ze 0 — 1 — — . — — — — — — — — au) — —N) UNIVOF Dx LIBRARY LVerles ungen Aber: Agrarweſen Agrarpolitik. Von Dr. Theodor Freiherrn von der Soltz Geh. Regierungsrat, o. ö. Profefior an der Rheiniſchen Friedrich-Wilhelms-Univerlität und Direktor der kandwirtichaftlihhen Akademie Bonn-Poppelsdorf. Zweite, umgearbeitete und durch ein Agrarprogramm vermehrte Auflage. 912 1 — N 1 Nr Verlag von Gultav Fiſcher in Jena. 1904. 1 e 5 ww aha, . Br N Porwort. Die lange Zeit ſehr vernachläſſigten agrariſchen Fragen ſind ſeit etwa einem oder zwei Jahrzehnten ſtark in den Vordergrund getreten. Über ihre zweckmäßigſte Behandlung und Löſung gehen die Anſichten noch weit aus— einander. Die beſtehenden großen Meinungsverſchiedenheiten werden aller- dings zum Teil durch einen zwiſchen den einzelnen Erwerbsgruppen ſich geltend machenden Gegenſatz der Intereſſen bedingt. In höherem Grade liegen ihre Urſachen aber darin, daß eine genaue Kenntnis von den Dingen, die man behufs gründlicher Beurteilung agrariſcher Fragen durchaus wiſſen muß, nur bei verhältnismäßig wenigen Männern vorhanden iſt. Die Mehr⸗ zahl der Stadtbewohner entbehrt der Einſicht in das eigentümliche Weſen des landwirtſchaftlichen Gewerbes und in die auf dem Lande herrſchenden Zuſtände. Viele Landwirte beurteilen die agrariſchen Fragen einſeitig nach den von ihnen in beſchränktem Kreiſe gemachten Erfahrungen; ſie verkennen auch oft den innigen Zuſammenhang, in dem die Landwirtſchaft mit den übrigen Zweigen der Volkswirtſchaft ſich befindet. In dem vorliegenden Buche habe ich es mir zunächſt zur Aufgabe gemacht, ein Bild von dem Weſen und der Bedeutung der Landwirtſchaft und der ländlichen Bevölkerung zu entwerfen. Ich habe darzulegen verſucht, welche privat⸗ wie volkswirtſchaftlichen Ziele die Landwirtſchaft verfolgt oder zu verfolgen berufen iſt; welche eigentümlichen Mittel ihr hierbei zu Gebote ſtehen und in welcher Weiſe ſie dieſelben in Anwendung zu bringen hat. Ferner war ich beſtrebt, die vorhandenen Zuſtände möglichſt klar, beſtimmt und objektiv zu ſchildern. Beides ſchien mir nötig, weil ſowohl bei Land— wirten wie bei Nichtlandwirten häufig noch unrichtige Vorſtellungen darüber beſtehen, wie weit die Leiſtungsfähigkeit der Landwirtſchaft reicht, oder was ihr verſagt iſt; weil außerdem die Anſchauungen, die über die tatſächlich beſtehenden Verhältniſſe in der Offentlichkeit zum Ausdruck gelangen, vielfach lückenhaft oder geradezu irrig ſind. Einen beſonderen Wert habe ich auf die Darſtellung der geſchichtlichen Entwicklung legen zu ſollen geglaubt. Die Landwirtſchaft und die ländliche Bevölkerung find ihrer innerſten Natur nach konſervativ. Fortſchritte können IV Vorwort. ſich bei ihnen nur ſehr langſam vollziehen. Behufs richtiger Beurteilung der ie Gegenwart iſt es daher ganz unentbehrlich, daß man die Vergangenheit kennt und daß man weiß, wie jene aus dieſer ſich allmählich herausgebildet hat. Bei Erörterung der einzelnen agrariſchen Fragen bin ich von dem Standpunkte ausgegangen, daß die Landwirtſchaft den weitaus wichtigſten Zweig der Volkswirtſchaft darſtellt, daß von ihrem Gedeihen daher das Wohl des ganzen Volkes in hervorragendem Grade abhängt. Dementſprechend kann die Landwirtſchaft in beſonderem Maße auf die Fürſorge des Staates Anſpruch machen. Freilich darf dabei aber nicht überſehen werden, daß gegen⸗ wärtig im Deutſchen Reiche die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht der Landwirtſchaft angehört und daß für das Wohlergehen der Geſamtheit auch eine fortſchreitende Entwicklung der übrigen Produktionszweige unent⸗ behrlich iſt. Unfruchtbar erſcheint mir die Erörterung der Frage, ob das Deutſche Reich ein Agrarſtaat oder ein Induſtrieſtaat ſei. Es iſt beides und muß beides bleiben. Die Rückſicht auf die ſtarke und ſtetig wachſende Bevölkerung macht es zur gebieteriſchen Notwendigkeit, daß der einheimiſche Boden durch intenſivere Bearbeitung und Benutzung zu immer höherer Ertragsfähigkeit gebracht wird. Hieran hat die Induſtrie ein kaum minder großes Intereſſe, als die Landwirtſchaft ſelbſt. Ebenſo haben beide ein übereinſtimmendes Intereſſe daran, daß die Wohlhabenheit aller Bevölkerungsgruppen fort⸗ dauernd ſteigt. Denn in demſelben Grade nimmt die Fähigkeit der einzelnen Volksglieder zu, für den Ankauf der nicht von ihnen ſelbſt produzierten Lebens⸗ bedürfniſſe größere Barmittel zu verwenden. Die Übereinſtimmung zwiſchen den Intereſſen der landwirtſchaftlichen und denen der übrigen erwerbstätigen Bevölkerung iſt erheblich größer als die zwiſchen ihnen obwaltenden Gegen⸗ ſätze. Für die Richtigkeit dieſer ſchwerwiegenden Tatſache wird die vor⸗ liegende Schrift, wie ich annehmen darf, manches beweiskräftige Material beibringen. Meine Darlegungen ſind zunächſt auf die Verhältniſſe des Deutſchen Reiches berechnet. Wenn ich wiederholt auch auf andere Länder eingegangen bin, ſo geſchah es hauptſächlich zu dem Zwecke, den Charakter der heimiſchen Zuſtände um ſo deutlicher hervortreten zu laſſen. Die in den Anmerkungen gemachten Hinweiſe auf andere litterariſche Veröffentlichungen ſollen hauptſächlich dem Leſer es ermöglichen, die Richtig⸗ keit der von mir gebrachten ſtatiſtiſchen und ſonſtigen tatſächlichen Angaben zu kontrollieren. Außerdem ſollen ſie ihm die Auffindung der Quellen er⸗ leichtern, falls er noch weitere Aufſchlüſſe zu haben wünſcht, als ich ſie mit Rückſicht auf den Raum habe geben können. Diejenigen Leſer, welche ein⸗ gehendere Litteraturnachweiſe begehren, mache ich auf das nicht nur in dieſer Hinſicht, ſondern auch nach vielen anderen Richtungen hin vortreffliche und ausführliche Werk von A. Buchenberger, Agrarweſen und Agrarpolitik (2 Bände, Leipzig 1892 und 1893) aufmerkſam. „n l F. Vorwort. V Dias hiermit der Offentlichkeit übergebene Buch iſt aus den verſchie⸗ denen Vorleſungen entſtanden, die ich an der Univerſität Bonn über Agrar⸗ weſen und Agrarpolitik vor Studierenden aller Fakultäten halte. Das für weitere Kreiſe beſonders Wichtige habe ich daraus in einer, wie ich hoffe, für jeden Gebildeten verſtändlichen Form zuſammenzuſtellen verſucht. Es war mein Beſtreben, über die in den einzelnen Abſchnitten behandelten Gegen⸗ ſtände eine möglichſt abgerundete, in ſich geſchloſſene Darſtellung zu geben. Bei dem Ineinandergreifen der verſchiedenen agrariſchen Fragen waren infolge⸗ deſſen Wiederholungen nicht immer ganz zu vermeiden. Hoffentlich ſind ſie nicht ſo zahlreich, daß dadurch der Eindruck des ganzen Buches auf den Leſer ungünſtig beeinflußt wird. Bonn⸗Poppelsdorf, den 17. März 1899. Dr. Th. Frhr. von der Goltz. Dorwort zur zweiten Auflage. Der zweiten hier vorliegenden Auflage der „Vorleſungen über Agrarweſen und Agrarpolitik“ habe ich der Kürze und Einfachheit wegen den Titel „Agrarweſen und Agrarpolitik“ gegeben. In derſelben habe ich das während der letzten fünf Jahre hinzugekommene reiche littera⸗ riſche, ſtatiſtiſche und geſetzgeberiſche Material ſorgfältig und eingehend zu verwerten geſucht. Auch, abgeſehen hiervon, enthält dieſe zweite Auflage viele kleine Anderungen und Verbeſſerungen. Neu hinzugefügt iſt am Schluſſe des Buches das „Agrarprogramm“. Dieſes unterſcheidet ſich von den übrigen während der letzten Jahrzehnte veröffentlichten Programmen weſentlich dadurch, daß es lediglich die allge— meinen Grundſätze erörtert, von denen jede geſunde und weitausſchauende Agrarpolitik ausgehen muß. Ein ſpezielleres Agrarprogramm zu ſchreiben, ſchien mir unnötig, da der Inhalt des ganzen Buches ein ſolches darbietet. Dagegen hielt ich es für wichtig, die großen allgemeinen Geſichtspunkte ans Licht zu ziehen, welche zu jeder Zeit für die Agrarpolitik maßgebend ſein und bleiben müſſen. Die bisher aufgeſtellten Programme beſchäftigen ſich faſt nur mit den in der Gegenwart beſonders akut gewordenen Fragen. Wie nötig dies ſein mag, ſo iſt es doch ein nicht minder dringendes Er— fordernis, auch die für die Agrarpolitik gültigen, keinem Wechſel unterworfenen Grundprinzien in Erinnerung zu bringen. Bonn- Poppelsdorf, den 13. Mai 1904. Dr. Th. Frhr. von der Goltz. Inhalt. I.. Bedeutung der Landwirtſchaft für Staat und en II. Der landwirtſchaftliche Betrieb & III. Geſchichtliche Entwicklung der deutſchen Landwirtſchaft 5 IV. Die Aufgaben des Staates gegenüber der Landwirtſchaft im e VI. Die Arten und die Verteilung des e Die Feldregulierung . i VII. Die Vererbung des Grundbeſthes ; VIII. Die Verſchuldung des Grundbeſitzes . IX. Die ländliche Bevölkernng, insbeſondere die lundwirtſchaftlichen Arbeiter X. Der landwirtſchaftliche Unterricht und die e Vereine XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften EN XII. Der landwirtſchaftliche Kredit N | Geldweſen und Börſe 3 XIII. Das landwirtſchaftliche Verſcherungsweſen ER die abort ae * Das landwirtſchaftliche Verſicherungsweſen i Die landwirtſchaftliche Polizei. . . - XIV. Fürſorge des Staates für die Technik des bannen Betriebes XV. Das Handels⸗ und Verkehrsweſen XVI. Das Zoll⸗ und Steuerweſen Schlußbetrachtung. 1 Sachregiſter. 8 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der „„ N | Seite 1—19 20—34 34--50 50—62 62—82 82—97 97—104 104—123 124—140 140—164 164—177 178—192 192—206 206—213 214—234 214—231 231—234 234— 248 248—267 267—295 296 —326 327—330 I. Bedeutung der Tandwirtſchaft für Staat und Geſellſchaft. Abgeſehen von ganz niederen Kulturſtufen, auf denen der Menſch ſeine wichtigſten Lebensbedürfniſſe, namentlich das nach Nahrung, durch einfache Beſitzergreifung der von der Natur frei dargebotenen Erzeugniſſe befriedigt, bildet die Landwirtſchaft die unentbehrliche und wichtigſte Grund— lage für alle ſonſtige wirtſchaftliche Tätigkeit. Faßt man den Begriff Landwirtſchaft in dem weiteren Sinne, daß er nicht nur den Ackerbau und die Viehzucht, ſondern auch den Gartenbau, die Forſtwirtſchaft, die Fish, und Bienenzucht in ſich ſchließt, ſo kann man ſagen, daß die andwirtſchaft ſämtliche Nahrungsmittel für Menſchen und Haustiere erzeugt und daß fie die meiſten Roh⸗ und Hilfsſtoffe für die übrigen Gewerbe liefert. Im engeren Sinne verſteht man allerdings unter Landwirtſchaft die⸗ jenige, auf Erzeugung pflanzlicher und tieriſcher Rohſtoffe gerichtete Tätigkeit es Menſchen, bei welcher eine regelmäßige Bearbeitung des Bodens ſtatt— findet und bei der die Bodennutzung mit der Viehhaltung im innigſten Zu⸗ ſammenhang ſteht. Von ihr wird in dieſen Vorleſungen hauptſächlich zu handeln ſein. Da ſie aber ſehr häufig in Verbindung mit Gartenbau oder Forſtwirtſchaft, zuweilen auch mit Fiſch- oder Bienenzucht auftritt, jo werden auch dieſe Betriebszweige nicht ganz unberückſichtigt bleiben können. Naturgemäß gliedert ſich die Landwirtſchaft in Ackerbau und in Vieh— haltung. Bei dieſer althergebrachten und durchaus berechtigten Einteilung iſt das Wort Ackerbau ſo zu verſtehen, daß es die geſamte landwirtſchaftliche Bodennutzung, alſo nicht nur den Ackerbau im engeren Sinne (den Feldbauh, ſondern auch die Wieſen- und Weidenutzung umfaßt. Das Ackerland liefert in den Körnern der Getreidearten und Hülſen— früchte, ferner in einzelnen Wurzelgewächſen, beſonders den Kartoffeln, die unentbehrlichſten Nahrungsmittel der Menſchen aus dem Pflanzenreich, in den jog. Handelspflanzen das Rohmaterial für Erzeugung von Be— kleidungsſtoffen, Färbemitteln, Beleuchtungsmaterial, Genußmitteln (Zucker, Alkohol uſw.). Außerdem gewährt das Ackerland in dem Stroh, in den Futterkräutern und in manchen Wurzelgewächſen Nahrung und Einſtreu für die Zug⸗ und Nutztiere; in dieſe Funktion teilt es ſich mit den Wieſen und Weiden, den jog. ſtändigen Futterflächen. Bei der Viehhaltung unterſcheiden wir zwiſchen Zugtieren und Nutztieren. Erſtere (Pferde, Ochſen, auch wohl Kühe) werden um ihrer Arbeitsleiſtungen willen gehalten, letztere zur Gewinnung ihrer ſubſtanziellen Erzeugniſſe: Milch, Fleiſch, Fett, Wolle, Haut. Die Produkte der landwirt— ſchaftlichen Nutzviehhaltung und die daraus hergeſtellten Fabrikate (Butter, Käſe ze.) bilden die hauptſächlichſten Nahrungsmittel des Menſchen aus dem Tierreiche; einige von ihnen (Wolle, Felle, Häute) geben das Rohmaterial von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik, 2. Aufl. l 2 I. Bedeutung er Landwirtſchaft. zu unentbehrlichen Bekleidungsſtoffen ab. zwiſchen Zug- und Nutztieren läßt ſich freilich nicht machen. Züchtung verwendet werden. Zugochſen gehören in ihrer Jugend, ſolange ſie noch nicht als Arbeitstiere benutzt werden und ebenſo, wenn fie als Arbeits- tiere ausrangiert und zur Maſt aufgeſtellt ſind, zu dem Nutzvieh. Bezügli ihrer Produktionen haben die Zug- und die Nutztiere das Gemeinſame, da ſie beide, nach Maßgabe der ihnen gereichten Futter- und Einſtreumaterialien, Dünger erzeugen. In dem Stalldünger iſt das wirkſamſte, in den meiſten Fällen unentbehrliche Mittel gegeben, um dem Ackerlande, in geringerem Grade auch den Wieſen und Weiden, die ihnen durch die Pflanzenkultur entzogenen Nährſtoffe zurückzugeben und um dem Boden die für das Ge⸗ deihen der Pflanzen nötige phyſikaliſche Beſchaffenheit zu ſichern. Die hauptſächlichſten landwirtſchaftlichen Haustierarten ſind: Pferde, Rindvieh, Schafe und Schweine; eine weniger große Bedeutung haben Ziegen, Hühner und ſonſtiges Geflügel. Stelle das Rind vieh ein. Dasſelbe dient als Zug- und als Nutzvieh. In letzterer Eigenſchaft liefert es Milch bezw. Butter und Käſe, Fleiſch, Fett, Leder, Dünger. Die Milch und die daraus gefertigten Fabrikate ſtellen für alle Klaſſen der Bevölkerung ein faſt unentbehrliches Nahrungsmittel dar. Die Hauptprodukte der Schafhaltung bilden Wolle und Fleiſch. Die Wolle beſitzt eine große Aufbewahrungs- und Transportfähigkeit. Nachdem durch das Aufkommen der Dampfſchiffe der überſeeiſche Verkehr ſo ſehr erleichtert und verbilligt worden iſt, wird der Bedarf der deutſchen Induſtrie an Wolle in immer ſteigendem Maße durch die in außereuropäiſchen Ländern erzeugte Wolle gedeckt, und die Wollpreiſe ſind ſtark geſunken. Infolgedeſſen hat die Rentabilität der Schafhaltung und deren Umfang bedeutend abgenommen. Der entſtandene Verluſt iſt aber reichlich ausgeglichen worden durch das Wachstum nicht nur der Rindvieh⸗, ſondern auch der Schweinehaltung. Auch die Ziegenhaltung hat eine bedeutende Vermehrung erfahren, wenn ſchon dies für die geſamte Nutzviehhaltung nicht ſtark ins Gewicht fällt. Es wurden gezählt im Deutſchen Reich: Eine ganz ſtrenge Scheidung Die nämlichen Individuen können gleichzeitig beide Zwecke erfüllen; jo z. B. Kühe, die zue Arbeit und zur Milchproduktion, ferner Stuten, die zur Arbeit und zur — * 1 EBEN 5 1 EIN ar „ ee en Unter allen nimmt die erſte Zeit der Aufnahme Pferde Rindvieh Schafe Schweine Ziegen 10. Jan. 1873 3352 231 15 776 702 24 999 406 7 124088 2320 002 „ „ 1883 3522316 15 785 322 19 185 362 9 205 791 2639994 1. Dez. 1892 3 836 256 17 555 694 13 589 612 12 174 288 3 091 287 „ „ 1897 4 038 485 18 490772 10 866 772 14274557 — „ 1000 4 18 939 692 9 692 501 16 807 014 3 266 997 Mit dem rapiden Zuwachs der Bevölkerung hat die Zunahme des Viehbeſtandes gleichen Schritt gehalten. Rechnet man ein Stück Rindvieh — 2/; Pferd = 10 Schafe = 4 Schweine = 10 Ziegen, jo ergibt ſich folgendes Reſultat. Es betrug: der geſamte Viehbeſtand die Zahl der alſo kamen auf auf Rindvieh zurückgeführt Bevölkerung?) ein Stück Rindvieh 1873 25 032 677 41 564 000 1,66 Menſchen 1883 25 510 997 46 016 000 3 8 1892 28 021 740 50 266 000 IR ; 1897 29 553 907 53 530 000 1.0 „ 1900 30 685 235 56 046 000 u 5 1) Im Jahre 1897 fand keine Zählung der Ziegen ſtatt. 2) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 23. Jahrg. 1902, S. 2. | I. Bedeutung der Landwirtſchaft. 3 Hiernach waren für je 100 Perſonen im Jahre 1873 = 60,2 in den ven 1883, 1892, 1897 und 1900 zwiſchen 55 und 56 Stück Rindvieh handen. Dies würde nach den nackten Zahlen allerdings während der 27 Jahre von 1873—1900 eine Abnahme des Viehſtandes im Verhältnis zur Bevölkerung von 7—8 Proz. bedeuten. Tatſächlich hat aber eher eine Zunahme ſtattgefunden. Denn in dem 27 jährigen Zeitraum haben ſich in⸗ folge beſſerer Züchtung, Aufzucht und Fütterung der landwirtſchaftlichen Haustiere das durchſchnittliche Gewicht und damit die durchſchnittlichen Lei⸗ ſtungen der einzelnen Individuen ſehr vermehrt, wodurch die Zahlendifferenz in dem Verhältnis zwiſchen Menſchen und Tieren reichlich ihre Ausglei— chung findet. Von der Produktion an Getreide läßt ſich dasſelbe nicht jagen. Bis zum Jahre 1870 hat die deutſche Landwirtſchaft, alle Getreidearten zuſammen gerechnet, noch den ganzen einheimiſchen Bedarf befriedigen können. Von da ab iſt aber infolge des ſtarken Wachstums der Bevölkerung die Produktion hinter dem Bedarf zurückgeblieben, ſo daß im Durchſchnitt der letzten 15 Jahre die Ausfuhr an Getreide von der Einfuhr um etwa 60 Mill. Zentner über— troffen wird. Für die Beurteilung der gegenwärtigen Lage der Landiwirt- ſchaft und ihrer Beziehung zu der geſamten Volkswirtſchaft iſt dieſe Tatſache von weittragender Bedeutung. Hierauf wird noch ſpäter zurückzukommen ſein. In dem landwirtſchaftlichen Betriebe ſind Ackerbau und Viehhaltung dazu beſtimmt, ſich gegenſeitig zu ergänzen und zu unterſtützen, und ſollen dieſem Zwecke entſprechend eingerichtet werden. Die Felder, Wieſen und Weiden müſſen den Zug⸗ und Nutztieren den Bedarf an Futter und Ein- ſtreu liefern; die Zug⸗ und Nutztiere ſind nach Art und Menge ſo auszu— ® wählen, daß ſie das in der Wirtſchaft erzeugte Futter angemeſſen verwerten, daß ſie außerdem den für die Erhaltung und womöglich Steigerung der 0 produktiven Kraft des Bodens benötigten Dünger erzeugen. Hierdurch wird nicht ausgeſchloſſen, daß ein Teil der als erforderlich erachteten Futter- oder Dungmittel durch Ankauf von ſog. Kraftfutter oder von künſtlichen Dung— ſtoffen beſchafft wird; aber, von Ausnahmefällen abgeſehen, muß das ſelbſt erzeugte Futter die Grundlage für die Fütterung der Tiere und der ſelbſt erzeugte Stallmiſt die Grundlage für die Düngung des Bodens bilden. Bei dieſem gegenſeitigen Abhängigkeitsverhältnis zwiſchen Bodennutzung und Viehhaltung könnte es auf den erſten Anblick zweifelhaft ſein, ob man bei der Organiſation eines landwirtſchafttichen Betriebes zunächſt und in erſter Linie die Bodennutzung oder die Viehhaltung berückſichtigen ſoll. Die Entſcheidung dieſer Frage muß zugunſten desjenigen Zweiges ausfallen, bei welchem der Landwirt am meiſten an die von der Natur einmal ge— gebenen Verhältniſſe unabänderlich gebunden iſt; dies iſt aber die Boden— nutzung. Von den überhaupt in Betracht kommenden Viehgattungen kann in Deutſchland überall jedwede in beliebiger Menge gehalten werden, ſofern b man das für die Tiere nötige Futter auf der zugehörigen Bodenfläche ohne zu großen Aufwand zu erzeugen vermag. Dagegen iſt die Art und der Erfolg der Bodennutzung durch die klimatiſche Lage ſowie durch die natür— liche Beſchaffenheit der einzelnen Flächen in hohem Maße bedingt. Gerade die beiten und ertragreichſten Futterpflanzen machen mehr oder minder hohe Anſprüche an Klima und Boden; unter ungünſtigen Verhältniſſen bringen ferner alle Gewächſe einen qualitativ wie quantitativ geringeren Ertrag als unter günſtigen. Aus dieſen Gründen hängt die Einrichtung eines land— wirtſchaftlichen Betriebes vor allem von der Beſchaffenheit des Klimas und des Bodens ab; dementſprechend muß zunächſt die Art der Bodennutzung und darauf erſt die der Viehhaltung beſtimmt werden. 1. 4 I. Bedeutung der Landwirtſchaft. Allerdings kommen dabei auch wirtſchaftliche Erwägungen in Be— tracht: die Verkehrs-, Abſatz-, Preis- und Arbeiterverhält⸗ niſſe. Inſoweit die erzeugten Produkte nicht in der Wirtſchaft ſelbſt ver- braucht, ſondern verkauft werden ſollen, darf man nur ſolche ins Auge faſſen, die in der hervorgebrachten Menge auch ſicher und zu einem den Produktions- koſten entſprechenden Preiſe abgeſetzt werden können, für deren Herſtellun auch die verfügbaren menſchlichen Arbeitskräfte zureichen. Die meiſten, au der zum Verkauf beſtimmten landwirtſchaftlichen Produkte ſind im Verhältnis zu ihrem Werte ſehr voluminös bezw. von ſchwerem Gewichte, manche auch von geringer Haltbarkeit; ſie vertragen daher keinen koſtſpieligen Transport. Ihre Erzeugung behufs Verkauf wird erſt lohnend, wenn der Marktort in der Nähe ſich befindet oder wenn bei großer Entfernung des Marktes die Art der Verkehrsmittel den Verſand ſehr wohlfeil geſtaltet. Beſonders trifft letzteres für Produkte zu, deren Transport vorzugsweiſe auf dem Waſſerwege erfolgen kann; aber auch durch die Eiſenbahnen wird der Verkauf und damit die Erzeugung von Produkten möglich, die ohne dieſelben nur in den engen Grenzen des eigenen Bedarfes mit Vorteil herzuſtellen ſind. Durch die Ver⸗ mehrung und Verbeſſerung der Verkehrsmittel iſt das Abſatzgebiet für land⸗ wirtſchaftliche Produkte ſehr erweitert oder der nach Abzug der Transport⸗ koſten dem Landwirt verbleibende Erlös ſehr vergrößert worden. Dies zeigt ſich z. B. bei Milch, Butter, Eiern, Gemüſe, Obſt, in geringerem Grade auch bei Getreide, Fleiſch, lebenden Tieren. Die deutſche Landwirtſchaft hat hieraus zwar einerſeits großen Nutzen gezogen; andererſeits iſt ihr aber auch durch die maſſenhafte Einführung landwirtſchaftlicher Produkte aus fremden Ländern (Oſterreich, Rußland, Nord⸗ und Südamerika) eine Konkurrenz erwachſen, die auf die Preiſe, namentlich die des Getreides, eine ſtark herabdrückende Wirkung ausgeübt hat. Wie einflußreich nun auch die genannten wirtſchaftlichen Verhältniſſe auf die Geſtaltung des landwirtſchaftlichen Betriebes ſein mögen, ſo darf doch nicht außer Augen gelaſſen werden, daß dieſelbe in erſter Linie von anderen Um⸗ ſtänden abhängig iſt. Vor allem fallen dabei ins Gewicht die Beſchaffenheit von Boden und Klima und dann die Stärke der Nachfrage nach den einzelnen landwirtſchaftlichen Erzeugniſſen. Durch beides iſt die landwirt⸗ ſchaftliche Produktion an gewiſſe Schranken gebunden, die für andere Gewerbe entweder gar nicht exiſtieren oder doch viel weiter oder ganz anderer Art ſind. Von Nichtlandwirten wird dies häufig überſehen, und infolgedeſſen werden an die Landwirtſchaft Anforderungen geſtellt, die ſie unmöglich erfüllen kann; ſelbſt bei vielen Landwirten herrſcht hierüber Unklarheit. Abgeſehen von den nicht ſehr umfangreichen Diſtrikten, in denen die große Dichtigkeit der Bevölkerung eine gartenähnliche Kultur möglich und lohnend macht, wird die landwirtſchaftliche Bodennutzung vorzugsweiſe, ja nahezu ausſchließlich auf die Erzeugung von mehlhaltigen Körner— früchten, einigen Wurzelgewächſen, Futterkräutern oder Futter- gräſern gerichtet ſein und bleiben müſſen. Es ſind diejenigen Pflanzen, welche die Hauptnahrungsmittel für die Menſchen und die landwirtſchaftlichen Haustiere bilden, die deshalb in großen Maſſen jederzeit gebraucht und in der eigenen Wirtſchaft oder durch Verkauf verwertet werden können. Das Deutſche Reich erzeugt weder an Getreide noch an Viehfutter den Bedarf der in ihm lebenden Menſchen und Tiere, die Nachfrage iſt erheblich größer als das inländiſche Angebot und muß zum Teil durch Einfuhr ausländiſcher Produkte gedeckt werden. Auf das Wort „muß“ iſt ein beſonderer Nach⸗ druck zu legen. Das Nahrungsbedürfnis der Menſchen und Tiere iſt ein tägliches und dringendes; es muß befriedigt werden, wenn nicht das ganze I. Bedeutung der Landwirtſchaft. 5 wirtſchaftliche Leben des Volkes in ſeinen Fundamenten erſchüttert, die Un⸗ abhängigkeit und Macht des Staates in Frage geſtellt werden ſoll. Wie das ganze Volk und der Staat an die Landwirtſchaft den Anſpruch erheben darf, daß ſie nach Möglichkeit den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung an Nahrungsmitteln befriedigt, ſo hat auf der anderen Seite die Landwirtſchaft bei Erfüllung dieſer Forderung die ſicherſte Gewähr, für ihre Erzeugniſſe ſtets Abſatz zu finden. Die Art der für die Befriedigung des Nahrungsbedürfniſſes von Men— ſchen und Tieren anzubauenden Gewächſe beſtimmt ſich vorzugsweiſe nach den klimatiſchen und Bodenverhältniſſen, in geringeren Grade auch nach der angenommenen Gewöhnung. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß Menſchen und Tiere ſich an diejenigen Nahrungsmittel gewöhnen und ſie bevorzugen, die auf dem Boden, von deſſen Produkten ihre Exiſtenz abhängt, beſonders gut gedeihen. Das Hauptnahrungsmittel aus der Pflanzenwelt wird für die Bewohner des Deutſchen Reiches, aber auch der meiſten anderen Länder, durch die Ge— treidekörner repräſentiert; nächſt ihnen kommen die Hülſenfrüchte und die Kartoffeln in Betracht; alle drei können auch als Viehfutter Verwen— dung finden. Die Hauptmaſſe des Viehfutters wird durch das Erzeugnis der Wieſen und Weiden ſowie durch die auf dem Acker gebauten Futter— kräuter, die Wurzelgewächſe und das Stroh der Getreidearten und Hülſenfrüchte dargeboten. Von den vier, für deutſche Verhältniſſe beſonders . geeigneten Getreidearten, nämlich Weizen, Roggen, Gerſte, Hafer, ’ dienen die beiden erſtgenannten vorzugsweiſe zur menſchlichen Ernährung, zur h Brotbereitung, während die beiden letzteren vorzugsweiſe als Viehfutter, die Gerſte auch zur Bierbrauerei benutzt werden. Unter den Futterkräutern nehmen der Klee, beſonders der Rotklee, und die kleeartigen Gewächſe (Luzerne, Esparſette) die erſte Stelle ein; fie liefern ein ebenſo vortreffliches Winter— wie Sommerfutter. Unter den ſog. Wurzelgewächſen ſind die Kartoffeln am wichtigſten; ſie bilden ein viel begehrtes menſchliches Nahrungsmittel, ein gutes Viehfutter und das am meiſten angewendete Rohmaterial für die Spiritus⸗ und Stärkefabrikation. Von minderer, aber keineswegs geringer, Bedeutung ſind die Rüben (Runkel-, Kohl-, Mohr-Rüben), die vorzugsweiſe als Viehfutter dienen. Eine Varietät der Runkelrübe, die Zuckerrübe, hat für die deutſche Landwirtſchaft dadurch eine große Bedeutung erlangt, daß ſie in großen Mengen behufs Herſtellung von Zucker angebaut wird. Die Rückſtände der Zuckerfabrikation, die Rübenſchnitzel, geben ebenſo wie die Rückſtände der Spiritusfabrikation, die Schlempe, ein wertvolles Futtermittel für die Tiere ab. Neben den genannten Feldfrüchten ſpielen die ſog. Handels gewächſe, wie Flachs, Hanf, Tabak, Hopfen, Rübſen, Raps, Leindotter x. nur eine untergeordnete Rolle. Teilweiſe liegt dies darin begründet, daß die meiſten von ihnen große Anſprüche an Boden oder Klima machen; hauptſächlich aber darin, daß die Nachfrage nach ihnen eine verhältnismäßig geringe iſt. Bezüglich Art des Wachstums und der Wachstumsbedingungen kann man alle Feldgewächſe in zwei Gruppen einteilen. Die eine wird gebildet durch die Getreidearten, die andere durch alle übrigen Feldfrüchte. Die Getreidearten gehören botaniſch zu den Monokotyledonen, den einſamen— lappigen Pflanzen. Ihre Stengel beſtehen aus dünnen Halmen, die mit ſpärlichen und ſchmalen Blättern beſetzt ſind; ihre Wurzeln ſind zart und bleiben vorzugsweiſe in der alleroberſten Schicht des Ackers. Infolge dieſer Eigenſchaften beſchattet das Getreide den Boden nur wenig, derſelbe wird hart 6 I. Bedeutung der Landwirtſchaft. und verunkrautet; die oberſte Bodenſchicht wird durch das Getreide ſehr aus— 3 geſogen. Im übrigen machen die Getreidearten verhältnismäßig geringe An— ſprüche an eine gute Bearbeitung und Düngung des Ackers; ſie ſind wenig = außergewöhnlichen Schädigungen ausgeſetzt, man rechnet ſie zu den in ihrem Ertrag ſicheren Pflanzen. Die anderen Feldfrüchte gehören zu den Dikotyle⸗ donen, zu den zweiſamenlappigen. Sie treiben (wenige Ausnahmen abgerechnet) einen mehr oder minder dicken, weit verzweigten Stengel, der mit zahlreichen, mehr oder weniger breiten Blättern beſetzt iſt; ſie haben eine ſtarke Pfahlwurzel, von der zahlreiche Verzweigungen nach den Seiten und in die tieferen Schichten des Bodens dringen. Die zu dieſer Gruppe gehörenden Pflanzen beſchatten den Boden, halten ihn feucht, locker und, bei ſachgemäßiger Pflege, ziemlich unkrautfrei. Sie nutzen die produktive Kraft des Bodens nach allen Richtungen hin, und zwar nicht nur in der Ackerkrume, ſondern auch im Untergrunde aus. Man bezeichnet ſie mit dem Sammelnamen „Blattpflanzen“ im Gegen⸗ ſatz zu den Getreidearten als den Halmpflanzen. Im allgemeinen ev- fordern die Blattfrüchte mehr Dünger und erheblich mehr menſchliche und tieriſche Arbeitsleiſtungen als die Halmfrüchte, machen den erhöhten Aufwand aber auch durch höhere Erträge bezahlt. Von großer Bedeutung iſt noch der Umſtand, daß die menſchlichen und tieriſchen, durch die Kultur von Blatt⸗ früchten erforderten Arbeitsleiſtungen vorzugsweiſe in den Vorſommer und in den Herbſt fallen, während die für den Getreidebau nötigen Geſchäfte vorzugsweiſe im Frühjahr und im Hochſommer verrichtet werden müſſen. Weil die Blattfrüchte den Acker in einem gut gelockerten, unkrautfreien Zu⸗ ſtande, meiſt auch reich an Nährſtoffen hinterlaſſen, ſo bilden ſie gute Vor⸗ früchte für das nachfolgende Getreide. Die nach ihnen geſäete Halmfrucht pflegt erheblich höhere Erträge zu bringen, als wenn eine Halmfrucht un⸗ mittelbar voraufgegangen wäre. Hieraus ergibt ſich, daß nicht nur die Natur des Bodens und die Lebensbedingungen der Pflanzen, ſondern auch rein wirtſchaftliche Gründe einen annähernd regelmäßigen Wechſel zwiſchen Blattfrüchten und Halmfrüchten bei der Benutzung des Ackerlandes wünjchens- wert oder gar notwendig machen. Blattpflanzen könnten an und für ſich dauernd auf dem nämlichen Felde gebaut werden, falls unter ihnen ſelbſt eine gewiſſe Abwechſelung ſtattfindet, wie dies ja auch bei den dem Garten⸗ und Gemüſebau ausſchließlich gewidmeten Grundſtücken tatſächlich geſchieht. Aber der Bedarf, ſowohl der Menſchen wie der Haustiere, an Blattgewächſen iſt doch nicht ſo groß, daß hinter ihrem Anbau die Kultur von Halmfrüchten ſtark zurücktreten dürfte. Vielmehr wird auch in der Gegenwart noch, wenig⸗ ſtens in dem weitaus größten Teil der als Ackerland benutzten Fläche des Deutſchen Reiches, der Getreidebau den Mittel- und Schwerpunkt in dem Feldbau bilden müſſen. Es iſt dies nötig wegen des ungemein ſtarken Be⸗ darfes an Getreidekörnern, in geringerem Grade auch wegen des Bedarfes an Futter- und Streuſtroh, obwohl für dieſes ſchon eher Erſatzmittel beſchafft werden könnten. Im Durchſchnitt darf man annehmen, daß es im Intereſſe ſowohl der Rentabilität der Landwirtſchaft wie im Intereſſe der Verſorgung der Bevölkerung mit Brotgetreide liegt, wenn etwa die Hälfte des Ackers mit Getreide bebaut wird. Die andere Hälfte bleibt dann für Blattpflanzen, für Ackerweide und Brache. Eine erheblich ſtärkere Ausdehnung des Getreidebaues würde den Roh- und Reinertrag pro Flächeneinheit herabdrücken und zwar um ſo ſtärker, je mehr der Getreidebau überwiegt. Eine Einſchränkung des Getreidebaues unter die Hälfte des Acker— landes würde eine eben ſolche Verminderung der Getreideproduktion im ganzen herbeiführen, und dieſe muß, in Anbetracht der ſtets wachſenden Bevölkerung I. Bedeutung der Landwirtſchaft. 7 d des jetzt ſchon vorhandenen Defizits an Brotgetreide, mit allen zu Ge- e ſtehenden Mitteln verhütet werden. Eine erhebliche Verminderung des reidebaues würde auch nur in verhältnismäßig wenig Fällen eine irgend nennenswerte Steigerung der geſamten Rentabilität des landwirtſchaftlichen Betriebes, dagegen häufig deren Rückgang bewirken. Die gegenwärtige Art der Bodennutzung im Deutſchen Reich entſpricht mit gewiſſen, ſpäter zu erwähnenden Einſchränkungen ſowohl den natürlich gegebenen Verhältniſſen wie den wirtſchaftlichen Bedürfniſſen. Von der Ge- ſamtfläche des Deutſchen Reiches nahmen nach den ſtatiſtiſchen Er— hebungen in Prozenten ein ): Kulturart 1878 1883 1893 1900 1) Acker⸗ und Gartenladz)⅛?e ! 48,71 48,1 48, 48, Wieſen RE 10, 19555 10,3 10% 3) Weiden d. 5¹ 6, 4) Forſten 1 25,69 2579 25,82 257 5) weder land⸗ noch forſtwirtſchaftlich be⸗ —— - .. ...,. 3 BR 6 9512 8, Zuſammen 100% » 100% 100% 100 0 Die Poſten unter 1—3 umfaſſen die landwirtſchaftlich benutzte Fläche, deren Umfang 1878 = 68,01 Proz. 1883 — 68,97 Proz., 1893 65,06 Proz., 1900 — 66,0 Proz. der Geſamtfläche ausmachte. Große Veränderungen in dem Mengeverhältnis der einzelnen Kultur— arten ſind in der Zeit von 1878 bis 1900 nicht eingetreten. Scheinbar 5 haben zwar die Weiden um 2,3 Proz. der Geſamtfläche abgenommen, das 1 weder land⸗ noch forſtwirtſchaftliche Areal um 2,0 Proz. zugenommen. Dies & iſt aber nur ſcheinbar. Die Anderung iſt dadurch veranlaßt, daß 1893 und 1900 die ganz geringen Weiden und Hutungen zu der weder land- noch forſtwirtſchaftlich benutzten Fläche, dagegen 1878 und 1883 zu den Weiden gerechnet wurden. Nahezu die Hälfte der Geſamtfläche kommt auf Acker- und Gartenland; dieſes hat von 1878 bis 1900 um eine Kleinigkeit zuge— nommen. Ein Viertel der Geſamtfläche wird durch die Forſten repräſen— tiert, bei denen ebenfalls eine minimale Zunahme ſtattgefunden hat, haupt⸗ ſächlich infolge der Aufforſtung von Odländereien. Die Forſten befinden ſich er weitaus überwiegenden Teil auf Grundſtücken, die nach Lage oder odenbeſchaffenheit ſich lediglich zum Waldbau eignen oder doch bei dieſer Nutzungsweiſe den höchſten Reinertrag gewähren. Die Zunahme der weder land- noch forſtwirtſchaftlich benutzten Fläche iſt, wie ſchon bemerkt, nur eine ſcheinbare. Tatſächlich hat eine geringe Abnahme ſtattgefunden. Die weder land⸗ noch forſtwirtſchaftliche benutzte Fläche betrug mit den Weiden zuſammen 1878 — 14,84 Proz., 1900 —= 14,6 Proz. der Ge- ſamtfläche. Die Differenz von 0,24 Proz. entſpricht faſt genau der Zunahme des Ackerlandes mit 0,29 Proz. 1 Von den Wieſen und Weiden läßt ſich etwas Ahnliches wie von den Forſten ſagen, nämlich daß ſie zum weitaus überwiegenden Teil ſolche Grundſtücke einnehmen, die ihrer Lage oder Bodenbeſchaffenheit nach ſich ausſchließlich zu Wieſen bezw. Weiden eignen oder doch bei dieſen Nutzungs— weiſen die höchſten Reinerträge gewähren. 1) Ich habe hier abſichtlich die Reſultate der 4 bis jetzt im Deutſchen Reich ſtatt⸗ gehabten Bodenſtatiſtiken nebeneinandergeſtellt, um dem Leſer ein Urteil über die in den 22 dazwiſchen liegenden Jahren etwa ſtattgehabten Anderungen zu ermöglichen. 8 I. Bedeutung der Landwirtſchaft. Im allgemeinen iſt die Verteilung des Bodens auf die einzelnen Sul turarten eine normale, d. h. eine den klimatiſchen und Bodenverhältniſſen ſowie den wirtſchaftlichen Bedürfniſſen und Anforderungen entſprechende. Die ſtarke Bevölkerung macht es notwendig, daß möglichſt viele Nahrungsſtoffe für Menſchen und Tiere produziert werden. Auf der gleichen Fläche erzeugt das Ackerland den höchſten Rohertrag, weil ſeine produkive Kraft infolge der fortdauernden Bearbeitung und Düngung die größte iſt und gleichzeitig durch den beſtändigen Wechſel der angebauten Früchte am meiſten ausge⸗ nutzt wird. Das Intereſſe der Volksernährung erfordert daher, daß die zum lohnenden Feldbau überhaupt geeigneten Grundſtücke auch möglichſt vollſtändig hierzu herangezogen werden. In Deutſchland iſt dies Ziel an⸗ nähernd erreicht, mehr wie in irgend einem anderen großen Kulturſtaate, Frankreich vielleicht ausgenommen. Allerdings gibt es auch im Deutſchen Reiche noch Flächen, die gegenwärtig Odland, geringe Weiden oder Waſſer⸗ ſtücke darſtellen, obwohl ſie, nach Vornahme gewiſſer Meliorationen, eine Ackernutzung zulaſſen; aber dieſe Grundſtücke machen nur einen geringen Prozentſatz der Geſamtfläche aus. Inwieweit durch ihre Kultivierung die Produktion an Nahrungsmitteln geſteigert werden kann, wird ſpäter zu er⸗ örtern ſein. Eine nicht minder wichtige Frage iſt die, ob die Art des Ackerbaube⸗ triebes eine derartige iſt, daß dadurch möglichſt hohe Roherträge gewähr— leiſtet werden. Nach den darüber veranſtalteten amtlichen Erhebungen nahmen im Deutſchen Reich von der geſamten Acker- und Gartenfläche in Pro- zenten ein: 1878 1883 1893 19000 Proz. Proz. Proz. Proz. 3, Serede 5250 53740 54.37 2. Hülſenfrüchte „ Wr Ba Kir 61, 3. ſonſtige mehlhaltige Körnerfrüchte . 14 1 0,03 4. Wurzelgewächſe und Gemüfe . . . 1 En 16,15 7 755 DB. Handelspflanze ns van 1 1 ER o Juttenomter RR 935 9 10, 7. Ackerweide ee 5 Bi 411 8 „„ een Bu 2 5 1 9. Haus⸗ und Obſtgärten 1 5 e Re Zuſammen 100,99 100,99 00,99 100, % Das Getreide nimmt etwas mehr wie die Hälfte des Ackerlandes in Anſpruch; trotz der geſunkenen Preiſe hat von 1878 — 1900 der Anbau von Getreide noch um ein Geringes zugenommen. An einer früheren Stelle (S. 6) wurde geſagt, daß es für deutſche Verhältniſſe das Zweckmäßigſte ſei, wenn etwa die Hälfte des Ackerlandes mit Getreide beſtellt werde. Eine zukünftig etwa eintretende geringe Verkleinerung der Getreidefläche würde demnach keineswegs an und für ſich einen Rückgang der Geſamtproduktion bedeuten, ſondern könnte ſogar einen Fortſchritt darſtellen. Ein Rückgang würde nur vorliegen, wenn er zugunſten der Ackerweide oder der Brache erfolgte. In der Periode von 18781900 haben ſich aber gerade dieſe beiden Bodenbenutzungsarten, die von allen den geringſten Rohertrag bezw. gar keinen gewähren, nicht unerheblich vermindert. Dagegen hat ſich der Anbau von Wurzelgewächſen und Gemüſe, der die intenſivſte Feld⸗ 1) Siehe Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 24. Jahrg. 1903, ©. 31. 2) Der geringe Prozentſatz der Haus- und Obſtgärten bei der Erhebung im Jahre 1878 gegenüber dem Prozentſatz bei den folgenden Erhebungen erklärt ſich dadurch, daß 1878 in Preußen die kleineren Hausgärten nicht zu den Gärten, ſondern zu den Haus⸗ und Hofflächen gerechnet wurden, was ſpäter nicht mehr geſchah. I. Bedeutung der Landwirtſchaft. 9 ng darſtellt und auf den Ertrag der nachfolgenden Getreidefrüchte be- rs günſtig wirkt, prozentiſch am ſtärkſten ausgedehnt. Hieraus geht izweideutig hervor, daß die niedrigen Getreidepreiſe und die hohen Arbeits— öhne bis jetzt noch keineswegs das von vielen gefürchtete Reſultat gehabt den, daß der Feldbau eine extenſivere Form annehmen müſſe und mer weniger den Nahrungsbedarf der Menſchen und Tiere, ſelbſt bei ichbleibender Bevölkerungsziffer zu befriedigen imſtande ſein werde. Gegen— ig läßt ſich mit größter Beſtimmtheit behaupten, daß der Ackerbaubetrieb ſtetig intenſiverer geworden iſt. Den überzeugenden Nachweis dafür einer meiner früheren Schüler in einer ſehr gründlichen Doktordiſſertation erbracht. Hiernach ergab die Vergleichung der Ackerbauſtatiſtik von 1878 und von 1893, daß bezüglich der Ackerfläche, in Prozenten der abſoluten Zahlen für 1878, ſtattgefunden hat!): eine Zunahme eine Abnahme von N um * bei den Hauptgetreidearten 4,07 Proz. — 1 ö „ Hackfrüchten und Gemüſen W 9 19 5 „den Futterpflanzen 8 — = „ „ Handelögewächien — 60, Proz. " der Ackerweide Dane 49,03 " 5 „ „ Brache a 2Anı „ a Die Handelsgewächle nahmen jchon 1878 nur etwa 1,60 Proz. der Acker⸗ und Gartenfläche in Anſpruch; wenn ſie bis 1893 auf 0,99 Proz. 7 1 heruntergegangen ſind, ſo liegt dies lediglich an dem Umſtande, daß der Anbau von Olfrüchten (Raps und Rübſen) und von Flachs, die zuſammen N die weit überwiegende Maſſe der Handelsgewächſe ausmachen, ſtark zurück⸗ gegangen iſt. Von der Acker- und Gartenfläche nahmen ein: 1878 1893 weniger 1893 Raps und Rübſen 0, Proz. 0, % Proz. 29 Proz. Flachs On — On » 28 BET | Zuſammen 1, Proz. 0% Proz. 57 Proz. Dies entſpricht ziemlich genau dem Geſamtrückgang des Handelsgewächs— baues um 60,05 Proz. Was der Handelsgewächsbau eingebüßt hat, wird durch den verſtärkten Anbau von Zuckexrüben, die eine intenſivere und lohnendere Kultur bilden, als Flachs und Olfrüchte, reichlich wieder ausgeglichen. Im Jahre 1878 waren 0,68 Proz., im Jahre 1893 dagegen 1,51 Proz. der Acker- und Gartenfläche mit Zuckerrüben beſtellt; es ergibt dies eine Vermehrung von 0,83 Proz. Vorausſichtlich wird in Zukunft die Intenſität des Ackerbaubetriebes weiter zunehmen. Sie wird ihren Ausdruck finden in der Ausdehnung des Anbaues von Wurzelgewächſen und Gemüſe, auch der Haus- und Obſtgärten, dagegen in der Verminderung der Brache und des Getreidebaues. Wenn im Deutſchen Reiche das Getreide 54—55 Proz. der Ackerfläche einnimmt, jo | iſt dies für die beſtmögliche Ausnutzung des Bodens zu viel. Der gegen- wärtige Zuſtand iſt dadurch bedingt, daß in manchen Diſtrikten, namentlich in manchen Gebirgsgegenden, die bäuerlichen Beſitzer noch an der (ver— beſſerten) Dreifeldwirtſchaft feſthalten, bei der zwei Drittel des Ackerlandes mit Halmfrüchten beſtellt werden. Ein Rückgang des Getreidebaues auf erheb— lich unter die Hälfte des Ackerlandes würde allerdings, wie ſchon früher be— 1) Felix Pickardt, Die Veränderung in der Betriebsweiſe der deutſchen Land⸗ wirtſchaft ſeit dem Jahre 1878, Berlin 1896. Siehe beſonders S. 63 ff. und S. III ff. 10 I. Bedeutung der Landwirtſchaft. merkt, mit Rückſicht auf das Nahrungsbedürfnis der Bevölkerung, ein Um glück ſein. Ihn zu verhüten, liegt in der Aufgabe des Staates. Im Falle andauernd niedriger Markpreiſe für das Getreide muß er durch angemeſſene Einfuhrzölle dafür ſorgen, daß der inländiſche Getreidepreis ſich auf einer ſolchen Höhe erhält, daß die Getreideproduktion in ihrer bisherigen, annähernd normalen Ausdehnung auch lohnend bleibt. Hierüber wird ſpäter noch ein gehend zu handeln ſein. Wie auf der einen Seite die Befürchtung zurückzuweiſen iſt, daß beim Fortbeſtehen der gegenwärtigen Verhältniſſe ein Rückgang des Getreidebaues | auf ein für die Volkswirtſchaft ſchädliches Niveau eintreten müſſe, jo iſt auch auf der anderen Seite die Anſicht als unzutreffend zu bekämpfen, daß der | Landwirt ſich bei niedrigen Getreidepreiſen dadurch ſchadlos halten könne, daß er den Anbau von Getreide einſchränkt und den von ſonſtigen Feld⸗ früchten entſprechend ausdehnt. In einzelnen Fällen mag dies zwar möglich und rätlich ſein, aber auf die deutſche Landwirtſchaft im großen und ganzen iſt es nicht anwendbar. Der Futterbau läßt ſich nicht beliebig erweitern; er findet ſeine Grenze in der Möglichkeit, das erzeugte Futter mit Vorteil an die Zug- und Nutztiere zu verwerten. Eine mit den ſonſtigen Forde⸗ rungen an eine rationelle Einrichtung des landwirtſchaftlichen Betriebes nicht in Einklang ſtehende Vermehrung des Viehbeſtandes würde das Gleich- gewicht zwiſchen Ackerbau und Viehhaltung ſtören; ſie würde außerdem die Gefahr in ſich ſchließen, daß die Preiſe der tieriſchen Produkte unter das Maß ſinken, welches für eine rentable Viehhaltung unerläßlich iſt. Getreide, Futterpflanzen und die zur tieriſchen oder menſchlichen Ernährung beſtimmten Wurzelgewächſe nehmen aber von der wirklich bebauten Ackerfläche, alſo ab⸗ züglich der Brache, etwa 96 Proz. in Anſpruch; auf Handelsgewächſe, Zucker⸗ rüben, Haus- und Obſtgärten fallen zuſammen nur etwa 4 Proz. Eine Ausdehnung der letztgenannten Nutzungsweiſen iſt nur in ganz geringem Umfange möglich, weil es an Abſatz für deren Erzeugniſſe fehlen würde. Schon eine Vermehrung um 2 Proz. der Ackerfläche würde eine Erhöhung der Produktion um 50 Proz., dieſe aber einen ſolchen Preisrückgang der Handelsfrüchte ꝛc. zur Folge haben, daß deren Kultivierung überhaupt nicht mehr lohnend wäre. Obwohl es etwa 50 verſchiedene im Deutſchen Reich feldmäßig ange⸗ baute Gewächſe gibt, ſo iſt darunter doch nur eine geringe Zahl, die, nach Maßgabe der vorhandenen klimatiſchen Boden- und wirtſchaftlichen Verhält⸗ niſſe, ſo maſſenhaft kultiviert werden und aus Rückſicht auf die Rentabilität, kultiviert werden dürfen, daß die von ihnen eingenommene Fläche einen er⸗ heblichen Prozentſatz des geſamten Acker- und Gartenlandes ausmacht. Von letzterem nahmen in Anſpruch: 1883 1893 Proz. Proz. Roggen „ ERS Sie... an ri Klee, einſchließlich Ackerweide!) 127 116 Kartoffenn 2. , a 4 0 Weiz. 8, AN Gert en . 6. Zuſammen 75,30 75198 Von der wirklich bebauten Ackerfläche, alſo unter Abzug der Brache ſowie der Haus- und Obſtgärten, nahmen demnach allein dieſe 6 Gewächſe 1) Die Ackerweide iſt nichts anderes, als ein zwei- oder mehrjähriges Kleefeld. I. Bedeutung der Landwirtſchaft. 11 und 75 Proz. ein, alle übrigen Feldfrüchte, etwa 40 an der Zahl, zuſammen 25 Proz. Das ſo außerordentlich verſchiedene Mengenverhältnis der ein— n Kulturpflanzen untereinander beruht nicht auf Willkür der Landwirte, ern iſt durch die Natur der Dinge im weſentlichen gegeben. Würden die dwirte durch irgend welche Umſtände in die Notwendigkeit verſetzt werden, rin ſtarke Anderungen eintreten zu laſſen, ſo könnte dies nur ein Sinken wohl der geſamten landwirtſchaftlichen Produktion wie der von den Land— ten erzielten Reinerträge zur Folge haben. Unter ganz normalen Verhältniſſen ſollte eigentlich die landwirtſchaft— liche Produktion innerhalb eines Staatsgebietes auch den Bedarf der darin wohnenden Bevölkerung an den notwendigſten Bodenerzeugniſſen, inſonderheit an den unentbehrlichſten Nahrungsmitteln, decken. Anderenfalls gerät man in eine mehr oder minder ſtarke Abhängigkeit von fremden Staaten, die in der Lage ſind, mehr menſchliche Nahrungsmittel zu erzeugen, als in ihrem Bezirk gebraucht werden. Die Abhängigkeit iſt beſonders bedenklich in Kriegs- zeiten und für ſolche Länder, die, wie das Deutſche Reich, faſt von allen Seiten an andere Länder grenzen und nur einen ſehr beſchränkten Zugang zum offenen Meere haben. Bei einem Kriege mit Rußland, Frankreich, England oder mehreren dieſer Staaten zugleich könnte die ausreichende Verſorgung der einheimiſchen Bevölkerung ſehr gefährdet ſein. Durch eine ſtarke Flotte wird zwar die Gefahr etwas gemildert, aber doch keineswegs ganz beſeitigt. Es bleibt immerhin eine beſonders wichtige Aufgabe für die deutſche 5 Landwirtſchaft, dahin zu ſtreben, durch die eigene Produktion den } heimischen Bedarf an unentbehrlichen Nahrungsmitteln, beſonders an Brotgetreide, zu decken. Sie in der Erfüllung ſolcher Aufgabe zu unterſtützen, ſoweit es in ſeiner Macht liegt, iſt der Staat ſchon durch die Rückſicht auf die eigene Exiſtenz genötigt. Viel und oft mit viel Unverſtand oder Parteileidenſchaft iſt die Frage in Reden und Schriften behandelt worden, ob der deutſche Boden im— ſtande ſei, die für die Ernährung des Volkes erforderliche Menge an Getreide und an tieriſchen Produkten zu erzeugen. Nicht minder entſchieden, wie ſie von den einen bejaht wurde, erfolgte von den ihre anderen Verneinung. Wer von beiden hat recht? Die Antwort „Beide“ würde ebenſo zutreffend ſein wie die Antwort „Keiner von beiden“. Wenn man jene Frage ſtellt und zu beantworten ſucht, muß man darüber klar ſein, welche Zeit man dabei im Auge hat, ob die Gegenwart, ob eine nahe oder eine entfernte Zukunft; ob man im letzteren Fall annimmt, daß die Be— völkerung ſtationär bleibt oder daß ſie in ähnlichem oder in einem anderen Grade wächſt, wie während der letzten 30 Jahre. Die durchſchnittliche jährliche Mehreinfuhr an Getreide betrug im Deutſchen Reich in Tonnen ): im Jahrzehnt im Jahrzehnt 1881-1890 1891-1900 „„ 747 922 692 909 „ Weizen und Spelz 510 777 1134753 ee C ie 210 170 296 399 ee ae 239 ı11 911 290 Bujammen 1707 980 3 035 351 1) Die im Text folgende Zuſammenſtellung und Durchſchnittsberechnung iſt nach den Angaben der in Betracht kommenden Bände des Statiſtiſchen Jahresbuches für das Deutſche Reich von mir gemacht worden. 12 I. Bedeutung der Landwirtſchaft. Nach der amtlichen Ernteſtatiſtikyy ſtellte ſich im Durchſchnitt des Jahrzehnts 1891—1900 die jährliche Erntemenge an: Roggen auf 7570485 Tonnen Weizen „ 3 010 067 „ Gerſte „ 2588 641 & Hafer „ 35163427 2 Zuſammen Ernte 18 794 620 Tonnen oder 375 892 400 Zentner Dazu Mehreinfuhr 3035 31 „ 260 2 1 % Alſo Konſum 21829 971 Tonnen oder 436 599 420 Zentner Von dem geſamten Konſum machte die Mehreinfuhr alſo nahezu 14% oder etwa ½, nämlich rund 60 Mill. Ztr. aus. Es fragt ſich nun, ob es möglich iſt, daß die deutſche Landwirtſchaft jährlich 60 Mill. Ztr. Getreide mehr, als bisher, produziert. Plötzlich kann ſie dies keinesfalls. Würde die Einfuhr ausländiſchen Getreides durch irgend eine Maßregel oder ein unvorhergeſehenes Ereignis abgeſchnitten, ſo wäre die Folge, daß ein großer Mangel an Brotfrucht einträte, daß die Getreidepreiſe ungewöhnlich hoch emporſchnellten, daß ein großer Teil der Bevölkerung den gewohnten Nah⸗ rungsbedarf nicht mehr befriedigen könnte, daß Hungersnot und alle mit ihr verbundenen wirtſchaftlichen und ſittlichen Notſtände Platz griffen. Ahnliche Erſcheinungen, obwohl in etwas milderer Form, würden zutage treten, wenn ungewöhnlich hohe Eingangszölle eine außerordentliche Steigerung der Ge— treidepreiſe bewirkten. Die deutſche Landwirtſchaft iſt nicht in der Lage, binnen einer kurzen Reihe von Jahren die Getreideproduktion ſo zu ſteigern, daß das Defizit von 60 Mill. Ztr. gedeckt würde; ſelbſt für den 10. Teil dieſes Quantums wäre es unmöglich oder doch nur unter Verluſten, die den Gewinn weit überſteigen müßten, erreichbar. Es ſei dabei an die früheren Ausführungen erinnert, wonach ſchon jetzt ein größerer Teil des Ackerlandes mit Getreide bebaut wird, als nach wirtſchaftlichen Grundſätzen zweckmäßig iſt. Eine noch weitere Ausdehnung des Getreidebaues würde vielleicht für ein oder zwei Jahre eine kleine Mehrproduktion an Körnerfrüchten zur Folge haben, für ſpätere Jahre aber einen ſo ſtarken Rückſchlag herbeiführen, daß der geſamte Getreide⸗ ertrag unter den gegenwärtigen Stand ſänke. Dabei iſt noch ganz abgeſehen von den großen Verluſten, die durch die Verminderung der den Wurzel⸗ gewächſen und den Futterpflanzen gewidmeten Fläche entſtehen müßten. Eine Erhöhung der Getreideproduktion auf der gegenwärtig dem Ackerbau gewidmeten Fläche iſt nur ganz allmählich dadurch erreichbar, daß man das Ackerland beſſer bearbeitet und düngt, auch die darauf kultivierten Ge⸗ wächſe während ihrer Vegetationszeit beſſer pflegt. Auf dieſem Gebiete hat die deutſche Landwirtſchaft während des ganzen 19. Jahrhunderts fortdauernd Fortſchritte gemacht; in den letzten Jahrzehnten namentlich durch vermehrte und rationellere Verwendung von ſog. künſtlichen Düngemitteln. Aber dieſe Fortſchritte können doch nur ſehr langſam eine ins Gewicht fallende Ver⸗ größerung der Geſamtproduktion an Getreide bewirken. Ein nach ſeiner natürlichen Beſchaffenheit oder Lage wenig ertragreicher Boden kann erſt durch eine, während vieler Jahre konſequent fortgeſetzte gute Behandlung zu weſent⸗ lich höheren Produktionen befähigt werden; derartige Böden machen aber den größeren Teil der Ackerfläche im Deutſchen Reiche aus. Hierzu kommt, daß die Landwirtſchaft treibende Bevölkerung, namentlich aber die Bauern, ſehr zähe an der althergebrachten Wirtſchaftsweiſe hängen, ſich nur langſam und 1) Bekanntlich leidet die Ernteſtatiſtik an manchen, nie ganz zu behebenden Mängeln; für die im Text gemachten Erörterungen iſt ſie aber hinreichend genau. — ’ 3 4 N IN | 7 3 | | * ö | „ J. Bedeutung der Landwirtſchaft. 13 zu Anderungen herbeilaſſen. In dieſer Beziehung iſt es allerdings de in den letzten 25 Jahren erheblich beſſer geworden. Auch die Bauern virtſchaften jetzt rationeller und erzielen höhere Roherträge als früher. Wenngleich, wie bereits bemerkt, die Ernteſtatiſtik kein ganz zuver⸗ ſiges Bild über die wirklich erzielten Erträge darbietet, ſo ermöglicht ſie ch, bei Vergleichung genügend langer Zeiträume, ein annähernd richtiges teil darüber, ob die Roherträge in auf- oder in abſteigender Be— gung ſich befinden oder ob ſie als ſtationär anzuſehen ſind. Zur Gewinnung eines ſolchen will ich hier einen Vergleich zwiſchen den Perioden 1880-1890 und 1891 —1898 anſtellen ). Es wurden jährlich geerntet in Tonnen: im Durchſchnitt im Durchſchnitt Getreideart von 1881/90 von 1891/98 Roggen 5 610 000 6 804 000 Weizen 2 597 000 3 065 000 Gerſte 2 232 000 2 350 000 Hafer 4 504 000 4 869 000 Zuſammen 14 943 000 17 088 000 Die durchſchnittliche Vermehrung der jährlichen Erntemenge in der Periode von 1891/98 gegenüber der von 1880/90 betrug alſo 2 145 000 Tonnen oder 14,3 Proz. Wie erfreulich das Wachstum der Produktion auch ſein mag, ſo darf man bei Beurteilung der vorliegenden Frage dabei nicht vergeſſen, daß in der gleichen Zeit die Bevölkerung des Deutſchen Reiches erheblich ſtärker zugenommen hat. Sie betrug 1880 rund 45 Mill., 1898 rund 54 ¼ Mill.; es iſt dies eine Steigerung von 20,5 Proz. Hieraus ekeerklärt ſich hauptſächlich die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wachſende Mehr— N einfuhr an Getreide (. S. 11). In der Periode von 1891/98 wurden jährlich etwa 14 Mill. ha mit den Hauptgetreidearten bebaut, alſo bei einer Geſamternte von jährlich 17 Mill. Tonnen oder 340 Mill. Ztr. geerntet pro Hektar 251/, Ztr. Die Mehr⸗ einfuhr ſtellte ſich auf jährlich 3 Mill. Tonnen oder 60 Mill. Ztr. Zur Entbehrlichmachung derſelben würde der Ertrag pro ha um 4% Ztr., alſo auf faſt 29 Ztr. geſteigert werden müſſen; denn 6¼ “ = 4¼. Die Mög- lichkeit hierzu iſt vorhanden; ebenſo die Ausſicht, in Laufe einer längeren Reihe von Jahren zu einer derartigen Vermehrung der Getreideproduktion zu gelangen, daß bei gleichbleibender Bevölkerung die Zufuhr von Getreide entbehrlich ſein würde. Aber, wie bereits nachgewieſen, ſo iſt in den letzten 20 Jahren die Bevölkerung erheblich ſtärker geſtiegen, als die Getreideproduktion. Bei dem Fortgang der jetzigen Entwicklung liegt daher die Wahrſcheinlichkeit vor, daß in Zukunft die einheimiſche Getreideproduktion in noch ſtärkererm Grade als bisher hinter dem einheimiſchen Bedarf zurückbleiben wird. In der Erhöhung der Erträge pro Flächeneinheit, alſo in der intenſiveren Ausnutzung der bereits zum Getreidebau benutzten Grundſtücke liegt ohne Zweifel das wirkſamſte Mittel, um die Produktion zu vermehren und nicht allzuweit unter den Bedarf ſinken zu laſſen. Ein anderes Mittel könnte in der Heranziehung von bisher landwirtſchaftlich nicht be— 1) Die folgenden Zahlen ſind von mir berechnet aus den in dem Statiſtiſchen Jahrbuch für bas Deutſche Reich enthaltenen Angaben über die Erntereſultate der einzelnen Jahre. Ich habe abſichtlich nur die Zahlen bis 1898 benutzt, weil von 1899 ab eine neue Methode der Ernteſtatiſtik in Anwendung kam, ſo daß die Angaben für die vorangegangenen Jahre mit den für die folgenden nicht direkt vergleichbar ſind. Vgl. hierzu: „Die deutſche Volkswirtſchaft am Ende des 19. Jahrhunderts“, herausgeg. vom Kaiſerl. Statiſt. Amt, Berlin 1900, S. 59. 14 I. Bedeutung der Landwirtſchaft. nutzten Flächen zur landwirtſchaftlichen Kultur oder der 1 geringen Weiden zum Feldbau gefunden werden. Daß von dieſen in der Tat auch fortdauernd Gebrauch gemacht wird, ergeben folgende Zahle Es betrug im Deutſchen Reich: im Jahre eee e die Ackerfläche 1878 36 643 927 ha 25 999 670 ha 1883 35 640419 „ 26 177 350 „ 1893 35 164 596 „ 26 243 213 „ In den 15 Jahren hat alſo eine Zunahme des Ackerlandes um 243 543 ha ſtattgefunden. Die landwirtſchaftlich benutzte Fläche hat zwar ſcheinbar abgenommen, aber es liegt dies lediglich an dem bereits S. 7 er⸗ wähnten Umſtande, daß die ganz ‚geringen Weiden und Hutungen früher zu den Weiden, ſpäter aber zu dem Od- und Unland gezählt wurden. Die auch nach den Statiſtiken von 1883 und 1893 zu den Weiden gerechneten ganz geringen Weiden und Hutungen nahmen zuſammen mit dem Od- und Unland in Anſpruch: 1878 4 484 307 ha 1883 4427999 „ 1893 4184 884 „ Es liegt hierin eine Abnahme von 299 423 ha. Solches iſt noch etwas ſtärker, als die Zunahme des Ackerlandes, und zwar fällt das Mehr auf die Wieſen und guten Weiden, alſo auf die übrigen landwirtſchaftlich benutzten Grundſtücke. Schließt man nämlich die ganz geringen Weiden bei ſämtlichen Erhebungen aus, jo beträgt die landwirtſchaftlich benutzte Fläche 2): in Prozent der * ba Geſamtfläche 1878 f 32 752 234 60,5 1883 32 828 539 60% 1893 33 040 268 Dis Die Zunahme der landwirtſchaftlichen, Fläche mit 288034 ha iſt alſo faſt gerade ſo groß als die Abnahme des Od⸗ und Unlandes. Man darf erwarten, daß auch in Zukunft noch eine weitere Vermehrung der landwirtſchaftlichen Fläche und beſonders des Ackerlandes ſtattfinden wird. In welchem Grade ſie möglich oder wahrſcheinlich, und welche Steige⸗ rung der Produktion davon zu erhoffen iſt, ſoll hier kurz unterſucht werden. Die weder land⸗ noch forſtwirtſchaftlich benutzte Fläche beſtand 1893 aus 3): 1. Haus⸗ und Hofräumen mitt 484 326% ha 2. Wegen und Gewäſſern mit 2382 317% „ 3. Od⸗ und Unland mietet i do 5 Zuſammen 4 927 200% ha Haus⸗ und Hofräume ſowie Wege, zu denen auch alle öffentlichen Verkehrsſtraßen gehören, werden in Zukunft ſich unzweifelhaft noch ver⸗ mehren, dagegen von den Gewäſſern noch ein kleiner Teil zu landwirtſchaft⸗ licher Kultur herangezogen werden. Im großen und ganzen darf man an⸗ 1) Welche Mittel im einzelnen anzuwenden ſind, um eine Steigerung der land⸗ wirtſchaftlichen Roherträge herbeizuführen, ſoll ſpäter erläutert werden. 2) Vergl. hierüber auch: Anbau-, Forſt⸗ und Ernteſtatiſtik für das Jahr 1893. Herausgegeben vom Kaiſerl. Statiſt. Amt, Berlin 1894, S. IV, 131. 3) Anbau⸗, Forſt⸗ und Ernteſtatiſtik, S. IV, 139. I. Bedeutung der Landwirtichaft. 15 men, daß der geſamte Flächeninhalt der unter 1 und 2 genannten Be- ungsarten vorausſichtlich keine jo ſtarke Veränderung erleidet, daß da⸗ durch die landwirtſchaftliche Produktion in irgend erheblicher Weiſe beeinflußt wird. Zum Od⸗ und Unland gehören außer Steinbrüchen, Ton-, Kiesgruben Te. beſonders auch die reinen Heideländereien und ganz geringe Weiden und Hutungen; ferner die weder zum Ackerbau noch als Grünland benutzten Moore. Wieviel davon zur landwirtſchaftlichen Kultur, jetzt oder ſpäter, herangezogen werden kann, läßt ſich ſchwer berechnen. Ein erheblicher Teil wird immer in ſeinem gegenwärtigen oder in einem ähnlichen Zuſtande bleiben, ein anderer Teil im Laufe der Jahre aufgeforſtet werden. Man darf vielleicht annehmen, daß von dem Od- und Unland etwa die Hälfte, aalſo rund 1 Mill. ha, zum Ackerbau allmählich herangezogen wird. Trägt die Hälfte davon Getreide und werden pro ha durchſchnittlich 25 Ztr. Ges treidekörner erzielt, jo würde dies eine Vermehrung der Getreideprodnktion um 12½ Mill Ztr. bedeuten. Es iſt dies nur etwa ein Fünftel der gegen- wärtigen Mehreinfuhr an Getreide. Aber ſelbſt ein ſolches Reſultat kann erſt nach einer ſehr langen Reihe von Jahren erwartet werden. Hier habe ich nur davon geſprochen, welche Ausſichten für Vermehrung der Getreideproduktion im Deutſchen Reich vorhanden ſind. Denn ein— mal bilden die Brotfrüchte das bei weitem wichtigſte Nahrungsmittel, und fürs andere würde mit einer Vermehrung der Produktion an Getreide ganz von ſelbſt ein ähnlich ſtarkes Wachstum des Erzeugniſſes an Kartoffeln und an Viehfutter verbunden ſein. Die Erträge des Feldes an letzteren Pro— dukten müſſen ebenſo ſteigen wie die an Getreidekörnern, und bei rationellerer Kultur nehmen die Erträge der Wieſen und Weiden nicht minder zu wie die des Ackerlandes. Entſprechend der Steigerung des Futtererzeugniſſes würde auch eine ſolche bezüglich von Fleiſch, Milch und anderen, aus dem Tierreiche ſtammenden, menſchlichen Nahrungsmitteln ſtattfinden. Es ſchien mir unerläßlich, die Frage, inwieweit die deutſche Landwirt⸗ ſchaft in der Lage iſt, den Nahrungsbedarf der einheimiſchen Bevölkerung zu decken, unter Mitteilung der vorhandenen ſtatiſtiſchen Unterlagen ſowie auf Grund der dabei notwendigerweiſe anzuſtellenden landwirtjchaftlich-tech- niſchen Erwägungen, eingehend zu behandeln. Denn von ihrer Entſcheidung nach der einen oder anderen Richtung hängt viel ab; namentlich auch für das Verhalten des Staates gegenüber der Landwirtſchaft. Das Reſultat der vorausgegangenen Unterſuchung läßt ſich in folgenden Sätzen zuſammenfaſſen: 1. Die deutſche Landwirtſchaft iſt zurzeit nicht in der Lage, den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung an Nahrungsmitteln zu erzeugen; etwa ½ des Getreidebedarfes muß durch Einfuhr beſchafft werden). 2. Aus wirtſchaftlichen und politiſchen Rückſichten muß dahin geſtrebt werden, dieſe Abhängigkeit vom Auslande zu beſeitigen oder doch auf ein möglichſt geringes Maß zu beſchränken. 3. Zu ſolchem Zweck dienen zwei Mittel: die intenſivere In— anſpruchnahme der bereits landwirtſchaftlich benutzten Flächen und die Heranziehung von Od- und Unland zur landwirtſchaft— lichen Kultur. 4. Beide Mittel, die bereits in der Vergangenheit zur An— wendung gebracht worden ſind, können aber nur ſehr langſam 1) Daß auch bei den tieriſchen, für die menſchliche Ernährung dienenden Erzeugniſſen die einheimiſche Produktion für den einheimiſchen Bedarf nicht ausreicht, ſoll im Abſchnitt XVI nachgewieſen und mit Zahlen belegt werden. 16 1. Bedeutung der Landwirtſchaft. wirken; im Falle ihrer ferneren „ würde ſelbſt bei ſtationär bleibender Bevölkerung voraus ichtlich erſt nach einen längeren Reihe von Jahren der Bedarf an Nahrungsmitteln . durch die einheimiſche Produktion befriedigt werden können. 5. In Anbetracht des anhaltenden Wachstums der Bevölke— rung muß für einen vorläufig noch unabſehbaren Zeitraum mit der Notwendigkeit gerechnet werden, einen Teil der erforder— lichen Nahrungsmittel vom Auslande zu beziehen. Dieſen mög— lichſt niedrig zu halten, bildet eine wichtige Aufgabe für die Land- wirtſchaft wie für den Staat!). | | Die Landwirtſchaft hat aber auch noch eine andere Aufgabe zu löſen, und zwar liegt dieſe weniger auf wirtſchaftlichem, als auf ſozialem und politiſchem Gebiet. Auf dem Lande erwächſt und lebt fortdauernd die Bevölkerung unter ganz anderen Bedingungen und Verhältniſſen als in der Stadt. Hierdurch werden die phyſiſche Konſtitution, die Gemütsrichtung, die geiſtigen Fähigkeiten, die Charaktereigenſchaften und die Lebensanſchauungen beider Volksteile mächtig beeinflußt. Durchſchnittlich ſind die Landbewohner phyſiſch kräftiger, leiſtungsfähiger für ſchwere Arbeiten, widerſtandsfähiger gegen außergewöhnliche körperliche Anſtrengungen. Sie beſitzen eine größere Anſpruchsloſigkeit hinſichtlich der Qualität von Nahrung und Kleidung ſowie bezüglich geiſtiger und geſelliger Anregung. Ihre ſittlichen Anſchauungen ſind zwar oft ſehr naturwüchſig und derb, feineren Begriffen wenig ent⸗ ſprechend, zeugen aber keineswegs von moraliſcher Minderwertigkeit; viel eher iſt das Gegenteil der Fall. Die Landbewohner ſind langſam und be⸗ dächtig im Denken und Handeln, führen aber das einmal Begonnene mit Zähigkeit durch; von dem Hergebrachten und von alten Gewohnheiten trennen ſie ſich ſchwer und ſind gegen Neuerungen argwöhniſch. Schon hieraus er⸗ gibt ſich, daß die Landbevölkerung politiſch konſervativen Anſchauungen huldigt, vor den beſtehenden Einrichtungen und öffentlichen Gewalten Ehr⸗ furcht hegt, revolutionären Beſtrebungen feindlich gegenüberſteht. Dieſe Ge⸗ ſinnungsrichtung wird noch dadurch befördert, daß die Landbewohner ſich im allgemeinen den Glauben an Gott und an eine göttliche Weltordnung und Weltregierung bewahrt haben. Die Eigenſchaften, Neigungen und Anjchau- ungen der Stadtbewohner ſind ganz anderer, teilweiſe entgegengeſetzter Natur. Ein Vergleich hinſichtlich der höheren oder geringeren Geſamt⸗ qualität der einen oder der anderen Volksgruppe läßt ſich nicht ziehen, da hierfür ſo verſchiedenartige Dinge in Betracht kommen, daß ein allgemeines Werturteil ausgeſchloſſen wird. Darüber dürfte aber bei unbefangenen Sach⸗ kundigen kein Zweifel herrſchen, daß wenigſtens ein großer Teil der ſtädtiſchen Bevölkerung der Gefahr ausgeſetzt iſt, körperlich zu verweichlicheu und her⸗ unterzukommen, in unnatürliche Nervoſität zu geraten und infolgedeſſen und infolge anderer Einwirkungen an der Geſundheit des geiſtigen und ſittlichen Lebens viel einzubüßen. 1) Zur weiteren Orientierung über die Frage, inwieweit die deutſche Landwirtſchaft imſtande iſt, den Nahrungsbedarf für die einheimiſche Bevölkerung zu erzeuzen, verweiſe ich noch auf folgende Schriften: 1. H. Thiel, Kann die deutſche Landwirtſchaſt das deutſche Volk ernähren? Landw. Kalender von Mentzel und v. Lengerke für 1894, 2. Teil, S. 51 ff. 2. W. Hartmann, Kann Deutſchland ſeinen Bedarf an Getreide ſelbſt produzieren? Leipzig 1893. Dieſe Schrift iſt die Doktor-Diſſertation eines meiner früheren Schüler. 3. Th. Frhr. von der Goltz, Die agrariſchen Aufgaben der Gegenwart, 2. Aufl. Jena 1895, S. 119 ff. 4. Robert Drill, Soll Deutſchland ſeinen ganzen Getreidebedarf ſelbſt produzieren? Stuttgart 1895. 5. Traugott Müller, Induſtrieſtaat oder Agrarſtaat. In Mentzel und v. Lengerkes landw. Kalender für 1902, II. Teil, S. 55—85. E Bedeutung der Landwirtſchaft. 17 8 Dem ſtehen unfraglich auch manche Lichtſeiten gegenüber; aber die Tatſache wird kaum geleugnet werden können, daß die Stadtbevölkerung immer aufs neue der Zuführung friſchen Blutes vom Lande her bedarf, wenn ſie nicht verkümmern und in eine geiſtige wie moraliſche Einſeitigkeit 5 verfallen ſoll, die ihr ſelbſt wie der Geſellſchaft und dem Staate verderblich werden muß. Tatſächlich hat auch eine ſolche Blutauffriſchung zu allen Zeiten And bei allen Völkern ſtattgefunden, jo lange es Städte gibt. Die Zahl deer in der Landwirtſchaft mit Vorteil zu beſchäftigenden Menſchen iſt eine beſchränkte, von der Beſchaffenheit und Ausdehnung der vorhandenen land— wirtſchaftlich benutzungsfähigen Bodenfläche abhängige. Andererſeits iſt die Vermehrungsfähigkeit der Menſchen eine ſozuſagen unbegrenzte. Der auf dem Lande nicht mehr verwendbare Überſchuß wandert in die Städte. Denn die hier betriebenen Gewerbe geſtatten eine ſtarke Anhäufung von Menſchen an einem Orte, da die von ihnen in Anſpruch genommene Bodenfläche ver- hältnismäßig eine ſehr geringe iſt. Bei den ſtädtiſchen Gewerben und bei der Induſtrie iſt die Vermehrung der darin tätigen Menſchen ſo lange und ſo weit möglich, als die erzeugten Produkte einen genügenden und lohnenden Abſatz finden. Dabei iſt der Abſatz viel weniger wie bei den landwirtſchaft⸗ lichen Erzeugniſſen auf den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung angewieſen, | ſondern kann ſich auch auf die Bewohner fremder Länder erſtrecken. Das Fiortbeſtehen der deutſchen Induſtrie und der davon lebenden Menſchen, auch nach ihrer gegenwärtigen Ausdehnung und Zahl, wird ſogar durch die Mög— lichkeit bedingt, einen ſehr erheblichen Teil der hergeſtellten Fabrikate an die Bewohner fremder Länder und Erdteile zu verkaufen. ü Für die Städte iſt der nötige Zufluß an Menſchen vom Lande um ſo leichter zu gewinnen, je größer die Zahl der Landbewohner zu der der Stadt— bewohner ſich ſtellt, und um ſo ſchwieriger, je mehr das Umgekehrte zutrifft. Während des 19. Jahrhunderts hat in dem beiderſeitigen Zahlenverhältnis eine ſtarke Verſchiebung ſtattgefunden. Man darf annehmen, daß zu Beginn desſelben nicht weniger als 70 Proz. der Bevölkerung dem Lande und nicht mehr als 30 Proz. den Städten angehörten. Im Laufe der Zeit hat zwar auch die ländliche Bevölkerung abſolut zugenommen, in viel ſtärkerem Maße aber die ſtädtiſche, ſo daß dieſe jetzt bedeutend überwiegt. In den letzten Jahrzehnten hat ſogar die der Land- und Forſtwirtſchaft zugehörige Be— völkerung abſolut abgenommen; 1882 betrug fie 19,225 Mill, 1895 nur noch 18,501 Mill. ). Von allen Erwerbstätigen im Deutſchen Reich fielen, ihrem Hauptberuf nach, auf die Landwirtſchaft im Jahre 1882 noch 43,38 Proz., im Jahre 1892 nur 35,75 Proz. ). In der preußiſchen Monarchie? kamen von der geſamten Bevölkerung, alſo Erwerbstätige und deren An— gehörige: in Prozenten der Berufsart an ſolute Zahl 1895 Geſamtbevölkerung 5 1882 1895 1. Landwirtſchaft, Gärtnerei, Tierzucht Forſtwirtſchaft, Fiſche rei 11 904 407 11 375 096 42,49 3%. 2. alle übrigen Berufsarten und Perſonen ohne Beruf „ 15 383 453 20 115 219 8 6470 27 287 860 31 490 315 100% 100% 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 6. Jahrg., 1885, S. 5 und 20. Jahrg., 1899, S. 10. Vgl. hierzu auch H. Dade, Die landwirtſchaftliche Bevölkerung des Deutſchen 2 die Wende des 19. Jahrhunderts. Berlin (P. Parey), 1903, S. 10 ff. und 18 ff. 2) Engel, Die Verſchiebung in der Berufstätigkeit der Bevölkerung Preußens ſeit 1882, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik, 3. Folge, 13 Bd. 1897, S. 103 ff. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik, 2. Aufl. 2 — 18 I. Bedeutung der Landwirtſchaft. Aus den vorſtehenden Zahlen geht deutlich hervor, daß die Fähigkeit a der ländlichen Bevölkerung, den erforderlichen oder doch wünſchenswerten Bi Erſatz für die ſtädtiſche Bevölkerung zu liefern, fortdauernd geringer wird. Für den Staat erwächſt daraus die Aufgabe, nach ſeinen Kräften dafür zu 1 9 ſorgen, daß die Menge der in der Landwirtſchaft tätigen Perſonen nicht nur nicht abnimmt, ſondern gegenteilig wächſt. Die Bodenfläche des Deutſchen 4 Reiches iſt groß genug, um bei ihrer Bearbeitung und Nutzung noch viele Millionen von Menſchen mehr, als es jetzt der Fall iſt, lohnend beſchäftigen u können!). | Auch mit Rückſicht auf die Erhaltung feiner Wehrfähigkeit hat der Staat ein Intereſſe daran, über eine zahlreiche, Landwirtſchaft treibende Be⸗ völkerung verfügen zu können. Zugegeben werden muß allerdings, daß auch die ſtädtiſche bezw. induſtrielle Bevölkerung hierfür eine ſehr große Bedeutung beſitzt; ſie wohnt viel dichter beiſammen und liefert daher auf dem 99 Flächenraum abſolut eine größere Anzahl von Heerespflichtigen und auch Heerestauglichen. Beſtimmt man aber den Prozentſatz, welchen die 8: tauglichen von den Heerespflichtigen ausmachen, jo jtellt ſich die Sache zu⸗ gunſten der Landbevölkerung. 80 Im Jahre 1895 wurden von je 100 Geſtellungspflichtigen wirklich ausgehoben: im Bezirk Mann des I. Armeekorps (Oſtpreußen) 68,16 125 II. 5 (Pommern, Teile von Weſtpreußen und Reg.-Bez. Bromberg) 57,4 4 III. 5 (Brandenburg⸗Berlin) 51 IV. N (Provinz Sachen, Teile von Thüringen) 49.53 x V. K (Reg.⸗Bez. Poſen und Liegnitz) | 60,98 = VI. a) (Reg.⸗Bez. Breslau und Oppeln) 46,58 II. 5 (Weſtfalen, Teile vom Reg.-Bez. Düfjeldorf) 533 „ III. = (übrige Rheinprovinz, Sigmaringen) 5517 5 IX. A (Schleswig-Holſtein, Mecklenburg, Stade, Hanſeſtädte) 5857 5 X. ” (Reit von Hannover, Oldenburg, Braunſchweig) 52,40 Ä XI. 1 (Hefjen-Nafjau, Teile von Weſtfalen und Thüringen) 531 3 fr (Königreich Sachſen) 52,08 XIII. 0 (Königreich Württemberg) 56,9 REIN, 8 (Baden, Oberelſaß) 54,00 V. 1 (Unterelſaß, Teile von Lothringen) 60,7 XVI. > (Lothringen) 61 XVII. u (Weſtpreußen, angrenzende Teile von Pommern und Weſt⸗ f preußen) 62,1 0 I. bayriſches Korps (Südbayern) 54744 8 II. 8 „ uürdliches Bayern und Pfalz) 53058 Oſtpreußen, Weſtpreußen, Poſen, Niederſchleſien, Unterelſaß und Lothringen (I., II., V., XV., XVI. und XVII. Korps) ſtellen prozentiſch die meiſten, Brandenburg⸗Berlin, Provinz Sachſen mit Teilen von Thüringen, Ober⸗ ſchleſien, Königreich Sachſen, das nördliche Bayern und die Rheinpfalz (III., IV., VI., XII. und II. bayriſches Korps) die wenigſten Wehrfähigen. Jene Bezirke ſind ſolche mit beſonders ſtarker Landbau treibender, dieſe ſind ſolche mit beſonders ſtarker ſtädtiſcher oder induſtrieller Bevölkerung. Noch günſtiger geſtaltet ſich die Sache für die ländliche Bevölkerung, wenn man die Prozentzahl der auf dem Lande geborenen Heerestaug⸗ lichen mit den in der Stadt geborenen vergleicht. Nach den 1902 darüber angeſtellten amtlichen Ermittlungen waren von je 100 zur Muſte⸗ rung gekommenen und endgültig abgefertigten Perſonen zum Militärdienſt 1) Über die vom Staate anzuwendenden Mittel ſiehe die Abſchnitte VI und IX dieſes Buches. I. Bedeutung der Landwirtichaft. 19 ich von den auf dem Lande geborenen 58,50 Proz., von den in der dt geborenen nur 53,97 Proz. Unter der Geſamtheit aller für tauglich denen Perſonen waren 63,27 Proz. auf dem Lande, dagegen bloß Proz. in der Stadt geboren. Prozentiſch liefert die Landbevölkerung unzweifelhaft einen größeren teil von Dienſttauglichen, und dies ſchon muß für den Staat ein Antrieb auf die Vermehrung derſelben hinzuwirken, zumal hierdurch eine Ver- ng der ſtädtiſchen Bevölkerung keineswegs ausgeſchloſſen iſt. Dazu t der weitere Umſtand, daß die Landbewohner durchſchnittlich körperlich tiger, gegen Unbilden der Witterung abgehärteter ſind. Man kann gerne ehmen, daß die induſtrielle Bevölkerung andere, auch für den Krieg toolle Vorzüge beſitzt, z. B. größere geiſtige und körperliche Beweglichkeit, iellere Auffaſſung und leichtere Aupaſfung an neue Verhältniſſe. Indeſſen d die ſoldatiſchen Tugenden der Landbevölkerung mindeſtens ebenſo wichtig ie die der ſtädtiſchen. Da die erſtere ſchon jetzt die Minderheit im Heere bildet, und bei dem rapiden Wachstum der Städte immer mehr zu bilden droht, ſo liegt für den Staat alle Veranlaſſung vor, ſeinerſeits dahin zu wirken, daß die aus der Landwirtſchaft ſtammenden Soldaten in ihrer Zahl nicht allzu ſehr hinter den aus den Städten kommenden zurückbleiben 9. 3 Auch noch aus einem anderen und zwar aus einem beſonders wichtigen Grunde hat der Staat ein hervorragendes Intereſſe an einer Vermehrung der Landwirtſchaſt treibenden Bevölkerung. Wie oben ausführlich dargelegt wurde, ſo produziert die deutſche Landwirtſchaft nicht den vollen Bedarf des Reiches an Nahrungsmitteln, obſchon dies aus volkswirtſchaftlichen und poli⸗ tiſchen Rückſichten dringend wünſchenswert iſt. Eine Verſtärkung der Roh⸗ produktion iſt vor allem an die Bedingung einer intenſiveren Geſtaltung des landwirtſchaftlichen Betriebes geknüpft, dieſe aber hängt vorzugsweiſe von der Verwendung einer größeren Menge von menſchlicher Arbeit ab. Wenn die Feldfrüchte während ihrer Vegetationszeit durch häufiges Behacken oder ſonſtige Bearbeitung in ihrem Wachstum gefördert werden, dann ſteigt ihr Rohertrag ſehr bedeutend; bei den meiſten Feldfrüchten iſt dies möglich und geſchieht auch in manchen Wirtſchaften. Aber letztere bilden bis jetzt die Ausnahme, zum Teil deshalb, weil es an Menſchenhänden fehlt. Durch Maſchinen kann die menſchliche Arbeit nur unvollkommen und unvollſtändig erſetzt werden. Manche landwirtſchaftliche Sachverſtändige fürchten ſchon jetzt, daß die deutſche Landwirtſchaft infolge von Mangel an Arbeitskräften zu ceeiner extenſiveren Form des Betriebes übergehen müſſe, wie es in England 5. B. ſchon der Fall geweſen iſt. Für ganz ausgeſchloſſen möchte auch ich dieſe Gefahr nicht halten; fie kann, namentlich in dem nordöſtlichen Deutſch— land, eintreten, wenn man in der Geſtaltung der ländlichen Arbeiterverhältniſſe nicht die richtigen Wege einſchlägt. Ein nationales Unglück würde es ſein, wenn wegen der zu ſpärlich vorhandenen Bevölkerung ein Rückgang der landwirtſchaftlichen Rohproduktion ſtattfände, oder wenn auch nur ein weiterer Fortſchritt derſelben unmöglich gemacht würde ). 1) Vergl. hierüber auch: Zeitſchrift des Kgl. Preuß. Statiſtiſchen Büreaus, 37. Jahrg., Berlin 1897, Shatiftifche Korreſpondenz, S. 1 und 2; Arthur Dix, Über Voltsvermehrung und Wehrkraft in Deutſchland, Preußiſche Jahrbücher, 91. Jahrg., 1898, S. 51 ff. Eben⸗ daſelbſt im 92. Jahrg. die Entgegnung von Kueczinski und die Replik von Dix, S. 138 ff. und S. 154 ff. H. Dade, a. a. O. S. 27 und 29, ſowie Tab. XXVIII auf S. 58. 2) Wie ſehr die landwirtſchaftliche Rohproduktion, namentlich auch an Getreide, durch vermehrte Anwendung pon Handarbeit geſteigert werden könne, habe ich in meiner Schrift „Die ländliche Arbeiterklaſſe und der preußiſche Staat“ (Jena, G. Fiſcher, 1893), S. 167 ff. eingehend nachzuweiſen verſucht. — Eine Ergänzung findet das im Text Geſagte durch die Ausführungen des Abſchnittes IX „Die ländliche Bevölkerung, insbeſondere die landwirt⸗ ſchaftlichen Arbeiter“. * Kr Ir, * 5 12 43 Di — 20 II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. Die in der Landwirtſchaft wirkſamen Produktions- oder Betriebs— mittel ſind Grund und Boden, Arbeit und Kapital. Das erſtge— nannte iſt das bei weitem wichtigſte; es gibt dem ganzen Gewerbe ſeinen eigentümlichen Charakter, daher auch mit Recht ſeinen Namen. Landwirtſchaft heißt nichts anders als Bodenwirtſchaft. Der Boden als Produktionsmittel unterſcheidet ſich von allen übrigen Produktionsmitteln, ſowohl den in der Landwirtſchaft wie den in den ſon⸗ ſtigen Gewerben benutzten. Aus dieſem Grunde trägt auch die Landwirt- ſchaft einen ganz anderen Charakter wie die Handwerke und Induſtrie. Die für dieſe gültigen wirtſchaftlichen Regeln können nicht ohne weiteres auf jene übertragen werden, obwohl dies gerade in der Gegenwart, zum Nachteil der Landwirtſchaft, oft verſucht wird. Der Grund und Boden iſt unvermehrbar, unbeweglich, unver— zehrbar d. h. in ſeiner produktiven Kraft unerſchöpflich. Der Flächeninhalt der ganzen Erde, ebenſo wie der eines geographiſch abgegrenzten Bezirkes, alſo eines einzelnen Landes, iſt ein- für alle Male gegeben, er kann um keinen Quadratmeter vergrößert werden. Die nächſte und wichtigſte Beſtimmung des Bodens beruht darin, den darauf wohnenden Menſchen die erforderliche Nahrung und die Rohſtoffe zur Herſtellung an⸗ derer Bedürfniſſe zu liefern. Solange die Bevölkerung dünn iſt, läßt ſich ſolche Forderung leicht befriedigen. Je mehr ſie wächſt, deſto ſchwieriger wird die Löſung dieſer Aufgabe. Im Deutſchen Reich hat die Bevölkerung ſchon ſo ſtark zugenommen, daß trotz allen ſeitens der Landwirte gemachten Anſtrengungen der heimiſche Boden nicht mehr den Nahrungsbedarf der auf ihm lebenden Menſchen zu liefern vermag. Hierin liegt ein großer Übel⸗ ſtand, eine große Gefahr für die Zukunft (ſ. S. 11 ff.). Einem künſtlichen Eindämmen der Volksvermehrung ſtehen ſehr gewichtige ſittliche, wirtſchaftliche und politiſche Bedenken entgegen. Das vielfach in Frankreich, ſtellenweiſe leider auch ſchon in Deutſchland, angewendete Zweikinderſyſtem entnervt und demoraliſiert, ſchwächt die Tatkraft, vermindert die Wehrfähigkeit. Starker Bevölkerungszuwachs iſt ein Zeichen von Volksgeſundheit. Grade die unabänderliche Tatſache der Unvermehrbarkeit des Bodens ſtellt dem Deutſchen Reiche eine ſchwere Aufgabe. Es muß an der im vorigen Abſchnitt erhobenen Forderung feſtgehalten werden, daß das Deutſche Reich bezüglich der unentbehrlichſten Nahrungsmittel möglichſt unabhängig vom Auslande ſich machen ſoll. Auf der anderen Seite darf man nicht wünſchen, daß ſich Sitten einbürgern, die der Volksvermehrung künſtliche und unnatür⸗ liche Schranken ſetzen. Der beſte Ausweg wäre darin zu finden, daß die überſchüſſige Bevölkerung in anderen Ländern, die noch über große Maſſen von unkultiviertem Boden verfügen, ſich anſiedelte, und ſolcher gibt es in großer Zahl und Ausdehnung im ſüdöſtlichen Europa, Kleinaſien, Süd⸗ amerika, in einzelnen Teilen Afrikas. Es gehört durchaus nicht in den Be⸗ reich der Unmöglichkeit oder auch nur der Unwahrſcheinlichkeit, daß eine ſolche Abzugsquelle für unſeren Bevölkerungsüberſchuß ſich einmal eröffnet; ihre Benutzung würde nicht nur dem Deutſchen Reiche, ſondern auch den von uns koloniſierten Landſtrichen zugute kommen. Wie einerſeits durch die Unvermehrbarkeit des Bodens, ſo werden an⸗ dererſeits durch ſeine Unbeweglichkeit der Bodenproduktion und der Land⸗ wirtſchaft beſtimmte Schranken geſetzt. Die Benutzungs- und Ertragsfähig⸗ in 2 r a II. Der landwirtichaftliche Betrieb. 21 keit jedes Grundſtückes iſt, wie ſchon früher erwähnt, von ſeiner einmal und unabänderlich gegebenen Lage in beſonderem Maße abhängig. Ob ein Grund— ſtück zum Ackerbau überhaupt brauchbar iſt oder nicht, ob es mit dieſer oder jener Feldfrucht beſtellt werden kann, ob es hohe oder niedrige Erträge bringt, hängt zwar einesteils von den Beſtandteilen ab, aus denen der Boden ſich . ; nicht minder aber davon, wie hoch das Grundſtück über dem eeresſpiegel und unter welchem Breitengrade es ſich befindet; ob es eben oder geneigt, naß oder trocken iſt, ob es in der nähe ausgedehnter Waſſer⸗ flächen oder inmitten eines großen Kontinentes liegt. Alle dieſe für die Be— nutzung des Bodens ausſchlaggebenden Eigenſchaften ſind durch die Lage jedes einzelnen Grundſtückes ein für alle Male beſtimmt, und dieſe Lage iſt wegen der Unbeweglichkeit des Bodens dem menſchlichen Einfluß vollſtändig oder faſt vollſtändig entzogen. Unvermehrbarkeit und Unbeweglichkeit des Bodens wirken in der gleichen Richtung, daß ſie nämlich dem landwirtſchaftlichen Betriebe eines jeden Lan⸗ des oder auch Landesteiles einen ſpezifiſch beſtimmten, aber feſten Charakter verleihen, der nur verhältnismäßig geringer Veränderungen fähig iſt. Die Bedeutung dieſer Tatſache wird noch dadurch verſtärkt, daß auch die Zu⸗ ſammenſetzung des Bodens jedes einzelnen Grundſtückes nur in ziemlich engen Grenzen dem menſchlichen Einfluß unterworfen iſt. Ob ein Boden der Hauptmaſſe nach aus Sand, Ton, Kalk oder Humus beſteht und in welchem Mengeverhältnis dieſe Beſtandteile ſich vorfinden, danach richtet ſich die mög— liche Art ſeiner Benutzung und der Grad ſeiner Ertragfähigkeit zwar nicht ausſchließlich, aber doch in hervorragendem Maße. Die Mängel eines ein- ſeitig und ungünſtig zuſammengeſetzten Bodens kann der Menſch zwar durch angemeſſene Bearbeitung und Düngung mildern, aber nie ganz beſeitigen. Aus Sandboden läßt ſich kein Tonboden, aus Moorboden kein Sand- oder Lehmboden machen de. Die dritte charakteriſtiſche Eigenſchaft des Bodens iſt ſeine Unver— zehrbarkeit d. h. die Unerſchöpflichkeit ſeiner produktiven Kraft. Der Boden erzeugt Pflanzen, und dieſe dienen zur Befriedigung der not— wendigen Lebensbedürfniſſe für Menſchen und Tiere. Die Pflanzen, mit Ausnahme weniger für unſere Frage unwichtiger Familien, können nur im Boden wachſen, der ihnen feſten Standort und Nahrung darbietet. Einen anderen Teil der Nahrung nehmen ſie aus der Luft. Boden und Luft, die ſich in ihrer Wirkung ergänzen, ſind beide für das Gedeihen der Pflanzen notwendig; deshab kommt auch lediglich die Oberfläche der Erde für die landwirtſchaftliche Produktion in Betracht. Jeder Boden erzeugt Pflanzen auch ohne Zutun des Menſchen. Die Urwälder, die unkultivierten Moore, die von keines Menſchen Hand berührten Weideflächen, die früher bebaut ge— weſenen, aber aus irgend einem Grunde ſpäter unbenutzt gelaſſenen Felder, auch die Brachäcker, legen davon Zeugnis ab. Die wild gewachſenen Pflanzen ſind keineswegs wertlos, ſie dienen in ihrem natürlichen Zuſtande oder nach weiterer Zubereitung Menſchen und Tieren zur Nahrung, auch noch zu anderen Zwecken. Auf niedrigen Kulturſtufen pflegen die Menſchen faſt alle ihre Be— dürfniſſe dadurch zu decken, daß ſie lediglich die von dem Boden direkt oder indirekt dargebotenen Naturprodukte in Beſitz nehmen. Mit Einführung des Ackerbaues und einer geregelten Bodenwirtſchaft ändert ſich ſolches allerdings. Aber die Tätigkeit des Ackerbauers beſteht doch weſentlich nur darin, daß er nunmehr einige wenige, ihm beſonders geeignet ſcheinende Pflanzen bezw. deren Samen oder Sprößlinge dem Boden einverleibt, daß er dieſen durch Bearbeitung und Düngung die zum guten Gedeihen erforderlichen Lebens— bedingungen zu verſchaffen, daß er endlich alle übrigen, ohne ſein Zutun und 22 II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. gegen ſeinen Willen ſich einfindenden Pflanzen, die er nun Unkräuter nennt, zu beſeitigen ſucht. Der Landwirt nutzt die produktive Kraft des Bodens aus, er regelt ſie, gibt ihr eine beſtimmte Richtung, dämmt ſie nach anderen Rich⸗ tungen ein; aber er kann ſie weder ſchaffen oder hervorrufen noch auch zer⸗ ſtören. Verzichtet der Menſch aus irgend einem Grunde auf die fernere Bebauung bisher landwirtſchaftlich benutzter Flächen, ſo werden dieſe dadurch nicht unprodultiv, ſondern ſie bringen andere Pflanzen wie früher hervor. Als infolge des dreißigjährigen Krieges unzählige Bauernhöfe und viele Bauerndörfer im Deutſchen Reiche von ihren Bewohnern verlaſſen oder durch den Tod derſelben beraubt wurden und die bis dahin kultivierten Hufen wüſt liegen blieben, wuchſen auf ihnen Gräſer und Kräuter, Sträucher und Bäume, die früher oder ſpäter Tieren und Menſchen Nahrung, den letzteren auch das Material zur Herſtellung ſonſtiger Lebensbedürfniſſe gewährten. Keine menſch⸗ liche Macht iſt imſtande, die produktive Kraft des Bodens zu vernichten. Es können wohl Zeiten und Umſtände eintreten, in denen es aus wirt⸗ ſchaftlichen Gründen ſich nicht mehr lohnt, überhaupt noch menſchliche Arbeit oder doch ſo viel menſchliche Arbeit wie bisher auf den Boden zu verwenden. Man läßt ihn ganz ungenutzt oder bearbeitet ihn nicht mehr, nutzt ihn aber als Weide oder Wald; oder man geht von einem intenſiveren Ackerbaubetrieb zu einem extenſiveren, alſo z. B. von der Fruchtwechſel- zu der Feldgras⸗ wirtſchaft über. Geſtalten ſich dann ſpäter die allgemeinen wirtſchaftlichen Verhältniſſe wieder günſtiger, ſo kehrt man vielleicht wieder zu der früheren Art der Bodennutzung zurück. Auch hierfür finden ſich im Deutſchen Reiche manche Beiſpiele. Nach dem dreißigjährigen Kriege entſtanden auf früheren Ackerflächen ausgedehnte Wälder, die Menſchenalter hindurch als ſolche ge⸗ nutzt wurden und zum Teil noch genutzt werden. Ein anderer Teil iſt dann ſpäter, meiſt erſt im 19. Jahrhundert, wieder in Ackerland umgewandelt worden, und nur an den alten, dabei entdeckten Pflugfurchen hat man er⸗ kannt, daß hier ſchon vor Zeiten einmal Ackerbau getrieben worden war. Keine noch ſo raffinierte menſchliche Kunſt kann die produktive Kraft des Bodens zerſtören oder erſchöpfen. Wäre es möglich, ſo würde es längſt geſchehen ſein und namentlich in der Gegenwart, die mit der fortſchreitenden Naturerkenntnis auch die Herrſchaft des Menſchen über die Natur in einem früher für unglaublich gehaltenen Umfange vergrößert hat, mit allen Mitteln verſucht werden. Die Geſetze, nach denen Gott das natürliche Leben geregelt hat, ſind aber weisheitsvoll ſo eingerichtet, daß die Kurzſichtigkeit, die Selbſt⸗ und Habſucht der Menſchen nicht die Macht haben, die produktiven Kräfte des Bodens in der Art in Auſpruch zu nehmen, daß für die künftigen Generationen nichts mehr davon übrig bleibt. Eine ſolche Macht würde gleichbedeutend ſein mit der Gewalt, das Menſchengeſchlecht und ſchließlich die organiſchen Lebeweſen überhaupt auf der Erde zum Ausſterben zu bringen. Der Boden und deſſen unverwüſtliche produktive Kraft bilden die Grundlage und die Vorausſetzung ſowohl für die Exiſtenz des Menſchen überhaupt wie für ſeine geſamte wirtſchaftliche Tätigkeit. Solches gilt für die Vergangen⸗ heit, für die Gegenwart und für alle Zukunft. Die Unvermehrbarkeit und die Unbeweglichkeit des Bodens wirken ein⸗ engend, beſchränkend auf den landwirtſchaftlichen Betrieb. Die Landwirtſchaft iſt dadurch gegenüber anderen Gewerben im Nachteil. Jedes Handwerk, jede Induſtrie können ihren Sitz dort aufſchlagen, wo ſich die vorteilhafteſten Be⸗ dingungen für ſie vorfinden; ſie können an günſtig gelegenen Orten ſich maſſenhaft anhäufen. Der einzelne industrielle Betrieb kann ſich, faſt darf man ſagen, ins Unendliche ausdehnen, ſobald er lohnenden Abſatz für ſeine Produkte hat; natürliche Verhältniſſe hindern ihn daran nicht. Es handelt II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. 23 in dieſem Fall bloß um Beſchaffung der erforderlichen Kapitalien, und olche bietet in der Gegenwart, bei rentabeln Unternehmungen, am wenigſten Schwierigkeit. | Ein Gegengewicht gegen die in der Unvermehrbarkeit und Unbeweglich- des Bodens liegenden Nachteile iſt in der Unzerſtörbarkeit von deſſen duktiver Kraft gegeben. Alle in den übrigen Gewerben zur Verwendung menden Betriebsmittel, mit Ausnahme der auch für ſie nötigen geringen denfläche, unterliegen der allmählichen Abnutzung, der früher oder ſpäter attfindenden gänzlichen Zerſtörung. Sie können ſogar plötzlich oder in kurzer ihres Wertes ganz oder größtenteils beraubt werden, wenn aus irgend mer Urſache der betreffende Betrieb gar nicht mehr oder doch nur in viel ringerer Ausdehnung lohnend ſich erweiſt. Dies kann aber leicht eintreten burch Veränderung der Verkehrs- und Abſatzverhältniſſe, durch neu aufge kommene Produktions- und Fabrikationsweiſen, durch veränderte Bedürfniſſe und Neigungen der Konſumenten ꝛc. Beſonders groß iſt die ahr für ſolche induſtrielle Unterſuchungen, die für den Export ins Ausland arbeiten; ſie können ſchon durch eine Anderung in der Zollgeſetzgebung anderer Staaten vernichtet werden. Das Hauptbetriebsmittel für die Landwirtſchaft, der Boden, it nicht nur in ſeiner produktiven Kraft unerſchöpflich, ſondern ſeine Erzeug⸗ niſſe ſind auch für jeden Menſchen unentbehrlich. Der Bedarf nach ihnen iſt ein ſtetiger, täglich und jährlich ziemlich gleichbleibender. Er ſteigt und fällt allerdings mit der Bevölkerung, etwas auch mit deren Wohlhabenheit; aber Veränderungen hierin vollziehen ſich ſehr langſam. Durch eine mehr extenſive oder mehr intenſive Art der Bodennutzung hat es zudem der Land— wirt in der Hand, ſeinen Betrieb den Bevölkerungverhältniſſen anzupaſſen. Die Landwirtſchaft iſt ein beſonders ſicheres Gewerbe; ſeine Sicherheit be— ruht auf der Unzerſtörbarkeit der Bodenkraft und der Unentbehrlichkeit ſowie dem regelmäßigen Maſſenverbrauche ſeiner Produkte. Ein dem Grund und Boden in mancher Beziehung ähnliches Betriebs— mittel repräſentieren die Gebäude. Sie zählen im gewöhnlichen wie im juriſtiſchen Sprachgebrauch zu den unbeweglichen Gegenſtänden, den Immo— bilien. Bei Verkauf, Verpachtung, Beleihung von Landgütern pflegen die Gebäude als Pertinenzien, die mit den Grundſtücken, zu deren Bewirtſchaftung ſie dienen, untrennbar verbunden ſind, betrachtet und behandelt zu werden. Man faßt deshalb auch wohl den Grund und Boden mit den Gebäuden unter der gemeinſchaftlichen Bezeichnung „Grundkapital“ zuſammen. Da— bei darf aber nicht vergeſſen werden, daß ſie nicht vollſtändig unbeweglich ſind; daß ſie ferner einer beliebigen Vermehrung fähig ſind; daß ſie endlich keine unerſchöpfliche produktive Kraft beſitzen, vielmehr der allmählichen Ab— nutzung unterliegen und ſchließlich unbrauchbar werden. Dem Grundkapital ſteht in der Landwirtſchaft gegenüber das Betriebs- kapital, welches wieder in ſtehendes und in umlaufendes ſich gliedert. Alle zum Betriebskapital gehörenden Gegenſtände ſind beweglich. Das ſtehende Betriebskapital ſetzt ſich zuſammen aus Maſchinen und Ge— räten als dem toten Inventar, den Nutz- und Zugtieren als dem lebenden Inventar; endlich aus den menschlichen Arbeitskräften). Zum umlaufenden Betriebskapital rechnet man die zur Wirtſchaftsführung nötigen Vorräte an barem Gelde, Brotgetreide, Futter- und Düngemitteln, nen TER EEE Dee Be A De 22 8 eee — wi I r — er A 1) Selbſtverſtändlich haben die in der Landwirtſchaft verwendeten menſchlichen Arbeits: käfte noch eine ganz andere Bedeutung als die, daß fie ein Betriebsmittel für den land wirtſchaftlichen Unternehmer darſtellen. Über fie wird an einer anderen Stelle noch beſonders und ausführlich zu handeln ſei. S. Abſchnitt IX. 24 | II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. Brennmaterialien ꝛc. Zwiſchen dem ſtehenden und dem umlaufenden Betriebs- kapital iſt ein charakteriſtiſcher Unterſchied. Die zu jenem gehörenden Gegen⸗ ſtände werden wiederholt und längere Zeit gebraucht und unterliegen einem allmählichen“ Verbrauch. Ihre Zahl und Art verändert ſich in der näm⸗ lichen Wirtſchaft bei regelmäßigem Betrieb nur wenig, ſie ſind ſtändig vor⸗ handen. Umgekehrt können die einzelnen Teile des umlaufenden Kapitals nur einmal gebraucht werden, weil dadurch gleichzeitig ihr vollſtändiger Ver⸗ brauch herbeigeführt wird. Das ausgegebene Geld, die als Nahrung für Menſchen und Tiere verwendeten Mengen an Getreide, Viehfutter ꝛc. ver- ſchwinden als ſolche gänzlich oder können doch von dem ehemaligen Beſitzer nicht noch einmal benutzt werden. Das Geld wird in menſchliche Arbeit, in Maſchinen und Geräte, in Dung- und Futtermittel ꝛc. umgeſetzt, das den Tieren gereichte Futter nimmt die Geſtalt von Milch, Fleiſch, Dünger ꝛe. an. Die einzelnen Teile des umlaufenden Betriebskapitals verändern ſich fortwährend nach Art und Menge. Unter den verſchiedenſten Formen zirku⸗ lieren ſie in ein und derſelben Wirtſchaft oder gehen aus einer Wirtſchaft in eine andere über. Deshalb iſt es auch nicht möglich, feſtzuſtellen, was eine regulär geführte Wirtſchaft an einzelnen umlaufenden Betriebsmitteln beſitzen muß; man kann lediglich den Geſamtbedarf an umlaufendem Betriebskapital in einer Geldſumme beſtimmen. Bei dem ſtehenden Betriebskapital iſt dies ganz anders. Es kann nicht nur, ſondern es muß ſogar, und zwar bis auf die einzelnen Individuen und Gegenſtände ermittelt werden, wie hoch der Bedarf einer Wirtſchaft an Zugtieren, an Nutztieren, an Maſchinen und Geräten, an menſchlichen Arbeitskräften ſich ſtellt. Hierdurch iſt gleichzeitig die Möglichkeit geboten, genau zu berechnen, welchen Geldwert das ſtehende a 8 55 repräſentiert bezw. wie viel Geld nötig iſt, dasſelbe zu be- chaffen. Das umlaufende Betriebskapital ) hat vornehmlich den Zweck, die ein⸗ zelnen Teile des ſtehenden Kapitals in Bewegung zu ſetzen und in gebrauchs⸗ fähigem Zuſtande zu erhalten; es dient zur Bezahlung und Ernährung der Arbeiter, zum Ankauf von Futter- und Dungmitteln, zur Ernährung der Zug⸗ und Nutztiere, zur Unterhaltung der Gebäude, der Maſchinen und Ge⸗ räte c. Seinem Werte nach muß es daher in einem gewiſſen Verhältnis zu dem ſtehenden ſich befinden; der Wert des letzteren iſt aber, wie ſoeben bemerkt wurde, unſchwer feſtzuſtellen. Man darf annehmen, daß ein um⸗ laufendes Betriebskapital in Höhe von 30—40 Proz. des ſtehenden unter deutſchen Verhältniſſen ein ausreichendes iſt. Die Hauptaufgabe des ſtehenden Betriebskapitals muß darin gefunden werden, daß es direkt den Zwecken der Bodennutzung zu dienen und dieſe ins Werk zu ſetzen hat. Mit menſchlichen und tieriſchen Arbeitskräften und unter Zuhilfenahme von Maſchinen und Geräten werden die Grundſtücke bearbeitet, die Kulturpflanzen in den Boden gebracht, gepflegt, eingeerntet. Die Zuge und Nutztiere find nötig, um einerſeits die auf Feldern, Wieſen und Weiden gewachſenen und nicht verkäuflichen Futter- und Streumittel an⸗ gemeſſen zu verwerten und andererſeits durch ihren Dünger die fortdauernde Rentabilität der Bodenkultur zu ſichern. Aus dem Geſagten ergeben ſich nachſtehende wichtige Folgerungen. 1. Zu einer rationellen Be- und Ausnutzung der produktiven Bodenkräfte iſt 1) Gewöhnlich wird in der Nationalökonomik das umlaufende Betriebskapital aus⸗ ſchließlich als „Betriebskapital“ bezeichnet und im Gegenſatz dazu das ſtehende Betriebs⸗ kapital mit dem Ausdruck „Anlagekapital“ belegt. In der landwirtſchaftlichen Literatur iſt aber die im Text gewählte Benennungsweiſe die am meiſten übliche. Zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen glaubte ich dieſe Bemerkung hier machen zu ſollen. / II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. 25 Vorhandenſein eines entſprechenden ſtehenden Betriebskapitals unbedingtes ernis. 2. Die Höhe desſelben beſtimmt ſich einerſeits nach der Aus— g der landwirtſchaftlichen Bodenfläche, andererſeits nach der Art ihrer g. 3. Je ſtärker und mannigfaltiger die Bodenkräfte in Anſpruch ge⸗ en werden ſollen, deſto höher muß das ſtehende Betriebskapital im Ver⸗ 18 zur Ausdehnung der Fläche ſein. 4. Da die Höhe des umlaufenden ebskapitals von der Höhe des ſtehenden abhängt, ſo ſind die Sätze 1 für das geſamte Betriebskapital maßgebend. Ein weſentlicher Fehler nicht weniger landwirtſchaftlicher Unternehmungen zt darin, daß das vorhandene Betriebskapital ein unzureichendes t, ſei es im Verhältnis zu der bewirtſchafteten Bodenfläche, ſei es im Ver⸗ jältnis zu der gewählten Wirtſchaftsorganiſation. Bei ſolchem Mangel kann der Unternehmer nicht auf einen befriedigten Erfolg rechnen. Vor allem muß er daher auf ein ausreichendes Betriebs kapital Bedacht nehmen. Iſt es ihm nicht möglich, ein der Bodenfläche und der Wirtſchafts⸗ organiſation entſprechendes Kapital zu beſchaffen, dann muß er entweder das Unternehmen aufgeben oder einen Teil der Bodenfläche veräußern oder zu einer Wirtſchaftsweiſe übergehen, die ein geringeres Betriebskapital erfordert. Wirtſchaften mit hohem Betriebskapital nennt man intenſive, ſolche mit niedrigem extenſive. Dieſe Begriffe ſind relative und werden in ver— ſchiedenen Gegenden und in verſchiedenen Zeiten auch in abweichendem Sinne angewendet. Was man z. B. in Oſtpreußen intenſiv nennt, würde in vielen Teilen des mittleren und ſüddeutſchen Deutſchlands als extenſiv oder höchſtens aals Mittelding zwiſchen extenſiv und intenſiv bezeichnet werden. Was man in der nämlichen Gegend vor 50 Jahren mit dem Ausdruck intenſiv belegte, würde in der Gegenwart hierauf keinen Anſpruch machen können. Aber auch abgeſehen von dieſer Unbeſtimmtheit der Begriffe intenſiv und extenſiv, ſo werden dieſe außerdem noch in einer zweifachen Bedeutung gebraucht. Man verſteht darunter das Verhältnis des Betriebskapitals ent— weder zu dem Flächeninhalt des bewirtſchafteten Areals oder zu dem Werte des Grundkapitals. Beides deckt ſich nicht immer oder nicht vollſtändig. Es ibt Wirtſchaften, in denen das Betriebskapital im Verhältnis zur Boden- fläche ſehr hoch iſt, die alſo nach dieſer Richtung zu den ſehr intenſiven ge— hören, während ſie nach dem Wertsverhältnis des Betriebskapitals zu dem Grundkapital zu den mittelmäßig intenſiv organiſierten gerechnet werden müſſen; ebenſo umgekehrt. Unter den deutſchen Verhältniſſen der Gegenwart kann man diejenigen Wirtſchaften als intenſive bezeichnen, bei welchen das Betriebskapital mehr als 500 Mark pro ha Ackerland und diejenigen als extenſive, bei denen es weniger als 300 Mark pro ha Ackerland ausmacht. Die Wirtſchaften mit 300 —500 Mark Betriebskapital ſtehen in der Mitte zwiſchen extenſiven und intenſiven. Weiter läßt ſich annehmen, daß das Betriebskapital 16—40 Proz. vom Werte des Grundkapitals ausmacht; bei 16—24 Proz. rechnet man die Betriebe zu den extenſiven, bei 32—40 zu den intenſiven, bei 24—32 Proz. zu den mittleren. Über die Höhe des erforderlichen Betriebskapitals erhält man den klarſten und ſicherſten Auſſchluß bei verpachteten Gütern. Der Pächter iſt Eigentümer des Betriebskapitals, der Gutsbeſitzer Eigentümer des Grund— kapitals, deſſen Nutzung er dem Pächter gegen Zahlung eines Pachtzinſes eine Zeit lang überläßt. Nach den zahlreichen darüber angeſtellten Ermittlungen darf man annehmen, daß das Betriebskapital das 4 bis 10-fache des Pacht— zinſes ausmacht, in der Mehrzahl der Fälle ſich aber zwiſchen dem 6 bis 8-fachen bewegt. Geht man nun davon aus, daß der Pachtzins durch— 26 II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. ſchnittlich die 4 proz. Verzinſung des Grundkapitals darſtellt, ſo macht ein Betriebskapital in Höhe des 6- bis S-fachen Pachtzinſes 6844 Proz. bis 844 Proz. oder 24—32 Proz. des Grundkapitals aus. Es ſind dies die nämlichen Zahlen, wie ich ſie oben für die Betriebe angegeben habe, welche weder zu den ausgeſprochen extenſiven noch zu den ausgeſprochen intenſiven gehören. | Die einzelnen landwirtſchaftlichen Betriebsſyſteme unterſcheiden ſich hauptſächlich durch die verſchiedene Stellung, die ſie einerſeits zur Getreide⸗ produktion (Körnerbau), andererſeits zum Futterbau einnehmen, wodurch dann gleichzeitig die Ausdehnung und Richtung der Viehhaltung mehr oder weniger beſtimmt werden. Körnerwirtſchaft oder Felderwirtſchaft, Feldgras⸗ wirtſchaft, Fruchtwechſelwirtſchaft, Weide- oder Graswirtſchuft } ſind die vier Hauptbetriebsſyſteme, von denen alle etwa ſonſt noch vorkom⸗ menden nur Modifikationen darſtellen. Bei der Körnerwirtſchaft werden auf dem Ackerlande ausſchließlich oder doch weit überwiegend Getreidefrüchte gebaut, während zur Futtererzeugung lediglich die ſtändigen Futterflächen, die Wieſen und Weiden, dienen. Die bekannteſte Form der Körnerwirtſchaft iſt die Dreifelderwirtſchaft, welche ein Jahrtauſend hindurch, etwa von 800 — 1800 n. Chr., das im ganzen mittleren Europa herrſchende Betriebsſyſtem war und noch jetzt, wenn gleich in verbeſſerter Form, vielfach geübt wird. Das Ackerland iſt bei ihr in drei Teile geteilt, von denen im Wechſel einer Wintergetreide, einer Sommer⸗ getreide trägt und einer der Brachbearbeitung unterliegt. Bei der jog. ver⸗ beſſerten Dreifelderwirtſchaft wird die Brache ganz oder teilweiſe mit anderen Gewächſen, beſonders Futterpflanzen, beſtellt. Die Feldgraswirtſchaft charakteriſiert ſich dadurch, daß die zum Feldbau geeigneten und beſtimmten Grundſtücke eine Reihe von Jahren hin⸗ durch zum Anbau von Ackergewächſen, beſonders Getreide, verwendet, dann eine Reihe von Jahren zum Grasbau benutzt werden. Die Feldgraswirtſchaft führt auch wohl den Namen Koppelwirtſchafty. Bei der Fruchtwechſelwirtſchaft findet ein regelmäßiger jährlicher Wechſel in dem Anbau von Körnerfrüchten (Halmpflanzen) und anderen Feldgewächſen (Blattpflanzen), beſonders Futterkräutern, ſtatt. Eine ſehr be⸗ kannte und früher viel angewendete Fruchtfolge nach den Prinzip des Frucht⸗ wechſels iſt der ſog. Norfolker Fruchtwechſel: 1. Rüben, 2. Sommerge⸗ treide, 3. Klee, 4. Wintergetreide. Bei der Weide- oder Graswirtſchaft tritt der Ackerbau überhaupt ſehr zurück, das Land wird vielmehr zum bei weitem größten Teil als ſtän⸗ diges Grasland, als Wieſe oder Weide verwendet. J Zwiſchen dieſen 4 Wirtſchaftsſyſtemen gibt es viele Übergangsſtufen und Kombinationen, welche bald dem einen, bald dem anderen Syſtem ſich mehr nähern. In ihrer reinen Form ſtellen Feldgras- und Weidewirtſchaft extenſive Betriebe dar, weil bei ihnen nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der land⸗ 1) Früher bezeichnete man die Feldgraswirtſchaft als Wechſelwirtſchaft, weil bei ihr die nämlichen Flächen abwechſelnd zur Körnerproduktion und zur Futtererzeugung verwendet wurden, während bei der Körnerwirtſchaft ein Teil des landwirtſchaftlich benutzten Bodens das Ackerland, dauernd zur Körnerproduktion, ein anderer Teil, die Wieſen und Weiden, dauernd zur Futtererzeugung dienten. Nachdem zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Fruchtwechſelwirtſchaft aufgekommen war, gab der zunächſt noch beibehaltene Ausdruck Wechſelwirtſchaft Veranlaſſung zu Irrtümern und zur Verwechſelung dieſer mit der Frucht⸗ wechſelwirtſchaft. Man bezeichnete daher ſpäter die Wechſelwirtſchaft als Feldgras⸗ oder auch als Koppel-Wirtſchaft. II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. 27 ſchaftlich benutzten Fläche der regelmäßigen Bearbeitung und Düngung iegt und weil ſie deshalb relativ wenig Betriebskapital beanſpruchen. hrt iſt die Fruchtwechſelwirtſchaft, bei der jedes Jahr jedes Ackerſtück neue mit Feldfrüchten beſtellt wird, ein beſonders intenſives Betriebs— ſtem. Die Körnerwirtſchaft ſteht in der Mitte, hat aber im allgemeinen nen mehr extenſiven Charakter. Übrigens kann jedes Wirtſchaftsſyſtem in mehr extenſiven oder in einer mehr intenſiven Form gehandhabt werden. Die Fruchtwechſelwirtſchaft findet ſich vorzugsweiſe in den tiefer ge- genen Teilen des mittleren, weſtlichen und ſüdlichen Deutſchlands, während 3 Graswirtſchaft hat ihre Verbreitung hauptſächlich in den Küſten- und Marſch⸗ iſtrikten des nordweſtlichen Deutſchlands, auch in den Mündungsgebieten er in die Oſtſee einſtrömmenden Flüſſe (Oder, Weichſel, Pregel, Memel), endlich in den ſüddeutſchen Alpendiſtrikten. ECECinen beſonderen Charakter tragen diejenigen Betriebe an ſich, die mit einem umfangreichen techniſchen Nebengewerbe verbunden ſind, welches Feldprodukte verarbeitet. Als ſolche kommen in Deutſchland vorzugs— weiſe in Betracht: die Rübenzuckerfabrikation und die Kartoffelbren— nerei. Beide erfordern, daß ein erheblicher Teil des Ackerlandes mit Rüben oder Kartoffeln bebaut wird, die ihrerſeits wieder viel Arbeit und Dünger beanſpruchen, dieſe Aufwendungen aber auch bezahlt machen. Der Anbau der genannten Wurzelgewächſe wirkt ſehr günſtig auf den Ertrag der nach— folgenden Körnerfrüchte. Außerdem gewähren jene Nebengewerbe in ihren Rückſtänden, den Rübenpreßlingen und der Schlempe, maſſenhaftes und wert— volles Futter für die Tiere und dem entſprechende Düngermengen. Durch beides wird eine ſtarke Inanſpruchnahme der Bodenkräfte und eine ausge— dehnte Viehhaltung nicht nur ermöglicht, ſondern ſogar erfordert. Derartige Wirtſchaften gehören daher zu den beſonders intenſiv betriebenen. Bei der Wahl des Wirtſchaftsſyſtems im allgemeinen ſowie bei deſſen Ausgeſtaltung und Handhabung im einzelnen muß ſtetig Rückſicht genommen werden auf die dem landwirtſchaftlichen Gewerbe anhaftende Eigentümlichkeit, daß der Bedarf an Arbeitskräften in den einzelnen Jahreszeiten ein ſehr abweichender iſt. Je nach der Betriebsweiſe ſtellt er ſich im Sommer 2 mal, 3 mal, ſelbſt 4mal jo hoch als im Winter. Der Landwirt it nun nicht in der Lage, dementſprechend die Arbeitskräfte" während des 5 Sommers zu vermehren. Wollte er vor Eintritt des Winters die über: flüſſigen Zugtiere verkaufen und im Frühjahr wieder neue kaufen, jo würde 4 er bei dem Verkauf ſich mit Spottpreiſen begnügen, beim Ankauf uner- N ſchwinglich hohe Preiſe zahlen müſſen, wenn er überhaupt dann die erforderlich Zahl finden könnte. Er muß deshalb das für den Sommer nötige Zugvieh auch den Winter über behalten. Die menſchlichen Arbeitskräfte kann er zwar in der Regel teilweiſe für den Winter entlaſſen; macht er aber hiervon einen ſehr ausgedehnten Gebrauch, ſo läuft er Gefahr, daß die Arbeiter in andere Gegenden ziehen oder andere Erwerbszweige aufſuchen, die ihnen dauernden Lohnverdienſt gewähren. Wie die Zugtiere den Winter hindurch gefüttert werden müſſen, damit ſie im Sommer Dienſte leiſten können, ſo iſt es auch nötig, daß die Arbeiter im Winter ſoviel erwerben, daß ſie davon leben und ihre Arbeitsfähigkeit für ſpätere Zeit bewahren können. Die Differenz in dem Bedarf an Arbeitskräften während der einzelnen Jahreszeiten wird um fo größer, je ungünſtiger das Klima, d. h. je länger f 5 eee 28 II. Der landwirtſchaſtliche Betrieb. der Winter und je kürzer der Sommer iſt. Das nordöſtliche Deutſchland und die hoch gelegenen Teile des übrigen Deutſchen Reiches ſind in dieſer Beziehung beſonders ſchlimm daran. 3 | Zur Milderung des nicht zu bejeitigenden Übelſtandes iſt es nötig, die Nutzung des Bodens und die Einrichtung des Betriebes überhaupt ſo zu wählen, daß im Sommer möglichſt an Arbeit geſpart wird, dagegen im Winter möglichſt viel nutzbringende Arbeit vorhanden iſt. Welche einzelne Maßregeln zur Erreichung dieſes Zieles zu ergreifen ſind, kann hier nicht ausführlich erörtert werden. Es gibt deren viel mehr, als man gewöhnlich denkt, und als tatſächlich zur Anwendung gelangen. Im großen und ganzen wird allerdings von den praktiſchen Landwirten darauf Rückſicht genommen, wie ſich ſchon aus der geographiſchen Verbreitung der verſchiedenen Betriebs⸗ ſyſteme ergibt. In den klimatiſch ungünſtig gelegenen Diſtrikten herrſcht die Feldgras- oder die Weidewirtſchaft, in den günſtig gelegenen die Frucht⸗ wechſelwirtſchaft vor; bei jenen iſt die Differenz in dem Bedarf an Arbeits⸗ kräften zwiſchen Sommer und Winter ſehr viel geringer, als bei dieſer. Aber im einzelnen werden auf dieſem Gebiete noch viele Fehler gemacht. Solches gilt namentlich auch bezüglich der Anwendung von Maſchinen, über deren eigentliche Bedeutung für die Landwirtſchaft bei Praktikern und Theoretikern manche irrtümliche und die Rentabilität des Betriebes ſchädigende Vor⸗ ſtellungen herrſchen. i Auf Grund der in anderen Gewerben und beſonders in der Induſtrie erprobten Erfahrung glaubt man ſich zu der Annahme berechtigt, daß jede Maſchine, die menſchliche oder tieriſche Arbeitskraft erſpart, auch in dem land⸗ wirtſchaftlichen Betrieb mit Vorteil einzuführen und anzuwenden ſei. Dies iſt aber grundverkehrt. Es gilt zwar für diejenigen Maſchinen, die eine dauernde Beſchränkung der benötigten Arbeitskräfte während des Sommers ermöglichen, wie es z. B. für manche Säemaſchinen, für Kultivatoren, Pferde⸗ hacken, Erntemaſchinen zutrifft, falls dieſe in ihrer Tätigkeit ſich gegenſeitig unterſtützen und ergänzen und falls die Bodenfläche, für welche ſie beſtimmt ſind, groß genug iſt, um eine lohnende Benutzung der genannten Geräte zu ermöglichen. Die günſtigen Wirkungen zeigen ſich aber nicht bei Maſchinen, die vorzugsweiſe in Zeiten verwendet werden, in denen es an Arbeitskräften nicht zu mangeln pflegt. Durch umfaſſende Anwendung ſolcher Maſchinen kann ſogar der Übelſtand, welcher in dem wechſelnden Bedarf an Arbeits- kräften liegt, noch erheblich verſchärft werden. Ein charakteriſtiſches Beiſpiel hierfür bietet die Dreſchmaſchine. Viele Jahrhunderte hindurch war es in Deutſchland und anderwärts die wohl begründete Regel und Sitte, daß Ge⸗ treide im Winter, wenn die Feldarbeit ruht, mit den Flegeln auszudreſchen. Dadurch machte man es möglich, wenigſtens den männlichen Teil der im Sommer erforderlichen Arbeiter auch während des Winters lohnend zu be— ſchäftigen. Auch jetzt herrſcht glücklicherweiſe noch in einer beträchtlichen Anzahl von deutſchen Wirtſchaften dieſe Sitte; in vielen, namentlich in zahl⸗ reichen Großwirtſchaften, hat man ſie aber verlaſſen. Das Getreide wird größtenteils bald nach der Ernte mit Dampf ſchnell hintereinander ausge⸗ droſchen und dadurch die ohnehin nur geringe Möglichkeit, Arbeiter im Winter zu beſchäftigen, noch mehr beſchränkt. Viele von dieſen ſind infolge⸗ deſſen geradezu gezwungen, der Landwirtſchaft den Rücken zu kehren. An der oft und mit Recht beklagten Fortwanderung der ländlichen Arbeiter trägt die Dreſchmaſchine einen Teil der Schuld. Es iſt durchaus nötig, daß man bei Entſcheidung der Frage, ob die Einführung einer Arbeit erſparenden Maſchine zweckmäßig ſei oder nicht, auch den Einfluß mitberückſichtigt, den ſie auf die Arbeiterverhältniſſe vorausſichtlich ausübt. Bis jetzt geſchieht II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. | 29 eider nur ſelten. Man rühmt es als einen Vorzug der englischen irtſchaft, daß ſie in ſo viel umfaſſenderem Maße als die deutſche ſich Maſchine bediene. Aber dieſer Vorzug iſt ein ſehr fraglicher. England eſentlich durch die Maſchinen die Landarbeiter in die Städte gedrängt, id der Mangel an Landarbeitern nötigt dann zu immer ausgedehnterer mvendung von Maſchinen. Die engliſche Landwirtſchaft befindet ſich einem ganz ungeſunden Zuſtande; die tiefſte Urſache ihrer Krank— liegt freilich in der abnormen Verteilung des Grundbeſitzes, aus der die ten anderen Übelſtände als Folgeerſcheinungen abzuleiten ſind. Hierüber wird noch ſpäter zu handeln ſein. Mit vorſtehenden Ausführungen ſoll ſelbſtverſtändlich nicht die An⸗ wendung von Maſchinen in der Landwirtſchaft überhaupt bekämpft werden. m Gegenteil muß ich betonen, daß es ſehr wünſchenswert iſt, Maſchinen, : im Sommer Arbeit erſparen, in noch ausgedehnterem Grade als jetzt zur Anwendung zu bringen. Auch Dreſchmaſchinen ſind unentbehrlich; man hat ſie nötig, um im Spätſommer ſchnell Saatgetreide zu erhalten oder um Getreide, das mit dem Flegel ſchwer ſich rein ausdreſchen läßt, damit zu behandeln; aber der ausgedehnte Gebrauch, den man jetzt von der Drejch- maſchine macht, iſt verkehrt. Eine erheblich weitere Ausdehnung könnte die ländlichen Arbeiterverhältniſſe in einer nicht mehr wieder gut zu machenden Weiſe zerrütten. | Die unrichtige Beurteilung der Maſchinenarbeit in der Landwirtſchaft hängt mit dem weit verbreiteten Irrtum zuſammen, daß man meint, die Land wirtſchaft müſſe ſich in ihrer Organiſation und in ihrer Handhabung die Induſtrie möglichſt zum Muſter nehmen, oder, wie man ſich wohl auch ausdrückt, ſie müſſe zur Induſtrie werden. Freilich kann die Landwirtſchaft viel von der Induſtrie lernen: gute Buchführung, exaktes Rechnen, genaue Kalkulation, Benutzung der Marktkonjunkturen, Herſtellung gleichmäßiger Ber- kaufswaren, Ein⸗ und Verkauf im Großen, Einrichtungen für eine zweck— g entſprechende Organiſation des Kredits ꝛc. Sie hat auch ſchon viel auf 5 dieſen und anderen Gebieten gelernt. Will ſie ſich aber vor großem und 5 dauerndem Schaden bewahren, ſo muß ſie bei ihrer Nachahmung ſich immer der in der Natur der Sache liegenden Unterſchiede zwiſchen ſich und der Induſtrie bewußt bleiben. Dieſelben laſſen ſich ſämtlich, direkt oder indirekt, auf den Umſtand zurückführen, daß der Grund und Boden das eigentliche Produktionsmittel in der Landwirtſchaft darſtellt und daß dieſer einen ganz anderen Charakter wie alle übrigen Produktionsmittel an ſich trägt. Bei dem Ertrag der Landwirtſchaft unterſcheidet man zwiſchen Roh— ertrag und Reinertrag. Der Natural-Rohertrag umfaßt alles, was in einem landwirtſchaftlichen Betriebe erzeugt wird. Hiervon findet ein Teil, gewöhnlich der größere, in der Wirtſchaft direkte verwendung zur Ernährung der darin befindlichen Menſchen und Tiere, als Brennmaterial, zur Her: ſtellung von Wegen und Baulichkeiten, als Dünger ꝛc. Was übrig bleibt, dient zum Verkauf; der Erlös bildet den Geld-Rohertrag. Wenn von Rohertrag ſchlechthin geſprochen wird, muß man ſich darüber klar ſein, ob damit der Natural- oder der Geld-Rohertrag bezeichnet werden ſoll. Von dem Rohertrage ſind zunächſt die Wirtſchaftskoſten zu be— ſtreiten. Zu ihnen gehört auch derjenige Teil des Rohertrages, welcher in natura wieder verbraucht wird. Ferner die baren Aufwendungen, die man zur Anſchaffung von Wirtſchaftsbedürfniſſen, zur Unterhaltung der Betriebs— mittel ꝛc. zu leiſten hat. Zu den Wirtſchaftskoſten ſind aber nicht zu rechnen die Ausgaben, welche der Unternehmer für ſich und ſeine Familie über das— 30 II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. jenige Maß hinaus macht, welches ihm als Arbeitslohn für ſeine eigene 9 Tätigkeit in der Wirtſchaft zuſteht; ebenſo nicht die Zinſen, die er für per⸗ ſönliche oder hypothelariſche Schuldverpflichtungen zu zahlen hat. Beide Arten von Ausgaben haben mit dem Betrieb als ſolchem nichts zu tun und dürfen ihm nicht zur Laſt geſchrieben werden. Was nach Abzug der Wirt⸗ ſchaftskoſten von dem Rohertrage noch übrig bleibt, iſt der Reinertrag. Derſelbe zerfällt in die Grundrente oder die Verzinſung des Grundkapitals und in die Zinſen des ſtehenden wie umlaufenden Betriebskapi— tals; beide Beſtandteile zuſammen bilden den Reinertrag der Guts⸗ wirtſchaft. Die Feſtſtellung des Reinertrages iſt nicht ganz leicht und wird faſt zur Unmöglichkeit, wenn der Landwirt nicht genaue Bücher führt, und dies geſchieht in der Mehrzahl der Fälle bis jetzt noch nicht. Diejenigen Bedürfniſſe, deren Beſchaffung bei den meiſten anderen Menſchen die weitaus größte Quote ihrer Geſamtausgaben in Anſpruch nimmt, bezieht der Landwirt überwiegend aus dem eigenen Betriebe. Er rechnet ſie gewöhnlich einfach zu den Wirtſchaftskoſten, obwohl, wie eben gezeigt wurde, manche oder viele unter ihnen gar nicht dazu gehören. Auch wo Bücher über die Einnahmen und Ausgaben an Geld, Naturalien ꝛc. geführt werden, erfordert es immerhin eine gewiſſe Arbeit, dazu auch Sachkenntnis und Übung, um die durch den Wirtſchaftsbetrieb verurſachten Koſten von den übrigen zu ſcheiden. Daher kommt es, daß oft irrige Anſichten über die wirklich erzielten Reinerträge herrſchen und verkehrte Angaben darüber gemacht werden. Dies gilt ſchon von ihrer abſoluten Höhe, noch mehr aber von der Höhe der Verzinſung der in der Wirtſchaft wirkſamen Kapitalien, die durch die Reinerträge dargeſtellt wird. Über den Geldwert jener Kapitalien ſind viele Landwirte im unklaren; ſie kennen ihn nicht, und wenn ſie ihn zu ſchätzen verſuchen, verfahren ſie dabei willkürlich oder wenden unrichtige Abſchätzungs⸗ grundſätze an. Beſonders gilt dies von dem bedeutendſten Wertobjekt, dem Grund und Boden. Man taxiert ſeinen Wert oft nach dem Preis, den man beim Kauf dafür bezahlt hat oder der bei der letzten Erbteilung zugrunde gelegt worden iſt; oder nach dem Preis, den man im Falle des Verkaufs zu erzielen hofft; oder nach dem Preis, der in der Umgegend für ähnliche Güter oder Grundſtücke gezahlt worden iſt. Alle dieſe Verfahrungsweiſen führen aber nicht zum richtigen Ziel. Der wirtſchaftliche Wert, der Er⸗ tragswert, eines Landgutes kann nur auf Grund einer ſorgfältigen Ermitt⸗ lung der im Durchſchnitt einer längeren Reihe von Jahren erzielten Rein⸗ erträge oder der vorausſichtlich in der Zukunft durchſchnittlich zu erzielenden Reinerträge feſtgeſtellt werden. Eine ſolche Ermittlung, Taxation, iſt ein beſonders ſchwieriges Geſchäft, welches große Anforderungen an die praktiſchen wie theoretiſchen Kenntniſſe des Taxators macht und dabei doch immer nur zu einem annähernd richtigen Reſultate führt. Hiernach wird es um ſo mehr begreiflich, daß über die Reinerträge und über die Höhe der Verzinſung der in der Landwirtſchaft wirkſamen Kapitalien große Unklarheit herrſcht und ſo ſehr widerſprechende Angaben veröffentlicht werden. Bei derartigen Ver⸗ öffentlichungen muß man immer prüfen: 1. was der Betreffende unter Rein⸗ ertrag verſteht; 2. ob er über diejenigen materiellen Unterlagen und Kennt⸗ niſſe verfügt hat, welche zur Feſtſtellung des Reinertrages erforderlich ſind; 3. ob er bei der Feſtſtellung nach richtigen Grundſätzen verfahren iſt. Die hier gemachten Bemerkungen waren nötig, um darzutun, daß die Angaben über die in der Landwirtſchaft erzielten Reinerträge mit großer Vorſicht auf⸗ zunehmen ſind. II. Der landwirtſchaſtliche Betrieb. 31 alwert das 28,57⸗fache des Reinertrages vom Grund und Boden. Dieſer plikator müßte gegenwärtig zugrunde gelegt werden, wenn man aus teinertrage den Kapitalwert eines Landgutes ermitteln will; es ſtellt Ertragswert dar. Das Betriebs kapital iſt weniger ſicher als das Grundkapital, muß höhere Zinſen bringen. Von ſeinen beiden Beſtandteilen, dem ſtehenden dem umlaufenden, iſt erſteres wieder ſicherer als letzteres und muß ſich alb mit geringeren Zinſen begnügen. Wenn das Grundkapital ſich mit Proz. verzinſt, dann kann man von dem ſtehenden Betriebskapital 6 Proz., von dem umlaufenden 6—8 Proz. beanſpruchen. Tatſächlich iſt h eine derartig abweichende Verzinſung der einzelnen Kapitalbeſtandteile handen; es ergibt ſich dies aus dem Vergleich von Pachtbetrieben mit hen, die auf Rechnung des Beſitzers geführt werden. Die Pachtſumme trägt gegenwärtig im Durchſchnitt nicht mehr als 3½ bis höchſtens 4 Proz. des Ertragswertes von Grund und Boden, während der Pächter von ſeinem geſamten Betriebskapital ſo viel zu erzielen pflegt, daß er das stehende mit 5— 6 Proz., das umlaufende mit 6—8 Proz. verzinſt erhält). Für die landwirtſchaftliche Unternehmung gibt es zwei Hauptformen: die Eigenwirtſchaft und die Pachtung. Bei erſterer geſchieht die Be⸗ wirtſchaftung auf Rechnung und Gefahr des Gutsbeſitzers, bei letzterer auf Rechnung und Gefahr des Pächters. ee Da der Grund und Boden für alle Zeiten dazu dienen ſoll, die un⸗ eentbehrlichſten Bedürfniſſe der Bewohner durch feine Erzeugniſſe zu befrie— digen, ſo liegt es im dringenden Intereſſe des ganzen Volkes und des Staates, daß die Ertragsfähigkeit des einmal vorhandenen und unvermehrbaren Bodens nicht nur erhalten, ſondern immer geſteigert wird. Dieſes iſt auch bei ratio- neller Bewirtſchaftung durchaus möglich. Im Deutſchen Reich wird es kaum ein Grundſtück geben, welches ſchon an der Grenze ſeiner Ertragsfähigkeit angelangt wäre, die meiſten ſind noch ſehr weit davon entfernt. Diejenigen Maßregeln, welche eine Steigerung der dauernden Ertragsfähigkeit herbei— führen können, wirken in der Regel ſehr langſam und nur bei konſequenter Handhabung. Der ſelbſt wirtſchaftende Beſitzer iſt in höherem Grade geneigt und geeignet, ſolche Maßregeln zu ergreifen, als der Pächter. Er kennt das Gut genau mit ſeinen Vorzügen und Mängeln; in, glücklicherweiſe, ſehr vielen Fällen iſt es ſchon ſeit Generationen im Beſitz ſeiner Familien. Sein be— rechtigter Wunſch geht dahin, daß es auch ſeinen Kindern und Kindeskindern noch als Wohnſitz und Erwerbsquelle dienen ſoll. Er wird deshalb, wenn er irgend verſtändig iſt, nicht lediglich darauf ſehen, daß das Gut ihm augen— blicklich einen beſonders hohen Ertrag abwirft, ſondern daß ſeine Ertrags- fähigkeit erhalten und immer geſteigert wird. . Pr ua ur ET Re RU * 1 RS > e r Kr 2 NE 1) Nach welchen Grundſätzen Reinertrag und Kapitalwert ſowohl vom Grund und Boden wie von der Gutswirtſchaft im Ganzen ermittelt werden können oder müſſen, habe ich ausführlich in meinem Buche „Landwirtſchaftliche Taxationslehre“ (Berlin, P. Parey, 3. Aufl. 1903) dargelegt. F A en er r 2 7770772 575 8 II. Der landwirtſchaftliche Betrieb. Verpachtet der Beſitzer das Gut, jo verzichtet er für die Dauer der Pachtperiode auf deſſen Bewirtſchaftung und Nutznießung. Er überläßt beides dem Pächter und erhält von letzterem als Entſchädigung in dem Pacht zins die Grundrente. Der Pächter hat das ee Intereſſe, während der Pachtzeit die produktive Kraft des Bodens möglichſt auszu⸗ nutzen; er wird auch keine Verbeſſerung vornehmen, deren Koſten ihm nicht während der Pachtzeit durch die höheren Erträge verzinſt und vollſtändig wieder erſetzt werden. Je länger die Pachtperiode dauert, deſto mehr ſchwindet der Gegenſatz zwiſchen den Intereſſen des Pächters und denen des Beſitzers bezw. denen der Volkswirtſchaft; kurzfriſtige Pachtungen ſind unter allen Umſtänden vom Übel. Am beiten ſind Pachtperioden von 15—21 Jahren. Auf noch längere Zeit pflegen ſich weder Pächter noch Verpächter aus leicht be⸗ greiflichen Gründen gerne zu binden. In Preußen ſind durch das Geſetz vom 2. März 1850 Verpachtungen auf länger als 30 Jahre verboten; man wollte dadurch die Wiedereinführung erbpachtähnlicher Verhältniſſe verhindern. Aber auch durch Pachtzeiten von der angegebenen Dauer werden die Übel⸗ ſtände des Pachtſyſtems nicht ganz beſeitigt. Ganz beſonders zeigen ſie ſich bei den Arbeiterverhältniſſen, die in der Gegenwart eine ſo wichtige Rolle ſpielen. Der Pächter hat bei weitem kein ſo großes Intereſſe daran, wie der ſelbſt wirtſchaftende Beſitzer, einen ſicheren Stamm zuverläſſiger Arbeiter für das Gut zu gewinnen und dauernd daran zu feſſeln. Durchſchnittlich findet man daher auf verpachteten Gütern ungünſtigere Arbeiterverhältniſſe als auf ſelbſtbewirtſchafteten. In Ländern, wo das Pachtſyſtem die Regel bildet, pflegen die Arbeiterverhältniſſe ſich ſehr übel zu geſtalten. England bietet dafür ein warnendes Beiſpiel. Der Ausſpruch von Albrecht Thaer iſt zwar etwas ſchroff, enthält aber doch viel Wahres und Beherzigenswertes: „Die Verbeſſerung des Gutes macht die Freude des Eigentümers, die An⸗ füllung des Geldkaſtens die des Pächters aus. Das Gut iſt die geliebte Gattin des Eigentümers, die Maitreſſe des Pächters, von der er ſich wieder ſcheiden will“ (Grundſätze der rationellen Landwirtſchaft, I. § 120). Bei alledem hat das Pachtverhältnis auch gewiſſe Vorzüge. Es er⸗ möglicht ſtrebſamen Landwirten, die über viel Wiſſen und Willensſtärke, aber verhältnismäßig wenig Kapital verfügen, auch einen größeren Betrieb ſelbſtändig zu übernehmen. Tatſächlich finden ſich im Deutſchen Reich unter den Pächtern, beſonders den Domänenpächtern, ungewöhnlich viele hervor⸗ ragend tüchtige Landwirte. Durch das Pachtverhältnis wird der Landwirt⸗ ſchaft außerdem eine große Menge von Betriebskapital zugeführt. Gegen⸗ wärtig wird faſt ſtets — und dies iſt das einzig Richtige — dem Pächter nur die Nutznießung des Grundkapitals verpachtet, das ſtehende und um⸗ laufende Betriebskapital muß er ſelbſt beſitzen und hergeben. Sein Gewinn beſteht in den Zinſen des Betriebskapitals und jeder irgend tüchtige Pächter ſucht ein ſo hohes Betriebskapital in die Wirtſchaft zu ſtecken, als ſich noch irgend mit Nutzen verwenden läßt Manche ſelbſt wirtſchaftende Gutsbeſitzer erzielen gerade deshalb ungünſtige Reſultate und führen ihren Betrieb in einer wenig rationellen Weiſe, weil es ihnen an dem erforderlichen Betriebs⸗ kapital fehlt. Es ſind dies in der Regel zugleich hypothekariſch hoch ver⸗ ſchuldete Beſitzer; denn mäßig verſchuldete können ſich durch Aufnahme von Darlehnen das fehlende Betriebskapital leicht verſchaffen. Es gibt nun viele Beſitzer und muß es auch unter ganz normalen Verhältniſſen geben, die aus irgend welchen Urſachen ihre Güter, dauernd oder vorübergehend, nicht ſelbſt bewirtſchaften wollen oder können. Dies trifft z. B. zu bei Perſonen, die mehrere oder viele Güter haben; bei ſolchen, die kürzere oder längere Zeit Staatsbeamte oder Offiziere ſind oder die eine III. Der landwirtſchaftliche Betrieb. 85 ge Berufs⸗ oder Erwerbstätigkeit ausüben; es gilt ferner für Güter, rauen, Minderjährigen oder juriſtiſchen Perſonen gehören. In ſolchen kann es ſich darum handeln, ob der Beſitzer ſein Gut oder ſeine verpachten oder durch einen beſoldeten Beamten auf eigene Rechnung haften, alſo ad miniſtrieren, laſſen will. Hierüber entſcheiden nicht achliche, ſondern auch perſönliche Verhältniſſe, die an dieſer Stelle nicht hend erörtert werden können. Nur ſo viel ſei bemerkt, daß in der Regel zerpachtung vorzuziehen iſt, wenn der Beſitzer vorausſichtlich für immer doch mindeſtens für die Dauer einer regulären Pachtzeit ſelbſt nicht tſchaften kann oder will; dies trifft z. B. zu bei Beſitzern, die viele Güter haben, und bei den, juriſtiſchen Perſonen gehörigen Gütern. Ferner aber iſt die Verpachtung angezeigt, wenn der Beſitzer kein genügendes Betriebs— ital hat, oder wenn er ganz außer Stande iſt, eine Adminiſtration in unumgänglich nötigen Weiſe zu kontrollieren. Hieraus geht hervor, daß unter allen Umſtänden zahlreiche Güter vor- handen ſind, bei denen die Verpachtung die naturgemäß gegebene Form der andwirtſchaftlichen Unternehmung darſtellt. Sie ſind ſtets zahlreich genug, um die Vorteile, die in der Pachtwirtſchaft liegen können, voll auszunutzen. Die Pachtbetriebe dürfen aber immer nur einen kleinen Teil aller landwirt⸗ ſchaftlichen Betriebe und das verpachtete Areal nur einen kleinen Teil der NG ng landwirtſchaftlich benutzten Fläche ausmachen. Anderenfalls bilden ich ungeſunde wirtſchaftliche und ſoziale Zuſtände aus. Man kann auch ſagen, das Überwiegen der Pachtwirtſchaften iſt ein Zeichen und die Folge von ungeſunden ſozialen und wirtſchaftlichen Verhältniſſen. Sehr häufig tritt es als Folge einer verkehrten Verteilung des Grundbeſitzes, ſpeziell als Folge einer zu großen Ausdehnung des Latifundienbeſitzes ein. England bietet dafür einen ebenſo ſchlagenden wie traurigen Beweis. Im Deutſchen Reich überwiegt bis jetzt glücklicherweiſe noch bei weitem die Eigenbewirtſchaftung. Nach der Betriebsſtatiſtik von 1895 gab es im Deutſchen Reich davon hatten: 2 260 669 ausſchließlich eigenes Land; 912 747 4 gepachtetes Land; 532 870 eigenes und gepachtetes Land und zwar mehr wie die Hälfte gepachtetes Land; * 1 160 703 eigenes und gepachtetes Land, aber weniger wie die Hälfte . gepachtetes Land; 4 866 989 Betriebe zuſammen ). A Von 100 Betrieben kamen auf jolche 5556900 landwirtſchaftliche Betriebe überhaupt; 1. mit ausſchließlich eigenem Land 40% Proz. fi . [7 Pachtland I 97 ” * „ mehr als der Hälfte Pachtland „ „ weniger als der Hälfte Pachtland Be Von der Geſamtfläche des Deutſchen Reiches fielen auf: 1 eigen bewirtſchaftetes Land 86,,, Proz. 1 verpachtetes Land 12% „ auf ſonſtige Flächen Im „ zuſammen 100% Proz. 1) Der Reſt der überhaupt vorhandenen Betriebe fällt auf Gemeindeland, Dienſt⸗ . land, Deputatland ꝛc. Siehe Vierteljahrshefte der Statiſtik des Deutſchen Reiches, Jahr⸗ ang 1897, Ergänzungsheft zum 2. Heft: Die gern nach Beruf, Alter, Familien | tand und Religionsbekenntnis auf Grund der Berufszählung ſowie die Hauptergebniſſe 3 von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. — — Bo III. Geicichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. Im Deutſchen Reich unterliegt daher nur etwa der achte Teil der Fache dem Pachtbetriebe ). III. Gerchicchtlicge Entwicklung der deutlichen Tandwirtſchaft). Der landwirtſchaftliche Betrieb wie die ländliche Bevölkerung ſind aus den bereits geſchilderten Urſachen nur ſehr allmählich und langſam ſich voll⸗ ziehenden Umgeſtaltungen zugänglich. Sie ſind ihrem innerſten Weſen nach konſervativ; bei ihnen baut ſich Schritt für Schritt das Neue auf das Althergebrachte auf. Tief eingreifende Reformen, auch wenn ſie an und für ſich als zweckmäßig und möglich erachtet werden dürfen, laſſen ſich nicht mit einem Male und allgemein durchführen. Selbſt ſo ſcharfblickende und be⸗ deutende Männer wie Friedrich der Große und Albrecht Thaer haben ſich in dieſer Beziehung wiederholt geirrt; ſie haben erſt durch langjährige Erfahrungen und manche ſchmerzliche Enttäuſchungen gelernt, daß ſelbſt augen⸗ ſcheinliche Verbeſſerungen zunächſt auf große ſachliche Hinderniſſe und perſön⸗ liche Widerſtände ſtoßen. Sie ſind dabei zugleich zu der Einſicht gelangt, daß manche Maßregeln, die ſie für eine prinzipielle und allgemein durchführ⸗ bare Reform hielten, ſich doch als ſolche nicht erwieſen, daß ſie vielmehr nur unter ganz beſtimmten Verhältniſſen einen Fortſchritt bedeuteten. Ahnliche Erfahrungen haben auch die nachfolgenden Geſchlechter machen müſſen und werden noch in der Gegenwart gemacht. Wer in dem landwirtſchaftlichen Betrieb oder in der Lage der ländlichen Bevölkerung Neues einführen will, muß nicht nur die gegenwärtigen Zuſtände genau kennen, ſondern auch wiſſen, wie und auf welchem Wege dieſelben im Laufe der Jahre ſo, wie ſie zur Zeit ſind, allmählich ſich herausgebildet haben. Ein richtiges Urteil über die heutigen landwirtſchaftlichen Verhältniſſe iſt ohne Kenntnis der Vergangenheit gar nicht möglich. Am wenigſten iſt letztere ent⸗ behrlich für den Agrarpolitiker. Denn bei der Agrarpolitik handelt es ſich um Maßregeln, die von der Staatsgewalt ausgehen, deren Durchführung einen mehr oder minder großen Zwang auf die beteiligten Bevölkerungsgruppen ausübt. Erweiſen ſie ſich als unzweckmäßig oder mißlingen ſie, ſo empfindet man ſie als ein ſchweres Unrecht. Sie erzeugen Erbitterung und ſchwächen der landwirtſchaftlichen Betriebszählung vom 14. Juni 1895, a. a. O. S. 56 und 58. In der ebenfalls vom Kaiſerl. Statiſt. Amt im Jahre 1900 herausgegebenen Publikation „Die Deutſche Volkswirtſchaft am Schluſſe des 19. Jahrhunderts“ iſt die Geſamtzahl der Betriebe etwas höher, nämlich auf 5 558 317 angegeben; dementſprechend weichen auch die Zahlen für die Betriebe auf eigenem oder mit gepachtetem Land von den im Text angeführten ein wenig ab. Den Grund der übrigens für die Sache ſelbſt ganz unerheblichen Differenzen vermag ich nicht anzugeben. 1) In dieſen beiden erſten Abſchnitten habe ich nur ein ganz gedrängtes Bild über das Weſen der Landwirtſchaft und die Organiſation des landwirtſchaftlichen Betriebes geben können. Diejenigen, welche ſich genauer darüber unterrichten wollen, verweiſe ich auf mein „Handbuch der landwirtſchaftlichen Betriebslehre“ (2. Aufl., Berlin 1896) oder auf meinen „Leitfaden der landwirtſchaftlichen Betriebslehre“ (2. Aufl., Berlin 1903). 2) Diejenigen, welche ſich über Fo in der Überſchrift dieſes Abſchnittes genannte Gebiet genauer orientieren wollen, verweiſe ich auf mein, dasſelbe ausführlich behandelnde 1 6 „Geſchichte der Deutſchen Landwirtſchaft“, 2 Bde., Stuttgart und Berlin, G. Cottaſche Buchhandlung, 1902 u. 1903. J III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. 35 s gerade in der Gegenwart ſo notwendige Vertrauen in die Einſicht oder 3 Wohlwollen derer, die zur Leitung des Staates und zur Ausführung Anordnungen berufen ſind. | Aus dieſen Gründen ſcheint es mir geboten, wenigſtens ein gedrängtes Bild der geſchichtlichen Entwicklung der deutſchen Landwirtſchaft ier zu entwerfen. Die älteſten Nachrichten über die Art, in welcher unſere Vorfahren e Landwirtſchaft betrieben, ſtammen von römiſchen Schriftſtellern, die im Jahrhundert vor und im 1. oder 2. Jahrhundert nach Chriſti Geburt bt haben. Danach war der Ackerbau noch ſehr wenig entwickelt, er trat 13 zurück gegen die Nutzung des Bodens als Weide und gegen die Vieh— tung. Nach unſeren heutigen Begriffen muß man dieſen Betrieb als eine zeidewirtſchaft und zwar als eine ſolche von ſehr extenſiver und primi— her Form bezeichnen). Einen geregelten Ackerbaubetrieb und überhaupt e geregelte Wirtſchaftsweiſe lernten unſere Vorfahren erſt von den Römern nen und zwar zunächſt in den römiſchen Kolonieen, die längs des ganzen heinufers ich erſtreckten und ſpäter auf den Winkel zwiſchen Rhein und Donau ſich ausdehnten. Wie dieſer Umſchwung ſich vollzogen hat, kann man ſchwer nachweiſen, zumal mit Beginn der Völkerwanderung ſtarke Ver— änderungen in den Wohnſitzen der einzelnen Stämme eintraten. Als feſt— ſtehendes Reſultat darf man aber annehmen, daß in dem bei weitem größeren Teile des Deutſchen Reiches die Körnerwirtſchaft und zwar meiſt in der Form der Dreifelderwirtſchaft Eingang fand. In den ſüddeutſchen und ceeinigen mitteldeutſchen Gebirgsdiſtrikten nahm man das Syſtem der Feld— gras wirtſchaft an, während man an den norddeutſchen Küſten die Weide— wirtſchaft, der man freilich eine intenſivere Ausgeſtaltung gab, beibehielt ). Dieſe Umgeſtaltung vollzog ſich ganz allmählich, von Süden und Weſten nach Norden und Oſten fortſchreitend; ſie fällt in die Periode etwa vom 4. bis 8. Jahrhundert. Zur Zeit Karls des Großen war ſie der Hauptſache nach vollendet. Gleichzeitig mit ihr, wenn auch mehr in der zweiten Hälfte jener Periode, ging eine andere Veränderung vor ſich, welche nicht nur auf den landwirtſchaftlichen Betrieb, ſondern in noch ſtärkerem Grade auf die Lage der einzelnen Gruppen der ländlichen Bevölkerung be— deutſam einwirkte. Bei den alten Deutſchen war jeder freie Mann auch freier Grundbeſitzer. Urſprünglich gehörte jogar der Grund und Boden allen Stammesgenoſſen oder Markgenoſſen gemeinſchaftlich. Mit der Einführung eines geregelten Ackerbaubetriebes ſtellte ſich allerdings die Notwendigkeit heraus, wenigſtens das regelmäßig bebaute Ackerland ganz oder größtenteils den Einzelnen als Privateigentum zu überlaſſen; ſpäter geſchah dasſelbe mit den Wieſen. Dagegen blieben die unbebauten Flächen, ebenſo die Weiden und Wälder, noch Jahrhunderte lang im Geſamtbeſitz der Gemeinden, ſoweit nicht die großen Grundherren dieſelben mit Erfolg für ſich allein in Anſpruch nahmen. Die meiſten Weiden find erſt im 19. Jahr: hundert aufgeteilt worden, die Wälder befinden ſich noch bis zur Gegenwart zum erheblichen Teil im Gemeinbeſitz. Im weſtlichen und ſüdweſtlichen Deutſchland haben heute noch zahlreiche Gemeinden nicht nur gemeinſame Holzungen und Weiden, ſondern auch Wieſen und ſelbſt Ackerländereien. Man faßt dort dieſe Gemeindegrundſtücke unter dem Ausdruck „Allmenden“ zuſammen. * . e 72 2 f . i = . 5 2 2 1) Ich halte es nicht für zutreffend und für irreführend, wenn G. Hanſſen in feinen, ſonſt jo vortrefflichen agrarhiſtoriſchen Unterſuchungen die älteſte Wirtſchaftsweiſe der Deutſchen mit dem Ausdruck „wilde Feldgraswirtſchaft“ belegt. 2) Über den Charakter dieſer einzelnen Wirtſchaftsſyſteme vgl. das S. 26 ff. Geſagte. 8* 36 III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. Zur Hilfeleiſtung bei ihrer Land- und Hauswirtſchaft bedienten ſich die alten Deutſchen der Sklaven. Sie hielten dieſe aber, was ſchon Tacitus auffiel und von ihm ausdrücklich bezeugt wird (Tacitus, Germania, cap. 25), nicht nach der Weiſe der Römer, ſondern ſie ſtatteten ſie mit Land aus, wofür dann die Sklaven beſtimmte Dienſte und Naturalabgaben ihren Herren zu leiſten hatten. Nach der Einführung des Chriſtentums wirkte die Kirche auf die Freilaſſung der Sklaven hin und erreichte ſie allmählich. Die früheren Sklaven wurden perſönlich frei, hatten aber nach wie vor gewiſſe perſönliche und ſachliche Verpflichtungen gegenüber den Grundherren zu erfüllen. Auf der anderen Seite begaben ſich die meiſten urſprünglich freien kleineren Grundeigentümer in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den großen Grundherren bezw. zu der Kirche. Sie kauften ſich damit von der perſönlichen Heerdienſtverpflichtung los, erwarben ſich Schutz gegen äußere Feinde und wurden ſomit in den Stand geſetzt, ihrem landwirtſchaft⸗ lichen Beruf ungeſtört nachzugehen. Die großen Grundherren übten dabei gleichzeitig eine Art von obrigkeitlicher Gewalt über die kleineren Beſitzer aus, was um ſo nötiger war, als die Macht der deutſchen Könige und ihrer Beamten immer mehr ſank. Den in Abhängigkeit geratenen ehemaligen Ge⸗ meinfreien wurden ähnliche Verpflichtungen auferlegt wie den aus den Sklaven zu Freigelaſſenen emporgeſtiegenen Perſonen. Eine ſelbſtverſtändliche Folge dieſer Entwicklung war, daß beide, in wirtſchaftlicher wie in ſozialer Hinſicht urſprünglich durchaus verſchiedene Gruppen der Bevölkerung zu einer einzigen Klaſſe verſchmolzen. Sie bildeten den Stand der Bauern oder der Unter⸗ tanen, während die Großgrundbeſitzer die herrſchende Klaſſe, die Herren, darſtellten. Letztere waren teils einzelne Privatperſonen (Adelige, Ritter), teils Landes fürſten oder juriſtiſche Perſonen, wie Klöſter, Städte x. Etwa vom 9. bis zum 18. Jahrhundert erfuhr die deutſche Landwirt⸗ ſchaft keine durchgreifende Veränderung. Mit Zunahme der Bevölkerung wurde das Ackerland auf Koſten des Unlandes, der Weiden und Wälder immer mehr ausgedehnt, große Strecken wurden urbar gemacht, unzählige neue Dörfer angelegt. Seit dem 10. Jahrhundert wurden die öſtlich der Elbe gelegenen Teile des jetzigen Deutſchen Reiches allmählich den dort wohnenden flaviſchen Stämmen abgerungen und mit zahlreichen deutſchen Koloniſten beſiedelt, wenngleich ein erheblicher Teil der ſlaviſchen Bevölke⸗ rung in ihren Wohnſitzen belaſſen wurde. Aber die jlaviichen Bauern brachte man von Anfang an in eine ſtärkere Abhängigkeit, als ſie bei den deutſchen Bauern des weſtelbiſchen Deutſchlands herrſchend war. Dieſe formell und materiell ungünſtigere Stellung verſuchte man, und zwar nicht ohne Erfolg, gleichfalls auf die eingewanderten deutſchen Bauern allmählich zu übertragen. Auch noch ein anderer wichtiger Unterſchied bildete ſich zwiſchen dem oſt⸗ elbiſchen und weſtelbiſchen Deutſchland heraus, deſſen Entſtehung und weitere Entwicklung freilich noch wenig aufgeklärt find. Im weſtelbiſchen Deutſch⸗ land beſaßen die Grundherren nur ſelten große zuſammenhängende Flächen, mit Ausnahme der Waldungen. Sie hatten vielmehr Streubeſitz, d. h. eine Anzahl kleinerer, hier und da zerſtreuter Höfe. Dieſe waren dann an Bauern oder Meier oder Pächter gegen Erlegung von Abgaben oder außer⸗ dem gegen perſönliche Dienſtleiſtungen zur Nutznießung ausgetan. Das von den Grundherren ſelbſt oder durch Beamte bewirtſchaftete Areal war in der Regel nur gering. Im Oſten dagegen fingen die Grundherren ſchon frühzeitig an, große zuſammenhängende Flächen in eigene Bewirtſchaftung zu nehmen, während ſie gleichzeitig einen anderen Teil ihres Landes den untertänigen Bauern gegen Naturalabgaben und perſönliche Dienſtleiſtungen II. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. 37 ßen. Aus dieſem Verhältnis ergab ſich von ſelbſt, daß die oſtelbiſchen ern erheblich ſtärker mit Dienſten belaſtet wurden, als die weſtelbiſchen. ı jie mußten mit ihrer Perſon, mit ihren Zugtieren und Geräten alle den Gütern der Grundherren erforderlichen Hand- und Geſpannarbeiten richten, für den gleichen Zweck auch die arbeitsfähigen Familienglieder zur erfügung ſtellen. Die große Verſchiedenheit in dem Entwicklungsgang, [chen die wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe in den oſtelbiſchen und den weſtelbiſchen Teilen des Deutſchen Reiches genommen haben, macht ) ſelbſt in der Gegenwart noch ſtark geltend. Charakteriſtiſch für die Landwirtſchaft und die Lage der ländlichen völkerung im ganzen Deutſchen Reich während der faſt tauſendjährigen riode vom 9. oder 10. bis gegen Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahr⸗ nderts waren beſonders zwei Umſtände. Einmal das gegenſeitige Ab- ngigfeitsverhältnis, in welchem die beiden Gruppen der ländlichen zölkerung, die Herren und die Bauern, voneinander ſich befanden. Einer— eits waren die Bauern ihren Herren zu den mannigfachſten perſönlichen und ſachlichen Leiſtungen verpflichtet; andererſeits mußten die Herren für die öffentlichen Laſten des Bauern in letzter Linie aufkommen, fie bei Mißernten und ſonſtigen Unglücksfällen unterſtützen; fie waren endlich, was in dem 138. Jahrhundert beſonders drückend empfunden wurde, in dem Betriebe der fſelbſtbewirtſchafteten Güter von der Art und Beſchaffenheit der bäuerlichen Dienſte ganz abhängig. Die zweite charakteriſtiſche Eigentümlichkeit beſtand darin, daß Großgrundbeſitzer wie Bauern an die örtlich herkömm— liche Betriebsweiſe feſt gebunden waren. In den meiſten Gegenden des Deutſchen Reiches herrſchte die Dreifelderwirtſchaft. Von dieſer durfte und konnte kein Einzelner abweichen. Auf der geſamten Brachflur, ſowie auf den Stoppeln der Winter- und Sommergetreideflur hatten alle Dorf— oder Markgenoſſen gemeinſchaftliche Weiderechte; die Beſtellungs- und Ernte— arbeiten begannen in jeder Flur für alle Beſitzer gleichzeitig. Infolgedeſſen hielt man es für unnötig, bei Teilung von Grundſtücken darauf zu achten, daß jedes Grundſtück auch einen Zufuhrweg bekam. Es bildete ſich an den meiſten Orten eine Gemenglage der Grundſtücke heraus, welche eine ganz gleichmäßige Benutzung des Ackerlandes für alle Beſitzer zur Notwendigkeit machte. Dieſer herkömmlichen Betriebsweiſe wurden alle Dienſte und Abgaben der Bauern ſowie alle ſonſtigen, das Agrarweſen betreffenden Geſetze oder Gewohnheiten angepaßt. Auch wo eine andere Betriebsweiſe üblich war, bildeten ſich feſte, für die Beſitzer bindende Regeln der Bewirtſchaftung aus. Man faßt dieſelben in dem Ausdruck „Flurzwang“ zuſammen. Die beiden beſchriebenen Eigentümlichkeiten machen es leicht erklärlich, weshalb es ſo ungemein ſchwierig war, zu einer beſſeren Betriebsweiſe überzugehen, als man die Unzweckmäßigkeit der bisher geübten erkannt hatte. Erſt im 19. Jahr⸗ hundert iſt man zu dieſem Ziel, deſſen Erreichung man im 18. Jahrhundert vergeblich erſtrebt hatte, wirklich gelangt. Über die gegenſeitigen Rechte und Pflichten der Gutsherren und der Bauern herrſchten bei den Beteiligten erklärlicherweiſe häufig Meinungsver— ſchiedenheiten. Jene verſuchten die den Bauern auferlegten Abgaben und Dienſte zu erhöhen, wogegen dieſe ſich ſträubten. Vom 9. bis zum 16. Jahr⸗ hundert kam es in verſchiedenen Teilen des Deutſchen Reiches wiederholt zu Bauernaufſtänden, deren Urſachen und deren Verlauf im einzelnen bis jetzt freilich nur wenig klargeſtellt ſind. Der ausgedehnteſte und am meiſten bekannte war der ſog. Bauernkrieg, der, vom ſüdweſtlichen Deutſchland ausgehend, ſich über einen großen Teil des Reiches verbreitete und mit einer vollftändigen Niederlage der Bauern im Jahre 1525 endete. Dieſelbe hatte = 2 h 17 4 . 0 5 r 38 III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. indeſſen nicht zur Folge, daß die Lage der Bauern im allgemeinen und 1 durchgängig ſich verſchlechterte. In einzelnen Gegenden oder Fällen trat dies wohl ein; aber es waren doch auch Umſtände vorhanden, die eine gegen teilige Wirkung ausübten. Viele Gutsherren hatten eingeſehen, daß es auch für ſie nicht von Vorteil wäre, wenn ihre untertänigen Bauern in einer ſehr gedrückten und kümmerlichen Lage ſich befänden. Außerdem trat jeit Mitte des 16. Jahrhunderts eine merkliche Erſtarkung der landesherrlichen Gewalt ein. In dem jahrhundertelangen Kampfe zwiſchen den Fürſten und den Ständen blieben erſtere ſchließlich die Sieger. Sie hatten aus Rück⸗ ſicht auf das Gemeinwohl ein großes Intereſſe daran, daß die Bauern wirtſchaftlich nicht allzu ungünſtig geſtellt wären, und ſuchten ſie daher vor übertriebenen Anforderungen der Gutsherren zu ſchützen. Sehr verhängnisvoll wirkte auf die Landwirtſchaft und die Landbau treibende Bevölkerung der dreißigjährige Krieg (1618-1648) ein. Un⸗ zählige Bauern mußten Haus und Hof verlaſſen oder verloren ihr Leben, viele Bauerndörfer verſchwanden gänzlich; auch die zurückgebliebenen Bauern und obenſo die Großgrundbeſitzer wurden durch Fortnahme von Vorräten und Inventar, durch Verwüſtung der Felder ſchwer geſchädigt. Eine ſtarke Entvölkerung und eine faſt allgemeine Verarmung waren die Folgen des Krieges, die noch mindeſtens ein Jahrhundert lang nachwirkten. Am ſchwerſten wurden davon die Bauern betroffen. Ein großer Teil von ihnen war wirt⸗ ſchaftlich ſo heruntergekommen, daß ſie nicht mehr die Fähigkeit hatten, ohne fremde Hilfe ihren Betrieb weiter zu führen. Da traten dann die Grund⸗ herren helfend ein, indem ſie den Bauern Unterſtützungen zur Errichtung von Gebäuden, zur Beſchaffung von Inventar ꝛc. gewährten. Dafür bedangen ſie ſich aber auch vermehrte Dienſte und Abgaben aus. Die vielen von ihren Beſitzern verlaſſenen bäuerlichen Höfe wurden entweder von den Grundherren ganz eingezogen und dem herrſchaftlichen Hofe einverleibt oder ſie wurden mit neuen Bauern beſetzt, die aber, weil meiſt ſo gut wie mittellos, ſich ſehr ſchweren Bedingungen unterwerfen mußten. So kam es, daß die Lage der Bauern in dem Jahrhundert nach dem 30 jährigen Kriege eine beſonders ge⸗ drückte wurde und daß in dieſer Periode das Bauernlegen d. h. die Ver— einigung der Bauernhöfe mit dem herrſchaftlichen Lande in beſonders großem Umfange betrieben wurde. In Mecklenburg und Schwediſch-Pommern verſchwand auf dieſe Weiſe der bei weitem größere Teil der früher vorhan⸗ den geweſenen Bauergüter. In Preußen traten Friedrich Wilhelm J. und namentlich Friedrich der Große nicht nur dem Bauernlegen entgegen, ſondern ſie ſuchten auch die auf den Bauern ruhenden Laſten möglichſt zu mildern. Sie erzielten dabei freilich nicht den ganzen beabſichtigten und ge⸗ hofften Erfolg, aber doch immerhin ſehr viel; am meiſten auf den zahlreichen Domänen, auf denen ſie Landesherren und Grundherren zugleich waren. In ähnlicher Richtung wie die genannten preußiſchen Könige wirkten in Dfter- reich Maria Thereſia und Joſeph II.; auch andere deutſche Fürsten folgten dieſem Beiſpiel. Unter den ſachkundigen und nicht durch Vorurteile eingenommenen Männern herrſchte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Über⸗ zeugung, daß die deutſche Landwirtſchaft nicht dasjenige leiſte, was ſie leiſten könne und im Intereſſe des Geſamtwohles leiſten müſſe; daß ſie ferner, um ihrer 0 die eig Aufgabe zu genügen, einer vollſtändigen Umgeſtaltung bedürfe, die ſich ſowohl auf den landwirtſchaftlichen Betrieb wie auf die Beſitz⸗ verhältniſſe und die perſönliche Lage der ländlichen Bevölkerung zu erſtrecken habe. Man beklagte es mit Recht, daß zu wenig Vieh gehalten und dies ſchlecht gefüttert werde und daß infolgedeſſen die Düngerproduktion zu ge⸗ III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. 39 und in weiterer Folge die Erträge des Ackerlandes zu niedrig ſeien. zo richtig erblickte man die wirkſamſte Abhilfe in der Ausdehnung bezw der Einführung des Futterbaues auf dem Ackerlande. Einen weiteren tand ſah man in dem gegenſeitigen Abhängigkeitsverhältnis zwiſchen den Sutsherren und Bauern, durch welche beide an einer irgend durchgreifenden mgeſtaltung und Verbeſſerung ihrer Betriebsweiſe gehindert wurden. Die Einführung des Futterbaues auf dem Ackerlande war nicht möglich, ſolange Brache und Stoppelfelder der gemeinſchaftlichen Beweidung unterlagen, und ſolange die Hand- und Spanndienſte der Bauern lediglich auf die Dreifelder- wirtſchaft oder ein anderes unhaltbar gewordenes!) Betriebsſyſtem berechnet ‚en. Auch ließ ſich von den Bauern feine ſorgſame und verſtändige birtſchaftung der ihnen gehörigen oder zur Nutzung überlaſſenen Höfe arten, ſolange ſie kein geſichertes und vererbliches Beſitzrecht an dieſen ten, und ſolange ihre und ihrer Familienglieder Arbeitskraft durch die an Grundherren zu leiſtenden Dienſte in ſo hohem Maße in Anſpruch ge⸗ men waren. Eine gründliche Beſſerung der herrſchenden Übelſtände war nur zu erwarten, wenn man das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis gas auflöſte; wenn man den Großgrundbeſitzern wie den Bauern die Mög— lichkeit gewährte, frei über ihren Grund und Boden und deſſen Bewirtſchaftung ern; wenn man die fremden Weiderechte, wenigſtens auf dem Acker: lande und den Wieſen, aufhob, und wenn man endlich die Gemenglage der Grundſtücke inſoweit beſeitigte, daß jeder Beſitzer zu jedem ſeiner Grundſtücke einen freien Zufuhrweg erhielt. Die Löſung dieſer mannigfachen Aufgaben war ungemein ſchwierig. Anfänge und Verſuche dazu wurden jchon im 18. Jahrhundert gemacht; in umfaſſender Weiſe geſchah ſie erſt in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine Umgeſtaltung der landwirtſchaftlichen Betriebsweiſe war ſelbſt— verſtändlich an die weitere Vorausſetzung geknüpft, daß man Mittel ausfindig machte, deren Anwendung eine vollkommenere Ausnutzung der produktiven Bodenkräfte, eine lohnendere Handhabung von Ackerbau und Viehzucht, alſo # eine Steigerung ſowohl der Roh- wie der Reinerträge bewirken konnte. Bevor 3 man an die jo ſchwierige Reform der agrarrechtlichen Verhältniſſe ſich heran— wagte, mußte man mit einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit darauf rechnen dürfen, daß dieſelbe zur Herbeiführung einer beſſeren Wirtſchaftsweiſe auch wirklich 1 benutzt würde. Solchem Vertrauen durfte man ſich in der Tat hingeben 1 und zwar auf Grund der erfolgreichen Forſchungen und Verſuche, die in der = zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Vertretern der Landwirtſchaftslehre, der Kameralwiſſenſchaften und der Naturwiſſenſchaften ſowie von einzelnen praktiſchen Landwirten gemacht worden waren. Die Entdeckungen von Scheele, Prieſtley, Lavoiſier und anderen Männern hatten eine tiefere Erkenntnis in die, das pflanzliche und tieriſche Leben bedingenden Naturgeſetze eröffnet. Durch Adam Smith war eine neue und ſichere Grundlage für die Volkswirtſchaftslehre und für die Anwen— dung von deren Grundſätzen auf das praktiſche Leben geſchaffen worden. ; 1) So lange die Bevöllerung dünn war, empfand man die Mängel des Dreifelder- ſyſtems wenig oder gar nicht. Auf dem Acker wurde zwar, abgeſehen vom Stroh, kein Viehfutter erzeugt. Da aber bei ſpärlicher Bevölkerung der Bedarf an Getreide gering war, ſo brauchte man nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Geſamtfläche zum Ackerbau zu verwenden; der bei weitem größere Teil wurde durch Wald, Wieſen und Weiden ge bildet, die dem Vieh genügende Nahrung gewährten. Je mehr die Bevölkerung wuchs, deſto ſtärker wurde das Ackerland ausgedehnt, die Viehfutter liefernden Flächen eingeſchränkt. Hierdurch trat mit der Zeit als nächſte Folge Mangel an Futter, als weitere Folge Mangel an Dünger ein; der letztere bewirlte dann ein Zurückgehen der Erträge vom Ackerbau. 40 III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. Von den deutſchen Kameraliſten hatten Sonnenfels, von Juſti, Leske, Zincke, Beckmann und andere nachgewieſen, welche Mängel die bisherige landwirtſchaftliche Betriebs weiſe habe, welche Übelſtände mit dem Flurzwang, den Frondienſten, der gegenſeitigen Abhängigkeit von Großgrundbeſitzern un Bauern verbunden ſeien, und welche Wege man zu deren Beſeitigung ein- ſchlagen müſſe. In der gleichen Richtung wirkte als Schriftſteller wie als praktiſcher Landwirt Joh. Chriſtian Schubart (1734-1787), der nach⸗ drücklicher als irgend ein anderer die Unhaltbarkeit der vorhandenen Zuſtände ſchilderte und auf ſeinem, in Sachſen gelegenen Rittergute Würchwitz eine beſſere Wirtſchaftsweiſe einzuführen verſuchte !). Ihm vor allem iſt die weitere Verbreitung des Kleebaues, auch des Anbaues von Hackfrüchten zu danken; er ſchaffte auf ſeinem Gute die Dreifelderwirtſchaft ab und führte eine Art von Fruchtwechſelwirtſchaft ein. Durch ſein Beiſpiel und ſeine Schriften angeregt, verſuchten viele andere Landwirte ihre Betriebsweiſe im einzelnen oder im ganzen umzugeſtalten, ſoweit die durch die agrarrechtlichen Verhält⸗ niſſe gezogenen Schranken dies geſtatteten. Im letzten Drittel des 18. Jahr⸗ hunderts waren die nachdenkenden und einſichtigen Landwirte davon überzeugt, daß es notwendig ſei, die Brache abzuſchaffen oder doch einzuſchränken, die⸗ ſelbe ganz oder teilweiſe zum Anbau von Futterpflanzen, Wurzelfrüchten oder auch Handelsgewächſen zu benutzen und die Mehrproduktion an Futter zu verwenden, um die Viehhaltung zu vergrößern, Zug- und Nutzvieh beſſer zu füttern, die Düngerproduktion zu verſtärken und dadurch die Erträge des Ackerbaues zu erhöhen. Der rote Klee, die Luzerne, die Kartoffel, die Futterrübe, der Tabak und einige andere Pflanzen, die bisher höchſtens in kleinen Mengen und in Gärten kultiviert worden waren, wurden nun unter die Feldgewächſe eingereiht und als ſolche im Großen vielfach angebaut. Freilich konnten ſie die allgemeine Verbreitung, welche ſie ihrer Wichtigkeit nach verdienten, im 18. Jahrhundert noch nicht finden, weil die erwähnten agrarrechtlichen Hinderniſſe im Wege ſtanden. Die Beſeitigung dieſer erfolgte, von einzelnen Verſuchen und Anläufen abgeſehen, erſt bei Beginn und im Laufe des 19. Jahrhunderts. Vorbildlich dafür iſt die preußiſche Agrargeſetzgebung der Jahre 1807 1821 geweſen, welche man mit dem Ausdrucke „die Stein-Har⸗ denbergiſche“ zu bezeichnen pflegt. Durch das Edikt vom 9. Oktober 1807, betr. den erleichterten Beſitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums ſowie die perſönlichen Verhältniſſe der Landbe— wohner, wurde das Untertänigkeitsverhältnis der niederen, bäuerlichen Be⸗ völkerung unter die Gutsherren aufgehoben, auch die freie Teilbarkeit ſowohl der adligen wie der bäuerlichen Güter im Prinzip zugeſtanden. Das Edikt vom 14. September 1811, betr. Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhäktniſſe, gewährte den Inhabern der nicht eigen⸗ tümlich beſeſſenen bäuerlichen Höfe volles und freies Eigentum an dieſen und hob alle aus jenem Verhältnis entſpringenden perſönlichen und jach- lichen Dienſte und Leiſtungen für beide Teile auf. Als Entſchädigung mußten die Bauern, falls ſie ein erbliches Beſitzrecht hatten, ein Drittel, falls ſie ein nicht erbliches hatten, die Hälfte ihres bisherigen Areales an die Gutsherren abtreten. Unter dem 14. September 1811 erſchien außerdem das Edikt zur Beförderung der Landeskultur, gewöhnlich Land es— kultur⸗Edikt genannt, welches aber weniger beſtimmte geſetzliche Anord⸗ 1) Joh. Chriſt. von Schubart, Okonomiſch⸗kameraliſtiſche Schriften, 6 Teile, Leipzig 1784 und 85. Für die Kenntnis der damaligen landwirtſchaftlichen Verhältniſſe ſind dieſe Schriften ganz beſonders lehrreich. III. Geschichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. 41 als Ratſchläge für Verbeſſerung des landwirtſchaftlichen Betriebes Verheißungen in bezug auf die noch zu erlaſſende Agrargeſetzgebung enthielt. Das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 wurde durch die Deklaration vom 29. Mai 1816 inſofern modifiziert und in feiner Anwendung eingeſchränkt, als die kleineren bäuerlichen Beſitzungen, welche keine ſelbſtändige Ackernahrung bildeten, von der Regulierung ausgeſchloſſen den. Die Folge hiervon war, daß die in großer Zahl vorhandenen nitellen, die mit ſog. Häuslern, Büdnern oder auch Koſſäten beſetzt ‚en, im Laufe der Zeit zu dem herrſchaftlichen Lande eingezogen wurden. urch iſt es verhindert worden, daß in den alten preußiſchen Provinzen zahlreicher Stand von grundbeſitzenden Arbeitern ſich bildete, ein Mangel, als die hauptſächlichſte Urſache der in der Gegenwart ſo ungünſtigen eiterverhältniſſe im nordöſtlichen Deutſchland betrachtet werden muß. Am „Juni 1821 erfolgte die Verordnung wegen Ablöſung der Dienſte, ſeld⸗ und Naturalleiſtungen von Grundſtücken, welche eigen— ümlich, zu Erbzins oder Erbpacht beſeſſen werden. Ihrem ſach— lichen Inhalte nach deckt ſich dieſe Verordnung ungefähr mit dem Regu⸗ llierungsedikt von 1811 bezw. der Deklaration von 1816, bezieht ſich aber auf die eigentümlich beſeſſenen ſowie die Erbzins- und Erbpacht-Höfe. Ebenfalls am 7. Juni 1821 wurde die Gem einheitsteilungs-Ordnung erlaſſen. Dieſe bot die Möglichkeit oder legte die Notwendigkeit auf, die beſtehenden gemeinſamen Weiderechte ſowie Waldnutzungen aufzuheben oder doch einzuſchränken. Mit dieſer Maßregel, die man auch Separation nannte, war dann in der Regel eine vollitändige Neuregulierung der ganzen Feldmark, eine Flurbereinigung, verbunden. Jeder Beſitzer erhielt ſein früher häufig in vielen Parzellen zerſtreutes Eigentum in wenigen größeren zuſammenhängenden Grundſtücken, deren jedes einen Zufuhrweg beſaß; Wege und Waſſerläufe wurden jo umgeſtaltet, wie es den Intereſſen der land- wirtſchaftlichen Produktion entſprach. Mit dem Jahre 1821 gelangte die agrariſche Reformgeſetzgebung in Preußen zu einem gewiſſen Abſchluß. In den folgenden Jahrzehnten beſchränkte ſie ſich in der Hauptſache darauf, an den erlaſſenen Beſtimmungen einige Anderungen vorzunehmen, dieſelben auch auf einzelne der neu hinzugekommenen Landesteile auszudehnen. Unter dem 2. März 1850 wurde dann das Geſetz betr. die Ablöſung der Real— laſten und die Regulierung der gutsherrlich-bäuerlichen Ver— hältniſſe publiziert, welches, unter Aufhebung aller früher hierüber er- | gangenen Geſetze, den Inhalt derſelben zuſammenfaßte, dabei aber auf die liberaleren Beſtimmungen des Ediktes vom 14. September 1811 zurückgriff, namentlich die Regulierungsfähigkeit auch der kleinbäuerlichen Stellen, ſoweit ſie nicht ſchon von den Gutsherren eingezogen waren, anerkannte. Dem Beiſpiele Preußens ſolgten früher oder ſpäter die meiſten übrigen deutſchen Staaten; das Untertänigkeitsverhältnis bezw. die Leibeigenſchaft wurden aufgehoben, die Frondienſte beſeitigt, den Bauern das f freie Eigentum an ihren Höfen gewährt, die Möglichkeit zur Zuſammen— legung (Verkoppelung, Konſolidation, Arrondierung) der Grundſtücke und zur j Regulierung der Feldmark dargeboten. Allerdings ging man in den übrigen deutſchen Staaten mit der Teilung der Gemeinheiten nicht ſo radikal vor, wie in Preußen. Vor allem im weſtlichen und ſüdweſtlichen Deutſchland blieb der Gemeindegrundbeſitz, die Allmende, noch in großer Ausdehnung erhalten. Gleichzeitig mit dieſer Agrargeſetzgebung traten diejenigen Männer auf, welche zeigten, wie man die gewonnene Freiheit benutzen müſſe, um ver— mittels einer Umgeſtaltung ſowohl der Betriebsweiſe im Ganzen wie der rennen en 42 III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. Ausführung der einzelnen techniſchen Maßregeln zu erheblich höheren Er⸗ trägen, als bisher, in der Landwirtſchaft gelangen könne. Der weitaus be Syſtem der Landwirſchaft auf. Er ſchuf in Möglin die erſte landwirtſchaft⸗ liche Akademie, die das Muſter wurde für die in den folgenden Jahrzehnten errichteten ähnlichen Anſtalten. Thaer iſt der Vater der Fruchtwechſelwirtſchaft und hat zugleich faſt alle einzelnen Zweige des Ackerbau- und Viehzuchtbe⸗ triebes dadurch reformiert, daß er für ſie neue, auf Wiſſenſchaft und Er⸗ fahrung aufgebaute Regeln aufſtellte. In ähnlicher Richtung wirkten gleichzeitig oder etwas ſpäter noch andere Männer, die zum Teil ſeine direkten Schüler waren: Johann Heinrich von Thünen (1782 — 1850), der Verfaſſer des iſolierten Staates; Joh. Gottl. Koppe (1782-1863); Joh. Nepomuk Schwerz (17591844), der Begründer der landwirtſchaftlichen Akademie Hohenheim; Joh. Burger (1773-1843), der in Oeſterreich als Schrift⸗ ſteller, praktiſcher Landwirt und Verwaltungsbeamter für die Umgeſtaltung der Landwirtſchaft im Sinne Thaers wirkte; Albrecht Block (1774 — 1847), der beſonders das Gebiet der Betriebs- und Taxationslehre ausbaute; Karl Sprengel (1787-1859), der Begründer der landwirtſchaftlichen Akademie Regenwalde in Pommern. Durch die Agrargeſetzgebung und durch die Bemühungen einzelner her⸗ vorragender Männer der Wiſſenſchaft und Praxis erfuhr die deutſche Land⸗ wirtſchaft und die ländliche Bevölkerung in der erſten Hälfte des 19. Jahr⸗ hunderts eine völlige Umwandlung. Jeder Beſitzer vom kleinſten Häusler bis zum größten Rittergutsbeſitzer konnte nun frei über ſeine Perſon wie über ſeinen Grund und Boden verfügen; er konnte ſeinen Betrieb jo ein⸗ richten, wie es für ſeine Verhältniſſe am angemeſſenſten ſchien. Von ſolcher Freiheit wurde auch in dem Maße, als die Ausführung der Agrargeſetze fortſchritt und als die Intelligenz und die Wohlhabenkeit der ländlichen Be⸗ völkerung zunahmen, ein ausgiebiger Gebrauch gemacht. Die reine Dreifelder⸗ wirtſchaft verſchwand; ſie wurde durch die verbeſſerte Dreifelderwirtſchaft oder durch die Fruchtwechſelwirtſchaft erſetzt. Ebenſo erfuhr die Feldgraswirtſchaft eine durchgreifende Umgeſtaltung, indem man auf ſie ebenfalls die Grundſätze deutendſte und wirkſamſte unter ihnen war Albrecht Thaer (1752 1828. In ſeinen Grundſätzen der rationellen Landwirtſchaft, die in 4 Bänden von 1809 — 1812 erſchienen, ſtellte er zum erſten Male ein wiſſenſchaftliches des Fruchtwechſels ſoweit als möglich zur Anwendung brachte. Neue und beſſere Geräte und Maſchinen wurden eingeführt; man bearbeitete den Boden nicht mehr, wie früher, auf 4—5 Zoll, ſondern auf 8—10 Zoll Tiefe. Leiſtungs⸗ fähigere Zug- und Nutztiere gelangten zur Einführung; die Fütterung des Viehes wurde eine reichlichere und dem ſpeziellen Gebrauchszweck angemeſ⸗ ſenere. Hierdurch erzielte man gleichzeitig eine ausgiebigere Düngerproduktion und damit die Möglichkeit, den Acker ſtärker in Anſpruch zu nehmen und von ihm höhere Erträge zu gewinnen. Der Fortſchritt, welchen die deutſche Landwirtſchaft in dem halben Jahrhundert von 1800 —1850 erfahren, tt größer, als der, welchen ſie in dem vorangegangenen Jahrtauſend gemacht hat. Seine materiellen Erfolge würden noch viel ſchneller und ſtärker zu Tage getreten ſein, wenn nicht die deutſche Landwirtſchaft in der Zeit von etwa 1800-1815 durch die faſt ununterbrochenen Kriege große Verluſte ge⸗ habt hätte, und wenn nicht von etwa 1820 — 1840 der Preisſtand der land⸗ wirtſchaftlichen Produkte, namentlich des Getreides, ein ſo ungewöhnlich niedriger geweſen wäre. Nur dem Umſtande, daß die deutſchen Landwirte in ihrer überwiegenden Mehrzahl zu einer ganz anderen und viel lohnenderen Betriebsweiſe übergingen, iſt es zu danken, daß nach Beendigung jener lang „ Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. 1 | 43 ernden Kalamitäten die Landwirtſchaft viel kräftiger und blühender da- als vor deren Beginn. | | Jahrzehnt 1840—50 hoben ſich die Getreidepreiſe ſchon bedeutend, mehr im Jahrzehnt 1850 —60. Von der letzteren Periode an und eiden folgenden Jahrzehnten trat auch eine ſtarke Preisſteigerung riſchen Produkte, mit Ausnahme der Wolle, ein. Gleichzeitig machten ie günſtigen Folgen der auf dem Gebiete der Naturwiſſenſchaft en erzielten Fortſchritte bemerkbar. brecht Thaer war von Hauſe aus Arzt und zugleich mit der viſſenſchaft, ſoweit ſie das Leben der Kulturpflanzen und Haustiere wohl vertraut. Er brachte dieſelbe auch bei ſeiner Reform des land— chaftlichen Betriebes zu umfaſſender Anwendung. Aber die Kenntnis den das pflanzliche und tieriſche Leben beherrſchenden Geſetzen war zu r Zeit noch eine ziemlich mangelhafte und in einzelnen wichtigen Punkten rrtümliche. Es iſt das große Verdienſt von Juſtus Liebig (1803 — 1873), daß er hierüber Klarheit gebracht und damit den Anſtoß gegeben hat ſowohl einer vollkommeneren Bearbeitung und Düngung des Bodens wie zu einer lohnenderen Fütterung der landwirtſchaftlichen Haustiere. Seinem und ſeiner Nachfolger Einfluß iſt es namentlich zuzuſchreiben, daß man neue, nicht in dem eigenen Betrieb erzeugte Dungmittel entdeckte und in fortwäh— d ſteigendem Maße anwendete: Knochenmehl, Superphosphat, Kaliſalze, Guano, Chileſalpeter, Thomasmehl u. a.; daß man ferner in dem eigenen Betrieb nicht produzierte Futtermittel, unter denen die verſchiedenen Arten von Olkuchen die wichtigſten ſind, ausfindig machte und im großem Umfang benutzte. Dadurch wurde eine früher kaum für möglich gehaltene Stei— erung der Roherträge im Ackerbau und in der Viehhaltung erzielt. Das Wachstum der Reinerträge blieb dahinter nicht zurück; wenigſtens ſo lange nicht, als die Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte die in der Periode von 1850 — 75 erreichte Höhe behielten. | Dieſe Periode iſt die glücklichſte, welche die deutſche Landwirtſchaft je— mals erlebt hat. In ihr entwickelten ſich auch in beſonders hohem Grade ſolche Veranſtaltungen und Unternehmen, die für die Förderung des Wohles der Landwirtſchaft und der ländlichen Bevölkerung im allgemeinen beſtimmt waren. Die landwirtſchaftlichen Vereine nahmen an Zahl und Wirk— ſamkeit bedeutend zu; landwirtſchaftliche Unterrichtsanſtalten der ver— ſchiedenſten Art traten neu ins Leben; landwirtſchaftliche Genoſſen— ſchaften zu mannigfachen Zwecken wurden gegründet; von der Verſicherung gegen Brand- und Hagelſchaden wurde ein ausgedehnter Gebrauch ge— macht; zahlreiche Anſtalten für dieſe Zwecke ſowie für Befriedigung des 5 8 Perſonal- und Realkredits fanden ihre Ent— ſtehung. Mit der Steigerung der Reinerträge war ein mindeſtens ebenſo ſtarkes oder noch ſtärkeres Wachstum der Preiſe von Grund und Boden verbunden. Man darf wohl behaupten, daß jchon von den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ab die Kaufpreiſe der Güter höher ſich ſtellten, als ſie den augenblicklichen Ertragswerten entſprachen. Käufer wie Verkäufer rechneten mit der Wahrſcheinlichkeit, daß in der Zukunft noch ein weiteres Wachstum der Reinerträge und damit der Kapitalwerte zu erwarten ſei, und e bemaßen danach ihre Angebote oder Forderungen. Dieſe Kalkulation erwies ſich auch 30—40 Jahre hindurch als zutreffend. Landwirte, welche in dieſer Periode Güter kauften und anſcheinend hoch bezahlten, machten gute Geſchäfte und wurden wohlhabende, zuweilen reiche Leute; letzteres namentlich dann, wenn ſie mit beſonderer Intelligenz und Tatkraft ihren Betrieb leiteten. 44 III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. Binnen einen oder anderthalb Menſchenalters hoben ſich die Neinerträge und Ertragswerte der meiſten Güter auf das Doppelte, oft ſogar auf das Drei⸗ oder Vierfache und noch mehr. Man betrachtete dieſe Steigerung ge wiſſermaßen als ein feſtes, unabänderliches Naturgeſetz, obwohl ſie lediglich eine Erſcheinung des wirtſchaftlichen Lebens war, welches ſtets den mannig⸗ fachſten Schwankungen und Veränderungen unterliegt. Die Verwechſelung von Naturgeſetzen mit wirtſchaftlichen Erſcheinungen, welche letzteren man ſelbſt bei regelmäßiger Wiederkehr immer nur in übertragenem Sinne als Geſetze bezeichnen darf, hat ihren tieferen Grund in der einſeitigen Überſchätzung, welche die Vertreter der Praxis wie der Theorie der Naturwiſſenſchaft in ihrer Bedeutung für den landwirt⸗ ſchaftlichen Betrieb zuteil werden ließen. Sie wurden hierzu verleitet durch die ganz ungewöhnlichen Reſultate, welche ſie infolge der Anwendung der von Liebig und ſeinen Schülern verkündeten Lehren erzielten. Die Roh⸗ erträge aus der Bodennutzung und aus der Viehhaltung ſtiegen ganz ge— waltig und da ergab ſich, bei dem gleichzeitigen Wachstum der Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte, die Erhöhung der Reinerträge ganz von ſelbſt. Dadurch bürgerte ſich bei den Vertretern der Landwirtſchaft, ihnen meiſt unbewußt, die Anſicht ein, als ob es bei einer landwirtſchaftlichen Unter⸗ nehmung lediglich darauf ankomme, dieſelbe nach richtigen techniſchen Grund⸗ ſätzen zu leiten; alſo die Bearbeitung, Düngung und Benutzung des Bodens, ferner die Zucht, Aufzucht, Pflege und Fütterung der Tiere ſo einzurichten, daß möglichſt viele und wertvolle Produkte aus Ackerbau und Viehhaltung gewonnen würden. Man überſah aber dabei, daß die Höhe des Reinertrages auch noch davon abhängt, daß bei der Organiſation und Leitung eines Be⸗ triebes nach richtigen wirtſchaftlichen Grundſätzen verfahren wird. Ein ſolcher Irrtum konnte um ſo mehr Wurzel faſſen, als auch die Mehrzahl der Vertreter der Landwirtſchaftswiſſenſchaft ein übertriebenes Gewicht auf den techniſchen Teil derſelben legten, dagegen den wirtſchaftlichen unterſchätzten und vernachläſſigten. Einige gingen ſogar ſo weit, daß ſie die geſamte Land⸗ wirtſchaftslehre als angewandte Naturwiſſenſchaft bezeichneten. Die nächſte Folge war, daß die jo wichtigen Gebiete der Betriebslehre, der Taxations⸗ lehre und der Lehre von der Buchführung wenig gepflegt und ausgebäut und daß deren Grundſätze den praktiſchen Landwirten wenig bekannt und von ihnen daher auch in geringem Grade beachtet wurden. Sie gaben ſich nicht in genügendem Maße Rechenſchaft darüber, von welchen verſchiedenen Be⸗ dingungen die Erzielung hoher Reinerträge abhängig ſei, auf welche Weiſe man den Reinertrag und den Ertragswert von Gütern feſtſtellen müſſe, welches Betriebskapital für eine erfolgreiche Wirtſchaftsführung erfordert werde, wie ſtark man ein Gut im Verhältnis zu ſeinem Ertragswert verſchulden dürfe. Dieſer mangelhaften Erkenntnis iſt es zuzuſchreiben, daß in ſehr vielen Fällen die Güter zu teuer gekauft, bei Erbteilungen dem Erben zu hoch an⸗ gerechnet wurden, daß ſie zu ſehr mit hypothekariſchen Schulden belaſtet wurden, daß man aus Mangel an dem nötigen Betriebskapital nicht ſo wirt⸗ ſchaftete oder ſo wirtſchaften konnte, wie es nach Lage der ſonſtigen Ver⸗ hältniſſe angezeigt geweſen wäre. Die genannten Übelſtände machten ſich vereinzelt ſchon in der für die Landwirtſchaft im übrigen günſtigen Periode geltend; ſie traten aber maſſen⸗ haft hervor, als die Reinerträge nicht mehr ſtiegen, ſondern eine weichende Tendenz zeigten, was zu Ende der 70er und zu Anfang der 80er Jahre eintrat. Auf zwei Urſachen iſt die veränderte Lage zurückzuführen: das Sinken der Preiſe von Getreide und von einigen anderen land— wirtſchaftlichen Produkten, ſowie das Steigen der Wirtſchaftskoſten. III. Geschichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. 45 A Preiſe für einen Zentner Roggen ftellten ſich im Ducchfchnitt x preußiſchen Monarchie bezw. des Deutſchen Reiches h): 0 für das Jahrzehnt 3 auf 4% M. „ „ 7 7 5 a „ ai 1841—50 „ 6,3 „ n 7 1851-60 7 IE n „ „ 7 1861 —70 7 7.5 7. „ 7 1871-80 77 8510 7. „ „ 7 1881—90 7 pe 77 1 1 1891-1900 „ 7, „ Noch ſtärker wie der Roggen iſt der Weizen im Preiſe geſunken. Im chſchnitt des Jahrzehnts 1871—80 koſtete ein Zentner Weizen 11,16 Mk. 5 im Durchſchnitt des Jahrzehnts 1891 —1900 nur noch 8,24 Mk. Die Preiſe der tieriſchen Produkte ſind von 1821—80 fortdauernd zwar in der zweiten Hälfte dieſer 60 jährigen Periode beſonders ſtark zen, während ſie von da ab die im Jahrzehnt 1871 —80 erreichte Höhe nittlich behaupteten. ö ä Es betrug im Durchſchnitt der alten preußiſchen Monarchie bezw. des inzen Deutſchen Reiches der Preis: für ein Pfund für ein Pfund Rindfleiſch Butter im Jahrzehnt 1821—30 0% M. 0% M. 45 4 1831-40 Wu Gas 5% 0 a, 8 4 1 1851 —60 ER 8 80 A 1861—70 9 8 77 77 1871-80 0,57 7 112 7 / 77 1881-90 0,8 77 110 77 „ 18911900 93 un Die Preiſe der Wolle find jeit dem Jahrzehnt 1851—60 bis zur Gegenwart etwa um ein Drittel bis zur Hälfte geſunken. Einen noch ſtärkeren Rückgang erfuhren die Zuckerpreiſe; im Jahre 1880 koſtete ein Zentner Rübenzucker 64,1 Mk., im Jahre 1900 bloß noch 22,2 Mk. | In und für ſich würde der ſtattgehabte Preisrückgang noch nichts ſehr Bedenkliches an ſich tragen. Es kommt aber hinzu, daß in den letzten 30—40 Jahren die Wirtſchaftskoſten ganz erheblich geſtiegen ſind. Seit dem Jahrzehnt 1851—60 bis zur Gegenwart hat der Tagelohn eine Er— höhung um mindeſtens 50 Proz., in vielen Gegenden um 100 Proz. erfahren, der bare Geſindelohn um 100 —200 Proz. Desgleichen find die öffent— lichen Laſten und Abgaben, beſonders die Gemeinde-, Kreis- und ſonſtigen Kommunalſteuern ſtark geſtiegen. Große Geldopfer erheiſcht ferner die Kranken-, Alters- und Unfallverſicherung. Man darf im Durchſchnitt annehmen, daß die aus der ſozialen Geſetzgebung den landwirtſchaftlichen Unternehmern erwachſenden Ausgaben in der preußiſchen Monarchie dem 4 Betrage der Grundſteuer gleichkommen. Eine gewiſſe Verminderung der 4 Wirtſchaftskoſten iſt allerdings dadurch eingetreten, daß mit den Getreide— 2 reifen auch die Preiſe für die angekauften Futter- und Dungmittel ent⸗ prechend zurückgegangen ſind; den preußiſchen Landwirten iſt außerdem die Aufhebung der Grundſteuer als Staatsſteuer zugute gekommen. Ferner hat 7 1) In den beiden folgenden Tabellen ſind für die Periode von 1821 —80 die Durch⸗ 5 ſchnittspreiſe für die preußiſche Monarchie, für die Periode 1881 — 1900 die für das 4 anze Deutſche Reich eingeſetzt. Durch Rechnung habe ich feſtgeſtellt, daß beide keine Kir die vorliegende Frage bedeutungsvolle Abweichung zeigen. Es ſchien dies Verfahren nötig, weil wir für die Zeit von der Gründung des Deutſchen Reiches keine Preisſtatiſtit haben, die alle einzelnen Teile desſelben umfaßt. 46 III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. der Rückgang des Zinsfußes allen verſchuldeten Landwirten — und hierzu gehörte die weit überwiegende Mehrzahl — eine bedeutende Erleichterung gebracht ). * Die ſtattgehabte Verminderung der Wirtſchaftsausgaben iſt indeſſen ſehr viel geringer geweſen, als die eingetretene und notwendige Vermehrung. Hierdurch und durch das gleichzeitige Sinken der Preiſe für Getreide, Zucker und Wolle iſt dann ein Niedergang der landwirtſchaftlichen Reinerträge ein⸗ getreten. Für jedes einzelne Gut mag dies vielleicht nicht zutreffen; aber im großen und ganzen läßt ſich mit Sicherheit behaupten, daß die deutſchen Landwirte gegenwärtig niedrigere Reinerträge erzielen, als in der Periode von 1850-1880. Gerade die einſichtigſten und am genqueſten kalkulierenden Landwirte ſind auf Grund ihrer Erfahrungen zu der Überzeugung gelangt, daß man mit dem ſtattgehabten Rückgang der Reinerträge als einer notoriſchen Tatſache rechnen müſſe. Am deutlichſten zeigt ſich dies in dem fortſchreitenden Sinken der Pachtpreiſe für die Staatsdomänen. In Preußen pflegen die Domänen auf 18 Jahre an den Meiſtbietenden bezw., nach Aus⸗ wahl der Behörde, an einen der drei Meiſtbietenden verpachtet zu werden. In der preußischen Monachie kamen in der Zeit von 1892 —1902 zur Neuverpachtung 2): Jahr Jahl der früherer e jetziger 255 We Domänen M. M. Me. 1892 40 609 638,4 641 916, + 32 277,58 1893 8 53 686 282, — 51 468, 1894 56 1030 888,5 937 458,50 — 90 430,5 1895 56 975 253,50 871 006, — 104 246 1896 59 842 05251 711 410% — 130 642,,, 1897 44 975 96123 789 043,10 — iss, 1898 35 681 601,,, 531 529,,, — 150 0724 1899 47 850 1119 766 595,40 — 83 516,99 1900 40 925 102 679 410,90 — 245 692 1901 22 597 5776 496 043,00 — 101 53416 1902 35 790 903,55 619 872,9, — 171030, 1892—1902 486 9 016 84172 7 730 566, — 1286 2742 Im Jahre 1892 fand alſo noch eine kleine Steigerung der Pachtpreiſe ſtatt, von da ab indeſſen ein ſtetig wachſender Rückgang, der im Jahre 1897 nahezu 20 Proz. der früheren Pacht betrug. Läßt man das Jahr 1892 fort, jo belief ſich in dem Jahrzehnt 1893 — 1902 der durchſchnitt⸗ liche Rückgang der Pachtpreiſe auf 16,67 Proz.; in den 6 öſtlichen Pro⸗ vinzen bewegte er ſich zwiſchen 20 und 30 Proz. Hieraus kann man zwar keinen direkten und allgemein zutreffenden Schluß auf das Sinken der landwirtſchaftlichen Reinerträge ziehen; aber mit Rückſicht auf die beträcht⸗ liche Zahl der in Rede ſtehenden Domänen darf man annehmen, daß ge⸗ rade die ſachkundigſten Landwirte der übereinſtimmenden Anſicht waren, daß die Reinerträge einen erheblichen Rückgang erlitten hätten. Jedenfalls war es ihre Überzeugung, die ja auch in vielen Fällen durch klar vorliegende Tatſachen beſtätigt wurde, daß die früheren Pachtpreiſe für die unterdeſſen veränderten Verhältniſſe zu hoch ſeien. Da die preußiſchen Domänen in der Regel auf 18 Jahre verpachtet werden, ſo waren die meiſten der in der 1) Die Schuldzinſen bilden zwar keinen Beſtandteil der Wirtſchaftskoſten, aber ſie müſſen doch wie dieſe von dem Unternehmer aus ſeinen Einnahmen beſtritten werden. 2) Die folgenden Zahlen ſind entnommen bezw. von mir berechnet worden aus den ſeitens des Landwirtſchaftsminiſters dem Abgeordnetenhauſe in den einzelnen Jahren vor⸗ gelegten Nachweiſungen. II. Geſchichtliche Entwichng der Candwirtichaft. 47 von 1893 — 1902 neu verpachteten Domänen das vorletzte Mal in hren 1874 — 1883 zur Verpachtung gelangt. Es war dies die Zeit, jer die Rentabilität der Landwirtſchaft zwar ſchon etwas im Rück⸗ begriffen war; man gab ſich aber der Hoffnung hin, daß dies bloß bergehender Zuſtand ſei, wie ein ſolcher auch in der Mitte der ahre bereits einmal ſich eingeſtellt hatte. Auch die Kaufpreiſe der Güter find in dem letzten Jahrzehnt in gelen Gegenden zurückgegangen. Jedoch bieten dieſe feinen jo ſicheren An- At, weil bei der Feſtſtellung der Kaufpreiſe manche zufällige Umſtände, ichlicher oder perſönlicher Natur, einen mitwirkenden Einfluß ausüben. Im ibrigen iſt das Sinken der Erwerbspreiſe des Grund und Bodens, mag es ſich um Erbfälle oder um Verkäufe handeln, als ein Geſundungsprozeß u betrachten. Denn, wie ſchon früher ausgeführt wurde, jo find die Er— bspreije der Güter lange Jahre hindurch weit höher geweſen, als dem klichen Ertragswerte zur Zeit der Erwerbung entſprach. Sie waren auf eu andauernde Steigerung der Reinerträge berechnet!). . Man hat wohl die Hefürchtung ausgeſprochen, daß das Steigen der Wirtſchaftskoſten und das Zurückgehen der Reinerträge den Landwirt dazu wingen werde, ſtellenweiſe ſogar ſchon dazu gezwungen habe, eine exten— ſivere Betriebsweiſe zu wählen. Hierin würde allerdings ein großer Rückſchritt liegen, und es würde den Anfang einer für das ganze Deutſche Reeich unheilvollen Entwicklung darſtellen. Denn die Folge würde ein Sinken der landwirtſchaftlichen Rohproduktion bedeuten, die ſchon jetzt den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung an Nahrungsmitteln nicht mehr deckt. Aber | Bere erweiſt ſich jene Befürchtung bis jetzt als eine ganz grund— loſe. Im Gegenteil läßt ſich nachweiſen, daß gerade in den letzten 20 —25 Jahren die Bodennutzung und die Viehhaltung an Intenſivität und an Ausdehnung bedeutend zugenommen haben. Unter den Bodennutzungs⸗ oder Kulturarten iſt das Acker- und Gartenland die intenſivſte. Unter den ſtattfindenden Verwendungsweiſen des Ackerlandes iſt die behufs Anbau von Wurzelfrüchten und Handelsge— wächſen diejenige, welche die höchſten Roherträge bringt ſowie die ſtärkſte Kapitalanlage erfordert und gleichzeitig bezahlt macht; dann folgen Getreide und Futterpflanzen: die Ackerweide bringt geringe, die Brache gar keine Er— träge. Nun iſt bereits S. 7 ff. auf Grund der in den Jahren 1878, 1883, 1893 und 1900 vorgenommenen Bodenſtatiſtiken eingehend nachgewieſen worden, daß in dieſer 22 jährigen Periode das Acker- und Gartenland zwar nicht viel, aber doch ſtändig zugenommen hat; daß ferner bei der Ackernutzung ganz beſonders der Anbau von Wurzelfrüchten und Gemüſe, in zweiter Linie auch der von Getreide geſtiegen iſt, während in dem gleichen Maße die Ackerweide und namentlich die Brache zurückgegangen ſind. Für den ungeheueren Fort— ſchritt, den die landwirtſchaftliche Produktion des Deutſchen Reiches während des 19. Jahrhunderts gemacht hat, iſt nichts ſo bezeichnend als die Abnahme der Brache. Zu Anfang desſelben lagen etwa 33 ¼ Proz. des Ackerlandes brach. Im Jahre 1878 betrug die Brache nur noch 8,89 Proz., im Jahre 1883 war ſie auf 7,05 Proz., im Jahre 1893 auf 5,91 Proz. zurückgegan— gen. Desgleichen find auf S. 2 ff. die zahlenmäßigen Beweiſe dafür erbracht — — e u Ze: 1 3 ö — * * 1) Eine ſehr lehrreiche Darſtellung über die Kauſpreiſe, Erbfallpreiſe und Subhaſtations⸗ preiſe der Güter für einen einzelnen Bezirk bietet die Abhandlung von H. Sarrazin, „Die Entwicklung der Preiſe des Grund und Bodens in der Provinz Poſen“. Sie erſtreckt ſich auf den Zeitraum von 1801—1894 und behandelt die kleinen, mittleren und großen Güter geſondert. Siehe Landwirtſchaftliche Jahrbücher von H. Thiel, Bd. 26, 1897, S. 825-896. 48 III. Geſchichtliche Entwicklung der Landwirtſchaft. worden, daß in den letzten Jahrzehnten die Viehhaltung im Deutſchen Reiche ſich ſehr ausgedehnt, ja daß ihre Zunahme mit dem ungewöhnlich ſtarken Wachstum der Bevölkerung gleichen Schritt gehalten hat. “a Die intenſivſte Art der Ackernutzung, von dem eigentlichen Gartenbau abgeſehen, iſt die Zuckerrübenkultur. Grade dieſe aber hat in den letzten Jahrzehnten einen gewaltigen Aufſchwung genommen und zwar ſowohl be⸗ züglich des Flächenumfanges wie bezüglich der intenſiveren Geſtaltung ihres Betriebes. Im Jahre 1878 waren 0,68 Proz., im Jahre 1893 dagegen 1,51 Proz. der Acker- und Gartenfläche mit Zuckerrüben beſtellt. Die Ver⸗ größerung der Zuckerproduktion und die Vermehrung des Zuckergehaltes der Rüben geht aus folgender Tabelle hervor!): . Betriebs⸗ Zahl Menge der ver⸗ Geerntete Rüben aus 100 kg Rüben jahr N der arbeiteten Rüben pro 1 ha in wurden Rohzucker I Fabriken in Tonnen Doppelzentnern gewonnen 1876/77 328 3 550 037 252 8,1 kg 1881/82 343 6 271 948 283 94 „ 1886/87 401 8 306 671 300 11 1891/92 403 9 488 002 282 12 1895/96 397 11 672 816 310 14% 1900/01 395 13 253 909 296 14,0 „ Die Zahl der Fabriken hat ſich zwar in den beiden letzten Jahrzehnten nur wenig vermehrt, dagegen der Betrieb der einzelnen Fabriken ſich ſtetig ausgedehnt. Die verarbeitete Rübenmenge war 1900/01 faſt viermal ſo groß, als im Jahre 1876/77; die pro ha geerntete Rübenmenge iſt nicht ſehr erheblich, dagegen der aus der gleichen Rübenmenge hergeſtellte Zucker um 82,8 Proz. geſtiegen. Inwieweit die Roherträge für die übrigen Feldfrüchte, namentlich für Getreide, auf die Flächeneinheit berechnet, gewachſen ſind, läßt ſich mit Sicher⸗ heit nicht feſtſtellen. Für das Getreide iſt ſchon S. 13 nachgewieſen worden, daß, ſoweit die Ernteſtatiſtik Anſpruch auf Zuverläſſigkeit machen darf, die Geſamternte in der Periode 1891—98 im Durchſchnitt pro Jahr um 14,3% ſich höher ſtellte, als in der Periode von 1880 —90. Die mit Getreide be⸗ baute Fläche hat aber von 1880 — 1900 nur um etwa 2% zugenommen (. S. 9). Was die Erträge pro Flächeneinheit angeht, ſo habe ich darüber ſchon in der erſten Auflage dieſes Buches einen Vergleich zwiſchen den Peri⸗ oden 1879—1888 und 1885 — 1894 angeſtellt. Gemäß derſelben bezifferten ji) in den 10 Jahren von 1879-1888 in ganzen Deutſchen Reiche die jährlichen Durchſchnittserträge pro ha!): für Roggen auf 9,30 Doppelzentner " Weizen 7 13,10 ” „ Gerite a OR x . Hafer 77 I 1,40 7 „ Kartoffeln , FyR 1 „ Wieſenhen „ 29 ü Dagegen ftellten ſich für das Jahrzehnt von 1885—1894 die Roh⸗ erträge pro ha?): 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 17. Jahrg., 1896, S. 30, und 24. Jahrg., 1903, S. 56 und 57. 2) Vergl. Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 12. Jahrg., 1891, S. 17. 3) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 18. Jahrg., 1897, S. 31. Die hier angeführten Durchſchnittserträge ſind von mir erſt berechnet worden. — Da erſt von 1878 ab für das Deutſche Reich eine Ernteſtatiſtik aufgenommen wurde, ſo kommen in den beiden obigen 10-jährigen Perioden die 4 Jahre vor 1885 —1888 doppelt vor. IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. 49 für Roggen auf 10,4 Doppelzentner ” W̃ en „ 1 4,01 ” ” te ” I 4,08 ” . Hafer . 1 1 774 . „ Kartoffeln „ 87,5 2 „ Wieſenhen „ 28, 8 Demnach iſt der Durchſchnittsertrag für alle genannten Feldfrüchte gen ); nur die Wieſen zeigen einen kleinen Rückgang auf. Derſelbe an der ungewöhnlichen Trockenheit und der dadurch bedingten Mißernte ieſenheu im Jahre 1893. Der Durchſchnittsertrag belief ſich in dieſem hre auf nur 19,40 Doppelzentner Heu; im folgenden Jahre, 1894, be⸗ erte er ſich auf 32,10 Doppelzentner. Wer nur einige Kenntnis von der gehabten Entwicklung unſerer Viehzucht hat, kann nicht im Zweifel dar⸗ r ſein, daß auch die Roherträge der einzelnen Tiere im Durchſchnitt ge⸗ gen ſind. Auf dieſem Gebiete iſt der Fortſchritt ſicher noch größer wie f dem der Bodennutzung. ö Das Wachstum der landwirtſchaftlichen Rohproduktion wurde, abge⸗ ſehen von der vermehrten Bildung und Einſicht in allen Schichten der länd⸗ lichen Bevölkerung, vorzugsweiſe dadurch herbeigeführt, daß die landwirt⸗ chaftlichen Unternehmer mehr Kapital in ihrem Betrieb zur Anwendung brachten. Namentlich hat der Gebrauch von künſtlichen Dungmitteln, von angekauftem Kraftfutter ſehr zugenommen, ebenſo die Benutzung von Maſchinen. Mit anderen Worten: die Urſache des erhöhten Rohertrages liegt in einer intenſiveren Geſtaltung des Betriebes und einer entſprechenden Erhöhung der Wirtſchaftskoſten. 1 Jedenfalls zeigt der bisherige Verlauf der Entwicklung, daß die prak— tiſchen Landwirte durch die in vieler Beziehung ungünſtigen Verhältniſſe nicht dazu bewogen worden ſind, zu einer extenſiveren oder weniger rationellen Betriebsweiſe überzugehen. Im Gegenteil haben ſie in ihrer Mehrzahl die in ihrem Machtbereich liegenden Mittel und Wege benutzt, um die Nachteile auszugleichen, die ihnen aus der gegenwärtigen allgemeinen wirtſchaftlichen Lage erwachſen ſind. Wenigſtens gilt ſolches von der techniſchen Hand- habung des landwirtſchaftlichen Betriebes. Dieſe ſteht auf einer bisher nicht erreichten Höhe. Man darf mit ziemlicher Beſtimmtheit behaupten, daß hierin die deutſche Landwirtſchaft mit allen anderen Kulturſtaaten un— beſchämt wetteifern kann, ja daß fie den meiſten übrigen Kulturſtaaten über- legen iſt. In keiner früheren Periode ſind Ackerbau und Viehhaltung mit ſo großer Sachkenntnis und Sorgfalt und unter Aufwendung von ſo viel Arbeit und Kapital betrieben worden, als gegenwärtig geſchieht. Allerdings bleibt noch manches zu tun übrig. Gerade in der Landwirtſchaft vollziehen ſich aus bereits dargelegten Gründen Fortſchritte nur langſam. Beſonders gilt dies für die mittleren und kleinen Betriebe, deren Leiter durchſchnittlich mit geringeren materiellen Mitteln und geringerer Bildung ausgerüſtet ſind, auch ſtärker an althergebrachten Gewohnheiten hängen, als die Leiter größerer Betriebe. Wie gewaltige Fortſchritte auch die bäuerlichen Wirtſchaften ſeit 4 der Emanzipation des Bauernſtandes, alſo ſeit Beginn des 19. Jahrhunderts 4 gemacht haben, jo iſt es doch vielfach auch mit der techniſchen Handhabung 5 derſelben noch ziemlich mangelhaft beſtellt. Es muß, kann und es wird, . 1) Auf S. 13 iſt bereits die ſtattgehabte Ertragsſteigerung für die Periode von N 1891/98 im Vergleich zur Periode von 1880/90 nachgewieſen; zur Vervollſtändigung ſchien es mir aber nötig, dieſen Nachweis hier in etwas anderer Form und für einen etwas anderen [ Zeitraum noch einmal zu erbringen. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 4 50 IV. Aufgaben des Staates im allgemeinen. wie man mit Zuverſicht behaupten darf, zukünftig hierin noch weit Beſſeres geleiſtet werden. 8 Das Hauptaugenmerk iſt aber, wenigſtens in den großen Betrieben, gegenwärtig darauf zu richten, daß für die vorhandenen wirtſchaftlichen Übelſtände Abhilfe geſucht und gefunden wird. Die hauptſächlichſten ſind: die Überſchuldung des Grund und Bodens, der damit zuſammen⸗ hängende Mangel an Betriebskapital, ſowie die unbefriedigenden Arbeiter- verhältniſſe. Für die Beſeitigung dieſer und anderer die Landwirtſchaft jetzt bedrängenden Schwierigkeiten haben die einzelnen Landwirte und die bei der ſtaatlichen Geſetzgebung und Verwaltung beteiligten Faktoren zu gemein⸗ ſamem Wirken ſich zu vereinigen ). IV. Die Aufgaben des Staates gegenüber der Tandwirtſchaft im allgemeinen. | Die wichtigen Aufgaben, welche die Landwirtſchaft im Intereſſe des ge⸗ ſamten Volkes zu erfüllen berufen iſt, legt dem Staat die Verpflichtung auf, derſelben ſeinen Schutz und ſeine Fürſorge, ſoweit es in ſeiner Befugnis und Macht liegt, ausgiebig angedeihen zu laſſen. Sie bedarf dieſer Hilfe um ſo mehr, in je ungünſtigerer Lage ſie ſich gerade befindet. Unter allen Sachverſtändigen herrſcht nun darin Übereinſtimmung, daß gegenwärtig die Landwirtſchaft eine ſchwere Kriſis durchzumachen hat und ſie deshalb in be⸗ ſonderem Grade der ſtaatlichen Unterſtützung benötigt iſt. Allerdings gehen die Anſichten darüber, was der Staat leiſten kann oder darf oder ſoll, weit auseinander. Zum Teil beruht dies auf den in der Sache ſelbſt liegenden Schwierigkeiten, zum Teil aber auch darauf, daß viele von denen, die in agrariſchen Fragen mitzuſprechen ſich berufen fühlen, dieſelben nicht gründlich genug kennen und ſich von perſönlichen Vorurteilen oder Parteiſchlagworten oder auch von einſeitigem und kurzſichtigem Egoismus leiten laſſen. Die Verkehrsverhältniſſe haben in den letzten Jahrzehnten eine durch⸗ greifende Umgeſtaltung erfahren, infolge deren eine ſtarke Abhängigkeit der wirtſchaftlichen Verhältniſſe jedes einzelnen Kulturvolkes von denen der übrigen Nationen eingetreten iſt. Wir ſind in die Periode der Weltwirt⸗ ſchaft eingetreten, das wirtſchaftliche Leben ſteht unter dem Zeichen des Verkehrs. Auch das Deutſche Reich und die deutſche Landwirtſchaft können ſich dem nicht entziehen. Wir brauchen ausländiſches Getreide und ausländiſche tieriſche Produkte, um die einheimiſche Bevölkerung zu ernähren. Der Rübenbau würde ſchwer geſchädigt, wenn wir nicht einen erheblichen Teil des bei uns erzeugten Zuckers exportieren könnten. Für die Düngung des Bodens und für die Fütterung der Tiere iſt der Bezug von Dung⸗ und Futtermitteln aus fremden Ländern den deutſchen Landwirten faſt unent⸗ behrlich. Ein großer Bruchteil der zahlreichen Bevölkerung des Deutſchen Reiches würde keine Arbeit finden und deshalb ihrer Erwerbsquelle verluſtig gehen, wenn unſere Induſtrie nicht eine erhebliche Quote ihrer Produkte in 1) Wie dies zu geſchehen hat, wird in den folgenden Abſchnitten erörtert werden. Bei der Beſprechung der einzelnen Punkte wird dann auch die Darſtellung der geſchichtlichen Entwicklung der deutſchen Landwirtſchaft und deren gegenwärtigen Zuſtandes die in dem vorliegenden Abſchnitt III nur in kurzen Zügen gegeben werden konnte, ihre notwendige Ergänzung finden. IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. 51 Ländern verkaufen könnte. Ein Abſchluß vom Weltverkehr iſt um- ); jeder Verſuch hiermit würde nicht nur für den Handel und die duſtrie, ſondern auch für die Landwirtſchaft von unheilvoller Wirkung fein. die Aufgabe kann deshalb nur darin beſtehen, daß man die Vorteile des eltverkehrs ſich möglichſt zunutze macht, die Nachteile möglichſt abzu⸗ vächen verſucht. Ihre Löſung erfordert eine gleichmäßige Berückſichtigung ſorgfältige Abwägung der verſchiedenen Intereſſen der einzelnen Er⸗ werbszweige und Bevölkerungsklaſſen. Geleugnet kann nicht werden, daß die Wünſche und Beſtrebungen öfters ſo auseinander gehen, daß man ſie bei oberflächlicher Betrachtung für unvereinbar hält. Aber der Gegenſatz iſt doch nur ſcheinbar oder vorüber⸗ gehend oder von untergeordneter Bedeutung gegenüber den viel wichtigeren emeinſamen Intereſſen. Beſonders häufig wird die Behauptung ausgeſprochen, aß ein Widerſtreit zwiſchen der Induſtrie und der Landwirtſchaft beſtehe. Nach gewiſſen Richtungen hin iſt ein ſolcher auch vorhanden. Jene wünſcht niedrige, dieſe hohe Preiſe für Getreide, Fleiſch und andere Nahrungs- mittel; jene ſucht möglichſt viele Arbeitskräfte aus der Landbevölkerung her— anzuziehen, dieſe beklagt ſich über den ſtarken Abzug der Landarbeiter nach den Städten und Induſtriebezirken. Hierin liegen gewiß Gegenſätze. Anderer- ſeits muß es aber als unzweifelhaft betrachtet werden, daß, je mehr die In⸗ diuſtrie blüht, je zahlreicher und wohlhabender die induſtrielle Bevölkerung it, deſto leichter der Abſatz für landwirtſchaftliche Produkte wird, deſto höher deren Preis ſich ſtellt und in deſto größerer Menge namentlich auch Er⸗ m gengnifle beſonders guter Qualität zu beſonders hohen Preiſen verkauft werden können. Erinnert ſei z. B. an feine Tafelbutter, an Maſtvieh, an Gemüſe * und Obſt. Umgekehrt hat die Induſtrie ein großes Intereſſe daran, daß es der Landwirtſchaft gut geht, daß die Großgrundbeſitzer und Bauern hohe Reinerträge erzielen, daß die ländlichen Arbeiter ſtetigen und hohen Lohn⸗ verdienſt haben. Je mehr ſolches der Fall, in deſto größerer Menge und in deſto beſſerer Qualität wird die Landbevölkerung induſtrielle Erzeugniſſe käuflich erwerben. Dieſe Gemeinſchaft der Intereſſen findet durch die tat- ſächlichen Erſcheinungen ihre Beſtätigung. Im Deutſchen Reich ſteht die Sache ſo, daß die Landwirtſchaft dort am meiſten Not leidet, wo die In⸗ bdiuſtrie wenig entwickelt und eine ſchwache induſtrielle oder ſtädtiſche Be— völkerung vorhanden iſt; hier ſind die Preiſe der landwirtſchaftlichen Pro- dukte am niedrigſten, hier iſt der Mangel an Landarbeitern am fühlbarſten. Von hier erſchallen erklärlicher Weiſe auch die lauteſten Klagen über die gegenwärtige Ungunſt der Verhältniſſe. Es ſind die an Induſtrie und an violkreichen Städten relativ armen Bezirke des nordöſtlichen Deutſchlands. In den induſtrie⸗ und ſtädtereichen Teilen des weſtlichen und ſüdweſtlichen Deutſch— lands leidet die Landwirtſchaft allerdings auch unter den zur Zeit unerfreu— lichen Zuſtänden, aber doch nicht in dem gleichen Grade wie dort. Hier iſt man auch in allen Schichten der ländlichen wie der ſtädtiſchen Bevölkerung davon überzeugt, daß die beiderſeitigen Intereſſen mehr übereinſtimmen, als im Wiederſtreit ſtehen, und daß deshalb in wirtſchaftlichen Fragen ein Zu— ſammengehen ſich empfiehlt ). Das gegenſeitige Abhängigkeitsverhältnis zwiſchen der Land— wirtſchaft und den übrigen Gewerbszweigen macht die richtige Be— | urteilung und Löſung agrariſcher Fragen beſonders ſchwierig. Welche Wir- 5 kung z. B. die Einführung des obligatoriſchen oder fakultativen Anerben— 1) Vgl. hierzu: Traugott Müller, Induſtrieſtaat oder Agrarſtaat in dem Mentzel und v. Lengerkeſchen landw. Kalender für 1902, II. Teil, S. 55—85. 4* 52 VI. Aufgabe des Staates im allgemeinen. rechtes, eine direkte oder indirekte Beſchränkung der e eine &= höhung der Einfuhrzölle für Getreide oder Vieh und tieriſche Produkte, eine | Anderung in der Beſteuerung bei der Rübenzucker- oder der Spiritusfabri⸗ kation auf die Volkswirtſchaft im ganzen und auf die einzelnen Erwerbs⸗ und Bevölkerungsgruppen ausüben werden, läßt ſich im voraus niemals ge⸗ nau beſtimmen. Auch ein annähernd zutreffendes Urteil iſt nur demjenigen möglich, der eine umfaſſende Kenntnis von den in Frage kommenden tat⸗ ſächlichen Zuſtänden und von den wichtigſten Lehren der Nationalökonomie beſitzt. Beides vereint iſt aber nicht gerade häufig zu finden. Leicht erklär⸗ lich iſt es daher, wenn über agrariſche Fragen ſo widerſprechende Meinungen geäußert, nicht ſelten auch ganz verkehrte Forderungen aufgeſtellt werden. Viele, im übrigen ſehr gebildete Stadtbewohner ſind über das eigentümliche Weſen des landwirtſchaftlichen Gewerbes gar nicht orientiert; ſie verkennen namentlich die ausſchlaggebende Bedeutung des Umſtandes, daß der Land⸗ wirt durch die unveränderlichen natürlichen Verhältniſſe in ſeinem Betriebe an beſtimmte, ziemlich enge Grenzen gebunden iſt. Andererſeits ſind die Land⸗ wirte leicht geneigt, ſich als eine allein ſtehende Erwerbsgruppe zu betrachten und zu vergeſſen, daß ihre Forderungen nur inſoweit auf Erfüllung rechnen dürfen, als ſie mit unabweisbaren Anſprüchen anderer Bevölkerungsklaſſen nicht in unverſöhnlichem Gegenſatz ſtehen. Solange die Landwirtſchaft blühte, auch in der Lage war, den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung an Nah⸗ rungsmitteln vollauf zu befriedigen, gingen ihre Vertreter und die der In⸗ duſtrie und des Handels gewiſſermaßen nebeneinander her, als wenn ſie nichts miteinander zu tun hätten. Dadurch haben ſie wenigſtens in ſehr vielen Teilen des Deutſchen Reiches die notwendige Fühlung, welche zu An⸗ fang des 19. Jahrhunderts vorhanden, war, miteinander verloren. Aber gerade in der Periode, in welcher der Übergang von der Nationalwirtſchaft zur Weltwirtſchaft ſich vollzog, wäre die gegenſeitige Verſtändigung und das Zuſammenarbeiten beſonders nötig geweſen. Jetzt haben die landwirtſchaft⸗ lichen Reinerträge und die materielle Lage der einzelnen Landwirte einen Rückgang erlitten, während gleichzeitig die Landwirtſchaft nicht mehr imſtande iſt, den Anſprüchen der ſtark gewachſenen Bevölkerung an Nahrungsmitteln nachzukommen. Infolge der ſtattgehabten Entfremdung ſtehen zur Zeit die Vertreter der verſchiedenen Erwerbsgruppen ſich oft gegenüber wie Perſonen, die eine ganz verſchiedene Sprache reden. In den allerletzten Jahren iſt allerdings eine Beſſerung eingetreten, aber doch noch lange nicht in dem Grade, als es im Intereſſe des Geſamtwohles wünſchenswert wäre. Er⸗ ſchwert wird die unumgänglich notwendige Verſtändigung durch den über⸗ mächtigen und unheilvollen Einfluß, welchen das Parteiweſen über einen großen Teil der Bevölkerung gewonnen hat. Gerade den verſtändigſten und beſonnenſten Männern wird es dadurch oft unmöglich gemacht, ihre Anſicht zur Geltung zu bringen; nicht wenige von ihnen, durch das in Demagogen⸗ tum ausartende Parteitreiben angeekelt, haben der Beteiligung am öffent⸗ lichen Leben ſich gänzlich entzogen. Je ſchwieriger und beſtrittener die zu entſcheidenden Fragen ſind, je größer die Gefahr iſt, daß ihre Erledigung im Sinne von ſachunkundigen oder von ſolchen Männern erfolgt, denen die Partei oder das perſönliche Intereſſe höher wie das Wohl des Vaterlandes und des Volkes ſteht, deſto bedeutungsvoller und verantwortungs reicher wird die dem Staate dabei zufallende Aufgabe. Ihm liegt es ob, die Intereſſen aller Erwerbszweige und Bevölkerungsgruppen gleichmäßig zu berückſichtigen und nicht nur für die Gegenwart zu ſorgen, ſondern auch die Zukunft im Auge zu behalten. Die einzelnen Menſchen ſind vergänglich und leicht geneigt, nur das zu er⸗ IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. 53 „ was ihnen für den Augenblick oder für ihre Lebenszeit vorteilhaft unbekümmert um das, was nach ihnen folgt. Der Staat iſt unſterblich muß bei allen ſeinen Anordnungen nicht bloß deren augenblickliche, n auch, und zwar dies vorzugsweiſe, deren dauernde Wirkungen berück— en. Gerade für die Agrarpolitik iſt dies wichtig, weil in der Land⸗ alle Entwicklungen nur ſehr langſam ſich vollziehen und weil die n von vorgenommenen Maßregeln oft erſt nach Jahren und gar nach rzehnten klar und vollſtändig zutage treten. Für den Staat iſt es ein dot der Pflicht, den Forderungen derjenigen Widerſtand zu leiſten, die ihm die Beſeitigung von Schwierigkeiten oder Notſtänden durch Mittel egehren, von denen er ſich jagen muß, daß fie zwar zeitweilig einzelnen oder uch vielen Perſonen eine gewiſſe Hilfe darbieten, die aber in ihren ſpäteren olgen ſich als unheilvoll erweiſen werden. Ihm liegt es auch ob, ſorg⸗ g zu prüfen, welche verſchiedenartige Wirkungen eine ſeinerſeits geplante von ihm begehrte Maßregel auf die Landwirtſchaft im ganzen ſowohl ie auf die einzelnen Gruppen der ländlichen Bevölkerung voraus— ichtlich ausüben wird. Hierzu iſt ganz beſondere Vorſicht und Umſicht nötig, da gerade in der Gegenwart manche Dinge als Heilmittel angeprieſen werden, die zwar dieſen oder jenen Perſonen vorübergehend nützen, dagegen andere und die Landwirtſchaft im ganzen auf die Dauer ſchädigen. Wenn von der Lage der Landwirtſchaft und von den Mitteln zu ihrer Beſſerung geſprochen wird, muß man ſich vor allem vergegenwärtigen, daß der Ausdruck „Landwirtſchaft“ in doppelter Bedeutung gebraucht wird. Man verſteht darunter entweder die Landwirtſchaft als einen Zweig der volkswirtſchaftlichen Produktion oder die Landwirtſchaft trei— bende Bevölkerung. Zwiſchen beiden ſind zwar ſehr nahe Beziehungen, aber ſie dürfen doch nicht identifiziert werden. Die deutſche Landwirtſchaft aals Gewerbebetrieb hat die Aufgabe, auf der einmal gegebenen Bodenfläche möglichſt viel Produkte zu erzeugen, alſo einen möglichſt hohen Roh— ertrag zu gewinnen, um den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung an Bodenerzeugniſſen einigermaßen befriedigen zu können. Von dieſem Stand— punkte aus betrachtet, leidet die deutſche Landwirtſchaft zur Zeit feine Not; im Gegenteil ſie blüht wie nie zuvor. Die Roherträge aus Ackerbau und Viehhaltung ſind höher, als ſie jemals geweſen ſind; hierüber iſt früher bereits ausführlich gehandelt worden (. S. 47 ff.). Anders ſteht es mit der Landwirtſchaft treibenden Bevölkerung; aber auch dieſe bildet nicht eine gleichartige Maſſe, ſondern umfaßt ſehr ver— ſchiedenartige Elemente, deren Bedürfniſſe und Wünſche keineswegs immer übereinſtimmen. Zwei Hauptgruppen laſſen ſich unterſcheiden: die ſelb— ſtändigen Landwirte oder die landwirtſchaftlichen Unternehmer und die ländlichen Arbeiter. Zwiſchen beiden gibt es allerdings manche Übergangsſtufen. Die Unternehmer (Befiger oder Pächter), welche man gewöhnlich ausſchließlich meint, wenn man von Landwirten ſpricht, haben zunächſt nur 4 ein Intereſſe daran, einen möglichſt hohen Reinertrag zu erzielen, d. h. die 5 durch den Grund und Boden und die Betriebsmittel repräſentierten Kapitalien . möglichſt hoch zu verzinſen. Die energiſche Wahrnehmung dieſes Intereſſes iſt nicht nur ihr Recht, ſondern ebenſo ihre Pflicht. Ein hoher Rohertrag bildet allerdings die Vorausſetzung für einen hohen Reinertrag und inſofern ſind die Intereſſen des Staates und der einzelnen Landwirte gleichlaufend. Indeſſen iſt die Quote, welche vom Rohertrage nach Abzug der Wirtſchafts— koſten als Reinertrag übrig bleibt, eine ſehr verſchiedene. Durchſchnittlich iſt ſie größer bei extenſivem als bei intenſivem Betrieb. Da nun die Wirtſchafts— 54 IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. koſten im Verhältnis zum Rohertrag gegenwärtig ſehr hoch ſind, ſo liegt, namentlich für die ſtark verſchuldeten und kapitalarmen Landwirte, die Ver⸗ ſuchung nahe, zu einer extenſiveren Betriebsweiſe überzugehen, was für den Staat und die Volkswirtſchaft ein Unglück wäre. Daß bis jetzt nur ein geringer Teil der Landwirte dieſer Verſuchung erlegen iſt, daß im Gegenteil der landwirtſchaftliche Betrieb ein fortdauernd intenſiverer geworden iſt, wurde bereits S. 8 ff. und S. 47 ff. nachgewieſen. Ob auf einem beſtimmten Gute ein mehr extenſiver oder mehr intenſiver Betrieb zweckmäßig iſt, richtet ſich zunächſt zwar nach den vorhandenen natürlichen (Boden und Klima) und wirtſchaftlichen Verhältniſſen; aber dieſe laſſen doch in allen Fällen dem Landwirt noch einen großen Spielraum. Vielfältige, in Vergangenheit und Gegenwart gemachte Erfahrungen haben bewieſen, daß diejenigen Landwirte den abſolut höchſten Reinertrag erzielen, die für ihren Betrieb die intenſipſte, nach den örtlichen Verhältniſſen überhaupt zuläſſige Organiſation gewählt haben. Wer freilich ſeinem Betrieb eine intenſive Geſtalt gibt, ohne im Beſitz der dazu erforderlichen geiſtigen und moraliſchen Kräfte ſowie der nötigen materiellen Mittel ſich zu befinden, wird ſchlechte Geſchäfte machen. Ein ſolcher tut beſſer, wenn er extenſiv wirtſchaftet und zwar nicht deshalb, weil es an und für ſich vorteilhafter, ſondern weil es ſeinen perſönlichen Verhältniſſen, d. h. ſeinen ungenügenden Kräften und Mitteln angemeſſener iſt. Die zur Ausübung ihres Berufes allſeitig ausgerüſteten Landwirte haben tatſächlich ein faſt ebenſo großes Intereſſe an der Erzielung eines hohen Rohertrages wie an der eines hohen Reinertrages. Wenngleich letzterer ihren eigentlichen Endzweck bildet, ſo iſt doch der erſtere das notwendige Erfordernis zu deſſen Erreichung. Ein Zahlenbeiſpiel möge das Geſagte näher verdeutlichen. Dasſelbe iſt zwar fingiert, entſpricht aber durchaus den tatſächlich vorkommenden Ver⸗ hältniſſen. Es ſtellt den Rohertrag, die Wirtſchaftskoſten und den Rein⸗ ertrag ein und desſelben Gutes dar, je nach dem dasſelbe in mehr intenſiver oder in mehr extenſiver Weiſe bewirtſchaftet wird. Wirtſchaftskoſten Betriebsart Rohertrag abſolut in Proz. des Reinertrag M. M Rohertrages M. intenſiv 10 000 7 500 75 2 500 extenſiv 6 000 4 000 66?/, 2 000 Der intenfive Betrieb bringt nach dieſem Beiſpiel einen um 4000 ME. höheren Rohertrag und einen um 500 Mk. höheren Reinertrag, als der extenſive; bei jenem betragen die Wirtſchaftskoſten /, bei dieſem / des Rohertrages. Während der beiden letzten Jahrzehnte ſind die Roherträge in der Landwirtſchaft geſtiegen, die Reinerträge in ſehr vielen Fällen geſunken. Einem weiteren Sinken der Reinerträge kann aber nicht durch eine extenſivere Geſtaltung der Betriebsweiſe, ſondern viel eher durch eine intenſivere vor⸗ gebeugt werden. Alſo auch nach dieſer Richtung hin iſt kein Widerſtreit, ſondern eine Übereinſtimmung zwiſchen den privatwirtſchaftlichen und den volkswirtſchaftlichen bezw. ſtaatlichen Intereſſen. Die Übereinſtimmung wird noch dadurch verſtärkt, daß es dem Staate keineswegs gleichgiltig ſein kann, ob der Landwirt hohe oder niedrige Reinerträge erzielt. Je höher dieſelben ſind, deſto mehr wächſt die Wohlhabenheit der landwirtſchaftlichen Bevölke⸗ rung, ihre Steuerkraft, ihre Opferwilligkeit und Opferfähigkeit für öffentliche Zwecke, ihre Zufriedenheit, ihre Heimats- und Vaterlandsliebe. Er darf deshalb die Tatſache nicht ignorieren, daß die Landwirte gegenwärtig in er⸗ heblich ungünſtigerer Lage ſich befinden, als in dem der jetzigen Kriſis vor⸗ IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. 55 angenen Menſchenalter; daß viele ſogar in große Not, manche andere its in Vermögensverfall geraten ſind. Es erwächſt ihm hieraus die gabe und Verpflichtung, ſoweit es in ſeinen Kräften ſteht, darauf hin⸗ ren, daß für die landwirtſchaftlichen Unternehmer wieder beſſere Zeiten Dießungeachtet iſt es aber nicht zuläſſig, die Landwirtſchaft als Ge⸗ berbebetrieb für identiſch mit den einzelnen landwirtſchaftlichen Unternehmern betrachten. Die landwirtſchaftliche Produktion nimmt ihren Fortgang, g es den Landwirten ſchlecht oder gut gehen. Das Intereſſe der Ge— heit erfordert gebieteriſch, daß die vorhandene Bodenfläche bebaut und aß ſie bei ſtarker Bevölkerung intenſiv ausgenutzt wird. Da nun bei einer rationellen Handhabung und einer den Verhältniſſen entſprechenden Inten⸗ ſivität des Betriebes abſolut ſowohl die höchſten Roherträge wie die höchſten teinerträge gewonnen werden, alſo die Zwecke des Staates wie der Land— wirte in gleicher Weiſe am beſten erreicht werden, ſo iſt es eine notwendige Konſequenz, daß bei freiem Wettbewerb die Bodenbewirtſchaftung in die . derjenigen gelangen muß, welche jenen Forderungen am meiſten nach- men. Sich hierüber klar zu werden, liegt im eigenſten Intereſſe der landwirtſchaftlichen Unternehmer. Der Staat kann nicht jedem derſelben eine beſtimmte Rente oder beſtimmte Zinſen von den angelegten Kapitalien ge währleiſten. Noch weniger kann er denjenigen zu Hilfe kommen, die aus Mangel an Kenntniſſen oder an materiellen Mitteln oder an ſittlichen, un- umgänglich erforderlichen Eigenſchaften mit negativem Erfolg ihr Gewerbe betreiben. Dies gilt für die landwirtſchaftlichen ebenſo wie für alle ſonſtigen Unternehmer. Dabei ſoll nicht verkannt werden, daß ein häufiger oder maſſenhafter Wechſel in den Perſonen der Gutsbeſitzer oder deren Familien auch im Intereſſe des Staates keineswegs wünſchenswert iſt; namentlich dann nicht, wenn derſelbe durch eine finanzielle Notlage der Beſitzer herbeigeführt wurde. Denn dem ſchließlich ſtattfindenden freiwilligen oder gezwungenen Verkauf eines Gutes pflegt in ſolchen Fällen eine kürzere oder längere Periode ſchlechter Bewirtſchaftung voranzugehen, wodurch der Roh- wie der Reiner: trag gemindert wird. Die Geſchichte der deutſchen Landwirtſchaft im 19. Jahrhundert zeigt zwar, daß das Eintreten von Perſonen aus ſtädtiſchen Kreiſen in die Klaſſe der landwirtſchaftlichen Unternehmer der Entwicklung der Landwirtſchaft mehr genützt als geſchadet hat; nicht zum mindeſten des— N halb, weil dadurch auch die bereits in altem Beſitz befindlichen Landwirte * angeſpornt oder genötigt wurden, ihre Kräfte möglichſt zuſammenzunehmen, Am die Konkurrenz mit den geſchäftlich oft beſſer geſchulten Rivalen beſtehen 14 zu können. Aber die Zuführung ſtädtiſchen Blutes in die Klaſſe der land— * wirtſchaftlichen Unternehmer darf doch nur langſam und allmählich geſchehen; andernfalls geraten der landwirtſchaftliche Betrieb und die ländliche Be⸗ völkerung in Gefahr, ihren durch die Natur der Sache gegebenen, durch jahrhundertelange Erfahrung und Tradition bewährten und gewiſſermaßen geheiligten Charakter zu verlieren. Der Staat ſoll daher einen Wechſel in der Perſon der Grundbeſitzer eher hintanhalten, als begünſtigen. Aber er darf es nicht als ſeine Aufgabe betrachten, denſelben * erſchweren oder gar gu verhindern, ſolange und ſofern dadurch nicht die landwirtſchaftliche Pro- uftion oder ganze Gruppen der ländlichen Bevölkerung Schaden leiden. Bis zu dieſem Punkte hin ſoll er vielmehr der von ſelbſt ſich vollziehenden Ent— wicklung freien Spielraum gewähren. Das bisher Geſagte gilt in bezug auf alle landwirtſchaftlichen Unter⸗ nehmer. Dieſelben ſetzen ſich aber aus ſehr verſchiedenen Gruppen zuſammen, 56 IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. deren Lage, Bedürfniſſe und Wünſche nach manchen Richtungen hin ausein⸗ 1 andergehen. Man kann drei Hauptgruppen unterſcheiden, zwiſchen denen 9 es allerdings manche Übergangsſtufen gibt: die Groß grundbeſitzer, die Bauern und die Kleinſtellenbeſitzer. Da in ſpäteren Abſchnitten dieſes Buches noch ausführlich über die einzelnen Klaſſen gehandelt werden muß h, jo ſoll hier nur durch wenige Beiſpiele angedeutet werden, wie verſchieden⸗ artig die Intereſſen derſelben ſein können. Von hohen Getreidepreiſen bezw. Getreidezöllen hat der Großgrundbeſitzer einen ſehr erheblichen, der Groß⸗ bauer einen ſchon geringeren, der Kleinbauer und vollends der Parzellenbe⸗ ſitzer gar keinen Vorteil oder gar einen Schaden. Daß Rübenzucker und Spiritus nicht zu niedrig im Preiſe ſtehen und nicht zu hoch beſteuert werden, iſt für manche Großgrundbeſitzer eine Exiſtenzfrage; andere Groß⸗ grundbeſitzer, ebenſo die weit überwiegende Mehrzahl der Bauern und der leinbeſitzer werden davon gar nicht berührt, oder ſie haben umgekehrt an niedrigen Preiſen und hoher Beſteuerung ein Intereſſe. Aus dem letzten Beiſpiel geht ſchon hervor, daß auch innerhalb derſelben Gruppe die Be⸗ dürfniſſe und Wünſche nicht immer die gleichen ſind. N Es hängt dies weſentlich von der Organiſation der einzelnen Wirt⸗ ſchaften und namentlich davon ab, durch welchen Vetriebszweig der Ertrag hauptſächlich bedingt wird. Wirtſchaften mit vorherrſchendem Getreidebau müſ⸗ ſen natürlich ein großes Gewicht auf angemeſſen hohe Getreidepreiſe legen; Viehwirtſchaften, beſonders Weidewirtſchaften haben eher den entgegengeſetzten Wunſch. Für Betriebe, die Magervieh zum Mäſten oder Jungvieh zum Aufziehen von dem Auslande zu beziehen pflegen, ſind Einfuhrzölle oder ſonſtige Einfuhrerſchwerungen oder gar Einfuhrverbote von Nachteil, für andere Betriebe ebenſo von Vorteil. Die Intereſſen der einzelnen Unternehmer⸗ gruppen und innerhalb derſelben die der einzelnen Unternehmer kreuzen ſich in der mannigfaltigſten Weiſe. Auch diejenigen der weſtdeutſchen Landwirte gehen mit denen der oſtdeutſchen nicht immer Hand in Hand; in dem deut⸗ ſchen Landwirtſchaftsrat ſowohl wie in dem preußiſchen Landesökonomiekolle⸗ gium iſt dies öfters von zweifellos ſachkundiger Seite ausgeſprochen worden. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß für die Agrarpolitik gerade in dem Widerſtreit der mehr oder minder berechtigten Anſprüche der einzelnen landwirtſchaſtlichen Unternehmer eine beſonders große Schwierigkeit liegt. Die zahlreichſte Klaſſe der ländlichen Bevölkerung wird durch die land— wirtſchaftlichen Arbeiter gebildet, wenigſtens wenn man zu ihr auch die⸗ jenigen Kleinſtellenbeſitzer rechnet, die von dem Ertrage ihres Bodens allein nicht leben können, ſondern außerdem landwirtſchaftlichen Lohnerwerb ſuchen müſſen. Die Intereſſen der letzteren gehen mehr mit denen der reinen Lohn⸗ arbeiter wie mit denen der Bauern Hand in Hand. Über die Landarbeiter wird ſpäter ausführlich zu handeln ſein. Daß der Staat ihnen als der zahlreichſten und wirtſchaftlich ſchwächſten Klaſſe der Landbevölkerung ſeine Sorgfalt in beſonderem Grade zuwenden muß, darf als ſelbſtverſtändlich be⸗ trachtet werden. Nimmt man lange Zeiträume, ſo kann man vielleicht ſagen, daß die wahren und dauernden Intereſſen von Arbeitern und Unternehmern zuſammen⸗ oder doch nicht weit auseinandergehen. Für die jedesmalige Gegenwart und für den einzelnen Fall trifft dies aber nicht zu. Der Ar⸗ beiter wünſcht z. B. hohen Lohn und dauernde Beſchäftigung während des ganzen Jahres; der Unternehmer dagegen wünſcht niedrigen Lohn und die Möglichkeit, Arbeiter gerade in ſolcher Menge und Art beſchäftigen zu können oder zu müſſen, als der ſtark wechſelnde Bedarf an Arbeitskräften während 1) Siehe Abſchnitt IX. IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. 57 zelnen Jahreszeiten und Tage es für ihn vorteilhaft erſcheinen läßt. manche andere Gegenſätze ſind vorhanden, auf die hier nicht näher ein⸗ werden ſoll. Aus dem Geſagten geht ſchon hinreichend deutlich r, daß der Staat bei ſeinen agrarpolitiſchen Maßregeln deren Wirkung nur 5 die Unternehmer, ſondern auch auf die Arbeiter in Rechnung muß. An das Eingreifen des Staates in das wirtſchaftliche Leben werden egenwärtig oft ſehr übertriebene Forderungen geſtellt; jede Bevöl— kerungsklaſſe verlangt von ihm, daß er ſeine Geſetzgebung und Verwaltung nach ihren ſpeziellen Wünſchen und Bedürfniſſen einrichten ſoll. In be em Maße trifft dies für die jetzt im Vordergrund ſtehenden agrariſchen en zu, bezüglich deren Behandlung die entgegengeſetzteſten Anſprüche an ı Staat gemacht werden. Dieſelben ſind faſt ſämtlich mehr oder weniger gründet, ſie leiden aber häufig an dem Fehler, daß ſie ohne Verletzung derer ebenſo wichtiger oder noch wichtigerer Intereſſen ſich nicht durch— ven laſſen. Eine der ſchwierigſten Aufgaben des Staates auf agrarpo- litiſchem Gebiet iſt es und wird es immer bleiben, daß er bei jeder einzelnen Maßregel und vor deren Durchführung darüber ins klare zu kommen ſuchen muß, welche verſchiedenartigen Wirkungen dieſelbe vorausſichtlich haben wird. Auf drei Punkte muß er dabei ſein Augenmerk beſonders richten. CErſtens hat der Staat zu unterſcheiden zwiſchen der Landwirtſchaft als Gewerbebetrieb und zwiſchen der ländlichen Bevölkerung. Die nicht Landwirtſchaft treibende Bevölkerung, welche jetzt etwa der Geſamtbe— völkerung repräſentiert, hat das Verlangen, daß auf dem heimiſchen Boden moöglichſt viele Produkte erzeugt werden, und fragt an und für ſich nicht da- nach, wie die ökonomiſche Lage der einzelnen Landwirte ſich geſtaltet. Für die letzteren iſt aber gerade dies die Hauptſache, während fie an der Ver— ſorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nur ein untergeordnetes In— tereſſe haben. Der Staat ſoll beides in gleichem Grade berückſichtigen. Zweitens muß der Staat unterſcheiden zwiſchen den einzelnen Gruppen der ländlichen Bevölkerung, alſo zwiſchen Großgrundbeſitzern, Bauern bezw. mittleren und kleinen Grundbeſitzern, und ländlichen Arbeitern. Was dem einen nützt oder ſchadet, trifft nicht immer auch in gleicher Weiſe die anderen. Die Fürſorge des Staates iſt allen zuzuwenden und den ſchwächeren Gliedern am meiſten. Drittens endlich iſt zu unterſcheiden zwiſchen den einzelnen Teilen des Deutſchen Reiches und zwar dies ſowohl be— züglich des landwirtſchaftlichen Gewerbebetriebes wie bezüglich der einzelnen Gruppen der ländlichen Bevölkerung. Was für den Oſten paßt, eignet ſich nicht immer für den Weſten und umgekehrt. Gegenden, in denen der Schwer— punkt der Wirtſchaft in der Viehhaltung liegt, ſtellen andere Anforderungen, als ſolche, wo die Erzeugung von Getreide die Hauptſache bildet. Bezirke mit vorwiegendem Großgrundbeſitz wollen anders behandelt ſein, als ſolche mit vorwiegendem bäuerlichen oder Parzellenbeſitz de. Welche praktiſchen Folgerungen aus den hier genannten Geſichtspunkten zu ziehen ſind, wird ſpäter im einzelnen darzulegen ſein. Bei der Mannig- faltigkeit und Verſchiedenartigkeit der zu berückſichtigenden Intereſſen kann der Staat nur dann zu einer, dem Geſamtwohl förderlichen Agrarpolitik ge— langen, wenn er dabei von ganz beſtimmten, in ſich harmoniſchen Grund— ſätzen ausgeht und dieſe konſequent innehält. Die wichtigſtens davon ſind folgende. | Allen anderen voran iſt der zu jtellen, daß die agrarpoli— tiiſche Tätigkeit des Staates eine erziehende ſein muß. Ein land— 0 wirtſchaftliches Unternehmen kann nur mit vollem Erfolg betrieben werden, 58 IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. wenn der Dirigent freie Hand hat, um in jedem Augenblick die der Sach⸗ lage entſprechende Maßregel ergreifen zu können. Wo möglich, ſollen auch der Betriebsleiter und der Unternehmer in einer Perſon vereinigt ſein; der | beſoldete Adminiſtrator hat an der Rentabilität des Betriebes kein jo großes Intereſſe wie der ſelbſt wirtſchaftende Gutsbeſitzer oder Pächter (vergl. hierzu S. 31 ff.). Deshalb würde es auch verkehrt ſein, wenn der Staat den ganzen Grundbeſitz an ſich zöge und durch ſeine Beamten bewirtſchaften ließe, oder wenn er auch nur ein Aufſichtsrecht über die einzelnen Privatbeſitzer ausübte !). Den Staatsbeamten würde das erforderliche perſönliche In⸗ tereſſe, häufig auch die nötige Sachkenntnis fehlen; man müßte ſie ferner durch beſtimmte allgemeine Vorſchriften in der Ausübung ihrer Wirkſamkeit in einer Weiſe beſchränken, daß dadurch deren Erfolg beeinträchtigt würde. In geringerem Grade gilt dies von jeder ſtaatlichen Tätigkeit, die den ein⸗ zelnen Privatunternehmer in ſeiner Wirtſchaftsführung beengt. Unbegrenzte Freiheit darf der Staat freilich nicht gewähren; aber er muß ſeine Eingriffe in die Wirkſamkeit des Individuums auf das notwendige Maß beſchränken. Dieſes notwendige Maß iſt kein abſolutes und gleichbleibendes, ſondern ein nach Zeit und Ort ſehr verſchiedenes. Je ſtärker die Wohlhabenheit, die Intelligenz, der Gemeinſinn und die Opferwilligkeit unter der ländlichen Be⸗ völkerung entwickelt ſind, deſto mehr kann er dieſer die Sorge für ihre eige- nen Angelegenheiten überlaſſen. Ihm ſelbſt bleibt trotzdem noch ein weites Gebiet fruchtbarer Tätigkeit. Denn je mehr Kapital, Scharfſinn und Fleiß auf die Landwirtſchaft verwendet werden, deſto komplizierter geſtalten ſich die landwirtſchaftlichen Zuſtände, deſto mehr neue Aufgaben treten ganz von ſelbſt an den Staat heran. Wenn er nicht erdrückt werden ſoll unter der Laſt der an ihn geſtellten Anforderungen, ſo muß er einen Teil der von ihm in früheren, weniger vorgeſchrittenen Perioden geübten Tätigkeit nunmehr den direkt dabei Beteiligten überlaſſen. Sein Beſtreben ſoll demzufolge da⸗ rauf gerichtet ſein, die Landwirte daran zu gewöhnen und, ſoweit es in ſeinen Kräften liegt, dazu zu befähigen, die Beſorgung ihrer Angelegenheiten in möglichſt großem Umfange ſelbſt in die Hand zu nehmen. Das iſt es, was ich unter der erzieheriſchen Aufgabe des Staates verſtehe. Wie es die wichtigſte Aufgabe der Eltern iſt, ihre Kinder mit ſolchen Kenntniſſen und einer ſolchen Willensrichtung auszuſtatten, daß ſie nach vollendeter Erziehung die erlangte Freiheit vernünftig gebrauchen und ohne elterliche Leitung in dem erwählten Beruf etwas Tüchtiges leiſten können, ſo muß es auch das ganz beſondere Beſtreben des Staates ſein, auf die Landwirte derartig ein⸗ zuwirken, daß er ihnen in immer ausgedehnterem Maße wirtſchaftliche Frei⸗ heit gewähren darf, und daß ſie in den Stand geſetzt werden, ihre Berufs⸗ pflichten in ſtetig vollkommenerer Weiſe ſelbſtändig zu erfüllen. Von allen weiſen Fürſten und Staatsmännern iſt auch dieſe Aufgabe richtig erkannt und danach gehandelt worden, mögen ſie gleich im einzelnen manche Fehlgriffe gemacht haben. Friedrich der Große war zu der richtigen Überzeugung gelangt, daß die damals geübte Wirtſchaftsweiſe nicht mehr den Anforderungen der Zeit entſpreche, daß ſie nach vielen Richtungen hin einer gründlichen Reform bedürfe. In Anbetracht der materiell gedrückten Lage und der geringen geiſtigen Entwicklung der bäuerlichen Bevölkerung ſowie in Anbetracht des Umſtandes, daß auch nur bei einem ſehr kleinen Teil der Rittergutsbeſitzer ein Verſtändnis für das, was der Landwirtſchaft 1) Inwieweit es wünſchenswert iſt, daß der Staat einen Teil des Grundbeſitzes für ſich zurückbehält, oder daß er gar ſelbſt ats landwirtſchaftlicher Unternehmer auftritt, ſoll in dem folgenden Abſchnitt dargelegt werden. e IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. 59 ötig war, ſich kundgab, griff er zu Maßregeln, die man in der Gegenwart rößtenteils als ganz außerhalb der ſtaatlichen Wirkſamkeit ſtehend betrachten Durch Landdragoner nötigte er die Bauern, Kartoffeln zu pflanzen; eilte unter ſie Gras- und Kleeſamen und zwang fie zum Futterbau dem Ackerlande. Auf den Domänen und Domänendörfern mußte jähr⸗ eine beſtimmte Anzahl von Obſtbäumen und Nutzhölzern gepflanzt, die bgängig gewordenen durch neue erſetzt werden. Wo die Verhältniſſe dazu ngezeigt ſchienen, befahl er den Anbau von Tabak oder Hopfen oder die Anlage von Maulbeerhecken als unentbehrliches Hilfsmittel für die von ihm begünſtigte Seidenraupenzucht. Aus den Niederlanden und Groß— annien führte er in großen Mengen gute Rindviehraſſen, aus Spanien erinoſchafe ein, zur Hebung der ſehr darniederliegenden Viehzucht in ſeiner nen Monarchie. Das verjumpfte Oder: und Warthebruch legte er trocken nd ſchaffte dadurch eine ausgedehnte Fläche fruchtbarſten Landes, in der ele Tauſende von Koloniſten angeſiedelt wurden und eine ihren Bedürfniſſen durchaus entſprechende geſicherte Exiſtenz fanden. Kein einzelner Mann im fr en Deutſchen Reiche hat in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr für den Fortſchritt der Landwirtſchaft getan, als Friedrich der Große. Durch eine bewußter⸗ und ausgeſprochenermaßen pädagogiſche Wirkſamkeit hat er an der im Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgten Umgeſtaltung des land— wirtſchaftlichen Betriebes, die von ſo bedeutenden und erfreulichen Erfolgen für die einzelnen Landwirte und für den Staat begleitet geweſen iſt, in hohem Grade mitgewirkt. Ein ſo tiefes und oft ſcharfes Eingreifen, wie es Friedrich der Große geübt hat, war ſpäter nicht mehr nötig, wäre auch vom Übel geweſen. Die Landwirte waren durch den großen König mit manchen wichtigen Neuerungen bekannt gemacht, ſtellenweiſe ſogar zu deren Einführung gezwungen worden; fie hatten nun die Gelegenheit, dieſelben daraufhin zu prüfen, ob und in- wieweit ſie für ihre Verhältniſſe ſich eigneten. Davon haben ſie auch, wie die Folgezeit lehrte, ausgiebigen Gebrauch gemacht. Drei oder vier Jahr— zehnte ſpäter ſuchte der preußiſche Staat ſeine pädagogiſche Aufgabe ſchon in einer ganz anderen Weiſe zu löſen. Albrecht Thaer war damals Mit— glied des preußiſchen Staatsrates und hatte großen Einfluß auf die Behand— lung der landwirtſchaftlichen Angelegenheiten. Aus ſeiner Feder iſt das Edikt zur Beförderung der Landeskultur vom 14. September 1811 gefloſſen. Dasſelbe enthält weniger beſtimmte geſetzliche Anordnungen, als daß es den Landwirten gewiſſe Einrichtungen und Maßregeln empfiehlt, deren Durchführung gerade in der damaligen Zeit der Umbildung der Be— triebsweiſe beſonders wünſchenswert erſchien. Friedrich Wilhelm III. und ſeine Ratgeber waren mit Recht der Anſicht, daß man es dem Ermeſſen der einzelnen Landwirte überlaſſen könne und müſſe, ob ſie von den nun— mehr re allgemein bekannten Verbeſſerungen in dem landwirtſchaftlichen Betrieb ihrerſeits Gebrauch machen wollten oder nach Lage der örtlichen und perſönlichen Verhältniſſe Gebrauch machen könnten. Sie hatten die ausge— ſprochene Abſicht, vieles von dem, was früher der Staat beſorgt hatte, in die Hände der Landwirte ſelbſt zu legen. Deshalb fordert das Landeskultur— edikt dringend zur Gründung von landwirtſchaftlichen Vereinen auf (§ 39) und weiſt immer wieder auf die eigene Initiative der Landwirte hin. Den Staatsbeamten dagegen und den Kreisverordneten wird es vorzugsweiſe zur Pflicht gemacht, durch Belehrung und Ermunterung auf die Grundbeſitzer einzuwirken ($ 44). In der Gegenwart iſt auch letzteres nicht mehr in dem Maße nötig, wie im Anfange des 19. Jahrhunderts. Dieſe Arbeit wird jetzt hauptſäch— 60 IV. Aufgabe des Staates im allgemeinen. lich von landwirtſchaftlichen Vereinen und Unterrichtsanſtalten, durch Bücher, Zeitſchriften und Tagesblätter beſorgt: Hilfsmittel, die damals erſt in ihren erſten Anfängen vorhanden und nur einem ſehr kleinen Teil der Landwirte zugänglich waren. Abgeſehen von den zahlreichen zur Unterſtützung der Landwirtſchaft nötigen Maßregeln, die überhaupt nur mit Hilfe der ſtaat⸗ lichen Geſetzgebung und Verwaltung durchführbar ſind, wird der Staat gegen⸗ wärtig des direkten Einfluſſes auf den landwirtſchaftlichen Betrieb ſich mög⸗ lichſt zu enthalten haben; er muß dahin ſtreben, daß er in dieſer Hinſicht mehr und mehr entbehrlich wird. Dadurch ſtärkt er die Energie, das Selbſt⸗ vertrauen und das Selbſtgefühl, die Geſchicklichkeit der Landwirte, alſo Eigen⸗ ſchaften, die für den wirtſchaftlichen Fortſchritt beſonders wichtig ſind. Selbſthilfe iſt ſchon deshalb die beſte Hilfe, weil ſie gleichzeitig moraliſch hebt. Fremde Hilfe birgt ſtets die Gefahr in ſich, daß ſie die eigene Kraft ſchwächt oder doch nicht zur vollkommenen Entfaltung gelangen läßt. Dazu kommt noch ein anderes bedeutungsvolles Moment. Der Staat muß ſeine Anorderungen durch ſeine Beamten ausführen laſſen, die im Durch⸗ ſchnitt weniger ſachverſtändig, weniger mit den örtlichen Verhältniſſen ver⸗ traut ſind, als die angeſeſſenen Landwirte. Im Intereſſe der letzteren ſelbſt liegt es daher, daß ſie in möglichſt weitem Umfange aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften die für die Landwirtſchaft nötigen Einrichtungen ins Leben rufen und dauernd in der Hand behalten. Bildung und Er⸗ fahrung ſind unter den Landwirten jetzt weit genug verbreitet, daß ſie ſelbſt wiſſen, was ihnen am meiſten frommt, und daß ſie die Mittel zur Er⸗ reichung ihrer Zwecke richtig zu beurteilen und zu wählen vermögen. Hierzu bedürfen ſie heutzutage nicht mehr der Bevormundung durch den Staat. Es wird ſpäter zu zeigen ſein, wie viel trotz aller Selbſthilfe dem Staate noch zu tun übrig bleibt und wie ſeine Aufgaben vorausſichtlich immer wachſen werden. Aber auch für diejenigen Gebiete, auf welchen ſeine Tätigkeit unentbehrlich iſt, muß der Grundſatz gelten, daß der Staat, ſoweit als irgend möglich, die Landwirte zur Mitwirkung heranzieht. Auch hier muß er verfahren, wie verſtändige Eltern, die ihre heranwachſenden Kinder an ihren Arbeiten und Sorgen teilnehmen laſſen und dieſen, je mehr deren geiſtige und körperliche Kräfte zunehmen, auch ein deſto weiteres Feld der Tätigkeit einräumen und ein deſto größeres Maß von Verantwortlichkeit zu⸗ ſchieben. Dieſer pädagogiſchen Weisheit entſpricht es, daß der Staat bei der Vorbereitung und bei der Durchführung agrariſcher Maßregeln ſich des Rates und der Hilfe der Landwirte in ſo weitem Umfange bediene, als es nur irgend mit dem ſachlichen Intereſſe vereinbar iſt. Dabei denke ich nicht nur an einzelne beſonders hervorragende Landwirte, ſondern beſonders auch an die landwirtſchaftlichen Vereine, Genoſſenſchaften ꝛc. ſowie an die kommunalen Körperſchaften. Je mehr der Staat dieſe zur Mitwirkung bei Löſung ſeiner agrariſchen Aufgabe heranziehen kann und heranzieht, eine deſto größere Garantie für die zweckmäßige Durchführung iſt geboten; deſto mehr wird der Gemeinſinn geſtärkt und das Vertrauen der ländlichen Be⸗ völkerung zu der Regierung gehoben. Die landwirtſchaftlichen Verhältniſſe ſind ſo mannigfaltig und örtlich ſo verſchieden, daß es den ſtaatlichen Or⸗ ganen ſelbſt bei dem beſten Willen nicht möglich iſt, die erlaſſenen Anord⸗ nungen, die doch immer eine mehr oder minder große Dehnbarkeit haben und haben müſſen, in jedem einzelnen Fall ſo auszulegen und anzuwenden, wie es den ſpeziell vorliegenden Bedürfniſſen entſpricht. Hierzu bedarf es durchaus der Mitwirkung von erfahrenen praktiſchen Landwirten, die zugleich mit den örtlichen Verhältniſſen genau vertraut ſind. Je nach der zu löſen⸗ den Aufgabe ſoll der Staat daher die kleineren oder größeren landwirtſchaft⸗ IV: Aufgabe des Staates im allgemeinen. 61 Vereine, die kleineren oder größeren kommunalen Körperſchaften, alſo gemeinden, Kreiſe, Provinzen, zur Mithilfe bei der Durchführung cher Maßregeln heranziehen. Wie weit er hierin gehen darf, hängt von der Geeignetheit derſelben für die ihnen zugedachte Tätigkeit ab. iſt nach Ort und Zeit verſchieden, und deshalb laſſen ſich allgemeine n dafür nicht aufſtellen. Der Staat wird den Organen der Selbſt⸗ valtung um ſo mehr zumuten und anvertrauen können, und dieſe werden um ſo ausgedehntere Mitwirkung beanſpruchen dürfen, je mehr Sach⸗ enntnis und Willfährigkeit ſie beſitzen und tatſächlich beweiſen; je mehr ſie t perſönlichen oder Standesintereſſen, ſondern den Intereſſen aller Grup— pen der ländlichen Bevölkerung zu dienen beſtrebt ſind; je mehr ſie endlich von dem Bewußtſein ſich leiten laſſen, daß die übrigen Erwerbszweige einen nicht minder großen Anſpruch auf den Schutz und die Hilfe des Staates haben, wie ihn die Landwirtſchaft erhebt. Sind gleich die Grenzen der agrariſchen Tätigkeit des Staates ſchwan⸗ kende, nach Zeit und Ort wechſelnde, ſo laſſen ſich doch die Gebiete, auf welche ſie ſich zu erſtrecken hat, einigermaßen feſt beſtimmen. Freilich gilt hierfür, daß veränderte Verhältniſſe auch andere und neue Anforde rungen an den Staat bedingen können; daß weiter zu gewiſſen Zeiten der Staat ſeine Wirkſamkeit einigen Gebieten in beſonderem Maße zuwenden muß, andere dagegen für ihn ganz in den Hintergrund treten dürfen. Zu anderen Zeiten erfordern dann vielleicht gerade die letzteren vorzugweiſe ſeine Aufmerkſamkeit. In der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangte die Merinoſchafhaltung eine hervorragende Bedeutung für die heimiſche Land⸗ wirtſchaft; ſie bildete für viele große Güter des nordöſtlichen Deutſchlands, da gleichzeitig die Getreidepreiſe ſehr niedrig waren, die hauptſächlichſte Ein⸗ nahmequelle. Die preußiſche Regierung wendete deshalb der Schafhaltung mit Recht ihre beſondere Sorgfalt zu. Auf Betreiben von Albrecht Thaer errichtete ſie ſogar im Jahre 1816 zwei königliche Stammſchäfereien (Fran⸗ kenfelde in der Mark und Panthen in Schleſien), die unter der General- intendanz von Thaer viel zur Hebung der Merinoſchafzucht beigetragen haben ). Als die rationelle Handhabung der letzteren und ſie ſelbſt weitere Verbreitung gefunden hatten, ließ man die Staatsanſtalten eingehen. In den erſten Jahren nach Gründung des deutſchen Zollvereins betrugen die f Getreidezölle nur ein Minimum. Als die Getreidepreiſe von 1821 ab ſehr 4 niedrig ſtanden, fand man es für nötig, dem Getreidebau durch Erhöhung 4 der Einfuhrzölle zu Hilfe zu kommen. 1824 wurden die Zölle für alle Getreidearten auf 50 Pf. nach jetzigem Gelde pro Scheffel erhöht; für den Doppelzentner Hafer machte dies 2 Mk., für die Tonne 20 Mk. Nachdem mit Beginn der 50 er Jahre die Getreidepreiſe ſtark geſtiegen waren, ernie— drigte man die Zölle auf etwa den 10. Teil ihres früheren Betrages und ſchaffte ſie 1865 ganz ab. Die Regierungen waren mit den Landwirten darin einig, daß der Getreidebau zur Zeit keines ſtaatlichen Schutzes bedürfe. Eine Anderung dieſer Anſchauung trat dann in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ein, als die Getreidepreiſe ſtark zu ſinken begannen. 1879 wurde der Zollſatz für Weizen und Roggen auf 1 Mk. 1885 auf 3 Mk. 14 1887 ſogar auf 5 Mk. pro Doppelzentner feſtgeſtellt; im Jahre 1891 trat 4 dann wieder eine Ermäßigung ein, die aber doch noch über den Sätzen des 4 Jahres 1885 blieb. — Die angeführten Beiſpiele ſollen nur zeigen, daß die 4 Tätigkeit des Staates auf ein und demſelben Gebiete je nach den gerade j =. U * N) 4 1 | * „ . . = * 1 2 J N. N a * BR; 1 . 1) Wilh. Körte: Albrecht Thaer, ſein Leben und Wirken als Arzt und Land⸗ wirt, Leipzig 1839, S. 214. 62 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. vorhandenen Umſtänden eine ſehr verſchiedene ſein kann und muß, ja zeit⸗ weiſe ganz ruhen darf. Je mehr ein einzelner Zweig der landwirtſchaftlichen Produktion blüht, oder in je beſſerer Lage eine einzelne Gruppe der ländlichen Bevölkerung ſich befindet, deſto weniger ſind ſtaatliche Maßregeln zu ihren Gunſten nötig oder auch nur wünſchenswert; umgekehrt bedürfen die not⸗ leidenden Zweige oder Glieder in beſonderem Maße der ſtaatlichen Fürſorge. Überblickt man den Inhalt der Agrarpolitik im ganzen, fo laſſen ſich bei ihr drei Gebiete voneinander unterſcheiden. Das erſte umfaßt die den Grund und Boden betreffenden Fragen, vornehmlich ſeine Ver— teilung, Vererbung und Verſchuldung. Dem zweiten gehören die Fragen zu, welche mit den wirtſchaftlichen und ſozialen Intereſſen der ländlichen Bevölkerung ſich beſchäftigen. Hierzu rechne ich: das Unter⸗ richts-, Vereins-, Genoſſenſchafts- und Kreditweſen, ferner die landwirtſchaftliche Arbeiterfrage. In dem dritten Gebiete ſind alle diejenigen Maßregeln umſchloſſen, welche der Staat zur Förderung des landwirtſchaftlichen Betriebes zu ergreifen hat, und zwar ſowohl nach deſſen techniſcher wie nach deſſen wirtſchaftlicher Seite. Es gehören hierzu: die Fürſorge für die Hebung von Ackerbau und Viehzucht, die land— wirtſchaftliche Polizei, das Verſicherungsweſen, das Zoll- und Steuerweſen. Allerdings laſſen ſich dieſe Gebiete nicht immer ſcharf voneinander trennen, häufig greift eins in das andere über. Auch kann man bei einzelnen Fragen zweifelhaft ſein, ob ſie dem zweiten oder dritten Gebiet zuzuteilen ſind, da die perſönliche Lage der landwirtſchaftlichen Bevölkerung von den ſtaatlichen Maßregeln zur Förderung des landwirtſchaftlichen Betriebes in hohem Grade abhängig iſt. Ich glaube aber, daß die hier gegebene Ein⸗ teilung der Agrarpolitik dem Weſen derſelben im allgemeinen entſpricht, auch dem Zwecke genügt, ein klares und überſichtliches Bild von ihrem mannig⸗ faltigen Inhalt zu gewähren. V. Der Staat als Grundbeſiter und der Gemeinde- arundbeſi (Allmende). Der Grund und Boden iſt der wertvollſte Beſitz einer Nation, dabei gleichzeitig unvermehrbar. Mit den in ihn gelegten produktiven Kräften iſt er eine ohne Zutun, ohne jegliche Arbeit den Menſchen frei dargebotene Gabe der Natur oder vielmehr ihres Schöpfers. Das Vorhandenſein des Bodens bildet die unumgängliche Vorausſetzung für die Exiſtenz und die Forterhaltung der Menſchen. Inſofern darf und muß jeder Einzelne einen Anſpruch darauf erheben, an den Früchten der Erde teilnehmen zu dürfen. Bei dünner Bevölkerung iſt dieſem Anſpruch leicht zu genügen. Auf ganz unentwickelten Kulturſtufen bemächtigen ſich die Menſchen lediglich der auf der Erde frei umherlaufenden, fliegenden oder ſchwimmenden Tiere ſowie der von ſelbſt darauf gewachſenen Vegetabilien, um ihre geringen Bedürfniſſe an Nahrung, Bekleidung und Behauſung zu befriedigen. Reicht infolge ge⸗ ſtiegener Bevölkerung zu dieſem Zweck die einfache Beſitzergreifung nicht mehr aus, ſo zähmen ſie hierzu beſonders geeignete Tiere, die herdenweiſe zuſammen⸗ gehalten, auf paſſende Weideplätze getrieben und, ſoweit es nötig und möglich iſt, vor den Unbilden der Witterung geſchützt und im Winter mit Futter, welches hierzu im Sommer beſonders geſammelt und aufbewahrt wird, verſorgt werden. In dieſem Zuſtande befinden ſich die Hirten- und DE rn V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 63 Nomadenvölker. Bei ihnen entwickeln ſich auch bald die Anfänge des Ackerbaues, wenngleich zunächſt noch in ſehr primitiver Form. Um des mühſeligen Einſammelns der Erdfrüchte, welches zudem bei noch weiterem Wachstum der Bevölkerung deren Ernährung nicht genügend ſicherſtellte, überhoben zu ſein, ſuchte man aus der unendlichen Zahl von wild gewachſenen * Pflanzen einige wenige aus, deren Produkte nach Art und Menge vorzugs- weiſe geeignet erſchienen, den Menſchen und auch den Herdentieren Nahrung 51 gewähren. Zunächſt waren es Pflanzen aus der Familie der Gräſer, ie auch ſchon in ihrem wilden Zuſtande das hauptſächlichſte und beliebteſte Futter der Weidetiere gebildet hatten. Ihre aus Körnern beſtehenden Früchte erwieſen ſich, abgeſehen von ihrem Nährwert, noch deshalb den Zwecken des Menſchen beſonders entſprechend, weil ſie eine große Haltbarkeit und Aufbe- wahrungsfähigkeit beſitzen. Man ſtreute die Körner dieſer Pflanzen (Getreide) auf einzelnen, dazu ausgewählten Plätzen aus und brachte ſie zum Schutz egen den Vogelfraß mit ſehr primitiven Werkzeugen unter die Erde. Um ie vor dem Überwuchern der wildwachſenden Pflanzen zu ſchützen, zerſtörte man dieſe häufig vorher durch ein Aufbrechen und teilweiſes Umwenden der oberſten Bodenſchicht, wodurch dieſe gleichzeitig gelockert und in einen für das Gedeihen der eingeſtreuten Saat günſtigeren Zuſtand verſetzt wurde. Damit war der Anfang des Ackerbaues gegeben. Nomaden- oder Halbnomadenwirtſchaft und Ackerbau beſtanden bei den gleichen Völkern oft Jahrhundertelang nebeneinander. Hiermit mag es auch zuſammenhängen, daß früher unter den Getreidearten die Gerſte am meiſten bevorzugt wurde. Sie hat von allen Körnerfrüchten die kürzeſte Vegetationszeit; zwiſchen Ein- ſaat bis zur Ernte liegen nur wenige Monate, in denen ſie die Anweſenheit oder die Arbeit der Bebauer in Anſpruch nimmt. Dieſe regelloſe und ſpo⸗ radiſche Ackernutzung reichte nicht aus, als nach weiterem Wachstum der Menſchenzahl den einzelnen Völkern oder Stämmen oder Familien nicht mehr beliebig große Flächen zur Verfügung ſtanden und die Notwendigkeit vorlag, in einem begrenzten Diſtrikt erhöhte Mengen von Nahrungsmitteln zu er— zeugen. Solches war nur möglich durch Ausdehnung des Ackerlandes, das von allen Kulturarten (mit Ausnahme des Gartenlandes) die bei weitem höchſten Roherträge liefert. Der Ausdehnung des Ackerlandes folgte dann bald eine vollkommenere Bearbeitung und eine geregeltere Benutzung, auch eine in beſtimmten Zwiſchenräumen wiederholte Düngung. Hiermit war das frühere Nomadenleben nicht mehr vereinbar. Man gründete feſte Wohnſitze, auf denen ſich, getrennt voneinander, die einzelnen Stämme oder Familien niederließen, um von dort aus die nächſt liegenden dazu geeigneten Grund— ſtücke als Ackerland zu bebauen, die entfernteren als Wieſe, Weide oder Wald zu benutzen, ſoweit ein Bedürfnis hierzu vorlag und ſoweit die in der Nachbarſchaft angeſiedelten Stämme es zuließen. Die Nutzung aller Kulturarten war zunächſt eine gemeinſchaftliche. Für das Acker— land ſtellte ſich aber ſchon frühzeitig das Bedürfnis heraus, dasſelbe an die einzelnen Familien zu verteilen und dieſen für immer oder für eine Reihe von Jahren zur ausſchließlichen Bebauung und Benutzung zu überlaſſen. Wann und wie dieſer Übergang vom Gemeinbeſitz zum Privatbeſitz ſich voll— zogen hat, läßt ſich genau nicht feſtſtellen. Man darf aber annehmen, daß er im 6. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung in den von deutſchen Stämmen bewohnten Gebieten der Hauptſache nach geſchehen war. Dabei blieben den Gemeinde- oder Markgenoſſen immer noch gewiſſe gemeinſame Rechte an dem geſamten Ackerland; ſo namentlich Weiderechte auf der Brachflur und den Stoppelfeldern. Häufig blieb auch ein Teil des Ackerlandes im Gemeinde beſitz und wurde nach beſtimmten, aber örtlich ſehr verſchiedenen Grundſätzen 64 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. einzelnen Gemeindegliedern auf gewiſſe Jahre oder auf Lebenszeit zur Nutz⸗ nießung überlaſſen. Solche Gemeindeäcker finden ſich noch in der Gegen⸗ wart, namentlich im ſüdweſtlichen Deutſchland, in ziemlicher Zahl. ER Unſere Vorfahren erkannten ſchon frühzeitig, daß es notwendige ſei, dem einzelnen Gemeindegliede den Beſitz und die Nutzung ein und derſelben Ackerfläche dauernd zu gewährleiſten. Die ae weniger Jahrzehnte mußte ſie darüber belehren, daß der Ertrag des Ackerlandes von der Sorg⸗ falt und dem Fleiße des jedesmaligen Bebauers abhänge, und daß gerade die beſten unter ihnen hierin nachlaſſen würden, wenn ſie nicht die Sicherheit hätten, die Früchte ihres Strebens ſelbſt ernten, auch ihren Kindern hinter⸗ laſſen zu können. Die übrigen Kulturarten, Wieſen, Weiden und Wälder, blieben zunächſt noch im gemeinen Beſitz und in gemeinſchaftlicher Nutzung. Sie waren in reichlicher, oft überflüſſiger Menge vorhanden, und man hielt ſie für keiner beſonderen Pflege bedürftig. Unter ihnen ſtellte ſich am eheſten bei den Wieſen die Zweckmäßigkeit der Überlaſſung zum Privateigentum her⸗ aus. Die ſchon frühzeitig, wenn auch in ſehr primitiver Form, geübte Ent⸗ oder Bewäſſerung, ebenſo das Abbringen und Trockenmachen des Graſes erforderten Arbeit, und von der mehr oder minder ſorgfältigen Ausführung dieſer hing der Ertrag der Wieſen quantitativ wie qualitativ in hohem Grade ab. Deshalb wurde auch für Wieſen ſchon ziemlich frühzeitig das Privat⸗ eigentum eingeführt, obwohl noch bis in das 19. Jahrhundert hinein ein gemeinſames Recht an der Vor- und Nachweide (bis zum 1. Mai und nach der Heuernte) in vielen Gegenden beſtehen blieb. Am längſten erhielt ſich das gemeinſame Eigentum oder doch die ge⸗ meinſame Nutzung bei den (ſtändigen) Weiden und bei dem Wald. Das Eigentum an letzterem verſuchten zwar die Großgrundbeſitzer mehr und mehr in Anſpruch zu nehmen und ſie hatten dabei häufig auch Erfolg; aber den Bauern blieb doch in der Regel ein Mitbenutzungsrecht, das ſich auf Ent⸗ nahme des eigenen Bedarfes an Brenn-, Nutz⸗ und Bauholz, Waldſtreu, auch wohl auf Waldweide ꝛc. erſtreckte. Ein Teil der Waldungen erhielt ſich indeſſen im Geſamtbeſitz der Dorfgemeinden. Erſt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tauchte der Gedanke von der Zweckmäßigkeit einer möglichſt vollſtändigen Aufhebung der gemeinſchaftlichen Beſitz- und Nutzungs⸗ rechte an Weide und Wald auf. Im 19. Jahrhundert wurde er mehr oder weniger zur Verwirklichung gebracht, wenn auch nicht in allen deutſchen Ländern mit der gleichen Konſequenz. Am durchgreifendſten ging man in Preußen vor durch Erlaß der Gemeinheitsteilungs-Ordnung vom 7. Juni 1821. Durch ſie wurden die Weideberechtigungen auf Ackern, Wieſen, Angern, Forſten, und ſonſtigen Weideplätzen, ferner die Forſtberech⸗ tigungen zur Maſt, zum Mitgenuſſe des Holzes und zum Streuholen, endlich die Berechtigungen zum Plaggen-, Heide- und Bültenhieb für ablösbar er⸗ klärt und zwar ohne Rückſicht darauf, ob dieſe Gerechtſame auf einem ge⸗ meinſchaftlichen Eigentume, einem Geſamteigentume oder einem einſeitigen oder wechſelſeitigen Dienſtbarkeitsrechte beruhen ($ 2 des Geſ. v. 7. Juni 1821). Die Befugnis, auf Gemeinheitsteilung anzutragen, konnte weder durch Willenserklärungen, noch durch Verträge, noch durch Verjährung er⸗ löſchen ($ 26). Die Entſchädigung der einzelnen Nutzungsberechtigten jollte in der Regel durch Land ſtattfinden (§S 66). Durch das Geſetz vom 2. März 1850 betr. die Ergänzung und Abänderung der Gemeinheitstei— lungs-Ordnung ꝛc. iſt dann die Ablösbarkeit noch auf einige andere, in der G. T. O. nicht genannte Nutzungsrechte auf fremdem Grund und Boden aus⸗ gedehnt worden (Art. 1 des Geſ. v. 2. März 1850). Infolge dieſer Geſetze V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 65 wenigſtens in dem landrechtlichen Teil der preußiſchen Monarchie, die virtſchaftlich benutzte Fläche faſt durchweg, die forſtwirtſchaftlich benutzte, Ausnahme der Staatsforſten und mancher Gemeindeforſten, zum weit⸗ zus überwiegenden Teil reines Privateigentum geworden. Für Forſten be⸗ ſtimmt allerdings die G.T. O. in § 109: „Die Naturalteilung eines gemein⸗ ſchaftlichen Waldes iſt ganz oder teilweiſe nur zuläſſig, wenn entweder die einzelnen Anteile zur forſtmäßigen Benutzung geeignet bleiben oder fie vor- teilhaft als Acker oder Wieſe genutzt werden können.“ Wie gering aber tzdem in den alten preußiſchen Provinzen der Gemeindeforſtbeſitz iſt, u. a. aus folgenden Zahlen hervor. Im Jahre 1900 betrug ). 1 Forſtfläche im Ganzen davon Gemeindeforſten g Bezirk ha ha in der Prov. Oſtpreußen 644 475 34 449 „ „Rheinprovinz 834 989 340 011 In Oſtpreußen machten die Gemeindeforſten nur 5,3 Proz., in der Rheinprovinz dagegen 40,7 Proz. der geſamten Forſtfläche aus. Inm weſtlichen und ſüdweſtlichen Deutſchland hat man am Ge- meindebeſitz nicht nur für Forſten, ſondern, wenngleich in geringerem Grade, auch für landwirtſchaftlich benutzte Grundſtücke viel ſtärker feſtgehalten. Da am Schluß dieſes Abſchnittes darüber noch eingehender behandelt wird, ſo will ich hier nur einen Vergleich zwiſchen den oben herangezogenen Gebieten aufſtellen. Nach der Betriebszählung vom 14. Juni 1895 betrug die land- wirtſchaftich benutzte Fläche); zuſammen davon Gemeindeland ha ha in Oſtpreußen 2 543 880 964 in der Rheinprovinz 1327 892 21 390 In Oſtpreußen machte das Gemeindeland nur 0,03 Proz., in der Rheinprovinz dagegen 1,61 Proz. der landwirtſchaftlich benutzten Fläche aus. Vorſtehende Erörterungen ſollten hauptſächlich klar ſtellen, daß das ausſchließlich private Eigentums⸗ und Nutzungsrecht an Grund und Boden erſt ganz allmählich im Lauſe langer Jahrhunderte zur Geltung gelangt iſt. Noch bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts war ein erheblicher Teil der land⸗ und forſtwirtſchaftlich benutzten Fläche im Gemeindeeigentum und an der weitaus größten Quote des im Privateigentum ſtehenden Landes hatten dritte Perſonen irgend welche Nutzungsrechte. Dieſe Tatſache muß man be— rückſichtigen, wenn man die in der Gegenwart auftretenden Beſtrebungen auf Beſeitigung oder doch Einengung des privaten Grundeigentums richtig würdigen will. Für den Sachkenner unterliegt es keinem Zweifel, daß gerade die Ge— währung des Eigentumsrechtes und der uneingeſchränkten Nutzung des Bodens ſehr viel zu dem gewaltigen Aufſchwung beigetragen hat, den die landwirt ſchaftliche Produktion im Laufe des 19. Jahrhunderts genommen und daß dieſer ohne jene gar nicht möglich geweſen wäre. Der Zuſammenhang zwiſchen beiden Tatſachen war ſo klar, daß kaum jemand hieran zu zweifeln wagte. Es wurden ſogar gewichtige Stimmen laut, welche verlangten, der Staat ſolle ſich des ihm verbliebenen Domänenbeſitzes durch Verkauf an Privatperſonen entäußern. Jede Beteiligung des Staates oder auch der Ge— * 1) Statiſtiſches Handbuch für den Preußiſchen Staat, I. Jahrgang 1903, S. 80. | 2) Vierteljahreshefte der Statiſtik des Deutſchen Reiches. Jahrg. 1897, Ergänzung a zum 2. Heſte, Berlin 1897, S. 71. von der Golß, Agrarweſen und Agrarpolttit 2. Aufl. 5 66 V. Der Staat als Grnndbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. meinden an der landwirtſchaftlichen Produktion hielt man vom Übel und 1 glaubte, durch die möglichſt unbeſchränkte Wirkſamkeit der einzelnen Privat⸗ N beſitzer werde das Wohl nicht nur dieſer, ſondern auch der Geſellſchaft und des Staates am meiſten gewährleiſtet. Die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden ſozialiſti⸗ ſchen Ideen gingen freilich von der entgegengeſetzten Auffaſſung aus; ſie 9 erſtrebten den Übergang des geſamten Grundeigentums in den Beſitz des Staates oder der Gemeinden. Aber auch in Kreiſen, die keineswegs zu den ſozialiſtiſchen zu rechnen ſind, tauchten Zweifel darüber auf, ob man in der Gewährung des freien Verfügungsrechtes über den Boden an Privatperſonen und namentlich in der Beſchränkung des Gemeindeeigentums und der ge⸗ meinen Nutzungen nicht zu weit gegangen ſei. Solche Bedenken entſtanden namentlich infolge des Umſtandes, daß die Bevölkerung ungewöhnlich ſtark wuchs und ein immer größerer Bruchteil derſelben von dem Beſitz und ſelbſt von der Nutzung des Bodens, auf dem und von dem alle leben mußten, ausgeſchloſſen wurde. Eine geringſchätzige Zurückweiſung dieſes Bedenkens als eines ganz untergeordneten iſt bei ernſthafter Erwägung nicht zuläſſig. In allen Staaten, in denen zufolge des Anwachſens der Bevölkerung oder aus anderen Urſachen ein erheblicher Bruchteil der letzteren von der direkten Nutzung des Bodens ausgeſchloſſen wurde, haben ſich dieſerhalb heftige innere Kämpfe entwickelt, die Verwirrung und Elend, öfters gewaltſame Aufſtände herbeiführten. Man darf nie vergeſſen, daß die Bodeneigentümer gewiſſermaßen ein Monopol haben, welches ihnen ein ausſchließliches Recht auf einen feſten Wohnſitz, eine geſicherte Heimat und auf die Erzeugung der jedem Menſchen unentbehrlichen Bedürfniſſe gewährt. Ein ſolches Monopol iſt nur zuläſſig, wenn es in einer, dem Intereſſe der Geſamtheit entſprechenden Weiſe ausgeübt wird; andererſeits kann es ſich als eine Notwendigkeit her⸗ ausſtellen, wenn es das einzige oder doch beſte Mittel bildet, um die Boden⸗ kräfte ſo vollkommen auszunutzen, als der Bedarf der Bevölkerung an Boden⸗ produkten es erforderlich erſcheinen läßt. Der Erwerb des Monopols iſt allerdings von den jetzigen Beſitzern oder deren Vorfahren gewöhnlich mehr oder minder teuer bezahlt worden. Hierin würde aber noch kein triftiger Grund gegen eine Aufhebung liegen, wenn ſolche im Intereſſe der Geſamt⸗ heit nötig wäre. Sie müßte allerdings im Wege geſetzlich geordneter Expro⸗ priation, unter Entſchädigung der zeitigen Bodenbeſitzer, ſtattfinden, Die Agrarpolitik darf ſich der Unterſuchung der Frage nicht ent⸗ ziehen, ob und wie weit eine Beſeitigung oder Beſchränkung des jetzt beſtehenden Verfügungsrechtes über den land- oder forſt⸗ wirtſchaftlich benutzten Boden als wünſchenswert oder zuläſſig oder gar als notwendig erſcheint. Hierbei hat ſie zu unterſcheiden zwiſchen Eigentums recht und Nutzungsrecht. Die radikalſte Maßregel würde darin beſtehen, daß der Staat gegen Entſchädigung der jeweiligen Beſitzer das geſamte Grundeigentum an ſich brächte und, nach Teilung in angemeſſene Betriebseinheiten, durch ſeine Beamte bewirtſchaften ließe. Wie ſehr dadurch die landwirtſchaftliche Pro⸗ duktion leiden würde, iſt ſchon S. 57 u. 58 kurz berührt worden. Es müßten außerdem aber auch noch die meiſten derjenigen Übelſtände eintreten, die mit der gelinderen Maßregel, nämlich mit der Verpachtung des in obiger Weiſe vom Staat in Beſitz genommenen Bodens an einzelne Pächter, verbunden ſind. Dieſe wird von den Bodenreformern gls das beſte Heilmittel gegen die vorhandenen wirtſchaftlichen und ſozialen Übelſtände empfohlen, freilich ohne zureichende Gründe. V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbefitz. 67 Di.ie Beſitzergreifung und Verpachtung des geſamten Grund und Bodens durch den Staat würde nichts mehr und nichts weniger bedeuten als die Einführung des ſozialiſtiſchen Staates und ſomit etwas Undurchführbares er doch für die Dauer ganz Unhaltbares. Der Staat müßte dann be⸗ men, wie viele und wie große landwirtſchaftliche Betriebe überhaupt und jeder Gemeinde vorhanden ſein ſollen, wer unter den vorausſichtlich zahl- chen Bewerbern dieſelben bewirtſchaften dürfte. Er müßte die Höhe des chtgeldes und die ſonſtigen Pachtbedingungen in jedem einzelnen Fall feeſtſtellen; ihm würde es obliegen, genaue Aufſicht darüber zu führen, ob ordnungsmäßig gewirtſchaftet wird ꝛc. Dies würden Aufgaben ſein, die viel⸗ leicht auf niederen Entwicklungsſtufen, bei dünner Bevölkerung und den Bedarf überſteigender Bodenfläche, eine einzelne Gemeinde oder ein kleiner Volksſtamm erfüllen könnte, denen aber ein größerer Staat nicht gewachſen t. Vollends dann nicht, wenn zufolge der Dichtigkeit der Bevölkerung ein tarker Wettbewerb um den Beſitz oder die Nutzung der vorhandenen relativ Bauen Bodenfläche herrſcht und wenn neben der Landwirtſchaft treibenden Bevölkerung auch eine große Zahl von Menſchen vorhanden iſt, die anderen Erwerbszweigen nachgehen und ebenfalls gewiſſe Anſprüche an den Boden machen. Unter derartigen Verhältniſſen dem Staate zuzumuten, er ſolle den Vrorſchlag der Bodenreformer zur Durchführung bringen, würde in ſeinen Folgen ungefähr dasſelbe ſein, als wenn man von ihm verlangte, er ſolle * ar das Privateigentum an Grund und Boden fortbeſtehen laſſen, aber 2 iber Beſtimmung treffen, wie viele und wie große landwirtſchaftliche Be— triebe exiſtieren dürften und wie dieſe bewirtſchaftet werden müßten. Bei Beſprechung der Verteilung des Grundbeſitzes (ſ. Abſchn. VI) wird noch ein- gehend dargelegt werden, daß dieſe mit den übrigen wirtſchaftlichen Verhält⸗ niſſen fortwährend ſich ändert und ändern muß; daß ſolche Veränderungen ganz von ſelbſt ſich vollziehen und daß ein Eingreifen des Staates nur dann zweckmäßig oder gar nötig iſt, wenn ein mit dem gemeinen Wohl unver- träglicher Zuſtand ſich zu entwickeln droht. Die Männer, welche die ge— ſchilderte Bodenreform befürworten, haben entweder überhaupt keine Einſicht in das Weſen des landwirtſchaftlichen Betriebes oder ſie bedenken doch nicht die Folgen, welche aus der Verwirklichung ihrer Vorſchläge mit Notwendigkeit ſich ergeben. Über dieſe kann ein Sachkenner bei ruhiger Erwägung ſich unmöglich täuſchen. Sie würde dazu führen, daß der Staat jedem Land— nutznießer nicht nur die Größe des von ihm zu bewirtſchaftenden Areals beſtimmt, ſondern auch vorſchreibt, in welcher Art er den Boden bebauen, welche Fruchtfolge er beobachten, welches Vieh er halten ſoll. Die landwirt— Ks ſchaftliche Produktion im ganzen ſowie die Reinerträge des einzelnen Pächter 4 würden dadurch ſtark geſchädigt werden. Die Energie gerade der tüchtigiten ' Männer erlahmt, wenn fie durch ſtaatliche Vorſchriften verhindert werden, 5 die nach ihren Anſichten und für ihre individuellen Verhältniſſe zweckmäßigſten | Maßregeln zu ergreifen. Woher ſollte man ferner das Heer von Beamten nehmen, welches in dieſem Fall unentbehrlich wäre, und woher die Mittel, ſie zu beſolden? Für einen Staat vom Umfang des preußiſchen würden 100 000 Beamte für dieſen Zweck nicht ausreichen. Ihnen, die von der Landwirtſchaft durch— ſchnittlich ſehr viel weniger verſtehen und verſtehen können, als die praktiſchen Landwirte, ſoll nunmehr die Beſtimmung über die Größe der einzelnen Be— triebe und über die Art ihrer Bewirtſchaftung in die Hand gegeben werden. Allgemeine Verwirrung und allgemeine Unzufriedenheit würden die notwen— digen Folgen ſein. Hierüber machen ſich unklare und ſchwärmeriſche Volks— beglücker freilich keine Sorgen. Sie denken, genug getan und viel geleiſtet 5* 68 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. zu haben, wenn ſie irgend einen utopiſtiſchen Plan zutage fördern, der nach ihrer Meinung aller wirtſchaftlichen Not abhilft und der für die oberflächliche Betrachtung und für den Sachunkundigen manches Beſtechende hat. enn der Staat ihren Plan nicht durchführt oder wenn der Verſuch der Durch⸗ führung mißglückt — und eins von beiden iſt im vorliegenden Falle nur möglich — ſo waſchen ſie ihre Hände in Unſchuld. In weiten Kreiſen, keineswegs bloß in ſozialiſtiſchen, iſt man es leider jetzt gewohnt, den Staat für alles verantwortlich zu machen, ſowohl für die angeblich oder wirklich vorhandenen Übelſtände wie für das Fehlen der vielen vortrefflichen Ein⸗ richtungen, die man vermeintlicherweiſe haben könnte, wenn der Staat ſeine Schuldigkeit täte. Die Urſachen dieſer ebenſo weit verbreiteten als verderb⸗ lichen Anſchauung liegen teils in ganz verkehrten Begriffen über die geiſtige und moraliſche Beſchaffenheit der Menschen teils in der übertriebenen Selbſt⸗ ſucht und dem mangelnden Pflichtgefühl der einzelnen Perſönlichkeiten. Für ſich will man wenig Arbeit, geringe Opfer, aber viel Lohn oder Gewinn; dies zu ermöglichen, ſoll der Staat ſeine Hülfe leiſten. Verweigert er ſie, ſo beſchuldigt man ihn, daß er ſeiner Aufgabe nicht gewachſen ſei. Leidet eine Erwerbs- oder eine Geſellſchaftsklaſſe vorübergehend Not, jo ſoll der Staat augenblicklich Abhülfe gewähren; man fragt nicht danach, aus welchen Urſachen die Not entſtanden, ob ſchnelle Beſeitigung möglich und wie weit der Staat dabei überhaupt Hilfe zu leiſten imſtande iſt. Vor allem aber fragt man nicht danach, inwieweit die Not eine ſelbſt verſchuldete iſt und was zu deren Überwindung durch eigene Kräfte geleiſtet werden kann und muß. Die Bodenreformer glauben die Einwendungen gegen die Verpachtung des landwirtſchaftlich benutzten Bodens durch den Staat damit widerlegen zu können, daß ſie auf die günſtigen Erfolge hinweiſen, die man mit der Ver⸗ pachtung der Staatsdomänen gemacht habe. Hierin liegt aber ein Fehl⸗ ſchluß, wie er öfters in agrariſchen Fragen gemacht wird. Weil in vielen Gegenden Kleingrundbeſitzer und Bauern in verhältnismäßig günſtigerer Lage ſich befinden, auch höhere Erträge herauswirtſchaften als die Großgrundbe⸗ ſitzer, darf man noch nicht ſagen, es ſei zweckmäßig, alle großen Güter in bäuerliche und kleine Stellen zu zerſchlagen; oder aus der Tatſache, daß in einzelnen Gegenden, wo das Anerbenrecht ſich erhalten hat, ein wirtſchaftlich geſunder und leiſtungsfähiger Bauernſtand ſich vorfindet, läßt ſich nicht die Forderung ableiten, man müſſe überall das Anerbenrecht einführen. In glei⸗ cher Weiſe iſt es ungerechtfertigt, in dem Umſtand, daß die Verpachtung von Domänengütern ſich bewährt hat, einen genügenden Beweis für die Zweck⸗ mäßigkeit des Vorſchlages zu erblicken, der Staat ſolle den ganzen Grund und Boden an ſich ziehen und Pächtern zur Nutznießung übergeben. Im Jahre 1890 beſaß der preußiſche Staat!) zuſammen 1080 Do⸗ mänenvorwerke mit einer nutzbaren Fläche von 340556 ha. Die Zahl aller landwirtſchaftlichen Betriebe in der Monarchie belief ſich 1895 auf 3308126 mit einem Flächeninhalt von 28479739 ha?). Von den land⸗ wirtſchaftlichen Betrieben im Ganzen machten die Domänen alſo 0,03 Proz. (drei Hunderſtel Prozent), die dazu gehörende Fläche von der geſamten land⸗ wirtſchaftlichen Fläche 1,19 Proz. aus. Auf 3091 landwirtſchaftliche Be⸗ 1) Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften von Conrad, Elſter, Lexis und Lön ing, 2. Aufl. Artikel Domänen⸗Statiſtik von Conrad, a. a. O. Bd. III (1900), S. 225 u. 226. — Im Jahre 1903 betrug die Zahl der Domänenvorwerke ebenfalls 1080. 2) Vierteljahrshefte zur Statiſtik des Deutſchen Reiches, Jahrg. 1897, Ergänzung zum 2. Heft, S. 70 und 71. Nach dem Staatshaushalt⸗Etat für 1898/99 betrug die Zahl der verpachteten Domänenvorwerke 1046 mit einer Geſamtfläche von 334 799 ha. V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 69 be kommt nur ein Domänenbetrieb. Nach dem Staatshaushaltetat für 98/99 bezifferten ſich die Koſten der Domänenverwaltung auf rund 6 Mill. dies macht pro Domäne 5607 Mk., pro ha verpachteter Fläche 17,60 Mk. irde der Staat die Verpachtung des ganzen landwirtſchaftlich benutzten Bodens übernehmen, ſo würde, auch nur nach der Fläche berechnet, ihm ein Kostenaufwand von 28 479 739 >< 17,60 Mk. — 502 243 406 Mill. Mk. daraus erwachſen. Tatſächlich würden aber die Ausgaben mehr mit der Zahl der Betriebe, als mit der Größe der Fläche parallel laufen. Aber auch abgeſehen von den unerſchwinglichen Koſten, läßt ſich aus Zweckmäßigkeit des Domänenbeſitzes und der Domänenverpachtung) kein begründeter Schluß auf die Zweckmäßigkeit der Verpachtung der ganzen land⸗ wirtſchaftlich benutzten Fläche ziehen. Uber 1000 oder auch etwas mehr Betriebe kann der preußiſche Staat wohl die Aufſicht führen, aber nicht über 3 ½¼ Mill. Betriebe. Bei den Domänen handelt es ſich auch lediglich um feſt abgegrenzte Flächeneinheiten, die ſich 12 Zahl und Umfang wenig ändern. Wäre die ganze landwirtſchaft benutzte Fläche im Beſitz des Staates, ; 1 müßte letzterer alljährlich viele Tauſende von neuen Abgrenzungen und nderungen in der Zahl und Größe der Betriebe, entſprechend den verän⸗ derten Bedürfniſſen, eintreten laſſen. Mit Bezug hierauf bemerkte ich vorhin, daß die Koſten der Domänenverwaltung mehr im Verhältnis zu der Zahl der Betriebe, als zu der Größe der Fläche ſich ſtellen. Jeder, offene oder verdeckte Agrarkommunismus iſt, auch abgeſehen von ſeinen ſonſtigen nachteiligen Folgen, als undurchführbar, wenigſtens in Kulturſtaaten, zurückzuweiſen ). Auch der genoſſenſchaftliche Betrieb, wie oft er auch verſucht wurde, hat ſich auf die Dauer nirgends bewährt. Manche derartige Unternehmungen, die mit eben ſolchem Eifer und Enthuſiasmns wie Opferwilligkeit ins Werk geſetzt wurden, ſind ſchon nach ganz kurzer Zeit zugrunde gegangen. Sie können ſich überhaupt nur halten, wenn und ſolange ein Mann an der Spitze ſteht, der an Sachkenntnis, an geiſtigen und moraliſchen Kräften alle übrigen Genoſſen weit überragt und dem ſich dieſe willig fügen. Dies ſchließt indeſſen nicht aus, daß landwirtſchaftliche Unternehmer behufs Erreichung einzelner beſtimmter Zwecke zu Genoſſen— ſchaften ſich zuſammentun; im Gegenteil haben Genoſſenſchaften heutzutage für die Landwirtſchaft eine beſonders große Bedeutung. Über ſie wird in Abſchnitt XI ausführlich zu handeln ſein. Im Intereſſe der Erzielung hoher Roherträge wie hoher Reinerträge, alſo im Intereſſe der geſamten Volkswirtſchaft wie der einzelnen Unternehmer, muß es gefordert werden, daß der weitaus überwiegende Teil der landwirt— ſchaftlich benutzten Fläche?) im Privateigentum ſich befindet. Das Gleiche wird verlangt durch die Rückſicht auf die ſtetig fortſchreitende Entwicklung des ländlichen Gewerbes, auf die Ruhe und Zufriedenzeit der ländlichen Be— völkerung, auf die Anpaſſung der Verteilung des Grundbeſitzes an die Ver— änderungen, die ſich im geſamten wirtſchaftlichen und geſellſchaftlichen Leben vollziehen. Je freier der landwirtſchaftliche Unternehmer über die Organiſa— tion und Leitung ſeines Betriebes verfügen kann, deſto günſtigere Reſultate wird er erzielen, deſto mehr für ſich und die Geſamtheit leiſten. Je größer 1) Inwieweit der Domänenbeſitz und die Domänenverpachtung überhaupt wünſchens⸗ wert zu erachten iſt, wird an einer ſpäteren Stelle dieſes Abſchnittes zur Erörterung kommen. 2) Als Agrarkommunismus betrachte ich es aber nicht, wenn eine Gemeinde einen kleineren Teil der Feldmark im Beſitz behält; es gilt hierfür dasſelbe wie für den Staat, der einen kleineren Teil ſeiner Geſamtfläche als ſein Eigentum in Anſpruch nimmt. 3) Für die forſtwirtſchaftlich benutzte Fläche gilt nicht das Gleiche, wie am Ende dieſes Abſchnittes noch nachzuweiſen ſein wird. 70 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. die Freiheit des Einzelnen ſich geſtaltet, deſto mehr können die tüchtigen Wirte ſich emporarbeiten, deſto ſicherere Garantie iſt dafür geboten, daß die durchſchnittliche Qualität der landwirtſchaftlichen Unternehmer ſich fortdauernd verbeſſert. Damit ſoll keineswegs dem Grundſatz gehuldigt werden, der Staat ſolle alles gehen laſſen, wie es gerade geht. Die nachfolgenden Abſchnitte werden dartun, daß dem Staat noch ein großes und ſtetig wachſendes Gebiet 9 für ſeine Tätigkeit bleibt, daß ihn dieſe auch häufig genug zwingt, den ein⸗ elnen landwirtſchaftlichen Unternehmern oder Bodenbeſitzern unwillkommene Beſchränkungen aufzuerlegen. Um ſo mehr ſoll er ſich deshalb aber auch vor Eingriffen hüten, die nicht nötig ſind und die mindeſtens Unzufrieden⸗ heit erregen, meiſt auch noch anderen und größeren Schaden anrichten. Die Frage, ob es wünſchenswert ſei, daß der Staat einen Teil des Grund und Bodens in ſeinem Eigentum behalte, iſt oft erörtert und in ver- ſchiedenem Sinne beantwortet worden. Die Gegner der Domänen haben als Beweis für ihre Behauptung beſonders den Grund geltend gemacht, daß das in den Staatsgütern angelegte Kapital ſich ſehr niedrig verzinſe; daß, wenn der Staat die Domänen verkaufe, er aus dem erhaltenen Erlös eine höhere Einnahme habe. Ich will dem nicht gerade widerſprechen, obwohl es ſchwer ſein würde, feſtzuſtellen, welcher Preis aus dem Verkauf der Domänen ſich gegenwärtig etwa erzielen ließe. Was aber, ſchon von rein finanziellen Ge⸗ ſichtspunkte aus, gegen die Veräußerung der Domänen ſpricht, iſt der Um⸗ ſtand, daß die Reinerträge derſelben und damit ihr Kapitalwert mit zu⸗ nehmender Bevölkerung und Wohlhabenheit ſteigen. Für den Augenblick würde der Staat aus dem Verkauf der Domänen vielleicht einen kleinen Gewinn erzielen, dauernd aber einen viel größeren Schaden erleiden. Nach einer von Conrad gemachten Zuſammenſtelluug ergibt die Vergleichung der Jahre 1849, 1869, 1879, 1890 und 1899 für die Domänen in den acht älteren Provinzen des preußiſchen Staates folgendes Reſultat!): Jahr Zahl der nutzbare Fläche Pacht im Ganzen Pacht pro ha Domänen ha M. M. 1849 874 326 754139 4541418 13,90 1869 806 249 252,5, 7 771 268, 318 1879 776 286 860%, 10 222 187,9, 35,63 1890 786 289 544,00 11 27257545 38,95 1899 767 287 188,,, 10 475 756 30,45 Obwohl die Zahl der Domänen und deren nutzbare Fläche ſich ver- ringert hat und obwohl wegen der über die Landwirtſchaft hereingebrochenen Kriſis die Pachtpreiſe während des letzten Jahrzehnts geſunken ſind, jo be- trug doch der Pachterlös im Jahre 1899 rund 6 Mill. Mk. mehr, als im Jahre 1849. Derſelbe iſt in 50 Jahren pro ha um mehr wie das 21/, fache, in der günſtigen Periode von 1849 — 79 ſogar faſt um das Zfache geſtiegen. Eine weſentliche Urſache des Rückganges der Pachtpreiſe in den letzten 10—12 Jahren wurde bereits früher erörtert (S. 46). Der Rück⸗ gang rührt aber außerdem daher, daß der Zinsfuß jetzt allgemein niedriger iſt, als vor 20 Jahren. Im Jahre 1879 ſtanden die 4 ½ proz. preußiſchen 1) Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften, II. Aufl. Art. Domänen⸗Statiſtik, Bd. 2 (1900), S. 225 u. 226. Zur Vermeidung von Irrtümern bemerke ich, daß hier nur die in den acht älteren Provinzen der preußiſchen Monarchie vorhandenen Domänen herangezogen ſind, um einen Vergleich mit den früheren Zeiten zu ermöglichen. Die S. 68 angeführten Zahlen, die höher ſind, beziehen ſich auf alle in der jetzigen preußiſchen Monarchie befindlichen verpachteten Domänen. f P V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 11 nſols ungefähr jo hoch, als 1899 die 3 ½ proz. Alle Kapitalien, auch Grund und Boden angelegten, werfen jetzt geringere Zinſen, als früher Deshalb müſſen auch die Pachtpreiſe, unter ſonſt gleichbleibenden Ber- miſſen zurückgehen. Als Erſatz für den dadurch verminderten Ertrag aus den Domänen hat der Staat den Vorteil, daß er nun ſeine Schulden um jo niedriger zu verzinſen braucht. Bei ſteigender Zahl und Wohlhabenheit der Bevölkerung müſſen der Reinertrag und der Wert des Bodens zunehmen und dieſes Wachstum kommt dem Staate, wenn er eigenen Grundbeſitz hat, ute. Die vorübergehend ſtattfindenden Rückgänge im Wert und Ertrag landwirtſchaftlich benutzten Flächen hebt das allgemeine Geſetz, welches us der Unvermehrbarkeit des Bodens und der Vermehrungsfähigkeit der evölkerung ſich ergibt, nicht auf. Ein anderer Einwand gegen den Domänenbeſitz des Staates wird da— begründet, daß hierdurch ein Teil der landwirtſchaftlich benutzten Fläche dem Privatverkehr entzogen werde. Dies trifft allerdings zu und könnte ade in der Gegenwart bei dem ſtarken Wettbewerb um Grund und Boden Bedenten erregen. Aber dies Bedenken gilt für jeden Beſitz in ſogenannter toter Hand. Daß derſelbe ſtark ſich anhäufe und einen erheblichen Teil der nutzbaren Bodenfläche ausmache, widerſpricht dem volkswirtſchaftlichen And ſtaatlichen Intereſſe. Wiederholt im Laufe der chriſtlichen Zeitrechnung hat der in den Händen der Kirchen und Klöſter befindliche Grundbeſitz einen ſolchen Umfang erreicht, daß der Staat mit vollem Recht dagegen einſchreiten mußte; jo z. B. unter den merowingiſchen Königen im Frankenreich, im 16. Jahrhundert ſowie zu Ende des 18. und bei Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber der Kirchenbeſitz war in dieſen Zeiten ſehr viel ausgedehnter, als der Domänenbeſitz in den deutſchen Ländern ). Zudem darf man annehmen, daß der Staat ſeine Güter in ſolcher Weiſe bewirtſchaften oder verwalten läßt, wie es dem allgemeinen Intereſſe entſpricht; daß er auch, wenn nötig, einen Teil derſelben wieder veräußert. Solches hat ſchon öfter ſtattgefunden. Allerdings iſt es nicht wünſchenswert, wenn ein bedeutender Bruchteil der nutzbaren Bodenfläche durch den Staat dem Privatverkehr entzogen wird. Für Preußen und fait alle übrigen deutſchen Staaten iſt dies auch keines— wegs der Fall. In der ganzen preußiſchen Monarchie nahmen 1898 die Domänenvorwerke 334 799 ha nutzbare Fläche in Anſpruch; dazu kommen noch etwa 30000 ha, welche der Geſtütverwaltung, den Remontedepots ꝛc. überwieſen ſind. Im Ganzen beträgt der landwirtſchaftliche Staatsbeſitz in Preußen nicht mehr wie etwa 370000 ha. Von der geſamten landwirt— ſchaftlich benutzten Fläche im Umfang von 23 107605,4 ha macht der Staats— beſitz demnach nur etwas über 1½ Proz. aus. Als mit dem Gemeinwohl unverträglich kann dies gewiß nicht betrachtet werden. Wenn der Domänenbeſitz in mäßigen Grenzen ſich hält, ſo ſind die 1 dagegen möglicherweiſe geltend zu machenden Bedenken ſo untergeordneter 1 Natur, daß ſie in Hinſicht auf die damit verbundenen Vorteile ganz zurück— 7 treten müſſen. = Die Domänen geben den Staatsfinanzen und namentlich dem Staatskredit eine nicht zu unterſchätzende Unterlage. Als ſolche haben ſie an Bedeutung im Vergleich zu früheren Zeiten allerdings ſehr eingebüßt. Andere Einfommensquellen liefern reichlichere Erträge und find daher wich— —— — 1) Nach einem Kataſter des Kurfürſtentums Köln von 1669 waren von zuſammen 347 792 altkölniſchen Morgen Ackerland allein 103 358, alſo faſt / im Beſitz der Geiftlich- leit, Stifter und Klöſter. Siehe Wygodzinski. Die Vererbung des ländlichen Grund beſißes im Königreich Preußen, herausgeg. von H. Sering. I. Oberlandesgerichtsbezirk Köln, Berlin 1897, S. 141, Anm. 72 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. tiger für den Staat. Aber ganz unweſentlich ſind in dieſer Beziehung die Domänen auch in der Gegenwart nicht; dies um ſo weniger, als ſie eine ſehr ſichere, nur geringen Schwankungen ausgeſetzte, im Laufe der Zeit vor⸗ ausſichtlich wachſende Einnahme gewähren. Bedeutungsvoller ſind ſie noch für den Staatskredit. Der Verkaufswert der Domänen ſtellt doch immerhin einen nicht ganz unbeträchtlichen Bruchteil der Staatsſchulden dar und gibt für die Staatsgläubiger ein ſichereres Unterpfand ab, als jedes ſonſtige, be— wegliche oder unbewegliche, Staatseigentum, mit Ausnahme etwa der Staats⸗ forſten. Hätte der preußige Staat in den ſchweren Jahren von 1806—1815 bei ſeinen finanziellen Operationen ſich nicht auf ſeine Domänen ſtützen und dieſe als Pfand einſetzen können, ſo würden die Freiheitskriege wohl weniger günſtig verlaufen und erſt nach längeren Kämpfen beendet worden ſein, als es tatſächlich der Fall geweſen. Schon das Vorhandenſein eines wertvollen Domänenbeſitzes und die ſorgfältige Pflege, welche der Staat dieſem ange⸗ deihen läßt, ſtößt, abgeſehen von dem darin liegenden realen Unterpfand, den Gläubigern Vertrauen zu der betreffendeu Regierung ein und hebt da⸗ durch deren Kredit. Heißt doch das Wort Kredit nichts anderes als Ver— trauen oder Vertrauenswürdigkeit. Eine weitere Bedeutung der Domänen liegt darin, daß der Staat veranlaßt und ſogar genötigt wird, mit der landwirtſchaftlichen Produktion, auch mit den Wünſchen und Bedürfniſſen der länd- lichen Bevölkerung ſich vertraut zu machen. An dem Steigen oder Fallen der Pachtpreiſe ſieht er, ob es mit der Landwirtſchaft günſtig oder ungünſtig ſteht. Die Feſtſtellung der Pachtbedingungen, die Beaufſichtigung der Pachtgüter zwingen ihn, ſich über die Eigentümlichkeiten des landwirt⸗ ſchaftlichen Gewerbes genau zu informieren. Dadurch erhält er wertvolles Material zu einem ſachgemäßen, für ihn unentbehrlichen Urteil über das, was der Landwirtſchaft nützt oder ſchadet; auch ein Urteil darüber, inwie⸗ weit die Wünſche einzelner Landwirte oder einzelner Gruppen von Land⸗ wirten für die ganze Landwirtſchaft und für alle Gruppen der ländlichen Bevölkerung als berechtigt anzuſehen ſind oder nicht. In den mit der Domänenverwaltung betrauten Männern verfügt er über Beamte, die pflicht⸗ mäßig eingehend mit der Landwirtſchaft ſich andauernd beſchäftigen und hier⸗ durch mit der Zeit ein Intereſſe und Verſtändnis für dieſelbe gewinnen, welches nicht nur den Domänen, ſondern der ganzen Landwirtſchaft im Staate zugute kommt. Über viele wichtige Fragen hätten wir ein weit weniger ſicheres Urteil, wenn uns nicht die bei den Domänen gemachten Erfahrungen zugute kämen. Beiſpielsweiſe erinnere ich an das Steigen und Sinken der landwirtſchaftlichen Reinerträge. Nichts belehrt uns zuverläſſiger über das Wachſen der Erträge und Ertragswerte der Güter in der Periode von etwa 1850 — 1875, als die Zunahme der für Domänen gezahlten Pachtpreiſe. Die S. 70 gegebene Nachweiſung zeigt gleichzeitig, daß dieſe Zunahme vor⸗ zugsweiſe in die Jahre von 1850 — 1870, fällt, während ſie in der Folgezeit ſehr nachläßt. Aus der S. 46 mitgeteilten Tabelle über die von 1890 — 1902 neu zur Verpachtung gelangten Domänen geht ebenſo deutlich hervor, daß in den letzten Jahren ein nicht unerhebliches Sinken der Pachtpreiſe ſtattgefunden hat, was einen ziemlich ſicheren Schluß auf das Sinken der Reinerträge und Ertragswerte der Landgüter überhaupt möglich macht. Auch über die Höhe des in der Landwirtſchaft nötigen Betriebs kapitals, über deſſen Verhältnis zum Grundkapital oder zu der bewirtſchafteten Fläche, über die zweckmäßigſte Formulierung von Pachtverträgen und über manche andere Fragen können die bei den Domänen gemachten Erfahrungen Aufſchlüſſe gewähren, die für die ganze Landwirtſchaft eine Bedeutung haben. V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 73 Tatſächlich ſind die Domänen ſeit 1½ Jahrhunderten ) von ebenſo wie ſegensreichem Einfluß auf die fortſcheitende Entwicklung der dwirtſchaft geweſen. Die vielen und von großem Erfolg begleiteten Ver— he Friedrich des Großen zu einer Verbeſſerung der landwirtſchaftlichen striebsweile (. S. 58) hätten unterbleiben müſſen oder doch nur einen ingen Erfolg gehabt, wenn ihm hierfür nicht ſeine Domänengüter zur gung geſtanden hätten. Die Aufhebung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältniſſes, die Verleihung des freien Eigentums an die Bauern, die Ge- meinheitsteilung und andere wichtige agrarpolitiſche Maßregeln ſind teils von riedrich dem Großen, teils von Friedrich Wilhelm III. zuerſt auf königlichen Domänen eingeführt und erprobt worden, bevor ſie in der Geſetzgebung von 1807—1821 auf die Landwirtſchaft im ganzen ausgedehnt wurden. Man darf mit großer Zuverſicht behaupten, daß dieſe Geſetzgebung weniger zweckmäßig ausgefallen ſein würde, wenn nicht ſchon ſo viele und langjährige auf den Domänen gemachte Erfahrungen vorgelegen hätten. Eein Fehlſchluß würde es ſein, wollte man annehmen, daß jetzt und in Zus kunft die Domänen zur Löſung ähnlicher Aufgaben nicht mehr berufen ſeien, wieil ſie von den einzelnen Landwirten oder den landwirtſchaftlichen Vereinen ebenſogut oder beſſer erfüllt würden. Für die techniſche Handhabung der Landwirtſchaft mag dies vielleicht, wenn auch nicht ganz ohne Einſchränkung, zugegeben werden können. Es gilt aber nicht für Fragen, welche die Orga— niſation und den Erfolg des Betriebes betreffen und noch viel weniger für agrarpolitiſche Aufgaben. Solche treten immer wieder neu in die Erſcheinung, mag auch ihr Inhalt ein anderer als früher geworden ſein. Mir iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß die Domänen in den öſtlichen preußiſchen Provinzen noch einmal eine wichtige Rolle ſpielen werden, wenn der Staat ſich an die Auf⸗ gabe heranmacht, die dort in gewiſſen Beziehungen nicht normalen Verhält⸗ niſſe in geſundere überzuführen. Von ſeiten der Großherzöge von Mecklen— burg⸗Schwerin iſt in den letzten Jahrzehnten der Domanialbeſitz mit dem beſten Erfolg zur Gründung von bäuerlichen und ländlichen Arbeiterſtellen benutzt worden, um den faſt verſchwundenen und doch ſo wichtigen Stand der kleinen und mittleren Grundbeſitzer wieder zahlreicher zu machen. 1 Unter den praktiſchen Landwirten haben die Domänenpächter ſtets eeine hervorragende Stellung eingenommen; die Organiſation und Leitung der Domänenwirtſchaften iſt durchſchnittlich eine beſſere wie die der übrigen 1 Wirtſchaften. Es liegt dies teils daran, daß die Regierung unter den Pacht⸗ 1 bewerbern ſich die tüchtigſten Männer ausſucht, teils daran, daß ſie den Nachweis eines genügenden Betriebskapitals verlangt und daß ſie durch regelmäßige Reviſionen von der ordnungsmäßigen Wirtſchaftsführung ſich überzeugt. Überall, wo Verbeſſerungen im landwirtſchaftlichen Betrieb ein— geführt werden oder, wo es gilt, gemeinſame landwirtſchaftliche Intereſſen zu vertreten, pflegen Domänenpächter in vorderſter Reihe ſich zu befinden. Sie ſtellen weiter ein nützliches und wertvolles Bindeglied zwiſchen der Regierung und den praktiſchen Landwirten dar. Niemand, der die Geſchichte der deutſchen Landwirtſchaft im Laufe des 19. Jahrhunderts einigermaßen kennt oder der eine längere und vielſeitige eigene Erfahrung hinter ſich hat, kann darüber im Zweifel ſein, daß der landwirtſchaftliche Betrieb nicht auf ſeiner jetzigen Höhe ſtehen würde, wenn wir keine Domänenpächter gehabt hätten. Bei den bisher gemachten Ausführungen iſt von der Vorausſetzung ausgegangen worden, daß der Staat ſeinen Grundbeſitz nicht ſelbſt bewirt— 1) Vermutlich auch ſchon in früherer Zeit; darüber kann ich aber kein jo ſicheres Urteil abgeben. 74 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. ſchaftet, ſondern verpachtet. Dies ift auch in der Tat das Richtige. Schon an einer anderen Stelle wurde dargelegt (. S. 57), daß und weshalb es nicht zweckmäßig ſei, die Domänen durch beſoldete Beamte adminiſtrieren zu laſſen. Die Beaufſichtigung der Adminiſtratoren würde einen koſtſpieligen Verwaltungsapparat notwendig machen und der Staat könnte ihnen nicht die Freiheit in der Bewirtſchaftung einräumen, die zur Erzielung höchſter Erfolge durchaus notwendig iſt. 1 Sollen die Domänen für den Staat und die Landwirtſchaft das leiften wozu ſie befähigt und beſtimmt ſind, ſo müſſen ſie in allen Gebieten des \ Staates einigermaßen gleich verteilt ſein. Die Gründe hierfür im ein⸗ zelnen darzulegen, kann als überflüſſig betrachtet werden, da ſie aus der Natur der Sache und den vorangegangenen Erörterungen von ſelbſt ſich er— geben. Im Deutſchen Reich iſt die Verteilung der Domänen eine ſehr un- gleiche. Alle öſtlichen Provinzen der preußiſchen Monarchie und deren ein⸗ zelne Regierungsbezirke enthalten eine mehr oder minder große Anzahl von Domänen, ebenſo die Provinzen Hannover und Heſſen-Naſſau; dagegen ſind in den Provinzen Schleswig-Holſtein, Weſtfalen und Rheinland ſo gut wie gar keine Domänen vorhanden ). Das Königreich Sachſen und noch mehr Bayern ſind arm an Domänen, Württemberg, Baden und Heſſen viel reicher. Den größten Domänenbeſitz hat Mecklenburg-Schwerin; er umfaßt 42,502 Proz. der Geſamtfläche des Großherzogtums ). Unter anderen Verhältniſſen würde eine derartige Ausdehnung des Domanialbeſitzes viel zu groß ſein; bei der eigentümlichen Lage der Dinge in Mecklenburg-Schwerin hat ſie ſich aber für die dortigen wirtſchaftlichen und ſozialen Zuſtände als ſehr nützlich erwieſen (. S. 73). Wenngleich die Verpachtung der Domänen als Regel zu gelten hat, ſo wird doch der Staat eine kleinere Anzahl ſeiner Landgüter in Selbſtbe⸗ wirtſchaftung behalten, d. h. durch ſeine Beamten adminiſtrieren laſſen müſſen. Es ſind diejenigen, die er zur Förderung von ſolchen Zweigen oder Zwecken der Landwirtſchaft nötig hat, die er der Privatunternehmung entweder über⸗ haupt nicht oder doch nicht ausſchließlich überlaſſen kann. Hierzu gehören namentlich die Domänen, welche zur Aufnahme von Geſtüten oder Re⸗ montedepots beſtimmt ſind. Mit Rückſicht auf die Erhaltung der Wehr⸗ fähigkeit des Landes muß der Staat Einrichtungen treffen, die ihm die nötige Garantie bieten, daß er jederzeit, auch im Kriegsfall, über die erforderliche Anzahl von Pferden verfügen kann, die für Militärzwecke ſich eignen. Cr treibt deshalb in ſeinen Hauptgeſtüten Pferdezucht und ſtellt in ſeinen Land⸗ geſtüten geeignet Hengſte auf, die den privaten Pferdebeſitzern unentgeltlich oder gegen eine geringe Entſchädigung zur Bedeckung ihrer Stuten über⸗ laſſen werden. In den Remontedepots unterhält und pflegt er die für. Militärzwecke angekauften 3= oder 4jährigen Pferde eine Zeitlang, um ſie für ihre künftige Beſtimmung genügend vorzubereiten. Behufs Gewinnung des für die Tiere nötigen Bedarfs an Stallfutter, Einſtreu und Weide werden nicht unbedeutende Flächen erfordert, und dieſe müſſen in einer rationellen, dem vorliegenden beſtimmten Zwecke angepaßten Weiſe bewirtſchaftet werden. Es können daher nur Staatsgüter hierbei in Frage kommen, die nicht ver⸗ pachtet ſind, ſondern unter der Adminiſtration von Beamten ſich befinden. Nach dem Staatshaushalt-Etat für das Jahr 1904 dienten in Preußen der 1) In jüngſter Zeit hat die preuß. Staatsverwaltung damit begonnen, auch in den 3 letztgenannten Provinzen Domänen käuflich zu erwerben. 2) Ausführliche Angaben über den Domänenbeſitz der einzelnen deutſchen Staaten finden ſich in der bereits mehrfach zitierten Abhandlung von Conrad im 3. Bande, 2. Aufl. (1900) des Handwörterbuchs der Staatswiſſenſchaften, S. 223 ff. V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 75 chen Pferdezucht im ganzen 59 Domänenvorwerke mit einer nutzbaren von 21806 ha). — Die Geſtüte und Remontedepots geben übrigens Beleg dafür ab, daß auch in der Gegenwart noch Fälle vorkommen ien, in denen der Staat ſelbſt als landwirtſchaftlicher Unternehmer auf ten und ſogar auf einen einzelnen Zweig der landwirtſchaftlichen Techni mmend einzuwirken berufen iſt. Was die deutſchen Regierungen durch Mitbeteiligung an der Pferdezucht geleiſtet haben, iſt nicht nur den be⸗ effenden Staatsverwaltungen, ſondern in mindeſtens ebenſo hohem Maße den vaten Pferdebeſitzern und der ganzen Landespferdezucht zugute gekommen. Auch ſonſtige Staatszwecke gibt es, deren Erfüllung nur mit Hilfe nes Staatsgutes möglich iſt. Hierhin gehört z. B. die Einrichtung und haltung von landwirtſchaftlichen, mit einem praktiſchen Betrieb verbundenen terrichtsanſtalten und von landwirtſchaftlichen Verſuchsſtationen. Die Zahl hierzu etwa erforderlichen Domänen iſt aber ſelbſt in einem großen Staate nur gering. Auf den etwa in Zukunft eintretenden Bedarf an derartigen Gütern braucht die Domänenpolitik nicht Rückſicht zu nehmen, da ſie vor⸗ kommenden Falles käuflich erworben werden können 2). 1 Von ganz oder teilweiſe anderen Geſichtspunkten wie der Domänen- beſitz iſt der Forſtbeſitz des Staates zu beurteilen. In jedem Lande gibt es ausgedehnte Flächen, die wegen ihrer ſteilen oder hohen Lage oder wiegen der ſteinigen oder ſonſt ſchlechten Beſchaffenheit des Bodens nur zur Holzzucht verwendet werden können oder doch bei dieſer Nutzung die höchſt möglichen Reinerträge gewähren. Häufig ſind dies zugleich Grundſtücke, deren Bepflanzung mit Holz im Intereſſe der Landeskultur durchaus er— forderlich iſt. Bleiben ſie kahl oder werden ſie zu der, vielleicht möglichen, Weidenutzung herangezogen, ſo liegt die Gefahr vor, daß benachbarte oder unterhalb liegende Grundſtücke von Waſſer überſchwemmt oder von Sand überweht werden. Unter beſtimmten örtlichen Verhältniſſen bilden Wälder ein wichtiges Schutzmittel für landwirtſchaftlich benutzte Grundſtücke gegen den ſchädlichen Einfluß von rauhen Winden; ſie wirken auch regulierend auf die Temperatur⸗ und Feuchtigkeitsverhältniſſe der Nachbarſchaft ein. Für die Land⸗ und Volkswirtſchaft iſt es daher wichtig, daß alle Grundſtücke 33 Art auch zum Waldbau verwendet und in einer, ihrer ſpeziellen Natur und Beſtimmung entſprechenden Weiſe forſtlich gepflegt werden. Be— finden ſie ſich im Privatbeſitz, jo iſt die Gewähr hierfür häufig nicht ge— boten; auch für die im Gemeindebeſitz ſtehenden Flächen fehlt ſie oft. Die 1 in vielen Teilen des Deutſches Reiches noch in großer Ausdehnung vor— ri handenen kahlen Bergabhänge oder öden Heideflächen, die abſolutes Wald— 5 land darſtellen, auch in früheren Zeiten meiſt als Wald genutzt worden 4 ſind, liefern den Beweis, daß der Staat ohne Schädigung des Geſamtwohles 4 den Betrieb der Forſtwirtſchaft nicht in ähnlicher Weiſe wie den der Land— K wirtſchaft faſt ausſchließlich der Privatunternehmung überlaſſen darf. Aber y auch noch andere Gründe laſſen ſich hierfür geltend machen. | Die d 8 eignet ſich am beſten für den Großbetrieb; ihre 5 * 8 rentabelſte Form, die Hochwaldwirtſchaft, iſt überhaupt nur bei umfangreichen Komplexen mit Erfolg durchführbar. Eine rationelle Waldwirtſchaft und ebenſo die zweckmäßige Verrichtung der einzelnen Waldarbeiten erfordern 5 5 es 1) Anlagen zum Staatshaushalt⸗Etat für 1904, I. Bd., Nr. 1, S. 3, Bemerkungen. | 2) Über die Bedeutung der Staatsdomänen überhaupt ſowie insbeſondere über die Verwaltung, Erträge u. ſ. w. der preuß. Domänen befindet ſich ein ſehr beachtenswerter Vortrag „Aus der preußiſchen Domänenverwaltung“, gehalten von dem auf dieſem Gebiete hervorragend bewanderten Miniſterialdirektor Dr. Hugo Thiel in „Nachrichten aus dem Klub der Landwirte“ für 1902, Nr. 453 u. 454. 76 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. Kenntniſſe und Fertigkeiten, die den praktiſchen Landwirten und den länd⸗ a lichen Arbeitern heutzutage in der Regel fehlen oder doch nur mangelhaft vorhanden ſind. Für ſie find Perſonen nötig, die beſonders für dieſen Be ruf vorgebildet oder darin eingeſchult ſind. Solches gilt für alle Stufen des Forſtperſonals von den dirigierenden Oberförſtern oder Forſtmeiſtern bis zu den Unterförſtern, Forſtaufſehern und Waldarbeitern herab. Wer nur eine kleine Waldfläche hat, muß bei deren Bewirtſchaftung in der Regel auf die Hilfe von wirklich Sachverſtändigen verzichten und ſich mit minderwertigen Kräften begnügen. Wollte er trotzdem geſchulte Forſtleute hierfür benutzen, ſo würden die Wirtſchaftskoſten ungebührlich hoch zu ſtehen kommen. Die Waldnutzung iſt im Vergleich zur Landwirtſchaft eine extenſive Art der Bodennutzung, die verhältnismäßig wenig Arbeit und Kapital in Anſpruch nimmt, aber auch keine großen Aufwendungen an beiden bezahlt macht. In der preußiſchen Staatsforſtverwaltung ſind (1904) 760 Oberförſter und 3912 Revier⸗ oder Unterförſter angeſtellt. Das Staatsforſtareal beträgt 2836986 ha!). Für je 3733 ha tft daher nur ein Oberförſter und für je 726 ha ein Unterförſter erforderlich. Dieſelbe Fläche, landwirtſchaftlich be⸗ nutzt, würde das 5- bis 10-fache oder noch mehr an verwaltendem oder auf- ſichtführendem Perſonal in Anſpruch nehmen. Für den Bedarf an Hand⸗ arbeitern ſtellt ſich das Verhältnis zwiſchen Forſt⸗ und Landwirtſchaft noch mehr zugunſten der erſteren. Eigene Geſpannkräfte braucht die Forſt⸗ verwaltung faſt gar nicht. Aus allen dieſen Urſachen iſt der Forſtbetrieb im Verhältnis zum landwirtſchaftlichen Betrieb einfach. Er iſt zudem wenig Veränderungen unterworfen, da die auf einer Waldfläche ſtehenden Hölzer dieſelbe in der Regel 50 bis 100 oder mehr Jahre beſetzen. Die großen Bedenken, welche der direkten Verwaltung des Staates bei den Domänen entgegenſtehen, ſind daher bezüglich des Staatsforſtbeſitzes nicht vorhanden. Was zugunſten der Domänen angeführt wurde, daß ſie eine ſichere Einnahmequelle und eine wichtige Unterlage für den Staatskredit abgeben, gilt gleicherweiſe auch für die Staatsforſten; in den meiſten deutſchen Ländern haben ſie ſogar nach dieſer Richtung hin eine noch viel größere Bedeutung. Der preußiſche Staatshaushalt⸗Etat für 1904 weiſt in der Forſtverwaltung an Einnahmen 99 368000 Mk. an dauernden ſowie an einmaligen und außer⸗ ordentlichen Ausgaben 48217000 Mk, alſo einen Überſchuß (Reinertrag) von 51150000 Mk. nach 2). Betrachtet man letzteren als die Zinſen eines zu 3 Proz. angelegten Kapitals, ſo würde der Ertragswert der preußiſchen Staatsforſten auf 33,33 5 51150 000 1704829950 Mk. ſich ſtellen: eine Summe, die für den Kredit des preußiſchen Staates ſehr erheblich ins Ge⸗ wicht fällt. Auch der günſtige Einfluß, den die ſtaatliche Forſtverwaltung durch ihr Beiſpiel und die bei ihr angeſtellten Perſonen, durch Raterteilung und ſonſtige Hilfeleiſtung, auf die Bewirtſchaftung der Privat⸗ und Gemeinde⸗ waldungen ausübt, darf nicht gering veranſchlagt werden. Nächſt dem Staate ſind die Großgrundbeſitzer und die Gemeinden dazu berufen, das ſeiner Natur nach zum Waldbau beſtimmte Land forſtwirt⸗ ſchaftlich zu benutzen, und zwar weil ſie, oder doch viele unter ihnen, über größere zuſammenhängende derartige Flächen verfügen, was für die einzelnen bäuerlichen Beſitzer nicht zutrifft. Beide bieten aber nicht die gleiche Garantie wie der Staat, daß die Forſten dauernd ihrer Beſtimmung erhalten bleiben und zweckmäßig bewirtſchaftet werden. Auf die Gemeinden kann allerdings der Staat einen gewiſſen Einfluß ausüben und es iſt ganz in der Ordnung, S. Anlangen ge RR Etat für 1904, Bd, I, Nr. 2, S. 4 u. 20. en r V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbejig. 77 er ein Aufſichtsrecht über die Gemeindewaldungen in Anſpruch nimmt. ei Privatwaldungen kann er ein ſolches nicht wohl geltend machen, außer n es ſich um ſog. Schutzwaldungen, d. h. ſolche Waldungen handelt, die geſprochenermaßen notwendig ſind, um benachbarte oder unterhalb gelegene chen vor Überſchwemmung oder Verſandung zu bewahren. Bei nicht m Staate beaufſichtigten Gemeindewäldern und bei Privatforſten liegt ſtets e Gefahr vor, daß ſie, wenn die Beſitzer Geld zu bedürfen glauben, nieder- geſchlagen werden. Ein abgeholztes Terrain läßt ſich aber nicht ſchnell und nicht ohne große Koſten wieder in Wald verwandeln. Die Mittel und Neigung zur Wiederaufforſtung pflegen aber in dem gedachten Falle ſelten orhanden zu ſein. Um ſo wichtiger iſt es, daß der Staat ſelbſt über eine ausgedehnte Waldfläche als Eigentümer verfügt. Nach der Bodenſtatiſtik für das Deutſche Reich von 1893 betrug die als Waldland benutzte Fläche 13 956 827,3 ha oder 25,8 Proz. der Geſamtfläche des Deutſchen Reiches !). Davon kamen auf: in ha in Proz. Kron⸗ und Staatsforſten 4 593 285, 22. Staatsanteilforſten 47 560% 0% Gemeindeforſten 2 180 584, 153 Privatforſten 6 625 466, 47.5 Genoſſenſchaftsforſten 319 634, 1 Stiftungsforſten 183 799, 1% Zuſammen 13 950 329, 100% In runden Zahlen nahmen alſo die Privatforſten die Hälfte, die Staatsforſten ein Drittel, die Gemeindeforſten ein Sechſtel der Waldfläche in Anſpruch. Ein Vergleich der beiden Bodenſtatiſtiken von 1893 und 1883 zeigt übrigens, daß in dieſem 10-jährigen Zeitraum die Staatsforſten um 87 517,1 ha, die Gemeindeforſten um 70 671,0 ha zugenommen, dagegen die Privatforſten um 95 518,2 ha, die Genoſſenſchaftsforſten um 25 122,4 ha abgenommen haben. 2 . De Be . es * =: 1 er * Sr % Schon an einer früheren Stelle (S. 63 ff.) wurde dargelegt, daß ur- ſprünglich der ganze Grund und Boden im Geſamteigentum ſich befand, daß auch noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts die meiſten Dörfer mehr oder weniger umfangreiche Flächen an Weiden oder Wald, zuweilen auch an Acekerland, beſaßen, die im Eigentum der Gemeinde oder der nutzungs— * berechtigten Gemeindeglieder waren. In den zu der alten preußiſchen Monarchie gehörenden Provinzen, in denen das preußiſche Landrecht galt, ſind wenigſtens die Gemeindeweiden, ſpäter faſt vollſtändig aufgeteilt worden; ; dasſelbe iſt in einzelnen anderen deutſchen Ländern geſchehen. Dagegen hat u ſich der Gemeindegrundbeſitz im weſtlichen, beſonders ſüdweſtlichen Deutſchland ; noch in bedeutender Ausdehnung erhalten. In Württemberg nahm 1863 der Gemeindegrundbeſitz zuſammen 735722 württembergiſche Morgen (0,315 ha) in Anſpruch. Davon kamen auf Waldungen 563837 Morgen, auf Wieſen . 25864 Morgen, auf Acker 58285 Morgen, auf Gärten 5245 Morgen, auf ſonſtige Kulturarten (meiſt Weiden) 82491 Morgen. Von den 1910 Ge— 1) Im Jahre 1900 machte die forſtwirtſchaftlich benutzte Fläche 13995 569 ha oder 25,7% der Geſamtfläche aus. S. Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 24. Jahrg., 1903, S. 32. 2) Die Differenz zwiſchen dieſer Summe und der vorher angegebenen über die geſamte Forſtfläche erklärte ſich daraus, daß aus einzelnen kleineren deutſchen Ländern Augaben über die Beſitzſtandverhältniſſe nicht vorliegen. S. Anbau-, Forſt⸗ und Ernteſtatiſtik für das Jahr 1893, S. IV, 187 und 190. 78 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. meinden des Königreichs beſaßen nur 213 oder 11,1 Proz. kein Grun eigentum, 1315 oder 68,9 Proz. beſaßen Waldungen, 1629 oder 85,3 Proz beſaßen ſonſtiges Grundeigentum. In Baden gab es am 1. Januar 187 noch 1250 Gemeinden mit Allmendnutzungen. Von ſämtlichen Waldungen des Großherzogtums gehörten 47,1 Proz. oder 246037 ha den Gemeinden. Von der land wirtſchaftlich benutzten Fläche waren 5,7 Proz. oder 125967 ha Allmendbeſitz. Hiervon kamen 61954 ha auf Ackerland (4,1 Proz. der ganzen Ackerfläche), 29157 ha auf Wieſen (6 Proz. der Wiejenfläche, 34233 ha auf Weiden (19,9 Proz. der Weidefläche) und 623 ha auf Rebland (1,1 Proz. des Reblandes). Noch verbreiteter iſt der Allmendbeſitz in den ehemaligen hohenzollernſchen Fürſtentümern. In beiden zuſammen nahmen die Gemeindeweiden faſt / der d Weiden ein. Von den 27 Gemeinden Hohenzollern-Hechingens iſt bloß eine ohne Allmendbeſitz; 47 Proz. des ganzen Grund und Bodens gehört den Gemeinden. Auch in Heſſen-Darmſtadt und in Elſaß-Lothring en haben die Allmenden noch eine große Ausdehnung ). In den anderen deutſchen Staaten iſt der Allmendbeſitz, wenigſtens an landwirtſchaftlich benutzten Grundſtücken nur gering. Dagegen kommen Gemeindewaldungen faſt überall in kleinerem oder größerem Umfange vor. Zur weiteren Orientierung über die Verbreitung des Gemeindebeſitzes im Deutſchen Reiche und in deſſen einzelnen Teilen mögen noch folgende Angaben hier Platz finden. Die zu den landwirtſchaftlichen Betrieben des Deutſchen Reiches im Jahre 1895 gehörende Geſamtfläche betrug 43 278 487 ha?). Davon kamen auf Gemeindeland 168 097 ha oder 0,39 Proz. Der Allmendbeſitz machte nach abſoluter Fläche aus: in der preußiſchen Rheinprovinz 21 390 ha | „ Hohenzollern 3347 „ „ Württemberg 23011 5 „ Baden 31357 h „ Heſſen⸗Darmſtadt 5686 „ f „ Elſaß⸗Lothringen 25 062 „ 1 Zuſammen 109 853 ha Von dem zu landwirtſchaftlichen Betrieben gehörenden Gemeindeland fielen alſo auf die genannten 6 Staaten oder Bezirke 65,9 Proz. Eine allgemeinere, wiewohl auch noch ſehr ungleiche Verteilung weiſt der Gemeindeforſtbeſitz auf. Derſelbe betrug im ganzen Deutſchen Reiche 2 180 584,1 ha oder 15,6 Proz. der geſamten Forſtfläche. Davon fielen auf die preußiſche Monarchie 1025 524,7 ha oder 12,5 Proz. der preußi⸗ ſchen Forſten. Mit Ausnahme der Provinzen Brandenburg und Schleſien, in welchen manche Städte über großen Waldbeſitz verfügen, hatten aber nur in der Rheinprovinz, Heſſen-Naſſau und Hohenzollern die Gemeindeforſten eine erhebliche Ausdehnung. Dieſelben nahmen ein?): 1) Vergl. Artikel „Allmend“ von K. Bücher im Handwörterbuch der Staatswiſſen⸗ ſchaften, 1. Aufl., Bd. I (1890), S. 187 ff., 2. Aufl., Bd. I (1898), S. 255 ff. beſ. S. 262, 263. Ferner: Emil de Laveleye, Das Ureigentum, herausg. von K. Bücher (1879), S. 152 — 230. Das Königreich Württemberg, Stuttgart 1863, S. 432. 2) Vierteljahrshefte zur Statiſtik des Deutſchen Reiches, Berlin 1897, S. 71. In obiger Summe iſt das, von landwirtſchaftlichen Betrieben unabhängig bewirtſchaftete Forſt⸗ a 1585 den bei weitem größten Teil der geſamten Waldfläche ausmacht, nicht mit einbegriffen. 3) Anbau⸗, Forſt⸗ und Ernteſtatiſtik für das Jahr 1893, Berlin 1894, S. IV, 202 und 203. — — — 2 = N RE ee, IT 5 r R e N 9 2 5 „ a ee en 8 „„ „ „ Te Fe ee 2 . E x . N — 4 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 79 abſolut in Prozenten der Waldfläche ha der betr. Landesteile in Heſſen⸗Naſſau 219 765% 351 „ der Rheinprovinz 329 538, 395 „ Hohenzollern 20 004, 52, ei Zuſammen 569 308,, | In allen übrigen Provinzen betrug der prozentiſche Anteil der Ge— i 4 551 an der geſamten Waldfläche nur zwiſchen 2,0 und 9,9 Proz. Durch verhältnismäßig großen Gemeindewaldbeſitz zeichnen ſich unter den zerpreußiſchen Ländern oder Landesteilen des Deutſchen Reiches noch aus: eee | abſolut . in rozenten der oder Landesteil ha ee bayr. Rheinpfalz 82 468, 35% „ Reg. ⸗Bez. Unterfranken 114 388, f 36, Königr. Württemberg 177 211% 29, Großherzogtum Baden 284 570% 4510 1 Heſſen 87 308, 36% Oldenburg, Fürſtent. Birkenfeld 6 643% 38 Elſaß⸗Lothringen 198 493, 4478 Zuſammen 921 083, Rechnet man hierzu den Gemeindeforſtbeſitz von Heſſen-Naſſau, Rhein⸗ provinz und Hohenzollern mit 569 308,3 ha, jo ergibt ſich, daß die auf- Peugcen Gebiete, welche zuſammen nur den bei weitem kleineren Teil des tſchen Reiches ausmachen, von dem ganzen deutſchen Gemeindewaldareal 1490 391,5 ha oder rund 68 Proz. in Anſpruch nehmen. Es ſind ungefähr die gleichen Gebiete, in denen auch die landwirtſchaftlich benutzten All— menden einen verhältnismäßig großen Umfang haben. In der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden, auch von ſach— verſtändigen und objektiv denkenden Männern, die Allmenden, namentlich die landwirtſchaftlich benutzten, ungünſtig beurteilt. Albrecht Thaer hat die Teilung der Gemeindeweiden, welche, vom Walde abgeſehen, den weit über- wiegenden Teil des Gemeindelandes ausmachten, eifrig befürwortet und be— fördert. Dieſe Anſchauung ging aus der damals herrſchenden individua— liſtiſchen Theorie hervor, die das wirtſchaftliche Wohl nicht nur der Ein— elnen, ſondern auch der Geſamtheit am meiſten geſichert glaubte, wenn jeder frei und von anderen unabhängig über ſeine perſönlichen Kräfte und über ſeine Produktionsmittel verfügen könne. Sie fand auch in den tatſächlichen Verhältniſſen eine gewichtige Begründung. Die Gemeindeweiden wurden ſehr vernachläſſigt und brachten bei weitem nicht das, was ſie bei angemeſſener Pflege hätte bringen können; ein großer Teil davon eignete ſich zudem beſſer für den Acker⸗ und Wieſenbau. Thaer und viele ſeiner Zeitgenoſſen hatten ferner eine übertriebene Vorliebe für die Sommerſtallfütterung des Rind— viehes und erachteten den Weidegang desſelben in den meiſten Fällen für überflüſſig und unwirtſchaftlich. Weiter überſah man die Wirkungen, welche eine Aufteilung der Gemeindeweiden auf die bäuerlichen Beſitzer und nament— lich auf die erſt in der Entſtehung begriffene Klaſſe der ländlichen Arbeiter ausüben würde. Noch viel weniger zog man in Rechnung, daß Zeiten ein— treten könnten, in denen der Gemeindehaushalt bedeutende Mittel erfordern würde. Für Wege, Schulen, Armenverſorgung ꝛc. waren damals nur geringe Aufwendungen nötig und dieſe beſtanden hauptſächlich in Naturalleiſtungen. Aus allen dieſen Umſtänden erklärt es ſich, weshalb man auf Erhaltung eines Gemeindebeſitzes wenig Gewicht legte und faſt lediglich deſſen Nach— 80 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. teile, aber nicht deſſen Vorzüge ins Auge faßte. Es wird hieraus auch = deutlich, weshalb man mit der Aufteilung der Gemeinheiten dort beſonders radikal vorging, wo der Großgrundbeſitz oder der große und geſchloſſene bäuerliche Beſitz überwog und auf die Geſetzgebung und Verwaltung den "a entſcheidenden Einfluß hatte. Für den Großbeſitz und in zweiter Linie für den großbäuerlichen Beſitz iſt das Gemeindeland entbehrlich oder doch von untergeordnetem Wert. Beide können vermöge des bedeutenden Umfanges der ihnen zur Verfügung ſtehenden Bodenfläche ſich diejenigen Vorteile ver⸗ 4 ſchaffen, welche den kleineren Grundeigentümern nur zugänglich ſind, wenn ausreichendes Gemeindeland vorhanden iſt. Jetzt herrſcht unter den Sachkennern ziemliche Übereinſtimmung darüber, i daß es wünſchenswert tft, wenn ein Teil der Gemeindeflur dem Privatbeſitz entzogen wird und Allmend bleibt. Nahezu nötig erſcheint dies für das forſtwirtſchaftlich benutzte Areal. Eine rationelle und rentable Wald⸗ wirtſchaft iſt nur möglich bei größeren Flächen, die nach einem einheitlichen Plane behandelt werden und unter einheitlicher ſachverſtändiger Aufſicht ſtehen. Wichtiger für den kleinen bäuerlichen Beſitzer und die im Dorfe wohnenden Arbeiter und Handwerker iſt das Vorhandenſein von Gemeindeweiden. Dieſe bieten oft allein die Möglichkeit, Vieh zu halten und Dünger zu er⸗ zeugen, der wiederum für den Ackerbaubetrieb nicht entbehrt werden kann. Sommerſtallfütterung iſt für die kleinen Leute häufig entweder überhaupt undurchführbar oder übermäßig koſtſpielig; dasſelbe, und zwar in noch höherem Grade, gilt von der Weidenutzung auf kleinen Flächen. Das erforderliche Winterfutter läßt ſich viel leichter beſchaffen. Weniger wichtig iſt der Allmendbeſitz von Wieſen und noch weniger der vom Ackerland. Indeſſen kann auch dieſer von Nutzen ſein, falls er nur einen kleinen Bruchteil des geſamten, zur Gemeindeflur gehörenden Wieſen und Ackerlandes bildet, und falls ſeine Benutzung in zweckmäßiger Weiſe geregelt iſt. Letzteres gilt übrigens von allem Gemeindebeſitz. Unter dieſen Vorausſetzungen gewährt die Exiſtenz von Allmenden folgende Vorzüge. Gemeindeweiden ermöglichen oder erleichtern und verbilligen den kleinen und mittleren Beſitzern, ebenſo den auf dem Lande wohnenden Ar⸗ beitern und Handwerkern die Viehhaltung. Letztere gewährt ihnen außer der als Nahrungsmittel wichtigen Milch den für die Ackernutzung unentbehr⸗ lichen Dünger. In etwas abgeſchwächtem Grade gilt das Gleiche von Gemeindewieſen. Gemeindewaldungen liefern den Dorfbewohnern ihren Bedarf an Brenn-, oft auch an Nutz- und Bauholz. Der über dieſen Bedarf hinaus erzielte Ertrag kann durch Verkauf verwertet werden; der Erlös dient zur Deckung von Gemeindeausgaben oder kommt direkt den einzelnen Nutzungs⸗ berechtigten zugute. Etwa vorhandenes Gemeinde-Acker- oder Garten- oder Rebland wird einzelnen, dazu nach Ortsſtatut oder nach hergebrachter Sitte berech⸗ tigten oder von der Gemeinde dazu beſtimmten Perſonen auf längere Jahre oder auf Lebenszeit zur Nutzung überlaſſen. Geſchieht dies gegen Zahlung eines Pachtzinſes, jo erzielt die Gemeindekaſſe daraus eine ſichere Ein- nahme; geſchieht es unentgeltlich, ſo wird die wirtſchaftliche Lage der Nutzungs⸗ e gehoben und damit deren Leiſtungsfähigkeit für öffentliche Zwecke geſteigert. Alle Allmenden haben die große Bedeutung, daß ſie die finanziellen Verhältniſſe der Gemeinde direkt oder indirekt verbeſſern. Sie bewirken eine Erniedrigung der andernfalls zu entrichtenden Abgaben oder erleichtern die 5 * 4 N Er 1 1 u . Be. * Ir 0 9 * u * 2 1 4 0 i 2 8 V. Der Staat als Grundbeſitzer und der Gemeindegrundbeſitz. 81 lung der aufgelegten öffentlichen Laſten. Sie verringern die Aufwen⸗ gen für Verſorgung von Witwen oder anderen hilfsbedürftigen Perſonen damit die ſog. Armenlaſten. Der bare Erlös aus der Verpachtung Allmenden oder aus dem Verkauf von Allmendprodukten (Holz) reicht hin, um von Gemeindeabgaben ganz Abſtand zu nehmen oder ſie doch niedrig zu halten; fließt er den Anteilsberechtigten unmittelbar zu, ſo et er für ſie eine wertvolle bare Einnahme. Von beſonderer Wichtigkeit die Allmenden dadurch, daß ſie die Möglichkeit darbieten, den kleinen ten Anteil an der Bodennutzung zu gewähren oder den vorhandenen eſcheidenen Anteil zu vergrößern und hierdurch die wirtſchaftlichen und zialen Unterſchiede oder Gegenſätze zwiſchen den Ortsbewohnern zu mildern. uf dieſen Punkt iſt gerade in der Gegenwart ein beſonderes Gewicht zu en h Geenannte Vorzüge ſind mit den Allmenden aber nur verbunden, wenn ſie gut bewirtſchaftet und ihre Nutzung in einer den örtlichen Bedürfniſſen Hentſprechenden Weiſe geregelt iſt. Nach beiden Richtungen hin ſind in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortſchritte gemacht worden. Mag auch die Pflege der Gemeinde⸗Waldungen und -Weiden an vielen Orten noch manches zu wünſchen übrig laſſen, jo hat ſich dieſelbe doch ſehr verbeſſert. Das . Wachstum der Bevölkerung und damit des Wertes des Bodens und ſeiner Nutzungen, die zunehmende Einſicht bei den Gemeindegliedern, die allgemeinere Verbreitung einer rationellen Wirtſchaftsweiſe haben bereits dazu geführt und werden weiter dazu führen, daß man den Allmenden eine ſtets geſteigerte Sorgfalt zuwendet. | 1 Eine gewiſſe Aufſicht des Staates iſt dabei allerdings unentbehr— lich. Sie hat ſich namentlich darauf zu erſtrecken, daß die Allmenden nicht diurch die gegenwärtige Generation derartig ausgebeutet werden, daß ihre Ertragsfähigkeit für die Zukunft geſchwächt wird. Beſonders für Gemeinde— waldungen iſt dies nötig. In den meiſten deutſchen Staaten hat ſich die Regierung auch ein derartiges Aufſichtsrecht vorbehalten. Für die landwirt⸗ ſchaftlich benutzten Allmenden ſcheint die ſtaatliche Aufſicht weniger nötig oder ganz entbehrlich. 5 Die Art, wie die Allmendnutzung verteilt iſt und ausgeübt wird, ge— ſtaltet ſich in den einzelnen Gemeinden ſehr verſchieden. Sie wird in der Regel entweder durch ältere Gewohnheitsrechte oder durch beſondere ſtatu— tariſche Feſtſetzungen beſtimmt. Je nach der Größe, Beſchaffenheit und Kulturart der Allmenden ſowie je nach den örtlichen, wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſen müſſen dieſe ganz verſchieden ſich geſtalten. Sofern nicht offenbare Mißbräuche vorliegen, die ein direktes Eingreifen nötig machen, ſoll der Staat ſich darauf beſchränken, gewiſſe allgemeine Beſtimmungen über die Nutzung und Pflege der Allmenden zu erlaſſen, die Ausgeſtaltung und Anwendung derſelben im einzelnen aber den Gemeinden ſelbſt anheimſtellen. Dabei wird es immer noch ſeine Aufgabe bleiben, den ihm zuſtehenden großen Einfluß nach der Richtung geltend zu machen, daß die Pflege der Allmenden und die Verteilung ihrer Nutzung in einer dem Gemeinwohle möglichſt ent— ſprechenden Weiſe erfolge ). Für diejenigen Länder oder Landesteile, in denen keine Allmenden oder doch nicht in genügender Art und Ausdehnung vorhanden find, muß es Auf: 1) Hierüber wird in Abſchnitt IX noch zu handeln ſein. 2) Eine gedrängte, aber inhaltreiche Darſtellung über das Allmendweſen findet ſich in der kleinen Schrift von K. Bücher „Die Allmend in ihrer ſozialen und wirtſchaftlichen Bedeutung“. Berlin bei Harrwitz Nachfolger. Heft XII der von A. Damaſchke heraus» gegebenen Sammlung „Soziale Streitfragen“. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 6 82 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. gabe des Staates ſein, ſolche wieder neu zu begründen oder doch deren Neubegründung zu erleichtern. Vor allem gilt dies in bezug auf die öſtlichen Provinzen der preußiſchen Monarchie. Die S. 64 angeführten Beſtimmungen der Gemeinheitsteilungsordnung von 1821 und des Geſetzes vom 2. März 1850, welche die Errichtung von Gemeinheiten (Allmenden) unmöglich machen oder doch zwecklos erſcheinen laſſen, müßten aufgehoben werden. An ihre Stelle ſollte ein Geſetz treten, welches die Begründung von Allmenden erleichtert und für deren Pflege und Nutzung gewiſſe allgemeine Grundſätze aufſtellt. Neuer⸗ dings nimmt die preußiſche Regierung eine viel freundlichere Stellung zu den Allmenden ein, als in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es geht dies u. a. aus der Landgemeindeordnung für die ſieben öſtlichen Provinzen der Monarchie vom 3. Juli 1891 hervor (88 6, 70, 72, 114) ). Auch das für die Provinzen Poſen und Weſtpreußen erlaſſene Anſiedelungsgeſetz vom 26. April 1886 ſowie die für die ganze preußiſche Monarchie gültigen Rentengutsgeſetze vom 27. Juni 1890 und 7. Juni 1891, bezw. die dazu erlaſſenen Ausführungsverordnungen beſtimmen, daß ein Teil (durchſchnittlich etwa 5 Proz.) der in bäuerliche Stellen zu zerlegenden Flächen für Gemeindezwecke zurückbehalten werden ſolle. Aber bei den genannten Maßregeln darf man es nicht bewenden laſſen; es muß vielmehr noch der oben bezeichnete weitere Schritt getan werden. Der Gemeindegrundbeſitz ſoll ſich weſentlich auf Wald und Weide er⸗ ſtrecken. Bei dieſen Kulturarten gewährt die gemeinſchaftliche Bewirtſchaftung und Nutzung mehr Vorteile als Nachteile oder iſt ſogar im Intereſſe der Sache geradezu geboten. Ein Allmend an Garten- und Ackerland hat nur einen bedingten Wert, kann ſogar ſchädlich ſein, wenn ſie einen erheblichen Teil der insgeſamt vorhandenen Garten- und Ackerfläche ausmacht. Aus den ſchon früher angeführten Gründen muß dieſe in der Hauptſache der privaten Nutzung und dem privaten Tauſchverkehr überlaſſen bleiben. Eine wenig umfangreiche Acker⸗Allmend kann den Vorteil haben, daß ſie die Verſorgung von landloſen Gemeindemitgliedern mit kleinen Grundſtücken ermöglicht, auf denen ſie ihren Bedarf an Kartoffeln, Gemüſe, vielleicht auch etwas Winterfutter für ihr Vieh gewinnen können. Tatſächlich bildet auch die Acker- und Garten⸗Allmend dort, wo die Allmenden noch eine große Ausdehnung haben, in der Regel nur einen geringen Prozentſatz der letzteren überhaupt und ebenſo des ganzen Acker⸗ und Gartenlandes. Es geht dies aus den S. 77 mitgeteilten Zahlen hervor. VI. Die Arten und die Verteilung des Grund beſitzes. Man kann vier Hauptformen des landwirtſchaftlichen Beſitzes unterſcheiden: Großgrundbeſitz, groß bäuerlicher Beſitz, kleinbäuer⸗ licher Beſitz und Kleinſtellen- oder Parzellenbeſitz. Dieſe Ausdrücke beziehen ſich allerdings nur auf den Umfang der zu einem Beſitz gehörenden Fläche; die einzelnen Gruppen unterſcheiden ſich aber außerdem durch die Art der Bewirtſchaftung und durch die abweichende wirtſchaftliche und ſoziale Lage der Beſitzinhaber). 1) Vergl. hierüber: Th. Frhr. von der Goltz, Die ländliche Arbeiterklaſſe und der preußiſche Staat, Jena G. Fiſcher, 1893, S. 268 ff. 2) Über die einzelnen Klaſſen der ländlichen Bevölkerung wird in Abſchnitt IX noch beſonders gehandelt werden; deren Verſchiedenartigkeit in bezug auf ihre perſönlichen, ſo⸗ wohl wirtſchaftlichen wie ſozialen Verhältniſſe kann daher hier unberückſichtigt bleiben. FCC 8 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 83 Zum Großgrundbeſitz rechnet man diejenigen Güter, welche ſo um⸗ . ſind, daß die Betriebsleitung die volle Kraft eines Mannes in f Anſpruch nimmt, der Dirigent alſo auf die perſönliche Mitbeteiligung an der Ausführung der landwirtſchaftlichen Arbeiten Verzicht leiſten muß. In der Regel bedarf er ſogar für die Betriebsleitung noch der Mithilfe eines oder mehrerer Beamten. Die Tätigkeit des Großbauern erſtreckt ſich aller- dings auch zu einem weſentlichen Teil auf die Betriebsleitung; er verrichtet aber außerdem, ſoweit die Verhältniſſe es erlauben und notwendig machen, ſelbſt körperliche Arbeit. Auch zur Erfüllung der erſteren Aufgabe bedarf er keine Beamten. Sein Beſitz iſt ſo umfangreich, daß ſeine und ſeiner Familienglieder Kräfte nicht ausreichen, um alle nötigen Arbeiten zu be⸗ wältigen; hierzu muß er vielmehr noch Geſindeperſonen und Tagelöhner halten. Der Kleinbauer pflegt, unter Zuhilfenahme ſeiner Familie, die in ſeiner Wirtſchaft erforderlichen Geſchäfte allein zu verrichten; nur ausnahms⸗ weiſe benutzt er hierfür noch fremde, von ihm gelohnte Perſonen. Sein Be⸗ fig iſt aber jo groß, daß er mit ſeiner Familie von deſſen Ertrag leben kann. Der Kleinſtellen- oder Parzellenbeſitzer hat jo wenig Land, daß deſſen Ertrag für ſeine Lebensbedürfniſſe nicht ausreicht, daß er vielmehr außerdem noch durch landwirtſchaftliche Lohnarbeit oder durch eine ſonſtige gewerbliche Beſchäftigung ſich etwas hinzu verdienen muß. Schon aus dieſen Definitionen geht hervor, daß die Grenzen zwiſchen den genannten vier Gruppen ſich nicht ganz genau beſtimmen laßßen; tatſäch⸗ lich gibt es viele Übergangsſtufen von der einen zu der benachbarten Gruppe. Aber, im großen und ganzen betrachtet, ſind dieſe Gruppen nicht nur vor⸗ handen, ſondern ſie unterſcheiden ſich auch ſo deutlich voneinander, daß man ſie als die charakteriſtiſchen Typen für die einzelnen Klaſſen des geſamten Standes der Grundbeſitzer anſehen kann. Sowohl für den privatwirtſchaftlichen Erfolg der einzelnen landwirt⸗ ſchaftlichen Unternehmung wie für die Erfüllung der volkswirtſchaftlichen Auf⸗ gaben des landwirtſchaftlichen Gewerbes iſt es wichtig oder geradezu not⸗ wendig, daß alle vier Beſitzgruppen nebeneinander vorhanden ſind. Jede bedarf der Unterſtützung der übrigen; keine kann ohne dieſelbe die höchſt— möglichen Reinerträge erzielen; das ſtaatliche wie ſoziale Leben des Volkes gerät auf eine verhängnisvolle, abſchüſſige Bahn, wenn die extremen Beſitz⸗ formen, der Großgrundbeſitz oder der Kleinbeſitz, ein ſo ſtarkes Übergewicht haben, daß der mittlere Beſitz in den Hintergrund gedrängt iſt. Dem Großgrumdbejig!) fällt die Aufgabe zu, bei der fortſchreiten— den Entwicklung des landwirtſchaftlichen Betriebes die Führerrolle zu über- nehmen. Hierzu iſt er vermöge ſeiner größeren geiſtigen und materiellen Mittel ebenſo befähigt wie verpflichtet. In der deutſchen Landwirtſchaft hat er dieſen Beruf ſeit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart auch ſtets erfüllt; er iſt der Lehrmeiſter der Bauern geweſen. Zwiſchen den großen und den bäuerlichen Betrieben findet eine Art von Arbeitsteilung ſtatt. Den erſteren fällt vorzugsweiſe der Getreidebau, die Erzeugung von Kartoffeln und Zuckerrüben behufs Herſtellung von Spiritus und Zucker zu; ferner die Haltung guten Zuchtviehes und der Molkereibetrieb. Bäuerliche Wirtſchaften ſind von den genannten Produktionszweigen zwar nicht ausgeſchloſſen, aber ihr Schwerpunkt liegt mehr in der Kultur von verkäuflichen Wurzelgewächſen, Handelsfrüchten, Gemüſe und Obſt, weiter in der Aufzucht von Nutz- und 1) Für die an dieſer Stelle behandelte Frage iſt es ziemlich gleichgültig, ob der Grundbeſitz in Eigenverwaltung ſteht oder verpachtet iſt; das hier von dem Großgrund⸗ beſitz Geſagte gilt daher auch für die verpachteten großen Güter bezw. für die Großpächter. 6* 84 | VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. Zugtieren ſowie in der Geflügelhaltung. Der Bauer bezieht von dem Groß— grundbeſitzer wertvolles Saatgut, junge Tiere zur weiteren Aufzucht; er be⸗ nutzt deſſen männliche Zuchttiere zur Befruchtung ſeiner weiblichen Zuchttiere. Dafür liefert er dem Großgrundbeſitzer junge Zugochſen, Milchkühe, Mager⸗ vieh zum Mäſten, Arbeitspferde. Die bäuerliche Bevölkerung ſtellt ferner dem Großgrundbeſitz einen erheblichen Teil der benötigten Geſindeperſonen und Tagelöhner. Es läßt ſich gar nicht entſcheiden, welcher von beiden Teilen der vorzugsweiſe gebende oder welcher der vorzugsweiſe empfangende iſt. Nur ſoviel ſteht feſt, daß der Großgrundbeſitzer Schaden leidet, wenn er keine Bauern in der Nachbarſchaft hat, und die Bauern Schaden leiden, wenn ihnen die Großgrundbeſitzer fehlen. Ahnliche, wenn auch etwas anders geartete, Wechſelbeziehungen finden zwiſchen dem großen und bäuerlichen Beſitz einerſeits, dem Kleinſtellenbe— ſitz andererſeits ſtatt. Die Inhaber des letzteren ſind wegen ihrer großen Zahl wichtige Konſumenten und Käufer für manche von dem erſteren erzeugten Produkte: Brotgetreide, Milch, Butter, Käſe, Ferkel und Läuferſchweine be⸗ hufs weiterer Aufzucht und Mäſtung; auch wohl von Stroh, Heu, Gras oder ſonſtigen Futtermitteln. Beſonders bedeutungsvoll iſt aber der Umſtand, daß die Kleinſtellenbeſitzer den Bauern und namentlich den Großgrundbe⸗ ſitzern einen erheblichen, in vielen Gegenden den weitaus größten Teil der für dieſe unentbehrlichen Arbeitskräfte liefern; umgekehrt wird vielen Klein⸗ ſtellenbeſitzern die Erwerbung eines auskömmlichen Lebensunterhaltes nur dadurch ermöglicht, daß ſie, wenigſtens im Sommer, Lohnverdienſt auf großen oder bäuerlichen Gütern finden. Auf die Reinerträge der landwirtſchaftlichen Betriebe und auf die mehr oder minder vollkommene Art, in welcher die Landwirtſchaft im ganzen ihre Aufgabe innerhalb der geſamten Volkswirtſchaft erfüllt, hat kaum ein anderer Umſtand einen ſo großen Einfluß wie die Verteilung des Grund— beſitzes. Auch die gegenwärtige Lage der deutſchen Landwirtſchaft bietet dafür einen Beweis. Sie iſt dort am ungünſtigen, wo infolge der über⸗ mäßigen Ausdehnung des Großbeſitzes und der geringen Vertretung des bäuerlichen und Kleinbeſitzes die Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte be⸗ ſonders niedrig ſtehen und der Mangel an Arbeitskräften beſonders ſtark ſich fühlbar macht. Die amtliche Statiiſtik des Deutſchen Reiches unterſcheidet fünf Hauptgruppen des Grundbeſitzes. Sie ſchiebt nämlich zwiſchen den groß⸗ bäuerlichen und den kleinbäuerlichen noch den mittelbäuerlichen Beſitz. Hiergegen iſt auch nichts einzuwenden, inſofern dadurch die beſonders zahl⸗ reiche und wichtige Klaſſe der Bauern in drei ſtatt in zwei Gruppen geteilt wird. Nach ſeinen charakteriſtiſchen Merkmalen ſteht der mittelbäuerliche Be⸗ ſitz zwiſchen dem groß- und dem kleinbäuerlichen und wird, je nach jeinem Umfang, bald dieſem, bald jenem ähnlicher ſein. Ob im einzelnen Fall ein Beſitz zu der einen oder der anderen Gruppe zu rechnen ſei, entſcheidet ſich nicht allein nach ſeinem Flächeninhalt, ſondern auch nach der Beſchaffenheit von Boden und Klima ſowie nach den allge⸗ meinen wirtſchaftlichen Verhältniſſen der betreffenden Gegend. Je günſtiger die genannten Umſtände ſind, deſto geringer braucht der Flächeninhalt eines Beſitzes zu ſein, um ihn in eine höhere Klaſſe einzureihen. Im Rheintal zählt ein Beſitz von 1—2 ha ſchon zu dem kleinbäuerlichen, während man ihn auf den Höhen der rheiniſchen Gebirge und ebenſo im nordöſtlichen Deutſchland zu dem Kleinſtellenbeſitz rechnen muß. Dort iſt ein Gut von 75 —100 ha ein großes Gut, während hier dasſelbe einen großbäuerlichen Betrieb darſtellt. Es muß dies im Auge behalten werden, wenn man die Vr ä Arten und Verteilung des Grundbeſtzes. 85 tate der amtlichen Statiſtik richtig würdigen will. Dieſe kann bei der eſcheidung der Beſitzgruppen nur einen einheitlichen Maßſtab wählen, dann allerdings für einzelne Bezirke zu groß oder zu klein iſt. Die ſche Reichsſtatiſtik bezeichnet als: 1. Parzellenbetriebe ſolche mit nnier 2 ha Gejamtfläche 2. kleinbäuerliche Betriebe „ „ 2— 5 „ 0 3. mittelbäuerlice „ „ „ 5 — 20, 1 4. groß bäuerliche „ „ „ 20 100 „ " 5. Großbetriebe E 100 „ und darüber Geſamtfläche Inm allgemeinen kann man dieſe Einteilung als zutreffend gelten laſſen. er günſtigen Verhältniſſen gehören allerdings Betriebe von 1—2 ha ſchon den kleinbäuerlichen, unter ſehr ungünſtigen Verhältniſſen Betriebe von — 125 ha noch zu den großbäuerlichen. | Nach der Betriebsſtatiftt von 1895 fanden ſich im Deutſchen Reiche zuſammen 5 556 900 landwirtſchaftliche Betriebe. Nach dieſen und der vor- letzten Betriebsſtatiſtik von 1882 kamen auf die Betriebe!) von: 3 4 RN R t der land⸗ Prozent aller Progent Dei x Prozent der Betriebe W Geſamtfläche ?) 1895 1882 1895 1882 1895 1882 1 2 3 4 5 6 7 unter 2 ha 5872 58, 5700 Eis 5700 S f 5 „ 18,7 18, 10,11 10,1 97⁵¹ 9154 20 „ 17,0 170 29,99 Br 28, 28,0 N 20— 7 5707 5734 30,35 31,00 30,39 30,0 100 ha und darüber 0,1 0,7 2 14 255 289 zuſammen 100% 100, 100, 100% 100, M 100% Von der Geſamtzahl der Betriebe nehmen die Kleinſtellen faſt / in Anſpruch; von der bewirtſchafteten Fläche machen die mittel- und großbäuer⸗ lichen ungefähr genau 3/, aus. Nach der Größe der einzelnen Beſitzgruppen ergiebt ſich für 1895 nachſtehende Reihenfolge. Es umfaßten in Prozenten; der landwirt⸗ der Geſamt⸗ ſchaftl. Fläche fläche 1. die großbäuerlichen Betriebe von 20 — 100 ha 30,55 309,59 2. „ mittelbäuerlihen „ „ ER 29,90 28,06 3. „ Großbetriebe von 100 und mehr ha 24,08 25,49 4. , Heinbäuerlichen Betriebe von 2—5 ha 10,1 9757 5. „ Parzellenbetriebe von unter 2 ha 5750 5780 zuſammen 100, 100,90 . Es iſt dies ein im allgemeinen günſtiges Verhältnis. Der Groß— 14 grundbeſitz verfügt über nahezu ¼ der landwirtſchaftlich benutzten Fläche, 1: der bäuerliche in jeinen drei Abſtufungen über 70,36 Proz. Für die Parzellen: f betriebe bleiben zwar nur 5,56 Proz. der Fläche, ſie repräſentieren aber nach “ ihrer Zahl 58,22 Proz. aller Betriebe. Man darf deshalb wohl behaupten, = daß der Schwerpunkt der deutschen Land wirtſchaft in den Bauern: 1) Die Zahl der Betriebe deckt jich nicht mit der Zahl der Grund beſitzungen, da viele Betriebe nicht nur aus eigenem, ſondern aus teils eigenem, teils gepachtetem Land oder aus nur gepachtetem Land beſtehen. Für die vorliegende Betrachtung fällt dies aber nicht ſtark ins Gewicht, da im Deutſchen Reich, wie S. 33 nach gewieſen wurde, 86,11 Proz, der landwirtſchaftlich benutzten Fläche eigen bewirtſchaftetes Land bilden. 2) In Kolumne 4 und 5 ſind die Prozentzahlen nach der landwirtſchaftlich be— nutzten Fläche berechnet, in Kol. 6 und 7 iſt außerdem die zu landwirtſchaftlichen Betrieben gehöhrende Forſtfläche mit berückſichtigt worden. 86 VI. Arten und Verteilung der Grundbeſitzes. wirtſchaften und in der bäuerlichen Bevölkerung liegt; dies um ſo mehr, als von den Parzellenbetrieben noch ſehr viele eigentlich den klein⸗ bäuerlichen zugezählt werden müſſen. In den einzelnen Teilen des Deutſchen Reiches iſt allerdings die Ver⸗ tretung der einzelnen Beſitzgruppen eine ſehr abweichende. Im Nordoſten iſt der Großbeſitz ungewöhnlich ſtark vertreten, im Weſten und Südweſten dagegen die drei Stufen des bäuerlichen Beſitzes. Zum Beweiſe dieſer für die Beurteilung der landwirtſchaftlichen Zuſtände im Deutſchen Reich ſo wichtigen Tatſache ſoll hier ein Vergleich zwiſchen Oſtpreußen, Pommern und Mecklenburg-Schwerin einerſeits, der preußiſchen Rheinprovinz, Württemberg und Baden andererſeits angeſtellt werden. Unter je 100 der in den betreffenden Ländern oder Provinzen vorhandenen Betriebe kamen auf die Betriebe von): Land oder Provinz unter 2a ha 2—5 ha 5—20 ha 20-100 ha 100 ha und mehr %%% 14 16,7 1 PR „ Pommern ER 12,18 771 7 ug „ Mecklenburg⸗ Schwerin 7825 7. 5 28 Las in Rheinprovinz 68, 16% 1 1 0, „ Müntenneßß 8 U 18,51 Pi 0 „ Baden 54,17 29,03 15,51 124 0,05 Von je 100 ha a landwirtſchaftlch . Fläche fielen auf die Be⸗ triebe von: Land oder Provinz unter 2 ha 2—5 ha 5-20 ha 20-100 ha 100 ha und mehr in O ſtpreußen Ha 2 205 3786 14,06 39,36 39, 15 Pommern RE 2,97 Zr I5 164 22,99 55 713 „ Mecklenburg- Schwerin 3 270 6% 26,95 598 in Rheinprovinz 12, ER 1 20,99 I „in,, ; . Ge 8 45,05 19,63 ER 7 Baden . 2 RER HER 13283 29,37 41,,g I 2,56 3106 Deutlicher tritt der große Unterſchied zwiſchen dem Nordoſten und dem Südweſten des Deutſches Reiches noch hervor, wenn man in beiden Gebiets⸗ teilen die Reihenfolge der einzelnen Beſitzgruppen nach der Größe der durch ſie vertretenen landwirtſchaftlichen Fläche ins Auge faßt. Es nehmen von der landwirtſchaftlichen Fläche ein in: 1 Pr Bir Ben, 103. roz. roz 1. Großgrundbeſitz . 59,3 5 rs 39, 2. Großbäuerl. Beſiz . 26,5 22,2 39.36 3. Mittelbäuerl. Beſitz . 6,9; 15,864 14,96 4. Kleinbäuerl. Beſitz . Rd 3.4 3,86 5. Parzellenbeſitz . 95 By 2,55 zuſammen 100, 100% 100,0 Dagegen in: Rheinprovinz eg eg Proz. roz. Proz. 1. Mittelbäuerl. Beſiz. 434 45105 4176 2. Kleinbäuerl. Beſitz. 10... 2307 29,77 3. Großbäuerl. Beſitz . 20% 19,33 12,56 4. Parzellenbeſitz . 15 9,„6 rs 5. Großgrundbeſitz 370 2,14 3708 zuſammen 100, 100,0 100,0 1) Siehe Vierteljahrsheft zur Statiſtik des Deutſchen Reiches, Jahrg. 1897, Er⸗ gänzung zum 2. Heft, S. 73 und 75. Vl. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 87 In Mecklenburg und Pommern kommen der Fläche nach nahezu / en Großbeſitz und nur 36,15 bezw. 41,90 Proz. auf alle drei Gruppen des bäuerlichen Beſitzes zuſammen; in Oſtpreußen ſteht es etwas günſtiger. agegen repräſentieren in den genannten Gebieten des weſtlichen und ſüd⸗ ſtlichen Deutſchlands die drei bäuerlichen Gruppen zwiſchen 84 und 88 oz. der geſamten landwirtſchaftlich benutzten Fläche, während der Großbe— mit 2,14 bis 3,51 Proz. ganz in den Hintergrund tritt. Auffallend könnte erſcheinen, daß in den öſtlichen Gebietsteilen die prozentiſche Zahl der Parzellenbetriebe (unter 2 ha) faſt noch größer iſt, als den weſtlichen, und der Unkundige könnte verſucht ſein, daraus den Schluß zu ziehen, daß dort der Kleinſtellenbeſitz eine ſtarke Verbreitung hätte. Dies würde aber eine unrichtige und irre führende Folgerung fein. Die Parzellen: betriebe im nordöſtlichen Deutſchland ſtellen zum weit überwiegenen Teil die den Gutstagelöhnern von der Gutsherrſchaft überwieſenden Deputat⸗ ländereien dar, während ſie im weſtlichen Deutſchland ebenſo überwiegend eigenes oder zu dem Eigenbeſitz hinzu gepachtetes Land bilden. Es geht dies ſchon aus folgender Zuſammenſtellung hervor. Es betrug: die Zahl aller darunter Betriebe mit aus⸗ der Previnz Vertriebe ſchließlichem Deputatland in Oſtpreußen 226 995 67 921 — 1381 197 47 122 „ Mecklen bung 97 069 21 438 zuſammen 505 561 136 481 in Rheinpreußen . 519477 1027 „ Württemberg 306 643 323 c 236 189 „5 zuſammen 1 062 279 1898 Während alſo in den drei erſtgenannten Gebieten die Betriebe mit ausſchließlichem Deputatland faft genau 27 Proz. aller Betriebe ausmachten, betrugen ſie in den drei letztgenannten nur 0,17 Proz. Um das Bild über die Grundbeſitzverteilung zu vervollſtändigen, mögen hier die Reſultate der amtlichen Erhebungen darüber für die größeren Staaten oder Landesteile des Deutſchen Reiches Platz finden. Nach den beiden letzten Betriebsſtatiſtiken von 1895 und 1882 entfallen von 100 ha landwirtſchaft⸗ licher Fläche jedes Staates bezw. Landesteiles auf die einzelnen Größen— klaſſen !): (S. Tabelle S. 88.) Dieſe Zahlenreihen geben ſo deutlich, daß weitere Auseinanderſetzungen unnötig erſcheinen, der Tatſache Ausdruck, daß in den ſechs öſtlichſten preu— ßiſchen Provinzen, ſowie in Mecklenburg der Großgrundbeſitz ſtärker und der bäuerliche Beſitz ſchwächer vertreten iſt, als es mit Rückſicht auf die Intereſſen der Volkswirtſchaft und auch der einzelnen landwirtſchaftlichen Unternehmer gewünſcht werden muß. In manchen Teilen des übrigen Deutſchlands nimmt umgekehrt der Großgrundbeſitz ſcheinbar eine zu geringe Fläche ein. Aber 4 es trifft dies doch nicht in dem Grade zu, als man aus den nackten Zahlen & ſchließen könnte. Einmal muß man in den günftiger gelegenen Gegenden 4 auch ſchon Güter von 75—100 ha zum großen und nicht zum großbäuer- lichen Beſitz rechnen. Fürs andere hat ſchon ſeit Jahrhunderten im weſt— elbiſchen Deutſchland der Grundbeſitz des Adels aus Streubeſitz beſtanden, d. h. die einzelnen Adeligen hatten mehrere oder viele kleine Höfe an ver— — — und 1) Siehe a. a. O. S. 75. 88 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. > hal 2-5 ha 5-20 ha Pb Staat oder Landesteil e e nm 1895 18821895 18821895 188201895 1882 e e Zins 1 EEjoe | EBe 1 90m Ele „ Weſtpreußen 2% 24 361 3,017 14,0327 | 33122 „ Brandenburg 4 | Zr 5% 4,20% 19,3458 35 7 „ Pommern 2% 2 3, 3.500 18,64 13,22% | 22105 VC e eee eee, „ Sachſen 6,8 6,16 6% 7024 24,0134 | 35778 „ Schleswig⸗ Holſtein Stils ter Terz „ Hannover | Orga 7% 1% 132,1 | 30127 42 44,39 „ Weſtfalen 9,0 10% 13, 13, 34,7 34636 3760 „ Heſſen⸗Naſſau, 0% 10% 20% 20% 436 42% 1% 1, Rheinland „ha en 120... 0% 43% il Bayern rechts des Rheins AUT 3 e IE Inne eee, links „ " 14,0 |15r02 126154 | 251778 140197 457710%4 175 Königreich Sachen. 5% 5% 9% 9 40,1 396630, 30% Mürttemberrg 9% 10% % 122001 4% 43% 19% 0 PFW EB ER a a dar aa u 0 Helen . » — 11% 1162136 212 [50125 497 4/II7 1220 Mecklenburg⸗Schwerin De e 120,05 1a Sachſen⸗ Weimar 6% 6% ELSE TS 12 Oibenbun ng „„ 32, ieh 19 EHE ſchiedenen Stellen zerſtreut. Dies iſt auch jetzt noch der Fall. Die Betriebs⸗ ſtatiſtik gibt nur Aufſchluß über die Zahl und Größe der einzelnen Betriebe, nicht über die Größe der den einzelnen Beſitzern gehörende Fläche. Im weſtelbiſchen Deutſchland iſt die Zahl der Großbetriebe allerdings verhältnis⸗ mäßig gering; trotzdem gibt es dort noch eine ſtattliche Anzahl von Perſonen, deren jede einzelne über ſo viel Land verfügt, daß dasſelbe in ſeiner Ge⸗ ſamtheit als ein Großbeſitz anzuſehen iſt. Als ein erfreuliches Zeichen der Entwicklung darf es betrachtet werden, daß während der zwiſchen den beiden letzten Betriebszählungen liegenden 13 jährigen Periode in den Gegenden mit vorherrſchendem Großgrundbeſitz dieſer abgenommen, in Gegenden mit geringem Großgrundbeſitz dieſer zuge⸗ nommen hat, daß alſo eine gewiſſe Ausgleichung vorhandener extremer Ver⸗ hältniſſe ſich anzubahnen ſcheint. Von der landwirtſchaftlich benutzten Fläche kamen auf den Großbeſitz in Prozenten: 1895 im Vergleich zu 1882 ie 1895 1982 mehr oder weniger in Oſtpreußen 39,7 38,30 %.“ mehr „ Weſtpreußen 1 17 3,5 weniger „ Brandenburg 88 36,55 Kane 1 „Pommern 55118 87145 2% „ " Poſen 52,19 55737 2 3s 77 77 Schleſien 3386 34,41 0,½55 77 In ſämtlichen ſechs öſtlichen preußiſchen Provinzen, mit Ausnahme von Oſtpreußen, hat demnach der Großbeſitz abgenommen; man darf dies wohl hauptſächlich als eine Wirkung des preußiſchen Anſiedelungsgeſetzes und der e Rentengutsgeſetze betrachten‘). In den zwei Provinzen, 1) Über die 9 Geſetze und deren Wirkungen wird an einer ſpäteren Stelle dieſes Abſchnittes gehandelt werden. VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 89 denen beide Geſetze Gültigkeit haben, nämlich in Weſtpreußen und Poſen, er ſtärlſte Rückgang des Großbeſitzes ſtattgefunden. Umgekehrt war die Entwicklung in den Gegenden mit geringer Ver— g des Großbeſitzes. Auf denſelben fielen von der landwirtſchaftlich sten Fläche in Prozenten: 1895 im Vergleich Re, FOR 1082 zu 1882 mehr oder weniger in Hannover 1 0% mehr „ Weſtfalen 5%/́ 457 On m „ Heſſen⸗ Naſſau 784 6,0 O5 „ „ Rheinland 301 W 0 %% „ „ Württemberg ER a ER " en 3.06 a 1,80 1726 17 „ Heſſen⸗Darmſtadt 4500 4 unverändert. b Alle dieſe Staaten oder Provinzen, mit Ausnahme von Heſſen-Darm⸗ a wo keine Veränderung eingetreten iſt, weiſen eine Vermehrung des Großbeſitzes auf. Ganz naturgemäß iſt es, wenn in Gegenden mit ungünſtigem Klima oder auch ungünſtigen Bodenverhältniſſen die Beſitzeinheiten durchſchnittlich größer ſind, als unter umgekehrten Verhältniſſen. Dort bringt die nämliche Bodenfläche geringere Roh- und Reinerträge, als hier; zur Erreichung des . ben privat⸗ oder volkswirtſchaftlichen Reſultates iſt alſo eine größere zodenfläche nötig. Bei normalen Zuſtänden müſſen daher im nordöſtlichen Deutſchland die Beſitzeinheiten durchſchnittlich größer ſein, als im ſüdweſt⸗ lichen; ſie müſſen ferner in den hochgelegenen Teilen des mittleren und ſüd— lichen Deutſchlands größer ſein, als in den dort befindlichen Tälern. In der Nähe von Städten und überhaupt in Gegenden mit einer ſtarken nicht Landwirtſchaft treibenden Bevölkerung werden bei freiem Bodenverkehr die Beſitzeinheiten kleiner ſein, als im umgekehrten Falle. Denn dort iſt es notwendig oder doch ſehr vorteilhaft, durch intenſiven Betrieb möglichſt hohe Roherträge zu erzielen, die dann infolge der ſtarken Nachfrage und des hohen Preiſes der landwirtſchaftlichen Produkte zu entſprechend hohen Rein— erträgen führen. Für kleine und mittlere Wirtſchaften iſt aber eine intenſive Betriebweiſe leichter und lohnender, als für große Wirtſchaften. Aus allen dieſen Gründen wird es erklärlich, weshalb die Beſitzverteilung im Deutſchen Reich eine verſchiedene iſt und ſein muß; aber die ſo ungewöhnlich großen Unterſchiede, wie ſie zwiſchen dem Oſten und dem Weſten beſtehen, werden dadurch nicht gerechtfertigt. Für dieſe liegt die Erklärung in der abweichenden \ geſchichtlichen Entwicklung, welche von der erſten Beſiedelung an die oſt— N elbiſchen und die weſtelbiſchen Teile des Reiches genommen haben ). 2: Die vorſtehenden Darlegungen ergeben jchon, daß es nicht möglich iſt, 2 beſtimmte Zahlen über das wünſchenswerteſte Verhältnis der einzelnen Beſitz— 1 ruppen aufzustellen. Dasſelbe kann und muß vielmehr in verſchiedenen N Zeiten und an verſchiedenen Orten ein anderes ſein, Trotzdem iſt es möglich N und für die Agrarpolitik nötig, zu gewiſſen allgemein gültigen Grund— ſätzen über eine zweckmäßige Verteilung des Bodenbeſitzes und der Bodenbewirtſchaftung zu gelangen. Wenn ich ſolche hier zu geben 5 verſuche, jo habe ich Kulturſtaaten mit dichter Bevölkerung, ſpeziell das jetzige 1 Deutſche Reich, im Auge. — —— ͤ —ä4ͤ 1) Vgl. hierzu: Th. Frhr. von der Goltz, Geſchichte der Deutſchen Landwirt: ſchaft, Bd. I (1902), S. 152 u. 153. 90 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. Der weitaus überwiegende Teil des landwirtſchaftlich be— nutzten Bodens ſoll im Beſitz und in der Bewirtſchaftung der Bauern, des landwirtſchaftlichen Mittelſtandes, ſich befinden. Es iſt eine bekannte geſchichtliche Tatſache, daß das wirtſchaftliche und ſoziale Leben eines Volkes nur dann geſund iſt, wenn zwiſchen den wenig und den viel Beſitzenden eine zahlreiche Klaſſe von ſolchen ſteht, deren Glieder bei dem nötigen Fleiß einen genügenden und geſicherten Erwerb haben; die zwar nicht üppig, aber bei mäßigen Anſprüchen einigermaßen bequem leben können; die nicht reich ſind, aber doch nicht mit Sorgen in die Zukunft zu blicken brauchen. Das gilt für die ländliche Bevölkerung ebenſo wie für die ſtädtiſche. Der Bauernſtand hat vor dem weitaus größeren Teil des jetzigen ſtädtiſchen Mittelſtandes noch den großen wirtſchaftlichen Vorzug, daß er in ſeinem Grund und Boden einen ungleich ſichereren wirtſchaftlichen Rückhalt beſitzt, als die Stadtbürger in ihrem N ihrer Induſtrie oder in ihren kauf⸗ männiſchen Geſchäften. Der Bauer geht weit mehr in dem landwirtſchaft⸗ lichen Beruf auf wie die höher oder tiefer ſtehenden Klaſſen der ländlichen Bevölkerung. Er gehört demſelben im wörtlichen Sinne mit Leib und Seele an; er arbeitet mit Körper und Geiſt Tag für Tag darin und wird kaum durch andere Intereſſen abgezogen; letztere beſchränken ſich wenigſtens auf die eigene Familie und die Lokalgemeinde. Darin liegt zwar eine gewiſſe Einſeitigkeit und Schwäche, aber auch die Stärke des Bauernſtandes, die ihn zum Grundpfeiler der ländlichen Bevölkerung und des landwirtſchaftlichen Gewerbes macht. Der Großgrundbeſitzer hat noch viele andere, mit der Landwirtſchaft wenig oder gar nicht zuſammenhängende Neigungen und Pflichten; die Erfüllung der letzteren iſt für das Gemeinwohl ganz unent⸗ behrlich, er kann und darf ſich ihnen nicht entziehen. Für viele Großgrund⸗ beſitzer ſind ſie ſo geartet oder ſo umfangreich, daß dieſelben um die Bewirt⸗ ſchaftung ihres Bodens ſich gar nicht oder doch nur wenig kümmern können. Die Kleinſtellenbeſitzer, die einen Teil ihres Lebensunterhaltes durch Lohnverdienſt erwerben müſſen, und noch mehr die grundbeſitzloſen landwirt⸗ ſchaftlichen Arbeiter werden zu ſehr durch die Sorge um das tägliche Brot in Anſpruch genommen und ſind außerdem nach ihren materiellen wie geiſtigen Kräften ſo ſchwach ausgerüſtet, daß ſie nicht die Hauptrepräſentanten des landwirtſchaftlichen Gewerbes und der ländlichen Bevölkerung darſtellen können. Iſt der bäuerliche Beſitz in ſeinen drei Abſtufungen vertreten, ſo kann er allenfalls für ſich allein exiſtieren, ohne daß dadurch erhebliche wirtſchaftliche oder ſoziale Übelſtände zutage treten. Ich ſage nicht, daß dies ein voll⸗ kommenes und deshalb wünſchenswertes Verhältnis ſei; aber es iſt kein un⸗ haltbares. Ein gänzliches Fehlen des Großbeſitzes würde ſich beſonders dadurch empfindlich bemerkbar machen, daß bei den Bauern landwirtſchaft⸗ liche Fortſchritte ſich langſam vollzögen und daß es an Männern mangelte, die geneigt und imſtande ſind, die Intereſſen der Landwirtſchaft im öffent⸗ lichen Leben mit Nachdruck und Erfolg zu vertreten. Auch das gänzliche Fehlen von Kleinſtellenbeſitz würde ſich, wenigſtens für die Großbauern, durch einen gewiſſen Mangel an Arbeitskräften fühlbar machen. So viel darf man aber als ausgemacht betrachten, daß es ein Zeichen von ge— ſunden Zuſtänden iſt, wenn die landwirtſchaftlich benutzte Fläche zum weit überwiegenden Teil in den Händen von bäuerlichen Be— ſitzern ſich befindet. So iſt es auch in den meiſten Teilen des Deutſchen Reiches, wie die Tabelle auf S. 88 zeigt. Nach der Betriebsſtatiſtik von 1895 fielen von der landwirtſchaftlichen Fläche in Prozenten: VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 91 Land oder Landesteil auf den Parzellen⸗ und auf den bäuerlichen Großbeſitz zuſammen Beſitz Schleswig⸗Holſtein 18, Si. Hannover 1375 86,5 Weſtfalen BE. 84,90 Heſſen⸗Naſſau F 82,01 Rheinprovinz LE. 84,15 Bayern rechts des Rheins 53 94,12 e 165 83,25 Königreich Sachſen 19,52 80,15 » Württemberg BA 33 Baden 1 8351 Heſſen 1600 8340 Sachſen⸗Weimar 18,98 81% Oldenburg . 9 Elſaß⸗Lothringen 19,84 80, Die hier aufgezählten Gebiete umſchließen faſt das ganze Deutſche Reich weſtlich der Elbe, auch noch einen allerdings kleinen Teil des oſt⸗ elbiſchen Deutſchlands. In allen nimmt der bäuerliche Beſitz zwiſchen 80 und 90 Proz. der landwirtſchaftlich benutzten Fläche ein, in Oldenburg und Bayern rechts des Rheins ſogar noch etwas mehr. Nun wird niemand behaupten können, daß die Beſitzverhältniſſe im weſtelbiſchen Deutſchland ungeſunde ſeien. Im Gegenteil iſt man zu der Annahme be- rechtigt, daß es den heutigen wirtſchaftlichen Verhältniſſen daſelbſt an- en iſt, wenn durchſchnittlich 80 — 90 Proz. des landwirtſchaftlichen Grundbeſttzes in den Händen von Bauern ſich befindet. In den ſechs öſtlichen Provinzen der preußiſchen Monarchie, ſowie in den beiden Mecklenburg gehören in runden Summen 34 —60 Proz. der land- wirtſchaftlich benutzten Fläche allein dem Großbeſitz. Nun mag ja zu— gegeben werden, daß dort wegen des ungünſtigen Klimas, auch wegen der geringeren Zahl von volkreichen Städten und der geringeren Entwicklung der Jnduftrie der Großgrundbeſitz ſtärker vertreten ſein darf und muß, als im weſtelbiſchen Deutſchland. Aber dieſe Unterſchiede find doch nicht jo groß, daß ſie ein derartiges Überwiegen des Großbeſitzes bedingen oder erklären könnten. Die klimatiſchen und Bodenverhältniſſe find im nördlichſten Deutſch— land durchſchnittlich weniger günſtig, als in den tiefer gelegenen Diſtrikten des übrigen Deutſchen Reiches, aber doch nicht ungünſtiger, wie in den Ge— birgsgegenden, welche die größere Hälfte vom mittleren und ſüdlichen Deutſch— land ausmachen. Was die geringere Zahl volkreicher Städte und die ge— ringere Entwicklung der Induſtrie betrifft, ſo ſind dieſe allerdings von Be— deutung für die Verteilung des Grundbeſitzes. Man kann andererſeits aber auch ſagen, daß die vielen vorhandenen kleinen und mittleren Städte weit mehr Einwohner hätten und daß die Induſtrie in den meiſten Teilen des oſtelbiſchen Deutſchlands ſich ſchneller und kräftiger entwickelt haben würde, wenn mehr bäuerlicher Beſitz und damit eine ſtärkere und kauf— fähigere ländliche Bevölkerung vorhanden geweſen wäre. Die hiſtoriſche Entwicklung darf dabei nicht unberückſichtigt bleiben. Seit Jahrhunderten hat der Großgrundbeſitz im oſtelbiſchen Deutſch— land eine ſtärkere Ausdehnung gehabt, als im weſtelbiſchen; er wird und kann ſie, ohne Schaden für die Geſamtheit, ja ſogar zum Nutzen dieſer, auch in Zukunft behalten. Aber man würde irren, wenn man annähme, die der— malige Ausdehnung des Großbeſitzes ſei das Reſultat einer regelmäßigen und natürlichen, durch Jahrhunderte ſich gleichgebliebenen Entwicklung. Der bäuerliche Beſitz hatte vielmehr im oſtelbiſchen Deutſchland bis zur Mitte des 17. und ſelbſt bis zum Beginn des 19. Jahrhun— 92 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. derts einen weit größeren Umfang, als in der Gegenwart. Nach 1 dem 30-jährigen Krieg gingen dort die Rittergutsbeſitzer in ſehr umfaſſenden Weiſe mit dem Einziehen der Bauerngüter, mit dem Bauernlegen, vor und betrieben dies, ſoweit die Staatsgewalt nicht hindernd in den Weg trat, das ganze 18. Jahrhundert hindurch. Mecklenburg und Schwediſch-Pommern haben infolge deſſen den größten Teil der früher vorhanden geweſenen Bauern verloren. In den öſtlichen preußiſchen Provinzen, ebenſo in Oſter⸗ reich, betrieb man ebenfalls das Bauernlegen; aber Friedrich der Große und Maria Thereſia ſchritten dagegen wenigſtens mit dem Erfolg ein, daß in ihren Ländern immerhin noch ein ziemlich zahlreicher Bauernſtand erhalten blieb. Dieſer ſog. Bauernſchutz wurde in der preußiſchen Agrar⸗ h ö geſetzgebung von 1807 — 1821 fallen gelaſſen, da man ihn nicht mehr für notwendig hielt. Die Untertänigkeit der Bauern wurde aufgehoben und ihnen das freie Eigentum an ihren Höfen verliehen. Die Ablöſung der den Bauern obliegenden Dienſte und Abgaben an die Gutsherren wurde nach dem Edikt vom 14. Sept. 1811 ſo geordnet, daß dieſelben ganz beſeitigt wurden, wenn die Bauern bei erblichem Beſitz , bei nicht erblichem die Hälfte ihres Areals an den Gutsherrn abtraten. Außerdem ſchloß die Deklaration vom 29. Mai 1816 diejenigen bäuerlichen Beſitzer, deren Areal jo klein war, daß es als keine ſelbſtändige Ackernahrung gelten konnte, von der Regulierung aus. Ihre Stellen wurden dann allmählich von den Rittergutsbeſitzern eingezogen. Die Folge dieſer Geſetzgebung war, daß das dem Großbetrieb unterliegende Areal bedeutend zunahm, das unter bäuerlicher Bewirtſchaftung ſtehende ſich ebenſo verringerte. Gefördert wurde dieſe Beſitzverſchiebung noch dadurch, daß viele Bauern, die an das ſelbſtändige Wirtſchaften nicht gewöhnt waren, in den durch die niedrigen Preiſe der landwirtſchaftlichen Produkte ſo un⸗ günſtigen Jahren von 1820 — 1840 ihre Höfe an benachbarte Großgrund⸗ beſitzer verkauften. Alle dieſe Umſtände haben vereint dazu beigetragen, daß in den öſtlichen Provinzen der preußiſchen Monarchie der Großgrundbeſitz über ein weit ausgedehnteres, der bäuerliche Beſitz über ein viel beſchränk⸗ teres Areal gegenwärtig verfügt, als es in der Vergangenheit und noch bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Fall war. Hierin iſt eine nicht un⸗ weſentliche Urſache für die Erſcheinung zu erblicken, daß gerade im nordöſt⸗ lichen Deutſchland die kritiſche Lage, unter der die ganze deutſche Landwirt⸗ ſchaft zur Zeit leidet, ſich beſonders drückend fühlbar macht !). Eine den jeweiligen Verhältniſſen und Bedürfniſſen ent⸗ ſprechende Verteilung des Grundbeſitzes iſt eine der wichtigſten, vielleicht die wichtigſte Vorbedingung für das wirtſchaftliche und ſoziale Wohlbefinden der ganzen Nation und des Staates. Sie übt nicht nur auf die Landwirtſchaft und die ländliche Bevölkerung, ſondern auch auf alle anderen Erwerbszweige und Bevölkerungsgruppen einen ſehr ſtarken Einfluß aus. Seit Jahrtauſenden zeigt die Geſchichte der Völker, daß eine dem Allgemeinwohl widerſtreitende Verteilung in dem Beſitz oder der Benutzung des Bodens, wenn ſie länger andauert, zu den ſchwerſten innerpolitiſchen Kämpfen und ſelbſt zu offenen Aufſtänden führt. Dem Staat erwächſt hieraus das Recht und die Pflicht, darüber zu wachen, daß eine 1) Über die ſtattgehabten Verſchiebungen bezüglich des Großbeſitzes und des bäuer⸗ lichen Beſitzes finden ſich zahlenmäßige Augaben in meiner Geſchichte der Deutſchen Land⸗ wirtſchaft, Bd. II, S. 188 ff.; auch die Abſchnitte VIII u. IX dieſes Buches werden auf die oben berührte Frage noch näher eingehen. VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 93 nicht eintritt, oder wenn ſie eingetreten iſt oder auch nur einzutreten auf geſetzlichem Wege Abhilfe zu ſchaffen. Der Aufgabe, ſelbſt die Beſitzverteilung in die Hand zu nehmen, tft der Staat nicht gewachſen. Schon bei Beſprechung des Vorſchlages Bodenreformer, der Staat ſolle allen Grund und Boden an ſich nehmen und in geeigneten Stücken verpachten, iſt nachgewieſen worden (S. 67), daß dies ein unausführbares und doch ſehr verderbliches ſozialiſtiſches Experiment ſein würde. Aus ähnlichen wie den dort angegebenen Gründen iſt es auch, ter Beibehaltung des Privateigentumsrechtes, für den Staat nicht möglich, zu beſtimmen, wie große und damit wie viele landwirtſchaftliche Betriebe in Gemeinde oder in jedem Bezirk ſein ſollen. Zahl und Größe der elnen Betriebe müſſen andere werden, ſobald die Bevölkerungs-, Verkehrs- Erwerbsverhältniſſe eine erhebliche Veränderung erfahren. Die alsdann endigen Verſchiebungen vollziehen ſich viel ſachgemäßer und leichter, n man ſie dem Ermeſſen der beteiligten Privatperſonen überläßt, als wenn der Staat ſie in die Hand nimmt. Bei raſch anwachſenden Städten kann es allerdings zweckmäßig ſein, wenn der Staat oder beſſer die Stadt— emeinde das umliegende, zur Zeit noch unbebaute Terrain in ihr Eigentum chten und dann ſpäter allmählich in angemeſſenen Parzellen als Bau⸗ plätze veräußerten oder zu öffentlichen Zwecken verwendeten. Es würde dies der unſinnigen Bauſpekulation, wie ſie in Berlin und anderen Städten geübt worden iſt und noch geübt wird, etwas Einhalt tun, auch noch ſonſtige Vorteile für die Stadtbewohner mit ſich bringen. Für landwirtſchaftlich be⸗ nutzte Flächen liegt ein derartiges Bedürfnis aber nicht vor. Als Regel muß hier gelten, daß man dem Verkehr mit Grund und Boden freien Spiel— raum läßt. = Hiermit iſt aber keineswegs gejagt, daß der Staat überall und immer jeder Einwirkung auf die Grundbeſitzverteilung ſich entſchlagen ſoll. Auch wenn er dies wollte, könnte er es nicht, da er das Erbrecht regeln muß und bdiurch die Art, wie ſolches geſchieht, auf die Verteilung des Grundbeſitzes ein erheblicher Einfluß ausgeübt wird. Auch die unumgänglich notwendigen ge— jeglichen Beſtimmungen und Verwaltungsrechtsvorſchriften bezüglich Regelung des Immobiliarkredit⸗ und des Hypothekenweſens ſowie bezüglich der Fidei— kommiſſe ſind nicht ohne Einwirkung hierauf. Was der Staat im einzelnen auf dieſem Gebiet zu tun hat, läßt ſich nicht in beſtimmten Sätzen zuſammen⸗ faſſen, die für alle Zeit und für jeden Ort zum Maßſtab dienen können. Die Art und Richtung ſeiner Tätigkeit muß von den augenblicklich vorhandenen oder in nächſter Zukunft zu erwartenden Verhältniſſen abhängig gemacht werden. Hier ſoll daher auch nur von der Stellung gehandelt werden, die zur Zeit von den deutſchen Staaten in der Frage der Grundbeſitzverteilung einzu— nehmen iſt ). Im allgemeinen zeigt ſich die Verteilung des Grundbeſitzes im Deutſchen Reich als eine geſunde, wie aus den oben (S. 85 ff.) angeführten Zahlen hervorgeht. Zu den 3 Gruppen der bäuerlichen Betriebe gehören über 70 Proz. der landwirtſchaftlichen Fläche, und dieſe bilden zum weit überwiegenden Teil nicht gepachtetes, ſondern eigentümlich beſeſſenes und von den Beſitzern ſelbſt bervirtichaftetes Land. Es liegen auch keine Anzeigen dafür vor, daß durch die ſeit zwei bis drei Jahrzehnten beſtehende wenig günſtige Lage der Land— wirtſchaft hierin eine Verſchlechterung eingetreten iſt oder in Zukunft einzu— treten droht. Im Gegenteil läßt ſich für die zwiſchen den beiden Betriebs— — nn 1) Die Stellung des Staates zum Erbrecht und zu den Fideikommiſſen laſſe ich zu⸗ nächſt unberührt, da dieſelbe im folgenden Abſchnitt beſonders zur Beſprechung gelangen wird. 94 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. zählungen von 1882 und 1895 liegende 13 jährige Periode eine Verbeſſe⸗ rung nachweiſen. 1882 betrug die Zahl der Betriebe im Deutſchen Reich 5 276 344, im Jahr 1895 dagegen 5556 900. Es hat alſo eine Zunahme von 280 556 ſtattgefunden, was mit Rückſicht auf die geſtiegene Bevölkerung nur als ein erfreuliches Zeichen zu betrachten iſt. Von 100 ha landwirt⸗ ſchaftlicher Fläche nahmen ein in Prozenten: 1882 1895 die Parzellenbetriebe RR 805 die Großbetriebe 24,48 24. die bäuerlichen Betriebe 69,,, 70,½ Zuſammen 100, 100, Es geht hieraus hervor, daß der bäuerliche Beſitz noch etwas zuge⸗ nommen hat und zwar vorzugsweiſe auf Koſten des Großbeſitzes; auch dies iſt inſofern ein günſtiges Zeichen, als gerade in den Gegenden, in denen der Großbeſitz ungewöhnlich ſtark vertreten iſt, eine Abnahme desjelben jtattge- funden hat. Die im Parzellenbetrieb befindliche Fläche iſt von 1882 — 1895 allerdings etwas zurückgegangen und zwar um 18068 ha. Dafür iſt aber die Zahl der Parzellenbetriebe um 173338 ha gewachſen, jo daß erheblich über die Hälfte der Zunahme in den Betrieben überhaupt auf die Parzellen⸗ betriebe fällt. Es nahmen alſo 1895 an der landwirtſchaftlichen Boden⸗ nutzung 173338 ſelbſtändige erwerbstätige Perſonen mehr teil, als es 1882 der Fall war. Die vorhandene Bodenbeſitzverteilung im Deutſchen Reich und deren Entwicklung in jüngſter Zeit bietet im großen und ganzen keinen An⸗ halt für eine peſſimiſtiſche Auffaſſung oder gar eine Veranlaſſung, mit geſetz⸗ geberiſchen Maßregeln in den bisherigen Gang der Dinge einzugreifen. Dringend wünſchenswert iſt allerdings, daß in den ſechs öſtlichen Pro⸗ vinzen Preußens der bäuerliche Beſitz und die Zahl der Bauern, auch der Parzellenbeſitzer, vermehrt und dementſprechend der Großgrundbeſitz vermindert wird. Von dieſer Überzeugung hat ſich auch die preußiſche Regierung leiten laſſen, als ſie das für die Provinzen Poſen und Weſtpreußen gültige An⸗ ſiedelungsgeſetz vom 26. April 1886 und die beiden, auß die ganze Monarchie ſich erſtreckenden Rentengutsgeſetze vom 27. Juni 1890 und vom 7. Juli 1891 erließ. Dieſe drei Geſetze haben den ausgeſprochenen Zweck einer Vermehrung der bäuerlichen Stellen, das erſtgenannte außer⸗ dem den Zweck der Beförderung des Deutſchtums. Zieht man die bis jetzt kurze Zeit ihrer Wirkſamkeit in Rechnung, ſo muß man zugeſtehen, daß ſie ſchon viel geleiſtet haben. Die Anſiedelungskommiſſion hat von 1886 bis Ende 1903 angekauft 381 große Güter und 156 Bauernwirtſchaften, zu⸗ ſammen 537 Liegenſchaften mit einem Geſamtflächeninhalt von 228 552 ha). Daraus waren bis Ende 1903 gemacht worden: 8557 Stellen, von denen 8391 eine Größe bis zu 50 ha beſaßen, 142 Stellen mit 50—120 ha, 24 Stellen mit über 120 ha. Von den 8557 insgeſamt ausgelegten Stellen waren Ende 1903 bereits 7382 an Anſiedler feſt vergeben ). Die Generalkommiſſionen hatten auf Grund des Geſetzes vom 7. Juli 1891 bis zu Ende 1900 im ganzen 973 große Güter mit einem Flächen⸗ inhalt von 225778 ha aufgeteilt und daraus 8797 Rentengüter gebildet. Davon hatten 623 einen Flächeninhalt von unter 2½ ha, 780 von über 25 ha, alle übrigen einen ſolchen zwiſchen 2 ½ und 25 ha. Zur Bildung von Rentengütern wurden 98 790 ha verwendet, die übrigen 126988 ha 1) S. Denkſchrift über die Ausführung des Geſetzes vom 26. April 1886, betr. die Beförderung deutſcher Anſiedelungen in den Provinzen Weſtpreußen und Poſen für das Jahr 1903, S. 74. 2) a. a. O. S. 188 u. 189. VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 95 blieben als Reſtgüter. Von den 8797 Rentengütern gehörten 8472 den öſtlichen zen, 325 der Provinz Weſtfalen an). Man ſieht hieraus, daß die ntengutsbildung faſt ausſchließlich in den Teilen der preußiſchen Monar⸗ e ſtattgefunden hat, wo der Großgrundbeſitz beſonders ſtark vertreten iſt. Rechnet man die Reſultate der Anſiedelungskommiſſion und der General⸗ kommiſſionen zuſammen, ſo ergibt ſich, daß in den ſechs öſtlichen Provinzen von 1886 — 1902 etwa 17000 neue landwirtſchaftliche Betriebe entſtanden ſind, die zum weit überwiegendem Teil zu den bäuerlichen gehören und rund 225000 ha Fläche umfaſſen. Für die Verteilung des Grundbeſitzes iſt dies nicht ohne Einfluß geweſen. Es ergibt ſich dies namentlich aus den betr. Zahlen für Weſtpreußen und Poſen, wo beide Geſetze in Wirkſamkeit ge- weſen ſind. Schon S. 88 wurde nachgewieſen, daß der Prozentſatz der vom Großbeſitz innegehabten Fläche von 1882— 1895 geſunken iſt, in Weſtpreußen von 47,11 Proz. auf 43,66 Proz. und in Poſen von 55,37 Proz. auf 52,19 Proz. Andererſeits iſt in der gleichen Periode der bäuerliche Beſitz (2—100 ha) in Weſtpreußen von 50,33 Proz. der landwirtſchaftlichen Fläche auf 53,55 Proz. und in Poſen von 42,26 Proz. anf 44,99 Proz. geſtiegen. Es iſt deshalb ganz ungerechtfertigt und zeugt von Mangel an Sachkenntnis oder an Urteil, wenn die Wirkung der preußiſchen Geſetze von 1886 und 1891 auf die Verteilung des Grundbeſitzes als unbedeutend dargeſtellt wird. Eine plötzliche ſtarke Veränderung der Beſitzverhältniſſe kann überhaupt nicht e werden. Auf dem jetzt beſchrittenen Wege vollzieht ſie ſich für en zu erreichenden Zweck ſchnell genug und ohne den ſtetigen Gang der Entwicklung zu unterbrechen. 14 Der Anſiedelungskommiſſion iſt durch das Geſetz von 1886 ein Fonds von 100 Mill. M. zur Verfügung geſtellt, der 1898 auf 200 Mill, 1902 aauf 350 Mill. M. erhöht wurde. Derſelbe dient zum Ankauf von Gütern und zur Deckung der Verwaltungskoſten. Die angeſiedelten Beſitzer zahlen den vereinbarten Kaufpreis, teils in bar, teils und vorzugsweiſe in einer jährlichen Rente, in welcher gleichzeitig ein Amortiſationsbetrag enthalten iſt. Bis zum 31. März 1903 betrugen die Ausgaben der Anſiedelungskommiſſion rund 256 Mill. Mk., die Einnahmen 54 Mill. Mk., mithin die wirkliche Ausgabe 202 Mill. Mk.?) Die Rentengutsbildung nach dem Geſetz von 1891 vollzieht ſich in anderer Weiſe. Großgrundbeſitzer, die ihr Gut in Teilſtücken verkaufen wollen, verabreden mit Kaufliebhabern die Verkaufsbedingungen. Werden dieſelben von der zuſtändigen Generalkommiſſion für annehmbar erklärt, ſo führt dieſe das ganze weitere Verfahren der Teilung, Abgrenzung, Hypothekenüberſchrei— bung ꝛc. durch. Sie zahlt ferner dem Rentengutsverkäufer auf deſſen Wunſch % des taxierten Wertes in Rentenbriefen aus und legt dafür den Käufern eine jährlich zu zahlende Rente, die auch hier zugleich einen Amortiſations— betrag enthält, auf. Bei den Anſiedelungs-, wie bei den Rentengütern beruht alſo die Ver— wandlung der Großgüter in Bauernſtellen auf reiner Freiwilligkeit der alten wie der neuen Beſitzer. Jene erhalten den Kaufpreis ganz oder größtenteils bar und können ihn zu neuen Unternehmungen benutzen. Die Rentenguts— käufer brauchen bloß einen geringen Teil des Kaufpreiſes bar zu erlegen und für den Reſt an Zinſen und Amortiſation zuſammen nicht mehr zu zahlen, als ſie einem Privatgläubiger allein an Zinſen geben müßten). 1) Landwirtſchaftl 83 herausg, von Hugo Thiel, XXX. Bd., Ergän⸗ zungsband IV, Berlin 1902, S. 2) S. S. 19 der zitierten Dentferift 3) Eine ausführliche Beſchreibung des von der Generalkommiſſion bei der Bildung 96 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. Weſentlich als Folge des Anſiedelungsgeſetzes und der Rentenguts⸗ geſetze haben ſich während der letzten 15 Jahre verſchiedene Privatgejelle ſchaften gebildet zu dem Zwecke, große Güter anzukaufen und dieſe in Bauernſtellen zu zerlegen. Es gehören hierzu vier polniſche Landkaufsge⸗ noſſenſchaften, ee den Beſtrebungen der Anſiedelungskommiſſion entgegen⸗ wirken wollen und deshalb nur Stellen für polniſche Bauern gründen. Von den deutſchen Privatgeſellſchaften iſt die bedeutendſte die Landbank. Deren Tätigkeit gab früher zu gerechtfertigten Ausſtellungen Veranlaſſung; neuer⸗ dings 1 0 ſie aber einen dem Allgemeinwohl dienenden Weg eingeſchlagen zu haben ). Indeſſen reicht die Rentengutsgeſetzgebung nicht aus, um über⸗ all dort, wo der bäuerliche oder der Kleinſtellenbeſitz zu ſpärlich vertreten iſt, einen ſolchen neu zu ſchaffen. Denn ſie kann bloß dort in Wirkſamkeit treten, wo Großgrundbeſitzer mit einer Reihe von Kaufliebhabern über die Teilung ihrer Güter in eine Anzahl kleinerer Stellen und deren Verkauf bereits einig geworden ſind. Die Generalkommiſſion wirkt dabei weſentlich nur als ver⸗ mittelnde Inſtanz. Sie kann allerdings ihre Hilfe ablehnen, wenn ihr etwa die ausbedungenen Kaufpreiſe zu hoch erſcheinen oder kann ihre Mitwirkung an die Bedingung einer Preisherabſetzung knüpfen. Hiervon macht ſie auch oft Gebrauch. Aber ihr ſind die Hände doch viel mehr gebunden wie der Anſiedelungskommiſſion. Letztere kauft große Güter dort, wo ſie die Neu⸗ gründung von Landgemeinden für zweckmäßig hält, zahlt dafür den ihr an⸗ gemeſſen ſcheinenden Preis und bedingt ſich dann von den neuen Anſiedlern einen Preis bezw. eine Rente aus, bei welcher dieſelben vorausſichtlich gut beſtehen können. Ihr Zweck iſt nicht, die angelegten Kapitalien hoch zu ver⸗ zinſen, ſondern deutſche Bauern in polniſchen Diſtrikten anzuſiedeln. Dies iſt wichtig genug, um den Staat zur Darbringung von Geldopfern zu veranlaſſen. Nach der Denkſchrift der Anſiedelungskommiſſion für das Jahr 1903 hatten ſich die für die vollſtändig fertiggeſtellten Anſiedelungen verausgabten Gelder mit durchſchnittlich 2,43 Proz. verzienſt?). Mit dieſem Zinsfuß kann ſich ein Großgrundbeſitzer, der ſein Gut in Rentengüter zerlegt, nicht begnügen und begnügt ſich tatſächlich nicht damit. Die Käufer von Rentengütern müſſen einen höheren Preis zahlen und werden unter ungünſtigeren Bedingungen an⸗ geſiedelt, als diejenigen von Anſiedelungsgütern. Wenngleich die Behaup⸗ tung der grundſätzlichen Gegner der Rentengutsgeſetzgebung, daß die Mehr⸗ zahl der neuen Anſiedler wegen der zu hohen Erwerbspreiſe wirtſchaftlich auf die Dauer nicht beſtehen könnten, unbegründet iſt, ſo läßt ſich doch nicht leugnen, daß es im Intereſſe der Sache wünſchenswert wäre, wenn dieſelben von vorne herein in eine etwas günſtigere Lage gebracht würden. Es han⸗ von Rentengütern innegehaltenen Verfahrens, aus der Feder des hierzu in beſonders hohem Grade befähigten Präſidenten der Generalkommiſſion zu Frankfurt a. O., H. Metz, findet ſich in Hugo Thiels Landwirtſchaftlichen Jahrbüchern (XXXI. Bd., Ergänzungs⸗ band III, 1902, S. 1—160) unter dem Titel „Innere Koloniſation in den Provinzen Brandenburg und Pommern 1891—1901. — Vgl. zu der im Text behandelten Frage auch noch: „Arthur Aal, Das preuß. Rentengut“, 43. Stück der Münchener Volkswirt⸗ ſchaftlichen Studien, herausgeg. von Lujo Brentano und Walther Lotz, Stuttgart bei Cotta 1901. Die von Aal vertretenen agrarpolitiſchen Anſichten weichen allerdings von den meinigen nicht unweſentlich ab. Ferner: „Hugo Linſchmann, Das preußiſche Rentengut, Berlin 1904. 1) Vgl. hierzu die Zeitſchrift: „Das Land“, Jahrg. 1900, S. 320; Jahrg. 1901, S. 194 u. 195; Jahrg. 1902, S. 65; Jahrg. 1903, S. 271; ferner das in Anm. 2 zitierte Buch von Aal, S. 98—105. 2) S. die angeführte Denkſchrift, S. 17 u. 18. Werden die Koſten für die erſt⸗ malige Regelung der Gemeinde-, Schul- und Kirchenverhältniſſe als geſetzmäßige Aufwen⸗ dungen außer Anſatz gelaſſen, ſo ergibt ſich eine Verzinſung von 2,65 Proz. VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 97 ſich dabei um eine Maßregel, die für den ganzen Staat eine große Be⸗ ung hat und für die er deshalb auch wohl Opfer bringen kann. Man 4 es daher als wünſchenswert oder gar geboten bezeichnen, daß der preu⸗ ßiſche Staat auch in den anderen Provinzen, in denen der Großgrundbeſitz ı ausgedehnt iſt, ebenſo wie er es in Poſen und Weſtpreußen getan hat, nen Fonds zur Verfügung ſtellt, mit Hilfe deſſen große Güter behufs Zer⸗ ung in bäuerliche Stellen erworben werden. Man würde damit den zwei⸗ chen Erfolg erzielen, einmal, daß die Gründung neuer Landgemeinden ge- de dort ke wo fie beſonders nötig find, und fürs andere, daß die ſiedler mit nicht zu hohen Renten belaſtet würden. Der Staat kann ſich it einem Zinsſatz von 2 ½ Proz. begnügen; was er an Zinſen zur Zeit einbüßt, gewinnt er mit der Zeit reichlich durch die Verbeſſerung, welche die eſamten wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe der davon betroffenen Gegenden erfahren. Wenn der Staat für die 4 Provinzen Oſtpreußen, Pommern, Brandenburg und Schleſien je 50 Mill. Mk. zu beſagtem Zweck zur Verfügung ſtellte, jo würde damit ſchon viel gewonnen ſein. SR Auch noch nach einer anderen Richtung hin bedarf die Renten- gutsgeſetzgebung einer Ergänzung. Wenngleich nicht ihrem Wortlaute nach, jo doch nach der Interpretation, die fie bei den parlamentariſchen Ver⸗ handlungen von autoritativer Seite erhalten hat, ſoll ſie lediglich dazu dienen, neue bäuerliche Stellen, d. h. ſolche zu errichten, von deren Ertrag der Beſitzer leben kann. Dabei wird allerdings auf die für eine Landgemeinde unent⸗ behrliche Anſiedelung von Handwerkern Bedacht genommen. Außer dem Be⸗ reich der Rentengutsgeſetzgebung liegt aber die Anſiedelung von grund— beſitzenden ländlichen Arbeitern oder, mit anderen Worten, der Er⸗ richtung von Arbeiterrentengütern. Der Zweck dieſer iſt zwar auch die Herbeiführung einer angemeſſeneren Verteilung des Grundbeſitzes. Wichtiger aber iſt der andere Zweck, nämlich die Zahl der landwirtſchaftlichen Arbeits⸗ kräfte zu vermehren und den Hauptgrund, weshalb ſo viele der vorhandenen Arbeiter aus⸗ oder abwandern, zu beſeitigen. Wie zur Erreichung dieſes Zieles die Rentengutsgeſetzgebung zu ergänzen iſt, wird in Abſchnitt IX dargelegt werden. Die Feldregulierung. Im bisherigen wurde von derjenigen Verteilung des Grundbeſitzes ge— handelt, welche ſich auf die verſchiedenen Größenklaſſen bezieht. Für die einzelnen Beſitzer jeder Gemeinde iſt es aber außerdem wichtig, in welcher Weiſe die ihnen gehörigen Grundſtücke innerhalb der Gemeinde— flur verteilt find und welche Lage fie haben. Eine zweckmäßige Einrichtung des Betriebes und die Erzielung eines den ſonſtigen Verhältniſſen ent- ſprechenden Reinertrages werden dadurch bedingt, daß die zu einem Betrieb gehörenden Grundſtücke nicht zu zahlreich und nicht zu klein ſind, daß ſie eine einigermaßen regelmäßige Form beſitzen, daß ſie an einen Zufuhrweg renzen, daß eine zweckmäßige Regulierung der Waſſerverhältniſſe ſtattge— e hat. Die frühere Entwicklung der agrariſchen Zuſtände hatte es mit ſich gebracht, daß man bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts dieſen Forderungen an eine rationelle Art der Bodennutzung wenig Rechnung tragen zu müſſen glaubte. Jede Gegend hatte ihr beſtimmtes Feldſyſtem; gemäß dieſes war die Dorfmarkung in drei oder mehr Fluren geteilt, in deren jeder der einzelnen überhaupt vorhandenen Beſitzer über eins oder mehrere Grundſtücke verfügte. Alle in einer Flur liegenden Grundſtücke wurden von ihren Nutznießern in von der Golß, Agrarweſen und Agrarpolitik 2. Aufl. 7 tn se, a 22 2 28 ‘ „ 19 H DR . f * U 8 2 1 ’ . * R BI. 1 “ri ” IM. 5 h 0 8 1 er „ „ * . . 2 4 7, BR: 4 * 3 4 1 N * N *. 98 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. der gleichen Weiſe und zu derſelben Zeit bearbeitet, beſtellt und abgeerntet ). Bei ſtattfindenden Grundſtücksteilungen erſchien es daher unnötig, dieſelben derartig vorzunehmen, daß jedes Teilgrundſtück einen beſonderen Zufuhrweg f eine regelmäßige Form der neu gebildeten Grundſtücke nahm erhielt. Au man zwar einige Rückſicht, aber doch nicht in dem Maße, als es im Hin⸗ blick auf möglichſte Arbeitserſparnis notwendig geweſen wäre. Man ver⸗ wendete überhaupt wenig Arbeit auf den Boden, und die Arbeitskräfte waren verhältnismäßig wohlfeil. Der Ent- und Bewäſſerung, auch wo ſie eigent⸗ lich nötig und den natürlichen Verhältniſſen nach ausführbar war, wurde ebenfalls wenig Aufmerkſamkeit geſchenkt. Infolge dieſer Umſtände entwickelten ſich Zuſtände, die faſt jeden gründlichen Fortſchritt in dem Ackerbaubetrieb unmöglich machten. Beſonders empfindlich zeigte ſich dies in den Gegenden, wo das Dorfſyſtem herrſchte, alſo keine geſchloſſenen Höfe verhanden waren. Den einzelnen Grundſtücksbeſitzern fehlte die Möglichkeit, jederzeit auf ihre Acker zu gelangen, ſie alſo auch in der ihnen gut ſcheinenden Art und Zeit zu beſtellen; ſie waren durch den Flurzwang an die örtlich hergebrachte, meiſt ſehr unrationelle Art der Bewirtſchaftung gebunden. Wandel konnte nur geſchafft werden durch Feldregulierung, Feldbereinigung oder Flurbereinigung, d. h. durch eine vollſtändige Umgeſtaltung und Neu⸗ verteilung der Dorfmarkung und zwar nach der Richtung hin, daß jeder Be⸗ ſitzer ſeine Grundſtücke möglichſt im Zuſammenhang, ſowie daß jedes der neuen Grundſtücke einen Zufuhrweg erhielt; daß ferner die Regulierung des Wege⸗ und Grabennetzes in einer den Bedürfniſſen einer rationellen Wirt⸗ ſchaftsführung entſprechenden Weiſe erfolgte. Selbſtverſtändlich konnte eine derartige, in die Eigentumsrechte jo tief einſchneidende Maßregel nur auf dem Wege der Geſetzgebung vorgenommen werden. Dieſe iſt dann auch im Laufe des 19. Jahrhunderts in den meiſten deutſchen Staaten erlaſſen worden. Den Anfang machte Preußen mit der Gemein heitsteilungs-Ordnung vom 7. Juni 1821 (ſ. S. 64) 2). Zunächſt hatte dieſe zwar den Zweck, die vorhandenen gemeinſchaftlich be⸗ nutzten Grundſtücke, namentlich die Gemeindeweiden, unter die Berechtigten zur beliebigen Privatnutzung zu verteilen. Hierbei lag aber zugleich die Not⸗ wendigkeit vor, die ganze Dorfmarkung, beſonders auch das Wege- und Grabennetz, umzugeſtalten. Man nahm deshalb die Gelegenheit wahr, mit der Gemeinheitsteilung eine vollſtändige Feldregulierung, namentlich eine möglichſte Zuſammenlegung der jedem Beſitzer gehörenden Grundſtücke, zu verbinden. In den älteren Provinzen Preußens nannte man und nennt man noch dieſe Maßregel Gemeinheitsteilung oder Separation; ſie war gewiſſermaßen nur ein Zubehör zu der Gemeinheitsteilung und konnte nur im Zuſammenhang mit dieſer ſtattfinden. Durch das Geſetz vom 2. April 1872 iſt aber beſtimmt worden, daß auch außerhalb des Gemein⸗ heitsteilungsverfahrens Zuſammenlegungen vorgenommen werden können und müſſen, ſofern die Eigentümer von mindeſtens der Hälfte der Feldflur und zugleich des Grundſteuerreinertrags derſelben dies beantragen und die Kreis— verſammlung ihre Zuſtimmung gibt. Wie einſchneidend und erfolgreich die Gemeinheitsteilungs-Ordnung ge⸗ wirkt hat, erhellt aus folgenden Zahlen. Bis zum Jahre 1866 waren in 1) Siehe hierüber das Nähere in Abſchnitt III, S. 39 und 41. 2) Über die bereits im 18. Jahrhundert gemachten Verſuche zu einer Feldregulierung bezw. Gemeinheitsteilung ſiehe meine Geſchichte der Deutſchen Land wirtſchaft, I. Bd., S. 406—413. Über die Gemeinheitsteilung in Bayern ſ. Franz X. Wismüller „Geſchichte der Teilung der Gemeinländereien in Bayern“, Stuttgart u. Berlin bei Cotta, 1904. VI. Arten und Verteilung des Grundbefies. 99 alten preußiſchen Provinzen 15 262 100 ha Fläche, die 1600 510 Be⸗ rn gehörten, der Gemeinheitsteilung und Zuſammenlegung unterworfen den; dabei umfaßte der preußiſche Staat damals bei 27770910 ha Ge⸗ iche nur 14067877 ha Ackerland. Bis zum Jahre 1895 iſt, ein⸗ ließlich der ſeit 1867 auch auf die neuen Provinzen angewendeten Zu⸗ mmenlegung, die ihr unterzogene Fläche auf 20 585232 ha und die Zahl der davon betroffenen Beſitzer auf 2165938 gewachſen. Die Geſamtfläche des preußiſchen Staates beträgt jetzt 34835428 ha )). In den meiſten übrigen deutſchen Staaten iſt die Flurbereinigung Feldregulierung unabhängig von der Gemeinheitsteilung erfolgt. Sie dementſprechend auch mit anderen Ausdrücken als in Preußen bezeichnet zwar nach Ländern und Gegenden ſehr verſchiedenen. Sie heißt: Zu⸗ menlegung, Konſolidation, Arrondierung, Verkoppelung, Ge— ann regulierung, Kommaſſation ꝛc. Für die ſüddeutſchen Staaten, ebenſo für den Teil der preußiſchen Rheinprovinz, in welchem der Code apoléon gilt, ſind die betreffenden Geſetze erſt in den 80er Jahren des I. Jahrhunderts erlaſſen worden. Auf dieſelben im einzelnen einzugehen, verbietet ſchon die Rückſicht auf die für die Darſtellung gebotene Kürze. Es erſcheint aber auch unnötig, da die Geſetzgebung über die Flurbereinigung für Deutſchland im weſentlichen als abgeſchloſſen betrachtet werden kann und auf dieſem Gebiete, wenigſtens in abſehbarer Zeit, keine neuen und beſonderen Aufgaben mehr zu löſen ſind. Es handelt ſich jetzt vorzugsweiſe darum, die geſetzlich zugelaſſene Zuſammenlegung dort, wo ſie noch nicht ſtattgefunden hat, möglichſt ſchnell zur Durchführung zu bringen; ferner darum, die durch „ 1 hung erzielten Errungenſchaften auch für die Dauer ſicher⸗ zuſtellen 7. oe | Nachſtehend gebe ich eine kurze Zuſammenfaſſung derjenigen Vorteile, welche aus der Flurbereinigung erwachſen. Dieſelbe gewährt zugleich ein Bild von den mannigfachen Veränderungen, denen dabei die Flur unter: worfen wird; ferner eine Ergänzung zu dem, was im Vorangegangenen über die Bedeutung der Zuſammenlegung im allgemeinen gejagt wurde. 1. Jeder Beſitzer kann ſeine Grundſtücke jo benutzen, wie es der Natur des Bodens, Klimas, den allgemeinen wirtſchaftlichen Verhältniſſen, auch dem Umfang ſeines Beſitzes am meiſten entſpricht. Was dies zu bedeuten hat, geht ſchon aus der Tatſache hervor, daß heute noch vielfach die Beſitzer ge— wungen ſind, an der (verbeſſerten) Dreifelderwirtſchaft feſtzuhalten, weil die Bir Parzellierung und der dadurch bedingte Flurzwang die Einführung eines rationellen Fruchtwechſels unmöglich machen. 2. Durch die Zuſammenlegung wird Kulturland gewonnen und zwar um ſo mehr, eine je größere Verringerung der Parzellenzahl damit erreicht wird. Denn in demſelben Grade nimmt die für die Grenzraine erforderliche Geſamtfläche ab. Dieſe Raine ſind nicht nur unproduktiv, ſondern geben auch noch Veranlaſſung zur Verunkrautung der benachbarten Felder. 3. Es wird an Arbeitsaufwand und Saatgut geſpart. Solches ein— mal dadurch, daß die neu ausgeworfenen Grundſtücke durchſchnittlich größer a ar 8. 7 1) A. Meitzen, Landwirtſchaft, II. Teil, in Schönbergs Handbuch der politiſchen Otonomie, 4. Aufl., 2. Teil, 1. Hälfte, 1896, S. 192. 2) Über die Feldbereinigung in Württemberg, ſiehe „Die Landwirtſchaft in Württemberg“. Denkſchrift, herausgeg. von der kgl. Zentralſtelle für Landwirtſchaft, Stutt gart 1902, S. 90—96. 3) Die folgenden Sätze ſind nahezu wörtlich entnommen meiner Abhandlung „Die wirtſchaftlichen Grundlagen der Kulturtechnik“ in Ch. A. Vogler, Grundlehren der Kulturtechnik, 2. Aufl., II. Bd., 1898. Siehe a. a. O. 63 ff. ‚A, ‘ 100 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. ſind, als die bisher vorhanden geweſenen. Eine Fläche von 1 ha, die im Zuſammenhang liegt, beanſprucht weniger Arbeit und Saatgut, als 4 von einander getrennte Grundſtücke von je ¼ ha. Die Erſparnis an Arbeit iſt um ſo größer, je weiter die örtliche Entfernung der früheren, nicht zuſammen⸗ gelegten Parzellen untereinander war. Fürs zweite wird aber der Aufwand an Arbeit und Saatgut dadurch verringert, daß die neu ausgeworfenen Par⸗ zellen eine regelmäßige, meiſt rechteckige Figur erhalten, während dies bei den früheren häufig nicht zutraf. Die Arbeit des Pfluges, der Egge, der Walze, der Säe- und Mähmaſchine, der Pferdehacke wird erſchwert, verlang⸗ ſamt, auch in ihrer Wirkung unvollkommener, wenn fie auf jpig- oder ſmpf winkeligen Grundſtücken vollzogen werden muß. 4. Die Wegeführung in nicht zuſammengelegten Gemarkungen iſt häufig eine ſehr unzweckmäßige, namentlich in gebirgigen Diſtrikten. Die Wege ſind oft zu ſteil, erfordern deshalb beim Aufwärtsbewegen von Laſten zu viel Kraft; nach ſtarken Regengüſſen werden ſie abgeſchwemmt: man kann ſie nur mit großen Koſten in gutem Zuſtande erhalten und deshalb haben ſie häufig eine ſehr mangelhafte Beſchaffenheit. Dieſe Übelſtände verſchwinden durch die Zuſammenlegung. Dadurch, daß man den neuen Wegen eine geringere Steigung gibt, verliert man zwar etwas Land, aber der erzielte Vorteil iſt viel größer. Für dieſelbe Laſt, zu deren Heraufziehen ehemals 4 Pferde nötig waren, genügen jetzt 2; oder während man früher einem Pferde nicht mehr als 10 Ztr. aufladen konnte, bewältigt es jetzt 20 Ztr. Ferner be⸗ anſprucht die jährliche Unterhaltung der neuen Wege kaum die Hälfte des Aufwandes, wie die der alten. Der ſtattfindende Verluſt an Land fällt des⸗ halb nicht ſtark ins Gewicht, weil es ſich hierbei in der Regel um bergiges Terrain von geringerer Fruchtbarkeit handelt. 5. Bei der Zuſammenlegung werden die Waſſerverhältniſſe zweckent⸗ ſprechend reguliert, ſo daß das Tagewaſſer ſchnell abfließen kann, ohne dabei Kulturland abzuſchwemmen. An geſamter Grabenlänge und damit an Kultur⸗ land wird häufig geſpart. Die Gräben erhalten überall das nach Maßgabe des Terrains günſtigſte Gefälle und eine angemeſſene Böſchung, wodurch ihre Unterhaltungskoſten vermindert werden. 6. Die Möglichkeit iſt geboten, jedes Grundſtück der für dasſelbe paſſendſten Kulturart zuzuweiſen. Häufig findet man in nicht zuſammen⸗ gelegten Gemarkungen eine ſolche Benutzung von Grundſtücken, welche ihrer Bodenbeſchaffenheit oder ihrer Lage nicht entſpricht; Flächen, die ihrer Natur nach am meiſten zum ſtändigen Grasbau oder zum Waldbau geeignet ſind, werden als Ackerland behandelt ſowie umgekehrt. Durch die Zuſammenlegung, bei der ohnehin eine allgemeine Regulierung der Feldmark und ein allge⸗ meiner Austauſch der Grundſtücke ſtattfindet, werden dieſe Ubelſtände beſeitigt. 7. Eine beſonders günſtige Wirkung der Zuſammenlegung beſteht darin, daß ſie Gelegenheit darbietet, um notwendige oder doch vorteilhafte Ent⸗ und Bewäſſerungsanlagen für die ganze Feldmark oder für einzelne Teile der⸗ ſelben ins Werk zu ſetzen, bezw. auch Drainage- und Wieſenbewäſſerungs⸗ Genoſſenſchaften ins Leben zu rufen. Jene ſo wichtigen Meliorationen iſt der einzelne Beſitzer, wenigſtens der bäuerliche und kleine, überhaupt faſt nie im⸗ ſtande für ſich allein durchzuführen, da er dabei von ſeinen Nachbarn ab⸗ hängt. Bei der Zuſammenlegung wird aber die ganze Feldmark bezüg⸗ lich der Ent⸗ und Bewäſſerung ſo behandelt, als ob ſie einem einzigen Be⸗ ſitzer gehörte. 8. Wird eine Feldmark zuſammengelegt, ſo iſt eine genaue Vermeſſung ſowohl der ganzen Fläche wie der den einzelnen Beſitzern bisher gehörenden und der ihnen neu zuzuweiſenden Grundſtücke nötig. Die letzteren werden VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 101 u und auf die Dauer erkennbar abgegrenzt. Hieraus erwachſen mannig⸗ fache Vorteile. Der einzelne Beſitzer weiß nun zuverläſſig, wieviel Land er hat und zwar in jeder einzelnen Kulturart, wie groß jedes ſeiner Grundſtücke iſt, wo deſſen Grenzen laufen. Dies trifft für nicht regulierte Feldmarken ge⸗ wöhnlich nicht zu und hieraus erwachſen manche wirtſchaftliche Verluſte und außerdem häufig Rechtsſtreitigkeiten. Tatſache iſt, daß infolge der Zuſammen⸗ legung die Zahl der um den Beſitz oder die Nutzung des Bodens anhängig gemachten Prozeſſe erheblich abzunehmen pflegt. 9. Wie ſtark die Roh⸗ und Reinerträge aus der Landwirtſchaft im ſchen Reiche durch die bereits erfolgten Zuſammenlegungen gewachſen oder durch die noch vorzuehmenden in Zukunft geſteigert werden können, tzieht ſich der zahlenmäßigen Feſtſtellung. In den einzelnen Gemarkungen taltet ſich dies auch ſehr verſchieden. Durch unzählige Erfahrungen iſt es er bezeugt, daß die Zuſammenlegung außerordentlich günſtige Wirkungen vohl auf die landwirtſchaftliche Rohproduktion wie auf die ökonomiſche ge der einzelnen Grundbeſitzer ausgeübt hat. Geegenüber dieſen großen Vorzügen fallen die mit der Zuſammenlegung 6 verbundenen Schädigungen nicht ſehr ins Gewicht. Sie beſtehen einmal darin, daß während ihrer Durchführung, die gewöhnlich 2—3 Jahre in An⸗ Spruch nimmt, die einzelnen Beſitzer in ihrer Wirtſchaftsführung derartig ge- ſtört werden, daß gewiſſe Verluſte unvermeidlich find. Es iſt iſt dies aber ceein bald vorübergehender Übelſtand. Fürs andere verurſacht die Zuſammen⸗ llegung gewiſſe Koſten, deren Höhe je nach den örtlich vorliegenden Terrain— und Tonfäge Verhältniſſen ſich ſehr abweichend geſtaltet. In Baden ſchwanken die Koſten zwiſchen 25—90 M. pro ha. Im Königreich Sachſen pveranſchlagt man die Koſten, abgeſehen von denen für Wege- und Graben: anlagen, pro ha bei großen Fluren auf 13,15 — 15,74 M., bei mittleren Fluren auf 21,33—23 M., bei kleinen Fluren auf 21,4 — 26,7 M.). Nimmt man als Durchſchnittsaufwand 50 M. pro ha, was jedenfalls ſehr hoch ge— rechnet iſt, ſo würde zum Erſatz für denſelben, bei Annahme eines Zinsfußes von 4 Proz., nur eine jährliche Ertragsſteigerung im Werte von 2 M. pro ha oder von 25—30 Pfund Roggen pro ha nötig ſein. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß die durch die Zuſammenlegung erzielte Erhöhung des Reinertrages durchſchnittlich das Vielfache der genannten Sätze ausmacht. An der Zuſammenlegung haben nicht nur die einzelnen Grundbeſitzer, ſondern hat ebenſo der Staat ein großes Intereſſe. Deshalb iſt es ganz in der Ordnung, wenn der Staat dieſe Maßregel unter ſeiner Aufſicht und durch ſeine Beamten durchführen läßt; wo die Zuſammenlegung mit beſon— deren Schwierigkeiten verknüpft iſt und deshalb ungewöhnlich große Koſten erfordert, oder wo es ſich um ſehr bedürftige Gemeinden handelt, ſoll der Staat auch einen Teil der Koſten auf ſich nehmen. Man kann ferner von ihm beanſpruchen, daß er, namentlich in den eben erwähnten Fällen, die oſten ganz oder zum Teil vorſchießt und erſt im Laufe mehrerer Jahre von den Beſitzern ratenweiſe ſich zurückerſtatten läßt. Den genannten Forde— rungen pflegt auch in den einzelnen deutſchen Staaten Rechnung getragen zu werden. In Preußen beſtimmt das Geſetz über das Koſtenweſen bei Auseinanderſetzungsſachen vom 24. Juni 1875 in 8 2 Nr. 3, daß bei Grundſtückszuſammenlegungen ſowie bei Gemeinheitsteilungen von den Intereſſenten ein Pauſchquantum von 12 Mark für jedes Hektar der der 1) A. Buchenberger, Agrarweſen und Agrarpolitik, Bd. I, 1892, S. 316. 102 VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. Umlegung und Zuſammenlegung oder Teilung unterworfenen Fläche berechnet 1 und erhoben werden ſolle. Allerdings bietet die Durchführung einer Zuſammenlegung keine unbe⸗ dingte Garantie dafür, daß nicht manche der durch fie beſeitigten Übelſtände mit der Zeit ſich wieder aufs neue einſtellen. Dies gilt vorzugsweiſe von einer unzweckmäßigen neuen Zerteilung der zuſammengelegten Grundſtücke. Es iſt die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß im Laufe der Jahre wieder eine ähnliche Kleinheit und Gemengelage der einzelnen W ſich bildet, wie ſie vor der Zuſammenlegung beſtanden hat. Indeſſen iſt von der Möglichkeit bis zur Wirklichkeit in dieſem Falle noch ein weiter Weg. Jeder Bauer weiß, wie wichtig es für ihn iſt, daß er über die Art der Beſtellung und Benutzung ſeiner Grundſtücke frei verfügen kann; ferner wie viel rentabler bei gleichem Umfange die Bewirtſchaftung einer großen, zuſammenhängenden Fläche als vieler kleiner Parzellen iſt. Er wird ſich deshalb vor allem davor hüten, Grundſtücke ſo zu teilen, daß eine oder mehrere Parzellen ihren Zufuhrweg verlieren; auch wird ſich auf den Kauf von ſolchen Parzellen we leicht jemand einlaſſen ). Die Gefahr, daß auch nur annähernd die alten Zuſtände bezüglich der Gemengelage der Grundſtücke nach der Zuſammenlegung wieder eintreten könnten, darf daher als ausgeſchloſſen betrachtet werden. Wohl aber iſt es möglich, daß mit der Zeit wieder eine unwirtſchaftliche und durch die ſonſtigen Umſtände nicht gerechtfertigte Verkleinerung vieler Grundſtücke ein⸗ tritt, auch wenn man bei der Teilung darauf Rückſicht nimmt, daß jede neu gebildete Ackerparzelle wenigſtens einen Zufuhrweg behält. Um dem Eintritt dieſes Mißſtandes vorzubeugen, habeu die Geſetzgebungen einzelner Länder ein Minimum feſtgeſtellt, unter welches herab ein Grundſtück nicht mehr geteilt werden darf; dasſelbe iſt für die verſchiedenen Kulturarten von ungleicher Größe. Derartige Beſtimmungen ſind vorhanden für die Großherzogtümer Baden, Heſſen und Sachſen-Weimar, für das ehemalige Herzogtum Naſſau (den jetzigen preußiſchen Regierungsbezirk Wiesbaden) und das Fürſtentum Hohenzollern-Sigmaringen. In einzelnen dieſer Länder ſind ſie ſchon vor den betr. Geſetzen über Zuſammenlegung, in anderen gleich⸗ zeitig mit dieſen erlaſſen worden. Für Ackerland bewegt ſich das Minimum zwiſchen 9 a (Baden) und 30 a (Sachſen⸗Weimar); am höchſtens iſt es überall für Waldland, am niedrigſten für Gärten und Weinberge, ſofern für dieſe überhaupt ein Minimum beſtimmt iſt ). Zur Veranſchaulichung gebe ich hier die für den jetzigen Reg. Bez. Wiesbaden gültigen Vorſchriften wieder, die auf Herzoglich naſſauiſchen Ver⸗ ordnungen aus den Jahren 1829, 1830 und 1837 beruhen. Danach be⸗ trägt das Minimum, unter welches nicht geteilt werden darf: far Ackelad 50 naſſ. Quadratmeter oder 12, & 77 Wieſen e 25 „ n 7 6,55 " „ Gartenparzellen . 20 „ 60 „ 5500 „ „ Kraut⸗ und Gemüſefelder 15 „ 175 „ Zs u Dieſe Beſtimmungen finden keine Anwendung: a) auf Setzlings-Pflanzen⸗ beete und Bleichplätze; b) zum Zweck der Vereinigung von Teilparzellen mit benachbarten Grundſtücken; e) innerhalb des Ortsberings; d) zu beſonderen Zwecken, welche nicht die beſſere Kultivierung der Ländereien betreffen, wie 1) Hierbei iſt von Gemüſe⸗ und Obſtgärten, ſowie von Weinbergen, deren Benutzung keine Geſpannarbeit verlangt, abgeſehen. f a 2) In der „Denkſchrift über die Einführung einer Minimalparzelle in der Rhein⸗ provinz“ (1895, verfaßt von dem Präſidenten der Generalkommiſſion in Düſſeldorf, Küſter) ſind die in den einzelnen Ländern gültigen geſetzlichen Beſtimmungen über die Minimal⸗ parzelle angegeben, a. a. O. S. 18 ff. R en VI. Arten und Verteilung des Grundbeſitzes. 103 chtung und Erweiterung von Gebäuden, Anlage von Wegen, Chauſſeen, Eiſenbahnen, Kanälen, Gräben, Abtretungen zu induſtriellen Etabliſſements; wenn ein Grundſtück von einem Wege durchſchnitten wird. In beſonderen ällen kann die Regierung bezw. die Generalkommiſſion Dispenſation von dieſen Beſtimmungen erteilen. Es iſt der eng wohl wert, ob man nicht ähnliche Vorſchriften über Minimalparzellen auch in denjenigen Ländern oder Landesteilen erlaſſen ſoll, wo ſie bis jetzt noch nicht beſtehen. Für die Gemarkungen, bei denen die Zuſammenlegung bis jetzt noch nicht ſtattgefunden hat, ſondern noch vorſteht, iſt dies meines Erachtens unbedingt zu bejahen. Der durch die uſammenlegung gewonnene große Vorteil, daß wenigſtens jede Ackerparzelle nen Zufuhrweg behält, könnte dadurch für die Dauer geſichert werden. Die für Naſſau beſtimmten Minima entſprechen im allgemeinen ſowohl den An— forderungen an eine rationelle Bodennutzung wie auch den Bedürfniſſen der ändlichen Bevölkerung. Schließt man außer den Weinbergen die innerhalb Ortsberings liegenden Grundſtücke aus und ſetzt das Minimum für außer⸗ ub des Beringes liegende Gärten und Gemüſefelder, die der Spatenkultur unterliegen, ſo niedrig feſt, wie es in Naſſau geſchehen iſt, dann können auch die kleinen Dorfbewohner (landwirtſchaftliche und induſtrielle Arbeiter, Hand⸗ werker, Krämer 2c.) ihre durchaus berechtigten Wünſche nach Landbeſitz hin- reichend befriedigen. f Aus naheliegenden Gründen hat in den Gegenden, wo das Dorf— 7 Ka herrſchte, eine viel ſtärkere Parzellierung und eine der Bewirt- 1 ng viel nachteiligere Gemenggelage der Grundſtücke ſich herausgebildet, als dort, wo das Hofſyſtem in Übung war!), wo alſo von vornherein die einzelnen Wirtſchaftshöfe getrennt voneinander angelegt wurden und jeder Hof von den zu ihm gehörenden Grundſtücken umgeben war. Die Urſachen, weshalb man bei der erſten Koloniſation in manchen Bezirken das Dorf-, in anderen das Hofſyſtem zur Anwendung gebracht hat, ſind noch nicht hinreichend ſicher feſtgeſtellt. Früher hat man viel darüber geſtritten, welchem ſtem der Vorzug zu geben ſei, und viele waren geneigt, das Hofſyſtem als das allgemein zweckmäßigere zu bezeichnen. Später iſt man mit Recht mehr davon abgekommen. Je komplizierter das Wirtſchaftsleben wird, je mehr das Bedürfnis auch der ländlichen Bevölkerung nach geiſtiger Bildung ſteigt, deſto ſtärker wird auch die Notwendigkeit, daß die zu einer Gemeinde ehörenden Grundbeſitzer in häufigen perſönlichen Verkehr treten; daß fe einen für jeden leicht erreichbaren örtlichen Mittel- und Sammelpunkt haben, an dem und von dem aus ſie ihre wirtſchaftlichen und ſonſtigen ge— meinſamen Angelegenheiten beraten und beſorgen können. Wo Einzelhöfe von alters her vorhanden ſind, wäre es Unverſtand, auf ihre Beſeitigung . Andererſeits liegt aber noch weniger ein Grund vor, um den achteilen der Gemengelage der Grundſtücke zu entgehen, die Dörfer aus— einanderzureißen, neue Wirtſchaftshöfe zu bauen und demnächſt den einzelnen Beſitzern ihre Grundſtücke um dieſelben herum im Zuſammenhang anzuweiſen. Vom Jahre 1540 ab hat man dies Verfahren im Hochſtift Kempten an— gewendet, und ſind dort im Laufe der folgenden Jahrhunderte ſog. Ver— einödungen vorgenommen worden. Auch bei der Ausführung der preußi— ſchen Agrargeſetze von 1811—1821 hat man zuweilen die neuen Bauern: höfe außerhalb des Dorfes gelegt; man nannte dieſelben und nennt ſie noch Abbauten. Die Erfahrungen, die man damit gemacht hat, find aber keines— 1) Über die Entſtehung und Verbreitung der beiden verſchiedenen Beſiedelungsarten ſiehe meine Geſchichte der Deutſchen Landwirtſchaft, I. Bd., S. 89—91. 104 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. wegs günſtige. Wo einmal das Dorfſyſtem herrſcht, bietet eine zweckmäßig durchgeführte Zuſammenlegung das beſte Mittel, um die aus der Gemengelage der Grundſtücke erwachſenen Übelſtände zu beſeitigen. Durch Vereinödung oder Abbauten würden dieſe zwar noch gründlicher fortgeſchafft, dafür aber andere und größere neu ins Leben gerufen. VII. Die Pererbung des Grund beſthes. Bis zu Ende des 18. oder Beginn des 19. Jahrhunderts war im größten Teil des Deutſchen Reiches die geſchloſſene oder gebundene Erbfolge Geſetz oder Sitte, d. h. die bäuerlichen wie großen Güter gingen ungeteilt auf einen Erben, den Anerben, über. Damit waren gleichzeitig Beſchränkungen bezüglich der Teilung bei Lebzeiten und der Verschuldung verbunden; namentlich galt dies für Bauernhöfe. Die Beſitzer von ſolchen hatten außerdem in der Regel, auch wenn ſie erbliche waren, nicht volle und freie Verfügung, ſondern waren bei Maßregeln, welche die Subſtanz des Gutes betrafen, an die Zuſtimmung ihrer Grund- oder Gutsherren ge⸗ bunden. Im Intereſſe dieſer pflegte es aber nicht zu liegen, eine Teilung oder Verſchuldung zuzulaſſen. Soweit infolge der geſtiegenen Bevölkerung und der Zunahme des Bedarfs an Arbeitskräften eine Teilung notwendig erſchien, erfolgte ſie in der Weiſe, daß man einen ganzen Bauernhof in mehrere zerlegte, jo daß neben den Vollbauern auch Halb- und Viertels⸗ bauern entſtanden. Derſelbe Umſtand bewirkte dann auch die Errichtung von noch kleineren Stellen, die größtenteils nicht einmal ſpannfähig waren und die man je nach ihrer Größe verſchieden benannte: Kötter-, Kätner⸗, Büdner-, Häuslerſtellen. Jede neu gegründete Stelle, für die dann auch beſondere Wirtſchaftsgebäude hergeſtellt wurden, bildete aber dann wieder ein Beſitztum, für welches die gebundene Erbfolge maßgebend war. Die Teilung der urſprünglich ganzen Bauernhöfe in kleinere Wirtſchafts einheiten fand am früheſten und am ſtärkſten in den Tälern und Ebenen des weſt⸗ lichen und ſüdweſtlichen Deutſchlands ſtatt, wo die landwirtſchaftliche Kultur am meiſten vorgeſchritten und die Bevölkerung am zahlreichſten war. Aber auch dort blieb die gebundene Erbfolge die Regel). Dieſe viele Jahrhunderte währende Ausübung des Anerbenrechtes könnte zu dem Schluß verleiten, daß eine Sitte, die ſich ſolange gehalten und durch ihr ehrwürdiges Alter den Stempel des Geheiligtſeins gewiſſer⸗ maßen aufgedrückt bekommen hat, für immer beibehalten werden müſſe. In der Tat wird dieſe Beweisführung gegenwärtig noch von manchen für ſtich⸗ haltig angeſehen. Es ſcheint daher nicht unnötig, die Urſachen darzulegen, welche die lange und faſt allgemeine Konſervierung des Anerbenrechtes mög⸗ lich und zuläſſig gemacht haben. Auch in der Vergangenheit vermehrte ſich, von außergewöhnlichen Ereigniſſen wie menſchenverſchlingenden Kriegen und Seuchen abgeſehen, die ländliche Bevölkerung ſo ſtark, daß ſchon nach wenigen Generationen die Menge der Nachkommen nicht mehr auf der gleichen Fläche Beſchäftigung und Erwerb fand, welche noch für ihre Vorfahren ausgereicht 1) So z. B. in der jetzigen preußiſchen Rheinprovinz. Vergl. hierüber: Die Ver⸗ erbung des ländlichen Grundbeſitzes in Preußen, herausgeg. von M. Sering. I. Ober⸗ landesgerichtsbezirk Köln von W. Wygodzinski, Berlin, Parey, 1897. A. a. O. S. 80 ff. N dr 52 1 4 1 9 14 1 i af N Mm I 7 2 N 2 1 0 h * Pr ” "1 94 in 4 1 f VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 105 . Wären ſie ſämtlich in ihrer Heimat geblieben, jo hätte die gebundene ge gar nicht beibehalten werden können. Vielfach half man ſich mit der ſchon erwähnten Maßregel, daß man die ganzen Bauernhufen halbierte er vierteilte, auch Kätnerſtellen c. gründete. Dies reichte aber für die Dauer um ſo weniger aus, als man im weſentlichen an der althergebrachten etriebsweiſe feſthielt und kaum Mittel kannte, aus der einmal gegebenen odenfläche höhere Erträge zu gewinnen. Der Überſchuß der ländlichen evölkerung mußte daher nach anderweitigen Wohnſitzen oder Erwerbs— ellen ſich umſehen. Zur Befriedigung des dringenden Bedürfniſſes er⸗ neten ſich mannigfaltige Wege, die nach Ort und Zeit allerdings ver- ſieden waren. „ Der zunächſt eingeſchlagene war der, daß man innerhalb der eigenen Dorfmark Urbarmachungen an Wald- und Weideflächen vornahm, die— ſelben in Acker⸗ oder Wieſenland umwandelte und dadurch die Möglichkeit zur Gründung neuer Stellen ſchuf. Wo dies nicht ausreichte, wanderte ein Teil der ländlichen Bevölkerung in Gegenden, die noch Überfluß an Wäldern und anderen unkultivierten, aber der Kultur fähigen Ländereien hatten. Während der ganzen erſten Hälfte des Mittelalters und darüber hinaus fanden derartige Koloniſationen in umfaſſender Weiſe ſtatt. Aus dem dichter bevölkerten Weſten kamen zahlreiche Bauern nach den noch weniger beſiedelten mittleren oder öſtlicheren Teilen des damaligen Deutſchen Reiches und gründeten ſich dort neue Wohnſitze. Etwa vom 11. Jahrhundert ab eröffnete ſich eine neue Abzugsquelle für die ländliche Bevölkerung in den vielen neu gegründeten Städten, die, ſolange ſie noch Mangel an Einwohnern hatten, das Hereinſtrömen von Landbewohnern in jeder Weiſe begünſtigten. Faſt gleichzeitig damit begann die Eroberung und Germaniſierung des oſtelbiſchen Teiles des jetzigen Deutſchen Reiches; den Abſchluß machte die Erwerbung Preußens durch den deutſchen Orden (1230 — 1283). Vom 11. bis 14. Jahrhundert find viele Hundert⸗ tauſende von weſt⸗ und mitteldeutſchen Bauern nach dem Oſten gezogen und haben dort eine neue Heimat ſowie lohnenden Erwerb gefunden. In den geſchilderten Erſcheinungen iſt die Haupurſache zu erblicken, weshalb man an der gebundenen Erbfolge feſthalten konnte, ohne daß ſich große wirtſchaftliche oder ſoziale Mißſtände gezeigt hätten. Vom 15. Jahr⸗ hundert ab verſiegten die genannten Abzugsquellen oder floſſen doch nur ſehr ſpärlich. Damit ſtellten ſich aber auch, wenigſtens in den dichter bevölkerten Gegenden, Unzuträglichkeiten ein. Man darf wohl annehmen, daß die zu Ende des 15. und bei Beginn des 16. Jahrhunderts eingetretenen Bauern— aufſtände und Bauernkriege zum Teil mit dadurch veranlaßt wurden, daß die vorhandene Landfläche nicht mehr ausreichte, um die ſtark ange— wachſene Bevölkerung genügend zu ernähren. Sie brachen gerade dort aus, wo eine für damalige Berhältnifte beſonders zahlreiche ländliche Bevölkerung ſich fand. Damit ſteht in Zuſammenhang die Tatſache, daß in den gleichen Bezirken des ſüdweſtlichen und mittleren Deutſchlands man am früheſten den Verſuch machte, die Sitte der gebundenen Erbfolge zu durchbrechen. Es hätte ſich dieſe Maßregel auch nicht nur dort, ſondern auch in anderen Teilen des Deutſchen Reiches als eine allgemeine Notwendigkeit herausgeſtellt, wenn nicht im 17. Jahrhundert der dreißigjährige Krieg ſo verhängnisvoll in die Geſchichte unſerer wirtſchaftlichen Entwicklung eingegriffen hätte. Hunderte von Bauerndörfern wurden zerſtört, viele Tauſende von Bauernhöfen ihrer Bewohner beraubt und verwüſtet, die ländliche Bevölkerung ſtark gelichtet. Nun war kein Mangel mehr an Grund und Boden, wohl aber Mangel an Menſchen, die ihn bebauten. Die Grund- und Gutsherren ſuchten förmlich i 1 ! 3 Ber r ri 4 * © E . 5 ag x Er * A; 1 : 5 A 9 15 "SB * 3 2 55 1 * . 2. Re * r . 7 . 13 e 106 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. nach Leuten, welche die wüſt gewordenen Stellen wieder in Kultur nahmen; ſie fanden ſolche in den entlaff ie. Perſonen aller Art. Sie hatten die Möglichkeit und machten davon 1 f dieſe unter ihnen ſelbſt paſſend ſcheinenden Bedingungen, die aber für die Koloniſten wenig günſtige zu ſein pflegten, anzuſiedeln. In ihrem Intereſſe lag es, einen mit der angebauten Scholle eng verwachſenen Bauernſtand wieder heranzuziehen. Dazu war aber die Aufrechterhaltung des geſchloſſenen Erbganges nötig. Infolge dieſer Umſtände geſchah es, daß letzterer eine neue Stärkung erfuhr: ein Bedürfnis nach ſeiner Aufhebung war zunächſt nur ausnahmsweiſe vorhanden, und das Intereſſe der Grundherren lag auf Seite ſeiner Erhaltung. Erſt nach Verlauf vieler Jahrzehnte trat hierin ganz all⸗ mählich eine Anderung ein. In der erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte ſich die Landwirt⸗ ſchaft und die ländliche Bevölkerung von den Folgen des 30 jährigen Krieges wieder einigermaßen erholt; aber grade in dieſer Zeit wurden große Bezirke des nordöſtlichen Deutſchlands von einer entvölkernden Peſt heimgeſucht, die dann, nach ihrem Erlöſchen, die Veranlaſſung zur Heranziehung zahlreicher Koloniſten aus anderen deutſchen Gebieten darbot. Auch die ſpäter von Friedrich dem Großen infolge Trockenlegung des Oder- und Warthe⸗ bruches und ſonſtiger verſumpfter Gegenden vorgenommenen umfaſſenden Koloniſationen gewährten zahlreichen Landbewohnern aus dichter bevölkerten Bezirken die Möglichkeit, einen ſelbſtändigen Wohnſitz zu erwerben. Aber dieſe Abzugsquellen floſſen doch nicht reichlich genug, um die aus der ge⸗ bundenen Erbfolge immer ſtärker ſich geltend machenden Übelſtände zu be⸗ ſeitigen. Sie traten zunächſt in dem weſtelbiſchen Teil des deutſchen Reiches, nicht minder allerdings in dem benachbarten Frankreich, hervor ). Wohl zu keiner Zeit zeigte in beiden Ländern das Bagabunden- weſen eine ſo erſchreckende Ausdehnung wie im 18. Jahrhundert. Zahlloſe arbeitsloſe Individuen trieben ſich umher und nährten ſich vom Bettel. Die Urſachen dieſer traurigen Erſcheinung ſind zwar mannigfaltiger Art geweſen; als eine davon iſt aber der Umſtand zu bezeichnen, daß infolge der ſtatt⸗ gehabten Zunahme der Bevölkerung und der trotzdem beibehaltenen geſchloſſenen Erbfolge viele Landbewohner in ihrer Heimat keinen Wohnſitz und Erwerb mehr finden konnten. | Gegen das herrſchende Erbrecht erhob ſich mannigfacher Widerſpruch und zwar auch von ſehr gewichtiger Seite. Mit Rückſicht auf allgemeine Staatsintereſſen ſuchten gerade die einſichtigſten Für ſten auf eine Ver⸗ mehrung der Bevölkerung hinzuwirken. Sie wurden darin durch die Vertreter der neu aufgetauchten Kameralwiſſenſchaft unterſtützt. Nicht nur von dieſen, ſondern auch von den Vertretern anderer Wiſſenſchaften wurde es betont, daß die bisherigen Einrichtungen zu wenig die Intereſſen der einzelnen Menſchen berückſichtigten, daß die Maſſe des Volkes durch die Vorrechte beſonderer Stände oder beſonderer Gruppen von Menſchen, die alle zuſammen den bei weitem geringeren Teil der Geſamtbevölkerung aus⸗ machten, zurückgeſetzt wurde. Mit anderen Worten: das Prinzip des Indi⸗ vidualismus gelangte zur Herrſchaft, und dieſem, in ſeiner konſequenten Auslegung, widerſprach kaum etwas anderes jo ſehr wie die gebundene Erb- folge, wie das Anerbenrecht. Von beſonderem Einfluß auf die öffentliche Meinung und auf die Geſetzgebung war auch der Umſtand, daß die hervorragendſten Vertreter der 1) Über die im Laufe des Mittelalters und dann wieder im 18. Jahrhundert vor⸗ genommenen Koloniſationen ſiehe meine Geſchichte der Deutſchen Landwirtſchaft, I. Bd., S. 137 —153 u. S. 394 — 405. enen Soldaten, den heimatlos umherirrenden VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 107 dwirtſchaft die unbeſchränkte Verkehrsfreiheit bezüglich des Grund und ens lebhaft befürworteten. An ihrer Spitze ſtand kein geringerer wie der Reformator der deutſchen Landwirtſchaft, Albrecht Thaer. Seiner Feder entſtammt das preußiſche Landes kultur⸗Edikt vom 14. Sept. 1811, das in ſeinem erſten Paragraphen ſo beſtimmt als möglich die freie teilung für Landgüter als das den Intereſſent der Landwirtſchaft und ländlichen Bevölkerung allein angemeſſene hinſtellt. Schon früher hatte aer ſich in dem gleichen Sinne ausgeſprochen. In einer Abhandlung, 1806 erſchienen iſt, ſagt er u. a. wörtlich: „Eine nötige Freiheit folglich, kleinere Güter zuſammen zu ziehen oder mit einem e zu vereinigen, und wiederum große Güter in Parzellen von beliebiger Größe zu zerſchlagen, und zu wählen, was jedem nach ſeiner individuellen Lage am vorteilhafteſten ſcheint, wird für die allgemeine Wohlfahrt am vorteilhafteſten ſein“ ). Und an einer anderen Stelle: „Bei jeder poſitiven Beſtimmung (nämlich über die ererbung bezw. Teilung der Güter) aber läuft man Gefahr, Mißgriffe zu machen. Geſetzt, man beurteilte den gegenwärtigen Zuſtand einer Provinz oder eines Diſtrikts richtig, fände, daß Parzellen von gewiſſer Größe nach den beſtehenden Verhältniſſen am vorteilhafteſten wären, und ſetzte dieſe Größe feſt. Wie bald kann ſich das ändern? Ein Teil der Beſitzer erwirbt ſſich durch Fleiß und Ordnung Vermögen, und mit demſelben Kraft und Talente, einer größeren Wirtſchaft vorzuſtehen. Ein anderer Teil der Land⸗ bauer verarmt durch Nachläſſigkeit und unangemeſſenen Luxus, und ihre Wirtſchaft erſchlafft. Keins der Kinder der letzteren kann die Wirtſchaft an⸗ nehmen, wäre aber wohl noch imſtande, mit dem Reſt der Verkaufsſumme eeine kleinere Wirtſchaft zu betreiben. Warum ſollen die benachbarten Wohl⸗ habenden den Hof nicht mit den ihrigen vereinigen, warum ſoll es anderen 5 nicht frei ſtehen, ihr Areal zu verteilen, an ſolche, die nur kleineren Wirt⸗ ſchaften gewachſen ſind?“ ). Ahnlich wie Thaer urteilten ſeine zeitgenöſſiſchen itbegründer eines rationellen landwirtſchaftlichen Betriebes, namentlich Schwerz und Koppe. Es entſprach nur der unter Staatsmännern, Gelehrten und auch prak— tiſchen Landwirten vorherrſchenden Anſicht, wenn man die geltende geſchloſſene Erbfolge entweder ganz beſeitigte oder auf beſtimmte Gruppen von Gütern oder beſtimmte Gegenden beſchränkte. Am durchgreifendſten ging hierin Napoleon J. vor, der im Code eivil beſtimmte: „Jeder Miterbe kann feinen Anteil an Fahrnis und Liegen— ſchaft in Natur verlangen“. Für die Entwicklung der erbrechtlichen Verhält— niſſe im Deutſchen Reich iſt dies nicht ohne Einfluß geweſen, da in nicht unerheblichen Teilen. desſelben der Code civil bürgerliches Geſetzbuch ge— worden iſt; jo u. a. in dem größten Teil der preußiſchen Rheinprovinz und in dem Großherzogtum Baden. Aber auch das preußiſche Edikt vom 9. Oktober 1807 ſpricht ebenſo wie das 1811 erlaſſene Landeskulturedikt ſich grundſätzlich gegen ein Zwangsanerbenrecht aus, indem es feſtſetzt (§ 4): „Die Beſitzer an ſich veräußerlicher ſtädtiſcher und ländlicher Grundſtücke und Güter aller Art, ſind nach erfolgter Anzeige bei der Landespolizei— behörde, unter Vorbehalt der Rechte der Realgläubiger und der Vorkaufs— berechtigten zur Trennung der Radikalien und Pertinenzien, ſowie überhaupt zur teilweiſen Veräußerung, alſo auch die Miteigentümer zur Teilung der- ſelben unter ſich berechtigt.“ Und im Landeskulturedikt heißt es § 1, 1) Annalen des Ackerbaues, herausgeg. von Alb. Thaer, IV. Bd., Berlin 1806, S. 42. 2) Annalen des Ackerbaues a. a. O. S. 54. 108 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. Abſ. 2: „Demgemäß kann, mit Ausnahme dieſer Fälle (gemeint find Fidei⸗ kommiſſe, Majorate ꝛc.) jeder Eigentümer fein Gut oder ſeinen Hof durch Ankauf oder Verkauf oder ſonſt auf rechtliche Weiſe vergrößern oder ver⸗ kleinern. Er kann die Zubehörungen an einen oder mehrere Erben überlaſſen. Er kann ſie vertauſchen, verſchenken oder ſonſt nach Willkür im rechtlichen Wege damit ſchalten, ohne zu einer dieſer Veränderungen eine beſondere e Genehmigung zu bedürfen.“ Ahnlich wie in Preußen wurde dann im Laufe des 19. Jahrhunderts die rechtliche Gebundenheit in bezug auf Teilung und Vererbung der Güter!) auch in den meiſten übrigen deutſchen Staaten beſeitigt. Weſentliche Be⸗ ſchränkungen wurden beibehalten nur noch im Königreich Sachſen, in Sachſen-Altenburg, Schwarzburg-Sondershauſen, Reuß jüngere Linie und im badiſchen Schwarzwald; außerdem wurde für Hannover, Oldenburg, Braunſchweig das in dieſen Ländern gewohnheitsmäßig geübte Anerbenrecht für beſtimmte Gruppen von Gütern geſetzlich feſtgelegt ). | Nicht geleugnet werden kann, daß unter der Herrſchaft dieſer freiheit⸗ lichen Beſtimmungen die Landwirtſchaft im ganzen Deutſchen Reich einen ungewöhnlich großen, früher kaum für möglich gehaltenen Aufſchwung ge⸗ nommen hat. Die Urſachen lagen freilich vorzugsweiſe in anderen, in Ab⸗ ſchnitt III geſchilderten Umſtänden. Aber man darf doch behaupten, daß ohne die Freiteilbarkeit des Bodens ein derartiger Fortſchritt nicht hätte eintreten können. Sie bewirkte, daß zahlreiche Perſonen, die mit den nötigen geiſtigen Kräften und materiellen Mitteln ausgerüſtet waren und die unter den alten Verhältniſſen von dem ſelbſtändigen Betrieb der Landwirtſchaft ausgeſchloſſen geweſen wären, nunmehr einen ſolchen übernehmen und mit Erfolg durchführen konnten. Weiter machte ſie es möglich, daß die Größe der einzelnen Betriebe ſich überall den örtlich vorhandenen wirtſchaftlichen Verhältniſſen anzupaſſen vermochte; daß in Gegenden, wo eine intenſive Wirtſchaftsweiſe durchführbar und lohnend war, eine dementſprechende Ver⸗ kleinerung der Betriebe unter gleichzeitiger Vermehrung ihrer Anzahl eintrat. Viele neue und exiſtenzfähige mittel- und kleinbäuerliche Stellen wurden ins Leben gerufen; ebenſo erwarben viele ländliche und gewerbliche Arbeiter ſich Grundbeſitz. Durch beides wurde eine Vermehrung der im allgemeinen noch dünnen Bevölkerung herbeigeführt, ferner eine Steigerung der Nachfrage nach landwirtſchaftlichen Produkten und damit von deren Preiſen. Die Zahl der für die Landwirtſchaft und für die Induſtrie zur Verfügung ſtehenden Arbeitskräfte wuchs beträchtlich. Die Freiteilbarkeit des Bodens war eine notwendige Vorbedingung für die gewaltige aufſteigende Entwicklung der ganzen deutſchen Volkswirtſchaft im 19. Jahrhundert. Üble Folgen derſelben zeigten ſich, wenigſtens in den erſten drei Vierteln desſelben, nur ſelten. Allerdings machte man in einzelnen Bezirken des weſtlichen und ſüdweſtlichen Deutſchlands von der Teilungsbefugnis einen zu ausgedehnten Gebrauch. Schon zu Ende der 30er und in den 40er Jahren war dort infolge des Anwachſens der Bevölkerung eine ſo ſtarke Parzellierung des Bodens ein⸗ getreten, daß viele kleine Beſitzer in Not gerieten und daß die Gefahr vor⸗ lag, daß ein zahlreiches ländliches Proletariat ſich bildete. Dieſelbe wurde damals zunächſt beſeitigt durch maſſenhafte, von den Regierungen und Ge- meinden unterſtützte Auswanderung aus den übervölkerten Ortſchaften nach Rußland oder nach überſeeiſchen Ländern. Später hat gerade die Aus⸗ 1) Abgeſehen von den fideikommiſſariſch gebundenen Gütern, über die ſpäter noch gehandelt werden wird. 2) Siehe das Nähere hierüber bei Buchenberger, Agrarweſen und Agrarpolitik, Bd. I, S. 454 — 456. VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 109 anderung im ſüdweſtlichen Deutſchland ganz nachgelaſſen trotz weiterer ahme der Landbewohner. Es lag dies in dem Aufblühen der ſtädtiſchen verbe und der Induſtrie ſowie in der Verbeſſerung der Verkehrsmittel, ch der überſchüſſigen Landbevölkerung Gelegenheit zu anderweitigem ohnerwerb geboten, der Abſatz für landwirtſchaftliche Produkte viel leichter ind der Preis, namentlich für die Erzeugniſſe der Kleinbetriebe wie Speiſe⸗ irtoffeln, Gemüſe, Obſt, Geflügel, Eier uſw. ein erheblich höherer wurde. In dem weit überwiegenden Teil des Deutſchen Reiches wurde von m neu gewonnenen freien Verfügungsrecht über den Grund und Boden ine ausgedehntere Anwendung gemacht, als ſie den vorhandenen wirt⸗ haftlichen Verhältniſſen entſprach. Insbeſondere gilt dies von der Ver— erbung der Bauerngüter. Die Bauern, namentlich die großen und mittleren, vielfach aber auch die kleinen, hielten an der altgewohnten Sitte feſt, ihre je ungeteilt ihren Nachkommen zu übertragen. Die Wege, die ſie zu dieſem einſchlugen, ohne mit den geſetzlichen Beſtimmungen in Konflikt zu kommen, waren je nach den örtlichen und perſönlichen Verhältniſſen ſehr verſchiedene. In manchen Gegenden war und iſt die Familientradition und der Familienſinn ſo ſtark, daß die Kinder es für ſelbſtverſtändlich halten, daß nur eins von ihnen den Hof erbt und die anderen mit geringen Bar- Zahlungen abgefunden werden. In anderen wieder heiratet nur der Anerbe; ine Geſchwiſter, falls ſie nicht einen ſonſtigen Beruf ergreifen, bleiben für Lebenszeit unverheiratet auf dem elterlichen Hof. Zuweilen macht auch der Bauer ein, dem Anerbenrecht entſprechendes Teſtament. Viel häufiger und ungemein verbreitet iſt aber die Sitte, daß der Bauer bei Lebzeiten ſeinen Hof einem der Kinder um ein billiges verkauft und die übrigen mit ver⸗ hältnismäßig geringen Beträgen abfindet. Für ſich ſelbſt bezw. auch ſeine Frau behält er ſich ein Altenteil oder Ausgedinge, meiſt in Wohnung, Naturallieferungen, einer kleinen Summe baren Geldes beſtehend, auf Lebens— RE: eit vor; man nennt ſolche Bauern Altjiger, Ausgedinger, Auszügler. ie n einigen Gegenden, namentlich des weſtlichen Deutſchlands, haben die ö g Bauern auch leider die von dem benachbarten Frankreich überkommene, für & 1 4 8 * 2 81 11 Leib und Seele verderbliche Sitte des Zweikinderſyſtems nachgeahmt. Man ſieht hieraus, daß unter den deutſchen Bauern die Überzeugung von der Zweckmäßigkeit der Übertragung der Höfe auf einen Erben noch ſehr lebendig iſt; ebenſo davon, daß dies Ziel nur erreicht werden kann, wenn der Anerbe durch die an die Geſchwiſter zu machenden Auszahlungen nicht überlaſtet und zu einer übermäßigen Verſchuldung des Gutes gezwungen wird. In den letzten Jahrzehnten hat ſich indeſſen vielfach die Beſorgnis geltend gemacht, als ob die alte bäuerliche Erbſitte im Schwinden begriffen ſei und die Gefahr nahe liege, daß der bäuerliche Beſitz ſich in Kleinbeſitz auflöſe oder in die Hände von Großgrundbeſitzern übergehe. Einzelne Er— ſcheinungen ſprechen allerdings für die Begründetheit dieſer Befürchtung. Durch die für die Landwirtſchaft nicht günſtige Lage während der beiden letzten Jahrzehnte iſt die Verſchuldung der Bauernhöfe ſtark gewachſen ), ebenſo die Zahl der Zwangsverſteigerungen geſtiegen; in manchen Gegenden wurden in nicht geringer Menge Bauernhöfe von ſtädtiſchen Kapitaliſten oder von Großgrundbeſitzern aufgekauft, um dann in der Regel verpachtet oder auch aufgeforſtet zu werden. Sollte dieſe Entwicklung allgemeine Ver— breitung finden, ſo würde der Bauernſtand im Deutſchen Reich allmählich ebenſo verſchwinden, wie es in England der Fall geweſen iſt. Solches zu 1) Über die Verſchuldung auch der bäuerlichen Güter wird im folgenden Abſchnitt eingehend gehandelt. 110 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. verhüten, würde die Anwendung auch von ſcharf eingreifenden Maßregeln 1 gerechtfertigt und geboten erſcheinen laſſen. Die vorliegenden ſtatiſtiſchen Erhebungen bieten indeſſen noch keinen Anhalt für eine irgend beſorgniserregende Abnahme der bäuerlichen Güter. Eine Beſitzſtatiſtik haben wir allerdings noch nicht, wohl aber die beiden Betriebsſtatiſtiken aus den Jahren 1882 und 1895. Wir kennen wohl die Zahl und den Umfang der landwirtſchaftlichen Betriebe im Deutſchen Reich, wiſſen aber nicht, wieviel ländliche Grund beſitzer vorhanden ſind und wie groß die von den einzelnen beſeſſene Fläche iſt. Es gibt Beſitzer, denen mehrere oder viele Güter gehören; außerdem wird ein Teil der land⸗ wirtſchaftlich benutzten Fläche nicht von den Beſitzern, ſondern von Pächtern bewirtſchaftet. Namentlich in dem weſtlichen Teil des Reiches liegen häufig Betrieb und Beſitz nicht in einer Hand. Schon ſeit Jahrhunderten war dort der Großbeſitz vorwiegend Streubeſitz, d. h. die großen Grundherren hatten ihren Beſitz vorwiegend nicht in zuſammenhängenden Komplexen, ſon⸗ dern an verſchiedenen, oft zahlreichen Orten zerſtreut in kleineren Flächen, die etwa einem mittleren oder großen Bauernhof entſprachen. Dieſe waren dann und ſind auch in der Gegenwart noch meiſt verpachtet. Aber gerade der letztgenannte Umſtand ermöglicht ein gewiſſes Urteil darüber, ob und inwieweit ein Verſchwinden des bäuerlichen Beſitzes eingetreten iſt oder zu befürchten ſteht; denn über den Umfang des Pachtlandes gewährt die Be⸗ triebsſtatiſtik genauen Aufſchluß. | Für die Beurteilung der hier vorliegenden Frage ergibt ſich aus den Erhebungen der Jahre 1882 und 1895 folgendes: Die kleinen, mittel⸗ und großbäuerlichen Betriebe, alſo die Betriebe von 2— 100 ha, betrugen im Deutſchen Reich zuſammen 9: im Jahre in abſoluter Zahl N Se 1882 2 189 522 22 256 771 ha 1895 2 296 674 22 875 022 „ Zunahme von 1882-1895 107 152 618 251 Dieſelben nahmen ein in Prozenten: im Jahre aller Betriebe der landw. benutzten Fläche 1882 41,56 69,84 1895 4 1 733 70.36 Zunahme bis 1895 — 0,32 Abnahme bis 1895 Ds 177 Es haben alſo in den 13 Jahren von 1882 — 1895 die bäuerlichen Betriebe zugenommen in abſoluter Zahl, in der Größe der von ihnen ein⸗ genommenen Fläche und in Prozenten der landwirtſchaftlich benutzten Fläche überhaupt; eine ganz geringe Abnahme hat nur ſtattgefunden in bezug auf die Prozente aller landwirtſchaftlichen Betriebe. Zum Verſtändnis dieſes Reſultates iſt zu bemerken, daß im Deutſchen Reich von 1882— 1895 die Geſamtzahl aller landwirtſchaftlichen Betriebe von 5276344 auf 5556900, alſo um 280556 oder um 5,3. Proz. ge⸗ wachſen iſt. Ebenſo iſt die landwirtſchaftlich benutzte Fläche von 31868 972 ha auf 32511899 ha, alſo um 642927 ha oder um 2,2 Proz. geſtiegen. 1) Vierteljahrshefte zur Statiſtik des Deutſchen Reiches. Jahrg. 1897. Ergänzung zum II. Heft, S. 72 — 75. „ = A a nd u al VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 111 unahme in der Fläche iſt, wie die Vergleichung der angeführten Zahlen faſt ausſchließlich den bäuerlichen Betrieben zugute gekommen; von eu entſtandenen Betrieben ane ihnen daz en Hieraus ergibt ſich, daß die in der letzten Zeit ſtattgehabte Entwicklung vegs die Befürchtung rechtfertigt, daß die mittleren Betriebe zugunſten | einen oder Großbetriebe abzunehmen drohen. Es würde ſich nur noch Fragen; ob nicht unter den mittleren Betrieben ungewöhnlich viele ſind, die cht im Beſitze von Bauern, ſondern von Großgrundbeſitzern ſich befinden. über gibt der Umfang e Mall zwar keinen ganz ſicheren Auf⸗ aber doch einen gewiſſen Anhalt für die Beurteilung. Wie ſchon an einer frü iheren Stelle (S. 33) erwähnt wurde, fo iſt im chen Reich durchſchnittlich die Pachtfläche im Verhältnis zur eigen be— eten Fläche glücklicherweiſe noch gering. Sie betrug von der land— irtſchaftlich benutzten Fläche überhaupt im Jahre 1895 nur 12,38 Proz., ährend ſie im Jahre 1882 eine Kleinigkeit mehr, nämlich 12,88 Proz. aus⸗ achte. Unter 100 Betrieben waren !): im Jahre Betriebe mit Pachtland ?) ohne Pachtland 1882 44,02 55788 1895 46,90 5310 2 Die Zunahme der Betriebe mit Pachtland und ihr verhältnismäßiger Anteil an der geſamten bewirtſchafteten Fläche in den einzelnen Be— triebsgrößen fällt vorzugsweiſe auf die bäuerlichen Betriebe. Von 100 Betrieben jeder | von 100 ha bewirtſchafteter Fläche Größenklaſſe ſind ſolche jeder Größenklaſſe iſt Größenklaſſe mit ohne } Pachtland Pachtland Pachtland nicht gepachtet 1895 | 1882 | 1895 | 1882 1895 1882 1895 1882 unter 2 ha 51,5 49194 48,5 50,98 24578 27 mı 752 7220 2 5 " 4955 | 449 | 50145 55 21 15,95 14,61 84,07 88,3% 5— 20 7 35,90 3114 64,10 9956 17 7125 91,88 92,75 20—100 22,1 19% | 77139 80% 7 180 7 109 9270 92,91 100 ha und darüber | 37,56 36, 62, | 63,55 1917 7 N 80, RE: im Durdichnitt aller Größenklaſſen 46,90 44102 5310 55,98 I 2,98 I 2,98 87 188 8712 In allen Gruppen hat prozentiſch die Zahl der Betriebe mit Pachtland . dagegen hat ſowohl in den Parzellenbetrieben wie in den Groß— etrieben die gepachtete Fläche prozentiſch abgenommen, während ſie bei den bäuerlichen Betrieben aller Klaſſen prozentiſch gewachſen iſt. Es läßt ſich alſo Pacht ur bäuerlichen Wirtſchaften ein nicht unerhebliches Steigen des tbetriebes konſtatieren, welches zum Teil wahrſcheinlich mit dem bereits erwähnten Aufkaufen von Bauerngütern durch Kapitaliſten und Großgrund⸗ ae Allerdings muß dieſer an und für ſich nicht unbe— denklichen Erſcheinung der Umſtand entgegengehalten werden, daß bis jetzt erade von den bäuerlichen Betrieben nur ein verhältnismäßig kleiner Teil in den änden von Pächtern ſich befindet, wie aus der vorſtehenden Tabelle deutlich hervorgeht. Immerhin wird aber die Agrarpolitik ihr Augenmerk darauf zu richten haben, daß die Entwicklung des Pachtſyſtems bei den mittleren Be— trieben keine bedenkliche Ausdehnung erlangt und dadurch der ſeßhafte, be— 1) a. a. O. S. 59. 2) Unter die Betriebe mit Pachtland ſind nicht nur die eigentlichen Pachtbetriebe, ſondern auch alle diejenigen gerechnet, zu denen überhaupt etwas Pachtland gehört. 112 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. ſitzende Bauernſtand an Zahl zu ſtark geſchwächt wird. In dem weſtelbiſchen 4 Teil des Deutſchen Reiches iſt dieſe Gefahr viel größer als in dem oſtelbiſchen, da dort ohnedem ſchon Pachtbetriebe an Zahl und geſamten Flächeninhalt eine ungewöhnliche Ausdehnung haben. A In der preußiſchen Rheinprovinz z. B. betrug nach der Betriebs⸗ ſtatiſtik von 1882 von der landwirtſchaftlich benutzten Fläche das Pachtland 23,4 Proz.; unter der Geſamtzahl der landwirtſchaftlichen Betriebe befanden ſich 54,8 Proz., die ganz oder teilweiſe aus Pachtland beſtanden. Für den geſamten preußiſchen Staat im Durchſchnitt ſtellten ſich dieſe Prozentſätze da⸗ gegen nur auf 17 Proz. bezw. 45,3 Proz.“). Seitdem hat das Pachtland in der Rheinprovinz noch zugenommen. Nach der Betriebsſtatiſtik von 1895 machte hier aus 2): die landwirtſchaftlich davon Pachtland in benutzte Fläche Pachtland Prozenten“ 1378 509 ha 348 858 ha 25,5 Proz. a 3 Betriebe mit Pacht⸗ die Zahl der davon Betriebe Betriebe mit Pachtland lane 519 477 299 939 57m Proz. Obwohl die Pachtfläche und die Zahl der Betriebe mit Pachtland ſchon früher unverhältnismäßig groß war, jo find beide von 1882 — 1895 noch gewachſen. Ein Übelſtand bleibt es jedenfalls, daß die bei den Bauern meiſt noch herrſchende Sitte der geſchloſſenen Erbfolge mit der geſetzlich meiſt zu Recht beſtehenden gleichen Erbfolge aller Kinder im Widerſpruch ſich befindet, vorausgeſetzt, daß der Erblaſſer nicht teſtamen⸗ tariſch anders verfügt hat. Auf die Dauer läßt ſich eine dem poſitiven Recht entgegenlaufende Sitte ſchwer aufrecht erhalten, am wenigſten in der Gegenwart. Man hat vielfach die Beobachtung gemacht, daß die nicht zum Anerben berufenen Kinder jetzt nicht mehr ſo willig wie früher ſich in die Bevorzugung des Anerben fügen, daß ſie es dadurch auch den Eltern er⸗ ſchweren, das Gut unter erträglichen Bedingungen einem Kinde zu überlaſſen; daß infolgedeſſen die Bauerngüter entweder in andere Hände übergehen oder mit ungewöhnlich hohen Schulden belaſtet werden. Für ſolches Vorgehen können ſich jetzt die übrigen Kinder auf das Geſetz berufen und dies iſt gerade in den Augen der Bauern eine ſtarke Waffe, welcher ſie auf die Dauer nicht zu widerſtehen vermögen. Es liegt deshalb die Frage nahe, ob man nicht die Sitte der geſchloſſenen Erbfolge, ſoweit man ſie für zweck⸗ mäßig hält, auch durch das Geſetz einigermaßen ſchützen und ſanktionieren ſoll. In der Tat ſind hierzu auch Verſuche gemacht worden. Für den badiſchen Schwarzwald wurde ſchon durch das Edikt vom 23. März 1808 beſtimmt, daß in denjenigen Bezirken, in welchen bereits früher die Höfe vermöge eines Geſetzes oder rechtsgenüglichen Herkommens ungetrennt von einem Inhaber auf den anderen übergegangen ſeien, dies auch in der Folge ſo bleiben ſolle. Dies Edikt iſt ſeinem weſentlichen Inhalt nach in das badiſche Geſetz vom 23. Mai 1888 aufgenommen worden. In einem für das Königreich Sachſen am 30. Nov. 1843 erlaſſenen Geſetz werden 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich für 1886, S. 17. 2) Vierteljahrshefte zur Statiſtik des Deutſchen Reiches für 1897. Ergänzung zum II. Heft, S. 71, Spalte 19 und 27. Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich für 1898, S. 20. 3) Die Prozentſätze ſind von mir erſt berechnet worden. VII. Vererbung des Grundbeſizes. 113 en Ritter⸗ und Bauerngüter aufgeführt, die in Zukunft als geſchloſſen en ſollen; von ihnen darf nur ¼ der Fläche abgetrennt werden, die 7 müſſen zuſammen bleiben. In Preußen hat man die geſchloſſene e durch die ſog. Höfe- oder Landgüterordnungen zu erhalten und ern geſucht. Solche find in den Jahren 1874— 1887 für die Pro⸗ n Hannover, Weſtfalen, Schleſien, Schleswig-Holſtein, den erungsbezirk Kaſſel und den Kreis Herzogtum Lauenburg und für jeden Landesteil in beſonderer Ausgeſtaltung ergangen. Dieſelben die freie Verfügung bei Lebzeiten wie durch Teſtament unberührt. Sie ſetzen nur feſt, daß, wenn der Beſitzer ohne Teſtament ſtirbt, das Gut an einem Erben übergehen ſoll und gewähren dieſem nicht unbeträchtliche rteile vor den übrigen Erben. Dieſen Beſtimmungen der Landgüter— nungen find aber überall nur diejenigen Höfe unterworfen, deren Beſitzer elben in die zu dieſem Zweck angelegte Landgüter- oder Höferolle haben tragen laſſen; auch iſt den Beſitzern jederzeit geſtattet, die bereits bewirkte tragung wieder löſchen zu laſſen. Von der Befugnis zur Eintragung in die Höferolle iſt aber ein irgend nennenswerter Gebrauch nur dort gemacht worden, wo bereits die geſchloſſene Erbfolge ein faſt allgemeines Gewohnheitsrecht war, nämlich in einzelnen Teilen der Provinzen Weſtfalen und Hannover. In Weſtfalen hat man dieſen Erfolg nicht für genügend erachtet und es iſt, nach Anhörung Hund auf Wunſch des dortigen Provinziallandtages am 2. Juli 1898 ein neues, an dem 1. Januar 1900 in kraft getretenes Geſetz erlaſſen worden, welches die herrſchende Erbſitte energiſcher ſchützt. Auch dieſes hält die freie Verfügung über das Gut ſeitens des Beſitzers bei Lebzeiten wie von Todes— wegen ache Es beſtimmt aber, daß alle Landgüter, die eine ſelbſtändige Nahrungsſtelle bilden, falls kein Teſtament es anders verfügt, nach dem Tode des Beſitzers nur auf einen Erben, den Anerben übergehen ſollen. Das Gut wird im Erbfall nach ſeinem Ertragswert, nicht nach ſeinem Ver— klaufswert, abgeſchätzt; der Anerbe erhält, nach Abzug etwa vorhandener Schulden, ½ des Ertragswertes als Voraus. Für einzelne Kreiſe oder Amtsgerichtsbezirke tritt das Anerbenrecht nur ein, wenn der Beſitzer das Gut als Anerbengut an öffentlicher Stelle hat eintragen laſſen. Die Motive 4 ze dem Geſetz nennen die letztere Form das mittelbare, die erſtere, für den größten Teil der Provinz gültige Form, das unmittelbare Anerbenrecht. 5 Durch das preußiſche Geſetz vom 8. Juni 1896 iſt für die nach 14 dem Anſiedelungsgeſetz von 1886 und nach den Rentengutsgeſetzen von . 1890 und 1891 errichteten Rentengüter ebenfalls das Anerbenrecht einge— führt. Dasſelbe enthält außerdem die wichtige Beſtimmung, daß im Erbfalle die ſtaatliche Rentenbank die Auszahlung der Miterben in Kapital übernimmt, während ſie den Anerben mit einer ent— ſprechenden Rente, die zugleich eine Amortiſationsquote in ſich ſchließt, belaſtet y. 1) Über die in den einzelnen Teilen der preußiſchen Monarchie herrſchende Art der Vererbung des ländlichen Grundbeſitzes hat die preuß. Regierung ng ia Erhebungen veranſtaltet, die in einzelnen Bänden oder Heften erſcheinen unter dem Titel „Die Ber: erbung des ländlichen Grundbeſitzes im Königreich Preußen“. Im Auftrage des fol. Miniſteriums für Landwirtſchaft, Domänen und Forſten, herausgeg. von Prof. Dr. M. Sering. Bis jetzt ſind davon 14 Hefte publiziert (Berlin bei P. Parey 1897 bis 1900). Dieſelben behandeln: die Oberlandesgerichtsbezirke Köln, Frankfurt a. M., Caſſel, a Hohenzollernſchen Lande, die Provinzen Hannover, Sachſen, Pommern, eſtpreußen, Poſen und Schleſien. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 8 114 VI. Die Vererbung des Grundbeſitzes. Von vielen Seiten wird jetzt gefordet, man ſolle allgemein, behufs Er⸗ haltung eines zahlreichen und lebenskräftigen Bauernſtandes, Beſchränkungen in der Teilung bezw. Vererbung des Grundbeſitzes geſetzlich feſtſtellen, d. h. mehr oder weniger zu den früher in dieſer Hinſicht vorhanden geweſenen Zuſtänden zurückkehren. Das Material, nach dem dieſe Forderung beurteilt werden kann und muß, iſt in dem vorangegangenen Teil dieſes Abſchnittes, ſowie in früheren Abſchnitten dargeboten). Das aus demſelben nach meiner 4 Anſicht ſich ergebende Reſultat iſt folgendes. Als Regel muß die Frei— heit bezüglich Zerteilung und Vererbung des Grundbeſitzes gelten. Man kann nicht beſtimmen, wie zahlreich und wie groß die einzelnen Grund⸗ beſitzungen an jedem Ort und zu jeder Zeit ſein ſollen. Je nach den ſonſtigen wirtſchaftlichen, ſowie nach den Bevölkerungsverhältniſſen, auch nach den Mitteln und Bedürfniſſen der einzelnen Landbebauer müſſen fortwährend Ver⸗ änderungen hierin eintreten. Welcher Art dieſelben ſein ſollen, können die einzelnen Intereſſenten am beſten beurteilen. In den letzten Jahrzehnten hat die Bevölkerung im Deutſchen Reich ſich ungemein vermehrt, eine weitere Vermehrung ſteht bevor. Wenn man nicht der Sozialdemokratie bedrohlichen Vorſchub leiſten will, ſo darf man den Zuwachs an Bewohnern nicht von dem Bodenbeſitz ausſchließen. Im Gegenteil iſt nach Möglichkeit dafür zu 4 ſorgen, daß die Arbeiter, ländliche wie induſtrielle, in den Beſitz eines kleinen Grundſtückes gelangen. Dies macht ihre wirtſchaftliche Exiſtenz ſicherer, er⸗ höht ihre Zufriedenheit, ihre Heimats- und Vaterlandsliebe. Zur Erreichung ſolchen Zweckes muß aber ein Teil des Bodens, der jetzt von bäuerlichen oder Großbeſitzern bewirtſchaftet wird, von dieſen verkauft und an kleine Leute abgegeben werden. Die Zahl der mit der beſtehenden ſtaatlichen Ord⸗ nung Unzufriedenen und zu umſtürzleriſchen Beſtrebungen Geneigten würde im Deutſchen Reich um das Mehrfache größer ſein, als ſie jetzt iſt, wenn die Freiteilbarkeit des Bodens nicht vielen Perſonen die Gelegenheit geboten hätte, eigenen Grundbeſitz zu erwerben. Ferner muß man den jeweiligen Beſitzern das Recht laſſen, über ihr Gut bei Lebzeiten und von Todeswegen zu verfügen; letzteres allerdings nur inſoweit ſie nicht durch die allgemeinen Beſtimmungen über den Anſpruch aller Kinder auf ein Pflichtteil beſchränkt ſind. Die Eltern können am beſten ihre Vermögensverhältniſſe ſowie die Bedürfniſſe und Fähigkeiten ihrer Kin⸗ der beurteilen und darnach ihre Verfügungen bei Lebzeiten oder letztwillig treffen. Ein Zwang ſowohl nach der Richtung des Anerbenrechtes wie nach der Richtung der gleichen Verteilung unter alle Kinder würde moraliſch wie wirtſchaftlich große Nachteile mit ſich bringen. Die Geſetzgebung darf in ihren Beſchränkungen der freien Teilbarkeit und Vererbung nicht zu weit gehen. Als zuläſſig muß die Verhinderung ſolcher Teilungen betrachtet werden, durch welche eine wirtſchaftliche Benutzung des Bodens überhaupt unmöglich gemacht wird (Minimalparzelle). Es muß ferner nicht nur als zuläſſig, ſondern als rätlich bezeichnet werden, daß der Staat die Beſtrebungen auf Erhaltung der beſtehenden Wirtſchaftseinheiten, ſoweit ſolche im allgemeinen Intereſſe als wünſchenswert erſcheint, dadurch unterſtützt, daß er ſowohl dem Anerben die Übernahme des Gutes wie auch den Miterben den Verzicht auf deſſen Beſitz möglichſt erleichtert. Hierzu gibt es, wie ſpäter zu zeigen ſein wird, mannig⸗ faltige Wege und Mittel. Schon aus dem Geſagten geht hervor, daß der Staat keineswegs auf jegliche Beſtimmungen oder Beſchränkungen bezüglich des Verkehrs mit Boden 1) Vgl. hierzu auch Lujo Brentano „Über Anerbenrecht und Grundeigen⸗ tum“, Berlin 1895. Die Anſichten Brentanos decken ſich allerdings mit den meinigen vielfach nicht. 4 N 1 A VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 115 hten ſoll; er könnte dies ſchon gar nicht, auch wenn er wollte. Er muß aber immer deſſen bewußt bleiben, daß es nicht in ſeiner Befugnis und Bereich ſeiner Aufgabe liegt, die Verteilung des Bodens ſoweit zu re— ieren, daß ſie mehr von ſeinen Geſetzen, als von dem ſachverſtändigen meſſen der jetzigen oder künftigen Bodenbeſitzer abhängig gemacht wird. r allem muß er ſich darüber klar ſein, daß je nach den örtlichen Verhält⸗ ſen und noch mehr je nach den einzelnen Beſitzgruppen eine verſchiedene der Verteilung zweckmäßig ſein kann und deshalb zu unterſtützen iſt. onders entſcheidend iſt der letztgenannte Umſtand, der übrigens mit erſt— annten in innerem Zuſammenhang ſteht. Es ſoll daher in folgendem dargelegt werden, welche Grundſätze für die Verteilung und Vererbung des 5 leinen, des bäuerlichen und des Großgrundbeſitzes zur Anwendung zu kommen haben. Unter dem kleinen Grundbeſitz verſtehe ich hier zunächſt denjenigen, welcher nicht ſo umfangreich iſt, daß er ausſchließlich eine Familie ernähren kann, alſo den Beſitz von Lohnarbeitern aller Art, von Handwerkern, Krämern de. Ich rechne dazu ferner den Beſitz von Perſonen, die ganz oder nahezu lediglich von deſſen Ertrag leben, die aber durch beſonders intenſive Kultur (Gemüſe⸗, Handelsgewächs⸗, Obſt⸗, Weinbau) auch aus kleinen Flächen einen für ihren Lebensunterhalt zureichenden Ertrag gewinnen. Um eine deutlicher erkennbare Unterſcheidung zu machen, könnte man auch ſagen: zum Kleinbeſitz in dem hier beſprochenen Sinne zählen alle diejenigen Wirtſchaftseinheiten, für deren Betrieb keine beſonderen tieriſchen Arbeitskräfte gehalten, auf denen vielmehr die erforderlichen Verrichtungen, hauptſächlich oder lediglich durch Menſchenhände vorgenommen werden; mit anderen Worten diejenigen, welche Best dem landläufigen Ausdruck der Spatenkultur unterliegen, bei deren Beſtellung nur ab und zu einmal mietsweiſe herangezogene Zugtiere oder die behufs Milcherzeugung ohnehin gehaltenen Kühe zur Verwendung kommen. Die zu ſolchen Kleinbetrieben gehörenden Grundſtücke müſſen durch— aus dem freien Verkehr unterliegen; bei ihnen ſind Beſchränkungen bezüglich Teilbarkeit und Vererbung nicht angebracht. Es muß jedem Arbeiter oder Handwerker auf dem Lande möglich bleiben, ein Grundſtück zu erwerben oder den etwa ſchon vorhandenen Landbeſitz zu vergrößern. Dem Kuhbauern darf ferner die Ausſicht nicht abgeſchnitten werden, durch Fleiß und Spar— ſamkeit allmählich ſeinen Grundbeſitz derartig vermehren zu können, daß er in die Reihe der Spannviehhaltenden Beſitzer tritt. Die Freiheit des Ver— kehrs liegt im Intereſſe nicht nur der genannten Perſonen ſelbſt, ſondern auch der Bauern und Großgrundbeſitzer. Die beiden letztgenannten Klaſſen erhalten dadurch einen Stamm ſicherer, weil angeſeſſener Arbeiter; es ent— ſteht eine für die Geſtaltung geſunder ſozialer Verhältniſſe wichtige Stufen— leiter von dem kleinſten Grundbeſitzer bis zu dem Großbauern. Wenn an eine Beſchränkung in dem Verkehr mit Parzellen gedacht werden ſoll, ſo könnte es nur die bereits beſprochene (ſ. S. 102) ſein, daß man die Teilung der— ſelben unter ein beſtimmtes Mindeſtmaß verbietet. Anders ſteht es mit den Bauerngütern. Auch bei dieſen empfiehlt es ſich nicht, den jeweiligen Beſitzer irgendwie zu verhindern, bei Lebzeiten ſein Gut ganz oder teilweiſe zu veräußern oder durch Teſtament die Teilung | unter die Kinder zu verfügen. Wo noch, wie es vereinzelt vorkommt, ges 5 ſetzliche Vorſchriften beſtehen, daß gewiſſe Vauerngüter ungeteilt bleiben und auf einen Erben übergehen müſſen, mag man ſie erhalten, ſo lange keine großen Unzuträglichkeiten daraus erwachſen; aber ſie neu einzuführen, iſt kein Grund vorhanden. Andererſeits iſt es aus wirtſchaftlichen und politiſchen Rückſichten ſehr wichtig, daß ein zahlreicher, innerlich geſunder, leiſtungs— 8 * . 5 19. is . 7 4 755 * r 2 j 1 93 er 1 — Su 3 1 4 1 2 1 a 5 4 116 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. fähiger und nicht hoch verſchuldeter Bauernſtand erhalten bleibt. Dies iſt aber nur möglich, wenn die Mehrzahl der Bauerngüter Generationen hindurch in ein und derſelben engeren oder weiteren Familie bleibt; wenn die bäuer⸗ liche Tradition von Geſchlecht zu Geſchlecht ſich vererbt; wenn die Bauern güter eine angemeſſene Ausdehnung behalten und die jeweiligen Beſitzer nicht durch übermäßige Schulden gehindert werden, ihre Höfe rationell zu bewirtſchaften. Dieſe Forderungen entſprechen auch durchaus den Anſchauungen der Bauern ſelbſt. Deshalb hat ſich in den meiſten Teilen des Deutſchen Reiches bei ihnen die Sitte erhalten, die Höfe ungeteilt einem Kinde zu übertragen, trotzdem das Geſetz dieſe Sitte nicht begünſtigt. Aufgabe der Geſetzgebung muß es daher ſein, ſich wieder in Übereinſtimmung zu bringen ſowohl mit der Sitte wie mit den Bedürfniſſen einer geſunden volkswirt⸗ ſchaftlichen Entwicklung. Mit beiden Forderungen würde es aber in Wider⸗ ſpruch ſtehen, wollte man den Bauern verbieten, bei Lebzeiten und von Todes wegen frei über ſeinen Hof zu verfügen. Es kann ſich nur darum handeln, daß das Geſetz Beſtimmungen über ein Inteſtatanerbenrecht im Sinne der geſchloſſenen Erfolge trifft. Die Vorzüge eines ſolchen ſind weſentlich folgende. Der Geſetzgeber ſpricht damit aus, daß er die geſchloſſene Erbfolge für das Normale hält. Damit gibt er dem Bauern eine wirkſame Direktive und zugleich einen Rückhalt gegenüber den nicht als Erben berufenen Kindern. Es wird der Bauer ferner der Notwendigkeit enthoben, ein Teſtament zu machen. In der Regel entſchließen ſich die Bauern ohnehin ungerne hierzu; die Einführung des Inteſtatanerbenrechtes würde dieſer Abneigung zum Vor⸗ teil für die Geſamtheit entgegenkommeu. Soll dasſelbe die gewünſchte Wirkung haben, ſo muß es nachſtehenden Forderungen genügen. Der Anerbe muß den Miterben gegenüber bevorzugt werden, damit er nicht mit einer, die erfolgreiche Wirtſchaftsführung verhindernden Schulden⸗ laſt bedrückt wird. Das ihm gewährte Voraus ſoll ¼ bis höchſtens ½ des Gutswertes betragen. Letzterer iſt nach dem Ertragswert, nicht nach dem Verkaufs- (Verkehrs⸗)Wert feſtzuſetzen. Falls der Anerbe innerhalb der erſten 10 oder 15 Jahre nach der Übernahme das Gut verkaufen will, muß den Miterben ein Vorkaufsrecht zuſtehen. Machen ſie davon keinen Gebrauch und der Anerbe verkauft innerhalb jener Friſt das Gut höher, als es ihm angerechnet wurde bei der Übernahme, jo hat er das erhaltene Voraus wieder herauszugeben. Die Miterben dürfen von dem Anerben zunächſt keine Kapitalzahlung, ſondern nur die Zahlung einer jährlichen Rente bean⸗ ſpruchen, welche der vierprozentigen Verzinſung ihres Erbteiles entſpricht. Kapitalzahlung dürfen ſie erſt nach voraufgegangener ſechsmonatlichen Kün⸗ digung fordern. Letztgenannte Beſtimmuug iſt von beſonderer Wichtigkeit. Der Anerbe wird in vielen Fällen nicht imſtande ſein, die Miterben auszuzahlen. Dieſe laſſen aus geſchwiſterlichen Rückſichten vielleicht zunächſt ihr Erbteil auf dem Gute ſtehen; ſie brauchen aber früher oder ſpäter Geld für ihre Ausbildung, oder um irgend ein wirtſchaftliches Unternehmen zu beginnen. Wirkliche oder eingebildete Not drängt ſie zur Kündigung ihres Erbteils. Der Anerbe kann aber dann oft gar nicht das bare Geld aus eigenen Mitteln beſchaffen; um feine Geſchwiſter zu befriedigen, muß er Kapitalien von fremden Perſonen zu hohen Zinſen aufnehmen. Die Folge iſt eine übermäßige Verſchuldung ſeines Gutes und die weitere vielleicht deſſen notgedrungener Verkauf. Da⸗ mit wird aber der Zweck des Anerbenrechtes vereitelt. Aus dieſem Grunde muß es als unerläßlich bezeichnet werden, daß man dort, wo man das Inteſtatanerbenrecht einführt, gleichzeitig Vorkehrungen VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 117 „die den berechtigten Bedürfniſſen und Wünſchen ſowohl des Anerben der Miterben entgegenkommen. Es muß ſeitens des betreffenden Staates Landesteiles ein Renteninſtitut eingerichtet werden, welches die Ver— mittelung zwiſchen dem Anerben und den Miterben in der Art übernimmt, ß es die Miterben in Kapital aus zahlt und dem Anerben eine jährlich ab— hrende Rente auferlegt. Letztere ſoll außer den Zinſen eine Amortiſations— te von ½ bis 1 Proz. enthalten, jo daß in etwa 40 bis höchſtens Jahren die Schuld ganz getilgt iſt. Dabei muß es dem Anerben freis hen, auch ſchneller zu amortiſieren. Wird ſo verfahren, dann werden ſich » Miterben leicht in die dem Anerben zuteil gewordene Bevorzugung fügen; e Anerbe wird ſeinerſeits durch die Befriedigung der Miterben nicht zu we belaſtet. Was er dem Renteninſtitut an Zinſen und Amortiſation zu— ſammen zahlt, wird in der Regel nicht mehr fein, als er einem Privat— gläubiger an Zinſen allein zahlen müßte. Dabei wird er nach einer Reihe von Jahren ſchuldenfrei. N 3 Eine derartige Anerbenrechtsgeſetzgebung würde nicht nur direkt zur Er— haltung der Bauerngüter in der gleichen Familie viel beitragen, ſondern auch auf die allmähliche Entſchuldung derſelben und damit indirekt auf das näm— liche Ziel hinwirken. Sie erfordert aber notwendig die Errichtung eines Renteninſtituts genannter Art; ohne ein ſolches wird die Einführung des Anerbenrechtes vorausſichtlich wenig Erfolg haben, aber vielleicht große Un- zufriedenheit erregen. g Bei der Anwendung des Anerbenrechtes empfiehlt es ſich, nach dem Vorgang des weſtfäliſchen Geſetzes zu unterſcheiden zwiſchen unmittelbarem und mittelbarem (ſ. S. 113). Das unmittelbare iſt überall dort am Platze, wo nach hergebrachter Sitte ſchon jetzt die Vererbung auf ein Kind ſtattfindet. Es wird dadurch nur das Geſetz mit der wohl begründeten Sitte in Übereinſtimmung gebracht und letzterer gleichzeitig eine feſte Grund— lage und Richtung gegeben. Das mittelbare Anerbenrecht eignet ſich für alle übrigen Bezirke, alſo für diejenigen, in denen die Art der Vererbung von keiner feſten Sitte getragen iſt, ſondern ſich ſehr mannigfaltig geſtaltet. Auch hier ſoll man dem Bauern die Möglichkeit gewähren, durch Eintragung ſeines Hofes als Anerbengut in ein öffentliches Buch deſſen Vererbung auf ein Kind nach den vom Geſetz vorgeſchriebenen Normen herbeiführen zu können, falls er nicht bei Lebzeiten oder durch Teſtament anders darüber verfügt. Es wird dadurch der große Vorteil erzielt, daß nunmehr nicht die Willkür des Erblaſſers, ſondern das Geſetz über die Art der Erbteilung be— ſtimmt; dies fällt für die perſönliche Auffaſſung und ſomit für die Stimmung der Erben ſehr ſtark ins Gewicht. Die Art der Erbteilung müßte bei dem unmittelbaren und dem mittelbaren Anerbenrecht die gleiche ſein. Überhaupt würden ſich beide lediglich dadurch unterſcheiden, daß mangels eines Teſta— mentes, bei erſterem ausnahmslos die ungeteilte Erbfolge eintritt, bei letz— terem nur, wenn das Gut in die Anerbenrolle eingetragen iſt. Die Einzelbeſtimmungen eines Anerbenrechtes müßten ſich in den ver— ſchiedenen Ländern oder Landesteilen je nach den örtlichen Verhältniſſen und Gewohnheiten etwas abweichend geſtalten. Vor dem Erlaß eines bezüg— lichen Geſetzes wären die lokalen Vertretungskörper (Kreistage, Provinzial— 15 landtage), auch die landwirtſchaftlichen Vereine oder Landwirtſchaftskammern, 4 N zu hören. Namentlich gilt dies auch bezüglich der Gruppe und ö rt von Bauerngütern, auf welche das neue Recht zur Anwendung kommen ſoll. Das weſtfäliſche Geſetz erſtreckt ſich auf alle Landgüter, die eine ſelbſt— ſtändige Nahrungsſtelle bilden. Dies iſt für die meiſten Gegenden des Deutſchen Reiches zu weitgehend. In der Regel wird es ſich empfehlen, 118 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. das Anerbenrecht zu beſchränken auf Bauerngüter, die einen Grund— ſteuerreinertrag von beſtimmter, nicht zu gering bemeſſener Höhe gewähren, wodurch alſo einerſeits die kleineren Bauerngüter, andererſeits E die großen Güter ausgeſchloſſen werden. Eine vom rheinpreußiſchen land- wirtſchaftlichen Verein zu dieſem Zweck niedergeſetzte Kommiſſion hat be— ſchloſſen, der Staatsregierung vorzuſchlagen, dem Inteſtatanerbenrecht die Bauerngüter mit mindeſtens 500 Mk. Grundſteuerreinertrag zu unterwerfen. Sie hat gleichzeitig der Erwägung anheimgegeben, ob nicht für einzelne Be⸗ zirke ein niedrigerer Satz gewählt werden ſolle. Der Zentralvorſtand des genannten Vereins hat dieſe Vorſchläge angenommen und an die Staats⸗ regierung eine entſprechende Erklärung gerichtet. Um ſo bemerkenswerter muß das Vorgehen der Vertreter der rheiniſchen Landwirtſchaft erſcheinen, als es ſich um eine Provinz handelt, in derem größten Teil während eines Jahrhunderts das franzöſiſche Recht mit ſeinem radikalen Teilungsprinzip in Geltung geweſen iſt und in welcher gleichzeitig eine zahlreiche Bevöl erung und eine ſtark entwickelte Induſtrie ſich vorfindet . Für den Großgrundbeſitz iſt die geſetzliche Feſtſtellung eines In⸗ teſtatanerbenrechtes unnötig, kann ſogar nachteilig wirken. Die Inhaber desſelben ſind gebildet, gewandt und weitblickend genug, um ſelbſt zu wiſſen, welche Art der Vererbung für ihre Verhältniſſe die angemeſſenſte iſt, und können danach bei Lebzeiten ihre Verfügungen treffen. In vielen Fällen entſpricht es gerade den Intereſſen ſowohl der einzelnen Fämtlie wie der Land⸗ und Volkswirtſchaft, daß große Güter unter mehrere Erben geteilt werden. Beſonders iſt eine Teilung unter verſchiedene Kinder dann wünſchenswert, wenn der Erblaſſer im Beſitz von nicht bloß einem Gute ſich befunden hat. Die Gefahr der Gegenwart iſt nicht die, daß der Parzellenbeſitz, ſondern daß der Latifundienbeſitz und gleichzeitig der Pachtbetrieb überhand nimmt. Dieſe Gefahr, die allen dicht bevölkerten und hoch kultivierten Lündern droht und der im Laufe der Geſchichte wiederholt Völker unterlegen ſind, würde aber ſehr verſtärkt werden, wenn man wirklich allgemein das Anerbenrecht auf große Güter zur Anwendung brächte. Eine Anſammlung des Grundbeſitzes in den Händen verhältnismäßig weniger Perſonen wäre die faſt unausbleib⸗ liche Folge. Man darf nicht vergeſſen, daß es viel leichter iſt, mehrere kleine Güter zu einem großen Gut zuſammenzuſchlagen, als aus einem großen Gut wieder mehrere kleine zu machen. Denn in letzterem Falle liegt die Notwendigkeit vor, für jeden der neu gebildeten Einzelbetriebe auch neue Wirtſchaftsgebäude aufzuführen, was grade in der Gegenwart bedeutende Koſten verurſacht. Der Großgrundbeſitz hat ſchon von altersher die voll⸗ kommen berechtigte Neigung und Gewohnheit, ſeine Güter in der Familie ungeteilt zu erhalten, und wird hierin durch die Geſetzgebung nicht gehindert; es liegt deshalb aber auch keine Veranlaſſung vor, dieſe Gewohnheit auch noch durch das Geſetz beſonders zu unterſtützen. Um ſo weniger erſcheint die Einführung eines Inteſtatanerbenrechtes für den Großgrundbeſitz angebracht, als dieſer ſchon ſeit Jahrhunderten eine andere Form gefunden und angewendet hat, um die Güter in der Familie dauernd zu erhalten. Dieſe Form iſt das Familienfideikommiß. Über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der Fideikommiſſe iſt viel geſtritten worden, und grade in der Gegenwart ſind die abweichendſten Meinungen darüber laut geworden. Auf die Einzelheiten dieſer Sache kann hier nicht 1) Vergl. hierüber Zeitſchrift des rheinpreuß. landw. Vereins für 1898, Nr. 44. Es iſt dort ein von mir auf der Generalverſammlung dieſes Vereins am 26. Sept. 1898 in Krefeld gehaltener Vortrag abgedruckt, der außer der Sache ſelbſt auch die Entwicklung, welche die Anerbenrechtsfrage in der Rheinprovinz gehabt hat, zur Darſtellung bringt. ccc VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 119 r eingegangen werden; ich muß mich vielmehr damit begnügen, die kte, auf die es hauptſächlich ankommt, kurz zu erörtern. Das Eigentümliche des Fideikommiſſes beſteht darin, daß zufolge einer von einem Gutsbeſitzer gemachten, von der Obrigkeit beſtätigten Satzung ein beſtimmtes Gut dauernd nur einem Familiengliede zufällt, daß der je- | ge Fideikommißbeſitzer dasſelbe nicht veräußern darf, und daß er bezüg- einer Zerteilung und Verſchuldung an die Zuſtimmung der Familie ge⸗ en iſt. Der Fideikommißbeſitzer hat nur die Nutznießung des Gutes Lebenszeit; er iſt nicht voller Eigentümer, ſondern das Obereigentum umt der Familie zu. Die Fideikommiſſe, mögen deren Inhaber den Adelstitel führen oder ht, bilden das materielle Fundament für eine wohlhabende, gebildete, un— hängige Grundariſtokratie, deren Vorhandenſein für jeden Staat von ößter Bedeutung iſt. Ihr fällt in hervorragendem Grade die Aufgabe zu, : Tradition im Staat⸗ wie Familienleben aufrecht zu erhalten. Sie iſt viel feſter mit dem vaterländiſchen Boden, mit Land und Leuten verwachſen, als die Vertreter der Großinduſtrie, des Großkapitals und des Großhandels. Diieſe haben naturgemäß ſchon einen ſtark internationalen Zug und werden ihn mit Ausbreitung der Weltwirtſchaft immer mehr bekommen. Zudem pflegen die großen Geſchäfte, bei denen das mobile Kapital die Hauptrolle ſpielt, ſelten viele Generationen hindurch in derſelben Familie zu bleiben; nach verhältnismäßig kurzer Zeit gehen ſie entweder ganz ein oder in die Hände anderer Familien oder gar von Aktiengeſellſchaften über. Geld gibt Macht, auch politiſche Macht, beſonders in Staaten, in denen Parlamente einen er- heblichen Einfluß auf Geſetzgebung und Verwaltung ausüben. Stets wirkt Nees unheilvoll, wenn die im materiellen Beſitz liegende Macht ausſchließlich oder doch weit überwiegend in den Händen des mobilen Kapitals ruht. Es muß für ein geſundes Staatsleben als durchaus notwendig bezeichnet werden, daß als Gegengewicht eine Grundariſtokratie vorhanden iſt, der die nötigen materiellen Mittel zu Gebote ſtehen, um die Intereſſen des Grund und Bodens, der Landwirtſchaft und der ländlichen Bevölkerung, anderen Intereſſen gegenüber, die ja an und für ſich durchaus berechtigt ſind, wirkſam zu ver⸗ treten. Dieſer Aufgabe haben ſich auch die deutſchen Fideikommitzbeſitzer bisher nicht ohne Erfolg unterzogen. Der zuweileu erhobene Vorwurf, daß Fideikommißgüter durchſchnittlich ſchlechter bewirtſchaftet würden, als andere Güter, läßt ſich durch die Tat- ſachen nicht erhärten; ebenſowenig der, daß durch die Fideikommiſſe Unzu— friedenheit und Uneinigkeit unter den betreffenden Familien und deren ein— e Gliedern erzeugt werden. Selbſtverſtändlich find unter den Fidei— 14 ommißgütern wie unter allen anderen Gruppen von Gütern ſolche, deren Bewirtſchaftung nicht muſtergültig iſt; aber ſie ſtehen in dieſer Hinſicht durch— ſchnittlich gewiß nicht zurück. Im Gegenteil haben ſie den für die Jetztzeit ſo wichtigen Vorzug, daß ſie nicht hoch verſchuldet ſind und bei ihnen des— halb das für ſehr viele Wirtſchaften größte Hindernis einer rationellen Be— wirtſchaftung fortfällt. Was den zweiten Vorwurf angeht, ſo iſt glücklicher— weiſe der Familienſinn bei den Gliedern der in Betracht kommenden Ge— ſchlechter noch ſo ſtark entwickelt, daß das Beſtehen des Fideikommiſſes mehr als eine Wohltat, wie als ein Übelſtand empfunden wird. Unzähligen be— dürftigten Mitgliedern einer an einem Fideikommiß beteiligten Familie iſt es ſchon ſehr zu ſtatten gekommen, daß in dem Fideikommißbeſitzer ein Mann vorhanden war, der mit den nötigen Mitteln die Bereitwilligkeit verband, helfend für ſie einzutreten. ‚ . 1 N 7 1 RR Er 3 * N: Be: Er m 7 8 * > 3 — 79 4 er % 2 N j 9 1 Be: . Sa 4 * a‘ 0 5 = 1 * sy f . 5 . 2 2 By en * An = Fit 5 5 3 fi 7 9 N 5 120 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. Die geſchilderten Vorzüge der Fideikommiſſe zeigen ſich aber nur unter gewiſſen Vorausſetzungen. Vor allem darf das fideikommiſſariſch ges bundene Areal keinen zu großen Teil der Geſamtfläche eines Landes, namentlich nicht der landwirtſchaftlich benutzten, ausmachen. Für den Wald trifft dies weniger zu, da, aus früher dargelegten Gründen, bei dieſem die Großwirtſchaft vorzuziehen iſt. Die landwirtſchaftlich verwendete Fläche muß aber zum weitaus überwiegenden Teil dem freien Verkehr überlaſſen bleiben, beſonders in Ländern mit ſtarker und noch immer wachſender Be— völkerung. Ein über eine große Quote der Geſamtfläche eines Staates ausge- dehnter Fideikommißbeſitz wirkt in dieſem Falle geradezu zerüttend auf die wirt ſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe. Ein warnendes Beiſpiel dafür bietet das heutige England. Hier iſt der bei weitem größte Teil des landwirtſchaftlich benutzten Bodens fideikommiſſariſch gebunden, wenngleich in einer etwas anderen Form als bei uns. Der numeriſche Rückgang des Bauernſtandes, der Mangel an ländlichen Arbeitskräften, die Abnahme der Ackerfläche und der landwirtſchaftlichen Produktion im ganzen hängen urſäch⸗ lich hiermit zuſammen. Im Deutſchen Reiche nehmen die Fideikommiſſe einen viel geringeren Raum ein. Sie betrugen im Jahre 1900 in Preußen 6,24 Proz. der Geſamtfläche, im Jahre 1894 in Bayern 2,12 Proz. Die Fideikommiß⸗ Waldungen in Preußen umfaßten von der geſamten Waldfläche des Staates 12,09 Proz., die fideikommiſſariſch gebundene landwirtſchaftliche Fläche von der geſamten landwirtſchaftlich benutzten Fläche 5,04 Proz.; der | Grundſteuerreinertrag der Fideikommiſſe belief ſich auf 5,97 Proz. des Grund⸗ N ſteuerreinertrages der ganzen Monarchie). Von dem geſamten Fideikommiß⸗ i beſitz in Preußen kamen allein auf Wald 45,93 Proz. In den einzelnen Pro⸗ vinzen ſtellt ſich dies allerdings ſehr verſchieden. Es fielen auf die Fideikommiſſe 7): \ | davon auf Wald | Landesteil 15 0 in Prozent | . e der Fideikommißfläche in Oſtpreußen a. 30,0 „ Weſtpreußen 3.857 44194 „ Brandenburg 70 50,10 „ Pommern Fa 25,8 „ Poſen 133 42138 " Schleſien 14,63 56,0 „ Sachſen * 4177 „ Schleswig⸗Holſtein ER 18,58 „ Hannover AR 41,38 „ Weſtfalen Tas 57140 n Heſſen⸗Naſſau 4½6 62, „ Rheinprovinz 2,96 575 „ Hohenzollern 16,9 Ins Die Verteilung der Fideikommiſſe iſt alſo in den einzelnen Landes⸗ teilen Preußens eine ſtark abweichende; ihr Umfang bewegt ſich, Hohen⸗ zollern abgerechnet, von 1,96 Proz. (Hannover) bis 14,65 Proz. (Schleſien). 1) Die Prozentzahl des Fideikommißbeſitzes von der land wirtſchaftlich benutzten Fläche iſt von mir berechnet worden. 2) Die Angaben über die preußiſchen Fideikommiſſe ſind hauptſächlich entnommen aus „Vorläufiger Entwurf eines Geſetzes über Familienfideikommiſſe nebſt Begründung“. In amtlichem Auftrage veröffentlicht. Berlin, Verlag der Poſt, 1903. Vgl. hierüber auch: G. Hager, Familienfideikommiſſe, Jena bei G. Fiſcher 1897. Eugen Moritz, Die Familienfideikommiſſe in Preußen, Berlin 1901. Ferner die Abhandlungen von O. Gierke und J. Conrad in dem Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften, 2. Aufl., III. Bd. (1900), S. 880 ff. VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 1421 Die Zahl der Fideikommiſſe betrug 1102, ihr Geſamtflächeninhalt 77 145 ha, die Zahl der Fideikommißbeſitzer 983. Nicht wenige der ; hatten demnach mehrere Fideikommiſſe inne. Unter den Fidei⸗ nmißbeſitzern hatten Ba 102 eine Beſitzfläche von unter 100 ha 62 2 2 " 100 — 200 „ 204 „ 7 1 200 — 500 „ 236 [7 7 7 500— 1 000 „ ash: Al: „ 1000— 2000 „ 185 [7 * „ 2 000 — 5 000 „ 58 [7 7 7 5 000-—10 000 „ ji 9 8 „ 10000 ha und darüber 1102 zuſammen !) Unter den 1102 Fideikommiſſen ſind 842 als ſolche gegründet, 260 aus früheren Lehnsgütern hervorgegangen. Von jenen 842 beſtanden nur 434 ſchon 1850, während 408 der Zeit von 1851 — 1900, darunter 136 den 15 Jahren von 1881 — 1895 und 64 den 5 Jahren von 1896-1900 ihre Entſtehung verdanken. Man ſieht hieraus, daß grade in der Gegen— # 255 15 Neigung zur Errichtung von Fideikommiſſen eine ungewöhnlich große iſt. N 5 Obige Zahlen berechtigen zu dem Schluß, daß im Durchſchnitt der preußiſchen Monarchie die Zahl und Ausdehnung der Fideikommiſſe bis jetzt keine übermäßig große iſt. Von der Geſamtfläche nehmen ſie rund 6 Proz., von der landwirtſchaftlich benutzten Fläche nur 5 Proz. in Ans ſpruch. Die Bedeutung der Fideikommiſſe für Staat und Volkswirtſchaft iſt erheblich genug, um den Entzug einer derartigen Quote des Bodens aus dem freien Verkehr unbedenklich erſcheinen zu laſſen. Daß in den oſt⸗ elbiſchen Gebieten Preußens die Fideikommiſſe ſtärker vertreten ſind, als in den weſtelbiſchen, iſt naturgemäß und entſpricht den wiederholt geſchilderten Verhältniſſen 2). Allerdings iſt in Schleſien und an zweiter Stelle in Bran— denburg der Fideikommißbeſitz ungewöhnlich ſtark ausgedehnt; eine weitere Vergrößerung kann durchaus nicht als wünſchenswert bezeichnet werden. Welche Quote der Geſamtfläche oder der landwirtſchaftlich benutzten Fläche ohne Schaden fideikommiſſariſch gebunden ſein darf, läßt ſich ſchwer in feſten Zahlen ausdrücken, da dies nach den örtlichen und zeitlichen Verhältniſſen vpverſchieden zu normieren iſt. Meines Erachtens könnte als ungefährer An— halt hierfür dienen, daß im oſtelbiſchen Deutſchland auf den Fideikommiß⸗ beſitz nicht mehr als etwa 5—7 Proz. der landwirtſchaftlich benutzten Fläche und nicht mehr als 10—15 Proz. der Waldfläche des betreffenden Landes oder der betreffenden Provinz fallen ſollten. Für das weſtelbiſche Deutſch— land, wo die Bevölkerung durchſchnittlich eine viel ſtärkere, iſt ein Fidei— kommißbeſitz von 3—4 Proz. der landwirtſchaftlich benutzten Fläche ſchon reichlich hoch. Die zweite Vorausſetzung für eine nicht nachteilige, ſondern vor— zugsweiſe günſtige Wirkung der Fideikommiſſe iſt die, daß die für ſie gültigen Satzungen (Stiftungsurkunden) eine ihrer Beſtimmung und den Gemein— intereſſen entſprechende Faſſung haben. Dazu gehört unter anderem fol— gendes. Die Verſchuldungsmöglichkeit darf ein gewiſſes und zwar ge— ringes Maß nicht überſteigen; auch in bezug auf dieſes muß ſie abhängig 1) In dem Entwurf eines Geſetzes über Familienfideikommiſſe iſt die Geſamtzahl der in Preußen vorhandenen Fideikommiſſe für Ende 1899 auf 1102 (a. a. O. S. 12, Anm.), für Ende 1900 auf 1119 (a. a. O. S. 17) angegeben. 2) Hohenzollern laſſe ich dabei außer Betracht, zumal hier von dem geſamten Fidei⸗ kommißbeſitz 77, 78 Proz. allein auf Wald kommen. . 12 ME 2 Br 12 1 „ b y.r ’ „ 122 VII. Vererbung des Grundbeſitzes. gemacht werden von einem Familienbeſchluß bezw. von der Fideikommiß⸗ 1 behörde. Eine Verſchuldung ganz auszuſchließen, würde unzweckmäßig fein; ſie ſoll aber höchſtens 30 — 35 Proz. des Ertragswertes betragen dürfen. Abverkäufe oder ſonſtige Abtretungen einzelner kleiner Teile des Fidei⸗ kommißgutes müſſen unter Zuſtimmung der Behörde bezw. des Familien rates zuläſſig ſein. Weiter muß es geſtattet ſein, ein Fideikommiß wieder in ein Allodgut zu verwandeln, falls die Familie bezw. auch die Behörde darin willigen. Ein Weg muß offen gelaſſen werden, um für den Fall, daß ein Fideikommißinhaber notoriſch das Gut ſchlecht bewirtſchaftet, dies ſeiner Verwaltung zeitweiſe oder ganz zu entziehen. Sehr wünſchenswert iſt es auch, daß bei Errichtung von Fideikommiſſen zugleich ein Geld: fideikommiß damit verbunden, d. h. ein Geldkapital fideikommiſſariſch feſt⸗ gelegt wird, deſſen Erträge den nicht zum Fideikommißerben berufenen Kindern ſowie den noch unverſorgten nächſten Familienangehörigen zugute kommen. Ahnliche wie die vorgenannten Feſtſetzungen exiſtieren ſchon für viele Fideikommiſſe; es wäre aber wünſchenswert, wenn darüber in einem beſonderen Staatsgeſetz einheitliche Normativbeſtimmungen aufgeitellt würden. Sie ſollen ſich nicht ins Detail verlieren, müſſen vielmehr den einzelnen Begründern einen ziemlichen Spielraum laſſen. Es bleibt immer⸗ hin noch genug übrig, was einer allgemeinen Regelung fähig und be⸗ dürftig iſt. Schon aus dem Geſagten ergibt ſich, daß das Fideikommißweſen einer ſtaatlichen Aufſicht bedarf. Die oberſte Inſtanz für dieſe muß eine Zentralbehörde des Landes bilden; die Errichtung umfangreicher Fidei⸗ kommiſſe müßte an die Genehmigung des Monarchen geknüpft werden. In einem Großſtaate wie Preußen empfiehlt es ſich, als erſte Inſtanz eine Provinzialbehörde zu bezeichnen, weil dieſe mit den örtlichen Verhält⸗ niſſen beſſer vertraut iſt. Für Preußen bilden jetzt die Oberlandes⸗ gerichte die erſte Inſtanz. Ob dies zweckmäßig oder ob es beſſer iſt, eine aus Richtern, Verwaltungsbeamten und Vertretern der Landwirtſchaft zu⸗ ſammengeſetzte beſondere Fideikommißbehörde, unter dem Vorſitz des Ober⸗ präſidenten zu errichten, darüber kann man verſchiedener Meinung ſein. Für beides laſſen ſich Gründe anführen. Als zweite und ſoweit nicht die Ent⸗ ſcheidung des Monarchen eingeholt werden muß, als letzte Inſtanz wird das Staatsminiſterium zu funktionieren haben. Der ſtaatlichen Aufſichtsbehörde würde es zukommen: eingegangene Geſuche um Begründung neuer Fideikommiſſe auf ihre Übereinſtimmung mit den Normativjagungen bezw. dem noch zu erlaſſenden Geſetze zu prüfen; über die Innehaltung der Satzungen zu wachen; Klagen der Familienglieder über ſatzungswidrige Handlungen des Fideikommißinhabers entgegenzunehmen bezw. zu entſcheiden. Für die Beſtätigung oder Nichtbeſtätigung eines neu zu errichtenden Fideikommiſſes würde ſtark ins Gewicht fallen die Zahl und der Umfang der bereits beſtehenden Fideikommiſſe, ſei es im ganzen Staat, jet es in der betreffenden Provinz. Sache der Zentralbehörde oder des Ge- ſetzes müßte es ſein, Beſtimmungen über die ungefähre Zahl und den Ge⸗ ſamtumfang der für den Staat und die einzelnen Landesteile zuläſſigen Fideikommiſſe zu treffen. Wird nach den hier erörterten Grundſätzen verfahren, ſo werden die Fideikommiſſe nicht nur nicht ſchädlich wirken, ſondern ſie werden eine für den Staat ſowie die Land- und die geſamte Volkswirtſchaft nützliche Inſti⸗ tution bilden. In dem preußiſchen Juſtizminiſterium iſt ein, bereits S. 120, Anm. 2 zitierter „Vorläufiger Entwurf eines Geſetzes über Familien— VII. Vererbung des Grundbeſitzes. 123 eikommiſſe“ ausgearbeitet und 1903 im amtlichen Auftrage veröffent- worden. Derſelbe umfaßt in 11 Abſchnitten 268 Paragraphen. Für 2. Abſchnitt „Die Fideikommißbehörde“ liegen zwei verſchiedene Ent- vor, der eine aus dem Juſtizminiſterium, der andere aus dem Land- aftsminifterium ſtammend. Dem Entwurf iſt eine 212 Seiten um⸗ e Begründung zugefügt. Entwurf wie Begründung ſind mit großer falt abgefaßt. Sie wurden dem preußiſchen Landesökonomiekollegium e den provinziellen Landwirtſchaftskammern zur Begutachtung vorgelegt. den darüber gepflogenen Beratungen gingen die Anſichten über die :cmäßigfeit der einzelnen Beſtimmungen weit auseinander, jo daß es ſehr ich erſcheint, ob der Entwurf, ſelbſt in veränderter Faſſung, jemals die immung des Landtages finden wird. Es würde dies eher zu erwarten wenn der Entwurf ſich nicht ſo ſtark auf Einzelbeſtimmungen einließe, ndern ſich darauf beſchränkte, nur die wichtigſten grundſätzlichen Normen für Regelung des Fideikommißrechtes aufzuſtellen, vielleicht auch die Ordnung gewiſſer Fragen den provinziellen Organen zu überweiſen. Bei der großen Bedeutung der Sache ſcheint es mir geboten, einige unkte hervorzuheben, in denen ich dem Entwurfe nicht beipflichten kann. In § 2 wird beſtimmt, daß das Jahreseinkommen des Fideikommißbeſitzers aus dem Fideikommis mindeſtens 10 000 Mk. betragen müſſe. Dies iſt entſchieden zu niedrig, die unterſte Grenze muß mindeſtens auf 20 000 bis 25 000 Mk. feſtgeſetzt werden. Nach § 32 ſoll die geſamte bypothe- kariſche Belaſtung eines Fideikommißbeſitzers in der Regel / ſeines Ertrags— wertes nicht überſteigen dürfen. Dies iſt viel zu hoch; ſtatt zwei Drittel müßte es ein Drittel, allenfalls zwei Fünftel heißen. Fideikommiſſe können ihre wirtſchaftliche, ſoziale und ſtaatliche Aufgabe nur erfüllen, wenn ſie gar nicht oder doch nur niedrig verſchuldet ſind und wenn ihre Beſitzer über ein großes Jahreseinkommen verfügen. Die in SS 97 —108 enthaltenen Beſtimmungen über Errichtung einer Abfindungs- und Ausſtattungs— ſtiftung ſind in der Hauptſache zweckmäßig; ihrer Tendenz nach auch die über die Bildung einer ſog Verbeſſerungsmaſſe ($ 61). Was aber die Blalſge Maximalgrenze der letzteren betrifft, jo iſt dieſelbe mit dem 100-fachen etrage des Jahreseinkommens des Fideikommißbeſitzers ſehr viel zu hoch gegriffen; der 20—25⸗fache Betrag reicht vollſtändig aus. Bei der im Entwurf vorgeſehenen Beſtimmung liegt die Gefahr vor, daß aus dem Grund fideikommiß ein Geld fideikommiß wird. — Als ein weſentlicher Mangel des Entwurfes, deſſen Beibehaltung mir das Geſetz unannehmbar er— ſcheinen laſſen würde, iſt der zu bezeichnen, daß keine Beſtimmungen darüber getroffen worden ſind, wie groß die Grundfläche des Fideikommißbeſitzers im ganzen Staate bezw. in den einzelnen Provinzen ſein dürfe. Mindeſtens würde zu ſagen ſein, daß die Fideikommißbehörde vor Erteilung der Ge— nehmigung zur Errichtung eines Fideikommiſſes prüfen müſſe, ob dieſelbe mit Rückſicht auf die Zahl und den Umfang der bereits vorhandenen Fidei— kommiſſe gegeben werden könne oder nicht ). 1) Wenn der Ausdehnung der Fideikommiſſe keine Grenze geſetzt wird, jo gehen wir der Gefahr des Ladifundienbeſitzes entgegen, der nach Plinius das alte Rom zu— runde gerichtet hat und der jetzt in England eine ſo unheilvolle Wirkung ausübt. — gl. zu dem obigen auch: K. Schneider „Der vorläufige Entwurf eines Geſetzes über Familienfideikommiſſe in Preußen“ in „Zeitſchrift für Agrarpolitik“ (herausg. von Dr. Dade), für 1903, Nr. 5, S. 186 ff. und Nr. 6, S. 239 — 241. Ferner: J. Conrad „Der Geſetzentwurf über Familienfideikommiſſe in Preußen“ in art für Nationalökonomie und Statiſtik“, III. Folge, 26. Bd. (1903), 507 —521. 124 VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. VIII. Die Perſchuldung des Grundbelikes, Bereits in Abſchnitt III wurde dargelegt, daß ſeit vielen Jahrzehnten eine Überſchätzung des Bodenwertes und infolgedeſſen bei nicht wenigen Be- ſitzern eine Überſchuldung desſelben eingetreten iſt (S. 44 ff.). Wenn die ſtatiſtiſchen Erhebungen hierüber zwar auch keinen erſchöpfenden Aufſchluß gewähren, ſo ſind ſie doch genau und vollſtändig genug, um obigen Satz zu beſtätigen. Im Jahre 1883 veranſtaltete die preußiſche Regierung in 42 aus den ſieben öſtlichen Provinzen ſowie aus den Provinzen Schleswig-Holitein, Hannover und dem Regierungsbezirke Wiesbaden als typiſch ausgewählten Amtsgerichtsbezirken Erhebungen über die Höhe der hypothekariſchen Verſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes. Dazu kamen noch ſechs Bezirke aus der Provinz Weſtfalen und zwei aus dem Regierungsbezirke Kaſſel; in den letzteren acht Bezirken konnte aber wegen der Eigentümlichkeit der dortigen Grundbuchverhältniſſe die Feſtſtellung nicht in ſo eingehender Weiſe erfolgen. Im Jahre 1896 wurden die Erhebungen in den nämlichen Bezirken wieder⸗ holt, außerdem aber auf die 1883 übergangenen Landesteile ausgedehnt, ſo daß ſie ſich im ganzen auf 56 Bezirke erſtreckten ). In beiden Fällen wurden die ländlichen Grundſtücke in ſechs Gruppen geſondert, nämlich: I. Fideikommiſſe und Stiftungsgüter II. Beſitzungen mit 500 Thlr. (1500 M.) oder mehr Grundſteuerreinertrag; III. nn „ 100-500 Thlr (300—1500 M.) 5 IY: x „ 309—100 „ (90-300 M.) ii V. „ weniger als 30 Thlr (90 M.) VI. die zu Fabriken, Bergwerken und nicht in Verbindung mit der Landwirtſchaft betriebenen Anlagen gehörenden Beſitzungen. Für jede Gruppe wurde die Verſchuldung geſondert berechnet, Gruppe VI dagegen von der weiteren Unterſuchung überhaupt ausgeſchloſſen. Ein Vergleich der Jahre 1883 und 1896 konnte, wie ſich aus der vorſtehenden Darſtellung ergibt, nur für die erwähnten 42 Amtsbezirke ge⸗ macht werden. Dieſelben umfaßten im Jahre 1883 zuſammen 1701 Ge⸗ meinde- und 1198 Gutsbezirke, im Jahre 1896 von jenen 1587, von dieſen 1170. Die Zahl der im Jahre 1896 zur Ermittelung gezogenen Beſitzungen betrug im ganzen 77 913. In den 42 Amtsgerichtsbezirken ſtellte ſich (a. a. O. S. 106 und 107, Spalte 11, 12, 17, 18): a kamen auf 1 Mark die Geſamtwerſchuldung rm na an Schulden 1883 1896 1883 1896 auf 407 275 586 485 166 480 M. 23159 292 Es hat alſo in dem Zeitraum von 1883 — 1896 eine nicht unerheb⸗ liche Vermehrung der Schulden ftattgefunden. Dieſelbe trifft alle Beſitz⸗— 8 gruppen. Auf 1 Mark Grundſteuerreinertrag fielen an Schulden (a. a. O. | | sw 1) Der ausführliche, von A. Meisten abgefaßte Bericht über die Verſchuldungs⸗ ſtatiſtik von 1883 5 ſich in H. Thiels Landwirtſchaftlichen Jahrbüchern, Bd. 14, Er⸗ gänzungsband 2, S. ff. Die Reſultate der Verſchuldungsſtatiſtik von 1896 und deren Vergleich mit 1883 ſind erſchienen in der Zeitſchrift des Kgl. Preuß. Statiſt. Bureaus, Heft 1 und 2 für 1898, S. 93 ff, VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. 125 1883 1896 in Gruppe I 6, M. 7, M. 2 7 II 28,13 [77 3339 mi. 2 77 III 18,2 " 24,81 * nm * IV 187 7 29,03 2 [23 [23 V 46,06 [2 55717 [2 Am niedrigſten iſt die Verſchuldung bei den Fideikommiß- und Stiftungs⸗ (Y, dann kommen die mittel- und großbäuerlichen (III und IV). auf folgt der allodiale Großbeſitz (II); an letzter Stelle erſcheint als am en verſchuldet der Kleinbeſitz (V). Di.urch dieſe Zahlen eren die früher in dieſem Buche gemachten An⸗ beſtätigt, nämlich daß der Fideikommißbeſitz den Vorzug hat, nicht ch En zu 92 e z wenig er-der Verſchuldung leidet. Allerdings hat die Ver⸗ fung ade des letzteren in der Zeit von 1883 1896 bedeutend zu⸗ ommen. Am größten iſt die Verſchuldung bei dem Kleinſtellenbeſitz; ſie muß aber hier, wie ſchon die offizielle Statiſtik hervorhebt, anders beurteilt werden als bei den übrigen Beſitzgruppen. Zu den Kleinſtellenbeſitzern ge- hören viele Gaſtwirte, Krämer, Handwerker, die einen viel höheren Kredit e und beanſpruchen dürfen, als es lediglich durch den Ertrag ihres 5 ndbeſitzes gerechtfertigt iſt. Für dieſe und alle übrigen Kleinſtellenbeſitzer nm gilt ferner, daß die mit ihrem Beſitz verbundenen Gebäude einen im Ver— hältnis zur bewirtſchafteten Fläche ſehr hohen Wert haben, der für die Höhe der hypothekariſchen Beleihung ſtark ins Gewicht fällt. Bei den amtlichen Ermittelungen iſt aber bloß der Grundſteuerreinertrag berückſichtigt, dagegen mit Recht die Gebäudeſteuer außer Betracht gelaſſen worden. Weiter muß N beerückſichtigt werden, daß die Kleinſtellenbeſitzer zwar bei Übernahme ihrer Stellen dieſelben häufig hoch verſchulden, dabei aber auch die Schulden ver— hältnismäßig ſchnell ganz abzuſtoßen pflegen. Hierfür genügt die ſpäter zu erwähnende Tatſache, daß von den Kleinſtellen 31,5%, genau ebenſo viele wie von den Fideikommiſſen, ſchuldenfrei waren. Endlich kommt hinzu, daß gerade der Ertrag der Kleinſtellen von der die Landwirtſchaft jetzt bewegen⸗ den Kriſis nicht betroffen worden iſt. Er repräſentiert im Durchſchnitt ein 5 ſehr viel höheres Multiplum des abgeſchätzten Grundſteuerreinertrages, als Nees bei allen übrigen Beſitzgruppen der Fall iſt. Mit der abweichenden Verſchuldung in den verſchiedenen Beſitzgruppen hängt es weſentlich zuſammen, daß die Verſchuldung in den einzelnen Pro⸗ vinzen eine jo ungleichartige iſt. Durchſchnittlich zeigt fie ſich viel ſtärker Dort, wo der Großgrundbeſitz, als dort, wo der bäuerliche Beſitz überwiegt. In Einheiten des Grundſteuerreinertrages betrug die Verſchuldung in den Provinzen (a. a. O. S. 131): 1 1896 1882 14 v en — ß 1 r P ae rl 13 Z . ²˙¹wmA· ⁊˙ Me „ r v . 4.060. Rene 1 r n 0 Big * v I Er 6 . ee a; 1 r 240 PP a. Zus a ee le cr Hannover . „ „ TE BE «FÜR Schleswig⸗ Holſtein 8 Schleswig⸗ Holſtein . Heſſen⸗Naſſau . 10% . Nach beiden Ermittlungen zeigen die ſechs öſtlich gelegenen Provinzen, 1“ wo zugleich der Großgrundbeſitz ſtark vertreten iſt, eine erheblichere Ver— 5 ſchuldung, als die weſtlicheren. 126 VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. Um zu einem einigermaßen ſicheren Urteil über di ng der vor⸗ handenen Verſchuldung zu gelangen, iſt es nötig, auf die Reſultate der ſtatt⸗ gehabten Ermittelungen noch etwas näher einzugehen. Von den 56 im Jahre 1896 unterſuchten Amtsgerichtsbezirken konnte N in 44 gleichzeitig der Wert, zu dem die Henan ebene Seiktellin der Ergänzungsſteuer veranſchlagt waren, behufs Beurteilung der verhältnis⸗ muͤßigen br ber Werſchitdun | ung mit herangezogen werden; dabei wurde gleichzeitig die Zahl der ganz ſchuldenfreien Beſitzungen ermittelt. Die Ver⸗ anlagung zur Ergänzungsſteuer bietet einen zuverläſſigeren W die a borgen einmal weil ſie ungefähr gleichzeitig mit der Ve gs⸗ ſtatiſtik vorgenommen worden iſt, während die Veranlagung zur Grundſteuer in den älteren preußiſchen Provinzen etwa 35 Jahre früher ſtattfand. Ferner aber auch deshalb, weil bei der Grundſteuerermittelung mit Fug und Recht Reinerträge angenommen wurden, die ſchon damals unter den wirklichen durchſchnittlich erzielten ſich bewegten. In den genannten 44 Amtsgerichtsbezirken befanden ſich zuſammen 44 132 ländliche Beſitzungen. Davon waren ): 8 in Einheiten des Grundſteuer⸗ ſchuldenfrei re eee er bis 20 fach 20—40 fach über 40 fach überhaupt 12 609 7039 8098 16 386 in der no 50 82 16 10 II 201 331 508 382 III 1615 1835 1910 1074 IV 2777 2579 2713 2813 V 7 966 2212 2951 12107 Von den nämlichen 44 132 Beſitzungen waren: verſchuldet in Hundertteilen des bei der Veranlagung zur Ergänzungsſteuer ermittelten Schätzungswertes unter 30 30—60 60—100 über 100 zuſammen ſchuldenfrei überhaupt 12 609 12 541 11 499 5662 1821 44 132 in Gruppe ö 1 50 86 16 5 1 158 11 201 216 395 528 82 1422 III 1615 2 044 1 830 812 133 6434 IV 2 777 3784 2 979 1084 258 10 882 V 7 966 6411 6 279 3233 1347 25 236 Von allen Beſitzungen befanden ſich alſo 12 609 oder 28,30 Proz. in der glücklichen Lage, ganz ſchuldenfrei zu ſein. Sie verteilen ſich in den einzelnen Gruppen, wie folgt. Schuldenfrei waren?: I. von den Fideikomiſſen 31, Proz. II. „ „ Großgütern W II. „ „ ohe Gütern I ͤ;ͤ 8 ( ©, . V. „ „ Kleinſtellen 5 Fideikommißgüter und Kleinſtellen weiſen alſo die höchſte Prozentzahl, die großen Güter die niedrigſte Prozentzahl unter den unverſchuldeten Be⸗ ſitzungen auf; die bäuerlichen Güter ſtehen in der Mitte, aber doch den Fidei⸗ kommiſſen und Kleinſtellen viel näher, als den Großgütern. Geht man davon aus, daß eine Verſchuldung von unter 30 Proz. des Schätzungswertes eine niedrige und durchaus ungefährliche, dagegen eine 1) Zeitſchrift des Kgl. Preuß. Statiſtiſchen Bureaus, a. a. O. S. 138 u. 139. 2) Dieſe und die in den beiden folgenden Tabellen angegebenen Prozentſätze ſind von mir erſt berechnet worden. van. Verſchuldung des Grundbeſttzes. en von 60 Proz. oder darüber eine hohe iſt, jo ergibt ſich folgendes Re— In den einzelnen Beſitzgruppen waren prozentiſch: Bir niedrig verſchuldet hoch verſchuldet Proz. Proz. I. bei den Fideikommiſſen ey RR II. „ „ Großgütern 180 42 III. „ „ großbäuerl. Gütern 1 75 14,0 „ „ eher „ 345 . V. „ „ Kleinſtellen 25,4 18,, Zahlt man die ſchuldenfreien und die niedrig verſchuldeten zuſammen, ergibt ſich folgendes Bild: 8 mittlere Verſchuldung, gar nicht oder hoch verschuldet 3060 P gar — roz. des e 5 ee roz. roz. roz. bei Gruppe 1 85, 386 10. 7 3 II 29, 42,9 2715 ” ” III 56,5 1470 28,5 re 60% 12 27.5 ” ” hg 56,, 18,, . 25, Abgeſehen von dem ſehr günſtig ſtehenden Fideikommißbeſitz ſind faſt 5 der Güter in den Gruppen III— V gar nicht oder niedrig verſchuldet, von dem Großbeſitz dagegen nur 29,6 Proz. Von letzterem zeigen 42,9 Proz. eine hohe Verſchuldung, während unter den beiden Gruppen der bäuerlichen Güter nur 14,6 Proz. bezw. 12,3 Proz. eine ſolche aufweiſen. An der 1 nehmen alle Gruppen annähernd in gleichen Prozent— ätzen tei Hieraus ergibt ſich, daß die Verſchuldung eine bedenklich hohe zur Zeit nur bei dem Großgrundbeſitz iſt; 70,4 Proz. desſelben find mittel- hoch oder hoch, darunter 42,9 Proz. hoch verſchuldet. Die gemachten Erhebungen erſtrecken ſich allerdings nur auf einen . kleinen Teil der preußiſchen Monarchie; die dazu herange— gogenen Bezirke find aber mit Sorgfalt aus allen Provinzen ausgewählt, And das gewonnene Reſultat gewährt immerhin einen wichtigen Anhalt für 5 ö die Beurteilung der gegenwärtigen Lage. Es repräſentierte die für die Ver— ſchuldungsſtatiſtik herangezogene Fläche h: 1883 1896 in Proz. der Geſamtfläche ER 6. „ „ des Grundſteuerreinertrags da ER Unerfreulich iſt beſonders der Umſtand, daß, wie ein Vergleich der Zahlen von 1883 und 1896 ergibt (. S. 124), die Verſchuldung ſtark im Wachſen begriffen iſt, auch bei dem bäuerlichen Beſitz. Bezüglich der Landwirte mit 3000 Mk. Einkommen und mehr bieten die Reſultate der preußiſchen Einkommenſteuereinſchätzung einen ziemlich * ſicheren Anhalt für die Beurteilung ihrer Verſchuldung, weil die Schuldzinſen 5 von dem Einkommen bei der Steuerveranlagung in Abzug gebracht werden. i Im Jahre 1896/97 fanden ſich?) in den Landgemeinden und Guts— bezirken des preußiſchen Staates 79 133 Steuerpflichtige mit einem Ein— kommen von 3000 Mk. und mehr; ihr Grundvermögen betrug 9,69 Milliarden, die Schuldenlaſt 3,44 Milliarden oder 35,51 Proz. des Grundvermögens. 3 1) Zeitſchrift des Königl. Preuß. Statiſtiſchen Bureaus, a. a. O. S. 103. 1 2) Zeitſchrift des Königl. Preuß. Statiftiihen Bureaus, 37. Jahrg. 1897, Statiſtiſche 1 Korreſpondenz, S. LI. 128 VIII. Verſchuldung des Grundbeſtzes. 1 Unter den Zenſiten befinden ſich allerdings auch die Nichtlandwirte, die in Landgemeinden oder Gutsbezirken ihren Wohnsitz haben; auch ſind in das Grundvermögen re enſtände mit eingerechnet, die nicht zu dem land— wirtſchaftlichen Grund ei gehören. Ebenſo ſtecken in den Schulden au die der eben erwähnten Nichtlandwirte. Ungeachtet dieſer Fehler bieten ab doch die nachfolgenden Zahlen ein annähernd richtiges Bild über die ſtark Unterſchiede in den einzelnen Bezirken bezüglich Höhe der Verſchuldung. Es betrug bei den Steuerpflichtigen der Gutsbezirke und Landgemeinden mit mehr als 3000 Mk. Einkommen: ee Zahl der die Verſchuldung in Proz. im Reg.⸗Bezirt Zenſiten des Grundvermögens 1. Königsberg.. 185 50,9 2. Gumbinnen 1 438 48,56 G RT 55 1 4. Marienwerder. 1215 856 5. Potsdam 9959 43,40 6. Frankfurt 1802 4 ES 2 a a 525 nnn, inne 916 SL. 9. Stralſund 591 48, VVV 50,½3 11. Bromberg 773 8 12. nnn ...029908 * 13. Vie , 8 „e,, 0.3.8391 417 15. Magdeburg. . . 4547 . 16. Merſebuung. 4115 1 8 % u 758 . 18. Schleswig. . 5 625 28,5; 19. Hannover 18312 18571 20. Hildesheim . - 2037 175 21. Minen 10 28, DR: e RE 20,5 23. Osnabrück 853 0 ! G 23.65 1 CVVT 155 | Menne 153 18, 27. Arnsberg 4 504 3 28. Caſſe EA 214 29. Wiesbaden 1420 ir. 30 oblenn 0 7987 25... 31. Düffedorf . . . 4789 ag 32. BU ta ee N , err ae In 3. Aachens int 15. im ganzen Staat 79 133 35 (ausſchl. Hohenzollern) Dieſe, zwar den ganzen Staat, aber nur die höher Beſteuerten um⸗ faſſende Nachweiſung bietet ein ähnliches Bild wie die 1883 und 1896 in ein⸗ zelnen Bezirken für alle ländlichen Grundbeſitzer ſtattgehabten Erhebungen. Die Schuldenlaſt beträgt nach Prozenten des Grundvermögens in den 14 am meiſten öſtlich gelegenen Bezirken, in denen gleichzeitig der Großgrund⸗ beſitz beſonders ſtark vertreten iſt, durchſchnittlich mindeſtens das Doppelte wie in den 20 weſtlicher gelegenen, in denen der bäuerliche Beſitz überwiegt. In jenen bewegt ſie ſich zwiſchen 37,72 Proz. (Breslau) und 57,29 Proz. (Bromberg) des Grundvermögens, in dieſen zwiſchen 12,02 Proz. (Osnabrüch VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. 129 28 35 Proz. (Schleswig). Die höchſte prozentiſche Verſchuldung im bleibt alſo hinter der niedrigſten im Oſten noch erheblich zurück). Eine ſehr gründliche Nachweiſung über die Verſchuldung liegt für das roßherzogtum Baden, aus der Feder von A. Buchenberger vor!). tejelbe iſt feſtgeſtellt auf Grund der bei der Ermittelung des ſteuerpflichtigen | Sin kommens gemachten Erhebungen. Es wurden dabei ſowohl die Real⸗ auch die Perſonalſchulden in Rechnung gezogen; gleichzeitig wurden die Grundbeſitzer in zwei Klaſſen getrennt: in ſolche, die einen rein land⸗ tichaftlichen Betrieb, und in ſolche, die außerdem noch einen gewerblichen tr. ieb hatten. Ferner wurden innerhalb beider Klaſſen 6 Einkommen⸗ bezw. Steuerſtufen unterſchieden, nämlich mit einem Einkommen von unter 1000 Mk. 1001— 1500 Mk., 1501—2000 Mk., 2001-3000 Mk. 3001 bis 5000 Mk., endlich 5000 Mk. und mehr. 2 3 Das Geſamtergebnis iſt folgendes. Es betrug die Verſchuldung (a. a. 26): der rein landwirtſchaftlichen Betriebe 135 Proz. des Vermögenswertes“ der gemiſchten Betriebe 28, aller Betriebe zuſammen 25 ” ” ” ” ” ” 5 Für die einzelnen Einkommensgruppen der rein landwirtſchaftlichen Betriebe ergibt ſich nachſtehendes Reſultat. Auf 100 Mk. Vermögenswert entfallen Schulden in der Steuerſtufe (a. a. O. S. 25): * von unter 1000 M. 21, Proz. 77 1001-1500 7. 18,5 ” 1501 00 „ 15, ” 2001—3000 " I4,, 7. 7 3001—5000 7 13,8 77 „ 5000 M. und mehr 11, „, durchſchnittlich 17, Proz. Nun haben aber viele Landwirte außer ihrem Beſitz an Immobilien und Betriebskapital noch Geldkapitalien oder Rentenbezüge, die in dem oben angegebenen Vermögenswert nicht mit in Rechnung gezogen ſind. Unter Berückſichtigung derſelben vermindert ſich die durchſchnittliche Ver⸗ ſchuldung in der e (a. a. O. S. 30): 9 12 „ * 6 15 . | 5 | 1 N . ! N £ j 4 5 54 5 * 1 * — Fi 5 14 l ar a 1. 4 Er bis 1000 M. von 21, Proz. auf 17, Proz. von 1001 — 1500 M. „ 18, 7 „ 155 7 7 1501— 2000 * 7 151 * * 10% 7. „ 2001—3000 7 7 14,, " * 95 " " 3001—5000 7 . 138 [7 7 9 * „ 5001 M. und mehr N Ii ee „ „„ „ Aus dieſer Zuſammenſtellung ergibt ſich, daß die durchſchnittliche Verſchuldung bei den badiſchen Landwirten keinen Anlaß zu Beſorgnis gibt. Beſonders erfreulich iſt der Umſtand, daß bei allen Beſitzgruppen außer dem in dem Betrieb ſteckenden Kapital noch ein ſonſtiger, nicht unerheblicher Ka— pitalbeſitz ſich vorfindet. Es betrug (a. a. O. S. 29): 1) Über die hypothekariſche Verſchuldun ganzen Preußen und deren Bewegung von 1886— 1901 vgl. Statiſtiſches Jahrbuch für en Preußtſchen Staat, I. Jahrg., 1903, S. 49. Danach find während der Periode von 1886 — 1901 in den ländlichen Be⸗ zirten rund 405 Mill. Mark an Hypotheken mehr eingetragen, als gelöſcht worden. 2) Die Belaſtung der landwirtſchaftlichen Bevölkerung durch die Einkommenſteuer und die 1 der Landwirtſchaft im Großherzogtum Baden, Karlsruhe 1896. 3) In dem Vermögenswert iſt der Wert von Grundſtücken, Gebäuden und des land⸗ wirtschaftlichen Betriebskapitals zuſammengefaßt. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolltit. 2. Aufl. 9 ee eee 130 VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. der durchſchnittliche 4 ; die Zahl der rein : in der Einkommenſteuergruppe Kapitalbeſitz au landw. Betriebe einen j bis 1000 M. 48 705 764 M. von 1001-1500 M. 22 348 905 „ „ 1501-2000 „ 8 266 2 108 „ „ 2001-3000 „ 5 024 4 530 „ „ 3001-5000 „ 1707 17 696 „ „ 5001 M. und mehr 439 128 424 „ 86 489 Durchſchnitt 2 995 M. Unter den 86 489 Betrieben waren 38 390 mit Kapitalbeſitz bezw. mit Zinſen⸗ oder Rentenforderungen. In den einzelnen Bezirken ſtellt ſich die Verſchuldung allerdings ver⸗ ſchieden. Am erheblichſten zeigt ſie ſich in den Gegenden, wo der groß⸗ bäuerliche Beſitz beſonders ſtark vertreten und wo gleichzeitig das Anerben⸗ recht in Gültigkeit iſt. Es liegt in dieſer Tatſache ein Beweis für die früher ausgeſprochene Behauptung, daß das Anerbenrecht nur dann günſtig auf die Verſchuldung wirkt, wenn der Anerbe durch die Auszahlung der Miterben nicht zu hoch mit Schulden belaſtet wird und wenn gleichzeitig ihm die Mög⸗ lichkeit geboten wird, die Erbſchulden durch Rentenzahlungen allmählich zu amortiſieren. Nach geographiſchen Bezirken geordnet, betrug (a. a. O. S. 36): Verſchuldung in Prozenten Zahl der des geſchätzten Vermögenswertes Nr. Bezirk landw. Be⸗ der rein der ge⸗ im Durch⸗ triebe landw. Be⸗ miſchten ſchnitt aller triebe Betr. Betr. 1. Pfinz⸗ und Kraichgau 25 554 135 20, 16, 2. Mittlere Rheinebene 32 626 1 227 174 3. Bauland 18 628 135 225 16, 4. Untere Rheinebene 25 156 14,5 26. 19, 5. Obere Rheinebene 18 013 16 5 21, 6. Kaiſerſtuhlgebiet 3 905 16, al, 18,, 7. Odenwald 8 867 174 30,8 280 8. Mittlerer u. nördlicher Schwarzwald 21 049 19, 362 26, 9. Südlicher Schwarzwald 15 770 2%. 7 38, 10. Donaugegend 10 692 37, 355 7 11. Seegegend 14 214 33; 40% 36, Summe 194 474 Die vier letztgenannten Bezirke (8—11), welche eine beſonders hohe Verſchuldung aufweiſen, ‚find zugleich diejenigen, in denen vielfach die ge⸗ ſchloſſene Erbfolge, die Übernahme des Gutes durch ein Kind, als Sitte herrſcht oder geſetzlich (Nr. 9) eingeführt iſt. Hier zeigt ſich ſchon eine ziem⸗ lich hohe Verſchuldung. Sie übertrifft die durchſchnittliche Verſchuldung, welche in Preußen für die weſtlich gelegenen Teile der Monarchie (Provinz Sachſen bis Rheinprovinz) bezüglich der Zenſiten über 3000 Mk. nachge⸗ wieſen worden iſt (ſiehe S. 128) ). Um die früher mitgeteilten Zahlen über die lediglich auf Grund der Hypothekenbücher ermittelte Verſchuldung richtig zu würdigen, muß 1) Sehr eingehende Nachweiſungen über die ländliche Verſchuldung und die Zwangs⸗ vollſtreckungen in Baden finden ſich auch bei M. Hecht „Die Badiſche Landwirtſchaft am Anfang des XX. Jahrhunderts“, Karlsruhe 1903 (a. a. O. S. 157194). Nicht nur die ſtatiſtiſchen Angaben, ſondern auch das, was der Verfaſſer im allgemeinen über die ländliche Verſchuldung, deren Urſachen, deren Milderung u. ſ. w. ſagt, iſt ſehr beachtens⸗ wert. — Über die Hypothekarverſchuldung in Württemberg vergl. „Die Landwirt⸗ ſchaft in Württemberg“, Stuttgart 1902, S. 350-358. VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. 131 noch folgendes berückſichtigen. Zunächſt ſcheint fie etwas größer, als in Wirklichkeit ſich ſtellt, da notoriſch in den Grundbüchern noch manche ulden ungelöſcht ſtehen, die bereits getilgt ſind. Ferner haben nicht ige unter den Grundbeſitzern, abgeſehen von dem in ihrer Wirtſchaft tätigen Betriebs kapital, noch ſonſtiges bewegliches Kapital im Eigentum. Endlich darf nicht überſehen werden, daß in den letzten 20 bis 25 Jahren der Zinsfuß ſtark gefallen iſt. Damals betrug der Zinsfuß für ganz ſicher angelegte Hypotheken mindeſtens 4½ bis 5 Proz., jetzt 3½ bis 4 Proz. Für eine Schuld von 100 000 Mk. mußte der Grundbeſitzer früher 4500 bis 5000 Mk. jetzt braucht er nur noch 3500 bis 4000 Mk. zu zahlen. Oder mit anderen Worten: ein Gutsbeſitzer, der imſtande iſt, jährlich 4000 Mk., aber nnicht mehr an Hypothekenzinſen zu entrichten, kann jetzt ſein Gut bei 3½⸗proz. Veerrzinſung der Schuld mit rund 114000 Mk. belaften, während er dies früher bei 4½⸗proz. Verzinſung nur bis rund 89 000 Mk. durfte. 1 Deſſenungeachtet bleibt aber die Tatſache beſtehen, daß ſehr viele Guts⸗ beſitzer, namentlich unter den großen, ungewöhnlich hoch verſchuldet find; daß auch die Verſchuldung der Bauern in manchen Gegenden ſtark zuge- nommen hat und fernerhin zuzunehmen droht. Ja man kann noch weiter gehen und darf behaupten, daß neben dem Arbeitermangel die hohe Verſchuldung dasjenige iſt, was gegenwärtig am ſchwerſten auf der deutſchen Landwirtſchaft laſtet. Die Richtigkeit und Bedeutung dieſes Umſtandes würde ſchon früher und allgemeiner erkannt worden ſein, als es geſchehen iſt und noch geſchieht, wenn die Wirkungen einer zu hohen Verſchuldung immer ſoſort und klar zutage träten. Solches iſt aber keineswegs der Fall. Seiner Verpflichtung zur Zinszahlung muß der Landwirt vor allem nachkommen, weil anderenfalls ſeine ganze Exiſtenz auf dem Spiele ſteht. Bieten ihm die regelmäßigen Einnahmen aus dem Betriebe hierzu einmal oder wiederholt nicht die genügenden Mittel, ſo ſtellt er zunächſt nicht etwa die Zinszahlung ein, ſondern ſucht ſich das Geld aus dem Betriebe ſelbſt zu verſchaffen. Er kauft weniger Futter- oder Dungmittel, weniger Zug⸗ und Nutzvieh, verwendet weniger menſchliche Arbeitskräfte ꝛc., als bisher, und als ein rationeller Betrieb eigentlich erfordert. Andererſeits verkauft er mehr Nutz⸗ oder Zugtiere, Getreide oder ſonſtige Produkte. Er ſchwächt dadurch ſein Betriebskapital und verengt die Quellen, aus denen ihm die Einnahmen zufließen. Dadurch kommt ſeine Wirtſchaft allmählich immer mehr herunter und bricht ſchließlich vielleicht zuſammen. Ein ſolcher Prozeß des Verfalles kann ſich eine Reihe von Jahren hinziehen; es bleibt den ferner Stehenden, oft ſogar den Betroffenen ſelbſt verborgen, daß die eigentliche und erſte Ur— ſache in der zu hohen Verſchuldung liegt. Es kommt allerdings auch vor, daß infolge guter Ernten oder hoher Preiſe oder zufolge rein perſönlicher günſtiger Umſtände ein hoch verſchuldeter Landwirt, der zu den eben ge— nannten Aushilfemitteln hat greifen müſſen, ſich wieder herausreißt und wieder zu einer rationellen Wirtſchaftsweiſe zurückkehren kann; aber dies iſt nicht die Regel. An einer früheren Stelle (S. 25) wurde auf die Notwendigkeit eines genügenden Betriebskapitals ſowie darauf hingewieſen, daß heutzutage viele 6 landwirtſchaftliche Betriebe daran kranken, daß es ihnen an ſolchem fehlt. | Die Urſache dieſes Mangels iſt in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die vorhandene hohe Verſchuldung. Es zeigt ſich dies auch darin, daß auf den Pachtgütern durchſchnittlich ein größeres Betriebskapital zur Verwendung kommt, als auf den von den Grundbeſitzern ſelbſt bewirtſchafteten Gütern. 9 * — 132 VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. Wenn man der Verſchuldung entgegenarbeiten will, muß man vor allem 9 über ihre Urſachen ihm klaren ſein. Dieſelben ſind nicht, wie vielfach bes hauptet wird, vorzugsweiſe in der zur Zeit wenig günſtigen Lage der Land⸗ wirtſchaft zu ſuchen, obwohl auch dieſe das Ihrige dazu beiträgt. Schon S. 43 ff. wurde dargelegt, daß die Landwirte, veranlaßt durch die andauernde Steigerung der Reinerträge, viele Jahrzehnte lang ſich daran gewöhnt hatten, ihre Güter höher zu bezahlen und überhaupt höher zu ſchätzen, als dem augenblicklichen Ertragswert entſprach. Es ſchadete dies nicht viel, ſo lange die Reinerträge erheblich und ſtetig zunahmen. Aber auch nur ein Sti ſtand derſelben würde für manche Landwirte verhängnisvoll geworden Kohn, Schon bei Beginn der jiebenziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als noch niemand an ein Sinken der Getreidepreiſe dachte, ſahen weiterblickende ſach⸗ kundige Männer mit Beſorgnis in die Zukunft. Es war damals nichts Un⸗ gewöhnliches, daß bei Käufen von Gütern nur 10 oder 20 Proz. des Kauf⸗ preiſes angezahlt wurden und daß der Kapitalwert von Gütern bei Ver⸗ käufen oder Erbfällen um 20—25 Proz. höher veranſchlagt wurde, als dem Ertragswert entſprach. Dieſer Zuſtand war auf die Dauer nicht haltbar; er mußte früher oder ſpäter den wirtſchaftlichen Untergang vieler beſonders hoch verſchuldeter Beſitzer herbeiführen. Durch das ſeit etwa Mitte der achtziger Jahre ſtattgehabte Sinken der Reinerträge iſt die ohnehin unver⸗ meidlich geweſene ae nur beſchleunigt und verjchärft worden. Die Haupturſache der Überſchuldung liegt in der bei Käufen und Erbteilungen meiſtenteils ſtattgehabten und noch in der Gegenwart häufig vorkommenden Überſchätzung des Ertrags— wertes der Güter. In vielen Fällen liegt allerdings auch die Urſache in der mangelhaften wirtſchaftlichen oder ſittlichen Qualifikation der Beſitzer. Auf Anregung der Landesökonomiekollegiums hat die preußiſche Re⸗ gierung über die im ganzen Bereich der Monarchie während der drei Jahre von 1886/87 bis 1888/89 ſtattgehabten Zwangsverſteigerungen länd⸗ licher Grundſtücke ſowie über deren Urſachen eine Erhebung veranſtaltet ). Die Urſachen find in neun Hauptgruppen zuſammengefaßt: I. Schlechte Lage der Landwirtſchaft; II. Wucher, Übervorteilung im Handel; III. Un⸗ zweckmäßige Erbregulierung; IV. Wirtſchaftsunfälle und Naturereigniſſe; V. Familienverhältniſſe und Krankheit; VI. Geſchäftliche Verhältniſſe; VII. Freiwillige ungünſtige Übernahme; VIII. Eigenes Verſchulden (ſchlechte Wirtſchaftsweiſe, Verſchwendung, Trunkſucht ꝛc.); IX. Sonſtige Urſachen. Dabei iſt noch unterſchieden worden zwiſchen alleiniger Urſache und Mit⸗ urſache. Die Unterſuchung erſtreckte ſich auf zuſammen 7780 Zwangs⸗ verſteigerungen, die ſich auf die drei Jahre ziemlich gleichmäßig verteilten. Es hat ſich nun herausgeſtellt, daß die überwiegende Mehrzahl der Zwangs⸗ verſteigerungen durch freiwillige ungünstige Übernahme (VII) oder durch eigenes Verſchulden (VIII) herbeigeführt worden iſt. Auf dieſe beiden Ur⸗ ſachen fielen in Prozenten (a. a. O. S. 153): I. Freiwillige ungünſtige Übernahme der urſächlichen im Jahre der alleinigen Urſachen der Miturſachen Verhältniſſe überhaupt 1886/87 26, Proz. 30,0 Proz. 32,0 Proz. 1887/88 4 „ 2177 7. 2177 " 1888/89 19,07 77 23531 zZ 236 „ 1) Deren Reſultat iſt veröffentlicht in der Zeitſchrift des Kgl. Preuß. Statiſt. Bureaus, 29. Jahrg. 1889, Heft 2, S. 109 ff. VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. 133 II. Eigenes Verſchulden 2 + der urſächlichen Jahre der alleinigen Urſachen der Miturſachen Verhältniſſe i überhaupt 37196 Proz. 41,6% Proz. 42,50 Proz. 42,82 „ 40,66 „ a 39% „ 41751 „ 40, „ 401 „ Auf beide Urſachen zuſammen ſind alſo rund / — aller Zwangs- gerungen zurückzuführen geweſen. Außerdem kommen etwa 10 — 12 Proz. samilienverhältnifje und Krankheit, 6—8 Fro auf geſchäftliche Ver⸗ e, 5—6 Proz. auf die ſchlechte Lage der Landwirtſchaft und ungefähr viele auf unzweckmäßige Erbregulierung. Bei den in der Folgezeit aufgenommenen Erhebungen über die Zwangs— eigerungen hat man von der Feſtſtellung der Urſachen abgeſehen ). Das Reſultat der preußiſchen Ermittelungen wird beſtätigt durch eine us der Kgl. Sächſiſchen Regierung über die Zwangsverſteigerungen nach er etwas anderen Richtung hin vorgenommene Erhebung. Danach unter⸗ lagen während der acht Jahre von 1885 bis 1892 im Königreich Sachſen der Zwangsverſteigerung 7). Be 554 kleinbäuerliche Beſitzungen von 1 bis 5 ha Fläche 424 mittelbäuerliche ii „ DIE DB. 4 207 großbäuerliche 1 „ 20 und mehr ha Fläche 21 Rittergüter 1206 Beſitzungen zuſammen | Unter den von der Zwangsverſteigerung heimgeſuchten Schuldnern waren im Beſitz ihrer Güter geweſen: weniger als 5 Jahre 5—10 Jahre über 10 Jahre Beſitzgruppen abſol. Zahl in Proz. abſol. Zahl in Proz. abſol. Zahl in Proz. 1. Kleinbäuerl. Beſitzer 216 397 133 24 199 36% 2. Mittelbäuerl. „ 197 40, 92 21 134 35 3. Großbäuerl. „ 118 5710 36 17, 53 254 4. Rittergutsbeſitzer 10 47 5 u. 6 28, Summe von 1—4 541 — 266 — 392 — Durchſchnitt „ 1—4 — 4 — 225 — 32, 4 Aus den mitgeteilten Zahlen erhellt, daß von den zur Zwangsver— Steigerung gelangten ländlichen Anweſen 45,1 Proz. weniger als fünf Jahre, 67,3 Proz. unter 10 Jahren in den Händen ihrer Beſitzer geweſen ſind. Man kann hieraus mit ziemlicher Sicherheit den Schluß ziehen, daß die erhebliche Mehrzahl der von der Zwangsverſteigerung betroffenen Landwirte entweder ſchon beim Antritt des Beſitzes überſchuldet waren, daß ſie denſelben alſo mit zu geringen Mitteln angetreten hatten oder daß ihnen die für eine erfolgreiche Bewirtſchaftung nötige geiſtige oder ſittliche Befähigung abging ). 1) Zeitſchrift des Kgl. Preuß. Statiſt. Bureaus, 33. Jahrg. 1893, S. 96 ff. 2) Siehe Separatabdruck aus Heft 3 und 4 des 20. Jahrgangs der Zeitſchrift des Kgl. Sächſ. Statiſt. Bureaus (1893), S. 90. Die in der nächſtfolgenden Tabelle angegebenen Prozentſätze ſind von mir berechnet worden. 3) Über die Zwangsvollſtreckungen im Großherzogtum Baden während der Zeit von 1882— 1901 ſiehe die S. 130 zitierte Schrift von H. Hecht, (S. 179 ff). Es geht daraus hervor, daß in der Periode von 1897 — 1901 die Zahl der liegenſchaftlichen Zwangs⸗ vollſtreckungen bei Landwirten nur ungefähr ein Drittel ſo hoch war, als in der Periode von 1882—86 und das ſie in dem ganzen 20 jährigen Zeitraum ſtetig und regelmäßig heruntergegangen iſt. Die abſolute Zahl jener Zwangsvollſtreckungen ſtellte ſich von 1882—86 auf 2413, von 1897— 1901 nur noch auf 822 (a. a. O. S. 181). — Über die in Württemberg von 1895—99 ſtattgehabten liegenſchaftlichen Zwangsvollſtreckungen ſiehe „Die Sand wirtſchaft in Württemberg“, S. 357 und 358. 134 VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. Zur Bildung eines Urteils darüber, wie der wachſenden Ver⸗ ſchuldung vorgebeugt oder die bereits vorhandene gemildert werden kann, iſt fernerhin eine Klarſtellung des Begriffes „Uberſchul⸗ dung“ nötig. Man muß mit anderen Worten darüber im klaren ſein, wie hoch zuläſſigerweiſe unter normalen Verhältniſſen ein Gut mit Schulden belaſtet werden darf. Unter durchſchnittlichen Verhältniſſen iſt es ganz ungefährlich, ein Gut bis zur Hälfte ſeines Ertragswertes zu verſchulden. Bei un- kündbaren und nicht hochverzinslichen (3½ —4 Proz.) Hypotheken kann auch eine Verſchuldung bis drei Fünftel, im höchſten Falle zwei Drittel, als zuläſſig erachtet werden. Dieſe Zahlen gelten aber nur für den Er⸗ tragswert, d. h. für den auf Grund des durchſchnittlichen Reinertrages ermittelten Kapitalwert des Gutes. Wie hoch das Gut beim letzten Kauf bezahlt, oder wie hoch es bei der letzten Erbteilung angerechnet worden iſt, oder wie hoch der Beſitzer es auf Grund von etwa für andere Güter ge- zahlten Erwerbspreiſen abſchätzt, muß dabei ganz außer Betracht bleiben. It der Beſitzer ein beſonders tüchtiger Landwirt, dabei beſcheiden in ſeinen Lebensanſprüchen, ſo ergibt ſich die Möglichkeit, daß er auch bei einer höheren als der eben angegebenen Verſchuldung noch beſtehen kann. Aber jeder, der erheblich ſtärker ſein Gut belaſtet, muß wiſſen, daß er damit ein gefährliches Unternehmen beginnt, welches, abgeſehen von dem Eintritt be⸗ ſonders günſtiger, nicht vorauszuſehender Ereigniſſe (gute Ernten, hohe Preiſe), nur dann für ihn glücklich verlaufen kann, wenn er im Handeln wie im Ent⸗ ſagen mehr wie das gewöhnliche leiſtet. | Unkündbare und zugleich niedrig verzinsliche Darlehne werden in der Regel nur von öffentlichen Kreditinſtituten (Landſchaften, Landesbanken, Landeskreditkaſſen 2c.) gegeben; dieſe aber beleihen ſelten erheblich höher wie zur Hälfte des Ertragswertes. Wer ſein Gut ſtärker belaſten will, muß daher an Privatkreditinſtitute oder einzelne Privatperſonen ſich wenden und hat dann höhere Zinſen zu zahlen, muß auch häufig oder meiſtenteils auf Unkündbarkeit verzichten. Durch dieſe Umſtände wird die in einer hohen Verſchuldung liegende Gefahr noch beſonders verſchärft ). Zur Vermeidung einer Überſchuldung hat man wohl vorgeſchlagen, der Staat ſolle für die Verſchuldungshöhe eine Maximalgrenze, die nicht überſchritten werden darf, feſtſetzen. Dies wäre ein zwar ſehr ſtarker Ein⸗ griff in das freie Verfügungsrecht der Grundbeſitzer, welcher aber gerecht⸗ fertigt werden könnte, wenn er mit Erfolg und ohne Hervorrufung anderer, ebenſo ſchwerer oder noch ſchwereren Mißſtände durchführbar wäre. Beides trifft indeſſen nicht zu. Schon bei Beſtimmung der Grenze, bis zu welcher eine Verſchuldung erlaubt ſein ſoll, ſtößt man auf eine Aufgabe, die in befriedigender Weiſe nicht zu löſen iſt. Soll man 50 Proz., 60 Proz., 65 Proz., 70 Proz., 75 Proz. oder gar noch mehr annehmen? Die Wahl der drei erſten Sätze würde in zahlreichen Erbfällen die Notwendigkeit herbeiführen, ein Gut, ohne daß es aus anderen Gründen geboten wäre, zu verkaufen und aus der Familie zu laſſen, weil kein Erbe imſtande iſt, es zu übernehmen. In mindeſtens ebenſo vielen Fällen würden ſtrebſame, tüchtige Perſonen, deren Kapitalbeſitz aber nicht groß iſt, ein Gut, zu deſſen erfolgreicher Bewirt⸗ ſchaftung ſie im übrigen durchaus geeignet ſind, käuflich zu erwerben, ver⸗ 1) In meinem Handbuch der landwirtſchaftlichen Betriebslehre (2. Aufl. 1896) habe ich an einem Beiſpiel nachzuweiſen verſucht, weshalb die Verſchuldung eine gewiſſe Grenze nicht überſteigen darf, a. a. O. S. 598 ff. VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. 135 hindert werden. Geht man bis 70 Proz., 75 Proz. oder noch höher herauf, o erzielt man nicht die gewünſchte Wirkung, weil eine ſolche Verſchuldung in der Mehrzahl der Fälle ſchon eine zu große iſt. Dazu ee dann noch die, man darf wohl ſagen, unüberwindlichen Hinderniſſe, die ſich der praktiſchen Handhabung einer Verſchuldungsbeſchrän⸗ kung entgegenſtellen. In der ganzen Landwirtſchaft gibt es kein ſchwierigeres Geſchäft als die Wertsermittelung von Grund und Boden. Wie notwendig fie auch ſein mag, ſie bleibt immer eine Schätzung, deren Reſultate mehr oder weniger unſicher ſind. Auch erfahrene, ſach⸗ und ortskundige Männer ichen in der Taxierung ein und desſelben Gutes um 10 Proz., 15 Proz. veilen noch mehr voneinander ab. Bei der Feſtſetzung einer Minimal⸗ grenze für die Verſchuldung würden derartige Differenzen den Zweck der tſetzung geradezu vereiteln. Es könnte auch nicht ausbleiben, daß die Te in einzelnen Gegenden oder Fällen, je nach der Anſicht des Taxators oder je nach den Wünſchen der Beteiligten, ganz verſchieden, bald zu hoch, bald zu niedrig, ausfielen. Dazu kommt, daß der Ertragswert der Güter ſich ändert je nach Art der Bewirtſchaftung, je nach den vorgenommenen Meliorationen, den Verkehrs- und Abſatzverhältniſſen, den ſtattgehabten Zu⸗ kläufen oder Abverkäufen. Es müßten immer wieder neue Taxen gemacht werden. Wer ſoll dieſe Arbeit leiſten? Wir haben im Deutſchen Reiche 5-6 Mill. landwirtſchaftliche Betriebe mit einer landwirtſchaftlich benutzten Geſamtfläche von 32 — 33 Mill. ha. | Die Feſtſetzung und Durchführung einer Verſchuldungsgrenze würde ſich überhaupt nur ermöglichen laſſen, wenn der Staat oder unter deſſen Aufſicht die Provinzen oder Kreiſe oder noch kleinere Gemeindekörper die Sache in die Hand nehmen. Es würde dies eine Verſtaatlichung oder Kommunaliſierung des ganzen Hypothekarkredits bedeuten, wie er in der Tat von einigen vorgeſchlagen worden iſt. Gegen eine ſolche Maß— regel ſind aber die gleichen Bedenken zu erheben, die ſoeben gegen die Feſt— ſetzung einer Verſchuldungsgrenze überhaupt geltend gemacht wurden. Rodbertus hat ſeiner Zeit angeregt, man ſolle ſtatt der Kapital— verſchuldung eine Rentenverſchuldung einführen. Er ging von dem richtigen Gedanken aus, daß der Landwirt höchſtens nach einer langen Reihe von Jahren imſtande ſei, ein aufgenommenes Kapital aus den erzielten Er— trägen vollſtändig zurückzuzahlen. Man könnte von ihm deshalb billiger Weiſe nicht mehr wie eine jährlich zu zahlende Rente beanſpruchen, die, ſo lange nicht gekündigt werden darf, als ſie pünktlich geleiſtet wird. Die Kapital⸗ verſchuldung habe beſonders in Zeiten des ſteigenden Zinsfußes große Übel— ſtände. Von ſeiten der Gläubiger würden dann höhere Zinſen beanſprucht 5 oder gar die geliehenen Kapitalien gekündigt; die Schuldner ſeien dann plötz— 5 lich gezwungen, höhere Zinſen zu zahlen oder ſich nach neuen Darlehen um— 0 guleden und zwar in einer Zeit, wo das Geld knapp ſei. Dieſe Einwen- 5 ungen gegen die Kapitalverſchuldung ſind nicht unberechtigt und die Theorie X von Rodbertus hat deshalb auch gerade unter den Landwirten viele An: 5 hänger gefunden. Behufs ihrer Beurteilung iſt nun zunächſt darauf hinzu— weiſen, daß Rodbertus in einer Zeit ſchrieb, in welcher der Zinsfuß in ſtark ſteigender Bewegung ſich befand 1). Viele Landwirte gerieten damals durch Kapitalkündigung oder Zinserhöhung in große Verlegenheit. Unmög— lich iſt es allerdings nicht, daß eine ſolche Erſcheinung einmal wiederkehrt. Man muß deshalb den Vorſchlag von Rod bertus prinzipiell für richtig I) Von Rodbertus Buch „Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbeſitzes“ erſchien der 1. Bd. 1868, der 2. Bd. 1869. 136 VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. erklären; trotzdem iſt eine allgemeine Durchführung nicht zu erwarten, auch nicht zu empfehlen. Denn das, was Rodbertus will, iſt tatſächlich und in einfacherer Weiſe erreicht durch das von den landſchaftlichen Kredite inſtituten beobachtete Verfahren. Dieſe geben unkündbare Darlehne zu en niedrigem Zinsfuß. So lange die Zinſen gezahlt werden, 1 d ſteht der Schuldner ebenſo, als ob er eine jährliche Rente abzuführen hätte. Weder eine Kündigung des Kapitals noch eine Erhöhung des Zinsfußes darf ſtattfinden. Dagegen tritt umgekehrt eine Erniedrigung der Zinſen auch für bereits früher eingegangene Schulden ein, falls der Zinsfuß dauernd ſinkt. Vor etwa 30 Jahren gaben die preußiſchen Landſchaften 5- und 4½⸗proz. Pfandbriefe aus; dieſelben ſind in der Folgezeit zunächſt in 4, ſpäter in 3½⸗proz. konvertiert worden. Landſchaftsſchuldner genießen alle und noch mehr Vorteile, als mit einer Rentenverſchuldung verbunden ſein können. Wo landſchaftliche Kreditinſtitute beſtehen und jedem Landwirt zu⸗ gänglich ſind, liegt durchaus kein Grund vor, von der üblichen Kapitalver⸗ ſchuldung abzugehen !). Die heutigen Übelſtände liegen nicht in ders Kapitalverſchuldung als ſolcher, ſondern teils in der zu ſtarken Verſchuldung, teils darin, daß nicht überall geeignete öffentliche Kreditinſtitute beſtehen oder daß die vorhandenen nicht vollkommen die Aufgaben erfüllen, zu deren Löſung ſie im Intereſſe der Landwirtſchaft berufen und befähigt ſind. Hiermit iſt ſchon angedeutet, an welchen Punkten eine Reform des Verſchuldungsweſens einzuſetzen hat. Jedes Land oder jede Provinz ſollte ein auf genoſſenſchaftlicher Grund⸗ lage beruhendes öffentliches Kreditinſtitut beſitzen, welches ſeine Wirkſamkeit nicht nur auf die großen, ſondern auch auf die bäuerlichen Güter, womöglich auch auf die Kleinſtellen, auszudehnen hat. Erſcheint das Hineinnehmen der Kleinſtellen nicht angängig, ſo iſt dafür zu ſorgen, daß die ebenfalls auf genoſſenſchaftlicher Grundlage beruhenden Darlehnskaſſen den Bedarf der Kleinſtellenbeſitzer an Kredit in geeigneter und genügender Weiſe befriedigen, wozu ſie durchaus imſtande find, es auch hier und dort ſchon tun ). Auf⸗ gabe der Landſchaften wird es ſein, das Beleihungsverfahren ſo einfach, wohlfeil und ſchnell zu geſtalten, auch mit der Beleihungsgrenze ſo hoch hinaufzugehen, als es mit der eigenen Sicherheit irgend vereinbar iſt. Letz⸗ terer Geſichtspunkt darf allerdings nie außer Augen gelaſſen werden. Die Rückſicht auf ihn wird es ſtets mit ſich bringen, daß die Landſchaften nicht höher oder doch nicht erheblich höher ihre Beleihung ausdehnen wie bis zur Hälfte, höchſtens / des wirklichen Ertragswertes. Zur Erwägung würde bleiben, ob ſie nicht für denjenigen Teil des Taxwertes, der etwa zwiſchen 50 und 60 Proz. des Ertragswertes liegt, zweitſtellige, höher ver⸗ zinsliche und einer ſchnelleren Amortiſation unterliegende Pfandbriefe aus⸗ geben ſollen 3). Wenn überall in vorbeſchriebener Weiſe wirkſame landſchaftliche Kredit⸗ inſtitute vorhanden wären, dann würde dem berechtigten Bedürfniſſe der 1) Über die landſchaftlichen Kreditinſtitute wird in Abſchnitt XII noch beſonders gehandelt werden. 2) Kleinſtellenbeſitzer bedürfen hauptſächlich Perſonalkredit. Zur Deckung ihres Bedarfes an Hypothekenkredit genügt es meiſt, wenn ſie die nötigen Darlehne auf eine kürzere Reihe von Jahren (3, 5 bis höchſtens 8 oder 10 Jahren) erhalten. Solche werden ihnen auch von manchen Darlehnskaſſen bei genügender Sicherſtellung gewährt. Siehe hierüber auch: H. Hecht „Die Badiſche Landwirtſchaft am Anfang des XX. Jahrhunderts“, S. 185—187. A. H. Hollmann, Die Landmirtſchaft im Kreiſe Bonn, 1903, S. 126 ff. 3) Hierbei bemerke ich, daß die von den Landſchaften gemachten Beleihungstaxen meiſt unter dem wirklichen Ertragswert bleiben; dafür pflegen fie aber bis zu ¼ des ermittelten Taxwertes zu beleihen. VIII. Verſchuldung des Grnndbeſitzes. 137 irte nach Hypothekarkredit Genüge geleiſtet ſein. Wie viel gerade eutſchland nach dieſer Richtung hin auch geſchehen iſt, jo find wir doch 2 bezeichneten Ziel noch weit entfernt. Zum Zweck ſeiner Erreichung jüſſe der Staat und die berufenen Vertreter der Landwirt— 1 Hand in Hand gehen. Durch den Staat ſind die erſten Landſchaften 90 gründet worden; ſie haben ſtets unter ſeiner Aufſicht geſtanden und ſind n ihm in jeder Hinſicht gefördert worden. Dies muß auch in Zukunft o Seiten. Der Staat muß es als ſeine Aufgabe betrachten, dort, wo noch landſchaftlichen Kreditinſtitute beſtehen, ſolche ins Leben zu rufen und be 5 den vorhandenen dahin zu wirken, daß ſie in immer vollkommenerer Weiſe ihre Organiſation und Tätigkeit den Bedürfniſſen der Landwirte an- paſſen. Zur Löſung ſolcher Aufgabe hat er viele Mittel an der Hand. s Unerfüllbar iſt freilich das Verlangen nach Einrichtungen, die einen ligen und unkündbaren Kredit über die Grenze hinaus möglich machen | len, welche unter durchſchnittlichen Verhältniſſen als zuläſſig erachtet werden muß (s. S. 134). Wer dieſe Grenze überſchreiten zu dürfen oder zu ſollen glaubt, der hat ſich als ſelbſtverſtändliche Folge darauf gefaßt zu machen, daß er nur kündbare und höher verzinsliche Kapitalien geliehen erhält. = Die wirkſamſten Mittel, einer Überſchuldung vorzubeugen, be— finden ſich in den Händen der einzelnen Landwirte ſelbſt; darin, daß ſie bisher in vielen Fällen nicht genügend zur Anwendung gekommen ſind, liegt die weſentlichſte Urſache der ſtellenweiſe vorhandenen Überſchuldung. * Vor allem muß der Gutsbeſitzer ſich darüber klar ſein, daß, wenn er een gewiſſes Maß der Verſchuldung überſchreitet, er einen mit Gefahr ver- bundenen Weg einſchlägt. Iſt er ein beſonders tüchtiger Landwirt, ſchränkt er außerdem die Ausgaben für feine Perſon und Familie ſehr ein, dann mag er eine für durchſchnittliche Verhältniſſe unzuläſſige Schuldenlaſt auf ſich nehmen dürfen. Anderenfalls droht ihm der wirtſchaftliche Untergang, wenn ihm nicht der Eintritt unerwarteter günſtiger Verhältniſſe zu Hilfe kommt. Die abſolute Höhe der zuläſſigen Verſchuldung kann nur nach dem Ertragswert des Gutes feſtgeſtellt werden, nicht nach einem Wert, den man auf Grund eines Kaufgeſchäftes oder einer Erbteilung oder auf Grund irgend eines ſonſtigen Anhaltes ſich herausgerechnet hat. Schon wiederholt habe ich darauf hingewieſen, daß man jahrzehntelang gewohnt geweſen iſt, den Wert des Grund und Bodens zu überſchätzen, daß dies auch nicht viel geſchadet hat, ſolange die Reinerträge fortdauernd ſtiegen. Die nachteiligen Folgen haben ſich erſt gezeigt, nachdem die günſtigen Verhältniſſe weniger . Bünttigen gewichen find. Die alte Gewohnheit der Überſchätzung iſt aber 4 iu unächſt beibehalten worden und übt noch in der Gegenwart eine ſtarke Wirkung aus. Sie aufrecht zu erhalten, haben alle Landwirte ein Intereſſe, 1 die ihr Gut verkaufen oder hoch verſchulden möchten; ebenſo Erblaſſer mit Rückſicht auf die nicht zum Erben berufenen Kinder und namentlich die letz— teren ſelbſt. Die Zahl der aufgeführten Perſonen iſt eine ungemein große und dementſprechend ihr Einfluß auf die übliche zu hohe Wertſchätzung des Bodens. Dieſelbe wird aber auch noch durch andere Umſtände bedingt. 15 Der eine liegt darin, daß die Landwirte mit den für die Taxation von Grundſtücken und Landgütern maßgebenden Grundſätzen wenig vertraut ſind; viel weniger, als mit den für eine erfolgreiche Wirtſchaftsführung entſcheidenden Lehren der Naturwiſſenſchaft ). Sowohl in der periodiſchen landwirtſchaft⸗ lichen Litteratur wie in den landwirtſchaftlichen Vereinen werden jene äußerſt ſelten behandelt, eine Beſprechung in vielen Fällen ſogar gefliſſentlich ver— 1) Siehe hierüber das S. 44 Geſagte. 138 VIII. Verſchuldung des Grundbeſitzes. mieden. Wenn man in landwirtſchaftlichen Vereinen auch nur ganz einen beſcheidenen Teil der Zeit, die man jetzt den techniſchen Fragen des Ackerbaues und Viehzuchtbetriebes widmet, dazu verwendete, um über die Höhe der zu⸗ läſſigen Verſchuldung und über die örtlich vorhandenen Ertragswerte des Bodens nach ſeinen einzelnen Klaſſen und Kulturarten Klarheit zu gewinnen, dann würde bald ein zweckentſprechenderes Verfahren ſowohl bei der Ab⸗ ſchätzung wie bei der Verſchuldung der Güter Eingang finden. Ein zweiter Umſtand, der es bewirkt, daß die Preiſe der Güter häufig über deren Ertragswert hinausgehen, iſt dahin zu finden, daß es in der Gegenwart viele, mit großem Kapitalbeſitz ausgerüſtete Nichtlandwirte gibt, die ſich Grundbeſitz erwerben wollen. Ihnen kommt es hauptſächlich darauf an, einen Teil ihres Vermögens ſicher anzulegen; ſie verzichten zunächſt um ſo eher auf eine hohe Verzinſung, weil ſie wohl wiſſen, daß bei normaler Entwicklung der Ertrag und damit der Wert des Bodens mit der Zeit doch zunehmen muß. Sie bezahlen daher die erworbenen Beſitzungen ungewöhn⸗ lich hoch und geben hiermit Veranlaſſung zu einer durch die ſonſtigen Ver⸗ hältniſſe nicht gerechtfertigten Steigerung der Bodenpreiſe. Dieſe Erſcheinung findet man namentlich in den Teilen des weſtlichen und mittleren Deutſch⸗ lands, wo infolge der hoch entwickelten Induſtrie und eines lebhaften Han⸗ delsverkehrs viele reiche Geſchäftsleute vorhanden ſind. Hierin liegt eine für die Zukunft nicht zu unterſchätzende Gefahr; in der Gegenwart iſt ſie aller⸗ dings bloß für einzelne beſchränkte Bezirke vorhanden. In dieſen werden auch die Landwirte von Beruf, die ſich ankaufen wollen, gezwungen, unver⸗ hältnismäßige hohe Erwerbspreiſe anzulegen; deren Folge iſt dann häufig eine Überſchuldung. ade es aber ſchon jetzt als unzweifelhaft anſehen, daß in den meiſten Fällen die Steuereinſchätzung nicht ganz unerheblich hinter dem zurückbleibt, was man im privaten Verkehr bisher als Wert des Bodens anzuſehen oder aus⸗ zugeben gewohnt war. In jener iſt daher ein wichtiges Korrektiv für die Abſchätzung und Geſtaltung der Güterpreiſe gegeben; deſſen Benutzung liegt im Intereſſe der Landwirtſchaft ſelbſt. Als Mittel, um einer Überſchuldung vorzubeugen oder eine bereits vorhandene allmählich zu beſeitigen, können noch genannt werden; die Amor⸗ tiſation und die Lebensverſicherung. Erſtere beſteht darin, daß durch einen kleinen Zuſchlag zu den eigentlichen Zinſen, für welchen dem Schuldner nicht nur Zinſen, ſondern auch Zinſeszinſen zu gute geſchrieben werden, die Kapitalſchuld im Laufe einer beſtimmten Reihe von Jahren getilgt wird. Die Dauer der Tilgungsperiode richtet ſich nach der Höhe der Amortiſa⸗ tionsquote und nach dem für das entliehene Kapital ausbedungenen Zins⸗ fuß. Bei einer 4⸗proz. Verzinſung der aufgenommenen Schuld, wird, bei- ſpielsweiſe, letztere durch eine jährliche Amortiſationsquote von Proz. in 1) Vgl. hierzu meine „Landwirtſchaftliche Taxationslehre“, 3. Aufl. 1903 bei P. Parey; a. a. O. beſonders S. 602 u. 603. VIII. Verſchuldung des Grundbejiges. 139 Jahren ganz getilgt. Das Amortiſationsverfahren iſt namentlich allen ndwirten zu empfehlen, die bei landſchaftlichen Kreditinſtituten verſchuldet d. Denn bei dieſen iſt der Zinsfuß relativ niedrig; er beträgt zur Zeit va 3 ½ Proz. Unter Zuſchlag von ?/; Proz. Amortiſation würde alſo jährliche Zahlung nicht mehr wie 4 ¼ Proz. des Schuldkapitals aus⸗ ichen; dieſen Betrag müſſen aber bei Privathypotheken viele Landwirte, oft in der Gegenwart noch, lediglich für die einfache Verzinſung hergeben. e landſchaftlichen, auch die meiſten privatgeſellſchaftlichen Kreditinſtitute n ihren Schuldnern die Möglichkeit zur Amortiſation; erſtere pflegen aber billigeren, freilich auch weniger ausgedehnten Kredit zu geben. Das Normale würde es ſein und das zu erſtrebende Ziel muß es daher bleiben, daß jeder Landwirt nur bei landſchaftlichen oder andern öffentlichen Kreditinſtituten Hypotheken aufnimmt und dieſe dann allmählich amortiſiert. Mit Erlangung dieſes Zieles iſt die Verſchuldung als Notſtand beſeitigt; auf dasſelbe hinzuwirken, müſſen die Landwirte, die llandſchaftlichen Kreditinſtitute und die Staatsbehörden zu gemeinſchaftlichem Handeln ſich die Hände reichen. 1 Die Lebensverſicherung hat vor allem die Bedeutung, daß ſie es den Eltern erleichtert, das Gut nach ihrem Tode einem Kinde ungeteilt zu hinterlaſſen, ohne den Anerben zu ſtark mit Schulden zu beſchweren oder die übrigen Kinder zu ſehr zu benachteiligen. Sie beſitzt ferner den großen Vorzug, daß fie zur vollen Geltung kommt, auch wenn der Verſicherte früh⸗ zeitig ſtirbt. Hierin liegt ein wichtiger Unterſchied zwiſchen ihrer Wirkung und derjenigen der Amortiſation. Ein anderer iſt der, daß durch die Lebens— 4 verſicherung einer künftigen Verſchuldung vorgebeugt, während durch die Amortiſation eine bereits vorhandene allmählich beſeitigt wird. Soll die Lebensverſicherung nicht zu große Opfer auferlegen, jo muß fie in frühem Lebensalter abgeſchloſſen werden. Jeder landwirtſchaftliche Unternehmer ſollte es als ſeine Pflicht betrachten, ſobald er ſelbſtändig einen Betrieb übernommen und einen Hausſtand gegründet hat, ſein Leben bei einer als ſolid bekannten Geſellſchaft zu verſichern. Finden die hier genannten Mittel auch nur einige einigermaßen aus— gedehnte Anwendung, ſo wird der wachſenden Verſchuldung wenigſtens ſo— weit vorgebeugt, daß ſie für die Zukunft keine große Gefahr mehr bildet. Allerdings iſt damit den jetzt bereits hypothekariſch zu hoch belaſteten Landwirten wenig geholfen. Die Entſchuldung läßt ſich der Natur der Sache nach ſehr viel ſchwieriger bewerkſtelligen, als die Fernhaltung künftiger Uuü!ůberſchuldung; einer Krankheit vorzubeugen iſt leichter, als fie zu heilen. Alle Mittel, die bis jetzt zur Herbeiführung einer durch Staatshilfe zu be— wirkenden allgemeinen Entſchuldung vorgeſchlagen wurden, ſind ent— weder überhaupt nicht anwendbar oder werden, ſoweit man ſie allenfalls für durchführbar betrachten darf, nur eine geringe Wirkung ausüben. Die Opfer, welche bei einer in irgend nennenswertem Umfange vorgenommenen N Entſchuldung den Gläubigern oder auch dem Staate zugemutet werden r müßten, würden unerſchwinglich, auch ungerechtfertigt ſein. Zudem würde eine ſolche Maßregel zu ſehr bedenklichen Folgen führen. Bietet der Staat zu einer Entſchuldung die Hand und mutet dabei den Gläubigern oder ſich ſelbſt große Opfer zu — und eins von beiden iſt unausbleiblich — dann muß er auch eine Verſchuldungsgrenze für die Zukunft feſtſetzen. Denn ohnedem würde die Verſchuldung bald wieder zunehmen und eine neue Ent— ſchuldung nötig machen; die bereits ſtattgehabte Entſchuldung würde direkt dazu anreizen, mit der Überſchuldung wieder zu beginnen. Es iſt aber ſchon dargelegt worden (ſ. S. 134), weshalb die Feſtſetzung einer Verſchuldungs— 140 IX. Die ländliche Bevölkerung. grenze unzuläſſig und undurchführbar erſcheint. Eine mit ihr Hand in Hand gehende Entſchuldung auf Grund ſtaatlicher Zwangsmaßregeln müßte not: wendigerweiſe zum ſozialiſtiſchen Staat führen. Läge die Urſache der Überſchuldung weſentlich in einem vorübergehend ungewöhnlich hohen Zinsfuß, dann könnte man ja allenfalls in Betracht ziehen, ob nicht auf geſetzlichem Wege eine zeitweiſe Herabſetzung des Zinsfußes für bereits aufgenommene Hypotheken, etwa unter materieller Beihilfe des Staates, möglich wäre. Auch dies würde eine ziemlich gewalt⸗ ſame und tief einſchneidende, die Intereſſen aller übrigen Volksgruppen ver⸗ letzende Maßregel ſein. Aber einmal iſt, wie die früher gemachten Zahlen beweiſen, der durch die Verſchuldung bewirkte Notſtand nicht ſo groß, daß er ein derartiges ganz außergewöhnliches Verfahren rechtfertigte; fürs andere ſteht der Zinsfuß gegenwärtig ohnedem ſehr niedrig. J Die hohe Verſchuldung iſt für viele Gutsbeſitzer ſicher ein großes Übel und ſchwerer Druck; ihn zu beſeitigen, liegt aber im Bereiche weder der Pflicht noch der Macht des Staates. Seine Aufgabe bei Bekämpfung der Verſchuldung muß ſich auf ein Doppeltes beſchränken. Zunächſt ſoll er die in ſeinem Bereich liegenden, bereits angegebenen Mittel anwenden, um einem weiteren Anwachſen der hypothekariſchen Belaſtung vorzubeugen. Außerdem ſoll er durch geeignete Maßregeln dazu mitwirken, daß die Reinerträge der Landwirtſchaft ſich wieder heben. Zur Erreichung dieſes Zieles ſtehen ihm mannigfaltige Wege offen, deren Darlegung den Inhalt ſpäterer Abſchnitte dieſes Buches bilden wird. Ergreifen die Landwirte die vom Staate dar⸗ gebotene Hand, verſuchen ſie außerdem und vor allem das in ihrer eigenen Macht Liegende zu tun, um ihre Roherträge zu erhöhen, ihre wirtſchaftlichen und perſönlichen Ausgaben zu vermindern, ſo wird der wachſenden Ver⸗ ſchuldung ein mächtiger Damm entgegengeſetzt; es wird auch vielen unter den jetzt ſehr hoch verſchuldeten Beſitzern möglich werden, aus ihrem Not⸗ ſtande ſich emporzuarbeiten und zu geordneten und geſunden wirtſchaftlichen Verhältniſſen zu gelangen ). IX. Die ländliche Bevölkerung, insbeſondere die landwirtſchaftlichen Arbeiter. In Abſchnitt 1 (S. 17) wurde bereits angegeben, daß von 1882 — 1895 die der Landwirtſchaft, Gärtnerei und Forſtwirtſchaft angehörende Bevölkerung um rund 3/, Mill. Menjchen abgenommen hat und daß die landwirtſchaft⸗ lich Erwerbstätigen 1895 nur noch 35,75 Proz. betrugen, während ſie 1882 auf 43,38 Proz. ſich ſtellten. Die prozentiſche Abnahme der Landbevölkerung liegt in der Natur der Sache; bei den Fortſchritten der Induſtrie iſt es ſelbſt⸗ verſtändlich, daß die ihr angehörende Bevölkerung ſtark zunimmt. Sie be⸗ anſprucht wenig Bodenfläche und kann, wenn ſie Abſatz für ihre Produkte findet, immer wieder neue Mengen von Menſchen beſchäftigen. Die Zahl der 1) Sehr beachtenswerte Vorſchläge zur Vermeidung der Überſchuldung bezw. zur Ent⸗ ſchuldung auf dem Wege der Amortiſation und der Lebensverſicherung ſind enthalten in der als Manufkript gedruckten Schrift von Felix Hecht, „Die Entſchuldung des ländlichen Grundbeſitzes (Die Hypothekentilgungs-⸗Verſicherung)“, Mannheim 1899. Vgl. hierzu ferner die kleine, aber inhaltvolle und auf reicher Erfahrung beruhende Schrift des Direktors der Rheiniſchen Landesbank (Provinzial-Kreditinſtitut für die preuß. Rheinprovinz), Dr. Lohe „Die Verſchuldung des ländlichen Beſitzes in Folge von Erbteilungen und die unkündbare Rentenhypothek der Landesbank“, Düſſeldorf 1901. { 1 \ IX. Die ländliche Bevölkerung. 141 der Landwirtſchaft zu beſchäftigenden Perſonen wird dagegen vor allem ch die Ausdehnung der produktiven Bodenfläche bedingt und dieſe iſt im deutſchen Reich feſt gegeben; nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil des deutſchen Bodens iſt noch unkultiviert, aber kulturfähig. Allerdings hängt ie Zahl der in der Landwirtſchaft mit Vorteil zu beſchäftigenden Menſchen auch von der Art des Betriebes ab. Sie wird um ſo größer, je mehr ein intenſiver Betrieb möglich und lohnend ſich erweiſt. An einer früheren telle wurde bereits dargelegt (S. 47 ff.), daß der landwirtſchaftliche Be⸗ trieb bei uns fortwährend an Intenſivität zugenommen hat und daß es eine ufgabe für die Zukunft bildet, ihn noch immer intenſiver zu geſtalten. Ein Haupterfordernis hierfür bildet die Aufwendung einer größeren Menge von Arbeit. Angeſichts deſſen iſt es allerdings eine unerfreuliche Tatſache, daß die der Landwirtſchaft angehörende Bevölkerung abſolut nicht zu⸗, ſondern abnimmt. Die ungünſtige Wirkung hiervon wird zwar dadurch, daß jetzt vielmehr Maſchinen, als früher, in der Landwirtſchaft benutzt werden, etwas abgeſchwächt, aber keineswegs beſeitigt ). A Man kann die ländliche Bevölkerung in zwei Hauptgruppen jondern, nämlich in 1. landwirtſchaftliche Unternehmer, 2. landwirtſchaftliche Ar- beiter. Zur erſteren gehören die verſchiedenen Arten der Grundbeſitzer ſo⸗ wie der Pächter, zur letzteren die landwirtſchaftlichen Tagelöhner und Dienſt— boten. In der Mitte ſtehen die Beſitzer und Pächter von Kleinſtellen, die von dem Ertrage des von ihnen bewirtſchafteten Landes ausſchließlich nicht leben können, ſondern einen Teil ihres Unterhaltsbedarfes durch Lohnarbeit erwerben müſſen. Die Zahl der landwirtſchaftlichen Unternehmer hat in der Periode von 1882 — 1895 nicht unbedeutend zugenommen. Es ergibt ſich dies aus der Zahl der landwirtſchaftlichen Betriebe, welche von 5 276 344 im Jahre 1882 auf 5 556900 im Jahre 1895 geſtiegen, alſo um 280 576 oder 5,05 Proz. gewachſen iſt. Die Betriebsinhaber find in weitaus überwiegen— der Mehrheit?) entweder Beſitzer oder Pächter. Beide laſſen ſich nicht genau voneinander trennen, da, wie aus den gemachten Angaben erhellt, viele Grundbeſitzer gleichzeitig auch Pachtland bewirtſchaften (S. 33 und 111). Die ganze Pachtfläche betrug aber im Deutſchen Reich im Jahre 1895 nur 12,38 Proz. der landwirtſchaftlich benutzten Fläche überhaupt. In Anbetracht dieſer Umſtände ſollen daher hier Beſitzer und Pächter unter der Gruppe „landwirtſchaftliche Unternehmer“ zuſammengefaßt werden. Was von den Beſitzern gilt, trifft auch in der Hauptſache für die Pächter zu; worin beide ſich unterſcheiden, iſt S. 3] ff. kurz dargelegt worden. Die landwirtſchaftlichen Unternehmer gliedern ſich je nach dem Umfang der von ihnen bewirtſchafteten Fläche in Großgrundbeſitzer, Bauern und Kleinſtellenbeſitzer. Über die Bedeutung und die Aufgaben dieſer drei Gruppen iſt in Abſchnitt VI (S. 82 ff.) ausführlich gehandelt worden. Hier ſoll lediglich eine Charakteriſtik in bezug auf gewiſſe perſönliche und ſoziale Eigentümlichkeiten der einzelnen Gruppen verſucht werden. Die Großgrundbeſitzer repräſentierten früher, und zwar viele Jahr— hunderte lang in ganz anderer Weiſe, als gegenwärtig, einen beſonderen Stand innerhalb des Staates und der Geſellſchaft. Sie bildeten die Ritter— ſchaft oder den Adel, der mit großen Vorrechten ausgeſtattet war, aus e un ER BEINEN 1) Bei Beſprechung der landwirtichaftlichen Arbeiter in einem ſpäteren Teile dieſes Abſchnittes wird hierüber noch eingehend gehandelt werden. 2) Zu den Inhabern lundioiitſchaftlicher Betriebe, die weder Beſitzer noch Pächter derſelben ſind, gehören die mit Land ausgeſtatteten Gutstagelöhner und Deputatiſten, auch die Inhaber von Dienſt⸗ oder Gemeindeländereien. 142 IX. Die ländliche Bevölkerung. dem die Offiziere, die höheren Beamten, auch die höheren Würdenträger der Kirche vorzugsweiſe oder faſt ausſchließlich genommen wurden. Als Grund⸗ herren hatten fie außerdem eine mehr oder minder ausgedehnte obrig- keitliche Gewalt über die große Maſſe der Landbevölkerung, über die Bauern. Ihrer hervorragenden ſozialen und politiſchen Stellung entſprachen ihr materieller Beſitz und ihre Lebensgewohnheiten. Abgeſehen von einigen Kaufherren in den großen Handelsſtädten, deren Zahl aber gering war, re⸗ präſentierten ſie die wohlhabendſte, in der günſtigſten äußeren Lage befindliche Klaſſe der Bevölkerung. Dies hat ſich allerdings im Laufe des 19. Jahr⸗ hunderts etwas geändert. Großgrundbeſitzer und Adel fallen nicht mehr in der früheren Ausdehnung zuſammen. Beſondere Standesvorrechte genießt der Adel nicht mehr oder doch nur in ganz verſchwindendem Maße. Obrig⸗ keitliche Befugniſſe ſtehen den Großgrundbeſitzern nicht mehr zu, abgeſehen davon, daß ſie dort, wo die Gutsbezirke noch eigene Gemeinweſen darſtellen, die Funktion des Gutsvorſtandes ausüben. Unter den Offizieren und höheren Beamten beſteht ein ſehr erheblicher, unter den letzteren ſogar der über⸗ wiegende Bruchteil aus Männern, die weder aus dem Adel noch aus der Klaſſe der Großgrundbeſitzer hervorgegangen ſind. Trotzdem bilden auch in der Gegenwart noch die Großgrundbeſitzer einen beſonderen Stand und zwar einen ſolchen, dem für Staat und Geſellſchaft eine hervorragende Bedeutung zukommt. Er iſt enger wie alle Stadtbewohner mit dem Grund und Boden, mit der vaterländiſchen Erde verwachſen; er verfügt, zuſammen mit den Bauern, über den wertvollſten Beſitz der Nation; er hat auf die Bildung und Geſinnung der Landbebölke⸗ rung einen viel wirkſameren Einfluß, als ihn die Vertreter der Induſtrie und des Handels auf die ſtädtiſche Bevölkerung ausüben. Aus den Groß⸗ grundbeſitzern geht auch in der Gegenwart noch ein, im Verhältnis zu ihrer Zahl, ungewöhnlich ſtarker Bruchteil namentlich der Offiziere, aber auch der höheren Beamten hervor. Sieht man von den beiden letztgenannten Klaſſen, die, als im Staatsdienſte befindlich, eine Ausnahmeſtellung einnehmen, ab, ſo darf man ſagen, daß die Großgrundbeſitzer den erſten und vornehmſten Stand auch jetzt noch repräſentieren. Hiermit hängt es zuſammen, daß wohlhabende oder reich gewordene Vertreter der Induſtrie und des Handels mit beſonderer Vorliebe einen Teil ihres Vermögens in Grundbeſitz anlegen. Eine ſehr bedeutende Quote unſerer jetzigen Großgrundbeſitzer ſetzt ſich aus Perſonen zuſammen, deren Eltern oder Großeltern noch nicht zu jenen ge⸗ hörten. Dabei pflegen die neu hinzugekommenen Elemente ſehr ſchnell die Lebensanſchauungen und Lebensgewohnheiten anzunehmen, die bei den Groß⸗ grundbeſitzern traditionell geworden ſind. Eine in wirtſchaftlicher und ſozialer Hinſicht wichtige und ſegensreiche Umwandlung hat ſich im Laufe des 19. Jahrhunderts bei den Großgrund⸗ beſitzern dadurch vollzogen, daß ſie nunmehr zum weit überwiegenden Teil ihre Güter ſelbſt bewirtſchaften. Solange ſie von den bäuerlichen Dienſten und vom Flurzwang in Abhängigkeit ſich befanden, war ſolches überhaupt nur in geringem Grade möglich. Nachdem dieſe Feſſeln gefallen ſind, haben ſie ſich zu landwirtſchaftlichen Unternehmern umgebildet. Sie haben dadurch nicht nur ihren äußeren Wohlſtand verbeſſert, ſondern auch, wenn⸗ gleich nach anderen Richtungen hin, den Einfluß auf das öffentliche Leben behauptet oder neu gewonnen, den ſie nach Entziehung der alten Standes⸗ vorrechte verloren hatten oder zu verlieren bedroht waren. Ohne eine zahlreiche und wohlhabende Klaſſe von Großgrundbeſitzern, die gleichzeitig in überwiegender Zahl ihre Güter ſelbſt bewirtſchaften, iſt ein geſundes ſtaatliches und geſellſchaftliches Leben auf die Dauer nicht haltbar. IX. Die ländliche Bevölkerung. | 143 st exiſtiert eine ſolche bei uns, im Gegenſatz zu England und Italien, herweiſe noch. Sie ungeſchwächt zu bewahren, liegt im Intereſſe der heit. Wie alle übrigen Klaſſen der Bevölkerung, ſo hat auch die der Groß— dbeſitzer beſondere charakteriſtiſche Eigentümlichkeiten, die man ein Ergebnis ihrer bisherigen geſchichtlichen Entwicklung betrachten Die für den Inhalt dieſes Buches wichtigſten ſollen hier kurz berührt Sie vereinigen in ſich die Eigenſchaften und Obliegenheiten, die ihnen jeit3 als Beſitzern von großen Bodenflächen, andererſeits als Unternehmern ngreicher landwirtſchaftlicher Betriebe zufommen. Beides geht ja viel- ih ineinander über, iſt aber nicht ganz identiſch. Ihnen kommt es vor⸗ nehmlich zu, die Landwirtſchaft und die ländliche Bevölkerung gegenüber allen anderen Berufsklaſſen, im geſellſchaftlichen wie im ſtaatlichen Leben, zu ver: treten. Der Bauer iſt hierzu nur mangelhaft geeignet oder doch, für ſich allein ſtehend, nicht vollſtändig befähigt; ihm fehlt es an Bildung, Zeit, Geld, Anſehen und Einfluß. Für die parlamentariſchen Körperſchaften, für die landwirtſchaftlichen Vereine bilden die Großgrundbeſitzer ein ſehr wichtiges und unentbehrliches Element. In der Selbſtverwaltung, die einen Grund— pfeiler des ſtaatlichen und Gemeindelebens abgibt, müſſen ſie, ſoweit das | Pr e Land in Frage kommt, die leitende Rolle übernehmen und zwar aus den bereits angegebenen Gründen. Nicht nur in ihrem, ſondern vor allem im Intereſſe des Staates iſt es nötig, daß ein erheblicher Teil der höheren Beamten und namentlich der Offiziere aus den Großgrundbeſitzern hervor— geht. Ihre Söhne kennen von Jugend auf die ländlichen Verhältniſſe und ie landwirtſchaftliche Bevölkerung. Sie wiſſen mit den aus der letzteren hervorgegangenen Soldaten am beſten umzugehen; ſie können als Richter oder Verwaltungsbeamte am ſachgemäßeſten alle, die Landwirtſchaft betreffenden Angelegenheiten beurteilen. Dazu kommt ein anderer, für das Staatsleben wichtiger Punkt. Die Großgrundbeſitzer und ihre Söhne ſind durch Tradition und durch Erziehung an das Befehlen und Herrſchen gewöhnt; ſie haben een angeborenes, durch zahlreiche Generationen fortgeerbtes Herrſchertalent. Mag ſich ſolches auch zuweilen für die Untergebenen in einer etwas unlieb— ſamen Form Geltung verſchaffen, jo iſt es doch für das öffentliche Leben von der größten Bedeutung und für eine energiſche Staatsverwaltung unent— behrlich. Mit dem Herrſchertalent verbindet ſich ein praktiſcher Blick, ſchnelle Entſchlußfähigkeit, ein großer perſönlicher Mut und Selbſt— vertrauen. Ich will nicht ſagen, daß dieſe Eigenſchaften allen Söhnen von Großgrundbeſitzern zukommen, auch nicht behaupten, daß ſie nicht zu Untugenden ausarten können. Vergleicht man aber die aus den Großgrund— beſitzern hervorgegangenen Offiziere und höheren Beamten mit denen, die aus anderen Berufsklaſſen ſtammen, ſo darf man ſagen, daß jene hinter dieſen keinesfalls zurückſtehen, daß ſie vielmehr gewiſſe unentbehrliche Funk— tionen beſſer und leichter erfüllen. Für das ſtaatliche wie für das kommu— nale Leben würde es jedenfalls ein großes Unglück bedeuten, wenn die Groß— grundbeſitzer nicht mehr in der Lage wären, zu der Ergänzung des Offizier— und Beamtenſtandes einen erheblichen Bruchteil zu liefern. Auch durch das Intereſſe der Landwirtſchaft wird ſolches gefordert. Wenn nicht mehr ein Teil der Nachkommen der Großgrundbeſitzer im Heere und in der Staats— verwaltung eine angemeſſene Lebensſtellung finden könnte, dann müßte dies bald zu einer unerträglichen Verſchuldung der großen Güter und zu einem Verfall des Standes der Großgrundbeſitzer ſelbſt führen. Das Endreſultat würde aber keineswegs, wie manche annehmen, die Bildung zahlreicher bäuer— 144 IX. Die ländliche Bevölkerung. licher Beſitzungen, ſondern der Latifundienbeſitz ſein. Die großen Güter würden ſchließlich in die Hände von einer verhältnismäßig kleinen Anzahl reicher Kapitaliſten fallen. Die Obliegenheiten, welche die Großgrundbeſitzer in Staat und Geſell⸗ 9 ſchaft zu erfüllen haben, machen es nötig, daß ſie hiernach auch ihre Lebens⸗ haltung und die Erziehung ihrer Kinder einrichten. Sie können ſich nicht mit der einfachen Lebensweiſe eines Bauern begnügen, ſie müſſen vielmehr hierin mit den Gliedern der anderen ſog. höheren Stände auf einem einiger⸗ maßen gleichen Fuß ſich halten. Es iſt notwendig, daß ſie ihre Söhne in noch jugendlichem Alter zur weiteren Ausbildung auf eine ſtädtiſche Schule, dann wo möglich auf die Univerſität ſchicken, oder ins Kadettenkorps und demnächſt als Offiziere in das Heer eintreten laſſen. Bevor die Knaben aus dem Hauſe kommen, muß für ſie ein Hauslehrer gehalten werden; auch behufs Ausbildung der Töchter iſt die Anſtellung eines Lehrers oder einer Lehrerin unentbehrlich. Ohne die Darbringung großer Geldopfer wird die Befriedigung aller dieſer unvermeidlichen Anforderungen zur Unmöglichkeit. Das Intereſſe der Geſamtheit erfordert es, daß die hierzu durchaus nötigen Mittel den Großgrundbeſitzern nicht fehlen. Fern liegt es mir, einen übertriebenen Luxus der Großgrundbeſitzer oder ihrer Söhne verteidigen zu wollen. Für den einzelnen bleibt es immer ein Gebot der Pflicht, ſeine Ausgaben nach ſeinen Einnahmen einzurichten und alle Aufwendungen, mögen ſie an und für ſich auch noch ſo berechtigt ſein, zu vermeiden, die über das eigene Vermögen hinausgehen. So gut wie vielen anderen iſt es auch mir bekannt, daß von manchen Großgrund⸗ beſitzern oder deren Söhnen dieſer Regel nicht nachgekommen wird; daß ſogar in nicht ganz ſeltenen Fällen hierin vorzugsweiſe die Urſache der vorhandenen Überſchuldung zu ſuchen iſt. Aber als einen allgemein verbreiteten Übeljtand kann man es keineswegs bezeichnen. Die ganze geſchichtliche Entwicklung und die jahrhundertelange Tradition haben es bedingt, daß in ihrem Durchſchnitt die Großgrundbeſitzer zu Geld⸗ ausgaben eine ganz andere Stellung einnehmen, wie die Bauern. Während dieſe ſparſam, oft bis zum Geiz geſteigert, zu ſein pflegen, ſind jene viel eher zu dem Umgekehrten geneigt. Unrichtig würde es zwar ſein, wollte man behaupten, daß die deutſchen Großgrundbeſitzer im allgemeinen über ihre Verhältniſſe lebten oder gar verſchwenderiſch wären; aber zuzugeben iſt, daß manche von ihnen aus Rückſichten, die ſie ihrem Stande ſchuldig zu ſein glauben, größere Ausgaben machen, als es nötig wäre und als es ihre Vermögensverhältniſſe eigentlich geſtatten. Unter anderen Berufsklaſſen kommt dies freilich auch zuweilen vor, aber im Verhältnis zur Zahl ihrer Vertreter doch weniger häufig. Aus der Doppelſtellung, welche der Großgrundbeſitzer als landwirt⸗ ſchaftlicher Unternehmer und als Glied einer beſonders hervorragenden Ge⸗ ſellſchaftsklaſſe einnimmt, erwachſen unvermeidlich gewiſſe Unzuträglichkeiten. Häufig laſſen die Großgrundbeſitzer auch diejenigen Söhne, die einmal das Gut erben ſollen, zunächſt die Laufbahn als Offizier oder Staatsbeamter ergreifen. Sie können dabei unzweifelhaft viel lernen, namentlich für ihre künftige Tätigkeit in Staat und Geſellſchaft. Nachteilig iſt es aber inſofern, als ſie den ländlichen Verhältniſſen und der landwirtſchaftlichen Praxis ent⸗ fremdet werden. Sie gewinnen in letztere überhaupt keine genaue Einſicht und noch weniger in diejenigen Zweige der Wiſſenſchaft, deren Kenntnis für die erfolgreiche Leitung eines größeren landwirtſchaftlichen Betriebes heutzutage kaum entbehrt werden kann. Nach einigen, zuweilen erſt nach vielen Jahren, die ſie im öffentlichen Dienſt zugebracht haben, treten ſie dann die Bewirt⸗ IX. Die ländliche Bevölkerung. 145 ung des ererbten Gutes an. Manche leiſten trotzdem Ho Borkreff iches als praktiſche Landwirte, ſofern ſie die nötige Willenskraft und Selbſt⸗ verleugnung beſitzen, ſich in das unbekannte Wirkungsgebiet neu und voll⸗ kommer einzuarbeiten. Anderen aber gelingt dies nicht, ſie wollen es viel⸗ leicht auch nicht. Infolgedeſſen findet ſich unter den Großgrundbeſitzern ein rößerer Bruchteil, als in anderen Berufsklaſſen, von ſolchen Perſonen, deren 5 Ken tniſſe und Fähigkeiten für eine erfolgreiche Erfüllung ihrer wirtſchaft⸗ 1 Aufgabe als unzulänglich ſich erweiſen. Gegen dieſen Übelſtand die gen zu verſchließen, würde den Intereſſen der Großgrundbeſitzer ſelbſt biderlaufen. Als Regel müßte gelten, daß die künftigen Großbeſitzer eine ndliche praktiſche und theoretiſche Ausbildung in der Landwirtſchaft erhalten. Eine weitere und ſchwerer zu beſeitigende Unzuträglichkeit liegt darin, diejenigen Großgrundbeſitzer, welche eine umfaſſeude Tätigkeit im öffent- | Ace Leben ausüben, gezwungen find, häufig, vielleicht gar den größeren Teil des Jahres, von ihren Gütern entfernt zu leben. Dadurch leiden zu- nächſt ihre Privatintereſſen; ihre Ausgaben werden ſtark vermehrt, die Wirt⸗ ſchaftseinnahmen in der Regel vermindert. Für die wirklich Wohlhabenden oder Reichen fällt dies nicht ins Gewicht oder ſollte es doch nicht, wohl | = aber für die mit weniger Vermögen Bedachten. Dieſe dürften auf eine „ öffentliche Tätigkeit, die ſie vorausſichtlich einen erheblichen Teil des Jahres nötigt, fern von ihrem Wohnſitz zuzubringen, überhaupt ſich nicht einlaſſen. Ihnen bieten die mannigfachen Aufgaben, welche jetzt aus der lokalen Selbſt⸗ F verwaltung und aus den örtlich beſchränkten privaten gemeinnützigen Be⸗ ſtrebungen erwachſen, hinreichende Gelegenheit, auch für das öffentliche Leben ſich nützlich zu erweiſen, ohne daß ſie dabei ungewöhnlich große materielle Opfer zu bringen brauchen. Immer iſt es von mehr oder weniger Hachteiligen Folgen begleitet, wenn der Gutsbeſitzer einen großen Teil des Jahres von jeinem Gute ent- fernt lebt. Er wird dadurch ſeiner Wirtſchaft, den darin tätigen Menſchen und den heimatlichen Verhältniſſen überhaupt entfremdet. Die erſteren muß er beſoldeten Beamten, die häufig wechſeln und noch in jüngeren Jahren ſtehen, überlaſſen; er verliert in der Lokalgemeinde und deren Umkreis den Einfluß, den auszuüben er berufen iſt. Überall, wo der Abſentismus, wie man wohl die regelmäßige oder doch ſehr lange währende Abweſenheit der Großgrundbeſitzer von ihren Gütern nennt, eine ſtarke Ausdehnung ge— wonnen hat, pflegen die ſozialen und wirtſchaftlichen Zuſtände auf dem Lande ſich ungünſtig zu geſtalten. Vor allem übt er auf die Arbeiterver⸗ i einen zerrüttenden Einfluß aus. England und manche Teile Italiens ieten dafür einen traurigen Beweis. Man kann es dem Großgrundbeſitzer nicht verdenken, wenn er, ſofern die Mittel es erlauben, edes Jahr ein paar Wochen in einer Stadt oder auf Reiſen zubringt. Er erhält dadurch geiſtige Erfriſchung und Anregung, kann auch manches für ſeinen W Beruf Nützliche lernen. Aber der Hauptſache nach muß er Zeit und ft ſeinem Gute bezw. der Gegend widmen, in welchem ſich dies befindet. Schwierig und oft unausführbar wird dies freilich für die Grundherren, die ſehr großen Beſitz haben, dabei auch über jo viele materielle und geiſtige Mittel verfügen, daß ſie ſich vors, zugsweiſe in den Dienſt des öffentlichen Lebens ſtellen können. Solche Männer ſind für die Geſundheit des ſozialen ſtaatlichen Lebens unentbehr⸗ lich; ſie dürfen ihre öffentliche Wirkſamkeit geradezu als Erfüllung einer Pflicht betrachten. Um die ſchädlichen Folgen, die ſelbſtverſtändlich auch mit ihrem Abſentismus verbunden ſind, möglichſt zu mindern, empfiehlt es ſich, daß ſie zur Bewirtſchaftung ihrer Güter als leitende Perſonen nicht mehr von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 10 146 IX. Die ländliche Bevölkerung. ganz junge, verheiratete Beamte (Adminiſtratoren, Direktoren) anſtellen, die 1 ſchon eine gewiſſe Erfahrung haben und von denen zu erwarten iſt, daß ſie viele Jahre in ihrer Stellung bleiben. Auch dieſe können ja die Guts herrſchaft nie ganz erſetzen. Werden ſie aber richtig inſtruiert und genügend kontrolliert, ſo kann doch der Grundherr einen großen Teil der ib 4 die aus ſeiner Abweſenheit erwachſen, zur Ausgleichung bringen. Bei Ver⸗ pachtung iſt ſolches dagegen nicht möglich. 3 Enger noch als die Großgrundbeſitzer ſind die Bauern mit der Scholle verknüpft, auf der ſie wohnen und die ſie bewirtſchaften. Die heutigen bäuerlichen Beſitzer ſtammen faſt ausnahmslos auch von Bauern ab; ſeit vielen Generationen haben ihre Voreltern dieſem Stande angehört, in überwiegender Mehrzahl auch in dem gleichen Dorfe oder doch in der gleichen Landſchaft geſeſſen. Ihr Verkehr mit der ſtädtiſchen Bevölkerung iſt ein geringer. Alle ihre Anſchauungen und Intereſſen wurzeln in dem Boden, den ſie bebauen, und in der Gemeinde, der ſie angehören. Die geringe Veränderlichkeit, der Boden, Klima und demgemäß die Bodenbenutzung unter⸗ worfen ſind, hat ſich dem Charakter und der Lebensweiſe der Banern mit⸗ geteilt. Sie hängen an den hergebrachten Gewohnheiten, ſind im eigent⸗ lichen Sinne des Wortes noch konſervativer, als die Großgrundbeſitzer. Ihnen wohnt eine gewiſſe körperliche und geiſtige Schwerfälligkeit inne, verbunden mit zäher Ausdauer und Charakterfeſtigkeit, die nicht ſelten in Eigenſinn ausartet. Die zu Anfang des 19. Jahrhunderts erworbene Freiheit weiß der Bauer wohl zu ſchätzen; er fühlt ſich als Herr auf ſeinem Hofe und läßt ſich in ſeine Privatangelegenheiten nicht gerne von dritten Perſonen hineinreden. Teils infolge ſeiner Jſoliertheit, teils infolge der jahrhunderte⸗ langen Unfreiheit und Bedrückung, unter welcher er gelitten, iſt er miß⸗ trauiſch gegen andere Menſchen, beſonders gegen Perſonen aus den höheren Schichten der Geſellſchaft. Dagegen hat er Reſpekt vor der Obrigkeit und Ehrfurcht gegenüber der Kirche. Die Anſprüche des Bauern an Bequemlichkeiten und Genüſſe des Lebens ſind gering. Er iſt in der Regel ſparſam, häufig geizig. Bares Geld gibt er ſo wenig wie möglich aus. Mit ſeinen Ausgaben pflegt er ſich nach ſeinen Einnahmen zu richten. Sind letztere einmal knapp, ſo weiß er ſich nach der Decke zu ſtrecken. In ſeiner Wirtſchaft übt der Bauer die Funktionen des Betriebsleiters, des Aufſehers und des Arbeiters gleichzeitig aus, und es fallen ihm demnach auch die aus dieſen Tätigkeiten fließenden Einkommen, die in Großbetrieben unter verſchiedene Perſonen ſich verteilen, gemeinſchaftlich zu. Ebenſo erfüllt ſeine Frau die Obliegenheiten einer Wirtſchafterin und einer Magd. Dies ſchließt ja nicht aus, daß auch auf Bauerngütern Knechte, Mägde und Tage⸗ löhner beſchäftigt werden. Aber der Bauer und die Bäuerin führen nicht nur die Aufſicht, ſondern arbeiten, ſoweit es Zeit und Kräfte geſtatten, körper⸗ lich ſelbſt mit. Zu andauernd harter Arbeit ſind ſie erzogen und ſetzen eine Ehre darin. Die ganze bäuerliche Wirtſchaft mit allen darin befindlichen und wirkenden Tieren und Menſchen ſteht unter der beſtändigen Aufſicht ihrer Inhaber und Leiter. pr Mit den gejchilderten Umständen hängt es hauptſächlich zuſammen, daß die bäuerlichen Güter im Durchſchnitt geringer verſchuldet ſind, als die großen Güter. Selbſtverſtändlich ſind nicht alle Bauern gleich. Auch unter ihnen, wie unter den Angehörigen aller anderen Berufsklaſſen, gibt es faule und fleißige, ſorgſame und nachläſſige, vereinzelt ſelbſt verſchwenderiſche neben ſparſamen. Aber im großen und ganzen glaube ich in obigen Zügen die elſtände, 2 IX. Die ländliche Bevölkerung. 147 tümlichfeiten des Bauern richtig wiedergegeben zu haben, und dieſe find überall im Deutſchen Reiche annähernd die gleichen. Aus ihnen geht her- vor, daß Großgrundbeſitzer und Bauern in ſehr weſentlichen Dingen von- einander verſchieden, in manchen ſogar entgegengeſetzter Natur ſind. Dies überträgt ſich auch auf die Art der Erziehung und Ausbildung der nder. Bei den Bauern wachſen dieſe ganz im Elternhauſe auf. Von heſter Jugend an werden ſie nach Maßgabe ihrer Kräfte im Hauſe, im alle, im Hofe, auf dem Felde beſchäftigt. Ihren Unterricht empfangen ſie in ihrem Heimatsdorfe. Nach Entlaſſung aus der Schule find fie mit ihrer vollen Kraft in der elterlichen Wirtſchaft tätig. Dabei lernen ſie mit der 5 ee: ihrem Alter und ihrem Geſchlecht angemeſſenen landwirtſchaftlichen Arbeiten kennen und ſelbſt ausführen. Sie brauchen keine beſondere Lehr— 1 2 durchzumachen. In dem Zeitpunkte, wann die Bauerntochter heiratet oder r Bauernſohn ſelbſtändig den väterlichen oder einen ſonſtigen Hof über⸗ nimmt, haben beide lediglich durch die im elterlichen Haufe genoſſene Er- ung und ausgeübte Tätigkeit dasjenige gelernt, was ſie für ihren neuen f zunächſt brauchen. Das für eine ſelbſtändige Leitung eines Haus⸗ 1 er und eines landwirtſchaftlichen Betriebes nötige Fundament iſt gelegt; das weitere muß die Erfahrung bringen. | * Es kommt jetzt wohl häufiger als früher vor, daß der Bauer eins oder mehrere Kinder auf eine ſtädtiſche Schule ſchickt. Bei den Töchtern 5 biegt dies aber nur auf ein, höchſtens zwei Jahre zu geſchehen. Will der Bauer einen Sohn ſtudieren oder einen nicht landwirtſchaftlichen Beruf er⸗ greifen laſſen, ſo muß er ihn allerdings, ähnlich wie der Großgrundbeſitzer, für lange Jahre aus dem Hauſe geben. Bei dem Sohn, der den Hof erben Soll, pflegt er aber nicht jo zu handeln. Er behält ihn möglichſt lange bei ſſich in der Wirtſchaft oder ſchickt ihn höchſtens für einige Zeit in eine andere Wirtſchaft zur Erlernung der Praxis. Darauf oder vorher läßt er ihn viel- leicht eine niedere oder mittlere, neuerdings zuweilen auch eine höhere land— wirtſchaftliche Lehranſtalt beſuchen. Immerhin iſt aber ſeine Sorge darauf gerichtet, daß ſein Sohn, wenn er den väterlichen Hof übernimmt, eine 5 ündliche Kenntnis von dem beſitzt, was zu deſſen erfolgreicher Bewirt— ſchaftung nötig iſt. Erhebliche Geldausgaben für die Erziehung und Ausbildung ſeiner Kinder zu machen, iſt der Bauer, im Gegenſatz zum Großgrundbeſitzer, nie— mals gezwungen. Sein angeborener Sparſamkeitsſinn bringt es auch mit ſich, daß er ſie nur zu machen pflegt, wenn er die erforderlichen Mittel dazu in Händen hat. Man kann als Regel annehmen, daß dort, wo die Bauern ihren Kindern eine weitergehende Ausbildung angedeihen laſſen, wie das Elternhaus und das Heimatsdorf ſie darbieten, fie in günſtigen wirtſchaft— lichen Verhältniſſen ſich befinden. Anderenfalls pflegen die in der Fremde weilenden Bauernſöhne, den ererbten Gewohnheiten entſprechend, beſonders ſparſam zu leben; ſie genießen auch häufig Stipendien oder ſonſtige nicht aus dem väterlichen Hauſe ſtammende Unterſtützungen. 7 Weil die Bauern feſter wie die über und die unter ihnen ſtehenden Klaſſen der ländlichen Bevölkerung mit dem Grund und Boden verwachſen ſind, weil ferner ihre Tätigkeit ſich ſo ganz auf deſſen Bebauung und Be— nutzung konzentriert, weil ſie endlich auf der glücklichen Mittelſtraße zwiſchen Reichen und Armen ſich bewegen: aus allen dieſen Gründen bilden ſie das wichtigſte Glied der ländlichen Bevölkerung, deren äußeres Wohler— ehen und innere Geſundheit für das Gedeihen nicht nur der Landwirtſchaft, en auch des geſamten ſozialen und ſtaatlichen Lebens von beſonders her— vorragender Bedeutung iſt. n a a DEZE; En NG r ee eee e en, eee e x a Fe 10* 148 „Die ländliche Bevölkerung. Eine allgemeine Charakteriſtik der Kleinſtellenbeſitzer läßt ſich 1 1 geben, da ſie aus zu verſchiedenen Elementen zuſammengeſetzt ſind. Die größeren unter ihnen, die vielleicht eine oder zwei Kühe halten, die ſie 8 (eich zeitig als Milchvieh und als Arbeitsvieh benutzen, tragen manche der bei dem Bauernſtande geſchilderten Eigentümlichkeiten an ſich; ſie bilden deſſen unterſte Stufe. Der überwiegende Teil der Kleinſtellenbeſitzer ſtellt aber ein ſehr buntes Gemiſch dar. Es gehören zu ihnen landwirtſchaftliche und in duſtrielle Arbeiter, auf dem Lande wohnende Handwerker, Krämer, Gaſtwirte e. Für die meiſten von ihnen bildet der Ertrag aus dem Grund und Boden 3 nur einen Nebenerwerb. Ihre materielle Lage iſt durchſchnittlich keine un⸗ günſtige. Ihre an früherer Stelle nachgewieſene hohe hypothekariſche Ver⸗ ſchuldung iſt aus den daſelbſt angeführten Gründen nicht ſo bedenklich als die der Großgrundbeſitzer und der Bauern. Zu dem darüber Geſagten (ſ. S. 125) iſt noch hinzuzufügen, daß die Kleinſtellenbeſitzer häufig nur einen geringen Perſonalkredit genießen, ihre Gläubiger daher verlangen, daß währte Darlehne, auch ſolche von abſolut kleinem Betrage, hypothekarif eingetragen werden. Die Kleinſtellenbeſitzer ſind meiſt ſehr ſparſam und be⸗ nutzen gemachte Erſparniſſe am liebſten zur Vergrößerung ihres Grundeigen⸗ tums. In vielen Gegenden, beſonders dicht bevölkerten, herrſcht unter ihnen ein förmlicher Landhunger. Dadurch werden die Preiſe, namentlich bei kleineren Parzellen, ungewöhnlich hoch getrieben. Trotzdem befinden ſich die Kleinſtellenbeſitzer in leidlicher Exiſtenz, die fleißigen unter ihnen kaufen immer neue Fetzen Land zu. Sie können dabei beſtehen, weil die in ihrem Betrieb notwendigen wirtſchaftlichen Arbeiten meiſt von den Frauen und Kindern oder von den Männern in den von Lohnarbeit freien Stunden oder Tagen verrichtet werden ). Von beſonderer Bedeutung für die in dieſem Buche zu beſprechenden Fragen ſind diejenigen Kleinſtellenbeſitzer, welche ſelbſt oder deren Angehörige einen Teil ihrer Kraft und Zeit dazu verwenden, um in anderen land⸗ wirtſchaftlichen Betrieben als Tagelöhner wirkſam zu ſein. Sie bilden die unterſte Stufe der landwirtſchaftlichen Unternehmer und gleichzeitig die oberſte Stufe der ländlichen Arbeiter. In dem Falle, daß ein Teil der zu einer Kleinſtellenbeſitzerfamilie gehörenden Mitglieder in landwirtſchaftlicher, ein anderer Teil in induſtrieller Lohnarbeit Erwerb findet, kommt eine Über⸗ gangsſtufe zwiſchen der landwirtſchaftlichen und der induſtriellen Bevölkerung zur Erſcheinung. Im mittleren und weſtlichen Deutſchland findet ſie ſich häufig. An Kopfzahl und dementſprechend an Bedeutung für unſere ge⸗ ſamten wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe nimmt ſie von Jahr zu Jahr zu 7. Die landwirtſchaftlichen Arbeiter. Bei den Landarbeitern kann man zunächſt zwei Gruppen unterſcheiden: die Geſindeperſonen und die Tagelöhner. Erſtere, die Knechte und Mägde, werden vorzugsweiſe zur Beſorgung des inneren Haushaltes und 1) Über die Lebensweiſe und die wirtſchaftliche Lage der Kleinſtellenbeſitzer haben wir zwei ſehr eingehende und lehrreiche Darſtellungen, die eine aus Thüringen, die andere aus Baden: E. Tolkiehn, Die ländlichen Verhältniſſe der Gemeinde Zwätzen, Jena 1894, und Moritz Hecht, Drei Dörfer der Badiſchen Hard, Leipzig 1895. Vgl. ferner: A. H. Holl⸗ mann „Die Landwirtſchaft im Kreiſe Bonn“, S. 97—115 und S. 153—176 (1903). 2) Genauere Angaben über die Entwicklung und die charakteriſtiſchen Eigentümlich⸗ keiten der einzelnen Gruppen der ländlichen Bevölgerung finden ſich in meiner „Geſchichte der deutſchen Landwirtſchaft“, Bd. I, S. 476—485 ſowie Bd. II, S. 165—211 und S. 351—370. 9 ei > ar: 1 Sa 3 m 1 % 9 f F M 1 ie 4 IX. Die ländliche Bevölkerung. 149 en der Nut- und Zugtiere verwendet. Die Natur ihrer Obliegen- n bringt es mit ſich, daß ſie den ganzen Tag, nötigenfalls auch zur chtzeit, zur Verfügung ſtehen müſſen. Dadurch wird bedingt, daß ſie auf 2 1 Witiaftshofe ſelbſt zu wohnen, von der Herrſchaft beköſtigt zu werden egen und demzufolge im weiteren Sinne des Wortes zur Familie ihres D. Broth gehören. Hiermit hängt es ferner zuſammen, daß ſie gewöhnlich 5 n jüng eren Jahren ſich befinden und unverheiratet ſind. Der weit über- genden Mehrzahl nach heiraten ſie ſpäter und treten aus dem Geſinde⸗ iſt aus. Das Geſinde ſtellt daher eine Übergangsſtufe dar. Außer ſeiner chtigkeit für eine geregelte Wirtſchaftsführung gewinnt es noch dadurch e beſondere Bedeutung, daß es in täglichen perſönlichen Verkehr mit der nilie des Arbeitgebers tritt und dieſer die Möglichkeit darbietet, erziehend die in der Regel hierfür noch empfänglichen Perſonen einzuwirken. Sehr viele verheiratete ländliche Arbeiter haben früher kürzere oder längere Zeit Geſindedienſt zugebracht und die während deſſen empfangenen Eindrücke wirken in hohem Grade beſtimmend auf ihre ſpäteren Lebensanſchauungen ein. Die Tagelöhner zerfallen in kontraktlich gebundene und in 1 freie. Erſtere führen örtlich ſehr verſchiedene Bezeichnungen: Hof- oder Gutstagelöhner, Inſtleute, Inſten, Gärtner, Dreſchgärtner, auch die weſtfäliſchen Heuerlinge oder Heuerleute kann man im weiteren Sinne zu ihnen rechnen. Sie wohnen auf dem Gute ihres Brotherren und 7 empfan en von dieſem ein, gewöhnlich aus Wohnung, Landnutzung, Vieh: 1 unmaterial und Getreide beſtehendes Naturaldeputat, ſowie einen, * allerdings geringen, Geldlohn. Dem geſamten Werte nach pflegt jenes viel höher zu ſein, als dieſer. Der Gutstagelöhner muß täglich auf herrſchaft⸗ liche beit kommen, hierfür auch noch eine zweite Perſon, den ſogenannten Hofgänger oder Scharwerker ſtellen, der zuweilen ein erwachſenes Kind des Tagelöhners, meiſt aber ein von dieſem gemieteter Dienſtbote iſt. Außer— dem liegt den Frauen der Inſtleute die Verpflichtung ob, wenigſtens im Sommer, falls es verlangt wird und ſie in arbeitsfähigem Zuſtande ſich be⸗ * gegen einen feſt beſtimmten Geldlohn, in der Gutswirtſchaft tätig zu Zwiſchen dem Inſtmann und ſeinem Herrn wird Ina die Einzelheiten ihrer Rechte und Pflichten regelnder Kontrakt geſchloſſen, der beiderſeits viertel jährlich oder halbjährlich kündbar iſt. Auf den großen Gütern des nord— öſtlichen Deutſchlands bilden die Inſtleute die Hauptmaſſe der beſchäftigten * Tagelöhner. Sie ſind dort ganz unentbehrlich, weil bei den verhältnismäßig ſpär⸗ lich vorhandenen und dünn bevölkerten Dörfern die großen Beſitzer andernfalls über faſt gar keine ſtändigen Arbeiter verfügen könnten. In den anderen Teilen des Deutſchen Reiches kommen Gutstagelöhner nur in geringer Anzahl vor. Die freien Tagelöhner heißen ſo, weil ſie, ſofern nicht ausnahms— weiſe durch Vertrag etwas anderes ausgemacht iſt, täglich ihre Arbeitsſtelle pverlaſſen, auch ſie ſelbſt täglich entlaſſen werden können. In der Regel empfangen ſie lediglich baren Geldlohn, in manchen Gegenden außerdem noch Eſſen oder wenigſtens Getränke. Bei ihnen kann man unterſcheiden zwiſchen grundbeſitzloſen und grundbeſitzenden Arbeitern. Erſtere, gewöhnlich Einlieger genannt, wohnen bei einem Bauer, auch wohl bei einem Groß— grundbeſitzer, zur Miete und ſind lediglich auf ihren Lohnerwerb angewieſen. Im Sommer pflegt dieſer ſelten zu fehlen, häufig aber im Winter. Letzteres gilt allerdings auch von den grundbeſitzenden Tagelöhnern. Aber dieſe haben in ihrem Grundbeſitz einen ſehr wichtigen materiellen Rückhalt. Derſelbe ge— währt ihnen außerdem die Möglichkeit, an den Tagen oder in den längeren Perioden, in welchen der Lohnerwerb mangelt, ihre Arbeitskraft innerhalb der eigenen kleinen Wirtſchaft nutzbringend zu verwerten. Man bezeichnet r 1 150 IX. Die ländliche Bevölkerung. die grundbeſitzenden Tagelöhner örtlich mit verſchiedenen Ausdrücken; fie 1 heißen Eigenkätner, Büdner, Häusler ꝛc. Im Durchſchnitt repräſentieren fie die intelligentefte, fleißigſte, ſparſamſte und wirtſchaſtlich wie ſittlich m höchſten ſtehende Gruppe der Landarbeiter. Umgekehrt nehmen die Ein- lieger die tiefſte Stufe ein; man kann ſie als das Proletariat unter 1 den Landarbeitern bezeichnen. In der Mitte zwiſchen beiden befinden ſich die Gutstagelöhner, deren Lage allerdings je nach den einzelnen Gegenden und je nach der Perſönlichkeit der Gutsherren oder deren Beamten, unter denen ſie ſich befinden, eine ſehr abweichende iſt. Eine eigentümliche, von Jahr zu Jahr leider wachſende Gruppe von ländlichen Tagelöhnern bilden die Wanderarbeiter, auch Sachſengänger genannt. Sie kommen im Frühjahr teils aus ländlichen Diſtrikten des Deutſchen Reiches, in denen das Angebot an Arbeitskräften größer iſt als die Nachfrage (Wartebruch, einzelne Teile Schleſiens, das Eichsfeld), dann aber namentlich auch aus Rußland, Polen, Galizien. Zu mehreren Hundert⸗ tauſenden ziehen ſie alljährlich auf die großen Güter des nordöſtlichen, aber auch des mittleren und weſtlichen Deutſchlands, verrichten dort während des Sommers Lohnarbeit und kehren im Spätherbſt wieder in die Heimat zurück. Sie ſind meiſt in noch jugendlichem Alter und in ihrer Mehrzahl weiblichen Geſchlechts. Für die Gutsbeſitzer bilden fie ein willkommenes Aushilfemittel, um den ſo ſtark abweichenden Bedarf an Arbeitskräften während des Sommers und während des Winters auszugleichen. Aber abgeſehen von gewiſſen ſitt⸗ lichen Mißſtänden, ſchließt das ſtarke Anwachſen der Wanderarbeiter ern noch wirtſchaftliche und politiſche Gefahren in ſich. Durch ſie wir ein Teil der an Ort und Stelle befindlichen Tagelöhner überflüſſig oder doch in ihrem regelmäßigen Lohnerwerb beeinträchtigt und veranlaßt, dem bis⸗ herigen Wohnſitz den Rücken zu kehren. Sie geben dann häufig nicht nur ihre Arbeitsſtelle, ſondern ihre ganze bisherige Beſchäftigung auf und wenden ſich einer anderen Erwerbstätigkeit zu. Beſonders befördert wird dieſer Vor⸗ gang noch dadurch, daß ein ſehr erheblicher Bruchteil der Wanderarbeiter nichtdeutſcher, namentlich polniſcher Nationalität iſt. Mit den Polen wollen die Deutſchen aus Gründen, deren Darlegung hier zu weit führen würde, auf die Dauer nicht gerne zuſammen arbeiten; namentlich nicht, wenn dieſe in großer Anzahl oder gar in der Überzahl vorhanden ſind. Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß aus dieſem Grunde viele deutſche Land⸗ arbeiter fortwandern und gleichzeitig dann großenteils ihren bisherigen Beruf überhaupt aufgeben. Schon im Intereſſe der Landwirtſchaft iſt ſolches ſehr beklagenswert. Die Zahl der ſtändigen und ſeßhaften Arbeiter wird vermindert; dieſe ſind aber aus mannigfaltigen Gründen im Durchſchnitt den wandernden Arbeitern vorzuziehen. Ebenſo bewähren ſich deutſche Arbeiter beſſer, als polniſche. Letztere zeichnen ſich zwar durch Genügſamkeit und Unterwürfigkeit aus; ſie ſind aber gleichzeitig unzuverläſſiger, weniger ſorg⸗ fältig, trunkſüchtiger, ſchmutziger und bei ſchweren Arbeiten nicht ſo leiſtungs⸗ fähig. Dazu kommt die große Gefahr für den Staat, die mit dem An⸗ wachſen des polniſchen Elementes verbunden iſt. In vielen Teilen der öſt⸗ lichen preußiſchen Provinzen haben auf dem Lande die polniſchen Arbeiter erheblich zugenommen, während die Zahl der deutſchen Arbeiter ebenſo ge- ſunken iſt. Die Gefahr der Poloniſierung großer Gebiete der preußiſchen Monarchie iſt kein bloßes Schreckgeſpenſt; ſie iſt eine Tatſache, die nicht nur von den Staatslenkern, ſondern von allen patriotiſch geſinnten Männern ernſtlich ins Auge gefaßt zu werden verdient. Ein, auf der deutſchen Landwirtſchaft gegenwärtig beſonders ſchwer laſtender Übelſtand iſt der große Mangel an Arbeitskräften. Er drückt IX. Die ländliche Bevölkerung. 151 icht nur den einzelnen Landwirt, ſondern beeinträchtigt die landwirtſchaftliche duktion im ganzen. Allerdings tritt er in den verſchiedenen Gegenden ſehr verſchieden ſtark auf, iſt ſtellenweiſe auch gar nicht vorhanden. Aber abgeſehen von unzähligen einzelnen Erſcheinungen, wird der Mangel an land- virtſchaftlichen Arbeitskräften ſchon dadurch konſtatiert, daß die Geſamtzahl elben im Deutſchen Reiche abnimmt. Die im Intereſſe der Volkswirt⸗ t und des Staates dringend erwünſchte intenſivere Geſtaltung des land— ſchaftlichen Betriebes wird dadurch ſehr erſchwert, in vielen Fällen ge— ezu verhindert. Aus der Vergleichung der beiden deutſchen Berufsſtatiſtiken von 882 und 1895 geht die Abnahme der ländlichen Bevölkerung überhaupt insbeſondere der ländlichen Arbeiter deutlich hervor. Es betrug die Zahl der zur Landwirtſchaft gehörenden Perſonen: 1882 19 225 455 1895 18 501 307, alſo 1895 weniger 724 148 Darunter waren: 1882 l a) Erwerbstätige 8 236 496 8 292 692 + 56 196 b) Dienſtboten für häuslich Dienſte und Angehörige 10 988 959 10 208 615 — 780 344 Von den Erwerbstätigen kamen auf: 1882 e e r 2 288 033 2 568 725 + 280 692 ä 66 644 96173 +4 29529 RR ER ; 5 881819 5 627 794 — 254025 zuſammen 8 236 496 8292692 + 56 196 Es ergeben ſich hieraus folgende Reſultate. Die zur Landwirtſchaft ee» Bevölkerung hat um etwa 3/, Mill. Perſonen abgenommen. Die nahme iſt erfolgt lediglich auf Koſten der Dienſtboten für häusliche Dienſte und der Angehörigen; die Erwerbstätigen zeigen ſogar eine Zunahme von 56196. Unter den Erwerbstätigen ſind die ſelbſtändigen um 280 692 ge- wachſen, dagen haben die Arbeiter um 254025 abgenommen. Da außer— dem die Zahl der Dienſtboten für häusliche Dienſte und die Angehörigen der Erwerbstätigen, von denen doch immerhin viele ab und zu Lohnarbeit verrichten, ſtark geſunken ſind, ſo ergibt ſich deutlich, daß die Landwirtſchaft 1895 nicht mehr über ſo viele einheimiſche Arbeitskräfte verfügt hat, wie es noch im Jahre 1882 der Fall geweſen iſt ). Allerdings gewährt die amtliche Statiſtik keinen ſicheren Anhalt für die Beurteilung der Zahl der Landarbeiter bezw. deren Abnahme, wie Dade in ſeiner Schrift über die landwirtſchaftliche Bevölkerung des Deutſchen Reiches um die Wende des 20. Jahrhunderts zutreffend nachgewieſen hat (a. a. O. S. 10—16). Die Urſachen dieſes Mangels liegen in folgendem: Viele tauſende von Kleinſtellenbeſitzern ſind ſowohl ſelbſtändige Landwirte wie landwirtſchaftliche Lohnarbeiter; ferner gibt es viele Lohnarbeiter oder deren Angehörige, die teils in der Landwirtſchaft, teils in anderen Gewerben — ———— ͥ T— — — — — — — za W N 5 8 * ’ a CCC ee Een a 5 ee 3 e * S W e er er 1) Zu den oben mitgeteilten Zahlen vergl. Vierteljahrsheft zur Statiſtik des Deutſchen Reiches, Jahrg. 1897, Ergänzung zum II. Heft, S. 10 und 11. Jahrbuch für die amt- liche Statiſtik des Deutſchen Reiches, 19. Jahrg., 1898, S. 10—14. Ferner Joh. Conrad, „Die Landwirtſchaft im Deutſchen Reiche nach der landwirtſchaftlichen Betriebszählung vom 14. Juni 1895“ in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statiſtik, 3. Folge W. 16 (1899), S. 495 ff. rr * Wer e Te EEE 152 IX. Die ländliche Bevölkerung. Beſchäftigung haben; endlich iſt bei den zwei bis jetzt ſtattgehabten Er⸗ BE hebungen eine verſchiedene Art der Klaſſifizierung der mit landwirtichafe licher Arbeit beſchäftigten Perſonen zur Anwendung gekommen. Die durch die genannten Umſtände veranlaßten Ungenauigkeiten ſind in der überaus verwickelten Natur der tatſächlichen Verhältniſſe begründet; ſie werden bei ſpäteren Erhebungen ſich vielleicht etwas mildern, aber nie ganz beſeitigen laſſen. — Die oben mitgeteilten Zahlen können daher keinen Anſpruch auf volle Richtigkeit machen. Darüber herrſcht aber allgemeine Übereinſtimmung, daß die Zahl der mit landwirtſchaftlicher Lohnarbeit beſchäftigten Perſonen # erheblich abgenommen hat. Solches geht auch aus der von Dade aufge ſtellten Berechnung hervor. | Einen gewiſſen Erjag für den Ausfall an heimischen Lohnarbeitern ſuchen und finden die landwirtſchaftlichen Unternehmer in den aus dem Aus⸗ lande kommenden Wanderarbeitern. Welche Übelſtände und Gefahren durch dieſe aber heraufbeſchworen werden, iſt bereits dargelegt worden. Beſonders groß iſt der Mangel an Geſindeperſonen, namentlich an weiblichen, der mehr oder weniger im ganzen Deutſchen Reich ſich geltend macht. Bezüglich der Tagelöhner iſt die Lage ſehr verſchieden. Es gibt Gegenden, in denen kein fühlbarer Mangel herrſcht. Denn man kann als ſolchen nicht den Umſtand bezeichnen, daß die Landwirte während der dringendſten Arbeitsperioden nicht immer augenblicklich ſo viel Leute erhalten können, als ſie wünſchen und zu beſchäftigen vermögen. Dies iſt ſtets ge— weſen und läßt ſich nicht ändern. Aber es gibt auch viele Gegenden, in denen die Landwirte jetzt über erheblich weniger einheimiſche Arbeitskräfte verfügen, als früher, während doch die intenſivere Geſtaltung des Betriebes mehr Leute erfordert. Sie greifen deshalb zu den mannigfaltigſten Aus⸗ hilfemitteln: Heranziehung von Wanderarbeitern, vermehrte Anwendung von Maſchinen oder auch eine extenſivere und weniger lohnende Art der Wirt⸗ ſchaftsführung. Trotzdem erleiden ſie oft große Verluſte dadurch, daß eigent⸗ lich notwendige Arbeiten ganz unterbleiben, andere nicht rechtzeitig oder in unvollkommnerer Weiſe ausgeführt werden müſſen. Am meiſten werden von dem Arbeitermangel die Großgrundbeſitzer be⸗ troffen und namentlich im nordöſtlichen Deutſchland, wo eine verhältnismäßig dünne Bevölkerung, wo wenige und meiſt nur kleine Bauerndörfer ſich finden. In Bezirken, in denen der bäuerliche Beſitz überwiegt, und namentlich dort, wo viele Kleinſtellenbeſitzer vorhanden ſind, tritt der Arbeitermangel weit weniger, oft gar nicht hervor. Durch das Vorhandenſein einer ausgedehnten Induſtrie werden einerſeits zwar der Landwirtſchaft Arbeitskräfte entzogen, andererſeits aber auch wieder zugeführt. Viele Tauſende von Familien gibt es, von denen ein Teil der Mitglieder in der Induſtrie, ein anderer in der Landwirtſchaft Erwerb findet; die meiſten von ihnen würden keine ſie be- friedigende Exiſtenz haben und ihren Wohnſitz nicht beibehalten können, wenn ſie auf den landwirtſchaftlichen Lohnerwerb ausſchließlich angewieſen wären. Der Mangel an landwirtſchaftlichen Arbeitern wird zunächſt und direkt dadurch hervorgerufen, daß alljährlich große Scharen derſelben ihre Heimat und ihren Beruf verlaſſen. Teils ziehen ſie in die Städte und Induſtrie⸗ bezirke des Deutſchen Reiches, teils wandern ſie in fremde, namentlich über⸗ ſeeiſche Länder. Beide Arten der Fortwanderung unterſcheidet man wohl durch die Ausdrücke Ab-oder Binnenwanderung und Auswanderung. An und für ſich ſind ſie natürlich und berechtigt, in Ländern mit ſtark wachſen⸗ der Bevölkerung ſogar notwendig. In ihnen kann die Landwirtſchaft nicht den ganzen Nachwuchs an Menſchen beſchäftigen, ein Teil muß ſich ander⸗ IX. Die ländliche Bevölkerung. 153 eitigen Erwerb ſuchen. Vom Übel iſt es nur, wenn die Landbewohner in chem Umfange fortwandern, daß die Landwirtſchaft an Arbeitskräften em⸗ ichen Mangel leidet. Ich enthalte mich hier Zahlen über die Stärke der Fortwanderung u geben, verweiſe vielmehr in dieſer Hinſicht auf die reichhaltige hierüber erſchienene Literatur !). Sie nimmt periodiſch ab und zu. Die Schwankungen werden vorzugsweiſe bedingt nicht durch die jeweilige Lage der heimiſchen Landwirtſchaft, ſondern durch die mehr oder weniger günſtigen Ausſichten, welche die Induſtrie oder die überſeeiſchen Länder darbieten. Ein großer Auf— wung der deutſchen Induſtrie hat ſtets eine ſtarke Abwanderung von Land— beitern zur Folge, die Eröffnung neuer Koloniſationsgebiete eine ſtarke Aus— nderung. Hieraus erklärt ſich der in den letzten Jahren ſo beſonders reiche Zug vom Lande nach der Stadt; ebenſo aber auch die augenfällige Abnahme der Auswanderung. Das hauptſächlichſte Ziel der Auswanderer, die Vereinigten Staaten Nordamerikas, bieten zur Zeit den auswandernden Koloniſten keineswegs ſehr günſtige Ausſichten. A Unter unbefangenen Sachverſtändigen herrſcht darin Übereinſtimmung, daß die Fortwanderung vom Lande eine erheblichere Ausdehnung ange— nommen hat, als es im Intereſſe nicht nur der Landwirtſchaft, ſondern auch der Städte und ſomit des ganzen Staates liegt. Zufolgedeſſen ſammelt . l in den großen Städten ein zahlreiches Proletariat an, welches an Leib und Seele Not leidet und auch vor Gewalttaten nicht zurückſchreckt, wenn es dadurch ſeine Lage zu verbeſſern hoffen darf. Auf der anderen Seite leidet die Landwirtſchaft durch den Mangel an Arbeitskräften empfindlichen Schaden; ihre Roh⸗ wie Reinerträge könnten erheblich geſteigert werden, wenn ſie über mehr Menſchen verfügte. Die kraftlos und häufig arbeits— ſcheu gewordenen ſtädtiſchen Proletarier vermögen ihr freilich nicht zu helfen; es muß vielmehr verſucht werden, den Zug vom Lande nach der Stadt ab— ziuſchwächen. 1 Um hierfür wirkſame Mittel zu finden, iſt es vor allem nötig, ſich darüber klar werden, welche Beweggründe zu der Fortwanderung Ver— anlaſſung geben. Für die einzelnen Perſonen mögen dieſe ja ſehr verſchieden— artige ſein; man kann ſie aber für die weit überwiegende Mehrzahl in den einen zuſammenfaſſen, daß ſie glauben, anderwärts eine ihnen mehr zuſagende Lebensweiſe führen zu können. Bei vielen mag dieſe eine ganz unbegründete Vermutung ſein; viele andere ſtützen ſich dabei aber auf die günſtigen Er- fahrungen, welche bereits früher fortgewanderte Verwandte und Bekannte gemacht haben. Bei der Entſcheidung über Bleiben oder Fortziehen ſind häufiger das Gefühl, die Empfindung, als kühle verſtandesmäßige Er— wägungen maßgebend. Dies im Auge zu behalten, iſt von Bedeutung. Nicht wenige Landarbeiter oder deren Angehörige wandern fort, weil ſie aus ne — — 1) Es iſt mir überhaupt in dieſem Buche nicht möglich, in die Einzelheiten der landw. Arbeiterfrage einzugehen; für diejenigen, welche ſich näher informieren wollen, laſſe ich hier die Titel der wichtigſten darüber erſchienenen Schriften folgen: Th. Frhr. von der Goltz, Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Löſung, 2. Aufl. 1874. Derſelbe, Die Lage der ländl. Arbeiter im Deutſchen Reich, Berlin 1875. Zur inneren Koloniſation, 32. Bd. der Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Leipzig 1886. G. Fr. Knapp, Die Bauern- befreiung und der Urſprung der Landarbeiter, 2 Bde., Leipzig 1887. K. Kaerger, Die Sachſengängerei, Berlin 1890. Die Verhältniſſe der Landarbeiter in Deutſchland, 53., 54. und 55. Bd. d. Schrift. d. Vereins f. Sozialpolitik, Leipzig 1892. Answandrung und Aus⸗ wanderungspolitik in Deutſchland, 52. Bd. d. Schrift. d. V. f. Sozo. Max Sering, Die innere Koloniſation im öſtlichen Deutſchland, 56. Bd. d. Schr. d. Ver. f. Sozp., Leipzig 1893. 3 Th. Frhr. von der Goltz, Die ländliche Arbeiterklaſſe und der preußiſche Staat, Jena 1893. 5 Georg Stieger, Zur Landarbeiterfrage, Jena 1898. Bar“. f rg * = r 1 r E N Br; 2 1 Er: 57 15 92 Ira ge: ar 15 We 13 u ” 2 155 Ti 1 . 1 2 7 154 IX. Die ländliche Bevölkerung. dieſem oder jenem Grunde in ihrer gegenwärtigen Stelle ſich nicht wohl günſtige iſt. Sie werden vielleicht von dem Arbeitgeber oder deſſen Beamten zu rauh behandelt; ſelbſt auf ihre berechtigten und erfüllbaren Wünſchen wird zu wenig Rückſicht genommen; ſie erhalten den Lohn nicht immer recht: getig und regelmäßig; das gelieferte Naturaldeputat ift von ungenügender Beſchaffenheit c. Derartige Beweggründe ſind namentlich bei i 2 fühlen, obgleich ihre materielle Lage im allgemeinen keineswegs eine ums löhnern oft entſcheidend. Sie Stehen in viel näherem und häufigerem kehr mit dem Arbeitgeber, ſind von ihm weit abhängiger als die freien löhner. Ihre tatſächliche Lage und noch mehr ihre Gemütsſtimmung wird in hohem Grade von dem Wohlwollen beſtimmt, mit welchem der Brotherr 3 oder deſſen Vertreter ihnen begegnen. Gewinnen ſie den Eindruck, daß dieſe ihnen freundlich entgegenkommen, nach Kräften für ſie ſorgen, an ihren per⸗ 3 ſönlichen Freuden und Leiden teilnehmen, jo find fie weit weniger zum Forte wandern geneigt, als im umgekehrten Fall. Es iſt ein verbreiteter, aber verderblicher Irrtum, daß die Art der Behandlung der Arbeiter hierauf von keinem Einfluß ſei. Jeder Kenner der Verhältniſſe weiß, daß in ein und derſelben Gegend auf dem einen Gute die Inſtleute ſelten fortwandern, während auf dem anderen ein beſtändiger Wechſel ſtattfindet; die Verſchieden- s heit iſt in der Regel auf die abweichende perſönliche Behandlung zurückzu⸗ führen. Dort, wo lediglich freie Tagelöhner zur Verwendung kommen, fällt das perſönliche Element weniger ſtark ins Gewicht; aber auch hier iſt es \ nicht ohne Bedeutung. Die Lohn- und Einkommensverhältniſſe der ſtändig beſchäf⸗ tigten ländlichen Arbeiter ſind gerade keine ungünſtigen; ſie befinden ſich im Durchſchnitt nicht ſchlechter, als die ſtädtiſchen und induſtriellen Arbeiter. Während des letzten Menſchenalters ſind die Löhne der ländlichen Arbeiter, namentlich der Geſindeperſonen, ſtark geſtiegen. Bei dem Vergleich ihrer äußeren Lage mit der Lage anderer Arbeiter iſt zu berückſichtigen, daß die notwendigſten Lebensbedürfniſſe auf dem Lande erheblich billiger, als in der Stadt ſind; daß ferner viele Landarbeiter einen Teil ihres Lohnes, die Guts⸗ tagelöhner ſogar den weitaus größeren Teil, in Naturalien empfangen und dadurch von den Schwankungen der Preiſe unabhängig gemacht werden. In einzelnen Gegenden iſt freilich der Tagelohn noch recht niedrig; aber aus einer Zuſammenſtellung der im Jahre 1873 von dem Kongreß deutſcher Landwirte und der 1891 von dem Verein für Sozialpolitik gemachten Er⸗ hebungen ergibt ſich, daß bezüglich der Lohnhöhe allmählich ein gewiſſer Ausgleich innerhalb der verſchiedenen Gegenden des Deutſchen Reiches ſich vollzieht. Die Freizügigkeit ſowie vor allem die ſtarke Entwicklung und die Wohlfeilheit der Verkehrsmittel machen dieſe Tatſache auch leicht erklärlich. Abgeſehen von den beſprochenen perſönlichen Verhältniſſen ſind es zwei Umſtände, deren Druck viele Landarbeiter zur Fortwanderung ver⸗ anlaßt. Der eine beſteht in der Unregelmäßigkeit ihres Lohnerwerbes und trifft die freien Tagelöhner. Nicht wenige derſelben finden im Winter oder während eines Teiles des Winters keine Beſchäftigung und damit keinen Verdienſt. Beſonders hart trifft dies die Einlieger, während die grund⸗ beſitzenden Tagelöhner hierin weit günſtiger geſtellt ſind. Im Gegenſatz zu den freien Arbeitern genießen die Gutstagelöhner den großen Vorzug, daß ihnen der Lohnerwerb das ganze Jahr hindurch gleichmäßig zufließt. Sie haben aber unter dem Übelſtande zu leiden, daß ihnen gekündigt werden kann, daß ſie damit gleichzeitig ihren Wohnſitz verlieren und daß es ihnen, falls ſie nicht mehr jung ſind, oft ſchwer fällt, eine neue Stelle zu finden. Noch empfindlicher drückt auf ſie, daß ſie keine Ausſicht haben, es einmal IX. Die ländliche Bevölkerung. 155 eiter als bis zum Inſtmann zu bringen. Denn dort, wo Gutstagelöhner ie Hauptmaſſe der ländlichen Tagelöhner bilden, fehlt es an Gelegenheit zur Erwerbung eines eigenen kleinen Grundbeſitzes. Der Inſtmann weiß, daß er uf der ſozialen Sufenleiter zwar herabſteigen, nicht aber ſich emporſchwingen mn. Die Unſicherheit ihrer Lage und die Hoffnungsloſigkeit für J e Zukunft bilden in der Mehrzahl der Fälle für die Gutstagelöhner den Beweggrund zur Fortwanderung. Es wäre im Intereſſe einer Geſundung jer ländlichen Arbeiterverhältniſſe, wenn man dieſe, nach meiner Anſicht un- zweifelhafte Tatſache allgemeiner anerkennte und ſchärfer ins Auge faßte, als bisher geſchehen iſt. Bei vielen Landarbeitern wirkt für die Fortwanderung beſtimmend oder beſtimmend die Ausſicht, welche die Stadt und das ſtädtiſche Leben auf ßere Ungebundenheit, auf die vermehrte Gelegenheit zu geſelligen Ver— gungen, auch zu geiſtiger Anregung und Belehrung, darbietet. Namentlich Perſonen, die noch in jüngeren Lebensjahren ſtehen, iſt dies oft von ſcheidender Bedeutung. | f Unzutreffend oder doch nur in geringem Grade zutreffend iſt die Be— ptung, durch das ſpäter auch zum Reichsgeſetz erhobene Geſetz des Norddeutſchen Bundes vom 1. November 1867, welches das Recht der Freizügigkeit für das ganze Deutſche Reich feſtſtellt, habe der Zug der Landbevölkerung nach den Städten erſt eine große Ausdehnung gewonnen. Die Freizügigkeit iſt altes deutſches Recht, welches allerdings nach Einführung der Hörigkeit oder Erbuntertänigkeit dadurch eine große Beſchränkung erlitt, daß die ſchollenpflichtigen Bauern, ſowie deren Angehörige ohne Erlaubnis des Gutsherrn ihren Wohnſitz nicht wechſeln durften. Mit Aufhebung der AUrntertänigkeit war die Herſtellung der Freizügigkeit im weſentlichen ſchon ge— geben. Was an Becchränkungen zurückblieb, war polizeilicher Natur und wurde mit Rückſicht auf das Sicherheits- und Armenweſen beibehalten. In Preußen war man ſich ſchon nach Erlaß des Ediktes vom 9. Oktober 1807, welches die Gutsuntertänigkeit aufhob, darüber klar, daß hiermit auch die Freizügigkeit im Prinzip zugeſtanden ſei. Um Zweifel zu beſeitigen, wurde dann in dem Geſetz vom 31. Dezember 1842 ausdrücklich ausgeſprochen, daß keinem ſelbſtändigen preußiſchen Untertanen an dem Orte, wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen ſich ſelbſt zu verſchaffen imſtande ſei, der Aufenthalt verweigert oder durch läſtige Bedingungen erſchwert werden dürfe. In einigen anderen deutſchen Staaten unterlag allerdings die Frei— ügigkeit inſofern größeren Beſchränkungen, als zwar nicht der Abzug er— ſchwert wurde, aber es doch den Gemeinden leichter gemacht wurde, auswärts wohnenden Perſonen, von denen man in Zukunft eine Erhöhung der Armen— 4 laſten befrüchten zu dürfen glaubte, den Zuzug zu verweigern. Hier mag das Geſetz von 1867 allerdings auf die Fortwanderung der Landarbeiter un a0 befördernd eingewirkt haben. Aber darüber ſollte man im | klaren ſein, daß der vermehrte Zug nach den Städten in viel höherem Grade diurch die Verbeſſerung und Verbilligung der Verkehrmittel, als durch die Ausdehnung der Freizügigkeit veranlaßt worden iſt. 15 Gleichwie in früheren Jahrzehnten die Auswanderung nach Amerika faſt einen epidemiſchen Charakter angenommen hatte, jo trifft dies jetzt für den Fortzug der Landarbeiter nach den Städten und Induſtriebezirken zu. Iſt derſelbe auch bis zu einem gewiſſen Grade unvermeidlich, ja not— wendig, und wird er auch oft durch ſehr reale und triftige Beweggründe veranlaßt, ſo geſchieht er doch häufig nur deshalb, weil man unbewußt von dem unter die Landarbeiter gefahrenen Geiſt der Unruhe und Unbefriedigung, der übrigens auch bei anderen Volksklaſſen ſich findet, ergriffen worden 156 IX. Die ländliche Bevölkerung. iſt. Derartige ſoziale Bewegungen, welche man als Epidemieen bepeich 9 könnte, ſind in der Geſchichte der Nationen nichts Neues. Wie ſie gekommen ſind, ſo pflegen ſie auch allmählich zu verſchwinden; um ſo raſcher, je ſchneller und gründlicher den tatſächlichen Mißſtänden, welche bei ihrer Entſtehung mitgewirkt haben, Abhilfe geſchafft wird. Aus dieſen geſchichtlichen 1 rungen darf man zwar einerſeits die Hoffnung ſchöpfen, daß der jetzt 1 mächtig nach den Städten fließende Menſchenſtrom mit der Zeit nachlaſſen 7 wird; man ſoll daraus andererſeits aber auch den Antrieb entnehmen, mit allen zu Gebote ſtehenden Mitteln auf eine Verbeſſerung der Lage der lands 1 lichen Arbeiter hinzuwirken. 4 Bezüglich der freien Tagelöhner iſt in erſter Linie dafür zu W daß ſie möglichſt das ganze Jahr hindurch regelmäßig beſchäftigt werden. Wenigſtens ſollte dies für die Männer gelten, ſoweit ſie zur Erwerbung des nötigen Lebensunterhaltes auf landwirtſchaftliche Lohnarbeit angewieſen ſind. Das wirkſamſte Mittel hierfür liegt in der möglichſten Beſchränkung dern Sommerarbeiten durch umfaſſende Anwendung von Menſchen erſparenden Maſchinen und durch möglichſte Ausdehnung der im Winter durch menſchliche Kräfte vorzunehmenden Verrichtungen. Darin kann noch viel mehr getan werden, wie bis jetzt geſchehen iſt!). | Um die am Ort oder in der Nähe befindlichen Tagelöhner zu veran⸗ laſſen, im Sommer regelmäßig auf Arbeit zu kommen, hat es ſich in vielen Fällen als erfolgreich erwieſen, daß man ihnen ein Stück Kartoffelland oder Grasland zur Nutzung überläßt oder ihnen ein anderweitiges Naturaldeputat verabreicht oder ihnen auch einen beſtimmten Anteil an der Getreideernte oder dem Futterertrag zuſichert. Sie erhalten dieſe Vergünſtigungen nur unter der Vorausſetzung und Bedingung, daß ſie in einer feſtgeſetzten Periode oder zu beſtimmten Verrichtungen ihre Arbeitskraft dem betreffenden Gute gegen einen außerdem zu zahlenden, vorher vereinbarten Geldlohn zur Verfügung ſtellen. Das geſchilderte Verfahren iſt als eine teilweiſe Naturallöhnung zu betrachten. Will man den Gutstagelöhnern ihre Arbeitsſtelle lieb machen, ſo iſt hierzu, außer einer humanen perſönlichen Behandlung, vor allem nötig, daß man ihnen die vertragsmäßig zu liefernden Natnralien in einer, billigen und gerechtfertigten Anforderungen entſprechenden Beſchaffenheit zukommen läßt. Solches gilt z. B. von der Wohnung, der Landnutzung, dem Viehfutter, dem Brennmaterial, dem Brotgetreide. Kontraklich kann man die Beſchaffen⸗ heit dieſer Naturalien nicht feſtſtellen; der Inſtmann iſt darin in hohem Grade von ſeinem Herrn oder deſſen Beamten abhängig. Tatſächlich werden auf den einzelnen Gütern die Naturalien in ſehr abweichender Beſchaffenheit geliefert. Wo dieſelbe gewohnheitsmäßig mangelhaft iſt, gehen die Inſtleute viel häufiger fort, als dort, wo das entgegengeſetzte Verfahren innegehalten zu werden pflegt. In den letzten Jahrzehnten hat man auf den meiſten großen Gütern des nordöſtlichen Deutſchlands den Naturallohn gekürzt und dafür den Geld⸗ lohn erhöht. Einzelne Formen der Naturallöhnung mögen ja nicht mehr zeitgemäß geweſen ſein. Aber im großen und ganzen war dieſelbe zweckent⸗ ſprechend eingerichtet. Man 15 in der Einſchränkung der Naturallöhnung vielfach zu weit gegangen; ſo z. B. hinſichtlich des Viehfutters oder der Viehhaltung, auch bezüglich des Breſcherlohnes. Es iſt dringend zu wünſchen, daß die hierauf gerichtete Entwicklung nicht noch weitere Fortſchritte macht. Durch eine umfaſſende und zweckmäßig gehandhabte Naturallöhnung wird 1) Vergl. das S. 28 ff. hierüber Geſagte. IX. Die ländliche Bevölkerung. 157 0 ce gemeinschaft zwiſchen den Arbeitgebern und ihren Tage⸗ hnern begründet, die für Herſtellung und Bewahrung eines guten Verhält— n von großem Werte iſt und durch nichts anderes erſetzt ann Die auf dem Gute befindlichen Inſtleute ſoll man, jo lange als mög- da erhalten. Man ſoll ihnen nicht kündigen, wenn fie wegen Alters eines vorzeitig ſich einſtellenden Gebrechens nicht mehr voll leiſtungs⸗ fähig ſind. In vielen derartigen Fällen wird es zwar notwendig ſein, ihnen er Gutstagelöhnerſtelle zu nehmen; man joll ſie aber dann anderweitig be- ſchäftigen und dafür ſorgen, daß ſie in ähnlicher Art wie früher ihre Be⸗ dürfniſſe beſtreiten können. Es muß ſich unter den Inſtleuten eiues Gutes die auf Erfahrung begründete Meinung bilden, daß ſie, falls ſie nach Maß⸗ e ihrer Kräfte für ihren Brotherrn tätig ſind, auch Zeit ihres Lebens an em Wohnſitz bleiben können, ohne Mangel zu leiden. Erſt hierdurch er⸗ gen ſie das für gemütliches Wohlbefinden ſo wichtige Heimatsgefühl. Die beſchriebenen Maßregeln genügen aber nicht allein, um die Fort⸗ wanderung der Gutstagelöhner in dem wünſchenswerten Grade einzuſchränken. Hierzu iſt außerdem nötig, daß man ihnen die Möglichkeit gewährt, einmal ſelbſt in den Beſitz eines kleinen Grundeigentums zu gelangen. Es wurde bereits erwähnt, daß die Hoffnungsloſigkeit und Ausſichtsloſigkeit für die Zukunft viele Gutstagelöhner, aber auch Einlieger, dazu bewegt, der Land- arbeit überhaupt den Rücken zu kehren. Dieſer Übelſtand läßt ſich nur da⸗ durch beſeitigen, daß man ihnen die jetzt faſt gänzlich fehlende Gelegenheit 3 mit Hilfe ihrer Erſparniſſe eine kleine Landſtelle zu erwerben. Deieſelbe wird zwar ſtets jo wenig umfangreich ſein, daß ſie von deren Er⸗ trag allein nicht leben können, daß ſie vielmehr auch in Zukunft vorzugs⸗ weiſe auf Lohnarbeit angewieſen bleiben; aber ſie haben dann doch einen feſten Wohnſitz und eine ſichere Heimat, einen Fleck Erde, von dem ſie niemand vertreiben kann. Auf dem Domanium des Großherzogtums Meck— lenburg⸗ Schwerin iſt der Staat ſchon ſeit Jahrzehnten und zwar mit großem Erfolg mit der Anſiedelung von Häuslern und Büdnern vorgegangen. In den öſtlichen preußiſchen Provinzen iſt hier und da etwas Ahnliches von Privatleuten ins Werk geſetzt worden; aber es iſt bis jetzt bei ganz verein— elten Unternehmungen geblieben. Ohne Mitwirkung der ſtaatlichen Ge— eggebung und Verwaltung kann auch auf eine für die Allgemeinheit 13 fallende Anſiedelung grundbeſitzender Tagelöhner nicht gerechnet werden Wie gemachte Verſuche gelehrt haben, iſt es unzweckmäßig, Arbeiter innerhalb eines Gutsbezirkes ſeßhaft zu machen. Es kann dies mit Erfolg nur innerhalb eines Bauerndorfes geſchehen ). In einer iſolierten Kolonie fühlen die Arbeiter ſelbſt ſich nicht wohl und dem Gutsbeſitzer erwächſt daraus möglicherweiſe ſpäter eine drückende Laſt. Zu dem Weſen einer nor— malen Dorfgemeinde gehört es, daß darin große, mittlere, kleine Bauern, auch Kleinſtellenbeſitzer ſich befinden. Dieſe verſchiedenen Gruppen ergänzen und unterſtützen ſich gegenſeitig; ſie bilden eine naturgemäße ſoziale Gliede— er a die manmigfaltigſien Zwiſchenſtufen aufweiſt oder doch zuläßt. 1) Ausführlich habe ich mich über die Art, wie die e 9 grundbeſitzender Arbeiter durchzuführen iſt, N in dem Buche, „Die ländliche rbeiterklaſſe und der Pe Staat“ (Jena 1893, S. 201 ff.). Hier muß ich mich mit einigen kurzen B en begnügen. Vergl. auch 8. von Klitzing — Kolzig, „Der Arbeitermangel de und ſeine Abhilfe“, Berlin 1900 und O. Gerlach, „Bie Landarbeiterfrage Inh. hen Fr Preußens“ in der Zeitſchrift für Sozialwiſſenſchaft, III. Bd. 7. und Heft, 1900 ’ * 9 r 158 | IX. Die ländliche Bevölkerung. Dem auf einer unteren Stufe befindlichen Grundbeſitzer ift nicht die Aus⸗ ſicht genommen, durch wirtſchaftliche Tüchtigkeit ſich allmählich zu ei höheren emporzuarbeiten. Bis jetzt fehlt es in den Bauerndörfern des nord öſtlichen Deutſchlands noch ſehr an Kleinſtellenbeſitzern. In einzelnen wenigen Bezirken find fie wohl zahlreich, oft zu zahlreich vorhanden; aber fie mangelnn gerade dort, wo ſie am nötigſten gebraucht werden, nämlich in den Gegen 1 wo der Großgrundbeſitz überwiegt. Um ihre Anſiedelungen zu bewirken, iſt es nötig, daß in geeignet gelegenen Dörfern ein oder ein paar Bauernhöfe angekauft und in Kleinſtellen zerlegt werden. Das Verfahren muß ein ähn⸗ liches ſein, wie es bei der Errichtung von Rentengütern nach dem Geſetz von 1891 innegehalten wird. Noch beſſer würde es ſein, wenn der Staat oder die größeren Kommunalverbände (Provinz, Kreis) den Ankauf und die Zerteilung der Bauernhöfe übernähmen und dabei ähnlich verführen, wie es die Anſiedelungskommiſſion für Poſen und Weſtpreußen nach dem Geſetz von 1886 tut (ſ. S. 95 ff.). Aufgabe des Staates müßte es aber immer bleiben, Normativbeſtimmungen über die Durchführung dieſer Maßregel zu erlaſſen, dieſelbe auch durch Gewährung materieller Mittel zu unterſtützen. Die Normativbeſtimmungen müſſen dem Zweck, um deſſen Erreichung es ſich handelt, nämlich die Anſiedelung von grundbeſitzenden Landarbeitern, genau angepaßt werden. Durch die Rentengutsgeſetze und das Anſiedelungsgeſetz ſoll vornehmlich die Vermehrung der Bauernſtellen erzielt werden; hier das gegen handelt es ſich um Arbeiterſtellen. Um den Unterſchied auch äußer⸗ lich hervorzuheben, habe ich den letzteren den Namen „Arbeiterrenten- güter“ beigelegt. Dieſelben ſollen, je nach dem Boden und den ſonſtigen Verhältniſſen, einen Umfang von ½ bis höchſtens 1½ ha haben. Erwerber der zu teilenden Bauernhöfe iſt der Staat oder der Kommunalverband; der Arbeiter hat einen kleinen Teil des Kaufpreiſes bar zu erlegen, für den übrigen Teil eine jährliche Rente, die zugleich einen Amortiſationsbetrag ent⸗ hält, an die Rentenbank abzuführen. Solange die Schuld noch nicht ganz getilgt iſt, darf das Arbeiterrentengut nicht geteilt werden und iſt dem Anz erbenrecht unterworfen. An zahlungsfähigen Kaufliebhabern würde es meines Erachtens nicht fehlen. Zu wünſchen wäre es allerdings, wenn der Staat, ebenſo wie er es bei dem Anſiedelungsgeſetz getan hat, einen Fonds zum Ankauf von Bauerngütern hergäbe. Er würde dabei ſich zwar mit einer geringen Verzinſung begnügen müſſen; aber der hierdurch erwachſende Ver⸗ luſt kommt nicht in Betracht gegenüber dem großen ins Auge gefaßten Ziel. Wenn die Landwirtſchaft in den öſtlichen preußiſchen Provinzen nicht zurückgehen oder wenn dieſe Provinzen durch Uberhandnehmen der fremdländiſchen Wanderarbeiter nicht poloniſiert werden ſollen, dann muß die Anſiedelung grundbeſitzender Arbeiter in großem Maßſtabe ſtattfinden. 1 Freilich begegnet man dabei einer Schwierigkeit. Man kann den Bauerngemeinden nicht zumuten, ohne weiteres Perſonen bei ſich aufzu⸗ nehmen, deren Arbeitskraft den Großgrundbeſitzern zugute kommt, während ſie ſelbſt die Armen- und Schullaſten dafür zu tragen haben. In manchen Fällen würde mit Hilfe beſonderer, für den einzelnen Fall zu treffender Ein⸗ richtungen (Schul- oder Armenverbände) ein beide Teile befriedigender Aus⸗ gleich getroffen werden können. Aber ein ſolcher bietet immer viele Schwierig⸗ keiten und iſt oft gar nicht möglich. Das Einfachſte und Zweckmäßigſte würde es ſein, wenn die iſolierten Gutsbezirke, die jetzt in den öſtlichen Provinzen ſelbſtändige Kommunen bilden, mit den Bauerndörfern zu einer Landgemeinde verſchmolzen würden. Dieſe Maßregel iſt auch aus anderen Gründen wünſchenswert; auf ſie wird noch am Schluß dieſes Ab⸗ IX. Die ländliche Bevölkerung. 159 es eingegangen werden. Schon ihre Durchführung allein, ohne daß i li baz für Errichtung von Arbeiterrentengütern etwas geſchähe, würde irken, daß ſich eine nicht geringe Anzahl von Arbeitern in Bauerndörfern ſiedelte. Wenn unter den gegenwärtigen Verhältniſſen die Bauern dies | egen und daher nicht nur nicht befördern, ſondern zu verhindern en, ſo darf man ſich darüber nicht wundern. D.urch die Anſiedelung von grundbeſitzenden Arbeitern ſollen die Guts— gelöhner nicht überflüſſig gemacht oder gar beſeitigt werden. Auf den n Gütern find fie vielmehr unentbehrlich. Das gleichzeitige Vorhanden— 1 von Kleinſtellenbeſitzern bietet aber dem Gutsherrn verſchiedene wichtige zorteile. Er kann die Haltung von Inſtleuten auf eine ſolche Zahl be— ſchrär änfen, die er auch während des ganzen Winters mit Nutzen zu bes . “ äftigen imſtande ift; er kann ferner auf die Heranziehung von Wander: arbeitern verzichten und kann endlich ſeine Gutstagelöhner von der jetzt ſo rückenden Verpflichtung, einen Scharwerker für den herrſchaftlichen Dienſt halten, entbinden. Es iſt notoriſch, daß gerade die letztgenannte, an Orten kaum noch erfüllbare Verpflichtung viele Inſtleute zum Fort⸗ ndern veranlaßt. Für den Gutstagelöhner würde der durch die Errich- ing zahlreicher Kleinſtellen erwachſende Gewinn einmal in dem eben be— rochenen Umſtande, dann aber namentlich darin liegen, daß ihm die bis— rige Hoffnungsloſigkeit in bezug auf ſeine Zukunft genommen wird. Er 4 ih dann, daß ihm die Ausſicht offen ſteht, ſelbſt einmal in den Beſitz eines Hauſes und eines nutzbaren Grundſtücks und damit zu einem feſten Wohnſitz zu gelangen, den ihm niemand kündigen, aus dem ihn niemand 1 en kann. Dieſe Ausſicht allein ſchon wirkt auf ſeine Stimmung er— Bm auf ſeinen Mut belebend; fie treibt ihn zu Fleiß und Sparſamkeit Sie benimmt ihm auch das Gefühl, als ſei er von der Willkür ſeines > Arbeitgebers abhängig. Iſt der Gutstagelöhner vor die Wahl geſtellt, ob er ſein dermaliges kontraktliches Verhältnis beibehalten oder es kündigen und in die Klaſſe der Kleingrundbeſitzer treten ſoll, dann wird er es erſt richtig würdigen, welche Vorteile er in jenem Verhältnis durch die Sicher— 3 ‚be und Stetigkeit ſeines Einkommens genießt. Manche Inſtleute werden es dann vermutlich vorziehen, in ihrer bisherigen Stellung zu verharren. Es iſt dies aber dann ihr freier Entſchluß, und ſie brauchen ſich nicht mehr, wie es zur Zeit der Fall iſt, zu ſagen, daß lediglich die Gewalt der Um— ſiinde ſie zwingt, Gutstagelöhner zu bleiben. ATJI8ſt die Reform der Landarbeiterverhältniſſe im Oſten nach der be— . ſchriebenen Art durchgeführt, jo wird ſich die Sache normalerweiſe ſo geſtalten, daß die Arbeiter, nachdem fie einen eigenen Hausſtand gegründet haben, zu⸗ 1 ; nächſt eine Inſtmannsſtelle annehmen. Haben ſie im Laufe der Jahre etwas geſpart, ſo erwerben ſie ein Arbeiterrentengut oder übernehmen ein ſolches als Erbteil von ihren Eltern, die ſelbſt in jüngeren Jahren Inſt— lleute waren. 8 Alle Maßregeln, die geeignet ſind, das Leben der Landarbeiter an— naehmlicher, befriedigender, an unſchuldigen Freuden oder an edeln Genüſſen A reicher zu geſtalten, werden auch ihre Neigung zum Fortwandern eindämmen. Hierunter rechne ich die Veranſtaltung von Volksfeſten, die Ein⸗ richtung von Leſe- oder Vortragsabenden, von Volksbibliotheken; ferner, wenn es die örtlichen Verhältniſſe möglich und erwünſcht machen, die Gründung von Konſumvereinen, von Sparkaſſen, von Klein— keinder⸗ und Fortbildungsſchulen. Von ſichtbarem Erfolg pflegt es auch zu ſein, wenn in einer Landgemeinde oder in einem großen Gutsbezirk oder in mehreren der letzteren zuſammen eine ſtändige Gemeindeſchweſter 160 IX. Die ländliche Bevölkerung. angejtellt wird. Derartige Einrichtungen, verjtändig durchgeführt, n ke el zwar nicht plötzlich auf die Stimmung der Landarbeiter, aber mit der 3 um ſo ſicherer und nachhaltiger ). Mit Grund wird über das Unweſen geklagt, welches viele Geſind d vermittler treiben und es iſt mit Recht von dem Staate verlangt worde daß er demſelben durch ſtrenge Geſetze entgegentrete. Von dieſer Seite ih in den letzten Jahren manches geſchehen ). Aber, wie in vielen ande er Dingen, jo kann auch hierin der Staat nur gewiſſe Auswüchſe be nicht aber diejenigen poſitiven Maßregeln anordnen, welche das vorha ud a Bedürfnis befriedigen. Dies muß er der Selbſthilfe überlaſſen, zu 5 auch in den letzten Jahren die Landwirte geſchritten ſind. Verſchi landwirtſchaftliche Vereine oder Landwirtſchaftskammern haben e lungsſtellen eingerichtet, durch welche den Arbeitern Arbeitsgelegenhei den Arbeitgebern Arbeiter nachgewieſen werden. Dieſe ſind bereits von ( Einfluß geweſen und es ſteht zu hoffen, daß ſie bei längerer Tue größerer Erfahrung eine noch weiter reichende günſtige Wirkung auf Arbeiterverhältniſſe ausüben werden. Köunen und ſollen ſie auch nicht i privaten Geſindevermittler bejeitigen, jo werden ſie dieſe doch, beſonders w außerdem die Geſetzgebung zu Hilfe kommt, zu einer ſolideren Geſchäfts bahrung nötigen. Sie werden aber auch vielen Arbeitern, die Beſchäftigu ſuchen, zu dieſer und vielen Arbeitgebern zu Arbeitern verhelfen. Denn tr des herrſchenden Mangels an Arbeitskräſten auf dem Lande gibt es d noch eine große Zahl von Perſonen, die Beſchäftigung dort begehren, nicht wiſſen, an welche Stelle ſie ſich deshalb wenden ſollen. Beſon wirkſam wird es ſein, wenn die ſtädtiſchen Arbeitsnachweisſtellen ſich mi den ländlichen in Verbindung ſetzen, wie dies auch auf der im September 1898 jtattgehabten Verſammlung des Verbandes deutſcher Arbeitsnach⸗ weiſe in Vorſchlag gebracht iſt. Die Städte können ſich der zahlreichen unbeſchäftigten Perſonen kaum erwehren, auf dem Lande werden ſie dringend gebraucht. > Ein ähnlicher Weg der Selbſthilfe iſt zu beichreiten, um den häufig vorkommenden und beklagten Kontraktbruch ländlicher Arbeiter zu beſeitigen oder doch auf ein geringes Maß einzuſchränken. Prinzipiell wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn derſelbe, wie es auch in einigen deutſchen Staaten geſchieht, kriminell beſtraft würde. Aber geholfen wird hiermit, wie die Er⸗ fahrung gelehrt hat, ſehr wenig. Aus einer Haftſtrafe macht ſich der Arbeiter nichts, eine Geldſtrafe kann er nicht leiſten. Mit beiden iſt auch dem Land⸗ wirt nicht geholfen. Er muß den Arbeiter zu einer ganz beſtimmten Zeit haben; bekommt er ihn zu dieſer nicht, dann iſt der entſtandene Schaden nicht wieder gut zu machen. In wirkſamer Weiſe iſt der land wirtſchaft⸗ liche Zentralverein und deſſen Nachfolgerin, die jetzige Land wirt⸗ ſchafts kammer der Provinz Sachſen, gegen den Kontraktbruch vorge⸗ gangen. Die Landwirte haben dort einen Verband gebildet, deſſen Mitglieder ſich verpflichten, einen kontraktbrüchigen Arbeiter niemals anzunehmen. Es iſt in der Tat erreicht worden, daß der Kontraktbruch dort jetzt weit ſeltener 1) In der ganz vortrefflichen Zeitſchrift „Das Land“, dem Organ des Deutſchen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatspflege cherausgeg. von H. Sohnrey) finden ſich alljährlich zahlreiche Mitteilungen über hier oder dort zum Beſten der bäuerlichen und der Landarbeiter-Bevölkerung getroffene und bewährte Einrichtungen. — Es wäre zu wünſchen, daß alle Großgrundbeſitzer dem genannten Vereine beiträten und deſſen Zeitſchrift läſen. Vorſitzender deſſelben iſt Miniſterialdireltor Dr. Hugo Thiel. 2) So durch das Reichsgeſetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung vom 30. Juni 1900. IX. Die ländliche Bevölkerung. 161 früher vorkommt. Derſelbe hätte überhaupt keine ſo große Ausdehnung reichen können, wenn nicht viele Arbeitgeber die ſich ihnen anbietenden ſonen ohne Rückſicht auf deren bereits eingegangene Verpflichtungen an- ommen und wenn nicht die Arbeiter ſelbſt hiervon Kenntnis gehabt hätten )). Eine Beſchränkung der Freizügigkeit iſt weder wünſchenswert durchführbar. Selbſt für die Landwirtſchaft würden daraus unangenehme gen entſtehen. Angebot und Nachfrage wechſeln auch bei ihr im Laufe Jahre, wenngleich nicht ſo ſchnell und ſo ſtark wie bei der Induſtrie. angemeſſene Befriedigung beider würde durch eine Beſchränkung der Frei⸗ igkeit ſehr erſchwert werden. Vor allem aber würde die Aufhebung der izügigkeit als notwenige Vorbedingung erfordern, daß jeder Landgemeinde w. jedem Gutsbezirke die Verpflichtung auferlegt wird, alle darin heimats⸗ erechtigten Perſonen, falls ſie an Ort und Stelle keine Arbeit finden, zu unterhalten. So war es in den Zeiten der Hörigkeit. — Die Hörigen waren ſchollenpflichtig, aber auch ſchollen berechtigt. Nach dem norddeutſchen undesgeſetz vom 6. Juni 1870 über den Unterſtützungswohn— ſitz, welches ſpäter auf Heſſen, Baden und Württemberg ausgedehnt wurde, wird der Unterſtützungswohnſitz erworben durch zweijährigen Aufenthalt inner— halb ein und desſelben Armenverbandes. Über die Wirkung dieſes Geſetzes it viel, auch von ſeiten der Landwirte, geklagt worden. Manche Landge⸗ meinden oder Gutsbezirke ſind dadurch zeitweiſe hart betroffen worden. Aber trotz aller Beratungen und Verhandlungen darüber hat man noch keinen Vorſchlag machen können, der auch nur von ſeiten der Vertreter der Land⸗ wirtſchaft ſich einer irgend allgemeinen Billigung zu erfreuen gehabt hätte. Im Gegenteil gehen unter ihnen die Anſichten in entgegengeſetzter Richtung auseinander. Die einen wünſchen, daß der Unterſtützungswohnſitz ſchon nach einjährigen, die anderen, daß er erſt nach dreijährigem Aufenthalt erworben wird. Hiernach dürfte man zu der Annahme berechtigt ſein, daß die Geſetz— gebung die richtige Mitte getroffen hat. Mögen die Intereſſen der einzelnen Glieder und Gruppen der länd— lichen Bevölkerung auch nach manchen Richtungen auseinandergehen, ſo iſt doch ihre Übereinſtimmung eine viel größere. Die Landwirtſchaft findet ſich hierin im Vorteil vor der Induſtrie. Bei letzterer herrſcht oft eine ſehr ſcharfe Konkurrenz zwiſchen den einzelnen Unternehmern; das Glück des einen kann das Verderben des anderen bedingen. Die Produktion iſt hier einer ungemeſſenen Ausdehnung fähig, während die Konſumtion und damit die Nachfrage an mehr oder minder enge Schranken gebunden ſind. Ganz anders verhält es ſich bei der Landwirtſchaft. Der Umfang der Produktion hängt von der einmal gegebenen Ausdehnung und Beſchaffenheit des kulturfähigen Bodens, die Konſumtion hauptſächlich von dem unter allen Umſtänden zu befriedigenden Bedürfnis der Bevölkerung nach Nahrungsmitteln ab. Im Deutſchen Reich wird dieſem Bedürfnis durch die einheimiſche Produktion bei weitem nicht genügt, die ausländiſche Produktion muß zur Hilfe gezogen werden. Infolgedeſſen findet der Landwirt für ſeine Erzeugniſſe ſtets ſicheren Abſatz, ob die Ernte ſeiner Berufsgenoſſen auch noch jo reich ausfällt. So— genannter Brotneid kann zwiſchen den landwirtſchaftlichen Unternehmern nicht aufkommen. Höchſtens iſt dies bei den wenigen Landwirten der Fall, die ſich mit der Erzeugung und dem Verkauf beſonders edler, dabei nur in ge— 1) Vergl. hierzu die Verhandlungen des Kgl. Preußiſchen Landes-Okonomie— Kollegiums über die Frage „Iſt eine geſetzliche Neuregelung des Verhältniſſes der länd⸗ lichen Arbeitnehmer und Arbeitgeber erforderlich und auf welcher Grundlage hat eine ſolche u ar in Thiels landw. Jahrbücher, XXIX. Bd., Ergänzungsband I (1900), 229 — 258. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 11 e ee eee ee ee = 5 2 Fr 162 IX. Die ländliche Bevölkerung. ringem Umfang begehrter Produkte abgeben, wie z. B. Zuchtvieh, Saatgut. Aber ſelbſt zwiſchen ihnen iſt die Konkurrenz lange nicht ſo ſcharf und drückend wie zwiſchen den Vertretern gleichen Induſtriezweige, da ſie außerdem ſtets eine Menge von anderen, der Konkurrenz nicht unterliegenden Produkten erzeugen. 1 5 "ns die rein privatwirtſchaftliche Seite betrifft, jo darf man wohl jagen, daß die Intereſſen aller landwirtſchaftlichen Unternehmer annähernd identiſch ſind. Eine Differenz kann allerdings entſtehen zwiſchen den in verſchiedenen Teilen des Deutſchen Reiches wohnenden Land⸗ wirten oder zwiſchen den einzelnen Gruppen der landwirtſchaftlichen Unter⸗ nehmer. Dieſe wird aber hervorgerufen durch Umſtände, die mit dem land- wirtſchaftlichen Betrieb als ſolchem nichts zu tun haben, die auch der Willkür des einzelnen entzogen ſind. Sie werden vielmehr hauptſächlich durch ſtaat⸗ liche Maßregeln auf dem Gebiete des Verkehrs-, Zoll- und Steuerweſens bedingt. Hiervon wird noch ſpäter eingehend gehandelt werden (ſ. Abſchnitt XV und XVI). Im übrigen gehen die Intereſſen der einzelnen Gruppen der landwirt⸗ ſchaftlichen Unternehmer Hand in Hand; ſie ſind ſogar gegenſeitig direkt auf- einander angewieſen. Nur wenn ſie alle nebeneinander beſtehen, kann eine jede zu dem für ſie überhaupt erreichbaren höchſten Ziele gelangen. Wenn trotzdem zwiſchen den Unternehmern der einzelnen Gruppen Gegenſätze vor⸗ kommen, ſo liegt dies entweder in rein perſönlichen Verhältniſſen oder darin, daß durch eine unzweckmäßige Geſtaltung der öffentlich-rechtlichen Zuſtände eine unnatürliche Spaltung hervorgerufen worden iſt. Solches trifft z. B. zu für das Kommunalweſen in den öſtlichen preußiſchen Provinzen durch die ſcharfe Scheidung von iſolierten Gutsbezirken und von Landge— meinden. Vor der zu Anfang des 19. Jahrhunderts ſtattgehabten Emanzi⸗ pation des Bauernſtandes exiſtierte zwar auch eine gewiſſe kommunale Trennung zwiſchen den Bauern und den Rittergutsbeſitzern. Aber die letzteren waren doch die Herren, die Obrigkeit, der erſteren und hatten ihren Untertanen gegen⸗ über nicht nur Rechte, ſondern auch Pflichten, zu deren Erfüllung ſie von der Staatsregierung angehalten wurden. Außerdem hing von den bäuerlichen Dienſten und Leiſtungen das Wohlergehen der Rittergutsbeſitzer in hohem Grade ab; letztere waren ferner dem Staate für die Präſtationsfähigkeit der Bauern haftbar. Zwiſchen Ritter- und Bauerngütern herrſchte endlich in der Regel eine ſehr weitgehende Feldgemeinſchaft. Erſt durch die Agrar⸗ geſetzgebung des 19. Jahrhunderts iſt eine vollſtändige wirtſchaftliche und kommunale Trennung zwiſchen den Rittergütern, die als ſog. iſolierte Guts⸗ bezirke beſondere Kommunaleinheiten bilden, und den Bauerndörfern als den Landgemeinden eingetreten. Durchaus unrichtig und irreführend iſt es, wenn man behauptet, dieſe Trennung habe ſeit Jahrhunderten beſtanden; ihr gebühre daher die Ehrfurcht und Schonung, die man mit Recht altbewährten Ein⸗ richtungen auf dem Lande zuteil werden läßt. Durch die Unterſcheidung zwiſchen Gutsbezirken und Landgemeinden werden Antipathien und Gegenſätze erweckt, die in der Natur der übrigen Verhältniſſe keine Begründung finden. Beſonders zeigt ſich dies auf dem Gebiete des Armen- und Unterſtützungsweſens, aber auch in Schul- und Wegeſachen und in anderen kommunalen Angelegenheiten. Jeder von beiden Teilen will möglichſt wenig leiſten und verlangt von dem anderen Teil mög⸗ lichſt viel; jeder ſucht die unvermeidlichen Laſten von ſich ab- und dem anderen zuzuſchieben. Infolgedeſſen unterbleibt manches, was geſchehen könnte und ſollte; anderes wird weniger zweckmäßig oder koſtſpieliger aus⸗ geführt, als man wünſchen muß oder als es nötig iſt. Es entſteht leicht IX. Die ländliche Bevölkerung. 163 eine Entfremdung oder gar eine Verbitterung, die auch das Zuſammenwirken auf anderen Lebensgebieten erſchwert oder vereitelt. Es iſt meine feſte Über⸗ gung, daß durch ein Zuſammenſchmelzen der Mehrzahl der tzigen iſolierten Gutsbezirke mit den benachbarten Bauern— rfern zu einer Landgemeinde die Großgrundbeſitzer nicht nur materiell, ſondern auch an Anſehen und Einfluß auf dem Lande gewinnen würden. Dabei iſt allerdings Vorausſetzung, daß durch eine angemeſſene Geſtaltung der Gemeindeordnung und namentlich durch eine der wirtſchaftlichen Be- deutung der Unternehmergruppen entſprechende Zuſammenſetzung der Ge— meindevertretung dafür geſorgt wird, daß nicht eine einzelne Gruppe das übergewicht hat. Solcher Forderung trägt die für die öftlichen preußiſchen Provinzen gültige Landgemeindeordnung vom 3. Juli 1891 ausgiebig Reechnung. Sie faßt auch bereits die Verſchmelzung kleinerer iſolierter Guts⸗ bezirke mit benachbarten Landgemeinden ins Auge. Es kann aber meines Erachtens nur noch eine Frage der Zeit ſein, daß man mit dieſer Maßregel in viel ausgedehnterem Grade, als bisher, vorgeht. In ihr erblicke ich eine Vorbedingung für die Herbeiführung geſunder wirtſchaftlicher und ſozialer Verhältniſſe in jenen Provinzen. Man darf damit zwar nicht ſchablonen⸗ haft vorgehen, ſondern muß die örtlichen Verhältniſſe berückſichtigen; aber ſchon jetzt würde es möglich ſein und ſich als nützlich erweiſen, wenn man die Mehrzahl der iſolierten Gutsbezirke, deren Fläche 2000 — 3000 Morgen (500 — 750 ha) nicht überſteigt, mit den benachbarten Bauerdörfern zu einer kommunalen Einheit verbände. Ohne eine ſolche Maßregel halte ich vor allem eine befriedigende Geſtaltung der ländlichen Arbeiterverhältniſſe für unmöglich. Sie durchzuführen, iſt eine der wichtigſten Aufgaben des Staates auf agrarpolitiſchem Gebiet in jenen Provinzen; erſt dann kann auch ein durchſchlagender Erfolg von der bereits beſprochenen Errichtung von Arbeiter— rentengütern erwartet werden (ſ. S. 158 ff.). Zwiſchen den Unternehmern und den Arbeitern wird allerdings ſtets ein gewiſſer Gegenſatz der Intereſſen bleiben. Aber auch dieſer iſt in der Landwirtſchaft viel geringer, als in der Induſtrie oder könnte und ſollte es doch ſein. Zwiſchen den grundbeſitzenden Landarbeitern und den land— wirtſchaftlichen Unternehmern ſind die gemeinſamen Intereſſen viel größer, als die widerſtreitenden; auch zwiſchen den Gutstagelöhnern und ihren Brot— herren beſteht bei richtiger Organiſation und Handhabung des beiderſeitigen kontraktlichen Verhältniſſes eine weitgehende Intereſſengemeinſchaft. Dieſelbe wird noch viel größer, wenn allen Gutstagelöhnern einmal die Wahl frei— ſteht, ob ſie in dieſem Verhältnis bleiben oder Kleinſtellenbeſitzer werden wollen. Nach umfaſſender Errichtung von Arbeiterrentengütern iſt aber ſolche Möglichkeit geboten. Befriedigende wirtſchaftliche und ſoziale Verhältniſſe auf dem Lande ſind nur zu erwarten, wenn jeder ſelbſtändige Landbewohner ein Eigentums- oder doch ein ſicheres Nutzrecht an einer, ſei es auch kleinen Fläche kulturfähigen Bodens hat. Erſt dann wird ihm der Aufenthalt und die Arbeit auf dem Lande lieb; nur hierin findet er eine genügende Ent— ſchädigung für den Verzicht auf die Freuden und Genüſſe, die das ſtädtiſche Leben darbietet. Gehört die überwiegende Mehrzahl der Landarbeiter zu den Grundbe— ſitzern, dann ſtehen ihre Intereſſen denen der Bauern und Großgrundbeſitzer viel näher, als den Intereſſen aller übrigen Erwerbs- und Berufsklaſſen. Sie werden dann auch unzugänglich für die trügeriſchen Lockungen der Sozial— demokratie. Sie hiervor zu bewahren, iſt in der Gegenwart eine gewiß nicht unwichtige Aufgabe. 164 X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. Oft erſchallt jetzt das Loſungswort: „Das Deutſche Reich muß ein Induſtrieſtaat werden.“ Die Verkehrtheit desſelben wurde ber reits nachgewieſen; damit iſt es aber noch nicht beſeitigt. Gerade in d kommenden Jahren werden lebhafte Kämpfe zwiſchen denen ſtattfinden, w jenem Loſungswort huldigen, und denen, welche annehmen, daß auch in kunft die Landwirtſchaft die wichtigſte Grundlage unſerer geſamten va wirtſchaftlichen Produktion bilden muß. Die Anſicht der letzteren, welche meines Erachtens die allein richtige iſt, wird deſto eher den Sieg davon⸗ tragen, je feſter und einmütiger die verſchiedenen Gruppen der Landbevölke⸗ rung zuſammenhalten; je weniger es ſomit denen, welche die Bedeutung der Landwirtſchaft unterſchätzen oder ihr gar feindlich gegenüberſtehen, möglich iſt, eine etwa vorhandene Uneinigkeit unter jenen für ihre Zwecke auszu⸗ nutzen }). g X. Der landwirtſchaftliche Unterricht und die landwirkſchaftlichen Pereine. Der landwirtſchaftliche Unterricht). Auf die Entwicklung der landwirtſchaftlichen Praxis hat die Land⸗ wirtſchaftslehre während des ganzen 19. Jahrhunderts einen maßgebenden Einfluß ausgeübt; beide ſind ſtets Hand in Hand gegangen. Albrecht Thaer hat die Landwirtſchaftslehre zur Wiſſenſchaft erhoben und war gleich⸗ zeitig einer der hervorragendſten praktiſchen Landwirte. Auch Schwerz, Koppe, Schweitzer, Burger und andere Männer leiſteten Ausgezeichnetes nicht nur als Lehrer oder Schriftſteller, ſondern auch als Leiter von land⸗ wirtſchaftlichen Betrieben. Dadurch kam es, daß im Deutſchen Reich mehr wie in anderen Kulturländern auch ſeitens der praktiſchen Landwirte ein großer Wert auf die theoretiſche oder wiſſenſchaftliche Ausbildung gelegt wurde und daß das landwirtſchaftliche Unterrichtsweſen nirgend anderswo eine ſo hohe Stufe der Entwicklung erreicht hat. Zur Erlangung dieſes Zieles haben der Staat, die Kommunalverbän de und die landwirtſchaftlichen Ver- eine gemeinſchaftlich beigetragen. Man kann drei Gruppen von landwirtſchaftlichen Unterrichtsanſtalten unterſcheiden: die Hochſchulen, die mittleren und die niederen Lehr⸗ anſtalten. Das Bedürfnis nach einer theoretiſchen Unterweiſung macht ſich natur⸗ gemäß zunächſt bei den höher Gebildeten geltend. Dementſprechend traten die landwirtſchaftlichen Hochſchulen auch zuerſt ins Leben. Die älteſte unter ihnen iſt die von A. Thaer 1806 begründete land wirtſchaftliche Akademie in Möglin, nach deren Muſter dann in den folgenden Jahr⸗ zehnten eine ganze Anzahl ähnlicher Hochſchulen errichtet wurde: Hohen- heim in Württemberg (1818), Id ſtein in Naſſau (1818), ſpäter nach Hof⸗ geis berg bei Wiesbaden verlegt. Schleißheim in Bayern (1822), ſpäter 1) Vergl. hierzu auch Adolph Wagner „Agrarſtaat und Induſtrieſtaat“, Jena bei Guſtav Fiſcher 1901. 2) Über die Entwicklung des landw. Unterichtsweſens finden ſich ausführliche Mit⸗ teilungen in meiner Geſchichte der Deutſchen Landwirtſchaft, II. Bd., S. 121—132 und S. 316-327. X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. 165 1852) nach Weyenſtephan verlegt, Jena (1822), Tharandt in Sachſen 829), Eldena bei Greifswald (1835), Regenwalde in Pommern (1842), ros kau in Schleſien (1847), Poppelsdorf bei Bonn (1847), Weende i Göttingen (1851) und Waldau bei Königsberg in Pr. (1858). Alle ieſe Hochſchulen waren mit einer mehr oder minder großen Gutswirtſchaft jerbunden, die als Demonſtrations- und Verſuchsmaterial diente. Unter men befanden ſich die Anſtalten in Jena, Eldena, Weende und Poppelsdorf in organiſcher Verbindung mit den an dem gleichen Orte oder in nächſter Nachbarſchaft befindlichen Univerſitäten, hatten aber ihre eigene Verwal— g. Die übrigen entbehrten dieſer Anlehnung, man nannte ſie daher auch ijolierte Akademien. In den Jahren 1860 und 1861 griff ſtus von Liebig als Präſident der Akademie der Wiſſenſchaften in chen die landwirtſchaftlichen Hochſchulen in zwei, ſpäter veröffentlichten ; eden heftig und zwar der Hauptſache nach in ungerechtfertigter Weiſe an; er forderte, der höhere landwirtſchaftliche Unterricht ſolle an die Univer⸗ fit verlegt werden. Die maßgebenden Kreiſe traten auf ſeine Seite. In— folgedeſſen wurde in den nächſten Jahrzehnten eine ganze Reihe von land— wirtſchaftlichen Univerſitätsinſtituten neu gegründet, während die Mehrzahl der iſolierten Akademien einging. Zu den erſteren zählt: Halle (1862), Leipzig (1869), Gießen (1871), Königsberg (1876), Kiel, Breslau (1881). Von den Akademien wurden aufgehoben: Regenwalde 1859), Möglin (1862), Waldau (1868), Tharandt (1869), Hofgeis— berg (1871), Eldena (1877), Pros kau (1880). Weende wurde mit der AUniverſität Göttingen verſchmolzen, in München an der dortigen techniſchen Hochſchule eine beſondere landwirtſchaftliche Abteilung eingerichtet, in Berlin eene landwirtſchaftliche Hochſchule gegründet. Von den eigentlichen iſolierten Alademien blieben nur Hohen heim und Weyenſtephan erhalten; Jena und Poppelsdorf die bereits in organiſcher Verbindung mit einer Univerſität ſtanden, behielten ihre alte Verfaſſung im weſentlichen bei. 4 Der viele Jahre nicht ohne Leidenſchaft geführte Streit über die Frage, ob die iſolierten Akademien oder die Univerſitätsinſtitute oder die zwiſchen beiden ſtehenden Hochſchulen den Vorzug verdienen, iſt jetzt verſtummt. Der Wtetteifer zwiſchen dieſen drei Gruppen hat es zu Wege gebracht, daß jede derſelben das Beſtmögliche zu leiſten ſucht, daß auch die einzelnen Staats— kregierungen und in Preußen die beiden Miniſterien für Unterricht und für Landwirtſchaft, die ſich in die Oberaufſicht über die preußiſchen landwirtſchaft⸗ lichen Hochſchulen teilen, eifrig bemüht ſind, die ihnen unterſtellten Inſtitute hinter anderen nicht zurücktreten zu laſſen. In der Tat iſt denn auch der Faortſchritt, den der akademiſche landwirtſchaftliche Unterricht im letzten Menſchen⸗ alter gemacht hat, ein ſehr großer und erfreulicher geweſen. 1 Auf die innere Geſtaltung desſelben kann hier nicht eingegangen werden. An einem mir beſonders nahe liegenden und genau bekannten Beiſpiel will ich nur zeigen, eine wie ſtarke Zunahme ſowohl die Lehrkräfte wie die zur Verfügung geſtellten Geldmittel erfahren haben. An der Akademie Poppels— dorf betrug 1872 die Zahl der angeſtellten ordentlichen Lehrer und Hilfs— lehrer 16, die Jahresausgabe 83 541 Mk., im Jahre 1896/97 war die Zahl jener auf 23, die Jahresausgabe auf rund 199 000 Mk. geſtiegen. Dabei ſind die Ausgaben für die Gutswirtſchaft nicht mit eingerechnet !); 1903 be— trug die Jahresausgabe rund 250 000 Mk. Ahnliche Fortſchritte ließen ſich and bei den übrigen Hochſchulen nachweiſen. 1) Feſtſchrift zur Feier des 50⸗jährigen Beſtehens der Königl. Preuß. Akademie Poppelsdorf, Bonn 1897, S. 1— 29 und S. 202 u. 203. 166 X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. Die Fürſorge für den höheren landwirtſchaftlichen Unterricht bu 4 ausſchließlich dem Staate zu. Von den älteren Akademien waren zwar N 1 einige Privatunternehmungen, die nur Staatsunterſtützung genoſſen, aber ein 4 ſolches Verhältnis iſt in der Gegenwart nicht mehr zweckmäßig, exiſtiert auch nicht mehr. Nur der Staat verfügt über die zur Gründung, Erhaltung, oberſten Leitung und Überwachung von Hochſchulen erforderlichen materiellen Mittel und Perſonen. Jedes Privatunternehmen birgt zudem die Gefahr in ſich, daß es nach dem Tode ſeines Begründers eingeht oder dahinſiecht, wofür die Geſchichte der landwirtſchaftlichen Akademien mehrere Beiſpiele darbietet. | Die landwirtſchaftlichen Hochſchulen haben die doppelte Aufgabe: die wiſſenſchaftliche Forſchung zu pflegen und die Studierenden mit den wiſſenſchaftlichen Grundlagen der Landwirtſchaft bekannt zu machen. Um der erſteren Aufgabe zu genügen, muß der Staat ihnen die erforderlichen Hilſsmittel wie Laboratorien, Verſuchsfelder oder eine ganze Gutswirtſchaft, auch die zur Unterhaltung und zum Betriebe dieſer nötigen Gelder zur Verfügung ſtellen. Der Unterricht an den landwirtſchaftlichen Hochſchulen bietet inden gewiſſe Schwierigkeiten, als die Studierenden nach Herkunft, Vorbildung und Studienzweck ſehr verſchieden ſind. Es finden ſich darunter die Söhne von Großgrundbeſitzern oder anderen Perſonen höherer Stände, die ſich die zur Bewirtſchaftung eines umfangreichen Gutes nötigen Kenntniſſe erwerben, ferner ſolche junge Leute, die in der Praxis als Verwalter, Inſpektoren, Adminiſtratoren tätig ſein, ſpäter vielleicht ein Gut pachten wollen. Nachdem in den letzten Jahrzehnten das landwirt⸗ ſchaftliche Vereinsweſen und die mittleren ſowie niederen landwirtſchaftlichen Unterrichtsanſtalten einen jo gewaltigen Aufſchwung genommen haben, be ſteht außerdem ein erheblicher Teil der Studierenden landwirtſchaftlicher Hoch⸗ ſchulen aus Perſonen, die ſich der Laufbahn als Land wirtſchaftslehrer oder als Beamter bei landwirtſchaftlichen Zentralvereinen oder bei Landwirtſchafts kammern widmen wollen. Dieſe Gruppe von Studierenden legt ausnahmslos vor dem Verlaſſen der Hochſchule eine Abgangsprüfung ab; ſie bildet ein beſonders wertvolles Element, da ihre Glieder meiſtens durch Fleiß und Strebſamkeit ſich auszeichnen. Ein Teil der Studierenden hat das Abiturentenexamen beſtanden, andere beſitzen nur die Berechtigung zum einjährig⸗freiwilligen Dienſt; wieder andere find früher Offiziere oder auch Kaufleute geweſen oder haben einen ſonſtigen Beruf gehabt. Durch ein⸗ engende Aufnahmebedingungen dieſe Mannigfaltigkeit beſeitigen oder beſchränken zu wollen, würde verkehrt ſein und dem Zweck der landwirtſchaftlichen Hoch⸗ ſchulen zuwiderlaufen. Sie müſſen ihre Tore weit öffnen für alle, die an ihnen etwas lernen wollen und können. Nur der kleinere Teil der geſamten Zahl von Schülern unterzieht ſich der Abgangsprüfung und erwirbt ſich da⸗ durch, wenn auch nicht die Berechtigung, ſo doch eine gewiſſe Anwartſchaft auf eine Stelle als Lehrer oder landwirtſchaftlicher Beamter. Daraus er⸗ wächſt den Hochſchulen die Pflicht, für die Abgangsprüfungen die An⸗ forderungen nicht zu niedrig zu ſtellen. Hierfür iſt jetzt auch inſofern ge⸗ ſorgt, als der Staat bindende Vorſchriften über dieſe Examina gegeben hat. Denjenigen Studierenden, die ohne Prüfung abgehen, muß es überlaſſen werden, in welcher Weiſe ſie die auf der Hochſchule zuzubringende Zeit aus⸗ nutzen wollen. Aufgabe der akademiſchen Lehrer bleibt es, den einzelnen Studierenden, ſoweit ſie es wünſchen und dafür zugänglich ſind, Rat zu er⸗ teilen, wie ſie, nach ihren ſpeziellen Bedürfniſſen und nach dem ins Auge gefaßten Lebensberuf, ihre Studien am beſten einrichten. Die landwirtſchaft⸗ lichen Hochſchulen ſind jetzt ſo reichlich mit Lehrkräften und Lehrmitteln aus⸗ Bere. X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. 167 et, ihr Lehrplan iſt auch jo mannigfaltig geſtaltet, daß jeder Studierende yt dasjenige finden kann, was gerade ſeinen Zwecken am meiſten entſpricht. Selbſtverſtändlich muß der Staat die oberſte Leitung in der Hand jehalten; er muß auch ein Aufſichtsrecht über die akademiſchen Lehrer deren Tätigkeit ausüben; er hat für ausreichende Lehrkräfte und Lehr- el, für eine angemeſſene Geſtaltung des Lehrplanes im allgemeinen und eine ebenſolche der Abgangsprüfungen zu ſorgen. Im übrigen aber ſoll den Grundſatz der Freiheit der Forſchung, des Lehrens und des rnens aufrecht erhalten; nur dann können die landwirtſchaftlichen wie e anderen Hochſchulen gedeihen. Bis jetzt ſind die Regierungen der dabei Betracht kommenden deutſchen Staaten den Anforderungen, die man billiger- weiſe an ſie ſtellen darf, gerecht geworden. Man kann nur wünſchen, daß ſie auf dem betretenen Wege fortſchreiten. Seitdem die agrarpolitiſchen Fragen mehr in den Vordergrund getreten find, liegt allerdings eine gewiſſe Gefahr vor, daß die verſchiedenen Parteien verſuchen werden, ihren Einfluß dahin geltend zu machen, daß die Lehrſtühle für Land- und Volkswirtſchaft an den A bbwirſchaftlichen Hochſchulen mit Männern ihrer Richtung beſetzt werden. Aufgabe des Staates wird es ſein, ſolchen unberechtigten Anforderungen zu widerſtehen und bei der Beſetzung von Profeſſuren nach wie vor lediglich danach zu fragen, welche Befähigung zum Forſchen und Lehren der zu Be— kufende beſitzt. 4 Die mittleren landwirtſchaftlichen Lehranſtalten ſind erſt etwa 40 Jahre alt; fie gingen hervor aus den ſpäter zu beſprechenden theoretiſch-prak— tiſchen Ackerbauſchulen. Auf dieſen wurde den Schülern, meiſt Söhnen * aus dem Bauernſtande, Unterricht in der landwirtſchaftlichen Theorie und 5 Praxis erteilt. In manchen Gegenden, wo ein zahlreicher wohlhabender und intelligenter Bauernſtand mit der Zeit ſich herausgebildet hatte, genügten vielen Bauern dieſe Schulen nicht mehr. Sie glaubten, ihre Söhne könnten eeine rationelle Praxis beſſer zu Haufe oder in anderen privaten Betrieben lernen; dagegen wünſchten ſie einen ausgiebigeren theoretiſchen Unterricht, als die Ackerbauſchulen ihn gewährten. Dieſem Bedürfnis entſprechend gründete Michelſen 1858 in Hildesheim eine theoretiſche Ackerbauſchule, die er landwirtſchaftliche Mittelſchule nannte. Auf derſelben wurde lediglich theoretiſcher Unterricht erteilt und zwar nicht nur in Landwirtſchaft und Naturwiſſenſchaft, ſondern auch in ſolchen Fächern, die zum Gebiet der Real— ſchulen gehören. Nach der Annexion von Hannover durch Preußen gelang es ihm, für ſeine Schule die Berechtigung zu erwerben, den Abiturienten ültige Zeugniſſe für den einjährig-freiwilligen Militärdienſt auszuſtellen. Diese Vergünſtigung wurde dann ſpäter auf andere, nach dem Muſter von Hildesheim gegründete Schulen ausgedehnt. Sie erhielten offiziell den Namen „Landwirtſchaftsſchulen“; für Preußen iſt ihr Lehrplan ge— ordnet durch das Reglement vom 10. Auguſt 1875 und vom 11. No: - — vember 1892. Im Jahre 1904 beſtanden im Deutſchen Reiche 21 ſolcher 1: Anstalten, von denen 16 auf die preußiſche Monarchie fielen. Wenn man die Landwirtſchaftsſchulen richtig charakteriſieren wollte, müßte man ſie als mittlere landwirtſchaftliche Realſchulen bezeichnen. Sie haben, ſofern ſie nicht außerdem mit einer Vorſchule verbunden ſind, drei Klaſſen mit je einjährigem Kurſus, die der Untertertia, Obertertia und Unterſekunda eines Gymnaſiums oder einer Realſchule erſter Ordnung ent— je ſprechen. Der Unterricht erſtreckt ſich auf Religion, eine oder zwei fremde 1 Sprachen, Geſchichte, Geographie, Mathematik, Naturwiſſenſchaften und Land— wirtſchaftslehre. Die Landwirtſchaftsſchulen unterſcheiden ſich von den eigentlichen Realſchulen dadurch, daß die Landwirtſchaftslehre mit 4—6 wöchentlichen NETT e ee ee eee ” 8 a Freue > De ge a SE 168 X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. f mb in den Lehrplan aufgenommen iſt und daß den Natumiſſenſchopben mehr Zeit (8—10 Stunden wöchentlich) gewidmet wird. Dementſprechend findet dann bei den übrigen Fächern eine Verkürzung ſtatt. Für junge Leute, die auf dem Lande ihre Heimat haben, wird dadurch die Erlangu der Qualifikation zum einjährigen Dienſt erheblich erleichtert. Da der Staat den Landwirtſchaftsſchulen ein Recht zuteilt, welch keine andere landwirtſchaftliche Lehranſtalt genießt, ſo muß er über ſie eine beſonders eingehende Aufſicht ausüben, was denn auch tatſächlich geſchieh Er ſetzt den Lehrplan feſt, hält regelmäßige Reviſionen ab und iſt bei d Abgangsprüfungen durch einen Schulmann als Kommiſſar vertreten. Im übrigen pflegen die Landwirtſchaftsſchulen unter einem Kuratorium zu ſtehen, welches die direkte Aufſicht ausübt und die Verwaltungsgeſchäfte, ſoweit ſie nicht dem Direktor übertragen ſind, beſorgt. In dem Kuratorium iſt die Staatsbehörde durch ein oder mehrere Mitglieder vertreten. Dem Kuratorium liegt auch die Sorge für die materielle Unterhaltung der Schule o b. Die Landwirtſchaftsſchulen ſind in ihrer Mehrzahl aus der Initiative von Ge⸗ N meinden, Kreiſen oder landwirtſchaftlichen Vereinen hervorgegangen, die ein Intereſſe an der Gründung einer ſolchen Anſtalt zu haben glaubten. Ihnen überläßt daher mit Recht der Staat zunächſt die Sorge ſowohl für die finanzielle Unterhaltung wie für die laufende Verwaltung. Allerdings pflegt er nicht unbedeutende jährliche Zuſchüſſe zu leiſten, auch dafür zu ſorgen, daß die Lehrer in bezug auf Gehalt, Penſionsanſprüche ꝛc. ihren an Gym le oder Realſchulen wirkenden Berufsgenoſſen annähernd gleich geſtellt 99 werden. Die älteſten niederen landwirtſchaftlichen Unterrichtsanſtalten find die Ackerbauſchulen. Ihr erſter Urſprung leitet ſich her von den durch Peſta— lozzi, Fellenberg und Wehrli in der Schweiz begründeten landwirt- ſchaftlichen Armenſchulen, die allerdings mehr erziehliche als unterricht⸗ liche Zwecke verfolgten. Die Zahl der Ackerbauſchulen im Deutſchen Reich war anfangs nur ſehr gering; erſt von Ende der zweiten Hälfte des 19. Jahr⸗ hunderts ab begann fie ich erheblich zu vermehren. Sie waren meiſt Pri⸗ vatunternehmungen mit Staatsunterſtützung und unter einer gewiſſen ſtaat⸗ lichen Aufſicht; ſie befanden ſich auf einem kleinen oder mittelgroßen Gute, deſſen Beſitzer oder Pächter zugleich die Leitung der Schule hatte. Die Schüler, meiſt Bauernſöhne, wohnten im Hauſe des Direktors, befanden ſich alſo im Internat; im Sommer wurden ſie vorzugsweiſe praktisch beſchäftigt, während der Winter hauptſächlich dem theoretiſchen Unterricht gewidmet war. Nach dem Aufkommen der Landwirtſchaftsſchulen und der noch zu erwähnenden Winterſchulen gingen die meiſten Ackerbauſchulen ein. Mehrere beſtehen aber noch jetzt und entfalten eine günſtige Wirkſamkeit; beſonders diejenigen, welche auf einer ſtaatlichen und ſtiftungsmäßigen Grundlagen beruhen, ſo daß ihnen der private Charakter genommen iſt. Bei den meiſten der früheren Acker⸗ bauſchulen hing das Gedeihen der Anſtalt davon ab, daß der betreffende Unternehmer nicht nur ein tüchtiger Landwirt, Lehrer und Pädagog, ſondern daß er auch uneigennützig genug war, um ſeinen eigenen Vorteil erforderlichen Falles hinter die Anſprüche der Schule zurücktreten zu laſſen. Die Gründer von Ackerbauſchulen vereinigten häufig dieſe Eigenſchaften, ihren Beſitz⸗ oder Pachtnachfolgern mangelten ſie aber öfters. Dieſe gaben dann entweder frei⸗ willig die Anſtalt auf oder ſie ging aus Mangel an Schülern von ſelbſt ein. Die Urſache der Verminderung der theoretiſch-praktiſchen Ackerbauſchulen darf man nicht darin ſuchen, daß dieſelben dem heutigen Bedürfnis nicht mehr entſprechen, ſondern darin, daß es ſchwierig iſt, die Bedingungen herzuſtellen, an die ihr dauerndes Gedeihen geknüpft iſt. Für viele Bauernſöhne iſt die 5 a ER 8 i 33 1 CG r N ni hu 1 1 a € r Sek > le in 4 * WWP 5 er ee ee MT Bea X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. 169 leichzeitige Ausbildung in der Praxis und in der Theorie heilſamer, als die ausſchließliche Beſchäftigung mit der letzteren allein, wie ſie in den Winter⸗ hulen geübt wird. Man ſoll daher die Ackerbauſchulen, deren materielles ndament durch ein Staats- oder Stiftungsgut gebildet wird, auch ferner- erhalten. Die Zahl der im preußiſchen Staat zu Ende des Jahres 92 vorhandenen Ackerbauſchulen, die zum Teil übrigens den Namen „Land— Beige Lehranstalt“ führen, betrug 21 mit zuſammen 896 hulern. N Eine beſonders ſtarke Verbreitung haben in den beiden letzten Jahr— ahnten die landwirtſchaftlichen Winterſchulen erlebt. Sie ſind nur m Winter in Wirkſamkeit, der volle Kurſus für den einzelnen Schüler pflegt zwei Winter zu dauern. Meiſt befinden fie ſich in kleinen, höchſtens mittel- großen Städten. Der Unterricht iſt ein rein theoretiſcher, er erſtreckt ſich auf Land⸗ und Volkswirtſchaft, die für Landwirte wichtigen Zweige der Naturwiſſenſchaft, auch auf Religion, deutſche Sprache, Rechnen und andere Elementarfächer. Als Direktor ſteht ihnen ein geprüfter Lehrer der Land— wirtſchaft vor; neben dieſem wirken dann als Hilfskräfte Lehrer, die im Hauptamt an den vorhandenen ſonſtigen Schulen der betreffenden Stadt an⸗ . er find, auch wohl der Ortsgeiſtliche. Die Schüler wohnen und ejjen bei den Bürgern der Stadt zerſtreut; ſie beſtehen faſt ausſchließlich aus Scöhnen der in der Umgegend, in demſelben oder in den benachbarten Kreiſen aangeſeſſenen bäuerlichen Beſitzer. Das Opfer, welches dieſe für die Ausbil— diung ihrer Kinder zu bringen haben, iſt verhältnismäßig gering. Während des Winters können ſie die Arbeitshilfe der Söhne leicht entbehren; das Schulgeld ſowie der in den Bürgerhäuſern zu bezahlende Penſionspreis pflegen nicht hoch zu ſein. Einige wenige Winterſchulen ſind Internate. Was die Wirkſamkeit der Winterſchulen noch beſonders unterſtützt, iſt der Umſtand, daß deren Direktoren in der Regel zugleich Wanderlehrer für den Bezirk ſind, in dem die Schule ſich befindet. Während des Sommers bereiſen fie ihren Bezirk, halten Vorträge, erteilen Rat und ſtehen den Bauern, ſopweit ſie können, hilfreich zur Seite. Dadurch lernen ſie ihr räumliches Wirkungsgebiet genau kennen, gewinnen Einſicht in die vorhandenen Bedürf— niſſe und Mängel, ſtehen mit ihren früheren Schülern und deren Eltern in beſtändigem perſönlichen Verkehr und haben die beſte Gelegenheit, ſich deren Vertrauen zu erwerben. Was ſie im Sommer draußen geſehen und gehört haben, können ſie im Winter bei dem Unterricht nutzbringend verwerten. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß der Unterricht, namentlich in der Landwirtſchaft, an die örtlichen Zuſtände anknüpfen muß. Hierzu iſt aber der Direktor einer Winterſchule, der im Sommer als Wanderlehrer fungiert, beſonders gut befähigt. Nimmt man noch den Umſtand hierzu, daß die Winterſchulen keinen großen Aufwand für ihre Unterhaltung erfordern, ſo wird es leicht erklärlich, weshalb ſie eine ſo ſchnelle und ausgedehnte Verbreitung gefunden haben. Ihre Errichtung erfolgt meiſt auf Anregung von Kommunalver— bänden (Provinz, Kreis ꝛc.) oder von landwirtſchaftlichen Vereinen bezw. unter der gemeinſchaftlichen Mitwirkung beider. Dieſe pflegen den größten Teil der Einrichtungs- und der laufenden Unterhaltungskoſten auf— zubringen, dabei allerdings durch ſtaatliche Beihilfen weſentlich unterſtützt zu werden. Demgemäß liegt dann auch die direkte Beaufſichtigung der Winter— ſchulen in den Händen der beteiligten Kommunalverbände oder landwirtſchaft— lichen Vereine, bezw. in den Händen der von dieſen beſtellten Kuratoren. Häufig iſt ein Staatsbeamter (Landrat ꝛc.) Vorſitzender des Kuratoriums. Die hier geſchilderte Organiſation entſpricht durchaus den Bedürfniſſen und ee ee eee * ee uns! r * = 5 * * CFC 2 5 8 . ER: 170 | X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. dient zur Förderung der Sache. Die Winterſchulen ſind Anſtalten, deren Wirkungsgebiet ein lokal beſchränktes ſein muß. An der Errichtung und dem Gedeihen einer jeden einzelnen Schule hat faſt lediglich die in der näheren Umgebung wohnende Bevölkerung ein unmittelbares Intereſſe. Sie muß daher auch vorzugsweiſe für die Koſten aufkommen und darf anderer⸗ ſeits beanſpruchen, daß ihr bei der Aufſicht und der laufenden Verwaltung die erſte Stimme eingeräumt wird. Der Staat ſoll die Winterſchulen finanzie unterſtützen; im Bereich ſeines Rechtes und ſeiner Pflicht liegt es außerdem, die Winterſchulen ſo weit zu überwachen, als es für eine dem Zweck ent⸗ ſprechende Handhabung des Unterrichtes und der Disziplin notwendig erſcheint. Im Jahre 1870 gab es in Preußen noch keine landwirtſchaftliche Winterſchule, in dem übrigen Deutſchland 12, wovon 11 allein auf das Großherzogtum Baden fielen; 1880 war ihre Zahl ſchon auf 55 gewachſen, die zum weitaus größtem Teil im ſüdlichen und ſüdweſtlichen Teil des Reiches ſich befanden. Im Jahre 1888 gab es 76 landwirtſchaftliche Winterſchulen, welche zu faſt gleichen Hälften auf die preußiſche Monarchie und die übrigen deutſchen Staaten ſich verteilten. Zu Ende des Jahres 1901 betrug die Zahl der landwirtſchaftlichen Winterſchulen allein im preuße ſchen Staat 128 mit zuſammen 4823 Schülern; im ganzen Deutſchen Reiche gibt es jetzt etwa 200 derartige Anſtalten. 1 Die landwirtſchaftlichen Fortbildungsſchulen find keine beſonderen Lehranſtalten. Man bezeichnet damit den Unterricht, welcher in vielen Orten den aus der Schule entlaſſenen Söhnen von Bauern, Kleinſtellenbeſitzern oder auch ländlichen Arbeitern an Winterabenden oder an Sonntagnachmittagen erteilt wird. Er erſtreckt ſich vorzugsweiſe auf die Elementarfächer, Leſen, Schreiben und Rechnen, die aber mit beſonderer Anwendung auf die land⸗ wirtſchaftlichen Verhältniſſe und Bedürfniſſe gelehrt werden; ferner auf ein⸗ zelne Gebiete der Naturwiſſenſchaft und der Landwirtſchaftslehre. Der Unter⸗ richt liegt ausſchließlich oder doch vorzugsweiſe in der Hand des am Orte angeſtellten Volksſchullehrers, welcher zuweilen noch durch den Ortsgeiſtlichen oder andere Perſonen unterſtützt wird. Die Schüler bezahlen kein oder nur ein ganz geringes Unterrichtsgeld; der Lehrer erhält für ſeine Be mühungen eine kleine Remuneration. Als Schullokal dient in der Regel die Volksſchule. Infolge dieſer Umſtände beanſprucht die Einrichtung und Unter⸗ haltung einer Fortbildungsſchule einen nur ſehr geringen Aufwand; ihre Be nutzung erfordert ſeitens der Schüler oder deren Eltern bloß minimale Opfer an Zeit oder Geld. Dagegen gewährt ſie erhebliche Vorteile. Die Schüler werden in den Elementarkenntniſſen, die ſie im Volksunterricht erworben haben, befeſtigt und weiter gefördert; ſie lernen deren Wert für das prak⸗ tiſche Leben ſchätzen und fie auf dieſes anwenden. In gewiſſe, für ſie wichtige und zugleich verſtändliche Gebiete der Naturkunde und der Landwirtſchafts⸗ lehre werden ſie eingeführt. Dabei unterſtehen ſie während des Unterrichtes einer geiſtigen und ſittlichen Zucht, die gerade nach dem Verlaſſen der Volksſchule und vor Beginn des Militärdienſtes beſonders notwendig iſt. Die erſten landwirtſchaftlichen Fortbildungsſchulen entſtanden bei Be⸗ ginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der preußiſchen Rhein⸗ provinz. Ihre größte Verbreitung haben ſie im ſüdlichen und weſtlichen Deutſchland gefunden; im nördlichen und nordöſtlichen ſind ſie weit ſpärlicher vertreten. Im Jahre 1902 gab es im preußiſchen Staate 1427 land⸗ wirtſchaftliche Fortbildungsſchulen mit zuſammen 20 755 Schülern. Davon fielen auf die Provinz Hannover 282, auf Heſſen-Naſſau 280, auf die Rheinprovinz 236, auf dieſe drei Provinzen alſo 798 oder über zwei 5 222 e ne 3 en Fr 2 DE a ei en a a a I Te X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. 171 rittel aller Schulen; auf die ſechs öſtlichen Provinzen kamen zuſammen 319 Schulen ). Die Einrichtung, Unterhaltung und Beaufſichtigung der Fortbildungs⸗ ſchule iſt zunächſt und vor allem Sache der Ortsgemeinde, der die landiwirt- ſchaftlichen Vereine und die größeren Kommunalverbände anregend und be— ratend, auch wohl materiell helfend zur Seite treten müſſen. Der Staat kann dieſe Schulen dadurch fördern, daß er ſeine Beamten anweiſt, auf die Errichtung ſolcher hinzuwirken, daß er gewiſſe allgemeine Grundzüge für den Fortbildungsunterricht aufſtellt und daß er Gelder bewilligt, um den Orts— meinden die Tragung der notwendig entſtehenden Koſten zu erleichtern. e Regierungen der meiſten deutſchen Staaten ſind auch ſchon ſeit Jahren üht, dieſen Pflichten nachzukommen. Die landwirtſchaftlichen Vereine. Die erſten landwirtſchaftlichen Vereine im Deutſchen Reich ent— nden während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ihre Gründung erfolgte von ſeiten derjenigen Männer, welche die Notwendigkeit einer gänz— lichen Umgeſtaltung des landwirtſchaftlichen Betriebes und der ſozialen Ver— hältniſſe auf dem Lande beſonders lebhaft erkannten und öffentlich vertraten. Aber wie die Zahl dieſer Männer, ſo blieb auch die Zahl der landwirtſchaft— lichen Vereine zunächſt gering. Sie erhob ſich im 18. Jahrhundert kaum über 10. Hierunter befand ſich u. a. die Landwirtſchaftsgeſellſchaft in Celle, in welcher Albrecht Thaer eine bedeutungsvolle Wirkſamkeit entfaltete. 5 Ein raſches Wachstum der Vereine wurde zu Anfang des 19. Jahr: hunderts durch die Kriegsdrangſale verhindert. Aber ſowohl unter den her⸗ viorragenden Landwirten wie unter den Staatsmännern hatte ſich die Uber: * ſegang herausgebildet, daß in den landwirtſchaftlichen Vereinen ein vorzüg— iches und unentbehrliches Mittel zur Förderung der Landwirtſchaft gegeben und daß ein Zuſammenwirken dieſer Vereine mit den ſtaatlichen Organen geboten ſei. In dem preußiſchen Landeskulturedikt vom 14. September 1811 heißt es hierüber ($ 39, Abſ. 2, 3 und 5): „Es iſt deshalb Unſer Wunſch und Wille, daß erfahrene und prak— tiſche Landwirte in größeren und kleineren Diſtrikten zuſammentreten und pPraktiſche landwirtſchaftliche Geſellſchaften bilden, damit durch ſolche ſowohl ſſichere Erfahrungen und Kenntniſſe, als auch mancherlei Hilfsmittel ver— breitet und ausgetauſcht werden mögen.“ IE „Wir werden ein Zentralbureau in Unſerer Reſidenz errichten?) welches dieſe verſchiedenen Aſſoziationen in Unſeren ſämtlichen Staaten in eine ge— wiſſe Verbindung ſetzt, Berichte und Anfragen von ihnen fordert und erhält, nicht nur Ratſchläge erteilt, ſondern auch durch Beſorgung von Werkzeugen, Sämereien, Viehraſſen und in gewiſſen Geſchäften erfahrenen Arbeitern die gewünſchte Hilfe leiſtet. Auch wird dieſes Zentralbureau gerechte und zweck— mäßige Wünſche des ländlichen Publikums, die ihm durch die Aſſoziationen zukommen, den oberſten Staatsbehörden vortragen und empfehlen.“ „Die Organiſation der Sozietäten wird ihnen ſelbſt, jedoch nach ge— nommener Rüdiprache mit dem Zentralbureau überlaſſen und braucht nicht in allen Diſtrikten gleichförmig zu ſein.“ N EEE — — VTTTCTTCTCTCTCTCTCTCTbTTb 1) Vergl. die dem preuß. Abgeordnetenhauſe unter den 30. Januar 1904 zuge⸗ 1 angene Denlſchrift des Landwirtſchaftsminiſters „Über die Entwicklung der ländlichen gertbildungsjanen in Preußen“; die zitierten Zahlenangaben finden ſich dort S. 72 und 73. 2) Dies Verſprechen iſt erſt 1842 und zwar durch die Errichtung des Landes ökonomie⸗Kollegiums eingelöſt worden. 172 X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. In dieſen kurzen Sätzen iſt die Aufgabe und Organiſation der land- wirtſchaftlichen Vereine nach ihren weſentlichſten Grundlagen und in der Richtung charakteriſiert, welche ſie ſpäter tatſächlich eingeſchlagen haben. Der 7 enlene® des Landeskultur-Ediktes war auch kein Geringerer als Albrecht haer N Selbſt nach Beendigung der Freiheitskriege machte zunächſt das land: wirtſchaftliche Vereinsweſen nur langſame Fortſchritte. Die einzelnen Land⸗ wirte mußten ſich erſt erholen von den ſchlimmen Folgen des Krieges und ſich gleichzeitig in die durch die Agrargeſetzgebung gänzlich veränderten wire ſchaftlichen Verhältniſſe eingewöhnen. Im Jahr 1820 zählte der ganze preußiſche Staat bloß 15 Vereine; im Jahr 1830 waren fie auf 45 ge ſtiegen. Dann erfolgte eine ſchnellere Zunahme. Ihre Zahl ſtellte ſich 1840 auf 145, im Jahr 1850 auf 313, im Jahr 1860 auf 541, im Jahr 1870 nach dem Zutritt der neu erworbenen Landesteile, auf 865, im Jahr 1881 auf 1322, 1896 auf 2761 mit 133911, und im Jahr 1900 auf 3575 mit 267454 Mitgliedern ). Die übrigen deutſchen Staaten ſind in der Ente wicklung des landwirtſchaftlichen Vereinsweſens hinter Preußen nicht zurück⸗ geblieben. RE Mit der wachſenden Zahl trat die Notwendigkeit hervor, die zu einem Lande oder größeren Landesteilen gehörenden Vereine zu einer einheitlichen Körperſchaft zuſammenzufaſſen. Auf dieſe Weiſe entſtanden die landwirt— ſchaftlichen Zentral- oder Haupt- oder Provinzialvereine. Sie bil⸗ deten die obere Inſtanz für die in ihrem Bezirk liegenden Orts- oder Zweig⸗ vereine und zugleich die vermittelnde Stelle zwiſchen den letzteren und den Staatsbehörden. In den größeren deutſchen Staaten wurden dann oberſte Inſtanzen für die landwirtſchaf tlichen Vereine eingerichtet, die ſich aus den Deputierten der Hauptvereine, außerdem gewöhnlich auch noch aus, von der Staatsregierung ernannten Mitgliedern zuſammenſetzten. Sie trugen und haben noch jetzt einen halbamtlichen Charakter. In Preußen heißt die oberſte Inſtanz „Landesökonomie-Kollegium“, in Bayern „Bayeriſcher Landwirtſchaftsrat“ im Königreich Sachſen „Landeskulturrat für das Königreich Sachſen“, in Württemberg „Zentralſtelle für die Landwirtſchaft“. — Nach der Gründung des neuen Deutſchen Reiches trat 1872 der Deutſche Landwirtſchaftsrat ins Leben. Er beſteht aus 73 Deputierten der einzelnen landwirtſchaftlichen Zentralvereine oder Land⸗ wirtſchaftskammern; er tritt jedes Jahr zu mehrtägigen Beratungen zuſammen und hat außerdem einen ſtändigen Ausſchuß. Von der Reichsregierung wird er als die rechtsmäßige Vertretung der deutſchen Landwirtſchaft anerkannt. Neben den hier beſchriebenen landwirtſchaftlichen Vereinen, deren Organi⸗ ſation vom Staate anerkannt und gebilligt iſt, die vom Staate auch Unter⸗ ſtützung beziehen und von ihm als Berater und Gehilfen bei Ausführung ſtaatlicher Maßregeln herangezogen werden, gibt es noch andere Vereinigungen j von Landwirten, die nach keiner Richtung einen amtlichen oder halbamtlichen f Charakter tragen. Hierzu gehörte früher die Wanderverſammlung deutſcher Land- und Forſtwirte, welche 1837—1872 faſt alljährlich in irgend einer deutſchen Stadt zuſammenkam und über landwirtſchaftliche Fragen Beratungen pflog, dabei in der Regel auch eine allgemeine land⸗ wirtſchaftliche Ausſtellung veranſtaltete. Einen ähnlichen Zweck verfolgte der 1867 gegründete Kongreß nord deutſcher Landwirte, der ſich 1872 zum Kongreß deutſcher Landwirte erweiterte. Die Wanderverſammlung e 1) en Jahrbücher, herausgeg. von H. Thiel, Bd. XXX, Ergän⸗ zungsband IV, 1902, S. 626. X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. 173 ütſcher Landwirte tagte zum letzten Mal 1872 in Dresden; der Kongreß 1 5 Landwirte löſte ſich 1894 auf, nachdem der Bund der Landwirte us Leben getreten war. Letzterer hat nach ſeinen Satzungen den Zweck, „alle landwirtſchaftlichen Intereſſen, ohne Rückſicht auf politiſche Partei— lung und Größe des Beſitzes, zur Wahrnehmung des der Landwirtſchaft hührenden Einfluſſes auf die Geſetzgebung zuſammenzuſchließen und der Landwirtſchaft eine ihrer Bedeutung entſprechende Vertretung in den parlamen— tariſchen Körperſchaften zu verſchaffen.“ Der Schwerpunkt ſeiner Wirkſamkeit gehe auf wirtſchaftspolitiſchem Gebiet. — Die im Jahre 1885 ins Leben getretene Deutſche Landwirtſchaftsgeſellſchaft hat ſich die Förde— rung der landwirtſchaftlichen Technik zur Aufgabe gemacht. Zu dieſem Zweck hat fie für die wichtigſten Zweige des landwirtſchaftlichen Betriebes Ab- teilungen und ſtändige Ausſchüſſe gebildet; ſo z. B. für das Düngerweſen, für Saatgut, für Futtermittel, für den Ackerbau, für Maſchinen und Geräte, flür Bauweſen, für Buchführung. Alljährlich veranſtaltet fie eine, in den verſchiedenen Gegenden des Deutſchen Reiches wechſelnde landwirtſchaftliche ee 1 Im Jahre 1887 wurden ihr die Rechte einer juriſtiſchen Perſon verliehen. 2 Zu den außerhalb des ſtaatlichen Einfluſſes ſtehenden landwirtſchaft⸗ lichen Vereinen gehören auch die Bauern vereine, wie der weſtfäliſche, rheiniſche, die bayeriſchen Bauernvereine. Eine allgemeine Cha— rakteriſtik läßt ſich von ihnen nicht geben; in ihrer Organiſation wie in ihrer Wirkſamkeit ſind ſie zu verſchieden. Manche von ihnen haben eine politiſch ausgeprägte Tendenz. 1 Auf die Entwicklung der Landwirtſchaft haben die landwirtſchaftlichen Vereine einen ebenſo großen wie günſtigen Einfluß ausgeübt. Die hervor— ragendſten praktiſchen Landwirte und Lehrer der Landwirte gehörten zu ihren tätigen Mitgliedern. Durch ſie kamen die auf dem Gebiete der landwirt— 5 eee Praxis gemachten Entdeckungen und bewährten Erfahrungen zur gemeinen Kenntnis; unzählige wichtige und nützliche Unternehmungen ver— danken ihrer Initiative den Urſprung. Immer neuer Gebiete haben ſie ſich 4 bemächtigt; die Intenſivität ihrer Wirkſamkeit iſt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ecebenſo gewachſen wie ihre Zahl und die Summe ihrer Mitglieder. Bei der örtlichen Zerſtreuung und der geſellſchaftlichen Iſolierung, in der die Land⸗ wirte zufolge ihres Berufes leben, war es von hervorragender Wichtigkeit, daß in den Vereinen die Möglichkeit und gewiſſermaßen die Notwendigkeit dargeboten wurde, daß die benachbarten Landwirte regelmäßig ſich von Zeit zu Zeit zuſammenfanden, um perſönlichen Verkehr zu pflegen und die ge— meinſchaftlichen Berufsintereſſen zu beſprechen. Wenn die deutſche Landwirt⸗ ſchaft die jetzige hohe Stufe der Entwicklung erreicht hat, jo verdankt ſie dies zu einem weſeutlichen Teile der Tätigkeit der landwirtſchaftlichen Ver— eine. Dieſe ſowie die landwirtſchaftlichen Unterrichtsanſtalten und die im folgenden Abſchnitt zu beſprechenden Genoſſenſchaften find in erſter Reihe RB u nennen, wenn man fragt, durch welche Faktoren die deutſche Landwirt: 3 ſchaft während der letzten beiden Menſchenalter am meiſten gefördert worden iſt. Das wirklich erzielte günſtige Reſultat konnte allerdings nur dadurch erreicht werden, daß der Staat in ſachgemäßer Weiſe die landwirtſchaftlichen Vereine in ihrer Wirkſamkeit unterſtützte und ſie als vermittelnde Organe benutzte, um die ſeinerſeits zugunſten der Landwirtſchaft geplanten Maßregeln u verwirklichen. Auch für die Zukunft hängt viel davon ab, daß beide ſich in die Hände arbeiten; der Staat kann die landwirtſchaftlichen Vereine ebenſo— wenig entbehren, wie dieſe der Hilfe jenes entraten können. Aufgabe der landwirtſchaftlichen Vereine iſt es, die ſtaatlichen Organe über die Bedürfniſſe w 8 r TREE 174 X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. und Wünſche der Landwirtſchaft aufzuklären; ihn zu notwendigen, ohne ſeine Hilfe nicht zu verwirklichenden Maßregeln anzuregen; die praktiſche Durch⸗ führung von ſtaatlichen Anordnungen, ſoweit ſie dazu imſtande ſind und angerufen werden, zu übernehmen. Vermöge ihrer Sach- und Ortskenntnis ſind ſie auf dieſen Gebieten viel mehr und Beſſeres zu leiſten imſtande, als der Staat, wenn er ausſchließlich auf ſeine amtlichen Organe angewieſen iſt. Hieraus ergibt ſich auf der anderen Seite, daß der Staat ſich in möglichſt weitem Umfange der landwirtſchaftlichen Vereine zur Hilfeleiſtung in Rat und Tat bedienen muß. Die zur Förderung der Landwirtſchaft verfügbaren Staatsgelder ſoll er, ſo weit als der Zweck es geſtattet, durch Vermittelung der Vereine zur Verwendung gelangen laſſen. Solches gilt z. B. von den Fonds, die beſtimmt ſind zur Errichtung und Unterhaltung von mittleren oder niederen landwirtſchaftlichen Lehranſtalten und von Verſuchsſtationen, zur Veranſtaltung von Ausſtellungen, zur Einführung beſſerer Viehraſſen, zur Prämiierung von guten Zuchttieren oder von muſterhaft geführten Wirt⸗ ſchaften 2c., zur Vornahme von Bodenmeliorationen: überhaupt zu allen in das Gebiet der Landwirtſchaft einſchlagenden Maßregeln, bei welchen die Mitwirkung von ſachverſtändigen, mit den örtlichen Verhältniſſen vertrauten Männern wünſchenswert erſcheint. Desgleichen liegt es im allgemeinen Intereſſe, daß die Staatsbehörden, bevor ſie wichtige, die Landwirtſchaft be⸗ treffende neue Verordnungen erlaſſen oder eben ſolche Geſetzentwürfe den parlamentariſchen Körperſchaften unterbreiten, dieſe vorher den landwirtſchaft⸗ lichen Vereinen zur Begutachtung oder Meinungsäußerung zugehen laſſen. Durch ein Zuſammenwirken der ſtaatlichen Organe mit den berufenen Ver⸗ tretern der Landwirtſchaft wird fürs erſte eine größere Sicherheit dafür ge⸗ boten, daß die ſtaatlichen Maßregeln zur Förderung der Landwirtſchaft auch dem beabſichtigten Zweck entſprechen und den gewünſchten Erfolg haben. Fürs andere wird dadurch das Vertrauen der ländlichen Bevölkerung zu dem guten Willen und zu der Einſicht der Staatsbehörden geſtärkt. Nicht minder wächſt bei den Vertretern der Landwirtſchaft ſowohl das berechtigte Selbſtbewußtſein wie das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit. Sie ge⸗ winnen Übung in der Behandlung öffentlicher Angelegenheiten, lernen auch die Schwierigkeiten würdigen, mit denen der Staat bei der Fürſorge für die wirtſchaftlichen Intereſſen der einzelnen Berufsklaſſen zu kämpfen hat. Wenn die landwirtſchaftlichen Vereine in der richtigen Weiſe vom Staate zur Mit⸗ hilfe herangezogen werden und wenn ſie ſelbſt dieſe in einer dem Gemein⸗ wohle entſprechende Art gewähren, dann repräſentieren ſie Organe der Selbſtverwaltung, die an Bedeutung hinter keinem anderen der ſtaatlich anerkannten Selbſtverwaltungskörper zurückſtehen. Ein erſprießliches Zuſammenwirken des Staates mit den land⸗ wirtſchaftlichen Vereinen iſt an folgende Bedingungen oder Voraus- ſetzungen geknüpft. Der Staat kann und muß ein gewiſſes Aufſichts⸗ recht über die Vereine ausüben. Die Statuten der Vereine, mit denen er direkt verkehrt und denen er die Verwaltung und Verteilung von öffentlichen Mitteln überläßt, müſſen ſeiner Genehmigung unterliegen. Der Staat kann von den Vereinen regelmäßige Berichte und namentlich genaue Nachweiſungen über die Verwendung der ihnen zur Verfügung geſtellten Gelder fordern; er darf einſchreiten, wenn ein Verein ſeine Pflichten offenbar verletzt. Im äußerſten Notfall muß er ihm die ſtaatliche Anerkennung entziehen und die Verbindung mit ihm löſen. Andererſeits ſoll der Staat den Vereinen mög⸗ lichſt freie Bewegung einräumen, ſich in ihre inneren Angelegenheiten nicht unnötig einmiſchen, ſie auch nicht nach irgend einer politiſchen Parteirichtung hin beeinfluſſen. Ihrerſeits müſſen die Vereine ſich immer deſſen bewußt X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. 175 | Bleiben, daß ſie nicht bloß freie Vereinigungen von Landwirten find, ſondern daß ſie gleichzeitig mittelbare Organe der Staatsverwaltung repräſentieren. Soweit es ſich nicht lediglich um ihre inneren Angelegenheiten handelt, ſo⸗ weit namentlich Meinungsäußerungen oder Maßregeln in Frage ſtehen, welche die ſtaatliche Verwaltung oder Geſetzgebung direkt betreffen, dürfen ſie es nie aus den Augen verlieren, daß mit der großen, ihnen vom Staate ein— räumten Vertrauens- und Machtſtellung auch entſprechende Pflichten ver— üpft ſind. Von ihnen muß erwartet werden, daß ſie die Intereſſen aller aſſen der landwirtſchaftlichen Bevölkerung gleichmäßig vertreten; daß ſie die rſönlichen Intereſſen hinter den allgemeinen zurückſtehen laſſen; daß fie mehr rauf ſehen, was auf die Dauer nützlich und heilſam iſt, als auf das, was für Pe Augenblick oder für kurze Zeit einige vorübergehende Vorteile bringt. Ferner müſſen ſie den innigen und untrennbaren Zuſammenhang berück— ſichtigen, in welchem das landwirtſchaftliche Gewerbe mit allen übrigen 3 weigen der nationalen Produktion ſich befindet. Sie werden es endlich als ihre pflichtmäßige Aufgabe zu betrachten haben, jede politiſche Partei⸗ gagitation von ſich fern zu halten. 4 In ein ganz neues Stadium der Entwicklung iſt das landwirt⸗ ſchaftliche Vereinsweſen eingetreten durch die in der preußiſchen Monarchie auf Grund des Geſetzes vom 30. Juni 1894 erfolgte Einrichtung von Land— wirtſchaftskammern. Die erſte Veranlaſſung zu dieſem Geſetz bot die Erwägung, daß es notwendig oder doch dringend wünſchenswert ſei, den land— wirtſchaftlichen Vereinen behufs Erfüllung ihrer zahlreichen und umfangreichen Aufgaben größere Geldmittel verfügbar zu machen. Trotz der von Jahr zu Jahr gewachſenen Staatszuſchüſſe reichten dieſelben nicht mehr aus. Durch eeeine relativ ſehr geringe Steuerauflage auf die einzelnen Landwirte war die Möglichkeit geboten, den Vereinen erhebliche Summen zuzuführen. Ein Be— ſteuerungsrecht konnte man aber nur Körperſchaften zugeſtehen, welche un— zweifelhaft die auf Grund geſetzlicher Vorſchriften berufenen Vertreter der ganzen Landwirtſchaft darſtellten. Für die von altersher beſtehenden land— wirtſchaftlichen Vereine traf dies nicht zu. Sie ſetzten ſich und ſetzen ſich noch lediglich aus Mitgliedern zuſammen, die freiwillig ihren Beitritt erklärt haben. Der größere Teil der deutſchen Landwirte gehört auch in der Gegen— wart noch zu keinem Verein. Man erſieht dies ſchon daraus, daß ſämtliche landwirtſchaftliche Vereine Preußens im Jahre 1900 nur rund 270000 Mit⸗ glieder beſaßen: die Zahl der landwirtſchaftlichen Betriebe in Preußen belief ſich aber auf über 3 Millionen. Eine weitere Veranlaſſung zu dem Geſetz war der Umſtand, daß viel— fach in landwirtſchaftlichen Kreiſen darüber Klage geführt wurde, daß die landwirtſchaftlichen Intereſſen ſeitens der Staatsbehörden und der parlamen— tariſchen Körperſchaften zu wenig Berückſichtigung fänden. Dieſer Stimmung verdankt auch der Bund der Landwirte vorzugsweiſe ſeine Entſtehung. Es lag ebenſo im ſtaatlichen wie im landwirtſchaftlichen Intereſſe, Organe ins Leben zu rufen, bei deren Zuſammenſetzung alle landwirtſchaftlichen Unternehmer direkt oder indirekt mitzuwirken hatten, die demgemäß ſowohl von den Landwirten ſelbſt wie von den übrigen Berufsklaſſen und dem Staate als die legitimen Vertreter der Landwirtſchaft angeſehen werden mußten. Das Geſetz läßt die Landwirtſchaftskammern nur fakultativ zu, d. h. es ſtellt die Entſcheidung darüber, ob eine Landwirtſchaftskammer eingerichtet werden ſoll oder nicht, den Landtagen der einzelnen Provinzen anheim. Alle preußiſchen Provinzen haben die Einrichtung einer Landwirtſchaftskammer für ihren Bezirk auf Grund des Geſetzes beſchloſſen und bereits durchgeführt. eee 176 X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. Das Geſetz bezeichnet als allgemeine Aufgabe der Land wirtſchaßts⸗ 1 kammern, „die Geſamtintereſſen der Land- und Forſtwirtſchaft ihres Be⸗ zirkes wahrzunehmen, zu dieſem Behuf alle auf die Hebung der Lage des Grundbeſitzes abzielenden Einrichtungen, insbeſondere die weitere korporative Organiſation des Berufsſtandes der Landwirte zu fördern. Auch haben ſie das Recht, ſelbſtändige Anträge zu ſtellen.“ Aus der weiteren Aufzählung der Befugniſſe der Landwirtſchaftskammern geht dann hervor, daß dieselben erheblich ausgedehntere ſind, als die der landwirtſchaftlichen Zentralvereine. Vor allem iſt ihnen das Recht beigelegt, zur Beſtreitung ihrer Ausgaben bis % Proz. des Grundſteuerreinertrages von den in ihrem Bezirk befindlichen Ackernahrungen zu erheben; dieſe Abgabe hat den Charakter einer öffentlichen Laſt. Mit Genehmigung des Miniſters kann die Abgabe auch über ½ Proz. des Grundſteuerreinertrages hinausgehen. Die Mitglieder der Landwirtſchafts⸗ kammern werden gewählt. Wählbar ſind Eigentümer, Nutznießer oder Pächter von Grundſtücken, die zuſammen mindeſtens eine Ackernahrung reprä⸗ ſentieren; ausgeſchloſſen ſind demnach die Kleinſtellenbeſitzer und die grund- beſitzenden Arbeiter. Den einzelnen Landwirtſchaftskammern iſt es überlaſſen, durch ihre Statuten, die der königlichen Genehmigung bedürfen, den Begriff Ackernahrung näher zu beſtimmen. Für Oſtpreußen iſt er auf 90 ME, für Weſtpreußen auf 75 Mk., für Pommern auf 60 Mk., für Brandenburg auf 105 Mk., für Poſen auf 120 Mk., für Schlefien auf 105 Mk., für Sachſen auf 90 Mk. für Schleswig⸗ Holſtein und für die Rheinprovinz auf 150 Mk., für den Reg. Bez. Kaſſel auf 120 Mk., für den Reg.⸗Bez. Wiesbaden auf 60 Mk. Grundſteuerreinertrag normiert worden. Das aktive Wahlrecht zu den Landwirtſchaftskammern wird zunächſt von den ländlichen Vertretern der Kreistage ausgeübt. Jedoch können die Landwirtſchaftskammern auch eine Anderung des Wahlverfahrens beſchließen. Dasſelbe muß aber dann ein indirektes, nach dem Grundſteuerreinertrage abgeſtuftes ſein. In dieſem Falle iſt es auch geſtattet, kleineren Landwirten, die nicht im Beſitze einer Acker⸗ nahrung ſind, das Wahlrecht beizulegen. Die Mitglieder der Landwirtſchafts⸗ kammern werden auf ſechs Jahre gewählt; alle drei Jahre ſcheidet die Hälfte aus, die Ausſcheidenden ſind wieder wählbar. Der Vorſtand der Landwirt⸗ ſchaftskammer beſteht aus dem Vorſitzenden, deſſen Stellvertreter und drei gewählten Mitgliedern. Außerdem hat die Kammer das Recht, Ausſchüſſe aus ihrer Mitte zu wählen und dieſe mit beſonderen regelmäßigen oder vor⸗ übergehenden Aufgaben zu betrauen. Sie hat die rechtliche Stellung einer Korporation. Alljährlich einmal haben die Landwirtſchaftskammern dem Miniſter über die Lage der Landwirtſchaft ihres Bezirkes zu berichten. Von fünf zu fünf Jahren müſſen ſie einen umfaſſenden Bericht über die geſamten landwirtſchaftlichen Zuſtände ihres Bezirkes erſtatten. Auf Antrag des Staats⸗ miniſteriums kann eine Kammer durch königliche Verordnung aufgelöſt werden. Es ſind dann Neuwahlen anzuordnen, welche innerhalb drei Monaten, vom Tage der Auflöſung an, erfolgen müſſen. Den Landwirtſchafts kammern iſt die Befugnis beigelegt, die Anſtalten, das geſamte Vermögen ſowie die Rechte und Pflichten der beſtehenden land⸗ wirtſchaftlichen Zentralvereine auf deren Antrag zur beſtimmungsmäßigen Verwendung und Verwaltung zu übernehmen und mit deren bisherigen lokalen Gliederungen ihrerſeits in organiſchen Verband zu treten, ſowie ſonſtige Ver⸗ eine und Genoſſenſchaften, welche die Förderung der landwirtſchaftlichen Ver⸗ hältniſſe zum Zweck haben, in der Ausführung ihrer Aufgaben zu unterſtützen. Infolge dieſer Beſtimmungen haben ſich in den meiſten Provinzen die früheren landwirtſchaftlichen e aufgelöſt und ſind in die Land⸗ wirtſchaftskammern vollſtändig aufgegangen. In einzelnen Provinzen oder X. Landw. Unterricht und landw. Vereine. | 177 zirken hat man davon zunächſt allerdings noch Abſtand genommen; es zt aber in dem Gange der bisherigen Entwicklung, daß auch dieſe mit der vorausſichtlich den gleichen oder doch einen annährend ähnlichen Weg Po werden. it den Landwirtſchaftskammern ſind Körperſchaften ins Leben gerufen den, die, mindeſtens formell, mit größerem Recht wie die landwirlſchaft⸗ en Zentralvereine ſich als die Vertreter der geſamten Landwirtſchaft be- chten können; die ferner in der Lage ſich befinden, zufolge ihrer erweiterten gniſſe und Mittel mit ſtärkerem Nachdruck für die landwirtſchaftlichen ereſſen einzutreten. Dementſprechend iſt aber auch der Staatsregierung erhöhter Einfluß auf die Organiſation und Wirkſamkeit der auf parla⸗ entariſcher Grundlage errichteten Landwirtſchaftskammern eingeräumt worden. Schon die bis jetzt nur kurze Tätigkeit der Landwirtſchaftskammern liefert den Beweis, daß dieſelben die Möglichkeit, den Willen und die Macht beſitzen, um die landwirtſchaftlichen Intereſſen noch wirkſamer zu fördern und nament- lich den Staatsbehörden gegenüber noch erfolgreicher zu vertreten, als es die Zentralvereine, ſelbſt beim beſten Willen, zu tun vermochten. Allerdings fſtehen die Landwirtſchaftskammern vor zwei Schwierigkeiten oder Gefahren, von denen die Zentralvereine kaum berührt werden. Deren Überwindung bildet die Bedingung, von der es abhängt, ob die Landwirtſchaftskammern einen nach allen Richtungen hin noch günſtigeren Einfluß auf die Entwicklung der Landwirtſchaft und der ländlichen Bevölkerung ausüben werden, als es die Zentralvereine mehr als ein halbes Jahrhunderts getan haben, oder ob fie in nicht unweſentlichen Dingen hinter derſelben zurückbleiben. Die Land- wirtſchaftskammern müſſen es verſtehen, mit den vorhandenen landwirtſchaft— lichen Zweigvereinen in eine ebenſo nahe und organiſche Verbindung zu treten, wie die Zentralvereine ſie unterhalten haben. Es hat dies inſofern gewiſſe Schwierigkeiten, als die Zweigvereine auf Freiwilligkeit beruhen und be— ruhen müſſen, wenn man ihnen nicht einen Teil ihrer tüchtigſten Kräfte und die Schaffensfreudigkeit nehmen ſoll. Die Landwirtſchaftskammern dagegen gehen nicht wie die Vorſtände der Zentralvereine aus den Wahlen der Zweig— vereine, ſondern aus den Kreistagen, alſo aus Körperſchaften hervor, die aus geſetzlichen Vorſchriften ihren Urſprung herleiten und mit den landwirt— ſchaftlichen Zweigvereinen direkt gar nichts zu tun haben. Hieraus kann ſich eein Gegenſatz zwiſchen den letzteren und den Landwirtſchaftskammern heraus— bilden, der auf die Wirkſamkeit beider einen lähmenden Einfluß ausüben müßte. Bei Anwendung der nötigen Vorſicht und Weisheit läßt ſich dieſe Schwierigkeit allerdings überwinden. Größer iſt die Gefahr, daß die Land— wirtſchaftskammern von politiſchen Parteien zu ſehr abhängig werden, weil ſie aus Wahlen von Körperſchaften hervorgehen, die ihrer Bestimmung nach eeinen mehr oder minder politiſchen Charakter an ſich tragen. Würde eine ſolche Abhängigkeit eintreten, ſo könnten die Landwirtſchaftskammern ihre Auf— gabe nur unvollkommen und einſeitig erfüllen; es würden ſich auch viele von den Männern, welche zu den beſten Stützen der landwirtſchaftlichen Zentral— 1 En gehört haben oder noch gehören, von den Landwirtſchaftskammern fern halten. * Vermeiden dagegen die Landwirtſchaftskammern die ihnen drohenden Klippen und erfüllen ſie die auf ſie geſetzten Hoffnungen, ſo werden ſie einen weſentlichen Fortſchritt in der Entwicklung des landwirtſchaftlichen Vereins— weſens darſtellen. Dann kann es nicht ausbleiben, daß auch diejenigen außerpreußiſchen deutſchen Staaten, welche ähnliche Körperſchaften noch nicht beſitzen, zur Einführung ſolcher ſchreiten werden. — — — E . 2 2 n von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik 2. Aufl. 12 178 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. 1 Die Anwendung des Genoſſenſchaftsprinzips auf die Landwirtſchaft iſt 4 eine ſehr alte; fie hat aber im Laufe der Jahrhunderte mancherlei Umwandlung erfahren. Solange und ſoweit der Grund und Boden noch nicht in Privat⸗ eigentum übergegangen war (. S. 35 und 63), bildeten alle an der Nutz⸗ nießung der gemeinſamen Grundſtücke Anteilsberechtigten eine Genoſſenſchaft: die Markgenoſſenſchaft. Nach beſtimmten, durch Gewohnheitsrecht feſt⸗ geſetzten Regeln wurde die Nutznießung der gemeinen Mark unter die Ge⸗ noſſen verteilt, auch über die Art der Nutzung Verfügung getroffen. Der Übergang vom Geſamteigentum in das Privateigentum erfolgte nur ganz allmählich. Zuerſt geſchah er bei dem Ackerland, dann bei den Wieſen, viel ſpäter bei den Weiden und beim Wald. Noch bis in die Gegenwart hinein hat ſich vielfach ein ſolcher genoſſenſchaftlicher Grundbeſitz in der Form der Allmend (. S. 77 ff.) erhalten. Die Allmend iſt zwar teilweiſe Eigentum der politiſchen Gemeinde geworden; ein großer Teil derſelben gehört aber nur einer Anzahl von Gemeindegliedern, den Allmendgenoſſen. Mit Einführung des Privateigentums verſchwand der genoſſenſchaftliche Betrieb keineswegs vollſtändig. Abgeſehen von den noch im Geſamteigentum verbliebenen Grundſtücken unterlagen auch die in Privateigentum übergegangenen Acker und ſonſtigen Kulturflächen bezüglich ihrer Beſtellung und Nutzung den von den Flurgenoſſen darüber feſtgeſetzten Beſtimmungen. Von dieſen hing es ab, zu welcher Zeit jeder Genoſſe ſeinen Acker bearbeiten, mit welchen Gewächſen er ihn bebauen mußte; wie viel Vieh er auf die gemeinſchaft⸗ lichen Weiden treiben durfte; wann die Weidezeit begann und wann ſie auf⸗ hörte; welche Rechte dem Einzelnen an den gemeinſamen Holzungen zuſtanden, wie der Ertrag aus dieſen zur Verteilung gelangte ꝛc. Auch gewiſſe andere Einrichtungen des landwirtſchaftlichen Betriebes wurden ſchon in früheren Jahrhunderten genoſſenſchaftlich geregelt; ſo z. B. die Haltung von männ⸗ lichen Zuchttieren, die Herſtellung und Unterhaltung von Schutzvorrichtungen gegen Waſſer (Deichgenoſſenſchaften), die Verteilung und Nutzungsweiſe der abwechſelnd zum Waldbau und zum Ackerbau beſtimmten Grundſtücke (Hau⸗ bergsgenoſſenſchaften). Die Regelung dieſer und anderer Betriebseinrichtungen ging zwar mit der Zeit vielfach in die Hände der ganzen Gemeinde oder deren Vorſteher über, vielfach blieb ſie aber auch bei einer gewiſſen Anzahl von Gemeindegliedern, deren Verbindung man als eine Genoſſenſchaft be⸗ zeichnen kann. Das Verhältnis der Abhängigkeit von den Großgrundbeſitzern, in welches der weit überwiegende Teil des deutſchen Bauernſtandes mit der Zeit geriet, hat zwar die Wirkſamkeit der bäuerlichen Genoſſenſchaften be⸗ ſchränkt, aber nicht ganz beſeitigt. Die aufgezählten genoſſenſchaftlichen Be⸗ fugniſſe blieben auch den hörigen Bauern in ziemlich weitem Umfange er⸗ halten, wenngleich die Art von deren Ausübung häufig von der Zuſtimmung der Herren abhängig war. Mit der zu Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgten Reform der agrar⸗ geſetzlichen Zuſtände und des landwirtſchaftlichen Betriebes erfuhr auch das Genoſſenſchaftsweſen eine gänzliche Umgeſtaltung. Zunächſt ſchien dies eine ſolche zu ſein, welche einen ſtarken Rückgang oder gar eine allmähliche Auf⸗ löſung bedeutete. Von den gemeinſchaftlich benutzten Grundſtücken wurde die überwiegende Maſſe geteilt und den einzelnen Berechtigten als Privat⸗ eigentum überwieſen; nach erfolgter Feldregulierung (ſ. S. 97 ff.) hörten der — 1 — S XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. 179 rzwang und die gemeinſchaftliche Beweidung der Acker und Wieſen auf. [ge der Beſeitigung des gutsherrlich⸗bäuerlichen Verhältniſſes trat überall Nonwendigkeit hervor, die Landgemeinden neu zu organiſieren, neue ndgemeindeordnungen zu erlaſſen. Durch dieſe wurden viele Ange— nheiten, die früher der genoſſenſchaftlichen Regelung unterſtanden, den reindebehörden überwieſen. Alle dieſe Umſtände bedingten es, daß die genoſſenſchaftlichen Einrichtungen an Bedeutung verloren oder ganz ngingen. In der öffentlichen Meinung fanden ſie auch nur noch eine inge Unterſtützung; die in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts herr- e individualiſtiſche Richtung war dem Genoſſenſchaftsweſen keines— s günſtig. Die Landwirte, insbeſondere die Bauern, freuten ſich nicht nur darüber, daß ſie der Abhängigkeit von den Gutsherren entledigt, ſondern uch darüber, daß ſie in der freien Benutzung ihres Grundeigentums nicht mehr durch die eigenen Standesgenoſſen beſchränkt waren. Wie vorteilhaft die erlangte Freiheit auf die wirtſchaftlichen Erfolge ihrer Tätigkeit wirkte, trat ihnen bald ſehr deutlich vor Augen. Eine Vergleichung mit der Ver⸗ gangenheit konnte ſie nur immer aufs neue in der Überzeugung beſtärken, daß ihre geſamte Lage ſich ungewöhnlich zum Beſſeren verändert habe. Nach Eeingehung neuer genoſſenſchaftlicher Vereinigungen, deren Beſtehen ſtets eine mehr oder minder große Beſchränkung der individuellen Freiheit der einzelnen Mitglieder in ſich ſchloß, fühlten ſie vorab kein Bedürfnis. Elin solches zeigte ſich erſt gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Wenn der Bauer mit dem Großgrundbeſitzer erfolgreich konkurrieren ſollte, ſo mußte er die von dieſem eingeführten Verbeſſerungen jo weit als möglich auch auf feinem Hof zur Anwendung bringen. Es trat die Notwendigkeit hervor, komplizierte und koſtſpielige Maſchinen zu benutzen, wertvolle Zuchttiere anzu— ſchaffen, jog. künſtliche Dung⸗ und Futtermittel käuflich zu erwerben, Ent⸗ und Bewäſſerungsanlagen einzurichten, größere Geldmittel zur unentbehrlichen Verſtärkung des Betriebskapitals zu gewinnen ꝛc. In allen dieſen Dingen befanden ſich die Bauern im Nachteil gegen den Großgrundbeſitz, weil der Umfang ihrer Wirtſchaften ein verhältnismäßig geringer war, auch die mate— riellen und geiſtigen Kräfte der einzelnen bäuerlichen Beſitzer vielfach als unzureichend ſich erwieſen. Nur durch genoſſenſchaftlichen Zuſammenſchluß konnte einigermaßen ein Ausgleich für dieſe Mängel gefunden werden. Auch die Großgrundbeſitzer, die nicht gerade ſehr umfangreiche Betriebe hatten, erkannten, daß die Durchführung mancher wirtſchaftlicher Maßregeln ihnen auf dem Wege der Genoſſenſchaftsbildung erheblich leichter gemacht werde, als wenn jeder für ſich allein damit vorginge. 11 Abgeſehen von ganz vereinzelten Verſuchen wurden die Beſtrebungen zur Bildung landwirtſchaftlicher Genoſſenſchaften durch die Erfolge veranlaßt, welche man in England und Frankreich auf dem Gebiete des gewerblichen Genoſſenſchaftsweſens erzielt hatte. Drei Männer ſind es insbeſondere ges u weſen, die als Bahnbrecher auf dieſem Wege vorangingen: Victor Aimé Huber (1800 — 1869), Schulze-Delitzſch (1808 —1883) und Raiffeiſen (1818-1888). Der erſtgenannte erſtreckte ſeine Tätigkeit auf das ganze Genoſſenſchaftsweſen, das er auf wiederholten Reiſen in Belgien, England und Frankreich gründlich kennen gelernt hatte und nun auf Deutſchland zu übertragen verſuchte ). Seiner Anregung haben die beiden anderen genannten 4 Männer viel zu danken. Die Beſtrebungen von Schulze-Delitzſch galten 4 4 — — ä1—ͤ 1) Viktor Aimé Huber, Reiſebriefe aus Belgien, Frankreich und England, 2 Bde., amburg 1855. Vergl. auch Rud. Elvers, Viktor Aimé Huber. Sein Werden und irken, 2 Bde., Bremen 1872 und 1874. 12 * — 180 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. unächſt und vorzugsweiſe den Handwerkern und dem bürgerlichen Mitte- ſtunde überhaupt; fie dehnten ſich ſpäter aber auch auf den landwirtſchaft? lichen Mittelſtand, die Bauern, aus. Ihr erſter und Hauptzweck war, das Kreditbedürfnis zu befriedigen. Schulze-Delitzſch gab den Genoſſenſchaften daher auch die Bezeichnung „Vorſchußkaſſen“, nannte ſie ſpäter auch wohl „Volksbanken“. Raiffeiſent) hatte anfangs nur die mittleren und kleinen Grundbeſitzer im Auge, die er aus den Händen wucheriſcher Ausbeuter durch Gründung genoſſenſchaftlicher Kreditinſtitute befreien wollte. Im Anſchluß an die von ihm ins Leben gerufenen und als Darlehnskaſſen bezeichneten Genoſſenſchaften gründete er dann in der Folge noch ähnliche Vereinigungen, die anderweitigen Bedürfniſſen der Landwirte zu dienen beſtimmt waren. Huber wirkte faſt ausſchließlich durch Schriften und Vorträge; Schulze⸗ Delitzſch und Raiffeiſen beteiligten ſich außerdem praktiſch an der Ein⸗ richtung und Leitung von Genoſſenſchaften. Die älteren genoſſenſchaftlichen Bildungen erſtrebten vorzugsweiſe eine den Bedürfniſſen entſprechende Bearbeitung und Benutzung des Grund und Bodens. Sie wurden zum größeren Teil unnötig, nachdem durch die Ge⸗ ſetzgebung jedem einzelnen Landwirt die freie Benutzung ſeines immobilen Beſitzes gewährleiſtet war. Mit der im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgten Umgeſtaltung des landwirtſchaftlichen Betriebes trat dagegen die Notwendig⸗ keit einer erheblichen Vermehrung des ſtehenden und umlaufenden Betriebs- kapitals hervor. Die Beſchaffung desſelben machte den Landwirten, nament⸗ lich den Bauern, wegen ihrer iſolierten Lage, ihrer Entfernung von den Mittelpunkten des Verkehrs, auch wegen ihrer meiſt mangelhaften Geſchäfts⸗ gewandtheit große Schwierigkeiten. Manche Beſtandteile des Betriebskapitals waren zudem ſo geartet, daß ihre Beſchaffung und Benutzung für den ein⸗ zelnen und bäuerlichen Beſitzer zu koſtſpielig ſich geſtaltete, daß ſie bloß lohnend erſchien, wenn eine Anzahl von Beſitzern ſich zu dieſem Zweck zu⸗ ſammenſchloß. Dahin gehörten z. B. gewiſſe landwirtſchaftliche Maſchinen, wertvolle männliche Zuchttiere. Für andere Betriebsmittel ſtellten ſich beim Bezug in kleinen Quantitäten die Transportkoſten zu hoch; auch fehlte in dieſem Falle die Möglichkeit, eine Kontrolle über die dem gezahlten Preiſe angemeſſene Beſchaffenheit der bezogenen Waren auszuüben. Beiden Übel- ſtänden konnte am wirkſamſten durch genoſſenſchaftlichen Ankauf dieſer Wirt⸗ ſchaftsbedürfniſſe, unter denen die Handels- Futter und Dungmittel die wichtigſte Stelle einnahmen, abgeholfen werden. Auch bei dem Abſatz vieler Produkte hatten die kleinen und mittleren Landwirte manche Schwierigkeiten zu überwinden oder poſitive Nachteile zu erleiden. Der Transport geringer Mengen nach der Stadt verurſachte verhältnismäßig große Koſten oder war überhaupt ganz unrentabel; die Großhändler ließen zudem auf den Ankauf kleiner Quantitäten ſich gar nicht ein, die Bauern waren daher an Zwiſchen⸗ händler gewieſen. Abhilfe bot auch für dieſen Übelſtand nur der genoſſen⸗ ſchaftliche Zuſammenſchluß. Die Entwicklung der Verkehrsverhältniſſe oder die Fortſchritte der Technik oder die zunehmende Wohlhabenheit der konſu⸗ mierenden Bevölkerung ließen es häufig vorteilhaft erſcheinen, landwirtſchaft⸗ liche Rohprodukte an Ort und Stelle in ein für den unmittelbaren Verkehr beſtimmtes Fabrikat zu verwandeln, welches in größeren Mengen auf einmal transportiert und in den Städten verkauft werden konnte. Die einzelnen Bauern waren wegen der Kleinheit ihres Beſitzes nicht imſtande, die zur Fabrikation erforderlichen Einrichtungen herzuſtellen und zugleich genügend 1) Vergl. über Raiffeiſen die ausführliche Darſtellung von M. Faßbender in deſſen Buch „F. W. Raiffeiſen in ſeinem Leben, Denken und Wirken“, Berlin 1902. XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. 181 zunutzen; ſie konnten auch nicht jo große Mengen von Fabrikaten liefern, zu einem lohnenden Abſatz nötig war. Aus dieſem Bedürfnis erwuchſen Genoſſenſchaften zur gemeinſamen Herſtellung von Butter oder Käſe olkerei⸗Genoſſenſchaften), von Obſt⸗ oder Traubenwein (Winzer⸗Genoſſen⸗ aften), von zubereitetem Geſpinnſtmaterial (Flachsbereitungs-Genoſſen— chaften). Weiter ſtellte ſich die Notwendigkeit heraus, den bereits früher vorhandenen Meliorationsgenoſſenſchaften, namentlich denen zur Einrichtung von gemeinſchaftlichen Be- und Entwäſſerungsanlagen, eine größere Ver— breitung zu verſchaffen und ſie zu dem Zweck auf neuen, den Fortſchritten der Technik und den veränderten wirtſchaftlichen Verhältniſſen entſprechenden Grundlage aufzubauen. Endlich — und dies war das wichtigſte und dringendſte — fehlte es gerade den bäuerlichen Landwirten an dem erforder— lichen Kredit, um diejenigen Anſchaffungen an toten und lebenden Inventar zu machen und diejenigen ſonſtigen Ausgaben zu leiſten, welche für einen rationellen und erfolgreichen Betrieb nicht entbehrt werden konnten. Sie mußten entweder hierauf verzichten oder fielen Wucherern in die Hände. 4 Alle dieſe Umſtände bedingten es, daß im Laufe des letzten halben Jahrhunderts eine große Anzahl ganz neuer Genoſſenſchaften ins Leben ge— rufen wurden. Viele von ihnen erſtreben nur ein einzelnes, eng be grenztes Ziel; andere bedienen ſich der einmal geſchaffenen Organiſation, um verſchiedenartigen Bedürfniſſen ihrer Mitglieder, ſei es dauernd, ſei es vorübergehend, zu genügen. Eine ſcharfe Grenze zwiſchen den verſchiedenen Arten von Genoſſenſchaften läßt ſich daher nicht ziehen. Im allgemeinen kann man aber folgende Gruppen von Genoſſenſchaften unterſcheiden: 1. Kredit— 4 genoſſenſchaften; 2. Genoſſenſchaften zum Ankauf von Betriebsmitteln, wie Futter, Dünger, Sämereien, Geräte, Zuchtvieh; ſie heißen auch Bezugs— oder Konſumgenoſſenſchaften; 3. Genoſſenſchaften zur gemeinſchaftlichen Benutzung von Betriebsmitteln, namentlich von Maſchinen und Zucht⸗ vieh; 4. Genoſſenſchaften zum Verkauf von Produkten oder auch zur vorherigen Verarbeitung dieſer auf anderweitige Fabrikaten; man faßt ſie unter der Bezeichung Verkaufs- oder auch Produktions genoſſen— ſchaften zuſammen; 5. Genoſſenſchaften zur Durchführung und Unterhaltung von Bodenmeliorationen; 6. Verſicherungs-Genoſſenſchaften. 1 Bei weitem die zahlreichſten und auch die wichtigſten ſind die Kredit— genoſſenſchaften. Über ſie wird eingehend in dem folgenden, dem land— wirtſchaftlichen Kreditweſen gewidmeten Abſchnitt gehandelt werden. | Die anfangs geringe Bedeutung der Bezugsgenofjenjchaften wuchs mit der Zeit in dem Maße, als die Landwirte es für lohnend oder gar notwendig erkannten, außer den in der eigenen Wirtſchaft erzeugten Futter⸗ und Dungmitteln, ſowie Sämereien auch noch ſolche zu verwenden, die durch Ankauf erworben werden mußten. Der Verbrauch an dieſen Betriebsmitteln iſt gerade in den letzten Jahrzehnten ganz gewaltig geſtiegen, namentlich auch bei den bäuerlichen Beſitzern. Ihre Beſchaffung im Großen, in Waggon— ladungen, ſtellt ſich viel wohlfeiler wie im Kleinen. Beſonders iſt aber in jenem Fall die Kontrolle über die dem Preiſe angemeſſene oder die vom Verkäufer garantierte Qualität der gekauften Waren ſehr viel leichter und ſicherer. Seitens der Bezugsgenoſſenſchaften werden die betreffenden Betriebs— mittel von einem Großhändler in bedeutenden Mengen auf einmal bezogen. Der Verkäufer wird dabei verpflichtet, für eine genau vereinbarte Beſchaffen— heit der gelieferten Waren Garantie zu leiſten. Die Kontrolle hierüber wird von den landwirtſchaftlichen Verſuchsſtationen geführt, mit denen die Genoſſenſchaften ein darauf bezügliches Abkommen getroffen haben. Zur Anerkennung der Entſcheidung der Verſuchsſtationen pflegen ſich die Ver— rr / EEE EEE EEE 2er Wr 8 D N e eee 182 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. käufer von vornherein zu verpflichten. Die Sicherheit, welche durch den genoſſenſchaftlichen Bezug den Landwirten für die gute Beſchaffenheit der gekauften Waren gewährt wird, iſt noch wichtiger, wie die dadurch erzielte Koſtenerſparnis. Denn es handelt ſich dabei meiſt um Gegenſtände, deren normale Beſchaffenheit auch der erfahrenſte und gebildetſte Landwirt nicht zuverläſſig beurteilen kann, bei denen daher die Landwirte großen Übervor⸗ teilungen und Betrügereien ausgeſetzt ſind. Hiervon kann ſie nur die von Männern der Wiſſenſchaft ausgeführte Unterſuchung der gelieferten Waren ſchützen. Wie einerſeits der wachſende Bedarf an Handels- Futter- und Dungmitteln zur Gründung von landwirtſchaftlichen Bezugsgenoſſenſchaften angeregt hat, ſo iſt andererſeits durch die letzteren der Abſatz und die Ver⸗ wendung jener ſtark geſteigert worden. | Die Zahl der für gemeinſchaftliche Benutzung von Betriebs- mitteln beſtimmten Genoſſenſchaften iſt verhältnismäßig gering. Eine ſolche gemeinſchaftliche Benutzung iſt ſtets mit gewiſſen Unzuträglichkeiten verbunden; wo ſie zweckmäßig erſcheint, läßt ſie ſich zudem häufig durch einfachere Mittel erreichen. Die wichtigſten hierher gehörenden Genoſſenſchaften ſind die behufs Beſchaffung und Benutzung von männlichen Zuchttieren. Weit größere Bedeutung haben die Genoſſenſchaften zum Ver— kauf oder auch zur vorherigen Verarbeitung landwirtſchaftlicher Er⸗ zeugniſſe. Ihrer Zahl nach kommen ſie hinter den Kreditgenoſſenſchaften; die erſte Stelle unter ihnen nehmen die Molkereigenoſſenſchaften ein. Sie beſchäftigen ſich entweder bloß mit dem Verkauf der von den Mitgliedern eingelieferten friſchen Milch oder, und zwar in der Regel, mit der Herſtellun und dem Verkauf von Butter oder Käſe. Für viele bäuerliche, aber au manche Großgrundbeſitzer iſt nur durch den Beitritt zu einer Genoſſenſchaft die Möglichkeit geboten, das erzeugte Milchquantum für einen den Produk⸗ tionskoſten entſprechenden Preis zu verwerten. Ebenſo kann man ſagen, daß erſt die Errichtung von Molkereigenoſſenſchaften vielen Grundbeſitzern die Möglichkeit eröffnet hat, ihre Rindviehhaltung und ebenſo die Schweinehaltung auf das gegenwärtige Maß auszudehnen oder von der weniger lohnenden Schafhaltung zu der rentableren Rindviehhaltung überzugehen. Außerdem gibt es aber auch noch andere Verkaufs- oder Verwertungsgenoſſenſchaften, ſo für Eier, friſches Obſt, für Herſtellung und Verkauf von Trauben⸗ wein, für die Bearbeitung und Verwertung des Flachſes. Die letztge⸗ nannten und ähnliche Genoſſenſchaften dienen vorzugsweiſe nur den kleinen und bäuerlichen Beſitzern. Die Produktion des einzelnen Beſitzers an den in Frage kommenden Erzeugniſſen iſt ſo gering, daß er dieſelben an die großen Märkte nicht bringen oder daß er daraus keine Fabrikate guter und deshalb hoch bezahlter Qualität herſtellen kann. Hierzu ſind große Mengen nötig und, inſofern eine weitere Verarbeitung in Frage kommt, eine gut geleitete Fabrikation unter ſtändiger ſachkundiger Aufſicht. Gerade in den letzten Jahren ſind viele neue, zum Teil auch neuartige Genoſſenſchaften entſtanden, die unter die hier beſprochene Gruppe fallen. Zu ihnen gehören auch die behufs gemeinſamen Verkaufs des hauptſächlichſten landwirtſchaftlichen Produktes, des Getreides. Die Kornhaus- oder Getreideverwertungsgenoſſenſchaften beſorgen nicht nur den Verkauf des von den Mitgliedern eingelieferten Getreides, ſondern auch, ſoweit als nötig, deſſen vorherige Reinigung und Miſchung; ſie geben ferner Vorſchüſſe auf dasſelbe, erfüllen alſo damit die Funktionen eines Kredit- oder Bankin⸗ ſtitutes. Dadurch, daß ſie das Getreide in die für den Verkauf günſtigſte Beſchaffenheit verſetzen und dasſelbe an die Großhändler veräußern, ſind ſie imſtande, höhere Preiſe zu erzielen, als ſie dem einzelnen Landwirt bei XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. 183 irektem Verkauf gewährt würden. Beſonders gilt dies für alle Landwirte, bisher an kleine Zwiſchenhändler gewieſen waren und für ſolche, denen einer vollkommenen Reinigung des Getreides nötigen Maſchinen fehlen. Kornhausgenoſſenſchaften können auch den günſtigſten Zeitpunkt für den rkauf abpaſſen; ſie brauchen nicht, wie es jetzt bei vielen Landwirten der l iſt, bald nach der Ernte ihre Vorräte loszuſchlagen. Ihre allgemeinere rbreitung würde möglicherweiſe auch einen für die Landwirte günſtigen fluß auf die Getreidepreiſe und die Formen des Getreidehandels ausüben. wieweit ſie die von ihnen erwarteten Vorteile wirklich bringen, können erſt längere Erfahrungen lehren; die bisher gemachten haben ein ſehr abweichendes ſultat ergeben, ſodaß ein abſchließendes Urteil darüber noch nicht möglich MN). Außer acht gelaſſen werden darf allerdings nicht der Umſtand, daß die Errichtung und Verwaltung der Kornhäuſer mehr oder minder große einmalige Kapitalsaufwendungen und laufende Koſten verurſachen, deren Be— ſtreitung der Genoſſenſchaft zur Laſt fällt. Wenn dieſe ſich als nützlich er- weiſen ſoll, muß der den Mitgliedern aus der gemeinſamen Verwertung zu— fließende Gewinn höher ſein, als die für Verzinſung und Amortiſation des Anlagekapitals, ſowie für die ſtändige Verwaltung notwendigen Ausgaben. . Manche der Verkaufsgenoſſenſchaften tragen ſchon den Charakter von Produktivgenoſſenſchaften an ſich, jo die meiſten Molkerei- und Winzergenoſſenſchaften. Es iſt wohl möglich und ſogar wünſchens— wert, daß das genoſſenſchaftliche Prinzip auch auf noch andere Zweige der landwirtſchaftlichen Produktion zur Anwendung kommt, namentlich auf Her— ſtellung und Berkauf von Fabrikaten aus den Roherzeugniſſen des Obſt- und SGemüſebaues. Durch Beitritt zu einer ſolchen Genoſſenſchaft wird der ein- zelne Landwirt in der Organiſation und Leitung ſeines Betriebes gar nicht oder kaum eingeſchränkt; er verpflichtet ſich nur, einen Teil der von ihm er: zeugten Produkte für die genoſſenſchaftliche Verarbeitung herzugeben. Daß es untunlich iſt, einen Wirtſchaftsbetrieb im ganzen auf genoſſenſchaftlicher Grundlage aufzubauen, wurde ſchon früher (S. 69) nachgewieſen. Einen ganz eigentümlichen Charakter tragen die Meliorationsge— noſſenſchaften an ſich. Bei ihnen handelt es ſich in der weitaus über— wiegenden Zahl, der Fälle um Regulierung der Waſſerverhältniſſe, um Schutz vor unzeitigen Überſchwemmungen, um Entwäſſerung oder um Bewäſſerung des Kulturlandes. Die Meliorationsgenoſſenſchaften fallen daher annähernd mit den Waſſergenoſſenſchaften zuſammen. Einige von ihnen, z. B. die Deichgenoſſenſchaften, gehören zu den älteſten Genoſſenſchaften über— haupt. Sie beſtehen ſchon ſeit Jahrhunderten in den Küſtendiſtrikten der Nord⸗ und Oſtſee und haben den Zweck, die dem Meere oder den Mündungs— gebieten der großen Flüſſen abgewonnenen Ländereien durch Deiche zu ſchützen und dieſe ſelbſt in ordnungsmäßigem Zuſtande zu erhalten. Auch die Hau— bergsgenoſſenſchaften, die eine zweckmäßige Verteilung und Nutzung der abwechſelnd zum Waldbau und zum Ackerbau verwendeten Grundſtücke erſtreben, reichen Jahrhunderte weit zurück. Verhältnismäßig jungen Urſprungs find die Genoſſenſchaften, welche behufs künſtlicher Ent- oder Bewäſſerung 1) Vergl. hierzu: L. von Graß - Klanin „Kornhaus contra Kanitz“, Berlin 1895. W. Wygodszinski, Art. „Kornſpeicher“ im Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaft V. Bd. 2. Aufl. (1900), S. 353—395. Wiedfeldt „Genoſſenſchaftliche Getreideverwertung im Königreich Sachſen“ in Thiels Landw. Jahrbüchern, XXX. Bd., 1901, S. 299—318. „Die Landwirtſchaft in Württemberg“ Stuttgart 1902, S. 156—164. M. Hecht, „Die Badiſche Landwirtſchaft am Anfang des XX. Jahrhunderts“, 1903, S. 248— 250. Ferner „ die von den beteiligten Miniſtern dem preuß. Abgeordnetenhauſe zugegangene „Nachweiſung 1 über die bis Ende Dezember 1902 zur Errichtung landw. Getreidelagerhäuſer bewilligten und verwendeten Beträge (5 Mill. M.) vom 25. April 1903. 184 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaſten. ſich gebildet haben. Die älteſten unter ihnen ſind wohl die Wieſenbauge— noſſenſchaften des Siegener Landes, die um die Mitte des 18. Jahr⸗ m hunderts entſtanden, als die naſſau-oraniſchen Fürſten den künstlichen Wiefen- bau dort einführten. Aber erſt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben ſowohl die Be- wie die Entwäſſerungsgenoſſenſchaften eine erhebliche Verbreitung gefunden, nachdem nämlich durch die ſtaatliche Ge— ſetzgebung hierfür die nötige Grundlage geſchaffen war. | Be⸗ und Entwäſſerungsanlagen kann der einzelne Bauer, ſehr häufig auch der einzelne Großgrundbeſitzer für ſich allein nicht durchſühren, weil da⸗ durch gleichzeitig benachbarte Grundſtücksbeſitzer in Mitleidenſchaft gezogen werden. Für fie gilt etwas Ahnliches wie für die Feldregulierungen (ſ. S. 97 ff.). Sollen dieſe beſonders wichtigen Bodenmeliorationen gefördert und überall dort, wo ſie notwendig erſcheinen, zur Durchführung gebracht werden, ſo muß der Staat durch ſeine Geſetzgebung die Möglichkeit gewähren, eine wider⸗ ſtrebende Minorität der Intereſſenten zu zwingen, behufs Herſtellung und Unterhaltung der erforderlichen Anlagen mit der dafür geneigten Majorität zu einer Genoſſenſchaft zuſammenzutreten. Unter den deutſchen Staaten ging auf dieſem Wege Preußen voran, indem es durch Geſetz vom 28. Febr. 1843 die Bildung von Bewäſſerungsgenoſſenſchaften ermöglichte. Das Ge— je vom 2. Mai 1854 ordnete etwas Ahnliches für Entwäſſerungsgenoſſen⸗ ſchaften an, unter Ausſchluß freilich der Drainage. Am 1. April 1872 er⸗ ging dann ein Geſetz, welches, unter Aufhebung der früheren Geſetze, die Ge: noſſenſchaftsbildung für alle waſſerwirtſchaftlichen Unternehmungen geſtattete und regelte. Ausgenommen blieben nur die Deichgenoſſenſchaften, für welche beſondere Geſetze erlaſſen wurden. Dem Beilpiele Preußens ſind dann faſt alle übrigen deutſchen Staaten gefolgt. Die Waſſergenoſſenſchaften haben zur Hebung der landwirtſchaftlichen Roh- und Reinerträge und ſomit zur Förderung der Landeskultur im allgemeinen viel beigetragen. Sie ſtehen aber inſofern noch im Anfange ihrer Wirkſamkeit, als ſie bis jetzt nur auf den weitem kleineren Teil derjenigen Grundſtücke Anwendung gefunden haben, für welche ſie Anwendung finden müßten, wenn dieſelben in rationellſter Weiſe ausgenutzt werden ſollen. In Anbetracht ihrer großen Bedeutung für die Landeskultur haben die meiſten deutſchen Staaten oder auch Provinzial⸗ verwaltungen Anſtalten ins Leben gerufen, welche den Meliorationsgenoſſen⸗ ſchaften finanziell zu Hilfe kommen. Dieſe gewähren ihnen Darlehne zu billigen Zinſen, in denen gleichzeitig eine Amortiſationsquote enthalten iſt, ſo daß nach einer nicht zu langen Reihe von Jahren das geliehene Kapital zur Tilgung gelangt. Über ſie wird noch in dem den landwirtſchaftlichen Kredit behandelnden Abſchnitt XII die Rede ſein. Während die Meliorationsgenoſſenſchaſten ohne einen vom Staat ge⸗ übten Beitrittszwang nicht beſtehen können, müſſen umgekehrt die übrigen, vorher beſprochenen Gruppen von Genoſſenſchaften den Grundſatz der Frei⸗ willigkeit aufrecht erhalten. Damit iſt aber nicht geſagt, daß ſich der Staat um ſie nicht bekümmern ſoll. In den erſten Jahren ihres Beſtehens hat er dies allerdings kaum getan, auch nicht zu tun gebraucht. An Zahl und Bedeutung waren ſie noch zu gering; ſie mußten auch ſelbſt erſt für ihre Organiſation und Verwaltung die zweckmäßigſten Wege finden. Nach⸗ dem fie aber ſtark zugenommen und eine mehr einheitliche feſte Geſtalt ge— wonnen hatten, erkannten ſie ſowohl wie die Regierungen, daß für dieſe neue und zukunftsreiche Form des Wirtſchaftslebens auch neue, ihr beſonders an⸗ gepaßte geſetzliche Beſtimmungen notwendig ſeien. Dieſelben ergingen zuerſt im Jahre 1868 durch ein norddeutſches Bundesgeſetz. Das jetzt für das ganze Deutſche Reich gültige Geſetz betr. die Erwerbs- und XL Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. 185 rtſchaftsgenoſſenſchaften iſt am 1. Mai 1889 erlaſſen. In dieſem u. a. feſtgeſtellt, welche Bedingungen für die Bildung einer Genoſſen⸗ ft erfüllt ſein müſſen, welche Rechte und Pflichten die Genoſſenſchaft als lche und ihre einzelnen Mitglieder haben, welche Arten von Genoſſen— haften zuläſſig ſind, daß mindeſtens in jedem zweiten Jahre eine Prüfung r Einrichtungen und der Gejchäftsführuug jeder Genoſſenſchaft durch einen r nicht angehörigen ſachverſtändigen Reviſor ſtattzufinden hat ꝛc. Die nach rſchrift des Geſetzes gebildeten Genoſſenſchaften, ebenſo ihre Statuten und Vorſtandsmitglieder, werden in das vom Gericht geführte Genoſſenſchafts— regiſter eingetragen. Die eingetragene Genoſſenſchaft kann Eigentum und andere dingliche Rechte an Grundſtücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden; ſie gilt als Kaufmann im Sinne des Handelsgeſetz— buches. Genoſſenſchaften können in drei verſchiedenen Geſtalten errichtet werden, nämlich: 1. ſo, daß die einzelnen Mitglieder (Genoſſen) für die Ver⸗ bindlichkeiten der Genoſſenſchaft dieſer ſowohl wie unmittelbar den Gläu— bigern derſelben mit ihrem ganzen Vermögen haften: eingetragene Ge— noſſenſchaft mit unbeſchränkter Haftpflicht; 2. ſo, daß die Genoſſen zwar auch mit ihrem ganzen Vermögen, aber nicht unmittelbar den Gläu— bigern verhaftet, vielmehr nur verpflichtet ſind, der Genoſſenſchaft ſelbſt die zur Befriedigung der Gläubiger erforderlichen Nachſchüſſe zu leiſten; ein- getragene Genoſſenſchaft mit unbeſchränkter Nachſchußpflicht; 3. ſo, daß die Haftpflicht der Genoſſen für die Verbindlichkeiten der Genoſſenſchaft ſowohl dieſer wie unmittelbar den Gläubigern gegenüber im voraus auf eine beſtimmte Summe beſchränkt iſt: eingetragene Genoſſenſchaft mit be— ſchränkter Haftpflicht. * Dadurch, daß die ſtaatliche Geſetzgebung den Genoſſenſchaften ein feſtes And ſicheres Fundament gegeben hat, iſt deren Ausbreitung und vollkommenere innere Organiſation ungemein gefördert worden. Namentlich gilt dies auch von dem letztgenannten Geſetz, in welchem die vielfältigen, teils erfreulichen, teils auch unerfreulichen Erfahrungen, welche die Genoſſenſchaften gemacht hatten, ausgiebige Verwertung fanden. Die Mehrheit der einzelnen Genoſſenſchaften hat ſich zu größeren Verbänden und Unterverbänden zuſammengetan, die teils auf beſondere Länder oder Landesteile ſich beziehen, teils auch durch gemeinſame allgemeine 1 Grundſätze in ihrer Organiſation und Verwaltung ſich charakteriſieren. Die 4 beiden größten Verbände ſind: der allgemeine Verband der landwirt— 4 ſchaftlichen Genoſſenſchaften in Deutſchland (gegründet 1884) mit 1 ſeinem Sitz in Offenbach a/ M. und der Verband ländlicher Genoſſen— . ſchaften in Neuwied. Erſterer!) iſt aus den von Schulze-Delitzſch, 4 letzterer aus den von Reiffeiſen begründeten Genoſſenſchaften hervorgegangen. 3 Die zwiſchen beiden früher vorhanden geweſenen Unterſchiede haben ſich jetzt ſehr abgeſchwächt, nachdem durch das Geſetz für alle Genoſſenſchaften gewiffe Normativbeſtimmungen in Geltung getreten find. Der erſtgenannte Verband gibt alljährlich eine Statiſtik über die land— wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften heraus, die alle ihm bekannt gewordenen, dem Genoſſenſchaftsgeſetz unterſtehenden, aber keineswegs ſämtliche, überhaupt vorhandenen Genoſſenſchaften umfaßt. Danach gab es im Deutſchen Reich“: RR ET 1 1) Dieſer, unter Leitung des Geh. Reg.⸗Rat Haas ſtehende Verband iſt ſelbſtändig 0 und unabhängig von dem Schulze⸗Delitzſchen Genoſſenſchaftsverband. I. 2) Jahrbuch des Allgemeinen Verbandes der deutſchen landwirtſchaftlichen Genoſſen⸗ ſchaften für 1902 (Darm ſtadt 1903) S. 9 und 10. * 186 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. am 1. Juli 1902 Kreditgenoſſenſchafteeeen 11 121 Bezugs- und Abſatz ee 1422 Molkereigenoſſenſchaften . f 2 396 ſonſtige Genoſſenſchaftenn 1158 Zuſammen 16 097 Von der Geſamtzahl obiger Genoſſenſchaften waren: 1902 mit unbeſchränkter ee A 13 394 „ Nachſchußpflicht . 95 0 beſchränkter Haftpflicht 2 608 . 16 097 Die Genoſſenſchaften mit unbeſchränkter Haftpflicht, der ſog. Solidar⸗ haft machen 83,2% aller Genoſſenſchaften aus, während die mit be— ſchränkter Haftpflicht bloß 16,2%, ͤ die mit unbeſchränkter Nach⸗ ſchußpflicht ſogar nur 0,6% von der Geſamtzahl repräſentieren. In den erſtgenannten kommt das Genoſſenſchaftsprinzip am vollkommenſten und reinſten zum Ausdruck. Am 1. Juli 1890 betrug die Zahl der Genoſſenſchaften auf Grund derſelben Statiſtik nur 3000. In 12 Jahren hat ſie ſich alſo mehr als verfünffacht. Ihre Verteilung in den einzelnen Bezirken des Deutſchen Reiches iſt allerdings eine ſehr abweichende. Im weſtlichen und ſüdlichen Deutſchland ſind ſie ſtärker vertreten, als im nördlichen und beſonders im nordöſtlichen. Erſt ſeit etwa 10 —15 Jahren haben fie in dem letzteren eine größere Verbreitung gefunden, ſo daß zur Zeit der oſtelbiſche Teil des Deutſchen Reiches hinter dem weſtelbiſchen nicht mehr ſehr weit zurückſteht ). Beſonders förderlich für die Entwicklung der Genoſſenſchaften in der preußiſchen Monaüchie iſt die durch das Geſetz vom 31. Juli 1895 er⸗ folgte Gründung der preußiſchen Zentral-Genoſſenſchaftskaſſe in Berlin geweſen. Sie hat u. a. die Befugnis, an ſolche Vereinigungen und Verbandskaſſen eingetragener Erwerbs- und Wirtſchaftsgenoſſenſchaften, welche unter ihrem Namen vor Gericht klagen oder verklagt werden dürfen, Dar⸗ lehne zu gewähren, von denſelben auch verzinsliche Gelder anzunehmen, für ſie ferner Effekten zu kaufen und zu verkaufen. Sie bildet für die Genoſſen⸗ ſchaften eine Zentral⸗Geldausgleichſtelle, die unter Aufſicht und Leitung des Staates ſteht. Zur Erfüllung ihrer Aufgabe iſt ihr vom Staate als Grundkapital eine Einlage von 5 Mill. Mk. gewährt, welche durch Geſetz vom 20. April 1898 auf 50 Mill. Mk. erhöht wurde. Nach den von der Zentral-Genoſſenſchaftskaſſe veröffentlichten Mit⸗ teilungen?) gab es am 31. Dezember 1900 in der preußiſchen Monarchie zuſammen 10 914 eingetragene Genoſſenſchaften mit 1 575 483 Mitgliedern. Zum weit überwiegenden Teil ſind dies landwirtſchaftliche Genoſſenſchaften. 4607 mit 362 517 Mitgliedern gehören den offenbachiſchen, 3137 mit 276 169 Mitgliedern dem Neuwieder Verbande, 1500 mit 839 769 dem Schulze⸗ Delitzſchſchen Verbande an; die übrigen gehören zu ſonſtigen Verbänden oder überhaupt zu keinem Verbande. Die beiden erſten Gruppen umfaſſen ledig⸗ lich landwirtſchaftliche, die letzte Gruppe vorwiegend gewerbliche bezw. ſtädtiſche Genoſſenſchaften. 2 „„ GGG a Fi ͤ an 3 RR 2 ͤ̃²1*m̃ ̃ A! ˙— Et ah 22 ²³² R NE — 3 ru nr ee Ben 2 1 x { 1) Jahrbuch S. 10 und 11. 2) Mitteilungen zur deutſchen | ſtatiſtik, bearbeitet von A. Peterſilie, Sonderabdruck aus dem XXI. e zur Zeitſchrift des Kgl. Preuß. Statiſt. Bureaus, Berlin 1904. A. a. O. ER 2 —. x r > N, .. Get Ser * 7 Der R l 9 2 2 7 * e ee ee e N 2 e eee ee ne aa 30 nn, 7 8 9 F ET Bet a a in nn, pr > 8 777. BT eine “ 2 l r ae Tr EN * Ba 2 ge XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. 187 Bon den Geroſſenſchaſen fallen auf Zahl der Zahl der Genoſſenſchaften Mitglieder Provinz Oſtpreußen 474 86 009 „ Weſtpreußen 434 52 590 Stadt en 152 41075 Provinz Brandenburg . . 931 112 032 STR 2. 459 64 609 RS. 2 BR 763 107 085 RS ni Fi 1 386 196 724 e 929 162 502 „ Schlesw.⸗Holſtein 465 59 796 er 1116 160 833 „ie 855 125 358 „ Heſſen⸗Naſſaun 1025 168 537 es 1909 236 718 hs A a 16 1615 Summe 11014 1575 483 Im Durchſchnitt kommen daher auf jede Genoſſenſchaft 143 Mitglieder. Der Einfluß, welchen die Genoſſenſchaften auf die Entwicklung der Landwirtſchaft gehabt haben und noch ausüben, iſt ein ebenſo viel⸗ ſeitiger wie tiefgreifender. Durch ſie find manche drückend empfundene Übel— ſtände beſeitigt; durch ſie iſt für viele Landwirte erſt die Möglichkeit ge— ſchaffen worden, gewiſſe, ſehr nützliche oder gar notwendige Einrichtungen für ihren eigenen Betrieb ſich dienſtbar zu machen. Ihrer Bedeutung nach an der Spitze ſtehen die Kreditvereine oder Darlehnskaſſen, die vor allem den kleinen Landwirten, deren Perſonalkredit ein geringer zu ſein pflegt, zugute kommen. Sie entziehen die Bauern den Händen wucheriſcher Aus— beuter, gewähren ihnen gegen niedrige Zinſen das erforderliche Betriebs— kapital, bieten auch gleichzeitig die Möglichkeit, die aufgenommenen Gelder nach Maßgabe der erzielten Reinerträge ratenweiſe zurückzuzahlen bezw. ge— machte Erſparniſſe in jedem Betrage zinsbar und ſicher anzulegen. In ihnen vereinigen ſich die Funktionen einer Darlehns- und einer Sparkaſſe. Die Kreditvereine bilden die Grundlage des ganzen Genoſſenſchaftsweſens; aus ihnen haben ſich die meiſten übrigen Genoſſenſchaften erſt entwickelt und lehnen ſich auch gegenwärtig noch vielfach an ſie an. Aus dieſer fundamen— talen Bedeutung der Kreditvereine erklärt es ſich, weshalb ſie an ihrer eigenen und ihrer Mitgliederzahl alle übrigen Genoſſenſchaften zuſammen übertreffen 2). Die von den letzteren gewährten Vorteile beſtehen zunächſt darin, daß ſie dem Landwirt die Möglichkeit verſchaffen, gewiſſe Erzeugniſſe überhaupt oder zu einem höheren Preis zu verwerten, nötige Wirtſchaftsbedürfniſſe billiger oder in beſſerer Beſchaffenheit käuflich zu erwerben, nützliche, aber die Kraft des einzelnen Unternehmers überſteigende Maßregeln durchzuführen. Wenn gerade in den letzten Jahrzehnten der Verbrauch an käuflichen Dung— und Futtermitteln eine ſo ungewöhnlich ſtarke Steigerung erfahren, wenn die Rindviehhaltung eine ſo große Ausdehnung gewonnen hat, wenn ſo viele Ent⸗ und Bewäſſerungsanlagen eingerichtet worden ſind, ſo hat man dieſe Fortſchritte nicht zum geringſten Teile den Bezugs-, den Molkerei-, den Meliorationsgenoſſenſchaften zu danken. Unter ihrer Einwirkung haben ſich die landwirtſchaftlichen Roherträge bedeutend gehoben; auch die Reinerträge 1) A. a. O. S. 10. 2) Eingehender wird über die genoſſenſchaftlichen Kreditvereine noch im folgenden Abſchnitt gehandelt. — Vergl. über die Entwicklung und Wirkſamkeit der landw. Genoſſen ſchaften auch das ausführliche Werk von Müller. 188 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. ſind durch ſie geſtiegen oder es iſt doch mit ihrer Hilfe deren Rückgang 1 hintangehalten worden. An der Ausbreitung und dem inneren Gedeihen der Genoſſenſchaften haben daher nicht nur die einzelnen Landwirte, ſondern auch der Staat als ſolcher ein hervorragendes Intereſſe. Die Fürſorge für ſie bildet eine wichtige Aufgabe des Staates der er auch bis jetzt in vollem Umfange nachgekommen iſt. Eine zweite günſtige Wirkung der Genoſſenſchaften muß darin ge⸗ funden werden, daß durch ſie der Handel mit Bedarfsgegenſtänden wie mit Erzeugniſſen der Landwirtſchaft ein reellerer und ſoliderer geworden ift. Mag auch auf dieſem Gebiete noch manches zu wünſchen übrig bleiben, ſo iſt doch gegenüber den früheren Zuſtänden ſchon vieles erreicht. Vor allem gilt dies von dem Handel mit Dung- und Futtermitteln. Bei ihnen iſt der einzelne Landwirt, namentlich der Bauer, den größten Übervorteilungen und Schwindeleien ausgeſetzt, weil ihm die Möglichkeit fehlt, die Zuſammenſetzung und Preiswürdigkeit der gelieferten Waren zu prüfen. Die Genoſſenſchaften kaufen für ihre Mitglieder dieſe und andere Bedarfsartikel im großen, laſſen ſich von den Händlern für die ausgedungene Beſchaffenheit Garantie leiſten, außerdem die gelieferten Gegenſtände von ſachkundigen Männern der Wiſſen⸗ ſchaft unterſuchen. Hierdurch werden die Händler gezwungen, ſowohl bei ihren eigenen Ankäufen wie bei dem Verkauf an Landwirte vorſichtig zu ver⸗ fahren. Den ſoliden Händlern muß dies nur angenehm fein, da die Kon⸗ kurrenz der unſoliden ihnen nicht mehr ſo nachteilig werden kann; den letzteren wird ihre Geſchäftsgebahrung ſehr eingeengt. Eine für Käufer und Verkäufer völlig befriedigende Geſtaltung des Dünger- und Futtermittelhandels hat große und eigentümliche Schwierigkeiten; gewiſſe Verſchiedenheiten in den Anſichten und Intereſſen beider Teile werden immer bleiben. Aber zur Aus⸗ gleichung dieſer und zur gegenſeitigen Verſtändigung haben die Genpjien- ſchaften ſchon viel beigetragen; es wird ihre Aufgabe ſein, auch in Zukunft auf dieſem Gebiet nach Erzielung weiterer Erfolge zu ſtreben. Eine ähnlich günſtige Wirkung haben die Genoſſenſchaften ausgeübt und werden noch ausüben auf den Handel mit Milch und Molkereiprodukten, mit Wein, Obſt und Obſtfabrikaten, auch mit anderen landwirtſchaftlichen Erzeugniſſen, welche für die genoſſenſchaftliche Produktion oder Verwertung in Betracht kommen. Weniger augenfällig und an beſtimmten Tatſachen nachweisbar, aber keineswegs geringer, iſt ein dritter, durch die Genoſſenſchaften erzielter Erfolg. Durch ſie hat das Gefühl der Zuſammengehörigkeit und der Intereſſengemeinſchaft unter den Landwirten eine mächtige Stärkung erfahren. Infolge ihrer iſolierten Lage und einer angeborenen gewiſſen Schwerfälligkeit pflegt dies bei den Landwirten ſchwach entwickelt zu ſein, viel ſchwächer wie bei den einzelnen Erwerbsgruppen der ſtädtiſchen Bevölke⸗ rung. Jene ſind dadurch in offenbarem Nachteil gegen dieſe, beſonders in einem Zeitalter, wie dem gegenwärtigen, in dem die Preſſe, die Parlamente und andere Organe des öffentlichen Lebens eine ſo einflußreiche Rolle ſpielen. Die Landwirtſchaft hat hierunter während des letzten halben Jahrhunderts ſchon oft und viel gelitten. Wie großes auch die landwirtſchaftlichen Vereine geleiſtet haben, ſo konnten ſie doch dieſem Übelſtand nur in beſchränktem Grade abhelfen. Der Zuſammenhang unter ihren Mitgliedern war hierfür ein zu lockerer; dieſe hatten auch als ſolche keine beſtimmten, geſchweige denn rechtlichen Verpflichtungen gegeneinander oder gegen den Verein. Ferner wurden die materiellen Intereſſen der Mitglieder durch die Zugehörigkeit zu einem Verein nicht weiter berührt, als daß ſie jährlich einen, gewöhnlich ſehr XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. 189 ngen Beitrag zu entrichten hatten. Ob es einem Mitglied eines Vereins chaftlich gut oder ſchlecht geht, wird den übrigen gar nicht fühlbar. ITm Gegenſatz dazu ſtellen Genoſſenſchaften Vereinigungen von Per⸗ ſonen dar, die gemeinſam ganz beſtimmte wirtſchaftliche Maßregeln ins Werk ſetzen wollen und zwar Maßregeln, an deren Erfolg jedes einzelne Mitglied finanziell mehr oder minder ſtark beteiligt iſt. Beſonders gilt dies von der verbreitetſten Form der Genoſſenſchaften, von denen mit Solidarhaft; bei ihnen ſteht ein Mitglied für alle und alle für jedes einzelne. Da nun außer⸗ dem die Genoſſenſchaften mit Solidarhaft faſt durchgängig auf eine oder einige benachbarte Ortſchaften oder Kirchſpiele ſich beſchränken, ſo erwecken Er ihren Mitgliedern ein Gefühl der Zuſammengehörigkeit, welches auch für viele andere perſönliche und geſchäftliche Verhältniſſe von günſtiger Wir⸗ kung ſein muß. 5 | Die Genoſſenſchaften üben einen wichtigen erziehenden Einfluß aus. Sie nötigen nach manchen Richtungen hin ihre Mitglieder zur Selbſt⸗ zucht und Selbſtverleugnung, gewöhnen ſie an Sparſamkeit und wirtſchaftliche Ordnung; ſie wecken und nähren ihren Gemeinſinn. Die einzelnen Genoſſen werden zur Wahrung des eigenen Intereſſes gezwungen, über den Geſchäfts— gang und die Unternehmungen ihrer Vereinigung ſich zu orientieren. Dadurch wächſt ſowohl ihre Geſchäftstüchtigkeit im allgemeinen wie auch ihre Er— kenntnis in Dingen, welche für den Erfolg ihrer Wirtſchaft von großer Wichtigkeit ſind. Durch die Teilnahme an Genoſſenſchaften ſind viele Land— wirte zur Anlegung einer geordneten Buchführung gebracht worden; noch mehrere haben ein Verſtändnis für die Bedeutung und richtige Anwendung von Futter⸗ und Dungmitteln gewonnen. Wie Milch, Butter und Käſe zu 9 behandeln bezw. herzuſtellen, wie das Getreide zu reinigen iſt, um beim . Verkauf dieſer Erzeugniſſe hohe Preiſe zu erzielen, hat eine große Zahl von Landwirten erſt durch die Teilnahme an einer Genoſſenſchaft gelernt. Letztere F zwingt ihre Mitglieder direkt oder indirekt nach manchen Richtungen hin 1 zu einer rationellen Betriebsführung. Dabei wird der ausgeübte Zwang 4 kaum als ſolcher empfunden, da es jedem freiſteht, aus der Genoſſenſchaft auszuſcheiden. Deutſchland iſt die Wiege des heutigen landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaftsweſens und ſteht hierin noch immer allen anderen Ländern voran. Seine Entwicklung war bisher eine ſehr geſunde und wird es hoffent— lich auch in Zukunft bleiben. Vorausſichtlich wird ſich die Zahl der Ge— noſſenſchaften und die ihrer Mitglieder noch ſtark vermehren. Letztere repräſen— tieren zurzeit nur den bei weitem kleineren Teil der ſelbſtändigen Landwirte, auch der bäuerlichen Beſitzer. Dennoch gibt es keinen unter dieſen allen, der nicht aus einer Genoſſenſchaft Nutzen ziehen könnte, für den ſie nicht gewiſſermaßen ein Bedürfnis wäre. Je mehr die Genoſſenſchaften an Zahl und Umfang zunehmen, deſto größer wird allerdings auch die Gefahr, daß ſich bei einzelnen oder vielen Mißſtände einſchleichen. Am wenigſten iſt dies bei den auf Solidarhaft beruhenden Vereinigungen, die gleichzeitig auf einen geringen räumlichen Wirkungskreis ſich beſchränken, zu befürchten. Bei ihnen kennt und kontrolliert ein Mitglied das andere; auch iſt es für die Mitglieder verhältnismäßig leicht, die Tätigkeit des Vorſtandes, ſoweit als nötig, zu überwachen. Für die Mehrzahl der Genoſſenſchaften, namentlich für die Kreditvereine, ſollte daher an den Grundſätzen der Solidarhaft und der örtlichen Beſchränkung feſtgehalten werden. Bei manchen Genoſſenſchaften, namentlich unter den Produktions- und Bezugsgenoſſenſchaften, mag es den örtlichen oder perſön— lichen Verhältniſſen angemeſſener ſein, die beſchränkte Haftpflicht einzuführen. 3 Ta 5 5 * * * 55 190 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. Vorzugsweiſe gilt dies von ſolchen, deren Mitglieder ſich aus größeren land⸗ 1 wirtſchaftlichen Unternehmern zuſammenſetzen. Dementſprechend betrugen unter den landwirtſchaftlichen Kreditgenoſſenſchaften die mit beſchränkter Haft⸗ Fi pflicht nur 5,3% aller Kreditgenoſſenſchaften, dagegen unter den Bezugs⸗ 9 und den Molkereigenoſſenſchaften 32.3% bezw. 33.6 . Mit dem gleichen Umſtande hängt es zuſammen, daß im oſtelbiſchen Deutſchland die Genoſſen⸗ 4 ſchaften mit beichränfter Haftpflicht verhältnismäßig viel ſtärker vertreten find, als im weſtelbiſchen ). Daß die een Genoſſenſchaften ſich zu größeren Verbänden zu⸗ a. ſammenſchließen, kann nur gebilligt werden. Hierdurch wird die Abwicklung der Geldgeſchäfte erleichtert; ein Verein kann dem anderen aushelfen, der Kredit der einzelnen kleinen Vereine wird erhöht. Auch eine ſachgemäße Ausführung der geſetzlich vorgeſchriebenen Reviſionen wird dadurch beſſer gewährleiſtet. Dem Verbande iſt es viel leichter, geeignete und zuverläſſige Reviſoren zu gewinnen, als der einzelnen Genoſſenſchaft. Die Zentraliſierung der Genoſſenſchaften darf aber nicht jo weit gehen, daß die Zentralſtelle die Überſicht über die ihr zugehörigen Vereine verliert; oder daß ſie verſucht wird, behufs Beſchaffung von Geld⸗ mitteln ſich auf unſichere Operationen einzulaſſen; oder daß ſie um der Überſichtlichkeit und Einheitlichkeit willen für ihren Bereich allgemeine Vor⸗ ſchriften erläßt, die für manche Gegenden und Genoſſenſchaften nicht paſſen und das Gedeihen der beſtehenden Vereinigungen hindern oder die Gründung neuer erſchweren. Mit Rückſicht hierauf ſcheint es geboten, daß die Ver⸗ bände den ihnen zugehörigen Genoſſenſchaften möglichſt freie Bewegung laſſen, ſie nur inſoweit in dieſer einengen, als es im Intereſſe der einzelnen Ver⸗ einigungen ſelbſt nötig iſt. Ferner wird es ſich empfehlen, auch die Verbände lokal zu beſchränken, z. B. auf eine Provinz oder auf einen kleineren bezw. auch mehrere kleinere, aneinander grenzende Staaten. Dadurch wird die Überſichtlichkeit und ſomit die Geſchäftsführung erleichtert, letztere auch in ihrem Erfolg mehr geſichert. Die wirtſchaftlichen und perſönlichen Verhält⸗ niſſe ſind in den einzelnen Teilen des Deutſchen Reiches ſo verſchieden, daß auch die Organiſation und Leitung der Genoſſenſchaften darauf Rück⸗ ſicht nehmen muß, wenn deren Gedeihen nicht beeinträchtigt werden ſoll. Hierdurch wird keineswegs ausgeſchloſſen, daß die Vertreter der Provinzial⸗ verbände von Zeit zu Zeit zuſammenkommen, um ihre Erfahrungen auszu⸗ tauſchen und um über gemeinſame, das ganze landwirtſchaftliche Genoſſen⸗ ſchaftsweſen betreffende Fragen ſich zu beſprechen. Unter allen Umſtänden empfiehlt es ſich, daß die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften von den übrigen gewerblichen Genoſſenſchaften getrennte Verbände bilden. Gerade auf dieſem Gebiete ſind die Bedürfniſſe der ländlichen und der ſtädtiſchen Bevölkerung ſehr verſchieden. Aus der Freiwilligkeit ſind die Genoſſenſchaften entſprungen, dieſen Charakter müſſen ſie auch bewahren. Kein Zwang zum Beitritt darf aus⸗ geübt, am wenigſten geſetzlich feſtgeſtellt werden. Eine Ausnahme machen hiervon nur die Meliorationsgenoſſenſchaften, die aber überhaupt eine von den ſonſtigen Genoſſenſchaften weſentlich verſchiedene Natur an ſich tragen (. S. 183). Sie haben es mit der Behandlung und Nutzung des Bodens und des Waſſers zu tun; das Verfügungsrecht über dieſe kann nie ſo aus⸗ gedehnt ſein, wie das über bewegliche Gegenſtände. Der Staat darf und muß im Intereſſe der Geſamtheit und der Landeskultur unter Umſtänden den einzelnen Bodenbeſitzern Beſchränkungen auferlegen oder ſie zu gewiſſen 1) Jahrbuch S. 9 und 10. 5. t 8 XI. Die landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften. | 191 ungen zwingen. Hierfür iſt es ſelbſtverſtändlich nötig, daß im Geſetz | 5 und beſtimmt ausgeſprochen wird, welche Verpflichtungen von t Genoſſenſchaften zu erfüllen find. Dieſelben dürfen nicht weiter gehen, als der Zweck der Unternehmung es durchaus erforderlich macht. Der letzte Satz gilt allerdings auch für die übrigen Genoſſenſchaften. Aber für die Zwecke dieſer genügt es, wenn der Staat ſich darauf beſchränkt, im all⸗ gemeinen die Bedingungen feſtzuſtellen, unter denen er eine aus Freiwilligkeit worgegangene Genoſſenſchaft als ſolche anerkennt und ihr ſeinen Schutz gedeihen läßt. Untrennbar hiermit zuſammenhängt dann, daß er ein ge— viſſes Aufſichtsrecht über dieſe Vereinigung ausübt. Abgeſehen hiervon u er in deren innere Verwaltung nicht eingreifen, auch nicht im einzelnen die Gebiete beſtimmen, weder ſachlich noch räumlich, über welche ihre Wirk— mkeit ſich erſtrecken ſoll oder darf. Für ihn handelt es ſich in der Haupt⸗ ſäache darum, den Genoſſenſchaften eine ihrem Weſen und Zweck entſprechende rechtliche Geſtalt zu geben und zu ſichern, ſowie darüber zu wachen, daß die hierfür erlaſſenen Beſtimmungen auch beobachtet werden. Wenn der preußiſche Staat darüber hinaus durch Gründung der Zentral-Genoſſenſchaftskaſſe dieſen Vereinigungen noch eine gewiſſe finanzielle Unterſtützung zuteil werden läßt, jo findet dies in der großen Bedeutung der Sache ſeine Rechtfertigung. Es würde aber verhängnisvoll ſein, wenn jene Kaſſe in ihrer Wirkſamkeit ſo weit ginge, daß dadurch die Genoſſenſchaften verführt würden, in ihren Geldgeſchäften weniger ſorgfältig und vorſichtig, als es für ſie nötig iſt, zu verfahren; nicht minder, wenn dadurch die einzelnen Genoſſenſchaften oder Verbände zu einer ihrem Gedeihen nicht zuträglichen Uniformität ihrer Ein= richtungen veranlaßt würden. — Bisher hat die Zentral-Genoſſenſchaftskaſſe nicht nur auf den Kredit, ſondern auch auf die Geſchäftsführung der mit ihr im Verkehr ſtehenden Genoſſenſchaftsverbände einen ſehr günſtigen Einfluß ausgeübt. Sie knüpft die Kreditgewährung an beſtimmte Bedingungen, deren Erfüllung die Verbände zu einer ſoliden Geſchäftsführung mehr oder weniger zwingt. Außerdem iſt ſie befugt und verpflichtet, über die Erfüllung dieſer Bedingungen zu wachen und infolgedeſſen ein gewiſſes Aufſichtsrecht über die Verbände und hiermit indirekt über die denſelben angeſchloſſenen einzelnen Geenoſſenſchaften auszuüben. * Viel haben die Genoſſenſchaften bis jetzt ſchon geleiſtet uud zu noch größeren Leiſtungen für die Zukunft ſind ſie berufen. Sie müſſen ſich aber ſtets der Grenzen ihres Wirkungskreiſes bewußt bleiben. Die Ge— noſſenſchaften ſind kein Uuiverſalheilmittel für alle möglichen Übel. Ihre Aufgabe iſt, in das wirtſchaftliche Leben dort einzugreifen, wo die Kraft des einzelnen nicht ausreicht, ſei es um beſtimmte, früher nicht vorhandene Einrichtungen ins Werk zu ſetzen, ſei es um ſich des übermächtigen und der Landwirtſchaft ſchädlichen Einfluſſes anderer Erwerbskreiſe zu erwehren. Häufig werden beide Zwecke gleichzeitig verfolgt. Durch die Kreditgenoſſenſchaften 3. B. erhalten deren Mitglieder den ihren Bedürfniſſen entſprechenden Kredit und untergraben die den Landwirten verderbliche Tätigkeit wucheriſcher Geld— verleiher. Auch die Konſumgenoſſenſchaften ermöglichen oder erleichtern einer— ſeits den Bezug wichtiger Bedürfniſſe, während ſie andererſeits die Händler zu einer rückſichtsvolleren und ſolideren Geſchäftsführung veranlaſſen oder wingen. Man darf aber nicht glauben, daß man durch Genoſſenſchaften en Zwiſchen handel entbehrlich machen oder gar unterdrücken könne. Der— ſelbe iſt und bleibt in großem Umfange nötig, auch im eigenen Intereſſe der Landwirte. Ferner ſoll man nicht vergeſſen oder zu niedrig veranſchlagen, daß, wenn die Genoſſenſchaften gewiſſe, bisher von den Zwiſchenhändlern beſorgte Geſchäfte übernehmen, ihnen daraus mindeſtens ebenſo große Koſten — — ‚ ET a ne er — — — N eee re 192 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. erwachſen, wie den letzteren. Beamte oder Beauftragte einer Genoſſenſchaft können nie ſo frei ihre Wirkſamkeit entfalten, wie ein Händler, der ſeine Maßregeln jeden Augenblick nach den vorhandenen Umſtänden zu bemeſſen imſtande iſt. Außerdem ſind die perſönlichen Intereſſen des letzteren mit dem Intereſſe an dem Erfolg des Geſchäftes viel enger verbunden, Sie ) jenen. Etwas ähnliches gilt von den Produktivgenoſſenſchaften. will ich keineswegs die große Bedeutung von Bezugs⸗ Wee Produktivgenoſſenſchaften herabſetzen; dieſelbe iſt vielmehr in den fee 88 machten Ausführungen voll anerkannt worden. Gegenwärtig liegt aber eine gewiſſe Gefahr vor, daß man genoſſenſchaftliche Einrichtungen auch auf Ge biete in Anwendung zu bringen verjucht, für die fie nicht paſſen. Vor allem müſſen die Genoſſenſchaften es vermeiden, auf im eigentlichen Sinne ſpeku⸗ lative Unternehmungen ſich einzulaſſen, da deren Erfolg von im voraus ganz unberechenbaren Ereigniſſen abhängig iſt. Die Verſuchung hierzu iſt in den letzten Jahren wiederholt an ſie herangetreten und wird vermutlich in Zu⸗ kunft en öfter ſich ihnen nähern. Auch Bäckerei- oder Schlachtvieh⸗ genoſſenſchaften, ſofern ſie ſich nicht auf die Herſtellung der für den eigenen Bedarf nötigen Erzeugniſſe beſchränken, ſondern vorzugsweiſe den Verkauf von Brot oder Fleiſch ins Auge faſſen, ſind nur in Ausnahmefällen wirtſchaftlich zweckmäßig und daher gerechtfertigt). Die Genoſſenſchaften bilden eine der erfreulichſten Erſcheinungen in dem landwirtſchaftlichen Leben der Gegenwart, deren Förderung mit allen zuläſſigen Mitteln zu erſtreben iſt. Bringt man ſie aber auf Gebieten zur Anwendung, für welche ſie ſich nicht eignen, ſo wird dies ihrer Verbreitung und ihrem Anſehen mehr ſchaden, als nützen. 7 XII. Der landwirkſchaftliche Kredit, Geldwelen und Börle. Der landwirtſchaftliche Kredit. Je mehr die Notwendigkeit hervortritt, aus der ein für allemal ge⸗ gebenen Bodenfläche höhere Roherträge für die ſteigende Bevölkerung zu ge⸗ winnen je intenſiver die Landwirtſchaft demnach ſich geſtalten muß, d. h. je mehr Kapital zu ihrem Betrieb erfordert wird; je ſtärker die Bodenpreise wachſen, deſto mehr tritt an den landwirtſchaftlichen Unternehmer das Be⸗ dürfnis heran, den Kredit in Anſpruch zu nehmen. Die innere Berechti⸗ gung hierzu liegt in einem zweifachen Umſtande. Fürs erſte bietet der Grund und Boden, in geringerem Grade auch das lebende Inventar, dem Gläubiger eine beſonders große Sicherheit für die gewährten Darlehne. Zum anderen werden die meiſten in der Landwirtſchaft gemachten Aufwendungen erſt nach längerer Zeit, ſehr häufig erſt nach Jahresfriſt, zuweilen erſt nach mehreren Jahren, durch die erzielten Erträge dem Unternehmer erſetzt. Das im Spät⸗ ſommer des einen Jahres eingeſäte Wintergetreide, zu deſſen Aufnahme das Feld ſchon Monate vorher bearbeitet und gedüngt wurde, kann erſt im folgenden Sommer abgeerntet werden; Ausdruſch und Verkauf der Körner 1) Das über Genoſſenſchaften in dieſem Abſchnitt Geſagte findet noch eine Ergänzung durch den Inhalt von Abſchnitt XII, XIII und XV. XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 193 zeſchehen durchſchnittlich erſt gegen Weihnachten. Ein Kalb braucht 2—3 Jahre, bevor es als Kuh oder Ochſe, ein Fohlen 3—4 Jahre, ehe es als Pferd in Gebrauch genommen werden kann. Sowohl vom Standpunkt des Gläubigers wie von dem des Schuldners aus kann nicht in Abrede geſtellt werden, daß eine Inanſpruchnahme des Kredits ſeitens der landwirtſchaftlichen ternehmer zuläſſig und unbedenklich, ſelbſt für die meiſten Landwirte un⸗ ntbehrlich iſt. Allerdings muß derſelbe der eigentümlichen Natur der ndwirtſchaft ſich anpaſſen. Die landwirtſchaftliche Unternehmung iſt eine beſonders ſichere; ſie über- hierhin faſt alle induſtriellen und Handelsunternehmungen. Dafür ge- ſie aber auch durchſchnittlich geringere Erträge, ſie verzinſt die einge⸗ legten Kapitalien niedriger. Ferner fließen dem Landwirt die Zinſen aus den gemachten Aufwendungen erſt nach Verlauf längerer Zeiträume zu, wie ſchon oben ausgeführt wurde. Hieraus ergibt ſich, daß der von dem Land— wirt beanſpruchte und ihm gewährte Kredit billig und langfriſtig ſein darf und muß. Es gilt dies im Verhältnis zu dem für andere gewerbliche Unternehmen üblichen Kredit. Jene beiden Forderungen treffen für alle Arten des landwirtſchaftlichen Kredits zu; ihre praktiſche Anwendung iſt e verſchieden je nach der für den geforderten Kredit dargebotenen Unterlage. 1 Man unterſcheidet im allgemeinen zwei Formen des Kredits: den Per— ſonal⸗ und den Realkredit. Letzterer kann wieder Immobiliar- oder Mobiliarkredit ſein. Dem Immobiliarkredit dienen Grundſtücke oder Ge⸗ bäude, dem Mobiliarkredit bewegliche Gegenſtände, totes und lebendes In— bventar oder Vorräte als Unterlage. Der Perſonalkredit ſtützt ſich zwar zu= nüächſt auf die Perſon des Schuldners, aber er wird doch bewilligt mit Rückſicht auf deſſen bewegliches oder auch unbewegliches Vermögen. Der Mobiliarkredit im engeren Sinne kommt in der Landwirtſchaft wenig zur An— wendung. Man unterſcheidet bei ihr daher in der Regel zwiſchen dem Per— ſonal⸗ und Mobiliarkredit einerſeits, dem Im mobiliarkredit anderer- ſeits. Eine beſondere Form des landwirtſchaftlichen Kredits bildet noch der Meliorationskredit. Der Perſonal- und Mo biliarkredit. Dieſer dient vorzugsweiſe zur Beſchaffung und Verſtärkung des für eine erfolgreiche Wirtſchaftsführung notwendigen Betriebs kapitals, ſowohl des ſtehenden wie ganz beſonders des umlaufenden. Zum Ankauf von Dung— und Futtermitteln ſowie von Saatgut, zur Heranziehung der nötigen Arbeits— kräfte und zu anderen Zwecken braucht der Landwirt viele bare Mittel und dies häufig ganz unerwartet. Der Bedarf hängt ſehr von dem Eintritt vor— aus nicht zu berechnender Ereigniſſe, wie ungünſtige Witterung, Pflanzen * krankheiten, Viehſeuchen ꝛc. ab. Sollen die dadurch erwachſenen Schädigungen nicht zu groß werden, jo muß man augenblicklich die zu ihrer Milderung dienlichen Mittel ergreifen, und dieſe ſind ſtets mit mehr oder minder großen Geldopfern verknüpft. Der früher einzig mögliche Weg zur Befriedigung des Bedürfniſſes an Pteerſonalkredit, der auch noch jetzt häufig eingeſchlagen wird, beſtand in der JInanſpruchnahme von privaten Geldverleihern oder Banken. Das EB 2 erhaltene Geld iſt aber in der Regel teuer, wird auch nicht auf längere 4 eit, außer unter ſehr erſchwerenden Bedingungen, gegeben Beſonders haben darunter die bäuerlichen Beſitzer zu leiden wegen ihrer im allgemeinen ge— ringen Geſchäftsgewandtheit, und weil ihre wirtſchaftliche Lage von den in von der Golf, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 13 194 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. der Stadt wohnenden Darlehnsgebern ſchwer zu beurteilen iſt. Aber auch dem Großgrundbeſitzer wird aus dem letzteren Grunde die Inanſpruchnahme von Perſonalkredit erſchwert und verteuert. Infolge dieſer Umſtände war früher die Mehrzahl der Landwirte auf einzelne Geldverleiher angewieſen die ein Geſchäft daraus machten, die Verlegenheit oder Not ihrer Mitmenſchen in wucheriſcher Weiſe auszubeuten. Der Ausdruck „Wucher auf dem Lande“ iſt zum Sprüchwort geworden. In ganzen Dörfern und ſelbſt Landesteilen war ein erheblicher zuweilen der größere Teil der Bauern in den Netzen jener unſauberen Perſönlichkeiten gefangen, die alle Mittel benutzten um zunächſt die auserſehenen Opfer in Schulden zu ſtürzen und fie dann allmählich dem wirtſchaftlichen Untergang zuzuführen. Über die große Ver⸗ breitung dieſer Kalamität und ihre einzelnen Erſcheinungen geben die vom Verein für Sozialpolitik im ganzen Deutſchen Reiche veranftalteten Er- hebungen einen ebenſo ſicheren und ausführlichen wie erſchreckenden Auf⸗ ſchluß ). Noch immer treibt der Wucher auf dem Lande ſein unheimliches Weſen; aber er iſt doch infolge der von den Landwirten ergriffenen Maß⸗ regeln der Selbſthilfe, teilweiſe auch durch Eingreifen der ſtaatlichen Gef gebung, erheblich zurückgedrängt worden. Wenn er überhaupt eine ſo gro Ausdehnung erlangen konnte, ſo lag dies hauptſächlich daran, daß keine für das berechtigte Kreditbedürfnis wirklich geignete Einrichtungen vorhanden waren. Solche traten erſt mit den auf Solidarhaft beruhenden Kre— ditgenoſſenſchaften ins Leben. Daß die ganze Entwicklung des heutigen landwirtſchaftlichen Genoſſen? ſchaftsweſens an die von Schulze-Delitzſch und von Raiffeiſen fat gleichzeitig ins Leben gerufenen Kreditgenoſſenſchaften angeknüpft hat, wurde bereits im vorigen Abſchnitt dargelegt. Ebenſo, daß heute noch unter den landwirtſchaftlichen Genoſſenſchaften die Kreditgenoſſenſchaften ſowohl an Be⸗ deutung wie an Zahl die erſte Stelle einnehmen (ſ. S. 186 bis 188). In ihrer Organiſation und Geſchäftsführung unterſchieden ſich früher die von Schulze und Raiffeiſen gegründeten Vereinigungen in weſentlichen Punkten. Es kam dies hauptſächlich daher, daß von Anfang an jene hauptſächlich auf die ſtädtiſche Bevölkerung und deren Bedürfniſſe, dieſe ausſchließlich auf die Landwirtſchaft berechnet waren. Nachdem aber die Schulzeſchen Genoſſen⸗ ſchaften auch auf dem Lande Eingang gefunden hatten, hielt man es mit Recht für zweckmäßig, manche der von Raiffeiſen getroffenen Einrichtungen auch auf ſie zu übertragen. Außerdeu wirkte das Genoſſenſchaftsgeſetz da⸗ durch ausgleichend, daß es für alle ihm unterworfene Vereinigungen gewiſſe Normativbeſtimmungen aufſtellte. Infolgedeſſen iſt die Organiſation der landwirtſchaftlichen Kreditgenoſſenſchaften im ganzen Deutſchen Reiche eine ziem⸗ lich ähnliche. Sie befriedigen das berechtigte Bedürfnis der Landwirte, nament⸗ lich der bäuerlichen, nach Perſonalkredit in vollkommenſter Weiſe. Mit ge⸗ ringen Ausnahmen haben ſie Solidarhaft und gewähren dadurch einerſeits ihren Gläubigern eine ungewöhnlich große Sicherheit, wie ſie andererſeits ihre Mitglieder und Leiter zur Vorſicht im Gewähren von Darlehnen ver⸗ anlaſſen. Die einzelne Genoſſenſchaft beſchränkt in der Regel ihren Wirkungs⸗ kreis auf ein ſo enges räumliches Gebiet, daß es möglich bleibt, die Kredit⸗ fähigkeit und Kreditwürdigkeit der einzelnen Mitglieder genau zu beurteilen. Hierdurch wird ferner bewirkt, daß die Geſchäftsführung einfach und wenig koſtſpielig ſich geſtaltet. Der Vorſtand verſieht ſein Amt unentgeltlich oder bei größeren Genoſſenſchaften auch gegen eine kleine Entſchädigung; der 1) Der Wucher auf dem Lande. Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 35, Leipzig 1887. XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 195 echner (Kaſſierer) pflegt ſtets eine geringe Vergütung zu beziehen. Wegen er großen Sicherheit, welche die Genoſſenſchaft gewährt, fließt ihr Geld in nügender Menge und für einen nicht hohen Zinsfuß zu. Sie dient ihren itgliedern gleichzeitig als Spar kaſſe, ſteht mit dieſen alſo im Kontokor⸗ rentverkehr, in laufender Rechnung; ſie erſtrebt aber nicht, wie der private ldverleiher es tut und tun muß, einen Gewinn. Für die Geſchäftsan— teile der Mitglieder und für die von denſelben gemachten Einlagen werden lediglich die gewöhnlichen Zinſen gewährt, die 1/,—1 Proz. niedriger zu ſein pflegen, als die von den Schuldnern der Genoſſenſchaft zu entrichtenden. Ein etwa erzielter Geſchäftsgewinn fließt der Genoſſenſchaftskaſſe zu; er wird als Reſervefonds zurückgelegt, zuweilen auch teilweiſe zu gemeinnützigen Zwecken verwendet. Infolge aller dieſer Einrichtungen iſt die Genoſſenſchaft imſtande, ihren Mitgliedern Darlehne zu verhältnismäßig niedrigem Zinsfuß zu = ähren. Sie bietet ihnen weiter die Möglichkeit, geliehene Summen in beliebigen Beträgen ratenweiſe zurückzuzahlen. Endlich kommen die Kredit⸗ genoſſenſchaften dem der Landwirtſchaft eigentümlichen Bedürfnis nach lang⸗ ſuiſtigem Kredit dadurch entgegen, daß ſie auch Darlehne auf ein halbes, ein ganzes Jahr oder auch für mehrere Jahren gewähren. Nach den ſtrengen Regeln des Bankverkehrs würde dies allerdings nicht zuläſſig ſein, da das Geld, welches den Genoſſenſchaften von ihren Gläubigern geliehen iſt, niemals ſo lange Kündigungsfriſten beſitzt. Trotzdem hat dieſer tatſächlich vorhandene Wider⸗ ſpruch bis jetzt zu keinen Unzuträglichkeiten geführt und wird es auch vor- ausſichtlich in Zukunft nicht. Jetzt noch weniger, als früher, nachdem durch die Genoſſenſchafts verbände und in Preußen durch die ſtaatliche | Zentral⸗Genoſſenſchaftskaſſe die Möglichkeit geboten ift, daß bei augen- blicklicher Verlegenheit einer einzelnen Genoſſenſchaft die Verbandskaſſe oder die Zentralkaſſe ihr zu Hilfe kommt. Auf die Beibehaltung eines lang— friſtigen Kredits iſt großer Wert zu legen. Ob und für welchen Zeitraum die illigung eines ſolchen angebracht iſt, muß die Genoſſenſchaft in jedem einzelnen Falle entſcheiden. Dort, wo die Darlehnskaſſen ſchon eine längere Vergangenheit hinter ſſich und einen hohen Stand der Entwicklung erreicht haben, wie z. B. in der preußiſchen Rheinprovinz, aber auch in einigen anderen weſtdeutſchen Gebieten, verſehen ſie für einen großen Teil der bäuerlichen Bevölkerung die Funktionen von Geldausgleichſtellen oder von Banken. Jedes Mit- glied der Genoſſenſchaft hat ſeinen, in beſtimmter Höhe von dem Vorſtande feſtgeſetzten Kredit und ſteht mit ihr in laufender Rechnung. Die an dritte Perſonen zu leiſtenden Zahlungen läßt der Genoſſe durch die Darlehnskaſſe ausführen; umgekehrt liefert er empfangene und zur Zeit überflüſſige Gelder an die Kaſſe ab, von der ſie ihm verzinſt werden. Infolgedeſſen braucht der einzelne Genoſſe kein bares Geld im Kaſten oder gar im Strumpf auf— zubewahren und zinslos liegen zu laſſen; er weiß andererſeits, daß in Zeiten eingenen Geldmangels ihm eine beſtimmte Summe gegen geringe Zinſen von } der Genoſſenſchaft zur Verfügung geſtellt wird. Die meiſten Genoſſen— E ſchaften erhalten von den eigenen Mitgliedern jo viele Einlagen, daß ſie an ’ fremde Darleiher ar. gar nicht zu wenden brauchen. Allerdings ſteht die Sache ſo, daß der Landwirt im Frühjahr und namentlich im Sommer viel Geld braucht, dagegen im Herbſt und Winter ſolches am meiſten überflüſſig hat. Dementſprechend werden in jener Jahreszeit die Darlehnskaſſen beſonders ſtark in Anſpruch genommen, während in dieſer ihr beſonders viele Gelder zufließen. Um nicht in Verlegenheit zu geraten, mußten ſie früher außer⸗ gewöhnliche Vorſichtsmaßregeln ergreifen. Es iſt eine große Errungenſchaft, daß, wenigſtens für die preußiſchen Genoſſenſchaften, hierin eine erhebliche 13 * TCC 196 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. Erleichterung ſtattgefunden hat. Wie bei der einzelnen Genoſſenſchaft jedes Mitglied und bei jedem Genoſſenſchaftsverbande wieder jede einzelne Genoſſen⸗ ſchaft, ſo haben die Genoſſenſchaftsverbände auch bei der Zentralgenoſſen⸗ ſchaftskaſſe einen Kredit von beſtimmter Höhe, den ſie ſtets in Anſpruch nehmen können. In Zeiten der periodiſch bei ihnen eintretenden Geldebbe machen ſie davon Gebrauch, und in Zeiten periodiſch eintretender Geldflut liefern ſie die überflüſſigen Beträge an die Zentralgenoſſenſchaft ab, welche dieſelben verzinſt. a Viele Darlehnskaſſen erleichtern ihren Mitgliedern den Geldverkehr bis zu ſolchem Grade, daß ſie ſogar in deren Auftrag die Zahlung von Hypothekenzinſen oder von Lebensverſicherungsbeiträgen, natürlich nur inner halb des bewilligten Kredits, übernehmen. Infolgedeſſen dienen ſie, indirekt wenigſtens, auch den Zwecken des Immobiliarkredits. Direkt auf Hypotheken geben jetzt die Dahrlehnskaſſen in der Regel kein Geld. Früher geſchah es bei den Raiffeiſenſchen Kaſſen häufiger, aber ſelbſtverſtändlich nur auf eine beſtimmte Reihe von Jahren. Der an den Hypothekarkredit zu ſtellenden Forderung der Unkündbarkeit können ſie nicht genügen. Die Befriedigung 5 wird daher beſſer anderen, ſpäter zu beſprechenden Anſtalten über⸗ laſſen. Ihrer ganzen Natur nach ſind die Darlehnskaſſen vorzugsweiſe für die kleinen und mittelgroßen Grundbeſitzer beſtimmt. Für dieſe iſt auch der Perſonalkredit ſehr viel wichtiger, als der Immobiliarkredit. Dem Groß⸗ grundbeſitzer wird es aus mannigfachen Urſachen leichter, als dem Bauern, ſein Bedürfnis nach Perſonalkredit in angemeſſener Weiſe bei privaten Geld⸗ verleihern oder Banken zu befriedigen. Von dieſen erhält er das gewünſchte Geld in der Regel auch ſchneller und mit weniger Umſtänden, als von der Genoſſenſchaft, die um ihrer Sicherheit willen die vorherige Erfüllung be⸗ ſtimmter Formalitäten beanſpruchen oder ſich auf Gewährung eines verhältnis⸗ mäßig niedrigen Kredits beſchränken muß. Eine Kreditgenoſſenſchaft von Großgrundbeſitzern muß ſich zudem über eine bedeutende räumliche Fläche ausdehnen, da ſonſt die Zahl der Genoſſen zu klein wird. Im Jahre 1901 betrug die Zahl der Mitglieder der einzelnen zum allgemeinen Verbande gehörenden Kreditgenoſſenſchaften im Durchſchnitt 82; für die Provinzen Brandenburg und Pommern ſtellte ſich der Durchſchnitt nur auf 40 bezw. 42, dagegen für die Rheinprovinz auf 130, für Weſtfalen auf 137). Dieſe bedeutenden Unterſchiede hängen mit der Tatſache zuſammen, daß in jenen Provinzen der Großgrundbeſitz, in dieſen der bäuerliche Beſitz beſonders ſtark vertreten iſt. Aber auch ſchon eine Genoſſenſchaft von bloß 40 Großgrund⸗ beſitzern muß ſich über ein Areal erſtrecken, welches weit über den ſonſt für Darlehnskaſſen gewöhnlichen und wünſchenswerten Umfang hinausgeht. Es wird dadurch nicht nur die Geſchäftsführung, ſondern auch die Feſtſtellung der Kreditfähigkeit der einzelnen Mitglieder erſchwert. Genoſſenſchaften, die aus wenigen, nicht dicht beiſammen wohnenden Mitgliedern beſtehen, iſt beſondere Vorſicht bei Darlehnsgewährung geboten, falls ſie in ihrem Be⸗ ſtande nicht gefährdet werden ſollen. Namentlich gilt dies von den auf Solidarhaft beruhenden Vereinigungen. Für Kreditgenoſſenſchaften, die vor⸗ zugsweiſe aus Großgrundbeſitzern beſtehen, wird daher häufig die beſchränkte Haftpflicht der unbeſchränkten vorzuziehen ſein. Bei jener weiß jedes Mit⸗ glied, daß es ſchlimmſten Falles doch nur für einen beſtimmten, ihm genau bekannten Betrag aufzukommen hat. In der Tat wird auch von den Kredit⸗ genoſſenſchaften mit beſchränkter Haftpflicht nur dort ein umfaſſender Gebrauch 1) Siehe Jahrbuch des Allgemeinen Verbandes für 1902, Offenbach 1903, S. 152. XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 197 acht, wo der Großgrundbeſitz ſtark vertreten iſt. Von den in der ielleren!) Statiſtik des Allgemeinen Verbandes aufgenommenen 5302 arlehnskaſſenvereinen des Deutſchen Reiches waren 4906 mit unbeſchränkter ud bloß 396 oder 7,4 Proz. mit beſchränkter Haftpflicht, 12 mit unbe⸗ ommern 139, auf die Provinz Sachſen 234, demnach zuſammen 373 oder 4,2 Proz. auf dieſe beiden Provinzen allein, während das ganze übrige Deutſche Reich nur mit 5,80 Proz. beteiligt war. A Ein gewiſſer Erſatz dafür, daß fie ſich die in den Kreditgenoſſenſchaften liegenden Vorteile nicht in dem Maße zu Nutzen machen können, wie die Bauern, iſt den Großgrundbeſitzern, wenigſtens in einigen preußiſchen Pro— vinzen, durch die mit den Landſchaften verbundenen Darlehnskaſſen gegeben. Dieſe gewähren den Landſchafts mitgliedern unter gewiſſen Voraus— * ane Perſonalkredit. Solche landſchaftliche Darlehnskaſſen beſtehen für Odſtpreußen, Weſtpreußen, die Kur- und Neumark, Poſen und Schleſien. Der Immo biliarkredit. = In Abſchnitt VIL2) wurde bereits dargelegt: 1. daß eine hypothekariſche Verſchuldung des Grundbeſitzes, wenn fie ein gewiſſes Maß nicht überſteigt, daurchaus unbedenklich iſt; 2. daß eine den Bedürfniſſen entſprechende Organi— ſierung des Immobiliarkredits nicht nur im Intereſſe der einzelnen Land— wirte, ſondern in dem der ganzen Volkswirtſchaft und des Staates liegt; 3. daß dieſer Kredit, wenn er ſeinen Zweck erfüllen ſoll, billig und unkünd— bar ſein, womöglich außerdem amortiſationsfähig oder noch beſſer amorti— ſationspflichtig ſein muß. Am meiſten entſprechen den letztgenannten Forde— rungen die landſchaftlichen Kreditinſtitute, die amtlich in der Regel den Namen „Landſchaft“ oder „Ritterſchaft“ tragen. Die Landſchaften ſind eine Schöpfung Friedrich des Großen, der dabei einem ihm von dem Kaufmann Büring vorgelegten Plane folgte. Nach dem ſiebenjährigen Kriege waren die ſchleſiſchen Rittergutsbeſitzer ſtark verſchuldet, Geld gar nicht oder nur zu ungewöhnlich hohen Zinſen, 10 Proz. und mehr, zu erhalten. Zur Abhilfe der Not gründete der große König durch Kabinetsordre vom 29. Auguſt 1769 und durch Reglement vom 9. Juli 1770 die ſchleſiſche Landſchaft. Sie ſtellte eine auf Solidar— je haft beruhende Zwangsgenoſſenſchaft aller Rittergutsbeſitzer der 1 ovinz Schleſien dar, welche den Zweck hatte, ihren Mitgliedern einen dem vi ert ihrer Güter entſprechenden wohlfeilen und unkündbaren Kredit dar: ziubieten. Die Landſchaft verwaltete ſich nach Maßgabe der im Reglement 1) Es ſind dies nicht ſämtliche im Deutſchen Reich vorhandene Darlehnskaſſen, ſondern nur etwa die Hälfte derſelben d. h. diejenigen, welche ganz ſpezielle Berichte ein- geſandt hatten. Daher kommt es, daß die oben mitgeteilten Zahlen erheblich niedriger ſind, wie die auf S. 186 angeführten. Vergl. hierzu Jahrbuch des Allgemeinen Verbandes für 1902, S. 150 und 151. 2) Daſelbſt finden ſich auch Nachweiſe über die auf den Immobiliarkredit bezügliche Litteratur. — Über die Hypotheken- und Verſchuldungsverhältniſſe in Oſterreich iſt neuer— dings ein ſehr umfaſſendes und gründliches Werk erſchienen von Joſef Ritter von Hattingberg „Referat betr. die Hypothekenentſchuldung erſtattet der landw. Abteilun des (öſtereichiſchen) Induſtrie und Landwirtſchaftsrates“, 3 Quartbände, Wien 1903. Au den gleichen Gegenſtand bezieht ſich die Schrift von Franz Klein „Die landwirtſchaftliche Entſchuldung“, Sonderabdruck aus der Zeitſchrift für Volkswirtſchaft, Sozialpolitik und Ber: waltung, XIII. Bd., Wien 1904. e N ET ERTETN En: NE HA de — a 198 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. gegebenen Vorſchriften ſelbſt, ſtand aber unter Staatsaufſicht. Ihre Erfolge waren ſo ausgezeichnet, daß der König beſchloß, auch für andere Provinzen ſeiner Monarchie ähnliche Inſtitute ins Leben zu rufen. Im Jahre 1777 wurde die kur- und neumärkiſche Ritterſchaft, 1781 die pommerſche, 1787 die weſtpreußiſche, 1788 die oſtpreußiſche Landſchaft gegründet !). Alle dieſe Inſtitute haben die ſchweren Zeiten der napoleoniſchen Kriege mit ihren für die Landwirtſchaft ſo drückenden Folgen glücklich überſtanden, und ihnen haben zahlreiche alteingeſeſſene Familien die Erhaltung ihres Grunde beſitzes zu danken. Abgeſehen von einzelnen vielleicht vorhandenen Mängeln iſt aber auch die Organiſation der Landſchaften ſo vortrefflich, daß ſie von Anbeginn an als Vorbild für viele ſpäter gegründete landwirtſchaftliche Kredit inſtitute gedient hat. Die in der Folgezeit entſtandenen Landſchaften tragen zwar nicht mehr den Charakter von Zwangsgenoſſenſchaften, haben aber doch zumeiſt und mit Recht die Solidarhaft aller ihrer Mitglieder beibehalten. So z. B. die 1864 und 1877 ins Leben getretenen landſchaftlichen Kreditverbände für die Provinzen Sachſen und Weſtfalen. Die Land- ſchaften ſind im Beſitze von Korporationsrechten. Zur Beſchaffung der nötigen Geldmittel geben ſie auf den Inhaber lautende Pfandbriefe aus, deren Geſamtbetrag aber den Geſamtbetrag der ihnen zuſtehenden Hypotheken⸗ forderungen niemals überſteigen darf. Der Zinsfuß der Pfandbriefe hat je nach dem zur Zeit üblichen Zinsfuß geſchwankt und ſich zwiſchen 3 und 5 Proz. bewegt. Die Pfandbriefe haben in der Regel einen nahezu ebenſo hohen Kursſtand behauptet wie die preußiſchen Staatspapiere mit dem gleichen Zinsfuß. Wenn ſchon die Landſchaften unter Staatsaufſicht ſtehen und die wichtigeren Beſchlüſſe der Generallandtage, namentlich Statutenänderungen, der ſtaatlichen bezw. landesherrlichen Genehmigung bedürfen, ſo haben ſie doch im übrigen freie Selbſtverwaltung. Die für das Gedeihen und die Sicherheit der Genoſſenſchaft wichtigſten Geſchäfte werden von deren hierzu erwählten Mitgliedern ſelbſt beſorgt. So namentlich die Taxierung der zu beleihenden Güter. Jede Landſchaft iſt in eine Anzahl von Kreiſen oder De- partements eingeteilt, und für jeden derſelben iſt ein dort angeſeſſenes Mit⸗ glied zur Beſorgung der darin vorkommenden Geſchäfte beſtellt. Die Be⸗ ſtätigung der Taxe und die Feſtſetzung der Höhe des zu gewährenden Dar⸗ lehns liegt in den Händen des Geſamtdirektoriums. Auf dieſe Weiſe iſt die ſicherſte Garantie dafür geboten, daß einerſeits der kreditſuchende Landwirt ein ſo hohes Darlehen empfängt, als er nach den Grundſätzen der Landſchaft beanſpruchen kann, und daß andererſeits das Intereſſe der geſamten Genoſſen⸗ ſchaft nicht geſchädigt wird. Selbſtverſtändlich müſſen die Landſchaften bei der Beleihung und ſomit bei der Taxation vorſichtig ſein. Sie gewähren in der Regel höchſtens zwei Drittel des abgeſchätzten Wertes, und letzterer bleibt faſt immer unter dem wirklichen Ertragswerte nicht unerheblich zurück. Infolgedeſſen überſteigt das gegebene Darlehn, welches immer nur zur erſten Stelle eingetragen werden darf, ſelten die Hälfte des Ertragswertes oder geht doch nur in Ausnahmefällen weit darüber hinaus. Zur Vereinfachung und Beſchleunigung der Geſchäfte haben viele Landſchaften die zweckmäßige Ein⸗ richtung getroffen, daß ſie bis zu einem gewiſſen Multiplum des Grund⸗ ſteuerreinertrages, dem 20 —25-fachen, ohne Taxe beleihen und letztere nur aufſtellen, wenn ein höheres Darlehn gefordert wird. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ſind auch in den meiſten anderen preußiſchen Provinzen landſchaftliche Kreditinſtitute errichtet worden; ſo für 1) Über die Entſtehung der Landſchaften und deren urſprüngliche Organiſation ſowie Weiterentwicklung vergl. meine „Geſchichte der deutſchen Landwirtſchaft“, Bd. I, S. 438 ff., Bd. II, S. 173 und 174, S. 357 und 358. XII. Der landwirtſchaſtliche Kredit. 199 Yen 1821, für Sachſen 1864, für Weſtfalen 1877, für Schleswig- lſtein 1882. Im Königreich Hannover beſtanden ſchon vor deſſen nverleibung in die preußiſche Monarchie drei nach dem Muſter der preußi⸗ en Landſchaften gebildete Kreditinſtitute, jedes für einen beſonderen Bezirk. n ſämtlichen preußischen Provinzen haben nur die Rheinlande, ſowie ſſen⸗Naſſau bis jetzt keine derartigen Genoſſenſchaften. Hier dienen beſtehenden Landesbanken oder Landeskreditkaſſen dem landwirtſchaftlichen vothekarkredit; ſie erfüllen auch dieſen Zweck, aber nicht ganz jo voll- en, als die Landſchaften. Die älteren Landſchaften waren bloß für die Rittergüter beſtimmt. Als ein großer Fortſchritt iſt es zu bezeichnen, daß ſie ſpäter, wie es alle neueren Landſchaften von Anfang an getan haben, ihre Wirkſamkeit auch auf bäuerliche Beſitzungen ausgedehnt haben. Allerdings nicht auf alle, ſondern nur auf ſolche, die mindeſtens einen Grundſteuerreinertrag von be— ſtimmter Höhe aufweiſen. Bei den Landſchaften für die Provinz Sachſen beginnt z. B. die Beleihungsfähigkeit bei 90 Mk. Grundſteuerreinertrag, für die Provinz Weſtfalen bei 150 Mk. 1 Das außerpreußiſche Deutſchland weiſt an genoſſenſchaftlichen Immobiliar⸗ kreditinſtituten noch auf: den erbländiſchen ritterſchaftlichen Kredit— verein im Königreich Sachſen (1844), die landſtändiſche Bank des Königlich ſächſiſchen Markgrafentums Oberlauſitz (1844), den Kredit— verein der mecklenburgiſchen Ritterſchaft (1818), den ritterſchaft— lichen Kreditverein im Herzogtum Braunſchweig (1862). Für das Königreich Bayern iſt im Jahre 1897 die Bayeriſche Landwirtſchafts— bank als eingetragene Genoſſenſchaft mit beſchränkter Haftpflicht ins Leben getreten, welche ähnliche Funktionen und unter ähnlichen Bedingungen wie die Landſchaften erfüllt. 1 Außerdem beſtehen noch in manchen deutſchen Staaten unter dem Namen Landeskreditkaſſe oder Landesbank unter ſtaatlicher Aufſicht oder Leitung befindliche Einrichtungen für den Immobiliarkredit. So in Altenburg (jeit 1792), in Meiningen (ſeit 1849), in Schwarzburg— Rudolſtadt (ſeit 1855), in Weimar (ſeit 1863), in Schwarzburg— Sondershauſen (jeit 1883), in Oldenburg (ſeit 1883), in Hejjen: Darmſtadt (ſeit 1890). Dem gleichen Zwecke dient das ſchon 1765 für Braunſchweig gegründete herzogliche Leihhaus. Wie nützlich dieſe Inſtitute auch wirken mögen, ſo können ſie doch den Zwecken des Immobiliarkredits nicht ſo vollkommen genügen wie die Landſchaften, weil ſie nicht unter der Selbitverwaltung der beteiligten Landwirte ſtehen und weil bei ihnen nicht in gleicher Weiſe wie bei jenen die Intereſſen von Schuldnern und Gläu— bigern zuſammenfallen. „ aber erklärlicherweiſe iſt die Einrichtung von landjchaft- lichen Kreditinſtituten von denjenigen Bezirken ausgegangen, in welchen der . Großgrundbeſitz eine ſtarke Verbreitung hat. Es geſchah dies zu einer Zeit, als die Bauerngüter zumeiſt noch gar nicht im freien Eigentum ihrer Beſitzer * ſtanden und außerdem gewöhnlich geſetzlichen Verſchuldungsbeſchränkungen 15 unterlagen. Auch fehlte den Bauern die für die Bildung und Verwaltung ſolcher Genoſſenſchaften nötige Geſchäftsgewandtheit und der erforderliche 45 korporative Zuſammenſchluß. Letzteren beſaß die Ritterſchaft ſchon von alters # her. Es kommt hinzu, daß es ſich bei den Rittergütern um eine verhältnis- mäßig geringe Anzahl handelt, während in dem gleichen Bezirke mehrere oder viele Tauſende von Bauerngütern in Frage ſtehen, es auch durchaus nötig iſt, zum Zwecke der hypothekariſchen Beleihung eine Grenze zwiſchen Bauern und Kleinſtellenbeſitzern zu ziehen. Dieſe und andere Umſtände 1 — —— —— u 0 — . un — u * e N CCC Er - nn cs N * en ER eh N r . 5 2 * b . J * N ee TE n S 200 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. von dem Oſten und Norden des Deutſchen Reiches, wo der Großgrund⸗ beſitz hauptſächlich vertreten iſt, erſt ganz allmählich nach dem Weiten u Süden fortſchritt. Noch in der Gegenwart entbehren die meiſten mitt und ſüddeutſchen Staaten ſolcher Einrichtungen; ſie ihnen darzubieten, eine Aufgabe der Zukunft. Sowohl ſachliche Erwägungen wie die ve liegenden, mehr als hundertjährigen Erfahrungen führen zu dem Reſ daß die Befriedigung des Bedürfniſſes nach Immobiliarkredit durch keine richtung jo vollkommen bewirkt wird, wie durch landſchaftlich abgeſchloſſ auf Solidarhaft beruhende Genoſſenſchaften ). Als die Gründung der erſten Landſchaften im 18. Jahrhundert erfolgte, fehlte die Veranlaſſung, auch wohl die Möglichkeit, die Bauerngüter in ſie aufzunehmen. Ein Bedürfnis hierzu zeigte ſich erſt nach der Bauern⸗ befreiung und nachdem die auf den Bauerngütern liegenden Verſchuldungs⸗ beſchränkungen aufgehoben waren. Gerade im Bereich der alten Landſchaften erkannte man zuerſt deſſen Befriedigung als eine Notwendigkeit. Demente ſprechend erhielt durch Kabinettsordre vom 4. Mai 1849 die oſtpreußiſche Landſchaft die Befugnis, ihre Wirkſamkeit auch auf bäuerliche Güter mit einem Werte von mindeſtens 500 Talern, die gleichzeitig eine ſelbſtändige 1 Ackernahrung darſtellten, auszudehnen. Zu dem gleichen Zwecke wurde in organiſcher Verbindung mit der beſtehenden Landſchaft 1857 der Neue Kreditverein für die Provinz Poſen errichtet und 1877 ganz mit dern Poſener Landſchaft verſchmolzen. Auch die weſtpreußiſche, die pommerſche, die ſchleſiſche Landſchaft, ſowie die kur- und neumärkiſche Ritterſchaft dehnten von den Jahren 1861, 1871, 1867 und 1869 ab ihre Wirkſam⸗ keit auf bäuerliche Güter aus. Sie alle aber haben ein Minimum an Grundſteuerreinertrag feſtgeſetzt, von welchem ab die Beleihungsfähigkeit erſt beginnt; die ſpäter gegründeten Landſchaften für die Provinzen Sachſen, en Schleswig⸗Holſtein nahmen von Anfang an auch bäuerliche Güter auf. | Der Ausſchluß der Kleinſtellen von der Wirkſamkeit der landwirtſchaft⸗ lichen Kreditinſtitute iſt durchaus gerechtfertigt. Von den 5556900 land⸗ wirtſchaftlichen Betrieben des Deutſchen Reiches find 3235169, alſo fait /, unter 2 ha groß. Ihre Einbeziehung in die Landſchaften würde deren Ver⸗ waltung ſehr ſchwierig und koſtſpielig machen. Zudem repräſentieren die Kleinſtellenbeſitzer in ihrer Mehrzahl Perſonen, die nicht ausſchließlich, oft nicht einmal hauptſächlich, landwirtſchaftliche Unternehmer, die vielmehr außer⸗ dem Handwerker, Gaſtwirte, Krämer, landwirtſchaftliche oder induſtrielle Lohn⸗ arbeiter 2e. ſind. Für den Immobiliarkredit dieſer Perſonen zu ſorgen, liegt außerhalb des Bereiches der den Landſchaften geſteckten Aufgabe. Eine Grenze zwiſchen bäuerlichem und kleinem Beſitz feſtzuſtellen, bietet allerdings in vielen Fälle eine gewiſſe Schwierigkeit; ſie wird aber immer in dem alt⸗ herkömmlichen und noch neuerdings in der Geſetzgebung angewendeten Be⸗ f griff der „ſelbſtändigen Ackernahrung“ oder „Ackerwirtſchaft“ zu ſuchen ſein. Jeder hierzu nicht ausreichende Grundbeſitz iſt von landſchaft⸗ licher Beleihung auszuſchließen. Das berechtigte Bedürfnis der Kleinſtellen⸗ beſitzer, nicht nur nach Perſonal-, ſondern auch nach Realkredit, findet ſeine angemeſſenſte Befriedigung durch die Darlehnskaſſen; letztere müſſen, ſo⸗ weit es nicht ſchon geſchehen iſt, ſich hierauf einrichten. Die von den Landſchaften gewährten Darlehne ſind ſeitens dieſer, jo- lange der Schuldner ſeinen Verpflichtungen nachkommt, unkündbar; der haben es mit ſich gebracht, daß die Bildung landſchaftlicher Kreditinstitute 1) Vergl. hierzu auch das S. 134 ff. über die Landſchaften Geſagte. XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 201 huldner ſelbſt kann ſich jederzeit von feiner Schuld, ganz oder teilweiſe, ch Rückzahlung des geliehenen Kapitals befreien. Bei den meiſten Land- haften beſteht außerdem die Einrichtung, daß die Schuldner, ſei es unbe⸗ ingt, ſei es, wenn das aufgenommene Darlehn eine beſtimmte Quote des rwertes überſchreitet, zur allmählichen Abtragung ihrer Schuld gezwungen den, alſo die Zwangs amortiſation. Die jährlich zu zahlende Tilgungs⸗ te iſt in der Regel auf ¼ Proz. feſtgeſetzt. Bei 4⸗proz. Hypotheken iſt dann die Schuld in etwas über 56 Jahren getilgt; beträgt die Tilgungs— quote 1 Proz., jo erfolgt die vollſtändige Abſtoßung der Schuld ſchon nach rund 41 Jahren. In der Amortisation liegt das einfachſte und ſicherſte Mittel für den Landwirt, von den eingegangenen Hypothekenverpflichtungen allmählich ſich gu befreien oder doch eine vorhandene Überschuldung zu bejeitigen; ebenſo dafür, ſeinen Nachkommen die Erhaltung des Grundbeſitzes innerhalb der Familie zu erleichtern oder gar überhaupt erſt zu ermöglichen (vgl. auch S. 116). Allerdings erzielt ſelbſt die Zwangsamortiſation nicht den beabſichtigten Zweck, wenn der Landwirt ſich ihr entziehen will. Denn die Landſchaften müſſen, ſobald ein ſtatutenmäßig feſtgeſetzter Teil des Schuldkapitals durch Amorti⸗ ſation getilgt iſt, dieſen von der Pfandbriefſchuld abſchreiben und es bleibt dann dem Schuldner unbenommen, ein neues Darlehn bei der Landſchaft wieder aufzunehmen. Nach den Beſtimmungen der ſächſiſchen wie der weſt— fäliſchen Landſchaft wird dies ſchon möglich, wenn 10 Proz. der urſprüng⸗ llichen Schuld amortiſiert ſind. Gegen eine ſolche Feſtſetzung läßt ſich zwar vom Standpunkte der Billigkeit nichts einwenden, fie ſchwächt aber die Wirkung der Amortiſation ſehr ab. ö Es wird die Aufgabe der Landſchaften immer bleiben, ihre Inſtitutionen und ihre Verwaltungspraxis den mit der Zeit wechſelnden Bedürfniſſen und Verhältniſſen anzupaſſeu. Daß ſie hierzu bereit ſind, hat ihre bisherige Entwicklung gelehrt. Die in ihrer Verwaltung maßgebenden Perſonen ſind ſelbſt ausübende Landwirte und vermögen daher am beſten zu beurteilen, inwieweit den Wünſchen ihrer kreditſuchenden Genoſſen, ohne die Sicherheit und damit den Zweck der ganzen Inſtitution zu gefährden, nachgekommen werden kann. Von Anfang an bis zur Gegenwart ſind ſich die Land— ſchaften darüber klar geweſen, daß ſie mit der Kreditgewährung nicht bis an die äußerſte, allenfalls noch zuläſſige Grenze gehen dürfen; daß es ihnen auch nicht geſtattet iſt, mit Rückſicht auf die ungewöhnliche perſönliche Tüch— tigkeit eines kreditſuchenden Landwirts die durchſchnittlich innegehaltene Grenze zu überſchreiten. Denn die Sicherheit für das unkündbare Darlehn beruht nicht auf der Perſon, ſondern auf dem Werte des beliehenen Gutes, deſſen Beeſitzer jederzeit wechſeln kann. An einer früheren Stelle wurde bereits nachgewieſen (ſ. S. 134 ff.), daß nicht ſelten Fälle vorkommen, in denen ein Landwirt, ohne leichtſinnig zu handeln, ſein Gut über das durchſchnittlich zuläſſige Maß verſchulden darf oder gar muß. Die landſchaftlichen Darlehne alten ſich aber häufig noch unter der durchſchnittlich ſtatthaften Höhe der erſchuldung. Wenngleich es als ein erſtrebenswerter Zuſtand anzuſehen iſt, daß kein Landwirt ſein Gut ſtärker, als bis zur Höhe der landſchaftlichen Beleihung perſchuldet, jo bleibt dies Ideal doch ſtets unerreichbar. Neben den Land— ſchaften muß es daher noch andere Mittel zu Befriedigung des Immobiliar— ktredits geben. Es iſt keineswegs genügend, daß den Landwirten außerdem noch private Geldverleiher zur Verfügung ſtehen. Unter dieſen finden ſich oft ſolche, die man mit Recht als Wucherer bezeichnen kann. Nun gewähren zwar auch Sparkaſſen, milde Stiftungen, Korporationen verſchiedener * 3 P N = * . 2 8 A 2 ee 202 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. Art hypothekariſche Darlehne. Aber dieſe ſind doch einmal bezüglich dern Höhe der Beleihung vorſichtig und dann können ſie ebenſowenig, wie Privat: perjonen, unkündbaren Kredit gewähren. Ein ſolcher iſt aber für den Land» wirt ſehr wichtig, ja in vielen Fällen ganz unentbehrlich. Aus den hier geſchilderten Bedürfniſſen heraus ſind die privaten Immobiliarkredit⸗ inſtitute, die Hypothekenbanken, erwachſen. 1 Die Hypothekenbanken) ſind Aktienunternehmungen, alſo Erwerbs: eſellſchaften; ſie beleihen ſowohl ländliche wie ſtädtiſche Grundſtücke. Ihre Tätigkeit iſt auf Gewinn berechnet; ſie können daher keine ſo billigen Darlehne geben wie die Landſchaften oder auch die Landeskreditkaſſen. Wenn ſie gleich der ſtaatlichen Genehmigung bedürfen und unter Staatsaufſicht ſich befinden, auch an gewiſſe vom Staate erlaſſene Normativbeſtimmungen oder Geſetze gebunden ſind ), jo iſt doch ihre Geſchäftsführung eine viel freiere Dies gewährt den Hypothekenbanken allerdings die Möglichkeit, mit ihren Darlehnen höher hinaufzugehen, auch im einzelnen Fall die gerade vorliegenden Umſtände mehr zu berückſichtigen und hierin liegt für viele Landwirte offen? bar ein Vorteil. Ein ſolches Entgegenkommen laſſen ſie ſich aber durch höhere Zinſen bezahlen, zumal ſie einen Gewinn bei dem Darlehnsgeſchäft machen wollen und müſſen. Dieſer fließt aus der Taſche der Darlehns⸗ nehmer. Die Schuldner der Hypothekenbanken ſind immer ungünſtiger ge⸗ ſtellt, als die der Landſchaften; auch dadurch, daß die Bedingungen, unter denen ſie Geld erhalten, mehr oder weniger von dem Belieben der Bank⸗ verwalter abhängen. Trotzdem ſind dieſe Privatinſtitute für den landwirt⸗ ſchaftlichen Immobiliarkredit, namentlich zur Zeit, noch unentbehrlich. Ein⸗ mal deshalb, weil noch nicht überall landſchaftliche Kreditinſtitute oder Landeskreditkaſſen beſtehen. Zweitens deshalb, weil die letztgenannten Or⸗ gane immer nur in beſchränkter Höhe Darlehne gewähren können und es ſtets Landwirte geben wird, deren Kreditbedürfnis ein weitergehendes iſt. Als wünſchenswert freilich muß es bezeichnet werden, daß die Hypotheken⸗ banken für den landwirtſchaftlichen Immobiliarkredit immer mehr ſich als überflüſſig erweiſen. * 5 * 23 N 2 * 7 945 1 Der Meliorationskredit. Die wichtigſten landwirtſchaftlichen Meliorationen ſind die Ent⸗ wäſſerung von Grundſtücken, beſonders von Ackerland, und die Bewäſſe⸗ rung von Wieſen; außerdem gehören noch die Urbarmachung oder die Aufforſtung von Od- oder Unland, die Moorkultur, die Eindeichung von der Überſchwemmung ausgeſetzten Ländereien zu den Meliorationen. Alle dieſe Maßregeln erfordern nicht unerhebliche einmalige Aufwendungen. An der richtigen Stelle und in zweckentſprechender Weiſe durchgeführt, verzinſen ſie aber durch die höheren Erträge nicht nur das Anlagekapital reichlich, ſondern gewähren auch noch einen ſolchen Überſchuß, daß dasſelbe in einer nicht ſehr langen Reihe von Jahren vollſtändig getilgt werden kann. Im Intereſſe des einzelnen Landwirts, wie im Intereſſe des Staates liegt es, daß Meliorationen überall dort, wo ſie angebracht ſind, auch ins Werk ge⸗ ſetzt werden. Beſonders gilt dies für das Deutſche Reich, in welchem die 1) Vergl. hierzu den Artikel „Hypothekenbanken“ von Felix Hecht im Handwörter⸗ buch der Staatswiſſenſchaften, 2. Aufl. 4. Bd. (1900), S. 1250 ff. Ferner Goldſchmidt „Zur Kritik der deutſchen Hypothekenbanken“ in Schmollers Jahrbuch, 25. Jahrgang (1901), 3. Heft, S. 221 ff. 2) Für die preußiſche Monarchie wurden am 27. Juni 1893 Normativbe⸗ ſtimmungen bezüglich der Hypothefenbanfen erlaſſen. Ein deutſches Reichsgeſetz erging hierüber am 13. Juli 1899. XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 203 landwirtſchaftlich benutzte Fläche zur Zeit den Bedarf an notwendigen Boden⸗ produkten nicht vollſtändig erzeugt. Den meiſten Landwirten fehlen die zur urchführung koſtſpieliger Meliorationen erforderlichen Kapitalien, ſie müſſen ſelben ſich daher auf dem Wege des Kredits verſchaffen. Seiner Natur nach ſteht der Meliorationskredit zwiſchen dem Perſonal⸗ und dem Realkredit. Seine Unterlage beruht einesteils auf der perſönlichen wirtſchaftlichen Tüchtigkeit und Zuverläſſigkeit des Schuldners, andererſeits auf der durch die Melioration bewirkten dauernden Wertserhöhung des Bodens. Er muß zwar langfriſtig, darf aber nicht wie bei unkündbaren Hypotheken ein gleichſam immerwährender ſein. Die meiſten Meliorationen verzinſen ſich zwar hoch, die dazu gemachten Anlagen nutzen ſich aber mit der Zeit ab und müſſen erneuert werden. Solches gilt namentlich von Kunſtwieſen, im geringeren Grade auch von Entwäſſerungsanlagen. Die Natur des Meliorationskredits erfordert daher notwendig, daß derſelbe dem Amortiſationszwang unterworfen wird. Seine Sicherheit iſt zwar des— halb, weil er auf zweifache Unterlage ſich gründet, eine große; andererſeits wird dieſelbe aber dadurch abgeſchwächt, daß man den Erfolg einer Melio— ration häufig nicht mit Beſtimmtheit im voraus berechnen kann. Dieſer hängt außerdem nicht bloß von der guten Ausführung der Anlage, ſondern auch von der pfleglichen Behandlung ab, die ihr der Landwirt dauernd zu teil werden läßt. Es erſcheint daher gerechtfertigt, daß für den Meliorations⸗ kredit, auch abgeſehen von der Amortiſationsquote, etwas höhere Zinſen wie für die ſicherſten Hypotheken, aber keinesfalls höhere, wie für den reinen Perſonalkredit gefordert werden. . Eine angemeſſene Befriedigung lann für den Meliorationskredit, noch weniger wie für die beiden anderen Kreditformen von dem Privatkapital erwartet werden. Einzelne Privatleute ſind faſt niemals, private Geld— inſtitute ſelten in der Lage, eine ſachverſtändige Prüfung darüber anzuſtellen, ob die beabſichtigte Melioration und die Art der geplanten Durchführung zweckmäßig ſind, ob und wie hoch das Anlagekapital ſich vorausſichtlich ver— zinſt, ob eine Garantie für eine ſorgſame Unterhaltung geboten iſt. Außer— dem werden ſie ſich nicht leicht darauf einlaſſen, für eine längere Reihe von Jahren die Unkündbarkeit der dargeliehenen Gelder zu bewilligen und ihre allmähliche Tilgung auf dem Wege der Amortiſation zuzugeſtehen. Alle dieſe Umſtände weiſen darauf hin, daß eine den Bedürfniſſen entſprechende Orga— niſierung des Meliorationskredits nur vom Staate oder von Kommunal— verbänden oder von Genoſſenſchaften, bezw. von dem gemeinſamen Wirken dieſer, erwartet werden kann und muß. In der Tat hat man auch in den meiſten deutſchen Ländern dieſen Weg eingeſchlagen; namentlich in den letzten Jahrzehnten ſind große Fortſchritte auf demſelben gemacht ’ worden. 1a In der preußiſchen Monarchie beſtanden ſchon in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts für einzelne Landesteile Meliorationsfonds, aus denen Landwirten oder Korporationen unter billigen Bedingungen Darlehne ewährt wurden. Im Jahre 1850 wurde ein Zentral-Meliorationsfonds für die ganze Monarchie gegründet, der 1875 jchon eine Höhe von faſt 3 ½ Mill. Mk. erreicht hatte. Im Jahre 1876 wurde der größte Teil desſelben den einzelnen Provinzen zur Selbſwerwaltung überwieſen. Nur der bei weitem kleinere Teil blieb dem landwirtſchaftlichen Miniſterium zur Ver— fügung, hauptſächlich um zur Ausführung von Vorarbeiten und zur Unter— ſtützung von Meliorationen, die über das provinzielle Intereſſe hinausgehen, 5 verwendet zu werden. Am 13. Mai 1879 wurde das Geſetz betr. die | Errichtung von Landeskultur-Rentenbanken erlaſſen. Dasſelbe gibt ee 204 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. dem Vertretungskörper jeder Provinz das Recht, unter ſeiner Verwaltung ſtehende Landeskultur-Rentenbanken zu errichten. Dieſe ſind befugt, fü Ausführung von Ent- und Bewäſſerungsanlagen, Urbarmachungen, Dei bauten, Flußregulierungen, Anlage neuer, ländlicher Wirtſchaften ꝛc. unkünd⸗ bare, aber innerhalb einer beſtimmten Reihe von Jahren der vollſtändig Amortiſation unterliegende Darlehne zu gewähren. Anſtatt der baren lehne können auch Landeskultur-Rentenbriefe gegeben werden. Bis j haben nur die Provinzen Schleſien, Schleswig-Holſtein und Poſen von dieſem Geſetz Gebrauch gemacht; die übrigen Provinzen glaubten, | die ſonſtigen ihnen zur Verfügung ſtehenden Mittel oder Kaſſen ausreichten, um den durch die Landeskultur-Rentenbanken erſtrebten Zweck genügend zu erreichen. Be Faoür das Königreich Sachſen wurde durch Geſetz vom 26. Nov. 1861, welches durch Geſetz vom 1. Juni 1872 noch eine Erweiterung erfahren hat, eine Landes kultur-Rentenbank gegründet, die ſowohl an einzelne Perſonen wie an Genoſſenſchaften zur Ausführung von Ent⸗ und Bewäſſerungsanlagen und ſonſtigen Meliorationen Darlehne gewährt. Für dieſelben haben die Schuldner 42/, Proz. zu zahlen, von denen 3¼ Proz. als Zinſen, 1½ Proz. als Amortiſation gerechnet werden; die Kapitalſchud iſt dann in 38 Jahren vollſtändig getilgt. Von 1862 bis 1897 hat die ſächſiſche Landeskultur-Rentenbank zuſammen über 25 Mill. ME. für Melio- rationen hergegeben; davon fällt faſt die Hälfte auf landwirtſchaftliche Be⸗ und Entwäſſerungsanlagen !). In dem Großherzogtum Heſſen wurde durch Geſetz vom 5. April 1880 eine Landes kultur-Rentenkaſſe errichtet mit ähnlichen Zwecken und ähnlicher Organiſation wie die entſprechenden preußiſchen und ſächſiſchen Inſtitutionen. Die durch Geſetz vom 21. April 1884 ins Leben getretene Landes kultur-Rentenanſtalt für das Königreich Bayern gewährt Meliorationsdarlehne zu 3 Proz. Zinſen und ½ Proz. Amortiſation, jo daß die Kapitalſchuld in 58 Jahren getilgt iſt. Für Ent⸗ und Bewäſſerungsanlagen hat man in Bayern nur eine Amortiſationsfriſt von 28½ Jahren angenommen. Außer den Zinſen von 3 Proz. müſſen daher noch 2 Proz. an Amortiſation jährlich entrichtet werden. In einzelnen Ländern oder Landesteilen werden die Zwecke der Landes⸗ kultur-Rentenbanken durch die beſtehenden Landeskreditkaſſen oder ähnliche Anſtalten erfüllt. 99 Die Gewährung von Kredit für Meliorationen ſchließt für den Dar leiher die Notwendigkeit in ſich, eine Prüfung der in Ausſicht genommenen Anlagen auf ihre Zweckmäßigkeit anzuſtellen, ebenſo deren planmäßige Aus⸗ führung und ſpätere ordnungsmäßige Unterhaltung zu überwachen. Dies geſchieht auch in der Tat ſeitens der genannten Kreditinſtitute. Dieſelben gewähren alſo den doppelten Nutzen, daß ſie dem Landwirt das erforderliche Kapital zu billigen Bedingungen leihen und daß ſie ihn nötigen, bei der Projektierung und Durchführung von Meliorationen mit Umſicht und Sorg⸗ falt vorzugehen. Auch auf dem Gebiete des Meliorationskredits ſteht das Genoſſen⸗ ſchaftsweſen mit dem Kreditweſen in engſter Beziehung; beide unterſtützen ſich gegenſeitig. Wie ſchon S. 184 ff. hervorgehoben wurde, ſo laſſen ſich, namentlich dort, wo bäuerlicher Beſitz vorherrſcht, die meiſten größeren Melio⸗ rationen ohne Genoſſenſchaftsbildung gar nicht ins Werk ſetzen. Die Kredit⸗ bedürftigen ſind in dieſen Fällen nicht einzelne Perſonen, ſondern Genoſſen⸗ 1) Mitteilungen über die Wirkſamkeit der Landeskultur⸗Rentenbank im Königreich Sachſen während ihres 36-jährigen Beſtehens von 1862 — 1897, Dresden 1898, S. 5, 13 u. 14. 5 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 205 chaften, welche ihrerſeits den Kreditanſtalten eine viel ſicherere Garantie ge- währen, als jene es tun können. Mit dem Entſtehen und dem Aufblühen Genoſſenſchaften hängt die Notwendigkeit der Gründung von Melio⸗ onskreditinſtituten und die Ausdehnung von deren Wirkſamkeit innig ammen. Das landwirtſchaftliche Kreditweſen hat während des letzten Menſchen— alters ungewöhnlich große Fortſchritte gemacht. Für alle Arten des Kredits ſind diejenigen Formen gefunden, die ihrem Weſen und den gegen— wärtigen Bedürfniſſen am meiſten entſprechen. Für den Real-, den Perſonal⸗ ind den Meliorationskredit gibt es Veranſtaltungen, die den berechtigten Forderungen an leichte Zugänglichkeit und ausreichende Höhe, an Billigkeit und Langfriſtigkeit oder Unkündbarkeit, an die Möglichkeit oder Notwendigkeit der Amortiſation des Schuldkapitals in annähernd befriedigender Weiſe Reechnung tragen. Gerade die wirkſamſten dieſer Einrichtungen haben außer⸗ dem den großen Vorzug, daß ſie auf Selbſthülfe der Landwirte beruhen And in deren Selbſtverwaltung ſtehen, nämlich die landſchaftlichen Kredit— inſtitute und die genoſſenſchaftlichen Darlehnskaſſen. Zu ihrer Gründung, zu ihrem Wachstum und zu ihrem inneren Gedeihen haben auch die Staats— regierungen ſehr viel beigetragen. In richtiger Erkenntnis der Sachlage haben dieſe aber ihre Wirkſamkeit auf das notwendige Maß beſchränkt und die eigentliche Verwaltung und damit die Verantwortung den Genoſſen— ſchaften ſelbſt überlaſſen. So muß es auch in Zukunft bleiben. Der Staat kann und ſoll zur Gründung von genoſſenſchaftlichen Kreditinſtituten anregen, für ihre Organiſation und Verwaltung gewiſſe Normativbeſtimmungen erlaſſen, ein Aufſichtsrecht über ſie ausüben. Er darf aber in ſeiner Einwirkung nie ſo weit gehen, daß ihren Mitgliedern die Freudigkeit zum ſelbſttätigen Wirken oder das Gefühl der Verantwortlichkeit genommen wird. Was dem landwirtſchaftlichen Kreditweſen in der Gegenwart fehlt, iſt nicht die Erfindung und Einführung ganz neuer Einrichtungen, ſondern die allgemeine Verbreitung und Benutzung von bereits vorhandenen und bewährten Inſtitutionen. Hierin bleibt für die Zukunft noch viel u tun übrig. Manche deutſche Länder oder Provinzen haben für den ypothekarkredit noch keine, den Landſchaften ähnliche Einrichtungen, obwohl dieſe die vollkommenſten ſind. Trotz den nach vielen Tauſenden zählenden Darlehnskaſſen iſt doch die Mehrzahl der deutſchen Landgemeinden noch nicht mit ſolchen verſehen; aber auch dort, wo ſie beſtehen, gibt es noch manchen freditbedürftigen Landwirt, der aus anderen, weniger guten Quellen ſich das nötige Geld zu beſchaffen ſucht. . Alle Bunſche nach Kredit können freilich die genoſſenſchaftlichen KKreditinſtitute nicht befriedigen; um der Selbſterhaltung und um des eigenen Kredites willen iſt es nötig, daß ſie eine gewiſſe Vorſicht beobachten. Es kann daher wohl vorkommen, daß fie auch einmal eine vielleicht an und für ſich nicht unberechtigte Kreditforderung abweiſen müſſen. Beſonders bei dem Hypothekarkredit iſt dies möglich, und deshalb ſind private Hypothekenbanken wohl nie ganz entbehrlich. Bei dem Perſonalkredit trifft dies nur ausnahms— weiſe zu; nicht viel öfter, als es bei der Unvollkommenheit menſchlicher Ein— ſicht und menſchlichen Wollens unvermeidlich iſt. Für den Landwirt kommt dees nicht darauf an, möglichſt umfangreichen Kredit zu genießen. Da— 0 durch, daß ihnen ein zu hoher Kredit bewilligt wurde, der dann auch ge— wöhnlich entſprechend teuer war, ſind mehr Landwirte ins Unglück geraten, 206 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. als dadurch, daß ihnen der auch nach vernünftiger Erwägung zuläſſige Kredit nicht vollſtändig dargeboten wurde. Auf die Eindämmung des unſoliden oder wucheriſchen Kredits haben eine günſtige Wirkung die beiden deutſchen Reichsgeſetze vom 24. Mai 1880 und vom 19. Juni 1893 ausgeübt. Durch dieſelben wird mit Ge⸗ fängnis bis zu 6 Monaten und außerdem mit Geldbuße bis zu 3000 Mk. beſtraft, wer die Notlage, den Leichtſinn oder die Unerfahrenheit anderer dadurch ausbeutet, daß er für ein Darlehn ꝛc. ſich Vermögensvorteile ver⸗ ſprechen oder gewähren läßt, die in auffälligem Mißverhältnis zu der ge⸗ machten Leiſtung ſtehen. Dies trifft nicht nur den Geldwucher, ſondern auch den auf dem Lande oft viel ſchlimmeren Sachwucher y. | Geldweſen und Börſe. Kredit- und Geldweſen ſtehen in nahem Zuſammenhang miteinander. Bei Kreditgeſchäften tritt an Stelle der Zahlung in barem Geld, das durch irgend ein phyſiſches oder moraliſches Unterpfand geſicherte Zahlungsver⸗ ſprechen des Käufers bezw. des Schuldners. Der Kredit repräſentiert bares Geld, und ſein Preis wird daher zunächſt durch den Geldpreis beſtimmt; außerdem allerdings durch die größere oder geringere Sicherheit der für die Erfüllung des Zahlungsverſprechens dargebotenen Unterlage. Iſt dieſe gleich⸗ wertig, ſo laufen die Preiſe von Kredit und Geld miteinander parallel. Bei billigem Gelde iſt auch der Kredit billig und umgekehrt. Der Preis des Geldes wird ebenſo wie der anderer Waren durch Angebot und Nachfrage geregelt, wobei allerdings nicht nur die abſolute Größe von beiden, jonden auch noch begleitende Umſtände eine Einwirkung ausüben; ſo z. B. ob An⸗ gebot oder Nachfrage von einer oder von wenigen oder von vielen Perſonen ausgehen, ob eine von beiden gegenüber der anderen beſonders dringlich iſt ꝛc. Das Gleiche gilt auch von dem Kredit. In der Höhe des Zinsfußes findet der Preis des Geldes wie des Kredites ſeinen Ausdruck. Da das bare Geld in Kulturſtaaten das allgemeine Tauſchmittel bildet, ſo ſtehen die Preiſe aller übrigen Waren im umgekehrten Verhältnis zum Preiſe des Geldes. Unter ſonſt gleichen Umſtänden muß der Käufer einer Ware um jo mehr Geld dafür zahlen, je billiger letzteres iſt; der Ver⸗ käufer erhält für ſeine Ware um ſo weniger Geld, je höher deſſen Preis ſteht. Läge die Sache ſo, daß der eine Teil der Menſchen lediglich Käufer, der andere Teil lediglich Verkäufer wäre, ſo müßte man ſagen, daß jene ein vorwiegendes Intereſſe an einem hohem, dieſe an einem niedrigen Stand des Geldpreiſes haben. Aber in dem wirtſchaftlichen Leben iſt jeder ſowohl Käufer wie Verkäufer. Selbſt für den einfachen Lohnarbeiter oder Hand⸗ werker trifft ſolches zu; ſie verkaufen ihre Arbeitskraft oder ihr Arbeits⸗ produkt gegen Geld und kaufen mit dem empfangenen Geld die notwendigen Lebensbedürfniſſe. Noch deutlicher tritt dies bei Kaufleuten und Fabrikanten hervor. Dieſe kaufen für ihr Geſchäft lediglich Waren, um ſie entweder direkt, oder nachdem ſie dieſelben einem Umwandlungsprozeß unterworfen haben, wieder zu verkaufen. Auch der landwirtſchaftliche Unternehmer vereinigt in ſich die Funktionen von Käufer und Verkäufer. Er verkauft Getreide, Kartoffeln, lebende Tiere, Milch, Butter ꝛc.; er kauft die Arbeits⸗ kraft von Geſindeperſonen und Tagelöhnern, er kauft Geräte und Maſchinen, Futter⸗ und Dungmittel, Saatgut dc. 1) Vergl. hierzu den Artikel „Wucher“ von Lexis im Handwörterbuch der Staats⸗ wiſſenſchaften, 2 Aufl. VII. Bd. (1901), S. 904 ff. r eee N A Re SE XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 207 Allerdings iſt der Landwirt nicht in dem gleichen Umfang Käufer und käufer wie alle übrigen wirtſchaftlichen Unternehmer. Sein Geſchäft hat ebenſo wichtige wie charakteriſtiſche Eigentümlichkeit, daß die darin er⸗ gten Produkte zum großen, meiſt ſogar größten Teil behufs Unterhaltung es Produktionsprozeſſes ſelbſt wieder verbraucht werden; bezüglich ihrer ndet daher weder Kauf noch Verkauf ſtatt. Dieſen Charakter der Land— hirtſchaft bezeichnet man mit dem Ausdruck „Naturalwirtſchaft“. In rüheren Zeiten und noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts trug auch im deutſchen Reich die landwirtſchaftliche Unternehmung faſt vollſtändig das er der Naturalwirtſchaft. Der zum Verkauf gelangende Teil der Srodufte bildete einen ganz geringen Bruchteil des Geſamterzeugniſſes. enſo wurde von den in der Wirtſchaft zur Verwendung kommenden Be⸗ triebsmitteln bloß ein geringer Bruchteil käuflich erworben; ſelbſt die Arbeiter wurden vorwiegend oder gar ausſchließlich mit Naturalien bezahlt. Hierin iſt in dem 19. Jahrhundert eine erhebliche Anderung eingetreten. Wie der Landwirt gegenwärtig ſehr viel mehr bares Geld zur Beſchaffung von Ar⸗ beitskräften, Maſchinen, Dung⸗ und Futtermitteln ꝛc. braucht, jo verwertet er auch eine entſprechend größere Menge jeiner Erzeugniſſe durch Verkauf. Das Geld hat für ihn daher an Wichtigkeit gewonnen, und an der Geſtaltung der Geldverhältniſſe iſt er ungleich mehr, als früher, intereſſiert. Es kann auch keinem Zweifel unterliegen, daß in Zukunft die Geldwirtſchaft ebenſo weiteren Boden gewinnen, wie die Naturalwirtſchaft zurücktreten wird. Trotz der geſchilderten ſtattgehabten Umgeſtaltung hat aber die Natural— 4 wirtſchaft auch jetzt noch eine große Bedeutung in der Landwirtſchaft und wird ſie ſtets behalten. Selbſt für die Mehrzahl der intenſiv geführten Großbetriebe, welche ihrer Natur nach verhältnismäßig das meiſte bare Geld brauchen, kann man annehmen, daß ſie den vorwiegenden Teil ihrer Erzeug— niſſe, ſowohl der Maſſe wie dem Werte nach, in natura wieder verwenden. Je ertenfiver und je kleiner der Betrieb, deſto mehr nehmen die in der Wirtſchaft verbrauchten Produkte im Vergleich zu den verkauften zu. Für bäuerliche Wirtſchaften kann man ſelbſt in der Gegenwart annehmen, daß durchſchnittlich mindeſtens /, oft 9/10, der Erzeugniſſe, und zwar nach dem Werte berechnet — nach dem Gewicht und Volumen erheblich mehr — in dem Betrieb wieder zur Verwendung gelangen. Aus dem Geſagten ergibt ſich, daß das bare Geld und deſſen Preis für den Landwirt keine ſo große Bedeutung beſitzt wie für die meiſten anderen wirtſchaftlichen Unternehmer. Hierbei iſt auch noch ein anderer Umſtand zu berückſichtigen. Bis zu einem beſtimmten Grade liegt es in der Hand des Landwirts, ob er gewiſſe ſelbſterzeugte Produkte verkaufen oder in dem eigenen Betrieb verwenden will; ebenſo, ob er gewiſſe Wirtſchaftsbedürfniſſe durch käuflichen Erwerb von Waren oder durch Verbrauch eigener Produkte decken ſoll. Getreidekörner, Kartoffelu ꝛc. kann er an ſein Vieh verfüttern oder ver— kaufen. Den Bedarf an Zug- oder Nutztieren kann er ſich ſelbſt heranziehen, das erforderliche Viehfutter und Saatgut, den nötigen Dünger in der eigenen Wirtſchaft erzeugen. Es ſteht ihm aber auch frei, dieſe Gegenſtände ganz oder zum Teil durch Ankauf zu beſchaffen. Zu den weſentlichen Aufgaben der Landwirte gehört es, immer wieder aufs neue zu prüfen, ob in dem ein— zelnen Fall für ihn Naturalwirtſchaft oder Geldwirtſchaft das Zweckmäßigere ſei. Bedingt wird die Entſcheidung hauptſächlich durch das Preisverhältnis zwiſchen den anzukaufenden und den zu verkaufenden Waren und Erzeug— niſſen; dies kann aber nach Art wie nach Zeit ſehr verſchieden ſein. Auch wird der Landwirt oft vor die Wahl geſtellt, ob er lieber Kredit in An— ſpruch nehmen und dieſen zur Erwerbung von nicht gerade nötigen, aber 208 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. doch nützlichen Betriebsmitteln benutzen oder ob er auf beides verzichten ſoll; weiter vor die Wahl, ob er verfügbare Beſtandteile des ſtehenden oder um⸗ laufenden Kapitals verkaufen und dafür anderweitige Wirtſchaftsbedürfniſſe beſchaffen oder ob er letztere durch Inanſpruchnahme von Kredit befriedig ſoll. Infolge aller dieſer Umſtände hat trotz der in der Landwirtſchaft u immer in weitem Umfang herrſchenden Naturalwirtſchaft der Geldpreis der Warenpreis für den Unternehmer eine erhebliche Bedeutung. Sie um ſo ſtärker hervor, je größer der Anteil der in dem eigenen Betrieb zeugten Produkte iſt, für den ein Verkauf in Frage kommt. In dem G betrieb iſt dieſer, wie bereits früher bemerkt, nicht nur abſolut, ſondern au relativ ausgedehnter, als in dem bäuerlichen oder gar kleinen Betrieb, Je niedriger der Geldpreis, deſto höher ſtellt ſich der Preis für die 5 zum Verkauf gebrachten Produkte, deſto höher aber auch der Preis für die anzukaufenden Wirtſchaftsbedürfniſſe. Inſofern könnte dem Landwirt der Geldpreis gleichgültig ſein; aber was den niedrigen Geldpreis für ihn wichtig macht, iſt der Umſtand, daß damit auch der Kredit billig ſich geſtaltet. Die Bedeutung des Kredits iſt, wie aus früheren Darlegungen hervorgeht, während der letzten Jahrzehnte in der Landwirtſchaft ungeheuer gewachſen und wird 5 es noch weiter tun. Je niedriger der Geldpreis, deſto billiger iſt nicht nur der Kredit, ſondern deſto leichter iſt er auch zu erlangen. Die über die Landwirtſchaſt hereingebrochene Kriſis würde eine viel heftigere geworden ſein und viel mehr Opfer gefordert haben, wenn nicht in den letzten Jahrzehnten der Geldpreis ſtark geſunken wäre. Es macht einen großen Unterſchied, ob man, wie es vor 25—30 Jahren nötig war, ſehr ſicher geſtellte Dar⸗ lehne mit 5 Proz. oder nur mit 3½ Proz., wie es jetzt möglich iſt, ver zinſen muß. 1 Im allgemeinen ſtehen zwar Geldpreis und Warenpreis in einem gegenſeitigen Abhängigkeitsverhältnis; ſteigt der eine, ſo ſinkt der andere und umgekehrt. Solches trifft aber keineswegs immer für jede einzelne Ware zu, da deren Preis außerdem bedingt wird durch die Stärke des Angebotes und der Nachfrage nach dieſer ſpeziellen Ware, welche von dem Geldpreis unabhängig iſt. Man darf daher auch nicht, wie es oft geſchieht, aus dem Sinken oder Steigen des Preiſes einiger oder mehrerer Waren ohne weiteres auf ein Steigen oder Sinken des Geldpreiſes ſchließen. Nur dann erſcheint ſolches zuläſſig, wenn eine allgemeine Veränderung der Warenpreiſe nach oben oder nach unten ſtattgefunden hat. Trifft ſie nur für einzelne Waren zu, ſo muß man zunächſt prüfen, ob hinſichtlich dieſer eine Wandlung in dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage eingetreten iſt. Auch ein anderer Umſtand darf bei Beurteilung des Einfluſſes von Geldpreis auf Warenpreis nicht überſehen werden. Derſelbe macht nämlich in der Regel nicht ſofort, ſondern erſt nach einiger Zeit, kürzerer oder längerer, ſich geltend. Der alte Geldpreis wirkt, ſchwächer oder ſtärker, noch ſo lange nach, als Waren vorhanden ſind, die unter ſeiner Herrſchaft erzeugt wurden. Auch die einmal beſtehenden Lebensgewohnheiten und Anſchauungen, ſowie das zwiſchen Käufern und Verkäufern vorhandene Machtverhältnis tragen dazu bei, daß der Warenpreis oft nur ganz allmählich dem Geldpreis folgt. Die letztgenannten Umſtände ſind außerdem ſehr beſtimmend für das gegenſeitige Preisverhältnis der einzelnen Waren zueinander. Ganz be⸗ ſonders gilt ſolches von dem Preiſe der menſchlichen Arbeit zu dem Preiſe anderer Tauſchgüter, namentlich zu dem der wichtigſten Nahrungsmittel. Einer Steigerung der Getreidepreiſe pflegt der Arbeitslohn ebenſo langſam zu folgen wie einem Sinken derſelben. Als die Getreidepreiſe um die Mitte des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich ſtark zunahmen, blieb der Lohn der XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 209 tdarbeiter noch lange Zeit auf einer verhältnismäßig niedrigen Stufe; gekehrt hat das Sinken der Getreidepreiſe in den letzten Jahrzehnten bis noch keine Erniedrigung der Arbeitslöhne gebracht. Für die Höhe der eitslöhne ſind zwar noch andere Umſtände maßgebend, wie die Lebens⸗ elpreiſe, aber in erſter Linie ſind dieſe doch beſtimmend. Vergleicht man gere Zeiträume, ſo tritt dies auch deutlich hervor. Der Landwirt hat vor allem Intereſſe daran, daß ſowohl der Preis Geldes wie der Preis der ſeinerſeits zu kaufenden oder zu verkaufenden Waren nicht häufig oder ſtark wechſelt; daß die unausbleiblichen Ver⸗ änderungen ſich nicht plötzlich und ſprungweiſe, ſondern allmählich und ſtetig ollziehen. Weil der wirtſchaftliche Erfolg der von ihm eingeleiteten Maß⸗ regeln durchſchnittlich früheſtens nach Jahresfriſt, oft erſt nach mehreren oder ielen Jahren zu Tage tritt, ſo hat er ein dringendes Bedürfnis, mit Preiſen rechnen zu können, die voraussichtlich in ähnlicher Höhe längere Zeit an- halten. Je weniger dies der Fall iſt, deſto unſicherer wird ſeine wirtſchaft⸗ liche Lage; deſto eher wird er auch zu Spekulationen geneigt, und dazu iſt weder das landwirtſchaftliche Unternehmen geeignet, noch pflegt der Landwirt bierfür Geſchick zu beſitzen. . Preisſchwankungen ſind unvermeidlich; ſie aber auf ein möglichſt geringes Maß zu beſchränken, erfordert das Intereſſe nicht nur der Einzelnen, ſondern auch des Staates. Letzterer hat vor allem für eine den Bedürfniſſen entſprechende Regelung der Münzverhältniſſe zu ſorgen. Das Deutſche Reich iſt dieſer Verpflichtung nachgekommen durch das Münzgeſetz vom 9. Juli 1873. Ein unbeſtrittener Gewinn desſelben liegt darin, daß es ceein einheitliches Münzſyſtem für das ganze Reich zur Durchführung ge⸗ bracht hat an Stelle der bis dahin herrſchend geweſenen Mannigfaltigkeit, die auch für die Landwirte mit vielen Unbequemlichkeiten und Schädigungen verknüpft war. Durch das neue Münzſyſtem iſt ferner das Gold anſtatt des Silbers als geſetzliches Zahlungsmittel für alle Zahlungen über 20 Mk. feſtgeſtellt, d. h. die Goldwährung eingeführt worden. Allerdings nicht ons vollſtändig, inſofern als die noch vorhandenen Thaler bis zu jedem etrag ebenfalls als geſetzliches Zahlungsmittel anerkannt wurden. In den letztverfloſſenen Jahren ſind aber nicht nur die bis dahin noch umlaufenden öſterreichiſch⸗ungariſchen Thaler abgeſtoßen, ſondern auch die Thalerſtücke deutſchen Gepräges zum weit überwiegenden Teil eingezogen worden, ſo daß wir jetzt ſo gut wie reine Goldwährung haben. Auch in den meiſten übrigen europäiſchen Staaten hat man entweder die Goldwährung eingeführt oder iſt u einem Syſtem übergegangen, welches derſelben ſich mehr oder minder Hart nähert. 4 Gleichzeitig mit dieſen, auf das nämliche Ziel zuſteuernden Maßregeln vollzog ſich ein ſtarker Rückgang des Silberpreiſes. Das Wertverhältnis * groilchen Silber und Gold war 1870 wie 1:15,45, dagegen während der etzten 15 — 20 Jahre nur noch wie 1:30 — 35. Dieſes Sinken des Silberpreiſes hat man der im Deutſchen Reich und in anderen Ländern teilweiſe oder vollſtändig eingeführten Goldwährung zugeſchrieben. Man hat ferner an— nehmen zu dürfen geglaubt, daß an dem Rückgang der Getreidepreiſe vor— zugsweiſe die Goldwährung die Schuld trage. Gerade in landwirtſchaftlichen Kreiſen wurde deshalb häufig und lebhaft eine Anderung des Münzſyſtems zugunſten des Silbers gefordert. Wenn auch gegenwärtig nur noch wenige Stimmen mehr ſich für die Wiedereinführung der reinen Silberwährung erheben, jo findet doch die Doppelwährung d. h. die geſetzliche Gleich— * ſtellung beider Metalle als Zahlungsmittel noch immer viele Fürſprecher. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolttik. 2. Aufl. 14 a Er sr EDEN NER a u nn ae se re = 210 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. Die heftig umſtrittene Währungsfrage eingehend zu erörtern, liegt nicht in der Aufgabe dieſes Buches. Wenige kurze Bemerkungen ſollen daher nur Platz finden. Es läßt ſich nicht in Abrede ſtellen, daß durch die Einführung der Goldwährung die hypothekariſch belaſteten Landwirte inſofern geſchädigt worden ſind, als ſie nunmehr gezwungen wurden, ihre Schuldzinſen in Gold anſtatt in dem viel billiger gewordenen Silber zu zahlen. Demgegenüber haben ſie aber auch den Vorteil gehabt, daß gleichzeitig mit Veränderung des Wertsverhältniſſes zwiſchen Gold und Silber der Zinsfuß ſtark herunter⸗ gegangen iſt; inwieweit hierbei die Goldwährung mitgewirkt hat, läßt ſich ſchwer feſtſtellen. Nicht zutreffend iſt die Behauptung, daß durch Einführung der letz⸗ teren der Silberpreis ſo ſtark, wie es geſchehen iſt, gefallen iſt. Die Urſache hiervon liegt vielmehr in der ungewöhnlichen Vermehrung der Silberproduk⸗ tion. Die Jahresausbeute an Silber auf der ganzen Erde iſt innerhalb der letzten 30 —40 Jahre um das Fünffache geſtiegen. Für die Goldwährung traf es ſich ungünſtig, daß bald nach ihrer Einführung die Goldausbeute abnahm und eine gewiſſe Gefahr vorhanden war, daß das Gold zu knapp würde. Dieſe Gefahr kann aber jetzt als vollſtändig beſeitigt angeſehen werden, da in den letzten 15 Jahren die Goldproduktion eine ſehr reichliche war und es für lange Zeit zu bleiben verſpricht. Hätte man im Deutſchen Reich und in den anderen genannten Ländern die Goldwährung nicht einge⸗ führt, ſo würde vielleicht der Silberpreis etwas, aber ſchwerlich viel höher ſtehen, als es gegenwärtig der Fall iſt. Es würde dann zwar mehr Silber zu Münzzwecken gebraucht, aber auch die Silberproduktion noch ſtärker ge⸗ ſteigert worden ſein. Keineswegs erweislich iſt, daß die Goldwährung ein allgemeines Sinken der Warenpreiſe und namentlich der Getreidepreiſe hervorgerufen hat. In bezug auf letztere wird noch in Abſchnitt XVI darzulegen ſein, daß deren Rückgang vorzugsweiſe auf die Veränderung des Verhältniſſes zwiſchen An⸗ gebot und Nachfrage beruht. Zugegeben werden muß, daß infolge des ſtarken Rückganges des Silber⸗ preiſes die Getreide exportierenden Länder mit Silbererwährung oder gar mit Papierwährung, wenn letzterer Ausdruck überhaupt ſtatthaft iſt, vor⸗ übergehend im Vorteil geweſen ſind gegenüber den Ländern mit Goldwährung oder mit feſter Währung überhaupt. Sie haben ihr Getreide oder ſonſtigen Exportwaren unter der Herrſchaft eines im Wert ſinkenden Geldes produziert und konnten dieſelben daher eine Zeitlang den Goldwährungsländern billiger anbieten, als dieſe ſie zu produzieren vermochten. Aber ſolches war und iſt doch nur ſo lange möglich, als in jenen Ländern die Produktionskoſten, namentlich auch die Koſten für die menſchliche Arbeit, ſich noch nicht dem geſunkenen Silberpreis akkommodiert hatten. Dies geſchieht erſt allmählich, dann aber auch ſicher. Auf die Dauer ſind die Länder mit Silber⸗ oder Papierwährung viel ſchlimmer daran, als die mit Goldwährung. Wäre dies nicht der Fall, dann würden nicht Oſterreich und Rußland ſo große An⸗ ſtrengungen machen, ihrerſeits auch zur Goldwährung überzugehen. Weniger das Sinken des Silberpreiſes, als die Veränderungen und Schwankungen im Preiſe oder Werte der Zahlungsmittel überhaupt ſind es, die auf den Tauſchverkehr ungünſtig wirken. Darunter leiden ſelbſt⸗ verſtändlich auch die Länder mit Goldwährung, weil und inſoweit ſie mit Ländern anderer Währung Handel treiben. Aber dieſe ſelbſt leiden darunter noch viel mehr. Am meiſten die Länder mit Papierwährung, bei denen die Valuta ſehr unterwertig und beſtändigen Schwankungen ausgeſetzt iſt. Man XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 211 frage nur unſere ſtammesverwandten Landwirte aus den ruſſiſchen Oſtſee⸗ provinzen, was ſie von den dortigen Währungsverhältniſſen halten. Mit * en würden ſie dieſelben gegen unſere Goldwährung vertauſchen, wenn Rees möglich wäre. Die hauptſächlichſten Ubeljtände, die man der Goldwäh- kung zuſchreibt, find in den Valutaſchwankungen begründet. Durch dieſe werden hüben und drüben Produzenten wie Konſumenten geſchädigt; Vorteil davon haben nur die Geldhändler, die Banken und deren Inhaber. ö An eine Rückkehr zur Silberwährung iſt für das Deutſche Reich nicht zu denken; ſie würde nicht nur Handel und Induſtrie, ſondern auch die Landwirtſchaft aufs empfindlichſte ſchädigen. Es könnte nur die Einführung der Doppelwährung, alſo die Gleichſtellung von Silber und Gold als geſetzliches Zahlungsmittel, der ſogen. Bimetallis mus, in Betracht kommen. Würden beide Metalle unter Feſtſetzung eines beſtimmten gegenſeitigen Werts— verhältniſſes nicht nur formell vom Staate, ſondern auch tatſächlich im Ge⸗ ſchäftsverkehr, als in gleicher Weiſe gültige Zahlungsmittel anerkannt, ſo fielen allerdings einige mit der ausſchließlichen Goldwährung verbundenen Übelſtände fort. Aber mit einer ſolchen Einrichtung kann, wie jetzt auch allgemein zugeſtanden wird, das Deutſche Reich nicht allein vorgehen. Es iſt dies nur möglich durch ein internationales Übereinkommen aller Kulturſtaaten. An das Gelingen eines ſolchen iſt aber gegenwärtig und in abſehbarer Zeit um ſo weniger zu denken, als eine Knappheit an Gold nicht zu befürchten ſteht. Aber auch an inneren Schwierigkeiten würde dasſelbe ſcheitern. Wie ſoll das Wertsverhältnis zwiſchen Silber und Gold normiert werden? Soll man das frühere Verhältnis wie 1: 15 —16 oder das in den letzten Jahren beſtandene, alſo etwa wie 1: 30—35, wählen? Nimmt man das erſtere oder ein ähnliches, ſo kann keine Macht der Welt hindern, daß nicht trotz der geſetzlichen Regelung ein Goldagio ſich bildet und infolge— deſſen der ganze Geldverkehr auf eine unſichere Grundlage geſtellt wird. Nimmt man das letztere, ſo werden die Hauptübelſtände, welche die Gegner der Goldwährung dieſer zuſchreiben, geradezu geſetzlich feſtgelegt. Die Er— zielung einer Übereinſtimmung über dieſen wichtigen Punkt iſt nicht zu er⸗ warten. Dazu kommt ein anderes. Wer kann die einzelnen Staaten zwingen, daß ſie einen etwa geſchloſſenen internationalen Vertrag auch wirklich dauernd innehalten und ſich nicht, wenn es ihnen gerade paßt, davon losſagen? Ohne Kündigungsrecht wird ſich überhaupt kein Staat darauf einlaſſen; ſo— bald aber ein größerer, für den Welthandel bedeutender Staat davon Ge— brauch macht, dann hat das ganze internationale Abkommen ſeinen Wert verloren. Ebenſo würde jeder große Krieg dasſelbe erſchüttern oder hinfällig machen. Endlich kommt hinzu, daß Staaten, die keine geſicherte Metall- währung, ſondern Papierwährung haben, ein für fie wirklich durchführbares internationales Münzabkommen gar nicht treffen können. Aber gerade dieſe Laender find es, deren Währungsverhältniſſe an den der Goldwährung zuge— ſchobenen Übelſtänden hauptſächlich Schuld tragen. | Es iſt viel wahrſcheinlicher, daß die europäiſchen Kulturſtaaten, welche jetzt noch keine Goldwährung beſitzen, ſowie Nordamerika zu dieſer übergehen, als daß ein internationales Abkommen über Doppelwährung getroffen wird. Jene Maßregel würde auch dem Deutſchen Reich zuſtatten kommen. Die in Zukunft zu erwartende weitere Aufſchließung Aſiens für den Welthandel bietet reichliche Gelegenheit, das in den Goldwährungsländern überflüſſig ge— wordene Silber zur Verwendung zu bringen ). CC 1) Vergl. hierzu die Artikel von Lexis in der 2. Aufl. des Handwörterbuches der Staatswiſſenſchaften über „Doppelwährung“ (III. Bd., 1900, S. 237 ff.) und über „Silber und Silberwährung“ (VI. Bd., 1901, S. 724 ff.). 14* 212 XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. Den Mittelpunkt für den Geldverkehr bilden die in großen Städten etablierten Börſen. Sie ſtellen einen eigentümlich gearteten, auch mit be⸗ ſonderen Rechten oder Pflichten ausgeſtatteten Markt dar, an dem ſowohl mit Geld und Wertpapieren als auch mit anderen Waren gehandelt wird. Danach unterſcheidet man zwei Hauptarten von Börſen: die Effekten- oder Fondsbörſen und die Waren- oder Produktenbörſen. Beide befinden ſich, wenigſtens auf dem europäiſchen Kontinent, gewöhnlich in ein und dem⸗ ſelben Gebäude. „Börſe iſt jede in kurzen Zeitabſtänden, meiſt täglich, wiederkehrende Verſammlung von Kaufleuten und anderen beim Handel be⸗ teiligten Perſonen zum Zweck des Abſchluſſes von Handelsgeſchäften ohne gleichzeitige Vorzeigung, Übergabe und Bezahlung der Ware“ ). Das Unter⸗ ſcheidende der Börſe von anderen Märkten liegt darin, daß auf ihr nicht mit individuellen Waren, die ſelbſt oder doch in Muſtern an Ort und Stelle vor⸗ handen ſind, gehandelt wird, ſondern mit beſtimmten Typen von Waren, deren charakteriſtiſche Eigenſchaften den Käufern und Verkäufern bekannt ſind. Deshalb erfolgt bei Abſchluß von Börſengeſchäften auch nicht ſofortige Über⸗ gabe und Bezahlung der gekauften Waren. Sie geſchieht entweder bald nach dem Abſchluß, an demſelben oder an einem der nächſtfolgenden Tage: Kaſſa⸗ geſchäft, oder an einem feſtgeſetzten ſpäteren Tage: Zeitgeſchäft, Ter⸗ mingeſchäft. Beim Zeitgeſchäft gelten im Effektenhandel gewöhnlich die letzten, von der Börſe feſtgeſetzten, Tage im Monat als Lieferungstage; es wird per ultimo gehandelt. Beim Warenhandel ſind die Termine nicht ſo feſt beſtimmt, ſondern pflegen zwiſchen den Kontrahenten vereinbart zu werden; ſie lauten oft auf mehrere Monate. Aus dem Termingeſchäft hat ſich das Differenzgeſchäft entwickelt, bei welchem nicht wirklich geliefert, ſondern von dem einen Teil nur die Differenz zwiſchen dem vereinbarten Preis und dem am Fälligkeitstermine gültigen herausgezahlt wird. Die Börſe iſt eine ſehr alte Einrichtung, deren Anfänge in Italien, Frankreich, Spanien zu ſuchen ſind und bis in das 12. und 13. Jahr⸗ hundert hinaufreichen. Für den Geld- und Handelsverkehr find die Börſen unentbehrlich, namentlich in der Gegenwart. Sie vermitteln den Verkehr zwiſchen Produzenten und Konſumenten, zwiſchen den einzelnen Märkten des Inlandes, zwiſchen den Weltmarktplätzen der verſchiedenen Länder; ſie wirken zudem preisausgleichend. Allerdings haben ſich bei ihnen auch manche Miß⸗ ſtände gezeigt. Sie ermöglichen und begünſtigen nicht nur die gerecht⸗ fertigte und notwendige, ſondern auch die ungerechtfertigte oder gar betrüge⸗ riſche Spekulation; ſie leiſten der Spielwut Vorſchub. Beim Produkten⸗ handel insbeſondere kann der weniger mit Geſchäften Vertraute leicht ge⸗ ſchädigt werden, zumal nicht nach vorgezeigter Ware, ſondern nach Typen gehandelt wird. Die auf der Börſe notierten Preiſe beſtimmen die Preiſe im ganzen Lande und in der ganzen Welt. Wird bei ihrer Feſtſetzung nicht mit Gewiſſenhaftigkeit verfahren, ſo werden die übrigen Käufer und Ver⸗ käufer irregeführt und gewiſſermaßen gezwungen, Preiſe zu fordern oder zu bewilligen, die nicht den tatſächlichen entſprechen. Dieſe und andere Miß⸗ bräuche ſind aber nicht notwendig mit der Börſe verbunden, wenn ſie gleich regelmäßig ſich einſchleichen, falls nicht durch eine höhere Gewalt ihnen ge- ſteuert wird. Unumgänglich notwendig iſt es daher, daß der Staat ſich um die Börſe bekümmert und für ihre Organiſation und ihre Geſchäftspraxis beſtimmte Vorſchriften erläßt. Im Deutſchen Reich iſt dies in umfaſſender 1) Dieſe Begriffsbeſtimmung iſt der Abhandlung von G. Schanz „Börſenweſen“ in dem Wörterbuch der Volkswirtſchaft von L. Elſter entnommen, a. a. O. Bd. I, 1898, S. 407. Vergl. hierzu auch den Artikel „Börſenrecht“ von Pfleger in der 2. Aufl. des Handwörterbuches der Staatswiſſenſchaft., II. Bd., 1899, S. 979 ff. XII. Der landwirtſchaftliche Kredit. 213 Seife durch das Börſengeſetz vom 22. Juni 1896 geſchehen. Nach dem⸗ ſelben iſt für Errichtung einer Börſe die Zuſtimmung der Landesregierung forderlich. Dieſe übt durch einen Staatskommiſſar Aufſicht über die Börſe sH; fie kann eine Börſe wieder aufheben. Außerdem trifft des Geſetz zahl⸗ iche Beſtimmungen über die Handhabung der Börſengeſchäfte, wodurch vor— handene Auswüchſe beſeitigt, das Aufkommen neuer verhütet werden ſoll. Anter anderem enthält es Anordnungen über die Mitgliedſchaft, über den Kung ans 3 über Handhabung der Ordnung an der Börſe und über Ein- ſetzung eines Börſenſchiedsgerichtes; ferner über das Maklerweſen, die Feſt⸗ ſtellung der Börſenpreiſe, über die an der Börſe zuzulaſſenden Wertpapiere, über den Terminhandel; endlich trifft es Strafbeſtimmungen gegen betrüge- riſche oder auf Täuſchung berechnete Operationen. Der Terminhandel wird durch die SS 48—69 des Geſetzes reguliert. Danach entſcheiden über die Zulaſſung von Waren und Wertpapieren zum Börſenterminhandel die Beoörſenorgane ($ 49). Der Bundesrat iſt indeſſen befugt, dem Börſentermin⸗ handel von Bedingungen abhängig zu machen oder in beſtimmten Waren oder Wertpapieren ganz zu unterſagen. Ein börſenmäßiger Terminhandel in Getreide und Mühlenprodukten iſt verboten ($ 50). R In mancher Beziehung hat das Börſengeſetz günſtig gewirkt; es hat eine einheitliche und feſtere Ordnung in das Börſenweſen gebracht. Anderer- ſeits find dadurch aber auch Mißſtände neu hervorgerufen worden. Die Handelswelt klagt darüber, daß ſie auch in der ganz legitimen Geſchäfts⸗ führung zu ſehr beſchränkt werde und daß in bezug auf Zeitgeſchäfte eine gewiſſe Rechtsunſicherheit hervorgerufen worden ſei. Die Vertreter der Land— wirtſchaft beſchweren ſich darüber, daß die Beſtimmungen des Börſengeſetzes häufig umgangen würden. Die Reichsregierung hat daher dem jetzt ver— ſammelten Reichstage eine Novelle zu dem Börſengeſetz vorgelegt, welche für die wirklichen oder n en Übelſtände Abhilfe ſchaffen ſoll. Die Meinungen über die neue Geſetzesvorlage gehen noch ſehr weit auseinander; es iſt auch kaum zu erwarten, daß eine Übereinſtimmung zwiſchen den Ver⸗ tretern des Handels und der Landwirtſchaft erzielt wird. Die Landwirte ſind geneigt, die große Bedeutung der Börſe für den geſamten Waren- wie Effektenverkehr zu unterſchätzen und haben infolgedeſſen das Beſtreben, den irkungskreis derſelben möglichſt einzuengen. Die Vertreter des Handels wünſchen umgekehrt für die Börſe eine möglichſt freie Bewegung. Sie leugnen zwar nicht, daß an der Börſe Mißbräuche vorgekommen ſind und weiter vor⸗ kommen können, daß daher der Staat ein Aufſichtsrecht ausüben muß, daß auch gewiſſe geſetzliche Beſchränkungen notwendig ſind; ſie glauben aber, daß man es in der Hauptſache den Börſenvorſtänden ſelbſt überlaſſen dürfe, un⸗ ſtatthafte Manipulationen zu unterdrücken. Ihre hierauf gerichteten Wünſche ſind allerdings zu weitgehende. Die große Schwierigkeit einer befriedigenden Regelung liegt in der Sache ſelbſt Es iſt kaum möglich, die notwendigen und legitimen Geſchäfte | von den lediglich der Spiel- und Gewinnſucht dienenden oder auch nur von den H auf Betrug gerichteten in jo klar erkennbarer Weiſe abzugrenzen, daß dadurch eine für die Rechtſprechung durchaus ſichere Grundlage geſchaffen wird ). 13 1) Vergl. hierzu den Artikel von Laband „Die Bei zum Börſengeſetz“ in der 1 Deutſchen Juriſten⸗Zeitung, IX. Jahrg., 1904, Nr. 6, 273 —281. 214 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. XIII. Das landwirtſchaftliche Verſicherungsweſen und die Tandwirtſchaftspolizei. Das landwirtſchaftliche Verſicherungsweſen. Wiederholt wurde darauf hingewieſen, daß das landwirtſchaftliche Ge⸗ | werbe ein beſonderes ſicheres ſei. Es gilt dies inſofern, als die produk⸗ tive Kraft des Bodens unzerſtörbar, unerſchöpflich und dabei die Bodenfläche unvermehrbar, deshalb die Konkurrenz eine beſchränkte iſt; weiter inſofern, als die Nachfrage nach landwirtſchaftlichen Erzeugniſſen in beſonders dringender, ſtetiger und ausgedehnter Weiſe ſich geltend macht. Mit Rückſicht auf alle dieſe Umſtände muß die Landwirtſchaft im Vergleich mit den meiſten übrigen Gewerben als ein relativ ſicheres bezeichnet werden. Namentlich gilt ſolches, wenn man nicht einzelne Jahre, ſondern Perioden von 5, 10 oder noch mehr Jahren miteinander vergleicht. Ein Beweis hierfür liegt ſchon in der Tat⸗ ſache, daß es ungezählte große und bäuerliche Güter noch jetzt gibt, die ſeit Jahrhunderten im Beſitz ein und derſelben Familie ſich befunden haben und noch befinden, während die Zahl der gewerblichen Betriebe, für die das gleiche zutrifft, verſchwindend gering iſt. Andererſeits läßt ſich allerdings nicht in Abrede ſtellen, daß die Land⸗ wirtſchaft manchen Unglücksfällen ausgeſetzt iſt, von denen andere Ge⸗ werbe gar nicht oder doch viel weniger zu leiden haben. Dieſelben treffen im Laufe der Zeit jeden landwirtſchaftlichen Betrieb und wirken unter Um⸗ ſtänden derartig verheerend, daß ſie den Reinertrag eines ganzen Jahres großenteils, in beſonders ſchlimmen Fällen ſogar vollſtändig, aufzehren. Sie ſind aber ſtets vorübergehend. Wenn der Landwirt ohne dauernden Nach⸗ teil ſie überwinden will, ſo muß er entweder ſehr kapitalkräftig ſein oder er muß geeignete Mittel anwenden, um die in den ungünſtigen Jahren er⸗ littenen Verluſte auf die beſſeren Jahre mit zu verteilen. Bei Feſtſtellung des Reinertrages oder des Wertes von Landgütern pflegt hierauf auch Rück⸗ ſicht genommen zu werden ). Man ſetzt unter die notwendigen Ausgaben einen Poſten ein für „Riſiko“ oder „Verluſtgefahr“. In glücklichen Jahren wird derſelbe ganz oder zum größten Teil geſpart. Legt man das Erſparte zurück, ſo reicht es im Durchſchnitt der Betriebe reichlich aus, um die in ſchlechten Jahren erlittenen Verluſte zu erſetzen. In dieſer regel⸗ mäßigen Form geſchieht ſolches allerdings nur ausnahmsweiſe, obwohl vor⸗ ſichtig und genau rechnende Landwirte in Jahren mit ſehr hohen Rein⸗ erträgen, zur Deckung von ſpäter zu erwartenden Ausfällen, etwas zurücklegen. Früher und noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war dies, von wenigen Ausnahmen abgeſehen, überhaupt das einzige Mittel, welches der Landwirt anwenden konnte, um nicht durch den Eintritt unerwarteter Ereig⸗ niſſe in große Bedrängnis verſetzt zu werden. Jetzt iſt ihm die Möglichkeit geboten, mit Hilfe der Verſicherung die aus dem Eintritt außerordent⸗ licher Unglücksfälle etwa drohenden Schäden gleichmäßig oder doch annähernd gleichmäßig auf die einzelnen Jahre zu verteilen. Er zahlt jährlich eine beſtimmte Summe und empfängt dafür die Garantie, daß, wenn der in dem Vertrag vorgeſehene Unglücksfall ihn trifft, der erlittene Verluſt ihm ganz oder doch zum größten Teil wieder erſetzt wird. Allerdings iſt eine ſolche Verſicherung nicht gegen alle außerordentlichen Ereigniſſe möglich, aber doch gegen die den Landwirt am meiſten bedrohenden. 1) Siehe von der Goltz, Landwirtſchaftliche Taxationslehre, 3. Aufl. 1903, ©. 503 und 504. XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 215 Gemeinſam mit allen anderen Menſchen iſt der Landwirt der Feuers— ahr ausgeſetzt. Außerdem aber — und dies trifft ihn zum Unterſchied faſt allen übrigen Gewerbtreibenden — wird der Ertrag ſeines Unter- mens in hohem Grade bedingt durch Vorgänge in der belebten und unbelebten Natur, deren Eintritt oder Verlauf dem menſchlichen Willen ganz her doch zu einem weſentlichen Teile entrückt ſind. Hierzu gehören abnorme itterungsverhältniſſe, wie ungewöhnliche Trockenheit, Näſſe oder Kälte; maſſenhafte Auftreten von ſchädlichen Tieren oder von Pflanzen: nkheiten; auch Uberſchwemmungen, Verſandungen, Dammbrüche, indbrüche laſſen ſich hierzu rechnen. Gegen die Folgen dieſer und ähn— er Ereigniſſe iſt eine Verſicherung nicht möglich oder doch nicht durch- ührbar. Weder ihr Eintritt noch ihre Wirkungen laſſen ſich auch nur annähernd ſo genau im voraus feſtſtellen, daß darauf ein Verſicherungs— unternehmen gegründet werden könnte. Außerdem hängen beide in hohem Grade von dem Verhalten der Landwirte ſelbſt ab. Dieſe können ſelbſt viel dazu beitragen, daß jene Unglücksfälle entweder überhaupt nicht eintreten oder daß doch ihre ſchädlichen Folgen ſehr abgeſchwächt werden. Wenn auch eeine Verſicherung möglich wäre, jo würde ſie immerhin das große Bedenken haben, daß ſie den Landwirt weniger geneigt macht, die in feinen Kräften ſtehenden Mittel zur Abwendung jener Schädigungen in Bewegung zu ſetzen. Auf dieſem Gebiet fällt es hauptſächlich dem einzelnen Landwirt ſelbſt zu, vor dem Eintritt von Unglücksfällen und vor deren nachteiligen Folgen ſich möglichſt zu ſchützen. Allerdings iſt er hierin von dem guten Willen und der Sorgfalt ſeiner Nachbarn vielfach abhängig; ſo z. B. häufig, bei Veerluſten, die durch Pflanzenkrankheiten, Unkräuter, ſchädliche Tiere, Über⸗ ſchwemmungen ꝛc. ihm drohen. Durch die Nachläſſigkeit oder Unkenntnis eines Landwirtes können viele andere in Mitleidenſchaft gezogen werden. Solches möglichſt zu verhüten, iſt die Aufgabe des Staates, der allein die Macht hat, Zwangsmaßregeln auszuüben. Sofern Wiſſenſchaft oder praktiſche Erfahrung Mittel ausfindig gemacht haben, welche durch gemeinſames Vor— gehen der Landwirte es ermöglichen, dem Eintritt gewiſſer Unglücksfälle vorzubeugen oder deren Wirkung abzuſchwächen, hat der Staat das Recht und die Pflicht, die beteiligten Grundbeſitzer zur Anwendung dieſer Mittel zu nötigen. Vorausſetzung iſt dabei ſelbſtverſtändlich, daß die Koſten dafür in einem angemeſſenen Verhältnis zu dem vermutlichen Erfolge ſtehen. Die hier angedeutete Tätigkeit des Staates gehört in das Gebiet der Landwirtſchaftspolizei, welche am Schluß dieſes Abſchnittes zu be— handeln ſein wird. Neben den durch Feuer bewirkten Schädigungen ſind es die durch Hagelſchlag und durch Viehſterben verurſachten, für welche nicht nur eine Verſicherungsmöglichkeit vorliegt, ſondern auch ein Verſicherungsbedürfnis vorhanden iſt. Die Wirkungen dieſer drei Ereigniſſe ſind oft ſo verheerend, daß der Landwirt alle Veranlaſſung hat, die daraus drohende Verluſtgefahr gleichmäßig auf alle Jahre zu verteilen. Schon Ende des Mittelalters gab es einzelne Verſicherungsgeſellſchaften egen Brandſchaden, ſogenannte Brandgilden; ſie beruhten auf Gegen— ſeftigkeit Im Laufe des 18. Jahrhunderts fanden ſie große Verbreitung; häufig wurden ſie durch obrigkeitliche Anordnung ins Leben gerufen und ſtellten Zwangsgenoſſenſchaften dar. Die jährlich zu zahlenden Beiträge nannte man zuweilen Brandſteuer, weil ſie einen ſteuerähnlichen Charakter at angenommen hatten. Auch jetzt noch beſtehen in einzelnen deutſchen Ländern 4 ſtaatliche oder kommunale Feuerverſicherungsanſtalten mit Verſicherungszwang, wenigſtens für Gebäude. Spekulative (Aktien-) Feuerverſicherungs— 2 7 * N 8 N # I 1 RE Az 3 1 * . = 4 Kin 17 er nn Ba A a en 216 Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. geſellſchaften bildeten ſich erſt zu Ende des 18. Jahrhunderts; ſie fanden zunächſt nur äußerſt langſame Verbreitung, haben ſich aber ſpäter jehr aus- gedehnt und, wenigſtens hinſichtlich der Mobiliarverſicherung, die Gegen⸗ 4 ſeitigkeitsgeſellſchaften bereits überflügelt. Das Nebeneinanderbeſtehen beider Formen hat ſich durchaus nicht als nachteilig erwieſen; im Gegenteil hat die Konkurrenz im Verein mit der vermehrten Erfahrung bewirkt, daß die Verſicherungsbedingungen für die Verſicherten leichtere wurden. Beſonders gilt ſolches von der Mobiliarverſicherung, die ihrer Natur nach größer Schwierigkeiten wie die Immobiliarverſicherung darbietet. | In den deutſchen Staaten iſt es feſtſtehender Grundſatz, daß die privater Verſicherungsgeſellſchaften aller Art der Konzeſſion, alſo der Genehmigung bedürfen, daß ſie auch unter fortdauernder obrigkeitlicher Aufſicht ſich befinden. Zum Schutz der Verſicherten iſt dies durchaus nötig. | Man darf zweifellos als berechtigt es betrachten, wenn der Staat, wie es auch in manchen Ländern geſchieht, von allen Beſitzern, alſo auch von den Landwirten verlangt, daß ſie ſowohl ihre Wohn-, wie ihre gewerblichen Zwecken dienenden Gebäude gegen Brandſchaden verſichern. Die zu zahlenden jährlichen Prämien ſind gering, durchſchnittlich etwa 2—3 pro Mille des verſicherten Wertes, und es muß von jedem irgend ſorgſamen Beſitzer er⸗ wartet werden, daß er dies kleine Opfer für die eigene wirtſchaftliche Sicher⸗ ſtellung bringt. Ein ſtaatlicher Zwang darf allerdings nur als znläſſig betrachtet werden, falls eine ſtaatliche oder kommunale Verſicherungsgeſellſchaft vorhanden iſt. Auch von der Verſicherung des toten und lebenden Inventars, ebeno der Vorräte an Futtermitteln, Getreide ꝛc. gegen Brandſchaden darf man ſagen, daß ſie eigentlich zu den Pflichten eines ſorgſamen Landwirts gehört. Deshalb pflegt man ſie auch mit Recht den Pächtern von Staatsgütern, häufig auch denen von Privatgütern, aufzuerlegen. Jeder Pachtliebhaber kann ſich die ungefähre Höhe der zu zahlenden Verſicherungsprämie leicht berechnen und danach ſein Pachtgebot einrichten. Ein Mobiliarverſicherungs⸗ zwang gegen Gutsbeſitzer läßt ſich dagegen nicht rechtfertigen; ſchon des⸗ halb nicht, weil ſeine Durchführung mit großen Unzuträglichkeiten und faſt unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden wäre. Die einzelnen Beſtandteile des toten und lebenden Inventars und namentlich der Vorräte wechſeln in der Landwirtſchaft fortwährend nach Art und Menge, auch nach der Ort⸗ lichkeit, wo ſie ſich befinden. Ein Verſicherungszwang würde die Notwendig⸗ keit in ſich ſchließen, bis ins einzelne gehende Beſtimmungen zu treffen über die Art der zu verſichernden Gegenſtände, über die Ermittelung ihres Brand⸗ kaſſenwertes, über die Gefahrklaſſen, über die Feſtſtellung der Menge und des Wertes der im Falle eines Brandſchadens vorhanden geweſeneu, in die Verſicherung einbegriffenen Objekte ꝛc. Schon jetzt ergeben ſich hieraus viele Schwierigkeiten und Differenzen ſowohl bei Vertragsabſchlüſſen wie namentlich bei Schadenregulierungen; im Falle des Verſicherungszwanges würden die⸗ ſelben zu unhaltbaren Zuſtänden führen. Ein ſolcher würde überhaupt nur möglich ſein, wenn eine ſtaatliche Anſtalt die Sache in die Hand nähme. Dieſe müßte aber ein ganzes Heer von Beamten anſtellen, welche die Ver⸗ ſicherungsabſchlüſſe und die Schadensregulierungen bewerkſtelligten. Hier⸗ durch würde, von allem anderen abgeſehen, die Verſicherungsprämie ſehr hoch zu ſtehen kommen. Geleugnet werden ſoll nicht, daß die privaten Geſellſchaften ſich die am meiſten gefährdet ſcheinenden Verſicherungen, die ſogenannten unſicheren Riſikos, gerne abſchütteln und darunter gerade die bäuerlichen und kleinen Beſitzer am meiſten leiden. Zum Schutze dieſer wäre es allerdings erwünſcht, XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 217 enn überall neben den Privatgeſellſchaften ſtaatliche oder kommunale Ver— herungsanſtalten beſtänden, ſo daß jedem Beſitzer die Wahl zwiſchen beiden ebe und mindeſtens die Möglichkeit geboten würde, ſein Mobiliar unter cht allzu drückenden Bedingungen gegen Brandſchaden zu verſichern. Ferner kann nicht in Abrede geſtellt werden, daß die privaten Geſell⸗ aften zuweilen harte oder zweideutige oder dem Verſicherten unverſtändliche oder doch in ihrer Tragweite unfaßliche Bedingungen aufſtellen oder daß fie bei Schadenregulierungen unbillig verfahren. Es iſt in dieſer Beziehung zwar ſchon manches beſſer geworden, und namentlich hat der Deutſche Land— wirtſchaftsrat mit feiner gewichtigen Autorität hier zu Gunſten der Ver— ſicherten eine erfolgreiche Wirkſamkeit ausgeübt. Es wird auch ferner die Aufgabe der Vertreter der Landwirtſchaft bleiben müſſen, die Feuerverſicherung für die Verſicherten immer günſtiger zu geſtalten und ihr dadurch eine noch allgemeinere Verbreitung zu verſchaffen. Hierbei iſt die Hilfe des Staates unentbehrlich; dieſer muß die Verſicherungsanſtalten veranlaſſen und nötigen- falls zwingen, den berechtigten Forderungen der Landwirtſchaft immer mehr nachzukommen. Er wird dies um ſo beſſer vermögen, je beſtimmter, be— gründeter und einhelliger die von den Landwirten vorgebrachten Wünſche d. Man darf aber dabei nicht vergeſſen, daß die Häufigkeit von Feuer⸗ ſchäden ſehr von dem Grade der Vorſicht und der Gewiſſenhaftigkeit der Verſicherten abhängt; daß es ferner vorkommt, daß beim Abſchluß von Ver⸗ trägen oder bei Schadenregulierungen von den Verſicherten unrichtige An— aben gemacht werden. Eine ſtaatliche Zwangsverſicherung des Mobiliars önnte leicht dazu führen, daß die Verſicherten weniger ſorgfältig und ge- wiſſenhaft in der Handhabung mit Feuer und in ihren Aufſtellungen bezüg- lich der zu verſichernden oder der verbrannten Gegenſtände verfahren. Den Fiskus zu ſchädigen, gilt im allgemeinen für weniger verwerflich, als einen rivatmann ). Wegen des Einfluſſes, den der Verſicherte ſelbſt auf den intritt von Feuerſchäden hat und wegen der Schwierigkeit, die Menge und den Wert der im Schadensfalle verbrannten Objekte feſtzuſtellen, iſt die Feuerverſicherung ganz anders zu beurteilen und praktiſch zu handhaben, als die Hagelverſicherung. Der Hagelſchaden hat das Eigentümliche, daß ſein Eintritt oder ſein Nichteintritt dem menſchlichen Wollen und Können vollſtändig entzogen iſt. Man war früher ſo feſt davon überzeugt, daß der Hagelſchlag eine direkte Schickung Gottes ſei, daß manche Landwirte es ſogar für unſtatthaft hielten, deren nachteilige Folgen durch Verſicherung von ſich abzuwenden. Dieſe Vorſtellung iſt der Verbreitung der Hagelverſicherung ſehr hinderlich geweſen und hemmt ſie noch immer. Ihre Unrichtigkeit braucht kaum nach- 1 gewieſen zu werden. Man müßte in Konſequenz jener Anſchauung bei jedem 14 ohne eigenes Verſchulden eingetretenen Unglücksfall darauf verzichten, ſeine üblen Folgen abzuwehren oder zu mildern. Das iſt nicht chriſtliche Lehre, IR ſondern mohamedaniſcher Fatalismus. Der chriſtlichen Moral entſpricht es 1 im Gegenteil, daß der Menſch alle ſeine Kräfte aufbietet und alle ſtatthaften © Mittel anwendet, um feine und der Seinigen wirtſchaftliche Exiſtenz möglichſt 5 ſicherzuſtellen. Man kann es in der Gegenwart geradezu als eine Pflicht 4 eines jeden deutſchen Landwirts, der nicht über großes Kapitalvermögen ver— If fügt, bezeichnen, daß er ſeine Feldfrüchte gegen Hagelſchaden verſichert. Daher 3 iſt es auch ganz berechtigt, wenn der Staat ſolches von ſeinen Domänen— ie pächtern fordert. 218 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten angel 4 auf Gegenſeitigkeit beruhende Hagelverſicherungsgeſellſchaften ins Leben. Sie gingen aber meiſt bald wieder ein, entweder weil ſie ihre Wirkſamkeit auf zu kleine räumliche Gebiete beſchränkten oder weil ſie, aus Mangel an ge nügender Erfahrung, eine fehlerhafte Organiſation hatten. Die erſte Hagel-⸗ verſicherungsaktiengeſellſchaft wurde 1822 in Berlin gegründet, der . dann eine Reihe ähnlicher Anſtalten folgte. Die von dieſen erzielten günſtige 2 Reſultate führten dann zur Gründung neuer Gegenfeitigfeitsgefel- ſchaften, die ſich von vornherein auf ein größeres räumliches Gebiet wie die früheren erſtreckten. Gerade in den letzten Jahrzehnten haben dieſe an Zahl und Geſchäftsumfang ſehr zugenommen und jene jetzt ſchon überflügelt. Gegenwärtig beſtehen im Deutſchen Reich 5 Geſellſchaften auf Aktien und 25 auf, Gegenſeitigkeit. Über die Vorzüge oder Nachteile beider Formen iſt viel geſtritten worden, und noch immer gehen die Meinungen darüber auseinander. Auf Grund der bisherigen Erfahrungen kann man nur ſagen, daß das Neben⸗ einanderwirken beider Formen der Sache ſelbſt und den verſicherten Land⸗ wirten zugute gekommen iſt. Die Konkurrenz hat auch hier wie bei der Feuerverſicherung günſtig gewirkt und es liegt zur Zeit kein Grund vor, dieſelbe durch irgend welche ſtaatliche Anordnungen zu unterdrücken. An dem Beſtand der Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften zu rütteln, wird keinem ver⸗ nünftigen Menſchen einfallen; im Gegenteil muß man es als das Natürliche betrachten und es mit Genugtuung begrüßen, wenn auch auf dieſem Gebiete die Landwirte ſich ſelbſt helfen. Aber hierin liegt kein ſtichhaltiger Grund dafür, es den Landwirten, die lieber die Hilfe einer Aktiengeſellſchaft in Anſpruch nehmen, dies durch Aufhebung der letzteren unmöglich zu machen. Dieſelben haben ſämtlich eine mehr als 35⸗jährige Wirkſamkeit hinter fi, die Berliner eine über 80-jährige; ſie haben ſich auch gehalten, nachdem neben ihnen eine viel größere Zahl von Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften ent: ſtanden iſt. Im Durchſchnitt der Jahre mögen die Prämien bei den Aktien? geſellſchaften etwas höher ſein, obwohl dies von ihnen ſelbſt nicht zugegeben wird; jedenfalls iſt der Unterſchied nicht groß. Dagegen haben ſie den Vor⸗ zug, daß die Prämie jedes Jahr ſich gleich bleibt, während ſie bei den Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften oft ſtark ſchwankt, je nach der Häufigkeit der in den einzelnen Jahren auftretenden Schadenfälle. Viele Landwirte ziehen es aber vor, jedes Jahr eine gleich hohe Verſicherungsſumme zu zahlen, als hierin unliebſamen Überraſchungen ausgeſetzt zu ſein. Im großen Durch⸗ ſchnitt kann man annehmen, daß bei beiden Formen die jährliche Prämie rund 1 Proz. der verſicherten Summe beträgt. Selbſtverſtändlich muß der Staat ein Aufſichtsrecht über die Aktien⸗ wie über die Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften ausüben. Ihre Statuten müſſen von ihm genehmigt werden, ihre Geſchäftsführung einer gewiſſer Kontrolle unterliegen. Von manchen Seiten iſt der Wunſch nach Gründung einer Reichs- verſicherungsanſtalt auf Gegenſeitigkeit, unter Aufhebung aller übrigen beſtehenden Anſtalten, ausgeſprochen worden. Zu einer ſolchen liegt aber weder ein Bedürfnis vor, noch würde ſie eine Verbeſſerung in dem Hagel⸗ verſicherungsweſen herbeiführen. Daß ſie, wie von ihren Befürwortern an⸗ genommen wird mit geringeren Verwaltungskoſten wirtſchaftet, erſcheint ſehr unwahrſcheinlich. Sie iſt auch kaum anders denkbar wie als Zwangsver⸗ ſicherungsanſtalt, ſo daß jeder Landwirt genötigt wird, ihr ſich anzuſchließen. Stellte man den Eintritt frei, ſo würden unzähliche Landwirte aus ſolchen Gegenden, in denen es erfahrungsmäßig wenig hagelt, denſelben verweigern. XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 219 den jetzigen Einrichtungen haben ſie hierzu deshalb weniger Veranlaſſung, weil auch bei derſelben Geſellſchaft die Prämien ſehr verſchieden hoch find, je nach der vorhandenen Hagelgefahr. Nun wäre es zwar möglich, daß uch die Reichsverſicherungsanſtalt ihre Prämien nach der Größe der Ge- je abſtuft. Bei einer Zwangsverſicherung würde dies gar nicht zu ver- iden ſein, wenn man nicht eine große Ungerechtigkeit begehen und eben che Unzufriedenheit erregen ſoll. Aber eine derartige Abſtufung würde twährende Reklamationen hervorrufen und keine Reichtsagsſeſſion würde übergehen, ohne daß nicht heftige Angriffe gegen die Reichsregierung ge- htet würden, mag dieſe auch noch jo ſorgfältig und gewiſſenhaft verfahren. un es gibt keinen unanfechtbaren Maßſtab für die Höhe der Schadenge— r. Die private wie die offizielle Statiſtik müht ſich ſeit Jahren ab, feſte erlagen dafür zu gewinnen. Wir ſind hierüber jetzt zwar viel beſſer tiert, als früher; aber zu einem einigermaßen ſicheren und für die lgezeit maßgebenden Reſultat kann man niemals gelangen. Dafür reicht Menſchenweisheit nicht aus. Im allgemeinen iſt die Hagelgefahr in Süd— deutſchland erheblich größer, als in Norddeutſchland; aber ſelbſt in dicht benachbarten Bezirken zeigen ſich darin zuweilen große Abweichungen. Nun hat man wohl geſagt, von einem entwickelten Gemeinſinn könne ge— fordert werden, daß die minder gefährdeten Gegenden für die ſtärker be— drohten mit eintreten, man dürfe daher die Prämienſätze überall gleich hoch normieren. Aber hierin liegt eine verkehrte Anwendung von der allerdings in einem geſunden Staatsweſen nötigen Forderung, daß der Stärkere die Liaſt des Schwächeren mittragen muß, wie ſie z. B. in der progreſſiven Ein- kommenſteuer verwirklicht iſt. Die vom Hagel mehr bedrohten Landwirte ſſind keineswegs überhaupt wirtſchaftlich ungünſtiger geſtellt, als die weniger bedrohten. Es gilt dies nur für dieſen einen Umſtand; in manchen anderen Dingen ſind ſie bevorzugt. In der norddeutſchen Tiefebene, namentlich auch in den Provinzen Oſt⸗ und Weſtpreußen, Brandenburg, Pommern und Poſen, iſt die Hagelgefahr erheblich geringer, als in Bayern, Württemberg und Baden. Vergleicht man aber die Gunſt oder Ungunſt aller auf den Ertrag der Landwirtſchaft einflußreichen Verhältniſſe, ſo ſind die nordöſtlichen Teile des Deutſches Reiches erheblich ſchlechter geſtellt, als die ſüddeutſchen. Es würde deshalb eine Ungerechtigkeit ſein, von jenen zu verlangen, daß ſie die größere Hagelgefahr diefer mittragen ſollen. Bis vor nicht langer Zeit waren allerdings die ſüdeutſchen Landwirte bezüglich der Hagelverſicherung ſchlimm daran, namentlich in den Bezirken, in denen es ganz beſonders häufig hagelte. Die beſtehenden Geſellſchaften nahmen dort entweder überhaupt keine Verſicherungen an oder beanſpruchten ganz ungewöhnlich hohe Prämien. Dieſer Übelſtand veranlaßte die bayriſche Staatsregierung durch Geſetz vom 13. Februar 1884 eine öffentliche 1 c auf Gegenſeitigkeit ins Leben zu rufen, welche ſeit ihrem eſtehen eine durchaus befriedigende Wirkſamkeit entfaltet hat. Sie befindet ſich unter ſtaatlicher Leitung und iſt mit einem Dotationskapital von einer Million Mark aus öffentlichen Mitteln ausgeſtattet. Sie bezieht außerdem einen jährlichen Staatszuſchuß, der anfangs 40000 Mk. betrug, ſpäter aber geſteigert wurde und Bit 1898 auf 200000 Mk. feſtgeſetzt iſt. Zwar be- ruht fie auf Gegenſeitigkeit, doch ſteht es jedem bayriſchen Landwirt frei, 0 ihr ſich anzuſchließen oder einer anderen Geſellſchaft beizutreten oder auch ' unverſichert zu bleiben. Die Gejellichaft erhebt feſte Prämien, ohne Nach— ſchüſſe zu verlangen. Dadurch hat ſie ſich aber vor allzu hohen Anforde— rungen geſchützt, daß ſie für jede Gemeindeflur ein allerdings veränderliches Maximum der Verſicherungsſumme (Flurmaximum) feſtſetzt und daß ſie im 220 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. Bedürfnisfalle die zu zahlende Entſchädigungsſumme für alle von Hagel⸗ ſchaden betroffenen um einen gewiſſen Prozentſatz kürzt. In den 20 Jahren ihres Beſtehens hat die bayriſche Hagelverſicherungsgeſellſchaft ſich durchaus bewährt und den Notſtand, in welchem nach dieſer Richtung hin zahlreiche bayriſche Landwirte ſich befanden, beſeitigt oder doch erheblich gemildert. Ein deutlicher Beweis dafür, daß ſie von den dortigen Landwirten ſelbſt als eine Wohltat empfunden wird, liegt in der fortwährend ſteigenden Zahl ihrer Mitglieder. Im Jahre 1884 betrug die Zahl ihrer Mitglieder 7375; 1893 war ſie auf 75 734, im Jahre 1903 ſchon auf 141329 geſtiegen. Die jähr⸗ lichen Beiträge ſchwankten in der Zeit von 1884-1903 zwiſchen 0,98 und 1,38 Proz., die gezahlten Entſchädigungen zwiſchen 0,45 und 1,94 h. der verſicherten Summe. Insgeſamt machten von 1884—1903 die Beiträge rund 291/, Mill., die Entſchädigungen rund 31 Mill. Mk. aus. Der Mehr⸗ betrag der Entſchädigungen von etwa 1⅝ Mill. Mk. wurde durch die Zinſen der Staatsdotation und die jährlichen Staatszuſchüſſe gedeckt. Die Zahl der vom Hagelſchlag betroffenen, der Geſellſchaft angehörenden Landwirte belief ſich in der ganzen Zeit auf nahezu 200000. Im Durchſchnitt der Jahre 1884— 1897 ſtellte ſich die an den Entſchädigungsgeldern vorgenommene Kürzung auf 14 Proz. der verſicherten Summe. Die von der bayriſchen Geſellſchaft erhobenen Prämien ſind alſo nicht viel höher wie die durchſchnitt⸗ lich von anderen Geſellſchaften geforderten und ſehr viel niedriger, als diejenigen, welche früher die meiſten bayriſchen Landwirte zahlen mußten, falls über⸗ haupt eine Geſellſchaft ſie aulnahm. Ein Nachteil liegt zwar in der Kürzung der Entſchädigungen; aber dieſer iſt unvermeidlich und fällt wenig ins Ge⸗ wicht gegen die großen durch die neue Gründung erzielten Vorteile ). Dem Vorgange Bayerns ſind in den letzten Jahren Baden und Württemberg, wenngleich in etwas anderer Form, gefolgt 2). Damit iſt für die, früher allerdings begründeten Beſchwerden der ſüddeutſchen Landwirte hinſichtlich der Hagelverſicherung Abhilfe geſchafft und zwar ohne das fragwürdige Experiment einer allgemeinen Reichsverſicherung. Der Deut ſche Landwirtſchafts rat hat, wie mit der Feuerverſicherung, ſo auch mit der Hagelverſicherung ſich wiederholt eingehend beſchäſtigt und auf die praktiſche Handhabung derſelben ſeitens der einzelnen Geſellſchaften einen günſtigen Einfluß ausgeübt. In ſeinem Schoße gingen die Meinungen über die Vorzüge und Nachteile der Aktien- und der Gegenſeitigkeitsgeſell⸗ ſchaften auseinander; die Errichtung einer Reichsverſicherungsanſtalt wurde nur vereinzelt befürwortet. Er faßte in den zwei aufeinander folgenden Sitzungsperioden von 1886 und 1887 den gleichlautenden Beſchluß: „Der Deutſche Landwirtſchaftsrat erklärt, es ſei in denjenigen Staaten und Pro⸗ vinzen, in denen durch die beſtehenden Hagelverſicherungsinſtitute dem land⸗ wirtſchaftlichen Bedürfnis nicht genügt iſt, öffentliche Hagelverſicherungsan⸗ ſtalten mit gegenſeitiger Schadensübertragung ins Leben zu rufen“ (Archiv des D. L. R., Jahrg. 10, 1886, S. 485, und Jahrg. 11, 1887, S. 193). Ferner wurde 1892 einſtimmig beſchloſſen: „Der Deutſche Landwirtſchafts⸗ rat wiederholt ſeine längſt ausgeſprochene Anſicht, daß der Erlaß eines Reichsverſicherungsgeſetzes in hohem Maße wünſchenswert iſt“ (Archiv, Jahrg. 16, 1892, S. 763). Dieſer letzte Beſchluß zielt nicht auf Errichtung einer Reichsverſicherungsanſtalt, ſondern auf Erlaß von reichgeſetzlichen Nor— 1) Vergl. Nr. 11 des Wochenblattes des landwirtſchaftlichen Vereins in Bayern pro 1898. Ferner: Die Maßnahmen auf dem Gebiete der landwirtſchaftlichen Verwaltung in Bayern 1897-1903. München bei Oldenbourg 1903, S. 284 ff. 2) „Die Landwirtſchaft in Württemberg“, S. 311—326. M. Hecht, „Die badiſche Landwirtſchaft“, S. 258. XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 221 vbeſtimmungen, welche beſonders zum Zweck haben ſollen, dem un- teren Gebahren einzelner Geſellſchaften einen Riegel vorzuſchieben. Die rhandlungen und Beſchlüſſe des Deutſchen Landwirtſchaftsrates befinden in Übereinſtimmung mit den hier von mir zum Ausdruck gebrachten An⸗ hten, nämlich daß: 1. ſowohl die Aktien⸗ wie die Gegenſeitigkeitsgeſell⸗ aften ihre eigentümlichen Vorzüge und Mängel beſitzen; 2. deshalb ein beneinanderbeſtehen beider Formen der Landwirtſchaft nicht nachteilig iſt; 3. für die Gründung einer Reichsverſicherungsanſtalt mindeſtens kein Be⸗ zürfnis vorliegt; 4. es wünſchenswert iſt, daß von Reichs wegen für alle ſellſchaften Normativbeſtimmungen vornehmlich zu dem Zweck erlaſſen en, um die Verſicherten vor Willtür Ausbeutung und Betrug zu ſchützen. Von der Hagelverſicherung wird ſeitens der deutſchen Landwirte ein dauernd ſteigender Gebrauch gemacht. Im Jahre 1853 betrug die bei en Geſellſchaften verſicherte Summe rund 300 Mill. Mk.; im Jahre 1873 ſie auf rund 1¼ Milliarde, im Jahre 1899 auf rund 3 Milliarden Mk. tiegen ). b Unter den für die Landwirte vorzugsweiſe in Betracht kommenden Arten der Verſicherung bietet die Viehverſicherung bei weitem die größten Schwierigkeiten. Sie iſt daher auch noch am wenigſten verbreitet und in ihrer Organiſation am meiſten zurück. Es liegt dies darin begründet, daß der durch Viehſterben verurſachte Verluſt?) in hohem Grade von der größeren oder geringeren Sorgfalt abhängt, welche der einzelne Landwirt ſeinem Vieh zuwendet; daß er außerdem bedingt iſt durch örtliche Berhält- niſſe, teils natürlichen, teils wirtſchaftlichen Charakters, die Leben oder Ge- ſundheit mehr oder weniger gefährden. Das erſtere trifft beſonders für die durch gewöhnliche, nicht anſteckende Krankheiten herbeigeführten Schädi⸗ gungen zu, das zweite beſonders für die durch Seuchen veranlaßten. Aber auch für die Abwendung von Seuchen oder für die Verminderung der aus ihnen erwachſenden Nachteile kann der Landwirt viel tun. Das Intereſſe an der Viehverſicherung iſt bei den einzelnen Landwirten ein ſehr verſchieden großes. Für denjenigen, der gewillt und imſtande iſt, bei der Fütterung, Pflege und ſonſtigen Behandlung feiner Tiere ſtets ſorgfältig zu verfahren, ſtellt es ſſich viel geringer dar, als für landwirtſchaftliche Unternehmer, bei denen dies nicht zutrifft. Man mag die Sache noch ſo rationell einrichten, es bleibt immer der Übelſtand, daß der gute Landwirt für die Verſehen des weniger uten mit aufkommen muß. Es beſteht ferner ein Unterſchied zwiſchen dem leinen und dem großen Beſitzer. Wer nur ein oder ein paar Stücke Vieh hat, kann in die größte Bedrängnis geraten, wenn ein Tier durch Krankheit ihm verloren geht. Der in einzelnen Teilen Deutſchlands weit verbreitete Viehwucher knüpft nicht ſelten an dieſe Bedrängnis an und opt aus ihr beſtändig neue Nahrung. Der Großbeſitzer kann ohne Schaden Selbſtverſicherung üben, wenigſtens gegen die gewöhnlichen Krankheiten und Unglücksfälle. Wenn ein Tier ihm ſtirbt, ſo erſetzt er es durch ein anderes oder er läßt es zunächſt auch unerſetzt. Die Verluſte, welche er dadurch erleidet, ſind im Durchſchnitt der Jahre geringer, als wenn er den ganzen Viehſtand verſichern wollte. Bei Seuchen, ſteht allerdings die Sache — — I 1) Vergl. über das Hagelverſicherungsweſen: N. Freih. von Thünen, Geſchichte "Be des Hagelverſicherungsweſens in Deutſchland, Dresden 1896. H. Suchsland, Die Hagel⸗ 5 verſicherungsfrage in Deutſchland, Jena, 1890. Ferner den Artikel Hagelſchädenverſicherung ar er a im Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaſt, 2. Aufl., IV. Bd. (1900), 955 —961. 2) Unter dieſen Verluſt rechne ich auch denjenigen, welcher dem Landwirt dadurch erwächſt, daß er ein erkranktes oder beſchädigtes Tier notſchlachten oder um einen ganz geringen Preis verkaufen muß. ieee ee 222 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. etwas anders, für die verheerendſten derſelben hat aber, wie ſpäter zu zeigen ſein wird, die Reichsgeſetzgebung bereits Vorſorge getroffen. 4 Auch die örtlich vorhandenen klimatiſchen, Boden- und Futterverhält⸗ niſſe bedingen nicht unweſentliche Unterſchiede in der Größe der bei dem Viehſtande obwaltenden Verluſtgefahr. Ä Von allen landwirtſchaftlichen Haustieren iſt das Pferd am meiften von Unfällen bedroht. Dasſelbe hat eine beſonders empfindliche Natur, leidet am eheſten unter nicht ganz normalen Zuſtänden in bezug auf Futter, Witterung oder Art der Behandlung. Nun wird gerade das Pferd am meiſten von allen Tieren wechſelnden und ungewöhnlichen Einflüſſen aus⸗ geſetzt. Am Tage iſt es gewöhnlich im Freien, muß häufig weite und an⸗ ſtrengende Märſche machen, in auswärtigen Ställen verweilen, ungewohntes Futter zu ſich nehmen x. Die hieraus entſtehende Gefahr iſt in den ein⸗ zelnen Fällen eine ſehr abweichende, je nachdem die Pferde mehr oder minder häufig oder lange außerhalb des Gutsbezirkes weilen, je nachdem ſie unter der ſtetigen Aufſicht und Behandlung ihres Beſitzers ſich befinden oder ge⸗ mieteten Knechten überlaſſen werden müſſen. Endlich kommt hinzu, daß, wenn ein Pferd zur Arbeit untauglich wird, was ſchon durch eine Verletzung der beſonders ſtark in Anſpruch genommenen Extremitäten geſchehen kann, es überhaupt bloß noch einen ſehr geringen Wert hat. Bei ihm iſt nicht nur unter allen Haustieren die Verluſtgefahr am größten, ſondern deren Höhe hängt auch mehr wie bei allen anderen von der Art der Behandlung ab, die ihm zuteil wird. Wenn bei größeren, einem einzelnen Landwirt gehörenden Viehbe⸗ ſtänden die Verſicherung für den Beſitzer den beabſichtigten Zweck erreichen ſoll, dann kann nicht von ihm gefordert werden, daß er jedes Individuum als ſolches verſichert; dies wäre nur bei Pferden möglich. Er muß viel⸗ mehr ſeinen Viehſtand oder jede Viehgattung im ganzen, unter Zugrunde⸗ legung einer durchſchnittlichen Stückzahl, verſichern können. In Maſt⸗, in Jungvieh⸗, auch in vielen Milchwirtſchaften wechſeln die einzelnen Individuen, auch wohl die Stückzahl, ſo ſehr, daß eine individuelle Verſicherung un⸗ möglich wird oder doch zu kaum überwindlichen Schwierigkeiten und uner⸗ träglichen Mißhelligkeiten Veranlaſſung geben würde. Alle vorgenannten Umſtände muß man ins Auge faſſen, wenn man über die Durchführbarkeit der Viehverſicherung und über die Art ihrer Or⸗ ganiſation ein begründetes Urteil gewinnen will. Für ſie kommen ganz andere Geſichtspunkte in Betracht wie für die Feuer- und noch mehr wie für die Hagelverſicherung. Nur ſehr langſam kann ſie eine größere Ver⸗ breitung gewinnen; ſie wird und ſoll niemals ſo allgemein werden, wie es für die beiden anderen Verſicherungsarten ſchon jetzt zutrifft oder doch er⸗ ſtrebt werden muß. 5 Auch um das Viehverſicherungsweſen hat der Deutſche Landwirt⸗ ſchaftsrat ſich große Verdienſte erworben. Vor allem dadurch, daß er die faſt unglaublich großen Mißbräuche, die ſich einzelne Verſicherungsgeſell⸗ ſchaften zu Schulden kommen ließen, ans Licht zog und die Staastregierungen zum Einſchreiten veranlaßte. Ferner aber auch dadurch, daß er allgemeine Verſicherungsbedingungen und ein Normalſtatut ausarbeitete, die er den deutſchen Staatsregierungen zur Kenntnisnahme unterbreitete. Bei Ab⸗ faſſung derſelben hat er die Vertreter der in Deutſchland vorhandenen Ver⸗ ſicherungsgeſellſchaften zu Rate gezogen, und iſt von dieſen die Reformbe⸗ dürftigkeit der jetzigen Zuſtände anerkannt worden. Das Normalſtatut ꝛc. ſoll keineswegs die Grundlage für eine Reichsviehverſicherungsanſtalt abgeben, ſondern lediglich die allgemeinen Beſtimmungen feſtlegen, deren Innehaltung XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 223 die Verſicherung überhaupt als wünſchenswert erſcheint. Es ſoll den zelnen Geſellſchaften als Anhalt dienen und darauf hinwirken, daß ſowohl e gewiſſe Einheitlichkeit in die Handhabung des Viehverſicherungsweſens umt, als auch namentlich darauf, daß den vorhandenen Mißbräuchen ge- ert und das Aufkommen neuer verhindert wird. Der Deutſche Land- tſchaftsrat verfolgte ferner bei ſeinen Verhandlungen und Beſchlüſſen in er Sache das wichtige Ziel, der deutſchen Reichsregierung und den ein— en Landesregierungen das Material und damit die notwendigen Unter— m an die Hand zu geben, um, hierauf geſtützt, ihrerſeits im Wege der waltung oder Geſetzgebung beſſere Zuſtände herbeizuführen ). Es ſoll nunmehr kurz dargeſtellt werden, welche Erfolge auf dem Gebiet 3 bereits erzielt ſind, und was für die Zukunft noch zu ben iſt. Die Verſicherung des Viehes muß je nach der Tierart verſchieden behandelt werden. Auch wenn ein und dieſelbe Geſellſchaft die Verſicherung mehrerer Tierarten: Rindvieh, Pferde, Schweine gleichzeitig übernimmt, ſoo muß fie doch für jede Gruppe beſondere Beſtimmungen aufſtellen und über jede beſonders Rechnung führen. Bei weitem am wichtigſten iſt die Verſicherung des Rindviehes. Schon aus dem Grunde, weil das Rindvieh dem körperlichen Gewichte und annähernd auch dem Werte nach etwa drei Viertel des landwirtſchaftlichen Viehbeſtandes ausmacht. Ferner auch deshalb, weil bei vielen bäuerlichen Beſitzern das gehaltene Rindvieh, mit Ausnahme von einem oder ein paar Schweinen und einigem Geflügel, den ganzen Beſtand ihres Zug- und Nutz⸗ viehes ausmacht und der Verluſt von ein oder zwei Stücken fie in die größte Angelegenheit bringen kann. Hiermit hängt es zuſammen, daß die erſten Verſuche einer Viehverſicherung ſich auf das Rindvieh beziehen. Schon im 18. Jahrhundert gab es hier und da Kuhgilden oder Kuhladen, d. h. örtlich eng begrenzte, auf Gegenſeitigkeit beruhende Vereine zur Verſicherung 4 en die aus Krepieren oder Notſchlachten von Rindvieh erwachſenden Ver— te. Im 19. Jahrhundert und beſonders in deſſen zweiter Hälfte haben ſich dieſe ſehr vermehrt. Hier und da entſtanden auch ähnliche Vereine zur Verſicherung von Pferden oder Schweinen. Man kann annehmen, daß allein in der preußiſchen Monarchie jetzt etwa 5000 kleinere (Orts-)Viehverſiche⸗ krungsvereine exiſtieren, Ganz mit Recht glaubte man mit Ortsvereinen ſich begnügen zu müſſen, weil bei dieſen allein eine genaue Kontrolle darüber möglich iſt, ob der einzelne Verſicherte ſein Vieh auch gut hält und daß er nicht die Verſicherung benutzt, um durch unlautere oder betrügeriſche Mani— pulationen ſich zu bereichern. Dieſe Vereine haben allerdings den großen Übelſtand, daß die Zahl der verſicherten Tiere eine ſehr geringe iſt und daß fie bei Eintritt größerer Verluſte leicht zahlungsunfähig werden. Zur Ab— hilfe dieſes Mangels haben ſich im Laufe der letzten Jahrzehnte Viehver— ſicherungsgeſellſchaften gebildet, die ihre Wirkſamkeit auf ein größeres räumliches Gebiet, manche unter ihnen über das ganze Deutſche Reich er— ſtrecken. Aber dieſe leiden an dem noch erheblicheren Mangel, daß eine Kontrolle ſowohl über die einzelnen Viehbeſitzer ſeitens der Geſellſchaft wie . 1) Vergl. hierüber die verſchiedenen Jahrgänge des Archivs des Deutſchen Landwirt⸗ 5 ſchaftsrats, namentlich: Jahrg. 17, 1893, S. 419—498; Jahrg. 18, 1894, S. 425— 490; \ yo: 19, 1895, S. 425—466; Jahrg. 20, 1896, S. 391—-395. In dem Jahrgang 19, 5 444 ff. find die im Text erwähnten allgemeinen Verſicherungsbedingungen ſowie das Normalſtatut abgedruckt. Vergl. auch in Jahrg. 26 des Archivs (1902) das Referat des Oberlandesgerichtsrates K. Schneider über die Viehverſicherung und die daran ſich an⸗ ſchließenden Verhandlungen, a. a. O. S. 299— 315. 224 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. über die Verwaltung der Geſellſchaft ſeitens der einzelnen Verſicherten ſo gut wie unmöglich iſt. Derartige Geſellſchaften, die ſämtlich auf Gegen⸗ ſeitigkeit beruhen, gibt es im Deutſchen Reich jetzt ſchon mehr als 20. Aber gerade über ſie find von den Landwirten die lauteſten Klagen, teils ver- dient, teils unverdient, erhoben worden. Durch das Eingreifen des Land⸗ wirtſchaftsrates iſt zwar manches beſſer geworden, aber von befriedigenden Verhältniſſen ſind wir noch weit entfernt. Die Urſache liegt keineswegs allein an dem unberechtigten Widerſtand, den manche Geſellſchaften leiſten, ſondern ebenſo in der erwähnten Schwierigkeit der Sache ſelbſt. Hierüber muß man ſich klar ſein, wenn man nicht auf unausführbare, unpraktiſche Vorſchläge, wie ſie öfters gemacht werden, verfallen will. Für das Rindvieh iſt unzweifelhaft die beſte Form der Verſicherung in den auf Gegenſeitigkeit beruhenden Ortsvereinen zu ſuchen. Es handelt ſich bei ihnen lediglich noch darum, den einzelnen Vereinen einen Rückhalt für den Fall zu gewähren, daß ſie einmal durch Eintritt einer ungewöhnlich großen Zahl von Unglücksfällen in die Lage kommen, ihren Verpflichtungen nicht mehr gerecht werden zu können. Durch die Reichsgeſetzgebung über Viehſeuchen, von der ſpäter zu handeln ſein wird, iſt die Möglichkeit für den Eintritt eines ſolchen Falles zwar erheblich beſchränkt, aber doch nicht ganz beſeitigt worden. Eine Abhilfe kann nur darin gefunden werden, daß fürs erſte möglichſt überall Ortsvereine ins Leben treten und daß die Orts⸗ vereine eines größeren Bezirkes zu einem Verbande ſich zuſammenſchließen, der helfend eintritt, wenn einzelne Vereine von beſonders großen Verluſten heimgeſucht worden ſind. Dieſer Weg iſt im Großherzogtum Baden durch das Geſetz vom 26. Juni 1890, die Verſicherung der NRindvieh- beſtände betreffend, eingeſchlagen worden; durch die Novelle vom 12. Juli 1898 hat dasſelbe noch einige Abänderungen erfahren. Danach muß in jeder Gemeinde eine Gemeinde-Rindvieh-Verſicherungsanſtalt auf Gegen⸗ ſeitigkeit eingerichtet werden, wenn zwei Drittel der zur Abſtimmung erſchie⸗ nenen Beſitzer von dauernd in der Gemeinde eingeſtelltem Rindvieh dafür geſtimmt haben. Als nicht verſicherungsfähig gelten u. a., die mit an⸗ ſteckenden Krankheiten behaftet (wozu das Geſetz auch die Tuberkuloſe rechnet), oder ſolcher verdächtig ſind, ſolange dieſe Zuſtände währen. Die einzelnen Gemeindeanſtalten ſind in einem Landesverſicherungs-Verband zuſammen⸗ gefaßt. Von den zu zahlenden Entſchädigungen wird die Hälfte auf ſämt⸗ liche zum Verbande gehörenden Vereine umgelegt, die andere Hälfte trägt derjenige Verein, in dem der Verluſt ſtattgefunden hat. Der Verſicherte erhält bei umgeſtandenen Tieren 7/10, bei notgeſchlachteten 3/10 des gemeinen Wertes. Dieſe Entſchädigung wird auch geleiſtet, wenn das Fleiſch nach der Schlachtung von der Fleiſchbeſchau für ungenießbar erklärt wurde, und zwar ſelbſt dann, wenn Tuberkuloſe die Urſache war. Der Verbandsvorſtand wird von der Regierung ernannt; ebenſo unterliegt die Verwaltung des Ver⸗ bandes der Regelung und Aufſicht durch die Staatsregierung, welche auch die Koſten dafür trägt. Außerdem hat der Staat dem Verbande einen Reſervefonds in Höhe von 200 000 Mk. übergeben. Dies ſind die wichtigſten Beſtimmungen des badiſchen Geſetzes ). Dasſelbe hat ſich durchaus bewährt. Im Jahre 1893 betrug die Zahl der dem Verbande angeſchloſſenen Vereine 87, die Zahl der dazu gehörenden Viehbeſitzer 9396, die der verſicherten Tiere 29 231, deren Wert 6202400 Mk. Dagegen betrug 1901 die Zahl 1) Näheres darüber ſ. Archiv des Deutſchen Landwirtſchaftsrates, XVII, 189, S. 447 ff. Ferner Herm. Ehrlich „Die Viehverſicherung im Deutſchen Reiche und ihre geſchichtliche Entwicklung“ Leipzig 1901, S. 401 ff. und M. Hecht, „Die badiſche Land⸗ wirtſchaft“ S. 209 und 210, S. 256 u. 257. XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 225 der Vereine 236, die der Viehbeſitzer 22 254, die der verſicherten Tiere 74877, der verſicherte Wert 22 717215 Mk. Die von den Mitgliedern ge⸗ . Br Prämie belief ſich durchſchnittlich auf 1,08 Proz. (ſ. Hecht, ©. 257). ieſe Zahlen ſprechen für ſich ſelbſt und bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Hecht nimmt an, daß, wenn die Zunahme der Vereine ſo fortſchreite, wie in den letzten drei Jahren, der Verband in abſehbarer Zeit die Mehrzahl der viehzuchttreibenden Gemeinden umfaſſen werde. Schon in der erſten Auflage dieſes Buches habe ich die Anſicht aus— geſprochen, daß der von Baden betretene Weg zur Organiſation der Rindvieh⸗ verſicherung vor allen ſonſt eingeſchlagenen durch ſeine Zweckmäßigkeit ſich auszeichne und zur Nachahmung nur dringend empfohlen werden könne. Heute, nach fünf Jahren, darf ich dieſe Behauptung noch mit viel größerer Sicherheit wiederholen. In Bayern wurde nach dem badiſchen Muſter eine Landesvieh— verſicherungsanſtalt für Rindvieh und Ziegen durch Geſetz vom 11. Mai 1896 ins Leben gerufen; ſie beruht aber ganz auf Freiwilligkeit. Im Jahre 1901/02 hatten ſich ihr bereits 1552 Ortsvereine angeſchloſſen; verſichert waren 74829 Landwirte mit 269 274 Stück Rindvieh und 38 436 Ziegen. Von den zu zahlenden Entſchädigungen trägt die eine Hälfte die Landesanſtalt, die andere Hälfte der betreffende Ortsverein. Die von den Mitgliedern bisher zu zahlenden Beiträge ſtellten ſich im Durchſchnitt auf 1,19 Proz. der Verſicherungsſumme. Der bayriſche Staat hat die Landes- 4 verſicherungsanſtalt mit einem Stammkapital von 500 000 Mk. ausgeſtattet 4 und gewährt ihr einen jährlichen Zuſchuß von anfangs 40000 Mk, jeit 5 dem Jahre 1900 von 100000 Mk. Zur Unterſtützung von beſonders be— 0 dürftigen Ortsvereinen gibt der Staat außerdem noch einen jährlichen Zuſchuß von 25 000 Mk. ). Neuerdings hat man in Elſaß-Lothringen (1896), in Sachſen— Weimar (1898) und in Koburg-Gotha (1899) ähnliche Einrichtungen getroffen ). Eine notwendige Vorausſetzung dafür ſcheint mir allerdings zu ſein, daß bereits eine ziemliche Anzahl von Ortsvereinen vorhanden iſt. Wo ſolche fehlen, muß zunächſt alles aufgeboten werden, um ſie ins Leben zu rufen. Einen direkten Zwang darauf auszuüben, iſt bedenklich, die ganze Sache kann dadurch gefährdet werden. Die Viehverſicherung muß von unten aufgebaut, nicht von oben her begonnen werden, wenn ſie Beſtand haben ſoll. Mit dem Zwang weiter zu gehen, als es in Baden geſchehen f iſt, kann nicht empfohlen werden. Auch der in Baden auf eine etwa wider— ö ſtrebende Minorität ausgeübte Zwang darf nur in einem Lande als zuläſſig betrachtet werden, in welchem die rein freiwillige Verſicherung bereits eine große Ausdehnung und ziemlich allgemeine Anerkennung gefunden hat. Vor einer für das ganze Deutſche Reich zu begründenden ſtaat— lichen Viehverſicherungsanſtalt muß dringend gewarnt werden. Hierfür liegt einerſeits kein Bedürfnis vor, andererſeits würde ſie mit großen Unzuträg— lichkeiten verbunden ſein. Baden hatte nach der Viehzählung von 1897 im ganzen 577594 Stück Rindvieh von !/, Jahr alt und darüber; dieſe Zahl iſt weit mehr wie ausreichend, um darauf einen Landesverſicherungsverband zu begründen, ſchon 100 000 Stück oder noch etwas weniger würden hierzu genügen. Unter den preußiſchen Provinzen hat keine unter einer halben Million Stück Rindvieh von ½ Jahr alt und darüber, einzelne haben mehr wie eine ganze Million. In Preußen würde es die Aufgabe ſein, für jede u: 1) „Die Maßnahmen auf dem Gebiet der landw. Verwaltung in Bayern 1897—1903", 4 S. 287 ff. Vergl. auch Ehrlich a. a. O. S. 413 ff. 2) Ehrlich a. a. O. S. 426—432. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 15 8 1 226 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. einzelne Provinz einen Verſicherungsverband ins Leben zu rufen, ſobald eine hinreichende Anzahl von einzelnen Vereinen ſich freiwillig gebildet hat. Wünſcht dann ſpäter die Provinzialvertretung, daß unter gewiſſen Voraus⸗ ſetzungen ein Zwang, ähnlich wie in Baden, auf die widerſtrebende Minorität einer Gemeinde zur Bildung eines Ortsvereins ausgeübt werden darf, ſo iſt gegen Erlaß eines derartigen, für die einzelne Provinz geltenden Staats⸗ geſetzes nichts einzuwenden. Eine Reichsviehverſicherungsanſtalt oder auch nur eine Verſicherungsanſtalt für die ganze preußiſche Monarchie würde einen koſtſpieligen Verwaltungsapparat erfordern, den in den einzelnen Ländern und Landesteilen ſehr verſchiedenen Bedürfniſſen und Verhältniſſen nur ungenügend Rechnung tragen können, zudem eine Läſſigkeit in der Kon⸗ trolle über die einzelnen Viehbeſitzer begünſtigen und zu fortwährenden Streitigkeiten zwiſchen den einzelnen Staaten oder Landesteilen führen. Die gegenſeitigen Klagen und Anklagen würden noch viel ſtärker und wahr⸗ ſcheinlich auch mit einer noch viel größeren Berechtigung ſich erheben, als ſie ſchon bei einer Reichshagelverſicherung laut werden müßten (ſ. S. 218). Die Verſicherung von Pferden und Schweinen iſt einerſeits nicht ſo wichtig, andererſeits weniger leicht durchzuführen, als die von Rindvieh. Letzteres liegt daran, daß die Benutzung und Behandlung jener ſeitens ihrer Beſitzer eine ſehr viel mannigfaltigere iſt und deshalb die Kontrolle ſowie die Bemeſſung der Prämienſätze größeren Schwierigkeiten begegnet. Bei der Pferdeverſicherung ſind außerdem viele Nichtlandwirte beteiligt, und zwar ſind die ihnen gehörenden Pferde durchſchnittlich größeren Gefahren aus⸗ geſetzt, als die landwirtſchaftlich verwendeten. An eine ſtaatliche oder kommu⸗ nale Organiſation der Pferdeverſicherung iſt vorläufig gar nicht zu denken, wobei es dahingeſtellt ſein mag, ob die Pferdeverſicherung überhaupt ein irgend dringendes Bedürfnis iſt. Soweit ſolches vorliegt, kann es durch die beſtehenden Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften befriedigt werden. Freilich ſcheint es ſehr wünſchenswert, daß über dieſe eine ſtärkere Kontrolle ſeitens des Staates geübt wird, als es bisher, wenigſtens in vielen deutſchen Staaten, geſchehen iſt. Der Deutſche Landwirtſchaftsrat hat wiederholt darauf bezüg⸗ liche Anträge an die deutſchen Regierungen gerichtet, und es iſt zu erwarten, daß in nicht zu langer Friſt geſetzliche Anordnungen ergehen werden. Als wünſchenswert iſt der Erlaß eines Reichsgeſetzes zu bezeichnen, nach welchem alle Verſicherungsgeſellſchaften dem Konzeſſionszwange unterliegen, ihnen gewiſſe Normen für ihre Statuten vorgeſchrieben, ſie auch einer dauernden ſtaatlichen Kontrolle unterſtellt werden. Man muß ſich aber hüten, dabei zu ſehr in die Einzelheiten einzugehen; die Regelung dieſer, ſoweit ſie über⸗ haupt von Obrigkeits wegen nötig erſcheint, iſt der Landesgeſetzgebung zu überlaſſen. Das Hauptaugenmerk der Regierungen muß darauf gerichtet ſein, die Landwirte vor Übervorteilungen oder Betrug ſeitens einzelner Geſell⸗ ſchaften möglichſt zu ſchützen und dadurch gleichzeitig die weitere Verbreitung der Viehverſicherung zu fördern. Je mehr die Wirkſamkeit unſolider Geſell⸗ ſchaften verhindert wird, deſto mehr wird die von ſoliden Geſellſchaften be⸗ günſtigt. Das hier über die Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften Geſagte gilt für alle, die ſich mit Viehverſicherung abgeben, nicht bloß für die Pferdeverſicherung. Wo noch Ortsvereine für Rindviehverſicherung fehlen, wird es manchem Landwirt wünſchenswert erſcheinen, ſein Rindvieh bei einer größeren Gegen⸗ ſeitigkeitsgeſellſchaft zu verſichern. Aber es muß dies immer als ein Not⸗ behelf betrachtet werden, deſſen Fortfall zu erſtreben iſt. Die obigen Darlegungen ſtehen weſentlich auf ähnlichem Boden wie die von dem Deutſchen Landwirtſchaftsrat im Jahre 1893 gefaßten Beſchlüſſe. Dieſelben lauten wörtlich ): 1) Archiv, XVII, 1893, S. 497 und 498. E ˙ ²˙ —ͤ̃7˙ m ˙ʃ⏑. . ⁰·t̃ dl . w 7 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 227 f „J. Der Deutſche Landwirtſchaftsrat erklärt: N 1. Eine möglichſt vollſtändige Organiſation des Viehverſicherungsweſens iſt beſonders im Intereſſe der kleinen Viehbeſitzer dringend geboten. 2. Soweit ſie die Verſicherung von Pferden und Schweinen be— trifft, kann ihre weitere Ausbildung, abgeſehen von den Seuchekrankheiten, deer freien Vereinstätigkeit überlaſſen werden. 3. Die Herbeiführung einer möglichſten Verallgemeinerung der Ver— ſicherung der Rindviehbeſtände liegt im öffentlichen Intereſſe und bedarf der allſeitigen Mitwirkung; zu dieſem Zwecke iſt a) in erſter Linie die Bildung von räumlich möglichſt eng begrenzten Verſicherungsvereinen allgemein anzuſtreben; b) dieſelbe durch geſetzliche Maßnahmen zu unterſtützen; o) dieſen Vereinen durch Zuſammenfaſſung zu ſtaatlichen oder provin⸗ ziellen Verbänden auf geſetzlicher Grundlage die zu ihrem Fortbeſtand und ihrer gedeihlichen Entwicklung erforderliche Sicherheit zu gewähren; d) wo und inwieweit die Bildung räumlich begrenzter Verſicherungs⸗ vereine unter gleichzeitiger See von Verbänden nicht erreichbar iſt, die Entwicklung größerer Verſicherungsgeſellſchaften zu fördern. 5.) Es liegt im Intereſſe einer gedeihlichen Entwicklung der Vieh⸗ verſicherung, daß dieſelbe einer ſtaatlichen Aufſicht unterſtellt und eine regel⸗ mäßige Mitwirkung von Vertretern der Verſicherten bei der Verwaltung or⸗ ganiſiert werde. II. Der Deutſche Landwirtſchaftsrat beſchließt: Erhebungen über die Entſchädigungsurſachen bei der Viehverſicherung 1 u veranſtalten, um für alle Zweige der Viehverſicherung möglichſt ſichere ſiatittſche Unterlagen zu beſchaffen.“ Die Verſicherung gegen Verluſte, die aus anſteckenden Krankheiten, aus Seuchen, erwachſen können, iſt anders zu beurteilen und zu hand— haben, wie die bisher beſprochene gegen gewöhnliche Krankheiten. Seuchen werden ohne Zutun und Wiſſen des Viehbeſitzers in ſeinen Viehſtand ge— bracht. Durch große Aufmerkſamkeit und Sorgfalt kann er eine drohende Seuche vielleicht fernhalten oder eine ausgebrochene in ihren Wirkungen ab— ſchwächen; in der Hauptſache hängt aber die Größe der Verluſtgefahr von Umſtänden ab, die dem Machtbereich des Einzelnen entzogen ſind. Während an dem Schutz gegen Verluſte durch gewöhnliche Krankheiten aus früher dargelegten Gründen der bäuerliche Beſitzer ein beſonderes Intereſſe hat, überwiegt bei dem Schutz gegen Seuchenverluſte das Intereſſe des Groß— beſitzers. Dies nicht allein deshalb, weil bei dieſem ein abſolut größeres Wertkapital bedroht iſt, ſondern vorzugsweiſe deshalb, weil die Gefahr eine ſtärkere iſt. In den Stall eines Großbeſitzers kommt eine abſolut größere Zahl von Menſchen oder von neu eingeſtellten Tieren, und jedes einzelne Individuum kann eine Seuche einſchleppen, die den ganzen Stall infiziert. Die durch Seuchen bewirkten Verluſte ſind um ſo geringer, je mehr 1 man ihre örtliche Ausbreitung verhindert, ſowie je ſchneller und energiſcher 1 man die Seuche bei ihrem erſten Auftreten unterdrückt. Sowohl die einzelnen a Landwirte wie der Staat haben das größte Intereſſe daran, daß hierin nichts verſäumt wird. Es handelt ſich alſo einmal um die Fernhaltung von Seuchen aus ſeuchenfreien Bezirken oder Ortſchaften und ferner um ſchleunige und radikale Beſeitigung oder doch um gründliche Iſolierung der erkrankten Tiere. Die hierfür zu treffenden Maßregeln müſſen bei den einzelnen 1 * . * i 1 ee RER ö ER a ! 1) Punkt 4 handelt von der Tuberkuloſe, über welche ſpäter zu ſprechen ſein wird. | 15° 228 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. Seuchen verſchiedene ſein, ihre Beſprechung gehört nicht an dieſen Ort. So viel ſteht indeſſen feſt, daß dieſelben ſämtlich ohne ſtaatlichen Zwang nicht durchgeführt werden können. Wenn genügende Erfolge erzielt werden ſollen, ſo muß unter Umſtänden der Staat ſeine Grenzen gegen einzuführendes Vieh beſtimmter Art abſchließen, über einzelne verſeuchte Orte die Viehſperre verhängen, die Abhaltung von Viehmärkten verbieten. Weiter muß er ver- langen, daß die Landwirte, bei denen eine Seuche ausgebrochen iſt, dies ſofort anzeigen; er muß ferner, wenigſtens bei einigen Seuchen fordern, daß die erkrankten Tiere oder auch gar die noch ſcheinbar geſunden, aber in dem nämlichen Stall befindlichen, alsbald getötet werden. Letztere Maß⸗ regel iſt für den davon Betroffenen eine ſehr harte, aber für das Gemein⸗ wohl nötige. Demgemäß erſcheint es gerechtfertigt, daß der Staat Beſtim⸗ mungen feſtſetzt, nach welchen der durch ſeine Zwangsmaßregeln zum Vorteil anderer Landwirte Benachteiligte, wenigſtens annähernd für ſeine Verluſte entſchädigt wird. Hierin liegt gleichzeitig das wirkſamſte Mittel, um die Landwirte, bei denen Viehſeuchen ausgebrochen find, zu deren ſofortiger An⸗ zeige zu veranlaſſen. Sollen die ſtaatlichen Maßregeln zur Abwehr oder zur Vertilgung von Seuchen einen durchſchlagenden Erfolg haben, ſo müſſen ſie für das ganze Reich einheitliche ſein. Von dieſer Anſchauung ausgehend, iſt ſchon für den norddeutſchen Bund ein Geſetz vom 7. April 1869, betreffend Maßregeln gegen die Rinderpeſt ergangen, welches ſpäter auf das Deutſche Reich ausgedehnt wurde. Dasſelbe beſtimmt, daß für die an der Rinderpeſt gefallenen oder wegen Verdachts der Rinderpeſt getöteten Tiere Entſchädigung geleiſtet werden ſoll. Am 25. Juni 1875 wurde für die preußiſche Monarchie ein Geſetz, betreffend die Abwehr und Un- terdrückung von Viehſeuchen, erlaſſen, welches ſich auf folgende Seuchen erſtreckt: Milzbrand, Rotz, Lungenſeuche, Maul- und Klauenſeuche, Pockenſeuche, Beſchälſeuche, Räude und Tollwut. Ihrem weſent⸗ lichen Inhalte nach ſind die Beſtimmungen des preußiſchen Geſetzes in das Reichsgeſetz vom 23. Juni 1880 übergegangen, welches durch das Ge— ſetz vom 1. Mai 1894 noch einige Abänderungen bezw. Erweiterungen er⸗ fahren hat. Danach wird Entſchädigung für alle nach Maßgabe des Ge- ſetzes auf polizeiliche Anordnung getöteten Tiere gewährt, die nicht bereits vor der Tötung mit einer unheilbaren oder unbedingt tödlichen Krankheit behaftet waren. Nach § 58 des Geſetzes vom Jahre 1894 bleibt es den Landesgeſetzen überlaſſen, zu beſtimmen: 1. von wem die Entſchädigung für die nach polizeilicher Anordnung getöteten Tiere zu gewähren und aufzu⸗ bringen iſt; 2. wie die Entſchädigung ermittelt und feſtgeſtellt werden ſoll. In den meiſten deutſchen Staaten wird die zu zahlende Entſchädigung durch jährliche Beiträge der Viehbeſitzer aufgebracht; es iſt demnach Zwangsver⸗ ſicherung auf Gegenſeitigkeit. Der praktiſche Erfolg des Geſetzes iſt u. a. der, daß bei Milzbrand, Rotz und Lungenſeuche faſt immer Erſatz ge⸗ währt wird. Denn bei Milzbrand und Rotz muß die ſofortige Tötung ſo⸗ wohl der erkrankten wie der verdächtigen Tiere polizeilich angeordnet werden; bei der Lungenſeuche muß die Tötung der erkrankten, es kann auch die der ver⸗ dächtigen Tiere polizeilich befohlen werden. Für alle nach polizeilicher An⸗ ordnung getöteten Tiere wird aber Erſatz gewährt. Das preußiſche Landes⸗ geſetz verleiht außerdem den Provinzialbehörden die Befugnis, die gegenſeitige Zwangsverſicherung auf die Pockenkrankheit der Schafe auszudehnen. Eine unter dem Rindvieh beſonders häufig vorkommende Krankheit, die auch dem Beſitzer große Verluſte bereiten kann, iſt die Tuberkuloſe. Obwohl ſie unter Umſtänden anſteckend wirkt, ſo gehört ſie doch nicht zu a ee * . ln a ra SE a 232222 Mana nat nl SE a EZ EEE IE u 5 l 75 „ e ee... ea) air MER — 7 5 * = * * 9 0 u EEE Fa N u el . 8 8 N W r r 9 A “ 2 n 2 . ĩ brand Dia, EIER XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 229 den Seuchen. Ihre Schädlichkeit wird durch den Grad ihrer Entwicklung bedingt. Es gibt Tiere, die jahrelang ganz geſund erſcheinen und in ihren Leiſtungen ganz normal ſind; erſt beim Schlachten zeigt ſich, daß ſie mit der Tuberkuloſe behaftet waren. Ihr Fleiſch iſt dann oft für den menſch⸗ lichen Genuß noch ganz brauchbar, bloß einige Teile der Eingeweide müſſen verworfen werden. Bei anderen Tieren iſt die Tuberkuloſe ſo ſtark ent⸗ 5 wickelt, daß ſie in ihren Leiſtungen ſchnell nachlaſſen, abmagern und ge— ſchlachtet werden müſſen. Ihr Fleiſch iſt zuweilen für den menſchlichen Ge- nuß ganz unbrauchbar. Es gibt Ställe, in denen der größere Teil der Inſaſſen von der Tuberkuloſe mehr oder weniger infiziert iſt. Der Land— wirt ſteht dieſer Krankheit um ſo wehrloſer gegenüber, als ſie an dem lebenden Tiere in den meiſten Fällen ſofort gar nicht erkennbar wird; ſie zeigt ſich erſt nach Monaten oder Jahren oder gar erſt beim Schlachten. In⸗ wieweit die Impfung der Tiere mit Tuberkulin ein ſicheres Mittel für die Feſtſtellung der Krankheit darbietet, ſteht noch nicht ganz feſt. Als voll⸗ ſtändig ſicher kann es jedenfalls nicht gelten. Außerdem konſtatiert es nicht den Grad der Krankheit, was doch ſehr wichtig iſt, da viele tuberkulöſe Tiere jahrelang dasſelbe wie geſunde leiſten können. Wollte man alle mit Tuberkeln behafteten Tiere beſeitigen, ſo würde man einen ſehr erheblichen Teil des Rindviehbeſtandes im Deutſchen Reich vernichten müſſen. Der Deutſche Landwirtſchaftsrat hat in betreff der Tuberkuloſe folgenden Beſchluß gefaßt !): „Unter allen Entſchädigungsurſachen iſt bei der Rindviehverſicherung die Tuberkuloſe als die hauptſächlichſte anzuſehen. Das verſchiedene Maß ihrer Verbreitung, die von der Geſundheitspolizei geſtellten Anforderungen und die Möglichkeit, die Kenntnis ihres Auftretens im Einzelfalle zur Er— greifung von Maßnahmen behufs ihrer Einſchränkung zu benutzen, laſſen es, en im Intereſſe einer erſprießlichen Entwicklung der Verſicherung des indviehs gegen die Verluſte aus ſonſtigen Urſachen, geboten erſcheinen, die Entſchädigung der Verluſte aus Tuberkuloſe zum Gegenſtand einer beſonderen Verſicherung zu machen; zu dieſem Zweck empfiehlt es ſich, a) im Wege der Reichsgeſetzgebung den Grundſatz der allgemeinen Ent— ſchädigungspflicht feſtzuſtellen; b) durch Landes- und bezw. Provinzialgeſetzgebung die Art der Ent- ſchädigung und der Aufbringung der hieraus erwachſenden Koſten zu regeln; c) zur Aufbringung der Koſten der Entſchädigung, als im öffentlichen Intereſſe liegend, Beiträge aus öffentlichen Mitteln zu gewähren.“ Dadurch, daß der Landwirtſchaftsrat in ſeinen Beſchlüſſen über Vieh— verſicherung (. S. 227) die Tuberkuloſe beſonders behandelt, zeigt er, daß dieſe Krankheit einen anderen Charakter wie die übrigen trage, für die eine Verſicherung in Betracht kommt. Seine Anſprüche ſind aber meines Erachtens zur Zeit noch unerfüllbar; es würde ſich dies ſofort herausſtellen, wenn man an die Abfaſſung des gewünſchten Reichsgeſetzes heranzutreten den Verſuch machte. An eine Tötung aller an Tuberkuloſe erkrankten oder der Tuberkuloſe verdächtigen Tiere kann aus verſchiedenen Gründen nicht gedacht werden. Dann würde man mindeſtens den zehnten Teilen allen Rindviehs ſchlachten müſſen. Die Folgen einer ſolchen Maßregel für die deutſche Rindviehhaltung will ich hier nicht darlegen, ſondern nur fragen, wer die vielen Millionen Mark aufbringen ſoll, die als Entſchädigung hier— für zu zahlen wären. Wenn der Staat auch hierzu einen Beitrag gewährte, die Hauptlaſt würde doch die Landwirte ſelbſt treffen müſſen. 1) Archiv XVII, 1893, S. 498. 230 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. Zunächſt erreichbar iſt nur, daß die ſogenannte Schlachtviehver— ſicherung zur allgemeineren Anwendung kommt. Sie beſteht darin, daß für ſolche Tiere, deren Fleiſch beim Schlachten wegen Tuberkuloſe oder wegen ſonſtiger Fehler ganz oder teilweiſe verworfen werden muß, eine ge⸗ wiſſe Entſchädigung geleiſtet wird. In verſchiedenen Gegenden haben ſich bereits Schlachtviehverſicherungsgenoſſenſchaften, auf Freiwilligkeit und Gegenſeitigkeit beruhend, gebildet, die obiges Ziel im Auge haben. Dies iſt auch der richtige und zunächſt allein gangbare oder doch der, den meiſten Erfolg verſprechende Weg. Eine derartige Genoſſenſchaft darf ſich über keinen größeren räumlichen Bezirk ausdehnen, als daß noch eine Kontrolle über die einzelnen Mitglieder und deren Viehhaltung möglich iſt. Andern⸗ falls würde unlauteren Manipulationen Tür und Tor geöffnet; die gewiſſen⸗ haften Landwirte würden derartig geſchädigt werden, daß ſie ſich bald von der Genoſſenſchaft zurückzögen. Die Zahl derartiger Schlachtviehgenoſſen⸗ ſchaften iſt ſchon eine recht beträchtliche und finden fie ſich in allen Teilen des Deutſchen Reiches. Sie ſind teils von Fleiſchern oder Händlern, teils von Landwirten ausgegangen und haben ſich im allgemeinen bewährt.). In einzelnen Deutſchen Staaten (Bayern, Sachſen, Baden, Schwarz⸗ burg⸗Sondershauſen) hat man in den letzten Jahren Geſetze erlaſſen, welche die Schlachtviehverſicherung entweder nur erleichtern ſollen oder welche ſie ſogar obligatoriſch machen. Die Wirkſamkeit dieſer Geſetze iſt indeſſen noch eine zu kurze, als daß man ein ſicheres Urteil über ihre Bewährung ab⸗ geben könnte 2). Von den oberſten Vertretungskörpern der Landwirtſchaft, dem Deutſchen Landwirtſchafts rat und dem preußischen Landesökonomie-Kollegium iſt nach Erlaß des Fleiſchbeſchaugeſetzes ) die Einführung der obligatoriſchen Schlachtviehverſicherung und ein entſprechendes Reichsgeſetz gefordert worden!). Der Bundesrat aber wie das preußiſche Staats miniſterium haben ſich demgegenüber aber bisher ablehnend verhalten und zwar meines Er⸗ achtens mit Recht. Von der Schlachtviehverſicherung gilt dasſelbe, was Seite 225 von der Viehverſicherung im allgemeinen bemerkt wurde. Sie muß von unten aufgebaut werden. Erſt, wenn zahlreiche, auf Freiwilligkeit und Gegenſeitigkeit beruhende Schlachtviehverſicherungs-Genoſſenſchaften exiſtieren und ſich bewährt haben, kann man an deren Zuſammenfaſſung in größere Verbände denken. Alsdann erſt kann auch der Staat ſich die Frage vor⸗ legen, ob und inwieweit er dieſe Verbände unterſtützen ſoll, ſei es mit Geld⸗ beihilfen, ſei es durch Ausübung eines gewiſſen geſetzlichen Zwanges zum Beitritt 5). Dem wiederholt ſeitens der landwirtſchaftlichen Intereſſenvertretungen geäußerten Wunſche nach einer allgemein bindenden geſetzlichen Regelung des Verſicherungsweſens iſt die Reichsregierung kürzlich dadurch nachge⸗ kommen, daß ſie im Reichs juſtizamt den „Entwurf eines Geſetzes 1) Ehrlich a. a. O. S. 494 ff. 2) Ehrlich a. a. O. S. 510 ff. Über das Sächſiſche Geſetz ſiehe auch „Sächſiſche landw. Zeitſchrift“ für 1902, S. 647 ff. und S. 1139 — 1154. 3) Über die Fleiſchbeſchau und das Fleiſchbeſchaugeſetz wird in Abſchnitt XV gehandelt werden. 4) Archiv des Deutſchen Landwirtſchaftsrates, XXII. Jahrg., 1898, S. 63 und 64. 5) In dem mehrfach zitierten Werke von Ehrlich finden ſich ſehr eingehende Mit⸗ teilungen über die Viehverſicherung, über ihre geſchichtliche Entwicklung, ihre Organisation, 22 e Formen ihrer Ausgeſtaltung, ihre Verbreitung und ihre bisherigen irkungen. XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 231 über den Verſicherungsvertrag“ hat aufſtellen laſſen 9. Derſelbe ent- hält im erſten Abſchnitt „Vorſchriften für ſämtliche Verſicherungs— zweige“. Der zweite Abſchnitt behandelt die Schadensverſicherung und zwar: 1. Die geſamte Schadensverſicherung, dann ſpeziell 2. die ſbſcherung, 3. die Hagelverſicherung, 4. die Viehverſicher— ung, 5. die Transportverſicherung, 6. die Haftpflichtverſicherung. Es folgen dann Vorſchriften im dritten Abſchnitt über die Lebensver— ſicherung, im vierten über die Unfallverſicherung, im fünften Schluß— vorſchriften. Der ganze, mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis ausge— arbeitete Entwurf umfaßt 184 Paragraphen. Wie aus der kurzen Inhalts- angabe hervorgeht, ſo bezieht ſich das Geſetz nicht allein auf die für den Landwirt beſonders wichtigen Verſicherungen, ſondern auch auf faſt alle ſonſt möglichen Verſicherungen, es ſoll daher für ſämtliche Bewohner des Deutſchen Reiches Giltigkeit haben. Von den zuſtändigen Behörden iſt der Geſetzentwurf den verſchiedenen Intereſſenvertretungen behufs Kenntnisnahme und Außerung zugeſtellt worden, ſo auch u. a. dem preußiſchen Landesökonomiekollegium und den ein— zelnen Landwirtſchaftskammern. Das erſtere hat zwar einige Abänderungs— anträge geſtellt, im übrigen aber ſich ſehr beifällig über den Entwurf aus- geſprochen; es hat namentlich anerkannt, daß den berechtigten, zur Zeit noch ſehr mangelhaft berückſichtigten Anſprüchen der Verſicherten in befriedigender Weiſe Rechnung getragen werde. Im Intereſſe der Landwirtſchaft wäre dringend zu wünſchen, daß der Entwurf, wenn vielleicht auch mit einigen kleinen Abänderungen, bald Ge— ſetzeskraft erlangte. Alsdann würde für die weſentlichſten, ſchon ſeit Jahr⸗ zehnten von den landwirtſchaftlichen Körperſchaften gegen die jetzige Ordnung und Handhabung des Verſicherungsweſens erhobenen Beſchwerden Abhilfe gewährt ſein. Auch im Intereſſe der ſoliden Verſicherungsgeſellſchaften liegt eine ſolche einheitliche und ſachgemäße Regelung der ſehr ſchwierigen und ver— wickelten Materie, zumal ihre berechtigten Anſprüche durch den Entwurf eine genügende Berückſichtigung gefunden haben. Landwirtſchaftliche Polizei. Die bei der Viehverſicherung beſprochenen Gegenſtände gehören ſchon teilweiſe in das Gebiet der landwirtſchaftlichen Polizei oder berühren ſich doch mit ihm ſehr nahe. Man begreift unter Landwirtſchaftspolizei nach Buchenberger?) „diejenigen behördlichen Anordnungen und Vor— ſchriften, welche teils die Fernhaltung von Störungen und Benachteiligungen des landwirtſchaftlichen Betriebes durch ſchädliche bezw. rechtswidrige Hand— lungen oder Unterlaſſungen, teils die Bekämpfung von Schädlingen der land— wirtſchaftlichen Haustiere und Pflanzen zum Gegenſtand haben“. Schon aus dieſer Begriffsbeſtimmung ergibt ſich, daß das Gebiet der landwirtſchaft— lichen Polizei ein ſehr ausgedehntes und mannigfaltiges iſt, daß die einzelnen, dazu gehörenden Gegenſtände je nach Zeit und Ort ſehr wechſeln müſſen. Es fallen in dasſelbe vorzugsweiſe die Feldpolizei, die Tier- oder Vete— rinärpolizei, die Beſtimmungen über den Verkehr mit den im Julande erzeugten Nahrungs- und Genußmitteln. Von manchen der in dieſe I) „Entwurf eines Geſetzes über den Verſicherungsvertrag nebſt den Entwürfen eines zugehörigen Einführungsgeſetzes und eines Geſetzes betr. eg der Vorſchriften des Handelsgeſetzbuches über die Seeverſicherung“. Aufgeſtellt im Reichs⸗Juſtizamte. Amtliche Ausgabe, Berlin bei J. Guttentag 1903. 2) Buchenberger, Grundzüge der deutſchen Agrarpolitik, S. 184. 232 XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. Gebiete einſchlagenden Anordnungen werden freilich auch nicht landwirt⸗ ſchaftliche Kreiſe betroffen; aber in erſter Linie iſt dabei doch die Landwirt⸗ ſchaft intereſſiert. Auch die Bau-, Feuer-, Straßen-, Sicherheits- und Geſundheitspolizei gehört, ſoweit ihre Tätigkeit auf ländliche Orte und die landwirtſchaftliche Bevölkerung ſich erſtreckt, zur Landwirtſchafts⸗ polizei. Auf letztere in allen ihren Teilen einzugehen, erſcheint hier nicht zuläſſig. Ich will daher nur einige für ihre Handhabung wichtigen Grund⸗ ſätze erörtern. Jeder Landwirt, mag er Großgrundbeſitzer oder Bauer ſein, empfindet behördliche Eingriffe in ſeinen Wirtſchaftsbetrieb als einen Druck. Er will möglichſt freier Herr auf ſeinem Grund und Boden ſein und bleiben. Dieſes Gefühl iſt nicht nur in ſeinem berechtigten Selbſtbewußtſein begründet, ſondern auch in der Tatſache, daß jeder behördliche Eingriff gewiſſe Unbe⸗ quemlichkeiten und wirtſchaftliche Nachteile mit ſich bringt. Die Tätigkeit der Polizei ſoll ſich deshalb auf ſolche Anordnungen beſchränken, die im Intereſſe der Geſamtheit durchaus notwendig erſcheinen und von denen vor- ausſichtlich ein Erfolg zu erwarten iſt, der den dadurch herbeigeführten Nach⸗ teil unzweifelhaft überſteigt. Dabei ſoll nicht das Intereſſe eines einzelnen oder einiger weniger Landwirte, ſondern es muß das durchſchnittliche Intereſſe aller Beſitzer entſcheidend ſein, für deren Bezirk die polizeiliche Maßregel getroffen wird. Letztere darf nicht etwa deshalb unterbleiben, weil einer oder der andere mehr Schaden als Nutzen davon hat. Eine Polizei⸗ vorſchrift hat nur dann Ausſicht auf Erfolg, wenn ſie an und für ſich zweck⸗ mäßig iſt und wenn außerdem ihre ſachgemäße Handhabung geſichert erſcheint. Bevor eine ſolche erlaſſen wird, ſoll ſich die Behörde daher mit den ver⸗ ſtändigſten der eingeſeſſenen Landwirte in Verbindung ſetzen, deren Anſicht einholen und womöglich deren Zuſtimmung ſowie Mitwirkung bei der Aus⸗ führung gewinnen. Solches Bemühen wird allerdings nicht immer von Er⸗ folg begleitet ſein, da ihm vielleicht Unverſtand, Unkenntnis oder Eigenſinn der führenden Landbewohner entgegenſtehen. Wenn es ſich um wichtige Dinge, z. B. um Abwehr von Seuchen handelt, bleibt in ſolchen Fällen nichts anderes übrig, als die ſtaatliche Autorität auch gegen den Widerſpruch der Beteiligten zur Geltung zu bringen; die Behörde muß ſich mit der Hoff⸗ nung tröſten, daß der Erfolg ſpäter eine Umſtimmung bewirken wird. Die Wirkung der meiſten in den Bereich der Landwirtſchaftspolizei ſchlagenden Anordnungen iſt in hohem Grade davon abhängig, ob die Land⸗ wirte ſelbſt ihnen Vertrauen und guten Willen entgegenbringen oder nicht. Denn deren Ausführung muß der Natur der Sache nach vorwiegend in ihre eigene Hand gelegt und kann von der ſtaatlichen Behörde in ſehr vielen Fällen nur mangelhaft oder faſt gar nicht kontrolliert werden. Auch auf dieſem wie auf vielen anderen Gebieten unterſcheidet ſich das landwirtſchaft⸗ liche Gewerbe weſentlich von den ſtädtiſchen, die auf verhältnismäßig engem Raume konzentriert ſind. Was helfen alle Vorſchriften zum Schutz nützlicher, zur Vertilgung ſchädlicher Tiere, zur Vernichtung von Unkräutern, zur Aus⸗ rottung von Pflanzenkrankheiten, wenn nicht die Landwirte ſelbſt von deren Nützlichkeit überzeugt und zu ihrer Durchführung willig ſind? Auch auf manche veterinärpolizeiliche Beſtimmungen findet das gleiche Anwendung. Es iſt freilich der Behörde nicht möglich, einem faulen, nachläſſigen, un⸗ wiſſenden oder eigenſinnigen Landwirt die entgegengeſetzten Eigenſchaften beizubringen. Darauf kommt es aber auch nicht an; vielmehr darauf, daß die tüchtigen Landwirte von der Nützlichkeit der getroffenen Anordnung überzeugt und zu deren Befolgung willig gemacht werden. Von dieſen wird dann eine viel wirkſamere Kontrolle über ihre läſſigen Berufsgenoſſen ausgeübt, XIII. Landw. Verſicherungsweſen und landw. Polizei. 233 die Behörde dazu imſtande iſt. Sie vermögen beſſer zu beurteilen, was einzelnen Fall zu tun nötig und was durchführbar iſt; ſie können täglich fi) davon überzeugen, was ſeitens ihrer Nachbarn geſchieht oder nicht ge= ſchieht; ſie haben ein perſönliches Intereſſe daran, daß zweckmäßige polizei⸗ liche Vorſchriften auch wirklich von allen, die es angeht, befolgt werden. Sowohl bei Erlaß wie bei Ausführung von Anordnungen der Land— irtſchaftspolizei iſt auf die örtlichen Verhältniſſe ſorgfältig Rückſicht zu nehmen. Viele derſelben paſſen nur für einzelne Gegenden oder bedürfen doch für verſchiedene Bezirke auch einer verſchiedenen Formulierung. Noch mehr muß die Ausführung ein und derſelben Beſtimmung nach den örtlich vorhandenen Zuſtänden und Menſchen ſich richten. Beſonders von den mitt- leren und größeren deutſchen Staaten, deren einzelne Gebietsteile oft ſehr abweichende Verhältniſſe aufweiſen, iſt dies zu beachten. Für das ganze Land gültige Vorſchriften ſoll man nur erlaſſen, ſofern und ſoweit ſie auch für das ganze Land nötig ſind und paſſen. Hierzu gehören z. B. viele, die Abwehr und Unterdrückung von Viehſeuchen bezweckende. Häufig wird es ſich empfehlen, für den ganzen Staat nur gewiſſe grundſätzliche Beſtimmungen zu treffen und die weitere Ergänzung derſelben den Provinzial- oder Kreis- behörden anheimzugeben. In ſolchen Fällen iſt es beſonders wichtig, die Organe der Selbſtverwaltung zur Mitwirkung heranzuziehen. Im weiteren Sinne rechne ich hierzu auch die Landwirtſchaftskammern und die landwirtſchaftlichen Vereine. Je mehr die berufenen Vertreter der größeren oder kleineren Landesteile und die Vertreter des landwirtſchaftlichen Gewerbes vor dem Erlaß von polizeilichen Vorſchriften gehört und an deren Durch— führung beteiligt werden, deſto eher iſt darauf zu rechnen, daß ihr Inhalt ein zweckmäßiger iſt, daß ſie mit Sympathie aufgenommen und ihrer Abſicht gemäß gehandhabt werden. Die Landwirtſchaftspolizei muß es als Aufgabe betrachten, die Land— bevölkerung zur freiwilligen Ausübung der in ihrem eigenen Intereſſe liegen— den Maßregeln allmählich zu erziehen. Nur ſoweit ſie dies fertig bringt, iſt ihre Wirkung eine durchgreifende und nachhaltige; ein unverſtandener oder mit Widerwillen aufgenommener Befehl richtet auf dieſem Gebiet in der Regel wenig aus. Sie muß weiter ihre Aufmerkſamkeit mehr darauf richten, drohenden Unglücksfällen vorzubeugen, als eingetretene Schädigungen wieder zu be— ſeitigen. Jenes iſt meiſt viel einfacher, leichter und mit geringeren Koſten zu bewerkſtelligen, als dieſes. Ofters geht beides Hand in Hand. Wenn ein Reblausherd vernichtet oder wenn einzelne von einer Seuche befallene Tiere getötet und die davon betroffenen Beſitzer auf Grund ſtaatlicher An— ordnung aus öffentlichen oder genoſſenſchaftlichen Mitteln entſchädigt werden, ſo wird damit ſowohl weiteren Verluſten vorgebeugt, wie auch die dem ein— zelnen Landwirte bereits erwachſenen vollſtändigen oder doch teilweiſen Er— ſatz finden. . Zwiſchen Landwirtſchaftspolizei und Verſicherungsweſen ſind nahe . Beziehungen. Schon auf S. 214 ff. wurde dargelegt, daß das landwirtſchaft— | liche Gewerbe wegen der Abhängigkeit von gewiſſen natürlichen Ereigniſſen nach manchen Richtungen hin einer größeren Verluſtgefahr ausgeſetzt iſt, als * die meiſten übrigen Gewerbe. Vor dem Eintritt ſolcher außergewöhnlichen . Unglücksfälle ſich zu ſchützen, iſt die Aufgabe jedes ſorgſamen Landwirts. Er kann ſie aber nicht genügend löſen, wenn der Staat ihm dabei nicht zu Hilfe kommt. Mag er ſelbſt auch alles aufbieten, um ſeine Felder vor Ver— unkrautung, vor Beſchädigung durch Tiere oder Pflanzenkrankheiten, um ſeinen Viehſtand vor Seuchen, um ſeine Gebäude, ſein Inventar und ſeine & 5 © BF ee a 934 XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. Vorräte vor Feuer ji ſchützen, jo hilft ihm dieſes doch nicht, falls ſein 1 Nachbar nicht mit gleicher Sorgfalt zu Werke geht. Gegen viele der ge— nannten und andere Beſchädigungen iſt eine formelle Verſicherung gar nicht möglich, der einzelne Landwirt muß die eingetretenen Verluſte ſelbſt tragen. Sie erweiſen ſich aber um ſo geringer, je mehr alle landwirtſchaftlichen Unternehmer angehalten werden, die in ihren Kräften ſtehenden Maßregeln zu ergreifen, um außerordentliche Unglücksfälle abzuwenden. Solches iſt nur möglich durch polizeiliche, alle Landwirte verpflichtende Vorſchriften. Deren Befolgung iſt zwar mit Mühe und Koſten verbunden, erſcheint auch oft überflüſſig oder iſt es in einzelnen Fällen tatſächlich. Trotzdem ſollte der Landwirt ſowohl im eigenen Intereſſe wie in dem der Allgemeinheit ſich ihr nicht entziehen. Beſonders gilt dies von allen Vorſchriften, welche die In⸗ ſtandhaltung der Wege, der Waſſerläufe, den Schutz gegeu Feuerſchaden, gegen ſchädliche Tiere und Pflanzenkrankheiten, ſowie gegen Viehſeuchen be⸗ treffen. Man iſt leicht geneigt, derartige Maßregeln als eine unnütze Be⸗ läſtigung zu betrachten, weil ihr Erfolg oft nicht ſichtbar zutage tritt, oder weil er nicht jedem einzelnen zugute kommt, oder weil ſich ſpäter zeigt, daß ſie in der Tat in dem gegebenen Falle nicht nötig geweſen wären. Dem⸗ gegenüber muß man aber bedenken, daß auch die behördlichen Organe ebenſo⸗ wenig wie andere Menſchen allwiſſend oder mit Prophetengabe ausgerüſtet ſind; daß ferner bei einem geſunden Gemeindeleben einer für den anderen miteinſtehen muß und daß es vorteilhafter iſt, durch fortlaufende kleine Opfer große Verluſte abzuwehren, als durch Unterlaſſung jener von dieſen heimgeſucht zu werden. Wenn man die aus der Befolgung polizeilicher Vorſchriften erwachſenden Koſten als eine Art von Verſicherungsprämie an⸗ ſieht, was ſie zum großen Teil ihrem Weſen nach ſind, dann gewinnen ſie eine ganz andere und vorteilhaftere Bedeutung, als man ihnen gewöhnlich beimißt. Die aus außergewöhnlichen Unglücksfällen erwachſenden Verluſte würden erheblich größer oder die für die Verſicherung gegen dieſelben zu zahlenden Prämien ebenſo höhere ſein, wenn keine polizeilichen Vorſchriften exiſtierten, die das Vorkommen ſolcher Fälle erſchwerten oder das weitere Umſichgreifen eingetretener Schädigungen verhüteten. Am deutlichſten tritt dies hervor bei Anordnungen zur Verhütung von Brandſchaden und zur Abwehr oder Unterdrückung von Viehſeuchen ). XIV. Fürforge des Staates für die Technik des landwirtſchaftlichen Betriebes. Aus der hervorragenden Bedeutung, welche die Landwirtſchaft für die geſamte Volkswirtſchaft und den Staat beſitzt, ergibt ſich ſchon von ſelbſt, ein wie großes Intereſſe letzterer daran hat und haben muß, daß die Land⸗ wirtſchaft blüht, daß ſie hohe Roh- und Reinerträge abwirft. Jeder in ihr gemachte Fortſchrit kommt auch dem Staate als ſolchem zugute. Bereits an früheren Stellen, namentlich in Abſchnitt IV, iſt gezeigt worden, daß die Aufgabe des Staates der Landwirtſchaft gegenüber vor allem eine erzieheriſche, die Selbſthilfe anregende und unterſtützende ſein muß; daß außerdem allerdings auch noch große und wichtige Aufgaben übrig 1) Auf einzelne Maßregeln der Landwirtſchaftspolizei wird noch in dem Abſchnitt XV „Handels- und Verkehrsweſen“ einzugehen ſein. XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. 235 iben, die ihrer Natur nach jo geartet ſind, daß ihre Löſung ohne direkte itwirkung des Staates unmöglich iſt. Ferner wurde betont, daß der ein— er landwirtſchaftliche Betrieb nur gedeihen kann, wenn dem Unternehmer in deſſen Organiſation und Leitung freie Hand gelaſſen wird. Aus dieſen Sätzen folgt, daß es außerhalb der Aufgabe des Staates liegt, den Land— wirten Vorſchriften zu machen, wie ſie ihr Gewerbe handhaben ſollen, oder ſie gar zu beſtimmten Einrichtungen zu zwingen, ſoweit nicht Rückſichten auf das Allgemeinwohl dies als durchaus nötig erſcheinen laſſen. Durch Unter⸗ ichtsanſtalten, Wanderlehrer, Vereine, ſowie durch die zahlreichen Erzeug— nniſſe der Preſſe wird in der Gegenwart dafür geſorgt, daß jeder Landwirt von den in ſeinem Gewerbe gemachten Fortſchritten mit Leichtigkeit Kenntnis ſich verſchaffen kann. Die Aneignung derſelben und praktiſche Verwertung muß dem einzelnen Landwirte um ſo mehr überlaſſen bleiben, als ſie in jedem ſpeziellen Falle ſich anders zu geſtalten hat. Auf dieſem Gebiete handelt es ſich hauptſächlich darum, die gegebenen Mittel der Belehrung immer ausgedehnter in Anwendung zu bringen. Daß ſolches von den maß— gebenden Perſonen und Organen richtig erkannt und praktiſch verwertet wird, V der erfreuliche Aufſchwung des landwirtſchaftlichen Unterrichts- und ereinsweſens gerade während der letzten Jahrzehnte. Es gibt kaum einen einzigen Bauer im Deutſchen Reiche, dem nicht eine ihm bekannte Stelle zur Verfügung ſteht, bei der er ſich Rat erholen kann, wenn er ſolchen für ver⸗ beſſernde Anderungen in ſeiner Wirtſchaft zu bedürfen glaubt. Ein behörd— licher Zwang hierzu, wie er vielleicht zur Zeit Friedrich des Großen noch zuläſſig erſcheinen mochte, iſt gegenwärtig ganz unangebracht. Trotzdem ſteht auch jetzt noch dem Staat ein weites Feld offen, auf dem er fördernd auf die landwirtſchaftliche Technik einwirken kann und ſoll. Seine Aufgabe wird es immer bleiben, den Fortſchritten derſelben aufmerkſam u folgen und für deren Verbreitung im Bereiche ſeines Einfluſſes zu wirken. a hat er nicht nur die mannigfaltigen, ihm zur Verfügung ſtehenden Wege der Ermunterung und Belehrung zu benutzen, ſondern er ſoll auch materiell unterſtützend eingreifen. Das Vertrauen zu der Einſicht und dem uten Willen der Behörde iſt bei der Landbevölkerung glücklicherweiſe noch > groß, daß ſchon die von derſelben ausgehende Empfehlung einer Maßregel viele zu deren Durchführung veranlaßt. Noch mehr wächſt das Vertrauen, wenn die Landwirte ſehen, daß der Staat die von ihm empfohlenen Ber: anſtaltungen und Einrichtungen durch Geldmittel unterſtützt und bei deren Durchführung, ſoweit es im Intereſſe der Sache wünſchenswert erſcheint, die perſönliche Mitwirkung ſeiner Beamten eintreten läßt. Bei Bewilligung von Geldmitteln ſoll der Staat als Regel von folgenden beiden Grundſätzen ausgehen. Fürs erſte ſoll er dieſelben nicht einzelnen Landwirten direkt zuwenden, ſondern ſie landwirtſchaft— lichen Vereinen oder Organen der Selbſtverwaltung zur beſtimmungs— mäßigen Benutzung bezw. Verteilung übergeben. Dieſe haben dann ſpäter dem Staate Rechenſchaft über die Art der Verwendung im einzelnen abzu— legen. Fürs andere ſoll der Staat in der Regel nur dann Mittel für beſtimmte einzelne Zwecke bewilligen, wenn von landwirtſchaftlichen Vereinen oder Organen der Selbſtverwaltung für die gleichen Zwecke ebenfalls Gelder in ähnlicher Höhe hergegeben werden. Durch beide Maßregeln iſt eine gewiſſe Garantie dafür geboten, daß die Staatsgelder nur für wirklich nütz— liche oder notwendige Dinge verausgabt werden und daß ſie in die Hände derjenigen gelangen, welche ſie am meiſten verdienen und am richtigſten be— nutzen. Menſchlichkeiten ſind ja auch bei dieſem Verfahren nicht zu ver— meiden. Aber man darf immerhin annehmen, daß die Vorſteher von land— * 1 12 er‘ 9 2 1 . Fi ; * I . f 4 5 5 1 0 * 1 7 1 = 7 ar 8 ER 155 ir 1 4 . * 0 1. * ir > 7 Hy 84 17 7 # 4 236 XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. wirtſchaftlichen Vereinen und die an der Spitze von Selbſtverwaltungskörpern 9 befindlichen Männer am beſten die in Betracht kommenden ſachlichen und perſönlichen Verhältniſſe zu beurteilen vermögen; daß ſie ferner, ſchon um ihrer eigenen Stellung willen, alles zu vermeiden ſich beſtreben, wodurch ſie den Vorwurf der Parteilichkeit oder der Unkenntnis gerechtfertigterweiſe auf ſich laden können. Einen Teil der zur Unterſtützung der Landwirtſchaft verfügbaren öffent⸗ lichen Mittel muß freilich die Staatsregierung zur eigenen direkten Ver⸗ wendung ſich vorbehalten. Hierzu gehören alle Gelder, die zur Unterhaltung ſolcher dauernden Einrichtungen oder zur Vornahme ſolcher einmaligen Maß⸗ regeln beſtimmt ſind, deren Verwaltung oder Durchführung in die Hände von ſtaatlichen Organen gelegt iſt. Dabei denke ich z. B. an höhere land⸗ wirtſchaftliche Unterrichtsanſtalten, an Geſtüte, an umfaſſende Meliorationen, wie Trockenlegung ausgedehnter Seen oder Sümpfe, Aufforſtung großer Heide⸗ flächen, Damm- und andere Anlagen zum Schutze gegen Überflutungen 2. Auch bei manchen der hier genannten Maßregeln kann es zwar wünſchens⸗ wert oder gar notwendig ſein, die Selbſtverwaltungskörper zur Mitwirkung und zur finanziellen Mitbeteiligung heranzuziehen. In der Regel aber reichen die dieſen zur Verfügung ſtehenden perſönlichen Kräfte und ſachlichen Mittel überhaupt nicht oder für ſich allein nicht aus, um das erſtrebte Ziel in ſo vollkommener Weiſe zu erreichen, als es wünſchenswert und möglich iſt. Die einzelnen Zwecke, welche der ſtaatlichen Unterſtützung als würdig und bedürftig erachtet werden müſſen. find nach Ort und Zeit ſehr ver⸗ ſchieden. Bei Beſprechung des landwirtſchaftlichen Unterrichts-, Vereins-, Genoſſenſchafts⸗, Kredit- und Verſicherungsweſens wurde bereits dargelegt, inwieweit dabei eine Mitwirkung des Staates eintreten kann oder muß. Hier ſoll daher nur erörtert werden, was der Staat für die fortſchreitende Entwicklung der landwirtſchaftlichen Technik etwa zu tun imſtande und berufen iſt. Dabei handelt es ſich naturgemäß hauptſächlich um Hebung des Ackerbau- und des Viehzuchtbetriebes. Eine mächtige Förderung haben beide erfahren und gewinnen ſie mit der Verbeſſerung der Verkehrsmittel immer mehr durch die regelmäßig wieder⸗ holten kleineren und größeren Ausſtellungen. Namentlich haben dieſelben zur Verbreitung neuer und beſſerer Maſchinen, ſowie zur Einführung ertrag⸗ reicherer und leiſtungsfähigerer Viehraſſen ungemein viel beigetragen. Sie zu veranſtalten und zu leiten, muß den landwirtſchaftlichen Vereinen über⸗ laſſen bleiben; ihnen liegt es auch in erſter Linie ob, die nötigen Mittel dafür herzugeben. Ein erheblicher, gewöhnlich der bei weitem größte Teil davon wird durch die von den Ausſtellern erhobenen Standgelder und durch die von den Beſuchern erforderten Eintrittsgelder gedeckt. Soweit dieſe Quellen nicht ausreichen, müſſen die landwirtſchaftlichen Vereine oder auch die Gemeinden, in deren Bezirke die Ausſtellung ſtattfindet und deren Be⸗ wohner davon Vorteil ziehen, helfend eintreten. Von dem Staate kann nicht beanſprucht werden, daß er zu den Koſten von Ausſtellungen direkt beiträgt. Dagegen iſt es ſeine Aufgabe, indirekt ſowohl ihre Beſchickung mit Aus⸗ ſtellungsgegenſtänden wie auch ihren Beſuch durch die Landwirte zu fördern. Für beides ſtehen ihm mancherlei Mittel zu Gebote. Dahin ſind zu rechnen: perſönliche Beteiligung der zuſtändigen höheren Staatsbeamten, bei ſehr großen Ausſtellungen auch von Mitgliedern der landesfürſtlichen Familie; Fahrpreis⸗ ermäßigungen für die Beſchicker und Beſucher der Ausſtellung auf den Staats⸗ eiſenbahnen; Bewilligung von Staatspreiſen für ausgeſtellte Objekte. Zu⸗ nächſt ſollen die Ausſtellungen allerdings dazu dienen, daß die Landwirte ſelbſt ſich informieren, auch Ein- und Verkaufsgeſchäfte beſorgen. Sie haben XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. 237 weiter den Zweck, daß diejenigen Perſonen, welche nicht zu den praktiſchen Landwirten gehören, aber berufsmäßig auf die Landwirtſchaft einen Einfluß ausüben, ſich von dem gegenwärtigen Zuſtande und den gemachten Fort⸗ ſchritten überzeugen können. Hierzu gehören die Lehrer der Landwirtſchaft, ſowie viele im Staats- oder Kommunaldienſt befindliche Beamte. Allen dieſen Perſonen ſollte möglichſt oft Gelegenheit gegeben werden, ohne Dar— biringung erheblicher eigener Opfer Ausstellungen zu beſuchen. * Einen weniger offen zu Tage tretenden, aber keineswegs unbedeutenden Einfluß auf den Fortſchritt der landwirtſchaftlichen Technik haben die Ver— ſüuchsſtationen ausgeübt und werden ihn vorausſichtlich in Zukunft aus— üben. Ihre Aufgabe iſt, die auf das Leben der Kulturpflanzen und Haus— tiere einflußreichen Naturgeſetze zu erforſchen und die daraus für die Praxis ſich ergebende Nutzanwendung, ſoweit ſie es vermögen, zu ziehen. Bei Löſung der letzteren Aufgabe ſind ſie allerdings an die gleichzeitige oder nachfolgende Mitwirkung wiſſenſchaftlich gebildeter praktiſcher Landwirte gewieſen, welche auch niemals zu fehlen pflegt. Den Arbeiten der Verſuchsſtationen hat die Landwirtſchaft ungewöhnlich viel zu danken. Durch ſie ſind diejenigen wich— tigen Entdeckungen auf dem Gebiete der pflanzlichen und tieriſchen Ernährung gemacht worden, die es dem heutigen Landwirt ermöglichen. Ackerbau und Viehhaltung in ſehr viel vollkommenerer und lohnenderer Weiſe zu betreiben, als es noch vor 40 oder 50 Jahren geſchah. Die jetzige, von intelligenten Landwirten allgemein angewendete Art der Bearbeitung und Düngung des Bodens, der Fütterung und Pflege der Tiere iſt, ſoweit ſie gegenüber der älteren Art einen Fortſchritt bedeutet, zum großen Teil auf die klareren Einblicke zurückzuführen, die den Landwirten durch die wiſſenſchaftlichen Forſchungen der Verſuchsſtationen in die für die Praxis wichtigen Naturge— ſetze geworden ſind; weiter aber auch auf die poſitiven Ratſchläge, welche ſie von den an jenen Anſtalten wirkenden Agrikulturchemikern, Botanikern, Phyſiologen und Phyſikern empfangen haben. Unter Übergehung von noch lebenden, hierher gehörenden Perſonen, erinnere ich nur an Männer wie Jul. Adolf Stöckhardt, Joh. Wilh. Henneberg, Emil Wolff, H. Hellriegel, Max Maerker u. a. Alle dieſe waren viele Jahre lang Vor— ſteher von landwirtſchaftlichen Verſuchsſtationen und haben in dieſer Eigen— ſchaft Forſchungen angeſtellt, deren Reſultate eine vollſtändige Umgeſtaltung auf den beiden beſonders wichtigen Gebieten, der Düngung des Bodens und der tieriſchen Ernährung, herbeiführten. Wie ſehr aber auch die Erkenntnis der Naturgeſetze zugenommen hat, ſo iſt ſie doch keineswegs eine ſchon vollkommene, wird es auch nie werden. Wir wiſſen noch ſehr vieles nicht, was zu wiſſen für die Handhabung der landwirtſchaftlichen Praxis von der größten Bedeutung wäre. Im Gegen— teil, je mehr Fragen gelöſt ſind oder gelöſt erſcheinen, deſto mehr neue tauchen auf, für die eine befriedigende Erledigung noch nicht gefunden iſt. 1 Die Wirkſamleit der Verſuchsſtationen wird immer als ein wichtiges . und notwendiges Erfordernis für die weitere Vervollkommnung der Landwirt— 2 ſchaft betrachtet werden müſſen. Sie iſt zunächſt, wie ſchon beſchrieben wurde, h eine rein wiſſenſchaftliche, d. h. forſchende. Daneben entfalten aber die meiſten Verſuchsſtationen auch noch eine für die Landwirtſchaft bedeutungsvolle praktiſche Tätigkeit. Sie beſchäftigen ſich nämlich mit der Unterſuchung von Futter- und Dungmitteln, ſowie von Sämereien, die Gegenſtände des Handels ſind. Hierdurch üben ſie eine ſehr nützliche, ſogar dringend notwendige Kontrolle über dieſen ſelbſt aus; der einzelne Landwirt, mag er auch wiſſenſchaftlich noch ſo gebildet ſein, iſt hierzu nicht imſtande. Beide Arten der Wirkſamkeit der Verſuchsſtationen laſſen ſich ſehr wohl mitein Nee 238 XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. ander vereinigen, ja ergänzen ſich untereinander. Eine rein wiſſenſchaftliche 1 birgt die Gefahr in ſich, daß die Leiter der Anſtalten zu wenig in Kenntnis von den Bedürfniſſen und Wünſchen der Landwirtſchaft erhalten werden; die rein praktiſche dagegen, daß ſie ihre Aufgabe zu handwerks- oder ge⸗ ſchäftsmäßig auffaſſen und betreiben und infolgedeſſen von der hohen Stufe, auf der die Wiſſenſchaft ſtehen ſoll, herabſteigen. Hierdurch pflegt dann ſchließlich auch die Erfüllung der praktiſcheu Aufgabe ſelbſt eine weniger voll kommene zu werden. | Soweit die Verſuchsſtationen rein wiſſenſchaftlichen Zwecken dienen, iſt der Staat in erſter Linie zu ihrer Gründung, Unterhaltung und oberſten Leitung berufen und verpflichtet. Mit allen landwirtſchaftlichen Hochſchulen ſind daher auch Verſuchsſtationen verbunden, mögen ſie offiziell dieſen Namen führen oder nicht. Auch an der praktiſchen Tätigkeit der Verſuchsſtationen hat der Staat ein großes Intereſſe nicht nur mit Rückſicht auf die Land⸗ wirtſchaft, ſondern auch mit Rückſicht auf eine geordnete, den Forderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit entſprechenden Geſtaltung eines wichtigen Zweiges des Handelsverkehrs. Ein noch näher liegendes und dringenderes Intereſſe hieran haben allerdings die landwirtſchaftlichen Vereine bezw. Laud wirtſchafts kammern als Vertreter der praktiſchen Landwirte. Dem⸗ entſprechend ſind von der überwiegenden Mehrzahl der landwirtſchaftlichen Zentralvereine Verſuchsſtationen errichtet worden, deren Hauptaufgabe in der Unterſuchung der von Vereinsmitgliedern käuflich erworbenen Dung-, Futter⸗ mitteln und Sämereien beſteht. Außerdem führen fie wiſſenſchaftliche Forſchungen und Verſuche aus. Da für die Unterſuchung der eingeſendeten Gegenſtände eine Entſchädigung mit Recht gefordert wird, ſo pflegen die Verſuchsſtationen zur Ausübung dieſes Teiles ihrer Tätigkeit keines oder doch nur eines ge⸗ ringen finanziellen Zuſchuſſes zu bedürfen. Wohl iſt aber ein ſolcher nötig für ihre wiſſenſchaftliche Arbeit. Er wird geleiſtet von der landwirtſchaftlichen Korporation, welcher die einzelne Verſuchsſtation unterſteht; der Staat ge⸗ währt dazu in der Regel eine Beihilfe. | Die Verſuchsſtationen haben einen ebenſo weitgreifenden wie günſtigen Einfluß auf den Handel mit den von ihnen unterſuchten Gegenſtänden aus⸗ geübt. Sie haben viele darin herrſchend geweſene Mißbräuche beſeitigt oder doch ſehr eingeſchränkt. Durch ihre Benutzung iſt dem Landwirt die Sicher⸗ heit gewährt, daß die von ihm gekauften Waren auch den von dem Händler angegebenen Gehalt an wertvollen Stoffen oder die ſonſt angegebene Be⸗ ſchaffenheit beſitzen. Denn durch die Verſuchsſtationen ſind die Händler ge⸗ nötigt worden, den kaufenden Landwirten für eine beſtimmte Qualität Ge⸗ währ zu leiſten bezw. ſich für den Minderwert einen Abzug an dem Kaufpreis gefallen zu laſſen; ſich im einzelnen Fall auch der Entſcheidung der für den Bezirk maßgebenden Station zu unterwerfen. Sie mußten dies tun, weil ſie ſonſt die Kundſchaft der Landwirte verloren hätten. Die einzelnen Verſuchsſtationen erſtrecken allerdings ihre unterſuchende Tätigkeit zunächſt nur auf dasjenige Vereinsgebiet, für welches ſie errichtet worden ſind. Es ſchließt dies aber nicht aus, daß ſie auch von anderen Orten eingeſendete Gegenſtände zur Unterſuchung übernehmen. Solches iſt dort, wo ſich kleine Staaten in der Nähe befinden, ſogar in der Regel nötig, da dieſe öfters nicht in der Lage ſich befinden, ein eigene Verſuchs⸗ ſtation zu unterhalten. Aber auch aus anderen Gründen muß es als er⸗ wünſcht bezeichnet werden, daß die Wirkſamkeit der einzelnen Verſuchsſtation nicht zu einem, andere ähnliche Anſtalten ausſchließenden Monopol für ihren Bezirk ſich ausbildet. Im Intereſſe der Landwirte wie der Händler iſt es nötig, daß dieſen die Möglichkeit geboten wird, die ge- oder verkauften Waren n 3 i 72722 ³·0 . nl ur a De en en u zu Ze 4 FAK .... EN. ER. ern XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. 239 auch noch von einer oder mehreren anderen Anſtalten unterſuchen zu laſſen, falls es ihnen aus irgend einem Grunde wünſchenswert erſcheint. Solche iſt denn auch in der Tat vorhanden; leine Verſuchsſtation wird, falls nicht beſondere Gründe vorliegen, die Unterſuchung einer aus einem fremden Be— irk ſtammenden Ware abweiſen. Es wird dadurch eine gegenſeitige Kontrolle der einzelnen Anſtalten herbeigeführt, die ebenſo im Intereſſe dieſer ſelbſt wie der Landwirte und Händler liegt. Denn, abgeſehen von Nachläſſigkeiten, ſind auch die Vertreter der Wiſſenſchaft Irrtümern ausgeſetzt. Ferner wechſeln die Unterſuchungsmethoden und erleiden immer aufs neue Veränderungen, von denen erſt im Laufe der Zeit es ſich herausſtellt, ob ſie Verbeſſerungen ſind oder nicht. Eine gewiſſe Konkurrenz zwiſchen den einzelnen Verſuchs— ſtationen iſt aus dieſen Gründen durchaus wünſchenswert, ja notwendig; ſie hat ſich nachweislich in vielen Fällen als eine heilſame erwieſen. | Allerdings kann fie auch zu weit gehen und dann gegenteilige Folgen haben. Es hängt dies mit dem Umſtande zuſammen, daß die unterſuchende Tätigkeit der Stationen zugleich eine erwerbende iſt und daß, vom rein geſchäftlichen Standpunkt aus betrachtet, diejenige Station am günſtigſten daſteht, welche die größte Zahl von Unterſuchungen ausführt. Daraus folgt, daß die großen Stationen die billigſten Tarife ſtellen und dadurch die Wirk— ſamkeit der kleineren lähmen oder ſie gar exiſtenzunfähig machen können. Es wäre dies der nämliche Prozeß, der ſich aus ganz ähnlichen Urſachen zwiſchen vielen Handwerken und der Induſtrie im Laufe des 19. Jahr⸗ hunderts abgeſpielt hat. Seine Ausdehnung auf die Verſuchsſtationen würde für die Landwirtſchaft ſehr unheilvoll ſein. Dieſe müſſen überall im Deutſchen Reiche zerſtreut ſein, wenn ſie die vielſeitige und ſegensreiche Wirkſamkeit ausüben ſollen, zu der ſie ihrer Natur nach beſtimmt und befähigt ſind. Ein nicht geringer Teil derſelben hängt aber von dem perſönlichen Verkehr ab, den die Leiter der Verſuchsſtationen und deren Aſſiſtenten mit den praktiſchen Landwirten unterhalten. i Erwägungen vorſtehender und anderer Art haben im Jahre 1888 zur Gründung des Verbandes deutſcher Verſuchsſtationen geführt. Zweck desſelben iſt „die gemeinſame Förderung der Angelegenheiten und Aufgaben dieſer Anſtalten auf wiſſenſchaftlichem und praktiſchem Gebiete, insbeſondere auch die Vereinbarung eines tunlichſt einheitlichen Vorgehens in der Unter— ſuchung bezw. der Kontrolle der Dungmittel, Futtermittel, Saatwaren und ſonſtiger landwirtſchaftlich wichtiger Gegenſtände“ !). Seiner Aufgabe iſt er während ſeines nun 15-jährigen Beſtehens in einer durchaus befriedigenden Weiſe gerecht geworden. Es ſind Vereinbarungen unter den Verbandsmit— gliedern über die Methoden der Unterſuchung, über die Berechnung der Ent— ſchädigung bei vorhandener Minderwertigkeit, über die Handhabung des Tarifweſens, über Entſcheidung von Differenzen zwiſchen den einzelnen An— ſtalten und über manche andere für die Entwicklung des Verſuchsweſens wichtigen Punkte getroffen worden. Ebenſo iſt es gelungen, mit den Ver— tretern des Handels über manche Dinge, die bisher ſtrittig waren, ein Über— einkommen zu erzielen. Die Wirkſamkeit der Verſuchsſtationen verſpricht in Zukunft eine noch viel bedeutendere zu werden, als ſie jetzt ſchon ſich darſtellt. Mit der un— ausbleiblichen Ausdehnung des Gebrauches von Dung- und Futtermitteln ) Am Ende des Jahres 1903 gab es im Deutſchen Reich 78 Verſuchsſtationen, von denen 43 zu dem Königreich Preußen gehörten. Das Verzeichnis derſelben ſowie nähere . Angaben über die einzelnen Stationen finden ſich im Landwirtſchaftlichen Kalender von Mentzel und Lengerke für 1904, 2. Teil, S. 407 ff. 240 XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. und mit der zunehmenden Einſicht der Landwirte wird auch die Inanſpruch⸗ nahme der Verſuchsſtationen in gleichem Grade wachſen. Außerdem aber werden die Staatsbehörden immer mehr in die Lage verſetzt werden, dieſe Anſtalten zur Mitwirkung bei der Ausführung von bereits erlaſſenen oder von noch zu erlaſſenden Geſetzen heranzuziehen. Schon jetzt iſt dies der Fall. Nach dem Reichsgeſetz vom 14. Mai 1879 betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenſtänden kann die darin vorgeſehene chemiſch-techniſche Unterſuchung mit rechtlicher Gültigkeit nur von ſolchen Perſonen vorgenommen werden, die von der kompetenten Landes⸗ behörde den Befähigungsausweis hierfür erhalten haben. Bereits vor dem Erlaß des Reichsgeſetzes waren die landwirtſchaftlichen Verſuchsſtationen häufig mit der Unterſuchung von Gegenſtänden, die jetzt unter dasſelbe fallen, befaßt worden, z. B. von Milch, Butter, Wein, Obſtfabrikaten ꝛc. Preußen und die meiſten übrigen deutſchen Staaten, in deren Bezirk ſich Verſuchs⸗ ſtationen befinden, haben es daher für zweckmäßig gehalten, den Leitern oder auch den Aſſiſtenten dieſer Anſtalten den geſetzlich erforderten Befähigungs⸗ ausweis zu erteilen. Hierdurch iſt die Bedeutung, aber auch die Verant⸗ wortung der Verſuchsſtationen ſehr geſtiegen. Noch mehr wird dies der Fall ſein, wenn das von den Landwirten ſchon lange geforderte Reichsgeſetz über den Verkehr mit Handelsdüngern, Kraftfuttermitteln und Saatgut endlich erlaſſen wird. Bereits 1896 hatte der preußiſche Land⸗ wirtſchaftsminiſter einen darauf bezüglichen Geſetzentwurf dem deutſchen Land⸗ wirtſchaftsrat vorgelegt, der von dieſem auch einer eingehenden Beratung unterzogen und in den weſentlichſten Punkten gebilligt wurde. In demſelben war ausdrücklich vorgeſehen, daß beſtimmte Anſtalten vom Bundesrat mit der im Geſetz angeordneten Unterſuchung betraut werden ſollen und hierbei hat man, wie aus den im Landwirtſchaftsrat gepflogenen Verhandlungen hervorgeht, an die bereits beſtehenden landwirtſchaftlichen Verſuchsſtationen gedacht!). Würde der Entwurf in der vorgeſchlagenen oder in einer ähn⸗ lichen Form zum Geſetz erhoben, ſo erhielte die unterſuchende Tätigkeit dieſer Anſtalten einen amtlichen Charakter und damit eine die bisherige weit über⸗ treffende Bedeutung. Leider iſt hierfür zunächſt freilich keine Ausſicht vor⸗ handen, da ſowohl die Vertreter des Handels und der Induſtrie wie auch einzelne Reſſorts der Staatsregierung den bezüglichen Wünſchen der Land⸗ wirtſchaft ſich wenig geneigt zeigen. Würde aber auch ſpäter in dem Sinne des Entwurfes vorgegangen, ſo dürfte man daraus noch nicht die Folgerung ableiten, daß nunmehr die landwirtſchaftlichen Verſuchsſtationen zu Staatsanſtalten gemacht werden müßten. Manche von ihnen haben von vornherein dieſen Charakter gehabt und ſie deſſen zu entkleiden, liegt keine Veranlaſſung vor. Aber ebenſowenig iſt eine Veranlaſſung zu dem entgegengeſetzten Verfahren bei denjenigen Stationen geboten, welche jetzt unter landwirtſchaftlichen Zentralvereinen oder Landwirtſchaftskammern ſich befinden. Dieſe großen Vereinsverbände können des Rates und der Unterſtützung der an den Verſuchsſtationen tätigen Männer der Wiſſenſchaft für viele Zweige ihrer Wirkſamkeit gar nicht entbehren. Letztere würde in ſchädlicher Weiſe gelähmt und beſchränkt werden, wenn man die Vereins-Verſuchsſtationen zu Staatsanſtalten machte. Der Aufſicht des Staates ſind die Verſuchsſtationen ebenſo unter⸗ worfen wie die Korporationen ſelbſt, von denen ihre Gründung ausgegangen 1) Archiv des Deutſchen Landwirtſchaftsrates, XX. Jahrg. 1896, S. 140189; 180 angeführte Geſetzentwurf findet ſich S. 186—189. Vergl. ferner Archiv XXI. Jahrg., 1897, S. 718— 723. XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. 241 und denen ſie als Glieder angehören. Dieſelbe iſt um fo nötiger, je ehr und je wichtigere Funktionen ihnen anvertraut werden. Hiermit ſoll kein Mißtrauen gegen die Verſuchsſtationen oder gegen die an ihnen wir- kenden Perſonen ausgedrückt werden, wozu die tatſächlichen Verhältniſſe auch keine Veranlaſſung darbieten. Es ſoll nur klargeſtellt werden, daß, wenn der Staat dieſen Anſtalten Befugniſſe verleiht, durch deren Ausübung die Vermögensrechte vieler tauſend Menſchen ſtark berührt werden, ihm auch die Pflicht obliegt, ſich immer aufs neue zu vergewiſſern, daß jene Ausübung in einer den Abſichten des Geſetzgebers entſprechenden Weiſe ſtattfindet. Der Hauptzweck der ſtaatlichen Aufſicht liegt nicht darin, die Verſuchsſtationen zun einer gewiſſenhaften Erfüllung ihrer Obliegenheiten anzuhalten; ſie iſt vielmehr darin zu ſuchen, daß den Landwirten wie Händlern eine genügend ſcheinende Garantie für eine ordnungsmäßige Wirkſamkeit jener Anſtalten dargeboten wird. Dies feſtzuhalten, liegt im Intereſſe der Verſuchsſtationen ſelbſt. Sollte einmal der von dem preußiſchen Landwirtſchaftsminiſter vor⸗ elegte Entwurf in dieſer oder einer ähnlichen Form Geſetzeskraft erlangen, 8 würde die notwendige Folge ſein, daß von Staats wegen gewiſſe allge— meine Normen für die dabei in Betracht kommende Tätigkeit der Verſuchs⸗ ſtationen erlaſſen werden. Dieſelben dürfen nicht die wiſſenſchaftliche Forſchung beſchränken oder für die Methoden wiſſenſchaftlicher Unterſuchung feſte, un— abänderliche Grenzen ſetzen, ſondern ſollen lediglich eine annähernde Ein— bheitlichkeit in den bei der Unterſuchung zur Anwendung kommenden Grund— ſätzen herbeiführen und vor etwaigen Willkürlichkeiten einzelner Vertreter der Wiiſſenſchaft ſchützen. Wenn die Staatsbehörden in dieſem Sinne ihre In— ſtruktionen erteilen, dann dienen fie damit ebenſo den Verſuchsſtationen wie den dieſelben in Anſpruch nehmenden Perſonen. Die Förderung, welche der Staat der landwirtſchaftlichen Technik in deren einzelnen Zweigen zukommen läßt, muß gegenwärtig vorzugsweiſe darin beſtehen, daß er die Landwirte zur Einführung von Verbeſſerungen er— 5 muntert, dabei ihnen auch direkt behilflich iſt, ſofern deren eigene geiſtigen 5 oder materiellen Kräfte hierzu nicht ausreichen. Naturgemäß werden dies N vorzugsweiſe ſolche Landwirte ſein, welche wegen ihrer geringen Bildung 1 oder wegen des geringen Umfanges ihres Beſitzes mit beſonderen Schwierig- 1 keiten zu kämpfen haben, wenn ſie die von ihren mehr begünſtigten Berufs— J genoſſen gemachten Fortſchritte auch für den eigenen Betrieb ſich zunutze 9 machen wollen. Mit anderen Worten: der Staat muß bei ſeinen auf die ; Hebung der landwirtſchaftlichen Technik gerichteten Beſtrebungen vorzugs— a weiſe die bäuerlichen Beſitzer ins Auge faſſen; dabei iſt nicht ausge— . ſchloſſen, daß dieſelben auch manchen größeren Beſitzern zugute kommen. 1 Eine ſtrenge Grenze zwiſchen beiden Gruppen läßt ſich ohnedem nicht ziehen. 4 Die einzelnen ſtaatlichen Maßregeln, um die es ſich dabei handeln kann, werden nach Ort und Zeit verſchieden ſein und können hier nicht aus— führlich beſprochen werden. Ich will deshalb nur auf einige wenige Punkte hinweiſen, welche jetzt und vorausſichtlich noch für eine lange Zukunft oder gar für immer eine beſondere Bedeutung beanſpruchen. Auch in den bäuerlichen Betrieben haben ſich während der letzten Jahrzehnte große Fortſchritte vollzogen bezüglich Bearbeitung und Düngung des Bodens, der Pflege der Kulturgewächſe, auch der Wirtſchaftsorganiſation im ganzen, deren am meiſten charakteriſtiſches Merkmal die Fruchtfolge bildet. | Der Staat kann es ruhig dem Einfluß der auch in der bäuerlichen Be: bpvölkerung wachſenden Einſicht ſowie dem Wirken der landwirtſchaſtlichen Unterrichtsanſtalten und der landwirtſchaftlichen Vereine überlaſſen, daß dieſe 5 Fortſchritte eine immer allgemeinere Verbreitung finden. Was die Wirt— 5 von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 16 2 Bee ee — 242 XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. ſchaftsorganiſation im ganzen angeht, ſo ſteht freilich in vielen Gegenden 1 der Einführung einer den Anforderungen an einen rationellen Betrieb ent⸗ ſprechenden Fruchtfolge der noch herrſchende Flurzwang als Hindernis entgegen; letzterer aber iſt geboten durch die vorhandene Gemenglage der Grundſtücke und durch beſtehende Weideſervitute, alſo durch die noch nicht erfolgte Feldregulierung. Auf die große Bedeutung dieſer Maßregel iſt bereits an einer früheren Stelle hingewieſen worden (ſ. S. 97 ff.), auch auf die Aufgabe, die dem Staat hierbei zufällt. Hier möge daher nur ausge⸗ ſprochen werden, daß der Staat kein zuläſſiges Mittel unverſucht laſſen darf, um die Feldregulierung, wo ſie noch nicht ſtattgefunden hat, zur Durch⸗ führung zu bringen; daß er auch erhebliche Geldopfer nicht ſcheuen ſoll, wenn nur hierdurch ärmere Gemeinden bewogen werden können, zur Regu⸗ lierung ihrer Feldmark die Zuſtimmung zu erteilen. Ä Ein großer Übelſtand ſehr vieler bäuerlicher Wirtſchaften liegt in der mangelhaften Behandlung des Stalldüngers. Viele Millionen Mark gehen der Landwirtſchaft und ſomit dem Nationalvermögen jährlich dadurch verloren, daß in unzähligen landwirtſchaftlichen Betrieben keine Düngerſtätten vorhanden ſind, die auch nur den geringſten, an ſolche notwendigerweiſe zu machenden Anforderungen entſprechen. Beſonders findet ſich dies in Gegenden, wo die zu einem Dorf gehörenden Gehöfte eng aneinander gebaut ſind, wo vielleicht außerdem noch die Dorflage ein ſtarkes Gefälle hat. Hier fehlt es oft an Platz zur Herſtellung einer zweckmäßigen Düngerſtätte, und die Auf: ſammlung und Zurückhaltung der Jauche iſt mit ungewöhnlichen Schwierig⸗ keiten verknüpft. Aber dieſe örtlichen Hinderniſſe ſind doch faſt nirgends 2 groß, daß ſie nicht überwunden oder daß ihre nachteiligen Wirkungen nicht ſehr gemildert werden könnten. Die Regierungen der meiſten deutſchen Staaten haben wiederholt mannigfache Verſuche gemacht, den ſo offenbar zutage tretenden Übelſtand zu beſeitigen. Erfolglos ſind dieſelben zwar keineswegs geblieben, aber zu dem erſtrebten und auch erreichbaren Ziele haben ſie noch lange nicht geführt. Die Sache, um welche es ſich handelt, iſt von jo großer privat- wie volkswirtſchaftlicher Bedeutung, daß man den Staat wohl für berechtigt erachten kann, bis zur äußerſten zuläſſigen Grenze von den ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln und Machtbefugniſſen Gebrauch zu machen. Die aus dem Mangel geeigneter Düngerſtätten erwachſenden Nachteile ſind nicht nur wirtſchaftlicher, ſondern auch geſundheitlicher Natur. Es liegt durchaus innerhalb der dem Staate zuſtehenden Polizeigewalt, daß er Vor⸗ ſchriften erläßt, welche das Fließen der Jauche auf die Straße und weiter in die unterhalb liegenden Gewäſſer verbieten. In den meiſten Städten gelten bereits ſolche Vorſchriften, und die in ihnen wohnenden Viehbeſitzer müſſen ſich danach richten. Auf dem Lande ſind ſie allerdings viel ſchwerer durchzuführen; aber bei zielbewußtem, zugleich auch allmählichem und ſchonendem Vorgehen ließe ſich doch viel erreichen. Denn die Mangelhaftigkeit der Düngerſtätten wird ſehr häufig vorzugsweiſe durch die Unkenntnis oder In⸗ dolenz der Bauern oder auch durch das Fehlen von Geldmitteln bedingt. Wenn der Staat mit Zwangsmaßregeln vorgeht oder die einzelnen Gemeinden zu ſolchen veranlaßt, ſo ſollte er allerdings auch Vorſorge treffen, daß den Dorfinſaſſen die Herſtellung der erforderlichen Anlagen finanziell erleichtert wird. Die Koſten dafür ſind im einzelnen Fall zwar geringe, ſcheinen aber dem zu übertriebener Sparſamkeit geneigten Bauern trotzdem oft zu hoch. Eine kleine Unterſtützung ſeitens des Staates oder des zuſtändigen landwirt⸗ ſchaftlichen Vereins oder Kommunalverbandes kann hierin leicht eine Um⸗ ſtimmung veranlaſſen. Es wäre wohl zu erwägen, ob der Staat nicht einen y ? u * E % ; 4 « \ 1 * 8 | — Fi 4 1 1 E * * E N XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. 243 8 | ähnlichen Weg einſchlagen ſoll, wie er ihn mit jo großem Erfolg auf anderen Gebieten betreten hat. Ich meine den, daß er oder der dazu autoriſierte Kommunalverband das Kapital zur Herſtellung zweckmäßiger Düngerſtätten hergibt und daß dies Kapital von den betr. Landwirten durch Amortiſation allmählich getilgt wird. Ebenſo wie die Durchführung einer Be- oder Ent⸗ wäſſerungsanlage muß auch die Einrichtung einer zweckmäßigen Düngerſtätte zu den Meliorationen gezählt werden. Daß zu jenen der Staat oder, von ihm ermächtigt, öffentliche Verbände den erforderlichen Kredit zu gewähren berufen ſind und tatſächlich darbieten, wurde S. 222 ff. erörtert. Es iſt kein Grund vorhanden, weshalb dieſer Kredit nicht auch auf die mindeſtens ebenſo wichtigen Düngerſtätten ausgedehnt werden ſolle. Hiermit iſt ſchon dasjenige Gebiet der landwirtſchaftlichen Technik be⸗ rührt, für welches in beſonderem Grade die Mitwirkung des Staates in Anſpruch genommen werden muß, nämlich das Meliorationsweſen. Es handelt ſich dabei vorzugsweiſe um Ent⸗ und Bewäſſerungsanlagen, um Moorfulturen und um Aufforſtungen von Odländereien. In— wieweit die erſteren durch eine den Bedürfniſſen entſprechende Geſtaltung des Kredit⸗ und Genoſſenſchaftsweſens gefördert werden können, und inwie⸗ weit der Staat hierbei zur Mithilfe berufen iſt, wurde bereits S. 184 ff. und S. 222 ff. dargelegt. Die Aufgabe des Staates iſt aber eine noch weitergehende. Ihm liegt es ob, das ganze Waſſerrecht ſo zu geſtalten, daß die Durchführung von Ent⸗ und Bewäſſerungsanlagen tunlichſt erleichtert wird. Der Staat ſteht hier vor einem beſonders ſchwierigen Problem, welches noch in keinem Land in befriedigender Weiſe gelöſt iſt und das auch im Deutſchen Reich der Löſung harrt. Das Einführungsgeſetz zu dem Bürgerlichen Geſetzbuch für das Deutſche Reich beſtimmt in Art. 65: „Unberührt bleiben die landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche dem Waſſerrecht angehören, mit Einſchluß des Mühlenrechtes, des Flötzrechtes und des Flößereirechtes ſowie der Vorſchriften zur Beförderung der Bewäſſe— rung und Entwäſſerung der Grundſtücke und der Vorſchriften über Anlan— dungen, entſtehende Inſeln und verlaſſene Flußbetten.“ Nicht nur die in den einzelnen Staaten über die genannten Materien beſtehenden Geſetze ſind ſehr abweichend, ſondern die Verſchiedenheiten erſtrecken ſich auch häufig auf die einzelnen, dem gleichen Staate angehörenden Teile. Kaum auf einem anderen Gebiete des Rechtsweſens herrſcht eine ſolche Mannigfaltigkeit und, man darf wohl ſagen, Verwirrung, wie auf dem des Waſſerrechtes. Vor— zugsweiſe leiden darunter die Kleinſtaaten, denen vermöge ihres geringen Umfanges am meiſten die Möglichkeit abgeſchnitten iſt, über das in ihrem Territorium fließende Waſſer in einer den Intereſſen ihrer Bewohner ent- ſprechenden Weiſe zu verfügen bezw. auf deſſen Menge und Beſchaffenheit einen Einfluß auszuüben. Schon ſeit mehreren Jahrzehnten ſtreben die be— rufenen Vertreter der Landwirtſchaft nach einer einheitlichen und zweckent— ſprechenden Geſtaltung des Waſſerrechtes, und gerade in der letzten Zeit iſt der Ruf hiernach beſonders laut geworden. Wenn er bisher noch keine Er- hörung gefunden, ſo liegt dies nicht an der mangelnden Willfährigkeit der Regierungen oder auch der Volksvertretungen, ſondern an der Schwierigkeit der Sache. Bei dem Waſſerrecht kommen die verſchiedenſten und zum Teil ganz entgegengeſetzte Intereſſen in Betracht, die aber ſämtlich einen mehr oder minder großen Anſpruch auf Berückſichtigung erheben können. Der Landwirt will die Möglichkeit haben, das Waſſer zur Bewäſſerung ſeiner Wieſen zu benutzen und das überflüſſige, ſchädliche Waſſer von ſeinen Grund— ſtücken abzuleiten. Mahl⸗ und andere Müller wollen über das Waſſer zur Inbetriebſetzung ihrer Werke verfügen; induſtrielle Etabliſſements verſchiedenſter 16* 244 XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. Art verlangen, das verbrauchte Waſſer in die vorhandenen ſtehenden oder fließenden Gewäſſer ableiten zu dürfen. Die bei der Fiſchzucht Intereſſierten, ebenſo die Anwohner von Waſſerläufen wehren ſich gegen jede für die Ge— ſundheit von Menſchen oder Tieren ſchädliche Verunreinigung derſelben. Die Stadtbewohner erheben den Anſpruch, daß ihnen die Zuleitung von gutem Trinkwaſſer und die Ableitung ihres Schmutzwaſſers nicht erſchwert, ſondern möglichſt erleichtert werde. Allen dieſen Forderungen zu genügen, iſt der Natur der Sache nach ausgeſchloſſen. Bei der Regelung des Waſſerrechtes kann es ſich nur darum handeln, die verſchiedenartigen Intereſſen richtig ab- zuwägen, den für das Gemeinwohl wichtigſten Bedürfniſſen vorzugsweiſe entgegenzukommen, die minder wichtigen dagegen mehr zurückzuſetzen. In zweifelhaften Fällen wird häufig der Geſichtspunkt den Ausſchlag geben müſſen, ob den von der einen Seite geſtellten, von der anderen Seite be— kämpften Anſprüchen nicht etwa durch ſonſtige Mittel, die das Waſſerrecht ganz unberührt laſſen, Genüge geleiſtet werden kann. Dies trifft nicht ſelten zu, und es kommt dann nur in Frage, ob denjenigen, welche für Anwendung der ſonſtigen Mittel Opfer bringen müſſen, hierfür eine Entſchädigung gewährt werden ſoll und von wem dieſe zu leiſten iſt. Auf die vielen in Betracht kommenden Einzelheiten kann hier nicht eingegangen, es ſoll nur auf ein paar, meines Erachtens entſcheidende Grundſätze hingewieſen werden. Der Grund und Boden eines Landes iſt unvermehrbar; ſeine erſte und wichtigſte Beſtimmung liegt in der Erzeugung der für die Bevölkerung notwendigen Nahrungsmittel. Der Boden des Deutſchen Reiches genügt dieſer Beſtimmung zurzeit nicht vollſtändig; es iſt eine der dringendſten Aufgaben der Agrarpolitik, die Differenz zwiſchen dem Bedarf und der Pro⸗ duktion an Nahrungsmitteln möglichſt niedrig zu geſtalten. Das Haupt⸗ mittel hierzu muß in der Steigerung der Ertragsfähigkeit der bereits kulti⸗ vierten Flächen geſucht werden. Zu einer ſolchen bildet aber eine zweckent⸗ ſprechende Regulierung der Waſſerverhältniſſe die notwendige Vorausſetzung. Von dieſem Geſichtspunkte aus hat die Landwirtſchaft den nächſten Anſpruch darauf, daß das Waſſerrecht in einer ihren Intereſſen entſprechenden Weiſe geregelt werde. Von gleicher Bedeutung ſind nur die Anſprüche, welche auf die Zuführung guten Trinkwaſſers und die Abführung geſundheitsſchädlicher Abwäſſer, ſofern letztere nicht auf andere Weiſe zu beſeitigen ſind, erhoben werden. Gegen die genannten Forderungen müſſen diejenigen der Induſtrie, ſoweit ſie darauf gerichtet ſind, vorhandene Gewäſſer als Triebkraft oder zur Ableitung von Abfallſtoffen zu benutzen, in den Hintergrund treten. Damit ſoll keineswegs geſagt ſein, daß ſie keine Berückſichtigung verdienen; aber ſie dürfen nicht als die in erſter Linie maßgebenden betrachtet werden. Solches um ſo weniger, als in den meiſten Fällen der Induſtrie andere Wege offen ſtehen, ihre berechtigten Bedürfniſſe zu befriedigen, was in den beiden vor⸗ genannten Fällen nicht möglich iſt. Die Triebkraft des Waſſers kann heut⸗ zutage durch Dampf oder Elektrizität erſetzt werden. Aus Fabriken oder Bergwerken ſtammende Abwäſſer, welche jetzt häufig die unterhalb liegenden Gewäſſer ſo verunreinigen, daß die Fiſche ſterben, Menſchen und Vieh an ihrer Geſundheit Schaden leiden, der Ertrag von Wieſen und Weiden um die Hälfte oder mehr zurückgeht, können durch geeignete Behandlung ihrer nachteiligen Eigenſchaften entkleidet oder nach Orten geleitet werden, wo ſie keine Verheerungen anzurichten imſtande ſind. 5 Einiges iſt zwar behufs Abhilfe vorhandener Übelſtände in den letzten Jahrzehnten geſchehen; aber lange nicht ſo viel, als nötig und möglich wäre. Mit Grund kann die Landwirtſchaft beanſpruchen, daß auf dem Gebiete des Waſſerrechtes ihr eine größere Berückſichtigung, als bisher, zuteil wird; ſie XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. 245 kann es fordern nicht in ihrem Intereſſe allein, ſondern im Intereſſe der Volkswirtſchaft und des Staates. 725 Die Odländereien find, abgeſehen von Bauplätzen und Verkehrs- ſtraßen aller Art, faſt die einzigen Flächen im Deutſchen Reich, die einer regulären land⸗ oder forſtwirtſchaftlichen Benutzung noch nicht unterzogen ſind. Zu ihnen zählen nach der offiziellen Statiſtik auch die weder zum Ackerbau noch als Grünland benutzten Moore. Repräſentieren die Odländereien auch nur einen kleinen Prozentſatz der Geſamtfläche des Deutſchen Reiches, ſo umfaſſen ſie doch immerhin noch über 2 Mill. ha, die zum bei weitem größten Teil dem Acker- bezw. Wieſenbau oder der Forſtkultur unterworfen werden könnten. Hierzu find freilich in vielen Fällen Opfer nötig, die zu⸗ nächſt ſich nicht bezahlt machen, die zu bringen von Privatperſonen daher nicht erwartet oder gar gefordert werden kann. Es iſt daher Aufgabe des Staates, helfend einzuſchreiten. Denn im Intereſſe der Geſamtheit liegt es, daß mit Rückſicht auf das ſtarke Wachstum der Bevölkerung möglichſt aller zur Kultur geeignete Boden auch hierzu herangezogen wird. Inwieweit es ſich um Odländereien handelt, die ſich lediglich oder doch am beſten zum Waldbau eignen, ſo ſollen der Staat oder größere Kommunalverbände die— ſelben käuflich an ſich bringen und deren Aufforſtung ins Werk ſetzen. Seitens der preußiſchen Staatsregierung und einzelner preußiſcher Provinzial⸗ verbände wird hiernach ſchon ſeit einer Reihe von Jahren verfahren. Die Aufforſtungen in der Eifel, in Schleswig-Holitein, in der Lüneburger Heide legen davon Zeugnis ab. Es bleibt nur zu wünſchen, daß das gegebene . Beiſpiel allgemeine Nachahmung findet und daß auch die Einzelgemeinden, 4 die über Odlandbeſitz verfügen, demſelben folgen. Hierbei wird es oft nötig ſein, daß der Staat oder die größeren Kommunalverbände den betreffenden 5 Gemeinden materielle Unterſtützung gewähren, was übrigens ſchon hier und 1 da geſchieht. 4 Von den Moorländereien eignet ſich ein großer Teil zum Acker— oder Wieſenbau. Daß der Staat deren Kultivierung direkt in die Hand nimmt, wird ſich zwar nur ausnahmsweiſe empfehlen; aber er kann und ſoll dieſelbe doch fördern teils durch Belehrung, teils durch materielle Unter— ſtützung. Erſtere iſt deshalb beſonders nötig, weil es ſich bei der Moor— kultur um Maßregeln handelt, die verhältnismäßig noch neueren Urſprungs ſind und über deren Anwendung die meiſten Landwirte noch keine genügende 1 Erfahrung beſitzen, die auch durch fortgeſetzte exakte Verſuche immer aufs 9 neue geprüft und vervollkommnet werden müſſen. Zu dieſem Zweck hat 5 Preußen im Jahre 1876 die Zentralmoorkommiſſion und 1877 die Moorverſuchsſtation zu Bremen ins Leben gerufen. Der Tätigkeit beider iſt es ganz beſonders zu danken, daß in den letzten Jahrzehnten 4 . * . . Ir 59 1 * 15 N eee 1 die Kultivierung von Mooren eine größere Ausdehnung erlangt und viel 5 rationeller, als es früher der Fall war, betrieben wird ). “ Für Bayern wurde 1894 eine Landesmoorkulturanſtalt errichtet 1 mit der Aufgabe: die in Bayern vorhandenen Moore auf ihre Beſchaffenheit 4 und Kulturfähigkeit zu unterſuchen, in verſchiedenen Teilen des Königreichs 1 eee eee 1) Über das, was der preußiſche Staat für die Kultivierung von Moorflächen getan N hat, giebt eine ausführliche Denkſchrift „Der gegenwärtige Stand der Moorkultur und h der Moorbeſiedelung in Preußen“ Aufichluß, welche der Miniſter für Landwirtſchaft hat ausarbeiten und dem Landesökonomie-Kollegium am 1. Februar 1899 hat vorlegen laſſen. — Die Zentralmoorkommiſſion tritt jedes Jahr ein oder meherere Male zu mehrtägigen Sitzungen zuſammen und veröffentlicht darüber ausführliche Protokolle, die einen genauen Einblick in ihre Tätigkeit und den Fortgang der Moorkultur gewähren. Das Protokoll der letzten (51.) Sitzung vom 20.— 25. Juni 1903 iſt zu Berlin in der Buchdruckerei der „Poſt“ ö 1904 erſchienen. 246 XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. raktiſche Verſuche anzuſtellen und auf Grund der dabei gemachten Er⸗ be den einzelnen Moorbeſitzern bei der Kultivierung von Mooren mit Rat und Tat zur Seite zu ſtehen. Die Unterſtützung, welche der Staat dem techniſchen Betrieb der Vieh— haltung zuteil werden laſſen kann, beſteht zunächſt darin, daß er die Ver⸗ breitung guter, den örtlichen Verhältniſſen angemeſſener Viehraſſen zu fördern ſucht. Er ſoll dies in der Regel nicht direkt, ſondern durch Vermittelung der landwirtſchaftlichen Vereine tun, welche jetzt überall einen beſonders wichtigen Teil ihrer Tätigkeit darin erblicken, die Rentabilität der Vieh⸗ haltung durch Einführung und Verbreitung leiſtungsfähiger Viehraſſen, ſowie durch angemeſſene Züchtung und Pflege derſelben zu heben. Außer der Be- lehrung dienen hierzu als Mittel: der Ankauf von guten Zuchttieren und die Verteilung von Prämien an Landwirte, die beſondere Erfolge bei ihrer Viehhaltung aufzuweiſen haben. Durch konſequente und ſachgemäße An⸗ wendung dieſer Mittel iſt für Verbeſſerung der Viehhaltung, beſonders bei den bäuerlichen Beſitzern, ſchon viel erreicht worden. Ihre fortgeſetzte An⸗ wendung wird aber ſtets nötig bleiben, da die Viehhaltung noch nirgends auf der erreichbar höchſten Stufe ſteht, ſogar in den meiſten Gegenden noch vieles zu wünſchen übrig läßt. Daß der Staat obige Zwecke durch Be⸗ willigung von Geldmitteln unterſtützt, liegt innerhalb ſeiner Aufgabe. Er darf und muß es um ſo reichlicher tun, je mehr die landwirtſchaftlichen Vereine ſelbſt für die gleichen Zwecke aufbringen. Ihnen hat die Regierung auch die angemeſſene Verteilung der Staatsgelder zu überlaſſen und ſoll dafür nur allgemeine Grundſätze als zu befolgende Normen aufitellen. Bei der Viehzucht ſteht dem bäuerlichen Beſitzer die Schwierigkeit entgegen, daß die Haltung eines wirklich guten männlichen Zuchttieres für eine geringe Zahl von weiblichen Tieren ungewöhnlich große Koſten ver⸗ urſacht. Für 30 — 40 Kühe oder ebenſo viele Stuten genügt ein Bulle oder ein Hengſt vollſtändig. Dieſer Tatſache entſprechend iſt es in Landgemeinden von alters her Gebrauch geweſen, daß bloß ein Beſitzer oder allenfalls einige wenige Beſitzer ein männliches Zuchttier halten, welches dann, unter gewiſſen Bedingungen, auch von den übrigen zur Zucht benutzt wird. In vielen Fällen war und iſt noch das Vatertier gemeinſchaftliches Eigentum aller oder einer größeren Anzahl von Bauern. Eine fortſchreitende Entwicklung der Viehhaltung hat nun zur unerläßlichen Vorausſetzung, daß die benutzten Vatertiere den an ſolche zu ſtellenden Anforderungen möglichſt vollkommen entſprechen. Es muß verhütet werden, daß nicht etwa durch Unverſtand oder übel angebrachte Sparſamkeit fehlerhafte Zuchttiere in einer Gemeinde zur Verwendung kommen und dadurch die ganze Viehhaltung derſelben heruntergebracht oder in ihrer fortſchreitenden Entwicklung gehemmt wird. Schon häufig iſt dies geſchehen, und die Gefahr dazu liegt immer aufs neue vor, wenn ihr nicht vorgebeugt wird. In Erkenntnis deſſen hat man ſchon in früheren Jahrhunderten hier und da den Verſuch gemacht, die Haltung von männlichen, durch viele Beſitzer gemeinſchaftlich benutzten Zuchttieren an gewiſſe Bedingungen zu knüpfen. Hierunter gehört beſonders, daß nur ſolche Tiere zur Verwendung kommen dürfen, die von Sachverſtändigen als zur Zucht geeignet befunden worden ſind und die in einer ihrem Zweck ent⸗ ſprechenden Weiſe gefüttert und gepflegt werden. Vor ihrer Zulaſſung zur Zucht werden die betreffenden Tiere von Sachverſtändigen einer Prüfung unterzogen, die man Körung) nennt. Von den brauchbar befundenen Tieren ſagt man: ſie ſind angekört; von den als untauglich erkannten: ſie 1) Das Wort Körung ſtammt von „küren“ — wählen, auswählen. XIV. Fürſorge d. Staates für die Technik des landw. Betriebes. 247 ſind abgekört. Die Beſtimmungen über das bei der Körung zu befolgende Verfahren bezeichnet man mit dem Ausdruck „Körordnung“. Eine ſolche zu erlaſſen und durchzuführen, iſt nur eine Behörde befugt und befähigt. Die älteren Körordnungen erſtreckten ſich gewöhnlich nur auf eine einzelne Gemeinde oder auf einen räumlich eng begrenzten Landesteil; die meiſten Orte entbehrten überhaupt einer Körordnung. Nachdem man aber ſowohl ſeitens der Landwirte, auch der bäuerlichen Beſitzer, wie ſeitens des Staates der Viehhaltung eine größere Aufmerkſamkeit zugewendet hatte, er— kannte man die Notwendigkeit, möglichſt überall Körordnungen einzuführen und für deren Ausgeſtaltung gewiſſe einheitliche Grundſätze zur Anwendung zu bringen. Infolgedeſſen beſtehen jetzt für die meiſten deutſchen Staaten oder deren einzelne Teile derartige Ordnungen. Denſelben für das ganze Deutſche Reich oder auch nur für Preußen eine durchweg übereinſtimmende Geſtalt zu geben, iſt weder nötig noch angebracht, da die örtlichen Verhält— niſſe und Bedürfniſſe zu verſchieden ſind. Man muß aber dem Staat das Recht zuſprechen und die Pflicht auferlegen, ſeinerſeits dafür zu ſorgen, daß überall in ſeinem Gebiete Körordnungen erlaſſen und gehandhabt werden. Mit einer Körordnung pflegt der Körzwang verbunden zu ſein, d. h. nur angekörte Vatertiere dürfen von Gemeinden als Zuchttiere aufgeſtellt oder als ſolche von Privatperſonen an Dritte zur Benutzung überlaſſen werden. Dagegen ſteht es jedem Landwirt frei, jedes beliebige Vatertier 4 zur Zucht innerhalb ſeiner eigenen Herde zu verwenden. Auf Muttertiere 5 dehnen ſich die Körordnungen nicht aus. Eine gewiſſe Beſchränkung der 14 wirtſchaftlichen Freiheit liegt zwar in dem Körzwang, und daher iſt derſelbe, wie der Erlaß einer Körordnung überhaupt, früher ſehr häufig von Land— wirten bekämpft worden; auch jetzt noch findet dieſe Einrichtung ihre Gegner. Aber die damit gemachten Erfahrungen haben ſich doch überwiegend als ſo h günſtige herausgeſtellt, daß der frühere Widerſtand ſehr nachgelaſſen hat!). 5 Das Bedürfnis nach einer Körordnung liegt nur für Pferde und A Rindvieh vor; für Schafe und Schweine iſt fie entbehrlich. Innerhalb ; der preußiſchen Monarchie gab es 1887 im ganzen 18 Hengſt- und 11 a Stierkörordnungen, die zuſammen aber noch nicht alle zu dem preußiſchen i Staate gehörenden Gebiete umfaßten. Bayern hat die Hengſtkörung durch 1 26. März 1881, die Stierkörung durch Geſetz vom 5. April 1888 5 geregelt. 5 Unter allen Zweigen der Viehhaltung iſt der Staat ganz beſonders an der Pferdehaltung intereſſiert. Er muß wegen ſeines ſtarken Bedarfes an Militärpferden ein großes Gewicht darauf legen, daß ihm ſtets die Mög⸗ N lichkeit bleibt, dieſen Bedarf in angemeſſener Beſchaffenheit durch Ankauf im 5 eigenen Lande zu decken. Die Sicherheit des Staates und ſeiner Bewohner 4 gegen äußere Feinde hängt davon ab, daß das Heer ſtets mit einer ge— nügenden Zahl brauchbarer Pferde verſorgt iſt, daß auch im Kriegsfall der Mehrbedarf an Pferden von der heimiſchen Landwirtſchaft aufgebracht werden kann. Daraus erwächſt für den Staat die Aufgabe, der Pferdehaltung ſeine ganz beſondere Unterſtützung zuzuwenden. Es handelt ſich dabei vornehm— lich um Beſchaffung der nötigen männlichen Zuchttiere, der Hengſte. Der Landwirt benutzt als Arbeitspferde in der Regel keine Hengſte, weil ſie zu unbändig ſind, ſondern Stuten oder verſchnittene männliche Tiere, Wallachen. Gute Zuchthengſte ſind überdem ſehr teuer. Wenn der Staat mit einiger Sicherheit darauf rechnen will, daß die Landwirtſchaft ihm das nötige 1) Über den Zweck und die Bedeutung der Körordnungen ſiehe den Artikel „Hör ordnung“ von Hugo Thiel im Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften, 2. Aufl. V. Bd. (1900), S. 131 ff. 248 XV. Handels- und Verkehrsweſen. Material an jungen für das Heer brauchbaren Pferden, die ſogenannten Remontepferde, liefert, dann muß er die erforderlichen Zuchthengſte den Stutenbeſitzern unentgeltlich oder gegen eine geringe Entſchädigung zur Ver fügung ſtellen. Solches kann er aber nur, wenn er die Hengſte ſelbſt züchtet, aufzieht und, ſolange ſie Zuchtzwecken dienen, auch dauernd unter⸗ hält. Es geſchieht dies in den Staatsgeſtüten. Man unterſcheidet zwiſchen Hauptgeſtüten und Landgeſtüten. In erſteren werden die für den Ge- brauch im Lande nötigen Hengſte gezüchtet und aufgezogen. Sind ſie in ein für Zuchtzwecke genügendes Alter gelangt, ſo kommen ſie als ſogenannte Landbeſchäler in die Landgeſtüte. Von letzteren aus werden ſie jedes Jahr für einige Monate (bei Beginn des Frühjahrs) überall im Lande ver⸗ teilt, damit ſie von den privaten Pferdebeſitzern zur Deckung ihrer Stuten benutzt werden können. Nach der Deckzeit kehren die Hengſte wieder in die Landgeſtüte zurück. 5 Die auf dieſe Weiſe mit Hilfe des Staates erzielten Fohlen werden von den Landwirten aufgezogen und, wenn ſie gebrauchsfähig geworden ſind, entweder als Remonte an den Staat verkauft, oder auch anderweitig ver⸗ äußert oder für die eigene Benutzung eingeſtellt. Der Staat unterſtützt alſo die Pferdehaltung der Landwirte in doppelter Richtung: er liefert ihnen männliche Zuchttiere und kauft ihnen einen großen Teil der aufgezogenen jungen Tiere zu guten Preiſen ab. | Weil die Anſprüche, welche die Militärverwaltung an die von ihr be= nötigten Pferde macht, nicht ganz zuſammenfallen mit denen, welche die Landwirtſchaft an Arbeitspferde ſtellen muß, ſo hat man in Preußen die Einrichtung getroffen, daß die Landgeſtüte der Provinzen Oſt- und Weſt⸗ preußen, Poſen, Brandenburg und Hannover (mit Ausnahme des Reg.-Bez. Hildesheim) lediglich ſolche Landbeſchäler halten, deren Nachkommen ſich vor⸗ ausſichtlich zu Militärpferden eignen; den Landgeſtüten der übrigen Provinzen werden dagegen Hengſte zugewieſen, die für die Zucht von landwirtſchaft⸗ lichen Gebrauchspferden beſonders paſſend erſcheinen. Preußen beſitzt fünf Haupt⸗ bezw. Zuchtgeſtüte; Trakehnen und Zwion-Georgenburg in Oſtpreußen, Neuſtadt a. D. in Brandenburg, Graditz in der Provinz Sachſen und Beberbeck in Heſſen-Naſſau. An Landgeſtüten zählt es 18, von denen vier auf Oſtpreußen, je zwei auf die Provinzen Weſtpreußen, Poſen und Schleſien fallen; die übrigen acht Provinzen haben je ein Landgeſtüt. f Bayern hat zwei Haupt- oder Stammgeſtüte und fünf Land⸗ geſtüte. XV. Bandels- und Perkehrsweſen. Auf die Entwicklung der Landwirtſchaft iſt im Laufe des letzten halben Jahrhunderts kaum etwas anderes von ſo großem Einfluß geweſen als die ſtattgehabte Umgeſtaltung der Verkehrsverhältniſſe. Wie augenſchein⸗ lich dieſer Einfluß auch zutage tritt, ſo wird deſſen Bedeutung doch häufig verkannt oder wenigſtens unterſchätzt; letzteres namentlich nach ſeinen un⸗ günſtigen Wirkungen hin. Das Sinken der Preiſe von Wolle, Getreide und anderen landwirtſchaftlichen Produkten, die maſſenhaſte Abwanderung länd⸗ licher Arbeiter nach den Städten und Induſtriebezirken ſind in letzter Linie auf die Verbilligung und Erleichterung zurückzuführen, die in bezug auf den Transport und die Ortsveränderung von Waren und Menſchen ſtattgefunden XV. Handels- und Verkehrsweſen. 249 haben. Dem gleichen Umſtande iſt es allerdings auch zu danken, daß zu⸗ zunſten der heimiſchen Landwirtſchaft das Abſatzgebiet für Milch, Butter, bendes Vieh, ſelbſt für Getreide ſich bedeutend vergrößert, daß der Bezug von käuflichen Futter⸗ und Dungmitteln erheblich wohlfeiler und dadurch für die Mehrzahl der Landwirte überhaupt erſt lohnend geworden iſt. Die Umgeſtaltung der Verkehrsverhältniſſe und deren Einfluß auf die Landwirtſchaft ſind noch keineswegs zum Abſchluß gekommen. Was die Zu— kunft bringen wird, läßt ſich gar nicht vorausberechnen. Für den einzelnen Landwirt und für die mit der Pflege der Landwirtſchaft betrauten Perſonen und Behörden ergibt ſich hieraus die wichtige Aufgabe, die Anderungen der Veerkehrsverhältniſſe aufmerkſam zu beobachten und die hieraus fließenden Folgerungen rechtzeitig und ſachgemäß zu ziehen. Bei dem Verkehr hat man zu unterſcheiden zwiſchen dem im Inlande ſtattfindenden, dem inneren, und dem mit dem Auslande, dem äußeren. Jede Erleichterung des inneren Verkehrs kann im allgemeinen als für die Landwirtſchaft nützlich betrachtet werden; vor allen Dingen jede Anlage eeiner neuen Kunſtſtraße, Vollbahn, Kleinbahn oder Waſſerſtraße. Sowohl die von dem Landwirt zum Verkauf gebrachten Produkte, wie die von ihm bezogenen Bedürfniſſe ſind in weit überwiegender Zahl und Menge Gegenſtände, die im Verhältnis zu ihrem Umfang und Gewicht einen nied— rigen Wert haben, deren Transport infolgedeſſen relativ teuer zu ſtehen kommt. Der Transport von einem Zentner koſtet für je 10 km auf ſchlechteren Landwegen etwa 25 Pf., auf Kunſtſtraßen 12,5 Pf., auf Eiſenbahnen etwa 2 Pf., auf Waſſerſtraßen in der Regel noch erheblich weniger. Schon dieſe nackten Zahlen zeigen, von wie großer Bedeutung für die Organiſation und die Rentabilität des Betriebes die Art der Verkehrsmittel iſt, welche dem Landwirte zur Verfügung ſtehen. Von ihnen hängt es in ſehr vielen Fällen ab, ob friſche Milch, Kartoffeln, Zuckerrüben, Brenntorf, Ziegeleiprodukte, vielleicht gar Heu und Stroh, eine verkaufsfähige Ware bilden oder nicht; ob von dem erzielten Preis 10, 20, 50 oder noch mehr Pfennige pro Zentner als Transportkoſten bis zum Abſatzorte in Abzug zu bringen ſind. Eine möglichſt vollkommene Ausgeſtaltung des inneren Verkehrsnetzes liegt daher im eigenſten Intereſſe der Landwirtſchaft. Freie Hand hat der einzelne Landwirt hierin nur in bezug auf die Wege, welche innerhalb der Grenzen ſeines Grundbeſitzes ſich befinden. Dieſe, namentlich ſoweit ſie ein notwendiges Verbindungsglied zwiſchen dem Wirtſchaftshofe und dem nächſten Marktorte bilden, muß er vor allen Dingen ſo herſtellen und in ſolcher Ver— faſſung erhalten, daß fie jederzeit mit vollbeladenen Wagen befahren werden können. Über die Wege außerhalb ſeiner Grenzen iſt er nicht Herr. An ihrer Herſtellung und guten Unterhaltung, ſoweit ſie nicht vorzugsweiſe dem großen Verkehr dienen, haben alle Landwirte, deren Güter in dem betreffen— den Bezirk liegen, das nächſte und meiſte Intereſſe. Es iſt daher ganz in der Ordnung, wenn der Staat den kommunalen Körperſchaften, den 1 Gemeinden, Kreiſen oder Provinzen den Bau von Kunſtſtraßen, Neben- und Kleinbahnen und deren Inſtandhaltung überläßt oder zuweiſt. Da hierbei aber auch öffentliche Intereſſen verſchiedener Art in Frage kommen, die über die Grenzen der einzelnen lokalen Gemeinweſen herausragen, ſo darf man von dem Staate beanſpruchen, daß er die letzteren bei der Fürſorge für die Verkehrswege aus den ihm zur Verfügung ſtehenden Geldmitteln unter— ſtützt. Dementſprechend, aber auch aus Rückſichten auf das Allgemeinwohl, muß der Staat ein gewiſſes Aufſichtsrecht über die kommunalen Verkehrs— wege in Anſpruch nehmen. Seiner Genehmigung muß deren Herſtellung unterliegen; dies iſt ſchon nötig, damit nicht einzelne Eingeſeſſene vor I Del 2 ae Ds 250 XV. Handels⸗ und Verkehrsweſen. anderen in ungerechtfertigter Weiſe bevorzugt oder hinter ihnen zurückgeſetzt werden. Ferner muß der Staat ein gewiſſes Mitbeſtimmungsrecht ſich vorbehalten in bezug auf die Art der Anlage, der Benutzung und Unter⸗ haltung von öffentlichen Wegen. In dieſen Dingen ſoll er zwar den kom⸗ munalen Körperſchaften möglichſt freie Hand laſſen, ſchon um ihren Unter⸗ nehmungsgeiſt und ihre Opferfreudigkeit nicht abzuſchwächen; er muß aber immer die Möglichkeit behalten, offenbar unzweckmäßige oder den allgemeinen Intereſſen zuwiderlaufende Maßregeln zu verhindern oder rückgängig zu machen. Die Herſtellung und Verwaltung von Straßen, die dem großen Ber- kehr dienen, kommt dem Staate allein zu. Dabei iſt nicht ausgeſchloſſen, daß er für die Anlagekoſten ſich einen gewiſſen Zuſchuß ſeitens derjenigen kleineren oder größeren Kommunen ausbedingt, die vorausſichtlich den Haupt⸗ vorteil von der projektierten Straße haben werden. Wenn von dem Staate die Erbauung einer Vollbahn gefordert wird, deren Rentabilität zweifelhaft erſcheint, ſo iſt es nicht nur ſein Recht, ſondern ſeine Pflicht, von den dabei beſonders intereſſierten Gemeinden zu beanſpruchen, daß ſie ihm den erfor⸗ derlichen Grund und Boden unentgeltlich oder gegen eine geringe Entſchä⸗ digung zur Verfügung ſtellen. Ebenſo darf er an eine Stadt, welche wegen des ſtark geſtiegenen Verkehrs mit dem bisherigen beſchränkten Bahnhof nicht mehr auskommen zu können glaubt, das Verlangen ſtellen, daß ſie einen Teil der für die Neuerrichtung oder Erweiterung erforderlichen Koſten aus ihren Mitteln beiſteuert. Eine ſcharfe Grenze zwiſchen den Straßen, die dem großen, und denen, die dem kleinen Verkehr dienen, läßt ſich zwar nicht ziehen. Im allgemeinen kann man zu jenen aber die Vollbahnen ſowie die ſchiff— baren Flüſſe und Kanäle rechnen. Aus Rückſicht auf die mannigfaltigſten Intereſſen, ſowohl privater wie namentlich öffentlicher Natur, iſt es dringend wünſchenswert, daß alle hierzu gehörigen Verkehrswege in dem ausſchließ⸗ lichen Beſitz und der ausſchließlichen Verwaltung des Staates ſich befinden. Durch die günſtigen Erfolge, welche man in Preußen mit der Verſtaat⸗ lichung der Eiſenbahnen gemacht hat, ſind auch die meiſten früheren Gegner dieſer Maßregel zu einer anderen Meinung gekommen. Damit hat, von allem anderen abgeſehen, der Staat unbeſchränkte Herrſchaft über das Tarifweſen erhalten. Ein gewiſſes Aufſichts⸗ und Mitbeſtimmungsrecht hierüber hat er zwar auch bei den Privatbahnen aus⸗ geübt und übt es noch, direkt oder indirekt, aus. Jetzt aber hat er es in der Hand, die Tarife einheitlich und ſo zu geſtalten, wie es für das Inter⸗ eſſe der Geſamtheit am förderlichſten iſt. Freilich handelt es ſich dabei um unzählige Einzelheiten; es ſind ferner infolge von Veränderungen, die ſich in der Technik, im Handel ꝛc. vollzogen haben, häufig Umgeſtaltungen in den Tarifen nötig. Selbſt wenn die Staatsbehörden über ein ungewöhnliches Maß von Sachkenntnis, Erfahrung und Umſicht verfügen, iſt es ihnen allein nicht möglich, in allen Punkten und zu jeder Zeit die für die gegenwärtigen Umſtände zweckmäßigſte Tarifmaßregel zu treffen. Sie bedürfen dazu des Beirates von ſachverſtändigen Vertretern der Landwirtſchaft, der Induſtrie und des Handels. Aus dieſem Bedürfnis heraus ſind für Preußen im Jahre 1878 zunächſt auf dem Verwaltungswege, dann durch Geſetz vom 1. Juli 1882 ein Landes-Eiſenbahnrat und 9 Bezirks-Eiſen⸗ bahnräte ins Leben gerufen worden. Die letzteren ſetzen ſich zuſammen aus gewählten Vertretern der Landwirtſchaft, der Induſtrie und des Handels; der erſtere beſteht teils aus Deputierten der Bezirks⸗Eiſenbahnräte, teils aus Mitgliedern, die von den zuſtändigen Miniſtern berufen ſind. Beide Arten k L 5 a 1 * X VXV. Handels⸗ und Verkehrsweſen. | 251 on Körperſchaften können ſich nur gutachtlich äußern, müſſen aber in be- ſtimmten Angelegenheiten, namentlich in Tariffragen, gehört werden. Auch andere deutſche Staaten haben die Einrichtung der Eiſenbahnräte nachge⸗ ihmt; ſo Baden, Bayern, Mecklenburg-Schwerin, Sachſen und Württemberg; in Elſaß⸗Lothringen beſtand fie ſchon früher, nämlich ſeit 1874. Sie hat nicht nur die Bedeutung, daß es den Staatsbehörden ermöglicht wird, ſich über die Wünſche und Bedürfuniſſe der verſchiedenen Igntereſſengruppen genau zu orientieren, ſondern auch die weitere, daß dieſelben dadurch einen gewiſſen Rückhalt gewinnen gegen übertriebene For⸗ derungen, die etwa von dieſer oder jener Seite an die Eiſenbahnverwaltung erhoben werden. | 5 Im allgemeinen herrſcht bei den Vertretern aller Erwerbszweige das natürliche Beſtreben, auf eine möglichſt niedrige Geſtaltung der Tarife hin- zuwirken. Mit Rückſicht auf die Hebung des Verkehrs muß der Staat zwar dieſes Ziel ebenfalls im Auge haben; ihm liegt aber außerdem die Sorge für einen befriedigenden finanziellen Erfolg der Eiſenbahnverwaltung ob. In den Staatseiſenbahnen ſteckt ein großes Kapital, zu deſſen Beſchaffung oder Erwerbung der Staat beträchtliche Schulden hat machen müſſen. Für die Staatsgläubiger bilden die Eiſenbahnen ein wichtiges Unterpfand. Schon im Intereſſe des Staatskredits iſt es daher nötig, daß die Eiſenbahnen nach ſoliden Finanzgrundſätzen verwaltet werden. Ihr Rohertrag muß ausreichen, um I in ungünſtigen Jahren die geſamten Verwaltungskoſten zu decken, das Anlagekapital zu verzinſen und gleichzeitig in nicht allzu langer Friſt zu amortiſieren. Daraus folgt ſchon von ſelbſt, daß die Eiſenbahnen in ge— wöhnlichen Jahren Überſchüſſe liefern müſſen, die in beſonders guten Jahren ſich zu beträchtlicher Höhe ſteigern. Es iſt ganz in der Ordnung, wenn die Eiſenbahnen zugleich eine Erwerbsquelle für den Staat bilden; ebenſo wie ſolches die von Städten eingerichteten Anſtalten zu tun pflegen, welche die Verſorgung der Bewohner mit Licht oder Waſſer zum Zweck haben. Etwaige Überſchüſſe der Eiſenbahnen kommen allen Staatsbürgern zugute. Als ein kurzſichtiger Egoismus iſt es zu bezeichnen, wenn man vom Staate verlangt, er ſolle grundſätzlich auf ſolche Überſchüſſe verzichten und danach ſeine Tarife einrichten. Um ſo gefährlicher iſt dies, als man gar nicht wiſſen kann, ob nicht Zeiten eintreten, in denen die Einnahmen kaum ausreichen, um die laufenden Koſten, einſchließlich der Verzinſung, zu decken. Stets wird es eine wichtige, aber auch ungemein ſchwierige Aufgabe der entſcheidenden Be— hörden bleiben, die Tarife ſo zu bemeſſen, daß ſowohl die Intereſſen des Verkehrs wie die der Staatsfinanzen eine gleichmäßige Berückſichtigung finden. Eine andere, kaum leichtere Aufgabe beſteht darin, den keineswegs immer parallel miteinander laufenden Wünſchen der verſchiedenen Erwerbs- und Be— völkerungsgruppen in einer Weiſe nachzukommen, die den Grundſätzen aus— gleichender Gerechtigkeit entſpricht. Auf die Einzelheiten des Tarifweſens kann hier ſelbſtverſtändlich nicht eingegangen werden. Ich will hier nur ein paar Punkte hervorheben, die für die Landwirtſchaft von beſonderer Bedeutung ſind. Dieſelbe kann bean— ſpruchen, daß die Produkte, welche ſie in großen Mengen verkauft, und die Wirtſchaftsbedürfniſſe, die ſie in ähnlichen Mengen bezieht, zu nicht höheren Tarifen befördert werden, als die Maſſengüter, welche für den Bergbau, die Induſtrie und den Handel mit ſonſtigen Waren in Frage kommen. Zu jenen gehören namentlich Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, ferner alle Futter- und Dungmittel. Die Landwirtſchaft darf weiter verlangen, daß ihren Wünſchen in betreff der beſonderen Art der Beförderung gewiſſer Pro— dukte in ſo ausgiebiger Weiſe Rechnung getragen wird, als es mit den 9 T mn a: 0 en Tee 1 — ** — 8 2 7 8 2 > Tau N a * 75 u 5 an a EZ are, 2 e ar Ne er ze 8 N e eee em ER EN — * er * 8 = * NN ee 1 nz 2 Pa > 3 an — he Due K. 9 = 8 = P e e Bi 252 XV. Handels- und Verkehrsweſen. Intereſſen einer geordneten Eiſenbahnverwaltung irgend vereinbar iſt. Dies gilt z. B. für Milch, Butter, friſches Fleiſch, lebende Tiere. Es handelt ſich dabei ſowohl um Anbringung gewiſſer Vorrichtungen in den Transportwagen, wie auch um raſche Einladung, Beförderung und Ausladung. Die Anwendung des Prinzips der Staffeltarife, d. h. daß der Tarifſatz für die Längeneinheit bei der Beförderung auf größere Entfernungen ſtufenweiſe abnimmt, iſt durchaus gerechtfertigt. Vielfach herrſcht freilich ein Widerſtand gegen die Staffeltarife, und in der Tat können dadurch einzelne Intereſſen geſchädigt werden, namentlich wenn die Abnahme der Tarifſätze bei großen Entfernungen eine ungewöhnlich ſtarke iſt. Aber dieſer Umſtand kann nur dazu Veranlaſſung geben, bei Abmeſſung der Staffeltarife mit möglichſter Vorſicht und Schonung zu Werke zu gehen, nicht aber dazu, von ihnen überhaupt Abſtand zu nehmen. Das billigſte, wenn auch nicht das ſchnellſte Beförderungsmittel bilden die Waſſerſtraßen; ſie eignen ſich beſonders für Maſſengüter, deren Wert im Verhältnis zu ihrem Gewicht kein großer iſt. Ein weiterer Ausbau des deutſchen Kanalnetzes liegt nicht nur im Intereſſe der Induſtrie, ſondern auch in dem der Landwirtſchaft. Der in manchen landwirtſchaftlichen Kreiſen erhobene Widerſpruch gegen den projektierten Mittellandkanal, der den Oſten und den Weſten des Deutſchen Reiches durch einen direkten Waſſer⸗ weg verbinden ſoll, iſt nicht gerechtfertigt. Jede Erleichterung des Verkehrs und namentlich jede Verbilligung des Transportes kommt auch der Land⸗ wirtſchaft früher oder ſpäter zugute. Es kann ferner der geſamten deutſchen Landwirtſchaft nur zum Vorteil gereichen, wenn die gegenſeitigen Beziehungen zwiſchen dem Oſten und dem Weſten immer häufigere und engere werden. Je mehr dies geſchieht, deſto ſtärker wird die Überzeugung ſich Geltung ver⸗ ſchaffen, daß die beiden, nach manchen Richtungen hin allerdings ſehr ver⸗ ſchiedenen Hälften des Reiches in landwirtſchaftlicher Beziehung mehr ge- meinſame als gegenſätzliche Intereſſen haben und daß eine Pflege jener mit Rückſicht auf die Förderung des ganzen Gewerbes dringend geboten iſt. Auch die Abneigung vieler Landwirte gegen die Schiffahrtskanäle, welche das offene Meer direkt mit dem Binnenlande verbinden, ſcheint mir unbegründet. Man fürchtet, daß dadurch dem ausländiſchen Getreide oder anderen ausländiſchen landwirtſchaftlichen Erzeugniſſen ein noch leichterer Zufuhrweg eröffnet und dadurch den Produkten der heimiſchen Landwirtſchaft eine noch ſchärfere Konkurrenz geſchaffen werde. Dieſer Einwand hat aber mehr ſcheinbare als wirkliche Berechtigung. In den deutſchen Strömen, die ſich ins offene Meer ergießen, und in deren zahlreichen ſchiffbaren Neben⸗ flüſſen find bereits jo viel offene Zufuhrwege für ausländiſche Waren dar⸗ geboten, daß eine Vermehrung derſelben durch die Erbauung dieſes oder jenes neuen Kanales keine nennenswerte Veränderung in den Preiſen der landwirtſchaftlichen Produkte herbeiführen kann. Es heißt, die Sache am verkehrten Ende angreifen, wenn man gegen auswärtige Konkurrenz ſich da⸗ durch zu ſchützen verſucht, daß man die Ausbreitung des Wegenetzes im eigenen Lande erſchwert oder verhindert. Dadurch ſchadet man ſich ſelbſt mehr, als dem Auslande. Bedarf die inländiſche Produktion des Schutzes gegen die ausländiſche, ſo iſt das hierfür gegebene Mittel die Erhebung genügend hoher Eingangszölle. Welcher Art der Einfluß iſt, den Waſſerſtraßeu auf die Landwirtſchaft ausüben, läßt ſich durch den Hinweis auf die tatſächlichen Verhältniſſe beſſer konſtatieren, als durch theoretiſche Erwägungen. Nun iſt es offenkundig, daß die landwirtſchaftlichen Betriebe, die in der Nähe von Waſſerſtraßen liegen, durchſchnittlich einer beſſeren Rentabilität ſich erfreuen, als diejenigen, bei XV. Handeld= und Verkehrsweſen. 253 welchen dies nicht zutrifft. Wohl weiß ich, daß dieſe höhere Rentabilität in vielen Fällen zum großen oder größten Teil den günſtigeren Bodenverhält- niſſen zugeſchrieben werden muß. Aber dieſe ſind nicht die alleinige Urſache; überdies haben zahlreiche, an ſchiffbaren Flüſſen oder Kanälen liegende Grund— ſtücke keineswegs eine hervorragend günſtige Bodenbeſchaffenheit. Bei Neuanlagen von Kanälen muß allerdings die Landwirtſchaft be- anſpruchen, daß auf ihre ſpeziellen Bedürfniſſe und Wünſche genügend Rück— ſicht genommen wird. Mit Recht proteſtieren Landwirte gegen einen Kanal, der ihre Grundſtücke verſumpft, der eine nützliche oder notwendige Ent- oder Bemäſſerung erſchwert. Kanäle ſind jo anzulegen, daß die Waſſerverhält— niſſe dadurch für die Landwirtſchaft nicht ungünſtiger, ſondern günſtiger ge- ſtaltet werden. Leider kann man nicht behaupten, daß bei Waſſerbauten die landwirtſchaftlichen Intereſſen immer zu ihrem Rechte gekommen wären. Hierauf hinzuarbeiten, iſt eine wichtigere und dankbarere Aufgabe, als dem Ausbau des heimiſchen Kanalnetzes überhaupt Widerſtand zu leiſten. An der Förderung des Verkehrs mit dem Auslande, alſo dem äußeren Verkehr, haben Handel und Induſtrie ein viel größeres Intereſſe wie die Landwirtſchaft. Da im Deutſchen Reiche ſehr viel mehr landwirtſchaftliche Produkte ein⸗ als ausgeführt werden, ſo bedingt jede Erleichterung des äußeren Verkehrs eine Verſchärfung der ausländiſchen Konkurrenz für die deutſchen Landwirte. Es iſt leicht nachweisbar, daß die Wollpreiſe und ſpäter die Getreidepreiſe einen ſo ſtarken Rückgang erlitten haben, nachdem die Koſten für den Seetransport viel billiger geworden und nachdem in Rußland, Amerika und in anderen Ländern ungeheure Strecken durch den Bau von Eiſenbahnen für den Weltverkehr aufgeſchloſſen worden ſind. Beide Erſcheinungen ſtehen aber nicht nur in einem zeitlich, ſondern auch in einem urſächlichen Zuſammenhang. Die deutſchen Landwirte haben es als eine gegebene und unabänderliche Tatſache hinzunehmen und ſich damit abzu— finden, daß die fortſchreitende Entwicklung des äußeren Verkehrs ihnen im allgemeinen mehr Schaden als Vorteil bringt. Gegen dieſelbe anzukämpfen, würde ebenſo nutzlos wie töricht ſein. Jedes Land richtet ſeine Verkehrs— mittel und deren Benutzung ſo ein, wie es den eigenen Intereſſen zu ent— ſprechen ſcheint. Das iſt nicht nur ein berechtigter, ſondern ein durch die Pflicht der Selbſterhaltung geforderter Egoismus. | Wenn die deutſche Landwirtſchaft auch nicht in der Lage ſich befindet, eine ihr nachteilige Entwicklung des Verkehrsweſen in fremden Konkurrenz— ländern zu hindern, ſo ſteht es doch ihr frei und liegt ihr ob, alle Mittel anzuwenden, welche eine Verminderung der ihr hieraus erwachſenden Schädi— gungen herbeiführen können. Das natürlichſte und wirkſamſte Mittel bildet die Erhebung von genügend hohen Eingangszöllen für die in Frage kommenden landwirtſchaftlichen Produkte. Die Feſtſetzung ſolcher kann zwar nur ſeitens des Staates erfolgen; aber es iſt vor allem die Aufgabe der Vertreter der Landwirtſchaft, dahin gehende Anträge an die Reichsgewalt zu ſtellen und ſachgemäß zu begründen ). Für den inneren Handel und Verkehr wird als Regel der Grundſatz der Freiheit aufrecht zu erhalten ſein. Damit ſoll aber nicht ausgedrückt werden, daß der Binnenhandel überhaupt keinen Beſchränkungen unterliegen dürfe oder daß die volle Freiheit des Binnenhandels nicht Aus— wüchſe erzeugen könne, deren Bekämpfung auf privatem oder öffentlichem Wege notwendig iſt. Gerade Handelsgeſchäfte bieten beſonders leicht und häufig die Gelegenheit zu Täuſchung, Übervorteilung, Betrug. Hiergegen 1) Über die Zölle wird im folgenden Abſchnitt eingehend gehandelt. RE TE * 254 XV. Handels- und Verkehrsweſen. ſich zu wehren hat jeder, mag er als Käufer oder Verkäufer auftreten, das Recht und gewiſſermaßen die Pflicht. Kann er dabei ſich allein helfen, ſo kommt er am beſten und ſchnellſten zum Ziel. Reicht die Macht des einzelnen nicht aus, ſo muß zunächſt die Mitwirkung der von dem gleichen Übelſtande betroffenen angerufen werden. Erſt wenn auch dieſe als unzu⸗ länglich ſich erweiſt, ſoll Staatshilfe eintreten. Die nachfolgende Darſtellung wird zeigen, daß je nach den vorhandenen Umſtänden bald von dem einen, bald von dem anderen der drei genannten Mittel Gebrauch zu machen iſt. Die von dem Landwirt verkauften Erzeugniſſe find zumeiſt derartig, daß ſie noch einer, zuweilen einer wiederholten Umarbeitung bedürfen, be- vor ſie eine für den menſchlichen Konſum geeignete Geſtalt erlangen. Das Getreide muß durch die Hände des Müllers und Bäckers gehen, ehe es zu Brot wird; die Schlachttiere müſſen von dem Fleiſcher oder Metzger erſt zugerichtet werden, damit ſie in den von den Konſumenten begehrten Teil⸗ ſtücken abgegeben werden können. Auch die von der Landwirtſchaft gelieferten fertigen Verkaufsprodukte wie Milch, Butter, friſches Obſt, Kartoffeln ꝛc. werden häufig zunächſt an Händler veräußert, die ſie dann an die einzelnen Konſumenten wieder verkaufen. Zuweilen geht ein landwirtſchaftliches Er⸗ zeugnis durch drei oder vier verſchiedene Hände, ehe es in die Hände des Verzehrers gelangt. Jeder Zwiſchenhändler beanſprucht mit Recht, daß er für ſeine Mühewaltung entſchädigt, daß das von ihm angelegte Kapital ver⸗ zinſt wird, daß ihm auch noch ein Unternehmergewinn verbleibt. Infolge⸗ deſſen muß der Konſument für die gekauften Waren erheblich mehr zahlen, als der Landwirt für die gelieferten Produkte empfängt. Solches trifft auch für diejenigen Erzeugniſſe zu, die keiner weiteren Verarbeitung bedürfen, welche von dem Händler lediglich aufgekauft, kürzere oder längere Zeit auf⸗ bewahrt und dann in kleineren Mengen an die einzelnen Konſumenten ab⸗ geſetzt werden. Auch dieſe an und für ſich einfachen Maßregeln erfordern Arbeits- und Kapitalaufwand; fie find mit kleineren oder größeren Verluſten verbunden, die durch Schwinden, Verderben der betr. Waren, durch unein⸗ treibbare Zahlungsreſte ꝛc. entſtehen. Es iſt leicht begreiflich, daß der Landwirt den Wunſch hegt, den Zwiſchenhandel möglichſt zu beſeitigen und ſeine Produkte direkt an den Konſumenten abzuſetzen. Um ſo gerechtfertigter erſcheint derſelbe, als in der Tat manche Zwiſchenhändler ungewöhnlich hohe Gewinne machen, die mit den aufgewendeten Mühen und Koſten außer jedem normalen Verhältnis ſtehen. Freilich werden dieſe Gewinne oft größer dargeſtellt, als ſie wirklich ſind. Man bemißt dieſelben nach den beſonders günſtigen Erfolgen, die einzelne Zwiſchenhändler, wozu in dem Sinne der vorliegenden Darſtellung auch Müller, Bäcker und Fleiſcher gehören, erzielt haben. Man überſieht dabei alle diejenigen, welche nur mäßig gute oder ſchlechte Geſchäfte gemacht haben, vielleicht gar wirtſchaftlich zugrunde gegangen ſind. Viele Landwirte begehen dabei einen ähnlichen Fehler wie diejenigen Nichtlandwirte, welche die Rentabilität des landwirtſchaftlichen Gewerbes lediglich nach ſolchen Guts⸗ beſitzern oder Pächtern beurteilen wollen, welche infolge beſonderer perſön⸗ licher Tüchtigkeit oder infolge beſonderer glücklicher äußerer Umſtände aus den in ihrem Betrieb angelegten Kapitalien eine ungewöhnlich hohe Verzinſung erzielt haben. Gibt man aber auch zu, daß die Beurteilung des Zwiſchen⸗ handels in landwirtſchaftlichen Kreiſen nicht ſelten als eine den tatſächlichen Verhältniſſen nicht ganz entſprechende bezeichnet werden muß, ſo iſt doch auf der anderen Seite nicht zu beſtreiten, daß derſelben wirkliche Übelſtände zu⸗ grunde liegen. r Ä EEE en 5 XV. Handels⸗ und Verkehrsweſen. 255 An eine Beſeitigung des ſogenannten Zwiſchenhandels kann nicht ge— dacht werden. Er iſt ebenſo legitim und notwendig wie jede andere Art von Handel. Sprachlich iſt es nicht einmal ganz korrekt, den Zwiſchenhandel als eine beſondere Art des Handels zu bezeichnen. Jeder Handel iſt Zwiſchen— handel, d. h. eine zwiſchen Produzenten und Konſumenten eingeſchobene, den Warenaustauſch vermittelnde Inſtanz. Um mit Erfolg Handel treiben zu können, muß man nicht nur Kapital, ſondern auch beſondere Geſchäftskenntnis 2 beſitzen; eigentlicher Handel iſt auch nur möglich an Orten, wo viele Men— ſchen wohnen oder zuſammenkommen, an Marktplätzen. Hieraus ergibt ſich, daß der Landwirt noch mehr wie andere Gewerbetreibende bei dem Abſatz ſeiner Produkte auf den Zwiſchenhandel angewieſen iſt. Inwieweit er ſich . desſelben bedienen ſoll oder inwieweit er ihn entbehren kann, läßt fich all- gemein nicht beantworten. Die örtlichen und perſönlichen Verhältniſſe ſpielen dabei eine entſcheidende Rolle. In dem einen Fall wird es der Landwirt vorteilhaft finden, gewiſſe zum Verkauf beſtimmte Erzeugniſſe, wie Milch, Butter, Eier, Gemüſe, Obſt in kleineren Poſten, direkt an die einzelnen Konſumenten abzuſetzen; in einem anderen Fall erſcheint es zweckmäßiger, dieſelben in größeren Mengen auf einmal an Händler zu liefern und dieſen den Einzelverkauf zu überlaſſen. Mancher Landwirt iſt ſchon vom direkten Verkauf an die Konſumenten dazu übergegangen, ſich des Zwiſchenhandels zu bedienen; auch das Umgekehrte iſt vorgekommen. Ich vermute aber, daß jener Fall ſich häufiger ereignet, als dieſer. Der Landwirt hat um ſo eher Veranlaſſung, den Zwiſchenhandel in Anſpruch zu nehmen, je weniger es ihm möglich iſt, die ganze Menge der zum Verkauf beſtimmten Produkte irgend welcher Art an einen einzigen oder an eine kleine Zahl von Konſumenten auf einmal abzuſetzen; je mehr alſo die Notwendigkeit vorliegt, mit vielen Konſumenten in Verbindung zu treten oder die für den Verkanf beſtimmten Erzeugniſſe, ganz oder teilweiſe, kürzere oder längere Zeit, an dem Verkaufsorte lagern zu laſſen. Kann der Landwirt in einem beſtimmten Fall mit größerem Vorteil als Nachteil von dem Zwiſchenhandel entweder ſich ganz emanzipieren oder von den verſchiedenen, zwiſchen ihm und dem Konſumenten vorhandenen Zwiſcheninſtanzen eine ausſchalten, ſo ſoll er nicht verfehlen, von dieſer Möglichkeit Gebrauch zu machen. Hierzu gehört z. B. der direkte Verkauf von Heu, Stroh, Hafer, Kartoffeln, Brotgetreide an die Militärverwaltung; der Verkauf von Schlachtvieh an die Fleiſcher anſtatt an die Viehhändler; der Abſatz von friſchem Obſt an die ſtädtiſchen Großhändler und nicht an die auf dem Lande wohnenden oder umherziehenden kleinen Aufkäufer. Ein naheliegender Weg im Kampf gegen die wirklichen oder vermeint— lichen, aus dem Zwiſchenhandel entſpringenden Nachteile iſt der, daß die Landwirte ſich zu Vereinigungen zuſammenſchließen, welche die Funktionen des Zwiſchenhandels übernehmen. Der aus dem letzteren erwachſende reine Gewinn kommt dann den Produzenten zugute. In den Genoſſenſchaften iſt diejenige Form gegeben und geſetzlich ſanktioniert, die ſich für ſolche Ver— einigungen am beſten eignet. Während der beiden letzten Jahrzehnte ſind zahlreiche Genoſſenſchaften gegründet worden, deren letzter und eigentlicher Zweck darin beſteht, die Landwirtſchaft von dem Zwiſchenhandel unabhängiger zu machen. Es gehören hierzu ſowohl die Bezugs- wie die Verkaufs— und Produktionsgenoſſenſchaften. Da über die Genoſſenſchaften ſchon an anderen Stellen geſprochen ijt!), will ich mich hier auf einige Bemer— kungen bejchränfen, die ihre Bedeutung für den Handel mit Erzeugniſſen oder Bedürfniſſen der Landwirtſchaft näher darlegen ſollen. 1) Vergl. Abſchnitt XI, beſ. S. 176 ff., 182 ff. 256 XV. Handel3- und Verkehrsweſen. Bezugs genoſſenſchaften empfehlen ſich für diejenigen landwirt⸗ ſchaftlichen Bedarfsartikel, die von mehreren oder vielen nahe beieinander f wohnenden Landwirten gleichzeitig verlangt und benutzt werden. Namentlich gehören dazu Futter- und Dungmittel, auch wohl Sämereien und Brenn⸗ materialien. Die Vorteile des genoſſenſchaftlichen Bezuges ſind folgende. Bei größeren, auf einmal gekauften Mengen ſtellt ſich der Einkaufspreis für die gleiche Quantität niedriger, auch wird an Transportkoſten erheblich geſpart. Lieferant iſt ein Großhändler oder gar direkt der Produzent; es werden alſo ein oder gar mehrere Zwiſchenhändler ausgeſchaltet und der dieſen ſonſt zufließende Gewinn kommt den Landwirten zugute. Weiter gewährt der Bezug von dem Großhändler eine beſſere Garantie für die vor⸗ ſchriftsmäßige oder ausbedungene Beſchaffenheit der angekauften Waren. Bei großen Mengen iſt es außerdem leichter, ohne zu erhebliche Unkoſten die Beſchaffenheit nach erfolgter Lieferung einer ſachverſtändigen Prüfung unter⸗ werfen zu laſſen. Gerade bei dem Kleinhandel mit den vorgenannten Waren wird der Landwirt häufig übervorteilt, ſei es abſichtlich, ſei es unabſichtlich. Dem Kleinhändler fehlt ſogar oft die Möglichkeit, feſtzuſtellen, ob die ihm von anderen Händlern gelieferten Waren die bei dem Geſchäftsabſchluß vor⸗ ausgeſetzte Beſchaffenheit haben. Verkaufs- und Produktionsgenoſſenſchaften bieten ſchon größere Schwierigkeiten. Erprobt haben ſie ſich beſonders bei dem Verkauf von Milch oder den daraus hergeſtellten Fabrikaten, Butter und Käſe. Die Zahl der Molkereigenoſſenſchaften iſt in den letzten Jahrzehnten un⸗ gemein gewachſen; ſie betrug 1902 bereits rund 2400. Inſofern dieſelben, was in der Regel geſchieht, die Milch ganz oder teilweiſe auf Butter oder Käſe verarbeiten, ſind ſie gleichzeitig Produktionsgenoſſenſchaften. Ihre Be⸗ deutung beruht einmal darin, daß ſie dem Landwirt die mit Koſten und ſonſtigen Verluſten verbundene Mühe des Kleinverkaufs an einzelne Kon⸗ ſumenten abnehmen. Weiter darin, daß ſie die Herſtellung von Butter und Käſe billiger bezw. in beſſerer Qualität bewirken, als es wenigſtens der kleine und ſelbſt der mittelgroße Gutsbeſitzer vermag. Endlich pflegen die Genoſſenſchaften ihr Erzeugnis an Butter und Käſe direkt an die größeren Händler in den Städten zu liefern, die einen höheren Preis anlegen können, als die kleinen Zwiſchenhändler in der Nachbarſchaft. Der Verſand in be⸗ deutenden Mengen auf einmal macht es auch möglich, die Transportkoſten zu verringern und den Abſatz nach weit entfernten volkreichen Städten oder gar ins Ausland zu bewirken, wo die Butter einen beſonders hohen Preis hat. Anders ſind zu beurteilen die Bäckerei- und Schlachtgenoſſen⸗ ſchaften, ſofern ſie ſich damit befaſſen, Brot- und Fleiſchwaren zum Ver⸗ kauf herzuſtellen und an die Konſumenten direkt zu verkaufen, alſo gewiſſer⸗ maßen das Bäckerei- und Fleiſchergewerbe aus dem volkswirtſchaftlichen Produktions- und Verteilungsprozeß auszuſchalten. Bäcker und Fleiſcher ſind allerdings auch Händler, vorzugsweiſe ſind ſie aber Handwerker. Ihr Gewerbe erfordert viel Sachkenntnis und Erfahrung und zwar ſolche, die der Landwirt als ſolcher nicht hat und nicht haben kann. Das Fleiſcherhand⸗ werk iſt außerdem mit nicht geringem Riſiko verbunden. Bäckerei⸗ und Schlachtgenoſſenſchaften müſſen ſich in Städten ihren Betrieb einrichten und müſſen zu deſſen Leitung erfahrene Bäcker oder Fleiſcher anſtellen, dieſe auch genau beaufſichtigen und kontrollieren. Nur unter beſonders günſtigen Um⸗ ſtänden wird ſich dies rentieren; der zeitweilig etwa erzielte Gewinn kann ſchnell und leicht zum Verluſt werden, wenn in den Perſonen, welche den Betrieb leiten oder beaufſichtigen, ein Wechſel eintritt. Im allgemeinen wird daher von den genannten Genoſſenſchaften Abſtand zu nehmen ſein. XV. Handels⸗ und Verkehrsweſen. 257 egen Umſtände vor, die deren Gründung beſonders begünſtigen, und ſtellen ſich nach den örtlichen Verhältniſſen die Einrichtungs- und Verwaltungskoſten hr niedrig, jo mag man den Verſuch wagen. Gelingt er, jo wird damit der Vorteil erzielt, daß die ſelbſtändigen, am Orte befindlichen Bäcker und Fleiſcher ſich mit einem geringeren Gewinn als bisher begnügen bezw. daß ſie dem Landwirt für ſeine Rohprodukte einen höheren Preis bewilligen. Mißlingt der Verſuch, jo liegt allerdings die Gefahr vor, daß jene Hand— werker ſich als Sieger betrachten und noch weniger wie früher den Wünſchen der Landwirte nachkommen. i Die niedrigen Getreidepreiſe, welche im Durchſchnitt der letzten Jahr⸗ zehnte herrſchten, haben auf den Gedanken geführt, daß die Landwirte den Verkauf ihres wichtigſten Produkten, des Getreides, ſelbſt in die Hand nehmen ſollten. Es ſind Getreideverwertungs- oder Kornhausgenoſſen— ſchaften in verſchiedenen Teilen des Deutſchen Reiches gegründet worden; einzelne deutſche Staaten haben auch Geldmittel zur Verfügung geſtellt, um den Landwirten die hierfür erforderlichen Einrichtungen zu erleichtern. Bis jetzt haben die Kornhausgenoſſenſchaften, die übrigens nach Art ihrer Organi- ſation und Verwaltung ein ſehr mannigfaltiges Gepräge aufweiſen, ſtark von einander abweichende Erfolge erzielt; ein endgültiges Urteil über ſie iſt daher zur Zeit noch nicht möglich. Nach meiner Meinung haben die kleinen Kornhausgenoſſenſchaften mehr Berechtigung und mehr Ausſicht auf allge— meinere Verbreitung, als die großen ). Der bäuerliche Beſitzer verkauft nur geringe Quantitäten Getreide und iſt hierfür auf den kleinen Zwiſchen— händler angewieſen, der ihn häufig übervorteilt; er iſt auch in der Regel nniücht in der Lage, ſein Getreide jo zu reinigen, wie der Großhändler es ver— | langt. Für die bäuerlichen Beſitzer eines Dorfes oder mehrerer benachbarter Dörfer handelt es ſich darum, daß ſie ihre kleinen, zum Verkauf beſtimmten Getreidemengen an einem Ort zuſammenbringen, wo ſie gereinigt, ſortiert und dann in einer für den Großhandel oder die großen Mahlmühlen ge— eigneten Form und Menge abgeſetzt werden können. Da immerhin nur ver— hältnismäßig geringe Quantitäten in Frage kommen, ſo bedarf es hierzu keiner beſonders koſtſpieligen Bauten oder ſonſtiger Einrichtungen: auch die laufende Verwaltung erfordert keinen ungewöhnlichen Aufwand. Der Unter— ſchied in dem bisher und dem nunmehr erzielten Preiſe wird ſo groß ſein, daß nach Deckung der Unkoſten doch ein erheblicher Gewinn übrig bleibt. Auch noch ein anderer Vorteil kann dem bäuerlichen Beſitzer aus dieſer Ein— richtung erwachſen. Gegenwärtig verfüttern viele Bauern mehr Getreide an ihr Vieh, als wirtſchaftlich zweckmäßig iſt. Trotz der niedrigen Getreide— preiſe würden ſie beſſer ſtehen, wenn ſie mehr Getreide verkauften und dafür mehr Kraftfutter zukauften. Sie tun es einfach deshalb nicht, weil ihnen der Händler das Getreide ſchlecht bezahlt, meiſt erheblich unter dem Preiſe, der an dem nächſten Marktorte für normales Getreide derſelben Art gegeben wird 2). Hat der Bauer Gelegenheit, mit Hilfe der Kornhausgenoſſenſchaft 2 75 RE ”: 5 ; Di A ö ® 9 } * . a 1) Dieſe, ſchon in der erſten Auflage des vorliegenden Buches ausgeſprochene Anficht findet meines Erachtens ihre Beſtätigung in den bis jetzt vorliegenden Berichten über die Kornhausgenoſſenſchaften. 2) In den bayeriſchen Kornhausgenoſſenſchaften, dort Lagerhäuſer genannt, wurden faſt durchweg höhere Getreidepreiſe erzielt, als beim freihändigen Verkauf. Der Unterſchied betrug im Jahre 1901/02 mehrfach bis zu 1 Mark pro Zentner und darüber. In den folgenden Jahren war er durchſchnittlich etwas geringer, aber doch in den meiſten Fällen noch vorhanden und nicht ganz unerheblich. Der amtliche Bericht konſtatiert ausdrücklich, daß die Händler durch die Konkurrenz des Lagerhauſes vielfach genötigt wurden, auch ihrer: ſeits mit den Preiſen in die Höhe zu gehen. Bergl. hierzu das in der folgenden Anmerkung zitierte Werk über Bayern, S. 356. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 17 258 XV. Handels- und Verkehrsweſen. ſein Getreide in eine wertvollere Form zu bringen und zu einem beſſeren Preiſe zu verkaufen, dann wird er ſelbſt bald merken, daß es ein unrentables Geſchäft iſt, für den Großhandel geeignetes Brotgetreide ſeinem Vieh zu verabreichen. Dadurch daß er mehr Getreide an den Markt bringt, als bis⸗ her, wird auch der für die geſamte Volkswirtſchaft wichtige Vorteil erzielt, daß eine größere Menge von Brotfrüchten für die Ernährung der Menſchen ur Verfügung ſteht. Wie bedeutſam dieſer Punkt gerade für das Deutſche eich iſt, wurde bereits an einer anderen Stelle hervorgehoben (ſ. S. 11 ff.). Außer den für die bäuerlichen Beſitzer beſtimmten Kornhausgenoſſen⸗ ſchaften gibt es auch ſolche, deren Mitglieder vorzugsweiſe Großgrundbeſitzer ſind. Die von dieſen für Lagerung 2c. des eingelieferten Getreides getroffenen Einrichtungen haben einen ſo bedeutenden Umfang, daß ſie mit den, dem gleichen Zweck dienenden Veranſtaltungen der großen Getreidehändler ver- glichen werden können. Dementſprechend erfordern ſie auch hohe Anlage⸗ und Verwaltungskoſten. Ihre Beſtimmung geht einmal dahin, dem Getreide durch entſprechende Sortierung und Reinigung eine für den Verkauf wert⸗ vollere Form zu geben. Weiter dahin, es den Genoſſen zu ermöglichen, ihr Getreide zu der ihnen paſſenden Zeit auszudreſchen und abzuliefern, auch dafür von der Genoſſenſchaft Abſchlagszahlungen zu empfangen, ohne, wie bisher, gezwungen zu ſein, dasſelbe in Anbetracht dringenden Geldbedürfniſſes an den Händler für den zeitweilig vielleicht ſehr niedrigen Marktpreis zu verkaufen. Inſofern erfüllt die Kornhausgenoſſenſchaft gleichzeitig die Funk⸗ tionen einer Kreditgenoſſenſchaft. Je umfangreicher der Geſchäftsbetrieb der einzelnen Genoſſenſchaften iſt und je mehr deren Zahl wächſt, deſto größer wird ihr Einfluß auf die Geſtaltung des Getreidehandels und damit auch des Getreidepreiſes ſein. Allerdings hängt dieſer in erſter Linie von dem Weltmarktpreis ab, für den die deutſchen Marktverhältniſſe von verhältnis⸗ mäßig geringer Bedeutung ſind. Aber es läßt ſich doch nicht leugnen, daß auch bei dem gleichen Weltmarktpreis der Preis, welchen der Landwirt für ſein Getreide erhält, ein verſchiedener ſein kann und tatſächlich iſt. Es können dabei Differenzen von 20, 30, vielleicht gar 50 Pf. pro Zentner vorkommen. Dies ſind Zahlen, die zwar gering erſcheinen, aber für den Reinertrag eines Gutsbetriebes ſtark ins Gewicht fallen können. Der dem Landwirt zu wenig gezahlte Preis repräſentiert den Mehrgewinn, der dem Zwiſchenhandel zufließt. Letzterer ſucht ſelbſtverſtändlich möglichſt große Vor⸗ teile zu erzielen; die Mittel hierzu ſind ihm viel bekannter und geläufiger, als dem praktiſchen Landwirt, deſſen Geſchäfts kenntnis eine geringere iſt. Eine von den Kornhausgenoſſenſchaften zu erhoffende Wirkung wird die ſein, daß ſie auf die Gepflogenheiten des Getreidehandels einen für die Produzenten günſtigen Einfluß ausüben. Demſelben wird in den Kornhäuſern eine Kon⸗ kurrenz eröffnet, die er berückſichtigen muß, wenn nicht in immer weiterem Umfang die Genoſſenſchaften den Getreidehandel an ſich ziehen ſollen. Inwieweit die mit den Kornhausgenoſſenſchaften für ihre Mitglieder verbundenen materiellen Vorteile ſo groß ſein werden, daß die aus der An⸗ lage und Verwaltung der Kornhäuſer entſtehenden nicht unerheblichen Un⸗ koſten ihre reichliche Deckung finden, kann erſt die Zukunft lehren ). 1) Über die Bedeutung der Kornhausgenoſſenſchaften iſt ſchon in Abſchnitt XI, S. 182 einiges geſagt, auch die bezügliche Litteratur angegeben worden. Zu der letzteren iſt noch nachzutragen: M. Grabein, „Stand und Erfolge des genoſſenſchaftlichen Getreide⸗ verkaufs in Deutſchland“, Darmſtadt 1903, S. 352 —360. „Die Maßnahmen auf dem Gebiete der landw. Verwaltung in Bayern 18971903“. „Der Landbote“, Organ der Landwirtſchafts⸗ kammer für die Provinz Brandenburg, Nr. 7 für 1904, Artikel „Kornhausgenoſſenſchaften“ ſowie die Entgegnung auf dieſen Artikel von Eſchenbach in Nr. 8 derſelben Zeitſchrift. XV. Handeld- und Verkehrsweſen. 259 In manchen Fällen tritt die Notwendigkeit hervor, dem Handel gewiſſe Beſchränkungen aufzuerlegen. Sie entſteht, wenn ſich erhebliche Unzu⸗ träglichkeiten oder offenbare Mißbräuche eingeſtellt haben, durch die viele Perſonen geſchädigt werden, ohne doch die Mittel zu beſitzen, ſich davor zu ſchützen. Zur Einführung ſolcher Beſchränkungen hat nur der Staat das Recht und die Macht, aber auch die Pflicht. Sie werden ſich vorzugsweiſe auf den inneren Handel beziehen müſſen, können ſich aber auch auf den äußeren) erſtrecken. Soweit landwirtſchaftliche Intereſſen dabei in Frage kommen, beziehen ſie ſich faſt ausſchließlich auf den Verkehr mit Nahrungs— und Genußmitteln. Bei ihnen iſt Täuſchung und Betrug um ſo leichter möglich, als ohne genaue wiſſenſchaftliche Unterſuchung die vorhandenen Mängel häufig gar nicht feſtgeſtellt werden können. Ein ſtaatliches Ein- greifen erweiſt ſich außerdem deshalb beſonders nötig, weil durch den un— reellen Handel mit den genannten Waren eine große Zahl von Perſonen, teils Konſumenten teils aber auch Produzenten, geſchädigt wird. Erfahrungs: mäßig reicht die im allgemeinen Strafgeſetz vorgeſehene Beſtrafung des Be— truges nicht aus, um der Bevölkerung den nötigen Schutz zu gewähren. Denn es handelt ſich dabei meiſt um geſchäftliche Operationen, die nicht unter den Begriff des Betruges gebracht werden können, trotzdem aber ge— meinſchädlicher Natur ſind. Am 14. Mai 1879 iſt das Deutſche Reichsgeſetz betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchs— gegenſtänden erlaſſen worden. Dasſelbe erteilt der zuſtändigen Polizei— behörde unter gewiſſen Vorausſetzungen das Recht, von den in geſchloſſenen Räumlichkeiten oder an öffentlichen Orten feilgebotenen Nahrungs- oder Genußmitteln Proben, gegen eine Entſchädigung in Höhe des üblichen Kauf— preiſes, zu entnehmen und dieſelben einer Unterſuchung zu unterwerfen, auch Reviſionen in der zur Herſtellung oder Aufbewahrung dieſer Gegenſtände dienenden Lokalitäten vorzunehmen ($ 2 und 3). Mit Zuſtimmung des Bundesrates können durch Kaiſerliche Verordnung für die Herſtellung und Feilhaltung Beſchränkungen auferlegt werden. Wer die Probeentnahme ver— weigert, wird mit Geldſtrafe von 50— 150 Mk. oder mit Haft belegt ($ 9). Mit Gefängnis und mit Geldſtrafe bis zu 1500 Mk. oder mit einer dieſer Strafen wird beſtraft: 1. wer zum Zweck der Täuſchung im Handel und Verkehr Nahrungs⸗ oder Genußmittel nachmacht oder verfälſcht; 2. wer wiſſentlich Nahrungs⸗ oder Genußmittel, welche verdorben oder nachgemacht oder verfälſcht ſind, unter Verſchweigung dieſes Umſtandes verkauft oder unter einer zur Täuſchung geeigneten Bezeichnung feilhält ($ 10). Iſt die unter 2 bezeichnete Handlung aus Fahrläſſikeit begangen, jo tritt Geldſtrafe bis zu 150 Mk. oder Haft ein ($ 11). Mit Gefängnis, neben welchem auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann, wird beſtraft, wer vorſätzlich Gegenſtände, welche beſtimmt ſind, anderen als Nahrungsmittel oder Genußmittel zu dienen, derart herſtellt, daß der Genuß derſelben die menſchliche Geſundheit zu beſchädigen geeignet iſt; imgleichen, wer wiſſentlich Gegenſtände, deren Genuß die menſchliche Geſundheit zu beſchädigen geeignet iſt, als Nahrungs- oder Genußmittel verkauft, feilhält oder ſonſt in Verkehr bringt. Iſt durch die Handlung eine ſchwere Körperverletzung oder der Tod eines Menſchen verurſacht worden, ſo tritt Zuchthausſtrafe bis zu 5 Jahren ein ($ 12). Dies ſind die weſentlichſten, hier in Betracht kommenden Beſtimmungen des Nahrungsmittelgeſetzes. Teilweiſe ſind dieſelben zwar ſehr ſtreng, aber 1) Die durch Eingangszölle dem äußeren Handel auferlegten Beſchränkungen ſind hierher nicht zu rechnen; von ihnen wird im folgenden Abſchnitt die Rede ſein. K 260 XV. Handel3- und Verkehrsweſen. doch keineswegs zu hart. Angeſichts der vorkommenden vielen und oft raffinierten Verfälſchungen, die in der Gegenwart durch die ungeheuren Fort⸗ ſchritte, welche die Naturwiſſenſchaft und die Technik gemacht haben, noch beſonders erleichtert werden, war es nötig, geſetzliche Schutzmaßregeln zu ſchaffen. Sie kommen allen Konſumenten, alſo der geſamten Bevölkerung zugute; ſie bilden aber auch für den reellen Handel eine Schutzwehr. Die Landwirte haben an dem Geſetze ein doppeltes Intereſſe; einmal das allen Konſumenten gemeinſame, dann aber das ihnen als den hauptſächlichſten Produzenten von Nahrungsmitteln innewohnende. Je mehr der Verkehr mit verfälſchten oder verdorbenen Nahrungsmitteln verhindert wird, deſto höher ſteigt der Preis derjenigen, welche eine normale Beſchaffenheit beſitzen. Nun kommt es freilich auch vor, daß Landwirte gegen das Nahrungsmittelgeſetz verſtoßen. Sie leiden, wenn ſie beſtraft werden, mit Recht, und ihre Be⸗ ſtrafung kann ihren gewiſſenhafteren Berufsgenoſſen nur zum Vorteil ge- reichen. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle gehen aber Ver⸗ fälſchungen ꝛc. von Händlern oder auch von Fabrikanten aus. Das Nahrungs⸗ mittelgeſetz iſt keineswegs gegen den Handel als ſolchen gerichtet, was auch unvernünftig und nicht zu billigen wäre. Es iſt aber geeignet, eine von den Formen des Handels und namentlich des Zwiſchenhandels einzuſchränken, über welche gerade von landwirtſchaftlicher Seite ſo viele und berechtigte Beſchwerden erhoben worden ſind. Zum Schutz von zwei landwirtſchaftlichen Produkten, die in großen Mengen erzeugt und konſumiert werden und dabei beſonders häufig der Fälſchung unterliegen, ſind noch ſpezielle Reichsgeſetze erſchienen, nämlich zum Schutz der Butter und des Weines. Die Rindviehhaltung und mit ihr die Herſtellung von Butter haben im Deutſchen Reich während der letzten Jahrzehnte ungemein zugenommen (ſ. S. 2). Noch ſtärker iſt zwar nicht die Bevölkerung, aber doch, infolge der allgemeinen Steigerung des Wohlſtandes, die Nachfrage nach Butter oder deren Erſatzmitteln gewachſen. Hierdurch hat die Fabrikation von ſolchen Erſatzmitteln, die meiſt als Margarine bezeichnet werden, eine große Aug- dehnung, auch Vervollkommnung erlangt. Die Margarine wird aus Fetten oder Olen hergeſtellt, deren Wert für den menſchlichen Genuß und deren Preis erheblich niedriger ſind, als Wert und Preis der Butter. Um ihr einen beſſeren Geſchmack und damit eine reichlichere Nachfrage zu verſchaffen, wurde bei ihrer Herſtellung gewöhnlich ein Zuſatz von Milch oder Butter verwendet und das erzeugte Fabrikat dann häufig unter dem Namen Butter verkauft. Es entſtand dadurch der eigentlichen Butter, der Natur- oder Milch⸗ butter, eine ſtarke und unzuläſſige, weil auf einer beabſichtigten Täuſchung der Konſumenten beruhende Konkurrenz. Deren für die Landwirtſchaft em⸗ pfindliche Folge war ein Sinken der Butterpreiſe. Zur Beſeitigung des unverkennbaren Übelſtandes wurde bereits am 12. Juli 1887 ein Reichsgeſetz betr. den Verkehr mit Erſatzmitteln für Butter erlaſſen. Dieſes erwies ſich aber als unzureichend. An ſeine Stelle trat das Geſetz betr. den Verkehr mit Butter, Käſe, Schmalz und deren Erſatzmitteln vom 15. Juni 1897. Nach demſelben dürfen alle der Milchbutter oder dem Butterſchmalz ähnliche Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht ausſchließlich der Milch entſtammt, nur als „Margarine“ oder „Kunſtſpeiſefett“ bezw. „Margarinekäſe“ in den Handel gebracht werden (§ 1). Ferner müſſen die Umhüllungen und Gefäße, die Margarine enthalten, als ſolche bezeichnet werden; das Gleiche gilt von den Räumen, in denen Margarine verkauft wird ($ 2). Für Städte mit über 5000 Ein⸗ wohnern iſt in Räumen, in welchen Butter oder Butterſchmalz gewerbsmäßig XV. Handels⸗ und Verkehrsweſen. 261 hergeſtellt, aufbewahrt, verpackt oder feilgehalten wird, die Herſtellung, Auf⸗ bewahrung, Verpackung oder das Feilhalten von Margarine oder Kunſt⸗ ſpeiſefett verboten ($ 4). Die Vermiſchung von Butter oder Butterſchmalz mit Margarine oder anderen Speiſefetten zum Zwecke des Handels iſt unter— ſagt. Bei der gewerbsmäßigen Herſtellung von Margarine dürfen auf 100 Gewichtsteile der nicht der Milch entſtammenden Fette höchſtens 100 Ge— wichtsteile Milch oder eine dementſprechende Menge Rahm zur Verwendung kommen (§ 3). Margarine und Margarinekäſe müſſen einen die allgemeine Erkennbarkeit der Ware mittels chemiſcher Unterſuchung erleichternden, Be— ſchaffenheit und Farbe nicht ſchädigenden Zuſatz enthalten. Die näheren Beſtimmungen hierüber werden vom Bundesrat erlaſſen und im Reichsgeſetz⸗— blatt veröffentlicht ($ 6). Die folgenden Paragraphen enthalten dann noch Beſtimmungen über die zuläſſige Kontrolle der Herſtellung und des Verkaufs von Margarine ꝛc. ſowie Strafbeſtimmungen. Die Vorſchriften des Nahrungs- mittelgeſetzes von 1879 bleiben durch das Margarinegeſetz unberührt, finden alſo auch auf den Margarine- und Butterhandel Anwendung. Mit dem 1. Oktober 1897 iſt das Margarinegeſetz in Kraft getreten, deſſen § 4 jedoch erſt mit dem 1. April 1898. Dem allſeitigen Intereſſe entſpricht es, wenn das Geſetz fordert, daß unter dem Namen Butter auch nur ein Fabrikat verkauft werden darf, deſſen Fettgehalt ausſchließlich der Milch entſtammt. Denn ſeit Jahrhunderten, man darf ſelbſt ſagen, ſeit Jahrtauſenden, iſt nur ein ſolches Fabrikat als Butter bezeichnet worden. Wenn in den letzten Jahrzehnten ſonſtige Fett— waren unter dem Namen Butter in den Handel kamen, ſo geſchah dies zu dem bewußten Zwecke der Täuſchung. Andererſeits darf man nicht vergeſſen, daß mit Sorgfalt hergeſtellte Margarine ein durchaus geſundes Nahrungs- mittel bildet, welches wegen ſeiner geringeren Produktionskoſten zu einem niedrigeren Preiſe verkauft werden kann, als die Butter. In der Margarine iſt den weniger bemittelten Vollsklaſſen ein Produkt dargeboten, durch welches ſie ihren Bedarf an Fett wohlfeiler und daher reichlicher befriedigen können, als wenn dieſelbe nicht vorhanden wäre. Es würde deshalb ein verkehrtes, ſelbſt verwerfliches Beginnen ſein, wollte man die Margarine irgendwie mit einem Makel belegen oder gar äußerlich ſo kennzeichnen, daß ihr Ankauf oder Genuß verekelt wird. Verſuche hierzu ſind zwar gemacht worden, haben aber keinen Erfolg gehabt. In § 6 des Geſetzes wird beſtimmt, daß Margarine bei ihrer Herſtellung einen Zuſatz erhalten ſolle, der ſie allgemein erkennbar mache, aber weder ihre Beſchaffenheit noch ihre Farbe ſchädige. Die näheren Beſtimmungen hierüber hat der Reichstag dem Bundesrat überlaſſen. Letzterer hat demzufolge durch Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 4. Juli 1897 angeordnet, daß bei der Margarinefabrikation den dabei be— nutzten Fetten und Olen ein Zuſatz von Seſamöl beigegeben werden müſſe, und zwar, dem Gewichte nach, der Margarinebutter 10 Proz., dem Margarine— 8 käſe 5 Proz., um dadurch mit Hilfe einer leicht auszuführenden chemiſchen N a das Vorhandenſein von Nichtbutterfett ſchnell konſtatieren zu N Önnen. In den erſten Jahren nach Erlaß des Margarinegeſetzes wurden von ſeiten der Händler viele Klagen über dasſelbe erhoben. Dieſelben glaubten, daß dadurch der Verkehr in ungerechtfertigter Weiſe erſchwert und eingeengt werde. Nachdem man aber erſt die erforderlichen neuen Einrichtungen ge— troffen und nachdem Käufer wie Verkäufer ſich daran gewöhnt und gemerkt hatten, daß ihnen daraus keine nennenswerten Beläſtigungen erwachſen, ver— ſtummten die Klagen allmählich. Man darf gegenwärtig annehmen, daß ſowohl das Geſetz wie die erlaſſenen Ausführungsordnungen im allgemeinen 262 XV. Handels- und Verkehrsweſen. ſich bewährt, auch den gerechtfertigten Beſchwerden der Landwirte Abhilfe geſchafft haben. Allerdings kommen noch Verfälſchungen vor; aber dieſe ſind doch ſeltener geworden. Man darf auch der Hoffnung ſich hingeben, daß mit den Fortſchritten der Wiſſenſchaft noch ſicherere Mittel, als bisher ge⸗ funden werden, um vorgekommene Verfälſchungen in einer praktiſch leicht anwendbaren Form nachzuweiſen. Schwieriger wie mit dem Butterhandel ſtellt ſich die Sache mit dem Weinhandel. Die Kunſtweinfabrikation hat in den letzten Jahrzehnten eine ganz ungewöhnliche und faſt erſchreckende Ausdehnung erfahren. Da⸗ durch werden nicht nur die Winzer erheblich geſchädigt, ſondern auch die Konſumenten. Letztere erhalten Fabrikate, die ſowohl ſehr minderwertig als auch häufig geeignet ſind, ſtatt die Geſundheit zu ſtärken, dieſelbe zu beein- trächtigen. Schon das Nahrungsmittelgeſetz von 1879 war darauf berechnet, auch den Verkehr mit Kunſtwein zugunſten des Naturweins einzuſchränken. Es hat aber den darauf geſetzten Erwartungen nicht entſprochen. Unter dem 20. April 1892 wurde deshalb ein beſonderes Reichsgeſetz betr. den Verkehr mit Wein, weinhaltigen und weinähnlichen Getränken erlaſſen. In demſelben werden einerſeits alle diejenigen Stoffe aufgezählt, welche bei oder nach Herſtellung des Weines dieſem nicht zugeſetzt werden dürfen; andererſeits diejenigen, deren Zuſatz zu den als Wein in den Handel gebrachten Getränken erlaubt ſein ſoll ($$ 1—3). Weiter wird verordnet, daß, wenn beſtimmte, einzeln aufgeführte Stoffe bei der Herſtellung von Wein verwendet werden, ein derartiges Getränk nicht unter der einfachen Bezeichnung Wein, ſondern nur als Treſterwein, Hefewein, Roſinenwein, Kunſtwein oder dergl. feilgehalten oder verkauft werden darf (8 4). Zus widerhandlungen gegen das Geſetz werden mit Geld- oder Gefängnisſtrafe bezw. mit beiden belegt (SS 7 u. 8). Dem Bundesrat iſt die Ermächtigung erteilt, die Grenzen feſtzuſtellen, welche a) für die bei der Kellerbehandlung in den Wein gelangenden Mengen der im $ 3 bezeichneten Stoffe, ſoweit das Geſetz ſelbſt die Menge nicht feſtſetzt, ſowie b) für die im § 3 vorge⸗ ſehene Herabſetzung des Gehaltes an Extraltſtoffen und Mineralbeſtandteilen maßgebend fein ſollen. Das Nahrungsmittelgeſetz von 1879 bleibt auch für den Verkehr mit Wein in Kraft, ſoweit nicht die SS 3 und 4 des neuen Geſetzes entgegenſtehende Beſtimmungen enthalten ($ 10). Das Geſetz von 1892 hat leider die Herſtellung von Kunſtwein und den Handel mit demſelben eher gefördert als geſchädigt. Es liegt dies hauptſächlich an der großen Schwierigkeit der zu ordnenden Materie. Ge⸗ wiſſe Zuſätze zum Wein, wenigſtens wenn ſie gleich bei deſſen Herſtellung und nicht ſpäter gemacht werden, ſind nicht nur ganz unſchädlich, ſondern ſogar im Intereſſe der Winzer und der Konſumenten durchaus erwünſcht. Namentlich die ſogenannten kleinen Weine und dieſe beſonders wieder in kalten Jahren bleiben ſonſt faſt unverkäuflich und für den gegenwärtigen Geſchmack ſo gut wie ungenießbar. Welche Zuſätze nun erlaubt ſein ſollen, zu welchen Zeiten innerhalb der ganzen Herſtellungsperiode des Weines ſie ge⸗ macht werden dürfen, ohne dem Getränk den Charakter als Wein zu nehmen, darüber gehen die Urteile auch der kompetenten Sachverſtändigen auseinander. Der Reichstag hat nun denſelben Ausweg wie beim Margarinegeſetz benutzt, d. h. er hat in der zitierten Beſtimmung des § 10 dem Bundesrat es über⸗ laſſen, detaillierte Vorſchriften hierüber zu geben. Dieſer hat ſich des Auf trages auch entledigt und namentlich Grenzen für den Gehalt des Weines an Extraktſtoffen und Mineralbeſtandteilen feſtgeſetzt. Dieſe ſind für die richterliche Entſcheidung maßgebend. Infolgedeſſen haben nun viele Kunſt⸗ XV. Handels⸗ und Verkehrsweſen. 263 2 weinfabrifanten, auch Weinhändler und Gaſtwirte, unter Benutzung aller von 4 der Chemie dargebotenen Hilfsmittel, Getränke hergeſtellt, die zwar den bundesrätlichen Beſtimmungen genügen, aber keineswegs Anſpruch auf den Namen Wein erheben dürfen. Es waren die mit Recht ſehr berüchtigten ſeogenannten analyſenfeſten Weine. Schon wenige Jahre nach Inkrafttretung des Geſetzes von 1892 ge— langten die Weinbauer wie die Staatsbehörden zu der Überzeugung, daß dasſelbe den beabſichtigten Zweck verfehlt habe. In den landwirtſchaftlichen Vertretungskörpern wurde dies wiederholt ausgeſprochen, auch verſchiedene Vorſchläge zur Beſeitigung der empfundenen Mängel gemacht. Die Reichs- regierung berief eine beſondere Kommiſſion von Sachverſtändigen, um deren Urteil zu hören und zugleich Unterlagen für ein neues Geſetz zu gewinnen. Unter dem 24. Mai 1901 wurde das jetzt gültige „Geſetz, betr. den Verkehr mit Wein und weinähnlichen Getränken“ publiziert. Das» ſelbe enthält in den 88S 2—8 Beſtimmungen über die bei Herstellung von Wein erlaubten oder unerlaubten Zuſätze. Dieſe gehen von ähnlichen Grund— anſchauungen aus wie die entſprechenden Vorſchriften des Geſetzes von 1892, ſind aber den inzwiſchen gemachten Erfahrungen angepaßt und haben des— halb eine größere praktiſche Brauchbarkeit. Was indeſſen das jetzige Geſetz von dem früheren weſentlich und vor— teilhaft unterſcheidet, ſind die Beſtimmungen in §§ 9—12 über die Keller- kontrolle. Danach wird den ſtaatlichen Behörden die Befugnis erteilt bezw. die Pflicht auferlegt, die Herſtellung und weitere Behandlung der Weine ſowie den Verkehr mit demſelben durch Beamte und Sachverſtändige darauf- hin zu kontrollieren, ob den geſetzlichen Anordnungen Genüge geleiſtet wird. Die wichtigſten hierauf bezüglichen Vorſchriften ſind folgende. „Dieſe Be— amten und Sachverſtändigen ſind befugt, außerhalb der Nachtzeit und, falls Tatſachen vorliegen, welche annehmen laſſen, daß zur Nachtzeit gearbeitet wird, auch in dieſer Zeit in Räume, in denen Weine, weinhaltige oder weinähnliche Getränke hergeſtellt, aufbewahrt, feilgehalten oder verpackt werden, einzutreten, daſelbſt Beſichtigungen vorzunehmen, geichältiiche Auf⸗ zeichnungen, Frachtbriefe und Bücher einzuſehen, auch nach ihrer Auswahl Proben zum Zwecke der Unterſuchung gegen Empfangsbeſcheinigung zu ent— nehmen“ ($ 10, Abi. 2). „Die Inhaber der in § 10 bezeichneten Räume ſowie die von ihnen beſtellten Betriebsleiter und Aufſichtsperſonen ſind ver— pflichtet, den zuſtändigen Beamten und Sachverſtändigen auf Erfordern Aus— kunft über das Verfahren bei Herſtellung der Erzeugniſſe, über den Umfang des Betriebs, über die zur Verwendung gelangenden Stoffe, insbeſondere auch über deren Menge und Herkunft zu erteilen ſowie die geſchäftlichen Aufzeichnungen, Frachtbriefe und Bücher vorzulegen“ ($ 11). Nach § 12 ſind die Sachverſtändigen, vorbehaltlich der Anzeige von Geſetzwidrigkeiten, a Verſchwiegenheit über die bei der Kontrolle zu ihrer Kenntnis gelangten Betriebseinrichtungen und Betriebsweiſen, ſolange dieſe Betriebsgeheimniſſe find, verpflichtet und hierauf zu beeidigen. In § 10, Abſ. 1 wird ver- ordnet: „Bis zur reichsgeſetzlichen einheitlichen Regelung der Beaufſichtigung des Verkehrs mit Nahrungs- und Genußmitteln treffen die Landesbehörden darüber Beſtimmung, welche Beamten und Sachverſtändigen für die in den nachfolgenden Vorſchriften (§ 10, Abſ. 2 u. $ 11) bezeichneten Maßnahmen zuſtändig ſind.“ Ein anderer Unterſchied des neuen Weingeſetzes von dem früheren beſteht darin, daß Getränke, welche mit Hilfe anderer Zuſätze, als die in $ 2 des Geſetzes von 1901 geſtatteten, hergeſtellt ſind, jetzt nicht mehr unter 264 XV. Handels- und Verkehrsweſen. der Bezeichnung „Wein“ feilgehalten noch verkauft werden dürfen ($ 3). Dazu gehört z. B. Treſterwein, Roſinenwein uſw. Br Bis jetzt ſcheint das neue Weingeſetz ſich zu bewähren. Solches wenigſtens in denjenigen Ländern, in welchen die Behörden von den ihnen in § 10 und 11 beigelegten Befugniſſen einen zweckentſprechenden, ausgiebigen und energiſchen Gebrauch gemacht haben, wie z. B. in Baden, in der Rheinpfalz und in Heſſen. Hier iſt der Weinverfälſchung ſchon in er- freulichem Umfange Einhalt getan worden. | In einem gewiſſen Zuſammenhange mit dem Weingeſetz ſteht das „Reichsgeſetz vom 6. Juli 1898, betr. den Verkehr mit künſt— lichen Süßſtoffen“. Dasſelbe bezieht ſich hauptſächlich auf das Saccharin und wird daher auch Saccharingeſetz genannt. Darnach dürfen künſtliche Süßſtoffe nur noch in einer ihre Natur deutlich erkennbar machenden Form feilgehalten und verkauft werden. Ihr Gebrauch bei Bereitung von Bier, Wein oder weinähnlichen Getränken, von Fruchtſäften, Konſerven, Likören, Zucker- oder Stärkeſyrupen iſt ganz verboten. — Durch dies Geſetz iſt nicht nur der Rübenzuckerfabrikation ein großer Dienſt erwieſen, ſondern es ſind auch alle Konſumenten davor geſchützt worden, in den von ihnen verwendeten Nah⸗ rungs- und Genußmitteln ſtatt des nahrhaften Zuckers Stoffe zu erhalten, die für die Ernährung keinen Wert beſitzen oder gar auf die Geſundheit nachteilig wirken. Aus etwas anderen Gründen wie der Handel mit Margarine und mit Wein muß der mit Fleiſch und Fleiſchwaren gewiſſen Beſchränkungen unterworfen werden. Hier handelt es ſich lediglich darum, im Intereſſe des Konſumenten geſundheitsſchädliche Objekte nicht in den Verkehr gelangen zu laſſen oder demſelben wieder zu entziehen. Schon durch das Nahrungsmittel⸗ geſetz von 1879 iſt der Verkauf von geſundheitsſchädlichem Fleiſch verboten und unter Strafe geſtellt (ſ. S. 259). Indeſſen erwieſen ſich dieſe Beſtim⸗ mungen als durchaus ungenügend. Man kam mit der Zeit zu der Erkennt⸗ nis, daß eine ausreichende Kontrolle über das in den Handel gebrachte Fleiſch ſich nur ermöglichen laſſe durch Einführung der obligatoriſchen Fleiſchbeſchau, d. h. dadurch, daß auf Grund des Geſetzes jedes Tier vor und nach der Schlachtung oder doch mindeſtens in letzterem Zeitpunkte von Sachverſtändigen daraufhin unterſucht werde, ob ſein Fleiſch nicht geſundheits⸗ ſchädlich ſei. Die für den menſchlichen Genuß ungeeignet befundenen Tiere oder Teile derſelben dürfen als Nahrungsmittel nicht in den Verkehr gebracht werden. In Preußen iſt durch die Geſetze vom 18. März 1868 und 9. März 1881 den Gemeinden geſtattet, öffentliche Schlachthäuſer mit der Beſtimmung zu errichten, daß innerhalb des ganzen Gemeindebezirks das Schlachten ſämtlicher oder einzelner Viehgattungen ausſchließlich nur in dem Schlachthauſe vorgenommen werden darf. Es kann ferner durch Gemeinde⸗ beſchluß angeordnet werden, daß alles in das Schlachthaus gelangende Vieh zur Feſtſtellung ſeines Geſundheitszuſtandes ſowohl vor wie nach der Schlachtung einer Unterſuchung durch Sachverſtändige zu unterwerfen iſt und daß alles nicht im Schlachthaus ausgeſchlachtete friſche Fleiſch nicht eher feilgeboten werden darf, als bis es einer Unterſuchung durch Sachverſtändige gegen eine zur Gemeindekaſſe fließende Gebühr unterzogen iſt. Die für Preußen ergangenen Beſtimmungen beſeitigten indeſſen die vorhandenen Übel⸗ ſtände keineswegs gänzlich. In Baden und Württemberg wurde daher die obligatoriſche Fleiſchbeſchau zur Durchführung gebracht. Das gleiche iſt dann kürzlich für das ganze Deutſche Reich geſchehen durch das „Geſetz vom 3. Juni 1900, betr. die Schlacht- und Fleiſchbeſchau“. Die Zeit der Inkrafttretung desſelben wurde kaiſerlicher Verordnung vorbe⸗ XV. Handel3- und Verkehrsweſen. 265 ten. Nachdem ſolche für einzelne beſchränkte Teile des Geſetzes ſchon her erfolgt war, wurde durch kaiſerliche Verordnung vom 7. Juni 1902 der Zeitpunkt für die Inkrafttretung des ganzen übrigen Geſetzes auf 1. April 1903 beſtimmt. Seitens des Bundesrates ſind unter dem Mai 1902 Ausführungsbeſtimmungen zu dem Fleiſchbeſchaugeſetz aſſen worden. Die einzelnen Landesregierungen haben noch beſon— dere Ausführungsgeſetze für ihren Bereich erlaſſen, Preußen unter dem 28. Juni 1902. Nach dem Reichsgeſetz unterliegen Rindvieh, Schweine, Schafe, Ziegen, Pferde und Hunde, deren Fleiſch zum Genuß für Menſchen verwendet werden ſoll, ſowohl vor wie nach der Schlachtung einer amtlichen AUnterſuchung. Durch Beſchluß des Bundesrats kann die Unterſuchungspflicht auch auf anderes Schlachtvieh ausgedehnt werden. Bei Notſchlachtungen darf die Unterſuchung vor der Schlachtung unterbleiben ($ 1). Bei Schlacht⸗ tieren, deren Fleiſch ausſchließlich im eigenen Haushalte der Beſitzer verwendet werden ſoll, darf, ſofern fie keine Merkmale einer die Genußtaug— lichkeit des Fleiſches ausſchließenden Erkrankung zeigen, die Unterſuchung vor der Schlachtung und, ſofern ſich ſolche Merkmale auch bei der Schlachtung nicht ergeben, auch die Unterſuchung nach der Schlachtung unterbleiben ($ 2). Die Fleiſchbeſchau erfolgt durch approbierte Tierärzte oder durch andere Perſonen, welche die genügende Kenntnis hierfür nachweiſen (die ſogenannten Laien⸗Fleiſchbeſchauer). Ergibt die Unterſuchung vor wie nach der Schlach— tung, daß kein Grund zur Beanſtandung des Fleiſches vorliegt, ſo hat der Beſchauer es als tauglich zum Genuß für Menſchen zu erklären (88 3—8). Antauglich befundenes Fleiſch darf als Nahrungs- und Genußmittel für 4 Menſchen nicht in Verkehr gebracht werden (§ 9). Für bedingt tauglich befundenes Fleiſch kann die Polizei beſtimmen, unter welchen Sicherungs- maßregeln dasſelbe für Menſchen brauchbar gemacht werden darf (§ 10). Die Einfuhr von Fleiſch in luftdicht verſchloſſenen Büchſen oder ähnlichen Gefäßen, von Würſten und ſonſtigen Gemengen aus zerkleinertem Fleiſch iſt vollſtändig verboten ($ 12). Außerdem ſind noch viele einzelne die Einfuhr von Fleiſch oder Fleiſchwaren beſchränkende Vorſchriften teils in dem Geſetze felbſt, teils in den ergangenen Ausführungsbeſtimmungen enthalten. Die von dem Bundesrat unter dem 30. Mai 1902 erlaſſenen Ausführungs- beſtimmungen umfaſſen unter D 31 Paragraphen, welche ſich lediglich auf die Behandlung des in das Zollinland eingeführten Fleiſches beziehen. In ſeinem weiteren Verlaufe enthält das Geſetz von 1900 Dr. eine große Zahl einzelner Vorſchriften, die aber von weniger großer prinzipieller Bedeutung ſind. Es gibt ferner dem Bundesrat, für manche Dinge auch den einzelnen Landes— regierungen ziemlich weitgehende Vollmachten bezüglich Anwendung und Aus: führung des Geſetzes (§§ 22—25). Die 88 26— 28 enthalten Strafbeſtim⸗ mungen; § 29 beſagt, daß die Vorſchriften des Geſetzes, betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenſtänden vom 14. Mai 1879 durch das Fleiſchbeſchaugeſetz unberührt bleiben. Über die Folgen, welche das letztere für die Produzenten wie die Kon— ſumenten von Fleiſch haben wird, läßt ſich zur Zeit noch gar kein ſicheres Urteil abgeben, da das Geſetz erſt ſeit einem Jahre in Kraft iſt. Schon jetzt werden mancherlei Beſchwerden, die zuweilen ganz entgegengeſetzter Natur ſind, darüber erhoben. Sie ſtammen teils von den Vertretungskörpern der Landwirtſchaft, teils von den Stadtgemeinden, teils von Händlern und Fleiſchern. Inhalt wie Faſſung des Geſetzes und der Ausführungsbeſtimmungen haben unter dem offenkundigen, wenn auch nicht offen zugegebenen Übel - — 2 — — — — * n . ͤ ͤ——.. 5 m — eee 5 e eee > a r 2 a 266 XV. Handels- und Verkehrsweſen. ſtande gelitten, daß dabei zwei ganz verſchiedene Beſtrebungen ſich geltend machten und zum Ausdruck kamen. Der urſprüngliche und eigentliche Zweck des Geſetzes war lediglich ein geſundheitlicher. Die verſchiedenen In⸗ tereſſentenkreiſe verſuchten aber, dasſelbe außerdem ihren beſonderen wirtſchaftlichen Zwecken dienſtbar zu machen. Für die Landwirte lagen dieſelben in der möglichſten Hochhaltung der Fleiſchpreiſe und in der Befreiung der Hausſchlachtungen von dem Zwange der Fleiſchbeſchau. Die Stadtbewohner und die ſtädtiſchen Behörden verfolgten gerade die entgegen- geſetzten Ziele; ſie wollten außerdem den Geſchäftsverkehr der ſtädtiſchen Schlachthäuſer in möglichſt weitem Umfang auch auf das außerhalb der Stadt zur Schlachtung beſtimmte oder bereits geſchlachtete Vieh ausdehnen. Nach Erlaß und Inkrafttretung des Fleiſchbeſchaugeſetzes iſt der Wunſch der Landwirte nach Einführung der obligatoriſchen Schlachtvieh- verſicherung noch viel lebhafter und dringender geworden, als er bereits früher war. Welche Bedenken deſſen Erfüllung entgegenſtehen, wurde bereits S. 230 dargelegt. Wenn die durch das Nahrungsmittelgeſetz, ſowie durch die ſpeziellen Geſetze über den Verkehr mit Margarine, Wein und Fleiſch eingeführten Beſchränkungen die beabſichtigten günſtigen Wirkungen haben ſollen, dann müſſen ſie ſich ebenſo auf den äußeren wie auf den inneren Handel er⸗ ſtrecken. Die vom Auslande eingeführten Waren müſſen der nämlichen Kontrolle wie die im Inlande hergeſtellten unterliegen. Schon jetzt iſt dies ja inſofern der Fall, als ausländiſche Erzeugniſſe, ſobald ſie bei uns feilgeboten oder verkauft werden, im freien Verkehr die nämliche Behandlung erfahren wie in⸗ ländiſche. Der große Unterſchied beſteht aber darin, daß ihre Herſtellungsweiſe der Aufſicht diesſeitiger Behörden und, was nicht minder wichtig iſt, der Kenntnis diesſeitiger Konkurrenten ſich faſt ganz entzieht. Werden ſie bei uns eingeführt, ſo läßt ſich oft nur ſchwer oder gar nicht feſtſtellen, ob ſie den geſetzlichen Beſtimmungen über den Verkehr mit Nahrungsmitteln ꝛc. entſprechen. Zum Schutze nicht nur der inländiſchen Produzenten, ſondern auch der Konſumenten kann es daher notwendig ſein, gewiſſen ausländiſchen Waren überhaupt den Eintritt zu verwehren. Solche Notwendigkeit ſtellt ſich ſtets heraus, wenn der durch wiederholte tatſächliche Vorgänge begründete Verdacht vorliegt, daß unvorſchriftsmäßige Produkte eingeführt werden, und wenn gleichzeitig die Möglichkeit fehlt, deren Beſchaffenheit vor dem Über⸗ gang in den freien inländiſchen Verkehr mit einiger Sicherheit feſtzuſtellen. Beſonders wichtig, aber auch ſchwierig, iſt die Kontrolle über ausländiſche Fleiſch- und Fettwaren. Das neue Fleiſchbeſchaugeſetz enthält daher mit vollem Recht eine ganze Anzahl von Beſtimmungen, welche teils die Einführung von Fleiſch und Fleiſchwaren verbieten oder beſchränken, teils die Kontrolle über die eingeführten Erzeugniſſe verſchärfen. Die Gefahr iſt allerdings nicht ausgeſchloſſen, daß man bei ſtrenger Behandlung ausländiſcher Waren ſich dem Verdachte ausſetzt, als ob man dieſelbe nur zum Vorwand nehme, um die Konkurrenz des Auslandes über⸗ haupt zu beſeitigen oder doch zu vermindern. Wenn das Deutſche Reich dieſe Abſicht wirklich hätte und durchführte, ſo würde es immerhin noch nicht anders handeln, als es fremde Staaten in vielen Fällen uns gegen— über getan haben und noch tun. Es würde eine Repreſſionsmaßregel ſein, die unter Umſtänden wohl gerechtfertigt iſt. Beſſer wäre es freilich, ſie dann auch offen als ſolche zu bezeichnen. Bei der Behandlung ausländiſcher Waren gedachter Art laſſen ſich die dafür entſcheidenden geſund heits polizeilichen und zollpolitiſchen Ge— ſichtspunkte häufig gar nicht ſtreng von einander trennen. Im Intereſſe 3 7 | XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 267 er inländiſchen Konſumenten liegt es, daß ſie zwar möglichſt vor geſund⸗ heitsſchädlichen ausländiſchen Waren geſchützt, daß ihnen die Nahrungs- und Genußmittel aber durch Abwehr der ausländiſchen Waren nicht zu ſehr ver— teuert werden. Die einheimiſchen Produzenten haben als ſolche den Wunſch, daß der Preis ihrer Erzeuguiſſe durch die . Konkurrenz nicht ungewöhnlich gedrückt werde. Dieſe verſchiedenen Intereſſen verdienen gleich— = mäßige Berückſichtigung, ſie ſtehen aber zum Teil im Gegenſatz zueinander. Dadurch wird die Stellung der entſcheidenden Inſtanzen eine beſonders ſchwierige. Für ihre Haltung laſſen ſich auch nicht wohl Regeln aufſtellen, die für jeden Fall und für jede Zeit anwendbar ſind. Noch weniger laſſen 5 555 ſolche in geſetzliche, unter allen Umſtänden gültige Beſtimmungen zu= ſammenfaſſen. Es muß vielmehr den ſtaatlichen Verwaltungsorganen ein weiter Spielraum gelaſſen werden, damit ſie die in jedem Falle und in jedem Augenblicke zweckmäßigſten Maßregeln treffen können. Die nicht zu beſeitigende Schwierigkeit dieſer Verhältniſſe legt aber auch den einzelnen Bevölkerungsgruppen und Parteien die Pflicht auf, bei ihren oft ganz ent- gegengeſetzten Forderungen an die Staatsregierung eine etwas größere Zurück— haltung zu beobachten, als ſie gegenwärtig leider geübt wird ). XVI. Zoll- und Steuerweſen. Ob Freihandel oder Schutzzölle das richtigere ſei, darf nicht, wie es früher oft geſchehen iſt und zuweilen noch jetzt geſchieht, als Prinzipien— frage betrachtet werden. Vielmehr iſt es lediglich eine Frage der Zweck— mäßigkeit, die je nach der Art der einzelnen Waren und je nach den zeit— lich grade vorhandenen Umſtänden bald nach der einen, bald nach der anderen Seite hin entſchieden werden muß. Für ein und dieſelbe Ware kann es unter gewiſſen Verhältniſſen ſich empfehlen, deren freie Einfuhr zu geſtatten, unter veränderten Verhältniſſen dagegen die Einfuhr durch Auferlegung eines Zolles zu erſchweren. Dabei iſt zu berückſichtigen, daß jeder Eingangszoll einen doppelten Zweck hat. Er ſchützt die einheimiſche Produktion und iſt inſofern ein Schutzzoll. Außerdem bringt er dem Staate Einnahmen und iſt infofern ein Finanzzoll. Bald tritt der eine, bald der andere Zweck in den Vordergrund; zuweilen iſt der eine von beiden Zwecken derartig vor— wiegend, daß der andere dagegen kaum in Betracht kommt. Es bleibt aber zur richtigen Würdigung eines jeden Zolles unerläßlich, ihn auf ſeine Wir— | kung ſowohl als Schußzoll wie als Finanzzoll einer Prüfung zu unterziehen. g Die Anſichten über die Zweckmäßigkeit von Zöllen auf landwirt— b ſchaftliche Produkte haben im Deutſchen Reiche während der letzten 25 Jahre eine gründliche Umwandelung erfahren, und zwar nicht bloß bei den Land— wirten ſelbſt. Hervorgerufen wurde ſie hauptſächlich durch die wiederholt ſchon erwähnte Veränderung in den Verkehrs-, auch in den Bevölkerungs— verhältniſſen. In dem erſten, für die ganze preußiſche Monarchie einheitlichen Zoll- geſetz von 1818 wurde das Getreide mit einem geringen Einfuhrzoll be— 1) Vergl. zu dem über den Verkehr mit Nahrungs: und Genußmitteln im Text gelagten auch die Abhandlung „Nahrungsmittelpolizei“, von C. Fränkel im Handwörter⸗ uch der Staatswiſſenſchaften, 2. Aufl. 5. Bd. (1900), S. 943 — 955. 268 XVI. Zoll- und Steuerweſen. legt; nach dem jetzigen Gewicht betrug er für 100 kg Roggen) aber nur 44 Pf. Im Jahre 1824 wurde der Roggenzoll auf 1,20 M. geſteigert, 1857 aber wieder auf 12 Pf. herabgeſetzt. Ein ſo geringer Betrag kann nicht mehr als Zoll, ſondern nur noch als Kontrollabgabe betrachtet werden. Durch Geſetz vom 1. Juli 1865 wurden die Eingangszölle für Getreide ganz beſeitigt. Was hier für die preußiſche Monarchie geſagt iſt, gilt auch für die übrigen deutſchen Staaten von dem Zeitpunkte an, daß ſie mit Preußen in Zollgemeinſchaft getreten ſind. Bis etwa zum Jahre 1870 wurde im Gebiete des deutſchen Zollvereins, alle Getreidearten zuſammengenommen, mehr Getreide aus- als eingeführt. Hierin liegt auch die Erklärung für den Umſtand, daß man mit ſehr mäßigen Getreidezöllen ſich begnügen zu können und ſie ſpäter ganz abſchaffen zu dürfen glaubte. Mit dem Jahrzehnt 1871 —1880 änderte ſich die Sachlage weſentlich. Die Bevölkerung des Deutſchen Reiches ſtieg raſch und ſtark; im Jahre 1870 betrug ſie 40 818 000 Perſonen, 1875 war ſie auf 42 729 000 und 1880 auf 45236000 Perſonen angewachſen. Trotz allen in dieſem Jahrzehnt in der Landwirtſchaft gemachten Fortſchritten blieb infolgedeſſen die Produktion an Getreide hinter dem Bedarf zurück; die Ausfuhr wurde von der Einfuhr nicht unerheblich übertroffen. In der Periode von 1871 bis 1880 wurden im Deutſchen Reiche durchſchnittlich pro Jahr ſchon etwas über 15 Mill. Ztr. Roggen mehr ein- als ausgeführt. Die Einfuhr war notwendig, um eine genügende Ernährung der geſtiegenen Bevölkerung zu ſichern. Sie übte auch zunächſt keinen merkbaren Druck auf die Roggen⸗ preiſe aus, wohl aber ſehr bald auf die Weizenpreiſe. Im Deutſchen Reich betrugen durchſchnittlich die Preiſe pro Zentner 7. im Jahrzehnt für Weizen für Roggen 1871—1880 11% M. 8% 1881—1890 Bus 77 7761 7 1891-1900 Bons 7 7518 " | Im Jahrzehnt 1891 —1900 ſtand aljo der Preis des Weizens um 2,92 Mk. oder um 26,9%, der des Roggens um 0,97 Mk. oder um 11,8% niedriger, als im Jahrzehnt 1871—80. Das Sinken der Getreidepreiſe begann ſchon in der zweiten Hälfte der ſiebenziger Jahre und hielt von da ab, trotz der ſeit 1879 auferlegten Ein⸗ gangszölle, wenn auch mit wiederholten Schwankungen, bis zur Gegenwart an. Die Urſache davon lag in der gewaltigen Entwicklung, welche dem Verkehrsweſen beſonders während der 70 er und 80er Jahre, aber auch noch in der Folgezeit, namentlich in denjenigen Ländern zuteil geworden iſt, aus welchen vorzugsweiſe das nach Deutſchland importierte Getreide ſtammt. In erſter Linie ſind hier die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Rußland zu nennen; demnächſt Argentinien und Indien. In allen dieſen Ländern wurden zahlreiche, ins Innere führende Eiſenbahnen neu ge⸗ baut und dadurch die Möglichkeit geſchaffen, ausgedehnte Flächen fruchtbaren Landes zum Getreidebau heranzuziehen. Beiſpielsweiſe betrug die Länge der Eiſenbahnen in den Vereinigten Staaten im Jahre 1860 nur 49 016 km, dagegen im Jahre 1891 ſchon 274497 km. Die mit Weizen angebaute 1) Der Raumerſparnis wegen gebe ich für die ältere Zollgeſetzgebung nur die Zölle für die hauptſächlichſte Brotfrucht, den Roggen, an; auf die übrigen Getreidearten waren ebenfalls Zölle in entſprechender Höhe gelegt. 2) Daß die Getreidepreiſe vom Jahrzehnt 1821 —30 bis zum Jahrzehnt 1871—80 re und in welchem Grade fie gejtiegen find, ergibt ſich aus der Nachweiſung auf eite 45. 2 1 u * 5 . — — n ˙²r»²⅛ ²˙ ü ⁵ü!.̃ ˙ꝛ1 ͤ 'ngq ͤmnn.. ͤ ͤͤwMl! M ˙ͥẽI ) > nd A dr mm m nah 8 | | . XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 269 Fläche machte dort 1869 bloß 9 Mill., dagegen 1889 ſchon 16 Mill. ha aus. Der Weizenertrag ſtieg von 35,4 Mill. hl im Jahre 1850 auf jähr⸗ ilch 169,7 Mill. in der Periode von 1890/93; die Weizenausfuhr von jähr- lich 0,46 Mill. hl in dem Zeitraum von 1841/50 auf jährlich 36,8 Mill. hl in dem Zeitraum von 1891/94. Dazu kam dann die fortdauernde Herab— 4 ſetzung der Seefrachten. Im Jahre 1889 ftellten ſich die Frachtkoſten auf Dampfſchiffen von New York bis Hamburg für 100 engliſche Pfund auf 0,78 Mk., im Jahre 1895 nur noch auf 0,37 Mk. ). Der Erwerbspreis für den in den genannten Ländern mit Getreide beſtellten Boden war äußerſt niedrig, die Fruchtbarkeit desſelben, wenigſtens in den erſten Jahren der Bebauung, meiſt groß. Infolgedeſſen waren die e ſehr gering. Dieſer Umſtand, in Verbindung mit der eichtigkeit und Billigkeit des Transportes, machte es den auswärtigen Produzenten möglich, ihren großen Überfluß an Getreide zu einem erheblich niedrigeren Preiſe in den europäiſchen Kulturländern anzubieten, als er hier in der voraufgegangenen Zeit üblich war und als er den einheimiſchen Pro— duktionskoſten entſprach. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre fing man an, die der deutſchen Landwirtſchaft, beſonders dem Getreidebau, durch die ausländische Konkurrenz drohende Gefahr zu erkennen und in ihrer Bedeutung zu würdigen. Dem unmittelbaren Eingreifen des Fürſten Bismarck iſt es zu danken, daß man von der bisherigen, weſentlich freihändleriſchen Zollpolitik abging und ſich einem gemäßigten Schutzzollſyſtem zuwendete. Dasſelbe erſtreckte ſich übrigens nicht nur auf landwirtſchaftliche Produkte, ſondern auch auf viele induſtrielle Erzeugniſſe. Durch das Tarifgeſetz vom 15. Juli 1879 wurde auf Ge— treide zunächſt ein mäßiger Eingangszoll gelegt; in den Jahren 1885 und 1887 erfuhr derſelbe namhafte Erhöhungen. Die Handelsverträge von 1891 und 1894 brachten wieder eine Herabſetzung der Zölle, die aber noch etwas höher wie die Zölle von 1885 ſich ſtellten. Es wurden nämlich die Eingangszölle für je 100 kg normiert in Mark auf: 1879 1885 1887 1891/94 F ²˙ PER 3 808 1 „ Roggen 100 3.00 5.00 3.50 — nie rn 3 drop * „ Gerſte or 1 Kun * 3. „ Mais und Buchweizen 0,0 FR DH 1 „ Mühlenfabrikaten . AK 75 10% * Daß die Zölle einen hebenden Einfluß auf die Getreidepreiſe ausüben, läßt ſich ſchon aus theoretiſchen Gründen annehmen. Man kann es aber auch durch einen Vergleich mit England, wo keine Getreidezölle exiſtieren, praktiſch nachweiſen. In der Periode von 1816—1875 ſtanden in England die Weizenpreiſe höher, oft erheblich höher als im Deutſchen Reich. Seit Einführung der Zölle ergibt ſich das umgekehrte Verhältnis. Es betrug nämlich der durchſchnittliche Preis für einen Doppelzentner Weizen: im Jahrzehnt in England?) im Deutſchen Reich 1871-1880 23,92 M. 22,32 M. 1891—1900 13,25 „ 16,48 „ 1) Buchenberger, Grundzüge der deutſchen Agrarpolitik, 1897. Es findet ſich dort, S. 205 ff., eine Menge Einzelangaben über die Vermehrung der Verkehrsmittel und des Getreidebaues in den Getreide exportierenden Ländern, ebenſo über die Verbilligung des Transportes. 2) Die Zahlen für die Getreidepreiſe in England habe ich entnommen bezw. be⸗ rechnet aus den Angaben im Vierteljahrsheft zur Statiſtit des Deutſchen Reiches, 11. Jahrg. 1902, Viertes Heft, S. IV, 170. 270 XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. Während alſo im Jahrzehnt 1871—80 der Weizenpreis in England noch 1,60 Mk. höher als im Deutſchen Reiche ſtand, war er dort im Jahr⸗ zehnt 1891-1900 um 3,23 Mk. niedriger. Die Handesverträge waren urſprünglich bis zum 31. Dezember 1903 geſchloſſen, ſind aber, da aus ſpäter zu erörternden Gründen bis jetzt keine neuen vereinbart wurden, noch gegenwärtig in Kraft. In landwirtſchaftlichen Kreiſen herrſcht der Wunſch und das Beſtreben vor, nach deren Ablauf wieder zu höheren Getreidezöllen zu gelangen. Die für die Beurteilung der Getreidezölle überhaupt und deren Höhe maßgebenden Geſichtspunkte ſind kurz folgende: Für die deutſche Landwirtſchaft und demnach für die geſamte deutſche Volkswirtſchaft iſt es eine Lebensfrage, daß der Getreidepreis nicht unter die Produktionskoſten ſinkt. Geſchähe dies, ſo würde die Folge ſein, daß der Getreidebau erheblich eingeſchränkt und eine extenſivere Betriebsweiſe zur Anwendung gebracht werden müßte. Nun iſt es aber, wie bereits früher nachgewieſen wurde (ſ. ©. 8 ff. und S. 47 ff.), in Anbetracht des Wachs⸗ tums der Bevölkerung und in Anbetracht der Unvermehrbarkeit des Bodens dringend wünſchenswert oder notwendig, daß der landwirtſchaftliche Betrieb eine immer intenſivere Geſtalt annimmt, daß die Menge der erzeugten Boden⸗ produkte ſich fortdauernd vermehrt. Schon jetzt muß Deutſchland etwa ½ ſeines Getreidebedarfs durch ausländiſche Zufuhr decken. Eine Beſchränkung des Getreidebaues würde das jetzt vorhandene Defizit, ſelbſt bei gleich- bleibender Bevölkerung, noch vermehren und damit die Abhängigkeit vom Auslande noch erhöhen. Im Hinblick auf die kontinentale Lage des Deutſchen Reiches könnte in Kriegszeiten dieſer Umſtand geradezu verhängnisvoll wirken. England hat, mit infolge des Sinkens der Getreidepreiſe, nicht nur den Getreidebau, ſondern den Ackerbau überhaupt einſchränken müſſen und zwar durch Verwandlung von Ackerland in ſtändiges Grasland. Dadurch iſt die landwirtſchaftliche Rohproduktion im ganzen zurückgegangen, es haben außerdem die Reinerträge der einzelnen Betriebe abgenommen. Der Beweis für die letztgenannte Tatſache liegt in dem ſtarken Sinken der Pachtpreiſe und in den trotzdem durchſchnittlich ungünſtigen wirtſchaftlichen Verhältniſſen der Pächter. Bei der inſularen Lage und dem mächtig entwickelten Handel machten ſich die üblen Folgen dieſes Zuſtandes in England lange nicht jo be- merkbar, als es bei uns der Fall ſein würde, wenn die Landwirtſchaft unter dem Drucke der Not einen ähnlichen Entwicklungsgang nähme. Aber ſelbſt für England wird die Zeit kommen, in der man es bereuen wird, daß man auf die Bodenproduktion ſo geringe Rückſicht genommen hat. Für das Deutſche Reich würde die Rückkehr zu einem extenſiveren Betriebe in wirtſchaftlicher wie in politiſcher Beziehung ein großes Unglück ſein, ſie würde ſogar die nationale Unabhängigkeit gefährden. Wie hoch die Produktions koſten für einen Zentner Getreide ſich belaufen, kann man aus verſchiedenen, hier nicht näher zu erörtenden Gründen, allerdings genau nicht feſtſtellen. Man darf aber ohne Übertreibung an⸗ nehmen, daß viele deutſche Landwirte während der letzten 25 Jahre ihr Getreide wiederholt zu einem Preiſe haben verkaufen müſſen, der unter den Produktionskoſten ſtand und daß, wenn wir keine Getreidezölle gehabt hätten, ein unſere ganze Volkswirtſchaft erſchütternder Notſtand hereinge⸗ brochen wäre. Allerdings ſind an der Höhe der Getreidepreiſe nicht alle Gruppen der landwirtſchaftlichen Bevölkerung in gleicher Weiſe intereſſiert. Ein vorwiegendes Intereſſe haben die Großgrundbeſitzer, die nicht nur abſolut, ſondern auch relativ das meiſte Getreide verkaufen. Demnächſt kommen die XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 271 en ne; dann die mittelbäuerlichen Beſitzer. Die kleinen nern und die Parzellenbeſitzer pflegen mehr Getreide oder Brot zu kaufen, als zu verkaufen. In noch höherem Grade gilt dies von den grund— beſitzloſen Arbeitern, ſofern ſie nicht Gutstagelöhner ſind und ihren Ge— treidebedarf als Deputat geliefert bekommen; letzteres geſchieht zuweilen ſogar in ſolcher Menge, daß ſie davon einen Teil noch verkaufen können. Scheinbar hat iernach die überwiegende Mehrheit der ländlichen Bevölkerung ein größeres ıterejje an niedrigen wie an hohen Getreidepreiſen. Aber ein ſolcher Schluß würde irrtümlich ſein. Die Großgrundbeſitzer und demnächſt die Großbauern ſind zugleich die hauptſächlichſten Arbeitgeber auf dem Lande; von ihrem wirtſchaftlichen Gedeihen hängt es ab, wie viel Arbeiter ſie beſchäftigen und wie hoch ſie dieſe lohnen können. Eine extenſivere Betriebsweiſe und ein noch niedrigerer Stand der Getreidepreiſe müßten zur Folge haben, daß die Löhne ſänken und daß die Zahl der ländlichen Arbeiter ſich noch mehr ver— ringerte. Beides iſt nicht wünſchenswert. Dazu kommt, daß der Preis des Getreides mit dem der tieriſchen Produkte in nahem und innerem Zuſammen— hang ſteht. Es kommen wohl Perioden, in denen entweder die pflanzlichen oder die tieriſchen Produkte der Landwirtſchaft einen relativ hohen oder niedrigen Preis haben; aber im großen Durchſchnitt herrſcht zwiſchen ihnen ein auf natürlichen Urſachen beruhender Parallelismus. Deſſen tatſächliches Vorhandenſein ergibt ſich ſchon aus den S. 45 mitgeteilten Tabellen ). Fallen die Getreidepreiſe, ſo müſſen früher oder ſpäter auch die Preiſe der tieriſchen Produkte ſinken. Die von den bäuerlichen Beſitzern zum Verkauf gebrachten Erzeugniſſe ſind nun vorzugsweiſe ſolche, die aus der Viehhaltung ſtammen. Ein Rückgang in der Rentabilität des Ackerbaues bringt auch ſtets einen ſolchen in der Rentabilität der Viehhaltung mit ſich. Hiergegen kann nicht eingewendet werden, daß zurzeit in Deutſchland die Preiſe für tieriſche Produkte noch ziemlich hoch ſind. Aus welchem Grunde ſie keinen ſolchen Rückgang erfahren haben, wie die Getreidepreiſe, ſoll an einer ſpäteren Stelle erörtert werden. Jedenfalls darf man als feſtſtehend betrachten, daß die Preiſe für die tieriſchen Produkte nicht die wirklich eingenommene Höhe gehabt hätten, wenn nicht durch die Getreidezölle ein noch ſtärkeres Sinken der Getreidepreiſe verhütet worden wäre. Die nicht Landwirtſchaft treibende Bevölkerung, welche jetzt etwa ¼ der Geſamtbevölkerung des Deutſchen Reiches ausmacht, muß aller: dings wünſchen, daß ſie ihr wichtigſtes Lebensbedürfnis, die Nahrung und namentlich das Brot, billig kaufen kann. Getreidezölle dürfen daher keine Veranlaſſung zu einer übermäßigen Verteuerung des Brotes abgeben. Hier— von kann aber auch zurzeit gar keine Rede ſein. Trotz der Zölle hat der Preis des Getreides in den letzten 25 Jahren durchſchnittlich niedriger ge— ſtanden, als in dem voraufgegangenen Vierteljahrhundert. Dabei ſind gleich- zeitig die Arbeitslöhne, auch die Gehälter für Privat- und Staatsbeamte, erheblich geſtiegen, ſo daß alle nicht Getreide produzierenden Perſonen ihren Bedarf an Brot mit abſolut geringeren Geldopfern und mit einem ſehr viel kleineren Teil ihres Einkommens beſtreiten können, als dies früher der Fall war. Dazu kommt noch ein anderes. Ein ſehr erheblicher Teil der ſtädtiſchen Gewerbetreibenden iſt auf die Kundſchaft der Landbewohner angewieſen. Viele von ihnen haben es in den Zeiten, in denen die Getreidepreiſe be— ſonders niedrig ſtanden, in ihrem Geſchäft ſchmerzlich empfinden müſſen, daß die Kaufkraft der Landwirte abgenommen hatte. Bei den einſichtigen Ver— 1) Den eingehenden Nachweis hierfür habe ich in meinem Buch „Landwirtſchaftliche Taxationslehre“, 3. Aufl. 1903, S. 199 ff. zu liefern verſucht. 272 XVI. Zoll- und Steuerweſen. tretern des Handwerks, der Induſtrie und des Handels iſt deshalb, gerade infolge der gemachten Erfahrungen, die Überzeugung zum Durchbruch ge- kommen, daß ein mittlerer Stand der Getreidepreiſe auch für ſie vorteilhafter ſei, als ein beſonders niedriger. Schon ſeit 1879 haben wir einen Eingangszoll auf Getreide, ſeit 1885 ſogar einen verhältnismäßig hohen; ſeit 1881 ſtehen die Getreidepreiſe in Deutſchland höher wie in England, ſeit 1886 ſogar beträchtlich höher. Trotz⸗ dem kann man nicht ſagen, daß die deutſche Induſtrie darunter gelitten hat. Im Gegenteil, ſie hat gerade in den letzten Jahren einen ganz ungewöhnlich ſtarken Aufſchwung genommen, ſo daß auch ſehr nüchtern urteilende engliſche Sachverſtändige nicht ohne Beſorgnis auf die ihrer eigenen Induſtrie er⸗ wachſene Konkurrenz blicken. Eine nicht minder große Ausdehnung hat der deutſche Handel erfahren. Dieſe ganz offenkundigen, mit Zahlen belegbaren Tatſachen haben auch viele früheren Gegner der Getreidezölle zu einem Wechſel ihrer Anſichten veranlaßt. Getreidezölle in einer noch vor 20 Jahren faſt allſeitig für ganz unannehmbar gehaltenen Höhe finden jetzt kaum mehr einen Widerſpruch. Vorausſetzung dabei iſt freilich, daß die Getreidepreiſe, auch beim Beſtehen der Zölle, auf einem mäßigen Niveau ſich halten. Schon auf S. 11 ff. iſt eingehend nachgewieſen worden, daß Deutſch⸗ land behufs Ernährung ſeiner Bevölkerung für abſehbare Zeiten die Einfuhr fremden Getreides nicht entbehren kann. Neuerdings iſt dies freilich in der Weiſe zu beſtreiten verſucht worden, daß man berechnete, wie hoch der Brot⸗ bedarf der Bevölkerung ſei und dann auf Grund der Ernteſtatiſtik feſtſtellte, daß dieſer Bedarf durch die einheimiſche Produktion an Brotgetreide annährend ſeine Deckung finde 1). Indeſſen beruht die angewendete Beweisführung auf unſicherer Grundlage und zieht außerdem aus den gewonnenen Reſultaten unzutreffende Schlüſſe. Es wird an der zitierten Stelle angenommen, daß an Brot, auf Ge⸗ treide umgerechnet, im Durchſchnitt pro Kopf der Bevölkerung jährlich 171 kg Getreide erforderlich ſeien. Auf Grund der Ernteſtatiſtik wird nun feſtgeſtellt, daß im Durchſchnitt der Jahre 1893/97 an Brotgetreide (Weizen und Roggen) 10 006 462 Tonnen geerntet wurden, ſo daß, nach Abzug des Ausſaatquantums, 8 654 011 Tonnen für den menſchlichen Konſum übrig blieben. Die durchſchnittliche Bevölkerung betrug in jenen Jahren 52 279 901 Perſonen. Unter Annahme eines durchſchnittlichen Konſums von 171 kg Brotgetreide pro Kopf ſtellte ſich der Bedarf der geſamten Bevölke⸗ rung auf jährlich 8 939 863 Tonnen. Da das von der einheimiſchen Ernte verfügbare Quantum an Brotgetreide 8 654011 Tonnen ausmachte, jo wären nur noch 285 852 Tonnen durch Einfuhr zu decken geweſen. Statt deſſen belief ſich die Mehreinfuhr an Brotgetreide im Durchſchnitt jener Jahre auf 1753 789 Tonnen, alſo auf „1467 937 Tonnen mehr, als mit Rück⸗ ſicht auf die Ernährung der inländiſchen Bevölkerung erforderlich geweſen wäre, unter der Vorausſetzung, daß das inländiſche Brotgetreide, nach Abzug der Saat, auch wirklich als menſchliches Nahrungsmittel ver⸗ wendet worden iſt. Es iſt nun aber wohl nicht anzunehmen, daß das ein⸗ geführte ausländiſche Getreide als Viehfutter gedient hat, wir müſſen vielmehr annehmen, daß von der inländischen Ernte 1467 937 Tonnen Ge⸗ treide als Viehfutter, zum großen Teil infolge ſchlechter Preis- und Abſatz⸗ verhältniſſe verwendet worden ſind. — Immerhin glauben wir bewieſen zu haben, daß die deutſche Landwirtſchaft noch imſtande iſt, dem deutſchen Volk faſt das geſamte zu ſeiner Ernährung erforderliche 1) Nachrichten vom Deutſchen Landwirtſchaftsrat, Jahrg. 3, 1898, Nr. 9. Rn ze Da ES en Sa nen > ZZ ro TEENS es r ä nl XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 273 Brotgetreide zu liefern, wenn das im Inlande erzeugte Brot— getreide dazu verwendet wird, und nach den Preisverhältniſſen dazu verwendet werden kann, wozu es gebaut wird, nämlich zur menſchlichen Nahrung. Dieſen nationalen Schatz zu hüten, zu wahren und zu mehren, ſollte die erſte und wichtigſte Aufgabe unſerer Regierungen und geſetzgebenden Körperſchaften ſein y.“ Ob die im obigen gemachte Annahme über den Verbrauch an Brot von 171 kg jährlich pro Kopf richtig iſt oder nicht, läßt ſich auf Grund des vorliegenden Materials weder beweiſen noch beſtreiten; ich halte es nicht für ausgeſchloſſen, daß ſie annähernd zutrifft. Etwas ähnliches gilt von den auf Grund der Ernteſtatiſtik ermittelten Zahlen über die Menge des geernteten Getreides, obwohl wir hier ſchon auf etwas ſichererem Boden ſtehen 7). Zu maßgebenden Schlüſſen kann man nur auf Grund der Ein- und Ausfuhr⸗ ſtatiſtik gelangen. Dieſe weiſt nach, daß im Durchſchnitt des Jahrzehntes 1891-1900 an Getreide 3 035 351 Tonnen, an Brotgetreide, alſo Weizen und Roggen, allein 1 827 662 Tonnen mehr ein- als ausgeführt worden ſind?). Man darf annehmen, daß auch ungefähr die gleiche Menge wirklich mehr verbraucht worden iſt. An der erwähnten Stelle heißt es: „Es iſt nun nicht anzunehmen, daß das eingeführte ausländiſche Getreide als Viehfutter gedient hat, wir müſſen vielmehr annehmen, daß von der inländiſchen Ernte 1 467 937 Tonnen Getreide als Viehfutter, zum großen Teil infolge ſchlechter Preis- und Ab⸗ ſatzverhältniſſe, verwendet worden find.“ Unter der Vorausſetzung, daß die Annahme über den Konſum und die Ernte an Brotgetreide annähernd richtig ſind, iſt zuzugeben, daß der vorhanden geweſene Überſchuß an Brotgetreide zum weit überwiegenden Teil der Viehfütterung gedient hat und daß für dieſen Zweck, ebenfalls weit überwiegend, inländiſches Getreide benutzt worden iſt. Dagegen muß es als unrichtig bezeichnet werden, wenn hinzugefügt wird, daß dies zum großen Teil infolge ſchlechter Preis- und Abſatzverhält⸗ niſſe geſchehen ſei. Von jeher iſt in der deutſchen Landwirtſchaft Roggen in großen Mengen als Viehfutter verwendet worden. Roggen iſt aber in Deutſch— land das hauptſächlichſte Brotgetreide, wie denn auch die einheimiſche Roggen⸗ produktion etwa 2¼ mal jo groß iſt, als die inländiſche Weizenproduktion. Namentlich in mittel⸗ und kleinbäuerlichen Wirtſchaften, auch bei den Guts— tagelöhnern, kommt viel Roggen zur Verfütterung. Teilweiſe liegt dies an den bereits S. 257 angeführten Gründen, aber doch eben nur teilweiſe. Der hauptſächlichſte Grund iſt darin zu ſuchen, daß in jeder Wirtſchaft und in jedem Jahre kleinere oder größere Mengen von Getreide eine ſo geringe Beſchaffendeit haben, daß ſie entweder überhaupt keine Marktware bilden oder doch nur zu einem ſo niedrigen Preis verkauft werden können, daß man ſie vorteilhafter als Viehfutter benutzt. Dies gilt nicht nur für bäuer— liche und kleine, ſondern für ſämtliche landwirtſchaftliche Betriebe; es gilt auch nicht bloß für Roggen, ſondern auch für Weizen. Nach der zitierten Quelle ſind von jährlich 10 006 462 geernteten Tonnen Brotgetreide, 1467 937 Tonnen weder zur menſchlichen Ernährung 1) In dem erſten Teil dieſes Abſatzes habe ich die zitierte Quelle auszugsweiſe, von den Anführungszeichen an bis zum Schluß wörtlich wiedergegeben; die hier geſperrt ge— druckten Stellen find es auch im Original. Siehe a. a. O. S. 261— 262. 2) Vergl. die Anmerkung auf S. 12. 3) Vergl. hierzu auch die auf S. 11 u. 12 von mir mitgeteilten Zahlen über die Getreideeinfuhr. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik 2. Aufl. 18 274 XVI. Zoll- und Steuerweſen. noch zur Ausſaat, ſondern vermutlich meiſt als Viehfutter verwendet worden. Dies ſind 14,6 Proz. der geernteten Menge. Man darf annehmen, daß auch in ganz normalen Jahren durchſchnitt⸗ lich mindeſtens 5 Proz. des geernteten Getreides aus geringwertigen Körnern beſtehen, deren Verkauf ſich nicht lohnt. In Jahren, wo das Ge— treide durch ſchlechte Erntewitterung, durch Krankheiten, namentlich Roſt, gelitten hat, kann ſich für manche Gegenden und Güter dieſer Satz auf 15 Proz., 20 Proz. und noch höher ſteigern. Die geringen Körner ſind nicht anders oder doch nicht vorteilhafter zu verwerten, als durch Ver⸗ fütterung. Bei der Geflügelhaltung, teilweiſe auch bei der Schweinehaltung, hängt deren Rentabilität häufig davon ab, daß derartige Körner zur Ver⸗ fügung ſtehen. Für viele bäuerliche und Kleinſtellenbeſitzer wird aber auch die Ver⸗ fütterung von Brotgetreide, wenigſtens von Roggen, der eine an und für ſich marktfähige Ware darſtellt, ſich als das wirtſchaftlich zweckmäßige erweiſen. Dieſe haben nur ein kleines Quantum Roggen zum Verkauf übrig; ſie können es nicht in einer Weiſe reinigen, daß es eine gute Marktware bildet, oder dieſe Reinigung macht ſich doch nicht bezahlt. Ferner wohnen ſie weit vom Markt ab, ſind daher bei der Veräußerung an kleine Händler gewieſen, die nur einen ganz geringen Preis zahlen; die Transportkoſten nach dem Markt würden einen erheblichen Teil des Erlöſes fortnehmen. Iſt das Ge- treide einmal zu Markt gebracht, ſo liegt ein gewiſſer Zwang zum Verkauf vor, auch wenn nur ein ſehr niedriger Preis gezahlt wird; dieſe Zwangs⸗ lage wird namentlich Bauern gegenüber von den Händler ausgebeutet. Alle dieſe Umſtände erklären es, weshalb kleinere Beſitzer häufig einen Teil des von ihnen produzierten Roggens, obwohl er an und für ſich eine markt⸗ fähige Ware bildet, an ihr Vieh verfüttern. Sie handeln darin nach ganz richtigen wirtſchaftlichen Grundſätzen. Sie zum Verkauf zwingen zu wollen, iſt undenkbar; es würde dies eine ſozialiſtiſche Organiſation des Staates zur Voransſetzung haben. Angeſichts der hier geſchilderten Verhältniſſe kann es nicht auffallen, wenn 14 Proz. des erzeugten Brotgetreides als Viehfutter verwendet werden. Auch eine Preisſteigerung des Getreides würde hieran wenig ändern, falls ſie nicht ſo ſtark wäre, daß kein verſtändiger Menſch an die Erhebung irgend a Gewicht fallender Eingangszölle für Getreide überhaupt noch denken önnte. Man darf mit größter Beſtimmtheit behaupten, daß die Verfütte⸗ rung von Brotgetreide in den letzten 20 Jahren erheblich abge nommen hat, trotzdem daß während dieſer Zeit die Getreidepreiſe geſunken ſind. Die Abnahme iſt eingetreten infolge der Verbeſſerung der Verkehrs⸗ wege und der Verbilligung des Transportes. Beide haben es möglicht, das Getreide mit geringeren Koſten zum Markte zu bringen und Kraftfuttermittel für einen billigeren Preis zu erwerben. Die vermehrte Anwendung der letzteren iſt außerdem, wie bereits früher erörtert wurde, durch die Tätigkeit der Genoſſenſchaften, der landwirtſchaftlichen Vereine und der Verſuchsſtationen ſehr befördert worden. Weiter iſt der für die Beurteilung der vorliegenden Frage ſehr wichtige Umſtand zu beachten, daß bei einem großen, vielleicht ſogar bei dem über⸗ wiegenden Teile des zur Brotbereitung benutzten Getreides die äußere Hülle der Getreidekörner, die ſog. Kleie durch den Malprozeß ausgeſchieden und als Viehfutter verwendet wird. Dies wird auch in der Zukunft ſo bleiben, ja beſtändig zunehmen, da die Bevölkerung mit ſteigender Wohlhabenheit auch in ſteigendem Maße dem Feinbrot vor dem groben oder Schrot⸗ XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 275 brot den Vorzug gibt. — J. Conrad hat vor einigen Jahren eine Unter- ſuchung auf 14 in den verſchiedenſten Gegenden und unter verſchiedenſten Wirtſchaftsverhältniſſen befindlichen Gütern bezüglich Verwendung des ſelbſt erzeugten Brotgetreides angeſtellt. Er kommt dabei zu dem Reſultat, daß in Deutſchland im Durchſchnitt von 5 Jahren 22,2% des Brotgetreides an das Vieh verfüttert und daß nach weiterem Abzug von 15% für die Kleie nur 60% für den menſchlichen Konſum übrig bleiben. Hier iſt das, ſei es innerhalb ſei es außerhalb der betr. Wirtſchaften zur Saat, zur Herſtellung or Spiritus und Stärke verwendete Brotgetreide nicht einmal in Anſatz ge- acht ). Noch ein anderer Punkt iſt zu berückſichtigen. Wenn kein Brotgetreide mehr verfüttert würde, ſo müßte entweder der Viehſtand reduziert oder ein anderweitiger Erſatz beſchafft werden. Erſteres kann mit Rückſicht ſowohl auf die notwendige Verſorgung der Bevölkernng mit Fleiſch, Milch ꝛc. wie auf die Rentabilität des landwirtſchaftlichen Betriebes nicht gewünſcht und empfohlen werden. Ein Erſatz des verfütterten Brotgetreides iſt möglich durch Ausdehnung des Futterbaues auf dem Ackerlande oder durch Zukauf von Kraftfutter. Die Anwendung jenes Mittels würde eine Einſchränkung des Getreidebaues, alſo eine Verminderung der Getreideproduktion zur Folge haben, wodurch der Zweck, zu welchem es dienen ſollte, vereitelt würde. Durch verſtärkten An- kauf von Kraftfutter kann allerdings ein Teil des verfütterten Brotgetreides für den menſchlichen Konſum erübrigt werden und von dieſem Mittel wird auch, wie oben bemerkt, ein fortdauernd ſteigender Gebrauch gemacht. Aber auf die Entſcheidung der Frage, ob die deutſche Landwirtſchaft imſtande ſei, den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung zu decken, übt dies nur einen ge— ringen Einfluß. Denn fürs erſte muß das geringwertige Getreide unter allen Umſtänden, ausgenommen den Fall einer Hungersnot, verfüttert werden und dies bildet einen großen Bruchteil des verfütterten Brotgetreides. Zum anderen iſt zu bedenken, daß die meiſten Kraftfuttermittel vom Auslande ſtammen. Eine Vermehrung des Verbrauchs an Kraftfutter würde aus— ſchließlich nur durch Ankauf ausländiſcher Erzeugniſſe zu bewerkſtelligen ſein. Damit ſteigt aber die Abhängigkeit der einheimiſchen Viehhaltung von dem Auslande. Im Falle eines Krieges würde infolgedeſſen die Verſorgung der einheimiſchen Bevölkerung und namentlich des Heeres mit Nahrungsmitteln aus dem Tierreich ſehr erſchwert, in ausreichender Weiſe ſogar unmöglich gemacht werden. Aus allen dieſen Gründen liegt keine Veranlaſſung vor, auf die Ein— ſchränkung der Verfütterung von Brotgetreide durch irgendwelche allgemeine Maßregeln hinzuwirken. Man muß dies dem Ermeſſen der einzelnen Land— wirte überlaſſen. Vom wirtſchaftlichen Geſichtspunkte aus wird die Ver: fütterung von Brotgetreide für alle Zeiten in gewiſſem Umfang ſich als zweckmäßig erweiſen. Wenn ich hier etwas ausführlicher auf die Publikation des Deutſchen Landwirtſchaftsrates eingegangen bin, ſo liegt dies vor allem an dem An— ſehen, welches dieſe Körperſchaft mit Recht genießt. Infolgedeſſen iſt der Inhalt derſelben auch in zahlreiche öffentliche Blätter übergegangen und hat um ſo mehr Zuſtimmung gefunden, als ſie mit großer Sorgfalt ausgearbeitet iſt und viel wertvolles Material für die Beurteilung der Getreidezollfrage enthält. Mit Rückſicht auf die bevorſtehende Neugeſtaltung der Handels— 1) Siehe hierüber die Con radſche Abhandlung „Getreidepreiſe“ im Handwörterbuch der Staatswiſſenſch., 2. Aufl. IV. Bd. (1900), S. 321. Dieſe ſowie die Abhandlung „Getreidezölle“ desſelben Verfaſſers in dem nämlichen Werle bieten viel wertvolles Material zur Beurteilung der im Text beſprochenen Frage (a. a. O. S. 333 ff.). 185 276 XVI. Boll und Steuerweſen. verträge wird auf ſie auch ſpäter noch häufig zurückgegriffen werden. Um ſo mehr ſchien es mir notwendig, den Nachweis zu liefern, daß das jetzt verfütterte Brotgetreide nicht mit in Rechnung gezogen werden darf, wenn es ſich um Beantwortung der Frage handelt, ob die deutſche Landwirtſchaft zur Zeit imſtande iſt, den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung an Brot bezw. an Mehl zu decken. Daß ſie dies nicht iſt und inwieweit ſie dies nicht iſt, habe ich an einer früheren Stelle eingehend nachgewieſen (S. 11—16). Entſcheidend hierfür iſt die unbeſtrittene Tatſache, daß ſeit über 30 Jahren Deutſchland in immer ſteigendem Maße mehr Brotgetreide ein- als ausführt und daß die Mehreinfuhr im Jahrzehnt 1891 —1900 durchſchnittlich pro Jahr rund 1,8 Mill. Tonnen oder 36 Mill. Zentner betragen hat. Weſentlich für die Beurteilung der Getreidezölle iſt außerdem der Um⸗ ſtand, daß ſie dem Reiche hohe Einnahmen bringen und für die Dauer ihres Beſtehens bringen werden. Sie ſind nicht bloß Schutzzölle, ſondern auch Finanzzölle. Der Ertrag aus dem Zoll für Getreide, Hülſenfrüchte und Malz betrug im Deutſchen Reich ): im Kalenderjahr 1892 103 668 000 M. 1893 70691000 „ 7 4 1894 99 648 000 „ * 1885 108 951000 „ l 1896 146 021 000 „ h 1897 134 861 000 „ ji 1898 148 170000 „ 5 5 1899 128 430000 „ 1 5 1900 131 557 000 „ Der Fortfall oder die Herabſetzung der Getreidezölle würde die Auf⸗ erlegung neuer Steuern oder Zölle bezw. die Erhöhung der bereits be⸗ ſtehenden zur notwendigen Folge haben. | Zum Schutz der einheimischen Landwirtſchaft iſt ein Getreidezoll unentbehrlich; er darf aber nicht ſo hoch ſein, daß er wie ein Prohibitiv⸗ zoll wirkt; auch nicht ſo hoch, daß eine für die weniger bemittelten Be⸗ völkerungsklaſſen ſchwer drückende Steigerung der Getreidepreiſe herbeige⸗ führt wird. Am natürlichſten erſcheint es, den Zollſatz für Getreide nach den je⸗ weiligen Getreidepreiſen abzuſtufen; ihn höher zu normieren, wenn das Ge⸗ treide billig, niedriger bezw. ihn ganz fortfallen zu laſſen, wenn es teuer iſt. Dies Syſtem wurde in England von 1828 — 1847 angewendet; man nennt es die gleitende Skala. Den Zweck, eine größere Ausgleichung in den Getreidepreiſen herbeizuführen, hat es nur zeitweiſe und mangelhaft erfüllt. Im Gegenteil wurde dadurch die Spekulationswut beſonders ſtark angeregt, und infolgedeſſen große Schwankungen in den Getreidepreiſen hervorgerufen ). Es würde aber verkehrt ſein, aus dieſem Mißerfolg ohne weiteres den Schluß ziehen zu wollen, als ob die gleitende Skala überhaupt und insbeſondere auch für die gegenwärtigen Verhältniſſe im Deutſchen Reich unanwendbar ſei. Nach der engliſchen Skala von 1828 betrug der Zoll für den Quarter (1 Quarter — 2,9 hl) Weizen bei einem Preiſe von 73 sh nur 1 sh, jtieg dagegen bei einem Preiſe von 66 sh auf 20 sh 8 d. Ein Sinken des Getreidepreiſes um 7 sh bewirkte demnach eine Zollerhöhung um 19 sh 8 d, alſo faſt um das Dreifache; ebenſo umgekehrt beim Steigen des Getreide⸗ > > > - > = = * * = = 35 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 19. Jahrg., 1898, S. 171. 22. Jahrg., 1901, S. 185. 2) Vergl. hierüber u. a. die Abhandlung von J. Conrad in Schönberg, Hand⸗ buch der polit. Okonomie, 4. Aufl., Bd. 2, 1 (1896), S. 243 ff. XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 277 preiſes. Daß hierdurch die Spekulationswut in ungeſunder Weiſe angeregt werden mußte, iſt natürlich. Auch bei der 1842 von Robert Peel ein- geführten Zollſkala war der Unterſchied in dem Zollſatze noch ungewöhnlich groß; der letztere betrug bei einem Preiſe von 73 sh pro Quarter nur 1 sh, bei einem Preiſe von 51 sh dagegen 20 sh. Im Jahre 1846 wurden die Zollſätze ſehr ermäßigt; von 1849 ab wurde nur noch ein feſter Zoll von 1 sh pro Quarter erhoben und 1869 der Getreidezoll ganz fallen gelaſſen. Unter der Herrſchaft der gleitenden Skala (1828 —1847) wirkte die ſtarke Differenz der Zollſätze um ſo mehr auf die Schwankung der Getreidepreiſe ein, als die Zollſätze jede Woche auf Grund der Durchſchnittspreiſe der voraufgegangenen ſechs Wochen immer wieder neu feſtgeſtellt wurden. Da⸗ durch wurde der Spekulationsdrang unnatürlich angeregt und es traten öfters in da kurzer Friſt ungewöhnlich hohe Schwankungen, namentlich in den Zollſätzen, zuweilen auch in den Getreidepreiſen ein. Grabein) macht darüber in der unten zitierten Schrift hierüber verſchiedene charakteriſtiſche Angaben. In den ſechs Wochen von Ende Juli bis Anfang September 1840 betrugen z. B. die Zollſätze für den Quarter Weizen 16 sh 8 d, 13 sh 8 d, 10 sh 8 d, 6 sh 8 d, 6 sh 8 d, 2 sh 8 d (a. a. O. S. 32). In dieſen ſechs Wochen erzielte indeſſen die gleitende Skala die offenbar günſtige Wirkung, daß die Inlandspreiſe des Getreides verhältnismäßig ſehr wenig ſchwankten. Sie bewegten ſich mit Ausnahme einer Woche, zwiſchen 71 sh 4 d und 72 sh 10 d. Die mit der gleitenden Skala in England gemachten Erfahrungen liefern meines Erachtens keinen überzeugenden Be— weis dafür, daß dieſelbe auch in einer zweckentſprechenderen Geſtalt einer günſtigen Wirkung entbehren werde. Als 1887 im deutſchen Reichstag die Erhöhung des Getreidezolles debattiert und ſchließlich angenommen wurde, war die Haltung gegenüber der zur Sprache gebrachten gleitenden Skala faſt durchweg eine ablehnende. Mittlerweile haben ſich die Anſichten etwas geändert; wenigſtens würden jetzt viele Landwirte gern auf einen abgeſtuften Getreidezoll eingehen, wenn ſich ein gangbarer Weg dafür zeigte. Meinerſeits kann ich allerdings ledig— lich die Anſicht vertreten, daß ich die Wirkung eines abgeſtuften Getreide— zolles für eine vorausſichtlich günſtige halte. Darüber, ob er praktiſch durchführbar, ob er namentlich mit langfriſtigen Handelsver— trägen, die ich auch im Intereſſe der Landwirtſchaft für notwendig halte, vereinbar iſt, darüber traue ich mir kein Urteil zu. Daß die Sache roße, möglicherweiſe unüberwindliche Schwierigkeiten hat, verhehle ich mir eineswegs. Um aber doch ein ungefähres Bild zu geben, wie ich mir die en etwa denke, will ich hierüber noch folgende Andeutungen bei— ügen. Der Bundesrat wird beauftragt, im Monat Dezember jedes Jahres die Einfuhrzölle auf Getreide gemäß der geſetzlich feſtgelegten Skala für das ganze folgende Kalenderjahr zu beſtimmen, Dieſe Beſtimmung erfolgt auf Grund der durchſchnittlichen Getreidepreiſe während der letztverfloſſenen 12 Monate, alſo während der Zeit vom 1. Dezember des vorigen Jahres bis zum 30. November des laufenden Jahres. Für Ermittelung der Ge— treidepreiſe werden die Preiſe von 6— 10 in dem Geſetz aufzuführenden, in verſchiedenen Teilen des Reiches gelegenen Haupthandelsplätzen für Getreide benutzt. Beiſpielsweiſe nenne ich als ſolche: Königsberg, Danzig, Stettin, Berlin, Breslau, Hamburg, Duisburg, Mannheim, 1) Max Grabein, „Die Deutſchen Getreidezölle der Zukunft“, Berlin 1900, S. 22—41. 278 XVI. Zoll- und Steuerweſen. München. Die Feſtſetzung für ein ganzes Jahr iſt nötig, um einerſeits dem Handel eine einigermaßen ſichere Unterlage zu gewähren, andererſeits gewagte Spekulationen möglichſt zu verhindern. x Die Abſtufung der 3 Es ſoll betragen für einen Doppelzentner Roggen: bei einem Preis von der Zoll bei einem Preis von der Zoll über 20% M. kein Zoll 1% 3% I 20, „ 0% M. 14, „ 326 „ 19,30 „ On „ 14, „ 3860 „ 1 9,00 ” I 100 „ 1 3 7550 „ 3 75 ” I 8,50 7. I 7125 „ I 3 700 „7 4,00 7 I 8,00 " I 750 7 12 750 7 Ars " 17,0 „ Im „ 12, „ 4,30 „ 1 7 700 „ 2,00 7 11 so „ Ars 77 1 750 " 2 725 7. 11 oo „7 5,00 7 I 3 7. 2 750 „ 1 O, 30 77 5 25 „ I 5,50 " 275 77 10,0 . 5150 " Für jede Mark Preisſteigerung würde aljo der Zoll um ½ Mark heruntergehen, bei einem Preiſe von mehr als 20 M. ganz fortfallen. Weizen würde mit einem etwas höheren, Gerſte und Hafer mit einem etwas niedrigeren Zoll, als Roggen, zu belegen ſein. Inwieweit dieſe Vorſchläge im einzelnen verbeſſerungsbedürftig ſind, mögen andere entſcheiden. Ich wollte ſie hier nur in allgemeinen Umriſſen darlegen, um denjenigen, welche die Sache überhaupt für wünſchenswert und durchführbar halten, einen gewiſſen Anhalt zu gewähren. Denn es liegt meines Erachtens durchaus im Bereiche der Möglichkeit, daß man, wenn vielleicht auch erſt nach Jahrzehnten, es für nötig erachtet, die Frage nach der Zweckmäßigkeit der gleitenden Skala von neuem einer ernſtlichen Prüfung zu unterziehen. Zu beachten iſt noch, daß die gleitende Skala keineswegs den alleinigen, meiſt ausſchließlich hervorgehobenen Zweck hat, eine gewiſſe Ausgleichung der Getreidepreiſe zu bewirken. Ihre faſt ebenſo große Bedeutung iſt darin zu ſuchen, daß ſie den Getreidezoll dem Parteikampfe entrückt und die ein⸗ zelnen Bevölkerungsgruppen zu der Überzeugung bringt, daß ſeitens der Ge⸗ ſetzgebung auf alle berechtigten Intereſſen Rückſicht genommen iſt. Für die Landwirte repräſentiert das Getreide das wichtigſte zum Verkauf beſtimmte Erzeugnis, für die große Maſſe der Bevölkerung das wichtigſte Nahrungs⸗ mittel. Ein beſonders niedriger Preisſtand desſelben gefährdet die Exiſtenz jener, ein beſonders hoher die Exiſtenz dieſer. Abgeſehen von ganz unge⸗ wöhnlichen Ereigniſſen, verhütet die gleitende Skala den Eintritt exorbitant hoher und exorbitant niedriger Preiſe. Damit iſt ſchon viel gewonnen, ſowohl ſachlich wie in bezug auf die Beruhigung der Gemüter. Fixierte Getreide⸗ zölle in einer für alle Klaſſen der Bevölkerung annehmbaren Höhe haben immer mit dem Übelſtand zu kämpfen, daß ſie bei ſehr niedrigen Preiſen dem Landwirt ungenügend erſcheinen, es auch wirklich ſind, dagegen bei ſehr hohen Preiſen eine für die Dauer unerträgliche Belaſtung der minder be⸗ mittelten Volksklaſſen herbeiführen. Infolgedeſſen wird bei ſtarken Schwan⸗ kungen der Getreidepreiſe ein fixierter Getreidezoll immer wieder ein Objekt des Kampfes. Bei der gleitenden Skala muß ſich jeder verſtändige Menſch ſagen, daß ſeitens des Staates alles geſchehen iſt, was möglich war, um ein außergewöhnliches Sinken oder Steigen zu verhindern; denn über den Welt⸗ marktpreis beſitzt der Staat keine Macht. Sollte der abgeſtufte Zoll ſich als unannehmbar erweiſen, dann iſt ein heftiger Kampf um die Höhe des fixierten Zolles unvermeidlich und der ölle denke ich mir etwa in nachſtehender Weiſe. K gi 2 nr a nl ein — Sen . ZT ala DET EEE BR ER 2 XVI. Boll und Steuerwefen. 279 Streit darüber wird, auch nach erfolgter gejeglicher Feſtlegung, immer wieder aufs neue ausbrechen. Wegen der unvermeidlichen, nicht im Voraus zu berechnenden, erfahrungsmäßig zeitweiſe aber ſtarken Schwankungen des Welt⸗ marktpreiſes für Getreide iſt es ſehr ſchwer, anzugeben, wie hoch ein fixierter Zoll bemeſſen werden ſoll. Meine Anſicht über das Verhältnis des Zolles zu dem Getreidepreis im allgemeinen geht ſchon aus der S. 278 mitgeteilten Tabelle hervor. Handelt es ſich um Beſtimmung eines feſten, für eine Reihe von Jahren unabänderlichen Zolles, ſo möchte ich im nn die gegenwärtigen Verhältniſſe und auf die nächſte Zukunft als niedrigſten Zoll für Roggen einen ſolchen von 3,50 Mk., als höchſten einen ſolchen von 5,00 Mk. bezeichnen; für Weizen einen ſolchen von 4 Mk. bezw. 5,50 Mk.). Eine große Rolle in dem Kampf um den Getreidezoll hat der An— trag des Grafen Kanitz geſpielt, der am 7. April 1894 zum erſtenmal im Reichstag eingebracht, ſpäter wiederholt abgeändert wurde und bei ſeiner letzten, am 4. Dezember 1895 erfolgten Vorlage nachſtehende Faſſung er— halten hat. „Der Reichstag wolle beſchließen: den Herrn Reichskanzler zu erſuchen, dem Reichstage baldigſt einen Geſetz⸗ entwurf vorzulegen, wonach: für die Dauer der beſtehenden Handelsverträge zum Zweck einer Befeſtigung der Getreidepreiſe auf mittlerer Höhe 1. der Ein⸗ und Verkauf des zum Verbrauch im Zollgebiet beſtimmten ausländiſchen Getreides, mit Einſchluß der Mühlenfabrikate, in einer den von 1891—1894 abgeſchloſſenen Handelsverträgen nicht wider— ſprechenden oder mit den beteiligten Vertragsſtaaten näher zu vereinbarenden Weiſe — ausſchließlich für Rechnung des Reichs erfolgt; 2. die Verkaufspreiſe des Getreides nach den inländiſchen Durchſchnitts— preiſen der Periode von 1850 — 1890, die Verkaufspreiſe der Mühlenfabri⸗ kate nach dem wirklichen Ausbeuteverhältnis, den Getreidepreiſen entſprechend, geregelt werden; | 3. über die Verwendung der aus dem Verkanf des Getreides und der 14 zu erzielenden Überſchüſſe derart Beſtimmung getroffen wird, daß: a) alljährlich eine den durchſchnittlichen Getreidezolleinnahmen ſeit dem 1. April 1892 gleichkommende Summe an die Reichskaſſe abgeführt wird, b) ein Reſervefonds gebildet wird, um in Zeiten hoher In- und Aus⸗ landspreiſe die Zahlung der an die Reichskaſſe jährlich abzuführenden Summe (a) und den Verkauf des ausländiſchen Getreides zu den sub 2 feſtgeſetzten Preiſen — auch bei höheren Einkaufspreiſen — zu ermöglichen; 1) Außer der über die Getreidezollfrage bereits erwähnten Literatur iſt noch folgende u nennen. Die Abhandlungen von J. Conrad, „Die Stellung der landw. Zölle in en 1903 zu ſchließenden Handelsverträgen Deutſchlands“ und von H. Dade, Die Agrar: ölle“ in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik (89. Bd., 1902, S. 105 —186 und ). Bd., S. 1— 102). In denſelben Schriften „Die Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik im Jahre 1901“ (Bd. XCVIII, S. 121—237). Alfr. Lift, „Die Intereſſen der deutſchen Landwirtſchaft im deutſch⸗ruſſiſchen Handelsvertrag“, Stuttgart 1900. K. Diehl, „Über die Frage der Einführung beweglicher Getreidezölle beim Ablauf der beſtehenden Handelsverträge“ in Conrads Jahrbüchern, 3. Folg, Bd. XIX, S. 305 ff. K. Diehl, „Kornzoll und Sozialreform“ Jena 1901. Hermann Levy, „Die Not der engliſchen Land⸗ wirte zur Zeit der hohen Getreidezölle“, Stuttgart u. Berlin 1902. J. Conrad, „Die Agrarzölle in der Zolltarifvorlage im Deutſchen Reich in Conrads Jahrbücheru, 3. Folge XXIII. Bd. (1902), S. 145— 193. 280 XVI. Zoll- und Steuerweſen. 4. bei Erſchöpfung dieſes Reſervefonds die ad 2 beſtimmten Verkaufspreiſe des Reichs um ſoviel zu erhöhen ſind, daß ſie der Reichskaſſe einen Überſchuß in Höhe der durchſchnittlichen Getreidezolleinnahmen ſeit dem 1. April 1892 gewähren. Vom Deutſchen Landwirtſchaftsrat wurde der Antrag Kanitz mit geringer Majorität angenommen, dagegen vom Reichstag abgelehnt. Der preußiſche Staatsrat ſprach ſich mit überwältigender Majorität gegen den Antrag aus; ebenſo wurde er von der Reichsregierung und dem preußiſchen Landwirtſchaftsminiſter bekämpft. Da er aber unter den Land⸗ wirten noch gegenwärtig viele Anhänger zählt und möglicherweiſe, in dieſer oder einer abgeänderten Form, ſpäter noch einmal zur öffentlichen Verhand⸗ lung kommen wird, ſo ſcheint es nötig, ſeine Zuläſſigkeit und Durchführ⸗ barkeit mit einigen Worten zu beſprechen. Der Antrag Kanitz hat ſeinem Wortlaute nach den Zweck, die Ge⸗ treidepreiſe auf einer mittleren Höhe und zwar auf derjenigen zu erhalten, welche ſie im Durchſchnitt der Jahre 1850 bis 1890 gehabt haben. Gegen dieſen Zweck iſt nichts einzuwenden, tatſächlich wird er aber nicht erreicht. Die ſeitens des Reiches aus dem Verkauf des Getreides bei niedrigen Ein⸗ kaufspreiſen erzielten Überſchüſſe ſollen in einen Reſervefonds abgeführt werden, ſoweit ſie die ſeit dem 1. April 1892 durchſchnittlich erzielten Zoll⸗ einnahmen überſteigen. Der Reſervefonds ſoll dazu dienen, um den Verkauf des ausländiſchen Getreides zu den bisherigen Durchſchnittspreiſen auch bei höheren Einkaufspreiſen zu ermöglichen (3a und b). Im Falle der Er⸗ ſchöpfung des Reſervefonds ſollen die Verkaufspreiſe um ſo viel erhöht werden, daß der Reichskaſſe die bisherigen durchſchnittlichen Zolleinnahmen aus dem Getreide verbleiben (4). Hierdurch wird das in der Einleitung des Antrages bezeichnete Ziel desſelben preisgegeben. Dasſelbe läuft in Wirklichkeit nicht auf die Erlangung eines mittleren, ſondern auf die eines Minimalpreiſes für das Getreide hinaus. Der Preis könnte nie unter den Durchſchnitt der Periode von 1850 — 1890 ſinken, würde aber bei hohen Weltmarktpreiſen über denſelben ſteigen müſſen. Seitens des Reiches könnte die Abgabe des Getreides an die Käufer für den ganzen Umfang des Reiches in der nämlichen Zeit auch nur zu den gleichen Preiſen ſtattfinden. Dies würde aber mit den bisherigen, in den vorhandenen Zuſtänden durchaus begründeten Preisverhältniſſen im Widerſpruch ſich befinden. Im öſtlichen Deutſchland, wo infolge der niedri⸗ geren Bodenpreiſe und Arbeitslöhne auch die Produktionskoſten geringere ſind, war der Preisſtand für den Zentner Getreide während der beiden letzten Menſchenalter durchſchnittlich um 1 bis 2 Mk. tiefer, als im weſtlichen. In einer für das ganze Reich gleich hohen Feſtſtellung des Preiſes würde eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Landwirte in den denjenigen Bezirken liegen, welche mit verhältnismäßig hohen Produktionskoſten zu rechnen haben. Wie einerſeits der Antrag Kanitz den beabſichtigten Zweck nur in höchſt unvollkommener und anfechtbarer Weiſe erreicht, ſo würde andererſeits ſeine etwaige Durchführung mit den bedenklichſten Folgen für unſere wirt⸗ ſchaftlichen ſozialen und politiſchen Zuſtände verknüpft ſein. Ihre unmittelbare und nächſte Folge würde darin beſtehen, daß dem Staate die weſentlichſten derjenigen Funktionen zufallen, die jetzt der ſpeknlative Getreidehandel ausübt. Solches trifft ſchon zu, wenn der Staat das vom Auslande gekaufte Getreide an einige Händler oder Müller in großen Partien verkauft; noch mehr, wenn er es in Lagerhäuſer bringt, die im ganzen Reich verteilt ſind, und von dort in kleineren Poſten abſetzt. In beiden Fällen liegt es ihm ob, zu berechnen, wie viel ausländiſches Getreide nach Maßgabe fi ’ . 2 \ 3 A 2 b \ S XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 281 der zu erwartenden Ernte angekauft werden muß; er hat die günftigite Zeit zum Einkauf wahrzunehmen und zu dieſem Zweck mit den Kaufleuten in den . Getreideexportländern ſtetige und rege Beziehungen zu unterhalten. Den Bewegungen der Marktpreiſe ſoll er nicht nur folgen, ſondern dieſe mehr oder weniger im Voraus erkennen. Seiner Beſtimmung fällt es zu, um wie viel höher der Verkaufspreis des ausländiſchen Getreides über oder auch, bei hohen Weltmarktpreiſen, unter dem Weltmarktpreiſe ſtehen ſoll x. Dies ſind Aufgaben, zu deren Löſung der Staat weder berufen noch befähigt iſt, die ſogar dem Staatszweck direkt widerſprechen. Vereinbar ſind ſie nur mit einer ſozialiſtiſchen oder kommuniſtiſchen Organiſation des Staates; wer eine ſolche für undurchführbar hält, muß, bei ernſtem Nachdenken, auch zu dem Schluß gelangen, daß die Verwirklichung des Antrages Kanitz in das Bereich der Unmöglichkeit gehört. Das Getreide iſt das wichtigſte Nahrungsmittel für die Bevölkerung. Von ſeinem Preis hängt es einerſeits hauptſächlich ab, in welchem Umfang dieſelbe ihre Lebensbedürfniſſe befriedigen kann; andererſeits wird der Preis der menſchlichen Arbeit und damit auch aller Arbeitsprodukte von dem Ge— treidepreis in hohem Grade beeinflußt. An dem Getreidepreis haben daher die Angehörigen aller Bevölkerungs- und Erwerbsgruppen das größte In- tereſſe. Der Antrag Kanitz teilt nun dem Staate die Aufgabe zu, die Getreidepreiſe auf einer mittleren Höhe zu erhalten; es wurde aber ſchon nachgewieſen, daß dieſe mittlere Höhe in Wirklichkeit einen Minimalpreis repräſentiert. Es ſoll dadurch bewirkt werden, daß der Landwirt ſeine Pro duktionskoſten erſetzt bekommt oder, allgemeiner ausgedrückt, daß ihm eine ausreichende Bodenrente und Verzinſung ſeiner Betriebskapitalien ſicher geſtellt werden. Der Wunſch nach einem den Aufwendungen entſprechenden Erſatz iſt an und für ſich zwar kein unbilliger; aber der Staat kann ſeine Er— füllung niemandem gewährleiſten. Mit mindeſtens demſelben Rechte könnte jeder Arbeiter beanſpruchen, daß ihm vom Staate ein beſtimmter Arbeitslohn, und jeder Gewerbetreibende, daß ihm eine genügende Vergütung für den gemachten Aufwand an Arbeit und Kapital garantiert wird. Der ſozialiſtiſche Staat mit allen ſeinen wirtſchaftlichen, ſittlichen und politiſchen Begleit⸗ erſcheinungen würde die unerbittliche Folge der Durchführung des Antrags Kanitz ſein. Daß die Sozialdemokraten im Reichstage trotzdem nicht dafür geſtimmt haben, iſt ſelbſwerſtändlich; ſie konnten unmöglich einem Verſuch ihren Beifall ſchenken, der zwar den Getreidepreis auf einer beſtimmten Höhe erhalten, den Arbeitslohn aber nach wie vor der freien Konkurrenz überlaſſen will. Wenn die Sozialdemokratie die Ausſicht oder die Abſicht hätte, ihre utopiſchen Pläne allmählich zu verwirklichen, ſo würde vermutlich eine ihrer nächſten Beſtrebungen ſein, den Arbeitern einen Minimallohn vom Staate gewährleiſten zu laſſen. Ob die Landwirte oder andere Unter— nehmer ihn zahlen könnten, danach würden ſie wenig fragen; ebenſo wenig danach, welche Wirkungen die Garantie eines Minimallohns auf den Fleiß und die Strebſamkeit der Arbeiter und auf die wirtſchaftliche Leiſtungsfähigkeit der Nation im ganzen ausüben würde. Die Anhänger des Antrages Kanitz begehen unwiſſentlich einen ähnlichen Fehler, indem ſie lediglich das eine, ihnen erſtrebenswerte Ziel im Auge haben. Sie machen es ſich nicht klar, daß das von ihnen vorgeſchlagene Mittel die bedenklichſten Folgen für alle übrigen Erwerbsgruppen, auch für viele der landwirtſchaftlichen Bevölkerung angehörenden Perſonen herbeiführen würde; daß behufs deſſen Anwendung der Staat mit einer Allgewalt ausgerüſtet werden müßte, welche den Unter⸗ gang jeder individuellen Freiheit herbeiführte. 282 XVI. Zoll⸗ und Steuerwejen. Wenn dem Staate die Aufgabe zugemutet wird, den Handel mit Ge⸗ treide an ſich zu ziehen und deſſen Preis zu beſtimmen, jo hat dies zur notwendigen Konſequenz, daß er auch über die Produktion des Getreides ſowie über deſſen Verkauf oder eigenen Verbrauch ſeitens der einzelnen Landwirte eine Aufſicht ausüben muß. Er kann nicht die Verantwortung dafür tragen, daß die Bevölkerung ſtets mit dem nötigen Getreide, nach Menge und Art, genügend verſorgt wird, wenn er nicht gleichzeitig die Be⸗ fugnis erhält, Vorſchriften über den Umfang des Anbaues der verſchiedenen Getreideſorten und über deren Verwendung zu dieſem oder jenem Zwecke zu erlaſſen. Mit der Getreideproduktion hängt aber die ganze übrige landwirt- ſchaftliche Produktion aufs innigſte zuſammen. Ein ſtaatliches Eingreifen in jene würde von ſelbſt auch ein ſolches in dieſe bedingen. Die daraus für die Landwirtſchaft ſich ergebenden Konſequenzen brauchen nicht näher be ſchrieben zu werden. 1 Einer objektiven Betrachtungsweiſe gegenüber erweiſt ſich der Antrag Kanitz nach den verſchiedenſten Richtungen hin als verfehlt. Im Intereſſe der Landwirtſchaft jelbjt wäre es erwünſcht, wenn ſeitens deren Vertreter nicht wieder auf denſelben zurückgekommen würde. Er drückt lediglich den der Landwirtſchaft wenig freundlich geſinnten Männern oder Parteien eine willkommene Waffe in die Hand. Von geringerer Bedeutung wie die Zölle auf Getreide ſind für die deutſche Landwirtſchaft diejenigen auf Vieh oder tieriſche Produkte. Solches ſchon aus dem Grunde, weil der Preis derſelben während der beiden letzten Jahrezehnte ein im ganzen konſtanter geblieben, alſo an dem Sinken der Getreidepreiſe keinen Anteil gehabt hat (ſ. den Nachweis auf S. 455. Die Urſache hiervon liegt in dem mit der geſtiegenen Zahl und Wohlhaben⸗ heit der Bevölkerung gewachſenen Verbrauch an Nahrungsmitteln aus dem Tierreich; ferner darin, daß die tieriſchen Erzeugniſſe, ſoweit ſie zur menſch⸗ lichen Nahrung dienen, eine viel geringere Aufbewahrungs- und Transport⸗ fähigkeit wie das Getreide beſitzen. Aus dem letzteren Grunde iſt die Kon kurrenz des Auslandes eine beſchränktere. Weiter kommt hinzu, daß aus geſundheitspolizeilichen Rückſichten die Einfuhr von Rindvieh, Schafen und Schweinen entweder ganz verboten oder doch durch Quarantäne- und ſonſtige Maßregeln ſehr erſchwert iſt. f Anders verhält ſich die Sache bei der Einfuhr von Schlachtvieh, friſchem Fleiſch und Fleiſchwaren wie Schinken, Speckſeiten, Wurſt, konſervierten Fleiſchpräparaten; auch bei Eiern, Butter, Käſe u. ſ. w. Im Intereſſe der Landwirtſchaft liegt es allerdings, daß von dieſen ein hoher Eingangszoll erhoben wird. Das Intereſſe iſt aber wegen der relativ hohen Preiſe ein geringeres wie beim Getreide. Es kommt außerdem in Betracht, daß die deutſche Landwirtſchaft zur Zeit nicht imſtande iſt, den Bedarf der einheimiſchen Bevölkerung an tieriſchen Nahrungsmitteln vollſtändig zu decken. Im Durchſchnitt der drei Jahre von 1900 — 1902 betrug der Wert der Einfuhr von Ochſen, Kühen, Jungvieh, Schweinen, von friſchem und zubereitetem Fleiſch, von Eiern, Gänſen, Haushühnern, Butter und Käſe zu⸗ ſammen durchſchnittlich pro Jahr etwa 310 Mill. Mk., der Wert der Aus⸗ fuhr von denſelben Gegenſtänden etwa 20 Mill. Mk. Der Wert der Mehr- einfuhr bezifferte ſich demnach auf etwa 290 Mill. Mk. Das Deutſche Reich iſt alſo nicht im Stande, den Bedarf an obigen, zur menſchlichen Er⸗ nährung dienenden Erzeugniſſen durch die inländiſche Produktion zu decken, vielmehr bezüglich derſelben in nicht ganz unerheblichem Umfange zur Zeit noch auf das Ausland angewieſen. XVI. Zoll- und Steuerweſen. | 283 Be Die jetzt beſtehenden Eingangszölle im Deutſchen Reich betragen ): en für Pferde, ausſchließlich Füllen pro Stück 20, M. Br Stiere 7 7 7 9 700 7. m. Ochſen N 7 7 25 50 (30) „ ” Kühe ” ” " 9,00 ” „ Jungvieh „ „ SO). „ 7 lber A 3 700 ” „ Schweine, ausſchl. Ferkel 4 e Schafe % (1) „ „ lebendes Geflügel 5 „ iſt frei 5 totes . pro 100 kg 20,% (30) „ „ friſches auch zubereitet. Fleiſch, „ „ 15, (20) „ „ Butter (auch künſtliche) ee c , X " Käſe " ” [7 ” . 20,90 ” | Eine erhebliche Erhöhung der Zölle für Pferde muß im Intereſſe der einheimiſchen Pferdezucht beanſprucht werden; die Fleiſchpreiſe würden da⸗ durch gar nicht oder doch nur in minimaler Weiſe beeinflußt werden. Auch eine, wenngleich geringere Erhöhung der Zölle für andere lebende Tiere iſt erwünſcht und durchaus zuläſſig; ſie würde der Landwirtſchaft zum Vorteil gereichen, ohne daß eine für Geſamtbevölkerung drückende Steigerung der Preiſe davon zu befürchten wäre. Offenbar zu niedrig ſind die Zölle für tieriſche Produkte wie friſches und namentlich zubereitetes Fleiſch, Butter und Käſe. Bei ihnen iſt die ausländiſche Konkurrenz eine viel gefährlichere, als bei leben— dem Vieh, weil ſie leichter und wohlfeiler zu transportieren ſind und weil, wie ſchon erwähnt, für lebende Tiere aus polizeilichen Rückſichten ſehr um⸗ faſſende Einfuhrverbote oder Einfuhrbeſchränkungen bereits in Kraft ſind und zu jeder Zeit erlaſſen werden können. Im Verhältnis zu dem Werte ſtellt ſich der Zollſatz für die genannten tieriſchen Erzeugniſſe bedeutend niedriger als beim Getreide. In der offiziellen Statiſtik iſt die Einfuhr pro 1897 angegeben: macht Wert in Tonnen im Wert von Mark pro Tonne pro M. 100 kg M. 1. für Roggen 856 832 80 300 000 935 Su; 2. „ Fleiſch, friſch und ein⸗ fach zubereitet 47 986 39 900 000 831,, 8318 3 „ Mae 11937 15 100 000 1265,, 126, 4. „ Butter 10 326 15 600 000 15 10% ist, Der Zoll beträgt für 100 kg beim Roggen 3,50 Mk., bei Fleiſch, Käſe und Butter nach den höchſten Sätzen gleichmäßig 20 Mk. Es ſtellt ſich demnach der Zoll im Verhältnis zum Wert bei Roggen wie 35 9% = 12, Fleiſch „ 20 836 = 1: 418 Käſe ” 20,09 : 120,50 11 Os BEGEHEN u VORN ET. um 35 2. In Prozenten des deklarierten Wertes machte alſo der Eingangszoll aus: beim Roggen 37, Proz. [7 Fleiſch 24,, 7 „ Käſe 18 „ Butter 135 „ 1) Vergl. hierüber den Artikel von K. Wiedenfeld in dem volkswirtſchaftlichen Wörterbuch von L. Elſter, 1898, 1. Bd., S. 809 ff. Die eingeklammerten Zahlen be⸗ ziehen ſich auf die autonomen Tarife. Siehe auch R. G. Bl. pro 1892, Nr. 2 (öſterreichiſcher Handesvertrag) und R. G. Bl. pro 1894, Nr. 8 (ruſſiſcher Handelsvertrag). 284 XVI. Zoll- und Steuerweſen. Nach den obigen Ausführungen iſt es durchaus gerechtfertigt, wenn die Landwirte für lebende Tiere und namentlich für tieriſche Produkte von den zukünftigen Handelsverträgen einen höheren Eingangszoll für Fleiſch und tieriſche Produkte erwarten. Sie dürfen und müſſen dies auch in An⸗ betracht des Umſtandes, daß infolge der ſeitens der Technik fortdauernd ge⸗ machten neuen Erfindungen die dem Transport jener Waren entgegenſtehen⸗ den Schwierigkeiten immer geringere werden. Schon wiederholt wurde hervorgehoben, daß bei Normierung der Ein- gangszölle für landwirtſchaftliche Produkte nicht ausſchließlich das Intereſſe der landwirtſchaftlichen Unternehmer maßgebend ſein, oder daß gar beſtimmte Gruppen derſelben noch beſonders bevorzugt werden dürfen. Da es ſich um die Ernährung der ganzen Bevölkerung handelt, müſſen auch die Bedürfniſſe aller Volksklaſſen berückſichtigt werden. Außerdem kommt aber noch ein ganz anderer Umſtand in Betracht. Jeder Handelsvertrag ſtellt einen Kompromiß dar zwiſchen den ihn abſchließenden Staaten; auch bei einem autonomen Tarif kann die Wirkung, welche er auf andere Staaten vorausſichtlich ausübt nicht unberückſichtigt bleiben. Wenn das Deutſche Reich auch kein Induſtrie⸗ ſtaat genannt werden darf, ſo beruht ſein Wohlſtand und ſeine Macht doch zum weſentlichen Teil auf der Blüte ſeiner Induſtrie und dieſe wieder auf einer ſtarken Ausfuhr ihrer Erzeugniſſe. Letztere gehen zum großen Teil in Länder, welche nach dem Deutſchen Reich ihren Überfluß an Getreide und tieriſchen Produkten ausführen. Je höher bei uns die Eingangszölle auf landwirtſchaftliche Erzeugniſſe normiert werden, deſto mehr wird das Aus⸗ land die Eingangszölle für unſere Induſtrieprodukte ſteigern, ſowie umgekehrt. Es gibt für einen Staat kaum ein ſchwierigeres Geſchäft wie den Abſchluß eines Handelsvertrages oder die Feſtſetzung von autonomen Tarifen, weil dabei ſo verſchiedenartige inländiſche Intereſſen in Frage ſtehen und weil gleichzeitig die ausländiſchen uotwendig mitberückſichtigt werden müſſen. Soll dasſelbe einen zufriedenſtellenden Verlauf haben, ſo müſſen vor allem die in⸗ ländiſchen Intereſſentengruppen unter ſich einig ſein, um hierdurch ihrer Re⸗ gierung einen feſten Rückhalt gegenüber dem Auslande zu verleihen. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit dieſer Einigkeit iſt im Deutſchen Reich während des letzten Jahrzehnts offenbar gewachſen; je mehr ſie zunimmt, deſto eher darf ein günſtiges Reſultat von den bevorſtehenden Verhandlungen über die neuen Handelsverträge erwartet werden. Lediglich mit Rückſicht auf die Entwicklung der Preiſe wäre kein Zoll mehr gerechfertigt als ein ſolcher auf Wolle, deren Preis in den letzten 40 Jahren etwa auf die Hälfte geſunken iſt. Die deutſchen Landwirte haben den erlittenen Schaden dadurch einigermaßen auszugleichen geſucht, daß ſie die Schafhaltung verkleinerten, die Rindviehhaltung erhöhten, daß ſie außer⸗ dem von der Wollſchafhaltung zu der Fleiſchſchafhaltung übergingen. Trotz⸗ dem hat der Rückgang der Wollpreiſe ihnen große Verluſte gebracht. Der natürlichſte Erſatz wäre die Einführung eines Eingangszolles für Wolle, die jetzt ganz frei iſt. Ein ſolcher Zoll würde aber der Landwirtſchaft nur helfen, wenn er ſchon eine erhebliche Höhe hätte, und eine ⸗ſolche würde von unſerer Textilinduſtrie nicht getragen werden können. Aus allen dieſen Gründen hat man bei den letzten Handelsverträgen die Wolleinfuhr frei gegeben. Es iſt von manchen vorgeſchlagen worden, das Deutſche Reich ſolle ſich durch Handelsverträge mit fremden Staaten überhaupt nicht binden, ſondern ganz ſelbſtändig ſeinen Tarif nach den eigenen Bedürfniſſen geſtalten, alſo den ſogenannten autonomen Tarif einführen, wie ſolcher auch früher beſtanden hat. Dies iſt aber mit Rückſicht auf die große Ausdehnung und — N XVI. Zoll und Steuerweſen. 285 jedeutung, welche Handel und Exportinduſtrie bei uns und in anderen ulturländern in den letzten Jahrzehnten genommen haben, nicht zweckmäßig. us Rückſſcht auf eine geſunde und ſtetige Entwicklung der Induſtrie und amit auch des Handels, erſcheint es nötig, daß die beteiligten Unternehmer r eine längere Reihe von Jahren im voraus wiſſen, mit welchen Zollſätzen e zu rechnen haben. Dies läßt ſich aber nur erreichen, wenn mit den taaten, welche für unſeren Handel vorzugsweiſe in Betracht kommen, be— ſondere Handelsverträge auf nicht zu kurze Dauer geſchloſſen werden. Solche liegen nicht nur im Intereſſe des Anslandes, ſondern ebenſo des Deutſchen Reiches. Auch für die Landwirtſchaft ſind ſie nicht ohne Bedeutung. Ein autonomer Tarif kann von den geſetzgebenden Faktoren des eigenen Landes jederzeit abgeändert werden. Solche Anderungen erweiſen ſich auch immer aufs neue als nötig, wenn ein fremder Staat ſeinen Tarif in einer Weiſe urmgeſtaltet, daß die Produktion und der Handel des eigenen Landes dadurch fſtark in Mitleidenſchaft gezogen wird. Unſere Landwirte beſitzen nun zweifel- fuos ein Intereſſe daran, daß ſowohl die im Deutſchen Reich erhobenen Ein- fuhrzölle für Getreide, Vieh, tieriſche Produkte ꝛc. wie auch die von anderen Staaten erhobenen Eingangszölle für Zucker und Spiritus eine gewiſſe Stabilität behaupten; daß ſie wenigſtens in dieſer Beziehung vor uner⸗ warteten und erheblichen Anderungen geſichert ſind. Solche ſind aber bei autonomen Tarifen unvermeidlich. Auch Meiſtbegünſtigungs verträge, wie das Deutſche Reich ſie mit Frankreich und den nordamerikaniſchen Freiſtaaten abgeſchloſſen hat, ſind für die Gegenwart nicht zu empfehlen. Kraft ihrer nehmen die meiſtbe— ünſtigten Staaten an allen Zollerleichterungen teil, die irgend einem anderen Staate aus irgend welchem Grunde bewilligt worden ſind. Dadurch bindet man ſich aber die Hände und verzichtet auf ein wertvolles Kompenſations— bobjekt gegenüber den meiſtbegünſtigten Staaten. Der Meiſtbegünſtigungsver⸗ trag mit Nordamerika hat dem Deutſchen Reich und auch der deutſchen Land— wirtſchaft erheblich geſchadet. Die Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahrzehnten zur Förderung ihrer Induſtrie eine ſehr ausgeprägte Schutzzoll— politik eingeſchlagen. Inwieweit dieſe in ihrem eigenen Intereſſe liegt, haben wir nicht zu beurteilen; noch viel weniger können wir ihnen darin Vorſchriften machen. Der deutſche Exporthandel, die deutſche Induſtrie, auch die deutſche Landwirtſchaft haben darunter gelitten, während der amerikaniſche Handel uns gegenüber ſehr gewonnen hat. Die in den Handelsverträgen von 1891— 1894 Oeſterreich, Rußland ꝛc. von uns bewilligten Zollerleichterungen ſind ohne jede Gegengabe auch Nordamerika zugefallen. Hätte kein Meiſtbegünſtigungs— vertrag beſtanden, ſo wären die Vereinigten Staaten in ihrem eigenen Intereſſe genötigt geweſen, nach einer Neuordnung ihrer Handelsbeziehungen mit dem eutſchen Reich zu ſtreben. Dieſe wäre für uus vorausſichtlich günſtiger ausgefallen, als der jetzige Zuſtand. die dem Wortlaute der jetzt beſtehenden Handelsverträge ſollten dieſelben am 31. Dezember 1903 ablaufen bezw. für dieſen Termin gekündigt werden können. Die Kündigung iſt aber bisher nicht erfolgt, weil die meiſten Vertragsſtaaten mit den Vorbereitungen zu den neuen Handels— verträgen noch nicht zu Ende gekommen waren. Im Deutſchen Reiche hatten die berufenen Organe ſchon einige Jahre vor Ablauf der Verträge die ver— ſchiedenſten Erhebungen und eingehende Beratungen mit Sachverſtändigen . ins Werk geſetzt, um eine ſichere Grundlage für die mit den fremden Staaten einzuleitenden Unterhandlungen zu gewinnen. Die Reichsregierung konnte daher dem Reichstag von 1901/02 bereits den Entwurf zu dem von ihr aufs 286 XVI. Zoll- und Steuerweſen. geſtellten Tarif und Tarifgeſetz vorlegen. Beide wurden von dem Reichstag einer ſehr gründlichen Prüfung durch eine Kommiſſion und dann einer ein⸗ gehenden Beratung im Plenum unterzogen. Am 13. Dezember 1902 wurden Tarif und Tarifgeſetz, wenn auch mit mancherlei Abweichungen von dem vorgelegten Entwurf, durch den Reichstag angenommen. Ohne auf die Einzelheiten näher einzugehen, ſei hier im allgemeinen bemerkt, daß der in Ausſicht gefaßte Tarif für die Landwirtſchaft nicht un⸗ erheblich günſtiger iſt, als der zur Zeit gültige. Der Hauptkampf im Reichs⸗ tag wie außerhalb desſelben drehte ſich um die Getreidezölle. Nach dem vorgelegten Entwurf war der Generaltarif für Roggen auf 6,00 Mk., für Weizen auf 6,50 Mk. por Doppelzentner normiert; außerdem war beſtimmt, daß derſelbe auch bei Verträgen mit anderen Staaten keinesfalls unter 5,0 Mk. bezw. 5,50 Mk. herabgeſetzt werden dürfe. Es war dies der ſoge— nannte Minimalzoll. Nach langen Debatten nahm der Reichstag als Generalzoll für Roggen 7,0 Mk., für Weizen 7,50 Mk. an und fixierte den Minimalzoll auf 5,0 Mk. bezw. 5,50 Mk. Die landwirtſchaftlichen Abgeordneten forderten auch für Tiere und tieriſche Produkte Minimalzölle, drangen aber hiermit nicht durch. Dagegen wurden die Generalzölle für dieſe Gegenſtände meiſt, teilweiſe recht erheblich erhöht, auch manche jetzt zollfreie landwirtſchaft⸗ liche Erzeugniſſe nunmehr mit einem Zoll belegt. Nach den in dieſem Buche gemachten Ausführungen iſt gegen die Minimalzölle für Getreide und deren vom Reichstage angenommene Höhe nichts einzuwenden. Eine Bindung der Zölle für Vieh und tieriſche Produkte erſcheint mir dagegen unzuläſſig, iſt auch von der Reichsregierung und von der Majorität des Reichstages abgelehnt worden. Bei einer ſolchen würden die Handelsvertragsunterhandlungen auf ſehr große Schwierigkeiten ſtoßen und möglicherweiſe ganz reſultatlos verlaufen. Im Int ereſſe der deutſchen Landwirtſchaft liegt es, daß die Handelsverträge mit den vom Reichstag angenommenen Tarifen bald zuſtande kommen. Sie würden die Landwirtſchaft in eine weſent⸗ lich günſtigere Lage, als in der ſie ſich gegenwärtig befindet, verſetzen, Un⸗ berechtigt iſt der von manchen Seiten der Reichsregierung gemachte Vorwurf, daß die von ihr vorgeſchlagenen und vom Reichstag angenommenen Minimal⸗ zölle keine erhebliche Verbeſſerung im Vergleich der jetzt beſtehenden in ſich ſchließe. Der zurzeit den Vertragsſtaaten gegenüber gültige Zoll für Roggen und für Weizen beträgt 3,50 Mk. pro Doppelzentner; nach dem neuen Tarif ſoll der Minimalzoll für Roggen 5,00 Mk. für Weizen 5,50 Mk. ausmachen. Es iſt dies eine Steigerung des Roggenzolles um 42,8 Proz, des Weizenzolles um 57,1 Proz. Das Steuerweſen. Selbſtverſtändlich muß der Landwirt ebenſo wie jeder andere Staats⸗ bürger zur Deckung der Staatsbedürfniſſe mitherangezogen werden. Auf welche Weiſe der Staat ſich am zweckmäßigſten Mittel zur Beſtreitung ſeiner Ausgaben verſchafft, kann hier nicht erörtert werden; ebenſowenig die Frage, wie die zu erhebenden Steuern auf die einzelnen Erwerbszweige, Bevölke⸗ rungsgruppen oder Individuen gerechterweiſe zu verteilen ſind. Ich muß mich vielmehr darauf beſchränken, einige, für die Landwirtſchaft be— ſonders in Betracht kommenden Steuern kurz zu beſprechen. Noch bis zu Ende des 18. Jahrhunderts bildete die Grundſteuer die wichtigſte, weil ergiebigſte direkte Steuer. Andere direkte Steuern, wie Gebäude-, Gewerbe-, Kopfſteuer, traten dagegen weit zurück. Je ſtärker einerſeits die notwendigen Staatsausgaben wuchſen, ein je größerer Teil des Preußen wurde di XVI. Zoll- und Steuerweſen. 287 geſamten Volkseinkommens andererſeits aus den bei Handel und Induſtrie gemachten Gewinnen floß, deſto ungenügender erwies ſich die Grundſteuer, And deſto ungerechtfertigter war die hervorragende Stelle, welche ſie im ſtaat— lichen Steuerweſen einnahm. Schon bald nach den Freiheitskriegen wurde daher in Preußen und anderen deutſchen Staaten der Verſuch zu einer weiteren und ergiebigeren Ausgeſtaltung der Perſonalſteuern gemacht. In n⸗ bezw. Einkomm von Anfang an einen p Mi ie die Wohl- habenderen verhältnismäßig ſtärker wie die minder Bemittelten heranzog. Bei den verſchiedenen Anderungen, welche dieſe Steuer im Laufe der Jahre erfuhr, trat ihr progreſſiver Charakter immer ſtärker hervor. Er zeigte ſich unter anderem auch darin, daß die Perſonen, deren Einkommen ſich unter einem gewiſſen Minimum hielt, von der Steuer ganz befreit wurden. Ihren Ab— ſchluß fand dieſe Entwicklung in Preußen durch das Einkommenſteuer⸗ eſe Juni Nach demſelben ſind Perſonen mit einem inkommen von unter 900 Mk. ſteuerfrei. Bei einem Einkommen von 900—1050 ME. beträgt der Steuerſatz nur 0,62 Proz.; er ſteigt dann mit dem wachſenden Einkommen allmählich bis auf 4 Proz. des Jahresein⸗ kommens. Auch andere deutſche Staaten, z. B. Bayern, haben eine pro— greſſive Einkommenſteuer. Die Grundſteuer war in den einzelnen Teilen der preußiſchen Monarchie und auch in den nämlichen Teilen für die einzelnen Güter ſehr verſchieden. Es wurde dies mit Recht als ein für die Dauer unerträglicher Zuſtand empfunden. Durch Geſetz vom 21. Juni 1861 wurde eine, ſämtliche Grundſtücke gleichmäßig treffende, nach dem Reinertrag bemeſſene Steuer eingeführt. Für die früher hoch beſteuerten Güter bedeutete ſie eine Erleichterung, für die niedrig oder gar nicht beſteuerten eine neue Belaſtung. Gleichzeitig mit der Grundſteuer wurde in Preußen eine allgemeine Ge— bäudeſteuer auferlegt. Schon von Einführung der allgemeinen Grundſteuer an, namentlich aber, ſeitdem ſich die Lage der Landwirtſchaft verſchlechterte, machte ſich mit wachſender Stärke in landwirtſchaftlichen Kreiſen die Meinung geltend, daß es nicht gerechtfertigt ſei, von den Grundbeſitzern neben der Einkommenſteuer auch- noch eine beſondere Grundſteuer zu erheben. Man bezeichnete dies wohl als eine unzuläſſige Doppelbeſteuerung. Die einen forderten Ab— ſchaffung der Grundſteuer überhaupt, die anderen, daß dieſelbe, ganz oder teilweiſe, den kommunalen Körperſchaften (Kreiſen, Gemeinden) zur Beſtreitung ihrer Bedürfniſſe überlaſſen werde. Dem letzteren Wunſche iſt man in Preußen auch nachgekommen. Durch Geſetz vom 14. Juli 1893 ſind ſo⸗ wohl die Grund⸗, wie die Gebäude⸗ und Gewerbeſteuer als Staatsſteuern außer Hebung geſetzt, und iſt ihr Ertrag den Gemeinden überlaſſen worden. Eine Beſteuerung des Reinertrages von Grund und Boden überhaupt iſt durchaus gerechtfertigt. Er bietet die ſicherſte, niemals ganz verſagende Einkommensquelle für den Staats- oder Gemeindehaushalt. Mit zunehmender Bevölkerung wächſt der Reinertrag und der Kapitalwert des Bodens, der ſelbſt der Vermehrung nicht fähig iſt. Wenn den heutigen Kulturſtaaten auch viele andere Quellen offen ſtehen, aus denen ſie Mittel zur Beſtreitung ihrer Ausgaben ſchöpfen können, ſo ſind doch auf der anderen Seite dieſe ſelbſt ſo geſtiegen, daß der Staat nicht darauf verzichten darf, zu ihrer Deckung auch den ertragsfähigen Boden, direkt oder indirekt, heranzuziehen. Aber es entſpricht allerdings der Natur der Verhältniſſe, daß die Grund⸗ ſteuer als eine Realſteuer, vorzugsweiſe oder ausſchließlich, zur Beſtreitung der örtlichen Bedürfniſſe ihre Verwendung findet. Ihre Überweiſung an 288 XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. die Gemeinden iſt daher nur zu billigen. Hiermit wird gleichzeitig jeden Widerſpruch gegen die Grundſteuer als ſolche hinfällig. Denn darüber kann kein vernünftig Denkender im Zweifel ſein, daß auf dem Lande von den im öffentlichen Intereſſe ſeitens der Gemeinde getroffenen Einrichtungen die Grundbeſitzer den größten Vorteil haben. Sie müſſen deshalb auch vor⸗ zugsweiſe zu den Gemeindeſteuern herangezogen werden. Die neben der Grundſteuer beſtehende Einkommenſteuer bezw. auch Gewerbeſteuer bietet dann immerhin noch die ausreichende Möglichkeit, um auch den übrigen Landbewohnern, ſoweit ſie über ein nennenswertes Einkommen verfügen, einen dieſem entſprechenden Teil der Gemeindelaſten aufzuerlegen. Durch Einführung der progreſſiven Einkommenſteuer und durch Ver⸗ zicht des Staates auf die Grundſteuer hat die Landwirtſchaft unzweifelhaft gewonnen. Der geſamte Aufwand, welchen jetzt der einzelne Landwirt zur Beſtreitung der öffentlichen Abgaben und Laſten machen muß, iſt zur Zeit in abſoluter Summe allerdings erheblich größer, als er noch vor einigen Jahr⸗ zehnten war; namentlich gilt dies, wenn man die durch die ſoziale Geſetz⸗ gebung verurſachten Aufwendungen zu den öffentlichen Laſten rechnet. Aber die Steigerung iſt verurſacht dadurch, daß die ſeitens des Staates und der kommunalen Köperſchaften zum Wohle der Geſamtheit getroffenen Einrich⸗ tungen viel vollkommener geworden ſind und deshalb auch mehr Mittel in Anſpruch nehmen. Auf die Erhöhung der landwirtſchaftlichen Erträge haben ſie einen großen Einfluß ausgeübt; ich erinnere beiſpielsweiſe an die Ver⸗ mehrung und Verbeſſerung der Verkehrswege. Mit ſteigender Kultur müſſen auch die öffentlichen Laſten wachſen. Bei der hier vorliegenden Frage kommt es hauptſächlich auf das Verhältnis an, in welchem einerſeits die Landwirte, andererſeits die Glieder der übrigen Bevölkerungsklaſſen zu den öffentlichen Abgaben herangezogen werden. Dieſes hat ſich aber durch die neueſte Steuerreform für die Landwirtſchaft entſchieden günſtiger geſtaltet; die von den Landwirten als ſolchen aufzubringende Quote ſämtlicher Ab⸗ gaben iſt geringer, die von den Angehörigen anderer Erwerbsgruppen und von den Geldkapitaliſten zu entrichtende Quote entſprechend größer geworden. Hierdurch hat eine Ungleichheit oder Ungerechtigkeit, über welche die Land⸗ wirte mit Recht ſich beſchweren konnten, ihre Beſeitigung gefunden. Außer der Grundſteuer ſind es namentlich die Branntwein- und die Rübenzuckerſteuer, von denen die Landwirtſchaft beſonders ſtark berührt wird. Bei dieſen beiden Steuern kommen ſehr verſchiedene Intereſſen in Betracht; die Art ihrer Ausgeſtaltung wird zudem bedingt nicht nur durch den jeweiligen Stand der Technik, ſondern auch durch die Handelsbeziehungen zum Ausland. Die Spiritus- wie die Zuckerfabrikation haben im Laufe der letzten Jahrzehute große Umgeſtaltungeu erfahren und ſind noch immer in fortdauernder Entwicklung begriffen. Spiritus und Zucker ſind Gegen⸗ ſtände des Welthandels. Letzterer wird von der deutſchen Landwirtſchaft in jo großer Menge erzeugt, daß die einheimiſche Bevölkerung ihn weitaus nicht vollſtändig konſumieren kann, ſondern daß ein großer Bruchteil im Ausland abgeſetzt werden muß. Früher galt das gleiche von dem Branntwein; deſſen Ausfuhr hat aber, namentlich durch die Veränderungen der Handelsbeziehungen mit Spanien, einen ſtarken Rückgang erlitten, infolgedeſſen auch die Pro⸗ duktion eingeſchränkt werden mußte. Im Jahre 1885 betrug die Ausfuhr an Branntwein 89728 Tonnen, im Durchſchnitt der vier Jahre von 1899 1902) jährlich nur noch rund 32 000 Tonnen. Die Einfuhr an Branntwein ſtellte im Durchſchnitt der letztgenannten vier Jahre ſich auf 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 24. Jahrg., 1903, S. 110. XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 289 rund 8 000 Tonnen. Bei dem Zucker iſt noch immer die Ausfuhr eine ſehr bedeutende, die Einfuhr dagegen eine verſchwindend geringe. In den vier Jahren 1899 —1902 ſtellte im Durchſchnitt fich jene auf etwas über I Mill. Tonnen, dieſe auf rund 1500 Tonnen. Der Wert der erſteren belief ſich auf rund 170 Mill. MEN. 3 Der inländiſche Verbrauch beider Produkte hat infolge des Wachs⸗ tums der Bevölkerung und der Wohlhabenheit nicht unerheblich zugenommen. Er betrug ?) 1888/89 1901/92 pro Kopf der pro Kopf der Bevölkerung Bevölkerung für Branntwein 2 626 600 hl 9 „ 3 509 200 hl 6,1 „ Zucker 357 614 t 74 kg 669 261 t 11% kg Die geſamte Produktion bezifferte ſichs): im Jahre 1887/88 für Branntwein auf 3058025 hl 4 238908 hl „ Zucker * 958 864 t 2 302 246 t Der Nettoertrag der Verbrauchsabgabe und des Zuſchlages zur Ver⸗ brauchsabgabe vom Branntwein ſtellte ſich 1887/88 auf 91618900 Mk., 1901/02 auf 128 877 100 Mk.; der Eingangszoll für Branntwein 1887/88 auf 2114000 Mk., 1901/02 auf 5227000 Mk.“) Die Zuckerſteuer und damit der Ertrag aus derſelben hat große Wandlungen durchgemacht. Bis zum Jahre 1887 beſtand die reine Material⸗ ſteuer, d. h. für jeden Zentner verarbeiteter Rüben wurde ein beſtimmter Steuerſatz erhoben, dagegen für jeden Zentner ausgeführten Zuckers eine be— ſtimmte Vergütung gewährt. Das Beſtreben der Landwirte und Zuckerfabri⸗ kanten ging nun dahin, möglichſt zuckerreiche Rüben zu erzeugen und den in den Rüben vorhandenen Zucker möglichſt vollſtändig auszubeuten. In beiden Beziehungen wurden ungewöhnlich große Erfolge erreicht. Seitens des Staates wurde allerdings der Steuerſatz für den Zentner Rüben allmählich erhöht, aber doch lange nicht in dem Grade, als die Ausbeute an Zucker zunahm. Infolgedeſſen überſtieg die gewährte Ausfuhrvergütung in immer wachſendem Grade die erhobene Steuer, und in dem gleichen Maße nahm der Nettoer- trag der Steuer ab. Im Jahre 1886/87 ſtellte ſich?) der Bruttoertrag der Zuckerſteuer auf 142 445 200 Mk., die Höhe der Vergütung auf 108 821000 Mk., der Nettoertrag demnach nur auf 33624200 Mk. Schon aus Rück⸗ ſicht auf die Reichsfinanzen war dieſer Zuſtand unhaltbar; aber auch des— halb, weil dadurch dem Anbau der Zuckerrübe eine ungeſund ſtarke, auf die Dauer undurchführbare Ausdehnung zuteil wurde. Durch Geſetz vom 9. Juli 1887 wurde daher die Rübenſteuer vermindert, neben ihr aber noch eine Fabrikat⸗ oder Verbrauchsabgabe erhoben und außerdem die Aus— fuhrvergütung herabgeſetzt. Auf der internationalen Zuckerkonvention in London von 1888 wurde eine allgemeine Abſchaffung der Ausfuhrvergütung für alle Staaten erſtrebt, aber nicht erzielt. Um den hervorgetretenen Übelſtänden Abhilfe zu gewähren, ſchaffte man daher im Deutſchen Reiche durch Geſetz vom 31. Mai 1891 die Materialſteuer ganz ab und führte eine Fabrikat— ſteuer als ausſchließliche Steuer ein. Nebenbei ſollten dann noch für fünf 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich, 24. Jahrg., 1903, S. 161. 2) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich pro 1903, S. 191 u. 193. 3) Ebendaſelbſt, S 55 u. 57. 4) Ebendaſelbſt, S. 226. 5) Ebendaſelbſt, S. 229. von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 19 290 | XVI. Zoll- und Steuerweſen. Jahre Ausfuhrzuſchüſſe gewährt werden. Im Jahre 1896 erfolgte eine abermalige Umgeſtaltung der Zuckerſteuer durch Geſetz vom 27. Mai. Das⸗ ſelbe hat die Fabrikatſteuer beibehalten. Neben ihr wird eine Betriebs— ſteuer erhoben, welche die größeren Betriebe ſtärker wie die kleineren belaſtet; ſie ſoll für die letzteren einen gewiſſen Schutz bilden. Beſonders wichtig iſt in dem neuen Geſetz die Kontingentierung der Zuckerproduktion. Letztere wird für jede Fabrik von Reichs wegen beſtimmt; der über das Kontingent hinaus erzeugte Zucker unterliegt einer höheren Beſteuerung. Das Geſamt⸗ kontingent iſt für 1897/98 auf 1757 Mill. kg Zucker feſtgeſetzt worden. Durch die Kontingentierung ſoll einer zu ſtarken und namentlich einer zu plötzlichen Ausdehnung der Zuckerrübeninduſtrie entgegengetreten werden. Für den ausgeführten Zucker wird ein Ausfuhrzuſchuß (Ausfuhrprämie) gewährt, der je nach der Art des Zuckers 2,50 — 3,55 Mk. für 100 kg beträgt. Die Wirkungen der Umgeſtaltung der Zuckerſteuer auf die Reichsfinanzen werden durch folgende Zahlen klargeſtellt. Es betrug ): Bruttertrag der Steuer Ausſuhr⸗ im Jahre und des Zolles ?) vergütung Nettoertrag 1886/87 142 445 200 108 821 000 33 624 200 1892/93 86 665 900 34 450 600 52 215 300 1896/97 112 456 500 25 562 400 86 894 100 Aus den ©. 48 und 289 mitgeteilten Zahlen erhellt, daß die Rüben⸗ zuckerproduktion im Deutſchen Reiche während der letzten Jahrzehnte ungemein ſtark zugenommen hat und daß dieſelbe zum weit überwiegenden Teil auf den Abſatz im Auslande angewieſen iſt, Etwas ähnliches trifft auch für andere Länder wie Frankreich, Rußland, Oſterreich zu. Durch Ausfuhrprämien oder ſonſtige Vergünſtigungen ſuchte jedes der genannten Länder die eigene Produktion ſowie die Ausfuhr von Zucker möglichſt zu ſteigern. Dieſer ungeſunde Wettbewerb war aber für alle beteiligten Staaten gefährlich und mußte ſchließlich zu verhängnisvollen Kataſtrophen für deren Zuckerinduſtrie führen. Man machte daher wiederholt Verſuche, über gemeinſame Grund⸗ ſätze bezüglich der Beſteuerung, Ausfuhrvergütung und Zollbelegung des Zuckers ſich zu einigen. Dies iſt endlich gelungen durch die Brüſſeler Zuckerkonvention vom 5. März 1902, die am 1. September 1903 in Kraft getreten. Ihre Gültigkeit erſtreckt ſich vorläufig auf fünf Jahre; fie kann nach Ablauf dieſer Zeit, unter Innehaltung einer 12 monatlichen Kündigungsfriſt, aufgehoben werden. Der Konvention ſind beigetreten: Deutſchland, Oſterreich-Ungarn, Frankreich, Belgien, die Nieder- lande, Spanien, Schweden und England, wenngleich die vier letzt⸗ genannten Staaten mit gewiſſen Einſchränkungen. Nicht beigetreten ſind u. a. Rußland und die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die wichtigſten Beſtimmungen der Konvention ſind im Artikel 1 und 3 enthalten. „Die hohen vertragsſchließenden Parteien verpflichten ſich, von dem Zeitpunkte an, wo dieſes Abkommen in Kraft tritt, die direkten und indirekten Prämien aufzuheben, welche die Erzeugung oder die Ausfuhr von Zucker genoſſen haben und keinerlei beſondere Ausfuhrprämien während der ganzen Dauer dieſes Abkommens einzuführen“ (Art. 1). „Die hohen Vertragsmächte verpflichten ſich, den Überzoll auf den Höchſtbetrag von Franks 6°) für raffinierten und mit dieſem gleichhaltigen Zucker und auf 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich pro 1898, S. 176. 2) Die Beträge für eingeführten Zucker ſind hier mit einbegriffen, ſpielen aber nur eine ganz nebenſächliche Rolle. Sie ſtellten ſich rund 1888/87 auf 1 Mill. M., 1892/93 auf / und 1896/97 auf ½ Mill. M. 3) Es macht dies für 100 kg oder einen Doppelzentner Zucker 4,80 Mark. XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 291 Franks 5,50 für anderen Zucker zu begrenzen, das heißt auf den Unterſchied ee dem Zollſatze, dem die ausländiſchen Zucker unterworfen find, und dem Steuerſatze, den der inländiſche Zucker bezahlt. Dieſe Beſtimmung be⸗ trifft nicht den Zollſatz der keinen Zucker erzeugenden Länder; fie iſt auch nicht auf die Nebenerzeugniſſe der Zuckerfabrikation und Zuckerraffination anwendbar“ (Art. 3). Infolge der Zuckerkonvention wurde für das Deutſche Reich das „Geſetz vom 6. Januar 1903 wegen Abänderung des Zuckerſteuer— geſetzes“ erlaſſen. Danach fällt die Ausfuhrvergütung fort. Die Inlands⸗ ſteuer für 100 kg Zucker, Reingewicht, die bisher 20 Mk. betrug, wird auf 14 Mk. herabgeſetzt. Es wird ferner beſtimmt, daß der Eingangszoll auf Zucker während der Dauer der Brüſſeler Konvention in dem höchſten Betrag erhoben werden ſoll, der nach dieſer Konvention zuläſſig iſt. Die Mehrzahl der Beſtimmungen des Zuckergeſetzes von 1896 bleiben durch das Geſetz von 1903 unberührt. Allerdings werden die 88 65— 79 jenes Geſetzes, die .. von der Kontingentierung der Zuckerproduktion handeln, ganz auf- ehoben. 5 Wie die Wirkungen der Brüſſeler Zuckerkonvention und des deutſchen Geſetzes von 1903 ſein werden, läßt ſich zurzeit auch nicht annähernd vor— ausſagen; beide ſtehen noch kein volles Jahr in Kraft. Die Urteile hierüber gehen ſehr weit auseinander. In landwirtſchaftlichen Kreiſen lauten fie vor⸗ wiegend, aber keineswegs allgemein, ungünſtig ). Man überſieht häufig die nicht wegzuleugnende Tatſache, daß die deutſche Rübenzuckerinduſtrie, ähnlich wie die einiger anderer Länder, bereits vor Abſchluß der Konvention in einer ſehr bedenklichen Lage ſich befand und daß dieſe die Hauptveranlaſſung für die beteiligten Staaten abgab, die Konvention anzuregen und derſelben bei— zutreten. Es befanden ſich um die Zeit vor deren Abſchluß in Deutſchland Millionen von Zentnern Zucker, die unverkauft bleiben mußten, weil weder das Inland noch das Ausland zu einem den Produzenten annehmbaren Preiſe dafür Verwendung hatte. Eine Kriſis mußte über die Zuckerinduſtrie und den Zuckerrübenbau unter allen Umſtänden kommen. Ob dieſelbe durch die Konvention gemildert oder umgekehrt verſchärft wird, läßt ſich gegenwärtig noch gar nicht abſehen. Aber ſelbſt, wenn eine Einſchränkung der Zuckerproduktion oder ein weiterer Rückgang der Zuckerpreiſe bezw. der Rentabilität des Rüben: baues und der Zuckerfabrikation oder gar beides eintreten ſollte, ſo iſt man noch keineswegs ohne weiteres berechtigt, die Schuld auf die Zuckerkonvention und das Geſetz von 1903 zu wälzen. Denn wie die Entwicklung ohne die Konvention ſich geſtaltet haben würde, iſt Niemand imſtande zu ſagen. Ebenſo hat die Brantweinbeſteuerung im Deutſchen Reiche große Wandlungen durchgemacht, auf die aber hier nicht näher eingegangen werden kann. Erwähnt ſoll nur werden, daß durch das Geſetz vom 24. Juni 1887 auch für die Brantweinerzeugung eine Kontingentierung einge— führt iſt. Das Kontingent beträgt 4,5 Liter Alkohol auf den Kopf der bei der letzten jedesmaligen Volkszählung ermittelten Bevölkerung. Für das Kon— tingent ſtellt ſich die Verbrauchsſteuer auf 50 Mk. pro Hektoliter reinen 1) Vgl. hierzu: Fr. Aereboe, „Empfehlen ſich gegenüber der Kriſis auf Spiritus⸗ und Rübenzuckermärkte ꝛc. Betriebsveränderungen und event. welche?“ Vortrag, gehalten in der Okonomiſchen Geſellſchaft im Königreich Sachſen, Dresden am 9. Januar 1903. Theodor Pingen, „Der Zuckerrübenbau und die Brüſſeler Konvention“, Referat erſtattet für die Hauptverſammlung der Landwirtſchaftskammer für die Rheinprovſnz am 25. November 1902. Abgedruckt im Beiblatt zu Nr. 3 der landw. Zeitſchrift für die Rheinprovinz pro 1903. Th. Pingen iſt Reichstagsabgeordneter und hat ſelbſt viele Jahre lang Zucker rübenbau getrieben und iſt Teilhaber an einer Rübenzuckerfabrik geweſen. 19 * 292 XVI. Zoll- und Steuerweſen. Alkohols, für die darüber hinaus erzeugte Menge auf 70 Mk. Jeder Bren⸗ nerei wird das Kontingent, welches nur den niederen Steuerſatz zu bezahlen braucht, ſeitens der Behörde nach gewiſſen allgemeinen, dafür gültigen Grund⸗ ſätzen beſtimmt. Alle fünf Jahre ſoll das Kontingent revidiert werden. dem Geſetz von 1887 ſind dann noch Novellen vom 8. Juni 1891 und vom 16. Juni 1895 ergangen. Es würde die der vorliegenden Schrift geſteckten Grenzen überſchreiten, wollte ich alle für die Branntwein- und Zuckerſteuer in Betracht kommenden Einzelnheiten näher erörtern. Es ſollen daher nur die hauptſächlichſten Ge⸗ ſichtspunkte dargelegt werden, von denen man bei der Beurteilung und Ab- meſſung dieſer Steuern auszugehen hat. Der Anbau der Kartoffel wie der Zuckerrübe übt auf den Roh⸗ wie den Reinertrag der Landwirtſchaft einen ſehr günſtigen Einfluß aus, iſt deshalb von hoher volkswirtſchaftlicher und privatwirtſchaftlicher Bedeutung. Im Jahre 1893 waren im Deutſchen Reiche 3 037 366,4 ha mit Kartoffeln, 395315,5 ha mit Zuckerrüben beſtellt. Die durchſchnittliche Geſamternte an Kartoffeln beträgt jährlich etwa 26 Mill. Tonnen; auf Branntwein werden jährlich etwa 2,5 Mill. Tonnen verarbeitet, alſo ¼10 der Produktion. Für die Erzeugung der zur Branntweinfabrikation nötigen Kartoffeln werden dem⸗ nach etwa 300 000 ha benutzt; zur Erzeugung von Zucker und Branntwein zuſammen rund 700000 ha). Müßte aus irgend einem Grunde die Her⸗ ſtellung von dieſen beiden Fabrikaten unterbleiben, ſo würde der Ertrag aus der Landfläche, welche für Erzeugung des dazu verwendeten Rohmaterials benutzt worden iſt, nahezu verloren gehen. Durch viele Beiſpiele iſt es nach⸗ gewieſen, daß infolge der Einführung des Zuckerrübenbaues zwar die dem Getreidebau gewidmete Fläche abgenommen, der abſolute Ertrag an Getreide aber zugenommen hat. Etwas Ahnliches gilt von dem Kartoffelbau. Die Urſache dieſer auf den erſten Anblick befremdlichen Erſcheinung liegt in dem Umſtande, daß die genannten Gewächſe infolge der erforderlichen und ihnen zuteil gewordenen ſorgfältigen Bearbeitung und reichlichen Düngung, die ſich durch ihre Erträge wieder bezahlt machen, den Boden in einen für den nach⸗ folgenden Getreidebau beſonders günſtigen Zuſtand verſetzen. Eine Ein⸗ ſchränkung des Anbaues von Brennkartoffeln und Zuckerrüben würde eher eine Verminderung, als eine Vermehrung der Getreideproduktion herbeiführen. Sie würde auch vorausſichtlich nicht eine Vergrößerung der mit Getreide, ſondern der mit Futterpflanzen irgend welcher Art beſtellten Fläche bewirken. Nun gehen aber gerade die für die tieriſche Ernährung wichtigſten Beſtand⸗ teile der auf Branntwein und Zucker verarbeiteten Rohſtoffe nicht in dieſe Fabrikate über, ſondern bleiben als Nebenprodukte zurück und bilden ſehr wertvolle Futtermittel. In den Rückſtänden iſt außerdem der größte Teil der mineraliſchen Nährſtoffe enthalten, den die Zuckerrüben oder Kartoffeln dem Boden entnommen haben. Durch ihre Verabreichung an die Tiere werden ſie dem Dünger einverleibt und demnächſt dem Boden wieder zurückgewährt. Auf Grund obiger Tatſachen darf man wohl behaupten, daß die geſamten landwirtſchaftlichen Roh- und Reinerträge bei dem Fortfall des Anbaues von Zuckerrüben und Brennkartoffeln um den größeren Bruchteil des⸗ jenigen Betrages ſinken würden, welchen dieſe Gewächſe jetzt direkt oder in⸗ direkt gewähren. Nicht nur eine große Zahl von Landwirten würde dadurch aufs empfindlichſte getroffen, vielleicht dem wirtſchaftlichen Untergange zuge⸗ führt oder doch nahegebracht, ſondern auch die Volks- und Staatswirtſchaft würde ſtark geſchädigt. | 1) Statiſtiſches Jahrbuch für das Deutſche Reich pro 1898, S. 23 u. 43. = deln u” LE Snap Sn Den DZ De. = in r 8 XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 293 . AZBaurnächſt iſt es für die Volkswirtſchaft nicht gleichgültig, ob der Er⸗ trag von über ¼ Mill. ha Ackerland zum größeren Teil in Fortfall kommt. Außerdem aber würden die Staatsfinanzen große Einbußen erleiden. Der Nettoertrag allein der Steuern aus der Brennerei und der Rübenzuckerin⸗ duſtrie beläuft ſich jährlich auf etwa 130 Mill. Mk. Dazu kommt, daß bei dieſen Fabrikationszweigen viele Tauſende von Arbeitern lohnende Beichäf- tigung finden, und zwar vorzugsweiſe im Winter, alſo zu einer Jahreszeit, in welcher die Arbeitsgelegenheit eine beſchränkte iſt. Aus allen dieſen Gründen iſt es eine Pflicht für den Staat, die Brannt- weinbrennerei und die Rübenzuckerfabrikation zu ſchützen; es liegt dies in ſeinem eigenſten Intereſſe. In der Art und Ausdehnung dieſes Schutzes muß er allerdings immer das Geſamtwohl und nicht nur für die Gegenwart, ſondern auch für die Zukunft im Auge behalten. Daß beide Gewerbe beſteuert werden, iſt ganz in der Ordnung. Der bei weitem größte Teil des produzierten Branntweins und Zuckers wird als menſchliches Genußmittel verwendet. Bei mäßiger Beſteuerung, wie wir ſie im Deutſchen Reiche haben, iſt doch ihr Preis noch ſo niedrig, daß ihre Be— ſchaffung auch den minder bemittelten Volksklaſſen keine allzu großen Opfer auferlegt. Aus geſundheitlichen wie moraliſchen Rückſichten müßte man ſo⸗ gar wünſchen, daß durch eine etwas höhere Beſteuerung der Konſum von Trinkbranntwein mehr eingeſchränkt würde. Beim Zucker ſteht freilich die Sache gerade umgekehrt. Ein Fortfall der Steuer würde aber die Staats— finanzen ſchwer ſchädigen und dem einzelnen Konſumenten nur geringen Vor— teil gewähren. Solches um ſo weniger, als der Staat gezwungen wäre, den entſtandenen Ausfall durch andere Steuern zu decken. Der Konſum würde ſich allerdings heben, was wenigſtens in bezug auf den Zucker der Bevölkerung zum Nutzen gereichte. Aus dem Fortfall der Steuer würden die an der Kartoffelbrennerei und Zuckerinduſtrie beteiligten Landwirte zunächſt zwar einen Gewinn ziehen, da der Preis der Fabrikate vorausſichtlich nicht plötzlich um den ganzen Steuerbetrag ſinken würde. Aber in 2—3 Jahren würde durch die vermehrte Produktion, die ſich leicht und ſchnell ausdehnen läßt, dieſer Gewinn wieder verloren gehen. Als ein großer Fortſchritt iſt die Kontingentierung der Brannt— wein⸗ und Zuckerfabrikaton !) zu begrüßen. Dieſelbe benimmt zwar nicht die Möglichkeit einer beliebigen Ausdehnung beider Betriebe; ſie belegt aber die über ein feſtgeſetztes Maß hinausgehende Produktion mit einem höheren Steuerſatz. Dabei iſt das dem niedrigeren Steuerſatz unterliegende Kontingent kein feſtſtehendes, ſondern wächſt mit der ſteigenden Bevölkerung. Hierdurch wird ein Doppeltes erreicht. Einmal wird die Gefahr, daß die Produktion über ein auf die Dauer unhaltbares Maß ſich ausdehnt, bedeutend abge— ſchwächt. In früheren Jahren hat wiederholt eine ſolche übermäßige Aus— dehnung ſtattgefunden und iſt vielen Landwirten verderblich geworden. Bis zu einem gewiſſen Grade ſichert die Kontingentierung die Rentabilität der bereits beſtehenden Betriebe und verhindert eine wirtſchaftlich ungerechtfertigte Neugründung von Betriebeu oder Erweiterung von alten Betrieben. Sie arbeitet einem Sinken der Preiſe für Spiritus und Zucker unter die Pro— duktionskoſten entgegen. Ein derartiger Tiefſtand würde wohl den Konſumenten vorübergehend einen Vorteil gewähren; er würde aber das Eingehen vieler Betriebe und damit wahrſcheinlich eine ungewöhnliche Preisſteigerung zur Folge haben. 1) Daß die Kontingentierung für die Zuckerſabrikation durch die Zuckerkonvention und das Geſetz vom 1903 vorläufig in Wegfall gekommen iſt, wurde bereits erwähnt. 294 XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. Fürs andere gewährt die Kontingentierung in der ihr gegebenen be— weglichen Geſtalt den Vorteil, daß die Produktion dem wechſelnden und mit der Bevölkerung ſteigenden Bedarf an Spiritus und Zucker ſich anſchließen kann. Und zwar ſind hierfür die beiden überhaupt möglichen Wege offen gelaſſen: die Erweiterung der bereits beſtehenden Betriebe und die Einrichtung neuer Betriebe. Eine beſondere Schwierigkeit erwächſt ſowohl der Produktion wie der Beſteuerung des Branntweins und des Zuckers aus dem Umſtande, daß beide Erzeugniſſe nicht nur dem inländiſchen Konſum dienen, ſondern auch exportiert werden, der Zucker ſogar in ſehr großen Mengen. Sie ſind Gegenſtände des Welthandels und haben einen Weltmarktpreis. Sie werden auch nicht bloß im Deutſchen Reiche, ſondern auch noch in vielen anderen Ländern er— zeugt. Inſofern als die deutſchen Landwirte auf Ausfuhr angewieſen ſind, beſteht daher eine große Abhängigkeit vom Auslande. Eine Ausdehnung der auswärtigen Produktion oder eine Erhöhung der von anderen Staaten er⸗ hobenen Eingangszölle kann die einheimiſche Spiritus- und Zuckerinduſtrie, ſoweit ſie für den Export arbeitet, ſehr ſchädigen oder gar vernichten. Bei⸗ ſpiele dafür bieten die handelspolitiſchen Maßregeln Spaniens und der nord⸗ amerikaniſchen Freiſtaaten, von denen beide Gewerbszweige in Deutſchland hart betroffen worden ſind. | Die aus der Abhängigkeit von dem Auslande erwachſende Gefahr ſtellt die deutſchen Landwirte und die deutſche Reichsregierung vor eine ſchwere Aufgabe. Wie ſolche am beſten zu löſen iſt, läßt ſich im voraus nicht an⸗ geben, da die zweckmäßigerweiſe zu ergreifenden Maßregeln ganz von den jeweilig vorhandenen Verhältniſſen abhängen. Dieſe können, wie die in den letzten drei Jahrzehnten gemachten Erfahrungen beweiſen, ſich leicht und ziem⸗ lich ſchnell ändern. Die Hauptgrundſätze, welche für die Beſteuerung von Brannt⸗ wein und Zucker maßgebend ſein ſollen, faſſe ich in folgendem zuſammen: 1. Mit Rückſicht auf ſeine Finanzen kann der Staat auf eine Be⸗ ſteuerung von Branntwein und Zucker nicht verzichten. Bei dem maſſenhaften Konſum dieſer Produkte gewährt auch ſchon eine ſehr mäßige, den Konſu⸗ menten kaum beſchwerende Steuer einen hohen Ertrag. Der Trinkbrannt⸗ wein, als ein mehr oder minder entbehrliches Genußmittel, darf verhältnis⸗ mäßig höher beſteuert werdeu als der Zucker, der zwar auch ein nötigenfalls entbehrliches Genußmittel, vor allen aber ein geſundes und wirkſames Nah⸗ rungsmittel darſtellt. 2. Der Steuerſatz für die kleineren Betriebe muß niedriger ſein, als für die größeren, damit jene von dieſen, die billiger produzieren, nicht unter⸗ drückt werden. 3. Der Steuerſatz für die, eine beſtimmte Menge überſteigende Produktion iſt höher zu bemeſſen, als für die dahinter zurückbleibende (Kontingentierung). Die Höhe des Kontingents muß ſich richten nach dem vorausſichtlichen ein⸗ heimiſchen Konſum und nach der Höhe des zu erwartenden Exportes. Erſterer wird bedingt durch die Stärke und die Wohlhabenheit der Bevölkerung und läßt ſich für einige Jahre mit annähernder Genauigkeit im voraus feſtſtellen. Viel weniger iſt dies möglich für den Export; einen gewiſſen Schutz gegen ſtarken Rückgang des Exportes bieten lange dauernde Handelsverträge. Eine nach Verlauf einiger Jahre regelmäßig ſich wiederholende Neubeſtimmung des Kontingents iſt unerläßlich. 4. Die Beſteuerung von Branntwein und Zucker macht es nötig, daß auf die Einfuhr dieſer Produkte ein die Höhe der Steuer mindeſtens er⸗ XVI. Zoll⸗ und Steuerweſen. 295 * 5 reichender Zoll gelegt wird, um der einheimiſchen Produktion den erforder⸗ lichen Schutz zu gewähren. 5. Dem Intereſſe der deutſchen Spiritus- und Zuckerinduſtrie entſpricht es, wenn für die ausgeführte Menge an Fabrikaten eine Vergütung ſeitens des Reiches gewährt wird. Dieſelbe darf aber nicht erheblich höher ſein, als die auf die gleichen Fabrikate gelegte Steuer, weil ſonſt eine ungeſunde Produktionsſteigerung hervorgerufen wird, auch die Reichsfinanzen zu ſehr geſchädigt werden. 6. Ob und in welcher Höhe neben der Rückerſtattung der Steuer für die ausgeführte Menge von Fabrikaten noch die Gewährung eines Ausfuhr— zuſchuſſes angezeigt erſcheint, hängt von den im Auslande getroffenen Maß— regeln ab. Wenn andere, in der Produktion von Zucker oder Spiritus mit uns konkurrierende Staaten Ausfuhrprämien gewähren, können wir die— ſelben nicht wohl entbehren und nach der Höhe jener müſſen ſich die unſrigen richten. Umgekehrt können und müſſen wir auf Ausfuhrvergütungen ver⸗ zichten, wenn dies ſeitens der konkurrierenden Länder geſchieht. 7. Bei der Beſteuerung von Branntwein und Zucker muß feſt im Auge behalten werden, daß es ſich dabei um zwei Gewerbe handelt, an deren Gedeihen die Landwirtſchaft, die Volkswirtſchaft und die Staatsfinanzen über- einſtimmend in hohem Grade intereſſiert ſind, die deshalb eingehende Be— achtung und ſorgfältige Pflege beanſpruchen dürfen. Für die Landwirtſchaft iſt die Kartoffelbrennerei noch viel wichtiger als die Zuckerinduſtrie. Denn die Kartoffel gedeiht recht gut ſelbſt auf armem, ſandigem Boden und liefert hier, bei entſprechender Bearbeitung und Düngung, ungewöhnlich hohe Er— träge. Die Reinerträge der Güter mit Brennereibetrieb würden ſtark zurück⸗ gehen und die Beſitzer von vielen derſelben ihre wirtſchaftliche Exiſtenz ver⸗ lieren, wenn ſie dieſen Betrieb aus irgend einem Grunde einzuſtellen ge— zwungen wären. Güter, auf denen Zuckerrüben mit Erfolg gebaut werden, haben ſo günſtige Bodenverhältniſſe, daß auch andere wertvolle Gewächſe hohe Erträge liefern. Zudem iſt es gerade der Zuckerrübenbau, der die Aus- breitung des aus vielen Gründen unerwünſchten Wanderarbeitertums be— ſonders begünſtigt ). 1) Die obigen 7 Sätze habe ich nahezu wörtlich aus der erſten Auflage dieſes Buches übernommen, da ich ſie heute noch im Prinzip für richtig halte. Infolge der Brüſſeler Zuckerkonvention und des deutſchen Reichsgeſetzes vom 6. Januar 1903 können allerdings die Sätze 2, 3, 5 u. 6, ſo lange die Konveution beſteht, auf den Zucker nur eine beſchrünſte Anwendung finden. — Zur Branntweinbeſteuerung vgl. auch die Abhandlung von Jul. Pierstorff, „Die neueſte Branntweinſteuergeſetzgebung und das Spirituskartell“ in Conrads Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statiſtik, 3. Folge, 26. Bd. (1903), S. 1—53. 296 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. Bchlußbetrachtung. Aus allem, was in den einzelnen Abſchnitten dieſes Buches erörtert wurde, ergibt ſich das gemeinſame Reſultat, daß auf dem Gebiet der Land⸗ wirtſchaft noch viel geſchehen muß, wenn ſie ihre ebenſo weit umfaſſende wie wichtige Aufgabe für Staat und Geſellſchaft einigermaßen vollkommen er⸗ füllen, wenn ſie zugleich diejenige Stelle im Volksleben für die Dauer be— haupten ſoll, auf die ſie ihrer Bedeutung nach Anſpruch erheben darf und muß. Das bisher Geſagte hat auch deutlich gezeigt, daß das erſtrebte Ziel nur erreicht werden kann durch ein Zuſammenwirken der einzelnen Landwirte oder deren Vereinigungen mit den Vertretern der übrigen Berufsklaſſen ſowie mit den kommunalen Körperſchaften und mit dem Staat. In den einzelnen Abſchnitten habe ich auch darzulegen verſucht, wie dies Zuſammenwirken ſtatt⸗ zufinden hat und welche Aufgaben den verſchiedenen beteiligten Faktoren dabei zufallen. Hier ſoll deshalb nur noch mit wenigen Worten darauf hin⸗ gewieſen werden, welche Richtung im allgemeinen die auf die Förde⸗ rung der Landwirtſchaft hinzielenden Beſtrebungen einzuſchlagen und inne⸗ zuhalten haben. Als mit der 1893 erfolgten Gründung des Bundes der Landwirte eine tiefgehende Bewegung der ländlichen Bevölkerung ſich bemächtigte, wurde der Satz ausgeſprochen und tauſendfältig wiederholt: „Nur die großen Mittel können der Landwirtſchaft noch helfen, andernfalls geht ſie demnächſt zugrunde oder die meiſten Landwirte müſſen doch Haus und Hof verlaſſen.“ Unter großen Mitteln verſtand man ſolche, welche die Rentabilität der Land⸗ wirtſchaft mit einem Male zu heben geeignet wären, ſei es durch Ver⸗ mehrung der Einnahmen, ſei es durch Herabſetzung der notwendigen Aus⸗ gaben. Zu ihnen gehörten vor allem eingreifende ſtaatliche Maßregeln zur dauernden Erhöhung der Getreidepreiſe oder zur Beſeitigung der übermäßigen Verſchuldung des Grundbeſitzes. Unbefangenen und nüchternen Erwägungen gegenüber, wie ſie auch ſeitens der höchſten ſtaatlichen Organe pflichtmäßig und ſorgfältig angeſtellt wurden, erwieſen ſich alle auf eine plötzliche Be⸗ ſeitigung des Notſtandes gemachten Vorſchläge als undurchführbar oder als zur Erreichung des erſtrebten Zieles ungeeignet. Ein anderes Reſultat war bei der eigentümlichen Natur des landwirtſchaftlichen Gewerbes auch nicht zu erwarten. Wiederholt iſt in den vorangegangenen Abſchnitten auf den konſer⸗ vativen Charakter der Landwirtſchaft und der ländlichen Bevölkerung hin⸗ gewieſen worden ſowie darauf, daß dieſer Charakter ein notwendig gegebener und dauernder ſei, weil er mit der Unabänderlichkeit der Naturgeſetze in unauflöslichem Zuſammenhang ſteht. Große Umgeſtaltungen in der Land⸗ wirtſchaft laſſen ſich daher nur ſehr allmählich durchführen. Die preußiſche Agrargeſetzgebung von 1807—1821 iſt ſchon während der ganzen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Friedrich den Großen und ſeine Nachfolger ſorgfältig vorbereitet und in ihren Hauptgrundſätzen auf den kgl. Domänen zur Anwendung gebracht worden. Nach ihrem Erlaß hat es dann noch ein bis zwei Menſchenalter gedauert, bevor ſie allgemein zur Durchführung gelangt war. Albrecht Thaer und manche andere be— deutende Landwirte haben jchon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vor⸗ züge des Fruchtwechſels vor dem einſeitigen Körnerbau auf wiſſenſchaftlichem wie praktiſchem Wege bis zur Evidenz erwieſen. Trotzdem gibt es heut⸗ j 2 — Eu „„ u U e An hu tn u nn een Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 297 1 Berge noch viele Diſtrikte, in denen die Dreifelderwirtſchaft die herrſchende Beetriebsweiſe darſtellt. Eine ſachverſtändige Betrachtung und Würdigung der ausſchlaggebenden Verhältniſſe führt in Übereinſtimmung mit den Tatſachen der Erfahrung und der Geſchichte zu der Schlußfolgerung, daß ein allgemeiner Fortſchritt der Landwirtſchaft und damit eine gründliche Beſeitigung weit verbreiteter Mängel nur im Laufe einer längeren Reihe von Jahren und durch das Zuſammen— wirken vieler einzelner Faktoren erfolgen kann. Mit anderen Worten: die Landwirtſchaft iſt auf diejenigen Mittel angewieſen, die man in gering⸗ ſchätzigem Sinne öfters als die kleinen bezeichnet hat. Viel eher ver- dienen ſie aber den Namen der großen Mittel, inſofern ſie allein einen dauernd günſtigen Erfolg nicht nur in ungewiſſe Ausſicht ſtellen, ſondern, bei zweckentſprechender und konſequenter Anwendung, mit ziemlicher Sicher— heit verſprechen. Alle in dieſem Buche zur Beſſerung der agrariſchen Zuſtände ge— machten Vorſchläge gehören zu den jog. kleinen Mitteln. Desgleichen alles dasjenige, was ſeitens der Landwirte und ſeitens des Staates in den letzten 20 Jahren zur Beſeitigung oder Milderung der landwirtſchaftlichen Kriſis geſchehen iſt. Kein unbefangener Sachkundiger wird leugnen können, daß dieſe Mittel bereits eine günſtige Wirkung gehabt haben und weiterhin wahrſcheinlich machen. In den Parlamenten wie in den zur Vertretung der Landwirtſchaft berufenen Körperſchaften iſt dieſer Anſicht wiederholt Ausdruck verliehen worden; ſelbſt von ſolchen Männern, die früher nur von den ſog. en Mitteln ſich einen nennenswerten Erfolg verſprachen. Die Lage der andwirtſchaft iſt ſeit den letzten Jahren unverkennbar eine etwas beſſere geworden. Hierzu hat in ſehr weſentlichem Grade dasjenige beigetragen, was von ſeiten der zur Mitwirkung berufenen Korporationen und Behörden für Hebung der Landwirtſchaft geſchehen iſt. Ein altes Sprichwort ſagt „Not macht erfinderiſch“. Dies hat ſich auch in der jetzigen landwirtſchaftlichen Kriſis als zutreffend bewährt. Wohl noch zu keiner Zeit ſind die Landwirte ſo eifrig, wie in der Gegenwart, be— ſtrebt geweſen, alle in ihrer Macht liegenden Mittel zur Bekämpfung der ihnen entgegenſtehenden Schwierigkeiten in Anwendung zu bringen. Zeugnis legen hierfür ab die ungewöhnlich großen Fortſchritte, die gerade während der letzten beiden Jahrzehnte in der landwirtſchaftlichen Technik gemacht worden ſind; ferner die überaus erfreuliche Entwicklung, welche das land— wirtſchaftliche Unterrichts⸗, Vereins⸗ und Genoſſenſchaftsweſen genommen hat. Ein weiterer Beweis hierfür iſt darin zu erblicken, daß man den, ein Menſchenalter hindurch ſtark vernachläſſigten Lehren der Volkswirtſchaft wieder größere Beachtung ſchenkt und deren zweckentſprechende Anwendung auf die Landwirtſchaft zu ergründen verſucht. Mögen manche dabei, weil die Sache ihnen noch zu neu war, zu verkehrten Schlußfolgerungen gelangt ſein; es bleibt immer ein Gewinn, daß man die vorhandene Lücke erkannt hat und ſie auszufüllen beſtrebt iſt. Schon jetzt zeigen ſich einzelne Erfolge der erweiterten volkswirtſchaftlichen Erkenntnis, und mehrere ſind in Zukunft noch zu erwarten, wenn die neu gewonnenen Einſichten eine allgemeinere Verbreitung und eine größere Vertiefung gewonnen haben. Den in dieſer Beziehung gemachten Fortſchritt will ich nur an einem Beiſpiel deutlich g machen. Vor 15— 20 Jahren war es nur ausnahmsweiſe möglich, in land fi wirtſchaftlichen Vereinen über die Höhe der zuläſſigen hypothekariſchen Ver ſchuldung der Güter, über die Angemeſſenheit der ortsüblichen Kaufpreiſe für Grund und Boden, über den Unterſchied von Verkaufswert und Ertragswert eine gründliche Erörterung zu veranlaſſen. Diskuſſionen über dieſe oder le rere WETTE Ne 298 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. ähnliche Fragen ſuchte man überhaupt zu vermeiden; falls fie dennoch ſtatt— fanden, entbehrten ſie der Gründlichkeit und berührten gerade die wichtigſten Punkte nur oberflächlich oder gingen ganz darüber hinweg. Darin iſt jetzt eine erhebliche Beſſerung eingetreten. Gerade in Verſammlungen von her⸗ vorragenden Vertretern der Landwirtſchaft iſt es wiederholt und offen aus⸗ geſprochen worden, daß in der ſtarken Verſchuldung ein Hauptübelſtand liege; daß der Landwirt über eine gewiſſe Grenze hinaus nicht verſchulden dürfe, wenn er ſeine wirtſchaftliche Exiſtenz nicht aufs Spiel ſetzen wolle; daß die bei Käufen gezahlten oder bei Erbteilungen zugrunde gelegten Güterpreiſe im Verhältnis zum Reinertrage häufig zu hoch geweſen ſeien; daß man in beiden Fällen nicht einen irgendwie ermittelten Verkaufswert, ſondern den wirklichen Ertragswert zugrunde legen müſſe. Die in den landwirtſchaftlichen Vertretungskörpern, in den Parlamenten und in der Preſſe erhobenen Klagen über die Notlage der Landwirtſchaft und über die mangelhafte Berückſichtigung ihrer Intereſſen haben auch auf die nicht der Landwirtſchaft angehörende Bevölkerung einen merkbaren Einfluß ausgeübt. Zunächſt den, daß viele ernſte Männer, die ſich bisher um die Landwirtſchaft wenig bekümmert hatten, nun veranlaßt wurden, über die gegenwärtige Lage der Landwirtſchaft, auch über die Berechtigung oder Er⸗ füllbarkeit der von agrariſcher Seite erhobenen Forderungen ſich genauer zu informieren, um dadurch ein eigenes begründetes Urteil zu gewinnen. Viele unter ihnen ſind dann zu der Überzeugung gelangt, daß die landwirtſchaft⸗ lichen Intereſſen lange Zeit hindurch tatſächlich über Gebühr zurückgeſetzt worden ſeien und daß mit Rückſicht nicht bloß auf die ländliche Bevölkerung, ſondern auch auf die allgemeine Wohlfahrt hierin eine Anderung eintreten müſſe. Infolgedeſſen hat ſich im Laufe der letzten 25 Jahre ein ſehr merk⸗ barer Umſchwung in der öffentlichen Meinung zugunſten der Landwirtſchaft vollzogen. Welche Abneigung beſtand zu Anfang dieſes Zeitraumes noch gegen die Einführung eines Getreidezolles überhaupt! Nur dem gewaltigen Einfluß des Fürſten Bismarck war es möglich, im Jahre 1879 den geringen Zoll von 1 Ml. für den Doppelzentner Roggen bezw. Weizen und Hafer durchzuſetzen. Und wie ſteht die Sache gegenwärtig? Unter den einfluß⸗ reichen Männern faſt aller politiſchen Parteien gibt es ſehr viele, welche bei den jetzigen Getreidepreiſen den beſtehenden Zoll von 3,50 Mk. pro Doppel⸗ zentner Weizen oder Roggen eher für zu niedrig als zu hoch halten; ſie würden einem Zoll von 5 Mk. unbedenklich ihre Zuſtimmung erteilen. Bei der im Februar 1899 ſtattgehabten Sitzung des preußiſchen Landesökonomie⸗ kollegiums hob es der damalige Vorſitzende des rheinpreußiſchen landwirt⸗ ſchaftlichen Vereins, von Bemberg-Flammersheim, mit nachdrücklicher Genugtuung hervor, daß während des letzten Jahrzehnts bei den Vertretern der rheiniſchen Induſtrie ein ebenſo ſtarker wie erfreulicher Umſchwung in ihrer Stellung zu der Landwirtſchaft eingetreten ſei; daß gegenwärtig die Induſtriellen den Bedürfniſſen und Wünſchen der Landwirte mit einem, vor⸗ her oft vermißten, verſtändnisvollen Wohlwollen entgegenkämen. Daß dieſer Umſchwung ſich keineswegs bloß auf die Rheinprovinz beſchränkt, beweiſen die Verhandlungen und Beſchlüſſe unſerer parlamentariſchen Körperſchaften über agrariſche Fragen. Man kann es nicht in Abrede ſtellen, daß die ſo laut erhobenen Klagen und Beſchwerden des Bundes der Landwirte in beſonderem Grade darauf hingewirkt haben, daß die Aufmerkſamkeit der übrigen Berufsklaſſen in einem viel höheren Maße als bisher den landwirtſchaftlichen Intereſſen ſich zuge⸗ wendet hat. Mögen gleich die Klagen wie die daran geknüpften Forderungen vielfach übertrieben geweſen ſein, ſo bleibt doch der hier hervorgehobene Er⸗ Schlußbetrachtung Agrarprogramm. 299 folg immerhin ein weſentliches Verdienſt des Bundes der Landwirte. Es iſt eine bekannte geſchichtliche Tatſache, daß politiſche oder wirtſchaftliche Beſtrebungen, die auf eine an und für ſich berechtigte, aber lange vernach⸗ läſſigte Sache gerichtet ſind, zunächſt mit einem gewiſſen Ungeſtüm ſich geltend machen, auch vielfach über das Ziel hinausſchießen. Ein ſolches Verfahren halten die an der Spitze ſtehenden Männer für nötig, um die öffentliche Aufmerkſamkeit auf die von ihnen vertretene Angelegenheit um ſo ſicherer zu ziehen und um den geſtellten Forderungen einen deſto größeren Nachdruck Au verleihen. Falls es ſich um einen wirklich im Intereſſe der Geſamtheit iegenden Zweck handelt, iſt auch ein derartiges Verfahren gewöhnlich von dieſem, zunächſt beabſichtigten Erfolg begleitet. Andererſeits lehrt freilich auch die Geſchichte, daß dauernd in extremer Weiſe geübte und auf extreme Ziele gerichtete Agitation die endgültig erſtrebte Wirkung nicht zu haben pflegt; daß ſie im Gegenteil oft eine Reaktion nach der entgegengeſetzten Seite her— beiführt. Sie kann auf bleibenden Erfolg nur dann rechnen, wenn ſie in dem Maße, als ihre Ziele allgemein bekannt und auch von außerhalb ſtehenden, objektiv urteilenden Männern in ihrem Kerne als berechtigt anerkannt werden, in gemäßigtere Bahnen einlenkt. Dies gilt ſowohl von dem materiellen In— halt der erhobenen Forderungen wie von der Form ihrer Geltendmachung. Auch der ſchließliche Erfolg des Bundes der Landwirte wird davon abhängen, ob er von dieſer Lehre der Geſchichte für ſich eine Nutzanwendung zieht. Der Staat iſt in der Erfüllung der Pflichten, die ihm durch die Rückſicht auf die große Bedeutung der Landwirtſchaft überhaupt und durch deren jetzige ungünſtige Lage insbeſondere auferlegt ſind, keineswegs zurück— eblieben. Faſt jeder Abſchnitt dieſes Buches bietet dafür eine Reihe von elegen. In den letzten zwei Jahrzehnten iſt eine große Anzahl von Ge— ſetzen, darunter viele von tiefgreifender und weittragender Wirkung, erlaſſen worden, die den Zweck verfolgen, das landwirtſchaftliche Gewerbe als ſolches zu fördern, vorhandene Übelſtände zu beſeitigen, auch die Lage der einzelnen Landwirte zu verbeſſern. Faſt alle dieſe Geſetze ſind erfolgt auf Anregung oder doch mit Zuſtimmung der berufenſten Vertreter der Landwirtſchaft ſelbſt, wenngleich deren Wünſche im einzelnen nicht immer volle Befriedigung fanden. Letzteres entweder deshalb nicht, weil die erhobenen Forderungen tatſächlich zu weit gingen oder weil die Regierungen oder die Majorität in den bei der endgültigen Entſcheidung mitwirkenden parlamentariſchen Körperſchaften ſie mit den ebenſo berechtigten Forderungen anderer Erwerbszweige oder Berufsklaſſen für unvereinbar hielten. Aber die vorliegenden Tatſachen zeigen zweifellos, daß nicht nur bei der Reichsregierung und den einzelnen Landesregierungen, ſondern auch bei der weit überwiegenden Majorität | des Reichstages und der Einzellandtage das ehrliche Beſtreben und der feſte Wille vorhanden iſt, den Bedürfniſſen und Wünſchen der zurzeit i in Bedrängnis befindlichen Landwirtſchaft nach Möglichkeit entgegenzukommen. Die Richtigkeit dieſer Behauptung wird u. a. beſtätigt durch die Reichs— geſetze über die Genoſſenſchaften, über die Börſe, über Margarine, über Vieh- ſeuchen und Viehverſicherung, über den Handel mit Nahrungs- und Genuß— N mitteln, auch über die Einführung von Getreidezöllen ꝛc.; ferner durch die preußiſchen Geſetze über Errichtung von Rentengütern, über Gründung der Zentralgenoſſenſchaftskaſſe, über Einrichtung von Landwirtſchaftskammern u. ſ. f. Aus den Geſetzgebungen anderer deutſcher Staaten ließen ſich ähnliche Bei— f ſpiele anführen. Ich erinnere nur an die bayeriſchen und württembergiſchen Geſetze betr. Einrichtung einer ſtaatlichen Hagelverſicherung, an das badiſche Geſetz betr. Organiſation einer Landesviehverſicherung. Faſt alle dieſe und viele andere, zum Wohle der Landwirtſchaft und der ländlichen Bevölkerung 300 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. erlaſſene, durch das Zuſammenwirken von Regierung und Volksvertretung 3 zuſtande gekommene Geſetze find das Produkt der letzten 2—3 Jahrzehnte. Nicht minder haben in der nämlichen Periode die ſtaatlichen Behörden auf dem Gebiete der Verwaltung die Pflege der Landwirtſchaft ſich ange⸗ legen ſein laſſen und dabei viele, auch ſichtbare und namhafte, Erfolge erzielt. Beiſpielsweiſe erinnere ich an die Unterſtützung oder direkte eigene Aus⸗ führung von Landesmeliorationen wie Ent- und Bewäſſerungsanlagen, Ein⸗ deichungen, Moorkulturen, Aufforſtungen; ferner an die dem landwirtſchaft⸗ lichen Unterrichts- und Vereinsweſen zugewendete Fürſorge; weiter an die mannigfachen Maßregeln, die der Staat zur Förderung der landwirtſchaft⸗ lichen Technik (Verbeſſerung der Düngerſtätten, Unterſtützung der Pferde⸗ und Rindviehzucht ec.) ergriffen hat. Einen ſehr deutlichen Beweis für die ſeitens des Staates der Land⸗ wirtſchaft zugewendete vermehrte Fürſorge bietet die in allen deutſchen Län⸗ dern ſtattgehabte erhebliche Vermehrung der zur Unterſtützung der Land— wirtſchaft bewilligten Staatsmittel. 2 Für Preußen hat der Landwirtſchaftsminiſter dem Landes-Okonomie⸗ Kollegium bei deſſen im Jahre 1899 ſtattgehabten Sitzung eine Nachweiſung über den Etat der landwirtſchaftlichen Verwaltung für den zehn- jährigen Zeitraum von 1890/91 bis 1899 zukommen laſſen. Nach derſelben betrugen die etatsmäßigen Geſamtausgaben: im Jahre 1890/91 11 214 245 M. „e 20 359 145 „ alſo mehr 1899 9 144 900 M.) Die Verwendungen im Intereſſe der Landwirtſchaft ſind alſo binnen 10 Jahren um 81,5 Proz. geſtiegen. Im einzelnen verteilen ſich dieſelben folgendermaßen: Bezeichnung des 1890/91 1899 + 1899?) Gegenſtandes M. M. M. oV 433 660 1 447 060 1013 400 2. Oberstandezkulturgeridt . . . 137 505 156 920 19 415 3. Generalkommiſſiaan 5 150 494 7 963 363 2 812 869 4. Landwirtſchaftl. Lehranſtalten und wiſſenſchaftl. u. Lehrzwecke 1051217 1 510 477 459 260 5. Tierärztliche Hochſchulen und Veterinärweſen 826 560 I 220 307 ei. 6. Förderung der Viehzucht 703 420 788 420 85 000 7. Förderung der Fiſcherei . 282 599 374 861 92 262 8. Landesmelior ationen 1 430 229 2 167 487 728 258 9. Allgemeine Ausgaben 570 700 690 000 119 300 10. Extraordinariuimmm 618 860 4 340 250 3 721 390 Zuſammen 11 214 244 20659 145 9 444 901 Der preußiſche Staatshaushalt-Etat von 1904 ſetzt im Ordinarium für die neun erſten der vorgenannten Poſitionen der landwirtſchaftlichen Ver⸗ waltung 21587172 Mk. (gegen 16318895 im Jahre 1899), im Extraor⸗ dinarium 5081566 Mk. (gegen 4 340 250 im Jahre 1899) aus. Zuſammen beziffert ſich alſo der Ausgabeetat der landwirtſchaftlichen Verwaltung für 1904 auf 26668738 Mk. gegen 20659145 Mk. im Jahre 1899. Die Koſten für das Ordinarium der Geſtütsverwaltung, ebenſo die Koſten für 1) Bei der von mir vorgenommenen Aufrechnung betragen die Geſamtausgaben für 1890/91 = 11214245 M., für 1899 — 20659 145 M.; es ergibt ſich alſo eine Mehr⸗ aufwendung von 9 444 901 M. für 1899 (j. folgende Tabelle). 2) Dieſe Kolonne iſt von mir erſt zuſammengeſtellt worden. rer 88 u E ee un LA ann ae 2 rn Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 301 das Extraordinarium der Domänen⸗, Forſt⸗ und Geſtütsverwaltung find bei allen obigen Angaben unberückſichtigt geblieben. a | Eine ähnliche Unterſuchung der Budgets anderer deutſcher Staaten würde zu einem nicht abweichenden Ergebnis führen. Im Gegenteil glaube Ach annehmen zu dürfen, daß einzelne deutſche Mittelſtaaten die zu Gunſten der Landwirtſchaft gemachten Aufwendungen verhältnismäßig noch ſtärker vermehrt haben, als es in Preußen geſchehen iſt. An dem guten Willen, der Landwirtſchaft durch Gewährung materieller Unterſtützung aufzuhelfen, fehlt es den deutſchen Regierungen gewiß nicht. Auch nicht den in den Landtagen der Einzelſtaaten jetzt vorhandenen Majo- ritäten. Es ergibt ſich dies ſchon aus dem Umſtande, daß das Zuſtande— kommen der Staatshaushaltsetats an die Bewilligung der Volksvertretungen geknüpft iſt. Daß die beteiligten öffentlichen Organe auch in Zukunft in ihrer Für⸗ ſorge für die Landwirtſchaft nicht nachlaſſen werden, darf mit Sicherheit er⸗ wartet werden. Allen Übelſtänden können ſie freilich nicht abhelfen; nament⸗ lich nicht mit einem Male. Es beſteht jetzt nicht nur bei den Landwirten, ſondern auch bei anderen Erwerbsgruppen eine bedenkliche Neigung, vom Staate die Beſeitigung aller als Druck empfundenen Schwierigkeiten zu ver- langen. Gegen die früher überwiegende Neigung zum Individualismus hat ſich als Reaktion eine übertriebene Neigung zum Staatsſozialismus eingeſtellt. Für den Staat iſt es keine leichte Aufgabe, zwiſchen beiden Extremen die richtige Mitte zu halten; dies gilt nicht am wenigſtens bezüg- lich der Agrarpolitik. Wie groß auch der Druck ſein mag, der gegenwärtig noch auf der Landwirtſchaft und namentlich auf vielen einzelnen Landwirten laſtet, ſo darf man doch aus dem, was in dem letzten Jahrzehnt geſchehen iſt, die Hoff— nung ſchöpfen, daß die deutſche Landwirtſchaft aus der jetzigen Kriſis nicht nur ohne dauernden Schaden, ſondern neu gekräftigt hervorgeht. Hierzu ge— hört allerdings ein ſtetiges und einmütiges Zuſammenwirken der ſtaatlichen und kommunalen Organe mit den Landwirten und der letzteren ſowohl unter— einander wie mit den Vertretern der übrigen Erwerbsklaſſen. Den Landwirten ſelbſt kommt es zunächſt zu, ihre Wünſche beſtimmt auszusprechen, zugleich aber auch die zu deren Erfüllung gangbaren Wege zu bezeichnen. Mit Wünſchen oder Forderungen allein iſt es nicht getan; dieſe haben an und für ſich keine überzeugende Kraft. Um ſo eher dürfen die Vertreter der Landwirtſchaft auf die Erreichung ihrer Ziele hoffen, je einmütiger ſie auftreten. In demſelben Grade, als dies geſchieht, werden die außerhalb ſtehenden, aber zur Mitentſcheidung berufenen öffentlichen Or— gane und Bevölkerungsklaſſen die Überzeugung gewinnen, daß es ſich wirk— lich um Intereſſen der ganzen Landwirtſchaft handelt. Die Landwirte des Oſtens müſſen mit denen des Weſtens feſt zuſammenſtehen. Beide vereinigt ſollen ferner durch ihr Auftreten beweiſen, daß ſie das Wohl der Bauern ſowohl wie das der Großgrundbeſitzer, das Wohl der landwirtſchaftlichen Arbeiter wie das der Unternehmer in gleicher Weiſe zu fördern ſuchen. Eben— falls müſſen ſie zeigen, daß ſie die berechtigten Intereſſen der anderen Erwerbsgruppen vollkommen zu würdigen verſtehen und auf ſie Rückſicht zu nehmen gewillt ſind. Ein derartiges Vorgehen erfordert neben großer Einſicht in das Weſen der Volkswirtſchaft und neben bedeutender Tatkraft auch viel Selbſtbe— ſchränkung und Selbſtverleugnung, Gemeinſinn und Vaterlandsliebe; dazu einen weiten, nicht nur auf das Einzelne und auf die Gegenwart, ſondern auch auf das Ganze und die Zukunft gerichteten Blick. Diejenigen Männer 302 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. werden die größten und dauerndſten Erfolge erzielen, die, unbeirrt durch per- 5 2 ſönliche und augenblickliche Intereſſen, es ſtets im Auge behalten, daß jeder einzelne Volksgenoſſe nur ein Teil des ganzen Volkes iſt, daß das Wohl des Ganzen über dem des Einzelnen ſteht und daß die gegenwärtige Gen ration auf die kommenden Geſchlechter Rückſicht zu nehmen hat. Ein Volk, bei deſſen Fühern der Grundſatz „Apres nous le deluge“ Platz greift, iſt zum Untergange reif. Aus der Geſchichte läßt ſich die für die Gegenwart wie für die Zulunſt beherzigenswerte Lehre ziehen, daß das wirtſchaft— er Wohl eines Volkes abhängt von dem Grade feiner Sitt— lichkeit. Man ſagt uicht ganz mit Unrecht, daß jedes Volk diejenige Regierung hat oder in nicht langer Zeit erhält, welche es verdient. Wir haben im Dentſchen Reich und in den einzelnen Deutſchen Staaten, mit Ausnahme der drei Hanſeſtädte, eine ſogen. konſtitutionelle Monarchie. An der Spitze ſteht ein Monarch, der nicht nur den Namen eines Herrſchers führt, wie es z. B. in England und Belgien der Fall iſt, ſondern der auch wirklich regiert, wenngleich er in bezug auf die Geſetzgebung an die Zuſtimmung der Volksvertretung gebunden iſt. Solange das Deutſche Reich beſteht, hat es ſich noch nicht ſo glücklicher Verfaſſungszuſtände erfreut, als ſie gegenwärtig vorhanden ſind. Niemals ſind auch die regierenden Fürſten ſo eifrig und ſorgfältig darauf bedacht geweſen, das Wohl aller ihrer Untertanen zu fördern; niemals haben ſie den von Friedrich dem Großen für ſeine Regierungs⸗ weiſe als Richtſchnur aufgeſtellten Grundſatz: „Ich bin der erſte Diener des Staates“ ſo gewiſſenhaft und einmütig befolgt, als es heutzutage geſchieht. Es liegt in der pflichtmäßigen Aufgabe jedes Staatsbürgers, dieſe glücklichen Verhältniſſe auch zu bewahren und den zukünftigen Geſchlechtern unverletzt zu überliefern. Die Fürſten allein haben dazu keine Macht, ſchon weil ſie in der Geſetzgebung von den Volksvertretungen abhängig ſind. In den letzten Jahrzehnten hat in dieſen das Parteiweſen eine bedenkliche Über⸗ macht gewonnen. Die Beſorgnis iſt nicht ganz abzuweiſen, daß infolgedeſſen die Gemeinintereſſen hinter die Sonderintereſſen in einer für das ganze Staatsleben gefahrdroheuden Weiſe zurückgeſetzt werden. Auch die Staats⸗ verfaſſung würde davon nicht unberührt bleiben. Die Geſchichte lehrt, daß, wenn die Intereſſen einzelner Parteien oder deren Führer im Gegenſatz zu der Rückſicht auf das Geſamtwohl die ausſchließliche Oberhand gewinnen, dies entweder zur Maſſenherrſchaft (Ochlokratie) oder zum Cäſarismus (Tyrannis) führt. Frankreich ſchwankt nun ſeit etwa 115 Jahren, mit Ausnahme der Periode von 1815-1848, zwiſchen beiden Extremen hin und her. Bleibt es in dieſem Zuſtande noch weitere 100 Jahre, ſo wird es aus der Zahl der führenden Kulturnationen ebenſo ausſcheiden, wie Spanien, einſt die größte Macht der Welt, daraus verſchwunden iſt. Maſſenherrſchaft iſt auf längere Zeit überhaupt nicht haltbar; ſie be⸗ deutet das größte Unglück, welches ein Volk treffen kann. Deshalb iſt es auch Pflicht eines jeden, ſein Volk und ſein Vaterland liebenden Mannes, die Sozialdemokratie, deren Ziel auf die Maſſenherrſchaft ſich richtet, mit allen Kräften zu bekämpfen. Cäſarismus kann Jahrhunderte lang ſich halten, wie das römiſche Reich unter ſeinen Kaiſern zeigt. Er iſt aber immer ein Beweis dafür, daß das Volk diejenigen ſittlichen Eigenſchaften verloren hat, die nötig ſind, um an dem Staatsleben in dem Umfange teilzunehmen, wie es unter geſunden Verhältniſſen wünſchenswert und erforderlich erſcheint. Bis jetzt ſind wir im Deutſchen Reich, Gott ſei Dank, ſowohl von der Maſſenherrſchaft wie von dem Cäſarismus noch weit entfernt. Daß es zu Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 303 keiner der beiden Staatsformen kommen möge, hängt nicht zu geringem Teile davon ab, wie die einzelnen Parteien zu den wichtigſten agrarpolitiſchen Fragen ſich ſtellen. Denn die Land wirtſchaft iſt und bleibt das Fundament der ganzen Volks wirtſchaft. In dem Grund und Boden iſt der wertvollſte Beſitz einer Nation repräſentiert. Die heftigſten und ge- ſchichtlich bedeutungsvollſten wirtſchaftlichen wie ſozialen Kämpfe haben ſich um den Beſitz oder die Benutzung des Bodens gedreht. Auch für die Gegen— wart trifft dies, im Grunde genommen, zu, wenngleich es bis jetzt nicht ſo offen zutage tritt. Eine den vorhandenen Zuſtänden und Bedürfniſſen ent⸗ ſprechende Agrarpolitik bildet daher die unerläßliche Vorausſetzung und zu— 1 leich die beſte Gewähr für das wirtſchaftliche Gedeihen des Volkes, für eine Deiffame Entwicklung des Staatslebens. Agrarprogramm. Während der beiden letzten Jahrzehnte iſt eine große Zahl von Ver⸗ öffentlichungen erſchienen, die den Zweck hatten, den Anſichten ihrer Ver— faſſer über die Geſtaltung der agrariſchen Verhältniſſe Ausdruck zu verleihen. Sie gingen meißtenteils direkt oder indirekt aus von politiſchen Parteien oder einzelnen angeſehenen Mitgliedern ſolcher und ſind in der Abſicht geſchrieben, ſowohl den Angehörigen der Partei wie den außerhalb derſelben Stehenden Aufſchluß über die Stellung zu den agrariſchen Fragen zu geben. Sie ver- folgten praktiſche, auf die Gegenwart berechnete Zwecke. Fürs erſte ſollten die Leſer erfahren, welche Ziele die betreffende Partei ins Auge gefaßt habe, welche Wünſche und Forderungen ſie an die Staatsregierungen und an die Volksvertretungen ſtelle. Fürs andere ſollte den Mitgliedern die Richtung angewieſen werden, nach welcher jeder einzelne ſeine Tätigkeit zu entfalten habe. Drittens hatten derartige Programme den Zweck, der Partei neue Anhänger zuzuführen. Die Verfolgung der letztgenannten gab den Ver— öffentlichungen nicht ſelten einen agitatoriſchen, die Leidenſchaften dieſer oder jener Erwerbsgruppe oder Volksklaſſe aufreizenden Charakter. Bei der großen Bedeutung, welche in der Gegenwart die agrariſchen Fragen haben, iſt es notwendig und gewiſſermaßen ſelbſtverſtändlich, daß jede Partei öffentlich zu ihnen Stellung nimmt. Man darf aber bei Be— urteilung ſolcher Kundgebungen nicht vergeſſen, daß dieſelben vorzugsweiſe N und faſt ausſchließlich die für den Augenblick oder in der allernächſten Zu— kunft zu erreichenden Ziele ins Auge faſſen. Sie ſollen auf die Wähler, auf die zur Vertretung der verſchiedenen wirtſchaftlichen Intereſſen berufenen Körperſchaften, auf die Abgeordneten zu den Landtagen und zu dem Reichs- tag, auf die ſtaatlichen Behörden einen Einfluß oder einen Druck ausüben. Dadurch erhalten derartige Programme ein mehr oder weniger oberflächliches Gepräge; ſie ſind außerdem einſeitig, lückenhaft und ihrem Hauptinhalte nach nur von vorübergehendem Wert. Immerhin haben ſie die Bedeutung, daß die Offentlichkeit erfährt, wie die einzelnen Parteien oder deren Führer . gerade zurzeit im Vordergrunde der Erörterung ſtehende Fragen urteilen. Welche Wege die Agrarpolitik nach meiner Anſicht einzuſchlagen, welche Ziele ſie im einzelnen zu verfolgen hat, iſt in dem vorliegenden Buche aus— führlich erörtert worden. Inſofern bildet der ganze Inhalt desſelben gewiſſer— maßen ein Agrarprogramm; ein ſolches noch beſonders aufzuſtellen, liegt rr ee 304 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. daher kein Bedürfnis vor. Wenn ich trotzdem in die Überſchrift dieſes Schlußabſchnittes den Ausdruck „Agrarprogramm“ aufgenommen habe, jo findet dies ſeine Begründung und Rechtfertigung in dem Umſtand, daß ich mit jenem Worte einen etwas anderen Sinn verbinde, als er ihm gewöhn⸗ lich beigelegt wird. Es liegt mir fern, die gemeinübliche Auffaſſung irgend⸗ wie bemängeln zu wollen, ich halte dieſelbe vielmehr an und für ſich durch⸗ aus nicht für unzutreffend. Man kann aber dem Wort Agrarprogramm noch eine andere Bedeutung beilegen. In dieſer Bedeutung umfaßt es int die allgemeinen, für alle Zeiten oder doch für eine lange, nicht alſch Zukunft gültigen Grundſätze, nach welchen die agrariſchen Fragen beurteilt und behandelt werden müſſen. Solche Grundſätze laſſen ſich für die Agrar: politik in viel weiterem Umfange und mit größerer Beſtimmtheit aufſtellen, wie für die übrigen Zweige der Wirtſchaftspolitik. Es hängt dies damit zuſammen, daß der Boden das eigentliche Produktionsinſtrument für die Landwirtſchaft darſtellt, daß der Boden ganz charakteriſtiſche, ihn von allen übrigen Produktionsmitteln ſcharf unterſcheidende Eigenſchaften beſitzt, daß dieſe Eigenſchaften an allen Orten und zu allen Zeiten die gleichen bleiben und daß endlich durch dieſelben auch der Charakter, die Gewohnheiten und Neigungen der die Landwirtſchaft treibenden Bevölkerung mehr wie durch alles andere beſtimmt werden ). Bei ſämtlichen Kulturvölkern von den älteſten uns bekannten Zeiten an bis zur Gegenwart ſind es ſtets weſent⸗ lich ein und dieſelben agrariſchen Fragen geweſen, welche das Intereſſe der Bevölkerung am meiſten in Anſpruch nahmen, die Gemüter am ſtärkſten er⸗ regten, das Eingreifen des Staates vorzugsweiſe erforderten. Es handelte ſich dabei immer hauptſächlich um die Verteilung des Bodenbeſitzes und der Bodennutzung, um die auf dem Boden ruhenden öffentlichen oder privat⸗ rechtlichen Laſten, um die wirtſchaftliche und ſoziale Lage der einzelnen Gruppen der landwirtſchaftlichen Bevölkerung und deren gegenſeitiges Ver⸗ hältnis zueinander. So war es zu Solons Zeiten in Athen, ſo in den letzten Jahrhunderten der römiſchen Republik, ſo in den deutſchen Bauern⸗ kriegen, ſo vor und während der großen franzöſiſchen Revolution. Schein⸗ bar und äußerlich ſind zwar jene Fragen gegenwärtig bei uns durch andere agrariſche Fragen von weniger allgemeiner Natur, die man für brennender hält, in den Hintergrund geſchoben worden. Sieht man aber genauer zu, ſo wird man gewahr, daß auch bei den heutigen agrariſchen Kämpfen jene allgemeinen Fragen eine große Rolle ſpielen, wenn dieſelbe auch von vielen nicht erkannt oder beſtritten wird. Die Zeit iſt vorausſichtlich nicht mehr fern, in welcher dieſe Tatſache viel offener und klarer, als jetzt, hervortreten wird, in welcher niemand daran zweifeln kann, daß die fundamentalen agrariſchen Probleme noch heutzutage mit den der früheren Jahrhunderte ihrem weſentlichen Inhalte nach identiſche ſind. Zur Aufgabe einer guten Agrarpolitik gehört es allerdings, daß ſie, ſoweit es in ihrer Macht ſteht, die Landwirtſchaft nach allen Richtungen hin zu fördern, daß ſie die ihr entgegenſtehenden, im Laufe der Jahre immer wieder wechſelnden Schwierigkeiten und Hemmniſſe zu mildern oder zu be⸗ ſeitigen ſuchen muß; aber ſie darf niemals vergeſſen, daß hiermit ihre Auf⸗ gabe keineswegs erſchöpft iſt. Neben oder vielmehr über derſelben ſteht die andere, nämlich die Sorge dafür, daß die obengenannten allgemeinen Ver⸗ hältniſſe, von denen das Gedeihen der Landwirtſchaft und des Staates haupt⸗ ſächlich abhängt, geſunde bleiben und in einer den etwa veränderten Bedürf⸗ niſſen entſprechenden Richtung allmählich weiter entwickelt werden. Wirklich 1) Vgl. hierzu das auf S. 20 ff. und S. 140 ff. dieſes Buches Geſagte. Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 305 5 und dauernd heilſam iſt nur eine weitausſchauende Agrarpolitik, die . | große und feſte Ziele im Auge hat und dieſe mit zäher Energie ver⸗ folgt. Eine ſolche trieb Friedrich d. Gr. während ſeiner ganzen vierzig⸗ jährigen Regierung, wenn er die perſönliche und ſachliche Abhängigkeit der Bauern von den Gutsherrn milderte, den Bauern ein geſicherteres Nutzungs⸗ oder Eigentumsrecht an ihren Höfen gewährte, viele tauſende von Häuslern, Büdnern und Bauern anſiedelte, noch jetzt muſtergültige Kreditinſtitute für die Rittergutsbeſitzer ins Leben rief, die Einführung lohnenderer Betriebs— weiſen anregte und auf ſeinen Domänen ſelbſt durchzuführen verſuchte ). Trotz ſeiner Machtfülle ſtieß er dabei immer wieder auf große, zuweilen unüberwindliche Schwierigkeiten, die teils in den realen Zuſtänden, teils in dem Widerſtand ſeiner eigenen Beamten ſowie in dem der Rittergutsbeſitzer und der Bauern ihren Urſprung hatten. Wenn der große König auch manches Vorhaben, weil er es als undurchführbar oder gar als unzweckmäßig erkannt hatte, ſpäter aufgab, ſo hat er doch die großen ins Auge gefaßten Ziele ſtets mit nachhaltiger Energie verfolgt. Schon bei ſeinen Lebzeiten hat er dadurch vieles erreicht; mehr aber noch dadurch, daß er das eigentliche Fundament legte zu der Anfang des 19. Jahrhunderts durchgeführten Agrar- reform (ſ. S. 40 und 41 dieſes Buches). Die Hinderniſſe, welchen Friedrich d. Gr. begegnete, erwuchſen haupt⸗ ſächlich daraus, daß er Verhältniſſe umgeſtalten wollte, die, wie er richtig erkannte, ſich zwar überlebt, aber doch ſeit Jahrhunderten beſtanden hatten und von denen die meiſten Zeitgenoſſen glaubten, daß ſie fortdauern müßten, wenn nicht Staat und Geſellſchaft ins Verderben geſtürzt werden ſollten. Derartige Schwierigkeiten ſind jetzt nicht vorhanden, dafür aber andere, kaum minder große. Neben der Landwirtſchaft iſt im vorigen Jahrhundert eine weitverzweigte blühende Induſtrie emporgewachſen, deren ferneres Gedeihen eine Lebens— frage für die deutſche Nation iſt, ohne welche auch die Landwirtſchaft auf ihrer jetzigen Stufe ſich nicht behaupten könnte. Für die Agrarpolitik liegt daher und zwar im Intereſſe der Landwirtſchaft ſelbſt die Notwendigkeit vor, auf die mannigfaltigen Bedürfniſſe und Wünſche der Induſtrie Rückſicht zu nehmen. Wie weit ſie in dieſer Beziehung gehen darf oder ſoll, iſt oft ſchwer zu entſcheiden, ebenſo, auf welche Berückſichtigung ſeitens der Induſtrie ſie ſelbſt Anſpruch erheben muß. Eine feſte, in allen Fällen und Zeiten gültige Richtſchnur läßt ſich hierüber gar nicht aufſtellen, da, wenigſtens bei 5 Induſtrie, die in Betracht kommenden Verhältniſſe ſich ſchnell ändern önnen. Eine zweite, mit der erſtgenannten in einem gewiſſen Zuſammenhang ſtehende Schwierigkeit beſteht darin, daß wir in die Periode der Weltwirt— ſchaft eingetreten ſind. Am meiſten wird hiervon die Induſtrie berührt, aber auch die Land wirtſchaft wird dabei ſtark in Mitleidenſchaft gezogen und vorausſichtlich in Zukunft noch mehr wie jetzt. Die deutſche Landwirt: ſchaft befindet ſich deshalb in einer gewiſſen Abhängigkeit vom Auslande, dieſes allerdings auch von Deutſchland; mit der Weltwirtſchaft iſt ein ſolches gegenſeitiges Abhängigkeitsverhältnis unzertrennlich verbunden. Die Ge— ſtaltung der allgemein-wirtſchaftlichen Verhältniſſe, der Handels- und Zoll geſetzgebung, der Verkehrswege und Verkehrsmittel in fremden Ländern üben auf die deutſche Landwirtſchaft und deren Rentabilität einen großen Einfluß aus. Die Entwicklung dieſer und anderer, das Wirtſchaftsleben berührender 1) Vgl. hierzu: von der Goltz, Geſchichte der deutſchen Landwirtſchaft, Bd. I, S. 394 —437. = 9 von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik 2. Aufl. 20 306 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. Dinge in Rußland, England und deſſen Kolonien, in den Vereinigten Staaten Nordamerikas u. ſ. w., kann man im Voraus nicht wilfen; außerdem ſind die fremden Länder unſerer Einwirkung ganz entzogen oder doch nur in geringem Grade zugänglich. Die Agrarpolitik befindet ſich daher in der üblen Lage, mit Faktoren rechnen zu müſſen, deren Natur ſie nicht genau kennt, auch zu ergründen gar nicht imſtande iſt. Wenn und ſoweit aber auch die die Agrarpolitik leitenden Männer Klarheit über die einzuſchlagenden Wege gewonnen haben oder doch zu haben glauben, ſo iſt deren Durchführung noch keineswegs geſichert. Im Gegenſatz zu den Zeiten der abſoluten Monarchie iſt jetzt das Zuſtandekommen eines jeden Geſetzes an die Zuſtimmung des Reichstages bezw. der Einzellandtage geknüpft. Dieſe ſind in zahlreiche Parteien geſpalten, von denen jede ihre geſonderten Intereſſen verfolgt. Sie haben mehr die eigenen und augen⸗ blicklichen Vorteile, als das Ganze und die Zukunft im Auge. Soweit aber auch letzteres der Fall ſein ſollte, gehen ihre Ziele weit auseinander. Die einen möchten z. B. den Großgrundbeſitz am liebſten ganz ausmerzen, die anderen ihm die Vorherrſchaft im öffentlichen Leben ſichern; die einen ſtreben danach, den Grundbeſitz zu verſtaatlichen, die anderen wünſchen dem privaten Eigen⸗ tumsrecht an Grund und Boden eine möglichſt ſcharfe Ausprägung zu geben; die einen erſtreben für den fideikommiſſariſchen Beſitz die allerweiteſte Aus⸗ dehnung, die anderen verwerfen denſelben überhaupt. Unter ſolchen Um⸗ ſtänden wird es den Männern, in deren Händen die Agrarpolitik liegt, ſehr ſchwer gemacht, dasjenige ins Werk zu ſetzen, was ſie als das richtige und heilſame erkannt haben. | Ein zutreffendes Urteil über agrarpolitiiche Fragen zu gewinnen, it nach dem Geſagten ſelbſt für den Sachkundigen nicht leicht, für den nicht Sachkundigen ganz unmöglich. Zu den letzteren gehören aber in der Gegen⸗ wart viele Perſonen, die über Agrarpolitik ſchreiben oder ſprechen; auch nicht wenige derjenigen Männer, die als Beamte oder Volksvertreter berufsmäßig darüber ihr Votum abgeben müſſen und deren Meinung dann nicht ſelten entſcheidend ins Gewicht fällt. Hierdurch iſt ſchon manches Unheil ange⸗ richtet worden. Wer in agrapolitiſchen Fragen mit Erfolg mitwirken will, muß vor allen Dingen etwas von der Landwirtſchaft verſtehen. Er muß wiſſen, welche große Aufgaben ſie für die ganze Volkswirtſchaft und für den Staat zu erfüllen berufen iſt. Er muß die Mittel kennen, welche ihr zu Gebote ſtehen, aber auch die Schranken, an welche ſie durch die ein für alle Male gegebenen natürlichen Verhältniſſe gebunden iſt. Zur richtigen Be⸗ urteilung agrarpolitiſcher Fragen gehört ferner, daß man von der Einrichtung und dem Gang des landwirtſchaftlichen Betriebes einige Kenntnis beſitzt, daß man weiß, von welchen Bedingungen hauptſächlich die Erzielung hoher Roh⸗ erträge ſowohl wie Reinerträge abhängt. Endlich muß es heutzutage für einen Agrarpolitiker als unentbehrlich erachtet werden, daß er über die Be⸗ ziehungen unterrichtet iſt, welche zwiſchen der Landwirtſchaft und anderen Erwerbszweigen, namentlich zwiſchen ihr und der Induſtrie vorhanden ſind. Sehr häufig fehlen die hier genannten Vorausſetzungen denjenigen Männern, welche über agrarpolitiſche Fragen zu äußern ſich berufen fühlen oder wirk⸗ lich berufen ſind, in mehr oder minder hohem Grade. Es trifft ſolches beſonders für Nicht⸗Landwirte zu; aber es gilt auch für manche Land⸗ wirte. Unter den letzteren gibt es nicht wenige, die ihren Beruf als private landwirtſchaftliche Unternehmer gründlich verſtehen, ihm auch mit Erfolg ob⸗ liegen, trotzdem aber bezüglich der charakteriſtiſchen Unterſchiede zwiſchen der Landwirtſchaft und den übrigen Gewerben ebenſo ſehr im Unklaren ſich be⸗ EN rr ET EEE — 3 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 307 Be finden wie über die gegenfeitigen nahen Beziehungen, welche zwiſchen jener und dieſen vorhanden ſind. Bei ſolcher Sachlage darf man ſich nicht wundern, wenn zur Bekämpf⸗ ung vorhandener Übelſtände von der einen oder der anderen Seite Vor— Re ſchläge gemacht werden, die entweder überhaupt undurchführbar find oder deren Verwirklichung ſonſtige, vielleicht weit ſchlimmere Nachteile im Ge- folge haben würde. Dahin gehört z. B. der Vorſchlag, die Landwirte ſollten, wenn der Getreidebau nicht mehr genügend lohne, dafür der Futterproduktion ſich zuwenden oder, wie es gewöhnlich ausgedrückt wird, vom Ackerbau zur Viehhaltung übergehen. Wer ſo ſpricht, weiß offenbar nicht, daß das Ver⸗ hältnis zwiſchen Getreidebau und Futterbau bezw. zwiſchen Ackerbau und Vieh⸗ haltung nicht willkürlich gewählt werden kann, ſondern den einmal gegebenen natürlichen und wirtſchaftlichen Umſtänden angepaßt werden muß, wenn nicht die Roherträge wie die Reinerträge ſtark zurückgehen ſollen. Nicht minder verkehrt ſind manche von anderer Seite gemachten Vorſchläge zur Beſeitigung des Mangels an ländlichen Arbeitern: Aufhebung oder doch Beſchränkung der Freizügkeit, Wiederbelebung des früher beſtandenen Dienſtzwanges in milderen, dem modernen Bewußtſein weniger widerſprechenden Formen, Ein⸗ führung von aſiatiſchen Kulis. Die weitaus wichtigſten, aber auch die meiſten Kenntniſſe und die größte Vorausſicht erfordernden agrarpolitiſchen Fragen ſind die auf den Grundbeſitz und die landwirtſchaftliche Bevölkerung ſich beziehenden. Bei dem Grundbeſitz kommt beſonders die Art ſeiner Verteilung und die Form ſeiner Nutzung in Betracht. Bei der Bevölkerung die wirtſchaftliche und ſoziale Lage ihrer einzelnen Gruppen und deren gegenſeitiges Mengeverhält— nis. Dabei iſt zu bemerken, daß die bei der Bevölkerung vorhandenen Zu— ſtände in hohem Grade bedingt ſind durch die Verteilung und Nutzungsweiſe des Grundbeſitzes. Große, mittlere und kleine Beſitzer müſſen nebeneinander wohnen zur gegenſeitigen Unterſtützung und Ergänzung. Nur dann können die höchſt⸗ möglichen Roh⸗ wie Reinerträge erzielt werden; nur in ſolchem Fall kann auf Frieden und Zufriedenheit bei allen Klaſſen der ländlichen Bevölkerung gerechnet werden ). Wie das Mengeverhältnis zwiſchen den einzelnen Beſitzgruppen ſein ſoll, läßt ſich in feſten, für alle Zeiten und Gegenden gültigen Zahlen nicht ausdrücken. Je dichter die Bevölkerung iſt, deſto kleiner muß die durchſchnitt— liche Beſitzgröße und deſto ſtärker muß die abſolute Zahl der Grundbeſitzer ſein. Mit zunehmender Bevölkerung muß daher die Zahl der Beſitzer ſteigen, die durchſchnittliche Beſitzgröße ſinken. Unter allen Umſtänden ſoll aber der mittlere Beſitz den weitaus größeren Teil der landwirtſchaftlich benutzten Fläche inne haben. Nach dieſen Geſichtspunkten hat man zu gehen, wenn man beurteilen will, ob die Beſitzverteilung in einem Lande eine günſtige oder ungünſtige und ob der Gang in deren Entwicklung ein normaler iſt. Faßt man das Deutſche Reich als ein Ganzes ins Auge, ſo darf man ſagen, daß hier die Beſitzverteilung zur Zeit wenigſtens keine Veranlaſſung zu Beſorgniſſen darbietet. Nach den S. 94 gemachten Angaben iſt in der Periode von 1882—1895 die Geſamtzahl der Betriebe um 5,3 Proz. ges wachſen. Von der landwirtſchaftlich benutzten Fläche nahmen 1895 in runden Zahlen die Großbetriebe 24 Proz., die bäuerlichen Betriebe 70 Proz., die Parzellenbetriebe 6 Proz. ein; dabei hat während der Zeit von 1882 — 1895 1) Vgl. zu dem hier und iu dem Nächitfolgenden Geſagten die Seiten 82—94 dieſes Buches. 20* 308 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. r die Fläche der bäuerlichen Betriebe noch etwas weniges zugenommen, die der großen und der Parzellenbetriebe etwas abgenommen. Von der Geſamtzahl der Betriebe kamen 1895 auf die Parzellenbetriebe 58,22 Proz., auf die bäuerlichen Betriebe 41,33 Proz. auf die Großbetriebe 0,45 Proz., (ſ. S. 8493). | Indeſſen liegen die Verhältniſſe doch nicht jo günstig, als es nach obigen Angaben ſcheinen könnte. Denn fürs erſte iſt die Verteilung des Beſitzes auf die einzelnen Größenklaſſen in den verſchiedenen Gegenden des Reiches eine ſehr abweichende; fürs andere geben die mitgeteilten Zahlen nur Aufſchluß über die Betriebs-, nicht über die Beſitz größen. Im oſtelbiſchen Deutſchland iſt der Großbeſitz ungewöhnlich ſtark vertreten; in Mecklenburg-Schwerin nimmt er z. B. 59,95 Proz., in der Provinz Pommern 55,13 Proz. der landwirtſchaftlich benutzten Fläche ein (S. 86). Wenn der oſtelbiſche Teil des Reiches unter der jetzigen Kriſis weit ſchwerer leidet, als der weſtelbiſche, ſo iſt die Haupturſache davon in dieſer unnatürlichen Beſitzverteilung zu ſuchen. Dieſelbe iſt keineswegs immer jo geweſen, hat ſich vielmehr im Laufe der letzten 2—3 Jahrhunderte erſt allmählich herausgebildet. In Folge der maſſenhaften Einziehung der Bauernhöfe (Bauernlegen) zu den Rittergütern von der Mitte des 17. bis zu Ende des 18., ſtellenweiſe noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts, iſt der bäuerliche Beſitz ebenſo ſtark vermindert, als der Großbeſitz vermehrt worden. Durch eine weiſe und vorausſchauende Agrarpolitik hätte dies ver⸗ hütet werden können. Von einzelnen Fürſten iſt eine ſolche auch zu üben verſucht und mit mehr oder weniger Erfolg durchgeführt worden. Wenn wir in den öſtlichen preußiſchen Provinzen überhaupt noch einen wenigſtens einigermaßen zahlreichen und dabei kräftigen Bauernſtand haben, ſo iſt dies vor allem dem Einſchreiten Friedrich Wilhelms J. und Friedrichs des Großen zu danken, die der Aufſaugung des bäuerlichen Beſitzes durch den Großbeſitz einen Damm entgegenſetzten, der freilich gegen ihren Willen oft durchbrochen wurde. Die in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter⸗ nommene Agrarreform hat ebenfalls direkt oder indirekt noch zu einer weiteren Verringerung des bäuerlichen Beſitzes beigetragen. Infolgedeſſen iſt dieſer jetzt im Verhältnis zum Großbeſitz ſo klein, wie er ſeit 1000 Jahren d. h. ſeit der erſten Koloniſation des oſtelbiſchen Deutſchlands durch unſere Vor⸗ fahren niemals geweſen iſt . Für die Geſundung der agrariſchen Zuſtände daſelbſt erſcheint eine Vermehrung des bäuerlichen ſowie des kleinen und eine Verminderung des großen Beſitzes durchaus notwendig, nicht am wenigſten liegt dies im In⸗ tereſſe des Großbeſitzes ſelbſt. Das Geſagte gilt zwar nicht für alle Bezirke Oſtelbiens, aber doch für ſehr viele oder die meiſten. Die Herbeiführung bezw. Unterſtützung einer ſolchen Beſitzverteilung muß als eine der wich⸗ tigſten Aufgaben der preußiſchen Agrarpolitik während der nächſten Jahrzehnte angeſehen werden; für die beiden Großherzogtümer Mecklenburg gilt das gleiche. Ihre Löſung läßt ſich nicht auf einmal oder in kurzer Zeit bewirken, ein Verſuch zu einer plötzlichen Anderung der Beſitzverhältniſſe könnte ſogar recht bedenkliche Folgen haben. Sie muß aber als ein not⸗ wendig zu erreichendes Ziel feſt und beſtändig im Auge behalten und all⸗ mählich durchgeführt werden. Einige Anſätze hierzu ſind bereits gemacht. Im Laufe der letzten 50—60 Jahre haben die Großherzöge von Mecklenburg-Schwerin auf ihrem Domanium, das etwa / des ganzen Landes ausmacht, viele Tauſende 1) Dabei ſehe ich von dem Umſtande ab, daß während der letzten zwei Jahrzehnte in einzelnen Teilen Oſtelbiens eine kleine Verſchiebung zugunſten des bäuerlichen Beſitzes ſtattgefunden hat. Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 309 von bäuerlichen und Kleinſtellenbeſitzer angeſiedelt, um die nachteiligen Folgen . des in Mecklenburg ganz beſonders umfangreich getriebenen Bauernlegens einigermaßen auszugleichen. Aus einer ähnlichen Tendenz find das An— ſiedlungsgeſetz für Poſen und Weſtpreußen von 1886 und die für die ganze 5 preußiſche Monarchie geltenden Rentengutsgeſetze der Jahre 1890 und 1891 hervorgegangen. Über deren günſtige Wirkungen iſt bereits gehandelt worden (S. 94 ff.). Allerdings haben, im Gegenſatz zu Mecklenburg-Schwerin die preußiſchen Geſetze keine Vorſorge für Gründung von Kleinſtellen getroffen, dieſelbe umgekehrt ſogar noch erſchwert. | ; Wie groß das Bedürfnis nach Vermehrung des bäuerlichen Beſitzes im oſtelbiſchen Deutſchland iſt, geht auch daraus hervor, daß während der letzten Jahre eine ganze Anzahl von Privatgeſellſchaften ſich gebildet hat, welche die Zerlegung von Rittergütern in Bauernſtellen zum Zweck haben (S. 96). Grundſätzlich läßt ſich gegen deren Tätigkeit nichts einwenden, ſie kann ſo— gar recht nützlich ſein. Aber derartige Geſellſchaften haben in erſter Linie den Erwerb oder andere private Zwecke und nicht eine den Geſamtintereſſen entſprechende Verteilung des Grundbeſitzes im Auge. Die polniſchen Land— banken haben ſogar eine ausgeſprochene deutſchfeindliche Tendenz. Es liegt daher im Recht und in der Pflicht des Staates, die Tätigkeit der Anfiede- lungsgeſellſchaften zu überwachen und dieſelbe einzuſchränken oder ganz zu verbieten, wenn dadurch öffentliche Intereſſen gefährdet werden. Wo der Großbeſitz zu ſtark überwiegt, kommt es nicht allein darauf an, große Hufen zu zerſchlagen und in eine Anzahl von Bauernhöfen zu zerlegen, ſondern vor allem darauf, daß die neu geſchaffenen Stellen die Grundlage für lebens— fähige, gut eingerichtete und lohnende bäuerliche Betriebe abgeben, welche deren Inhabern ein genügendes, dauerndes und ſicheres Einkommen zu ge— währen imſtande ſind. Auch iſt Sorge dafür zu treffen, daß den Bedürf— niſſen der Anſiedler an öffentlichen Einrichtungen wie Wege, Schulen u. ſ. w. in ausgiebiger Weiſe Rechnung getragen wird. Die Verwandlung eines Großbeſitzes in ein ärmliches Bauerndorf bringt mehr Schaden, als Nutzen. Gegen private Anſiedelungsgeſellſchaften oder einzelne Privatperſonen, deren Tätigkeit lediglich durch die Rückſicht auf die eigenen Intereſſen beſtimmt wird, muß der Staat ſcharf und energiſch vorgehen. Will man beurteilen, ob das Mengenverhältnis zwiſchen den einzelnen Größenklaſſen der landwirtſchaftlichen Unternehmungen ein geſundes ſei, ſo wuß man die Begriffe „Beſitz“ und „Betrieb“ auseinander halten. Beides deckt ſich keineswegs. Die amtliche Statiſtik gibt Aufſchluß über die Zahl und die Größe der vorhandenen Betriebe, außerdem darüber, wie viel von der Betriebsfläche eigen bewirtſchaftetes Land und wie viel Pachtland iſt. Wir können aber aus ihr nicht entnehmen, wie groß die Zahl der landwirt— ſchaftlichen Bodeneigentümer und wie groß die Beſitzfläche der einzelnen Eigentümer iſt. Mit anderen Worten: wir haben zwar eine Betriebs— ſtatiſtik, aber noch keine Beſitzſtatiſtik. Nach den früher mitgeteilten Zahlen macht im Deutſchen Reich die von Pächtern bewirtſchaftete Fläche bloß 12,38 Proz. der ganzen landwirt— ſchaftlich benutzten Fläche aus (ſ. S. 33, 110 112). Unter den rund 5½ Mill. landwirtſchaftlichen Betrieben waren aber nur etwa 2 ¼ Mill. mit ausſchließlich eigenem Land; faſt 1 Mill. hatte ausſchließlich gepachtetes Land und etwa 1¾ Mill. teils eigenes, teils gepachtetes Land. Der Reſt fiel auf Betriebe mit Gemeinde- oder Dienſt⸗ oder Deputatland. Am ſtärkſten ſind bei den Betrieben mit ausſchließlichem oder teilweiſem Pachtland die kleineren Betriebe vertreten. Von den Betrieben unter 2 ha gehörten hierzu 51,65 Proz., von den Betrieben zwiſchen 2 und 5 ha 49,55 Proz. aller 310 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. Betriebe der betreffenden Gruppe. Während der Periode von 1882—1895 hat ſich in allen Betriebsklaſſen die Zahl der Betriebe mit Pachtland pro⸗ zentiſch vermehrt. Im Jahre 1882 machten die Betriebe mit Pachtland 44,02 Proz., im Jahre 1895 dagegen 46,90 Proz. aller Betriebe aus. Bei Völkern mit hoch entwickelter Kultur iſt ſtets die Gefahr vor⸗ handen, daß das Eigentum an Boden ſich in den Händen einer verhältnis⸗ mäßig geringen Zahl reicher Perſonen anhäuft und die große Maſſe der Landbebauer davon ausgeſchloſſen wird. Die erſteren wiſſen ſehr wohl, daß der Boden der ſicherſte Beſitz iſt, deſſen Wert zudem mit wachſender Be⸗ völkerung ſteigt. Sie verwenden daher ihre großen Kapitalien ganz oder erheblichen Teiles zum Ankauf von Boden. Die erworbenen Güter oder Höfe werden dann in der Regel nicht von ihnen ſelbſt bewirtſchaftet, ſondern verpachtet, meiſt in mittelgroßen oder kleinen Stellen, zuweilen auch in rößeren Gütern. Das Grundeigentum ſolcher Großbeſitzer liegt in der Regel nicht zuſammen, ſondern an verſchiedenen Orten verſtreut, befindet ſich öfters ſogar in ganz verſchiedenen deutſchen Staaten. Im alten Rom nannte man ſolche beſonders umfangreichen, einem einzelnen Herrn gehörenden Land⸗ flächen „Latifundia“. Durch fie waren in vielen Teilen des römiſchen Reiches die früher zahlreich vorhanden geweſenen Güter mittleren und kleineren Umfanges nahezu aufgeſogen und dadurch ſehr unheilvolle wirtſchaftliche wie ſoziale Zuſtände erzeugt worden. Plinius ſagt, daß die Latifundien Rom zugrunde gerichtet hätten. Ahnliche, wenngleich etwas anders geartete Zu⸗ ſtände zeigt das heutige England. Auch dort iſt der weit überwiegende Teil des Grundeigentums im Beſitz einer verhältnismäßig ſehr geringen Zahl von Perſonen, die dasſelbe in meiſt mittelgroßen Stellen verpachten. Der früher vorhandene Stand eigentümlicher Bauern iſt bis auf geringe Reſte verſchwunden. Wenn die engliſche Landwirtſchaft, die ihr im Intereſſe der Volkswirtſchaft und des Staates zugewieſene Aufgabe jetzt ſo mangelhaft erfüllt, wenn ihre Roh- wie Reinerträge in beſtändigem Rückgang ſich be⸗ finden, ſo liegt die tiefſte Urſache in der ganz ungeſunden Verteilung des Bodenbeſitzes. Auch ein großer Teil des heutigen Italiens leidet ſehr darunter, daß dort der landwirtſchaftlich benutzte Boden nur einer geringen Zahl von Beſitzern gehört, während die große Maſſe der eigentlichen Land⸗ bebauer aus kleineren Pächtern oder Teilbauern beſteht, die meiſt nur ein ſehr kümmerliches Daſein friſten. Für die Männer, welche in der deutſchen Agrarpolitik mitzuſprechen berufen ſind, verdient es die ernſteſte Erwägung, ob auch bei uns die Ge⸗ fahr einer Latifundienbildung vorhanden iſt. Dieſelbe kann nicht mit der Berufung auf die große ſich ſtetig vermehrende Zahl der landwirtſchaftlichen Betriebe als nicht vorhanden zurückgewieſen werden. Schon die oben mit⸗ geteilten Zahlen zeigen, daß von den Betrieben unter 5 ha etwa die Hälfte aus ſolchen gebildet wird, deren Fläche ganz oder teilweiſe aus Pachtland beſteht. Um Klarheit über die Beſitzverhältniſſe und die darin vorgehenden Veränderungen zu gewinnen, iſt eine genaue Beſitzſtatiſtik ein unerläß- liches Erfordernis; ſie ins Werk zu ſetzen, bildet eine wichtige agrar— politiſche Aufgabe der Reichsregierung. Es genügt aber nicht, eine ſolche Statiſtik nur einmal aufzuſtellen, ſondern ſie muß in regelmäßigen Zwiſchenräumen, etwa alle 10 Jahre, wiederholt werden. Die Gefahr der Latifundienbildung iſt für uns zur Zeit keine akute; aber es gibt doch ſchon jetzt nicht wenige ſachverſtändige, nachdenkende und in der Geſchichte der Völker bewanderte Männer, welche fürchten, daß wir auch in Deutſchland der Latifundienbildung langſam entgegengehen. Bedeutende Umwandlungen in den Beſitzverhältniſſen vollziehen ſich nur ganz allmählich, dazu gehören BEE SCHE 8 ccc Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 311 viele Jahrzehnte, vielleicht einige Jahrhunderte. Ob und nach welcher Rich- flung eine ſolche ſtattfindet, läßt ſich nur auf Grund ſorgfältiger und regel⸗ mäßig vorgenommener Erhebungen mit einiger Sicherheit feſtſtellen. Hätten wir für die vergangenen 50 Jahre eine, das ganze Deutſche Reich umfaſſende Beeſitzſtatiſtik, jo würde ſich nach meiner Anſicht das Reſultat ergeben, daß während dieſer Periode nicht ganz unerhebliche Veränderungen in den Grund— beſitzverhältniſſen ſtattgefunden haben, daß dieſe aber in den einzelnen Teilen des Reiches ziemlich abweichender Natur geweſen ſind. Wenn man von Latifundien ſpricht, muß man unterſcheiden zwiſchen Latifundienbeſitz und Latifundienwirtſchaft. Beide Begriffe werden öfters richt auseinandergehalten, obwohl ſie merkliche Unterſchiede zeigen. Unter Latifundienbeſitz verſteht man die Tatſache, daß eine ungewöhnlich große Fläche im Eigentum ein und derſelben Perſon ſich befindet. Dabei iſt es — eichgültig, ob dieſe Fläche an einer Stelle oder an vielen Stellen zer— ſteut ſich befindet, ob ſie im ganzen oder in ihren einzelnen Teilen von dem Eeſitzer bezw. auf deſſen Rechnung von Beamten bewirtſchaftet wird oder ob ſie an Pächter ausgetan iſt. Solcher Latifundienbeſitz herrſcht z. B. in England, in manchen Teilen Italiens, in einzelnen zu Oſterreich-Un— garn gehörenden Ländern. Latifundienwirtſchaft iſt vorhanden, wenn eine ungewöhnlich ausgedehnte, den Umfang eines durchſchnittlichen Großgutes weit überſteigende Fläche von ein und demſelben Unternehmer und von der— ſelben Zentralſtelle aus bewirtſchaftet wird. Es kann daher in einem Lande der Latifundienbeſitz eine große Verbreitung haben, während die Latifundien— wirtſchaft ebendaſelbſt gar nicht oder doch nur ſelten vorkommt. So iſt es ee in England der Fall; dagegen findet ſich in Böhmen ſehr häufig atifundienwirtſchaft. Was das Deutſche Reich betrifft, ſo haben wir in einzelnen Teilen Oſtelbiens einen nicht ganz unbeträchtlichen Latifundienbeſitz, der zugleich meiſt mit Latifundienwirtſchaft verbunden iſt. Es hängt dies zuſammen mit der ungewöhnlich ſtarken Ausdehnung des Fideikommisbeſitzes in ein— zelnen preußiſchen Provinzen, namentlich in Schleſien, in zweiter Linie auch in Brandenburg (ſ. S. 120 ff.). Dabei iſt aber zu berückſichtigen, daß in beiden genannten Provinzen etwas über die Hälfte des fideikommiſſariſch ge— bundenen Beſitzens aus Wald beſteht, bei welchem die Vereinigung großer Flächen in der gleichen Hand weniger Bedenken unterliegt. Immerhin iſt es Aufgabe des preußiſchen Staates dafür Sorge zu tragen, daß der Lati— fundienbeſitz wo er bereits eine große Ausdehnung hat, nicht noch erheblich weiter anwächſt. Es liegt dies ganz in ſeiner Hand, da die Gründung von Fideikommiſſen der ſtaatlichen Genehmigung bedarf. Aber ſchon in ſeiner Geſetzgebung ſollte er auf dieſen Punkt Rückſicht nehmen. Der im preußi— ſchen Miniſterium ausgearbeitete Geſetzentwurf über Familienfideikommiſſe tut dies leider nicht, hierin liegt ein großer Mangel deſſelben (. S. 123). Wird ein ungeſundes Anſchwellen des fideikommiſſariſchen Beſitzes verhindert, dann liegt, ſoweit man die Zukunft abſehen kann, keine Gefahr vor, daß im oſtelbiſchen Deutſchland der Latifundienbeſitz oder die Latifundienwirtſchaft eine für des Gemeinwohl ſchädliche Ausdehnung erlangt). Hier handelt es ſich, wie ſchon früher bemerkt, hauptſächlich darum, die in den Händen des Großbeſitzes befindliche Fläche allmählich zu verringern, die im bäuerlichen Beſitz ſtehende dagegen zu vermehren. Denn, abgeſehen etwa von Schleſien, 1) Es zeugt von Unkenntnis der tatſächlichen Verhältniſſe oder von einer unzu läſſigen Anwendung des Ausdruckes „Latifundien“, wenn mau die oſtelbiſchen Rittergllter als Latifundien bezeichnet. 312 Schlußbetrachtnng. Agrarprogramm. ſo befindet ſich nur ein ſehr kleiner Teil der Großgüter in den Händen von Latifundienbeſitzern. Anders ſteht die Sache im weſtelbiſchen Deutſchland, namentlich in deſſen am weiteſten nach Weſten gelegenen Teilen. Hier überwiegt ſtark den bäuerliche Beſitz und noch mehr der bäuerliche Betrieb. Indeſſen geht die Entwicklung ſchon ſeit Jahrzehnten dahin, daß zwar nicht die kleineren und 4 9 mittleren Betriebe, wohl aber die im Eigentum von Bauern befindlichen, Höfe oder Stellen abnehmen. Die Seite 112 über die Rheinprovinz mit⸗ | geteilten Zahlen liefern hierfür einen Beweis. Von der landwirtſchaftlich benutzten Fläche beſteht dort ſchon ein Viertel aus Pachtland, von den vor handenen Betrieben ſind 57,7 Proz. ſolche mit Pachtland. Im weſtlichen Deutſch land iſt viel größerer Kapitalreichtum wie im öſtlichen. Induſtrielle, Bankier manche der zahlreich vorhandenen Standesherren kaufen Bauernhöfe, au wohl größere Güter, und geben den neu erworbenen Beſitz, abgeſehen vo Walde, an Pächter aus. Auch werden Bauernhöfe gekauft, um Holzland dara zu machen. Die erworbenen Flächen befinden ſich an ſehr verſchieden Stellen. Es iſt Streubeſitz, wie er ſeit Jahrhunderten in vielen Teil des weſtlichen Deutſchlands herkömmlich (ſ. S. 110). Latifundienwirtſcha ſteht nicht zu befürchten, wohl aber iſt die Gefahr der Bildung eines gemei ſchädlichen Latifundienbeſitzes nicht ausgeſchloſſen. Inwieweit dieſelbe jetz ſchon vorhanden, läßt ſich beim Mangel einer Beſitzſtatiſtik nicht nachweiſe Letztere ſcheint für das weſtelbiſche Deutſchland noch nötiger wie für da oſtelbiſche. Soll ſie ein ſicheres Urteil ermöglichen, ſo muß ſie einheitli für das ganze Deutſche Reich angeſtellt werden. Denn wir haben nich wenige Latifundienbeſitzer, deren Höfe und Güter in verſchiedenen Deut⸗ ſchen Staaten ſich befinden. Von den einzelnen Landesregierungen gemachte Erhebungen würden der erforderlichen Einheitlichkeit und Vollſtändigkeit | ermangeln. ! Auf die Verteilung des Bodensbeſitzes hat die nach Geſetz oder Herr \ kommen jtattfindende Art der Vererbung einen erheblichen Einfluß ). Wo die Höfe oder Güter ungeteilt auf einen Erben überzugehen pflegen (ge⸗ bundene oder geſchloſſene Erbfolge), iſt und bleibt unter ſonſt ähnlichen Ver⸗ hältniſſen die Zahl derſelben eine geringere, als dort, wo die gleiche oder freie Erbfolge herrſcht. Indeſſen iſt jener Einfluß nicht ſo groß, als manche glauben; wenigſtens dann nicht, wenn dem jeweiligen Beſitzer die freie Ver⸗ fügung über ſeinen Boden bei Lebzeiten und für den Todesfall gewahrt bleibt. Infolge und mit Hilfe dieſer Verfügungsfreiheit tritt auch bei ge⸗ bundener Erbfolge doch allmählich eine weitere Zerteilung des Grundbeſitzes ein, falls ſolche durch eine Veränderung der allgemeinen wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe erfordert wird. Wenn in einzelnen Gegenden Deutſch⸗ lands die gebundene, in anderen die freie Erfolge herrſcht, ſo iſt dies in der Regel durch die Verſchiedenheit der örtlichen Zuſtände begründet. Der Staat muß ſich hüten, in die Art der Vererbung des Bodenbe⸗ ſitzers ſtark einzugreifen. Mit der Veränderung der Bevölkerungs- und Wirtſchaftsverhältniſſe muß auch die Verteilung des Bodenbeſitzes ſich ändern. Durch eine die Verfügungsfreiheit der jeweiligen Grundeigentümer erheblich einengende Geſetzgebung würde die den gerade vorliegenden Bedürfniſſen ent⸗ ſprechende Verteilung ſehr erſchwert oder unmöglich gemacht werden. Der Hauptſache nach hat der Staat ſich darauf zu bejchränfen, in den Gegenden, wo die gebundene Erbfolge eingebürgerte Sitte iſt und noch angebracht er⸗ ſcheint, die Aufrechterhaltung und Durchführung derſelben den Beteiligten zu 1) Vgl. hierzu das in Abſchnitt VII „Die Vererbung des Grundbeſitzes“ Geſagte. Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 313 erleichtern; die Ausübung eines darauf gerichteten, das Verfügungrecht des 33 * EN 1 0 Eigentümers beſchränkenden Zwanges iſt immer bedenklich. Gegen Latifundienbildung darf und muß unter Umſtänden der Staat einſchreiten, 5 nicht aber gegen eine fortſchreitende Verkleinerung der Beſitzgrößen, falls ſolche von den jeweiligen Eigentümern für zweckmäßig gehalten und ins se Werk zu ſetzen verſucht wird. In der Geſtattung der Errichtung von Fideikommiſſen liegt ſchon ein erbrechtliches Zugeſtändnis des Staates an die Stifter derſelben und ihre künftigen Beſitzer. Daß Fideikommiſſe in beſchränkter Zahl und Ausdehnung unbedenklich, ſogar nützlich find, wurde früher dargelegt (ſ. S. 118 ff.); aber ihre Beſchränkung iſt durchaus notwendig, wenn ſie nicht Schaden anrichten ſollen. Dies darf die Agrarpolitik nicht außer Acht laſſen. Der S. 123 erwähnte preußiſche Fideikommisgeſetzentwurf begünſtigt die Gründung von Fideikommiſſen zu ſehr und trifft keine Vorkehrungen gegen eine dem Ge— meinwohl ſchädliche Ausdehnung des fideikommiſſaxiſch gebundenen Grund— beſitzes. Manche glauben, es ſei ein Hauptzweck des Entwurfes, den Fidei— kommiſſen eine möglichſt ſtarke Verbreitung und Ausdehnung zu verſchaffen. Dieſen Eindruck habe ich zwar nicht davon gewonnen, wohl aber den, daß er nach ſeiner vorliegenden Faſſung dieſe Folge vermutlich nach ſich ziehen würde. Von mindeſtens ebenſo großer Bedeutung für die Agrarpolitik wie die Verteilung des Bodenbeſitzes iſt die wirtſchaftliche und ſoziale Lage der ländlichen Bevölkerung. Wenn ſie hier erſt an zweiter Stelle be— handelt wird, ſo findet dies ſeine Erklärung darin, daß ſie von nichts mehr bedingt und beeinflußt wird, wie gerade von der Verteilung des Beſitzes. Falls die letztere eine normale iſt, dann wohnen und wirtſchaften alle Gruppen der ländlichen Bevölkerung nebeneinander, dann ſind alle Glieder auf gegen— ſeitige Hilfeleiſtung und Unterſtützung angewieſen, dann iſt ihr wirtſchaft⸗ liches Gedeihen, ihr geiſtiges und moraliſches Wohlbefinden am meiſten ge— ſichert. Großbeſitzer, Bauern, Kleinſtellenbeſitzer gehören zuſammen behufs Bildung und Erhaltung eines geſunden ſozialen Organismus. Aus ſelbſt— verſtändlichen Gründen müſſen die beiden letzteren der Zahl nach überwiegen, die Führerſchaft gebührt aber den erſteren. Es iſt ein Verhältnis ähnlich dem zwiſchen Offizieren, Unteroffizieren und Gemeinen; nur daß bei der ländlichen Bevölkerung keine ſcharfe Grenze zwiſchen den einzelnen Stufen vorhanden, vielmehr die mannigfaltigſten Übergänge beſtehen. Eine Agrar— politik, welche für eine normale Verteilung des Bodenbeſitzes Sorge trägt, bewirkt gleichzeitig eine normale Geſtaltung der ſozialen Zuſtände auf dem Lande. Die im Vorhergehenden beſprochenen Maßregeln, betr. die Beſitz⸗ verteilung, können daher auch als diejenigen angeſehen werden, welche an erſter Stelle für die Einwirkung auf die ſozialen Verhältniſſe in Betracht kommen müſſen. Eine beſondere Rückſichtnahme und Behandlung erfordern die länd— lichen Arbeiter). Solches nicht nur deshalb, weil ſie die wirtſchaftlich und geiſtig ſchwächſte Gruppe der Landbevölkerung darſtellen, die daher auch am meiſten der ſtaatlichen Fürſorge bedarf, ſondern auch deshalb, weil in der Gegenwart die Arbeiterverhältniſſe ganz beſonders unerfreuliche ſind und den landwirtſchaftlichen Unternehmern größere Not bereiten, als alle anderen Schwierigkeiten, mit denen ſie zu kämpfen haben. Eine Agrarpolitik, welche für geſunde Arbeiterverhältniſſe ſorgt, kommt den ſelbſtändigen Landwirten faſt noch mehr zugute, wie den Arbeitern ſelbſt. g Nun muß es offen ausgeſprochen werden, daß die ländliche Arbeiter frage, von einzelnen Ausnahmen abgeſehen, bisher nicht die ihr zukommende 1) Vgl. zu dem Folgenden Abſchnitt IX dieſes Buches, S. 148 — 164. 314 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. Beachtung und Behandlung gefunden hat. Solches zu bekennen, erfordert die Wahrheitsliebe und die ungemein große Wichtigkeit der Sache ſelbſt. Bei den Verhandlungen, welche während der letzten 30 Jahre in den landwirt⸗ ſchaftlichen Vereinen und ſonſtigen Vertretungskörpern über die Arbeiterfrage ſtattgefunden haben, hat man meiſt nur untergeordnete Dinge berührt oder unpraktiſche, undurchführbare Wünſche und Forderungen aufgeſtellt. Dagegen find die wichtigſten Punkte ganz umgangen oder nicht ſelten gar in einen Weiſe behandelt worden, die der Herbeiführung beſſerer Zuſtände eher hinderlich als förderlich geweſen iſt. Die Regierungen haben ſich dabei ziemlich paſſiv verhalten; entweder, weil ſie ſelbſt ratlos waren oder weil ſie glaubten, gegen die einmal herrſchende Strömung nichts ausrichten zu können oder weil ſie von der Überzeugung ausgingen, daß die Mittel zur Beſeitigung der herrſchenden Not vorzugsweiſe in den Händen der Landwirte ſelbſt lägen. In den beiden letztgenannten Punkten hatten ſie zwar nicht ganz Unrecht, aber ſie unterſchätzten doch die Macht und den Einfluß, welchen auch in bezug auf die Geſtaltung der Arbeiterverhältniſſe die Staatsgewalt tatſächlich beſitzt und auszuüben berufen iſt. Der Schwerpunkt der ganzen ländlichen Arbeiterfrage liegt jetzt und ſchon ſeit über einem Menſchenalter in dem immer drückender werdenden Mangel an Arbeitern. Die Urſachen ſowie die mannigfaltigen, etwa anwend⸗ baren Mittel zu deſſen Beſeitigung, ſind in Abſchnitt IX bereits dargelegt worden. Hier ſoll deshalb nur auf einige Maßregeln etwas näher einge⸗ gangen werden, zu deren Durchführung die Mittätigkeit des Staates erforderlich iſt, die alſo in das Gebiet der Agrarpolitik gehören. Im oſtelbiſchen Deutſchland iſt der Mangel an Arbeitern viel größer, als im weſtelbiſchen; die Urſache liegt an der ganz abweichenden Verteilung des Grundbeſitzes. Die ländlichen Arbeitskräfte ſollen eigentlich geſtellt werden teils von den mittleren und kleineren Bauern oder deren Angehörigen, teils und namentlich von den Inhabern der Kleinſtellen, die von dem Ertrage dieſer allein ihren Lebensunterhalt nicht beſtreiten können. Nun iſt der Bauern⸗ ſtand im Oſten verhältnismäßig ſchwach vertreten, an Kleinſtellenbeſitzern (Häuslern) fehlt es, einige Bezirke ausgenommen, faſt gänzlich. Schon eine Vermehrung der bäuerlichen Bevölkerung, wie ſie während der letzten 1½ Jahrzehnte tatſächlich dort ſtattgefunden hat, wird von günſtigem Einfluß auch auf die Vermehrung der Lohnarbeiter ſein, kann aber, zunächſt wenigſtens, keine ſehr erhebliche Wirkung ausüben. Dieſe iſt nur zu erreichen vermittels einer umfangreichen Anſiedelung von Kleinſtellenbeſitzern. Hierin liegt überhaupt das ſicherſte und unerläßliche Mittel, um dem Arbeitermangel dauernde Abhülfe zu gewähren. Von ihm iſt aber bisher bloß ein ver⸗ ſchwindend geringer Gebrauch gemacht worden. Auch bei der Auslegung von Anſiedelungs- und Rentengütern iſt hierauf wenig Bedacht genommen worden. Das Rentengutsgeſetz von 1890 hatte zwar die Gründung nicht nur von Bauernſtellen, ſondern auch von Arbeiterſtellen zum Zweck gehabt; bei dem Rentengutsgeſetz von 1891 wurde aber der letztere wieder fallen gelaſſen. Neuerdings ſcheint man freilich bei der praktiſchen Durchführung der Rentengutsbildung auch die Errichtung von Arbeiterſtellen ins Auge gefaßt zu haben. Die Staatsregierung hat ſich der Anſiedelung von ländlichen Arbeitern prinzipiell nicht unfreundlich gegenübergeſtellt, aber für Verwirklichung der⸗ ſelben noch wenig greifbares getan. Die Urſachen des paſſiven Verhaltens waren folgende: Man kannte die oft zutage getretene Abneigung gegen dieſe Maßregel bei den führenden Elementen unter den Großgrundbeſitzern und hatte die nicht ganz unberechtigte Anſicht, daß ohne die Mitwirkung derſelben Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 315 nichts erhebliches erreicht werden könnte; man ſcheute ferner vor den finan- . Verbindlichkeiten zurück, welche dem Staate vielleicht daraus erwachſen könnten; man erwog endlich die in der Tat nicht geringen Schwierigkeiten der Sache und war über die Mittel zu deren Überwindung noch nicht zur Klarheit gelangt. Der Widerſtand der Großbeſitzer beruht zum nicht unweſentlichen Teile darauf, daß ſich dieſelben noch nicht gründlich mit der Arbeiterfrage beſchäftigt und keine irgend klare Vorſtellung davon haben, wie die Errichtung von Arbeiterſtellen eigentlich gedacht iſt und ins Werk geſetzt werden ſoll. Sehr viele glauben, es müßten auf ihren eigenen Gütern Kolonien von Arbeitern gegründet und dieſen das bisherige Gutsland zum eigentümlichen Beſitz über— wieſen werden. Daß ſolche iſolierte Arbeiterkolonien ein unhaltbares ſoziales Mißgebilde darſtellen würden, iſt bereits an einer früheren Stelle gezeigt worden; ebenſo, daß die Anſiedelung von ländlichen Arbeitern nur in Bauern⸗ dörfern, im Anſchluß an bereits beſtehende Landgemeinden, erfolgen darf ( S. 157 ff.). Letztere werden ſich allerdings dagegen ſträuben, weil ſie die Vermehrung der Schul- und Armenlaſten u. ſ. w. nicht ohne Grund fürchten. Zur Beſeitigung des nicht wegzuleugnenden Widerſtreites der Intereſſen bleibt nichts anderes übrig, als die Mehrzahl, wenigſtens der kleineren und mittel— großen Rittergüter, die zur Zeit noch ſelbſtändige kommunale Einheiten dar— ſtellen, mit den benachbarten Bauerndörfern zu einer Landgemeinde zu ver— ſchmelzen. Daß dabei beide Teile gewinnen und daß nur hierdurch geſunde ſoziale Verhältniſſe erzeugt werden können, iſt S. 158 dargelegt worden. Vor der Hand beſteht bei den Rittergutsbeſitzern noch eine große Abneigung gegen eine ſolche Verſchmelzung und in der Beſorgnis vor dieſer liegt ein weſentlicher Grund für den Widerſtand gegen die Errichtung von Arbeiter— | ur Aber dieſer iſt ſachlich unberechtigt, er muß und wird überwunden N werden. | In der agrarpolitiſchen Aufgabe der Staatsregierung liegt es, feſte und i ſichere Stellung zu der Sache zu nehmen und dieſer öffentlich in unzwei— g deutiger Weiſe Ausdruck zu verleihen. Sie muß zunächſt in ihrem eigenen Schoße zur Klarheit gelangen, dann beſtimmt formulierte Vorſchläge den land— 5 wirtſchaftlichen Vertretungskörpern bezw. den Provinziallandtagen zur Begutach— tung vorlegen. Wenn dieſe erſt vor die Notwendigkeit geſtellt ſind, eingehend und ernſtlich mit der Sache ſich zu beſchäftigen, dann werden die jetzt herrſchenden Anſichten eine Umwandelung erfahren. Man wird erkennen, daß die Schaffung ahlreicher Kleinſtellen ein dringendes Bedürfnis iſt, daß dieſelbe durch das Intereſſe der bäuerlichen wie der großen Beſitzer erfordert wird und daß ſie nicht ſo große Schwierigkeiten darbietet, als man bisher geglaubt hat. Sie läßt ſich allerdings nicht mit einem Male oder auch nur in wenigen Jahren, ſondern nur ganz allmählich durchführen, wie es auch bei der Aufhebung des gutsherrlich⸗bäuerlichen Verhältniſſes geſchah. Man muß erſt Erfahrungen ſammeln. Dieſe werden Anfangs vielleicht nicht immer den gehegten Er— wartungen entſprechen; es werden auch hier und da Fehlgriffe begangen werden. Mit der Zeit aber wird man die richtigſten zum erſtrebten Ziele führenden Wege ausfindig machen. Iſt man erſt in einigen Fällen oder Bezirken zu günſtigen Reſultaten gelangt, dann wird man der ganzen Maß— regel bald allgemeineres Vertrauen ſchenken und ſie in umfaſſender Weiſe zur Durchführung bringen. Man wird die gleiche Erfahrung machen, wie ſie ſich bei den 1 bezw. Feldregulierungen überall gezeigt hat. Zuerſt herrſcht großes Mißtrauen dagegen, keine Gemeinde will ſich dazu entſchließen. Endlich gelingt es einflußreichen Männern, einzelne Ge— meinden hierfür zu gewinnen. Durch die erzielten günſtigen Erfolge über » ——— Te ee ee an 316 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. zeugt, laſſen ſich dann benachbarte Gemeinden zu der gleichen Maßregel be— wegen und dann nimmt deren Durchführung bald raſchen Fortgang. Frei⸗ lich iſt Geduld und zähe Ausdauer nötig; aber ohne ſolche wird nirgends etwas großes erreicht, am wenigſten in der Landwirtſchaft und bei der länd⸗ lichen Bevölkerung, bei der durchgreifende Neuerungen zunächſt ſtets auf Mißtrauen und Widerſtand ſtoßen ). | Im weſtelbiſchen Deutſchland jegt die große Maſſe der Landarbeiter ſchon jetzt aus Kleinſtellenbeſitzern oder deren Angehörigen ſich zuſammen. Aber auch hier herrſcht vielfach Arbeitermangel, wenngleich ein nicht ſo ſtarker, als im Oſten. Zu ſeiner Milderung bietet auch im Weſten die Ver⸗ mehrung der Kleinſtellen das beſte und ſicherſte Mittel. Sie läßt ſich ver⸗ hältnismäßig leicht und einfach erreichen, da man nur bereits vorhandene Ein⸗ richtungen weiter auszugeſtalten hat. Die für die Erreichung des Zweckes einzuſchlagenden Wege werden in den einzelnen Ländern und Landesteilen je nach den vorhandenen örtlichen Verhältniſſen verſchiedene ſein müſſen. Ihre Wahl und Durchführung würde vorzugsweiſe den Kommunalverbänden zu überlaſſen ſein. Die Staatsregierung muß aber die allgemeinen, dabei zu befolgenden Grundſätze aufſtellen und ein fortdauerndes Aufſichtsrecht aus⸗ üben. Vornehmlich wird es ſich darum handeln, den Arbeitern durch Ge— währung von unkündbaren, niedrig verzinslichen, dem Amortiſationszwan unterliegenden Darlehen, anch durch anderweitige Unterſtützung, beſonders bei Herſtellung der notwendigen Wohnungen, die Anſäſſigmachung möglichſt zu erleichtern. Hierdurch werden ſie gleichzeitig am beſten davor geſchützt, daß 2 nicht Güterſchlächtern oder ſonſtigen wucheriſchen Ausbeutern in die Hände allen. Die aus dem Arbeitermangel entſtandenen Schwierigkeiten haben während der letzten Jahrzehnte die Landwirte hauptſächlich durch Heranziehung von Wanderarbeitern zu überwinden verſucht ?). Dieſe bieten ein willkommenes Mittel, um den Bedarf an Arbeitskräften während der Sommerperiode einiger⸗ maßen zu befriedigen, falls die an Ort und Stelle vorhandenen Perſonen hier⸗ für nicht ausreichen. Grundſätzlich iſt gegen die Verwendung von Wander⸗ arbeitern durchaus nichts einzuwenden. Auch in früheren Jahrhunderten hat man ſich in dem Erntequartal ihrer bedient. Sie kamen meiſt aus den von der Natur weniger begünſtigten Gegenden, gingen von dort für einige Sommer⸗ monate in die fruchtbareren Täler und Ebenen und zogen dann wieder in die Heimat zurück. Die Ausdehnung, des Hackfrucht⸗ und vor allem des Zuckerrübenbaues bewirkte hierin eine Anderung und zwar nach einer doppelten Richtung hin. Die Zahl der Wanderarbeiter mehrte ſich gewaltig und die Landwirte bedienten ſich ſolcher nicht nur für die Zeit der Heu- und Ge⸗ treideernte, ſondern für die ganze Periode von Beginn der Frühjahrsbeſtellung bis zur Beendigung der Hackfruchternte, zuweilen ſogar über die letztere hinaus. Um dem wachſenden Bedarf und der ſteigenden Nachfrage zu genügen, ließen Agenten fremde Arbeiter aus Galizien, Polen, Rußland kommen; zu den aus dem Deutſchen Reich bezogenen Arbeitern lieferten diejenigen polniſcher Natio⸗ nalität ein beſonders ſtarkes Kontingent. Auf die Verhältniſſe der einheimiſchen?) Arbeiter hat die ſtarke Vermehrung der Wanderarbeiter ungünſtig gewirkt. Durch die Konkurrenz 1) Zur Frage der Anſiedelung von grundbeſitzenden Arbeitern, vgl. auch mein Buch „Die ländliche Arbeiterklaſſe und der preußiſche Staat“, Jena bei G. Fiſcher, 1893, S. 201—258. 2) Vgl. hierzu das S. 150 Geſagte. i a 3) Mit dieſem Ausdruck will ich die an Ort und Stelle bereits befindlichen Arbeiter im Gegenſatz zu den Wanderarbeitern bezeichnen. Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 317 N deer genügſamen Wanderarbeiter wurde ein Druck auf den Arbeitslohn aus⸗ geübt. Schlimmer machte ſich dieſelbe aber dadurch geltend, daß den ein⸗ heimiſchen Arbeitern die früher vorhandene Möglichkeit, wenigſtens den ganzen Sommer hindurch Lohnerwerb zu finden, vielfach ſehr beſchnitten wurde. Mit den Wanderarbeitern wurden Kontrakte abgeſchloſſen, die für den ganzen Sommer oder für einen feſtgeſetzten Teil desſelben Gültigkeit hatten; ſie an⸗ dauernd zu beſchäftigen, war für den Arbeitgeber eine Notwendigkeit. Hinter ihnen mußten die einheimiſchen Arbeiter in allen ſolchen Fällen zurückſtehen, in welchen die Wanderarbeiter ausreichten. Sofern die letzteren fremder Nationalität waren, konnten die einheimiſchen Arbeiter ſich wenig mit ihnen befreunden, ſie waren und blieben ihnen unſympathiſch. Ihre Sprache, ihre Sitten und ganze Lebensweiſe machten auf ſie einen abſtoßenden Eindruck. Alle dieſe Umſtände erklären es, weshalb die Ausbreitung des Wander— arbeitertums viele einheimiſche Arbeiter veranlaßte, ihren Wohnſitz aufzugeben und anderwärts ein Unterkommen zu ſuchen. Wenn die abſolute Zahl der ländlichen Arbeiter im Deutſchen Reich während der beiden letzten Jahrzehnte abgenommen hat (ſ. S. 151), jo trägt einen Teil der Schuld die ſtarke Zunahme der Wanderarbeiter. Letztere bildet außerdem ein großes indirektes Hindernis für die Inangriffnahme der Anſiedelung von ländlichen Arbeitern. Wäre die Zahl der Wanderarbeiter in den letzten Jahrzehnten nicht ſo ſtark gewachſen, jo hätte der Zwang der Not ſchon dazu gedrängt, die Koloni- ſation energiſch in Angriff zu nehmen. Nun glaubte man, auf dieſelbe ver— zichten zu können, weil die Heranziehung von Wanderarbeitern ein einfacheres und bequemeres Mittel zur Linderung des Arbeitermangels darzubieten ſchien. Für die Gegenwart und die nächſte Zukunft mag dies zutreffen; es wird aber, wenn die Entwicklung in der bisherigen Weiſe fortgeht, die Zeit kommen, in welcher es klar zutage tritt, daß gerade durch die Überhandnahme der Wanderarbeiter der Arbeitermangel ein noch größerer geworden iſt und die geſamten Arbeiterverhältniſſe ſich immer mehr verſchlechtert haben. In ſtetig wachſender Zahl werden die einheimiſchen Arbeiter ihren Wohnſitz verlaſſen und den Wanderarbeitern Platz machen. In immer ge— ringerem Grade wird der Landwirt auf ſtändige, mit den örtlichen Verhält— niſſen und Gewohnheiten vertraute, ihm ſelbſt ſeit Jahren perſönlich be— kannte Arbeiter rechnen können. Er iſt auf fremde, alle Jahre wechſelnde Perſonen angewieſen, die durch kein dauerndes Intereſſe an ihre Arbeitsſtätte und an ihren Arbeitsherren gebunden ſind. Ein irgend näheres perſönliches Verhältnis zwiſchen beiden Teilen, welches für eine geſunde Geſtaltung der ſozialen Zuſtände von ſo großer Bedeutung iſt, kann ſich nicht bilden. Mit gutem Grunde klagen die Arbeitgeber über das Verhalten der Wanderarbeiter anz beſonders. Bei dieſen kommen am häufigſten Widerſetzlichkeiten und tontraftbrüche vor. Die meiſten Gutsbeſitzer, welche Wanderarbeiter be— ſchäftigen, würden froh ſein, wenn ſie dieſelben entbehren könnten. Nicht wenige Gutsbeſitzer preiſen ſich glücklich, daß ſie, wenngleich mit Darbringung mancher materieller und perſönlicher Opfer, es fertig gebracht haben, mit ein— heimiſchen Arbeitern allein ſich durchzuhelfen. azu tritt ein weiteres. Welche Gewähr iſt dafür geboten, daß uns ausländiſche Arbeiter in ſtetig wachſender Zahl zur Verfügung ſtehen? Auch in den uns angrenzenden Gebieten Rußlands und Oſterreichs wächſt der Bedarf an Arbeitskräften. Der Bezug an ſolchen wird für uns immer ſchwieriger und koſtſpieliger. Wir ſind auch keineswegs davor geſichert, daß die Nachbarſtaaten aus irgend einem Grunde einmal das periodiſche Wandern ihren Untertanen nach dem Deutſchen Reich verbieten oder ſo er ſchweren, daß es faſt einem Verbote gleichkommt. Dabei will ich von einem 318 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. Kriegsfalle, der doch nicht in das Bereich der Unmöglichkeit gehört, ganz 1 abſehen. Es kann die Zeit kommen, in der die ländlichen oder ſtädtiſchen Arbeitgeber in Rußland und Oſterreich an ihre Regierungen das Anſinnen ſtellen, den dortigen Arbeitern die Erlaubnis zum Wandern nach Deutſch⸗ land zu verweigern. Solcher Forderung, wenn ſie durch den in jenen Ländern aufgetretenen Arbeitermangel tatſächlich begründet iſt, werden fh deren Regierungen nur ſchwer entziehen können. 1 Die vom Auslande hereinſtrömenden Wanderarbeiter ſind faſt ſämt⸗ lich flaviſcher, vorzugsweiſe polniſcher Nationalität. Im oſtelbiſchen Deutſchland beſteht ſeit mehr als tauſend Jahren ein Kampf zwiſchen Ger⸗ manen und Slaven um die Vorherrſchaft. Er iſt mit ſehr wechſelndem Er⸗ folg geführt worden. Im 15. und 16. Jahrhundert waren die Polen, im 18. die Deutſchen die Sieger. Im 19. Jahrhundert hat das Polentum ſein aupt neu erhoben und iſt wiederholt zu bewaffneten Aufſtänden geſchritten. ae verzichtet es auf ſolche aus Klugheitsrückſichten. Sein Ziel it g aber die Gründung eines neuen Polenreiches, für welches man den größeren ö Teil der öſtlichen preußiſchen Provinzen in Anſpruch nimmt. Wir dürfen 1 die Augen nicht vor der Tatſache verſchließen, daß die Polen dort ſeit den f letzten 40 Jahren nicht nur an Zahl, ſondern auch an geiſtiger wie wirt⸗ ſchaftlicher Kraft ſtark gewachſen find. Die Polenfrage iſt in der Gegen— wart eine der wichtigſten für die innere preußiſche wie deutſche Politik. Angeſichts dieſer Sachlage verdient es die ernſteſte Erwägung, ob und ü inwieweit der maſſenhafte Zuzug von polniſchen Wanderarbeitern uns den ; Kampf mit dem Polentum und den Sieg über dasſelbe erſchwert. Dabei ü kommen, zurzeit wenigſtens, nur die vom Auslande einſtrömenden Polen in Betracht; den aus dem Deutſchen Reich ſtammenden Polen die Wanderung in dieſem zu verbieten oder zu erſchweren, liegt bis jetzt noch kein zureichen⸗ der Grund vor. Aber gerade die ausländiſchen Polen bilden einen großen \ und, wie ich vermute, den erheblich größeren Bruchteil der Wanderarbeiter polniſcher Nationalität. Nun ſollen dieſe zwar gemäß den erlaſſenen Ver⸗ 8 ordnungen nach beendigter Wanderarbeit wieder in ihre Heimat zurückkehren. Aber viele von ihnen bleiben trotzdem in Deutſchland. Die Kontrolle darüber, ob ſie in ihre Heimat zurückkehren oder nicht, iſt eine ſehr ſchwierige, wird auch oft oberflächlich gehandhabt. Manche verheiraten ſich mit Deutſchen und werden naturaliſiert. Die mindeſte Friſt, während welcher die Wander⸗ arbeiter außerhalb des Deutſchen Reiches weilen müſſen, iſt auf Drängen der Landwirte ſeitens der Staatsregierung allmählich ſo herabgemindert worden, daß ſie bloß noch eine kurze, beiden Teilen willkommene Ferien⸗ oder Urlaubszeit darſtellt. Daß die Behörden der Erkenntnis von den mannigfaltigen Gefahren, die in dem Anwachſen der Wanderarbeiter, vor allem der polniſchen, liegen, ſich verſchließen ſollten, iſt nicht anzunehmen. Sowohl für den Staat wie für die Landwirtſchaft ſelbſt ſind ſie ſehr große. Solches iſt nicht nur meine Meinung, ſondern auch die vieler anderer ſachverſtändiger Männer; in dem öffentlichen Ausſprechen derſelben iſt man allerdings ſehr zurückhaltend. Je länger man aber ſchweigt, deſto mehr wächſt das Übel an und wird ſchließ⸗ lich unheilbar. Unter ſolchen Umſtänden muß es als eine Pflicht der Staatsregierung betrachtet werden, zunächſt ſorgfältige Erhebungen über die Zahl der Wander⸗ arbeiter, ihre Herkunft und Nationalität, ihre Verbreitung in den einzelnen Bezirken, ihr ferneres Verbleiben und ihren Einfluß auf die einheimiſche Arbeiterbevölkerung anzuſtellen. Das Reſultat derſelben wird ein wenig erfreuliches ſein; es bildet aber die notwendige Unterlage für ein weiteres Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. — 319 75 Vorgehen Wie dieſes im einzelnen ſich zu geſtalten hat, darüber können errſt die bei den Erhebungen klargeſtellten Tatſachen feſte Anhaltspunkte dar⸗ bieten. Ich zweifle aber nicht daran, daß die Staatsregierung in viel höherem Grade, als es gegenwärtig der Fall zu ſein ſcheint, die Überzeugung ge⸗ winnen wird, daß man der Entwicklung des Wanderarbeitertums nicht in der bisherigen Weiſe freien Lauf laſſen darf, ſondern dieſelbe hemmen oder doch in andere, geſundere Bahnen leiten muß. Dieſer Überzeugung muß ſie Er offenen und unzweideutigen Ausdruck verleihen. Unter eingehender Darlegung der mit dem Wanderarbeitertum in ſeiner jetzigen Geſtaltung verbundenen Gefahren muß ſie die landwirtſchaftlichen Vertretungskörper bezw. auch die Provinziallandtage veranlaſſen, die Sache einer gründlichen Prüfung zu unter⸗ ziehen. Soweit ſie ſelbſt ſchon Klarheit über die etwa zu betretenden Wege erlangt hat, ſoll ſie beſtimmte Vorſchläge machen oder doch mindeſtens be— ſtimmte Fragen zur Beratung und Beantwortung ſtellen. Werden jene Körperſchaften in die Notwendigkeit verſetzt, die Sache einer ernſtlichen und gründlichen Prüfung zu unterziehen, dann ſteht zu erwarten, daß wenigſtens bei einem erheblichen Teile ihrer Mitglieder ein Umſchwung in den bisherigen Anſichten eintreten wird. Sobald man zu der Erkenntnis gekommen, daß das Wanderarbeitertum in ſeiner jetzigen Ausdehnung ein Übel iſt, wird man auch Mittel finden, dasſelbe zwar nicht zu beſeitigen, aber doch auf ein unge— fährliches Maß einzuſchränken. Gibt es doch jetzt noch viele Großbeſitzer, die ohne Wanderarbeiter auskommen, obwohl ſie unter Berufsgenoſſen wohnen, die derſelben nicht entraten zu können glauben. Jene befinden ſich in der Regel beſſer, als dieſe. Anſiedelung von grundbeſitzenden Arbeitern und Bekämpfung des Wanderarbeitertums ſind die wichtigſten agrarpolitiſchen Maßregeln zur Herbeiführung geſunder ſozialer Verhältniſſe auf dem Lande. Beide müſſen zuſammen vorgenommen werden, ſie ergänzen und verſtärken in ihrer Wirkung ſich gegenſeitig. Ebenſo wird durch das Unterlaſſen der einen Maß— ewe Durchführung der anderen ſehr erſchwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Neben der Löſung der beiden weitaus wichtigſten, die Beſitzverteilung und die ſozialen Zuſtände betreffenden Fragen, welche fortgeſetzt zu allen Zeiten vorzugsweiſe die Agrarpolitik in Anſpruch nehmen müſſen, hat letztere aber ſelbſtwerſtändlich auch ihr Augenmerk auf die Förderung der land— wirtſchaftlichen Produktion zu richten. Man könnte dieſen Teil ihrer Tätigkeit durch das Wort „Produktionspolitik“ bezeichnen ). Die hier u löſenden Aufgaben ſind ſehr mannigfaltige und mit der Zeit wechſelnde. Fnjolgedeſſen muß die Produktionspolitik bald nach dieſer bald nach jener Richtung hin ſich bewegen, bald dieſe bald jene Mittel zur Anwendung bringen. Welche Aufgaben in der Gegenwart und für die nächſte Zukunft ihr beſonders obliegen, iſt in den Abſchnitten X XVI dieſes Buches ein— gehend erörtert worden. Darauf will ich nicht zurückkommen, ſondern hier nur kurz die allgemeinen Geſichtspunkte darlegen, von denen die Agrar— politik auf dieſem Gebiete ſich leiten laſſen muß. Bei dichter Bevölkerung, wie ſie im Deutſchen Reiche vorhanden iſt, hat der Staat ein großes Intereſſe daran, daß von der feſt gegebenen, ver— mehrbaren Bodenfläche immer größere Mengen von Produkten gewonnen werden, wozu die Möglichkeit durchaus vorliegt. Die Aufgabe der Agrar— 1) Die auf die Beſitzverhältniſſe gerichtete Agrarpolitik würde dann als „Beſiß⸗ politik“, die auf die ſozialen Zuſtände gerichtete als „Sozialpolitik“ zu bezeichnen ſein. Dieſer Ausdrücken werde ich mich, der Kürze wegen, in den folgenden Ausführungen wieder holt bedienen. 320 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. einen, dem geleiſteten Aufwand entſprechenden, ihn möglichſt hoch entſchädigen⸗ Ein den Reinertrag. Nun bildet der letztere einen Teil des erſteren. hoher Rohertrag iſt eine unerläßliche Vorausſetzung und Bedingung für einen hohen Reinertrag, aber doch keineswegs die einzige. Die Differenz zwiſchen Roh- und Reinertrag liegt in den Wirtſchaftskoſten und dieſe können eine ſehr verſchiedene Quote des Rohertrages ausmachen. Zudem hat der Staat aus mannigfaltigen Gründen ein großes Intereſſe daran, nicht nur daß ſehr viele landwirtſchaftliche Produkte erzeugt werden, ſondern daß auch die über⸗ wiegende Mehrzahl der Landwirte in einer befriedigenden äußeren Lage ſich befindet; dieſe hängt aber von der Erzielung genügender Reinerträge ab, Hierzu kommt, daß, falls die Reinerträge allgemein und dauernd herabgehen, auch notwendig ein Sinken der Roherträge ſtattfinden muß. Bei den einzelnen produktionspolitiſchen Maßregeln hat man daher immer zu erwägen, welche Veränderungen ſie vorausſichtlich einerſeits für den Rohertrag, andererſeits für den Reinertrag haben werden. Bei der zwiſchen beiden vorhandenen Abhängigkeit wird in den meiſten Fällen jede Maßnahme, die auf das Wachstum oder das Sinken des letzteren einen Einfluß ausübt, irgendwie in ähnlicher Richtung auch auf den erſteren ein⸗ wirken. Aber der Grad der dadurch hervorgebrachten Veränderungen kann doch für beide ſehr verſchieden ſein. Man muß ſich deshalb darüber klar werden, welches der Hauptzweck einer geplanten Neueinrichtung iſt, ob die Steigerung des Rohertrages oder die des Reinertrages oder ob beides gleich⸗ mäßig ins Gewicht fällt. Man muß ferner ſich fragen, ob nicht durch das zu erwartende Wachstum der Erträge eines einzelnen Produktionszweiges die Erträge eines anderen derart zum Sinken gebracht werden, daß der Nach⸗ teil einer ins Auge gefaßten Maßregel vorausſichtlich ebenſo groß oder ſelbſt größer ſein wird, als der daraus zu erwartende Vorteil. Es gibt endlich Veranſtaltungen, welche einſeitig nur die Hebung des Reinertrages oder die des Rohertrages zum Zweck haben oder bei dem doch das eine ſo in den Vordergrund tritt, daß das andere kaum in Betracht kommt. Ein paar Beiſpiele mögen das Geſagte erläutern. Wenn man auf landwirtſchaftliche Produkte Eingangszölle legt oder dieſelben Einfuhrbe⸗ ſchränkungen unterwirft, ſo will man dadurch deren Inlandpreiſe und ſomit die Reinerträge der einheimiſchen Landwirte erhöhen. Die Roherträge können infolgedeſſen allerdings ebenfalls eine Steigerung erfahren, inſofern die Land⸗ wirte, durch die höheren Preiſe veranlaßt, mehr Arbeit, Sorgfalt und Kapital auf die Produktion verwenden. Die Möglichkeit aber iſt auch vorhanden, daß viele von ihnen, im Vertrauen auf die hohen Preiſe, das gegenteilige Verfahren einſchlagen. — Die von den Staatsbehörden der Militärverwal⸗ tuug erteilte Anordnung, ihren Bedarf an Heu, Stroh, Getreidekörner, Kar⸗ toffeln u. ſ. w. möglichſt direkt von den landwirtſchaftlichen Unternehmern zu kaufen, bewirkt für die letzteren eine Steigerung der Reinerträge, beeinflußt die Roherträge in ihrer Geſamtheit aber gar nicht. — Anders ſteht es mit den Frachtermäßigungen für käufliche Futter- und Dungmittel. Durch ſolche wird der Bezugspreis ermäßigt, der Wirtſchaftsaufwand verringert und ſomit der Reinertrag erhöht. Gleichzeitig wird aber auch die Verwendung jener Materialien eine lohnendere; ſie werden in größere Menge benutzt und dadurch eine Steigerung auch der Roherträge herbeigeführt. — Wenn auf eine beſtimmte Gruppe von Produkten verhältnismäßig ſehr hohe, auf eine andere ebenſo niedrige oder gar keine Zölle gelegt werden, dann ſteigen die Preiſe jener, es ſinken die Preiſe dieſer. Zu gleichem Grade tritt dann eine Erhöhung der Reinerträge für n 1" * 4 politit liegt alſo in einer möglichſten Steigerung des landwirtſchaftlichen Rohertrages. Der einzelne landwirtſchaftliche Unternehmer beanſprucht = r * r 3 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 321 i . diejenigen Landwirte ein, welche vorzugsweiſe auf die Erzeugung der hoch verzollenden Produkte angewieſen ſind; umgekehrt iſt es bei den übrigen en. Dieſer Geſichtspunkt iſt bei der Zollpolitik wohl zu beachten. Durch eine ungewöhnliche Begünſtigung oder Vernachläſſigung dieſer oder jener Gruppe von Erzeugniſſen kann die landwirtſchaftliche Produktion in verkehrte, den ſonſtigen Verhältniſſen nicht entſprechende Bahnen geleitet werden. In England hat man durch Aufhebung der Kornzölle den Ge— treidebau unnatürlich ſtark in den Hintergrund gedrängt und die Viehhaltung bezw. die Benutzung des Bodens zum Futterbau ebenſo in den Vordergrund geſchoben. Beides zuſammen hat ein Herabgehen der geſamten landwirtſchaft⸗ lichen Produktion oder doch mindeſtens bewirkt, daß dieſelbe nicht ſo ge— ſti iſt, wie es nach den von der Landwirtſchaft gemachten Fortſchritten ſonſt geſchehen wäre und in anderen europäiſchen Staaten wirklich eingetreten iſt. Vieh und tieriſche Erzeugniſſe waren in England allerdings auch nicht durch Zölle geſchützt. Aber für dieſe iſt, wie bereits an einer früheren Stelle (ſ. S. 282) dargelegt wurde, die Konkurrenz des Auslandes nicht ſo gefähr— lich, als für Getreide. Zudem ſuchte man man in England die Rentabilität der inländiſchen Produktion an tieriſchen Erzeugniſſen dadurch zu heben, daß man der Einfuhr fremden Viehes oder Fleiſches allerlei Erſchwerungen be— reitete. Im Intereſſe der Produktionspolitik kann es zuweilen liegen, auf die Erhöhung der Reinerträge, zunächſt wenigſtens, überhaupt keine Rückſicht zu nehmen, ſondern lediglich die Erzielung größerer Roherträge ins Auge zu faſſen. So geſchieht es z. B., wenn der Staat oder größere Kommunalver— bände zur Aufforſtung von Haideländereien, Sandſchellen oder kahlen Bergab— hängen ſchreiten; dasſelbe iſt häufig bei Moorkulturen, Trockenlegung von Sümpfen der Fall. Hier handelt es ſich um ſogenannte Landesmeliorationen, die vielleicht ſehr viel koſten, aber erſt nach einer langen Reihe von Jahren einen wirklichen Reinertrag bringen. Privatperſonen werden ſich nur ſchwer zu ſolchen entſchließen, ſind auch bloß ausnahmsweiſe hierzu imſtande. Der Staat hat aber, wenigſtens in dicht bevölkerten Ländern, ein großes Intereſſe daran, daß wo möglich aller überhaupt anbaufähiger Boden der land- oder forſtwirtſchaftlichen Kultur unterworfen wird. Bei allen produktionspolitiſchen Maßregeln muß man ſtets und ſorg— fältig in Erwägung ziehen, ob und inwieweit dieſelben auf die Löſung der beiden agrarpolitiſchen Grundprobleme, die Herbeiführung normaler Beſitzver— hältniſſe und geſunder ſozialer Zuſtände, vorausſichtlich einen fördernden oder hemmenden Einfluß ansüben werden. Mit anderen Worten: die Produktions- politik muß bei allen ihren Maßregeln Rückſicht auf die Beſitz- und Sozial- politik nehmen; wenn jene die Ziele dieſer durchkreuzen, dann ſind ſie zu verwerfen. Der Einfluß der Produktionspolitik auf die beiden andern Teile der Agrarpolitik iſt häufig ein ganz geringer, kaum oder gar nicht nachweisbarere; er kann aber zuweilen auch ein ziemlich großer ſein. Erſteres trifft z. B. zu bei Maßregeln betr. die Feuer- und Hagelverſicherung, die Ab— wehr und Unterdrückung von Viehſeuchen, den Verkehr- mit Nah— rungs⸗ und Genußmitteln, die ſtaatliche Unterſtützung der land— wirtſchaftlichen Technik, ſowie die landwirtſchaftliche Polizei. Etwas anders ſteht es ſchon bei dem landwirtſchaftlichen Kredit- und Genoſſen— ſchaftsweſen. Die Gründung der Landſchaften hat ohne Zweifel zur Erhaltung und Stärkung des Großbeſitzes beigetragen, auch den Ankauf von Bauerngütern durch Rittergutsbeſitzer erleichtert und befördert. Es wurde dies ſpäter wieder etwas ausgeglichen dadurch, daß man bei den Landſchaften von der Goltz, Agrarweſen und Agrarpolitik. 2. Aufl. 21 322 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. Zweiginſtitute errichtete, die auch den Bauern hypothekariſche Darlehne ge⸗ 5 währten. Noch viel wirkſamer ſind aber die Kredit-Genoſſenſchaften (Darlehns⸗ kaſſen) den Bauern zu Hilfe gekommen. Hätte man dieſe nicht in großer Zahl errichtet und hätte ihnen der Staat durch ſeine Geſetzgebung nicht eine ſichere Grundlage verſchafft, ſo würde es mit dem deutſchen Bauernſtande viel übler ausſehen, als es gegenwärtig der Fall iſt. Die Zahl der eigentüm⸗ lichen Bauern, namentlich ſolcher, die noch jetzt auf den von den Vorfahren überkommenen Höfen ſitzen, würde eine geringere ſein; die Zahl der Pächter, vor allem auch der Zwergpächter, würde ſtark zugenommen haben. Vielleicht nicht die Großbetriebe, wohl aber der Großbeſitz wäre gewachſen. Die Hof- und Güterſchlächterei, ebenſo die Mobiliſierung des bäuerlichen Beſitzes und der bäuerlichen Bevölkerung hätten einen ſehr bedenklichen Umfang erhalten. Die Entwicklung des Kredit- und Genoſſenſchaftsweſens iſt noch keineswegs zum Abſchluß gelangt. Ein ſolcher wird auch niemals erfolgen, da mit Ver⸗ änderung der wirtſchaftlichen Verhältniſſe immer neue Bedürfniſſe herantreten, deren Befriedigung auch immer neue Einrichtungen erforderlich macht. Auf⸗ gabe der Agrarpolitik bleibt es, dafür Sorge zu trageu, daß alle Maßregeln auf beiden Gebieten zur Erhaltung oder Herbeiführung geſunder Beſitz- und ſozialer Zuſtände dienen. In faſt noch ſtärkerem Grade wird die Beſitz- und Sozialpolitik durch die Ordnung des Zoll- und Steuerweſens berührt. Die Höhe des Ge— treidezolles muß auch eine Wirkung auf dem Umfang und die Rentabilität des Getreidebaues ausüben; je höher der Zoll, deſto höher die Preiſe, deſto größer die Rentabilität. Hierbei kommt nur die zum Verkauf verfügbare, nicht die in der eigenen Wirtſchaft verbrauchte Menge an Getreide in Be⸗ tracht. Dieſe iſt aber bei dem Großbeſitzer nicht bloß abſolut, ſondern auch verhältnismäßig erheblich ſtärker, als bei dem Bauern. Der Getreidezoll begünſtigt daher jenen mehr, als dieſen; er muß, wenn alle ſonſtigen Ver⸗ hältniſſe gleich bleiben, die Ausdehnnng des Großbeſitzes befördern. Nun wurde früher nachgewieſen, daß ein Getreidezoll im Intereſſe der ganzen Land⸗ wie Volkswirtſchaft nötig iſt, daß auch der Bauer ihn nicht ent⸗ behren kann. Darüber ſind zur Zeit faſt alle Parteien einig, die Meinungs⸗ verſchiedenheit dreht ſich weſentlich um die Höhe des Zolles. Von dieſer hängt es in der Tat ab, ob die Wirkungen des Zolles mehr günſtige oder ungünſtige ſein werden; durch ſie wird es auch bedingt, ob derſelbe die Ziele einer geſunden Beſitz- und Sozialpolitik fördert oder beeinträchtigt. Ein ſehr hoher Zoll z. B. von 7,5—10 M. für den Doppelzentner Brotgetreide, wie wie er von manchen gefordert wird, müßte auf die Beſitzzuſtände eine nach⸗ teilige Einwirkung ausüben. Die Rentabilität des Getreidebaues und damit der Großbetriebe würde ungewöhnlich begünſtigt im Vergleich zu anderen Produktionszweigen und zum bäuerlichen Betrieb. Eine ſolche einſeitige Be⸗ vorzugung würde außer anderen unerwünſchten Wirkungen auch die haben, daß die bäuerlichen Betriebe zugunſten der Großbetriebe abnähmen. Zu ganz anderen Folgen würde die Abſchaffung der Getreidezölle oder ihre Herabſetzung auf ein Minimum führen. Der Großbetrieb würde unrentabler; viele Großbetriebe müßten eingehen oder ihre Beſitzer wechſeln oder ihre ganze Wirtſchaftsweiſe ändern. Mancher erblickt in allen dieſen Vorgängen vielleicht einen Fortſchritt, während ſie in Wirklichkeit einer großen Rück⸗ ſchritt bedeuteten. Ihr Reſultat würde folgendes ſein. Möchten die bis⸗ herigen Eigentümer in ihrem Beſitz ſich behaupten oder nicht, die Betriebe müßten eine extenſivere Geſtalt annehmen, das natürliche Verhältnis zwiſchen Ackerbau und Viehhaltung würde verſchoben werden, Roh- und Reinerträge würden ſinken, die Zahl der einheimiſchen Arbeiter abnehmen. Es würden Dr Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. 323 wirtſchaftliche und ſoziale Zuſtände eintreten, wie ſie jetzt in England be⸗ ſtehen. Es iſt eine verkehrte Meinung, wenn man glaubt, durch Abſchaffnng oder durch ſtarke Reduktion der Getreidezölle würden zwar die Großbeſitzer eſchädigt, deren Platz würden aber zahlreiche eigentümliche Bauern einnehmen. in ſolches Reſultat würde freilich manchen als ein erwünſchtes erſcheinen, vorausſichtlich aber ein ganz anderes ſich herausſtellen. Die Rittergüter würden in großer Zahl von Güterſchlächtern, Spekulanten, Landbanken auch ig Kapitaliſten aufgekauft, in bäuerliche Stellen zerlegt und als ſolche ver: kauft oder verpachtet werden. Von den neuen bäuerlichen Eigentümern würden ſich viele nicht halten, ſie müßten ihr Eigentumsrecht aufgeben und würden höchſtens als Pächter noch ihre Stelle behaupten können. Das End— reſultat würde zwar in einer Reduktion des Großbetriebes, aber auch in einer ſehr erwünſchten Ausdehnung des Pachtbetriebes und wahrſcheinlich des Latifundienbeſitzes beſtehen. Denn das Eigentum an den bäuerlichen Betrieben wurde immer mehr in den Händen reicher Kapitaliſten oder der bereits vorhandenen großen Grundherren ſich anſammeln. Hieraus iſt er⸗ ſichtlich, daß die Art, wie die Getreidezollfrage behandelt und gelöſt wird, von großen Einfluß auf die Beſitz⸗ und ſozialen Verhältniſſe ſein muß. Auch die Steuerpolitik iſt hierfür keineswegs gleichgültig. Die pro⸗ reſſiwe Einkommſteuer iſt den kleineren und mittleren Beſitzern ſowie den rbeitern zu ſtatten gekommen. — Einen eigentümlichen Charakter tragen die auf die landwirtſchaftlichen Nebengewerbe gelegten Steuern. Nach welchen Grundſätzen dieſe zu ordnen ſind, wurde auf S. 294 dargelegt, dabei auch unter Punkt 2 hervorgehoben, daß und weshalb die Steuer auf kleinere Betriebe niedriger ſein muß, als auf große. Die beiden wichtigſten Nebenge— werbe, die Kartoffelbrennerei und die Rübenzuckerinduſtrie, hängen in ihrer Rentabilität ſehr ſtark ab von der ihnen auferlegten Steuer. Sie üben zugleich einen bedeutenden Einfluß auf die ſozialen Verhältniſſe aus. Denn die Produktion des für ſie benötigten Rohmaterials, der Kartoffeln und der Rüben, erfordert während des Sommers zahlreiche Arbeitskräfte. Gerade dieſe Gewerbe ſind es, welche zu der ungewöhnlichen Ausdehnung des Wan— derarbeitertums die Veranlaſſung gegeben haben, vor allem die Zuckerin⸗ duſtrie. Das gewaltige Wachstum der letzteren iſt aber durch die Steuer— und Zollpolitik erſt hervorrufen worden. Durch die Art der Beſteuerung und durch die gewährte Ausfuhrvergütung wurde die Induſtrie ungemein rentabel, die mit Zuckerrüben bebaute Fläche vermehrte ſich ſtark und in gleichem Grade der Bedarf an Arbeitskräften. Es war eine ungeſunde Zu— nahme, auf welche der Rückſchlag notwendig folgen mußte. Nachdem einmal viele landwirtſchaftliche Betriebe auf den Zuckerrübenbau eingerichtet und große Kapitalien in die Zuckerfabriken geſteckt ſind, iſt es allerdings ſchwierig und nur mit Verluſten möglich, in andere Bahnen einzulenken. Daß der Zucker— rübenbau eine ſo unnatürliche Ausdehnung gewonnen, daß er ſo unheilvoll auf die ländlichen Arbeiterverhältniſſe gewirkt hat, daran trägt die Steuer— und Zollpolitik einen ſehr weſentlichen Teil der Schuld. Die großen Vor— teile, welche der Zuckerrübenbau der deutſchen Landwirtſchaft gebracht hat, ſollen nicht beſtritten werden. Sie wären aber auch, wenngleich in etwas geringerem Grade eingetreten, falls er ſich weniger rapide entwickelt hätte und nicht durch eine unrichtige Produktionspolitik in ungeſunder Weiſe herauf— geſchraubt worden wäre. Ein mäßiger Rückgang des Zuckerrübenbaues würde der Landwirtſchaft mehr nützen, als ſchaden. Die drei, auf die Beſitz⸗, ſozialen und Produktionsverhältniſſe ge richteten Teile der Agrarpolitik ſtehen in innigem Zuſammenhang und in gegenſeitiger Wechſelwirkung. Bei Maßregeln, die den einen Teil betreffen, 324 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. muß immer auf den Einfluß Rückſicht genommen werden, den ſie auf die anderen Teile vorausſichtlich ausüben. Die Produktion, ſowohl nach Roh⸗ ertrag wie nach Reinertrag, hängt viel mehr von den Beſitz- und ſozialen Zuſtänden ab, wie dieſe von jener. Deshalb muß der Beſitz- und Sozial⸗ politik eine größere Wichtigkeit für die geſamte Agrarpolitik beigemeſſen werden, als der Produktionspolitik. Mehr wie bei jedem anderen Gewerbe ſtellt bei der Landwirtſchaft die | Gegenwart das Reſultat der vorangegangenen Entwicklung dar. Sie iſt des⸗ halb nur zu verſtehen, wenn man die Vergangenheit einigermaßen kennt. Wenn die Agrarpolitik die richtigen Wege finden will, ſo muß ſie mit der geſchichtlichen Entwicklung der deutſchen Landwirtſchaft vertraut ſein. Je mehr dies zutrifft, deſto größere und dauerndere Erfolge wird ſie erzielen. Es will mir ſcheinen, als ob in der Gegenwart die Lehren, welche aus der Geſchichte zu ziehen ſind, nicht genügend beachtet würden. Sehr verwundern darf man ſich darüber nicht, denn das nämliche iſt ſchon oft vorgekommen und wird ſich noch häufig wiederholen. Ein großer Hiſtoriker hat ſogar behauptet, die Geſchichte verdiene deshalb den Namen einer Lehrmeiſterin, weil ſie lehre, daß die Menſchen nichts aus ihr lernen. Mögen diejenigen, in deren Händen die deutſche Agrarpolitik liegt, durch die Tat den Beweis liefern, daß dieſer Ausſpruch auf ſie ſelbſt keine Anwendung finden kann. Das in vorſtehendem Agrarprogramm Geſagte läßt ſich in folgenden zehn Sätzen zuſammenfaſſen. 1 Die Landwirtſchaft bildet das Fundament der ganzen Volks— wirtſchaft, die Agrarpolitik demnach einen beſonders wichtigen Teil der Wirtſchaftspolitik überhaupt. II. Für diejenigen, welche Agrarpolitik zu treiben berufen ſind oder ſich berufen fühlen, iſt es ein unbedingtes Erfordernis, daß ſie die Bedeutung und Aufgabe der Landwirtſchaft für Staat und Geſellſchaft vollkommen zu würdigen wiſſen, daß ſie außerdem die Bedingungen, an welche der Erfolg des landwirtſchaftlichen Betriebes geknüpft iſt, einigermaßen kennen. III. Da das landwirtſchaftliche Gewerbe und die ländliche Be— völkerung einen ſehr konſervativen Charakter beſitzen, Verände- rungen in ihnen nur ſehr langſam ſich vollziehen, ſo kann bloß eine ſolche Agrarpolitik dauernd heilſame Wirkungen haben, welche von großen und weiten Geſichtspunkten ſich leiten läßt, welche nicht nur die Gegenwart, ſondern vor allem die Zukunft ins Auge faßt. IV. Die wichtigſte Aufgabe der Agrarpolitik beſteht darin, die Verteilung des Bodenbeſitzes aufmerkſam zu verfolgen und darauf Bedacht zu nehmen, daß dieſelbe eine angemeſſene bleibt oder, ſoweit ſie es nicht iſt, in der Zukunft wird (Beſitzpolitik). Denn von ihr hängt es mehr wie von allem anderen ab, ob die Land— wirtſchaft ihre Aufgaben in einer für die Geſamtheit förderlichen Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. | 395 Weeiſe erfüllen kann und ob die einzelnen Gruppen der ländlichen Bevölkerung in einer befriedigenden Lage ſich befinden. | Große, mittlere (bäuerliche) und kleine Beſitzer müſſen über- all nebeneinander ſein. — Der landwirtſchaftlich benutzte Boden muß zum weitaus überwiegenden Teil von deſſen Eigentümern ſelbſt bewirtſchaftet werden. V. Die Löſung dieſer vornehmſten Aufgabe der Agrarpolitik bildet die notwendige Vorausſetzung für die an zweiter Stelle wichtigſte, welche die Herbeiführung geſunder ſozialer Zuſtände unter der Landbevölkerung zum Endzweck hat (Sozialpolitik). In einer angemeſſenen Verteilung des Grundbeſitzes liegt die ſicherſte Gewähr auch für eine normale Geſtaltung der geſellſchaftlichen Verhältniſſe auf dem Lande. Es kommt dann weſentlich nur noch darauf an, daß die einzelnen Gruppen der ländlichen Bevölke— rung einen ihrem Grundbeſitz entſprechenden Anteil an der Ord— nung und Verwaltung der kommunalen Angelegenheiten erhalten. VI. Befriedigende Arbeiterverhältniſſe ſind bloß zu erwarten, wenn die weit überwiegende Mehrzahl der verheirateten Arbeiter Anteil am Grundbeſitz oder doch die ſichere Ausſicht hat, ſolchen mit Hilfe von Erſparniſſen ſpäter zu erwerben. Das Wanderarbeitertum in ſeiner jetzigen Ausdehnung wirkt nachteilig auf die Geſtaltung der Beſitzverhältniſſe und der ſo— zialen Zuſtände, ebenſo auf die Erfolge des landwirtſchaftlichen Betriebes. Dasſelbe iſt daher einzuſchränken; aus dem Auslande kommende Arbeiter nichtdeutſcher, beſonders polniſcher Nationali— tät ſind möglichſt fernzuhalten. VII. Das Ziel der Produktionspolitik muß auf ein dauerndes und möglichſt ſtarkes Wachstum ſowohl der Roherträge wie der Reinerträge gerichtet ſein. Die einzelnen in ihr Gebiet ſchlagen— den Maßregeln müſſen je nach den gerade vorhandenen wirtſchaft— lichen Verhältniſſen ſehr verſchieden ſich geſtalten. In allen Fällen ſollen ſie aber ſo gewählt werden, daß ſie die Erreichung der wichtigeren und weſentlich gleich bleibenden Ziele der Beſitz— und Sozialpolitik nicht hindern, ſondern im Gegenteil fördern. VIII. Die Leitung der Agrarpolitik muß in den Händen der Staats— regierung ſein und bleiben. Dieſe muß daher zunächſt und vor allem über die zu erſtrebenden Ziele und einzuſchlagenden Wege ſelbſt zur Klarheit gelangen und dann das als richtig erkannte mit Beharrlichkeit . verſuchen. Hiervon ſoll ſie ſich auch durch entgegengeſetzte Meinungen und Wünſche der einzelnen Intereſſentengruppen oder Parteien nicht abbringen laſſen. IX. Eine erfolgreiche Agrarpolitik iſt nur durchführbar, wenn die Staatsregierung und die von ihr anerkannten landwirtſchaft 326 Schlußbetrachtung. Agrarprogramm. lichen Vertretungskörper ſich miteinander verſtändigen. Um zu einer Einigung und zu einem die Sache wirklich fördernden Re— ſultate zu gelangen, iſt es nötig, daß vorher von beiden Seiten eine eingehende objektive Unterſuchung und offene Klarlegung der tatſächlich vorhandenen Zuſtände und Bedürfniſſe ſtattfindet. X. Die agrariſchen Zuſtände im Deutſchen Reiche bieten zwar ed ein nach mancher Richtung hin nicht erfreuliches ild; ſie ſind aber mindeſtens ebenſo gut oder beſſer wie die in irgend einem anderen größeren europäiſchen Kulturſtaate. Es liegt keine Urſache vor, an der Zukunft zu verzweifeln; die vor— handenen Schäden können geheilt oder doch auf ein er ob Maß herabgemindert werden. Ob dies geſchieht oder ob wir ins Verderben gebracht haben, hängt zu einem weſentlichen Teile von der Richtung und dem Erfolge unſerer Agrarpolitik ab. u⸗ ſtänden entgegengehen ähnlich denjenigen, welche das alte Rom err A. Abbauten, 103. Ablöſung 41. Abſentismus 145. Abwanderung 152. Acker, Ackerland 7. Ackerbau, Beginn des 63. Ackerbauſchulen 168. ag ae Ackerwirtſchaft Ackerweide 8. Adel 1414. Adminiſtration 33. Agracgeſezgebung, preußiſche Agrarkommunismus 69. rg landwirtſchaftliche Allmende 36. 41. 77. Altenteil 109. Altſitzer, Auszügler 109. Amortiſation 138. Analuyſenfeſte Weine 263. Anerbe 109. Anerbenrecht 116. Anſiedelungsgeſetz 94. Arge 20. 5g. Arbeiter 148. — Bedarf an 27. — Mangel an 150. Arbeiterrentengüter 97. 163. Arbeiterverhältniſſe 50. Arbeitsnachweis 160. Arrondierung 99. Ausfuhrvergütung, Ausfuhr⸗ zuſchuß 290. Ausgedinge 109. Ausſtellungen 236. Auswanderung 108. 152. Autonomer Tarif 284. B. Bäckereigenoſſenſchaften 192. 256. Bauer 36. 55. 141. Bauerngüter 115. Bachregiſter. Bauernkrieg 37. 105. Bauernlegen 38. 92. Bauernvereine 173. Bäuerlicher Beſitz 82 ff. 91. Befähigungsausweis für Nah⸗ rungsmittelchemiker 240. Beſitzer 53. Beſitzpolitik 319. 324. Beſitzſtatiſtik 110. 310. Betriebskapital 23. 31. Betriebsmittel 20. Betriebsſtatiſtik 110. 310. Bevölkerung, ländliche 16. 57. Bezirks⸗Ciſenbahnräte 250. Bimetallismus 211. Binnenwanderung 152. Blattpflanzen 6. Boden 4. Bodennutzungsart 7. Bodenpreiſe 43. Börſe 212. Brache 9. Brandgilden 215. Brandſteuer 215. Branntwein, Aus⸗ und Ein⸗ fuhr von 288. Branntweinſteuer 288. 291. Brotkonſum 272. Bund der Landwirte 175. 296. 298. Butter, Erſatzmittel für 260. Butterpreiſe 45. Büdner 104. C. Cäſarismus 302. m... = Senofjenjchaftstafie 18 Code civil 107. D. Darlehnskaſſen 180. Deichgenoſſenſchaften 183. Differenzgeſchäft 212. Domänen 67. 70. Domänenpächter 73. Doppelbeſteuerung 287. Doppelwährung 211. Dorfſyſtem 98. 103. Dreifelderwirtſchaft 26. 35. Dreißigjähriger Krieg 38. 105. Düngerhandel 188. 240. Düngerſtätten 242. E. Effektenbörſe 212. Eigenkätner 150. Eigenwirtſchaft 31. Einfuhr an Getreide 11. — 5 tieriſchen Produkten Eingangszölle 253. 283. Einkaufsgenoſſenſchaften 256. Einkommenſteuer 127. 287. Einlieger 149. Eiſenbahnen 250. Entſchuldung 139. c SARRERRÜCH TRIER 184. Erbfolge 104. Ergänzungsſteuer 126. 138. Ernte und Ernteſtatiſtik 13. Ertrag 29. Ertragswert 30. Erwerb⸗ und Wirtſchaftsge⸗ noſſenſchaften 180. Erzieheriſche Aufgabe des Staates 57. Etat der landwirtſchaftlichen Verwaltung in Preußen 3 00. Extenſiver Betrieb 25. 47. F. Fabrikatſteuer beim 289. Felderwirtſchaft 26. Feldgraswirtſchaft 26. Feldregulierung 97. Feuerverſicherung 215. Fideikommiſſe 118. Finanzzoll 267. Zucker 328 Fleiſch und Fleiſchwaren 264. 282. Fleiſchbeſchau 264. Fleiſchpreiſe 45. Flurbereinigung 98. Flurzwang 37. Fondsbörſe 212. Forſtbeſitz, Verteilung des 77. Forſten 7. Fortbildungsſchule 170. Fortwanderung 152. Freihandel 267. Freizügigkeit 155. 161. Fruchtwechſelwirtſchaft 26. Futterkräuter 4. Futtermittelhandel 188. G. Garten, Gartenland 7. Gärtner, Dreſchgärtner 149. Gebäude 23. Geldweſen 206. Geldwirtſchaft 207. Geldwucher 207. Gemeindegrundbeſitz 77. Gemeindeſchweſter 159. Gemeinheitsteilung 64. 97. e der Grundſtücke 7. Genoſſenſchaftsverbände 190. Germaniſierung Oſtdeutſch⸗ lands 105. Geſinde 148. Geſindevermittler 160. Geſtüt 74. Getreide 5. Getreidepreiſe 270. Getreideverwertungsgenoſſen⸗ ſchaften 182. 257. Getreidezölle 269. Gewannregulierung 98. Gleitende Skala 276. Goldagio 211. Goldwährung 209. Graswirtſchaft 26. Großgrundbeſitzer 37. 56. 83. 141. Grundariſtokratie 118. Grundbeſitzende Arbeiter 150. Grundbeſitzloſe Arbeiter 150. Grundeigentümer 36. Grundherr, Gutsherr 36. 142. Grundrente 30. Grundſteuer 287. Gutsbezirke, iſolierte 158. 162. Gutsherrlich-bäuerliches Ver⸗ hältnis 40. Gutstagelöhner 149. H. Haftpflicht 185. Hagelſchaden 217. Sachregiſter. Hagelverſicherungsgeſellſchaf⸗ ten 218. Halbbauer 104. Halmpflanzen 6. Handelggewächſe 5. 9. Handelsverträge 275. 285. Haubergsgenoſſenſchaften 183, Hauptgeſtüte 248. Häusler 150. hengſte 248. Heuerleute, Heuerlinge 149. hirtenvölker 62. e landwirtſchaftliche 164. 1 Hofgänger 149. Soffyftem 103. Höfeordnung 113. Hypothekenbanken 202. J. Immobiliarkredit 197. Individualismus 301. Induſtrie 51. Induſtrieſtaat 164. Inſten, Inſtleute 149. Intenſiver Betrieb 25. 47. Intereſſengemeinſchaft zwiſchen e u. Arbeitern 57. Inteſtatanerbenrecht 116. Inventar 23. e Gutsbezirke 153. 161. K. Kammeralwiſſenſchaft 106. Kanäle 252. a Antrag des Grafen 279. Kapital 20. Kapitalverſchuldung 135. Kartoffeln 5. Kartoffelbrennerei 27. Kaſſageſchäft 212. Kaufpreis von Gütern 47. Klaſſenſteuer 287. Klee 5. 40. Kleinbahnen 249. Kleinbetriebe 115. Kleinkinderſchule 159. Kleinſtellenbeſitzer 56. 82. 148. 314. Klima 4. Koloniſation 157. 314. Kommaſſation 99. Kommunalkörperſchaften 60. ee deutſcher Landwirte 172. Konſolidation 99. Konſtitutionelle Monarchie 302 Konſumvereine 159. 181. Kontingentierung der Spiri⸗ tus- und Zuckerproduktion 290. 293. Kontraktbruch 160. eee eee 182. Körnerfrüchte 4. Körnerwirtſchaft 26. 35. Körordnung, Kören 246. Körzwang 247. Kötter 104. Kredit 192. ae een 181. Kreditweſen 205. Kuhgilden, Kuhladen 223. Kulturart 7. Kunſtſpeiſefett 260. Kunſtſtraßen 249. Kunſtwein 262. L. Landbanken 96. Landbeſchäler 248. Landbewohner, Landbevölke⸗ rung 16. r Landeskreditkaſſe 199. Landes-Eiſenbahnrat 250. Landesherrliche Gewalt 38. Landeskulturedikt 107. Landeskulturrentenbanken 203. Landes⸗Moorkulturanſtalt in Bayern 245. Landes-Viehverſicherungsan⸗ ſtalten 225. Landgemeinde 158. 162. Landgemeindeordnung 82. Landgeſtüte 248. Landgüterordnung 113. Landhunger 148. Landreformer 66. Landſchaften 197. Landwirtſchaft, doppelte Be⸗ deutung des Wortes 53. Landwirtſchaftlich benutzte Fläche 7. Landwirtſchaftliche richtsanſtalten 164. Landwirtſchafts⸗Geſellſchaft, deutſche 173. Landwirtſchaftskammer 175. Landwirtſchaftslehre 164. Landwirtſchaftspolizei 231. Landwirtſchaftsrat 172. Landwirtſchaftsſchule 167. Lebensverſicherung 138. Leſeabende 159. M. Margarine 260. Margarinekäſe 260. Markgenoſſenſchaften 178. Unter⸗ a * 8 * 182. ane, 5 Grundbeſitzer 66. Moore 2 aon 245. N. Nachſchußpflicht 185. rungsmittelchemiker 240. e 259. Naturallöhnung 156. 1 207. Naturgeſetze 4 Naturwein 262. Naturwiſſenſchaft 43. Nomadenvölker 63. O. Odland 14. 245. P. un 111. eig 5 Domänen 46. Bee >. Pächter 53. 8 210. arteiweſen 52. arzellenbeſitz 82. onalkredit 193. onalſteuer 287. Hlerdepalln 198. ferdehaltung 2. 248. Polizei, landwirtſchaftliche 231. 41 — 2 der 150. reis landwirtſchaftlicher Pro⸗ dukte 45. riwateigentum 35. roduktenbörſe 212. roduktions⸗Genoſſenſchaften 181. 256. Produktionskoſten 270. Produktionspolitik 319. Sachregiſter. RN. Realſteuer 287. Reichsverſicherung geg Hagelſchaden bi — gegen Viehſterben 225. Reinertrag 30. Remontepferde 248. Rentenbank 113. Rentengutsgeſetze 94. 113. a Rentenverſchuldung 135. Rinderpeſt 228. B 2 Riſiko 2 | et 197. Roggen als Viehfutter 273. Rohertrag 30. 48. „Rotz 228. Rüben 5. Rübenſteuer 288. Rübenzuckerfabrikation 27. S. Saccharingeſetz 264. Sachſengänger 150. Sachwucher 206. Schafhaltung 2. Scharwerker 149. Schlachthäuſer 264. Kerr ⸗Genoſſenſchaften Shladiiehverfiherung 230. Schutzzölle 267 Scweinefaltung 2. Selbithilfe 60. 205. Selbſtverſicherung 221. Separation 98. F Verſicherung gegen Silberwährung 209. Sozialdemokratie 302. Sozialpolitik, agrariſche 319. . ſozialiſtiſcher Staat Solldurhaft 180 Sparkaſſen 159. Spatenkultur 115. Staatsdomänen 70. Staatsfinanzen 71. Staatsgeſtüte 248. Staatskredit 71. Staatsſozialismus 301. Staffeltarife 252. r Behandlung des * 4 8 Steuerweſen 286. Streubeſitz 110. T. Tarifweſen 250. Technik, in der Landwirtſchaft 49. 241. 329 Techniſche Nebengewerbe 27. RN Terminhandel Tuberkuloſe 229. u. ng a Bodens 50. 124. Unbemefiit u Bodens Unglücksfälle 214. Univerſitätsinſtitute, landwirt⸗ ſchaftliche 165. Unland 14. . Anerbenrecht Unternehmer 53. 141. Unterſtützungswohnſitz 161. Unterſuchung von Futter⸗ und Dungmitteln 237. Untertan 36. e des Bodens Umverzeprbarti des Bodens 1. V. Vagabnndenweſen 106. Valutaſchwankungen 210. Verband deutſcher Verſuchs⸗ ſtationen 239. Verbrauchsabgabe beim Spiri⸗ tus 289. — beim Zucker 289. Vereinödung 103. Vereine, landwirtſchaftliche 171. Vererbung des Bodens 104. Verkaufsgenoſſenſchaften 181. 256. Verkehr, Verkehrsverhältniſſe 4. 50. 248. Verkoppelung 99. Verluſtgefahr 214. Wen des Bodens Beſchulhungs renze 134. Verſchuldungsſtatiſttt 124 ff. l gegen Feuer⸗ chaden 215. — gegen dage elſchaden 217. — gegen Tuberkuloſe 228. — gegen Viehſterben 221. Verſtaatlichung des Hypo⸗ thekarkredits 135. Verſuchsſtationen 237. Verteilung des Bodens S2kk. 307. Viehhaltung 2. 246. Viehverſicherung 221. Viertelsbauer 104. Volksbanken 180. Dido W 2 * * 2 4 n Buchdruckerei v. Ant. Kämpfe. Jena. 0 = NE Yen De ee i SCHEN FR Be : 5 gen. ; : - 2 5 2 Are —— Sr ur — ne . Fe - 5 —— A 2 22 e 5 5 a | 5 Ei; — . r 5 — - 2 2% — — 3 2 g * — 2 Eee ERS) 8 5 — mar A 2 — — Er * — 5 us — * HN 1 0 f 11 5 ‘ 1 Kr : vi 8 Ri Te, 2 N N 5 % : re = 0 Fr En N - — . x Zar x * v 2 5 = . Be re u 1% N — = 6 = 7 5 3 Fa Em ERD az — 5 N re re 2 i (} N Uhr, x nr un SER — — Re 5 —. 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