift oft von der glänzenden, in farben leuchtenden

kleidung der engel die rede, manchmal werden die kleider der frauen damit verglichen, am häufigften ritterlicher fehmuck; vergl. Lanze- let 4430. Iwein 2554. Lichtenftein 92,2. 296, 15. 453, 16. Strickers Daniel bl. 149°. Konrads trojan. krieg 2926. 5723. 19451. 24712. Engelh. 2646. Turnier von Nantes 119, 1. 136, 1. jüng. Titurel 4515, 4. Ofwald 622 (Haupts zeitfchr. 2, 108). Rofengarten C, 2005. der Unverzagte fagt dem jüngling (MSHag. 3, 43°) folt alle frouwen Eren, wirt dir der engel wät dort gegeben.

142,15.16 Liederfaal 3, 520 wie vil der rappe gebadet fich, doch ift fin

varb niht weidenlich, daz er niht wizer wirt dan und daz er fich wi/fch iemer m£.

442,17.18 Frauenlob feite 58 das edel vederfpil verderben muoz dar abe,

Jwä krä, fwä rabe ir ädtem gegen im bieten.

über Freidank. 409 143,2 Helbling 8, 1233 den kneht begreif fin alter tuc. 9, 43.44 billich

Jolt ich läzen fin die minen jungen tücke.

143,7 zu der einleitung ıxxxvı einige nachträge. in dem vocabularius f. Galli (Hattemer 1,10) fteht charadrion opupam hupupa und noch- mals charadrion et ipfam non habemus, fed tamen dicitur et ipfam volare per medias noctes in fublimitate czli; in einer andern gloffe wie mehrmals im Sprachfch. 2, 245 caradrius lerichä. die umdichtung des Phyfiologus in Karajans denkmalen ftimmt (f. 104.105) mit dem lateinifchen und deutfchen in Hoffmanns fundgruben. nach Boppe (MSHag. 2,378") wird der vogel, deffen gefieder fchneeweifs ift, ga- ladrius im land Galadite genannt, bei dem Meifner kaladrius. in den von W. Wackernagel in Haupts zeitfchrift (7,147) bekannt ge- machten predigten kommt vor der adelar.....ift ouch einem andern vogel gelich, der heizet caradrius umbe die bediutunge diu an ime ift. dann wird die fage ausführlich aber übereinftiimmend mit dem Phyfiologus erzählt. jüng. Titurel 5154, 3 wen der galadröt mit Schine grüezet, [wie gröz fin [uhte were, der würde im Junder fter- ben doch gebüezet: ifi aber daz er wendet diu ougen von dem fie- chen, fin leben wirt verendet. wie es fcheint, hat man charadrius den todtenvogel, chamäleon das von der luft lebt (vergl. oben z. 109, 18) und galander (eine lerchenart) der in die höhe fteigt, verwechfelt und vermifcht, fowohl den namen als den eigenfchaften nach. der vocabularius f. Galli hat upupa gefchrieben, meint aber noctua, im- mer im misverftändnis.

143,14 zu wufe ift ohne zweifel ze fuoze, da die Göttw. hf. häufig w für v und / für z fehreibt. damit ftimmt die lateinifche überfetzung, A for- tuna milvus cum locuplete relictus (Eft a fortuna capo in ].r. alt. druck 32°), Cum fibi currendo cogitur quxrere vietus. nun erklärt fich die lesart zum füch/s in der Karlsruher hf.

144, 11—26 vergl. die deutfche umdichtung des Phyfiologus aus dem zwölf- ten Jahrhundert in Karajans fprachdenkmalen feite 102.

145,23 Strickers gedichte von Hahn 13, 15— 21, wo der Salamander die fliege rühmt, der fliegen kunde niht gelichen: die gewaltigen und die richen die möhten fich ir niht erwern: fie müe/tens äne ir danc

Philos.- histor. Kl. 1849. Fff

410 WirHeLm Grimm

nern, fit fe mit in trunke und «ze und üf ir kleider [eze, üf gulier und üf goltvaz; im geviel nie frouwe baz.

147,14 mitteilere findet fich Litanei 118 Mafsm., jedoch der ältere text (Fundgr. 2, 217) hat mitilere.

148,21 Welfch. gaft bl.17" ftüende er umbe ein pfenninc pfant, in löfte niht Kaäis hant. fonft ift noch nachzutragen Helbling 1,1175. 13,122. Orendel 1354 pfenwert. Karl Roths predigten 42 zwei hundert pfen- newert brötes ducentorum denariorum panes. Alexius bei Mafsmann 72,256 pfenninges wert er nie gewan. Kirchhofs Wendunmut bl. 205° batzen bezaln für pfenningwehrt viel für geringe fache. bl.87° wollt er allwegen zu allen fachen fein pfennigwehrt auch reden, wie man in Süddeutfchland fagt, feinen heller dazu geben.

149,5 —12 der heil. Petrus zieht umher; f. Deutfche mythol. xxxvı— vır.

150,3 fin leben während feines lebens: Genefis 20,22 al din leben fo lange du leben wirft.

150,26 bei merbot fragt W. Wackernagel im gloffar zum Lefebuch "mohr’? aus Marbut Morabeth (vergl. mittellat. marbotinus maravedi)? Ge- dichte auf Friedrich I. feite 114 wird der erklärung von maravedi beigeftimmt, das goldftück vergebe die fünde. aber wie ift das fol- gende, wo nur von perfönlichkeiten die rede ift, und ander wirte, gebüre unde hirte damit zu vereinigen? kann merbote nicht einen be- zeichnen, der über das meer gefendet ift um für eine fahrt nach Sy- rien zu werben? fchon im concilium von Clermont (1095 96) follte fie als bufse gelten. zugleich erfcheint im althochdeutfchen Meri- poto und auch bei Neidhart (MSHag. 3, 267°) Merbot als eigen- name; die lesart merdoien würde dann den vorzug verdienen. die Magdeburger handfchrift bl. 45" hat mer dute: dies führt mich auf einen andern gedanken, der meerdutt pleuronectes hippogloffus heifst nach Nemnich auch heiligbutt, englifch holibut: follte Freidank ver- fteckterweife den pabft gemeint haben, der den fifcherring trägt, mit welchem der ablafsbrief befiegelt wart?

154,6.7 Reineke vos 4215.16 alfus ift dar manege lift, daran der pawes unfchuldig ift ftammt aus Freidank.

155,4 ich habe golt filber umgeftellt, weil es metrifeh beffer und einer ent- fprechenden ftelle bei Walther 25,7 gemäfs ift.

über Freidank. 414

158,8 ane höhen rät, nach 160, 3 äne genuoger liute rät: die fürften mit denen der könig fich zu beraten hat, find gemeint; Walther 84, 28 edelr küneges rät, und hier 72,7 des küneges rät. Gudrun 1151, 2 Wate und ouch her Fruote des küneges r@te pflac.

158,13 Kaiferchronik bl. 10° fi ne wolden iz nimmer glouben, fi en/@hens etelich teil mit den ougen.

158,27 es wird wohl zu lefen fein got müeze ez fcheiden: auch bei Walther 16, 31 got müeze ez ze rehte [cheiden.

159,10 fi hänt manegen zuc gezogen bildlich von dem einziehen des vollen fifehnetzes, fie haben manchen fang gethan und zwar auf unrecht- liche weife. ebenfo fagt Ottacker f.24° als das reich ohne keifer war, man fach gemeinlichen an armen und an richen höchvart unde über- muot: ieglichen dühte er wer guot daz er fich wol berihtet, daz ez würde verflihiet, er müefte ziehen finen zuc; von gefchach vil manic ruc, des lafter und fünde was.

161,1—3 die chriften die in Syrien leben und fich der bedrängniffe des lan- des erwehren müffen, auch die waren dem vom kaifer gefchloffenen frieden entgegen. landes in der dritten zeile verwerfe ich, weil es aus unverftand eingerückt ift.

163,15 daz hüs von fiben füezen ift, wie Haupt in der zeitfchr. 3, 279 (vergl. Wackernagel daf. 6, 297) richtig bemerkt, nicht der farg fondern das grab. Heinrich von Rucke MS. 1, 98° und enwirt mir dar näch niht wan fiben füeze lanc. Philibert (Karajans frühlingsgabe) 100, 46 ein grap daz küme fiben füeze hät. Altdeutfche blätter 1,115 dir muoz genüegen äne dinen danc an eime grabe fiben füeze lanc, ähn- lich im jüng. Titurel 1352, 1.2. Frauenlob feite 242 fagt die Minne zur Werlt fwer allerbeft dir dienet, dem häftü verligen ein linin tuoch und fiben fuoz landes’.

164,8.21 meifteil finde ich nur noch Iwein 3746. eine lesart erlaubt auch hier meiftic zu lefen, was Walther 107,16 gebraucht.

164,12 Kaiferchronik bl. 34° die verworhten und die vertänen die man folte tummeln oder hähen. bl. 43° beftumbelt und irhangen.

164,19 ich vermute dafs gotes lant zu lefen ift.

165, 19 Hadlaub MS. 2,187° daz fi (die merker.) fin verfluochet: ir zungen int [6 lanc. pfälz. handfchrift 341 bl.75 man befnide die zungen

Fff 2

412 WirHeLm Grimm

daz fie die lüge mide. Wickrams rollwagen (1590) bl. 63° werden etelich (die gottes läfterungen ausgeftoflen haben) hart an jr& Leib geftraffet als mit dem Thurn, Branger, die Zungen befnitten.

166,9 den fuoz fetzen ift Reinhart fuchs feite 355 zu 123 erläutert.

169,16.17 Buch der rügen 616. 617 want ir got triegen, den nieman be- triegen kan?

169,20.21 Hartmanns Credo 2596 Crift der nie gelouc, neheinen men/chen er betrouc.

170,19.20 Gottfrieds lobgefang 19, 5.6 und 9.10 du wünneberndez fröuden tach durch man regen nie gefach. du helfebernder kraft ein turn vor vientlichem bilde. Heinzeleins Minnenlehre 1817—18 minne, du bift ein fehilt für trüren. minne, du kanft müren manegen Jehrin für Jorgen fla.

474,11 wer im handel fortkommen will, darf nicht die wahrheit fagen, mufs den käufer teufchen, wie auch der folgende fpruch zeigt, den die erfte ordnung unmittelbar folgen läfst, nicht die zweite. koufes ift durch alle handfchriften gefichert, aber Morolt 2, 397—98 fteht [wer fich klaffens fol begän, der muoz fin wär Jagen lan. vielleicht eine parodie, allein da klaffen fo wohl pafst, fo könnte hier das urlprüngliche bewahrt fein, zumal Freiddank 171,13. 14 fonft eine wiederholung enthielte.

471,27.172,1 Türlein erzählt (Wilhelm 31°) von fchlangen auf dem gebirge Sentanar, der här und houbet ift ein meit, und fährt dann fort, von dem zagele ich niht fprechen fol: vil manec zagel giftee ift. houbet- wisheit, zagels lift hät liep von eren dicke gefetzet und liep mit leide /6 ergetzet das man von rehte den zagel fliuhet. Liederfaal 3, 338 Juncfrouwen blic und flangen zagel, al/fö ift diu werlt geftalt.

176,25 Graf Rudolf 26,16 daz gröze künecriche namens niht für eine naht.

177,2 vergl. Haupt z. Winsbeke 3, 10. Johann von Rinkenberg MS. 1,188° Regenboge MSHag. 3, 354". Liederfaal 1, 555.

177,5 näch lanclibe hat Renner 23770 aus Freidank, er braucht aber auch 20870 Zanclebic. Armer Heinrich 1514 näch lanclibe und 646. 712. Helbling 9,59 Zancleben: fonft habe ich das wort in diefer zeit nicht gefunden; Zanclibi longevitas im Sprachfch. 2, 46.

177,13 Sommer z. Flore 3756.

über Freidank. 413

177,17 dem Töde maneger winket ift in der Deutfchen mythol. 802 erklärt; vergl. Lachmann z. Nibel. 486, 6.

177,24 der lesart an dem /per B ift gegen die neun übrigen handfchriften, wozu noch die Magdeburger bl. 23° kommt, in der Deutfchen mythol. 805 der vorzug gegeben.

178,2—5 vergl. Einleit. cıı. cıx und Sommer z. Flore 3792. Rudolf von Ro- tenburg MSHag. 1,83° diu wort diu dunkent mich niht wär, daz man /pricht "dar näch man werbe, des werde meift dem man’. Hätzlerin 135 vil dings verdirbet des man niht wirbet.

179,6.7 über den untergang der welt durch feuer ift D. mythol. 776 nach- zufehen.

188,5 Welfch. gaft bl. 131" unfer herre tuon fol dem übelen we, dem guo- ten guot.

182 zu dem fpruch aus Johann von Freiberg vergl. Haupt zur Winsbekin 1,2:

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ALTDEUTSCHE GESPRÄCHE

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[gelesen in der akademie der wissenschaften am 29. oktober 1849.]

er fpieilegium vaticanum (Frauenfeld 1838) f.31 gab nachricht von einer aus verfchiedenen pergamentblättern des 9'* bis 12‘ jahrhunderts zu- fammen gefetzten handfchrift der vaticana (cod. collect. membr. 4. Chriftin. 566). danach enthält blatt 5 “das bruchftück eines altdeutfchen gloffars aus dem anfang des neunten jahrhunderts, interlinear und marginal mit fehr fei- nen fchriftzügen gefchrieben, die mit den merowingifchen grofse ähnlichkeit haben. das bruchftück rührt wahrfcheinlich von einem mönche her, der aus dem innern Gallien nach Deutfchland reifte, wie fich aus der gloffe unde venis? de Francia und den darin vorkommenden confonantenverhältniffen ergibt. Greith liefs diefe gloffen abdrucken, aber bei manchen wörtern mufte ich zweifeln dafs er richtig gelefen habe, auch war nicht zu erfehen wie der aus- druck interlinear und marginal zu verftehen fei. ich wendete mich an hn Dr Brunn in Rom, und er war fo gefällig mir ein forgfältiges, von ihm felbft verfertigtes facfimile von jenem blatt zu überfenden. die arbeit war um fo mühfeliger als, wie er bemerkt, das pergament zerknittert und die dinte an einigen ftellen ganz erlofchen ift. für die richtigkeit des textes und der fchriftzüge will er bürgen, nur den cheracter der fchrift, wie ihn ein voll- kommenes facfimile gewähren foll, hat er nicht vollftändig wieder geben können.

Die fchrift des theologifchen werks ift fchön und deutlich und ge- hört wohl in das neunte jahrhundert;, eine genauere beftimmung ift fchwierig. die gloffen find an den rand und wo fich innerhalb des textes leerer raum zeigte hinzu gefchrieben, alfo fpäter und mit anderer dinte: aber die züge der völlig verfchiedenen unfchönen hand find an fich alterthümlicher. fie unterfcheidet fich befonders durch das aus dem uncialen N und NT gebil-

416 WirseLm Grimm

deten N N: auch find mehr kürzungen angewendet und öfter verfchiedene wörter zulammen gezogen; fie mag nicht viel jünger fein.

Da Greiths abdruck fich unbrauchbar erweift, fo ift es gut dafs der Sprachfchatz in den beiden letzten bänden, die nach 1838 erfchienen find, auf diefe gloffen keine rückficht genommen hat. ich lege hier eine wohl ge- ratene nachbildung des facfimile bei und laffe die gloffen folgen fo wie ich fie lefe, nur mit auflöfung der fichern abbreviaturen, behalte aber bei das zeichen -J für id eft, und + zeile 31 für est. was das einem H ähnliche zei- chen vor der zwifchenzeile 36 bedeuten foll, weifs ich nicht: eine verwei- fung fcheint es nicht zu fein.

Obethe. caput.

Faffen. capilli.

Auren. auril.

Ögen. oculi.

5 Munda. bucca.

Zunguen. dentel.

Bart. barba.

An. manuf.

An/co. Guanti.

ı0 Bruft. pectul. Guanbe. uenter. Follo guanbe. plenul uenter

Elpe. adiuva. Jromin. dön’. 15 Guare uengelinaz felida guefelle. wel guenoz :|- par. -' ubi abuilti manlionem ac nocte conpagn. Te geraben. uf. felida -. ad manfionem comitis. Guane cumet ger brothro -| unde uenil frater. E gunt Jimono dodon” H | de domo döni mei. uel. E cunt mer min erre uf. ;; de domo [enioril mei.

20 Gueliche lande cumen ger | de qua patria.

altdeutfche gefpräche. 417

E guaf mer in gene francia |. in francia fui. Gu@z ge dar daden :|; quid fecilti ibi. Enbet mer dar -. dilnaui me ibi. Buster gerinaz ze metlına. 25 Terue ge u. E ne quefa ti dar - ego non te ibi uidi. uel. E ne quefa u thar -; uol non uidi ibi. Que/afti min erre ze mettina | uidilti (eniorem meum ad matutinal. Terue nain i | non. 30 Guaz gildo -. quid uil tu. Guer iflin erro -| ubi [enior tuul. ne guez |; nelcio. uel er erro |; ad [eniorem [uum. E /con® canet. bellul ualalluf.

35 uel /nel canet. uelox ualalluf. Een: tere -- maluf uafalluf. CVereft | ubi elt.

Sclaphen fin alf | da illi in collo. habeo dın.

40 Ghanc hutz :| i. fort. fairu . . oft.

Vindef arf intine nafo -| canil culü intuo nalo.

Als nächfte erklärung dient am beften eine übertragung in althoch- deutfche fprachformen; die änderungen darin werden hernach in den an- merkungen gerechtfertigt werden.

Houbit caput. Fahs capilli. Örün aures. Ougün oculi.

Philos.- histor. Kl. 1849. Gag

418

13.

10

15

25

30

35

WiLHEeLm Grimm

Munt bucca. Zungün (}. zendi) dentes. Bart barba. Hant manus. Hantfcuohä guanti. Brujt pectus. W amba venter. Follu wamba plenus venter. Hilf adjuva. /römin don”. Wär wärun gelind az felidö, gefello? vel genöz par. ubi habuifti manfionem hac nocte, compagn? Ze grävin hüs felidö ad manfionem comitis. Wanna cumet ir, bruoder? unde venis, frater? Ih cumu üt finemo (l. minemo) döme de domo domini mei. vel Ih cumu mir üt minemo herrin hüs de domo fenioris mei. Fona welihemo lande kumet ir? de qua patria? Ih was mir in jenemo Frankönö lande in Francia fui. W az ir där tätut? quid feecifti ibi? Inbeiz mir där difnavi me ibi. Wärut ir hina az ze mettino? fuifti? Triwo iwih (}. ih). Ih ne gefah dih där ego non te ibi vidi. vel Ih ne gefah iwih där vos non vidi ibi. Gefähi minan herrun ze meltinö? vidifti feniorem meum ad matutinas? Triwö nein ih non. W az wildü? quid vis tu? Wär ift din herro? ubi eft fenior tuus? Ne weiz nefeio. vel Er ift ze finemo herrin ad feniorem fuum. Ih feöni kneht bellus vafallus. vel Snel kneht velox valallus. Ubil kneht mina triva malus vafallus. Wär ift? ubi eft? Klapf6 in finan hals da illi in collo.

altdeut/che gefpräche. 419

Hoab£ dinan. 40 Ganc hüz i fors. Hundes ars in dinero na/ö canis culum in tuo nafo.

Zu den älteften denkmälern der deutfchen fprache gehören deutfch- lateinifche wörterbücher, in welchen ausdrücke für die im täglichen leben nothwendigen dinge gefammelt und zu bequemem gebrauch ihrem fach- lichen inhalt nach geordnet find. davon unterfcheiden fich fehr beftimmt lateinifchdeutfche, nicht auf befondere gegenftände befchränkte alphabetifche vocabularien, noch mehr zwifchen die zeilen oder an den rand lateinifcher meift theologifcher werke gefetzte gloffen. die beiden letztgenannten arbeiten dienten gelehrten zwecken, während jene fachlichen handbücher zunächft für reifen- de beftimmt zu fein fcheinen, vorzüglich für geiftliche, der lateinifchen oder der eben aus dem lateinifchen fich ablöfenden romanifchen fprache mächtig. bei jenen gelehrten gloflen ift das lateinifche die hauptfache, das deutfche überfetzung: bei den fachlichen wörterbüchern mufs das deutfche als das urfprüngliche gelten, wenigftens in fo weit als es von dem fremdling nicht konnte aufgefchrieben werden, der fchwerlich im ftand war die unterfchei- dung verwandter laute zu bezeichnen, die wir gewahrt finden. diefe fach- lichen wörterbücher allein find hier der gegenftand unferer betrachtung.

Mir find folgende bekannt, A die Caffeler gloffen, B der Vocabula- rius S. Galli, C die Schlettftädter gloffen (Haupts zeitfchrift 5,318), D No- menclator in einer Wiener handfchrift (Hoffmanns althochdeutfche gloffen {.57.58), E Summarium Henrici, F gloffen aus einer boxhorn. handfchrift (Nyerups fymbolx f. 560— 337), G gloffen aus einer Wiener handfchrift (Hoffmanns fumerlaten f. 29—43), H aus einer Innsbrucker handfchrift (Mones Anzeiger 1838 [.287 —602), I die Wiesbader gloffen der heil. Hil- degard (Haupts zeitfchr. 6, 321), K Vocabularius optimus (heraus gegeben von Wackernagel 1847). ich beachte dabei nicht einzelne ausgehobene ab- fehnitte, wie z. b. die ungedruckten Frankfurter gloffen nur die namen von thieren und pflanzen enthalten, Zürcher gloffen (Diutifka 2, 273—277) nur pflanzen; auch laffe ich zur feite lateinifchdeutfche alphabetifch geordnete wörterbücher, in welche die fachlichen aufgelöft wurden; die Admonter gloffen (Haupts zeitfchr. 3, 368) und die Leipziger (Mones Anzeiger 1835 f.93—95) fcheinen mir auf diefem weg entftanden zu fein.

Gese >)

80,7

420 WirneLm Grimm

Die handfchriften von A und B find die älteften und reichen beide in das achte jahrhundert, leicht noch in das fiebente; die übrigen von C bis I fallen in das zehnte, elfte und zwölfte, K in das vierzehnte. da aber C manchmal ganz alte fprachformen bewahrt hat, die ihrer quelle ein glei- ches alter mit A und B anweilen, fo irrt man fchwerlich, wenn man den ur- fprung auch der andern, K ausgenommen, das, mit der handfchrift ziemlich gleichzeitig, eine fpätere arbeit enthält, ebenfoweit zurück führt. B fetzt, wie ich anderwärts (Caffeler gloffen feite 20) fchon dargethan habe, A vor- aus, aber auch A, aus mehreren verfchiedenartigen ftücken zufammen ge- rückt, deutet auf noch ältere quellen.

Vergleicht man den inhalt diefer wörterbücher, fo ergibt fich dafs keins von dem andern abftammt, wenn man auch das gegentheil vermuten follte. fie zeigen freilich übereinftimmung fo weit fie in einer gleichen auf- gabe liegt, aber in der folge der einzelnen abtheilungen, die felten äufser- lich getrennt find, ftimmt eins fo wenig mit dem andern dafs bei einem vor- an fteht was bei dem andern erft am ende kommt; am meiften zufammen gehalten find noch die abfchnitte aus dem naturreich. ebenfo verfchieden find fie dem umfang nach: D und I enthalten nur wenige abfchnitte. end- lich ift in der folge der einzelnen wörter keine gleichförmigkeit fichtbar: er- fcheint auch manchmal eine kleine anzahl in derfelben ordnung neben ein- ander, fo liegt dies gewöhnlich in der natur der fache, z. b. wenn die glie- der des menfchlichen leibes aufgezählt werden: anderwärts zeigt fich wie- der die gröfste verfchiedenheit. ebenfo ungleich find fie in beziehung auf die reichhaltigkeit einzelner abfchnitte: rein gehalten find diefe auch nicht immer, manchmal drängen fich verirrte gloffen dazwifchen, einzeln oder ein paar zufammen. es fcheint bei der aufltellung diefer wörterbücher meift der zufall gewaltet zu haben. C läfst diefe entftehung am deutlichften durch- blicken: hier ift (feite 260) bei den namen der bäume aus einer andern, auch fonfther (Altdeutfche blätter 1, 349. 350) bekannten quelle fogar ein latei- nifches gedicht aufgenommen, wo dann die einzelnen gloffen über die zeilen gefchrieben find. nur E, das Summarium Henrici, geht auf plan und ftren- gere ordnung aus. unter den ältern ift diefes wörterbuch das vollftändigfte, dennoch fehlen darin abfchnitte, die C H und I gewähren, fo wie gemein- fchaftliche anderwärts reicher ausgeftattet find. K enthält fichtbar eine fpä- tere bearbeitung und umfafst unter allen am meiften. der Vocabularius hat

altdeutfche gefpräche. 421

fich dabei noch ein anderes ziel gefteckt, er will zur erlernung des lateini- fchen behilflich fein, denn es werden neben ein deutfches wort oft meh- rere, ja ganze reihen lateinifcher denfelben oder einen verwandten begriff enthaltende ausdrücke geftellt. gewis find dabei wörterbücher aus älterer zeit benutzt, aber auch nicht weniges wird feiner zeit angehören. in dem abfchnitt über das naturreich (feite 41—55) macht fich die alphabetifche ordnung in den lateinifchen wörtern bemerklich, wo alfo der verfaffer eine befondere quelle mufs benutzt haben. endlich begegnet man hier und da überfetzungen und umfchreibungen, weil kein deutfcher ausdruck fich vor- fand, am meiften in dem abfchnitt de compoficionibus librorum (feite 37), wo hiftoria fchwerfällig erklärt wird ein gefechriben rede der getät, als ez ge- Jehach, und de dignitatibus fecularibus (feite 38) monarcha ein einiger herre über die welt. aus fpäterer zeit mag noch manches diefer art vorhanden fein, was für unfere unterfuchung wenig gewicht hat: fo gibt von zwei hierher gehörigen papierhandfchriften des funfzehnten jahrhunderts Mones Anzeiger 1837 feite 339. 340 nachricht.

Nach dem was ich ausgeführt habe, ift nicht glaublich dafs die ur- fprüngliche, ich meine die erfte auffaflung diefer wörterbücher auf uns ge- kommen fei: nur theile davon, freilich wohl die wichtigern haben fich er- halten. auch die ordnung des ganzen mag urfprünglich ftrenger gewefen fein: das gloffar der heil. Hildegard gewährt in diefer beziehung wohl das befte; die feltfame unerklärliche fprache, in der es abgefafst ift, verhinderte änderungen umftellungen und zufätze. es beginnt mit Deus, angelus, falva- tor u. f. w., geht dann auf menfchliche verhältniffe über, und daran fchliefst fich das naturreich mit feinen abtheilungen; verirrte gloffen habe ich darin nicht bemerkt. die Caffeler gloffen fangen gleich mit caput an: bis zu feite H unterbricht auch hier keine ungehörige gloffe die ordnung (*); feite H 1—14 ift ein fatz eingefchoben, der verfchiedenartiges untereinander wirft. verwirrungen genug zeigen die Schlettftädter gloffen. unnöthig ift es, eine hinter allen fammlungen ftehende einzige urfchrift anzunehmen: das bedürf- nis kann mehrere von einander unabhängige auffaffungen hervor gerufen ha-

(*) deshalb [cheint es mir unzuläffig, das [chwierige wort altee (E,15) das zwilchen den fingernamen fteht als eine verirrte glolle zu betrachten und auf etwas durchaus nicht dahin gehöriges zu deuten.

4223 WirseLm Grimm

ben; gibt es doch auch eine angelfächfifche fammlung diefer art (Mones Quellen 314.323), die mit den vögeln beginnt, wiederum völlig abweichend in der aufnahme wie in der folge der wörter.

Spricht man von diefen wörterbüchern, fo pflegt man auch zu fagen dafs fie fämtlich auf Ifidors etymologien zurück zu führen feien: ich kann dies nur von den hier noch nicht erwähnten, aus wenigen blättern beftehen- den Leipziger gloffen (Haupts zeitfchrift 2, 214. 3,116) gelten laffen, wo man fogleich einen auszug aus Ifidor erkennt, dem nur ein paar deutfche gloffen zugefügt find. die unabhängigkeit der Caffeler und Wiesbader glof- fen habe ich fchon bei herausgabe derfelben dargethan, auch bei dem Voca- bularius f. Galli ift fie aufser zweifel; vergl. W. Wackernagels gefchichte der deutfchen litteratur f.27. es wäre zu verwundern, wenn fo frühe fchon alle fpuren des zufammenhangs fich follten verwifcht haben. ich gehe jetzt noch weiter und behaupte dafs auch die übrigen wörterbücher, das Summarium Henrici ausgenommen, keine verwandtfchaft mit dem umfangreichen werk des {panifchen bifchofs zeigen, auch dann nicht, wenn man annehmen wollte, wie man fich auszudrücken pflegt, “die grundlage fchimmre nur durch’. wer felbft nachgefehen und genauere vergleichung angeftellt hat, wird mir bei- ftimmen. das Summarium ift es auch wohl allein, das zu jener allgemeinen behauptung die veranlaffung gegeben hat. zunäcft hält man fich dabei an die vorrede, weil fie fich ausdrücklich auf Ifidor beruft: allein man hätte auch bemerken follen dafs die abtheilungen mit den lateinifchen überfchriften, diefe bis auf kleinigkeiten unverändert, dorther genommen find. die folge der bücher ift nicht ganz beibehalten, wohl aber ziemlich genau die folge der capitel, in welche die bücher zerfallen. ebenfo find die einzelnen wör- ter im ganzen wie dort geordnet. indeffen fehlt es auch nicht an capiteln, die ftarke veränderungen erlitten haben, zumal wo nur das einheimifche, wenigftens nur das in Deutfchland bekannte durfte angeführt werden. dahin gehören capitel, wie II, 16 de pifeibus (Iüidor 12, 6), III, 7 de herbis (If. 17, 9), III, 9. 10 de oleribus (If. 17,10.11). faft ganz andern inhalts ift VIL, 1 de vocabulis gentium (If. 9, 2) und VII, 3. 4 de clerieis (If. 7,12). ja es gibt capitel, die bei Iidor durchaus fehlen, wie VII, 8 de variis officiorum vocabulis vel operariis und VII, 9 de notis et vitiis in homine, welches ge- rade das reichhaltigfte ift.

altdeutfche gefpräche. 423

Das Summarium ift, wie ich mir vorftelle, auf folgende weife entftan- den. der verfaffer wollte die meift unvollftändigen d.h. nur einzelne ab- fehnitte umfaffenden und häufig verwirrten wörterbücher, die ihm bekannt waren, in beflere ordnung bringen. er legte Ifidors werk zu grund, natür- lich mit auslaffung der etymologifchen erläuterungen, die feinem zweck fremd waren, nur VII, 22 find die worte eft aratio prima, cum adhuc durus eft ager und VIII, 25 cafeus, quod careat fero aus Ifidor 17,2 und 20,2 auf- genommen. die deutfchen wörter, fo viel er vorfand (auch die drei hand- fchriften, zu Trier Wien und München haben nicht gleich viel), fetzte er daneben, rückte einzelnes was bei Ifidor nicht vorkam, aus andern quellen in das entfprechende capitel ein und gab manchmal dem einheimifchen den vorzug, was einige umftellungen veranlafste. jene vorhin bemerkten, bei Ihi- dor fehlenden capitel VII, 8. 9 finden fich gerade in den deutfchen und zwar von einander unabhängigen wörterbüchern, VII, 8 in den gloffen der hl. Hildegard wenn auch abweichend doch entfprechend: VII, 9 in den Caf- feler gloffen, im Vocabularius S. Galli (f.198. 199) und in den Sumerlaten (feite 31°). ob der verfaffer dem Summarium aus eigenen mitteln etwas zu- gefügt hat, mag dahin geltellt fein. dafür fpricht nicht dafs er II, 9 de por- tentis (Ifid. 11, 3) firenes übergeht, während meriminnä (Sprachfchatz 2,774. 775) zur hand war. feinen ftandpunct verrät das letzte capitel X de inter- pretatione quorundam fuperius prtermifforum, wo er was fich in Ifidors fyftiem nicht einfchalten liefs und als verfchiedenartig kein eigenes capitel bilden konnte, zufammen ftellte und zwar diesmal, wo alles untereinander lag, alphabetifch nach dem lateinifchen wort geordnet.

Noch eine bemerkung fei mir erlaubt, welche die bisherige anficht von dem verhältnis zu Ihdor geradezu umkehrt. ich halte es für möglich, ja für wahrfcheinlich dafs der bifchof durch ein fchon vorhandenes fach- liches wörterbuch, fei es ein deutfchlateinifches oder deutfehromanifches, zu feinen etymologilchen unterfuchungen ift veranlafst worden. gewagtes liegt nicht in der vermutung, da die quellen der Caffeler gloffen fchon in dem fechften Jahrhundert mögen vorhanden gewefen fein, und ihr urfprung noch weiter zurück gehen kann.

Wahrfcheinlich hat man in frühfter zeit noch anderes für das tägliche leben nothwendige oder nützliche nieder gefchrieben, auch wohl in beiden

424 WirneLm Grimm

fprachen. ein beifpiel gewähren die bruchftücke von heilmitteln, die Hoff- mann aus Fallersleben auf einem einzelnen blatt (Vindemia bafileenfis 1834) aus einer in das ende des fiebenten Jahrhunderts gehörigen handlfchrift Ifi- dors bekannt gemacht hat. leicht ift dies nur ein kleiner theil eines grö- fsern werks, das man arzätbuoch nannte, und deffen Hartmann (Erek 5238), Wolfram (Parzival 481, 6), Freidank (59, 21) und Konrad (Pantal. 129. Tro- jan. krieg 13597. 13627) gedenken. ein folches wird in einer handfchrift des zwölften jahrhunderts dem Hippokrates beigelegt und ift in der Diutifka (2, 269— 273) abgedruckt. auch in der dichterifchen umfchreibung von Mo- fis (Diemer 88,13) heilst es an den buochen die arzät (l. arzätie) [uochen. es konnten darin, wie in dem buch des gallifchen Marcellus burdigalenfis, alte unter dem volk gebräuchliche heilmittel gefammelt fein. möglich dafs man in früher zeit auch fchon kochbücher hatte; vergl. Wackernagel in Haupts zeitfchrift 5, 11—16.

Eigenthümlicher art find gefpräche, von welchen die Caffeler gloffen wahrfcheinlich auch nur ein ftück bewahrt haben, wie unfer denkmal. es find fra- gen die der wandernde fremdling, der wohl meift ein Romanewar, in Deutfch- land als herkömmlich erwarten konnte, mit den dazu gehörigen antworten in deutfcher und lateinifcher fprache aufgezeichnet. man mufste den ankom- menden fremdling bei feiner erfcheinung nicht blofs grüfsen, fondern auch nach feiner herkunft und dem zweck feiner reife fich erkundigen. als Walther auf feiner flucht in der höle des Wafichenwaldes angelangt ift, fendet Gunthari den Camelo an ihn ab, der ihm die frage vorlegt, die, homo, quisnam fis, aut unde venis vel quonam pergere tendis? 587; vergl. Rudlieb I, 128. als die boten Liudgers und Liudgafts in Günthers land anlangen, frägte man der mare die unkunden man Nibel. 140, 3. Günther grüfst die boten Etzels und fragt weshalb fie ihr könig zu den Burgunden gefandt habe Nibel. 1379. die frage an fich ift ganz natürlich, aber das eigenthümliche der fitte beftand Jarin, dafs man fie nicht unterlaffen durfte, ohne den fremdling zu verletzen, der im fchweigen eine geringfchätzung erblickte. ein paar ftellen aus dem dreizehnten jahrhundert werden die fortdauer der fitte beweifen. Höllefeuer MSHag. 3,34° der gruoz der mache höhen muot dem gaft, [wenn in der wirt an fihet, ob er den gruoz mit willen tuot. ein lachen (lachend?) frägen heert zuo: der wirt niht fwigen fol alfö ein ftumbe. unfelie wirt, der alfo fpräche- lös ie wart gefunden gen finen geften äne gruoz und äne fräge: er lät fich

altdeutfche gefpräche. 425

Jehande wunden, daz im lafter bi befti£ und daz in £re gar verbirt. denket an, fit gruozes milt: daz freut den gaft und öret wol den wirt. der Unverzagte MSHag. 3, 45° man fol den geften mit dem gruoze und mit der Jräge nähen. 45" ich bin ein gaft den fremden liuten unde ein wirt der finne, und fuoche näch der fräge manegen richen edelen man. Frauenlob feite 244 des fliche ich den liuten bi mit flihte und mit der krumbe: nieman enfräget wer ich fi. Cato (Liederfaal 1,568) mit /weme dir befeha@he ze gän, den jolt niht ungefrägel län den namen fin, er hin ge od Jin wille fie. der pilger ift fchon an feiner kleidung kenntlich und erwartet gleich einlafs: ein lied Gottfrieds von Neifen (MSHag. 1,59°) beginnt von Walhen fuor ein pilgerin, er bat der hereberge in der minne.

Unfer denkmal beginnt mit dem fachlichen wörterbuch. zuerft caput wie in den Caffeler gloffen und in einem abfchnitt der Trierer und Wies- bader: dann folgen wie dort einzelne theile des gefichts, ferner manus pe- etus venter. wir haben eine abfchrift vor uns, das zeigt der fehler zunguen dentes, wo wahrfcheinlich zwei zeilen in eine zulammen gezogen find: wirk- lich folgen in den Schlettftädter (Haupts zeitfchrift 5, 356) und Trierer glof- fen (2, 30) zungd& lingua und zeni dentes aufeinander. mit guanbe brach der fchreiber ab und zog es vor aus gefprächen, die wahrfcheinlich in derfelben handfehrift ftanden, vielleicht urfprünglich zu dem wörterbuch gehörten, einiges abzufchreiben.

Diefe gefpräche bewegen fich in ereigniffen des täglichen lebens. ein fremdling tritt zur abendzeit in ein haus, wo er für die nacht wünfcht auf- genommen zu werden, um am nächften morgen feine reife fortzufetzen. er fpricht den üblichen grufs, und der hausdiener (oder wer es fonft ift, nur nicht der herr des haufes felbft, das ergibt fich aus zeile 28), der ihn als fei- nes gleichen betrachtet, fragt wo er das letzte nachtlager gehabt habe (naht- ‚felede Dietleib 5554. Walther und Hildegund I. 6,1. Heinrichs von Türlein Krone Wien. hf. 54°. alfo tribet er daz jär hin ze fremden nahtfelden War- nung 920), um zu willen wo er herkomme. der fremde antwortet "in dem haus des grafen’, allo bei einem angefehenen mann. damit ift der fragende zufrieden geftellt. jetzt (2.17) wird voraus gefetzt ein geiltlicher fei ange- langt, der fragende, der ihn an feiner kleidung erkennt, redet ihn gleich

Philos. - histor. Kl. 1849. Hhh

426 Wirnerm Grimm

bruoder an und ihrzt ihn ehrerbietig, was fchon im neunten jahrhundert in Deutfchland anfıeng gebräuchlich zu werden (Grammatik 4, 31). er erkun- digt fich woher er komme und der geiftliche antwortet aus feiner kirche, oder aus dem haus feines herrn (fenior ift wie das altfranzöfifche fenhor zu verftehen), je nach den umftänden. ein dritter fremdling, kein gemeiner mann, denn auch er erhält ihr bei der anrede, wird befragt aus welchem land er komme. er antwortet ‘aus Frankreich’, und auf die weitere frage was er da gethan habe, erwidert er er habe da zu mittag gegeflen. man darf daraus fchliefsen dafs der fchauplatz in der nähe von Frankreich gedacht ward, da man von mittag bis zum abend wieder herüber gelangen konnte. durch die folgenden fragen (z.24—29) foll, glaube ich, der fremde weiter ausgeforfcht werden, ob er (am morgen vor der reife nach Frankreich) in der meffe ge- wefen fei und ob er feinen, des fragenden, herrn darin gefehen habe. jenes bejaht er und fügt hinzu ‘ich habe dich nicht gefehen’, diefes verneint er. z.28 ift das ohnehin fchwierige guefäfti in den plur. zu ändern, da der die- ner fpricht.

Mit zeile 30 beginnt eine neue unterredung zwifchen einem herren und einem knecht, der unterkommen zu fuchen fcheint. der herr fragt ihn aus und erhält kurze und unbeftimmte antworten. der ankömmling rühmt fich, aber der herr fchilt ihn und heifst einen feiner leute ihn mit fchlägen fortjagen; es wird ihm noch eine derbe verwünfchung zugerufen.

Diefe gefpräche haben die reden aufgezeichnet, die man bei folchen gelegenheiten gewöhnlich hörte, und find nicht aus der luft gegriffen. fie follten den verkehr zwifchen fremden erleichtern, waren aber nicht geeignet zur erlernung des lateinifchen zu dienen, wie die merkwürdigen, ebenfalls in profa von Alfrich abgefafsten angelfächfifehen colloquia (Thorpe analecta anglofaxonica Lond. 1834. f.101—118), wo diefer zweck ausdrücklich an- gegeben wird. darin werden zuerft die welche beftimmte gefchäfte treiben vorgefordert, der ackermann hirte fifcher koch lederarbeiter u. f. w. und müffen auskunft über ihre arbeiten geben. zuletzt mufs ein klofterknabe der weisheit und tugend lernen will dem lehrer rede und antwort ftehen. er hat in der nacht das bett verlaflen und die herkömmlichen gefänge gefungen, dann pfalmen und meffen: er berichtet was er gegellen und getrunken, endlich wo er gefchlafen habe. eine gewiffe verwandtfchaft mit unfern gefprächen

altdeutfche ge/präche. 427

ift nicht zu verkennen, und Alfrich hat vielleicht in aufzeichnungen diefer art veranlaflung zu feiner fchrift gefunden.

Das lateinifche ftimmt nicht überall mit dem deutfchen, und man kann eine überfetzung auf keiner feite annehmen. zeile 15 war der zufatz hac no- cte nöthig. z.24 und 39 fcheint das lateinifche nur aus nachläffigkeit des ab- fchreibers zu fehlen. bei zerüe 25. 29. 36 war dem verfaffer wohl kein ent- fprechender ausdruck zur hand.

Mehrere fchreiber laffen fich unterfcheiden. der erfte hat von anfang bis zu zeile 30 gefchrieben. z.30 bis zu 37 mufs man bei aller ähnlichkeit der züge doch einem andern beilegen, hier erfcheint vorherfchend & ftatt e (vergl. Caffeler gloffenf. 15 und W. Wackernagel gefchichte der deutfchen litterat. {.89 anm.), das dort nur einmal z.22 fich zeigt: ferner 0 ftatt ö in guildö 30, endlich erro 31.33 ftatt erre 19.28. der dritte, der mit zeile 37 beginnt, bezeichnet w nicht wie jene durch gu fondern durch cr; man fieht es foll ein ftarker hauch angezeigt werden. er kennt das anlautende A in habeo 39 und hütz 40, das jene meiden, und fchreibt zeile 40 g mit hartem kehllaut gh. ihm gilt efl 37, dem andern is 31.33. zeile 41 fcheint, wie Dr Brunn ausdrücklich anmerkt, wieder von einer andern alfo vierten hand. der um- ftand ift auffallend bei einem ftück von fo geringem umfang, und man gerät auf den gedanken, dafs mehreren bei einander fitzenden fchreibern eine alte handfchrift vorgelegen habe, aus der fie diefe zeilen nahmen und deren eigenthümliche buchftaben fie nachahmten.

Die fprache zeigt eine niederdeutfche mundart, aber eine nicht ent- fchiedene, nach dem hochdeutfchen überfchwankende. da das einzelne her- nach in den anmerkungen vorkommen wird, fo hebe ich hier nur den un- fichern gebrauch der linguallaute hervor. der erfte fchreiber zeigt in öbethe 1 und dröthor 17 die gothifche und niederdeutfche afpirata: in Zande 20 die gothifche media, die aber auch im althochd. neben der tenuis erfcheint: an- lautend die althochd. media in där 22.23.26, daneben gothifch thär 27: niederdeutfch däden 22 ftatt der hochdeutfchen tenuis. auffallend ift im an- laut die tenuis in #5 26. das hochdeutfche z nicht das niederdeutfche Z in zunguen 6 und ze 24. 28 neben te 16: ebenfo endet 23; auch die präpof. üt ift anzunehmen, wie ich zu zeile 18 ausführen werde. zeile 22 guaz, z.30

guaz nicht guat und z. 32 guez nicht guet. der fchreiber von zeile 37 —40 Hhh 2

438 WirHneLm Grimm

hat din, dagegen tine in der letzten zeile entfpricht dem ti in zeile 26. diefe mundart gehört in das nordweftliche Deutfchland, beftimmter fie zu be-

zeichnen wage ich nicht. gu für w weift nach dem Niederrhein, das trübe &

für a und die volle form garabe nach Angeln.

1:

Ich gehe zur erörterung des einzelnen über.

houbit fteht in allen deutfchen fprachen feft, denn die angelfächfifche ne- benform heafde, die im Sprachfchatz 4, 755 angeführt wird, ift aus den ftellen bei Lye Manning nicht mit ficherheit zu erweifen, und das im wör- terbuche zum Ulfilas von Gablentz und Loebe f.59 angeführte dänifche hovede kann ich nicht beftätigen; auch Wernher vom Niederrh. fchreibt orith 21,22, cbethe kommt alfo nur hier vor. Richthofen hat feite 798. 799 den plural Aafde, doch der würde hier unpaflend fein, oder man müfte annehmen der abfchreiber habe ihn ohne rückficht auf das lateini- fche gefetzt, weil er in den folgenden gloffen gebraucht wird. auch an einen übergang in hübe darf man nicht wohl denken; vergl. Haupts zeit- fchrift 1,136. das anlautende A fehlt vor öbethe wie vor an 8.9. elpe 13. erre 19.28. Erro 31. 33. üs 16. 18.19. ina 24. undes 42, fogar in dem lateinifchen abuifti und ac 16. das ift niederdeutfch (vergl. z. Wernh. v. Niederrh. 4, 26. Graf Rudolf feite 6), allein es ift auch langobardifch (Gefchichte der deutfchen fprache 692). wegfall des auslautenden A wird zu zeile 9 angemerkt werden; überhaupt gebraucht der erfte fchreiber A nur bei der afpirata /h.

. der fchwache pluralis fa/fen fällt auf, umfomehr als fahs im althochdeut-

fchen nur im fingularis erfcheint, der auch in den Caffleler gloffen D, 18. E, 3 neben capilli fteht; ich weifs nur aus einem fegenfpruch des zwölf- ten jahrhunderts /ant Marien vahfe im reim auf wahfe (Fundgr. 1, 343) anzuführen. // für hs ift niederdeutfch; vergl. Grammatik 1?, 465.

. bei auren fehlerhaft auris: die Caffeler gloffen haben D, 16 richtig aures.

au für ö ent{pricht dem gothifchen au, althochd. ao, und gehört zu 6 für ou in Ööbethe und ögen.

.munda für munt ift, wie öbethe, anderwärts unerhört, der plur. mundä

aber hier nicht paffend, zumal neben bucea.

. zunguen pl. gehört nicht hierher und ift aus blofser übereilung gefetzt: den-

tes zeigt dals zendi zeni ftehen follte, wie in den Caffeler gloffen D,18. gue

41:

ie

13.

altdeutfche gefpräche. 429

bezeichnet ge, fo auch in guefelle 15. guenöz 15. fogar que zeigt quefä 26. 27. 28.

. an, ein querftrich der fonft £ bezeichnet ift nicht etwa vergeffen, da in

der folgenden zeile anfeö fteht. auch in den Schlettftädter gloffen (Haupts zeitfchrift 5, 363) hanfeuohä.

. in an/eö und dbröthro 17 entfpricht ö dem gothifchen und altfächfifchen

6, dem althochd. vo. der abfall des auslautenden A wie in quefä 26. 27, in e 18 und in #26 weift nach Niederdeutfchland, entfprechend dem zu zeile 1 bemerkten abfall des anlautenden 3. guanti (Ducange hat die ver- fchiedenen formen gantus guantus gwantus wantus) verlangt den plur. alfo würde hochdeutfch hantfeuohd ftehen.

guanbe wie in der folgenden zeile für wambe, alfo n für m, wie cunt für cumt 18.19. w wird allzeit durch gu ausgedrückt, alfo guär 15. 24. guane 17. gueliche 20. guas 21. gu@z 22 und guaz 30. guer 31. guez 32: der andere fchreiber fetzt fogar cv in ever 37. man könnte bei die- fer fehreibung romanifchen einflufs vermuten, allein fie ift auch lango- bardifch und altniederrheinifch ; vergl. Gefchichte der deutfchen fprache 295. 296. 692. durch diefes gu ift Greith wahrfcheinlich zu der behaup- tung veranlafst worden, aus den confonantverhältniffen ergebe fich dafs der verfafler der gloffen ein aus Gallien gekommener mönch gewefen fei; auch W. Wackernagel irrt, wenn er in der Gefchichte der deutfchen li- teratur f. 37 anmerkung 5 fagt die vaticanifchen gloffen feien entfchie- dener romanifch als die Caffeler.

Jollo für das althochd. follu nach Gramm. 1°, 723. 24 die organifche form; der Sprachfchatz hat 3, 479 nur beifpiele von folliu.

14. elpe wäre fo viel ich weils das ältefte beifpiel von der fchwachen im- perativform eines ftarken verbums. im zwölften jahrhundert zeigt fie fich nicht ganz felten, Genefis 67, 30 flahe. Exod. 95, 26 vare. Roland 42, 15 läze. 46,16 fwige. 50, 24 vare. 136, 4 underwinde. Chrifti leben (Haupts zeitfchrift 5, 25) 287 befnide. Jüngftes gericht (Fundgr. 1) 174, 2 fihe; im dreizehnten jahrhundert mehren fich die beifpiele. indeffen glaube ich dafs elpe als der conjunctiv mufs betrachtet werden. frömin ift mit recht als Ein wort gefchrieben, wie es im Ludwigsl. 35 bei Wackernagel fteht, und überall wo es fonft noch fich zeigt (bei Otfried

430 WirueLm Grimm

15.

und im Heljand) ftehen mufs, zumal es, als herkömmliche formel für gott Chriftus engel und könige, unverändert auch da gebraucht wird, wo mehrere die anrede an Einen richten oder mehrere von Einem angeredet werden; vergl. Grammatik 4,299. für frouwe weift Lachmann z. Iwein 3384 einen ähnlichen gebrauch nach. helfe got war der grufs des ein- tretenden, wie man beim niefen fagte got: oder Krift helfe dir Türleins Wilhelm 35°. Marner MS. 2,169. Hermann von Fritzlar 103,10. Renner 15190: bei einer betheurung helf mir got Arm. Heinr. 1317. Iw. 6163. der junge Parzival erhält von feiner mutter die lehre bei der ankunft zu fagen got halde dich (147,18. 30. 138, 27), beim abfchied got hüete din (132,23). beim erwachen fpricht als morgengrufs die frau zum mann Jriunt, got fegene dich (MS. 1,161°). es bleibt ungewis wie man dön? auflöfen muls, ob adjuva oder elpe als conjunctiv gemäfs, domine oder dominus, doch macht der hacken hinter dem wort, der ebenfo bei ma- nus und pectus 8 u. 10 vorkommt, dominus viel wahrfcheinlicher. dann fragt fich auch ob domne domnus zu fchreiben ift, da die zulammen- ziehung zwar bei königen und edeln (Hildegund redet den königsfohn Walther domne an 249. 1213, Rudlieb den liebling des königs 1, 114), bei päbften und bifchöfen gebräuchlich, aber nach einigen ftellen, die Ducange (2, 920 Henfchel) anführt, bei der anrede gottes die volle form allein ftatthaft war.

guäre entlpricht der hochdeutfchen form wäre (Sprachfchatz 4, 1198). das fchwierige uengelinaz erkläre ich durch wärun galinä az, wobei ich annehme dafs gelina (reclinatorium) hier die ftarke declin. zeige, wäh- rend der Sprach[chatz 4, 1096 nur beilpiele der fchwachen hat. wen be- trachte ich als eine verftümmelung von guären, veranlafst durch die faft gleichlautende vorangehende partikel. die angefchleifte präpofition az kommt z.28 nochmals als adverb. vor und ift bekanntlich felten. felidä für felidö, auch in der folgenden zeile, wird im Sprachfchatz 6, 177 nach- gewielen: ebenfo fteht mettinä 24 und 28. oder follte az und zi hier noch den acc. regieren und felida und mettina gelten? f. Gramm. 4,769. 770. zu vergleichen ift eine ftelle bei Williram 26, 23 der de muode ift, der leinet fih gerno an die lineberga (gitter) und in einem gedicht des zwölften jahrhunderts d@ fih die muoden an die linebergen Juln leinen Haupts zeitfchr. 8. 151,232. das lateinifche par gehört zu genoz, zu ge-

16.

17.

18.

altdeutfche gefpräche. 431

Jelle aber compagn, was man für das romanifche companh compain (Ray- nouard 4, 406) halten kann, möglicher weife ift es eine abkürzung von compaganus bei Ducange.

man könnte zweifeln ob nicht Ze zu lefen fei, aber Z zeile 6 hat unten deutlich einen querhacken, der hier wie z.25 und 29 in Terüe fehlt. garäbe oder nach der andern fchreibung geräbe gewährt die längft ge- wünfchte volle form für das althochdeutfche gräfo, die Waitz (Recht der falifchen Franken {.136) auch in der bignonifchen formel gerafjo nachgewiefen hat, wie fie ferner in einer dem achten jahrhundert zuge- hörigen Parifer handfchrift der Lex falica cap. 32 und 45 (Pardeffus hat feite 91 richtig gelefen, aber f.101, wie mir J. Merkel mittheilt, gegen die handfchrift grafionem) vorkommt; ich fehe aus einer bemerkung von E. v. Friedenfels zu fiebenbürgifchen urkunden dafs die dortigen Sach- fen noch heutzutage gereb für graf fagen. damit erhält die anficht ftär- kung, auch wird man hernach zu zeile 25 aus denkmälern des zwölften jJahr-

welche in ga ge nur die vorpartikel fieht und in räfo die wurzel.

hunderts eine anzahl wörter finden, wo die volle form der partikel er- halten und die fyncope gr noch nicht eingetreten ift; vergl. Rechtsalterth. 753. Müllenhoff zu Waitz (Recht der Franken f. 283 folg). endlich ift hier canet zu beachten nach der anmerkung zu 34. das inlautende 3 in garäbe entlpricht dem altfächfifchen dA, das im angelfächfifchen / lautet: auch in Niederheffen hört man grede (dorffchulz), während das Bremer wörterbuch grere hat.

guane im althochdeutfchen kAwanana aber auch fchon die kürzungen hwanän wanna wanne; vergl. Sprachfch. 4, 1205. Gramm. 3, 202. ger hier und 20, althochd. ir, zeigt ein anlautendes g, wie das altfächfifche gi und das angelfächfifche ge gi, womit hier ge 22 völlig zufammen kommt. für manfio, ort wo man auf einer reife die nacht zubringt, find zwei deutfche ausdrücke gefetzt. brölhro ift in bröthor zu beffern, wenn man nicht eine blofse umftellung diefer mundart darin fehen mufs.

e wie 19. 21.26. 27.34, althochd. ih, mit gänzlichem abfall des confo- nanten, auch wenn es nicht mit ne verbunden ift, vergleicht fich dem englifchen z, denn das altfächfifche angelfächfifche und altfriefifche ge- braucht ic, das altnordifche ek. cunt das ebenfo in der folgenden zeile erfcheint kann nur als kürzung cunüt für cumu üt verftanden werden,

1%

D WirneLm Grimm

zumal fonft die nöthige präpofition fehlen würde. als folche und vor fubftantiven erfcheint bekanntlich zz fehr felten im, althochdeutfchen, auch nicht in den älteften denkmälern, nicht im Heljand, aber öfter im gothifchen und altfriefifchen. das übrige in der zeile ift vom abfchreiber entftellt. fimono oder fimino ift nemlich verfchrieben für finemo, aber auch das ift nicht richtig, es mufte minemo gefetzt werden oder vielleicht mine, wie ich bei der folgenden zeile zeigen will. dodon? ift unerklär- bar, es wird döme da geftanden haben, das als ein feltenes wort (nur Ein beleg im Sprachfchatz 5, 140) von dem abfchreiber mishandelt ward; es entfpricht dem lateinifchen domus domini oder dei, wovon Ducange reichliche beifpiele liefert. an das althochd. zo/0 kann man dabei nicht denken, es müfte wenigftens doden lauten, aber was foll patrinus hier und wie kann dominus dadurch erklärt werden? auch fehlte dann üs (hüs). der geiftliche fagt “ich komme aus meiner kirche’. das unverftänd- liche H hat vielleicht der welcher an der zeile beflerte, als kürzung von hüs angefügt, weil er meinte das wort fei vergeflen.

mer, althochd. mir, ift Gramm. 4, 362. 363 erörtert und erfcheint auch zeile 21 und 23; ich ftelle es vor die präpofition, wenn meine erklärung von cunt richtig ift. errehüs betrachte ich als eine zufammenfetzung, min aber wegen des folgenden vocals als eine kürzung von mine, wie z.38 fin für fine fteht. diefes mine aber für minemo ift niederdeutfch, wie im altfriefifchen fina fine fin vorkommt; vergl. gueliche 20, gene 21 und Gramm. 1°, 736.

. gueliche, althochdeutfch welihemo, wie mine 20. die präpofition fehlt,

althochdeutfch müfte fona ftehen wie in den Caffeler gloffen (H, 18) bei derfelben frage, fona welihero lant/keffi? follte der fchreiber die präpofition in feiner mundart nicht gefunden haben (fie fehlt aber nicht im altfächf. und altfrief.), fo konnte er üf fetzen. die zweite perfon pl. prs. auf en in cumen neben cumet 17, erfcheint ebenfo bei Konrad von Würzburg, der aufser dem feltnern en auch et und ent gebraucht; vergl.

Haupts zeitfchr. 2, 379.

. gene althochd. jenemo; vergl. anm. z.19.20. aber francia daneben als

fem. kann nicht richtig fein und ift aus dem lateinifchen entlehnt: es wird Frankoönö lande, oder wie die form hier lautete, da geftanden haben.

99

23.

altdeutfche gefpräche. 433

2. gueez mit dem angelfächfifchen &, dagegen guaz 30. die zweite perfon

des pl. pret. auf en in däden und guären 24 entlpricht dem altfriehi- fchen un.

bei enbet hat ein anderer das hochdeutfche z über das niederdeutfche £ gefchrieben. difnare prandere findet man bei Ducange, ihm entfpricht das romanilche difnar dirnar bei Reynouard 3,51, das heutige diner. das perfönliche pronomen fehlt hier und z.32, das fonft bei der erften perfon, auch wo kein nachdruck darauf liegt, gefetzt ift. vielleicht foll es hier mit dem anftofsenden en zulammen fallen.

.ich lefe guären ger ina az ze mettinä. Sprachfchatz 3, 16 az pim adfum.

wie 29 terue und 36 teruee: das entfprechende lateinifche wort fehlt in den drei ftellen, als habe der fchreiber keinen ausdruck dafür ge- gehabt: z.25 ift ganz unüberfetzt geblieben. in Zer&e erblicke ich eine herkömmliche ausrufung für traun certe. in den beiden erften ftellen ent{pricht es der althochdeutfchen betheuerung Zriwö, wovon der Sprach- fchatz 5, 466 einige belege beibringt; Boner 48, 32. 83, 32 gebraucht noch Zriuwe in diefem finn, und im Liederfaal I. 300, 5 finde ich fi Jprach “triuwe, ich enweiz dir von ze fagenne niht’. zeile 36 ift der acc. mina triva unzweifelhaft, wie bei Walther 28, 31 al die werlt! die alte form unferes denkmals, die fich bei einer interjection erhalten konnte, ge- währt noch die niederdeutfche überfetzung Freidanks in der Magdebur- ger handfchrift: der hochdeutfche text 47, 12 Jehülte ein diep den an- dern diep, daz were den nächgebüren liep lautet dort bl. 14° ‚Seholde eyn de/f den andern de/f, das were derue fynen negeften leff’, der Nie- derfachle hat alfo das wort aus eigenen mitteln zugefetzt. auffallend ift ter für tr, welches letztere fchon das gothifche althochdeutfche altfäch- fifche angelfächfifche und altnordifehen zeigen, doch die Vorauer hand- fchrift fetzt in dem gedicht von dem himmlifchen Jerufalem 367, 6 un- terüe neben 372, 22. 25 entriuwen, gelrüen. ebenfo findet fich dort 367,17 terö neben 372,1 iri, was kein anderer deutfcher ftamm kennt, auch nicht in dem fanfkrit, dem griechifchen und lateinifchen fich zeigt; nur aus letzterm liefse fich zer dem griechifchen rzis gegenüber anführen. ferner dafelbft 370, 21 zerahtines neben 369, 11 irehtin. ja diefes ge- dicht, das in das elfte jahrhundert gehören kann, geht noch weiter: es fchreibt del für dl 368, 3 peluot neben 371, 10 pluot. ber für dr 364,7 Philos. - histor. Kl. 1849. Tii

434 WiLHELm GRIMM

DD 8

perinne neben 368, 20. 371,23 brinneten brinnent: 364,27 berunel. be- renne neben 370,5 drennet: 398, 9 berufiwere neben 371,23 bruft: 368, 12 berucge (brücke): 369,6 berunne (fons). ger für gr 364, 14.28. 366,28. 367,2 gerune neben 364,20 griune und 366, 12 grune (gruone);: 364, 26 gerunifefie: 366,14 gereize |. gerieze (gries): 366, 16 geruenl. geriven (greifen) und 367,7 gerife. gel für gl 368,19 gelas (vitrum). gen für gn 368, 20 genaneift und zeile 27 ganaiften; vergl. Servatius 2666. Gramm. 2, 370. 754 und Sprachfchatz 4, 296: die form ganeift fin- det fich auch in Grieshabers predigten 2,73. kel für kl 365,20 cheleine. ‚Jel für fl 370, 28 felahte: 371,25 umbefelozzen: 371,18 befelüzet. fem für /m 372,18 femal. fen für fn 368, 20 fene. zew für zw 369, 23 zewene. man darf darin keine willkür fehen, vielmehr kommen wir bei den mei- ften diefer wörter, deren abftammung dunkel ift, der wurzel näher. und nicht blofs im anlaut tritt diefe erfcheinung vor, ich bemerke auch 365, 17 halem neben 366,10 halme (plur.), dem lateinifchen calamus ent- fprechend: 368, 10 durege (genit. fing.), wozu der genit. puragi im Sprachfchatz 3, 179 gehört: 368, 10 forege (cura): 376, 14 trehetin. noch andere gedichte der Vorauer handfchrift liefern diefelben und wei- tere belege, Leben Jefu 241,1 phelegen: 268, 11 zewei: 273, 18 forhete: Antichrift 281,26 cheneht (knecht). Jüngftes gericht 288, 12 phelegen. Loblied auf Maria und den heil. geift 342, 21 cheleine: 343,2 charaft (kraft). Gebet einer frau 379, 2 zewein. der metrifche Phyfiologus aus dem zwölften jahrh. in Karajans fprachdenkmalen fchreibt einmal 96, 5 veleifchlich. vergl. die anm. zu zeile 16.

Ich erkläre ge in diefer zeile durch j@: im Heljand finde ich nach der cotton. handfchrift g€ gie, wo die Münchner jd@ hat, auch im altfrie- fifchen zeigt fich diefes ge. der acc. ü althochd.iwih fteht ebenfo z.27 und entfpricht dem altfächfifchen und altfviefifehen iu. wahrfcheinlich ift je- doch dafür e (ih) zu fetzen, oder e guefa ü herzuftellen.

.ti althochd. dih, altfächfifeh und altfriefifch Ai.

. vidifti gemäfs müfte guefäftü gelefen werden, und merkwürdig wäre die

form gefäs, gefäft für die althochd. gefähi, denn fie entfpräche dem go- thifchen und nordifchen ?, das fich im althochd. nur im präfens der ano- malen verba erhalten hat; vergl. Gefchichte der deutfchen fprache 485.

34.

36.

37.

38.

39.

a.

altdeutfche gefpräche. 435

487. aber ich habe oben (f.426) die gründe angegeben, weshalb ich glaube dafs hier guefähen oder guefähet mufs gelefen werden. min wie fin 38, althochd. minan finan. mit apocope des n der fchwachen form hier und z.19 der acc. örre, wie z.33 der dativ erro, den auch der Sprachfchatz 4,992 einmal beibringt: es ift eigenthümlichkeit des nordanglifchen frie- fifchen und nordifchen (Gefchichte der d. fpr. 951).

. ai in nain, das althochd. ei, entlpricht dem gothifchen ai. . 37 guer mit dem getrübten @ für @. iflin anlehnung für is tin; vergl.

Richthofen f. 1144®.

2. das niederdeutfche in gu@z wie 2.23 in bez. . ich beffere er is zi fin. fin ift wie das z.19 erörterte min zu nehmen.

ein hochdeutfcher hat fönme geändert, auch ift der zufatz me und das über z gefetzte /, wie Dr Brunn ausdrücklich anmerkt, von anderer hand. 35. 36 canet ift kneht, entfprechend der form garäbe 16: auch in der Vorauer hf. Antichrift 218, 26 findet fich cheneht; vergl. die anm. zu 25. ubile ift in die zweite declination übergegangen. was über m bedeuten foll, weifs ich nicht. die bezeichnung deffen, nach dem gefragt wird, fehlt: gemeint ift der den befehl in der folgenden zeile ausrichten foll. ich erkläre klapho in oder ana finan hals. Eilharts Triftrant 1796 ich wil in an finen hals flän. wegen des bei felaphen vorgeletzten / ift die Gelfchichte der d. fpr. 990 nachzufehen. fin für finan ilt fchon zu 28 an- geführt. habeo kann hier unmöglich lateinifch fein, und wie wäre es zu erklären? ich will eine vermutuug äufsern, eo fteht mundartlich oder durch einen fchreibfehler für €, und habe ift der imperativ: es folgt din d.i. dinan nach 28; das dazu gehörige hals verftehi fich von felbft, denn diefe zeile enthält die erwiderung des bedrohten, “hüte deinen eigen hals, damit du nicht felbft einen fchlag darauf von mir bekommt’. gh bei ganc zeigt die harte aus[prache an, die man noch heutzutag im paderbörnifchen hört. Aütz erklärt eine ftelle bei einem fränkifchen an- naliften (Bouquet 6, 125): dort heifst es von dem fterbenden Ludwig dem frommen dixit bis "hüz hüz!’ quod fignificat 'foras foras!’ das wort kann demnach als ein deutfches nicht bezweifelt werden (Grammatik 3, Lii 2

436 Wirserm Grimm alldeutfche gefpräche.

779), auch nicht der zufammenhang mit hina üz (Sprachfch. 466. vergl. hina az z. 24), Paflional 177,73 hin üz. Lanzelet Wiener hf. 3548 und Strickers kleine gedichte 5,17 hüze. fors für foras bei Ducange kommt auch im altfranzöfifchen vor.

18 fer

. an diefer unverftändlichen zeile mufs ich vorüber gehn.

En [89]

. dine für dinero wie mine für minemo, wenn nicht dinre zu beflern ist; vergl. z.19. für die ftarke form von na/a hat der Sprachfch. 2, 1101 belege.

——II II

Über

den Begrilf der Übervölkerung.

“Von H”" DIETERICI.

nn

[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 8. März 1849.]

Was ist Übervölkerung und wann tritt eine solche ein?

D. Beforgnisse, welche die Zunahme der Bevölkerung erregt, waren Ver- anlassung einer Abhandlung, welche Hoffmann am 22: Oktober 1835 in der Königlichen Akademie gelesen hat. Er zeigte in derselben, wie bei rich- tiger Würdigung statistischer Zahlenverhältnisse, die Lehre des Malthus, dafs die Bevölkerungen im geometrischen, die Existenzmittel einer Nation nur im arithmetischen Verhältnifs wachsen, in den wirklichen Erscheinungen der Welt und nach der Natur der Sachen, sich nicht unbedingt bestätigt finde, dafs jedoch allerdings bei steigender Bevölkerung drei unleugbare Thatsachen hervortreten: 1) Zunahme der Ansprüche auf Unterstützung der Armen, 2) das Sinken des Einkommens aus einem bestimmten Boden- oder Ka- pitalbesitze, 3) die wachsende Schwierigkeit ohne grofse Anstrengung bequemes Aus- kommen zu finden.

Hoffmann wies nach, dafs der vermehrte Anspruch der Armen auf Unterstützung zum Theil in dem Fortschritt der Nation in Wohlhabenheit im Ganzen seinen Grund habe, und für den Einzelnen mehr Bedürfnisse im Durchschnitt fordere, als in früherer Zeit verlangt worden, weshalb bei rich- tiger Rechnung die Anfprüche der Armen auf Unterstützung mit Beachtung dessen, was in anderer Weise, als baar, von den Wohlhabenden den Armen gegeben werde, und der Berücksichtigung der Berechnung der Unterstüt-

438 Dierterıcı

zungen der Armen nicht nach dem Raum, der Quadratmeile, sondern nach der Menschenzahl auf je 1000 oder 10000 Einwohner, sich vielfach doch anders ftelle, als man gewöhnlich annehme; dafs aber die Folgen vermehr- ter Bevölkerung „das Sinken des Einkommens aus einem bestimmten Boden- oder Kapitalbesitze; und die wachsende Schwierigkeit, ohne grofse und dau- ernde Anstrengung, bequemes Auskommen zu finden” für den Fortschritt einer Nation nicht als Unglück zu bezeichnen seien, indem sie nur dahin führen, dafs in allen Ständen ein Jeder arbeiten müsse, welches für die Entwickelung einer Nation nur wünschenswerth sein könne.

Vor Kurzem hat Herr Hegewisch aus Kiel eine Schrift „Eigenthum und Vielkinderei von F. Baltisch” (den Namen, den er als Schriftsteller an- nimmt) der Akademie überreicht, in welcher in unbedingter Annahme der Grundsätze von Malthus, das Heil der Zeit gesucht wird, im Abhalten zu dichter Bevölkerung. Es wird in der Schrift davon ausgegangen, das Übel der Armuth bestehe darin, dafs die Summe der vorhandenen Lebensmittel zur Befriedigung aller Bedürfnisse nicht hinreiche, wobei indessen doch (Seite 19) übersehen zu sein scheint, dafs bei einer etwas andern Verthei- lung der Lebensmittel die Summe derselben auch wohl für Alle hinreichen könnte. Es wird ferner angeführt, dafs Vielkinderei die Mutter der Kon- kurrenz (Seite 53) und somit die Erfinderin aller Künste der Civilisation, aber auch die Mutter aller Übel sei, welche der Fortschritt mit sich bringt. Die Konkurrenz, heifst es Seite 57, die zu starke Konkurrenz ist in den aller- meisten Fällen Schuld daran, wenn der Tagelohn nicht zur Erhaltung des Arbeiters hinreicht. „Die Menschen vermehren sich” heifst es weiter Seite 61 „nicht nur, wenn sie sich wohl fühlen, sondern auch, und vielleicht am mei- sten, wenn sie sich elend fühlen; darin besteht das allergröfste Übel der Vielkinderei, dafs sie sich fortzeugt gleich dem Verbrechen, dessen Fluch hauptsächlich darin besteht, dafs die böse That eine Kette von bösen Tha- ten nach sich zieht!” Solche Aufserungen gehen doch offenbar zu weit. Der Staat kann nicht, wie dies Sismondi vorschlägt, durch Gesetze bestimmen und vorschreiben, wie viel Kinder in der Ehe sein sollen. Ein bestimmtes Mittel, dem Übel abzuhelfen, ist von Herrn Hegewisch eigentlich nicht vor- geschlagen. Der mehrfach ausgesprochene Gedanke, niemand solle eine Ehe eingehen, der nicht wisse, dafs er nach seinem Verhältnisse Frau und Kinder

werde ernähren können, ist richtig; aber Gesetze können dazu nichts thun,

über den Begriff der Übervölkerung. 439

nur allgemeiner verbreitete Bildung, Vernunft und Moral können zu der Besonnenheit im Volke führen, dafs Ehen nicht leichtsinnig geschlossen wer- den. Wiederum aber kann es auch nicht so sein, dafs wie Herr Hegewisch andeutet, Kapital gesammelt und Rigenthum erworben sein müsse, bevor die Ehe geschlossen wird. Es wäre gegen die Humanität und gegen die Mo- ral, wenn man ausschliefsen wollte, dafs der fleifsige Arbeiter, der durch körperliche Arbeit gewils ist, seine Familie erhalten zu können, sich ver- heirathen solle. Damit ist die Streitfrage auch nicht abgethan, dafs Herr Hegewifch am Schlufs der Abhandlung Seite 188 sagt: „Eigenthum und Fortschritt nicht Fortschritt und Eigenthum”. Man erleichtere den Erwerb von Eigenthum und den Besitz desselben. Es ist richtig wie Herr Hegewisch sagt: dafs Eigenthum zu erwerben das Ziel sein mufs, wohin der Arbeiter strebt, aber man kann schwerlich verlangen, dafs der ärmere Arbeiter Eigen- thum nachweise, wenn er sich verheirathen will. Auch würde solche Vor- sichtsmafsregel nicht immer zum Ziele führen, denn wenn das nachgewiesene Eigenthum für eine kleine Familie auch den Bedarf deckte, so würde doch Noth einkehren, wenn die Familie stärker wird.

Die vielen gutgemeinten Vorschläge, die in diesen Beziehungen aus- gesprochen werden, kranken nach einer oder der andern Seite hin. Ich möchte sagen, die Übervölkerung ist in Bezug auf den Staat, zu vergleichen mit Erscheinungen in der Natur. Es kommt darauf an genau zu beobachten, um nur erst die Frage zu beantworten, was ist denn eigentlich Übervölke- rung und wann tritt sie ein? Die Wissenschaft hat insbesondere die Aufgabe die Begriffe ins Klare zu stellen; und so will ich denn von diesem Gesichts- punkte aus obige Frage zu beantworten mich bemühen und bitte nur um Entschuldigung, wenn ich nicht gerade Neues darlege, und aufserdem mich viel in Elementarbegriffen bewege. Die Wichtigkeit des Gegenstandes scheint es mir aber wohl zu rechtfertigen, wenn die vielen zum Theil schiefen An- sichten in dieser Frage einmal zusammengestellt und einzeln nach einander beleuchtet werden.

Eine Übervölkerung kann doch nur heifsen, dafs mehr Menschen auf einem bestimmten Areal leben, als auf diesem Areal leben sollten oder leben können. Die Übervölkerung geht hinaus über das richtige Maafs der Bevölkerung. Es wird also vorausgesetzt ein bestimmtes Maafs, welches das richtige Verhältnifs der Bevölkerung sei. Schubert unterscheidet (Theil 1

440 Diererıcı

Seite 77 des Handbuchs der allgemeinen Staatskunde) die absolute Bevöl- kerung d.h. die Volksmenge eines Staates im Ganzen; von der relativen Be- völkerung d.h. der Dichtigkeit auf der Quadratmeile, und nennt die rela- tive Bevölkerung eine schwache, wenn unter 1000 Seelen, eine mittlere, wenn zwischen 1000 und 2400 Menschen und eine starke, wenn mehr als 2400 Menschen auf einer geographischen Quadratmeile wohnen. Man las wohl in alten Geographieen, es müfsten 2000 Menschen auf der Quadrat- meile wohnen; das sei voll auf, wenn mehr vorhanden wären, sei Überyöl- kerung da. Ja die neuere Schule der Socialisten in Frankreich will die Staa- ten so organisiren, dafs auf jeder Quadratmeile 2000 Menschen wohnen müs- sen. Ist es denn richtig, das gebührende Maafs der Bevölkerung in einer theoretisch angenommenen Zahl feststellen zu wollen? In Norwegen woh- nen auf der Quadratmeile 213 Einwohner, in Portugal 2114 Einwohner. Wenn in Norwegen 2000 auf der Quadratmeile wohnten, wäre das nicht Übervölkerung? Und wenn in dem fruchtbaren Portugal nur 2000 Men- schen wohnen, mufs man nicht fagen, dafs für ein durch seinen Naturfonds so reiches Land 2000 Menschen auf der Quadratmeile nicht eine mittlere, sondern wirklich nur eine schwache Bevölkerung sei. Im Regierungsbezirk Düsseldorf wohnen 9028 Menschen auf der Quadratmeile; sehr wenige wan- dern dort aus. Im Regierungsbezirk Münster wohnen nur auf der Quadrat- meile 3186 Menschen, und dort wandern viele aus. Ist die Bevölkerung von 3186 in Münster nicht viel eher eine Übervölkerung zu nennen, als die mehr als noch einmal so starke Bevölkerung pro (Juadratmeile im Regie- rungsbezirk Düsseldorf? Man sieht wohl, mit einer absoluten Zahl 2000, 3000, 4000 Menschen können auf der Quadratmeile leben, ist die Sache nicht abgethan. Bei einer Bevölkerung von 1000 Menschen auf der Quadrat- meile kann Übervölkerung sein, und bei einer Bevölkerung von 4000, 5000 ja 8000 Menschen auf der Quadratmeile, nicht.

Das richtige Maafs der Bevölkerung kann nur im Begriffe festgestellt werden und zwar dahin, dafs das richtige Maafs nicht überschritten sei, wenn die Menschenzahl auf einem gegebenen Raume von den Erzeugnissen auf diesem Raume genügende Existenzmittel hat. Es kann gegen diese Begriffs- bestimmung freilich eingewandt werden, dafs Getreide, Vieh, überhaupt Nahrungsmittel aus einer Gegend in die andere geführt werden kann, wie dies auch unzweifelhaft vielfach geschieht. Indessen sind dies in der Haupt-

über den Begriff der Ü: bervölkerung. 441

sache doch nur Anomalieen für Distrikte, kleinere Gebietstheile, für die Ver- hältnisse von Stadt und Land; für gröfsere Staaten ist es statistisch ziem- lich gewifs, dafs sie ihren Bedarf an den Hauptnahrungsmitteln selbst er- zeugen. Auch für England, das viel Getreide ankauft, steht es nach Peels Rede vom 9'" Februar 1842 fest, dafs alles Getreide, welches Grofsbritan- nien als Zuschufs für seine Ernährung ankauft, nur etwa der Bedarf von acht Tagen für die Gesammtbevölkerung ist, und dafs, wenn in Grofsbritannien noch alles unkultivirte Land in Kultur genommen würde, auch Grofsbritan- nien seinen Bedarf an Getreide selbst vollständig erzielen könnte. Abge- sehen nun aber von allen solchen Ausnahmefällen, wie in Lancashire, in mehreren Theilen Belgiens, bei uns auch im Regierungsbezirk Düsseldorf gewils vorhanden sind, werden wir wohl sagen können: ein richtiges Maafs der Bevölkerung sei vorhanden, wenn in einem gröfseren Lande grade nur so viel Menschen leben, als von den Subsistenzmitteln aller Art, welche im Lande erzeugt werden, erhalten werden können; wobei zu bemerken ist, dafs die tropischen Verzehrungs - und sonstigen Verbrauchsgegenstände, welche ein Staat vom Auslande bezieht, naturgemäfs durch Uberschufs der inländischen Produktion und Fabrikation, überhaupt des inländischen Ar- beitserzeugnisses gedeckt werden mufs, so dafs z.B. die Quantität Kaffee, Zucker, Wein, Taback, Twist u. s. w., welche der Zollverein aus Amerika, Frankreich, England bezieht, durch Getreide, Holz, Wolle, Tuch, wollene und baumwollene Waare, Leinwand u. s. w., welche der Zollverein mehr als sein Bedürfnifs erfordert, erzeugt, im Durchschitt alljährlich gedeckt wird. Auch die Bezüge vom Auslande sind eine Summe, die durch inlän- dische Mittel des Austausches ersetzt werden, und letztere müssen also als nothwendige Existenzmittel dem Totalbedarf eines Landes hinzugerechnet werden. Es tritt hiernach bei dem Begriff der Übervölkerung die Betrach- tung zweier verschiedener Gröfsenverhältnisse, ich möchte sagen zweier Rei- hen von Gröfsenverhältnissen ein: Anzahl der Menschen und deren Wach- sen, und die Quantität der vorhandenen Subsistenzmittel und deren Steigen.

Man hat auch in Bezug auf die Subsistenzmittel namentlich des Ge- treides wohl die Frage so gestellt: wie viel Getreide kann denn auf der Qua- dratmeile wachsen? Es mufs doch eine gewisse Grenze geben bis wohin die Produktivität nur gehen kann. Ich glaube nicht, dafs wir schon übersehen und berechnen können, wieviel Nahrungsmittel auf einer gegebenen Fläche

Philos.- histor. Kl. 1849. Kkk

449 Diererıcı

erzeugt werden können. Man ist in unsern Gegenden meist sehr zufrieden, wenn der Morgen 7, 8 oder gar 9 Scheffel Weizen bringt, wenn gleich in besonders fruchtbaren Gegenden auch mehr auf dem Morgen gewonnen wird. In Blumentöpfen habe ich von 8 Weizenkörnern 1256 Körner ge- wonnen. Ich führe dies nur an um Extreme gegeneinander zu stellen. Ein Getreidekorn, welches aufgeht, bestaudet sich mit 4, 5 Ähren, und jede Ähre hat 20, 30 Körner und mehr; wie kommt es, dafs ein Scheffel Aus- saat nur 7, 8, 9 Scheffel höchstens Erndte giebt? Ich bin weit entfernt durch diese Betrachtungen den Ökonomen irgend Vorwürfe machen zu wollen; ich kenne die Gründe, dafs nicht alles Getreide aufgeht, manches Korn beim Mähen ausfällt, anderes nicht ausgedroschen wird und dergl. mehr, welche gröfsere Erndten verhindern. Das aber wird doch nicht abgeleugnet werden können, dafs selbst bei dem Getreidebau in der Landwirthschaft noch aufserordentlich viel mehr gewonnen werden kann, als jetzt der Fall ist. Wo die Grenze liegt, wissen wir nicht. Und die Kartoffel bringt auf demselben Areal wohl noch einmal so viel Nahrungsstoff als das Getreide. Was die Agrikulturchemie und die rationelle Landwirthschaft noch finden mögen, mehr als bisher auf dem Morgen Landes zu erzeugen, können wir noch gar nicht übersehen. Aber noch mehr, auch das Quantum Nahrungs- mittel, welches der einzelne Mensch bedarf, ist verschieden. Beispielsweise geht aus dem Resultat der Mahl- und Schlachtsteuer hervor, dafs an Wei- zen und Roggen im Durchschnitt der Jahre 182 auf den Kopf versteuert wurde in Kottbus 412 Pfund, in Görlitz 424, in Stettin 407, in Posen 406, in Wolgast 390, in Breslau 390, in Frankfurt 344, in Berlin 308, in Küstrin 278, in Neu-Ruppin 252, in Marienburg in Westpreufsen nur 224 Pfund. Das sind Differenzen wie 22 zu 42; beinahe wie 1 zu 2 und es zieht sich durch eine Reihe von Jahren hindurch, dafs die verschiedenen Städte so sehr verschiedene Quantitäten von Getreide verbrauchen. Soll auch gar nicht aus diesen Zahlenverhältnissen allein ein sicherer Schlufs gezogen wer- den, da die Kartoffelnahrung sehr verschieden, einzelne Angaben auch trüg- lich sein können, so wird doch aus diesen und ähnlichen Wahrnehmungen immer hervorgehen, dafs die Quantität von Nahrungsmitteln, welche die Men- schen in dieser oder jener Gegend zu ihrer Erhaltung gebrauchen, wirklich nicht überall gleich ist. Welches ist das Minimum, das der Mensch haben mufs? Allerdings mufs eine gewisse Grenze, ein gewisses Maas vorhanden

über den Begriff der Übervölkeung. 443

sein, welches überall zur Sättigung mindestens nothwendig ist. Aber von dieser Gränze ab ist offenbar nach Sitte, Gewohnheit, Klima ein noch wei- ter Spielraum; wozu kommt, dafs in dem einen Lande mehr, in dem an- dern weniger vegelabilische Nahrungsmittel dem Getreide hinzutreten, Kar- toffeln, Kohlarten u. s. w. Denkt man blos an Getreide, und bei diesem nur an die zur menschlichen Nahrung nöthigen Quantitäten, so würden, wenn zur menschlichen Nahrung allein auf einer Quadratmeile in einer fruchtbaren Gegend 30000 Scheflel Getreide gewonnen werden, diese, wenn der Kopf 5 Scheffel verzehrt (wie es in Frankreich, England, im südlichen Deutsch- land der Fall ist), eine hinreichende Menge Getreide für je 6000 Menschen auf der Quadratmeile gewähren. Wenn aber in gleich fruchtbarer Gegend die Menschen mit 4 Scheffel pro Kopf befriedigt werden, so könnten 7500 auf der Quadratmeile leben, und in beiden Fällen wäre eine Übervölkerung, nach der Getreidenahrung gerechnet, nicht vorhanden. Es mag beiläufig be- merkt werden, dafs in der Wirklichkeit in dichtbevölkerten Gegenden, in der Regel mehr Getreide erzeugt und pro Kopf verzehrt wird, als in dünn- bewohnten, woher es kommt, dafs die pro Quadratmeile oft weniger erzeu- genden, aber dünner bevölkerten Gegenden Getreide zur Ausfuhr haben. Wenn in Ostpreufsen, statt der oben angenommenen 30000 Scheffel, nur etwa 16000 Scheffel Getreide durchschnittlich auf der Quadratmeile gewon- nen werden, die hier auf der Quadratmeile etwa wohnenden 2500 Menschen nur 4 Scheffel auf den Kopf verzehren, so gebrauchen sie zu ihrem Bedarf 10000 Scheffel, und haben also von ihrem Erzeugnifs pro Quadratmeile 6000 Scheffel übrig. In Baden wohnen auf der Quadratmeile etwa 4800 Menschen. Der Kopf verzehrt daselbst nach amtlicher Schätzung (vergl. Die- terici Statistische Übersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im deutschen Zollverein; zweite Fortsetzung; Zeitraum von 1840 bis 1842. Berlin bei E. S. Mittler. Seite 273 u. folgende) 5-4 Scheffel; sie brauchen also auf jeder Quadratmeile für sich selbst 26400 Scheffel, und haben in jedem Fall, wie wirklich der Fall ist, wenn sie zur menschlichen Nahrung auf der Quadratmeile auch viel mehr produciren, als Ostpreufsen, viel weniger übrig zur Getreideausfuhr nach der Schweiz, als Ostpreufsen und Litthauen nach England.

Aus allen diesen Betrachtungen folgt, wie es scheint, unleugbar, dafs man im Allgemeinen nach einem theoretischen Satz weder sagen kann, 1000,

Kkk 2

444 DiETERICI

2000, 3000 Menschen sind das richtige Maafs der Bevölkerung für eine Quadratmeile; noch auch, es können auf dieser oder jener Quadratmeile, in dieser oder jener Gegend nur 2000, 3000, 4000 Menschen leben, da man theoretisch nicht zu bestimmen vermag, wieviel die Quadratmeile Nahrungs- stoffe erzeugen kann, und wieviel Nahrungsstoff der Kopf im Durchschnitt zur Verzhrung gebraucht. Unbedenklich wird es im letzterer Beziehung ein Minimum geben; aber wie die Sachen nach der Erfahrung stehen, würde der Einwohner Badens erklären, dafs er darbe, wenn er nur 4 Scheffel Ge- treide zur Verzehrung hätte, während in den meisten Gegenden des preufsi- schen Staats jeder Einwohner mit dieser Quantität vollkommen zufrieden wäre. Man hat sehr viele Beispiele, dafs in Hungerjahren eine Bevölkerung mit $ oder nur 2 ihrer gewöhnlichen Nahrung sich behilft und doch fort- besteht. Die Folgen eines solchen Hungerjahres zeigen sich dann in der Regel nur in einer sehr viel geringeren Anzahl von Geburten im nächsten Jahr, und in einer geringeren Anzahl von Ehen, die geschlossen werden. Aber es ist hier nichts Festes, viele Verhältnisse schwanken hin und her; man kann nur aus allgemeinen Zeichen, wenn die Bevölkerung andauernd zurückgeht, die Anzahl der Almosen-Empfänger dessen ungeachtet sich ver- mehrt, und aus ähnlichen Erscheinungen den Schlufs ziehen, dafs ein Land nicht in glücklichen Verhältnissen fortschreitet, eine Übervölkerung viel- leicht vorhanden ist, oder sich vorbereitet. Sie könnte immer noch abge- wendet werden, wenn neue grofsartige Erwerbszweige irgend welcher Art sich entwickeln; ist dies aber nicht der Fall, so wird bei solchen Zeichen allerdings auf Übervölkerung zu schliefsen sein.

Angenommen nun aber eine Reihe von Jahren hindurch wären in einem Staate die Verhältnisse so, dafs sichtlich die Einwohner ihr gutes Aus- kommen hätten, unter welchen Verhältnissen ist zu besorgen, dafs der Men- schen mehr würden, als sich auf der gegebenen Fläche ernähren können?

Man hat zwei verschiedene Gröfsenreihen zu betrachten:

4) das Wachsen der Menschenzahl, 2) das Wachsen der Quantitäten Nahrungsmittel.

Das Wachsen der Menschenzahl nimmt Malthus, und mit ihm Hege- wisch, wenn keine besondern Hindernisse in den Weg treten, im geometri- schen Verhältnifs an. Malthus beweist den Satz nicht, er liegt ihm in der Natur der Dinge, er ist ihm ein unzweifelhaftes Axiom. Es kann nur etwa

über den Begriff der Übervölkerung. 445

folgender Gedankengang sein, der ihn zu dieser Annahme gebracht hat. Ist die Anzahl der Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts in den mittleren Lebensschichten, also der Menschen durch welche Geburten und somit die Vermehrung der Nation bewirkt wird, in einem gegebenen Jahre 100, nach fünf Jahren 110, und es vermehren sich die 110 in den nächsten fünf Jahren nach gleichem Gesetz, wie in den ersten fünf Jahren, so werden aus ihnen nicht 120, sondern 121 u. s. w. Wer bürgt denn aber dafür, dafs sie nach demselben Gesetz fortschreiten, kann es denn nicht sein, dafs es ihrer nur 120 werden oder 119 oder 118° Hier kann offenbar nicht die all- gemeine Betrachtung: wir sehen in vielen Familien 3, 4, 5 Kinder, die Men- schen vermehren sich, auch wenn es ihnen schlecht geht; als ausreichender Grund eines Bevölkerungsgesetzes angenommen werden, nur die Erfahrung kann entscheiden. Moser sagt in dem Buche: die Gesetze der Lebensdauer Seite 132 und 133 Folgendes: „Man geräth in der That in Verlegenheit, wenn man ein Urtheil über die Hypothese der jährlichen Volkszunahme in einem geometrischen Verhältnifs abgeben soll. Wie hat man zu dieser so weit verbreiteten Hypothese gelangen können? Ein Kapital vermehrt sich in einem geometrischen Verhältnifs, wenn Zins vom Zins gerechnet wird, weil die Zinsen jedes Jahres im nächstfolgenden als Kapital wirken, und ihrer- seits zu dessen Vermehrung durch Zinsen beitragen. Was hat aber dieser Fall mit dem einer Bevölkerung gemein, in welcher ein Überschufs von Ge- burten stattfindet? Sollen die in einem Jahre Mehrgebornen als solche be- trachtet werden, die im nächsten Jahre ihrerseits Kinder erzeugen?” und ferner: „Als es Malthus darauf ankam, nachzuweisen, dafs die Vermeh- rung eines Volkes in der nicht unbeschränkten Zunahme der Nahrungmittel eine Schranke finden müsse, wählte er für die Vermehrung der Menschen das Bild einer geometrischen Progression, für die Vermehrung des Boden- ertrages das einer arithmetischen. Dies können nur Bilder sein sollen, be- stimmt, auf gewisse Leser zu wirken; denn beweisen würde Malthus we- der die eine noch die andere Progression”.

Was sagt uns denn nun die Erfahrung?

Es giebt allerdings statistische Notizen, nach denen eine Verdoppe- lung der Bevölkerung oder doch eine Vermehrung im starken Verhältnifs in gewissen Zeiten eingetreten ist; nach Riekmann (Comparative account on

the population of Great Britain. London 1832) hatte 1760 Alt-England ohne

446 Diıerteriıcı

Schottland und Irland 6,786,000 Einwohner und 1841 mit Wales 14,806,741, die Bevölkerung hat sich also in 81 Jahren etwas mehr als verdoppelt. Schott- land hatte 1689: 1,200,000 Einwohner und 1841: 2,620,000; hat sich also in 150 Jabren etwas mehr als verdoppelt. Irland wird 1792 als mit 3,600,000 Menschen angegeben, nach der Zählung von 1841: 8,175,000. Die Bevölke- rung hat sich in Irland in 50 Jahren verdoppelt. Die Nordamerikanischen Freistaaten zählten 1820 9 bis 10 Millionen Menschen, und haben jetzt voll- kommen 20 Millionen. Hier ist in einem Zeitraum von 25 Jahren eine Ver- doppelung eingetreten. Nach den officiellen Zählungen des General-Direk- torii hatten 1748 das Königsbergsche und Litthauische Departement 567,366, jetzt haben die Regierungsbezirke Königsberg und Gumbinnen 1,480,308 Einwohner. Da sich das Areal ziemlich gleich geblieben ist, indem das zum Regierungsbezirk Königsberg geschlagene Ermeland, welches 1748 nicht Preufsisch war, in Flächenraum ausgeglichen wird, durch die Theile West- preufsens, welche bis nach Marienwerder hin 1748 zum Ostpreufsischen De- partement gehörten, so ist in Östpreufsen und Litthauen entschieden in etwa 90 Jahren sehr viel mehr, als eine Verdoppelung eingetreten. Ebenso in Schlesien, woselbst 1740 gezählt wurden 1,109,246 und 1846: 2,871,315 Einwohner.

Solche Resultate erschrecken diejenigen, welche in starker Volks- vermehrung eine grofse Gefahr für die Existenz der Menschen erblicken. Denn allerdings, wenn auch nur in je 150 Jahren, regelmäfsig eine Verdop- pelung der Bevölkerung stattfindet, so müfste Griechenland z. B., wenn es zur Zeit Christi-Geburt 1 Million Menschen gehabt hätte, und es wäre nun alle 150 Jahre eine Verdoppelung eingetreten, schon um das Jahr 1400 1024 Millionen Menschen gehabt haben, so viel, als man jetzt auf der gan- zen Erde etwa Menschen annimmt. Die Weltgeschichte zeigt für längere Zeiträume nirgend, auch nur entfernt, ähnliche Erscheinungen. Wer sagt denn, wer kann vorhersehen oder beweisen, dafs wenn in den letzten 100 oder 150 Jahren eine Verdoppelung der Bevölkerungen in mehreren Staa- ten stattgefunden, aus diesem Ergebnifs eine allgemeine Regel für alle Zu- kunft folge? Die Geschichte giebt Beispiele genug, dafs Bevölkerungen zurückgegangen sind. Wenn Griechenland zur Zeit des Perikles nur 2 Mil- lionen Einwohner gehabt hätte, welches nach Böckh’s Ermittelungen viel zu gering angenommen ist, und zur Zeit Christi Geburt 1 Million, so müls-

über den Begriff der Übervölkerung. 447

ten, wenn hieraus ein Gesetz gefolgert werden sollte, dafs die Verminderung der Bevölkerung in dieser Progression fortgegangen wäre, um das Jahr 1600 etwa 65000 Menschen im ganzen Griechenland nur gelebt haben. Man sieht, zu welchen paradoxen Sätzen und völligen Fehlschlüssen man gelangt, wenn man aus einzelnen Beobachtungen der jetzigen oder früheren Zeit sogleich auf allgemeine Gesetze schliefsen will. Wir kennen das Gesetz nicht, nach welchem Volksvermehrungen oder Volksverminderungen für Jahrhunderte oder Jahrtausende eintreten. Das wird wahr bleiben, dafs die Bevölkerun- gen stillstehen oder zurückgehen, wenn es ihnen an den nöthigen Nahrungs- mitteln fehlt. Wie früh oder wie spät dieser Zeitpunkt eintritt läfst sich aus Rechnung nicht vorher bestimmen. Nach der Fähigkeit der Menschen, sich zu vermehren, kann man nicht folgern, wie sie sich wirklich vermehren werden. Wir müssen vertrauen, dafs die göttliche Vorsehung für gröfsere Zeiträume das richtige Verhältnifs wohl herbeiführen wird, wie ja schon Cicero sagt (Tuseul. Disput. 1.49): Non enim temere nec fortuito sati et creati sumus, sed profecto Juit quaedam vis, quae generi consuleret humano.

Aber in welchem Verhältnifs vermehren sich denn die Subsistenz- mittel? Malthus sagt: Nur im arithmetischen Verhältnißs, also aus 100 wird in den nach einander folgenden Jahren 101, 102, 193 u.s. w., und da die Bevölkerungen im geometrischen Verhältnifs sich vermehren, so müsse sehr bald die im geometrischen Verhältnifs steigende Vermehrung d.h. die Menschenzahl, die im arithmetischen Verhältnifs nur steigende Vermehrung d.h. die Subsistenzmittel überflügeln, und also Noth entstehen. Es ist aller- dings mathematisch gewils, dafs eine jede geometrische Reihe auch mit dem kleinsten Exponenten eine jede arithmetische Reihe auch mit der gröfsesten Differenz zuletzt überholen müsse. Aber ich gebe weder die eine Prämisse, dafs die Bevölkerung sich im geometrischen Verhältnifs vermehren müsse, noch die andere, dafs die Subsistenzmittel sich nur in arithmetischer Reihe vermehren könnten, unbedingt zu, ja ich gehe noch weiter. Zugegeben ein- mal, dafs die Bevölkerungen im geometrischen, die Existenzmittel nur im arithmetischen Verhältnifs sich vermehren, so folgt daraus für bestimmte, selbst längere Zeitabschnitte noch nicht, dafs z. B. in einem oder zwei Jahr- hunderten, die Menschenzahl durch fehlende Existenzmittel in Noth gera- then müfste. Man wird, was ein Mensch jährlich bedarf, an Brod, Fleisch, Nahrungsmitteln aller Art, an Kleidung, Wohnung u. s. w. jetzt in dem all-

448 DieErteriıcı

gemeinen Tauschmittel, Geld ausdrücken, und also sagen können, ange- nommen einmal auf einem gegebenen Areal erwürbe eine Bevölkerung allen ihren Bedarf durch Getreidebau: Wenn vor 150 Jahren 100 Menschen hat- ten ein Jeder durch seine Arbeit 100 Thaler, Geldeinheiten, Werthe zu sei- ner Existenz, so producirten die 100 Menschen also 10000 Werthe. Wenn jetzt nach 150 Jahren auf derselben Fläche 200 Menschen wohnen, und Je- der hat wiederum 100 Werthe, Scheffel, Geldeinheiten zu seiner Existenz, so mufs die ganze Fläche produciren 20000 Werthe; wenn die Zustände der 200 Menschen auf der Quadratmeile jetzt, ähnliche sein sollen den Zu- ständen der 100 Menschen auf derselben Quadratmeile vor 150 Jahren. Ging die Mehrproduction der Werthe nur im arithmetischen Verhältnifs, so mufste in jedem der 150 Jahre 4%%% d.h. 663 Werthe mehr geschafft wer- den; oder auf je 1000 Werthe mufsten in jedem Jahre 6% Werthe mehr producirt werden. Wenn nun die Bevölkerung steigt, die Arbeitskraft in der Nation sich also fortdauernd mehrt, so wird kein Landwirth den gering- sten Zweifel haben, dafs wo in dem einen Jahre 1000 Scheffel Getreide ge- wonnen wurden, im nächsten Jahre bei nur etwas vermehrter Arbeitskraft gar sehr wohl 10063 Scheffel gewonnen werden können. Hieraus folgt, dafs eine lediglich vom Ackerbau lebende Bevölkerung auf einem gegebenen Areal sich in 150 Jahren verdoppeln könnte, und in ihren Zuständen sich ganz gleich bliebe, wenn sie statt 1000 Scheffel auf derselben Fläche jähr- lich 10062 Scheffel gewönne. Es kann zwar so für alle Zeit nicht fortgehen. Aber in der Regel leben die Menschen jetzt, wenn 4000 auf der Quadrat- meile sind, besser, als vor 150 Jahren, wenn damals auf derselben Quadrat- meile 2000 lebten. Man vergleiche die Zustände der Menschen in den Rhein- gegenden, in der Preufsischen Provinz Sachsen, mit den Zuständen der Men- schen in vielen Gegenden Westpreufsens. Die Productivität des Bodens steigt oft noch rascher, als die Zahl der Menschen. Die Arbeit ist es vor al- lem Andern, welche neue Werthe schafft. Sind mehr Menschen, ist mehr Arbeitskraft da. Der unbebaute Acker trägt Feldblumen, der bearbeitete Getreide. Und wenn die geistige Arbeit die productivste ist, so läfst sich gar nicht übersehen, in welchem Verhältnifs die Quantität der Existenzmittel durch immer verbesserte, immer rationellere Landwirthschaft, durch Ma- schinen und Erfindungen aller Art in einem ungeahneten Grade steigen können.

über den Begriff der Übervölkerung. 449

Was folgt denn nun aus allen diesen Betrachtungen? Nur, dafs wir nicht a priori, nicht nach theoretischer Auffassung sagen sollen, es mufs nothwendig da und dort, dann und dann, eine Übervölkerung eintreten; nicht, dafs die letztere unmöglich sei, sie kann allerdings eintreten, und ist allerdings in vielen Gegenden eingetreten, aber nur in ganz concreter Auf- fassung läfst sich sagen, wo sie vorhanden sei. Die Auswanderungen aus einem Lande haben allerdings oft auch noch andere Veranlassungen, als Übervölkerung, als die Veranlassung, dafs die Menschenzahl auf der Qua- dratmeile in einer gegebenen Gegend nicht Existenzmittel genug habe und produeire. Sind Freunde und Verwandte nach Amerika gewandert, so zie- hen sie oft nähere Bekannte durch briefliche Schilderungen nach. Indessen ist es eine gewöhnliche Annahme, dafs viel Auswanderungen ein Zeichen der

Ubervölkerung seien, und bis zu einem gewissen Grade, werden die Zahlen

oO der Auswandernden in dieser Beziehung immer zum Anhalt dienen können. Die umstehende Tabelle giebt eine Übersicht der im Preufsischen Staate im Jahre 18%$ Ausgewanderten im Vergleich gegen die Einwohnerzahl von 1846 nach den Regierungsbezirken.

Die stärkste Auswanderung ist im Regierungsbezirk Trier, eine sehr geringe im Regierungsbezirk Düsseldorf. Im Regierungsbezirk Trier woh- nen auf der Quadratmeile 3727 und es wanderten aus in dem einen Jahre 3433. Im Regierungsbezirk Düsseldorf waren auf der Quadratmeile 9028 und es wanderten aus 558. So sehr verschieden ist der Grund und Boden in Trier und Düsseldorf nicht, dafs deshalb in Düsseldorf fast dreimal so- viel Menschen wohnen könnten als in Trier, und dessen ungeachtet aus dem Regierungsbezirk Trier sechsmal soviel Menschen auswandern mülsten, als aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf. Ja, vielleicht ist die Fruchtbarkeit des Bodens im Regierungsbezirk Trier nicht geringer als im Regierungs- bezirk Düsseldorf. Herr v. Viebahn sagt in der Statistik und Topographie des Regierungsbezirks Düsseldorf Th.1. 5.145 u. 146 mit Angabe specieller Zahlenverhältnisse, dafs durch das Erzeugnifs von Getreide mit Hinzurech- nung von Buchweizen, Spelz und andern Nebenfrüchten der Regierungs- bezirk seinen Bedarf an diesen Hauptnahrungsmitteln vollständig decke. Ein Gleiches zeigt v. Hauer in der statistischen Übersicht des Kreises Solingen von dieser dicht bewohnten Gegend.

Philos. - histor. Kl. 1849. Lll

450 Dierterıcı

Es sind im | Procentsatz Jahre 1. Ok-| der Ausge- tober 18°? | wanderten Regierungsbezirke | —_ A | mit Konsens | gegen die auf der Qua-| ausgewan- |ganze Bevöl-

Einwohnerzahl 1846

überhaupt dratmeile dert kerung

. Gumbinnen 632356 405805 613300 900430 . Bromberg 463969 . Potsdam mit Berlin. | 1226866 Frankfurt 840127 . Stettin 547952 434140 182981 1165994 987318 912497 674149 724686 343617 421044 459833 564842

2121 0,004 2665 0,016 1921 7 0,029 2799 0,016 2160 0,061 3207 0,030 2389 0,065 2294 0,00 1680 0,002 2296 0,017 4699 0,012 4062 0,010 3642 76 0,019 3208 0,045 3839 0,183 5566 0,171 3186 5 0,372 4806 7 0,164 4031 0,077 484593 6693 0,143 887614 9028 0,063 499557 | 4555 0,129 asunaans |

ııo go DD -

u u u Be

Königsberg sure | 2078 0,007

488699 3727 B 0,703 402617 5322 0,133

Summe | 16112938 3170 0,093

über den Begriff der Übervölkerung. 451

Ähnlich wie bei Düsseldorf und Trier steht der Vergleich zwischen den Regierungsbezirken Münster und Minden in Bezug auf die Auswande- runsverhältnisse. In Münster wohnen auf der Quadratmeile nur 3186. Die Zahl der Ausgewanderten ist 1565. In Minden wohnen auf der Quadrat- meile 4806 und die Zahl der Ausgewanderten ist nur 752.

Nicht also die allgemeine Angst vor Übervölkerung soll zu Maafs- regeln gegen dieselbe veranlassen, sondern höchsten Falles nur die concrete Wahrnehmung, dafs, und wo, und in welchem Grade, sich eine Übervölke- rung zeigt.

Welche Maafsregeln aber soll alsdann die Regierung ergreifen?

Sie kann, meiner Meinung nach, direkt eigentlich gar nicht einschrei- ten, sie kann nur in indirekter Weise wirken, sie nehme die ethischen Prin- eipien, die Moral zu ihrem Führer und die Maafsregeln und Gesetze, welche sie in Folge ethischer Prineipien erläfst, werden am sichersten, wenn auch nur indirect gegen das etwanige Übel einer Übervölkerung wirken.

Es ist ein Recht des Menschen auf Gottes weiter Erde zu wohnen und sich zu nähren, wo er glaubt sich am besten durch seine Kraft nähren zu können. Abschofs- und Abfahrtsgeld, Verhinderung und Erschwerung der Auswanderung können, vom Standpunkt der Moral aus, nicht gebilligt wer- den. Man gebe sie frei und es ist Raum genug in Australien und in Amerika für die welche glauben, dort besser leben zu können, als in der Heimath. Es mag selbst nicht getadelt werden, wenn man da, wo eine Übervölkerung wirklich sich zeigt, in ähnlicher Art, wie man Arme unterstützt, den Aus- wandernden Erleichterungen gewährt, namentlich für die Sicherheit des Transports Sorge hat. In Bezug auf baare Unterstützungen und namhafte Erleichterung der Auswanderung ist indessen grofse Vorsicht nöthig. Zu Auswanderungen anreizen, wo sie die Noth nicht gebietet, ist bedenklich. Das Exempel ist einfach. Ein Vater der 6000 Thaler hat und drei Kinder, kann diesen in der Heimath nur ein mäfsiges Loos bereiten. In vielen Ge- genden Nordamerikas kann man für 2000 Thaler ein angenehmes Landgut erwerben. Es kann nicht gewünscht werden, dafs nach solchen Ansichten und Ideen, Viele die in der Heimath mit Mühe sich eine behagliche Existenz erwerben, durch künstliche Mittel angelockt werden, mit ihrem Vermögen das Vaterland zu verlassen.

L1l2

452 Dieterıcı

Es ist Menschenpflicht sich der Armen anzunehmen, aber das Armen- wesen mufs wohl geordnet werden. Das viele zerstreute Almosengeben ist nicht richtig. Armuth mufs ein Übel bleiben, damit der Mensch sich an- strenge, und wo' möglich sich selbst helfe. Wird der Druck der Armuth hinweggenommen, ist es kein Unglück mehr arm zu sein, und weifs der Arme, dafs er reichlich unterstützt wird, auch wenn er nicht arbeitet, so er- zeugt sich, wie in Irland, ein junges Geschlecht von Bettlern. Mit Recht eifert daher Malthus gegen die früheren englischen Armentaxen, die aller- dings eine Übervölkerung von Armen herbeiführten. Der Staat erleichtere den Erwerb und Besitz von kleinem Eigenthum; er gebe die Arbeit frei, damit jede Kraft innerhalb der Schranke des Rechts und des Gesetzes sich zum eignen Wohlsein entwickeln könne; damit die Familie sich bilde und Familienglück entstehe; er sorge für Recht und Ordnung und Handhabung derselben. Dann wird im Volke der Gedanke allgemein werden, dafs Fleifs und Sparsamkeit, dafs Ordnung und unausgesetzte Thätigkeit in dem Be- rufe, welcher es auch sei, nach Gottes Fügung von Ewigkeit her, die allei- nigen Quellen wahren menschlichen Wohlstandes sind und nur sein können. Trefflich führt Guizot diese Gedankenreihe aus in der Demokratie, indem er überzeugend zeigt, wie das Verlassen dieser Grundideen eine jede Staats- gesellschaft zum Unglück, und wie er sagt, ins Chaos führen müsse. Auch an Canning darf ich erinnern, der in einer seiner Parlamentsreden kräftig hervorhebt, wie die Menschen immer durch Maafsregeln, durch äufsere Dinge ihr Unglück abwenden oder ihr Glück befördern wollen, während sie das einzige wahre Mittel zur Verbesserung ihrer Lage, hauptsächlich in ihrer eignen Thätigkeit, in sich selbst zu suchen haben.

Der Staat sorge für Verbreitung wahrer Religiosität, Sittlichkeit und Bildung. Wird auf der einen Seite dadurch Ordnung im Hausstand, Glück in den Familien vermehrt, so wird andrerseits durch allgemeine Verbreitung von Bildung die Möglichkeit eröffnet, die Subsistenzmittel zu vermehren. Man glaubt nicht, wie sehr die meisten unserer Handwerker ihr Gewerbe in derselben Art und Weise fortführen, wie es bei dem Vater und Grofsvater gewesen; wie viel Handwerksmifsbräuche bestehen, wie viel überhaupt noch in Gewerben geschehen kann durch Anwendung von Verstand. Dasselbe gilt vielleicht in noch ausgedehnterem Grade von der Landwirthschaft, die meist -

über den Begriff der Übervölkerung. 453

erst in neuerer Zeit, wesentlich auch durch A. Thaers Einflufs angefangen hat, auf gröfseren Gütern rationeller betrieben zu werden, während in die- sen, wie in allen kleinen Besitzungen, gewifs noch aufserordentlich viel mehr, als bisher geschehen ist, durch verständigere Arbeit, dem Boden abge- wonnen werden kann.

Das jetzt in Frankreich oft ausgesprochene Princip des Rechts auf Arbeit, wird unrichtig oft so ausgelegt, als sei es Pflicht der Regierung oder der Arbeitgeber, dafs sie nothwendig den Arbeitsuchenden Arbeit verschaff- ten oder überwiesen. Das ist nicht der richtige Sinn. Die Arbeiter müssen die Arbeit suchen. Dies Recht auf Arbeit hat ein Jeder. Und der Arbeit- geber kann nur verpflichtet sein den Arbeitern Arbeit zu geben, wenn er dieser Arbeit bedarf. Indessen läfst sich hier doch sagen, dafs der Staat oft wohl Mittel hat, Gelegenheit zur Arbeit zu eröffnen. Zu Urbarmachungen, Entwässerungen, Anlagen von Kanälen, Gräben, Wegen, ist in jedem Lande und so auch bei uns noch viel Gelegenheit vorhanden. Dafs solche Quellen der Erwerbsmittel, wenn die Etatsmittel die erste Auslage gestatten, wie ir- gend möglich eröffnet werden, kann nur unbedingt empfohlen werden, und wird zur Abhülfe des Übels der Übervölkerung, wo es sich findet, wohl mitwirken.

Wenn Bildung, Sittlichkeit, Vernunft immer mehr und mehr in das Volk dringen, dann wird sich von selbst mehr herausstellen, dafs die Ehen nicht leichtsinnig und nicht eher geschlossen werden, als bis vernünftige Aussicht vorhanden ist, eine Familie zu constituiren. Malthus und Hege- wisch haben darin Recht, wenn sie verlangen, dafs die Ehen nicht geschlos- sen werden sollen, wenn nicht einigermafsen die Aussicht der Existenz ge- sichert ist. Aber freilich kann dies nicht so weit gehen, wie Hegewisch an- deutet, dafs vor dem Abschlufs der Ehe so viel Eigenthum vorhanden sein müsse, um dereinst 4, 5 Kinder erhalten zu können. Die sichere Gelegen- heit zur Arbeit, die Möglichkeit des Erwerbs, wenn solche vernunftgemäfs vorauszusehen ist, erscheint hinreichend. Immer aber ist auch dies nicht durch Gesetze, sondern hauptsächlich nur durch Bildung und Sitte zu er- reichen.

Malthus schlägt vor: damit die Ehen nicht zu fruchtbar werden, sollte das weibliche Geschlecht erst mit dem 30“ Jahre heirathen. Schwerlich

454 Diererıcı

wird sich dies durch die Natur der Dinge bewirken lassen, denn es ist ge- gen die menschliche Natur und gegen die Freiheit der Menschen; noch viel weniger kann dergleichen durch Gesetze befohlen werden.

Es ist gegen alle Moral zu verlangen, dafs in einer jeden Ehe nur 2, 3 oder 4 Kinder kommen dürfen. Die Ehe ist heilig und Gesetze dürfen in das Innere derselben nicht eingreifen. In dem Sprichwort des deutschen Bauern, je mehr Kinder, je mehr Vaterunser liegt mehr Moral, als in hoch- getriebenen staatswirthschaftlichen Meinungen, man müsse, wer weils welche Mittel anwenden, um eine zu grofse Anzahl von Kindern in den Ehen abzu- halten. In vielen Gegenden Frankreichs und leider auch in mehreren Ge- genden Deutschlands, ist ein sogenanntes Zwei-Kindersystem in den Ehen herrschend, d.h. es werden nicht mehr als 2 Kinder geboren, 4, 5, 6 Kin- der haben, wird in der öffentlichen Meinung verachtet, wohl gar geschol- ten. Hinter solchen Sitten liegen sehr oft grofse moralische Übel, und es ist ein viel richtigerer Sinn, wenn die Engländer dem Vater vieler Kinder eben deshalb besondere Achtung beweisen. Singt doch schon der alte Homer

„Ihm blühten zwölf herrliche Söhne und Töchter.”

Es ist eine Verirrung moralicher Begriffe, wenn eine starke Familie, die ehe- liches Glück nur befördern soll, geschmähet wird.

Übrigens ist auch in dieser Beziehung die oft ausgesprochene Furcht vor zu vielen Kindern in den Ehen meist übertrieben. Wo Gott im einzel- nen Fall in der Ehe viel Kinder giebt, da giebt er auch Mittel und Wege der Erhaltung und des Unterkommens, wenn sonst nur Ordnung, Fleifs, Tüchtigkeit und gute Zucht und Sitte in der Familie herrschen. Vom voll- endeten 14“" Jahre ab aber kann man für die Masse der Nation, in Stadt und Land, annehmen, dafs die Kinder den Eltern nicht mehr zur Last fal- len, und vergleicht man nun beispielsweise im Preufsischen Staat die An- zahl der Ehen, gegen die Kinder bis zum vollendeten 14' Lebensjahre, so zeigt die folgende Tabelle, dafs nach den letzten vierzehn Zählungen, auf je 10 Ehen durchschnittlich noch nicht 21 Kinder bis zum vollendeten 14'“ Jahre sich berechnen.

über den Begriff der Übervölkerung. 455

Im ganzen Preufsischen Staate überhaupt

Es kommen

durchschnitt- lich Kinder

auf eine Ehe

Zahl der |Zahl der Kin- in den Jahren| stehenden | der bis zum Ehen AÄten Jahre

1874643 3682346 1917643 3771382 1968775 3863856 2014783 3988901 2042476 4102391 2078001 4208743 2167592 4487461 2222649 4711093 2211729 4767732 2284390 4834079 2362445 4911033 2474177 5153721 2570049 5339390 2675531 | 5609214

Im Cholerajahre 1831 hatten sich die stehenden Ehen vermindert, weil in demselben die Zahl der neu geschlossenen Ehen ungewöhnlich ge- ring war.

Nach den ersten Zählungen von 1817, 1818, 1819, 1820 kommen noch nicht einmal 20 Kinder auf 10 Ehen durchschnittlich, auch in den fol- genden Jahren zeigen sich noch nicht bei der Hälfte der Zählungen 21 Kin- der unter 14 Jahren auf je 10 Ehen.

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, versuche ich meine Ideen über die Maafsregeln der Regierung in Bezug auf die Bevölkerungspolizei, in Bezug auf die Frage, was hat die Regierung zu thun, damit die Stärke der Bevölkerung in ein richtiges Verhältnifs zu den vorhandenen Existenz- mitteln trete? in folgende wenige Hauptsätze zusammenzufassen.

Die Regierung hüte sich vor zu positiven Maafsregeln, die lediglich hervorgehen aus allgemeiner Besorgnifs vor zu dichter Bevölkerung oder zu lebhaftem Wunsch, dafs eine zu dünne Bevölkerung dichter werde. Ob eine Bevölkerung in einer Gegend zu dicht oder zu dünn sei, ergiebt sich

456 Dierterıcı

nur aus genauer Betrachtung und bestimmter Wahrnehmung in genau gege- bener Gegend. Wo unzweifelhaft noch die Bevölkerungen zu dünn sind, hat man früher Begünstigung der Einwanderung vorgeschlagen. Es mag dies nicht unbedingt getadelt werden, doch haben die Einwanderungen, bei de- nen ein höheres Moralprincip zum Grunde lag, die Aufnahme solcher Un- glücklichen, die ihrer Religionsmeinung wegen verfolgt wurden, immer viel bessere Erfolge gehabt, als wenn blofs äufsere Beweggründe die Einwande- rung veranlafsten. Es ist grofse Vorsicht nöthig auch in der Beziehung, dafs die Inländer sich nicht gegen die Eingewanderten zurückgesetzt fühlen. Die viel häufigere Frage und viel gröfsere Sorge ist jetzt, dafs der Menschen zu viel seien. Sie mit Gewalt vertreiben, etwa einen blutigen Krieg anzünden, blofs damit der Menschen weniger werden, oder wohl gar, wie selbst Mal- thus, wenngleich mit vieler Restrietion andeutet, nicht kräftig auftreten ge- gen Pocken, Pest, Cholera und andere Epidemieen, damit das natürliche Hemmnifs der Bevölkerung nicht verringert werde, ist gegen alle Humani- tät, ist gegen die bestimmteste Pflicht der Regierung. Wer auswandern will, darf daran nicht gehindert werden. Das ist ganz allgemein Regierungspflicht, wo sich zu dichte Bevölkerung zeigt, kann Erleichterung der Auswanderung mit Vorsicht eingeleitet werden. Die Eröffnung ganz neuer Erwerbszweige ist unter allen Umständen zu empfehlen. Die Regierung kann in dieser Be- g und Vor-

8 sicht verfahren. Einen Kanal anlegen wohin er nicht gehört, ist Verschwen-

ziehung mancherlei thun, doch mufs sie auch hier mit Uberlegun

dung. Eine lebhafte Industrie ist ein Glück für die Nationen. Aber eine ge- sunde Industrie wird sich durch eigene Kraft erhalten. Eines oder das An- dere kann die Regierung wohl thun, um diese oder jene Fabrikation zu he- ben; aber sie sei im äufsersten Grade in dieser Beziehung vorsichtig und be- hutsam; denn so künstlich gehobene Industrieen sind bei der geringsten Un- gunst der Verhältnisse der Heerd, die Stätte der Armuth und des Proleta- riats.

Eine Ehe zu schliefsen oder nicht zu schliefsen ist Sache des persön- lichen Entschlusses und der persönlichen Freiheit. Maafsregeln der Regie- rung, die Ehen zu begünstigen, oder von Schliefsung der Ehen abzuhalten, scheinen mir nicht gerechtfertigt. Die römischen Gesetze, welche die Ehe befördern sollten, dürften nichts Erhebliches bewirkt haben; auch die Un- terstützung, welche bei uns erfolgt, wenn sieben Söhne in einer Ehe gebo-

über den Begriff der Übervölkerung. 457

ren werden, hat, wenn auch das Wohlwollen in dieser Bewilligung volle Anerkennung verdient, doch schwerlich auf gröfsere Fruchtbarkeit der Ehen hingewirkt. Das Abhalten von Ehen, wie bisweilen sogar durch gröfsere In- stitutionen z. B. „sehr langer Dienstzeit im Militär”, herbeigeführt wird, ist schwerlich vom allgemeinen Standpunkte der Humanität zu billigen. Solche Institutionen mögen in andern Gründen ihre ausreichenden oder nicht aus- reichenden Beweggründe haben; von dem Standpunkte aus, dafs sie vor- handen sein mülsten, um viele Menschen von der Ehe abzuhalten, erschei- nen sie mir gegen das natürliche Recht. Ich übergehe Maafsregeln der Ver- stümmelung im Orient, Vorschläge von Medicinern in unsern Landen, das männliche Geschlecht von der Unzucht durch körperlichen Zwang abzuhal- ten; alle solche Maafsregeln sind gegen die Moral, gegen alle Humanität. Keine Regierung hat zu soichen Maafsregeln ein Recht; keine wohlgeord- nete Regierung darf sie im Entferntesten beachten.

Es ist ein günstiges Zeichen, wo, wie in England, grofsentheils doch auch bei uns, die Bevölkerung hauptsächlich in geordneten Ehen fortschrei- tet. Viel Wahres liegt in dem alten Wort „Er ist guter Leute Kind”. Wie auch Milde und Humanität vorschreiben, dafs unehelichen Kindern die Un- gunst ihrer Geburt nicht nachgetragen werde, so hat doch keine Regierung zu einer laxen Gesetzgebung wahrhaften Grund, wodurch die Zahl der un- ehelichen Kinder vermehrt wird, etwa weil dadurch, wie man früher wohl sagte, immer die Anzahl der Menschen doch stärker werde. Auch in Bezug auf diesen Theil der Gesetzgebung kann die Regierung nur von den Vor- schriften der Moral ausgehn. Findelhäuser, Bordelle, sind nicht zu empfeh- len als neu einzurichtende Maafsregeln; können sie, wie Findelhäuser in Ländern, wo sie seit langer Zeit bestehn, wie Bordelle in Seehäfen und ein- zelnen grofsen Städten nicht abgeschafft werden, so sind sie als nothwendi- ges Übel polizeilich zu überwachen. Die Keuschheit hat ihr Recht als eine christliche Tugend und darf von Mann und Weib in der Jugend verlangt’ werden, wie milde man den einzelnen Fall vergebe. Allerdings sei die Ehe der erlaubte Wunsch des Jünglings und der Jungfrau, aber sie werde nicht geschlossen in Leichtsinn und übereiltem Gefühl, sondern, wenn die Mög- lichkeit der Erhaltung der Familie vorhanden ist. Dafs das die allgemeine Meinung des Volkes werde, ist eben nur durch fortschreitende Bildung, Sitt- lichkeit, Vernunft, Religion, Tugend und Zucht zu erreichen. Das Familien-

Philos.- histor. Kl. 1849. Mmm

458 Dierrteriıcı über den Begriff der Übervölkerung.

glück mufs es sein, welches der Einzelne als höchstes Ziel erstrebt, welches die Regierung in allen ihren Maafsregeln vor Augen haben und befördern soll. Sie erleichtere den Erwerb und Besitz von Eigenthum; sie halte auf Ordnung, Recht und Gesetz unnachsichtig; sie gebe frei die Arbeit; eröffne die Erwerbsquellen die sie eröffnen kann und gestatte dafs jede Kraft zum eignen Wohlsein sich entwickle. Das ist ihres Amtes, sind diese Grundsätze die leitenden in der Gesetzgebung: dann lasse sie Gott walten; wie die Weltgeschichte lehrt, wird sich die Menschenzahl gegen die vorhandenen Existenzmittel von selbst in das richtige Verhältnifs stellen.

ID II

Über das Metroon zu Athen

und über die Göttermutter der griechischen Mythologie.

v Von

H” GERHARD.

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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 26. Juli 1849.]

J. eigenthümlicher, regsamer und folgerechter die Entwickelung des hel- lenischen Lebens im Gegensatz alles für barbarisch erachteten Auslands sich durchführen läfst, um so anziehender bleiben uns die scheinbaren Ein- mischungen des Orients in die hellenische Welt. Einen sehr eigenthümlichen Beleg solcher Einmischung bietet aus der mächtigsten und gebildetsten Zeit Athens das im Mittelpunkt attischen Religions- und Staatslebens gegründete Metroon uns dar, dessen der phrygischen Göttermutter geweihter Dienst ohne Zweifel den rühmenden Ausspruch des dieser Göttin gleichfalls er- gebenen Julianus (!) hervorrief, als seien es die Athener gewesen welche den Dienst derselben nach Griechenland brachten. Als Tempel der phry- gischen Göttin wird das Metroon ausdrücklich bezeugt (?), und je befremd- licher dieses Zeugnifs für ein Gebäude uns ist, welches in Mitten des atheni- schen Marktes dem Buleuterion eng verbunden die Staatsurkunden (?) Athens an seinen Wänden enthielt, neben Tholos sowohl als Apollo-Patroos-Tem- pel (*) den Heiligthümern des Staats angehörte und sein gefeiertes Götter- bild von Phidias dem gröfsten Bildner Athens gefertigt erhielt, so sind die späten Aussagen doch unverwerflich, nach denen ein phrygischer Priester, von den Athenern verunglimpft und getödtet, von seiner Göttin aber gerächt, einen ihrem Dienst günstigen delphischen Orakelspruch und demnach die Gründung jenes athenischen Metroons veranlafste. Hierauf bezieht sich in seiner Lobrede der Göttermutter Julian (°), hierauf die im Einzelnen mehr oder weniger glaubhafte Erzählung der Lexikographen. Mmm 2

460 GERHARD

Bei Suidas und Photius (%) wird nämlich erzählt, einer der Metra- gyrten, der Bettelpriester jenes phrygischen Dienstes, habe die Einweihung von Frauen zum Dienste der Göltermutter mit seinem Leben gebülst, näm- lich durch gewaltsamen Herabsturz in den Erdschlund ohnweit der atheni- schen Burg. Hierauf sei Pest entstanden und zu deren Tilgung vom delphi- schen Orakel geboten worden den Mord zu sühnen. Weiter heifst es: „dels- wegen nun ward das Rathsgebäude auf eben dem Fleck erbaut wo die Athe- ner den Metragyrten getödtet hatten, und indem man dasselbe einhegte ward es der Mutter der Götter geweiht, zugleich mit Aufstellung einer Statue des Metragyrten”. Dafs das Metroon seitdem zum Staatsarchiv diene und dafs der bekannte Erdschlund (BugaSgev) seitdem verschüttet sei, wird derselben Notiz noch hinzugefügt ohne die mancherlei Dunkelheiten ihres Inhalts auf- zuklären. Dunkel nämlich und weitern Aufschlusses bedürftig bleibt die Einweihung der Frauen, obwohl sie im phrygischen Dienst (7) begreiflich ist und zu Athen als Nachfälschung der Eleusinien verdächtig sein mochte (®) , dunkel die Einhegung des Buleuterion welche nicht anders erwähnt wird als sei das Metroon eine zugleich der Göttermutter geweihte Umfriedung des Rathsgebäudes gewesen—, dunkel endlich Zeit und Zusammenhang eines Vorfalls der nicht blos der Religionsgeschichte Athens, sondern auch seinem Staatsleben angehört. Dafs er nicht nach der Zeit des Perikles sich zugetra- gen habe, geht aus des Phidias Erwähnung als Bildners der Göttermutter her- vor; soll nun die Gründung des Metroon samt Erscheinung und Tödtung des Metragyrten, ferner samt Pest und Sühnung, dem Phidias gleichzeitig oder gar noch früher fallen? Phrygische Gebräuche, die einen altgläubigen Athener schon zu des Perikles Zeit entsetzen mufsten, dürfen wir wenig- stens nicht vor oder unmittelbar nach Ende des Perserkriegs (Ol. 77, 4) für möglich erachten und es wäre demnach jene Zeitbestimmung in dem Zeit- raum zu suchen der vom Ende des Perserkriegs bis zum Tode des Phidias (O1. 87, 1) reicht. Von einer verheerenden Pest wird aus diesem mehr als vierzigjährigen Zeitraum in unsern allerdings mangelhaften Nachrichten nichts gemeldet, und an die grofse athenische von Ol. 87, 3 (a. Chr. 430) verbietet nächst dem Stillschweigen der Historiker uns auch der Umstand zu denken dafs Phidias bereits zwei Jahre vorher gestorben war. Nichtsdestoweniger kann aus sonstigen Gründen doch eben nur jener Zeitpunkt der grofsen Pest oder ein ihr nicht lange vorhergehender gemeint sein, für welchen die Notiz

Metroon und Göttermutter. 461

einer uns unbekannt gebliebenen ähnlichen Seuche ergänzt werden müfste. Zu einer ähnlichen Zeitbestimmung berechtigt uns schon die überwiegende Richtung der letzten perikleischen Zeit, in welcher Superstition und Frei- geisterei, Elemente wie sie zur Einführung phrygischen Dienstes besonders geeignet waren, in Aspasia’s Frauenverführung (°) und in der Weisheit des Anaxagoras (‘) einen Anhalt fanden; woneben auch die Einführung des Dienstes der Göttermutter in Theben, den Pindar vermuthlich gegen das Ende seines Ol. 84, 4 beendeten Lebens verherrlichte (!!), auf Athen ein- wirken konnte. Das Jahr von Aspasia’s Anklage, deren Gegenstand mit der dem Metragyrten angeschuldigten Fraueneinweihung augenfällig überein- stimmt, fällt mit des Phidias Todesjahr zusammen und geht dem Zeitpunkt der grofsen Pest Ol. 87,3 nur um zwei Jahre voran. Während es demnach am nächsten liegt, in der Erzählung des Suidas vom Metragyrten die einzige auch sonst aus jener Zeit bekannte schwere Seuche gemeint zu glauben, tritt bei näherer Erwägung das früher fallende Todesjahr des Phidias einer sol- chen Zeitbestimmung auch nicht mehr entgegen, darum hauptsächlich weil die Tempelstatue der Göttermutter bald des Phidias bald seines Schülers Ago- rakritos Werk heifst ('?) und an des ersteren Todesjahr somit nicht gebun- den ist; sondern es tritt vielmehr unsere Ansicht zu begünstigen auch der Umstand hinzu, dafs der nicht weit vom Metroon gelegene Tempel des Apollo Patroos gleichfalls in Folge der grofsen Pest gegründet oder erneut worden war (!?).

Über die Einwanderung phrygischen Götterdienstes nach Athen und zwar im blühendsten Zeitpunkt seiner Geschichte, im Zeitalter des Perikles, kann nach diesem Allen kein Zweifel sein. Allerdings aber bleibt bei dem engen Zusammenhang des Metroon mit den angesehensten Staatsgebäuden und Heiligthümern, mit Buleuterion, Tholos und Apollo-Patroos-Tempel, eine solche Einsetzung der phrygischen Göttin zur vornehmsten Göttin des athenischen Staatslebens ohne erklärende Eigenthümlichkeiten ihres Wesens und Dienstes nichtsdestoweniger uns unbegreiflch, dergestalt dafs statt aller von der Athener Vielgötterei oder, wie Zoega (!*) gewollt, von Namen und Bild der Thurmgöttin entlehnten Beschönigung vielmehr die Aufgabe uns obliegt, jenes vielleicht nur scheinbare Phänomen hellenisirten Barbaren- thums, nachdem es als Thatsache aufser Zweifel steht, nach Möglichkeit zu erklären.

462 GERHARD

Aller Ausweg zu solcher Erklärung ist in der That auch nicht ver- schlossen. Sollte aus vorperikleischer Zeit zu Athen eine Göttermutter der Kekropiden nachweislich sein, wie eine eben so benannte Göttin der Tanta- liden und Dardaniden aus dem Peloponnes ('°) und ein stattlicher Tempel derselben dem Prytaneion benachbart aus Olympia ('%) uns bezeugt ist und andere Dienste derselben bestehn mochten, aus denen mit dem arkadischen Pan zugleich die Göttermutter nach Theben versetzt ward ('7), so wäre es wohl zu begreifen, wie im Zeitalter lebhaften Verkehrs mit Asien der atti- sche Nationalstolz die phrygische Göttermutter als eine der attischen Hei- math nicht fremde, aber durch Zuthat ausländischen Dienstes in ihrer Würde gesteigerte, anerkannt haben mag. Einzuräumen ist dafs die bisherige Mytho- logie, bei einer nicht gar spärlichen Kenntnifs altattischer Heiligthümer, eine altattische dem Hestiafeuer im Tholos ursprünglich verknüpfte Göttermutter nicht kennt; zwei Göttinnen Alt-Athens dürfen jedoch als ihr ebenbürtig bezeichnet werden, wir meinen die Erdmutter Ge und die mütterliche Burg- göttin Pallas Athene.

Die Göttermutter der Tantaliden wird uns nicht näher bezeichnet, darf aber unbedenklich der argivischen Hera der von Tantalos stammenden Atriden gleichgesetzt werden, einer aus Homer hinlänglich bekannten Göt- tin, um von Gebräuchen des spätern phrygischen Dienstes sie frei zu glau- ben. Pausanias erwähnt jene Göttermutter als ältestes aller peloponnesischen Idole derselben Göttin; da solcher sonst aus dem Peloponnes wenig oder keine Erwähnung geschieht, so ist anzunehmen dafs er die Göttermutter mit der dort mehrfach bezeugten kretisch -arkadischen Zeusmutter Rhea ('?) oder auch mit der Mutter Erde gleich setzte. Den Dienst dieser letzteren Göttin im spätern Griechenland wenig verbreitet zu glauben ist trotz der Zeugnisse des Pausanias ('?) verzeihlich; ihn für weder ursprünglich noch sehr alt zu halten (?°) ein um so gröfserer Irrthum. Heiligthümer der Gäa sind nicht wenige uns ausdrücklich bezeugt; sie lassen durch andere sich vermehren in denen, statt die Erdgöttin mit eigenstem Namen zu nennen, eine Umschreibung desselben stattfand. Im dodonischen Orakel neben Zeus genannt (2'), anderwärts als grofse Göttin (2?) bezeichnet, durch Orakel (°°), Eide (2*) und blutgetränktes Priesterthum (?°) furchtbar, erscheint uns Gäa als oberste Göttin des ältesten Griechenlands, deren Ansehn erst dann in den Hintergrund trat, als ihre pelasgischen Verehrer durch hellenische Die-

Metroon und Göttermutter. 463

ner Demeter’s (?%) und hauptsächlich Apollo’s (?7) theils zu gemeinsamer Geltung des alten und neuen Kultus theils zu alleiniger oder überwiegender Herrschaft des letztern genöthigt wurden. Dafs so schlagender Züge unge- achtet und trotz der mancherlei Kultusspuren, die aufser Dodona auch aus Athen Sparta Delphi Olympia Bura Paträ und andern Orten (2°) erhalten sind, die Verehrung der Gäa in unsern Zeugnissen verhältnifsmäfsig wenig erwähnt wird, haben wir nicht sowohl der Geringfügigkeit ihres Dienstes gemahlin Rhea, deren bereits gedacht ward, auch andere Gottheiten ältesten Namens

als vielmehr dem Umstand beizumessen, dafs aufser der Kronos

und Dienstes ihr gleich sind und ihren Namen verdunkelt haben. Nicht nur für Dia-Dione (°°), für llithyia und Theia, Themis und Artemis, Tyche und Praxidike, Chryse und Basileia (°°), sondern auch für Demeter und Kora, Aphrodite und Hestia, Hera und Athene läfst wenn wir nicht irren diese Behauptung bis zu dem Grad sich durchführen, dafs wir in allen die- sen Göttinnen nur wechselnde Namen und Auffassungen einer und dersel- ben hellenisirten der Gäa gleichgeltenden Erd- und Schöpfungsgöttin zu erkennen haben, und zwar einer Gäa die nicht nur als gährende Materie des mit Uranos verbundenen Urstoffs, sondern mythisch als Kronosgemahlin, ihrem Begriff nach als eine mit Zeus gemeinsam wirkende Muttergöttin der olympischen Weltordnung, als eine dem Begriff der Urania (?!) entgegen- stehende Gäa Olympia gefafst wird. Eben diese auch sonst mit Nachdruck g einer

olympischen Göttin (°?) findet sich namentlich für Ilithyia und Aphrodite

gebrauchte und von der spätern Symbolik ausgebeutete Benennun

angewandt (°°), und ist der auf wahrscheinlicher Lesart des Pausanias be- ruhenden Götterfortuna (°*) vergleichbar. In allen diesen Gottheiten ist der Begriff einer den olympischen Mächten voranstehenden Weltordnung, einer Schicksalsgöttin zu erkennen welcher wie bei Homer auch Zeus sich beugt —, ein Begriff der vermittelst der mancherlei ihm entsprechenden Namen und Darstellungen auch für die in unerklärter Allgemeinheit oft genannte Göttermutter, durchaus unabhängig vom phrygischen Götterwesen einer nach- folgenden Zeit, ein richtigeres Verständnifs uns hoffen läfst.

Treten wir jenen Göttergestalten, deren manigfache Namen und Bil- dungen unsres Erachtens nur als hellenische Vervielfältigungen eines und desselben weiblichen Götterwesens pelasgischer Urzeit zu betrachten sind, im Einzelnen näher, so kann diese Ansicht zuvörderst für Hestia kaum einen

464 GERHARD

Widerspruch leiden —, eine Göttin deren nur selten zu menschlicher Form gediehenes Wesen pelasgischer Namen - und Bildlosigkeit noch spät ent- griechischer wie in römischer Auf- fassung der Erde gleichgesetzt ward (°). In gleicher Geltung jedoch gibt

spricht und bei Erkundung desselben in

noch eine Reihe andrer Göttinnen durch jene naive Symbolik patriarchali- scher Urzeit sich kund, die über den Götterscherzen Homers und über dem Göttergepränge hellenischer Feste auch für den besonnenen Forscher allzu- oft in den Hintergrund tritt. Eine delische Göttermutter in Ilithyia zu er- kennen mag der Beiname Olympia, eine Erdgöttin in Themis und Artemis wahrzunehmen die Kunde delphischer Erdorakel rechtfertigen; ungleich einfacher aber ist es ähnliche Gleichsetzungen aufser der thronenden Stel- lung der meisten jener Göttinnen auf ein Symbol zu begründen welches, den Begriff der als Himmelsgemahlin gedachten Erde anschaulich zu ma- chen, verständlicher, durchgreifender und älter als irgend ein anderes war. Hestia, die im viereckten Heerd ihren Sitz und ihr Bild hat, führt als ande- res und gleich altes Symbol auch die Rundung, die himmelsähnlich das Heiligthum dieser Erdgöttin überwölbt (%): es ist die uralte Verbindung von Gäa und Uranos dadurch angedeutet, und eben diese Verbindung ist durch gleich einfache runde Himmelssymbole auch einer Reihe anderer ansehnlicher Göttinnen beigelegt. Als solche Symbole betrachten wir das im Polos wie Atlas ihn trug kugelförmig, oder, wie er den Schultern der Göttin von Ephesos aufruht, scheibenförmig gebildete Himmelsrund (7). In Scheibengestalt tragen auch sitzende Thonfiguren des griechischen Tem- pelstyls, in denen zunächst sich Gäa vermuthen läfst, jene Andeutung des Himmelsrundes als Kopfschmuck, und wie mit demselben nur zierlich ver- jüngten Kopfschmuck die Götterkönigin Hera verziert zu sein pflegt (°®), dient jene ältere dem Namen Polos entsprechende Bildung desselben, in Pal- las Tyche und Aphrodite (°°), so oft sie damit geschmückt sind, Himmels- göttinnen, der Uranosgemahlin Gäa gleichgeltend, nachzuweisen. Bedeutung und üblichste Form solchen symbolischen Stirnschmucks sind der Kunstmythologie zwar nicht unbekannt; der Umfang jedoch, in welchem die darin gegebene Andeutung des Himmelsrunds, mit der Idee besonderer Götterkräfte verknüpft, auch andre gleich einfache Attribute hervorrief, ist weiterer Erwägung bedürftig. Dasselbe Rund nämlich, wel- ches, in Polos sowohl und Stephane als auch in der Wölbung des Vestatem-

Metroon und Göttermutter. 465

pels unverkennbar den Himmel andeutet, ist bei kaum veränderter runder Form, aber mit Nebenbedeutungen ausgestattet, auch im runden Frucht- mals Demeter’s, in Thurmkrone und Tympanum der idäischen Göttin, im Helm Schild und Spiegel, Athenens Hera’s und Aphroditens, end- lich im Ball zu erkennen, der in der Erdgöttin Hand bald als Mohn und vielkörniger Apfel bald auch als Himmelskugel erscheint (*%). Während allen diesen Göttersymbolen die Idee des Himmelsrundes zu Grunde liegt, haben ihrer manigfaltigen Rundung auch die verwandten physischen oder ethischen Bezüge von Mond und Erde, von Fruchtbarkeit, Herschaft, Sieges- gewalt und Todesschlaf sich bedeutsam verknüpft. Gebräuche wie die des Schildschwingens und Schild - oder Beckenschlagens, der befruchtenden Geifselung des Erdbodens entsprechend, und andere mehr (*!), halfen den durch solche Symbolik herangezognen Begriff des geheiligten Himmels- gewölbes noch mehr anzunähern und können nicht umhin den Gedanken uns aufzudrängen, dafs in den Zeiten pelasgischer Göttersteine und dädali- scher Götterbilder die ganze hellenische Götterbildung und Mythologie noch unentwickelt im Schofs der Göltermutter verborgen lag, deren durchgängi- ges Symbol ein irgendwie angedeutetes Himmelsrund war. In solchem Sinne des Himmelsrunds erscheint Hera mit der Stephane geschmückt und wird durch Schildfeste gefeiert, mit rundem Helme und rundem Schild ist auch Pallas versehen und hat ganz ähnliche Schildfeste aufzuweisen, und eben- so häufen auf Aphrodite sich mehrere Attribute derselben Form, wenn an- ders ihr Schild auch im Bild der Schildkröte und als runder Spiegel ihr beigeht —, Parallelen welche, zu voller Bestätigung der ursprünglichen Ein- heit jener Göttinnen, auch im Gebiete der Thiersymbolik sich fortsetzen lassen (*?). Mancher kunstreicheren Bildungen zu geschweigen, in denen für jene drei Göttinnen die Spur ihrer ältesten Geltung als Göttermutter er- halten ist, haben wir nächst jenem Schildsymbol hauptsächlich den ihnen gleichfalls gemeinsamen Apfel ins Auge fassen, mit welchem Paris die idäi- sche Aphrodite vor der attisch-böotischen Pallas und vor der argivisch-achäi- schen Hera bevorzugt (*?). Wie aber allen drei streitenden Göttinnen jenes oft milsverstandnen berühmten Mythos, der die Verbreitung der Götter- mutter in drei verschiedenen Formen und Völkerstämmen klar und anmuthig ausspricht, der kosmische Ball oder Apfel zusteht, kommt eben jenes Sym- bol auch in seiner kernreichsten Form, als Granatapfel nämlich, ihnen zu

Philos.- histor. Kl. 1849. Nnn

466 GERHARD

und bildet als solcher den Mittelpunkt cerealischer und phrygisch - metroi- scher Sagen (**). Dem eleusinischen Dienst ist die himmelsähnliche Run- dung, nächst dem Kalathos auf Demeter’s Haupt, auch in seinen Tempel- s nach

ie) oben, war das Eleusinion gleichfalls nach oben, zur Andeutung der Unterwelt

anlagen eingedrückt: wie der Vestatempel zur Himmelsbezeichnun

aber gleich dem italischen Mundus auch nach unten geöffnet (*).

Weiter ausgeführt wird diese Symbolik des Weltrunds durch den Doppelbezug, den die kosmische Scheibe erst und hauptsächlich als Him- melsgewölbe, dann aber auch als Vollmond hervorrief. Beides verbunden tritt in den bereits berührten attischen Thonfiguren einer sitzenden Göt- tin uns vor Augen, die am Haupte mit dem Polos, auf der Brust mit der lu- narischen Scheibe des Gorgonengesichts geschmückt ist (*%). Während dies letztere, ohne Zweifel wol erst allmählich hinzugetretene, Symbol für jene Idole zuerst den Gedanken an Pallas erweckt, durften sie vermöge des Po- los und ihrer sitzenden Stellung der Erdgöttin zugesprochen werden; die Benennung erst einer Gäa Olympia, dann einer Athene Polias trat zwi- schen beide Deutungen vermittelnd ein, vollständig aber findet das Räthsel jener merkwürdigen Idole, deren besondere Heiligkeit in der Gräbersitte Athens vollgültig bezeugt ist, seine Lösung erst in der Gemeinschaft des Athenabegriffs mit dem einer Göttin Erde und Göttermutter. Nachdem wir den Fäden gefolgt sind, durch welche ein solches Urwesen vorhellenischer Mythologie auf alle Göttinnen des spätern Griechenlands überging und na- mentlich auch der Athenabegriff vom Typus der ältesten Göttermutter un- zertrennlich erscheint, wird die nur allzu unsicher bezeugte Sage anziehen- der, nach welcher des Tantalos Sohn Broteas, den wir als Diener der Göt- termutter im Peloponnes kennen lernten, als Kind von Hephästos und Pal- las dem attischen Erichthonios gleichgestellt wird (#). Ein andrer, für die älteste Erdgöttin sagenhaft aus Delphi bezeugter und auch Diensten der Hera und Aphrodite nachweislicher Zug, die Hintansetzung nämlich der nie auf- gegebenen ältesten Gottheit hinter den neu und lebenskräftig erblühten Apollodienst, findet sich wiederum hauptsächlich für Pallas Athene, und zwar in überraschendster Ähnlichkeit mit der ältesten Göttermutter vor: theils im uralten und wie im Vestadienst durch symbolischen Rundbau ge- feierten Dienst der Athene Pronoia zu Delphi, theils in Milet durch die alterthümliche Statuenreihe sitzender Göttlinnen welche, den attischen Thon-

Aletroon und Göttiermutter. 467

figuren der Polias ganz ähnlich, zum apollinischen Didymäon führten, theils zu Athen in der Stammmutter Alhene Archegetis sagenhafter Verwandtschaft mit ebendemselben attisch - ionischen Stammgott Apollo Patroos dessen mit Hephästos vermählte Mutter sie hiefs (*°). Wenn nun eben diese my- thisch bezeugte und durch die Abkunft des attischen Ahnherrn Erichthonios, verhüllt aber nicht unverständlich, bestätigte Mutterschaft der attischen Burg- göttin, zusammengehalten mit dem eleischen Götterdienst einer Mutter Athene (*), ihre Übereinstimmung mit der ältesten Göttermutter einleuchtend macht, so dürfte der Beweis für geliefert gelten, laut welchem das atheni- sche Metroon, vermuthlich Jahrhunderte früher als an asiatisches Priester- wesen in Athen sich denken liefs, einer ursprünglich gewifs nicht phrygischen Göttermutter, sondern derselben mütterlich waltenden Stadt- und Burg- götlin geweiht war, der vorzugsweise auch aller sonstiger Götterdienst des frommen Athens galt.

Im Bilde des Phidias, welches allen folgenden Statuen der phrygi- schen Göttermutter zum Vorbild gedient haben mag (°°), finden wir die vom Polos bedeckten vorgedachten Thonbilder im Wesentlichen, nur mit dem Unterschied wieder dals jenes der Polias als Kopfschmuck zugetheilte Him- melssymbol im Bilde der Göttermutter zum Tympanum, auf das sich ihr Arm stützt, geworden war: zum Tympanum, welches meist nur aus orgia- stischem Paukenschlag bekannte Symbol keinesweges für asiatisch zu gelten braucht, wenn man nur etwa die ähnlich geformten prophetischen Becken Dodona’s damit vergleichen will (°'). Wie der Göttermutter und jener Athena Bildung, erscheint auch ihr beiderseitiger Begriff in der That ver- wandt, sofern man nur nicht blofs der wehrhaften und jungfräulichen Par- thenos, sondern der schöpferisch und mütterlich zugleich gedachten Polias des seit kekropischer Zeit bestehenden Dienstes gedenkt. Das Zwitterwesen dieses Doppelbegriffs von Mutter und Jungfrau (°?) hat Athene mit an- dern Naturgotiheiten des griechischen Alterthums, mit Hera, Artemis, Aphro- dite” und hauptsächlich mit Kora gemein; wie durchgreifend es war, be- weisen theils die für Pallas wie für Demeter und Hera bezeugten Verjün- gungsbäder ®, mit denen die An - und Umkleidungsgebräuche des Peplos ® verbunden waren, theils auch die Doppeltempel und Doppelbildungen dieser Göttin, von denen die der athenischen Polias und Parthenos allbekannt sind ®. Agrarische Feste derselben als Mutter Erde gefafsten Athene, im

Non 2

468 GERHARD

Priesternamen der Butaden und Buzygen allverständlich (°), bestätigen die Mütterlichkeit der kekropischen Burggöltin, dergestalt dafs, auch ohne son- stige Begründung dieses Begriffs, die Möglichkeit das Metroon beim Tholos- gebäude ihr zuzusprechen unbestreitbar sein würde. Eben diese Möglichkeit aus der Nachbarschaft beider Gebäude uns annehmlich zu machen kommt die aus Troas und Rom bekannte Verbindung des Vesta- und Pallasdien- stes (°*) uns zu statten, und neue Bestätigungen werden aus dem gemein- samen Verhältnifs der Göttermutter sowohl als Pallas Athenens zu andern Gottheiten sich ergeben.

Wenn Metroon und Buleuterion eng verbundne Gebäude waren und die Göttermutter des Metroon nach allem Vorherigen mit der anderweitig bekannten Markt- und Rathsgöttin Athene Agoraia und Bulaia (°°) zusam- menfällt, so wird es uns wichtig dafs als Gottheit des Buleuterion ein als hölzernes Schnitzbild alterihümlich zu denkendes Idol des Zeus Bulaios (°°) angeführt wird, und wenn somit dieser Zeus von der als Göttin des Metroon vorausgesetzten Athene nicht wohl sich trennen läfst, so drängt zunächst sich die Frage auf, ob eine solche Verbindung mit der Grundansicht einer ursprünglichen weiblichen Göttereinheit, für Athene sowohl als auch für die Göttermutter, verträglich sei. Obenbin angesehn ist ein solches Verhältnifs der Göttermutter zum Zeus kaum zu erwarten. Es hat vielmehr allen Anschein dafs jene altgriechischen Dienste derselben, die hauptsächlich aus Kleinasien uns bezeugt und an die Stammnamen des Dardanos wie des Tan- talos geknüpft sind, unberührt von dem Zeusdienst bestanden, welcher aus altgefeierten Kulten Dodona’s, Kreta’s, Olympia’s, Arkadiens, Roms in selb- ständiger Würde uns bekannt ist. Bei näherer Erwägung ist jedoch nicht zu verkennen, dafs alle jene Kulte, selbst den dodonischen nicht ausgenom- men, den Zeus von mütterlicher Pflege umgeben wissen, deren Erfüllung durch Nymphen im dodonischen und manchem andern Dienst (°7) den Glau- ben an eine unnennbare und unsichtbare mütterliche Urgottheit eher bestä- tigt als aufhebt. Dafs aus der Zeit des entwickelten Hellenismus der dodo- nische Zeus uns in voller Männlichkeit, Dione die erst allmählich ihm bei- gesellt worden sein soll als seine Beisitzerin bezeugt ist (°°), kann unsre Vor- stellung über die ursprüngliche Natur eines Dienstes nicht bedingen, in wel- chem die pelasgische Urzeit, ihrer namen - und bildlosen Götterverehrung

8 gemäfs, nicht sowohl einer persönlichen Gottheit als vielmehr dem Natur-

Metroon und Götlermutter. 469

geist in rauschender Eiche und den Waldnymphen huldigte, in deren Um- gebung und Pflege das Walten jenes geheimnifsvollen Geistes gedieh; ist aber dies die ursprüngliche Vorstellung des dodonischen Dienstes, so ist sie auch dem altitalischen durchaus entsprechend, in welchem aufser dem herr- schenden Zeus auch das noch unerwachsene Zeuskind zugleich mit den Müt- tern verehrt ward, denen er in Gebirg seine Geburt und Pflege verdankte (°°). Diese Mütter, in deren sichtbarer Mehrzahl von Nymphen einer der Über- gänge aus der unsichtbaren Gölttereinheit in die vielfältigen Bildungen des Polytheismus auch sonst sich kund gibt, verhalten sich zu Rhea oder den sonstigen Formen der Göttermutter nicht anders als die gebärenden Ilithyien Homers zur grofsen Geburtsgöttin Dlithyia, deren Höhlendienst aus dem Ge- burts- und Vermählungsorte des kretischen Zeus, aus Knossos (6°), eben- falls auf den Grund homerischen Zeugnisses, eine Welt - und Göttermutter älter und gröfser als Zeus uns andeutet. Auch die homerische Abhängigkeit des sichtbaren Machthabers Zeus von einer gleich den verhüllten Gotthei- ten Etruriens unpersönlichen und unsichtbaren Göttin des ewigen Schick- sals, darf nach allem Vorherigen zum gültigsten Zeugnifs für die Vereh- rung einer aus vorhellenischer Urzeit bewahrten Göttermutter über und ne- ben dem ihr irgendwie entstammten Zeus (°') uns gereichen. Ist aber die attische Göttermutter nur ein gleichgeltender Ausdruck der Mutter Athene, so kommt dieser letzteren auch als untergeordnet der zum Metroon gehörige Zeusdienst des Buleuterions zu. Näheres über diesen Zeusdienst wird, au- {ser der Erwähnung seines Schnitzbildes, uns nicht überliefert; da aber aus gleicher Nähe des Metroons und Tholos noch andre mit uralten Zeusbegrif- fen, namentlich des schlangengestalten Ktesios, verknüpfte Wesen sich fin- den, wohin theils die Spur eines Ortsdrachen beim Agathe -Tyche - Tempel theils selbst der Apollo-Patroos- Tempel sich rechnen läfst (°*), so haben wir, um auch diesen mit dem Metroon und seiner Göttin verknüpften Götter- wesen ihr Recht widerfahren zu lassen, dem Entwicklungsgang weiter nach- zuspüren, in welchem die Eine und kaum gestaltete Göttin der Urzeit den Göttergestalten des Polytheismus allmählich sich annäherte und vermischte.

Zu solchem Behuf kehren wir von der bis hieher verfolgten Mutter Athena noch einmal zu der ihr gleichgeltenden Göttermutter der Urzeit zurück. Ohnehin darf der Begriff eines solchen weiblich gedachten Ur- wesens, dessen Idee ohne Eigennamen und lange Zeit ohne Bild den Glau-

470 GERHARD

ben des ältesten Griechenlands erfüllte und in geheimnifsvoller Weise, von Nymphen vermittelt, den Zeus der bestehenden Weltordnung erst ans Licht rief, nur dann für vollständig erwiesen gelten, wenn aus verwandten Um- ständen und Untersuchungen auch die Momente des Fortschrittes sich erge- ben, durch welche die Göttermutter pelasgischer Urzeit, die aller griechi- schen Kulte Anfang und Mittelpunkt war, in Wechselwirkung mit dem er- wachenden Lebens - und Bildungskeim des zu Person und Plastik vordrin- genden Hellenismus, allmählich den Zeus und die angesehensten Götter hel- lenischer Stämme um sich versammelte und der homerischen Götterwelt Bahn brach. Menschliche Bildungen, wie die des später in edelster Mensch- lichkeit allbekannten Zeus, sind in und bei jener Göttermutter der namen- und bildlosen Urzeit ursprünglich nicht vorauszusetzen; soll aber die Reli- gionsforschung der alten Welt hinter der geschichtlichen Erkenntnifs ihrer Völkerstämme nicht völlig zurückstehn, so müssen Mittelglieder sich finden lassen, die Kluft auszufüllen, die zwischen jenen unsichtbaren Götterwesen des von Herodot uns bezeugten Pelasgerthums und zwischen den fleischlich gedachten homerischen und hesiodischen Göltern (°°) obwaltet. Es begin- nen aber im ursprünglich bildlosen Götterwesen pelasgischer Urzeit die Grup- pirungen der irgendwie—als Stein oder Baum, Stamm oder Bret, Heerd oder Sitzbild—zu denkenden (°*) Göttermutter bald mit dem vieldeutigen Beiwerk doppelter Göttersteine (°), welches zu Molioniden und Dioskuren gediehen das dualistische Zahlenverhältnifs streitender oder verbündeter Kräfte des kosmischen Lebens ausspricht, theils mit zwei andern und selbstverständ- lichen Symbolen weiblicher sowohl als auch männlicher Schöpfungskraft, Schlange und Phallus (6°), welche wir um die in Heerd und Altar oder sonst angedeutete Göttermutter geschaart uns zu denken haben. Von überwie- gendster Anwendung ist zur Seite der Göttermutter das Schlangensymbol®: es findet sich fast allen den Göttinnen beigesellt die wir als örtlich wech- selnde Ausdrücke jener ursprünglichen Göttereinheit erkannten, namentlich der thessalischen und italischen Here, der kekropischen Pallas, der eleusini- schen Demeter, während andre entsprechende Göttinnen, wie Axiokersa-Per- sephone, wie Hestia und Aphrodite, das nordgriechische Phallussymbol mehr oder weniger unverhüllt bei sich hegen, und wieder andre vielleicht mit beiden Symbolen gleicherweise betheiligt sich finden %. Der letztere Fall tritt bei Demeter und Pallas ein, aber nur dergestalt dafs durch die begin-

Metroon und Götlermutter. 474

nende Verknüpfung verschiedner Kulte der cerealischen Schlangeneista die bacchische Schwinge mit dem Phallus, dem Sitzbilde der Pallas ein ithyphal- lischer Hermes ®, jenes von Thrakern, dieses von tyrrhenischen Pelasgern, hinzufügt war: einer durch gegenseitigen Austausch von Götterbildern er- folgten Stammverbindung gemäls, die auch im Verein der samothrakischen Axiokersa mit dem tyrrhenischen Phallusgott Hermes aus Münzbildern ihre Bestätigung findet. Wie jener Hermes aus den mit Phallus und Kopf be- zeichneten Pfeilern erwachsen war, geben die Übergänge vom Schlangen- dämon zur Menschengestalt noch handgreiflicher selbst in Sagen sich kund, die in geheimnifsvollen Errettern des Städtewohls Zwitterwesen von thieri- scher sowohl als menschlicher Bildung erkannten. Wie der phallische Pfeiler zum Hermes, zu Telesphoros und wahrscheinlich auch zum Apollo Patroos, gedieh die Schlange zum Knaben Sosipolis und zum Erretter Zeus Soter (°7). eing aus dem Heerd und Heerdfeuer die Heerd- und

ging Feuergöttin Hestia hervor und auch aus sonstigen Göttersteinen und Götter-

In ähnlichem Übergang

pfählen mögen, wie aus den gedachten zwei Lebenssymbolen, die Anfänge menschenähnlicher Götterbildung allmählich erwachsen sein: namentlich ist zu Dodona, von wo aus des Zeusbilds erst spät Erwähnung geschieht, der Stamm der Eiche als das ursprüngliche Göttersymbol, wir denken als das einer unsichtbaren Göttermutter und der sie vertretenden Nymphen anzu- sehn, bevor aus dem Stamme Person und Bild eines Zeus hervorging und nächstdem Dione, der samischen und kithäronischen Bret- und Stammgöttin Hera vergleichbar, dessen Beisitzerin wurde (%°). Aus so einfach verständ- lichen Andeutungen der Einen und ewig weiblichen Götterkraft ging die Persönlichkeit sowohl als die Vielheit der griechischen Götterwesen im Durchbruch des dem Pelasgerthum entwachsenen hellenischen Lebens her- vor, und gleichzeitig mag in der Sonderung hellenischer Stämme jene Ver- schiedenheit mannhafter oder zärtlicher Religionsansicht sich gebildet ha- ben, laut welcher die asiatischen oder mit Asien verbundenen Griechen eine dardanische Göttermutter, die übrigen bis in den italischen Westen hinüber einen Zeus gleich dem dodonischen, obwohl nicht ohne weibliche Urkraft, verehrten (°°). Mit dem Wechselspiel dieser zwiefachen Geschlechtsauffas- sung beginnt die hellenische Mythologie. Während im Idagebirg, wo asia- tische und nordgriechische Religionselemente sich kreuzten und Aphrodite den Asiaten, Here und Pallas den europäischen Griechen verblieb, die idäi-

472 GERHARD

sche Göttermutter den mit ihr zugleich verehrten Zeus an Götterglanz über- wog, erschien der dodonische Göttervater in ähnlicher Gleichsetzung und Bevorzugung als Gatte Dione’s und, wie aus Homer uns bekannt ist, als Va- ter der idäischen Aphrodite, worauf denn schon künstlicher im Mittelpunkt griechischer Schiffahrt des Mittelmeers, in dem dardanischen Samothrake, zu der mit dem phallischen Hermes tyrrhenischer Pelasger bereits verknüpf- ten dardanischen Urgöttin ein dodonisches Götterpaar sich gesellte (7%): dieses in ganz ähnlicher Weise wie auch das kapitolinische Götterpaar mit Juventas und Terminus Schlange und Phallus eine Vierzahl italischen Götterwesens uns kundgibt (?').

Denselben Entwickelungsgang ältester Religionselemente bis in den Götterhimmel Homers und in die Sagenfülle des Epos hinein zu verfolgen, sind zwei leitende Ideen hauptsächlich an ihrer Stelle. Eine derselben ward oben bereits erwähnt: es ist die Idee eines lebenskräftigen Göttervaters, die im Vordergrund von Homers unsichtbarer Schicksalsgöttin aus dem zur Göt- termutter gesellten Symbol der Zeugung entstanden sein mag. Eine andere hat) (aller Wahrscheinlichkeit nach vom Sinnbild geheimer Begattung, der Schlange, ausgehend) den Lebenskeim der im Ehebund beider Geschlechter liegt, zur Hochzeit von Zeus und Hera, zum Frühlingsbrautfest von Himmel und Erde als Anfang des Göttergeschlechts ausgesponnen, welches von Zeus erzeugt die Zügel des Erdengeschickes in Händen hat —, eine Sage welche bei erster Hellenisirung des pelasgischen Nordens über Argos und Kreta, Böotien und Euböa wie über andere Ursitze hellenischen Sagengebildes sich ausgofs und andre dem Kreislauf des Jahres in ähnlicher Weise ent- sprechende Sagen, namentlich Entführungs - Verjüngungs- und Kleidungs- feste, unwillkürlich sich nachzog (??). Seit dieser Zeit tritt das dodonische Götterpaar in wechselnden Gegensatz zu den von der dardanischen Götter- mutter abhängigen Kulten, und alle seitdem entstandenen Kultusformen griechischer Städte sind aus jenen beiden Grundformen oder aus deren Schöfslingen zusammengesetzt. Der lebendige Entwickelungstrieb helleni- o von Zeus und Hera und ähnlicher

ö durch Geschlechtswechsel belebter lebensvoller Persönlichkeiten hin, wie

scher Dichtung drängt nach Anerkennun

solche in den sechs üblichsten Götterpaaren mit Zuziehung der verschiede- nen Stammgottheiten Poseidon Hephästos Ares Apollo Hermes und ihrer Beisitzerinnen den homerischen Götterstaat und das System der XII Göt-

Metroon und Göttermulter. 473

ter bildete (73); der Kultus dagegen hielt an Verehrung der Göttermutter fest, und die aus politischem Anlafs eingewanderten Gottheiten wurden zu festerem Verband und gröfserer Anerkennung an jene älteste und erhabenste Göttin geknüpft, deren in alle gefeiertsten Götlinnen Griechenlands ausströ- mendes Wesen bemerktermalsen auch dem Minervenbegriffe durchaus ver- wandt ist.

In Sinn und Erscheinung einer solchen Göttermutter, deren namen- und bildlos in der Idee überschwenglicher Schöpfungsmacht verehrte Ein- heit erst im Lauf der Jahrhunderte und in der geschichtlichen Sonderung hellenischer Stämme zur Herrscherin Hera, Liebesbeglückerin Aphrodite, Kämpferin oder Werkmeisterin Pallas Athene ausgeprägt ward, findet denn auch für das athenische Metroon sich das Räthsel gelöst, wie ein altattischer Dienst der mütterlich und als Rathsgöttin wohlbekannten Athene, selbst in Begleitung von Zeus und Apollo, in einen mit phrygischem Brauch mehr oder weniger versetzten der Göttermutter sich verwandeln konnte. Mög- lich ward dies bei der so unbestimmten als alterthümlichen Heiligkeit, durch welche der Name der Göttermutter, wie im Peloponnes so gewils auch zu Athen, einer ausgesprochnen Gleichsetzung mit der ihr ursprünglich iden- tischen Burggöttin zwar allmählich entrückt, übrigens aber ehrwürdig genug geblieben war, um auf den Grund gesteigerten Glanzes selbst ausländische Formen ihrer Verehrung dem athenischen Volk und dem Orakel zu Delphi genehm zu machen. Bewufste Hintansetzung des attischen Götterdienstes gegen eine rein ausländische Gottheit ist dabei gewils nicht anzunehmen, obwohl eine gewisse Geneigtheit des siegesstolzen Athens bald nach den Perserkriegen vorausgesetzt werden darf, den überwundenen Barbaren auch die ausschliefsliche Gunst ıhrer Gottheiten zu entreifsen, in ähnlicher Weise wie wir auch sonst das klassische Alterthum, vom troischen bis zum römi- schen Sagenkreis (’*), mit solcher Ansprache an fremder Götter Gunst bis zu deren gastlicher Einführung in die Heimath mehrfach betheiligt wissen. Anmuthungen schuldiger Sühnung können mitgewirkt haben, wie denn ein Hauptanlafs der Perserkriege, der Brand des Kybele-Tempels zu Sardes (7°), solche Pflicht den Athenern für lange Zeit auflegen konnte; aber auch ohne solchen besonderen Anlafs sind zur Erklärung jenes seltsamen Ereignisses Gründe genug vorhanden, unter denen der Grund einer innerlichen Ver- wandtschaft des beiderseitigen Götterdienstes stets der nachhaltigste bleibt.

Philos.- histor. Kl. 1849. Ooo

ATA GERHARD

Auf ähnlichen Grund gemeinsamen asiatischen und hellenischen Götterwe- sens wurden zu Delos von des Darius Feldherrn die beiden Lichtgötter ver- ehrt (76), und es fand sich Xerxes bewogen der Athene von Ilion tausend Rinder zu opfern (77), als sei die Burggöttin Ilions und Athens der Licht- und Feuergottheit seines heimathlichen Dienstes gleichgeltend; wie vielmehr konnte Athen in die Verehrung jener idäischen Mutter willigen, die mit der Urgottheit Griechenlands, mit der von uns nachgewiesenen Göttermutter der Tantaliden, Kadmeer und Kekropiden, erwiesenermafsen dieselbe war!

Weiter blickend könnte es vielleicht uns gelingen aus ähnlichen An- lässen alten Minervendienstes die der Zeit nach nicht sehr entfernte Einfüh- rung phrygischen Dienstes in Rom aus ähnlichem Grund zu erklären wie die ins athenische Metroon; aber wir beschränken uns hier um so lieber auf dieses, je mehr wir schliefslich verhoffen dürfen den dargelegten Ent- wickelungsgang griechischer Religionselemente auch noch im geschichtlichen Gegensatz kekropischer und theseischer Heiligthümer zu bewäh- ren. Wie in späterer Zeit des Hadrianus Stadtviertel von der theseischen Stadt (7%), war diese von Bau und Anlage der Burg des Kekrops geschie- den; wie in jenem das Olympieion (?*), waren Metroon und Tholos die hei- ligen Mittelpunkte der theseischen Agora, Poliastempel und Erechtheion die ewigen Heiligthümer der kekropischen Burg. Alle religiöse Gründung geht von Heerd und Altar, von dem Götterstein aus, der in pelasgischer Zeit zugleich Götterbild ist und die Symbole des physischen Lebens, Phal- lus und Schlange, um sich versammelt: eben nur dieses Grundelement alles griechischen Götterwesens findet, wie auf der Akropolis so auch auf der athenischen Agora in entsprechenden Formen sich dargelegt. Das unaus- löschliche Feuer ihres Götterheerdes hatten auf der Akropolis die kekropi- schen Autochthonen der thronenden Polias zu Ehren gegründet, die heilige Schlange die ihr als Tempelhüter genährt ward gelangte zur mystischen Geltung des Erichthonios und Poseidon Erechtheus; aber auch die phalli- sche Kraft die neben der Göttermutter nicht fehlen durfte war im kekropi- schen Hephästos, nebenher durch tyrrhenisch-pelasgischen Zusatz auch im phallischen Hermes dargestellt. Als aber durch Theseus die untere Stadt erweitert und statt der Hephästosfeste ein allen Demen gemeinschaftliches Athenafest gefeiert wurde (°°), bedurfte der neue Stadttheil auch neuer, dem ursprünglichen Kultus Athens und seiner Burggöttin entsprechender,

Metroon und Göttermuiter. 475

Heiligihümer. Das heilige Feuer fand nun auch in Mitten des Marktes einen neuen erweiterten Staatsheerd, der schlangengestalte Burghüter und der ihm entsprechende Poseidon Erechtheus fanden ihr Gegenbild im Zeus Bu- laios und im Auiuwv @yaSes des Agathe-Tyche-Tempels, die phallische Kraft des Hephästos und Hermes ihre entsprechende Darstellung theils im

Hephästostempel, theils in dem des Apollo Patroos: zu genügendem Beweis,

dafs die Muttergöttin, die neben diesem letztern ihr stattliches Heiligthum hatte, dafs die im Metroon verehrte und von uns hiemit gedeutete Göttin keine phrygische Göttermutter, sondern wiederum, aber als Mutter gedacht, nur die athenische Stammmutter und Burggöttin war.

Anmerkungen.

(') Julianus Orat. V. (anfangs): ”Apa ye xpn davar xal Um: rovrwv . „nal ra dvex- Aukyra Exhahyrouev; is uiv 6 "Arrıs yra ToaAdos, ris de j rwv Bewv myrnp, xal 6 Tas oryvelag TaUTyC, Tpomos Ömolog; xml mpagerı TOD yapıy obrwar TuoÜros yuw EE dpxis Maredeiyhn, mapadoßeis yuiv Umo ruv apyamrarwv beuyuv, mapudeydeis dE mpwrov bh’ "Ehkyvwv al Tovruv av ruxdvrum, dhh Adyvalwv, Zpyas ddayderrw ürı un nahus Erwdasav Em ru rekoüvrı ro dp- in vus Myrpos; Aeyovraı yap... (Anm. 5).

(2) Pollux II, 11. Myrpwov ’Adyuncı ro rAs Bpuylas Beoü iepov. Matris magnae delubrum heilst es bei Plinius (Anm. 12).

»

(°) Phot. v. Murpwev: 70 iepov rys Murpas ruv dewv, Ev u yV Ypampara Öyudcın xal oi vomoı. Harpocr. v. Myrgwev (aus Lykurg, vgl. Phot.): raus vououc &Bevro dvaypanbavres &v ru Myreww.. Vgl. Athen. V, 14. IX, 17. Liban. III, 16. Diog. L. X, 16. Leake Topogr. S. 96. Böckh Staatshaush. I, 435. Unten Anm. 6.

(*) Umgebung des Metroon: Zwölfgötterhalle, Apollo Patroos, Buleuterion und Tholos. Paus. I, 3, 2ff. Zroa..wxodounre ypabas Exovsa Beous dwdexa nahoumevoug... 22. Tas ypabas Evbpavump Eypanlev ’Adyvaiıs nal mÄyaov Emoisev &v rw van rov "Amok- »wva Iarpwov Emixinew (Anm. 13). ....Qixodoumrar ö8 nal Muyrpos Bewv iepev, Mu Beidiag elpydsaro, nal mÄyaiov rwv mevraxsaluv xaheumevu BouAevrnpıov, ci Boukevouew evinurov "Abywaloıs. BovAnlov de &v aurW xeiraı Eoavov Ards (Anm. 56) xal "Arokluv.. nal Afuos...— Folgt (5, 1): rau BovAeurupiov rwv mevraxociwv mAnelov Odkog Eori nalov- eva xul voucw Evradda ol TpuToveig. Über ein gleichfalls benachbartes Heiligthum der ’Ayady Tuxa vgl. Anm. 62.

O002

476 GERHARD

. x 52 m \ 5) Julianus oratt. V. (Anm. 1): Aeyavraı yap ovror (ol "Adyvalsı) mepußaisaı zul ame- | i 4 \ 4 x n n G m; . 0 \ n q [3 Adaaı rov Tarkov, ws ra dein xuworomsdvra‘ ou Euvevres omamv rüs Bea) To yozua, ul WG (4 3 m \ Mt; 4 \ - \ 3 n m n rl y map’ ayrois Tımwpeım Ay nal 'Pea al Ayunryp. eira mis 70 Evrendev Ton dee), xal Bepa- a d . c N m m - „N 12 En = x r & m ’E © En 8 n II 6 r meia Tys Mmvdos" 7 Yap Ev ması rols nahoız nysuwv yevomevy raus ElAysı, 4 rovV Ilvdiov mpo- R: = \ a n r 3,4 e aaa 2%, TS N , \ mavrıs Beon, rAs Murpos rwv Hewv min enelevoev Ihasxerdar" zu avesıy, bacı, Em Tourw TO 22 n 14 B \ m \ \ 1.29. Myrpwov, 09 rais "Adywalsıs Öymong mavra Eduhdrsero Ta Ypapmareia. mera dy vous Ekkyvas aura "Pwmalcı mapsedsgavro.... . . YA \ x (°) Suidas und Photius v. Myrpayvprns. ’EMduw rıs eis ryv "Arrıwyv Emvei Tag m q 67 - ad yuvalxas r% Myrpl ruv Bewv, wg Exewor baniv- oi dr "Adyvalaı amexrewav airdv Eußuhövres i n er \ / eis Bapadpev nara nebahls. Asmod 8 yevoudvou Ehußov Xaysmov INuracdaı rov merboveupevon“ q ö \ m de , \ v 3 Ru N A E Bes q EN “ol did roüro waodounsav Bovdsurypıov Ev w averAov rov myrpayvpryw, nal mepibpurrevres Mauro dd, = M; \ SL AETE 5 7 \ 2 = s na 5 = AN Rn »aßıdonaav 7% Murpi rwv dewv, avasıyravres al dvöpiivra TOD Murpayuprav. Expuvra de Ti

Myrpulw deyziy (Archiv) zul vousbuhuzeiy aaraywaavres nal 10 Bupudpov.

(") Fraueneinweihung: Eve ra yvvaixas (Anm. 6). Wie im römischen Matronen- und Vestalinnen-Dienst der Cybele.

() Eleusinienlärm: Zpxerau 4 purap eis emCyrysw ras »opns. Vergl. Zoega Bassir. I, p- 86.

(°) Anaxagoras: Plut. Pericl. 32. Nic. 23. Diod. XII, 39. Diog. L. II, 12.

. > m \ 0 ('%) Plut. Pericl. 32:"Aomacia ölxyv Eibeuyev areßelns, "Epuinms 70) zwumdorasd dw- Kovrog nul mposaarnyopoüvros ws Ilepıxkei yuvalaas eheufeong eis TO aUro derweus Dmodexaro. E \ m 3 (Vgl. oben Anm. 6 &uve ras yuvainas). zu Yrdırma Arsmeißns Eyparbev, eisuyyehheodar Toug \ > \ 1 a \ / \ & D 8 / > > 2 > ra Bein un vomilovras 7 Aoyous ep Tuv Merapsiuv Öldamxovras, umepsidomeros eis Tlspınkeu di , ’"Avakaydpov ryv Umovaav.

(') Göttermutter in Theben. Zu Pindar Pyth. III, 77 arX Emevkardaı mv Eyuv 24km Marpl, rav xolpar map &mov mpodugev auv Ilavi meAmovra band aeuvav Beav Evvu- yiaı gibt der Scholiast die bekannte Erzählung von der Gründung des durch Orakel ge- botenen Heiligthums der Göttermutter durch Pindar, der dasselbe bei seiner Behausung errichtete. Vgl. Böckh Fragm. Pind. p. 591. Welcker zu Philostr. II, 12. p. 465.

('?) Göttermutter des Phidias. Arrian Peripl. p. 9: ... Basızva Beds. ein O’ dv dmd TO) oydumaros renumponevo 4 "Pen" nal yap auußahor merd yelpns Eysı au Meovras Um rw Apavo, ul öyraı werep Ev ro Myrpww ’"Adyvycıv 5 roD Beidiov. Dasselbe Götterbild wird von Plinius XXXVI, 5,4 dem Agorakritos beigelegt: Est et in Matris magnae de- lubro in eademn civitate Agoracriti opus. Vgl. Zoega Bassir. I, p. 87.

(*°) Paus. I, 3, 3 (Anm. 4): za mAurov (Eucbpavwp) Emoiysev Ev rw van rov 'ArmoAhuva Ilarpwov EmiaAqswur.. 78 0: Zvoua ru Bew yevesdaı Aeyavan, orı ryv Aauwdy abisı vorov med ru IleAomovwasly molduy melousav nard javrevum Emause Ashbwr. "Qixodounra de zul Myrpos Bewv lepov... Gleich nachher wird ebendaselbst ein Apollobild neben dem Zeus Bulaios des Buleuterion erwähnt (Anm. 6. 56).

('*) Zoega äufsert, um die gebotene Einführung des phrygischen Dienstes in Athen zu erklären, sich folgendermalsen (Bassir. I, p. 87, 26): Forse a ciö contribuirono i nomi

di Magna e di Madre, e la turrita corona che la dichiarava Lutelare di cittadı.

Netroon und Göttermutter. 477

(5) Göttermutter der Tantaliden und Dardaniden. Von der lakonischen Küstenstadt Akriä sagt Pausanias III, 22, 4: deu: aurcdı dein Myrpos Bewv va05 vol Aryahız Adov. mahasrarev ö8 Tooro eva dacw (obwohl Steinbild) oi raus "Axpıng Eyxovres, ömosu rs deob raurns Dekorovwarios iepa zorw* &m, Maryvyoi vye, ol ro mp9s Böfpav venovraı Tod Zirukov, rauros Emi Kodöivov merpun Murpog Earı Bewv apyadrarıv omdvru dyakua, maufeaı d8 ai Mayvares abro Bporeav (Anm. 47) Aeyovaı rev Tavrakov. Im umgekehrten Verhältnils zu dieser angeblich aus Asien in den Peloponnes eingeführten Göttermutter steht die Sage von der durch Idäos, des Dardanos Sohn, nach dem Ida versetzten: 28a Myrpı dewv iepov idpuaamevos dpyın mul reherag nureotycaro, & xal el; Tode xpavav Öamevovaw (?) dv mach $puyla (Dion. Hal. I, 61). N

(%) zu Olympia, in der Altis. Paus. V, 20,5: Nacv dt neyeeı neyav au) Eprya- 19 Ausg, Myrpwav nal &5 Ems nakouaıw Erı, To dvoun aurı dmswlavres To apyalov" neirat ÖE oUx aryahıız ev auru Bewv aurpog, Basıkewv ö8 Ertyxasıv avdpıavres "Puonaiuv.

('7) Der vorgedachten (Anm. 11) thebischen Göttermutter, die Pausanias als Anathem Pindars erwähnt (IX, 25, 3: Muyrpos Awöumeung iepev), sind viele von demselben berührte Rhea- dienste (Anm. 18) gleichzusetzen; ein Myrpos dewv lepev erwähnt er sonst nur aus dem attischen Demos der Anagyrasier (I, 31, 1). Vgl. T7 neyahy Bes (ebd. 1, 31,2) in Phlius.

(5) Die kretische und arkadische Zeusmutter Rhea erscheint im Sprachgebrauch wie in Thurmkrone und Höhlendienst der Göttermutter gemeinhin gleich. Sie war von Kureten und von Daktylen (Paus. V, 7, 4) begleitet, wie Kybele von Korybanten. Gleich- wie Gäa (Anm. 21) wird sie nicht nur dem ihr vielleicht erst aufgedrungenen (Welcker Aesch. Tril. S. 97) Kronos, sondern auch dem Zeus gepaart, von dem sie die Persephone geboren haben sollte (Lobeck Aglaoph. I, 548).

(') Gäadienst, aus Pausanias schon von Zoega Bass. I, p. 84, 5 hinlänglich be- legt. Vgl. Anm. 28.

() Schwenck Gr. Mythol. S. 333 nimmt an, dafs Demeter als Getreidegöttin den Kult der Gäa fast ausgeschlossen habe: „und blieb sie auch nicht ganz ohne Vereh- rung, so ist doch diese weder ursprünglich noch sehr alt.”

() Gäa und Zeus sind im dodonischen Orakel verbunden (Paus. X, 12, 5):

Zeug uv, Zeug Eorı, Zeug Eroerai, w meyahe Zei T& xaomoVg avi, 0 »hnlere murega Toalav. Ge und Zeus Agoraios auch in Sparta (Paus. III, 11, 8).

(@?) Meyahn 8eos ward Ge in Phlius benannt: Paus. I, 31, 2.

(@) Erdorakel der Göttin Gäa: aulser Dodona (Anm. 21) anerkanntermalsen zu Delphi (Aesch. Eum. 2. Paus. X, 5, 3), Olympia (Paus. V, 14, 8) und sonst.

() Eid bei Gäa: Il. III, 278. IX, 259. XV, 36. Od. V, 184. Apoll Rhod. III, 716.

(*) Im Gaion ohnweit der achäischen Stadt Aegä hatte die Priesterin zu ihrer Prüfung Stierblut zu trinken (Paus. VII, 25, 8).

() Nachdem, im älteren Dienste der Mutter Erde, T% wArnp (Myr&ow yalav dodo- nisch Anm. 21) durch die Tempelordnung der gleichnamigen und noch späterhin gleich- geltenden (Taf. IV: Demeter Kidaria) Ay-.yrnp verdrängt worden war, werden beide

478 GERHARD

allmählich auch wol zusammengestellt, dann aber mit dem Übergewicht einer zwischen Demeter und Kora thronenden Erdmutter: aury iv (Demeter) xul Hi mais &rracı, ro Ö8 dyakna rag Tis Earı xudnevov (Paus. VII, 21, 4). Diese Gruppirung ist auch aus einem attischen Idol des hiesigen Kgl. Museums bekannt: Prodr. I, Anm. 63. 74. Abh. Minerven- idole (Berl. Akad. 1842) Taf. I, 1.

(@) Wie in der Sage vom delphischen Orakel (Aesch. Eum. 2), ist die Verdrän- gung alten Erd-Dienstes durch apollinischen vielfach nachweislich, obwohl seltner für ausgesprochene Gäakulte als für die ihnen gleichgeltenden der ältesten Hera (Wieseler in Pauly’s Encyklop. IV, 551). In ähnlichem Verbältnils erscheint auch die vom delischen Apoll überbotene Aphrodite dpyala (Paus. IX, 40, 2. Callim. Del. 308 not. Panofka Terra- Cotten S. 61 ff. Gerhard Abh. Venusidole, Berl. Akad. 1843, S. 19).

() Gäadienste sind bezeugt aus Athen (Ge Olympia: Plut. 'Thes. 27), Sparta (Paus. III, 11, 8. 12, 7), Delphi (Aesch. Eum. 2. Paus. X, 5, 3. Plutarch. Pyth. orac. p. 402. Müller Dor. I, 316), Olympia (Paus. V, 14, 8), Bura (VII, 25, 8), Paträ (VII, 21,4); ein Altar derselben Göttin wird auch beim Ilithyiatempel erwähnt (Paus. VIII, 48, 6).

() Dione als dodonische Zeusgemahlin, wie auch Gäa ebendaher als solche be- zeugt wird (Anm. 21); die italische Dea Dia, die als samothrakische Göttin von Hermes begehrt ward (Cic. Nat. d. III, 22. p. 603 ss. Cr. Vgl. Abh. Agathodämon Anm. 85), darf als ihr gleichgeltend vorausgesetzt werden, zumal Dia auch in der Heroensage Nordgrie- chenlands ein nicht unbekannter Name ist.

(°) Der Gäa gleichgeltende, obwohl später verdunkelte, Göttinnen sind haupt- sächlich: a) Ilithyia, als kretische Höhlengöttin (Od. XIX, 188), eleische Olympia (Paus. VI, 20, 2), delische Mutter des Eros (Paus. IX, 27, 2), Pflegerin des Schlangenknaben So- sipolis (Paus. VI, 20, 2. Abh. Agathodämon Anm. 50) und als Doppelname der argivischen Hera (Hesych. s. v. Prodr. S. 31 f.) bekannt; ferner die äginetische 6) Theia-Hekate (Pind. Isthm. IV, 1. Expl. p. 572), der als goldener Göttin die lemnische Athene -Chryse (Schol. Soph. Phil. 193. Expl. Pind. p. 512. Archäol. Zeitung IV, 161 ff.) und wol auch Diodors (III, 57) der Rhea gleichgeltende Basileia gleichkommt; sodann ce) Themis als delphische Erdgöttin (Paus. X, 5, 3. Welcker Tril. Anm. 49. Gerhard Prodr. S. 95), die auch Ilithyia (Nonn. XLI, 162) heifst; d) Artemis als ephesische IIpwrodpovia (Paus. X, 38, 3); e) Tyche als Tvyn dewv (Anm. 34), ’Ayadn Tuyy, Fortuna Primigenia (Prodr. S.115); endlich f) Praxidike als ogygische, der Pallas verwandte, Zeusgemahlin alt- böotischen Dienstes (Suid. s. v. Prodr. S. 96).

C') Wenigstens der als Uranosgemahlin gefalsten Gäa, die man wol unbedenklich Urania nennen kann.

(©?) Gäa Olympia als himmlische Schöpfungsmaterie. Vom Monde sagt Plutarch (de def. orac. 13. p. 416): ei usw aorpov yewdtc, ci dt Okvmmiav yüv, ol d8 xAovias mal xul ovpavias uhnpov "Exarys rpageimov. Vgl. Prodr. S. 8.30. Panofka Terracotten S. 13.

©’) Olympia wird als Beiname der Züthyia zu Elis (Paus. VI, 20, 2) bezeugt; denselben Beinamen führt Aphrodite in Gemeinschaft mit Zeus in einem Rundbau zu Sparta (Paus. III, 12, 9). Vgl. Prodr. S. 32.

(°*) Götterfortuna: in Sikyon Paus. II, 11, 8 (özWv Tvxy nach kaum zu bezwei- felnder Lesart). Vgl. Prodr. S. 36. Abh. Agathodämon Anm. 46.

Metroon und Göttermutter. 479

() Hestia, als bildlos bekannt und auch als namenlos zu bezeichnen, da ihr ge- wöhnlicher Name nur den der Gottheit geheiligten Stein oder Altar bezeichnet, ist ihrem Begriff nach der Göttin Erde (YA oor« Dion. Hal. II, 66. Vgl. Eurip. bei Macrob. I, 23. Ovid. Fast. VI, 267. 460. Intpp. Cornut. p. 339. Sillig Quaest. Plin. II, p. 5 s.) durchaus gleich, heilst Mutter (Cie. Harusp. 6, 12 deorum Penatium Yestaeque matris) wie diese und führt als stätig zugleich und mütterlich den Doppelnamen Siata mater (Fest. s. v.).

(°%) Serv. zu Virg. Aen. IX, 407: aedes rotundas tribus diis fieri debere, Vestae

Dianae vel Herculi vel Mercurio.

() Polos, als Kugel oder Scheibe hauptsächlich des Atlas bekannt: Paus. VI, 19, 5. Prodr. S. 6. 36. Abh. Archemoros S. 36 ff.

(°) Polos als scheibenförmiger Stirnschmuck, später zur junonischen Stephane verjüngt: Antike Bildw. Taf. CCCI, 1. CCCV, 1-14. Prodr. S. 24 ff. 392 ff.

(°) Mit dem Polos bedeckt waren laut Pausanias die Athene Polias von Erythrä (VII, 5, 4), die Tyche des Bupalos zu Smyrna (IV, 30, 4) und die sikyonische Aphrodite des Kanachos (II, 10, 4). Jener Athene zwar hat man neuerdings (Zeit. f. Alterthumsw. 4850 no. 14) lieber eine sonst unbezeugte Mütze (iAov) gegönnt.

(°) Symbole des Himmelsrundes sind ferner: a) das runde Fruchtmals Deme- ters, als Kalathos oder Modius bekannt, allen Erdgöttinnen sowohl als dem Erdgott Sera- pis (Maer. I, 20) zustehend; 5) die runde /rurmähnliche Krone und das runde der Erd- scheibe ähnliche Zyrnpanurn (Anm. 51) der idäischen und pessinuntischen Göttin; c) ver- schiedene rundliche Waffen, vielleicht selbst der Heim, häufiger der Schild Athenens Hera’s und Aphroditens, bei welcher letzteren Göttin derselbe auch zum metallenen Spie- gel oder zur verschlossenen Schildkröte wird. Endlich gehören dahin auch d) Apfel und Mohn, beide zugleich als Symbole der sikyonischen Aphrodite (Anm. 39), der Apfel und Granatapfel aber auch als Symbol Hera’s Athenens und Kora’s bezeugt (Anm. 44), und e) die als Sphära und Ball gleich dem Polos ohne Nebenbegriff fortdauernde Gestalt der Him- melskugel, wie solche hauptsächlich aus den Fortunenbildern römischer Kunst bekannt ist.

() Entsprechende Gebräuche knüpfen sich hauptsächlich an das Schildsymbol, wie solches in Schildschwingung und Schildschlagen der Kureten, Korybanten und Salier, des- gleichen im Schildlauf der argivischen Hera bekannt ist; Beckenschlagen, Erdgeilselung, Spiegelbeschauung sind andre, an und für sich verschiedene, aber durch gemeinsamen Be- zug auf das Himmelsrund verknüpfte Gebräuche.

() Als Göttinnen des Himmelsrunds sind Hera, Pallas und Aphrodite a) an und für sich nachweislich, wie von der samischen Hera, der lemnischen Pallas- Chryse und der idäischen Aphrodite (Klausen Aen. I, 28, 95) genugsam feststeht. Allen drei Göt- tinnen sind 5) auch runde Symbole, namentlich Stirnkrone und Schilder gemeinsam, wenn auch Schildfeste für Aphrodite, die helmlose Stephane für Pallas, vielleicht unbezeugt sind; in gleicher Gemeinschaft ist auch c) die T’hiersymbolik, namentlich des Löwen, der Kuh und der Ziege für jene drei Göttinnen angewandt, wenn auch der Widder vielleicht nur für Pallas bezeugt ist. Des allen dreien gleichfalls gemeinsamen Apfels (Anm. 44) zu geschweigen.

(?) Wie aus dem Konflikt achäischer und troischer Bevölkerung die Hintansetzung der Hera und Pallas es kund giebt. Nicht unähnlich ist der von Artemis (als Hera? Vgl.

480 GERHARD :

Prodr. S.35, 88. Myken. Alterth. S. 12, 67), Pallas und Hermes dem Gäadienst (dem die idäische Aphrodite entspricht) entgegengesetzte Widerstand im koischen Mythos des Agron (Ant. Lib. 15).

() Das Schönheitsgericht im lesbischen Heratempel (KaAkırreiz Ath. XIII. 610), dem das Parisurtheil zu Gunsten Aphroditens nachgebildet ist (Rückert Troja II, 3, 6), war auf der gegenüberliegenden troischen Küste zu Verhöhnung des von Hellas aus ein- gedrängten Hera- und Pallasdienstes der argivischen Hera und alalkomenischen Alhene Il. IV, 8. V, 908 gemilsbraucht worden. Vgl. Klausen Aen. I, 277.

(‘) Dem Granatapfel, durch dessen Genuls Xora dem Hades hochzeillich (Wel- cker Zeitschr. S. 10 [f.) anheimfällt, kam aufser seiner Vielkörnigkeit auch die blutrothe Farbe zur Vergleichung mit des Dionysos oder des Atys Blutstropfen (Clem. protr. p. 12. Arnob. V, 6) zu statten; bezeugt ist dasselbe Attribut bei der argivischen Hera (Paus. II, 17, 4) und der athenischen Athena Nike (Harpocr. N:.x4 ’Adyw&). Dals Aphrodite zwar mit Apfel und Mohn (Paus. II, 10, 4), mit einem Granatapfel aber nicht leicht sich findet,

kann, zumal bei ihrer Gleichgeltung mit Kora, nur zufällig sein.

(”) Im Eleusinion entspricht der Deckwölbung (ro dralov &xepupwse: Plut. Pericl. 13. Müller Handb. $. 108, 5) eine unterhalb der Cella angebrachte Krypta; der Sinn die- ser Krypta wird wiedererkannt im italischen mundus, einer bei Stältegründungen übli-

chen runden Grube (Plutarch. Rom. cap. 10. Müller Etrusker II, 96).

() Attische Sitzbilder mit dem Gorgoneion, übersichtlich zusammenge- stellt in meiner Abh. über die Minervenidole Athens (Berl. Akad. 1842) Taf. I. Was dort no. 5 als Gorgoneion angegeben ist, findet sich hie und da, in Marmorbildern (ebd. no. 4) und auch wol in ähnlichen Thonfiguren (ebd. no. 1), nur als Scheibe, der Grundbedeutung des Gorgoneion als Vollmond entsprechend. Über die betreffenden Thonfiguren war früher mehrfach von mir gehandelt worden. Es hat nicht an Gründen gefehlt ihnen den Namen einer Ge Olympia (Prodr. I, Anm. 63. 74. Hyperb. R. Studien I, S. 82 ff. Stackelberg Gräber S. 42), dals heist einer himmlischen Erde (oben Anm. 32) beizulegen, in welchem Sinne denn auch die Benennung einer Erdgötlin Demeter (Welcker zu Müller Handb. 8. 357,5. Vgl. Prodr. S. 87) einige Wahrheit hat. Ebenso konnte beim Anblick eines Gorgoneion die Benennung einer Athene (wie auch Stackelberg Gräber d. Hell. LVII, 1) nicht schlechthin abgelehnt werden; erklärt wird sie nur durch die Bedeutung der athe- nischen Burggötlin Polias als Göttermutter. Vgl. Abh. Minervenidole S. 5. 21.

(”) Broteas: oben Anm. 15. Vgl. Schol. Eurip. Orest. 5. ‘Meziriac zu Ovid II, p-331s. Die Abstammung von Hephästos und Pallas, wofür in Jacobi’s mythologischem Wörterbuch auf die Ausleger zu Ovid’s Ibis 517 verwiesen wird, finde ich nur bei Na- talis Comes II, 6. Dagegen scheint für Broteas als Tantaliden ein Weg der Erkläruug dadurch gegeben zu sein, dals die dem Pelops bald angemuthete bald, wie von Pindar (Ol. I, 26), abgesprochene Zerstückelung seines Leibes am Göttertisch füglich auf eine be- sondere mythologische Person übergehen konnte, die man demnach als „„Angegessenen” (Bpwros) Broteas benennen und, da Rhea (laut Bacchylides Schol. Ol. I, 37) die Glieder wieder zusammengefügt haben sollte, auch als ersten Verehrer der Göttermutter darstellen konnte. Mehr hierüber an einem andern Ort (N. Rhein. Museum VIII).

Metroon und Göltermutter. 481

() Zu Apoll steht Athene im Verhältnifs der Göttermutter (Anm. 27) theils a) als delphische Pronoia, durch ein Heiligthum runder Form ausgezeichnet, worüber Wieseler’s „Delphische Athena” Auskunft giebt, und 5) als Göttin der zum milesischen Didymäon führenden Statuenreihe (Abh. Minervenidole Taf. I, 6. Archäol. Zeitung VIII, no. 16), theils c) als attische Mutter des von Hephästos geborenen Apollo Patroos (Cic. Nat. Deor. III, 23. Prodr. S. 38).

(*) Die Mutterschaft Athenens ist mannigfach anerkannt (Welcker Trilogie S. 287) und zumal im Gegensatze der Polias zur Parthenos (Welcker Giebelbilder S. 86) deutlich; so wird auch die Göttin der Aboriginer aus Reate als Göttermutter (Sil. Ital. VIII, 417: magnaeque Reate dicatum Coeliculum matri), aus Orvinium als Minerva genannt (Dion. Hal. I, 14). In Iolkos fällt die iasonische Athene mit der von Iason ge- tragenen Hera, in Rom die „Erinnerungsgöttin” Minerva mit Juno Moneta zusammen; mit Demeter wechselt sie in gephyräischen Opfern (Jo. Lyd. de mens. 3, 21. Klausen Aen. I, 150) und ist durch versteckten Bezug auf Poseidon (Müller Pallas $ $. 30) ihr vergleich- bar; ebenso dürften noch andere ähnliche Übereinstimmungen derselben Göttin mit Mut- tergöttinnen ältesten Schlages nicht schwer zu finden sein.

(°°) Göttermutter des Phidias und deren Repliken: Zoega Bassir. I, p. 87. Müller Handb. $. 395, 3.

(°') Dem Tympanum vergleichbar, obwohl als Kessel gedacht, ist das durch künst- liche Berührung rauschende Erz von Dodona (Steph. Awdwvn).

(°”) Mutter und Jungfrau zugleich sind @) Hera und Artemis, indem siean und für sich mit ihrer bekannten Geltung als Geburtsgöttinnen jungfräuliche Geltung verbinden (Hera rap- Bevos Paus. II, 38, 2), Aphrodite aber, indem sie bald als neu geboren, bald als xouporgahos und Genitrix gefeiert wird. Ebenso ist, 5) Kora betreffend, die jenen Gegensätzen zu Grunde liegende Wahrnehmung eines im Jahreslauf bald mütterlichen bald neu verjüng- ten Naturlebens schon in ihrer Ablösung von Demeter als stetiger Erdkraft, hauptsächlich aber im jährlichen Wechsel einer winterlichen Gemahlin des Hades und jangfräulichen Frühlingsgöttin zu erkennen, mit welcher als männliche Hoffnung des Jahres Iacchos kna- benhaft zusammengestellt wird (Archäol. Zeitung VII. no. 16). Gleichgeltend dieser üb- lichsten cerealischen Epiphanie sind Sage und Benennung der Demeter Zusia (Paus. VII, 25,4) und die dem entsprechenden c) Ferjüngungsbäder der Hera (II, 38, 2), Artemis, Athene und anderer Göttinnen, womit denn auch die für Hera sowohl als auch haupt- sächlich für Athene bekannten Kleidungsgebräuche des d) Peplos (Müller Pallas $. 17. Bötticher 'Tektonik II, 172) zusammenfallen. Dals nun endlich die e) Doppelkulte vieler Gottheiten, namentlich Athenens (vgl. mein Programm Zwei Minerven. 1848), auf eben jenes Zwitterverhältnils der Mutter sowohl als Jungfrau Natur zurückweisen, kann nicht handgreiflicher als durch den mehrbesprochenen (Abh. Minervenidole. Berl. Akad. 1842) Gegensatz der Polias und Parthenos gerechtfertigt werden.

() Athene agrarisch, als Boapuia und Bovdeis bekannt (Müller Pallas $. 43), in Athen von Butaden und Buzygen gefeiert (ebd. $. 15. 18. 67), empfing gleich Demeter heilige Pflügungen (Plutarch praec. coniug. p. 144) und gephyräische Opfer (Jo. Lyd. de mens. 3, 21. Klausen Aen. I, 150), wie sie denn gleich jener Göttin auch als Genossin Poseidons nachweislich ist (Müller Pallas $. 30. 64).

Philos.- histor. Kl. 1849. Ppp

482 GERHARD

(°*) Ovid. Trist. III, 1,29: focus Yestae, quae Pallada servat et ignem. Vgl. Dion. Hal. I, 69. Klausen Aen. II, 699.

(®) Athene Agoraia und Bulaia: Müller Pallas $. 10. 35. vgl. 37. Die Bemerkung (ebd. $. 72), dals diese Göttin nicht vor Einführung der republikanischen Verfassung fal- len möge, ist wohl verträglich mit der Annahme, dals in diesen Namen nur Prädikate der im Metroon und Buleuterion verehrten Muttergöttin Athene pyryp zu Elis (Paus. V, 3, 3. Müller Pallas $. 36) oder der anbei ihr entsprechenden Tholosgöttin Hestia (Bevhulu "Erria Plutarch. X. Oratt. Isocr. IX, 328 Rsk. Harpocr. v. BovAaia, Altar der Schutztlehenden: Leake Topogr. 96. 393) zu erkennen sein möchten.

(°%) Zeus Bulaios (Paus. I, 3,4. Oben Anm. 4), mit Athene zugleich genannt bei Antiphon zepl roÜ xopevred (Oratt. Rsk. VII. p. 789): &v aurw my Boukeurzalw Ars Bou- Aulov nal "Adyvas BouAatas iepov eori.

(°) Nymphenpflege des Zeus: aus Kreta, Dodona, Arkadien allbekannt.

(%) Zeus und Dione: Strab. VII. 329. Klausen Aen. I, 410 (vgl. 181). Abh. Aga- thodämon (Berl. Akad. 1847) Anm. 67.

(°°) Italische Waldmütter: Klausen Aen. II, 869 ff. (°) Ilithyia in Knossos: 081 re oneos Eikeıduiys (Hom. Od. XIX, 188).

(°‘) Auf dem Gargaron, wo die idäische Göttermutter überwiegende Verehrung genofs, trägt ein noch jetzt nachweislicher Tempel kyklopischen Grundbaus im Überrest einer Inschrift den Namen des Zeus Eleutherios (Klausen Aen. I, 177 ff). Der angebliche Herakopf, den Clarke (Travels II, 1, 127. not. 2. Klausen Aen. I, 180) aus eben jenem Tempel in die Bibliothek zu Cambridge versetzt hat, ist bis jetzt nicht näher bekannt geworden; wohl aber genügt, um jene Stätten der Hera so gut als der Rhea oder Aphro- dite geheiligt zu glauben, des Zeus Umarmung mit Hera im vierzehnten Buche der Ilias. Ist nun solchergestalt die mit Zeus verbundene Göttin bald als Mutter, bald als Ge- mahlin ihm beigesellt, so ist auch neben der thronenden Hera von Olympia (Paus. V, 47,1. Vgl. Abh. Agathod. Anm. 67) ein stehender Zeus nicht undenkbar.

(%) Umgebungen des Metroon: oben Anm. 4. Über das Heiligthum der ’Ayasy Tyxn (Harpocr. "Ayadis Tuxns vews) vgl. Abh. Agathodimon Anm. 36. und Schneidewin’s Philologus Th. IV, S. 380 ff.

(°) Pelasgische und homerische Götterwesen: Alles nach Herodots (II, 52. 53) Zeug- nils über beide.

(*) Fetische der Göttermutter: Steine und Stämme, für Hera, Athena, De- meter bezeugt (Müller Handb. 66, 1) und durch die Analogie hie und da abgebildeter Göttersteine bestätigt, von denen der pessinuntische Stein und der delphische Omphalos die berühmtesten sind. Zusammengestellt sind dergleichen Idole auf unserer Tafel I. II; daran gereiht finden sich auf Tafel III zwei aus Umgegend der kithäronischen Hera her- rührende Sitzbilder, in denen der kaum erfolgte Übergang stamm- oder bretähnlicher Idole zur Menschengestalt wohl erkennbar ist.

(®) Doppelte Göttersteine sind in später Abbildung als dußportaı vergeı (Taf. II, 9) bekannt; neben der Göttermutter, deren doppelte Dämonen, Korybanten, Kureten, Dios- kuren, uns häufig bezeugt, mitunter sogar auf ihrer Schulter sichtlich sind (Taf. II, 6.8. Vgl.

Metroon und Göltermutter. 483

Archäol.Zeitung IIT, 27, 1), können sie nicht gefehlt haben, obwohl die von Sillig (Quaest. Plin. IL. p. 5) neben einer thronenden Vesta bei Plinius 36, 25 nachgewiesenen campteres vielleicht als einziges Beispiel solcher Göttersteine neben den zwei Bäumen des dodoni- schen und halikarnassischen (Streber numism. Bull. d. Inst. 1839 p. 180 ss.) Zeus, und den noch häufigeren zwei einzeln verehrten Säulen (Taf. II, 7) sich erwähnen lassen. Merk- würdige Analogien zweier heiliger Säulen (Abh. Kunst der Phönicier Berl. Akad. 1846. Anm. 18), zweier Phallen (Luc. D. Syr. 16. 28), wie auch zwei steinerner Göttersitze (Marathus: K. d. Phön. ebd. S. 23, 1) sind aus phönicischem Götterwesen uns erhalten.

(°%) Schlange und Phallus, wie solche mit Hermessymbolen auf Münzen von Aenos (Abh. Agathod. Taf. IV, 7.9) zusammen erscheinen (vgl. Klausen Aen. I, 131), sind auch vereinzelt bei den der Göttermutter entsprechenden ältesten Göttinnen nachzuweisen: die a) Schlange bei der pelasgischen Hera, der Athene-Chryse und andern (Abh. Aga- thod. Anm. 53), der 5) Phallus hauptsächlich bei der samothrakischen Axiokersa auf Münz- typen dorliger Umgegend (ebd. Taf. IV, 4-7), aber auch bei Hestia, im Fascinusdienst der Vestalinnen (Plin. XXVIII, 4, 7), bei Aphrodite, deren priapischer Dämon bekannt ist (Müller Handb. $. 376, 3), und in ähnlicher Weise bei Tyche (Tychon, Servius: Abh. Agathodämon Anm. 59. 60). Bei dieser letzteren Göttin findet, vermöge ihrer cereali- schen Bezüge, auch das Schlangensymbol einige Anwendung (ebd. Anm. 56); doch würde die Anwendung c) von Phallus und Schlange bei einem und demselben Götterbild vielleicht ohne Beispiel sein, wenn nicht 4) in Mysterien zusammengesetzter Art cerea- lische Schlangeneiste und bacchische Phallusschwinge (Etrusk. Spiegel I, S. 71. Vgl. bei Paus. I, 27, 1 die Schlange der Athene Polias zugleich mit dem phallischen Hermes), ihre gemeinsame Anwendung hätten.

(°) Menschengestalt aus Phallus und Schlange: Abh. Agathodämon Anm. 59. 61 und 17. 50. 74. Über Hermenbildung des Apoll vgl. Auserl. Vas. I. S. 135. 215.

(°°) Götterbilder aus Baumstämmen: zumal auf Anlafs der in hohle Bäume gesetzten Idole (Hesiod. fr. 80: Zeus.. &v mußuen dryad. Müller Handb. $. 52, 2), von de- nen noch mancher Münztypus zeugt. Vgl. Taf. II, 8.

(°) Weibliche Urkraft neben Zeus. In Latium setzt der Knabe Juppiter eine Fortuna Primigenia, Vejovis eine Bona Dea oder sonstige Göttermutter (Klausen Aen. II, 856) voraus; in Etrurien ist das Verhältnils Juppiters zu den verhüllten Gottheiten ein ähnliches (Senec. Qu. nat. Il, 41. Müller Etr. II, 82, 6. Abh. Gottheiten der Etrusker. Berl. Akad. 1845. Anm. 17).

(°) Samothrakische Gottheiten: durch Zusammensetzung aus zweierlei Göt- terpaaren bereits früher in gleicher Weise erklärt (Abh. Agathodämon S.8f.).

(”) Kapitolinische Gottheiten mit Juventas und Terminus (ebd. S. 9. Taf. IV, 1).

() Heilige Hochzeit (iepas y&uos) und deren Gebräuche: Welcker zu Schwenck’s Andeutungen S. 268 ff.

() Zwölf Götter: Abh. über die zwölf Götter Griechenlands (Berl. Akad. 1840).

(*) Zueignung fremder Gottheiten: hauptsächlich aus Athen (®es£evz) und Rom (di evocati: Ambrosch Röm. Studien S. 186) bezeugt.

Ppp2

484 GERHARD

(°) Tempelbau zu Sardes goE 70,2 = a. 499 v. Chr.). Herodot V, 102: xui Zupdis naiv ae ev 08 aurinı nal ipev Emiywpins Beod Kußnßys ro exgmröpevn oi Tleoraı Urrepov dvrevenijumpacan To Ev "Elke iod. Ebd. 105: Basıkei ö8 Anpein, ws EEnyyeAßy Dapöıs dhovsag dvememprodan Umo Ahyvaluv al Imvum ... Adyeraı aurov . eimelv w Zed, Exyeverdar por "Aduwalous rirasdaı

(%) Datis in Delos. Herodot. VI, 97: &v ; Xen ei duo Ben er ravrıw unde oweoda... TaDra pEv Emexypunevsaro roisı Aykloaı nera 08, Aßavwrod rpimnocıd rahayra xu- ravgcas Em rod Bwuon eduminse. Worauf das Erdbeben erfolgt.

(”) Xerxes in Troja. Herodot VII, 43: ri 'Adnaly 77 'Iuddt ure Bods xıhlas.

(°) Inschrift am Hadriansbogen: Ai ö’ eis’’Adpiaved xal ouxi Oyeews mil. Leake Topogr. S. 204.

(®) Das zur Hadriansstadt gehörige und als Mittelpunkt ihrer Heiligthümer zu be- trachtende Olympion (wie Strabo, Dio u. A. schreiben) oder (Ath. V. 194a) Olym- pieion mochte von Hadrian wegen des unvollendeten Zustands jenes von ihm bewun- dernswürdig ausgebauten Tempels (Leake S. 133 ff. 415 ff. Müller Allg. Encykl. VI, 233 ff.) der theseischen Stadt abgesprochen worden sein; dals es mit zu derselben gehörte, scheint auch in der Ortsbegrenzung eines dunklen Zeugnisses bei Bekker Anecd. gr. p. 273 zu liegen: Kpsviov r£wevos TE mapd ro vov 'Okyumov mexpı ro Myrpweu ro) Ev Ayopd.

(°°) Suidas s. v. Xadxeie, Eoprn "Adıvası Oyuudns nal dpxula mavu: a Twes Adyvara xuhodew, ol Ö: Ilavöymov (Ixvadıvam?) die TO Ume mavruw dryerdau Harpocr. v. xalxeia ... Zar ouE: od: our "Adnva dus &yeodas ray Eaprav, ahk% "Hıbaistw. Etym. M. p. 805: Zerı öE Evn »al ve Tod Ilvavernvac, Ev j nal iepeimı era Tu Appnbapuw rev memhov dialovrau Vgl. Meurs. Gr: Fer. v. XaAxeia. Welcker Tril. S. 290. Hermann Gottesd. Alterth. $. 56, 31. 32. Der Zusammenhang mit den Peplosgebräuchen und mit Athenadienst, nämlich dem der Athene Ergane, welche der Polias gleichkommt (Soph. Fragm. 724. Abh. Zwei Minerven 1848 S. 9 ff.), sind entscheidend genug, um Verwandtschaft jener hephästischen "Adyvaıa mit denen welche als Doppelnamen der Panathenäen (Harp. v. IIxv«8.) bekannt sind nachzuweisen, obwohl jene in den Monat Pyanepsion, die Panathenäen aber, grolse sowohl als kleine (Herm. G. A. $. 54, 11), in den Hekatombäon fallen.

Metroon und Göttermutter. 485

ERKLÄRUNG DER KUPFERTAFELN.

Tafel I. PerascıscheE GÖTTERSTEINE.

1-5. 20. Omphalos.

1. Omphalos: ein mit der Inschrift BOMOZS_ begleiteter, aber mit Netz- decke überkleideter Stein in Form einer Halbkugel, dem delphischen ähnlich, den man aus Reliefdarstellungen des Dreifulsraubs (Millin Gal. XVI, 55) und aus Va- senbildern des Orestes (Taf. II, 1.2) kennt. Das Original des gegenwärtigen Steins ist als Heiligthum des thymbräischen Apollo einer Darstellung des an Troilos fre- velnden Achill angehörig,. Nach meinen Auserl. Vasenbildern II, Taf. 223.

2-4. 20. Ähnliche Idole der Artemis Pergäa, wovon no. 3 nach einem Münzabdruck, no. 2 und 4 aber nach der in meinen Ant. Bildwerken Taf. CCCVI, 55 und 4 gegebenen Abbildung erscheinen; hinzugefügt ist in no. 20, einer bei Sestini Lett. numism. (1820 ff.) IX, 2, 7 abgebildeten Münze, ein ganz ähnliches Idol, der Stadt Caesarea am Libanon gehörig. In no. 2 endet eine gestreifte Halb- kugel wie in einen Modius, anbei sind Sterne und zwei Trabanten des Götterbilds (°) angegeben; ähnlich ist no. 3 bei gleicher Umgebung durch gleichen Aufsatz, nur dafs die Streifen wegfallen und neben Stern oder Sonne ein Mond erscheint. In no. 4 sodann ist das Idol bereits zu menschenähnlichem Brustbild gesteigert zu finden, dergestalt dals aus dem Obertheil des halbkugligen Steins ein verschleierter Kopf, aus der modiusähnlichen Bekrönung des rohen Idols ein Kopfschmuck geworden ist. Endlich in no. 20 erscheint die mit Kopf und Modius versehene Halbkugel auch dergestalt von einem Mantel umhüllt, dafs die Rundung des Steines bereits das Ansehn menschlicher Bildung erlangt hat.

(*) Auf einer pergäischen Erzmünze des älteren Philippus (Mionnet III, p. 466, 113. Lajard Culte de Venus pl. 1,13) stehn auf einem Untersatz dem Idol zwei Figuren zur Seite, deren eine durch Halb- mond als Artemis erscheint, dagegen die andre bet kurzer Kleidung der etwanigen Annahme eines Apolls widerstrebt. In ähnlichen Nebenfiguren liegt es nahe Anfänge der Dämonologie (vgl. oben Anm. 65) fast lieber als priesterliche Gestalten zu vermuthen, wobei jedoch nicht nur die Unsicherheit solcher Vermu- thungen, sondern auch der Zustand der Münzexemplare und ihrer Zeichnungen zu steter Vorsicht ermahnen muls. So verwandelt sich der rohe Typus einer Bronze von Parion mit Revers des Gallienus aus der von Kureten oder Kabiren umgebenen Göttermutter, die in Sestini’s Zeichnung (Lett. numism. VI, 2, 11. VII, 6, 25) sich kundgibt, durch ein von Dr. J. Friedländer der hiesigen Kgl. Sammlung überwiesenes und von demselben mir mitgetheiltes Exemplar eben jener Münze in ein, immerhin von Dioskuren umgebenes,

Ehrendenkmal.

486 GERHARD

5. Ähnliches Tdol des Elagabalus, aufgestellt inmitten einer von je drei korinthischen Säulen begrenzten Tempelansicht, welche aufserdem in ihrem Giebel eine Mondsichel, neben der glatten Halbkugel aber, die das Idol bildet, zwei blu- menähnlich erscheinende Gegenstände darbietet, mit denen wol Sterne, Morgen- und Abendstern, gemeint sein mögen. Münze von Emesa. Nach Haym Tes. Bri- tann. 1,29, 4. Vgl. Thes. Brandeb. II, p. 712. Vaillant num. col. I, p. 51. Zoega obel. p. 203 s. Eckhel D. N. VII, 250 ss. Akerman im Numism. Journal II, 218 s. 6-10. Stand- oder Sitzbilder.

6. Standbild der Göttin von Myra in Lykien, im Innern eines von do- rischen Säulen begrenzten Tempels. Aus einem Stein, dessen sphärische Grund- form säulenähnlich schlank geworden ist (wie oben no. 2 und bei den ambrosischen Steinen Taf. II, no. 9), ist eine verschleierte Frauengestalt hervorgegangen; mit dem Saum ihres Kleides hängt die dem ursprünglichen rohen Idol angehörige Tem- pelschlange zusammen. Nach Revue numism. 1849 pl. 13,2. Vgl. Mionnet Deser. III, p. 459.

7. Ähnliches Standbild der Göttin von Jasos in Karien: aus dem palm- artig schlanken und zugleich abgerundeten Stein ist ein Körper mit verschleiertem Haupt und bekröntem Kalathos oder Modius geworden. Nach einer Münze des Commodus. Vgl. Mionnet Il, p. 354, 292.

8. Sitzbild der Göttin von Julia Gordus in Lydien. Aus ähnlicher Stelen- form eines umhüllten Steines ist eine vermummte Frauengestalt geworden, deren oberste Abtheilung einen mit Modius bedeekten Kopf voraussetzen läfst. Jederseits bezeichnet eine stehende Ähre die fruchtbare Wirksamkeit der Erdgöttin. Nach Sestini Lett. VI, 2, 11. Vgl. Mionnet IV, 43 „Juno Pronuba.”

9. Sitzbild einer ähnlichen Göttin mit ausgeführter Angabe des umschlei- ernden Mantels sowohl als des mehrfach abgetheilten hohen Modius, aber auch der einwärts gehaltenen Hände, der Fülse und sogar des Angesichts. Mond und Sterne, desgleichen jederseits eine Ähre, umgeben die Göttin. Gemmenbild, nach Gerhard Bildw. Taf. CCCVIIL, 19.

10. Ähnliches, aber roheres Sitzbild, von Mond und Stern, Ähre und Mohn in ähnlicher Weise begleitet, auch mit einem dünnen Modius bekrönt, unter welchem jedoch die Stelle des Angesichts nur wie ein breiteres Fruchtmafs er- scheint und auch die Andeutung der Extremitäten vermilst wird. Rother Jaspis der Kgl. Sammlung, in Tölken’s Verzeichnils IN, 4, 12 als Dindymene von Sardes angegeben.

41-15. Idole in Kegelform.

11. Kegelförmiges Idol des Aphrodite- Tempels zu Paphos, in seiner drei- fach abgetheilten und vom llofraum umgebenen Hauptansicht, durch Kandelaber und darüber sitzende Tauben eingefalst, auf der Höhe aber von Mond und Stern

Metroun und Göltermutter. 487

oder Sonne bekrönt. Die an der Spitze des Kegels heraustretende Tänia (vgl. no. 47) ist ungewöhnlich. Als Umsehrift das übliche Kawsv Kurgwv. Nach einem Ori- ginal der Kgl. Münzsammlung. Vgl. Millin Gal. 43, 171-173. Münter Göttin von Paphos Taf. IV. Lajard Culte de Venus pl. I, 10-12. Gerhard Abh. Kunst der Phönicier (Berl. Akad. 1846) S. 31.

42. Ähnliches Idol von Mond und Stern, Ähre und Mohn umgeben, dem Sitzbild no. 10 fast durchaus, nur mit dem Unterschied entsprechend, dals die dort Kopfstück und Modius andeutende Begrenzung hier als ein einziger Ke- gelaufsatz erscheint. Aarneol der Stoschischen Sammlung (Winck. Deser. VI, 58: „Pharus”), in Tölken’s Verzeichnifs III, 1, 13.

13. 14. Pyramidales Idol, angeblich cexlieischer Münzen, durch das Beiwerk von Trauben näher bezeichnet; das Exemplar no. 14 unterscheidet sich von dem er- steren durch je einen Griff, durch welchen es tragbar wird. Mit dem Buchstaben A, der auf die Iydische Stadt Daldis rathen liefs. Nach Mionnet Suppl. VII, pl. 8, 4 und Luynes Choix pl. XI, 1. Vgl. Panofka Antikenkranz (Winckelm. Fest-Pro- gramm 1845) no. 3.4. Eine ähnliche Münze der Prokesch - Östenschen : Sammlung ist in der Archäol. Zeitung II, 22, 38 als kyprisch angegeben.

15. Ähnliche Pyramide als Aufsatz eines in ähnlichen Münzen zum Theil auch sichtlicheren Untersatzes, mit darin befindlichem Bildwerk des von einem Löwen getragenen Sardanapallos, dessen Grabmal hiedurch dargestellt ist; auf der Spitze ein Adler als Zeichen der Apotheose. Münztypus von Tarsos. Nach Ro- chette Hercule assyrien pl. IV, 2. Vgl. ebd. no. 1. 3. 4.

16-19. Idole in Säulenform.

16. Säule auf Untersatz, von Löwen umgeben, als obere Verzierung des sogenannten Löwenthors zu Mykenä bekannt. Die Säule ist nach unten verjüngt, wie auch in ephesischen Idolen (no. 18) der Fall ist, darf aber nichtsdestoweniger als Apollobild gedacht werden. Vgl. oben Anm. 27. 43. und mein Programm My- ken. Alterthümer 1850 S. 10. Nach Gell Argolis pl. X. (Müller Denkm. I, 1, 1) und Göttling N. Rhein. Mus. I. S. 169.

17. Apollo Agyieus in Gestalt eines aufrecht stehenden und mit Bändern umbundenen Säulenkegels, auf einem Untersatz, Münze von Ambrakia, nach Pel- lerin P. et.V. I, 12,1 (Müller Denkm. I, 1, 2).

18. Artemis in Art des ephesischen Idols, unterwärts aus einem umge- kehrten Säulenkegel entstanden. Münze von Hierapolis, nach Gerhard Antike Bildw. Taf. 308, 2. Dieselbe Verjüngung nach unten findet sich auch auf einer Münze von Tarsos bei Sestini num. IX, 12 und sonst hie und da.

49. Palladion, unterwärts aus einer mit Schiffsschnäbeln verzierten Säule gebildet. Münze von Melos, nach Pellerin pl. CIV, 4. Vgl. Archäol. Zeitung III, S. 32 („Nachbildung der Chalkiökos?”). Von no. 20. war bereits oben, zugleich mit no. 2-4 die Rede.

488 GERHARD

Tafel II. Omrsatos, MurTerGöTTInnEn UND DOPPELSTEINE.

1. Delphischer Omphalos, ein netzumwundener Kegelstein von menschlicher Gröfse, zu dessen Seiten ein Lorbeerbaum steht; Orestes, der zu diesem Götter- bild sich geflüchtet hat, umfalst es ein Schwert haltend mit beiden Armen. Aus einem vormals dem Cav. Lamberti zu Neapel gehörigen Vasenbild. Nach Jahn Vasenbilder I, 1. S. 5 ff.

2. Derselbe Omphalos, als Götterstein von gedrückt ovaler Form, ist unterhalb eines hohen Dreifulses aufgestellt, Orestes daran gelehnt. Aus einem in Kopenhagen befindlichen und von Thorlacius edirten Vasenbild, nach Müller Denkm. II, 13, 148. Vgl. Millin Gal. 171, 623. Rochette Mon. XXXV, p. 188. Müller Denkm. II, 148. Frau auf Schwan bei Laborde Vases II, 28. Inghir. Vasi 1140235:

3. Idäische Aphrodite als Muttergöttin: ein von zwei Rindern im Festzug getragenes leicht bekleidetes Idol, kenntlich als Aphrodite durch leichte zum Theil abgestreifte und linkerseits tanzmälsig erhobene Bekleidung, wie durch die der Brust angenäherte rechte Hand, als mütterliche Göttin alles Erschaffenen durch die am Kalathos ihres Hauptes aufsteigenden Sphinx- und Löwenpaare. Erz- figur aus dem sogenannten Grabmal Achills: Lechevalier Voyage de la Troade pl. 23. Vol. II, p. 320 ss.

4. Löwe in der Hand Hera’s: nach der Gefälsmalerei einer das Urtheil des Paris darstellenden Schale: Gerhard Bildw. Taf. 33. Berlins Bildw. no. 1029.

5. Löwenfell als Kopfbedeckung Athenens: Statue der Villa Albani, nach Braun Tages (1839) Taf. V.

6. Göttermutter und zwei Dämonen, deren Köpfe auf den Schul- tern dieses mit Modius und Halsband geschmückten Brustbilds verzierungsweise haften. Thonbild zu Syrakus, zuerst von Avolio (Fatture in argilla XII, 4), dann von Panofka als Harmonia mit den Dioskuren bekannt gemacht (Archäol. Zeitung 11,27, 178.183 48).

7. Brennender Dreifuls zwischen zwei Säulen, welche von einer Himmelskugel, darüber von je einem Stern überragt sind; zwischen den Sternen ist ein Halbmond, an den Säulen je ein Speer und ein Schwert mit krummem Griff angebracht; an der Sphära bleiben verschiedene Abzeichen räthselhaft. Chalcedon im Besitz des Herausgebers, in doppelter Grölse gezeichnet.

8. Sitzbild der Göttermutter von Myra, in die Zweige eines Baums gestellt, an dessen Fulse jederseits ein Kabir oder Daktyl mit erhobenem Hammer bemerkt wird. Nach Revue numism. 1849 pl. 15, 1.

9. Ambrosische Steine des Hafens von Tyrus: zwei auf gemeinsamem Untersitz aufgestellte, oberwärts rundliche Stelen, neben denen ein dreifulsähnlicher

Metroon und Göttermutter. 489

brennender Altar. Münze von Tyrus. Nach Rochette Hereule assyrien pl. III, 2. vgl. ebd. I, p. 172. Eckhel D.N. III, 389 s. Akerman Numismatic Journal I, p- 223 s.

10. Zwei Pyramiden, über denen ein Stern zu sehen ist, auf der Höhe eines Altar. Münze von Zaba in Karien. Pellerin P. et V.II, 85, 24.

11. Idol in Form eines abgestumpften Kegels mit Umgebung zweier Tra- banten oder priesterlichen Gestalten im Inneren eines Heiligthums, welches unten die Beischrift XaAxıdewv trägt. Münze von Chalkis in Euböa, nach Sestini Med. Fontana Il, tav. V,18. Ohne die Nebenfiguren bei Pellerin II, 80, 76.

Tafel II. Däpvauısche Inore.

Auf dieser Tafel sind in zwei Drittheil der originalen Gröfse zwei Thon- figuren abgebildet, welche sich im Besitz des Professor Z. Rofs zu Halle befinden. Aus der Umgegend von Platää herrührend erinnern sie zunächst an die kithäro- nische Hera und deren mit aller Einfalt alter Naturreligion festlich gefeierten Zwist, dem alljährlich eine Erneuerung des Ehebundes von Zeus und Hera sich anschlols. Der Name des Dädala-Festes, der diesem drastisch gefeierten ieoos yanos (oben Anm. 72) gegeben wurde, erinnert zugleich an die dädalische Kunst, zu de- ren Charakteristik diese und ähnliche Schnitz- oder Thonbilder besonders sich eignen. Zu menschenähnlicher Bildung aus Idolen von Baum- oder Bretgestalt, Säulen oder Platten hervorgegangen, wie die vorherigen Tafeln deren nachwiesen, erinnert das erste der hier vorliegenden Idole (1-3) an jene erstere rundliche, das zweite (4-6) an die bretähnliche Gestalt, die uns namentlich von der sami- schen Hera (ravis: Callimach. Fr. 105. Müller Handb. 66, 1) bezeugt wird. Hiezu ist denn bei noch mangelnder Glieferung der Körpertheile und Extremitäten Son- derung des Kopfes und Haars von dem mit allerlei Streifen und Strichen, wie auch mit Farbenspuren, versehenen Körper getreten. Man unterscheidet im erst- gedachten Idol (1-3) einen vom Kalathos bedeckten und mit Haarzöpfen begleiteten Kopf, dessen Antlitz jedoch roh genug ist um eher die Vermuthung einer schaf- ähnlichen Hera Ammonia (Paus. V, 15, 7. Vgl. Archäol. Zeit. 1850 Taf. XV, 3. S. 152, 13) als einer rein menschlich gedachten zu begründen. Im zweiten Idol (4-6) dagegen bedarf es der Vergleichung mit dem vorigen um überhaupt von der Sonderung des Kopfes sich zu überzeugen, dagegen diesem Idol ein grölserer Reich- thum von Verzierungen zu Statten kommt. An der Stelle der Brust könnten Sonne, Mond und drei Sterne gemeint sein, dagegen zu bezweifeln steht, ob der Bildner mit den wellenförmigen Strichen, welche am Untertheil wie am Obertheil der Fi- gur reichlich vorhanden sind, Haare andeuten wollte.

Philos.-histor. Kl. 1849. Q qq

490 GexHarn Metroon und Göttermutter.

Tafel IV. GÖöTTERMUTTER ALS GRABESGÖTTIN.

Das Relief von gebrannter Erde, welches hier (no. 1) in zwei Dritt- theil der originalen Gröfse gezeichnet ist, rührt aus Gnathia (Fasano) her und ward von Hrn. Panofka im Jahr 1847 zu Neapel für das hiesige Kgl. Museum erworben. Den Untersuchungen über die Göttermutter wird es als ein, den Grä- beridolen der Athene Polias (Anm. 46) vergleichbares, augenfälliges Zeugnils hier angereiht, wie ein als Demeter oder als sonstige chthonische Göttin gemeintes Sitzbild in Gestalt und Verehrung der ihr ursprünglich gleichnamigen und gleich- geltenden (Anm. 26) Göttermutter entspricht, dergestalt dafs eine den seltsamen Kopfputz andeutende Benennung wie die einer Demeter Kidaria (Paus. VII, 45, 1. Preller Demeter S. 169) beiden Götterbegriffen zugleich sich eignen dürfte. Thronend, bekleidet, mit langem Mantel verschleiert und mit einer spitzen Mütze nach unteritalischer Sitte bedeckt, ist eine Göttin sichtlich auf der Höhe eines mehrere Stufen überragenden Altars oder sonstigen einfachen Sitzes; sie hält eine Schale in der Rechten und ein Ei (Mon. d. Inst. IV, 3. Ann. XVI, p. 142) oder dem ähnliche Frucht in der Linken. Dieser Göttin zur Seite ist nach rechtshin als schmückende Nebenfigur ihres Heiligthums auf niedrigerem Untersatz eine priesterliche Jungfrau beigesellt, welche der Göttin einen Apfel entgegenhält; sie statuarisch zu fassen, wird auch durch die mangelnde Angabe ihrer Fülse uns nahe gelegt. Dagegen ist links von derselben Göttin auf hohem Lager ausgestreckt eine bekleidete weibliche Gestalt zu erblicken, die wir kaum anders als eine im heiligen Raum ihrer Schutzgöttin bestattete und demnächst heroisirt in deren un- mittelbarer Nähe hier dargestellte Verstorbene betrachten können. Mit dieser Voraussetzung ist auch das räthselhafte Attribut in ihrer Rechten wohl vereinbar, sofern wir, absechend von der Möglichkeit dafs ein Spiegel oder sonst ein ver- stümmeltes Geräth damit gemeint sei, einen nicht sonderlich deutlichen aber wohl erhaltenen Vogel darin erkennen, wie er (als aphrodisische Taube, als Ausdruck jugendlichen Scherzes, als Sinnbild des flüchtigen Lebens oder wie sonst verständ- lich) Darstellungen abgeschiedener Personen in ähnlicher Weise nicht selten beigeht. Die somit beschriebene Figurengruppe ist wie von einem Teppich umgeben und mit vier ionischen Säulen eingefalst; die ganze Platte mit ihrem in stark vertief- ten Grund eingelassenen und auf zwei Fülsen ruhenden farbigen Bildwerk, war auf einem zugleich gefundenen Tisch aufgestellt, dessen Zeichnung in stärker ver- kleinertem Mafsstab unter no. 2 auf derselben Tafel ebenfalls beifolgt.

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Über eine Cista myslica des brittischen Museums. an Hm GERHARD.

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[Gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 14. Mai 1849.]

E.. Erzgefäfs, welches die in der Einleitung zu meinen „Etruskischen Spie- geln” zusammengestellte Reihe der sogenannten mystischen Cisten von Erz(!) vermehrt, ward im Anfang des Jahrs 1846 bei dem Kunsthändler Capranesi zu Rom von mir besichtigt, und zwar gab dasselbe dem prüfenden Augen- schein bald als ein Denkmal sich kund, welches gleich manchen ähnlichen nur durch die mühsame und gewissenhafte Sorgfalt jenes kunsterfahrenen Mannes aus mangelhaften und zertrümmerten Überresten morschen Metalls zu der Gesammtheit eines gefälligen Kunstwerks wiedererstanden war. Eine Abbildung davon zu nehmen war, wie die Mifsgunst des Antikenhandels bereits seit längerer Zeit es mit sich bringt, untersagt und aus gleicher Be- wandtnifs blieb es unmöglich mit Sicherheit zu erfahren, ob jene neuent- deckte Cista, wie fast alle die früher entdeckten (?) und vermuthlich (°) auch diese, aus Präneste oder aus irgend einem andern Ort herrührt. Um so willkommner war theils die Jahr und Tag nachher mir zugegangene Nach- richt, dafs die Capranesi’sche Cista nach England versetzt sei, ıheils die bald darauf durch vielbewährte Gefälligkeit der Aufseher des brittischen Museums mir zugegangene (*) Abbildung desselben, welche zu näherer Er- örterung uns vorliegt.

Die cylinderförmigen Cisten von Erz, welche gleich der vorzüglich- sten unter ihnen, der vortrefflichen des Kircher’schen Museums (°), sowohl als Gehäuse eines allzeit darin gefundenen Metallspiegels (°), als auch haupt- sächlich wegen der in ihren Umkreis mit geübter Hand eingegrabenen Zeich- nungen uns wichtig sind, haben in Widerspruch mit der früherhin ihnen ausschliefslich beigelegten Mysterienbeziehung sich zum Theil nur als Be-

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492 GerHAnD über eine Cista mystlica

hälter männlichen oder weiblichen Badegeräths (7), zum Theil aber doch auch in der That als Gefälse bekundet, denen die Anwendung zu mystischen Gebräuchen theils durch ihren Inhalt (°) theils durch aufgeheftete mystische Deckelgruppen (?) unzweifelhaft zustand, und nur darüber konnte zuletzt noch die Frage sein ob eine solche Mysterienbeziehung den früher schlecht- hin so genannten mystischen Cisten blofs nachträglich aufgedrungen war oder auch ursprünglich zustand. Jene erstere Ansicht ward durch die bisher nir- gend mit Mysterien oder Unterweltsdienst verknüpft erschienene Auswahl der Gegenstände begünstigt welche, wie Argonautenfahrt und troische Sa- gen, zugleich mit palästrischen Darstellungen aus den bisher bekannten Ci- stabildern veröffentlicht war; dafs es aber auch ähnliche Cisten gab, welche solchem Zweck des Geheimdienstes bereits ursprünglich zugedacht waren, wird durch die Bildnereien der Capranesi’schen Cista augenfällig, in welcher, wenn nicht Mysteriengebräuche, doch unverkennbare Kultusgestalten baechi- scher Unterwrltsmächte erscheinen.

Hierüber sofort jeden Zweifel zu heben, fassen wir mitten aus der die Cista umgebenden Figurenreihe zuerst die sprechendste und zugleich schreckbarste der darin enthaltenen zwölf Gestalten ins Auge, nämlich die eines weinbekränzten, nackten und bartlosen Dämons, dessen zahnflet- schendes vielleicht auch behörntes Angesicht, verbunden mit der von seinen beiden Händen gefafsten umgekehrten Fackel, auch ohne Hammer und über- triebenes Profil, uns an den etruskischen Todesschergen Charon (!?) erin- nert. Eine Verbindung desselben mit den Gebräuchen der in Italien fast mehr als in Griechenland verbreiteten bacchischen Mysterien war schon aus früher entdeckten Denkmälern, namentlich tarquiniensischen Wandgemäl- den (!!), bekannt; nirgend aber war eine solche dämonische Todesgestalt so sichtlich wie hier mit Gestalten und Gruppen eingeweihter Sterblicher ver- bunden erschienen. Dem Dämon auf der von einem Baumstamm begrenzten linken Seite unsers Bildes gegenüber erblicken wir, von seinem Mantel um- kleidet, einen weinbekränzten Bacchuspriester, den ein mit ihm dem To- desdämon entgegentretendes Nlädchen ängstlich mit ihrer Rechten umfafst, während sie mit ihrer andern Hand den von ihm gereichten und mit Bändern umwundenen Thyrsus, ein sprechendes Symbol früh geübter bacchischer Einweihung, mit ihrem Führer zugleich ergriffen hält. Dieser bereits im Kindesalter den Schrecknissen des Todes entgegengesetzten Einweihung('?)

des brittischen Museums. 493

reiht andererseits von dem Todesdämon eine Scene elysischer Tänze sich an. Eine verhüllte bis über Haupt und Kinn bedeckte Tänzerin findet hier schattenähnlich einem weinbekränzten Satyr gegenüber zum Doppeltanz sich auf ähnliche Weise vereinigt, wie auch in etruskischen Wandmalereien (13) tanzende Paare die materielle Seligkeit des jenseitigen Lebens bezeichnen. Es folgt, wiederum bacchisches Laub in der Rechten erhebend, ein älterer bärtiger und übrigens in seinen Mantel gehüllter Bacchusdiener, dessen auf- schauender Blick und zuversichtliche Haltung einen absichtlichen Gegensatz zu der nächstfolgenden Darstellung bildet. Hier scheint nämlich in der sitzenden Figur eines oberhalb nackten bärtigen Mannes von düsterm An- sehn, der in seiner Linken ein Scepter hält und mit seiner Rechten eine matronenhaft vor ihm stehende bekleidete Frau traulich über der Hand am Knöchel (!*) falst, Pluto der Unterweltsgott mit seiner Gemahlin Proser- pina gemeint zu sein, womit es nicht unvereinbar ist nebenher einen Schild als Andeutung abgelegter und den Todesgöttern geweihter (!5) Waffen zu erblicken. Den Unterweltsgebietern naht, durch hohen Pflanzenwuchs ge- trennt, ein Jüngling mit vorgestrecktem rechten und mit aufgelegtem Ge- wandstück versehenem linken Arm. Ein anderer Jüngling, der eben vom stehenden Pferd herabgleitet, folgt nächstdem: eine Siegesgöltin bekränzt ihn mit Tänien und deutet dadurch, wie der Lorbeer auf Grabgefäfsen (6), die würdig vollendete Lebensbahn ihres der Unterwelt früh anheimgefallenen Schützlings an.

Bei solchem Inhalt der Bildnereien der Capranesi’schen Cista gewährt uns dieselbe im ersten aus dieser Gattung von Kunstdenkmälern zu Tage ge- fördertem Beispiel verbundener palästrischer, bacchischer und Grabesbezüge ein ganz ähnliches Verhältnils gemischter Anwendung ähnlicher Erzgefäfse, wie wir auch an den bewalten Thongeläfsen es kennen. Während in diesen Form und Darstellung ursprünglich nur einfachen palästrischen, hoch- zeitlichen oder sonstigen Scenen des Alltagslebens galten, nach lange be- folgter Beisetzung aber solchen schmückenden Hausgeräths in Grabeskam-

8 mern auch zur Darstellung von Einweihungs- und Grabesgebräuchen und zu unmittelbarer Anwendung für Grabeszwecke aufforderten (!’), haben auch jene berühmten eylindrischen Gehäuse nicht blofs als Behälter für Schrift- rollen, Badegeräthb und Frauenschnmuck, sondern, nach häufiger Beisetzung

solcher Serinia ('°), samt anderm Geräth das den Tocdten ins Grab gefolgt

494 GERHARD über eine Cista myslica

war, auch der Mysterienbildnerei Anlals und Spielraum gewährt, die wir im aufgehefteten Deckel der Kircher’schen und auch in den Bildnereien der Capranesi’schen Cista vorfinden. Dergleichen Erzgefälse als mystische Cisten

schlechthin zu bezeichnen war irrig; eben so willkürlich aber war es, eine

dann und wann schon ursprünglich ihnen zugedachte religiöse Bestimmung zum Grabesschmuck und eine darauf bezügliche bildliche Andeutung auf Mysteriensitte ihnen abzusprechen.

Anmerkungen.

(') Gerhard Etruskische Spiegel I, S.3-73. Taf. I-XIX.

(2) Ihrer zwölf sind in meinem gedachten Spiegelwerk abgebildet, von denen Mül- lers Handbuch $. 173, 3, selbst in dessen neuester Ausgabe, nur fünf kennt. Fast alle jene Cisten rühren bezeugtermalsen aus Präneste her; nur eine von der üblichen hohen Cylinderform beträchtlich abweichende volcentische im Museo Gregoriano (Etrusk. Spiegel I, 9-11) und eine noch verschiedenere, durch Bianchini bekannte, Pennaechi’sche Cista (Etr. Sp. I, 12. 13) ist andern Ursprungs. Volcentisch oder aus benachbarten Funden herrührend ist auch eine ohne Graffiti verbliebene kleine Cista meines Besitzes; dagegen die in Müller’s Handbuch S. 189 N. A. von Welcker erwähnte volcentische des Kunsthandels, soviel mir er- innerlich ist, auf willkürlicher Einpassung gewisser Gorgonenreliefs in eine Cistaform beruht.

(%) Laut brieflicher Mittheilung des Hrn. Fr. Capranesi, welche von etwanigen Nebenum- ständen des Fundes leider nichts zu besagen wulste.

(*) Durch besondere Gefälligkeit des Hrn. Sam. Birch.

(5) Kircher’sche oder Ficoroni’sche Cista: Müller Handh. 173, 3, 1. Gerhard Eir. Spie- gel I, S. ı4 ff. Taf. II. In der Gröfse des Originals sorgfältig gezeichnet ist dies vortreflliche Werk so eben zweimal erschienen: aus Bröndsteds Nachlals in Kopenhagen (Den Ficoroniske Cista. 1847), und neuerdings durch Emil Braun’s Sorgfalt von Rom aus in Leipzig (Die Fi- coronische Cista 1850).

(6) Metallspiegel als regelmäßsiger Inhalt ähnlicher Cisten und mit Wechselbezug der beiderseitigen Bildnerei: Etr. Sp. I. S. 4. Anm. 16.

(7) Behälter für Badegeräth, laut darin gefundenen Striegeln, Ölfläschchen, Kämmen, Nestnadeln und Schminkgefälsen: Etr. Spiegel I. S. 4. Anm. 17.

(8) Bacchische Thierfiguren wurden in der Borgianischen, äufserst wunderliche eines entschiedenen Mysterienbezugs in der Pennacchi’schen Cista gefunden. Vgl. Etr. Sp. I. S. 9, 46. 10, 49. 26, 61. 37 ff.

des brittischen Museums. 495

(°) Offenbaren Mysterienbezugs ist die aus einer Frau und zwei Satyrn gebildete feier- liche Deckelgruppe der Kircher’'schen Cista, der die frivolen bacchischen Gruppen zwei an- derer Cisten wohl entsprechen. Abg. in originaler Grölse bei Bröndsted Ficor. Cista Taf. V. Vgl. Etr. Sp. I. S. 15 ff.

(0) Charon, der Unterweltsscherge, verzerrten Angesichts, meist einen Hammer hal- tend, aus etruskischen Grabreliefs und Malereien zur Genüge bekannt: Müller Etrusker II, 100. Ambrosch De Charonte etrusco. 1837. Braun Ann. d. Inst. IX, 253 ss. Gerhard Archäol. Zei- tung III, 25. Abh. Etrusk. Gottheiten (Akad. 1815) Anm. 198.

(‘) Bacchischer Charon: phallisch und von einer Thyrsusträgerin begleitet auf einem etruskischen Stamnos des Kgl. Museums. Vgl. Neuerworbne Denkm. no. 1622. Ambrosch De Charonte tab. I. Braun Ann. IX, 272. Mon. d. Inst. II, 5.

(2) Frühe Einweihung in bacchische Mysterien ist aus Livius (XXXIX, 9: mater ado- lescentolum appellat se pro aegro eo vovisse.. Bacchis eum se initiaturam) für den Knaben bezeugt, dessen Einweihung zum Gesetz Anlals gab, ne quis maior viginti annis initiaretur (Liv. XXXIX, 13); griechische Inschriften aber weisen sogar Einweihungen zwei- und sie- benjähriger Knaben nach (Fabretti Inser. p. 425. 429. Eir. Spiegel I. S. 42. Anm. 53). Die Einweihungsscene eines Mädchens ist auf der problematischen Koller’schen Cista (Etr. Sp. I, 17. 18. $.59 f.), aber auch bei Tischbein Vases II, 12 abgebildet.

() Elysische Tänze: Monum. d. Inst. I, 32. 33. Ann. III, p. 331. Micali Storia tav. 68.

(14) Xeig’ mi zeoma. Vgl. Helena, von Menelaos geführt, auf einer nolanischen Amphora der Kgl. Sammlung (Berlins Bildwerke no. 851) u. a. m.

('°) Ähnlich die Weihung auf dem Harpyienmonument von Xanthos: Mon. d. Inst. IV, 3 (Archäol. Zeitung I, 4). Annali XVI, p. 146.

(%) So die Lockenbekränzung der Todtengenien, denen Siegsgöttinen zur Seite gehn, auf einem vatikanischen Sarkophag (Gerhard Antike Bildw. LXXV, 2. S. 315). Vgl. Beschrei- bung Rom’s I, S. 324.

(7) Wie solche Sitte erst aus den Gefälsmalereien Unteritaliens bekannt ist. Vgl. Rap- porto volcente p. 96 not. 937 ss.

('°) Scrinien, ein für Bücher und Salbkapseln (scrinia unguentorum Plin. H. N. XIII, ı) gleicherweise bezeugter Ausdruck. Vgl. Etr. Spiegel S. 9. 68.

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Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft ın China.

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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 11. Juli 1850.]

D. einst unwiderstehliche Kraft der Mongolen ward in China früher ge- brochen als in jedem anderen von ihnen eroberten Lande. Mit der sittli- chen Erschlaffung seiner Kaiser hatte die des eingewanderten Volkes Schritt gehalten, und etwa neunzig Jahre nachdem der grofse Chublai das ganze Mittelreich bemeistert, mufste Togon Temür bei nächtlicher Weile fliehen und jenseit der Grofsen Mauer sein Heil suchen. (!)

Dieser sein Lebelang unmündige Fürst, in dessen Namen eine Ironie des Schicksals das Wort Eisen (temür) wieder angebracht hatte, welches die Wurzel von Temudschin ist, (?) verträumte ein volles Menschenalter auf dem ‘Drachenihron’, den er als junger Knabe bestiegen. Die chinesische Geschichte sagt von ihm, was von den meisten Gewalthabern des Ostens gesagt werden kann: “Er kümmerte sich um nichts, wohnte tief im Palaste, und überliefs alle Geschäfte seinem ersten Minister. (?) Beiläufig wird auch bemerkt, dafs er Geschmack an mechanischen Künsten und an den Tänzen gefunden, welche seine Palastdamen bei religiösen Festen aufführten. Selbst dichterischer Phantasie scheint Togon Temür nicht ganz entbehrt zu haben,

(') Chublai hatte erst 1279 die Eroberung von Südchina vollendet, obgleich sein Kaiserti- tel von 1260 ab sich datirte,

(2) So führte der letzte Schattenkaiser des römischen Westreichs wieder den Namen R o- mulus. Temudschin heilst, wie das türkische „>, »+.3 timurdschi oder „>, demirdschi, ein Arbeiter in Eisen. Es war der erste und eigentliche Name des grolsen Tschinggis - Chan.

(3) ki wu ischuen, schin kiü kung tschung, mei sfe kiue tsäi-siang. Kang-kien-i-

tschi-lu‘ der königl. Bibl., Buch 92, Bl. 3. Philos.-histor. Kl. 1849. Rrr

498 Scuorm:

wenn anders eine Art Klagepsalm, den ihm Sanang Setsen auf seiner Flucht in den Mund legt, ganz oder theilweise als eigne Schöpfung des kaiserlichen Flüchtlings zu betrachten ist.

Die Regierungszeit dieses letzten Tschinggisiden in China war durch zahllose, bald unheilbringende, bald wenigstens schreckende Naturereignisse bezeichnet, für die Chinesen eben so viele Anzeigen des Himmels, dafs etwas im Reiche faul sei, oder die herrschende Dynastie ihrem Untergang entge- geneile. In keiner Periode gab es häufiger Blutregen, aus der Erde schla- gende Flammen, Bergstürze, am Nachthimmel emporwallende Feuerwolken, nächtliches Waffengeklirr in den Lüften, u.s.w. Zu den Störungen der Natur gesellten sich bald vielfache Empörungen und unermeßsliches Elend.

Längst hatten einzelne Banden Verzweifelter, zwar verheerend, aber planlos, in dem ungeheueren Reiche sich umgetrieben, als 1351 den Mongolen

ein gefährlicherer Feind in den sogenannten N Hung-kin d.i. 5 fe) rıN

Rothmützen, erwuchs. Allein auch sie waren nur plänkelnde Vorläufer des Hauptsturmes, oder zerrinnender Schaum oben auf dem todtbringenden Tranke, der bis auf den Grund des Gefäfses zu schlürfen blieb.

Eine trügerische Ruhe von mehreren Jahren, die nach Vernichtung der Rothmützen folgte, machte den Kaiser so sicher, dafs er seinen Lüsten und Lieblingszeitvertreiben mit erneutem Eifer sich zuwandte. Unter An-

pn 2 deren liefs er ein ‘Drachenschiff” ( BE 4 lung-tscheu) zimmern, das

aber nicht, wie die gleichbenannten Fahrzeuge scandinavischer Helden, den Sturmwogen des Oceans trotzen sollte, sondern zu schleichenden wollüsti- gen Fahrten auf einem kleinen See bestimmt war, welchen der riesige Lust- park des Kaisers einschlofs. Dies Fahrzeug soll ein Meisterwerk mechani- scher Kunst gewesen sein: es wurde von vier und zwanzig, ganz in Gold- stoff gekleideten Männern gerudert, hatte die Gestalt eines Drachen, und bewegte während der Fahrt Kopf, Augen, Maul, Schweif und Klauen auf täuschende Weise. Aufserdem besafs der Monarch eine merkwürdige gro- fse Wasserschlaguhr, vermuthlich von arabischer Erfindung und Arbeit, mit Figuren, deren Erscheinen die Stunden anzeigte.

Seit Anfertigung des “Drachenschiffes’ war ungefähr ein Jahr verflos- sen, als wiederum sogenannte ‘Räuber’ in den verschiedensten Gegenden

Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China. 499

des Reiches ihr Haupt erhoben. Endlich um die Mitte des Jahres 1355 trat ein gewisser Tschü-juan-tschang aus dem heutigen Fung-jang-fu, (t) bis dahin einfacher Mönch in einem einsam liegenden buddistischen Kloster, als Parteiführer mit in die Schranken. Dieser damals noch im Jünglings- alter stehende Held eröffnete, nicht blofs wider die Mongolen, sondern auch wider chinesische Empörer, denen es nicht um das Heil des Ganzen zu thun schien, einen dreizehnjährigen Vernichtungskrieg. Sein Wahlspruch lautete: “Beruhigung der Welt, Erlösung der Völker.(?) Alle Grausamkeit gegen Besiegte oder Gefangene war ihm verhalst; er bemübte sich, in jedem er- oberten Stücke Land die Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen hatte, empfahl den Bewohnern jeder Stadt, welche ihm ihre Thore öffnete, ruhige Fortsetzung ihrer Beschäftigungen, forderte sie auf, guten Muthes zu sein, und zwang Niemand, seinem Heere sich anzuschliefsen, das nur aus freiwilligen Kämpfern bestand.

Von Erregung oder Nährung eines allgemeinen Hasses gegen Tyran- nen, sofern sie Ausländer, war damals und überhaupt niemals die Rede ein Umstand, der mir sehr beachtenswerth scheint. Die entarteten Nach- kommen eines fremden, in China eingedrungenen Fürsten und seiner Strei- ter werden dort aus keinem anderen Standpunkte betrachtet, als jede ein- geborne, ächt chinesische Dynastiezur Zeitihressittlichen Ver- falls. Gilt es, solche abgestorbene Bäume auszurotten, so thut man dies immer mit gleichem Eifer und gleicher Erbitterung, mögen sie nun ange- stammt der chinesischen Erde gleichsam entwachsen oder von drau- fsen her nach China verpflanzt sein. Der Himmel selbst hatte den Mongo- len zeitweilige Herrschaft über das "Reich der Mitte’ verliehen; und es mufs- ten also die Fürsten aus Tschinggis-Chans Geschlechte geehrt werden wie

(!) Liegt am Hoai-ho in der vormaligen Provinz Kiang-nan.

(2?) an t’ien-hiä, kieu-seng min. Kang-kien ebds., Bl. 23. Um übrigens den Verdacht kos- mopolitischerBestrebungen von seinen Manen abzuwälzen, setzen wir hinzu, dals unter der Welt nichts als China, unter den Völkern nur das chinesische Volk zu verstehen. Schon den halb mythi- schen Fürsten Jü, der nach gewöhnlicher Annahme von 2205 bis 2195 vor u. Z. regierte, lälst eine uralte, stereotyp gewordene Sage bei irgend einer Gelegenheit äufsern: er habe vom Hinmel die Mission empfangen, mit Aufgebot aller Seelenkräfte den zehntausend Völkern zu helfen: ke li” 1 ldo wan-min.

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500 ScHuorr:

ein einheimisches Regentenhaus, bis sie durch ihr eignes Gebaren die himm- lische Gnade verscherzt hatten.

Eine bei den meisten Völkern sich vordrängende Befürchtung, dafs nämlich fremde Eroberer die Nationalität der Besiegten untergraben könn- ten, fällt in China ganz hinweg. Der Eingeborne weils aus seiner Landesge- schichte, dafs kein ausländisches Volk, auch wenn es Jahrhunderte über China oder Theile Chinas geherrscht, jemals fähig gewesen ist, an Sitten, Gebräuchen, Denkungsart der Unterdrückten zu rütteln, dafs der Barbar vielmehr, wie öfter ausgesprochen worden, auf chinesischem Boden die eigne Volksthümlichkeit unwillkürlich ablegt und, ohne mit dem unter- worfenen Volke sich zu vermischen, selber zum Chinesen wird. (?)

Die Ereignisse will ich nur kurz berühren. Da Tschü-juan-tschang in der ersten Zeit seines kriegerischen Wirkens zu schwach war, um sofort auf Peking marschiren zu können, ihm auch für jeden Erfolg daran gelegen sein mufste, dafs er sich den Rücken frei hielt: so suchte er vor Allem seine Macht im südlichen China zu begründen und mit dem Riesenstrome Jang- tsfe-kiang, der so oft die Scheide zwischen Nord und Süd gewesen, sich zu decken. Erst nach Erstürmung (oder freiwilliger Übergabe) der bedeutend- sten festen Plätze des Südens wendete das unterdefs furchtbar angewachsene Befreiungsheer sich nach Schan-tung, und als es auch dieser Provinz Mei- ster war, geschah der grofse Sturm auf die Residenz. Seines Palastes nur noch wenige Siunden Herr, packte der Kaiser in angstvoller Hast Prinzen und Harem zusammen, liefs in stiller Mitternacht eine Pforte öffnen, und floh nordwärts. (?) Dabei thaten ihm zwei Grofswürdenträger Vorschub, die den Palast noch eine Zeit lang mit ihrer Mannschaft besetzt hielten.

(') Auch die seit zwei Jahrhunderten über China herrschenden Mandschu aus Tungusien sind bis heute unvermischt geblieben und doch in Sprache, Sitten, Geistesrichtung zu Chine- sen geworden.

(2) Die erwähnte Pforte wird von den Chinesen Kien-te’ d.i. indefessa virtus ge- nannt. Sanang Setsen giebt ihr aber den mongolischen Namen Multuschi, der vielleicht mit Entlaufen, Entweichung zu übersetzen ist; denn das mongolische Wort multuktschin der Hase scheint gleiche Wurzel zu haben. Man vergleiche in derselben Sprache multul- chu abziehen, abstreifen, entkleiden. Die drei nothwendigen Gonsonanten m (p)It begegnen uns wieder in dem hebr. D>% und ©>D und in Kernwörtern des indisch - europäischen Stammes. Alles führt auf eine Urbedeutung wie glatt und schlüpfrig zurück.

Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China. 501

Dem Juan-sfe-lui-pien (Buch 10, Bl. 53) zufolge (') hatten die zwei mongolischen Grofsen im kritischen Augenblick ihren unglücklichen Gebie- ter aufgefordert, mit allen seinen Getreuen einen rühmlichen Tod im Kam- pfe zu suchen. “Dieses Reich’ so sprachen sie unter Thränen ‘ist das Reich deines grofsen Ahnherrn Chublai! (?) Du mufst es mit deinem Tode behaupten. Lafs uns alle waffenfähigen Leute, die noch übrig, zusammen- rufen, einen Ausfall thun und kämpfend untergehn!” Für diesen, des alt- mongolischen Heldensinnes würdigen Zuruf blieb der elende Kaiser taub: er antwortete mit keiner Sylbe und schlich bei nächtlicher Weile davon.

Fürst Sanang Seisen, der sonst liebenswürdige, aber für seine Ahnen (auch er stammte von Tschinggis) zu parteiisch eingenommene mongolische Chronist, stellt den edlen Tschü-juan-tschang als einen schlauen Verräther dar, der sich in des Chagans Vertrauen eingenistet und dessen treuergeben- ste Räthe gestürzt habe, um seine ruchlosen Anschläge desto sicherer auszu- führen. Von dem Allen weifs die chinesische Überlieferung nichts: dieser zufolge hat der Befreier Chinas überhaupt niemals ein kaiserliches Amt be- kleidet, ist mit der höchsten Person nie auch nur in entfernte Berührung gekommen, und von seinem ersten Auftreten an erklärter und ehrlicher Em- pörer gewesen.

Sanang Setsen läfst nun den gestürzten Kaiser, wie schon angedeutet, auf seinem Abzuge in halbrythmische Klagen ausbrechen, die ich, von

(*) Dieses Werk, von welchem die königl. Bibliothek ein Exemplar besitzt, ist eine chi- nesisch verfalste, mit den ältesten Traditionen der Mongolen anhebende Geschichte ihrer Dy- nastie in China, Zuerst gedruckt im 38ten der Jahre Kang-hi (1699). Der Titel heifst:

“nach Materien geordnete Begebenheiten der Dynastie IT an denn diesen chinesischen

Namen, der mit grols, ausgezeichnet übersetzt werden kann, gab sich das in China »

regierende mongol. Kaiserhaus. So betiteln die Mandschu ihr Herrschergeschlecht YB

Ts’ing das Reine oder Durchlauchtige; und die Oberhäupter eines mit ihnen nahe ver- wandten Stammes, welcher vor der mongolischen Invasion Nordchina besals, hatten sich wäh-

rend dieser Periode a Kin die Goldnen genannt.

@) e Tr za + IE 7, T Vien-hia tsche Schi-tsu tschi

?ien-hia. Der posthume chinesische Name des Chublai ist Schi-tsü, was Ahnherr des Geschlechtes bedeutet.

502 Scsortm:

Schmidts Übersetzung etwas abweichend, hier folgen lasse. Welches auch der Ursprung dieser kurzen Jeremiade sei: (!) sie schildert meisterlich den kindischen gekrönten Wüstling, dessen Gemüth seine zwei prächtigen Resi- denzen beinahe vollständig ausfüllen:

‘Du meine edle und grofse Stadt Daitu, mit mannigfachen Kostbar- keiten geschmückt! (?)

Du herrlicher kühler Sommersitz, (?) mein Schangdu Keibung Kürdü-Balgasun!

Du Lust meiner göttlichen Ahnen, gelbe Ebene (*) von Schangdu!

Ich liefs mich täuschen und meine grofse Herrschaft war dahin!

Du mein Daitu, aus neunerlei edlen Stoffen erbaut! (°)

Mein Schangdu Keibung, du Verein aller Vollkommenheiten!

Mein hoher Name und Ruhm, als Herr und Chagan der Welt!

Wenn ich früh erwachte und aus der Höhe hinabschaute, drang wür- ziger Duft zu mir empor.

Wohin ich nur meine Blicke warf Alles war Schönheit und Herrlichkeit!

(1) Hat Sanang Setsen selber sie verfasst, so kann man vielleicht sagen, dafs er hier un- freiwillig ironisch geworden ist.

(2) Daitu, genauer T’ai-tu d.i. grolse oder erhabene Residenz, hiels eine durch Chublai erbaute Stadt, nur drei chinesische Stadien von Tschung-tu d.i. mittlere Resi- denz, wie damals Peking benannt ward. Sie war Winteraufenthalt der Kaiser.

(3) Dieser Sommeraufenthalt der Kaiser lag jenseit der Grolsen Mauer unter 42° 25’ Breite und 114° Länge von Paris, in einer romantischen Gebirgsgegend des heutigen Gebietes Tschachar, und war ebenfalls von Chublai gegründet. Sanang Setsen drängt hier drei Namen zusammen, welche dieser herrliche Ort führte: die beiden chinesischen, genauer ge- schrieben Schang-tu d.i. obere Residenz, und Kai-ping (etwa Friedenstadt), und den mongolischen Kürdü-Balgasun, wörtlich Rad-Stadt, vermuthlich eine Anspie- lung auf die Frömmigkeit der Mongolenkaiser, welche von ihren lamaitischen Geistlichen “Umdreher des Rades der heiligen Lehre’ d. i. "Verbreiter des heiligen Glaubens’ betitelt wur- den. Doch ist das Rad, kürdü, tibetisch kor-lo, auch überhaupt Symbol der höchsten Ge- walt. Im Sanskrit heilst rat tschakrawartin Radumdreher s. v. a. höchster Monarch, Herr der Erde.

(*) Gelbe Ebene oder Steppe, im Texte Schara Tala, was Schmidt unübersetzt gelassen.

(©) D.i. aus neunerlei kostbaren Stein- und Metallarten. Gewöhnlich rechnet man de- ren sieben.

Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China. 503

Mein Daitu, von dem grofsmächtigen Chublai erbaut, du Ort, wo man mülsig sein konnte ohne Überdrufs! (!)

Ihr meine in Geschäften eifrige Grolsen und Räthe! du mein schwar- zes (gemeines) Volk!(?)

Mein Unglück war es, dafs ich auf die weisen Ermahnungen des Ilagu Tschingsang nicht achtete; (?)

Mein Blödsinn, dafs ich dem gleifsnerischen (wie eine Schlange sich windenden) Dschüge Nojan vertraute.

In strafbarem Irrwahn verbannte ich meinen edeln Obergeistlichen.

In unseliger Verblendung tödtete ich den verständigen Toktaga Taischi!

Mein erlauchter Name als weitgebietender Herrscher!

Mein Daitu, wo Heiligkeit thronte du prachtvoll erbaut von dem verewigten Chublai!

Alles, Alles ist mir entrissen!

Der Verrath des Chinesen Dschüge Nojan hat mir nichts gelassen als meinen schlechten Namen Togon Temür!’

Tschü -juan-tschang, jetzt erster Kaiser eines neuen Herrscherhau- ses, (*) verfolgte mit seinen Feldherrn die flüchtigen Tschinggisiden bis an den Pe-ho (Nordstrom,) d.i. den Kerulen-Argun, nahm einen Enkel Togon Temürs gefangen und kehrte zurück. Der Exkaiser aber baute sich am Kerulen eine Stadt, die er aus Ingrimm Bars-Chotan (Tigerstadt) nannte. Hier lebte er noch zwei Jahre und starb 1370 im 51. Lebensjahre. Der

(‘) Eine freilich unbezahlbare Errungenschaft.

(2) Ein kleiner Winkel des kaiserlichen Herzens war demnach sogar dem Volke geblie- ben. Es versteht sich übrigens, dafs nur die Mongolen gemeint sind.

() "Evssrı yatg mus Toüro rn FUgavVIÖL

Nosyuc, rois diAosı ur memorSevat.

Aeschylus im Prometheus, V. 224-25.— Wegen dieser und der folgenden historischen An- spielungen verweise ich übrigens auf Schmidts Ausgabe des Sanang Setsen, die bekanntlich von deutscher Übersetzung begleitet ist. Unter Dschüge Nojan ist eben Tschü- juan - tschang zu verstehen.

(*) Der 2)3 Ming oder Leuchtenden, unter denen auch, beiläufig bemerkt, das Licht

des Christenthums in China angezündet oder wieder angezündet wurde.

504 Scnorr: Die letzten Jahre der Mongolenherrschaft in China.

Befreier Chinas war so grofsmüthig, seinem der Zeitlichkeit entrückten Feinde den posthumen chinesischen Namen Schün-ti zuzuerkennen, was gehorsamer Kaiser bedeutet, “denn (so sagt die Geschichte) er bewies sich dem Himmel gehorsam, indem er aus China abzog.” Seinem Enkel Maitribala (') verlieh er die Vasallenwürde.

Und das neue heimische Fürstenhaus war auf “hunderttausend Mal hunderttausend Jahre’ befestigt, bis das Schwert der Mandschu (um die Mitte unsers 17. Jahrhunderts) von dieser entsetzlichen Zahl einen stattli- chen Bruchtheil als unnöthig weghieb. Und der alte Kreislauf erneuerte sich und wird bis ans Ende der Zeiten noch unzählige Male sich erneuern, wenn nicht europäische Politik auch im “Reiche der Mitte! Wurzel schlägt.

(‘) Dieser Name, augenscheinlich sanskritisch, kann nichts anders heilsen als Kind (näm- lich geistliches) des Maitreja, d. i. des Buddas der nächsten Weltperiode, und steht also für Aerzrsıtt Maitrejabäla.

Das Reich Karachataı oder Si-Liao.

Fb SCHOTT.

mmnnnmnnaNNWUN

[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. März 1850.]

I. zwölften Jahrhundert u. Z. gab es, nach den Zeugnissen westasiatischer und chinesischer Schriftsteller, ein heidnisches Reich Innerasiens, das öfter mit Charefm-Schahen glücklich kämpfte und einem der gewaltigsten Seld- schuken-Sultane eine furchtbare Niederlage beibrachte. Es wird in den westasiatischen Quellen Kara-Chatai d.i. Schwarz-Chatai genannt, und die Länder, die es hauptsächlich umfafste (Kaschgar, Jerkend, Chotan) bildeten seit 1228 den gröfseren Theil der Staten des Tschagatai.(!) Im selben Jahre, ein Jahrzehent nach Einverleibung aller dieser Länder in das mongolische Weltreich, wurde ein Karachatajer hohen Ranges Stamm- herr einer eigenen Dynastie in Kerman, die aber von den persischen Mon- golen abhängig ward und bis 1306 fortvegetirte.

Bei dem osttürkischen Schriftsteller Abulgafi (er lebte im 17. Jahr- hundert) geschieht der Karachatajer an mancher Stelle Erwähnung. Es mufs aber hier erinnert werden, dafs der sonst eben so gelehrte als tapfere Sultan von Charefm in der Erdbeschreibung nicht sehr beschlagen war, und dafs sein "Türkenstammbaum’ erst um Tschinggis-Chans Zeit einen geschicht- lichen Charakter erhält. Vor Tschinggis-Chan ist Alles ein Gewebe von Sagen, ohne schärfere Völkertrennung, und die verworrensten Begriffe von Ländern, wohin der Islam nicht gedrungen ist, kundgebend. Schon Oguf, der uralte mythische Welteroberer, dem selbst Egypten und Syrien unter-

('‘) Man hüte sich, das Wort Chatai als Bestandtheil dieses mongolischen Namens zu be- trachten. Der Sohn des großsen Tschinggis war von “weilser Farbe benannt, die Symbol des Adels und Ruhmes ist: tschaga weils; taı begabt. So bedeutet tschagalachu weils machen und rühmen, preisen. Im Türkischen hat man Kl 55» sein Antlitz ist weils (er ist mit Ehre, mit Sieg gekrönt) und eines Angesicht weils machen «X#) 5 (ihm Ehre anthun, ihn feiern).

Philos. -histor. Kl. 1849. Sss

506 Scsortrt:

liegen müssen, (1) bemeistert sich bei unserm Abulgafi eines Reiches Kara- chatai, nachdem China und Tibet bezwungen sind. “Karachatai’ so sagt er (S. 12 der kafaner Ausgabe) “ist ebenfalls ein grofses Land. Die Ein- gebornen sind von Gesicht so schwarz wie die Hindus. Es dehnt sich zwi- schen Hindustan und China (so!) und am Rande des Weltmeers aus. Dem Lande Tangut liegt es zur Winterzeit in der Gegend wo die Sonne aufgeht, zur Sommerzeit aber im Kuschluk.

Es versetzt also unser Verfasser das fragliche Land entweder in das südwestliche China, oder nach Hinterindien. Die türkischen Worte wssil an als Wull sn (ls u ll us Ss erlauben keine an- dere Deutung. (?) Aller Wahrscheinlichkeit nach fufst diese erschreckliche Translocation auf einer Verwechslung mit Karadschang (dem Karazan des Marco Polo), wie die mongolischen Eroberer Chinas einen Theil von Jün-nan, also der südwestlichsten Provinz des Landes, benannten. Der Name Karadschang war dem chinesischen Namen U-Man d.i. “schwarze Südbarbaren’, nachgebildet; denn es wird ausdrücklich gesagt, dafs ein Theil der Eingebornen dieser Gegend von schwarzer Farbe gewesen. (?)

Die Hauptstelle über Abkunft und frühere Schicksale der Karachata- jer finden wir S. 29-30 der kafaner Ausgabe. Daselbst sagt der ehrwür- dige Sultan: “Es giebt zweierlei Chatai, von denen das eine Karachatai heifst. Einst entzweiten sich viele Chatajer mit ihrem Fürsten, wanderten aus und kamen zunächst ins Land der Kirgifen, wo sie als Fremde räuberisch an- gegriffen wurden. Von dort zogen sie weiter nach Idil, bauten eine Stadt, besäten und bevölkerten das Land. Verarmte und hungernde Leute aus allen Gegenden liefsen sich unter ihnen nieder, und so wurden sie ein Volk von 40000 Familien. Um jene Zeit entstand ein grofses Reich Dschurd-

(') Der Verf. des Dschihännumä läßst (S. 370 der in Constantinopel gedruckten Aus- gabe) den Ogul im Westen nicht über Buchara hinauskommen. Auch unterwirft er bei ihm nur die von Mogul und Tatar abgeleiteten Völker, nicht die Chinesen und Tibeter.

(2) (rs kuschluk ist die Mitte zwischen Sonnenaufgang und Mittag. Karachatai sollte den Tangutern (Tibetern) in derjenigen Himmelsgegend liegen, wo die Sonne im Win- ter aufgeht, im Sommer aber schon das Kuschluk einnimmt, also im Südosten.

(3) Hier existirte einst das Reich Ta-li, an welches der heutige Distriet Ta-li-fu noch erinnert. Vergl. Ritters Erdkunde, Asien, B. III, S. 733 und 741-744.

Das Reich Karachalai oder Si-Liao. 807

.schit, dessen König den von Chatai (!) überwand und tödtete und seine Staten an sich rifs. Da flüchtete ein Grofser des erschlagenen Königs, Nuschi Taifu, (2) um 513 (1119-20 u. Z.) mit vielen Gefährten und vielem Volke ins Kirgifenland und von dort zu den Chatajern von Idil. Er war ein klu- ger und weiser Mann, dessen Ruf nach einigen Jahren überall hin sich ver- breitet hatte. Nun gab es in der Stadt Balasgun einen Chan vom Stamme Afrasiab, seines Namens Iek. In den Umgebungen jener Stadt hausten viele (nomadische) Türken, besonders vom Stamme Kangly, welche das Land verwüsteten und die Erndten aufzehrten. Ilek schickte einen Gesand- ten an den aus Chatai gekommenen Grofsen (in Idil), sprach ihn um Hülfe an, und gelobte, ihm dafür sein Reich abzutreten. Der Beg aus Chatai folgte dieser Einladung, übernahm die Herrschaft, und machte den (bishe- rigen) Chan Ilek zu seinem Minister. Darauf legte er sich den Namen Kurchan bei, was in der Chatajersprache grofser Padischah bedeutet. Er eroberte Andedschan (Fergana), und zwang Samarkand zu jährlichem Tribute. Einen seiner Feldherren, Namens Arif, schickte er gegen Urgendsch, dessen König Afif (Atsy[?) einer der Charefm-Schahe, in Gefangenschaft gerieth (?), und erst nachdem er zu jährlichem Tribute von 20000 Gold- stücken sich verpflichtet hatte, seine Freiheit wieder erhielt. Dieser Schah zahlte die angelobte Summe so lange er lebte, desgleichen sein Sohn und Nachfolger. Der Sohn (?) des letzteren aber, Sultan Muhammed, stellte den Tribut ein und benahm sich feindselig. (*) Sultan Sandschar überzog den Kurchan einmal mit Krieg, erlitt aber eine solche Niederlage, dafs sein ganzes Heer aufgerieben ward und er selbst nach Merw (in Chorasan) flie- hen mulste.

(‘) Nicht Karachatai, wie fälschlich im Texte steht. (2) Andere Lesart Nusi Taigir, oder Taigir-ili.

(3) In dieser skizzenhaften Erzählung ist Mehreres falsch. Den Atsy[ von Charelm (1127-55) zu bekriegen, hatten die Karachatajer keine Veranlassung; er wurde als aufrühri- scher Statthalter von Sultan Sandschar gezüchtigt. Sein Nachfolger Il-Arslan (bis 1172) kämpfte unglücklich mit den Karachatajern, die einen seiner Feldherren gefangen nahmen. Nach ihm rangen seine zwei Söhne, Mahmud und Tagasch, letzterer von Karachatai unter- stützt, lange mit einander um die Herrschaft, bis der Letztere Meister blieb. Ihm folgte 1200 sein Sohn Alaeddin Muhammed, der Erste welcher die Karachatajer in ihrem eigentlich- sten Gebiete angriff. Er starb 1220 auf seiner Flucht vor den Mongolen.

Sss?

508 ScHort:

In der ausgezogenen grofsen Stelle bedarf vieles einer Erläuterung.

Wie ist zuvörderst der Name Chatai entstanden und was meinen die Schriftsteller Asiens damit? Dieser Name ist, wie Chitai oder Kitai, blofse Verderbung von Ki-tan, wie bei den Chinesen ein barbarisches Volk aus Norden heilst, das von Anfang des 10ten bis Anfang des 12ten Jahrhun- derts einen ansehnlichen Theil Nordchinas besessen. Ob diese Kitan mit gröfserem Rechte den mongolischen oder den tungusischen Stämmen beizu- zählen, ist eine Frage die nicht hierher gehört, auch wegen zu dürftiger Sprachproben wohl nie Erledigung finden wird. Seitdem dieses Volk auf chinesischem Boden geherrscht, ist sein Name bei vielen Asiaten auf Nord- china, bei Mongolen und Russen sogar auf das ganze Land China bis zum südlichen Ocean, übergegangen. (!) Muhammedanische Schriftsteller ver- stehen unter Chatai die nördlichen Theile Chinas; allein sie halten den Na- men für einheimisch und lassen den Riesenstrom Jang-tsfe-kiang die Scheide zweier ganz verschiedenen Staten und Völker (Chatai und Tschin) sein. So noch Hadschi Chalfa, der osmanische Polyhistor des 17ten Jahrhunderts, in seiner “Weltschau’. Die zu diesem Werke gehörende Karte von Chatai, zu welchem State hier auch die sogenannte ‘Grofse Tartarei’ geschlagen ist, zeugt von grofser Verwirrung. Ein Karachatai erwähnt Hadschi Chalfa, als zu Chatai gehörend, und verweist es richtig in den fernen Nordwesten, aber sonst meldet er von diesem Reiche nichts.

Abulgafi berichtet, wie wir gesehen haben, über zwei Auswanderungen von Chatajern. Die erste ist ohne Zeitbestimmung; in beiden aber schlagen die Wanderer gleiche Richtung ein. Unter dem Kirgifenlande sind hier die alten Stammsitze dieses Volkes (zwischen der Selenga und dem oberen Jenisej) zu verstehen, in deren Bestimmung chinesische und westasiatische Berichte auffal- lend einklingen. Das A. Idil unseres Gewährsmannes hat man gewifs in der heutigen Sungarei zu suchen, von welcher auch Tarbagatai (s. w.u.) einen Theil ausmacht. Ma-tuan-lin gedenkt in seinem Wen-hien tung kao (Buch 344, Bl. 14-15) eines sehr viele Stämme zählenden, zu den nordischen Barbaren

(') Die mongol. Form Kitat ist Mehrzahl von Kitan.— Mit demselben Rechte, womit die Chinesen, oder ein Theil derselben, Kitajer und Catajer genannt werden, könnte man z.B. unsere Niederländer Spanier nennen, weil sie eine Zeitlang unter spanischer Herr- schaft gestanden.

Das Reich Karachatai oder Si- Liao. 509

gerechneten Volkes Tie-le oder Til, (1) von welchem ein Hauptstamm

BE J) 9 Fa d.i. im Südwesten des Goldberges (Altai) ge-

wohnt habe, womit sehr wohl das heutige Tarbagatai gemeint sein kann. Dschurdschit oder Dschurdsche, bei den Chinesen ’Su-tschin, ’Su-tsche, hiefs ein tungusischer, mit den heutigen Mandschu nahe ver- wandter Stamm, der seinen Herrschersitz über den Trümmern des Kitan- reiches aufschlug, und dessen Kaiser die goldnen (Altun-Chan) der West- asiaten sind. (?) Diese Katastrophe hatte eine (zweite?) Auswanderung von Chatajern (Ki-tan) zur Folge, über deren Gewifsheit kein Zweifel obwalten kann, da sie auch von den Chinesen erzählt wird. Diese lassen einen Kitan aus fürstlichem Geschlechte, seines Namens Je-liu-ta-schi, im Jahre 1125 durch die Schamo entfliehen. Ihre Schriftsteller aus der mongolischen Periode geben über das Land, wo die Flüchtlinge sich niedergelassen, keine

nähere Auskunft. (?) In späteren Quellen wird es Au > E 2 Ki-rh-tu-man d.i. Kirtuman (jetzt Tarbagatai) genannt. Dort hätten

(1) Die Wohnsitze der Til begannen (nach Matuanlin a. a. O.) gegen Abend v9

Vice, ER. l VER EZ. d.i. östlich vom Westmeere (Kaspischen See) und erstreckten sich

Br p de 247: x 02 in ununterbrochener Folge bis gegen den Altai hin, also ALTE ae ge bis geg

über die Steppen von Kyptschak oder der heutigen Kirgil-Kaifaken. Die Til leben noch fort in dem tatarischen Namen der Wolga (Itil, Itel, Adyl), welchen auch die alte Residenz der Chafaren in der Gegend des heutigen Astrachan geführt hat. Die grolse ehemalige Aus- dehnung des Namens im Osten macht es ganz unnöthig, anzunehmen, dals die ausgewander- ten Chatajer bis in die Nachbarschaft der Wolga gezogen seien.

(2) Die Kaiser dieses Volkes besalsen das ganze nördliche China (bis zum Jang-tsle-kiang). Sie regierten von 1115 bis ins 13. Jahrhundert, und nannten ihre Dynastie chinesisch >

Kin die Goldne. Von den Mongolen wurden sie nach vieljährigem Kampfe vernichtet.

(2) Das Ki-tan-kuo-tschi (s. w.u.) und das Kin-kuo-tschi (B. 14. Bl. 1), beide noch aus den letzten Decennien des 12. Jahrhunderts, wissen nur die Scha-mo, bei ihnen Scha-tsfe, zu nennen. Vergl. was ich in meiner Abhandlung Älteste Nachrichten von Mongolen und Tataren über diese beiden Geschichtswerke gesagt habe.

510 Scsort:

die Auswanderer einen Stat 9 i$ Si-Liao d.i. westliche Liao ge-

gründet, (1) der vier Oberhäupter zählte und nach Einigen 76, nach Ande- ren 82 Jahre fortbestand, bis der Naiman-Fürst Kiu-tschu-liu (Kütschlük) ihn zerstörte. Um ihre "wohlerworbenen Rechte auf die Herrschaft in China nicht verjähren zu lassen, gaben die kaiserlichen Exulanten ihren Regierun- gen noch die herkömmlichen chinesischen Prädicate und jeder Nachfolger seinem Vorgänger einen posthumen chinesischen Ehrennamen.

Nuschi Taifu, wie der Je-liu-ta-schi der chinesischen Quellen bei Abulgafi heifst, ist wahrscheinlich kein Name, sondern ein chinesischer Amitstitel dieser fürstlichen Person gewesen. (?) Der Name SiLiao für den von ihm gegründeten Stat ist, wie es scheint, nicht in die asiatischen Abend- länder gedrungen, aber die Thaten und Schicksale dieser Kaiser werden von Arabern, Persern und späteren Chinesen im Ganzen so übereinstimmend erzählt, (°) dafs einige chronologische Disharmonie dagegen kaum in Be- tracht kommt. Weiter unten wird sich übrigens zeigen, dafs auch der Name Schwarz-Kitan den Chinesen bekannt geworden.

Der in Balasgun, einer Stadt des Landes Kaschgar, residirende Fürst, welcher jenen chatajischen Grofsen aus Idil berief und ihm freiwillig sein Reich abtrat, wird ein Nachkomme des Afrasiab genannt, jenes mythischen Beherrschers Turaniens, der im Schahname des Firdusi eine so bedeutende Rolle spielt. Damit bezeichnet ihn Abulgafi als einen Türken und zwar

(') Die Kitan in China hatten ihre Dynastie Liao genannt, nach einem Flusse in der heutigen Mandschurei, an welchem ihre Oberhäupter zuerst den Kaisertitel sich beilegten.

(2) Sehr nahe liegt nui sle d.i. Magnat der innern Geschäfte, grolser Hofbeamter.

(3) Von den (obendrein südchinesischen) Verfassern des Ki-tan kuo tschi und Ta Kin kuo tschi darf man hinsichtlich der Si Liao noch keine groflse Belehrung erwarten. Diese kann- ten ihre Verhältnilse zu anderen Staten gar nicht, zu den Kin sehr wenig. Im letzteren Werke (Buch 14) wird gesagt, die Kin hätten an den Grenzen gegen die Si Liao Kriegsco-

R Iw lonien angelegt EA *] Er d.i. um sie zu entkräften, wobei es denn auch Kämpfe

gegeben; eine Unterwerfung sei aber nicht möglich gewesen. Mehr und Besseres liefern das Kang-mu, Hung-kien lu und Li tai ki sle, Vergl. Deguignes Histoire des Huns etc., Band II, S. 252. ff.

Das Reich Karachatai oder $i-Liao. 511

von edelstem Geschlechte. Es war der letzte jener Ilek-Chane, die (1004) das Samanidenreich zerstört hatten. Dieser sefshafte Türkenfürst verzwei- felte daran, eines türkischen Wandervolkes, der Kangly, sich entledigen zu können. Hammer bemerkt in der Einleitung zu seiner Geschichte des Osmanischen Reiches: die Hek-Chane von Karachatai (?) hätten sich der Gufen (zu deren Stämmen auch die Kumanen und Kangly gehörten) als Grenzwachen bedient und ihnen dafür jährliche Bezahlung gegeben. “Der Vorgänger Kurchans (so!), Arslan-Chan, entzweite sich mit ihnen und wollte sie ausrotten. Unter seinem Nachfolger aber, dem Besieger des Sultans Sandschar, wurden sie steuerbar und verbreiteten sich in Turkistan.’

Ilek Arslan ist in jedem Falle der Ilek Abulgafis, welcher jenen cha- tajischen Grofsen, den Hammer schlechthin seinen Nachfolger nennt, gegen die Kangly ins Land berief. Kurchan, was übrigens kein Name, sondern ein blofser Titel war, den alle Fürsten von Karachatai führten, erklärt Berefin in einer Anmerkung zu dem von ihm edirten Scheibani-name (1849) mit Volks-Chan, Xans napoaa. (!) Der Name Kitan mit oder ohne schwarz vorher, kann nicht früher als unter dem ersten der Kurchane auf das östliche Turkistan übertragen worden sein; und wenn also die Ileke, die ja Türken und keine Kitan waren, in Hammers Quellen schon Chane von ‘Karachatai” heilsen, so bedeutet dies nur, dafs sie über ein Land herrschten, welches nachmals Karachatai betitelt ward.

Was Abulgafi von Erfolgen der Kurchane wider die Schahe von Charefm (2) erzählt, ist, mit den Nachrichten, welche Daguignes (Histoire

(') Herr Berdfin sagt (npumbu. 63), nach Hervorhebung des Unterschiedes dieses Titels von OS} Kürken, was Schwiegersohn bedeutet: Kurchan sei schon vor Tschinggis ein Oberhaupt mehrerer Stämme (irbero.akuxe maei) betitelt worden. Nach Kowalewskis gro- fsem mongolischen Wörterbuche (S. 2636) bedeutet kür oder küre Volkshaufen, Reiterbri- gade, und mit ulus Volk zusammen, das ganze Volk. Einige Beachtung verdient übrigens

Be dafs im Ta Kin kuo tschi (Buch 7, Bl. 5) beiläufig bemerkt wird, die Kitan hätten auch ne

Er Kao-li geheilsen, was für Kaur oder Kur stehen kann.

(2) Diese waren schon seit 1048 Statthalter der Seldschuken -Sultane gewesen. Sie erhoben sich erst seit dem Tode des Sandschar (1157), d.h. mit der Auflösung des östlichen Seldschuken- staates, zu einer grolsen Macht, die bald nach Karachatai durch die Mongolen gebrochen ward.

512 ScHort

des Huns, Bd. II, S. 255ff.) giebt, verglichen, sehr dürftig und ungenau. Die erste Veranlassung zum Kriege mit Sandschar war (nach Mirchond), dafs Magnaten dieses seldschukischen Fürsten in ihrem Gebieter Argwohn gegen die Absichten derjenigen Karachatajer weckten, die im Gebiete von Samarkand Wohnsitze genommen hatten und von Sandschars Statthaltern gedrückt wurden. Der grofsmächtige Sultan befahl, diesen Leuten ihre Heerden wegzunehmen. Darob erschrocken, erboten sich die Karachatajer zu einem ansehnlichen jährlichen Tribute an grofsem und kleinem Vieh; ihre Vorgesetzten aber flohen insgeheim zu dem Kurchan, “einem Fürsten von wachsender Macht unter denen Turkistans,’ stellten ihm vor, Sandschar sei wegen seiner Alterschwäche jetzt ein ungefährlicher Feind, und ermun- terten ihn zu der Schlacht (1140) die für 'Sandschar so unglücklich endete, dafs sein ganzer früherer Ruhm in Vergessenheit gerieth. Übrigens verfolgte der Kurchan die errungenen Vortheile gegen Chorasan nicht weiter, und seit ihrem Siege von 1140 geschieht der Karachatajer in Mirchonds Ge- schichte der Seldschukiden keine Erwähnung mehr. (!)

Das östliche Turkistan hat den Karachatajern etwa ein Jahrzehend vor dem Untergang dieses States noch in grofser Ausdehnung gehorcht. Abulgafi erzählt (S. 50-51) die im Jahre 1209 erfolgte freiwillige Unterwer- fung des Volkes Uigur unter Tschinggis-Chans Oberherrschaft. Der König dieses Landes, Idikut, war damals, so heifst esausdrücklich, dem Kurchan von Karachatai unterthan, der einen tyrannischen Steuervogt ins Uiguren- land geschickt hatie. (?) Die Chinesen berichten diese Unterwerfung eben- falls, (3) thun aber keiner damaligen Abhängigkeit der Uigur von einem an- deren Volke Erwähnung.

(') Chinesischen Angaben zufolge könnte weder Jeliutaschi, der schon 1136 gestorben sein soll, noch sein Sohn, der angeblich bis 1142 unter Vormundschaft einer Reichsverweserin stand, den Sieg über Sandschar erkämpft haben. Dies ist die auffallendste und am schwersten auszugleichende chronologische Differenz zwischen den Quellen aus Ost und West.

(E)E oensaaor Dos ES) el NEJA FR! gl ae 5 tb>1, PR) E50) rl US ud (u Jet us a,b 5 (ed

lg 50) Ass (suls wild zul ul ST (@) Juan sle lui pien. Bd. 1, Bl. 4.

Das Reich Karachatai oder Si-Liao. 513

Wir kommen nun zur entfernteren Veranlassung des Unterganges von Karachatai. Bei Abulgafi heifst es (S. 50): Kütschlük (zu deutsch, kraftbe- gabt), Sohn des letzten Chanes der Naiman, (!) habe sich, zufolge einer letzten, am Irtysch erlittenen Niederlage, nach Karachatai in Turkistan ge- rettet. Das Weitere, was S. 51-55 zerstreut gemeldet wird, fasse ich so zu- sammen: Tschinggis war nach dem Falle der Nordresidenz des Goldnen Chans im Begriffe, die noch unbezwungenen Gebiete Nordchinas zu erobern, als er plötzlich Kunde erhielt, dafs Kütschlük mit dem Kurchan, der ihn ehren- voll empfangen und ihm sogar (S. 50) seine Tochter zum Weibe gegeben, zerfallen sei, ihm sein Reich entrissen und sich selbst als Padischah habe aus- rufen lassen. Sehr viele dem Tschinggis feindliche Mongolen und Tataren hatten um diesen Desperado sich geschart. Tschinggis erkannte sogleich, welch furchtbares Gewitter in seinem Rücken aufstieg; er verschob weitere Unternehmungen gegen die Kin, und schickte einen seiner trefflichsten Feld- herren wider Karachatai oder vielmehr wider dessen Usurpator, der geschla- gen wurde und nach Badakschan floh, aber durch einen Zufall entdeckt und getödtet ward.

In dem Juan sfe lui pien, einer 1699 gedruckten Geschichte der Mongolen in China, lesen wir (Buch 1, Bl. 3-4), Kiu-tschu-liü sei im Jahre 1206 an den Flufs Je-rh-ti-schi d.i. Irtysch, geflohen, habe daselbst 1208 eine neue Niederlage erlitten, und nun ‘bei den Kitan’ ein Asyl gesucht. Die letzte Bekämpfung des fürstlichen Flüchtlings, in deren Folge das bisherige Karachatai (1218) ein Theil des mongolischen Welt- reichs wurde, übergeht dieses Werk auffallender Weise mit Stillschweigen; dagegen berichtet es über die Zerstörung des Charefmischen Reiches, wel- che erst nach dieser Katastrophe erfolgte.

Andere chinesische Quellen lassen den Naimanfürsten, dessen Flucht ihnen unbekannt, schon 1201 das Reich Si-Liao zerstören. Diese Angabe widerspricht den meisten übrigen und verrückt aufserdem die ganze chrono- logische Folge der Thaten des Tschinggis-Chan. So lesen wir im Kang- kien der königl. Bibliothek (B. 84, Bl. 2) unter dem ersten der Jahre Kia- tai des Sung-Kaisers Ning-tsung, d.i. 1201: "Tschi-lu-ku, König der Si

(') Diesen halte Tschinggis im Jahre 1206 auls Haupt geschlagen, dann gefangen und getödtet.

Philos.- histor. Kl. 1849. ARdeir

514 SceHkorr:

Liao, zog auf die Jagd. Da legte Kiu-tschu-liu, König der Naiman, achttausend Bewaffnete in einen Hinterhalt, nahm den Tschi-lu-ku gefangen und trat in den Besitz seines Reiches. Er ehrte seinen Gefangenen mit dem Titel Tai schäng hoang d.i. hocherhabener Kaiser (!); dieser starb je- doch plötzlich und das Haus der Liao endete mitihm.’ Man sieht, dafs hier nur eine abgerissene Scene des grolsen und blutigen Kampfes zwischen dem greisen Tschiluk von Karachatai und seinem, mit Alaeddin von Charefm verbündeten Schwiegersohne freilich diejenige Scene, welche die Kata- strophe darstellt, an unsern Blicken vorübergeht. Die ausführliche Erzäh- lung lese man bei Deguignes, B. II, S. 268 ff.

Wenn das Juan sfe lui pien unsern flüchtigen Abenteurer ‘zu den Ki- tan fliehen läfst, so sind natürlich die SiLiao gemeint. Dafs aber auch der Name Schwarz-Kitan zu den Chinesen gedrungen, dies kann ich aus zwei Stellen zweier sehr verschiedenen Werke darthun. Die vom ‘Menschen’ han- delnde Abtheilung des zu Anfang unseres 17. Jahrhunderts erschienenen ency- clopädischen Werkes San-tsai tu-hoei zeigtuns (Buch 13, Bl. 6) einen vor seinem gelagerten Pferde am Boden kauernden Reiter, in anscheinend mit Pelz verbrämtem Turban (?) und Oberkleide. | Darüber liest man einige er- klärende Worte mit der Überschrift ‘He Ki-tan’. Dem bekannten Natio-

U ® . nalnamen ist he’ vorgesetzt, was schwarz bedeutet. Die Erklärung a %) lautet: “dieses Land hat befestigte Städte und ist wohl bevölkert. Die N Kin-sin (Leute der Kin) reisten zu Pferde dahin. Man mufs

ein Jahr lang reiten, um (von dort) bis Ing-tien-fu(!) zu kommen.

In dem mehrerwähnten Juan sfe lui pien geschieht unter den auswär- tigen Ländern (Buch 42, Bl. 53) ebenfalls eines He Ki-tan Erwähnung. Der Compilator bemerkt nicht, dafs es mit dem Kitan (ohne "schwarz’ vorher) identisch sei, wo er (s. oben) den letzten Naiman-Fürsten Zuflucht finden läfst. Er sagt nur, es heifse auch Ki-li-man. Dieser Name könnte die bestmögliche chinesische Umschreibung des Namens Kirman oder Ker-

(') So hiefs unter der Dynastie Ming, in deren letzten Zeiten obiges Werk erschien, das heutige Kiang-ning-fu, auch Nan-king d.i. “die südliche Residenz’ genannt,

Das Reich Karachatai oder Si-Liao. 315

man sein, () und in diesem Falle hätten wir hier ein Zeugnifs, dafs auch die spätere karachatajische Dynastie in Persien den Chinesen bekannt gewor- den. (?) Allein das Kang-kien und chinesische Quellen die Deguignes benutzt hat, schreiben auch Ki-li-man wo unbezweifelt Kirtuman ge- meint ist.

Noch sei erwähnt, dafs nach Abulgafi viele “Karachatajer” mit den Heeren des letzten Altan-Chans wider die Mongolen stritten. So heifst es S.53: als der Altan-Chan nach seiner südlichen Residenz (dem heutigen Kai-fung-fu in Ho-nan) aufgebrochen sei, habe er unterwegs einen karacha- tajischen Heerführer ‘um kleinen Vergehens willen’ hinrichten lassen. Aus Rache dafür hätten einige Karachatajer die Heerden seines, als Befehlshaber der nördlichen Residenz zurückgebliebenen Sohnes geraubt und dem Heere der Mongolen sich angeschlossen. Auf derselben Seite ist weiter zu lesen: die meisten Karachatajer (im Heere des Altan-Chan) seien zu den beiden Feldherren übergegangen, die Tschinggis zu Eroberung der nördlichen Hof- stadt abschickte, und mit ihnen gegen diese Stadt gezogen.

Dies Alles geschah vor der Vernichtung des States Karachatai durch die Mongolen. Da dieser Stat niemals von den "Goldnen’ abhängig gewesen und man die Karachatajer in ihrem Heere schwerlich für Miethstruppen von dorther zu halten hat: so sind sie wohl Nachkommen derjenigen Kitan gewesen deren Väter nicht ausgewandert, also unter der Herrschaft des Altan-Chans geblieben waren. Wohl möglich, dafs gewilse Stämme der Na- tion bereits vor ihrer theilweisen Emigration sich ‘schwarze Kitan’ genannt.

(‘) Hadschi Chalfa sagt (S. 256 seiner Weltschau), das k in OL laute mit e und mit i: ak PERF oa

(2) Vergl. Dschihannuma S. 261. Einer von diesen Vasallen der mongolischen Ilchane war derjenige ‘Fürst von Karachatai', dessen in Hammers Geschichte des Osmanischen Reiches

(B. 1, S. 149) beiläufig gedacht wird.

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Zur Kritik Preufsischer Memoiren.

-Von Pr DEN RA NKE

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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 29. Juni 1848.]

I.

Zur Kritik der historischen Memoiren von Pöllnitz.

M.: könnte zweifeln, ob Untersuchungen über Schriftsteller wie Pöllnitz einer Akademie vorgelegt zu werden verdienen. Sagt er doch selbst in der Vorrede zu seinen Lettres et M&moires 1737: ein Gelehrter lese entweder solche Bagatellen nicht oder würdige sie keiner Kritik.

Auch dürfte es vielleicht nicht rathsam sein, diese frühere Schrift, wiewohl sie einiges Gute enthält, ernstlich zu erörtern: so voll ist sie zu- gleich von Selbstbekenntnissen, die doch nicht tief genug gehen, um psy- chologisches Interesse einzuflöfsen, von flüchtigen Schilderungen, bei denen Lob und Tadel sehr absichtlich sind, schlüpfrigen Abenteuern. Eine an- dere Bewandtnifs aber hat es mit den Memoires pour servir a ['histoire des quatre derniers Souverains de la maison de Brandebourg, die lange nach dem Tode des Verfassers im Jahre 1791 wenn gleich nicht ganz vollstän- dig erschienen sind. Bei diesem Buche nimmt Pöllnitz eine sehr historische ‚und wissenschaftliche Miene an; es hat eine gewisse Anerkennung gefunden, ist von Gelehrten gelesen, benutzt worden, und eine Kritik desselben ist nicht allein zulässig, sondern erforderlich.

Wird man sich schon bei jedem historischen Buche das Maafs seiner Glaubwürdigkeit zu vergegenwärtigen suchen, so ist dies doppelt Pflicht, wenn ein Mann, welcher Königen und Fürsten nahe stand, über sie das

518 RıAınee:

Wort nimmt und zwar, wie Pöllnitz, mit der ausdrücklichen Versicherung, dafs er sagen wolle, was er gesehen und gehört habe.

Pöllnitz hat als Kammerjunker in Friedrichs I. Diensten gestanden; aber er war erst achtzehn Jahr alt, als er im Jahre 1710, einer Unachtsamkeit wegen gescholten sich entschlofs, den Hof zu verlassen und sich auf Reisen zu begeben. Vorübergehend ist er zweimal, 1713 und 1718 in Berlin er- schienen; sonst hat er das ganze Vierteljahrhundert von 1710 bis 1735 im Auslande zugebracht. Dann kehrte er zurück, zunächst um Gundling zu ersetzen, a blieb seitdem in nanniaigipen Beziehungen zu der damaligel und der folgenden Regierung.

Wenn nun seine historischen Memoiren hauptsächlich über die Epo- che Friedrich Wilhelm’s I. benutzt worden sind, bei welcher auch wir ste- hen bleiben werden, so kann man nicht sagen, dafs er sie eigentlich mit erlebt habe. Die Zeiten seiner Abwesenheit sind eben die, in welchen dieser Fürst als Kronprinz und als König am thätigsten gewesen ist: im Jahre 1735 war die Kraft desselben durch schwere Krankheiten eigentlich schon gebrochen,

Wie sollte namentlich von den Staatsereignissen, den momentanen Beziehungen, die einen Tag nach dem andern beherrschen, aber dann so- fort wieder vergessen zu werden pflegen, bei dem so spät Gekommenen eine ursprüngliche ihm eigenthümliche Kenntnifs vorausgesetzt werden können. Er ist darüber ziemlich ausführlich; die Nachrichten über den Utrechter Frieden 1713, die Eroberung von Pommern im Nordischen Krieg 1715, die Verbindung mit Rufsland 1718, über das Bündnifs von Hannover 1725, den Wusterhauser Vertrag und die Verbindung mit dem Kaiser 1726, die Polnisch -Französischen Irrungen von 1733 erfüllen einen grofsen Theil seines Buches. Fragen wir aber, woher er die Kunde davon nahm, so kostet es nicht viele Mühe zu sehen, dafs er sie aus ganz nahe gelegenen Schriften zog.

Im Jahre 1741 sind in Holland zwei französische Lebensbeschreibungen Friedrich Wilhelms erschienen, die eine von La-Martiniere, (a la Haye chez Adr. Moetjens) die andere von Mauvillon (Amsterdam Arkstee); diese hat Pöllnitz vor sich genommen und mehr als nur zu Grunde gelegt. Betrachten wir einen jener Punkte nach dem anderen.

Zur Kritik Preufsischer Memoiren.

519

1. Die Erzählung vom Utrechter Frieden (II, 16.) hat Pöllnitz aus

La Martiniere I, 64. Pöllnitz.

Cependant le comte de Zinzendorff, -- ne pouvoit se r&soudre A un demembrement qu'il savait etre desagreable A son maitre. Les An- glois, pour le determiner, lui declarerent, que si dans vingt-quatre heures il ne signait pas la cession d’une partie, ils dtaient autorises A Cette menace ebranla le Comte: il signa le traite

faire c@der le haut quartier au roi.

le 2 Avril, bien persuad@ que l’Empereur ne le ratifieroit pas; comme en effet la veri- table cession ne se fit qu’ä Rastadt l’annde suiyante.

La Martiniere.

Le Comte de Sinzendorff ne pouvait se resoudre A un d@membrement qui ne pouvait etre que tres desagr@able A S. Maj. Imperiale, pour la quelle il negociait ..... Les Anglois l’embarasserent en lui declarant que si dans vingt-quatre heures il ne signait point la ces- sion d’une partie, ils &taient autorises a faire ceder tout le haut quartier au roi de Prusse. Il ne recula plus, cette menace l’£branla et il signa le 2 d’Avril le traite, bien qu'il fat per- suade, que S. M. I. ne le ratifieroit point; comme en eflet, la v@ritable cession ne se fit

qu’a Radstadt l’annee suivante.

Man könnte fragen, ob die Schriftsteller nicht vielmehr beide aus einer gemeinschaftlichen Quelle schöpften. Die originale Nachricht findet sich bei Lamberty VIII. 45, aus welchem La Martiniere einen Auszug für Leser gemacht hat, die den Grund der Dinge nicht zu wissen begehren; diesen Auszug aber hat Pöllnitz mit wenigen Abänderungen wörtlich beibe- halten. Was S. 21 von der Ursache, wefshalb nicht am 12ten, sondern am 41ten abgeschlossen wurde, erzählt wird, ist auf dieselbe Weise aus La Martiniere 71, der es aus Lamberty VIII. 71 genommen hat.

2. Bei den Irrungen mit Schweden hat Pöllnitz nicht eigentlich den- selben Autor copirt, sondern eine Urkunde, die bei ihm vorkommt, die Preufsische Relation. Man könnte an sich Nichts dagegen haben, wenn er es nur sagte; aber er giebt die Worte der Relation als seine eigenen, so dafs die Darstellung sich historischer ausnimmt, als sie ist. Hierauf wendet sich Pöllnitz zu Mauyillon. Die Erzählung von dem Angriff der Schweden auf die Verschanzungen der Preufsen auf der Insel Rügen (S. 41) ist fast wörtlich aus Mauvillon (285); mit dessen Worten schildert er die ausneh- mende Übereinstimmung der Könige (P. 52, M. 206), so wie die bescheidene Rückkehr Friedrich Wilhelms nach Berlin.

3. Bei dem Verhältnifs mit Rufsland kehrt Pöllnitz zu La Martiniere zurück und beobachtet ganz dasselbe Verfahren, nur dafs er einige anstöfsige Anekdoten einflicht, die man auch anderweit kannte. Ich will in einer

520 RıAınee:

Note die Worte anführen, weil sie auf das Verhältnifs des Preufsischen und Russischen Militärs einiges Licht werfen. (*)

4. Der Vertrag von Hannover ward unter anderm durch die religiösen Unruhen in Polen veranlalst. Indem Pöllnitz diese erzählt, combinirt er seine beiden Gewährsmänner; er beginnt mit einem Auszug aus Mauvillon über die allgemeinen Verhältnisse, die Hauptsache erzählt er dann nach La Martiniere; einige Abweichungen wie wenn er den Schaden der Jesuiten auf 180,000 G. schätzen läfst, während sein Autor nur von 30620 G. weils, sind wohl blofse Willkührlichkeiten. |

Über den Tractat von Hannover selbst geht Pöllnitz leichter hinweg, indem er persönliche Angelegenheiten zur Esche bringt; bei den eigentlich politischen folgt er meistens La Martiniere. Aus dessen Buche (II, 61) ist sein Bericht über die Accession von Holland ziemlich wörtlich, nur dafs es bei ihm undeutlich wird, ob Preufsen sich weigerte, die ganze Accessionsacte zu unterschreiben, oder blofs einen Artikel: was dort keinem Zweifel unter- liegt. Wie La Martiniere verbindet auch Pöllnitz hiermit die Unterhand-

lungen Friedrich W ilhelms mit Kaiserin Cathatina I, die im August 1726 zu

einem Vertrage führten.

(*) Pöllnitz 55.

Le czar, en change de tous ces dons, pro- mit au roi de recruter tous les ans le regiment des grands Grenadiers de cent hommes d’une taille extraordinairement haute; et enyiron six mois apres on en vit arriver cent cinquante A Potsdam et m&me apres la mort du czar Pierre I l’Imperatrice Catherine, qui lui avait suceed&, continua d’en envoyer. Elle y trouya cet avan- tage, que le roi lui envoya de temps en temps des bas- offhiciers et des soldats Russiens, qui apres avoir passe quelques anndes ä son ser- vice, retournoient dans leur patrie et instrui- soient les soldats de leur nation. Mais un profit plus solide que les recrues des grands Grenadiers, ce fut le commerce que les deux monarques £tablirent entre leurs sujets.

I

‚La Martiniere 280. u : i Le Ei a son tour, promit au Roi de reeruter töus les ans le rögiment des grands Grenadiers de cent hommes d’une taille ex- traordinairement haute, et environ six mois

Potsdam; jet m&me apres la mort du cezar

apres onen vit arriver cent cinquante A Pierre I la cour de Russie continua d’en en- voyer. Elle y a trouv& cet avantage, que la cour de Prusse lui renvoyoit de tems en tems des bas Officiers et des soldats Russiens, qui, apres avoir et@ six ou sept ans A son service, retournoient dans leur patrie bien exerces, bien diseiplines et capables d’instruire d’au- ires soldats. les recrues des grands Grenadiers, ce fut le

Mais un profit plus solide que

commerce que l’amiti€ des deux Monarques Etablit/entre les pays Prussiens et ceux de la Grande-Russie.

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 521

5. Der Eingang zu der Verhandlung mit Österreich 157 (la cour de Vienne avoit te d’abord rompre la chaine,) ist wörtlich aus La Mar- tiniere II, 68. Dann aber findet sich eine Schilderung des Grafen Secken- dorf, die man bei einem den Dingen und Personen ferne stehenden Autor nicht suchen darf: Seckendorf sei roh und schmutzig geizig gewesen; er habe so viel gelogen, dafs er den Gebrauch der Wahrheit nicht mehr gekannt; in ihm sei die Seele eines Wucherers in der Gestalt zuweilen ei- nes Offiziers, zuweilen eines Diplomaten erschienen. So pflegt Pöllnitz nicht zu schildern: man erkennt darin den kräftigen Pinsel König Fried- richs II; in den Memoires de Brandebourg findet man die ganze Stelle. (M. A. p. 157.) „Il etoit d’un interet sordide, ses manieres &toient grossieres et rustres, le mensonge lui etoit si habituel, qu’il en avoit perdu l'usage de la verite; c’etoit läme d’un usurier qui passait tantöt dans le corps d’un mili- taire tantöt dans celui d’un negociateur.” Doch scheint es, als habe Pöll- nitz die Stelle erst nachträglich eingelegt, indem er kurz vorher verschie- dene falsche Angaben macht, wo Friedrich bereits das Richtigere mittheilt. Einige Anekdoten flicht er noch ein, dann kehrt er zu seinen alten Ge- währsmännern zurück. Aus Mauvillon nimmt er, wie die Worte: „Endroit sensible -- - le trait€ ne derogeoit pas a celui de Hannoyre” zeigen, was dieser über den angeblichen Tractat von Wusterhausen sagt; es kümmeri ihn we- nig, dafs La Martiniere die Ächtheit desselben aus guten Gründen bezwei- felt hatte. In der That ist ein Vertrag zu Wusterhausen geschlossen worden, nur nicht dieser. Von dem bei weitem wichtigeren geheimen Tractat von Berlin hat Pöllnitz keine Ahnung, da seine Quellen schweigen. Über alles Folgende, die Irrungen mit Hannover, das Lager von Mühlberg, die Reise des Königs von Preufsen nach Böhmen, die Errichtung der pragmati- schen Sanction nimmt er die Nachrichten und oft auch die Reflexionen sei- ner Quellen herüber; nur dafs er einige Namen berichtigt, einige neue Notizen beibringt. Selbst die Aufnahme der Salzburger, über die sich ihm so leicht bessere Kunde dargeboten hätte, erzählt er mit den Worten Mauvillons und La Martinieres.

6. Die Untersuchung verliert nun schon ihr Interesse, wir müssen aber doch hinzufügen dafs alles was Pöllnitz, auf die Polnische Angelegenheit kom- mend, (S.280.) von den Schwierigkeiten sagt, welche der König August Il. bei der Besetzung von Stellen gefunden habe, von der Absicht desselben, Säch-

Philos. - histor. Kl. 1849. Uuu

5223 Rıanee:

sische Cürassiere einrücken zu lassen, „pour appuyer les bien intentionnes et mettre les mutins A la raison”, den Gegenanstalten des Primas, wie des Wiener Hofes, dem erträglich guten Gange des einberufenen Reichstages, eben auch aus La Martiniere stammt.

Dann flicht Pöllnitz eine Anekdote über die Zusammenkunft Grumb- kow’s und August II in Crossen ein, wo sie sich durch übermäfsiges Trin- ken beide zu Grunde gerichtet haben sollen, die sich auch bei Friedrich findet, der sie jedoch pikanter erzählt.

Gleich darauf kehrt er zu seinem vornehmsten Gewährsmann La Mar- tiniere zurück. Das Merkwürdigste ist, dafs man einmal den verdorbenen Text von Pöllnitz aus seiner Quelle verbessern kann. Seite 347 erzählt er von zwei Holländern, die durch Preufsische Werber auf Polnischem Gebiet weggenommen worden, worüber sich der Holländische Gesandte beim Kö- nig von Polen beklagt habe. Er fährt dann fort: „Ces enröleurs n’y etaient point en etat d’en faire justice, de sorte que cela ne servit qu’ä faire prendre des mesures plus rigoureuses pour l’avenir;” was, wie man sieht, ohne Sinn ist. Es fehlen ein paar Worte, die man bei La Martiniere suchen mußs, wo es S. 333. heifst. „Ces enröleurs n’y Etvient plus, et le roi de Pologne n’etait point en etat d’en faire Justice. Cela tout au plus servit a prendre des mesures plus vigoureuses pour l’avenir.”

So verhält es sich mit der Darstellung derStaatshandlungen in diesem Buche: überall sind fremde Nachrichten ohne Nachdenken abgeschrieben.

Gehen wir von den öffentlichen auf die persönlichen Angelegenheiten des Königs über, die einen zweiten Hauptbestandtheil dieser Memoiren bilden, so sollte man glauben, dafs Pöllnitz wenigstens hierüber authentisch und original sein müsste. Beim Jahre 1729 spricht'er einmal sehr ausführlich über die Gesundheitsumstände seines Fürsten und entschuldigt sich, dafs er es thut. Worüber sollte ein Kammerherr' des Königs aber besser un- terrichtet sein?, Man erstaunt wenn man dennoch bemerkt, dafs die ganze Stelle ebenfalls aus La Martiniere entnommen ist. (*) Auch ein

(‘) Pöllnitz 190. La Martiniere 111.

Il avoit eu trois ans auparavant quelques Il avoit eu trois ans auparavant quelques symptömes de goutte; cependant comme ils symptömes qui sembloient annoncer la goutte; n’avoient pas &t@ violens et que depuis ce cependant, comme ils n’ayoient pas Et& violens

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 923

zweiter Krankheitsanfall des Königs im Herbst 1734, unmittelbar vor der Rückkunft Pöllnitzens an den Hof, wird mit den Worten La Martinieres erzählt. Die Ankunft des Fürsten in Potsdam „dans un &tat deplorable”; dafs die Krankheit eine „goutte remontee, accompagnde de eirconstances qui firent appr&hender pour lui” gewesen (La M. hat: desesp6rer du retablis- sement du roi,) dafs aber die gute Natur des Königs, unterstützt von den Arzten, namentlich Hofmann, der aus Halle berufen worden, die Gicht wieder „herabsteigen” machte; alles diefs wufste und berichtet schon La Martiniere; Pöllnitz fügt nur noch den Namen des Leibarztes Ellert hinzu und läfst weg, dafs der Kronprinz fortwährend um seinen Vater gewesen sei.

Einige Bemerkungen über die innere Regierung, die man dem Verfas- ser wohl zutrauen könnte, z. B. 154, über die Geschwindigkeit, mit welcher der König seine Reisen machte und die fortwährende Furcht, welche die Be- amten hatten, von einem plötzlichen Besuch überrascht zu werden, oder über die nach dem Bedürfnifs abgestuften Steuernachläfse, zu denen sich Fried- rich Wilhelm 1721 entschlofs, sind aus La Martiniere; ebenso, was bei der Ernennung eines neuen Directeurs der Refugie’s vorging (Pöll. 70. La Mart, 344.) und die meisten Berliner Localereignisse. Denn auch diese dürfen nicht fehlen, so wenig der Einsturz des Petrithurmes, als das Auffliegen eines Pulverthurms (August 1720.). Das Letzte erzählt Pöllnitz nach Mauvillon und characterisiisch ist eine Veränderung des Textes, die er dabei anbringt. Mauvillon wiederholt aus einem Deutschen Autor, dafs der König, der eben hatte dahin gehen wollen, durch seinen guten En- gel davon abgehalten worden sei: das wollte der aufgeklärte Pöllnitz doch nicht schreiben: er verwandelt den guten Engel in: „quelque affaire, qui lui survint.”

Nach alle Dem sind denn diese Memoiren eines Kammerherrn, die so viel Selbsterfahrenes enthalten sollten, grofsentheils nur Copie zweier Hol- ländischer Autoren mit einigen Veränderungen. Das Verfahren des Verfas- sers scheint gewesen zu sein, dafs er in den beiden Büchern, die ihm brauch- bar scheinenden Stellen anstrich, zusammenschreiben liefs, und sie dann

temps-lä il n’en avoit ressenti aucune suite, et que depuis ce temps-lä il n’en avoit point il ne soupgonnoit plus rien de pareil etc. ressenti latteinte, il ne soupgonnoit plus rien de pareil etc.

Uuu?2

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überarbeitete. Die meisten Correcturen, die er anbringt, sind Sprachver- besserungen, hauptsächlich zu dem Zweck gemacht, allzugrofses Detail zu vermeiden, eine gewisse Würde des Ausdrucks zu behaupten; andere betreffen die Sache; und sind dann recht erwünscht. Einiges hat er in der That besser erkundet als seine beiden Vorgänger und an der Stelle ihrer Erzählungen eingeschaltet; aber daneben läfst er ihre Übergänge die nun nicht mehr passen, ruhig stehen. |

Ich denke, dafs es hauptsächlich Geldbedürfnifs war, was den Autor dazu vermochte, seine Arbeit zu unternehmen.

Er überreichte sein Werk wohl abgeschrieben der Königin Mutter und den Prinzen des Hauses, und liefs sich dafür belohnen. In ihren Bibliothe- ken hat man die Abschriften gefunden, von denen dann eine gedruckt wor- den ist.

Es gehört nicht unmittelbar zur Untersuchung über Pöllnitz, aber einmal auf diesem Gebiete, können wir die Frage nicht abweisen, woher die beiden Holländischen Autoren ihre Nachrichten haben. Wir brauchen auch hier nicht weit zu suchen. Sie sind beide überhaupt nur durch Compila- tionen namhaft, welche sie im Solde holländisdher Buchhändler ausarbeite- ten. Die vornehmste Quelle des einen und des andern ist die Lebensbeschrei- bung Friedrich Wilhelms I von Fafsmann, die schon 1735 erschienen war.

Wählen wir zur Betrachtung die Jahre 1718-20, so finden wir bei Fafsmann nachstehende Reihefolge: 1. M&motial der Refugie’s nach dem Tode von Dönhof; 2. Revocationsedikt für die wegen des Kriegsdienstes austretenden Unterthanen; 3. Schlofsdiebstahl; 4. Erkrankung des Königs an den Kinderblattern; 5. Ausgleichung mit Hessen-Homburg; 6. Beprereiin gegen die Karkelikehe Bieackion in der Pfala;uf. euer des Clement; 8. Nachricht vom Tode Carls XII.;, 9. Brand im Schlosse: 10. Revue zu Tempelhof; 11. Eröffnung der Magazine in theuren Zeiten, wodurch der Wucher („derer Kornhändler, welche zu solchen Zeiten die Armuth recht zu schinden pflegen”,) verhindert worden; 12. Schanung der Russen in Meklen- burg, und Irrungen mit Polen wegen des Planes, Ourland an den Markgra- fen von Brandenburg-Schwedt zu bringen; 13) Sorge für die Französin Refugie’s; 14. Friede mit Schweden.

So hat auch Mauvillon I. 325.: 1. Memorial der Refugie’s, aus dem Deutschen zurück übersetzt; 2. Revocationsedikt im Auszug; 3. Schlofsdieb-

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 525

stahl; 4. Erkrankung des Königs an den Kinderblattern; 5. Ausgleichung mit Hessen-Homburg (mit den Worten Fafsmanns); 6. Repressalien gegen die Pfälzischen Catholiken (mit Zusätzen); 7. Tod Carls XII. (etwas verän- dert); 8. Abenteuer des Clement nach Fafsmann ; 9. Revüe bei Tempelhof mit der Schilderung des Profossen ganz nach Fafsmann; 10. Öffnung der Magazine. 11. Irrungen mit Polen, mit den von Falsmann mitgetheilten Actenstücken. 12. Friede mit Schweden.

La Martiniere hält sich in der Anordnung etwas freier: er beginnt sein viertes Buch mit dem Excerpt über die Refugie’s, hat 2. das Revocations- edikt; 3. den Schlofsdiebstahl; 4. Erkrankung des Königs; 5. Repressalien gegen die Pfalz; 6. Abenteuer des Clement ganz nach Fafsmann, mit den Fehlern, die Mauvillon corrigirt hatte. 7. Eingeschaltete Erwähnung eines Schriftwechsels über Holstein; 8. Tod Carls XII, mit einer Bemerkung von Fafsmann. 9. Eröffnung der Magazine aus Fafsmann (on öta A l’avidite des marchands de grains le moyen de s’enrichir aux depens d’une multitude affa- mee); 10. Russisch-Polnische Irrungen ebenfalls mit Erwähnung Meklen- burg’s wie bei Falsmann und die gewechselten Aktenstücke. 11. Sorge für die Refugie’s. 12. Friede mit Schweden. Er hat einiges auch für ihn zu Unbe- deutende von dem Schlofsbrand, der Ausgleichung mit Homburg und der Re- vüe bei Tempelhof weggelassen, sonst das Meiste excerpirend oder überse- izend, herübergenommen, ohne sich doch viel um die Sache selbst zu küm- mern; man fragt z. B. vergebens, wer nun eigentlich, da die Refugie’s wäh- len sollten, aber dem König selbst die Wahl anheimstellten, das Departement erhielt.

Dürfte man nicht sagen, dafs der alte Falsmann im Grunde der Ur- heber aller dieser Bücher sei? Wenigstens ein guter Theil derselben stammt von ihm her, und die Grundlage hat er gegeben.

Wir müssen nun aber einen Schritt weiter ihun und uns nach den Quellen Fafsmanns umsehen.

Ich finde zunächst eine, die recht gut und zuverläfsig ist. Unter Friedrich Wilhelm I. erschien und zwar mit Genehmhaltung der Societät der Wissenschaften jährlich ein historisch-geographischer Calender, dem Mittheilungen aus der alten Weltgeschichte und zugleich Aufzeichnungen aus der neuen beigegeben waren: wo man denn auch Preufsen nicht vergafs. Diese Aufzeichnungen hät nun Fafsmann in einigen Jahren in sein Buch ein-

526 RıAınkee:

geschaltet, z. B. bei dem Jahre 1731 die Einführung des Markgrafen Carl als Herrenmeister, ganz wie sie in dem Calender des Jahres 1731 unter dem Titel: Fortsetzung der neuen Weltgeschichte, Preufsen, enthalten ist. Alles, was vom Preufsischen Hofe in dem Jahre 1733 gemeldet wird, ist in dem Calender für das Jahr 1735 enthalten; Fafsmann vermehrt nur überall die Curialien. Wenn der Calender z. B. sagt: „Der König rei- sete nach Preufsen und nahm die Litthauischen Amter in Augenschein,” so heifst es bei Fafsmann: „Des Königs Majestät thaten eine Reise nach Preufsen und nahmen dort die Litthauischen Ämter in hohen Augen- schein.” Nicht überall aber wo man es erwarten sollte, finde ich diesen Calender benutzt; Fafsmann scheint nur die zuletzt erschienenen Jahr- gänge vor sich gehabt zu haben.

Anderes nahm er aus einem damals viel gelesenen und verbreiteten Journal der Europäischen Fama. Eigentlich ist Alles, was Fafsmann vom Jahre 1720 angiebt, aus dem 235sten und dem 239sten Heft der Fama ge- nommen: das Ediet zu Gunsten der Refugie's, die Hinrichtung Ole- ments und seiner Mitschuldigen; nur dafs Falsmann, der der Execution bei- wohnte, aus eigener Erinnerung einige kleine Nebenumstände hinzugefügt hat, die Einstellung der Religionsrepressalien in Minden wörtlich, eben so die Reise nach dem Haag die Explosion des Pulverthurms mit kleinen Zusätzen die Reise nach Hannover nur mit Abänderung einiger Ausdrü- cke diese aus den erstgenannten; aus dem zweiten Heft von S. 976. an aber Folgendes: die Collecte für die Garnisonkirche, wobei Fafsmann nur die persönliche Theilnahme des Königs etwas mehr hervorhebt; das Ge- setz gegen die Hehler die Audienz des Schwedischen Gesandten, die Werbeirrungen in der Mark; („bei welcher Gelegenheit,” sagt der eine, „Mancher mit blutigem Kopfe nach Hause gekommen”; der andere: „bei wel- cher Gelegenheit Mancher mit blutigem Kopfe nach Hause gegangen.”)— Reise nach Pommern. Meistens hat Fafsmann einige Zusätze und Einschaltungen; häufig besteht sein Text eben nur aus den Worten, die schon in der Fama zu lesen waren. Aus der nemlichen Sammlung hat er auch zuweilen die Aktenstücke, die den zweiten Theil seines Buches ausfüllen, genommen, unter anderm die im Jahre 1719 zwischen Preußen und Polen gewechselten Schriften, in derselben Reihenfolge, in directer oder indirecter Fassung, wie sie dort (Heft 231.) mitgetheilt sind.

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 597

Und so tritt nun folgende Genesis dieser Preufsischen Geschichten hervor.

Wir sehen zuerst einen Autor, der sein Buch aus den Nachrichten, die er in Journalen und Calendern findet, zusammenstellt. Er hat den Vor- theil im Land gewesen zu sein, und zeigt eine gewisse Vorliebe, eine apo- logetische Tendenz, aber an eigentlicher Kunde fehlt es ihm ganz. Seine Politik geht nicht über Das hinaus, was bei einem Gespräche an der Wirths- tafel vorkommen konnte. Diese Compilation legen nun ein paar Tages- schriftsteller zu Grunde, im Solde von Holländischen Buchhändlern, die einen Stoff der Zeit bearbeitet zu sehen wünschen; aber Männer von einem gewissen Talent, welche manches Neue hinzufügen, und dem rohen Material die in dem Reiche der europäischen Literatur gebräuchliche Form geben. Deren Arbeit macht sich ein Hofmann zu eigen; unter dem Vorgeben, Denkwürdigkeiten zu verfassen, schreibt er ihre Bücher eigent- lich nur eines um das andere ab, indem er die Documente wegläfst, oder umarbeitet, das Ungleichartige verwischt und dem Ganzen durch eigene Zu- sätze wieder eine neue Farbe giebt. So bringt er den alten Stoff, der nie- mals verifieirt oder durchgearbeitet ist, vor das Publicum einer gewählten Gesellschaft. Nun gewinnt derselbe Credit und geht in die Geschichtsbü- cher und die allgemeinen Anschauungen über.

Werfen wir noch einen Blick auf die Einschaltungen und Zusätze, mit welchen Pöllnitz den überkommenen Stoff ergänzt.

Einige sind recht brauchbar z. B. der Abschnitt über Clement, nicht über seine Anfänge und Betrügereien, wo alles ebenfalls Copie ist, aber über seine persönlichen Beziehungen zum König, und seinen Procels; da haben dem Verfasser bessere Nachrichten zu Gebote gestanden. Die meisten aber aus der Zeit, wo er nicht in Berlin war, haben wenig Werth und tragen das Gepräge des Hörensagens.

Wenn er über die erste Zusammenkunft Seckendorf’s mit dem Kö- nig berichtet, so hat es bei ihm den Anschein, als habe Friedrich Wil- helm den Grafen noch gar nicht gekannt, und erst durch Andere auf ihn aufmerksam gemacht werden müssen. Er kannte ihn aber längst persön- lich, und stand mit ihm in Briefwechsel. Die Unterhaltung nahm einen ganz anderen Verlauf als Pöllnitz angiebt; Seckendorf brauchte nicht mit der Gewandtheit, die ihm hier zugeschrieben wird, auf seinen Gegenstand hin-

528 RıAneke:

zulenken, der König kam ihm gleich mit seinen veränderten Gesinnungen entgegen. Genug ganz falsch ist es nicht, was Pöllnitz erzählt, aber für wahr kann es nicht gelten.

Auch damals war Pöllnitz noch nicht anwesend, als die Entzweiung Friedrich Wilhelms mit seinem Sohne eintrat, über die er sehr ausführlich Bericht erstattet.

Der Augenschein lehrt, dafs Pöllnitz, der ungefähr ein Jahrzehend nach der Markgräfin schrieb, die Erzählungen derselben nicht so geradezu in sein Buch herübergenommen hat, aber er folgt ihr im Gange seiner Dar- stellung nicht selten Schritt für Schritt und zuweilen copirt er sie eben- falls. Manche Ubereinstimmungen könnten zufällig sein und in der Sache beruhen; bei andern aber läfst sich dies nicht denken. Wenn er z.B. S. 209. den Jugendfreund Friedrich’s, Katt, als pockennarbig und überhaupt nicht schön beschreibt, so könnte es ein Zufall sein, dafs er dies in den Ausdrücken der Markgräfin thut; wenn er aber hinzufügt: „avec des soureils epais qui lui donnoient une physionomie funeste,” so wie die Markgräfin sagt S. 159. „deux soureils noirs lui couvroient presque les yeux; son regard avoit quelque chose de funeste, qui lui presageoit son sort,” so mufs man annehmen, dafs er die Worte der Markgräfin vor Augen hatte. Ebenso ist die weitere Schilderung von Pöllnitz „libertin al’exces, il affectoit de n’avoir point de religion, et donnoit dans la debauche)outree” eine Wiederholung dessen, was die Markgräfin sagt: „il faisoit !esprit fort et poussoit le liber- tinage A lexces;” Pöllnitz schildert manche Persönlichkeit Anders als die Markgräfin, bei Katt aber, den er wahrscheinlich nie gesehen, copirt er die Grundzüge ihrer Beschreibung. Das Auffallendste ist, dafs in den beiden Werken manche Dinge auf eine gleiche Weise unrichtig dargestellt werden, z.B. die Audienz von Hotham. |

Wenn Pöllnitz einmal sagt: „je tiens de Madame la Margrave de Bareuth etc.”, so ist das wohl nur eine Form des Ausdrucks; die Ähnlich- keit der Erzählungen ist so stark, dafs sie schwerlich auf mündlichen Mit- theilungen beruhen kann. Ein und das andere Mal coincidiren sie ganz.

Pöllnitz 230. Mem. de Baireuth 239. Il demanda d’un ton menagant, pourquoi il Il interrogea mon frere et lui demanda avoit voulu deserter. Parceque vous m’avez d’un fon furieux, pour quoi il avoit voulu

traite jusqu’ ici, non comme votre fils, mais deserter. (ce sont ses propres expressions Jusq

Zur Kritik Preufsischer Memoiren.

comme un esclave”, r&pondit le Prince. Vous etes un läche deserteur”, reprit le Roi, „qui n’avez ni coeur, honneur”. „len ai autant que vous,” repliqua le Prince, et „je n’ai voulu faire, que ce que vous m’avez dit

929

„Parceque,” lui r@pondit il d’un ton ferme, „vous ne m’avez pas trait@ comme votre fils, mais comme un vil esclave”. „Vous n’etes done qu’un läche deserteur,” reprit le roi, „qui n’a point d’honneur”. „Ten ai autant

souvent ue vous feriez, si vous &liez ä ma E} place.”

que vous,” lui repartit le prince Royal; „je n’ai fait que ce que vous m’avez dit cent fois, que vous feriez, si vous @tiez A ma place”.

Eine so völlige Gleichförmigkeit der Erzählung scheint mir unmög-

lich, wo nicht ein Autor den andern vor Augen hat. Wenn daneben man- nichfaltige Abweichungen vorkommen, so mag das damit zusammenhängen, dafs es von dem Werke der Markgräfin mehrere von einander verschiedene

Redactionen giebt.

Nach alle Dem könnte es scheinen, als würde man keinen Verlust zu beklagen haben, wenn man die Memoiren von Pöllnitz ganz aus der Reihe

Brandenburgischer Denkmäler ausstriche. Das ist jedoch meine Meinung

5 mit nichten.

Der Fehler

von Pöllnitz war, dafs er eine Geschichte zu verfassen unternahm, wozu

Niemand sollte mehr schreiben wollen, als was er weiß. es ihm an eigentlicher Befähigung fehlte. Sehr wohl befähigt war er dage- gen, Memoiren über den Preufsischen Hof in der Zeit, die er sah und dort mit durchlebte, zu schreiben: was sich in seinem Buche auf diese späteren Jahre bezieht, ist lesenswürdig und gröfstentheils original.

Schon die Geschichte der Theilnahme Friedrich Wilhelms I. an dem Rheinischen Feldzuge hat eigenthümliche Züge; noch charakteristischer sind einige andere, wie die Äufserungen des Königs über sein Verhältnifs zu Hol- land, sein Betragen beim Tode Grumbkow’s, die der Verfasser aus persönli- cher Kenntnifs mittheilt; unläugbaren Werth hat der Bericht über König Sta- nislaus von Polen, seine Flucht aus Danzig, seine Aufnahme in Berlin, wo- bei Pöllnitz selbst der Ceremonienmeister gewesen ist; auch die Notizen über die Bauten zu Berlin unter Derschau, über die Thaten und Leiden des famo- sen Eckart sind willkommen; die Nachrichten über den Zustand Friedrich Wilhelms in seinen letzten Tagen mit denen das Buch schliefst, verdienen die Berücksichtigung, die sie gefunden haben.

Philos-histor Kl. 1849. Xxx

530 Rıneke:

Wenn man diefs bemerkt, so wird man um so begieriger, die Auf- zeichnungen zu sehen, die Pöllnitz noch über Friedrich II. hinterlassen hat.

Pöllnitz hat Friedrich II. im ersten Augenblicke seiner Regierung be- sucht, als ihm das Glasenappsche Regiment unter seinem Fenster ein Lebe- hoch rief, und an seiner ersten Hofhaltuug einen gewissen Antheil gehabt. Nur auf diese ersten Tage beziehen sich seine Aufzeichnungen; sie sind ohne Vorliebe und tragen das Gepräge des unmittelbaren Eindruckes, wir besitzen sie noch in der eignen Handschrift, des Verfassers.

Zur Kritik Preufsischer Menaisen. 531

I. Über die Glaubwürdigkeit der Memoiren der Markgräfın

von Baireuth,

Alle Mängel der früheren Literatur über Friedrich Wilhelm I. sollten dadurch gehoben und ausgeglichen scheinen, dafs eine geistreiche Frau, seine Tochter, die Markgräfin Friederike Wilhelmine von Baireuth Denkwürdig- keiten hinterlassen hat, die sich über seinen Hof, seine Familie und seine Regierung mit grofser Ausführlichkeit verbreiten. Seitdem die Memoiren der Markgräfin erschienen sind, haben sie in der That die historische Auf- fassung beherrscht. Die gelungene Skizze, welche Friedrich II. selbst von der Regierung seines Vorgängers entworfen hat, ist von dieser das Geheim- nifs der Familie preisgebenden anschaulichen Schilderung in den Hintergrund gedrängt worden. Wenn er den Vater gelobt hat, so rechnet man ihm diefs als eine Art von Grofsmuth an, da er von demselben persönlich mifshandelt worden ist; der Markgräfin weils man Dank, dafs sie keine Rücksicht genom- men, Niemand geschont hat, weder den Vater, noch die Mutter, hier und da auch den Bruder nicht; ein treues Bild jener Persönlichkeiten glaubt man vor sich zu haben.

Und ein Glück, wenn es sich so verhält, wenn diese Memoiren wirk- lich eine zuverlässige Kunde über eine so wichtige Epoche darbieten. Aber ohne Prüfung dürfte man es nicht annehmen: auch die Erzählungen einer Tochter über ihren Vater können nicht ohne Weiteres als Wahrheit gelten. Unter gewöhnlichen Umständen würde man voraussetzen, dafs sie zu seinen Gunsten eingenommen wäre: kann aber unter andern Verhältnissen nicht auch das Gegentheil Statt finden? Wenn die Wünsche der Tochter nicht befriedigt werden, die Charaktere sich abstofsen, kann sie nicht in eine Ver- stimmung gerathen, welche sie ungerecht auch gegen ihre Familie macht? Eine

Prinzessin, welche häufig von den Dingen hört, ohne sie gründlich zu er- Xxx?2

532 RAnwkKe:

fahren, von Allem, was ihren Ansprüchen entgegenläuft, persönlich gereizt wird, kann an und für sich nicht als eine sichere Autorität in der Geschichte betrachtet werden.

Treten wir an das vor uns liegende Werk näher heran, so stofsen wir von vorn herein auf eine äufsere Schwierigkeit, die uns in eine nicht geringe Verlegenheit setzt.

Die Memoiren der Markgräfin sind zuerst in einer Deutschen Über- setzung, gleich darauf im Französischen Original erschienen, doch zeigt der erste Blick, dafs diese beiden Veröffentlichungen nicht zuammenstimmen, die Übersetzung auf einer eigenthümlichen und abweichenden Fassung beruht. Aber überdiefs giebt es Abschriften, die weder mit der einen, noch der an- deren, noch auch untereinander selbst übereinstimmen. Unter fünf Co- pien, die das königliche Staatsarchiv aufbewahrt, finden sich vier von ein- ander abweichende. Die einzelnen Erzählungen sind an sich ungleich; und in dieser Form bald auf die eine, bald auf die andere Weise an einander gereiht, in einander geschoben; auf Übereinstimmung folgt Verschiedenheit, auf Verschiedenheit Ubereinstimmung. |

Ich glaubte Anfangs, die Copien würden sich durch Auseinanderneh- men und Zusammensetzen auf zwei Redactionen zurückbringen lassen: doch ist dies, wenigstens in Bezug auf die Abfassung der einzelnen Abschnitte, nicht möglich; obgleich wir nicht dafür stehen können, das Material vollstän- dig vor uns zu haben, so trifft man doch Stellen, in denen vier verschiedene Hände oder Fassungen erscheinen. So heifst es in der Erzählung über die be- kannten Intriguen des Clement in einer ersten Redaction: „hätte er die Briefe

5 wäre Grumbkow verloren gewesen;” in der zweiten: „da er die verspro- 5 ) P

vorlegen können, zu deren Vorlegung er sich anheischig gemacht hatte, so

chenen Briefe nicht vorlegen konnte, so wurde Alles, was er vorbrachte, als falsch betrachtet;” die dritte fügt hinzu, als ei mit Grumbkow confrontirt worden sei, habe sich gezeigt, dafs er denselbenigar nicht einmal persönlich kenne; in der vierten wird, wie bei Pöllnitz,'Jablonski erwähnt, der in den früheren nicht vorkommt. Diesem Schwanken im Kleinen entspricht es dann, dafs sich über die Hauptsache Nichts findef, was der Rede werth wäre.

Zuweilen sind die Abweichungen, wie eben hier, nur unbedeutend, zuweilen aber sind sie wesentlich.

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 933

Nach der gedruckten Französischen Redaction z. B. macht die Köni- gin Schulden im Spiel; Grumbkow vermuthet, dafs sie, um dieselben zu bezahlen, ein paar kostbare Ohrringe, die sie von ihrem Gemahl zum Ge- schenk bekommen hat, verpfändet habe und sagt diefs dem König; die Kö- nigin aber zeigt ihm, dafs sie dieselben noch besitzt. (*) Eine an sich un- wahrscheinliche Erzählung, deren Credit aber dadurch noch besonders er- schüttert wird, dafs sie in der im Archiv mit No.3. bezeichneten handschriftli- chen Copie unter sehr veränderter Gestalt vorkommt. Da ist der König schon immer mifsvergnügt, dafs die Königin sich zu kostbar kleide; dennoch macht erihr ein Geschenk mit ein paar Ohrringen, welche auf 26,000 Rihlr. ge- schätzt werden, und die sie zu haben wünscht; Grumbkow sagt ihm, sie habe dieselben nur gefordert, um damit ihre Schulden zu bezahlen, die er jedoch nicht als Spielschulden bezeichnet. Kam es bei der ersten Erzäh- lung hauptsächlich darauf an, auch diesen Fehler zur Sprache zu bringen?

So ist es an vielen Stellen: die Geschichten, wie sie in den verschiedenen Texten erscheinen, haben eine grofse Ähnlichkeit unter einander, weichen aber doch auch wieder erheblich von einander ab. Es ist, als wenn man eine und dieselbe Anekdote von verschiedenen Erzählern vortragen hörte; Einer glaubt sie immer besser zu wissen, als der Andere: Jeder schmückt sie auf seine Weise aus.

Wir besitzen jetzt die autographe Handschrift der Markgräfin in den aus ihren Briefen bekannten grofsen Schriftzügen, welche bei dem französi- schen Drucke zu Grunde gelegt worden ist: sie setzt nicht allein dessen Authentieität aufser allen Zweifel, sie ist besonders dadurch merkwürdig, dafs man die Correcturen wahrnimmt, durch welche der Text, wie er vorliegt, noch zuletzt zu Stande gekommen ist. Hie und da erscheinen gleichsam zwei neue Redactionen neben einander; die letzten Veränderungen, von der Hand der Markgräfin selbst, sind meistens in einem ihren Eltern ungünstigen Sinne gemacht. Wenn es z.B. von der Königin Anfangs hiefs, sie sei eifersüch- tig, ehrgeizig, argwöhnisch, so schien dies der Verfasserin späterhin nicht genug. Der verbesserte Text lautet: ihr Ehrgeiz ist übermälsig, sie ist

(*) Die im Druck an dieser Stelle fehlenden Worte lauten: „ses pierreries pour lui prouver la fausset@ des accusations;” sie sind defshalb ausgefallen, weil im Autograph die obere Zeile der

Seite abgerissen war, finden sich aber in einer früher genommenen Abschrift.

534 Rank

äufserst eifersüchtig, von argwöhnischem und rachsüchtigen Gemüth. Die bekannte Stelle, in welcher das grofse Regiment als der Canal zur Gnade Friedrich Wilhelms I. bezeichnet wird, ist nur erst zuletzt an den Rand ge- schrieben. In dieser Art sind die meisten Veränderungen. Eine Schilde- rung bemerkte ich, die von fremder Hand eingelegt ist und sich wörtlich in anderen sonst abweichenden CGopien findet.

Ich will in eine Untersuchung des Verhältnisses der verschiedenen Copien und Überarbeitungen nicht eingehen. Es liefse sich denken, dafs der letzten definitiven Redaction, von der wir das Autograph übrig ha- ben, andere vorhergingen, von denen man Abschriften nahm und von Hand zu Hand gab. Vielleicht wurden mündliche Erzählungen einzeln aufge- zeichnet und erst später, nicht ohne Willkür, zu einer umfassenden Darstel- lung verbunden. Zuweilen sieht es aus, als sei von den verschiedenen Dar- stellungen die eine die Umarbeitung, Ausschmückung der anderen.

Um wenigstens ein Beispiel hiervon zu geben, will ich die Abweichun- gen der Darstellung über einen an sich sehr unbedeutenden Vorfall, über den sich aber zufällig noch ein anderes Zeugnifs findet, zusammenstellen.

Bei einem Besuch in Charlottenburg im Jhhre 1723 wurde der König Georg I. von England, nachdem man ein langes Abendessen gehalten, als man aufstand, von einer Art von Ohnmacht betroffen. Wie man aus der Erzählung des Sächsischen Residenten sieht, hatte Das nicht viel auf sich. Die Schwäche, die davon herrührte, dafs der König vor Tafel nicht allein sein konnte, ging auf der Stelle vorüber; der König konnte seine Tochter in ihr Zimmer zurückführen; (*) dann begab er sith in das für ihn bestimmte;

er brauchte nur Ruhe.

(#) „Les Roys et la famille Royale souperent & huit ae il n’y eut que les deux Secre- taires d’Etat et M. de Scott Envoy€ de S.M. Britannique, qui furent admis ä la table Royale, tout le monde se dispersa dans d’autres apartements, ou les Dames se mirent ä leurs tables et les Cavalliers aux leurs, suivant usage regu ici. |

Vers les deux heures que tout le monde £toit rentr& dans la grande salle, otı souperent les Roys, S. M. Britannique se trouva mal; les Secretaires l’Etat furent les premiers, qui s’en apergurent et en t@moignerent des inquietudes extraordigaires jusquä ce que la Reine s’en apercevant proposa de se lever. Mais le Roy d’Angleterre ne füt pas plutöt debout qulil commenga & chanceler et un moment apres il tomba Evanoui entre les bras de Leurs Majestes

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 535

Man kann sich darauf verlassen, dafs nichts weiter vorkam; welches Interesse hätte Suhm haben können, die Sache anders zu erzählen, als sie war? Er ist ohnehin als ein einfacher und zuverlässiger Mann bekannt.

In den Memoiren erscheint der Vorfall ganz anders und zwar, wenn wir die Copien nachsehen, in drei verschiedenen Gestalten.

Nach der Redaction, die sich in der Berliner Handschrift no. 3. be- findet, legte man den König auf die Erde, er blieb eine ganze lange Stunde ohne Bewusstsein, man glaubte allgemein, sein Zufall sei ein Vorbote von Apoplexie, die ganze Nacht befand er sich schlecht. (*)

In einer zweiten Redaction, welche bei der Deutschen Ausgabe be- nutzt worden ist, wird der Anwesenheit der beiden Englischen Staatssekre- täre bei der Tafel gedacht; der eine von diesen, Lord Townsend, bemerkt, dafs der König sich unwohl fühlt, und läfst durch die Prinzessin die Kö- nigin bitten, die Tafel aufzuheben; indem man endlich aufsteht, schwankt der König und man sucht ihn vergebens aufrecht zu halten; „seine Perücke fällt auf die eine, sein Hut auf die andere Seite;

?

er mufs eine Stunde auf dem Boden liegen, ehe er wieder zu sich gebracht werden kann.

In der dritten endlich, der des Französischen Druckes, lesen wir die Bemerkung, dafs Georg I. wahrscheinlich defshalb so stumm geblieben, weil er sich des Sprüchworts erinnert habe, es sei besser zu schweigen, als schlecht zu sprechen; der Staatssekretäre geschieht keine Erwähnung; der König von England wird diefsmal vom König von Preufsen einen Augenblick aufrecht gehalten; aber er fällt, die Perücke auf die eine, der Hut auf die

Prussiennes. L’alarme et la consternation füt grande, cependant le mal se passa in- continent, n’etant qu’une faiblesse caus@e par la contrainte, ou il avait die, n’ayant pu se trouver seul, avant de se mettre ä table. On envoya d’abord chercher le m£decin Stahl; mais S. Maj. Britannique n’ayant besoin que de repos, ramena la Reine dans ses apartements et se rendit dans ceux, qui lui avaient &t€ prepares.”

(*) Handschrift No. 3. S. 59.

„On se mit enfin ä table, ol ce Prince resta toujours muet. Il se trouva mal & la fın du repas et tomba sur ses genow. On le coucha tout doucement A terre, il resta une grosse heure sans sentiment. Les soins qu’on prit lui firent enfin revenir ses esprits. Le Roi et la Reine se desolaient pendant ce temps; et bien des gens ont cru que cette attaque £tait un avant-coureur d’apoplexie. Ils le prierent instamment de se relirer, mais il ne le voulut pas et reconduisit la Reine dans son apartement. Il fut tres mal toute la nuit, ce qu’on apprit sous main, mais cela ne l’empecha pas de reparaitre le lendemain.”

536 Rınks:

andere Seite, in seine Knie, er mufs die ganze Stunde auf dem Boden lie- gen; doch läfst er sich auch dann noch nicht verhindern, die Königin in ihr Zimmer zurück zu begleiten. (*) -

Wenn man annehmen dürfte, dafs diese verschiedenen Redactionen alle von der Prinzessin selbst stammen, so würde sich gleichsam eine Stei- gerung ihrer Phantasie und Neigung zur Afterrede wahrnehmen lassen; ich habe darüber nicht einmal eine Vermuthung, die ich aussprechen möchte; aber Das leuchtet ein, dafs wir uns hier nicht auf dem Boden ruhiger oder naiver Mittheilung, sondern einer ziemlich schwankenden Erinnerung befin- den, die, bewusst oder unbewusst, der Carikatur zuneigt.

Unter den Personen, die sie näher angehen, macht die Markgräfin kei- nen Unterschied; sie schont ihren Grofsvater eben so wenig, wie ihren Va- ter oder ihre Mutter. Man weifs, was nach den Berichten des zuverlässi- gen Suhm bei jenem Hubertusfeste in Wusterhausen vorkam. Wie nimmt sich das bei ihr so widerwärtig aus! Das aufwallende Gefühl, das jener Scene eine wirkliche Bedeutung giebt, verschwindet; nur das Groteske der Zustände bleibt übrig und rer in stark aufge tragenen Farben.

Wer kennt nicht solche Geister, die ee der Erschei- nung hervorzuheben, eine beifsende Bemerkung anzubringen, durch keine Rücksicht der Welt abgehalten werden können. |

Hier scheint es fast, als sei eine en Tendenz im Spiel: nicht besser hat Mademoiselle de Montpensier ihren Vater und ihre Verwandten behandelt; auch diefs war eine Prinzessin, die entfernt vom Hofe ihre Ein- samkeit mit der Erinnerung an denselben erfüllt hatte: ihre Memoiren wurden damals in ganz Europa gelesen.

Wir haben von der Markgräfin von Bairchth viele Briefe übrig, die einen ganz anderen Eindruck machen, als das Bich; sie sind weniger leicht und fliefsend geschrieben, aber reicher an Gedanken, gedrungener, ein- gehender.

Noch ein anderes Interesse bieten nun aber für unsere Untersuchung diese Briefe dar, wo sie, was leider nicht so oft geschieht, als wir wünsch-

(*) Die erste Hand des Autographs hat sogar: „,ils lui firent toutes les instances imaginables, pour le faire retirer.” In der Correctur ist die Verfasserin auf die Fassung der ersten Re- daction, die ihr also wohl vorliegen musste, zurückgekommen.

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 837

ten, Ereignisse berühren, die auch in den Memoiren erscheinen. Da über die meisten Vorfälle am Hofe keine andern Aufzeichnungen vorhanden sind, an denen wir ihre Wahrhaftigkeit prüfen könnten, deren sich auch kaum erwarten lassen, so mag sie denn über sich selber zeugen.

Ihre Denkwürdigkeiten über das Jahr 1732 eröffnet die Markgräfin mit Erinnerungen, die einen traurigen Eindruck machen. Obgleich sie, längst unwohl, den Tag vorher in der Kirche eine Ohnmacht gehabt, so habe die Königin doch das Dreikönigsfest bei ihr begehen wollen; aber sehr traurig sei dieses Fest ausgefallen; man habe gefürchtet, sie zu verlieren; (ils avoient tous les larmes aux yeux). Sonderbar, da ihr Befinden doch nur als ein Zei- chen ihres gesegneten Leibeszustandes angesehen wurde. Aber noch mehr erstaunt man, wenn man ihre Briefe an Friedrich eröffnet; einen ganz ande- ren Eindruck empfängt man da von dem Anfang dieses Jahres. Der erste er- zählt von einem sehr angenehmen Feste bei der Königin; nachdem man die Bohne gezogen, habe der Ball begonnen: um 10 Uhr das Souper, wo ein Jeder durch ein prächtiges Geschenk überrascht worden sei; nachdem man gegessen, getrunken und ausgelassen gewesen, habe der Ball noch einmal an- gefangen. (*) Kein Zweifel dafs hier von zwei verschiedenen Festlichkeiten die Rede ist; aber welch ein ganz anderes Bild von dem Leben am Hofe und dem Verhalten der Königin geben die Briefe als die Memoiren, die nur das Widerwärtige verzeichnen.

Die Markgräfin ging hierauf nach Baireuth, wo sie sich gleichsam in der Sklaverei ihres Schwiegervaters fühlte, so dafs sie gegen Ende Juni, hochschwanger wie sie war, nach Berlin zu reisen beschlofs.

Der Markgraf suchte sie abzuhalten, aber sie entschuldigte sich damit, dafs sie ihr Wort dem Könige, ihrem Vater, gegeben habe und machte sich auf nach Himmelskron. Hier stellt nach den Memoiren der Leibarzt des Markgrafen vor, dafs die Reise unfehlbar ihren Tod zur Folge haben werde;

(*) La reine nous donna hier une fete charmante, on tira la feve avant souper et elle Echüt ä la Growkow, le bal commenga gıi dura jusqu’ä 10 heures et on se mit a table, ou chacun fut bien surpris, de trouyer sous sa serviette un present magnifique: apres avoir bien mang£, bien bu et fait les foux, nous recommengames A danser, ce qui finit ä ı heure et demie qu’un chacun se mit sous la direction de Morphe entre deux draps. Cestä moiä present de don- ner la premiere fete: ensuite ce sera ma soeur Charlotte etc.

Philos. - histor. Kl. 1849. Yyy

538 RaneKe:

man möge ihr nur sogleich ihren Sarg mitgeben; diefs macht Eindruck auf ihren Gemahl, und auch sie giebt den vernünftigen Gründen und Bitten nach; sie beschliefsen zu bleiben.

Schlägt man die Briefe auf, so erscheint schon die ganze Lage in ver- änderter Gestalt. Man sieht, dafs das Land, welches einen Erben von der Prinzessin erwartete, über ihr Vorhaben abzureisen in Bewegung gerieth: mehr als hundert Bittschriften dagegen gingen bei Hofe ein; man drohte selbst mit einem Aufstande. Der alte Markgraf beschwor sie zurückzubleiben, er ward blafs, indem er sprach, und zitterte; er sagte ihr, es würde sein Tod sein, wenn sie gehe, aber sie blieb hartnäckig bei ihrer Absicht. Die Briefe beweisen, dafs sie dieselbe nicht aus eigener Bewegung fahren liefs; sie gab die Reise nur deshalb auf, weil ihr Vater sie unter diesen Umständen nicht . bei sich sehen wollte. Der Markgraf hatte eine Stafette an den König ge- schickt und Dieser war es, der ihr zu bleiben gebot. Hören wir ihre eige- nen Worte.

„Himmeleron le 5 Juillet. I’homme ptopose et Dieu dispose, car lors que je me voyais d&ja sur le point d’entreprendre l’heureux voyage, qui devait me mettre sur le comble de ma joie, le Margrave s’ayisa d’envoyer une Stafette au Roi pour le prier de me laisser ici et cela a mon insu. Dans Vesperance qu’on lui refuseroit sa demande, je suis venu ici avec tout mon bagage, pour y attendre les ordres, ce lieu €tani plus proche d’une lieue et demie d’Hof que Baireuth. Mais jugez de mon desespoir lors que j’ai recu ces ordres fatals, qui me prescrivirent de resterici; ils ont &t€ un coup de foudre pour moi.”

Nach den Memoiren sollte man ihren dortigen Zustand für unerträg- lich halten: sie habe dort bleiben müssen, sagt sie,,pour comble d’infortune:” in den Briefen erzählt sie doch, dafs die Luft von Himmelskron ihr besser bekomme, als die Baireuther, dafs man Alles thus, um sie zu trösten. „L’on m’accable ici de caresses et le Margrave fait ce qu'il peut pour m’obliger. Si je voulais accepter tous les presens que l’on mt veut faire, je le ruinerois, lui etle pays.” Aber davon konnte in den Deukkürdigkeiten nicht die Rede sein: wo die Absicht war, eine Laufbahn von Trübsalen (ma carriere d’ad- versites) zu vergegenwärtigen.

Nach ihrer Niederkunft begab sie sich im Nov. 1732 wieder nach Berlin: wie in ihren Memoiren ausführlich zu lesen ist. Indessen ein zu-

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 939

verläfsiges Tagebuch bilden diese nicht. Die Markgräfin erzählt, dafs sie, am 16ten angekommen, von ihrer Mutter mit einer stolzen Kälte und sogar mit Vorwürfen empfangen worden; den andern Abend sei der König ange- langt, ihr aber nicht besser begegnet; den Tag darauf habe sie das Vergnü- gen gehabt, ihren Bruder zu sehen „J’eus enfin le lendemain le plaisir de voir mon frere.”— Es ist doch sehr auffallend, dafs sich aus den Briefen ergiebt, dafs Friedrich im Laufe des November gar nicht, vielmehr erst nach der Mitte December nach Berlin kam. Am 29. November schreibt sie ihm klagend, sie sei nun schon 14 Tage in Berlin, ohne ihn gesehen zu haben: „Pensez, il ya demain quinze jours que je suis ici et que je n’y ai point vu, ce qui m’est plus cher que la vie.” Und nicht so unbedeutend ist das, wie es scheinen könnte: in diese erste Zeit ihres Aufenthaltes verlegt sie mancherlei merkwürdige Aufserungen, die nun zweifelhaft werden. Überhaupt stehen Memoiren und Briefe oft in schneidendem Widerspruch. Nach den ersten macht der König herbe Späfse über die Armuth seiner Tochter; auch er sei ein armer Mann, er wolle ihr aber von Zeit zu Zeit 10 bis 12 Gulden geben: die Königin solle ihr manchmal ein Kleid schenken, denn sie habe doch kein Hemd auf dem Leibe. In einem Briefe vom 22. November an ihren Bruder liest man dagegen: „Le Roi est fort gracieux envers moi, et m’en a donn& une terre de 22,000 ecus;” das war doch so übel nicht. So zeigt sie denn auch in den Briefen dieser Zeit eine heitere Stimmung: die Berliner Komödie, die Actricen in prächligem und altväterischen Putze, wie Notre Dame de Lorette, die Schauspieler, in deren Darstellung die Helden wie eben so viele Narren erschienen, schildert sie auch hier mit der besten Laune. Nach einiger Zeit aber traten Mifsverständnisse ein, der König fing an, den jungen Markgrafen schlecht zu behandeln. Die widerliche Scene bei Glasenapp erzählt sie in dem Briefe an ihren Bruder in etwas milderen Far- ben, aber sehr ähnlich wie in den Memoiren; nur hätte sie da auch den Grund des Unwillens, den ihr Vater gefafst hatte, angeben sollen. Aus einem Briefe Friedrichs sieht man, dafs der junge Markgraf dem König zu viel sprach, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wer es war, mit dem er sprach; er be- kümmerte sich nicht genug um sein Regiment und endlich, was Friedrich jedoch nur umschreibend ausdrückt, er wollte Geld haben. Dadurch wird das Betragen des Königs wenigstens erklärlich; in den Memoiren sieht man nur einen halb unvernünftigen gewaltsamen Hausvater vor sich.

Yyy2

540 RAneke:

Auch die Königin erscheint in weniger ungünstigem Lichte in der Cor- respondenz: nach einem Briefe vom 31. Januar war sie es gerade, durch deren Vorstellungen das Betragen des Vaters verändert wurde. Das Übrige that die Krankheit des Markgrafen und bald darauf erfolgten wieder kleine Geschenke. Am 14. März schreibt die Prinzessin: „Le Roi est fort bien a present avec le Margrave et lui fait bon accueil.”

In dem Buche musste nun einmal Alles ins Häfsliche gemalt werden. Man erinnert sich der lächerlichen Figur, die der Herzog von Weimar darin spielt; er erscheint vollkommen toll und thöricht; in den Briefen hat sie ihn selbst in Schutz genommen.

Wohl wahr, dafs man auch in Briefen nicht immer Alles sagt, was man später in Memoiren der Nachwelt mitzutheilen kein Bedenken trägt. Das gilt doch aber nicht von Privatangelegenheiten wie diese, nicht von Briefen an einen vertrauten Bruder, der selbst das Scherzhafte liebt. Wenn eine spätere Aufzeichnung kleine Vorfälle des Lebens anders erzählt, als sie ur- sprünglich mitgetheilt werden, so ist die Wahl nicht schwer. Denn leicht verwischen sich die momentanen Verhältnisse im Gedächtniss, das von dem allgemeinen Eindruck beherrscht wird. Auch solchen Geistern begegnet man ja, denen es bei aller sonstigen Begabung unmäglich ist, die Ereignisse so festzuhalten, wie sie sich zutragen. |

Wie die Sachen in den Briefen erscheinen, sind sie natürlich und las- sen sich verstehen: wie sie in den Memoiren geschildert werden, sind sie unerklärlich und abenteuerlich.

Dazu kommt aber, dafs die Markgräfin üker viele Dinge, welche sie sehr nahe angingen, schlecht unterrichtet war.

Oft und ausführlich spricht sie von den Bewerbungen des Herzogs Johann Adolf von Weifsenfels um ihre Hand: se hat nie erfahren, woran diese scheiterten. Aus dem noch vorhandenen Briefwechsel ergiebt sich, dafs ihre Mutter es war, welche der Sache dadurch ein Ende machte, dafs sie sich an das Familienhaupt, den König von Polen, wandte; dieser Fürst kam ihr hierin zu Hülfe, nicht etwa aus Eifersucht, die fern von ihm war, sondern weil diese Verbindung einer Nebenlinie seines Hauses ein Ansehn gegeben hätte, das ihm unbequem gewesen wäre.

Anderes behauptet sie zu wissen, was sich nicht so findet. Sie versi- chert, dafs bei dem Aufenthalt ihres Grofsvaters in Charlottenburg ein Ver- trag zu Stande gekommen sei (12. Oct. 1723), worin man eine Doppelhei-

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 541

rath zwischen den Kindern der beiden Häuser beschlossen habe. Ich sah den Vertrag; er ist für die damaligen Verhältnisse von grofser Wichtigkeit, von der Heirath steht jedoch kein Wort darin.

Sie erzählt beim Jahre 1729 und meint damit ein grofses Geheimnifs zu eröffnen: der indefs auf den Thron gelangte König Georg II. von England habe seinem Sohn Friedrich, welcher sich noch in Hannover aufhielt, befohlen, nach Berlin zu gehen und sich mit ihr zu vermählen, dann würde er sich mit demselben öffentlich entzweien können und einen Vorwand haben, ihn nicht nach England kommen zu lassen, was das Parlament forderte; durch die Geschwätzigkeit ihrer Mutter sei jedoch dieser Plan ausgekommen und dadurch verhindert worden. Wie chimärisch sieht ein so weit angeleg- ter politischer Kunstgriff schon von vorn herein aus! Das einzige Wahre daran ist, dafs sich Prinz Friedrich in eine gewisse Verbindung mit dem Ber- liner Hofe zu setzen suchte: jedoch geschah das etwas früher; im Dezember 1728 war er bereits nach England berufen worden. Ganz unrichtig ist die Voraussetzung, dafs Georg Il. mit dem Prinzen einverstanden gewesen sei. Wäre derselbe nach Berlin gegangen, so würde eine einseitige Vermählung mit ihr zu Stande gekommen sein: aber eben diefs war es, was der Englische Hof nicht wollte und woraus sich auch die Nation nichts machte. Beide wünschten eine Familienverbindung von politischer Bedeutung, um den Kö- nig von Preufsen wieder in das Englische Interesse zu ziehen und diese sahen sie nur in der doppelten Vermählung. Eine solche war es, welche der Engli- sche Resident Du Bourgay ım 12. Dezember 1728 in Vorschlag brachte, wo- rüber man in Berlin zu Rithe ging und welche König Friedrich Wilhelm 1. im Anfang des Jahres 1729 eben darum verwarf, um sich nicht politisch fesseln zu lassen. Von der eigentlichen Lage der Dinge weils die Prinzes- sin nichts; die Erinnerunz an einzelne Vorfälle, die ihr zurückgeblieben ist, combinirt sie auf eine ihr selbst vortheilhafte Art; immer mufs es aus- sehen, als sei auf allen Seiten Nichts als Intrigue und Unbesonnenheit gewe- sen und sie allein das unscauldige und grofsmüthige Opfer.

Es ist sonderbar, dals ihr keine Erinnerung von dem Einflusse geblie- ben ist, den die Werbeir:zungen mit Hannover, in deren Folge die Un- terhandlung eine Zeit lang unterbrochen wurde, auf ihre Angelegenheit hatten; sie setzt dieselben ir das Jahr 1726: sie fielen aber erst 1729 vor, und ihre Nachwirkung erfüllte noch die ersten Monate von 1730.

542 RıAank&Kke:

Über dieses Jahr, das für sie entscheidend wurde, spricht sie sehr aus- führlich, doch ist ihre Kenntnifs Dessen, was wirklich vorgefallen, mangel- haft und ihre Erinnerung verworren.

Die Prinzessin schreibt die Sendung von Sir Charles Hotham nach Berlin einer geheimen Mission ihres Englischen Sprachlehrers zu, die sie so spät setzt, dafs sie die Ankunft Hotham’s nicht vor dem Mai annehmen konnte; sie läfst dieselbe am 2. Mai erfolgen. In der That aber langte Ho- tham schon einen Monat früher an; er hatte seine erste Audienz, wobei er gleich mit seinen Anträgen hervortrat, bereits am 4. April. Jene ganze Mo- üvirung zerfällt in Nichts.

Die Prinzessin behauptet, ihr Vater habe nach der Audienz bei Tafel die Gesundheit seines Schwiegersohnes, des Prinzen von Wales, ausgebracht. Wie läfst sich das von ihm denken, da er dem Gesandten befahl, kein Wort zu sagen, bis er selbst nach Berlin komme; er hatte sich vielmehr ausgedacht, wie er seine Tochter, wenn die Sache so weit sei, mit der Nachricht über- raschen wollte. Es mag sein, dafs Etwas von dem Antrage verlauiete, dafs man der Prinzessin mancherlei Schmeichelhaftes über ihre Zukunft sagte, aber wie falsch ist es, wenn bei ihr Hotham den Köniz bittet, Stillschweigen zu beobachten, da die Urkunden ergeben, dafs vielmehr der König den Gesand- ten ersuchte, „stille zu sein.”

Manche Briefe, die sie mittheilt, stimmen so schlecht zu der wirkli- chen Lage der Sache, dafs man an ihrer Ächtheit zu zweifeln anfängt z. B. an dem Schreiben welches sie im Namen ihres Bruders an die Königin von England richtete, und das Dieser ohne Widerrede unterzeichnet haben soll: ihre Mutter kannte die Lage der Dinge zu gut, ım einen solchen Brief zu billigen. Wahrscheinlich hatte sich ein Entwurf, den sie in ihrem Sinne gemacht hat, in ihren Papieren erhalten, dem sie nach der Hand eine grö- fsere Bedeutung beilegte, als ihm ursprünglich zukam.

Der Prinzessin zufolge machte der König von Preufsen den Antrag, dafs sein Kronprinz bei der Vermählung Statthaiter von Hannover würde, und im Feuer der ersten Berathung ist dem König wirklich dieser Gedanke durch den Kopf gegangen; bei nochmaliger Erwigung hat er ihn jedoch ver- worfen; die Actenstücke zeigen, dafs der förmliche Antrag von England kam, der König von Preufsen ihn entschieden ron sich wies.

Zur Kritik Preufsischer Memoiren. 843

Die Hauptbedingung wäre nach der Prinzessin gewesen, dafs der Kö- nig Grumbkow, der mit Reichenbach Intriguen schmiede, entfernen sollte. Die Wahrheit ist, dafs Hotham sich über Reichenbach beschwerte, dessen Briefe beleidigende Unwahrheiten enthielten; der König willigte ein, ihn zurückzuberufen; Grumbkows ist damals nicht erwähnt worden. Ich will nicht in Abrede stellen, dafs die Absicht gleich anfangs auch gegen Grumb- kow gerichtet war, aber sie trat noch nicht hervor; wie die Markgräfin die Dinge vorstellt, haben sie sich nicht ereignet. Ihre Erzählung ist der späte Wiederhall einer gleich von Anfang unrichtigen Auffassung.

Sie versichert, man habe für die Englische Prinzessin 100,000 Pfund Mitgift versprochen und für die Preufsische keine Aussteuer haben wollen. Da kannte sie den Englischen Hof schlecht; von der Aussteuer der Preufsi- schen Prinzessin ist mehr die Rede, als von der der Englischen.

Sie scheint durch das Gefühl beherrscht zu sein, dafs das Glück, einmal den Englischen Thron zu besteigen, ihr nahe stand; dafs es ihr nicht zu Theil geworden ist, giebt sie denen Schuld, die mit dieser Sache in Berührung gekommen sird, und hat sich dadurch gerächt, dafs sie ihnen schlechten Ruf bei der Nachwelt gemacht hat.

Dafs diefs ihre Absicht gewesen sei, will ich nicht sagen: so ernsthaft von der moralischen Seite darf man das Buch vielleicht gar nicht nehmen.

Die Markgräfin vor Baireuth ist eine von den Persönlichkeiten, in denen sich die Sinnesweise des achtzehnten Jahrhunderts von der Denkart und den Gewohnheiten der früheren Zeit losrifs. In wem aber wären diese so ab- stofsend und gewaltsam erschienen, als in ihrem Vater und seiner Umgebung, jenem Grumbkow, Anhalt, Seckendorf? Die Tochter war in allem ihren Dichten und Trachten dem Vater entgegengesetzt und in diesem Widerspruch hat sie ihr Buch geschrieben. Dafs auch in ihrer Sache Rücksichten des Staates und der Politik eintreten konnten, davon hatte sie keine Ahnung; nur auf den engen Umkreis persönlicher Angelegenheiten concentrirte sich ihr Augenmerk. Ohne Zweifel war der Hof voll von Intrigue: auch sie war deren oft beschuldig: worden: in einem ihrer Briefe sagt sie, man halte sie für intriguant; aber sie irrte, wenn sie alles der Intrigue zuschrieb. Indem sie aber Andere anklagt und sich vertheidigt, ergötzt sie sich zu- gleich. Das von Anfang an nicht recht Gesehene, im Gedächtnifs Verwischte trat ihr, als sie es sich w.eder vergegenwärtigte, in einer ihrem Widerwillen

544 Ranke: Zur Kritik Preufsischer Memoiren.

entsprechenden Gestalt vor den Geist. Gar oft mag sie in ihrem Kreise die Scenen wiederholt und in ihre Auffassung sich noch mehr hineingeredet haben; endlich schrieb sie dieselben nieder. So Viele giebt es, denen eben schriftliche Afterrede das gröfste Vergnügen gewährt. Unmöglich könn- ten ihre Erzählungen, denen eigene Erinnerung zu Grunde liegt, durch und durch falsch sein; aber das Wahre ist allenthalben mit Falschem versetzt. Man möchte bei Überlieferungen dieser Art den euripideischen Wunsch wiederholen, dafs es zweierlei Ausdrucksweisen der Menschen geben sollte, die eine für die Wahrheit, die andere für das Gegentheil. In diesem Bu- che erkennt man allerdings den damaligen Preufsischen Hof und seine Mit- glieder wieder: aber sie erscheinen nicht wie sie wirklich waren, im natürli- chen Licht des Tages; sondern unter dem einseitigen Gesichtspunkte einer geistreichen Prinzessin, die ihrer Verstimmung und ihrem carikirenden Ta- lente freien Lauf läfst. Das Wahrste daran ist der Gegensatz der Persön- lichkeiten selbst, in denen sich der Geist verschiedener Menschenalter dar- stellt, und die hier in Einer Familie schroff aneinander treffen.

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Einige berichtigungen zu der abhandlung über

. 220

das verbrennen der leichen

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von herrn JACOB GRIMM.

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z. 14 zu lesen allvater für altvater.

.20 AA Ta uw. Athenaeus IV p. 159 berichtet aus Chrysippus von einem geizhals, der sich geld in den xıruv genäht hatte, za: &vduvra aurov ämısaglaı reis oixeioıs Saar ourws, u TE nauravras, m TE Segareuravras. er wollte weder verbrannt noch ausgekleidet sein, damit man des geldes nicht gewahre.

. auch Macrobius Saturn. 2, 16: arbores quae inferum deorum aver-

tentiumque in tutela sunt, eas infelices nominant, alternum sanguinem, filicem, ficum atrum rubum sentesque, quibus portenta prodigia- que mala comburi jubere oportet. vgl. Bergk monatsnamen p.49.50.

. was Lucrez 6,1275 ff sagt von mos sepulturae, humari, rogorum

exstructa ist alles aus Thucydides 2,52 entnommen und für den rö- mischen brauch unerheblich.

nach inschriften: 0. Caesar Germanici Oaesaris filius hie crematus est. Tiberius Caesar Germanici Caesaris filius hie crematus est.

es wird unterschieden humandi sepeliendi jus potestas, humatus se- pultusve, vgl. sepelire urereve. Auch funus scheint wie fumus der wurzel fu = dhu = hu zugehörig, also todtenverbrennung. Pott 1,211.

. Diodor sagt 5, 28, dafs die Gallier in die flamme des scheiterhaufens

geschriebne briefe an die verstorbnen zu werfen pflegten. auch mel- det er, was zu Caesar 6,17 stimmt, dafs die missethäter in Gallien alle fünf jahre auf solchen grofsen scheiterhaufen verbrannt wurden. Strabo 4,198 nennt diesen scheiterhaufen »oAcrrev Xogrou nal Evruv. z. 22. von den bigen. Lanz. 1540. gein den bigen. Lanz. 2337.

Philos.- histor. Kl. 1349. Zzz

546

Jacos Grimm: einige berichtigungen

s. 226 z. 8. entscheidend aber ist im salischen gesetz tit. 105 die überschrift

[777 .

no»

. 229

creodiba = chr£othiba (vorr. p. XLVI) leichenbrand.

bei den Sachsen, wie aus einer in Albrechts von Halberstadt gedicht vorzunehmenden verbesserung des textes erhellt, hiefs im mittelalter der scheiterhaufe räte, mhd. räze, was dem altfranz. re entspricht und aus dem lat. crates abzuleiten ist. denn crates galt vom rogus wie vom favus.

auf vorletzter zeile 1. folksagor och äfventyr.

z. 21 1. lamentatione absoluta.

.skr. auch äkäja rogus. smasäna locus in quo corpora mortua combu-

runtur vel sepeliuntur. Bopp 27° 354°.

in bezug auf die Hebraeer könnten zweifel obwalten, J.D. Michaelis hat sogar de combustione et humatione mortuorum apud Hebraeos (syntagma comment. 1,225) geschrieben. Es steht fest, dafs vor Sauls zeiten kein todter verbrannt wurde, ja ein solcher brand für die höchste strafe galt. hätte sich das seit dem beginn der königli- chen herschaft in Israel geändert? nach 1 Sam. 31,12. 13 nahmen die Jabesiten Sauls und seiner söhne verstümmelte leichen von der mauer zu Bethsan, wohin die Philister sie gehängt hatten, und ver- brannten sie zu Jabes. wahrscheinlich aber blofs um sie den feindli- chen Philistern dadurch schnell zu entziehen. II chron. 16, 14 wird bei des Assa begräbnis eines grolsen brandes gedacht und aus Il chron. 21,19 erhellt, dafs es gewohnheit war verstorbnen königen einen brand zu machen, worauf sich auch Jerem. 34,5 bezieht; allein damit ist blofs anzünden von wolgerüchen gemeint, Josephus bell. jud. 1.33,9 nennt bei des Herodes leichenbegängnis ausdrücklich die dgwuarepogeı. gewöhnlich wird von allen königen des südlichen und nördlichen reichs ausdrücklich angeführt, dafs und wo sie be- graben, niemals dafs sie verbrannt wurden. Wenn die LXX in jener stelle Jerem. 34,5 &#Aaurav schreiben, könnte man ein ursprüngli- ches &xaurav mutmafsen, doch lesen schon cod. alex. und vatic. exAav- rav, welches freie deutung des hebr. textes, nicht entstellung scheint. Endlich ist Amos 6,10 zwar von einem verbrennen des todten die rede, aber wol in pestzeit, wo man gezwungen war von der landes- sitte abzuweichen. Man scheint also von den nachbarn her den lei-

zu der abhandlung über das verbrennen der leichen. 547

chenbrand gekannt und in besondern fällen ausnahmsweise geübt zu haben. Nach dem exil kommt von einem verbrennen der leichen bei den Juden gar nichts vor. Tacitus hist. 5,5 sagt von den Juden: corpora condere, quam cremare, e more aegyptio, sie begruben, wie die Aegypter, verbrannten nicht. Ich verdanke diese aufschlüsse grofsentheils meinem freunde Bertheau in Göttingen.

s. 274 z. 11 1. zerbrennen f. verbrennen.

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