' ADOLF KELLER x EINE PHILOSOPHIE | „DES LEBENS

(HENRI BERGSON)

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ADOLF\KELLER ° EINE PHILOSOPHIE

DES LEBENS (HENRI BERGSON)

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS JENA 1914

Bu Bang VORWORT

Diese Darstellung der Gedankenwelt Bergsons ist zuerst in der Schweizerischen Zeitschrift Wissen und Leben erschienen und hier mit einigen Erweiterungen und Veränderungen wieder abgedruckt. Das bedingte eine starke Verdichtung des Stoffes und in der Form der Ausführung den Versuch einer Anpassung an einen weitern Leserkreis. Gerade-deshalb ist diese Schrift als Einführung in die Philosophie Bergsons vielleicht vielen Lesern willkommen, die sich sonst nicht fachmäßig mit Philosophie beschäftigen, aber doch spüren, dass heute von der Philosophie her starke und verheißungsvolle Einflüsse auf unsere Kultur ausgehen, mit denen man sich auseinanderzusetzen hat. Wegen der totalen Standpunkts- änderung, die diese Philosophie gegenüber der bisherigen bedeutet, ist diese Auseinandersetzung gar nicht leicht, wie die Mehrzahl der so gegensätzlichen Äußerungen über Bergson zeigt. Die Einen, die sich an seine leicht zu kritisierenden Einseitigkeiten und schwachen Punkte festhacken und ihn deshalb ablehnen, übersehen meist den großen Zug, die geistige Konzeption und den lebendigen Grundtrieb des Gesamtwerkes. Die andern, die sich davon gefangen nehmen lassen, etwa noch hingerissen vom Zauber der Sprache und der plastischen Gestaltungskraft, vergessen leicht die kritischen Maßstäbe, die wir namentlich aus der deutschen philosophischen Entwicklung gewonnen haben. Ein abschliessendes Urteil über Wert und Wirkung von Bergsons Philosophie wird sich heute schon deshalb nicht geben lassen, weil sie selbst nicht abgeschlossen ist. Wenn man von der Wirkung eines Werkes auf dessen Wert oder doch dessen Bedeutung für die Gegenwart schliessen darf, so zeigt der gewaltige Einfluss Bergsons jedenfalls, dass er mit seinem Denken auf einen Nerv unserer Zeit gestossen ist, auf Hoffnungen und Anstrengungen, die in besonderer Weise die heutige Kulturwelt beschäftigen. Es kann nichts anderes sein, als die Sehnsucht nach einer neuen Befreiung, Vertiefung und Steige- rung des Lebens selbst, das in uns fliesst. Wer alte, hemmende Gewohnheiten zerbrach, hat meist auf den Dank von Befreiten rechnen dürfen. Ob auch ein Zerbrechen alter Gewohnheiten des Denkens, das so viel für die Befreiung des Menschen geleistet hat, dieses Dankes würdig ist, ist heute die vielumstrittene Frage. Wer von Bergsons Antwort nicht befriedigt ist, wird doch wenigstens von der Aufwerfung der Frage selbst, ihrer Verfolgung und Be- arbeitung reichlichen Gewinn haben.

ZÜRICH, Januar 1914 ADOLF KELLER

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'or allem Denken liegt das Leben. Keiner weiß, wie lange sein

schöpferischer Wellenschlag durch das All schlug, bevor ihm an einem Punkte seines Werdeganges leuchtend der prome- theische Funke des Denkens entsprang. Und so sehr dieses seinen Eigenwert gewonnen und seine eigenen Gesetze sich ge- ı schaffen hat, irgendwo hängt es doch mit dem Leben als seiner Bedingung zusammen und zielt wieder darauf hin, um es zu er- leuchten und zu leiten. Wo dieser Zusammenhang vergessen wurde, da richtete eine abstrakte Scholastik ihr trostloses Reich auf. Wo das Denken sich gebärdete, als ob es jenem Nährboden für immer entwachsen wäre, da verfielen seine Ge- bilde der Erstarrung oder entbehrten doch jener zeugenden Kraft, die aus dem Schoße des Lebens wieder Neues hervorrief. Wo das Denken nicht mehr weiter kam und sich an unlösbaren Widersprüchen feststieß, half so oft das Leben selbst weiter, in- dem es wie eine Flut sich höher hob und mit neuen Schöp- fungen, Fragen und Problemstellungen das Schiff wieder flott machte und neuen Zielen entgegen trug. Wer sich in den Eis- wüsten einer lebensfremden Abstraktion verlor, wird immer wieder die Berührung mit dem wirklichen Leben suchen müssen, wenn er auf die Dauer nicht irre gehen will. Zurück zum Leben! er- tönt es dann immer wieder, wenn eine Fragestellung, ein Problem zu Tode gehetzt worden ist und weitere Antworten verweigert. Diesen Ruf erhebt in der heutigen Zeit kein Zweiter so ein- dringlich und leidenschaftlich wie der Franzose Henri Bergson. Er hat damit eine starke philosophische Bewegung entfacht, die immer weitere Kreise zieht und deren Ende noch nicht abzu- sehen ist.

Hier soll nun eine kurze Darstellung seiner Gesamtphiloso- | phie und ihre Beurteilung versucht werden, wobei wir weder der Kritiklosigkeit der meisten seiner schwärmenden Anhänger, noch | der Verständnislosigkeit mancher seiner Kritiker verfallen wollen. Es kann sich dabei nicht darum handeln, eine vollständige syste-

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matische Darstellung zu geben. Wer eine solche sucht, findet sie leicht in der bereits stark angeschwollenen Literatur über Bergson !.

Es geht hier auch nicht an, eine historische Entwicklung seiner Gedanken zu geben. Ich werde mich darauf beschränken, das Wesentliche seiner Philosophie um ein paar Hauptgedanken zu gruppieren, um in einem Schlussteil die Stellung dieser bedeu- tenden philosophischen Leistung in der Geistesbewegung unserer Zeit zu bestimmen und kritisch ihre Bedeutung für uns abzuwägen.

DAS UNMITTELBARE ERLEBNIS

Was Leben ist, wird am unmittelbarsten im eignen Ich be- lauscht. Dort sind wir den Quellen des Lebens, soweit sie uns überhaupt zugänglich sind, am nächsten. Aber wenn wir das Leben wir! in seiner Unmittelbarkeit erfassen wollen, müssen wir hinter die Bearbeitung zurückgehen, die die Sprache, die Ge- wohnheiten und die Wissenschaft an ihm ausgeübt haben. Die räumliche Einordnung, die Fassung in Worte, die praktischen Zwecke und gar die Begriffe, mit denen wir das Leben auszu- drücken suchen, sind schon Kleider, die die nackte Ursprünglich- keit des unmittelbaren Erlebnisses verhüllen. Vor diesem allem liegt das Unmittelbare, so wie es als neugeborne Quelle aus der Wirklichkeit hervor quillt. Es in diesem Werdeaugenblick zu fassen, in dem das Zucken des Lebens und der Blitz des Erkennens in einem beschlossen sind, ist die erste Aufgabe. Sie gelingt nicht dem nachhinkenden Denken und nicht der Wissenschaft, sondern nur einer Art direkter und plötzlicher Vision, wie sie die Gnade des Künstlers ist. Was fassen wir denn nun, wenn es uns gelingt, alle die Gefässe, mit denen wir gewöhnlich das Erlebnis aufzu- schöpfen suchen, bei Seite zu legen, und es gleichsam so auf- zunehmen, wie der Hirtenknabe den Quell unmittelbar mit seinem Munde trinkt?

Ein Beispiel wird die Frage deutlicher machen: Was ist eigentlich das reine und unbearbeitete Erlebnis, wenn ich etwa

dann die Darstellungen

YIch nenne nur Le Roy, Une philosophie nouve seiner Philosophie durch Gillouin, und Grandjean; dann im Deutschen: Steenbergen, Bergsons intuitive Philosophie, Goldstein in den Wandlungen der Philosophie der Gegenwart, Kroner im Logos I., Bornhausen in der Zeit- schrift für Theologie und Kirche 1910 und einschlägige Artikel in beinahe jeder philosophischen Zeitschrift.

träumend unter einem Baume liegend plötzlich durch einen kra- chenden Blitzschlag aufgeschreckt werde? Nach dem allerersten überwältigenden Augenblick fahre ich auf, um mich aus der Ge- fahr des Baumes zu bringen. Das Erlebnis löst also sofort einen motorischen Akt in mir aus und treibt mich zu einem Handeln. Ich suche mich in dem verwirrenden Durcheinander von Zuständen zu orientieren. Ich nenne das Erlebnis und füge es damit andern ähnlichen frühern ein, die als Erinnerungen sofort wieder auf- steigen, mich beruhigen und mir eine Herrschaft über das un- erhörte Neue geben. Ich zerlege es unwillkürlich in ein Innen und ein Außen, mache eine Ursache und eine Wirkung daraus, versetze jene an den Himmel in die Gewitterwolke und diese als ein Gefühl in meine Seele; ich weise ihm also seinen Ort an. Rasch berechne ich vielleicht die Entfernung der Ursache und die Heftigkeit der Wirkung und überliefere dann das Erleb- nis weiterer Bearbeitung und Klassifizierung, indem ich vielleicht an die Theorien über das Gewitter denke oder die allgemeine ästhetische Stimmung erfasse, in die es eingebettet ist. Machen wir uns nun klar, dass das alles erst nachträgliche Überarbei- tungen des ursprünglichen Erlebnisses sind, das vor ihnen liegt! Die motorische Wirkung, die Einordnung in das Sprach- und Begriffsschema, die Verknüpfung mit frühern Erinnerungen, die örtliche und zeitliche Datierung und zuletzt die wissenschaftliche Prüfung und Begutachtung sind nicht das Ursprüngliche, sondern das Spätere. Es sind dies künstlerische und technische Handgriffe, Bearbeitungen, durch die wir das Erlebnis für die Mitteilung und den Gebrauch zurecht machen. Im eigentlichen Erlebnisaugenblick, so kurz er auch sei, weiß ich nichts von allen diesen Schemat: in die sein Inhalt gleich nachher automatisch eingeordnet wird. Es ist vielmehr eine einzige gewaltige Erschütterung, ununter- schieden, ohne ein Drinnen und ein Draußen. Ich weiß nicht, ob es in den Baum oder in den Körper eingeschlagen hat, Lichterscheinungen und Gefühlszustände wirbeln toll durchein- ander. Frühere ähnliche Erlebnisse sind im Nu herbeigerissen und verschmelzen sich mit der gegenwärtigen Erschütterung zu einem einzigen und unteilbaren Ganzen. Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Befürchtungen, Strebungen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchdringen sich gegenseitig unlösbar und bilden

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gerade in ihrem zuckenden Durcheinander den Reiz und die Macht des unmittelbaren Erlebnisses.

Was hier an einem Beispiel gezeigt worden ist, gilt für alles Erleben, das ganz etwas anderes ist, als seine begriffliche und wissenschaftliche Erfassung und Ordnung. Es ist ein beständiger Wechsel von Zuständen. Sie sind einer im andern enthalten und lösen sich einer in den andern auf. Eine Luftwelle bringt einen Blumenhauch daher, und in ihm schwimmt die süßeste Erinne- rung an vergangene Zeiten mit. Ein stilles, großes Leuchten trifft mein Auge und verschmilzt mit der höchsten und edelsten Sehn- sucht des Herzens. Die Erlebnisse treten nicht einzeln auf, son- dern sie sind ein ununterbrochener Fluss des Geschehens; „es ist eine Folge von Zuständen, von denen jeder anzeigt, was folgt, deren jeder enthält, was ihm vorangeht. Tatsächlich bilden sie erst verschiedene Zustände, wenn ich sie schon hinter mir habe, und wenn ich mich zurückwende, um ihre Spur zu beobachten. Während ich sie empfand, waren sie von einem gemeinsamen Leben so fest organisiert, so tief beseelt, dass ich nicht hätte sagen können, wo der eine endet und der andere beginnt.“ Erst unsere nachträgliche Betrachtung trennt sie und reiht sie als ein- zelne an einander wie die Perlen auf einer Schnur. Aber auch dieses Bild sagt schon wieder zuviel, als ob es sich im Erleben um Quantitäten handelte. Alles Quantitative ist ausgeschlossen, alles ist reine Qualität, Empfindungsänderung von wechselnder Stärke und Dauer. Das Erlebnis, so an der Quelle aufgefasst, „ist das Reich der Dämmerung und des Traumes, aus dem der Strahl hervorbricht, den wir Ich heißen, geheime und warme In- nerlichkeit fruchtbarer Finsternisse, aus denen unser werdendes Leben hervorrieselt. Die Unterschiede bestehen noch nicht. Das Wort gilt noch nicht. Man hört die Quellen des Bewusstseins geheimnisvoll rauschen wie einen unsichtbar fließenden Bach in den moosigen Schatten der Grotten“. Im Augenblick des un- mittelbaren Erlebens gibt es noch keine Dinge, die von außen einen Eindruck auf uns machen, noch innere Zustände, die einen Ausdruck suchen. Nur Erlebnisse, von denen man sich nicht unterscheidet, die also der Scheidung in die Doppelheit eines Sub- jekts und Objekts vorausgehen.

In diesem Grunderlebnis ist eine Brücke zwischen dem Ich und dem Weltleben, der Wirklichkeit überhaupt, geschlagen. Vivo, ergo sum. Wirklichkeit und Bewusstsein sind noch nicht aus- einander gelegt, sondern in einem, eben dem unmittelbaren Er- lebnis, beschlossen. Nachher kann das Ich nur durch einen Sprung wieder zur Annahme einer Welt außer ihm gelangen. In diesem Erlebnisaugenblick ist es noch warm in den Mutterschoß aller Wirklichkeit und alles Lebens eingebettet. Wie kommen wir nun vom Erlebnis zur Erkenntnis? Wie ist es möglich, jenes Unmittelbare mit den Mitteln des menschlichen Geistes zu er- fassen und daraus Erkenntnis und letzten Grundes eine Welt- und Lebensanschauung zu gewinnen? Denn das Erlebnis an sich ist noch keine Erkenntnis Das Tier erlebt auch. Der Mensch gewinnt aber etwas aus dem Erlebnis, was ihn über das Tier hinaushebt. Der menschliche Geist erhebt sich über die dumpfe, Unmittelbarkeit, in der er mit der Wirklichkeit verschmolzen ist und unterscheidet sich in der Erkenntnis von ihr. Es gibt nun nach Bergson zwei Wege, die vom Erlebnis zur Erkenntnis führen :

VERSTAND UND INTUITION

Wir können versuchen, jenes Unmittelbare gleichsam von außen zu sehen, es mit unsern Begriffen zu bearbeiten und es mit andern ähnlichen Erfahrungen zu vergleichen, in dem wir alles Einmalige und Unvergleichbare weglassen und nur das Ge- meinsame hervorheben. Oder wir können versuchen, es gleich- sam von innen zuschauen, uns in es hineinzufühlen und das so Gewonnene in immer neuen Bildern und Vergleichen auszudrücken, die gerade jenes Einmalige und Unwiederholbare zu erfassen suchen.

Was wir da angedeutet haben, sind zwei wesentlich von ein- ander verschiedene Erkenntnismöglichkeiten, mit denen wir uns zuerst als der methodischen Frage beschäftigen müssen. Es sind die beiden Erkenntnismittel des Verstandes und der Intuition. Was leistet zunächst der Verstand oder Intellekt für die mensch- liche Erkenntnis? Welches ist seine Funktion und sein Wert? Wir wollen uns zunächst einmal klar machen, wie er arbeitet und das Erlebnis sich aneignet. Seine Arbeit besteht vor allem darin, die Erlebnisse nach bestimmten Schemata zu ordnen.

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Er tut das durch die Begriffe. Sie sind die Formen, in die der verworrene und flüssige Rohstoff des Erlebens hineingegossen wird. Durch sie versucht der Verstand eine Nachbildung der Wirklichkeit zu geben, die die Bedeutung eines geistigen Gleich- wertes haben soll. In dieser Nachbildung hebt aber der Intellekt nur das hervor, was das Gemeinsame vieler gleichartiger Erleb- nisse ist und lässt das Individuelle und Einmalige fallen. Er steigt so zu einer immer höhern und umfassendern Gemeinsamkeit auf, die ihre Spitze in den Allgemeinbegriffen, im Gesetz, erreicht. Alle Wirklichkeit darauf zurückzuführen ist sein unablässiges Be- mühen und sein ihm eigentümliches Streben. Aber diese Begriffe sind ja nur Symbole der bearbeiteten Wirklichkeit, mit denen er wie mit Spielmarken verfährt, die auch nur eine angenommene Bedeutung haben. Sie sind nicht die Wirklichkeit selbst, sondern der Versuch einer Übersetzung in eine ihr fremde Sprache. Diese Übertragung ist an manchen Punkten schon deshalb unvollstän- dig, weil der Verstand unfähig ist, die Wirklichkeit im Zustand des Werdens zu erfassen. Er kann immer nur mit fertigen Ein- drücken und Erinnerungen arbeiten. Sobald er einsetzt, ist das Erlebnis selbst immer schon vorüber; es ist schon ein, wenn auch kleines, Stück Vergangenheit geworden, aus der er es mühsam wieder hervorzieht. Aber, indem er das tut, reißt er es aus der Einheit heraus, der es unlösbar angehört und zerstückelt es in einzelne Teile, die allein für ihn fassbar sind. Er pulverisiert die flies- sende, ununterbrochene Wirklichkeit in kleinste Stücke und glaubt aus ihnen durch Addition das Ganze wieder aufbauen zu können. Am deutlichsten wird das Ungenügende dieses Versuches, wo der Verstand das seelische Leben erfassen und mit seinen Begriffen ausdrücken will. Diese Anstrengung ist so vergeblich und irre- führend, dass man schon die Behauptung wagen durfte: die Psychologie tötet die Seele. Der Intellekt, der ihr Leben fassen will, schöpft aus dem Strome des Erlebnisses immer nur einzelne Teile heraus, nennt sie Wahrnehmung oder Gefühl oder Strebung, und sondert sie damit von dem Strome, in dem sie eingebettet mitflossen. Mit solchen Teilen versucht dann der Intellekt das seelische Leben, die Seele als ein Ganzes aufzubauen und dar- zustellen. Das versuchte z. B. eine Assoziationspsychologie, die die Seele aus einer Mechanik der einzelnen Vorstellungen er-

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klären wollte. Wie die Teilstücke einer Kette aneinander hängen und sich vorwärts reißen in der Bewegung, so sollten die see- lischen Vorgänge ineinander greifen als einzelne, deutlich von- einander zu unterscheidende Teile. Das entspricht aber nicht der seelischen Wirklichkeit, wie wir sie unmittelbar empfinden, die ein ununterbrochenes Fließen und Verändern von Zuständen ist. Was wir Assoziation nennen, soll natürlich damit nicht geleugnet werden. Nur spielt sie lediglich an der Oberfläche des seelischen Stromes, auf der „wie tote Blätter die einzelnen abgelösten Reste und Abfälle des tiefern Lebens schwimmen“. Der Dichter hat das schmerzlich gefühlt und auf seine Weise ausgedrückt als er sagte: Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr. Wir haben alle schon deutlich diese Schranken jeder Psycho- logie gefühlt, die das Wesen und Leben der Seele in Begriffen darzustellen unternimmt und somit auf eine wissenschaftliche Formel zu bringen sucht. Diese Grenzen sind die des Intellekts überhaupt, der überall da versagt und die Wirklichkeit vergewal- tigt, wo es sich um das Leben, die Bewegung und das Werden handelt.

Haben wir das soeben an seiner Darstellung des seelischen Lebens gezeigt, so sei auch noch einen Augenblick auf seine Un- fähigkeit, die Bewegung zu erfassen, eingegangen. Bergson hat gerade diesem Nachweis besondere Anstrengungen gewidmet. Der Verstand, den wir lieber Intellekt nennen wollen, um Verwechs- lungen vorzubeugen, sucht immer wieder die Bewegung darzu- stellen dadurch, dass er sie mit einer durchlaufenen Raumstrecke gleichsetzt. Die Bewegung, die zum Beispiel eine abgeschossene Kugel ausführt, wird durch den Intellekt zerlegt in ein Energie- quantum und eine Bewegungsbahn, deren Form durch den Raum bestimmt ist. Diese Bewegungsbahn wird durch ein Koordinaten- system abgesteckt und gemessen durch Raumstrecken. Die leben- dige Bewegung wird also durch Raumsymbole ausgedrückt. So verfährt die Infinitesimalrechnung, praktisch von höchstem Wert, indem sie kleinste Teilstrecken als Gleichwerte für die Bewegung gebraucht. Ja die gesamte moderne Mathematik versucht sowohl die Linie aus der Bewegung als auch und das ist hier wichtig Bewegung durch die Linie auszudrücken. Aber die Bewegung selbst ist damit nicht erfasst. In einer solchen linearen Dar-

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stellung der Bewegung fehlt gerade der unteilbare Schwung, der in jeder Bewegung steckt. Dieser „Elan“ kann nicht von der Be- wegung losgelöst werden, etwa als ein energetisches Quantum. Denn sie ist kein Ding, das man in Teile zerlegen kann. Sonst bliebe von der Bewegung nur noch das Bewegte und die Strecke übrig, und die Hauptsache fehlte, die Beweglichkeit, der lebendige Schwung, der nicht Halt machen oder geteilt werden kann, bevor er seine Kraft ausgegeben hat.

Bergson macht diese unzulängliche Auffassung der Bewegung, wie sie dem Verstande eigen ist, an einem treffenden, dem Raum entnommenen Bilde deutlich: Der Intellekt stellt gleichsam die Bewegung dar, wie eine Treppe mit unendlich kleinen Stufen- absätzen, während sie höchstens einer fortlaufenden schiefen Ebene zu vergleichen wäre. Wenn wir die durchlaufene Bahn in noch so kleine Teilstrecken zerlegen so sind das nicht Teile der Be- wegung selbst, die unteilbar ist, bis sie zur Ruhe kommt, sondern nur Haltestellen für den Intellekt, von denen aus er gleichsam eine Anzahl von Aufnahmen macht, um sie dann wieder zum Ganzen zusammen zustellen.

Auf dieser Ersetzung des Werdenden durch das Fertige be- ruhen eine ganze Reihe berühmter Trugschlüsse, die zum Teil schon die alten Griechen beschäftigt haben. Vor allem die so- genannten eleatischen, die von der Flugbahn zum Fluge, von der unbeweglichen Lage zur Beweglichkeit auf dem Wege der Zu- sammensetzung gelangen wollten. So jener Trugschluss, der be- hauptete, dass Achilleus trotz seiner größern Geschwindigkeit doch nie die langsamere Schildkröte einholen könne, da sie in der Zeit, da er seinen großen Schritt mache, doch immer wieder einen kleinen weiter gemacht habe. Das ist ein Schluss, dessen Trug daher kommt, dass die wirkliche Bewegung sowohl des Achilleus als auch der Schildkröte in Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt wird während jeder Schritt des sich Bewegenden ein unteilbarer Schwung ist.

Ebenso wenig wie die Bewegung kann das Werden vom In- tellekt erfasst werden. Das ununterbrochene, schöpferische Her- vorgehen von neuen, qualitativ verschiedenen Zuständen sucht er aufzulösen in eine Reihe von Teilansichten, aus deren Zusam- menstellung er dann das Ganze wieder zu gewinnen hofft. So

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wie der Kinematograph ein Geschehen festhält in einzelnen ge- trennten Aufnahmen, die er dann wieder zusammenstellt. Aber ein Geschehen ist keine teilbare Sache, keine Addition von klei- nen Teilresultaten, sondern ein „Rhythmus von Phasen“, die be- ständig in einander übergehen und nicht getrennt werden können. Sie wechseln in und mit der Zeit wie alles Geschehen. Aber der Intellekt tut so, als ob sie im Raume lägen, denn er misst sie mit einer Zeit, die ein Raummaß ist. Ist doch die Uhr die Übertragung der Zeit auf die Raumstrecke. Dieses Zeitmaß aber, die Zeit als Länge, ist ein anderes als die Zeit, die ein Geschehen und Werden ist. Die „temps-longueur“ wird daher dem Werden nicht gerecht. Davon noch später.

So werden am Leben, an der Bewegung, am Werden die Grenzen des Intellekts offenbar.

Statt des Lebens erfasst er seine Unterlage, statt der Bewegung das Bewegte und die Bahn, statt des Werdens sein Resultat, das Gewordene. Die Schranken des Intellekts sind aber auch die der Wissenschaft. Sie reicht gerade soweit, als seine Begriffe sich spannen. Das hat Kant philosophisch begründet und damit das moderne Wissenschaftsideal aufgestellt. Es ist ein mathematisch lo- gisches. Was die alten Pythagoräer über ihre Tempel schrieben: Kein Ungeometrischer darf hinein! das steht auch über den Pforten der modernen Wissenschaft. Kant sah deshalb in jeder Disziplin gerade soviel Wissenschaft als Mathematik darin steckt. Solange dieses mathematische Wissenschaftsideal dem Raume und der Materie gegenüber Anwendung findet, ist es durchaus berech- tigt. Eine Überspannung seiner Forderung tritt erst da ein, wo es auch auf dem Gebiet des Werdens und des Geistes gelten will, also in der Biologie, in der Psychologie, in der Geschichte und Metaphysik. So zum Beispiel bei Spinoza, der die höchsten philo- sophischen Fragen nach geometrischer Methode studieren wollte. Auf diesen Gebieten versagt die mathematisch logische Methode, und zwar genau aus denselben Gründen, die es dem Intellekt unmöglich machten, in sie einzudringen.

Wenn Bergson so die Grenzen des Intellekts und damit der Wissenschaft ziemlich eng steckt, kann man sich wirklich fragen, wozu er denn gut ist, welche Rolle ihm denn zu spielen verstattet

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werde, und wo denn sein eigentlicher Wirkungsbereich sei. Darauf gibt Bergson ungefähr folgende Antwort:

Der Intellekt ist vor allem eine praktische Fähigkeit. Wir finden uns alle in eine Welt hineingestellt, in der wir handeln müssen. Es umgibt uns eine Wirklichkeit, in die wir praktisch eingreifen, die wir an diesem oder jenem Punkte verändern, unsern Zwecken dienstbar und gefügig machen müssen. Dazu dient uns der Intellekt. Er bereitet die motorische Funktion vor, die ins Handeln ausmündet. Er ist die Umschaltestation zwischen Wahrnehmung und Handeln. Er hat die zentripetale Richtung der von außen kommenden Eindrücke in die zentrifugale der mo- torischen Entladung zu verwandeln oder doch diese Verwandlung vorzubereiten. Das begriffliche Denken ist also kein uninteres- siertes, das absolute Erkenntnis verschafft, sondern ein Denken, das nur auf die praktische Befriedigung der Bedürfnisse gerichtet ist. „Wir erkennen in den meisten Fällen nicht, um zu erkennen, son- dern um eine Partei zu ergreifen, um einen Vorteil zu gewinnen, um zu handeln“, um die Umwelt unsern Zwecken gemäß ordnen, ihre Veränderungen voraus wissen, berechnen und damit beherr- schen zu können. Der Intellekt hat zu diesem Zwecke die Wissen- schaft und die Technik hervorgebracht. Wir stauen in der Wissen- schaft eine ganze Menge von Erkenntnissen auf, von denen wir hoffen, dass wir sie irgendwie einmal praktisch verwerten kön- nen. Bei manchen dieser Erkenntnisse, bei denen wir das nicht sofort sehen, entdecken wir oft sehr viel später ihre praktische Verwendbarkeit. Die Begriffe, mit denen wir diese Erkenntnisse ausdrücken, sind Versuche, in welcher Richtung wir etwas mit einem Gegenstand anfangen können. „Einen Begriff auf einen Gegenstand anwenden, heißt ihn befragen, was wir mit ihm machen können, was er für uns tun kann; ein Objekt mit einem Begriffe etiquettieren, heißt: in bestimmten Ausdrücken die Art der Hand- lung oder Haltung festlegen, zu der das Objekt uns veranlassen soll.“ Nun haben wir uns vor allem im Reich der Materie zu- recht zu finden, sind beständig genötigt, in sie einzugreifen und sie uns dienstbar zu machen. Deshalb hat sich der Intellekt in seinen Funktionen ihr vor allem angepasst, weil sie in erster Linie den Stoff abgibt für das Handeln, zu dem uns der In- tellekt vorbereitet. Um ihr festes und beharrliches Wesen fassen

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zu können, hat er deshalb seine festen und beharrlichen Begriffe ausgebildet. Er ist daher besonders befähigt, die Materie und ihre Verhältnisse zu erkennen und zu beherrschen. Zu diesem Zwecke versucht er, sie ganz in berechenbare und messbare Ele- mente aufzulösen und kommt eben damit zu dem bereits genann- ten mathematischen Wissenschaftsideal, das, ganz der Materie an- gepasst, auf ihre Beherrschung abzielt. Grundbedingung dafür ist der homogene, gleichartige Raum, den wir beliebig zerschneiden, wieder zusammensetzen und aller Materialität wie ein ungeheures Netz überwerfen können.

Wenn Bergson das begriffliche Denken, den Intellekt, mit dieser Anschauung nur als eine praktische Fähigkeit einschätzt, so ist er damit auch zu einer pragmatischen Wertung des Denkens und der Wissenschaft gelangt, wie William James! und andere Pragmatisten, oder etwa Mach, Vaihinger. Aber dieser Pragma- tismus spielt doch im Ganzen seiner Philosophie eine viel unter- geordnetere Rolle. Bei den amerikanischen reinen Pragmatisten ist der Pragmatismus der Weltweisheit letzter Schluss. Alles Denken dient bei ihnen ausschließlich dem Handeln und hat nur in der Wirkung seinen Zweck und seinen Sinn. Die praktische Folge allein entscheidet über den Wert und sogar die Wahrheit des Denkens. Eine Wahrheit ist nur dann wertvoll, wenn sie eine praktische Wirkung ausübt; wahr ist, was wirkt. Bergson aber beschränkt diese pragmatische Wertung ausschließlich auf das verstandesmäßige, begriffliche Denken, das in der Wissenschaft und im praktischen Leben an der Tagesordnung ist.

Neben oder vielmehr über diese pragmatische Erkenntnisart setzt er eine höhere, wertvollere, die von praktischen Zwecken nicht mehr unterjocht oder gefärbt wird. Es ist die Erkenntnis, die nicht der Intellekt, sondern die Intuition uns verschafft.

Wir treffen ihre Wurzeln in der biologischen Entwicklungs- reihe schon frühe an, im Instinkt. In der aufsteigenden Entwick- lung des Erkenntnisvermögens sehen wir nämlich eine Gabelung eintreten, die nach zwei verschiedenen Richtungen hinweist. Die eine läuft aus in den Instinkt, der bei den Gliederfüßlern seine

* Vergl. meinen Aufsatz über W. James in der Zeitschrift „Wissen und Leben“ 18. V.

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höchste Stufe erreicht, die andere in den Intellekt, der mit der Ausbildung des Gehirns im Menschen seinen Höhepunkt erzielte. Wer die Erkenntnis untersucht, darf ihre biologische Entwicklung nicht außer acht lassen. Dass Kant es tat, der die Vernunft nur als eine fertig gegebene und nur ihren Gültigkeitsanspruch unter- suchte, macht ihm Bergson zum Vorwurf. Die beiden Erkenntnis- vermögen des Intellekts und des Instinkts lassen sich nicht mit einander vergleichen oder auf einander zurückführen. Der Instinkt und die Intuition, die aus ihm hervorwuchs, ist nicht etwa nur ein weniger ausgebildeter Intellekt, wie man anzunehmen liebt, sondern ein gänzlich und wesentlich verschiedenes Erkenntnis- mittel. Wo der Intellekt auf einem mühsamen Wege durch Ver- arbeitung der Wahrnehmungen, Begriffsbildung, Schlussurteil und schließlich Erregung des motorischen Apparates zu seinem Ziele kommt, trifft der Instinkt in wunderbarer divinatorischer Sicherheit das Richtige. Woher weiß es eine bestimmte Wespenart, dass sie die Raupe, in die sie ihre Eier legt, gerade an einer bestimm- ten Stelle ihres Nervensystems stechen muss, um sie zu lähmen, ohne sie zu töten? Welche wunderbaren Erkenntnisse, und nicht durch irgend eine intellektuelle Betätigung gewonnen, treten uns in einem Bienen- und Ameisenstaat entgegen! Eine Art Einssein mit dem Leben selber, eine unmittelbare sympathische Verbunden- heit und Einfühlung bringt dort eine viel tiefere und sicherere Kenntnis und Beherrschung der Wirklichkeit zu stande, als sie dem Intellekte mit seinen Begriffen möglich ist.

Treffen wir den Instinkt in höchster Ausbildung bei den In- sekten, so ist er doch auch beim Menschen nicht ganz verkümmert, obschon sich dieser hauptsächlich des Intellekts als Erkenntnis- organs bedient. Der Intellekt bildet zwar beim Menschen gleich- sam den hellen Kern seines Bewusstseins; aber ihn umgibt „wie ein leuchtender Nebel die Sphäre der Intuition“, die als eine dem Instinkt gleichzusetzende Fähigkeit zu betrachten ist. Durch sie fin- den wir ein unmittelbareres Verhältnis zum Leben als durch den Intellekt, dem nur eine mittelbare Erkenntnis möglich ist. Wir können das an zwei Stellen deutlich machen: Einmal am Verhalten des gesunden, nicht reflektierenden Menschenverstandes. Er besitzt unmittelbare Einsichten, die der Verstand der Verständigen durch keine Logik, keine noch so scharfe Begriffsarbeit erzwingen kann.

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Jenes oft zitierte Wort Pascals, dem Boutroux letzthin eine beson- dere philosophische Untersuchung widmete: „Le caeur a ses raisons que la raison ne connait pas“, spricht diese Wahrheit in klassischer Form aus. Dieser gesunde Menschenverstand, den wir in diesem Falle einer Art von ahnendem Gefühl gleichsetzen dürfen, denkt nicht in Begriffen, sondern fühlt sich in Menschen und Verhält- nisse ein und erfasst sie von innen, wo der Verstand an der Außenseite hängen bleibt. Leuchten nicht Sympathien und Anti- pathien oft tiefer in die seelische Wirklichkeit eines andern hinein, als alles psychologische Denken es vermag?

Eine andere Stelle, wo wir die Intuition am Werke sehen, ist die künstlerische Inspiration. Sie ermöglicht eine Tiefe der Ein- sicht in die Weltwirklichkeit, wie sie der Verstand niemals er- reichen wird. Die künstlerische Intuition geht nicht auf ana- Iytische Erkenntnis der Dinge aus; sie löst einen Gegenstand, den sie erfasst, nicht in die einzelnen Teile auf, um sie dann wieder zu verbinden, wie der Verstand es tut, sondern sie schaut die einzelnen Teile in ein Ganzes zusammen; sie erfasst die Wirklichkeit von innen. Sie versetzt sich ins Herz der Dinge, fühlt dort ihren Puls und ihr Leben und gewinnt dadurch den Antrieb zur Gestaltung. Gibt ein „Faust“ nicht eine tiefere Er- fassung des Lebens als alle Lehrbücher der Anthropologie, Psycho- logie und Ethik zusammen? Ist in der Matthäuspassion von J. S. Bach, in der Pieta von Michelangelo nicht ein unmittel- bareres Verhältnis zum religiösen Leben gewonnen als in den Begriffen der Dogmatik? Natürlich müssen diese auch sein, wie die Lehrbücher der Psychologie; aber was diese uns geben, sind mehr die Abfälle des Lebens, seine Erstarrungen, Überreste und Gewesenheiten „die welkenden Blätter auf der Oberfläche eines Teiches* und nicht mehr das quellende pulsierende Leben selbst. Noch besser kann vielleicht an einer philosophischen Konzeption das Walten der Intuition gezeigt werden. Denn so gut wie dem Kunstwerk liegen auch den großen philosophischen Systemen schöpferische Einfälle, glückliche Problemfunde und neue Frage- stellungen zu Grunde. Nur dass sie auf's Ganze der Wirklichkeit zielen und nicht auf das Einzelne wie das Kunstwerk. Diese hellsichtigen Visionen und Problemstellungen, die eine neue Seite des Weltproblems erschauen und erfühlen, diese Konzep-

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zuführen. Die Intuition schaut sie als gewaltigen Organismus wie jene Weltesche Yggdrasil, die vom Saft des kosmischen Lebens durchflossen, eine immer gewaltigere Krone wölbt. Die Intuition macht die glücklichen Funde; sie gräbt das Gold aus der Tiefe und reicht es dem Verstande hinauf. Dieser münzt es und fälscht es gelegentlich durch seine Beimischungen. Ihr Ausdruck ist nicht der unbewegliche Begriff, sondern das lebendige Bild. Während der starre Begriff das Unterscheidende und Individuelle verwischt, wird gerade dieses von der Intuition mit ihren gleichsam flüssigen und schmiegsamen Begriffen und Bildern erfasst, die stets wieder neue, tiefere Seiten des Lebens darstellen. Während der Verstand durch sein dialektisches Verfahren immer wieder in letzte und unlösbare Widersprüche gerät, wie die Philosophien Kants und Hegels zeigen, hebt die Intuition als eine Art Über- bewusstsein, „supraconscience*, die Gegensätze des Denkens auf und deutet sie als die verschiedenen Seiten der einen und immer wieder sich wandelnden Wirklichkeit. Aber um sich also mitten in das pulsierende Leben selber hineinzuversetzen durch Intuition, bedarf es einer schmerzhaften Anstrengung, die ebenso selten ist wie die Freiheit. Wir kleben alle zu sehr an praktischen Bedürf- nissen, um uns zu einer intuitiven Betrachtungsweise aufzuschwingen. ‚Auch erhält man von der Wirklichkeit keine Intuition, kein intellek- tuelles Mitfühlen mit dem, was sie im Innersten besitzt, „wenn man nicht ihr Zutrauen durch eine lange Kameradschaft mit ihren nach außen gerichteten Offenbarungen gewonnen und dann diese in ihrer Besonderung wieder zusammengeschmolzen hat. So nur wird die rohe Stofflichkeit der Tatsachen, die wir erkannt haben, aufgehoben“. Der Intellekt führt zur positiven Wissenschaft; die Intuition zur Metaphysik und wir dürfen hinzufügen: zur Kunst und zur Religion. Beide sind notwendig: die Wissenschaft und die Metaphysik. Nur darf jene nicht den Anspruch erheben, das Leben selbst und die Wirklichkeit in ihrem Innersten zu fassen, sondern muss sich bewusst sein, dass sie eine Übersetzung der Wirklichkeit in die Sprache der Symbole, der Begriffe ist. Und die Metaphysik anderseits darf nicht nur eine Systematisierung der einmal gewonnenen Erfahrung sein, oder etwa gar nur bloße Spekulation, sondern muss die Fühlung mit dem lebendigen Wer- den aller Wirklichkeit behalten und stets durch neue „Peilungen“

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in der Erfahrung zu erweitern und zu berichtigen versuchen. Sonst geschähe es, dass „die Metaphysik unter der Wirklichkeit einen tiefen Tunnel graben würde, und dass die Wissenschaft eine zierliche Brücke über sie schlüge, während der bewegliche Fluss des Geschehens zwischen diesen beiden Kunstwerken hindurch- strömt, ohne sie zu berühren“.

Welches ist nun das Weltbild, das Bergson durch die Intuition gewinnt? Abschließendes darüber lässt sich allerdings noch nicht sagen, da sich Bergson über die letzten und höchsten Ziele, über Kunst, Ethik und Religion, noch nicht zusammenhängend ausgesprochen hat.

DAS INTUITIVE WELTBILD

Die Intuition erfasst die gesamte Weltwirklichkeit als ein un- endliches, schöpferisches Werden. Damit stellt sich die Intuitions- philosophie Bergsons allen Philosophien des reinen, dauernden Seins, von Parmenides und Plato bis zu Spinoza, schroff gegen- über. Tief im Innersten verwandt fühlt er sich dem alten, dunkeln Heraklit, dessen Grundsatz: alles fließt! der Eigenart von Berg- sons Philosophie am nächsten steht; sie hat keinen andern Zweck, als dieses Werden zu begreifen oder vielmehr mitzuerleben. Die Welt ist nicht und war nicht und wird nicht sein, sondern sie wird. Sie ist in ihrem tiefsten Wesen nicht Materie und Zahl, Kraft und Stoff, sondern schöpferische Dauer, „duree creatrice“, was allerdings besser mit „schöpferisches Geschehen oder Werden“ zu übersetzen ist, da wir mit dem Begriff der Dauer leicht den Sinn des ruhenden Seins verbinden. Die Dur&e cre&atrice ist wohl der glücklichste Fund in Bergsons Philosophie, um den sich bei- nahe alles gruppiert. Von da aus versteht Bergson das Leben der Natur und des Geistes, den gesamten Weltprozess. In der Duree creatrice ist sein Sinn und sein Ziel verborgen und enthüllt sich im fortschreitenden Werden. Sie ist der schöpferische Lauf des Lebens in seiner Entwicklung. Die Welt wird also, ähnlich wie bei Fechner, vom Leben aus zu verstehen gesucht, nicht von der toten Materie aus, wie der Intellekt es will. Sie ist ein gigantischer Organismus, überall vom Leben durchflossen, überall neues Leben schaffend, und rastlos weiter wachsend. Mit dieser Auffassung wird Bergsons Philosophie zu einer Entwicklungslehre.

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Aber wie haben wir uns nun diese Entwicklung zu denken? Zwei Auffassungen stehen sich gegenüber: die mechanistische, die nach dem Vorbilde Darwins versucht, Entwicklung kausal zu erklären, und die teleologische oder finale, wie sie etwa die Neola- marckisten und Neovitalisten vertreten, die in der Entwicklungsreihe nicht nur zurückliegende Ursachen, sondern erstrebte Zwecke und Ziele als wirksam denken. Beide haben nach Bergson nur zum Teil recht und damit im ganzen unrecht. Denn beide Auffassungen bestimmen im Grunde die Entwicklung zum voraus, die mechani- stische von rückwärts, und die teleologische von vorwärts. Sie verkennen damit ihr schöpferisches Wesen, das nicht in einen solchen Rahmen hineingepresst werden kann. Beide Theorien sind dem Verstande entflossen, der mit den Ursachen und Zwecken sein Netz von Begriffen über die lebendige Wirklichkeit zu werfen sucht. Die teleologische Auffassung, die oft der mechanistischen als eine wertvollere und geistigere gegenübergestellt wird, ist nur die Umkehrung der andern und vernachlässigt ebenso wie sie die Dur&e creatrice, die wirklich Neues hervorbringt. Keine der be- stehenden Entwicklungstheorien findet so Gnade vor Bergsons Augen, weder der reine Darwinismus, noch die Mutationslehre von De Vries, noch die Orthogenesis Eimers, noch der Neola- marckismus; am ehesten noch der neovitalistische Standpunkt, wie ihn die Philosophie des Organischen von Driesch vertri obschon dessen Entelechiebegriff Bergson schwerlich genügen dürfte, Er wirft im besondern der mechanistischen Theorie vor, dass sie Ursachen mit auslösenden Bedingungen verwechselt. Er macht das wie so oft an einem Bilde deutlich: Die Ursache eines los- gehenden Schusses liegt nicht in dem Rucke des Drückers an der Pistole, sondern in der aufgespeicherten explosiven Energie des Pulvers. Der Drücker spielt nur die Rolle einer auslösenden Ursache, also einer Bedingung, die erfüllt werden muss, wenn die eigentliche Ursache wirksam werden soll. In der Evolution cr&a- trice macht Bergson das Analoge dieses Vorgangs an der biolo- gischen Entwicklung des Auges klar.

Der teleologischen Entwicklungslehre hält Bergson im beson- dern vor, dass sie apriorisch, unbelehrt durch die Erfahrung, der Entwicklung einen vorausgesetzten Plan zuschreibt, dem die ver- schiedenen Entwicklungsreihen entgegen konvergieren sollen.

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Welchen Weg aber die Entwicklung geht, ist nicht zum voraus apriorisch festzustellen, sondern erst durch das Werden. Auch lehrt uns die Erfahrung, dass das Leben nicht konvergierend fort- schreitet, sondern divergierend. Es faltet sich auseinander, es differenziert sich in unendlichen Abstufungen. Es macht nirgends einen Halt. Was so scheint, sind Sackgassen, die der eigentliche Strom des Lebens weit hinter sich zurücklässt als unvorteilhafte Versuche. Das Leben ist daher durchaus dynamischer Natur und nirgends als etwas Statisches zu behandeln. Es ist beständig nur „Modifikation, Störung, Veränderung der Spannung oder der Energie“ und nichts anderes. Was wir früher schon von der Bewegung sagten, das selbe gilt von diesem lebendigen Werden. So wie eine Bewegung nicht in Stationen verläuft, sondern in einem einzigen Schwung, in einem Geschehen, so ist das Leben fortwährende Schöpfung, die in zahllosen Erschütterungen ver- laufend stets neuen und unvorhergesehenen Schöpfungen ent- gegeneilt.

Alles Werden geschieht in der Zeit. Aber das ist nicht die Zeit des Mathematikers. Diese wird gemessen mit dem Raume, wie wir früher gesehen haben. Zeiterscheinungen werden von der Wissenschaft als Raumstrecken darzustellen gesucht. Zeit ist für sie Zahl und Länge. Eine Folge von qualitativ verschiedenen Zuständen sucht sie als numerische Vielfaltigkeit, als eine „Suk- zession von Räumen* zu begreifen. Der gewöhnliche Verstand sucht die Zeit ebenso wie den Raum als etwas Leeres, als ein homogenes Milieu zu denken. Für ihn enthällt der Raum die Dinge wie etwa ein leeres Zimmer die Möbel. Wenn man ein ähnliches Bild suchen würde für die Zeit, so könnte sie dem Verstande erscheinen wie eine lange gleichartige, sich ins Unendliche ziehende Schnur, auf der die Ereignisse wie Perlen aufgereiht werden!, Dieser Zeitbegriff ist außerordentlich praktisch, wo es sich um materielle Verhältnisse handelt, denn man kann damit, mit dieser „poussee d’immobilits“, rechnen und handeln. ‚Aber diese Zeit dauert nicht. Sie ist eine andere als die wir er- * Luther hat dieses Bild auch schon gebraucht und zwar für das intuitive Erfassen der Zeit durch Gott: Gott sieht die Zeit zusammengerollt auf

einem Haufen, während sie für uns wie ein Seil in die Ewigkeit ausge- spannt ist.

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leben, die nicht Länge, sondern Geschehen ist, ein ruheloses Wachsen und Werden, das wir erleben als eine Folge von quali- tativ verschiedenen Zuständen, eine beständige Bereicherung, eine wirkliche Bewegung, „die wie ein Lichtstrahl durch ein Spektrum läuft und sich in unmerklichen Übergängen mit seinen Nüancen färbt“. Diese wirkliche, erlebte Zeit ist unvergleichbar mit dem Raume. Auch nicht in der Weise, dass man sie, wie Kant es ver- suchte, als die Anschauung des innern Sinnes dem Raume als Anschauung des äußern Sinnes gegenüberstellt. Wie unvergleich- bar ist doch die durchlaufene Raumstrecke zweier Uhrzeiger, eine bloße Länge, mit den seelischen Zuständen, die sich in ununter- brochener Folge durchdringen und rastlos sich verwandeln! Die Unvergleichbarkeit mit dem Raume geht schon aus der Unumkehr- barkeit der Zeit hervor. Bei einer Linie im Raume ist es gleich- gültig, in welcher Richtung sie durchmessen wird. In der Zeit verläuft das Geschehen in einer ganz bestimmten und unumkehr- baren Richtung als eine Folge von Phasen, von rhythmisch be- wegten Zuständen „wie eine Melodie“, die sich in einer Richtung entfaltet, und umgekehrt allen Sinn verliert. Der Rhythmus dieses Geschehens ist durchaus nicht gleichartig und unabänderlich (worauf auch Einstein’s Relativitätstheorie der Zeit, wenn auch von andern Gesichtspunkten aus, hinweist), sondern wechselnd und verschieden in verschiedenen Medien. Die Materie hat einen andern Rhythmus als der Geist. In der geistigen Welt selber wieder sehen wir eine unabsehbare Verschiedenheit von Rhythmen. Im Traum, in den paar Sekunden eines Absturzes drängen sich Ereignisse zusammen, die sonst Jahre beanspruchen. In Gegenwart eines lieben Menschen hat die Zeit einen andern Schlag als zusammen mit einem Langweiler.

Mit dieser Unterscheidung zwischen der Zeit als Länge, temps- longueur, wie sie der Verstand kennt, und der Zeit als schöpferi- sches Werden, temps-cr&ateur oder inventeur, wie sie die Intuition erlebt, hat Bergson wohl eine seiner wichtigsten Entdeckungen gemacht. Sie schien in der Luft zu liegen; denn auch andere Philosophen der Gegenwart, wie zum Beispiel Husserl, wiesen unlängst auf die Zeit hin, die nicht mit dem Chronometer zu messen ist, sondern nur als lebendiges Werden zu erleben ist.

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Wenn in der schöpferischen Zeit, im Werden, das Wesen der Welt besteht, so taucht die Frage auf, wie das Dasein der toten Materie inmitten einer lebendigen Welt zu erklären sei. Für die mechanistisch gerichtete Wissenschaft lautet die Frage gerade umgekehrt: wie ist das Leben aus der Materie zu erklären? Die Mehrzahl der heutigen Biologen sucht eine Antwort darauf. ‚Aber diese Versuche, das Leben mechanistisch aus den Gesetzen der Materie zu erklären, sind misslungen, trotz der Entdeckungen Loebs und anderer. Das Leben als das Werden eines Neuen lässt sich nicht auf Mechanik zurückführen. Deshalb taucht in stets neuen Verwandlungen immer wieder der Vitalismus auf als ein Zeichen der Notlage, in die die Biologie gerät, wenn ihr zugemutet wird, das Leben aus der Materie abzuleiten. Bergson hat an diesen ‚Anstrengungen Jahre lang in eigener Arbeit teilgenommen, wandte ihnen aber schließlich ganz den Rücken. Er vermag nicht mehr im Starren und Toten, in der Materie das Verständliche zu sehen und im .Lebendigen das Unverständliche, das aus jenem erklärt werden soll, sondern er nimmt nun seinen Standpunkt entschlossen im Leben selbst, das wir am unmittelbarsten kennen.

Von da aus erscheint ihm die Materie nicht mehr als der Nährboden, der Urgrund, aus dem das Leben eines Tages her- vorwuchs, sondern als die Schlacken, die das Leben zurückge- lassen hat, als ein Rückstand des Lebensprozesses (so schon Schelling, mit dem er überhaupt große Ähnlichkeit aufweist). Oder noch besser als Rückschlag, Rückwärtsbewegung, Regression; denn die Materie ist immer da zu finden, wo die gewaltige Span- nung des Lebensdranges erschlafft. Da stellt sich die Entspannung, das Erstarren ein, das wir als Materie wahrnehmen. Der Gegen- satz zwischen ihr und dem Leben ist daher ein funktioneller, kein sachlicher Gegensatz der Spannung und vor allem der Bewegungs- richtung. Während das Leben in seiner Bewegung dem Aufstieg der explodierenden Feuergarbe eines Feuerwerks zu vergleichen ist, gleicht die Materie dem Fall der erloschenen Funkenkörper, deren Auftrieb erlahmt ist ein Bild, dem das Entropiegesetz einen physikalischen Ausdruck gibt. Jedes Nachlassen der Span- nung bringt das Leben sofort unter den Zwang der automatischen Mechanismen der Materie. Umsonst stemmt es sich in der pflanzlichen und tierischen Welt dieser Umklammerung entgegen.

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Erst im Menschen gelingt ihm der Vorstoß in die Sphäre der Freiheit. Die Eigenschaften, die damit dem Leben zugeschrieben werden, lassen es durchaus als etwas Metaphysisches erscheinen. Es ist im Innersten seelischer Natur. Es strebt dem Geiste und der Freiheit entgegen. „La vie est marche A l'esprit.“ Schon auf den untersten Stufen ist das Leben eine geistige Tätigkeit, „une supraconscience extraspatiale*, die die Richtung auf Be- seelung, Bewusstsein und Freiheit nimmt. Die Biologie wird da- mit zu einer Psychobiologie, deren Notwendigkeit da und dort in den heutigen biologischen Anstrengungen eingesehen wird, fühlte sich doch sogar Häckel gedrungen, den Atomen Seelen einzu- pflanzen, mit denen er dann freilich wenig genug anzufangen wusste. Das Lebendige ist ein Geistiges, oder sagen wir vorerst ein Seelisches, wovon wir uns in unserm persönlichen Dasein am besten und sichersten überzeugen können. Es ist von vorne- herein im Lebensprozess tätig. Ja, die Seele ist die eigentliche „Lebensunruhe“, die in allem Rhythmus des Werdens vorwärts drängt. Ihre Verbindungen mit der Materie sind nur Wandlungen, Materialisationen, Kampfplätze, Umklammerungen und Befreiungen einer geistigen, metaphysischen Macht, die von der Materie etwas zu erlangen sucht, was diese ihr nicht geben will, noch kann. Erst im freien und schöpferischen Menschen zerbricht dann das Leben seine Ketten, kommt zu sich selbst und verwirklicht sein Wesen.

Das klingt stark an die Entwicklungsphilosophie Hegels an. Dort besteht der Weltprozess darin, dass der Geist sich selber findet und seiner selbst bewusst wird. Aber der Entwicklungs- gang erscheint dort als die Selbstbewegung des Begriffs. Die Natur ist nur ein Durchgangsstadium der Idee und die Geschichte eigentlich nur ein Denkprozess, durch den die Idee verwirklicht wird. Bei Bergson liegt dieses Geistige, das sich im Weltprozess entfaltet, nicht in der Idee, im Begriff, im Denken, sondern in einem Streben und Wollen. Was in der gewaltigen Woge des Lebens vorwärts drängt, ist nicht das Logische, das Rationale, die Vernunft, die sich endlich im hellen Lichte des Bewusstseins ganz enthüllt, sondern es ist ein Irrationales, Dynamisches, es ist Drang und Wille, &lan vital. Bergson rückt damit weit ab vom logischen Idealismus Hegels und stellt sich auf die Seite des

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Volitionalismus, der das tiefste Wesen des Lebens im Willen oder in etwas ihm Ähnlichem findet. Das Leben ein Seelisches, das Seelische aber vor allem Wille.

Hier ist nun der Ort, wo von der Stellung des Menschen in der Entwicklung zu reden ist. Wenn es dem Leben gelang, dem Automatismus der Materie zu entrinnen, so dankt es dies vor allem dem feinsten organischen Gebilde, das es geschaffen hat, dem Gehirn. Hier baute es ein Instrument, das durch seinen wundervollen Mechanismus den Geist derart entlastet, dass er seinen eigenen Zwecken freier nachgehen und seine höchsten Ziele verwirklichen kann. Es wird schon aus dem Vorhergegan- genen klar geworden sein, dass Bergson das Gehirn unmöglich als den Ursprung oder gar, wie die platteste Meinung will, den Erzeuger des Geistes ansehen kann. Es ist vielmehr ein Werk- zeug des (eistes, eine Art Transformatorenstation, in der die Bewegung des Geistes für die Einwirkung auf die materielle Welt umgeschaltet, automatisiert und mechanisiert wird. Es ist eine Art Zentraltelegraphenbureau, das die Verbindung zwischen dem Geist und der Materie herstellt. Es ist nicht ein Organ des Denkens oder Fühlens oder der Erkenntnis, sondern der Bewe- gung, des Handelns. Es ist ein Organ der Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeit, in die der Mensch handelnd eingreifen will. Aber nicht das ganze Leben des Geistes kann durch seine Funktionen zum Ausdruck oder zur Wirkung gelangen. Es kann davon gerade nur das ausdrücken und weiterleiten, was in Bewegung, Handlung umgesetzt werden kann, was mate ierbar, mechanisierbar, „jou- able* ist, also nur einen kleinen Teil seiner Fülle. Diese Funktion vollzieht es, indem es Wahrnehmungen in Bewegungen verwandelt.

Bergsons Theorie der Wahrnehmung, der, nebenbei gesagt, zwei deutsche Philosophen, Karl Heim und Frischeisen-Köhler, nahe stehen, kann hier nur kurz angedeutet werden, ebenso wie seine Lehre vom Gedächtnis. Erinnern wir uns, dass im ursprünglichen unmittelbaren Erlebnis noch keine gesonderten Wahrnehmungen im eigentlichen Sinne unterschieden werden. Alles fließt noch ungetrennt durcheinander: kein Innen und kein Außen, keine Dualität von Objekt und Subjekt! Erst allmählich, wenn auch sehr rasch, nimmt das unmittelbare Erlebnis den Körper zum Mittelpunkt, orientiert sich von dort aus, spaltet sich an ihm in

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ein Objekt und ein Subjekt und wird damit zerlegt in ein Ich und seine Wahrnehmungen, die nun deutlich aus der verwirrenden Fülle des unmittelbaren Erlebnisses hervortreten. Aber aus einem starken und reichen Erlebnis treten doch immer nur relativ wenige und einzelne Wahrnehmungen gesondert hervor: Welche? Die, die wir auswählen. So sonderbar es klingt: Indem wir wahrnehmen, treffen wir eine Wahl. Wir erleiden nicht etwas, sondern wir verhalten uns tätig, wählend und sichtend, worauf übrigens Kant auch schon hingewiesen hat. Wir nehmen das wahr, woran wir interessiert sind. Was fällt uns auf einer rasch durchflogenen Seite als Wahrnehmung deutlich ins Auge? Das, was unsere Teilnahme irgendwie erregt; alles übrige bleibt unter der Schwelle, wird nicht zur Wahrnehmung, obschon es unser Auge in gleicher Weise getroffen hat. Was uns nicht interessiert, wird verdrängt, zur Seite geschoben, geht unter in einem allgemeinen dumpfen und nicht zum Bewusstsein kommenden Erlebnis. Unser Wahr- nehmungsapparat ist also wohl eine Platte, auf die tausend Ein- drücke fortwährend wirken, aber nur einige wenige unter ihnen werden entwickelt zu Bildern, zu Wahrnehmungen. Diese bedeuten also gegenüber dem unmittelbaren Erlebnis eine Verminderung, eine Auswahl, die der volitionale Teil unseres Wesens, das Interesse vollzieht, das schon im Beginn der Erkenntnis tätig ist.

Da diese Auswahl lediglich vom Standpunkt des praktischen Interesses aus zum Zwecke des Handelns geschieht, so führt die Wahrnehmung, die daraus gewonnene Vorstellung und der ganze damit handelnde begriffliche Apparat nicht zu einer reinen und absoluten Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern nur zur Einsicht, wir uns am besten in der Welt zurechtfinden und auf sie wirken können.

Ähnliche Gesichtspunkte kehren in Bergsons bedeutsamer Lehre vom Gedächtnis wieder, die besonders für die Frage des Verhältnisses von Leib und Seele wichtig ist

Man denkt sich das Gedächtnis gewöhnlich auf's engste ans Gehirn gebunden, als ob darin wie in einem Zettelkasten Wahr- nehmungen und Erlebnisse aufgespeichert wären und nach Be- lieben wieder hervorgeholt werden könnten. Bergson bekämpft diese Theorie auf's nachdrücklichste. Das eigentliche Gedächtnis hängt nach ihm nicht vom Gehirn ab. Nicht dies:s bewahrt die

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ganze Vergangenheit auf, sondern der Geist, der als reine Dauer sich selbst in jedem Augenblick ganz besitzt, die Träume der Kindheit ebenso wie die jüngsten Ereignisse. Von diesem unge- heuren Besitz, von dem nichts verloren geht, ist nur ein kleiner Teil bewusst oder erinnerlich. Der größte Teil liegt unbewusst und unbenützt in den verschiedenen Schichten unseres Bewusst- seins, „plans de conscience“, bereit, um im gegebenen Augenblick als Erinnerung aufzutauchen. Aber nur das kann aus dieser Ver- senkung wieder aufsteigen, was sich mit unsern gegenwärti- gen Wahrnehmungen und Erlebnissen verbinden, assoziieren kann, was für unser gegenwärtiges Handeln praktisch wertvoll ist. Und die Rolle des Gehirns ist nur, diese Erinnerungen zu aktu- alisieren, sie in Tätigkeit zu verwandeln. Es macht diejenigen Erinnerungen wieder lebendig, die unsern kommenden Entschei- dungen vorleuchten können. Wir erinnern uns, was uns früher schon hemmte oder förderte, um dadurch das Handeln der Gegen- wart zu orientieren. Wir können daher von einem doppelten Gedächtnis reden, von dem reinen Gedächtnis des Geistes und vom motorischen des Körpers. „Die Vergangenheit speichert sich allem Anschein nach in zwei extremen Formen auf: einer- seits in den motorischen Mechanismen, durch welche sie nutzbar gemacht wird, anderseits in den persönlichen Erinnerungsbildern.“ Das Gedächtnis des Geistes bewahrt in verschiedenen Schichten den rein geistigen Besitz alles Lebens auf, der jeden Augenblick wieder in seiner ganzen verwirrenden Fülle als deja vu, als Stim- mung und Erlebnis, oder schon geordnet als Wahrnehmung, Empfindung, Bild wieder aufsteigen kann. Erst ganz an der Oberfläche liegt jenes mechanische Gedächtnis des Gehirns, das die Erinnerungen ebenso wie die Wahrnehmungen in Bewegungs- schemata umwandelt. So kann zum Beispiel ein Musikstück als ein Tonerlebnis in der geistigen Erinnerung bewahrt werden, mit seinen musikalischen Formen und Werten, seinem ganzen wunder- samen Stimmungsgehalt, der nach vielen Seiten hin mit meinem Leben und der Welt in Verbindung steht. Oder aber es kann auch nur im motorischen Gedächtnis des Körpers aufbehalten werden; es ist dann „in den Fingern“, das heißt, das Gehirn lässt es als Bewegungserinnerung automatisch ablaufen. Das Gehirn erzeugt so nicht, sondern es verdrängt in jedem Augenblick den

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Teil der Vergangenheit, der für einen bestimmten Zweck der Gegenwart nicht brauchbar ist. Es ist also eigentlich besser ge- eignet, uns das Vergessen zu erklären als das Behalten. In diesem Gedächtnis wird die Vergangenheit wie auf einem motori- schen Apparat abgespielt, währenddem das geistige Gedächtnis sie vorstellt und als Ganzes besitzt. Im Traum hört diese Ver- drängung des wachen Gedächtnisses auf: „Da erheben sich Tausende von Erinnerungen, schweben her und tanzen in der Nacht des Unbewussten einen gewaltigen Totentanz. Und alle zusammen fliegen zur Türe, die sich öffnet. Alle möchten hindurchschlüpfen. Doch sie können nicht; es sind ihrer zu viele... Welche werden aus der Menge der Gerufenen die Aus- erwählten sein?“

Von dieser Theorie des Gedächtnisses fällt ein neues Licht auf das Verhältnis von Seele und Leib überhaupt. Es ist ein Verhältnis eigener Art, das weder besteht in gegenseitiger Determi- nation, noch in gegenseitiger Unabhängigkeit und „prästabilierter Harmonie“, noch in einem Erzeugungsverhältnis, noch in einem Parallelismus, sondern der Teil eines geistigen Zustandes, der durch eine Bewegung des Körpers überhaupt ausgedrückt werden kann, wird gleichsam vom motorischen Schema des körperlichen Gehirns gespielt. Der Rest bleibt davon unabhängig und hat keine Ausdrucksmöglichkeit durch das Gehirn. Eine Analogie wird das klar machen. Auf dem Klavier kann von einer Oper nur ein sehr beschränkter Teil gespielt werden, nämlich nur der kleine musikalische Teil, der in das motorische Schema des Klaviers eingeht, der ganze Rest der vorüberziehenden Bilder, des Gesanges, der Bewegung, der Leidenschaften in den Gesichtern und Seelen der Darsteller ist auf dem Klavier nicht darstellbar. So kann durch das Gehirn nur jener kleine Teil unsers geistigen Lebens ausgedrückt werden, der es mit der obersten Schicht unserer motorischen und Denkgewohnheiten zu tun hat, der handelnd in die Wirklichkeit eingreifen kann. Für seinen Aus- druck ist das Gehirn die auslösende motorische Bedingung. Die tiefern Schichten unseres Geistes, die nicht in diesen Bewegungs- rahmen hineinpassen, bleiben unberührt von dieser Bedingung und relativ frei.

Dort allein, in jenen tiefsten Schichten, ist daher die Freiheit

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zu finden, die Bergson dem menschlichen Geist zuschreibt. Des- halb ist sie auch eine seltene und große Sache; denn sie liegt nicht an der Oberfläche unseres Lebens, die ganz in eine Kruste von Gewohnheiten und Automatismen eingehüllt und ganz auf das motorische Schema unseres praktischen Bedürfnisses einge- stellt ist, sondern sie tritt hervor in jenen wenigen großen, schöpfe- rischen Entscheidungen und Taten, die unserem Leben eine neue Richtung geben, in jenen Handlungen, in denen unsere tiefste Per- sönlichkeit steckt. Wir sind nur in jenen seltenen Akten frei, die sich aus unserm ganzen innersten und eigentlichen Wesen lösen wie die reife Frucht vom Stamme, der sie trägt.

Aber das sind die seltenen glücklichen Taten, die wenigen Menschen gelingen; die meisten vermögen nur schwer, ihr Tun dem Determinismus zu entringen. Viele Menschen lernen diese Freiheit nie in ihrem Leben kennen und sterben, umklammert von dem Automatismus und Mechanismus, in den sie die Materie und die praktischen Bedürfnisse gezwungen haben. Es gibt also Grade der Freiheit. Sie ist ein fernes Ziel und eine unaufhörliche Lockung und Aufgabe, zu der uns das Leben selber, da wo es am reichsten wirkt, treibt. Der dringt zu ihr vor, der durch ein tiefes Nachdenken und sich Versenken in die schöpferische Natur seines Wesens zur reinen Dauer hinabsteigt und aus jener frucht- baren Tiefe heraus seine Handlungen gestaltet wie der Künstler sein Werk.

Wir werden durch. diese Ausführungen an die schönsten Kapitel Kants und seine Unterscheidung eines empirischen und intelligibeln Charakters erinnert. Jene Loslösung von dem Auto- matismus gelingt zuerst dem Künstler, der sich in der schöpferi- schen Tat befreit von den zwingenden praktischen Rücksichten. Bergson sagt in seinem Werk über „das Lachen“ darüber außer- ordentlich feine Dinge, besonders über die dramatische Kunst. Sie befreit den Menschen von dem Druck, den die gebundenen Leidenschaften auf ihn ausüben. Wie das heiße Innere der Erde unter einer erkalteten Kruste, so liegen sie unter den gesellschaft- lichen Konventionen. Im Drama und vor allem in der Tragödie zeigt uns der Dichter, welche Tiefen sich in uns finden. Wir sehen da mit Schauer und Staunen, welche Möglichkeiten in unserem Unbewussten verborgen sind, die sich zu unserem Glücke nicht

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verwirklicht haben. Der Dichter stellt das dar, was auf dem Grunde seiner eigenen Persönlichkeit ruht, und wovon er sich durch die Darstellung befreit. Die Komödie hat einen ganz andern Zweck; sie organisiert das Lachen. Es ist die Reaktion des Lebendigen, Schmiegsamen, Schöpferischen gegen das Starre, Steife, Automatische. Da lachen wir, wo wir auf irgend einen Automatismus stoßen, während wir Leben und Freiheit erwarteten. „Das Lachen ist wie der Schaum auf den Wellen des Meeres. Wie der Schaum sprudelt es von Lebenslust. Aber der Philo- soph, der ein wenig davon kostet, findet zuweilen darinnen einen starken Gehalt von Bitterkeit.*

Indem Bergson den Willen für frei erklärt, und den allein, der schöpferisch aus unserm eigensten Wesen hervorbricht, ist er der alten Fragestellung der Freiheit des Willens ausgewichen. Er hält sie für falsch. Sie entsteht nur da, wo man die Freiheit in den Zwang der logischen Begriffe einfangen, durch sie definieren, also gerade durch ihr Gegenteil ausdrücken will. „Jede Definition der Freiheit wird dem Determinismus recht geben.“ Der freie Akt des Willens ist nicht als Möglichkeit vor der Entscheidung schon da. Er bricht mit dieser im Augenblick des Werdens durch, als eine Synthese von Gedanken und Gefühlen, als etwas Neues, so wie die Frucht, die zwar auch schon in der Blüte vorgebildet ist, aber doch als etwas Neues aus ihr hervorgeht. Die Freiheit schließt also nach Bergson nicht jegliche Determi- nation aus, sondern sie findet sich da, wo der Wille, die Tat durch nichts anderes als durch das eigenste, innerste Wesen determiniert wird, von nichts anderem beeinflusst wird als nur durch den Kern unserer Persönlichkeit. „Die Freiheit ist nicht eine Wahl zwischen verschiedenen Motiven, sondern ein schöpferi- sches Vermögen, un pouvoir de creation.“ Raum für diese Frei- heit gibt es, weil mit dem schöpferischen Leben ein weiter nicht durch Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit zu erklärendes, einfach gegebenes Element gesetzt ist, die „contingence“, die Zufälligkeit des einmal Gegebenen ein Gedanke, den namentlich Boutroux und in Deutschland Tröltsch verfolgt haben.

Wo der Mensch in seinem schöpferischen Wesen, in der reinen Dauer, die Freiheit gefunden hat, da steht ihm der Weg zu den höchsten Zielen und Schöpfungen offen. Bergson hat sich

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zwar über diese, wie schon gesagt, noch nicht eingehend ge- äußert, und es ist mit Spannnung zu erwarten, wie er das Ge- bäude seiner Philosophie zum Abschluss bringen wird, nament- lich wie er auf diesen Freiheitsbegriff eine Ethik gründen kann. Vorläufig sieht man nur, dass das ethische Handeln die Aufgabe hat, den Automatismus des gewöhnlichen, vom praktischen Be- dürfnis diktierten Handelns zu durchbrechen. Das Automatische ist das Unfreie und damit das Unmoralische. Der moralische Mensch handelt aus der Freiheit der innern schöpferischen Dauer.

Über Religion hat sich Bergson noch gar nicht ausgesprochen, er scheint sogar das Wort mit einer gewissen Absichtlichkeit zu vermeiden. Aber es lässt sich unschwer einsehen, was für einen Wert die Intuitionsphilosophie für das religiöse Denken haben kann. Das soll hier nur angedeutet und vielleicht an einem andern Orte näher ausgeführt werden. Der Intellekt zersetzt die Religion, und wo er allein an das religiöse Phänomen herantritt, muss er sie zerstören; denn er kann kein Unbedingtes und Ab- solutes dulden; die Religion aber ist in diesem verankert.

Gegenüber den intellektualistischen, namentlich von Amerika ausgehenden Versuchen, die religiöse Empfindung in ihre ein- fachsten Elemente zu zerlegen, äußert sich Bergson: „Das religiöse Gefühl scheint mir nicht der Zersetzung und Auflösung anheim- fallen zu können; dies kann nur das Los des Zusammengesetzten sein. Mag sich auch das religiöse Gefühl mit sehr verschiedenen Elementen verweben, es bleibt nichtsdestoweniger seinem tiefsten Wesen nach etwas Einfaches und ganz Eigenartiges, das keiner andern Seelentätigkeit gleicht.“

Wenn Bergson bisher über Ethik, Religion und Kunst sein Leiztes noch nicht gesagt hat, so weist seine Philosophie um so deutlicher auf eine neue Metaphysik hin. Er hat eine kleine „Einführung in die Metaphysik“ geschrieben, die heute nur noch in deutscher Übersetzung zu bekommen ist, wohl ein Hinweis darauf, dass Bergson sie eines Tages durch ein größeres Werk ersetzen wird.

In dieser kleinen, sehr lesenswerten Schrift kritisiert Bergson jede Metaphysik, die aus Begriffen aufgebaut ist, so wie sie bis zu Kant betrieben wurde, weil die Begriffe unfähig sind, das tiefste Wesen der Dinge und vor allem des Werdens zu erfassen. Er

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kritisiert aber auch die Ablehnung aller Metaphysik durch Kant und findet seine Kritik nur am Platze gegenüber einer Metaphysik, die ein einziges und fertig abgeschlossenes Weltsystem konstruieren will, das mit dem Werden nicht rechnet.

Für Bergson ist aber eine Metaphysik berechtigt, ja nötig, die als „eine stets erneute Anstrengung unseres (eistes, über unsere gegenwärtigen Ideen und vielleicht auch über unsere bloße Logik hinauszukommen“, das Wesen der Wirklichkeit ohne Symbole (dabei denkt Bergson an die Begriffe) auszudrücken sucht. Wir brauchen Metaphysik, weil die positive Wissenschaft uns ihrer Natur nach immer nur über die Beziehungen der Dinge aufklärt, nie über ihr Wesen selbst, weil sie uns immer nur Relatives gibt, nie aber das Absolute, weil sie sich immer wieder durch ihre Analyse vom Leben entfernt, anstatt es unmittelbar zu er- fassen. Das tut allein eine intuitive Metaphysik, die den not- wendigen Abschluss unserer Welterkenntnis in jener absoluten Wirklichkeit der durde cr&atrice findet. So lange sie in dieser Berührung mit dem schöpferischen Werden selbst bleibt, geht sie nicht irre, und verdient Vertrauen, auch wenn sie ihre Resultate nicht in das Gewand logischer Sätze kleidet.

Eine solche schmiegsame Metaphysik, die einen Kontaktschluss mit dem Leben herstellt, zerbricht das Gefängnis der Materie, in das wir gesperrt sind, hebt die Beschränkung unseres Intellektes auf und Öffnet durch stärkste Anspannung der schöpferischen Dauer einen Ausblick in die Ewigkeit. Ihr strebt alles wirkliche schöpferische Leben entgegen und entrinnt immer wieder dem Tode der Materie, der es ergreifen will und es doch nie erreicht.

BERGSONS STELLUNG IM HEUTIGEN GEISTESLEBEN. KRITIK UND WÜRDIGUNG

Bergsons Einfluss ist zunächst in Frankreich nicht leicht zu hoch einzuschätzen. Seine Hauptwerke! gehören heute zum

1 Essais sur les donnees immediates de la conscience, 1888, ins Deut- sche übersetzt als Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittel- baren Bewusstseinstatsachen; Matiöre et memoire, 1896, übersetzt: Materie und Gedächtnis; Essay zur Beziehung zwischen Körper und Geist; Le Rire, 1901, übersetzt: Das Lachen, soeben erschienen; Einführung in die Metaphysik (französisch vergriffen); Evolution ereatrice, 1907, deutsch als Schöpferische Entwicklung. Sämtliche deutsche Übersetzungen bei Diede- richs, Jena.

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geistigen Sauerteig, der vor allem in der Jugend Frankreichs wirkt. Seine Ideen und Forderungen sind unbedingt eine der Kräfte, die im heutigen jungen Frankreich jene erstaunliche Wandlung schaffen helfen, die sich vor unsern Augen vollzieht. Die junge Generation beginnt wieder an Ziele, Werte und Ideale zu glauben, sie durch Anstrengungen und Opfer zu erstreben und reißt sich mächtig aus jener unfruchtbaren Reflexion und lähmenden Resignation heraus, die das vergangene Geschlecht kennzeichnete. Der schwunglose, gemütsarme Positivismus und Skeptizismus, dessen Wortführer Taine und Renan gewesen sind, und man darf auch sagen, der genussüchtige Individualismus, „le mal romantique“, wird von der Elite der gegenwärtigen Jugend Frankreichs begraben. Sie erlebt in träumerischen, mystisch sich versenkenden oder dann wieder tatenfroh vorwärts drängen- den Herzen eine Wiedergeburt des Idealismus, in dem der Glaube und die Tat den ersten Rang einnehmen der Glaube auch an das kommende, bessere Frankreich, das neue Kulturwerte schafft. Diesen Glauben hat Bergson als ein „professeur d’&nergie“ mit andern erwecken helfen durch seine optimistische Intuitions- philosophie, die im Leben wieder Tiefe, schöpferische Kraft und neue Verheißungen sieht.

Bergsons Philosophie ist also in ihrer Wirkung durchaus nicht nur auf die Fachkreise beschränkt geblieben. Ihre Gedanken dringen in die soziale, politische, theologische Literatur ein und befruchten die Kunst. Diese besonders fühlt sich einer Philo- sophie unendlich zu Dank verpflichtet, die „le magnifique courage de la vision“ hat und es wagt, statt des räsonierenden, allmäch- tigen und im Grunde kunstfeindlichen Verstandes, „die Intuition zu inthronisieren, une vue du caur dans les tEn2bres, le Iuminaire de la profondeur, la conscience amoureuse de ce qui est, le lien de toutes les intelligences“, wie Suards sie in einem tiefgrabenden Essay über Dostojewsky preist. Mit seinem Antiintellektualismus, der den Verstand „nur als Pflug, und weder als Saat noch Ernte* ansieht, ninımt auch die religiös interessierte Welt freundliche Fühlung und zwar sowohl die protestantische als die katho- lische. Diese ist jüngst allerdings in ihren Hoffnungen bitter enttäuscht worden, seitdem der Papst den Angriff von Mgr. Farges auf Bergsons Philosophie mit seinem Segen gedeckt und er-

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muntert hat. Ein glänzender Stil, reich an wundervollen Bildern und überraschenden Visionen, erleichtert ihr den Weg in die ge- samte Kulturwelt, die sie als ein Werk begrüßt, an dem die Kunst, das Gemüt und der soziale Wille ebenso viel Teil haben als das reine Denken, die Philosophie im engern Sinn. Aber auch die philo- sophischen Fachkreise haben Bergson einen Empfang bereitet, wie er seit langem keinem Philosophen beschieden war. Der Philosoph und Mathematiker Le Roy erhofft von ihm eine Gesamterneuerung der Philosophie. Peguy rechnet ihn zu den fünf oder sechs ganz großen Philosophen, die die Geschichte des Denkens hervorge- bracht hat, Sorel sieht in ihm den, der seine Zeitgenossen lehrte, ihre Ideen in Ordnung bringen, Chaumeix vergleicht seine philo- sophische Leistung jener von Kants Kritik der reinen Vernunft, Gillouin nennt seine Philosophie die bedeutendste seit Descartes und die größte seit Kant (vergl. Benda, Le Bergsonisme). Es tut der Wirkung dieser Philosophie wenig Eintrag, dass ihr auch leidenschaftliche Gegner, vor allem in den Reihen positivistischer Naturphilosophen und idealistischer Intellektualisten erstanden sind, die seine Abwendung vom Rationalismus als einen eigentlichen Verrat am Geist der französischen Philosophie brandmarken und seine bilderreiche Ausdrucksweise als „Quincaillerie* dem kri- stallklaren Edelguss des echten französischen Stils gegenüberstellen. So Fouill&e, Couturat, Berthelot, und vor allem Benda in einer die schwachen Punkte geschickt bloßlegenden Kritik. Dieser geht mit einer ganz unfranzösisch groben Berserkerwut auf den „presti- digitateur“ Bergson los und trägt den Kampf sogar in das Gebiet des Romans hinüber (L’ordination, wo er tendenziös das Behar- rende der moralischen Idee der Treulosigkeit und Unmoral eines nur instinktiven Verhaltens gegenüberstellt); ja, er verschmäht es nicht, ihn gleichsam als einen Dreyfouss der Philosophie zu de- nunzieren, indem er auf seine Rassenherkunft hinweist.

Bergson hat aber auch außerhalb von Frankreich eine ganz hervorragende Würdigung gefunden. Es wäre eine besondere Aufgabe, den Gründen dieser Wirkung nachzugehen, die in der gesamten Kulturwelt einen starken Widerhall hat. Sie ist überall gekennzeichnet durch eine starke Scheidung der Geister, die der philosophischen Arbeit einen neuen Anstoß verleiht. Diese Schei- dung stellt nicht etwa bloß wie bisher die Idealisten den Realisten

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oder Empirikern, die Aprioristen den Pragmatisten usw. gegen- über, sondern sie vollzieht sich nach neuen Gesichtspunkten. So ist es in der anglosaxonischen Welt, die durch ihren Empirismus, und vor allem durch W. James gut auf ihn vorbereitet war. Phil sophen, wie Balfour, Sidney Waterlow, Lindsay, Solomons, Stewart Kelly und andere stehen sich dort gegenüber in der Ausein- andersetzung über Bergson. In Italien kämpfen der Pragmatist Papini, von dem das berühmte, den Pragmatismus gut kennzeich- nende Korridorgleichnis stammt, und Alessandro Chiappelli um den „filosofo di moda“. Deutschland steht ihm im allgemeinen eher kritisch gegenüber. Der deutsche philosophische Geist leistet dem Eindringen einer Philosophie, die das Leben als philosophisches Prinzip an die Stelle der Vernunft setzen möchte, starken oder doch vorsichtigen Widerstand. So kann es zum Beispiel der Marburger Kreis, Bornhausen, Herrmann Natorp nicht dulden, dass eine Lebenstheorie die Erkenntnistheorie verdränge und sieht durch die Preisgabe der Position des Kritizi mus, durch das Verlassen der Wege Kants, die Würde und Frei- heit des Geistes bedroht. Herrmann vermag deshalb in ihm nur einen „verwilderten Katholizismus“ zu entdecken. Die Philo- sophen um den „Logos“, Rickert, Kroner sehen ebenfalls durch seine Betonung des Lebens als höchsten metaphysischen Wertes die eigentlichen Kulturwerte gefährdet, die über dem Leben stehen. ‚Aber alle sind gezwungen, dem philosophischen Genius in Bergsons Leistung Achtung zu zollen. Daneben gibt es andere, die ihn als Eröffner neuer philosophischer Bahnen begrüßen, wie Gold- stein, Steenbergen, Windelband. Ja, Graf Keyserling anerkennt seine Philosophie als die originellste Leistung seit den Tagen Immanuel Kants.

Es ist nicht ganz leicht, die Stelle zu finden, an der Bergson in die gegenwärtige geschichtliche Entwicklung unseres Geistes- lebens einzureihen ist; denn in seinem Werke kreuzen sich viele Linien, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein führen und prägen sich die verschiedensten Tendenzen der heutigen Zeit in neuer und eigenartiger Weise aus. Wir wollen versuchen, einige dieser Linien zu ziehen und die verschiedenen Brennpunkte seiner Philosophie zu bestimmen.

Da ist einmal der Evolutionismus seiner Philosophie des

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Werdens. Darin findet ein Hauptzug des gegenwärtigen Denkens einen neuen Ausdruck. Die logische Entwicklungslehre Hegels opferte dem starren Begriff und seiner Bewegung den Reichtum und die Flüssigkeit des konkreten Lebens. In der biologischen Spencers war das Geistige in eirfem Naturprozess untergegangen. In der dynamischen Entwicklungslehre Bergsons ist dem Geistigen die Fülle und Mannigfaltigkeit des Lebens zurückgegeben, und doch gleichzeitig die geistige Natur des Lebensprozesses behauptet.

Da ist zweitens Bergsons Biologismus, zu dem er durch das gründliche Studium der modernen Naturwissenschaft gekommen ist. Er sucht nicht hinter oder über der Welt und dem Leben ein abstraktes, höheres Prinzip; sondern das Leben selbst steht im Mittelpunkt seiner Weltbetrachtung, es ist als schöpferische Dauer selbst das Ding an sich, das Absolute, das Weltprinzip. Vom Leben aus ist die Welt zu verstehen; sowohl Natur als Geist werden vom unmittelbarsten Lebensgefühl aus gedeutet. Die all- gemeinen biologischen Vorgänge, wie die geistigen Tätigkeiten des Denkens und Handelns sind verschiedene Wirkungsweisen des Lebensdranges. Ziel und Sinn alles Geschehens ist höchste Lebenssteigerung. Dieser ungeheuer elastische Biologismus steht auf der einen Seite ebensosehr den heutigen naturalistischen Versuchen nahe, von der Biologie zu einer Naturphilosophie auf- zusteigen, wie jener neuidealistischen Lehre Euckens, der vom allgemeinen Geistesleben den Ausgang nimmt.

Drittens ist seine Philosophie charakterisiert durch den bereits genannten Volitionalismus. Damit stellt sich Bergson in die Nähe aller derer, die das Wesen des Lebens und des Geistes im Willen oder in etwas ihm Ähnlichem sehen. Man denkt dabei vorläufig allerdings weniger an den sittlichen Willen wie bei Fichte, sondern eher an Schopenhauers Lehre vom Urwillen. So sehr dessen Pessimismus vergangen ist, so lebens- und entwicklungsfähig hat sich seine Willenslehre erwiesen, die wohl von jenem zu lösen ist. Das zeigen Weiterbildungen, wie etwa die Lehre vom Drang bei Heinrich von Stein, die Bedeutung des Willens bei Wundt, ‚oder, um einen modernen Versuch zu nennen, die ganz volitional gerichtete Libidotheorie der psychanalytischen Zürcher Schule und andere Neuere, die in irgend einer Form den Primat des Willens über das Denken vertreten.

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Damit sind wir auch schon ganz in die Nähe des Vierten ge- kommen, zu Bergsons /rrationalismus, mit dem die scharfe Kritik des Intellektualismus und die Zurückweisung jener „foi naive A la science“ (Barrös) gegeben ist. Auf diesem Boden begegnen sich Gedanken von ganz verschiedener Herkunft, die uns aus der Ver- gangenheit und in der Gegenwart wohlvertraut sind. Denn im Irrationalismus verbinden sich freundschaftlich alle Bestrebungen, die im Rationalismus und Intellektualismus ihren gemeinschaft- lichen Feind haben: die Mystik, der metaphysische Individualis- mus eines Leibniz und Schleiermacher, die Gefühlsphilosophie eines Hamann und Jacobi, ebenso wie in der Gegenwart die Bekämpfung des Intellektualismus bei Bonus und Heim, die Sehn- sucht nach dem Unmittelbaren bei Kutter und Ragaz und die moderne Romantik mit christlichem oder heidnischem Anstrich.

In diesen Eigentümlichkeiten der Philosophie Bergsons sehen wir sich kreuzende Strömungen, die in irgend einer Form in unserer Zeit lebendig sind. Das erklärt einen Teil ihrer außer- ordentlichen Wirkung. Die Meisten, ohne sich ihr ganz zu ver- schreiben, finden durch einen dieser Hauptgedanken einen Zugang zu ihrem Verständnis. Der Erfahrungsphilosoph begrüßt in Berg- sons Philosophie die empirische Methode und die Aufnahme jenes psychologischen Elementes, das vom Idealismus und Kri- tizismus vernachlässigt, ja verachtet worden war. Andere, die den Weg Kants nicht gehen können und doch in einem Anschluss an die große Zeit des deutschen Idealismus das Heil suchen, sehen in ihr Gedanken von Herder, Jacobi, Schelling und Fichte in einer neuen Synthese wieder lebendig werden. Es ist der Primat des Lebens, der sie gewinnt. Die Erkenntnistheorie, von der seit Kant das Hauptinteresse angezogen wurde, erscheint ihnen wie ein be- ständiges „vorläufiges Messerschleifen“ und sie bewillkommnen da- her eine endlich mutig zupackende Theorie des Lebens. Die So- ziologen heften sich an ihren optimistischen Evolutionismus und ihren tatfrohen Geist. Sie sehen in ihr so etwas wie eine Aus- führung jener Weltanschauung, die in dem kurzen, weithinleuch- tenden Worte von Marx skizziert ist: die Welt erklären ist nichts, sie verwandeln alles! Der künstlerische und der religiöse Mensch danken ihr für den Schutz des unmittelbaren und subjektiven Erlebnisses gegenüber der Macht der Abstraktion, für die Rettung

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des Individuums und seines Inhaltes aus der Umklammerung des Allgemeinen und Gesetzmäßigen. Die reinen Pragmatisten be- decken ihre philosophische Blöße mit Bergsons Autorität und sind froh, daß der Pragmatismus in einem philosophischen System einen so respektabeln Platz gefunden hat.

So spiegeln sich in Bergsons Philosophie der Zwiespalt, die Sehnsucht, die widerstreitenden Strebungen einer zerrissenen und gährenden Zeit, die sich selbst zu begreifen sucht, überall ein Echo ihrer Not und ihres Dranges findet und sich zu einer Einheit zu- sammenzuschmieden trachtet.

Ablehnend und kritisch verhalten sich dagegen die reinen Intellektualisten und Rationalisten und in einer gewissen Bezie- hung alles, was durch Kants Schule hindurch gegangen ist oder durch sie den Blick für neue Problemstellungen verloren hat. Und zwar wird diese Kritik geübt sowohl von den reinen Idea- listen und Erkenntnistheoretikern, die das biologische, empirische Element in seiner Philosophie nicht vertragen können, wie von jenem Intellektualismus, der heute die Form des Materialismus oder Positivismus annimmt: diesem ist das Metaphysische in Bergson zuwider.

Die Kritik, die der Intellekt als kritisches Organ an dieser Philosophie üben wird, springt jedem ohne weiteres in die Augen, auch wenn man gewillt ist, sie vor nahe liegenden Missverständnissen zu schützen. Auch wer der pragmatischen Wertung des Intellekts zuzustimmen vermag, wer ihn als Be- schränkung ansieht, wird nicht so weit gehen wollen, ihn, wie Bergson es tut, in die Nähe der Materie zu setzen, in ihm ein Erkenntnisorgan zu erblicken, das vor allem auf die Materialität abgestimmt und dem die Erfassung freierer, geistiger Zusammen- hänge versagt ist. Soll wirklich die Starrheit seiner Formen und die Beharrlichkeit der Materie mit einander verglichen werden können? Soll der Intellekt von einer lebendigen Beziehung zwi- schen Geist und Welt ausgeschlossen sein? Soll in der Festigkeit seiner Begriffe wirklich nur derselbe Automatismus erscheinen, wie wir ihn in der Materie bemerken, eine Erschlaffung des Lebensschwunges, Lots Weib, das sich zurückwendet und erstarrt? Noch ein anderes ist einzuwenden: es gibt Anzeichen genug, dass auch in diesem schöpferischen und irrationalen Lauf des

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Lebens ein Rationales verborgen eingebettet liegt, ein Logos, eine Vernunft uns entgegenleuchtet, die dem Leben eingeboren ist und sich bald schwächer, bald stärker regt und der die Vernunft des Menschen antwortet. Wir könnten kein vernünftiges Weltbild ge- winnen, wenn die Welt nicht doch irgendwie auf Vernunft hin angelegt wäre. Dieses Vernunftgemässe aus der Wirklichkeit herauszuschöpfen und es zur allgemein gültigen Wahrheit zu ge- stalten, ist und bleibt doch die Aufgabe des Intellekts. Auf die Gewinnung einer allgemein gültigen Wahrheit kann aber der menschliche Geist nur dann verzichten, wenn er sich nicht von dem fließenden Weltleben unterscheiden und einfach in ihm mit- schwimmen will.

Wenn dann die Intuition dem Intellekt als höheres Er- kenntnisorgan gegenübergestellt wird, so sieht man wohl ihre Un- mittelbarkeit und ihr tief schöpfendes Wesen, aber man sieht auch, was sie nicht vermag: Sichere, allgemein gültige Wahrheit zu erzeugen. Sie mag wunderbare Visionen, mystische Schau- ungen ermöglichen, aber Wahrheit im Sinne einer allgemeinen und notwendigen Gültigkeit schafft sie nicht. Sie hat den Zauber des mystischen Erlebnisses an sich, die Innigkeit und Tiefe der religiösen Empfindung, die Hellsichtigkeit der künstlerischen Vi- sion, aber nicht die Unwiderstehlichkeit und Durchschlagskraft der nüchternen Wahrheit, die mitteilbar ist und eine zwingende Gemeinschaft erzeugt. Denn die Intuition, die eine Art Sympathie, ein Mitleben, ein intellektueller Instinkt ist, kann so lange nicht reden und durch die Rede Gewissheit schaffen, als sie nicht als allgemeine und gleichwertige menschliche Anlage erwiesen wird. Sobald sie nicht nur mitlebt, mitfühlt, schaut, sondern redet und also auch denkt, verlässt sie ihr eigentliches und unangreifbares Reich der Subjektivität und ist aller Kritik preisgegeben. Der Mystiker, der sich am „Fünklein“ des Weltgrundes entzündet hat, kann zwar erleben, schauen, fühlen, aber sein Leiden ist, dass er die ganze Fülle der Gesichte nicht sagen kann. Und sobald er es versucht, klagt er, dass schon die Quelle versiege und sich nicht in das Bett mitteilbarer Rede leiten lasse. Wohl stellt sich das Bild, das Gleichnis ein bei Bergson, wie man gesehen hat, in einer verschwenderischen Fülle ausgestreut in dem er für einen Augenblick das Leben aufzufangen glaubt. Aber es brauchte,

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parallel den unendlichen Schöpfungen des Lebens, eine unendliche Reihe von Bildern; denn das einzelne Bild ist für jeden Augen- blick wie der Begriff auch nur eine Station, ein wenn auch kürzeres Stehenbleiben bei einer einzigen Lebensansicht, von wo der rasche Lauf des Lebens den Blick gleich wieder fort- reißt. Es ist ein alter Traum der Menschheit, über die Schran- ken des Verstandes hinwegzusteigen und das Weltieben unmittel- bar zu schauen in der Intuition. Die theoria Platons, die Schau- ungen Plotins sind nichts anderes, und derselbe Versuch kehrt wieder in Schellings intellektueller Anschauung. Ja, Kant selber träumte von einer Erkenntnismöglichkeit, in der Sinnlichkeit und Verstand zu einer einzigen Fähigkeit verbunden wären, sodass wir eine Art anschauenden Verstandes uns denken könnten. Aber er gab diesem Traum den Abschied, als er feststellte, dass An- schauungen ohne Begriffe blind, und Begriffe ohne Anschauungen leer seien.

Noch eines ist kurz anzudeuten: Das Leben, die Welt ist nach Bergson rastlose Schöpfung: vivre, c’est creer du nou- veau. Die Welt ist Werden. Also auch ein beständiges Ver- gehen. Woran soll sich nun der Mensch in diesem Flusse orientieren, wenn er sich nicht einfach vom &lan vital treiben lassen will? Es gibt keinen Zielpunkt, also kein Beharrendes; es müsste denn sein, dass der Geist in seinem Besitz der Vergangen- heit, also im Gedächtnis und im Charakter, doch auch ein Seiendes und Beharrendes hat gegenüber dem Neuen, in das er stetsfort stürzt. Und damit wäre der Gegensatz zwischen Sein und Werden, den Bergson im Weltprozess leugnet, einfach zu einem innerpsychischen geworden und erwiesen, dass Sein und Werden Korrelatbegrifie sind und nur als ein Proportionsverhältnis zu verstehen sind. Damit wäre noch nicht beantwortet, wie aus der Duree creatrice, aus dem &lan vital Normen und Werte zu ge- winnen sind, die allein es uns ermöglichen, die Fülle des Lebens zu beurteilen. Bergson sagt, das Leben ist Schaffen. Es schafft aber ein wahlloses Allerlei, es bringt beides hervor, Heilige und Verbrecher, Gutes und Böses, Schönes und Hässliches. Nach welchem Maßstab wählen wir nun die Werte aus, die die Konti- nuität der Kultur bedeuten? Oder wo liegt im Leben selbst die geheime Weisheit, die diese Werte erzeugt? Denn etwas bloß

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Lebendiges ist an sich noch kein Wert; das Leben ist der Güter Höchstes nicht. Erklärt schon jene Freiheit, die nichts anderes ist als das Einssein mit dem tiefsten Lebensgrunde, das Hervor- treten jener Werte, die wir erstreben und nach denen wir uns richten? Und gibt es nicht Werte, die ganz unmittelbar zusam- menhängen mit jener verfehmten Tendenz zur Beharrung? Werte und geistige Schöpfungen, Gesetze und Wahrheiten, die dem Werden und Vergehen entrückt sind? Man sieht, es bleiben für Bergsons weitere Arbeit noch genug Fragen zur Beantwortung übrig, die durch seine bisherigen Werke nicht zum Schweigen gebracht wurden.

Das sind einige von vielen Fragen und Einwänden, die die Vernunft nicht übersehen kann, will sie nicht ihre Bedeutung als Gesamtsinn und Einheit des Menschengeschlechtes preisgeben. Der Intellekt, der sich nicht in die Rolle fügt, die Bergson ihm zuwei: muss so urteilen. Allerdings muss man nun zugeben, dass die Intui- tionsphilosophie einer bloßen Kritik des Intellekts ausliefern, heißen würde: sie vor einen Richter stellen, der in dieser Sache befangen und unzuständig ist— erscheint er doch in Bergsons Philosophie geradezu als Angeklagter. Er müsste sie notwendigerweise verurteilen, sie als Glaubenssatz und persönliche Meinung ab- lehnen, wenn die Philosophie nur ein logisches System, nur eine Bearbeitung der Begriffe zu sein hätte. Dann wäre für die Intui- tionsphilosophie keine Berufung auf einen höheren Richter lich und sie bliebe ein schöner Privatbesitz eines einzelnen genialen Menschen. Nun lernen wir aber immer besser einsehen, dass der Wert irgend eines Systems nicht allein in seinen begrifflichen Denk- resultaten liegt. Es sind nicht nur Glaubensmenschen, die das behaupten, sondern Philosophen, wie z. B. Simmel, Husserl, die, trotz ihres ganz anders orientierten Standpunktes, betonen, dass der logische Gehalt eines Werkes nicht der einzige Maßstab und die logische Methode nicht der einzige Weg zu neuen Erkenntnissen sei. Wir finden zum Beispiel bei Husserl, wohl gemerkt einem Logiker, folgendes bedeutsame Eingeständnis: „Wir sind zu sehr geneigt, indirekte Methoden zu überschätzen und den Wert direkter Erfassung zu missachten. Es liegt aber gerade im Wesen der Philosophie, sofern sie auf die letzten Ursprünge zurückgeht, dass ihre wissenschaftliche Arbeit sich in Sphären direkter Intuition

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bewegt, und es ist der größte Schritt, den unsere Zeit zu machen hat, zu erkennen, dass mit der philosophischen Intuition ein end- loses Arbeitsfeld sich auftut, und eine Wissenschaft, die ohne alle indirekt symbolisierende und mathematisierende Methoden, ohne den Apparat der Schlüsse und Beweise doch eine Fülle strengster und entscheidender Erkenntnisse gewinnt.“ Und weiter an einem andern Orte: „In schauender Haltung Erfasstes kann nur in schauender Haltung erfasst werden.“ Auf der Höhe dieser Ein- sicht gewinnen wir für die Beurteilung von Bergson einen neuen und höhern Standpunkt als den eben vertretenen intellektuellen. Eine solche „schauende Haltung“ hat die Philosophie Bergsons eingenommen. Sie will als Anschauung gewertet sein, nicht als begriffliches Denken. Sie kann daher verlangen, dass man ihr in ihre Einstellung folge.

Schauen ist das Ursprüngliche, Begreifen das Abgeleitete, Schauen ist Reichtum und Fülle, Begreifen ist Beschränkung und Armut, Im Schauen liegt das Aristokratische und Künstlerische, im Begreifen herrscht die Demokratie der Vernunft. Schauen ist das Vorrecht des Einzelnen, Begreifen das Verständigungsmittel der Allgemeinheit. Aber das, was der Einzelne, der Künstler, der Prophet, der Mystiker, der Metaphysiker schaut, ist nicht wertlos für die Allgemeinheit, Ja, es fragt sich, ob diese nicht den größ- ten Teil ihrer Werte auf diese Weise gefunden hat. Es ist der Weg ihrer Genesis, wenn auch nicht der Grund ihrer Gültigkeit. Zu mancher Tiefe findet die Allgemeinheit keinen andern Weg, als dass der Einzelne ihr sein Auge leiht und sie schauen lehrt. Die Frage heißt somit, ob wir dem Verhältnis des Einzelnen zur Welt, soweit wir es miterleben können, Raum und Wert für unsere Weltanschauung zugestehen wollen. Wer das bejaht, findet trotz der kritischen Aussetzung ein positives Verhältnis zur Intuitions- philosophie, auch wenn er sie nicht als eine wissenschaftliche im strengen Sinne anerkennt. Er gibt damit zu, dass neue Erkennt- nisse nicht allein auf dem Wege der logisch mathematischen, sondern auch der psychologisch geschichtlichen Methode uns ver- mittelt werden können. So bringt die Geschichte ihre Wahrheiten nicht in der Form der Allgemeingesetzlichkeit des Naturerkennens, sondern im Gewand der Eigengesetzlichkeit der einmaligen großen Seele. Dabei sind wir aber gewillt, in diesen individuellen Offen-

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barungen doch auch Spiegelungen und Äußerungen einer höhern Gesamtvernunft zu entdecken, wie in den allgemein gültigen Er- kenntnissen der Naturwissenschaft, auch wenn wir sie nicht auf eine zwingende Formel zu bringen vermögen. In der Geschichte ist es mit Händen zu greifen, dass es noch andere Wahrheiten gibt als die logisch mathematischen der naturwissenschaftlichen Er- kenntnis. Dort bekommt das Individuelle und Einmalige eine Wahrheit und einen Wert für die Menschheit, den es sonst im ganzen Bereich des Naturerkennens nicht hat. So können wir nun die Intuitionsphilosophie zwar als individuelle Anschauung eines Einzelnen werten, die nicht den allgemein gültigen Zwang einer logischen Wahrheit ausübt, die aber doch Wahrheitswert für alle die besitzt, die sich in die gleiche Einstellung und An- schauung begeben können. Die Wahrheit der Metaphysik stellt sich damit neben die künstlerischen, sittlichen, religiösen, seeli- schen Wahrheiten, die auch nicht logischen Charakter haben und denen man Wahrheitswert doch nicht absprechen wird. In Deutschland vertreten Eucken, Rickert und Windelband das Recht dieses Standpunktes, von dem aus die geschichtliche und die naturwissenschaftliche Erkenntnis jede in ihrem besondern und unabhängigen Recht erscheinen. Aber während diese dazu kom- men von der Geschichte und von erkenntniskritischen Erwägungen her, erreicht Bergson diese Stellung, indem er ausgeht von dem, was die Geschichte erst ermöglicht: vom schöpferischen Leben der Duree creatrice, die der Allgemeingesetzlichkeit immer wieder entrinnt und in der Einzelerscheinung der neuen Schöpfung, ihre Fülle, ihr Streben und ihre Freiheit erweistoder doch danach trachtet.

Bergsons Philosophie gehört also zu jenen geschichtlichen Schöpfungen, die man nicht nach ihrem streng logischen Wahr- heitsgehalt frägt, weil „Wahrheit überhaupt nicht der ganz an- gemessene Begriff ist, um den Wert einer Philosophie auszu- drücken“ (vergl. Simmel, Hauptprobleme der Philosophie). Ihre neue Problemstellung, ihre persönliche Einstellung auf die Welt ist das Fruchtbare, das Anregende und Wertvolle für uns und vielleicht auch der Weg zu neuen Erkenntnissen. Das Einzel- verhältnis eines genialen, weitschauenden und tieffühlenden Men- schen zu Welt und Leben ist für die Menschheit immer wieder der Weg zu neuen Wahrheiten geworden.

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Dieses Einzelverhältnis Bergsons zur Welt ist uns, von an- derem abgesehen, durch zwei Besonderheiten wichtig und für die Kulturarbeit fruchtbar.

Einmal durch den Mut, das Erlebnis der Seele in seinem ganzen Umfang für den Aufbau einer Weltanschauung zu ver- wenden. Bisher schien dazu allzu ausschliesslich nur der be- schränkende Intellekt berufen zu sein. Damit tritt ein neuer Welt- anschauungstypus wieder auf, der sein Recht aus einer psycho- logischen Eigenart schöpft. Jener Mut wächst aus der Eii dass die Bedingung aller Erkenntnis in der Fähigkeit liegt, ja leidenschaftlich von einer Sache bewegt zu werden. Man muss etwas erleben, um es zu erkennen. „Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen.* Die Kraft und Glut dieses Erlebnisses geht dem logisch geordneten Erkennen voraus. Eine Art tief- greifender, weil tief ergriffener Divination, die mit der künstlerischen Hingabe und noch mehr mit der ahnenden und alles verstehen- den Liebe verwandt ist, der Eros, steht an der Pforte aller Er- kenntnisse. Damit hat Bergson wie übrigens Dilthey die philo- sophische Bedeutung des Erlebnisses für die Erkenntnis in das hellste Licht gerückt.

Das Zweite, was uns an Bergsons Verhältnis zur Welt wich- tig ist, ist seine kräftige Reaktion gegen die Ansprüche eines über- triebenen Intellektualismus und abstrakten Rationalismus. Wohl- gemerkt, nicht gegen den Intellekt richtet sich diese Kritik, der einen höchst notwendigen Teil unserer Erkenntnis besorgt, son- dern gegen jene Überspannung und Grenzerweiterung, den Intel- lektualismus, der die Welt nur auf ihren logischen Gehalt prüft, sie nur mit rein logischen Kategorien zu erfassen sucht und ver- gisst, dass daneben noch eine große und reiche Wirklichkeit blüht, die nicht in das Schema des Intellekts oder der Wissenschaft ein- geht. So hat eine Psychologie das seelische Leben vergewaltigt, die den ganzen reichen und tiefen Fluss der Seele glaubte in die flachen Gefäße logischer Kategorien schöpfen zu können. Ihr Werden und Sehnen, ihre himmlischen Seligkeiten und ihre dämonengefüllten Abgründe sollten erfasst werden können mit den armseligen Begriffen einer Assoziations- und Experimen- talpsychologie! In gleicher Weise hat der Intellektualismus in der Soziologie das gesellschaftliche und geschichtliche Leben ge-

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fälscht, indem er in ihm nur noch die Wirkungen von weiß Gott was für unentrinnbaren und ehernen Gesetzen sah und mit der schöpferischen, weltverwandelnden Kraft des Genius und des gu- ten Willens nicht rechnete. Wir leben heute, unter dem Eindruck der großen Erfolge der naturwissenschaftlichen Methode, in einem Rausche rein intellektueller Erkenntnis. Das zarteste wie das ge- waltigste und unaussprechliche Leben wird in Wissen verwandelt und grinst uns dann in den Masken von Begriffen und Formeln entgegen. Mit einigen wenigen der Naturwissenschaft entlehn- ten Begriffen werden Geist und Geschichte gemeistert. Formeln der Mechanik werden als Schlüssel zum seelischen Leben benützt. Was einer ganzen Menschheitsperiode Tiefsinn, Heiligtum und Mysterium war, wird zur Flachheit, zur Illusion oder zum Anhängsel irgend eines Mechanismus. Diese ganze Weltanschauung geißelt Bergson als Grenzüberschreitung und Lebensfrevel und zerschlägt ihre intellektuellen Idole mit kräftiger Faust. Das haben Künstler und Propheten, Schwärmer und Pfaffen schon oft versucht; hier aber tut es ein Philosoph, nicht im Namen eines naturwissen- schaftlichen oder künstlerischen oder gar religiösen Dogmas, nicht unter jener Verachtung von Vernunft und Wissenschaft, mit der sich Dunkelmänner so leicht drapieren, sondern kraft einer engern Fühlung mit dem Leben selbst, kraft einer kühlen Untersuchung der Tragweite intellektueller Erkenntnis, kraft einer vorsichtigen Grenz- regulierung zwischen Wissen und Wirklichkeit, Wissen und Leben.

In Bergsons Philosophie spricht eine Müdigkeit des heutigen Menschen, sein Überdruss am intellektuellen Wissen. Dieses ist heute zu erstaunlichem Reichtum aufgehäuft; der Einzelne ertrinkt schließlich darin und fühlt sich durch ihn je länger je mehr in seinem ganzen, umfassenden und warmen Menschentum bedroht. Aber diese Philosophie entringt sich jener Müdigkeit und wird zu einer Sehnsucht nach Ganzheit und Unmittelbarkeit, zu einem Aufschwung aus den Maulwurfsgängen des Spezialistentums zur überragenden Höhe einer Gesamtweltbetrachtung, zu reinen ho- hen Gipfeln, die nicht der sichere, schwerschreitende Fuß, son- dern nur der Flug des Adlers erreicht. Mitten in einer Welt hoher materieller und intellektueller Kultur ist sie ein Schrei nach Seele und Innerlichkeit.

Ein starker Zug nach vorwärts, ein kraftvolles und mutiges

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Vertrauen zum Leben pulsiert in ihr. Darum ist sie auch eine Philosophie der Jugend, deren Vorrecht die Begeisterung und die Hoffnung ist. Vielleicht ist sie deshalb bestimmt, einmal an die Stelle Nietzsches zu treten. Denn was dieser Positives und Wertvolles besitzt, hat sie auch und noch einiges dazu. Sie hat seinen Optimismus dem Leben gegenüber ohne seinen Pessi- mismus der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie hat seinen biologischen Dynamismus, ohne damit der Unmoral und der Ruchlosigkeit des Willens zur Macht zu verfallen. Sie ist anti- intellektualistisch und sieht wie Nietzsche im Verstand nur eine kleine Vernunft; aber sie sieht die große nicht im Leibe wie Nietzsche, sondern im Leben, das Geist werden will. Sie traut dem Instinkt als einer sicherern Führung, aber er führt sie nicht zum Egoismus der blonden Bestie, sondern aus der lastenden Schwere der persönlichen Bedürfnisse heraus zur Anschauung des Weltlebens. Sie gibt dem Einzelnen und besonders dem aristokratischen hochwertigen Individuum sein Recht, ohne da- durch wie Nietzsche zum Hochmut des Übermenschen zu ge- langen, der die Massen dem Teufel und der Statistik überliefert. Sie lehrt ein ewiges Werden, ohne damit der Welt das Ziel und den absoluten Gehalt zu rauben. Sie ist künstlerisch und ver- fällt doch nicht einem genussüchtigen Ästhetizismus, sondern fordert Anstrengung, Taten und zeigt dem Willen das ferne und schwere Ziel der Freiheit und des Guten.

Eine Philosophie des Lebens darf Bergsons Werk genannt werden, denn aus dem Leben ist sie hervorgewachsen, ein grüner Ast voll Blüten an seinem goldnen Baume, und für das Leben will sie fruchtbar sein. Eine Philosophie des Lebens darf sie vor allem heißen, weil sie das Leben da aufsucht und darstellt, wo es seine größte Gewalt und seine geheimnisvolle Tiefe zeigt: in seinem schöpferischen Drang, in seiner Forderung an den Men- schen, im tiefsten, freiesten Sinne lebendig zu werden, und in seiner zukunftsfrohen Verheißung eines Größern, dem es ent-

gegen eilt.

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Boutroux ist neben Bergson der Vertreter der französischen neuidenlistischen Bewe- gung. Seine Auffassung der Naturgesetze als der künstlichen und festen Abbilder eines wesentlich lebendigen und beweglichen Modells gibt ihm das Recht, einen Zusammenhang zwischen dem Leben des Geistes und dem, was das Leben der Materie ausmacht, zu behaupten. Durch den so gewonnenen Freiheitsbegriff über- 'windet er jeden Determinismus. Seine Naturgesetze sind keine starre Notwendigkeit, denn in und ausser uns ist fortwährende Schöpfung, d.h. Leben und Freiheit. ‚Aber sie gestatten uns, über die Kontemplation, zu welcher die Alten gezwungen waren, hinauszugehen zu einer Wissenschaft der Tat.

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Steffens Soziologie ist eine Anwendung der Bergsonschen Er- kenntnistheorie. Gesellschaftswissenschaft ist Wissenschaft von geistigen Vorgängen, darum versagt in ihr die naturwissen- schaftliche Methode: sie muss durch das intuitive Verstehen aller gefühlsmässigen und instinktiven Regungen ergänzt werden. DER WEG ZU SOZIALER ERKENNTNIS. Pappband M 3.—, Lwd. geb. M 4— DIE IRRWEGE SOZIALER ERKENNTNIS. Pappband M5.—, Lwd. geb. M 6.— DIE GRUNDLAGE DER SOZIOLOGIE. br. M 3.—, Lwd. geb. M 4.20 DAS PROBLEM DER DEMOKRATIE. br. M 1.80 DIE DEMOKRATIE IN ENGLAND. Pappband M 3.— Lwd. geb. M 4.—

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KARL JOEL, SEELE UND WELT. Versuch einer organischen Auffassung. br. M 8.—, Lwd. geb. M 9.50

KOLNISCHE ZEITUNG: Leib und Seele sind nicht nebeneinander, nicht ineinander. nicht auseinander, sie sind nicht gleich, nicht eins, nicht verschieden. Seele und Leib entsprechen sich ala Gegensätze, bedingen sich als Ergänzungen. Der Körper ist das, was ein Wesen unmittelbar für andere ist, sozusagen sein Öffentliches, die Seele dagegen ist sein Privates, das, was ein Wesen unmittelbar für sich selbst ist. Soele und Körper sind zwei organisch vereinigte, ineinander übergehende Funktionsweisen. Der Gegensatz von Seele und Körper ist auch der Grundgegensatz der Welt: die ganze Welt enthält und braucht ebenso sehr Variation wie Konstanz, Aktivität wie Pasaivi- tät, Kraft wie Stoff, Ursache wie Wirkung, Freiheit wie Gebundenheit. Die Ureinheit, das Ursein ist der tiefe Schlaf der Welt, die Fülle, die werden will. Dann tritt das Erwachen, die Urscheidung, die Differenzierung ein. Der Geist erhebt sich, er ent- wickelt sich in unendlicher Variation. Das Leben der Seele ist unausgesetzter Kampf, Widerstreit der Variation mit der Konstanz, des Einzelnen mit dem Ganzen. der Differenzierung mit der Einheit, Das Uberwundene setzt sich fortwährend ab als Beharrung, Stoff, Objekt. Der Weg von der Empfindung durch die Anschauung zum Denken ist ein fortschreitender Befreiungsprozess der Seele von der Welt. Weil wir aber im Fühlen immer das Leben haben, weil wir nichts anderes als Leben fühlen können, weil alles Leben als solches organisch, d. h. Einheit ist, so wird durch unser Fühlen die Einheit mit allem Lebenden hergestellt. Dr. Richard Ochler

HANS DRIESCH, ORDNUNGSLEHRE. Ein System des nicht- metaphysischen Teiles der Philosophie. Mit besonderer Berück- sichtigung der Lehre vom Werden. br. M 8.—, Hfz. geb. M 10.50 FRANKFURTER ZEITUNG: Philosophie als „Lehre vom Wissen“ zerfällt nach dem Autor in Dreifaches: Zum allerersten ist Philosophie Selbstbesinnungslehre. Das Ich besinnt eich hier auf die letzten unzerlegbaren Weisen, in denen es be- wusst erlebt. Zum zweiten ist Philosophie Ordnunglehre, d. h. Lehre von den Ordnungsformen dessen, was ich mir gegenüber habe. —— Endlich kann Philosophie vielleicht Erkenntnislehre sein; hier steht vor ihr die Frage: Wie kommt es, dass ich weise? Die Ordnungslehre ist eine Art Mittelding zwischen „Logik" und „Erkenntnistheorie", aber nicht sachlich zwischen diese eingeschoben, sondern sach- lich diese ermöglichend: sie sucht die Bedeutung am „Gegebenen“ im Sinne des Leitfadens der Ordnung, nicht etwa der Richtigkeit, sondern des Minimums an „Satzungen“ (Begriffen). In der Ordnungslehre (und der ihr als voraussetzungs- entwickelnd vorangehenden und sie bestätigend abschließenden Selbstbesinnungs- lehre) müssen die ersten und letzten Bestätigungen (Annahmen und Normen) ent- wickelt werden, die sich das sich als Objekt selbet analysierende Denken stets er- teilen muss, soll es geordnetes Denken = Philosophie ala Ordnungslchre, welche aller Erkenntnis (Metaphysik) vorangehen muss, sein. Insofern kann Ordnungslehre ein „Prolegomenon zu jeder künftigen Metaphysik genanntwerden“. Hans Prager

EBERHARD ZSCHIMMER, PHILOSOPHIE DER TECHNIK. Über den Sinn der Technik und Kritik des Unsinns über di Technik. br. M 3.—, geb. M 4.—

Technik ist keine kulturfeindliche Macht, kein verflachender Mechanismus; vielmehr ein Kultursystem, das neben Kunst, Recht, Wissenschaft u. a. zu stellen ‚Aus dem „Sinn der Technik“ leitet der Verfasser, eine der ersten Autori- täten in der Glasindustrie, seine praktischen Folgerungen ab: der durch die Technik weprägte Massengeist, der als erste Ursache unsere Bevölkerungsdichte hat, schafft die Resonanz für das Wirken kommender machtvoller schöpferischer Persönlich- keiten, für Tatmenschen. Diese geborenen Weltbezwinger werden für ihre indivi- duellen Schöpfungen dieselben Möglichkeiten der Vertausendfähigung ausnutzen können wie die Industrie und daher mit einer noch unbeschreiblichen Macht wirken.