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Alexander von Humboldt's

Reiſen

Amerika und Aſien.

Eine Barstellung seiner wichtigsten Forschungen

von

5. Kleike.

Dritter Band.

Zmeite Auflage.

Berlin. Haſſelberg'ſche Verlagsbuchhandlung.

1856.

Alexander von Humboldt's

Reifen

im

europäiſchen und aſiatiſchen Rußland. H. Rletke.

Erſter Band.

Zweite Auflage.

Berlin.

Haſſelberg'ſche Verlagsbuchhandlung.

1856.

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im

europäiſchen und aſiatiſchen Rußland.

III. 1

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Erstes Pnch.

Erfies Kapitel.

Veranlaſſung zur Reife. Abreiſe von Berlin. Bemerkungen über den Bernſtein. Ankunft in Petersburg. Die Newa.

Im Sommer des Jahres 1827, erzählt Humboldt *), als ich eben erſt nach einem langen Aufenthalte in Frankreich in mein Vaterland zurückgekehrt war, wurde ich von dem kaiſerlich ruſſiſchen Staats— miniſter, Herrn Grafen von Cancrin, aufgefordert, ihm meine An— ſichten über den Nutzen einer baldigſt in Curs zu ſetzenden Platin— münze aus den Erzeugniſſen des Ural und über das geſetzliche Verhältniß des Werthes dieſer Münze zu einem der beiden anderen edlen Wetalle mitzutheilen. Ich war ſchon in früherer Zeit von dem ſpaniſchen Gouvernement officiell veranlaßt worden, denſelben Gegenſtand zu bearbeiten; auch wurde während des Wiener Con- greſſes von Privatperſonen den verſammelten Monarchen der An— trag gemacht, aus dem amerikaniſchen Platin eine in allen Staats- Kaſſen anzunehmende Münze ſchlagen zu laſſen. Die Beſorgniſſe,

) Vergl. die Vorrede zur „Reiſe nach dem Ural, dem Altai und dem Kaspiſchen Meere auf Befehl Seiner Majeſtät des Kaiſers von Rußland im Jahre 1829, ausgeführt von A. v. Humboldt, G. Ehrenberg und G. Roſe. Mineralogiſch - geognoſtiſcher Theil und hiſtoriſcher Bericht der Reife von G. Roſe.“ Berlin 1837 und 1842.

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die ich dem Grafen von Cancrin im Herbſte des Jahre 1827 äußerte, ſind durch mehrjährige Erfahrung, bei ſehr gemäßigter Emiſſion der Platin-Münze und bei der weiten Ausdehnung des Kaiſerreichs, nicht gerechtfertigt worden; indeſſen hatte die frei— müthigſte Discuſſion über eine wichtige ſtaatswirthſchaftliche Frage nicht das ehrenvolle Vertrauen gemindert, das mir geſchenkt war. Kaum hatte ich in dem Laufe jenes Briefwechſels der Hoffnung er— wähnt, ſobald es meine Lage geſtatten würde, auf einer Sommer— reiſe den Ural zu beſuchen, deſſen geognoſtiſche Conſtitution gewiß viele Vergleichungspunkte mit der Andeskette von Neu-Granada dar— bieten müſſe, als ich bereits (unter dem ¼7. December 1827) durch den Herrn Finanz-Winiſter von den Allerhöchſten Befehlen Sr. MWaj. des Kaiſers Nicolaus in Kenntniß geſetzt wurde, laut deren meine Reiſe, in größerer Ausdehnung und nach den ſorgfältigſten Vorbe— reitungen, auf alleinige Koſten der Krone ausgeführt werden ſollte. Dieſe Nachricht erweckte in mir auf das lebhafteſte die alte ange— borne Reiſeluſt. So ſehr ich mich aber auch freute, wieder auf einer Landreiſe einen ſo großen Erdſtrich zu durchwandern, ſo konnte ich doch wegen des Wunſches, meine öffentlichen Vorleſungen über die phyſiſche Weltbeſchreibung im Winter 1828 zu vollenden ), nicht ſogleich von jenen großartigen, meine Freiheit übrigens auf keine Weiſe beſchränkenden Anerbietungen Gebrauch machen. Die Bitte um Aufſchub fand leicht Gehör und der Herr Graf von Cancrin ſchrieb mir unterm %o. März 1828, Sr. Kaiſerl. Majeftät habe durch eigenhändige Confirmation genehmigt, daß es ganz von meinen eigenen Ermeſſen abhangen ſolle, die Expedition nach dem Ural⸗Gürtel und Tobolsk erſt im Jahre 1829 anzutreten, und meine gelehrten Freunde, die Profeſſoren Ehrenberg und G. Roſe als Begleiter mitzubringen; auch bleibe mir ſelbſt überlaſſen, ob ich in den nächſtfolgenden Jahren meine Excurſion nach dem Ararat oder anderen ſüdlichen Gegenden Rußlands ausdehnen wolle. Für die Sicherheit und Schnelligkeit der zu unternehmenden Reiſe hatte der Herr Finanzminiſter mit der zarteſten Sorgfalt die zweckmäßig—

*) Dieſe Vorträge, welche Humboldt vom 3. November 1827 bis zum 26. April 1828 in Berlin hielt, bilden den erſten Entwurf des „Kosmos.“

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ſten Veranſtaltungen getroffen. Ein eigends mir im Winter 1829 kurz vor meiner Abreiſe von Berlin zugeſandtes Pro Memoria ent— hielt die Beſtimmung über die für die Expedition bereits ange— fertigten Wagen, über die Zahl der Poſtpferde anf jeder Station (meiſt 15 bis 20), über die Wahl eines Feldjägers oder Couriers, über die geräumigen Wohnungen, die überall in Bereitſchaft gehal— ten werden ſollten, über die militairiſche Bedeckung, wo ſie der Grenze nahe erforderlich wäre u. ſ. w. Ein ſehr ausgezeichneter Bergbeamter (der damalige Oberhüttenverwalter, ſpätere Berghaupt— mann von Wenſchenin), zweier Sprachen, der deutſchen und fran— zöſiſchen gleich mächtig, ſollte uns auf der ganzen Reiſe begleiten. Das Pro Memoria ſchloß mit den denkwürdigen Worten: es hängt ganz von Ihnen ab, in welchen Richtungen und zu welchem Zwecke Sie dieſe Reiſe ausführen wollen, der Wunſch der Regierung iſt einzig der, den Wiljenfchaften förderlich zu fein. So viel Sie können, werden Sie dabei dem Bergbau und dem Gewerbefleiße Rußlands Nuten verſchaffen.

Solche edle Anerbietungen (ſagt Humboldt ſchließlich), und ſie wurden alle auf einer langdauernden Reiſe von 14,500 Werſten (über 2000 geographiſche Weilen) erfüllt, darf ich ſchon deßhalb nicht mit Stillſchweigen übergehen, weil ſie auf eine erfreuliche Art das Zeitalter charakteriſiren, in dem wir leben. Die Gunſt, welche dem ſtillen Treiben des Einzelnen geſpendet wird, ſtrahlt von der Höhe der Wiſſenſchaften auf ihn herab. Sie iſt der lebendige Aus— druck der Achtung, die ein mächtiger Monarch dem fortſchreitenden Wiſſen und dem wohlthätigen Einfluß dieſes Wiſſens auf den Wohl— ſtand der Völker ſchenkt.

Wie hohen Werth der Kaiſer von Rußland auf die wiſſen— ſchaſtlichen Forſchungen eines Humboldt legte, geht unter anderm noch daraus hervor, daß dem letzterem unterm ½8. Februar 1831, alſo kaum ſechzehn Monate nach feiner Rückkehr vom kaspiſchen Meere, auf Befehl des Kaiſers das Anerbieten zu einer neuen Reife gemacht wurde. Humboldt (dem es leider nicht vergönnt war darauf einzugehen) ſollte die Wahl haben, entweder bloß Finnland, oder, wenn er den Süden vorzöge, den Kaukaſus zu beſuchen.

Es war am 12. April 1829 Abends um 11 Uhr, als Humboldt

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in Begleitung der Profeſſoren Ehrenberg und Guſtav Roſe Berlin verließ. Man trat die Reiſe, deren Zweck die Mitnahme eines Ap— parats von aſtronomiſchen und phyſikaliſchen Inſtrumenten, von Büchern und Vorrichtungen zu chemiſchen Verſuchen und natur— hiſtoriſchen Sammlungen nothwendig machte, in zwei Wagen an. Anfänglich war die Abreiſe für die erſten Tage des Wais feſtgeſetzt geweſen; ſie wurde jedoch durch die Nachricht beſchleunigt, daß der Kaiſer von Rußland ſchon in dieſen Tagen Petersburg verlaſſen und ſich zur Krönung nach Warſchau begeben würde.

In Berlin war ſchon ſeit längerer Zeit milde Frühlingswit— terung eingetreten, und ſo hofften die Reiſenden ohne Aufenthalt nach Petersburg zu kommen, mußten aber bald erfahren, daß ſie gerade die ſchlimmſte Zeit zu einer nordiſchen Reiſe gewählt hatten. Schon am folgenden Tage trafen ſie Schnee an, der im Schmelzen begriffen, die Wege verdarb, und ſpäter hatten ſie das Ungemach, faſt alle Flüſſe, die zu paſſiren waren, im Eisgange anzutreffen, und da ſie dieſen überall erſt abwarten mußten, ſo erlitt ihre Reiſe dadurch eine außerordentliche Verzögerung.

In den erſten Tagen hatten ſie dieſe Uebelſtände noch wenig empfunden, denn die Chauſſee nach Königsberg war durch das Auf— thauen des Schnees nicht ſehr verdorben, und in Dirſchau, wo ſie am 14. in der Frühe ankamen, fanden ſie die Weichſel ſchon ſeit acht Tagen offen und konnten alſo mit der Fähre ohne Aufenthalt überſetzen. Das Waſſer ſtand ſehr hoch, es hatte in den Viederun— gen bei Danzig die Dünen durchbrochen und großen Schaden an— gerichtet. Zwei Weilen weiter ſetzten ſie über den zweiten Arm der Weichſel, die Nogat, jenſeits welcher Marienburg liegt. Die Be— ſichtigung des alten Schloſſes der deutſchen Ritter gewährte ihnen einige Stunden frohen Genuſſes. Jenſeits Marienburgs bis Elbing fanden ſie wieder die ganze Gegend zu beiden Seiten der Straße ſo überſchwemmt, daß dieſe nur wenig aus der alles bedeckenden Waſſermaſſe hervorragte.

In Königsberg, wo ſie am 15. Worgens eiutrafen, machte Humboldt zuerſt die perſönliche Bekanntſchaft des berühmten Aſtro— nomen Profeſſor Beſſel, welcher den Reiſenden alle Einzelnheiten ſeiner vortrefflich eingerichteten Sternwarte zeigte, die auf einer zu

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den ehemaligen Feſtungswerken gehörigen Anhöhe liegt und mit der größten Zweckmäßigkeit eine große Bequemlichkeit verbindet. Zu Wittag fanden ſie bei Beſſel einen größeren Kreis aus den Gelehr— ten und Aerzten Königsbergs verſammelt, in deren heiterer und be— lehrender Geſellſchaft der Abend ſchnell heranrückte.

Der in der Nähe von Königsberg gefundene Bernſtein macht dieſe Stadt auch in mineralogiſcher Hinſicht beſonders intereſſant. Die Wineralien-Sammlung der Univerſität enthält eine beſondere Sammlung von Bernſteinſtücken mit eingeſchloſſenen Inſekten; die— ſelbe iſt ziemlich von gleicher Größe mit der, welche ſich in der königlichen Sammlung zu Berlin befindet. Der wiſſenſchaftliche Werth derartiger Sammlungen iſt um ſo größer, da die Einſchlüſſe in dem Bernſtein die einzigen Ueberreſte von Inſekten einer der jetzigen vorhergegangenen Schöpfung enthalten *).

Die Gewinnung des Bernſteins wurde ſonſt von einer könig— lichen Behörde geleitet und der in jedem Jahre gewonnene Bern— ſtein in öffentlicher Auction verkauft. Seit dem Jahre 1811 iſt aber der Bernſtein für die jährliche Summe von 10,000 Thalern an Herrn Douglas verpachtet worden. Bei dieſem ſah Profeſſor Roſe die ſehr beträchtlichen Vorräthe (nach Angabe des Herrn Douglas 150,000 Pfund), die, um das leicht entzündliche Material vor Feuersgefahr zu ſchützen, in einem maſſiven Magazine aufbe— wahrt werden, das eine gewölbte Decke hat und mit eiſernen Thü— ren verſchloſſen wird. Hier ward der Bernſtein nach der Größe der Stücke geordnet und in Körben und Kiſten aufbewahrt. Wan un⸗ terſcheidet Sortiment, Tonnenſtein, Fernitz, Sandſtein und Schluck. Zu dem erſtern rechnet man alle Stücke, die fünf Loth und dar— über wiegen; von dem Tonnenſtein gehen 30 bis 40 Stück auf ein Pfund, zu dem Fernitz zählt man kleine reine Stücke von ein bis

*) G. Roſe a. a. O. Beide Sammlungen, die Königsberger, wie die Berliner, ſtehen übrigens nach dem Urtheil des Prof. Roſe an Schönheit und Vollſtändigkeit der des Dr. Berendt in Danzig bei weitem nach. Man vergleiche in Bezug auf dieſe letztere Sammlung folgendes intereſſante Werk: Die im Bernſtein befindlichen organiſchen Reſte der Vorwelt, in Verbindung mit Mehreren bearb. und herausg. vom Sanitätsrath Dr. G. C. Berendt. Berlin 1845 und 1854.

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zwei Quadratzoll, Sandſtein bildet die noch kleineren Stücke und Schluck nennt man den unreinen Sandſtein. Das Sortiment wird von den Bernſteindrehern zu allerhand Galanteriewaaren verarbei— tet, geht aber größtentheils roh nach Konſtantinopel, wo es zu Bernſteinſpitzen benutzt wird. Aus dem Tonnenſtein und Fer- nitz verfertigen die Bernſteindreher Perlen, die ſie Korallen nennen. Der Sandſtein und Schluck, ſo wie auch die Abgänge beim Drehen werden größtentheils zur Deſtillation der Bernſteinſäure, die als chemiſches Reagens gebraucht wird, ſo wie der Rückſtand in den Retorten, das ſogenannte colophonium suceini, zur Bereitung des Bernſteinfirniſſes benutzt.

Aus den Rechnungen, welche man vom Jahre 1535 bis zum Jahre 1811 über den Ertrag des Bernſteins geführt hat, ergiebt ſich, daß derſelbe merkwürdiger Weiſe immer der nämliche geblieben iſt. Vimmt man den Durchſchnitt aus den Jahren 1661 bis 1811, ſo beträgt danach die Menge des jährlich gewonnenen Bernſteins 150 Tonnen (die Tonne zu 87 Stof, die etwas kleiner als die Berliner Quarte ſind). Wehr oder minder günſtige Stürme, die den Bern— ſtein an's Ufer treiben, größere oder geringere Veruntreuungen beim Sammeln des Bernſteins ergeben bei den verſchiedenen Jahren größere oder kleinere Abweichungen, die aber nie bedeutend ſind. Das Sortiment findet ſich am ſeltenſten. Den Procenten nach ſind in jenen 150 Tonnen enthalten: 0,788 Sortiment, 9,642 Tonnen— ſtein, 5,959 Fernitz, 64,695 Sandſtein, 18,916 Schluck.

Der Bernſtein wird theils vom Meere auf den Strand gewor— fen und an demſelben geſammelt, theils in der Nähe des Strandes gegraben; doch überwiegt die Wenge des ſogenannten Seebernſteins die des Landbernſteins bei weitem. Der Seebernſtein wird an der ganzen Küſte von Memel nach Danzig geſammelt; aber nicht jede Stelle der Küſte giebt eine gleiche Wenge Bernſtein; die größte Wenge wird an der Samländiſchen Küſte von Pillau nördlich bis zum Dorfe Groß-Hubnicken, auf einer Länge von etwa drei Weilen geſammelt, unbedeutend dagegen iſt die Wenge, die an der friſchen Nehrung, und noch geringer die, welche an der Kuriſchen Vehrung gewonnen wird. Hr. Douglas hat nur die Küſte von Wemel bis zum Gebiete von Danzig jenſeits des Dorfes Polsky auf der

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friſchen Nehrung gepachtet. Was bei Danzig geſammelt wird, ge— hört der Stadt, die es abgeſondert verpachtet hat. Die Richtung des Windes, welche die Antreibung des Bernſteins am meiſten be— günſtigt, iſt nach der Lage der Küſte in den verſchiedenen Revieren verſchieden; im Allgemeinen ſind es aber doch beſonders anhaltende Nordwinde, bei denen der Bernſtein mit den Wellen angeſpült wird, nach deren Stillung durch Weſt-, Südweſt- und Vordweſtwinde der Bernſtein mit dem ſogenannten Bernſteinkraut (Fucus vesicu— losus und fastigatus), worin er eingewickelt liegt, aus dem Waſſer an's Land getrieben wird.

In den Jahren 1782 bis 1806 wurde der Landbernſtein bei den Dörfern Groß-Hubnicken und Kraxtepellen an der Samlän⸗ diſchen Küſte auf eine förmlich bergmänniſche Weiſe durch Schächte und Stollen betrieben. Der Bernſtein findet ſich hier am Fluß des 100 bis 150 Fuß hohen Ufers in einer ſchwarzen mit Stücken von Braunkohle gemengten, ſehr vitrioliſchen, thonichten Sandſchicht. Die Gewinnung war freilich wegen der darüber liegenden mächtigen Sanddecke ſehr mühſam und beſchwerlich, erhielt ſich aber dadurch, daß man in dem gegrabenen Bernſtein viel mehr Sortiment antraf, als in dem Seebernſtein. Auch jetzt wird der Bernſtein noch ge— graben; man gewinnt ihn aber nicht durch unterirdiſchen Bau, ſon— dern von Tage aus, indem man die ganze Sanddecke abträgt und fie von einem kleinen vorbeifließenden Fluß, deſſen Richtung will kürlich verändert werden kann, in's Weer ſpülen läßt. Die Koſten, welche dieſe Gräbereien Herrn Douglas verurſachten, beliefen ſich in einem Jabre bis auf 10,000 Thaler. Noch mehr wie an der Kö: nigsberger Küſte wird der Bernſtein an der Küſte von Danzig ge— graben, wo er unter ganz ähnlichen Verhältniſſen wie bei Königs— berg vorkommt und ebenfalls nur durch Aufdeckarbeit gewonnen wird.

Der Bernſtein wird übrigens in Preußen auch noch in größe— rer Entfernung von der Küſte und ſtellenweiſe in großer Wenge angetroffen. So hat ſich auch im Jahre 1803 auf dem Gute Schlappachen zwiſchen Gumbinnen und Inſterburg das Stück ge— funden, welches in der königlichen mineralogiſchen Sammlung in Berlin aufbewahrt wird und das größte iſt, welches man kennt.

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Daſſelbe iſt 134 Zoll rheinl. lang, 84 Zoll breit, auf der einen Seite 53 Zoll, auf der andern 34 Zoll dick und hat ein Gewicht von 13 Pfund, 154 Loth. Urſprünglich war es noch etwas größer; doch hat der Finder, unbekannt mit der Beſchaffenheit ſeines Fun— des, ein Stück von etwa 8 Loth abgeſchlagen. Der Bernſtein iſt von der durchſcheinenden Art, jedoch ſtellenweiſe fleckig. Der Werth des Stückes iſt auf 10,000 Thaler geſchätzt worden.

Die Bewohner von Königsberg müſſen die Ehre, in der Nähe einer Küſte zu wohnen, die ſich vor allen andern auf der Erde durch ihr eigenthümliches Product auszeichnet, mit einigen Aufopfe⸗ rungen bezahlen. Denn ſie können ſich nicht der Annehmlichkeiten der See erfreuen, ohne ſich einer läſtigen Unterſuchung von Seiten der zur Aufſicht beſtellten Strandwächter auszuſetzen, und haben nur einen einzigen Badeort bei dem Dorfe Kranz, am Anfange der Nehrung in einer Gegend, welche die traurigſte der ganzen Küſte iſt, an der aber nur wenig Bernſtein von der See ausgeworfen wird. Voch ſchlimmer haben es die Strandbewohner ſelbſt, die bei der Unfruchtbarkeit der Küſte auf den Fiſchfang angewieſen find und gleichwohl nur von beſtimmten Stellen aus in See gehen dürfen, wenn ſie nicht, an andern Orten betroffen, nach Königsberg oder Fiſchhauſen zur Unterſuchung gebracht werden wollen. Der hohe Werth, in welchem Bernſteinſtücke von einiger Größe ſtehen, ſo wie die Leichtigkeit, mit welcher die Strandbewohner zum Beſitze der— ſelben gelangen können, mag allerdings die Strenge der Beaufſich— tigung nöthig machen.

Am Morgen des 18. Aprils verließen die Reiſenden Königs— berg, um auf der Kurifchen Vehrung an der Weſtſeite des Haffs entlang ihren Weg zuerſt nach Wemel und von da nach Peters— burg fortzuſetzen. Dieſer Weg hatte allerdings das Unangenehme, daß man ſich am Ende der Vehrung über das Haff ſetzen laſſen mußte; allein ein zweiter Weg über Tilſit an der Oſtſeite des Haffs war wegen des Austretens des Wemelfluſſes bei Tilſit nicht zu paſſiren.

Der Schnee, der auf dem Felde ſchon geſchmolzen war, hatte ſich auf der Straße, wo er durch früheres Fahren feſt geworden war, noch gehalten. Das Schneewaſſer der Felder hatte ihn in⸗

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deſſen ſtellenweiſe untergraben; die über ſolchen Stellen befindliche Eisdecke konnte die Laſt des Wagens nicht mehr tragen und man brach daher häufig ein. Ein Verſuch, welchen der Poſtillon eines der Wagen machte, auf dem Lande zur Seite der Straße zu fah— ren, koſtete mehrere Stunden Aufenthalt; der Wagen ſank bald dar— auf bis über die Axen in den erweichten Boden ein und konnte nur mit Hülfe vieler Wenſchen, die aus einem benachbarten Dorfe geholt werden mußten und mit Hebebäumen und Brettern herbei— eilten, wieder heraus gehoben werden. Auf dieſe Weiſe konnten die Reiſenden nicht weiter als bis Sarkau gelangen, das erſte Dorf auf der Nehrung und die zweite Station von Königsberg, die ſie bei Untergang der Sonne erreichten und auf welcher ſie über— nachteten.

Den folgenden Tag fuhren fie auf der Nehrung entlang, jener ſchmalen Landzunge, die ſich bis in die Nähe von Memel 134 Weile weit erſtreckt und das Kuriſche Haff von der Oſtſee trennt. Ob— gleich ſie kahl und mit Flugſand bedeckt iſt, den der Wind bald hier bald dorthin aufhäuft, befinden ſich auf ihr doch außer Sarkau noch mehrere Dörfer, deren Einwohner ſich größtentheils von der Fiſcherei ernähren. Die Dörfer liegen alle auf der öſtlichen Seite an dem Haff, der Weg dagegen geht auf dem weſtlichen Ufer ent— lang, wo man zur Bezeichnung deſſelben Bäume gepflanzt hat In der Witte der Landzunge zieht ſich ein faſt ununterbrochener Dünenzug hin, der die Ausſicht auf die Dörfer und größtentheils auch auf das Haff verbirgt.

Als die Reiſenden ſpät am Abend auf der Spitze der Nehrung, Wemel gegenüber, ankamen, ſahen fie zu ihren Bedauern, daß das Haff mitten im Eisgange begriffen und die Ueberfahrt nach Wemel jetzt unmöglich ſei. Sie mußten alſo in dem einzelnen Wirthshauſe, welches ſich hier befindet und der Sandkrug heißt, den Eisgang ab— warten. 8

Der Eisgang wurde jedoch den folgenden Tag nur um ſo ſtärker, und zwei volle Tage vergingen, ehe die Ueberfahrt bewerk— ſtelligt werden konnte. Die Strömung, welche gewöhnlich am öſt— lichen Ufer am ſtärkſten iſt, hatte ſich ganz auf das dieſſeitige weſt— liche Ufer hingezogen, und, in der ſchmalen Weerenge zuſammen—

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gedrängt, unterwühlten die Eismaſſen das fteile, wohl 60—80 Fuß hohe Sandufer, ſo daß dieſes beſtändig zuſammenſtürzte. Schon vor der Ankunft der Reiſenden war ein bedeutendes Stück des Ufers fortgeriffen worden und die Einſtürze nahmen am 20. vor ihren Augen noch immer zu, jo daß der Wirth des Sandskrugs genöthigt war, eine Windmühle, die er nicht mehr für ſicher hielt, abzubrechen. Am 21. war von der Stelle, wo ſie geſtanden hatte, ſchon nichts mehr zu ſehen, und als Humboldt und ſeine Begleiter am 22. des Worgens den Sandkrug verließen, war man beſchäftigt, noch ein zweites Gebäude, welches dem Ufer näher lag als das eigentliche Wohngebäude und nach der Ausſage des Wirthes noch vor einigen Tagen 500 Fuß vom Ufer entfernt geſtanden hatte, abzubrechen. Dieſe Verwüſtungen geſchahen nicht nur an einer Stelle, ſondern an dem ganzen Ufer der Nehrung, ſo weit man daſſelbe ſehen konnte. Der mit ſortgeriſſene Sand mußte ſich, wenn die Schnel— ligkeit des Stromes beim Eintreten in das Meer vermindert wurde, wieder abſetzen und drohte ſo die Einfahrt in den Hafen zu ver— hindern, was auch in Memel mit großer Beſorgniß erwartet wurde. Die Strömung war indeß ſo ſtark geweſen, daß die Bank oder die ſchmale Untiefe, welche das unterfeeifche Ende der Vehrung bil— det, und, wenn ſie angewachſen iſt, größeren Schiffen, wenigſtens bei voller Ladung, die Einfahrt von der Rhede in den Hafen ver— wehren kann, an Höhe eher ab- als zugenommen hatte.

Abgeſehen von den traurigen Wirkungen, unter denen der Wirth des Sandkrugs zu leiden hatte, gewährte ein ſo außerordent— licher Eisgang ein prachtvolles Schauſpiel. Die Größe der Eis— maſſen war eben ſo bedeutend wie die Schnelligkeit, mit welcher ſie vom Strome fortgeriſſen wurden. Während die Strömung ge— wöhnlich nur 3 Fuß beträgt, erreichte ſie am 20. Nachmittags in der Witte des Haffſtromes eine Schnelligkeit von 7,4 Fuß in der Sekunde und am Ufer, wo die Reibung größer war, betrug ſie 5,8 Fuß. Sie konnte freilich nur annähernd beſtimmt werden, in— dem die Reiſenden am Ufer an einer paſſenden Stelle eine Baſis von 100 Schritt, die für 200 Fuß angenommen wurde, abſchrit— ten, und mittelſt der Uhr die Zeit beſtimmten, die deutlich ſich aus— zeichnende Eismaſſen brauchten, um eine ähnliche Strecke im Strome

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zu durchlaufen. Keinenfalls konnte die Abweichung, die etwa zwi— ſchen dem gefundenen Reſultat und der Wahrheit ſtattfand, ſehr erheblich ſein. Die Eisſchollen waren alle in ſtengliche Stücke zerklüftet, die ſenkrecht auf der Oberfläche derſelben ſtanden, und mit einer Wenge ſolcher loſen Eisſtengel war der ganze Uferrand bedeckt.

Den erſten Tag ihres Harrens hatten die Reiſenden das hei— terſte Wetter von der Welt, und in einem freundlichen, gemüth— lichen Zimmer einquartiert, wäre ohne die verdrießliche Verzögerung der Reiſe, ihre Lage gar nicht unangenehm geweſen. Sie hatten aus dem Zimmer die Ausſicht auf Wemel, das nächſte Ziel ihrer Wünſche, vor ihnen lag die Weerenge, auf welcher die Eismaſſen ihr Spiel trieben, und links die See mit der Rhede, auf der ſich ſtündlich die Zahl der Schiffe mehrte, die gleichfalls das Ende des Eisgan— ges abwarteten, um in den Hafen einzulaufen; in nächſter Umgebung war freilich alles öde, doch dieſe Oede vermehrte nur die Eigenthüm— lichkeit der Anſicht: der Boden war reiner Flugſang, von dem die Sonne ſchon den Schnee geſchmolzen hatte, nirgends ſah man eine Spur des Anbaus, ſelbſt die wenigen Häuſer boten der Beweglich— keit des Sandes kein Hinderniß; man hatte ſie auf Pfählen erbaut um ſie vor dem Verſanden zu ſchützen.

Humboldt benutzte die Muße und die Ebene um das Haus, um die Neigung der Wagnetnadel und die Intenſität der magne— tiſchen Kräſte zu beſtimmen. Das heitere Wetter begünſtigte die Beobachtung, welche andererſeits durch das Wehen des Windes, ſo gering auch daſſelbe war, erſchwert wurde. Um ähnlichen Uebel— ſtänden vorzubeugen, trug Humboldt in Petersburg Sorge, ſich für dieſe Beobachtungen auf der weiteren Reiſe ein Zelt machen zu laſſen.

Wie die Schiffe am Ausgange der Weerenge, ſo mehrte ſich auch die Zahl der Paſſagiere im Sandkrug. Am zweiten Tage kam die fahrende Poſt, welche wegen der Ueberſchwemmungen des Memelfluffes bei ſeiner Mündung in das Haff ihren Weg über die Nehrung genommen hatte. Bei der Zahl der Gäſte fingen ſchon an die Lebensmittel zu fehlen, unſere Reiſenden wurden daher ſehr . angenehm überraſcht, als am Abend des 21., wo ſchon kleine Boote

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über das Haff geſchickt werden konnten, der Oberpoſtdirektor Gold— beck in Memel fie freundlichſt damit verſah. Am 22. Worgens hatte endlich der Eisgang ſo nachgelaſſen, daß auch in größeren 2 Booten, in welche man die Wagen ſetzte, die Ueberfahrt bewerk— ſtelligt werden konnte.

Nachdem die Reiſenden den Vormittag des 22. in Wemel zu: gebracht und das Innere der Stadt ſo wie die Citadelle beſehen hatten, die auf einer Anhöhe hart am Haff, zur Linken des Dange— ſtromes liegt, fetten fie ihre Reife fort. Der Weg war nicht viel beſſer als hinter Königsberg; mehrmals blieben ſie im Schmutze ſtecken und konnten ſich nur mühſam herausarbeiten laſſen. Als ſie, vier Weilen hinter Wemel das preußiſche Gebiet verlaſſend, in der ruſſiſchen Grenzſtadt Polangen ankamen, waren dort bereits die Befehle des ruſſiſchen Finanzminiſters Grafen von Cancrin einge— troffen, die Reiſenden ungehindert paſſiren zu laſſen, und fie konn— ten daher, nachdem ſie eine Podoroſchna, oder einen Erlaubnißſchein mit Poſtpferden reiſen zu können, gelöſt hatten, ihre Reiſe ſogleich fortſetzen.

Am Abend des folgenden Tages ſetzten ſie bei dem Dorfe Schrunden über die Windau. Der Eisgang war hier ſchon vor— über, allein das hohe Waſſer und die ſchlechten Uſer, die durch den Eisgang ſehr beſchädigt waren, erſchwerten die Ueberfahrt. Eben ſo wurden ſie am folgenden Tage durch einen kleinen Fluß, die Schwete, aufgehalten, über den die Brücke zwar noch ſtehen geblie— ben war, doch einer Inſel gleich aus einem weiten See hervorragte. Am Abend kamen ſie nach Witau, und entſchloſſen ſich hier zu über— nachten, weil die Aa und Düna, welche ſie jenſeits zu paſſiren hatten, des hohen Waſſers wegen in der Nacht nicht zu befahren waren.

Auf dem Wege von Polangen nach Witau ſieht man nur we— nig große Dörfer. Die Gehöfte der Bauern, ſo wie die Güter der Edelleute liegen einzeln und zerſtreut.

Die Ueberfahrt über die Aa am Worgen des 24. ging gut von ſtatten; ſchwieriger war die bei Riga über die Düna, die noch im Eisgange begriffen war. Die Wagen wurden einzeln auf große Boote geladen, auf denen man mit vollen Segeln immer zwiſchen

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den Eisſchollen durchfuhr. Erſt am Nachmittage konnten die Rei⸗ ſenden Riga verlaſſen und kamen in der Vacht glücklich über die kleine Aa, worauf ſie, ohne weiter durch übertretene Flüſſe aufge— halten zu werden, ihren Weg bis Dorpat fortſetzten. Sie erhielten jetzt eine Probe von der Schnelligkeit, mit der man in Rußland zu reiſen pflegt. Der General von Schöler in Petersburg hatte ihnen einen Courier entgegengeſandt, der ſie ſchon in Riga erwartet hatte und nun vor ihnen die Poſtpferde auf den Stationen beſtellte; ſo legten fie die 239 Werſte *) von Riga nach Dorpat trotz der ſehr ſchlechten Wege in 33 Stunden zurück. Da dieſe Gegend uninter- eſſant, ſandig und zum Theil mit Fichtenwaldung bedeckt iſt, ſo war es eben kein Verluſt, ſie mit ſolcher Schnelligkeit zu durchrei— ſen. Wan kam nur durch eine kleine Stadt, Namens Walk; bei einer andern, Wolmar, ein paar Stationen früher, fuhr man ſeit— wärts vorbei.

Am 27. April ganz früh am Morgen trafen die Reiſenden unter heftigem Schneegeſtöber in Dorpat ein. Die Verzögerung, die ihre Reiſe bereits erlitten hatte, nöthigte ſie, trotz des großen Intereſſes, welches dieſe Stadt durch den Reichthum und die Vor- trefflichkeit ihrer wiſſenſchaftlichen Sammlungen wie durch die Menge ausgezeichneter Gelehrten in ihnen erregte, den Aufenthalt möglichſt abzukürzen. Um die ſo ſparſam zugemeſſene Zeit auf's Zweck— mäßigſte zu benutzen, mußten ſie ſich vereinzeln, und während Hum— boldt mit Profeſſor Struve nach der weit berühmten Sternwarte, und Ehrenberg mit den Profeſſoren von Ledebour und Weyer dem botaniſchen Garten zueilten, fragte Roſe dem Profeſſor Engelhardt nach dem mineralogiſchen Muſeum, wohin auch Humboldt ſpäter nachkam. Unter den geognoſtiſchen Sammlungen befindet ſich ein ziemlich großer Meteorſtein, der während des Aufenthaltes des Dr. Hoffmann bei Hanaruru auf Woahoo (Oahu), einer der Sand— wichsinſeln, am 15. September 1825 gefallen iſt. Er beſteht aus einer graulich weißen, feinkörnigen Waſſe, die ſich mit einem Weſſer ritzen läßt und kleine Körnchen von ſilberweißem, metalliſch glän— zendem Nickeleiſen angeſprengt enthält. Aeußerlich iſt er mit einer

) Sieben Werſte gehen auf eine deutſche Meile.

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matten ſchwarzen Rinde umgeben, und mit Schnüren von derſelben Waſſe wie die Rinde iſt er in mehreren Richtungen durchſetzt. Ein kleines Stück dieſes Steines, welches Humboldt nebſt einer Samm⸗ lung der Gebirgsarten Eſthlands und Lieflands von Herrn von Engelhardt empfing, befindet ſich jetzt mit dieſer in der königlichen Sammlung zu Berlin.

Ein fröhliches Mal, welches der Rector der Univerſität, Staats⸗ rath von Evers, den Reiſenden zu Ehren veranſtaltet hatte und an welchem ſämmtliche Witglieder der Univerſität Theil nahmen, be⸗ ſchloß den genußreichen Tag.

Am 28. April früh Morgens verließen die Reiſenden Dorpat, wieder unter Sturm und Schneegeſtöber. Drei Stationen weiter gelangten ſie an den Peipusſee, der hier ganz flache Ufer und bei ſeiner bedeutenden Breite ein meerähnliches Anſehen hat. Am Abend näherten ſie ſich den Küſten des finniſchen Weerbuſens, deren Anz blick ihnen jedoch durch die Dunkelheit der Nacht entzogen wurde, und am Morgen des folgenden Tages trafen ſie in Narwa ein. Leider erfuhren ſie hier einen neuen Aufenthalt, denn auch die Narowa war im Eisgange begriffen; die ſchöne Brücke mit maſſi⸗ ven Pfeilern, über welche ſie bei der Rückreiſe fuhren, war noch nicht vollendet und mit der Fähre über den Fluß zu ſetzen noch unmöglich. Sie mußten alſo wieder warten, bis der Eisgang auf⸗ gehört hatte. Inzwiſchen benutzten ſie den Aufenthalt, um einen kleinen Ausflug nach den Waſſerfällen der Narowa, einige Werſte aufwärts von der Stadt zu machen.

Die Narowa iſt der Ausfluß des Peipusſees in den finniſchen Weerbuſen; ſie iſt ziemlich breit und hat bei Narwa ziemlich ſteile Ufer, die von einem dichten Kalkſtein gebildet werden. Oberhalb der Waſſerfälle theilt ſich der Strom in zwei Arme, die eine kleine Inſel umſchließen und ſich eine kurze Strecke vor ihrer Vereinigung eine bedeutende Höhe herunterſtürzen. Eine hölzerne Brücke, welche dicht unter dem linken Waſſerfall angelegt iſt, verbindet das linke Ufer mit der Inſel und führt zu einer Schneidemühle, die zu ihrem Aufſchlagewaſſer den rechten Fall benutzt. An dem linken Ufer des Fluſſes iſt eine Tuchfabrik angelegt, an dem rechten ſteht das Dorf Juala; die Inſel ſelbſt wie auch die Ufer ſind mit großen ſchönen

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Bäumen beſetzt. Der Anblick der ſich herabſtürzenden Waſſermaſſe war bei dem hohen Stande des Waſſers beſonders prächtig.

Die Hoffnung, ſchon am Nachmittage über den Strom ſetzen zu können, ging nicht in Erfüllung. Wan mußte noch anderthalb Tage in Narwa warten, ehe der Eisgang aufgehört hatte und die Fähre in Stand geſetzt werden konnte. Die Reiſenden verwandten dieſe Muße dazu, die Stadt und die Wälle zu beſehen, die zwar nicht mehr unterhalten werden, doch von bedeutender Höhe ſind und eine gute Ueberſicht über die Stadt und die umliegende Gegend ge— währen. Die Stadt iſt eng zuſammengebaut und unfreundlich. Hart an dem Ufer liegt ein alter Thurm mit dicken Mauern, der Hermannsthurm genannt, welcher von den Schwertrittern erbaut iſt; dieſem gegenüber auf dem rechten Ufer die alte von Iwan Waſſiljewitſch dem Großen gegründete Feſtung Iwanowgorod. An ſie ſchließt ſich auf dem jenſeitigen Ufer die Vorſtadt an, die ganz allein von Ruſſen bewohnt wird, während man in der Stadt ſelbſt noch meiſtentheils deutſch ſprechen hört.

Am 30. April Nachmittag um 4 Uhr war die Fähre endlich ſo weit in Stand geſetzt, daß ſie hinüberfahren konnten, und nun eilten ſie auf der großen nach Petersburg führenden Chauſſee, welche von hier an beginnt, raſch vorwärts. Da ſich das Land jenſeits der Narowa etwas erhebt, ſo konnten ſie die Stadt noch lange ſehen, die, ſo unfreundlich ſie auch im Innern iſt, mit ihren vier hohen Kirchenthürmen, dem Hermannsthurm und der Feſte Iwanowgorod ein alterthümlich ſchönes Anſehen gewährt. Den Abend wurden ſie in Jamburg noch etwas aufgehalten, denn das Waſſer in der Luga, einem Strome, der an Breite der Vorowa gleichkommt, war raſch gefallen und hatte die Ufer verſchlämmt. Es mußte deshalb eine neue Anfahrt für die Fähre eingerichtet werden, womit man eben be— ſchäftigt war, als die Reiſenden eintrafen. Sie brauchten indeß nur einige Stunden zu warten und hatten von nun an keinen Aufenthalt mehr bis Petersburg, wo fie endlich am 1. Mai Nach— mittags um 2 Uhr anlangten.

Schon von Strelna, der letzten Station vor Petersburg, fängt eine fortlaufende Reihe der ſchönſten Landhäuſer an; man fährt zuletzt durch einen großen prächtigen Triumphbogen, kommt dann

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durch mehrere Straßen, nach welchen man nun erſt zu dem eigent— lichen Thore gelangt; eine lange breite Straße ſtößt einem entge— gen, an deren Ende der Admiralitätsthurm mit ſeiner vergoldeten Spitze glänzt. Man bog rechts ein und fuhr einen breiten Kanal, die Fontanka, entlang, der in einem Halbkreiſe den ſüdlichen Theil der Stadt durchſchneidet und mit einer Brüſtung von geſchliffenem Granit prächtig eingefaßt iſt. Die großen ſchönen Häuſer an den Seiten wechſeln mit Paläſten; endlich ſieht man links den feſtungs— ähnlichen Palaſt des Kaiſers Paul, welchem bald darauf der Som— mergarten folgt. Nachdem die Reiſenden länger als eine Stunde im ſchnellſten Trabe durch die breiten Straßen gefahren waren, tra— fen ſie endlich in der Gagarin-Straße in dem Hauſe des preußiſchen Geſandten, Generallieutenants von Schöler, ein, der Humboldt als einen alten Freund begrüßte, und als ein Mann von ausgezeich— neter Geiſtesbildung an dem glücklichen Erfolge jenes wiſſenſchaft— lichen Unternehmens ſehr regen Antheil nahm.

Das Eckzimmer der Wohnung, welche die Reiſenden aufnahm, gewährte ihnen die Ausſicht auf die Newa, mit der die Gagarin— Straße einem rechten Winkel bildet. Der Fluß erſchien hier faſt von unüberſehbarer Breite, da der Straße gegenüber ſich der erſte Arm der Newa, die große Newka, von ihr trennt und in der Rich— tung der Straße eine Zeit lang fortzieht. Roſe und Ehrenberg konnten es ſich nicht verſagen, nach einigen Augenblicken der Erho— lung noch an demſelben Nachmittage dieſen großartigen Anblick in der Nähe zu genießen. Der große mächtige Strom war noch völlig mit Eis bedeckt; man hatte etwas weiter abwärts von der Newka Bretter quer über das Eis gelegt und dadurch eine Brücke gebil— det, die zu der Feſtung, einer kleinen Inſel in der Newa, führte, und die unſere Reiſenden 830 Schritte lang fanden. Sie ſetzten darauf ihren Weg an der ſchönen reinlichen Granitumfaſſung der Newa weiter fort. Auf das koloſſale eiſerne Gitter mit den Gra— nitpfeilern, das den Sommergarten von dem Kai trennt, folgt das Marmorpalais, das unten mit Granit und oben mit Marmor be⸗ kleidet iſt; ihm gegenüber ſteht der Thurm der Feſtung, der in einer vergoldeten Spitze endigt; dann folgt die Eremitage, ein langer Pal⸗ laſt, der die Kunſtſammlungen enthält; an ihn reiht ſich unmittelbar

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der mächtige Winterpallaft und endlich jenſeits eines Platzes das Admiralitätsgebäude, deſſen beide Flügel bis zur Newa reichen und den weitern Fortgang an dem Kai hindern. Der große Platz zwiſchen der Admiralität und dem Winterpallaſt öffnet ſich gegen einen andern größern, gegen welchen die Hauptfronte dieſer Ge— bäude gerichtet iſt. Er war mit Buden, Schaukeln, Rutſchbergen und Sehens würdigkeiten aller Art bedeckt; mit Mühe drängten ſich die Freunde durch die wogende Wenſchenmaſſe, die in der innigſten Fröhlichkeit die letzten Tage der Oſterwoche feierte. Die Neuheit aller Gegenſtände, die Art ſich zu beluſtigen, die Ruſſen ſelbſt mit ihren Bärten, ihren blauen langen Ueberröcken und Pelzmützen, Alles erregte und feſſelte die Aufmerkſamkeit.

Den großen Platz vor dem Winterpallaſt und der Admiralität begränzen das halbzirkelförmige Gebäude des Generalſtabs und eine Reihe ſchöner Häuſer, die von drei großen Straßen durchſchnitten werden, welche wie Radien eines Kreiſes auf den goldnen Thurm der Admiralität zulaufen. Unſre Spaziergänger bogen um die Admiralität herum, gingen links bei einem Bauplatz vorüber, aus welchem ſchon die koloſſalen Granitſäulen hervorragten, die den Eingang in die Iſaakskirche ſchmücken ſollten, und hatten nun wie⸗ der die Ausſicht auf die Newa. Witten auf dem Platze, der von dieſer Seite die Admiralität begrenzt, ſteht die berühmte Reiter- ſtatue Peter des Großen, ein langer Kai zieht ſich von hier aus zur Linken der Newa entlang und eine große Schiffsbrücke führt über dieſelbe nach Waſſili-Oſtroff“), wo die Wandernden links noch ein in den edelſten Verhältniſſen aufgeführtes Gebäude, die

*) Seit dem 4. December 1850 iſt dieſe Inſel, welche Peter der Große zum Sitz des Handels auserwählte, durch die prachtvolle ſteinerne Blago⸗ weſchtſchenskiſche Brücke mit der eigentlichen Stadt verbunden. Nur die der Stadt zugewandte Spitze iſt mit prachtvollen Gebäuden beſetzt, die dem Meere zugekehrte Baſis iſt außer dem vom Galeerenhofe, dem Quartiere für Marineſoldaten u. ſ. w. eingenommenen Theile völlig wüſt und unbe- wohnt, ſumpfig und häufig vom Meere überſchwemmt. Man vergleiche zu dem raſchen Ueberblick, den hier Prof. Roſe von feiner Wanderung ent- wirft, Kohl's „Panorama“ in deſſen „Petersburg in Bildern und Skizzen.“ Dresden 1841. 2. Aufl. 1846.

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Akademie der Künſte, bewunderten und einen Blick rechts auf die Akademie der Wiſſenſchaften, ſchon in größerer Entfernung von der Brücke, und auf die Börſenhalle an der Spitze von Waſſili-Oſtroff warfen. Voll der großartigſten Eindrücke kehrten die Freunde nach ihrer Wohnung zurück.

Nach einigen Tagen trat auch hier der Eisgang ein, wodurch ihnen der jenſeitige Theil der Stadt auf länger als acht Tage un— zugänglich wurde.

Das wunderſchöne, klare, grünliche Waſſer der Newa wird von dem nordiſchen Winter faſt ſechs Wonate lang in Banden ge— ſchlagen“). Erſt im Anfange des Aprils, ſelten am Ende des März find die Gewäſſer warm und Fräftig genug, um den fie drückenden Eismantel zu ſprengen. Dieſer Augenblick wird mit Sehnſucht er— wartet, und kaum ſchieben ſich die ſchmutzigen Eisſchollen vor, den glatten Spiegel des Fluſſes jo weit enthüllend, daß einem über- fahrenden Boote freie Bahn vergönnt iſt, ſo erdonnern die Kanonen von der Feſtung, dieſen erwünſchten Moment den Bewohnern ver— kündend.

Zur ſelben Zeit, ſei es Tag oder Nacht, ſteigt der Comman— dant der Feſtung, mit allen Inſignien ſeines Ranges angethan und von ſeinen Offizieren begleitet, in eine prächtig geſchmückte Gondel, zum gegenüber liegenden Pallaſte des Kaiſers zu fahren. In einen großen, ſchönen Kryſtallbecher ſchöpft er das klare Newa— waſſer, um es als die erſte und ſchönſte Gabe des Fluſſes dem Kaiſer im Vamen des Frühlings darzubringen. Er meldet ſeinem Herrn, daß die Gewalt des Winters gebrochen ſei, daß die Gewäſſer wieder frei ſeien und eine fröhliche Schifffahrt gehofft werden könne, zeigt ihm als den erſten Waſſerſchwan ſeine Gondel am Ufer, die er glücklich herübergebracht, und überreicht ihm den Newabecher, den der Fürſt auf die Geſundheit ſeiner Reſidenz leert. Es iſt das am beſten bezahlte Glas Waſſer, das irgendwo auf dem Erdenrunde ge— trunken wird. Denn der Sitte gemäß giebt der Kaiſer es dem Commandanten mit Gold gefüllt zurück. Früher bekam er es ge—

*) Die Schilderung des Eisganges der Newa iſt dem vorerwähnten Werke von Kohl entnommen.

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ſtrichen voll Dukaten. Da aber mit der Zeit die Becher immer mehr an Größe zunahmen, ſo daß die Kaiſer immer mehr und mehr Waſſer trinken und immer mehr und mehr Gold bezahlen mußten, jo wurde endlich die Summe auf 200 Ducaten feſtgeſetzt, die dem Commandanten zugezählt werden.

Das Vewaeis geräth gegen Ende des Winters, wenn ſchon mancher warme Tag auf ſeine Oberfläche wirkte, in einen ganz eigenthümlichen morſchen Zuſtand. Es löſt ſich nämlich in eine ganze Wenge dünner Eisſtäbe von einem Zoll im Durchmeſſer und von der Länge der Eisdicke auf. Dieſe Stäbe, aus denen die Eis: decke alsdann beſteht, hängen zuletzt ſo ſchwach zuſammen, daß man ſich dann durchaus nicht mehr auf das Eis wagen kann. Wo nicht eine Schneekruſte überliegt, da ſinkt man mit dem Fuße durch Ellen dickes Eis, indem man einige jener Stäbe hinabſtößt. Große, auf dem Trockenen liegende Eisſchollen, die dem Anſcheine nach zu— ſammenhängende, dichte Waſſen bilden, zerſplittern bei der ſchmäch— ſten Berührung mit einem Stocke in eine Wenge gläſerner Säul— chen und Stäbe. Wehre Wochen vor dem erwarteten Durchbruche des Eiſes wird daher ſchon das Fahren auf der Newa verboten. Es entſtehen hier und da große Löcher in der Decke, und über der Eisfläche ſelbſt ſammelt ſich ein trübes Schneewaſſer. Die ganze Eisfläche, die anfangs, von Schlitten und Fußgängern belebt, recht wohl gefiel und erfreulich war, wird nun zur drückenden Laſt, und man wünſcht ſich ſobald als möglich dieſer unnützen ſchmutzigen Kruſte zu entledigen. Es iſt oft wochenlang ſchon das ſchönſte Wetter, und doch liegt die Newa noch völlig unbeweglich. Die Sonne wirkt überhaupt nicht ſo löſend und zerſtörend auf ſie ein als Regen und Wind. Gewöhnlich liegt die Eisdecke, ohne ſich zu rühren, bis ein paar Regen- und Windtage einfallen. Das un⸗ trügliche Zeichen des bald zu erwartenden Bruches iſt das Ver⸗ ſchwinden des Aufwaſſers auf dem Eiſe. So lange noch Waſſer auf dem Eiſe ſteht, und wenn es auch ſo tief iſt, daß die Pferde hier und da faſt zum Schwimmen kommen, wagt noch Alles den Uebergang. Wenn es aber verſchwindet, ſo iſt dies ein Zeichen, daß das Eis ſich überall von den Ufern gelöſt hat und zugleich auch ſo porös geworden iſt, daß das Aufwaſſer durchſickern konnte.

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Gewöhnlich geht die Vewa zwiſchen dem 6. und 14. April alten Styles auf. Am allerhäufigſten geſchieht dies den 6. April, in 100 Jahren nämlich zehnmal, und auf dieſen Tag läßt ſich immer 1 gegen 10 pariren. Der ſpäteſte Newaaufgang traf auf den 30. April (12. Mai neuen Styls) einmal in hundert Jahren, der früheſte auf den 6. März, ebenfalls einmal in 100 Jahren. Gewöhnlich ſetzt ſich das Eis der Vewa in der Witte Vovembers jeft, am allerhäufigſten den 20. dieſes Monats, nämlich neunmal in einem Jahrhundert. Im Jahre 1826 fror ſie erſt den 14. December zu und im Jahre 1805 ſchon den 16. October.

Es iſt ein merkwürdiger Moment, dieſe Enthüllung der Newa. Alles iſt darauf geſpannt, da Alles dabei intereſſirt iſt. Die Kauf— leute erwarten ihn mit Sehnſucht, weil das Gelingen mancher Speculation von ſeinem früheren oder ſpäteren Eintritte abhängt. Die Arbeiter und Zimmerleute, weil er ihnen beim Brückenbau zu verdienen giebt. Die vornehmen Damen, weil, wenn die Newa und der Kronſtädter Buſen vom Eiſe gereinigt ſind, das Lübecker Dampfſchiff mit Veuigkeiten, und friſchen Moden aus Paris nicht lange ſäumt, ſich anzumelden. Die Buchhändler und Gelehrten, weil nun der geiſtige Verkehr mit Europa wieder beginnt. Die kranken Einheimiſchen und an Heimweh leidenden Fremden, weil nun die Bahnen zu den Bädern und nach Europa wieder offen ſtehen. Man hat in dieſer Zeit nur das eine Geſpräch in Peters— burg, ob die Newa zum Oſterſonntage oder zum Oſtermontage aufgehen würde, und es werden die größten Wetten für dieſen oder jenen Fall eingegangen.

Freilich iſt die erſte, wie durch einen Zauberſchlag herbeige— führte Verwandlung des Stromes noch nicht von Dauer. Denn gemeiniglich iſt es nur das nächſte Newaeis bei Petersburg, das fo mit einem Rucke abgeht, und es folgt dann ſpäter das obere Eis, das noch einige Wale die Spiegelfläche des Waſſers trübt und den freien Verkehr unterbricht, und lange, oft mehrere Wochen, dauern noch die großen Schaaren der Nachzügler aus dem Ladoga-See. Die Oberfläche dieſes Sees beträgt über 100 Quadratmeilen, und ſollte dieſe ganze Decke auf der etwa eine Werſte breiten und nicht ſehr raſch fließenden Newa abgehen, ſo würden dazu nicht weniger

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als 2 Monate erforderlich fein. Das meiſte zerſchmilzt daher na= türlich noch im See ſelbſt, doch bleibt des als Eis abziehenden ge— nug, das zuweilen vor der Ausmündung des Sees ſtockt und in verſchiedenen Tempos fortgeht. Da indeß die Petersburger Gondo— liere mit dem Eiſe vertraut ſind, ſo geht ihre Schifffahrt deſſen ungeachtet fort, und es gewährt dann ein intereſſantes Vergnügen, mitten in der ſchönen Reſidenz auf dem gebrochenen Eiſe die Hobel— ſpäne ankommen zu ſehen, welche der Finne im Winter, auf dem Eiſe ſchaffend, zerſtreute, oder die Schlitten oder auch manchmal ein armes Pferd, daß im Winter fern im Innern des Landes auf der Bahn verunglückte. Weil das Eis da, wo man häufig über ſeine Oberfläche hingefahren iſt, feſter zuſammenhält, ſo kommen zuweilen ganze lange Stücke der ladoga'ſchen Winterwege ange— ſchwommen. Die Vewamündung liegt leider ſehr verſteckt in dem innerſten Winkel des finniſchen Weerbuſens, der hier einen kleinen, engen Sack bildet. In dieſem Sacke, dem Kronſtädter Buſen, hal— ten ſich die Eismaſſen gewöhnlich noch viel länger als in der Newa ſelbſt, ſo daß dann, wenn auch dem Lande ſchon längſt der Früh— ling lacht und ſich im ſchönen Nevawaſſer ſpiegelt, doch die Maſſen im Weere noch ſtocken.

Der Hafen Petersburgs geht dieſer Umſtände wegen ſpäter auf als viele andere nördlicher gelegene Häfen der Oſtſee, weil der große Landſee hinter ihm und der kleine Weerbuſen vor ihm ihn auf gleiche Weiſe unangenehm geniren. Haben ſich endlich alle die fatalen Schollen aus Fluß, See und Meer gelöft. und verloren, ſo machen ſich die Schiffe, die ſchon im Sunde darauf warteten oder auf der Oſtſee kreuzten, auf, um die Kaiferftadt zu gewinnen. Das erſte Segel das auf der Newa anlangt, wird mit außerordent— lichem Jubel begrüßt. Es hat ſich der größten Prämien und eines höheren Gewinnes zu erfreuen. Weiſtens iſt es mit Orangen, Modeartikeln, Manufacturwaaren und anderen derartigen Dingen beladen, und man zahlt für ſie das Doppelte und Dreifache des Preiſes. Iſt nun ſo einmal mit dem erſten Schiffe der Anfang gemacht, ſo zaudern dann auch die übrigen nicht lange.

Nur die Kanäle in Petersburg oder vielmehr die zu Kanälen umgearbeiteten, ausgegrabenen und ausgemauerten, mit Schleuſen

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und Einfaſſungen gewappneten ſchmalen Arme der Newa, die Fon— tanka, Woika, der Katharinen-Kanal, die Ligowska u. ſ. w., ſind mit ſtehenden Brücken verſehen. Die meiſten dieſer Brücken ſind von der Kaiſerin Katharina erbaut, von Stein ſehr ſolid aufgeführt und, ziemlich unnützer Weiſe, mit Thoren, Thüren und Durchlaſſen für Fußgänger beſchwert, alle nach einem Wodell geformt. Man zählt ihrer über dreißig. Sie ſind für die jetzige Lebhaftigkeit des Straßenverkehrs viel zu ſchmal, und die Paſſage des die Gaſſen durchfluthenden Equipagenſtromes wird beſtändig bei ihnen etwas gehemmt. Es ſtehen daher in der Nähe jeder Brücke Polizei— wächter, um die Ordnung zu handhaben und Unglück zu verhüten, und während man in Deutſchland Strafe bezahlen muß, wenn man zu ſchnell über die Brücke fährt, haben hier Pferde und Kutſcher von den Polizeidienern Stockſchläge zu fürchten, wenn ſie nicht in geſtrecktem Trabe hinüberjagen. In neuerer Zeit ſind den alten Brücken noch viele neue hinzugefügt worden, die ebenfalls ſich auf dreißig belaufen mögen, von denen einige ſehr elegante Kettenbrücken ſind. Dennoch iſt das Bedürfniß nach Brücken in dieſer Inſelſtadt noch immer groß. Namentlich iſt die Brückenverbindung über die großen breiten Flußarme noch nicht in dem erwünſchten Zuſtande der Vollkommenheit. Die beiden wichtigſten Stadttheile, die „Ba— ſilius⸗-Inſel“ und die „große Seite“, find z. B. nur durch einen einzigen trockenen Weg, die Iſaaksbrücke, mit einander verbunden, eben ſo die Admiralitätstheile und die Petersburgiſche Seite nur durch eine Brücke. Die Baſilius-Inſel und die Petersburgiſche Seite verbindet die Tutſchkoi-Brücke, und die Wiborgiſche Seite mit der großen und der Petersburger Seite die Wofſſneſenſkiſche und Hospital-Brücke. Dieſe ſämmtlichen fünf großen Brücken und noch vier kleinere zur Verbindung der Apothekerinſel, der Steininſel, Jelagin's und Kretowsky's ſind alle blos hölzerne, auf Pontons liegende Chauſſeen. Man hat bisher noch die großen Eismaſſen aus dem Ladoga⸗See, fo wie die ungeheueren Koſten und Schwierig⸗ keiten, welche ein ſolider Brückenbau über den ſo breiten und tiefen Strom verurſachen würde, zu ſehr gefürchtet, um ſich an den Bau ſteinerner, bleibender Brücken zu wagen, obgleich man ſchon ſeit mehr als dreißig Jahren von der Errichtung einer ſolchen redet und

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Lage, Plan, Situation und Koſten jährlich wieder von Neuem er: wägt und beſpricht.

Zuweilen ereignet es ſich, daß Stürme das Eis in dem Kron— ſtädter Meerbuſen heben und brechen oder verſchieben, während das Eis der Newa ſich ſchon etwas von feinen Ufern gelöft hat und doch noch ſo ſtark iſt, daß der Zuſammenhang ſeiner Theile unter ſich durch keine Lücke zerſtört iſt. Es ſoll ſich alsdann oft die ganze Decke des Newaeiſes in Waſſe dem Eiſe des Buſens nach— ziehen und nachſchieben, und ſo möchte dann, einem ſolchen An— drange zu widerſtehen, wohl keine Brücke ſtark genug ſein. Aller— dings ließen ſich jedoch auch hier dann Gegenmittel denken, z. B. Trennung der Eisdecke des Fluſſes durch Freihaltung eines Strei— fens in ihm u. ſ. w. Auch der lockere Grund und Boden des ganzen Petersburger Terrains, in welchem es den Brückenpfeilern ſchwer werden würde, feſten Fuß zu faſſen, ſo wie das ſumpfige, torfartige Material, aus dem die Inſeln gebaut ſind, und an wel— chem man kaum Anhaltpunkte für die Brücken gewinnen könnte, ſind außerordentliche Schwierigkeiten, die man aber doch mit der Zeit überwinden wird.

Die angeführten neun Schiffbrücken Petersburgs ſind alle ſo conſtruirt, daß ſie ſchnell abgebrochen und in wenigen Stunden wieder aufgebaut werden können. Sie beſtehen aus 2 bis 3 großen Stücken, und einige haben noch ein eigenes, kleines, lösbares Glied, zwei Pontons mit dem ihnen angehörigen Chauſee-Theile, um zu gewiſſen Zeiten die Schiffe durchzulaſſen. Den ganzen Sommer über ſtehen ſie unverändert, an langen Stricken vor Anker liegend und an eingerammten Pfählen befeſtigt. So wie aber im Herbſte das Eis ſtark zu gehen anfängt, werden ſie auseinander genommen. Jede Brücke hat ihren Commandanten und ein paar hundert Ar— beiter als deſſen Gehülfen. Die Stücke werden getrennt und legen ſich, vom Strome fortgeſchwemmt, am Ufer in den Hafen. Der Verkehr zwiſchen den Inſeln macht ſich indeſſen blos mittels der Gondeln. Wenn das Eis der Newa ſteht, fo werden die Brücken wieder zuſammengeſetzt und aufgeſchlagen. Denn weil die Newa gewöhnlich eine ſehr rauhe und unbequeme Oberfläche bietet, ſo ſucht auch im Winter Alles gern die Brücken, und namentlich gegen

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Ende der kalten Jahreszeit, wo das Eis ſehr unſicher wird. Doch bahnen ſich allerdings neben den hölzernen Brücken auch auf der Wüſtenei des Eiſes viele ſich kreuzende Wege aus.

Im Frühlinge fährt noch alles ſo lange als möglich über die Brücken, bis die Kanonen der Feſtung den Moment des Eisbruchs verkünden, und die Commandanten der Brücken mit ihrer gewandten Mannſchaſt ſie verſchwinden machen. Damit ſich die Pontons leicht und gefahrlos im Fluſſe bewegen mögen, hat man ſchon mehrere Tage vorher das Waſſer unterhalb derſelben vom Eiſe frei gehalten. Sowie die Eismaſſe paſſirt iſt, werden die Brücken wieder aufge ſchlagen. Jedes nachfolgende Eisſchollen-Regiment läßt fie aber wieder verſchwinden. Die Sehnſucht der verſchiedenen Stadttheile nach der bequemen und ſicheren Brückenverbindung iſt ſo groß, daß jeder Moment der Freiheit des Fluſſes ſogleich benutzt wird, und obgleich jeder Aufbau der Iſaaksbrücke an Arbeiterlohn u. ſ. w. mehre hundert Rubel koſtet, ſo iſt's doch ſchon vorgekommen, daß man ſie an einem Tage zwei bis drei Mal abnahm und aufſchlug, und in einem Frühjahre ſoll fie ſogar dreiundzwanzig Mal zer- ſtückelt und wieder zuſammengeſetzt worden ſein.

Wan kann ſich denken, daß auf dieſe Weiſe der Stadt Peters— burg ihre ſchlechten hölzernen Brücken nicht billig zu ſtehen kommen. Das beſtändige Zerſtückeln und Verſchieben lockert die Fugen, das friſche Holz, das man zu ihrer Conſtruction nimmt, trägt ſchon gleich vom Anfange herein den Keim ſchnellen Verderbens in ſich, und das unaufhörliche Jagen der Equipagen nutzt ſie der Art ab, daß fie beſtändig mit einem dicken Ueberzuge von Holzſplittern be⸗ legt ſind.

Da natürlich die verſchiedenen Theile der Stadt während der Brückenloſigkeit der Flußarme in keinen ſehr behaglichen Zuſtand gerathen, (das große ſo innig verwachſene Ganze der Stadt zerfällt daun eigentlich in eben jo viele geſonderte Städtchen, als Inſeln ſind, Verwandte hören tagelang nichts von ihren jenſeits des Fluſſes wohnenden Brüdern, die Behörden, die aus dem Cen- trum keine Befehle empfangen können, müſſen auf eigene Hand und Verantwortlichkeit handeln, die Handelshäuſer können ſich unter: einander keine Nachrichten geben, die Lehrer kommen nicht in die

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Schulen, die Iswoſchtſchiks (Droſchkenkutſcher) können nur auf be ſchränkten Raume circuliren, die Geſellſchaſten in den entlegenen Inſeln ſind wenig brillant und ſchmachten nach Befreiung) ſo ſucht man natürlich ſowohl im Herbſte die noch von Jugend, als auch im Frühlinge die ſchon von Alter ſchwache Eisdecke auf aller— lei Weiſe zu benutzen und zu befeſtigen. Kaum ſteht das Eis, ſo werden in verſchiedenen Richtungen Strohwege über die ſchwankende Eisdecke gelegt, und im Frühlinge errichtet man kleine Bretterſtege über die morſchen Schollen, oder legt auch blos loſe Bretter neben einander, um die Gefahr des Einſinkens zu mindern. Erſt wenn Alles völlig unſicher iſt, wird die Paſſage auch auf dieſen Brücken— Surrogaten verboten. Es ſind dann an allen Flußufern Polizei— ſoldaten aufgeſtellt, um jeden Uebergang zu hindern. Dennoch aber, weil die zu überbringenden Nachrichten oft ſehr wichtig find und der verſprochene Lohn ſehr groß iſt, ficht man viele der gewandten ruſſiſchen Muſhiks zum großen Spaße des Publikum trotz Polizei und Eisgang den Uebergang wagen, und es gelingt ihnen nicht ſelten, mit einem Brette bewaffnet, welches ſie als Steg von Scholle zu Scholle werfen, der Lebensgefahr zu entgehen. Uebrigens ver— ſchlingen auf dieſe Weiſe natürlich die Newaarme ihre jährlich be— ſtimmte Anzahl von Opfern, und es iſt wohl wahrſcheinlich, daß bei keiner Stadt ſo viele Wenſchen im Waſſer umkommen als bei Petersburg.

Der Gedanke, daß auch dieſe ſchöne jugendliche Stadt mit allen. ihren Schöpfungen dem Untergange geweiht iſt, iſt ſchrecklich, und doch drohen ihr immer ſo verderbliche Kräfte, daß ſie in der That auf einem gefährlicheren Boden ſteht als vielleicht irgend eine Stadt der Welt.

Der finniſche Meerbuſen erſtreckt ſich mit feiner größten Länge in gerader Richtung von Petersburg aus nach Weſten, aus welcher Gegend die ſtärkſten Stürme wehen. Dieſe treiben daher natürlich die Waſſermaſſen des Meeres gerade auf die Stadt zu. Wäre nun in der Nähe derſelben der Weebuſen weit und zu beiden Sci— ten breit, fo würde fie vielleicht wenig davon empfinden. Unglück⸗ licher Weiſe ſpitzt ſich aber der finniſche Meerbuſen zugleich nach Petersburg, das an ſeiner innerſten Spitze liegt, und in deſſen

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Nähe nun die Fluthen in einen kleinen engen Sack, den Kronſtädter Buſen, gefangen und zuſammengedrängt werden, immer mehr und mehr zu. Dazu kommt dann, daß die Newa ſich gerade hier, von Oſten nach Weſten gehend, in's Meer mündet und ihre Gewäſſer jenen von Weſten kommenden Wogen diametral entgegen wirft.

Die Inſeln des Newa-Deltas, auf denen Petersburgs Palläſte wurzeln, ſind äußerſt flach und niedrig. Wit ihren ſeewärts ge— kehrten unbewohnten Enden verlieren ſie ſich allmählig bis zum Waſſerniveau und unter daſſelbe hinab, und ſelbſt die entlegenſten und höchſten, mit Häuſern am meiſten gefüllten Theile der Stadt liegen nur 12 bis 14 Fuß über dem gewöhnlichen Stande des Meeres erhaben. Ein Steigen des Waſſers von 15 Fuß reicht alſo hin, um ganz Petersburg unter Waſſer zu ſetzen, und ein Steigen von 30 oder 40 Fuß, um die ganze Stadt zu ertränken. Es iſt weiter nichts dazu nöthig, als daß einmal ein heſtiger Weſt— wind im Frühlinge mit dem höchſten Waſſerſtande und dem Eis— gange zuſammentreffe. Die großen Eismaſſen des Meeres würden alsdann landeinwärts dringen und der Fluß mit ſeinen Schollen ihnen entgegen treten. Im Titanen-Kampfe dieſer Naturgewalten würden ſämmtliche Schlöſſer und Feſten der Wunderſtadt leicht raſirt werden und ihre Bewohner in den Fluthen umkommen. Die Sicherheit der Petersburger beruht jedoch auf der Unwahr— ſcheinlichkeit, daß jene drei Erforderniſſe zur unfehlbaren Bewirkung ihres Unterganges: Eisgang, Hochwaſſer und Weſtwind, alle auf einmal in einen Zeitpunkt zuſammentreffen werden. Es giebt glück⸗ licherweiſe 64 Winde in der Windroſe, und wenn hohes Waſſer iſt, ſo wird doch nicht gerade ein eigenſinniger Weſtwind ihm den Ausgang verſchließen. Ein wegebahnender Oft oder Süd ſchafft dem Ueberfluſſe wohl noch zu rechter Zeit leichten Abgang, und ſelbſt wenn es aus Weſten lange blieſe, ſo wird doch das Eis noch eine Zeit lang halten, bis der Wind ſich zum Norden umſetzte.

Indeſſen iſt es gewiß, daß im Frühling oft anhaltende Weit: winde wehen und daß es oft Eisbrüche in der Newa und dem finniſchen Meerbuſen giebt, bei denen die Schellen noch ſtark genug ſind, um äußerſte Furcht zu erregen.

Da die Stadt jeden Augenblick das furchtbare Waſſer erwar—

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ten kann, wie jede andere Stadt die verzehrende Flamme (in man- chen Stadttheilen kommen die Ueberſchwemmungen ſo häufig und plötzlich, daß man oft Abends nach Beendigung der Geſellſchaft, wenn mittlerweile der Wind ſich drehte, die Straßen überſchwemmt findet und nicht nach Hauſe gehen kann), ſo hat man Veranſtal— tungen getroffen, die Einwohner ſchleunig von drohender Gefahr zu benachrichtigen, damit Jeder das Mögliche zu ſeinem Schutze thue. Wenn bei anhaltendem Weſtwinde die Weereswaſſer in die Newa eintreten und die äußerſten Spitzen der Inſel überſchwemmen, ſo wird auf der Admiralität eine Kanone gelöſt, und auf allen Thürmen werden die Waſſerfahnen ausgeſteckt. Die Kanonenſchüſſe werden alle Stunden wiederholt. So wie das Waſſer ſeine Ufer überſchreitet und die unteren Theile der Inſel überſchwemmt, folgen ſich die Signale der Alarmkanone alle Viertelſtunden. Steigt es noch höher und ſchleicht es in die Stadt ſelbſt ein, ſo donnern die Signale alle fünf Minuten und rufen am Ende, wenn das Waſſer noch weiter geht, mit verzweifeltem alle Winuten wiederholten Ge— ſchrei die Hülfe der Boote und Schiffe herbei.

Das Elend und die Noth, die eine Waſſerfluth in Petersburg herbeiführt und in ihrem Gefolge hat, iſt unbeſchreiblich. Aller Mund iſt noch voll von den Leiden und Trauerſcenen, welche die große Waſſersnoth vom 17. November 1824 mit ſich brachte *). Sie iſt die höchſte, welche die Stadt bisher erlebte, und in allen Straßen iſt ihre Höhe bezeichnet. Das Waſſer kam ſehr ruhig und ganz unſchuldig heran, wie dies bei allen Petersburger Waſſer— fluthen, bei denen kein Durchbruch ſtatthaben kann, der Fall iſt, und viele Leute, wenn ſie in entlegenen Stadttheilen die Alarm— kanonen nicht gehört hatten, wunderten ſich, ohne eben viel Böſes zu ahnen, über das helle Waſſer, das ſie in den Straßen blinken ſahen. Tauſende ließen ſich dadurch in ihren Geſchäften nicht ab— halten, fuhren und wanderten durch, und Hunderte büßten dieſe Argloſigkeit mit ihrem Leben. Vom heftigen Weſtwinde gepeitſcht, hob ſich das Waſſer immer mächtiger und ſchoß endlich eilenden

*) Auch in den Jahren 1726, 1752 und 1777 traten ſehr hohe und verderbliche Waſſerſtände ein.

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Schrittes durch die Straßen, hob Alles, was es an Equipagen und Wagen auf ihnen fand, in die Höhe, ergoß ſich durch die Fenſter in die Souterrains und Parterres der Häuſer und ſtürzte in mäch— tigen Säulen aus den Oeffnungen der unterirdiſchen Kloaken her— vor. Am meiſten litten Noth die „Baſilius-Inſel“ und die „Peters— burger Seite“, auf welcher letzteren Inſel viele kleine Leute in wenig ſoliden Häuſern wohnen. Manche hölzerne Gebäude wurden vom Waſſer ganz unverſehrt und leiſe vom Boden gehoben und ſchwam— men mit ihren Einwohnern in den Straßen umher. Die Equipagen, deren Paſſagiere und Kutſcher trockene Höhen erklommen hatten, und an denen die armen Pferde, die ſich im Geſchirre nicht frei bewegen konnten, meiſt elend umkamen, ſammelten ſich zu Dutzenden in den Gehöften. Alle Bäume der öſſentlichen Plätze ſaßen voll von Menſchen. Das Waſſer ſtieg gegen Abend ſo hoch, und der Wind wurde ſo ſtark, daß man alle Augenblicke fürchtete, die Kriegs— ſchiffe möchten ſich losreißen und in die Häuſerreihen einbrechen. Das Uebel war um ſo verderblicher, als es von Niemanden für ſo ſchlimm gehalten wurde, da das Waſſer ohne Brauſen und Toben mit ganz freundlicher Phyſiognomie die Stadt beſchlich. Am allerſchlimmſten waren ſeine anfangs unſichtbaren Einwirkungen, ſowie dann die ſich nachſchleppenden üblen Folgen. Sehr viele Häus ſer ſtürzten erſt am folgenden Tage ein, als die Fluthen ſchon wies der in ihr Bett zurückgetreten waren. Aus den meiſten Wohnun⸗ gen war die eingedrungene Feuchtigkeit nicht wieder zu bannen. Die Einwohnerſchaft ſank auf's Krankenlager, und mörderiſche Seuchen herrſchten in vielen Stadttheilen noch Wochen lang nachher.

Die Nacht war beſonders ſchrecklich, da die Fluthen bis zum Abend noch immer ſtiegen, und in der furchtbaren Finſterniß im Fall eines anhaltenden Steigens kein Ausweg zur Rettung offen ſchien. Tauſende von Familien, deren Glieder vielleicht in verſchie— denen Theilen der Stadt verſprengt waren, verbrachten ſie in der größten Beſorgniß und unter den heißeſten Angſtgebeten.

Wanche glauben, daß an zu Grunde gegangenen Waaren, zer—⸗ ſtörten Häuſern, vernichtetem Mobiliar, verdorbenem Straßenpflaſter, eingeſtürzten Trottoirs u. ſ. w. dieſe Waſſerfluth der Stadt über hundert Millionen und an mittelbar und unmittelbar durch fie um:

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gekommenen Wenſchen mehrere Tauſende gekoſtet hat. Man hat in allen Straßen der Stadt die Höhe der Fluth an den Häuſern durch einen Strich und Hinzuſetzung des Datums bezeichnen laſſen.

Das Newawaſſer gehört zu den reinſten und unvermiſchteſten Flußwaſſern, die es giebt. Es iſt ſelbſt bei der Mündung des Fluſſes noch ſo klar, wie bei ſeiner Quelle. Es iſt bekannt, daß ſein Genuß anfangs ganz eigenthümliche Wirkungen hat, weßhalb die Veulinge es nur mit Wein oder Rum vermiſcht trinken. Allein man gewöhnt ſich leicht daran und findet dann in ihm ein jo herr— liches Getränk, daß man es allem anderen Waſſern vorzieht. Die Petersburger gratuliren ſich immer, wenn ſie von Reiſen zurück— kommen, daß fie wieder Newawaſſer trinken können, und der Kaiſer Alexander ließ ſich, wie man fagt, auf feinen Reifen das Newa— waſſer gewöhnlich, in Flaſchen gefüllt, nachkommen. Zum Brauen des Thees und Kaffees dient es vortrefflich, und mit Ger— ſtenſaſt gewürzt, als Bier, geht es durch's ganze Reich.

Außer dem großen natürlichen Aquaduct der Newa hat aber auch die Stadt nicht eine einzige Waſſerkunſt, keine brauchbare Quelle, ja nicht einen einzigen Brunnen, auch nicht einmal Röhren, welche das Newawaſſer zu den Häuſern führten, und mancher Stadttheil würde gewiß gern einen ganzen unbequemen Newaarm weggeben für ein paar Brunnen, die ihm nahe zur Hand wären. Die Quellen, welche auf dem Gebiete der Stadt zu Tage kom— men, haben ein ganz ungenießbares Waſſer und ſind ſogenannte „tsehornije rätschki“ (Schwarzbäche) und eben fo iſt alles Waſſer, welches man durch Grabung von Brunnen gewinnen könnte, nur durch den Torfgrund des Bodens filtrirte und gelblich gewordene Newafluth. Alles Waſſer, das die Stadt braucht, muß daher un— mittelbar aus der Newa geſchöpft werden.

Die Newa iſt mitten in der Stadt eine Werft breit und, die großen Krümmungen mitgerechnet, über drei deutſche Meilen lang. Wan kann ſich daher denken, welche Wüſteneien ihre Ober— fläche im Winter bei ſo unregelmäßigem Anfrieren der Eisſchol— len, wie es hier gewöhnlich ſtatthat, darſtellt. Wan kann als⸗ dann hier bei Nacht mitten in der Stadt Reifen machen, wo man ſich ſo verlaſſen glaubt, wie auf den Seeeinſamkeiten Finnlands.

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Die Lichter der Häuſer dämmern nur aus der Ferne, Mond: und Nordlicht dienen zur Erleuchtung, und man ſteuert ſeinen Lauf nach dem Compaß und den Sternen. So verrufen daher auch dieſe Nachtfahrten auf dem Wintereiſe ſind, Diebſtahl und Word paſſiren hier am häufigſten und ſo gern man ſie meidet, ſo ändert ſich das Alles im Sommer, wo die Newaſchifffahrten das beliebteſte und reizendſte Vergnügen ſind. Der blinkende Fluß, deſſen Oberfläche im Winter verbleichte, umgiebt dann die ſchönen Stadttheile wie mit herrlicher Silbereinfaſſung. Die Nächte ſind gelind und wunderbar hell, und die Petersburger ſchwelgen dann in der Luſt des Gondelfahrens um ſo mehr, da ſie ihnen nur auf kurze Zeit vergönnt iſt. In den ſchönen warmen Monaten Juni und Juli find die Newa-Arme Nacht und Tag mit ſegelnden und rudernden großen und kleinen Schiffen und Gondeln überſäht, die nicht raſten, beſtändig die reizendſten Gemälde dem Auge und Ohre darzuſtellen.

Unter den mineralogiſchen Sammlungen von Petersburg nimmt die, welche ſich im Bergwerks-Inſtitut befindet, den erſten Rang ein. Hier ſah Profeſſor Roſe das berühmte Walachitſtück von der Kupfergrube Gumeſchewsk im Ural, das eine platte eierförmige Maſſe darſtellt und die bedeutende Höhe von 3 Fuß 6 Zoll und eine faſt ebenſo große Breite hat. Es beſitzt eine ſchöne ſmaragd— grüne Farbe, und ſein Werth wird auf 525,000 Rubel geſchätzt. Unter den Goldſtufen des Muſeums gebührt der ſogenannten Rie— ſen⸗Goldſtufe der erſte Platz. Sie wurde am 26. October 1842 beinahe auf der Grenzſcheide der beiden berühmten Goldſeifen zu Zarewo-Vicolaiewsk und Zarewo-Alexandrowsk am linken Ufer des Taſchkutargan gefunden. Dieſer Klumpen gediegenen Goldes von 2 Bud 7 Pfund 92 Solotnik (77,014 preuß. Pf.) lag 45 Arſchi⸗ nen (9“ 10“ Pariſer Fuß) unter der Erdoberfläche auf einer Dio— ritbank und war von feſt erhärtetem Thon eingehüllt. Er hat in den Hauptumriſſen die Geſtalt eines Dreiecks, ſieht wie geſchmolze— nes und ſchnell abgekühltes Metall aus und einige Vertiefungen ſcheinen eckige Eindrücke von Bergkryſtall zu ſein, die ſich in der umgebenden Gebirgsſchlucht gebildet haben. Die ganze Waſſe iſt compact und feſt und hat weder Näthe noch Riſſe, die auf ein

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Zuſa mmenſchmelzen mehreren einzelnen Stücke Goldes hindeuten könnten.

Bereits im Jahre 1838 hatte die ruſſiſche Regierung, da Gold— ſtufen von einigen Solotniks (1 Sol. = 8 Pf.) nicht mehr Ge— genſtände von beſonderer Seltenheit waren, eine ältere Vorſchriſt dahin abgeändert, daß nur Stücke, die über ein Pfund wogen, an das Wuſeum eingeſandt werden ſollten, und im Jahre 1841 wurde ſogar der Befehl erlaſſen, daß nur durch Größe und äußere Geſtalt ausgezeichnete Stücke darin zurückbehalten, die übrigen aber, als ein todtes Kapital, dem St. Petersburger Münzhofe zum Ver— prägen übergeben werden ſollten. In Folge deſſen wurden 550 Stücke gediegenen Metalls, von denen keins über 5 Pfund 11 So— lotniks wog, der Münze überliefert“).

Im europäiſchen Rußland iſt die Gewinnung des Goldes auf einige wenige Ablagerungen goldhaltigen Sandes am weſtlichen Ab— hange des nördlichen Theiles des Ural beſchränkt. Im aſiatiſchen Rußland ſind es die Gouvernement von Perm, Orenburg, Tomsk, Jeniſeisk, Irkutsk und die Kirgiſenländer, welche Gold liefern“ ). Die erſten Goldlager wurden 1743 in den Umgebungen von Katha— rinenburg entdeckt. Die Ausbeutung hat ſeit 1752 begonnen und dauert in den Gruben von Berezoff bis heute fort, doch hat ſie in Folge des Aufſchwunges, den die Goldwäſchereien genommen haben, weſentlich abgenommen. Die erwähnten Bergwerke, deren Ertrag im Jahre 1810 das Maximum von 22 Pd (1 Pud = 40 Pfund) erreichte, geben jetzt nur 2 Pud jährlich, und dieſe gehen hauptſächlich für den Betrieb ſelbſt wieder auf.

Die Ausbeutung der goldhaltigen Sandlager hat 1814 im Ural begonnen, ſpäter, 1829, ſind die Goldwäſchen im weſtlichen und 1838 die im öſtlichen Sibirien entſtanden. Von 1840-1850 belief

*) Vgl. Cenkral⸗Aſien. Unterſuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie von A. v. Humboldt. Aus dem Franzöſiſchen überſetzt und durch Zuſätze vermehrt herausgegeben von W. Mahlmann. Bd. 1. S. 356 ff. und Bd. 2. S. 338 ff.

*) Die hier folgenden Notizen über die Gewinnung des Goldes in Rußland find nach ruſſiſchen Quellen aus dem Journal des mines ent- lehnt.

III. 3

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ſich der Ertrag der Goldwäſchen im Ural und im weſtlichen und öſtlichen Sibirien auf 12,638 Pud.

Seit der Entdeckung der Goldlager im öſtlichen Sibirien hat die Erzeugung dieſes Metalles in Rußland in koloſſalem Maße zu: genommen. Trotz des fabelhaften Reichthums dieſer Lager überließ ſie die Regierung doch ſämmtlich an Privatleute und miſchte ſich in die ganze Angelegenheit nur, um die nöthige Ordnung aufrecht zu erhalten, entſtehenden Streitigkeiten und Zwiſten zu begegnen und endlich, um eine, übrigens mäßige, Abgabe von den Goldſu— chern zu erheben.

Ein Geſetz vom Jahre 1838 gewährte Jedem das Recht, in Oſtſibirien nach Goldlagern zu ſuchen. Jeder, der Gold auffand, war nur gehalten, dies ſofort der Behörde anzuzeigen, die ihm dann eine gewiſſe Landſtrecke 100 Saſhen breit und 5 Werſte lang ) zuwies. Kaum hatte ſich das Gerücht von dieſen Entdeckungen, welche an Reichthum Alles, was man bisher in Rußland kannte, übertrafen, etwas ausgebreitet, ſo ſtrömten Hunderte von Geſell— ſchaften nach den öſtlichen Zuflüſſen des Jeniſei und in die Saya— niſchen Berge. Es entſtand eine ungeheure Regſamkeit in Sibirien. Die Goldſucher zerſtreuten ſich nach allen Richtungen, theils um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen, theils um Arbeiter zu erlangen, deren Zahl in Folge deſſen im Jahre 1841 ſchon 8000 betrug. Die meiſten davon waren Deportirte, andere kamen aus den Kir— giſenſteppen, um einige Sommermonate hier zu arbeiten, noch andere ſcheuten nicht Reiſen von über 600 Weilen aus dem Innern des europäifhen Rußlands, um an den Beſchäftigungen in den Minen Theil zu nehmen. Nichts konnte ſie aufhalten, weder die Rauhheit des Klimas, die Härte der Arbeit, die Entfernung, noch endlich das Schreckbild Sibiriens, daß man als Verbannungsort zu fürch— ten gewohnt iſt.

Die Schwierigkeiten, mit denen die Goldſucher zu kämpfen hatten, um ihre Entdeckungen zu nutzen und neue Entdeckungen zu machen, waren groß. Die reichen Alluvien fanden ſich in einem

*) Ein Saſhen (ruff. Faden) beträgt 84 Zoll ruſſiſch; ein ruſſiſcher Zoll iſt /e Fuß.

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noch unbekannten Lande, das im Winter von halb wilden Völker— ſtämmen durchzogen ward. Dichte Wälder, welche den Boden be— decken, unterhielten eine ewig ſeuchte Atmosphäre, ſo daß nicht nur die Thäler, ſondern auch die Bergabhänge unzugängliche Sümpfe boten, die man nur mit großen Umwegen umgehen konnte. Wanch— mal fand ſich 100 und noch mehr Wegſtunden im Umkreiſe nicht eine menſchliche Wohnung; kein Weg führte durch die Wildniß, und alle Transporte mußten auf dem Rücken des Saumthieres auf einem von den Goldſuchern ſelbſt hergeſtellten Pfade geſchehen.

Indeſſen iſt der Boden Sibiriens im Allgemeinen fruchtbar, ſo daß der Ertrag der in der Nähe der Goldlager befindlichen Provinzen zur Verſorgung der Goldſucher mit Getreide ausreichte. Das Fleiſch und die Laſtthiere wurden von den Kirgiſen und Kal— müken geſchafft. Die Waſchinen und alle Inſtrumente lieferten die Werkſtätten am Ural.

Die Arbeit begann in der Regel mit dem Wonat Wai und endete mit Anfang September, wo der Winter ſich mit Schneefall meldet. Viele ließen ſich indeß dadurch nicht abhalten, ſondern ſetzten ihre Arbeiten mitten im Winter fort, weil dann die Sumpf— gegenden leichter zu paſſiren und auszubeuten waren. Man mußte dann den Boden, den man auf Gold unterſuchte, erſt mit Feuer aufthauen und den Goldſand dann mit lauem Waſſer der Wäſche unterwerfen. Das Brennmaterial, das ſich an Ort und Stelle findet, koſtete faſt nichts. Es iſt ſchwer zu begreifen, wie dieſe har— ten Arbeiten im Winter ertragen wurden, da zum Schutz gegen die Unbill des Wetters nur armſelige Hütten und allenfalls dichte Schneemaſſen vorhanden waren.

In den Verträgen der Goldſucher mit den Arbeitern wurde die Zahl der Karrenladungen, welche jeder Arbeiter täglich zu be— arbeiten hatte, beſtimmt. War er hiermit zu Stande, ſo konnte er frei über ſeine Zeit verfügen. Ferner hatte der Arbeiter ein Pfund Fleiſch und ausreichende ſonſtige Vahrung, Brot und eine Art leichtes Bier zu beanſpruchen. Zu Verhütung von Diebſtählen und um die Arbeitsluſt anzuregen, waren gewiſſe Belohnungen für be— ſtimmte Fälle feſtgeſetzt.

Trotz aller Schwierigkeiten, welche die Ausbeutung darbot,

£ 3%

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wuchs die Zahl der Goldwäſcher mit jedem Jahre. Die Anzeigen bei den Behörden gingen zu tauſenden ein und die Conceſſionen konnten nur nach dem Datum der Anzeige der Reihe nach er— folgen “).

In Jahre 1840, wo die Goldlager in Sibirien entdeckt wurden, ſtieg die Menge des in Rußland gewonnenen Goldes auf 554 Pud; 1841 auf 6553 Pud; 1842 auf 908 Pud; 1843 auf 12413 Pud; 1844 auf 12763 Pud; 1845 auf 13043 Pud; 1846 auf 16284 Pud; 1847 auf 17534 Pub. Hiermit war aber das Maximum erreicht.

In dem Waaße als die Goldgewinnung ſtieg und neue Ent— deckungen gemacht wurden, nahm der Verkehr zu, Straßen wurden durch die Wälder geführt, die benachbarten Städte vergrößerten und bereicherten ſich. Zugleich ſtiegen aber auch die Lebensmittel unverhältnißmäßig im Preiſe, ſo daß kleinere Unternehmer darunter litten. Die Regierung ordnete, um die beſorgliche Vernachläſſigung des Landbaues von Seiten der Coloniſten zu verhüten, unter dieſen Umſtänden an, daß keine Familie deportirter Coloniſten ſich ganz zu den Goldwäſchen begeben dürfe, daß vielmehr von jeder einige Glie— der zurückzubleiben hätten, um ihre Felder zu verſorgen.

Die Entdeckungen neuer und reicher Alluvien hatten jedoch be— reits aufgehört. Man mußte ſich mit den früher aufgefundenen be— gnügen. Die Goldproduction ſank in Folge deſſen im Jahre 1848 auf 1693 Pud herab.

Die Regierung traf nun ferner, damit die Goldgewinnung im

*) Seit einigen Jahren, erzählt Sch. v. Harthauſen, (Studien über die innern Zuſtände, das Volksleben und insbeſondere die ländlichen Ein- richtungen Rußlands, 1847. Th. 1.) durchſchwärmen unzählige Aventuriers Sibirien und ſuchen Gold, aber ſie finden keine Menſchen, die ihnen bei der Arbeit helfen, keine Lebensmittel, ſich zu erhalten! An den günſtigeren Stellen ſind daher Arbeitskräfte und Lebensmittel im höchſten Preiſe und dabei kann man nur drei Monate in dieſen Gegenden, des Klimas halber, arbeiten. Das Arbeitslohn iſt mitunter auf 15 Rubel Silber (17 Thlr). für den Tag geſtiegen. Da gehen denn auch die Coloniſten, ſtatt dem ſoli⸗ den und die Reinheit der Sitten erhaltenden Landbau ſich zu widmen, jener verführeriſchen Goldſucherei nach und ſchon jetzt greift die Sittenverderbniß raſch um ſich.

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öſtlichen Sibirien regelmäßiger vor ſich gehe und namentlich, um die kleineren Unternehmen gegen die großen zu ſchützen, verſchiedene Maßregeln. Insbeſondere wurden die Goldwäſchen von minder reichen Ertrage in Bezug auf die zu entrichtenden Abgaben beſſer geſtellt, als die Goldwäſchen mit reicherer Ausbeute, welche je nach ihrem größeren Ertrage nach ſteigenden Procentſätzen beſteuert wurden.

Doch verringerte ſich die Goldproduction im öſtlichen Sibirien noch immer, ſo daß ſie von 1371 Pud im Jahre 1847, auf 1186 im Jahre 1849, und 1008 Pud im Jahre 1850 herabgegangen iſt, während die Goldwäſchen im Ural noch einen jährlichen ſteigen— den Ertrag liefern, obgleich auch hier der Goldinhalt des Sandes weſentlich abgenommen hat.

Platin findet ſich in Rußland in goldhaltigen Ablagerungen oder in deren Nähe. Der goldhaltige Sand des Ural und von Sibirien enthält zum großen Theil Platin, jedoch in geringer Menge. Seine Hauptlager finden ſich im nördlichen Ural, beſon— ders in den Bezirken von Tagilsk und Goroblahodat. Seit der Entdeckung dieſes Metalls im Jahre 1824 hat man 2061 Pud rohes Metall gewonnen. Der Sand von Niſchne-Tagilsk übertrifft bei weitem alle bekannten an Ergiebigkeit. Im Jahre 1828 hat er 91 Pud Platina und zwar 40 Solotniks auf 100 Pud Sand gegeben. Dieſer reiche Inhalt des Sandes hat zwar ſpäter ab— genommen, allein der jährliche Ertrag iſt gleichwohl 100 bis 200 Bud geblieben und hat erſt 1845 aufgehört, wo man die Ausmün- zung des Platins aufgab“).

Unter den Platingeſchieben, welche Prof. Roſe im Mufeum des Bergwerks⸗Inſtituts ſah, befand ſich ein Stück von mehr als 10 Pfund (von den Gütern des Herrn von Demidoff, welche die reichſten Platinaſchätze beherbergen). Seitdem aber hat man in den nämlichen Sandlagern noch eine Anzahl bei weitem größerer entdeckt, von 13 bis zu mehr als 20 Pfunden. Das größte Stück gediegenen Platins, welches im Juni 1843, wiederum in dem Berg-

*) Journal des mines.

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werksbezirk von Viſchne-Tagilsk, aufgefunden wurde, wiegt 23 Pfund 18 Solotniks.

Man hat zwar auch in Südamerika Platin gefunden, allein die Uraliſchen Plantingeſchiebe übertreffen die amerikaniſchen bei weitem an Größe; denn von den letztern ſind die größten Stücke, welche man kennt, dasjenige, welches Humboldt aus Choco mitge— bracht und der Königl. Wineralienſammlung zu Berlin verehrt hat und ein anderes aus den Goldwäſchen von Condoto, welches ſich ſeit 1822 im Muſeum von Wadrid befindet. Erſteres hat aber nur ein Gewicht von 1088 Gran, letzteres von 11,641 Gran.

Auch der Reichthum der geſchliffenen Edelſteine, welche der kaiſerliche Schatz enthält, iſt außerordentlich. Ganz beſonders ſind die Diamanten ausgezeichnet, von denen derjenige, welcher ſich an der Spitze des kaiſerlichen Scepters befindet, der größte iſt. Er iſt ſehr unvortheilhaft geſchnitten, aber vom erſten Waſſer, von vollkommner Reinheit und dem lebhafteſten Glanze. Sein Gewicht beträgt 1944 Carat; fein größter Durchmeſſer 1 Zoll 33 Linien, ſeine Höhe 10 Linien. Die Geſchichte dieſes Diamanten, der aus Oſtindien ſtammt, iſt nach Pallas'“) Erzählung folgende.

Schach Nadir hatte in feinen Thronſeſſel zwei Hauptdiaman- ten, wovon der eine die Bergſonne, der andere der Bergmond genannt wurde. Bei der Ermordung des Schachs wurden viele von den Krongeſchmeiden geraubt und nachmals heimlich verkauft. Zu dem Armenier Schafraß, der zu jener Zeit mit zweien ſeiner Brüder in Baſſora wohnte, kam einſt ein afghaniſcher Anführer und bot ihm insgeheim jenen großen Diamanten, der einer von den Steinen des Thronſeſſels, muthmaßlich der ſogenannte Bergmond, geweſen, nebſt mehreren andern werthvollen Edelſteinen, unter denen ſich auch ein großer Smaragd und ein großer Rubin befanden, für eine ſehr mäßige Summe zum Kauf an. Da Schafraß bedenklich war, den Handel ſofort abzuſchließen, ſo verſchwand der Afghane und jener fand ihn erſt in Bagdad zufällig wieder. Hier kaufte ihm Schafraß ſämmtliche Steine für eine runde Summe von

*) Pallas, Reiſe in die ſüdlichen Statthalterſchaften des ruſſiſchen Reichs. Leipzig 1799. Th. 1. S. 125 ff.

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50,000 Piaſter ab. Schafraß und feine Brüder erkannten wohl, daß ſie Grund hätten, dieſen Handel äußerſt geheim zu halten. Sie wagten daher vor der Hand nicht, an einen Wiederverkauf zu denken, ſondern erſt nach zwölf Jahren begab ſich Grigori Schafraß über Konſtantinopel zu Lande nach Amſterdam, wo er ſeine Edel— ſteine öffentlich feil bot. Zu den Kaufluſtigen gehörte auch die Kaiſerin Katharina von Rußland, welche unter Zuſage einer an— gemeſſenen Koſtenvergütigung, falls ſich der Handel zerſchlüge, den großen Diamanten nach Petersburg bringen ließ. Als der Stein ankam, bot der ruſſiſche Minifter Graf Panin dem Beſitzer, deſſen Unterhändler der damalige Hofjuwelier Laſaref war, außer dem verlangten Erbadel und einer lebenslänglichen Penſion von 6000 Ru- bel, eine baare Summe von 500,000 Rubel, wovon 100,000 Rubel ſogleich, das Uebrige aber innerhalb zehn Jahren gezahlt werden ſollte. Da jedoch Schafraß hartnäckig auch den Adel für ſeine Brüder forderte und noch auf mancherlei anderen Vortheilen beſtand, ſo zerſchlug ſich der Kauf und der Stein wurde zurückgegeben.

Nunmehr befand ſich Schafraß in nicht geringer Verlegenheit. Er hatte ſich in bedeutende Unkoſten verſetzt, mußte beträchtliche Summen, die er ſchnuldig war, verzinſen, und ſah keinen Ausweg, den Stein gut anzubringen. Seine Unterhändler ließen ihn in der Verlegenheit, um ihren eignen Vortheil dabei zu befördern, und fo ging er, um ſich den Gläubigern zu entziehen, nach Aſtrachan. Endlich wurde der Handel im Namen des damaligen Grafen Orlof wieder anhängig gemacht und der Kauf des Steines für 450,000 Rubel baar und den ruſſiſchen Adelsbrief abgeſchloſſen, von welcher Summe an Commiſſions- und Proviſionskoſten, Zinſen und dergl. ca. 120,000 Rubel den Unterhändlern zu Theil geworden ſein ſollen. Schafraß ließ ſich darauf in Aſtrachan nieder; fein großes Ver— mögen aber, welches auf ſeine drei Töchter vererbte, zerſchmolz großentheils unter den Händen ſeiner Schwiegerſöhne.

Auf der Rückkehr durch Petersburg ſahen unſre Reiſenden auch noch durch die zuvorkommende Gewogenheit des Fürſten Wolkonski, Minifter des kaiſerlichen Hauſes, den großen Diamanten, welchen der perſiſche Prinz Cosrhoss, der jüngere Sohn von Abbas Wirza, inzwiſchen dem ruſſiſchen Kaiſer zum Geſchenk gemacht hatte. Der-

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felbe iſt nur zum Theil geſchliffen und beſitzt theilweiſe noch feine natürlichen Flächen. Sein Gewicht beträgt 86 Karat; er iſt alſo um mehr als die Hälfte kleiner als der vorige, aber immer noch bedeutend genug, um zu den größten bekannten Diamanten gezählt zu werden. Seine größte Länge beträgt 1 Zoll 54 Linien, feine größte Breite 8 Linien. Er iſt von größter Reinheit und Klarheit und ganz ohne Sprünge und Federn. Seine geſchliffenen Flächen ſind mit perſiſchen Inſchriften verſehen und an ſeinem obern Ende befindet ſich eine kleine Rinne, die ganz um ihn herumgeht, an welcher man wahrſcheinlich eine Schnur befeſtigt hat, um ihn mittelſt derſelben am Halſe zu tragen.

Die übrigen geſchliffenen Wineralien ſieht man ganz beſonders in den kaiſerlichen Schlöſſern, vorzüglich in dem prachtvollen Win— terpallaſt. Was das weitläuftige ruſſiſche Reich an ausgezeichneten Gebirgsarten beſitzt, ſieht man hier vereinigt, ſeine Säle zu ſchmücken. Zu den größeren Gegenſtänden hat man beſonders die verſchiedenen Porphyre benutzt. So ſieht man hier eine ganze Reihe kanellirter Säulen von dem prächtigen grün- und weißgeſtreiften Porphyr von der Revenaja Gora vom Altai und koloſſale Vaſen und Badewan— nen von den vielen Abänderungen des Porphyr vom Korgon, ſo— wohl dem rothen Porphyr, der mit dem antiken Aehnlichkeit hat, als auch dem conglomerartigen rothen Porphyr und endlich jener variolitähnlichen Abänderung, die aus einer röthlich grauen Grund— maſſe und inliegend graulich weißen Kugeln mit ſchwarzen Ein— faſſungen beſteht und durch die Eigenthümlichkeit des Geſteins noch einen ganz beſondern Reiz erhält.

Zu kleinern Vaſen, Tiſchplatten und andern Kunſtgegenſtän— den iſt beſonders der Jaspis des ſüdlichen Ural, der Aventurin des Ural und Altai, das Rothbraunſteinerz aus der Gegend von Katharinenburg, der Malachit von der Guweſchefskiſchen Kupfer— grube und der Schriftgranit von Murſinsk und Wiask verwendet. Die Abänderungen des Jaspis ſind von grüner und rother Farbe, zuweilen ſind ſie auch roth und weiß gefleckt, oder bluthroth und lauchgrün geſtreift, wie der ſchöne ſibiriſche Bandjaspis. Die weiße Waſſe des Aventurins iſt bald roth, bald weiß gefleckt. Das Roth⸗ braunſteinerz und der Walachit, die durch ihre ſchönen roſenrothen

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und fmaragdgrünen Farben fo ausgezeichnet find, ſieht man ſelten in derben Maſſen vereinigt. Gewöhnlich find die Gegenſtände mit einer Menge größerer oder kleinerer Platten dieſer Maſſen nur fournirt. Nur kleinere Platten von Walachit beſtehen aus einem Stücke, in welchem aber doch die Höhlen und Löcher, die in dem Walachit nie fehlen, mit andern Stücken ausgefüllt find. Vom Schriftgranit ſieht man ſowohl die gelbe Abänderung von Murſinsk wie die grüne von Wiask, doch immer nur in kleinen Platten.

Den eigentlichen Granit findet man in den Schlöſſern nicht, oder nur ſelten; die außerordentlichen Blöcke, die man aus dem Granite Finnlands brechen kann, werden zu Säulen verarbeitet, die man beſonders zur Ausſchmückung von Kirchen verwendet. So befinden ſich im Innern der Kaſanſchen Kirche 95 große Säulen; andere ſieht man an der Iſaakskirche in drei Doppelreihen an drei Seiten des Gebäudes. Die letztern ſind größer als die erſteren und haben die bedentende Höhe von 56 engl. Fuß, werden aber an Größe noch bei weitem von der großen Alexanderſäule übertroffen, die im Jahre 1832 auf dem Platze vor dem Winterpallaſte erbau wurde und bei einem Umfang von 374 engl. Fuß eine Höhe von 84 Fuß hat.

3weites Kapitel.

Abreiſe von Petersburg. Neiſe-Einrichtungen. Ruſſiſche Dör⸗

fer. Waldai. Moskau. Wladimir. Niſchni-Nowgorod.

Waſſerfahrt auf der Wolga. Kaſan. Ruinen von Bolgarü.

Der Saban der Tataren. Wotjäken. Vorberge des Ural. Katharinenburg.

Am Morgen des 20. Mai verließen die Reiſenden Petersburg. Ihre Geſellſchaft hatte ſich jetzt vermehrt, denn durch die Vorſorge des Grafen von Cancrin hatten ſie zu ihrer Begleitung einen ruſ— ſiſchen Bergoffizier erhalten, den damaligen Oberhüttenverwalter Menfchenin, der der franzöſiſchen Sprache vollkommen und etwas auch der deutſchen mächtig, als Führer und Dolmetſcher dienen ſollte. Außerdem hatte Humboldt noch einen Courier angenom— men, welcher die Pferde auf den Stationen beſtellen uud bezahlen ſollte, ſowie einen Koch, der für jede größere Reiſegeſellſchaft eine unentbehrliche Perſon iſt, da ſchon jenſeits Moskaus die Wirths— häuſer aufhören und man auf den Stationen auf dem Lande nur die Pferde und die Freiheit erhält, ſich in einem für die Reiſenden reſervirten Zimmer aufzuhalten und in der Küche des Hauſes die Speiſe zu bereiten, ſo gut als es die Gelegenheit eben geſtattet. In den Städten haben ſich die wohlhabenderen Bürger verpflichtet, die Reiſenden aufzunehmen, und man hat ſich bei ſeiner Ankunft nur an den Polizeimeiſter zu wenden, der dem Reiſenden ſein Quartier in demjenigen Hauſe anweiſt, das gerade an der Reihe iſt. Wan erhält dann, bei der mit Recht ſo gerühmten ſibiriſchen

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Gaſtfreiheit, nicht nur Aufenthalt, ſondern häufig auch Bewirthung, zumal wenn man, etwas der rufſiſchen Sprache mächtig, es ver⸗ ſteht, ſich ſeinen Wirthen angenehm zu machen. Zu der auf Be⸗ ſehl des Kaiſers unternommenen und einem öffentlichen Zwecke ge— widmeten Expedition Humboldt's und ſeiner Gefährten war durch die große Strecke von 14,500 Werſten, die fie zurückzulegen hatten, überall auf das beſte für Pferde und Wohnung geſorgt. Bei ihrer durch den Courier gemeldeten Ankunft wurden ſie in der Regel ſchon an den Thoren von dem Polizeimeiſter bewillkommnet und nach dem für ſie beſtimmten Quartiere geführt.

Eine Vorſichtsmaßregel hatten ſie jedoch vernachläſſigt; ſie hatten ſich nicht mit Watratzen verſehen, die man in Rußland auf Reiſen immer mit ſich zu nehmen pflegt, da man an den Orten, wo man übernachtet, in der Regel keine Betten, und häufig zwar mit Leder überzogene Sophas, eben jo häufig aber auch nur hölzerne Sopha-Geſtelle vorfindet. In Katharinenburg wurde da— her dieſem Mangel abgeholfen und das Gepäck zwar bedeutend ver— mehrt, aber gleichzeitig auch ein beinahe unabweißliches Bedürfniß befriedigt.

Die Wagen, welche ſie zur Reiſe erhalten hatten, waren ganz neu; es waren drei: eine Halbſchaiſe für Humboldt und einen ſeiner Gefährten, eine größere, gleichfalls auf Federn ruhende ſogenannte Britſchke und ein offener Wagen für den Courir und den Koch Die beiden erſten Wagen bewährten ihre vortreffliche Beſchaffenheit; denn ſie hielten die ganze Reiſe aus und bedurſten erſt auf der Rückreiſe in Aſtrachan einer etwas bedeutenderen Ausbeſſerung, was bei dem ſteten, Tag und Nacht anhaltenden Gebrauch derſelben und bei den ſteinigten Wegen im Ural und Altai gewiß nicht wenig ſagen will. Der dritte Wagen war fertig gekauſt und bedurfte frei⸗ lich einer öfteren Nachhülfe.

Die Wagen waren geräumig genug, um die Reiſenden mit ihren Inſtrumenten aufzunehmen und denſelben einen für eine lange Reiſe wohl wünſchenswerthen bequemen Aufenthalt zu gewähren; doch die Bequemlichkeit wurde bald durch den Anwuchs der Samm⸗ lungen ſehr beeinträchtigt. Da man nämlich, bei der großen Ent⸗ fernung des Ural und Altai von Petersburg die Möglichkeit voraus—

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ſetzen mußte, daß nicht alle Kiſten, in welche man die an den ver— ſchiedenen Orten geſammelten Gegenſtände verpackte, regelmäßig an— kommen würden, ſo ſuchten die Reiſenden von allem etwas, was ſie für das Wichtigſte hielten, ſelbſt mitzunehmen. Dadurch wurde aber der Raum zuletzt ſo beſchränkt, daß ſie zuweilen nichts weniger als bequem ſaßen, und bei der Schnelligkeit der Reiſe würden ſie dieſen Uebelſtand noch weit mehr empfunden haben, wenn die Ge— wohnheit nicht das Ihrige gethan hätte. Die Vorſicht, der man die eigne Bequemlichkeit opferte, war freilich eine unnöthige geweſen, denn durch die Fürſorge der ruſſiſchen Regierung ging von den vielen Kiſten, die in verſchiedenen Transporten nach Petersburg und von da nach Berlin gefandt wurden, auch nicht eine verloren.

Der Weg nach Woskau führt auf der großen Kaiſerſtraße entlang, die meiſt in ſchnurgerader Richtung fortgeht und eine außerordentliche Breite hat“). Sie übertrifft die der preußiſchen Chauſſeen wohl um das Doppelte, was vermuthlich in der eigen— thümlichen ruſſiſchen Fahrweiſe ſeinen Grund hat. Wan ſpannt nämlich in Rußland die Pferde nicht nur ſehr häufig zu vieren in einer Reihe, ſondern die an den Seiten laufenden ſind meiſt ge— wöhnt die Köpfe nach auswärts zu tragen, wodurch ſie einen be— deutenden Raum einnehmen. Die Wege müſſen daher ſo breit ge— macht werden, daß zwei auf ſolche Weiſe beſpannte Fuhrwerke im Galopp denn in Rußland fährt man faſt ſtets im Galopp von einer Station zur andern bequem neben einander vorbei— fahren können.

) Peter der Große, der feine neue Reſidenz der alten Hauptſtadt mög- lichſt nahe rücken wollte, ließ durch den Engländer Facpherſon eine gerade Linie zwiſchen Petersburg und Moskau feſtſtellen, und es wurden auch wirklich etwas über 100 Werſt in dieſer Richtung gebaut; allein Wälder und Sümpfe boten fo unermeßliche Schwierigkeiten dar, daß man, da über- dies alle bewohnten Städte und Orte außer dieſer Linie lagen, den Plan aufgab, und die bedeutenden Orte Nowgorod, Torſchok, Twer u. ſ. w. mit in die zu bauende Straßenlinie aufnahm. Freilich wurde dieſelbe nun ſtatt der anfänglich ausgemeſſenen 595 Werſte, um nicht weniger als 133 Werſte verlängert. Seit dem Jahre 1851 iſt Petersburg mit Moskau durch eine Eiſenbahn verbunden.

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Bald hinter Petersburg verließen unfre Reiſenden die gerade Straße nach Woskau und bogen rechts ab nach dem Städchen Zarskoje⸗Selo, um das daſelbſt befindliche kaiſerliche Luſtſchloß zu beſehen. Das Städchen liegt an dem Abhange der höhern Ebene, die fi) in 15 bis 20 Werſte Entfernung von der Newa und dem finniſchen Meerbuſen erhebt; das Schloß ſchon auf der Höhe ſelbſt. Es iſt mit großer Pracht aufgeführt und erinnert in ſeiner Bauart an das Schloß zu Verſailles. Hinter dem Schloſſe liegt der Gar— ten, in welchen eben das erſte Grün zu ſproſſen anfing; es war ein ſchöner heiterer Tag, die Temperatur des Wittags 15 R.

In Ischora, der erſten 33 Werſte von Petersburg entfernten Station, erreichte man wieder die gerade Straße. Wit dieſer Sta— tion hört auch ſehr bald der Anbau des Landes auf, und die Rei— ſenden gelangten in einen dichten, größtentheis ſehr ſumpfigen Wald, durch welchen ſie die ganze Nacht hindurch fahren muß— ten. Um 7 Uhr Worgens erreichten ſie Nowgorod, die alte vor— mals ſo berühmte Hanſeſtadt. Sie hat eine ſchöne Lage auf dem rechten Ufer des Wolchow, wo dieſer aus dem Ilmenſee heraustritt. Nur ein kleiner Theil der Stadt mit der alten Sophienkirche, dem einzigen Gebäude, welches aus jener großen Vergangenheit Now: gorods erhalten worden iſt, liegt auf dem linken, weſtlichen Ufer des Fluſſes. Zu ihm führt eine Brücke, auf der man eine weite Ausſicht, den Wolchow abwärts und auſwärts, nach dem Ilmen— ſee hat, der jetzt noch ganz mit Eis belegt war.

Nach einigen Stunden Aufenthalt fuhr man weiter. Eine ſchöne ſteinerne Brücke mit eiſernen Geländer führt über den klei— nen Wolchow und eine ähnliche wurde über die darauf folgende Mita gebaut. Da fie indeß noch unvollendet war, fo mußte man auf einer Fähre über den Fluß ſetzen. Dieſer ſowie der kleine Wolchow ergießen ſich bald nach einander und öſtlich von dem Austritt des großen Wolchow in die Vordſeite des Ilmenſees. Jenſeits der Möta liegt das Dorf Bronnitzü, an deſſen ſüdweſt— lichſter Seite ſich ein großer kegelförmiger Hügel erhebt, der oben durch eine Kirche gekrönt iſt.

So freundlich auch die ruſſiſchen Dörfer von fern ausſehen, da ſie meiſtens alle eine ſteinerne Kirche haben, deren weiße Mauern

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und grüne Kuppeln ſchon von fern entgegenleuchten, fo einformig und traurig ſehen ſie doch im Innern aus. Die Häuſer ſind wie die ſchwediſchen und norwegiſchen Bauernhäuſer aus übereinander— gelegten roh behauenen Baumſtämmen aufgeführt, vorn mit allerlei Schnitzwerk oft ganz kunſtreich verziert, doch alle nach einem Styl erbaut. Sie ſtehen mit ihrer Giebelſeite nach der Straße und ſind durch große hölzerne Zäune unter einander verbunden. Auch die Straße iſt mit großen hölzernen Bohlen belegt, und daher, um nicht zu viel Holz dazu zu verbrauchen, nicht ſehr breit. Kein Baum iſt in dem ganzen Dorfe zu ſehen, kein Garten trennt die Häuſer von einander, deren Abwechſelung den Dörfern Deutſch— lands oft ein ſo heiteres Anſehen giebt. Alles iſt eng zuſammen— gebaut und offenbar mehr auf den Winter als auf den Sommer berechnet; aber man kann ſich des Grauens nicht erwehren, wenn man bedenkt, wie ſchnell ein entſtehendes Feuer um ſich greifen und wie groß dann die Gefahr ſein muß, da nicht allein die Häuſer, ſon— dern auch die Straßen brennen. Wan wird zu dieſer Betrachtung um jo mehr veranlaßt, wenn man die Unvorfichtigfeit ſieht, mit welcher die Bauern mit dem Feuer umgehen, da ſie ſich ſelten der Lichter oder Laternen, ſondern gewöhnlich eines brennenden Holz— ſpans zum Leuchten bedienen.

Bei Einbruch der Nacht kam man in dem Städtchen Waldai an, das auf dem kleinen Höhenzuge gleiches Namens liegt, welcher die Waſſerſcheide für die in die Oſtſee und das kaſpiſche Meer fallenden Gewäſſer bildet. Um denſelben etwas näher kennen zu lernen, blieben die Reiſenden den Reſt der Nacht in der etwa eine Stunde von Waldai gelegenen Station Simogorie und wandten den folgenden Vormittag dazu an, die bedeutendſten Höhen zu be— ſuchen und barometriſch zu beſtimmen. Sie gingen wieder nach Waldai zurück, beſuchten von da aus zuerſt den See im Oſten und dann die großen Höhen im Weſten der Stadt. Der See war noch mit Eis bedeckt; ſeine ſüdlichen Ufer ſind flach, die öſtlichen dagegen mit bewaldeten Hügeln umgeben; an ſeinem nördlichen Ende liegt ein Kloſter auf einer Inſel. Den größten Hügel im Weſten der Stadt bildet die Popowa Gora, die aber nur die ge— ringe Höhe von 800 Fuß über dem Meere hat. Etwas wei—

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ter ſüdlich liegt der Seliger-See, der ſein Waſſer der Wolga zuführt.

Gleich hinter Simogorie ſenkt ſich der Boden allmählig, doch im Ganzen nicht ſehr bedeutend, bis zur folgenden Station Jedrowo, die wiederum an einem See liegt, deſſen Ufer mit einer großen Menge von Feuerſteingeſchieben bedeckt ſind. Nur bis hierher war die Chauſſee fertig, und man kam nun wieder auf die alte Land— ſtraße, was, da der Weg ſtellenweiſe überaus ſandig war, ſehr übel empfunden wurde. Glücklicher Weiſe dauerte dieſe Unter— brechung nicht lange, denn von der Stadt Twer an, die man am Mittag des folgenden Tages erreichte, war die Chauſſee bis Mos— kau bereits vollendet.

Die nächſte Stadt hinter Waldai, welche die Reiſenden paſſir— ten, war Wüſchni-Wolotſchok. Sie liegt ſchon an der Twerza, einem Nebenfluſſe der Wolga, und iſt durch den Kanal merkwür— dig, der von hier aus bis zur Möta geführt iſt. Dieſer Kanal verbindet das kaspiſche Meer mit der Oſtſee und macht es möglich die Produkte Aſtrachans zu Waſſer bis nach Petersburg zu bringen.

Vor der Anlage dieſes Kanals mußten die Waaren, welche aus den Innern Rußlands nach Petersburg gingen, in der Twerza ausgeladen und zu Lande bis zur Msta gebracht werden, von wel— chem Landtransport Wüſchni-Wolotſchok, welches die höchſte Ueber— fahrt bedeutet, feinen Namen erhalten hat. Dieſem Uebelſtande iſt theils durch die Anlage des nur 24 Werſte langen Kanals, theils durch die Schiffbarmachung der obern Twerza und Möta abgehol- fen, die man auf eine ſehr ſinnreiche Weiſe dadurch bewerkſtelligt, daß Waſſer aus kleinen nahe liegenden Seen und Flüſſen in die Twerza geleitet wird, wenn eine Karawane von Barken in der— ſelben angekommen iſt. Hierdurch wird der Waſſerſtand in der Twerza erhöht und die Barken gelangen bis zum Kanal bei Wüſchni⸗Wolotſchok. Hier angelangt wird die Schleuſe in der Twerza geſchloſſen und Waſſer aus andern Behältern in den Ka— nal und die Msta geleitet, wodurch es möglich wird, die Barken bis nach Opetſchenskoi Rädok zu bringen. Ein zweiter Waſſer⸗ zufluß erhöht hier den Spiegel der Msta ſo, daß die Barken auch über die Borowitzkiſchen Waſſerfälle gelangen können. Dieſes ganze

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ſehr künſtliche Syſtem von Anſchwellungen ift von einem Müller Serdjukoff erdacht worden, der es in den Jahren 1707 bis 1711 durch höchſt einfache Wittel auch zu Stande brachte.

Seitdem iſt es von der Regierung noch verbeſſert und erweitert worden. Dennoch aber iſt es nur möglich, eine beſtimmte Anzahl von Barken, die nicht über 4000 ſteigen kann, aus der Twerza in die Msta zu bringen. Dieſe Anzahl reicht aber jetzt bei weitem nicht hin, Petersburg mit dem Waarenbedarf aus dem Inlande zu verſorgen, viel weniger den zum Verſchicken ins Ausland beſtimm— ten herbeizuſchaffen. Außerdem hat dieſe Waſſerverbindung den Nachtheil, daß wegen der ganzen Einrichtung derſelben, beſonders wegen der Borowitzkiſchen Waſſerfälle, die Barken wohl nach Peters— burg gelangen, aber nicht wieder zurückkehren können. Man konnte alſo auf dieſe Weiſe nicht nur keine Waaren aus Petersburg und dem Auslande nach dem Innern bringen, der Transport mußte auch mit jedem Jahre theurer werden, da die Barken, welche in Petersburg bei der jedesmaligen Ankunft verkauft werden, für einen jeden neuen Transport in dem Innern von Rußland eingezimmert werden mußten und deßhalb bei der vergrößerten Nachfrage und dem ſeltener werdenden Baumaterial ſtets im Preiſe ſteigen.

Deshalb wurde unter dem Kaiſer Alexander in den Jahren 1802—11 noch eine andere Waſſerverbindung der Wolga mit der Newa durch den 175 Werſte langen Tiſchwinſchen Kanal hergeſtellt, durch welchen die Tiſchwinka, ein Nebenfluß des Säß, der ſich nur 10 Werſte öſtlich vom Wolchow in den Ladogaſee ergießt, mit der Waltſchina in Zuſammenhang gebracht iſt, welche nach ihrem Durchfluß durch den Sominsfifhen See, Somina genannt, durch den Gorium und den Tſchagodaſch mit der Wologa zuſammenhängt, die ſich bei der Stadt Wologa in die Wolga ergießt. Dieſe Waſſer— verbindung hat vor der erſtern den Vorzug, daß die Schiffe aus der Wolga in die Vewa gehen und wieder dahin zurückkehren können; da ſie aber nur für kleine Schiffe möglich iſt, ſo wurde in den Jahren 1814 1820 noch eine dritte Waſſerverbindung hergeſtellt, welche aus der Wolga über den Onegaſee in die Newa geht. Dieſe Verbindung iſt durch den 97 Werſte langen Warienkanal bewirkt, welcher die Wytegra, einen Zufluß des Onegaſees, mit der Kowsſcha

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verbindet, die ſich in den See Beloje ergießt. Da nun der Onega⸗ ſee einerſeits durch den Swir mit dem Ladogaſee und der Newa zuſammenhängt, aus dem See Beloje aber die Scheksna heraustritt, die bei Ribinsk etwas unterhalb von Wologa in die Wolga fällt, fo find auf dieſe Weiſe durch den Marienfanal auch die Newa und Wolga verbunden.

Dieſe dritte Waſſerverbindung iſt ſeitdem die wichtigſte gewor— den, da ſie mit dem Vorzug der zweiten, hin und zurück benutzt werden zu können, noch den Vortheil verbindet, für Fahrzeuge aller Art und Größe ſchiffbar zu ſein.

Von Wüſchni⸗Wolotſchok, welches die Reiſenden in der Nacht, ohne ſich aufzuhalten, paſſirten, folgt nun der Weg dem Laufe der Twerza bis zu ihrer Einmündung in die Wolga bei Twer und geht, ohne ihre Krümmungen mitzumachen, bald auf dem linken, bald auf dem rechten Ufer *).

Am Worgen des 23. waren die Reiſenden in Torſchok, den Wittag in Twer, der größten Stadt, die auf dem Wege von Pe— tersburg bis Moskau liegt, und am Wittag des folgenden Tages, alſo nach einer Reiſe von 4 Tagen von Petersburg aus, den Aufenthalt in Zarskoje-Selo und in Waldai mitgerechnet, trafen ſie in Moskau ein.

Torſchok liegt an beiden Ufern der Twerza, deren rechte Seite ſich ſehr hübſch und amphitheatraliſch darſtellt. Die Wenge der Thürme läßt die ruſſiſchen Städte immer recht anſehnlich und felbft maleriſch erſcheinen; man glaubt von ferne mit weſteuropäiſchem Auge ſtets große Städte zu erblicken, allein kommt man hinein, ſo ſieht man meiſt ungemein breite, öde Straßen, ungeheure Plätze, gewöhnlich nur eine Straße und einen Platz mit ſteinernen, zwei— ſtöckigen Häuſern beſetzt. Auf dem Raume, worauf eine deutſche Stadt ſteht, ſind vielleicht zehnmal mehr Häuſer zuſammengedrängt, als auf demſelben Raume einer ruſſiſchen Stadt. Torſchok nimmt

) Ueber dieſe für Rußland fo wichtige Waſſerverbindung der Wolga mit der Newa findet man Ausführlicheres im 2. Bochn. der ruſſiſchen Miscellen von Engelhardt (St. Petersburg 1829) „die drei nördlichen Flußſyſteme in Rußland.“

III. 4

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vielleicht denſelben Raum wie Hamburg ein, allein auf dieſem Raume leben vielleicht 12 18,000 Wenſchen, in Saen mehr als das Zehnfache *).

Torſchok iſt der Sitz von umfaſſenden Lederarbeiten. Vorzugs— weiſe werden farbige Saffiane, die man ſchon zubereitet aus Pe— tersburg oder Kaſan bezieht, zu Stiefeln, Schuhen, Pantoffeln, Taſchen u. ſ. w. verarbeitet und zum Theil mit Gold und Silber vortrefflich geſtickt. Dieſe zierlichen Arbeiten ſind eigentlich nicht ruſſiſchen Urſprunges. Die Ruſſen haben ſie von den Tataren ge— lernt, übertreffen dieſe aber nunmehr bei weitem. Voch in anderer Beziehung genießt Torſchok eines ausgezeichneten Rufes. Die Toch— ter des Poſthalters Poſharskoi ſetzte nämlich vor langen Jahren dem Kaiſer Alexander Flügelkoteletts von beſonderem Wohlgeſchmack vor, und als nun gar die kaiſerlichen Köche umſonſt verſuchten, dieſe ihr nachzubilden, verbreitete ſich ihr Ruf durch ganz Rußland.

Die Stadt Twer an der Wolga iſt ein ſehr wichtiger Handels— und Fabrikort, der weit und breit Leinwand, Leder und Papier verſendet. Seit die Stadt nach einem großen Brande 1763 neu aufgebaut iſt, gilt ſie für eine der ſchönſten Städte Rußlands, das heißt für den, der es ſchön findet, wenn die Straßen breit, ſchnur— gerade, mit Reihen von modernen ſteinern Häuſern, an denen ſelten Säulenreihen und Balkone fehlen, beſetzt ſind, wenn große, ſymme— triſche Plätze, an denen viele palaſtähnliche Häuſer liegen, vorhanden ſind, und eine Wenge ſehr ins Auge fallender Kirchen mit unzähligen Kuppeln und Thürmen! Wo man einen freien Blick auf den Fluß hat, ſieht man ein Gewimmel hin- und herziehender Schiffe, deren jährlich gegen 2000 ankommen und abfahren ſollen. Da die Kirchen und öffentlichen Gebäude, ſowie eine große Zahl der Pri— vatgebäude gelb angeſtrichen ſind, ſo wird Twer von den Ruſſen „die gelbe Stadt“ genannt **).

Eine Stunde vor Woskau kommt man bei dem Petroskiſchen Palaſt vorbei, der durch den Aufenthalt merkwürdig iſt, den Na- poleon während des Brandes von Woskau in ihm nahm. Vach

*) Haxthauſen, a. a. O. **) Haxthauſen, a. a. O.

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feinem Abzuge ließ er ihn abbrennen, er iſt aber jetzt wieder auf- gebaut.

Moskau hat für das ruſſiſche Volk eine ganz außerordentliche Bedeutung, es iſt der Wittelpunkt aller volksthümlichen und reli— giöſen Gefühle der Ruſſen. Es giebt keinen Großruſſen in dem unermeßlichen Reiche, in Archangel wie in Odeſſa, in Tobolsk wie in Nowgorod, der nicht von Moskau „der heiligen Mutter“ mit tie— fer Achtung, mit ſchwärmeriſcher Liebe ſpräche! Jeder ruſſiſche Bauer, wenn er hunderte von Weilen hergezogen zuerſt die Thürme von Woskau erblickt, wird ehrfurchtsvoll ſeine Mütze abnehmen und ſich ſegnen. Aber es iſt nicht blos der gemeine rohe Ruſſe, dem dieſe Anhänglichkeit angeboren iſt, man findet ſie faſt ohne Ausnahme bei allen Klaſſen des Volks, bei Hoch und Niedrig, Gebildeten und Ungebildeten ).

Der Anblick, den Moskau ſchon in der Ferne gewährt, erregt die Bewunderung aller Reiſenden. Die unendliche Wenge von Thürmen, die ſich bald mit vergoldeten oder grün angeſtrichenen Kuppeln, bald in der Form von Winarets erheben, die vielen Gär— ten und Bäume zwiſchen den Häuſern geben der Stadt ein ganz orientaliſches Anſehn. Man überſieht fie am beſten von dem Iwan Welikoi, dem großen Iwansthurm in dem Kreml, welcher den Mit: telpunkt der Stadt bildet. Diefer liegt mit dem öſtlich daran gren— zenden Kitai-Gorod (der ſogenannten mittleren Stadt) auf dem hohen nördlichen Ufer der Moskwa und zwar an der äußeren Seite

*) Haxthauſen, a. a. O. In einem Vergleiche zwiſchen Petersburg und Moskau ſagt der nämliche Reiſende: Es iſt eine oft gemachte Bemer- kung, daß man durch einen Aufenthalt in Petersburg noch keinen eigentlichen und richtigen Begriff von Rußland erlangt haben könne. Man hat Peters- burg ein Schönfenſter genannt, welches Peter I. geöffnet habe, um nach Eu⸗ ropa auszuſehen und weſteuropäiſche Luft einzulaſſen. Petersburg iſt eine durchaus europäiſche Stadt mit weniger nationalem Charakter als z. B. London und Paris, mit etwas mehr ruſſiſchen als andern Kirchen und von ruſſiſchen Soldaten und Beamten, einigen ruſſiſchen Bürgern und ziemlich viel ruſſiſchen Bauern, außerdem aber von Deutſchen, Finnen, Franzoſen, Engländern ꝛc. bewohnt. Es liegt nicht einmal auf national-ruffiihem Bo⸗ den, ſondern auf finniſchem. Die Ruſſen ſind daſelbſt nur Koloniſten ſeit kaum anderthalb Jahrhunderten.

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eines nach Norden gerichteten Bogens, welchen ihr Lauf hier bildet. Der Kreml und Kitai-Gorod umgiebt an der dem Fluſſe abge— wandten Seite hufeiſenförmig den Beloi-Gorod (die weiße Stadt), und dieſer wiederum ringförmig den Semlenoi-Gorod (die Erdſtadt), der auch auf das jenſeitige linke Ufer der Moskwa hinüberreicht. An den Semlenoi-Gorod ſchließen ſich nach allen Seiten die weit— läuftigen Vorſtädte an, an deren Oſtſeite ſich eine bebaute hüglichte Landſchaſt hinzieht, wogegen an der Weſtſeite den Horizont eine Hügelreihe, genannt die Sperlingsberge, begrenzt, über welche die Straße nach Smolensk führt.

Der Kreml, welcher den Flächenraum einer mäßig kleinen Stadt einnimmt und etwa eine halbe Stunde im Umfang hat, enthält den alten Zarenpalaſt, mehre Kathedralen, Kirchen und Klöſter, das alte und neue Arſenal und eine Menge anderer Krongebäude. Er iſt mit einer dicken und hohen Wauer, die ein unregelmäßiges Po— lygon darſtellt und an jeder Ecke mit einem Thurm les ſind deren nicht weniger als 61) beſetzt iſt, umgeben, und ſtatt der ehemaligen Wälle zieht ſich um dieſe Mauer eine ſchöne und breite Allee hin. Auch der Kitai-Gorod iſt noch mit einer Mauer umgeben, dagegen ſind der Beloi- und der Semlenoi-Gorod mit Boulevards einge— faßt, die ſchöne Spaziergänge darbieten. Der Kitai-Gorod iſt ge— drängt gebaut und ſeine Häuſer ſchließen eng an einander; hier be— findet ſich der ungeheure Gostinoi-Dwor oder das Kaufhaus“) und hier herrſcht überhaupt die größte Geſchäftigkeit und das meiſte Le— ben; die übrigen Stadttheile ſind weitläuftiger gebaut und die Häu— ſer häufig mit Gärten von einander und von den Straßen getrennt, wodurch der Anblick Moskau's von der Höhe ein überaus freund— liches Anſehen erhält, die Entfernungen der verſchiedenen Theile von einander aber noch größer als in Petersburg werden.

Der Kreml ſelbſt zählt 32 Kirchen und 170 Thürme und Kup— peln. Vor allem iſt der achteckige Glockenthurm Iwans des Großen

*) Jede ruſſiſche Stadt hat einen ſolchen mehr oder minder großen Bazar, gewöbnlich ein viereckiges Gebäude, deſſen untere Stockwerke aus lau- ter neben einander liegenden Läden beſtehen, vor denen eine bedeckte Gallerie hinläuft. Der Gostinoi-Dwor von Moskau iſt der größte in ganz Rußland.

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berühmt, der die bedeutende Höhe von 38 ruſſiſchen Faden (228 Fuß) hat und, wie ſchon erwähnt, eine ſehr ſchöne Fernſicht über die ganze Stadt gewährt. Unter der Menge von Glocken, die er ent— hält, iſt eine der Himmelsfahrt Mariä geweihte, welche 4000 Bud wiegt. Neben dem Glockenthurm aber befindet ſich die größte aller Glocken, deren Gewicht nicht weniger als 12,327 Pud beträgt. Während eines Brandes ſtürzte ſie herab und lag faſt ein Jahr— hundert in der Erde begraben, bis ſie im Jahre 1836 mit unge— heuren Anftrengungen wieder empor gewunden wurde. Ihre Höhe mißt 21 Fuß, ihre Breite 22 Fuß 8 Zoll“).

In dem neuen Arſenal (Oruscheinaja Palata) im Kreml befin⸗ det ſich der Schatz, in welchen die Kronen, Scepter, Throne, Waffen und Trinkgefäße der Großfürſten und Zare Rußlands nebſt anderen neueren Merkwürdigkeiten aufbewahrt werden. Er bildet eine Samm— lung von Koſtbarkeiten, die wegen ihres zum Theil ſehr hohen Al— ters und ihres Kunſtwerthes für den Alterthumsforſcher und Künſtler von großer Wichtigkeit, wegen des Reichthums an Edelſteinen mit denen ſie beſetzt ſind, aber auch für den Mineralogen von Intereſſe ſind. Die Kronen ruhen auf Kiſſen, welche auf beſonderen Piedeſtalen liegen, die Throne ſtehen an der Wand des Saales auf beſonderen Erhöhungen. Die Kronen ſind mit Diamanten, Rubinen, Sma— ragden, Türkiſſen und Perlen beſetzt; die größten Edelſteine befin— den ſich gewöhnlich auf der Spitze der Kronen unter dem Kreuze. Die älteſte Krone welche ſich in dem Schatze befindet iſt die, welche der griechiſche Kaiſer Alexius Comnenus im Jahre 1116 dem Groß— fürſten Wladimir Wonomachus nach Kiew ſandte, wo fie zur Krö— nung des Großfürſten diente. Die Maſſe von Koſtbarkeiten, die hier aufbewahrt wird, iſt außerordentlich und vielleicht die größte, die an irgend einem Orte geſammelt iſt, da ſie noch an Werth die Schätze des Jewel office im Tower von London übertreffen ſoll, die auf zwei Willionen Pfund Sterling geſchätzt werden.

Die Zahl der Thürme von Woskau iſt außerordentlich groß, da jede Kirche gewöhnlich deren mehrere und außerdem noch einen

*) Vergleiche Näheres bei K. Koch, Reiſe durch Rußland nach dem

kaukaſiſchen Iſthmus in den Jahren 1836, 1837 und 1838. Stuttgart und Tübingen, 1842.

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Glockenthurm hat“). Man zählt im Ganzen an 600 ſolcher Thürme. Sie haben wie die ruſſiſchen Kirchthürme überhaupt meiſtentheils ein eigenthümliches Anſehn, indem ſie gewöhnlich ſich in Spitzen endigen, die eine zwiebelförmige Erweiterung und auf derſelben ein Kreuz tragen. Dieſe zwiebelförmigen Erweiterungen ſind mit grün angeſtrichenem Eiſenblech oder Kupferblech gedeckt, bei der Kathe— drale des Kremls ſind ſie aber ſtark vergoldet und außerdem befin⸗ det ſich über denſelben noch ein nach oben gekehrter Halbmond, auf welchem dann erſt das Kreuz ſteht. Bei dieſem allgemeinen

) Ueber den Bauſtyl der ruſſiſchen Kirchen (deren Moskau nicht we⸗ niger als 400 beſitzt) bemerkt Haxthauſen: derſelbe iſt, wie Alles, was ſich auf den orientaliſch-katholiſchen Gottesdienſt bezieht, auf ziemlich feſtſtehende Normen eingeſchränkt, von denen man früher faſt nie abwich. Die älteren Kirchen in Rußland find daher ſehr gleichartig und haben etwas Monotones, wiewohl der Styl eigentlich einfach und edel iſt. Auf dem faſt viereckigen Schiff der Kirche ruht in der Mitte, von Säulen im Innern getragen, eine hohe Kuppel, die in den älteſten, z. B. bei der Kathedrale in Nowgorod, der Sophienkirche in Kiew, wahrſcheinlich nach dem Muſter der Sophienkirche in Konſtantinopel, im Innern der Kuppel einen die Welt ſegnenden Chriſtus in Fresko zeigt. Das Innere iſt durch die Ikonoſtafe, einer dünnen Wand, von oben bis unten mit Heiligenbildern geziert und, 3 Thüren enthaltend, in 2 Haupttheile getheilt, wovon der vordere dem Volke angehört, der hin⸗ tere, in 3 Theile getheilt, nur für die Prieſter beſtimmt iſt. Der mittlere Theil des letzteren enthält den freiſtehenden Altar. Neben der Kuppel ſtehen auf dem Schiff der Kirche wenigſtens noch 2 kleinere, in der Regel aber noch 4 kleine Kuppeln in jeder Ecke, ja es giebt Kirchen mit 13 Kuppeln. Das iſt nicht willkührlich, ſondern es hat eine ſomboliſche Bedeutung! Die 3 Kuppeln bedeuten die Dreieinigkeit, 5 Kuppeln Chriſtus mit den 4 Evangeliſten, end- lich 13 Kuppeln Chriſtus mit den 12 Apoſteln. Die Glocken hängen in der Regel in einem eignen, frei neben der Kirche ſtehenden Thurm, wo ein ſolcher nicht vorhanden iſt, in den Nebenkuppeln, die dann auch meiſt einen thurmartigen Ausbau haben, natürlich nie den der Hauptkuppel, da dieſe einen Theil des Innern der Kirche bildet. In den alten Kirchen giebt es eigent- lich im Schiff der Kirche keine Fenſter, nur hin und wieder findet ſich hinter dem Altare eins oder einige ſehr ſchmale. Das Licht fällt nur durch die Kuppel in's Innere. In allen ruſſiſchen Kirchen iſt daher ein magiſches Halbdunkel. Das Tageslicht iſt ſchwach, fie werden mehr durch die Wachs- lichter des Altars und der Ikonoſtaſe erleuchtet. Die neueren Kirchen Ruß- lands find im Aeußeren meiſt dem Style der Peterskirche in Rom ſich an⸗ nähernd erbaut.

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Ausſehen weichen die Formen der Thürme doch im Einzelnen ſehr von einander ab, wie dies beſonders bei der Kirche des Waſſili Blaſchenni (des ſeligen Baſilius) im Kitai⸗Gorod der Fall if, de ren Bedachung faſt aus lauter Kuppeln und Thürmen beſteht, die alle von einander verſchieden ſind, und durch die Sonderbarfeit der Formen in ihren bunten contraſtirenden Farben auffallen, aber bei alledem in hohem Grade Bewunderung und Intereſſe erregen.

Der Zar Iwan Waſſiljewitſch der Grauſame ließ dieſe Kirche im Jahre 1554 zum Andenken an die Eroberung Kaſans durch einen Italiener bauen. Als fie ſertig war, ſoll er den Baumeiſter gefragt haben, ob er ſich wohl getraue, den Plan zu einem noch wunderbarlicheren Gebäude zu entwerfen, und als dieſer in ſeiner Eitelkeit es dejahte, ihn haben blenden laſſen.

Ganz beſonders ſind es die vielen Thürme, welche Moskau ein ſo eigenthũmliches Anſehen geben. Sie find alle von Stein aufgeführt und größtentheils auf freien Plätzen gelegen, jo daß fie im Jahre 1812 von der Flamme nicht ergriffen wurden. Daher hat Moskau durch jenen Brand nichts oder wenig von jeiner nationalen Phy⸗ ſiognomie verloren, zumal da auch derjenige Theil des Kremls, welcher durch Napoleon geſprengt wurde, ganz in dem nämlichen Styl wie früher wieder aufgeführt iſt.

In neueſter Zeit iſt Mos kau überwiegend Fabrikſtadt gewor⸗ den). Die Zahl der Manufacturen beläuft ſich auf 151 mit 3500 Arbeitern, die der Fabriken auf 565 mit 40,000 Arbeitern, die der Handwerks beſtände auf 3897 mit 25,000 Arbeitern J. Un⸗ ter den Manufacturen befinden ſich 27 Leder⸗ und eben jo viele Seifen- und Lichter manufacturen, unter den Fabriken 78 Baumwol⸗ lenwebereien, 58 Färbereien, 49 Druckereien, 35 Webereien von Baumwollen⸗ und Wollenzeugen, 33 von Seiden⸗ und Halbſeiden waaren. Die Zahl der Einwohner beträgt, nach der Zählung von 1850, 373,300.

Moskau liegt unter 55° 46“ Br., alſo 4 10 ſũdlich und 7 18 öſtlich von Petersburg. Es hat eine abſolute Höhe von

) Bergleiche Harihanfen, Sb. 1, S. 88 f. * Nach den Moskauer Nachrichten; ſ. Auzlam, 1853, S. 96.

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67 Toiſen, wogegen ſich Petersburg nur 3 Toiſen über den Meer- resſpiegel erhebt. Frühling und Sommer ſind zu Moskau wärmer, Herbſt und Winter kälter als zu Petersburg, welches faſt ein Küſten— klima beſitzt, obgleich es gegen Weſten ein ſehr ſchmales Meer und gegen Oſten und Nordoften große mit Eis bedeckte Seen hat. Die größten Kältegrade in Moskau betrugen in den Jahren 1838, 1839 und 1841: 31.2 und 33.0%; dagegen ſank das Thermometer im Jahre 1840 bis auf 36. 9e herab. Die mittleren Jahres— wärme ſchwankte im Verlauf von 20 Jahren zwiſchen 3. 1 und + 5.5, aber die Mittel des Januars ſchwankten zwiſchen 4.6 und 17.0%. Die höchſte Wärme des Jahres ſteigt oft bis 324° und 34°. Das Medium des Juli, des wärmſten Monats im Jahre, ſchwankte in 20 Jahren von 16.0 bis 22. 6%.

In der zoologifchen Sammlung zu Woskau befindet ſich ein großes Exemplar eines Tigers, das dadurch an Intereſſe gewinnt, daß er in Sibirien erlegt iſt, bis wohin ſich zuweilen die Tiger aus dem Süden verirren. Die Umgegend von Moskau iſt ſehr reich an mannigfaltigen und ſchönen Verſteinerungen.

Da unſere Reiſenden auf ihrer Rückkehr Woskau noch einmal paſſiren mußten, ſo war es ihre Abſicht jetzt nur ſo kurze Zeit als möglich dort zu bleiben, um keine Zeit zu Unterſuchungen zu ver— lieren, für welche die gute Jahreszeit unumgänglich nothwendig war; dennoch mußten ſie noch etwas länger verweilen, da ſie un— möglich der dringenden Einladung des Etatsraths von Fiſcher und des Profeſſor Loder, beide Humboldt's Jugendfreunde, ſowie denen noch vieler Anderen widerſtehen konnten. Sie wurden am 26. Mai durch die ganze Univerſität geführt, um deren Einrichtung einzeln

*) Während der großen Hitze, welche im Jahre 1842 v. 6. bis 19. Auguſt herrſchte, ſtieg das Thermometer auch auf der Pariſer Sternwarte nur auf 34. 80 (27. 9 R.) und zu Berlin nur auf 32.70 (26.20 R.). Faſt zur ſelben Zeit hat Herr v. Orlich im Verlauf von 36 Tagen auf der Reiſe von England nach Bombay das Thermometer ebenfalls in der Wüſte zwi— ſchen Alexandria und Suez, ſowie auf dem rothen Meere zwiſchen Suez und Aden nicht höher als 32. 6 und 33.70 und ein einziges Mal auf 35. 60 (28. 50 R.) ſteigen ſehen. (Humboldt, Centralaſien II. S. 59 ff.: Er- läuterungen über das Klima von Rußland).

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kennen zu lernen, und wohnten am 27. einem Gaſtmahle bei, welches die Witglieder der Univerſität veranſtaltet hatten, und dem die vor— nehmſten durch Kenntniſſe und Bildung ausgezeichnetſten Einwohner der alten Kaiſerſtadt beiwohnten.

Am Worgen des 28. Wai verließen unſere Reiſenden Woskau und ſetzten ihre Fahrt nach dem Ural fort. Sie fanden die nächſte Umgebung von Woskau nicht gerade romantiſch, doch recht angenehm. Die Landſchaft iſt ſehr bebaut, Ackerfelder wechſeln mit kleinen Wäl— dern ab und jene prangten jetzt mit dem erſten Grün des Jahres. Bald aber wird die Gegend ſumpfig und fandig und der Weg ſchlechter. Die ſumpfigen Gegenden, die oft große Strecken einneh— men, ſind mit Bohlendämme belegt, die zwar, ſo lange ſie neu ſind, wenn auch mit außerordentlicher Holzverſchwendung, die vortrefflich— ſten Straßen bilden; haben ſie aber erſt einige Zeit gedient und ſind ſie nicht unaufhörlich ausgebeſſert worden, wie dies gewöhnlich nicht der Fall iſt, ſo werden ſie bald eben ſo ſchlecht als ſie im An— fang vortrefflich waren. Die Straße iſt zum Theil mit Birken bepflanzt.

Am Mittage kamen fie durch eine kleine Stadt Bogorodsk, die nicht viel anders als ein großes Dorf ausſieht, denn einige ſtei— nerne Gebäude ausgenommen, die zum Theil aus einem poröſen Kalkſtein gebaut ſind, beſteht ſie ganz aus hölzernen Häuſern und hat auch vollkommen das einförmige traurige Anſehen der daſigen Dörfer. Die Reiſenden unterſuchten einige Brunnen des Orts, um aus der Temperatur des darin befindlichen Waſſers eine ungefähre Kenntniß von der mittleren Temperatur des Bodens zu erhalten; allein der milden Witterung ungeachtet, enthielten die Brunnen noch ſämmtlich Eis.

Hinter Bogorodsk ſetzten fie über die Kläsma, an deren linken Ufer in mehr oder weniger großen Entfernung der Weg nun bis Wladimir entlang geht.

Sie erreichten dieſe Stadt erſt am Mittage des 29. Wai, da fie wegen der ſchlechten Wege es vorgezogen hatten, die Nacht über in dem kleinen Städtchen Pokrow zu bleiben, wo ſie im Poſthauſe reinliche aber leere Zimmer fanden, und ſich, fo gut es ging, behel- ſen mußten. Wladimir liegt auf dem linken Ufer der Kläsma, das

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hier von einigen Anhöhen gebildet wird, während ſich das rechte in eine große weite Wieſe ausbreitet. Die vielen Thürme von dem verſchiedenartigſten Ausſehen, meiſt weiß mit grünen Kuppeln, geben der Stadt von fern ein maleriſches Anſehn. Sie iſt noch jetzt von Bedeutung, obwohl lange nicht mehr von der Größe und dem Glanze wie früher als fie noch der Hauptſitz der Großfürſten war 5).

Die Wege waren jetzt etwas beſſer geworden und verſtatteten es daher auch die Nacht zur Fortſetzung der Reiſe zu benutzen. Auf dieſe Weiſe erreichte man ſchon am Morgen des 30. Wai die Stadt Murom und mit ihr auch die Oka. Die Stadt liegt an dem lin— ken oder nördlichen hohen Ufer dieſes beträchtlichſten Zufluſſes der Wolga von ihrer rechten Seite. Wit ihren vielen Kirchen, Klöſtern und Thürmen gewährt ſie von fern einen eben ſo maleriſchen An— blick wie Wladimir; näher betrachtet aber iſt ſie mit dieſer Stadt durchaus nicht zu vergleichen, da ſie meiſt nur aus mache hölzernen Häuſern beſteht.

Bei Murom muß man über die Oka ſetzen, die, ſchon im Som— mer ein bedeutender Strom, jetzt durch das Schneewaſſer zu einer außerordentlichen Breite angewachſen war und das rechte Ufer weit und breit überſchwemmt hatte. Dieſer hohe Waſſerſtand erſchwerte den Uebergang ungemein und ließ die Reiſenden den ganzen Tag damit zubringen. Sie mußten zuerſt nach einem 2 Werſte unterhalb Murom's gelegenen Dorfe fahren, und hier wurden ihre Wagen und Pferde auf zwei große Kähne geladen, mit denen ſie nach fünfſtün— digem Rudern das jenſeitige Ufer erreichten. Bei mehreren Inſeln, oder ſeichten Stellen, an denen ſie vorbei fuhren, ſprangen die Boots— leute in's Waſſer und zogen, an den Rändern der Inſeln entlang, gehend, oder in den Untiefen watend, die Kähne weiter. Aber ſelbſt nach ihrer Ankunft am jenſeitigen Ufer hatten ſie noch mancherlei Aufenthalt, da ſie mittelſt Fähren, die nur einſtweilen für den hohen Waſſerſtand eingerichtet waren, mehrmals über kleine Arme oder Zuflüſſe der Oka ſetzen mußten, jo daß fie erſt um 7 Uhr in Ma⸗

) Wladimir war bis zum J. 1328 die Reſidenz der Großfürſten und die Hauptſtadt von ganz Rußland. Die Zahl der Einwohner beläuft ſich, nach der Zählung von 1849, auf 13,405. ö

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nakowa, der nächſten Station von Wurom, anlangten, die im Som— mer bei gewöhnlichem Waſſerſtande und auf dem gewöhnlichen Wege nur 304 Werſte von dieſem Orte entfernt iſt. Das Wetter war übrigens den Tag hindurch ſehr heiter und die Temperatur der Luft am Vormittage 17 5 R., die des Waſſers 14. 5 ge weſen. Auf dem Waſſer hatten ſie noch eine vortreffliche Ausſicht auf die Stadt Murom gehabt; um ſo ſchlechter nahmen ſich dage— gen die am linken Ufer gelegenen Dörfer aus, die hinter einem Walle von Dünger kaum ſichtbar waren. Die Bauern fahren näm— lich denſelben nicht auf ihre Felder, die auch ohne ihn einen reich— lichen Ertrag liefern, ſondern werfen ihn als Damm gegen das Waſſer hinter ihre Häuſer. Dieſelbe Sitte fanden die Reiſenden ſpäter in allen Dörfern Rußlands und Sibiriens, die an Flüſſen oder kleinen Bächen liegen; fie iſt aber eben fo ſchädlich als unan— genehm, da die Düngerwälle nicht allein einen widrigen Anblick ge— währen, ſondern auch im Sommer eine ſo große Menge von Un— geziefer erzeugen, daß man daran gewöhnt ſein muß, um es zu die— ſer Zeit in Dörfern auszuhalten.

Wan fuhr die Nacht hindurch. Die Straße iſt groß und breit, doch ſandig und zu beiden Seiten mit Birken-Alleen bepflanzt. Sie geht an dem rechten Ufer der Oka in mehr oder weniger großer Entfernung entlang und erlaubt nicht ſelten ſchöne Blicke auf das linke Ufer, das die Reiſenden ſchon am Worgen des 31. ganz nie— drig erblickten, während ſich das rechte immer mehr erhoben hatte, um ſich den Höhen an der Wolga anzuſchließen, die gleichfalls auf dem rechten Ufer derſelben liegen.

Kurze Zeit vor Niſchni-Nowgorod erblickten fie die Wolga, die jetzt im Frühjahr bei dem hohen Waſſerſtande einen äußerſt im⸗ poſanten Anblick gewährte. Niſchni-Vowgorod liegt auf den Höhen an der Vereinigung der Oka mit der Wolga am rechten Ufer beider Ströme und in dem etwas ſpitzen Winkel, welchen ſie auf dieſer Seite mit einander bilden. Die Stadt (die im Jahre 1849 30,710 Einwohner zählte), iſt von anſehnlicher Größe, hat Kirchen, Häuſer und Gärten in buntem Gemiſch durcheinander und gleich den älteſten größeren Städten Rußlands, den alten Regentenſitzen, einen Kreml, ein befeſtigtes, auf einer dominirenden Anhöhe liegen⸗

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des Schloß, das eine ftarfe mit dicken, runden Thürmen verfehene Mauer umgiebt. Von dieſer herab genießt man eine weite Ausſicht auf die niedrigen linken Ufer der Ströme und überblickt auch die neue Jahrmarktsſtadt, deren Erbauung 11 Willionen Rubel gekoſtet haben ſoll und in welcher alljährlich die große Weſſe abgehalten wird, die früher 11 Weilen weiter öſtlich beim Kloſter Makariew ſtattfand, doch nach dem Brande deſſelben im Jahre 1817 hierher verlegt wurde. Die Warktſtadt liegt auf einer niedrigen Erdzunge, die von der linken Seite der Oka und der rechten Seite der Wolga beſpült wird, dem oberen, etwa 350 Fuß über dem Waſſerſpiegel erhabenen Stadttheile gegenüber. Sie war jetzt, wie immer im Frühjahr beim hohen Waſſerſtande der Flüſſe, unter Waſſer geſetzt und daher unzugänglich.

Niſchni-VNowgorod hat ein großes, geſchichtliches Intereſſe, daran erinnern nicht nur ihre alten ſtarken Mauern, die von dem Großfürſten Waſſili Iwannowitſch im Jahre 1508 zum Schutze gegen die Einfälle der Tataren ſehr verſtärkt wurden, ſondern gleich— falls ein 75 Fuß hoher Obelisk von finniſchem Granit. Man er- richtete denſelben auf einem Platze in der Nähe der Wolga dem Andenken Winin's und Poſcharski's, die von hier aus im Jahre 1611 die Befreiung Rußlands von der polniſchen Herrſchaft erkämpften.

In neuerer Zeit iſt Nifchni-Nowgorod am bekannteſten durch jene weltberühmte Meſſe geworden. Dieſelbe beginnt etwa in der zweiten Hälfte des Julimonats und dauert bis zum Ende des Au— guft oder auch wohl in den September hinein. Sie iſt der Mit- telpunkt des Landhandelverkehrs zwiſchen Aſien und Europa, wenig— ſtens auf der ganzen Strecke zwiſchen dem kaspiſchen Meere und dem Eismeere, insbeſondere auch an dem Durchgangspunkte für die zu Kiachta von ruſſiſchen Kaufleuten eingetauſchten chineſiſchen Waa— ren (unter denen der Thee den Hauptartikel ausmacht), welche hier— her geführt werden und von hier aus ſich über das ganze euro- päiſche Rußland verbreiten, ſowie andererſeits für diejenigen rufft- ſchen Waoren, welche nach Kiachta für China zum Austauſch gegen jene geführt werden, unter welchen tuchene und baumwollene Zeuge (namentlich Plüſche) und Pelzwerk die wichtigſten Artikel ſind. Man hat die Zahl der Menſchen, welche ſich während der Dauer der Weſſe

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daſelbſt einfinden, zu Zeiten auf mehrere Hunderttauſend geſchätzt, eine Angabe, die wohl übertrieben ſein möchte; überhaupt aber iſt eine einigermaßen richtige Schätzung in einem ſo weiten Umfange, bei der ab⸗ und zuſtrömenden und durch einander wogenden Wenge ſehr ſchwierig. Ein Reiſender “), welcher die Meſſe im Jahre 1843 beſuchte, entwirft folgende Schilderung derſelben:

Die in der Richtung der Okabrücke fortlaufende große Buden— ſtraße bietet mit ihren Umgebungen den Anblick eines großen Kram— und Trödelmarktes dar. Hier drängt ſich hauptſächlich die Wen— ſchenmenge, beſonders das Bauernvolk, zuſammen. Kleider und ſonſtige zum Hausbedarf und zum Schmucke dienende Sachen mans cherlei Art ſieht man hier ausgeſtellt, und hat Gelegenheit, die Ge— wandtheit und Zungenfertigkeit der Verkäufer zu bewundern. Einige Buden erregen beſonders die Auſmerkſamkeit der vorübergehenden Bauernweiber durch die ausgelegten alten und neuen Frauenkleider, z. B. glänzende Duſchagraiken von rothſeidenem Stoffe, mit Pelz— werk, ſilbernen Frangen u. dgl. verbrämt, wie man ſie bei wohlha— benden Bauerfrauen ſieht. Andere Buden ziehen die Männer an, z. B. Hutläden, wo die Filzhüte von der bei den ruſſiſchen Bauern wöhnlichen Form, rund mit ſchmalem Rande, vielleicht ſchon ſehr abgetragen, aber ſo eben neu geſchwärzt, ausgeboten werden. Dem Bauernburſchen, der einen Hut zur Probe aufſetzt, wird ein Spie— gel vorgehalten, in welchen er ſelbſtgefällig hineinſieht. Auf einer Stelle ſtehen unter freiem Himmel Tataren als Verkäufer von Schaf— pelzen, die fie auf der bloßen Erde liegen haben, das unentbehrlichſte Kleidungsſtück des ruſſiſchen Bauern. Trotz der brennenden Sonne zieht oſt ein ſolcher Verkäufer einen Pelz an und macht darin ver— ſchiedene Bewegungen, um ihn den Kaufluſtigen in ſeiner ganzen Vollſtändigkeit und Schönheit zu zeigen. Es verſteht ſich, daß unter den ausgeſtellten Produkten ruſſiſcher Induſtrie Metallſachen, von Meſſing, Zinn, Eiſen und Stahl, wie ſie in Tula und Paulowa

*) Dr. Koſegarten, der Reiſegefährte des Freiherrn von Haxthauſen; ſ. des letzteren Studien über Rußland Th. 1, S. 420 ff. Eine ausführliche Beſchreibung findet ſich auch in Engelhardt's ruſſiſchen Miscellen, Bd. 4, vergl. außerdem das „Ausland“ 1836. S. 1123 ff.

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verfertigt werden, als Sfamowaare, Leuchter, Schlöſſer, Meffer u. f. w. eine der bedeutendſten Stellen einnehmen. Von groben Leinen wer— den viele Tauſende von Arſchinen an Bauern verkauft. Hölzerne Geräthſchaften, ferner Kachelöfen, auch Thurmglocken liefert Viſchni— Nowgorod ſelbſt oder die Umgegend, Leder vorzüglich Kaſan. Aber eine Reihe von Buden fällt dem Beſchauer auf, welche lauter, höl— zerne, bunt bemalte, mit Weiß- und Schwarzblech beſchlagene Kaſten, zur Aufbewahrung von Sachen, auch als Reiſekoffer brauchbar, ent— halten, die, wie mir geſagt wurde, in Dörfern verfertigt werden. Ein ſolcher Kaſten, etwa 4 Fuß lang, über 1 Fuß breit, ward für 2 Rubel Silber verkauft. Es waren auf der Weſſe für 20,000 R. Silber dergleichen Koffer und Kaſten vorräthig, die faſt alle ver— kauft wurden.

In einer anderen Budenreihe fanden ſich Weine des Inlands, nämlich doniſche (Sudak und andere Sorten, gewöhnlich halber Champagner genannt) und kaukaſiſche, namentlich von Kisljar kom— mend. Auch die Seife fehlt nicht unter den ruſſiſchen Produkten.

Artikel anderer Art, Gegenſtände des Großhandels, ſah man befonders in der Nähe der Flußufer unter freiem Himmel oder unter Schutzdächern in großen Maſſen gelagert; fo an einheimiſchen Pro— dukten Rindshäute, ferner Pottaſche, die meiſtens von Orenburg und Kaſan kommt, Räderfelgen von Wjatka und anderen Gegenden, Baſtmatten, das Produkt der Lindenwälder von Koſtroma; aber die wichtigſten, hierher gehörigen Artikel ſind wohl Eiſen und Kupfer, welche am Strande der Oka lagern. Die Reihen der Eiſenlager und der dazu gehörigen kleinen Buden, in welchen ſich die Verkäufer aufhalten, nehmen eine Länge von ungefähr tauſend Schritten ein. Wir finden hier das Eiſen in den verſchiedenen Formen, die ihm durch die Arbeiten der erſten Hand in den Eiſenhütten des Urals und der anderen an dieſem Produkt ergiebigen Gegenden Rußlands gegeben werden als Stangen, Schienen, Bänder, Reifen, Platten, (womit in ruſſiſchen Städten die Häuſer gedeckt werden) u. dergl.; auch Stahl, ſowie Gußeiſen in Formen von Schalen, Töpfen, Oefen, Thüren u. dergl.

Die Zufuhr von Eiſen auf dem Warkt betrug in dieſem Jahre (1843) 3,500,000 Pud außer dem Gußeiſen, welches 150,000 Pud

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betrug. Das Eiſen vertheilt ſich von hier über ganz Rußland. Unter den Kaufleuten, welche mit dieſen Artikeln zur Weſſe gekom— men waren, befand ſich ein ehemaliger Leibeigener des Grafen Sche— remetjew, der 4 bis 5 Millionen Rubel im Vermögen haben ſoll “). Daneben lagerten 48,000 Pud Kupfer, größtentheils aus den De— midow'ſchen Hüttenwerken in der Gegend von Katharinenburg her— rührend. Wir hörten hier im Vorbeigehen von einem ſo eben ab— geſchloſſenen Handel in Kupfer zum Betrage von 1,200,000 Rubeln. Unter den ausländiſchen Waaren bemerken wir vor allen anderen die ungeheuren Theelager, am Strande der Wolga. Es ſind in dieſem Jahre 30,000 Kiſten Thee, außer 9000 Kiſten Ziegelthee, auf den Warkt geführt, beträchtlich weniger, als im vorhergehenden, da damals ein bedeutender Theil unverkauft blieb. Unter manchen anderen Gegenſtänden war mir die rohe Baumwolle merkwürdig, welche von Bucharen über Aſtrachan herbeigeführt wird, und zum Theil aus Chiwa kommen, zum Theil aber auch indiſchen Urſprungs ſein ſoll, wie das gelbliche Palmholz, welches in Stücken oder Blöcken ausgelegt iſt und zu Tiſchlerarbeiten verwandt wird.

Die ganze Gegend des Warktes, von welcher bisher die Rede war, kann man die äußere nennen. Es befanden ſich daſelbſt in dieſem Jahre 2333 hölzerne Buden oder Baracken, größtentheils als Waarenläden oder Waarenbehälten, theilweiſe auch zu anderen Zwecken dienend. Es würde viel zu weitläuftig ſein, alle vor— kommenden Waaren zu erwähnen. Wir gehen vielmehr zu dem— jenigen Theil des Marktes über, welchem man feiner Lage nach den inneren nennen kann. Dies iſt der ſteinerne Bazar in Geſtalt eines großen Parallelogramms, beſtehend aus 2521 ſteinernen, auf Pfahlwerk erbauten Buden in 60 Abtheilungen, auf drei Seiten von einem Kanal, in Form einer langen Ellipſe umgeben, den man gegraben hat, während man den von ihm eingeſchloſſenen Platz be— trächtlich erhöhte, um ihn den Ueberſchwemmungen zu entheben,

*) Unter Rubeln ohne den Zuſatz Silber, werden immer Papierrubel verſtanden. Ein ſolcher Rubel iſt beinahe 10 Sgr. preuß. Cour. gleich und verhält ſich zum Silberrubel ( 100 Kopeken Kupfer) wie 2 zu 7. Zum letzteren verhält ſich ein preußiſcher Thaler wie 91 zu 100; noch genauer wird der Werth des Thalers zu 914 Kopeken angegeben.

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ein koſtſpieliges, aber großartiges Werk. Im Hintergrunde iſt eine ſtattliche, griechiſche Kirche und an der Vorderſeite bildet der Regierungspalaſt, in welchem während der Mefje der Gouverneur, der Warktdirector und die Polizeibehörde reſidiren, wie ſich denn auch die Poſt und das Comptoir der Commerzbank dort befinden mit den an den anderen Seiten angebauten Buden einen großen viereckigen Platz. Vier über den Kanal führende Brücken dienen zur leichteren Verbindung dieſes Theils mit den anderen Gegenden des Marktes. Hier findet man hauptſächlich Manufacturprodukte und andere werthvolle Waaren, namentlich die Budenreihen der moskowitiſchen Tücher, der ruſſiſchen und ausländiſchen Baumwol— len- und Seidenzeuge, der perſiſchen Seidenwaaren, der ſibiriſchen, aſtrachaniſchen, buchariſchen und anderen Rauchwaaren und vieles andere. Eine Reihe von Buden heißt die chineſiſche von der Form der Buden; Chineſen hier zu ſehen, würde man aber vergeblich hoffen, da in der Regel kein Chineſe ſein Vaterland verlaſſen darf. Es finden ſich in dieſen Buden theils ruſſiſche Theehändler, theils Fabrikanten und Kaufleute verſchiedener Nationen aus Petersburg und anderen ruſſiſchen Städten, namentlich auch deutſche, z. B. Wo⸗ bilienhändler, Uhrenhändler u. dergl. In dem ganzen ſteinernen Bazar iſt wenig Wenſchengedränge: es geht dort, im Vergleich mit den anderen Gegenden des Warkts, ziemlich ſtill zu. Die Kauflente in ihren verſchiedenen nationalen Trachten (man ſieht insbeſondere außer dem national-ruſſiſchen und den modernen europäifchen Co= ſtüme, tatariſche, armeniſche und etwa perſiſche, ſeltener türkiſche Tracht) ſitzen häufig ruhig vor ihren Buden und man bemerkt mei— ſtens nur einzelne Verkehrende und Unterhandelnde. Es iſt dies nämlich die Region der größeren Handelsgeſchäfte; über Tauſende und Hunderttauſende von Rubeln wird hier in wenig Worten verfügt.

Neben der griechiſchen Kirche, jedoch außerhalb des erwähnten Kanals, befindet ſich auf der einen Seite ein armeniſches Glocken haus, auf der andern eine tatariſche Woſchee. So iſt für die geiſtlichen Bedürfniſſe der großen Mehrzahl der Warktbeſucher ge— ſorgt. Eben ſo wenig fehlt es an der Fürſorge für die leiblichen Bedürfniſſe. Die Apotheker von Niſchni-Nowgorod haben ihre Buden auf dem Warkte, hauptſächlich freilich wohl deshalb, weil

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ihre aus Sibirien kommenden Beſtellungen von Arzneiwaaren viel zu thun machen (es war ſogar aus Irkutsk ein Apotheker, der mit ihnen verkehrte, anweſend). Schenken und Speiſebuden giebt es natürlicherweiſe genug. Die letzteren, ſo viele davon für das gemeine Volk beſtimmt ſind, laſſen den Vorübergehenden ziemlich weit in ihr Inneres blicken: man ſieht Fiſche, Pilze, Gurken, auch Kartoffeln und Anderes mehr zubereiten. Aber auch elegante Re— ſtaurationen für die Vornehmen finden ſich an verſchiedenen Stel— len des Warktes, wo freilich die ruſſiſche Küche, namentlich der Gebrauch des Oels ſtatt der Butter, dem nichtruſſiſchen Gaumen nicht in allen Stücken zuſagt, wie denn auch die ruſſiſchen Speiſe— karten wegen der ſchwierigen Handſchrift, ungeachtet mancher deut— ſchen Speiſenamen, den Fremden geniren; aber eine große Anzahl höflicher Kellner in der bei den Ruſſen gewöhnlichen Tracht dieſer Klaſſe, nämlich in ziemlich feinen weißen Oberhemden oder Kitteln, zeigt ſich ſehr bereit, alle Wünſche der Gäſte zu erfüllen, auch ſie, wenn ſie es verlangen, zum Nachtiſche mit angezündeten und an— gerauchten langen Pfeifen zu verſorgen. Ruſſiſche Weiſe herrſcht in allen dieſen Lokalen; auch das an einer Kette hängende Waſch— gefäß am Eingange, wie es die ruſſiſche Sitte fordert, ſehlt nicht. Für die Kleidung iſt durch Schneiderbuden geſorgt, in denen man hin und wieder auch deutſche Meifter und Geſellen antrifft. Auch die gewöhnlichen Vergnügungen kann man auf dem Warkt— platz finden. Es giebt da nicht allein Poſſenreißer, Carouſſels, wandernde Muſikvirtuoſen, ſondern auch ein ordentliches ruſſiſches Schauſpiel in einem anſehnlichen, doch, wenn ich nicht irre, nur von Holz aufgeführten Gebäude. Ein eleganter Concert- und Ball: ſaal befindet ſich in dem erwähnten Regierungsgebäude, ward aber während meines Aufenthalts nur einmal benutzt, nämlich durch ein von dem ausgezeichneten Violoncellſpieler Schubert aus Petersburg veranſtaltetes Concert, was aber nur wenig Zuſpruch fand. Was die zeichnenden Künſte betrifft, fo gab es einige Buden mit Kupfer: ſtichen und Bildern, die aber wohl nur wenig Anſpruch auf Kunſt— werth machen konnten. Ein Daguerrotypiſt hatte ſich auch einge— funden und bot ſeine Dienſte (ich weiß nicht ob mit Erfolg) an.

Was die Hülfsgeſchäfte des Handels auf der Weſſe betrifft,

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fo giebt es dort keine beeidigten Makler, fondern nur etwa Com— miſſionaire oder Vermittler, die als Privatperſonen das Zutrauen der Kaufleute beſitzen. Es giebt einen ſolchen, der allgemein ſchon bekannt iſt, und zwar armeniſcher Nation; außerdem aber Votare, die namentlich die von der Commerzbank zu discontirenden Wechſel beglaubigen, welche ausgeſtellt werden, wenn (wie es bei den Ge: ſchäften des Großhandels theilweiſe der gewöhnliche Fall iſt) auf Zeit gekauſt wird*). Sie haben ebenfalls ihre Buden auf dem Markte. Der Waarentransport geſchieht nicht blos zu Waſſer, ſondern auch großentheils zu Lande; daher die große Wenge der Wagen und Pferde, die in langen Reihen ſeitwärts vom Markte halten. Auch die mit Ochſen beſpannten Wagen der Kleinruſſen fehlen nicht. An und auf den beiden Flüſſen herrſcht natürlicher— weiſe große Lebendigkeit. Sie ſind in der Gegend des Warktes mit mannichfach geſtalteten Barken bedeckt. Wit Aus- und Einla⸗ den der Waaren ſieht man viele Wenſchen beſchäftigt. Einige Ar— tikel, wie z. B. Talg, werden auch auf den Schiffen verkauft. Es giebt eigene Beſchreibungen der verſchiedenen Arten von Barken, insbeſondere derer, welche die Wolga befahren. Wanche derſelben zeichnen ſich durch ihre bunten Verzierungen, beſonders am Spiegel oder der Hinterſeite, aus. Die Verdecke einiger haben die Geſtalt von Häuſern oder Pavillons mit Gallerien und dergleichen. Andre ſind einfache, ganz flache, ſehr lange und breite Kähne ohne alles Verdeck. Auch das Dampfſchiff ſah ich, welches regelmäßige Fahrten nach Aſtrachan macht.

Ungeachtet der großen Volksmenge ſcheinen wenig Störungen der Ordnung vorzukommen. Ein beſonderes Warktgericht giebt es nicht. Kleine Streitfragen werden nach der allgemeinen ruſſiſchen Einrichtung von dem mündlichen Gerichte geſchlichtet, welches der Polizeibehörde einverleibt iſt. Die zur Erhaltung der Ordnung auf dem Warktplatze ſtationirte Koſakenwache ſcheint eben fo gut ihre Beſtimmungen zu erfüllen, wie man es von der früheren Kal—

*) Es werden Wechſel auf die Meſſe von Irbit (in Sibirien), die um ein halbes Jahr ſpäter fällt, oder auf die folgenden Meſſen von Niſchni— Nowgorod, alſo auf ein Jahr ausgeſtellt, von der Commerzbank, wenn die vorgeſchriebenen Bedingungen vorhanden ſind, discontirt.

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mückenwache gerühmt hat. Aber ich habe nur einmal (ungeachtet ich faſt zwei Wochen hindurch täglich den Markt beſuchte), bemerkt, daß ſie thätlich einſchritt, und auch dieſer Vorfall ſchien nur unbe— deutend; ſo viel ich mich erinnere, war es nur ein Schlag, den der Koſak mit feiner Peitſche austheilte. Der gutmüthige und fanfte Charakter des großruſſiſchen Volks zeigte ſich mir auch auf dieſer Meſſe in einzelnen auffallenden Zügen. Ich ſah, wie dem Bettler ſelbſt von dem ganz geringen und vielleicht nur auf der nächſten Stufe über der eigentlichen Armuth ſtehenden Manne ein Almoſen geſpendet ward.

Für die Wichtigkeit der Meſſe geben folgende Zahlen einen Maaßſtab: Im Jahre 1852 betrug die Waarenanfuhr 65,038,469 R. S. und der Waarenabſatz 57,808,915 R. S. Im Jahre 1855 ſtieg der Abſatz bis auf 63,784,795 R. S.

In Niſchni⸗Vowgorod trafen die Reiſenden mit dem Grafen Polier zuſammen, der ſich von nun an ihnen anſchloß, da er eben— falls nach dem Ural reiſte, um die Güter ſeiner Gemahlin, einer geborenen Fürſtin Schachowskoi zu beſuchen. Er war Humboldt ſchon bei ſeinem früheren Aufenthalt in Paris bekannt geworden, und das Zuſammentreffen wurde ſchon in Petersburg verabredet, welches der Graf nur kurze Zeit vor unſern Reiſenden verlaſſen hatte. In ſeiner Begleitung befanden ſich ein Herr Schmidt aus Weimar, den der Graf zum Verwalter ſeiner Güter beſtimmt hatte, Dr. Göthe und Herr Wehring. Die Reiſegeſellſchaft hatte alſo einen bedeutenden Zuwachs erhalten.

Graf Polier) hatte ſich in Niſchni-Vowgorod eine Barke ge— miethet, um die weitere, 380 Werſte lange Reiſe nach Kaſan auf der Wolga angenehmer und bequemer als zu Lande zurückzulegen. Humboldt und ſeine Reiſegefährten folgten dieſem Beiſpiel um ſo lieber, als der Landweg nach Kaſan nichts Intereſſantes verſprach und ſie auf jene Weiſe Gelegenheit hatten, Rußlands wichtigſten Strom in ſeiner ganzen Größe und Wächtigkeit kennen zu lernen.

*) Graf Polier, der in hohem Grade hektiſch war, ſtarb bald nach Humboldt's Rückkehr. Wenige Jahre nachher ſtarb auch Hr. Schmidt, der auf den Gütern des Grafen im Ural zurückgeblieben war.

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Ihre drei Wagen wurden auf ein anderes großes Boot gebracht, in der Mitte deſſelben wurden aus einigen Brettern ein Tiſch und zwei Bänke gezimmert, über welche man zum Schutze gegen die Sonne ein Segeltuch ſpannte, und auf dem Hintertheil wurde aus Mauerſteinen ein kleiner Ofen zum Kochen errichtet. Der Bedarf an ſolchen Lebensmitteln, die in den am Strome liegenden Dörfern nicht zu bekommen waren, wurde mitgenommen, und um aus letz— tern, was man brauchte, holen zu können, wurde noch ein kleinerer Kahn an das Boot gebunden. Die ganze Bemannung des Bootes beſtand außer dem Steuermann noch aus acht Ruderern, von denen je die Hälſte ſich im Dienſt abwechſeln ſollte.

So ausgerüſtet verließ man Niſchni-Nowgorod am 1. Juni Vormittags um 11 Uhr. Das Wetter war das heiterſte von der Welt und trug nicht wenig zur Annehmlichkeit der Fahrt bei; nur der Wind war nicht günſtig, ſo daß man weder jetzt noch ſpäter die Segel gebrauchen konnte, ſondern ſich ſtets der Ruder bedienen mußte; doch ging es ſtromabwärts und deshalb noch ziemlich ſchnell. Ruhig und behaglich konnte man ſo, im Boote ſitzend, ohne von den Bohlendämmen zu leiden, die Ufer vorüberziehen ſehen und ſich der Fahrt erfreuen.

Das Boot fuhr meiſtens in der Nähe des rechten Ufers ent— lang, das in der Wolga bedeutend hoch iſt und theils ſchroffe Wände, theils mehr geneigte Abhänge bildet, während das linke dagegen in eine weite flache Niederung ausläuft. Dieſelbe erhebt ſich erſt in großer Entfernung zu einem höheren Plateau, deſſen Ränder wahrſcheinlich in früherer Zeit bei höherem Waſſerſtande der Wolga das linke Ufer gebildet haben.

Die Abhänge des rechten Ufers ſind mit der ſchönſten Vege— tation bedeckt, und in den Schluchten derſelben liegen Dörfer mit ſchönen Kirchen, welche die Landſchaft beleben. Beſonders üppig erſcheint die Vegetation auf den Inſeln, die nicht ſelten von der Wolga umſchloſſen ſind und, mit Eichen und Schwarzpappeln be— wachſen, einen romantiſchen Anblick gewähren. Auch an dem linken Ufer wechſeln Wieſen, niederes Geſträuch und höhere Waldungen mit Dörfern ab; doch waren bei der Breite des Stroms die Gegen— Hände hier nicht mehr deutlich zu erkennen. Ein eben fo unter⸗

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haltendes Schauſpiel wie die Ufer gewährte der Strom ſelbſt, auf welchem ſich die großen Wolgaſchiffe drängten, die, den günſtigen Wind benutzend, mit vollen Segeln ſtromaufwärts fuhren, um die Produkte des ſüdlichen Rußlands nach Petersburg zu führen, wäh— rend in kleinen Kähnen Fiſcher überall beſchäftigt waren, ihrem Gewerbe nachzugehen und um geringen Preis die trefflichſten in Petersburg ſo hoch geſchätzten Sterledde lieferten.

Die durch das Frühlingswaſſer angeſchwollene Wolga breitete ſich nach Beſchaffenheit des linken Ufers bald mehr, bald weniger weit aus. An einer Stelle, wo ſie nach der Verſicherung des Steuermanns eine für die jetzige Jahreszeit mittlere Breite hatte, wurde die Breite des Stroms gemeſſen; das rechte Ufer bildete hier eine Terraſſe, nach welcher es ſich erſt zu ſeiner gewöhnlichen Höhe erhob; dieſe Terraſſe war ziemlich eben; auf ihr wurde mittelſt der Weßkette eine Baſis gemeſſen, die mit einem am jenſeitigen Ufer ſtehenden Baume ein Dreieck bildete. Humboldt beſtimmte darauf mittelſt eines Sextanten die beiden Winkel an der Baſis, woraus ſich die Breite des Stroms zu 5240, 7 Fuß ergab. Die Weſſung geſchah am Wittag des dritten Tages, alſo in einer Entfernung von ungefähr 100 Werſten von Kaſan. Die mittlere Höhe des ſteilen Ufers der Wolga mag wohl einige hundert Fuß betragen.

Am 4. Juni 4 Uhr Worgens waren fie die Kaſanka, an wel— cher Kaſan liegt, hinaufgeſchifft und bei der Stadt angekommen. Sie verweilten noch einige Stunden, bevor ſie landeten, im Boote, um den Tag abzuwarten, und wurden dann vom Grafen Polier bewillkommt, der ſchon einige Stunden vorher mit ſeinem Boote angekommen war. Sie fanden in dem Lokal der adeligen Geſell— ſchaft ein vortreffliches Quartier, mit großen geräumigen Zimmern und Sälen, in denen ſie ſich nach Belieben ausbreiten konnten, und einen gefälligen Wirth, einen Deutſchen, Namens Hebert.

Nachdem ſie ſich hier etwas eingerichtet hatten, gingen ſie nach dem Univerfitätsgebäude, wo Humboldt von dem Curator der Uni: verfität, Herrn v. Muſſin⸗-Puſchkin, dem Rector, Herrn v. Lobat⸗ ſchewski, und von den übrigen Witgliedern der Univerſität empfangen wurde. Unter dieſen befand ſich auch der Profeſſor der Aſtronomie, Hr. Simonoff, welcher Humboldt und Roſe ſchon von Paris aus

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bekannt war, wo er ſich einige Zeit (im Winter 1823—24) aufs gehalten hatte, nachdem er von ſeiner Reiſe um die Welt mit Kapitän Bellingshauſen zurückgekehrt war.

Sie wurden nun in dem Univerſitätsgebäude, welches ſehr an— genehm im botaniſchen Garten liegt, und in den darin aufgeſtellten Sammlungen herumgeführt, unter denen ſich ein ganzer Saal mit chineſiſchen, mongoliſchen und tibetaniſchen Manuſcripten befindet. Hierauf fuhren ſie in Begleitung des Herrn von Muſſin-Puſchkin in der Stadt umher, um dieſelbe näher kennen zu lernen. Die Stadt liegt in der Nähe der Wolga, an der Südſeite der Kaſanka und an den Abhängen, die wahrſcheinlich früher das alte linke Ufer der Wolga gebildet haben. Bei dem gewöhnlichen Waſſerſtande der Wolga iſt ſie wohl noch ſechs Werſte von dem Strome ent— fernt, jetzt ſchien ſie aber unmittelbar an ihm zu liegen, da er faſt die Vorſtädte erreichte. Die höchſten Punkte auf der Vordſeite von Kaſan nimmt der Kreml oder die Feſtung ein, die unmittelbar an der Kaſanka, welche hier ziemlich ſteile Ufer hat, gelegen iſt. Im Süden und Weſten iſt die Feſtung von der Stadt, und dieſe wie— der von drei Seiten, beſonders gegen Süden zu, von den Sloboden oder Vorſtädten umgeben. In der Feſtung ſieht man noch viele Ueberreſte der tatariſchen Herrſchaft, die in Kaſan in einem beſon— deren unabhängigen Chanate drei Jahrhunderte lang geblüht hat, bis ſie durch den Großfürſten Iwan Waſſiljewiſch geſtürzt ward, der die Stadt im Jahre 1552 einnahm, ſie von Grund aus zer— ſtörte und eine neue an ihrer Stelle aufbaute. Ein alter Thurm heißt noch die Sunibeka nach der Gemahlin des letzten tatariſchen Chans. Außerdem befinden ſich in der Feſtung noch eine Wenge Kirchen, darunter die Kathedrale mit ihren vielen Thürmen und Kuppeln, wie auch andere von Stein erbaute Kronsgebäude. Gleich— wie die eigentliche Stadt haben auch die Sloboden gerade, breite Straßen, die ſich meiſtens unter rechten Winkeln ſchneiden; ſie be— ſtehen größtentheils aus hölzernen Häuſern, die ſelten mehr als ein Stockwerk haben und häufig mit einem Garten umgeben find; Auch hier erblickt man eine Menge Kirchen und Klöfter mit Thürmen von oft wunderlicher Bauart, wie die Peter- und Paulskirche, die eine ganz japaniſche Form hat und von außen mit einer Wenge

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Figuren in den grellften Farben bemalt ift. Die eigentliche Stadt wird meiſt von Ruſſen bewohnt; die Sloboden, die jedoch von der Stadt durch nichts getrennt und unterſchieden ſind, von Tataren. Dieſe machen etwa ein Drittheil der ganzen Bevölkerung aus, die ſich nach der Zählung vom Jahre 1851 auf 45,049 beläuft. Sie leben beſonders vom Handel, haben aber auch viele Leder- und Seifenfabriken, deren Fabrikate ſehr geſchätzt und weit verſchickt werden.

Die Reiſenden fuhren auch in dieſe Vorſtädte und ließen ſich von den Tataren in eins ihrer Bethäuſer oder Wedſcheds führen, was jene mit Bereitwilligkeit thaten. Es war von Holz gebaut und beſtand aus einem Vorzimmer und einem quadratiſchen Saale, der einfach und reinlich war, durch welche Vorzüge ſich überhaupt die Wohnungen der Tataren auszeichnen. Die Führer der Reiſenden zogen vor dem Eintritt in den Saal ihre Pantoffeln aus, ließen es ſich aber doch gefallen, daß ihre Begleiter denſelben mit Stiefeln betraten.

Freih. v. Haxthauſen, der in Kaſan einem tatariſchen Gottes— dienſt beiwohnte, entwirft folgende Schilderung deſſelben“):

Nur ein Pult und eine Art Katheder oder kleiner Kanzel, aber kein Stuhl und keine Bank befand ſich in der Wedſched, in der Witte hing ein kleiner Kronleuchter herab. Im Vorſaale ſtan— den alle Schuhe der Tataren in Reihen, da die Gläubigen die Medſched ſtets barſuß betreten. Wir kamen etwas zu ſpät, der Küſter (Aſantſchi) hatte den einleitenden Spruch: „Veigt euch ihr Gläubigen, denn das iſt das Geſetz“, geſungen, der Wollah ſeine an Feiertagen gewöhnliche Rede ſchon geendet, und das Gebet der Gemeinde hatte bereits begonnen. Da das Geſetz den Gläubigen verbietet, ſich während des Gebets umzudrehen, oder ſich durch irgend etwas ſtören zu laſſen, jo geſchah unſer Eintritt völlig un⸗ beachtet von der Gemeinde. Vom Gebete ſahen wir natürlich nur die äußeren Zeichen. Dieſe beſtanden in häufigen Viederwerfungen, wobei zuerſt beide Hände mit der Handfläche aufwärts bis zur Höhe des Kopfes erhoben wurden, ſo daß der Daumen den untern

*) Studien ꝛc. Thl. 1, S. 472. ff.

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Rand des Ohrläppchens berührte. Darauf ließ ſich der Betende auf beide Knie nieder und ſetzte ſich nach orientaliſcher Sitte auf die nach innen gedrehten Füße. Aus dieſer Stellung warf er ſich dann auf die Hände und ſchlug mit der Stirn den Boden. Dabei bewegten ſich bei Vielen die Lippen, als wenn ſie ganz leiſe die be— kannte Gebetſormel: „Gott iſt groß“ *), ausſprächen. Alle waren bedeckten Hauptes, doch hatten nicht alle Turbane. Die aber Tur⸗ bane hatten, banden die Enden derſelben während des Gebets los, ſo daß ſie auf den Rücken herabhingen. Viele, doch nicht Alle, hatten Roſenkränze, die nach dem Gebete im Turban verwahrt wurden. Das Gebet mochte in beſchriebener Art wohl länger als eine Viertelſtunde dauern, während welcher Zeit wir bei Wanchen ſechsundzwanzig ſolcher Niederwerfungen und Berührungen des Bodens mit der Stirn zählen konnten. Es herrſchte während des Gebets die tiefſte Stille, jeder Einzelne war völlig in ſeiner Andacht verſunken. Keiner ließ ſich durch irgend etwas um ihn her darin ſtören. Dieſe ſtumme, ſich vor Gott in tiefer Andacht, in Hoffnung und Reue niederwerfende Verſammlung von Wenſchen, die fi) in der Einheit ihres Glaubens fühlen, macht einen wahrhaft erhebenden Eindruck auf jedes unbefangene Gemüth! Nach Ver— lauf der bemerkten Zeit gab der Wollah durch irgend ein unver— ſtändliches Wort ein Zeichen. Die ganze Verſammlung ſetzte ſich auf oben beſchriebene Art nieder, jeder bedeckte ganz flüchtig das Geſicht mit beiden zuſammengelegten Händen und hielt dann dieſe wie ein aufgeſchlagenes Buch, worin man zu leſen ſcheint, von ſich. Nun begann der Mollah laut aus dem Koran zu leſen oder viel— mehr zu fingen. Die Melodie war eine ſehr eigenthümliche ein— förmige, in wenigen Voten wechſelnde, Naſe, Gaumen, Gurgel, alles wirkte mit, um die fremdartigſten, wunderbarſten Töne her: vorzubringen. Dieſer Geſang dauerte, von einem kurzen Gebete, wie das oben beſchriebene, unterbrochen, vielleicht zehn Winuten,

) Diefe Formel heißt auf arabiſch: La illah he il allah, Mehemet irasul üllah. Sie wird von allen Muhamedanern, Türken, Perſern, Tataren, die ſonſt ſelbſt nicht arabiſch verſtehen, ſtets in arabiſcher Sprache aus- geſprochen.

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dann beteten die Gläubigen noch einige Zeit, und Jeder band ſeinen Turban wieder auf und verließ die Wedſched, wie er gerade ſeine Gebete beendet hatte, alſo nicht Alle gleichzeitig.

Mit dickem Staube bedeckt, kehrten Humboldt und feine Be— gleiter von der Beſichtigung der Medſched in ihre Wohnung zurück. Die Straßen von Kaſan ſind nicht gepflaſtert; ſie waren früher wie in vielen andern ruſſiſchen Städten mit hohl liegenden Balken belegt; als aber bei dem Aufſtande Pugatſcheffs im Jahre 1774 die Stadt in Brand geſteckt wurde, brannten nicht nur die Häuſer, ſondern auch das Pflaſter, wodurch der Brand noch mehr vergrößert und das Löſchen erſchwert wurde). Seitdem ſollte die Stadt mit Steinen gepflaſtert werden, was aber wahrſcheinlich aus dem Grunde unterblieb, weil in der Nähe keine brauchbaren Steine zu finden ſind. Bei den großen ſchiffbaren Strömen, mit denen Kaſan in Verbindung ſteht, ließen ſich indeß dergleichen Steine ohne ſehr erhebliche Koſten oder beſondere Schwierigkeiten aus der Ferne herbeiſchaffen. Noch unleidlicher als im Sommer nach lange aus— gebliebenem Regen der Staub, iſt im Herbſt bei anhaltendem Regen— wetter oder im Fühjahr bei ſchmelzendem Schnee der Schmutz in den Straßen, beſonders in den tiefer liegenden Theilen der Stadt, zu denen das Waſſer von den oberen Theilen herabfließt.

Kaſan liegt unter 55° 58“ Br., alſo faſt unter demſelben Parallelkreiſe wie Moskau, aber 114° öſtlicher. Die Höhe der Stadt über dem Weeresſpiegel beträgt nur 9 Toiſen ““), was um ſo überraſchender iſt, als ſich die abſolute Bodenhöhe Berlin's, welches der Oſtſeeküſte neunmal näher liegt, als Kaſan dem nächſten Theile des Eismeers, ſchon auf nahe 17 Toiſen beläuft. In der großen lombardiſchen Ebene, dem Grunde eines alten Armes des adriatiſchen Weeres, hat der Erdboden des Wai—

*) Im Jahre 1842 wurde die Stadt wieder in Aſche gelegt. Unter 4500 Häuſern waren nur etwa 500 ſteinerne, die übrigen ruſſiſche Blockhäuſer. Außer einem paar Straßen in der Stadt war alles Uebrige ungepflaſtert. Die Bohlenreihen, die ſtatt der Trottoirs an beiden Seiten der Häuſer ge— legt waren, beſchleunigten auch diesmal die Ausdehnung des Brandes.

) Humboldt, Centralaſien, II. S. 32. ff.

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länder Domes 61 Toiſen Höhe über dem Weeresſpiegel. Der Bo— den von Padua iſt allerdings nur 7 Toiſen hoch, aber Padua, welches auf dem Grunde des Beckens der Ebenen gelegen iſt, hat auch einen ſechsmal kleineren Abſtand vom adriatiſchen, als Kaſan vom Eismeere.

Da die Oberfläche des kaſpiſchen Meeres kaum 13 Toiſen unter dem Viveau des ſchwarzen Weeres liegt, ſo bleiben für das Gefäll der Wolga von Kaſan bis zum kaſpiſchen Meere (eine Ent⸗ fernung, welche Humboldt auf 307 Seemeilen, 20 auf einen Aequa— torialgrad, ſchätzt, wenn man ein Drittel für die Krümmung des Fluſſes in Anſchlag bringt) nicht mehr als 22 T. übrig. Dieſes Gefäll iſt auffallend gering. Die Entfernung von Straßburg bis zur Theilung des Rheins in Leck und Waal beträgt nur ein Drittel der Länge des Wolgalaufs unterhalb Kaſans, und doch liegt der Boden der Stadt Straßburg noch 73 T. über dem Waſſer des Oceans, d. h. mindeſtens dreimal höher als die Höhe Kaſans über dem kaſpiſchen Weere, wie ſie durch die bisherigen barometriſchen Beobachtungen ermittelt worden iſt. Eben ſo iſt der Lauf der Donau von Ofen bis zum ſchwarzen Weere beinahe eben ſo lang, als der der Wolga unterhalb Kaſans. Ofen beſitzt indeß noch 55 T. abſoluter Höhe, was ſechsmal ſoviel iſt als die, welche Kaſan beigelegt wird.

Die mittlere Jahrestemperatur von Kaſan beträgt 1, 9 Eentefis malgrade, die des Winters 13, 7, die des Sommers 17, 6. Die größten Kältegrade betrugen in den Jahren 1834 bis 37: 29, und 30, 2e, (am 13. Jan. und am 10. Febr. 1841 ſank das Thermometer ſelbſt bis auf 38, 7 C. herab); die größte Hitze bes trug 27, s* (am 18. Juni 1841: 34, 8“ C.).

145 Werſte ſüdlich von Kaſan (Breite 57° 59“ 20“), auch auf dem linken Wolga-Ufer, liegen die merkwürdigen Ruinen von Bulghar, der Hauptſtadt der alten Wolga-Bulgharen, welche die Reiſenden als die größten und älteſten Ruinen, die ſich in Rußland befinden, nicht unbeſucht laſſen durſten. Sie ſchifften ſich deshalb den Wittag des 5. Juni auf einem der Wachtſchiffe, welche die Wolga auf- und niederfahren, mit dem Grafen Polier ein, nahmen aber ihre Wagen, die auf ein anderes Boot geladen wurden, mit, um zu Lande zurückkehren zu können, da die Rückkehr auf der

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Wolga ſtromaufwärts zu lange gedauert haben würde. Sie fuhren zuerſt die Kaſanka hinab bis zur Wolga, wo ſie noch den herr— lichſten Blick auf die Stadt hatten, die ſich an dem Abhange der Höhen höchſt maleriſch erhebt, und die Wolga gewährte ihnen nun wieder dieſelbe angenehme Fahrt wie vorher. Der gewaltige Strom war noch wie unlängſt von den großen Wolgaſchiffen befahren, aber der ihnen günſtige Wind hatte ſich gelegt, daher ſie alle ihre Segel eingezogen hatten. Sie mußten nun ſtromaufwärts gezogen wer— den, was auf die gewöhnliche Weiſe nicht geſchehen kann, da an dem hohen ſteilen Ufer der Wolga kein Leinpfad vorhanden iſt, ſondern durch eine am Vordertheil des Schiffes angebrachte Winde bewerkſtelligt wird, mittelſt welcher ſich die Schiffsmannſchaft zu Ankern heranzieht, die auf einem beſonderen Boote vorausgeführt und in gewiſſen Entfernungen von dem Schiffe ausgeworfen wer— den. Dieſe mühſame Arbeit wiederholte ſich bei allen Schiffen, an denen die Reiſenden vorüberfuhren; aber auch ſie hatten keinen Wind; nur mit Rudern konnten ſie vorwärts kommen, und brauch— ten auf dieſe Weiſe zu ihrer Fahrt den Nachmittag, die Nacht und den Vormittag des folgenden Tages.

Sie landeten erſt gegen Wittag. Am Ufer warteten ſchon die Bauern des ruſſiſchen Dorfes Bolgarü mit ihren Pferden, die be— ſtellt waren, ſie weiter zu ſchaffen. Die Wagen wurden ausgeladen, und man fuhr auf ihnen nach dem Dorfe, das auf und neben den Ruinen der alten Stadt noch 9 Werſte vom Ufer entfernt liegt. Ein angenehmes Buſchwerk bedeckt die Niederung, die hier wie überall das linke Ufer der Wolga bildet und ſich erſt ſpäter zu dem höheren Plateau erhebt, auf welchem Bolgarü, ſo wie auch Kaſan, erbaut iſt. Im Dorfe fand man Alles in Bewegung, die ganze Dorffchaft war den Reiſenden entgegengekommen und er— wartete ſie, in beſondere Gruppen vertheilt, die Männer, die Frauen und die Jugend. An der Spitze dieſer Gruppen ſtanden die Ael— teſten des Dorfes, die nach ruſſiſcher Sitte Humboldt bei ſeiner Ankunft Salz und Brod zum Zeichen ihrer Ehrerbietung über— reichten.

Die wichtigſten der alten Ruinen befinden ſich größtentheils innerhalb eines von einem Graben umgebenen Walles, der ein

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längliches Oval bildet und deſſen Umfang etwa 7 Werſte betragen mag. Der Wall fehlt nur an der nördlichen Seite, wo ſich aber ein von Oſt nach Weſt zur Wolga ſich hinziehender breiter Grund befindet, der das alte Bulghar von einer Seite vielleicht hinreichend gedeckt haben mag. An dieſem Abhange innerhalb des Walles liegt das Dorf Bolgarü, an ſeiner öſtlichen Seite die anſehnliche ſteinerne Kirche deſſelben und in dem übrigen Raume einzeln und zerſtreut die Ruinen. Von dieſen ſind beſonders zwei Thürme und zwei Gebäude bemerkenswerth. Der höhere der beiden Thürme liegt ganz in der Nähe der Dorfkirche; er iſt ganz eylinderförmig und nur an ſeiner Grundfläche achteckig; an dieſer befindet ſich eine Thür, durch welche man zu einer ſteinernen Wendeltreppe im In— nern des Thurms gelangt; ſie führt zur oberen Fläche, welche in neuerer Zeit mit einem hölzernen Dach bedeckt worden iſt. Die Höhe des Thurmes bis zum Dach beträgt 72 Fuß, ſein unterer Umfang 80 Fuß. Der zweite Thurm, welcher ungefähr 300 Fuß ſüdöſtlich von dem erſteren liegt, iſt kleiner als dieſer, ſonſt aber von ähnlicher Geſtalt.

Von den zwei anderen Gebäuden liegt das eine, welches von den Bauern das Gerichtshaus oder das ſchwarze Haus (tschornaja palata), genannt wird, ziemlich in der Witte des Wal— les. Es iſt feiner Form nach gut erholten. Seine Grundfläche iſt ein Quadrat von 24 Fuß an jeder Seite und ſeine Hoͤhe mag etwa 38 Fuß betragen. Es beſteht aus drei Stockwerken mit Thür- und Fenſteröffnungen; das obere iſt kleiner und achteckig; über dem— ſelben befindet ſich eine halbkugelförmige Kuppel mit einer achteck— förmigen Oeffnung in der Witte. An der Außenſeite des Gebäudes erkennt man noch rundherum die Reſte der Wauern vieler Gemächer, die aber weder untereinander noch mit dem Hauptgebäude in Ber: bindung geſtanden zu haben ſcheinen.

Das andere Gebäude, welches ſich etwa 600 Fuß gegen Sü⸗ den von dem eben beſchriebenen befindet, ſcheint ein Bad geweſen zu ſein. Es wird von den Bewohnern des Dorfes das weiße Haus (bjelaja palata) genannt. Seine größte Länge von Norden nach Süden beträgt etwa 82 Fuß, ſeine Breite am nördlichen Ende 36 Fuß, am ſüdlichen Ende 25 Fuß. Im Innern ſind noch zwei

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Zimmer zu erkennen, das eine von der Form eines Quadrats, das andere von der eines Oblongums. Eine kleine Thür führt aus dem letzteren in das erſte. Dieſes iſt durch ſeine Einrichtung beſonders merkwürdig; es hat nämlich an jeder Ecke noch ein anderes qua- dratiſches Zimmer, ſo daß in der Witte nur ein breiter Kreuzgang bleibt, der ſein Licht durch eine achteckige Oeffnung in der Mitte einer Kuppel empfängt, die ſich über der Witte des Kreuzganges befindet. Vier andere kleine Kuppeln befinden ſich über jedem Eck— zimmer, die ebenfalls in der Witte eine achteckige Oeffnung haben, aber zum Theil eingeſtürzt ſind, daher der Boden mit Schutt be— deckt iſt. Dieſe Zimmer ſind oben an den Wänden mit wohl er— haltenen Arabesken verziert und ſtehen mit dem Kreuzgang durch Thüren in Verbindung. Kanäle, welche unter dem Boden des Kreuzganges hinlaufen, Spuren von Waſſerleitungen an den Wän- den, ſo wie Ueberreſte von eiſernen Röhren in denſelben, laſſen über die Beſtimmung des Gebäudes keinen Zweifel. Alle die hier be— ſchriebenen Gebäude beſtehen aus behauenen Steinen, theils Sand-, theils Kalkſteinen.

Weniger gut erhaltene Ueberreſte von Gebäuden als die be— ſchriebenen findet man, zum Theil mit Schutt und Raſen bedeckt. noch in großer Menge, ſowohl innerhalb als außerhalb des Walles. Leider werden dieſelben aber immer unbedeutender, da die Bauern ſich der Bruchſteine aus den alten Mauern zu ihren Bauten be— dienen, auch die ſteinerne Kirche des Dorfes iſt ganz von den Bauſteinen der alten Stadt und den in der Gegend gefundenen Grabſteinen aufgeführt”). Da ein tauglicher Bauſtein nicht in der Nähe iſt und mit Leichtigkeit aus den Trümmern genommen werden kann, iſt die Verführung allerdings groß. Unter dem Schutte der Ruinen findet man noch häufig ſilberne und kupferne Münzen, kupferne Ringe, Ohrgehänge und andere Gegenſtände, die

*) Es wäre ein großer Verluſt, bemerkt Prof. Roſe, wenn dieſe alten Denkmäler einer dunklen Zeit ganz vernichtet würden. Schon Erdmann (Reiſen im Innern Rußlands) ſah Vieles von dem nicht mehr, was Pallas (Reiſe in verſchiedene Provinzen des ruſſiſchen Reichs) und Lepechin (Tage⸗ buch der Reiſe durch verſchiedene Provinzen des ruſſiſchen Reichs in den Jahren 1768. 69.) 48 Jahre vor ihm beſchrieben.

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unſern Reiſenden von den Bauernkindern auch häufig zum Kauf angeboten wurden. In einem der Gebäude des alten Bulghars ſollen mehrere tatariſche Heilige begraben liegen, daher von den Gläubigen auch noch zu dieſen Ruinen gewallfahrt wird. So ſahen die Reiſenden, während ſie die Ruinen beſichtigten, einen tatariſchen Mollah in und vor mehreren derſelben ſeine Andachts— übungen verrichten, die im Herbeten von Formeln mit häufigen Neigungen des Körpers beſtanden, ohne daß er ſich im Geringſten durch die Anweſenheit der Fremden ſtören ließ. Da die Ruinen ziemlich entfernt von einander liegen, fuhr man in kleinen Wagen von der einen zur andern. Das benutzte der Mollah; er ſetzte ſich mit Erlaubniß der Reiſenden auf einen ihrer Wagen und fuhr auf dieſe Weiſe zu allen Ruinen hin, indem er es immer ſo einrichtete, daß er ſeine Andachtsübungen früher verrichtet hatte, als jene mit ihrer Beſichtigung fertig waren.

Die Bulgharen bildeten ſchon im ſiebenten Jahrhundert ein unabhängiges Volk, das ſich auf der Oſtſeite der Wolga vom Ein— fluſſe der Sura in dieſelbe bis zum kaſpiſchen Weere ausbreitete, mit den Ruſſen in beſtändigem Kriege lebte und Auswanderungen nach dem ſchwarzen Weere und dem ſüdlichen Ufer der Donau unternahm. Ihren Namen erhielten die Bulgharen von der Wolga, deren Ufer ſie bewohnten; ſie gehörten urſprünglich zum großen finniſchen Stamme, miſchten ſich aber bald mit Slaven und Türken und wurden an der Wolga nach und nach zu Türken, an der Donau zu Slaven. Das Reich der Bulgharen blühte beſonders zu Ende des zwölften Jahrhunderts, nach welcher Zeit es von den Einfällen der mongoliſch-tatariſchen Völkerſchaften ſehr zu leiden hatte, bis es endlich von Batü-Chan, dem Enkel von Dſchingis— Chan, 1236 völlig unterworfen und dem kaptſchakiſchen Reiche ein⸗ verleibt wurde. Die Nachkommen Oſchingis-Chans in dieſem Reiche, die von den Ruſſen die Chane der goldenen Horde genannt wurden, erwählten Bulghar zu ihrer Sommer- und Serai an der un— teren Wolga zu ihrer Winterreſidenz. Gegen Ende des vierzehn— ten Jahrhun derts wurde das kaptſchakiſche Reich von Tamerlan erobert und verwüſtet. Serai wurde zerſtört. Bulghar indeſſen ſcheint der völligen Zerſtörung entgangen zu ſein und dieſelbe erſt

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ſpäter von dem ruſſiſchen Großfürſten Iwan Waſſiljewitſch erlitten zu haben.

Mehrere arabiſche Schriftſteller erwähnen übereinſtimmend einer höchſt ſonderbaren Staatseinrichtung im Lande der Bulgharen, daß nämlich alle beſonders klugen Leute aufgehängt wurden! Ob dies aus politiſchem Mißtrauen geſchah, oder, wie Ahmed Tuſy vermuthet, weil beſonders kluge Menſchen vor Andern würdig ſeien, Gott dem Herrn früh zu dienen, bleibt unentſchieden. Das Klima des Landes war vor Zeiten bei weitem rauher. In der Witte des zwölften Jahrhunderts iſt, nach dem Zeugniß eines damaligen Rei— ſenden, der Erdboden in Bulgharien ſelbſt im Sommer nicht frei von Schnee geworden. Einem andern Bericht zufolge fuhr man im Jahre 1332 von Bulghar nach Jugrien, wie jetzt im nördlich— ſten Sibirien, auf Schlitten, die mit Hunden beſpannt waren.

Bei den ſo mangelhaften Nachrichten über die alten Wolga— Bulgharen ſind die in den Ruinen Bulghars aufgeſundenen Münzen und Grabſteine wichtige Dokumente für die Geſchichte des Volks. Die Münzen haben nur zuweilen Inſchriften, die dann arabiſch ſind; die meiſten ſind indeß Mongolen-Münzen und ſtammen aus dem 13 ten bis 15ten Jahrhundert. Nur ſehr ſelten finden ſich ältere. Eine ſchöne und zahlreiche Sammlung in Bulghar auf— gefundener Münzen, die Humboldt der Güte des Profeſſors Fuchs in Kaſan verdankte, iſt dem königlichen Muſeum in Berlin einver— leibt worden. Von den Inſchriften der Grabſteine ließ Peter der Große, als er im Jahre 1722 die Ruinen von Bulghar beſuchte, Abſchriften und Ueberſetzungen machen und erhielt auf dieſe Weiſe der Nachwelt 50 Inſchriften; denn die Grabſteine ſelbſt ſind jetzt faſt durchgängig zum Bau der Kirche des Dorfes Bolgarü ver— wandt worden. Unter den Inſchriften befinden ſich 27 in türkiſcher, 20 in arablſcher und 3 in armeniſcher Sprache. Sie enthalten ſämmtlich einen Spruch aus dem Koran, wie z. B.: er iſt der Lebende, der nicht ſtirbt u. ſ. w., den Namen des Verſtorbenen, deſſen Abſtammung, gewöhnlich noch einen Segen für denſelben und das Todesjahr. Die meiſten beziehen ſich auf Männer, nur einige auf Frauen.

Bei der Beſichtigung der Ruinen von Bulghar war der Abend

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herangerückt, und die Reiſenden mußten eilen nach Kaſan zurückzu— kehren, da ſie dort ſchon zu einem Wittagsmahle erwartet wurden, wozu der Curator der Univerſität ſämmtliche Witglieder derſelben eingeladen hatte. Nach einem kurzen Wahle brachen ſie daher auf, und bei der Art, wie man in Rußland reiſt, konnten ſie rechnen, zur gehörigen Zeit in Kaſan einzutreffen. Aber ſchon in der Stadt Spask, durch welche ſie in der Nacht kamen, wurden ſie durch ein Gewitter, welches mit einem heftigen Regenſchauer begleitet war, einige Stunden aufgehalten, und einen noch größern Aufenthalt erfuhren ſie, als ſie an der Kama anlangten, die ſie paſſiren muß— ten. Die Kama iſt der beträchtlichſte Nebenfluß der Wolga auf ihrer linken Seite und faſt von noch größerer Bedeutung als die Oka. Lange Zeit an der Weſtſeite des Urals entlang fließend, nimmt fie den größten Theil der auf dieſer Seite des Gebirges entſpringenden Flüſſe auf und wächſt dadurch zu einer bedeutenden Wächtigkeit an. Jetzt war ſie außerdem noch durch die Frühlings— waſſer zu einer ſolchen Breite angeſchwollen, daß man volle ſieben Stunden brauchte, um nach der Kreisſtadt Laiſcheff am jenſeitigen Ufer zu gelangen.

Dieſe Stadt, mit nahe 2900 Einwohnern, iſt von Tataren be— wohnt, die auch die Bevölkerung der meiſten benachbarten Dörfer ausmachen. Sie treibt einen bedeutenden Verkehr, da das Salz von Solikamsk und die Produkte des Urals, welche auf der Kama ſtromabwärts gehen, hier umgeladen und auf andere Schiffe ge—

bracht werden müſſen, in denen ſie die Wolga ſtromaufwärts gehen.

Die Reiſenden verweilten in der ſehr reinlichen Wohnung eines Tataren nur ſo lange, als ſie brauchten um Frühſtück und Mittag zugleich einzunehmen, und legten nun die 58 Werſte bis Kaſan in faſt unglaublich kurzer Zeit zurück; denn die Tataren haben ſämmt⸗ lich viele und gute Pferde und fahren in der Regel noch ſchneller als die Ruſſen. Wit ſolcher Schnelligkeit waren unſere Reiſenden noch nie befördert worden. Hierbei kam auch der gute Weg zu ſtat— ten, welcher durch einen Wald von Laubholz über angebaute Felder führt. Vier Werſte vor Kaſan kamen ſie bei dem reizend gele— genen Kloſter Jeruſalem, der Wohnung des Erzbiſchofs, vorbei, und bald darauf trafen ſie in Kaſan ſelbſt ein; aber freilich erſt

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um neun Uhr Abends, und viel zu ſpät alſo für das angeſetzte Mittagsmahl, das nun auf den nächſten Tag verſchoben wurde.

Während Humboldt und ſeine Gefährten noch den folgenden Tag in Kaſan verweilten, reiſte Graf Polier dagegen ſchon am Vormittag ab, um ſobald als möglich auf ſeine Güter bei Perm zu kommen, wo man wieder zuſammentreffen wollte. Auch ſchien es zweckmäßig bis Perm getrennt zu reiſen, da ſich leicht bei einer jo großen Geſellſchaſt auf den Stationen nicht immer die nöthige Anzahl von Pferden hätte finden können. Humboldt benutzte den Vormittag, um die Inklination der Wagnetnadel in Kaſan zu be— ſtimmen. Er beobachtete fie im Beiſein des Hrn. v. Wuſſin— Puſchkin und des Hrn. Soimonoff, und erhielt bei dieſer Gelegen— heit von dem Erſteren das Verſprechen, daß in Kaſan ein eigenes magnetiſches Obſervatorium gebaut werden ſolle, ein Verſprechen, deſſen Erfüllung auch nicht lange auf ſich warten ließ.

Die Reiſenden hatten durch ihren längern Aufenthalt in Kaſan noch Gelegenheit, den Saban, ein ländliches Feſt der Tataren, ken— nen zu lernen, das ſie alljährlich nach beendeter Ausſaat feiern. Sie verſammeln ſich dann während einer ganzen Woche des Nach— mittags auf einer Wieſe, einige Werſte von der Stadt, und be— luſtigen ſich durch allerhand Spiele und gymnaſtiſche Uebungen, die meiſtentheils im Ringen und im Wettlauf beſtehen. Hr. v. Muffins Puſchkin führte die Reiſenden am Abend dorthin, wo ſie die Spiele ſchon in vollem Gange trafen. Die Wänner hatten einen Kreis gebildet, in welchem das Ringen ſtattfand. Die Kämpfer hatten ihr gewöhnliches Oberkleid abgeworfen, ihre Gürtel um des Gegners Rücken geſchlungen, und ſuchten nun denſelben mittelſt der Gürtel in die Höhe zu heben und umzuwerfen. Sie bogen dabei den Vorderleib vornüber gegeneinander, hielten den Gürtel ganz kurz, ſo daß ſie zu gleicher Zeit auch das Unterkleid an den Rippen des Gegners faſſen konnten, und drängten ſich in dieſer Stellung, in abwechſelnden Bemühungen, ihren Zweck zu erreichen, vor- und rückwärts, was ihnen oft nur nach langen Pauſen gelang. Wei— ſtens fielen Beide, wer aber den Andern am Boden feſthielt, hatte geſiegt, und wurde durch das Zujauchzen der Umſtehenden und durch kleine Geſchenke, die die reicheren Tataren austheilten, belohnt.

III. a 6

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Nur der Beſiegte verließ jedoch den Platz; der Sieger blieb und forderte einen Andern auf, und wenn er auch über dieſen den Sieg davon trug, einen Dritten, bis er ſelbſt von einem neuen Kämpfer beſiegt wurde. Natürlich hatten die ſpäter Kommenden wegen der immer mehr eintretenden Ermüdung des erſten Siegers ein leichteres Spiel; doch ſahen die Reiſenden Einen, der nach einander drei An— dere überwand, bis er erſt dem Vierten unterlag.

Nachdem dieſe Uebungen lange gewährt hatten, fing das Wett— rennen an, was theils zu Pferde, theils zu Fuß ſtattfand. Die Kämpfenden wurden einige Werſte weit fortgeſchickt, und lieſen einem beſtimmten Ziele zu; auch hier wurden die Sieger durch Ver— theilung von Geſchenken belohnt. Auch Frauen fehlten bei dieſen Spielen nicht, doch hielten ſie ſich immer in einiger Ferne von den Männern. Die reichern Tataren hatten Zelte aufſchlagen laſſen und bewirtheten die Reiſenden in denſelben mit allerhand Süßig— keiten, mit getrockneten Aprikoſen aus Bochara, Piniennüſſen (von Pinus Cembra), ſo wie mit Thee und Kumiß, der gegohrnen Stu— tenmilch, welche die Reiſenden hier zum erſten Wal tranken. Sie iſt ſäuerlich und fett, und ein ebenſo erfriſchendes als nahr— haftes Getränk.

Ueber dieſes bei den Kirgiſen und anderen Nomaden fo be— liebte Getränk theilt ein ruſſiſcher Schriftſteller, Dr. Dahl, ſolgen— des Nähere mit“): Die Bereitung des Kumiß iſt einfach. Die friſch gemolkene Milch wird in eiren durchräucherten Sack oder Schlauch aus der Schenkelhaut von Pferden gegoſſen und mittelſt eines langen Quirls, der beſtändig im Schlauche ſteckt, gepeitſcht und geſtoßen, wodurch ein ſtarker Schaum hervorgebracht wird. Die Gährung wird dadurch aufgehalten und zugleich viel atmoſphäriſche Luft unter die Flüſſigkeit gemengt. Es iſt Sitte, daß jeder Be— ſucher, der in das Zelt tritt, gleichſam zur Bewillkommnung nach dem Quirl des Schlauches greift, der rechts vom Eingange ſteht, und ihn auf und nieder bewegt. Täglich wird in den Schlauch die friſche Wilch zugegoſſen, die in einigen Stunden ſäuert, zumal

) „Beiträge zur Kenntniß des ruſſiſchen Reiches“, herausgegeben von Bär und Helmerſen. Band. 7. Petersburg 1845.

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da der Kumiß immer nur im Sommer bereitet wird. Die Stuten- milch enthält viel Zucker, aber wenig Käſeſtoff und Buttertheile. Von dem Käfeftoffe zeigt ſich faſt gar nichts, da die Wilch ſelbſt nach der Säuerung nicht dicker wird. Die Bereitung des Kumiß ſcheint darin zu beſtehen, daß die ſauere Gährung durch das be— ſtändige Quirlen geſtört wird. Sobald die weinige Gährung an— fängt, iſt das Getränk fertig, das dann oft meilenweit in die Städte zu Markte gebracht oder auch auf Reiſen mitgenommen wird. Der Kumiß iſt je nach der Bereitung und andern Umſtänden verſchie— den, ſchmeckt bald einfach ſauer, oft ſogar etwas ranzig, iſt aber zuweilen ſehr ſüß und ſtark ſchäumend. Der ächte Kumiß muß nur ſtark ſäuerlich, etwas ſüßlich, dabei reizend ſein und auf der Zunge prickeln. Vor und nach dem Genuſſe hat der Kumiß einen nicht Jedermann angenehmen Geruch und Beigeſchmack, was zum Theil von dem geräucherten Schlauche herrührt; doch gewöhnt man ſich ſehr leicht daran, zumal wenn man ihn zum erſten Wale gleich in bedeutender Wenge und bei heftigem Durſte trinkt. Nach einer ſtarken Bewegung iſt er ſehr angenehm und labend, und hat man ſich einmal an den eigenthümlichen Geruch und Geſchmack gewöhnt, ſo wird man ihn nicht leicht für ein anderes Getränk hingeben. Er iſt ſehr erfriſchend und beſchwichtiget ſogar den Hunger, ohne ſättigend zu fein, da er die Eßluß nicht nimmt. Wan kann einige Zeit recht gut ohne Speiſe mit ihm auskommen, wohl aber auch eben ſo viel nebenbei eſſen als ſonſt. Auch hat er die beſondere Eigenſchaft, daß er nie überfüllt, und ſo viel man auch davon trin— ken mag, ſo fühlt man ſich doch immer leicht und wohl. Die be— rauſchende Eigenſchaft des Kumiß iſt nach der Bereitung verſchieden. Je weniger ſauer das Getränk iſt, je mehr es ſchäumt, deſto mehr iſt die Weingährung bereits vorgeſchritten; doch iſt dieſe berauſchende Eigenſchaft nur gering, und die Wirkung geht ſchnell vorüber ohne läſtig und unangenehm zu ſein. Diejenigen, die das Getränk als ſtark berauſchend beſchreiben, verwechſeln es wahrſcheinlich mit dem aus Kumiß und anderen Beimiſchungen von den Kalmücken be— reiteten Branntwein. Selbſt Kranken und Kindern iſt das Ge— tränk nicht nachtheilig. Der Nomade könnte unter den ihm eigenen Naturverhältniſſen ohne Kumiß kaum leben. Es iſt das Getränk 6 *

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aller Menſchen vom Säugling an bis in das reifere Alter, das Labſal der Greiſe und Kranken. Die anſäſſig gewordenen Nomaden be— reiten aus Mangel an Stutenmilch ihren Aran, geſäuerte und geſchlagene Kuhmilch mit Waſſer verdünnt; dies iſt aber ein ſo ſchlechtes Erſatzmittel, daß nur die Gewöhnung an ein weißes ſäuerliches Getränk dazu treiben kann. Im Winter, auch wohl im Sommer auf Reiſen, wird ein harter geſalzener Klumpen Käſe, gewöhnlich aus Schafmilch, in warmes Waſſer geſchabt, auch wohl mit etwas Mehl vermiſcht, um ein anderes Erſatzmittel zu gewin— nen. Die Nachwirkungen, die ſich nach dem Genuß des ächten Kumiß ſchon nach acht Tagen zeigen, find eine gute Ernährung des Körpers, Zunahme der Kräſte und allgemeines Wohlbefinden; man athmet leichter, die Stimme iſt freier und die Geſichtsfarbe wird blühender. Sieht man die im Winter ausgemergelten Geſichter, die eingefallenen Augäpfel und breit hervorſtehenden Backenknochen der Vomaden im Frühling wieder, ſo erkennt man ſie oft kaum, ſo ganz anders und kerngeſund iſt ihr Ausſehn geworden. Es iſt ſehr zu bezweifeln, ob irgend eine andere Nahrung nach dem Faſten und bei der ſpärlichen Koſt der Nomaden dem geſchwächten Körper ſo zuträglich ſein würde, als der Kumiß. Beſonders wohlthätig ſcheint er bei chroniſchen Bruſtübeln zu wirken. Gewiß iſt, daß bei den Kirgiſen Auszehrungen, Bruſtſchwindſuchten äußerſt ſelten ſind, wie auch Bruſtentzündungen, das Aſthma der Greiſe und Bruſtwaſſerſucht im höheren Alter. Von Lungenſchwindſuchten findet man unter den Kirgiſen ſchwerlich ein Beiſpiel.

Eine ächt nationale tatariſche Hauswirthſchaft exiſtirt in Ka— ſan nicht mehr. Auch dies Volk iſt ſchon von der europäiſchen Kultur berührt. Freiherr v. Haxthauſen, der mehrere Jahre nach Humboldt zwei wohlhabende tatariſche Kaufleute in Kaſan be— fuchte*), fand das Meublement in den Zimmern ganz europäiſch. Ein Sopha ſtatt eines Divans, Stühle, Tiſche, Glasſchränke mit ſehr hübſchem chineſiſchen Porzellan, zwei Spiegel an den Wänden; Alles geſchmackvoll, wie man es, bemerkt Haxthauſen, bei uns vor 20 bis 30 Jahren ſah. Ein herrliche perſiſche Porzellanvaſe von

*) Studien ꝛc. I. S. 474 ff.

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höchſt eigenthümlicher Form ſtand auf einem Seitentiſche. In einem der Glasſchränke ſtand eine ſteinerne Schale mit Sprüchen aus dem Koran. Ein Glied der Familie, welches die Wallfahrt nach Wecca gemacht, hatte ſie von dort mitgebracht, und ſie ſchien beſonders in Ehren gehalten. Vor dem Fenſter ſtanden Blumen— töpfe mit blühenden Orangen, Feigen, Doppelpalmen und kleinen Blumen. An der Wand hing ein perſiſcher Säbel (Schaſchka) und ein Dolch, in Scheiden, die mit jenen Häuten überzogen waren, welche nur die Bucharen zu bereiten verſtehen. Auf einem Tiſche lag ein Kalender in Form eines Thierkreiſes, ein Koran in arabiſcher Sprache, ein anderer in tatariſcher Ueberſetzung und einige tatariſche Gebetbücher. Einen Theil des Fußbodens bedeckte ein dunkler ſehr ſchöner perſiſcher Teppich, der Thür gegenüber war auf der weißen Wand mit großen ſchwarzen Buchſtaben ein Vers aus dem Koran geſchrieben. Die Thüren waren mit grünem Saffian beſchlagen, auf dem von rothen Saffianſtreifen mit Weſſingnägeln allerlei Figuren ausgelegt waren.

Man vergönnte dem Fremden auch einen Blick in das an— ſtoßende Schlafzimmer. Hier lief längs der ganzen Fenſterſeite eine ſechs Fuß breite Bank her, die als gemeinſame Schlafſtätte der ganzen Familie diente. Kiſſen, Decken Watratzen, Oberbetten waren in einer Ecke bis faſt an die Decke aufgethürmt. Die Tataren lie— ben ſehr weich zu liegen, und decken ſich mit Federbetten ſo warm zu, wie die Norddeutſchen. Die innere Einrichtung des Hauſes konnte nicht genauer unterſucht werden, da ſich die Weiber, die man nicht ſehen darf, darin befanden. Neugierig huſchten ſie ver— ſchleiert mehrmals an den geöffneten Thüren vorüber, kamen aber nicht näher.

Die Tracht der hieſigen wohlhabenden Tataren beſteht aus einem runden ſeſt an den geſchorenen Schädel anſchließenden Käpp⸗ chen (Kollabuſch), welches meiſt hübſch, oft reich mit Gold geſtickt iſt; weite weiße baumwollene Beinkleider (Slan), werden in bunten Saffianſtiefeln ohne Sohlen getragen, über welche man Pantoffeln mit niedrigen Abſätzen (Baſchmak) oder Ueberſchuhe von gewöhn— lichem Leder zieht, die man ſelbſt im Zimmer ſelten ablegt, ſo daß jene Stiefel gewiſſermaßen als Strümpfe anzuſehen ſind. Das

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Hemd (Kulmank) iſt meift von Leinwand und läßt den Hals offen und bloß. Darüber wird eine Art Rock oder Camiſol (Arſchaluck), meiſt von geſtreifter Seide, vorn mit Schleifen zuſammengebunden, getragen, der bis an's Knie reicht, und mit einem Kuſchak (Gürtel oder Shawl) gegürtet iſt; darüber wird noch ein offener, langer und weiter flatternder Rock, wie unſre Schlafröcke, getragen, der ſelten ſchwarz, wie bei den polniſchen Juden, ſondern meiſt von hellen Farben iſt. Das iſt das Coſtüm wohlhabender tatariſcher Kauf— leute. Die tatariſchen Bauern, Fuhrleute und Handwerker tragen über dem wirklich ſchmuckloſen Käppchen einen ſpitzen weißen rand— loſen Filzhut, und ſtatt des weiten offenen Rocks ein langes um den Hals und an den Aermeln bunt ausgenähtes Hemd; dann meiſt blaue leinene Hoſen und Fußlappen mit Filzſchuhen. Nur bei feier— lichen Gelegenheiten wird ein Turban getragen, der dadurch gebildet wird, daß über das Käppchen ein ſpitze hohe Filzmütze geſetzt und um dieſe ein feiner weißer wollener oder baumwollener Shawl ge— wunden wird, jo daß die Spitze der Mütze hervorblickt.

Die Kaſanſchen Tataren gehören nach Körperbildung und geiſtigen Anlagen zu den edleren Völkern. Das Geſicht iſt oval, die Augen ſind ſchwarz und lebendig, die Naſe iſt edel gebogen, der Mund fein, die Zähne vortrefflich, der Teint iſt der der kau— kaſiſchen Race, weiß und roth. Sie find mittlerer Statur, ſchlank gebaut, ſelten ſett. Alle ihre Bewegungen ſind gewandt, zierlich, oft edel. Die Weiber ſind klein und ſtets durch die Schminke entſtellt

Die Tataren haben große Geiſtesanlagen, aber der Islam duldet ihre Ausbildung nur bis zu einem gewiſſen Grade. Ihre Schulen ſind gut, faſt Alle können leſen, ſchreiben und rechnen auf dem ruſſiſchen Rechenbrette, ſie haben auch einige Literatur“), und

„) Die tatariſche Sprache nimmt im Orient dieſelbe Stelle ein, wie im Oceident die franzöſiſche. Oeſtlich von Perſien bis China, weſtlich durch alle türkiſchen Länder, ſelbſt noch in Tunis, kann man durch ſie ſich verftänd- lich wachen. Die herumziehenden armeniſchen Dichter, Improviſatoren, welche ihre langen Heldengeſchichten in Perſien und Kleinaſien Ar dich⸗ ten Alles in tatariſcher Sprache.

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der Koran wird eifrig ſtudirt. Es exiſtiren auch einige höhere Schulen, wo arabiſch und perſiſch gelehrt wird. Ihre Wollahs bilden ſich meiſt in Gargali, zwei Meilen von Orenburg, wo eine berühmte tatariſche Schule iſt, aus. Viele gehen auch nach Buchara, wo nach ihrer Behauptung der Sitz großer Gelehrſamkeit ſein ſoll. Wit Buchara exiſtiren überhaupt viele Verbindungen), ſowohl in Betreff des Handels als der Religion. Die letztern hat das ruſſiſche Gouvernement abzuſchneiden geſucht, indem es einen muhameda- niſchen geiſtigen Mittelpunkt in Ufa, durch Ernennung eines Wufti, bildete, dem die ganze geiſtliche Gerichtsbarkeit über alle Muhame⸗ daner des Reichs anvertraut ward.

Der Charakter der Tataren iſt liebenswürdig, ſie ſind verträg— lich, ehrliebend, freundlich, zutraulich, ordentlich, reinlich. Gegen die Ruſſen herrſcht noch alte Antipathie und großes Wißtrauen, doch ſind fie dem Gouvernement ergeben und gehorſam. Gegen Fremde, beſonders Deutſche, ſind ſie offen, herzlich und gaſtfrei, in ihrem Familienleben liebevoll und ihre Kinder erziehen ſie ſehr gut. Ihr Lebenswandel iſt in der Regel moraliſch. Die Wollahs üben in dieſer Beziehung eine ſtrenge Cenſur, welche ſich ſo weit erſtreckt, daß bei notoriſchen Verbrechen das ehrliche Begräbniß von ihnen verweigert wird. Eine Strafe, vor der die Tataren die größte Scheu haben.

In den tatariſchen Dörfern iſt es ſelten, daß ein Wann mehr als eine Frau hat. In den Städten, beſonders unter den wohl— habenden Kaufleuten, kommt es oft vor; aber mehr als zwei Weiber zu haben iſt ſehr ſelten. Die Weiber werden gekauft und für ſie der Kalim gezahlt, der ſelbſt bei Bauern oft bis auf 500 Rubel Banco ſteigt. Verſtößt der Mann ſeine Frau wegen Ehebruchs, ſo muß ihm der Kalim zurückgezahlt werden. Kann er aber den Ehebruch nicht behaupten oder beweiſen, ſo erhält er ihn nicht zurück.

Die Tataren auf dem Lande ſind ſehr fleißige Bauern und vortreffliche Bienenväter. Sie ſind faſt alle perſönlich frei Nur giebt es unter ihnen einige Wurſas (eine heimiſche Fürſtenfamilie),

) Buchariſche Kaufleute ſieht man häufig in Kaſan. Sie erkaufen ſich dort gern tatariſche Weiber, meiſt Mädchen von 12—13 Jahren.

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denen der Czaar Iwan Waſſiljewitſch Dörfer geſchenkt hat. Die Einwohner derſelben ſind Leibeigene, doch ſoll die Leibeigenſchaft der Sitte nach ſehr eingeſchränkt und milde ſein. *

Ihre Nahrungsmittel ſind vorherrſchend Fleiſchſpeiſen. Schwei— nefleiſch vermeiden fie, weil der Koran es verbietet, Pferdefleiſch gilt bei den gemeinen Tataren als die größte Leckerſpeiſe, Honig und Wilch lieben ſie ſehr und bereiten aus Honig guten Meth. Die Vornehmen trinken ſehr viel Thee, und da in ihren Händen ein großer Theil des Theehandels liegt, ſo trinkt man bei ihnen die vortrefflichſten Sorten.

Ueber die eigentliche Bedeutung des Wortes Tatar bemerkt Humboldt Folgendes“): Im ruſſiſchen Reiche gilt die Benennung Tataren ſtets für einen türkiſchen Wenſchenſtamm, in dem man nicht eine mongoliſche Geſichtsbildung ſuchen muß. Die Tataren der Krimm, des Gouvernements Kaſan und die von Tobolsk ge— hören zu dem ſogenannten kaukaſiſchen Menſchenſtamm. Tataren ſind Türken, aber die Benennung Tataren gehörte urſprünglich bei aſiatiſchen Schriftſtellern den Wongolen an. Die falſche An— wendung des Wortes Tatar, welches Mongolen (Moho, Mongu) bezeichnete, auf den fihönern türkiſchen Menſchenſtamm wurde durch die mongoliſchen Eroberungen veranlaßt. Die Chane, die nach der Zerſtücklung des Reichs der Dſchingischaniden in Kaſan, Aſtra— chan und der Krimm herrſchten, hießen Tataren; ihre Unterthanen und Armeen waren größtentheils türkiſch. Sie ſelbſt nahmen bald die türkiſche Sprache an, und ſo entſtand der Gebrauch, die Be— nennung Tataren von der Herrſcher-Familie auf die beherrſchten Türken zu übertragen. Wenn man bei uns ſo oft von tatariſchen Geſichtszügen redet und darunter ein gewiſſes Schiefſtehen der Augen oder das Aufgeworfene der Backenknochen verſteht, ſo läßt ſich dieſer Ausdruck allerdings durch die alte Identität der Mongolen und Tataren rechtfertigen; aber die Tataren des ruſſiſchen Reiches haben als Türken eine kaukaſiſche, den indo-germaniſchen Stämmen ähn—

liche Geſichtsbildung und im obigen Sinne des Worts ſahen die

Tataren von Kaſan und Tobolsk keineswegs tatariſch aus, das

) Roſe, hiſtoriſcher Bericht ꝛe. I. S. 108.

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heißt, fie gleichen nicht den mongoliſchen Stämmen der Kalmüken, Sungaren, Torguten und Buräten.

Am 9. Juni ſetzten Humboldt und ſeine Gefährten ihren Weg fort. Von dem Balkon an der Hinterſeite, wo ſie wohnten, warfen ſie ſcheidend noch einen Blick auf den daran ſtoßenden Garten und die Stadt, die man von hier aus vortrefflich überſehen konnte, und nahmen Abſchied vom Profeſſor Soimonoff und anderen Freunden, die ſie am Worgen noch aufgeſucht hatten.

Ihr nächſtes Ziel war die Stadt Perm, welche von Kaſan 574 Werſte entfernt iſt. Der Weg iſt auf den erſten Stationen von Kaſan nicht unangenehm und führt zum Theil durch einen ſchönen Wald von Pappeln, Eichen und Linden; doch iſt er äußerſt ſandig. Bei Arsk, der zweiten Station von Kaſan, kam man aber auf einen feſten fruchtbaren Lehmboden, welcher ziemlich den Tag über an— hält und auf dem die Tataren, die auch hier die umliegenden Ort— ſchaften bewohnen, die Reiſenden mit gewohnter Schnelligkeit be— förderten.

Auf dieſem Wege ſahen die Letzteren zum erſten Wal einen Transport von Verbannten, die nach Sibirien geſchickt wurden. Er beſtand aus Frauen und Wädchen, etwa 60 bis 80 an der Zahl. Sie gingen frei, waren alſo nur leichtere Verbrecher; ſchwerere, wie ſie den Reiſenden ſpäter noch begegneten, gehen zu beiden Seiten eines langen Taues, an welches ſie mit einer Hand befeſtigt ſind. Ein jeder ſolcher Transport wird von Baſchkiren eskortirt, die be— ritten, mit Lanze, Pfeil und Bogen bewaffnet und mit ihren ſpitzen Mützen, zottigen Mänteln und ihrer eigenthümlichen Geſichtsbildung, worin ſie ſich ſchon den Kalmüken nähern, durch Abbildungen und Beſchreibungen hinlänglich bekannt ſind. Bei allen Stationen, etwa alle 30 Werſte, ſind auf dieſem Wege, der Hauptſtraße nach Si— birien, hölzerne, mit Palliſaden umgebene Häuſer erbaut, in welchen die Verſchickten, wie man in Rußland die nach Sibirien Verbannten nennt, die Nächte zubringen und den vierten Tag Ruhetag halten. Das öſtere Zuſammentreffen mit ihnen erhöht die Annehmlichkeit der Straße nach Sibirien gerade nicht; die Behandlung der Trans— portirten iſt übrigens, ſoweit ſich Profeſſor Roſe davon überzeugen konnte, nicht ſchlecht; auch die Stationen ſind nicht zu groß, aber

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der Weg iſt doch durch die außerordentliche Länge ſehr be— ſchwerlich.

Ein engliſcher Reiſender, Ch. H. Cottrells), welcher im Jahre. 1840 Sibirien beſuchte, und von Woskau aus einem Transport von 80 Verbannten beiwohnte, berichtet Folgendes: Nachdem Alles zum Aufbruch des Schutzgeleites vorbereitet iſt und die Geſellſchaft eine tüchtige Mahlzeit von Brod, Suppe und Quas eingenommen hat, wird ſie in Warſchordnung gebracht und tritt unter einer Be— deckung von Soldaten mit einem Offizier, der jeden Tag abgelöft wird, bei Trommelwirbel ihre Reiſe an. Von den Gefängnißmauern wird der Zug der Verurtheilten bedeutend durch deren Familien vermehrt, welchen es jederzeit erlaubt iſt, ihre Verwandten zu be— gleiten, und diejenigen, welche die Wittel dazu haben, können ſich, ſtatt zu Fuß zu gehen, mit geringen Koften einen „abooz“ oder Schlitten verſchaffen. Die Ketten haben bei dem verwegenſten Ver— brecher nie mehr als ein Pfund Schwere. Wan legt ſie an die Hände oder an die Beine, je nach der Wahl der Gefangenen, die zwei und zwei an einander beſeſtigt werden; ſie ziehen es gewöhn— lich vor, Hände und Arme frei zu haben. Der Warſch der Ver— bannten beträgt am erſten Tage nur vier Stunden, verändert ſich aber nach Entfernung der Dörfer, wo ſie übernachten, und geht nie über ſechs bis ſieben Stunden hinaus. Da wir denſelben Weg, den ſie gewöhnlich wandern, bis zum entfernteſten Ziele verfolgt haben, ſo können wir das Zeugniß geben, daß, je weiter ſie kom— men, ihre Herbergen immer beſſer werden. Es giebt in jedem Dorfe ein ausſchließend für die Gefangenen beſtimmtes Haus, das meiſtens das beſte in der Umgegend iſt. Sie bekommen ein kleines Taggeld für ihren Lebensunterhalt, das ſie zuſammenſchießen, und vermehren ihre Wittel durch die milden Gaben, die ſie ſtets von den Einwohnern der Orte empfangen, durch welche ihr Weg führt. Die Kaufleute und die reicheren Krämer widmen dieſem Zwecke jährlich große Summen, und in Sibirien werden die Verbannten

*) Sibirien. Nach feiner Naturbeſchaffenheit, ſeinen geſellſchaftlichen und politiſchen Verhältniſſen und als Strafcolonie geſchildert. Deutſch von Lindau. 2 Thle. Dresden und Leipzig 1846.

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oder, wie man ſie ſchlichtweg nennt, die „Veſttſchaſtni ludi“ (un⸗ glückliche Leute) oft ganz durch die Wildthätigkeit der Eingebornen erhalten. Wir find feſt überzeugt, (verfichert Cottrell) daß dieje— nigen, die ſich gut aufführen, unterwegs ſelten ſchlecht behandelt werden; doch da der Offizier, der ſie unter ſeiner Obhut hat, nur auf einer Tagereiſe mit ihnen geht, ſo mag es wohl vorkommen, daß fie beim häufigen Wechſel der Aufjeher dann und wann in die Hände eines gefühlloſen und tyranniſchen Mannes fallen.

Es war ſpät Abends, als unſre Reiſenden in der Kreisſtadt Walmüſch ankamen. Der Poſtmeiſter, in deſſen Wohnung fie eins traten, um ſich Thee zu bereiten, machte ſie auf eine Wenge Knochen und Zähne von Mammuthen aufmerkſam, die er theils in ſeine Zimmer, theils vor ſein Haus hatte legen laſſen, und die alle an den Uſern der Wjatka, in deren Nähe Malmüſch liegt, gefunden wurden.

Die Stadt Walmüſch gehört bereits, gleichwie die vorherge— hende Station Jänjulowskaja, zum Gouvernement Wjatka. Dieſes Gouvernement bildet auf dem Wege, auf welchem die ſibiriſche Straße daſſelbe durchſchneidet, eine mit Wald bedeckte Hochebene, welche ſich bis 800 Fuß erhebt. Auf ihr entſpringen eine Wenge Flüſſe, die der Kama und Wjatka zufließen, von denen dieſes Pla— teau gleichſam eingefaßt wird. Beide Flüſſe entſpringen nicht weit von einander, ziemlich in der Mitte deſſelben und fließen anfangs in paralleler Richtung nordwärts fort, bis ihr Lauf ſich krümmt und die Kama etwa 120 Werſte ſüdöſtlich von Walmüſch die Wjatka in ſich aufnimmt. Die Flüſſe dieſes Bezirks ſind ſehr fiſchreich und die Sterledde der Tſchepza, eines Seitenfluſſes der Wjatka, in der Gegend ſehr berühmt.

Die Waldung, die dieſes Plateau bedeckt, beſteht hauptſächlich aus Tannen und Fichten (Pinus Abies und sylvestris), deren Stämme man ſelten ausgezeichnet und groß fand, wenigſtens nicht in der Nähe der Landſtraße. Weiße Birken in dem Kienwalde, ſchöne grüne Linden, meiſtens von geringer Größe und ſtrauchartig, nebſt wil- den Roſenſträuchern, die in üppiger Fülle zur Seite des Weges blüh— ten, bildeten zuweilen für das Auge überraſchend angenehme Grup— pen; doch waren ihre Formen botaniſch noch immer dieſelben wohlbe—

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kannten, wie fie ſich auch bei Berlin finden. Der Wald, welcher gleich hinter Malmüſch anfängt, währte ohne Unterbrechung die fol— genden Tage, den 10. und den 11. Juni hindurch fort. Nur in der Umgebung der Dörfer war er etwas gelichtet und in Ackerfeld ver— wandelt; aber die Dörfer finden ſich nur ſparſam alle 20 —25 Werſte, wo die Stationen ſind, dazwiſchen ein. Unabſichtlich iſt er auch an andern Stellen durch Waldbrände weggenommen, deren Ver— wüſtungen zwar öfter in den ſibiriſchen Wäldern ſichtbar ſind, die aber nie ſo häufig angetroffen werden als hier. Die Reiſenden fuhren zuweilen meilenweit ohne zu ihren Seiten etwas anderes als die verkohlten Ueberreſte von Baumſtämmen zu ſehen, was einen traurigen Anblick gewährte. Freilich werden dergleichen Waldbrände zuweilen wohl abſichtlich wie in Schweden angelegt, um Land zum Ackern zu gewinnen, aber nur bei weitem dem kleinern Theil nach; die meiſten entſtehen aus Nachläſſigkeit von Hirten oder Wanderern, die ſich im Walde zur Erwärmung oder zur Bereitung der Speiſen ein Feuer machen, das ſie beim Fortgehen nicht wieder auslöſchen. Das Feuer greiſt dann oft außerordentlich weit um ſich und wird gewöhnlich nur durch zufällige Umſtände, meiſtens nur durch ſtarke Regengüſſe, gelöſcht. Auf dieſe Weiſe werden oft ungeheuere Strecken Waldes vernichtet; aber man achtet darauf nicht, denn der Wald hat keinen Werth und wächſt mit der Zeit wieder nach.

Die Straße, die durch den Wald geht, iſt wie alle ruſſiſche Landſtraßen groß und breit, außerdem aber noch zu beiden Seiten faſt um die nämliche Breite vom Walde frei gemacht. Sie iſt auch hier mit einer doppelten Reihe von Birken eingefaßt. Ungeachtet ihrer Breite iſt ſie jedoch vortrefflich; ſie iſt mit einem groben Kies überſchüttet, der unter der rothen lehmigten Dammerde hier überall gefunden wird und ein eben jo gutes wie leicht zu erhaltendes Ma— terial zum Wegebau abgiebt. In Kilmes-Seltinskaja, einem Dorfe, in welchem die Reiſenden am 10. Juni Mittag machten, wurde ihnen ein verſteinertes Holz gewieſen, welches in einzelnen Stücken in dieſem Sande vorkommt.

Die Bewohner dieſer Gegenden ſind die Wotjaken, ein Volk, das zum finniſchen Stamme der Permier gehört. Die eigenthüm: liche Sprache der Wotjaken ift etwas mit dem Dialekte der

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Tſchermiſſen gemiſcht, die mit den Mordwinen zum Stamme der Wolgiſchen Finnen gehören; wogegen Tſchuwaſchen, Baſchkiren und Kirgiſen Zweige des großen türkiſchen Stammes ſind. Sie haben indeſſen meiſtentheils die chriſtliche Religion und mit dieſer auch die; ruſſiſche Sprache und ruſſiſche Sitten angenommen, ihre eigenthüm— liche Tracht jedoch noch größtentheils beibehalten. Die Frauen tra— gen nämlich hohe Mützen von der Form eines abgeſtumpften Kegels, die aus Birkenrinde beſtehen, mit blauem Tuch überzogen und vorn mit ſilbernen Münzen und rothen Franzen behängt ſind; die Wäd— chen tragen niedrige Kappen, über welche ein viereckiges weißes Tuch geſchlagen iſt, welches nach hinten herabhängt. Wit den thurmähnlichen Mützen verrichten die Frauen auch ihre Arbeit auf den Feldern.

Das letzte von Wotjaken bewohnte Dorf, das man am 11. Juni Vormittags paſſirte, war Debeskaja. Es iſt zugleich das letzte in dem Gouvernement Wjatka, das folgende, Klenowka, gehört zum Gouvernement Perm und wird ſchon wieder von Ruſſen bewohnt. In der Vacht ſetzten unſre Reiſenden jenſeits Ochansk über die Kama und kamen am Morgen in Werchne Mulinsk auf den Gü— tern des Grafen Polier an, wo ſie den Tag über (den 12. Juni) verweilten.

Werchne-⸗Wulinsk iſt ein großes Dorf. Es hat eine ſteinerne Kirche mit einem Thurm und einem Glockenſpiel und liegt 10 Werſte weſtlich von der Gouvernementsſtadt Perm an dem kleinen Flüßchen Muli, das ſich nicht weit davon in die Kama ergießt. Die Reiſen— den hatten erſt die Abſicht die dem Grafen zugehörigen Kupfergruben und Hütten zu beſuchen; doch die Beſichtigung derſelben hätte, da fie jenſeits der Kama ziemlich entfernt von Werchne-Wulinsk lie: gen, zu viel Zeit gekoſtet. Die Kupfererze, welche daſelbſt gewon— nen werden, ſind ſogenannte Sanderze. Sie beſtehen aus einem feinkörnigen, zuweilen auch grobkörnigen Sandſtein, der Geſchiebe bis zu der Größe einer Haſelnuß enthält, die aus Quarz, Hornſtein und Jaspis zuſammengeſetzt ſind. Dieſer ſehr kalkhaltige Sandſtein iſt meiſtentheils mürbe und bröcklich und zerfällt an der Luft. Die Kupfererze, welche er enthält, beſtehen größtentheils aus erdigem Walachit und aus Kupferlaſur, die in dem Sandſtein fein vertheilt ſind

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und oft nur als eine Färbung deſſelben erſcheinen; doch kommt die Kupferlaſur auch in kleinen Körnern und Kugeln vor.

Ueberreſte von Vegetabilien finden ſich häufig in dieſem Sand— ſtein, zuweilen auch Ueberreſte von Fiſchen. Die erſteren beſtehen meiſt aus mehr oder weniger großen Stamm- und Aſtſtücken und ſind gewöhnlich in ſchwarzgefärbten Hornſtein umgewandelt, an welchem man jedoch noch deutlich die Jahresringe erkennen kann; doch findet man auch Stücke von baumartigen Farrnkräutern, die entweder bloße Steinkerne von Sandſtein find oder noch die äußere, in Kohle umgeänderte Rinde erkennen laſſen. Die Kupfererze haben ſich beſonders an ſolchen Stücken angehäuft und dieſe mehr oder minder durchdrungen. Von Fiſchen erhielten unſere Reiſenden in Werchne-Wulinsk zwei ſchöne Exemplare, an denen zwar nicht die Köpfe und Floſſen zu ſehen, aber die Körper mit den Schuppen ſehr gut erhalten waren. Ein anderes kleineres Exemplar, aber mit Kopf und Schwanzfloſſen, befand ſich ſchon in der Sammlung zu Berlin.

Die Erze ſind nicht reich, aber leicht zu verſchmelzen, ſie geben in der Regel nur bis 3 Procent Garkupfer. Der Bergbau auf dieſe Sanderze iſt ſchon ſehr alt; denn ehe er von den Ruſſen in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder aufgenommen wurde, war er ſchon von einem älteren Volke, wenigſtens in den ſüdlichen Gegenden, betrieben worden, und die alten Halden und abgeteuften Schachte derſelben an den Ufern der Sakmara und Dioma haben ſehr häufig Veranlaſſung zur Ent— deckung der jetzt bearbeiteten Gruben gegeben. Spuren eines ſolchen früher betriebenen Bergbaues hat man auch auf der Oſtſeite des Urals ſelbſt, ja im ganzen Altai und in der Kirgiſenſteppe geſunden. In Rußland ſchreibt man dieſen ausgedehnten Bergbau den Tſchuden zu und nennt daher dieſe alten Arbeiten Tſchudiſche Arbeiten.

Von Werchne-Wulinsk an ſetzten unſere Reiſenden nun gemein— ſchaftlich mit dem Grafen Polier ihren Weg fort. Sie brachen am Morgen des 13. Juni auf und trafen ſehr bald in dem nah— gelegenen Perm ein, welches unmittelbar an dem linken Ufer der Kama liegt. Erſt in neuerer Zeit iſt Perm zur Gouvernements— ſtadt erhoben worden, bis zum Jahre 1780 war es nur ein unbe—

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deutender Flecken (Slobode). Die Stadt ift gegenwärtig ſchon von ziemlichem Umfang und treibt großen Verkehr, da alle die Kama herabkommenden Schiffe bei ihr anlegen müſſen. Sie hat gerade und breite Straßen, einen großen Markt und mehrere Kirchen und iſt rundherum mit einer ſchönen Allee von Birken umgeben. Ihre Häuſer find meiſtentheils von Holz, doch find alle Kronsgebäude von Stein aufgeführt. Im Jahre 1851 zählte Perm 13,262 Ein⸗ wohner. Zur Zeit der Humboldtſchen Reiſe war Perm noch der Sitz der oberſten Behörde für die Bergverwaltung des Urals, die aber ſpäter nach Katharinenburg verlegt wurde.

Die Reiſenden hielten ſich in Perm nur ſo lange auf, als Humboldt Zeit bedurfte, um einige nothwendige Beſuche zu machen; Roſe und Ehrenberg beſtiegen inzwiſchen einen Berg, der ſich gleich hinter der Stadt erhebt, aus grauem Sandſtein beſteht und ſehr wahrſcheinlich noch zur Formation des Kupferſandſteins gehört, ſonſt aber nichts Merkwürdiges darbietet.

Das nächſte Ziel war nun die Stadt Katharinenburg, welche 360 Werſte von Perm entfernt und ſchon auf dem Oſtabhange des Urals gelegen iſt, dem man jetzt ohne Aufenthalt und erwartungs— voll entgegeneilte. Der Weg, welcher von Kaſan aus bis Perm eine ganz nordöſtliche Richtung genommen hatte, wandte ſich nun wieder ſüdöſtlich bis nach Atſchitskaja und erſt von hier aus nimmt er eine gerade öſtliche Richtung. Wenn die Straße nicht über Perm führte, welches mehr als 15 Meilen nördlicher liegt als Katharinen— burg, ſo könnte der Weg von Kaſan nach dieſem Theile des Urals bedeutend abgekürzt werden; indeß die Straße iſt vortrefflich und die Gegend ſehr angenehm. Anfangs führt der Weg über mehrere Bergrücken fort, die von derſelben Beſchaffenheit ſind, wie der bei Perm beſtiegene. Wald und Wieſen wechſeln zu beiden Seiten und gewähren immer neue Anſichten. Mehrmals eröffnete ſich noch von den Höhen durch die Waldung ein freier Durchblick auf Perm, deſſen Thürme den Horizont begrenzten. Der Wald beſtand aus Weiß- und Rothtannen, von denen ſich die erſteren ſchon von fern durch ihr dunkles Laub und ihre ſpitzere pyramidaliſche Geſtalt kennt— lich machten. Dazwiſchen ſtanden Birken und Pappeln (Schwarz, Weiß⸗ und Zitterpappeln, beſonders die letzteren), welches bunte

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Gemiſch von Laub- und Nadelholz die Reiſenden auch ſo häufig am Ural fanden und das den Wäldern dieſes Gebirges den ſo eigen— thümlichen Reiz und das ſchöne parkähnliche Anſehen giebt. Dieſe Beſchaffenheit behielt der Weg indeß nur die erſten beiden Stationen von Perm; auf der dritten wird er ebener, der Wald hört mehr und mehr auf und macht bebauten Ackerfeldern Platz. Auch der Sandſtein verſchwindet und wird von einem dichten Kalkſtein bedeckt.

Nachmittags traf man in der Kreisſtadt Kungur ein, die eine recht anmuthige Lage am Abhange eines Bergrückens hat an dem Einfluſſe des Iren in die Sülwa, mit der jenes Flüßchen durch die Tſchuſſowaja in die Kama fällt. Die Stadt iſt durch die in der Nähe im Gyps befindliche Höhle bekannt, die unſere Reiſenden, da ſie nur vier Werſte von der Stadt entfernt iſt, nicht ununterſucht laſſen wollten. Sie liegt nordöſtlich von Kungur an einem Berg— abhange unmittelbar an dem jenſeitigen rechten Ufer des Iren. Ganz in der Nähe befindet ſich ein Dorf, bei welchem man ſich überſetzen ließ; da es aber nicht möglich war, in demſelben einen Führer zum Beſuchen der Höhle zu finden, jo mußte man fi) mit dem Aeußern begnügen, das weiter keine Merkwürdigkeit darbot. Der Abhang des Berges beſteht aus reinem Gyps, der große Lagen von Kalk— ſtein eingeſchloſſen hat, und in dieſem befindet ſich 18 Faden über

dem Waſſerſpiegel der Eingang zur Höhle, der nur eng und klein

iſt. Dr. Erdmann, welcher dieſelbe im Jahre 1816 beſuchte, giebt folgende Beſchreibung von ihr?):

Mit Kerzen und einer langen aufgerollten Schnur ſtiegen wir zu dem Eingang hinauf. Den Vorhof, in welchem wir unſere Lichter anzündeten, bildet ein Gewölbe, das hinten zu einer ziemlich engen Oeffnung führt. Durch dieſe kriecht man abwärts in die erſte bedeutende Abtheilung von 21 Faden Länge. Düſter wölbt ſich in derſelben die graue Decke empor, während Felſentrümmer den Boden bedecken und klaffende Spalten zur Seite heraufgähnen. Dann kommt man durch eine andere Schlucht in ein anderes Ge—

*) Beiträge zur Kenntniß des Junern von Rußlands II. 2. S. 147. ff. Eine noch ausführlichere Beſchreibung der Eishöhle bei Kungur findet ſich, nach dem Ruſſiſchen von Kittara, in Erman's Archiv für wiſſenſchaftliche Kunde von Rußland, VIII. S. 75 ff.

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wölbe von acht Faden Länge. Wie mit Kryſtall überzogen ſtrahlt hier die ſchneeweiße Decke blendend den Schein des Lichtes wieder, und wo man ſich hinwendet, erblickt man das Geſtein mit einem dicken Reife in Form von ſchön geordneten Spießen und Blättern des reinſten Eiſes belegt. Eine neue Schlucht führt zu einer dritten Abtheilung von 18 Faden Länge. In dieſer gelangt man links zu einem hohen Eisberge, von dem herabtriefenden Waſſer gebildet, und der Wärme des Sommers, gleich einem Gletſcher, trotzend. Schon nähert ſich ſein Gipfel der Decke des Gewölbes und wird ſie im Laufe der Zeit wahrſcheinlich erreichen.

Man geht daran vorüber und wendet ſich hinter ihm zu einer vierten Grotte von größerer Ausdehnung. Beim Eingange der— ſelben erheben ſich ſchlanke Eispfeiler ſenkrecht vom Boden bis zur Decke, und ſcheinen letztere zu ſtützen; dann wandert man zwiſchen großen Steinblöcken und zertrümmerten Floͤzſchichten über einige ſpiegelnde Eisflächen, und gelangt nach 50 Faden Entfernung von jenen Pfeilern zu neuen Säulen gleicher Art. Auf dieſem Wege wölbt ſich die Decke bisweilen zu einer bedeutenden Höhe, und an zwei Stellen ſteigen ſenkrechte Schluchten empor, deren Ende das Auge nicht zu erreichen vermag, und die von herabſtrömenden Waſ— ſern gebildet zu ſein ſcheinen, ob ſie gleich oben geſchloſſen ſind. Durch engere und weitere Stellen ſchlingt ſich der Pfad jetzt zwi— ſchen Felſentrümmern und Seitenſchluchten in verſchiedener Richtung zu einer neuen Grotte, deren zernagte Wände wie Tuffſtein erſchei— nen, und 625 Faden vom Eingange entfernt, gelangt man zu einem See, der ſich noch weit unter dem niedrigen Felſengewölbe fort— zieht. Da uns das Waſſer hier nicht weiter vorzudringen erlaubte, ſo kehrten wir, von unſrer durch die labyrinthiſchen Gänge ge— zogenen Schnur geleitet, zurück. Indeſſen ſoll man bei trockner Witterung 120 Faden weiter zu einem zweiten See gelangen, bei welchem ein Kreuz errichtet iſt, deſſen Urſprung man nicht kennt. Was die Richtung dieſer Höhle betrifft, ſo iſt ſie anfangs nord— öftlih, dann nördlich, dann öſtlich und endlich ſüdöſtlich. Die Schluchten und der Boden in derſelben ſteigen bald auf, bald ab woraus die verſchiedene Temperatur der einzelnen Grotten, die bald

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Waſſer bald Eis enthalten, erklärbar wird. Im Ganzen ſenkt ſie ſich aber allmälig immer tieſer unter den Horizont hinab. Auch die Höhe derſelben iſt ſehr verſchieden. Denn bald berührt die Decke faſt den Boden und läßt nur eine klaffende Spalte zum mühſeligen Durchſchlüpfen übrig, bald wölbt ſie ſich zu einer Höhe von 5—8 Faden empor und läßt die Stimme im vervielfachten Echo wiederhallen. Uebrigens giebt es außer den beſchriebenen Gemächern noch eine Wenge andrer; denn überall öffnen ſich zwi— ſchen den herabgeſtürzten Bruchſtücken neue Schlupfwinkel und Ein: gänge zur Seite, ſo daß man den Ausweg ſchlechterdings nicht wiederfinden würde, wenn man nicht dem Beiſpiele der Ariadne folgte. Unſer Begleiter behauptete, mehr als 100 verſchiedene Grotten von mancherlei Geſtalt und Größe befahren zu haben, die nach ihm drei Hauptreihen bilden.

Nachdem Humboldt und ſeine Gefährten nach Kungur zurück— gekehrt waren, ſetzten ſie ihre Reiſe in der Nacht raſch vorwärts. Am folgenden Morgen, den 14. Juni, trafen ſie in Atſchitskaja ein, wo ſie nach Oeffnung der Wagen, die ſie während der ſehr kalten Nacht geſchloſſen hatten, eine lange, ziemlich niedrige Berg— kette vor ſich ſahen, die in faſt gerader Linie mit wenig Krüm— mungen im Norden und Süden den öſtlichen Horizont begrenzte. Es waren die Vorberge des Urals. Hinter dem 224 Werſte von Atſchitskaja entfernten Dorfe Biſſerskaja erreichten ſie dieſe Gebirgs— kette ſelbſt. Sie beſteht aus einem rauchgrauen, mergelichten Sand— ſtein, der wahrſcheinlich ſehr neuen Urſprungs iſt. Er bildet hinter— einander fortlaufende Züge, die alle von Nord nach Süd ſtreichen, auf der weſtlichen Seite meiſtens prall anſteigen, auf der öſtlichen allmäliger abfallen und ſich zu einer Höhe erheben, die der des eigentlichen Urals auf der ſibiriſchen Hauptſtraße nur ſehr wenig nachſteht. Ein Bergrücken, acht Werſte hinter Biſſerskaja, Mayas⸗ kaja Gora genannt, hat eine Höhe von 973 Fuß, 297 über Biſſers— kaja; ein anderer 74 Werſte dieſſeits Klenowskaja, nach dieſem Dorfe auch der Klenowskiſche Berg (Klenowoͤkaja Gora) genannt, 1094 Fuß. Die größte Ausdehnung ſowohl an Höhe als auch an Breite hat aber ein anderer mächtiger Rücken, Bereſowaja Gora genannt, zwi—

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ſchen Kirgiſchansk und Klenowskaja, welcher eine Höhe von 1168 Fuß erreicht.

Dieſe verſchiedenen Bergrücken ſind mit der ſchönſten Waldung bedeckt, die aus denſelben Bäumen beſteht, wie bei Perm, hier aber mit freien Plätzen voll des üppigſten Krautwuchſes abwechſelt, der ſo dicht und hoch iſt, daß er da, wo er einmal überhand genommen hat, gar keine Bäume und Sträucher aufkommen läßt. Hier fans den die Reiſenden neben Trollius europaeus und Dracocephalum nutans den ſchönen Orobus lathyroides in voller Blüthe und Li- lium Martagon mit ſchwellenden Knospen. Unter der Waldung waren große Strecken von den Blüthen verſchiedener Cypripedien auf das prachtvollſte verziert. Die großen glockenförmigen Blumen des Cypripedium Calceolus, guttatum und Macranthus bildeten oſt einen abwechſelnd gelben, blauen und rothen Teppich von der überra— ſchendſten Schönheit. So raſch war der Wechſel vom Sommer zum Winter geweſen! Die Newa hatte man noch im Eisgange verlaſſen und am Ural fand man drei Wochen ſpäter ſchon alle Kräuter in voll— ſter Blüthe! Der kalten Nacht war ein ſonnenklarer warmer Tag ges folgt und erhöhte noch den Eindruck, den dieſer erſte Eintritt in den Ural auf die Reiſenden machte. Es war Sonntag; in Kle— nowskaja wurde das Pfingſtfeſt gefeiert, alle Welt war vor den Thüren und freute ſich des Feſtes und des Tages.

In Grobowskoje, der dritten Station von Biſſerskaja, welche man erſt mitten in der Nacht erreichte, tritt der Kalkſtein an die Stelle des Sandſteins. Bei anbrechendem Worgen ſetzten die Reiſenden über die Tſchuſſowaja. Die Tſchuſſowaja iſt ein für dieſen Theil des Urals ſehr wichtiger Fluß, da er ſehr bald nach ſeinem Ur— ſprunge, wenigſtens im Frühjahr bei ſchwellendem Waſſer, ſchiffbar und zum Transport der Produkte des Urals vielfältig benutzt wird. Er entſpringt etwa 70 Werſte ſüdlich von Bilimbajewsk und fließt von hier aus ziemlich lange in nördlicher Richtung auf der Weſt— ſeite des Urals entlang, bis er ſich ungefähr in der Breite von Perm nach Weſten wendet und ſich 12 Werſte nördlich von Perm in die Kama ergießt.

Die regelmäßige Schifffahrt auf der Tſchuſſowaja beſteht

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fchon feit der Regierung Peters des Großen“), wo der Tulaer Kaufmann Demidoff anfing am Ural Erze zu ſuchen, Hütten anzulegen und deren Produkte zu verſchiffen; ſie erſtreckt ſich von der Redwiner Hütte an, die 20 Werſte oberhalb von Bilimbajewsk liegt, faſt 500 Werſte weit abwärts. Gegenwärtig wird der Fluß jährlich von etwa 600 Schiffen verſchiedener Größe und mit ſechs Willionen Pud Ladung befahren. Dieſe letztere beſteht zu größerm Theil aus den Erzeugniſſen aller Staats- und Privat⸗ hütten des Katharinenburger Urals und es gehören dazu vorzüglich alle Arten von gefriſchtem Eiſen, Roheiſen und Kupfer, ſodann Artillerie- und andere Geräthe und endlich animaliſche und vegeta— biliſche Produkte, wie Talg, Oel oder Butter, Lein- und Hanf— faamen, Weiten u. a. Dies Alles wird zu Waſſer bis Niſchni⸗ Nowgorod gebracht und von da durch ganz Rußland verbreitet. Nach Art der Gebirgsflüſſe iſt die Tſchuſſowaja in ihren oberen Theilen von geringer Tiefe, ſchmal und reißend, in der Witte ihres Laufs ebenfalls ſchnell ſtrömend, gekrümmt, voll Klippen und Un⸗ tiefen, jo ‚wie mit hohen Felsufern begrenzt, in ihrem untern Theile dagegen, durch die Aufnahme vieler beträchtlicher Bäche, ziemlich breit, von langſamer Strömung und voll von veränderlichen, theils vorragenden, theils überſtauten Sandinſeln. Ihre Beſchiffung iſt mit Mühſeligkeiten und Gefahren verbunden. Die felſige Begren- zung zeigt ſich bald auf dem rechten, bald auf dem linken Ufer, doch immer nur einſeitig, ſo daß einer ſteilbegrenzten Stelle jedes— mal eine Niederung mit Wieſen, Wald, Ueberreſten eines alten Bettes und Sümpfen gegenüberliegt. An den felſigen Stellen ſieht man ungeheure Maffen eines dunkelgefärbten Kalkſteines, deſſen Schichten bald geneigt, bald ſenkrecht oder verſchiedenartig gebogen ſind. Einzelne Klippen, die bei den Windungen des Fluſſes von dem Ufer vorſpringen, der Strömung entgegenſtehen und ſie in zwei Hälften theilen, ſind am gefährlichſten für die Schiffer, weil das Waſſer, in Folge ſeiner zuvor erlangten Geſchwindigkeit ſich nicht plötzlich in die Krümmung des Bettes wendet, ſon—

) „Eine Fahrt auf der Tſchuſſowaja.“ Nach dem Ruſſiſchen von Rogow, in Erman's Archiv für wiſſenſchaftliche Kunde von Rußland. Bd. 12.

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dern bisweilen in feiner früheren Richtung, d. h. gerade gegen den Felſen, fortfährt und das Fahrzeug mit ſich reißt. An ſolchen Stellen beſteht die Kunſt des Lootſen darin, entweder bei Zeiten die Strömung gegen die Seite der Uferbiegung zu durchſchneiden, oder, je nach der zu Gebote ſtehenden Arbeitskraft, den geeigneten Augenblick zu finden, in dem das Schiff in die Richtung jener Wendung zu bringen iſt. Wenn er dagegen das Schiff zu früh wendet, ſo wird es auf das der Klippe gegenüberſtehende Ufer ge— worfen, welches immer mit Untiefen beſetzt iſt, während eine zu ſpäte Wendung das Scheitern an der Klippe zur Folge hat. Die Felſen werden natürlich um ſo gefahrbringender, je ſtärker der Wind iſt. In den engeren Thalſtrecken bricht dieſer oft plötzlich los und treibt das Schiff bald gegen die Klippen, bald gegen die gegenüberliegenden Bänke. Um die Gefahr zu vermeiden, müſſen daher, auf Befehl der Regierung, alle Schiffstigenthümer, welche die Tſchuſſowaja befahren laſſen, ſogenannte saplawni (d. h. Schwim— mer, eigentlich Beiſchwimmer) haben. Dieſe beſtehen aus vier bis fünf Balken, die mit einem Stricke verbunden ſind und vor dem Felsufer ſchwimmen. Sie vermindern wenigſtens den Stoß eines ſcheiternden Schiffes, indem ſie es verhindern, den Felſen ſelbſt zu berühren. Freilich kommt es auch vor, daß betrügeriſche Lootſen in Folge heimlicher Verabredung mit den Uferbewohnern mindeſtens ein Fahrzeug ihrer Karavane abſichtlich ſcheitern laſſen.

Bald darauf, nachdem die Reiſenden über die Tſchuſſowaja geſetzt waren, erreichten ſie die nur wenige Werſte davon gelegene Station, das Hüttenwerk Bilimbajewsk, das erſte, welches fie auf ihrem Wege trafen. Die Eiſenhütte liegt an einem kleinen Bache, der Bilimbajewska, die ſich in die Tſchuſſowaja ergießt und hier durch einen Damm zu einem Sparteich aufgeſtaut iſt, um für die Gebläſe der Oefen ſtets hinreichende Aufſchlagewaſſer zu liefern. Dergleichen Sparteiche ſahen ſie ſpäter bei allen Eiſenhütten des Urals; überall ſucht man ſich durch Aufſtauung von kleinen Bächen, an welchen man die Hütten angelegt, die zum Betriebe nöthigen Waſſer zu verſchaffen. Sieben Werſte von Bilimbajewsk kommt man zu einer zweiten Eiſenhütte, Schaitansk, an der Schaitanka, einem kleinen Bache, der ſich ebenfalls in die rechte Seite der

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Tſchuſſowaja ergießt. Drei Werfte weiter kommt man bei dem Dorfe Taliza über einen dritten kleinen Nebenfluß der Tſchuſſowaja, und dies iſt der letzte auf dieſem Wege, welcher den europäiſchen Gewäſſern zufließt. Der Weg erhebt ſich nun ganz allmälig noch etwa ſechs Werſte, bis man auf der Höhe eines breiten Bergrückens angelangt iſt, der den Namen Berſowaja Gora führt, wie der, welcher zwiſchen Klenowskaja und Kirgisſchanskaja gelegen iſt. Er bildet auf dieſem Wege die höchſte Erhebung, erreicht jedoch nur die ſehr mäßige Höhe von 1271 Fuß, die alſo nur um Weniges die des früheren gleichnamigen Berges überſteigt. Doch liegt nicht weit davon ſüdlich in demſelben Zuge ein anderer Berg, Wolſchaja Gora genannt, der den Paß auf der Straße nach Katharinenburg noch an 1000 Fuß übertreffen ſoll. Von der Bereſowaja Gora ſenkt ſich der Weg wieder eben ſo allmälig als er anſtieg und 15 Werſte von Schaitansk kommt man bei dem Dorfe Nowaja Klepejewskaja über einen kleinen Fluß, die Malaja (kleine) Räſcheta, der ſich in den Iſſet ergießt, ſich durch dieſen mit dem Tobol, Irtyſch und Ob vereinigt und alſo ſchon zu den aſiatiſchen Flüſſen gehört. Sie hat bei dem Dorfe eine ſüdliche Richtung, krümmt ſich aber bald nach Oſten und nimmt dann eine nordöſtliche Rich tung an, ſo daß bei dem Dorfe Räſchety, der letzten Station vor Katharinenburg, 23 Werſte von dieſer Stadt, der Weg zum zwei— ten Wale über ſie führt.

Die Bereſowaja Gora liegt alſo in dem Kamm des Gebirges, der hier zugleich auch die Waſſerſcheide bildet. Dies iſt jedoch nur auf dieſer Straße der Fall, denn wenige Werſte ſüdlich von der Wolſchaja Gora wird er durch die Tſchuſſowaja durchbrochen, die öſtlich von demſelben entſpringt und auch auf ſeiner Oſtſeite ſo weit entlang fließt, daß ſie ſich der kleinen Räſcheta bis auf eine Entfernung von vier Werften nähert, dann aber ihren Lauf ver⸗ ändert, in nordweſtlicher Richtung durch den Kamm des Gebirges dringt und erſt jenſeits Bilimbajewsk in der urſprünglichen nörd— lichen Richtung fortſetzt. Ein bedeutender Gebirgszug, der die Tſchuſſowaja von der kleinen Räſcheta trennte, findet ſich ſo wenig, daß man ſchon, um die beiden Flüſſe zu verbinden, einen Kanal projektirt hat, der, von keiner größern Länge als von vier Werſten,

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zu gleicher Zeit das Eismeer und das kaſpiſche Meer verbinden würde. Die Entfernung dieſer beider Waſſerſyſteme iſt ſogar noch geringer, denn etwas öſtlich von dem projektirten Kanal liegen noch mehrere kleine Seen, die ihren Ausfluß in die Tſchuſſowaja nehmen, ſich alſo der kleinen Räſcheta noch um ein bedeutendes nähern. Der höchſte Höhenzug bewährt ſich alſo hier nicht als vollſtändiger Waſſertheiler, eine Erſcheinung, die ſich im übrigen Ural noch häufig wiederholt.

Der Weg ſenkt ſich beſtändig bis hinter Räſchety. Jenſeits einer ſumpfigen Niederung, die mit Granitblöcken von verſchiedener Beſchaffenheit bedeckt iſt, ſteigt wiederum ein Bergrücken allmälig an, ohne jedoch die Höhe der Bereſowaja Gora zu erreichen. Auf ſeinem Rücken ſieht man ſteile und nackte Felspartien hervorragen. Der Granit dieſer Felſen war an der Oberfläche ſo verwittert und mürbe, daß es unmöglich war, mit dem Hammer ein friſches Stück abzuſchlagen. Die hervorragenden Felsſtücke find ganz mit gro— bem Grand zerfallenen Granits umgeben und feinerer Sand be— deckt den ganzen Weſt- und Oſtabhang des Berges. Mit dieſem Sande hört auch die üppige Vegetation der früheren Waldungen auf und ein einförmiger Fichtenwald tritt an ihre Stelle und reicht bis einige Werſte vor Katharinenburg. Dann tritt man aus dem Walde heraus und überſieht eine weite Ebene, jenſeits welcher ſich wieder mäßige Berge erheben, in deren Witte, ungefähr 400 Fuß über dem Weere, Katharinenburg liegt, das mit ſeinen vielen weißen Thürmen und großen ſteinernen Gebäuden einen überraſchenden An— blick gewährt, und für den Hauptſitz des uraliſchen Bergbaues gleich ein gutes Vorurtheil erweckt.

Von Rätſchety an, wo man Nachmittags anlangte, fuhr Hum— boldt voraus, um nicht zu ſpät in Katharinenburg einzutreffen. Ehrenberg und Roſe waren ihm nur langſam gefolgt, um beſſer den Wechſel des Geſteins auf dem Wege beobachten zu können. Als fie Abends ankamen, fanden fie am Eingange der Stadt einen Koſa— ken, der ſie erwartete und in das für ſie beſtimmte Quartier führte.

Es befand ſich ganz am entgegengeſetzten Ende der Stadt, ſo daß fie durch einen großen Theil derſelben fuhren und gleich einen Begriff von ihrer bedeutenden Ausdehnung erhielten. Die Straßen

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find breit und gerade und die hölzernen Häuſer meiſt einſtöckig, doch ragen zwiſchen dieſen große, weiße, ſteinerne Häuſer hervor, die in der Regel in einem ſehr guten Geſchmack angelegt und ent— weder Kronsgebäude und zu Wohnungen der Bergofficianten beſtimmt ſind, oder reichern Bewohnern des Orts gehören. Da man Humboldt mit einer größeren Begleitung erwartete, ſo hatte man eine Gegend der Stadt ausgeſucht, wo mehrere dieſer ſteiner— nen Häuſer in nicht zu großer Entfernung bei einander ſtanden, was gerade im Wittelpunkte der Stadt nicht der Fall war. Hum— boldt hatte eins dieſer Häuſer für ſich, Ehrenberg und Roſe gewählt, ein zweites hatte Herr Wenſchenin und ein drittes der Graf Polier mit ſeiner Begleitung bezogen. Das Haus, in welchem Humboldt wohnte, gehörte einem ruſſiſchen Kauſmanne, der, wie alle Ruſſen, einen langen blauen Ueberrock mit einem Gurt um den Leib und einen Bart trug; er hatte ſeinen Gäſten die beſten Zimmer im zweiten Stockwerk eingeräumt, die mit weißem Stuck bekleidet, um das Geſims herum eine ſchöne Stuckatur von Gyps hatten und ge— ſchmackvoll möblirt waren.

Hier wohnten unſere Reiſenden die ganze Zeit, ſo lange ſie in Katharinenburg verweilten. Leider konnte die Unterhaltung mit ihrem äußerſt gefälligen und zuvorkommenden Wirth meiſt nur durch ihren Bedienten geſchehen, der übrigens der ruſſiſchen Sprache vollkommen mächtig war. In Katharinenburg lernten ſie auch zu— erſt, da ſie bisher nur wenig Nächte in Häuſern zugebracht hatten, ein Ungeziefer kennen, das ſie ſpäter faſt in allen Häuſern Sibiriens antrafen, nämlich die Schaben (blatta orientalis) oder Tarakanen, wie man ſie in Rußland nennt. Obgleich das Haus, in welchem Humboldt wohnte, gewiß eins der beſten in Katharinenburg war, und ſonſt nirgends die größte Reinlichkeit vermiſſen ließ, ſo fanden fie ſich doch auch hier in großer Wenge. Sie laufen, jagt Prof. Roſe, auf dem Fußboden der Zimmer mit einem ſchnurrenden Ge— räuſch umher, beſonders des Abends, wenn man Licht brennt, und thun einem eigentlich nichts zu Leide; aber es hat doch etwas un— heimliches für den, der nicht daran gewöhnt iſt, die großen braunen Thiere ſo ungenirt herumlaufen zu ſehen.

Die Tarakanen, dieſe unendliche Plage der ruſſiſchen Häuſer,

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find von China aus allınalig bis zur Molga vorgefchritten “). Gegen 1765 erſchienen ſie am Don bei den Koſaken, die eben aus

dem ſiebenjährigen Kriege zurückkehrten und die neuen unbekannten und unbequemen Gäſte, in der Meinung, ſie ſelbſt hätten fie vielleicht unbewußt aus Deutſchland gebracht, Pruſſaki benannten. Seitdem ſind ſie immer weiter nach Weſten hingewandert und haben ſich allmälig über Rußland verbreitet. Eben ſo kamen 1807 plötzlich längs der Wolga herauf eine ungeheure Wenge großer Ratten in Kaſan an, die binnen vier Jahren alle einheimiſchen Ratten und Mäufe in der Stadt vertilgten, dafür aber ſelbſt eine ungeheure Plage geworden ſind, indem die Katzen ihrer nicht Weiſter werden können. Auch fie rückten allmölig nach Weſten vor, und ſollen ſchon Niſchni-NVowgorod erreicht haben. Wan findet fie in Perſien, und ſie ſcheinen hier vom kaſpiſchen Weere her eingewandert zu ſein. Sie ſehen ſchmutzig gelb aus, mit einem ſchwarzen Streifen längs dem Rücken, und ſind faſt halbmal größer als die gewöhnlichen Ratten. Im Jahre 1819 oder 1820 verbreiteten ſich auch plötzlich in Kaſan, wahrſcheinlich durch Orangenbäume von Aſtrachan her— übergebracht, eine Art ganz kleiner Ameiſen (von Eversman und Fuchs: Formica fatalis benannt), die ebenfalls eine große Plage geworden ſind.

*) Haxthauſen, I. S. 468, or Mittheilungen des Staatsraths von Fuchs in Kaſan.

Drittes Kapitel

Katharinenburg. Münzhoff. Chemiſches Laboratorium. Steinſchleiferei. Ausflüge in die nächſten Umgebungen von Katharinenburg.

Katharinenburg (Jekaterinburg) iſt der Sitz eines eigenen Berg— amtes, welches, wie ſchon erwähnt, zur Zeit der Humboldtſchen Reiſe noch unter der Finanzkammer in Perm ſtand. Es hat die Aufſicht über die der Krone gehörigen in und um Katharinenburg gelegenen Werke, namentlich über den Münzhof, die Steinſchleiferei, über das Goldbergwerk von Bereſowsk, über die bei Katharinen— burg und Bereſowsk gelegenen Goldſeifen und über die Eiſenhütten Viſchne-Iſſetsk und Kamensk. Der Münzhof und die Steinſchleife⸗ rei liegen in der Stadt, unmittelbar am Iſſet, Bereſowsk, Niſchne— Iſſetsk in der Nähe derſelben, der erſtere Ort 15 Werſte nordöſt— lich, der letztere etwa 10 Werſte unterhalb oder ſüdlich, Kamensk dagegen ſchon in größerer Entfernung, 90 Werſte öſtlich von Ka— tharinenburg, in der Nähe des Iſſet. An der Spitze des Berg— amtes ſtand damals der Berghauptmann und Oberbefehlshaber (Gornoi Natschalnik) Oſſipoff.

In dem Münzhofe wird nur Kupfermünze geprägt. Das dazu nöthige Kupfer wird von den der Krone zugehörigen Kupfer— hütten geliefert, wie von Bogoslowsk am Ural und einigen Hütten bei Perm; außerdem wird aber hierzu noch der Zehnte von dem ausgebrachten Kupfer der Privatwerke genommen, der von dieſen

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als Abgabe an den Staat entrichtet wird. Bogoslowsk lieferte bis⸗ her jährlich 40,000 Pud, die Permſchen Hütten 12,000 Pud, der Zehnte von dem Kupfer der Privatwerke beträgt 18,000 Pud, ſo daß bisher im Ganzen gegen 70,000 Pud Kupfer vermünzt wurden. Die Wenge des rohen Kupfers iſt indeſſen in der letzten Zeit be— deutend vermindert worden, und ein bedeutender Theil wird jetzt durch alte Kupfermünze erſetzt, die man umſchmelzt, da ſie nach einem zu niedrigen Fuße ausgemünzt iſt.

Das Kupfer wird von den erwähnten Kron- und Privat⸗Kupfer⸗ hütten in Barren geliefert, die ſieben Werſchok“) lang, ein Wer: ſchok breit und ein Viertel Werſchok dick find. Es enthält zuweilen etwas Gold und Silber, doch iſt die Wenge dieſer Metalle ſo ge— ring, daß ihre Ausſcheidung die Koſten nicht tragen würde, weshalb keine Rückſicht weiter auf fie genommen wird. Der Münzhof!) hat acht Garherde, auf welchen das Kupfer geſchmolzen wird. Vor denſelben liegen die Formen, in einen Halbkreis von Gußeiſen zu— ſammengefügt. In dieſe Formen wird das fließende Kupfer aus den Oefen durch Rinnen geleitet und ihm dadurch die Geſtalt von Prismen, etwa 20 Pfund ſchwer, gegeben.

Sollen dieſe Stücke verarbeitet werden, ſo bringt man ſie in einen andern Ofen, glüht fie und walzt fie dann zwiſchen zwei flar ken Cylindern von gegoſſenem Eiſen, die ein Waſſerrad bewegt; dreimal wird dieſe Operation nach abermaligem Glühen, das vierte Wal aber kalt wiederholt, bis die Zaine die gehörige Dicke zum Münzen haben. Dann werden ſie in die Schneidekammer gebracht und durch horizontal bewegte Waſchinen mit großem Zeiterſparniß die Platten zu den Zweikopekenſtücken daraus geſchnitten.

Als Erdmann den Münzhof im Jahre 1816 beſuchte, gab es zehn dergleichen Maſchinen, doch ſollte die Zahl derſelben auf das Doppelte vermehrt werden. Dieſe Mafchinen beſtehen aus einer langen cylindriſchen Stange von Eiſen in horizontaler Lage, welche an jedem Ende zwei Schneideeiſen (zwei am Rande geſchärfte Stahl⸗

*) Ein Werſchok beträgt 14 Zoll. *) Die hier folgende Beſchreibung der Kupfermünzung iſt Erdmann's Beiträgen zur Kenntniß des Innern von Rußland (II. 2. S. 111. ff.) entlehnt.

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ſtempel von der Größe der zu prägenden Münzen), die in zwei gegen⸗ überſtehende Löcher einer Stahlplatte paſſen, trägt. Durch eine Welle mit einem Vorſprung werden dieſe Stangen hin und her bewegt, fo daß die Schneideeiſen abwechſelnd in die durchbohrten Stahlplatten dringen und ſich wieder zurückziehen. Während das Letztere geſchieht, ſchiebt ein Arbeiter den Kupferzain ſo vor die Oeffnungen, daß er bei dem Zurückkehren der Stange von den Stem— peln durchbohrt wird und auf dieſe Weiſe bei jedem Stoße zwei dar— aus geſchnittene Kupferſtücke herabfallen. Demnach liefert bei dieſem einfachen Mechanismus ein Hin- und Hergang der Maſchine vier Stück Platten zugleich.

Die ausgeſchnittenen Stücke werden hierauf geglüht, und dann in einen hohlen hölzernen Cylinder, der mit vielen Löchern verſehen iſt, geſchüttet, um, während ſich derſelbe bei zuſtrömendem Waſſer um ſeine Achſe dreht, abgerieben und von dem auf der Oberfläche hängenden Oxyd befreit zu werden. Die Operation dauert ge— wöhnlich einige Stunden, nach deren Verlauf die Scheiben aus dem Cylinder herausgenommen und in einem Ofen getrocknet werden. Vach dem Trocknen kommen fie in die Maſchinen zum Rändern. Dieſe beſtehen aus ziemlich großen eiſernen Scheiben, die ſich in horizontaler Richtung um ihre Achſe drehen. Auf ſechs Seiten ſteigen der Peripherie einer jeden von ihnen ſechs eiſerne Rinnen in ſchief abwärts gehender Richtung entgegen, auf welchen ſechs darum ſitzende Knaben die zu rändernden Kupferſcheiben einzeln, aber raſch nach einander hinunterſchlüpfen laſſen. Sobald dieſelben bis an die Scheibe gelangt find, werden fie von dem Einſchnitte am Um⸗ fange derſelben ergriffen, bei dem gegenüberſtehenden, ebenfalls mit einem Einſchnitte verſehenen Eiſen vorbeigedrängt, und ſo im Um— drehen mit dem gehörigen Rande verſehen. Dies geht ſo ſchnell, daß ein Knabe in vierundzwanzig Stunden 16— 17,000 Stück zu liefern im Stande iſt. Nach dem Rändern werden fie gezählt und gewogen. Zwölfhundert Stück (d. i. vierundzwanzig Rubel) in einen Sack geſchüttet müſſen 1 Pud wiegen. Endlich kommen die Scheiben unter den Prägeſtempel. Erdmann ſah zehn dergleichen Stempel auf einmal arbeiten; ſie wurden in zwei Reihen aufgeſtellt und durch ein Rad mittelſt langer Riemen taktmäßig zugleich ange-

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zogen. Doch gab es zugleich zwölf andere daſelbſt, welche ruhten, und noch acht andere waren außerhalb der Stadt zur Reſerve, wenn es hier an Waſſer fehlen ſollte, aufgeſtellt. Die Stempel zum Prägen wurden ebenfalls auf einer größern Maſchine geprägt, dann mit kleinen Eiſen vollkommen ausgeſchlagen und endlich gehärtet. Sie halten aber ſelten über zwei Wochen aus und ſpringen bisweilen ſchon am erſten Tage?); allein fie arbeiten auch ſehr ſchnell, denn in vierundzwanzig Stunden prägt ein einziger Stempel 25,000 Zweikopekenſtücke (d. i. 500 Rubel) aus. Wenn Alles in gehörigem Gange iſt, ſo kann das Werk, deſſen Räder blos vom Waſſer ge— trieben werden, in einem Jahre an vier Willionen Rubel liefern; indeß iſt ſelten genug Waſſer dazu vorhanden. Die Arbeiter werden hier, ſo wie bei den übrigen Werken, alle zwölf Stunden gewechſelt und beim Herausgehen aus dem Hofe von wachthabenden Soldaten viſitirt, um zu ſehen, ob ſie nicht vielleicht Geld mit ſich genommen haben.

Der ganze Verluſt an Kupfer, den man beim Vermünzen des Stückkupfers erleidet, beträgt nur 71 Solotnik auf jedes Pud oder 1,1? Procent.

In dem Wünzhofe befindet ſich ferner noch das Laborato— rium, in welchen das Gold geſchmolzen wird?“). Das ſämmtliche Gold nämlich, welches am Ural gewonnen wird, ſei es auf Kron— oder Privatwerken, muß an das Bergamt Katharinenburg abgelie— fert werden, wo es dann in dem Laboratorium des Wünzhofes ge— ſchmolzen, probirt und ſodann an das Berg- und Salz-Departement von Petersburg abgeſchickt wird. Dies geſchieht jährlich zweimal, im Winter und im Sommer, gewöhnlich im Februar und Juli, daher auch alle Kron- und Privat-Bergämter, in deren Bezirken Gold gewonnen wird, daſſelbe in dieſen Monaten an das hieſige 1 *) Zu Humboldt's Zeit waren 32 Schraubenpreſſen vorhanden; wenn dieſe (berichtet Roſe nach officiellen Angaben) in den ſechs Monaten, die der Münzhof jährlich arbeitet, ſämmtlich im Gange find, fo ſteigt der Ver— brauch der Stempel im Durchſchnitte bis auf 6000.

**) Die folgenden Notizen find einem Aufſatz „über die metallurgiſchen Arbeiten bei den Hüttenwerken in Katharinenburg“ entnommen, welchen der Berghauptmann Oſſipoff Humboldt bei deſſen Anweſenheit in Katharinenburg überreichte. S. Roſe's hiſt. Ber. I. S. 184. ff.

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Gold aufzulöſen; follte man zuletzt finden, daß man zu viel Gold eingetragen hat, ſo ſetzt man noch etwas Blei hinzu. Nachdem alles Gold eingetragen und geſchmolzen iſt, wird geblaſen und eine ſtarke Hitze gegeben, um den Blick ſo rein wie möglich zu be— kommen. Vach dem Blicken wird der Blick mit Waſſer abgeſpült, herausgenommen, gereinigt, in kleine Stücke zerſchlagen, darauf im Tiegel geſchmolzen und ſodann wie das übrige geſchmolzene Gold behandelt.

Die Wenge des Goldes, welches man bei dieſer Operation zum Blei hinzuzuſetzen hat, iſt nicht jedesmal diefelbe, ſondern nach der größern oder geringern Menge von Unreinigkeiten, welche ſich bei dem Golde befinden, verſchieden. Im Durchſchnitt kann man aber annehmen, daß auf etwa drei Theile Gold ein Theil Blei erfor— derlich iſt; oft aber können auch vier Theile Gold durch einen Theil Blei gereinigt werden.

In der Steinſchleiferei, welche ganz in der Nähe des Münz— hoſes liegt, werden nicht allein Gebirgsarten und Wineralmaſſen zu größeren Gegenſtänden, wie Säulen, Vaſen und dergleichen, ſondern auch Edelſteine zu Ringen, Petſchaften und andern kleinen Gegen— ſtänden verſchliffen.

Zu den Edelſteinen, welche hier verſchliffen werden, gehören der Topas von Murſinsk und Minsk am Ural, der Beryll von Mur— ſinsk und vom Adontſchalon bei Nertſchinsk, der Amethyſt und der Bergkryſtall von Murſinsk. Der Topas von Wurſinsk unterſcheidet ſich von dem von Wiask durch ſeine Farbe, indem der erſtere in der Regel bräunlichweiß, der letztere dagegen waſſerhell iſt; der Beryll von Wurſinsk iſt weingelb, der von Nertſchinsk dagegen häu— figer von der Aquamarinfarbe. Der Amethyſt von Murſinsk iſt zuweilen ſehr dunkel violblau, jo daß er dem von Cäylon hierin nicht nachſteht; häufiger jedoch iſt er blaß violblau, oder gefleckt und ge— ſtreift und ſtellenweiſe violblau, ſtellenweiſe waſſerhell. Der Berg— kryſtall von Murſinsk iſt theis waſſerhell, theils nelkenbraun und ſoge— nannter Rauchtopas. Von allen dieſen Edelſteinen werden geſchlif— fene Proben in einer beſondern Sammlung aufbewahrt, die in der Schleiferei aufgeſtellt iſt.

Zu den hier verarbeiteten Gebirgsarten und Wineralien gehören

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mehrere Arten Jaspis, Aventurin, Porphyr, Diorit, Rhodonit und Malachit. Außer den Fabrikaten, die man aus ihnen in der Stein⸗ ſchleiferei darſtellt, werden auch hier noch Gemmen aus den Onyxen und Chalcedonen von Nertſchinsk größtentheils nach antiken Muſtern geſchnitten. Dieſe Arbeiten haben zum Theil einen großen Kunſt⸗ werth, was um ſo mehr zu bewundern iſt, da ſie zwar von den geſchickteren unter den gewöhnlichen Arbeitern, aber doch immer nur von Männern ohne weitere Bildung ausgeführt werden, ein Umſtand, der nur durch die den Ruſſen eigenthümliche Anſtelligkeit und Ge— lehrigkeit erklärt werden kann.

Die an einen Griffel gekitteten Edelſteine werden ſehr einfach auf metallenen Scheiben geſchliffen und polirt*). Die Jaspiſe da: gegen erfordern mehr Kunſt und Bearbeitung. Wan ſchneidet die größeren Maſſen zuerſt durch Wetallſcheiben, die ſich um ihre Achſe drehen und mit Waſſer befeuchtet werden, während ſie jenen immer näher gerückt werden, von einander, ſchleift dann glatte Flächen durch darauf hin und herbewegte Steintafeln oder dreht runde Körper, während ſich das Stück wie auf einer Drehbank um ſeine Achſe be— wegt, ebenfalls durch Abſchleifen. Die Ausarbeitung von Reliefs (Figuren und Laubwerk) iſt mühſamer und geſchieht, indem die Arbeiter, um das feſtſtehende Stück herumſitzend, kleine metallene Rollen, die in Holz gefaßt ſind und durch Schnüre vermittelſt eines Rades in Bewegung geſetzt werden, in den Händen halten. An dieſen kleinen Rollen ſind außerhalb der kapſelartigen Faſſung kleine Metallrädchen befindlich, die ſich mit der Rolle zugleich um ihre Achſe drehen und, auf die auszuarbeitende Stelle gehalten, wie die größern Scheiben durch Abſchleifen wirken. So geleitet dient der Mechanismus zur Ausarbeitung der meiſten Figuren; freilich gehören aber viele Menſchenhände und bedeutender Zeitaufwand dazu, um größere Stücke in ſo ausgezeichnet ſchöner Weiſe, wie man ſie hier erblickt, zu vollenden; ja nicht ſelten werden Jahre zur Bearbeitung eines einzigen erfordert.

Die Steinſchleiferei iſt, abgeſehen von der kaiſerlichen ſo eben beſchriebenen Anſtalt, überhaupt eine Beſonderheit Katharinenburgs,

) Erdmann II. 2. S. 116. ff. III. 8

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Gold aufzulöſen; ſollte man zuletzt finden, daß man zu viel Gold eingetragen hat, ſo ſetzt man noch etwas Blei hinzu. Nachdem alles Gold eingetragen und geſchmolzen iſt, wird geblaſen und eine ſtarke Hitze gegeben, um den Blick ſo rein wie möglich zu be— kommen. Nach dem Blicken wird der Blick mit Waſſer abgeſpült, herausgenommen, gereinigt, in kleine Stücke zerſchlagen, darauf im Tiegel geſchmolzen und ſodann wie das übrige geſchmolzene Gold behandelt.

Die Wenge des Goldes, welches man bei dieſer Operation zum Blei hinzuzuſetzen hat, iſt nicht jedesmal diefelbe, ſondern nach der größern oder geringern Wenge von Unreinigkeiten, welche ſich bei dem Golde befinden, verſchieden. Im Durchſchnitt kann man aber annehmen, daß auf etwa drei Theile Gold ein Theil Blei erfor— derlich iſt; oft aber können auch vier Theile Gold durch einen Theil Blei gereinigt werden.

In der Steinſchleiferei, welche ganz in der Nähe des Münz— hoſes liegt, werden nicht allein Gebirgsarten und Wineralmaſſen zu größeren Gegenſtänden, wie Säulen, Vaſen und dergleichen, ſondern auch Edelſteine zu Ringen, Petſchaften und andern kleinen Gegen— ſtänden verſchliffen.

Zu den Edelſteinen, welche hier verſchliffen werden, gehören der Topas von Wurſinsk und Wiask am Ural, der Beryll von Wur— ſinsk und vom Adontſchalon bei Nertſchinsk, der Amethyſt und der Bergkryſtall von Murſinsk. Der Topas von Wurſinsk unterſcheidet ſich von dem von Wiask durch ſeine Farbe, indem der erſtere in der Regel bräunlichweiß, der letztere dagegen waſſerhell iſt; der Beryll von Wurſinsk iſt weingelb, der von Vertſchinsk dagegen häu— figer von der Aquamarinfarbe. Der Amethyſt von Murſinsk iſt zuweilen ſehr dunkel violblau, jo daß er dem von Ceylon hierin nicht nachſteht; häufiger jedoch iſt er blaß violblau, oder gefleckt und ge— ſtreift und ſtellenweiſe violblau, ſtellenweiſe waſſerhell. Der Berg— kryſtall von MWurſinsk iſt theis waſſerhell, theils nelkenbraun und ſoge— nannter Rauchtopas. Von allen dieſen Edelſteinen werden geſchlif— fene Proben in einer beſondern Sammlung aufbewahrt, die in der Schleiferei aufgeſtellt iſt.

Zu den hier verarbeiteten Gebirgsarten und Wineralien gehören

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mehrere Arten Jaspis, Aventurin, Porphyr, Diorit, Rhodonit und Malachit. Außer den Fabrikaten, die man aus ihnen in der Steins ſchleiferei darſtellt, werden auch hier noch Gemmen aus den Onyxen und Chalcedonen von Vertſchinsk größtentheils nach antiken Muſtern geſchnitten. Dieſe Arbeiten haben zum Theil einen großen Kunſt— werth, was um ſo mehr zu bewundern iſt, da ſie zwar von den geſchickteren unter den gewöhnlichen Arbeitern, aber doch immer nur von Männern ohne weitere Bildung ausgeführt werden, ein Umſtand, der nur durch die den Ruſſen eigenthümliche Anſtelligkeit und Ge— lehrigkeit erklärt werden kann.

Die an einen Griffel gekitteten Edelſteine werden ſehr einfach auf metallenen Scheiben geſchliffen und polirt*). Die Jaspiſe da— gegen erfordern mehr Kunſt und Bearbeitung. Wan ſchneidet die größeren Maſſen zuerſt durch Wetallſcheiben, die ſich um ihre Achſe drehen und mit Waſſer befeuchtet werden, während ſie jenen immer näher gerückt werden, von einander, ſchleift dann glatte Flächen durch darauf hin und herbewegte Steintafeln oder dreht runde Körper, während ſich das Stück wie auf einer Drehbank um ſeine Achſe be— wegt, ebenfalls durch Abſchleifen. Die Ausarbeitung von Reliefs (Figuren und Laubwerk) iſt mühſamer und geſchieht, indem die Arbeiter, um das feſtſtehende Stück herumſitzend, kleine metallene Rollen, die in Holz gefaßt ſind und durch Schnüre vermittelſt eines Rades in Bewegung geſetzt werden, in den Händen halten. An dieſen kleinen Rollen ſind außerhalb der kapſelartigen Faſſung kleine Metallrädchen befindlich, die ſich mit der Rolle zugleich um ihre Achſe drehen und, auf die auszuarbeitende Stelle gehalten, wie die größern Scheiben durch Abſchleifen wirken. So geleitet dient der Mechanismus zur Ausarbeitung der meiſten Figuren; freilich gehören aber viele Menſchenhände und bedeutender Zeitaufwand dazu, um größere Stücke in ſo ausgezeichnet ſchöner Weiſe, wie man ſie hier erblickt, zu vollenden; ja nicht ſelten werden Jahre zur Bearbeitung eines einzigen erfordert.

Die Steinſchleiferei iſt, abgeſehen von der kaiſerlichen ſo eben beſchriebenen Anſtalt, überhaupt eine Beſonderheit Katharinenburgs,

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durch die es ſich vor allen übrigen ruſſiſchen Städten unterſcheidet: in jeder Straße und in jedem Gäßchen hört man das Ziſchen des Schleifſtocks. Auch Mühlſteine werden hier aus Jaspis und Quarz verfertigt, die vor den gewöhnlichen den großen Vortheil haben, daß ſie, einmal angehauen, nie eines neuen Anhauens bedürfen und dem Mehl keinen Steinſtaub beimiſchen. Seit den 29. April 1853 iſt in Katharinenburg auch ein Muſeum der Werkwürdigkeiten des uraliſchen Gebirges eröffnet worden.

Einem Briefe aus Katharinenburg, den die Vordiſche Biene (21. Aug. 1853) mittheilt, entnehmen wir noch folgende Einzelheiten. Man hat hier ein ſeltenes Beiſpiel von Nomadenleben in den Städten: viele Einwohner Katharinenburgs haben zweiſtöckige Häuſer, wohnen aber nur in einem Stockwerke und ziehen an beſonders feſtlichen Tagen in's andere; dieſes Stockwerk wird dann beleuchtet; ſieht man ein ſolches Licht in einem bekannten Hauſe, ſo darf man keck hin— gehen in der Ueberzeugung zu einem Familienfeſt zu kommen; des— halb herrſcht hier auch der Lokalausdruck; „zum Feuerchen gehen!“ Eine beſondere Eigenthümlichkeit der Stadt iſt der in Witte derſelben liegende Teich, deſſen Damm durch einen Theil der Hauptſtraße ge— bildet wird; auf drei Seiten dieſes Baſſins, das mit einem ſteinernen Kai und einem Eiſengitter eingefaßt iſt, erheben ſich die bedeutendſten Gebäude der Stadt, und auf der etwas entlegenen vierten ſind auf einer weiten Wieſe einige hübſche ſtädtiſche Datſchen (Landhäuſer). In jeder Jahreszeit ſieht man auf dieſer weiten Waſſerfläche be— ſondere Bilder; im Sommer fahren darauf hübſche Kähne und es baden darin Hausvögel, Pferde und Wenſchen; im Herbſt fährt man Schlittſchuh, im Winter ſieht man Einſpänner und Reiter darauf, und im Frühjahr ſchafft man daſelbſt die Eisſchollen fort, um ſie in die Keller zu bringen. Im Ural findet man bei jedem Hütten— werk Teiche, da das Waſſer beim Betrieb die bewegende Kraft bildet. Im Frühjahre 1852 leiſteten dieſelben einen neuen wichtigen Dienſt. Wegen des trockenen Frühjahrs war der Stand des Waſſers in den Flüſſen ſo gering, daß man die ſogenannten Karavanen, d. h. die Barken mit Eiſen, nicht abſenden konnte, und dieſer Umſtand, der zum erſtenmal eintrat, drohte den Hüttenwerken mit bedeutendem Verluſt, wenn das Eiſen nicht auf den Markt von Niſchni-Nowgorod

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geliefert werden konnte. Die Behörden trafen die Anordnung, das Waſſer aus einigen Teichen abzulaſſen und dieſe Waßregel zeigte ſich vollkommen genügend: die Karavanen fuhren weiter und kamen glücklich über die ſeichten Stellen hinweg.

Die Abſendung der Karavanen iſt ein wichtiges Ereigniß im Ural, ſo zu ſagen ein Localfeſt. Die Anfahrten, nach denen man im Winter das Eiſen zu Lande brachte, beleben ſich im Anfang Mai's; zur Stunde der Abfahrt werden Kanonen gelöſt und ein Freudengeſchrei erhebt ſich. In Katharinenburg hat ſich die ſchöne Sitte des Feſtes der Kirchſpiele, zu denen auch die nächſten Hütten— werke gehören, vollſtändig erhalten; an dem Feſte eines ſolchen Kirchſpiels gehen auch die Bewohner der übrigen Kirchſpiele zuerſt in die Kirche, welche natürlich alle Andächtigen nicht faſſen kann, ſo daß Tauſende von ihnen um die Kirche herumſtehen; dann wird den ganzen Tag bei den Kirchſpielgenoſſen getafelt, was demjenigen Theile der Stadt, in welchem das Kirchſpiel liegt, ein äußerſt lär— mendes, bewegtes und friſches Anſehn giebt; natürlich findet allent— halben eine umfangreiche Gaſtfreundſchaft ſtatt, und bei den Anhängern alter Gewohnheiten dauern die Feſtlichkeiten drei Tage und darüber.

Katharinenburg liegt 128 Toiſen über dem Weere. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 0, 2 Centeſimalgrade, die des Winters 16, 2, die des Sommers 15, 8.

Die Ablagerungen von Goldſand, welche ſich in der Gegend von Katharinenburg in ſolcher Wenge und von ſolcher Reichhaltig— keit finden, waren für unſere Reiſenden von zu großem Intereſſe, als daß ihre Beſichtigung ihnen nicht vor allem andern wünſchens— werth geweſen wäre. Daher beſtimmte auch Humboldt ſchon den 17. Juni, den zweiten Tag nach ihrer Ankunft in Katharinenburg, zu einer Excurſion nach einer derſelben.

Zu dieſem erſten Ausflug wählte man die Goldſeifen Schabrows— koi, zwiſchen dem Uktuß und der Aramilka gelegen, womit gleichzeitig die Beſichtigung des in der Nähe gelegenen Rhodonitbruches und der Eiſenhütte Niſchne-Iſſensk verbunden werden ſollte. Berghaupt— mann Oſſipoff begleitete die Reiſenden auf dieſer wie auf allen andern Excurſionen, welche ſie in die Umgebungen von Katharinen— burg machten. Bald nachdem ſie die Stadt verlaſſen hatten, kamen

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fie in einen Wald, der größtentheils aus ſchwachen Birken beſtand und größere freie Grasplätze einſchloß. Entblößungen des unter der Dammerde befindlichen Geſteins waren neben dem Wege nicht zu ſehen; der Weg ging in faſt völliger, nur wenig anſteigender Ebene fort und in einer ſolchen lag auch das Seifenwerk, 22 Werſte ſüdlich von Katharinenburg und einige Werſte ſüdöſtlich von dem Dorfe Gornoſchit, in einer Höhe von etwa 1000 Fuß über dem Meere. Die Stelle, wo der Goldſand angebaut war, hatte das Anſehen eines Grabens, da ſie bei einer Breite von 8—20 Lachtern und einer Tiefe von 3—5 Fuß eine Länge von 400 Lachtern hatte. Rechts und links von dem abgebauten Raume war das Erdreich zwar auch noch goldhaltig, und von dieſer Beſchaffenheit iſt daſſelbe in der ganzen Gegend um Katharinenburg, aber nur an der ange— bauten Stelle hatte man es nach den angeſtellten Verſuchen bau— würdig gefunden. N

Ganz in der Nähe dieſes Seifenwerkes hatte man noch ein zweites in geringerer Ausdehnung angelegt. Der Goldſand beider Werke war von gleicher Beſchaffenheit, lehmartig und von ocker— gelber Farbe; unter den größern Geſchieben, die ſich in demſelben befanden, bemerkte man: Kalkſchiefer, Chloritſchiefer, Quarz, Kieſel— ſchiefer, Serpentin, Chromeiſenerz und Strahlſtein. Wenn man den Goldſand etwas wäſcht, jo daß die erdigen Theile fortgeführt werden, ſo laſſen ſich auch die kleinern Theile deſſelben erkennen. Dieſe beſtanden außer dem Golde hauptſächlich aus Quarz in ab: gerundeten Körnchen, aus Magneteifenerz in Körnchen oder Kry— ſtallen und aus Eiſenglanz in Blättchen oder Kryſtallen. Wird der Goldſand noch mehr gewaſchen, jo bleibt nur der Magneteifenfand und der Eiſenglanz mit dem Golde zurück. Das Gold fand ſich darin in Schüppchen, in Körnchen von unregelmäßiger Geſtalt, ſelten von einiger Größe, zuweilen auch in Kryſtallen, deren Kanten aber gewöhnlich abgerundet waren. Es hatte eine vollkommen goldgelbe Farbe und erhielt auch, wie Profſeſſor Roſe nach feiner Rückkehr fand, nur ſehr wenig fremdartige Beimiſchungen.

Das Gold war in dem Sande beider Gruben nicht gleich ver— theilt; die untern, ein bis zwei Fuß mächtigen Schichten, waren reicher als die oberen, daher auch nur die unteren verwaſchen, die

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oberen aber abgenommen und als zu arm für jetzt noch unbenutzt zur Seite geworfen worden. Der mittlere Gehalt der unteren Schichten betrug 14 bis 2 Solotnik in 100 Pud Sand, alſo etwa 0, 000,5 Procent. Dieſes Ergebniß ſcheint zwar bei dem Rufe der Reichhaltigkeit des uraliſchen Goldſandes nur gering, iſt aber bei der Leichtigkeit, mit welcher derſelbe gewonnen und verwaſchen wer— den kann, in der That doch ſehr bedeutend. Allerdings giebt es Goldſand, der 6—7, ja 10— 12 Solotnik in 100 Bud Sand ent— hält; aber dieſer findet ſich nur ſelten und hält bei einer ſolchen Reichhaltigkeit nicht lange an. Gewöhnlich findet er ſich von einem noch geringeren Gehalt als der von Schabrowskoi; er kann aber auch noch bei einem Gehalt von Solotnik mit Vortheil verwaſchen werden, wogegen man den von 4 Solotnik jetzt noch nicht benutzt. In der Regel rechnet man die Selbſtkoſten bei dem Verwaſchen eines Goldſandes von 1— 1 Solotnik Gold in 100 Pud auf 3 von dem Werthe des gewonnenen Goldes, ſo daß alſo die Koſten, welche die Gewinnung eines Pud Goldes aus einem ſolchen Sande verurſachen, zu 20,000 Rubel angenommen werden können, da der Werth eines Pud Goldes ungefähr 50,000 (genauer 49,032) Rubel beträgt. Bei den Goldwäſchen von Katharinenburg waren dieſe Koſten im Jahre 1828 noch geringer geweſen.

Obgleich man die Gruben von Schabrowskoi erſt im vorigen Jahre zu bearbeiten angefangen hatte, ſo hatten ſie doch ſchon bis zum 1. Mai 1829 4 Pud 364 Pfund Gold geliefert. Der Sand der beiden Gruben wurde zum Verwaſchen nach einem kleinen Bache gefahren, der ſich etwas nördlich von denſelben befindet und ſich nach einem Laufe von einigen Werften in die rechte Seite des Uktuß ergießt. Auch in dem Bette dieſes Baches hatte man bauwürdigen Goldſand gefunden und ſchon Vorkehrungen zu feiner Gewinnung getroffen. Um die nöthigen Waſchwaſſer zu erhalten, hatte man den Bach aufgeſtaut, konnte aber dadurch doch nur mit Mühe die nöthige Wenge ſammeln. i

Das Verwaſchen des Sandes geſchah auf mehreren feſtſtehenden Waſchheerden, die neben einander lagen und mit einem gemein— ſchaftlichen Dache gedeckt waren. Der Goldſand wurde in einen großen länglich-viereckigen Kaſten geworfen, deſſen Boden in einer

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ſtarken Platte von Eiſenblech beſtand, die wie ein Sieb mit haſel⸗ nußgroßen Löchern verſehen war. In dieſen wurde mittelſt einer Rinne Waſſer geleitet, das aber, um ſich über den in den Kaſten geworfenen Goldſand gleichmäßig zu verbreiten, zuvor in einen Behälter fiel, der hauptſächlich aus zwei unter einem Winkel von 60% zuſammengefügten Brettern beſtand und faſt ditſelbe Länge hatte wie der Kaſten, über deſſen Längendurchmeſſer er angebracht war. Die Bretter dieſes Behälters waren mit feinen Löchern durch⸗ bohrt, ſo daß durch dieſelben das Waſſer wie aus einer Gießkanne auf den Goldſand in den Kaſten fiel. Während dieſer nun in dem Kaſten von Arbeitern mittelſt Krücken, deren breite unten etwas umgebogene Enden aus ſtarkem Eiſenblech beſtanden, beſtändig um⸗ gerührt wurde, ſpülte ſich der feinere Sand von den gröberen Ge⸗ ſchieben deſſelben ab und fiel durch die Löcher des Kaſtens auf zwei darunter befindliche, einander gegenüberſtehende Waſchheerde. Die größeren Geſchiebe bleiben rein gewaſchen in dem Kaſten zurück und werden nach vollendeter Wäſche jorgfältig unterſucht, da ſich unter ihnen zuweilen größere Goldgeſchiebe, auch Quarzſtücke finden, in welchen Gold eingeſprengt iſt. Der durchgelaufene feinere Sand wird aber auf den Waſchheerden, über welche beſtändig Waſſer fließt, ſo lange mit Krücken immer wieder hinaufgeſchoben, bis alle leichte⸗ ren Theile fortgeführt und nur der Wagneteiſenſand mit dem Golde zurückgeblieben iſt. Dieſen ſo weit gewaſchenen Goldſand nennt man am Ural Schliech; er wird auf kleinere Waſchheerde gebracht und von geübteren Arbeitern gewaſchen, wobei man ſich gewöhnlich der Bürſten bedient, um den von dem Waſſer herabgeführten Schliech immer wieder von neuem auf den Heerd hinaufzuſchieben. Kleinere Parthieen ſcheidet man auch auf hölzernen Waſchſchüſſeln, indem man dieſelben mit der linken Hand an einem Ende hält, und mit der innern Seite der rechten Hand leiſe gegen das andere Ende klopft.

So wie bier waren die meiſten Goldwäſchen, welche die Rei⸗ ſenden am Ural beſuchten. Sie ſind, wie ſich aus dem Vorherge⸗ henden ergiebt, ſehr einfach, und das mehr oder weniger vollſtändige Ausbringen des Goldes hängt deshalb auch ſehr von der Geſchick⸗ lichkeit der Arbeiter ab. Dieſe hat in der neueren Zeit zugenommen und die Einrichtungen ſelbſt haben ſich gebeſſert; es iſt daher auch

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vorgekommen, daß Goldſand, der in früherer Zeit bereits verwaſchen, ſpäter noch einmal dieſer Operation unterzogen wurde. Zuweilen ſind die Waſchwerke auch in beſonderen Häuſern eingerichtet, die im Winter geheizt werden, damit in dieſer Jahreszeit die Arbeiten ſortgeſetzt werden können. Ferner fanden die Reiſenden manche Waſchanſtalten ſelbſt noch zweckmäßiger eingerichtet, indem man ſich eines Apparates bediente, durch den das Gold noch vollſtändiger vom Sande geſchieden werden kann. Aber alle dieſe Anſtalten, die größere Zurüſtungen und Anlagcekoſten wie auch ſtärkere Waſſerzuflüſſe er- fordern, können, wie Profeſſor Roſe bemerkt, nur da angewandt werden, wo man ſich durch Verſuche von einem längeren Anhalten des Goldſandes überzeugt hat und hinreichendes Waſſer vorhanden iſt Umſtände, die beide nur ſelten ſtatt finden “).

Der Rhodonit-Bruch, zu welchem man nach der Beſichtigung des Seifenwerks fuhr, befindet ſich von dieſem nur einige Werſte

*) In Ermann's Archiv (Bd. 4. S. 125 ff.) heißt es in einem Auf⸗ ſatz von Borosdin über „das eggende Waſchwerk bei den ſibiriſchen Gold⸗ ſeifen“: Zur Ausbringung des Goldes aus den uraliſchen und ſibiriſchen Schuttlagern ſind ſchon mancherlei durch Pferde- oder Waſſerkraft getriebene Maſchinen an die Stelle der urſprünglichen Handarbeit auf ebenen Waſch⸗ heerden geſetzt worden. So werden bei den oſtſibiriſchen Goldſeifen ſchon ſeit einiger Zeit und auch noch jetzt folgende Vorrichtungen gebraucht: cy- lindriſche hölzerne oder eiſerne Tonnen, die in Tauen hängen oder ſich um Achſen drehen; Syſteme von kleinen Schalen mit Schaufeln, doppelten Böden und Hacken, eben ſolche aber größere Schalen, in welche Schaufeln mit Kreisbewegung oder bisweilen auch mit einer doppelten Bewegung wirken; durchlöcherte, abſchüſſige und unbewegliche Tröge, in denen man den Schutt durch Pochſtempel, die von einer Welle getrieben werden, zerkleinert und viele andere. Wegen häufiger Brüche an den meiſten dieſer Vorrichtungen und wegen der Schwierigkeit, die in jenen Gegenden mit jeder Ausbeſſerung verbunden iſt, gab man aber immer wieder den wohlfeilſten und einfachſten von ihnen einen entſchiedenen Vorzug und namentlich der ſogenannten Bu⸗ dara, d. i. ein Geſtell, auf welchem über nur einem Siebe in trogför⸗ migen Waſchheerden mit Handhacken gearbeitet wird. Dieſe findet man daher auch faſt ohne Ausnahme auf jeder oſtſibiriſchen Goldwäſche und meiſt neben einigen jener zuſammengeſetzten Vorrichtungen in Gebrauch. Bei manchen Wäſchen ſind bis zu 30 ſolcher Budaren im Gang. Um indeß die große Zahl der Waſchmannſchaft zu vermindern, hat man in

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entfernt, aber ſchon auf dem rechten Ufer der Aramilka; er liegt gleich jenem mitten im Walde, der meiſtentheils hier nur aus Tannen beſteht. die Farbe des Rhodonits iſt die bekannte ſchöne roſenrothe Farbe, die bei der guten Politur, die dieſes Wineral geſchliffen an— nimmt, daſſelbe ſo geſchätzt ſein läßt. Von dem Rhodonitbruche traten die Reiſenden ihren Rückweg nach Katharinenburg über die Eiſenhütte Niſchne-Iſſetsk an. Sie ſetzten bei dem Dorfe Schabrowa, welches nur eine Werft von dem Brüche entfernt liegt, über die Aramilka und fuhren durch den Wald, der ſich ſaſt bis zum Iſſet hinzieht, nach der Hütte. Der Iſſet, an welchem die Eiſenhütte liegt, iſt oberhalb derſelben zu einem fünf Werſte langen Teiche auf— geſtaut. Die Hütte ward erſt im Jahre 1789 angelegt. Man ver— ſchmelzt Roheiſen in ihr. Die Gegenſtände, welche gegoſſen werden, beſtehen faſt nur in Munition, die mit großer Sorgfalt gegoſſen und auf das ſtrengſte geprüft wird.

Gleich in den folgenden Tagen, am 18. 19. und 20. Juni, wurde von Katharinenburg aus eine neue Excurſion nach den Gold— gruben von Bereſowsk angeſtellt. Die Beſichtigung derſelben war für unſere Reiſenden um ſo wichtiger, als ſie die einzigen ſind, die am Ural noch betrieben werden und folglich allein noch über das Vorkommen des anſtehenden Goldes am Ural Auskunft geben können. Man hat nämlich alle übrigen Gruben, deren Zahl ſich auf ſechs bis ſieben belaufen haben mag, ſeit der Entdeckung des Goldſandes eingehen laſſen, weil man aus dem letzteren das Gold viel leichter und einträglicher gewinnen konnte.

Die Goldgrube Bereſowsk liegt funfzehn Werſte nordöſtlich von Katharinenburg. Der Weg dahin geht anfangs durch flaches Land, dann durch Fichten- und Birkenwaldung. Vach acht Werſten kommt man durch das ziemlich beträchtliche Dorf Schartaſch, welches

neueſter Zeit die Arbeiter, welche bisher zum Durchhacken des Schuttes auf dem Gitterwerke des Hauptheerdes beſchäftigt waren, durch eine mit Waſſerkraft getriebene Egge (borona) erſetzt und dadurch auch die Leiſtungen des Apparats um mehr als das Fünffache erhöht. (Vergl. auch Ermann's Archiv Bd. 6, S. 328 ff.: „Ueber die Privat-Goldwerke in dem Gebiete des Uderei, nach dem Ruſſiſchen von Deichmann“, jo wie Bd. 9. S. 203 ff).

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an dem drei bis vier Werſte langen und zwei Werſte breiten See gleichen Namens liegt und von Roskolniken oder Altgläubigen be— wohnt wird. Gleich hinter dem Dorfe fangen die weitläuftigen Haldenzüge an, in deren Geſellſchaft man bis zu dem Flecken Be— reſowsk bleibt, der in der Witte des goldhaltigen Terrains, ſoweit daſſelbe durch den Bergbau aufgeſchloſſen iſt, an einem kleinen Bache, der Bereſowka, liegt. Dieſer iſt hier zu einem Teiche aufgeſtaut und um dieſen herum liegen weitläuftig in rechtwinklig ſich durch— ſchneidenden Straßen die hölzernen Häuſer mit der hölzernen Kirche des Fleckens.

Die Reiſenden ſtiegen in dem Bergamte ab, wo ſie die Be— kanntſchaft des Oberhüttenverwalters Kokſcharoff und des Berg— meiſters Völkner machten, die ihnen nebſt dem Berghauptmann die Grubenriſſe und eine recht vollſtändige Sammlung der Gebirgsarten von Bereſowoͤk erklärten, welche in dem Bergamt aufgeſtellt waren. Sie beſuchten darauf das an der Pyſchma, etwa ſieben Werſte nordöſtlich von Bereſowsk gelegene Pochwerk von Pyſchminsk, wo das in Gruben gewonnene Gold gepocht und gewaſchen wird, fuhren ſodann auf der Grube Blagoweſchenski, ganz in der Nähe von Bereſowsk, an und verwandten den Reſt des Tages dazu, die in der Nähe von Bereſowsk liegenden Goldſeifen zu unterſuchen. Den folgenden Tag fuhren ſie auf der Preobaſchenskiſchen Grube, nord— weſtlich von Bereſowsk, an, beſahen die übrigen Goldſeifen und unterſuchten am dritten Tage auf der Rückkehr nach Katharinen— burg das am See Schartaſch liegende Gebirge.

Das Gold aus den Bereſowskiſchen Gruben hat eine goldgelbe Farbe, enthält aber doch nach den vom Profeſſor Roſe angeſtellten Analyſen 6—8 Procent Silber. Im Anfange des Bergbaus von Bereſowsk ſoll der Reichthum an Gold ſo groß geweſen ſein, daß man gleich unter der Dammerde in den überall zu Tage ausgehenden Gängen Erzneſter mit ſichtbarem Golde gefunden hat. Die Menge des von 1754 bis 1828 gewonnenen bergfeinen Goldes beträgt 6245 Pud und die durchſchnittliche Wenge eines jeden Jahres 84 Pud. Die Production war in der Zeit von 1800 bis 1814, die der Ent⸗ deckung des Goldſandes voranging, am bedeutendſten und betrug im Jahre 1810, wo fie ihre größte Höhe erreicht hatte, 184 Pud;

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nach dieſer Zeit ſank fie wieder, fo daß fie im Jahre 1828 nur 43 Bud betragen hat. Die Gewinnungskoſten für jedes Solotnik bergfeinen Goldes beliefen ſich im Jahre 1828 auf 8 Rubel 755 Kopeken und um Witte der Jahre 1754 bis 1814 auf 7 Rubel 52 Kopeken; da nur der geſetzliche Werth des Solotnik reinen Goldes 3 Rubel 5545 Kopeken Silber oder etwa 12 Rubel 80 Kopeken Banco beträgt, ſo ergiebt ſich daraus, daß die Bereſowskiſchen Gruben immer eine ziemlich gute Ausbeute gegeben haben.

Die Goldſeifen, welche in der Nähe von Bereſowsk bearbeitet werden, liegen alle entweder unmittelbar auf dem Boden, in welchem die goldführenden Gänge aufſetzen, oder ganz in der Nähe deſſelben. Es ſind ihrer eine große Menge, von denen unſere Reiſenden nur die Seifenwerke Perwopawlowsk, Wariinskoi, Klenowskoi, Kali— nowkoi und Nagornoi beſuchten. In dem Goldſande des letzteren war vor kurzem ein Mammuthzahn gefunden worden. Foſſile Ueber— reſte von großen urweltlichen Landthieren ſcheinen überhaupt in dieſen Gegenden öſter vorzukommen. 1786 wurde in der Erdſchicht der Niederung zwiſchen der Grube Kljutſchewskoi und Zwetnoi fünf Fuß unter der Oberfläche ein Elephantenzahn gefunden; ein anderer Mammuthſtoßzahn war kurz vor Humboldt's Reiſe in dem Seifen— werke Kaſionnä Priſtan zwiſchen der Bilimbajewka und der Tſchuſſo— waja vorgekommen und einige Wonate nach jener Reiſe fand ſich 22 Lachter tief in dem Goldſande von Konewskoi, einem Seifen- werke bei Katharinenburg, ein ſoſſiler Schädel.

Gegenwärtig befindet ſich im Muſeum zu Petersburg das vollkommenſte Mammuthgerippe, das je gefunden wurde“). Es ift daſelbſt in einem kleinen Zimmer neben dem Gerippe eines Ele— phanten aufgeſtellt, das ſich wie ein Zwerg an feiner Seite aus— nimmt. Es ward am öſtlichen Ufer der Lena in einer Maſſe von Eis und Erde gefunden, die ſich von einander getrennt hatte, und lag einige Jahre unbeachtet. Der Kopf wurde zuerſt geſehen und wurde die Beute des glücklichen Finders, der das Thier 1799 ent» deckte und ſich nicht bemühte, den Körper auszugraben. Da traf es ſich, daß der Engländer Adams, Witglied der kaiſerlichen Geſell—

*) Cottrell, Sibirien ꝛc.

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ſchaft der Wiſſenſchaften zu Petersburg, der 1806 den Grafen Go— lofkin auf ſeiner Geſandſchaftsreiſe nach China begleitete, die Gele— genheit benutzte, eine Reiſe in jene Gegend zu machen, um ſeine wiffenfchaftlihen Forſchungen fortzuſetzen. Er hörte in Jakutsk von dieſer Entdeckung, die ein Aelteſter der Tunguſen machte, der das Elfenbein an den Geſchäftsführer eines Kaufmanns Namens Papow verkauft hatte. Dieſer hatte die Zähne mit einer Abzeichnung des Thieres an ſeinen Principal geſchickt, in deſſen Hauſe Adams ſie ſah. Er begab ſich ſogleich an Ort und Stelle, wo er das Skelet faſt noch ganz fand, nebſt einem Theile von der unteren Seite des Fleiſches, die ſo friſch war, daß die Bären und Hunde bereits etwas davon abgefreſſen hatten. Wit großer Mühe entfernte er den Ueber— reſt des Fleiſches und reinigte das Gerippe. Der untere Theil, der noch immer in Eis und Erde begraben war, wurde gegen die Raub— thiere geſchützt. Einer der Vorderfüße war zerbrochen, ward aber ſpäter gefunden. Nur acht Wirbel des Rückgrats unter ungefähr dreißig waren vollkommen; ein Schulterblatt das andere wurde ſpäter gefunden das Becken und drei andere Extremitäten hingen noch durch Bänder zuſammen und ungefähr die Hälfte der Haut hatte ſich erhalten. Der Kopf war mit einem trockenen Häutchen bedeckt und ein Ohr, das zugeſpitzt und daher verſchieden von den Ohren des heutigen Elephanten oder des Seepferdes war, hatte ſich gut erhalten und war mit einigen Haarbüſcheln bedeckt. Adams glaubte die Pupille des Auges unterſcheiden zu können, aber es iſt zweifelhaft, ob es mehr als ein trocknes Häutchen ſei, was ſichtbar iſt. Man fand weder Rumpf noch Schwanz, aber einige Natur— ſorſcher glauben, daß man die Stellen der Muskeln des Rüſſels in dem Schädel unterſcheiden könne. Die Spitze der Unterlippe war leider durch Adams abgehauen worden und die obere gänzlich zerſtört, fo daß die Backenzähne frei ſtanden, die nicht zum Fleiſch— freſſen eingerichtet waren. Die Höhe des Skelets, ehe es in der Haut ausgeſtopft war, betrug neun Fuß vier Zoll, die Länge ſechs— zehn Fuß vier Zoll, die Länge der Zähne längs der Krümmung neun Fuß ſechs Zoll und nur drei Fuß ſieben Zoll von der Wurzel bis zur Spitze, wegen der beträchtlichen Krümmung; beide zuſammen wogen 360 Pfund und mit dem Kopfe 414 Pfund. Der Schädel

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enthielt wenig Gehirn, das ganz vertrocknet war. Die Hörner find ſchwerer zu drechſeln als gemeines Elfenbein und von verſchiedener Farbe. Als das Thier gefunden wurde, hatte es noch viele Haare, die von der Farbe der Kameelhaare ſind. Die Haarbedeckung be— ſteht aus drei verſchiedenen Lagen. Die unterſte, ungefähr anderthalb Zoll lang, iſt dick und gekräuſelt, dann kommt eine Art Borſten, drei bis vier Zoll lang, von dunkelröthlicher Farbe, dann einige ſtarke Borſten, zwölf bis achtzehn Zoll lang, dicker als Pferdehaare. Außerdem hatte das Thier eine lange Mähne. Die Haut iſt einen halben Zoll dick, von dunkelgrauer Farbe, wie bei den Elephanten und ſcheint ſchußfeſt zu fein. Man fand ungefähr ein Pud aus— gefallener Haare, und man kann ſich einen Begriff von dem Gewicht der Haut machen, wenn wir ſagen, daß zehn Wann nothwendig waren, ſie eine halbe Stunde weit in das Haus zu ſchaffen, wo Adams wohnte. Die Rückenwirbel waren länger als bei dem Ele— phanten und der Hals kurz. Wie die Tunguſen ſagten, die das Thier zuerſt ganz fanden, ſchien es ſehr wohl genährt zu ſein und der Wanſt reichte bis auf die Knie herab auch ein Grund für die Vermuthung, daß es feuchte und ſumpfige Stellen bewohnte. Adams kauſte, was er für die Zähne hielt; da ſie aber ſchon lange vorher weggenommen worden waren, ſo darf man bezweifeln, ob es wirklich die zu dem Gerippe gehörigen waren.

Die Seifenwerke von Bereſowsk ſind die erſten, die am Ural bebaut wurden und haben auf dieſe Weiſe zu der Entdeckung aller übrigen Goldſeifen, die ſpäter im Ural in außerordentlicher Aus— dehnung aufgefunden worden ſind, Veranlaſſung gegeben. Im Jahre 1814 fing man in dem jetzt noch bebauten Seifenwerke Na— gornoi die erſten Arbeiten an, die zunächſt nur einen unbedeutenden Ertrag gaben. Doch gewann man in dem ganzen Zeitraum von 1814-1828 in den Seifenwerken von Katharinenburg 2074 Pud, durchſchnittlich alſo jährlich 134 Pud. Dieſe Seifenwerke haben demnach in 15 Jahren ſo viel geliefert, als die Gruben in 43 Jahren, und die mittlere jährliche Production der Seifenwerke übertrifft die der Gruben um mehr als ein Drittheil. Der Ertrag der Seifen— werke vom Jahre 1828 übertrifft den der Gruben von demſelben Jahre um faſt das Sechsfache und iſt größer als die Production der

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Gruben zur Zeit ihrer größten Blüthe. Der mittlere Gehalt des Goldſandes war allerdings in jenen 15 Jahren nur 1, 3 Solotnik in 100 Pud, während der mittlere Gehalt der Golderze 5, Solotnik betrug. Dafür betrugen aber die Gewinnungskoſten für jedes So— lotnik Gold aus den Seifenwerken im Jahre 1828 auch nur 4 Rubel 533 Kopeken, während die der Gruben in demſelben Jahre 8 Rubel 755 Kopeken betragen haben. Dies Verhältniß iſt der Grund, warum man trotz der größeren Goldhaltigkeit der Erze die Bebauung der Bereſowskiſchen Gruben ſeit der Entdeckung des Goldſandes bedeutend eingeſchränkt und die meiſten Kräfte auf die Gewinnung des Goldes aus den Seifenwerken verwandt hat.

Wahrſcheinlich ſind die Goldſeifen des Urals ſchon von den Urvölkern dieſes Gebirges bearbeitet worden; denn man hat an dem See Irtiaſch in der Nähe des Goldſeifenwerkes Soimonowskoi bei Kyſchtun ſogenannte Tſchudengräber mit Wenſchenknochen und neben dieſen auch Panzerhemden und große Ringe mit Eidechſenköpfen (vermuthlich Armbänder) gefunden, die aus derſelben Mifchung von Gold und Silber beſtanden, von welcher noch jetzt das Waſchgold in Soimonowskoi gefunden wird.

Am Mittag des 20. Juni war Humboldt mit feinen Reiſe— gefährten von der Excurſion nach Bereſowsk zurückgekehrt, und ſchon der Nachmittag des nächſten Tages wurde dazu angewandt die Eiſenhütte in Werſch-Iſſetsk zu beſuchen, wo ſie von dem Ver— walter des Herrn Jacowleff, des Eigenthümers der Hütte, herum— geführt und gaſtfreundlich bewirthet wurden. Dieſe Eiſenhütte iſt eine der großartigſten Anſtalten im ganzen Ural. Sie enthält einen Hochofen, eine Gießerei, 14 Friſchfeuer, ein Walzwerk, eine Nagel— ſchmiede u. ſ. w., welche Werke ſich ſämmtlich in einem großen pracht— vollen Gebäude befinden, das mit Säulen und Kuppeln verziert iſt und mit aller Pracht im Aeußern eine eben ſo große Zweckmäßigkeit im Innern verbindet. Neben dem Hauptgebäude liegt ein großes Hospital mit der Apotheke und daran ſtoßen die Wohnungen der Hüttenarbeiter. Der Damm iſt mit einem eiſernen Geländer ver— ziert und bietet bei ſeiner Länge einen angenehmen Spaziergang dar, von welchem man eine vortreffliche Ausſicht auf den zu einem bedeutenden See angeſchwollenen Hüttenteich hat. Die ſchwarze

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Tannenwaldung, welche die Höhen an dem Uſer des Sees bedeckt, giebt der Ausſicht einen ernſten Charakter, der die Landſchaſten des Nordens zwar im Allgemeinen charakteriſirt, aber nichts deſto weniger viel Anziehendes hat. Die Landſchaft erinnerte Profeſſor Roſe lebhaft an ähnliche in Schweden, die er in früherer Zeit ge— ſehen hatte.

Das Hüttenwerk verdankt ſeinen blühenden Zuſtand dem früheren Aufſeher der Jacowleff'ſchen Berg- und Hüttenwerke, Gregor Sotoff, der, als ein Mann von großem Talent und vieler Kraft, die Umgeſtaltung des Werkes zu Stande brachte, ohne ähn— liche großartige Werke des Auslandes kennen gelernt zu haben. Gleich den meiſten übrigen Oberaufſehern von Privatwerken in Rußland war auch er ein Leibeigner, bis er auf den Wunſch des Kaiſers Alexander, der im Jahre 1824 den Ural bereiſte und von den geſehenen Einrichtungen ſehr eingenommen war, ſeine Freiheit erhielt.

Nach Erdmann werden jährlich in Werſch-Iſſetsk 60,000 Pud Roheiſen zu Stabeiſen und in der Nagelſchmiede 20,000 Pud zu Nägeln aller Gattung verarbeitet.

Den 21. Juni verweilten die Reiſenden, mit der Unterſuchung und dem Ordnen der geſammelten Gegenſtände beſchäftigt, in Katharinenburg; doch am folgenden Tage traten ſie eine neue Ex— curſion nach der berühmten Kupfergrube Gumeſchewskoi an, von welcher ſie am Worgen des 24. zurückkehrten. Auch auf dieſem Ausfluge wurden ſie von dem Berghauptmann Oſſipoff begleitet.

Die Kupfergrube Gumeſchewskoi iſt ein Privatwerk und gehört, wie auch das dabeigelegene Hüttenwerk Polewskoi, den Erben des Titularraths Turtſchaninoff. Sie liegt 56 Werſte in ſüdſüdöſtlicher Richtung von Katharinenburg, die Hütte, die man zunächſt beſuchte, vier Werſte dieſſeits. In dem Dorfe Gornoſchit, welches 21 Werſte von Katharinenburg entfernt iſt, verweilte man nur einige Augen— blicke, um die Pferde zu wechſeln. Das Dorf liegt jenſeits an dem kleinen Fluſſe Utuß, der hier ziemlich ſteile Ufer hat, die durch eine Brücke verbunden ſind. Funfzehn Werſte hinter Gornoſchit gelangte man nach Mramorskoi, einer kleinen Ortſchaft, die aus einer der Krone gehörigen Marmorſchleiferei nebſt einigen Gebäuden für die

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Arbeiter beſteht. Die Fabrik ſteht unter der Aufſicht des Directors der Steinſchleiferei von Katharinenburg, Herrn Kokawin, der ſelber nach Mramorskoi gekommen war, um die Reiſenden in der Fabrik herumzuführen. Sie konnten indeß wenig darin ſehen, weil die Fabrik ſich jetzt nicht im Gange befand, da man die Arbeiter zur Heu— ernte entlaſſen hatte und auch die Niederlage größtentheils leer war. Man führt nämlich nur die von Petersburg gemachten Beſtellungen aus und ſchickt die fertigen Gegenſtände ſtets im Frühjahr beim hohen Waſſerſtande ab. Wan verfertigt übrigens Vaſen, Tiſch— und Kaminplatten, Säulen und ähnliche Gegenſtände; in der Nie: derlage befanden ſich noch die einzelnen Stücke einer großen Spitz— ſäule, die in Tobolsk zu Ehren des Koſaken-Hetmanns Jermark, des Eroberers von Sibirien, errichtet werden ſollte.

Die Brüche, in denen der Marmor für die Fabrik gewonnen wird, liegen gleich hinter derſelben und führen wegen der Nähe des Dorfes Gornoſchit den Namen der Gornoſchitſchen Brüche. Der hier anſtehende Marmor iſt weiß, mit grauen Flecken und Streifen durchzogen und ſehr grobkörnig, aber doch von großem Zuſammen— halt der körnigen Zuſammenſetzungsſtücke, ſo daß er ſich dadurch zum Verarbeiten ſehr gut eignet, gleichwie er auch eine gute Politur annimmt. Die Brüche haben eine ziemlich große Ausdehnung.

Nach Beſichtigung der Marmor- und der übrigen Brüche von Serpentin, Chlorit-Schiefer u. ſ. w. ſetzte man den Weg nach Polewskoi weiter fort, verließ denſelben jedoch ſchon nach einigen Werſten, um das etwa + Stunde rechts vom Wege mitten im Walde gelegene Seifenwerk Nikolajewskoi zu beſehen, deſſen Goldſand ſehr reich iſt und 3 Solotnik Gold in 100 Pud Sand enthält. Nach der Rückkehr ging man ungefähr eben ſo weit links vom Wege in den Wald hinein, um einen andern Warmorbruch zu ſehen, der wegen der Nähe des Dorfes Kaſſoibrod der Kaſſoibrod'ſche Mar— morbruch genannt wird. Das Dorf, nur acht Werſte von dem Gornoſchitſchen Marmorbruch entfernt, liegt an der Tſchuſſowaja, die hier, wie ſchon erwähnt, in nördlicher Richtung auf der Oſt— ſeite des Hauptgebirgszuges fließt, den die Reiſenden auch jenſeits der Tſchuſſowaja und jenſeits Polewskoi fortziehen ſahen, und in welchem ſich beſonders der Berg Aſoff, in gerader Richtung hinter

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Polewskoi gelegen, durch Höhe und Form auszeichnet, indem er zwei Gipfel hat, von denen der ſüdliche etwas niedriger iſt, als der nörd— liche. Dieſer Hauptgebirgszug iſt die Fortſetzung von dem, in welchem auf der ſibiriſchen Hauptſtraße die Bereſowa Gora liegt.

Polewskoi, welches man erſt ſpät am Abend erreichte, liegt von Kaſſoibrod noch neun Werſte entfernt, an der Polewaja, einem klei— nen Fluſſe, der ſich einige Werſte nördlich in die Tſchuſſowaja er— gießt, nachdem er vorher noch die Sewerka aufgenommen hat. Nach der Polewaja zu ſenkt ſich der Weg, die Waldung hört auf und man überſieht eine kleine Ebene, in welcher Polewskoi liegt.

Am folgenden Tage, 25. Juni, wurde ſchon früh aufgebrochen, um vor der Gumeſchewskiſchen Kupfergrube noch das nahgelegene Seifenwerk Scheleſinskoi zu beſehen. Daſſelbe liegt 72 Werſte nordweſtlich von Polewskoi an der Scheleſenka, einem kleinen Flüßchen, das am Fuße des Berges Aſoff entſpringend, in öſtlicher Richtung der Polewaja zufließt, in welche es ſich etwa drei Werſte nördlich von Polewskoi ergießt. Der Weg dahin führt durch Wald und Woraſt und iſt daher zum Theil gebrückt. Dies Seiſenwerk war von allen bisher beſehenen das erſte, das in einem eigentlichen, von einem Fluſſe bewäſſerten Thale lag. Vord- und ſüdwärts war es durch bewaldete Höhen eingeſchloſſen, weſtwärts durch den Berg Aſoff und den Haupthöhenzug des Urals begrenzt. Das Seifen— werk, das im Jahre 1825 zu bearbeiten angefangen wurde, hatte ſchon eine beträchtliche Ausdehnung erlangt; man arbeitete an zwei Stellen und unterſchied eine obere und untere Wäſche.

Den Berg Aſoff, an deſſen Fuße Scheleſinskoi liegt, und welches der höchſte Berg dieſer Gegend iſt, konnten die Reiſenden aus Mangel an Zeit nicht beſteigen. Die Gumeſchewskiſche Kupfergrube iſt von Scheleſinskoi nur etwa drei Werſte in öſtlicher Richtung, von Po— lewskoi vier Werſte in nördlicher Richtung entfernt. Sie liegt in einer Ebene, die ſich bis an den eine Werſt öſtlich gelegenen Se— werskiſchen Hüttenteich, zu welchem die Polewaja aufgeſtaut iſt, er— ſtreckt, die aber von allen übrigen Seiten durch Höhen eingeſchloſſen iſt, welche mit Tannenwaldung bedeckt find. Dieſe Höhen trennen auch die kleine Ebene von der Scheleſenka.

Von allen Kupfererzen, die in der Gumeſchewskiſchen Grube

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vorkommen, findet ſich Malachit am häufigſten; nächſtdem Roth⸗ kupfererz, ſeltener gediegenes Kupfer und Kupferkies und am jel- tenſten Brochantit. Der Naladyit kommt oft in großen nierförmigen Waſſen vor und wird zuweilen in zehn Pud ſchweren Stücken ge— fördert. Eine der größten Maſſen der Art, die man gefördert hat, iſt das früher erwähnte, in der Sammlung des Bergkorps in Pe— tersburg aufgeſtellte Malachitſtück?). Gewöhnlich find die Maffen aber kleiner und am häufigſten findet ſich der Malachit in ſo kleinen nierförmigen Kügelchen, daß ſie kaum die Größe eines Nadelknopfes oder einer Erbſe haben. Dieſe Kügelchen haben meiſtens im Innern einen Kern von gediegenem Kupfer und Rothkupfererz. Sie liegen in großer Menge beiſammen, von einem röthlichen Ocker umwickelt, nach deſſen Fortſchaffung ſie erſt erkannt werden können. Dieſer rothe Ocker macht aber den größten Theil der Förderung aus.

Aus der Art, wie die Kupfererze vorkommen, wird es wahr: ſcheinlich, wie Profeſſor Roſe bemerkt, daß ſowohl Malachit als Rothkupfererz ſekundäre Bildungen ſind und ſich aus dem gedie— genen Kupfer durch Aufnahme von Sauerftoff, Waſſer und Kohlen⸗ ſäure gebildet haben. Da das gediegene Kupfer, wo es mit dem Rothkupfererze und dem Walachit vorkommt, ſtets in Rothkupfererz eingewachſen und dieſes dann von Walachit umgeben iſt, ſo wird es wahrſcheinlich, daß der Uebergang aus dem gediegenen Kupfer in den Walachit immer durch das Rothkupfſererz ſtattgefunden habe. In einigen Fällen kann man ſogar den Uebergang aus dem Roth— kupfererze in den Walachit mit Beſtimmtheit nachweiſen.

Der Abbau der Kupfererze geſchieht durch Schächte, von wel— chen aus man Strecken und Querſchläge treibt. Man hat von erſteren ſehr viele angeſetzt, ſie ſind aber zum Theil ſchon wieder verlaſſen und zuſammengeſtürzt. Der Schacht, in welchem die Reiſenden anfuhren, hieß Rasnosnaja und war 22 Lachter tief. Er ſtand, wie alle Strecken, in ſehr ſtarker Zimmerung, was wegen des druckhaften Gebirges, in welchem man baut, nothwendig iſt. Die Strecken ſind aber ſchmal und ſo niedrig, daß man nur ge— bückt darin gehen kann. Sie wenden ſich bald rechts bald links,

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gehen bald bergab, bald bergauf, fo daß man bald einige Fuß hinabſpringen, bald auf kleinen Fahrten wieder hinaufſteigen muß und das Befahren der Grube mit großer Beſchwerde verknüpft iſt.

Die geförderten Kupfererze werden auf der Grube gewaſchen, um ſie von dem anſitzenden Letten zu befreien und dann nach den Hüttenwerken Polewskoi und Siſſerskoi, welches letztere noch 40 Werſte öſtlich von Polewskoi liegt, abgeführt, wo ſie ver— ſchmolzen werden. Sie werden nicht zuvor geröſtet; die größeren Stücke werden nur mit Fäuſteln zerſchlagen, und ſodann gleich mit einer Beſchickung von Kalk verſchmolzen. Sie erhalten im Ganzen 24 bis 5 Procent Kupfer. Die Wenge des in Polewskoi gewonnenen Kupfers beträgt nach Erdmann jährlich ungefähr 27,000 Pud. N

Die Gumeſchewskiſche Kupfergrube wurde im Jahre 1738 von dem Generallieutenant von Henin aufgenommen und zuerſt für Rech— nung der Krone betrieben, im Jahre 1759 aber mit den Hütten— werken Polewskoi, Siffersfoi und Sewerskoi für die Summe von 200,000 Rubel dem Titularrath Turtſchaninoff überlaſſen. Dieſer hatte die Hüttenwerke mit einer bedeutenden Schuldenlaſt übernommen, verbeſſerte aber durch gute Berwaltung der Werke ſeine Umſtände ſo, daß er nach ſeinem Tode ein Vermögen von mehr als zwei Willionen Rubel hinterließ. Die Veranlaſſung der Entdeckung waren alte Schürfe und zuſammengeſtürzte Schächte, die man fand, woraus ſich ergiebt, daß die Grube ſchon in früherer Zeit in Betrieb geweſen iſt. Aehnliche Spuren früherer Bearbeitung hat man auch in der Grube ſelbſt bemerkt. So fand man in 4 bis 15 Lachter Tiefe einen ledernen Sack und mehrere derartige Kleidungsſtücke, die zum Theile noch recht gut erhalten waren. Auch hier, wie anderwärts am Ural und Altai ſchreibt man dieſe alten Arbeiten den Tſchuden zu. Die Kupferhütte Polewskoi war ſchon früher, 1724, angelegt worden.

Nachdem die Reiſenden Nachmittags von der Kupfergrube nach Polewskoi zurückgekehrt waren, begaben ſie ſich auf demſelben Wege, auf welchem ſie gekommen waren, nach Katharinenburg zurück, wel— ches ſie erſt früh am Morgen des 24. Juni erreichten.

Viertes Rapitel.

Abreiſe von Katharinenburg. Newjansk, Eiſenhütte, Goldgrube und Goldſeifen. Niſchne-Tagilsk, Magnetberg, Gold- und Platin⸗ ſeifen. Kuſchwinsk, Magnetberg Blagodat. Goldſeifen von Biſſersk, Diamanten. Niſchne⸗Turinsk. Bogoslawsk, Goldſeifen, Kupfergrube Turinsk. Werchoturi. Edelſteingruben von Murſinsk.

Am 25. Juni traten die Reiſenden, nachdem ſie den vorher— gehenden Tag der Ruhe gewidmet hatten, eine größere Excurſion nach den nördlich von Katharinenburg gelegenen Werken an, die meiſtens alle, wie dieſe Stadt ſelbſt, auf der öſtlichen Seite des Uralrückens in größerer oder geringerer Entfernung von demſelben liegen. Die hauptſächlichſten dieſer Werke ſind, wenn man von Katharinenburg aus nordwärts geht, Newjansk, Niſchne-Tagilsk, Kuſchwinsk, Viſchne-Turinsk, Bogoslawsk und Petropawlowsk, wel— ches letztere ſchon 482 Werſte von Katharinenburg entfernt iſt. Die Werke gehören theils der Krone, theils ſind ſie Privateigenthum und produciren Eiſen und Kupfer, in neuerer Zeit auch Gold und Platin, welche letztere Metalle aus den Seifenwerken gewonnen werden, die gegenwärtig bei allen dieſen Werken eröffnet ſind. Auf der Weſtſeite des Uralrückens befindet ſich außer den Eiſenhütten Bilimbajewsk und Schaitansk, durch welche die ſibiriſche Haupt: ſtraße führt, nur noch die Eiſenhütte Biſſersk, die der Gemahlin des Grafen Polier gehört; denn die großen, weiter nördlich be— findlichen Salzwerke von Solikamsk, die ein Beſitzthum der Stro— ganowſchen Familie ſind, liegen ſchon in zu großer Entfernung von

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dem Ural (in dem Meridian von Perm) um noch zu demfelben ge— rechnet werden zu können. Ebenſo finden ſich auf dieſer Seite des Urals noch Goldſeifen und werden in der Gegend von Biſſersk und Bilimbajewsk bebaut, ſind aber von viel geringerer Bedeutung, als die der Oſtſeite.

Der Weg von Katharinenburg nach den nördlichen Werken geht größtentheils ſchon in einer ebenen oder doch nur wenig hüg— ligen Fläche fort, obgleich die Werke, wenigſtens die ſüdlichern, in keiner großen Entfernung von dem Uralrücken liegen. Aber die Höhe dieſes Rückens iſt bei Katharinenburg ſelbſt ſo unbeträchtlich, daß er ſehr bald zur rechten und zur linken Seite wieder zur Ebene herabſinkt. Erſt jenſeits Kuſchwinsk erhebt ſich der Ural zu einer bedeutenderen Höhe, doch wird auch hier der Weg nur unbedeutend bergiger, da die Werke dann ſchon in größerer Entfernung von dem Ural liegen.

Verliert hierdurch ſchon die Gegend an Abwechslung, ſo wird ihre Einförmigkeit noch mehr durch den immerwährenden Wald vermehrt, der die Abhänge des Ural bis weit in die Ebene hinein bedeckt. Gleich hinter Katharinenburg führt die Straße in den Wald, und man tritt nur auf kurze Strecken aus demſelben wieder heraus, wo man in die Nähe der Dörfer und der Werke kommt, durch welche der Weg führt. Aber die Straßen ſind meiſtens gut unterhalten, und die Schnelligkeit, mit der man auf denſelben be— fördert wird, hält den Reiſenden, der ſich nicht mit Naturbeobach— tungen beſchäftigt, für die Einförmigkeit des Weges ſchadlos; un— ſern Reiſenden war freilich dieſe Schnelligkeit, von der die ruſſiſchen Kutſcher auf keine Weiſe abzubringen waren, mehr ſchädlich als nützlich.

Die Reiſenden verließen Katharinenburg am frühen Worgen und zwar in einem ziemlich großen Zuge, da ſie von allen ihren Freunden bis zum nächſten Seifenwerke Pyſchminsko-Kljutſchewskoi beim Dorfe Pyſchma, zehn Werſte von Katharinenburg, begleitet wurden. Das Dorf liegt an dem Fluſſe gleiches Namens, der in ſeiner weiteren öſtlichen Erſtreckung das goldhaltige Terrain von Bereſowsk, welches nicht weit von dem Dorfe ſeinen Anfang nimmt, im Norden begrenzt; aber ſchon hier iſt der Sand feiner Ufer fo goldhaltig, daß man etwas weſtlich von dem Dorfe im Jahre 1827

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das erwähnte ſehr ergiebige Seifenwerk angelegt hat. Es gehört Herrn Jacowleff in Petersburg und ſteht wie das Hüttenwerk Werch⸗Iſſetsk unter der Leitung des Herrn Alexei Iwanowitſch, der nach Pyſchma gekommen war, um den Reiſenden ſelbſt das Seifen— werk zu zeigen.

Das Seifengebirge bildete unmittelbar das Bett des Fluſſes, dem man daher für den Abbau deſſelben eine veränderte Richtung hatte angeben müſſen, was indeß bei der geringen Breite, welche er hier, unweit ſeines Urſprunges, hatte, keine große Schwierigkeit darbot. Das Gold, welches ſich meiſt in kleinen Blättchen und ab— gerundeten Körnchen findet (14 Solotnik in 100 Pud), wird gleich an Ort und Stelle verwaſchen; 700 Menſchen waren damit beſchäftigt. Der Ertrag des Jahres 1828 an Gold belief ſich auf 12 Pud.

Gleich hinter dem Dorfe fing der Tannenwald wieder an, der nun unaufhörlich bis zu dem noch 85 Werſte entfernten Newjansk, welches der Zielpunkt des heutigen Tages ſein ſollte, fortdauerte. Nachdem man unterwegs zwei naheliegende Goldſeifen, Walo Mu— ſtowskoi und Werchoturskoi, die noch zum Katharinenburger Berg— amte gehören, beſucht hatte, traf man endlich um zwei Uhr Nachts in Newjansk ein.

Die Reiſenden hielten vor einem ſchloßähnlichen Gebäude, in welchem ſie, der nächtlichen Zeit ungeachtet, der Verwalter des Werkes ſelbſt empfing und ſie in die für Gäſte ſtets bereiten Zimmer führte. Sie traten in einen großen Saal, an welchem mehrere andere Zimmer ſtießen, die mit ihren gewölbten Decken, ihrer kunſt— vollen Stuckatur, ihren reichvergoldeten Möbeln, Spieluhren und anderm Luxus an das Zeitalter Ludwig XIV. erinnerten und durch dieſe alterthümliche Herrlichkeit um ſo mehr überraſchten, je weniger man dergleichen im fernen Ural erwartet hatte und je größer der Gegenſatz war, den die Bewohner des Schloſſes in ihrer altruſſiſchen Nationaltracht mit ihren langen blauen Ueberröcken und Bärten dagegen bildeten. Man bewirthete die Ankömmlinge mit Thee, der ihnen um ſo wohlthuender war, als ſie in der kalten Nacht ſehr gefroren hatten “). f Auch Ermann (Reiſe um die Erde I., S. 330) gedenkt der gaſtfreund⸗ lichen Aufnahme im Newjansker Schloſſe und giebt folgenden Aufſchluß dar-

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Newjansk ift ein ſehr beträchtlicher Ort, der durch die ver— ſchiedenen, theils in ihm, theils in der Vachbarſchaft befindlichen Werke von Wichtigkeit iſt. Es befindet ſich daſelbſt eine der älteſten Eiſenhütten des Urals, die ſchon 1701 angelegt wurde. Ihre An— lage iſt die Veranlaſſung zur Entſtehung des ganzen Ortes ge— weſen. Sie gehörte früher der Demidoff'ſchen Familie, wurde aber um das Jahr 1768 mit mehreren andern Werken dem Collegienrath Jacowleff verkauft, deſſen Nachkommen ſie noch beſitzen. Die Hütte liegt mitten im Orte, an ſie ſchließt ſich das ſteinerne Wohngebäude

der Beſitzer und andere Gebäude mit dem Comptoir, der Apotheke

und dem Lazarethe. Vor dieſen ſteht auf einem freien Platze die ſteinerne Kirche mit fünf Kuppeln, einer größeren in der Witte und vier kleineren zur Seite; um dieſe herum ſieht man eine Wenge Straßen mit meiſt einſtöckigen hölzernen Häuſern. Die Zahl der Einwohner wird auf 12,000 angegeben.

In der Eiſenhütte befinden ſich zwei Hohöfen, ein Walzwerk, ein Schneidewerk, mehrere Friſchfeuer und andere Schmieden. An dem Damm eines großen Sparteiches, zu dem der Fluß Weiwa aufgeſtaut iſt, haben noch die in der Schlacht bei Poltawa zu Kriegsgefangenen gemachten Schweden gearbeitet. In der Nähe von Newjansk befinden ſich an verſchiedenen Orten beträchtliche Gold— ſeifen, die kurze Zeit nach der Entdeckung von Bereſowsk aufge— funden und früher als auf irgend einem andern Privatwerke bear— beitet worden ſind. Vordem hatte man auch ſelbſt auf goldführende Quarzgänge Bergbau getrieben, denſelben jedoch ſeit der Entdeckung des Goldſandes eingeſtellt. Obgleich die Grube, welche mitten im Walde, einige Werſte öſtlich von Newjansk liegt, nicht mehr zu be— fahren war, machten unſere Reiſenden doch am 26. Juni, nachdem ſie einen Blick in die Eiſenhütte gethan und das Lazareth und die Apotheke beſehen hatten, eine Excurſion dahin. Den übrigen Theil

über: Die von dem Verwalter jährlich abgelegten Rechnungen enthalten ſtets eine nicht unbedeutende Summe unter der Benennung: „an Lebensmttel, Getränke, Vorſpann u. ſ. w. für nützliche Freunde“, und ſo mag denn die in dieſen kleinen kaufmänniſchen Staaten nunmehr zum allgemeinen Ge⸗ ſetz gewordene freigebige Gaſtfreundſchaft anfangs namentlich für Reiſende beſtimmt geweſen ſein, mit denen man Handelsverbindungen einzugehen hoffte.

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des Tages benutzten fie dann zu einem größeren Ausfluge nach einigen Goldſeifen und nach den von Vewjansk abhängigen Werken Rudjansk und Werchneiwinsk, welche letztere ſüdlich, an der obern Neiwa und dem höhern Gebirge zu, bis zu einer Entfernung von dreißig Werſten von Vewjansk liegen.

Von dieſen Hüttenwerken aus, die nur acht Werſte von einan— der entfernt ſind, ſieht man den Hauptrücken des Urals in ſeiner ganzen Länge dahinſtreichen. Beſonders ein Berg, die Jeſchowaja Gora, zeichnet ſich in ihm durch ſeine Höhe aus. Der Serpentin, aus welchem er beſteht, enthält ſehr viel Amianth, der früher ge— fördert und in Newjansk zu unverbrennlicher Leinwand und zu Hand— ſchuhen verarbeitet wurde.

Am Morgen des folgenden Tages, den 27. Juni, verließen die Reiſenden Newjansk und fuhren nach Viſchne-Tagilsk, welches von Vewjansk funfzig Werſte entfernt liegt. Der Weg läuft in einer Querlinie zwiſchen den Flüſſen Veiwa und Tagil, verläßt den erſteren gleich bei Newjansk und führt zu dem letzteren erſt kurz vor Nifchne- Tagilsk. Anfangs geht er auf einer ebenen etwas ſumpfigen Wieſe fort, wird aber nach 15—20 Werſten hügliger, wo man den Berg— rücken, der die Waſſerſcheide zwiſchen der Veiwa und dem Tagil bildet, erreicht. Derſelbe erhebt ſich auf dieſem Wege zu keiner beträchtlichen Höhe; denn einen der höheren Berge, den unſere Rei— ſenden beſtiegen, fanden ſie 950 Fuß hoch über dem Meere und etwa 200 Fuß hoch über Vewjansk, deſſen Höhe von der Katharinen— burgs nicht ſehr verſchieden iſt. Wit den Bergen ſtellte ſich auch ſogleich der Wald ein, der anfangs häufig noch freie Grasplätze einſchloß und Birken, Pappeln, Linden in angenehmer Abwechſelung enthielt, ſpäter aber dichter wurde und nur aus ſchwarzem Nadel: holz beſtand. Witten in dieſem liegt das kleine Dorf Schaitanka, ſechszehn Werſte vor Niſchne-Tagilsk, wo man die Pferde wechſelte. Die dicke Tannenwaldung hielt aber noch etwa zehn Werſte weiter an, bis ſich plötzlich den Reiſenden eine weite Ausſicht über den vor ihnen liegenden großen Hüttenteich von Niſchne-Tagilsk, den Magnetberg jenſeits und den Ort ſelbſt zur Rechten des Berges eröffnete. Man fuhr eine halbe Meile an dem Hüttenteiche entlang und erreichte dann eine lange Reihe neuer hölzerner Häuſer, die

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zum Theil ſchon fertig, zum Theil noch im Bau begriffen und für die neuen Anſiedelungen beſtimmt waren, welche die Bearbeitung der bei Viſchne-Tagilsk entdeckten Gold- und Platinſeifen nothwen⸗ dig gemacht hatte. Wan kam hierauf noch durch andere ältere Straßen und gelangte endlich zu dem unmittelbar am Teiche reizend gelegenen Wohnhauſe der Beſitzer von Niſchne-Tagilsk.

Viſchne⸗Tagilsk, fo wie der ganze dazu gehörige, ungefähr acht Quadratwerſte große Diſtrict, iſt ein Beſitzthum der Demidoffſchen Familie. Ihr Vorfahr Nikita Demidoff, ein einfacher Schmidt der Gewehrfabrik in Tula, erhielt im Jahre 1702 den damals entdeckten Magnetberg, jo wie die nicht lange vorher angelegte Eiſenhütte Newjansk von Peter dem Großen zum Geſchenk und wurde dadurch der Gründer von Viſchne-Tagilsk, das er im Jahre 1725 anlegte, ſo wie noch eine Menge andere Werke in der Gegend. Sein Sohn, der Staatsrath Akimfitſch Demidoff, erweiterte die von feinem Vater erbauten Werke ſehr bedeutend, und ebenſo trugen auch deſſen Nach- folger, beſonders der Vater der jetzt lebenden Gebrüder Demidoff, Nicolas Vikitiſch Demidoff, zu dem ſich immer mehr vergrößernden Flor der Werke bei. Niſchne⸗Tagilsk ſelbſt erhielt auf dieſe Weiſe auch eine immer größere Ausdehnung, ſo daß es im Jahre 1826 in 3000 Häuſern 17,000 Einwohner zählte; die Bevölkerung des ganzen Diſtricts betrug in dieſer Zeit gegen 28,000 Einwohner- Nach dieſer Zeit hat dieſe Zahl noch um 8000 Wenſchen aus dem Gouvernement Kiew zugenommen, die Herr von Demidoff in ſeine Beſitzungen übergeſiedelt hat.

Es giebt, wie Profeſſor Roſe bemerkt, wohl kaum einen Ort in der Welt, der in feinen nächſten Umgebungen einen ſolchen Reich: thum an Erzen einſchließt wie Niſchne-Tagilsk. Nur zwei Werſte entfernt liegt der berühmte Magnetberg, der mit feinem vortrefflichen Erze die Hohöſen der ganzen umliegenden Gegend verſorgt; ganz in ſeiner Nähe hat man im Jahre 1812 Kupfererze entdeckt, die an Güte denen von Gumeſchewskoi nicht nachſtehen, und in noch neuerer Zeit ſind in den nächſten Umgebungen die reichen Gold— und Platinſeifen aufgefunden worden, von denen die letzteren an Reichhaltigkeit alle übrigen des Urals ſo weit übertreffen, daß deren Ausbeute gegen die von Niſchne-Tagilsk verſchwindet.

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Jetzt wohnt kein Glied der Demidoffſchen Familie in Viſchne⸗ Tagilsk; die weitläuftigen Werke werden von den Witgliedern eines beſondern Hüttencomptoirs verwaltet, an deren Spitze zwei kennt— nißreiche Männer, die Herrn Lubinoff und Schwetſoff ſtehen, die beide auf Reiſen im Auslande, beſonders in England und Frankreich, ſich vielfältige Kenntniſſe des Bergbaues und Hüttenbetriebes er— worben haben. Schwetſoff hatte ſich zehn Jahre in Paris aufge— halten und feine Bildung daſelbſt in der Ecole normale und &eole des mines erlangt. Auf ſeiner Rückkehr nach dem Ural wurde er kurze Zeit vor Humboldt's Reiſe dieſem ſelbſt in Berlin bekannt, und Humboldt äußerte in Folge deſſen in Petersburg bei den Vor— mündern des kürzlich in Florenz verſtorbenen Nikolas Nikitifch De— midoff den Wunſch, Herr Schwetſoff möge ihn auf ſeiner Reiſe in den Ural begleiten. Da man bereitwillig darauf einging, ſo war Herr Schwetſoff ſchon in Katharinenburg mit unſern Reiſenden zuſammengetroffen, hatte die Reiſe mit ihnen bis hierher gemacht und ſetzte ſie auch weiter in dem nördlichen Ural fort. Nach Ka— tharinenburg zurückgekehrt, trennte man ſich für die Reiſe nach dem Altai von ihm, traf aber ſpäter in dem ſüdlichen Ural in Wiask wieder mit ihm zuſammen.

Die Hüttenwerke, welche unter dem Demidoffſchen Comptoir ſtehen, befinden ſich erſtens in Niſchne-Tagilsk ſelbſt, ſodann in Wyisk, drei Werſte nordöſtlich von Niſchne-Tagilsk, an dem kleinen Fluſſe Wyja, der ſich in die linke Seite des Tagil ergießt; in Werchne— und Niſchne⸗Laisk, achtzehn und zwanzig Werſte nördlich von Niſchne— Tagilsk an der Laja, die ſich weiter abwärts in die linke Seite des Tagil ergießt; in Werchne- und Niſchne-Salsdinsk, ſechsunddreißig und ſechsundvierzig Werſte öſtlich von Niſchne-Tagilsk, an der Salda, einem ſchon bedeutenderen Vebenfluſſe des Tagil; in Tſchernoiſtotſchinsk, ſüdlich von Niſchne-Tagilsk an der Tſcherna, einem obern linken Ve— benfluſſe des Tagil; endlich in Wiſſimo-Schaitansk und Wiſſimo⸗ Utkinsk, welche letzteren Hüttenwerke an der Weſtſeite des Urals an der Utka, einem Vebenfluſſe der Tſchuſſowaja, ſüdweſtlich von Niſchne⸗Tagilsk liegen. 8

Die Hauptwerke befinden ſich in Niſchne-Tagilsk; hier werden ſämmtliche Kupfererze und der größte Theil der Eiſenerze ver—

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ſchmolzen. Die Kupfererze halten im Durchſchnitt 4 Proc. Kupfer. Die jährliche Production von dieſem Metall beträgt 50,000 Pud. Die Eiſenerze des Magnetberges werden theils in Niſchne-Tagilsk, theils in Werchne-Saldinsk verſchmolzen. Die Wenge des jährlich in Niſchne-Tagilsk gewonnenen Roheiſens beträgt 350,000 Bud; es wird theils hier, theils in den von Niſchne-Tagilsk abhängigen Werken verfriſcht und zu Stabeiſen, Ankern, Blechen, Keſſeln, Senſen, Nägeln, Drähten u. ſ. w. verarbeitet. Die Güte des dargeſtellten Eiſens wird ſehr gerühmt, und ſeine große Dehnbar— keit macht es möglich, es zu den dünnſten Blechen zu verarbeiten, die in Rußland beſonders geſucht ſind, weil man ſie dort ſehr häufig zum Decken der Häuſer anwendet. Die Bleche werden aber in Niſchne⸗Tagilsk zum Theil noch weiter zu allerhand lakirten Waaren verarbeitet, die wegen ihres vortrefflichen Lackes ebenfalls im ganzen europäiſchen und aſiatiſchen Rußland einen großen Ruf erlangt haben. Die in Niſchne-Tagilsk und den übrigen Werken darge— ſtellten Produkte werden größtentheils über den Uralrücken zu Lande nach dem nur ſechszig Werſte entfernten Wiſſimo-Schaitansk ge⸗ bracht, wo ſie eingeſchifft werden und durch die Utka, Tſchuſſowaja und Kama zur Wolga gelangen; ein Theil wird auch gleich in Viſchne-Tagilsk auf dem hier ſchon ſchiffbaren Tagil nach dem öſtlichen Sibirien, beſonders nach dem Haupthandelsorte Irbit an der Tura verſchifft.

Der Magnetberg, Wiſſokaja Gora genannt, liegt auf der weft lichen Seite des Hüttenteichs, zwei Werſte von demſelben entfernt. Er erhebt ſich mitten aus einer Ebene und ſtellt einen breiten, flachen von Nord nach Süd laufenden Rücken dar. Seine größte Länge beträgt 300 Lachter, ſeine größte Breite 250 Lachter und ſeine größte Höhe über dem Hüttenteich 41 Lachter. Er beſteht größten— theils aus reinem Magneteiſenerz, nur nach den Seiten und gegen die Oberfläche zu mengt ſich demſelben Brauneiſenerz bei. Die ungeheure Erzmaſſe, die den Wagnetberg bildet, liegt in einem weißen, gelben und braunen Thone. Der Abbau des Eiſenerzes geſchieht ſteinbruchsweiſe von Tage aus; wegen der Feſtigkeit des Erzes muß daſſelbe größtentheils durch Pulver geſprengt werden. Man hat davon noch einen unerſchöpflichen Vorrath, obgleich ſchon

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feit 1721, wo man den Magnetberg zu bearbeiten angefangen hat, viele Millionen Bud Erz gefördert find. Vor dem Einſchmelzen werden die Erze in großen Weilern, deren einer bis 400,000 Pud Erz enthält, geröſtet. Ein ſolcher Weiler beſteht aus drei Schichten, zwiſchen welchen Lagen aus großen Stämmen Holz gebildet werden, das man angezündet. Er brennt oft kaum in vierzig Tagen aus und erkaltet erſt nach acht bis zehn Wochen Ganz in der Nähe des Magnetberges haben ſich nun in der neueren Zeit die Kupfer— erze gefunden, die in Niſchne-Tagilsk verſchmolzen werden. Sie beſtehen faſt aus denſelben Erzen wie die, welche ſich auf der Kupfer— grube Gumeſchewskoi finden und ſind ihrem Gehalt nach von der nämlichen Güte. Im Juni 1835 ſtieß man hier auf eine Walachit— maſſe von außerordentlicher Größe; dieſelbe ift 174 Fuß lang, 8 Fuß breit und 34 Fuß dick, ihr Gewicht wird auf 500 bis 600 Centner geſchätzt; ſie übertrifft alſo noch ſehr bedeutend an Größe die Wa— lachitmaſſe von Gumeſchewskoi, die in der Sammlung des Berg— kops in Petersburg aufgeſtellt ift*). Die Aufnahme der Grube hat im Jahre 1812 ſtattgefunden. Schon früher hatte man in der Umgegend eine Menge Spuren von Kupfer gefunden, und an mehreren Stellen Bauten vorgerichtet, dieſelben aber des zu ge— ringen Erzgehalts wegen bald wieder aufgegeben.

Die Reiſenden hatten ihre Excurſionen in Niſchne-Tagilsk gleich am Nachmittage nach ihrer Ankunft angefangen, hatten zuerſt die Hütten, dann den Magnetberg und zuletzt die Kupfergrube beſucht, aus der fie erſt um 114 Uhr herausfuhren. Die Nacht war kalt, die Temperatur der Luft betrug nur R., in der Grube dagegen war es viel wärmer geweſen. Der 28. Juni wurde zur Beſichti— gung der Goldſeifen beſtimmt, die in der Gegend von Niſchne-Tagilsk abgebaut werden. Dieſe Goldfeifen finden ſich auf beiden Seiten des Tagil, ſowohl an dem Weſtabhange des Bergrückens, zwiſchen der Veiwa und dem Tagil, als auch an dem Oſtabhange des Haupt- rückens des Urals; aber die erſteren ſind bei weitem die bedeutenderen, weshalb man ſich auch auf den Beſuch derſelben beſchränkte.

Der Weg dahin geht längere Zeit ſehr wenig hüglig, erhebt

*) Vergl. S. 32.

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ſich aber, wenn man an die Bertewaja Gora kommt, ziemlich ſteil zu einem höheren Plateau. Auf dieſem fand man den Wald, der ſogleich hinter Niſchne-Tagilsk ſeinen Anfang nimmt, gelichtet und eine Reihe hölzerner Häuſer zum Theil ſchon aufgeführt, zum Theil im Bau begriffen. Sie waren ebenfalls zur Aufnahme neuer An— ſiedler beſtimmt. Jenſeits dieſes anſtehenden Dorfes liegt das reiche Seifenwerk Wiluyskoi in einem flachen Thale, durch das der kleine Fluß Wiluy dem Tagil zufließt, zwanzig Werſte von Niſchne— Tagilsk. Der Goldſand dieſes Werkes enthielt 14 Solotnik Gold in 100 Pud und hatte ſeit 1824 bis 1828 über 70 Pud Gold ge— liefert. Zu den reichen Goldſeifen auf der Oberfläche des Tagil ge— hören noch die Seifenwerke Telianskoi, Katabinskoi und Schilowskoi; zu denen auf der Weſtſeite Tſcheremiſchanskoi und Elchowskoi. Im Ganzen beträgt die Zahl der aufgefundenen Goldſeifen über vierzig, von denen viele aber nur wenig Gold geliefert haben und andere bis jetzt noch wenig bearbeitet worden ſind. Die Wenge des Goldes, welches alle Seifenwerke von Viſchne-Tagilsk ſeit ihrer Entdeckung im Jahre 1823 bis zum Jahre 1829 geliefert haben, beträgt über 250 Pud; die reicheren oben genannten Seifenwerke haben dazu allein 157 Pud beigetragen.

Die Platinſeifen, zu deren Beſichtigung der 29. Juni beſtimmt war, liegen ſüdweſtlich von Viſchne-Tagilsk, ſchon auf dem Weſt— abhange des Urals zwiſchen den Hüttenwerken Tſcherno-Iſtotſchinsk und Wiſſimo-Schaitansk. Ihre Entfernung von Niſchne-Tagilsk iſt bedeutender als die der Goldſeifen; ſie mag zwar in gerader Richtung nur fünfunddreißig Werſte betragen; doch geht der Weg bis Tſcherno⸗Iſtotſchinsk faſt ganz ſüdlich und wendet ſich erſt hier nach Weſten. Eine gut gebahnte Straße führt von Viſchne-Tagilsk nach den genannten Werken über Bergzüge, die ſanft anſteigen und eben ſo abfallen und ſich nur zu geringer Höhe erheben, ob— gleich ſie den Hauptrücken des Urals bilden. Der Weg iſt daher vortrefflich, ſo lange er auf der großen Straße bleibt. Er führt ſtets im Walde fort, der hier wie überall die Abhänge des Urals bedeckt.

In Tſcherno-Iſtotſchinsk wird das in Niſchne-Tagilsk gewonnene Roheiſen verfriſcht und weiter verarbeitet. Das Hüttenwerk liegt

nn

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an der Nordoftfeite eines ſehr bedeutenden Hüttenteiches, der durch Aufſtauung der Tſcherna gebildet iſt und ſich auch noch weit an dem Wege nach Wiſſimo-Schaitansk entlang zieht. Jenſeits deſſel— ben, etwa in funfzehn Werſte Entfernung von Tſcherno-Iſtotſchinsk, kommt man an einen breiten flachen Rücken, der auf dieſem Wege die Waſſerſcheide der europäiſchen und aſiatiſchen Gewäſſer bildet, aber ſich nur bis zu der geringen Höhe von 1140 Fuß erhebt. Auf ſeiner Oſtſeite entſpringen die Quellen eines kleinen Baches, der Bobrowka, welche in den Tagil mündet, und auf der Weſtſeite die des Wiſſim, der ſich in die Utka und durch dieſe in die Tſchuſ— ſowaja ergießt. Witten auf dem Rücken ſteht rechts am Wege eine große hochſtämmige Tanne, auf welcher mit großen Buchſtaben die Worte Aſia und Europa an der Oſt- und Weſtſeite einge— ſchnitten ſind.

Auf der Weſtſeite dieſes Bergrückens liegen, ſeitwärts von der Straße, in kleinen Thälern, die ſich von dem Bergrücken herab— ziehen, die verſchiedenen Platinſeifen auf einem Raume, der ſich zehn Werſte weit erſtreckt. Es ſind deren ſechs. Unſere Reiſenden beſuchten fie fait ſämmtlich der Reihe nach und beſtiegen dazu die bis zur Weſtſeite des erwähnten Bergrückens ſchon vorausgeſandten Pferde, da der Weg, ſobald man die große Straße verläßt, nicht mehr zu Wagen ſortgeſetzt werden kann.

Das Platin kommt in dem Platinſande in kleinen eckigen Kör— nern, ſelten in größeren vor, die dann gemeiniglich mit Chrom— eiſenerz verwachſen ſind. Der Gehalt des Platinſandes an Platin übertrifft den des Goldſandes an Gold ſehr bedeutend, 100 Pud Sand enthalten zuweilen bis 55 Solotnik Platin. Das Waſchen des Sandes geſchieht an Ort und Stelle auf liegenden Heerden, die 7 Fuß lang und 33 Fuß breit ſind. Das Serpentingeſchiebe, aus welchem vorzugsweiſe der Platinſand beſonders in den ſüd— licheren Seifenwerken beſteht, ſo wie das Vorkommen des Platins im Serpentin ohne Vermittlung von Chromeiſenerz, geben die Ge— wißheit, daß der Serpentin die urſprüngliche Lagerſtätte des Pla— tins ausmache “).

*) Vergl. Humboldt's Centralaſien II. S. 329 „über die urſprünglichen Lagerſtätten von Gold und Platin im Ural in Sibirien.“

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Wenn man der Richtung des kleinen Fluſſes Martian, in deſſen Thale ſich das Seifenwerk Martianowskoi II. befindet, auſwärts folgt, ſo gelangt man in kurzer Entfernung von dem Seifenwerke zu einer ſumpfigen Hochebene, die mitten auf dem Rücken des Urals liegt und auch den Vamen Wartian führt. An dieſe ſtößt mit der Südweſtſeite ein hoher Bergrücken, den unſere Reiſenden zu be— ſteigen ſich vorgenommen hatten und zu welchem ſie von dem Sei— fenwerfe Suchoi aus ihren Weg nahmen. Jener Bergrücken heißt die Bjelaja Gora, oder der Weiße Berg, nicht weil der Schnee auf ihm das ganze Jahr über liegen bleibt, ſondern weil er, höher als alle umgebenden Berge, den Schnee auch länger als alle dieſe be— hält. Der Weg dahin iſt ſehr beſchwerlich und führt über aufge— häufte Felsblöcke durch Wald und Sumpf. Er war in dieſer Zeit noch unwegſamer geworden durch einen Windbruch, der vor einiger Zeit ſtattgefunden und viele Tannen umgeworfen hatte. Wo der Wald aufhörte, dehnten ſich ſumpfige Flächen aus, die mit Fels— blöcken eng bedeckt waren. Zwiſchen ihnen hatten ſich tiefe Löcher gebildet, in welchen die Pferde oft bis über das Kniee einſanken und in Gefahr waren, die Füße zu brechen. Dennoch brachten ſie die Reiſenden glücklich bis zu dem Fuße des eigentlichen Felſens, wo man auf übereinandergeſtürzten loſen Blöcken bis zu feiner Spitze hinaufklimmte. Vach Nord oder vielmehr Nordweſt ſenkt ſich der Bergrücken allmäliger, und von hier aus führt ein weniger be— ſchwerlicher aber längerer Weg zu ihm hinauf. Der Felſen ſelbſt iſt kahl und gewährt alſo bei ſeiner Höhe, die über 2027 Fuß be— trägt (eine mehr hervorragende Spitze an ſeinem ſüdlichen Ende hat eine Höhe von 2117 Fuß), eine ausgedehnte Ausſicht auf die Umgegend. Die Ausſicht iſt groß, aber einförmig; man überſieht nichts als einen weiten Wald, der alle umliegenden Höhen, die nicht ſehr bedeutend ſind, bedeckt und ſich bis an die Sümpfe heranzieht, aus denen die Bjelaja Gora gleichſam hervorgeſtiegen if. Nur auf der Vordoſtſeite wird die Ausſicht durch den großen Hüttenteich Tſcherno-Iſtotſchinsk belebt, der bei dem heitern Wetter, welches die Excurſion begünſtigte, in ſchöner Bläue dalag. An ſeiner Nord— oſtſeite zogen ſich die Gebäude hin, die zu dem Hüttenwerke gehö— ren, und über ihnen jenſeits des Waldes, der auch hier den Horizont

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begrenzt, ragte der Kirchthurm von Niſchne-Tagilsk hervor. Auf gleiche Weiſe ſah man auch in Südoſt die Spitze des Kirchthurms von Newjansk aus dem Walde hervorragen; aber dies waren auch die einzigen Gegenſtände, die an das Daſein von Wenſchen erinnerten, nach allen andern Seiten war Alles öde und wild.

Der niedrige Stand der Sonne erinnerte die Reiſenden daran, den Rückweg anzutreten. Sie nahmen denſelben auf der Oſtſeite der Sümpfe von Wartian und ritten auf ſchmalem Wege durch dichten Wald, deſſen üppige Vegetation ſie zwar bewunderten, die ihnen aber kaum den Durchweg erlaubte. Sie kamen in der Nähe der hier befindlichen Goldſeifen vorbei, die zu beſuchen jedoch die Zeit nicht mehr geſtattete. Nach beſchwerlichem Ritte auf den ſchlechten Pferden und den noch ſchlechteren Wegen kamen ſie endlich wieder auf die große Straße von Tſcherno-Iſtotſchinsk nach Wiſ— ſimo⸗Schaitansk; hier hielten ihre Wagen, auf denen ſie dann ſchnell nach Tſcherno-Iſtotſchinsk und Niſchne-Tagilsk zurückeilten, wo ſie jedoch erſt in der Nacht um 2 Uhr anlangten.

Am 30. Juni verließen fie Niſchne-Tagilsk, doch am Nachmit— tage erſt, da ſie das Ordnen und Verpacken der geſammelten Gegen— ſtände, die von hier aus vorläufig nach Katharinenburg geſandt werden ſollten, den Vormittag hinreichend beſchäftigt hatte und ihr nächſter Zielpunkt, das Hüttenwerk Kuſchwinsk, nur 48 Werſte von Niſchne-Tagilsk entfernt, alſo in einem Nachmittage ganz gut zu erreichen war.

Bald hinter Niſchne-Tagilsk nach dem Einfluſſe der Barantſcha verläßt man den Tagil, der ſich darauf nach Oſten wendet und ſich ſpäter in die Tura ergießt. Man kommt dann zur Laja, einem andern kleinen Vebenfluſſe des Tagil, an welchem der Weg einige Werſte entlang geht, und an dem die beiden noch zu Viſchne-Ta⸗ gilsk gehörigen Hüttenwerke Werchne- und Niſchne-Laiskoi ſo wie das Dorf Laja in kurzer Entfernung von einander liegen. Laja liegt etwa auf der Hälfte des Weges von Niſchne⸗Tagilsk nach Kuſchwinsk. Es begann ſchon zu dämmern, als unſere Reiſenden das Dorf erreichten. Als ſie nicht weit von Kuſchwinsk einen letz⸗ ten breiten Bergrücken überfuhren, ſandte die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen auf den Ort und den rechts davon ſich erhe—

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benden Magnetberg Blagodat, die ganze Gegend in magische Be: leuchtung verſetzend. Sie ſtiegen in Kuſchwinsk in einem ſogenann— ten Kronsquartier ab, das ihnen, da ſie noch nicht mit Allem ver— ſorgt waren, was zum Reiſen in Sibirien gehört, durch die freund— liche Hülfe der Beamten des Orts bald heimiſch gemacht wurde.

Das Hüttenwerk Kuſchwinsk, welches der Krone gehört, wurde im Jahre 1730 gegründet und verdankt ſeine Entſtehung dem in der Nähe befindlichen berühmten Magnetberge, der Gora Blagodat oder dem geſegneten Berge, mit welchem die Ruſſen durch die An— zeige eines Wogulen, Namens Stephan Tſchumpin, bekannt wurden. Dieſer Wogule mußte übrigens ſeine Anzeige, zu der ihn die Be— lohnungen, welche die ruſſiſchen Behörden den Entdeckern von Erz— lagerſtätten zu Theil werden ließen, gereizt hatten, mit dem Leben büßen. Durch die Anſiedlungen der Ruſſen nämlich wurden die Wälder gelichtet und das Wild verſcheucht, von welchem die Wo— gulen, die früheren Bewohner dieſer Gegenden, vorzüglich lebten. Sie zogen ſich deshalb mit dem Wilde in die nördlichen, von den Ruſſen noch nicht erreichten Gegenden zurück, verbrannten aber zu— vor aus Rache auf der Spitze des Blagodat ihren Landsmann, der die Unvorſichtigkeit begangen hatte, ſpäter zu ihnen zurück zu keh— ren. Zu ſeinem Andenken hat man auf derſelben Stelle, wo er verbrannt wurde, eine eiſerne Säule mit einer Inſchrift errichtet.

Die Eiſenhütte liegt auf der weſtlichen Seite des Berges, nur Werſte von ſeinem Gipfel entfernt und umſchließt mit den Ge— bäuden für die Beamten und die Arbeiter einen ziemlich großen Hüttenteich, zu welchem der kleine Fluß Kuſchwa aufgeſtaut iſt. Der Abhang des Blagodat nach dem Ort zu iſt allmälig und ein gut gebahnter Weg führt bis zu feinem Gipfel. Auf den höchſten Punkt deſſelben gelangt man auf Stufen, die in den Fels gehauen und mit eiſernen Platten bedeckt ſind, nachdem man eine kleine Brücke überſchritten hat, die über einen wahrſcheinlich durch frühere Arbeiten entſtandenen Abſturz geſchlagen iſt. Auf dieſer Höhe be— findet ſich das zum Andenken des Wogulen Tſchumpin errichtete Wonument, und daneben iſt eine kleine Kapelle mit einer offenen Gallerie errichtet, die eine weite Ausſicht auf den Berg und die umliegende Gegend gewährt.

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Der Blagodat bildet einen einzeln daſtehenden, durch zwei Ver— tiefungen gleichſam in drei Berge getheilten Bergrücken, deſſen Län— genrichtung von Nord nach Süd geht und wohl eine Werft be— trägt. Oſtwärts ſchließt ſich an ihn eine weite moraſtige Niede— rung, die nur im Norden und Süden von Ausläufern der Uralkette begrenzt iſt; weſtwärts zieht ſich in paralleler Richtung der mit dicker Tannenwaldung bedeckte Ural fort, deſſen Hauptrücken indeß noch 20 Werſte von dem Blagodat entfernt iſt. Unter den her— vorragenden Bergen der Uralkette zeichnen ſich, von Nord nach Süd herabgehend, beſonders der Katſchkanar, ein dem Blagodat ähnlicher Magnetberg, der Kamyſchok, die Sinaja Gora (der blaue Berg) und die Kundrawi Kamen aus. In dem Ausläufer, den die moraſtige Niederung im Süden begrenzt, ſieht man die Teplaja Gora und den Grebeſchki. Auf der Weſtſeite des Blagodat fließt die Kuſchwa, die auf dem Oſtabhange des Urals entſpringt, in der Ebene im Oſten die Salda, die in der ſumpfigen Niederung ſelbſt ihren Urſprung nimmt; beide ergießen ſich, die erſtere nach kürzerm, die andere nach längerm Laufe in die Tura. Die Höhe des Bla— godat beträgt nach den Meſſungen von Humboldt und Roſe 1150 Fuß über dem Meere und 483 Fuß über dem Hüttenteich von Kuſchwinsk.

Das Magneteiſenerz des Blagodat wird, wie das der Wiſſo— kaja Gora, vom Tage aus abgebaut und durch Bohr- und Spreng— arbeit gewonnen. Die jetzigen Arbeiten befinden ſich nur an dem Süd und Oſtabhange, die früheren hatten auf dem Gipfel des Berges ſtattgefunden. Ebenſo wie in Niſchne-Tagilsk wird auch das Eiſenerz gleich an Ort und Stelle in großen, frei ſtehenden Weilern geröſtet. Die Wenge des jährlich geförderten Erzes be— trägt 700,000 Pud, die im Durchſchnitt 57 Procent Roheiſen geben.

Die Ausſchmelzung der Erze und die weitere Verarbeitung des gewonnenen Roheiſens geſchieht nicht allein in Kuſchwinsk, ſondern noch in mehreren andern Hüttenwerken, die zum Theil in bedeu— tender Entfernung von Kuſchwinsk liegen, doch alle unter einem und demſelben Bergamte ſtehen, das ſeinen Sitz in Kuſchwinsk hat. Dieſe von letzterem abhängigen Werke liegen nicht allein auf der

III. 10

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Oſtſeite, ſondern zum Theil auch auf der Weſtſeite des Urals. Zu den erſteren gehören Niſchne- und Werchne-Turinsk und Barant- ſchinsk, zu den letzteren Serebrjansk, Wotkinsk und Iſchewsk. Die Ausſchmelzung der Erze geſchieht nur in Kuſchwinsk, Werchne-Tu⸗ rinsk und Barantſchinsk; auf den übrigen Werken wird nur das auf den erſtern gewonnene Roheiſen weiter verarbeitet. In Kuſch— winsk befindet ſich auch noch eine Kanonengießerei, in welcher bei der Anweſenheit der Reiſenden nur Wunition, Kugeln, Bomben und Granaten mit außerordentlicher Sorgfalt gegoſſen wurden

Die Hauptkette des Urals beſteht in dem ganzen Bezirke von Kuſchwinsk aus Talkſchiefer und Chloritſchiefer. Wald, Woräſte und Dammerde bedecken faſt überall das Geſtein, ſo daß es ſchwer hält, daſſelbe entblößt zu ſehen. Oſtwärts von dem Hauptrücken zieht ſich ein anderer aus einzelnen Höhen beſtehender Bergzug in der Richtung von SED. nach NNW. fort. Er fängt 7 Werſte ſüd— lich von Barantſchinsk mit dem Kundrawi-Kamen (dem krauſen Felſen) an, und ihm folgt nördlich die Sinaja Gora (der blaue Berg), beides Felſen, die man von dem Blagodat aus ſehr deutlich ſehen kann; dann folgt die Golaja Gora (der nackte Berg), die Tolſtaja Gora (der dicke Berg) und die Lipowaja Gora (der Lin— denberg), welcher unmittelbar an dem Hüttenteiche von Barant— ſchinsk liegt; nördlich von dieſem liegt noch in dieſer Reihe der Kamyſchok. Weſtlich von der Lipowaja Gora befindet ſich eine ſumpfige, mit Wald bedeckte Ebene, welche von Bächen durchſchnit— ten wird, die auf dem Ural entſpringen. Die Sinaja Gora iſt nach dem Katſchkanar der höchſte Berg der Gegend; er erhebt ſich 1010 Fuß über den Barantſchinskiſchen und 985 Fuß über den Kuſchwinskiſchen Hüttenteich, über den letzteren alſo faſt noch ein— mal ſo hoch als der Blagodat.

Faſt in allen Thälern dieſes Diſtrikts hat man Goldſand auf— gefunden, der zwar in der Nähe des Hauptrückens ſehr arm iſt und nur etwa ½ Solotnik Gold in 100 Pud Sand enthält, in einer Entfernung von 25 bis 40 Weſten vom Ural aber reicher wird. Gewöhnlich enthält er neben dem Golde auch Platin, aber nur in geringer Menge. Am reichlichſten hat ſich dieſes Metall in dem Sei— fenwerfe Zarewo Alexandrowsk gefunden, welches in dem Thale

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eines kleinen Flüßchens Uralicha, 12 Werſte ſüdlich von Barant— ſchinsk liegt. Das Platin, welches hier nur in kleinen Schüppchen vorkommt, zeichnet ſich dadurch aus, daß es gar kein Iridium und von allen bekannten Platinſorten das meiſte reine Platin enthält, nämlich 86, 5 Procent.

In Kuſchwinsk wurden unſre Reiſenden von ihrem liebenswür— digen Begleiter, dem Grafen Polier, verlaſſen, der von hier aus nach ſeinen Beſitzungen an der Koiwa auf dem Weſtabhange des Urals reiſte. Humboldt und ſeine Gefährten beabſichtigten erſt, ihn dorthin zu begleiten, um ſeine Eiſenwerke und ſeine in der Nähe derſelben gelegenen Goldwäſchen zu ſehen; ſie erfuhren aber, daß der nächſte Weg dorthin nur zu Pferde und auch auf dieſe Weiſe nur mühſam zurückzulegen ſei, daß es zwar außer dieſem noch einen andern Weg gebe, auf welchem man die Wagen beibehalten könne, der aber über das Hüttenwerk Serebrjansk und ſodann an der Tſchuſſowaja entlang bis zur Koiwa gehe und folglich nur mit einem großen Umwege an's Ziel führe. Den erſteren Weg konnte Graf Polier nicht einſchlagen ſeiner Wagen wegen, die er nicht zu— rücklaſſen wollte; bei dem letzteren hatten die Reiſenden einen be— deutenden Zeitauſwand zu beſorgen, und dies beſtimmte ſie, den Beſuch der Polierſchen Seifenwerke aufzugeben.

Die Reiſe des Grafen Polier hatte ein in mercantiliſcher Hin— ſicht zwar bis jetzt nicht bedeutendes, dagegen für die Wineralogie des Urals ſehr wichtiges Reſultat, nämlich die Entdeckung ruſſiſcher und zwar europäiſcher Diamanten. Nicht fo glückliche Folgen hatte die Reiſe leider für die Geſundheit des Grafen, denn die da— mit verbundenen Beſchwerden beſchleunigten wahrſcheinlich den Aus— bruch der Lungenkrankheit, der, wie bereits erwähnt, der Graf ſchon im Winter 1830 unterlag.

Das Auffinden von Diamanten in einer ſo hohen Breite (nahe dem 59. Grade) mußte um ſo lebhafter das allgemeine Intereſſe erregen, als man lange Zeit dieſen Edelſtein nur der Tropenzone eigenthümlich geglaubt hatte. In ſeinem geognoſtiſchen Werke über die Lagerung der Gebirgsmaſſen in beiden Hemiſphären *)

*) Essai geognostique sur le gisement des roches, Paris 1823. p. 29. 10 *

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hatte Humboldt auf die merkwürdige Analogie des gemeinſchaftli— chen Vorkommens gewiſſer Subſtanzen (Platin, Gold, Palladium und Diamanten), die man in den verſchiedenen Erdtheilen überein— ſtimmend beobachtet, aufmerkſam gemacht. Dieſe Ideen der Aſſo— ciation von Wineralien hatten in ihm, und wie er ſelbſt ausdrücklich in feinen Fragmens asiatiques (II. p. 593) erwähnt, ſchon viel früher (ſeit 1826) in dem Profeſſor v. Engelhard in Dorpat und in Herrn Mamyſcheff, vormaligem Director der Goroblagodatſchen Hütten— werke, die lebhafteſte Hoffnung erregt, im Gold- und Platinſeifen— gebirge des Urals Diamanten anzutreffen. Wenn unſere Reiſenden daher nach einem Seifenwerke kamen und den Goldſand mikrosko— piſch unterſuchten, um die Begleiter des Goldes und des Platins kennen zu lernen und aus ihnen Schlüſſe auf die urſprüngliche La— gerſtätte des Goldes zu machen, ſo richteten ſie hierbei ihre Auf— merkſamkeit ganz beſonders auf das Vorkommen von Diamanten. Sie ließen ſtets ein gewiſſe Wenge Sand nur ſo weit waſchen, daß die leichteren ſtaubartigen Theile entfernt wurden und der grö— bere zurückbleibende Sand dadurch erkenntlicher ward. Bei dieſen fortgeſetzten mikroskopiſchen Unterſuchungen glückte es ihnen, mehrere Mineralien zu entdecken, welche ebenfalls in dem Goldſande Bra— ſiliens vorkommen und ihre Aufmerkſamkeit daher in ſteter Span— nung erhielten, jo z. B. weiße Zirkone mit ſchöͤnem Diamantglanz und Anatas. Allein ihr Suchen nach Diamanten ſelbſt blieb ohne Erfolg. Die glückliche Entdeckung dieſes Wineralkörpers machten endlich Herr Schmidt und Graf Polier am 5. Juli 1829, alſo vier Tage nach ihrer in Kuſchwinsk erfolgten Trennung von der Hum— boldt'ſchen Reiſegeſellſchaft. Die letztere empfing die Nachricht dieſes erfreulichen Ereigniſſes erſt am 3. September zu Wiask auf der Rückreiſe vom Altai und obern Irtyſch. Graf Polier, welcher ſich damals auf der Weſſe zu Niſchi-Vowgorod befand, ſchickte Hum— boldt durch Herrn Schmidt einen von den zu Adolphskoi gefundenen Diamanten zum Geſchenk, mit der Bitte, die Entdeckung nicht vor der Rückkunft nach Petersburg zu veröffentlichen, weil die Diaman— ten dem Kaiſer noch nicht vorgelegt ſeien.

Jener an Humboldt überſandte Diamant befindet ſich jetzt in der Königl. mineralogiſchen Sammlung zu Berlin. Seine Ober—

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fläche iſt ſtark glänzend, doch nicht vollkommen glatt; er iſt durch— ſichtig und faſt farblos, mit einer nur äußerſt geringen grünlichen Färbung.

Wie ſehr übrigens Humboldt bei dem Antritt der Expedition von der baldigen Entdeckung der uraliſchen Diamanten überzeugt war, beweiſen die Worte, mit denen er ſich in Petersburg von der Kaiſerin beurlaubte; „er werde“, ſagte er ſcherzend, „nicht ohne die ruſſiſchen Diamanten vor der Monarchin wieder erſcheinen.“ Zufälliger Weiſe hatte bei feiner Rückkehr im Monat December nur der Kaiſer die Polier'ſchen Edelſteine geſehen, und ſo hatte Humboldt die Freude, der Kaiſerin den jetzt in Berlin aufbewahr— ten Diamanten als den erſten zeigen zu können.

Die erſte Nachricht von der Auffindung der uraliſchen Diaman— ten erſchien in der Petersburger Zeitung vom ½1. November 1829. Ein Brief des Grafen Polier an Arago in Paris, der den Annales de Chimie einverleibt werden ſollte, blieb wegen der Leiden des Kranken unvollendet; doch ſtattete derſelbe dem ruſſiſchen Fi— nanzminiſter Grafen Cancrin einen ausführlichen Bericht“) ab. Dieſem Bericht zufolge hat ein 14 jähriger Knabe, Paul Popoff, aus dem Dorfe Kalinskoje gebürtig, den erſten Diamanten gefun— den!) und ihn als einen auffallenden Stein dem Aufſeher des Seifenwerks gezeigt, der demſelben aber keine Wichtigkeit beimaß und ihn, da er ihn für einen Topas hielt, zu einer großen Menge anderer zufällig geſammelter Wineralien legte, wo er wahrſcheinlich verloren geweſen wäre, wenn das geübte Auge des Herrn Schmidt ihn nicht herausgefunden hätte. Drei Tage darauf fand ein anderer Knabe einen zweiten Diamanten und einige Tage nach der Abreiſe des Grafen von dem Seifenwerke ſchickte man ihm noch einen drit— ten, der größer als die beiden andern zuſammengenommen war.

Die Lagerſtätte dieſer Diamanten war das ſehr ergiebige Gold— ſandlager von Adolphskoi bei dem kleinen Fluſſe Poludennaja, der ſich in die Koiwa und durch dieſe in die Tſchuſſowaja ergießt. Es

*) S. den Wortlaut dieſes Berichts bei Roſe I. 356-360, wo er zum erſten Mal veröffentlicht wurde. Der (leibeigene) Knabe erhielt außer einer Geldſumme feine Freiheit.

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liegt etwas nördlich von Kreſtowosdwiſchenskoi auf dem europäl— ſchen Uralabhange im Biſſersker Diſtrict, 200 Werſte öſtlich von Perm und 70 Werſte nordöſtlich von Kuſchwinsk. Nach der Er— mittelung des Herrn Schmidt iſt das goldhaltige Lager, welches die Diamanten enthält, ein faſt ſchwarzer Dolomit ohne Verſteinerun— gen. Die Aehnlichkeit des verwitterten Geſteins mit Kohlenpulver iſt, wie Graf Polier bemerkt, ſo groß, daß man nicht umhin kann, zu glauben, daß die Diamanten ſich an dem Orte ſelbſt, wo ſie ſich finden, gebildet haben. Die chemiſche Analyſe, der die Profeſ— ſoren Roſe und Göbel (zu Dorpat) den ſchwarzen Dolomit unter— worfen haben, hat die Anweſenheit der Kohle beſtätigt. Profeſſor Parrot ſah im Jahre 1832 bei der Gräfin Polier noch 29 andere Diamanten, von denen einige Sprünge im Innern, andere ſchwarze Flecken hatten, die gleichfalls von Kohle herrührten. Das Gewicht von 28 derſelben betrug 177% Karat, der größte wog 232, der kleinſte 4 Karat.

Von 1829 bis 1834 ſind überhaupt 41 Diamanten (1829 und 1830 allein 26) in der Schlucht Adolphskoi gefunden worden. Da man ſpäter aber in dieſer Gegend keine Diamanten mehr fand (man hatte nämlich die Arbeiten eingeſtellt, weil ſich das Goldſand— lager als erſchöpft zeigte und die daſelbſt gefundenen Diamanten zu klein waren, um die Gewinnkoſten zu decken), ſo erhoben ſich, wie Herr v. Helmerſen erzählt“), bei vielen Bewohnern des Urals Zweifel über die Wirklichkeit der Entdeckung ruſſiſcher Diamanten; ja man ging ſogar ſo weit zu glauben, ein Steiger, welcher im Jahre 1829 die Wäſche beauſſichtigte, hätte auf geſchickte Weiſe braſilianiſche Diamanten unter den Goldſand von Adolphskoi ge— miſcht.

Die Annahme einer ſolchen Täuſchung, der übrigens das Zeug— niß von fünf Sachverſtändigen wiederſpricht, welche ſeit 1829 den Entdeckungsort beſuchten, widerlegt ſich aber auch dadurch, daß keineswegs zu Adolphskoi allein Diamanten gefunden worden ſind. Im Jahre 1839 fand man einen Diamanten in der Umgegend von

) Reiſe nach dem Ural und der Kirgiſenſteppe in den Jahren 1833 und 1835.

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Katharinenburg, im Jahre 1838 in der Umgebung von Kuſchwa vier (pon dieſen wiegt einer, der im Bache Kuſchaika, 25 Werſte von der Kuſchwinsker Schmelzhütte gefunden wurde, der offiziellen Anzeige zufolge, 71 Karat“) und 1839 einen im Kreiſe von Werchnei-Uralsk auf der Goldſeife Uspenskaja. Demnach kommen im Ural, obwohl noch in geringer Menge, die Diamanten an vier verſchiedenen Orten Adolphskoi, Katharinenburg, Kuſchwinsk und Werchnei-Uralsk auf einem Raume von 600 Werſten Länge von Nord nach Süd vor. Es iſt kaum zu bezweifen, bemerken Helmerſen und Roſe übereinſtimmend, daß man erſt auf die wahre und Hauptniederlage dieſes koſtbaren Körpers, auf das reiche Neſt derſelben kommen werde.

Wir kehren nach dieſer Abſchweifung wieder zu unſern Reiſen— den zurück, die am Nachmittage des 1. Juli Kuſchwinsk verließen und den Weg nordwärts nach Niſchne-Turinsk einſchlugen, nach— dem ſie zuvor den Grafen Polier ſüdweſtwärts nach Serebrjansk hatten abreifen ſehen. Viſchne-Turinsk iſt 29 Werſte von Kuſchwinsk entfernt. Der Weg folgt dem Laufe der Kuſchwa an ihrer rech— ten Seite, bis ſie ſich 9 Werſte vom Hüttenwerke in die weſtlich vom Gebirge herabkommende Tura ergießt, die von nun an eine nördliche Richtung nimmt. An der Einmündung der Kuſchwa iſt das Hüttenwerk Werchne-Turinsk angelegt, in welchem in mehreren Hohöfen Eiſenerze von Blagodat verſchmolzen werden. Außerdem befindet ſich noch hier eine Gießerei, worin man, wie in Kuſchwinsk, mit der Anfertigung von Kugeln und Bomben beſchäftigt war. Hinter Werchne-Turinsk fährt man über die Tura und bleibt an deren linken Seite bis jenſeits des Dorfes Imjannja, das nicht weit von dem Einfluſſe eines ziemlich bedeutenden Fluſſes, der Malaja Imjannja, in die Tura liegt, worauf man wieder auf die rechte Seite der Tura überſetzt. Die Tura ſowohl als die Imjannja ha— ben felſige Ufer, aber die Felſen ſind niedrig und ragen oft kaum

*) Der Werth eines ſolchen Diamanten iſt ſchon nicht unbedeutend. Rohe, zum Schnitt taugliche Diamanten werden das Karat mit 20 bis 24 Gulden bezahlt. Wenn die Steine aber über 1 Karat ſind, ſo wird das Quadrat des Gewichts mit dem Preis des einfachen Karats multiplieirt, fo daß z. B. ein roher Stein von 3 Karat 3432 fl. koſtet oder 198 fl.

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über die Dammerde hervor. Erſt in der Nähe des Hüttenteiches von Viſchne-Turinsk erheben ſie ſich zu einiger Höhe; man kommt hier an einen langgezogenen, mit Tannen bewachſenen Bergrücken, der Schaiton oder die Schaitanskaja Gora genannt, an deſſen Seite der Weg entlang geht, während man den Hüttenteich zur Linken behält. An der Vordweſtſeite deſſelben liegt das bedeutende Hüt— tenwerk, welches man am Abend erreichte.

In Niſchne-Turinsk wird Roheiſen von Werchne-Turinsk ge— friſcht und weiter verarbeitet. Man verweilte nur den Vormittag hier, beſah an demſelben das Werk und beſtieg die nächſten Höhen. Am Nachmittag wurde die Reiſe fortgeſetzt.

Von Niſchne-Turinsk aus hat man nur einige 30 Werſte nach dem Wagnetberge Katſchkanar oder Kascanar, der von hier aus nordöſtlich liegt, den die Reiſenden aber bei feiner bedeutenden Höhe ſchon vom Blagodat aus geſehen hatten. Ungefähr 10 Werſte von Niſchne-Turinsk verändert die ſtark ſtrömende Tura ihren Lauf und wendet ſich, wie der Tagil und die Veiwa, unter faſt rechtem Win— kel nach Oſten. An dem Winkel, welchen die Tura macht, fällt in die linke Seite, weſtlich vom Gebirge herabkommend, der Sf, an deſſen Urſprunge der Katſchkanar liegt. Vach der Beſchreibung von Pallas, der ihn beſucht hat, bildet er ein bedeutendes Stück Ge— birge, mehr als 5 Werſte lang, beſteht jedoch nicht gänzlich aus reinem Magneteifenerz, ſondern dem größten Theil nach aus taubem Gebirge, aus welchem das Magneteifenerz in einzelnen kleinen Kup— pen hervorragt.

Der Kaſchkanar iſt wegen der kräftigen Magnete berühmt, die er geliefert hat und immer noch liefert. Einige Schürfe abgerechnet, hat man eigentliche Bauten zur Gewinnung von Magneteifenerz auf ihm nicht vorgerichtet, da die in der Nähe liegenden Magnet— berge von Kuſchwinsk und Viſchne-Tagilsk daſſelbe ſchon in hin— reichender Wenge liefern. Auf ſeinen weſtlichen Abhängen nach Biſſersk zu hat ſich in neuerer Zeit ein ſchönes glasglänzendes ſmaragdgrünes Wineral gefunden, welches nach dem vormaligen Miniſter der Aufklärung und Präſidenten der Petersburger Akademie der Wiſſenſchaften, Uwarow, den Namen Uwarowit erhalten hat.

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Auch die Königl. mineralogiſche Sammlung in Berlin iſt im Beſitz eines ſehr ſchönen Stückes Uwarowit.

Die Kupfergruben von Bogoslowsk, die nun das nächſte Ziel der Reiſenden waren, liegen 167 Werſte nördlich von Niſchne-Turinsk und gegen 50 Werſte von der eigentlichen Kette des Urals entfernt, obgleich ſie ſich noch am Abhange des Gebirges befinden. Von Niſchne⸗Turinsk an nimmt der Ural bedeutend an Höhe zu, und dehnt ſich durch Seitenzweige, die er in rechtwinkliger Richtung von der Hauptkette abſendet, auf gleiche Weiſe auch mehr in die Breite aus. Er hat hier feine höchſten bekannten Berge, den Magdalinskoi —, Pawdinskoi —, Konſchekowskoi —, Kakwinskoi und Deneſchkin— Kamen, die alle, bis auf den Wagdalinskoi-Kamen, nicht in der eigentlichen Uralkette liegen, ſondern ſich öſtlich von derſelben als abgeſonderte Pics erheben. Die Höhe der letzteren Berge beträgt nach den trigonometriſchen Weſſungen des ausgezeichneten Aſtronomen Fedoroff 8 bis 9000 Fuß über dem Weere, während die Gipfel des ſüdlichen Urals nicht 4000 Pariſer Fuß überſteigen. Bei dieſer bedeutenden Erhebung des nördlichen Urals iſt es überraſchend deſſen Gipfel unter 60° nördlicher Breite frei von ewigem Schnee zu ſehen. Dieſer liegt aber in großen ſattelförmigen Vertiefungen zwiſchen den einzelnen Gipfeln und an den öſtlichen und nördlichen Abhängen, wo man ihn noch im Juni und Juli große Felder bilden ſieht, und den man alſo wohl mit Recht für ewigen Schnee halten kann. Der Pawdinskoi-Kamen, den ältere Berichte als den höchſten Berg des Urals angeben, hat nach den barometriſchen Meffungen von Helmerſen nur eine Höhe von 3326 Pariſer Fuß über dem Meere.

Die genauere Kenntniß des Gebirges wird durch die Unweg— ſamkeit deſſelben ſehr erſchwert. Nur zwei Straßen führen über den Rücken. Die eine ſüdlichere geht von Werchoturje aus und führt durch das Hüttenwerk Nikolaje-Pawdinskoi bei dem Südabhange des Pawdinskoi-Kamen vorbei über den Rücken nach dem Dorfe Koria und dann weiter nach Solikamsk. Dies war die alte Handels— ſtraße nach Sibirien, die, wegen des in der Stadt Werchoturje zu entrichtenden Zolles, vor der Anlage der Katharinenburger Straße die einzige erlaubte über den Ural war. Die andere geht nördlich von derſelben und von Bogoslowsk von dem Hüttenwerke Petro—

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pawlowsf aus auf der Nordfeite des Kakwinskoi-Kamen vorbei über den Rücken nach Tſcherdin. Außer dieſen Straßen giebt es keine Wege über dieſen Theil des Urals; ausgedehnte Sümpfe bedecken die Niederungen, dichte Waldungen die Abhänge, wodurch den ges naueren Unterſuchungen des Urals oſt unüberſteigliche Hinderniſſe in den Weg gelegt werden. Aus den zahlreichen Sümpfen ent— ſpringen eine große Menge von Bächen, die ſich bald zu größeren Flüſſen vereinigen und von denen die beträchtlichſten bis zum Deneſch— kin⸗Kamen die Ljalja, Lobwa, Kakwa, Turja, der Wagran und die Sodwa find. Die Quellen der Ljalja entſpringen an dem Fuße des Pawdinskoi-Kamen, die der Lobwa an dem Konſchekowskoi— Kamen, die der Kawka und der Turja an dem Kakwinskoi-Kamen und die der Soswa öſtlich und ſüdlich von Deneſchkin-Kamen. Alle dieſe Flüſſe nehmen, den Thälern der Seitenwege des Urals folgend, gleich anfangs eine mehr öſtliche Richtung und unterſcheiden ſich dadurch auffallend von den mehr ſüdlichen Flüſſen, der Neiwa, dem Tagil, der Tura und der Tſchuſſowaja, die alle erſt in nördlicher Richtung hart an dem Rücken des Urals entlang fließen, ehe ſie ſich, die erſteren nach Oſten, die letzteren nach Weſten wenden. Der bedeutendſte unter den oben genannten nördlicheren Flüſſen iſt die Soswa, die, nachdem ſie einige Zeit nach Oſten gefloſſen iſt, ſich nach Süden wendet und in ihrem ſüdlichen Laufe die übrigen Flüſſe von Wagram bis zur Ljalja in ſich aufnimmt. Vach der Vereinigung mit dieſer letzteren wendet ſie ſich nach Nordoſt und vereinigt ſich dann mit der Loswa, die, noch nördlicher als die Soswa an dem Uralrücken entſpringend, bis zu ihrer Vereinigung einen der Soswa parallelen Lauf beſchreibt und dann unter dem veränderten Namen Tawda dem Irtyſch zuſtrömt.

Die nördlich von der Soswa liegende Gegend Urals war bis in neueſter Zeit noch faſt gänzlich unbekannt und iſt erſt durch eine von Bogoslowsk aus abgeſandte Expedition, die in den Sommer— monaten der Jahre 1830, 31 und 32 die Gegend in geographiſcher und bergmänniſcher Hinſicht unterſuchte, etwas bekannter geworden. Die Expedition fing ihre Unterſuchungen hundert Werſte nördlich von Bogoslowsk bei dem Iwdil, einem rechten Vebenfluſſe der Loswa an, welcher die nördliche Grenze des Hüttenbezirkes von Petro—

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pawlowsk bildet. Sie beſtand größtentheils aus jungen Leuten, die ſich alle freiwillig dazu erboten hatten, und wurde von dem Mark: ſcheider Protaſſoff II., dem Hüttenverwalter Kowanko und dem Schichtmeiſter Freſe geführt. Man hatte mit den Schwierigkeiten, die ſich Unterſuchungen in dieſen Gegenden entgegenſtellen, in vollem Maße zu kämpfen. Die junge Wannſchaft mußte ſich mit der Axt erſt den Weg durch die Wälder bahnen, über Woräſte Brücken legen und die reißenden Flüſſe auf ausgehöhlten Baumſtämmen beſchiffen. Von Station zu Station wurden Wagazine erbaut, von wo aus ſie ihre Bedürfniſſe mit ſich führen mußte, die ihr häufig durch Regengüſſe verdarben oder auf andere Weiſe zu Grunde gingen, ſo daß ſie Entbehrungen aller Art zu erdulden hatte. Den— noch drang ſie auf dieſe Weiſe in dem erſten Jahre funfzig und in den folgenden Jahren fünfundachtzig Werſte weiter bis zur Sewerna (nördlichen) Soswa vor, die, in nordöſtlicher Richtung fließend, ſich bei Bereſoff in den Ob mündet und nicht mit der oben erwähnten ſüdlicheren Soswa zu verwechſeln iſt. Die Expedition entdeckte eine Wenge reichhaltiger Goldſandlager, ſo wie auch Lagerſtätten von Kupfererzen, die ſpäter einmal, wenn der Goldſand der ſüdlicheren Gegenden erſchöpft fein und die Koloniſation ſich weiter nach dem Norden verbreitet haben wird, von großer Wichtigkeit ſein werden.

Die Straße, welche von Niſchne-Turinsk nach Bogoslowsk durch die Wildniſſe führt, iſt gut gebahnt und erlaubte daher den Reiſenden ſchnell vorwärts zu kommen. Sie verläßt gleich hinter Niſchne-Turinsk die Tura und erreicht dieſelbe wieder einige Werſte vor dem Dorfe Vechoroſchkowa, wo man mit einer Fähre über den ſchon beträchtlichen Fluß ſetzt. Sie bleibt nur an ſeiner Lin— ken bis in der Nähe von Werchoturje. Als Pallas in den ſieben— ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dieſe Gegenden beſuchte, waren ſie des Sommers zu Wagen gar nicht und zu Pferde auch nur mit der größten Schwierigkeit zu bereiſen. Die berühmten Kupfergruben an der Turja waren damals nicht lange erſt entdeckt und wurden von dem Werchoturiſchen Kaufherrn Pochadäſchin be— baut, der die Wege abſichtlich in dem ſchlechteſten Zuſtand erhielt, um fremden Erzſuchern den Zutritt zu dieſen Gegenden zu er— ſchweren. Seit dieſer Zeit ſind die Werke an die Krone überge—

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gangen und ſeitdem iſt auch erſt durch die Wälder die gute Straße gelegt worden. Die Urbarmachung der Gegend hat aber damit noch nicht zugenommen, denn, abgeſehen von dem Dorfe Vechoroſchkowa, find die übrigen Stationen, durch welche man kommt, Beſſonowa, La— tinskoje, Lobwinskoje und Kakwinskoje nur einzelne Häuſer, ſoge— nannte Simowien, welche mitten in dem Walde liegen und in denen die zur Fortſchaffung der Reiſenden nöthigen Pferde gehal— ten werden.

Die Waldungen, welche die Abhänge des Urals auf dem Weg unſrer Reiſenden bedeckten, beſtanden aus Tannen, Lärchen- und Ceder— fihten, weniger aus Birken und aus Pappeln. Lärchen- und Ce⸗ derfichten befanden ſich beſonders in den ſumpfigen Gegenden und gediehen am beſten. Das Unterholz der Tannenwälder bildeten viel wilde Roſen (rosa canina) in voller Blüthe, mit Lonicera xylos- teum und Wachholder, deſſen dunkles Grün von dem lebhaften Weiß der Birkenſtämme angenehm unterbrochen war. An Kräutern fan— den ſich Atragene alpina mit ihren großen weißen Blumen, ein Zeichen nördlicher Breite; ferner Hesperis matronalis und Pole- monium caeruleum, welche letztere beſonders an feuchten Stellen wucherte und nebſt der vorigen eine Zierpflanze unſerer Gärten iſt. An der Kakwa blühte Cartusa Mathioli, eine deutſche Alpenpflanze; auch ſah man Spuren der ſibiriſchen Primula cartusoides, die in Deutſchland gleichfalls eine beliebte Eulturpflanze geworden iſt. Auf den Höhen von Bogoslowsk wuchs der deutſche Mespilus Cotone— aster bei dem ſibiriſchen Delphinium cuneatum bei Corydalis si- birica, und in den Sümpfen der Niederungen blühten die deutſchen Menyanthes trifoliata, Andromeda polyfolia und calyculata mit Oxycoccos minus neben dem nordiſchen Rubus chamaemorus, einer Zwergweide.

So ſchön und reich auch hier und da die Gruppirng der Pflanzen für das Auge war, ſo arm war dagegen die Fauna der Gegend. Beim abſichtlichen Suchen der Thiere auf der Jagd fan— den ſich meiſt nur zwei bis drei Vögel und ſelten ein kleiner Haſe oder ein Eichhörnchen. Kein Zwitſchern, kein Geſang ließ ſich ver— nehmen. Meiſtens waren es kleine Falken, Falco tinnunculus und rufipes, hier und da ein Steinſchmätzer (Saxicola rubetra), bei Bo—

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goslowsk ein Fink (Pyrgita melanictera); doch keine Sperlinge und Bachſtelzen, die Weltbürgerformen unter den Vögeln, welche die Menſchen und die Cultur begleiten.

Der üppige Krautwuchs von meiſt ſehr ſaftreichen Pflanzen gereichte dieſer Gegend jedoch zur großen Plage, denn er ernährte eine ſolche Menge von Mücken, daß man ſich ihrer kaum erwehren konnte. Die Bewohner dieſer Gegenden ſchützen ſich das Geſicht durch vorgehängte Vetze, die mit Birkentheer, durch deſſen Geruch die Mücken vertrieben werden, beſtrichen ſind, oder ſie tragen, wie Pallas erzählt, Töpfe mit faulem Holz oder mit rauchenden Bir— kenſchwämmen, deren Rauch die Augen nicht angreift, auf dem Rücken. Unſre Reiſenden mußten von jenem Uebelſtande um ſo mehr leiden, als ſie dagegen noch gar keine Vorkehrungen getroffen hat— ten. Sie empfanden ihn freilich weniger beim Fahren, weil dann die Mücken durch den Zug vertrieben wurden, deſto mehr aber, ſo— bald ſie anhielten. Noch weit mehr als die Wenſchen hatten die Pferde zu leiden.

Die Bauern, welche die Wege ausbeſſerten, hatten zu ihrem Schutze hier und da Feuer angezündet, um welche ſie ſich, wenn ſie gerade nicht arbeiteten, mit den Köpfen drängten; denn ſie ertru— gen lieber den Rauch des Feuers, als die Stiche der Mücken.

In dieſen menſchenleeren Gegenden müſſen die Bauern zur Ausbeſſerung der Wege oft von weiter Ferne herkommen. Sie halten ſich dann ſo lange in der Nähe der Wege auf, bis ſie mit ihrem Diſtricte fertig ſind und bauen ſich deshalb kleine Hütten zur Seite des Weges, die ſie aus Stangen zuſammenſchlagen und auf eine eigenthümliche Weiſe durch Platten von Birkenrinde von mehr als Quadratfuß Größe decken. Der Birkenrinde bedienen ſie ſich auch noch zu manchen andern Zwecken, namentlich zur Verfer— tigung von Trinkgeſchirren, und ſchälen dazu die Stämme von Bir— ken meiſtens einige Fuß über der Wurzel und gewöhnlich nur auf etwa 1 Fuß Breite ab, ohne fie, wie man ſagt, durch dieſe Be— handlung zu Grunde zu richten.

Die Reiſenden langten in Nechoroſchkowa erſt ziemlich ſpät am Abend an, wechſelten hier die Pferde, ſetzten in der Nacht über die Pjalja und waren am Morgen früh in der Simowie Latinskoje,

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die an der Lata, einem kleinen, rechten Nebenfluffe der Lobwa liegt.

In dem Sande der Lata hat man, dicht bei der Simowie, Gold gefunden und daſelbſt ein Seifenwerk angelegt, das den Na— men Pitatelewskoi führt und unter der Berghauptmannſchaft von Bogoslowsk ſteht. Unſre Reiſenden beſichtigten daſſelbe in Beglei— tung des Warkſcheiders Herrn Protaſſoff, der zur Begrüßung Hum— boldt's aus Bogoslowsk bis hierher entgegen gekommen war.

Als die Reiſe nach Beſichtigung des Seifenwerkes fortgeſetzt wurde, war man genöthigt, vor dem ſtarken und den Vormittag über anhaltenden Gewitterregen die Wagen zu ſchließen und konnte daher auch weniger auf den Weg achten; allein es waren auch wenig Gegenſtände, welche die Aufmerkſamkeit in Anſpruch nahmen. Die Einförmigkeit des zum Theil recht ſumpfigen Waldes wurde durch nichts unterbrochen. Zehn Werſte von Latinskoje kam man nach Lobwinskoje und ſetzte mit einer Fähre über die Lobwa. Der 20 Werſte lange Weg über die folgende Waſſerſcheide bis zu Kakwinskiſchen Simowie war eben ſo waldig, aber weniger ſumpfig. Wan ſetzt hier über die Kakwa, welche, wie die Lobwa, ein ſehr reines, klares Waſſer hat. Die letzte Waſſerſcheide auf dieſem Wege zwiſchen der Kakwa und Turja iſt nur 16 Werſte breit und etwas höher und trockener als die bisherigen.

Um 11 Uhr Abends kamen die Reiſenden in Bogoslowsk an. Das Wetter hatte ſich aufgeklärt und alle Gegenſtände waren da— her bei dieſer hohen Breite, wo die Dämmerung die ganze Nacht hindurch faſt gar nicht aufhört, noch deutlich zu erkennen. Die Kupferhütte, die Kirche und die Wohnungen der Beamten liegen an dem linken nördlichen Ufer der Turja, das eben und flach iſt, während das rechte, der Hütte gegenüber, ſich in ſchroffen Felſen ſteil erhebt; weiter gegen Weſten wird der Abhang ſanfter, und auf dieſem Abhange befinden ſich die meiſten Wohnungen der Hütten— leute und Bauern. Zwiſchen der Hütte und dem Dorfe iſt der 130 Lachter lange Damm angelegt, der die Turja über das linke flachere Ufer dem Dorfe gegenüber gedrängt und an dieſer Stelle den Fluß angeſchwellt hat. Ueber dieſen Damm geht auch der Weg nach dem nördlichen Ufer fort. Es iſt ein überraſchender An—

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blick, ſagt Prof. Roſe, wenn man von den Höhen vor Bogoslowsk herabfährt und nun plötzlich einen weiten Blick erhält gegenüber auf die ſich ausbreitende Ebene und links auf das ſich mächtig er— hebende Gebirge. Der Hauptrücken iſt von Bogoslowsk noch 50 Werſte entfernt, ſcheint ſich aber ſchon von hier aus zu erheben. Sein Abhang iſt mit ſchwarzer, undurchdringlich ſcheinender Tan— nenwaldung bedeckt, und aus ihr ragen am Horizont die kahlen, lang gezogenen, zu dieſer Jahreszeit meiſt alle noch mit Schnee be— deckten Kuppen ſteil hervor, unter denen die des Konſchekowskoi— Kamen als die bedeutendſte erſchien. Die weißen Gipfel dieſer Berge kontraſtirten mächtig gegen den ſchwarzen Abhang, deſſen einförmiges, geheimnißvolles Dunkel auf unüberſehbarer Ferne durch nichts unterbrochen wurde.

Die Reiſenden waren in einem ſogenannten Kronsquartier ab— geſtiegen, dicht neben der Wohnung des damaligen Oberbergmeiſters und Directors der dortigen Werke, Herrn Beger), eines kenntniß— reichen Mannes, der zwar nicht, wie man nach ſeinem Namen ver— muthen ſollte, deutſch, doch vollkommen fertig franzöſiſch ſprach. Die vielen deutſchen Namen, die man am Ural ſindet, geben häufig Veranlaſſung zu einer ſolchen Täuſchung. Der Bergbau am Ural iſt größtentheils durch Deutſche aufgenommen, die die ruſſiſche Sprache lernten, ſich an ruſſiſche Mädchen verheiratheten und ihre Kinder, die meiſt im Bergkorps in Petersburg erzogen und zu den Beſchäftigungen der Väter vorbereitet wurden, nicht ihre Mutterfprache lernen ließen; die Abkunft derſelben iſt dann nur an ihren deutſchen Namen zu erkennen. Um ſo angenehmer war es, in der liebenswürdigen Frau des Herrn Beger eine geborne Deutſche von der Inſel Oeſel bei Riga zu begrüßen. Sie war eine große Liebhaberin des Gartenbaus und pflegte cinen hübſchen Garten hinter ihrem Hauſe mit vieler Sorgfalt. In dem Treibhauſe fan— den ſich die Citronenbäumchen, Johannisbrodtbäumchen und Apfel— bäumchen des ſüdlichen Europas und weſtlichen Aſiens neben einer großen Zahl oſtindiſcher Ananas, welche hier in Sibirien das am leichteſten zu erzielende Obſt bilden.

*) Derſelbe wurde fpäter nach Barnaul im Altai als Direktor der dor- tigen Silberhütte verſetzt.

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Unſere Reiſenden benutzten noch den Vormittag, um die be— rühmten Kupfergruben von Bogoslowsk zu beſuchen, die 15 bis 18 Werſte öſtlich von den Hütten an der Turja liegen und daher auch im Allgemeinen den Vamen der Turjinſchen Gruben führen. Die wichtigſten derſelben ſind in zwei Hügeln angelegt, die ſich etwa 190 Fuß über der Turja erheben und der Turjinſche und Fro— lowſche Berg heißen. Der erſtere liegt auf der linken, der Fro— lowſche Berg auf der rechten Seite der Turja. Die Erze der Turjfin— ſchen Gruben werden nach den Kupferhütten in Bogoslowsk ge— bracht und dort verſchmolzen. Man hält das hier gewonnene Garkupfer für das beſte am ganzen Ural.

Eh' unſre Reiſenden die Kupfergruben verließen, beſuchten ſie noch eine Goldwäſche, Alexandrowsk, die auf der Südſeite der Turja, einige Werſte von den Turjinſchen Gruben, an einem kleinen, in die Turja fallenden Bache liegt. Außer dieſer giebt es in den zu dem Hüttenbezirke von Bogoslowsk gehörigen Ländereien noch meh— rere Goldwäſchen, welche die Goldproduction dieſes Bezirks ſehr bedeutend machen.

Es giebt Stellen bei Bogoslowsk, an welchen, durch die Oert— lichkeit begünſtigt, das Eis des Bodens nie zu verſchwinden ſcheint. Oberbergmeiſter Beger hatte die Reiſenden auf dieſe Erſcheinung aufmerkſam gemacht und an einer ſolchen Stelle einen Schurf gra— ben laſſen, den ſie noch am Abend deſſelben Tages (5. Juli) be— ſuchten. Der Schurf war in einem torfigen, von kleinen Fichten nur ſchwach bewachſenen Boden, drei Werſte von Bogoslowsk, an— gelegt. In einer Tiefe von ſechs Fuß war man auf Erde geſto— ßen, die mit Eis gemengt war, und in dieſer war der Schurf noch fünf Fuß tief fortgeführt worden, ohne daß das Eis aufgehört hätte. Herr Beger verſicherte, daß er im Auguſt vorigen Jahres die Eisſchicht noch 94 Fuß dick gefunden habe. Offenbar hatte hier der moorige Boden das Eindringen der Sommerwärme erſchwert, und ſo kann bei eintretender Winterkälte ſich von der Oberfläche aus eine neue Eisſchicht bilden, ehe die frühere ganz fortgethaut iſt.

Das Klima von Bogoslowsk geſtattet wohl noch den Anbau des Getreides, läßt es aber doch nicht in jedem Jahre zur Reife kommen, ſo daß dieſer Anbau einen ſichern Erwerbszweig ſchon

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nicht mehr gewährt. Der Anfang des Frühlings tritt ſchon in den letzten Tagen des Aprils ein und im Anfang des Wais iſt es ge— wöhnlich ſchon ganz grün. Die Kälte pflegt im Winter nicht un- ter 26» R. zu ſinken und ein Feſtwerden des Queckſilbers nur alle drei bis vier Jahre einmal ſtattzufinden. Die Oſt- und Vordoſt⸗ Winde bringen gewöhnlich Regen mit, wogegen bei Weſt-, Vord— weſt⸗ oder Südweſt⸗Winden heiteres Wetter if. Sädwinde find ſehr ſelten.

Als man um 10 Uhr Abends von dem Schurfe zurückgekehrt war, machten Roſe und Ehrenberg noch einen Spaziergang nach dem rechten Ufer der Turja, um von hier aus noch einmal die Aus⸗ ſicht auf den Höhenzug des Urals zu genießen. Gleich von dem Hüttendamme führt links ein kleiner Fußpfad nach einer der be— deutendſten Höhen der Gegend, auf welcher ein kleines Luſthaus er— baut iſt. Wan überſieht von hier aus die ganze Gebirgskette. Die beträchtlichſten Berge, die ſich an dieſer Stelle dem Auge darbieten, find gegen Südweſt der große Ljalinskoi-Kamen, nördlich von die— ſem der Pawdinskoi-Kamen (70 Werſte von Bogoslowsk), dann der Semitſchelowetſchnoij- und der Suchoi-Kamen, die aber an Größe bedeutend von dem darauf folgenden Konſchekowskoi-Kamen übertroffen werden. Auf dieſen folgen der Kirtim, faſt genau im Weſten von Bogoslowsk gelegen, der Kakwinskoi-Kamen, der Kumba, 10 Werſte, und der Deneſchkin-Kamen, 75 Werſte von Bogoslowsk. Der letztere bildet den höchſten von allen dieſen Bergen.

Bogoslowsk war der nördlichſte Ort am Ural, welchen die Reiſenden beſuchten; allerdings befindet ſich 60 Werſte nördlicher noch ein Hüttenwerk, die Eiſenhütte Petropawlowsk, allein die Zeit geſtattete nicht, die Reiſe noch weiter nach dem Norden hin auszu- dehnen. Am Mittage des 6. Juli verließen die Reiſenden Bogos⸗ lowsk und traten, wiederum eine lange Strecke von ihren daſigen Freunden, welche ſie mit ſo vieler Zuvorkommenheit aufgenommen hatten, begleitet, ihre Rückreiſe nach Katharinenburg an. Sie nah⸗ men bis zur Tura denſelben Weg, den ſie auf der Hinreiſe einge— ſchlagen hatten, denn einen andern giebt es nicht, wandten ſich dann aber links nach Werchoturje und ſetzten von dieſer Stadt aus die Rückreiſe auf dem Hauptwege fort, der in größerer Entfernung vom

III. 11

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Ural, als der auf der Hinreife genommene, nach Katharinenburg führt. Sie erreichten am Abend das Seifenwerk Pitatelewskoi bei Latins— koje, waren in der Nacht in Beſſonowa und am Morgen des 7. Juli in Werchoturje.

Ein ſtarker Gewitterregen hielt ſie hier einige Stunden auf und verhinderte ſie auch, ſich in der Stadt weiter umzuſehen. Dieſe war vormals ein Ort von großer Bedeutung, als ſie noch der Sitz eines Woiwoden und der Stapelplatz für den ganzen ſibiriſchen Handel war, der wegen des hier zu entrichtenden Zolles keinen an— dern Weg über den Ural nehmen durfte; ſie iſt aber gegenwärtig, da dies ſchon ſeit länger als einem Jahrhundert aufgehört hat, zu einer unbedeutenden Kreisſtadt herabgeſunken. Die Zahl ihrer Ein— wohner beläuft ſich, nach der Zählung von 1851, auf 3019. Ohne das Ende des Regens abgewartet zu haben, fuhr man weiter, ſetzte bald darauf mittelſt einer Fähre über die Tura und bei der fol— genden, 25 Werſte entfernten Station, dem großen Dorfe Sal— dinskoi, auch über die Salda, die ein rechter Nebenfluß der Tura iſt, in welche ſie ſich etwa 20 Werſte unterhalb Saldinskoi ergießt. Zwei Stationen (53 Werſte) weiter ſetzten die Reiſenden bei dem Dorfe Ljaja über den Tagil und waren am Worgen des 8. Juli in Alapajewsk, einer Herrn Jakowleff gehörigen Eiſenhütte, wo ſie den Vormittag über verweilten.

Von Werchoturje aus nimmt der Weg eine immer mehr öſtliche Richtung und entfernt ſich auf dieſe Weiſe noch mehr von dem Hauptrücken des Urals. Er geht daher auch faſt ganz in der Ebene fort, führt aber noch häufig durch Wald, der meiſtens aus Laubholz beſteht und ſehr angenehm iſt. Je weiter man indeſſen nach Süden kommt, deſto mehr häufen ſich auch die Dörfer und deſto mehr ſieht man den Wald geordnet und in bebautes Ackerland umgewandelt.

Von Alapajewsk nimmt der noch 140 Werſte betragende Weg nach Katharinenburg eine von der bisherigen verſchiedene ſüdweſt— liche Richtung und nähert ſich wieder allmälig dem Ural. Eine halbe Werſt von der Hütte ſetzten die Reiſenden mittelſt einer Fähre über die Neiwa und kamen dann bald in einen Wald, der, wie jo häufig, Laubholz und Nadelholz vermiſcht enthielt und durch große

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kräuterreiche Weiden fo wie durch mehrere Dörfer unterbrochen wurde. Sie fuhren hier über einige linke Zuflüſſe des Reſch und erreichten zuletzt dieſen Fluß ſelbſt bei dem Dorfe Ramaſchowa, an deſſen linker Seite fie nun bis zur Eiſenhütte Reſchewsk blieben, in welcher ſie ſpät Abends anlangten.

Sie verweilten die Nacht über auf dieſem Hüttenwerke, das ebenfalls Herrn Jakowleff gehört?) und ſich durch das vortreffliche Eiſenblech ausgezeichnet, welches hier verfertigt wird. Die Hütte liegt unmittelbar an dem Reſch, der ſich ſpäter mit der Neiwa ver— einigt, nach dieſer Vereinigung den Namen Vitza erhält und ſich darauf in die rechte Seite der Tura ergießt.

Man erreichte die Hauptſtraße, da Reſchewsk etwas ſüdlich von derſelben liegt, erſt wieder am Wittage in dem Dorfe Totſchilnaja. Der Weg dahin führte durch einen öden Fichtenwald, in dem man häufig noch kleine Kuppen von Serpentin anſtehen ſah, der ſich hier, wie überall, der Vegetation nicht ſehr günſtig zeigt. Totſchil— naja iſt durch ſeine Steinbrüche berühmt, die in dem nahe gelege— nen flachen Bergrücken, dem ſogenannten Schleifſteinberge oder der Totſchilnaja Gora, angelegt ſind und theils der Krone, theils den Demidoffſchen Erben gehören.

In Totſchilnaja verließ man wieder die Straße und wandte ſich nach dem 28 Werſte nördlich gelegenen Dorfe Wurſinsk, in deſſen Nähe die Edelſteinbrüche ſich finden, deren Produkte in Ka⸗ tharinenburg verſchliffen werden und die ſchon in den Petersburger Mineralienfammlungen die Bewunderung unſerer Reiſenden erregt hatten. Sie finden ſich auf Klüften und Spalten im Granit, der hier in großer Ausdehnung das ganze Terrain zu bilden ſcheint, obgleich er in deutlichen Felsentblößungen faſt nirgends hervortritt. Die ganze Gegend von Totſchilnaja bis Wurſinsk iſt nur hüglig, und eine ſtarke Decke von Dammerde bildet faſt überall die Ober-

*) Der ſchon öfter genannte Herr Jakowleff iſt einer der reichſten Män⸗ ner in ganz Rußland. Als ſich vor einiger Zeit ermittelte, daß die Inva⸗ lidenkaſſe von ihrem Hauptverwalter um eine ungeheure Summe betrogen worden ſei, bot Herr Jakowleff dem Kaiſer zum Beſten der Invaliden eine Million Rubel an!

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fläche des Landes, die theils bewaldet, theils aber ſchon ſtark ans gebaut iſt.

In Murſinsk traf man Herrn Kokawin, unter deſſen Direction auch die Brüche ſtehen und der den Reiſenden von Katharinenburg aus entgegengekommen war, um wiederum, wie früher in den Mare morbrüchen bei Katharinenburg, ihr Führer zu ſein. Die Edel— ſteinbrüche ſind ſehr zahlreich und liegen an ſehr verſchiedenen Stellen in den Umgebungen von Murſinsk, doch faſt ſämmtlich mitten im Walde. Unſere Reiſenden beſuchten noch am Abend drei von den nördlich gelegenen Brüchen; einige der ſüdlichen beſichtig— ten ſie am folgenden Tage. Von den erſteren liegen zwei etwas öſtlich von dem Dorfe Walaja (klein) Alabaſchka, der dritte etwas ſüdlich zwiſchen Bolſchaja (groß) Alabaſchka, welches acht Werſte von Murſinsk entfernt iſt.

Da die Wege, welche zu den Brüchen führen, ſämmtlich enge Waldwege ſind, ſo kamen die hier am Ural, wie auch im übrigen Sibirien ſehr gebräuchlichen Wagen gut zu ſtatten. Dieſe Wagen beſtehen eigentlich nur in mehreren nebeneinanderliegenden Stangen, die vorn und hinten auf Axen ruhen, an denen die Räder befind— lich ſind. Häufig ſetzt man auf die Witte der Stangen noch einen Wagenkaſten, der gewöhnlich rund und nur zum Liegen eingerichtet iſt, und in welchem eine Perſon ſehr bequem, zwei Perſonen aber we— gen der geringen Breite nur unbequem liegen. Da die Stangen bei ihrer Länge ſehr gut federn, ſo empfindet man in dem Wagenka— ſten, der außerdem noch durch hineingelegte Matratzen bequem ge— macht wird, die Stöße nicht, wenn der Wagen auch auf ſteinigem Boden fährt, und man braucht nicht im geringſten beſorgt zu ſein, umgeworfen zu werden, da dies bei der Länge des Wagens kaum möglich iſt, ſollte auch die Vorderaxe ganz ſchief ſtehen.

Die beiden erſten Brüche waren in kleinen, niedrigen Hügeln angelegt, in welchen unförmliche Höhlen ausgearbeitet waren; in dem dritten Bruche hatte aber die Höhlung ganz das Ausſehen eines Ganges.

Topas und Beryll, wie auch der Bergkryſtall, wenn er durch— ſichtig und rein iſt, machen in den Brüchen den Hauptgegenſtand der Förderung aus; auf die andern Wineralien (Feldſpath, Albit,

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Glimmer, Turmalin, Granat) wird weiter kein Werth gelegt. Der Topas findet ſich hier, wie faſt überall, nur kryſtalliſirt, doch in zwei Varietäten, die ſich durch Farbe, Form und Größe von ein— ander unterſcheiden. Die Kryſtalle der erſten Varietät ſind grau— lichweiß bis berggrün und ganz durchſichtig und haben nicht ſelten ein ſehr bedeutendes Volumen. Der größte Kryſtall, welchen Prof. Roſe von dieſem Fundort geſehen hat, befindet ſich in der Samm— lung des Bergkorps in Petersburg. Bei einem Durchmeſſer von 1" 3" hat derſelbe eine Länge von 9“ 5“ und ein Gewicht von 6 Pfund 11 Solotnik. Seine Farbe iſt grünlichgelb. Einen an— dern, nicht weniger breiten, wenn gleich nicht fo hohen Kryſtall, der ſich jetzt in der Königl. Sammlung in Berlin befindet, erhielt Humboldt ſpäter in Kyſchtim zum Geſchenk. Die Kryſtalle der zweiten Varietät ſind farblos und waſſerhell; ſie ſind in der Regel viel kleiner als die vorigen; Prof. Roſe ſah keine größeren als von einem Jolle. Auch von dieſer Varietät befindet ſich ein ſehr ſchö— ner Kryſtall in der vorerwähnten Berliner Sammlung.

Die Beſichtigung der Brüche von Alabaſchka hatte den Vach— mittag fortgenommen und es war 10 Uhr geworden, als die Rei— ſenden wieder in Wurſinsk ankamen, wo fie, von Wücken beläſtigt, eine unruhige Nacht zubrachten. Am andern Worgen ſetzten fie ſich ſchon früh in Bewegung, um die von Wurſinsk ſüdlich gelege— nen Brüche, namentlich die ſogenannten Amethyſtbrüche bei den Dör— fern Siſikowa und Juſchakowa, welche fünf und acht Werſte von Murſinsk entfernt find, zu beſuchen. Da dieſe Dörfer auf dem Wege lagen, welchen ſie zur Werchoturjiſchen Hauptſtraße einzu— ſchlagen hatten, ſo fuhren ſie dahin in ihren Wagen und machten dann zu Fuß die kleinen Wege bis zu den Brüchen, welche, wie die von Alabaſchka, mitten im Walde liegen.

Der größte Theil der Amethyſte iſt nur ſchwach und häufig nur ſtellenweiſe violblau gefärbt. Die Färbung, welche von einem organiſchen Stoffe herrührt und durch Glühen verſchwindet, hat ſich an beſtimmten Stellen oder in verſchiedenen Lagen zuſammen— gezogen, wodurch man, wie auch durch häufige deutliche Abſätze, die allmälige Vergrößerung der Kryſtalle erkennt. Andere Kry— ſtalle ſind indeß intenſiver gefärbt, und dieſe ſind es beſonders,

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welche zu Schmuckſteinen geſchliffen werden, aber im Allgemeinen erreicht die Tiefe der Farbe doch ſelten die des Ceyloniſchen Ame— thyſtes.

Von Juſchakowa aus fuhren die Reiſenden nun ohne Aufent— halt nach der Werchoturjiſchen Hauptſtraße, die ſie in dem Dorfe Schaitansk, 48 Werſte ſüdlich von Murſinsk erreichten. Schaitansk iſt durch die ſchönen rothen Turmaline bekannt, die ſich hier in früherer Zeit gefunden haben. Die Brüche, in welchen ſie vorge— kommen ſind, liegen nur acht Werſte von dem Dorfe entfernt, wes— halb man nicht unterlaſſen wollte, ſie zu beſuchen, obgleich ſchon lange nicht mehr in ihnen gearbeitet wird, da die Turmaline zu brechen aufgehört haben. Bergmeiſter Völkner, welcher den Rei— ſenden von Katharinenburg aus bis Schaitansk entgegen gekommen war, begleitete ſie auf dieſer Excurſion. Dieſelbe war indeß ziem— lich erfolglos. Wan beſuchte zwei Brüche, die, ein bis zwei Werſte von einander entfernt, mitten im Walde und in einer faſt völligen Ebene lagen; ſie hatten das Anſehn von unregelmäßigen Vertiefun— gen und waren mit Steinblöcken zum Theil wieder angefüllt. Aber ein ſtarker Krautwuchs, der ſchon zwiſchen dieſen emporgeſproſſen war und Alles verdeckte, ſo wie eine außerordentliche Wenge von Mücken, welche die Eindringenden auf's äußerſte beläſtigten, und mit deren Abwehrung ſie ſich, ſo lange ſie im Bruche verweilten, haupt— ſächlich beſchäftigen mußten, verhinderten, daß fie genaue Aufſchlüſſe über die Lagerſtätte gewinnen konnten.

Die rothen Turmaline haben ſich übrigens nicht allein bei Schaitansk gefunden, ſondern ſind auch, und zwar noch dunkler an Farbe, in Sarapulsk vorgekommen, einem Dorfe, 12 Werſte von Murſinsk.

Von Schaitansk, welches die Reiſenden um 9 Uhr Abends verließen, ſetzten ſie nun unverweilt ihre Reiſe nach Katharinenburg fort. Sie kamen bei dem Seifenwerke Werchoturskoi wieder auf den alten, bei der Hinreiſe genommenen Weg und erreichten ſodann kurz nach Anbruch des folgenden Tages, den 11. Juli, alſo nach einer Abweſenheit von 16 Tagen, Katharinenburg, wo ſie in ihrem alten Quartier einkehrten und durch lang erwartete Brieſe aus der Heimath erfreut wurden.

Fünftes Napitel.

Abreiſe von Katharinenburg. Allmäliger öſtlicher Abfall des Ge—

birges. Anfang der ſibiriſchen Ebene bei Kamyſchloff. Tjumen.

Tobolsk. Lage der Stadt, Ausſicht vom hohen Ufer des Irtyſch.

Barabinskiſche Steppe. Sibiriſche Peſt. Zweimaliger Ueber⸗

gang über den Ob bei Bergsk und unterhalb Barnauls. Ankunft in Barnaul.

Die Reiſenden verweilten nach ihrer Rückkehr aus dem nörd— lichen Ural in Katharinenburg faſt volle acht Tage, theils um noch mehrere kleinere Excurſionen zu machen, hauptſächlich aber, um alle auf der Reiſe geſammelten Gegenſtände zu ordnen und zu ver— packen. Erſt am 17. waren ſie damit zu Stande gekommen; vier— zehn Kiſten von verſchiedener Größe ſtanden zum Abſenden bereit und wurden dem Polizeimeiſter übergeben, welcher die Weiterbe— förderung übernommen hatte. Am 18. um 10 Uhr Morgens nah— men unſere Reiſenden Abſchied von ihrem freundlichen und gefälli— gen Wirthe und traten, begleitet von ihren Freunden, bei heiterm Wetter die weitere Reiſe, zunächſt nach Tobolsk, an. Auf den Höhen im Oſten von Katharinenburg, über welche die große ſibi— riſche Landſtraße hinwegführt, konnten fie noch einmal die von Nor— den nach Süden weit ausgebreitete Stadt überſehen, worauf ſie ein Wald aufnahm, der ihnen bald alle weitere Ausſicht abſchnitt.

Vierzehn Werſte von Katharinenburg kamen ſie nach dem Wohnſitze des Engländers Medſcher (gewöhnlich Wedſchers saimka genannt), welcher einſam mitten im Walde, aber recht romantiſch

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liegt. Herr Medſcher hatte neben dem Wohnhauſe eine Waſchinen— fabrik angelegt, in welcher ein großer Theil der am Ural exiſti— renden Dampfmaſchinen gebaut iſt. Auch eine Goldwäſche befand ſich in der Nähe des Gutes, die recht ergiebig war und deren Gold ſich wie das von Schabrowskoj durch ſeine geringe Beimiſchung von Silber auszeichnete. Das Goldſandlager iſt ſpäter noch da— durch berühmt geworden, daß ſich im Jahre 1841 in demſelben, wie ſchon erwähnt, zwei Diamanten gefunden haben, von denen einer 8 Karat an Gewicht, von Herrn Wedſcher dem Sohne, nach dem Tode ſeines Vaters, der bald nach Humboldt's Reiſe erfolgte, an das Bergkorps nach Petersburg geſchickt wurde.

Unſere Reiſenden hielten ſich, ungeachtet der freundſchaftlichen Einladungen des Herrn Wedſcher, nur ſo lange auf, als nöthig war, um einen Blick in die Fabrik zu thun. Auch die Goldwäſche beſuchten ſie nicht, weil darin jetzt nicht gearbeitet wurde und die Arbeiter zur Heuernte entlaſſen waren. Nach kurzem Aufenthalte ſetzten ſie ihre Reiſe weiter fort und trennten ſich hier auch von ihren Katharinenburger Freunden. Der Weg ging ſchon gleich hinter Katharinenburg faſt in einer völligen Ebene fort und führte abwechſelnd durch Wald und bebautes Land. Dieſe Gegend, und noch mehr die etwas ſüdlicher bei der Kreisſtadt Schadrinsk am Iſſet gelegene, gehört zu den fruchtbarſten und angebauteſten des ganzen Gouvernements.

25 Werſte hinter Katharinenburg paſſirten fie die erſte Sta— tion Koſſulina; der zweiten, Bjelojarskaja, 504 Werſte von Katha⸗ rinenburg entfernt, folgt das Dorf Tygiſch, hinter welchem fie über einen kleinen Bach, Salowianka genannt, kamen, der, die Landſtraße faſt rechtwinklig durchſchneidend, von Süden nach Vorden fließt und ſich ſpäter mit der Kunara, einem rechten Vebenfluſſe der Pyſchma, verbindet. Das Geſtein, welches die Ufer der Salowianka bildete, war das letzte, welches ſie auf dem Wege nach Tobolsk wahrnahmen; hinter Parchina, der vierten Station von Kathari— nenburg, ſenkte ſich der Weg in das Thal der Pyſchma, über welche ſie fünf Werſte vor der Kreisſtadt Kamyſchloff fuhren. Waren ſie auch ſchon längſt faſt auf einer völligen Ebene fortge— fahren, ſo hatte doch das hier und da anſtehende Geſtein durch ſeine

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Beſchaffenheit an die Nähe des Uralgebirges erinnert; hier war auch dieſes, wie jedes andere Geſtein verſchwunden; ſie befanden ſich nun am Anfange der weiten ſibiriſchen Ebene. Die Brücke von Kamyſchloff hatte nach den Beobachtungen unſerer Reiſenden eine Höhe von 211 Fuß, ſo daß alſo der Abfall des Gebirges von Ka— tharinenburg bis zu jener Brücke auf eine Länge von 123 Werſten nur gegen 550 Fuß beträgt.

Der Abfall des Urals nach Oſten bildet demnach nur eine ſchwach geneigte Ebene, die nirgends von andern mit dem Ural parallelen Höhenzügen, wie etwa die hüglige Ebene im Norden des Harzes, durchzogen wird, daher auch eine Neiſe auf der ſibiriſchen Hauptſtraße, die nur auf dieſer Ebene entlang geht, über die Ge— birgsformationen dieſer Ebene großen Aufſchluß nicht gewähren kann. Dennoch ſieht man, daß die kryſtalliniſch-ſchiefrigen Gebirgs— arten mit demſelben Streichen wie mitten im Ural bis hinter Bje— lojarsk, 50 Werſte von Katharinenburg, fortſetzen, wo ſich das Uebergangsgebirge anlegt, mit welchem das Gebirge zur ſibiriſchen Ebene abfällt, ohne auf der Oſtſeite wie auf der Weſtſeite von dem neueren Flötzgebirge bedeckt zu ſein.

Größeren Aufſchluß über die geognoſtiſche Beſchaffenheit dieſes Abfalls geben die Ufer der Flüſſe, die wie die Pyſchma, der Iſſet und die Sinara, ein rechter Nebenfluß des Iſſet, ſich alle ein tie— fes Bett gebildet haben, an deſſen entblößtem ſteilen Ufer man die Gebirgsarten, die ſie bilden, gut beobachten kann. Da die Flüſſe ſämmtlich eine mehr oder weniger genau öſtliche Richtung, die Ge— birgsarten ein ziemlich genau nordſüdliches Streichen bei ſteilem Einfallen haben, ſo hat man an den Ufern der Flüſſe, wenn man denſelben ſtromabwärts folgt, ein Profil ſämmtlicher Gebirgsarten, die auf die Hauptkette des Urals folgen. Von dem Allen ſieht man auf der ſibiriſchen Hauptſtraße nichts, da dieſe ebenfalls eine öſtliche Richtung hat, und nur kleinere Zuflüſſe der größeren Flüſſe, wie die Solowianka, die Hauptſtraße durchſchneiden.

Bevor wir uns von den Gebirgszügen des Urals entſernen, möge noch eines merkwürdigen Vorkommens von Smaragden Er: wähnung geſchehen, deren Fundort 85 Werſte von Katharinenburg an der rechten Seite des kleinen Flüßchens Tatowaja liegt. Ein

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Bauer aus dem Dorfe Bjelojarsk, der im Januar 1831 in der Ge— gend Holz fällte, entdeckte im Glimmerſchiefer an einer Stelle, wo die Wurzeln eines vom Winde umgeſtürzten Baumes die bedeckende Dammerde abgeriſſen hatten, Smaragden. Er ſammelte meh— rere der ſchön gefärbten Steine und brachte ſie nach Katharinenburg zum Verkauf, wo ſie die Aufmerkſamkeit des Herrn Kokawin erregten, der ſich die Stelle von dem Bauer anzeigen, daſelbſt weitere Nach— grabungen veranſtalten ließ und auf dieſe Weiſe eine Menge Stufen gewann, die er zum Theil nach Petersburg ſchickte. Dadurch kam auch die königliche Sammlung in Berlin gleich nach der Entdeckung in den Beſitz eines ſehr ſchönen Exemplars, welches der Kaiſer von Rußland Humboldt zum Geſchenk machte, der es der Berliner Samm— lung verehrte. Die Smaragden dieſes Fundortes ſind durch die be— deutende Größe, in der ſie ſich zuweilen finden, ausgezeichnet; in der Sammlung des Bergkorps in Petersburg befindet ſich ein Kryſtall, der acht Zoll Höhe und fünf Zoll Durchmeſſer hat. Die Farbe iſt vollkommen ſo ſchön, wie die des peruaniſchen Smaragds, die Durch— ſichtigkeit aber im Allgemeinen geringer, wiewohl ſie in manchen Kry— ſtallen wenigſtens ſtellenweiſe auch die des peruaniſchen erreicht.

Von Kamyſchloff bleibt der Weg lange in der Nähe der Py— ſchma, bald auf ihrer linken, bald auf der rechten Seite, entfernt ſich aber zuletzt wieder von ihr, ſo daß er die Tura bei der Stadt Tjumen noch oberhalb der Einmündung der Pyſchma in dieſelbe er— reicht. Da die Wege gut waren, ſo kamen die Reiſenden ſchnell vorwärts; ſie waren am Abend des 18. Juli in Kamyſchloff, am Morgen des folgenden Tages ſchon in dem Dorfe Tugulymskaja, 240 Werſte von Katharinenburg, und am Mittag deſſelben Tages in Tjumen. Dieſe Stadt iſt von bedeutendem Umfange, größer noch als Katharinenburg, und größtentheils auf dem rechten oder ſüdli— chen Ufer der Tura gelegen, das hier viel höher als das linke iſt. Sie beſteht faſt nur aus hölzernen Häuſern, über welchen einige ſteinerne Gebäude, ſowie mehrere Kirchen mit Thürmen emporragen, die ſchon in großer Ferne ſichtbar ſind; umher liegen Aecker und Wieſen, in denen der Regen viele lange und tiefe Waſſerriſſe gebils det hat, die ſich bis zur Tura hinziehen.

Die Ufer dieſes Fluſſes ſind durch die vielen Elephantenzähne

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intereſſant, die man an ihnen nicht allein bei Tjumen, ſondern auch noch weiter aufwärts bis oberhalb Kamyſchloffs und ebenſo am un— tern Iſſet finden, und die oft noch ſo gut erhalten ſind, daß ſie zu Kämmen und andern Gegenſtänden verarbeitet werden. An dem Suwaryſch, einem kleinen Vebenfluſſe des Iſſet, nicht weit von dem Dorfe Odina, findet man nicht allein Zähne, ſondern auch Knochen von Elephanten und zuweilen auch von Büffeln, die in dem ganzen Erdreich zerſtreut liegen.

Die Reparatur eines ihrer Wagen nöthigte die Reiſenden meh— rere Stunden in Tjumen zu verweilen. Erſt um 7 Uhr konnten ſie abfahren, nachdem ſie um 3 Uhr Nachmittags angekommen; ſie fuhren bei der Stadt auf einer Schiffbrücke über die Tura und blie— ben während der Nacht an dem linken Ufer derſelben. Am Wor— gen des folgenden Tages waren ſie am Tobol, der hier ſchon ein großer breiter Strom iſt, über welchen ſie mit einer Fähre ſetzten. Jenſeit deſſelben liegt das Dorf Jewlewa. Der Weg ging meiſtens über Wieſen fort, die häufig mit niedrigem Gebüſch von Pappeln, Birken und Linden bedeckt waren; ſtellenweiſe wurde er ſehr ſandig und führte durch Fichtenwälder, die denen der märkiſchen Gegenden ſehr ähnlich waren. Der Tobol blieb nun fortwährend zur Linken, doch meiſtens in ſolcher Entfernung, daß man ſeiner nur ſelten an— ſichtig wurde. Noch vor Untergang der Sonne, die den ganzen Tag ſehr heiß geſchienen hatte, wurde die Kathedrale von Tobolsk ſicht— bar, die, auf einer hohen Bergwand gelegen, die Hauptſtadt Weſt— ſibiriens würdig ankündigte. Die Bergwand bildet das rechte Ufer des Irtyſch, an deſſen Fuß ſich der mächtige Strom entlang zieht, während, wie bei der Wolga und ſo vielen andern Strömem Ruß— lands, das entgegengeſetzte Ufer in eine weite Ebene ſich verläuft“).

*) Vgl. Erman's Archiv, Bd. 6, „Bemerkungen über die eigenthüm⸗ liche Erſcheinung, daß an den meiſten Flüſſen Rußlands das rechte Ufer ge- wöhnlich hoch, das linke aber flach gefunden wird.“ Es iſt übrigens nicht zu verkennen (ſchreibt der Verfaſſer dieſes Aufſatzes, Major Wangenheim v. Qualen), daß auch viele Ausnahmen ſtattfinden und wir nicht ſelten das linke Ufer hoch und das rechte niedrig finden, ſelbſt ohne jedesmal die Veranlaſſung zu kennen, wie z. B. eine harte Gebirgsart auf der linken Uferſeite, während die rechte aus weichem, der Strömung weniger wiederſtehenden Material bes

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Kurz vor der Einmündung des Tobol verläßt der Irtyſch die ſich in ziemlich gerader Linie nach Norben ziehende Bergwand und be— ſchreibt vor derſelben einen großen Bogen, an deſſen nordweſtlicher Seite der Tobol unter ſpitzem Winkel ſich mit ihm vereinigt. An der nördlichen Ecke der halbkreisförmigen Ebene, die auf dieſe Weiſe auf dem rechten Ufer des Irtyſch zwiſchen dem Strom und der Bergwand gebildet wird, liegt ein Theil der Stadt Tobolsk, der die untere Stadt genannt wird, während ein anderer kleinerer, die obere Stadt, ſich auf der Höhe befindet.

Am ſüdlichen Anfange des Bogens, nicht weit von der Berg— wand, iſt die Fähre, mit welcher man über den Irtyſch ſetzt“). Die Reiſenden fuhren noch einige Werſte auf der Ebene entlang, bis ſie Tobolsk erreichten, und gelangten dann durch mehrere lange Stra— ßen mit niedrigen hölzernen Häuſern und hölzernen Bohlendämmen bis zur Wohnung des Etatsraths Dr. Albert, eines Deutſchen, der ſie gaſtfreundlich aufnahm und ihnen ſein ganzes unteres Stockwerk ein—

ſteht; eine plötzliche Wendung des Stromes nach einer Richtung, die ſtär— ker auf das rechte Ufer einwirken mußte; endlich und beſonders eine Strö— mung in der Richtung des Streichens der Schichten, indem da, wo dieſe ge— neigt ſind, natürlicherweiſe die hervortretenden Schichtenköpfe auf der einen Seite eine hohe Uferbildung hervorbringen mußten, während das andere Ufer, wo die Schichten einfallen, flach blieb ein Verhältniß, welches ſehr oft eine hohe Uferbildung ſowohl auf der rechten als auf der linken Seite her⸗ vorruft. Doch ſind alle dieſe Zuſtände von keiner Beſtändigkeit, indem das gewöhnliche Verhältniß der Höhe des rechten Ufers mit einer Hartnäckigkeit, die uns oft in Erſtaunen ſetzt früher oder ſpäter immer wieder vorherr— ſchend wird. Daß dies Verhältniß auch bei der Wolga ſtattfindet, iſt ſchon früher erwähnt worden; vgl. S. 68 und 69.

*) Die Fähre über den Irtyſch, bemerkt Prof. Erman in ſeiner Reiſe um die Erde, Bd. 1 S. 460, iſt verhängnißvoll für die zahlreichen Verbann— ten, welche ſie jährlich betreten, denn dieſe Ueberfahrt erſt wird als Symbol des politiſchen Todes betrachtet; aber auch für andere Einwohner genießt ſie einer oft erwähnten Wichtigkeit in Folge des Geſetzes, welches Jedem, der zum Staatsdienſt im eigentlichen Sibirien ſich entſchließt, bei Ueberſchreitung des Irtyſch eine Erhöhung ſeines Ranges verleiht. So treibt denn die Rangliebe eine große Zahl von Beamten aus den Hauptſtädten des Mutter- landes nach Tobolsk und weiter hinein nach Sibirien. Um des verheißenen Vortheils auch nach der Rückkunft zu genießen, wird nur ein dreijähriges Verweilen in den einſamen Wohnorten verlangt.

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räumte. Das Haus war ebenfalls von Holz, doch äußert freund: lich und bequem eingerichtet; ein Balcon vor dem mittleren Saale gewährte die Ausſicht auf die Straße und rechts auf den obern Theil der Stadt.

Doch nicht allein ihr freundlicher Wirth war ein Deutſcher, ſondern bald waren unſere Reiſenden auch von andern Deutſchen oder Männern deutſcher Abkunft umgeben, wie von dem Gouvernements— Fiscal, Baron Krüdener, dem Poſtdirector Müller und dem Dr. Fiandt, einem jungen aus Potsdam gebürtigen Arzte, ſo daß ſie beinah ver— gaßen in Sibirien zu ſein, ſo weit von ihrem Vaterlande entfernt. Selbſt ein Theil der Dienerſchaft des Etatsraths Albert beſtand aus Deutſchen; es waren Verbannte, oder Verſchickte, wie ſie hier genannt werden, die für Tobolsk oft von großem Nutzen find, da nur die weniger Schuldigen nach Tobolsk geſandt werden, und unter ihnen ſich häufig Handwerker und andere brauchbare Perſonen befinden.

Eine ſehr intereſſante Bekanntſchaft war ihnen ferner die des Herrn v. Weljaminoff, des General-Gouverneurs von Weſtſibi— rien, der, ſelbſt ein ſehr unterrichteter Wann, fo auch ein großes Intereſſe an ihren wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen nahm“). Sie brachten bei ihm den Wittag des erſten, wie auch des dritten Tages ihres Aufenthaltes in Tobolsk zu und machten mit ihm mehrere Spazierfahrten. Sie beſuchten mit ihm am Nachmittage den obern Theil der Stadt, von welchem man eine vortreffliche Ausſicht über die untere Stadt und das ganze linke Ufer des Irtyſch hat. Die Höhe der obern Stadt über der untern beträgt etwa 200 Fuß, doch gelangt man zu ihr auf einem ganz mäßig anſteigenden Bohlen— damm, der in einer Schlucht der Bergwand angelegt und ſelbſt noch mit Wagen zu befahren iſt. Die Ausſicht, die man von der Höhe hat, iſt höchſt einfach, aber großartig; der große halbkreisför— mig gekrümmte Strom bildet darin die Hauptanſicht, vor ſich rechts

*) Durch Herrn v. Weljaminoff erhielt auch Humboldt eine ganze Schachtel mit Dioptas-Kryſtallen, die ein um fo werthvolleres Geſchenk waren, als der Dioptas zu den größten mineralogiſchen Seltenheiten gehört. Sein Fundort liegt in dem Gebiete der mittleren Kirgiſenhorde, am weſt— lichen Abhange des kleinen Gebirges Altyn-Tube, (Vgl. Näheres bei Roſe, hiſtor. Ber. II. S. 488).

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ſieht man die untere Stadt, jenfeit des Stromes eine weite grüne Ebene, die ſich bis an den Horizont ausbreitet; die Einförmigkeit derſelben wird durch den Tobol unterbrochen, der hier und da durch— blitzt, und durch einzelne ruſſiſche und tatariſche Dörfer, die ſich mei— ſtens in der Nähe der Ströme befinden und unter denen man die tatariſchen immer an einem kleinen nebenliegenden Wald von Laub— holz erkennt, in welchem ſich ihr Begräbnißplatz befindet.

Noch umfaſſender iſt die Ausſicht auf die Ebene, 6—7 Werſte ſüdlich von Tobolsk bei dem Dorfe Schukowa, wohin die Reiſenden am Abende des 22. ebenfalls von dem General-Gouverneur geführt wurden. Die Höhe des rechten Ufers iſt hier noch bedeutender als bei Tobolsk und die Ausſicht weiter; außerdem war auch hier der ſteile Abhang ganz mit Buſchwerk bewachſen, was einen ſchönen Vorder— grund bildete. Tobolsk ift von hier nicht mehr zu ſehen, wohl aber deutlich noch die Einmündung des Tobol in den Irtyſch. Der General- Gouverneur hatte auf der Höhe ein Zelt aufſchlagen laſſen, für Thee und Erfriſchungen aller Art beſtens geſorgt und auf alle Weiſe dazu beigetragen, den Eindruck noch zu erhöhen, den die Großartigkeit der Landſchaft auf ſeine Gäſte hervorbrachte.

Das hohe Ufer des Irtyſch, das auf der Höhe ebenfalls eine völlige Ebene bildet, beſteht aus Sand und Lehm und zeigt von feſtem anſtehenden Steine keine Spur. Der Strom wühlt an ſeinem Fuße und verurſacht beſonders da, wo der Abhang nicht bewachſen iſt, oft den Einſturz ganzer Erdmaſſen. Von den aufgeſchwemmten erdigen Theilen, die er mit ſich führt, hat ſein Waſſer eine ganz gelbe Farbe erhalten, während das Waſſer des Tobol, der durch niedrige Ufer fließt, rein iſt und dunkelblau erſcheint, ſo daß man noch lange nach Vereinigung der Ströme an der Farbe das Waſſer eines jeden unterſcheiden kann. Offenbar hat der viele Sand, den der Irtyſch mit ſich führt, auch den Boden gebildet, auf welchem die un— tere Stadt ſteht. Der Tobol, welcher früher, als der Irtyſch auch hier noch den Fuß der Bergwand beſpülte, faſt rechtwinklig auf ihn zuſtrömte, hat das Waſſer des Irtyſch geſtaut und nach und nach eine immer größer werdende Ablagerung von Sand aus dem— ſelben an der Bergwand verurſacht. Je mehr aber dadurch das Bett des Irtyſch von der Bergwand entfernt wurde, deſto ſpitzer wurde

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der Winkel, den an der Mündung der Lauf des Irtyſch und des Tobol bildete; deſto geringer daher auch die Ablagerung von Sand, ſo daß ſie mit der Zeit wohl ganz aufhörte. Sehr wahrſcheinlich hat aber ſchon ſeit ſehr langer Zeit dieſe Ausgleichung ſtattgefunden, daher die Ebene bei der Eroberung Sibiriens wohl ebenſo war wie jetzt, denn auf ihr wurde im Jahre 1581 die letzte entſcheidende Schlacht geliefert, in welcher der Anführer der Koſaken, Jermack, den Tataren-Chan Kutſchum ſchlug und dadurch die Eroberung Sibiriens begründete.

Während der Zeit ſeines Aufenthalts in Tobolsk unterließ Humboldt nicht, ſeine gewöhnlichen aſtronomiſchen und magnetiſchen Beobachtungen anzuſtellen. Es war von Intereſſe, dieſelben an der nämlichen Stelle zu machen, wo fie der Abbé Chappe d’Aute- roche angeſtellt hatte, der im Jahre 1761 von Ludwig XV. nach Tobolsk geſandt worden war, um hier den Durchgang der Venus durch die Sonne zu beobachten. Er hatte zu dem Zwecke auch die Lage von Tobolsk aſtronomiſch beſtimmt und ſich dazu ein kleines, ſteinernes Obſervatorium errichten laſſen, das aber im Laufe der Zeit zerfallen und abgetragen worden war. Die Profeſſoren Han— ſteen und Erman hatten ſich während ihres Aufenthalts in Tobolsk (im Herbſt 1828) lange vergeblich bemüht, den Ort, wo es geſtanden, auszukundſchaften, bis ſie ihn endlich durch einen 80 jährigen ſchwediſchen Artillerieoffizier, dem Oberſt Krämer, er— fuhren, der die ſicherſte Auskunft geben konnte, da er ſelbſt vor Jahren die Abtragung der einſinkenden Sternwarte geleitet hatte. Seit der Zeit ſtellten nun Hanſteen und Erman hier ihre weiteren Beobachtungen an, wodurch auch der Ort in Tobolsk bekannter wurde und daher bald auch zu Humboldt's Kenntniß gelangte. Er liegt in der obern Stadt, rechts ab von dem Wege nach Bereſow an der nordöſtlichen Ecke des deutſchen Kirchhofes, dicht neben dem Walle, der dieſen umgiebt. Grabenartige Vertiefungen mit Bruch— ſtücken von gebrannten Steinen an der Stelle der alten Mauern zeigten noch deutlich den Umfang an, den das kleine Gebäude ge— habt hatte, und ein viereckiger Grundbau in demſelben ſogar noch den Standort des von Chappe angewendeten Quadrats.

Die Stadt Tobolsk liegt unter 58e 11 nördlicher Breite und

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65° 56“ öſtlicher Länge von Paris. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 2,4, die mittlere Temperatur des Winters 19,8, die des Sommers 14, 0“). Die Zählung vom Jahre 1842 ergab 14,246 Einwohner.

Die Lebensweiſe in Tobolsk iſt, nach dem Bericht Erdmann's *), ſehr einförmig. Den Wangel des geiſtigen Genuſſes ſucht man durch ſinnliche Genüſſe zu erſetzen. Wohlhabende ſchwelgen an der Ta— fel und unterhalten ſich am Kartentiſche. Dagegen iſt der Aermere auf die einfachſte, kunſtloſeſte Koſt beſchränkt, die um ſo weniger Abwechſelung gewährt, je dürftiger, bei dem rauhen Klima dieſes Erdſtrichs, das Land mit einheimiſchen Produkten ausgeſtattet iſt. Die Natur begünſtigt die Entwickelung der Organiſation und ihre mannigfaltigen Formen ſehr wenig, und was die Kunſt hier zu pflegen ſucht, wird bald von dem feindlichen Nordwinde zerſtört. Daß die Winter in Sibirien gewöhnlich ungemein ſtreng und an— haltend ſind, iſt allbekannt. Es vergeht wohl ſelten ein Jahr, wo Queckſilber im Freien, in den Monaten December und Januar nicht feſt würde und ſich wie Blei dehnen und ſchneiden ließe. Der Ir— tyſch und der Tobol brechen ihre Eisdecke erſt im April oder Mai (nach dem alten Kalender) und kommen bereits wieder im Oktober zum Stehen. Allein auch mitten im Sommer find Vachtfröſte an der Tagesordnung, und es vergeht nicht leicht ein Monat ohne die— ſelben. Das Eis thaut ſogar unter der hölzernen Bedeckung der Straßen im Sommer nur ſelten vollkommen auf, und noch im Wo— nat Auguſt kann man gewöhnlich den Boden darunter hin und wieder gefroren finden. Dagegen ſteigt andererſeits die Hitze in den Sommermonaten um die Mittagszeit nicht ſelten auch über 30e R. und beſtätigt Humboldt's Behauptung, daß der höchſte Wärmegrad in den nördlichen Ländern der Hitze unter der Linie nicht nachſtehe. Nur iſt dieſe Wärme nicht anhaltend, und ein durchdringender Nordwind, oder wenigſtens die Abendzeit erinnert bald wieder an die Grade der geographiſchen Breite, unter denen man ſich befindet.

) Humboldt Centralaſien II. „Zahlenelemente der Klimatologie des ruſſiſchen Reiches.“ *) Beiträge II. 2. S. 65.

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Bei dieſer Beſchaffenheit des Klima's iſt es denn kein Wunder, wenn hier nur nördliche Gemüſe und Früchte, oder wenigſtens nur ſolche Produkte gedeihen, die in kurzer Zeit zur Reife gelangen. Gurken werden daher nur ſparſam in Wiſtbeeten gezogen, und friſche Aepfel bringt man als eine Seltenheit aus andern Gouver— nements. Die gewöhnlichen Gemüſe, die man hier auf dem Marfte ſieht, ſind Kohl, Zwiebeln, Knoblauch, Rüben und Kartoffeln; doch bringt man aus den ſüdlichen Gegenden des Gouvernements auch Gurken, Welonen und Arbuſen, und an Getreidearten liefert die Provinz Roggen, Weizen, Hafer, Heidekorn, Hirſe, Spelz und Erbſen. Unter den Waldbäumen gedeihen hier beſonders Birken, Pappeln, Kiefern, gemeine und Ceder-Fichten (Pinus Cembra), de⸗ ren kleine Nüſſe (Zirbelnüſſe) man häufig genießt. Von Beeren giebt es hier, außer Moos-, Erd⸗, Him⸗ und Johannisbeeren, bes ſonders noch Konſtiniga (die Frucht von Rubus saxatilis), Moroſchka (von Rubus odoratus) und Knäſhniga (von Rubus arcticus). Letztere hat einen äußerſt balſamiſchen, der Ananas ähnlichen Geruch, und einen erquickenden weinſäuerlichen Geſchmack. Erdmann hält ſie für das feinſte Produkt des Nordens.

Unter den ernährenden Hülfsquellen, welche der ſüdaſiatiſche Handel darbietet, nimmt, wie überall in Rußland, der Thee den vorzüglichſten Rang ein. Jeder Bewohner von Tobolsk rechnet denſelben zu den unerläßlichſten Labſalen. Eben ſo beſtimmt wie banji oder Dampfbäder, gehören hier die durch ganz Rußland mit dem Namen Samawar d. i. Selbſtkocher bezeichneten Theemaſchi— nen aus Weſſingblech zu dem Hausrath der Genügſamſten. Biel: leicht, bemerkt Prof. Ermann ), treibt gleichmäßig zu beiden Ge— bräuchen das inſtinkte Gefühl von der Wohlthätigkeit ſchweißtrei— bender Mittel in dem hieſigen Klima; aber während die energiſchen Dampfbäder auch hier nur einmal wöchentlich angewendet werden, iſt das Theetrinken wenigſtens zweimal an jedem Tage üblich, und gleich regelmäßig im Sommer und Winter verſammeln ſich deshalb die Hausgenoſſen an beſtimmten Stunden. Bei den mittleren Volks— klaſſen trinken die Hofleute und Herrſchaften gemeinſchaftlich, wäh-

) Reife um die Erde I. 469. III. 12

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rend bei den übrigen in den isbi oder Geſindehäuſern ein eigner Samawar niemals fehlt. Des Abends und bei feſtlicheren Gelegen— heiten werden nach chineſiſcher Sitte zugleich mit dem Thee man— cherlei vegetabiliſche Eßwaaren vorgeſetzt. Zunächſt die vorerwähn— ten ſibiriſchen Zirbelnüſſe, ſo wie mannigfache Früchte aus dem ſüdlichen europäiſchen Rußland, welche, mit chineſiſchem Zucker ge— kocht, unter dem Namen Warenia (d. i. Gekochtes) hierher ge— langen.

Die animaliſche Koſt beſchränkt ſich hier größtentheils auf Fiſche, Rind⸗, Kalb⸗, Hammel: und Hühnerfleiſch (das Feldgeflügel unge— rechnet, mit deſſen Jagd ſich die Tobolsker eifrig beſchäftigen). Doch ſind die erſtern Fleiſcharten auch nur auf kurze Zeit friſch zu haben. Weil nämlich der Sommer ſo kurz und der Winter ſo lang iſt, ſo reicht das gewonnene Heu nicht zu, um eine hinlängliche Menge Vieh zu unterhalten. Man holt daher im Sommer (zu Petri und Pauli) ganze Heerden von der Linie oder der ſüdlichen Grenze des Gouvernements, läßt ſie bis in den Spätherbſt hier weiden und ſchlachtet ſie zum Winter, vom Wonat September an, nach und nach ab, ſchichtet das Fleiſch in offene Keller am Abhange des Ber— ges, läßt es dort zuſammenfrieren und bewahrt es fo zur allmä— ligen Conſumtion auf. Gäbe es nicht Jahr aus Jahr ein leben— dige Hühner hier, ſo würde man bei dieſem Verfahren im Winter auf friſche Fleiſchkoſt ganz Verzicht leiſten müſſen. Als einer ganz beſonderen Delicateſſe gedenkt Erdmann der geräucherten Renn— thierzunge, die ſehr zart und ſchmackhaft, feiner als Ochſenzunge iſt, aber auch hier zu den ſelteneren Gerichten gehört.

Ermann erzählt, daß in Tobolsk auch Schwanenfleiſch gegeſſen werde, doch meiſt nur geſalzen und deshalb wenig geachtet. Man erhält es in dieſem Zuſtande vorzüglich von den ruſſiſchen Bewoh— nern des Irtyſch und Ob, welche im Herbſt ſenkrechte Wandnetze, parallel mit dem Strome, zwiſchen gelichteten Querſchlägen des be— waldeten Ufers, ausſpannen, und dann bei nebligem Wetter ſchif— fend, die Schwäne und Heere von andern Schwimmvögeln von dem Strome in dieſe Fallen hineinjagen. In nachläſſig gegrabenen Höhlungen längs des Ufers häufen ſie die ungeheuren Fleiſchvor— räthe, welche dieſes Wittel ihnen verleiht, und einigen Grad von

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Verderbniß gering achtend, zehren fie davon in Zeiten des Mangels. Nur wenig Betriebſamere ſalzen das ſchmackhafte Fleiſch und ver— ſorgen damit auch die entfernteren Städter. Eben ſo werden auch die Eier mehrerer wilden Entenarten zu äußerſt geringem Preiſe nach Tobolsk gebracht; man entbehrt aber hier für die Auf— bewahrung ſolcher Eier der wichtigen Hülfe, die den ruſſiſchen An— wohnern des Oſtmeeres das Wallfiſchfett darbietet.

Was die Kleidung der Einwohner betrifft, ſo bedarf man in Tobolsk einer warmen Bedeckung mehr als irgendwo. Ein Glück, daß die Natur dem Gouvernement Rennthiere gab; denn die Haut derſelben wird auch von den Städtebewohnern getragen. Man macht Pelze daraus, deren haarige Seite nach außen gekehrt iſt, und die, wenn die Felle von jungen Thieren genommen und gleichfarbig ſind, mit Leichtigkeit und Wärme ein ſehr gutes Anſehen verbinden. Außer dieſen Pelzen war Erdmann eine andere, ſeltenere und koſt— barere Art der Bekleidung noch weit merkwürdiger, nämlich die von der Haut des Schwans, auf welcher man blos den Flaum ſtehen läßt. Die Feinheit, Zartheit und Leichtigkeit eines ſolchen Pelzes läßt ſich nicht beſchreiben. Nur ſchade, daß er nicht dauer— haft iſt. Uebrigens trägt man hier auch alle anderen gewöhnlichen Pelzarten, als: Guinotter-, Fuchs, Wolfs⸗, Bären- und Eichhorn— Felle. Der gemeine Mann begnügt ſich mit gröberen Renn— thier- und Schaafpelzen, die um den Leib anſchließen, und die Weiber der untern Klaſſen gehen Sommer und Winter in hohen, bunten, wollenen Nachtmützen, die ſie über die Ohren ziehen, und um die ſie ein Kopftuch binden, einher, über den Kaftan aber zie— hen ſie noch ein weites Pelzleibchen in der Form eines kurzen Mäntelchens.

Was den Geſundheitszuſtand der Einwohner betrifft, ſo leidet derſelbe durch die Rauheit des Klima's allerdings auf mancherlei Weiſe; doch weniger, als man glauben ſollte. Wegen der herrſchen— den Nordwinde, die in dem obern freien Theile der Stadt die Tem— peratur bisweilen um tiefer herabſetzen, als in dem untern, find Erkältungszufälle die gewöhnlichſten, und unter dieſen chroniſche Rheumatismen und hitzige Fieber mit Bruſtaffection. Ruhranfälle giebt es dagegen gar nicht, und trotz der jährlichen Ueberſchwem⸗

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mungen des Irtyſch und Tobols und der nahen Moräfte nur felten Wechſelfieber.

Die eigentliche Lebensrichtung der Bewohner von Tobolsk, die ſich, wie ſchon bemerkt, vorzugsweiſe dem ſinnlichen Genuſſe zu— wendet, charakteriſirt Ermann“) in folgender Weiſe: Hier erſt, ſagt er, gewahrt man recht deutlich bei dem ruſſiſchen Volke eine ſonderbare Vereinigung indolenter Arbeitsſcheu mit regeſter Ver— wendung von Körper- und Geiſteskräften auf Erfüllung der erſten Bedürfniſſe. Scharfſinn und Energie des Lebens äußert man nur, um möglichſt ſchnell zu geſicherter Ruhe zurückzukehren, und höch— ſtens das man über ein Jahr hinausdenkt. Von continuirlicher Vervollkommnung phyſiſchen und geiſtigen Zuſtandes der Individuen iſt wenig die Rede, weil jeder Abſchnitt einer neuen Periode die Menſchen wieder mit eben den Sorgen antrifft, wie derſelbe in der nächſt vorhergehenden Periode, und in ihnen auch nicht mehr als die alte und hinreichende Kraftäußerung anregt und entwickelt. So zeigt denn die Beobachtung der Bewohner von Tobolsk höchſt vorherrſchend nur auf Nahrung und Erwärmung verwen— dete Kräfte. Beim Hereinbrechen des Winters iſt es behaglich zu ſehen, wie hier überall die Vorbereitungen zu dem bevorſtehen— den Kampf mit dem Elemente ſo zweckmäßig getroffen ſind, wie von reichlichen Vorräthen umgeben, zwiſchen den trotzenden Wällen ſeines wärmenden Hauſes ein Jeder des Sieges ſchon im Voraus gewiß iſt und nichts ſehnlicher zu wünſchen ſcheint, als daß der Schnee noch beſtimmter die ſchon vorgezeichnete Grenze ſeiner engen Heimath von der Außenwelt abſchließe und an ſeinem ſichern Boll— werk ſich brechende Winterſtürme ihm die Freuden eines auffallen— den Contraſtes gewähren mögen. Die phyſiſche Luft, welche die Bären und mehr noch die einſammelnden Grabethiere empfinden müſſen, wenn ihre Höhlen verſchneit werden, mag mit den edleren Reizen jeder einſamen Abſchließung ſich vereinen, um dem Tobolöfer Stadtleben ſeinen auffallend anſprechenden Charakter zu verleihen.

Tobolsk ſollte nach dem urſprünglichen Plan unſerer Reiſenden der öſtlichſte Punkt ihrer Reiſe ſein. Sie hatten ſich vorgenommen,

2) A. 4.1 O. II. 458 ff.

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von hier an dem Irtyſch entlang bis Omsk zu gehen und dann durch die Iſchimſche Steppe nach dem ſüdlichen Ural zurückzukeh— ren. Die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit welcher die Reiſe in dem nördlichen Ural ausgeführt worden war, hatte indeß ſchon dort in Humboldt den Wunſch erregt, die Reiſe noch weiter bis zum Altai auszudehnen, um dieſes wichtige Gebirge aus eigner An- ſicht kennen zu lernen. Neuere geognoſtiſche Beſchreibungen waren nicht vorhanden: ſeit Pallas, Renovantz und Hermann war das Gebirge von Wineralogen nicht bereiſt und die Beobachtungen von Ledebour und ſeinen Begleitern noch nicht bekannt, auch, wie vorausgeſetzt werden mußte, mehr in botaniſcher als mineralo— giſcher Hinſicht angeſtellt. Der weitere Reiſeplan wurde nun hier im Kreiſe von Freunden genauer beſprochen und fand bei dem General⸗Gouverneur die eifrigſte Unterſtützung. Obgleich die Ent— fernung der faſt noch in der Steppe am Rande des Altai liegenden Stadt Barnaul von Tobolsk faſt 1500 Weſte beträgt, ſo wurde die Reiſe für die abgemeſſene Zeit unſerer Reiſenden doch noch ausführbar gefunden, aber die möglichſte Benutzung derſelben war nothwendig, weshalb ſie auch den Vorſatz faßten, ſich nur auf das Nothwendigſte zu beſchränken. Mandyerlei dazu nothwendige Vor— bereitungen wurden noch am dritten Tage beſorgt; ſo verſahen ſie auch unter anderm ſich und ihre Leute noch mit Wückenkappen, deren Nothwendigkeit fie ſchon im Ural empfunden, die ihnen aber bei Bereiſung der Steppen als noch viel dringlicher anempfohlen wurden. Dieſe Wückenkappen find lederne Bedeckungen des Kopfes und des Nackens, die vor dem Geſicht ein Geflecht von Pferdehaa— ren haben. Weil aber keine vorräthig zu bekommen waren, ſo wurde dazu der Boden von vorhandenen Haarſieben genommen und zweckmäßig vorgerichtet. So ausgerüſtet traten nun Humboldt und ſeine Gefährten am 24. Juli bei dem heiterſten Wetter, das ſie faſt die ganze Zeit während ihres Aufenthaltes im Altai beglei— tete, ihre weitere Reiſe an. i Die ganze Gegend zwiſchen Tobolsk und Barnaul iſt größten— theils Steppe, welche wohl durch einzelne große Straßen durch— ſchnitten wird, auf denen von Station zu Station Dörfer angelegt ſind, dazwiſchen aber meiſtens noch öde und unbebaut iſt. Die

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Hauptſtraße ift die, welche über die Städte Tara und Kainsk nach Tomsk und von da weiter nach Irkutzk führt; von dieſer geht gleich anfangs die Straße über Iſchim nach Petropawlowsk und nach der Iſchimſchen Linie ab, darauf folgt die Straße über Tjura— linsk nach Omsk und der Irtyſch-Linie, und jenſeits Kainsk die Straße nach Barnaul und dem Altai, die unſere Reiſenden ein— ſchlugen. Der Weg von Tobolsk geht zuerſt an dem obern rech— ten Ufer des Irtyſch entlang, und führt größtentheils durch Wald und niederes Gebüſch, wodurch die Ausſicht auf das niedere Ufer des Stroms verdeckt wird, bis man zu dem 14 Werſte von Xos bolsk entfernten Kloſter Abalak gelangt, das hart an dem hohen Ufer liegt und wiederum eine weite Ansſicht auf die jenſeitige Ebene eröffnet. Der Irtyſch beſchreibt hier einen großen, nach einwärts gekehrten Bogen und reißt von dem Ufer, welches hier noch höher als bei Schukowa iſt, bedeutende Maſſen ab, wodurch für das Klo— ſter ſelbſt große Gefahr entſteht. In dem Kloſter befanden ſich nur ein Prior mit drei bis vier Mönchen; es enthält ein wunder— thätiges Madonnenbild, welches jetzt in Tobolsk war, wohin es immer in dieſer Zeit wegen kirchlicher Feſte auf vierzehn Tage ge— bracht wird.

In Abalak wurden unſere Reiſenden von ihren Tobolsker Freunden verlaſſen, bis auf den Adjutanten des Generals v. Wel— jaminoff, den Herrn v. Jermoloff, einen liebenswürdigen jungen Mann und Neffen des berühmten Generals Jermoloff, der fie auf Befehl des General-Gouverneurs noch ferner bis zu den Grenzen ſeines Gouvernements begleiten ſollte. Gleich hinter dem Kloſter verläßt der Weg den Irtyſch, beſchreibt einen bedeutenden, nach Südweſten gekrümmten Bogen, und erreicht den Irtyſch, der unter der Zeit faſt genau die Sehne dieſes Bogens gemacht hat, erſt wie— der eine Station von der Kreisſtadt Tara. Die Reiſenden ſetzten hinter dem Kloſter auf einer Fähre über den Irtyſch, fuhren dann den Wagai entlang, einen linken, von Süden kommenden Zufluß des Irtyſch, und folgten dieſem Fluſſe bis zu dem Dorfe Iſtiatzkoi, der fünften Station von Iobolsk Von hier nahmen fie wieder eine dem Irtyſch ungefähr parallele ſüdöſtliche Richtung, erreichten am Nachmittage des 25. Juli den Iſchim, nächſt dem Tobol der

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bedeutendſte Nebenftrom des Irtyſch, fetten bei dem Dorfe Wiku— lowa, wo derſelbe zwiſchen ſteilen, erdigen Ufern fließt, über ihn, und kamen in der Nacht an den kleinen Fluß Ajeff, von wo an der Weg den Fluß entlang, der ſich unterhalb der Stadt Tara in den Irtyſch ergießt, wieder eine veränderte nordöſtliche Richtung nimmt. Die Urſache dieſer bedeutenden Krümmung des Weges hat wahrſcheinlich in der Beſchaffenheit des Bodens am Irtyſch ihren Grund.

Auf dem zurückgelegten Wege war indeſſen der Boden vor— trefflich, er war ſchwarz und feſt, in der Nachbarſchaft der Dörfer bebaut, ſonſt überall mit hohem Krautwuchs bedeckt, zwiſchen wel— chem nur einzelne Parthieen von Birken und Pappeln ſtanden. Zwiſchen dem Wagai und dem Iſchim ſchienen große Strecken ganz roth gefärbt von dem Epilobium angustifolium, das eben jetzt in ſchönſter Blüthe ſtand; andre hatten eine blaue Farbe von dem Delphinium elatum, das eine bedeutende Höhe erreichte und gedrängt neben einander wucherte; auch die feuerrothe Lychnis chalcedonica fand ſich häufig. Die Bauern ſchienen in den Dörfern wohlhabend zu ſein, und beſonders fiel unſern Reiſenden die Reinlichkeit und Nettigkeit einer Wohnung in dem Dorfe Ribina an dem Ajeff auf, wo ſie am Worgen des 26. etwas verweilten. Die Hitze war bei dem reinen, unbewölkten Himmel ſehr bedeutend; man hatte gewöhnlich Mittags eine Wärme von 24 R. und zuweilen noch darüber; auch das Waſſer der Flüſſe war warm, die Temperatur des Irtyſch bei dem Kloſter Abalak (am 24. Juli Wittags) war 19°, die des Ik, eines kleinen linken Nebenfluffes des Iſchim (am 25. Juli Mittags) an der Oberfläche 20%, in einer Tiefe von etwa 4 Fuß 19, 2, bei einer Temperatur der Luft von 23% ; das Waſſer des Ajeff hatte den 21. Wittags eine Temperatur von 19% bei einer Temperatur der Luft von 24“, R. Dagegen war das Waſſer der Brunnen, vermöge der niedrigen Temperatur des Bodens von Sibirien, ſehr kalt. In Backſchewa, der erſten Station von Tobolsk, hatte das Waſſer eines ganz gewöhnlichen Ziehbrunnens, der ganz frei von Eis war, eine Temperatur von R., ein andrer in Ribina 2, 5. Aehnliche niedrige Tempera- turen der Brunnen fanden die Reiſenden überall in Sibirien, was

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bei der großen Sonnenhitze für die Bewohner keine geringe An— nehmlichkeit iſt.

Nach Tara, 309 Werfte von Tobolsk, kamen fie in der Nacht zum 27. Juli. Sie fuhren ohne Aufenthalt weiter, mußten aber doch in der folgenden Station Sekmenewa wegen der Reperatur eines Wagens einige Stunden verweilen. Das Dorf liegt wie Tara am Irtyſch, an deſſen linkem Ufer fie auch 14 Stationen entlang fuhren, faſt immer mit der Ausſicht auf den mächti— gen Strom. Bei dem großen Dorfe Tatmytskaja ſetzten fie über den Irtyſch und verließen ihn nun hier für längere Zeit. Der Weg geht erſt einige Zeit ſüdöſtlich bis zum Fluſſe Om, der bei der Stadt Omsk ſich in den Irtyſch ergießt, und dann in der Nähe dieſes Fluſſes in öftlicher Richtung fort. Von hier an beginnt die Barabinskiſche Steppe, welche den ganzen Raum zwiſchen dem Ir— tyſch und Ob einnimmt. Keineswegs trocken und dürr, welche Vor— ſtellung man ſo häufig mit dem Worte Steppe verbindet, iſt ſie vielmehr im höchſten Grade waſſerreich, voll großer und kleiner Seen, Moräfte und Flüſſe, welche letztere ſich theils in den Om, der ein Hauptfluß dieſer Steppe iſt, theils unmittelbar in den Ste tyſch oder Ob ergießen. Stellenweiſe iſt der Boden nur ein Lug, wie bei Linum in der Mark, und vollkommen eben wie auf dem Meere; hin und wieder ift er gras- und kräuterreich und mit Pap— peln und Birken bedeckt“); an anderen trocknen Stellen ſah man auf dem Wege häufig Salzeffloreſcenzen, die nach den Verſuchen, die Prof. Roſe ſpäter damit anſtellte, aus Kochſalz und Bitterſalz beſtanden. Ebenſo ſind auch mehrere der Seen der Barabinskiſchen Steppe ſalzig. Wegen des häufig moraſtigen Bodens iſt der Weg auf große Strecken gebrückt, die Bohlendämme ſind bei ihrer Länge natürlich ſchlecht unterhalten, und daher das Fahren auf denſelben

) Vor 70 Jahren war die ſogenannte Steppe Barabinski noch eine wirkliche Steppe, und es gab kaum in ganz Sibirien eine ödere, ungaſtli— chere Stätte; aber der damalige General-Gouverneur bewog die Kaiſerin Katharina, ihm die Rekruten einer einzigen Conſeription, die damals noch nicht eine ſo zahlreiche Schaar ausmachten wie jetzt, zur Bebauung dieſer Wüſte zu überlaſſen, ein Unternehmen, welches auch wirklich den glücklichſten Erfolg hatte.

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ſehr beſchwerlich. Dieſe Beſchwerde war jedoch noch viel erträg— licher als eine andere, die durch die große Wenge von Mücken und Fliegen aller Art, welche die Reiſenden ſtets umſchwärmten und ſie überfielen, ſobald der Wagen ſtillhielt, hervorgebracht wurde. Ihre Mückenkappen konnten fie nur zum Theil dagegen ſchützen, da die Stachel der Mücken durch die Nähte und durch die geringſten Ritzen drangen; auch trugen ſie die Kappen nicht beſtändig, da dieſelben der Hitze wegen ſehr beſchwerlich fielen und das freie Umſehen hinderten. Die Beſchwerden der Reiſe hatten überdies noch einen Verluſt zur Folge, der für den Augenblick ſehr empfindlich war. Gepeinigt von Mückenſtichen und den heftigen Stößen des Wagens auf dem ſchlech— ten Wege preisgegeben, konnte Prof. Roſe das Barometer, welches er hielt, nicht ſo ſchützen, daß es nicht bei einem plötzlichen Stoße zerbrochen wäre. Es war das ſchwere Fortin'ſche Gefäßbarometer, deſſen ſich unſere Reiſenden zwar nicht gewöhnlich bedienten, weil es ſchwerer zu transportiren und mühſamer aufzuſtellen war, als das leichtere Bunten'ſche Heberbarometer, welches Humboldt führte, das fie aber doch von Zeit zu Zeit mit dem Bunten'ſchen vergli— chen, um ſich zu überzeugen, ob der Gang beider Inſtrumente noch derſelbe geblieben ſei. Dieſe Sicherheit, die aus dem Vergleich bei— der Inſtrumente entſtand, konnte man ſich nun nicht mehr verſchaf— fen, und außerdem ward die Wöglichkeit immer größer, ſämmtliche Barometer einzubüßen. Indeß war die Vergleichung mit dem For— tin'ſchen Barometer nicht das einzige Wittel, wodurch man ſich überzeugen konnte, daß das Bunten'ſche Barometer noch unverletzt ſei, und glücklicherweiſe brachte Humboldt dieſes unbeſchädigt wie— der bis zum Ural, wo es erſt zerbrach, nachdem man es in Wiask mit einem andern Barometer verglichen hatte. So führte wenig— ſtens der Verluſt des Fortin'ſchen Barometers keinen wirklichen Nach— theil herbei.

In der Nacht zum 29. Juli kamen die Reiſenden nach der Stadt Kaimsk, die an dem Om noch mitten in der Steppe liegt. Hier ruhten ſie den übrigen Theil der Nacht aus, und wollten am Morgen früh ihre Reiſe weiter fortſetzen, als ihnen der Isprawnick meldete, daß in den folgenden Dörfern auf der Straße nach Tomsk die ſibiriſche Peſt wüthe. Sie hatten davon in Tobolsk nichts

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gehört, und erkundigten ſich nun näher nach der Beſchaffenheit die— ſer Krankheit bei dem Arzte, der ihnen indeß nur ſehr ungenügende Auskunft geben konnte. Sie hörten, was ihnen ſpäter noch der Staatsrath Dr. Gebler in Barnaul beſtätigte und umſtändlicher be— ſchrieb, daß die Krankheit urſprünglich eine Viehſeuche ſei, aber auch Wenſchen befalle, und beſonders in den Steppen, nie im Ge— birge, vorkomme. Sie fange mit einer verhärteten Geſchwulſt an, die ſich bei den Menfchen, beſonders an den von den Kleidern uns bedeckten Theilen des Körpers, im Geſicht, Nacken und an den Ar— men bilde, und die man, wie fo häufig bei dergleichen Krankhei— ten, dem Stiche von Inſekten zuſchreibe, die man ſonſt aber nicht näher bezeichnen könne. Die Geſchwulſt bilde ſich zu einem ſchwar— zen, brandigen Geſchwür aus und ziehe in kurzer Zeit Fieber und den Tod nach ſich. Durch Schnitte, die man in die Beule mache, und durch Umſchläge von einem Aufguß von Tabak und Salmiak könne man im Anfang eine Zertheilung der Verhärtung hervor— bringen und die Krankheit heilen; hätte ſie aber erſt innere Theile ergriffen, ſo wäre ſie in der Regel unheilbar.

Unſere Reiſenden überlegten, was hiernach zu machen ſei; um— kehren und einen andern Weg nach Barnaul einſchlagen konnten ſie nicht, da es keinen andern gab, oder ein ſolcher mit einem zu großen Verluſt an Zeit verbunden geweſen wäre. Sie beſchloſſen alſo, auf ihrem Wege weiter zu reiſen, da ihnen aber die Krank— heit als anſteckend geſchildert wurde, jede Berührung mit den Bauern, bei denen die Krankheit wüthe, ſo viel wie möglich zu vermeiden, Humboldt's Jäger und der Bediente von Roſe und Ehren— berg ſollten zu ihren Herrn in den Wagen kommen, ſtatt wie ge— wöhnlich ſich neben die Bauern zu ſetzen, welche fuhren. Auch woll— ten ſich die Reiſenden mit Lebensmitteln, ſelbſt mit Waſſer auf mehrere Tage verſehen, um nicht nöthig zu haben, in den Dör— fern, wo umgeſpannt wurde, auszuſteigen; ja ſelbſt des Schlafes wollte man ſich enthalten.

Unter dergleichen Vorbereitungen rückte der Abend heran. In⸗ zwiſchen hatte man ſich in der Stadt ein wenig umgeſehen: man fand einen elenden Ort mit kleinen hölzernen Häuſern, die nicht einmal regelmäßig geſtellt ſind. Das Haus, in welchem man die

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Reiſegeſellſchaft aufgenommen hatte, ſchien noch das beſte zu fein; die Zimmer waren, wenn auch klein, doch freundlich und reinlich, mit Blumen an den Fenſtern und einigen Polſterſtühlen. Wit Sonnenuntergang wurde die Reiſe fortgeſetzt. Es wetterleuchtete, der Himmel bezog ſich und ein ſchwacher Regen fiel; den folgenden Tag hatte man wieder heiteres Wetter und Sonnenſchein. In allen Dörfern, durch welche der Weg führte, ſah man Spuren der Peſt. In einem Dorfe waren den Tag vorher vier, in Kargans— kaja ſechs Wenſchen geſtorben. In demſelben Dorfe waren im Ganzen ſchon 500 Pferde gefallen, fo daß die Reiſenden mit Mühe nur das zu ihren Wagen nöthige Geſpann erhalten konnten. In jedem Dorfe fanden ſie ein kleines Lazareth eingerichtet, wohin die Kranken gebracht und auf die angegebene Weiſe behandelt wurden; auch waren am Anfang und am Ende eines jeden Dorfes kleine Rauchfeuer von Wiſt und trocknem Raſen angezündet, die die Luft reinigen ſollten. Obgleich dieſe wenigen Räucherungen unmöglich zum Einhalt oder zur Abwehrung der Krankheit beitragen konnten, ſo ſah man doch auch ſpäter, wie dieſe Feuer in den Ebenen Si— biriens ſelbſt da, wohin die Krankheit ſich noch gar nicht verbreitet hatte, wie z. B. an der ganzen Irtyſchlinie, ſorgfältig unterhalten wurden.

Den 31. Juli kam man nach dem Dorfe Kotkowa, in welchem die Krankheit ſchon etwas nachgelaſſen hatte, weshalb unſere Rei— ſenden gern wieder zu ihren früheren Einrichtungen zurückkehrten; denn obgleich ſie, und beſonders ihre Leute, jene Vorſichtsmaßregeln nicht durchgängig ausgeführt hatten, ſo war doch bei der Hitze des Tages das enge Beiſammenſein im Wagen und die Entbehrung aller gewöhnlichen Bequemlichkeiten von großer Beſchwerde gewe— ſen. Wan hatte ſchon auf der vorigen Station die Straße nach Tomsk verlaſſen und ſich in ſüdöſtlicher Richtung dem Ob genä— hert. Wit dieſem hörte auch die Barabinskiſche Steppe und zu— gleich auch die letzte Spur der Peſt auf. Nach der folgenden Sta— tion, einem kleinen Dorfe mit elenden ſchmutzigen Häuſern gelangte man durch einen ſchönen Birkenwald, hinter welchem der Weg ſich ſenkte und eine weite Ausſicht auf den Ob gewährte. Die Reiſen— den fuhren noch eine Strecke auf der ſchönen kräuterreichen Wieſe

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entlang, die das linke Ufer des Ob bildete, und ſetzen dann über denſelben bei der kleinen Stadt Bergsk, die jenſeits des breiten Stromes, auf hohem Ufer und umgeben von dichtem Fichtenwal— dung maleriſch daliegt. Wenn gleich das rechte Ufer des Stromes hoch iſt, ſo iſt das Bette deſſelben an dieſer Seite doch ſo flach, daß man mehrere hundert Schritte hineingehen kann, ohne eine größere Tiefe als etwa A Fuß zu erreichen; es iſt ſteinigt, auf dem Grunde liegen eckige Stücke von Thonſchiefer und grauem dichten Kalkſtein. Die Breite des Stromes iſt indeſſen ſehr bedeutend und mag die des Irtyſch bei Tobolsk wohl um ein bedeutendes überſteigen.

Bergsk liegt am Ende eines großen nach Weſten gekrümmten Bogens, den der Ob von Barnaul aus beſchreibt. Der Weg ſchnei— det dieſen Bogen ab und führt faſt nur durch dichte Fichtenwaldung, in welcher von Strecke zu Strecke die Dörfer, welche die Stationen bilden, meiſtens an kleinen Flüſſen, die in den Ob münden, angelegt ſind. Er iſt anfangs ſandig, wird aber bald feſter, ſo daß man ſchnell vorwärts gelangte und zuweilen in einer Stunde 18 Werſte zurücklegte. Am Vormittage des 1. Auguſt war man wieder am Ob und in der Nähe von Barnaul, das am linken Ufer nur noch 18 Werſte von der Ueberfahrtſtelle entfernt liegt. Ein ſtarker Südweſtwind, der ſich ſchon am Morgen erhoben hatte, machte es aber unmöglich, überzuſetzen. Der Ob ſchlug ſehr hohe Wellen und vereitelte jeden Verſuch. Die Reiſenden mußten alſo abwar— ten, bis ſich der Wind gelegt und das Wetter beruhigt hatte, wozu aber für's Erſte noch wenig Anſchein da war; im Gegentheil wurde das Wetter regnicht und immer rauher und unfreundlicher. Deſ— ſen ungeachtet ſtreifte Profeſſor Ehrenberg in der Gegend umher, und ſammelte auf den Wieſen des Ufers eine Wenge bis dahin noch nicht geſehener Pflanzen, unter denen ſich auch mehrere Zierpflan— zen und Sträucher unſerer Gärten befanden, wie z. B. Hermero— callis flava, Carnus alba, Robinia Attagana und mehrere Arten von Roſen. Wan hatte übrigens während dieſes Aufenthaltes nicht nöthig zu darben, denn die Fiſcher, welche die Ueberfahrt beſorg— ten, hatten vortreffliche Sterlette zu verkaufen, die im Freien zu— bereitet und gekocht wurden. Gegen Abend klärte ſich zwar das

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Wetter auf, dennoch aber war es erſt um 3 Uhr in der Nacht den Schiffern möglich, über den Strom zu ſetzen. Es war noch früh am Morgen, als man in Barnaul eintraf, und ſo hatte man alſo trotz des langen Aufenthaltes in Kainsk und an den Ufern des Ob, den 14684 Werſte langen Weg von Tobolsk in nicht mehr als neun Tagen zurückgelegt.

Sechſtes Kapitel

Gegenwärtiger Zuſtand und Geſchichte des altaiſchen Bergbaues. Silbergewinnung in ganz Rußland. Muſeum und Schmelzhütte in Barnaul. Hüttenprozeß daſelbſt. Der Schlangenberg. Ercurſion nach der Steinſchleiferei Kolhwansk. Reiſe nach den Silbergruben Riddersk und Krukowsk. Feſtung Uſtkamenogorsk. Landweg nach Buchtharminsk. Silbergrube Syränowsk. Ka- menſchtſchiken. Heiße Quellen an dem Urſprunge des Berel. Belucha, höchſter Berg des Altai. Beſuch bei dem chineſiſchen Poſten Baty. Rückkehr nach Buchtharminsk und auf dem Irtyſch nach Uſtkamenogorsk.

Die Stadt Barnaul, obgleich nur am Rande des Altai, faſt noch in der Steppe gelegen, iſt doch der Wittelpunkt des altaiſchen Bergbaus, da ſie nicht allein der Sitz der Verwaltungsbehörde für die ſämmtlichen Bergwerke, ſondern auch die Hauptſchmelzhütte des Altai iſt. Dieſe Stadt iſt daher für den Altai von großer Bedeu— tung, denn dem Bergbaue verdankt derſelbe ſeine Civiliſation, ſeine Coloniſirung und ſeinen mit jedem Jahre zunehmenden Wohlſtand. Wie wichtig aber der Bergbau des Altai iſt, ergiebt ſich ſchon aus ſeiner Production, die vorzugsweiſe in Silber beſteht und größer iſt, als die irgend eines andern einzelnen Theiles des alten Konti— nents, denn ſchon ſeit länger als einem halben Jahrhundert beträgt das etatsmäßige Quantum, welches der Altai zu liefern hat, 1000 Pud oder 69,900 kölniſche Wark Silber. Außerdem werden aber noch jährlich gegen 12,000 Pud Kupfer und gegen 20,000 Pud Blei gewonnen.

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Die jährliche Silbergewinnung des Harzes (mit Einſchluß des Anhaltſchen und Mannsfeldſchen) beträgt nur 49,900, die des ſäch— ſiſchen Erzgebirges nur 55,000, die von Ungarn (ohne des Banats) nur 62,000 Mark kölniſch, wogegen ſich die von Mexiko auf 2,500,000 beläuft.

Die Erze, aus denen das Silber des Altai dargeſtellt wird, lieferte lange Zeit faſt nur eine einzige Grube, der Schlangenberg, welcher 280 Werſte ſüdlich von Barnaul, aber wie dieſer Ort, noch am Rande des Altai liegt. Dieſe Grube iſt auch jetzt noch von Bedeutung; doch ſind während des Beſtehens des altaiſchen Berg— baues außer ihr noch eine Wenge anderer Gruben aufgenommen, die theils ganz in ihrer Nähe, theils in größerer Entfernung und tiefer im Gebirge liegen, und theils noch in Betrieb, theils ſchon wieder aufläſſig geworden ſind. Von den jetzt noch in Betrieb ſtehenden Gruben unterſcheidet man Silbergruben und Kupfergru— ben. Beſondere Bleigruben unterſcheidet man nicht, da die Bleierze neben den Silbererzen auf den Gruben Syränowsk und Riddersk brechen.

So groß indeß die Wenge des Silbers iſt, welches der Altai liefert, ſo ſind doch die Erze, aus denen daſſelbe dargeſtellt wird, nur ſehr arm. Sie enthalten im Durchſchnitt nur 14 Solotnik Silber im Bud, oder 0, Procent (der mittlere Silbergehalt aller Erze, die in Mexico verarbeitet werden beträgt O,ıs bis 0/5 Pro— cent), daher die Menge der zu fördernden Erze außerordentlich groß fein muß und eine Summe von 3 bis 34 Millionen Bud aus— macht. Am reichſten find die Erze von Syränowsk und Kru— kowsk, die 4 Solotnik Silber, und am ärmſten die Erze von Salairsk, die nur 4 Solotnik Silber im Pud enthalten; dennoch gehören die letzteren zu den geſchätzteſten Erzen des Altai, da ſie in großer Wenge anſtehen und ſehr leicht ſchmelzbar ſind, hierdurch alſo wieder erſetzen, was ihnen an Gehalt abgeht. Die genannten Gruben Syränowsk, Krukowsk und Salairsk ſind zugleich jetzt die bedeutendſten, denn ſie tragen zu dem zu liefernden Silberquantum faſt zwei Drittheile bei.

Da die Gruben meiſtentheils in ſehr holzarmen Gegenden lie— gen, ſo werden die Erze ſelten auf den Gruben ſelbſt verſchmolzen,

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fondern nach beſonders gelegenen Hüttenwerken gebracht, die oft ſehr weit von den Gruben entfernt ſind. In Barnaul und Paw— lowsk (52 Werſte weſtlich von Barnaul) werden Silbererze von ſämmtlichen Gruben, in Loktewok und Schlangenberg von allen Gruben, ausgenommen von den Salairſchen, die von jenen Hütten zu entfernt find; in Gawrilowsk und Guriewsk nur die Erze der nahgelegenen Salairſchen Gruben verſchmolzen. Suſunsk iſt allein zur Schmelzung der Kupfererze beſtimmt; hier befindet ſich auch eine Münze, in welcher das ſämmtliche gewonnene Kupfer vermünzt wird. In Barnaul, Pawlowsk, Loktewsk und Schlangenberg be— finden ſich auch Bleiöfen zur Schmelzung der Bleierze. Die An— fuhr der Erze und der Kohlen nach den Hütten geſchieht gegen beſtimmte niedrige Löhne von den den Hütten zugeſchriebenen Bauern, welche dafür von dem Kopfgelde und der Conſcription be— freit ſind. Die Anfuhr findet nur im Sommer ſtatt, wo die Pferde in den Steppen hinreichende Weide finden, nicht aber im Winter, wo außer der mangelnden Weide auch die am Altai ſo häufigen Süd- und Weſtſtürme, welche immer mit ſtarkem Schnee— geſtöber verbunden ſind, jeden Transport ſehr gefährlich machen. Dieſe Stürme heißen am Altai Burane “). Den Namen hat die ruſſiſche Sprache von den herumziehenden Völkern der Steppe aufgenommen; er bezeichnet den Sturmwind, der im Sommer den Staub im Winter den Schnee der Steppe aufwühlt. Der Buran unterſcheidet ſich von unſerm Schneetreiben und Schneegeſtöber da— durch, daß dieſes in der obern Atmoſphäre ſich bildet, der Buran der Steppe aber vornehmlich von der Oberfläche der Erde ſich er— hebt. Doch giebt es auch Burane, die oben in der Luft beginnen, und der Anwohner der Steppe unterſcheidet obere und untere Bu— rane. Sobald beide zugleich losbrechen und mit einander ſich ver— binden, jo erzeugt ihre Wuth ein Chaos der Natur, bei welchem Wenſchen und Thiere von Entſetzen ergriffen werden. Er wird zuweilen jo heftig, daß er die Zelte der Kirgiſen und ganze Wohn:

) Die hier folgende Schilderung, die in dem (polniſchen) Petersburger Tygodnik veröffentlicht wurde, iſt einem Briefe des Dr. med. Jagmin entnommen, der ſelbſt einen Buran ausgehalten hat.

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plätze zudeckt und den Karawanen, welche es mitten in der Steppe antrifft, den gänzlichen Untergang bereitet.

Der Buran beginnt damit, daß ein Windzug über die Schnee— Ebene weht. Ihn erkennen die Führer bald. Die Schneekörnchen ballen ſich anfangs noch nicht, ſilberne Streifen erheben ſich von der Ebene; dieſe ſteigen immer häufiger auf, der Wind fängt an zu ſauſen und zu heulen, die Luft erglänzt mehr und mehr von Kryſtallen des Schnees, endlich wird alles dies eine dunkle dichte Waſſe, die in einer Richtung fortgetrieben wird, bis fie, wo fie Widerſtand findet, vom Wirbelwind erfaßt, im Kreiſe ſich dreht oder von den erhabenen Stellen der Steppe abprallt.

Hat ſich der Buran einmal erhoben, ſo ruht er erſt nach einem halben Tage, dauert aber höchſtens nur einen Tag, ſelten zwei oder drei. Es geſchieht auch, daß ein gelinder Buran mehrmals an einem Tage ſich erhebt und wieder aufhört. Dann tritt aber ſelten be— ſtändiges gutes Wetter ein. Früh am Tage und Abends beruhigt er fi) gewöhnlich, gegen Wittag wird er heftiger und nach Wit— ternacht hört er ganz auf. Auch beginnt er plötzlich bei ſonnen— hellem Wetter; dann bedeckt ſich die Sonne ſogleich mit undurch— ſichtigen Waſſen. Im Allgemeinen find die Burane bei dem Wech— ſel der Jahreszeiten am häufigſten; der Winter und Herbſt beginnt oft mit Buranen. Im Oſten der Steppe blaſen die Burane, ſobald das Thermometer ſich bis 8 oder 10 Reaumur erhebt. Bei höheren Temperaturen ſind ſie ſeltener, aber auch deſto gefährlicher. Ge— wöhnlich entſtehen ſie bei Thauwetter, oder wenn Froſt eintreten ſoll, und bei hellem Wetter, wenn in der höheren Atmosphäre kein Schnee ſich befindet. Daher folgert der Vaturforfcher, Profeſſor Eversmann in Kaſan, der in der Steppe ſelbſt Unterſuchungen über den Buran angeſtellt hat, daß derſelbe eine Folge der gefrornen und in Schnee verwandelten Dünſte fei, die während des Thauwetters in der Atmoſphäre ruhen. Der Südoſtwind bringt kühle Burane, der Südweſtwind warme, ſo daß der Schnee an der Kleidung hän— gen bleibt.

Der Buran iſt für die aſiatiſche Steppe, was der Samum für die afrikaniſche Wüſte. Bei der Annäherung des Buran ergreift ein allgemeiner Schrecken die Karawane. Weder Wenſchen noch Thiere

III. 13

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vermögen ſich dann in die Oertlichkeit zu finden, der Orientirungs— Inſtinct verliert ſich. Oft geſchieht es, daß ein Menſch, indem er aus einem Haufe in's andere ſich begeben will, in die Steppe ge— räth und umkommt. An einem ſolchen Tage bleibt daher Alles zu Hauſe. Der erfahrenſte Führer nützt nichts, jede Spur geht ver— loren, die Pferde drehen ſich in einer und derſelben Stelle herum, und der Reiſende gelangt nach einigen Verſuchen, weiter zu kommen, wieder an ſeine frühere Stelle. Das Vieh ſtellt ſich, ſobald es den Buran ſpürt, ihm mit der breiten Seite entgegen; wird er heftiger, ſo läuft es ganze Werſte mit dem Winde fort und ſtürzt in Ab— gründe und Schluchten. Im Jahre 1816 erlitten die Kirgis-Kai⸗ ſaken der innern, oder der Bukijewer Horde großen Schaden, als ſie ihre Heerden in die ſüdliche aſtrachaniſche Steppe getrieben hatten. Noch größeren Schaden richtete der Buran im Jahre 1827 an, da von ihm ganze Heerden aus der ſüdlichen Steppe in die Sarato— wer Steppe nach Vorden getrieben wurden. Damals kamen 10,500 Kameele, 280,000 Pferde, 13,000 Rinder und an eine Willion Schafe um, wodurch ein Schade von 13 Millionen Rubel Aſſ. ent: ſtand.

Wie vor dem Samum, ſo kann ſich der Reiſende auch vor dem Buran nur dadurch retten, daß er anhält und ſich auf die Erde legt. So machen es die Kirgis-Kaiſaken; Manchem gelang es ſchon zwei bis drei Tage ſo zuzubringen. Wer ſeine Reiſe weiter fort— ſetzt, kommt gewöhnlich um und erfriert.

Zuweilen bilden ſich im Sommer Burane aus Sand. Sie beginnen um Wittag, dauern nicht lange, erheben ſich plötzlich und hören, ohne großen Schaden anzurichten, wieder auf. Dann wird das Athmen und Sehen ſchwer. Der Sand wird zu ungeheurer Höhe getrieben, er dreht ſich in dichten Knäueln herum und ver: ſchließt Auge und Mund. Die Sonne erhält, wie bei einer Son— nenfinſterniß eine blutrothe Farbe. Fängt der Buran gegen Abend an ſich zu beruhigen, jo ragen Städte und Dörfer aus dichten Staub» wolken hervor. Ein eigenthümlicher Anblick!

Nach den Humboldt mitgetheilten Tabellen haben im Jahre 1827 die Hüttenwerke des Altai an güldiſchem Silber 1000 Pud 2 Pfund 49 Solotnik geliefert; dieſe enthielten 916 Pud, 37 Pfund,

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203% Solotnik reines Silber und 27 Bud, 26 Pfund, 2635 Sol. Gold. Der Werth des gewonnenen Goldes und Silbers beträgt in Aſſignaten 4,572,907 Rubel, 76 Kopeken. Die darauf verwandten Koſten betrugen 1,279,000 Rubel. Es ergiebt ſich alſo ein Ueber— ſchuß von 3,293,907 Rubel 76 Kopeken.

Wir fügen dieſen Angaben noch folgende über die Silbergewin— nung in Rußland überhaupt (nach dem Journal des mines) hinzu:

Die Hauptwerke für Silber und Blei liegen in Sibirien in den Bezirken des Altai und von Nertſchinsk. Neuere exiſtiren im Kaukaſus und in den Kirgiſenſteppen jenſeit des Irtyſch. Nach einem Anſchlage von 1849 iſt der Totalertrag auf 8,351,000 Pud rohes Erz feſtgeſtellt worden, von denen dann 1449 Pud We— tall gewonnen werden. Viele Lager ſind indeſſen noch gar nicht un— terſucht und bieten wahrſcheinlich noch unberechenbare Reichthümer.

Im Diſtricte von Nertſchinsk haben die Arbeiten im Jahre 1704 begonnen. Der Ertrag beſchränkte ſich bis zum Jahre 1747 auf 28 Pud jährlich, er iſt bis zum Jahre 1775 bis auf 630 Pud angewachſen, hat aber ſeitdem allmälig wieder abgenommen und neuerdings nur noch 200 Pud betragen. Außerdem haben die Werke Vertſchinsk vom Jahre 1804 ab jährlich 10—23,000 Pud Blei ge liefert. Das in den Bezirken des Altai und von Vertſchinsk gewon— nene Silber bekommt übrigens einen etwas erhöhten Werth durch den Goldzuſatz, mit dem man es gewöhnlich verbunden findet und der in den Münzſtätten von Petersburg ausgeſchieden wird. Im Jahre 1846 hat man gegen 46 Bud reines Gold auf 1194 Pud Silber erhalten.

Reiche Gänge ſilberhaltigen Bleis finden ſich jenſeit des Irtyſch in den Bezirken von Karkaralinsk und Baian-Aul. Sie haben von 1844 1850 8741 Pud Blei und 253 Bud Silber geliefert.

Die Hütten, welche von dieſen Winen verſorgt werden, ver— wenden als Brennmaterial Steinkohlen, von denen in der Umgebung der Werke ſelbſt reiche Lager entdeckt worden ſind.

Auch im Kaukaſus finden ſich vielfache Spuren von ſilberhal— tigen Erzen. Die meiſten Gänge werden indeſſen nur von den Ein— wohrern ſelbſt benutzt, und nur Blei daraus gewonnen. Doch hat die Regierung 40 Werſte von Wladikaukas in der Schlucht von

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Alaghir eine Hütte errichtet, welche jährlich 36,000 Pud Blei und gegen 100 Pud Silber liefert.

Die Wenge des in Rußland bis zum Jahre 1851 gewonnenen Silbers iſt folgende:

Diſtrict von Vertſchinsk ſeit 1804 24,923 Pud, Diſtrict des Altai ſeit 1745 82,191 Pud, Werke des Ural ſeit 1754 738 Pud, goldhaltiger Sand von Sibirien ſeit 1826 872 Pud, Werke von Voitsk, in Georgien und in den Kirgiſendiſtricten 25 Pud, im Gan— zen alſo 108,749 Pud.

Die Silbergewinnung, obgleich nicht ſehr ausgedehnt, bietet doch große Vortheile wegen ihrer Nachhaltigkeit. Die Wenge dieſes Metalls, welche die Werke des Altai und von Nertſchinsk geliefert haben, giebt einen Geſammtwerth von ungefähr 130 Millionen Rus bel und überſteigt den Werth der in den Privatgoldwäſchen Sibi— riens in den letzten 20 Jahren bis 1850 gewonnenen Goldes um 5 Millionen Rubel.

Ungeachtet der Ausdehnung, die der Bergbau im Altai erlangt hat, iſt er doch noch jünger als der Uraliſche Bergbau und reicht nicht weit über ein Jahrhundert hinaus.“) Zwar iſt in früherer Zeit, wie die ſogenannten Tſchudiſchen Arbeiten beweiſen, die man im Altai noch viel häufiger als im Ural aufgefunden hat, auch am Altai ein uralter Bergbau getrieben worden, aber wenngleich die aufgefundenen Spuren deſſelben, eingeſtürzte Schachte und alte Hal— denzüge, hier ſo häufig geweſen ſind, daß ihrer Auffindung faſt alle jetzt bebaute Gruben ihre Entſtehung zu verdanken haben, ſo war doch die Kunde dieſes Bergbaues, ſowie des Volkes, welches ihn ge— trieben, auch hier durchaus verſchollen. Nur dunkle Sagen von dem Goldreichthum der goldenen Berge, wie der Altai im Chineſi— ſchen und Alttürkiſchen heißt, hatten ſich erhalten, und dieſe waren es auch, die ſchon unter Peter dem Großen mehrere militairiſche Expeditionen nach dem oberen Irtyſch zur Auffindung von Goldſand veranlaßten. Dieſe Expeditionen erreichten zwar ihren Zweck nicht, waren aber doch in ſofern dem bald darauf entſtehenden Bergbau förderlich, als ſie die Veranlaſſung zur Anlage aller Feſtungen an

*) Silber wurde ſeit 1743 gewonnen.

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der Irtyſchlinie wurden, die dem ſpäteren Bergbaue ſehr zum Schuß und zur Unterſtützung gereichten.

Die Entſtehung des eigentlichen Bergbaues verdankt der Altai dem Staatsrath Akimfitſch Nikitas Demidoff, dem kenntnißreichen und talentvollen Sohne des Gründers des Uraliſchen Bergbaues Nikitas Demidoff, der, wahrſcheinlich durch ähnliche Sagen von dem Goldreichthum des Altai wie Peter der Große veranlaßt, Leute zum Aufſuchen von Erzen dorthin abgeſandt hatte, die ihm auch im Jahre 1723 mehre Kupfererze aus den alten Tſchudiſchen Arbeiten brachten. Als Demidoff die Erze ſchmelzwürdig befunden hatte, hielt er bei dem Bergkollegium in Petersburg um Erlaubniß zur Anlegung von Gruben und Hütten im Altai, ſowie um Unterſtüz— zung dazu an, und ſandte, nachdem er beides erhalten, eine Anzahl Weiſterleute dorthin, die die Kupfergruben Kolywansk (nicht zu verwechſeln mit der jetzigen Kreisſtadt Kolywansk) und Woskreſſensk (die Auferſtehungsgrube), 20—30 Werſte nördlich von dem jetzigen Schlangenberg, und bald darauf auch eine dritte Grube Pichtowsk anlegten. Nach den beiden erſteren Gruben führt auch jetzt noch der Altaiſche Bergbau in den ruſſiſchen Kanzleiſchriften den Namen des Kolywano⸗Woskreſſenskiſchen Bergbaues. Im Jahre 1728 wurde nun auch das erſte größere Hüttenwerk Kolywansk an der Bje— laja in der Nähe der Grube angelegt, in welchem die gewonnenen Kupfererze verſchmolzen wurden, wozu aber ſchon 1739 ein zweites kam, da das erſte bald nicht mehr zur Schmelzung der Erze aus— reichte, und die Zahl der Schmelzöfen wegen des ſich ſchon einſtel— lenden Holzmangels (ein Mangel, der ſpäter den Stillſtand der ganzen Hütte verurſachte), nicht vermehrt werden konnte. Dies zweite Hüttenwerk wurde am Einfluſſe der Barnaulka in den Ob angelegt, es iſt der Urſprung der jetzigen Kreisſtadt Barnaul.

Der Altaiſche Bergbau blieb indeſſen nicht lange im Beſitze von Demidoff. Schon im Jahre 1736 hatte man angefangen die Schlan— genberger Grube zu bebauen, deren Erze in den oberen Teufen außerordentlich gold- und ſilberreich waren. Gold- und Silber— bergbau zu treiben, war aber Privaten damals noch nicht erlaubt. Demidoff wurde daher durch den Reichthum der Schlangenberger Grube an edlen Wetallen veranlaßt, dem Bergkollegium davon An—

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zeige zu machen, das eine eigene Commiſſion, an deren Spitze der General Beyer ſtand, zur Unterſuchung der Sache abfertigte, die auch zwei Jahre ſpäter, 1746, die ſämmtlichen Werke des Altai für Rechnung der Krone übernahm. Die Regierung fuhr aber fort, auf das Emporkommen der Werke die größte Aufmerkſamkeit zu ver— wenden; ſie ſtellte tüchtige Berg- und Hüttenleute an, verbeſſerte im Innern die Adminiſtration durch zweckmäßige, der Oertlichkeit ganz angepaßte Verordnungen und ſicherte auch nach außen den immer— mehr aufblühenden Bergbau durch Anlage einer Feſtungslinie gegen Anfälle der im Altai nomadiſirenden Kalmüken und Teleuten. Mehrmals ausgeſandte Expeditionen zur Unterſuchung des Altai, und die Bereiſung der Werke durch die Akademiker, ſowie durch andere unterrichtete Männer, erweiterten die Kenntniß des Altai immer mehr; es wurden genaue Karten aufgenommen, neue Erz— anbrüche entdeckt und in Folge derſelben neue Gruben und Hütten angelegt, wodurch denn der Altaiſche Bergbau ſchnell zu der Aus— dehnung und dem Wohlſtande gelangte, in welchem er ſich jetzt be— findet. Er wurde gleich nach der Uebernahme der Werke von De— midoff zu einem Privatbeſitz des kaiſerlichen Hauſes gemacht, und blieb ein ſolcher bis in die neuere Zeit, wo er den übrigen der Krone zugehörigen Werken gleichgeſetzt, und unter das Finanzmi— niſterium geſtellt wurde.

Der kurzen Geſchichte des Altaiſchen Bergbaues (von Prof. Roſe), reihen wir folgende allgemeine Bemerkungen über den Be— zirk der Altaiſchen Hüttenwerke an“):

Der Altaiſche (Kolywano-Woskreſſensker) Hüttenbezirk liegt zwi— ſchen 49° und 56° nördl. Breite bei 75° bis 88» öſtl. Länge von Paris. Er bildet demnach etwa die Hälfte des Tomsker Gouver— nements und zugleich, feinen Erzeugniſſen zufolge, eine der aller— werthvollſten Provinzen von Rußland.

Die öſtliche und die weſtliche Hälfte dieſes Bezirkes ſind ſo— wohl ihrem Anſehn nach als auch durch ihre Producte ſtreng ge— ſchieden, indem die erſtere oder weſtliche überall von den Altaiſchen

*) Auszüglich aus einer dem Ermanſchen Archiv (Bd. 9 Seite 217 ff.) mitgetheilten ruſſiſchen Handſchrift von S. Guljajew.

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Bergen durchſchnitten wird, deren mit Schnee bedeckte Gipfel oder Bjelki verſchiedene Namen führen. Dieſe Bergmaſſen bilden einen von S. O. nach N. W. gerichteten Streifen, welcher auch die zum Ob⸗ und Irtyſch-Syſtem gehörigen Flüſſe enthält. Die dortige Landſchaft iſt an vielen Stellen mit dichter Waldung bedeckt, auch enthält ſie an der rechten oder Wieſenſeite des Ob einen humusrei— chen Boden, auf welchem zahlreiche Arten von Feldfrüchten ohne jede . Düngung gedeihen.

Die Weſthälfte des Bezirks wird von der öſtlichen durch die Thäler der Schulba, des Alei und des Ob getrennt und bildet zwi— ſchen dem Irtyſch und Ob eine gegen die Barabinskiſche Steppe geneigte Fläche. Die Ebenheit dieſes Landſtriches iſt nur von wellenähnlichen Hügeln unterbrochen, die meiſt von N. O. nach S. W. gerichtet ſind, und welche in der Nähe des Ob beträchtlicher ſcheinen als am Irtyſch— Am Ob liegen zwiſchen dieſen Hügeln ziemlich regelmäßige Thäler von bedeutender Ausdehnung, welche von den Bewohnern Padi, d. h. Schluchten (oder dem Wortſinne nach etwa Erdfälle) ge— nannt werden. Dieſe Weſthälfte des Altaiſchen Bezirks iſt faſt völlig unbewaldet; Ausnahmen bilden nur ein ſchmaler Streifen an den Ufern des Alei bei dem Dorfe Krasnojarsk, auf welchem Gehölze aus Pappeln, Espen, Weidenarten, Prunus Padus, einem Mespilus und Roſenſträuchern vorkommen, ſowie auch ein Streifen von Fichtenwal— dung, der 60 Weilen weit, von dem Ob bis zum Irtyſch, reicht und an verſchiedenen Stellen unter den örtlichen Benennungen des Bar— nauler, des Srostensker, Korostelewer, Schulbiner und Loktjewer Holzes bekannt iſt. Wan findet außerdem nur in den tiefſten Fluß— thälern einige Birkengehölze von unbedeutender Ausdehnung, welche den Provinzialnamen Kolki führen.

Die in Rede ſtehende Weſthälfte des Altaiſchen Bezirkes iſt dürr, da ſie nur von ſpärlichen Bächen durchſchnitten wird. Dieſe entſpringen theils aus Seen, theils aus hochgelegenen Sümpfen, fließen langſam und bilden Seen, ſowohl in der Witte als am Ende ihres Laufes. Der Boden iſt auch in dieſer Hälfte des Bezirks ſo humusreich wie in der öſtlichen. In der Nähe des Irtyſch beſteht er aber aus einem ſandigen Thone und enthält auch verſchiedene bitter ſchmeckende Salze. Von der Wündung des Alei finden ſich

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ſowohl oſtwärts gegen den Irtyſch als auch gegen Welten bis zu dem See Tſchany viele ſogenannte Solontſchaki (Salzſtellen) von denen aus ſich die Erdoberfläche, beſonders nach dem Regen, mit einem reifähnlichen Ueberzuge aus reinem Kochſalze oder aus einem Gemenge deſſelben mit Bitterſalz bedeckt. Unter den Seen ſind an dieſen Salzen am reichſten: die Borowye Oſera, Aleuſſkija O., Sjewernyja O., Korjakowskija O., Karaſuzkija O. und Burlins⸗ kija O., deren Geſammtreichthum völlig unerſchöpflich iſt. Viele an— dere Seen dieſes Diſtrictes ſetzen zwar keine Salze ab, werden aber Bitter-Seen genannt, wegen des unangenehmen Geſchmackes, den man an ihrem Waſſer bemerkt. An hellen Sommertagen fin— det man in den Steppen dieſes Diſtrictes die ſeltſamen Erſcheinun— gen der Luftſpiegelung, welche hier unter dem Namen Marewa bekannt ſind.

Der Altaiſche Hüttenbezirk enthält zuſammen gegen 390,000 Quadrat-Werſte oder 7960 Quadratmeilen, von denen etwa Zr, oder 12,250 Quadrat-Werſte bewaldet ſind. Die verſchiedene Höhe über dem Weere, die Geſtaltung der Bodenoberfläche und die geographiſche Lage vereinigen ſich, um auch dem Klima in beiden Hälften dieſes Bezirks einen verſchiedenen Charakter zu ertheilen. Es iſt in der öſtlichen Hälfte merklich rauher als in der andern und man bemerkt in der erſteren namentlich länger anhaltende Winter. Im Sommer ſind aber im Allgemeinen die Temperaturen ausrei— chend nicht nur für eine Wenge von Feldfrüchten und für viele dem Menſchen nützliche wildwachſende Pflanzen, ſondern auch in den ſüdlichern Theilen dieſes Landes für Arbuſen und Melonen, welche daſelbſt im Freien auf's Beſte gedeihen. In den Thälern finden ſich vortreffliche Heuſchläge und Weiden, und an feuchteren Stellen ein ſo hoher Krautwuchs, daß man die Pferde unter den Reitern nicht ſehen kann.

Im Allgemeinen iſt die öſtliche Hälfte zum Kornbau und zur Bienenwirthſchaft, die weſtliche dagegen zur Viehzucht geeigneter. Ueber der erſtern iſt der Himmel den Sommer über fait fortwährend heiter auch iſt in derſelben die ſogenannte ſibiriſche Peſt faſt un— bekannt, welche in der Weſthälfte alljährlich eine beträchtliche Zahl von Pferden und Rindern tödtet. Wan pflegt deshalb auch ſchon

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feit alten Zeiten die Pferde, welche zu den Dörfern bei den Hütten: werken gehören, mit Anfang des Frühjahrs in's Gebirge zu treiben, wo ſie dann bis um die Witte Muguft*) unter Aufſicht von eigens gewählten Hirten verbleiben. In dieſen Berggegenden fehlen auch die ſchädlichen Inſekten, und namentlich die Mücken, Viehbremſen und Gnetzen (Moskitos), von denen unendliche Schwärme, ſowohl in den Wieſengegenden und ſumpfigen Viederungen, als auch in den Steppen und Gehölzen der Weſthälfte vorkommen. Die Dorfbewohner dieſer Gegenden ſuchen ſich einigermaßen vor dieſem Ungeziefer zu ſchüz— zen, indem fie in ihren Stuben Räuchergeſäße (ſogenannte Kurewa) aufſtellen, d. i. Töpfe mit verrottendem Kuhmiſt, deren Ausdünſtung den Inſekten unerträglich iſt. Bei den Einfahrten in die Dörfer werden zu demſelben Zwecke größere Ablagerungen von verweſendem Wiſt in gegrabenen Löchern gemacht. (Der pferdehaarnen ſackähnli— chen Kopfbedeckung iſt ſchon früher Erwähnung geſchehn).

Im Allgemeinen iſt der Aufenthalt im Altaiſchen Bezirke der menſchlichen Geſundheit ſehr zuträglich, denn es giebt in ihm keine andern örtlichen Krankheiten, als das Wechſelfieber im Frühjahr und im Herbſt, hitzige Fieber und die ſibiriſche Peſt, von welcher die Wenſchen nur ſelten, das Rindvieh und die Pferde aber faſt jeden Sommer befallen werden.

Die Altaiſche Flora iſt bei weitem noch nicht vollſtändig bekannt, obgleich die Herren Bunge und Ledebour, im Jahre 1826, in Folge einer Reiſe, die ſich aber nur auf den öſtlichen Theil des in Rede ſtehenden Landſtriches beſchränkte, gegen 400 neue Species aus der— ſelben beſchrieben haben.

Von jagdbaren Vierfüßern giebt es am Altai den braunen und ſchwarzen Bär, Wölfe, Füchſe, Zobel, Warder, Hermeline, Eich— hörner, Iltis, Haſen, den Vielfraß, den Luchs, den ſibiriſchen Mar— der (Mustela Sibirica ruſſ. Kulonok), die ſogenannten Jermuranki oder Feldkatzen, das geſtreifte Eichhorn (ruſſ. Burunduk), Dachſe, Murmelthiere, wilde Schweine, Elenthiere, Rothhirſche, Rennthiere, ſibiriſche Rehe (Cervus pygargus ruſſ. Dikaja koſa und Saigah, wilde Schafe und, wiewohl ſeltener, Tiger. Wan erinnert ſich jetzt

. ) Nach weſteuropaiſcher Zeitrechnung wie alle folgenden Angaben.

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dreier Fälle, in denen dieſe feltenen Gäſte einen Beſuch des Koly— waner Bezirkes mit dem Leben bezahlten. Im Jahre 1813 wurde ein Tiger am Irtyſch durch den Koſakenunteroffizier Semljanuchin erlegt, und im Oktober deſſelben Jahres ein zweiter, 3 Werſte von der Loktjewer Hütte, durch Bauern des Dorfes Vowaleisk. Dieſer wurde, gleich nachdem man ihn erlegt hatte, vor der Loktjewer Hütte zur Anſicht ausgeſtellt. Er war von anſehnlicher Größe und blutete ſehr ſtark aus dem Kopfe, den man auf vielen Stellen mit kleinen Büchſenkugeln durchſchoſſen hatte. Die Bauern hatten ſich drei Stunden lang mit ihm geſchlagen und er hatte während dieſer Zeit zehn Hunde getödtet, den Schützen, die zu Pferde waren, aber keinen Schaden zugefügt. Sie erhielten von der Regierung eine Beloh— nung von 100 Rubeln. Im Jahre 1839 wurde ein dritter Tiger von den Bauern des Dorfes Sjetowka im Bjisker Kreiſe getödtet. Er war ungewöhnlich ſtark, auch endete dieſe Jagd weniger glück— lich als die beiden frühern, indem drei Wenſchen von dem angeſchoſ— ſenen Wilde gefährlich verwundet wurden. Die dabei betheiligten Schützen erhielten eine Belohnung von 1000 Rubeln.

Von gezähmten Vierfüßern giebt es nur Pferde, Rindvieh, Schafe, Ziegen und am Irtyſch, bei den Kalmüken und Kirgiſen, auch Kameele.

Bemerkenswerth iſt das Vorkommen einer Art von Cochenille am Altai und die ſeltſame Geſchichte ihrer dortigen Auffindung.

Im Jahre 1768 wurde von der ruſſiſchen Regierung eine An— leitung zur Einſammlung von Inſekten veröffentlicht, die in den Gouvernements von Kijew, des damaligen Kleinrußland, von Slo— bodsk und Bjelgorod vorkämen und welche nach gehöriger Vorberei— tung die ächte Cochenille zu erſetzen im Stande ſeien. In dieſer Vorſchrift war auch noch erwähnt, daß ſich die gemeinte Cochenillen— Art gewöhnlich an den Wurzeln eines kleinen gelbblühenden und der Erdbeerpflanze ähnlichen Gewächſes finde.

In Folge dieſer Bekanntmachung bemerkte ein damals am Al— tai lebender Arzt, Namens P. Andrejew, in der Nähe von Smeino— gorsk an den Wurzeln der Erdbeerpflanze und an denen von Poten— tilla fruticosa, „mit einer ſchwarzen Schaale bedeckte weißlich— graue, ſchleimige Anhäufungen;“ auch fand er,, daß die kleinen Inſekten,

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die ſich nach gehöriger Reife aus dieſen Haufen bildeten, die Gegen— ſtände, auf denen man ſiezerdrückte, purpurroth färbten.“ Andrejew ſammelte eine beträchtliche Wenge von dieſen Inſekten und ſandte ſie nach Petersburg „nachdem er ſie in Papier gewickelt und über Kohlendunſt getödtet hatte.“ Ein Färber, dem dieſer Stoff von der Regierung übergeben wurde, erkannte in ihm ein von der ächten Cochenille zwar verſchiedenes, aber auf ähnliche Weiſe wie dieſe, mit großem Vortheile zu verwendendes Inſekt, und es wurde darauf der Altaiſchen Bergwerksbehörde vorgeſchrieben: „bei Smeinogorsk und in der Umgegend 20 Pfund ſolcher Inſekten ſammeln und nach Petersburg gelangen zu laſſen.“ Andrejew, der nun ſeine Entdeckung mit noch größerem Eifer verfolgte, fand jedoch im Jahre 1773 nur etwas über zwei Pfund des fraglichen Stoffes, weil der regnige und kalte Sommer zu deſſen Erzeugung und Einſammlung nicht günſtig war. Auch dieſe gelangten aber nach Petersburg, wo ſie von einem bei der dortigen Tapetenfabrik angeſtellten Färber, Na— mens Walmſtröm, unterſucht und für ſo vortrefflich erklärt wurden, daß man in der Folge kaum noch nöthig haben würde, ausländiſche Cochenille zu benutzen. ö

1774 fand Andrejew die cochenilleführenden Pflanzen bei der Barnauler und bei der Powlower Hütte in fo großer Menge, daß er 32 Pfund Farbeſtoff ſammelte, auch bemerkte er „an einer in derſel— ben Gegend vorkommenden Cicuta ein eben ſo brauchbares, und wegen anſehnlicherer Größe weit leichter zu ſammelndes Inſekt.“ Auf ſeine neue Sendung erhielt er nach acht Jahren von Seiten der Petersburger Behörden die Antwort, daß ein Staatsrath Kos— low, der damalige Vorſteher der Tapetenfabrik, die Inſekten zur Färbung des Kameelgarns für untauglich gefunden habe. Erſt im Jahre 1786 ſcheint man den Widerſpruch zwiſchen den eben er— wähnten zwei Urtheilen beachtet zu haben, indem man in dieſem Jahre die Altaiſche Bergwerksbehörde von neuem aufforderte, Coche nille zu ſammeln. Von 13 bis 15 Pfunden dieſes Stoffes, welche demnächſt (1788 u. 1789) nach Petersburg geſandt wurden, über— gab man jedoch nur ein Pfund dem oben genannten Director der Tapetenfabrik, der ſich nun zu einer weit günftigeren Ausſage ver- ſtand. Er erklärte nämlich, daß die ſcheinbare Untauglichkeit des ihm

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übergebenen Stoffes nur von fettigen Beſtandtheilen herrührte, die ſich bei deren Abkochung ablöſten und auf der Flüſſigkeit ſchwäm— men, daß aber die Altaiſchen Inſekten wahrſcheinlich eine ſehr brauch— bare Farbe ausmachen würden, wenn man ſie gleich nach der Ein— ſammlung präparirte.

Die Bergwerksbehörde, welche demnächſt noch zweimal (in den Jahren 1790 und 1798) aufgefordert wurde, die Anwendbarkeit des fraglichen Farbeſtoffes an Ort und Stelle in dem Barnauler Labo— ratorium zu unterſuchen, wußte indeſſen dieſe Angelegenheit theils durch völliges Stillſchweigen, theils durch ausweichende Antworten zu erledigen. So unter Anderm durch die Weldung, daß eine Ueber— ſchwemmung, von der die Barnauler Werke am 15. Wai 1793 be— troffen wurden, „die ſämmtlichen Akten über die Cochenille“ zerſtört und ſomit die Unterfuchung über dieſelbe einſtweilen unmöglich ge— macht hätte. Auch ſei an einer Auflöſung, die der Berghauptmann Schmidt von dem fraglichen Stoffe in dem Barnauler Laboratorium gemacht habe, „nichts weiter als ein dem Ameiſenäther ähnlicher Geruch zu bemerken geweſen“ (11). In dieſem völlig unerledigten Zuſtande ſoll dann die nicht unwichtige Angelegenheit auch wäh— rend der folgenden 50 Jahre verblieben ſein, nachdem noch, wie verſichert wird, im Jahre 1797 der Petersburger Akademie 8 Pfund des Altaiſchen Färbeſtoffes übergeben worden und gleichfalls un— unterſucht geblieben ſind.

Die geſammte Bevölkerung des Kolywaner Bezirkes beträgt jetzt gegen 350,000 Wenſchen beiderlei Geſchlechts.

Die Sprache der Anwohner des Altai iſt im Hauptſächlichen der Vord-Ruſſiſche oder Nowgoroder Dialekt. Sie enthält aber von dieſem noch eine Wenge von alterthümlichen Worten, die man jetzt in andern Gegenden nur noch aus den Chroniken kennt. In dem Kolywaner Bezirke werden noch jetzt bei mehreren häuslichen Gebräuchen Lieder geſungen, die ſich, wahrſcheinlich ohne Aenderung, aus den älteſten Zeiten erhalten haben, und ebenſo Sagen oder mündliche Traditionen, die ſich beſonders auf die Zeit des Großfür— ſten Wladimir und ſeiner ſogenannten Helden (Witjaſi) beziehen.

Die Kaufleute und eigentlichen Gewerbetreibenden dieſes Diftric- tes haben ihre bleibenden Wohnſitze entweder in den Städten Bars

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naul, wo die vorzüglichſten leben, Kusnezk, Bijsk, Uſtkamenogorsk und Kolywan oder in den Hüttenorten: Lokot, Smeinogorsk, Paw— lowsk, Suſun, Gurjewsk, Gawrilowsk und Tomsk. Ihre Zahl ſcheint keineswegs bedeutend, wie aus den offiziellen Angaben über die Bevölkerung der Städte im Jahre 1840 hervorgeht; auch konnten fie von jeher, wegen Mangels an Capttal, ſelbſt den gewöhnlichſten Anſprüchen, die man an ſie machte, nicht genügen, noch viel weniger aber die Luxusgegenſtände beſchaffen, welche auf den Jahrmärkten von Irbit und Niſchni-Nowgorod zu haben find, und eine Wenge von handelnden Bauern und Krämern kamen deshalb alljährlich aus den Woskauer und Wladimirer Gouvernements nach dem Altai gereiſt. Man kennt dieſe in Sibirien unter dem Namen der Sus— daler, und findet ſie überall unternehmend, gewandt und zuvorkom— mend gegen die Käufer. Sie beſuchen jedesmal ſämmtliche Ort— ſchaften des Bezirks, namentlich aber jede Hüttenanlage, nachdem ſie in einer der Städte für das Recht zu handeln eine Abgabe bezahlt haben. Sie bieten den dortigen Einwohnern, ohne Rückſicht auf de— ren Geldmittel und zur Hälfte auf Borg, die mannichfaltigſten Waa— ren, wie baumwollene, ſeidne und wollene Stoffe, Metallwaaren, por: zellanene und viele andere Arten von Gefäßen, Lederwaaren und, nicht zu vergeſſen, die beliebten Sagenbücher und Holzſchnitte. So ſind ſie zu theuern Gäſten geworden, deren Ankunft in der dazu beſtimmten Jahreszeit von Jedermann mit Sehnſucht erwartet wird. Es kommt dazu, daß die Susdaler, weil ſie ihre Waaren aus erſter Hand in den europäiſchen Fabriken einkaufen, dieſelben um mehrere Prozent wohlfeiler, als die Altaiſchen Kaufleute ablaſſen, und daß fie zu den ſchon erwähnten Credit-Geſchäften immer erbötig bleiben, weil ihnen das, was ſie durch dieſelben an einem Orte verlieren, an mehreren andern ſtets wieder erſetzt wird. Es ſind dies dieſelben Leute, die beim Beginn ihrer Laufbahn im europäiſchen Rußland zu Fuß und mit dem Tragekorbe auf dem Rücken von Ort zu Ort ziehen und welche daſelbſt theils cho debſchtſchiki, d. h. etwa Wan— derer oder Hauſirer, theils auch Warjagi genannt werden. Sie erwerben eben durch dieſe Lebensart die liſtige Kunſt des Umganges und die hohe Gewandheit, die ſie ſpäter auszeichnet; ſie haben ſich zu ihren Zwecken ſogar eine eigene Umgangsſprache gebildet,

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die ſelbſt von den Petersburger Krämern gebraucht wird, wenn fie ihren Kunden unverſtändlich bleiben wollen. Endlich ſind die Sus— daler den Sibiriern auch deswegen äußerſt willkommen, weil fie Vieles, was für dieſe neu und anziehend iſt, aus Moskau, aus Now— gorod und aus andern ruſſiſchen Städten zu erzählen wiſſen. Die Niederlagen, welche anſäſſige Händler in den Städten und anderen Hüttenorten des Altaiſchen Bezirks unterhielten, ſind ſomit auch allmälig durch die Ankunft jener Fremdlinge faſt völlig zu Grunde gerichtet, oder doch auf ſo unvortheilhafte Gegenſtände, wie guß— und ſchmiedeeiſerne Geräthe und ganz grobe baumwollene oder wol— lene Stoffe beſchränkt worden. Auch haben ſich einige von dieſen eingebornen Kaufleuten auf ziemlich unvollkommene Fabrikationen, z. B. auf Seifenſiedereien und Lederbereitung gelegt, während ſich andere noch beſcheidener mit dem Victualienhandel begnügen und na— mentlich mit Fleiſchlieferungen für die Bewohner von Barnaul und andern Hüttenorten. Bei dem Handel in den Gewölben oder Kauf— häuſern weiß keiner von ihnen mit den Susdalern in der Ueberre— dungskunſt zu wetteifern, oder gar in den ſtummen Winken und Gebehrden, welche dieſen zur Anlockung von Kunden ſchon genügen.

Die ſogenannten Bürger (ruſſiſch mjeſchtſchane), die nach den Rechten ihres Standes vorzugsweiſe die induſtrielle Klaſſe ausma— chen ſollten, beſchäftigen ſich mit dem Kramhandel und namentlich mit dem Vertrieb der landeswirthſchaftlichen Erzeugniſſe. Nur ein— zelne von ihnen handeln mit Fabrikprodukten, welche die Großhänd— ler ihnen anvertrauen, während viele ſich bei dieſen als Commis oder ſogar als Arbeiter verdingen. Sie beſitzen übrigens Alle einen eigenen Haushalt, zu dem Heuſchläge und einiges Gartenland zum Gemüſebau gehören. Auch leben manche von ihnen ausſchließlich vom Ackerbau. Die Frauen und Kinder dieſer Bürger beſchäftigen ſich zwar mit der Anfertigung leinener und wollener Stoffe, jedoch nur zum eignen Gebrauch, und es herrſcht ſomit in dem ganzen Bezirk ein faſt unglaublicher und bemerkenswerther Mangel an den gewöhnlichſten und geſuchteſten Handwerkern. Nur in Barnaul fin: det man unter den Bürgern wohl hin und wieder einen Zimmer— mann, einen Kürſchner und einen Gerber, ſchon viel ſeltner da— gegen einen Tiſchler und niemals weder Schuhmacher

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noch Schneider, Schloffer oder Kupferſchmiede, und fo ge: ſchieht es denn, daß daſelbſt von weit her aus dem Tobolsker und Permer Gouvernement ſo allgemein gebräuchliche Gegenſtände, wie Leder, Stiefeln, Kochgeſchirr, Senſen, Stahl, Nägel, ja ſogar höl— zerne Gefäße und Löffel verſchrieben werden.

Von Bauern, die zu den Hüttenwerken gehören, zählte man im Jahre 1840 112,289 Männer und 117,467 Frauen. Dieſe bilden bei weitem die betriebſamſte Klaſſe der geſammten Bevölkerung. Sie beſchäftigen ſich mit Ackerbau, Viehzucht, Bienenwirthſchaſt und mit Jagd und Fiſchfang, verſtehen aber außerdem viele Handwerke, die in anderen Ländern das ausſchließliche Eigenthum der Städter zu ſein pflegen. So iſt zunächſt jeder Altaiſche Bauer ein Zimmer— mann, der, faſt nur mit Hülfe des Beiles und der Schneidebank, nicht bloß ſein Haus, ſeine Wagen und ſeine Schlitten baut, fondern auch alles Acker- und Hausgeräth und einen Kahn, wenn er ſich ge— rade mit dem Fiſchfang beſchäftigt.

Er weiß ferner feinen Ofen, wie man dort jagt, zu ſchlagen, d. h. aus Thon zu kneten, indem er ſich zum Abzug des Rauches eines von ihm ſelbſt gebohrten und im Innern ebenfalls mit Thon beſchlagenen Rohres aus einem Weiden- oder Elſenſtamme bedient. Er iſt ein wenig Bildhauer, um die Außenſeite ſeines Hauſes mit oft ſehr hübſchem Schnitzwerk zu verſehen, ſodann Loh- und Weiß— gerber, indem er durch das Verfahren des erſteren das Leder zu ſeiner Fußbekleidung bereitet und durch das Weißgerben das Leder zu Pferdegeſchirren, die Schaf- und Lämmerfelle zu Unterpelzen, die Reh⸗ oder ſogenannten wilden Ziegenfelle zu den nach außen be— haarten Oberkleidern, die man am Altai dachi oder jag i nennt. Er näht ſich eine eigenthümliche Art von Schuhen, welche tſcharki oder koti genannt werden und Waſſerſtiefeln mit langen Schäften unter dem Namen butyly obgleich bei ihnen die Kunſt des eigentlichen (d. h. europäiſchen) Schuhmachers für eine nur Wenigen bekannte gilt. So giebt es denn nur die Handwerke der Mühlenbauer, der Schmiede, der Schloſſer und Kupferſchmiede, an welchen ſich nicht jeder der Altaiſchen Bauern betheiligt. Das erſtere iſt vor— züglich wegen des allgemeinen ruſſiſchen Volksglaubens ausgenommen, daß die Mühlenbauer ſogenannte „Wiſſende“ (ſnachari) ſein

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müffen, welche der „unreinen Kraft“ zu begegnen wiſſen, die ſich der für verboten gehaltenen Anwendung der Unterwerfung eines Gewäſſers entgegenſetzt. Das Bedürfniß und die in der öſtlichen Hälfte des in Rede ſtehenden Landes überaus günſtigen Naturver— hältniſſe haben übrigens zur Anlage einer nicht unbedeutenden An— zahl von Waſſermühlen veranlaßt, denn im Jahre 1841 zählte man überhaupt in dem Altaiſchen oder Kolywaner Bezirke 2655 Mühlen, von denen nur 293 durch den Wind, die übrigen aber durch Waſſerkraft getrieben wurden und welche bis auf 90 den Bauern gehörten. Zu den eben genannten induſtriellen Leiſtungen der Landbewohner kommen endlich auch noch die der Frauen in den Dörfern, welche Flachs und Hanf bearbeiten, aus dem erſteren verſchiedene Arten von Leinwand und aus Schaſwolle Tuche weben und ſowohl die leinenen wie die wollenen Stoffe färben. Sie ge— brauchen dabei zur Darſtellung des Blauen den Indigo, des Grünen und Gelben zwei Pflanzen, die ſie ſelenika und ſjerpucha nennen und zum Roth- und Orangefärben die Färberröthe (Rubja tincto- rum oder R. peregrina, ruff. marjöna.)

In dem Viehſtande, den häuslichen Einrichtungen und der Klei— dung der Altaiſchen Bauern zeigt ſich ein Wohlſtand und eine Rein— lichkeit, die man in vielen Provinzen des europäiſchen Rußlands, ja ſogar in vielen Dörfern an der Straße von Woskau nach Peters— burg vermißt, auch kommt dazu faſt ohne Ausnahme bei jenen ſibi— riſchen Bauern eine ausgezeichnete Gaſtfreundſchaſt und eine anſpre— chende Einfachheit der Sitten. Der Ackerbau und die Viehzucht in dem Altaiſchen Lande verdanken ihren verhältnißmäßig blühenden Zuſtand der eigenen Einſicht der Bauern, denn wenn dieſe auch anfangs durch die Bergwerksbehörde, der ſie unterworfen worden waren, angehalten wurden, ihre Felder und die Anzahl ihrer Pferde zum mindeſten bis zu einer beſtimmten Grenze zu vermehren, ſo war es doch bald nur der vortheilhafte Abſatz ihrer Producte, der ſie veranlaßte, jene Grenze durch neue Anlagen und Unternehmungen weit zu überſchreiten. Die Frohndienſte, die ſie den Hüttenwerken zu leiſten haben, werden jährlich einer jeden von ihren Gemeinden angezeigt, innerhalb dieſer aber nach eigener Schätzung der Betroffe— nen, und daher mit vieler Billigkeit vertheilt.

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Die geſammte ländliche Bevölkerung des Altaifchen Landes war im Jahre 1839 in 40 ſogenannte Weloſti oder Aemter getheilt und man zählte in dieſen: 35 Kirchdörfer (Sela), 1254 kleinere Dörfer (derewei), 36,821 Häuſer, 6 ſteinerne Kirchen, 29 hölzerne Kirchen, 1078 Schmieden, 182,799 Desjatinen Ackerland), auf denen an Winterkorn 57,310 Tſchetwoct **) geſäet und 272,884 geerntet, und an Sommerkorn 195,353 Tſchetwort geſäet und 595,540 geerntet wurden. Gehalten wurden 259,265 Pferde, 244,023 Stücke Rind— vieh, 274,354 Schafe und 90,722 Bienenſtöcke und von den letzteren gewonnen: 11,806 Bud Honig und 2035 Pud Wachs.

Die Bauern verkauften von ihren Erzeugniſſen: an Brodkram für 496,213 Pap. Rubel, an Pferden, Rindvieh, Honig und Wachs für 789,637 Pap. Rubel und an Butter, Talg, Leder u. A. für 316,421 Pap. Rubel, zuſammen alſo für 1,602,261 Pap. Rubel, oder etwa für 14 Rubel auf eine Seele. Freilich wurden aber auch denſelben an Staats- und Gemeindeſteuern jährlich abgenommen: 1,406,868 Rubel, d. i. auf 12,53 Rubel von jeder Seele.

In den Berg- und Hüttenwerken giebt es jetzt von Unter— beamten und Arbeitern: 25,788 Männer und 19,473 Frauen. Sie werden durch Recrutirung aus dem oben erwähnten Bauernſtande ausgehoben und ſuchen daher auch die Erwerbszweige dieſes letzte— ren neben der ihnen aufgelegten Arbeit zu behaupten. Sie beſitzen faſt alle ihre eigenen Häuſer und Krautgärten, auch halten ſie Pferde, Kühe, Schafe und Geflügel.

Am begütertſten unter ihnen ſind jedoch die ganz oder theil— weiſe Verabſchiedeten, indem dieſe ihre wiedergewonnene Muße auf Vervollkommnung ihrer Wirthſchaften verwenden und demnächſt die Bewohner des Loktjewer und Smeinogorsker Hüttenbezirks. Dieſe letzteren halten vicle Pferde, die ſie zu Kohlen- und Erzfuhren vermiethen: namentlich zur Zeit der Heuernte, wo von den Bauern Pferde, zu deren Stellung ſie verpflichtet ſind, nicht entbehrt werden können. Die Gruben- und Hüttenarbeiter eines jeden Ortes bil— den 3 Abtheilungen, von denen, je eine Woche lang, die eine wäh—

*) Eine Desjatine = 4,28 preuß. Morgen. ) Ein Tſchetwort = 3,82 preuß. Scheffel. III. 14

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rend 12 Tagesſtunden, die zweite während der übrigen Nachtſtunden beſchäſtigt und die dritte ganz frei iſt. Seit der Einführung dieſer ſogenannten Freiwoche dürfen die Feier- und Sonntage von jenen Arbeitern nicht mehr beachtet werden und dieſe Einrichtung iſt ſowohl für die Regierung als für die Betroffenen vortheilhaft, weil die ruſſiſchen Feiertage ebenfalls ein Drittheil des Jahres ausma— chen die zu längeren Abſchnitten vereinigte Zeit aber beſſer zu benutzen iſt als die zerſplitterte. Die Feiertage werden jetzt nur noch von den Zimmerleuten, Schmieden und ähnlichen Hülfsarbeitern, welche keine Freiwoche haben, gehalten. Von einigen Hüttenarbei- tern und beſonders von denen des Loktjewer und Smeinogorsker Kreiſes werden noch Ackerbau, Fiſchfang, Bienenzucht, die Jagd der Pelzthiere, ſowie auch die Bearbeitung des Hanfes, der Wolle und des Leders betrieben. Sie befriedigen aber damit nur die eigenen Bedürfniſſe, ohne es bis zum Verkauf der oben genannten Producte zu bringen. Sie haben daher nur ſelten einiges Geld und empfinden noch mehr als die Bauern den Wangel deſſelben und die daraus folgende Entbehrung gewiſſer faſt unerläßlicher Bedürfniſſe. Dahin gehören namentlich auch die Buchariſchen bjaſi und daby d. h. grobe baumwollene Stoffe, welche jährlich von den Weſſen nach dem Altai gebracht werden und die kirgiſiſchen Armjaki oder Ober— kleider aus Kameelgarn. 5

Ein Theil der Hüttenarbeiter wird, anſtatt zu gewöhnlichen Leiſtungen, zu gewiſſen Handwerken angehalten und zu dieſem Ende den ſogenannten Zechi oder Zünften zugetheilt. Es gehören dazu die Schmiede, Schloſſer, Tiſchler oder Zimmerleute, Gerber, Talgſchmelzer, Glaſer und einige andre, die für die Bergwerks- und Hüttenbedürfniſſe, ſowie auch, wiewohl zu geringerem Theile, gegen Bezahlung für die Bedürfniſſe der Beamten zu ſorgen haben, und welche in Folge einer zweckmäßigen Theilung der Arbeit höchſt preiswürdige Erzeugniſſe liefern. Zu den Handwerkern gehören auch noch die Gemeinen und Unteroffizieee des ſogenannten 10. ſibi— riſchen Linien-Bataillons, die aus demſelben Verabſchiedeten und an— dre Unterbeamte, welche direct von der Bergwerksbehörde abhan— gen. Es giebt davon namentlich 6061 Männer und 6123 Frauen,

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welche in ihrer Beſchäſtigung und Lebensart mit den eigentlichen Handwerkern durchaus übereinkommen.

Von den Jaſak- oder tributpflichtigen Urbewohnern giebt es in der Oſthälfte des Altaiſchen Bezirks mehrere anſäſſige Stämme. Sie ſind theils mongoliſchen theils türkiſchen Urſprungs und hielten ſich ehemals, dieſem Umſtande gemäß, ſo ſtreng von einander ge— trennt, wie man es noch jetzt aus den geographiſchen Benennungen, ſowie aus der Phyſiognomie, der Sprache, und den Gebräuchen dieſer Leute erſieht. In frühern Zeiten war jene Gegend weit ſtär— ker bevölkert, auch beſaßen ihre Bewohner eine beträchtliche Bildung und waren in der Gewinnung der Wetalle und noch in manchen andern Künſten geſchickt.

Man nennt jetzt die türkiſchen Stämme meiſt Tataren und die Mongolen Kalmüken oder auch doppelt-zahlende Türken, weil ſie zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, als ſie den Ruſſen tribut— pflichtig wurden, auch noch fortfuhren, den Sjunguriſchen Chanen zu bezahlen, denen ſie bis dahin gehorcht hatten.

Zu den Fremdſtämmigen oder Urbewohnern des Altaiſchen Be— zirkes werden auch die ſogenannten Felſenbewohner oder Kamenſch— tſchiki (von Kamen d. i. Stein oder Fels) gerechnet, die in den unzugänglichen Schluchten des Altai leben. Obwohl Ruſſen von Abkunft, wie in Sprache, Glauben und Sitten, mußten ſie doch ehemals, gleich den eingebornen Völkerſchaften, den Jaſak oder einen Tribut an Pelzwerk und Fellen entrichten, der jetzt durch einen un— bedeutenden Obrok (Erbzins) erſetzt worden iſt. Sie ſtammen von ruſſiſchen Flüchtlingen und Sektirern ab, deren Einwanderung un— ter folgenden Umſtänden ſtattfand.

Faſt die ganze ſüdliche Hälfte der Statthalterſchaft Tomsk ge— hört heutzutage, mit Ausnahme der Steppenländer am rechten Ufer des Irtyſch, zum Gebiet der Bergwerke von Kolywan-Woskreſſensk; aber in früheren Zeiten hieß dieſer weite Landſtrich Bjelowodje (wörtlich ein Land mit weißen Waſſern), was ein freies an Natur- producten reiches und zur Anſiedelung geeignetes Territorium be— deutet. Zu Anfang des letzten Jahrhunderts, als außer Kusnezk hier noch keine einzige Stadt exiſtirte, wanderten daher ganze Schaa— ren von Leuten aus nördlichen Provinzen Rußlands nach dieſen

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Gegenden aus einige, um ihren Verpflichtungen zu entgehen, an— dere aus Furcht vor Strafe, die meiſten, um ein unabhängiges Leben zu führen und ſich durch den zollfreien Handel mit den Eingebornen zu bereichern.

Ihre erſten Viederlaſſungen wurden, zur Sicherung gegen die Einfälle der Tataren und Kalmüken, in den dichten unzugänglichen Wäldern des Kusnezker Bezirks angelegt, wo die ſogenannten Ras— kolniks (Sectirer) ihre Klauſen und Einſiedeleien erbauten, in denen ſie, von fanatiſchem Eifer getrieben, ſich mitunter ſelbſt verbrannten. Nach Errichtung der Irtyſchen Linie (1719), einer Reihe von Forts und Stationen, die ſich von Omsk bis Uſtkamenogorsk erſtrecken, und nach Gründung der Hüttenwerke von Kolywan-Woskreſſensk breitete ſich die ruſſiſche Herrſchaft allmälig in dieſen Gegenden aus. Die Bevölkerung vermehrte ſich beſonders ſeit der Zeit, als durch kaiſerlichen Ukas vom 1. Mai 1761 die Linie von Kolywan nach Kusnezk gezogen wurde, die aus mehreren Poſten und Feſtungen beſteht und das Land gegen alle feindlichen Einfälle ſichert. Hier— mit verlor aber auch der Diftrict in der Volksmeinung die Bedeu: tung eines freien Landes. Der größte Theil der aus andern Provinzen des Reiches Eingewanderten wurde bei der dritten Revi— ſion oder Volkszählung (im Jahre 1764) mit eingeſchloſſen und zu den Bergwerksarbeiten verwendet, weshalb der Name Bjelowodje auf den Flächenraum überging, der jenſeits der Kolywaner und Kusnezker Linie, nach der chineſiſchen Grenze zu, liegt und der ihn noch heutigen Tages führt.

Die Pelzjäger (Promyſchlenniks), die ſchon weit früher da— hin gekommen waren, bahnten ſich den Weg in die unwirthbaren Bergpäſſe des Altai. Nach ihren Dörfern zurückgekehrt, verbreiteten ſie die Kunde von einer Region, die an Allem Ueberfluß habe, was zum menſchlichen Leben erforderlich iſt, und fanden begierige Zuhö— rer an Leuten, die ſich nach ihrer frühern ungebundenen Exi— ſtenz ſehnten. Die Raskolniks, die zu verſchiedenen Sekten oder Tolki gehörten, unter welchen die Doppeltäufer und Bilder— ſtürmer genannt werden, fingen zuerſt an, nach Bjelowodje oder zum Felſen (w'kamen) auszuziehen, indem ſie den Pelzjägern folgten, die nicht ſelten ihre Glaubensgenoſſen waren. Das Beifpiel

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der Naskolnife ahmten viele Bauern, Handwerker und andre Indie viduen orthodoxer Religion nach, die ſich in die Berge flüchteten, um den Winen-Arbriten und Frohndienſten auszuweichen, und hier nach und nach mehrere Gemeinden bildeten.

Die Kamenſchtſchiks, wie man dieſe Auswanderer zu nennen begann, richteten ihre Thätigkeit hauptſächlich auf die Jagd und den Fiſchfang, ohne jedoch den Ackerbau zu vernachläſſigen. Einen leb— haften Tauſchhandel führten ſie mit den Chineſen, von denen ſie für ihre Zobel-, Dtter-, Biber- und andere Felle Stangenſilber, ſei— dene und baumwollene Stoffe, Wolle u. dgl. m. erhielten. Wit den Kirgis⸗Kaiſaken und den mit ihnen nomadiſirenden Kaufleuten ſtan— den ſie gleichfalls in Handelsverhältniſſen. An Sonn- und Feſtta— gen pflegten ſich ſämmtliche Bewohner eines Dorfes zum gemein— ſchaftlichen Gebet in einem dazu beſtimmten Haufe zu verſammeln. Der Gottesdienſt währte mehrere Stunden, aber ohne öffentlichen Vortrag oder Lectüre der heiligen Bücher; Jeder, der Gebete wußte, ſagte ſie ſtill vor ſich her. Da ſie weder Kirchen noch Geiſtliche hatten, ſo mußten alle religiöſen Ceremonien wegfallen. Durch Gleichheit des Schickſals zuſammengekettet, von der Geſellſchaft aus— geſtoßen, bildeten die Kamenſchtſchiks eine Verbrüderung, die einige der lobenswertheſten Charakterzüge des ruſſiſchen Volkes in ſich be— wahrte; ſie waren treue Gefährten, ſtets zu wechſelſeitigen Dienſt— leiſtungen bereit und gegen die Armen mildthätig, die ſie mit Le— bensmitteln, Saamen zur Ausſaat und Ackerbau-Werkzeugen unter— ſtützten. Was ihre innere Verwaltung betrifft, ſo war dieſe völlig demokratiſch; fie kannten weder Befehlshaber noch beſtimmte Ver— pflichtungen, obwohl ſie ihren „beſten Leuten“ eine gewiſſe Autori— tät einräumten. Bei allen für die kleine Republik wichtigen An— läſſen verſammelten ſich die Einwohner der verſchiedenen Dörfer zu gemeinſchaftlichen Berathungen, die in der Regel nach dem Aus— ſpruch der „beſten Leute“ entſchieden wurden. Beging Jemand ein Verbrechen einen Diebſtahl z. B. ſo verfügten ſich die „beſten Leute“ auf die Anzeige des Klägers in die Wohnung des Schuldi— gen, wo ſie die Sache unterſuchten und nöthigenfalls die gebührende Strafe auferlegten; der Deliquent wurde nach Maßgabe ſeines Ver— gehend mit Ruthen- oder mit Stockſchlägen gezüchtigt.

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So lebten die Kamenſchtſchiks eine zeitlang fort, bis gegen das Jahr 1788 große Unordnungen unter ihnen einriſſen. Durch das Betragen eines ſchon zu wiederholten Walen beſtraften Ver— brechers aufgebracht, ließen ſie ein Gericht über ihn ergehen und verurtheilten ihn, mit zuſammengeſchmiedeten Füßen auf ein Floß geſetzt und der Willkühr des Stromes übergeben zu werden. Aber trotz dieſer und ähnlicher Strafen vermochte man nicht die Ruhe wieder herzuſtellen; ein dreijähriger Wißwachs vollendete die Noth der unglücklichen Kamenſchtſchiks, die endlich ihre Behauſun— gen verließen, ſich der chineſiſchen Grenze näherten und den Schutz des Bogdochans anflehten. Von dieſem zurückgewieſen, blieb ihnen nichts übrig, als ſich den ruſſiſchen Behörden zu unterwerfen, wozu ſie um ſo mehr geneigt waren, als ſich manche von ihnen durch die Ausſchließung von der vaterländiſchen Kirche in ihrem Gewiſſen beunruhigt fühlten, und die beabſichtigte Errichtung einer neuen Feſtungslinie im Kreiſe von Buchtarminsk ohnehin ihrer Unabhän— gigkeit ein Ende zu machen drohte. In einer allgemeinen Verſamm— lung beſchloſſen daher die Kamenſchtſchiks, einen „klugen Mann“ nach Barnaul zu ſchicken, um ihnen Begnadigung auszuwirken und die Regierung zu bewegen, ſie gegen Entrichtung des Jaſak in ihren bisherigen Wohnſitzen zu laſſen. Indeſſen widerſetzten ſich die Ael— teſten und „beſten Leute“ noch immer dieſem Vorhaben, und erſt im Herbſt 1790, als die Hüttenverwaltung eine Parthie Bergleute zur Anſchürfung der Altaiſchen Gruben abfertigte, erſchien bei dem Steiger Prijeſchew eine Deputation mit dem ſchon erwähnten An— liegen, worauf im Jahre 1791 die kaiſerliche Entſcheidung durch einen Ukas an den General-Gouverneur von Sibirien erfolgte. Sie fiel zu Gunſten der Kamenſchtſchiks aus, die von dieſer Zeit an von neuem in den Unterthanenverband des ruſſiſchen Reiches traten. Ihre Zahl ward damals zu 273 Perſonen beiderlei Geſchlechts an— gegeben, ohne Zweifel war ſie aber größer, da ſie nicht weniger als 30 Niederlaffungen inne hatten. Heutzutage bewohnen ihre Nadye kommen (im Jahre 1839, 326 Wänner und 304 Frauen) 23 Dörfer, die an den Flüßchen liegen, welche von der rechten Seite in die Buchtarma fallen; einige von den Dörfern zählen gegen 30 Häuſer. Bald nach ihrer Begnadigung wurden die Kamenſchtſchiks mit einem

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Jaſak belegt, der fih auf 3 Rubel, 30 Kopeken für den Kopf be— lief; ſeit 1824 zahlen ſie jedoch wie die andern Völkerſchaften die— ſer Region, einen Obrok von 8 Rubel Aſſ. Sie beſchäſtigen ſich mit der Jagd und dem Fiſchfang, mit Ackerbau und Bienenzucht und be— ſitzen viele Pferde, Rinder und Schafe. In ihrem Gebiete befinden ſich jetzt die reichen Silber- und Bleiminen Syränowsk, Krukowsk, Riddersk u. a. m., und weite Strecken fruchtbaren, aber unbewohn— ten Landes harren noch der fleißigen Hände, welche ihren jung— fräulichen Boden anbauen und die in ſeinem Innern verborgenen Schätze ans Licht ziehen ſollen.

Die fogenannten Dwojedanzy oder Doppelzahler (6085 Män— ner und 5354 Frauen), welche 14 Geſchlechter oder Gemeinden bil— den und 2310 Jurten bewohnen, beſchäſtigen ſich vorzugsweiſe mit der Jagd; ebenſo die Tataren (2806 Männer und 2238 Frauen), die in 1095 Jurten wohnen und in 17 Gemeinden unterſchieden werden.

Die Altaiſchen Kalmüken und Tataren führen, wie viele Volks— ſtämme unter gleichen Verhältniſſen, ein einfaches Leben. Ihre Be— dürfniſſe beſchränken ſich auf den Beſitz einer Woilok-Jurte, der gehörigen Menge von Stuten- und Schaffleiſch und ihrer aus Fel— len gemachten Kleidung. Zu höherem Glücke gehören aber ſodann bei ihnen nur einige kleine Heerden, die zur Jagd nothwendigen Waffen und Geräthe und eine hinreichende Wenge von Kumiß.

Das Heer der ſogenannten ſibiriſchen Linien-Koſaken nahm ſeinen Urſprung im Jahre 1716, zugleich mit Feſtungen und Wacht— poſten am Irtyſch. Beide Einrichtungen wurden durch die Expe— ditionen veranlaßt, welche Peter I. im Jahre 1715 unter der Lei— tung des Oberſt Buchſalz nach dem Saiſan-See abſchickte, ſo wie durch die in den Jahren 1717 und 1719 unter Stupin und Ge— neral Licharew unternommenen Expeditionen zur Aufſuchung von Gold in Wittelaſien an den Flüſſen Amu und Syr. 1725 wur⸗ den 5 Feſtungen mit 782 Koſaken, die unter einem Lieutenant und einem Pjatidesjatnik ſtanden, bemannt, und dieſer Stamm wurde demnächſt durch Leute, die aus den ſibiriſchen Städten zu ihnen geſchickt wurden, vergrößert. Nach dem letzten Kriege der Chineſen gegen die Dſungariſchen Kalmüken, der im Jahre 1757 mit voll-

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ſtändiger Ausrottung der letztern endete, vermehrte ſich das ge nannte Heer durch einige doniſche Koſaken, Baſchkiren und Weſcht— ſcherjaken, die zur Verſtärkung der Feſtungen und Redouten komman— dirt wurden. Dieſe fanden die dortige Gegend ſo einladend, daß ſie nach ihrem eignen Wunſche daſelbſt blieben und ſich Häuſer bauten. 1770 kamen zu ihnen 138 ſogenannte Saporoger (d. i. Bewohner des am Dnicpr jenſeits der Waſſerfälle gelegenen Lan— des), welche wegen Zerſtörung einer polniſchen Stadt nach Sibi— rien verbannt wurden, und 1775 und 1776 einige Männer, die zur Anſiedlung verbannt waren und aus eigner Wah' in den Koſaken— dienſt traten; auch wurden ferner 1797 bis 1799 2000 Knaben, die Söhne verabſchiedeter Soldaten, aus dem Tomsker Gouvernement, derſelben Heeresabtheilung überwieſen und einverleibt. Wan zählte demgemäß im Jahre 1808 bereis 6117 Männer zu den dortigen Kofafen. Sie wurden damals in 10 Regimenter zu je 500 Wann mit 47 Unteroffizieren und 3 Offizieren und 2 reitende Artillerie— Regimenter vertheilt.

Zu Anfang des Jahres 1842 gab es dagegen an ſogenannten Linien-Koſaken 24,734 Männer und 23,597 Frauen, welche auf einer Strecke von 2000 Werſt in 85 Redouten und Vorpoſten wohn— ten. Von dieſer liegen 13 Wachtpoſten und 22 Redouten mit 20,000 Bewohnern beiderlei Geſchlechts in dem Gebirgsbezirke. In Folge der günſtigen Beſchaffenheit ihrer Wohnorte, halten dieſe Koſaken ſehr viele Pferde, Rinder und Schafe. Sie bauen viele Arten von Wehlfrüchten und unter andern den chineſiſchen Weizen, der ſich durch die Größe ſeiner Körner und durch ſein ungewöhnlich weißes An— ſehen auszeichnet. Sie bauen außerdem verſchiedenes Gemüſe, ſo— wie auch Arbuſen, Welonen und Tabak, von dem eine Art, die man in dem Baraſchewer Wachtpoſten zubereitet, weithin berühmt und beliebt iſt. Sie treiben außerdem Bienenwirthſchaft und fan- gen in dem Irtyſch und in den Flüſſen an der Kusnezcker und Ko— lywaner Linie viele Lachſe und andere Fiſche. Ihre Producte ver— kaufen ſie großentheils an die Kirgiſen und andere Urbewohner, brin— gen aber auch geſalzene Lachſe, Caviar und Arbuſen nach den nächſt— gelegenem Hüttenorten. Man bemerkt an ihren Häuſern noch eine eigenthümliche architektoniſche Sorgfalt und namentlich ſehr gelun—

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genes Schnitzwerk an den Giebeln und über den Thüren und Fen— ſtern der Vorderwände, auch empfehlen ſich ihre Zimmer ſtets durch die größte Reinlichkeit. Faſt alle Koſaken können leſen und ſchrei— ben, und halten in vielen Beziehungen, beſonders aber in der aus— geſuchten Kleidung ihrer Frauen, auf ein empfehlendes Aeußere. Ihre ſchöne Körperbildung, ihren Hang zur Tapferkeit und viele andre gute Eigenſchaften verdanken ſie offenbar ihrer Abſtammung von den Saporogern und doniſchen Koſaken, für die man auch in Wendungen und Formen der dortigen Sprache noch viele Beweiſe findet.

Der Ackerbau wird ohne jede Düngung betrieben. Wegen der Fruchtbarkeit des Bodens befriedigt er aber dennoch ſowohl das Bedürfniß der Bauern, als auch der zu den Hütten gehörigen unmili— täriſchen Bevölkerung, für welche das Korn in Magazinen aufbewahrt wird. Bis zu der um 1830 erfolgten Aufnahme der Goldwäſchen in dem Tomsker und Jeniſeisker Regierungsbezirk waren die Korn— preiſe ſo niedrig, daß ſie die Arbeit der Bauern kaum belohnten, und in Folge dieſes Umſtandes gewann auch der Ackerbau nur eine ſehr geringe Ausdehnung. Die genannten Kornſpeicher konnten nur eben gefüllt werden, und nach jedem Wißwachs erfolgte ein ganz außerordentliches Steigen der Kornpreiſe, ſo z. B. für das Pud Roggenmehl 0,8 bis 0/8 Papier-Rubel auf 2,30 Papier-Rubel.

In den ſogenannten ogorody oder Krautgärten gewinnen die Bewohner der Hüttenörter und der Grenzfeſtungen eine große An— zahl von Rübenarten und außerdem Gurken und Kürbis, ſowie auch Arbuſen und Melonen in der Weſthälfte des Bezirkes. Dazu kommt noch der Tabak und die Kartoffeln, die man aber, ihres großen Nutzens ungeachtet, nur wenig anpflanzt.

Bei den eigentlichen Bauern und bei allen Altgläubigen oder Ras— kolniki herrſcht nämlich ein noch unüberwundenes Vorurtheil gegen die beiden letzten Gewächſe, von denen ſie ſagen, ſie ſeien verflucht und aus dem Leibe des Judas hervorgewachſen. Selbſt im europäiſchen Rußland wurden die Kartoffeln bis vor kurzem von den Bauern, auf Antrieb der Geiſtlichkeit, für Teufelseier ausgegeben und verabſcheut.

Die Viehzucht wird überall in dem Altaiſchen Bezirke durch

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vortreffliche Weiden begünſtigt. Wan ſchätzt die Pferde, die jetzt in denſelben gehalten werden, auf 450,000 Stück und den Werth eines jeden zum mindeſten auf 50 Papier-Rubel. Sie ſind wie überall in Sibirien, außerordentlich dauerhaft und vortreffliche Traber. Bei den Bauern bekommen ſie ſelbſt während der ſtärkſten Arbeit nur ſehr ſelten Hafer, ſondern begnügen ſich im Sommer mit Gras und im Winter mit Heu. Am Tſcharyſch und am Alei find die von den Bauern gehaltenen Pferdeheerden zu groß, um mit Heu verſorgt werden zu können. Wan läßt ſie daher auch im Winter über ſich in der Steppe mit Gräſern nähren, die ſie unter dem Schnee hervorſcharren. An mehreren Orten halten die Landleute, die Bür— ger und die Beamten außer den Arbeitspferden auch Rennpferde, beſonders im Loktjewer und Smeinogorsker Kreiſe, wo im Winter viele Wettrennen gehalten und dabei Strecken von 5 bis zu 30 Werſt zurückgelegt werden.

Die Bauern des Altaiſchen Gebirgslandes ziehen auch aus dem Pferdehandel mit den benachbarten Gouvernements nichts unbeträcht— lichen Vortheil, indem ihnen die Unterhaltung bis zum Verkauf außerordentlich wenig koſtet. Vachtheilig iſt bei dieſem Geſchäſt fait nur die ſibiriſche Peſt, an welcher in vielen Jahren, beſonders in feuchten Niederungen, mehr als zehntauſend Pferde ſtarben.

Die Zahl der Rinder iſt, weil dieſe eine ſorgfältigere Aufſicht und die Heubereitung für den Winter fordern, etwas geringer als die der Pferde. Sie gehören zu der gewöhnlichen ruſſiſchen Race und ſind meiſt von mittlerer Größe. Die Bauern und auch ein Theil der Städter ziehen aus der Wilchwirthſchaft bedeutenden Vortheil, und das Schlachtvieh wird theils von den erſteren, theils von den ſagaiſchen Tataren, die an den Quellen des Jeniſei und des Abakan wohnten, geliefert.

Von den Rindshäuten werden viele von den Bauern ſelbſt ver— arbeitet, die übrigen aber von den Verwaltern der Hüttenwerke auf— gekauft und unter ihrer Leitung zu Pferdegeſchirren, Waſchinenthei⸗ len und Fußbekleidungen für die Arbeiter verwendet. Der Talg und die Butter werden zu beträchtlichen Theilen in die angrenzenden Regierungsbezirke und namentlich in den Irkuzker ausgeführt.

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Im Jahre 1840 betrug der Verkaufspreis einer Kuh durchſchnittlich etwa 25 Papier-Rubel.

Schafe von dem gewöhnlichen ruſſiſchen Schlage werden von den Bauern in großen Heerden, von den Städtern aber ſeltener ge— halten während man bei den Kalmüken und den Grenz-Koſaken ſogenannte kirgiſiſche Schafe findet, die ſich durch hohen Wuchs und den ſogenannten Kurdjuk oder Fettſchwanz auszeichnen. Ihre Wolle iſt grob und nur zur Filzbereitung tauglich. Die Zucht derſelben iſt dennoch ſehr vortheilhaft, weil ſie außerordentlich viel Talg ge— ben und namentlich 15 Pfund von jedem Schwanz. Sie liefern außerdem ſehr ſchmackhaftes Fleiſch, mit dem auf der Grenze ein beträchtlicher Handel getrieben wird. Aus der Wolle der ruſſiſchen Race wird grobes Tuch zur Bekleidung der Bauern und Hütten— arbeiter, ſowie auch eine Art gemuſterter Woiloks gemacht, doch verwendet man die meiſten Felle zu Pelzen, welche bei weitem die vorherrſchende Bekleidung der dortigen Bevölkerung ausmachen. Zu dieſem Zwecke iſt ſogar die ganze ruſſiſche Schafszucht in den Altaiſchen Bezirken nicht ausreichend, und es werden vielmehr jähr— lich Schaf⸗ und Lämmerfelle, ſowie auch aus denſelben gearbeitete Pelze in großer Wenge von den Kirgiſen und anderen Altaiſchen Urbewohnern, die am linken Ufer des Irtyſch nomadiſiren, gekauft.

Die Ziegen, die an vielen Orten in geringer Zahl gehalten werden, bleiben meiſt ganz unbenutzt, obgleich ſie reichlich mit dem bekannten werthvollen Flaum oder Wollhaar verſehen ſind. In Barnaul und in den andern Hüttenorten wird dieſes Haar mit eiſer— nen Kämmen zur Zeit des Rauhens ausgekämmt und zu Halstü— chern, Handſchuhen und Strümpfen mit ſo großem Vortheile ver— ſtrickt, daß eine allgemeine Verbreitung dieſer faſt koſtenfreien Indu— ſtrie ſehr wünſchenswerth erſcheint. Ebenſo wäre auch eine größere Ausdehnung der Schweinezucht vortheilhaft, die ſchon jetzt von vie— len Bauern betrieben wird, ſowohl wegen des Fleiſches, welches je— doch nur zu ihrem eigenen Bedarfe ausreicht, als auch um die Bor— ſten zu verkaufen, die jetzt zu Bürſten für die Goldwäſcher verar— beitet und daher ſtark geſucht werden. Wan entläßt dieſe Schweine den Sommer über in die in der Nähe der Dörfer gelegene Wal— dung, in der ſie dann, namentlich an den Flußufern und andern

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vortreffliche Weiden begünſtigt. Wan ſchätzt die Pferde, die jetzt in denſelben gehalten werden, auf 450,000 Stück und den Werth eines jeden zum mindeften auf 50 Papier-Rubel. Sie find wie überall in Sibirien, außerordentlich dauerhaft und vortreffliche Traber. Bei den Bauern bekommen ſie ſelbſt während der ſtärkſten Arbeit nur ſehr ſelten Hafer, ſondern begnügen ſich im Sommer mit Gras und im Winter mit Heu. Am Tſcharyſch und am Alei find die von den Bauern gehaltenen Pferdeheerden zu groß, um mit Heu verſorgt werden zu können. Wan läßt ſie daher auch im Winter über ſich in der Steppe mit Gräſern nähren, die ſie unter dem Schnee hervorſcharren. An mehreren Orten halten die Landleute, die Bür— ger und die Beamten außer den Arbeitöpferden auch Rennpferde, beſonders im Loktjewer und Smeinogorsker Kreiſe, wo im Winter viele Wettrennen gehalten und dabei Strecken von 5 bis zu 30 Werſt zurückgelegt werden.

Die Bauern des Altaiſchen Gebirgslandes ziehen auch aus dem Pferdehandel mit den benachbarten Gouvernements nichts unbeträcht— lichen Vortheil, indem ihnen die Unterhaltung bis zum Verkauf außerordentlich wenig koſtet. Vachtheilig iſt bei dieſem Geſchäft faſt nur die ſibiriſche Peſt, an welcher in vielen Jahren, beſonders in feuchten Niederungen, mehr als zehntauſend Pferde ſtarben.

Die Zahl der Rinder iſt, weil dieſe eine ſorgfältigere Aufſicht und die Heubereitung für den Winter fordern, etwas geringer als die der Pferde. Sie gehören zu der gewöhnlichen ruſſiſchen Race und ſind meiſt von mittlerer Größe. Die Bauern und auch ein Theil der Städter ziehen aus der Wilchwirthſchaft bedeutenden Vortheil, und das Schlachtvieh wird theils von den erſteren, theils von den ſagaiſchen Tataren, die an den Quellen des Jeniſei und des Abakan wohnten, geliefert.

Von den Rindshäuten werden viele von den Bauern ſelbſt ver— arbeitet, die übrigen aber von den Verwaltern der Hüttenwerke auf— gekauft und unter ihrer Leitung zu Pferdegeſchirren, Maſchinenthei— len und Fußbekleidungen für die Arbeiter verwendet. Der Talg und die Butter werden zu beträchtlichen Theilen in die angrenzenden Regierungsbezirke und namentlich in den Irkuzker ausgeführt.

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Im Jahre 1840 betrug der Verkaufspreis einer Kuh durchſchnittlich etwa 25 Papier-Rubel.

Schafe von dem gewöhnlichen ruſſiſchen Schlage werden von den Bauern in großen Heerden, von den Städtern aber ſeltener ge— halten während man bei den Kalmüken und den Grenz-Koſaken ſogenannte kirgiſiſche Schafe findet, die ſich durch hohen Wuchs und den ſogenannten Kurdjuk oder Fettſchwanz auszeichnen. Ihre Wolle iſt grob und nur zur Filzbereitung tauglich. Die Zucht derſelben iſt dennoch ſehr vortheilhaft, weil ſie außerordentlich viel Talg ge— ben und namentlich 15 Pfund von jedem Schwanz. Sie liefern außerdem ſehr ſchmackhaftes Fleiſch, mit dem auf der Grenze ein beträchtlicher Handel getrieben wird. Aus der Wolle der ruſſiſchen Race wird grobes Tuch zur Bekleidung der Bauern und Hütten— arbeiter, ſowie auch eine Art gemuſterter Woiloks gemacht, doch verwendet man die meiſten Felle zu Pelzen, welche bei weitem die vorherrſchende Bekleidung der dortigen Bevölkerung ausmachen. Zu dieſem Zwecke iſt ſogar die ganze ruſſiſche Schafszucht in den Altaiſchen Bezirken nicht ausreichend, und es werden vielmehr jähr— lich Schaf⸗ und Lämmerfelle, ſowie auch aus denſelben gearbeitete Pelze in großer Menge von den Kirgiſen und anderen Altaiſchen Urbewohnern, die am linken Ufer des Irtyſch nomadiſiren, gekauft.

Die Ziegen, die an vielen Orten in geringer Zahl gehalten werden, bleiben meiſt ganz unbenutzt, obgleich ſie reichlich mit dem bekannten werthvollen Flaum oder Wollhaar verſehen ſind. In Barnaul und in den andern Hüttenorten wird dieſes Haar mit eiſer— nen Kämmen zur Zeit des Rauhens ausgekämmt und zu Halstü⸗ chern, Handſchuhen und Strümpfen mit ſo großem Vortheile ver— ſtrickt, daß eine allgemeine Verbreitung dieſer faſt koſtenfreien Indu— ſtrie ſehr wünſchenswerth erſcheint. Ebenſo wäre auch eine größere Ausdehnung der Schweinezucht vortheilhaft, die ſchon jetzt von vie— len Bauern betrieben wird, ſowohl wegen des Fleiſches, welches je— doch nur zu ihrem eigenen Bedarfe ausreicht, als auch um die Bor— ſten zu verkaufen, die jetzt zu Bürſten für die Goldwäſcher verar— beitet und daher ſtark geſucht werden. Man entläßt dieſe Schweine den Sommer über in die in der Nähe der Dörfer gelegene Wal— dung, in der ſie dann, namentlich an den Flußufern und andern

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landesübliche Bekleidung ausmachen, wird faft alles auf dieſe Weiſe gewonnene Pelzwerk nach den ruſſiſchen Meſſen ausgeführt.

Die Fiſcherei hat in dem Altaiſchen Lande bei weitem nicht die Ausdehnung, deren ſie fähig iſt, erlangt. Sie wird in der ge— birgigen Hälfte deſſelben meiſt nur für das cigne Bedürfniß und ſo— mit nur von Wenigen als ausſchließliches Gewerbe betrieben; man findet daher nur zu Barnaul und in einigen Hüttenorten auf den Wärkten friſche Fiſche, neben den geſalzenen Rothfiſchen und den getrockneten Karauſchen und Velmlachſen. Am ergiebigſten iſt der Fang der im Irtyſch oberhalb der Buchtarminsker Feſtung und im Seiſan von Grenzkoſaken, von Altaiſchen Kamenſchtſchiks, von Bauern aus den zunächſt am Irtyſch gelegenen Dörfern und von einigen verabſchiedeten Hüttenarbeitern betrieben wird. Wan fängt daſelbſt an den ſogenannten Rybalki oder zur Fiſcherei geeigneten Stellen Störe, Sterledde, Nelmlachſe und einige andre Fiſche. Die Störe des Irtyſch ſind aber durch ihre Größe und den Wohlgeſchmack ihres Fleiſches vor denen der meiſten andern Flüſſe ausgezeichnet, und deshalb überall in dem Gebirgsdiſtricte begehrt. Bei der dor— tigen Fiſcherei werden theils Netze, theils ſogenannte Somolowi, d. h. Selbſtfänge, gebraucht. Nächſt dieſen eben genannten Fiſchſtellen find die im See Tſchany, deſſen Oſthälfte den Altaiſchen Hüttenorten gehört, in den Burlinsker und Kulundinsker Seen und in dem Ob berühmt. In den Seen werden vorzüglich Karauſchen und außer— dem in geringerer Menge Hechte, Barſche und andre mehr gefangen. Die Karauſchen ſind in dem Tſchany am größten, während die Bur— linöfer für die ſchmackhafteſten gelten. Wan fängt fie meiſtens, und zwar ſowohl im Sommer wie im Winter, mit Netzen. Sie werden den Sommer über an der Luft getrocknet, zu je zweien auf Stäbe gezogen und hundertweiſe in den verſchiedenen Hüttenorten feilgeboten. In dieſem Zuſtande halten ſie ſich, namentlich im Som— mer, ſehr lange unverdorben und bilden deshalb für die Bauern und Hüttenarbeiter ein ebenſo wichtiges Nahrungsmittel, wie der Stock— fiſch für die Bewohner des nördlichen europäiſchen Rußlands.

Auf eben dieſe Weiſe werden auch Hechte, Plötzen und Bar— ben getrocknet. Im Ob fängt man Sterledde und Störe den Som- mer über in Selbſtfängen, im Winter aber in ihren Ruheplätzen

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mit Angelſchnüren, die mit einem Bleigewicht und mit vielen Haken verſehen, durch Wuhnen unter das Eis gehängt werden auch gebraucht man außerdem, ſowohl in den Seen als in den Flüſſen, Handangeln, Reuſen, Fiſchkörbe und die ſogenannten Kortſchagi, d. h. etwa Tröge und Sajeski oder Einfahrten. Die Reuſen werden vorzüglich im Frühjahre angewendet. Sie ſind aus Wei— denruthen geflochten, haben an der Mündung bis 7 Fuß im Durch— meſſer und werden am Ufer ausgelegt. Die Fiſchkörbe und Kort— ſchagi verſenkt man dagegen mittelſt angebundener Steine an tiefen Stellen, nachdem man ihre Mündung mit einem dicken Teige aus Roggenkleie beſtrichen hat. Sie füllen ſich mit Hechten, Barſchen, Kaulbarſchen, Quappen und vorzüglich mit Barben. Eine ſoge— nannte Einfahrt (ſajeſok) beſteht aus einer ziemlich weitläufigen Flechtwand, welche quer durch den Fluß gezogen und in angemeſ— ſenen Entfernungen mit länglichen Oeffnungen verſehen iſt. Vor dieſe werden mittelſt daran befeſtigter Stangen Fiſchkörbe, auf den Grund des Fluſſes gelegt, die über ihnen befindlichen Theile der Oeffnung aber mit einer gleichfalls geflochtenen und mit dünnen Holzſcheiten verdichteten Klappe verſchloſſen. Gegen das Ende des Sommers und im Herbſte werden außerdem in dunklen Nächten Hechte, Taimeni, Plötzen und Quappen aus Kähnen mit Speeren geſtochen, indem man auf einem eiſernen Roſte (der ſogenannten Koſa) in dem Vordertheil des Fahrzeugs ein Feuer aus kleinen harzigen Stücken von fichtenen Wurzelenden unterhält, auch werden im Winter ſogenannte jerlizy ausgehängt, d. h. ſtarke Angelhaken, an denen kleine Barben als Köder befeſtigt ſind. Man fängt an dieſen große Quappen und Hechte der anziehendſte Fiſchfang wird aber in dem obern Laufe des Alei, und zwar mehr zur Be— luſtigung als des Ertrages wegen, betrieben. Es giebt in dieſem Fluſſe eine Art Plötzen, die außerordentlich flink und luſtig iſt, und deshalb niemals in den Fiſchkörben oder Reuſen und nur ſel— ten an den Angeln gefangen wird. Sie ſchwimmt immer in ſo— genannten Schwärmen (runi). Gegen das Ende des Sommers wird dieſe Fiſchart von den Schwaben (Pelecanus carbo, ruſſ. Baklan) unter die floßartigen Anhäufungen von Treibholz getrieben, welche an vielen Stellen des Bettes einige Hundert Faden ſeiner

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Länge einnehmen. Ehe dieſer Zeitpunkt eintritt, wird nun ein von Klippen und andern Hinderniſſen freies Fahrwaſſer ausgeſucht und quer über daſſelbe der ganzen Breite nach ein Vetz geſpannt, deſſen oberer Rand mittelſt paſſender Stangen um etwas mehr als einen Fuß über den Waſſerſpiegel hervorragt. Alsdann fahren die Fi— ſchenden in zwei oder drei Kähnen von unterhalb dieſer Stelle ſtromaufwärts gegen die Querwand. Sie ſitzen zu mehreren in jedem Kahne und ſchreien oder ſingen möglichſt laut, während an— dere auf den Ufern ebenfalls ſtromaufwärts gehen und Steine oder Stöcke in das Waſſer werfen. Die Plötzen werden durch dieſes Verfahren erſchreckt und ſchwimmen in drei Haufen ſtromwärts, in- dem die Alten vorangehen und jede Abtheilung der vorigen eine gerade und regelmäßige Vorderſeite zukehrt. An dem Ufer geht während dieſer Zeit noch ein erfahrener Fiſcher dem Schwarme vorauf und beobachtet ſehr aufmerkſam, ob er ſchwimmt oder ſtill— ſteht. Er benachrichtigt hierüber die Schiffenden durch entſprechende Zeichen und veranlaßt ſie, entweder ſchneller zu folgen oder gleich— falls zu verweilen. Auf dieſe Weiſe werden die Plötzen verfolgt, bis die Kähne etwa 40 Saſhen von dem erwähnten Netze entfernt find. Wan wirft dann möglichſt ſchnell ein zweites Netz unterhalb der Kähne quer über den Fluß, hebt auch deſſen Rand auf die er— wähnte Weiſe über den Waſſerſpiegel und beginnt endlich den Fang durch Auswerfen eines dritten oder Zugnetzes. Die Plötzen zeigen ſich nun ernſtlich erſchreckt, indem ſie an den beiden Wandnetzen aus dem Waſſer ſpringen und ſich quer über dieſelben zu retten verſuchen. Dieſes gelingt jedoch nur wenigen und man pflegt vielmehr durch einen ſolchen Zug, welcher von mindeſtens acht Perſonen ausgeführt wird, gegen 250 Fiſche zu fangen.

An mehreren Orten des Gebirgsbezirkes wird aus den kleineren Fiſchen, nachdem man ſie in Oefen getrocknet hat, die (von den Urbewohnern) ſogenannte Porſa bereitet (d. i. eine Art von grobem Wehl aus erhärtetem Fiſchfleiſch, welches in Säcken auf— bewahrt und zum Gebrauch in kochendem Waſſer wieder aufge— weicht wird).

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Wir kehren wieder zu unſern Reiſenden zurück, die am frühen Morgen des 2. Auguſt in Barnaul angekommen waren. Barnaul liegt in einer ſandigen Ebene an der Einmündung der Barnaulka in den Ob, und zwar am linken Ufer beider Flüſſe. Die Stadt beſteht aus vielen breiten ſich rechtwinklig durchſchneidenden Straßen mit größtentheils hölzernen Häuſern, die meiſtens nur klein und weit von einander entfernt ſind, weshalb die Stadt einen viel grö— ßern Umfang hat, als man nach ihrer noch nicht 10,000 betragenden Einwohnerzahl vermuthen ſollte. Die Umgebungen ſind keineswegs ſchön; doch iſt Barnaul für den Fremden durch das Zuſammentref— fen mit ſo vielen gebildeten Männern, die der Bergbau des Altai hier zuſammengeführt hat, die bedeutenden Schmelzhütten und die öffentlichen und Privatſammlungen mancherlei Art, die ſich hier be— finden, von vielem Intereſſe.

Die Schmelzhütten lernten unſere Reiſenden noch an dem Tage ihrer Ankunft durch den Ober-Berghauptmann v. Froloff kennen, der, wie jeder Chef des Altaiſchen Berg- und Hüttenweſens, zugleich Ci— vilgouverneur von Tomsk iſt, aber größtentheils in Barnaul wehnt. Die Hütten liegen an der Südſeite der Stadt längs dem 232 Lach— ter langen Hüttendamme, den die Barnaulka zu einem bedeutenden Hüttenteiche angeſchwellt hat, und beſtehen in zwei langen, in einem großartigen Styl aufgeführten Gebäuden, in deren einem ſich die Silberöſen und in dem andern die Bleiöfen befanden. Beide ſind nebſt einem großen Hüttenplatze vor denſelben mit einer ſtei— nernen Mauer in Geſtalt eines Rechtecks umgeben.

Beſonders intereſſant iſt auf dieſen Hütten der Silberprozeß, nicht ſowohl, bemerkt Prof. Roſe, weil er ſchon ſeinen höchſtmög— lichen Grad der Vollkommenheit erreicht hat, als weil ein vollſtän— diges Ausbringen des Silbers aus den Altaiſchen Silbererzen mit großen eigenthümlichen Schwierigkeiten verknüpft iſt. Sonſt iſt er, wie er auf den Hütten eingeführt iſt, im Ganzen ſehr einfach und zerfällt hauptſächlich nur in drei Arbeiten, in das Rohſchmelzen der Silbererze, in die Verbleiungsarbeit des bei dem Rohſchmelzen ge— wonnenen Rohſteins und in das Abtreiben des bei der Verbleiungs— arbeit gewonnenen ſilberhaltigen Bleies. Die Silbererze, welche in Barnaul verſchmolzen werden, find hauptſächlich zweierlei Art: die

III. 15

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Erze vom Schlangenberg und den umliegenden Gruben Petrowsk, Karamyſchewsk, Tſcherepanowsk und Semenowsk beſtehen größten— theils aus Silberkupferglanz, Silberglanz, ſilberhaltigem Fahlerz, Hornerz, güldiſchem und reinem Silber, die mit geſchwefelten Kupfer-, Eiſen- und Bleierzen gemengt, in Schwerſpath und Hornſtein einge— wachſen ſind; die Erze von Syränowsk und Ridders dagegen be— ſtehen größtentheils aus einem Gemenge von güldiſchem Silber mit Quarz, Weißbleierz, Blei- und Eiſenocher, wie auch mit Kupferlaſur und Malachit. Die Erze find in der beibrechenden Gangart, dem Schwerſpath, Hornſtein und Quarz, faſt überall ſehr fein einge— ſprengt, werden aber doch auf den Gruben größtentheils nur mit der Hand geſchieden, da eine größere Concentration derſelben durch Poch— und Waſcharbeit wegen des hohen ſpecifiſchen Gewichts des mit— brechenden Schwerſpathes nicht zuläſſig iſt; ſie kommen auf dieſe Weiſe in etwa wallnußgroßen Stücken zu den Hütten, wo ſie unter einander gattirt, und dadurch ſo, wie ſie in Barnaul, Pawlowsk, Loktewsk und Schlangenberg verſchmolzen werden, einen Gehalt von etwa zwei Solotnik Silber im Pud erhalten.

Zu dem erſten Rohſchmelzen werden die gattirten Erze nun mit armem bei der Verbleiungsarbeit zurückgebliebenen Rohſtein, der 3—4 Sol. Silber im Pud enthält, und mit Schlacken von derſel— ben Arbeit von einem Gehalte von etwa 22 Sol. im Pud verſetzt, und in Schachtöfen, die eine offene Bruſt und 11—22 Fuß Höhe haben, verſchmolzen. Der hierbei erhaltene Rothſtein beträgt etwa 11—12 Procent von der Waſſe des eingeſchmolzenen Erzes; er ent— hält 10—12 Sol. Silber im Pud, und kommt nun, ohne zuvor ge— röſtet zu werden, in die Bleiarbeit. Dieſe Arbeit geſchieht in halb— kugelförmigen Heerden, welche 43 Fuß Durchmeſſer, und 3 Fuß Tiefe haben, mit Ziegelſteinen ausgemauert und mit Thon ausge— füttert ſind. Der Heerd hat 2 bis 3 Formen und unmittelbar über ſich die Eſſe. Nachdem der Rohſtein über Kohlen bei ſtarkem Ge— bläſe niedergeſchmolzen iſt, wird die Oberfläche des flüſſigen Roh— ſteins mit einer Krücke von den Schlacken gereinigt, und von neuem mit Kohlen bedeckt, worauf man dann das Blei in kleinen Barren ſetzt. Das Blei, das ſelbſt ſchon gegen 10 Sol. Silber im Pud enthält, ſchmilzt bald, durchdringt bei feinem größern ſpeeifiſchen

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Gewichte den Rohſtein, wobei es den größern Theil von dem Silber deſſelben mitnimmt, und ſammelt ſich dann am Boden des Heerdes. Nachdem man die flüſſige Maſſe noch mehreremale mit Stäben von grünem Holz umgerührt hat, um die Berührung des Bleies mit dem Silber noch größer zu machen, läßt man ſie eine kurze Zeit lang ruhig ſtehen, damit das Werkblei ſich ſammeln könne, und ſticht dieſes ſodann ab, verſtopft aber die Stichöffnung in dem Augenblicke, wenn der Stein mit abfließen will. Man wiederholt darauf die Verbleiungsarbeit noch dreimal, und erhält auf dieſe Weiſe ſtets neue Werke, doch iſt nur das Werkblei von der erſten Verbleiungsarbeit, welches ungefähr 30 Sol. Silber im Pud ent— hält, ſo reich, daß es in die Treibarbeit kommen kann; des Werk— bleis der drei letzten Verbleiungsarbeiten bedient man ſich als Zu— ſatz bei dem Schmelzen einer neuen Quantität Rohſteins. Nachdem das Werkblei von der vierten Verbleiungsarbeit abgelaſſen iſt, reinigt man die Oberfläche des Rohſteins von Kohlen und Schlacken, und ſticht nun auch dieſen immer noch unvollſtändig entſilberten Roh— ftein, den ſogenannten Heerd-Rohſtein ab. Er enthält etwa noch 3—4 Sol. Silber im Pud und wird theils zum Rohſchmelzen abgege— ben, theils wird er geröſtet, für ſich allein geſchmolzen und zu einem reichern Rohſtein concentrirt, der ſodann mit dem Stein von der Roharbeit umgeſchmolzen und entſilbert wird. Das Abtreiben des Werkbleis von der erſten Verbleiungsarbeit geſchieht in Treiböfen, die den ſächſiſchen ganz ähnlich ſind. Wan erhält dabei ein Blick— ſilber, welches in Barren gegoſſen und nach Petersburg auf die Münze geſchickt wird, wo es erſt von den 3 Prozent Gold, die es noch enthält, geſchieden wird.

Der Silberprozeß in Barnaul hat, wie ſich aus dem Ang eführ- ten ergiebt, mit mehr als gewöhnlichen Hinderniſſen zu kämpfen. Dieſe beſtehen einerſeits in der feinen Vertheilung der Erze in einer Bergart, wie dem Schwerſpath, deſſen hohes ſpecifiſches Gewicht eine eigentliche Aufbereitung der Erze verhindert, und in der daraus entſtehenden Armuth derſelben; andererſeits in der Strengflüſſigkeit der anderen beibrechenden Bergart, des Hornſteins, der eine große Hitze zum Schmelzen erfordert und doch nur gewöhnlich eine zähe und dickflüſſige Schlacke liefert, aus welcher ſich der Erzgehalt nur

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unvollkommen abſondern kann. Dieſe Umſtände machen es zwar er klärlich, daß die Zugutemachung der Silbererze ohne einen mehr als gewöhnlich großen Silberverluſt ſich nicht bewerkſtelligen läßt, fie führen aber in der That einen Verluſt herbei, der über ein Drit— theil des ganzen Silbergehaltes, alſo jährlich über 500 Pud oder 35,000 Wark Silber beträgt.

Der Bleiprozeß in Barnaul unterliegt keinen beſonderen Schwie— rigkeiten und iſt vielmehr noch einfacher als an anderen Orten, da die Bleierze nicht wie gewöhnlich aus Bleiglanz beſtehen, ſondern nur Oxyde enthalten.

Was in Varnaul nächſt den Schmelzhütten die Aufmerkſamkeit unſerer Reiſenden ganz beſonders in Anſpruch nahm, war das ſibi— riſche Mufeum. Dieſe in ihrer Art in Sibirien gewiß einzige An— ſtalt verdankt ihre Entſtehung dem wiſſenſchaſtlichen Sinne und der Thätigkeit des Herrn von Froloff und des Staatsraths Dr. Gebler. Letzterer, von Geburt ein Deutſcher, aber ſchon längere Zeit in Bar— naul als Arzt thätig, hatte die Freundlichkeit feine Landsleute dort— hin zu führen. Das Muſeum enthält eine Wenge Sammlungen ſehr verſchiedener Art, welche ſich aber ſämmtlich auf Sibirien, auf ſeine Produkte und die Sitten und Einrichtungen ſeiner Be— wohner beziehen. Wan ſieht hier ausgeſtopſte Säugethiere und Vögel, Infekten, Mineralien, Modelle von den hauptſächlichſten Gru— ben des Altai und der daſelbſt vorkommenden Waſchinen, Trachten und Geräthſchaften der ſibiriſchen Völkerſchaften und ihrer Scha— manen, und endlich Alterthümer aus den Tſchudiſchen Gräbern, die ſich in großer Menge am Altai finden und goldene, ſilberne und kupferne Geräthſchaften mannichfacher Art enthalten.

Von den Privatſammlungen waren den Reiſenden, als dem Zwecke ihrer Reiſe am nächſten liegend, beſonders die naturhiſtori— ſchen Sammlungen des Dr. Gebler intereſſant, die der merkwürdig thätige Beſitzer neben ſeinen vielen Geſchäften erſt während ſeines Aufenthaltes in Sibirien zuſammengebracht hatte. Am vollſtändigſten iſt unter dieſen die entomologiſche Sammlung, da ſie ſich nicht allein auf den Altai beſchränkt, ſondern auch ſehr vollſtändige durch Tauſch erworbene Sammlungen anderer Länder enthält. Profeſſor Ehrenberg war ebenſo erfreut als erſtaunt, hier eine große Wenge

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der von ihm auf feiner afrifanifchen Reiſe geſammelten Inſekten wiederzufinden, welche Dr. Gebler von dem Berliner Muſeum er— halten hatte.“)

Nicht weniger intereſſant waren in ihrer Art auch die Samm— lungen des Herrn von Froloff, die ſich ausſchließlich auf China und ſeine Bewohner beziehen. Die Leichtigkeit, mit welcher es hier ſchon möglich iſt, ſich Gegenſtände dieſer Art zu verſchaffen, und eine beſondere Vorliebe hatten Herrn von Froloff in den Stand geſetzt, dieſen Sammlungen eine ungemeine Vollſtändigkeit zu geben.

Mit der Beſichtigung der angeführten Gegenſtände und in dem angenehmen und lehrreichen Umgange mit Herrn von Froloff und Dr. Gebler vergingen drei Tage, welche die Reiſenden indeß auch zu Vorbereitungen für die weitere Reiſe anwandten. Wit dem Zu— ſtande des Altaiſchen Bergbaues bekannter geworden, hatten ſie näm— lich beſchloſſen, dieſelbe noch weiter auszudehnen, als ſie ſich anfäng— lich vorgenommen, und hatten dazu folgenden Hauptplan entwor— fen. Sie wollten zuerſt nach Schlangenberg gehen, dann die Gru— ben Riddersk und Krukowsk beſuchen, und von da über Uſtkameno— gorsk und Buchtarminsk nach Syränowsk reiſen. Wenn ſie ſo— dann noch den chineſiſchen Poſten Baty beſucht hätten, wollten ſie nach Buchtarminsk und auf dem Irtyſch nach Uſtkamenogorsk zu— rückkehren und hiermit ihre Altaiſche Reiſe beenden. So verließen ſie denn Barnaul Abends am 4. Auguſt, und zwar in noch größe— rer Geſellſchaft als ſie gekommen waren. Der General-Lieutenant Welljaminoff in Tobolsk hatte ſich nämlich nicht begnügt, Herrn von Jermoloff beauftragt zu haben, Humboldt während der Reiſe durch ſein Gouvernement zu begleiten, ſondern er hatte den nämlichen Befehl auch dem General Litwinoff in Tomsk ertheilt, der ſich nun in Barnaul mit ſeinen Begleitern, einem polniſchen Offiziere und einem jungen Arzte den Reiſenden angeſchloſſen hatte; eine Aufmerk— ſamkeit, die dieſen ebenſo ehrenvoll war, als ſie ihnen durch den Umgang mit ſo gebildeten Männern, als welche ihre Begleiter ſich gleich bei der erſten Bekanntſchaft darſtellten, angenehm wurde.

*) Eine Beſchreibung ſeiner ſibiriſchen Inſekten hat Dr. Gebler in Lede⸗ bour's Reiſe nach dem Altai bekannt gemacht.

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Der Weg von Barnaul nach Schlangenberg geht gleich hinter der Stadt das ſüdliche hohe Ufer der Barnaulka hinauf, bleibt dann in der Nähe des Ob bis zum Einfluſſe des Alei in denſelben bei Kalmanska, der zweiten Station von Barnaul, und geht nun an dieſem entlang bis zur dritten Station Tſchiſtjunskaja, von wo er in diagonaler Richtung nach dem Tſcharyſch, einem ſüdlicheren Nebenſtrome des Ob, führt. Die Reiſegeſellſchaft hatte Barnaul Abends um 10 Uhr verlaſſen und befand ſich ſchon am folgenden Worgen in der Ebene zwiſchen dem Alei und dem Tſcharyſch, welche nach einem einzeln ſtehenden Gehöfte Platowskaja, einer ſogenann— ten Simov, wo man den Mittag um 1 Uhr anlangte und die Pferde wechſelte, den Namen der Platowskafiſchen Steppe führt. Da ſie gar nicht bebaut iſt, und das Gras des Frühlings ſchon längſt verdorrt war, ſo bot ſie einen öden, traurigen Anblick dar; der Himmel war aber heiter und völlig wolkenleer und die Luft dabei ſo außerordentlich trocken, daß, als Prof. Roſe in der Station Platowskaja das Pſychrometer beobachtete, der Unterſchied des freien und befeuchteten Thermometers 92, betrug. Das freie Thermo— meter zeigte nämlich 19, 0“, das befeuchtete 9, 8 R., woraus ſich ein Thaupunkt von 3°, ergiebt, bis zu welchem Grade die Tem— peratur ſich alſo hätte abkühlen müſſen, wenn ſich Thau hätte bil— den ſollen. Schon vor Platowskaja wurden bei der reinen Luft am Horizont die erſten Berge des Altai ſichtbar, die Sinaja-Sopka (blaue Kuppe) und einige andere aus der Umgebung von Kolywansk, wiewohl ſie in gerader Linie noch über 100 Werſte entfernt waren. Durch die Strahlenbrechung gehoben, erſchienen ſie viel näher; doch erreichte man ihre Vorberge erſt am Worgen des 6. Auguſt ganz in der Frühe, wo ſich die Reiſenden an dem wegen ſeiner roman— tiſchen Ufer mit Recht ſo berühmten Kolywanſchen See, 3 Werſte nordöſtlich von dem Dorfe Sauſchinka, der letzten Station vor Schlangenberg, befanden. Es ſind Granitfelſen der ſonderbar— ſten Form, die das nördliche und öſtliche Ufer dieſes an ſich nur kleinen, etwa 6 Werſte im Umfange haltenden Sees umgeben und ſich ganz plötzlich und unmittelbar aus der Steppe erheben. Sie ſtehen vereinzelt da, ohne ſichtbaren Zuſammenhang unter einander, oft aber reihenförmig gruppirt, gleichſam als wären fie aus einer

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Spalte hervorgebrochen. Sie beftehen aus übereinander liegenden meiſt horizontalen Platten von drei Zoll bis drei Fuß Mächtigkeit, die an der Spitze oft ganz überhängen und jeden Augenblick her— unterzufallen drohen. Dabei ſind ſie von ſehr verſchiedener Größe; die erſten, die ſich aus der Steppe erheben, erſchienen wie kleine, einzeln ſtehende Altäre, andre entferntere wie Mauern und Ruinen alter Burgen. Sie erheben ſich öſtlich immer mehr und ſchließen ſich an die Sinaja⸗Sopka, welche ebenfalls aus Granit beſteht.

Das Dorf Sauſchyna (auch Kolkiwanka und Farafanowa ge— nannt), iſt 19 Werſte von Schlangenberg entfernt und liegt noch recht eigentlich mitten in den merkwürdig geſtalteten Granitfelſen. Von hier erhebt ſich der Weg allmälig immer mehr gegen Schlangen— berg zu; man bleibt noch auf Granit, bis man 9 Werſte von der Grube zuerſt auf Porphyr-Conglomerat und dann auf Porphyr ge— langt, der bis zur Grube anhält. Von der Höhe des Porphyrs, der einen breiten kahlen Rücken mit hervorragenden Felsriffen bildet, über— ſieht man ein ſich ungefähr von Weſten nach Oſten erſtreckendes Thal, in deſſen Mitte der Flecken Schlangenberg, umgeben von andern kahlen Felſen und Kuppen liegt, unter denen ſich ſogleich der Berg, welcher das Erzlager enthält, ein langer von NW. nach SO. ſich erſtreckender Felsrücken im Süden der Stadt, ſo wie ein domartiger Fels, die Karaulnaja Sopka oder Wachtkuppe genannt, im VO. des Fleckens auszeichnen.

Die Reiſenden fuhren durch eine lange Straße bei der ſteiner— nen Kirche vorbei und ſtiegen in einem Hauſe ab, welches eigens zur Aufnahme von reiſenden Beamten beſtimmt, von Holz gebaut und geräumig und bequem eingerichtet iſt. Sie hatten hier gleich Gelegenheit, den größten Theil der Beamten, welche Humboldt be— grüßten, kennen zu lernen, darunter den Oberbergmeiſter Ulianoff und den Warkſcheider Kulibin, der ſich durch mehrere literariſche Arbeiten, wie z. B. durch eine ruſſiſche Ueberſetzung von d'Aubuiſ— ſons Geognoſie bekannt gemacht hat. Von ganz beſonderem Intereſſe war unſeren Reiſenden jedoch die Bekanntſchaft des Dr. von Bunge, (Profeſſor der Botanik in Dorpat), welcher damals als Arzt bei dem daſigen Hospital angeſtellt war, im Jahre 1826 aber mit dem

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Staatsrath von Ledebour den Altai bereift hatte“) und den Reifen: den daher über die Fortſetzung ihrer Reiſe die beſte Auskunft er— theilen konnte, fo wie er auch bei den meiſten Excurſionen um Schlangenberg ihr Begleiter war.

Unſere Reiſenden blieben in Schlangenberg (ruſſ. Smeinogorsk oder Smejoff) bis zum Mittag des 9. Auguſt, befuhren den Nach— mittag des 6. die Grube, machten am 7. eine Excurſion nach der 30 Werſte entfernten Kolywanſchen Schleiferei, unterſuchten am 8. und 9. die näheren Umgebungen des Schlangenberges und ſammel— ten auf dieſe Weiſe einige Beobachtungen über dieſes merkwürdige Erzlager, welche Prof. Roſe, mit Benutzung der früheren Nachrich— ten darüber von Pallas, Renovantz und Hermann in Folgendem zuſammenſtellt:

Der Schlangenberg (Smejewskaja Gora) hat feinen Namen von der großen Wenge von Schlangen erhalten, die man bei ſeiner Entdeckung auf ihm fand, und zu deren Vertilgung man eigene Leute anſtellen mußte. Er bildet einen von den umliegenden Bergen gänz— lich abgeſonderten Felsrücken, der ſich von Weſt nach Südoſt erſtreckt und in dieſer Richtung eine Ausdehnung von etwa 300 Lachtern hat. Seine Höhe über dem ſüdlich angrenzenden Thale beträgt etwa 30 Lachter. An der Oſt-, Süd- und Südweſtſeite fällt er ſehr ſteil ab, an der Vordoſtſeite verflacht er ſich aber allmälig und läuft in eine Ebene aus, auf welcher der Flecken Schlangenberg ungefähr 1240 Fuß über dem Meere erbaut iſt. In Oſt-Vord-Oſt von der Grube erhebt ſich ein domartiger Berg, die Karaulnaja Sopka oder der Wachtberg (ſo genannt, weil auf demſelben ein Wachtpoſten aufgeſtellt war, als die Gegend noch von nomadiſirenden Kalmüken durchſchwärmt wurde), welcher von dem Schlangenberge durch ein mäßiges Thal getrennt iſt, in welchem zum Theil noch die Häuſer des Fleckens ſtehen. Es iſt der höchſte Berg der Gegend; ſeine Höhe beträgt nach Ledebour 2006 Fuß über dem Weere und 805 Fuß über dem Platze vor der Kirche des Fleckens Schlangenberg. Nördlich ſchließen ſich an dieſen Berg eine Reihe mehr gedehnterer

*) C. F. v. Ledebour, Reiſe durch das Altaigebirge und die ſoongo— riſche Kirgiſenſteppe. Berlin 1829 und 1830.

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Berge, die den Flecken in einem Halbkreiſe umgeben und mit einem andern Bergrücken in Zuſammenhang ſtehen, der eine nordweſtliche Fortſetzung des Schlangenberges bildet. Ein anderer Bergzug zieht ſich auf der ſüdöſtlichen Seite parallel mit dem Schlangenberge fort und erhebt ſich mit gleicher Steilheit wie der Schlangenberg auf die— fer Seite. Nur ein enges Thal trennt beide Bergzüge von einan— der, in welchem ein kleiner Bach, die Smejewka fließt, der etwa drei Werſte von hier aus einem Sumpfe entſpringt, an der öſtlichen Seite der Karaulnaja Sopka vorbeigeht, ſüdöſtlich vor dem Eintritt in das ſchmale Thal von dem Schlangenberg zu einem Sammelteich aufgeſtaut iſt und weiter weſtlich zur Korbolicha, einem Nebenfluffe des Alei, fließt.

Der ganze Schlangenberg beſteht faſt aus nichts anderm als aus dem Erzlager ſelbſt, welches von einer in Thonſchiefer ruhenden Hornſteinmaſſe gebildet wird, die nach allen Richtungen von Gängen und Trümmern ſchuppig-körnigen Schwerſpaths durchſetzt iſt. In dieſem find vorzugsweiſe die Erztheile eingeſprengt enthalten; ſie finden ſich aber auch ohne Schwerſpath in dünnen Klüften des Horn— ſteins ſelbſt. Von nicht metalliſchen Subſtanzen kommen auf dem Erzlager, außer dem Hornftein und Schwerſpath, noch Quarz, Adular, Witherit, Kalkſpath und Flußſpath vor. Die metalliſchen Winera— lien ſind gediegenes Gold, mehr oder minder ſilberhaltig, gediegenes Silber, Silberkupferglanz, Silberglanz, Fahlerz, Hornerz, gediegenes Kupfer, Buntkupfererz, Kupferkies, Kupferglanz, Bleiglanz, Zink— blende, Eiſenkies, Rothkupfererz, Kupferlaſur, Malachit, Kupfergrün, Weißbleierz und Zinkſpath. Das Gold findet ſich nie kryſtalliſirt, ſondern theils in dünnen, moosartig zuſammengehäuſten kleinen Blättchen aufgewachſen, theils in kleinen Blechen mit unebner Ober— fläche, die ſelten dicker als ein ſtarker Meſſerrücken, gewöhnlich dün— ner find, eingewachſen, theils in kleinen Platten auf Klüften auflie— gend. Das Silber findet ſich ebenfalls nicht kryſtalliſirt, aber auf— gewachſen in drath- und meiſtens haarförmiger Geſtalt und einge— wachſen in Blechen und Plättchen.

Man hat im Ganzen vier Stollen in das Erzlager getrieben. Die geförderten Erze werden über Tage ſortirt, die Spatherze von dem Hornſtein getrennt und größtentheils mit der Hand geſchieden,

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nur wenige Erze werden gepocht. Das Scheiden geſchieht im Som— mer im Freien, im Winter in beſonderen Scheidehäuſern. Die Erze werden bis zur Größe einer Wallnuß geſchlagen und zu den ver— ſchiedenen Hütten abgeführt. Zum Transport der Erze von der Grube nach der Schmelzhütte in Schlangenberg iſt eine Eiſenbahn angelegt, welche eine Werſt und 200 Saſchenen lang iſt.

Wenige Silbergruben haben gleich vom Anfange ihrer Bear— beitung an ſo außerordentliche Ausbeute geliefert als der Schlan— genberg, der daher nicht mit Unrecht einen ſolchen Ruf erlangt hat. Die Wenge der zu den Hütten gelieferten Erze betrug ſeit 1748 eine halbe, und von 1770— 1793 eine bis anderthalb Millionen Pud. Lange Zeit hat der Schlangenberg das etatsmäßige Quantum des Altai an Silber ganz allein geliefert und noch im Jahre 1826 be— trug daſſelbe 204 Pud. Die beträchtliche Wenge der geförderten Erze hat indeſſen nun die Grube ſchon ſehr erſchöpft, und um fie daher noch für längere Zeit behaupten zu können, hat man die Wenge des jährlich zu liefernden Silbers bis auf 80 Pud herab— geſetzt.

Doch nicht allein an Wenge, ſondern auch an Güte haben die Erze bei größerem Vordringen in die Teufe abgenommen. Ihr Gehalt an Silber, der im Anfang 20—26 Sol. im Pud Erz ergab, betrug in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nur noch 5 Sol. und in neuerer Zeit ſogar nur noch 12— 14 Sol. Anfangs hielt man Erze von 4 Sol. Silber nicht mehr für ſchmelz— würdig und gebrauchte ſie in den Gruben zum Verſetzen; dieſe hat man aber ſchon lange wieder herausgeklaubt und mit weniger reich— haltigen Erzen verwechſelt, die vielleicht auch noch einmal ſpäter mit andern vertauſcht werden. Unmittelbar unter Tage waren die Erze am reichhaltigſten und haben das meiſte güldiſche und reine Silber enthalten, und dennoch iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß auch zur Zeit der Eröffnung der Grube die reichſten Erze durch die Tſchuden, die auch hier am Schlangenberg einen alten Bergbau getrieben hatten, ſchon weggenommen waren. Wan hat die Spu— ren ihrer Arbeiten ſowohl in dem ſüdöſtlichen als in dem nordweſt— lichen Theile wahrgenommen. In ihren verſtürzten Arbeiten hat man noch Werkzeuge von ihnen gefunden, wie kupferne gegoſſene

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Keilhauer und harte Steine, deren fie ſich wohl als Fäuſtel bedient haben mochten, da dieſe Steine ſtets eine ringförmige Vertiefung hatten, wahrſcheinlich zur Befeſtigung eines Riemens zum Halten der— ſelben. Eiſerne Geräthſchaften hat man in den Gruben ſo wenig wie in ihren Gräbern gefunden, obwohl dieſe eine Wenge Geräthſchaften und Zierrathen von andern Wetallen, beſonders von Gold und Kupfer, enthielten, und durch hohe über einander gethürmte Stein— haufen kenntlich, in großer Wenge an dem Vordrande des Altai, am Irtyſch und in der Kirgiſenſteppe aufgefunden worden ſind. Die Tſchuden ſchienen demnach das Eiſen und deſſen Bearbeitung noch nicht gekannt zu haben, und haben in Ermangelung eiſerner Werkzeuge den Bergbau nur auf die Ocher getrieben, die ſich auch bei der Wiederaufnahme der Gruben durch die Ruſſen in den oberen Teufen noch am reichlichſten gefunden haben. Pallas erzählt, daß wenige Jahre vor ſeiner Ankunft in Schlangenberg (1771) in den alten Arbeiten ein halb vererztes menſchliches Gerippe gefunden worden ſei, bei welchem noch ein lederner Sack mit den reichſten Ochern angefüllt gelegen hätte. Aus den Ochern ſchieden ſie das darin enthaltene Gold durch Schlämmen an der Smejewka, wie man ebenfalls aus den Ueberreſten dieſer Schlämmarbeiten geſehen hat, die noch ſo goldhaltig befunden worden ſind, daß man ſie ge— pocht und auf Planheerden verwaſchen hat.

Am 7. Auguſt machten die Reiſenden bei heiterm ſchönen Wet— ter einen Ausflug nach dem 30 Werſte nordöſtlich von Schlangen— berg gelegenen Kolywansk, wo ſich die durch ihre ſo ausgezeichne— ten Produkte bekannte Schleiferei des Altai befindet. Da der nächſte Weg, der dorthin führt, ein ſchmaler Gebirgsweg iſt, ſo machten ſie die Fahrt in Wagen, die denen glichen, welche fie in Wurſinsk zu ihren Excurſionen benutzt hatten, und die überhaupt in ganz Sibi— rien ſehr gebräuchlich ſind. Der Weg geht über meiſt nur niedrige Gebirgsrücken fort, welche zum Theil bewaldet, größtentheils aber ganz kahl und von kräuterreichen Wieſen umgeben ſind.

Die Schleiferei, welche man Wittags um 12 Uhr erreichte, liegt in einem Thale und bildet mit den Wohnungen der in der Hütte beſchäftigten Beamten einen freundlich gebauten ſchon ziemlich an— ſehnlichen Flecken. Kolywansk war aber auch ſchon vor der Ein—

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richtung der Schleiferei ein anſehnliches Hüttenwerk, denn hier be— fand ſich, wie ſchon erwähnt, die erſte Schmelzhütte, die am Altai eingerichtet wurde, die man aber ſpäter wegen zunehmenden Holz— mangels eingehen laſſen mußte, worauf man denn die in Loktewsk befindliche Schleiferei hierher verlegte. Das Thal von Kolywansk wird von der Bjelaja bewäſſert, einem kleinen Fluſſe, der ſechs Werſte von hier an der Sinaja-Sopka entſpringt und ſich ſpäter mit der Loktewa, einem linken Nebenfluffe des Tſcharyſch, vereinigt.

Die Reiſenden befanden ſich hier ganz in der Nähe des Ber— ges, welcher der erſte vom Altai war, den ſie auf dem Wege nach Schlangenberg erblickt hatten, und der von hier als ein bedeutender mächtiger kegelförmiger Fels erſchien; er gehört zu dem hohen Ge— birgszuge, welcher die Waſſerſcheide zwiſchen dem in den Ob flie— ßenden Tſcharyſch und der in den Irtyſch fallende Uba bildet und den Namen der Tigerezkiſchen Alpen führt.

Die Reiſenden wurden in Kolywansk von dem Director der Schleiferei, dem Bergmeiſter Laulin, bewillkommnet, der fie darauf in der Schleiferei herumführte und in ſeiner Wohnung gaſtfrei bewir— thete. Die Schleiferei, deren Waſchinen durch das Waſſer der Bjelaja betrieben werden, iſt ähnlicher Art wie die in Katharinen— burg, aber ſie iſt noch bedeutender, wie denn auch die Geſteine, die hier verſchliffen werden, noch ſchöner und mannigfaltiger ſind. Sie beſtehen in Porphyren und Porphyrconglomeraten verſchiedener Art, in Granit und Aventurin, und wurden zum großen Theil von dem Oberhüttenverwalter Schanjin im Jahre 1786 auf einer eigens zu dieſem Zwecke abgeſandten Expedition nach dem obern Tſcharyſch, dem Kokſun und Uimon und den Turguſinskiſchen Alpen zwiſchen der obern Üba und der Buchtarma entdeckt, doch hat man nachher auch noch an andern Orten andre der Politur fähige Gebirgsarten aufge— funden. Jaspis, welcher eins der ſchönſten Geſteine der Kathari— nenburger Schleiferei ausmacht, wird indeß nicht in Kolywansk ver— ſchliffen, wie er auch am Altai wenigſtens nicht in ſo großen Waſſen wie am Ural vorzukommen ſcheint.

Zu den ſchönſten Geſteinen, die in Kolywansk verſchliffen wer— den, gehören ein rother Porphyr, ein grüner Augit und ein ges ſtreiſter Porphyr. Der erſtere hat eine dunkle braunrothe Grund—

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maſſe, die ſtellenweiſe ſchwarze ſich meiſt verlaufende Streifen und Flecken hat. Die eingewachſenen Kryſtalle beſtehen größtentheils aus Zwillingskryſtallen des Albits, die ſchneeweiß und undurchſichtig, doch zuweilen ſchon etwas durchſcheinend und dann mehr graulich— weiß ſind. Hier und da ſieht man auch kleine graulichweiße Quarz— körner und außerdem noch viel kleinere faſt mikroskopiſche Blättchen von Eiſenglanz, die man zwar in ungeſchliffenen Stücken ſchwer erkennen kann, die aber auf den polirten Flächen bei ihrem ſtarken metalliſchen Glanze ungeachtet ihrer Kleinheit ſogleich auffallen. Der Porphyr nimmt eine ſehr gute Politur an, doch finden ſich in demfelben hier und da eckige Stücke von einem ſchwärzlich grauen Kalkſtein eingemengt, die keine gute Politur annehmen und daher der Güte des Porphyrs Abbruch thun. In allen größeren verarbeiteten Stücken, welche Prof. Roſe hier wie in den Petersburger Schlöſſern geſehen hat, kamen dergleichen eingemengte Kalkſteinſtücke, wenn auch nur in geringer Menge und Größe vor.

Da außer dem Altaiſchen Porphyr nur noch zwei Abänderun— gen des rothen Porphyrs verarbeitet werden oder verarbeitet wor— den ſind, nämlich der Elfdaler und der antike rothe Porphyr, ſo iſt es von Intereſſe ihre Unterſchiede zu betrachten. Der antike Porphyr unterſcheidet ſich, nach Prof. Roſe, von dem Altaiſchen durch ſeine lichtere ſchönere Grundmaſſe, durch die größere Menge der ein— gewachſenen Albitkryſtalle und ihre etwas vöthliche Farbe, durch die zuweilen ſtattfindende Anweſenheit der Hornblende und ſeinen gänz— lichen Mangel an Quarz; der Elfdaler durch die eingewachſenen Feldſpathkryſtalle, die ſich neben dem Albite finden und durch die Abweſenheit ſowohl des Quarzes als auch des Eiſenglanzes.

Wit dem rothen Porphyr von Korgon kommen noch zwei Ab— änderungen vor, die ebenfalls in Kolywansk verſchliffen werden, und von denen die eine variolitiſch, die andere conglomeratiſch iſt.

Die erſtere hat eine theils bläulichgraue, theils röthlichbraune Grundmaſſe, in der mehr oder weniger gedrängte Kugeln von einer ähnlichen Waſſe liegen, die zwei bis drei Linien Durchmeſſer und eine bläulichgraue Farbe mit einem dunkelſchwarzen Kern und einer ebenſo gefärbten ſchmalen Einfaſſung haben; die Farbe des Kerns und der Einfaſſung verläuft ſich allmälig in die übrige bläulich—

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graue Farbe der Kugel, wogegen die Farbe der Einfaſſung nach außen zu ziemlich ſcharf abſchneidet. Außer dieſen Kugeln finden ſich in der Grundmaſſe noch kleine weiße Albitkryſtalle, jedoch nur ſehr ſparſam eingewachſen, ſo wie hier und da auch kleine Blättchen von Eiſenglanz, die aber nicht allein in der Grundmaſſe, ſondern auch in den Kugeln liegen. Auch finden ſich noch vereinzelte Brocken von graulichweißem Kalkſpath und von röthlichbraunem Jaspis dem Geſteine beigemengt, das eine ſehr gute Politur annimmt, ein ſehr gefälliges Anſehen hat und durch die Eigenthümlichkeit ſei— ner Bildung noch beſonders intereſſant wird. Das Porphyr-Con⸗ glomerat hat eine röthlichgraue Grundmaſſe und enthält ſehr ſpar— ſam kleine Albitkryſtalle eingemengt, außerdem aber kleine eckige Stücke von röthlich- und ſchwärzlichbraunem Jaspis und von Eiſen— glanz, letztere aber in kleinen feinkörnigen Partien.

Alle dieſe drei Abänderungen finden ſich zuſammen an einem hohen Felſen an der linken Seite des Korgon, eines der wildeſten Gebirgsſtröme des Altai, 10 Werſte von ſeiner Mündung in den Tſcharyſch und 120 Werſte von Kolywansk.

Der grüne Augitporphyr hat eine graulichgrüne Grundmaſſe und enthält Kryſtalle von Labrador und Augit eingeſchloſſen. Die erſteren ſind ſchneeweiß und ſtellenweiſe etwas grün gefärbt, die letzteren, welche in geringerer Wenge in dem Porphyr vorkommen, ſchwärzlichgrün. Der Porphyr gleicht dem antiken serpentino verde antico, doch hat die Grundmaſſe des letzteren eine ſchönere lauch— grüne Farbe, iſt gleichartiger und nimmt eine ſchönere Politur an; die eingeſchloſſenen Kryſtalle ſind dagegen grüner gefärbt und ſtehen in dieſer Rückſicht dem Altaiſchen Porphyr nach. Der grüne Porphyr des Altai kommt am Tſcharyſch vor.

Der geſtreifte Porphyr beſteht aus verſchiedenen ſchwärzlich— grünen, grünlichgrauen und grünlichweißen Lagen, die mit einan= der wechſeln und mit ihren Farben bald ſcharf an einander abſchnei— den, bald ſich allmälig in einander verlaufen. Eingewachſene Kryſtalle ſind nicht zu ſehen, hier und da findet ſich nur etwas Eiſenkies eingemengt. Das Geſtein, welches eine vortreffliche Poli— tur annimmt, iſt unſtreitig das ſchönſte, welches im Altai verſchlif— fen wird. Es führt gewöhnlich, doch mit Unrecht, wie Prof. Roſe

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bemerkt, den Namen Jaspis, obwohl es nichts anders iſt, als die Grundmaſſe eines Porphyrs, in welcher die gewöhnlich e doi ſenen Kryſtalle fehlen. Es findet ſich an der Rewennaja-Sopka dem⸗ Rhabarber Berge)], 35 Werſte weſtlich von Schlangenberg. Berg— meiſter Kulibin ſandte ſpäter an Humboldt, auf deſſen Wunſch er eine eigene Excurſion nach dieſem Berge machte, 42 Steinproben mit einer Beſchreibung des Berges. Dieſer ſchöne ſogenannte Jaspis— Porphyr hat für die kaiſerlichen Paläſte in Petersburg Kandelaber von 87“ Höhe, Säulen von 10— 12 eine elliptiſche Wanne von + Durchmeſſer und 5“ Tiefe geliefert. Der Steinblock, wel: cher zu dieſer Wanne benutzt worden, wog 28,000 Pfund und wurde binnen acht Tagen von 400 Arbeitern auf ſehr unebenen Wegen über die Berge nach den Werkſtätten von Kolywansk, über zehn Weilen weit vom Steinbruch, transportirt. Man brauchte zum Schneiden des Blocks und zum Schleifen der Wanne drei Jahre; ſie koſtete, ungeachtet des ſehr mäßigen Arbeitslohnes der Fabrik, den 700 Meilen weiten Transport nach St. Petersburg nicht mit eingerechnet, die Summe von 35,000 Francs. (9400 Thlr. Pr.) **)

Zu den Geſteinen, die ferner noch in Kolywansk verſchliffen werden, iſt vorzüglich noch ein ſchöner Aventurin, weiß und röth— lichweiß, von Belorezkaja, 30 Werſte von der Schleiferei, zu zählen; außerdem werden aber noch andre Diorit- und Augitporphyre von den Tigerezkiſchen Alpen, rothe Granite vom Alei u. ſ. w. verarbeitet, die aber weniger ausgezeichnet ſind.

Die Gaſtfreundlichkeit des Bergmeiſters Laulyn hatte die Rei— ſenden bis um 5 Uhr in Kolywansk zurückgehalten; ſie mußten da— her eilen nach Schlangenberg zurückzukehren. Da es nicht rathſam war gegen die Nacht zu den beſchwerlichen Gebirgsweg einzuſchla— gen, ſo nahmen ſie einen andern Weg, der zwar weiter, aber eben war und erſt die Bjelaja entlang bis zu dem Dorfe Rutſchjoiwa ging, dann aber nördlich bei dem Kolywanſchen See vorbei nach dem

*) Ungeachtet dieſes Namens, bemerkt Humboldt, hat Herr von Lede— bour das Rheum eben fo wenig auf der Rewennaja⸗Sopka angetroffen, wie Bonpland und ich die wilde Kartoffel auf Paramos de las Pampas der neuen Welt.

**) Humboldt, Centralaſien I. S. 200.

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Dorfe Sauſchkina führte, wo er ſich mit dem ſchon bekannten Wege nach Schlangenberg verband. Obgleich man außerordentlich ſchnell

ahren war und in Sauſchkina die Pſerde gewechſelt hatte, kam man doch erſt um 114 Uhr in Schlangenberg an.

Den 10. Auguſt Nachmittags verließen die Reiſenden Schlan— genberg und machten ſich auf den Weg nach den reichen Silbergru— ben Riddersk und Krukowsk, die beide in geringer Entfernung von einander in dem obern Thale der Ulba 184 Werſte von Schlangen— berg entfernt liegen. Die Ulba gehört ſchon zu dem Stromgebiet des Irtyſch und ergießt ſich in denſelben bei der Feſtung Uſtkame— nogorsk; zwiſchen dieſer und den ſich in den Ob mündenden Flüſſen, dem Alei und dem Tſchariſch, wohin die Wäſſer von Schlangenberg und von Kolywansk fließen, findet ſich aber noch ein anderer Neben: fluß des Irtyſch, die Uba, welcher oberhalb der Ulba ſich in den Ir tyſch ergießt, und den man daher auf der Reiſe von Schlangenberg nach Riddersk ebenfalls noch zu paſſiren hat. Der Weg iſt nun bis nach Schamanaicha, der zweiten Station von Schlangenberg, die große Straße nach Semipalatinsk und geht am Rande des Al— tai in der Steppe entlang. Bei jenem Dorfe verläßt man aber dieſe Straße und wendet ſich faſt rechtwinklig mit der früheren Richtung in das Thal der Uba, die hier aus dem Gebirge tritt und Dafjelbe öffnet. Man folgt nun dem Thal der Üba ſtromaufwärts und auf der linken Seite bis zum Dorfe Byſtrucha, überfährt ſo— dann den zwar nur niedrigen, aber doch beſchwerlichen Bergrücken zwiſchen der Uba und Ulba und gelangt auf dieſe Weiſe bei dem Dorfe Tſcheremſchanka in das Thal der Ulba, in welchem Riddersk noch 35 Werſte aufwärts liegt.

Die Reiſenden waren in dor Nacht in Schamanaicha angekom— men, ſetzten noch in derſelben Nacht mittelſt einer Fähre über die Üba und waren am Worgen des 10 Auguſt in Byſtrucha. Die Bauern ſpannten hier zehn Pferde vor jeden ihrer Wagen und be— gleiteten die Geſellſchaft zu Pferde und mit langen Stangen ver— ſehen aus freien Stücken bis nach Tſcheremſchanka, um die Wagen an ſchlimmen Stellen zu halten, worauf man dann in dem Thale der Ulba ſchnell vorwärts kam und Abends um 7 Uhr am Ziele anlangte.

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Riddersk (nach Ledebour 2346 Fuß über dem Meere) liegt ſchon tief im Gebirge und iſt nach allen Seiten von hohen Bergen umgeben, die noch jetzt größtentheils mit Schnee bedeckt waren. Die Berge, die das Thal im Süden begrenzen, führen den Namen der Ulbinskiſchen, die nördlichen den Namen der Übinskiſchen Schneeberge (Belki, wie ſie hier genannt werden); die erſteren lie— gen zwiſchen der Ulba und dem Irtyſch, die letzteren zwiſchen der Ulba und der Üba. Das Thal iſt bei Riddersk noch ziemlich breit, verengert ſich aber im Weſten immer mehr, und wird von der Ti— chaja bewäſſert, die erſt, nachdem ſie ſich mit der von den Ulbins— kiſchen Bergen herabkommenden Grammatucha vereinigt hat, den Namen Ulba annimmt.

Am Morgen des 11. Auguſt beſah Humboldt zunächſt die Rid— dersker und dann die nahgelegene Krukowſche Grube. Profeſſor Roſe war durch eine Unpäßlichkeit, die ihn ſchon vor der Abreiſe befallen und verhindert hatte, unterwegs auch nur die geringſte Beob— achtung anzuſtellen, ſo entkräftet worden, daß er genöthigt wurde umzukehren. Profeſſor Ehrenberg aber war ſchon am Morgen früh aufgebrochen, um einen Ausflug nach einer der höchſten Spitzen der Ulbinskiſchen Schneeberge, dem Prochodnoi Bjelok zu machen.

Die Grube von Riddersk wurde im Jahre 1786 von dem da— maligen Berggeſchwornen Ridder entdeckt, nach welchem ſie auch den Namen erhielt. Alte Tſchudiſche Arbeiten haben hier gleichfalls die Veranlaſſung zur Entdeckung gegeben. Das gediegene Gold, das ſich beſonders in den obern Teufen in ſehr großer Wenge fand, verſchaffte der Grube ſchnell einen großen Ruf. Die Grube iſt ge— genwärtig wegen ihrer ſtarken Bleiproduktion von der größten Wichtigkeit für den Altai. Der gelbliche und röthliche Bleiocher, der jetzt den größten Theil der Förderung ausmacht, enthält im Bud 12 Pfund Blei und 14 Solotnik Silber. Das in einer Teufe von 19 Lachtern befindliche Grubenwaſſer hatte nach Humboldt's Beobachtung eine Temperatur von 3% 9 R. und die Luft da— ſelbſt eine Temperatur von 5°, 1. Ueber Tage hatte das Waſſer beim Ausfluſſe aus den Pumpen eine Temperatur von 4°, s und die Luft gegen Mittag 17°, 7. In der Grube ſoll ſich nie Eis bilden,

III. 16

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obgleich doch außerhalb der Grube die Kälte im Winter ſo ſtark ift, daß das Queckſilber friert.

Die Krukowsſche Grube, welche im Jahre 1811 von Krukow entdeckt und nach ihm benannt wurde, liegt höher im Thale herauf, etwas über eine Werſt von der Ridderſchen Grube entfernt und 50 Lachter höher als dieſe. Die Grube giebt eine ſehr reichliche Aus— beute an Silber. Humboldt fand hier die Temperatur der Gruben— waſſer in einer Teufe von 28 Lachtern zu 3, 4 R., während die Luft daſelbſt eine Temperatur von 5“, 5 und außerhalb von 12°, ; hatte.

Am Abend kehrte Prof. Ehrenberg von ſeinem Ausflug nach dem Prochodnoi Bjelok zurück, woſelbſt er eine große Ausbeute an Pflanzen gemacht hatte.

Noch blieb die reiche Silbergrube Syränowsk übrig, deren Be: ſuch man ſich vorgenommen hatte, und die jetzt in Rückſicht ihres Silberertrages die bedeutendſte von allen Gruben des Altai iſt. Sie liegt ſüdöſtlich von Riddersk, nicht weit von der Buchtarma und 60—70 Werſte von ihrer Mündung in den Irtyſch bei Buchtar— minsk, iſt aber von Riddersk durch die ſich im Norden der Buch— tarma entlang ziehende Gebirgskette getrennt, die eine Fortſetzung des Ulbinskiſchen Gebirges iſt. Dieſelbe führt erſt den Namen des Turguſunskiſchen Gebirges, weiter öſtlich aber, wo ſie am höchſten iſt und das Scheidegebirge zwiſchen der Buchtarma und den Zu— flüſſen der Katunja, des Kokſun und des Uimon ausmacht, den Namen des Cholſunſchen Gebirges. Ueber dieſe Gebirgskette weg mag der Weg von Riddersk nach Syränowsk kaum 10 Werſte be— tragen; er iſt aber nur zu Pferde oder zu Fuß zurückzulegen und die Reiſenden konnten ihn natürlich mit ihren Wagen nicht paſſiren. Sie mußten daher ſchon den gewöhnlichen Weg einſchlagen, der in dem Thale der Ulba bis nach Uſtkamenogorsk, dann über die Ge— birge nach Buchtarminsk und nun erſt die Buchtarma aufwärts nach Syränowsk führt.

Sie verließen Riddersk am Morgen des 11. Auguft und fuhren alſo in dem Thale der Ulba entlang, das ihnen bis zum Dorfe Tſcheremſchanka ſchon bekannt war. Das Thal iſt hier zwar noch ienige Werſte breit, aber das hohe Gebirge zu ſeinen Seiten, deſſen

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Schluchten und Abhänge noch überall mit Schnee bedeckt waren, gewährte bei dem heitern Worgen den ſchönſten Anblick. Am aus— gezeichnetſten waren die Formen der Berge in der links vom Wege gelegenen Ulbinskiſchen Gebirgskette, die auch an Höhe die Übins— kiſche Kette bei weitem übertrifft, und beſonders ragten in der erſte— ren der majeſtätiſche Prochodnoi Bjelok und eine andere etwas weiter abwärts gelegene Alpe, der Jeranowskoi Bjelok, hervor. Zwei Werſte hinter Riddersk erhebt ſich gleich hinter dem Berge, worin das Erzlager liegt, mitten im Thale ein kleiner kugelförmi— ger Berg, die Kruglaja Sopka (der runde Berg) genannt, bei wel— chem man anhielt, um ihn zu beſteigen. Er iſt baumlos, doch wie das umgebende Thal mit Kräutern bewachſen, die eine ſolche Höhe hatten und ſo gedrängt neben einander ſtanden, daß ſie den Reiſen— den über dem Kopf zuſammenſchlugen und ſie ſich nicht zu erkennen vermochten, ſobald ſie auch nur wenige Schritte von einander gingen. Beſonders häufig fanden ſich unter den Kräutern Silivum cernuum, von dem ein Exemplar, welches Prof. Ehrenberg maß, neun Fuß Länge hatte, Cnicus pratensis und Epilobium augustifolium. Von Riddersk aus geſehen, erſchien der Berg ganz kegelförmig; er hatte aber, wie man oben auf der Höhe ſah, eine längliche Geſtalt. Bei dem Dorfe Tſcheremſchanka verließ man den auf der Hin— reiſe genommenen Weg und folgte dem Thale der Ulba weiter, die von hier aus eine veränderte ſüdliche Richtung nimmt. Die Vege— tation zeigte ſich fortwährend als eine ſehr üppige, die Dörfer, durch welche man kam, waren groß, und die Bauern ſchienen ſehr wohl— habend zu ſein. Sie beſchäftigen ſich viel mit Bienenzucht und produ— ciren einen ſehr wohlſchmeckenden Honig. Obgleich die Reiſenden auf dem guten Wege raſch vorwärts kamen, ſo erreichten ſie doch erſt in der Nacht um 4 Uhr Uſtkamenogorsk, wo ſie von dem Kauf— mann zweiter Gilde Vakariakoff gaſtfrei aufgenommen wurden. Uſtkamenogorsk, die Oeffnung der Felsgebirge, wie der Name bedeutet, liegt gegen 800 Fuß hoch, am Anfange der Steppe. Die Berge ziehen ſich in einiger Entfernung vom Irtyſch noch eine Zeit lang fort, wo ſie dann aber ganz in die Ebene abfallen. Die Stadt iſt nur unanſehnlich, beſteht aus einigen Straßen mit hölzernen Häu— fern und zählt (nach der letzten Zählung von 1851) 2292 Einwoh— 10 *

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ner. Sie iſt nach allen Seiten offen, hat aber noch eine fogenannte Feſtung, die jedoch in nichts anderm als in einem großen freien Raume beſteht, der mit einigen Häuſern beſetzt und mit Wall und Graben umgeben iſt.

Man verweilte den ganzen Tag hier, theils weil es zweckmäßi— ger war, die weitere Reife, zu der man noch mancherlei Vorkehrun— gen zu treffen hatte, mit dem frühen Morgen zu beginnen, theils weil Humboldt die Inklination der Magnetnadel für dieſen Ort be— ſtimmen und Sonnenhöhen nehmen wollte. Prof. Roſe benutzte da— her den Vormittag zu einem Ausflug in die Berge, ſetzte über die Ulba, die erſt einige Werſte abwärts von der Stadt ſich in den Irtyſch ergießt, und fuhr dann in faſt nördlicher Richtung zu eini— gen, elf Werſte von der Stadt entfernten Bergkuppen, die ziemlich die letzten Ausläufer nach der Steppe zu bilden.

Schon gegen Wittag kehrte Prof. Roſe von dieſer Excurſion wieder zurück. Der gaſtfreundliche Wirth unſrer Reiſenden hatte ein Mahl veranſtaltet, an welchem nicht allein dieſe ſelbſt, ſondern auch noch andere Gäſte aus der Stadt und der Fremde theilnah— men. Unter dieſen befanden ſich auch der Kommandant der Feſtung, Oberſt Liancourt, ein alter doch noch ſehr lebhafter franzsſiſcher Emigrant, der nun ſchon 39 Jahre in Sibirien zugebracht hatte, und der Commerzienrath Popoff aus Semipalatinsk, der unſern Reiſenden

beſonders durch ſeine genaue Kenntniß eines großen Theils von

Mittelaſien, die er durch ſeine ausgebreiteten Handelsverbindungen in Bochara, Taſchkend u. ſ. w. erworben hatte, Intereſſe einflößte. Der liebenswürdige Wirth nahm, weil es Faſttag war, am Wahle ſelbſt nicht Theil, verweilte jedoch in der Geſellſchaft. Den Abend hatten unſere Reiſenden noch Gelegenheit, die Geſchicklichkeit und Ge— wandtheit der die Garniſon von Uſtkamenogorsk ausmachenden Ko— ſaken in allen militairiſchen Uebungen zu bewundern, da der Gene— ral Littminoff ein Manöver in der Feſtung veranſtaltet und die Fremden dazu eingeladen hatte. Bei dieſer Gelegenheit wurde auch die Temperatur des in der Feſtung befindlichen Brunnens unter⸗ ſucht, die man in einer Tiefe von 7 Lachtern 4% 8 R. fand.

Am Morgen des 14. Auguſt traten die Reiſenden ihre weitere Reiſe nach Buchtarminsk an, die ſie indeß auf ihre gewöhnliche

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Weiſe nicht bewerkſtelligen konnten. Zwiſchen Uſtkamenogorsk und Buchtarminsk ſetzt nämlich das Gebirge über den Fluß, der wie in einer engen Felſenſpalte zwiſchen den Felſen hindurch gedrungen iſt und an den Ufern keinen Raum zu einem Wege übriggelaſſen hat. Man hat daher die Reiſe nach Buchtarminsk entweder über das Gebirge oder zu Waſſer auf dem Irtyſch zu machen. Die erſtere Reiſe iſt allerdings etwas beſchwerlich, kann aber ſchneller ausge— führt werden, als die bequemere Reiſe auf dem Irtyſch, die wegen der ſtarken Strömung des Fluſſes in dieſer Gegend nur ſehr lang— ſam von ſtatten geht. Die Reiſenden hatten, die Waſſerfahrt für den Rückweg verſparend, natürlich gleich den Gebirgsweg vorgezogen, und da dieſer in ihren großen Wagen nicht auszuführen war, ihre nothwendigſten Bedürfniſſe in lange und ſchmale Wagen gepackt, denen ähnlich, deren man ſich auch im Ural zu Gebirgsreiſen bedient. Ihre übrigen Sachen hatten ſie ihrem gefälligen Wirthe, deſſen Gaſtfreundſchaft ſie doch bei ihrer Rückkehr wieder in Anſpruch neh— men mußten, zur Verwahrung übergeben. Hier hatten ſie ebenfalls ihr Barometer gelaſſen, das in den ſchmalen, nur eigentlich zum Lie⸗ gen eingerichteten Wagen nicht gut aufgehoben geweſen wäre. Nach dieſen Vorkehrungen reiſten ſie ab.

Der Gebirgsweg nach Buchtarminsk führt durch fünf Dörfer (Ulbinskoi, Fekliſtowskoi, Sewernoi, Alexandrowskoi, Bereſowskoi und Buchtarminsk), die wie die Dörfer und Städte an der ganzen Irtyſchlinie bis Omsk von Koſaken bewohnt werden, denen neben dem Ackerbau, welchen ſie treiben, auch die Bewachung der Grenze obliegt. Die Dörfer ſind, wegen der Anfälle der jenſeits des Irtyſch wohnenden Kirgiſen, mit ſpaniſchen Reitern umgeben und heißen daher Redouten; da dieſe Anfälle aber jetzt wohl kaum noch vor— kommen, fo find auch die früher forgfältig unterhaltenen Befeftis gungen gegenwärtig von keiner Bedeutung mehr.

Bis zur erſten 27 Werſte entfernten Station Ulbinskoi mußte man fünfmal über die Ulba ſetzen. Der Weg wird bald ſehr ber— gig und würde in andern als den erwähnten ſchmalen langen Wa— gen gar nicht zu befahren ſein. Die Thäler werden eng, die Berge hoch und ſteil, die Ausſichten oft äußerſt maleriſch; leider verloren ſie bei dem regnigen Wetter, das den ganzen Tag über anhielt,

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ſehr viel von ihrer Schönheit. Ulbinskoi, in welchem die Reiſenden eine kurze Zeit verweilten, um den Regen wo möglich abzuwarten, iſt nur ein kleines Dorf, die Häuſer ſind aber reinlich und zeugen von der Wohlhabenheit der Bewohner. Wan treibt auch hier viel Bienenzucht und gewinnt einen ſehr wohlſchmeckenden Honig, den man den Reiſenden in einer eigenthümlichen Verbindung mit fri— ſchen Gurken vorſetzte, mit denen er hier viel genoſſen wird.

Von Ulbinskoi wird der Weg noch beſchwerlicher. Man fuhr einen ſteilen Berg hinan und befand ſich nun auf einer hügeligen Hochebene, die mit hohem Gras und Kräutern bewachſen, aber ohne Bäume war. Fekliſtowskoi, die zweite Station, liegt noch in dieſer Hochebene, und man bleibt auch auf ihr faſt bis zur dritten Station Sewernoi, die nur in einem Einſchnitte derſelben liegt, in welchem ein kleiner Bach, die Smolianka, fließt. Da es nicht mehr möglich war, die folgende Station noch bei Tage zu erreichen, und der Weg bis dahin ſehr bergig iſt, ſo blieben unſre Reiſenden die Nacht über hier.

Am folgenden Tage, den 15. Auguſt, brachen ſie früh auf und fuhren in engen Thälern zwiſchen ſteilen Felſen bis nach Alexan— drowskoi. Das Wetter, welches anfangs noch trüb und regnigt war, klärte ſich aber bald auf, ſo daß ſie noch am Vormittage den hei— terſten Sonnenſchein hatten.

Ein nordwärts von Buchtarminsk gelegener Granitberg, der den Namen Wochnataja Sopka (kirgiſiſch Beritau) führt, fiel den Reiſenden durch ſeine merkwürdige Geſtalt auf. Er iſt kegelförmig und bildet nach vorn und hinten lange Streifen, die zuletzt plötzlich unter die Dammerde abfallen. Humboldt hat ihn auf der Rückreiſe noch beſonders beſtiegen.

In der nächſten Umgebung von Buchtarminsk hören die Berge auf, der Ort liegt in einer ziemlichen Ebene auf der rechten Seite der Buchtarma, eine Werſt vom Einfluß derſelben in den Irtyſch. Die Feſtung liegt unmittelbar am Ufer, das hier ſehr ſteil abfällt und einen 40 bis 50 Fuß hohen Abhang bildet, während es auf der andern Seite nur ganz flach iſt. Sie hat die Geſtalt eines Rechtecks, ihre eine längere Seite macht das Ufer ſelbſt aus, die andern Seiten find mit Wald und Graben umgeben, welchen letzte—

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ren man in den Felſengrund gefprengt hat. Sie iſt jedoch nur klein und enthält außer einigen Wohnhäuſern nur das Hospital und die Magazine. Vördlich an die Feſtung ſchließt ſich die Stadt an, die, mit einer Befeſtigung von ſpaniſchen Reitern umgeben, noch kleiner und unanſehnlicher iſt als Uſtkamenogorsk und nur gegen 800 Einwohner zählt. Doch iſt die Stadt auch noch neu und erſt nach der Anlage der Silbergrube Syränowsk entftanden, zu deren Schutze die Feſtung im Jahre 1791 beſonders erbaut wurde. Uſt— kamenogorsk dagegen exiſtirt ſchon ſeit 1720.

In der Witte des ſteilen Granitabhanges, den das Ufer inner— halb der Feſtung bildet, befindet ſich eine Schlucht, welche ſich tief in den innern Raum der Feſtung hineinzieht, und deren Seiten von Thonſchiefer gebildet werden. Wahrſcheinlich hat derſelbe die Schlucht früher ganz ausgefüllt, iſt aber, leichter zerſtörbar als der Granit, von dem Tagewaſſer zum Theil ausgewaſchen worden. Was ihn beſonders merkwürdig macht, ſind ein bis zwei Zoll mäch— tige Granitgänge, die ihn nach allen Seiten hin ganz neßförmig durchſetzen.

In der Nähe der Feſtung liegen noch zwei mineralogiſch bemer— kenswerthe Orte, die Kupfergrube Buchtarminsk, 27 Werſte öſtlich von der Feſtung, und ein etwas ſüdlich von der Grube gelegener Magnetberg. Unſere Reiſenden, die ſich überhaupt nur einige Stun— den in Buchtarminsk aufhielten, konnten indeß beide nicht beſuchen. Die Kupfergrube iſt ſeit 1700 in Betrieb, wird aber jetzt nur we⸗ nig noch bebaut, und iſt überhaupt nur dadurch wichtig geworden, daß fie die Veranlaſſung zur Entdeckung der reichen Silbergrube Syränowsk wurde. Den Wagnetberg hat man noch gar nicht be— nutzt, da man ungeachtet der Leichtigkeit, mit welcher das Erz zu gewinnen wäre, daſſelbe doch aus Mangel an Holz nicht verſchmel— zen kann.

Die Reiſenden waren kurz nach Wittag in Buchtarminsk an⸗ gekommen und ſetzten, nachdem Humboldt noch Sonnenhöhen ge— nommen hatte, um fünf Uhr ihre Reiſe geraden Wegs nach Syrä— nowsk weiter fort. Der Weg dahin geht bis zum Dorfe Talowka, 20 Werſte von Buchtarminsk, auf der rechten, dann auf der linken Seite der Buchtarma. Sie fuhren anfangs, die Wochnataja Sopka

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zur Linken laſſend, auf der jetzt ganz verdorrten Steppe fort, deren unzählige trockene Tulpenſtengel ihnen eine Vorſtellung von ihrer Pracht und Schönheit im Frühjahr gaben, und gelangten dann an einen niedrigen und kahlen Bergrücken, der gerade auf den Fluß zuſetzt und den ſie in ſchräger Richtung bis nach Talowka durch— ſchnitten. Erſt in der Nacht um ein Uhr langten ſie ziemlich durch— froren in Syränowsk an.

Syränowsk liegt in dem Thale der Waglenka, nicht weit von ihrer Vereinigung mit der Bereſowka, welche ſich 10 Werſte weiter nördlich in die linke Seite der Buchtarma ergießt. Das Thal iſt weit, aber unfruchtbar, und die Berge, die ſich an beiden Seiten zu ziemlich bedeutender Höhe erheben, ſind faſt völlig baumlos, daher die ganze Gegend ein dürres und ödes Anſehen hat. Die Grube liegt an dem Abhange eines ſolchen, die Thalwand bildenden, ziem— lich prall anſteigenden Berges, der aus Thonſchiefer beſteht.

Die Grube findet ſich faſt ganz auf der Höhe des Berges. Der Hornſtein, welcher das Erzlager bildet, iſt mit Quarz und Schwerſpath durchſetzt. Der Quarz iſt meiſt ſehr porös; ſeine Po— ren ſind mit gelbem Eiſenocher und mit Bleierde mehr oder weniger angefüllt, die auch größtentheils das ſilberhaltige Gold enthalten, das den Hauptgegenſtand des Grubenbaues ausmacht. Gewöhnlich iſt dies nur in ſo fein vertheiltem Zuſtande darin enthalten, daß man es mit bloßen Augen nicht erkennen kann; doch findet es ſich auch in größeren Blättchen und Körnern, ja zuweilen in Stücken von mehreren Lothen und Pfunden. Unſere Reiſenden erhielten ſelbſt ein ſolches Stück, welches ungefähr ſieben Loth wog und ziem— lich frei von Quarz war. Die übrigen auf dem Erzlager vorkom— menden Erze beſtehen noch in Weißbleierz, Kupferlaſur, Rothkupfer— erz, Kupferglanz und Kupferkies; die braunen, in dem poröfen Quarz enthaltenen Ocher bilden aber ſtets den größten Theil der Förderung. Die Erze enthalten im Durchſchnitt im Pud vier bis ſechs Solotnik goldhaltiges Silber und etwa 20 Procent Blei.

Das jährliche Quantum, welches die Ausbeute der Grube an goldhaltigem Silber liefert, beträgt an 500 Pud. Die Zahl der Arbeiter ſteigt bis auf 700 Mann. Wegen gänzlichen Holzmangels werden die Erze nicht an Ort und Stelle verſchmolzen, ſondern

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nach Barnaul und den übrigen Silberhütten des Altai abgeführt. Der Transport geſchieht zum Theil zu Lande, zum Theil zu Waſſer auf dem Irtyſch. Sie werden zu dem Ende bei dem obern Ver— ladungsplatze zwiſchen den Koſakendörfern Woronoi und Tſcherem— ſchanskoi, oberhalb der Feſtung Buchtarminsk und 60 Werſte von Syränowsk, eingeſchifft und bei dem untern Verladungsplatze, 2 Werſte oberhalb von Uſtkamenogorsk, wieder ausgeſchifft. Wegen des weitern Transportes hatte man bisher nur die rauheren Erze, d. i. beſonders den poröſen Quarz, zu den Hütten abgeführt, den derben aber, als zu arm, zurückbehalten. Seit 1826 hat man indeß angefangen, dieſen in einem Pochwerke, welches unterhalb der Grube im Thale der Bereſowka angelegt iſt, zu verpochen und auf dieſe Weiſe ſchon eine anſehnliche Quantität Gold gewonnen.

Die Grube iſt noch neu, ſie wurde im Jahre 1791 von einem Schloſſergeſellen der Buchtarminskiſchen Grube, Syränoff, entdeckt; in den erſten Jahren wurden nur die Erze gefördert, der Trans— port derſelben auf dem Irtyſch ward erſt 1804 durch den Ober— Berghauptmann von Froloff eingeführt. Auch auf der Syränow— ſchen Grube hat man alte Tſchudiſche Arbeiten gefunden, und auch hier gaben ſie zu den neuen Veranlaſſung.

Unſere Reiſenden blieben den Vormittag in Syränowsk, befuh— ren zuerſt die Grube und beſuchten ſodann das Pochwerk; am Nach— mittage reiſten ſie weiter. Bei dem Pochwerk hat man, das Thal der Bereſowka hinab, die Ausſicht in das Thal der Buchtarma und auf das ſich jenſeits erhebende Cholſun-Gebirge. Einer der höchſten Berge deſſelben, die Stolbowucha, liegt dem Thale der Bereſowka gerade gegenüber, und erhebt ſich in 17 einzelnen Hör— nern; ſie waren alle ſchon mit Schnee bedeckt, der zwar nicht das ganze Jahr auf ihnen liegen bleibt und im Mai wegzuſchmelzen, aber ſchon am Ende des Juli ſie wieder zu bedecken pflegt. Der Anblick dieſer ſchneebedeckten Berge erregte wohl den Wunſch, noch weiter in's Gebirge eindringen zu können; aber die Jahreszeit war doch, in Rückſicht auf die weiteren Pläne der Reiſenden, ſchon zu weit vorgerückt, um dieſem Wunſche nachgeben zu können.

Die Stolbowucha iſt nicht der höchſte Berg des Cholſun-Ge— birges, noch weiter öſtlich liegt, 15 Werſte ONO. von dem Dorfe

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Fykalka, in dem Thale der Bjelaja, einem rechten Nebenfluffe der Buchtarma, die höhere Schtſchebenucha, und noch weiter öſtlich, in dem Weridian des von Ledebour beſuchten chineſiſchen Poſtens Tſchin— giſtei an der Buchtarma die hohe Bjelucha, die für den höchſten Berg des ganzen Altai gehalten wird, aber bis jetzt noch unerſtie— gen iſt. Der Staatsrath Gebler, der fie in der neuern Zeit, im Jahre 1833, beſuchte und befchrieb*), giebt ihre Höhe auf 11,000 Fuß an. Sie bildet zwei ſteile, ſpitze, durch einen das übrige Ge— birge noch weit an Höhe übertreffenden Bergrücken verbundene Hör— ner, die mit ewigem Schnee bedeckt ſind, zwiſchen welchem man nur ſchmale Felſenriffe nach den Gipfeln ſich hinziehen ſieht. Am Fuße des weſtlichen Hornes entſpringt aus Gletſchern die Katunja oder der Uimon, der in bogenförmigem Laufe anfangs in weſtli— cher, ſodann in nördlicher, und nach der Vereinigung mit dem Kok— fun in öſtlicher Richtung fortfließt, bis er nach der Verbindung mit dem Argut und der Tſchuja ſeinen Lauf abermals verändert und eine nordöſtliche Richtung annimmt; an dem öſtlichen Horne ent— ſpringt der Berel, der nach einem 60 bis 70 Werſte langen ſüd— ſüdöſtlichen Laufe ſich mit der Buchtarma, 123 Werſte oberhalb der Bjelaja, verbindet. Von der Bjelucha gehen zwei Bergketten aus; die eine zieht ſich von dem weſtlichen Horne in nordweſtlicher Richtung und im Vorden der obern Katunja fort; die andere nimmt von dem öſtlichen Horne eine oſtſüdöſtliche Richtung nach der Tſchuja; dieſe Kette wird in ihrem mitteren Theile von dem Argut durch— brochen, der, ein weit bedeutenderer Strom, als ihn die Karten an— geben, ſeinen Urſprung in der chineſiſchen Mongolei nimmt. Beide Gebirgsketten nennt Gebler das Katungiſche Gebirge.

An der Südſeite dieſes Gebirges finden ſich die einzigen be— kannten heißen Quellen des Altai. Sie liegen nicht weit von den Quellen des Berel, in dem Thale des kleinen Fluſſes Rach— manowka, der von NO. nach SW. fließend in die öſtliche Seite des Berel fällt, nachdem er ſich zweimal zu kleinen Alpenſeen er— weitert hat. Nahe unter dem obern See dringen drei ſolche Quel— len in geringer Entfernung von einander aus einem Gerölle von

*) Dorpater Jahrbücher Band 3.

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Glimmerſchiefer, Porphyr, beſonders aber von Granit an der nörd— lichen Thalwand hervor. Die Hauptquelle fand Gebler auf zwei Ellen im Gerölle vertieft und mit einer hölzernen Einfaſſung um— geben, die andere nicht halb ſo tief und im Halbkreiſe mit Steinen umlegt. Ihr Waſſer vereinigt ſich und rieſelt zwiſchen dem Gerölle der Rachmanowka zu. Dreißig Faden näher am See finden ſich in ähnlichen künſtlichen Becken noch zwei warme Quellen, die, wie auch eine kalte Quelle, die wenige Schritte öſtlich von dieſen durch den Raſen fließt, ſich in den See ergießen.

Das Waſſer der warmen Quellen rieſelt, durch die dicke Lage des Gerölles vielleicht in ſeiner Kraft gebrochen, ſtill hervor und giebt bei der Hauptquelle, früheren Beobachtungen zufolge, in der Stunde 20 Eimer. In allen Becken entwickeln ſich Blaſen kohlen— ſauren Gaſes, die in unbeſtimmten Zeiträumen bald ſchneller, bald langſamer auf einander folgen; auf dem Gerölle, über welches das Waſſer fließt, befindet ſich ein ſehr dünner weißer Ueberzug. Das Waſſer iſt geſchmack- und geruchlos; es hatte in der Hauptquelle eine Temperatur von 334 Grad R., und nachdem ihr Baſſin noch etwas vertieft war, von 34 Grad; in den dabei gelegenen untern Quellen von 27 und 29 Grad und in den obern ſeichtern Quellen von 25 Grad. Nach Geblers chemiſchen Verſuchen enthält das Waſſer nur 1 bos feſte Beſtandtheile, die aus kohlenſauren Salzen mit Ertractivftoff beſtehen. In dieſer Eigenthümlichkeit haben die heißen Waſſer des Altai viel Aehnlichkeit mit den Quellen von Ga— ſtein, denen von Pfeffers in der Schweiz und beſonders mit den ſehr heißen Quellen, welche aus dem Granitterrain der Küſtenkette von Caracas in Südamerika entſpringen. Das Daſein der heißen Quellen im Altai ſteht, worauf Humboldt zuerſt aufmerkſam ge— macht hat“), mit einer andern Erſcheinung in Verbindung, nämlich mit den Erdbeben, die am Altai nicht ſelten verſpürt werden. Die Erſchütterungen ſind bis jetzt zwar nie ſehr heftig geweſen, ihr Gebiet erſtreckt ſich indeſſen nicht blos auf das Gebirge, wo ſie freilich am häufigſten ſind, ſondern auch auf die angrenzende Ebene, wie z. B. bei dem Erdbeben vom 28. November 1761, das, wie

) Vgl. Humboldt, Centralaſien I, 207.

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Pallas berichtet, in Barnaul, und bei dem Erdbeben vom 8. No— vember 1829, das nach Gebler in Barnaul und Suſunsk wahrge— nommen wurde. Wie Humboldt bemerkt, iſt die Grube von Rid— dersk der weſtlichſte Punkt, bis zu welchem ſich die unterirdiſchen Erſchütter ungendes Baikalbeckens fortzupflanzen ſcheinen. Am Ural ſind keine heißen Quellen bekannt, aber auch Erdbeben äußerſt ſel— tene Erſcheinungen.

Die Syränowſche Grube liegt ſo nahe der chineſiſch-mongoli— ſchen Grenze, daß unſere Reiſenden die Gegend unmöglich verlaſ— ſen konnten, ohne einen Beſuch bei dem nächſten chineſiſchen Poſten Baty oder Khonimailakhu am Irtyſch zumachen. Humboldt hatte deshalb ſchon in Buchtarminsk die Vorkehrungen dazu getroffen, und der General Littminoff einen Koſaken abgeſandt, um dort ihre Ankunft anzumelden. Sie fuhren daher von Syränowsk direct zu dieſem Poſten hin. Der Weg ging bei dem Goldpochwerke vorbei, dann aber rechts das Thal der Bereſowka einige Zeit aufwärts, worauf ſie ſich dann wieder rechts über die Ebene nach dem Irtyſch wandten. Das Thal der Bereſowka iſt groß und weit und zu bei— den Seiten von mäßig hohen Bergen eingefaßt, die wie im Thale der Maglenka völlig nackt find. Nachdem die Reiſenden dieſes Thal verlaffen hatten, ſpannten fie in einem Dorfe noch einmal um und gelangten dann um 1 Uhr in der Vacht nach dem letzten Koſaken— dorfe am Irtyſch, Krasnojarsk, wo ſie den übrigen Theil der Nacht verweilten.

Am Morgen brachen ſie früh auf und fuhren an dem rechten Ufer des Irtyſch entlang. Da Krasnojarsk von dem chineſiſchen Poſten noch 60 Werſte entfernt iſt, ſo waren, um ihren Beſuch in einem Tage abmachen zu können, Pferde zum Wechſeln voraus— geſandt worden. Vach dem erſten Wechſel ſetzten ſie über den Na— rym, einen kleinen in den Irtyſch fallenden Fluß, welcher hier die Grenze gegen die chineſiſche Mongolei bildet. Er hat einen faſt genau weſtlichen Lauf, iſt jedoch nicht lang; weiter aufwärts bildet die obere Buchtarma die Grenze, die faſt in der Verlängerung des Narym liegt, ſich aber einige Werſte von deſſen Urſprung nach NW. wendet. Eine hohe nackte Felſenkette, die den Namen der Narymſchen Berge führt, zog ſich bisher auf der rechten Seite des

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Irtyſch in einiger Entfernung vom Ufer entlang, hinter dem Na— rym rücken aber dieſe Berge näher an den Fluß, an der Stelle des zweiten Pferdewechſels waren ſie ihm am nächſten und traten dann wieder mehr zurück. Sie beſtehen aus Granit, der auch hier größtentheils in horizontalen Lagen abgeſondert iſt und dieſelben merkwürdigen Formen hat wie am Kolywanſchen See und bei Buchtarminsk.

Humboldt's Tagebuch, welches unter dem Eindruck des Anblicks der Oertlichkeiten ſelbſt verfaßt wurde, charakteriſirt die eigenthüm— lichen Erſcheinungen, welche der Granit am Altai undauf dem Wege dahin darbietet, in folgendem Geſammtbilde; „Virgend“, ſagt er, „habe ich weder in der einen noch in der andern Hemiſphäre Granit geſehen, welcher den Charakter plutoniſcher (hervorgebrochener oder ergoſſener) Felsarten deutlicher trüge, als der Granit, welcher die Gebirgsmaſſe des Altai umgiebt. Er iſt iſolirt, wie Porphyr oder Baſalt, und wird nicht von Gneiß oder Glimmerſchiefer begleitet. Am Fuß des Alpengebirges erhebt er ſich in der Steppe unter den ſeltſamſten Formen. Wenn man aus der Steppe von Platowsk, wo man zum erſten Wale die Schneemaſſen der Tigeretzkiſchen Al— pen am Horizont unterſcheidet, zu den felſigen Ufern des Koliwan— ſchen Sees aufſteigt, ſo wird man von dieſen Granit-Eruptionen, welche auf einem Raum von mehreren Quadratmeilen aus einem ganz ebenen Boden hervortreten, überraſcht. Bald liegen die Fel— ſen in geraden Reihen hinter einander, bald zerſtreut in der Ebene, und dabei beſitzen ſie die ſonderbarſten Geſtalten: hier ſieht man ſchmale Mauern *), dort kleine Thürme oder Polygone. Die nie— drigſten Mauern ähneln Tribünen, Seſſeln oder Grabdenkmälern. Der Contraſt in der Höhe und dem Volumen der Granitmaſſen verleiht dieſer Gegend insbeſondere eine fremdartige Phyſiognomie. Manche haben eine Höhe von 400—500 Fuß, wie die Wyſſokaja

*) Dieſe Granitmauern, fügt Humboldt hinzu, gleichen den ſchroffen Mauern, welche den Gipfel des Ochſenkopf im Fichtelgebirge und die thurm⸗ artigen „Schnarcher“ im Harz bilden, wie den mit Palmen gekrönten, mo— numentalen Granitmaſſen, welche ich in majeſtätiſcher Erhebung über die Wälder von Laurineen und Guttiferen am obern Orinoko, zwiſchen den Ne- benflüſſen Vichada und Zama geſehen. (Centralaſien I., S. 191).

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Gora, andere erreichen kaum 7—8 Fuß und erinnern an die kleinen vulkaniſchen Erhebungen, welche in den Ebenen, die man im ſpa— niſchen Amerika Malpays nennt, die eigenthümlich rauhe Ober: fläche hervorbringen. Im Dorfe Sauſchkina oder Sauſchka befan— den wir uns gleichſam im Wittelpunkte dieſer Granitausbrüche. Die kleinen Erdhügel, welche man nicht mit den Geſchiebe-Felsblöcken verwechſeln darf, wovon ſich keine Spur zwiſchen dem Ural und Altai, zwiſchen Tobolsk, Barnaul und dem Schlangenberge findet, kommen in der Garwonaja-Steppe in großer Wenge vor. Es ſind die Dalnie-Kamni, welche mit den großen Mauern con— traſtiren, die bald ausgeſchweift (Bolſchaja-Sopka), bald eben ſind und in eine kegelförmige Spitze auslaufen (Woſtraja Sopka). Gegen SO., im Skil konnte ich mittelſt des Fernrohrs ſehr mäd): tige und gewundene Granitbänke erkennen. Alle dieſe Erhebungs— linien ſcheinen unter der Erde mit dem Vorberge der Sinaja Sopka (des Blauen Berges) zuſammenzuhängen, welchen wir auf unſerer Excurſion vom Schlangenberge nach der kaiſerlichen Koly— wanskiſchen Schleiferei nahebei ſahen.“

„Andere, noch ungewöhnlichere Formen zeigen die Granitfelſen, welche ſich längs des ſüdlichen Altai-Abhanges, zwiſchen Buchtar— minsk, dem Narym und dem chineſiſchen Poſten Baty erhoben ha— ben. Es ſind dies entweder Glocken und plattgedrückte Halbkugeln, oder Kegel, die mitten in der Ebene des obern Irtyſch liegen und meiſtentheils durch ſeitliche Ergießungen in ſehr niedrige und ſehr langgedehnte Mauern auslaufen. Man könnte hier von einem Strome ſprechen, welcher durch die Flüſſigkeit der aus einer Spalte hervorkommenen Waterie entſtanden. Beſonders wurde ich von der Kegelform eines Granithügels zwei Werft von Buchtarminsk mitten in der Ebene überraſcht. Die Kirgiſen nennen ihn Biri— tau, die Ruſſen Wochnataja Sopka. Dieſer Hügel ähnelt im Großen der Pyramide des Cajus Ceſtius neben dem Kirchhofe der Proteſtanten in Rom. Ich habe ihn von der Südſeite gezeichnet, als ich mich am Fuße des Hügels niedergelaſſen hatte, um aus dem Durchgange der Sonne durch den Weridian die Breite von Buch— tarminsk zu beſtimmen. Die geſchichteten Granitlagen ſind ganz horizontal. Man könnte verſucht fein, granitiſche Hügel, deren Ger

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flalten ſich mehrmals zwiſchen Buchtarminsk und Krasnojarki wie: derholen, von fern für Baſalt- oder Trachytkegel zu halten.“

„Hier, wie in der Steppe bei Sauſchkina, erreichen die Aus— brüche ſehr verſchiedene Höhen: einige haben kaum 50 bis 60, an— dere mehr als 400 Fuß Höhe. Zu Uſtkamenogorsk ſahen wir nach SED. in 80 Werft Entfernung, mitten in der Steppe jenſeit des Irtyſch ſich einen Berg erheben, der einer durch kleine Thürme ge— deckten Feſtung ähnlich war. Seine ruinenartige Geftalt hat ihm den Namen Kloſterberg, Monaſtyrskaja Gora (Dullo— gato Tſchököt der Kirgiſen) verſchafft“).“

„Südlich von Buchtarminsk bemerkt man, wenn man von dem Koſakenpoſten Krasnojarki längs des obern Irtyſch zum chineſiſchen Poſten Khonimailakhu reift, am rechten Ufer eine Kette geſchichte— ten Granits, deren Anblick ſeltſam überraſcht. Es ſind anfangs (beſonders nahe der chineſiſchen Grenze an den Ufern des Narym) Mauern von im Allgemeinen horizontalen oder ſchwach gegen SW. geneigten Steinſchichten; bald darauf zeigen die Granitmauern Spal— ten, durch welche andre, rechtwinklig dagegen gerichtete Ströme in die Ebene dringen. Man unterſcheidet hinter jenen Spalten zahl— reiche kleine Kegel, bei welchen die mit zerbrochenen Blöcken bedeck— ten Ströme zu endigen ſcheinen.“

„Dieſe regelmäßigen Schichtungen, wechſelnd mit Verwerfungen und ſehr gewundenen Schichten, charakteriſiren eine Eruptions— Felsart. Die Ergießungs-Erſcheinungen, welche wir ſo eben be— zeichnet haben, zeigen ſich beim Eintritt in die dſungariſche Steppe, welche ſich nach Weſten, ſo weit das Auge reicht, jenſeit des linken Ufers des Irtyſch ausbreitet.“

*) In Ledebour's Reiſe (II, 330) heißt es: „daß die Mona— ſtyrskija Gori ihren ruſſiſchen Namen von der Hauptkoppe erhalten ha— ben, welche als ein mit vielen Thürmen geziertes Gebäude erſcheint.“ Nach der Schilderung des Herrn Iwanow, welcher die Steppe oft durchreiſt hat, „umſchließen dieſe Berge, natürlichen himmelhohen Mauern gleich, eine etwa zwei Werſte große Fläche, die einem ungeheuren Hofe im Innern eines Gebäudes ähnelt. Unzählige Quellen entſpringen aus dem Geſtein. Ihre vereinigten Waſſer bilden einen kleinen Fluß, deſſen ſchmales Bett der ein— zige Weg iſt, auf dem man in dies geſchloſſene Thal gelangen kann.“

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Das linke fteppenartige Ufer des Irtyſch wird von nomadiſi— renden Kirgiſen der großen Horde bewohnt, die indeſſen auch auf dem rechten Ufer herumſtreifen. Die Reiſenden kamen bei mehreren ihrer Aule vorbei, wie man ihre zuſammen herumziehenden Gemein— den nennt, und fanden in der Nähe derſelben auch den Boden ſtel— lenweiſe bebaut. Meiſtentheils ſahen fie Hirſe (Holcus Sorgum) gezogen, die überall recht gut ſtand, weil die Kirgiſen den Acker ſehr geſchickt zu bewäſſern verſtehen, und ihn überall mit kleinen Gräben durchſchneiden, durch welche das Waſſer von den Bergen dem Acker zugeführt wird. Auch Weizen wird in den Steppen gebaut.

Um 1 Uhr kamen ſie bei dem chineſiſchen Poſten an; es ſind eigentlich deren zwei, einer auf dem rechten, ein anderer auf dem linken Ufer des Irtyſch, deren Wannſchaft in Zelten oder kirgiſi— ſchen Jurten, die ohne Ordnung durch einander geſtellt ſind, wohnt. In Ledebours Reiſe (II. 31 ff.) werden dieſe Jurten in folgender Weiſe beſchrieben: Dieſelben beſtehen aus einem kreisrunden ungefähr mannshohen ſenkrechten Gitterwerk von Holz, auf dem Stangen befeſtigt ſind, welche, mit den Spitzen convergirend, einen abge— ſtumpften Kegel bilden, der ungefähr von derſelben Höhe iſt als das Gitterwerk ſelbſt. Sie ſind durch andre Stangen im Innern der Jurte geſtützt und oben an einem Reifen befeſtigt, der als Rauchfang dient. Das Ganze iſt dicht mit Filz bekleidet; ein Rahmen ſchließt eine Oeffnung nach Oſten ein, vor der ein zierlicher bunt geſtickter Filz hängt. Höchſt ſelten nur, bei ſehr reichen Kalmüken, ſieht man Thüren von Holz. Die Einrichtung im Innern der Jurte iſt faſt überall dieſelbe. Wenn man durch die immer mehr oder weniger nach Oſten gerichtete Thür in die Jurte tritt, ſo erblickt man ge— wöhnlich rechts ein großes ledernes Gefäß, faſt von Wannshöhe, das vermittelſt einer Stange an der Jurte befeſtigt iſt; es iſt vier— eckig, zuweilen aber auch zugerundet, etwas oberhalb der Witte wird es plötzlich um die Hälfte ſchmäler; in daſſelbe iſt eine Stange von mehr als einem Faden Länge geſteckt; die obere Oeffnung iſt mit einem ungegerbten Thierfell bedeckt und oberhalb des Bodens fin— det ſich eine andere kleine Oeffnung, welche mit einem Zapfen zuge— ſteckt iſt. In dieſes Gefäß wird der tägliche Ertrag an Wilch ge—

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goſſen, wobei man nicht darauf fieht, von was für einem Thier die Milch kommt. Die Wilch ſäuert darin ſehr ſchnell, weil das Ge— fäß nie rein gewaſchen wird und immer geronnene Wilch enthält. Hat einer von den Bewohnern der Jurte, oder auch ein Gaſt, ſonſt nichts zu thun, ſo tritt er zu dieſem Schlauch (kalm. Turſſuk) und fängt an, den Inhalt deſſelben mit der Stange zu rühren und zu klopfen, bis er etwa müde iſt. Dieſe geronnene käſige Wilch bil— det die Hauptnahrung der Kalmüken, und man kann ihr, wäre nur reinlicher damit umgegangen, nicht den Wohlgeſchmack abſprechen. Weiterhin ſtehen mehrere andere Gefäße, beſonders zur Aufbewah— rung der ſüßen Milch, und das Welkgeſchirr. Weiſt iſt alles aus Leder bereitet zuweilen; auch iſt es von außen mit Reiſern dicht umflochten. Die kleineren Turſſuk, beſonders die zur Aufbewah— rung des Branntweins dienenden, den ſie ſelbſt bereiten, haben faſt die Geſtalt eines Magens, nur daß der Hals gerade die Witte des Gan⸗ zen einnimmt. Weiter ſteht das Bett, welches aus übereinander— gelegten Filzen und Teppichen bereitet iſt. Weiſt findet ſich nur ein Bett in der Jurte, ſelbſt da, wo die Familie aus mehr als 10 Glie— dern beſteht. Rechts vom Bett, und faſt gerade dem Eingange gegenüber, liegen, je nachdem der Beſitzer der Jurte mehr oder we— niger wohlhabend iſt, in 4, 8, ſogar bis 16 ledernen WVantelſäcken, die über und neben einander gewöhnlich in zwei Reihen aufgeſchich— tet ſind, die Habſeligkeiten der Kalmüken, die meiſt in Thierfellen, Kleidern, Filzen, Stücken Baumwollen- und Seidenzeug, Ziegelthee u. dgl. m. beſtehen. Dieſe Mantelſäcke oder vielmehr Tragſäcke, denn fie find jo eingerichtet, daß fie je zwei über einen Tragſattel aufs Pferd geſchnallt werden können, die bei den Reichern aus rothem Leder verfertigt und mit verſchiedenfarbigem Saffian verziert ſind, deckt ein Teppich. Sie ſind nebſt den Heerden der bedeutendſte Theil der Ausſteuer. Ueber denſelben hängen Götzenbilder verſchie— dener Art.

Links von der Thüre hängen gewöhnlich die Geräthſchaften des Mannes, wie z. B. die Flinte, die Jagdtaſche u. dgl. m. Unterhalb iſt faſt jedesmal ein Strick gezogen, an den junge Lämmer und Ziegen gebunden find, deren Mütter zwei oder dreimal täglich ge- melkt werden. In der Witte der Jurte iſt der Heerd, der oft nur

III. 17

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aus einigen Steinen beſteht, auf denen der Keſſel ruht. Nur die reichern und die näher zu den Wohnungen der Ruſſen nomadiſiren⸗ den Kalmüken beſitzen einen eiſernen Dreifuß, von welchem ſelten der Keſſel herabkommt. Ueber der Feuerſtelle iſt gewöhnlich ein Gerüſt, an welchem allerlei Sachen zum Trocknen aufgehängt wers den. Zuweilen findet man auch über demſelben ein aus Stäben bereitetes Gitter, auf welchem Käſe geräuchert wird. Dieſer Käſe wird ſpäter an Schnüren aufgereiht und auf hohen Stangen vor der Jurte zum Trocknen aufgehängt. Andere trocknen ihn, indem ſie ihn auf dem Filze des Daches der Jurte ausbreiten. In einiger Entfernung von der Jurte iſt ſtets eine Stange oder ein Pfahl eingerammt, an den die Pferde gebunden werden. Dies ſind die gewöhnlichen Einrichtungen aller Jurten; es findet darin eine große Regelmäßigkeit ſtatt, ſo daß man z. B. den großen Wilchſchlauch nie links von der Thüre, den Strick, an den die Lämmer gebunden werden, nie rechts finden wird.

In dem Poſten, welcher ſich auf dem linken Ufer des Irtyſch befindet, ſtehen Mongolen, in dem des rechten Ufers Chineſen, doch werden beide von chineſiſchen Offizieren befehligt. In der Witte zwiſchen beiden Poſten befindet ſich auf einer Inſel im Irtyſch ein kleines Koſaken-Piket unter einem Rittmeiſter (Jeſſaul), für welches dort einige Häuſer erbaut ſind. Dies Piket iſt dazu beſtimmt, die Auſſicht über den Fiſchfang zu führen, der von den Koſaken der umliegenden Dörfer auf dem chineſiſchen Irtyſch bis zum Saiſſan⸗ See getrieben wird, die mäßige Abgabe an Salz und Stören, die ſie dafür dem chineſiſchen Poſten zu entrichten haben, anzuordnen, und überhaupt auf die Erhaltung des guten Einverſtändniſſes zwi⸗ ſchen Ruſſen und Chineſen zu ſehen. Im Winter, wo kein Fiſch— fang getrieben wird, zieht ſich das ruſſiſche Piket bis zum nächſten Dorfe Krasnojarsk zurück, dann bleibt aber auch der chineſiſche Poſten nicht auf ſeiner Stelle, ſondern geht nach Tſchugutſchak, einer Stadt im Süden des Saiſſan-Sees (446 Werſte von Buchtarminsk) zurück“).

9 Prof. Hanſteen erzählt in feinen Neife-Erinnerungen aus Sibirien (beutſch von Sebald, 1854): Das gegenſeitige Verhältniß zwiſchen den Ruſ⸗ ſen und Chineſen iſt von ſo friedlicher Art, daß die Chineſen im Herbſt, wie

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Da die Ankunft der Fremden ſchon vorher angemeldet war, fo hatten die Koſaken des ruſſiſchen Pikets zwei kirgiſiſche Jurten auf dem rechten Ufer aufgeſchlagen, in welchen unſere Reiſenden erſt ab— ſtiegen, und ſodann dem Befehlshaber des rechten Poſtens einen Beſuch machten. Er kam ihnen ſchon vor ſeinem Zelte mit zwei Begleitern, die hinter ihm gingen, entgegen. Es war ein langer, hagerer und wie es ſchien noch junger Mann, mit einem blauen, ſeidenen Ueberrocke bekleidet, der bis zu den Knöcheln hinabreichte, und mit der bekannten ſpitzen unten umgekrempten Mütze bedeckt, in welche hinten mehrere ſeinen Rang verkündende Pfauenfedern ho⸗ rizontal geſteckt waren. Seine Begleiter waren ebenſo gekleidet, hatten aber die Pfauenfedern an der Mütze nicht. Er lud die Ans kömmlinge durch Zeichen ein, in ſein Zelt zu treten, eine kirgiſiſche Jurte, in welcher der Thür gegenüber und zur Seite mehrere Kof- fer und Kiſten mit Teppichen und Polſtern bedeckt ſtanden, und ein Teppich auf dem Boden ausgebreitet war. Der chineſiſche Befehls- haber nahm der Thür gegenüber Platz, ihm zur Seite Humboldt, die übrige Geſellſchaft ſetzte ſich theils auf die übrigen Kiſten oder Polſter, theils auf den Boden. Die Reiſenden hatten einen Dolmet- ſcher aus Buchtarminsk mitgebracht, der indeſſen nur mongoliſch ſprach, welches aber der chineſiſche Offizier verſtand. Die Fragen Humboldt's wurden nun von ſeinen ruſſiſchen Begleitern dem Dol— metſcher in's Ruſſiſche, und von dieſem dem chineſiſchen Offiziere in's Wongoliſche überſetzt, und denſelben Weg machten die Antwor⸗ ten zurück. Der chineſiſche Befehlshaber bot feinen Gäſten Thee an, (der von den Chineſen ohne Wilch und Zucker getrunken wird), allein man dankte dafür; er erkundigte ſich darauf nach der Ab— ſicht der Reiſe des Herrn v. Humboldt, welcher ihm erwiedern ließ, daß er gekommen ſei, um die Bergwerke, von denen der chineſiſche Offizier wohl Kenntniß hatte, zu beſuchen. Humboldt dagegen fragte ihn nach ſeiner Heimath, worauf jener erwiederte, daß er direct von Peking hierher geſandt ſei, und erzählte, daß er den Weg zu Pferde

die Kälte ſich einzufinden anfängt, ihre Waffen der ruſſiſchen Beſatzung in Verwahrung geben und ſich ſüdwärts nach milderen Gegenden ziehen. Im Frühjahre finden ſie ſich wieder ein und bekommen ihre Waffen freund ſchaft⸗ lich von ihren nördlichen Nachbarn ausgeliefert.

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und in 4 Monaten zurückgelegt habe, daß er noch nicht lange hier ſei, und daß die Befehlshaber dieſes Poſtens alle drei Jahre wech— ſelten.

Nach einem kurzem Aufenthalte entfernten ſich unſre Reiſen— den und ließen ſich nach dem jenſeitigen Ufer überſetzen, um dem Offizier des andern Poſtens gleichfalls ihren Beſuch zu machen. Er erwartete ſie in ſeiner Jurte, vor deren Thür eine Menge Stangen, mit Stücken friſchen Fleiſches behängt, aufgeſtellt waren, zwiſchen denen ſie ſich einen Durchweg ſuchen mußten. Er war wie der Be— fehlshaber des rechten Poſtens bekleidet, war aber älter und ſchmut— ziger, und einen ähnlichen Anſtrich hatte auch ſeine Jurte und ſeine ganze Umgebung. Die Unterhaltung mit ihm war noch etwas mühſamer, da ihm erſt die Reden des Dolmetſchers von einem ſei— ner Untergebenen in's Chineſiſche überſetzt werden mußten, ſei es, daß er ſelbſt nicht mongoliſch verſtand, oder daß er es ſeiner Würde für angemeſſener hielt, nicht unmittelbar mit dem Dolmetſcher zu ſprechen. Humboldt ſchenkte ihm ein Stück rothen Sammet, das ſchon zu dieſem Zwecke in Buchtarminsk gekauft war, und welches er mit Dank annahm. Er bot darauf Thee an, wofür ihm jedoch gleichfalls gedankt wurde. Nach einigem Verweilen führte er ſeine Gäſte in den Tempel, der auf dieſer Seite des Irtyſch nicht weit vom Fluſſe ſtand. Es war ein kleines viereckiges hölzernes Gebäude, deſſen Thür dem Fluſſe zugekehrt war; im Innern war es faſt leer, da es, außer einem Altar der Thür gegenüber und der Abbildung eines Idols des Buddhiſtiſchen Cultus an der Wand über dem Al— tare, keine andern Gegenſtände enthielt. Außerhalb war der Thür gegenüber zwiſchen dem Tempel und dem Fluſſe eine Mauer von etwas größerer Breite als der Tempel aufgeführt, und zwiſchen der Mauer und dem Tempel ein anderer Altar errichtet, der aus Schieferſtücken beſtand und oben mit einer großen Schieferplatte be— legt war, auf welcher noch unausgebrannte Kohlen lagen.

Die Reiſenden kehrten nun wieder nach dem andern Ufer zu— rück und erhielten bald darauf von dem erſten Befehlshaber und zweien feiner Begleiter einen Gegenbeſuch. Humboldt bewillkomm— nete ſie, und lud ſie ein in die Jurte zu treten, in welcher man ſich, da fie ganz leer war, auf die am Boden ausgebreitete Watte nie

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derließ; Humboldt in der Witte, zu feiner Linken General Litwinoff und die übrigen Reiſegefährten, zu ſeiner Rechten der chineſiſche Be— fehlshaber mit ſeinen Begleitern. Die gemeinen Wongolen dräng— ten ſich dabei an die Jurte heran und betrachteten die Fremden von der Thür aus. Der chineſiſche Befehlshaber und ſeine Beglei— ter holten ihre Tabakspfeifen hervor und fingen an zu rauchen, nach— dem ſie die übrige Geſellſchaft aufgefordert hatten, ein Gleiches zu thun. Die chineſiſchen Pfeifenköpfe ſind bekanntlich nur ſehr klein und nach einigen Zügen ſchon ausgeraucht, ſie müſſen daher unauf— hörlich neu geſtopft und angezündet werden, was die Begleiter des Offiziers ſtatt ſeiner thaten. Derſelbe koſtete auch von dem Tabak, den Herr v. Jermoloff ihm anbot und der ihm auch zu ſchmecken ſchien, legte jedoch bald ſeine Pfeife weg, da Humboldt und der größere Theil der Geſellſchaft nicht rauchten. Humboldt überreichte nun dem chineſiſchen Befehlshaber ein Stück feines blaues Tuch, deſſen Annahme dieſer jedoch lange Zeit verweigerte. Während er nämlich durch den Dolmetſcher ſein Bedenken, ein ſo großes Ge— ſchenk anzunehmen, ausdrücken ließ, gab er dies ſelbſt auch Humboldt durch Zeichen zu verſtehen und ſchob das Stück wieder zurück, wor— auf dieſer ihn durch den Dolmetſcher und ebenfalls durch Zeichen bedeutete, daß er es annehmen müſſe, und ihm das Tuch wieder zuſchob. Nachdem dies Hin- und Herſchieben mehrmals wieder- holt war, gab der Befehlshaber endlich nach, und wie es ſchien mit Vergnügen. Er erkundigte ſich darauf bei dem Dolmetſcher, welches Gegengeſchenk er wohl machen könnte, und da für dieſen Fall der Dolmetſcher ſchon unterrichtet war, daß Hrn. v. Humboldt nichts lieber als einige Bücher ſein würden, die unſere Reiſenden in der Jurte des chineſiſchen Befehlshabers hatten liegen ſehen, ſo ließ dieſer ſogleich die Bücher holen, und überreichte ſie Humboldt, welcher ſie, ſehr erfreut über das für ihn ſo werthvolle Geſchenk, doch ebenfalls erſt nach mehreren Höflichkeiten und längerm Zögern annahm. (Die Bücher, welche ſich jetzt in der Königl. Bibliothek zu Berlin befinden, enthalten einen biſtoriſchen Roman in vier Bän⸗ den, Sankuetſchi betitelt, der die Geſchichte der drei Reiche enthält, in welche China nach dem Ende der Dynaſtie Han getheilt war). Der chineſiſche Befehlshaber äußerte eine um ſo größere Freude,

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als ihm Humboldt erzählte, daß er einen Bruder habe, der ſich viel mit der chineſiſchen Sprache beſchäftige, und dem er ſie nun mit⸗ bringen wolle. Humboldt bat darauf den chineſiſchen Befehlshaber ſeinen Namen in das Buch zu ſchreiben, was er mit einem Bleiſtifte, welcher ihm überreicht wurde, that, und wodurch man erfuhr, daß er Tſchin⸗fu heiße. Der Bleiſtift war ihm neu, er betrachtete ihn mit Wohlgefallen und nahm ihn daher gern an, als er ihm ge ſchenkt wurde. Wan bot ihm darauf aus den mitgenommenen Le⸗ bensmitteln einige Erfriſchungen an, wie Madeira-Wein, Zwieback und Zucker, von welchem letztern unſre Reiſenden mit einem großen Vorrath verſehen waren, da fie gehört hatten, daß ihn die Mon- golen, welche ihn ſelbſt nicht haben, ſondern erſt von den Ruſſen eintauſchen müſſen, ſehr gern eſſen. Von dem Madeira-Wein trank Tſchin⸗ſu jedoch nur wenig, und von dem Zucker nahm er ebenfalls nur ein kleines Stück, das er nicht einmal genoß. Er legte es, nebſt einem Zwieback, den er genommen hatte, vor ſich zu dem Blei⸗ ſtifte auf das Stück Tuch, und ließ dieſes, wie auch ein kleines Pa⸗ quet Tabak, welches ihm Herr von Jermoloff verehrt hatte, ſpäter forttragen. Seine Begleiter leerten indeß mehrere Gläſer Wein, ſtets in einem Zuge, legten bei dem Anblick des Zuckers gleichfalls ihre Pfeifen weg und nahmen und aßen denſelben in großer Menge. Noch anderen Zucker vertheilten die Reiſenden unter die gemeinen Mongolen, die ſich inzwiſchen in die Jurte hineingedrängt hatten und wie die Kinder begierig ihre Hände danach ausſtreckten.

Nach einiger Zeit ſtand Tſchin-fu auf und empfahl ſich; es war offenbar ein feiner gebildeter Wann, was aus ſeinem ganzen Be⸗ nehmen hervorleuchtete. Unſere Reiſenden verweilten noch etwas länger und betrachteten die gemeinen Wongolen, die ſich von allen Seiten voller Neugierde herzudrängten, die Fremden betaſteten und unterſuchten, indeß auch nicht verdrießlich wurden, wenn man fie mit den Händen fortſchob. Es waren ihrer in beiden Poſten etwa 80 Mann, wie die Befehlshaber in lange Ueberröcke von verſchie— dener Farbe gekleidet, die über den Hüften mit einem Gürtel zu— ſammen gehalten wurden, aber alle zerlumpt, ſchmutzig und un⸗ bewaffnet. Sie waren ſämmtlich ſehr hager, daher ſie nicht auf- hören konnten, die Corpulenz eines der Humboldt'ſchen Begleiter

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zu bewundern, feinen Bauch zu umklaftern und mit den Fingern zu berühren. Von ihren Waffen ſahen die Reiſenden nur Bogen und Pfeile, die ſie nebſt anderen Gegenſtänden, wie Tabakspfeifen, Porzellan, die Stäbchen, deren ſie ſich ſtatt der Löffel zum Eſſen bedienen u. ſ. w. zum Tauſch und Kauf anboten. Zwiſchen ihren Zelten ſah man einige Kameele und eine Heerde von Ziegen und Schafen mit Fettſchwänzen umher laufen, die ihren Viehſtand aus: machten. Die ganze Gegend umher hatte ein ödes Ausſehen, der Boden war hüglig und die kleinen, aus einem feinkörnigen Grau— wackenſchiefer beſtehenden Hügel waren meiſt von aller Dammerde entblößt. Die Ufer waren jedoch ſchilfreich, beſonders an der kleinen Inſel im Irtyſch, auf welcher das Koſaken-Piket ſtand.

Aehnliche chineſiſche Poſten wie Baty finden ſich an der gan: zen ruſſiſchen Grenze; der nächſte öſtliche Poſten iſt der von Tſchin— gistei, welcher an der Buchtarma in der Nähe des Dorfes Fykalka aufgeſtellt iſt, und im Jahre 1826 von Ledebour befucht wurde. Oeſtlich von dieſem befindet ſich ebenfalls an der Buchtarma, gegen⸗ über der Einmündung der Fadicha, der Poſten Urül, der im Jahre 1833 von Gebler beſucht wurde, welcher aber nur drei Kalmüken dort traf, da die übrige Mannſchaft ſich nach Gobdo Choto zurück⸗ gezogen hatte, und die neue noch nicht angekommen war. (Der Marſch zwiſchen dieſen Oertern wird gewöhnlich in 10 Tagen zu⸗ rückgelegt.) Oeſtlich von Urül befinden ſich noch die Poſten Uſün⸗ debatü und Tſchenedegoto an der Buchtarma, dann folgt der Poſten Ukuk an dem in den Argut fließenden Bach Alacha, und dann der letzte an den Quellen der Tſchuja. Faſt alle dieſe Poſten ziehen ſich im Winter nach Gobdo Choto zurück, nur der von Tiſchin⸗ gistei bleibt auch in dieſer Jahreszeit an Ort und Stelle.

Unſre Reiſenden beſchleunigten die Anſtalten zur Abreiſe, da Humboldt gern ſo früh wie möglich Baty verlaſſen wollte, um zur Beſtimmung der Lage des Poſtens in einiger Entfernung von dem⸗ ſelben Sonnenhöhen nehmen zu können. An Ort und Stelle dies zu thun, nahm er Anſtand, weil er beſorgen mußte, bei den Chine⸗ ſen dadurch Verdacht zu erregen. Sie verließen daher Baty kurz nach 4 Uhr, verweilten zu jenem Zwecke einige Zeit an einer paſ— ſenden Stelle, und kehrten dann ohne weitern Aufenthalt auf dem⸗

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felben Wege, auf welchem fie gekommen waren, nach Krasnojarsk zurück, wo fie um 12 Uhr in der Nacht ankamen. Auch hier ruhte Humboldt nicht aus, ſondern ſtellte noch in der Nacht beim ſtern— hellen Himmel einige aſtronomiſche Beobachtungen an. Da am Wor— gen das Wetter heiter zu bleiben ſchien, ſo beſchloß er auch noch den Vormittag in Krasnojarsk zu verweilen, um einige Sonnen— höhen zu nehmen, wogegen Ehrenberg und Roſe ſich mit der übri— gen Geſellſchaft von ihm trennten und voran nach Buchtarminsk abreiſten. Die Letzteren nahmen nun an dem rechten Ufer des Irtyſch entlang den geraden Weg, der 56 Werſte beträgt und durch die zwei Koſakendörfer Tſcheremſchansk und Woronoi führt. Um 4 Uhr trafen ſie in Buchtarminsk ein, nachdem ſie zuvor oberhalb der Feſtung über die Buchtarma geſetzt hatten.

Den 19. Auguſt ſetzten ſie ihre Rückreiſe nach Uſtkamenogorsk weiter fort, wählten aber jetzt nicht den beſchwerlichen Landweg, ſondern den Waſſerweg auf dem Irtyſch, der für dieſe Reiſe von Buchtarminsk gewöhnlich genommen wird. Bei der Schnelligkeit, mit welcher ſich der Strom in dieſer Gegend durch die Felſen drängt, kann er ſehr gut in einem Tage zurückgelegt werden, während man ſtromaufwärts für dieſen Weg 3 bis 5 Tage und mit beladenen Fahrzeugen wohl 8 bis 10 Tage braucht.

Wan hatte zu dieſer Fahrt zwei Fahrzeuge bereitet, von denen jedes aus drei Kähnen beſtand, die zuſammengebunden und mit Brettern belegt waren, worauf man ein Zelt von Filzdecken auf- geſchlagen hatte. Die Reiſenden erhielten dadurch freilich ein recht bequemes Lager und einen Schutz gegen die regnichte Witterung, die faſt den ganzen Tag dauerte; andrerſeits aber wurden ſie durch die Filzdecken des Zeltes an der Betrachtung der Ufer ſehr gehin— dert; auch konnten fie bei der Unbehülflichkeit des Fahrzeuges nur mit fo großer Mühe landen und aus ſteigen, um die Beſchaffenheit der Felſen am Ufer zu unterſuchen, daß ſie eine öftere Wiederho— lung ſolcher Verſuche aufgeben mußten, obwohl, wie Prof. Roſe bemerkt, am ganzen Altai vielleicht keine Stelle intereſſanter iſt und mehr Aufſchlüſſe über die Lagerungsverhältniſſe des Granits und des Thonſchiefers darbietet, als die Ufer des Irtyſch zwiſchen Buch—⸗ tarminsk und Uſtkamenogorsk.

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Eine Werft von Buchtarminsk kommt man in den Irtyſch, deſſen Ufer noch mehrere Werſte weit ziemlich flach ſind und daſ— ſelbe Anſehen wie die der Buchtarma bei Buchtarminsk behalten. Die Berge, die ſich in größerer oder geringerer Entfernung vom Ufer erheben, beſtehen aus Granit und mehrere derſelben hatten ganz das kegelförmige Anſehn wie die Mochnataja Sopka. Nach 5 Werſten treten aber die Felſen ganz nahe zum Fluſſe heran und engen dadurch das Bett deſſelben ſehr ein; ſie beſtehen von nun an faſt ſämmtlich aus Thonſchiefer. Der erſte hohe Felſen dieſer Art am rechten Ufer führt nach einem Koſakenoffizier, der, von Kirgiſen verfolgt, ſich von ihm herab in den Irtyſch ſtürzte, den Namen Werſchinin Bik. Sie ſind alle mit Tannen- oder Fichtenwaldung mehr oder weniger bewachſen und ſchließen grasreiche Schluchten und Thäler zwiſchen ſich ein.

Vor Uſtkamenogorsk, wo die Reiſenden Abends um 94 Uhr ankamen, von ihrem Wirth freundlich bewillkommnet, hören die Fel— ſen allmählig ganz auf und die Ufer verflachen ſich vollſtändig.

Siedbentes Kapitel.

Reiſe vom Altai nach dem ſüdlichen Ural. Abreiſe von Uſtkame⸗

nogorsk. Koſakenlinie am rechten Ufer des Jetyſch. Kupfergruben

an der Schulba und Üba. Uebergang auf das linke Ufer des Irtyſch

bei Schulbinsk. Semipalatinsk. Salzſcen von Jamyſchewskaja und Koräkowskaja. Omsk. Iſchimſche Steppe.

In Uſtkamenogorsk fanden die Reiſenden ihre alten Wagen, die ſie für die gedachte Expedition nach der Syränowſchen Silbergrube und dem chineſiſchen Poſten mit kleineren hatten vertauſchen müſſen, und kehrten nun zu ihrer früheren Ordnung zurück. Die nöthigen Vorbereitungen zu der weiteren Reiſe beſchäftigten ſie noch den Tag über, doch verzögerten ſie auch abſichtlich ihre Abreiſe bis zum Abend, um erſt die Poſt abzuwarten, die ihnen möglicherweiſe er— ſehnte Briefe aus der Heimath bringen konnte. Ihre Erwartung täuſchte ſie diesmal nicht. Die Briefe, welche ſie empfingen, waren in Berlin den 6. Juli geſchrieben worden, und hatten alſo den in gerader Richtung 6009 Werſte betragenden Weg in wenig mehr als ſechs Wochen zurückgelegt. Nach dem Eingang der Poſt um 9 Uhr Abends reiſten ſie ab.

In Uſtkamenogorsk verließen ſie den Altai und kehrten von hier aus durch die weiten Ebenen, die ſie ſchon bei der Hinreiſe durchzogen hatten, wieder nach dem Ural zurück. Es giebt von Uſtkamenogorsk bis zum Ural anfänglich nur einen Weg, der bis Omsk auf dem rechten Ufer des Irtyſch entlang geht; hier aber verließen ſie dieſen Strom und wandten ſich auf dem kürzeſten Wege weſtlich quer durch die Steppe zum Ural. Dieſer Weg, welcher zugleich die Grenze des ruſſiſchen Reichs gegen die mittlere Horde

der Kirgiſen bezeichnet, iſt, um ſich vor deren Einfällen zu ſichern, durch

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ein Syſtem von mehr oder weniger befeftigten Ortſchaſten gedeckt, die in einer Entfernung von 20 bis 30 Werſten von einander an⸗ gelegt ſind und von den Koſaken bewohnt werden, denen die Ver— theidigung der Grenzen obliegt. Die kleineren dieſer Oerter wer- den Vorpoſten und Redouten, die größeren Feſtungen (Krepoſt) ge nannt. Sie ſind alle regelmäßig gebaut und mit einer Reihe ſpa⸗ niſcher Reiter umgeben; nur die ſogenannten Feſtungen enthalten, wie bei Uſtkamenogorsk, noch einen ſtärker befeſtigten, mit Wall und Graben verſehenen Raum, in welchem ſich die Wohnungen des Kom— mandanten und der übrigen Beamten, die Wagazine und häufig auch die Kirchen befinden. So unbedeutend auch dieſe Vertheidi— gungsmittel an und für ſich erſcheinen, ſo ſind ſie doch hinreichend, um einen Angriff der Kirgiſen abzuhalten, und auch dieſe Verthei— digungsmittel werden oft am untern Irtyſch, wie am obern, nur ſchlecht unterhalten, da die Kirgiſen der mittleren Horde jetzt größ— tentheils beruhigt ſind und von feindlichen Ueberſällen wenig mehr zu befürchten ſteht. Einzelne Stämme dieſer Horde haben ſich ſo— gar ganz den Ruſſen unterworfen, was in ihrem Gebiete die Grün— dung der ruſſiſchen Niederlaſſungen Kar Karaly und Alexandrowsk veranlaßt hat. Die Koſaken, die jene befeſtigten Ortſchaften bewoh—⸗ nen, ſind zwar ganz militäriſch organiſirt, haben aber ihre feſten Wohnſitze; ſie treiben Viehzucht und Ackerbau und ihre Wohnungen zeichnen ſich durch große Ordnung und Reinlichkeit aus. Die klei⸗ neren Ortſchaften bewohnen ſie faſt ganz allein, in den größeren haben ſich aber außerdem noch andere ruſſiſche Unterthanen ange— ſiedelt, die oft den größeren Theil der Einwohner ausmachen.

Die Reihe dieſer Grenzfeſtungen wird von der chineſiſch-mon⸗ goliſchen Grenze bis Omsk die Irtyſchlinie und von dort durch die Steppe bis zur Grenze von Sibirien die Iſchimſche Linie genannt; hier ſchließt ſich eine ganz ähnliche Reihe von Feſtungen an, die an der Grenze des Gouvernements Orenburg, anfänglich längs der Flüſſe Tobol und Ui, und dann von Werch-Uralsk am Uralfluſſe bis zu ſeiner Mündung in's Kaspiſche Weer fortgeht und die Orenburgſche Linie genannt wird, ſo daß alſo dieſes Syſtem von Feſtungen in ununterbrochenem Zuſammenhange ſich von der chineſiſchen Grenze bis zum Kaspiſchen Weere erſtreckt, was eine

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Länge von 3350 Werſten ausmacht. Rechnet man hierzu noch den Cordon, der vom Ural bis zur Wolga am Kaspiſchen Weer ent— lang geht, ſo beträgt die ganze Länge der befeſtigten Linien 3698 Werſte oder 528 Meilen, eine Länge, die der Entfernung von Cadix nach Woskau in gerader Linie gleichkommt.

Die Reiſe an der Irtyſch-Linie entlang ging auf Befehl des Generallieutenants Weljaminoff in Tobolsk mit allem militäriſchen Gepränge von Statten. Die Reiſenden wurden ſtets von einer Station zur andern von einer ganzen Abtheilung Koſaken begleitet, die theils ihrem Wagenzuge voranritt, theils ihm nachfolgte. Wo ſie an einer Station ankamen, fanden ſie die ganze Garniſon des Ortes aufmarſchirt, die ſich, ſobald man angeſpannt hatte, in Be— wegung ſetzte, um die Reiſenden zu begleiten und die Garniſon der vorigen Station abzulöſen, ſo daß der Zug durch die Steppe, deren Grün die Sonne ſchon längſt verbrannt hatte, dennoch ein ſehr belebtes Anſehen erhielt.

Nachdem unſre Reiſenden Uſtkamenog orsk verlaſſen hatten, ſetz— ten ſie gleich hinter der Stadt auf der ihnen ſchon bekannten Fährte über die Ulba und fuhren nun in der Nacht auf dem ebenen Wege, den der Regen der vergangenen Tage nur verbeſſert hatte, ſchnell vorwärts. Am Worgen des 21. Auguſt waren ſie nun völlig in der Ebene; in der Steppe auf der linken Seite des Irtyſch bemerkten ſie zwar noch einige Berge, aber dieſelben bildeten keine zuſammenhän⸗ gende Reihen und verloren ſich auch bald. Der Irtyſch ſelbſt war nicht zu ſehen, da der Weg ſich in etwas größerer Entfernung von ihm ent- lang zog und ſein rechtes Ufer hoch und ſteil, ſein linkes aber eben und flach iſt.

Um 10 Uhr war man an der Uba, die nicht weit von dem Ueberfahrtsorte, einige Werſte dieſſeits Pjanojarsk und 90 Werſte von Uſtkamenogorsk, ſich in den Irtyſch ergießt. Von Pjanojarsk geht eine Poſtſtraße nach Schlangenberg, das von hier noch 109 Werſte entfernt iſt; 224 Werſte weiter an der Irtyſchlinie kommt man an die Schulba, an welcher man noch die Ueberreſte der von Demidoff im Jahre 1740 erbauten Schmelzhütte ſieht, wo die wei⸗ ter aufwärts an den Ufern ſowohl der Schulba als der Üba in Menge ſich findenden Kupfererze verſchmolzen werden ſollten. Die

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Hütte ift aber nicht in Gang gekommen, da bald darauf alle von Demidoff aufgenommenen Gruben des Altai von der Krone über— nommen wurden und man den Bau auf die Kupfererze, die nicht hinreichend ſilberhaltig waren, vorläufig aufgab.

Von Schulbinskoi an, welches jenſeits der Schulba unmittel— bar an dem hohen Ufer des Irtyſch liegt, wird der Weg überaus ſandig und es beginnt ein großer Fichtenwald, der ſich, mehr oder minder vom Ufer entfernt, bis jenſeits Semijarsk, 215 Werſte von Schulbinsk, fortſetzt und ſich in die Steppe hinein bis zum Ob verbreitet. Um dem beſchwerlichen Wege auf dem rechten Ufer zu entgehen, pflegt man im Sommer auf das linke flache Ufer des Irtyſch, welches feſt iſt, überzuſetzen und die zwei folgenden Sta— tionen auf dieſem Ufer zurückzulegen, was auch von unſern Rei— ſenden geſchah. Die Wagen wurden auf der Fähre hinübergeführt, die Pferde ließ man aber größtentheils durch den Irtyſch ſchwim— men, obgleich er hier ſchon eine ziemliche Breite hat. Das Waſſer des Irtyſch es war um die Mittagszeit hatte eine Tempe— ratur von 14, R., während die Temperatur der Luft 19, betrug. Bei Oſernoi ſetzte man wieder auf das rechte Ufer des Fluſſes über und gelangte ſo noch an demſelben Tage um 11 Uhr Abends nach Semipalatinsk, wo die Reiſenden von dem Kommer— zienrath Popoff ), deſſen Bekanntſchaft fie ſchon in Uſtkamenogorsk

*) Ueber Herrn Popoff findet man in Erman's Archiv, XIII. 1854 (Geog⸗ noſtiſche Reiſen durch den öſtlichen Theil der Kirgiſenſteppe, in den Jahren 1849 und 1851. Nach dem Ruſſiſchen des Herrn Wrangel) folgende inter- eſſante Notizen: Herr Popoff hatte während ſeiner Handelsgeſchäfte mit den Kirgiſen von den alten Bleigruben ihres Landes gehört, und nachdem er ſie durch mancherlei Freundſchaftsbezeugungen und Geſchenke veranlaßt hatte, ihm die betreffenden Oertlichkeiten zu zeigen, fing er gegen Ende des Jahres 1820 an in dem Bajan Auler Diſtrikt zu ſchürfen. Er fand bald darauf auch Steinkohlen in derſelben Gegend und errichtete dann, auf der Grenze jenes Diſtriktes mit dem von Karkarali an dem Fluße von Tjundſchu in dem Be- zirke Ku, die jetzt ſogenannte Blagodato-Stepanower Bleihütte. In der Um- gebung derſelben ſind faſt alljährlich neue Bleianbrüche oder ein neues Kohlenlager aufgeſchloſſen aber noch keineswegs ordentlich benutzt worden. Derſelbe Unternehmer machte auch endlich Ernſt mit dem Goldſuchen in der Kirgiſenſteppe, und zwar zuerſt um 1830 am Irtypſch oberhalb Semipa- latinsk nahe an der Mündung des Baches Tſchar Gurban und demnächſt,

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gemacht hatten, gaftfrei aufgenommen wurden und die Nacht und den Vormittag des folgenden Tages verweilten.

Semipalatinsk, welches zur Zeit der Humboldt'ſchen Reiſe nur 2000 Einwohner hatte, zählte im Jahre 1850 bereits 7593. Der Ort hat eine Feſtung und einen Tauſchhof und iſt durch ſeinen Handel nach Wittelaſien, der außerdem faſt nur noch in Petropaw— lowsk, Troizk und Orenburg betrieben wird, von großer Wichtigkeit. Von Semipalatinsk aus gehen Karawanen nach den chineſiſchen Städten Tſchugutſchak, Guldſcha und Kaſchkar; ferner nach Taſch— kend und Kokan, ſelbſt bis nach Kaſchmir. Der beſonders lebhafte Handel nach China darf indeſſen nicht direct betrieben werden. Die ruſſiſchen Karawanen erhalten nur unter dem Namen der kirgiſiſchen Zutritt und werden von Tataren, die in Sibirien angeſiedelt ſind oder von Kirgiſen geführt. Am meiſten bringen die Ruſſen Vieh, beſonders Schafe nach China, die ſie erſt ſelbſt von den Kirgiſen eintauſchen und dann gegen baumwollene und ſeidene Stoffe ab— ſetzen. Der Handel mit Taſchkend, Kokaa und Kaſchmir iſt wegen der größeren Entfernung weniger lebhaft, doch ſind einige Taſchkender ſelbſt in Semipalatinsk anſäßig; die übrigen Einwohner beſtehen außer den Ruſſen beſonders aus Tataren (Türken) und Kirgiſen.

Unter den Männern, deren Bekanntſchaft unſre Reiſenden in Semipalatinsk machten, waren ihnen noch beſonders der Polizei— meiſter, Obriſtlieutenant v. Kloſtermann und der Commandant der Feſtung, Obriſt v. Kempen, welche beide von Reval gebürtig, dem⸗ nach der deutſchen Sprache mächtig waren, von Intereſſe.

als er an dieſer Stelle einige Anzeigen von Gold gefunden hatte, in mög- lichſt vielen Bächen und Schluchten der nordöſtlichen Kirgiſenſteppe. Aus Furcht vor Concurrenten machte Herr Popoff ſofort die zur Beſitznahme nöthige Anzeige von jeder Spur von Gold, die er gefunden hatte, und wurde auf dieſe Weiſe der ausſchließliche Eigenthümer faft aller Goldſeifen in der Nordhälfte des jetzt ſogenannten Kokbektinsker Kreiſes. Sein Gewinn ſoll indeß ſo gering und ſo zweifelhaft geweſen ſein, daß er ſeit 1843 alle ſeine Arbeiten in der Steppe aufgegeben hat. Dieſer ſeltſame Ausgang wird theils durch den geringen Gehalt der dortigen Seifen, theils durch die Ungeſchick⸗ lichkeit der Arbeiter erklärt. Es wurden übrigens in jener Gegend von 1834 bis 1843 zuſammen 12,734 Pud Gold aus 11,258,890 Pud Sand erwa⸗ ſchen, welches einem mittleren Gehalte von 1,884,160 entſpricht.

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Durch den Verkehr mit China war Hr. Popoff in den Beſtitz von vielen chineſiſchen Geräthſchaften, Bildern und anderen Merk: würdigkeiten gekommen, die er den Fremden mit Vergnügen zeigte; außerdem ſahen dieſe bei ihm auch mehrere ſeltene Mineralien, dar: unter ein Stück Laſurſtein, welches über einen Fuß lang und einen halben Fuß breit und dick war, und deſſen Werth ſein Beſitzer auf 500 Papier⸗Rubel anſchlug.

Auch an zoologiſchen Merkwürdigkeiten ſahen und erhielten die Reiſenden in Semipalatinsk manches Neue. Obriſt v. Kempen zeigte ihnen auf ſeinem Hofe eine lebendige Saiga Antilope, wie ſie in der Kirgiſenſteppe in großer Menge vorkommen und Hr. v. Kloſter⸗ mann machte Prof. Ehrenberg ein Geſchenk mit dem Fell eines Tigers, der in Sibirien erlegt war. Andere Felle merkwürdiger Thiere, wie beſonders das eines ſehr intereſſanten langhaarigen nordiſchen Leoparden erhielten unſre Reiſenden von einem ruſſiſchen Pelzhändler.

Ueber das auffallende gleichzeitige Vorkommen gewiſſer Thier— arten in ſehr verſchiedenen Klimaten bemerkt Humboldt *):

„Der Königstiger (dieſelbe Species, welche die tropiſchen Res gionen Indiens und der Inſel Ceylon bewohnt), beſucht im Altai das Kurtſchum- und Narym⸗Gebirge. Er zeigt ſich nicht bloß noch heutigen Tages in den Ebenen der Dſungarei, ſondern er wandert gegen N. zwiſchen dem Schlangenberg und der Stadt Barnaul bis zu den Breiten von Berlin und Hamburg. Dies iſt eins der merk⸗ würdigſten Phänomene, wenn man es bloß in Bezug auf die Geo— graphie der Thiere betrachtet. Eine ähnliche Erſcheinung tref— fen wir in Süd-Amerika an, wo der Jaguar bis zum 42., der Puma⸗Löwe und der Kolibri bis zum 33. Grade ſüdlicher Breite, d. h. bis zu den Ländern an der Magellansſtraße zieht. Aber im nörd⸗ lichen Aſien iſt der ſüdliche Altai im Sommer zugleich die Wohn: ſtätte des Elennthiers und Königstigers, des Rennthiers und Irbis⸗ Panthers. Eine ſolche Annäherung von großen Thieren der Jetzt— welt, von Formen, welche man allgemein als den entgegengeſetzteſten Klimaten eigenthümlich anſieht, iſt eine der beſtbeſtimmten That⸗

*) Centralaſien I. 214.

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ſachen. Das Elennthier (Cervus Aleis) des Altai wandert in den Sumpfwäldern des Sugaſch und der Birukſa, zweien Vebenflüſſen der Katunj, umher. Das Rennthier (Cervus Tarandus) findet ſich wild an den Ufern des obern Tſchulyſchman, der in den telezkiſchen See mündet, wahrſcheinlich auch zwiſchen dem Jaſſaten und Alaſcha, die in den Argut fließen. Nun find in WSW.-ONO.-Richtung nur 40—50 W. Entfernung von dieſen Gegenden, welche das Renn- und Elennthier bewohnen, bis zu den Narym-Bergen und zum Vord— abhange des Kurtſchum, wo ſich von Zeit zu Zeit der Königstiger einfindet, um ſeine Wanderungen noch weiter nordwärts fortzu— ſetzen. Die Skelette dieſer Thiere, welche ſo verſchiedenen Typen an— gehören, könnten ſich alſo wohl auf der Erdoberfläche ſehr nahe bei einander unter dem Einfluß der klimatiſchen Verhältniſſe der Jetzt— welt verbreitet finden. Ohne die Kenntniß der hier aufgezeichneten zoologiſch-geographiſchen Thatſache könnten foſſile Knochen vom Rennthiere, welche neben foſſilen Knochen des Königstigers gefun— den würden, zu der Hypotheſe führen, daß in der Vertheilung der Wärme und ihrem ſchnellen Wechſel eine von jenen großen Aende— rungen ſtatt gefunden habe, durch welche man ehemals das Vor— kommen der Knochen von Pachydermen in dem gefrorenen Boden Sibiriens erklärt hat.“

Nachdem Humboldt zur Beſtimmung der geographiſchen Lage des Ortes nach Sonnenhöhen genommen hatte, reiſte man von Semi— palatinsk ab, verweilte aber noch den Mittag auf der 7 Werſte ent⸗ fernten und auf dem Wege nach Omsk gelegenen Beſitzung des Herrn Popoff und verließ dieſelbe erſt nach eingenommenem Wittagsmahle. Die Beſitzung liegt unmittelbar an dem Ufer des Irtyſch, das hier eine ganz bedeutende Höhe hat, und auf dem Abhange zieht ſich der Garten bis zum Strome hinunter. Der Garten hatte ſchon ein ganz europäiſches Anſehen, die Wege waren mit Blumenbeeten und Rei— hen europäiſcher Obſtbäume beſetzt, die Herr Popoff zu acelimati⸗ ſiren verſuchte, die aber doch noch klein waren und nur ſchwer in in dieſem Klima zu gedeihen ſchienen, wie ſie auch in Sibirien etwas ganz ungewöhnliches ſind. Dagegen waren die Arbuſen ſchon üppig, die überhaupt in der Gegend von Semipalatinsk viel gezogen werden uud hier von ganz beſonderer Güte find. Veben dem

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Garten iſt eine Schneidemühle angelegt, die von dem Waſſer eines kleinen Baches, der hier in den Irtyſch fällt, in Bewegung ges ſetzt wird.

Um 5 Uhr Nachmittags verließen die Reiſenden Herrn Popoff, herzlich dankend für die ihnen bewieſene Gaſtfreundſchaft, und reiſten nun ohne Aufenthalt bis Omsk. Am Morgen des 23. Auguſt was ren ſie in der Redoute Semijarsk, die durch ihre ſchöne ſteinerne Kirche bemerkenswerth iſt, am Abend in Jamyſchewsk und in der Nacht in Koräkowsk. Der Weg ging in der Steppe fort und war ohne Intereſſe. Einige Abwechſelungen gewährten nur auf dem Irtyſch die mit Laubholz und Gras bewachſenen Inſeln, welche die Reiſenden öfter ſahen und die von den Koſaken der anliegenden Dörfer zu Heuſchlägen benutzt werden, ſo wie die Kirgiſen-Aule, denen man von Zeit zu Zeit begegnete und die mit ihren großen Heerden von Pferden, Rindvieh, Schafen, Ziegen und Kamelen vor— überzogen. Am zahlreichſten waren in dieſen Heerden jederzeit Pferde und Schafe vorhanden; denn der erſteren bedienen ſich die Kirgiſen nicht allein zum Reiten, ſondern ſie verzehren auch ihr Fleiſch und bereiten aus der Wilch der Stuten ihr Lieblingsgetränk, den Kumiß. Das Rindvieh, welches eine große und ſtarke Race iſt, verkaufen ſie meiſtentheils an die Ruſſen. Die Schafe ſind durch ihre Fettſchwänze ausgezeichnet, auch ſoll ihr Fleiſch ſehr ſchmackhaft ſein. Sämmt— liche Hausthiere müſſen im Winter im Freien ausdauern, nur die Kameele werden dann unter Obdach gebracht.

In der Nähe der beiden zuletzt genannten Orte, 6 Werſte von Jamyſchewskaja und 22 Werſte von Koräkowskoi, liegen die bei— den berühmten und nach dieſen beiden Orten benannten Salzſeen, die von großer Wichtigkeit ſind, da ſie den Salzbedarf für das ganze weſtliche Sibirien liefern. Nach Pallas, welcher beide be— ſucht und beſchrieben hat, liegen beide in einer hügligen, ſandigen und gänzlich baumloſen Steppe; ſie ſind ganz flach und ſetzen im Sommer auf dem ſchlammigen Boden eine handbreite Salzrinde ab, die ſich durch das Schneewaſſer im Frühling auflöſt, doch ſchon im Wai ſich wieder zu bilden anfängt. Die Salzrinde iſt weiß und beſteht aus loſe aneinandergereihten Würfeln von Kochſalz, die leicht auseinanderfallen und deshalb mit geringer Mühe aus den

III. 18

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Seen ausgeſchaufelt werden. Wehrere kleine Flüſſe fließen den Seen zu, die aber größtentheils nur ſüßes, oder nur höchſt ſchwach ge— ſalzenes Waſſer haben. Von einigen, die fi in den Koräkows— kiſchen See ergießen, riecht das Waſſer nach Schwefelwaſſerſtoff, bei andern ſetzt ſich ein rother Bodenſatz ab. Das über der Salz— kruſte befindliche Waſſer iſt ſehr bitterſalzhaltig. Der Koräkows⸗ kiſche See iſt noch wichtiger als der Jamyſchewskiſche, da er nicht allein größer iſt, ſondern auch verhältnißmäßig mehr Salz ab— ſetzt. Der Umfang des erſtern beträgt 20, und der des letztern nur 6 Werſte.

Außer dieſen beiden Seen giebt es aber an der untern wie an der obern Linie noch eine große Menge ähnlicher Salzſeen, die indeß theils weniger ergiebig ſind, theils von der Linie entfernter liegen, und daher größtentheils unbenutzt bleiben. Ja der ganze Boden am Irtyſch iſt ſalzhaltig, was theils die vielen Salzkräuter, die man auf ihm findet, theils die vielen Salzauswitterungen beweiſen, die man an vielen Stellen am Wege antrifft. Letztere fielen unſern Reiſenden beſonders vor und hinter Tſchnernoräzk auf, wo ſie am Morgen des 24. Auguſt anlangten und etwas von dieſen Salzefflor⸗ escenzen ſammelten. Nach den Verſuchen, die Prof. Roſe ſpäter damit anſtellte, beſtehen ſie auch nur aus Koch- und Bitterſalz.

Man fuhr noch den ganzen folgenden Tag, den 25. Auguſt, hindurch, ohne daß in dem ewigen Einerlei der Steppe etwas Merk— würdiges aufgeſtoßen wäre, und kam ſodann um 11 Uhr Abends in Omsk an, 849 Werſte von Uſtkamenogorsk.

Omsk (mit 11,700 Einwohnern) iſt der Sitz der Verwaltung der ganzen Irtyſch-Linie und beſteht aus einer Stadt und Feſtung, die beide hart am Irtyſch liegen, aber noch durch den Om, der hier in den Irtyſch fällt, von einander getrennt ſind. Die Reiſenden blieben, durch zufällige Umſtände aufgehalten, hier zwei Tage, und benutzten die Zeit dazu, um unter der gefälligen Führung des Com— mandanten von Omsk, General-Lieutenants von St. Laurent, die verſchiedenen Merkwürdigkeiten von Omsk kennen zu lernen, wie die vortrefflich eingerichtete Koſakenſchule, die Soldatenſchule, die aſiatiſche Schule, das Lazareth und die Tuchfabrik. Die Koſaken⸗ ſchule hat den Zweck, Offiziere, Unteroffiziere und Beamten für die

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Kanzlei der Koſaken der Linie zu bilden. Sie enthält 300 Zöglinge, beſitzt ſehr gute Sammlungen von Büchern, Karten, geodätiſchen Inſtrumenten und andern zum Unterricht nöthigen Gegenſtänden und hat einen jährlichen Etat von 50,000 Rubel. In der aſiatiſchen Schule ſollen Dolmetſcher für die Gränze von Sibirien gezogen werden. Sie hat 2 Lehrer und 25 Zöglinge, von denen 20 die tatariſche (türkiſche) Sprache, 5 die der Mandſchuren und Wongo— len lernen. Ihr jährlicher Etat beträgt 5531 Rubel und außerdem ſtudiren von den 25 Zöglingen 6 auf Koſten der Krone. In der Tuchfabrik wird das Tuch zur Bekleidung von 8000 Koſaken ver- fertigt; ſie enthält 40 Stühle und beſchäftigt 140 Arbeiter. Am Morgen des 28 Aug. verließen die Reiſenden Omsk und nahmen zugleich Abſchied von dem General von Litwinoff, der von hier wiederum nach Tomsk zurückkehrte, während Herr von Jermoloff ſie noch bis zur Grenze des Gouvernements begleitete.

Die ganze Strecke zwiſchen Omsk und Troizk, welche die Rei— ſenden nun zu durchreiſen hatten, iſt Steppe. Sie wird nach ihrem Hauptfluſſe, der fie in der Witte in nördlicher Richtung durchſchnei— det, die Iſchimſche Steppe genannt, wird aber weiter weſtlich noch von dem Tobol und außerdem noch von einer unzähligen Wenge kleinerer und größerer Seen bewäſſert, die meiſtens alle brakes Waſ— ſer enthalten, und von denen einige ſehr ſtark kochſalz- und bitter⸗ ſalzhaltig ſind. Sie gleicht in dieſer Hinſicht der Barabinskiſchen Steppe, die ſich ihr auf der rechten Seite des Irtyſch anſchließt, und die nur als eine Fortſetzung von ihr anzuſehen iſt. Durch ſie zieht ſich in faſt genau weſtlicher Richtung die Iſchimſche Linie ent⸗ lang, zuerſt bis zur Hälfte des Weges zwiſchen dem Irtyſch und dem Iſchim an der Kamyſchlowka, einem linken Vebenfluſſe des Irtyſch, der ſich in ihn etwas unterhalb von Omsk ergießt, dann weiter durch die Steppe über Petropawlowsk, wo das Hauptcom⸗ mando dieſer Linie liegt, nach Alabugskoi redut. Von hier fängt der Theil der Orenburgſchen Linie an, der die Uiskiſche Diſtanz ge— nannt wird und bis nach Werch-Uralsk am Ural reicht. Sie ſtößt nach 16 Werſten von Alabugskoi auf den Tobol bei der Feſtung Swerinogolowsk, folgt dieſem ſtromaufwärts, ſo lange als er ſelbſt eine öſtliche Richtung hat, alſo bis Ustuiskaja, wo in den Tobol

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ſich der Mi ergießt. An dieſem letztern Fluſſe geht die Linie entlang über Troizk, dem Hauptwaffenplatz dieſer Diſtanz, bis Kadyſchewsk, dann an einem kleinen Nebenfluffe des Ui, der Kadyſch heißt, und zuletzt längs einem Nebenfluſſe des Ural, dem Urlsda, bis Werch— Uralsk. Die Länge der Iſchimſchen Linie beträgt 575, die der Uiskiſchen Diſtanz 386 Werſte.

Die Reiſenden ſetzten am Worgen des 28. Auguſt mit einer Fähre über den Irtyſch, der hier ſchon eine bedeutende Breite (nach Pallas von 300 Lachtern) hat. Es war eine naßkalte Witterung, die Temperatur der Luft betrug nur 9% R. und war geringer als die des Waſſers des Irtyſch, die beim Ueberſetzen 12% ge— funden wurde. Die Steppe, durch welche man fuhr, iſt anfangs ganz öde und baumlos; erſt ſpäter ſieht man hier und da einige kleine Parthieen von Birkenholz, die einige Abwechslung gewähren. Die Kamyſchlowka befand ſich den Reiſenden zur Linken, ſie beſteht faſt aus einer fortlaufenden Reihe von Seen, welche von Waſſer— vögeln wimmelten. An ihr geht der Weg 6 Stationen bis Lebäſchja entlang, von wo man bis Petropawlowsk noch 4 Stationen hat. Die Temperatur des Bodens war in dieſem Theil der Steppe noch niedriger als die der Barabinskiſchen Steppe. In Gankin, der 7. Station von Omsk, wo die Reiſenden am Worgen des 29. Aug. anlangten, fanden ſie die Temperatur eines 16 Fuß tiefen Brunnens 1°3 R., während die der Luft 11“,j betrug, und eine gleiche Tem— peratur hatte ein 28 Fuß tiefer Brunnen in der folgenden Station Poludennaja bei einer Temperatur der Luft, (um 10 Uhr Worgens) von 10% 8 R.

Nachmittags trafen die Reiſenden in Petropawlowsk, das ihnen noch größer als Semipalatinsk vorkam, ein. Die Stadt, welche 4127 Einwohner zählt, treibt einen lebhaften Handel, beſonders mit den Bucharen, welche baumwollene Zeuge, die von den ruſſiſchen Bauerfrauen viel getragen werden, und getrocknete Früchte, wie Aprikoſen, die ſehr ſüß und wohlſchmeckend ſind, und eine Art kleine Roſinen ohne Kern, Kiſchmiſch genannt, bringen und dafür Eiſen und Lederwaaren holen. Es befindet ſich hier ein Tauſchhof, den die Reiſenden zwar auch beſuchten, aber jetzt ganz verlaſſen fanden, da es gerade Sonntag war, an welchem kein Verkehr ſtattfindet und alle

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Laden geſchloſſen find. Schon am Nachmittage des 31. Auguſt ver⸗ ließ unſere Reiſegeſellſchaft Petropawlowsk, fuhr auf einer Brücke über den Iſchim und langte am Abend des folgenden Tages, in Alabugskoj, der Grenze des Gouvernements, an, eine Station von Swerinogolowsk, wo nun auch Herr von Jermoloff die Reiſenden verließ, ſo daß dieſe wieder auf ihre urſprüngliche Geſellſchaft be— ſchränkt waren. Am Morgen waren fie in Uſtuiskaja und fuhren dann, immer auf der nämlichen Seite des Ui, weiter bis Troizk, wo ſie in der Nacht vom 1. zum 2. September ankamen. Der Ui fließt zwiſchen ziemlich hohen Ufern; bei Karaulskaja ſieht man am rechten Ufer Schichten weißen Thones, und eine Quelle, die aus ihm entſpringt, hatte ſchon die höhere Temperatur von R., wogegen die Lufttemperatur zu der nämlichen Zeit um 7 Uhr 14° R. betrug.

Troizk (mit 1570 Einwohnern, nach der Zählung von 1849), iſt nach Orenburg die wichtigſte Handelsſtadt der Linie. Sie hat, wie alle dieſe Handelsplätze, einen Tauſchhof, der auf der rechten kirgi— ſiſchen Seite des Ui liegt und zu welchem eine hölzerne Brücke führt. Oeſtlich von dieſem Tauſchort ergießt ſich ein kleiner Bach in den Ui, an deſſen beiden Seiten niedrig nackte Felſen hinſtreichen. Dagegen zeigt ſich in der Entfernung vom Fluß nur ebene Steppe.

Am 2. September um 8 Uhr ſetzten die Reiſenden ihren Weg fort. Ihr nächſter Zielpunkt war nun das Hüttenwerk Wiask, das ſchon mitten im Ural liegt, nordweſtlich von Troizk, von dem es 136 Werſte entfernt iſt. Die Gegend bleibt noch lange ſteppenar— tig, doch ſchon in Koälskaja, 67 Werſte von Troizk, wo ſie am frühen Worgen ankamen, trafen ſie einen weißen feinkörnigen Kalk— ſtein, der ſich aber nicht zu Felſen erhebt, ſondern nur im Bette eines kleinen Fluſſes zu ſehen iſt, an welchem das Dorf liegt; er ſcheint auch nicht weit fortzuſetzen, denn noch vor der folgenden Station Kljutſchewskaſa war man ſchon auf Granit, obgleich die Beſchaffenheit der Oberfläche ſich immer noch wenig verändert hatte. Sie war nur wenig wellig und der Granit bildete nur breite flache Hügel, über welche die Wagen hinfuhren. Aus dieſem Granit ent— ſpringen in dem Dorfe mehrere Quellen, woher daſſelbe auch ſeinen Namen erhalten hat, (von Kljutſch, die Ouelle); eine dieſer Quellen

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zeigte eine Temperatur von 28 R., wogegen die Luft um 9 Uhr 12°3 R. hatte.

Noch ſah man von den Bergen des Urals nichts; ein Birken— wald, der ſchon von Kljetſchewskaja anfing und bis Kundrawinsk, einem großen 23 Werſte von Wiask entfernten Dorfe anfing, be— nahm alle Ausſicht; doch aus demſelben heraustretend, erblickten die Reiſenden vor ſich einen hohen Gebirgszug, deſſen Felſen an die Formen der Granitfelſen des Kolywanſchen Sees erinnerten, aber noch höher und pittoresker waren. Es war das Ilmeniſche Gebirge, das noch öſtlich vor Miask ſich von N. nach S. fortzieht und durch die Zirkone und Topaſe und die vielen übrigen merkwürdigen Wine— ralien, die es enthält, ſo berühmt geworden iſt. Durch ein breites Querthal kamen die Reiſenden in das vom Ilmengebirge weſtlich gelegene breite Längenthal, in welchem ſie ein ſchöner Wald von Laubholz, mit kräuterreichen Wieſen unterbrochen, aufnahm und ſie nördlich bis nach Wiask führte, wo ſie Nachmittags um 3 Uhr anlangten. Die Sohle des Thales erwies ſich überall, wo fie unter- ſucht wurde, als ein dünnſchieferiger grüner Thonſchiefer.

Achtes Kapitel.

Miask. Excurſion nach den Goldſeifenwerken im obern Thale des

Mias. Excurſionen nach dem Ilmengebirge. Profilreiſe durch

den Ural nach Slatouſt. Beſteigung des Taganai. Nückkehr nach Miask über Kyſchtimsk.

Wiask, an dem Fluſſe gleichen Namens gelegen, iſt ein ziem— lich anſehnlicher, der Krone gehöriger Ort, der aber, einige große ſteinerne Krongebäude und die ſteinerne Kirche abgerechnet, wie die übrigen Städte und Flecken in Sibirien, nur aus kleinen hölzernen Häuſern beſteht. Er verdankt ſeine Entſtehung einer im Jahre 1776 angelegten Kupferhütte, in welcher Erze verſchmolzen wurden, die man an mehrere Orten in der Gegend gewann. Jetzt wird aber faſt gar kein Kupfer mehr gewonnen, und Hüttenbetrieb wie auch Bergbau ſind nun gänzlich eingeſtellt, ſeitdem man alle Hände zu der einträglicheren Bearbeitung der Goldſeifen benutzt, die man in neuerer Zeit in den Umgebungen von Wiask in jo überaus gro⸗ ßer Wenge gefunden hat.

Die Reiſenden wurden in Miask von dem Inſpector der dor- tigen Werke, Oberhüttenverwalter Poroſſoff empfangen, welcher ſie gaſtfrei bei ſich aufnahm. Sein Haus iſt eins der ſteinernen Kron⸗ gebäude, geräumig und bequem eingerichtet. Man hatte den Gäſten darin die nach der hintern Seite gelegnen Zimmer eingeräumt, die eine ſchöne Ausſicht auf den Garten, den unmittelbar daran ſtoßen—

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den Hüttenteich und das jenſeits ſich erhebende Ilmengebirge gewähr— ten; links lag nicht weit davon der Damm, der zum Betriebe der Hütte angelegt war. Unſre Reiſenden wurden hier durch das Wie— derſehen zweier alten Freunde, der Herren Schmidt und Schwetſoff erfreut, die mit ihnen die Reiſe nach dem nördlichen Ural gemacht hatten und nun verabredeter Maßen nach Wiask gekommen waren, um Humboldt noch einmal zu ſehen und an den Excurſionen in den Umgebungen von Wiask Theil zu nehmen. Außerdem machten ſie auch hier noch die Bekanntſchaft zweier intereſſanter junger Männer, der Herren Hoffmann und von Helmerſen, Schüler des Profeſſor von Engelhardt in Dorpat, welche in dieſem und dem vorigen Jahre in geognoſtiſcher Hinſicht und auf Koften der Regierung den ſüdli⸗ chen Ural beſucht und nun den Auftrag erhalten hatten, Humboldt bei der Bereifung deſſelben bis nach Orenburg zu begleiten “).

Beide junge Wänner hatten ſich ſchon durch frühere Reiſen bekannt gemacht. Hr. v. Helmerſen hatte den Prof. v. Engelhardt im Jahre 1826 auf ſeiner Reiſe nach dem Ural begleitet und Hr. Hoffmann auf dem von O. v. Kotzebue geführten Schiffe in dem Jahren 1823 26 die Reiſe um die Erde gemacht.

In der Unterhaltung mit ihren alten und neuen Freunden brachten die Reiſenden den Nachmittag ſehr angenehm zu; fie er— hielten hier zuerſt durch Herrn Schmidt die Nachricht von der wichti— gen Entdeckung der Diamanten bei Biſſersk, die indeß aus den frü⸗ her ſchon erwähnten Gründen vorläufig noch ein Geheimniß bleiben mußte. Im Uebrigen beſchäftigten fie ſich mit der Beſichtigung einer ausgezeichneten und lehrreichen Sammlung von Wineralien und Gebirgsarten aus der umliegenden Gegend, die in einem be— ſonderen Gebäude unter Glasſchränken ſehr ſchön aufgeſtellt war, und aus der man mit gewohnter Liberalität unſern Reiſenden aus⸗ zuwählen geſtattete, was dieſe für gut fanden. Auch wurden Pläne

*) Die von ihnen bei der Unterſuchung des ſüdlichen Urals angeſtellten Beobachtungen find ſpäter, 1831, in einem beſondern Werke erſchienen: Geo- gnoſtiſche Unterſuchungen des Süd. Ural-Gebirges, ausgeführt in den Jahren 1828 und 1829. Hr. v. Helmerſen giebt ſeit 1839 gemeinſchaftlich mit C. E. v. Baer die ſehr werthvollen „Beiträge zur Kenntniß des ruſſiſchen Rri- ches und der angränzenden Länder Aſiens“ heraus.

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für die Excurſionen der folgenden Tage in die Umgegend von Miask entworfen. Als vorzugsweiſe intereſſant erſchienen die Gold: ſeifen, das ſeiner ſchönen und ſeltenen Wineralien wegen ſo merk— würdige Ilmengebirge und die berühmte der Krone zugehörige De— genfabrik von Slatouſt. Die Goldſeifen finden ſich beſonders ſüd— lich von Wiask in den flachen Thälern des obern Wias und feiner weſtlichen Zuflüſſe; zu ihrer Beſichtigung wurde der erſte Tag, der 4. September, beſtimmt, die zwei folgenden ſollten zur Unterſuchung des Ilmengebirges benutzt werden; andere weſtlich gelegene Gold— ſeifen wollte man auf der Reiſe nach Slatouſt, das ſchon auf der Weſtſeite des Ural liegt, beſuchen, und von dort aus über das nörd— lich von Miask gelegene, dem Kaufmann Sotoff gehörige Eiſenwerk Kyſchtimsk, in deſſen Nähe ſich auch noch mehrere Goldſeifenwerke befinden, nach Wiask zurückkehren.

Sowohl die Excurſion nach den Goldſeifen am oberen Wias, wie auch die andern nach dem Ilmengebirge machten ſie unter Leitung des Herrn Poroſſoff, der ſie in allen ihren Abſichten auf das zweck— mäßigſte und liebenswürdigſte unterſtützte. Außerdem begleitete ſie noch ein anderer junger Beamter, Hr. Liſſenko, der ſich ſpäter durch mehrere geognoſtiſche Arbeiten über die Kreiſe von Wiask und Slatouſt bekannt gemacht hat, gleich Hrn. Poroſſoff der franzöſiſchen Sprache vollkommen mächtig war und durch ſeine Kenntniß der Ge— gend ſo wie durch das Intereſſe, welches er an den Unterſuchungen der Reiſenden nahm, denſelben ſehr nützlich wurde. Sie lernten bei dieſer Excurſion ſchon einen großen Theil des Thales von Wiask kennen, von dem Prof. Roſe folgende Beſchreibung giebt:

Das Thal von Wiask wird im Oſten vom Ilmengebirge, im Weſten aber von einem Gebirgszuge begrenzt, den man in dieſer Gegend ganz allein den Ural nennt, weil er in der Breite von Miask oder Slatouſt den Waſſerſcheider bildet (wenn gleich nicht vollſtändig). Er wird der Länge nach von dem Wias durchfloſſen, der in dieſem Thale etwa 30 Werſte oberhalb Wiask entſpringt und in ihm bis etwa 40 Werſte unterhalb entlang fließt, worauf er ſich bei einer Senkung des Ilmengebirges plötzlich oſtwärts wen— det, den jenſeits gelegenen See Argaſſi durchfließt und ſich ſpäter in den Iſſet ergießt. Das Thal iſt von ziemlicher Breite, hat aber

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feine Hauptbedachung auf der weſtlichen Seite, daher auch der Wias nicht in der Witte, ſondern hart am Ilmengebirge auf der öſtlichen Seite deſſelben fließt. Von ihm aus erhebt ſich das Ilmen— gebirge ziemlich ſteil bis zu einer Höhe von 800 Fuß über den Waſſerſpiegel des Miad bei Wiask, während der Ural viel allmähli- ger, aber auch viel höher bis zu einer Höhe von 2000 Fuß empor— ſteigt. Der Kamm des Ilmengebirges bei Wiask liegt von dieſem Orte in gerader Richtung nur vier bis fünf, der des Ural dagegen 20 Werſte entfernt. Wegen dieſer Lage hat der Wias auch auf ſeiner rechten Seite nur wenige und unbedeutende, auf ſeiner lin— ken Seite dagegen viele und mehrere ſehr bedeutende Zuflüſſe. Zu dieſen gehören der Atljan, der ſich etwa 11 Werſte unterhalb Wiask in den Mias ergießt und im Ganzen eine nordöſtliche Richtung hat, und der Iremel, der 14 Werſte oberhalb hineinfällt und anfangs eine öſtliche, dann aber eine nordöſtliche Richtung hat und kurz vor ſeiner Verbindung mit dem Wias die Taſchkutarganka von links her aufnimmt. Der Boden des Thales iſt keineswegs eben, ſondern wird häufig durch mehr oder weniger hohe Hügel und kuppenför— mige Berge unterbrochen, die nach Süden zu an Höhe wachſen. Einer der höchſten Berge iſt der Auſchkul, der eine Höhe von 1000 Fuß erreicht und in deſſen Nähe der Mias entſpringt. Die Gipfel dieſer Berge ſind häufig kahl, während ihre Abhänge mit Tannen— waldung bedeckt ſind; das Laubholz findet ſich mehr in den Viede— rungen, die aber zum großen Theil auch von Wieſen und Moräften eingenommen werden. In dieſen liegen nun die Goldſeifen, von denen die Reiſenden folgende beſuchten:

Vikolaje Alexejewskoi, 164 Werſte ſüdlich von Wiask, wie alle übrigen auf der linken Seite des Wias; Kowelinskoi, kaum zwei Werſte von dem vorigen Seifenwerke entfernt; Wtoro-Kaskinows⸗ koi, 19 Werſte von Wiask in dem Thale der Taſchkutarganka; Tretje— Kaskinowskoi, eine kurze Strecke oberhalb des vorigen in einem Sumpfe, der die Einmündung der Wiästa, eines kleinen Fluſſes, in die rechte Seite der Taſchkutarganka angiebt; Wtoro-Pawlowskoi, eine Werſt weiter oberhalb im Thal des Wiästa und noch in dem nämlichen Sumpf wie die vorige, von ſehr reichem Ertrage, einem Goldgehalt von mehr als 3 Sol. in 100 Bud; Perwo-Pawlowskoj, noch höher

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hinauf in dem Thale der Miästa; Wariinskoi, noch etwas höher hin auf im Thale der Miästa, nicht weit von ihrem Urſprung, das äußerſte in dieſer Richtung, obwohl der Goldſand auch noch weiter weſtwärts, in den Umgebungen des Woraſtes, in welchem die Wi— ästa ihren Urſprung nimmt, an mehreren Stellen gefunden wird; Zarewo-Alexandrowskoi, nicht weit von der Grube Perwo-Pawlows⸗ koi an der Südweſtſeite eines kleinen Sees, durch den die Taſchku— targanka fließt, und mitten in einem Moraft, den man durch Abzugs— gräben entwäſſerte; beſonders ausgezeichnet durch die Größe der Goldklumpen, deren man von 1824 bis 1826 zehn, im Geſammt— gewicht von 2 Bud 34 Pfd. 38 Sol., darunter einen von 24 Pfd. 69 Sol., gefunden hat. Zarewo-Nicolajewskoi, noch an demſelben See wie die vorige, nur eine halbe Werſt weiter oſtwärts, ihrem Ertrage nach, der ſich in noch nicht 3 Jahren auf 77 Pud 33 Pfd. Gold belief, ergiebiger als irgend ein anderes Seifenwerk im Ural.

Die hier genannten neun Seifenwerke ſind in den Jahren 1824 1828 zu bearbeiten angefangen worden.

Daß auch noch anſtehendes Gold in dieſen Bergen ſehr ver— breitet zu ſein ſcheint, beweiſt der Bergbau, den man in früheren Zeiten in den das Thal der Wiästa begleitenden Bergzügen getrie— ben hat. Es haben hier nämlich drei Gruben beſtanden, die zwar ihrer geringen Ausbeute wegen ſämmtlich wieder aufgegeben wurden, aber freilich auch immer nur mit geringen Witteln betrieben wor— den ſind.

In der ſpäteſten Zeit und wie es ſcheint am längſten (vom Jahre 1796 bis 1812) iſt die Grube Perwo-Pawlowskoi bebaut worden; es war daher hier am erſten zu hoffen, etwas von den natürlichen Lagerſtätten des Goldes zu ſehen, was für unſre Rei— ſenden von zu großem Intereſſe war, als daß ſie den Beſuch der Grube hätten unterlaſſen ſollen. Sie wandten ſich daher auf dem Rückwege von dem Seifenwerke Wariinskoi noch vor dem Seifen- werke Perwo Pawlowskoi, da wo die Höhen aufhörten, die linke Thalwand zu bilden, und ſich nach Norden bogen, links, den Woraſt, welchen die Einmündung der Wiästa in die Taſchkutarganka um⸗ giebt, zur Rechten laſſend. Hier fuhren ſie noch eine kurze Strecke fort, ſtiegen dann durch das dicke Geſträuch und Gras, welches den

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Boden bedeckte, ſich einen Weg bahnend, auf die mit Tannenwal⸗ dung bedeckten Höhen, wo ſie nach etwa einer Viertelſtunde Weges an eine Röſche und an einen verfallenen Schacht kamen, der von einer mit Gras bewachſenen Halde umgeben war. So wenig ſie auch nur im Allgemeinen von den Lagerungsverhältniſſen beobady- teten, ſo konnten ſie gleichwohl aus dem, was ſie ſahen, verbunden mit der Uebereinſtimmung der Gebirgsarten, abnehmen, daß das Gold hier unter den nämlichen Verhältniſſen vorkommen müſſe, wie in Beroſowsk.

Außer den oben angeführten Seifenwerken finden ſich aber noch viele andere zum Hüttenbezirk von Wiask gehörige, die theils in der Nachbarſchaft der vorigen, theils weiter ſüdlich nach den Quel⸗ len des Wias zu, theils weſtlich von Wiask liegen. Unter dieſen gehören noch zu den bedeutenderen: Wladimirskoi, 18 Werſte ſüd⸗ weſtlich von Miask; Perwo-Kaskinowskoi, 20 Werſte ſüdweſtlich von Wiask; Knäſe-Konſtantinowskoi, 38 Werſte ſüdweſtlich von Miask und wie die beiden folgenden in der Nähe des Sees Auſch⸗ kul; Swiäto-Leontewskoi, 37 Werſte ſüdweſtlich von Wiask; An⸗ ninskoi, 39 Werſte ſüdweſtlich von Miask; Knäſe⸗Alexandrowskoi, 81 Werſte nordöſtlich von Miask. Die Reiſenden beſuchten dieſes Seifenwerk ſpäter auf der Reiſe nach Slatouſt.

Im Ganzen betrug die Zahl der Goldſeifen, die 1829 im Be- triebe waren, 33, doch kannte man noch 93 Stellen in der Umge— bung von Wiask, wo ſich noch unverritztes Seifengebirge findet, unter denen 30 eine reiche Ausbeute verſprachen, ſo daß alſo die Goldgewinnung in der Gegend von Wiask noch für lange Zeit ge— ſichert iſt.

Die ganze Menge des gewonnenen Goldes beträgt feit der Ent— deckung 1823 bis Juli 1829 249 Bud 27 Pfund 44 Sol. 491 Dol., und zu dieſer Menge haben allein die beiden Seifenwerke Zarewo— Nicolajewsfoi und Zarewo-Alexandrowskoi 127 Bud 23 Pfund 84 Sol. 10 Dol. beigetragen. Der mittlere Gehalt des verwaſche— nen Seifengebirges wird etwa 14 bis 14 Sol. in 100 Pud aus⸗ machen. Der durchſchnittliche Silbergehalt des in dem Hüttenbezirk von Wiask gewonnenen beträgt nach den Humboldt mitgetheilten amtlichen Tabellen 7,0 Procent.

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Dem Beſuch der Goldſeifen folgte der des Ilmengebirges. Die vielen ſchönen und merkwürdigen Wineralien, welche dies Gebirge in mineralogiſcher Hinſicht ſo berühmt gemacht haben, ſind größten— theils eine Entdeckung der neueren Zeit. Auf ſeiner im Jahre 1826 nach dem Ilmengebirge unternommenen Reife fand Herr Menge den Zirkon, ſo wie mehrere andere ſeltene Wineralien darin auf und ſandte fie an die Aktionaire, auf deren Koſten er die Reiſe nach dem Ural machte. Die Auffindung des Zirkons in einer vorher nicht ge— gekannten Größe erregte beſonders viel Aufſehn und veranlaßte die ruſſiſchen Behörden zu einer genaueren Unterſuchung des Gebirges, wodurch nun die von Wenge entdeckten Wineralien nicht allein an vielen andern Stellen, ſondern auch noch mehrere neue oder neue Varietäten ſchon bekannter Wineralien aufgefunden wurden.

Der größte Theil dieſer Mineralien kommt in den Umgebungen des Ilmenſees, eines der vielen Seen vor, die ſich im Oſten von Miask in unzähliger Menge ſowohl im Gebirge, als auf deſſen Oſt— ſeite finden und ſich hier an die Seen der Iſchimſchen und Bara— binskiſchen Steppe anſchließen. Er liegt etwa drei Werſte von Wiask entfernt auf einer weſtlichen Terraſſe des Ilmengebirges und iſt drei Werſte von N. nach S. lang und 2x Werſte von O. nach W. breit. An ſeiner Oſtſeite erhebt ſich das Gebirge ziemlich ſteil, die anderen Ufer ſind flacher, aber wie das ganze Gebirge mit ſtarker Tannenwaldung bedeckt. Stellenweiſe iſt auch der Boden ſehr ſumpfig, und beſonders iſt dies an der Südſeite der Fall, die dadurch ſehr unzugänglich iſt; auch hat man die meiſten Wineralien nur an der Oſt⸗ und Nordfeite, an dieſer aber bis zu einer ziemlich großen Ent— fernung von derſelben gefunden.

Unſere Reiſenden beſtimmten den erſten Tag ihrer Excurſion zur Beſichtigung der nördlich gelegenen Gegend. Sie hatten dabei die nämliche Begleitung wie am vorigen Tage, außerdem aber noch die Freude, Herrn Achter, den Oberdirector von Slatouſt in ihrer Witte zu ſehen, der ſchon am Tage vorher nach Wiask gekommen war, um Humboldt zu begrüßen. Wan bediente ſich zu dieſer Excurſion der ſchon früher erwähnten ſibiriſchen Wagen, da man mit ihnen zu den meiſten Stellen, die an dieſem Tage beſucht werden ſollten, gelangen konnte. Der eigentliche Führer war Herr Barbot de

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Marni, unter deſſen ſpecieller Auffidst die verſchiedenen im Ilmen— gebirge gemachten Schurfe geſtellt ſind.

Das Ilmengebirge erhebt ſich gleich hinter Wiask, und auf ſeinem weſtlichen Abhang iſt noch ein großer Theil des Ortes ſelbſt gebaut. Gleich hinter den letzten Häuſern fängt auch die Tannen— waldung an. Pinus picea iſt die darin am häufigſten vorkommende Species; aber außerdem finden ſich auch nicht ſelten Lärchen (Pi— nus Larix), die hier, beſonders wo der Boden nur ſumpfige Be— ſchaffenheit hat, außerordentlich hoch und dickſtämmig ſind. Es fan— den ſich viele Stämme, die man mit den Armen nicht umſpannen konnte. Bei dieſer ſtarken Bedeckung mit Wald und Dammerde ſahen die Reiſenden anſtehendes Geſtein, wie in Murſinsk, haupt— ſächlich nur da, wo man zur Gewinnung von Mineralien kleine oder größere Schurfe gemacht hatte, und konnten daher hier ebenfalls nicht über die Verbreitung und die Grenze der das Gebirge bildende Gebirgsarten recht genügende Beobachtungen machen, ja ſie konnten ſelbſt über die Art des Vorkommens der Wineralien oſt keine be— ſtimmte Meinung faſſen.

Die Zirkonkryſtalle, die dieſe Lagerſtätte beſonders berühmt ge— macht haben, ſind von ſehr verſchiedener Größe, zuweilen länger als ein Zoll (die Reiſenden erhielten ſelbſt einen ſolchen Kryſtall, der 14 Zoll lang und 1 Zoll breit iſt), oft aber kaum von der Größe eines Nadelknopfes. Die Farbe der Kryſtalle iſt gelb und ebenfalls eigenthümlich; die kleineren Kryſtalle ſind häufig ganz durchſichtig, die größeren wenigſtens ſtellenweiſe, da ſie öfter im Innern Sprünge und Klüfte haben, was ihrer Durchſichtigkeit Ein- trag thut; fie find ferner ſtark glänzend von Glasglanz. Die Zir— kone kommen gewöhnlich in Feldſpath und Glimmer, ſehr ſelten, und nur die kleineren, in Eläolith eingewachſen vor.

Die Excurſion nach den öſtlich vom Ilmenſee gelegenen Schürfen, zu welcher der folgende Tag, der 6. September, beſtimmt wurde, machte Profeſſor Roſe allein mit den Herren Liſſenko und Barbot de Marni, da Humboldt dieſen Tag zur Beobachtung der Incli— nation der Magnetnadel und Profeſſor Ehrenberg zum Ordnen ſeiner geſammelten Pflanzen benutzen wollte. Diesmal wurde die Excurſion zu Pferde, nicht zu Wagen gemacht, da man die Abſicht

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hatte, den Weg an der Südſeite des Ilmenſee entlang zu nehmen, wo ein einigermaßen fahrbarer Weg gar nicht exiſtirte, und die vielen Sümpſe, die ſich hier befinden, auf dieſe Weiſe am beſten zu paſſiren waren. Doch ſelbſt zu Pferde würde es ungemein ſchwierig geweſen ſein, den Weg zurückzulegen, hätte man nicht die Aufmerk— ſamkeit gehabt, die ſchlimmſten Stellen mit neuen Bohlen belegen zu laſſen.

Die Excurſion nach Slatouſt und Kyſchtimsk war die letzte und größte, die unfere Reiſenden von MiasE aus machten. Sie verſprach ihnen, abgeſehen von dem Beſuche von Slatouſt, deſſen Klingenfabrik am Ural mit Recht in einem großen Rufe ſteht, auch in geognoſtiſcher Hinſicht ein beſonderes Intereſſe, da ſie bei der Reiſe nach Slatouſt Gelegenheit hatten, ein Profil des Ural in die— ſer Breite kennen zu lernen, und indem ſie bei der Rückkehr über Kyſchtimsk ſich den von Katharinenburg aus beſuchten Gegenden bis auf eine geringe Entfernung wieder näherten, ihre geognoftifchen Beobachtungen mit den in Katharinenburg angeſtellten in Verbin— dung bringen konnten.

Zwiſchen Miask und dem 35 Werſte entfernten Slatouſt zieht ſich die Gebirgskette des Ural hin, welcher in dieſer Gegend aus— ſchließlich der Name Ural zugetheilt wird. Es iſt ein breiter Rük— ken, der allmählig anſteigt und eben ſo abfällt und daher gegen das niedrigere aber prall anſteigende Ilmengebirge ſehr contraſtirt. Auch fängt er erſt bei dem 16 Werſte von Miask gelegenen Dorfe Sy— roſtan ſich zu erheben an; bis dahin bleibt man in dem großen Län— genthale des Mias.

Die Reiſenden beſichtigten unterwegs das ſchon erwähnte Sei— fenwerk Knäſe-Alexandrowskoi, das in dem Thale des kleinen Fluſ— ſes Bereſowka, der in nordöſtlicher Richtung dem Wias zufließt, an— gelegt iſt. Als ſie wieder auf die Straße nach Slatouſt zurückkehr— ten, die ſich bald darauf in das weite Längenthal des Atljan ſenkte, in welchem der bisher ſtets wellige Weg mehrere Werſte lang faſt eben fort ging, eröffnete ſich ihnen die volle Ausſicht auf den Ural, der als ein breiter flacher Rücken faſt völlig horizontal ſich vor ihnen hinzog. Aber gleichzeitig ſahen ſie auch ſchon einen Theil der hinter dem Ural in paralleler Richtung fortlaufenden höhern Ge—

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birgskette, die Urenga, die mit gezackten ſteilen Umriſſen links von dem Wege über den Ural hervorragte und einen höchſt pittoresken Anblick gewährte.

Auch jenſeits des Atljan geht der Weg nur wenig anſteigend in einem flachen Querthale entlang, in welchem der kleine Fluß Sy- roſtau von dem Rücken des Ural herabkommt und dem Atljan zue fließt. Nach einigen Werſten gelangt man an das Dorf Syroſtan in welchem die Pferde gewechſelt werden, und erſt hinter dieſem fängt der Ural ſich allmählig zu erheben an, und erreicht in der Mitte des Weges nach Slatouſt, etwa 10 Werſte von Syroſtan, ſeine größte Höhe, die jedoch 2000 Fuß nicht überſteigt. Auf der Höhe hat ſich der Weg etwas nach rechts gebogen, die Birkenwal— dung, mit welcher der ganze Ural bedeckt iſt, verbirgt, obſchon ſie nicht hoch iſt, die Ausſicht auf die Urenga; dagegen eröffnet ſich hier eine nicht weniger großartige Ausſicht auf die nordweſt⸗ liche Fortſetzung deſſelben, einen eben ſo lang gezogenen noch höhern Gebirgsrücken, der den Namen des Taganai ſührt, und durch drei einzeln ſtehende Felſenpartien, die aus ſeinem Kamme hervorragen, und von denen die mittlere die höchſte iſt, ein eigenthümliches, leicht erkenntliches Anſehen gewinnt.

Der weſtliche Abhang iſt ebenſo allmählig wie der öſtliche; eine lange und breite Mulde zieht ſich an ihm hin, der Weg ſenkt ſich und erhebt ſich wieder, ohne ſeine frühere Höhe zu erreichen. Hat man die zweite Erhebung erſtiegen, ſo überſieht man völlig den gegenüberliegenden Gebirgszug und das dazwiſchen liegende, nur ſchmale Längenthal. Ein breites, tiefes Querthal trennt die beiden lang gezogenen Rücken, den Taganai von der Urenga, aber ein noch viel tieſeres und engeres Thal ſcheidet, der Straße über den Ural gegenüber, noch den nördlichen Theil der Urenga, den Koſſotur, wie eine tiefe Felſenſpalte von ihr ab. Hierdurch drängt ſich der Ai, ſeinen Lauf in dem Längenthale zwiſchen der Urenga und dem Ural plötzlich verlaffend, hindurch, und in dieſem Querthale, jenſeits eines großen Hüttenteiches, zu welchem der Ai noch vor ſeinem Durchbruch aufgeſtaut iſt, wie auch an dem Fuße des Koſſotur neben der Straße ſich entlang ziehend, liegt Slatouſt, einen der maleriſchſten Proſpecte im ganzen Gebirge darbietend.

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Der öſtliche Abhang des Ural beſteht aus weißem körnigen Kalkſtein und aus Granit, welcher letztere aber erſt jenſeits des Dorfes Syroſtan anfängt. Der Uralrücken ſelbſt beſteht aus Glim— merſchiefer. An ſeiner Oſtſeite wird er von Granitgängen durch— ſetzt. Auf der höchſten Erhebung des Ural findet ſich ein mächtiges Lager von Quarz, der ſtellenweiſe roth oder gelb gefärbt und mit kleinen Glimmerſchüppchen gemengt, oft einen ſchönen Aventurin darſtellt. Er ragt zur Seite des Weges aus dem Glimmerſchiefer hervor und bildet einige ſchroffe Felsparthien, eine Erſcheinung, die ſich noch ausgezeichneter und ſchöner am Taganai wiederholt.

In der Mulde an dem Weſtabhange des Ural, wie auch in dem Längenthale des Ai finden ſich im Glimmerſchiefer Lager von körnigem Kalkſtein, die Brauneiſenerz enthalten, welches in zwei Gruben Iſakowskoi und Tesminskoi, die beide nicht weit links vom Wege liegen, abgebaut und in den Hohöfen von Slatouſt verſchmol— zen wird. Außer dieſen Gruben finden ſich weiter ſüdlich wie auch nördlich vom Wege noch mehrere andere, in denen das Eiſenerz un— ter ganz ähnlichen Verhältniſſen vorkommt.

Die Reiſenden waren kurz nach Wittag in Slatouſt angekommen und ſtiegen in der Wohnung des damaligen Oberdirectors Achte ab, der ſie gaſtfrei bei ſich aufnahm. Slatouſt (welches 1849 3640 Einwohner zählte) war früher nur eine gewöhnliche Eiſenhütte, in welcher ſich 2 Hohöfen, einige Friſchfeuer und Walzwerke befanden’ erſt in neuerer Zeit hat es ſeinen ausgebreiteten Ruf durch ſeine Klingenfabrik erlangt, die von dem Bergrath Eversmann mit Hülfe von Solinger und Klingenthaler Klingenſchmieden, welche er im Auftrage der Regierung nach dem Ural führte, angelegt wurde. Durch dieſe deutſchen Einwanderer iſt der früher kleine Flecken zu einer ganz deutſchen Fabrikſtadt geworden, in der unſre Reiſenden überall die vaterländiſche Sprache hörten, und vaterländiſche Ein— richtungen und Sitten ſahen. Jeder Meifter hat feine eigene Werk— ſtätte, in welcher er die Klingen ſchmiedet, und nur das Schleifen, Poliren und Vergolden geſchieht gemeinſchaftlich in einem beſondern Gebäude. Er iſt verbunden jährlich eine beſtimmte Menge Klingen abzuliefern und einige ruſſiſche Schüler zu bilden, und bezieht da— für das in Rußland hohe Gehalt von 2500 Rubel; außerdem hat

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er eine freie Wohnung mit Garten, und erhält, wenn er krank iſt, ſreie ärztliche Hülfe und Medizin nach Belieben zu Hauſe oder im Hospital. Die deutſchen Weiſter ſind alle im Wohlſtande und äußerten ſich mit ihrem Looſe zufrieden; ſie beklagten nur, was freilich nicht anders ſein kann, daß ihre Kinder ſich nicht eines glei— chen Schickſals zu erfreuen hätten, da die in Slatouſt angelernten Meifter nur einen Rubel täglich erhalten.

Der Stahl zu dieſen Klingen wird in Slatouſt ſelbſt bereitet; es iſt Rohſtahl, der aus dem hieſigen Roheiſen auf beſonderen Heer— den dargeſtellt und nachher noch mehrere Wale raffinirt wird. Die fertigen Klingen werden einer ſtrengen Prüfung unterworfen und jede zerbrochen, bei welcher nur der kleinſte Fehler zu bemerken iſt. Hierdurch erleidet man freilich einen Abgang von 20 Procent, er: hält aber auch den Ruf, in welchem ſie ſtehen.

Das ganze Quantum fertiger Säbel, das zur Armee abgeliefert wird, beträgt 30,000 Stück; die Klinge kommt auf 6 Rubel, die fertigen Säbel kommen auf 18 bis 20 Rubel zu ſtehen.

Prof. Hanſteen, der faſt um die nämliche Zeit Slatouſt be— ſuchte, theilt noch folgendes Nähere mit ):

In Slatouſt werden alle Arten Schuß- und Hiebwaffen ver— fertigt. Die Kanonenkugeln, die größte wie die kleinſte, werden, nachdem ſie gegoſſen ſind, ſo lange gefeilt, bis jede Spur vom Gie— ßen verſchwunden iſt, und zugleich mit einer genau kreisrunden Eiſen— ſchablone geprüft, durch welche die Kugel in jeder Stellung gut hin— durchgehen muß, ohne daß an irgend einer Stelle ein größerer Zwi— ſchenraum, als von der Dicke eines Haares, vorhanden iſt. Die Geſtalt der Säbel wird mit derſelben Genauigkeit in folgender Weiſe beſtimmt. Die Durchſchnittsfigur der Klinge iſt in drei Eiſenblech— platten ausgefeilt, von welchen die größte die Klinge oben am Hand— griff, die zweite in der Witte, die dritte eine gewiſſe Anzahl Zoll von der Spitze genau umſchließen muß. Die Krümmung der Klinge wird nach einer geſpaltenen Metallſcheibe beſtimmt; wird ſie in dieſe hineingelegt, ſo muß der Rücken genau die eine Kante der Scheide

*) In den ſchon erwähnten ungemein lebensfriſchen Retfe-Erinnerun- gen aus Sibirien (deutſch von H. Sebald) Leipzig 1854.

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und die Schneide die entgegengeſetzte in ihrer ganzen Länge berüh— ren; da die Scheide, welche im Felde gebraucht wird, von Wetall iſt und mit derſelben Genauigkeit verfertigt wird, ſo iſt der Zweck die— ſer Strenge, daß jede Säbelklinge völlig genau in jede Scheide paſſen ſoll. Für den Artilleriſten und Sapeur werden kürzere und dickere Hieber oder Säbel verfertigt, auf deren Rücken Sägezähne wie auf einer Stichſäge gefeilt ſind. Dieſelben können alſo ſowohl zur Vertheidigung im Handgemenge gebraucht werden als zum Fällen und Zerſägen von Bäumen. Sieht man die geringſte Spur vom Guß auf der Kugel, oder vom Schlag des Hammers auf der Hiebwaffe, die nicht weggefeilt oder weggeſchliffen werden kann, ohne daß die Waffe, wenn auch noch ſo wenig, von der beſtimmten Form abweicht, ſo wird ſie kaſſirt. So zeigte der Werkmeiſter mehrere kaſſirte Säbel, in denen es uns nicht möglich war, den geringſten Fehler zu entdecken, allein ſeine geübten Augen fanden ſogleich die eine oder die andere kleine Unebenheit, welche ohne Zweifel nicht den geringſten Einfluß auf die Brauchbarkeit des Geräths hatte. Allein die ruſſiſche Regel iſt ohne Ausnahme. Eine ſolche pedan— tiſche Genauigkeit würde in jedem anderen Lande die Waffe allzu koſtbar machen, da aber der ruſſiſche Bauer von Brot, Zwiebeln, Waſſer und mitunter einem Tropfen Branntwein leben kann, ſo koſtet ſein Tagelohn nicht ſehr viele Kopeken. Wit jo genauen Kugeln braucht man im Kanonenlauf nur einen geringen Spielraum und der Schuß wird dadurch um Vieles ſicherer.

Unſere Reiſenden beſahen unter der Leitung des Oberdirectors Achte und der Unterdirectoren Anoſſoff und Hermann noch denſelben Nachmittag die ſämmtlichen hieſigen Werke, ſowohl die Hohöfen, Stahlheerde, Fabrikgebäude und Magazine, als auch die Werkſtät⸗ ten von mehreren der deutſchen Weiſter, und beſtimmten daher ſchon den folgenden Tag (den 8. September) zu einer Excurſion nach dem Taganai.

Der Taganai bildet einen langen Gebirgsrücken, der ſich 10 Werſte nördlich von Slatouſt erhebt und nach Norden mit einer nur geringen Neigung nach Weſten fortzieht. Er hat daſſelbe Streichen wie die Urenga und iſt nur als eine Fortſetzung derſel— ben anzuſehn, ſteht aber doch in keiner unmittelbaren Berührung

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mit ihr, da er von ihrem nördlichen Ende, dem Koſſotur, noch durch ein breites Querthal und die darin fließende Tesma, die am ſüd— weſtlichen Fuße des Taganai entſpringt, getrennt iſt. Er zieht ſich in der angegebenen Richtung etwa 15 Werſte fort, ſenkt ſich nun aber ebenfalls, worauf ſich faſt in derſelben Streichungslinie ein neuer Gebirgsrücken, die Jurma, erhebt. Daſſelbe iſt auch im Sü— den der Urenga der Fall, indem hier in ſeiner Streichungslinie der Iremel liegt, ſo daß der Iremel, die Urenga, der Taganai und die Jurma nur als von einander getrennte Glieder eines und deſſelben Gebirgszuges zu betrachten ſind.

Auch zeigen fie alle eine gleiche geognoſtiſche Beſchaffenheit, denn ſie beſtehen ſämmtlich aus Glimmerſchiefer. Auf der Höhe befindet ſich bei allen, wie beim Ural, ein mächtiges Quarzlager, das den eigentlichen Kamm bildet und aus dem Glimmerſchiefer wie eine ungeheure Felſenmaſſe hervorragt. Offenbar, bemerkt Prof. Roſe, hat früher der Glimmerſchiefer eine gleiche Höhe wie ſie ge— habt, iſt aber, den Einwirkungen der Atmoſphäre mehr unterworfen, an feiner Oberfläche und zur Seite des feſten Quarzes zerſtört worden. Dennoch laufen auch die obern Ränder dieſer Wauer ſelbſt nicht in gerader Linie fort, ſondern ſind an vielen Stellen einge— ſtürzt und unterbrochen, was allen dieſen Bergen ein ſo pittoreskes Anſehn giebt. Der höchſte dieſer Rücken iſt der Iremel, und dann folgt gleich der Taganai. Erſterer hat nach den Weſſungen von Hofmann und v. Helmerſen eine Höhe von 4500 Fuß, der letztere nach Kupffer eine Höhe von 3340, während das Querthal von Sla— touſt bis zu einer Tiefe von 1120 Fuß eingeſchnitten iſt. Die Höhe, bis zu welcher die Quarzfelſen am Taganai aus dem Glimmerſchie— fer emporſteigen, beträgt faſt 450 Fuß.

Unſre Reiſenden brachen zu ihrer Excurſion nach dem Taga— nai ſchon ſehr früh auf, waren aber leider von dem Wetter ſehr wenig begünſtigt. Schon der Worgen war trüb und neblig und verkündete keinen heitern Tag, ſo ſchön das Wetter auch am ge— ſtrigen Tage noch geweſen war. Wan hätte allerdings beſſer ge— than, die Excurſion noch aufzuſchieben, trat ſie aber dennoch an, weil alle Vorkehrungen dazu einmal getroffen waren und andrer— ſeits, weil man hoffte, das Wetter werde ſich aufklären. Statt deſ—

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fen vermehrten ſich jedoch die Nebel immer mehr, je mehr man ſich der Höhe des Berges näherte; zuletzt fing es förmlich an zu regnen, und hörte damit, kleine Unterbrechungen abgerechnet, auch den ganzen Tag nicht wieder auf. Die Reiſenden konnten alſo auf dem Berge von der umliegenden Gegend gar nichts wahrnehmen und auch nur wenige geognoſtiſche Unterſuchungen anſtellen. Dabei hatten ſie noch das Unglück ihr letztes Barometer zu verlieren, indem Humboldt, der es trug, auf dem Hinwege ſtrauchelte und fiel, wobei die Ba— rometerröhre zerbrach. Zum Glück war dieſer Verluſt von gerin— gerer Bedeutung als er anfangs ſchien. Allerdings war man nun außer Stand geſetzt, eine Höhenbeſtimmung des Berges zu machen; doch bedurfte es derſelben auch nicht, da dieſe Höhe ſchon im vori— gen Jahre durch Prof. Kupffer beſtimmt war, und für den übrigen Theil der Reiſe traf es ſich ſehr günſtig, daß Humboldt noch am Morgen dieſes Tages fein Barometer mit dem des Herrn Hofmann verglichen und ſich von dem übereinſtimmenden Gange beider über— zeugt hatte.

Da nun Herr Hofmann ſeine Unterſuchungen in dem ſüdlichen Ural vollendet hatte und ohne Humboldt's Ankunft ſchon nach Pe— tersburg zurückgekehrt geweſen wäre, ſo überließ er unſeren Reiſen— den auch ſehr gern ſein Barometer, wodurch dieſe nun in den Stand geſetzt wurden, trotz jenes Unfalls ihre Beobachtungen auf der wei— teren Reiſe fortzuſetzen.

Die Reiſenden bedienten ſich für den erſten Theil des Weges der ſchon öfter erwähnten kleinen Wagen, die in Sibirien zu Ge— birgsreiſen benutzt werden. Sie gelangten damit faſt bis zur Hälfte der Höhe des Taganai, wo ſie dieſelben ſtehen ließen und den übri— gen Theil des Weges zu Fuß zurücklegten; doch erhebt ſich der Weg auch hier noch ſo allmälig, daß man faſt bis zum Fuß der Quarz⸗ felſen, wenn auch nicht fahren, doch noch recht gut reiten kann, was auch mehrere aus der Geſellſchaft thaten. Den Abhang des Taga— nai, wie auch das ganze Längenthal zwiſchen ihm und einem ge— genüberliegenden Gebirgszug, der den Namen des kleinen Taganai führt, bedeckt ein dicker Tannenwald, aus welchem man eine Ueber- ſicht über die umliegende Gegend, auch bei beſſerem Wetter, kaum und nur an einzelnen Punkten gehabt haben würde. Wit zuneh⸗

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mender Höhe werden die Tannen kleiner, ſtehen einzelner und mi— ſchen ſich mit Birken; dieſe bleiben zuletzt ganz allein, bis dann auch ſie verſchwinden. Der Weg wird hier ſehr ſumpfig und iſt mit Felsblöcken bedeckt, ſo daß man ſich oſt genöthigt ſieht, von einem Block zum andern zu ſpringen. So gelangt man endlich zu dem eigentlichen Kamme, auf welchem die Quarzmauer ſich er— hebt. Sie iſt ihrer ganzen Länge nach an zwei Stellen eingeſtürzt, ſo daß dadurch der Taganai mit drei Felſenparthien gekrönt er— ſcheint, was ihm ſein eigenthümliches Anſehn giebt. Die mittlere Felſenparthie iſt die höchſte; auf dem zur Seite aufgethürmten Blocke kann man zu ihr hinaufklimmen, was Profeſſor Kupffer gethan und auf dieſe Weiſe ihre Höhe beſtimmt hat. Einige von der Ge— ſellſchaft erſtiegen fie ebenfalls, aber der Nebel war fo dicht, daß man fie von unten aus nicht erkennen konnte. Hinter einer Felfen- mauer, die nothdürftigen Schutz gewährte, warteten die Reiſenden den ſtärkſten Regen ab, nahmen hier ein mitgenommenes Frühſtück ein, das den Unfällen zum Trotz in der fröhlichſten Laune verzehrt wurde, und kehrten dann auf demſelben Wege, auf welchem ſie ge— kommen waren, nach Slatouſt zurück, wo ſie am Abend mit der untergehenden Sonne ganz durchnäßt ankamen.

Der Quarz der Felſenmauer auf dem Kamme des Taganai iſt von derſelben Beſchaffenheit wie der vom eigentlichen Ural. Er iſt meiſtens ganz ſchneeweiß und nur mit wenigen weißen Glimmer- blättchen gemengt, dann aber ſtellenweiſe mit den Farben des Ei— ſenkieſels bräunlichroth oder ockergelb gefärbt und enthält in die— ſem Fall meiſtens ſtärkere Glimmereinmengungen, wodurch die ſchön— ſten Abänderungen von Aventurin gebildet werden. Aus dieſem Quarz beſtehen auch die ſumpfigen Blöcke auf dem ſumpfigen Ab— hange des Taganai.

Weſtlich von dem Gebirgszuge der Urenga, des Taganai und der Jurma ziehen ſich noch andere Bergketten fort, die mit dem Hauptzuge größtentheils ein paralleles Streichen haben, aber wie dieſer auch häufig unterbrochen ſind, nach längerem oder kürzerem Laufe abfallen und ſich dann wieder nach einiger Zeit mit demſelben Streichen erheben. So weſtlich von dem ſüdlichen Theile der Urenga der Surguſch, weſtlich von dieſem die Bergzüge des großen Uwan

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und des Suratkul, noch weiter weſtwärts die Suka, worauf dann die Silija im Weſten von dem Hüttenwerke Satkinsk und die nörd— liche Fortſetzung derſelben, die Tſchulkowa, folgen. Die Silija, über welche die große Straße von Ufa nach Slatouſt führt, er— reicht nach Kupffer noch eine Höhe von 1652 Fuß; auf ihrer Weſt— ſeite bei Satkinskaja Priſtan (dem Hafen von Satkinsk, wo die Produkte dieſes Hüttenwerks eingeſchifft und nach Petersburg und anderen Theile des ruſſiſchen Reiches gebracht werden) fließt der Ai noch zwiſchen felſigen und ſteilen Ufern, aber ſchon bei dem 10 Werſte weiter entfernten Dorf Ailina ſind die Berge ganz zur Ebene herabgeſunken, die ſich dann auch von hier ohne Unterbrechung bis zur Wolga fortzieht.

Dem nördlichen Ende der Urenga und dem Taganai weſtwärts gegenüber liegen die mineralienreichen Rücken Schiſchimskaja und Naſimskaja. Sie gehören nicht ein und demſelben Zuge an, denn die Naſimskaja liegt dem Taganai näher, als die Schiſchimskaja der Urenga, und bildet gleichſam eine Fortſetzung des Nurguſch, wäh— rend die Schiſchimskaja als eine Fortſetzung des Uwan und Surat— kul zu betrachten iſt. Auf die Schiſchimskaja folgt nun die Kette der Lipowaja (des Lindenbergs) und dann die des Mias, der ſich der Jurma gegenüber wieder zu bedeutender Höhe erhebt, während die zwiſchenliegenden Fortſetzungen der Naſimskaja und der Lipo- waja hier zu unbedeutenden Bergen herabgeſunken ſind. Jenſeits des Wias fließt die Arſcha dem Ai zu, und jenſeits dieſer fallen auch hier die Berge zur Steppe ab.

Dieſe Bergzüge, in der Regel ſtark bewaldet und nur auf den Kuppen nackt, ſchließen meiſtens, beſonders in dem weſtlichen Theile, breite Längenthäler ein, welche häufig kräuterreiche Wieſen bilden, denen man hier auch den Namen der Steppen beilegt, wie die Tſchu— waſchiſche Steppe zwiſchen den Bergen Lipowaja und Naſimskaja, die Chutorowskiſche Steppe bei dem Ai weſtwärts von der Tſchul⸗ kowa u. ſ. w. Sie werden meiſtentheils alle von Flüſſen bewäſſert, die dem Ai, dem Hauptfluſſe dieſer Gegend, zufließen, der, vielfach ſich krümmend, in der großen Querſpalte von Slatouſt bis jenſeits Kuſſinsk fließt, hier aber plötzlich wieder eine der frühern parallele, doch ganz entgegengeſetzte Richtung nimmt. Die ſüdlichen Zuflüſſe

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haben daher im Allgemeinen eine nordöſtliche, die nördlichen eine ſüdweſtliche Richtung; zu den erſteren gehören vorzüglich der Ba— gruſch, der Kuwaſch und die Satka, zu den letzteren die Tesma, Kuſſa und Arſcha; aber die meiſten dieſer Flüſſe verändern ſtellen— weiſe dieſen Lauf, indem ſie durch Querthäler in benachbarte Län— genthäler fließen und ſodann in dieſen ihren Lauf fortſetzen.

Was die geognoſtiſche Beſchaffenheit dieſer Gebirgszüge anbe— trifft, ſo gehören ſie theils noch zu dem ſchiefrigen Urgebirge, theils ſchon zum Uebergangsgebirge, das ſich auch auf der Oſtſeite dem Ilmengebirge anlegt, auf der Weſtſeite des Ural aber noch viel herrſchender vorkömmt. Zu dem erſtern gehören der große Uwan, der Suratkul, die Suka, die Schiſchimskaja und Naſimskaja, zu den letzteren die übrigen. Das ſchiefrige Urgebirge beſteht wie in den Bergen bei Slatouſt größtentheils aus Glimmerſchiefer, der unter— geordnete Lager von Quarz, von Hornblende-, Chlorit und Talkſchie— fer und von körnigem Kalkſtein enthält. Die Quarzlager kommen in derſelben Art wie am Taganai und in den übrigen Gebirgs— rücken der Hauptkette vor und erheben ſich gleichfalls in Felſen aus dem Hauptkamme derſelben.

Lager von Chloritſchiefer und Hornblendeſchiefer kommen be— ſonders häufig vor; von Talkſchiefer findet ſich nur ein Lager in der Schiſchimskaja, das mehrere merkwürdige, zum Theil neue Wi— neralien enthält, darunter den im Jahre 1833 von Barbot de Warni entdeckten Chloroſpinell. Derſelbe kommt nur kryſtalliſirt vor, ſeine Kryſtalle haben in der Regel nur eine Größe von ein bis zwei, ſelten bis drei Linien; ſie ſind gewöhnlich in Talkſchiefer eingewachſen, doch auch in kleinen Höhlungen deſſelben aufgewachſen. Das Wine— ral, welches die Härte des Topas hat, iſt grasgrün, an den Kan— ten durchſcheinend, glänzend von Glasglanz und im Strich gelb— lichweiß.

Noch reichhaltiger als das Talkſchieferlager in der Schiſchims— kaja iſt ein Lager von Chloritſchiefer in der Naſimskaja auf der Weſtſeite des Taganai, 15 Werſte von Slatouſt, das ſchon im Jahre 1811 entdeckt war, nachher aber immer mehr durch Schurfarbeiter entblößt wurde. Wegen der vielen Wineralien, die ſich hier fin— den, hat man dem Ort einen beſonderen Namen beigelegt und ihn

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Achmatowsk nach dem Verwalter des Kuſſinskiſchen Hüttenwerkes genannt.

Die Lager von Hornblende-, Chlorit- und Talkſchiefer enthal— ten hier und da auch Kupfererze eingeſprengt, die auch in mehreren Gruben, wie in Vadeſchdinskoi, Jegrafowskoi, Schlegowskoi u. ſ. w. gefördert und in den Hüttenwerken Slatouſt, Satkinsk und Kuſ— ſinsk verſchmolzen wurden, als dieſe Hüttenwerke noch Privateigen— thum waren. Da die Erze aber nicht reichhaltig ſind, ſo ſind die Gruben, ſeitdem ſie an die Krone übergegangen, ſämmtlich nicht mehr betrieben worden.

Das Uebergangsgebirge, welches in den weſtlichen Ketten auf— tritt, beſteht aus Sandſtein, Thonſchiefer und Kalkſtein. Der er— ſtere iſt die verbreitetſte Gebirgsart; aus ihm beſtehen größtentheils die Bergrücken der Silija und Tſchulkowa zwiſchen der Satka und dem Ai, ferner die Lipowaja und der Selitur bei Kowaſcha, die Bergzüge an der Isranda, die weſtlichen Abhänge des großen Wias und die zwiſchen dieſem und der Arſcha gelegenen Bergrücken Ma— kali und Maskarali. Er iſt größtentheils feinkörnig und quarzig, ſo daß er zu Geſtellſteinen benutzt werden kann, und auch an meh— reren Stellen, wie an der Silija und andern, dazu gebrochen - wird; dann erſcheint er braun, gröber und Grauwacken-ähnlich und ſtellenweiſe ſogar als grobes Conglomerat mit Bruchſtücken von Quarz, Glimmerſchiefer, Feldſpath u. ſ. w., wie in den Taratars— kiſchen Bergen an der Isranda.

Der Thonſchiefer iſt weniger verbreitet und findet ſich mehr in Süden der beſchriebenen Gegend zwiſchen der Suka und Silija und noch weiter öſtlich zwiſchen der Suka und dem Suratkul. Ferner beſtehen aus ihm die Smäinaja und die benachbarten ſteilen Berg— rücken, wie auch die niedrigen Berge und Hügel an der Juwa— ſchulja und Isranda. Er iſt von verſchiedenen grünlichgrauen, gelb- lichbraunen und ſchwarzen Farben, die zuweilen im Lager wechſeln. Bei Kuſſinsk und in der Gegend zwiſchen Satkinsk und Satkins— kaja Priſtan iſt er ſo kohlenhaltig und erdig, daß er mit Flamme brennt und die Hände ſchwärzt und zwiſchen der Smäinaja und dem kleinen Flüßchen Kiſſäganka wie auch in den Felſen an der

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Satka iſt er fo dünnſchiefrig, daß er einen förmlichen Dachſchiefer darſtellt.

Der Kalkſtein iſt auch mehr im Süden verbreitet zwiſchen der Schiſchimskaja und der Silija bei Satkinskaja Priſtan, wo er an dem Ufer des Ai viele hervorſpringende Felſen bildet, welche die Schiffahrt auf dem Ai an den Biegungen ſehr ſchwierig machen, und endlich weſtlich von Kuſſinsk zwiſchen den Flüſſen Ai, Arſcha und Kuſſa. Er iſt graulichweiß bis graulichſchwarz, zuweilen auch rothbraun; die verſchiedenen Schichten finden ſich auch von ver— ſchiedener Farbe, wie in den Felſen am Ai, was ſich in den Pro— filen ſehr gut ausnimmt; zuweilen iſt er auch mit weißen Kalkſpath— adern durchſetzt.

Auch in dem Uebergangsgebirge finden ſich ſowohl Eiſen als Kupfererze. Von einer Wenge Gruben, die früher im Betrieb waren, find aber jetzt ſchon viele ausgebaut und verlaſſen.

Den 9. September verweilten die Reiſenden noch in Slatouſt und beſchäftigten ſich unter anderm damit, die ſchönen Sammlungen der Herren Anoſſoff und Hermann zu beſehen, die vorzugsweiſe die Mineralien der Gegend enthielten.

Herr Hermann, welcher große Vorräthe davon beſaß, theilte den Reiſenden davon freigebigſt mit, und ebenſo fühlten ſich dieſe Herrn Anoſſoff für die viele Belehrung zu Dank verpflichtet, die er ihnen über die geognoſtiſche Beſchaffenheit der Gegend ertheilte. Er unterrichtete ſie über die hier vorkommenden Wineralien, welche ſie ſelbſt an Ort und Stelle zu ſehen nicht Gelegenheit hatten, und übergab Humboldt eine Karte von dem Hüttenbezirk von Slatouſt, auf welcher die vorkommenden Gebirgsarten angegeben waren.

Am 10. September verließen die Reiſenden Slatouſt, um ihren Rückweg über Kyſchtimsk nach Wiask anzutreten. Der Weg geht bis zum Dorfe Syroſtan auf der Straße nach Wiask entlang, biegt dann aber bald in das Längenthal des Wias ein und führt ſogleich in einen dichten Tannenwald, in welchem anſtehendes Geſtein nicht ſichtbar iſt. Erſt in der Gegend des Dorfes Turgojakskaja wird die Gegend freier; das Dorf liegt an der Oſtſeite eines beträchtlichen Sees gleiches Namens, der 7 Werſte von N. nach S. lang und 5 Werſte breit iſt und einen Abfluß nach dem Wias hat, der bei

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dem Dorfe vorbeifließt. An der Südoſtſeite des Sees waren früher einige Kupfergruben in Betrieb, die aber jetzt wie alle übri— gen dieſer Gegend zum Erliegen gekommen ſind.

Hinter Turgojakskaja führt der Weg auf die rechte Seite des Wias und geht an dem Ilmengebirge, aber wiederum faſt in im— merwährendem Tannenwalde fort. Nur ſtellenweiſe hat man zur Linken die Ausſicht auf den Ural, der ſich hier aber ſchon beträcht— lich verändert hat und über welchem die weſtliche Kette der Jurma bedeutend hervorragt. Von dem vielen Regen der vorhergehenden Tage war das Erdreich aufgeweicht und der Weg ſehr ſchlecht ge— worden, ſo daß man nur langſam vorwärts kam. Einige Werſte hinter dem Dorfe Muhambetjewa fuhr man durch den Wias und erreichte dann um 4 Uhr Nachmittags die Goldſeifenwerke von Wias— kaja und Soimonowsk, die ſchon zu dem Hüttenwerke Kyſchtimsk gehören und 40 Werſte gegen SW. davon entfernt ſind. Sie ſind zugleich nebſt den Seifenwerken Anninskoi, 29 Werſte im SW. und Ckaterininskoi, 12 Werſte im W. von Kyſchtimsk, die bedeutendſten dieſes Bezirks.

Herr Titus Sotoff, der Neffe des Herrn Gregor Sotoff und der jetzige Verwalter der Kyſchtimſchen Werke, war den Reiſenden bis Wiaskaja entgegengekommen und führte ſie in den Seifenwerken herum, allein ſie waren nicht im Stande viele Beobachtungen zu machen, da es beſtändig regnete und hierdurch, wie auch durch den Regen der vorigen Tage, ein unergründlicher Schmutz in den Sei— fenwerken entſtanden war. Die Seifenwerke Wiaskaja und Soimo— nowsk liegen dicht hinter einander an den Ufern des Sakjelga, eines kleinen Flüßchens, das noch dem Wias zufließt und ſich mit ihm ver— bindet, wo er ſeine öſtliche Richtung annimmt. Die Reiſenden über— nachteten in dem Hauſe, in welchem ſich das Comptoir der beiden Sei— fenwerke befindet, und welches das einzig anſtändige auf dem Seifen⸗ werke war.

Ganz in der Vähe von Soimonowsk hat man Kupfererze ent— deckt, von denen man ſchon eine ziemliche Wenge gefördert, aber noch nichts verſchmolzen hatte. Nachdem die Reiſenden am Wor— gen des folgenden Tages in dem zur Gewinnung des Erzes abge— teuften Schacht eingefahren waren, ſetzten ſie des beſtändigen Regens

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ungeachtet ihre Reife nach Kyſchtimsk fort. In dieſem Regen be ſahen ſie auch das Seifenwerk Anninskoi, bei welchem ſie der Weg vorüber führte, konnten aber auch ihm wegen des böſen Wetters nicht viel Aufmerkſamkeit ſchenken. Das Seifenwerk liegt in dem Thale der Tſcheremſchanka, die gleichfalls noch ein Nebenflüßchen des Wias iſt.

Am Vachmittage kamen fie in Kyſchtimsk an, wo fie in dem ſchönen Wohnhauſe des Herrn Sotoff ein bequemes und geräumi— ges Quartier fanden, ſich trocknen, erwärmen und von den Beſchwer— lichkeiten der Reiſe erholen konnten. Das Wohnhaus liegt hart an einem ziemlich großen See, jenſeits deſſen ſich wieder das bewaldete Ufer erhebt. Auf dieſem See befinden ſich förmliche, mit großen Bäumen bewachſene ſchwimmende Inſeln. Als Prof. Ehrenberg am folgenden Tage, mit der Unterſuchung und mit dem Ordnen der Pflan— zen beſchäftigt, zu Hauſe geblieben war, bemerkte er eine ſolche, die von dem Winde quer über den ganzen See getrieben wurde. Auf dem höchſten Punkt der gegenüberliegenden Höhe hatte man einen kleinen Tempel errichtet und von dieſem einen Weg bis zu dem See geführt, der mit dem Tempel an ſeinem Ende von dem Wohnhauſe aus einen ſchönen Proſpekt gewährte. Auf der an— dern Seite ſchließen ſich an das Wohnhaus des Beſitzers die Hüt— tengebäude und eine große Wenge kleinerer Häuſer, in denen größ— tentheils nur die Hüttenleute wohnen. Ackerbau wird nicht getrie— ben, viele in der Nachbarſchaft befindliche Seen und Woräſte, ein undurchdringlicher Wald, der das Hüttenwerk umgiebt, und in dem ſie zwei ganze Tage hindurch gefahren waren, machen das Klima kalt und feucht.

Die Behaglichkeit des Ortes ſtimmte unſre Reiſenden froh und heiter; nach einem vortrefflichen Wittagsmahl, das ſie ſchon bereit fanden, verbrachten ſie den Abend in angenehmer Unterhaltung, und ihre frohe Laune wurde noch erhöht durch ein ſehr werthvolles Ge— ſchenk, welches Humboldt von ihrem gaſtfreundlichen Wirth empfing. Daſſelbe beſtand in einem ausgezeichneten Topas-Kryſtalle aus den Topasbrüchen von Wurſinsk; er war von bläulicher Farbe und durchſichtig; bei einem Zoll Höhe hatte er die ungewöhnliche Breite von 3 Zoll in der einen Richtung und 2 Zoll in der andern. Der

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Kryſtall iſt gegenwärtig eine Zierde der Königlichen Sammlung in Berlin. N

In der Nähe von Kyſchtimsk liegt das Goldſeifenwerk Bar— ſowskoi, das ſich durch das Vorkommen des blauen Korunds aus— zeichnet, welchen der Staatsrath Fuchs in Kaſan entdeckte. Es war intereſſant, die Verhältniſſe kennen zu lernen, unter welchen dieſer Korund dort vorkommt; da es aber für die Vervollſtändigung der magnetiſchen Beobachtungen von Wichtigkeit war, in Kyſchtimsk, dem nördlichſten Punkte der Excurſion, auch die Inclination der Mag— netnadel zu beſtimmen, und es bei der für die weitern Pläne ſchon vorgerückten Jahreszeit nicht rathſam war, länger als einen Tag in Kiſchtimsk zu verweilen, ſo zog Humboldt es vor, den folgenden Tag, den 11. September, zur Beobachtung der Magnetnadel und zur Beſichtigung des Hüttenwerkes zu beſtimmen, während Prof. Roſe die Excurſion nach Barſowskoi mit Herrn Hofmann, welcher ſich zur Begleitung anbot, allein übernahm.

Das Seifenwerk Barſowskoi iſt von Kyſchtimsk 12 Werſte in nördlicher Richtung und von dem Hüttenwerke Kaslinsk, zu deſ— ſen Bezirk es gehört, 15 Werſte in ſüdlicher Richtung entfernt. Von dichtem Tannenwald rings umgeben, durch welchen auch der ganze Weg hindurch führt, liegt es in dem flachen Thale der Bar— ſowka, eines kleinen Fluſſes, der ſich in den See Bukagan ergießt. Der blaue Korund, welcher das Seifenwerk auszeichnet, findet ſich in einem weißen Wineral eingewachſen, das in mehr oder weniger großen Blöcken in dem Seifengebirge vorkommt. Dieſem neuen und eigenthümlichen Mineral hat Prof. Roſe den Namen Bar— ſowit gegeben. Der in ihm eingewachſene Korund iſt immer kry— ſtalliſirt. Seine Kryſtalle ſind von ſehr verſchiedener Größe, die größten, welche Prof. Roſe ſah, waren ein bis anderthalb Zoll lang und zwei bis drei Linien an der Baſis dick. Sie ſind zuwei— len ſehr ſchön und dunkel ſaphirblau, manchmal aber nur lichtblau oder auch ganz farblos; größere Kryſtalle ſind zuweilen nur im Innern blau und äußerlich weiß, immer aber ſind ſie nur an den Kanten ſchwach durchſcheinend, weshalb ſie, wenn auch dunkel ge— färbt, ſich nicht zur Verarbeitung als Schmuckſtein eignen.

Das ſchlechte Wetter nöthigte zur Rückkehr. Prof. Roſe kam

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gegen Mittag wieder in Kyſchtimsk an, wo ſich auch bald die ganze Geſellſchaſt zur Rückkehr nach Wiask anſchickte. Nicht ohne Weh— muth trennten ſich unſre Reiſenden von den durch längeren Verkehr ihnen liebgewordenen Freunden, den Herren Schwettſoff und Schmidt, die von hier aus gleich ihre Rückreiſe nach Viſchne— Tagilsk und Biſſersk antreten wollten.

Da die Wege immer ſchlechter geworden waren, ſo kamen die Reiſenden erſt um 114 Uhr in Soimonowsk an, bis wohin fie ihr gefälliger Wirth begleitet hatte. Seiner Vorſorge hatten ſie es auch zu danken, daß ſie am Morgen ihre Reiſe nach Wiask ungehindert weiter fortſetzen konnten, indem er durch Aufbietung vieler Mann— ſchaft noch in der Nacht eine Fähre über den Wias einrichten ließ, mittelſt welcher fie am Morgen über den Fluß ſetzten; denn von dem vielen Regen war derſelbe ſo angeſchwollen, daß es nicht mehr möglich war, wie früher, durch ihn hindurchzufahren. So kamen ſie unter beſtändigem, wenn auch nicht ſtarkem Regen Nachmittags um 5 Uhr wieder in Wiask an.

Neuntes Kapitel.

Abreife von Miask. Verg Auſchkul und ſeine Umgebungen. Kupfergruben Poläkowskoi und Kiräbinskoi. Werchne⸗Uralsk. Weg an dem Uralfluſſe entlang. Jaspisbrüche von Orsk. Ural⸗ durchbruch. Orenburg. Angeknüpfte Bekanntſchaften. Soge— nannte Aörolithe von Sterlitamak. Salzſtock von Ilezk. Spiele der Kirgiſen.

Es vergingen einige Tage, ehe die auf den verſchiedenen von Miask aus angeſtellten Excurſionen geſammelten Gegenſtände geord— net und verpackt waren, die dann wiederum von hier aus, wie von Katharinenburg und Schlangenberg, nach Petersburg geſchickt wur— den. Die Abreiſe nach Orenburg war auf den 16. September feſt— geſetzt und die Reiſenden hatten ſich vorgenommen, ihren Weg nach der 51 Werſte von Wiask entfernten Kupfergrube Poläkowskoi nicht auf der großen Orenburger Straße zu nehmen, ſondern, aufmerk— ſam gemacht durch mehrere merkwürdige Gebirgsarten, die am Berge Auſchkul und in ſeinen Umgebungen vorkommen, und die man ſchon in Wiask geſehn hatte, den intereſſanteren und zugleich kürzern Weg bei dieſem Berge vorbei einzuſchlagen als noch ſpät am Abend des 15. die Nachricht eintraf, daß der viele in den vergan— genen Tagen gefallene Regen den Wias und mehrere andere kleine Flüſſe, die man auf dem Richtwege zu paſſiren gehabt hätte, ſo angeſchwellt habe, daß man dieſelben an den Fuhrten nicht mehr durchfahren konnte. Die Reiſenden waren daher, um den Auſchkul zu ſehen, gezwungen, erſt nach Poläkowsk auf der großen Straße, die ſtets auf dem rechten Ufer des Wias bleibt, zu gehen, und dann von dort aus eine beſondere Excurſion nach dem wieder 7 Werſte

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nördlich gelegenen Auſchkul zu machen. Dies aber in einem Tage auszuführen, wäre wiederum nicht möglich geweſen; Humboldt gab daher den Plan, den Auſchkul zu beſuchen, für ſich ganz auf und überließ es Prof. Roſe, ihn allein auszuführen. Da man hierzu aber ſchon in der folgenden Nacht nach Poläkowsk abreiſen mußte, um am folgenden Tage von dort die Excurſion nach dem Auſchkul machen, am Abend wieder nach Poläkowsk zurückkehren und mit der unterdeſſen angelangten übrigen Geſellſchaft zuſammentreffen zu können, ſo ſuchte Prof. Roſe ſeine übrigen Geſchäfte ſo ſchnell als möglich abzumachen und fuhr dann in der Nacht um 2 Uhr in einem beſondern kleinen Wagen mit Herrn Hofmann ab, der ſich mit großer Bereitwilligkeit auch für dieſe Excurſion zum Begleiter angeboten hatte. Schon um 9 Uhr langten beide in Poläkowsk an. Es hatte in der Nacht geregnet, der Morgen war neblig und kalt und verſprach keinen günſtigen Tag; deſſen ungeachtet traten ſie gleich nach einem kurzen Aufenthalte, den das Anſchaffen von friſchen Pferden verurſachte, ihre Excurſion an.

Der Auſchkul iſt ein kegelförmiger Berg, der hart an der Vord— weſtſeite des etwa 2 Werſte langen und 13 Werſte breiten Sees gleiches Namens liegt. Er iſt der höchſte in dem Längenthale zwi— ſchen dem eigentlichen Ural und dem Ilmengebirge und erreicht nach den barometriſchen Meſſungen von Kupffer eine Höhe von 1864 Fuß über dem Meere und von 744 Fuß über der ehemaligen Kupfer- hütte Poläkowsk, die nach Kupffer mit Slatouſt eine gleiche Höhe hat. Um ihn herum iſt die Gegend nur hüglig und mit kleineren Kuppen beſetzt. Nur in etwas größerer Entfernung ziehen ſich im W. und O. zwei höhere Bergzüge fort, die den Namen der Nara— linskiſchen und Kumatſchinskiſchen Berge führen. Die Gegend des Auſchkul iſt indeß die höchſte in dem öſtlichen Längenthal des Ural, denn ſie iſt eine Waſſerſcheide für die in demſelben befindlichen Flüſſe, da nordweſtlich und nordöſtlich vom Auſchkul die Quellen des Mias liegen, der in dieſem Längenthale eine nördliche Richtung nimmt, während ſich ſüdlich und ſüdweſtlich die Quellen der Uwelka, des Ui und des Uralfluſſes befinden, die in dem nach Süden immer breiter werdenden Längenthale ſüdöſtlich oder ſüdlich fließen. Eine gleiche Erſcheinung ſieht man aber auch in dem weſtlichen Längen—

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thale, wo in nur wenig geringerer Breite mit dem Auſchkul die Quellen des Ai und der Belaja entſpringen, von denen der erſtere eine nördliche Richtung wie der Wias, der letztere eine ſüdliche Richtung wie der Uralfluß nimmt, ſo daß hier alſo, wie Prof. Roſe bemerkt, eine Erhebungslinie in nordöſtlicher Richtung quer durch die Ketten des Ural zu gehen ſcheint.

Die Quellgegend des Mias iſt wie die Thäler ſeiner obern Zuflüſſe reich an Gold. Hier liegen die ſchon früher erwähnten Goldſeifenwerke Anninskoi, Swiäto-Leontewskoi und Knäſe-Kon⸗ ſtantinowskoi. Das erſtere iſt nur wenige Werſte oſtwärts von dem See Auſchkul entfernt, ſo daß das Seifengebirge zu dieſem See geſührt wird, um dort verwaſchen zu werden, weil es an Ort und Stelle an Waſſer fehlt. Wan hebt zu dem Ende das Waſſer mit Pumpen aus dem See und führt es auf die geneigten Heerde wie in den übrigen Wäſchen. Die Reiſenden hielten an der Anninskiſchen Wäſche an, wo indeſſen jetzt nicht gearbeitet wurde, und gingen von hier aus um die öſtliche Seite des Sees bis zum Berge Auſchkul.

Der Auſchkul erhebt ſich von allen Seiten ſehr ſteil und iſt deshalb beſchwerlich zu erſteigen. Er iſt wie die Ufer des Sees mit dünner Birkenwaldung und hohem Graſe bedeckt, das ſtellenweiſe ſo hoch war, daß es den beiden Reiſenden über dem Kopf zuſam— menſchlug und Prof. Roſe Herrn Hofmann, obſchon dieſer dicht neben ihm ging, nicht erkennen konnte. Dabei fing es an zu regnen, und das Gras, von dem Regen der früheren Tage noch feucht, durch— näßte die Kleider der Wandernden völlig. Der Gipfel des Ber— ges gewährte des trüben Wetters wegen zwar keine weite, aber doch ſehr eigenthümliche Ausſicht. Wan ſah den See am Fuße des Berges, jenſeits die Goldwäſche und rund herum die hüglige Ebene, welche mit Birkenwaldung ſchwach bedeckt war, und zwiſchen den Kuppen leuchteten überall die vielen in der Gegend entſpringenden Flüſſe hindurch. Von den ferneren höheren Gebirgen waren nur die weſtwärts ſich hinziehenden Naralinskiſchen Berge zu erkennen; den dahinter liegenden Ural, wenn er überhaupt von hier aus ſicht⸗ bar iſt, wie auch die öſtlichen Kumatſchinskiſchen Berge verbargen die Wolken.

III. 20

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Der Regen zwang unſere Wanderer bald, den Berg zu ver: laſſen und den nächſten Weg zur Goldwäſche einzuſchlagen.

Ein Baſchkirendorf, welches in der Nähe des Auſchkul liegt und mit dem Berge einen Namen führt, war von den Einwohnern ganz verlaſſen, denn die Baſchkiren pflegen im Sommer zu nomadiſiren und bewohnen die Dörfer nur im Winter. Vergebens wartete Prof. Roſe in dem Comptoir der Goldwäſche noch einige Zeit, in der Hoffnung, das Wetter werde ſich aufklären und ihm die Mög— lichkeit gewähren, ſeine geognoſtiſchen Unterſuchungen fortzuſetzen; allein der Regen ließ nicht nach und man mußte abreiſen. Als Roſe und Hofmann Abends in Poläkowskoi wieder eintrafen, fans den ſie Humboldt und die übrige Geſellſchaft ſchon da. Auch der Plan, die Kupfergruben zu beſuchen, mußte gleichfalls des Regens wegen aufgegeben werden; unſre Reiſenden nahmen daher von den Herren Anoſſoff und Hermann, die Humboldt bis hierher begleitet hatten, Abſchied und ſetzten ihre Reiſe ſogleich weiter fort, die nun ohne Aufenthalt über Orsk nach Orenburg ging.

Sie fuhren in der Nacht über die Scheide zwiſchen dem Ui, in deſſen Nähe Poläkowskoi liegt, und dem Uralfluſſe und wechſelten am Morgen des 17. September die Pferde in Riſſajewa, einem von Teptären (einem beſonderen Stamm der Baſchkiren) bewohnten Dorfe, das ſchon in dem Thale des Ural liegt, an welchem nun der Weg fortan entlang ging. Das Thal iſt hier ſchon breit und ſteppenartig und von niedrigen waldigen Bergen begleitet, erhält aber dieſen ſteppenartigen Charakter immer mehr, je mehr man in demſelben nach Süden vorrückt. Der Uralfluß hat bis Orsk faſt genau eine ſüdliche Richtung, tritt alſo bald gänzlich aus dem Ural— gebirge heraus, das ſeine füdweſtliche Richtung beſonders im An— fang beibehält, während die öſtliche Kette des Ilmengebirges ſchon faſt von Miask aus eine ſüdliche Richtung angenommen hat. Hier⸗ durch erweitert ſich das Thal bis zu einer Breite von zwei Länge— graden und die begleitenden Gebirge entſchwinden ſehr bald aus den Augen. Doch trägt dazu nicht allein ihre größere Entfernung von dem Uralfluſſe, ſondern auch ihr veränderter Charakter bei. Die Ilmenkette ſetzt ſchon als niedriges Gebirge dieſſeits Stepnaja über den Ui und zieht ſich dann als ſolches in die Kirgiſenſteppe

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fort; ebenſo verliert auch der eigentliche Ural bald an Höhe, in— dem er in gleichem Maaße nach und nach an Breite zunimmt, ſo daß er zuletzt weniger als eine Gebirgskette erſcheint, ſondern viel— mehr wie ein niedriges Gebirgsplateau. Wit dieſem veränderten Charakter verändern ſich auch die Namen, indem die Fortſetzung des Ilmengebirges in der Kirgiſenſteppe anfänglich den Namen Dſchambu Karagaian von dem 51. Breitengrade, zwiſchen den Flüſ— ſen Or und Tobol den Namen Kara Edyr Tau, und endlich den Namen der Mugodſcharskiſchen Berge erhält, die Fortſetzung des Uralgebirges aber unterhalb der Breite von Werch-Uralsk bis Orsk von den bewohnenden Baſchkiren erſt Kyrkty und dann Irendik ge— nannt wird.

Erſt am Nachmittage um 2 Uhr kamen die Reiſenden in der Kreisſtadt Werch-Uralsk an. Der viele Regen der vergangenen Tage, der auch die ganze Nacht und den Vormittag nicht aufgehört, hatte die Wege ſehr verſchlechtert, ſo daß die Reiſe nur ſehr lang— ſam vorwärts ging, Unterſuchungen aber über etwa noch am Wege anſtehendes Geſtein gänzlich unterbleiben mußten. In Werch-Ura sk erreichte man die Orenburgſche Linie, welche von hier aus am Ural entlang bis zum Kaspiſchen Weere geht, und an der auch die Reiſenden ihr Weg weiter führte. Sie fanden auf dieſer Linie dieſelben Einrichtungen wieder, die ſie auf den früher von ihnen bereiſten Linien, von denen die Orenburgſche nur eine Fort— ſetzung iſt, hatten kennen lernen. Auch hier beſteht die Linie aus einer Reihe kleinerer und größerer etwas befeſtigter Ortſchaften, die den Namen von Vorpoſten, Redouten und Feſtungen führen, und die am obern Ural bis auf Werch-Uralsk und Orsk ſämmtlich auf der rechten Seite des Ural liegen. Die ſogenannten Feſtungen ſind von Zeit zu Zeit zwiſchen den kleineren Oertern angelegt, und zu dieſen gehören am obern Ural von Werch-Uralsk an die Ortſchaf— ten Magnitnaja, Kiſylskaja, Urtaſimskaja, Tanalyzkaja und Orskaja.

Die erſtere dieſer Feſtungen hat ihren Namen von dem in der Nähe befindlichen Magnetberge, Ulu Utaſſe Tau, erhalten, den die Reiſenden leider nicht ſelbſt beſuchen konnten, da fie in der Vacht durch Magnitnaja reiſten. Der Wagnetberg liegt 7 bis 8 Werſte nordöſtlich von der Feſtung jenſeits des Uralfluſſes in einer kleinen

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Gebirgskette. Seine Höhe beträgt 270 Toiſen über Orenburg. Sein Erz, welches 75 bis 80 Procent Roheiſen giebt, wird in der Eiſenhütte Belorezk verſchmolzen, die jenſeits des Ural an der Be— laja in etwas höherer Breite als Magnitnaja liegt und jährlich 150,000 Pud Roheiſen producirt. Der ganze dazu nöthige Vor— rath von Erz wird im Sommer in 3 bis 4 Wochen von 150 Berg— leuten gewonnen.

Am Vormittage des 18. September erreichte man die Feſtung Kiſylskaja. Vier bis fünf Werſte nordöſtlich von derſelben in der Kirgiſenſteppe kommen mehrere kleine Granitkuppen vor, die mit Tannen bewachſen ſind und wie Inſeln aus der ſonſt baumloſen Steppe hervorragen. Am Worgen des folgenden Tages traf man bei der Redoute Tereklinskoi ein. Der große Mangel an Bauholz zeigte ſich hier recht deutlich an den ſchlechten niedrigen Häuſern der Koſaken, die nur aus einem Stock beſtehen und faſt überall ohne Dach ſind. Um 5 Uhr Nachmittags waren die Reiſenden in Orsk, der Hauptfeſtung der Ober-Uraliſchen Linie. Im Jahre 1850 zählte dieſelbe 2183 Einwohner. Sie liegt auf dem linken Ufer des Ural, aber ſchon auf ſeiner ſüdlichen Seite, da kurz zuvor derſelbe ſeine weſtliche Richtung angenommen hat. An der Biegung, welche der Fluß hier macht, verbindet ſich mit ihm der von Oſten kommende Or, deſſen Richtung eigentlich der Ural nach ſeiner Vereinigung nur fortſetzt, und in dem ſpitzen Winkel, welcher von dem rechten Ufer des Or und dem linken des Ural gebildet wird, iſt eben die Feſtung angelegt. Sie iſt ſchon von weiter Ferne ſichtbar, da die Kirche der Feſtung auf der Preobaſchenskaja Gora, einem nach allen Seiten flach abfallenden Hügel, erbaut iſt, der zwar an und für ſich unbedeutend, doch in der Ebene hoch erſcheint.

Die Gegend von Orsk iſt durch den Jaspis berühmt, der ſich zwar ſchon am ganzen ſüdlichen Ural, von Poläkowskoi an, häufig findet, doch in der größten Menge und in den größten Mafjen in der Gegend von Orsk vorkommt. Er läßt ſich hier in Blöcken von beträchtlicher Größe gewinnen, und es ſind daher auch an mehreren Orten Brüche für die Katharinenburger Schleiferei errichtet. Um die Lagerungsverhältniſſe dieſes Jaspis näher kennen zu lernen, ver— weilten die Reiſenden etwas in Orsk und beſuchten wenigſtens einen

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der Brüche, welcher 7 Werſte nördlich von der Feſtung entfernt liegt. Der hier vorkommende Jaspis iſt von graulichgrüner Farbe ohne Streifen und Flecken und bildet ein bedeutend mächtiges Lager. Unter den übrigen Jaspisbrüchen in der Gegend von Orsk ſind die wichtigſten die, welche am Or, 7 bis 8 Werſte öſtlich von Orsk entfernt liegen; fie konnten, weil es ſchon finſter geworden war, von unſern Reiſenden nicht mehr beſucht werden. Der Jaspis kommt an den übrigen Orten, wo er ſich findet, von verſchiedener Farbe vor, am häufigſten find indeſſen immer die grünen Abänderun— gen, wenn gleich auch dieſe nicht immer von gleicher Schönheit ſind und das Grün oft in ein förmliches Grau übergeht; nächſtdem finden ſich beſonders bräunlichrothe Abänderungen, ſowie auch bunt farbige und unter dieſen der ſchöne Bandjaspis, deſſen ſchon früher Erwähnung geſchah und in welchem bräunlichrothe und lauchgrüne Lagen mit einan— der wechſeln. Zuweilen iſt der Jaspis ganz mit Adern von weißem Quarz oder einem Gemenge von Quarz und Piſtazit durchſetzt; auch enthält er öfter eine Menge Eiſenkies in kleinen Kryſtallen eingeſprengt.

Der Irendik, welcher ſich in ſeiner ſüdlichen Erſtreckung zu einem förmlichen Gebirgsplateau ausbreitet, rückt hierbei wieder mehr nach Oſten vor und nähert ſich auf dieſe Weiſe wieder dem Ural— fluſſe, der auch ſeinerſeits oberhalb Urtaſymskaja's eine etwas weſt⸗ lichere Richtung annimmt, ſo daß ſchon in einer Entfernung von 12 Werſten die Berge anfangen, durch welche der Ural, eine Quer— ſpalte benutzend, ſich hindurch gedrängt hat. Wan hat alſo, dem Laufe des Ural folgend, ein Profil der ſämmtlichen Gebirgsarten des Irendik zu erwarten, und wiewohl daſſelbe ſchon von Hofmann und Helmerſen unterſucht war, ſo wünſchte Prof. Roſe doch, es aus- eigener Anſicht kennen zu lernen. Während nun Humboldt, um keine Zeit zu verlieren, ſobald man von dem Jaspisbruche zu⸗ rückgekehrt war, noch bei einbrechender Nacht die Reife nach Oren⸗ burg fortſetzte, blieb Prof. Roſe die Nacht über in Orsk, um am Morgen des folgenden Tages gemeinſchaftlich mit Herrn Hofmann, der ſich bereitwilligſt zum Begleiter und Führer auf dieſer Expedi⸗ tion erboten hatte, den Durchbruch des Ural zu beſichtigen.

Sie brachen demnach am Worgen des 20. September ſo früh als möglich auf, ſchickten ihren Wagen auf dem großen Wege, der

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in größerer Entfernung von dem Uralfluſſe geführt ift, nach Cha— barnoi, der nächſten, 26 Werſte von Orsk entfernten Station, und ritten ſelbſt, begleitet von einigen Koſaken, die fie vor etwaigen Ueberfällen der Kirgiſen ſchützen ſollten; den Fußpfad, der hart an dem rechten Ufer des Fluſſes entlang geht.

Eine ſolche Eskorte hatte auch am vorhergehenden Tage Hum— boldt erhalten und erhält überhaupt jeder Reiſende an der mittleren Uraliſchen Linie; denn die Grenze von Orsk bis Orenburg iſt eine der unſicherſten des ruſſiſchen Reiches. Sehr häufig noch machen die Kirgiſen, welche die Steppe ſüdwärts und weſtwärts der mitt- leren und unteren Uraliſchen Linie bewohnen, und die zu der kleinen Horde gehören, den Uralfluß überſchreitend, feindliche Einfälle in das ruſſiſche Gebiet und rauben Menfchen und Vieh. Die erſteren verkaufen fie den Khiwenſen, im Süden des Aralſees, welche die Ruſſen als gute Arbeiter ſchätzen und zu ihren weitläuftigen Kanal— arbeiten in der Oaſe des Amu-Deria, die ſie bewohnen, gebrauchen und daher theuer bezahlen. Die Nachbarſchaft von Khiwa iſt daher eine der Haupturſachen des feindlichen Zuſtandes der Grenze. Wan ſagt daß an 6000 Ruſſen in Khiwa in der Gefangenſchaft ſchmachten “), denen, da ſie durch die Steppen von ihrem Vaterlande getrennt ſind, ein Entweichen faſt unmöglich gemacht iſt. Um von den Einfällen der Kirgiſen gleich in Kenntniß geſetzt zu fein, find zwiſchen den Redouten und Feſtungen der Linie noch von Zeit zu Zeit hölzerne Warten (ſogenannte Wajaks, von Balken zuſammengefügte, oben etwas abgeſtumpfte Pyramiden, zu denen von außen eine Treppe hinaufführt) errichtet und Wachtpoſten darauf geſtellt, die von allen Veränderungen in der Steppe den nächſten Feſtungen der Linie

*) Prof. Roſe bemerkt hierzu: Dieſe Zahl gründet ſich auf die Angabe von Murawieff, der ſelbſt längere Zeit in Khiwa gefangen gehalten wurde. Nach dem 1840 mit dem Khan von Khiwa abgeſchloſſenen Vertrage, nach welchem die ruſſiſchen Gefangenen ausgeliefert werden ſollten, ſind jedoch nur 745 Ruſſen zurückgekehrt und nach der Ausſage der Zurückgekehrten nur 18 in Khiwa geblieben. Der Khan von Khiwa hat übrigens in Folge dieſes Vertrages in einem Ferman erklärt, daß alle Chriſten und ihr Eigenthum unter den Schutz des Khans geſtellt würden und künftig unantaſtbar ſein ſollten, wodurch nun wohl die Verhältniſſe an der Grenze ſich anders geſtalten und einen friebliheren Charakter annehmen werden.

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durch abgeſandte Boten oder durch Feuerzeichen berichten müſſen. Außer den Koſaken ſind auch noch die Baſchkiren zu dem Vorpo— ſtendienſt an der mittleren Uraliſchen Linie verpflichtet, indem ſie ſtatt des früheren Tributs jetzt 15,000 Mann auf ihre eigene Koſten zu ſtellen haben, um dieſen Felddienſt zu verrichten.

Unter den Koſaken, welche Profeſſor Roſe begleiteten, befand ſich auch ein junger Pole, Namens Johann Witkiewicz, der in neue- rer Zeit vielfach die öffentliche Aufmerkſamkeit auf ſich gezogen hat. Er war früher ein Zögling des Gymnaſiums zu Kroze im Wilna— ſchen Gouvernement, wurde aber, erſt 14 Jahr alt, mit mehreren anderen ſeiner Kameraden wegen politiſcher Urſachen noch bei Leb— zeiten des Kaiſers Alexanders nach Orsk verbannt und verurtheilt, zeitlebens gemeiner Koſak zu bleiben. Witkiewicz benutzte in Orsk ſeine freie Zeit zur Erlernung der orientaliſchen Sprachen, beſonders des türkiſch-kirgiſiſchen Dialekt's, des Perſiſchen und des Arabiſchen, wozu er in Orsk Gelegenheit fand, und worin er es bald zu großer Fertigkeit brachte. Er mochte wohl, da ſich ihm bei der Thronbeſteigung des Kaiſers Nikolaus keine Ausſicht zu einem beſſern Looſe eröffnete, die Abſicht haben, bei erſter Gelegen— heit durch die Steppen der Kirgiſen zu entweichen und ſich auf dieſe Weiſe einen Weg nach Europa zu bahnen. Humboldt, welcher in Orsk von dieſen jungen Polen hörte und von ihrem beklagens— werthen Schickſal ergriffen war, verwandte ſich bei ſeiner Rückkehr nach Petersburg für drei derſelben perſönlich beim Kaiſer Nicolaus. Die Verwendung hatte die glücklichſten Folgen. Witkiewicz wurde zuerſt bei der Grenzkommiſſion in Orenburg angeſtellt und ſpäter als Hauptmann über Bokhara nach Kabul geſchickt und der ruſſi— ſchen Geſandtſchaft in Perſien unter dem Herrn von Simonitſch beigegeben, wodurch er in Afghaniſtan mit dem berühmten Reiſen⸗ den Sir Alexander Burnes zuſammentraf. Nach der Zeit wurde Witkiewicz über Tiflis aus Perſien zurückberufen, da die ruſſiſche Regierung die dortigen Verhandlungen nicht billigte. Kaum in Petersburg angekommen, nahm ſich der talentvolle junge Mann im Anfang des Jahres 1840, wahrſcheinlich aus gekränktem Ehrgeiz, das Leben.

Auf dem Wege, den Prof. Roſe an dem rechten Ufer des Ural

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fluſſes einſchlug, durchſchneidet man einen beſonderen Höhenzug des Irendik, der etwa 3 Werſte breit, von der darauf folgenden Haupt— maſſe durch ein etwa 10 Werſte breites Thal getrennt iſt, an deſſen jenfeitigem Abhange, aber noch vom Ural entfernt, Chabarnoi liegt. Der Fluß hat ſich in dem Querthale dieſes Höhenzuges ganz auf die linke Seite gezogen und läßt daher auf der rechten Seite zwiſchen ſich und den Bergen noch einen ſchwach geneigten Abhang, auf welchem entlang gehend man die Beſchaffenheit des Höhenzuges gut unter— ſuchen kann. Er bildet lauter einzelne hervorſpringende Felſen von geringer Höhe, die durch kleine mehr oder weniger breite Schluchten und Thäler getrennt ſind. Dieſe ſind mit Dammerde und Gras bedeckt, während die Felſen von aller Vegetation entblößt ſind. Die Gebirgsarten des Höhenzuges beſtehen hauptſächlich aus dichten Grünſtein, Kieſelſchiefer und Serpentin.

Nach Beſichtigung der Felſen durchſchnitten die beiden Reiſen— den in diagonaler Richtung die Ebene bis Chabarnoi, wo fie den vorangeſchickten Wagen fanden und von nun an in ihm und auf der großen Straße ihren Weg weiter fortſetzten. Gleich hinter Chabarnoi erheben ſich die Berge wieder, die auch hier nur eine un— bedeutende Höhe erreichten (die größte Höhe zwiſchen Chabarnoi und Guberlinsk liegt nur 850 Fuß über Orenburg) ein kegelförmiges und kuppenförmiges Anſehen haben und auch hier von aller Vege— tation entblößt ſind. Die Berge beſtehen in der Regel aus Grün— ſtein und die Thäler aus Serpentin. Bis zur Hälfte des Weges nach der nächſten Station Guberlinsk (26 Werſte von Chabarnoi) geht der Weg auf der Höhe zum Theil über die Kuppen fort und gewährt einen vollkommenen Ueberblick der Gegend, deren höchſt eigenthümliches Anſehn man nur mit einem tobenden Weere, das plötzlich erſtarrt iſt, vergleichen kann; dann ſenkt ſich der Weg bis Guberlinsk. Hier tritt die Guberla, ein kleiner Fluß, aus dem Ge— birge heraus, die Berge treten vor ſeiner Einmündung zurück und umſchließen ein halbzirkelförmiges Thal, deſſen Baſis der Uralfluß bildet und an deſſen oberſtem Bogen der kleine Ort mit ſeiner Kirche und dem Thurme darauf recht maleriſch liegt.

Nach Ilinskaja, der vierten Station von Orsk, gelangten fie mit einbrechender Nacht und erhielten hier zu ihrer Bedeckung drei

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Baſchkiren, die mit Spieß und Bogen bewaffnet, und mit ihren ſpitzen Mützen bedeckt, die Reiſenden eine Zeitlang begleiteten, ſich aber in der Dunkelheit der Nacht bald aus dem Staube machten. Auf der folgenden Station gab man ihnen keine Escorte, ſie blieben daher den größten Theil der Nacht ohne Bedeckung, erlitten aber deſſenungeachtet keinen Unfall und erreichten glücklich am Worgen des 21. Sept. Krasnojarsk und am Wittag um 2 Uhr Orenburg.

Krasnojarsk, mit 6472 Einwohnern (nach der Zählung von 1850), iſt einer der größeren Orte der mittleren Uraliſchen Linie. Die Gegend iſt faſt völlig eben, nur hin und wieder ſah man einen weißen Sandſtein mit ſöhligen Schichten anſtehen, der nun das herrſchende Geſtein in der ganzen Gegend wird und durch die Kupfererze (Malachit und Kupferlaſur), die er ſtellenweiſe einge— mengt enthält, Gegenſtand eines bedeutenden Bergbaues iſt. Auch bei Krasnojarsk wurde ein ſolcher eine Zeitlang betrieben, wie man an den Halden, die ſich in einiger Entfernung vom Wege befinden, ſehen konnte. Andere, theils noch in Betrieb ſtehende, theils auch ſchon aufläſſige Kupfergruben befinden ſich den Ural weiter abwärts und noch häufiger an der Sakmara und deren Zuflüſſen, dem Sal— myſch, Jängis und der Kargala, ja ſelbſt in der Kirgiſenſteppe auf der linken Seite des Ural. Weiter nach Orenburg zu nimmt der Sand— ſtein eine rothe Farbe an. 8

In Orenburg ſtiegen die Reiſenden in dem Hauſe des Oberſten Herrn von Timaſcheff ab, wo auch Humboldt, der ſchon am Wor— gen angekommen war, eine gaſtliche Aufnahme gefunden hatte.

Die Stadt Orenburg hat ſchon mehrfach ihre Stelle gewech— ſelt, denn ſie wurde zuerſt bei Anlegung der Orenburgſchen Linie im Jahre 1738 an der Stelle gebaut, wo das jetzige Orsk ſteht, ſpäter aber, als man dieſe Lage für den Hauptwaffenplatz ſowie in Rückſicht auf den Handel nicht paſſend fand, im Jahre 1741 weiter ab— wärts an den Ural an den Ort, wo jetzt Krasnojarsk ſteht, verlegt, bis endlich 1742 diejenige vortheilhafte Lage für fie gewählt wurde, die ſie jetzt hat. Sie behielt ihren Namen nach der erſten Lage an dem Or, das erſte Orenburg wurde aber nachdem Orsk und das zweite Krasnojarsk genannt.

Orenburg iſt die Hauptſtadt des Gouvernements, die Haupt—

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feſtung der Orenburgſchen Linie und der Hauptſitz des aſiatiſchen Karawanenhandels. Im Jahre 1849 zählte die Stadt 7402 Ein- wohner. Sie iſt von einem bedeutenden Umfange und hat große breite, doch ungepflafterte Straßen mit einzeln ſtehenden Häuſern, un— ter denen ſich mehrere anſehnliche ſteinerne Gebäude befinden. Sie liegt unmittelbar an dem rechten Ufer des Ural, drei Werſte oberhalb des Einfluſſes der Sakmara in denſelben in einer hohen trockenen Steppe, durch welche der Ural zwiſchen 10 bis 15 Lachter hohen Ufern fließt und in welchen man den rothen feinkörnigen Sand— ſtein der Gegend in horizontalen Schichten anſtehen ſieht. Bei der ſteppenartigen Natur der Umgegend erfreut und überraſcht um fo mehr ein ſchöner großer Park auf einer Inſel im Ural oder viel— mehr zwiſchen dem alten und neuen Bette des Ural, in welchem ſich hohe Bäume von der Schwarz- und Silberpappel und von Weiden finden. Auch ein Tempel ſteht hier mit Säulen von weißem dichten Kalkſtein, der in dem Berge Grebeni, 20 Werſte nördlich von Orenburg, gebrochen wird. Für den bedeutenden Handel mit den Kirgiſen, Bokha— ren und Khiwenſen iſt auf der Südſeite des Ural, zwei Werſte von der Stadt, der große aſiatiſche Tauſchhof gebaut. Er iſt mit einer großen ſtei— nernen Mauer in Form eines Quadrats, von welchem jede Seite 100 Fa- den lang iſt, umgeben und hat zwei Eingänge, einen für die euro— päiſchen und einen für die aſiatiſchen Kaufleute. Humboldt beſuchte ihn in Begleitung des Zolldirektors Suſchkoff.

Die Reiſenden verweilten in Orenburg einige Tage und durf— ten ſo hoffen, in dieſem Hauptſitze des Verkehrs mit Inner-Aſien die intereſſanteſten Bekanntſchaften zu machen. „Leider“, ſagt Prof. Roſe, „täuſchte uns dieſe Hoffnung in Bezug auf den erſten Mann des Gouvernements, den General-Gouverneur v. Eſſen, der nur wenige Tage vor unſerer Ankunft Orenburg verlaſſen hatte und auf einer Inſpectionsreiſe der Linie begriffen war, wo wir ihn den 18. Sept. in Sirtinskoi Redut am frühen Morgen auf einige Augenblicke ge— ſehen hatten. Da er uns von allen Seiten und beſonders von un— fern Reiſegefährten Hofmann und v. Helmerſen als ein Mann von Geiſt und Herz gerühmt wurde, der jede wiſſenſchaftliche Un— ternehmung mit dem größeſten Eifer zu unterſtützen bemüht wäre, ſo mußten wir um ſo mehr bedauern, daß ſeine Dienſtverhältniſſe

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ihn während unſers Aufenthaltes von Orenburg entfernt hielten.“ Dagegen erzählt Hanſteen in feinen ſchon mehrfach erwähnten „Reiſe-Erinnerungen“ Folgendes: „Alexander von Humboldt hatte einige Wochen vor uns dieſelbe Linie von Omsk nach Orenburg be— reiſt. Von Omsk hatte man einen General Luitwinoff ihm vor— angeſchickt, um Nachtquartier für ihn und fein Gefolge zu beſtellen und ſeinen Empfang vorzubereiten. Aus dieſen eleganten Vorboten und dem pompöſen Empfange ſchloſſen die Bauern längs der Linie, welche wußten, daß die Kaiſerin eine preußiſche Prinzeſſin ſei, Hum— boldt wäre des Kaiſers Schwiegervater. Kurz vor ſeiner Ankunſt in Orenburg hatte er einen Brief an den General von Eſſen ge— ſchrieben, worin er ihn erſuchte, einige ſeltene Thiere, die ſich in der Umgegend von Orenburg finden, und welche er bei ſeiner Ankunft für das zoologiſche Muſeum in Berlin ausſtopfen laſſen wollte, ſchießen oder fangen zu laſſen. Da Humboldt eine faſt unleſerliche Hand ſchrieb, konnte Eſſen den Brief nicht leſen, und er ging ver— gebens von Hand zu Hand unter Orenburg's Offizieren, bis er end— lich in die Hände eines Ingenieur-Lieutenants Agapieff kam, welcher glücklich genug war, ihn zu entziffern und eine leſerliche Abſchriſt davon zu nehmen. Als Eſſen dieſelbe empfing, wurde er außeror— dentlich entrüſtet über eine ſolche Zumuthung und er brach in die Worte aus: „Ich verſtehe nicht, wie der König von Preußen einem Mann, der fidy mit ſolchen nichtswürdigen Dingen befaßt, einen fo hohen Rang geben kann.“ Er hielt es darauf plötzlich für nothwen— dig, eine Viſitationsreiſe nach Ufa zu machen und traf fo Herrn von Humboldt auf der Landſtraße zwiſchen Ufa und Orenburg. Beide Herren ſtiegen aus ihren Wagen und bekomplimentirten ein— ander, worauf beide die Reife nach entgegengeſetzter Richtung fort- ſetzten. So vermied es Eſſen klüglich, vor Humboldt Proben ſeiner Anſicht von den Wiſſenſchaften und ihrem Werthe darzulegen.“ Sehr glücklich ſchätzten ſich die Reiſenden, den General-Major von Gens kennen zu lernen, der durch ſeine Kenntniß der Geogra— phie und des politiſchen Zuſtandes von Wittelaſien, womit er ſich aus Vorliebe und durch ſeine Stellung als Präſident der aſiatiſchen Grenzeommiſſion veranlaßt, viel beſchäftigt hatte, ihnen allen, beſon— ders aber Humboldt, großes Intereſſe einflößte. Er hatte durch die

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Karawanen, die aus Bokhara, Taſchkend, Khokand und der Kir— giſenſteppe häufig nach Orenburg kommen, eine Wenge Nachrichten über dieſe und die angrenzenden Staaten eingezogen, die um ſo ſchätzbarer ſind, als ſie bei der großen Unzugänglichkeit dieſer Staa— ten für Europäer auf directem Wege gar nicht oder nur mit den größten Schwierigkeiten erhalten werden können. Ebenſo hatte er auch eine große Anzahl Marfchrouten der verſchiedenen Karawanen, die er Humboldt mittheilte, geſammelt und hier wie überall durch lange Erfahrung und durch Vergleichung der verſchiedenen Ausſagen das oft abſichtlich Entſtellte erkennen und das Falſche von dem Wah— ren ſcheiden gelernt“). Außerdem theilte er den Reiſenden auch viele Nachrichten über die Naturprodukte der Kirgiſenſteppe mit und konnte ihnen auch einige derſelben lebend vorzeigen, da er in ſeinen Ställen einen kirgiſiſchen Ziegenbock mit langen und feinen Haaren, einen vortrefflichen turkmeniſchen Hengſt u. ſ. w. hatte. Die turk— meniſchen Hengſte ſind unter dem Namen Argamak bekannt und bilden eine beſondere Race von Pferden, die durch ihren ſchnellen Lauf berühmt ſind. Wan kann auf ihnen, ſchreibt Helmerſen, in 24 Stunden 100 Werſte, ja ſogar in 3 Tagen 400 Werſte zurück⸗ legen. Sie werden in Khiwa beſonders geſchätzt und die beſten Renner hier mit 100 Khiwaer Dukaten 34 Silberrubel) das Stück bezahlt; die gewöhnlichen Preiſe ſind 30 bis 40 Dukaten. Da General Gens der deutſchen Sprache vollkommen mächtig war, ſo waren die Unterhaltungen mit ihm für unſre Reiſenden um ſo angenehmer und lehrreicher.

Von den Perſonen, mit denen ſie ſonſt noch viel aufn kamen, gedenkt Prof. Roſe noch der Herren Suſchkoff, Subkowski und Karelin. Hr. Zolldirector Suſchkoff, ein eben ſo unterrichteter Wann wie angenehmer Geſellſchafter, theilte Humboldt ſehr viele Nachrichten über den Handel von Orenburg mit, und trug über— haupt durch feine gaſtliche Aufnahme und das liebenswürdigſte Ent—

*) Einen Theil dieſer Sammlungen hat Hr. v. Helmerſen unter dem Ti⸗ tel: Nachrichten über Chiwa, Buchara, Chokand und den nordweſtlichen Theil des chineſiſchen Staats, geſammelt vom General-Major Gens, herausge- geben. (Band 2. der „Beiträge zur Kenntniß des ruſſ. Reiches ꝛc. ꝛc.“)

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gegenkommen bei allen Wünſchen der Reiſenden ſehr viel zur An— nehmlichkeit ihres Aufenthaltes in Orenburg bei.

Hr. Subkowski iſt Oberſt der Koſaken von der Linie und ein Mann von vieler Tapferkeit und Entſchloſſenheit, der ſich in dem immerwährenden kleinen Kriege, in dem die Koſaken der Orenburg'- ſchen Linie mit den Kirgiſen leben, bei vielen Gelegenheiten ausge— zeichnet hat und daher auch der Schrecken der Kirgiſen iſt. Er war es auch, der zum Führer der Bedeckung der ruſſiſchen Karawane auserſehn wurde, die im Jahre 1825 von Orenburg nach Bokhara gehen ſollte, eine Expedition, die durch ihre tapfere Gegenwehr bei dem Ueberfall der Khiwenſen ſo berühmt geworden iſt. Es war dies die erſte ruſſiſche Karawane, welche die Orenburger Kaufleute nach Bokhara abſandten. General v. Eſſen hatte ſie dazu aufge— fordert, um dem Handel mit dem weſtlichen Theile von Inner-Aſien eine größere Ausdehnung zu verleihen, und gab der Karawane eine, wie es ſchien, hinreichende Bedeckung von 500 Mann Koſaken mit, die unter den Befehl des Oberſten Subkowski geſtellt wurden. In der Steppe aber wurde die Karawane von 10 bis 12,000 Khiwen⸗ ſen überfallen; die Ruſſen vertheidigten ſich mehrere Tage lang mit vieler Tapferkeit, fügten, ohne ſelbſt viel zu leiden, ihren Feinden beträchtlichen Schaden zu, mußten ſich aber doch zuletzt mit Verluſt eines großen Theiles ihrer Waaren nach Orenburg zurückziehen. Leider konnten unſre Reiſenden aus der Unterhaltung mit Oberſt Subkowski nicht den Vortheil ziehen, den ſie wünſchten, da die ge— genſeitige Mittheilung nur mit Hülfe Anderer geſchehen konnte.

Herr Karelin war früher Hauptmann im ruſſiſchen Heere gewe— ſen und lebte damals in Orenburg als Privatmann. (Er wurde in neuerer Zeit wieder in Aktivität geſetzt und hat die Feſtung Nowo⸗Alexandrowsk an der Nordoftjeite des Kaspiſchen Meeres ge— gründet). Er iſt ein großer Freund und Kenner der Naturgefchichte und beſitzt ſchöne naturhiſtoriſche Sammlungen, welche, da ſie be— ſonders Gegenſtände aus den Umgebungen Orenburg's enthielten, für die fremden Naturforſcher um ſo mehr von Intereſſe waren. Die Sammlungen erſtrecken ſich über alle Reiche der Naturgeſchichte, doch ſind die entomologiſchen am bedeutendſten. Ein vorzügliches Intereſſe flößte aber Hr. Karelin außerdem unſern Reiſenden durch das Ver⸗

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hältniß ein, in welchem er zu Dſchangir, dem Khan der innern Kirgiſenhorde, ſtand, deſſen Lehrer in der Mathematik er geweſen und mit dem er noch immer ſehr befreundet war. Zu dieſer in— nern Kirgiſenhorde gehören diejenigen Kirgiſen, die innerhalb des ruſſiſchen Gebiets, zwiſchen dem Uralfluſſe und der Wolga noma— diſiren und alſo ruſſiſche Unterthanen ſind.

Unter den Mineralien des Hr. Karelin befanden ſich auch eine große Menge der ſogenannten Asrolithe von Sterlitamak, welche Hr. Karelin früher ſelbſt von Sterlitamak mitgebracht hatte und von denen er einen großen Theil dem Prof. Roſe zum Geſchenk machte. Dieſe ſogenannten Nerolithe von Sterlitamak (die aber nach dem Urtheil des Prof. Roſe nur unvollkommene Kryſtalle ſind, für deren meteoriſchen Urſprung auch ihre chemiſche Zuſammen— ſetzung durchaus keinen Grund enthält) haben die Geſtalt von mehr oder weniger abgeplatteten Körnern, deren größter Durchmeſſer 3 bis 4 Linien beträgt. Im Innern ſind die Kryſtalle faſrig, auf der Oberfläche ſchwärzlich braun, von geringem Glanz. Dieſe Kör— ner ſollen nun als Kerne von Hagel am 24. October 1824 herab— gefallen fein, doch verſicherte Hr. Karelin, daß er Niemanden kenne, der ſie auf dieſe Weiſe im Hagel eingeſchloſſen geſehen habe. Man hat ſie auf einem beackerten Felde bei dem Dorfe Lewaſchowka an der Belaja in der Nähe von Sterlitamak auf einem Flächenraum von etwa 200 Lachter im Umkreiſe an einem ſehr heißen Tage und nach einem bedeutenden Hagelſchlage gefunden, ohne ſie zuvor an dieſer Stelle geſehn zu haben und vermuthete wohl nur deshalb, daß ſie mit dem Hagel, oder in demſelben eingeſchloſſen, niederge— fallen wären.

Durch Hr. Karelin wurden unſre Reiſenden noch mit einem jungen Koſaken-Unteroffizier Hrn. Karin bekannt, der neben ſeinen Amtsgeſchäften ſich unter der Leitung des Hrn. Karelin ſehr erfolg— reich mit der Naturgeſchichte und namentlich mit der Botanik be— ſchäftigte. Er beſaß ein ſchönes Herbarium, das die Pflanzen der Steppe enthielt, und aus welchem er Prof. Ehrenberg, der daſſelbe mit Intereſſe durchſah, manches Neue mittheilen konnte. Hum⸗ boldt, der ſich lebhaft für dieſen jungen Mann intereſſirte, erlangte bei feiner Rückkehr nach Petersburg von Sr. Maj. dem Kaiſer, daß

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auf Staatskoſten für feine weitere wiſſenſchaftliche Ausbildung ges forgt werden ſollte, damit er ſpäter auf naturhiſtoriſche Reiſen in die Kirgiſenſteppe geſandt werden könnte, wozu er bei ſeiner Kennt— niß der Sitten und Gebräuche der Kirgiſen ſich ſehr gut eignete. Man ließ ihn nach Petersburg kommen, wo er ſich im botaniſchen Gar— ten unter der Leitung des Prof. Fiſcher ausbildete. Später wurde er als Offizier in's Ausland geſchickt und beſuchte bei dieſer Gele— genheit auch Berlin.

Was unſre Reiſenden vor Allem in der Nähe von Orenburg intereſſirte, war der große Ilezkiſche Salzſtock in der Steppe zwi— ſchen dem Ural und feinem Nebenfluffe dem Ilek. Um ihn zu bes ſichtigen, machten ſie daher ſchon am folgenden Tage, obgleich vom Wetter wenig begünſtigt, das den ganzen Tag über regnicht und kalt war, eine Excurſion dorthin und hatten ſich dabei der Geſell— ſchaft des Hrn. Zolldirektors Suſchkoff wie auch der des Hrn. Viceprä— ſidenten von Perowski aus Petersburg zu erfreuen, der, auf einer Reiſe begriffen, zufällig zu gleicher Zeit in Orenburg eingetrof— fen war.

Das Ilezkiſche Salzwerk, oder wie es amtlich heißt, Ilezkaja Saſchtſchita (die Ilezkiſche Schutzwehr) liegt 68 Werſte ſüdlich von Orenburg. Der Weg dahin führt noch durch drei Stationen, iſt aber ſonſt höchſt einförmig und war dies zumal jetzt, wo die Steppe ganz verdorrt war. Um 1 Uhr langten die Reiſenden in dem Orte an. Er beſteht aus einer doppelten Reihe von Häuſern, die eine breite Straße zwiſchen ſich bilden und von den Beamten und den Arbeitern des Salzwerks, unter welchen letzteren ſich viele Verbannte befinden, bewohnt werden. An der Südſeite der Kolonie liegt ein See, der von Oſten nach Weſten, in welcher Richtung er ſeine größte Ausdehnung hat, 150 Lachter lang iſt und der ſüße See (Presnoje Oſero) genannt wird, obgleich er, wenn auch nicht ſtark geſalzenes, doch übelſchmeckendes Waſſer enthält. Man hat um ihn einige Baumanlagen gemacht, die aber noch im Entſtehen ſind. Oeſtlich von dem See erheben ſich in einiger Entfernung kurz hinter einan— der zwei Gypsberge, die durch einen niedrigen Rücken mit einander verbunden ſind. Ihr Geſtein iſt ein weißer körniger, zuweilen röthlicher und großblättriger Gyps, der in mächtigen Bänken abge:

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fondert iſt. Der weſtliche dieſer Berge führt den Namen des Wachtberges (Karaulnaja Gora), da man auf ihm als dem höhe— ren eine Warte und eine kleine Citadelle errichtet hat, in welcher die ſchwereren Verbrecher, die in dem Salzwerke arbeiten, des Nachts über bleiben. An ſeinem ſüdweſtlichen Abhange befindet ſich eine Höhle, die beſtändig Eis enthalten fol, was unſre Reiſenden auch da— rin ſahen. Die Luft hatte in der Höhle eine Temperatur von R., außerhalb derſelben 10° R. In dem öſtlichen Berge hat man Stein- brüche angelegt.

Unmittelbar im Süden des Sees und der Gypsberge, in der daran ſtoßenden Steppe, liegt nun der ungeheure Salzſtock, an der Oberfläche durch nichts bemerkbar und mit einer mehr oder weniger dicken Lage eines gelblichen Sandes bedeckt. Ein kleiner Bach mit ſüßem Waſſer, die kleine Jelſchanka genannt, fließt in ſüdlicher Rich— tung darüber hin, nachdem er ſich um die Südoſtſeite der Gyps— berge gewunden hat; ein anderer findet ſich auch auf der Weſtſeite der Berge, zwiſchen dieſen und der Kolonie, doch hat derſelbe im Sommer gewöhnlich kein Waſſer und bildet nur ein trockenes Bach— gerinne, das im Süden der Gypsberge auf die kleine Jelſchanka zu— führt. Dieſe ſelbſt verbindet ſich ſpäter mit der großen Jelſchanka und durch dieſe mit dem Ilek, der von Ilezk ſelbſt nur 5 Werſte entfernt iſt. i

Die Mächtigkeit der den Salzſtock bedeckenden Sandſchicht ift nach der Unebenheit der welligen Oberfläche verſchieden und beträgt einige Fuß bis einige Lachter. Sie iſt ſehr reich an Waſſer, das ſich von den höher gelegenen Punkten auf dem tiefer liegenden Stein— ſalz wie auf einer Thonſchicht ſammelt und theils ſüß, theils ſchon mehr oder weniger geſalzen iſt. Wie weit ſich darunter der Salz— ſtock nach den verſchiedenen Richtungen hinzieht, iſt noch nicht voll- ſtändig ausgemacht; durch angeſtellte Bohrverſuche hat man ſich nur von ſeiner außerordentlichen Ausdehnung überzeugt. Er fängt gleich ſüdlich von den Gypsbergen an, und ſetzt von hier in ſüdlicher Rich— tung bis auf eine Entfernung von 1006 Saſchenen fort; in oſtweſt— licher Richtung beträgt ſeine bekannte Ausdehnung 767 Saſchenen und in ſenkrechter Richtung 68 Saſchenen. Wahrſcheinlich ſetzt er aber jenſeits dieſer Grenzen noch viel weiter fort, wenigſtens wur⸗

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den die Verſuche zur Erforſchung der Wächtigkeit des Salzſtockes in einer Tiefe abgebrochen, wo das Steinſalz noch in veränderter Richtung anſtand. Die Arbeiten, die am 18. Sept. 1821 ihren An⸗ fang nahmen und bis zum 1. April 1823 dauerten, wurden übrigens nur aus dem Grunde gänzlich eingeſtellt, weil die Anweiſung des Geldes zur ferneren Fortſetzung derſelben unterblieb. Der Director des Salzwerkes, Herr Strukoff, theilte Humboldt auf deſſen Wunſch einen Auszug aus dem bei dieſen Bohrarbeiten geführten Journale mit, ſo wie auch eine kurze Beſchreibung und einen Plan des Wer— kes. Nördlich von den Gypsbergen hat man kein Steinſalz mehr gefunden; das Verhältniß, in welchem der Salzſtock zu den Gyps— bergen ſteht, kennt man nicht, kleinere Parthien Gyps finden ſich jedoch in dem Steinſalz eingeſchloſſen, und ſelbſt eine größere Waſſe, die wie ein kleiner Hügel aus der Oberfläche hervorragt, kommt mitten in dem Salzſtock 250 Lachter ſüdlich von dem See vor.

Das Salz des Salzſtockes iſt, was ſeine Beſchaffenheit anbe— trifft, grobförnig. Die Körner find im Allgemeinen von gleicher Größe und von 2 bis 3 Linien Durchmeſſer, doch finden ſich zu— weilen auch größere, die ſelbſt die Schwere eines Puds erreichen.

Die größeren Körner, die in der Regel ganz durchſichtig ſind, werden hier Herzſalz genannt, und wie in Wieliczka zu allerhand Gegenſtänden verarbeitet, als Halskreuzen, Salzgefäßen, Bechern u. ſ. w. Das Steinſalz iſt rein weiß, zuweilen nur etwas grünlich weiß; blau und grün gefärbte Abänderungen, wie in Hallſtadt und Wieliczka, ſind nicht vorgekommen. Zuweilen finden ſich kleine Höh— lungen darin, die eine Flüſſigkeit mit einer Luftblaſe eingeſchloſſen enthalten (Prof. Roſe ſah ein derartiges Stück in der Sammlung des Oberberghauptmanns Kowanko in Petersburg). Es iſt bis auf den hier und da gewöhnlich in ſehr kleinen Parthien eingemengten Gyps ſehr rein; einzelne Stücke bituminöſen Holzes kommen nur zuweilen noch eingeſchloſſen vor.

Der Abbau des Steinſalzes geſchieht durch Tagebau. Etwa 100 Lachter in ſüdlicher Richtung von dem öſtlichen Ende des ſüßen Sees, da, wo der Salzſtock ſich am meiſten an der Oberfläche er— hebi und von der dünnſten Sandſchicht bedeckt ift, hat man eine Grube angelegt, die jetzt 76 Lachter lang, 24 Lachter breit und an

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ihrer tieſſten Stelle 10 Lachter tief iſt. An den Seiten ſieht man das Steinſalz in ſenkrechten Wänden anſtehen. An der Weſtſeite dieſes Raumes befindet ſich die bequeme Treppe, auf welcher man in die Grube hinabſteigt, und die Göpel, durch welche das Salz gefördert wird; an der ſchmalen Seite ſteht ein Pumpwerk, durch welches die geringe Mafje von Waſſer, die ſich in der Grube an⸗ ſammelt, ausgepumpt wird. An der Seite hat man zur Gewinnung des Salzes einen regelmäßigen Stroſſenbau vorgerichtet. Von den Stroſſen trennt man parallelipipediſche Stücke, die im Querſchnitt 1 Quadrat-Arſchin groß ſind und eine Länge von 3 bis 9 Arſchi⸗ nen haben, indem man dieſelben von hinten und den Seiten mittelſt ſpitzer Keilhauer ſchlitzt und von unten mittelſt eiſerner Keile ab— ſprengt. Den Schlitzen giebt man eine Breite von 21 Werſchock. Die gewonnenen Parallelipipede werden in kleinere zerſägt, die einen Querſchnitt von 4 Quadrat⸗Werſchok und 12 Werſchok Länge haben und 85 Pud wiegen. Die unregelmäßig ausfallenden Stücke wer⸗ den in kleinere zerſchlagen.

Hiernach wird das gewonnene Salz in vier Sorten getheilt. Die erſte und die zweite Sorte beſteht aus den größern Stücken von regelmäßiger und unregelmäßiger Geſtalt, die dritte und vierte Sorte aus dem feineren Pulver, das beim Schlitzen und beim Zerſägen abfällt. Die beiden erſten Sorten werden bis zur Verſchickung im Freien in Haufen aufgeſchichtet und nur mit einem darüber geſchla— genen Dache bedeckt. Die andern werden in Fäſſer, welche 12 Pud faffen, geſchüttet und in Magazinen aufbewahrt. Die etatsmäßige Förderung des Jahres beträgt 700,000 Pud, von welchen den Kir⸗ giſen 78000 Bud unentgeldlich überlaffen werden. Die Selbſt⸗ koſten betragen hierbei 4% Kopeken für das Pud Klumpenſalz, 6 Kopeken für das Pud Balkenſalz und eben ſoviel für das pulver⸗ förmige Salz, da bei dieſem die Fäſſer noch in Anſchlag kommen; bei einer Vergrößerung der Förderung würden auch die Selbſtkoſten ge— ringer ſein. Verkauft wird das Pud Salz in Orenburg mit 90 und in Petersburg mit 114 Kopeken. Das Gewicht des Balkenſalzes wird nach dem Volumen beſtimmt und hierbei angenommen, daß ein Kubikwerſchok 45 Solotnik wiegt.

Der Transport des Salzes nach den Niederlagen am Aſchka⸗

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der, dem Ik und der Samara geſchieht meiſtentheils nur im Win⸗ ter und durch die Teptären. Von dieſen Niederlagen wird es dann weiter nach Kaſan und dem übrigen Reiche auf den Flüſſen ver— ſchifft.

Die Gewinnung des Steinſalzes geſchieht nur im Sommer und die Arbeit fängt damit an, daß man das durch den geſchmolzenen Schnee entſtandene Waſſer auspumpt. Während des Sommers iſt, wie ſchon angeführt, die Anſammlung des Waſſers nur unbeträcht— lich. Dieſer würde man aber vielleicht ganz entgehen und die Ar— beit Sommer und Winter fortzuſetzen im Stande ſein, wenn man den Abbau des Steinſalzes unterirdiſch betriebe. Schon Pallas hatte die ruſſiſche Regierung auf dieſen Umſtand aufmerkſam gemacht, und in Folge ſeines Rathes wurde ſchon in den ſiebenziger Jahren ein Schacht in dem Salzſtock abgeteuft und bis auf 50 Arſchinen nie— dergebracht, dann aber wegen der Schwierigkeiten, die ſich dem Ab— bau in größerer Tiefe entgegenſetzten, und die man nicht zu über— winden verſtand, verlaſſen, worauf er mit der Zeit verfiel. In neuer ren Zeiten hat man einen neuen Verſuch gemacht und 100 Saſche— nen öſtlich von dem Tagebaue 2 Schachte in einer Entfernung von etwa 30 Saſchenen nebeneinander abgeteuft, dieſelben bis auf eine Teufe von 24 Saſchenen niedergebracht und in einer Teufe von 10 Saſchenen mittelſt eines Querſchlages verbunden. Wan hatte hier überall den Salzſtock von unveränderter Beſchaffenheit gefunden und nur ſehr wenig Zudrang von Waſſer gehabt. Die Koſten der unterirdiſchen Arbeit ſollen die der überirdiſchen nicht übertroffen haben, und man hatte demnach ſchon einen Plan zu einer beftändi- gen unterirdiſchen Arbeit der ruſſiſchen Regierung eingereicht. Prof. Roſe hat indeß nicht erfahren, wie darauf höheren Orts verfügt iſt.

Südwärts von der Grube, in welcher der regelmäßige Abbau ſtattfindet, ſieht man eine große Wenge alter Gruben und Löcher, in welchen Koſaken, Baſchkiren und Kirgiſen Salz gebrochen haben, ehe im Jahre 1754 der regelmäßige Bau von der Regierung vor— gerichtet wurde. In dieſen Gruben, deren einige 10 und mehrere Lachter groß und 6—8 Fuß tief ſind, haben ſich die Tagewaſſer geſammelt und das Salz vom Boden aufgelöſt, wodurch eine voll— kommen geſättigte Soole entſtanden iſt, die ein bräunliches Anſehn

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* hat. Die Kirgiſen kommen oft hierher, um bei verſchiedenen Krank— heiten in der Soole dieſer Gruben zu baden. Prof. Roſe unter— ſuchte die Temperatur mehrerer derſelben und fand ſie wie in der äußeren Luſt 10%, R., was die allgemeine Sage widerlegt, nach welcher, wie Pallas erzählt dieſe Soole, ſelbſt bei kaltem Herbſt— wetter, ſo heiß ſein ſoll, daß man die Hand nicht darin halten könne.

Vor der Rückkehr nach Orenburg beſuchte Prof. Roſe noch einige Quellen mit ſüßem Waſſer, die 14 Werſte von dem Orte an der Jelſchanka entſpringen und eine Temperatur von 6°, s und 6°, 9 R. haben. Kurz vor 6 Uhr Abends verließen die Reiſenden Ilezk, waren aber doch erſt um 3 Uhr in der Nacht wieder in Orenburg.

General Gens wünſchte Humboldt Gelegenheit zu geben, die Kirgiſen und die angrenzende Steppe näher kennen zu lernen und hatte deshalb die nächſten Sultane durch Boten auffordern laſſen, mit ihren Unterthanen in die Nähe von Orenbung zu kommen und Wettkämpfe und Spiele zu veranſtalten. Eine große Anzahl Kir— giſen war in Folge dieſer Aufforderung auch wirklich erſchienen, hatte einige Werſte von Orenburg in der Steppe an dem Wege nach Ilezk ihre Jurten aufgeſchlagen, und ihre Sultane kamen nun am 25. September gegen Wittag perſönlich zum General Gens, um ihn und Humboldt zu dieſen Spielen abzuholen. Unſere Reiſenden fuhren auch ſogleich in Begleitung der Kirgiſenſultane nach deren Jurten und hatten ſchon unterwegs Gelegenheit einige Reiterkünſte zu bewundern, da viele Kirgiſen aus dem Gefolge der Sultane die _ Wagen der Reiſenden in geſtrecktem Galopp umkreiſten, während ſie, mit den Händen auf den Sattel geſtützt, den Kopf nach unten und die Füße ſteil in die Höhe richteten.

Bei den Zelten der Sultane angekommen, wurden die Reiſen— den zuerſt zu den Frauen derſelben geführt, die in einem der grö— ßeren dem Eingange gegenüber in einer Reihe aufgeſtellt waren, und unter denen fie, da die Frauen ſämmtlich verſchleiert waren, manche in ihrer Art recht hübſche Geſichter mit friſchen rothen Wangen bemerken konnten. Vach einer kurzen Begrüßung, die darin beſtand, daß die Reiſenden ihnen der Reihe nach die Hand reichten, fingen ſogleich die Wettkämpfe an. Zuerſt ſtellten ſich die Kir— giſen vor, die den Wettlauf zu Pferde machen wollten; ſie zogen

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an den Gäſten vorüber und trabten dann langſam nach einem 7 Werſt entfernten Orte, von welchem ſie auf die Fremden zuge— ſprengt kommen ſollten. Während dieſer Zeit wurden die andern Spiele veranſtaltet; in einen von den Zuſchauern gebildeten Kreis traten zwei Kirgiſen hinein, die nach abgeworfenem Oberkleide ihre ledernen Gürtel um des Gegners Rücken ſchlangen und ſich nun gegenſeitig niederzuwerfen ſuchten, ganz auf dieſelbe Weiſe, wie dies die Reiſenden bei den Kämpfen der Tataren auf dem Saban bei Kaſan geſehen hatten. Auch hier blieb der Sieger auf dem Platze, bis er wieder ſeinen Mann fand. In den meiſten Fällen ereignete ſich dies ſchon bei dem zweiten Kampfe; doch zeichnete ſich unter allen ein Kämpfer aus, der fünf andere nach einander nieder— warf, bis er endlich von dem ſechſten beſiegt wurde. Das Intereſſe, welches die übrigen Kirgiſen an dieſen Spielen nahmen, war ſo groß, daß ſie ſich von allen Seiten hinzudrängten und den Kreis immer mehr und mehr verengten: ſie wurden dann von Zeit zu Zeit von den Aufſehern mit Peitſchenhieben zurückgedrängt, was, ſo unbarmherzig es auch zu geſchehen ſchien, doch niemals übel auf— genommen wurde und ganz in aller Freundſchaft vor ſich ging. Auch die Frauen der Sultane waren aus ihren Jurten getreten und ſahen, auf einen Fleck zuſammengedrängt, dem Spiele zu. Nachdem das Ringen eine ganze Zeit gewährt hatte, wurde ein großer eiſerner Keſſel herbeigebracht, der bis über die Hälfte mit gekochter Grütze gefüllt war. In dieſen warf der General Gens einen Silberrubel und ließ nun die Kirgiſen auffordern, denſelben mit dem Wunde herauszuholen. Ein Athemholen war unter der Grütze nicht möglich, daher der Verſuch nicht lange währen konnte, aber in dem glatten Keſſel die Münze mit den Zähnen zu faſſen, war ſchwer, und Vielen mißglückte der Verſuch, der zum zweiten male von Einunddemſelben nicht wiederholt werden durfte; ſie mußten, den Kopf bis an die Schultern von anhaftender Grütze weiß, zum großen Gelächter der Umſtehenden unverrichteter Sache abziehen. Es war ſehr ergötzlich, die Anſtrengungen zu ſehen, die Jeder machte, zum Ziele zu gelangen; endlich glückte es Einem, den Silberrubel mit dem Munde bis an den Rand des Keſſels zu ſchie— ben und ihn dann mit den Zähnen zu faſſen; ein Zweiter faßte

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einen andern hineingeworfenen Rubel gleich unten mit den Zähnen und brachte ihn glücklich heraus, und ſo wurde das Spiel mit neuen Rubeln noch eine Zeitlang fortgeſetzt.

Nun traten zwei Tonkünſtler in den Kreis, ein alter und ein junger, die ſich mit untergeſchlagenen Beinen einander gegenüber hinkauerten und einem einer Klarinette ähnlichen Inſtrumente kläg⸗ liche Töne entlockten, theils abwechſelnd einzeln, theils zuſammen blaſend. Sie ſchienen eine beſondere Kunſt darin zu ſetzen, recht lang anhaltende Töne hervorzubringen und dabei erſchreckliche Ge— ſichter zu ſchneiden, worin es beſonders der Alte weit gebracht hatte der ſich auch viel auf ſeine Kunſt einzubilden ſchien. In ihrem ganzen Spiele war keine Spur von Welodie wahrzunehmen, aber ſie wurden davon doch ſelbſt ſo entzückt, daß man ſie nur ſchwer bewegen konnte aufzuhören, und ſie immer wieder von neuem an— fingen. Unſere Reiſenden wollten indeſſen auch die Frauen hören, von denen nun eine ganz verſchleiert in den Kreis trat, ſich dann auf ähnliche Weiſe wie die Männer hinſetzte, zu ſingen anfing und wie dieſe lang verhallende Wolltöne hervorbrachte. Nach ihr ſtimmten zwei junge Wädchen ein Duett an; ſie ſetzten ſich, das Geſicht einander zugekehrt, dicht neben einander und erhoben ihre Schleier ſo, daß ſie ſich gegenſeitig, die Zuſchauer ſie aber von den Seiten anſehn konnten, was ſie nicht übel zu nehmen ſchienen. Sie wurden durch die Nachricht unterbrochen, daß man die Reiter an— kommen ſähe, worauf ſie aufſtanden, und alle übrigen Zuſchauer, von den Aufſehern durch Peitſchenhiebe häufig daran erinnert, vor den Gäſten zurücktraten, um ihnen und den Frauen die Ausſicht auf die heranſprengenden Reiter zu eröffnen. Ein Knabe war allen übrigen zuvorgekommen; er gewann den Preis, der in einem mit Silber geſtickten Oberkleide beſtand; doch wurden auch noch die zu— nächſt nach ihm Kommenden mit kleineren Geſchenken belohnt.

Vach dem Wettrennen zu Pferde wurde nun noch zum Schluß ein Wettrennen zu Fuß veranſtaltet. Die Kämpfer wurden bis auf eine Entfernung von anderthalb Werſten fortgeſchickt, von wo ſie auf die Gäſte zuliefen. Hier war es ein junger ſchon erwachſener Kirgiſe, der den erſten Preis, in einem Silberrubel beſtehend, erhielt, die Uebrigen erhielten Stücke baumwollenen Zeuges und andere kleine

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Geſchenke. Der erſte Läufer hatte aber den Weg von anderthalb Werſten, alſo von mehr als dem fünften Theil einer deutſchen Meile, in der kurzen Zeit von 3 Winuten durchlaufen, was die Reiſenden genau beſtimmen konnten, indem ſie ganz deutlich zu ſehen im Stande waren, wann die Kämpfer ihren Lauf begannen, und über die Entfernung kein Zweifel ſtattfand, da dieſe nach den Werſtpfäh— len beſtimmt wurde, die, wie überall an den Poſtwegen, auch auf dem Wege von Orenburg nach Ilezk geſteckt waren.

Hiermit endeten die Spiele, die, von dem heiterſten und ſchön— ſten Wetter begünſtigt, unſern Reiſenden viel Vergnügen gemacht hatten, wofür ſie ſich dem General Gens, deſſen Aufmerkſamkeit ſie daſſelbe verdankten, ſehr verpflichtet fühlten. Es war inzwiſchen 6 Uhr geworden und ſie eilten nun nach Hauſe, um die Anſtalten zu der morgen anzutretenden Abreiſe zu treffen.

Zehntes Kapitel

Ein Pferderennen in einem Kalmüken-⸗Dorfe.

Wir laſſen, ehe wir unſre Reiſenden weiter begleiten, den oben beſchriebenen Spielen der Kirgiſen die Beſchreibung eines Pferde— rennens folgen, welches 1839 in einem Kalmüken-Dorfe abgehalten wurde. Ein ruſſiſches Journal ſchildert daſſelbe mit folgenden Worten:

Das Kalmüken-Dorf Tjumenowka liegt in einer Wieſengegend an der Wolga, 72 Werſt (403 deutſche Meilen) von Aſtrachan, und gehört dem Chan des Chotuſſoff'ſchen Uluß ““), dem Oberſten Fürſten Serbe⸗Tſchab Tjumenoff, und deſſen Brüdern.

Der längere Aufenthalt dieſes Chans im Auslande, bei Gelegen— heit des franzöſiſchen Feldzuges, und die häufigen Berührungen mit den Ruſſen hatten demſelben viel Einſicht und Kenntniſſe von der Ordnung der Landwirthſchaſt des civiliſirten Europa verſchafft und ihn von der Vothwendigkeit überzeugt, das Gute und Nützliche der— ſelben bei den von ihm beherrſchten Kalmüken einzuführen. Seine Pflicht erkennend, war er daher, als ſorgſamer Landwirth, auch bald bemüht geweſen, ſeine Beſitzungen zu verbeſſern und den halb—

*) Das Magazin für die Literatur des Auslandes 1840, Nr. 13 u. 14, theilt die deutſche Ueberſetzung mit.

) Uluß iſt eine gewiſſe Anzahl von Nomaden-Zelten, die unter einem Chan ſtehen, und zwar wird ein Uluß in mehrere Chotane getheilt, deren jeder 15 bis 20 Kibitken ſtark iſt. Die Chotane eines Ulus ſind oft auf einer Entfernung von 200—300 Werſt zerſtreut. Der Aufenthaltsort des Chan, das Hauptlager, wird Orga genannt.

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wilden Zuftand feines Volkes, mit Unterſtützung der Regierung, auf einen fo viel als möglich genügenden Grad von Civiliſation zu brin— gen. Man findet daher jetzt in ſeinem Dörfchen bereits ein ſchönes Haus, einen Garten und viele europäiſche wirthſchaftliche Einrich— tungen, ſo wie auch eine ganz europäiſche Lebensweiſe, unter dem Volke aber Stabilität, Arbeitſamkeit und Zufriedenheit, Eigenſchaften, durch welche ſich dieſer Uluß vor allen übrigen aus— gezeichnet.

Von den verſchiedenen Zweigen der Landwirthſchaft iſt es ganz beſonders die Pferdezucht, auf die der Fürſt Tjumenoff ſeine Sorg— falt verwendet, ſo daß er dadurch bereits ſogar die Aufmerkſamkeit des Kaiſers erregt hat und von demſelben im Jahre 1838 zur Ver— edlung ſeines Geſtütes mit drei Hengſten engliſcher und arabiſcher Race beſchenkt worden iſt.

Vor einem Jahre etwa hat der Chan zur Aufmunterung der von ihm beherrſchten Kalmüken auch ſogar Pferderennen einge— führt, welche ſtets im Auguſt oder September ſtattfinden ſollen und zu denen er dann den Gouverneur der Provinz, ſo wie mehrere angeſehene Perſonen beiderlei Geſchlechts einladet. Demnach fand auch im Jahre 1839 zu Ende Auguſt ein ſolches Rennen ſtatt, zu welchem, außer dem Wilitair- Gouverneur Timiraſew, auch der Vor— ſtand des Kaſanſchen Lehr-Diſtrikts, Geh. Rath M. N. Wuſſin-Puſch⸗ kin, ſowie der Hetman des Aſtrachanſchen Koſaken-Heeres, General— Major V. A. Briggen, und der Befehlshaber des Hafens und der Flotille im Kaſpiſchen Meere, Flügel-Adjutant Schiffs-Capitain La— ſareff III., ſo wie mehrere andere angeſehene Perſonen, eingeladen waren.

Der Fürſt empfing und bewirthete dieſe Gäſte Abends in ſei— nem Hauſe und fuhr ſie am folgenden Morgen 9 Uhr zuerſt nach dem kalmükiſchen Churul (Tempel), um daſelbſt dem Gottesdienſt beizuwohnen.

Beim Eintritt in den Churul bemerkte man zuerſt an der dem Eingange gerade gegenüber liegenden Mauer auf einer Erhöhung einen Altar, vor demſelben aber eine Reihe Gelunen (Prieſter) mit der ganzen zum Gottesdienst gehörigen Kleriſei. Auf der Erhöhung und auf dem Altar ſtanden kleine vergoldete Götzenbilder, Burchane,

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d. h. Laren, darſtellend, und kleine ſilberne Schälchen mit Reis, ge— trocknetem Obſt, Hirſe ꝛc. In der Witte ſtand ein Gefäß, einer Vaſe ähnlich, mit Arſchan, d. h. geheiligtem Waſſer, an den Wänden aber hingen Bilder von Götzen, von chineſiſchen Malern gefertigt.

Die Gelunen und Gezulen (Prieſter), Manshi (Prieſterſchüler) und andere Geiſtliche, 20 an der Zahl, in gelbem Gewande*) mit rothem Okrimtſch (Bandelier) über den Schultern ſetzten ſich auf den Fußboden des Saales in zwei langen Reihen, der Anciennetät nach, einer dem andern gegenüber. Ihre Häupter waren bedeckt mit Kränzen von ſchwarzem Sammet, auf denen die Abbildungen von fünf Burchanen angebracht waren, und lange aufgelöſte Zöpfe von ſchwarzer Seide hingen an dieſen Kränzen herab.

Der Gottesdienſt wurde in Tunguſiſcher Sprache gehalten und beſtand in Geſang und Muſik. Eine große kupferne Schüſſel (Zang), kleine Pauken (Keitſchergeh), Glöckchen (Choncho), eine Art von Obos (Büſchkuhr), kleine Trompeten (Gandama) und große, von 1 Sa— ſchen Länge, (Biurä), fo wie große See-Wuſcheln (Dung), waren die Inſtrumente der geiſtlichen Kapelle, welche mit Begleitung bald kurzer bald langgedehnter Geſänge erſchallten und tobten und eine gewiſſe wilde, wunderliche Harmonie erzeugten, welche die Seele un— willkührlich mit Entſetzen erfüllt und das daran nicht gewöhnte euro⸗ päiſche Ohr zerreiſt.

An feierlichen Jahresfeſten verſammelt ſich jedoch die Geiſtlich— keit weit zahlreicher, oft gegen 300 Prieſter“ “), jo daß der Klang ihrer Hymnen alsdann auf bedeutende Entfernungen ſchon zu hören ſein ſoll.

Die Churule ſind ſämmtlich von Holz, mit Ausnahme eines einzigen ***), welcher 10 Saſchen von demjenigen ablag, in welchem

) Die rothe und gelbe Farbe deuten bei den Kalmüken die Heiligkeit an, weshalb denn auch die Geiſtlichkeit ſich keiner anderen Farben zu ihrer Kleidung bedient.

*) Die Anzahl der Geiſtlichen iſt jetzt in allen Uluſſen gegen früher be⸗ deutend vermindert worden. Bis zum Jahre 1839 gab es 118 Churule und 4477 Geiſtliche; jetzt ſind nur noch 42 Churule und 2227 Geiſtliche vorhanden.

ku) Von den im Gouvernement Aſtrachan befindlichen Churulen find außer dem ſteinernen nur 9 unbeweglich, alle übrigen ſind Kibitken.

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der hier beſchriebene Gottesdienſt gehalten wurde. Derſelbe ift näm— lich von Stein in chineſiſchem Geſchmacke erbaut und hat an zwei Seiten Portiken, an welche Thürme ſtoßen, von denen herab die Zeit des Gottesdienſtes verkündigt wird. Die Verkündigung ge— ſchieht vermittelſt der Bjura, Büſchkuhra und Dung; an bedeutenden Feiertagen werden jedoch alle geiſtliche Inſtrumente dazu verwendet. Der Götzendienſt beginnt dann gewöhnlich am Vorabend des Feier— tages und wird Sal-el-elga genannt.

Von dem Churul begaben ſich die Gäſte nach dem Gottesdienſt, welcher eine Stunde dauerte, nach dem Rennplatz an den Ufern der Wolga, wo ſich die kalmükiſche und ruſſiſche Bevölkerung, in Er— wartung des jährlichen in den Steppen ſo erſehnten Ereigniſſes, bereits ſchon längſt an dem Cirkus, um welchen das Rennen ſtatt— finden ſollte, in Maſſe verſammelt hatte. Die Gäſte des Fürſten aber nahmen in einem beſonderen Zelte Platz.

Der Cirkus hatte einen Umfang von 4 Werft 20 Saſchen, d. h. 75 einer deutſchen Meile, und zwar ſollte dieſe Diſtanz achtmal durchlaufen werden.

Um 10 Uhr 48 Winuten wurde das Zeichen zum Abreiten ge— geben, und 50 mit dürftiger Steppenkoſt genährte Renner flogen mit halbwilden Kalmüken-Burſchen dahin.

Der 1ſte Umlauf geſchah in 84 Minuten.

= 2te = - :,9 = 5 Zte = 4 = 8 = = 4te = z = 82 = - 5te = = 8 = = 6te B = E = Tte = 2 2 74 2 Ste = = z 12 s mithin legten die Pferde in 65 Winuten eine Diſtanz

von 32 Werſt und 160 Saſchen oder 322 deutſche Meilen zurück. Der Preiſe waren ſechs und zwar gewannen: Nr. 1. (Zwei Kameele, drei Pferde und einen Tuch-Chalat Rock!) ein brauner Wallach 8 Jahr alt. Nr. 2. (Zwei Kameele und zwei Pferde) ein rehfarbener Wal— lach 5 Jahr alt.

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Nr. 3. (Ein Kameel und zwei Pferde) ein Grauſchimmel-Wal⸗ lach 5 Jahr alt.

Nr. 4. (Zwei Pferde) ein Scheck-Wallach 7 Jahr alt.

Nr. 5. (ein Pferd) eine braune Stute 8 Jahr alt.

Nr. 6. (eine Kuh) ein Schimmel-Wallach 10 Jahr alt.

So gehorſam und willig aber die dreſſirten kalmükiſchen Pferde find, eben fo wild und unbändig ſind dieſelben in den freien Tabu⸗ nen (Heerden), ſo daß mehrere Wenſchen nöthig ſind, um ein mit dem Arkan eingefangenes Pferd feſtzuhalten oder zu werfen, in— dem man daſſelbe nicht anders beſteigen kann. Die Gewandtheit der Kalmüken bei dieſer Gelegenheit iſt jedoch bewundernswürdig; ein Junge von nicht mehr als 14 Jahren wirft ſich, nachdem er ſich die Gelegenheit dazu erſehen hat, ſchnell auf das Pferd und jagt damit in der Gegend umher. Wild, eigenſinnig, ſchlägt daſſelbe wüthend um ſich, wirft ſich verſchiedentlich nieder und fällt Alles nur, um ſeinen kaltblütigen Reiter abzuwerfen. Doch feſt und unerſchütterlich bleibt dieſer ſitzen und jagt, nur an der Mähne ſich haltend, ohne be— ſtimmtes Ziel fort in's Weite. Zuweilen ereignet es ſich jedoch auch wohl, daß der junge Burſche dieſe Folter nicht aushält, oder her— unterfällt, oder daß er, wie auf dem Pferde angewachſen, mit dem— ſelben aus dem Geſichtskreiſe der Zuſchauer verſchwindet; dann jagt ihm ein anderer erwachſener und erfahrener Reiter auf einem geſat— telten Pferde nach, ergreift den Schwachgewordenen wieder und er— ſcheint mit ihm vor den Zuſchauern.

Das Aeußere der Kalmüken-Pferde iſt nicht ſchön, indem ihre Geſtalt noch etwas derber als die der kirgiſiſchen iſt. Ihr Haupt— werth beruht nur in ihrer Leichtigkeit, ihrer feſten Leibes-Conſtitution und ihrer ungewöhnlichen Schnelligkeit. Uebrigens laſſen ſie, wie alle Steppen-Pferde, ſich weit lieber reiten als anſpannen; ſie legen 100 Werſt, d. h. 143 Meilen, ohne anzuhalten, zurück, und doch iſt ihre gewöhnliche Nahrung nur das Futter, das ſie auf der Erde, an den Wegen und in den Feldern finden. Die in dem Chotuſ— ſoffſchen Uluß jetzt vorhandenen Pferde werden auf 17,119 Stück angegeben.

Es dürfte hier nicht am unrechten Orte ſein, auch noch eines zweiten, den nomadiſirenden Kalmüken eben fo nothwendigen

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Thieres, des Kameels, dieſes friedlichen, arbeitſamen Gehülfen des Kalmüken auf allen feinen Steppen-Reiſen, zu gedenken. Auch mit den Kameelen werden Wettrennen angeſtellt, doch nicht in jedem Jahre, wie dies z. B. 1839 auch nicht der Fall war. Die Aſtra— chaniſchen Steppen begünſtigen vermöge ihres Ueberfluſſes an ſal— zigen Kräutern die Vermehrung der Kameele ganz beſonders, indem ſich dieſelben von hartem Graſe und anderen gröberen Erzeugniſſen der Steppe ernähren. Man zählt im Ganzen 713 Kameele in dem Chotuſſoffſchen Uluß “), welche theils einen, theils zwei Höcker, jedoch ein mehr dunkelgelbes, ſelten weißes Haar haben. Das Kameel iſt fo ſanft und gehorſam, daß ein 12jähriges Mädchen daſſelbe mit Leichtigkeit regieren und vermittelſt eines einfachen Gebiſſes, welches durch eine durch die Naſenlöcher gebrannte Oeffnung geführt wird, ohne Anſtrengung zum Niederknieen veranlaſſen kann, was noth— wendig wird, ſobald man das Thier beladen will; man bürdet ihm dann nicht ſelten Ladungen von 40 und mehr Pud Gewicht auf. Bei den Umzügen von einer Gegend zur anderen, welche die Kal— müken nach Bedürfniß des für ihre Heerden nöthigen Weidefutters machen müſſen, iſt ihnen dieſes Thier unentbehrlich, indem es im wahren Sinne des Worts „das Schiff der Wüſte“ iſt, da es die ganze Habe nebſt der Kibitke ſeines Herrn auf ſeinem Rücken tragen muß und doch mit dieſer ſchweren Laſt oft mehr als 60 Werft des Tages marſchirt. Die Umzüge beginnen mit dem Hauptlager des Chans, und zwar iſt die vor dem Zelte des Chans ausgeſteckte Lanze deſſelben das Zeichen zum Ortswechſel. Plötzlich bricht dann Alles auf, ordnet ſich, und ſchon nach einer Stunde ſetzt ſich der lange Zug in Bewegung, welchen ein Reiter mit der Lanze des Chans eröffnet. Hinter dieſem folgt dann unmittelbar der Chan mit ſeiner Familie und ſeiner ganzen Habe, hierauf die Geiſtlich— keit mit dem Churul und deſſen Zubehör und alsdann das übrige Volk. Nach dem Lager des Chans ſetzen ſich dann auch die übri— gen Chotane des Uluß in Bewegung.

*) Im Allgemeinen kann man ſagen, daß ſich der Viehſtand bei den Kalmüken gegen frühere Jahre jetzt bedeutend vermehrt hat, denn im J. 1826 waren im Chotuſſoffſchen Uluß nur 12,133 Pferde und 674 Kameele, und daſſelbe Verhältniß fand auch in den übrigen Uluſſen ſtatt.

| f | N j | | |

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Bei den Ueberſiedlungen ſieht man im feiertäglichen National: Koſtüm junge Mädchen auf Pferden reiten und die mit allem Haus— geräth beladenen Kameele mit ſich führen. Intereſſant aber iſt es, zu ſehen, mit welcher gewohnten Schnelligkeit und Gewandtheit dieſe Mädchen, in zwei Partheien getheilt, ihre Feld-Wohnung herſtellen. Das Kameel-Gepäck auseinandernehmen, zwei Kibitken aufſchlagen und alles Hausgeräth in der neuen Wohnung an Ort und Stelle bringen, iſt das Werk einer halben Stunde. Hierauf aber begeben fie ſich zu Pferde, um in der Umgegend das erforderliche Material zur Unterhaltung des in der Kibitke unentbehrlichen Feuers beizu- treiben, und hierbei zeigen ſie wieder eine andere Art von Geſchicklich— keit, nämlich im Reiten. Wie Pfeile fliegen die Pferde dahin, doch die Wädchen ſitzen ruhig und feſt und nehmen, zur Verwunderung des Zuſchauers, mit zur Erde geneigtem Kopfe die auf den Boden geworfene Mütze auf.

Die Verſammlung der Kalmüken beim Abbrechen eines alten Lagers geſchieht noch ſchneller als der Abmarſch und der Bau eines neuen; denn in einer Viertelſtunde nehmen die Wädchen die aufge— ſchlagenen Kibitken aus einander, legen ſie zuſammen, packen den ganzen Hausrath ein und beladen die Kameele.

Zur Ehre des weiblichen Geſchlechts dieſes Volks muß man überhaupt noch ſagen, daß ſie alle häuslichen Arbeiten und Geſchäfte allein verrichten; ſie bereiten die Speiſen, warten das Vieh, brechen die Kibitken ab und ſchlagen ſie wieder auf, arbeiten Pelzwerk, Häute, Filz aus, nähen für ſich und ihre Männer Kleider und Stiefeln und ſatteln ſich ihre Pferde ſelbſt. Der Mann dagegen ſieht im Kreiſe feiner Familie nach den Heerden, fertigt Kibitken zur Mitgift für die Töchter an, trägt Heu ein oder geht, von der Voth getrie— ben, um gegen Tagelohn bei den Ruſſen am Weere oder an der Wolga zu arbeiten.

Die Hauptlieblings-Beſchäftigung des Kalmüken, welcher er ſich in Mußeſtunden mit wahrem Vergnügen hingiebt, iſt die Jagd auf Thiere und Vögel, und zwar ſind alle Kalmüken, ſowohl die von weißen als die von ſchwarzen Knochen“), große Liebhaber der—

*) Die Chane oder Nojonen und Saißangen zählen ſich zu den Zaganlean, d. h. weißen Knochen, oder zu dem Stande der Wohl⸗

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ſelben. So ift unter Anderen der jüngſte Bruder des Chang, Zeren— Narbo, Lieutenant im Aſtrachanſchen Koſaken-Heer, ein großer Jä— ger und ſchießt ſowohl mit dem Gewehr als mit dem Bogen mit großer Geſchicklichkeit. Die Thiere fangen ſie auf verſchiedene Art in Netzen oder Schlingen; die Vögel aber jagen fie mit Lanetten“), Sperbern und Falken.

Am Abend des Renntages ward endlich den Gäſten noch ein neues, der Aufmerkſamkeit werthes Vergnügen bereitet, indem die— ſelben von dem Fürſten Tjumenoff in die Kibitke ſeines mittleren Bru— ders, des Lieutenants in der Garde, Zeren-Dondok, geladen wurden, welche ſehr ſchön mit koſtbaren Teppichen ausgehangen und geſchmückt war, und wo ſie, in Abweſenheit des Mannes, von der Fürſtin und deren Tochter empfangen wurden. In der Kibitke ſaßen, wie es hier Sitte iſt, mehrere Frauen und Mädchen an den Wänden herum in zwei Reihen auf dem Boden und fangen. National-Geſänge und Tänze machten jedoch auch den beſten Theil der Bewirthung der Gäſte aus. In dem Geſange war ſtets eine gewiſſe ſanfte, gedehnte Melodie hörbar, die den Ausdruck eines von Kummer und Gram ge— brochenen Herzens trägt. Der Tanz beſteht in bald ſchnellen, bald langſamen Bewegungen der Hände, Füße und des Kopfes nach dem Takt der Balaleika “). Zuletzt ward noch der durch die verſchieden— artigſten Eindrücke intereſſante Tag durch ein großes Feuerwerk be— ſchloſſen, und am folgenden Worgen um 5 Uhr beſtiegen die Gäſte das Dampfſchiff, nachdem ſie von ihrem gaſtfreien heiteren Wirth herzlichſt Abſchied genommen hatten.

gebornen, die gemeinen Leute aber zu den Chara's d. h. ſchwarzen Knochen.

) Lanetti oder wolliger Falk.

**) Eine Art Guitarre mit 2—3 Saiten.

Elftes Kapitel

Steppe zwiſchen dem unteren Laufe des Ural und der Wolga; Sand— berge Rynpeski; Salzſeen und Salzpfützen; Steppenflüſſe; Berge und anſtehendes Geſtein der Steppe; Wege durch und um die Steppe nach Aſtrachan.

Orenburg war nach dem urſprünglichen Plan das letzte Ziel unſerer Reiſenden; ſeit längerer Zeit war indeſſen Humboldt von dem Wunſche beſeelt, auch noch Aſtrachan und das Kaſpiſche Weer zu beſuchen, und das gute Wetter, deſſen ſie ſich ſeit einiger Zeit wieder zu erfreuen hatten, ſchien zur Ausführung dieſes Planes einzuladen. Sie hatten deshalb in den vorhergehenden Tagen viel mit ihren Freunden über dieſe Reiſe und die Art und Weiſe ſie auszuführen geſprochen. Es handelte ſich hauptſächlich darum, ob ſie die Steppe zwiſchen dem Uralfluſſe und der Wolga durchfahren, oder ob ſie dieſelbe mit großem Umwege umfahren ſollten. Das erſtere hatte ſchon Pallas im Jahre 1773 gethan und im Jahre 1834 ward es vom Prof. Göbel ausgeführt, während Gmelin 1768 und Erdmann 1815 nur den weſtlichen Theil bereiſten.

Nach ihren Beſchreibungen iſt die Steppe größtentheils eine ebene Fläche mit magerem ſandigen Thonboden, die zum Ackerbau untauglich und nur mit einzelnen grasreichen Niederungen verſehen iſt. In ihrer Mitte wird fie von einem breiten Sandſtreifen, den die Kalmüken, ihre früheren Bewohner, Naryn d. i. ſchmalen Sand,

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die Ruſſen aber mit Hinweglaſſung der erſten Sylbe Rynpeski, d. i. den Sand Ryn nennen, durchzogen. Dieſer fängt in NW. etwa im 49° der Breite an, und zieht ſich mit einer Breite von 40 bis 50 Werſt erſt in mehr öſtlicher, dann in ſüdöſtlicher Richtung bis zum Kaſpiſchen Meere fort, nachdem er zuvor noch einen Arm bis zum Ural abgeſendet hat. Von dem Kaſpiſchen Weere ſetzt er dann mit verminderter Breite an der Küſte bis zur Achtuba, dem linken Nebenftrome der Wolga, und an dieſer nordweſtwärts bis zu der Krümmung bei Zarizyn fort. Ob dieſer Sandrüden auch jenſeits des 49. Grades fortſetze, und mit dem Obſchtſchei Syrt zuſammen— hänge, iſt ungewiß. Er beſteht aus unzähligen kleinen 2 bis 5 Fa— den hohen Sandhügeln, welche haufenweiſe nebeneinander liegen, und durch breite thalähnliche Vertiefungen von einander getrennt ſind. Der Sand iſt mehr oder weniger locker; oſt iſt er von der Art nur auf der Oberfläche, im Innern ſind die Hügel dichter und feſter, ſo daß auch die in der Steppe ſo häufigen Winde hier ihre Ge— ſtalt nur wenig verändern; in anderen Fällen iſt es förmlicher Flug— ſand. Die Sandhügel ſind kahl oder nur ſtellenweiſe mit Sandhal— men bedeckt, die Gründe aber gewöhnlich mit ſchönem Graswuchs und mit Weiden, wilden Oelbäumen und Weißpappeln, die meiſtens ſtrauchartig ſind, doch auch zuweilen zu Bäumen von einiger Stärke anwachſen; denn überall findet man in dieſen Gründen Waſſer, wenn man danach einige Fuß tief gräbt, wenn es gleich zuweilen ſalzig und nicht immer trinkbar iſt. Die Rynpeski ſind demnach für die die Steppe bewohnenden nomadiſirenden Völker von großer Wichtigkeit, denn ſie dienen ihnen zum Winteraufenthalte, wo ihre Heerden Schutz gegen Kälte und Stürme fo wie ſchönes Futter finden.

Nach allen Seiten ſind die Rynpeski von einer großen Wenge größerer oder kleinerer Salzſeen und Salzpfützen umgeben, die theils einen ſo großen Salzreichthum haben, daß ſie auch im Frühjahr, wo ſie durch den thauenden Schnee der Steppe und den Waſſerreich— thum der ſich in ſie ergießenden Bäche bedeutend anſchwellen, durch Auflöſung des am Boden befindlichen Salzes doch ſtets mit einer concentrirten Soole erfüllt ſind; theils nur im Sommer ſalziges, bei hohem Waſſerſtande im Frühjahr aber trinkbares Waſſer enthalten. Sie ſind im Sommer in der Regel nur ein bis einige Fuß tief und trock—

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nen dann auch wohl ganz aus, in welchem Fall die Salzpfützen nur eine dünne Rinde Salz ablagern, während die Salzſeen ſtets am Boden eine mehr oder weniger dicke Salzlage haben. Unter dieſen Salzſeen befinden ſich auch viele ſogenannte Bitterſeen, die ſich von den erftern durch ihren relativ größeren Gehalt an Bitterſalz aus— zeichnen, der indeß auch den Salzſeen ſelten fehlt. Dieſe eigenthüm— lichen Bitterſeen (gorkii osera) ſtehen aber den Salzſeen (solonnoi osera) an Größe und Anzahl bei weitem nach.

Zu den bedeutendſten Salzſeen gehört der berühmte Elton— See, der im 49. Grad, in der Breite von Dubowka, an der Wolga und etwa 100 Werſte von derſelben entfernt liegt. Er hat einen Umfang von 47 Werſten, und aus ihm findet die größte Salzge— winnung ſtatt. Ferner der Baskuntſchatskiſche Salzſee oder Bogdo-See, der einige TO Werſte im Süden des vorigen, und der Wolga daher bei ihrer in dieſer Breite ſchon veränderten ſüdöſtlichen Richtung näher als der vorige gelegen iſt; er hat nur 40 Werſte im Umfang, iſt alſo kleiner als der Eltonſee, enthält aber am Bo— den eine dickere Salzlage als dieſer; und endlich der In derskiſche Salzſee, der in Rückſicht der Breite zwiſchen beiden, aber ſchon auf der Oſtſeite der Steppe, einige Werſte jenſeits des Uralfluſſes liegt, und wie der Baskuntſchatskiſche See 40 Werſte im Umfange hat. Zu den ausgedehnteſten Salzpfützen gehören die Chaki im Süd— weſten der Rynpeski, eigentlich mehrere nebeneinander liegende Pfüt— zen, die bei hohem Waſſer zuſammen eine Ausdehnung von 100 und einigen 20 Werften in der Richtung von NW. nach SO. ha— ben, und die Salzpfütze Torlo Kum oder Katmas im Vorden der Rynpeski; hierzu ſind aber auch die beiden nebeneinander liegen— den Seen Kamyſch Samara zu rechnen, im Oſten des vorigen und etwa 120 Werſte vom Ural entfernt, da dieſelben nur im Früh— jahr hohes Waſſer haben, im Sommer aber ebenfalls ſehr eintrock— nen, ſo daß ihr Waſſer dann nicht mehr trinkbar iſt. Sie haben beide eine von N. nach S. lang gezogene Geſtalt und beſtehen eigent— lich aus einer großen Wenge einzelner, durch Canäle verbundener Baſſins, die ſehr ſchilfreiche Ufer haben. Sie enthalten übrigens eine Menge Fiſche, beſonders Hechte und Karpfen. In ihrem Vord— ende ergießen ſich die beiden größten Steppenflüſſe, die beiden

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Uſeen, die am Obſchtſchei-Syrt entfpringen, und die nördliche Steppe in ſüdoͤſtlicher Richtung in einer Entfernung von 20 bis 30 Werſten von einander durchfließen. Der öſtliche Uſeen wird zwar der große und der weſtliche der kleine Uſeen genannt; der letztere iſt indeß eben ſo groß, nur weniger waſſerreich als der erſtere. Sie haben eine Breite von 20 Faden mit 2 bis 6 Faden hohen Thon— ufern, und ihre Niederungen find mit demſelben Geſträuch, wie die Gründe der Rynpeski, bewachſen, dem einzigen Gehölz in dieſer ſonſt ganz waldloſen Oede.

Im Frühjahr ſchwellen ſie durch die Schneewaſſer des Obſcht— ſchei Syrt ſehr an, und treten, durch viele ſchilfreiche Niederungen in ihrem Abfluß gehemmt, nicht allein an dieſen Stellen 20 bis 30 Werſte weit aus, ſondern überſteigen auch noch ihre hohen ſteilen Ufer, wodurch aber die Steppe hier außerordentlich an Fruchtbar— keit gewinnt und auch in den trockenſten Jahren das vortrefllichſte Heu liefert. Aber ungeachtet der großen Waſſermaſſe, die ſie den Kamyſch Samara Seen zuführen, haben dieſe doch keinen Abfluß; ſie verlieren ihren ſämmtlichen Zufluß durch Verdunſtung, und tre— ten nach ihrer Anſchwellung ſogar ſehr ſchnell in ihre früheren en— gen Grenzen zurück; ſie ſtellen demnach im Kleinen daſſelbe Schau— ſpiel dar, wie das Kaſpiſche Meer im Großen. Ein anderer Step— penfluß findet ſich noch oſtwärts von beiden Uſern, er zieht ſich 40 Werſt unterhalb Uralsk von dem Ural ab, und fließt ſüdlich dem flachen und ſeichten Zaghan Nor zu, hängt aber nur bei ho— hem Waſſer mit dem Ural zuſammen; im Sommer vertrocknet er ſtellenweiſe und hat dann ſtinkendes und brakiges Waſſer.

So ſteinlos auch im Allgemeinen die Steppe iſt, ſo finden ſich doch hin und wieder in ihr einzelne Erhebungen feſten Geſteins, die aus meiſt vorherrſchendem Gyps mit Kalkſtein-, Wergel-, Sand» ſtein⸗ und Thonlagen beſtehen, und nach den wenigen Ueberreſten organiſcher Weſen, die man in ihnen bis jetzt beobachtet hat, wohl neuerer, aber nicht gleichzeitiger Bildung zu ſein ſcheinen.

So finden ſich dergleichen Hügel mit anſtehendem Geſtein an dem Inderskiſchen See, den fie an der Nordweſt-, Nord- und Vord— oſtſeite umkränzen, während der übrige Theil des Ufers flach iſt. Sie beſtehen auch vorzugsweiſe aus Gyps, welcher unregelmäßig mit

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Maſſen von Mergel und Thon von verſchiedenen rothen, grünen, bläulichen und ſchwarzen Farben wechſelt. An der nordweſtlichen Seite des Sees findet ſich ein Alaunſchieſer mit ausgewittertem Alaun; an dieſer Seite ſah auch Claus, der Begleiter von Göbel, einen rothen Sandſtein „mit eingeſprengten Muſcheln“ und an einer andern Stelle Pallas einen grauen ſchiefrigen Sandſtein, welcher in faſt ſenkrechten Schichten anſtand. In dem grünen Thone be— merkte derſelbe Naturforſcher hin und wieder Würfel von Eiſenkies, und in dem grauen Thone eine große Menge zerbrochener großer Auſterſchaalen und Belemniten (die Gehäuſe einer gänzlich ausge— ſtorbenen Gruppe von Thieren, welche man Belemnoſepien genannt hat). Auf der Oſtſeite des Sees entſpringt aus dieſen Bergen ein kleiner Fluß, der ſtark geſalzenes Waſſer führt und den See mit Salz ſpeiſt, daher auch wohl in dieſen Bergen anſtehendes Stein— ſalz enthalten ſein muß. Die Berge erheben ſich in ihrer höchſten Kuppe bis zu einer Höhe von 170 Fuß über den See, und ſetzen noch weit nach Oſten in die Steppe fort, während ſie ſich auf der Weſtſeite dem öftlicy abgehenden Arme der Rynpeski anſchließen.

Andere Gypsberge liegen nicht weit von der Mündung des Ural auf ſeiner rechten Seite, 3 bis 4 Werſte nordweſtlich von der Feſtung Gurieff. Es ſind nach Göbel deren 5, die von N. nach S. ſtreichen, 2 bis 3 Lachter hoch und untereinander 100 bis 200 Schritte entfernt ſind. Einer derſelben beſteht hauptſächlich aus gypshalti— gem Thone, die übrigen aus Thonſchiefer und blättrigem braunen Gypſe, der in großen Lagen zu Tage anſteht, und von weißen Gypsadern durchſetzt iſt. Auch der Thonſchiefer iſt von Gypsadern durchzogen; außerdem finden ſich daſelbſt noch Röthel, Mufcheln vom Kaſpiſchen Meere und feſter Kalkmergel. Solcher Thonſchiefer findet ſich noch auf der kleinen Inſel Kamenoi Oſtroff 4 bis 5 Werſte von den Mündungen des Ural. Derſelbe erhebt ſich hoͤchſtens einige Fuß über dem Meere.

Andere Geſteinserhebungen find auf der Oſtſeite der Steppe nicht bekannt, eben ſo wenig kennt man ſie in dem mittleren Theile der— ſelben, doch kommen noch mehrere auf der Oſtſeite vor. Die ſüd— lichſten Punkte finden ſich am Arſagar nicht weit von dem ſüdöſt— lichen Ende des Chaki, und 120 bis 130 Werſte nördlich von Kras—

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nojarsk an der Achtuba. Hier erheben ſich auf einer ungefähr 25 Werſte von SW. nach NO. langen und 5 bis 6 Werſte brei— ten Lehmſteppe eine Menge Gypshügel, deren Zahl ſich auf 50 bis 70 belaufen mag, deren höchſter 65 Fuß über der Steppe erhaben iſt, die aber ſelbſt hier noch 80 bis 100 Fuß höher als das Niveau der angrenzenden Salzſeen liegt. Eine Wenge Geſchiebe von Achat und Bandjaspis finden ſich unter den Alabaſtertrümmern an dem Abhange der Gypsberge, und in der Nähe der angrenzenden Salz— ſeen Kaſpiſche Muſcheln. Etwa 20 Werſte ſüdweſtlich von Arſagar liegt noch ein anderer Gypsberg, Akſchinas, der aber nicht bedeutend zu ſein ſcheint und den Göbel nur erwähnt, ohne ihn weiter zu beſchreiben; wichtiger dagegen iſt der nordweſtlich vorkommende Tſchaptſchatſchi, der durch die großen Waſſen Steinſalz, welche er enthält, ausgezeichnet iſt.

Der Tſchaptſchatſchi bildet eine aus mehreren aneinander ſto— ßenden Hügeln beſtehende längliche Berggruppe, die von einem leh— migen flachen Thale mit verſchiedenen Windungen und Buſen von O. nach W. durchſchnitten wird. Dies Thal iſt etwa 3 Werſte lang und eine halbe Werſt breit und enthält mehrere Teiche mit ziemlich gutem Trinkwaſſer, öſtlich aber einen flachen Salzgrund. In den Hügeln liegt das Steinſalz, nach dem, was man ſehen kann, in großen Neftern, und iſt namentlich an der Oſtſeite des Salzſees in einem großen Abſturze zu ſehen; doch möchten, bemerkt Prof. Roſe, wahrſcheinlich dieſe ſo hoch in der Steppe vorkommenden ein— zelnen ſichtbaren Maſſen nur die obern Theile einer größeren und mächtigeren Maſſe fein, die in größerer Tiefe anſteht. Da wegen des ſchweren Transportes dieſes Steinſalzes zur Wolga und des übrigen großen Salzreichthums der Steppe daſſelbe von den Ruſſen nicht benutzt und nur von den Kirgiſen und Kalmüken hin und wieder davon gebrochen wird (von den Kalmüken ſchreibt ſich auch ſein Name her, der in ihrer Sprache einen Ort bedeutet, wo man etwas mit dem Beil haut), ſo iſt auch ſein eigentliches Vor— kommen nicht gekannt. Nach Göbel beſtehen die Hügel, in welchen das Steinſalz liegt, meiſt aus Sand; nur an einer Stelle beobad)- tete er über einer Salzmaſſe eine Lage feſten Sandſteins, außerdem fand er Gerölle von Thonſchiefer, Feldſpath, Kieſel, Brauneiſenſtein

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und Kaſpiſche Mufcheln, nie aber Gyps; dagegen nennt Pallas das kleine Gebirge im Allgemeinen ein kalkſchiefriges, welches ſich oft gypshaft zeige, und mißt ihm die größte Aehnlichkeit mit dem In— derskiſchen Gebirge bei. Das Steinſalz von Tſchaptſchatſchi iſt nächſt dem von Ilezk das einzige Steinſalz, welches man im ruſ— ſiſchen Reiche kennt; wenn gleich daſſelbe wegen der vielen Salzſeen der Steppe und der denſelben zufließenden Salzbäche noch an vielen Orten zu vermuthen iſt.

Am intereſſanteſten aber ſowohl durch die Beſchaffenheit ſeiner Maſſen, als auch durch feine Höhe iſt der nördlichſte Berg der Steppe, der Bogdo-Berg, der der Wolga am nächſten, unmittelbar im SO. des Baskunsſchatkiſchen Salzſees liegt. Dieſer Berg, deſſen vollſtändige Benennung bei den Kalmüken Bogdo-Ola iſt, hat ſeinen Namen von dem kalmükiſchen Wort Bogdo (erhaben, göttlich); denn die Kalmüken halten ihn für heilig und kommen weit und breit herbei, um an ihm zu opfern. Er hat ungefähr die Geſtalt einer dreiſeitigen Pyramide, die ſich über einer Baſis erhebt, deren eine Seite parallel mit dem Streichen der Schichten des Berges von NO. nach SW. läuft, während eine zweite eine nordſüdliche, die dritte eine oſtweſtliche Richtung hat. Die öſtliche und ſüdliche Seite dieſer Pyramide fällt ſteil ab, die nordweſtliche aber erhebt ſich ganz allmälig, ſtellt indeſſen nicht eine vollkommene gerade Ebene dar, ſondern iſt in der Witte eingeſenkt, ſo daß ſich hier ein flaches Thal mit einem Bache bildet, das gegen 3 Werſte in nordweſtlicher Rich— tung lang, zuletzt mit einer Krümmung gegen Norden zum See abfällt. Dieſer Bach iſt ſalzig und der einzige Zufluß des Sees. Die Spitze des Berges, die ſaſt ganz an der öſtlichen Seite liegt, hat eine Höhe von 541 Fuß über dem See und von 621 Fuß über dem Kaſpiſchen Weere. Von ihr herab gehen an der öſtlichen Seite des Berges eine Wenge tiefer Schluchten und Waſſerriſſe, und dieſer Seite gegenüber liegt noch eine kleinere, von der größeren wie abgeriſſene Felsmaſſe, wie auch mehrere andere Hügel ſich an der ſüdlichen Seite finden, zwiſchen denen eine Wenge Erdfälle und Einſenkungen des Bodens zu ſehen ſind.

An den ſteilen, beſonders öſtlichen Abhängen ragen die Schich— tenköpfe der Geſteinsmaſſen, woraus der Berg beſteht, hervor, daher

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dieſe auch hier am beſten zu erkennen find. Sie beſtehen zu unterft aus einem groben graulichweißen Sandſtein, der in dicken Schichten abgeſondert iſt, die unter einem Winkel von 35 bis 40° gegen den Berg einfallen, und in deſſen Außenſeite durch Einwirkung der At— moſphäre eine Wenge Riſſe und Höhlen entſtanden ſind. Auf die— ſen Sandſtein, der den Fuß des Berges bildet, folgen Schichten von einem rothen und grünlichgrauen ſandigen Thon, die mit einander wechſeln. Sie machen die Hauptmaſſe des Berges aus, und geben ihm von der Oſtſeite ein geſtreiftes Anſehen. Der Thon iſt mit Steinſalz durchdrungen und enthält davon zuweilen fauſtgroße Stücke von großer Reinheit eingeſchloſſen; ebenſo kommt darin auch blätt— riger Gyps eingewachſen vor. Die Tagewaſſer haben auch in ihm oft große Auswaſchungen hervorgebracht. Auf die Thonlagen folgt dann ein graulichweißer, in ziemlich großen und dicken Flieſen bre— chender Kalkſtein, der voll Verſteinerungen iſt und bis zum Gipfel reicht. Die dem Bogdoberg öſtlich vorliegende Felsmaſſe beſteht aus denſelben Geſteinen, nur iſt der Sandſtein vorherrſchender.

Unter den Verſteinerungen des Kalkſteins konnte Pallas, einen wohlerhaltenen Ammoniten ausgenommen, nichts deutliches erkennen. Neuerdings ſind aber einige dieſer Verſteinerungen von Leopold von Buch an einem Stücke dieſes Kalkſteins, das ſich in der königlichen Sammlung in Berlin befindet, beſtimmt worden. Buch erkannte darin einen neuen Ammoniten, den er Ammonites Bogdoanus nannte. Der Kalkſtein des Bogdoberges gehört zur Formation des Wuſchelkal— kes, und das vereinzelte Vorkommen des Wuſchelkalks iſt, wie L. v. Buch bemerkt, ein ſehr merkwürdiger Umſtand, da der Muſchelkalk— ſtein in Rußland gar nicht gekannt iſt, und im Weſten fortgehend erſt jenſeits der Weichſel angetroffen wird.

Bei meinen Wanderungen in den Schluchten des Bogdoberges, erzählt Goebel), gelangte ich auch zu derjenigen, in welcher die Kalmüken ihren Göttern Opfer und Gebete darbringen und in welche ſie bei ſolchen Gelegenheiten kleine Wünzen und andere Gegen— ſtände werfen. Ein hoher ſattelförmiger Thonrücken ſcheidet da—

*) Reiſe in die Steppen des ſüdlichen Rußlands, von Fr. Goebel,

Prof. der Chemie und Pharmazie zu Dorpat ze. ꝛc., in Begleitung der Herren Dr. C. Claus und A. Bergmann. 2 Theile. Dorpat, 1838.

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felbft zwei vom Regen tief ausgehöhlte Schluchten von einander, deren Wände mit grauem Sandſteinfelſen und davon abgeriſſenen großen Blöcken beſetzt ſind, die, zum Theil verwittert, eine Menge Riſſe und Höhlungen enthalten und wild verworren umherliegen. Es lagen mehrere hundert mit tunguſiſcher Schrift verſehene, ſehr ſauber beſchriebene Zettel von weißem und blauem Papiere umher, von der Größe eines Octapblattes, und an einer der größeren Oeff— nungen des Felſens lag auch ein großes Stück Leinwand, auf bei— den Seiten gleichergeſtalt beſchrieben. Ich ſteckte mehrere dieſer Zettel zu mir, das große Leinwandſtück konnte ich jedoch nicht mit mir nehmen, da ich mich ſchon mit einer Wenge Naturalien bepackt hatte, und einen zweiten Beſuch dieſer Stelle geſtattete mir meine Zeit nicht. Bei meiner Zurückkunft erfuhr ich, daß die Kalmüken vor einigen Tagen eines ihrer Hauptfeſte in dieſer Schlucht gefeiert hätten, wobei ſie dieſe von ihren Prieſtern geſchriebenen Zettel mit andern Gegenſtänden auszuſtreuen pflegen. Wehrere hundert Werſte weit finden ſie ſich zu dieſem Feſte ein, wobei ſie die Schlucht am Abende mit einer Wenge kleiner Fettlämpchen erleuchten. Die Kuppe des Berges, wo ich meine barometriſchen Beobachtungen anſtellte, wagt indeß kein Kalmük zu betreten, und iſt dazu weder durch Ge— ſchenke noch durch Drohungen zu bewegen. Ein Kalmük, der im Koſakendienſte hier ſtationirt war, erwiederte auf meine desfallſige Anfrage: „Wie könnte ich eine ſo ſchwere Sünde begehen und auf meinen Gott treten!“

Nordweſtwärts, 20 Werſte vom großen Bogdo, jenſeits des Baskuntſchatskiſchen Salzſees findet ſich noch ein kleinerer Bergrük— ken, der bei einer Länge von einer Werſt ſich nur bis zu einer Höhe von 113 Fuß über der Steppe erhebt; derſelbe ſtimmt aber nach den Nachrichten, die Claus darüber mitgetheilt hat, in feinem Streichen und den übrigen Verhältniſſen gänzlich mit dem großen Bogdo über— ein, daher er nicht allein mit dieſem zu einer und derſelben Forma— tion gehört, ſondern ſogar nur als ein Theil deſſelben anzuſehen iſt.

Ueber die Entſtehung dieſer Berge iſt in jener Gegend folgende Sage verbreitet“): Der große und der kleine Bogdo, erzählt man,

) Dieſelbe iſt im ruſſiſchen Journal des Miniſteriums des Innern mitgetheilt.

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exiſtirten in früheren Zeiten nicht. Ihre Entſtehung hatte folgende Veranlaſſung: Einſt pilgerten zwei heilige Männer zum Bogdo— Ola (heiligen Berg), der in China liegt, um dort zu beten. Sie hatten dies glücklich vollbracht und dachten an ihre Rückkehr. Dank— erfüllten Herzens beſchloſſen ſie in die Heimath wenigſtens einen kleinen Theil dieſer wunderthätigen Erde mitzunehmen. Sie füllten deshalb jeder einen Beutel mit Erde von dem großen Berge, nah— men ihn auf den Rücken und wanderten der Heimath zu. Aber bevor es ihnen vergönnt war dieſelbe zu erreichen, erlag der Eine der Laſt, die er bisher in frommem Eifer ſo weit getragen. Er fiel und ſtarb, und als die heilige Erde den Boden berührte, erhob ſich ein Berg aus derſelben. Es war dies der kleine Bogdo im Lande der Kirgiſen. Die Kräfte des andern Reiſenden waren größer. Er wandelte weiter, erreichte die Grenze des von den Kal— müken bewohnten Landes und trug die heilige Laſt noch zehn Werſt weiter, wo er ſie alsdann, als die Kräfte verſagten, ablegen mußte. Da entſtand der große Bogdo. Der Pilger, noch voll Schmerz und Ermüdung, murrte darüber und ſtürzte ſich dann im Gefühl der Reue über dieſe mit ſeinem heiligen Werke ſo wenig im Einklang ſtehende Sünde von der Höhe des Bogdo auf die Felſen des öſtli— chen Abhanges, welche er weithin mit ſeinem Blute röthete.

Die rothen Blumen, welche denſelben Abhang beſonders zahlreich ſchmücken, ſind für die Kalmüken noch jetzt ſtumme Zeugen jenes einſt vergoſſenen Blutes. Sie bewahren deshalb eine heilige Scheu vor dem Gipfel des Bogdo und erſteigen ihn nie. Der höchſte Punkt, bis zu dem ſie ſich wagen, iſt der Schlangenberg, eine Erhöhung auf dem öſtlichen Abhange des Bogdo, wo er ſich mit ſeinem ſüd— lichen Theil nach Weſten wendet. Dieſe Erhöhung erhebt ſich nur zwei Saſchen über den Bergrücken in der Form eines Kraters mit trichterförmiger Oeffnung. Der Name „Schlangenberg“ ſoll von dem Umſtande herrühren, daß ſich in der Vertiefung dieſer Erhöhung viel Schlangen fänden. Zu dieſem Schlangenberg wall— fahrten die Bewohner der Umgegend und ferner Länder. Beſon— ders zahlreich kommen die Pilger von den Ufern der Wolga, die nach gethanem Gebet dem Berggeiſt kleine Geldmünzen darbringen, welche ſie unter Steinen verbergen, um ſie vor den geldgierigen

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Blicken der Kirgiſen und Kalmüken zu ſichern. Den Berggeiſt be— trachten ſie als den Bewohner des ihnen heiligen Bogdo, zugleich aber auch als Urheber des inneren Getöſes, das ſich nicht ſelten auf demſelben hören läßt. ö

Nördlich vom großen Bogdo, 15 Werft von feinem Fuße, liegt der ſchon erwähnte gewaltige Salzſee, der bei den Ruſſen und Kir— giſen der Baskuntſchatskiſche heißt, bei den Kalmüken aber Bogdoin— Dobaſſu d. i. Hundskopf, welcher Vamen von einem Hunde herrühren ſoll, der im See umkam, durch das Salzwaſſer aber gegen Verwe— ſung geſchützt, lange in demſelben verblieb, und ſich immer wieder zeigte, beſonders bei windigem Wetter. Das ruſſiſche Journal des Minifteriums des Innern *) giebt folgende Beſchreibung des Salzſees:

Der See bildet ein verlängertes Oval mit einem Längendurch— meſſer von 9 Werft in der Richtung von Norden nach Süden, einem Breiten-Durchmeſſer von 6 Werſt in der Richtung von Oſten nach Weſten und einem Umfang von 42 Werſt (Prof. Roſe nimmt ſeinen Umfang um 2 Werſt geringer an). Die meiſt ſenkrechten Ufer ſind von verſchiedener Höhe, im Süden und Norden von 2 Saſchen, im Weſten von 4 und von ganz unbedeutender Höhe im Oſten. Die Ufer bildet röthlicher Lehm, nur das weſtliche hat ſtellenweiſe Gyps. Bei ruhigem nicht zu heißem Wetter iſt der See gewöhnlich voll. Das Waſſer hat einen ſtarken Salzgeſchmack und die Farbe des Meeres. Die Tiefe des Sees iſt unbedeutend. Sie beträgt im Mittel nur 10 Werſchok (17, 5 E. 3). Der Boden des Sees iſt eben, hart wie Stein, und von weißer Farbe. Durch das Durch— ſcheinen des hellfarbigen Grundes erſcheint auch das Waſſer bei ru— higem Wetter ſchneeweiß, bei vollkommen reinem Himmel bläulich, bei windigem Wetter grünlich und wenn es regnet, ſtark grau ſchat— tirt. Die verſchiedene Tiefe des Waſſers hängt zunächſt von den Winden ab. So z. B. ſtaut der Südwind das Waſſer um mehr als 2 Arſchin am nördlichen Ufer und ſo in gleicher Weiſe der Nord⸗Oſt⸗ und Weſtwind an den entgegengeſetzten Ufern. Eigen— thümlich iſt das Getöſe, welches gehört wird, wenn der See unruhig iſt; zum wenigſten unterſcheidet es ſich merklich von dem Getöſe in Flüſſen und Seen mit ſüßem Waſſer. Die um den See wohnen— S. Erman's Archiv. Bd. 9.

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den Ruſſen nennen fein Salz-Waſſer Rapa, die Tataren Tusluk. Bei anhaltend trockenem Wetter bietet der See eine eigenthümliche Erſcheinung. Sein Waſſer verſchwindet nämlich in kurzer Zeit gänz— lich, theils durch Verdunſtung, theils durch Bildung der ſich aus ihm ablagernden Salzkryſtalle. Zuweilen find kaum 24 Stunden zu dieſem Hergange erforderlich. Alsdann zeigt ſich dem Auge eine aus feſter Salzmaſſe gebildete, völlig ebene, ſchneeweiße Fläche, die mit einer Wenge feſtangewachſener Salzkryſtalle bedeckt iſt; dieſe ſind ſo friſch, daß man an ihrer unlängſtigen Entſtehung nicht zwei— feln kann. Den fo ausgetrockneten See zu Fuße zu paſſiren iſt wegen dieſer Kryſtalle, die den Boden uneben und rauh machen, nicht gut möglich; eher noch kann man ihn durchreiten, was Kir— giſen und Kalmüken auch zuweilen thun. Ueber die Stärke der den Boden bildenden Salzlage weiß man zwar wenig Beſtimmtes, ſie muß aber nach den Ergebniſſen der von der Regierung eigens zu dieſem Zwecke angeſtellten Unterſuchungen ziemlich bedeutend ſein. Gegen das ſüdliche Ufer nimmt ſie ab, ja unmittelbar in der Nähe deſſelben iſt die Salzſchicht nur äußerſt dünn. Der Boden beſteht hier aus einem grauen oder blaugrauen weichen Lehm von ſtark ſalzigem Geſchmack, der mit der Tiefe immer mehr zunimmt, ſo daß zuletzt der Lehm ganz in eine Salzſchicht überzugehen ſcheint. Um den See Baskuntſchaz herum liegen mehrere in der Landes— ſprache „Balki“ genannte Bodeneinſchnitte oder Schluchten, von denen einige Höhlen und Quellen mit ſüßem Waſſer enthalten. Beſonders bekannt iſt eine Schlucht an der öſtlichen Küſte des Sees, von den Kirgiſen Karaſſu genannt, d. i. Schwarz-Waſſer (wahr- ſcheinlich von dem ſchmutzigen, wenig ſalzigen Waſſer, womit der Boden dieſer Schlucht bedeckt iſt) und eine andere, 2 Werſt vom weſt— lichen Ufer des Sees und 20 vom Bogdo entfernt, die in einer unterirdi— ſchen Grotte von 2Saſch. Länge, Höhe und Breite ſüßes Waſſer enthält.

Goebel beſuchte den Salzſee in einer Telege, die mit ein paar Koſakenpferden beſpannt war, während mehrere Koſaken, mit Brech— ſtangen verſehen, folgten. Einige hundert Schritt vom Ufer ab, er— zählt Goebel, fährt man auf feſtem mit Salz getränkten Sande; hierauf bedeckt eine geſättigte Salzlage den Boden und es nehmen die Salzablagerungen ihren Anfang. Die Salzdecke war anfangs

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dünn und zerbrach unter dem Hufe der Pferde und unter den Rä— dern der Telege; allein es fand kaum ein 1 Zoll tiefes Einſinken ſtatt, da der mit Kochſalz getränkte Sand eine ziemlich feſte Beſchaffen— heit zeigte. Je weiter man nun in den See gelangt, um ſo feſter wird auch die Salzdecke, und einer ungeheuren Eisfläche ähnlich, glatt und glänzend, ſchimmert dieſelbe, beſonders bei Sonnenbeleuch— tung unter der klaren Lauge hervor, ſo daß auch Pferde und Rä— der beſtändig wie auf hartem Eiſe ausglitſchen. Schon hundert Schritte nach dem Beginn der Salzdecke in den See hinein konnte mit den Brechſtangen die Tiefe des abgelagerten Salzes nicht mehr erforſcht werden, und nach Ausſagen eines alten mit der Beſchaf— fenheit des Sees ſehr vertrauten Arbeiters ſoll man noch viel näher nach dem erſten Anfange der feſten Salzdecke zu die Tiefe der Salz— lagen nicht mehr erreichen können. Nach der Ausſage deſſelben Wannes ſollen ſich gegen die Witte des Sees mehrere Oeffnungen befinden, deren Seitenwände aus Salz beſtehen und die ſich im Sommer mit einer Salzkruſte bedecken, welche ſich aber im Früh— jahr, wo ſich das Schnee- und Regenwaſſer aus der Steppe in den See ergießt, wieder auflöſt. Die Tiefe dieſer Oeffnungen wußte er nicht nach einem beſtimmten Waßſtabe anzugeben, ſondern ſagte nur mit der den gemeinen Ruſſen eigenthümlichen Betonung, wenn ſie auf etwas Gewicht legen, otschen gluboko, d. h. ſehr tief, ſehr tief, Der Durchmeſſer der Oeffnungen ſoll ein bis drei Faden betragen. Unterhalb bis zwei Werſte vom Ufer ließ Goebel halten, Salz brechen und Lauge zur chemiſchen Unterſuchung ſchöpfen. An den gebrochenen Schichten konnte man deutlich die jährlichen Ablagerun— gen wahrnehmen. Die oberſte diesjährige beſaß eine weiße Farbe und war 4 Zoll dick. Später im Sommer ſoll die Dicke jedoch bis auf 2 bis 3 Zoll anwachſen. Die übrigen darunter befindlichen Ablagerungen beſaßen nur die Dicke von ein bis zwei Linien, denn im Frühjahr und Spätherbſte, wo ſich das atmoſphäriſche Waſſer im See anſammelt, wird der größte Theil wieder gelöſt. Jede Jahres— lage war durch einen ſchmalen kaum wahrnehmbaren grauen Strich von der andern geſondert. Zwiſchen der fünften und ſechſten Jah— reölage befand ſich eine + Linie dicke lockere Sandſchicht, welche Herbſt- und Frühjahrsſtürme in den See geweht haben mögen.

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Das Baskuntſchatskiſche Salz war früher Gegenſtand eines Han— dels, von dem die um den See wohnenden Kalmüken und Tſcher⸗ nojarzen einen nicht unbedeutenden Gewinn zogen. Jetzt hat die Regierung den Salzbetrieb übernommen. Zu dieſem Zwecke befin— den ſich unmittelbar am See (früher am Ufer der Achtuba) die nöthigen Einrichtungen unter der Aufſicht zweier Salinenbeamten, denen ein aſtrachanſches Koſaken-Kommando zu Wach- und andern Dienſten untergeben iſt.

Auch der Salzſee iſt der Gegenſtand mannigfaltiger Sagen. Wir übergehen dieſe und theilen hier nur noch folgende allgemein verbreitete Erzählung mit, welche die Bewohner jener Gegend tref— fend charakteriſirt. Vor etwa S Jahren ritt ein Koſak durch die früher erwähnte Schlucht Karaſſu und gedachte, da es heiß war und er in der Schlucht Waſſer bemerkte, ſein Pferd daſelbſt zu tränken. Er ſtieg ab und ließ es frei in das Baſſin treten. Kaum aber war das Pferd bis etwa in die Witte deſſelben gekommen, als plötzlich der ſchlammige Boden unter ſeinen Füßen wich und es verſank. Der Koſak eilt ſofort zu Hülfe, überzeugt ſich jedoch bald, daß er allein wenig ausrichten könne und lief daher in's be— nachbarte Dorf, um einige Leute herbei zu holen. Man kam mit Stangen und Stricken aber das Pferd fand man nicht. Es war ſpurlos verſchwunden. Nach anderthalb Monaten erſt ward es mit Sattel und Zaum wunderbarer Weiſe in einem kleinen Fluſſe entdeckt, welcher ſich 50 Werſte von dem Ufer des Sees in die Achtuba ergießt.

Was die Bewohner dieſer Wüſten anbetrifft, ſo beſtanden dieſe früher ſowohl hier als auf der Weſtſeite der Wolga aus Kal— müken, die in der Steppe ein Vomadenleben führten. Seitdem aber die auf der Oſtſeite der Wolga wohnenden Kalmüken ſich der ruſſiſchen Herrſchaft durch die bekannte Flucht im Jahre 1770 ent— zogen und nach der chineſiſchen Songarei ausgewandert waren, blieb die Steppe hier eine Zeit lang verlaſſen, bis ſie von mehreren Stäm— men der Kirgiſen der kleinen Horde eingenommen wurde, die ſich in Folge innerer Zwiſtigkeiten der ruſſiſchen Herrſchaft unterwarfen.

Ein ruſſiſches Journal“) berichtet über die kleine oder die innere Kirgiſenhorde, wie fie jpäter genannt wurde, Folgendes: ) S. Magazin für die Lit. des Ausl., Jahrg. 1842 Nr. 82.

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Die Kirgis-Kaiſaken, welche das Gouvernement Aſtrachan be— wohnen, ſtehen ſeit dem Jahre 1801 unter ruſſiſcher Botmäßigkeit, und zwar kamen dieſelben von jenſeit des Ural, unter Bukei-Nurali— Chan, dem Vorgänger und Vater des gegenwärtigen Chans, mit nicht mehr als tauſend Kibitken über die Gränzen von Aſtrachan. Der kaiſerliche Ükas, welcher ihnen die Genehmigung zur Anſiede— lung ertheilte, wurde vom Kaiſer Paul L am 11. März 1801 er⸗ laſſen und die Leitung dieſes Volkes nach dem Tode Bukeis, wegen der Winderjährigkeit ſeines Nachfolgers, des jetzigen Chans, General— Major Dſchangir-Chan“), von Sagai-Sultan, dem Bruder des verſtorbenen Bukri-Chans verwaltet.

Das Lager oder der Aufenthalt des Chans der inneren Kir— giſen⸗Horden befindet ſich im Gouvernement Aſtrachan, im Tſcher⸗ nojarskiſchen Kreiſe, in dem Diſtricte Naryn-Peski, 300 Werſte von Aſtrachan und 800 von Orenburg. Das ihm untergebene Volk no— madiſirt in vier Gegenden umher:

J) an den Ufern des ſchwarzen Meeres,

2) an den Gränzen des Gouvernements Saratow,

3) in der Gegend Kamyſch-Samarſch genannt,

4) nahe an der Gränze des Gouvernements Orenburg, zwiſchen den Flüſſen Bolſcha und Klin Usden.

Die Seelenzahl der inneren Kirgiſen-Horde mit Genauigkeit anzugeben iſt unmöglich; denn die Kirgiſen ſind, wie alle Nomaden⸗ Völker, an bürgerliche Ordnung nicht gewöhnt, und Jedermann iſt vorzüglich bemüht, ſich der Namen-Aufzeichnung zu entziehen. Wenn man aber die Zahl der Kibitken (16,000) zu Grunde legt und annimmt, daß durchſchnittlich 3 Seelen in jeder Kibitke leben, ſo kann man mit ziemlicher Gewißheit annehmen, daß die Volksmenge gegen 50,000 Wenſchen beträgt. Ihr Haupt-Subſiſtenzmittel iſt die Viehzucht, deren Beſtand ungefähr gegen 90,000 Kameele, 150,000 Stück Hornvieh, 400,000 Pferde und 2,000,000 Schafe umfaßt. Aus den in der Kanzlei des Gouvernements vorhandenen Nachrichten iſt erſichtlich, daß der Chan und die ihm unterthä— nigen Kirgiſen im Jahre 1841 460 Kameele, 12,000 Stück Horn⸗

) Chan⸗Dſchangir, mit dem auch unſere Reiſenden ſpäter zufammıen- trafen, iſt vor mehreren Jahren noch im kräftigſten Mannesalter geſtorben.

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vieh, J000 Pferde und 145,000 Schafe verkauft haben. Feinſchü— riges Schaſpieh beſitzt die Horde jedoch nicht.

Die Kirgiſen theilen ſich in zwanzig verſchiedene Stämme und werden durch beſonders eingeſetzte Häupter jedes Stammes Sultane oder Chodſchi regiert, welche Erbrecht und beſondere Vorrechte vor dem gemeinen Volke haben.

Die oberſte Gewalt eines Richters und Herrſchers hat in allen Zweigen der Verwaltung, nach dem muhammedaniſchen Geſetz und den Gebräuchen der Kirgiſen auf Grund der kaiſerlichen Urkunde vom 22. Juni 1823, der Chan. Zur leichteren und ſchnelleren Er— ledigung der Angelegenheiten iſt aber auf Befehl des Kaiſers dem Chan noch ein Divan oder Rath beigegeben, welcher aus den zwölf angeſehenſten Horden-Häuptern oder Räthen, aus jedem Stamme einer, beſteht, die alle gegenſeitigen Klagen der Kirgiſen und weniger bedeutende Vergehen erledigen. Aber auch der Horde fremde Per— ſonen wenden ſich bei Prozeß-Streitigkeiten mit den Kirgiſen eben— falls an den Chan.

Die beſondere Verwaltung der Horde beruht ſtammweiſe auf den Sultanen "oder Starſchinas, d. h. Aelteſten. Jeder Stamm hat nämlich ſeinen Sultan, deſſen Ernennung von dem Chan ab— hängt, deſſen Beſtätigung aber durch die Orenburgiſche Gränz-Kom— miſſion erfolgt. Die Starſchinas oder Aelteſten dagegen, deren An— zahl unbeſchränkt iſt, ernennt und beſtätigt der Chan allein. Die Sultane oder Stamm-Oberhäupter ſind verpflichtet, in ihren Stäm— men auf gute Polizei und Ordnung zu halten, die Befehle und Circu— lar⸗Verfügungen des Chans bekannt zu machen und auszuführen, auf deſſen Verlangen zu jeder Zeit die irgend wie erforderlich werdende Anzahl von Leuten zu ſtellen, über die verſchiedenen in dieſer Hin— ſicht nicht gelungenen Unternehmungen zu berichten und die Ent— ſcheidung des Chans hierüber zu gewärtigen, die ihrer Autorität untergebenen Starſchinas zu beaufſichtigen und unbedeutende Pro— zeßſachen eben ſowohl gewiſſenhaft, als mit Einwilligung der Par— teien zu erledigen. Die mit der Entſcheidung des Sultans Unzu⸗ friedenen können das Urtheil des Chans nachſuchen. Zur Geſchäfts— führung iſt jedem Sultan ein Schreiber beigegeben, welcher, vom Militair⸗ Gouverneur von Orenburg beſtätigt, mit einem Gehalt von

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500 Rubel Banko aus dem Geld-Etat des Chans beſoldet wird. Der Inſpectionskreis eines Starſchinas erſtreckt ſich nur über einige Kibitken. Dieſelben haben Streitigkeiten zu ſchlichten, die Ordnung zu erhalten, die durch die Sultane empfangenen Befehle des Chans zu vollziehen und alle bedeutendere Angelegenheiten, welche ſich auf die Religions- und Civil-Gerichtspflege beziehen, durch die Sultane zur Kenntniß des Chans zu bringen.

Den Unterhalt aller über die Kirgiſen eingeſetzten Behörden, Sultane und Starſchinas beſtreitet der Chan oder die Horde, indem die ruſſiſche Regierung hier nichts beiſteuert.

Der Chan veranlaßt, dem muhammedaniſchen Geſetz zufolge, zweimal des Jahres Sammlungen beim Volke: die erſte „Sekatt“ ), im Frühjahr, die zweite „Suggum“ ), im Herbſte. Bei der erſte— ren giebt jeder Beſitzer von 40— 120 Schafen eines, die Beſitzer von 120300 zwei u. ſ. f. an den Chan. Der „Suggum“ beſteht aus frei— willigen Gaben des Volkes von ſeinem Ueberfluſſe für den Tiſch des Chans und ſeine Familie, ſowie einiger anderer Bedürfniſſe, namentlich:

1) zum Unterhalt der täglich aus der Horde beim Chan mit Klagen und zu anderen Gelegenheiten ankommenden Kirgiſen, ſo wie zur Fourage für deren Pferde;

2) zu Geſchenken zur Aufmunterung für die Leute, welche durch

ihre lobenswerthe Aufführung und guten Dienſte dieſelben verdienen;

3) zur Unterſtützung von Armen, welche durch unvorherzuſe— hende Umſtände in ihrer Wirthſchaft zurückgekommen ſind;

4) zur Belohnung von Sultanen und einigen anderen Perſo— nen, welche vom Chan in Angelegenheiten der Horde in der Eigen— ſchaft von Deputirten bei Unterſuchungen oder als zeitliche Verweſer verwendet worden.

*) Sekatt iſt ein arabiſches Wort und heißt Alles, was man den Ar— men giebt oder zu gottgefälligen Werken opfert. Zur Zeit des Ramaſan⸗ Feſtes, wo, nach dem muhammedaniſchen Glauben, der Koran vom Himmel geſendet ward, muß der Muſelmann von je 40 Rubeln ſeines Erbes einen, oder es ſei, was es wolle, anſtatt des Geldes in Werth eines Rubels an die Armen geben und die übrigen 39 zu Ehren Gottes reinigen, wonach der „Sekatt“ die Bedeutung der Reinigung erhalten hat.

**) Suggum heißt bei den Mongolen⸗Tataren die Zubereitung jeder Art von Vieh zur Verpflegung.

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5) zum Unterhalt der Kanzlei des Chans;

6) um bei Ermangelung eigenen Landes daſſelbe für die Vieh— zucht in den nächſten Gouvernements zu pachten.

Alle dieſe Angelegenheiten und Sammlungen werden durch die Starſchinas betrieben, und dieſe erhalten durch den Chan ihre Sub— ſiſtenz; dagegen erhalten die Sultane von dieſen Sammlungen nichts. Für ſie beſteht ein beſonderes „Suggum“ oder Darbrin— gung von Gaben von den vermögenden Leuten der ihnen anvertrau— ten Inſpection.

Eine vollſtändige Sammlung macht der Chan niemals und na— mentlich erfreuen ſich die Unvermögenden feiner Gnade und Vachſicht.

Von den Verbrechen gehören nur drei vor das Forum des Chans: „der Verkauf der Ruſſen in die Gefangenſchaft, Raub und Mord.“ Bei jedem derartigen Ereigniß giebt der Chan ſogleich der nächſten Landes-Polizei-Behörde Kenntniß, indem er von Sei— ten der Kirgiſen einen Deputirten ernennt und gleichzeitig an die Orenburgſche Grenz-Kommiſſion darüber berichtet, welcher alsdann, nach Feſtſtellung der Thatſachen, ſowohl der Verbrecher als die Un— terſuchung überwieſen wird. f

Früher betrachteten ſich die Kirgis-Kaiſaken der inneren Horde in dieſer Beziehung als Ausländer, doch ſind dieſelben jetzt, als un— ter die Autorität des Winiſteriums der auswärtigen Angelegenheiten gehörig, der Orenburgſchen Grenz-Kommiſſion und dem Wilitär-Gou— verneur untergeordnet. Da jedoch die Kirgiſen-Horde auch im De— partement Aſtrachan nomadiſirt, ſo iſt ſie in dieſer Beziehung auch von der Aſtrachanſchen Gouvernements-Behörde abhängig, von wel— cher der Chan für feine Perſon 100 Koſaken und zur Aufrechthal⸗ tung der Ordnung 50 Kalmüken erhält.

In Berückſichtigung der friedlichen Beziehungen dieſer Horde zu den Ruſſen und den mit ihrem Aufenthaltsorte grenzenden An— ſiedlern anderer Nationen kann man aber annehmen, daß die jetzige Art der Verwaltung für das der europäiſchen Civiliſation noch völlig fremde Volk eine dringende Vothwendigkeit iſt.

In dem Lager Dſchangir-Chans fängt jedoch nach und nach Anbau und Gewerbthätigkeit an aufzutauchen. Abgeſehen von den häuslichen und wirthſchaſtlichen Etabliſſements des Chans ſelbſt, ſo

III. 23

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haben auch deſſen Verwandte, die Geiſtlichkeit und einige andere denſelben umgebende Behörden bereits Häuſer. Auch ſind für die im Wai und Juni hier ſtattfindenden Jahrmärkte Buden erbaut, und aus den inneren, ſogar entfernten Gouvernements reiſen Kauf⸗ leute hierher, ſo wie die benachbarten Nomaden-Stämme, und han— deln hier im Frühjahr mit Vieh, im Herbſte aber, wo der Zufluß an Menfchen noch ſtärker ift, mit Waaren, fo daß hier große Ka— pitalien in Umſchwung kommen.

Der Nutzen, welchen die Kirgiſen Rußland bringen, iſt dem— nach, wenngleich nicht zu bedeutend, doch auch nicht geringfügig, und es ſiedeln ſich dieſelben in den weiten, ausgedehnten, ſandigen, un— fruchtbaren Steppen, welche für kein anderes an Anbau und Frucht— kultur des Bodens gewöhntes Volk nur im geringſten von Nutzen wären, nach und nach an, während die Viehzucht der Kirgiſen dem Staate jetzt ſchon nicht geringe Vortheile gewährt.

Auf dem Gebiet, welches die Kirgiſen inne haben, iſt es, wie Goebel erzählt, weder Kalmüken noch Tataren geſtattet ihr Vieh zu weiden, auch nicht gegen Entſchädigung oder Entrichtung eines Tri— buts an den Chan, da nach Verſicherung des letzteren die ihnen an— gewieſene Fläche gerade hinreicht, ſie ſelbſt zu ernähren.

Die Lebensart der Kirgiſen iſt im Ganzen ſehr einfach; Fleiſch von Schafen und Hornvieh, ſelten von Pferden und Kameelen, der Koſtbarkeit wegen, welches ſie mit Waſſer abgekocht, in kleine Stücke zerſchnitten, Biſch-barmak nennen (d. h. fünf Finger, weil ſie es mit den Fingern aus der Schüſſel langen), bilden ihre Haupt— nahrung; doch haben ſie auch geräuchertes Fleiſch, namentlich Pferde— ſchinken und Würſte. Brot kennen ſie gar nicht, und von Wehl— ſpeiſen genießen fie höchſtens mit Waſſer abgekochte Grütze, die fie von den Wolgabewohnern kaufen; doch fehlt in keiner Kibitke der Krut, ein harter Käſe von ſehr unangenehme Geſchmacke. Als Getränk benutzen fie Waſſer, ſüße Milch, Kumiß und Airan.

Von Krankheiten wiſſen ſie in der Regel wenig, und erreichen meiſt ein ſehr hohes Alter. Ueber die Krankheiten und Heilmittel der Kirgiſen erfuhr Goebel von dem Leibarzte des Chans, einem jungen Ruſſen, der in Kaſan ſeine Studien gemacht hatte, daß die Kirgiſen große Freunde vom Aderlaß ſeien, ihn öfters damit

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peinigten und daß beſonders Tataren das Geſchäft des Blutlaſſens daſelbſt beſorgten. Gegen mehrere Krankheiten, beſonders gegen Rheumatismen, wenden fie friſch abgezogene Thierhäute an; gewöhn— lich ſchlachten ſie ein Schaf und wickeln den leidenden Theil in das warme Fell deſſelben. Leidet der ganze Körper, ſo wird auch eine Kuh geſchlachtet, und der nackte Körper in's warme Fell gehüllt. Außerdem haben ſie Zauberer, welche durch Beſprechen, Anhängen von Schlangenköpfen und dergleichen zu heilen ſuchen. Die vorzüg— lichſten Krankheiten beſtehen in der faſt allgemeinen Krätze, gegen welche ſie aber nichts anwenden; in Augenentzündungen, die ſich be— ſonders im Frühjahr zeigen und durch die Blendung der von der Sonne beleuchteten Schneefläche entſtehen; in den Blattern, welche in einzelnen Jahren noch ſehr verheerend wirken ſollen, weil die Kirgiſen gegen die Impfung eingenommen ſind, in Folge eines früher damit gemachten Verſuches, welcher unglücklich ausfiel und das Ein⸗ treten der natürlichen Blattern bei den Geimpften nicht hinderte; endlich, und zwar am häufigſten in Magenübeln, an denen Kinder und Erwachſene leiden. Dies Uebel beſteht in einer ungeheuren An— ſchwellung des Magens und hat feinen Grund im Genuſſe des ſchlechten Waſſers, des nicht ſelten verdorbenen ſchlechten Fleiſches und im übermäßigen Genuß des letztern.

Von den Taranteln werden die Kirgiſen häufig gebiſſen und dieſer Biß ſoll außerordentliches Uebelbefinden, beſonders heftige Bruſtſchmerzen, verurſachen, jedoch ohne tödtliche Folgen bleiben, da es nicht die giftige Tarantel ſein ſoll, die überhaupt nicht in der Steppe vorkommt. Gegen den Biß der Tarantel graben ſie ſich bis zum Halſe in Brunnen ein u. ſ. w. Außerdem haben ſie ihre Zau— berer und Wahrſager, welche, wie ſchon erwähnt, durch allerhand Gaukeleien zu helfen vorgeben. Die Kirgiſen find überhaupt höchſt leichtgläubig, ſo wie ſchwatzhaft und neugierig. Im Allgemeinen ſind ſie gaſtfreundlich, doch rechnen ſie im Stillen auf Wiederver— geltung, die Habſucht iſt ein Hauptcharakter ihres Gemüthes und giebt nicht ſelten Veranlaſſung zu blutigen Streitigkeiten, in welche oft ganze Geſchlechter gezogen werden, ſo daß ſie beinahe in ewiger Fehde leben, denn Selbſtrache (Baranta) iſt nicht nur bei ihnen ge= duldet, ſondern der, welcher ſich durch Glück bei Ueberfällen beſon⸗

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ders auszeichnet, wird von den Andern gepriefen und hochgeehrt. Fürchterlich iſt die Blutrache bei ihnen, wenn Jemand bei Streitig— keiten das Leben einbüßt. Doch ſind ſie im Ganzen nicht tapfer, ſondern mehr feige, kühne Räuber, die ihren Feind durch Liſt oder Ueberrumpelung zu beſiegen ſuchen und die Flucht ergreifen, wenn ſie kräftigen Widerſtand finden. Sie machen darum ihre Ueberfälle und Angriffe meiſt des Nachts. Wit wenigen Koſaken, welche ſie be— ſonders fürchten, kann man daher die ganze Steppe unangefochten durchreiſen. Sie gehören übrigens zu den geſchickteſten und gewand— teſten Reitern, die es nur geben kann. Wit Leichtigkeit erlernen ſie Alles, was auf mechaniſche Fertigkeit beruht. Schon als Knaben lernen fie reiten und den Bogen führen, die Männer aber verbringen ihr Leben mit Beſuchen und Faullenzen, denn den Frauen iſt alle Arbeit aufgebürdet. Dieſe müſſen für den Haushalt ſorgen, müſſen bei Veränderung des Wohnplatzes die Jurte abbrechen und wieder aufbauen und ſind überhaupt die Sclavinnen der rohen Männer.

Der Streifen oſtwärts von der Wolga wird von Kalmüken, Tataren und anderen Völkerſchaften bewohnt, die theils an der gro— ßen Flucht nicht Theil genommen haben, theils von der Weſtſeite der Wolga oder aus andern Gegenden eingewandert ſind. Es be— finden ſich darunter auch 1000 Gezelte Kondurowſcher Tataren, die, früher kalmükiſche Unterthanen, bei der Kalmükenflucht zurückgeblie— ben ſind, und 260 Kibitken Truchmenen, die mit Erlaubniß des Kaiſers Alexanders 1812 von der Oſtküſte des Kaſpiſchen Weeres eingewandert ſind.

Der Strich, oſtwärts von dem kleinen Uſeen und den Kamyſch— Samara Seen, gehört noch den uraliſchen Koſaken, die an der lin— ken Seite des kleinen Uſeen mehrere Vorpoſten haben, unter denen der wichtigſte Glininoi, am Einfluſſe des kleinen Uſeen in den weſt— lichen Kamyſch-Samara Seen iſt, die aber auch vom Ural häufig nach den beiden Uſeen und den Kamyſch-Samara Seen kommen, theils um in dieſen fiſchreichen Gewäſſern Fiſchfang zu treiben, theils ‚um an den Ufern der Uſeen Heu zu machen, theils um Salz aus mehreren Seen zwiſchen dieſen beiden Flüſſen zu holen.

Hanſteen bemerkt, die ruſſiſche Regierung, welche bei dem un— ruhigen Charakter der Kirgiſen ihr Verbleiben auf der Steppe habe

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fihern wollen, habe deshalb den uraliſchen Koſaken den breiten Strich Landes zwiſchen dem Uralfluſſe und dem an die Kirgiſen abgetretenen Steppentheil überlaſſen, damit ſie dieſelben bewachten und daran verhinderten, ſich auf die Oſtſeite des Ural zurückzuzie— hen. In der That ſollen auch die Kirgiſen einen derartigen Verſuch gemacht und ihre Kameele mit den Kibitken beladen haben, um nach Oſten über den Ural zu ziehen; da ſie aber auf ihrem Zuge einem Cordon gut bewaffneter Koſaken begegneten, während ſie ſelbſt un— bewaffnet waren, ſo kehrten ſie, nachdem einige Schüſſe gefallen wa— ren, um und verhielten ſich fernerhin ruhig.

Bei dem ſtarken Verkehr zwiſchen Glininoi und dem Ural geht ein eingefahrener Weg von dieſem Orte theils nach Kalmykowa, theils nach Mergeneff am Ural. Von Glininoi geht dann ein Steppen— weg direct nach Aſtrachan durch die Rynpenski bei dem Tſchapt— ſchatſchi vorbei nach der Achtuba, ein anderer führt weſtlich zur Wolga, von Glininoi zuerſt im Norden der Rynpeski entlang nach der Wohnung des Chans, von da zum Elton-See und dann ent— weder nach Dubowka oder Kamyſchin an der Wolga. Den erſten Weg nahm Pallas im Frühjahr 1773 und vollendete ihn mit ge— mietheten Pferden in 16 Tagen, den letztern legte Goebel 1834 in umgekehrter Weiſe von der Wolga zum Ural zurück, und vollendete ihn in viel kürzerer Zeit, hatte ſich aber dabei der größten Unter— ſtützung von Seiten des Chans zu erfreuenm, der ihm nicht allein von ſeiner Wohnung Pferde bis zum Elton-See entgegenſandte, ſondern ihn auch durch die Steppe bis nach Glininoi geleiten ließ. Dieſelben Unterſtützungen würden auch unſere Reiſenden von Seiten des Chans erhalten haben, wenn es bei der Kürze der Zeit nur möglich geweſen wäre, ihn davon zu benachrichtigen; und ohne Vor— bereitung aufs Gerathewohl ſich der Steppe anzuvertrauen, in der Hoffnung von Zeit zu Zeit Kirgiſen-Aule anzutreffen, von denen man Pferde miethen könnte, ſchien Humboldt doch zu mißlich, wie— wohl Herr Karelin, der zu dieſer Reiſe nach Kräften zuredete, ſich von freien Stücken anbot, die Reiſenden bis zum Chane zu begleiten und ſie mit ſeiner Erfahrung zu unterſtützen, da er dieſen Weg ſchon mehrmals gemacht habe.

So blieb alſo nichts übrig, als die Steppe zu umfahren. Dies

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kann aber auch auf zweierlei Weiſe geſchehen; indem man ſowohl nördlich als ſüdlich die Steppe umfahren kann. Der nördliche Weg iſt zu gleicher Zeit der Poſtweg, er geht von Orenburg zuerſt nach Buſuluk und Samara, wo er die Wolga trifft, und dann an dieſer entlang, über Saratow und Sarepta nach Aſtrachan. Dieſen Weg zurückzulegen hat keine Schwierigkeiten; da er aber von Orenburg erſt nordweſtlich geht, und die Wolga von Samara in einem großen nach auswärts gekehrten Winkel nach Süden fließt, ſo führt er nur auf einem ſehr großen Umwege nach Aſtrachan. Der zweite Weg iſt kürzer, er geht an der mittleren und unteren uraliſchen Linie ent— lang über Uralsk nach Gurjeff an der Mündung des Ural, und dann entweder zu Schiffe auf dem Kaſpiſchen Meere oder auf dem Cordon an der Küſte entlang nach Aſtrachan. Auch dieſer Weg hat bis Gurjeff keine Schwierigkeiten, wohl aber deſto größere von da weiter bis Aſtrachan. Ihn zu Schiffe ausführen zu können, war unwahrſcheinlich, da auf ſolche Schiffe, wie ſie zum Transport der Wagen nöthig geweſen wären, in Gurjeff nicht zu rechnen war; die Reiſe hätte ſo nur auf einem Fahrzeuge zurückgelegt werden fonneg, das von Aſtrachan nach Gurjeff eigens zur Aufnahme der Reiſenden abgeſandt worden wäre, und bei dem Wege auf dem Cor— don war zu befürchten, daß fie auf den Koſakenpoſten, die beſonders von Gurjeff aus in ſehr weiter Entfernung von einander ſtehen, nicht die für ihre Wagen nöthige Anzahl Pferde finden würden, der Schwierigkeiten nicht zu gedenken, welche das Ueberſetzen mit den Wagen über die vielen Arme, in welche die Wolga vor ihrer Mündung ſich zertheilt, unfehlbar gehabt haben würde. So blieb den Reiſenden alſo nur der nördliche Weg übrig, der, wenn er gleich auf großem Umwege zum Ziele führte, doch der einzige war, der eine ſichere Rechnung zuließ; worauf es bei der vorgerückten Jah— reszeit Humboldt beſonders ankam, und dieſer wurde dann auch nun gewählt. Um aber doch noch Uralsk, den Hauptſitz der ura— liſchen Koſaken, kennen zu lernen, beſchloß Humboldt, zuerſt den Ural abwärts bis zu jener Stadt zu gehen, und dann erſt in Bu— ſuluk die große Straße einzuſchlagen.

Druck von G. Bernſtein in Berlin.

Inhalt.

Erſtes Buch. Erſtes Kapitel.

Veranlaſſung zur Reiſe. Abreiſe von Berlin. Bemerkungen über den Bernſtein. Ankunft in Petersburg. Die Newa

Zweites Kapitel.

Abreiſe von Petersburg. Reiſe-Einrichtungen. Ruſſiſche Dörfer. Waldai. Moskau. Wladimir. Niſchni⸗Nowgorod. Waſſerfahrt auf der Wolga. Kaſan. Ruinen von Bolgarü. Der Saban der Tataren. Wotjäken. Vorberge des Ural .

Drittes Kapitel. Katharinenburg. Münzhof. Chemiſches Laboratorium. Stein⸗ ſchleiferei. Ausflüge in die nächſten Umgebungen von Katha— e,, , N a

Viertes Kapitel.

Newjausk, Eiſenhütte, Goldgrube und Goldſeifen. Niſchue-Tagilsk, Magnetberg, Gold- und Platinſeifen. Kuſchwinsk, Magnetberg Blagodat. Goldſeifen von Biſſersk, Diamanten. Niſchne— Turinsk. Bogoslawsk, Goldſeifen, Kupfergrube Turinsk. Werchoturie. Edelſteingruben von MurſinnsnQQAaQaQ&eQ

Fünftes Kapitel. Abreiſe von Katharinenburg. Allmähliger öſtlicher Abfall des Ge— birges. Anfang der ſibiriſchen Ebene bei Kamyſchloff. Tjumen. Tobolsk. Lage der Stadt, Ausſicht vom hohen Ufer des Ir— tyſch. Barbinskiſche Steppe. Sibiriſche Peſt. Zwei⸗ maliger Uebergang über den Ob bei Bergsk und unterhalb Bar⸗ , e leeren

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Sechstes Kapitel.

Gegenwärtiger Zuſtand und Geſchichte des altaiſchen Bergbaues. Silbergewinnung in ganz Rußland. Muſeum und Schmelz⸗ hütte in Barnanl. Hüttenprozeß daſelbſt. Der Schlangen⸗ berg. Excurſion nach der Steinſchleiferei Kolywansk. Reiſe nach den Silbergruben Riddersk und Krukowsk. Feſtung Uſt⸗ kamenogorsk. Landweg nach Buchtharminsk. Silbergrube Syränowsk. Kamentſchtſchiken. Heiße Quellen an dem Ur- ſprunge des Berel. Belucha, höchſter Berg des Altai. Be— ſuch bei dem chineſiſchen Poſten Baty. Rückkehr nach Buchthar⸗ minsk und auf dem Irtyſch nach Uſtkamenogor n

Siebentes Kapitel.

Reiſe vom Altai nach dem ſüdlichen Ural. Abreiſe von Uftfameno- gorsk. Koſakenlinie am rechten Ufer des Irtyſch. Kupfer- gruben an der Schulba und Üba. Uebergang auf das linke Ufer des Irtyſch bei Schulbinsk. Semipalatinsk. Salzſeen von Jamyſchewskaja und Koräkowskaja. Omsk. Iſchimſche Sfr a a a she) RER EP 3

Achtes Kapitel.

Miask. Excurſion nach den Goldſeifenwerken im obern Thale des Mias. Excurſionen nach dem Ilmengebirge. Profilreiſe durch den Ural nach Slatouſt. Beſteigung des Taganai. Rückkehr nach Miask über Kyſchtims a IT

Neuntes Kapitel. Abreiſe von Miask. Berg Auſchkul und ſeine Umgebungen. Kupfergruben Poläkowskoi und Kiräbinskoi. Werchne⸗-Uralsk. Weg an dem Uralfluſſe entlang. Jaspisbrüche von Orsk. Uraldurchbruch. Orenburg. Angeknuüpfte Bekanntſchaften. Sogenannte Aerolitye von Sterlitamak. Salzſtock von Ilezk. Spiele der Kirgiſen Il »»

Zehntes Kapitel. Ein Pferderennen in einem Kalmüken⸗Dorrfrfrree

Elftes Kapitel.

Steppe zwiſchen dem untern Laufe des Ural und der Wolga; Sand» berge Rynpeski; Salzſeen und Salzpfützen; Steppenflüſſe; Berge und anſtehendes Geſtein der Steppe; Wege durch und um die Sei nich Aſtrachaen n er

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Alexander von Humboldt's

Reiſen

Amerika und Aſien.

Eine Barstellung seiner wichtigsten Forschungen

von

H. Rlelke.

Vierter Band.

Zweite Auflage.

Berlin. Haſſelberg'ſche Verlagsbuchhandlung. .

1856. N

Alexander von Humboldt's

Reiſen

europäiſchen und aſiatiſchen Rußland. H. Rletke. Zweiter Band.

Zweite Auflage.

Berlin. Haſſelberg'ſche Verlagsbuchhandlung.

1856.

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Inhalt,

Seite

Zweites Buch.

Erſtes Kapitel. Abreiſe von Orenburg. Ankunft in Uralsk. Die uraliſchen Ko— Der Fischfang im Ur oon 3

Zweites Kapitel.

Abreiſe von Uralsk. Schwefel-, Asphalt- und Salzquellen in der Gegend zwiſchen dem Tok- und Sok-Schwefelberg an der Wolga. Wols!k!k!! 11 21

Drittes Kapitel. Die deutſchen Kolonien an der Wolgggᷣ 2.22 euenenen PERS,

Viertes Kapitel. e eee N 7

Fünftes Kapitel.

Die Herrnhuter Kolonie in Sarepta. Sammlungen des Herrn Zwick. Tatariſche Ruinen an der Achtuba. Mineralquelle von Sarepta. Jenotajewsk. Kalmükentempel auf dem Wege JJJJJ%%J%0%000000%0 ²˙ mm Ürmn 76

Sechstes Kapitel. Die Wolga⸗Niederung. Armenier. Jurten-Tataren. Aſtracha⸗ niſche Koſaken. Kalmüken ER 86

VI

Seite Siebentes Kapitel. Eine Audienz bei der Kalmüken-Fürſtin. Der Götzentempel der „„ d E 127

Achtes Kapitel.

Ankunft in Aſtrachan. Gemiſchte Bevölkerung. Beſchreibung der Stadt. Weingärten. Kathedrale. Perſiſcher und indiſcher Kaufhof. Gottesdienſt der Hindus. Fakir. Armeniſcher Baß „„ ͤ 147

Neuntes Kapitel.

Excurſion nach dem kaſpiſchen Meere. Wolga-Mündung. Dampf⸗ ſchifffahrt auf der Wolga. Inſel Birutſchikaſſa mit der untern Quarantaine. Fahrt in's kaſpiſche Meer. Beſchaffenheit des Waſſers vom kaſpiſchen Meere. Leuchtthurm auf der Inſel Tſchetyre bugri. Fiſchereien in der Wolga. Tiefe Lage des Wſpiſcheer n 8 182

Zehntes Kapitel. Beſuch bei dem Kalmükenfürſten Sered-Dſchab. Niveau des kaſpi⸗ ſchen Meeres; raſches Sinken deſſelben. Die Bugors 251

Elftes Kapitel. Das Lager des Chaus der innern Kirgiſenhorde. Rückreiſe nach Mullins „ara e . ede e, Bra di 281

Weite

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europäiſchen und aſiatiſchen Rußland.

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Zweites Puch.

Erſtes Kapitel.

Abreiſe von Orenburg. Ankunft in Uralsk. Die uraliſchen Koſaken. Der Fiſchfang im Ural.

Am Worgen des 26. September verließen unſre Reiſenden Orenburg. Ihre Freunde, die Herren Gens und Suſchkoff, be— gleiteten ſie noch bis zu der drei Werſte von der Stadt entfernten Sakmara, und ſagten ihnen hier ein Lebewohl. Hier trennten ſich auch Humboldt's bisherige Reiſegefährten, die Herren Hofmann und von Helmerſen, die nun von Orenburg den geraden Weg nach Pe— tersburg nehmen wollten, wo man ſie wieder zu treffen hoffte.

Eine Fähre führte unſre Reiſenden über die Sakmara, deren Ufer mit hohem Laubholz (Eichen und Buchen) angenehm bewach— ſen ſind, und an welchen derſelbe rothe Sandſtein anſteht, der ſich auch an den Ufern des Ural bei Orenburg findet. Nach der erſten Station Tſchernoretſchinsk (27 Werſte von Orenburg) wird der Weg ſehr bergig und bleibt es auch bis zur dritten Station Niſchne-Oſer⸗ naja (89 Werſte von Orenburg), wo man am Abend anlangte. Das Steppengebirge, der Obſchtſchei-Syrt, zieht ſich hier ganz nahe an den Ural heran, weiter abwärts entfernt es ſich mehr von dem— ſelben und läuft dann in öſtlicher Richtung fort, die Zuflüſſe des Uralfluſſes von denen der Wolga trennend, die ſich durch die Sa— mara dem Ural bei Tſchernoretſchinsk bis auf 15 und 20 Werſte nähern. Jenſeits Niſchne⸗Oſernaja wird der Weg mehr eben und

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geht nun immer neben dem Ural fort, deſſen Ufer jedoch noch ſteil bleiben, und in den Niederungen mit Espen, Pappeln und Weiden bewachſen ſind, die ſich auch auf den häufig vorkommenden Inſeln finden. Der Boden wird nun ſchon merklich ſalzig und kleine Salz— lachen finden ſich häufig. Am Worgen des 27. September langte man in Kirſanowskoi und des Nachmittags um 5 Uhr in Uralsk an (304 Werſte von Orenburg).

Uralsk am Einfluſſe des Tſchagan in den Ural gelegen, da wo derſelbe ſchon anfängt ſeine ſüdliche Richtung zu nehmen, iſt eine der ſchönſten Städte des ſüdlichen Rußlands. Die ſehr anfehnlide : Hauptſtraße iſt zu beiden Seiten mit einer Menge ſchöner ſteinerner, ſelbſt prachtvoller Gebäude beſetzt, die alle von dem Wohlſtande der Einwohner zeugen. Eins der ſchönſten, das Haus des Atamans Borodin, das auch im Innern auf das eleganteſte eingerichtet war, nahm unſere Reiſenden auf. Wehrere auf einander folgende Feuers— brünſte, beſonders die letzte vom Jahre 1821, haben ſehr viel zur Verſchönerung der Stadt beigetragen. Uralsk zählte im Jahre 1849 10,822 Einwohner. Als eines auch hier ſehr gewöhnlichen Un— geziefers gedenkt Pallas insbeſondere der früher ſchon erwähnten Tarakanen oder Schwaben, ſo wie der großen Wanderratten, von denen im Jahre 1766 eine zahlloſe Schaar, von der Seite der ſa— mariſchen Steppe kommend, förmlich ihren Einzug in die Stadt ge— nommen haben ſoll.

Uralsk iſt der Hauptſitz der uraliſchen Koſaken. Früher wur: den fie die Jaikſchen Koſaken genannt, wie auch Fluß und Stadt die Namen Jaik und Saizfoi Gorodok führten, bis nach dem Pu— gatſcheffſchen Aufruhr im Jahre 1774, deſſen Hauptheerd Uralsk war, die jetzigen Namen eingeführt wurden, um jede Erinnerung an dieſes verderbliche Ereigniß zu vernichten. Ueber die Gründung von Uralsk und den Charakter der uraliſchen Koſaken leſen wir in den Denkſchriften der ruſſiſchen geographiſchen Geſellſchaft (Band 1) Folgendes:

„Zu Ende des 16 ten Jahrhunderts zogen 600 oder 700 wol— gaiſche Koſaken nach dem Ural, erbauten hier die Stadt Uralsk und legten den Grund zu dem jetzigen uraliſchen Heer. So bildete eine Hand voll Uraler noch lange vor der Gründung der orenburgiſchen

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Linie gleichſam eine Vorwache für den Südoſten Rußlands. Da ſie nach dem Ural zu einer Zeit, wo ſelbſt die Gegend um die Wolga vor den Ueberfällen der räuberiſchen Nomadenvölker noch nicht ganz ſicher war, auswanderten, hier von feindſeligen Stämmen umgeben und ohne ſo fruchtbare Ländereien, wie ſie die Koſaken von Kleinrußland inne haben, lebten, ſo konnten ſie ſich auch mit Acker— bau und Handel nicht beſchäftigen, ſie mußten ſich ihrer Lage anpaſſen, ſuchten daher ihre Subſiſtenzmittel in dem Fiſchfange und in der Viehzucht, vorzüglich aber in der Pferdezucht. Indem die Uraler in beſtändigem Kampfe mit den Steppenfeinden ſtanden, welche ſie bei der kleinſten Nachläſſigkeit in harte Sklaverei fortſchleppten, in— dem ſie daher deren Ueberfälle fortwährend abwehrten, ſich dabei Gefahren unterwarfen und Voth litten, ſo bewahrten ſie bis jetzt die aus ihrer örtlichen Lage abzuleitenden Eigenſchaften: die Kennt— niß der Steppe, und auf der untern Linie die Kenntniß des Wee— res und des Fiſchfanges; Klugheit, Geiſtesgegenwart, Geduld, Ent— haltſamkeit, Gehorſam, Wachſamkeit, Ertragung des Witterungs— wechſels, Religioſität machen die ſie auszeichnenden Eigenſchaften aus. Sobald das Meer im Winter den Mündungen des Ural ge— gegenüber mit Eis bedeckt wird, fahren die Uraler auf dem Schlitten zum Fiſchfang, 50, 100 und mehr Werſte von Gurjew entfernt, ſo weit es ihnen die Stärke des Eiſes erlaubt, und nehmen ſowohl für ſich als auch für ihre Pferde den erforderlichen Vorrath mit. Hier werden ſie nicht ſelten von Stürmen überraſcht, das Eis berſtet, und die braven Uraler werden auf Eisſtücken in das Weer hinausgeführt. Sobald dann das Futter für das Pferd aufgezehrt iſt, ſchlachtet es der Koſake, überzieht mit ſeiner Haut den Schlitten und wartet mit Vertrauen auf Gott, bis der Wind ſich ändert und ihn nach feinem Heimathsufer zurücktreibt. Es geſchieht ſelten, daß ein Ura⸗ ler auf dem Weere untergeht.“

„Da die uraliſchen Koſaken im beſtändigen Kampfe mit ihren Nachbarn, im Steppendienſte und auf dem Fiſchfange ſich befinden, ſo vergrößerte ſich ihre Volkszahl weniger auf dem natürlichen Wege der Fortpflanzung, als durch Anſchluß verſchiedener Auswanderer aus Rußland an ſie: der Altgläubigen und wahrſcheinlich der Strje— lizen und der dortigen Einwohner. Dies kann man leicht durch

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ſcharſe und beſtimmte Züge merken, welche fie von den Ruſſen un— terſcheiden; in ihrer Sprache ſowohl als in ihren Sitten ſpiegelt ſich das alte Rußland ab, vermiſcht mit etwas den Tataren Angehörigem. Es giebt noch viele Uraler, welche das Fleiſch von dem Vieh, wel— ches von uns, den Ruſſen, geſchlachtet wird, nicht eſſen, und welche weder Kameelmilch noch Kumyß trinken. Da ſie lange Zeit ihre eigenen Oberbefehlshaber hatten und nach eigenen Geſetzen regiert wurden und durch die Steppen von naher Berührung mit Ruſſen abgeſchnitten waren, ſo blieben ſie den Reformen fremd, wodurch Rußland ſeit Peter dem Großen weiter geführt worden iſt. Erſt die Gründung der Knabenſchule in der Stadt Uralsk in der letzten Zeit legte einen feſten Grund zur nützlichen Bildung.“

Man rechnet alle uraliſchen Koſaken zuſammengenommen 15,000 männliche Individuen, unter dieſen 5500 dienſtfähige Männer, die als ſolche in der Kriegskanzlei eingeſchrieben ſind und das Recht haben, den Fiſchfang im Ural zu treiben, dagegen auch verpflichtet ſind, Kriegsdienſte zu leiſten und, ſobald es gefordert wird, ſich zu ſtellen. Gewöhnlich befinden ſich gegen 3000 Wann in beſtändigem activen Dienſte; ſobald aber die Voth es erfordert, ſind ſie verbun— den 10 Regimenter zu ſtellen, das Regiment zu 500 Mann, in welchem Falle alſo nur etwa 500 Mann eingeſchriebene Koſaken zur Bewachung der Linie zurückbleiben. Von den 3000 in beſtän— digem Dienſte begriffenen Koſaken verrichten 1500 Mann den Dienſt auf der Linie vom Kaſpiſchen Weere den Ural 650 Werſte aufwärts, die übrigen befinden ſich in verſchiedenen Gegenden des ruſſiſchen Reichs, in der Moldau, im Aſtrachanſchen, in Petersburg, Nifchnes Nowgorod und Kaſan. Die vom activen Dienſt noch übrig bleiben, d. h. diejenigen, welche die Dienenden gemiethet haben, beſchäftigen ſich mit dem Fiſchfange und nur dieſe haben für die Zeit ein Recht daran“). b

Der Wohlſtand der uralifchen Koſaken ſchreibt ſich von dem ergiebigen Fiſchfang im Ural her, der außer dem Kriegsdienſt, wo- zu aber, wie eben erwähnt, ſtets nur ein Theil der Koſaken ver— wandt wird, ihre Hauptbeſchäftigung ausmacht, während Viehzucht

„) S. Eversmann in der Hertha von Berghaus Bd. XII, S. 326.

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und Ackerbau nur als Nebengeſchäft angeſehen werden. Da die grö— ßeren Fiſcharten hoch im Preiſe ſtehen, ſo ſoll es Koſaken geben, die 40,000 Rubel und mehr beſitzen. Die Frau des reichen Koſaken trägt, wenn ſie im vollen Staate iſt, als Kopfbedeckung eine Art Haube in Geſtalt eines Helms, welcher auswendig ganz dicht mit großen ächten Perlen bedeckt iſt, die faſt ſo groß wie Kaffeebohnen find und einen Werth von faſt tauſend Rubel haben).

Die Fiſche, welche im Ural gefangen werden, ſind beſonders die großen Wanderfiſche, Hauſen (Bjelugi), Störe (Oſſetra), die ſo— genannten Sewrungen und die Sterlede, die zu gewiſſen Zeiten im Jahre, im Frühling und im Herbſt, wo ihre Laichzeit iſt, in großen Schaaren aus dem Kaſpiſchen Meere ſtromaufwärts gehen. Der Fang darauf geſchieht im Ural dreimal im Jahre, im Januar, vom Anfang des Mai bis zum Juni und im October“), außerdem wird noch zu Anfang Dezembers in den Vebenflüſſen des Ural und in den fiſchreichen Seen der Steppe mit Netzen, die unter dem Eiſe ge— zogen werden, gefiſcht, und dieſes kann für den vierten Fiſchzug gel— ten, doch hat dieſer unter allen am wenigſten zu bedeuten, weil man alsdann meiſt nur geringe Fiſcharten zum häuslichen Gebrauche fängt. Die großen Störarten werden theils friſch, noch mehr aber einge— ſalzen größtentheils den Kaufleuten, die zur Zeit des Fiſchfanges nach Uralsk kommen, verkauft. Die größten Hauſen, die man im Ural fängt, wiegen (nach Pallas) an 1000 (ruſſ.) Pfund; die, welche Hanſteen ſah, waren ſechs bis acht Fuß lang und um den Leib von der Dicke eines Mannes. Der Preis eines ſolchen kann ſich auf 500 Rubel belaufen. Die größten Störe, im Gewicht bis 200 Pfund, haben

) Hanſteen a. a. O.

**) So berichtet auch Pallas (Reiſe durch verſchiedene Provinzen des ruſſiſchen Reichs, Petersburg. 1771. Th. 1); dagegen bemerkt M. Cambecg („Stör- und Hauſenfang an den Fiſchwehren auf dem Ural-Fluß“ in Meyer's Magazin für die Kunde des geiſtigen und ſittlichen Lebens in Rußland. Bd. 2. Petersb. 1854): „Der ergiebigſte Fang findet Ende Auguſt und im September ſtatt. Im September beginnt deshalb der Hauptfang, weil dann die Fiſche ihre Winterquartiere ſuchen und dieſe den Tauchern bekannt find.” Oldekop (im ruſſ. Merkur, Petersb. 1831) unterſcheidet fünf verſchie⸗ dene Fänge, nämlich den Frühlingsfang, den erſten und den zweiten Herbſt⸗ fang und den erſten und zweiten Winterfang.

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die Länge eines Fadens (84 ruſſ. Zoll). Der Sterled iſt viel kleiner, zwiſchen 1 und 14 Fuß lang, hat ein gelbliches Fleiſch, iſt fett und ſehr wohlſchmeckend. Beim Sommerfiſchfange ſchätzt man die ge— fangenen Fiſche in folgender Reihenfolge: Sewrungen, Störe, Hauſen; der Sterled kommt ſparſamer vor und wird nach ſeiner Größe bezahlt. Im Winter ſteht der Stör obenan und es koſtet davon das Pud gegen 12 Rubel, von den Sewrungen 10 Rubel, den Hauſen 8 Rubel, den Sterleden aber nur 5 Rubel, weil dieſer Fiſch in gefrornem Zuſtande außerordentlich viel von feinem angenehmen Geſchmack verliert“).

Zu dem Einſalzen der Fiſche verbrauchen die Koſaken eine Wenge Salz, das aber in dieſer ſalzreichen Gegend in großer Wenge vorhanden iſt und ohne Schwierigkeit gewonnen werden kann. Die Koſaken haben die Freiheit ſich damit ſelbſt zu verſor— gen, und gewinnen es beſonders aus den Seen, dem Gräsnoi Oſero (kothigen See), der 250 Werſte ſüdöſtlich von Uralsk liegt, und der Stadt zwar am nächſten iſt, aber doch am wenigſten Salz enthält und dies in den Monaten Juli und Auguſt nur in fingerdicken Rinden abſetzt, ferner aus einigen kleinen Seen, dem Sakryzkiſchen See, zwiſchen dem großen und kleinen Uſeen, und ganz beſon— ders aus dem Inderskiſchen. Der jährliche Salzverbrauch beläuft ſich auf 200,000 Pud, von denen 100,000 Pud allein aus dem Inderskiſchen See genommen werden. Die jährliche Ausfuhr ſchlägt man auf 400,000 Pud Fiſche und 60,000 Pud Kaviar an, was einen Werth von 3,480,000 Rubel ausmacht. Bei dem Fiſch⸗ fang, welchem Hanſteen beiwohnte, hatte man nach Ausſage des Koſaken⸗Offiziers, welcher den Fang leitete, in weniger als zwei Stunden für mehr als 400,000 Rubel Fiſche gefangen.

Gleich nach Beendigung der Fiſcherei werden einige der größten Fiſche ausgewählt und durch eine Deputation von drei Koſaken⸗ Offizieren zum Kaiſer nach Petersburg geſchickt. In der bei dieſer Gelegenheit ſtattfindenden Audienz wird dem Führer der Deputa— tion ein inwendig vergoldeter ſilberner Pokal in Geſtalt einer ziem— lich weiten flachen Vaſe auf einem mäßig hohen Fuße, mit Duka— ten gefüllt, überreicht. Hanſteen's Wirth in Uralsk zeigte ihm drei ſolcher Pokale, welche er als Führer derartiger Deputationen zu ver—

*) Goebel a. a. O.

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ſchiedenen Zeiten erhalten hatte. Das Einzige, was ihm nach ſeiner Ausſage bei dieſen Audienzen beſchwerlich fiel, war, daß er nach den Regeln der Hofetikette ſeinen gewöhnlich langen und dicken Bart ab— raſiren mußte wodurch er ſich auf der winterlichen Heimreiſe jedes— mal Zahnſchmerzen zuzog, bis der Bart wieder gewachſen war.

Der Herbſtfiſchfang ſollte erſt in fünf Tagen beginnen; um ſei— nen Gäſten jedoch eine Vorſtellung von wenigſtens einer Art des Fiſchfanges zu geben, hatte der Ataman Borodin die Güte, einen kleinen Fiſchfang zu veranſtalten. Sie fuhren noch an dem Tage ihrer Ankunft Abends um 10 Uhr nach dem Wehre (Utſchug) ober— halb der Stadt, durch welches der ganze Fluß geſperrt iſt und die Fiſche verhindert werden, den Stom weiter hinaufzuziehen, weshalb ſie ſich hier anſammeln. Hier angekommen, beſtiegen unſere Rei— ſenden ein Boot und fuhren in einiger Entfernung an dem Wehre entlang, während ſich zwei Koſaken, jeder mit einem eiſernen Haken an der rechten Hand bewaffnet, in das Waſſer ſtürzten, dicht an dem Gitter entlang ſchwammen, der eine unten, der andere oben, um mit ihren Haken die Fiſche, die ſie an dem Gitter antrafen, her— aufzuziehen. Ein Paar andere Koſaken in einem Boote folgten nach, um den ſchwimmenden Koſaken beim Heraufziehen der Fiſche zu helfen und den Fang in das Boot aufzunehmen. In kurzer Zeit waren auf dieſe Weiſe zwei große Fiſche herausgezogen, welche Humboldt zum Geſchenk gemacht wurden. Es waren zwei Hauſen, von denen der größere eine Länge von 5 Fuß 6 Zoll Preuß. hatte.

Wir ergänzen dieſe kurzen Wittheilungen über den für Rußland ſo wichtigen Fiſchfang im Ural noch durch folgende ausführlichere Schilderungen:

Die Fiſchwehren im Ural, ſagt Cambecg (in dem vorerwähn— ten Auſſatz über den „Stör- und Hauſenfang an den Fiſchwehren auf dem Ural-Fluß“), die ſeit langer Zeit, obwohl in veränderter Form, exiſtiren, ſind errichtet, um das Vordringen der Fiſche aus dem Kaſpiſchen See bis über Uralsk hinaus zu verhindern.

Die Fiſchwehr wird gewöhnlich aus einfachen, eingerammten Pfählen und zwiſchen dieſen geſteckten Stangen errichtet, ſo daß ſie einen unter dem Waſſer fortlaufenden Zaun bildet; oft werden die Pfähle auch durch Netze verbunden, was aber als weniger praktiſch

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meiſt verworfen wird. (Bei Kaſan errichtet man die Fiſchwehren in anderer Abſicht während der Ueberſchwemmung ſelbſt, außerhalb des Flußgebietes. Mehrere muldenförmige Niederungen, in die das Stromwaſſer durch enge Päſſe dringt, werden, um den oft zahl— reich angeſammelten Fiſchen den Rückweg abzuſchneiden, zur Zeit des höchſten Waſſerſtandes durch Fiſchwehren vom Strom geſchieden. Das Waſſer fällt, und die nun leicht zu fangenden Fiſche werden ſondirt und theils zum Verkauf beſtimmt, theils in Setzteiche und Seen gelaſſen).

Die Wehr wird errichtet, ſobald nach der Ueberſchwemmung der Fluß in ſeine Ufer getreten iſt. Die Fiſche, die nun während des Winters und des Frühjahrs oberhalb der, die zu errichtende Wehr bezeichnenden Grenze gezogen waren, können nun nicht zurück und ſammeln ſich bei der Fiſchwehr an; eben fo wie bei den Fiſch— zügen, die aus dem See kommen, jedes weitere Vordringen unmög— lich gemacht worden iſt. Natürlich find hier nur die größeren Fiſche und vorzüglich der Stör und Hauſen gemeint.

Die Geſetze des Fiſchfanges ſind ſtreng geregelt und jede Ueber— tretung wird hart gerügt. Nirgends in Rußland, bemerkt Pallas, findet man die Fiſcherei durch Gewohnheitsgeſetze jo genau ein— geſchränkt und ſo wohl geordnet als am Ural. Den Koſaken ſelbſt ſind dieſe Regeln etwas Unverletzbares und trotz ihrer Leiden— ſchaft für den abenteuerlichen Fiſchfang halten ſich alle Taucher ſtreng an das einmal geltende Herkommen.

Auf einem kleinen Flachboote begeben ſich die Taucher zu der Wehr, wo ſie am Ufer beilegen. Der Taucher die meiſten ſind Koſaken trägt gewöhnlich eine weite blaue Hoſe und eine eng— anſchließende Jacke oder ein einfaches Hemd. Die einzige Vorſichts— maßregel, die er trifft, iſt die, daß er ſich in's Ohr ein Stück Baum— wolle ſteckt; darauf faßt er mit der Rechten die eiſerne Halbhar— pune und läßt ſich nun geräuſchlos in's Waſſer hinab. Die Halb— harpune iſt ein eiſerner Haken mit einem ſcharfen Widerhaken und Handgriff von verſchiedener Länge. Weiſtens jedoch miſſt er nicht viel über acht Werſchock (1 W. = 11 Zoll). Der Handgriff bewegt ſich frei in einem eiſernem Ringe, an dem ein Riemen befeſtigt iſt, deſſen anderes Ende um das Handgelenk des Tauchers geht.

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Der Taucher ſchwimmt nun langſam im Waſſer umher; der weniger Geübte hält ſich mit der Linken an den Pfählen der Wehr. Sobald er einen Fiſch ſieht, ſtößt er dieſem den ſcharfen Haken in den Leib, wobei er ſogleich aufzutauchen ſucht. Oft freilich muß er, um Luft zu ſchöpfen, unverrichteter Sache auftauchen und nun von ſeinen Kameraden ſich ablöſen laſſen. Die kleineren Fiſche von einer Arſchin Länge zieht auch ein wenig geſchickter Taucher ſicher genug heraus; oft aber zieht ein größerer Fiſch den Taucher zum Grunde und die Hülfe ſeiner Kameraden wird nothwendig.

Die Abendſtunden und die Zeit kurz vor Sonnenaufgang ſchei— nen die geeignetſten für den Fiſchfang. In der Nacht, die hier ſehr raſch eintritt, befahren die Taucher den Fluß mit Flachbarken, auf denen Roſte zur Unterhaltung von Feuer eingerichtet ſind. Das Feuer lockt bekanntlich ſelbſt die größeren Fiſche heran, und der Taucher iſt jetzt meiſt glücklicher, obſchon er der Dunkelheit wegen größerer Gefahr ausgeſetzt iſt.

Auf der Kama ſah Cambecg ein ähnliches Verfahren, das aber mit großen Setznetzen betrieben wurde. Auch beim Auslegen der Angelſchnüre, die ſich oft Werſte weit hinziehen, gebraucht man an einigen Stellen Roſtboote, um die Sterlede herbeizulocken.

Im Durchſchnitt vermögen die Taucher eine Minute und län— ger unter Waſſer zu bleiben. Auf eine ſehr eigenthümliche Art wird das Gewicht des an's Ufer gezogenen Fiſches beſtimmt, indem man „den Fiſch reitet.“ Ein Koſak nämlich ſetzt ſich rittlings auf den Fiſch, und je nachdem er mit den Füßen den Boden berühren kann, weiß er oft ſehr genau die Schwere deſſelben anzugeben.

Der ſehr genauen Beſchreibung des Fiſchfanges, die uns Pallas (in ſeiner Reiſe durch verſchiedene Provinzen des ruſſiſchen Reiches Th. 1) gegeben hat, entnehmen wir Folgendes:

Unter allen Zugfiſchen kommt der Weißlachs zuerſt, und ſchon im Februar den Ural herauf. Er wird dann unter dem Eiſe mit Angelhaken, die man mit kleinen Stücken Fiſch ausrüſtet, reichlich gefangen. Er fällt zwar auch im Frühling und Herbſt, aber weit ſeltener, in die Netze. Im März, April und Mai ziehen die Stör— arten am häufigſten aus dem Meere herauf, zuerſt die Haufen, dann die Störe und Sterleden, und mit Ausgang Aprils endlich die

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Sewrungen, welche die häufigſten, fo wie die Haufen die ſelteneren ſind. Alle dieſe Fiſche ziehen ſchaarenweiſe, beſonders aber die Sewrungen kommen in ſo ungeheurer Menge, daß man, vorzüglich bei Burjew*), das Gewimmel davon deutlich im Waſſer ſehen kann. Nach der Verſicherung der Koſaken ſollen die Fiſche vormals durch ihr gewaltiges Andringen ſogar die Wehre bei Uralsk durchbrochen haben (wobei man auch die Wächtigkeit der einzelnen Fiſche berück— ſichtigen muß), ſo daß man genöthigt geweſen ſei, Kanonenſchüſſe blind in die Luft zu feuern, um durch den Schall die Maffen zu erſchrecken und auseinander zu jagen.

Die Koſaken nehmen an, daß die Störe und Haufen bis zum Winter im Fluß bleiben und überwintern, die Sewrungen aber noch im Sommer den Rückweg zum Weere nehmen. Sie haben daher unter ſich ein Geſetz, daß beim Sewrungenfang, der im Wai ge— ſchieht, alle Haufen und Störe, welche in's Vetz gerathen, wieder in's Waſſer geworfen werden müſſen, weil von dieſen Fiſchen, wenn ſie im Winter gefroren ausgeführt werden, ein viel höherer Preis zu erwarten iſt. An dieſem Geſetz wird mit ſolcher Strenge ge— halten, daß man Denjenigen, der ihm zuwiderhandeln ſollte, ſeines ganzen Fiſchvorrathes berauben und ihn noch außerdem mit Schlä— gen züchtigen würde.

Die Störe und Hauſen werden alſo meiſt im Januar mit Haken gefangen. Dieſe Fiſche legen ſich im Spätherbſt reihenweiſe, wie man ſagt, in die tiefen Stellen des Fluſſes, wo ſie den Winter hindurch zwar nicht ohne Empfindung und Bewegung, aber doch in einer gewiſſen Ruhe zubringen. Weil der Ural wegen ſeines weichen Grundes durch Verſchiffung des Sandes und Schlammes

*) Gurjew, die ſtärkſte und regelmäßigſte unter allen Feſtungen am un⸗ tern Ural, liegt in einer ſehr ungeſunden Gegend, die alljährlich unter Waſ⸗ ſer geſetzt wird. Obwohl der Boden in der Feſtung künſtlich etwas erhöht iſt, jo trocknet doch, weil es überall ſalzhaltig und thonig iſt, die Feuchtig⸗ keit niemals weg, und man athmet alſo beſtändig, ſowohl in als außer der Stadt, ſelbſt bei ſtürmiſchem Wetter, eine faule, nach Seemoraſt ſtinkende Luft. Da der Boden durchaus keine Gartenkultuc zuläßt, jo find die, gänz- lich aus Koſaken beſtehenden, Bewohner (die Zahl derſelben betrug im Jahre 1849 1752) genöthigt, nur vom Fiſchfang zu leben.

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ſehr oft, ja faft jährlich bei den Frühlingsüberſchwemmungen feine Tiefe verändert, ſo ſind die Stellen, wo die meiſten Fiſche im Win— ter liegen werden, ungewiß.

Sobald die Zeit der Hakenfiſcherei gekommen iſt, gewöhnlich den 3. oder 4. Januar, wird eine allgemeine Volksverſammlung ge— halten und der Tag feſtgeſetzt, an welchem die Fiſcherei ihren Anfang nehmen ſoll. Sowohl bei dieſer, wie bei den übrigen Fiſchereien wird zus Aufrechthaltung der Ordnung ein Ataman gewählt, dem man einige Starſchinen oder Aelteſten und einen Jeſſaul (Adjutanten) beiordnet. Die gemeinen Koſaken aber thun ſich in Kameradſchaften von fünf, ſechs und mehr Wann zuſammen. Die hauptſächlichſten Geräthſchaften eines jeden beſtehen aus guten Fiſchhaken und Stangen von verſchiedener Länge, an denen die Fiſchhaken befeſtigt werden.

Noch vor dem beſtimmten Tage werden allen zum Dienſt wirk— lich eingezeichneten und nicht auf der Linie zum Sold dienenden Koſaken Zettel mit dem Kanzleiſiegel ausgetheilt. Ein abgedankter oder noch nicht dienender Koſak kann von einem Andern, welcher ſelbſt nicht fiſchen will oder kann, das Recht dazu für das laufende Jahr erkaufen. Niemand bekommt übrigens mehr als einen Zettel, die Mitglieder der Kanzlei ausgenommen, welche hierin bevorzugt werden. Dem Woiskowoi-Ataman nämlich werden nach dem ein— geführten Recht vier Zettel zugeſtanden, den vornehmſten Starſchinen drei, allen übrigen und dem Woiskowoi-Djak (Syndicus) jedem zwei; außerdem empfängt noch jede Starſchinenfrau einen, eben ſo die vornehmſten Kanzleibeamten (die Schreiber erhalten nur je zwei einen Zettel) und endlich noch die daſigen Geiſtlichen. Alle dieſe Perſonen haben das Recht ihre Zettel zu verkaufen, ſo daß dadurch eben fo viel abgedankte oder noch nicht volljährige Koſaken, die kein Recht zu fiſchen haben, angeſtellt werden können.

An dem Tage, wo die Fiſcherei ihren Anfang nehmen ſoll, ver— ſammeln ſich noch vor Sonnenaufgang alle dazu berechtigten Ko— ſaken mit ihren Schlitten und Geräthſchaften vor der Stadt und werden von dem dazu auserwählten Ataman gemuſtert, der genau darauf ſieht, daß ein Jeder mit Gewehr verſehen ſei, um einem et— waigen Ueberfall der Kirgiſen den nöthigen Widerſtand leiſten zu können. Das verſammelte Volk wird hierauf durch die anweſenden

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beiden Woiskowye-Jeſſauli zur Ordnung ermahnt, und ſobald der Tag grauet, wird aus der Stadt mit zwei Kanonen das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Ein Jeder eilt nun, ſo raſch als die Pferde vermögen, nach der zum Fiſchen feſtgeſetzten Gegend, um ſich des vortheilhaſteſten Platzes zu bemächtigen, den er ſich etwa auser⸗ ſehen hat. Indeß darf Keiner das Eis früher aufzuhauen anfangen, bevor nicht Alle an Ort und Stelle ſind, und der Fiſchzug-Ataman durch Büchſenſchüſſe das Signal gegeben hat.

Der Fluß wird übrigens in zwei Hälften getheilt, von denen eine für den Frühlings- und Herbſtfang, die andere ausſchließlich für die Hakenfiſcherei beſtimmt iſt. Die letztere geht von der Stadt bis zum Vorpoſten Antonofskoi eine Strecke, die mit allen Krüm⸗ mungen des Ural wohl gegen 400 Werſte betragen mag und wie— derum vielfältig eingetheilt wird von da bis zur See bleibt der Fluß für die VNetzfiſcherei unberührt. Zunächſt wird neun Werſte von der Stadt, weil der Fluß ganz in der Nähe derſelben zu ſeicht iſt, einen Tag für die ärmeren Koſaken gefiſcht, um dieſe in den Stand zu ſetzen, Futter, und was fie ſonſt bedürfen, von dem Ge- winnſt zu kaufen. Fünf bis ſechs Tage darauf wird die große Fi— ſcherei fünfundfunfzig Werſte weit von der Stadt angefangen. Die— ſelbe dauert neun Tage. Jeder Tag hat ſein beſtimmtes Ziel. End— lich wird noch achtundvierzig Werſte von der Stadt eine dritte Fi— ſcherei hauptſächlich für den häuslichen Bedarf angeſtellt. Dieſelbe dauert in der Regel nur einen Tag, und mehrere Tage nur für den Fall, daß viele Fiſche vorhanden ſind. Bei jedem der feſtgeſtellten Ziele müſſen ſich die Koſaken jedesmal vor Tagesanbruch verſam— meln und das Signal des Atamans abwarten.

Ein Jeder macht an der Stelle, wo er fich zu fiſchen vorge— nommen hat, eine mäßige runde Oeffnung in's Eis. Er darf ſich dem Andern, ſo nahe er will, poſtiren, Keiner aber darf ſich zwei Oeffnungen anmaßen, ſondern jede verlaſſene Oeffnung kann be— liebig von einem Andern wieder eingenommen werden. So wird durch den öftern Wechſel und die neuen Verſuche nach und nach die ganze für einen Tag beſtimmte, viele Werſte lange Strecke durch— fiſcht. An ſeichten Stellen bedient fi) der Fiſchende kürzerer Haken, von denen er in jeder Hand einen hält, die Spitzen gegen den Strom

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gerichtet, weil der an Untiefen geſtörte Fiſch immer abwärts an tiefere Stellen zu gehen pflegt. Wan läßt die Haken überhaupt bis auf den Grund nieder und hebt ſie nur etwa eine Handbreit in die Höhe. Sobald nun die am Grunde gehenden großen Fiſche darauf gerathen, drücken ſie dieſelben nieder. Spürt dies der Fiſchende, ſo zieht er ſchleunigſt den Haken an ſich und hebt den gefange— nen Fiſch ſo weit empor, bis er ihn mit dem Handhaken errei— chen und auf das Eis ziehen kann. An den tiefſten Stellen, wo ſehr lange Haken gebraucht werden müſſen, kann man ſich, wegen der Schwere derſelben, nur immer eines einzigen bedienen. An ſolchen Stellen pflegt man auch die Oeffnungen in's Eis der Länge nach zu machen, und den Haken, deſſen Spitze hier, weil die Fiſche ruhig liegen, ſtromabwärts gerichtet wird, immer von oben herab zu führen, und wieder nach dem obern Theile der Oeffnung zurück— zugehen. Weil nun die Haken nach allen Seiten hin umhergeführt werden, um den Fiſch zu ſuchen, ſo geſchieht es öfters, daß zwei Koſaken gleichzeitig einen Fiſch fangen, der dann, dem Gebrauch gemäß, getheilt wird. So muß auch der, welcher, um einen mäch— tigen Fiſch auf's Eis heraufzubringen, die Hülfe eines Andern in Anſpruch nimmt, mit dieſem den erbeuteten Fiſch theilen. Bei dieſer eigenthümlichen Art zu fiſchen hat oft ein Mann das Glück an einem Tage zehn und mehr große Fiſche unter dem Eiſe her— vorzuholen; aber Mancher ſteht auch wohl einen ganzen Tag oder mehrere Tage ſelbſt, ohne nur einen einzigen Fiſch zu ſpüren, und gewinnt zuweilen den ganzen Monat über nicht ſo viel, um die Koſten der Ausrüſtung wieder zu erſetzen und die dafür gemachten Schulden zurückerſtatten zu können. Gewöhnlich gelobt Jeder bei der Abreiſe, wenn ihm das Glück günſtig ſein werde, den erſten oder mehrere Fiſche der Kirche zu ſchenken.

Ein unter den Koſaken allgemein verbreiteter Aberglaube iſt, daß, wenn ein Froſch auf den Haken geräth, der Fiſchende, dem dies begegnet, den ganzen Winter keinen Fiſch mehr fangen könne, wenn er auch Haken und Stelle wechſle. Zu bewundern iſt hierbei die Geübtheit dieſer Leute, die nicht nur einen Froſch, ſondern ſelbſt ganz kleine Fiſche auf dem Haken gewahr werden.

Der zweite große Fang iſt der Sewrungenfang im Frühling.

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Sobald im Mai aus Gurjew von den daſelbſt Wache haltenden Koſaken die Nachricht eingeht, daß die Fiſche in der Mündung des Ural angekommen ſind, rüſtet man ſich zum Fange. Es ge— ſchieht dies ganz in der nämlichen Ordnung, wie bei der Winter— Fiſcherei. Die Fiſcherei geht von dem Vorpoſten Antonowa ab— wärts bis nach Gurjew, in welchem Abſtand gleichfalls neun Ziele feſtgeſetzt werden. Bei jedem derſelben läßt der Ataman, damit ſie nicht überſchritten werden, ein Seil über den Fluß ſpannen. Bei jeder von den oberen Abtheilungen pflegt man faſt eine Woche lang, in den abwärts gegen Gurjew gelegenen aber nur etwa drei Tage zu fiſchen, weil die Sewrungen alsdann ſchon in die See zurückzu— gehen anfangen. Das letzte Ziel pflegt bei Saratſchik zu ſein, von wo der Zug bis zur offnen See fortgeſetzt und gewöhnlich in einem Tage beendigt wird. Des Vachts giebt man dem Fiſche Zeit, ſich wieder in den durchfiſchten Theil des Fluſſes heraufzuziehen, und alle Koſaken finden ſich vor Sonnenaufgang bei dem obern Ziele ein, wo ſie das Signal des Atamans abwarten, um wieder ſtrom— abwärts zu fiſchen, wobei ein Jeder gern der Vorderſte ſein möchte und dem Andern vorzurudern ſucht, ehe die Netze ausgeworfen werden.

Die fiſchenden Koſaken ſitzen einzeln in kleinen Kähnen, rudern ſelbſt und regieren auch das Netz allein. Die Kähne werden ge: wöhnlich aus den Stämmen der ſchwarzen und der weißen Pappel gemacht, weil dies in dieſer Gegend die einzigen Bäume ſind, welche die erforderliche Dicke dazu haben. Die Netze, deren man ſich bei der Fiſcherei bedient, ſind 20 bis 30 Faden lang, und beſtehen aus zwei Wänden, von denen die eine enger geſtrickt und etwa zwei Ellen länger iſt, ſo daß ſie im Waſſer einen Bauch macht und die vordere Wand vor ſich ausgebreitet fortrückt. An dem einen Ende wird dieſes doppelte Netz durch ein Treibholz flott gehalten, und am andern Ende hält es der im Kahn ſitzende Koſak mittelſt zweier längs dem oberen Rande der Wände fortlaufenden Seile; im Grunde aber iſt es mit Steinen beſchwert, damit es von dem Strom nicht ſo raſch fortgeführt wird.

Wenn dieſes Netz quer über den Fluß ausgeworfen iſt, jo läßt der Fiſchende ſeinen Kahn ohne Ruder mit dem Strom treiben, doch

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fo, daß fein Netz ſchräg voraus geht. Die Sewrugen, welche ſtrom— aufwärts ſchwimmen, finden in dem vorderen weitläuftigen Net keinen Widerſtand; wenn ſie aber die andere Wand ſpüren und zurück wollen, ſo hält ſie jenes an ihren Floßfedern und rauhen Ecken ſeſt. Der im Kahn Sitzende kann an den Seilen, welche er hält, merken, wenn mehrere Fiſche im Netze verwickelt find. In ſolchem Falle zieht er daſſelbe ein, und wirft es, ſo geſchwind als er kann, zu einem neuen Fang wieder aus.

Durch die unaufhörliche Bewegung von unzähligen hinter ein— ander treibenden Neben und Kähnen wird das Waſſer trübe gemacht, fo daß der Fiſch, welcher immer ſtroman geht, die Netze nicht mehr ſieht, und immer häufiger hineinfällt. Doch ſoll eine ungeheure Menge von Fiſchen, durch das Rufen und Lärmen der fiſchenden Koſaken erſchreckt, bei dem unteren Ziel ſo aufgehäuft zuſammen ſtehen bleiben, daß wenn die vorderſten Koſaken mit ihren Netzen ein wenig über das Ziel hinauskommen, ſie wegen der Wenge der in die Netze gegangenen Fiſche oft kaum im Stande ſind, dieſelben aus dem Waſſer zu heben.

Nach Beendigung der Fiſcherei gehen die Koſaken andern Ge— werben nach, reiſen auf den Handel, kaufen Getreide an der Wolga und Samara ein und beſorgen im Spätſommer ihre Heuernte. Sobald dieſe aber vorüber iſt, nimmt in den letzten Tagen des Sep— tember oder mit dem erſten Oktober die Herbſtfiſcherei ihren An- fang, welche ebenfalls in der unterſten Gegend des Ural mit großen, weitläuftig geſtrickten Wurfnetzen geſchieht, und bei der nicht nur alle Störarten, ſondern auch die geringen Fiſche zu fangen erlaubt iſt. Bei dieſem nicht beſonders erheblichen Zuge machen die Bar— ben, Welſe und kleineren Fiſchſorten die Hauptſache aus.

Endlich folgt nach einer Ruhe von einigen Wochen das Fiſchen unter dem Eiſe in den Nebengewäſſern, wobei nur gemeine Fiſche gefangen werden. Auch pflegen nach Endigung der Herbſtfiſcherei auf dem Rückweg viele Koſaken noch in den Seen und Nebenge- wäſſern auf der Steppe zu fiſchen.

Beſonders zur Zeit der Hakenfiſcherei und des Sewrugenfanges finden ſich die Kaufleute aus den entfernteſten Gegenden Rußlands am Ural ein. Die im Winter gefangenen Störe und Haufen wer-

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den nun von den Koſaken fofort und uneröffnet nach ungefährer Schätzung übergeben, und ſowohl Fiſch als Rogen von den Kauf— leuten zubereitet, verpackt und gefroren verführt.

Hauſen im Gewicht von 1000 Pfund (25 Pud) geben etwa 200 Pfund (5 Pud) Rogen oder Caviar; doch wird der Rogen dieſes Fiſches wegen des vielen zähen Schleims für den ſchlechteſten gehalten. Um ſo höher wird ſeines Wohlgeſchmacks wegen der von den Stören geſchätzt, von denen die größten, 5 Pud ſchweren, oft bis gegen 1 Pud Rogen enthalten.

Aller friſche Rogen wird gereinigt, indem man denſelben mit den Händen ſanft durch ein enges ausgeſpanntes Netz oder ein gro— bes Sieb preßt, und da er ungeſalzen bei dem Eintritt des wär— meren Wetters verderben würde, ſo pflegt man ihm etwas Salz zu geben. Auf jedes Pud Rogen rechnet man im Winter ungefähr ein Pfund Salz, bei dem Herbſtfang anderthalb Pfund.

Da der Sewrugenfang in der warmen Jahreszeit ſtattfindet, ſo werden die Fiſche ſämmtlich aufgeſchnitten, die mittlere Gräte wird herausgenommen, das Fleiſch ſtreifenweiſe eingeſchnitten und ſtark geſalzen, worauf es dann ſowohl getrocknet, als ungetrocknet und ungepackt bis an die Wolga verfahren wird, um dort in Schiffe geladen zu werden. In eben ſo nachläſſiger Weiſe werden auch die Saſanen (Barben) und andere ſchlechte Fiſchſorten verführt. Der Rogen der Sewrugen giebt dem der Störe an Güte wenig nach, und wird auch an der Wolga, wo man dieſen Fiſch bis zum Winter lebendig zu erhalten weiß, mit dem Störrogen vermiſcht. Dagegen kann er am Ural nicht anders als geſalzen erhalten wer— den, und ſteht deshalb auch weit geringer im Preiſe, wozu die außerordentliche Wenge dieſer Fiſche natürlich beiträgt.

Den geſalzenen Kaviar bereitet man am Ural auf dreierlei Art. Die ſchlechteſte Sorte iſt die gemeine Pajuſnaja Ikra (der gepreßte Kaviar). Der Rogen wird nur von den gröbſten Zaſern gereinigt, mit ungefähr zwei Pfund Salz auf das Pud eingeſalzen, und ſo auf Watten an der Sonne zum Trocknen ausgebreitet, worauf man ihn ſchließlich mit Füßen tritt. Eine beſſere Sorte iſt der ſo— genannte körnige, aber wegen ſeines vielen Salzes nicht dem Ge— ſchmack eines Jeden angenehme Kaviar (Serniſtaja Ikra). Man

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ſalzt den gereinigten Rogen in langen Trögen mit acht bis zehn Pfund Salz auf's Pud, ſchaufelt alles wohl durcheinander und ſchüttet ihn dann partieweiſe auf Stäbe oder ausgeſpannte dichte Vetze, um ihn abträufeln und dick werden zu laſſen, worauf man ihn gleichfalls in Fäſſer preßt. Er bildet eine der gewöhnlichſten Faſtenſpeiſen des gemeinen Volkes. Die reinlichſte und beſte, dem Ausſehen nach aus ganzen Körnern beſtehende Art iſt die, welche nach ihrer Bereitung den Namen Weſcheſchnaja Ikra bekommt. Man bereitet nämlich zuerſt eine ſtarke Salzſoole, füllt lange ſchmale Säcke aus ſtarker Leinwand bis zur Hälfte mit friſchem Rogen, und gießt bis an den Rand Salzſoole darüber. Sobald dieſelbe durchgeſeigt iſt, werden die, zwiſchen Querſtangen aufgehängten, Säcke mit den Händen tüchtig ausgerungen, und der Rogen, nachdem man ihn noch zehn bis zwölf Stunden in den Säcken hat abtrocknen laſſen, in Fäſſer getreten. Dies iſt der Kaviar, welcher am höchſten im Preiſe ſteht.

Hanſteen erzählt, daß die Kaufleute, wenn ſie die gehörige Ladung Störe beiſammen haben, ſie augenblicklich nach Moskau oder Petersburg abſchicken. „Die Ruſſen halten nämlich,“ ſagt Hanſteen, „den Kaviar nicht für ganz delikat, wenn er über acht Tage alt iſt. Die einzelnen Eier ſind von der Größe einer mittelgroßen Erbſe ganz klar und durchſichtig, jedoch mit einem kleinen graulichen halb— durchſichtigen Fleck auf der einen Seite. Der Rogen wird in einen Trog gelegt und ein wenig feines Salz darauf geſtreut, worauf er vorſichtig umgerührt wird, doch ohne daß die Eier zerriſſen werden, und man kann ihn dann nach einigen Tagen, bisweilen mit etwas feingehackten Zwiebeln, genießen. Er iſt ſehr wenig geſalzen, und ſo weit angenehmer, als der feinſte und fetteſte norwegiſche Häring, weshalb man ihn auf dem Frühſtückstiſch eines jeden wohlhabenden Ruſſen findet. Der Kaviar, welcher zu uns kommt, iſt der Rogen eines andern kleinen Fiſches; die Eier find nicht größer als Vogel— dunſt und werden ſtark geſalzen und gepreßt. Er iſt dunkelgrün, gewöhnlich ſtreng und hat nicht die geringſte Aehnlichkeit mit dem der oben beſchriebenen Fiſchen.“

Man ſammelt auch, wie Pallas weiter berichtet, hauptſächlich von den Sewrugen diejenigen Rückenſehnen, welche getrocknet unter

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dem Namen Weſiga zur Speife genommen werden. Dieſe Sehne wird bei den friſch gefangenen Fiſchen am Halſe losgemacht, dann mit Gewalt herausgeriſſen und an der Luft getrocknet. Wan bindet ſie gewöhnlich zu fünfundzwanzig in Bündel zuſammen. Endlich wird noch, da man an den Stören faſt Alles für eßbar hält, der Magen verzehrt, welcher hier den tatariſchen Namen Tamak führt.

Ein edlerer Theil, der von allen Stören geſammelt und zu Gelde gemacht wird, iſt die Schwimmblaſe. Die Kaufleute, welche die ganzen Fiſche aufkaufen, pflegen dieſelben gewöhnlich den Ko— ſaken wieder zurück zu verhandeln, welche den Fiſchleim daraus be— reiten. Dies geſchieht auf folgende Art. So friſch als die Blaſe aus dem Fiſch kommt, wird ſie gewaſchen und an der Luft zum Trocknen hingelegt, doch ſo, daß die äußere Haut zu unterſt, die ſilberweiße innere Leimhaut aber oben zu liegen kommt. Dadurch erlangt man, daß ſich die letztere leicht abſondern läßt, worauf ſie in ein feuchtes Tuch geſchlagen wird. Wan rollt nun eine Leim: blaſe nach der andern auf und klebt ſie in Geſtalt einer Schlange oder eines Herzens zwiſchen drei Pflöckchen, deren eine Wenge auf einem Brette eingeſchlagen ſind; wenn ſie in dieſer Lage etwas trocken geworden ſind, ſo hängt man ſie an Fäden im Schatten auf, bis ſie alle Feuchtigkeit verloren haben. Der ſo bereitete Fiſch— leim hat ſehr unbeſtimmte Preiſe. Der von den Sewrugen gilt für den allerbeſten, und wurde zu Pallas' Zeiten nicht ſelten bis an vierzig Rubel das Pud bezahlt. Der von den Stören gilt weniger, der von den Hauſen aber (die in Deutſchland wohlbekannte Hauſen— blaſe) wird, als der gröbſte und ſchlechteſte, auch am niedrigſten be— zahlt“). Auch von der Schwimmblaſe der Welſe bereitet man Leim, welcher zwar ziemlich weiß ausſieht, aber ſeiner geringen Güte wegen keinen beſonderen Werth hat.

*) Einer Zeitungsnachricht aus Hammerfeſt zufolge, fol man auch aus nordiſchen Fiſchen, namentlich dem Dorſch, die Hauſenblaſe gewinnen können. Die Schwimmblaſe dieſes Fiſches ſoll, gewaſchen, mit einem eifer- nen Werkzeug durchgeklopft und ſodann ſorgfältig getrocknet, der ruſſiſchen Hauſenblaſe an Güte nicht nachſtehen, wenn auch ihr Ausſehen nicht ſo gut iſt.

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Zweites Kapitel.

Abreiſe von Uralsk. Schwefel-, Asphalt: und Salzquellen in der Gegend zwiſchen dem Tok und Sok. Schwefelberg an der Wolga. Wolsk.

Unſere Reiſenden verweilten noch bis zum Wittag des 28. Sep— tember in Uralsk, und ſetzten dann ihre Reiſe nach Aſtrachan weiter fort. Der Weg bis Buſuluk (1964 Werft von Uralsk) geht in nordöſtlicher Richtung zuerſt an der linken Seite des Tſchagan, und dann an der linken der Buſuluk entlang, welche letztere ſich bei der Stadt gleiches Namens in die Samara ergießt. Zwiſchen beiden Flüſſen zieht ſich der Obſchtſchei Syrt hin, der aber auch hier nur ein hügliges Land darſtellt. Uebrigens war der Weg eben und gut, ſo daß man raſch vorwärts gelangte.

Am Mittag des 29. September traf man in Buſuluk ein, einem kleinen Städtchen, welches hölzerne Häuſer und gerade Straßen hat. Seine Einwohnerzahl betrug im Jahre 1851 4826. Hier kam man auf die große Straße, die von Orenburg nach Moskau führt. Die⸗ ſelbe geht bis zur Stadt Samara (165 Werſte von Buſuluk) an dem Fluſſe Samara entlang, anfangs an ſeiner linken, nach der erſten Station Woika aber an ſeiner rechten Seite. Das Land iſt noch eben und ſteppenartig, zum Theil aber hügelig, und in den Niederungen mit Waldungen von Laubholz, meiſtentheils von Eichen, bedeckt, denn Nadelholz findet ſich hier gar nicht. Wan hatte die

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Seiten der breiten Landſtraße mit jungen Birken bepflanzt, um diefe ſo vor den heftigen Winden zu ſchützen, welche die Gegend häufig heimſuchen, zweifelte aber trotz dieſer Vorſicht an ihrem Fortkommen.

as Land bildet den Südabfall eines Hügelzuges, der ſich zwi— ſchen dem Tok, der bei Buſuluk in die Samara fällt, und dem nörd— licher fließenden Sok von dem Ural bis zur Wolga zieht, und durch die in ihm hervorbrechenden Salz- und Asphaltquellen, beſonders aber durch die vielen Schwefelquellen ausgezeichnet iſt. Eine ſolche Schwefelquelle trafen die Reiſenden am Worgen des 30. September bei dem Prigorod (Flecken) Alexejewsk, der am Einfluß des Kinel in die Samara, 27 Werſte von der Stadt Samara entfernt liegt. Sie entſpringt an den Hügeln, die ſich am Ufer der Samara ent— lang ziehen, und iſt mit einem künſtlichen Baſſin umgeben, in wel— chem ſich das Waſſer anſammelt, ehe es zum Fluſſe abfließt. Es verbreitete einen ſtarken Geruch von Schwefelwaſſerſtoffgas, war aber klar und rein. An einer Stelle in dem Baſſin entwickelten ſich eine Wenge Blaſen, die wahrſcheinlich aus kohlenſaurem Gaſe beſtanden. Das Waſſer hatte an dieſer Stelle eine Temperatur von 6°, 5 R., während die Luft eine Temperatur von 8°, 3 und das dicht daneben fließende Waſſer der Samara eine von 10° hatte. In dem Baſſin und deſſen Abfluß hatte ſich ein ſtarker weißer er⸗ diger Bodenſatz gebildet, der, wie Prof. Roſe bemerkt, wahrſchein— lich aus einem Gemenge von Schwefel und kohlenſaurer Kalkerde beſtand und durch Zerſetzung von Schwefelwaſſerſtoffgas und das Entweichen von kohlenſaurem Gaſe, welches die kohlenſaure Kalkerde aufgelöft hatte, entſtanden war. Ein ähnlicher Nieder: ſchlag bildete ſich auch durch die Vermiſchung des Quellwaſſers mit dem der Samara, das auf eine große Strecke getrübt und milchig erſchien.

Die übrigen Schwefelquellen finden ſich nach Pallas“), der dieſen Landſtrich in einer beſonderen Excurſion von Simbirsk bis Bugulminsk bereiſt hat, vorzüglich an dem oberen Sok. Die be— deutendſten liegen nicht weit von dem Städtchen Sergiewsk, am Einfluſſe des Surgut in den Sok, und etwa 80 Werſte nordöſtlich

*) Reiſe durch verſchiedene Provinzen des ruſſ. Reichs. Th. 1 S. 98 ff.

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von Alexejewsk. Dieſe werden jetzt ſchon von vielen Perſonen als Heilmittel benutzt. Im Jahre 1811 war für den Empfang der Gäſte noch ſehr wenig geſorgt, wie man aus der lebendigen Schilderung ſieht, die Profeſſor Erdmann von ſeinem Aufenthalt daſelbſt eut— worfen hat“). a

Wer, jagt Erdmann, mit dem Bilde eines deutſchen Badeortes hieher reiſte, würde ſich beim erſten Anblick auf keine angenehme Art überraſcht ſehen, denn er findet nur eine temporäre Kolonie, die ein nomadiſches Leben führt. Auf einer hügligen graſigen Ebene, die ehemals zu der benachbarten Kalmükenſteppe gehörte, liegen die Wohnungen der Badegäſte ohne Ordnung verſtreut. Sie beſtehen theils aus Hütten von Baumzweigen geflochten, theils aus kalmüki— ſchen und kirgiſiſchen Filzgurten, theils aus Zelten, nur hin und wieder mit kleinen, ſchnell aufgeſetzten Baumſtämmen vermiſcht, weil jeder zu ſeinem Aufenthalt in dieſer wüſten Gegend, außer den übrigen Bedürfniſſen, auch ſeine Wohnungen herbeiführen muß. Je— der wählt ſich den bequemſten Platz dazu ſelbſt. Wohlhabendere Edelleute aus nicht zu entfernten Gegenden ſchicken einige ihrer Bauern voraus und laſſen einen beliebigen Platz einzäunen, Brun— nen und Keller graben, Hütten und Zelte oder jene luftigen Häuſer aufſetzen und ziehen ſpäter mit ihren Domeſtiken und kleinen Vieh— heerden ſelbſt ein; denn um friſche Milch zu haben, bringt man Kühe, und um des Fleiſches nicht zu entbehren, Schafe und Hammel mit. Selbſt Badewannen und Keſſel werden, ſo wie Koch- und Tafelgeſchirr aus der Ferne herbeigeführt. Weniger Begüterte oder aus größerer Ferne kommende Kurgäſte begnügen ſich mit Lauben von Reisholz, von benachbarten Landbewohnern aufgeführt, ohne Hof— raum, bisweilen auch mit Erdhütten. Dazwiſchen und umher weis den die mitgebrachten Pferde, Kühe und Schafe frei durcheinander. So bildet ſich eine Kolonie, deren Bewohner ſich theils durch die Nothwendigkeit gezwungen, theils durch den Geſelligkeitstrieb bewo— gen, ohne Rückſichten des Standes und der Gewohnheit feſt an ein— ander ſchließen und eine einzige Familie zu bilden ſcheinen. Wer eine Badewanne oder einen Keſſel zum Erwärmen des Waſſers mit⸗

*) Beiträge zur Kenntniß des Innern von Rußland. Th. 2. S. 4. ff.

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gebracht hat, überläßt den Mitgebrauch derfelben dem, der daran Mangel leidet; wer eine Kuh beſitzt, vertheilt die ihm überflüffige Wilch; wer Schafe mit ſich führt, läßt dem neuen Freunde beim Ein— ſchlachten Fleiſch davon oder wohl auch ganze lebendige Stücke zukom— men, und wer eigene Pferde mitgebracht hat, erlaubt dem Andern das Waſſer zum Baden damit herbeizuführen. Iſt erſt die Einrichtung getroffen, ſo denkt man bald auch an Unterhaltung durch Spiel, Promenaden zu Wagen und zu Fuße, ſelbſt durch Lectüre, weil Wancher wohl Bücher mitgenommen hat, die er dann wieder ver— leiht. Kurz, das Privateigenthum wird endlich zum Gemeingute, und ſo gewinnt das übrige hier ſo einförmige Leben auch ſeine Reize, wenigſtens die der Unabhängigkeit und des Naturftandes. Und wie intereſſant ſind nicht die Contraſte, auf die das Auge ſtößt! Hier tritt aus der kirgiſiſchen Filzhütte eine franzöſiſch gekleidete Edeldame im italieniſchen Strohhute mit einem türkiſchen Shawl hervor, um, von ihrer Kammerjungfer begleitet, eine Freundin zu be— ſuchen, die unter dem Dache von Reiſig eben einen Anfall von hy— ſteriſchen Krämpfen zu beſtehen hat. Dort ſitzen Offiziere und Gutsbeſitzer in einem kleinen Bauernhauſe beim Punſchglaſe am Kartentiſche von Mahagony; hier ſteht ein engliſcher lakirter Schei— benwagen vor dem niedrigen Zaune, hinter welchem der im Freien an einer Stange aufgehangene Badekeſſel ſiedet, und daneben dam— pfen auf einem Heerde von Feldſteinen die Kaſſerollen, in denen das Wittagsmahl bereitet wird; dort wandert ein Staatsbeamter im Neglige nach der Erdhütte, in welcher er das Bad zu nehmen Wil— lens iſt, und Domeſtiken folgen ihm mit Kleidern und Wäſche un— ter dem Arme und Geräthſchaften in den Händen.

Profeſſor Kupfer fand im Jahre 1827 ſchon einige hölzerne Privathäuſer zur Aufnahme der Kranken errichtet, und ſpäter wur— den auch von Seiten der Regierung mehrere ſteinerne Gebäude zu demſelben Zwecke erbaut. Nach Erdmann brechen die Schwefelquel— len, deren man hauptſächlich fünf unterſcheiden kann, aus einem un— gefähr 12 Faden hohen Abhange hervor, und ſammeln ſich in einem künſtlichen Reſervoir, von wo aus ſie in den Surgut fließen. Das Waſſer iſt wie das der Schwefelquelle von Alexejewsk farblos und klar, hat einen Geruch wie faule Eier, eine Temperatur von 7°, R.

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(nach Kupfer 6°, 5 R.), und bildet ebenfalls einen weißen erdigen Bodenſatz.

Die bedeutendſte Asphaltquelle liegt nordöſtlich von Sergiewsk in der Nähe der Quellen des Baitugan, eines kleinen linken Neben— fluſſes des Sof. Der Asphalt quillt hier mit dem Waſſer an der Seite eines mit Birken ſtarkbewachſenen Berges hervor, und ſam— melt ſich auf der Oberfläche des Waſſers in einer keſſelartigen Ver— tiefung, die man um die Quelle gemacht hat, ſo oft man ihn weg— ſchöpft, in wenigen Tagen wieder an. Er iſt ſehr dickflüſſig und theerartig, doch findet ſich mit ihm noch eine ſehr flüchtige reine Naphta, die man auf dem Waſſer, wiewohl in geringer Wenge, ſchwimmen ſieht, wenn man den Asphalt weggeſchöpft hat. Obgleich die Quelle keine ſprudelnde Bewegung hat, friert ſie doch ſelbſt im härteſten Winter nicht zu. Das Waſſer beſitzt den Geſchmack und Geruch des Asphalts im höchſten Grade. Die umherwohnen— den Tſchuwaſchen und Tataren gebrauchen daſſelbe, wie Pallas er— zählt, zum Gurgeln und Trinken bei Geſchwüren im Munde und Halſe. Auch des Asphalts bedienen fie ſich in vielen Fällen zu äußerm und innerm Gebrauch, indem ſie mit Butter eine Salbe aus ihm bereiten oder ihn in Wilch kochen. Der daſige Asphalt iſt, ſeiner Zähigkeit ungeachtet, ſo durchdringend, daß er, obgleich ihn Pallas an einem kalten Orte aufhob, durch dicke hölzerne Büchſen drang und zolldicke Bretter in wenig Wochen durchzog.

Die erwähnten Salzquellen ſind auf der Oſtſeite der Wolga häufig, aber nur ſchwach; dagegen findet ſich auf der Weſtſeite der— ſelben, an der Uſſolka, einem kleinen Bache, der ſich Stauropol ſchräg gegenüber in die Wolga ergießt, eine Quelle, die doch ſo ſtark iſt, daß ſie längere Zeit in dem Dorfe Uſſolie verſotten wurde.

Das herrſchende Geſtein in dieſer Gegend iſt Kalkſtein, Gyps und Wergel. Der Kalkſtein enthält aber an mehreren Orten ge— diegenen Schwefel eingemengt, und dieſem eingemengten Schwefel haben auch höchſt wahrſcheinlich die hier vorkommenden Schwefel— quellen ihre Entſtehung zu verdanken. In der größten Wenge findet er ſich auf dem rechten Ufer der Wolga in einem Berge, der ſich, zweiundzwanzig Werſte von der Stadt Samara und ſechs Werſte von dem dem Grafen Panin zugehörigen Dorfe Podgorje, an der

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Wolotſchka, einem Nebenarm der Wolga, der Mündung des Sof faft gegenüber, ſehr ſteil bis zu einer Höhe von 776,35 Fuß über das Viveau des Fluſſes erhebt, und beſonders mit dem Namen Schwefelberg (Sernaja Gora) bezeichnet wird. Er beſteht aus einem gelblich weißen dichten Kalkſtein, in welchem der gediegene Schwefel neſterweiſe mit blättrigem Gypſe vorkommt. Erſterer iſt meiſtentheils ganz rein, halb durchſichtig, derb oder kryſtalliſirt und fin— det ſich theils in ganz kleinen Parthieen eingeſprengt, theils in größeren Waſſen bis zu einem Gewichte von mehreren Pfunden, und auf dieſe Weiſe beſonders auf der Spitze des Berges. In der königlichen Sammlung in Berlin befinden ſich mehrere ſehr große Stücke von dem mit Schwefel gemengten Kalkſteine dieſes Berges, an welchem der Schwefel theils allein, theils mit Gyps und Strontſpath (ſchwe— felſaurem Strontian) enthalten iſt. Der Strontſpath, wie er hier vorkommt, iſt meiſtentheils kryſtalliſirt, ſeltener derb; die Kryſtalle haben wie die derben Maffen eine ſmalteblaue Farbe und find durch— ſichtig bis durchſcheinend.

Auf den Schwefel der Sernaja Gora war früher ein beſonde— rer Bau vorgerichtet, der aber ſchon zu Pallas' Zeiten aufgehört hatte. Der Schwefel wurde in verſchiedenen Tagearbeiten gewon— nen, der in größeren Stücken vorkommende derbe Schwefel ausge— klaubt, der eingeſprengte aber in einer am Fuß des Berges errich— teten Schmelzhütte durch Deſtillation in irdenen Retorten von der begleitenden Bergart getrennt. Die Menge des gewonnenen Schwe— fels betrug jährlich 1500 Pud, darunter 3 bis 400 Pud von dem ausgeklaubten derben Schwefel.

In neueſter Zeit hat man dem Schwefelberg wiederum größere Aufmerkſamkeit geſchenkt. In der Sitzung der geographiſchen Ge— ſellſchaft zu Petersburg, am 29. November 1854, wurde über eine während des verfloſſenen Sommers im Auſtrage der Geſellſchaft un— ternommene Expedition nach der Kirgiſenſteppe Bericht erſtattet, wobei der Reiſende, Hr. Auerbach, auch das Ergebniß ſeiner For— ſchungen mittheilte, die er auf dem Rückwege über die Schwefelgru— ben im Gouvernement Samara und insbeſondere über den Schweſel— berg angeſtellt hatte. Unter den Wineralien, die in Verbindung mit dem natürlichen Schwefel angetroffen werden, machte er beſonders

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auf die kryſtalliſirten Maſſen von blauem Coeleſtin (ſchwefelſaurem Strontian) aufmerkſam, ſowohl wegen der möglichen Anwendung zu pyrotechniſchen Zwecken, als wegen der Analogie mit ähnlichen Erſcheinungen in Sicilien, wo der Schwefel ſich gleichfalls mit die— ſem Mineral vermiſcht findet. Auerbach ſchreibt das Eingehen des Bergwerks den in jener Zeit niedrigen Preiſen des aus dem Aus— lande eingeführten Schwefels ſo wie den unvollkommenen bei der Ausbeutung des Lagers angewendeten Witteln zu, und erklärt die Wiederaufnahme dieſer Arbeiten, zumal in Rückſicht der billigen Preiſe des Brennholzes in jener Gegend und des bequemen Waſſer— transports, für ſehr wünſchenswerth und vortheilhaft. Aus den bis heute unbenutzten Abfällen des Lagers, aus denen das Minimum des durchſchnittlichen Schwefelgehaltes hervorgeht, ſchließt er auf einen ziemlich reichen Ertrag an Schwefel.

Die Reiſenden hielten ſich in Alexjewök nur gerade fo lange auf, als hinreichend war, um die Schwefelquelle zu beſehen, und ſetzten dann ihre Reiſe nach der Stadt Samara weiter fort, in der ſie nach kurzer Zeit anlangten, Die Stadt liegt auf der rechten Seite des Fluſſes Samara bei ſeiner Einmündung in die Wolga, auf dem Abhange einer ziemlich bedeutenden ſandigen Anhöhe, von welcher man eine ſchöne Ausſicht auf die majeſtätiſche Wolga und das rechte ſteile Ufer derſelben genießt. Die Stadt hat nur hoͤl— zerne Häuſer, iſt aber ziemlich groß und treibt einen bedeutenden Handel. Die Zahl ihrer Einwohner belief ſich 1851 auf 19,753.

Im Winter iſt, wie Pallas erzählt, Samara der Sammelplatz der Kaſimofſchen Handelstataren, die mit den am Ural von den Kirgiſen und Kalmüken eingetauſchten Lämmerfellen ſich hierher be— geben, dieſelben ſortiren, durch die ſich bei der Stadt einfindenden chriſtlichen Kalmüken gerben und in Pelze oder Tulupen zuſammennä— hen laſſen, bevor ſie ſie nach Moskau oder anderen Orten verführen. Der größte Theil der feinen Lämmerpelze, die in Rußland verkauft werden, kommt von hier; ſo wie auch die Pfoten der Lämmer hier von den Kalmükenweibern, denen man ſie mit zur Bezahlung an— rechnet, erſt in Riemen und dann in Pelze zuſammengeſetzt und wohlfeil verkauft zu werden pflegen. Wenn man ſich von Sa— mara auf 15 bis 20 Werſte entfernt, ſo findet man überall eine

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hohe Steppe mit ſchwarzem Boden vor ſich, auf welcher das Kraut oft faſt mannshoch wächſt und im Frühling abgebrannt werden muß. An ſolchen Orten haben die ſamariſchen Koſaken ihre Viehhöfe oder Chutori.

In Samara verließen unſere Reiſenden die große Orenburger Straße, und fuhren nun auf einem Nebenwege auf der Südſeite des großen nach Oſten gerichteten Bogens, den die Wolga zwiſchen Stauropol und Syſran macht, bis zu der Ecke, Syſran gegenüber, wo die Wolga wieder eine ſüdliche Richtung annimmt, und wo ſie auf das rechte Ufer hinüberſetzten. Der Weg iſt hier ganz eben und ſteppenartig, indem die Hügel nördlich von Samara auf das rechte Ufer hinüber ſetzen, und ſich mit den Schigulewſchen Bergen im Innern des Wolgabogens verbinden, oder fi) im Norden des Wol— gabogens bis Stauropol entlang ziehen. Er ſchneidet die Krüm⸗ mungen der Wolga ab, und geht gewöhnlich in ſolcher Entfernung von ihm entlang, daß man den Strom nicht im Geſicht behält. Da der Weg in dem ſteppenartigen Lande nirgends recht angezeigt iſt, und dadurch leicht verfehlt werden kann, ſo fuhr man auf ihm nur ſo lange es Tag war, und hielt während der Nacht in einem Dorfe an, indem man in den Wagen ſitzen blieb. Die Gegend wird hier, wie auch noch weiter öſtlich am Sok, von Tſchuwaſchen bewohnt, und iſt noch ziemlich bebaut, wiewohl die Dörfer in großen Ent— fernungen von einander liegen, und die Gehöfte der Bauern in den— ſelben ganz einzeln und getrennt von einander ſtehen. Die Tſchu— waſchen ſind wie die Ruſſen griechiſche Chriſten, und unterſcheiden ſich auch im Aeußeren gar nicht von den ruſſiſchen Bauern, beſon— ders was die Tracht der Männer anbetrifft; denn die Frauen haben allerdings noch manche Eigenthümlichkeiten beibehalten.

Am Worgen erreichte man das Dorf Nowa Koſttſchi, und ſetzte dann 8 bis 9 Werſte von demſelben, etwas oberhalb Syſrans, dem großen Dorfe Batrak auf dem rechten Wolga-Ufer gegenüber, über die Wolga, was bis gegen Wittag aufhielt.

Eine breite, ſanft anſteigende Schlucht führte die Reiſenden an dieſem Ufer auf die Höhe, auf welcher das Dorf liegt. Das ganze hohe rechte Wolga-Ufer iſt den Abſtürzen zu vergleichen, mit wel chen die Juraſchichten fo häufig aufhören und die ihnen fo oft das

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Anſehen eines Feſtungsglacis geben. In dem nördlichen Theile find es die Juraſchichten allein, die das Wolga-Ufer bilden; von Sim— birsk an aber werden fie noch durch die Schichten der Kreideſorma— tion bedeckt. Die letztere ſetzt ſehr weit ſüdlich fort und bedeckt die Juraformation in dem ganzen ſüdlichen Wolgagebirge, hört aber bald nördlich von Simbirsk auf und zieht ſich, nach den Unter— ſuchungen Leopolds von Buch, von hier nach Weſten, ſo daß die Juraſchichten hier in einer Linie, die dem öſtlichen Laufe der Wolga zwiſchen Niſche-Nowgorod und Kaſan ziemlich parallel geht, unter den Kreideſchichten hervortreten und die Oberfläche des Bodens bedecken.

Nach Pallas iſt der Wolga-Abſturz bei Simbirsk in drei Theile getheilt, welche ſich leicht von einander unterſcheiden. Obenauf liegt der weiße Kreidemergel mit vielen ganzen und zerbrochenen Muſchelſchalen; dann folgt ein grauer kieſiger Thon mit dem An— ſehn einer Alaunerde und voll zerſtreuter Verſteinerungen, dann endlich bis zur Wolga ein ſchwarzer, zäher, ganz pyritöſer Thon, der eine Wenge verkieſter Terebrateln und oft bis anderthalb Fuß große, wie mit einem irisfarbigen Firniß überzogene Ammoniten enthält.

In dem Dorfe Gorodiſtſche, zwanzig Werſte oberhalb von Sim— birsk, finden ſich in der gemengten thonigen Dammerde wirklich brenn— bare Kohlenflöze von ziemlicher Wächtigkeit, aber von geringem Werthe. Die ſchlechteren Lagen blättern an der Luft auf, und dieſe enthalten beſonders Ammoniten, Belemniten, ſo wie auch Telli— niten und feine Kammmuſcheln. Dieſe Verſteinerungen zeigen, wie L. v. Buch bemerkt, daß die Schichten, in denen ſie ſich finden, den mittleren Schichten der Juraformation angehören. Bei Syſran zeigt ſich ein ganz ähnlicher Kohlenſchiefer, der hier von einer faſt lach— terdicken Schicht von derbem weißgrauen Kalkſtein mit mehreren Arten von Ammoniten und höher hinauf von einer ſehr mächtigen bräunlichen Thonlage, die eine unſägliche Menge von kleinen und großen Belemniten und von anderen Seemuſcheln umſchließt, bedeckt wird. Bei dem Dorfe Koſtytſchi, funfzehn Werſte unterhalb Sy: ſran findet ſich in dem mergeligen Kalkſtein des Ufers eine große Wenge Asphalt, der dem Kalkſtein theils in kleinen tropfenähnlichen

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Körnern, theils in größeren bis mehrere Pfund ſchweren Waſſen beigemengt iſt. Der Asphalt iſt von großem Glanze und muſch— lichem Bruch, ſchmilzt und fließt am Lichte wie ſchwarzes Siegel— lack, entzündet ſich dann und brennt unter Verbreitung eines ange— nehmen Geruches, verlöſcht aber bald. Er wird von den Schmieden anſtatt des Pechs zum Verlacken des Eiſenwerks benutzt. In den mittleren und oberen Schichten der Juraformation pflegen Kohlen— ſchichten ſonſt nicht vorzukommen, und die von Gorodſtiſche und von Koſtytſchi find deshalb bemerkenswerth.

Von Batrak ging nun der Weg der Reiſenden auf dem hohen Ufer der Wolga, ihrem Laufe folgend, weiter fort, ſehr häufig mit der Ausſicht auf den mächtigen Strom, den ſteilen Abhang des dieſ— ſeitigen und die weite unendliche Ebene des gegenſeitigen Ufers. Dies giebt dem Wege einen eigenthümlichen Reiz, ohne welchen ſein ewi— ges Einerlei das Auge ermüden würde, denn die Gegend iſt meiſten— theils öde und unangebaut; Dörfer ſieht man nur wenige und ſelbſt auf den Stationen ſieht man nur einzelne Hütten, in welchen die Bauern mit den Pferden warten. Waldung iſt nur in den Niede— rungen zwiſchen den Bergen, denn die heftigen Winde, welche ſo häufig wehen, laſſen in der Ebene weiter nichts aufkommen, und auch die Waldung der Niederungen beſteht nur aus niedrigem Buſch— werk von Eichen, Linden, Weiden, Ebereſchen und Pappeln. Einige Werſte von der Ueberfahrtsſtelle waren die Reiſenden durch die Kreis— ſtadt Syſran gekommen, in der Nacht fuhren ſie durch Chwalynsk und am Wittag des zweiten Oktober waren ſie in Wolsk. Dies iſt ſchon eine größere Stadt (im Jahre 1849 betrug die Einwohner— zahl 14,570), ſehr anmuthig in einem keſſelförmigen Thale dicht an der Wolga gelegen und von den übrigen Seiten mit höheren Bergen, als die man bisher auf dem Wege angetroffen hatte, umgeben. Am höchſten ſind ſie auf der nördlichen Seite; die Straße führt über ſie und gewährt auf dieſe Weiſe den überraſchendſten Anblick auf die im Grunde gelegene Stadt und den daneben liegenden Strom. Die Berge beſtehen in der Höhe aus einem weißen, feinkörnigen Sand— ſtein, näher der Stadt aus einem weißen dichten Kalkſtein. In der Stadt ſelbſt gewähren die Wenge unvollendeter, wie Ruinen daſte—

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hender Gebäude einen traurigen Anblick. Sie rühren alle von einem Mitbürger der Stadt, dem Kaufmann Stowin her, der ſich durch glückliche Spekulationen ein bedeutendes Vermögen erworben hatte, womit er eine große Menge von Bauten unternahm, von denen, als er ſpäter bankerott wurde, ein großer Theil unvollendet ge— blieben iſt.

In Wolsk trafen die Reiſenden mit dem Gouverneur des Gou— vernements Saratow, dem Fürſten Gallitzin, zuſammen, welcher Humboldt bis hieher entgegen gekommen war, um ihn zu bewegen, die weitere Reife bis Saratow auf dem linken Wolga-Ufer, wo ſich die wichtigſten der deutſchen Kolonien befinden, fortzuſetzen, und ſich ſelbſt zum Führer durch dieſelben anbot. Ungeachtet der Eile, welche die vorgerückte Jahreszeit für die weitere Reiſe erforderte, und ob— wohl man die Aus ſicht hatte, einen Theil der deutſchen Kolonien auf dem rechten Wolga-Ufer unterhalb Saratow zu ſehen, ſo glaubte doch Humboldt ein Anerbieten nicht ausſchlagen zu dürfen, welches mit ſo vieler Zuvorkommenheit geſchah, bei der Leitung des Fürſten mit dem geringſtmöglichen Zeitaufwande verknüpft war und zu gleicher Zeit den Vortheil gewährte, den Zuſtand der deutſchen Ko— lonien auf der Wieſen- oder linken Seite mit dem der Kolonien auf der Berg- oder rechten Seite der Wolga vergleichen zu können.

Unſere Reiſenden verweilten noch den Nachmittag des zweiten Oktober und die folgende Nacht in Wolsk, da die Anſtalten zum Ueberſetzen über die Wolga doch nicht vor Abend beendet werden konnten, und benutzten den Abend, um einige Ausflüge in die Um— gegend zu machen. Sie beſuchten die Berge auf der Weſtſeite der Stadt und fanden ſie hier überall aus deutlicher Kreide beſtehend, die abfärbend und ſchreibend iſt. Einige Quellen, die aus derſelben hervorbrachen, hatten eine Temperatur von 6, 5 bis 7 R. (die Tem- peratur der Luft betrug 13°, 5); da fie aber alle mit einer Einfaf- ſung umgeben waren, in welcher ſich ihr Waſſer vor dem Abfließen ſammelte und durch die umgebende Luft erwärmte, ſo kann die ge— fundene Temperatur der Quellen kein ganz genaues Reſultat für die Temperatur des Bodens von Simbirsk geben.

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Am Morgen des 3. Oktober wurden die Wagen in der Frühe mit der Fähre über die Wolga geſetzt, während die Reiſenden ſelbſt ſpäter in einem Boote mit dem Fürſten und den Etatsräthen Stutz und Ernſt von der Tutelkanzlei für die deutſchen Kolonien hinüber fuhren, wozu fie dreiviertel Stunden Zeit gebrauchten.

Drittes Kapitel. Die deutſchen Kolonien an der Wolga.

Die deutſchen Kolonien fangen gleich Wolsk gegenüber mit der Kolonie Schafhauſen an, und ziehen ſich an dem linken Wolga-Ufer in einiger Entfernung von demſelben entlang bis zu der Kolonie Krasnoi Jar, die 25 Werſte von dem ruſſiſchen Dorfe Pokrowskaja, dem Ueberfahrtsorte nach Saratow, entfernt iſt. Eben ſo ziehen ſie ſich noch den großen und kleinen Karaman auſwärts, zwei Flüſſe, die nicht weit von einander und noch vor Krasnoi Jar ſich in die Wolga ergießen. Die Kolonien liegen meiſt nur wenige Werſte von einander entfernt. Der Weg führte unſere Reiſenden durch fol— gende: Schafhauſen, Baratajewska, Baſel, Zürich, Solothurn, Pa⸗ ninskoi, Lucern, Unterwalden, Suſannenthal, Baskakowka, Orlows— koi, Obermonjou, Katharinenſtadt, Kuno, Philippsfeld, Viedermon— jou, Swonarewka, Podſtepnoi und Krasnoi Jar.

Den ausführlichen Nachrichten, welche Prof. Goebel“) über die deutſchen Kolonien im Saratowſchen Gouvernement veröffentlicht hat, ſo wie einer geſchichtlichen Darſtellung der Anſiedelung und fer— neren Schickſale der Koloniſten (im Magazin für die Kunde des gei- ſtigen und ſittlichen Lebens in Rußland. 2. Jahrg. Petersb. 1854) entnehmen wir folgende Mittheilungen.

Mitten in Rußland, am majeſtätiſchen Wolgaſtrome, liegen

) Reiſe in die Steppen des ſüdlichen Rußlands. Th. 1. S. 227 ff. IV. 3

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im Saratowſchen Gouvernement eine Menge Dörfer, von beinah 200,000 Köpfen bewohnt“), deren Vorfahren aus Deutſchland im vorigen Jahrhundert einwanderten, deutſche Sitten und Mundart beibehielten und unter dem Namen der deutſchen Kolonien be— kannt ſind. Eigenthümlich überraſcht es den Reiſenden, wenn er in ein ſolches Dorf getreten, andere Bauart der Häuſer, andere Ein— richtungen im Innern, andere Kleidung bemerkt und die deutſche Mundart vernimmt. Dieſe Kolonien ſind eine von den großartigen und wohlthätigen Schöpfungen der Kaiſerin Katharina II., welche die Bewohner dieſer, in jenen Zeiten unruhigen Gegenden durch das Beiſpiel deutſcher Thätigkeit, ruhigen Gehorſams und aller daraus entſpringenden Vortheile, zur Nachahmung reizen wollte und da— durch Segen und Heil über eine große Provinz ihres unermeßlichen Reiches verbreitete. Herrlich ſind dieſe Kolonien gediehen und tra— gen jetzt einen großen Theil der Schuld an Rußland durch treue Pflichterfüllung ab, denn es waren größtentheils in Deutſchland verarmte Familien, welche hier ein gutes Unterkommen fanden und von denen viele jetzt im blühendſten Wohlſtande leben. Auf allge⸗ meine Wohlhabenheit iſt freilich nicht zu rechnen, denn verſchuldetes und unverſchuldetes Unglück macht, wie überall, auch hier wohlha— bendere oder ärmere Familien; doch hat man hier ein deutliches Bild von dem, was deutſcher Fleiß unter gehörigem Schutze ver— mag. Schon jetzt verdankt dieſes Gouvernement den Kolonien viel, denn gegen zwei Drittheile der Ausfuhr aus demſelben wird durch deren Hände gewonnen.

Von ihnen ſind die dortigen Baumwollenfabriken angelegt, welche in der Gouvernementsſtadt und auf den Kolonien eine Menge Hände beſchäftigen. Durch fie wurden die Eiſenarbeiten verbeſſert, ſo daß man die beſten Schmiede auf den Kolonien findet. Kratzen für wollene und baumwollene Zeuge, Kämme und Leinwand wer— den von ihnen angefertigt, Feld- und Tabaksbau werden beſonders daſelbſt cultivirt, die Mühlen ſind größtentheils durch ſie erbaut und verbeſſert, und das meiſte Wehl liefern jetzt nach Aſtrachan und Neu⸗Tſcherkask die Kolonien.

) Im Jahre 1852 betrug die Zahl der männlichen Bevölkerung 84,564, der weiblichen 81,919.

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Die Bewohner derſelben find im Allgemeinen ein ſchöner, ge— ſunder, kräftiger Wenſchenſchlag, ihre Ehen find fruchtbar und die Kinder gedeihen vortrefflich. Schon ſteht ihre Vermehrung in kei— nem recht guten Verhältniſſe mehr zu den ihnen angewieſenen Län— dereien und macht höchſt wünſchenswerth, ihnen in andern Gegen— den der Wolgaſteppe noch Wohnplätze anzuweiſen; denn kaum der vierte Theil von den Ländereien, welche bei der erſten Anſiedelung einem Koloniſten angewieſen wurden, fällt jetzt auf einen derſelben bei der zugenommenen Volkszahl, da der Einrichtung zufolge die Ländereien jährlich nach der Seelenzahl verloſt werden und in vie— len Familien die vierte Generation ſchon vorhanden iſt. Von die— ſem Umſtande hängt auch zum Theil ihre verſchiedene Wohlhaben— heit ab; denn außer der Betriebſamkeit des Hausvaters und der Sparſamkeit der Hausfrau iſt ihr Wohlſtand noch durch die Anzahl der Kinder bedingt. Je mehr eine Familie arbeitsfähige Kinder hat, um ſo mehr kann ſie ſchaffen und vor ſich bringen, da alles nutzbare Land in jeder einzelnen Kolonie gemeinſchaftlich iſt und nach der Seelenzahl, wie eben erwähnt, jährlich vertheilt wird, ſo daß der Vater mit vier Söhnen fünf Antheile bekommt, während der Vater mit einem Sohne nur zwei Antheile erhält. Freilich hat erſtere Familie auch wieder mehr Abgaben, allein fie ſtehen in kei⸗ nem Verhältniß zum möglichen Erwerbe. Iſt ein Hausvater kränk— lich, ohne Kinder, oder ſind dieſe klein: ſo kann er nicht nur nichts erwerben, ſondern er kommt auch ſelbſt immer mehr zurück, da jeder auf eigene und vielfache Thätigkeit angewieſen iſt. Große Familien pachten häufig von den Ruſſen oder den angrenzenden Gütern Land, bebauen daſſelbe und ziehen ſomit beſondern Gewinn, wenn ſie über— flüſſige Arbeitskräfte haben.

Die Wohnungen der Koloniſten ſind auf allen Kolonien von gleicher Bauart, nur zeichnen ſich einzelne durch beſondere Sauber— keit und durch Größe vor andern aus.

Jeder Koloniſt hat einen beſtimmten, immer gleich großen Flächenraum für ſeine Wohnung, ſeine Ställe, ſeinen Hof, und Garten inne. Gewöhnlich enthält das Haus zwei Stuben, eine Küche und ein kleines Vorhaus. In der einen Stube wird geſchla— fen, die andere dient zum Wohnzimmer, bei vermehrter Familie je

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doch auch zur Schlafftube der Kinder. Nicht ſelten bewohnen in- deß jetzt mehrere Familien dieſe kleinen Räume gemeinſchaftlich, nämlich der Vater nebſt Frau, ſodann noch ein, bisweilen zwei, ja ſelbſt hin und wieder drei Söhne mit ihren Frauen und Kindern. In ſolchen Fällen iſt folgende Einrichtung getroffen: die eine Stube enthält an den Wänden die verſchiedenen zweiſchläfrigen Betten, hoch und ſauber aufgebaut, nach deutſcher Sitte, mit Federn geſtopft, in möglichſt weiter Entfernung von einander aufgeſtellt und mit bunten, reinlichen, vollkommen verſchließbaren Vorhängen verſehen. Im zweiten Zimmer befinden ſich die Unverheiratheten und die Kin⸗ der, und zwar an der einen Seite der Wand neben einander die Mädchen, an der andern gegenüber befinden ſich die Knaben. Am Morgen iſt allgemeiner Aufſtand, das Schlafgeräthe wird zur Seite geſchafft und der leere Raum dient zur Wohnſtube.

Größere wohlhabendere Familien haben ihre Wohnungen nach ihren Bedürfniſſen vergrößert, ſie haben außer den erwähnten Räu⸗ men noch eine Stube und einen ſogenannten Saal, ja es giebt ſelbſt einzelne Häuſer, welche außer dem Saale ſogar vier Zimmer ha— ben. Jede Wohnung iſt mit den erforderlichen Ställen und einem geräumigen Hofe verſehen; auch befindet ſich hinter derſelben ſtets ein kleiner Garten, der gewöhnlich von dem Garten eines andern Koloniſten begrenzt wird, ſo daß die Wohnhänſer in zwei verſchie— dene Straßen auslaufen, die breit und, wegen der beſchriebenen Ein— richtung, regelmäßig mit Häuſern beſetzt erſcheinen.

Die Anſiedelung der Koloniſten im Saratowſchen Gouberne: ment geſchah in den Jahren 1763 bis 1770, auf Veranlaſſung des unter dem 22. Juli 1763 erlaſſenen Allerhöchſten Manifeftes, unter der Aufſicht der damaligen Tutelkanzlei für die Ausländer, welche von der Kaiſerin Katharina II. blos zu dieſem Geſchäfte errichtet worden war.

Aus Baiern, Sachſen, Würtemberg, Hannover, Baden, Heſſen, Tyrol, Elſaß, Lothringen, Frankreich, der Schweiz und den Viederlan— den hatten ſich Schaaren von Auswanderern eingefunden, um im fer— nen Oſten eine Ruheſtätte zu finden. Von Oranienbaum aus hatten ſie auf Befehl der Kaiſerin für die weitere Reiſe durch das Innere

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Rußlands Kleider, Vorſpann und Tagegelder zum Ankauf der Le— bensbedürfniſſe empfangen.

In den Bezirken von Saratow, Kamyſchin, At narsk und Wolsk wurden ihnen zu beiden Seiten der Wolga Plätze zum Anſiedeln angewieſen. (Die Kolonie Sarepta, im Zaritzin⸗ ſchen Bezirke, darf als eine Anſiedelung der evangeliſchen Brü— derunität, verſehen mit beſondern Privilegien, jenen Kolonien nicht beigezählt werden). Die innere Eintheilung war ihnen ſelbſt überlaſ— ſen. Es ſtand ihnen frei, ſich ihre Wohnplätze an verſchiedenen Flüſſen auszuwählen, und beſonders am Fluſſe Irgis, welcher bei feiner Mündung in die Wolga vorzüglich ſchöne Ländereien und Heuwieſen hat, ſtanden ihnen, da hier noch wenig oder gar nicht angebaut war, hinreichend geräumige Stellen offen. Leider jedoch begingen die Koloniſten einen Fehler, der ihren Nachkommen jetzt noch zum größten Vachtheil gereicht; denn, ausſchließlich für die Ge— gegenwart bedacht, legten ſie damals ihre Dörfer fo dicht neben einan— der an, daß z. B. die 20 erſten Kolonien mit ihren Ländereien in Allem nur eine Breite von 20 Werſten haben und ſpäter, bei Zu— nahme der Bevölkerung, das Land auf 10 bis 15 Werſte vom Wohnorte entfernt bewirthſchaftet werden mußte.

Die Anſiedler wurden in vier Abtheilungen gebracht. Die erſte gehörte der hohen Krone und hieß die unmittelbare, die zweite dem Baron Bork, woher die Kolonie Katharinenſtadt im Ruſſiſchen auch Baronskaja heißt; fie bildet gegenwärtig den Bezirk von Kathari— nenſtadt, welcher am kleinen Karaman und an der Walga liegt; die dritte, am großen Karaman und großen Tarlik angeſiedelt, enthält die drei Bezirke von Krasnoi Jar, Tonkoſchurowka und Tarlik und gehörte dem Director La-Roy; die vierte endlich, die auf der Bergſeite am Fluſſe Ilawla angeſiedelte Abtheilung, gehörte dem Director Munny. Die drei letzteren Abtheilungen der Kolonien ſtan⸗ den unter der unmittelbaren Verwaltung der Directoren und muß⸗ ten denſelben ven allen ihren Erzeugniſſen den Sehnten abgeben. Weil dieſe Einrichtung aber zu Wißbräuchen führte, ſo wurde ſie nach kurzer Zeit durch die Kaiſerin wieder aufgehoben und alle Kolonien unmittelbar der Krone untergeordnet.

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Der Kolonialbezirk dieſer Anſiedelungen zerfällt in vier Gruppen, wovon zwei auf der rechten oder Bergſeite der Wolga im Gouver— nement Saratow liegen.

Die erſte Gruppe liegt 35 Werſte von der Gouvernementsſtadt Saratow ſtromaufwärts an der Wieſenſeite der Wolga und enthält 41 Kolonien, welche in vier Bezirke eingetheilt ſind. Drei davon, der krasnojarſche, katharinenſtädtiſche und der paninskiſche erſtrecken ſich nordöſtlich von Saratow, am linken Ufer der Wolga hin, bis ganz nahe an die Kreisſtadt Wolsk. Die zwei letzteren Bezirke gehören nach der neueſten Verordnung der Regierung in den nikolajewſchen Kreis. Der tonkoſchurowſche Bezirk hingegen dringt, ſüdlich vom krasnojarſchen Bezirk, in die weite uraliſche Steppe, und iſt längs dem großen Karaman auf beiden Seiten deſſelben angebauet. Der Bezirk von Krasnoi Jar und Tonkoſchurowka gehören in den nowouſenſchen Kreis.

Die zweite Gruppe liegt ſüdlich von Saratow, 40 Werft ent— fernt, und beſteht aus dem tarlikſchen Bezirk mit 15 Kolonien, der mit ſeinen Getreidefeldern nach Oſten, theils an, theils über die große, 10 Werſt breite ſogenannte Salzſtraße (vom Elton-See nach Saratow) geht. Von dieſen Dörfern hängen 14 längs der Wolga zuſammen, zwiſchen ihnen und der 15. Kolonie liegen aber zwei ruſſiſche Ortſchaften.

Die dritte und größte 1 liegt gegenüber dem tarlikſchen Bezirke an der Bergſeite der Wolga, enthält 43 Kolonien und zer— fällt in die Kreiſe Sosnowka, Norfa, Kamenka und Uſtkulalink. Der letztere reicht mit feinen Kolonien an das Gebiet der Kreisſtadt Kamyſchin, der norkiſche Bezirk dagegen erſtreckt ſich weſtlich an den Kreis Atkarsk.

Die vierte und letzte Gruppe liegt nördlich von Saratow und beſteht aus drei Kolonien, welche wegen ihrer Entfernung einen be— ſonderen, den jagodnajapolianſchen Bezirk bilden.

Die deutſchen Dörfer wurden anfänglich nach dem erſten Orts— vorſteher benannt, erhielten aber in der ruſſiſchen, wie in der deut— ſchen Kanzeleiſprache größtentheils andere Namen. Die Verwal— tung aller auf die deutſchen Kolonien bezüglichen Angelegenheiten iſt dem Comtoir der ausländiſchen Anſiedler zu Saratow zugewieſen.

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Die 102 Wutterkolonien, welche in den Jahren 1763 bis 1770 ſo entſtanden ſind, gewinnen noch mehr an Bedeutung, wenn man einen Rückblick auf den Zuſtand dieſer Gegend in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wirft. Die Stadt Saratow hatte kaum ein Zehntheil ihrer jetzigen Größe; ſie war ein unanſehnlicher Flecken, und bloß der Wohnſitz eines Wojewoden gab ihr einiges Anſehn. Kamyſchin und Zarizin waren noch unbedeutender; Wolsk und Attkarsk, die damals ſchon beſtanden, weren kleine, mit Palli⸗ ſaden und Erdwällen befeſtigte Städte, die jedoch weder Handel noch Betriebſamkeit förderten, ſondern blos als Schutzwehren gegen die verheerenden Einfälle der umherſchweifenden aſiatiſchen Völker dien: ten, Gegen dieſe hatten beſonders die auf der Wieſenſeite angeſie— delten Koloniſten viel zu kämpfen und Manche mußten ihr Leben dabei aufopfern.

Die Apanagen-Dorfer am Fluſſe Irgis (Vikolajewka), die Kronsdörfer am Fluſſe Uſin (Nowouſinskaja), find Viederlaſſungen ſpäterer Zeit. Vor der Anſiedlung der Deutſchen war die ganze Wieſenſeite, ſo wie ſie bisher das Gouvernement Saratow begrenzte, eine unwirthbare Wüſtenei, wo nur menſchenſcheue Thiere, die An— tilope (Saigak) und das wilde Pferd ſich aufhielten. Auch auf der Bergſeite lag ein großer Theil nach Süden unbebaut, und Räubergeſindel gefährdete die Landſtraßen.

Durch ihre Betriebſamkeit im Ackerbau begründeten die auslän⸗ diſchen Anſiedler den mit jedem Jahre höher ſteigenden Getreide— handel der Gouvernements Saratow und Sſamara mit den ſüd— weſtlich und nordöſtlich liegenden Theilen Rußlands. Ganz befon- ders aber hob ſich der Wohlſtand der an der Wolga liegenden Ort— ſchaften.

Auf der linken (Wieſen⸗) Seite der Wolga ſtrömen folgende Flüſſe in dieſelbe: der kleine und große Karaman, der Tarlik und der große Jeruslan. Aus dieſen Flüſſen entſtehen einige Neben- flüſſe, die fi) größtentheils in der Steppe verlieren, z. B. das Flüß⸗ chen Gaiſul, der Fluß Gaiſul und Wetſchetna, die kleine Wetelka, der kleine Bispik, der Gränucha und der Susli. Wälder und Heu- ſchläge ſind an dieſen Flüſſen ſehr unbedeutend und finden nur an den Mündungen derſelben in die Wolga ſtatt, woſelbſt eine jede

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Kolonie ihre Heuſchläge und mitunter auch Waldungen beſitzt, wo— her dieſe Seite der Wolga den Namen „Wieſenſeite“ bekommen hat. Waſſer iſt auf dieſer Seite wenig enthalten; weshalb auch nur wenige Waſſermühlen an den Flüſſen gebauet ſind und durch Dämme etwas Waſſer aufgehalten wird. An den entfernten Stellen müſſen Brunnen gegraben werden, die zuweilen in 6 bis 18 Faden Tiefe kaum Waſſer geben. Der Boden iſt ſehr verſchieden. Große Land— ſtrecken find falpeter- oder ſalzhaltig und können nur zu Viehweide benutzt werden. Die rechte oder die Bergſeite der Wolga iſt von der Natur reichlich mit Waldung und Waſſer verſehen, die Ilawla und andere Flüſſe entſtrömen der Hochebene von Waldai und führen in vielen Nebenarmen der Wolga reines Quellwaſſer zu, womit viele Waſſermühlen geſpeiſt werden. Zwar mangelt es den Bewohnern der Bergſeite an flachem Ackerlande, aber die Fruchtbarkeit des Bo— dens und die reizend ſchöne Lage gewähren ihnen große Vorzüge vor den Bewohnern der Steppe. f

Die Berufung und Anſiedlung der Koloniſten koſtete der Krone 5,199,813 Rbl. 23 Kop., welche Summe den Koloniſten als Schuld angerechnet wurde, die ſie nach und nach abbezahlen ſollten. Von dieſer Schuld wurde jedoch durch Allerhöchſten Befehl (d. 20. April 1782) die Summe von 1,210,197 Rubel 694 Kopeken erlaffen, und zwar 1,025,403 Rbl. 974 Kop., verwendet von der Krone zur erften Aufbauung der Koloniſtenhäuſer und Kirchen; 17,941 Rbl. 25 Kop., ausgegeben um den Kranken der Eingewanderten ärztliche Hülfe zu geben; 136,470 Rubel 23 Kop. Schulden der auf der Reiſe von Or mienbaum bis nach Saratow verſtorbenen Familien. 30,382 Rbl. 232 Kop. Schulden der in den erſten Jahren durch die Kirgiſen in Gefangenſchaft genommenen Familien.

Dieſe Schulverlaffung erſtreckt ſich aber natürlich nu: auf die— jenigen Koloniſten, welche im Lande bleiben; wer in's Ausland zu— rückkehrt, zahlt feinen Antheil auch an dieſen Schulden.

Von 1786 bis 1797 wurden als Schuldabtrag von jedem Ko— loniſten, 16 bis 60 Jahre alt, 3 Rbl., und von 1797 bis 1833 nue 1 Rubel zurückgefordert, in der That eine ſo kleine Summe, daß die Regierung wohl nicht milder verfahren konnte. Später wurde den Koloniſten noch zur Abtragung des Reſtes der Schuldmaſſe ein

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Zeitraum von 10 Jahren bewilligt. Am 1. Januar 1834 hatten ſie, nach Abrechnung der ſchon geleiſteten Zahlungen noch zu ent— richten: 1,851,734 Rubel 264 Kopeken, d. h. zurückzuzahlende Schuld, denn die oben bezeichneten ihnen erlaſſenen Summen wer— den nicht zurückzuzahlende Schulden genannt.

Im Jahre 1775 betrug die Anzahl der männlichen Anſied— ler 11,986 und die der weiblichen 11,198, in Ganzen alſo 23,184. Sie bildeten 5502 Familien. Demnach hatte ſich das Verhältniß gegen die Einwanderung von 8000 Familien mit 27,000 Seelen ungünſtig geſtellt. Die Gründe, welche hierauf eingewirkt hatten, waren verſchieden; ſo hatten ſich manche von den Einwanderern als Soldaten anwerben laſſen, und viele andere waren theils dem Heimweh, theils dem ungewohnten Klima und der dürftigen Lebens— weiſe erlegen. Ueberhaupt war die Lage der erſten Anſiedler, aller Vorſorge und Unterſtützung von Seiten der ruſſiſchen Regierung unge— achtet, nichts weniger als günſtig. Es war eine ſchwere Schule, welche die Einwanderer, völlig unbemittelt, in einem fremden, unbebauten Lande, ohne Kenntniß des Ackerbaues, nur bewandert in Handwer— ken und Gewerben, die hier weder geſucht noch verlangt wurden, durchzumachen hatten. Dazu geſellte ſich auch wohl bei Manchen Mangel an Fleiß und Betriebſamkeit, und die Neigung, das vor— geſchoſſene Geld (der erſte Vorſchuß im Jahre 1766 beſtand aus 150 Rubel für jeden Wirth) zu verſchwenden. Die Alten, heißt es in der oben erwähnten „geſchichtlichen Darſtellung der Anſiedlung und ihrer ferneren Schickſale“, die Alten erzählen viel davon, wie ihre Väter nicht einmal die gewöhnlichen Handgriffe in der Land— wirthſchaft verſtanden, wie fie mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, bis fie nur in den ländlichen Hauptarbeiten eingeübt waren, wie es ihnen ſchwer fiel, ſich in ihre neue Lage zu ſchicken, ſich an das hieſige Klima und Leben zu gewöhnen. Die erſten Anſiedler waren aus allen nur denkbaren Schichten der Geſellſchaft, waren in ihrer früheren Heimath und von Jugend auf an die verſchieden artigſten Beſchäftigungen gewöhnt, und nur der bei weitem kleinere Theil beſtand aus eigentlichen Ackerbauern. Dieſe mußten die Stelle der Lehrmeiſter im Landbau übernehmen. Wie konnten Leute, die in ihrem Leben kaum einen Pflug geſehen, die nicht einmal ver—

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ftanden ein Pferd anzuſpannen, die Landwirthſchaft betreiben? So erzählt man ſich noch von den erſten Koloniſten, daß, wenn einer von ihnen ausfuhr und ſich ihm unterwegs das Pferd ausſpannte, weil es ſchlecht eingeſpannt war, er warten mußte, bis durch Zufall ein Anderer, des Anſpannens Kundiger, deſſelben Weges kam und für Geld oder gute Worte den Anſpann wieder in fahrbaren Zu— ſtand verſetzte. Aber neben dem Wangel an Kenntniß waren auch Trägheit, Vachläſſigkeit, Mangel an gutem Willen Urſachen der langſamen Entwickelung der Landwirthſchaft. Denn es iſt bekannt, daß die erſten Anſiedler morgens zur Arbeit geweckt werden muß— ten, daß ſie anſtatt zum Pflügen oder in die Ernte zu fahren zuvor „blauen Wontag“ hielten, welcher öfters noch den Dienſtag dauerte. Erſt mit dem rechten Betriebe der Viehzucht und des Ackerbaues begann ein neues Leben unter den Einwanderern.

Im Jahre 1797 waren 19,485 Koloniſten männlichen und ver⸗ hältnißmäßig eben ſo viele weiblichen Geſchlechts vorhanden. 1816 zählt man 31,195 männliche und 29,990 weibliche Seelen und im Januar 1833 beinah 52,300 männliche und 50,069 weibliche Indi⸗ viduen, alſo über 100,000 Köpfe. Daß dieſe Zahl im Jahre 1852 bis auf 166,483 Seelen (84,564 männliche und 81,919 weibliche) heranwuchs, iſt oben ſchon erwähnt worden.

Die Kolonien der Wieſenſeite haben im Beſitz 229,328 Desjä- tinen, 222 Faden urbares Land und 169,705 Desjätinen, 427 Faden Steppe. Die auf der Bergſeite befindlichen Ländereien der Koloni- ſten beſtehen in 209,672 Desjätinen, 1286 Faden urbaren Landes und in 216,866 Desjätinen, 378 Faden Steppenlandes. Waldun⸗ gen haben blos die drei Kolonien des jagodnajapolianſchen Kreiſes und die drei Kolonien an der Wedwediza.

Das Land iſt und wird auf die männliche Seelenzahl der Re— viſion von 1797, zu 20 Desjätinen brauchbaren Landes auf jede Seele, zugemeſſen. Die Obrigkeit hat darauf zu ſehen, daß jeder Kolonie nach dieſem Maaßſtabe vom Lande werde, was derſelben zu— kommt. Die innere Vertheilung iſt den Gemeinden ſelbſt überlaſſen. Einige vertheilen es auf die männliche Seelenzahl, andere auf die Familien. In einigen Gemeinden wird eine ſolche Vertheilung auf 6, in andern auf 10 Jahre gemacht. Heuſchläge, Wieſenwachs und

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Gartenland werden beſonders berückſichtiget und verloſet; ebenſo das Holz, doch giebt es deſſen wenig und alle Koloniſten brennen Miſt, der beſonders dazu bereitet werden muß.

Durch den ungemein großen Zuwachs der Bevölkerung iſt in mehreren Kolonien das Ackerland ſo ſparſam geworden, daß die einzelnen Familien nicht mehr die ihnen von der Krone zugedachten Ländereien, hinſichtlich der Desjätinenzahl, erhalten können. Da nun bereits außerhalb der Kolonialgrenzen alles Land vergeben iſt, oder ſeine anderweitige Beſtimmung hat, ſo wird ſich mit der Zeit die Verſetzung einer großen Anzahl Koloniſten in andere Gegenden nothwendig machen. Die Erzeugniſſe des Feldbaues der Koloniſten beſtehen hauptſächlich in Sommerweizen, Winter- und Sommerrog— gen, Hafer, Gerſte, Spelt, Hirſe, Kartoffeln, Lein und Tabak. Bei den Kolonien auf der obern Wieſenſeite ſind Weizen und Ta— bak die Hauptprodukte, obgleich auch alles übrige gepflanzt und gebaut wird. Auf den Kolonien der untern Wieſenſeite wird hauptſächlich Weizen, Tabak jedoch weniger gezogen. Auf der Bergſeite wird vorzüglich Korn und Weizen, Tabak aber faſt gar nicht gebaut.

In guten Jahren wird auf den Kolonien erzielt: 350,000 Tſchetwert Sommerweizen, 300,000 Tſchetwert Winterroggen, 1500 Tſchetwert Sommerkorn, 20,000 Tſchetwert Hirſe, 250,000 Tſchetwert Hafer, 70,000 Tſchetwert Gerſte, 1000 Tſchetwert Erb⸗ ſen, 200 Tſchetwert Linſen, 5000 Tſchetwert Leinſamen, 3000 Tſchet⸗ wert Hanf, 200,000 Tſchetwert Kartoffeln und 250,000 Pud Tabak. In neueſter Zeit ſind die Ergebniſſe des Ackerbaus noch bedeutender geworden. Im Jahr 1851 erntete man 216,682 Tſchetwert Win⸗ terfrucht, 1,082,727 Sommerfrucht und 378,239 Pud Tabak. Wem es auffallen ſollte, daß die Koloniſten ſo viel Leinſamen bauen, dem dient zur Antwort, daß ſie im Winter Lampen brennen und zu dieſem Behufe ſelbſt das Oel aus dem Tabakſamen ſchlagen. Es giebt wohl keine deutlichern Beweiſe von der Betriebſamkeit und dem Fleiße des Koloniſtenvölkchens, als obige Angabe der Ausbeute ihrer Feldwirthſchaft. Indeß mag als Beweis von der Thätigkeit einzelner Koloniſten noch folgende vom General- Superintendenten Huber zu Woskau, ehemaligem Oberpaſtor zu Saratow, mitgetheilte

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Thatſache erwähnt werden. In der Kolonie Brokhauſen war der daſige Koloniſt Stump ſchon gegen Ende Oktobers vollkommen fertig mit Einerndten, Ausdreſchen und Einführen. Er hatte ſeine Wirthſchaft beſorgt mit 3 Pflügen, 2 Knechten und ſeiner Familie, die, außer ihm und ſeiner Frau, noch aus einem Schwiegerſohne nebſt der an dieſen verheiratheten Tochter beſtand, und der Ertrag ſeiner Felder war: 300 Tſchetwert Winterweizen, 150 Tſchetwert Winterroggen, 80 Säcke Hafer und 40 Säcke Gerſte (den Sad = 8 Pudowka).

Von Gemüſearten werden alle gewöhnlichen Kohlarten, feine Gurken, Wöhren und dergleichen angebaut, indeſſen nur zu eigenem Bedarf, ausgenommen in der Kolonie Sebaſtianowka und in den drei Kolonien, welche am Woskauſchen Wege liegen. In bejondes rer Wenge wird ein ſchöner Kopfſalat von den Koloniſten gebaut und von ihnen gern und häufig zu Eiern mit Speck gegeſſen. Maulbeerbaumplantagen befinden ſich auf allen Kolonien; die beſten aber bei und um Schafhauſen herum, wo ein in Wolsk als Kauf⸗ mann eingeſchriebener Koloniſt gegen 8 Pud Seide jährlich gewinnt.

Diejenigen Kolonialprodukte, welche ſich beſonders auszeichnen und am meiſten Abſatz finden, ſind Weizen und Tabak. Tabak und Weizen, darauf richten ſich die Hauptbeſtrebungen der Koloniſten. Von allen Ländereien wird nur das Tabaksfeld gedüngt; die Frucht⸗ felder zu düngen halten fie, wie überhaupt alle Landwirthe des ſara— towſchen Gouvernements, wegen der jetzigen Produktionskraft des Bodens und der dortigen klimatiſchen Verhältniſſe, für nachtheilig. Regen und abermals Regen zu rechter Zeit, iſt alles, was man bis jetzt daſelbſt bedarf.

Da wo die Koloniſten begrenzt ſind, haben ſie das Dreifelder— Syſtem, da aber wo den Ackerluſtigen die freie Steppe freundlich zuwintt, da verlachen fie alle Wirthſchaftsſyſteme der Welt. Das Ackergeräthe der Koloniſten iſt das in Deutſchland gebräuchliche. Zum Aufreißen, vorzüglich der ſriſchen Steppe, bedienen ſie fi des beutfchen, ſpitzigen Pflugſchaars. Zur Bearbeitung des Tabaks⸗ oder Kartoffellandes aber wird gewöhnlich das runde Pflugeiſen angewendet.

Eine gute Erndte giebt zehn⸗ und vierzehnfältiges Korn, eine

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ſchlechte das dritte und vierte. Gänzlicher Wißwachs iſt unerhört, denn auch im Jahre 1833, das äußerſt hart war, ja ſelbſt im Jahre 1815, das bei anhaltender Dürre noch eine Art kleiner Heu— ſchrecken erzeugte, hat der Koloniſt feine Ausſaat zweifach wieder erhalten.

Hornvieh- und Pferdezucht ſind auf den Kolonien nicht ganz unbedeutend, nur iſt hier an beſonders gute Racen nicht zu den— ken. 80,000 Pferde, 200,000 Stück Hornvieh, 80,000 Schweine, 100,000 Schafe ruſſiſcher Art, darin beſteht ungefähr der Viehſtand der Koloniſten. Außerdem befinden ſich auf den Kolonien 8 ſpaniſche Schäfereien mit 1500 Mutterſchafen, Werinorace; von der Wolle, welche nicht die beſte ſein ſoll, werden jährlich etwa 100 Pud, à 3 Rbl. per Pud, verkauft. Die Winterfütterung dauert in der Regel 6 Monate und beſteht in Heu und Stroh.

Die Ställe der ſpaniſchen Schafe ſind von Holz. Die Kolo— niſten bauen aber mitunter Ställe für ihr Vieh auch aus Feldſteinen und Lehmpatzen.

Auf den Kolonien befinden ſich 620 Weberſtühle, welche jähr— lich 450,000 Arſchin gemeines Tuch und Baumwollenzeug, theils zum eigenen Gebrauche, theils zum Verkaufe liefern.

Die Kolonien haben 191 Waſſer- und 195 Windmühlen, die den Gemeinden jährlich 25,000 Rbl. Pachtzins entrichten; auch ha= ben die Kolonien, welche an der Wolga liegen, bedeutende Einkünfte von der Fiſcherei.

Ueber den Tabaksbau und das Brennmaterial auf den Kolonien theilt Prof. Goebel noch folgende intereſſante Einzelhei— ten mit:

Der Tabaksbau iſt für die Koloniſten eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle und um ſo einträglicher, als derſelbe größtentheils von den Frauen und Kindern betrieben wird, zu einer Zeit, wo die Männer mit andern Feldarbeiten beſchäftigt ſind. Der Tabak wird hauptſächlich in den auf der Wieſenſeite liegenden Kolonien angebaut und zwar in zwei Sorten. Man baut fogenannten deut— ſchen oder virginiſchen und ſogenannten ruſſiſchen oder Bauerntabak. Das zum guten Tabak beſtimmte Land wird im Herbſte umgeackert, damit der Boden durch ſeine Lockerheit die Feuchtigkeit des Winters

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und Frühjahrs beſſer aufnehme; auch wird das Land noch im Herbſte mit Mift befahren, dieſer jedoch erſt im Frühjahr geſtreut und ein⸗ geackert. Iſt nun die Zeit des Pflanzens herbeigekommen, ſo begiebt ſich die ganze Familie an dieſes Geſchäft. Der Koloniſt haut mit einer Hake, zwiſchen zwei gezogenen Schnuren gehend, zu beiden Seiten der Schnuren kleine Löcher und an jedes Loch legt nun die ihm folgende Frau oder ein Kind eine junge Pflanze. Auf dieſe folgt ein Wann, ein erwachſener Sohn u. ſ. w., kurz ein männliches Wit⸗ glied der Familie, und füllt die Löcher mit Waſſer, welches von einem dritten herbeigefahren wird, oder ſchon vorher, nicht ſelten aus wei⸗ ter Entfernung herbeigebracht worden iſt. So wie das Waſſer die Löcher befeuchtet hat, wird von der Frau oder von einer größeren Tochter die Pflanze eingeſetzt und mit Erde angedrückt. Iſt auf dieſe Weiſe das Feld bepflanzt, ſo überläßt man es, ohne die Pflanzen fernerhin zu begießen, ſich ſelbſt, d. h. den mehr oder minder günſti⸗ gen Einflüſſen der Witterung, denn während des Heranwachſens der Pflanzen iſt der Mann vollauf anderweitig beſchäftigt, mit Ackern, Einerndten u. ſ. w. und kümmert ſich erſt wieder um ſeinen Tabak beim Sortiren und Verkaufe deſſelben.

Die Frauen und Kinder haben bald nach dem Verpflanzen das ſtark aufſchießende Unkraut auszujäten, durch welches die junge Ta⸗ bakspflanze erſtickt werden würde, wenn man es überhand nehmen ließe; dagegen wird alles Unkraut von den Tabakspflanzen ſelbſt erſtickt, ſo wie dieſelben eine gewiſſe Größe erhalten haben. Durch die ſich ausbreitenden Blätter wird alsdann auch der Boden beſchat— tet und gegen die austrocknende Gluth der Sonne geſchützt. Man läßt jetzt die Pflanzen bis zur Blüthe ungehindert wachſen, bricht aber alsdann die Knospen und die aus den Blattwinkeln hervor— kommenden Stengel ab, damit die Blätter um ſo größer und brei— ter werden. Auf dieſe Art behandelt, trägt der virginiſche Tabak 4 bis 8 Blätter, der ruſſiſche aber weit mehr, jedoch von geringe— rem Umfange. Nur einzelne Pflanzen läßt man ungehindert wach— ſen, um wieder Samen zu gewinnen. |

Fangen die untern Blätter an gelb zu werden, fo ift der Tabak, wie man zu ſagen pflegt, reif, und nun werden ebenfalls wieder von

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den Frauen und Kindern die Blätter abgebrochen, die ſtarke Wittel⸗ rippe, des beſſern Austrocknens wegen der Länge nach aufgeſchnitten und an dieſer Stelle an einen hölzernen Stab aufgeſpießt. Dieſe mit Blättern beſetzten Stäbe werden hierauf nach den Tabaks-Schop⸗ pen gefahren und daſelbſt zum Austrocknen auf folgende Weiſe auf— geſpeichert: Die Tabaks-Schoppen ſind hölzerne mit Stroh gedeckte Gebäude, deren Wände aus einem Weidengeflechte beſtehen, um von allen Seiten der Luft einen Durchgang zu gewähren. Die mit Blättern bedeckten Stäbe ſteckt man nun mit dem einem Ende in horizontaler Richtung auf eine Latte, welche in gehöriger Entfer— nung vom Weidengeflechte an eingeſchlagenen Säulen befeſtigt iſt. So füllt man die eine Seite des Schoppens, der durch dieſe Latten eine Art Gang bekommt, dergeſtalt an, daß man über- und unter⸗ einander die mit Blättern beſetzten Stäbe anbringt. Auf gleiche Weiſe ſpeichert man nun den Tabak an der andern Wand des Schoppens auf und füllt endlich den in der Mitte des Schoppens übrig gebliebenen Gang ebenfalls an. Hier trocknen die Blätter im Verlaufe des Sommers vollſtändig aus, doch läßt man fie abficht- lich bis zum Herbſte oder bis zum einbrechenden Winter darin ver— weilen, damit ſie in dieſer Jahreszeit wieder etwas Waſſer einziehen und dadurch biegſam und geſchmeidig werden. Iſt dies der Fall, ſo ſchafft man dieſelben in die Stube, befreit ſie von den Stäben, ſondert die beſſern gelben Blätter und legt nun Blatt auf Blatt, dieſelben mit den Händen auf dem Tiſche ausſtreichend, übereinan- der. Hat man auf dieſe Weiſe eine Lage, ein Bündel erhalten, ſo wird es an den Stielen mit einem andern Tabaksblatte umwickelt, einſtweilen bei Seite gelegt und ſodann mit mehreren andern Bün— deln in Haufen ſchwach gepreßt, wodurch die Blätter (durch die entſtehende Erwärmung) feucht werden, nach dem Ausdrucke der Arbeiter ſchwitzen und bedeutend an Güte gewinnen. So bleibt der Tabak nun liegen bis zum Verkaufe.

Einzelne Koloniſten kaufen häufig den Tabak auf und bringen ihn nach Saratow, wo ſich jetzt eine bedeutende Rauch- und Schnupf⸗ tabaksfabrik befindet, welche die Blätter weiter verarbeitet und dann verſendet. Ebenſo kommen auch ruſſiſche Aufkäufer in die Kolonien. Der ruſſiſche Tabak iſt ergiebiger als der virginiſche oder deutſche;

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die Pflanzen bringen kleinere Blätter, aber in größerer Anzahl und von größerer Dicke und Schwere. Er wird in bedeutender Quan— tität an die Steppenvölker, die Kalmüken, Kirgiſen und Tataren abgeſetzt.

Das Brennmaterial auf den Kolonien beſteht in den Ex— crementen des Hornviehes, die entweder für ſich angewendet oder erſt beſonders zubereitet werden; denn nur einige Kolonien auf der Bergſeite haben Waldung, die übrigen auf der Berg- und Wieſen⸗ ſeite beſitzen gar kein Holz und benutzen nur zum Anzünden etwas Geſtrüppe von genista tinctoria oder Zweige von Weiden und Pappeln, die an den Ufern und auf den Inſeln der Wolga wach— fen. Der Mift und überhaupt die Excremente des Hornviehes wer— den nicht zum Düngen der Felder benutzt, denn der Boden iſt hier noch ſo reich an Pflanzennahrung, daß man den Dünger ſogar für nachtheilig hält; er wird nur als Brennmaterial verbraucht.

Während des Sommers, wo das Vieh auf der Steppe weidet, ſammelt man die Ereremente deſſelben, die bei der ſtarken Erwär— mung des Bodens und der Luft in dortiger Gegend ſchnell trocknen und fährt dieſelben zu ganzen Fudern, und zwar Jeder, der dazu Luſt hat, nach den Dörfern. Hier werden ſie, ſo wie ſie ſind, unter Speichern aufgeſchichtet und im Winter zur Feuerung gebraucht. Anders iſt die Zubereitung des Miftes. Im Frühjahre, noch bevor die Pferde zum Pflügen des Ackers gebraucht werden, wird der in den Ställen vorhandene Wintermiſt, nebſt der halbverfaulten Streu und dem verzettelten Heu, in's Freie gefahren, daſelbſt in Haufen aufgeſchichtet und mit ſo viel Waſſer begoſſen, bis er weich und knetbar geworden iſt. Man ebnet hierauf die Oberfläche der Hau— fen und giebt ihnen eine Dicke von ungefähr einem Fuß und einem Durchmeſſer von 12 Fuß. Nun läßt man dieſelben jo lange durch drei nebeneinander gebundene Pferde, welche man darauf herumtreibt oder reitet, durchtreten, bis das Ganze in eine ziemlich homogene, formbare Maſſe verwandelt worden iſt. Dieſe Waſſe wird ſodann in hölzerne Formen gedrückt, ähnlich denen, die man in Deutſchland zur Anfertigung der Backſteine anwendet und ſo werden zur Zeit ſtets 4 bis 6 Backſteine gewonnen. Vach einigen Tagen ſchon ſind dieſe Backſteine ſo weit getrocknet, daß man ſie auf die hohe Kante

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ftellen kann; noch fpäter ſtellt man fie in hohle Haufen auf, läßt fie vollends austrocknen und ſtehen bis zum Herbſte, wo die Feld: geſchäfte beendigt ſind und wo ſie nun nach den Dörfern gefahren und im Winter verbrannt werden.

Die deutſchen Koloniſten an der Wolga ſind theils katholiſcher, zum größten Theil aber evangeliſcher Confeſſion. Unter den von Humboldt und Roſe beſuchten Kolonien ſind nur Solothurn, Pen— nisfoi, Lucern und Obermonfou katholiſch, die übrigen ſämmtlich evangeliſch. Die urſprüngliche Verſchiedenheit der Koloniſten in Sprache, Mundart, Glaubensbekenntniß, Sitten, Gebräuchen und Trachten hat ſich durch die gemeinſchaftliche Anſiedelung ſeit 90 Jah— ren zum Theil bedeutend vermindert, beinahe auch ganz aufgehoben, ſo daß z. B. außer der Landesſprache in dieſen Kolonien nur deutſch geſprochen wird und deutſche Lebensweiſe vorherrſchend zu bemerken iſt. „Es erregte in uns,“ ſchreibt Prof. Roſe, „ein höchſt freudiges und rührendes Gefühl, ſo ferne von dem vaterländiſchen Boden auf eine ſo große Erſtreckung nun die vaterländiſche Sprache zu hören und vaterländiſche Sitten und Gebräuche zu ſehen, und es war uns ſehr wohlthuend, die Bewohner dieſer Kolonien durch die Fürſorge einer liberalen und für ſie wohlwollenden Regierung glücklich und mit ihrem Schickſale zufrieden zu finden. Wir konnten es daher dem Fürſten Gallitzin nur Dank wiſſen, uns zu dieſer Reiſe bewogen zu haben, die er durch ſeine freundlichen Vorkehrungen eben ſo unter— richtend als angenehm gemacht hatte.“

Die deutſchen Koloniſten an der Wolga, die in der Kaiſerin Katharina II. die Begründerin ihres gegenwärtigen Wohlſtandes ver— ehren, haben derſelben in der Kolonie Katharinenſtadt ein Denkmal errichtet, welches am 6. Juli 1852 (dem Geburtstage des verſtorbenen Kaiſers Nikolaus) feierlichſt enthüllt wurde. Die Bronzeſtatue der Kaiſerin, eine Arbeit des Profeſſors Baron von Klot“) in Peters⸗ burg, iſt gerade auf dem Altarplatz der jetzt abgebrochenen älteſten evangeliſchen Kirche der daſigen Gegend aufgeſtellt “). Katharinen⸗—

*) Der nämliche Künſtler, welchem Berlin die vor dem Königlichen Schloſſe aufgeſtellten Roſſebändiger verdankt. Näheres darüber findet man in dem mehrfach erwähnten von Mayer IV. 4

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ſtadt ift der Hauptort der Kolonien, an welchem auch neben den Ackerbauern eine große Anzahl von Profeſſioniſten anſäßig ſind.

Es war ſchon 4 Uhr Abends geworden, als unſere Reiſenden in Petrowskaja anlangten, worauf ſie noch in derſelben Nacht nach der Gouvernementsſtadt Saratow überſetzten. Humboldt hatte an— fänglich nur die Abſicht, den Reſt der Nacht und einige Stunden des folgenden Tages daſelbſt zu verweilen, um die Inclination der Magnetnadel näher zu beſtimmen; doch die liebenswürdige Gajt- freundſchaft des Fürſten veranlaßte unſere Reiſenden auch noch den übrigen Theil des Tages in Saratow zuzubringen. Nach einem glänzenden Mittagsmahl beſahen fie in feiner Geſellſchaſt die Stadt und einige merkwürdige Anſtalten derſelben, wie das Gymnaſium und das Irrenhaus, und fuhren dann zu einem Bergſchlipf, der ſich kürzlich in der Nähe der Stadt ereignet und viel Aufſehen gemacht hatte. Saratow hat eine ähnliche Lage wie Wolsk, aber das keſſel— förmige Thal iſt viel größer und bildet eine ziemlich bedeutende Ebene neben der Wolga, an deſſen ſüdöſtlicher Ecke die Stadt liegt. Sie wird in die neue und alte Stadt eingetheilt, die erſtere iſt re— gelmäßig gebaut, hat gerade Straßen, mehrere große Plätze und eine Wenge ſteinerner, zum Theil recht geſchmackvoller Gebäude. Die Berge im Norden der Stadt, in welchen der Bergſchlipf ſtatt— gefunden hatte, beſtehen aus Sandſtein. Einige auf einer geneigten Thonſchicht liegende Schichten waren herabgeglitten und hatten den Bergſchlipf veranlaßt, der mehrere Häuſer ſortgeriſſen oder beſchä— digt hatte.

Prof. Goebel (Reife in die Steppen ꝛc. Bd. 1) theilt folgende Notizen zur Statiſtik von Saratow mit:

Saratow ſoll im Jahr 1591 auf Befehl des Zaren Feodor Iwanowitſch erbaut worden ſein. Da die in der Umgegend und beſonders jenſeits der Wolga in der Steppe nomadiſirenden Hor— den keinen Flecken, kein Dörfchen aufkommen ließen, ſo legte man, um ihnen einigen Einhalt zu thun, mehrere Städte an dem Wolga— ſtrome an, ſo daß Samara, Saratow, Zarizyn als Schöpfungen

herausgegebenen Magazin, Bd. 1 „Denkmal der Kaiſerin Katharina II., er⸗ richtet von den deutſchen Anſiedlern an der Wolga.“

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jener Zeit hervorgingen. Eine Volksſage giebt an, Saratow ſei am linken Ufer der Wolga, 7 Werſt oberhalb der jetzigen Stadt, am Flüßchen Saratow entſtanden; allein man hat dieſen Platz, auf welchem in der That Werkmale von Gebäuden wahrzunehmen ſind, genau unterſucht und gefunden, daß er nicht mehr als 22,500 Qua⸗ dratfaden enthält, weder eine Spur von einem doppelten Erdwalle, wie ausdrücklich die Sage hinzuſetzt, noch ſonſt von irgend einem Feſtungswerke (verſteht ſich im Sinne jener Zeit) wahrnehmen läßt, und doch hätte ſo ganz frei, zumal am linken Wolgaufer, in der Steppe, in den damaligen Zeiten, der Ort nicht aufkommen können.

Saratow auf der Bergſeite war über hundert Jahre lang von einer hölzernen Feſtung mit Thürmen und Ihoren umgeben. Auf der nördlichen Anhöhe (Sokolowije Gori) ſtand ein Wachtthurm, auf welchem die dort poſtirte Stadtwache ſogleich Lärm machte, wenn Nomaden fid) in der Ferne zeigten. Uebrigens raubten und plün— derten zu jenen Zeiten auch die Koſaken, beſonders auf der Wolga. Der Koſak Stenka Raſin war lange Zeit der Schrecken aller Ufer— bewohner. Aſtrachan wurde von ihm geplündert, eben ſo 1671 das ihm von den Einwohnern übergebene Saratow, wobei er auch den Mojewoden Kusma Lapuchin nebſt feiner Leibwache, die ſogenannte Bojarkij Djeti, ermordete. Damals hatte Saratow nur drei höl— zerne Kirchen und ſein Durchmeſſer betrug nicht über 300 Faden. Der erſte Schritt zur Erweiterung Saratows geſchah 1700 durch Anſiedelung hierher geſendeter, Ackerbau treibender Soldaten. Ganz beſonders aber entſchied das Schickſal zu Gunſten Saratows 1781 (nachdem daſſelbe 7 Jahre vorher, den 7. Auguſt 1774, von dem Rebellen Pugatſcheff geplündert worden war, wobei faſt ſämmtliche Beamte ermordet wurden), denn in dieſem Jahre wurde die Stadt von der Kaiſerin Katharina II. zum Sitz eines Statthalters er⸗ nannt. Wit unglaublicher Schnelle hat ſich aber Saratow ſeit dem Jahre 1804 vergrößert, denn ſeit dieſer Zeit hat ſich daſſelbe um mehr als das zehnfache ausgedehnt, obgleich es 1812 faſt ganz ab⸗ brannte und 1819, 1820, 1821 und 1822 andere Feuersbrünſte be⸗ deutende Verheerungen anrichteten. Jetzt enthält Saratow 354 ftei- nerne und 2821 hölzerne Privathäuſer, 12 griechiſch-ruſſiſche Kirchen, 2 Klöfter, eine ſteinerne evangeliſche Kirche mit einer Schule, eine

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hölzerne katholiſche Kirche und eine hölzerne Wetſchet, dem Islamis— mus geweiht. (Saratow zählte im Jahre 1851 73,988 Einwohner.)

Zwei Gardes de cötes gehen, fo lange die Wolga vom Eiſe befreit iſt, an der Wolga auf und ab, um die Schifffahrt zu ſichern, und ein beſonderer Strandaufſeher von Seiten der Waſſer- und Wege⸗Communicationsverwaltung nimmt die Rechte derſelben wahr, beſtraft die Polizeivergehen des Schiffsvolks und ſchlichtet ihre Hän— del mit den Schiffseigenthümern.

Saratow, als der Sitz eines Biſchofs, hat ein geiſtliches Se— minar mit 600 Lernenden.

Die Fabrik-Induſtrie beſchränkt ſich auf Tauwerk-Spinnereien, Strumpfwirkereien und Webereien. Wit Einſchluß von zwei Ta— baksfabriken wird jährlich für 250,000 Rbl. erzielt und verkauft. Die Zahl der Arbeiter in dieſen Fabriken beläuft ſich gegen 300 Wann. Weit mehr und zwar für 800,000 Rbl. liefern eine Glockengießerei, eine Töpferei, mehrere Ziegelbrennereien, Seifenſie— dereien, zwei Wachsbleichen und zwei Bierbrauereien. Dieſe Ge— werbe beſchäftigen Jahr aus Jahr ein gegen 460 Arbeiter und zu gewiſſen Zeitperioden oft mehr als noch einmal ſoviel.

Der ANctivhandel der Stadt beläuft ſich jährlich auf mehr als 6 Willionen Rbl., den Ertrag der erwähnten Fabriken, ſo wie den Er— lös für Wehl an das kaukaſiſche Corps, von 300,000 Rbl. nicht mit inbegriffen. Der Paſſivhandel beläuft ſich auf eine Summe von 87 Millionen, die Einfuhr beſteht in Luxusartikeln, Kaffee, Thee, Zucker, Tuch, Seidenwaaren, Baumwollenzeug, Pelzwerk, Porzellan und Glas, Steinzeug, ſo wie in Eiſen, Korn, Talg, Fellen, Salz, Fiſchen, Hornvieh, Pferden u. ſ. w. N

Die Ausfuhr hat zum Gegenſtande: Korn, Talg, Salz, Fiſche, Häute, Baſtmatten, Stricke, Taue und hat ihre Richtung nach den St. Petersburgiſchen, Woskauſchen, Tulaſchen, Kaſanſchen, Aſtra— chanſchen, Orenburgſchen und Doniſchen Gouvernements. Korn, beſonders Weizen, geht theils die Wolga hinauf nach Kaſan, theils ſtromabwärts nach Aſtrachan und in das Land der Doniſchen Ko— ſaken. Talg, Fiſche u. ſ. w. werden nach St. Petersburg und Mos— kau zu Lande transportirt. Wit Ausnahme des Korns, treibt Sa= ratow eigentlich nur einen Zwiſchenhandel.

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Die Zahl der jährlich in Saratow ankommenden Fahrzeuge be— läuft ſich ungefähr auf 250 bis 300, die für 2 bis 23 Millionen Fracht haben. Von Saratow aus werden jährlich 60 bis 100 Fahrzeuge abgefertigt, die für 14 bis 2 Millionen Rbl. Waaren am Bord haben.

Die Fiſchereien der Stadt ſind ebenfalls ſehr bedeutend, ſie er— ſtrecken ſich 30 bis 40 Werſt in die Länge und gegen 537 Faden in die Breite.

Am Worgen des 5. Oktober verließen die Reiſenden Saratow. Statt der Herren Stutz und Ernſt begleitete ſie jetzt der Hofrath Engelke, um ſie durch die deutſchen Kolonien auf der Bergſeite der Wolga zu führen. Vach 12 Werften kamen ſie auf eine bedeuten⸗ dere Höhe, von welcher ſie die Stadt zum letzten Wale erblickten, und fuhren dann auf ebenem Boden und in größerer Entfernung von der Wolga weiter. Bei der zweiten Station fangen die deut— ſchen Kolonien der Bergſeite an, die ſich von hier bis gegen Ka— myſchin fortziehen, aber ſich nicht allein anf der Poſtſtraße, ſondern auch noch näher an der Wolga finden. In Talowka machten die Reiſenden bei dem Schulzen Wittag, und fanden hier alles eben ſo reinlich und ordentlich, wie bei den Koloniſten des linken Wolga— ufers. In der Kolonie waren mehrere Ziehbrunnen, die alle in einer Tiefe von 74 bis 8 Faden gutes, zum Kochen und Trinken brauchbares Waſſer enthielten. Die Temperatur deſſelben wurde bei drei Brunnen unterſucht und 4°, 6; 4°, s und 4°, gefunden. Die zweite Kolonie und dritte Station von Saratow, Uſt-Salicha, erreichte man erſt nach Sonnen-Untergang und die übrigen wurden in der Nacht paſſirt.

Von Uſt⸗Salicha hat man noch vier Stationen bis zur Kreis— ſtadt Kamyſchin. Die Reiſenden hatten ſich vorgenommen, von dort aus den 127 Werſt ſüdöſtlich von Kamyſchin in der Steppe gelegenen, und wegen ſeiner bedeutenden Salzproduction ſo wichti— gen Elton-See zu beſuchen, und von ihm gleich nach dem Flecken Dubowka, der faſt eben ſo weit weſtlich vom See liegt, zu gehen, um hier die Poſtſtraße nach Aſtrachan wieder zu gewinnen. Da der Salztransport von dem Elton⸗See in Wagen geſchieht, die mit Ochſen beſpannt werden, und Dörfer, in denen Pferde zu miethen

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find, fih nur in den nächſten Umgebungen der Wolga befinden, ſo werden zu den Reiſen der Offizianten des Salzweſens jährlich eine Menge Pferde in dieſen Dörfern gemiethet, welche, ſobald der Befehl von der Behörde gegeben wird, an die beſtimmten Orte ge— ſtellt werden müſſen. Durch die Güte des General- Gouverneurs von Saratow ſollten auch unſere Reiſenden von dieſen Pferden Gebrauch machen können; er hatte den Polizeimeiſtern in Kamyſchin und Dubowka den Befehl zukommen laſſen, die Pferde, deren die Reiſen— den zur Hin⸗ und Rückreiſe bedürfen ſollten, an den beſtimmten Tagen auf den Wegen von Kamyſchin und von Dubowka zum Elton⸗See aufzuſtellen.

Der Polizeimeiſter von Kamyſchin war Humboldt indeſſen bis nach Kamenka, der nächſten Station von Uſt-Salicha, entgegenge— kommen, und wurde erſt hier von dem Boten des Fürſten Gallit- zin erreicht, der ſchon in Kamyſchin geweſen war, und nun wieder bis hierher zurückkehrte, wo er kurz nach Ankunft der Reiſenden eintraf. Die Aufſtellung von Pferden von Kamyſchin zum Elton⸗ See hatte demnach nicht beſorgt werden können. Der Polizeimei— ſter verſprach ſofort die nöthigen Einrichtungen zu treffen, und ſchlug vor, die Nacht in Kamenka zu bleiben, und erſt den folgenden Worgen nach Kamyſchin abzureiſen, wo man dann alles eingerichtet finden ſollte, um am 7ten die Reife nach dem Elton-See antreten zu können. Humboldt glaubte indeſſen keine Zeit verlieren zu dür— fen, weshalb die Excurſion nach dem Elton-See aufgegeben, und ungeſäumt die Reiſe nach Kamyſchin fortgeſetzt wurde.

Am Morgen des 6. Oktober waren unſere Reiſenden ſchon in Bjeloglinskaja, der erſten Station hinter Kamyſchin. Es iſt nur ein einzelnes Poſthaus, das zwiſchen kahlen Bergen liegt, die, ſo viel man bei ſchneller Durchreiſe bemerken konnte, nur aus feſter, wenig abfärbender Kreide beſtehen.

Dergleichen einzeln ſtehende Poſthäuſer wie in Bjeloglinskaja finden ſich auch auf den übrigen Stationen bis Dubowka; die Dör— fer liegen näher an der Wolga und in den Schluchten der Berge.

Der Weg hält ſich immer in größerer Entfernung von der Wolga, und führt auf der Höhe fort, die öde und einförmig iſt, und nur in den Niederungen, oder den zur Wolga führenden

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Schluchten und Thälern Buſchwerk von Eichen und anderm Laub: holz führt, denn Tannen oder Fichten finden ſich hier gar nicht. So gelangte man am Tten in der Frühe nach Dubowka, und kam hier wiederum zur Wolga.

Dubowka iſt hart an der Wolga und am Abhange der Höhen gelegen, die hier niedriger als gewöhnlich find. Es iſt ein lebhaf— ter Flecken, der ſtarken Handel treibt, wozu die große Nähe des Don Veranlaſſung giebt, der ſich hier der Wolga bis auf eine Entſer— nung von 60 Werſten nähert. Die Produkte von Kaſan, dem Ural und von Aſtrachan werden daher hier auf Wagen nach dem Don transportirt, und auf dieſem weiter den Häfen am Afowfchen Meere und dem übrigen Europa zugeführt. Schon oft hat dieſe große gegenſeitige Annäherung der beiden Ströme den Gedanken an eine Kanalverbindung beider rege gemacht, ohne daß ſie bis jetzt ausgeführt worden wäre. Wan hat dieſelbe theils hier, theils weiter ſüdlich bei Zarizyn, wo die Ströme einander am meiſten ge— nähert ſind, beſonders aber nördlich bei Kamyſchin, vorgeſchlagen, wo der kleine Zufluß der Wolga, die Kamyſchenka, ſich dem Zu— fluſſe des Don, der Ilawla, bis auf die geringe Entfernung von fünf Werſten nähert. Hier ſind auch die Arbeiten zur Ausführung dieſes Plans ſchon zweimal angefangen worden, im Jahre 1568 durch die Türken unter Selim II. und 1716 durch die Ruſſen unter Peter dem Großen, wie man noch an den Ueberreſten zweier breiten, aber trocknen Gräben ſehen kann, die von der Kamyſchenka ziemlich weit weſtwärts fortgeführt ſind und in nicht großer Entfernung von einander liegen. Auch ſpäter unter der Regierung der Kaiſerin Katharina II. wurde an die Ausführung dieſes Planes gedacht und der Aſtronom Lowitz nach Kamyſchin geſendet, um die nöthigen Weſſungen und Vivellements anzuſtellen. Derſelbe verlor aber bei dem Aufſtande der Koſaken unter Pugatſcheff im Jahre 1774 ſein Leben, noch ehe er die Arbeit vollendet hatte, und obgleich der Plan unter Alexander wieder aufgenommen und die Weſſungen vollendet wurden, blieb die Kanaliſation doch unausgeführt. Bei der Nivel- lirung des Waſſerſtandes der beiden Flußſpiegel hatte man gefunden, daß der Spiegel der Wolga 100 Fuß tiefer läge als der des Don, indem der Fall von dem Theilungspunkte der Kanalwaſſer bis zur

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Wolga 310 Fuß, dagegen bis zum Don nur 210 Fuß betrug. Es iſt möglich, bemerkt Prof. Roſe, daß die durch dieſen Umſtand für die Ausführung des Kanals herbeigeführten Schwierigkeiten dieſelbe verhindert haben, obgleich ſie den zu gewinnenden Vortheilen keinenfalls das Gleichgewicht halten.

In Dubowka hörten unſere Reiſenden, daß die Pferde, welche ſie, dem Befehl des Gouverneurs zufolge, vom Elton-See nach Du— bowka bringen ſollten, auf den verſchiedenen Stationen wirklich auf— geſtellt ſeien. Da ſie demnach mit ihnen auch zum Elton-See ge— langen konnten, ſo entſchloß ſich Humboldt, nun von hier aus die Excurſion nach dem See zu machen, wozu auch ſogleich die Anſtal— ten getroffen wurden. Dieſe beftanden hauptſächlich darin, das noth— wendigſte Gepäck in die kleinen in Rußland gebräuchlichen Wagen zu packen, die man durch Hülfe des Polizeimeiſters leicht erhielt. Denn wegen des beſchwerlichen Transports der großen Reiſewagen über die Wolga ſchien es zweckmäßig, dieſelben in Dubowka zurück— zulaſſen, wohin man doch wieder zurückkehren mußte. Um 9 Uhr war die Ueberfahrt über die Wolga ſchon bewerkſtelligt, worauf die Reiſenden dann bei ſchönem heitern Wetter ihren Weg in die ſich auf der Oſtſeite ausbreitende Steppe antraten.

Viertes Kapitel Der Elton⸗See.

Die Entfernung des Elton-See von Dubowka wird 102 Werſte gerechnet. Sieben Werſte von der Wolga ſteht noch das ruſſiſche Dorf Rachinka, dann finden ſich hier und da noch einzelne Weier— höfe (Chutora), wo ruſſiſche Bauern ihren Viehſtand halten, aber auch dieſe werden, je ferner von der Wolga, je ſeltener. Das Land ſtellt eine faſt vollkommene Ebene dar, die hier und da nur etwas wel— lig iſt, doch in der Regel einen vollkommenen Horizont wie das Meer bildet. Bei der ſpäten Jahreszeit war die Vegetation ſchon größ— tentheils verdorret, der ſpärliche Pflanzenwuchs beſtand nur aus dem niedrigen, hinkriechenden Polygonum oviculare, das eine ganz rothe Farbe hatte, und mehreren Arten von Chenopodien. Schon lange hatte der Salztransport, der im Frühjahr und im Sommer die Wege, die zum Salzſee führen, belebt, aufgehört, und alles umher war öde und einſam; nur in der Ferne ſahen die Reiſenden häufig die flüchtigen Saiga-Antilopen einzeln, oder zu kleinen Heerden ver— ſammelt, vorüber ſpringen, und auf und neben dem Wege rollte der heilige Käfer Ateuchus sacer die aus Wiſt geformten Kugeln, worin er ſeine Eier gelegt hatte. Viel größer als er ſelbſt, verber— gen dieſe Kugeln ihn faſt ganz, und nur bei genauerer Unterſuchung, ſieht man feine Anſtrengung, dieſelben mit den Hinterfüßen fortzus ſchieben, um ſie in ſeine unterirdiſche Wohnung zu wälzen. Es war dieſelbe Art, die Prof. Ehrenberg in den Wüſten Afrikas ges funden hatte, die auch dort faſt das einzige lebende Weſen in der

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Wüſte bildete, und die hier wiederzufinden ihm nicht geringe Freude machte.

Von Zeit zu Zeit ſind bei dem Wege kleine Brunnen angelegt, die mit Brettern eingefaßt ſind und von der Regierung unterhalten werden, damit die Salzfuhrleute an ihnen ihr Vieh tränken können. Die erſten, welche man traf, waren 20 Werſte von Rachinka ent— fernt, und wurden Korotkoi kolodez (die kurzen Brunnen) genannt. Es waren ihrer zwei, die beide eine gleiche Tiefe von 64 Faden, und eine Temperatur von 6% R. bei einer Temperatur der Luft von 16, hatten. Vicht viel verſchieden, 6% war die Tempera— tur eines anderen Brunnens, den man 10 Werſte weiter bei dem Golowin⸗chutor, dem letzten Weierhofe auf dieſem Wege, antraf. Hier fanden die Reiſenden auch die erſten friſchen Pferde; dann wechſelten ſie dieſelben noch dreimal; bei der fünften Station, die ſie erſt nach Sonnenuntergang erreichten, trafen ſie aber keine friſchen Pferde an, weshalb ſie genöthigt waren, mit denſelben Pferden, die ſie zuletzt erhalten hatten, auch noch den übrigen Theil des Weges, im Ganzen 40 Werſte, zurückzulegen. Die Nacht war kalt, der Wind hatte ſich zwar vollkommen gelegt, ſie hatten dadurch aber nur um ſo mehr in ihren niedrigen Wagen von dem Staube zu leiden, den die Pferde auf dem trockenen Boden erregten. Um 2 Uhr erreichten fie endlich den Elton-See, wo fie natürlich Niemand erwartete und wo fie nur mit Mühe in einem der hier befindlichen Gebäude auf der Weſtſeite des Sees Einlaß fanden. Während des Winters, wo nicht gearbeitet wird, bleibt nur ein Beamter an Ort und Stelle, der mit einem Koſakenoffizier und einigen Koſaken die Aufſicht über die Gebäude und die Salzniederlagen führt.

Wir ſchicken zunächſt aus Goebel's „hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Nach— richten über den Eltonſee““) Folgendes voraus:

Bis zum Anfang des 18ten Jahrhunderts war dieſer See in der alleinigen Herrſchaft der damals in dieſem Theile der Steppe nomadiſirenden Kalmüken. Sie nannten ihn Altan-Vor, d. h. gols dener See, entweder deshalb, weil bei einer gewiſſen Beleuchtung von der Sonne, beſonders gegen Abend, die Oberfläche des Sees

8) Reife in die Steppen. Bd. 1.

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goldfarbig erſcheint, oder auch vielleicht aus dem Grunde, weil durch Verkauf des aus dem See gewonnenen Salzes ihnen eine Quelle von Reichthum zufloß. Handeltreibende Ruſſen, welche mit den Kalmüken beim See einen Tauſchhandel gegen Salz trieben, erbau— ten daſelbſt im Jahre 1705 eine Verſchanzung von Erde, um ſich gegen die Anfälle der dortigen Nomaden zu ſichern und nannten den See Elton.

Von jener Zeit an begannen die Bewohner Saratows und Kamyſchins ſich ſelbſt mit der Ausfuhr des im See gewonnenen Sal— zes zu beſchäftigen, zahlten für jedes Pud Salz zu Saratow 3 Ko— peken Zoll und verkauften daſſelbe in den nahe gelegenen Provin— zen. Im Jahre 1747 fand ſich die Krone veranlaßt, (da nämlich die Salzfuhrleute von den Kalmüken ſehr oft angefallen und be— raubt wurden) beim Elton-See eine beſondere Salzverwaltung ein— zurichten, zu deren Sicherung neue Verſchanzungen anzulegen und dieſelben mit Wilitär und Kanonen zu verſehen. Von dieſen Schan— zen ſind indeß jetzt kaum einige Spuren mehr wahrzunehmen.

Mit der im Jahre 1780 angeordneten Begrenzung mehrerer Gouvernements wurde der Elton-See zum Saratowſchen Gouver— nement gezogen und iſt ſeit jener Zeit nach Verweiſung der in deſſen Nähe nomadiſirenden Völker, alleinige Beſitzung des ruſſi— ſchen Reichs.

Der Elton⸗See liegt in ebener Steppe, nach den barometriſchen Meſſungen von Goebel (unſere Reiſenden hatten ihr Barometer in Dabowka zurückgelaſſen, aus Furcht es in den leichten Wagen zu zerbrechen, und konnten alſo ſelbſt keine Beobachtungen anſtellen) noch 9, 5 Toiſen unter dem Spiegel der Wolga bei Kamyſchin und nur 9, s Toiſen über dem Niveau des Kaſpiſchen Meeres. Seine Ge— ftalt iſt oval, fein größerer Durchmeſſer von Weſten nach Oſten bes trägt 20 Werft, fein kleinerer von Süden nach Norden 16 Werft, und der ganze Umfang ſeiner Peripherie 47 Werſt. (Nach einer Wittheilung des Präſidenten Kobülin in Saratow bedeckt er eine Fläche von 180 Quadrat⸗Werſt.) Das Ufer hat an mehreren Or⸗ ten eine Höhe von 3 bis 7 Faden und beſteht aus Thon. Spuren von Schaalthieren (Pallas fand Verſteinerungen von Kammmuſcheln) hat weder Goebel noch Roſe darin bemerkt. Unter dem Thone, der

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mit einer dünnen Lage von Dammerde in der Nähe des Sees be— deckt iſt, findet man in verſchiedener Tiefe (von 2 bis 8 Faden) Sand.

Auf der weſtlichen Seite des Sees führt der von Kamyſchin und Saratow kommende Weg zum See über eine breite ausgedehnte Schlucht, mittelſt hölzerner Brücken. Am nördlichen Ufer wächſt Schilf. Zunächſt zwiſchen dem Ufer und der Waſſerfläche des Sees iſt der Boden moraſtig, mit Salzkräutern bedeckt, in welchen ſich eine Menge Waſſervögel aufhalten; nur an der rechten Seite, bis zum Flüßchen Charyſacha, iſt derſelbe ſandig. Je nach den wehen— den Winden wird das Waſſer des Sees auf dieſe Stellen getrieben, oder wieder davon entfernt, ſo daß ſie ſtets moraſtig bleiben und einen höchſt unangenehmen Geruch verbreiten. Dies iſt auch der Grund, weshalb man Kanäle aus dem See bis zu den feſten Ufern, ſo wie hölzerne Brücken und Dämme errichtet hat, um mittelſt der— ſelben das im See gebrochene Salz zum Ufer zu ſchaffen. In der Nähe des Sees und an den Ufern der in den See fallenden Flüß— chen trägt die Steppe eine Menge dem Salzboden eigenthümliche Gewächſe. In den See ſelbſt fallen acht kleine Flüſſe: weſtlich die Solänka und Lanzug; nördlich die Qulan-Sacha, Charyſacha und Tſchernapka; öſtlich die große Smorogda und ſüdlich die kleine Smorogda und Gorkaja. In allen dieſen Flüßchen iſt ſalziges, oder bitteres Waſſer, jedoch nur im Frühjahre, da ſie im Sommer austrocknen, mit Ausnahme der Charyſacha, die einen Weg von 40 Werſten zurücklegt, bevor ſie zum Elton gelangt, und auch im Sommer fließt. (Ihre Breite an der Mündung ſchätzt Goebel im Frühjahr, wo er fie ſah und wo fie noch vom Schneewaſſer ange— ſchwollen war, auf 15 Faden). Unweit der Salzniederlagen am Elton ſind in unbedeutender Tiefe 14 Brunnen gegraben, die das herrlichſte Waſſer liefern.

Das Becken des Sees enthält bis zu noch unerſorſchter Tiefe feſtes Salz, von welchem Schnee und Regenwaſſer im Frühjahr und Herbſte, ſo wie das Waſſer der hineinfallenden Flüßchen, ſo viel auf— löſen, daß der Salzboden des Sees ſtets mit einer geſättigten Salz— auflöſung bedeckt iſt. Im Frühjahr ſteigt dieſelbe bis zur Höhe von 3 bis zu einer Arſchin, im Sommer jedoch, wo bei den in der Steppe ſtets wehenden Winden und der ungehindert einwirkenden Sonne, ein

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ſtärkeres Verdunſten des Waſſers ſtattfindet, beträgt ihre Tiefe kaum eine Arſchin. Durch das Verdampfen im Sommer ſondern ſich fort— während aus der concentrirten Flüſſigkeit Salzkryſtalle ab, welche ſich in kleine Gruppen vereinigen, auf der Oberfläche der Flüſſigkeit kleine Kruſten bilden, und ſpäter vermittelſt ihres größeren ſpecifi— ſchen Gewichtes, wenn die Kruſten durch das vom Winde bewegte Waſſer zerbrechen, zu Boden ſinken. Im Laufe des Sommers wie⸗ derholt ſich dieſes Spiel des Bildens und Sinkens der Salzkryſtalle, fo daß ſich allmälig auf dem Grunde des Sees eine neue Salzſchicht— erzeugt. Dieſes abgelagerte Salz ſpielt etwas in's Röthliche, iſt locker und von ſchwachem Zuſammenhang, zerfließt in der Luft, wegen ſeines großen Gehaltes an Chlortalcium, und kann, wegen ſeines bittern Geſchmacks, nicht zur Speiſe u. ſ. w. verwendet wer⸗ den. Allmälig wird daſſelbe indeß feſter und lagert ſich als eine dichte Maſſe auf der ältern Salzlage des Sees ab. Im nächſtfol⸗ genden Frühjahr wird dieſe Salzlage von dem ſich in den See ergießenden Regen- und Schneewaſſer durchdrungen und durchſpült, das Chlortalcium wird gelöſt und dadurch der bittre Geſchmack vom Salze entfernt. Das ungelöſt gebliebene und gereinigte Koch— ſalz ſintert nun immer feſter zu einer ſteinähnlichen Maſſe zuſam⸗ men und wird ſodann altes Salz genannt. Die Farbe deſſelben ſpielt in's Bläuliche; es ſchmeckt rein ſalzig, iſt feſt, ſchwer und von gröberem Korn. Auf dieſer Salzdecke lagert ſich nun eine ſchwarze ſchlammige Maſſe ab und trennt ſo dieſe alte Lage von der im Laufe des Jahres ſich bildenden neuen. Die neue Salzlage ent— ſteht theils aus dem Salze, welches dem See durch die obenerwähn⸗ ten Flüßchen zugeführt wird, theils aus dem ſchon abgelagerten Salze, wovon im Frühjahre ſtets ein Theil durch das nicht mit Salz geſättigte Waſſer wieder aufgelöſt und ſpäter auf erwähnte Art abgeſetzt wird.

Um die Tiefe dieſer angehäuften Salzlagen zu erforſchen, wurde im Jahre 1805, 2 Werſt vom Ufer entfernt, im See bis zu einer Tiefe von 2 Faden eingeſchlagen und dadurch folgendes Reſultat er— langt. Die erſten Salzlagen beſaßen eine Dicke von einem halben bis zwei Werſchok. Nachdem 42 Lagen abgeſondert waren, vers größerten ſich dieſelben auf 5 Werſchok, auch war das Salz feſter

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und beffer, als in den höheren Lagen. Als man endlich 100 Lagen gebrochen hatte, erſchien ein ſo feſter Salzkörper, daß die dabei an— gewendeten eiſernen Inſtrumente zerbrachen“). Wan hatte die Tiefe von 2 Faden erreicht, mußte aber die Arbeit aufgeben, weil die Grube ſich durch die Seitenwände der untern Lagen fortwährend mit Salzlauge füllte, und die in der Grube befindliche Luft, wegen ihres ſtinkenden, fauligen Geruchs, es kaum 10 Winuten lang geſtattete, das Brechen ſortzuſetzen. Der Elton ſcheint demnach ein unerſchöpf— liches Magazin von Kochſalz zu ſein. Es werden jedoch nur die obern Salzlagen in demſelben in einem ſehr kleinen Umkreiſe und in geringer Entfernung vom Ufer gebrochen, denn tiefere und vom Ufer entferntere Stellen des Sees hatte man nicht nöthig zu berüh— ren, wegen Wangels an Abſatz.

Ueber die Analyſen des Elton-Waſſers, wie ſie von Erdmann, Goebel und Heinrich Roſe angeſtellt worden, bemerkt Prof. Roſe: Vergleicht man die Reſultate unter einander, ſo findet man einen großen Unterſchied, der aber hauptſächlich in der nach der verſchiede— nen Jahreszeit und ſelbſt Tageszeit verſchiedenen Beſchaffenheit des Waſſers zu ſuchen iſt. Die hauptſächlichſten Beſtandtheile der Soole ſind nach allen Analyſen Natron, Talkerde, Chlorwaſſerſtoffſäure und Schwefelſäure, und die vier Salze, die hiernach möglicherweiſe in dem Waſſer enthalten ſein können, Chlornatrium, Chlormagne— ſium, ſchwefelſaures Natron und ſchwefelſaure Talkerde. Im Früh— ling wird die Wenge des Chlornatriums außerordentlich zunehmen, indem dann durch den ſchmelzenden Schnee der Steppe eine Menge reines Waſſer dem See zugeführt wird, welches das am Boden vor— handene Kochſalz bis zur Sättigung auflöſt. Da aber das Bitter— ſalz wohl bei mittlerer Temperatur von ziemlich gleicher Auflöslich— keit im Waſſer wie das Kochſalz iſt, bei einer höheren Temperatur aber viel auflöslicher iſt, ſo wird ſich im Sommer bei fortgeſetzter Verdunſtung des Waſſers nur Kochſalz niederſchlagen, und wenn ſich in kühleren Sommernächten auch etwas Bitterſalz ausſcheidet,

) Selbſtverſtändlich, bemerkt Kobülin, iſt dieſe Feſtigkeit keine uranfäng⸗ liche, ſondern erſt durch den Druck der überlagernden Schichten im Verlauf von Jahrtauſenden entſtanden.

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fo wird fich daſſelbe doch während des Tages wieder auflöſen. Im Herbſte kryſtallirt dann viel Bitterſalz (wie Roſe bemerkte) und im Winter, wahrſcheinlich durch wechſelſeitigen Austauſch und unter Bil— dung von Chlormagneſium, Glauberſalz. Hieraus ergiebt ſich, daß das relative Verhältniß des Kochſalzes zum Bitterſalze und zum Chlormagneſium im Frühjahr und im Sommer viel größer ſein wird als im Herbſte und die Wenge derſelben im Verlauf des Jah— res im umgekehrten Verhältniß mit der Menge des Bitterſalzes und des Chlormagneſiums abnehmen wird. Dies ergeben auch im All— gemeinen die angeſtellten Analyſen. Wie ſich nun die Beſchaffen— heit des Elton-Waſſers in Rückſicht des verſchiedenen Gehalts feiner Beſtandtheile nach den Jahres- und Tageszeiten verändert, ſo wird ſie ſich auch mit dem Verlauf der Jahre verändern, und hat ſich in dieſer Rückſicht gewiß ſchon außerordentlich verändert. Denn offenbar war im Anfang der Entſtehung des Elton-Sees die Be— ſchaffenheit ſeines Waſſers von dem ſeiner Zuflüſſe nicht verſchie— den. Wit den Jahren mußte aber der Gehalt an Bitterſalz und Chlormagneſium immer mehr zunehmen, da dieſe Beſtandtheile nur in der Soole des Sees bleiben, während bei der Verdunſtung des Auflöſungsmittels ſich nur Kochſalz ablagert. Dieſer Unterſchied in dem Gehalte des Waſſers iſt bei der geringen Menge von Bit— terſalz und Chlormagneſium, die die Chariſacha und wie ſie viel— leicht alle übrigen Flüſſe dem See zuführen, in kurz hintereinander folgenden Jahren nur ſehr unbedeutend, aber er würde gewiß ſehr groß erſcheinen, wenn man das Waſſer verſchiedener Jahrhunderte und Jahrtauſende mit einander vergleichen könnte. Vielleicht würde er auch ſchon zu merken fein, wenn man mehrere Jahre hinter ein, ander vergleichende Analyſen mit Waſſer anſtellte, das immer an demſelben Tage des Jahres und in derſelben Stunde geſchöpft iſt. Die (von Prof. Roſe gemachte) Beobachtung, daß ſich in den am Rande des Sees ausgetrockneten Waſſertümpeln ein äußerer Kreis von Gypskryſtallen gebildet hatte, ſcheinen auf einen zu Zeiten ſelbſt ziemlich beträchtlichen Gypsgehalt des Waſſers ſchließen zu laſſen. Der Salzgehalt der Zuflüſſe beweiſt, daß in der Umgebung des Elton⸗Sees Salzlager befindlich find, aus denen die Quellwaſ— ſer das Salz auflöſen, das ſie dem See zuführen. Da indeſſen

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das Steinſalz kein Bitterſalz enthält, fo hält es auch Goebel für wahrſcheinlich, daß ſie dieſes dem Boden, durch welchen ſie dringen, entnehmen. Der Bitterſalzgehalt bleibt ſich übrigens nicht in allen Seen der Steppe gleich; daſſelbe findet ſich darin bald in größerer, bald in geringerer Wenge und fehlt zuweilen auch gänzlich, wie bei einem der drei großen Salzſeen der Steppe, dem baskuntſchatski— ſchen oder Bogdo-See (deffen Salz übrigens, obgleich es viel reiner als das des Elton-Sees iſt, jetzt gar nicht benutzt wird). Zu den reichſten Bitterſeen dagegen gehören die Karrduanſchen Seen, 17 kleine Seen, die in der Nähe des Kordons Karrduansk an dem Kigatſch, dem öſtlichſten Arme der Wolga und nicht weit von ſeiner Mündung liegen. Goebel, welcher einen derſelben beſuchte, fand die Soole etwa 14 Fuß tief und den Boden mit einer 2 Zoll dicken Lage eines blendend weißen, in Würfeln kryſtalliſirten Kochſalzes bedeckt, die im Laufe des Sommers bis zu einer Dicke von 1 bis 11 Fuß anwachſen ſoll. Unter dieſer Kochſalzrinde befindet ſich eine mehr als fußtiefe Lage eines in prismatiſchen durchſichtigen Kryſtal— len kryſtalliſirten Salzes, das eine Verbindung von ſchwefelſaurer Talkerde und ſchwefelſaurem Natron iſt. Dieſe Karrduanſchen Seen, die ſämmtlich von gleicher Beſchaffenheit ſein ſollen, haben jedoch keine Zuflüſſe, und ihr Salzgehalt iſt daher nicht ſo unerſchöpflich wie der des Elton-Sees und anderer.

Mit dem Brechen und Ausbringen des Elton-Salzes, erzählt Goebel, beſchäftigen ſich jetzt Krons- und herrſchaftliche Bauern, vorzüglich aus dem Gouvernement Penſa, mit welchen zu dieſem Behuf Kontrakte abgeſchloſſen werden. Die Zahl der Arbeiter hängt ab von der Quantität des Salzes, welches gewonnen werden ſoll. Zum Ausbringen von einer Million Pud Salz ſind 125 Mann im Laufe eines Sommers hinreichend“). Es kommen dieſe Arbeiter im

*) Die Arbeit, ſagt Kobülin, gehört zu den beſchwerlichſten, die es über⸗ haupt nur giebt, nicht nur, weil ſie bei einer glühenden Hitze, die bisweilen 45 R. erreicht, ausgeführt wird, ſondern auch, weil der Arbeiter bis an die Mitte des Leibes in dem freſſenden Oberwaſſer ſteht (das Oberwaſſer ent⸗ hält gewöhnlich 25 Proc. ſalz- und ſchwefelſaure Salze). Bei alledem trifft man Salzbrecher, deren Väter, Großväter und Urgroßväter daſſelbe Geſchäft betrieben haben. N

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Anfange des Aprils zum See, ſetzen daſelbſt ihre Wohnungen in Stand, die in Erdhütten beſtehen, welche längs dem Ufer auf 4 Werſt Länge ausgegraben ſind, repariren ihre mit flachen Böden verſehenen Kähne, in welchen ſie das im See gebrochene Salz zum Ufer führen, befeſtigen die am Ufer befindlichen hölzernen Dämme, auf welchen das gewonnene Salz gelagert wird und abtrocknet, reinigen die in den See gehenden Kanäle zur bequemeren Zufuhr des Salzes zu den Dämmen und verſehen ſich endlich mit den zum Brechen und Aufladen des Salzes erforderlichen Werkzeugen, näm— lich mit Brecheiſen, Brechpiken, Schaufeln und Stangen mit eiſer— nen Spitzen.

Nach Beendigung dieſer Arbeiten, welche gewöhnlich bis zur Hälfte des Maimonats dauern, fährt der am Elton befindliche Salz— aufſeher mit den Arbeitsleuten auf den See und beſtimmt die Stel: len, an welchen das Salz gebrochen werden ſoll; gewöhnlich ge— ſchieht dies auf der Weſtſeite des Sees, einige Werſt vom Ufer ent— fernt, zwiſchen den Flüßchen Solänka und Gorkaja, denn näher dem Ufer zu iſt das Salz weniger rein und erſcheint in dünneren Lagen. Jene Plätze werden mittelſt in den Salzboden geſchlagener Stangen bezeichnet und hierauf wird folgendermaßen zur Arbeit geſchritten. In jedem Boote fahren zu den angewieſenen Plätzen 2 Mann, befeſtigen daſſelbe an die in den See geſchlagenen Pfähle und ſteigen hierauf in die ſalzige Flüſſigkeit. Einer von ihnen bricht nun mittelſt eines Brecheiſens das Salz aus dem Seeboden, während der andere, den Fußtapfen des erſteren folgend, das ge— brochene Salz mit der Schaufel aufnimmt, in der Flüſſigkeit ab— wäſcht und ſodann ins Boot wirft. Die größeren Stücke werden dabei mittelſt einer hölzernen Keule zerſchlagen, abgeſpült und eben: i falls in's Boot geworfen. Wit dem angefüllten Boote fahren die Arbeiter nun vom See in die Kanäle, die wieder mit andern klei— nen, längs dem Ufer gegrabenen in Verbindung ſtehen und laden das Salz auf den Dämmen aus. Im Frühjahre, wo der See die gehörige Menge Waſſer enthält, werden die Böte durch Stangen fortgeſchoben, ſpäter aber, wo die Flüſſigkeit durch Verdunſtung ſich verringert, wird das Boot durch die Arbeiter gezogen, welche zu dieſem Behufe im See waten. Die Kanäle ſind gegen 200 Faden

IV. 5

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weit in den See gegraben. Nach Erreichung des Ufers wird das Salz in länglichen Hügeln auf den Dämmen aufgeſchichtet, und nach⸗ dem es trocken geworden iſt, von Fuhrleuten nach den Kronsnieder⸗ lagen geſührt, welche ſich theils am See ſelbſt, theils auch am lin⸗ ken Ufer der Wolga zu Pokrowskaja bei Saratow und zu Niko⸗ lajewskaja bei Kamyſchin befinden. Mit dem Brechen des Salzes beſchäftigt man ſich bis gegen Witte Septembers, und bei günſtiger Witterung machen die Arbei⸗ ter täglich vom Ufer bis zu den angewieſenen Plätzen 3 bis 5 Fahr⸗ ten, jedesmal 150 Pud Salz einladend. Hieraus ergiebt ſich, daß 2 Arbeiter täglich 600 Pud Salz liefern können. Bei ungünſtiger Witterung und den damit verknüpften Beſchwerden wird freilich auch nur die Hälfte jener Quantität gewonnen und öfters ſogar hört die Arbeit ganz auf. Da der See in offener Steppe liegt und die daſelbſt wehenden Winde nicht ſelten ſtürmiſch werden, ſo wird ungeachtet der erwähnten geringen Tiefe des Waſſers, daſſelbe doch dergeſtalt bewegt, daß nicht ſelten gegen 2 Werſt weit von dem einen Ufer der ganze Boden vom Waſſer entblößt wird, während es gegen das entgegengeſetzte Ufer ſtark antreibt, ſo daß mit dem Brechen des Salzes aufgehört werden muß. Es ergiebt ſich hier: aus, daß eine heitere ſtille Witterung am günſtigſten zum Salzge⸗ winnen im Elton iſt; beſonders vortheilhaft ſind eine mäßige Wärme der Luft und eine Tiefe des Waſſers im See von wenigſtens drei⸗ viertel Arſchin. Regen und Wind heben die Arbeit auf, eben ſo kann auch bei großer Hitze nicht gearbeitet werden, denn die ganz mit Kochſalz und Chlortalcium geſättigte Lauge wirkt dann ſo ätzend, daß die kleinſten Verletzungen der Haut zu unangenehmen Wunden werden. Im Sommer beſchäftigen ſich die Arbeiter halb hnackend und ſchützen ſich gegen die Wirkung der Salzlauge durch das Anziehen langer, lederner, den Beinkleidern ähnlicher Schafte. An den Füßen tragen ſie aus Baumrinde geflochtene Schuhe mit hölzernen Sohlen. Vach beendigter Tagesarbeit baden ſie ſich im friſchen Waſſer aus den Brunnen am Ufer. g Die gewöhnlichen, übrigens ſeltenen Krankheiten der Arbeits⸗ leute beſtehen in Scorbut und in durch die Salzlauge erzeugten Wunden. Zur Behandlung und Pflege der Arbeitsleute, ſo wie

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andrer beim See thätiger Menfchen find daſelbſt ein Krankenhaus und eine Apotheke auf Koſten der Krone errichtet, ſo wie ein Arzt nebſt einem Gehülfen und Dienſtboten angeſtellt.

Das gewonnene Salz wird von den Arbeitsleuten nach Gewicht angenommen, zu welchem Behuf beim See die bekannten Gewichte und Wagen (Canters genannt) errichtet ſind. Jedes leere, zum Be— laden mit Salz beſtimmte Fuhrwerk wird zunächſt gewogen, nach dem Beladen mit Salz wieder gewogen und ſomit das reine Gewicht des Salzes in Gewißheit gebracht. Für jedes Vetto-Pud dieſes auf ſolche Weiſe von der Krone in Empfang genommenen Salzes be— kommen die Arbeitsleute drei Kopeken. Das übrige auf den Nieder: lagen dieſer Leute oder auf den Dämmen befindliche Salz bleibt einſtweilen für ihre Rechnung liegen. Da nun aber die Quantität deſſelben, dem Befehle der Krone zufolge, jeden Herbſt auf 3 Mil: lionen Pud ſich belaufen muß, ſo wird den Arbeitsleuten für jedes Pud ein Vorſchuß von einer Kopeke gemacht, welches Geld bei Empfangnahme dieſes Salzes im folgenden Jahre von der ihnen zukommenden Zahlung abgezogen wird. Zu dieſem Behuf iſt ein beſtändiger Fond von 30,000 Rbl. B. angewieſen.

Die Kronsniederlagen beim See bezwecken einen Vorrath für die Viederlagen an der Wolga, im Fall es eine geraume Zeitlang nicht möglich wäre, Salz aus dem Elton zu gewinnen. Dieſer Vor— rath wird auf der Steppe im Umkreiſe der Beamtenwohnungen, unweit des Seeufers aufgeſtapelt. Er beſteht in unbedeckten gro— ßen kegelförmigen Hügeln, von welchen jeder 50,000 Pud Salz ent- hält. Aus dieſen Hügeln wird das Salz auf gleiche Weiſe, wie aus den Niederlagen der Arbeitsleute, zur Ausfuhr nach den Wa— gazinen am Wolgaufer abgelaſſen; jedoch wird vom Jahre 1834 an, unter Aufſicht eines vom Finanzminiſterium angeſtellten Beam: ten, auch am Elton Salz verkauft.

Zur Bewachung des Salzes und des ſonſtigen 1 thums am See iſt daſelbſt ein Kommando von dienenden Invali— den aus 10 Mann und einem Unteroffizier ſtationirt; zur Verhü— tung von Anfällen der benachbarten Kirgiſen und der unerlaubten Ausfuhr von Salz aus dem See iſt am Elton noch ein Koſaken⸗ kommando von 48 Mann, nebſt einer halben Kompagnie Artillerie

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und einer Kanone einquartirt, auch find im Umkreiſe noch Koſaken⸗ kordons errichtet.

Ein Beamter der Salzverwaltung mit einem Gehülfen, ſo wie das Wilitär, bleiben den Winter über am Elton. Die übrigen Be— amten aber, ſo wie die ſämmtlichen Arbeiter, verlaſſen zu Anfange Oktobers den See, da es nichts für ſie mehr dort zu thun giebt, und kehren erſt im nächſten Frühjahre zurück.

Beim Elton -See befinden ſich folgende Gebäude: Eine Kirche nebſt dem Predigerhauſe, zwei Häuſer für den Auffeher und deſſen Gehülfen, ein Krankenhaus nebſt Apotheke und Wohnung für den Arzt, mit Küche und Kellern, vier Kaſernen, von welchen drei für's Militär und eine für die Arbeitsleute beſtimmt find, ein Haus für die Kronskaſſe, ein Zeughaus und ſechs Gebäude, in welchen die Canters angebracht ſind. Mit Ausnahme des Gebäudes für die Kaſſe, ſind alle übrigen von Holz.

Die Ausfuhr von Salz nach den Niederlagen oder Magazinen an den Wolgaufern wurde bis zum Jahre 1828 durch Bauern be— ſorgt, welche im Saratowſchen Gouvernement 8 Dörfer bewohnten, und dafür beſondere Privilegien genoſſen. Seit dieſer Zeit aber fand es die Krone, bei der zunehmenden Bevölkerung, den Zeitum— ſtänden angemeſſener, die Ausfuhr von Salz durch freie Fuhrleute zu bewerkſtelligen. Es wurden daher jene Dörfer von ihrer Oblie— genheit befreit und in den Stand gewöhnlicher Kronsbauern ver— ſetzt. Jetzt beſchäſtigen ſich mit dieſer Ausfuhr Leute von verſchie— denen Ständen, hauptſächlich aber Bauern aus den Dörfern Po— krowskaja und Vikolajewskaja, welche früher zum Elton geſchrieben waren. Es werden zur Transportirung des Salzes die ſich dazu einfindenden Leute von hierzu beauftragten Kronsbeamten für be— liebige Quantitäten von 10 bis 20 Fudern, mit Ochſen oder Pferden befpannt, gedungen, und bekommen nach Abſchließung des Kontrak— tes einen Schein zur Ausfuhr, und, gegen Bürgſchaft ihrer Behörde, ein Handgeld, welches ungefähr den dritten Theil des Fuhrlohns beträgt. Sobald die Fuhrleute am See angekommen ſind, melden fie ſich beim dortigen Aufſeher mit dem im Salzeomtoir zu Sara— tow empfangenen Scheine. Es werden nun, wie ſchon oben bemerkt wurde, die leeren Wagen durch die Canters geführt, ihr Gewicht

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beſtimmt, und, nachdem fie mit dem vom Aufſeher beftimmten Salze beladen worden ſind, abermals durch die Canters geführt und ſo das Netto⸗Gewicht der Ladung ausgemittelt. Wit einem Scheine des Aufſehers verſehen, werden nun die Fuder mit Watten bedeckt und abgefahren.

Vom See bis zu den Salzmagazinen an der Wolga wird der Transport des Salzes auf Kronsländereien vollzogen, die zugleich auch zur Weide des Viehs der Fuhrleute beſtimmt ſind. Zu dieſem Behufe ſind dieſelben rund um den Elton-See herum auf 15 Werſt Breite, ferner auf 40 Werſt Breite vom See bis nach den beiden Vorrathsmagazinen, wovon aber gewöhnlich nur 10 Werſt Breite benutzt werden, und auf 15 Werſt Breite bei letztern, angewieſen, Die übrige angewieſene Fläche wird letzt theils von den an der Wolga angeſiedelten deutſchen Koloniſten benutzt, theils bleibt ſie ganz unverbraucht liegen. Außerdem ſind auf den Transportwegen nach den Magazinen, an mehreren Punkten, in Entfernungen von 10 Werſten, zum Tränken des Viehs gegen 82 Brunnen angelegt, welche friſches Waſſer im Ueberfluſſe enthalten. Zur Erhaltung dieſer Brunnen, ſo wie der auf dem Wege liegenden 8 Brücken, zur Beherbergung des erkrankten Viehs und der beſchädigten Fuder, ſind bei jenen Brunnen, in Kronshäuſern, 29 Bauernfamilien ange— ſiedelt, welche dafür frei ſind von allen Steuern und von Rekrutirung. Vierzehn Familien davon haben die Obliegenheit während des Som— mers Poſtſtationen auf dieſen Wegen zu unterhalten, wofür jedoch jede Familie 150 bis 200 Rbl. jährlich beſonders bekommt. Alle dieſe Familien ſtehen unter der Aufſicht eines beſonders dazu beauf— tragten Beamten. Die bedeutenden Hinderniſſe beim Transport des Salzes verurſachen bisweilen Krankheiten des dazu benutzten Viehs, die in Gliederlähmung und Geſchwulſten im Waule beſtehen, jedoch keineswegs gefährlich find und nicht in Vergleich geſtellt werden können mit den in den Wolgagegenden ſo häufigen Vieh— ſeuchen.

Nach Ankunft der Fuhrleute bei den Magazinen an der Wolga, zeigen dieſelben ihre Scheine vor, das Salz wird auf den Canters nachgewogen und in die Magazine abgeliefert. Zum Ausladen des Salzes aus den Wagen befinden ſich bei den Magazinen beſondere

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Arbeitsleute, die für jedes Fuder (Wagen) 30 Kop. von der Krone erhalten.

Das Fuhrlohn bis zu den Wagazinen in Pokrowskaja, Sara⸗ tom gegenüber, beträgt 30 Kop., jo wie das bis nach Nikolajewskaja, Kamyſchin gegenüber, 18 Kop. Da durch den Transport immer etwas Salz verloren geht, ſo hat die Krone beſtimmt, für dieſen Verluſt den Fuhrmann nur dann verantwortlich zu machen, wenn beim Abliefern in die Magazine von Pokrowskaja mehr als zwei Pud und in die Magazine von Nikolewskaja mehr als ein Pud von der Quantität des in Empfang genommenen Salzes fehlen. Es zahlen in dieſem Falle die Fuhrleute den dort feſtgeſetzten Ver⸗ kaufspreis.

Vom Wai bis zum Oktober können auf dieſe Weiſe nach Sa= ratow 5 bis 6 Fahrten, nach Kamyſchin aber 8 bis 10 gemacht werden. Da nun auf jeden mit ein Paar Ochſen beſpannten Wa- gen im Durchſchnitt 55 Pud geladen werden können, ſo folgt dar— aus, daß bei günſtiger Witterung und unter günſtigen Umſtänden, im Laufe des Sommers, mit jedem Wagen an 100 Rubel verdient werden können. Anfänglich belief ſich die Ausfuhr des Salzes vom Elton⸗See nur auf 13,500 Pud; allmälig aber vergrößerte ſich die— ſelbe und ſtieg im Jahre 1807 bis zu 10 Willionen Pud. Seit der Benutzung anderweitiger Salzquellen verminderte ſich die Aus⸗ fuhr vom Elton, indeß beträgt ſie immer noch 1 bis 3 Willio⸗ nen Bud des Jahres. Vom Jahre 1747 bis 1833, alſo im Ver⸗ laufe von 86 Jahren, wurden vom Elton-See in die Magazine an der Wolga 366 Willionen Pud Salz geliefert.

Den neueren Angaben von Kobülin zufolge wurden von 1747 bis 1851 nach Vikolajewskaja und Saratow 372,103,026 Pud El⸗ ton⸗Salz abgeliefert. Seit 1849 beträgt die Gewinnung, bis auf weitere Anordnung der Regierung, jährlich 6 Willionen Pud. Die offizielle Liſte, die Hr. Kobülin über die Production vom Jahre 1747 bis 1851 veröffentlicht hat, ergiebt u. a. folgende Betriebsreſultate: Im Jahre 1747 wurden 13,276 Pud Salz gewonnen, was im Ver- lauf von 103 Jahren die niedrigſte Production war. Das Jahr 1776 war das einzige Jahr, welches unter 104 Jahren ohne alle Production war. Die höchſte Production in 103 Jahren ergab das

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Jahr 1809 mit 11,778,609 Pud. Dagegen hatte das Jahr 1827 die niedrigſte Production im laufenden Jahrhundert, nämlich 979,940 Pud. Im Jahre 1832, wo, nach Goebel, 2,096,482 Pud ge⸗ brochen wurden, betrugen die Selbſtkoſten der Regierung für das Pud in Saratow 304, in Kamyſchin 23 Kopeken, der Berfaufs- preis in Saratow 1 Rubel, 30 Kopeken, in Kamyſchin 1 Rubel 20 Kopeken, und der reine Gewinn der Krone nach Abzug ſämmt— licher Ausgaben belief ſich auf 2,165,807 Rubel. Vom Jahre 1834 bis 1851 iſt, nach Kobülin, das Pud Eltonſalz durchſchnittlich mit 4 Silberrubel (alſo unter 1 R. B.) verkauft worden.

Die Soole des Elton-Sees, bemerkt Prof. Roſe, wird jetzt noch eben ſo wenig wie die der übrigen Salzſeen benutzt, obgleich ſie doch mit vielem Vortheil auf Soda vermittelſt der Fabrikation von Glauberſalz und auf Wagneſia alba angewandt werden könnte. Wenn man bedenkt, wie die Soda faſt zu jedem techniſchen Zwecke, zur Seifenſiederei, Glasfabrikation und Färberei die Pottaſche nicht allein erſetzt, ſondern ſogar übertrifft, ſo begreift man leicht die große Wichtigkeit, welche die Sodafabrikation für Rußland haben muß, wo die Pottaſche einen bedeutenden Ausfuhrartikel ausmacht.

Die nachfolgende Ueberſicht der Production der wichtigſten ruſ— ſiſchen Salzwerke, wie ſie dem Annuaire du journal des mines de Russie zufolge im Jahre 1832 ſtattgehabt hat, wird das Ver— hältniß zeigen, in welchem die Salz-Gewinnung am Elton⸗See zu der im übrigen ruſſiſchen Reiche ſteht. Es lieferten 1. die Salz: werke von dem Gouvernement Perm aus Privatwerken 5,099,563 Pud, aus Kronswerken 696,976 Pud; von Ledenga im Gouverne— ment Wologda 108,090 Pud; von Staraja-Ruſſa im Gouvernement Nowgorod 131,133 Pud; von Irkutzk im Gouvernement Irkutzk 167,139 Pud. 2. die Salzſeen von Aſtrachan und dem Kauka⸗ ſus 1,261,388 Pud; von Beſſarabien 349,535 Pud, vom Gouverne⸗ ment Taurien und zwar von Perecop 7,261,992 Pud, von Je⸗ nitſcha 2,217,642 Pud, von Kinburn 41,112 Pud, von Kertſch 1,311,858 Bud, von Eupatoria 1,031,835 Bud; 3. der Salzſtock- von Ilezk im Gouvernement Orenburg 732,519 Pud, die übrigen Salzwerke und Salzſeen 203,363 Pud. 5

Im Jahre 1853 betrug (nach Angabe des Petersburg. Kalen.)

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die Ausbeute an Salz: I. Aus den Salinen der Krone: aus der Beſſarabiſchen 139,146 Pud, Eltonſchen 7,000,000 Bud, Krim⸗ ſchen 8,045,924 Pud, Aſtrachanſchen 1,312,825 Bud, Ilezkiſchen 1001,147 Pud, Dedjuchinſchen 537,072 Bud, von Staraja Ruſſa 2688 Pud, von Oneja 62,010 Pud, aus den ſibiriſchen 653,874 Pud, aus den transkaukaſiſchen 606,854 Pud, in Allem 19,364,540 Pud. II. Aus Privat⸗Salinen: 5,749,554 Pud 8 Pfund; im Ganzen alſo 25,114,094 Pud, 8 Pfund.

Zur Lagerung des Elton-Salzes befinden ſich in Saratow und in Kamyſchin, ſo wie auf dem dieſen Städten gegenüber liegenden Wolgaufer bedeutende Magazine; die Saratow gegenüber liegenden befinden ſich im Dorfe Pokrowskaja, die bei Kamyſchin im Dorfe Nikolajewskaja. Die in den genannten Städten befindlichen Maga— zine werden, laut der Salzverordnung vom Jahre 1818, Magazine zum freien Salzverkauf, jene in den beiden Dörfern gelegenen aber Vorrathsmagazine genannt. Die Magazine der Wieſenſeite der Wolga ſind beſtimmt, das vom Elton ausgeführte Salz aufzuneh— men und die auf der Bergſeite befindlichen, ſo wie die Krons- und Stadtmagazine in mehreren Gouvernements, mit den erforderlichen Qnantitäten Salz zu verſehen. Die Verſendung von Salz nach den benachbarten Gouvernements für Krons-Rechnung iſt indeß in neuerer Zeit ſehr unbedeutend und beläuft ſich höchſtens auf jährlich 30,000 Pud; der Grund liegt darin, daß die Krone, den freien Han— del mit Salz begünſtigend, den Verkaufspreis aus den Stadtmaga— zinen der Gouvernements gegen die Preiſe in Saratow und Kamp— ſchin ſo ſtellt, daß das handeltreibende Publikum ſich noch mit dem Anz und Verkaufe des Salzes aus den Stadtmagazinen mit einigem Vortheile beſchäftigen kann. Auch die Anfüllung der Magazine in Saratow und Kamyſchin hat ſeit einiger Zeit aufgehört, weil die Krone, zur Erſparung der damit verknüpften Ausgaben für Fuhr— lohn von einem Ufer zum andern, es für gut findet, das zu ver—⸗ kaufende Salz unmittelbar aus den Vorrathsmagazinen von Po— krowskaja und Nikolajewskaja von den Käufern in Empfang nehmen zu laſſen. Der jährliche Abſatz beträgt 2 bis 4 Willionen Pud.

Aus den Magazinen wird das Salz nach gewöhnlichem Gewicht abgelaſſen, und die Beamten werden nur dann verantwortlich ge—

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macht, wenn bei der in Empfang genommenen Quantität von 1000 Pud mehr als 20 Pud fehlen, in welchem Falle fie das Feh— lende zu dem Verkaufspreiſe bezahlen.

Am 1. März 1834 befanden fi) in den Magazinen von Po— krowskaja 900,175 Pud, von Nikolajewskaja 729,943 Pud, beim Elton⸗See 2,352,310 Pud und in den dortigen Viederlagen der Arbeitsleute 3,047,033 Bud, im Ganzen alſo 7,029,461 Pud Salz; dagegen ſtehen die Magazine in Saratow und Kamyſchin leer. Der Verkauf des Salzes an dieſen Orten, ſowie am Elton, wird ent— weder gegen Entrichtung von baarem Gelde oder auf achtmonatlichen Kredit geſchloſſen, im letzteren Falle gegen genügendes Unterpfand. Zur Bewachung der Wolgamagazine iſt ein Kommando dienender Invaliden von 40 Mann nebſt 3 Unteroffizieren unter der Auſſicht eines Lieutenants und eines Fähnrichs angeſtellt.

In Pokrowskaja ſind 25, in Vikolajewskaja aber 40 Maga— zine errichtet, von denen jedes 100,000 Pud Salz aufnehmen kann. In Saratow find 10, in Kamyſchin 15 ſolcher Magazine.

Der Saratowſche Kameralhof verwaltet ſeit 1828 alle vorer— wähnten Salzgeſchäfte.

Unſere Reiſenden brachten den Vormittag des 8. Oktobers mit der Beſichtigung des Sees zu. Sie fuhren mit einigen Leuten auf den Kanälen in den See hinein, ließen ſich hier die Gewinnung des Salzes zeigen, wobei die Leute mit bloßen Füßen in den See ſtie— gen, füllten mit der Soole, die eine Temperatur von 9, 3 R. hatte, eine Flaſche, die mit einem gut ſchließenden Korke verſchloſſen wurde, um ſie zur Analyſe mitzunehmen, und ſammelten Proben von dem Salz. Dann gingen ſie an den Uſern des Sees entlang, um auch dieſe kennen zu lernen. An dem Rande des Sees lag eine unzähl— bare Wenge von Käfern und Inſekten, beſonders Heuſchrecken, die von den Stürmen in den See geworfen, hier aber vollkommen er— halten waren. Wan hatte hier faſt eine vollkommene Fauna der Steppe, und Prof. Ehrenberg ſammelte von dieſen in dem See um— gekommenen Käfern und Inſekten faſt 200 Species. Auch Vögel befanden ſich unter dieſen Thieren; und dieſe ſollen auch nicht ſelten noch lebend gefangen werden, wenn ſie ſich auf dem See nieder—

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laſſen, indem fie, wenn ihr Gefieder mit der Salzſoole getränkt ift, ſich nicht wieder erheben können.

Nachdem unfre Reiſenden noch die übrige Einrichtung am El: ton⸗See kennen gelernt, Humboldt zur Beſtimmung der Lage des Elton⸗Sees einige Sonnenhöhen genommen, und Prof. Ehrenberg das Skelett einer Saiga-Antilope, die er von einem Koſakenoffizier erhalten, ſoweit präparirt hatte, daß es mitgenommen werden konnte, verließen ſie den Elton-See und kehrten auf demſelben Wege, auf welchem ſie gekommen, wieder zur Wolga zurück. Auf der letzten Station ereignete ſich noch ein kleiner Unfall, es fing nämlich ein Rad und die hölzerne Axe des Wagens, worin Humboldt fuhr, plötzlich zu brennen an. Glücklicher Weiſe geſchah dies aber nicht weit von einem Brunnen, ſo daß die Flammen bald gelöſcht und Axe und Rad nicht ſo beſchädigt wurden, daß man ſich ihrer, nach— dem ſie neu betheert waren, nicht noch bis zur Erreichung der Wolga, die nicht mehr weit entfernt war, hätte bedienen können. So ging dieſer Unfall ohne größeren Aufenthalt vorüber. Um 6 Uhr Morgens war man an der Wolga, wo ſich die ſchon beſtell⸗ ten Kähne vorfanden, auf denen die Reiſenden nach Dubowka über— ſetzten.

In Dubowka verweilten ſie nur noch ſo lange als nöthig war, um ihre Sachen zu ordnen, worauf ſie ihren Weg ſogleich weiter fortjeßten. Dieſer ging noch immer an dem hohen Ufer der Wolga entlang und führte nach zwei Stationen zu der Kreisſtadt und Feſtung Zarizyn, welche hart an dem hohen Ufer liegt. Sie iſt demnach auf dieſer Seite durch die Wolga gedeckt, auf der andern aber mit Wall und Graben umgeben. Die Feſtungswerke ſind nur unbe— deutend, waren aber doch hinreichend, die Rebellen unter Pugat⸗ ſcheff aufzuhalten, welche die Feſtung 1774 belagerten, ohne ſie ein⸗ nehmen zu können. Die Stadt ſelbſt iſt ſchon alt und wurde von Iwan II. gleich nach der Eroberung von Aſtrachan angelegt, aber erſt durch Peter den Großen auf ihre jetzige feſte Stellung in einer Höhe von 40 Faden über dem Spiegel der Wolga verſetzt. Er beſtimmte ſie zu einer Hauptfeſtung des Reiches an der untern Wolga gegen die in den kaſpiſchen Steppen nomadiſirenden Völker und führte von hier aus 60 Werſte in nordweſtlicher Richtung zum Don

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die ſogenannte Zarizynſche Linie, von der man noch Ueberreſte ſieht. Zur Belebung ihres Wuthes ließ er den Einwohnern den Hut und Stock zurück, den er eben trug, als er bei ihnen war, und beide werden noch jetzt auf dem Rathhauſe aufbewahrt. Unſre Reiſenden beſahen dieſe Merkwürdigkeiten, während umgeſpannt wurde, und erfreuten ſich beim Hingehen nach dem Rathhauſe des Anblicks der vielen ſchönen Arbuſen, die auf dem Warkte ausgeboten wurden. Sie gedeihen in den Umgebungen von Zarizyn in vorzüglicher Güte und find ſchon ein Zeichen der ſüdlicheren Natur der Gegend. Zarizyn zählte im Jahre 1849 4756 Einwohner.

Fünſtes Kapitel.

Die Herrnhuter-Kolonie in Sarepta. Sammlungen des Herrn Zwick.

Tatariſche Ruinen an der Achtuba. Mineralquelle von Sa: repta. Jenotajewsk. Kalmükentempel auf dem Wege nach Aſtrachan.

Unterhalb Zaryzin verläßt die Wolga ihre bisherige ſüdweſt— liche Richtung und indem ſie ſich faſt unter einem rechten Winkel nach Südoſten zum Kaſpiſchen Weere wendet, tritt ſie in die Steppe ſelbſt ein, an deren weſtlichem Rande ſie von Kamyſchin an gefloſſen iſt, während die begleitende Hügelkette in unveränderter Richtung noch weiter nach Süden fortſetzt und den Weſtrand der ſich nun zu beiden Seiten der Wolga ausbreitenden Steppe zu bilden fortfährt. An ihrer Biegung nimmt ſie in ihre linke Seite noch die Sarpa auf, die in einer Richtung, welche dem bisherigen Laufe der Wolga gerade entgegengeſetzt iſt, am Fuße der ſüdlich ſortſtreichenden Hügel— kette hin fließt, worauf die Wolga den noch mehr als 50 Weilen bis zum Weere betragenden Weg ohne alle Zuflüſſe zurücklegt.

Je trauriger im Ganzen das Bild iſt, das im Herbſt die Steppe darbietet, wo Tulpen und Iris, der reizende Schmuck der Frühlings— flora durch die alles zerſtörende Hitze und Dürre des Sommers längſt verdorrt ſind, und graue Artemiſien in trauriger Einförmig— keit den Boden bedecken, deſto überraſchender iſt von dieſer Seitr her der Eintritt in die Steppe, denn hier liegt noch dieſſeits der Sarpa und am Fuße der ſarpaſchen Hügelkette das freundliche

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Städtchen Sarepta, die letzte deutſche Kolonie auf dieſem Wege. Es iſt eine Anſiedlung der mähriſchen Brüder von der nämlichen Art, wie überall in Deutſchland; aber die deutſche Bauart der Häu— ſer, die geraden, reinlichen, mit italieniſchen Pappeln beſetzten Stra— ßen, der freundliche Markt in der Mitte der Stadt, mit dem Spring— brunnen darauf und der Kirche an demſelben, alles dieſes machte einen um ſo tieferen und angenehmern Eindruck auf unſere Reiſen— den, als ſie lange auf den faſt baumloſen Höhen der Wolga gefah— ren war Rund keine oder nur die baumloſen ruffifchen Dörfer und Städte geſehen hatten. Sie hörten wieder die deutſche Sprache, ſahen überall deutſche Einrichtungen und glaubten wieder unter Landsleuten zu ſein. Auch fanden ſie einen guten reinlichen Gaſt— hof und in demſelben manche lang entbehrte Bequemlichkeit.

Sie waren etwa um 4 Uhr Vachmittags hier angekommen und trafen ſchon den Hofrath Engelke hier an, der die Exeurſion nach dem Elton-See nicht mitgemacht hatte und ihnen nach Sarepta vorausgeeilt war. Er machte ſie mit den Vorſtehern der Gemeinde, den Herren Langerfeld und Zwick, bekannt, die an ihrem Wittags⸗ mahle theilnehmend und den übrigen Abend bei ihnen verweilend, ſie von dem Zuſtande und den Einrichtungen der Kolonie unter— richteten.

Die Koloniſten beſchäftigen ſich hauptſächlich mit Webereien aller Art, mit der Fabrikation von Schnupftabak, Senf, Liqueuren u. ſ. w., mit welchen Fabrikaten ſie einen ausgebreiteten Handel ſelbſt mit den Kalmüken und den doniſchen Koſaken treiben, gleichwie ſie auch Niederlagen ihrer Waaren in Saratow, Woskau und an— deren größeren Städten unterhalten. Außerdem treiben ſie viel Vieh— zucht, Ackerbau jedoch nur wenig, da die ſalzige Beſchaffenheit des Bodens und die Dürre des Klimas demſelben nicht günſtig ſind, haben aber ſämmtlich kleinere und größere Gärten hinter ihren Häuſern, in denen ſie Tabak, Obſt und Wein ziehen und aus letzterem ſelbſt ein ziemlich gutes Getränk bereiten. Schon gegen Ende Wais tritt in Sarepta eine ſengende Hitze ein, welche die Temperatur wochen— lang auf 30° R. erhält, während austrocknende Oſtwinde jede Spur von Wolkenbildung verhindern und kein Tropfen Regen die lechzende

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Natur erquickt, fo daß alle Pflanzen dann verdorren und die Steppe den Anblick einer fürchterlichen Einöde gewährt.

Die Kolonie wurde in Folge einer Einladung der Kaiſerin Ka— tharina II. an die deutſchen Herrnhuter-Gemeinden zur Anſiedelung an der Wolga im Jahre 1765 unter beſonderen Privilegien und Begünftigungen angelegt und gelangte bald dadurch, wie durch die ganze Verwaltung ihrer Vorſteher und durch die Fabrikation einer Menge Artikel, die in dieſem Theile von Rußland noch unbekannt oder ſchwer zu erhalten waren, ſo wie auch durch den Sa mit den angrenzenden Kalmüken zu einem blühenden Zuftande In der neueren Zeit hat ſich der Abſatz ihrer Fabrikate und damit eine ihrer Haupterwerbsquellen ſehr vermindert, indem die früher von dieſer Gemeinde allein verfertigten Artikel nun auch in Saratow, Aſtrachan und andern Orten angefertigt wurden. Hierdurch, wie auch durch andere directe Verluſte, durch den Bankerott von Handlungs— häuſern, bei denen ſie ihr Vermögen angelegt hatten, durch wieder— holte große Feuersbrünſte, wie noch zuletzt im Jahre 1823, deren traurige Wirkungen man noch jetzt in den Trümmern einer Menge von Gebäuden ſah, hat der Wohlſtand der Kolonie ſehr abgenom— men, was bei den Schwierigkeiten, mit denen ſie fortdauernd kämpfen muß, und die in der Beſchaffenheit des Bodens und des Klimas, ſo wie in ihrer Abgeſchiedenheit von der übrigen gebildeten Welt liegen, eine Niedergeſchlagenheit unter ihren Witgliedern hervorge— bracht hat, die unſere Reiſenden ſowohl an dieſem als auch am fol- genden Tage zu bemerken häufig Gelegenheit hatten.

Am folgenden Tage lernten ſie auch die übrigen Beamten der Kolonie, den Paſtor Nitſchmann, den Apotheker Wunderlich und den Stadtvogt (Polizeimeiſter) Hamel kennen. Dann wurden ſie von den Vorſtehern in das Bethaus, das Brüder- und Schweſternhaus, die Niederlage ihrer Fabrikate und in die Apotheke geführt und ſahen die Einrichtungen der Kolonie, die von derſelben Art ſind, wie bei den übrigen Herrnhutern.

Von ſehr großem Intereſſe waren aber für ſie die ſchönen ganz lokalen Privatſammlungen des Herrn Zwick, die ſich auf die Steppe und ihre Bewohner, die Kalmüken, beziehen, unter denen Herr Zwick lange als Wiſſionar gelebt und zu welchen er noch im Jahre

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1823 eine Reife unternommen hatte“). Der Zweck dieſer Reife war die Vertheilung von in's Kalmükiſche überſetzten Bibeln unter den Kalmüken geweſen; denn hierauf wurde die Thätigkeit der Herrn— huter in Ausbreitung der chriſtlichen Religion beſchränkt, ſeitdem im Jahre 1822 die Regierung ſich beſtimmt dahin ausgeſprochen hatte, daß die Kalmüken nur zur griechiſchen Kirche bekehrt werden dürften. Bei dieſem vielfachen Verkehr und ſeiner vollkommenen Kenntniß der Sprache und Sitten der Kalmüken hatte Hr. Zwick Gelegenheit gehabt, eine Wenge Gegenſtände zu ſammeln, die einen wichtigen Beitrag zur Kenntniß dieſes merkwürdigen Volkes geben. Die Rei: ſenden ſahen hier eine vollſtändige Sammlung aller zur Ausübung ihres Gottesdienſtes gebräuchlichen Geräthſchaſten, ihre Götzenbilder, ihre geſchriebenen Gebete, wie auch andere Kurioſitäten. Die Göt— zenbilder ſind aus Kupfer gegoſſen und vergoldet, meiſt nur klein, ſelten einen Fuß groß, und aus den Beſchreibungen und Abbildun— gen von Pallas“) hinreichend bekannt. Die Gebete find alle in tibe— taniſcher Sprache geſchrieben, denn dieſer Sprache bedienen ſich die Prieſter ausſchließlich bei ihrem Gottesdienſt, obgleich ſie dem ge— meinen Kalmüken ganz unverſtändlich iſt, und es häufig vorkommt, daß die Prieſter ſie ſelbſt nicht verſtehen. Sie ſind gewöhnlich auf lange Streifen eines baumwollenen Zeuges geſchrieben, damit ſie, an hohe Stangen befeſtigt, vom Winde recht bewegt werden können, denn fie werden bei dem Gottesdienſte von den kalmükiſchen Prie— ſtern nicht abgeleſen und hergeſagt, ſondern man läßt ſie auf die angegebene Weiſe wie Flaggen im Winde flattern, da die Kalmü— ken der Weinung ſind, daß die Bewegung der geſchriebenen Gebete eben ſo wirkſam ſei, als das Herſagen derſelben. Die meiſten der

*) „Reife von Sarepta in verſchiedene Kalmüken-Horden des Aſtrachan⸗ ſchen Gouvernements im Jahre 1823 in Angelegenheiten der ruſſiſchen Bibel⸗ Geſellſchaft unternommen von H. A. Zwick und J. G. Schill und von Erſte⸗ rem beſchrieben. Leipz. 1827.“ Prof. Goebel erzählt, daß Hr. Zwick im Jahre 1837 nach Deutſchland verſetzt worden ſei und gegenwärtig zu Ebers⸗ dorf bei Lobenſtein im Voigtlande lebe, nachdem er vorher noch eine Reiſe nach Tiflis im Auftrage der Kolonie Sarepta gemacht habe, um Handels- verbindungen anzuknüpfen.

* Reife durch verſchiedene Provinzen des ruſſ. Reichs. Th. 1. S. 333 ff.

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angeführten Gegenſtände kann man ſich nur ſchwer anſchaffen, da fie nicht durch Tauſch oder Kauf, ſondern nur als Geſchenk zu er- halten, und die Kalmüken damit nicht freigebig find; die geſchriebe— nen Gebete aber hat man bei Bereifung der Steppe öfter Gelegen— heit zu ſammeln, da die Kalmüken ſie oft in Wenge in die Kapel⸗ len oder Zazas legen, die ſie mitten in der Steppe denjenigen ihrer Lamas oder Oberprieſter nach ihrem Tode erbauen, die ſich im Le— ben durch beſondere Heiligkeit ausgezeichnet haben. Dieſe Zazas ſind nur klein, viereckig und von Ziegelſteinen aufgeführt, die mit Mör⸗ tel verbunden ſind, worunter man die Aſche von dem verbrannten Kürper des Lama gemiſcht hat; ſie haben in einiger Entfernung vom Boden eine kleine Oeffnung, durch welche man zur Voth hinein— ſteigen kann. Die Kalmüken laſſen die hineingelegten Gebete unbes rührt liegen, die darin verrotten, wenn fie nicht von andern Per— ſonen fortgenommen werden.

Außer dieſen kalmükiſchen Werkwürdigkeiten beſitzt Hr. Zwick noch eine wichtige Sammlung orientaliſcher Münzen, von denen ein großer Theil unter den Ruinen der tatariſchen Städte an der linken Seite der Achtuba gefunden worden iſt. Dieſe Ruinen liegen an der ganzen Seite der Achtuba und ſind von Pallas ausführlich beſchrieben worden. Die größten Ruinenhaufen ſieht man in der Nähe des Dorfes Zarewka, Sarepta gegenüber, und weiter ſüdlich bei dem Orte Selitrennoi Gorodok (dem Salpeterſtädtchen, weil man hier früher auf den Ruinen eine Salpeterhütte angelegt hatte) Jenotajewsk gegenüber; weshalb man auch bald die einen, bald die andern für Ueberbleibſel von Serai oder Sarai, dem Hoflager der Chane der goldnen Horde, gehalten hat. Nach Pallas“) und Mül: ler “*) war wahrſcheinlich der nördlichere Ort der Sommeraufent— halt und der andere der Winteraufenthalt des Hoflagers der Chane; die meiſten Ruinen beſtehen jetzt in der Regel in nichts anderem, als in Mauerreſten von Backſteinen, und in größeren und kleineren Ziegelhaufen, die oft mit Grabhügeln, ſogenannten Kurganen, umge⸗

) Reiſe in die ſüdlichen Statthalterſchaften des ruſſ. Reichs. IH. 1. S. 167 ff. *®) Der Ugriſche Volksſtamm, Th. 1. Abth. 2. S. 574 ff.

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ben find. In Zarewka iſt die Hauptruine ein flach erhabener, auf einer viereckigen Erhöhung errichteter, aus ſechs an einander ftoßen- den ſehr flachen Gewölben beſtehender und über den Gewölben mit Erde überſchütteter Grabhügel von 150 Faden Umfang, der äußer— lich mit dem Fundament einer dicken Mauer von Sandſteinen um— geben iſt; in Selitrennoi Gorodok findet man die Reſte eines läng- lich viereckigen Gebäudes, bei welchem die Mauern an den Außenſeiten mit glaſirten Thonzierrathen von verſchiedenen Farben beſetzt find und an der einen Seite noch Spuren von einer gothiſchen Stucka— tur wahrnehmen laſſen. So unbedeutend dieſe Trümmer an und für ſich ſind, ſo ſind ſie doch auf einem großen Raum verbreitet, woraus man auf den Umfang der Hoflager ſchließen kann. Aber auch dieſe wenigen Trümmer verſchwinden immer mehr, indem ſich die jetzigen Bewohner dieſer Gegenden der Ziegelſteine aus dieſen Trümmern zu ihren Bauten bedienen, wobei, wegen der Feſtigkeit der Gemäuer, immer mehr zerſtreut als gewonnen wird, und wodurch die großen Schutthaufen entſtehen, welche die alten Gemäuer um— geben. Noch in der neuern Zeit hat man, wie Erdmann berichtet, zu dem Bau einer neuen Kirche in Zarewka die Steine von der Hauptruine genommen, ſo daß auch Erdmann 1815 nichts mehr von den ſechs flachen Gebäuden erwähnt, die Pallas 1793 beſchreibt, und von den Ruinen von Selitrennoi Gorodok gingen ſonſt ganze Schiffsladungen folder Ziegel nach Aſtrachan. Nach Pallas find alle die vorhandenen Ruinen nicht Wohngebäude, ſondern ſämmtlich theils muhamedaniſche Bethäuſer, theils mit Kapellen überbaute oder ummauerte Gräber geweſen, denn eine nomadiſche Nation wie die goldene Horde würde ſich gewiß eben ſo wenig in Häuſern zu wohnen bequemt haben, als die kalmükiſchen Chane und Fürſten dazu zu vermögen geweſen ſind, ungeachtet man ihretwegen die Feſtung Jenotajewsk angelegt hatte, und Wohnſitze daſelbſt für ſie eingerichtet waren. In den Gräbern hat man früher einen großen Reichthum an Geſchmeide, goldenen und ſilbernen Pferdezierrathen und Gefäßen, mit Silber beſchlagene Särge u. ſ. w. gefunden, von welchen Koft- barkeiten nur ein geringer Theil in die Sammlungen der Akademie der Wiſſenſchaften in Petersburg gekommen iſt. Münzen und Silber und Kupfer werden wie in Bolgari noch jetzt häufig von den Bewoh— . 6

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nern dieſer Gegenden gefunden und an die Reiſenden verkauft. Der größte Theil derſelben ſtammt aus dem vierzehnten Jahrhundert.

In dem Beſitz des Hr. Zwick befanden ſich auch vortreffliche zoologifche und botaniſche Sammlungen, aus denen unſre Reiſenden die Fauna und die Flora der Steppe kennen lernten. Am reichſten war die entomologiſche Sammlung, bei der ihr Beſitzer, ein ſehr gründlicher Kenner der Vaturgeſchichte, unter anderm auch auf die giftigen Scorpione der Steppe, auf eine nur wenig gekannte äußerſt giftige Spinnenart, welche von den Kalmüken die ſchwarze Wittwe (Belbessün charra) genannt und ſehr gefürchtet wird, und auf die Heuſchrecken, dieſe fürchterlichſte Plage der Steppe, deren die Luft verfinſternde Schaaren alles verheeren, wo fie hinfallen, aufmerk— ſam machte. N

Mit der Beſichtigung dieſer eben ſo intereſſanten als verſchie— denartigen Sammlungen verging der Vormittag. Humboldt hatte ſich ſchon etwas früher entfernt, um feine magnetiſchen Beobachtun— gen zu machen; Prof. Ehrenberg beſuchte noch Herrn Wunderlich, um deſſen botaniſche Sammlungen zu ſehen, und Prof. Roſe ging mit Herrn Zwick zu der Quelle in der Nähe der Stadt, welche dieſe mit Trinkwaſſer verſorgt, um ihre Temperatur zu unter— ſuchen. Er fand dieſelbe 8“, 5 R. Die Quelle iſi zwar gefaßt, und die Quellwaſſer ſammeln ſich vor ihrem Abfluß in einem ziemlich großen Baſſin, ſcheinen aber doch in ihrer Temperatur durch die Temperatur der äußeren Luft nicht bedeutend verändert zu fein. Leider geſtattete die Zeit unſern Reiſenden nicht, die 9 Werft ent- fernten in der Sarpaſchen Hügelkette entſpringenden Wineralquellen zu beſuchen, die früher, bevor andere e in Rußland bekannt und beſucht waren, ſich einer großen Berke mtheit erfreuten, aber auch noch jetzt häufig ſowohl zum Trinken als zum Baden be— nutzt werden.

Nachdem die Reiſenden noch am Wittage durch den Beſuch ſämmtlicher Beamten der Kolonie erfreut worden waren, nahmen ſie Abſchied von ihren Gaſtfreunden, durch welche ihnen die kurze Zeit ihres Aufenthaltes in Sarepta eben ſo angenehm als lehrreich vergangen war, ſo wie auch von Herrn Hofrath Engelke, der von hier aus nach Saratow zurückkehrte, und ſetzten ihre Reiſe nach

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Aſtrachan weiter fort. Sie waren hierbei wiederum nicht auf ihre urſprüngliche Geſellſchaft beſchränkt, denn der General-Gouverneur von Aſtrachan, Herr von Oſſipoff, hatte, von der Ankunft Hum— boldt's unterrichtet, mit zuvorkommender Güte ihm Herrn Stranak bis Sarepta entgegengeſendet, um ihn durch ſein Gouvernement, das gleich hinter Sarepta anfängt, zu begleiten. Da Herr Stranak zwar ein geborner Engländer, doch ſchon ſeit längerer Zeit in ruf: ſiſchem Staatsdienſt war, und ſich namentlich ſchon längere Zeit in Aſtrachan aufgehalten und mit den Eigenthümlichkeiten des Gouver— nements bekannt gemacht hatte, ſo war er unſern Reiſenden durch ſeine Kenntniſſe ein eben ſo nützlicher, wie durch ſeine geſellige Bil— dung ein angenehmer Begleiter.

Es war ſchon ziemlich ſpät geworden, als fie Sarepta verlie— ßen; fie fuhren in der bald darauf einbrechenden Nacht ohne Aufent⸗ halt fort, kamen in derſelben durch die Kreisſtadt Tſchnernoijar, und frühſtückten am Morgen, 30 Werſte weiter, in der reinlichen und ordentlichen Wohnung eines Koſakenoffiziers in Gratſchewskaja. Tſchernoijar hat ſeinen Namen erhalten von dem erhabenen ſchwar— zen Ufer der Wolga, denn wenn auch dieſelbe nicht mehr von der großen Hügelkette begleitet wird, ſo iſt hier ſowohl oberhalb als unterhalb Tſchernoijar das Ufer doch ziemlich hoch. Hinter Grat— ſchewskaja wird aber das Ufer wieder flach, die Gegend wird immer öder, auch der Boden von ſalziger Beſchaffenheit, wie die häufigen Stellen mit ausgewittertem Bitterſalz am Wege beweiſen. Dörfer (ſogenannte Stanitzen), die von den Koſaken bewohnt werden, fin— den ſich auf dem Wege etwa alle 20 bis 30 Merfte.

Wit einbrechender Nacht erreichten ſie die Kreisſtadt Jenota⸗ jewsk, die gegen die Regel der ruſſiſchen Landſtädte eng zuſammen⸗ gebaut iſt, ſonſt aber wie dieſe nur aus hölzernen Häuſern beſteht. Die Zahl ihrer Einwohner belief ſich im Jahre 1849 auf 1455. Da ſich in Jenotajewsk die Verwaltungsbehörde für die kalmüki⸗ ſchen Angelegenheiten befindet, fo erblickte man eine Menge Kal- müken, die ſich häufiger hier, als in den benachbarten Städten, ein⸗ ſtellen. Die Behörde beſtebt aus 8 gewählten Kalmüken, die als Deputirte der verſchiedenen Horden unter dem Vorſitz eines ruſſiſchen Ober⸗Pristaw's (Polizei⸗Inſpector) Streitigkeiten und Rechtsfälle

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ſchlichten, und zugleich das Organ der Regierung für das Volk ausmachen.

Hinter Jenotajewsk wird die Gegend überaus ſandig, und iſt ſtellenweiſe mit großen Dünen bedeckt. Die Ufer der Wolga ſind ganz flach, und zwiſchen ihnen fließt der durch viele Arme getheilte, aber dennoch überaus mächtige Strom langſam hin. In dem tie— fen Sande konnte man faſt nur im Schritte fahren. Die Reifen: den kamen am Worgen des 12. Oktobers bei mehreren kalmükiſchen Kibitken vorbei und Schaaren von Kalmüken mit ihren Heerden von Pferden, Schafen und Kamelen begegneten ihnen häufig. Auch bei einem faſt ganz einzeln ſtehenden und nur von einigen Kibitken umgebenen kalmükiſchen Tempel führte ſie der Weg vorüber. Es war ein kleines länglich viereckiges hoͤlzernes Gebäude, an deſſen einer ſchmalen Seite die Thür, und an deſſen längeren Seiten die Fenſter ſich befanden; an dem Eingange aber war die ſchon oben erwähnte lange Stange zur Beſteigung der geſchriebenen Gebete errichtet. Das Flattern der Gebete an dieſer Stange und die rau— ſchende Muſik, die aus dem Tempel entgegenſchallte, belehrte die Reiſenden, daß in ihm Gottesdienſt gehalten wurde. Sie waren begierig, denſelben kennen zu lernen, und folgten daher gern der Aufforderung des Herrn Starnak, hineinzutreten, woran ſie auch von den vor dem Tempel befindlichen Kalmüken nicht gehindert wurden. In dem Gebäude befand ſich an der der Thür gegen— über liegenden Wand der Altar, der in einem Tiſche mit einem teraſſenförmigen Aufſatze beſtand, auf welchem die Figuren ihrer Götzen aus vergoldetem Meſſing ſtanden; andere in grellen Farben gemalte Bildniſſe von Götzen hingen an den übrigen Wänden zur Rechten und zur Linken. Auf dem Tiſche neben dem Aufſatze wa— ren eine Wenge kleiner Näpfchen aufgeſtellt, die mit Früchten, Waſ— ſer, getrocknetem Fleiſche, Käſe und allerhand anderen Opfern ge— füllt waren. Zwiſchen Thür und Altar ſaßen am Boden mit unter— geſchlagenen Beinen 6 Prieſter in 2 Reihen einander gegenüber, oben rechts vom Altar der Lama oder Oberprieſter, auf den übrigen Plätzen die Gellongs oder Unterprieſter, die mit verſchiedenen In— ſtrumenten die rauſchende Muſik hervorbrachten, welche man ſchon von fern gehört hatte. Der Lama bediente ſich dazu einer Klingel,

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der ihm gegenüberſitzende Gellong zweier Becken, die er mit Heftige keit an einander ſchlug, der dritte und der ihm gegenüberſitzende vierte Prieſter einer Art Trompete, der fünfte einer Pauke, die er mit krummen gepolſterten Schlägeln ſchlug, und der ſechſte einer großen Schnecke, einer Art Strombus. Die Muſik mit dieſen In— ſtrumenten, wenn man anders das fürchterliche Getöſe ſo nennen kann, wechſelt mit einem ähnlichen Geſange ab. Nachdem Beides, Muſik und Geſang, eine Zeit lang gewährt hatte, erhob ſich der Lama, worauf die Muſik aufhörte. Er hatte, wie die andern, bis— her nicht die geringſte Notiz von den Fremden genommen, nun trat er auf ſie zu, und begrüßte ſie. Es war ein ſchon älterer aber freundlicher Wann. Herr Stranak redete ihn ruſſiſch an, was er verſtand, und ſtellte ihm Herrn von Humboldt vor. Der Lama er— wiederte mit der Frage, ob er die Reiſenden mit Thee bewirthen könne, was aber Humboldt höflich dankend ablehnte und ſich dar— auf mit ſeinen Begleitern wieder entfernte.

Sechſtes Kapitel

Die Wolga- Niederung. Armenier. Jurten-Tataren. Aſtrachaniſche Koſaken. Kalmüken.

Bevor wir unſere Reiſenden nach Aſtrachan ſelbſt begleiten, ſchalten wir eine Reihe lebendiger Skizzen ein, die ein ruſſiſcher Schriftſteller, P. T. Nebolfin, von der Niederung der Wolga und der Mehrzahl ihrer Bewohner entworfen hat“).

Geographiſche Schilderung.

Der Wolgaſtrom theilt die Niederung in zwei Theile, die Berg— und die Wieſenſeite. Die erſtere hieß auch in älterer Zeit die krim'ſche Seite, weil die hier wohnenden Vomaden ſich unter dem Einfluß der krim'ſchen Chane befanden; die letztere hieß die nogaiſche Seite, weil fie von Nogaiern bewohnt war, und als Weideplatz für die mannichfachen Uluſſe der ehemals ſogenannten goldenen Horde diente. Gegenwärtig heißen die Ländereien auf der Bergſeite einfach die Wolgaſteppe, und die auf der Wieſenſeite die Wieſen- oder auch die transwolgaiſche Steppe. Dieſe Volksbenennungen geben von ſelbſt einen Begriff davon, was eigentlich die Niederung iſt. In der That, wohin man auch die Blicke wenden mag, ſo begegnet man einer uferlofen, flachen, trübſeligen, einförmigen, kahlen Steppe. Oede Strecken, Salzlacken, Triebſand und Wangel an fließendem Waſſer, das ſind die unterſcheidenden Kennzeichen des Wolgalandes,

*) Vgl. „Ausland“ 1852 Nr. 142 ff, nach dem Journal des ruſſiſchen

Miniſteriums des Innern, ſo wie Meyer's „Magazin für die Kunde des geiſtigen und ſittlichen Lebens in Rußland.“ Jahrg. 2.

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welches den ganzen nördlichen Theil des kaſpiſchen Uferſtrichs umfaßt, und augenſcheinlich ſchon von Alters her nur zum Wohnſitz wane dernder Stämme beſtimmt war.

Indeß ſcheinen die Ausdrücke doch paradox für den, welcher das Land nicht perſönlich kennt, und überhaupt ſich nicht ſonderlich gern mit geographiſchen Karten befaſſen mag. Wie ſollten wir das von der prächtigen Wolga und ihren Nebenflüffen bewäſſerte Land den waſſerloſen Strich nennen? Wie das breite Land mit feinen zahlrei— chen ſeßhaft bewohnten Orten eine nur für Nomaden beſtimmte Ein- öde? In der That, die Wolga fängt ſchon vor Zarizyn an ſich zu verzweigen; zwiſchen Dubowka und Zarizyn ſendet fie ihren Haupt⸗ arm, die Achtuba, ab, dann fällt ſie in 67 Mündungen in's Meer; die Zahl der Bäche und kleinen Waſſerläufe, welche in die Kreuz und Quere die Niederung der Wolga zwiſchen ihrem rechten Ufer und dem linken ihrer Arme durchſchneiden, beträgt gegen 200; das Austreten der Wolga iſt ſo ſtark, daß ſämmtliche Seitenarme in Einen mächtigen Strom zuſammenfließen, der eine Breite von 30 bis 40 Werſt hat. Aber was findet ſich hier außer dieſer ein- zelnen rieſenhaften Waſſermaſſe? Was bietet der Raum auf der Bergſeite bis zur Sarpa und Kuma, und auf der Wieſenſeite bis zum Uſen und noch weiter bis hart an den Weeresrand dar? Eine kahle trockene Steppe, auf der in den heißen Sommermonaten alle die magern Gräschen faſt gänzlich zuſammenbrennen. Der Winter iſt hier gewöhnlich kurz, die Kälte ſchwach, der Schnee nicht feſt, die Schlittenbahn dauert nicht lange. Im Anfang Wärz wird die Wolga bei Aſtrachan ſchon frei vom Eiſe, mit dem Junius tritt eine unerträgliche Hitze ein, der Thermometer zeigt nicht ſelten 40% R., die Nächte find drückend, und bei völliger Windſtille erreicht das Queckſilber oft 25°. Die beſte Zeit des Jahres iſt das Ende Septembers, der Oktober und ſelbſt der November.

Die Wolga theilt ſich in die Menge kleiner Arme beinahe erſt an der Mündung ſelbſt früher bildet ſie eine Menge Inſeln und die Arme, von denen dieſe umſchloſſen ſind, nennt man zum Unterſchied von der ächten Wolga „Woloſchkas.“ Häufig ſenden dieſe Arme ſelbſt wieder kleine Bäche aus, eine Art natürlicher Tas näle, welche das feſte Land in verſchiedenen Richtungen durchſchnei—

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den und dann ſich wieder mit dem Hauptſtrom vereinigen; dieſe kleinen natürlichen Canäle werden Jerik oder mit einem tatariſchen Wort Uſek genannt; manchmal dringt ein ſolcher Jerik in's feſte Land ein, und bahnt ſich einen Weg nach der Steppe, manchmal füllt er ſich ſtark mit Waſſer, erweitert ſein Bett immer mehr, und wird zu einem wirklichen Fluß; zuweilen geſchieht aber auch das Gegentheil, der Jerik vertrocknet an feinem Austritt aus dem Haupt— ſtrom und wird ein „Ilmen“, der mit der Zeit völlig von Schilf überwachſen wird.

Die Ufer der Wolga in ihrem Unterlaufe ſind im Allgemeinen niedrig, ihr Grund uneben; am Ufer abgeriſſene Bäume in ganzen Stumpen und Klötzen faulen unter dem Waſſer und werden allmälig mit Sand bedeckt; außer ſogenannten „Karſchen“ iſt das Strom— bett überſäet mit Felsſtücken, hart gewordenen Untiefen oder Sand— banken, welche durch die Wellen von einem Ort nach dem andern geworfen werden. Oberhalb Aſtrachan's hat die Wolga in ihrem Hauptfahrwaſſer 15 Faden Tiefe, der Samianowſka-Staniza gegen- über ſogenannt von einem der frühern Kalmükenfürſten, dem Taiſchi Samian ſteigt die Tiefe bis auf 20 Faden. Nicht weit von dieſem letztern Orte ſendet die Wolga auf ihrer linken Seite einen neuen Arm aus, den Buſan, während der erſte, die Achtuba, ſich in zwei Arme, die große und kleine Achtuba theilt, den Bach Aſchuluk und eine Wenge Jeriks ausſendet, die ſich alle wieder mit einander vereinigen und endlich in den Buſan ergießen, mit welchem fie in einen ehemaligen Weerbuſen, das ſogenannte „kleine blaue Meer“, fallen.

Bei den Bewohnern der Niederungen der Wolga und des Ural bedeutet in der Volksſprache das Wort „morzo“ (kleines Meer, Weerchen) entweder einen Meerbuſen, wie man z. B. das Weerchen von Enſeli, das Weerchen von Kurchai ſagt, oder einen Steppenſee, der ſich von einem „Ilmen“ oder eigentlichen See nur durch ſeine ohne Vergleich bedeutendere Größe auszeichnet. Das „blaue Weer— chen“ war nach der Ueberlieferung des Volks ein Buſen des kaſpi⸗ ſchen Meers und reich an Salzwaſſer. Im Laufe der Zeit wurde es immer ſeichter, nach der Seite des Meeres hin verwuchs es immer mehr mit Schilf, und endlich ſickerte von den Wolgaufern her für

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ßes Waſſer durch. Endlich wurde es ſo ſeicht, daß man ſelbſt mit kleinen Fahrzeugen nicht mehr überall darauf fahren konnte, und jetzt iſt manchmal die Tiefe nicht mehr als drei Fuß. Das Waſſer hat jetzt einen Lauf und iſt vollkommen ſüß, wenn nicht gerade ein Morjan oder Seewind das Seewaſſer hereintreibt; letzteres geſchieht jedoch mit dem blauen Weerchen nicht allein, ſondern mit den Mün— dungen aller in's kaſpiſche Weer fallenden Flüſſen. Im Allgemeinen iſt das Uferland des kaſpiſchen Meeres ſehr reich an ſüßem Waſſer: von der weſtlichen Wolgamündung, dem Bach Baſargi, bis zur letz— ten öſtlichen Mündung, welche den Namen Dſchambaje führt, auf einer Strecke von 150-160 Werft, iſt das Waſſer allenthalben ſüß, und der Ueberfluß davon wird unterhalten durch die Ilmens und die Mündungen der verſchiedenen Waſſerläufe.

Nach dem Buſan ſendet die Wolga noch zwei bedeutende Arme aus, den Rytſchu und Baldu; der letztere wird, wie die Umwohner bemerken, von Jahr zu Jahr breiter und breiter, weil durch die heftige Strömung das linke Ufer merklich abgeriſſen wird. Daſſelbe bemerkt man allenthalben. Zugleich aber reiſt die Wolga von dem einen Orte ganze „Jare“ oder Landvorſprünge ab, führt ſie fort, ſetzt ſie wieder am Ufer an, und ſpült auch neue Ufer hin; an an— dern Orten wirft ſie neue Sandbänke und große Inſeln auf, gräbt ſich dadurch ein neues Bett, bahnt ſich neue Wege, wird aber da— bei fortdauernd immer ſeichter. Der Lauf der Wolga iſt namentlich zur Zeit der Anſchwellung ſehr reißend, vier Knoten in der Stunde, und in ſchmalen Waſſerläufen gegen ſieben.

Jenſeits Aſtrachan fängt die Wolga an ſich ſtärker zu theilen. Nachdem ſie ſich in einige Rinnſale verzweigt, bleibt dem einen der— ſelben, Bachtemir, der Vorrang, und er bietet der Schifffahrt noch am meiſten Bequemlichkeit, während ſie ſelbſt den Namen der alten Wolga erhält, gleich als ob ſie aus Altersſchwäche nicht mehr im Stande wäre, Schiffe mit aller Laſt zu tragen. Dann vereinigt ſie ſich wieder mit dem Bachtemir, durch ein breites Rinnſal, das den Namen des Strichs (plés) von Urus oder Uruſtob führt, und fällt gleich mit dieſem in das Flüßchen Warakuſcha, bildet eine Menge kleiner aber hoher Inſeln, die wegen ihrer Form „Bugor“ (Hügel) genannt werden. Jenſeits der Warakuſcha laufen breite

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aber ſeichte Abwäſſerungen der Wolga-Arme, wie an den Mün— dungen die Ströme häufig austreten. Das Ende der alten Wolga wenn man ſich fo ausdrücken darf, iſt das ſogenannte Baklany⸗ Rinnſal (protok).

Jenſeits der Linie, über welche das freie Waſſer aller dieſer Rinnſale ſich nicht erſtreckt, bewäſſert nichts die weiten, mit Sand oder Salzanflug überdeckten Räume; nirgends kann der Wanderer ſich vor den ſengenden Strahlen der Sonne in Schatten und der Kühle eines Wäldchens verbergen. Im Unterlauf der Wolga giebt es überhaupt gar keinen Wald in dem Sinne, wie man es im hö— her gelegenen Lande verſteht; Sandweiden und mageres Geſtrüpp iſt alles, was das Land bietet. Es giebt hier viele Reben und zartere Fruchtbäume, die man in den ſpärlichen, für den Gartenbau geeigneten Stellen aufzieht; aber dieſe kleinen Oaſen ſind nur Ausnahmen in der allgemeinen Charakteriſtik der Lokalität. Allerdings erſcheinen auch hier Leute, welche durch die That zeigen wollten, daß die „Ar— beit Alles vermag“, ſie vergeſſen aber, daß jede Wahrheit gewiſſen Bedingungen unterworfen iſt; ſie pflügten das Land um und pflanz⸗ ten Eicheln, in der eitlen Hoffnung, daß daraus alsbald Eichenwäl— der emporwachſen würden, aber in dem Sand- und Salzboden treiben die Eicheln keine Schöſſe. Schade, daß dieſe Experimentirer nicht nur Zeit und Mühe umſonſt verloren, ſondern auch Dinge, auf welche man hauptſächlich Acht hätte geben ſollen, vernachläſſig— ten: in den Wolgaſteppen nämlich giebt es einige Arten wildwachſender Kornpflanzen, aber die Mehrzahl kennt ſie gar nicht, während das Gerücht die Trefflichkeit und Nützlichkeit irgend einer amerikaniſchen Wurzel laut verkündet. Wir bemühen uns um die Verbreitung von Gewächſen, die man von jenſeits des Meeres verſchrieben, aber wollen nichts wiſſen von den Gaben der Vatur, welche bei uns den Roggen, den Weizen und die Kartoffel erſetzen könnten.

Der Ackerbau als ſelbſtſtändiger und hauptſächlicher Zweig der Induſtrie beſteht in dem Unterlauf der Wolga nicht. In der Wolga ſelbſt treibt man ihn nur an den Ufern der Rinnſale in der unmit⸗ telbarſten Nähe des Stromes, und entfernt von dieſem, an der Sarpa auf der einen und dem Uſen auf der andern Seite. Uebrigens iſt dieſer Ackerbau im Allgemeinen ſo unbedeutend, daß er ſelbſt die

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Bedürfniffe der örtlichen Bevölkerung nicht befriedigt; ohne Zufuhr von Getreide kann das Land nicht beſtehen.

Auf den Steppenniederungen der Wolga iſt kein Waſſer, kein Holz, kein Ackerbau, und doch waren dieſe Steppen von Alters her mit nomadiſchen Fremdlingen bedeckt. Es entſteht deshalb die na— türliche Frage: wie leben dieſe Menſchen? wie nähren ſie ſich? welche Arten von Beſchäftigung find mit ihren gewohnten Lebensverhält—⸗ niſſen im Einklang?

Die Steppen der Wolganiederung ſind trotz des Sandes und der Salzflächen reich an Pflanzen, die zur Nahrung des Viehes taugen, das an ſolches Futter gewöhnt iſt. Die ausſchließliche Be— ſchäftigung der Nomaden iſt deshalb die Viehzucht. Die Sand- und Salzſtriche haben dabei beziehungsweiſe noch ihren Werth; das Salz mildert die Rauheit des Steppenfutters, und verſtärkt für das Vieh die Nährfrait des magern Graſes, und der Sand mit ſeinen „Bolchuns“, „Barchans“ und „Schichans“ oder Hügeln von Flugſand gewährt dem Vieh einen Schutz gegen das winterliche Unwetter und die Schneeſtürme, und dient außerdem noch als ſiche— res Anzeichen der unterirdiſchen Waſſervorräthe. Bei dem Wangel an fließendem Waſſer gewinnen die Wanderſtämme ihr Waſſer aus künſtlichen Brunnen, welche zum Theil hier von Alters her beſtehen als ein Zeugniß uralter Bevölkerung, theils auch jetzt neu ausge— graben werden. Dieſe Brunnen, oder wie ſie das gemeine Volk rich— tiger nennt, „Schürfe“, ſind nichts anders als einfache Gruben, die man ſo tief ausgräbt, bis der arbeitende Waſſerſucher auf die Ouelle ſtößt, welche die Grube alsbald mit einem hinreichenden Waſſervor⸗ rath füllt; legt man die Seitenwände des Schürfs mit Stein oder Balken aus, ſo erhält die Grube den Namen „Brunnen.“ Da wo das Vieh getränkt wird, trifft man einige Dutzend ſolcher Brunnen beiſammen, weil das Waſſer Eines Brunnens auch für eine nicht große Heerde unzureichend fein würde. Das Waſſer in den Brun⸗ nen iſt manchmal bitter, manchmal etwas ſalzig und ſtets ſehr ge— ſchmacklos; aber das gemeine Volk trinkt niemals ſolches Waſſer, das blos von dem Vieh benützt wird, welches von der Geburt an ein ſolches Getränk dermaßen gewöhnt iſt, daß daſſelbe gar keinen nachtheiligen Einfluß auf die Geſundheit ausübt. Das Vieh trinkt

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das Waſſer nicht direct aus dem Brunnen, man muß vorher die etwas verſchütteten Wände aufräumen, das alte ſtehengebliebene und ſchon etwas verdorbene Waſſer abſchöpfen, das Anſammeln friſchen Waſſers abwarten, es mit Lederbeuteln ausſchöpfen, und dann die Trinkrinnen anfüllen.

Dieſe Viehhirten leben in Häuſern oder Wohnungen von eigen— thümlicher Bauart. Man nennt eine ſolche Wohnung im Volk ge wöhnlich „Koſch“, auch Kibitke, manche ſogar, aber ſehr unrichtig, eine Jurte, denn letzteres Wort hat eine ganz andere und nicht im— mer dieſelbe Bedeutung. Die hieſigen Kibitken werden aus Stan— gen von Sandweiden gemacht, die in Gitterform in einander gefloch— ten werden, ſo daß man ſie nach Gefallen zuſammenlegen und wie— der auseinander breiten kann. Die Verbindung einiger ſolchen aus— gebreiteten Gitter bildet eine durchſichtige runde Wand, auf welche nur eine halbrunde, gleichfalls aus Stangen beſtehende Kuppel auf— geſetzt wird; an dem in der Wand gelaſſenen Durchgang hängt man die Thüre ein. Eine ſolche Wohnung wird nun von oben bis unten mit großen Filzſtreifen, den eigentlich ſogenannten Koſchmen behängt. Eine ſolche Wohnung iſt wohlfeil ſie koſtet indeß doch 50 R. S. und den Bedürfniſſen des Viehzüchters angemeſ— ſen, denn ſie ſchützt ihn am beſten gegen die ſchwüle Hitze, gegen Kälte, Schneewehen und Unwetter. Die Kibitke kann man in 10 Winuten abnehmen, ſo zuſammenlegen, daß ſie wenig Raum einnimmt, und auf dem Rücken eines Laſtthieres befeſtigen; ebenſo ſchnell iſt ſie wieder aufgerichtet, und von neuem zu einer menſchli— chen Wohnung gemacht. Dieſe allgemeine Einrichtung der Kibitken iſt dieſelbe vom Kaukaſus bis zu den Ausläufern des Chun-lun und von den Quellen des Ural bis zu denen des Oxus und zu den Nies derungen der Wolga; weiter jenſeits der Wolga trifft man aber ſo kleine Kibitken, daß man ſie nicht zuſammenlegt, ſondern einfach auf dem Wagen aufſtellt und hinfuͤhrt wo man ſie braucht; die Stämme, die ſich ihrer bedienen, ſind aber gar nicht zahlreich.

Die Nahrung dieſer wandernden Viehzüchter beſteht in den Er— zeugniſſen ihrer Heerden; da aber das Fleiſch ein ſehr theurer Ge— genſtand iſt, ſo verkaufen ſie meiſt das lebendige Vieh, und die Mehrzahl der Nomaden genießt Fleiſch nur ſehr ſelten; dagegen iſt

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Wilch von Stuten, Kühen und Schafen in verſchiedenen Formen der Zubereitung als Getränke und in Form von Käſen bei Allen ohne Ausnahme das bedeutendſte Nahrungsmittel. Außerdem ſam— meln ſie verſchiedene Arten Körnerpflanzen und Wurzeln, die in den Steppen und an den Weerbuſen wild wachſen; auch verſorgen ſie ſich im Winter mit Wehl, deſſen ſie vom Frühjahr bis zum Herbſt ſehr wenig bedürfen. Zu ihrem täglichen Genuß gehört auch der nahrhafte und geſunde Ziegelthee, deſſen Gebrauch vom ſchwarzen Meere bis zum öſtlichen Ocean allgemein bekannt iſt, nicht nur unter den nomadiſchen Stämmen, ſondern auch bei vielen Ruſſen.

Viehzucht und Viehhandel iſt die Hauptbeſchäftigung der No— maden, indeß verſteht es ſich von ſelbſt, daß nicht Alle ſie treiben können; dieſe gehen dann auf Tagelohn aus und vermiethen ſich namentlich beim Fiſchfang. Das kaſpiſche Meer und die Wolga— niederungen bieten in dieſer Beziehung eine umfaſſende Quelle des Reichthums, und eine ungeheure Maſſe Fiſchwaaren kommt jährlich zu Warkte. Natürlich kann aber nicht Jeder für ſich ſelbſt Fiſche fangen, ſondern der Fang gehört nach dem Eigenthumsrecht den Beſitzern der am Ufer ſtehenden Landhäuſer, und wird unter gewiſ— ſen Bedingungen an Andere überlaſſen. Da große Ausgaben damit verbunden ſind, ſo wird derſelbe von Unternehmern betrieben, welche eine Anzahl Arbeiter miethen. Ein ſolcher Arbeiter darf nie über die von ihm gefangenen Fiſche ſelbſt verfügen, als über ſein Eigen— thum, er darf ſie weder ſelbſt eſſen noch verkaufen, ſondern muß ſie an den Unternehmer, der ihn angeſtellt hat, abgeben. Dabei gelten nur diejenigen Fiſche für voll, welche das Maaß haben; ſind ſie auch nur um einige Linien kürzer, ſo gelten ſie nur für Halbfiſche; ſind ſie noch kleiner, für Drittelsfiſche, und wenn ſie gar kein Ausſehen haben, ſo heißen ſie „Brak“ (Ausſchuß), und gelten für gar nichts, obgleich ſie auch auf den Markt kommen. Dieſe Einrichtung iſt keine neue Erfindung der jetzigen Unternehmer, ſondern eine alte Sitte, die, ſo viel man aus den hiſtoriſchen Acten entnehmen kann, ſchon im 17ten Jahrhundert beſtand. Der Seefiſchfang iſt für die gemei— nen Arbeiter ſehr mühſam, und noch dazu lohnt ſich die Arbeit nicht genügend. Wenn Leute, die Arbeit ſuchen, ſich dem Seefiſchfang

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entziehen können, ſo gehen fie nach den Watagen an der Wolga oder als Matroſen (Muſuren) auf die Seeſchiffe, welche das ka— ſpiſche Meer befahren, oder ſie arbeiten endlich an den Salzſeen. Die gegenwärtige Bevölkerung der untern Wolga iſt ſehr man— nigfach. Außer Ruſſen und Armeniern wohnen hier Tataren ſehr verſchiedener Stämme, Turkmenen, Karakalpaken, Kalmüken und Kirgiſen. In Aſtrachan wohnten früher Indier; gegenwärtig aber ſind keine mehr dort; doch ſcheint es gelten noch zwei als ausge— wanderte Hindus, indeß wohnen auch dieſe nicht dauernd hier, ſon— dern ſind nur die Geſchäftsführer perſiſcher Kaufleute.

Mit dem Ackerbau im Lande beſchäftigen ſich faſt nur die Ruſ— ſen; fie machen die Landbevölkerung aus und beſtehen ans Leibeige— nen und Koſaken. Jeder Bauer ſucht ſich einen brauchbaren Fleck aus und beſäet ihn, nicht in größern zuſammenhängenden Strichen, wie im mittlern Rußland, ſondern ſtrichweiſe, ſo daß zwiſchen den einzelnen angebauten Flecken oft viele Strecken ungebauten oder eines Anbaues nicht fähigen oder auch ſchon erſchöpften Landes lie— gen. Wo, was oft geſchieht, das Waſſer mehrere Monate ſtehen bleibt, kann man den Boden ſo wenig bauen, als wo Sand liegt. Bewäſſerung iſt nicht unbekannt, und ſie findet ſich nicht blos bei den Tataren, welche ihre Melonengärten und Bachtſchis künſtlich zu bewäſſern verſtehen; aber ganze Ackerfelder werden nicht bewäſſert, theils wegen örtlicher Hinderniſſe, theils weil nicht Jeder die Koſten aufwenden kann.

Die Armuth des Landes an Holz wird durch die Fülle von Schilf erſetzt, das bei der nomadiſchen und angeſiedelten Bevölkerung als Brennmaterial dient, und ſelbſt beim Brennen von Backſteinen das Holz mit Vortheil erſetzt. Aus dem Schilf macht man Flecht⸗ werke, Zäune, Hürden für das Vieh, oder ſogenannte „Lobaſen“ und „Turluſchken,“ d. h. kleine Hütten. Die alte ruſſiſche Kleidung trifft man hier im Lande nirgends, fie iſt jedoch erſt ſeit etwa 20 Jah⸗ ren abgekommen. Die Wädchen aus dem ächten Stamm der Ein— gebornen trugen bei feierlichen Aufzügen in die Kirche zum Abend— mahl oder an hohen Feſttagen eine Art Kränze, ſogenannte Koko— ſchniks, unter denen ein Band mit Edelſteinen herum lief, deſſen Ver: zierungen herabgingen bis zu den Augenbraunen; ein langes Kleid

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mit Vorſtößen, d. h. mit einem rothen Stoff am obern Theil der langen Aermel galt für unerläßlich. Das gewöhnliche Coſtüm der Mädchen beſtand in einem weißen Hemd mit glänzenden, langen, bis an das Handgelenk vorgehenden Aermeln, einem farbigen Unterrock, und darüber die Jepanetſchka, eine Art Mantel aus farbigem Stoff, der nur bis an's Knie reichte und lange Aermel hatte; um den Hals ein Halsband aus Bernſtein und Perlen; an den Händen eine Art Schienen, Bracelets und Ringe; der Kopfputz zu Hauſe war ein Kalpak, weißbaumwollene oder farbige Binden, und wenn das Wäd— chen in Geſellſchaft ging, umwand ſie den Kopf mit einem hellro— then ſeidenen Tuch. Die Frauen kleideten ſich faſt ebenſo, nur daß ſie ſtatt des Kranzes einen mit einem Tuch feſtgebundenen Aufſatz trugen. Auch die Fußbekleidung war oftmals ganz anders, wie jetzt; die jungen Mädchen trugen farbige Pantoffeln ohne Hintertheil aber mit hohen Abſätzen, die ältern Frauen hatten Pantoffeln ohne Hin— tertheil und ohne Abſätze; doch banden ſie ſich beim Ausgehen dünne Brettchen unter die Füße.

Der Centralpunkt des Wolganiederlandes iſt Aſtrachan, das bei dem Volke gewöhnlich nur Rasbalui-gorod heißt.

Die Armenier.

Die Armenier erſcheinen in Rußland ſchon in ſehr alter Zeit, es iſt von ihnen ſchon in den Urkunden des 15ten Jahrhunderts die Rede, und am Ende des 16ten hatten fie in Woskau bereits ihren Kaufhof. Zaar Alexei Wichailowitſch gewährte ihnen viele Freiheiten, um durch ihre Vermittlung einen regelmäßigen Handel mit dem Orient in Rußland zu begründen. Dies war der Haupt— zweck ihrer Berufung, außerdem erwartete man auch von ihnen in der Wolganiederung die Verbreitung der Seidenzucht und des Gar— tenbaues. Im Jahre 1744 wurden hinſichtlich ihres Aufenthalts fol— gende Regeln aufgeſtellt: 1) es ſoll ihnen freier Eintritt in Rußland zum Behuf des Handels geſtattet ſein, 2) in Aſtrachan ſollen ſie unter die Zahl der Einwohner, aber nur in zeitliche, nicht in immerwährende Unterthanenſchaft aufgenommen werden; 3) es iſt nicht geſtattet, ſie mit Gildeſteuer zu belegen, aber den Localmagiſtraten iſt anbefohlen, von ihren Waaren einen angemeſſenen Zoll zu erheben; 4) wer nicht

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in Rußland leben will, ſoll ohne Hinderniß in ſeine Heimath entlaſſen werden, 5) Rechts- und Gerechtigkeitspflege ſoll nach ihren eigenen Rechten und Gewohnheiten geübt werden, 6) es iſt ihnen freie Aus— übung ihrer Religionsgebräuche geſtattet; 7) ſie ſind von allen Froh— nen frei, und haben keinen Transport zu leiſten; 8) die Häuſer, in denen die Eigenthümer ſelbſt wohnen, ſind von Einquartierung frei, und Grundſteuern ſollen unter Aufſicht des Magiſtrats erhoben wer— den; 9) ſie ſollen ſich in beſondern Sloboden (Vorſtädten) anſiedeln, endlich 10) iſt es ihnen geſtattet, Fabriken und Hüttenwerke mit Vorwiſſen des Manufakturkollegiums anzulegen, ohne alle Abgaben während der ihnen bewilligten Freijahre.

Auf den Grund dieſer Verordnung kamen die Armenier zu ver— ſchiedenen Zeiten nach Aſtrachan und ließen ſich hier nieder: aus der Türkei und den perſiſchen Provinzen (Karabag, Gandſcha, Oſchulfa, Nachitſchewan, Schemacha), jo wie auch aus dem geor— giſchen Königreich. Zur Schlichtung von Streitigkeiten und Pro— zeſſen wurde im Jahre 1765 ein beſonderes Gericht in Aſtrachan nie— dergeſetzt unter dem Namen des aſiatiſchen, und die Unterhaltung deſſelben ohne Beiſteuer von der Regierung oder der Stadt der ar— meniſchen Gemeinde aufgegeben. Da es indeß bei den Armeniern keine beſtimmten Regeln für die Prozeßführung gab, da Prozeſſe, wie ſich die Armenier ſelbſt ausdrückten, nur nach dunklen Ueber— lieferungen und Herkommen entſchieden wurden, ſo wurde im Ver— lauf der Zeit der Beſtand dieſes Gerichtes überflüſſig und im Jahre 1839 ward es aufgehoben. Jetzt ſtehen ſie unter den allgemeinen Gerichtsbehörden.

Der erſte Cenſus der Armenier in Aſtrachan wurde im Jahre 1795 vorgenommen, und damals zählte man 290 Perſonen männ- lichen Geſchlechts. Zu jener Zeit hatten ſie nur für einen Aufſeher bei der Polizei 80 Rubel Aſſ. zu entrichten, und ſich von der Ein— quartierung loszukaufen, was jährlich zwiſchen 4500 und 6000 Ru⸗ bel Aſſ. ausmachte. Im Jahre 1827 ließ der regierende Kaiſer mit Bezugnahme auf ſämmtliche damals in Aſtrachan befindliche Armenier die Frage aufwerfen: ob es recht ſei, Fremdlingen ewig dauernde Vorrechte vor den eingebornen Ruſſen zu ertheilen? In Folge deſſen wurde durch ein Reſeript des Winiſteriums unter dem

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2. Juni 1831 feſtgeſetzt, daß, bezüglich der den Armeniern in Aſtrachan ertheilten Freiheiten, die, welche ſchon im Jahre 1795 daſelbſt an- weſend geweſen, dieſe Freiheiten fortwährend genießen ſollten, allen übrigen aber ſollte es, unter Zulaſſung einer Friſt von ſechs Mo— naten frei ſtehen, entweder in die Unterthanenſchaft Rußlands ein— zutreten, oder in der Eigenſchaft als nicht handeltreibende Fremde behandelt zu werden. Im Jahre 1836 wurde verordnet, allmälig ſämmtliche Armenier in Bezahlung der Reichsſteuer den ruſſiſchen Unterthanen gleichzuſtellen, und im Jahre 1848, daß ſämmtliche nicht mit beſondern Freiheiten ausgeſtattete Armenier, welche ſich vor 1797 in Aſtrachan niedergelaſſen hätten, mit zwei Rubel Steuer vom Hauſe belegt, diejenigen aber, welche ſich ſpäter niedergelaſſen, zu dem allgemeinen Steuerſyſtem beigezogen werden ſollten. So theilen ſich jetzt die Armenier zu Aſtrachan in drei Klaſſen: in der erſten befinden ſich 187 Perſonen männlichen Geſchlechts, welche noch das Privilegium von 1799 genießen; zur zweiten gehören 2192 Perſonen männlichen Geſchlechts, welche außer den Land- und Stadtabgaben zwei Rubel S. vom Hauſe bezahlen, und zur drit— ten 131 Perſonen männlichen Geſchlechts, welche dem allgemeinen Steuerſyſtem unterworfen ſind.

Die Armenier, welche aus Perſien und dem Königreich Geor— gien kamen, folgen den Regeln des gregorianiſchen Glaubensbekennt— niſſes; es ſind deren 5051 Perſonen. Die Armenier, die aus den türkiſchen Provinzen kamen, befinden ſich in Union mit dem römi⸗ ſchen Katholicismus; dieſe ſind im Ganzen 176 Perſonen.

Die Phyſiognomie der Armenier iſt bekannt; ſie nähert ſich ungemein dem hebräiſchen Typus. Im Allgemeinen zeichnen ſich ihre Geſichter durch große Regelmäßigkeit aus und ſind faſt immer länglich; ihre Hautfarbe iſt etwas dunkel, die Haare ſchwarz mit einem dunkelblauen Anflug, die Naſe gerade, aber etwas hökerig, doch nicht mißgeſtaltet; die Frauen kann man in der That ſchön nennen; die Augen der Armenier ſind groß, ſchwarz, glänzend und bei den Weibern voll ungewöhnlichen Feuers. In Aſtrachan gehen viele Sagen darüber, daß die Armenierinnen ihre Augen bemalten; dieſe Angaben treffen auch mit dem zuſammen, was ſchon im vorigen Jahrhundert in einer „Beſchreibung aller im ruſſiſchen Reiche woh—

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nenden Völker“ gefagt wurde, wo es heißt: „die Armenierinnen kaufen, um die Augen im Innern ſchwarz zu färben, um theuren Preis ein ſchwarzes, ſehr feines Pulver, welches ſie vermittelſt einer Feder in das Auge hineinbringen; dies Pulver beſteht nach ange- ſtellten chemiſchen Verſuchen bloß aus klein geriebenem Spießglas.“ Auch jetzt noch ſchminken ſich alle Armenierinnen, ohne Unterſchied ob jung oder alt, roth und weiß, und bemalen ſich die Augenbrauen ſchwarz; letzteres geſchieht ganz einfach mit gebrannten Mandeln oder ſogar mit dem verbrannten Docht einer Unſchlittkerze; die rothe Schminke beſteht in einer Ponceaufarbe aus Pflanzenſtoffen.

Der Wuchs der Armenier iſt von mittlerer Größe. Einige Fülle, jedoch nicht vollſtändige Beleibtheit gilt für einen nicht unbe⸗ deutenden Vorzug. Körperliche Stärke iſt ſchwach entwickelt, eine beſondere Gewandtheit in körperlichen Bewegungen nicht zu bemer⸗ ken, ja das ganze Leben des Armeniers bietet nichts, was ihn zur Entwicklung der Kräftigung der Muskeln veranlaſſen koͤnnte.

Die Armenier bedienen ſich gewöhnlich ihrer eigenen Sprache, obgleich ſie meiſt das Ruſſiſche ſehr fließend und richtig, wenn auch zum Theil mit etwas fremdartigem Acent ſprechen; bemerkenswerth find aber die Namen, welche fie in ihrer Sprache den verſchiedenen Ländern geben; jo nennen fie Rußland Ruſastun, die Kalmüken Skwiutazi, jeden Mohammedaner (mag er ein Perſer ſein oder nicht) Tadſchik, den Kaukaſus Koffkas, das ſchwarze Weer Sjäwzoff, das kaſpiſche Meer Kaſpizoff, die Wolga (mit dem alten Namen) Idyl, die Kuma Gumi, Tiflis Typkis, Georgien Wraztun, Griechenland Chunaztun, Perſien Parskaſtun.

In Folge der allenthalben ſich entwickelnden Civiliſation iſt der größte Theil der aſtrachaniſchen Armenier wie einige in der Wolga— niederung wohnende und unter dem Einfluß des armeniſchen Han- dels ſtehende Stämme ſich ausdrücken jetzt völlig zu „Pranzuſen“ geworden; ſie ſtolziren in Pariſer Moden einher und leben auf europäiſche Weiſe. Uebrigens putzt ſich auch bei dieſen Armeniern in den Häuſern nur die eine Hälfte nach den Moden der Haupt- ſtadt, die andere bewahrt noch den armeniſchen Nationalcharakter. Es giebt keine Familie, bei der man nicht wenigſtens noch Ein Zim⸗ mer findet, in welchem ſtatt der europäiſchen Möbel breite hölzerne

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„Naren“ herumlaufen, die man, jo wie auch den Fußboden, mit Tep- pichen und Kiſſen bedeckt.

Die Armenier lieben den Kaffee mehr als den Thee bei den Damenbeſuchen muß, wenn auch dieſelben erſt Abends ſtattfinden, unwandelbar Kaffee ſtatt Thee gegeben werden. Wie der Kaffee das Lieblingsgetränk der Frauen bildet, ſo iſt ungegohrner Wein der größte Genuß für die Männer. Der Armenier braucht keinen Lafitte, keinen Rheinwein und keinen Champagner, denn dies alles iſt, wegen des hohen Preiſes nämlich, geſchmacklos und ſelbſt für die Geſundheit nachtheilig. Der ungegohrne Wein, der in Aſtrachan faſt nichts koſtet, vereinigt alles in ſich, was zur vollſtändigen Be— friedigung dient, er iſt wohlfeil, berauſcht, und iſt ſomit geſund.

In der Küche der Armenier finden ſich faſt gar keine ruſſiſchen Töpfe, ſie ziehen Kaſſerole und kupferne Keſſel vor. Die Lieblings⸗ ſchüſſel der Armenier ſind die ſogenannten „Kababen“ verſchiedener Art: Schiſch⸗Kabab, d. h. Hammelfleiſch in Stücken an einem eiſer⸗ nen Spieß gebraten, Ljuli-Kabab oder Schiſchlyk, klein gehacktes Hammelfleiſch an einem Spieß feſtgedrückt und über dem Feuer ge— roſtet; Kaſan⸗Kabab, d. h. Hammelfleiſch in einer Art Sauce in einem Keſſel mit Lauch und Früchten gekocht; ferner „Dalma“, ge— hacktes Hammelfleiſch mit Pfeffer und andern ſcharfen Dingen ver— ſetzt, in friſche Rebenblätter gewickelt und in ſiedendem Waſſer auf— gekocht. Zu dieſem Ende ſalzt man Rebenblätter für den Winter ein, und wenn man ſie zum Kochen von Dalma braucht, weicht man ſie in Waſſer ein; eine ſolchergeſtalt zubereitete Dalma wird ſtets mit Molken aufgetragen; manchmal kocht man ſie auch mit Aepfeln, mit Quitten oder mit kleinen Kürbiſſen. Der im ganzen Orient von Aegypten bis China, und von Kaſan bis Calkutta be— kannte Pillau iſt bei den Armeniern, wie jede ihre Schüſſeln, nicht ohne Safran zubereitet. Sie lieben im Allgemeinen alle beißenden Sachen: Lauch, Knoblauch, Nelken, ſpaniſchen Pfeffer, Cardamom finden ſich reichlich faſt in allen ihren Gerichten. Uebrigens wird alles Fleiſch, ſelbſt Fiſche und Krebſe, als in den Faſten verboten erachtet.

Die Armenier in Aſtrachan kleiden ſich größtentheils deutſch, nur vom Frack ſind ſie keine großen Liebhaber; in allen übrigen

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richten fie ſich, namentlich das weibliche Geſchlecht, ſtreng nach den Modebildern. Aeltere Leute bewahren indeß noch jetzt die Anhäng— lichkeit an die alten Sitten und kleiden ſich in ihre Nationaltracht; die Frauen aber werfen Hüte und Mantillen ab, ſobald ſie in die Kirche und zu den großen Jahresfeſten gehen. Das eigentliche ar— meniſche Koſtüm, das vor 20 oder 25 Jahren allgemein war, be— ſteht aus folgenden Theilen: bei dem Mädchenanzug: der Schabik, ein leinenes oder ſeidenes, farbiges, meiſt rothes Hemd, das nach unten und an den Aermeln lang, an den Handwurzeln weit, aber nicht breit, an den Rändern mit Schnüren eingefaßt iſt; der Vor— dertheil iſt ſtark ausgeſchnitten mit einem Schlitz faſt bis zum Gür— tel. Unter dieſem Hemd trägt man allgemein ein Kreuz, und die, welche Krankheiten unterworfen ſind, auch kabbaliſtiſche Zeichen und verſchiedene Talismane, die in ein beſonderes Täſchchen eingenäht ſind. Außerdem tragen ſie die Pochan oder Iſar, lange Bein— kleider bis zu den Knöcheln, die unten mit ſilbernen Borten einge— faßt ſind; ſie ſind bei den Armenierinnen enger als bei den Perſe— rinnen, und beſtehen je nach dem Vermögen der Trägerin aus Seide, Leinwand oder einfachen rothem Baummollenzeug*). Die Fußbe— kleidung beſtand in Aburſchumi, ſeidenen Strümpfen mit ſeidenen oder goldenen Strumpfbändern, auf denen der Namenszug oder auch der volle Name der Beſitzerin eingenäht wird, und aus Maſchik oder Pantoffeln von farbigem Saffian mit ſehr hohen Abſätzen. Das Oberkleid, Archaluk, iſt der allgemeine aſiatiſche kurze Ueber— rock; er iſt von Seide einfarbig oder bunt, aber ſtets mit einerlei Figuren ausgenäht: die Bruſt wurde vor Alters nie zugeknöpſt, ſondern blieb völlig offen bis zum Gürtel; hier erſt wurde der Ar— chaluk mit einer ſilberdurchwirkten Leibbinde, einer Schnur, Nadel oder Knopf befeſtigt; die Kapa, das Kleid mit den langen, weiten Aermeln und aus den beſten Stoffen, bedeckte gleichfalls nicht ganz die Mädchenbruſt, ſondern ließ ſie offen, ſoweit dies die armeniſche Verſchämtheit und Sittenreinheit geſtattete. Die „Doloma“ war das oberſte Kleid, das um die Schultern geworfen wurde, wie die

*) Auch jetzt noch ſieht man zuweilen Pochan und Schabik, aber ſelten,

denn fie find durch das gewöhnliche europäiſche Weißzeug, Corſett und Ueber: rock mit inbegriffen, verdrängt.

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Jepanetſchka; fie war lang, und die gleichfalls langen Aermel, welche ſich gegen unten allmälig verengten, flatterten beim Gehen im Winde. Der Kopfputz der Wädchen war eigenthümlich; ſie floch— ten fünf oder ſechs Zöpfe aus eigenen Haaren, hefteten ebenſo viel falſche an, und befeſtigten an die Enden derſelben Schleifen und ſei— dene Bänder; dieſe Zöpfe ließen ſie über die Kleider an dem Rücken hinunter hängen, und je länger ſie waren, deſto höher ſchätzte man die Schönheit des Mädchens. In den Ohren tragen ſie theure und nach aſiatiſcher Sitte ungeheuer große Gehänge (eyrga). Die ſo— genannten „Woski“ (Gold), d. h. goldene Wünzen und Wedaillen von fremdem Gepräge zierten den üppigen Hals und die Schultern der hübſchen Armenierinnen; Braceleten oder Armſpangen, armeniſch „Kalbach“, ſo wie Ringe glänzten in Wenge an ihren Händen. Den Kopf umwanden ſie ſich mit einem ſchwarzen Atlastuch, deſſen zwei lange und ſpitze Enden fie rückwärts warfen. So gehen die Ar— menierinnen auch noch jetzt. Den Tſchadra (Schleier) trugen viel⸗ leicht nur die ältern Mädchen; dies war ein großes Stück weißen Baumwollenzeugs, worein ſie ſich vom Kopf bis zu den Füßen wickelten, jedoch ohne das Geſicht zu verhüllen; da fie es nicht ver— ſtanden, dies Kleidungsſtück gehörig zu drapiren, ſo ſah es ſehr ge— ſchmacklos aus, namentlich wenn man eine ſolche Armenierin von hinten ſah. Im Winter trugen in frühern Zeiten die Mädchen eine Pelzdoloma mit Aermeln, und den Kopf verhüllten ſie ſich außer dem ſeidenen Tuch der Wärme wegen mit einem perſiſchen Shwal. die Kleidung der verheiratheten Frauen iſt im weſentlichen dieſelbe, und der Hauptunterſchied beſteht nur darin, daß Schabik und Pochan nicht roth, ſondern unwandelbar blau und am Rande mit dicken Schnüren beſetzt ſind. Im Sommer trugen die Frauen ſtatt des Archaluk ein kurzes ſeidenes Camiſol ohne Aermel mit ſilbernen oder vergoldeten Haken, die nur am Gürtel zugeheftet wurden; manch— mal wurde hier auch eine große ſilberne oder goldene, mit Edel— ſteinen verzierte Nadel eingeſteckt. Ohrringe, Bracelete und falſche Zöpfe trugen ſie gar nicht, dafür aber galt als ein unerläßlicher Zubehör der Frauen-Friſur der Tſchawlik, ein falſcher Aufſatz, deſſen Haare neben dem Ohr über die Wangen herunterfielen, da⸗ mit das Haar an den Schläfen üppiger, breiter und ſchwärzer er—

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ſcheinen möge. An den Schläfen war eine befondere Verzierung in Form eines Halbmondes befeſtigt; ſie war von Gold mit koſtbaren Steinen beſetzt und vier Zoll lang; ein Paar ſolcher Zierrathen hieß Dſchinanſir, und an jedem Schlaf war ein Dſchinachu befeſtigt. Unter das Kinn band man von einem Ohr zum andern ein breites Gehängſel von Perlen, Uſchuntſchi (Bart) genannt, und über das Kinn die Silſilä u aus Gold und koſtbaren Steinen; letztere war ſchmaler als das erſtere. Am Hals trugen ſie Schin— ſchil, goldene Ketten verſchiedener Art, aber namentlich zuſammen— geſetzt aus Medaillons in gegoſſenem Gold von venetianiſcher Arbeit, vielleicht auch von armeniſcher Arbeit nach venetianiſchen Muſtern; in der Witte dieſer Medaillons war eine goldene Platte angelöthet, die mit Perlen und koſtbaren Steinen geſchmückt war. Alle dieſe Koſtbarkeiten werden noch jetzt in vielen armeniſchen Familien der Stadt Aſtrachan aufbewahrt, obgleich ſie in Wirklichkeit nicht mehr benützt werden; auf ſolche Verzierungen ſind auch die Bildniſſe ar— meniſcher Schönen aus dem Anfang dieſes Jahrhunderts gemalt. Auf dem Kopfe trugen und tragen noch jetzt die verheiratheten Frauen ein kleines Tuch von Zitz oder Seide, und darüber binden ſie den Letſchik, ein großes weißes Tuch aus Seide, Gaze oder Muffelin, das fie hinten mit Nadeln zuſammenſtecken, aber nicht die Zipfel, ſondern die ſtumpfen Seiten hinabfallen laſſen; noch über den Letſchik binden ſie ein Stirnband (arm. Taſchkinak).

Nach dem Beiſpiel aller Orientalen laſſen die Armenier gern den Roſenkranz durch die Finger laufen, was bei ihnen die Unter— haltung mit Büchern und Journalen erſetzt; die letztere Art, die Zeit hinzubringen kennt auch die Jugend nicht, dafür ſpielt ſie Kar— ten. Die Armenier lieben die Wuſik ſehr; wo ſich bei ihnen eine Geſellſchaft verſammelt, da geht es nie ohne Wuſik und Geſang ab. Für einen an europäiſche Muſik gewöhnten Wenſchen aber iſt es kaum möglich, auch ihre ſchönſten Lieder auszuhalten. Sie ſingen gewöhnlich durch die Nafe, und ihre Welodie ift für ein europäi— ſches Ohr entſetzlich wild. Die gegenwärtigen armeniſchen Wuſik— inſtrumente kommen allmälig außer Gebrauch, und nur wenige ſind beibehalten, z. B. das Tſchungur, eine Art Balalaika mit fünf Wetallſeiten, und die Nagara, gewöhnliche Töpfe von Thon, die

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mit einem Fell überzogen find; von letztern hat man gewöhnlich ein Paar, die irgend ein zerknirſchter Armenier mit beſondern Trom— melſchlägen ſchlägt.

Was die Tänze betrifft, ſo haben die aſtrachaniſchen Armenier ſich gern der franzöſiſchen Quadrille und ſogar verſchiedenen Pol— kas ergeben, doch aber ihre Nationaltänze auch nicht vergeſſen. Noch erhalten ſich zwei ſolcher alten Tänze, der Chirkuokoff und der Gasmi; der erſte iſt in der Art des Koſakentanzes und wird zu zweien getanzt, entweder zwei Männer oder zwei Frauen mit ein— ander; an dem letztern Tanze nehmen Antheil entweder lauter Männer oder lauter Frauen, oder auch zwei Wänner und zwei Frauen; die Tanzenden ſchreiten ziemlich langſam von einer Stelle zur andern, in der Art, wie dies im ruſſiſchen Nationaltanz ges ſchieht, und beſchrieben dabei mit den Händen verſchiedene Figuren; bald heben fie ſolche graziös empor, bald ſtemmen ſie dieſelben in die Hüften, bald breiten ſie ſie nach den Seiten aus.

Im Allgemeinen nähern ſich die Armenier immer mehr den Ruſſen; von ihren alten Gewohnheiten haben ſie nur noch ſehr weniges übrig behalten, das nicht ruſſificirt iſt, ſelbſt in ſolchen Dingen, die mit ihren religiöſen Gebräuchen zuſammenhängen. Die Freiwerberei geſchieht bei den Armeniern ganz ſo, wie allenthalben in Rußland, durch Freiwerberinnen. Die Brautbeſchau iſt ſelten, weil die Armenier alle einander kennen. Die Verlobung wird im Hauſe der Braut ohne Schmauſerei begangen. Die Hochzeit findet gewöhnlich bei Nacht, ſelten bei Tage ſtatt. Bei der Trauung legt der Geiſtliche jedem Theil eine ſeidene Schnur an, befeſtigt die En— den mit Wachs und drückt mit dem kirchlichem Kreuz das Siegel darauf; dieſe Schnüre werden den jungen Leuten gleichfalls vom Geiſtlichen unter beſondern Gebeten, erſt zweimal 24 Stunden nach der Trauung, abgenommen; bis zum Verlauf dieſer Zeit bleiben Schweſtern und Freundinnen Tag und Nacht bei der jungen Frau.

In gegenwärtiger Zeit treiben die Armenier gar keinen aus— wärtigen Handel, auch treiben fie weder Seidenzucht, noch Garten— bau, noch Feldbau. Die wohlhabendſten Leute, Beſitzer ungeheurer Capitalien, treiben mit Erfolg das armeniſche Lieblingsgeſchäft, das Ausleihen von Geld an Andere gegen Verpfändung von beweglichem

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und unbeweglichen Vermögen. Die minder reichen Armenier bes ſchäftigen ſich entweder mit dem Handel in den kalmükiſchen Uluſſen und zum Theil in der innern Kirgiſenhorde, oder mit Commiffions- handel nach verſchiedenen Städten, oder endlich mit allerlei Handel in Aſtrachan ſelbſt, und mit dem Verkauf von Waaren, die aus Moskau, Petersburg und Nifchnei Nowgorod hierher kommen; Einige haben auch Färbereien und kleine Lichter- und Seifenfabriken oder Gerbereien. Unbemittelte treiben das MWäklergeſchäft und den Klein— handel.

Der allgemeine Charakter der Armenier in Aſtrachan iſt Frie— densliebe und Höflichkeit, manchmal Gefälligkeit, zuweilen Stolz und Aufgeblaſenheit, alle aber ſind munter, gewandt und in Geldſachen außerordentlich geſchickt. Es zeigt ſich bei ihnen Empfänglichkeit für äußere Bildung, nirgens aber ein Hinneigen zu Wiſſenſchaſten und höhern geiſtigen Beſtrebungen.

Die Jurten-Tataren

bilden eine beſondere Abtheilung der Kronbauern in der Wolga— niederung; fie ſelbſt nennen ſich Vogaier und halten ſich für Ab— kömmlinge der Nogaier der goldenen Horde, der erſten Gründer von Aſtrachan. Das Wort „Jurt“ bedeutet bei den hieſigen Tataren im allgemeinen einen Wohnſitz oder Ort, und Jurten-Tataren ſind einfach anſäßige Tataren. Ihre Anzahl iſt nicht ſehr groß und ſie mögen etwa 10,000 Seelen betragen, die theils in der ſüdweſtlichen Vorſtadt von Aſtrachan, Zarowo oder Tiek genannt, theils in 14 be— nachbarten Dörfern wohnen. Zu einem derſelben, Solänka genannt, gehören auch noch etwa 100 Kibitken mit ungefähr 1200 Bewoh- nern, die Sommer und Winter in den ſogenannten „Watſchagen“ herumziehen, d. h. in dem nordweſtlichen, ſumpfigen, dicht mit Schilf bewachſenen Uferſtrich des kaſpiſchen Meeres Wit Ausnahme dieſer letztern führen alle ſchon ſeit alter Zeit ein anſäßiges Leben in ihren Dörfern; nur die Bewohner von Tulugan ziehen im Frühjahr Hinz aus auf die Ländereien der kundrowiſchen Tataren, aus dem unver— meidlichen und dringenden Grund, weil ihr Dorf durch die Früh— jahrsüberſchwemmungen der Wolga völlig unter Waſſer geſetzt wird.

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Die in Dörfern wohnenden Tataren werden auch im Gegenſatz ge— gen die wandernden Aultataren genannt.

Alte Leute unter ihnen erzählen Folgendes: als die goldene Horde nicht mehr war, was ſie früher geweſen, und die ſie bilden— den Stämme in ihren ſchwachen Ueberreſten ſich auf den Steppen der Wolganiederung und des kaſpiſchen Weeresufers zerſtreuten, wanderten die Nogaier, die Vorfahren der Jurten-Tataren, im Som— mer am Uralfluß (tatariſch: ajak, das ruſſiſche Jaik) umher und gingen nur ſelten über die Emba (Dſchem, Jem oder Sez). In der Uralniederung war ein befeſtigtes Lager eines andern Zweigs der Nogaier, und dies Standlager („Orda“ oder „Sarai“) hieß Saraitſchik. Die Jurten-Tataren waren Saraitſchik nicht unter— worfen, ebenſo wenig als den Chanen von Kaſan, obgleich nicht zu läugnen iſt, daß die Chane von Kaſan und von Saratitſchik Ein— fälle machten, und ſie wiederholt zur Tributzahlung nöthigten. Die Ufer des Ural und manchmal auch der Emba waren der Sommer— wanderplatz der Jurten-Tataren, im Winter zogen ſie nach der Wolga, wo ſie ſich auf der Wieſenſeite eine kleine Befeſtigung bauten.

Jeder Wanderſtamm hat unwandelbar zwei Standlager, eines für den Winter, das andere für den Sommer. Die ruſſiſchen Worte „gorod“ und „gorodok“ (Stadt und Städtchen) wie die tatariſchen „Sarai“ und „Orda“, oder die kalmükiſchen „Urga“ und „Kurä“ (woraus die Koſaken ihr Kuren gemacht haben), bedeuten eigent— lich das Hauptlager, wo der Wohnſitz des Führers des Stamms, ſeines Gefolges und ſeiner Angehörigen iſt. Im Winter waren dieſe Lager, wie wir dies auch noch jetzt ſehen, ſtehend, und wur— den nicht, wie dies im Sommer geſchieht, von einem Ort nach dem andern verlegt; da ſie den Hauptreichthum des Stamms in ſich ſchloſſen, ſo konnten ſie als lockendes Ziel für unvermuthete räube— riſche Anfälle feindlicher Stämme dienen. Daraus entſprang das natürliche Bedürfniß, ſie mit einer Befeſtigung einzuſchließen; Palli— ſaden, Wälle, Gräben, Thore, Mauern von Lehm und ſpäter von Backſteinen wurden angelegt, ebenſo backſteinerue Karawanſerais für die Handelsleute und eine ſteinerne Woſchee; eine ſolche mit Stein— werk ausgerüſtete Anlage mußte bei den Ruſſen den Namen einer

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Stadt erhalten. In der Wolganiederung konnte man keine hölzer— nen Gebäude errichten, weil es an Bauholz fehlte; daher waren die Städte aus Backſteinen oder geſchlagenem Lehm aufgeführt. Reſte ſolcher Städte finden ſich noch allenthalben, im Baſchkirenland, in der Kirgiſenſteppe und in den Wanderdiſtricten der Kalmüken, und wenn man aufmerkſamer um ſich ſchaut, ſo ſieht man, daß ſolche Anlagen noch jetzt vor unſern Augen von den Wanderſtämmen er— richtet werden. Solcher befejtigten Standlager gab es auch bei den Jurten-Tataren mehrere.

Die erſte und, wie man ſagt, bedeutendſte nogaiſche Stadt war Dſchigyd, die faſt auf demſelben Platze ſtand, wo jetzt Selitrennoi— Gorodok ſich findet“). Hier war in alten Zeiten das bedeutendſte Winterlager der Jurten-Tataren. Daß hier auch ſteinerne Gebäude ſich fanden und Handel getrieben wurde, beweiſen die noch jetzt vor— handenen Ueberreſte alter Wauern, auf die man in den Feldern ſtößt, alte tatariſche Silber- und namentlich Kupfermünzen. Das jetzige Selitrennoi-Gorodok liegt faſt 100 Werſt oberhalb Aſtrachan, und in den hiſtoriſchen Actenſtücken aus den Zeiten des Zaar Alexei Wichailowitſch findet ſich eine deutliche Angabe, daß 80 Werſt von Aſtrachan das „nahe Sarai“, und 20 Werſt höher hinauf das „ferne Sarai“ lag. Wahrſcheinlich bezieht ſich letztere Benennung auf den Ort, der von den tatariſchen Wolga-Anwohnern noch jetzt Dſchigyd genannt wird, die Benennung „nahes Sarai“ aber wohl auf das jetzt ſogenannte Dawljut-Chan.

Außer Dſchigyd nnd Dawljut-Chan gab es noch ein Städt- chen auf dem rechten Wolgaufer, ſieben Werſte oberhalb des Dor— fes Solänka an der Stelle, wo jetzt die ſogenannte Strelezkaja— Wataga **) liegt. Der tatariſche Name dieſes Ortes iſt Kujuk-kala (das verbrannte Städtchen), Jamgurtſchei (der wirkliche oder an— gebliche Gründer des Chanats Aſtrachan) ſoll hier ſeinen Sommer- aufenthalt gehabt haben. Voch jetzt, wenn die Wolga von dem

*) Vgl. S. 80 und 81.

*) So nennt man die am Fluſſe errichteten Gebäude zur Betreibung des Fiſchfangs; die am Meere führen den ruſſiſchen Namen „Promyſel“ (Geſchäftsbetrieb).

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Landvorſprung einen Theil des Bodens abreißt, findet man in der friſchen Uferwand Wenſchenknochen, alte Backſteine und tatari— ſche Wünzen. Auch gab es ein Städtchen Tſchungur, eine halbe Werſt von dem Dorfe WMaſchaik und ſieben Werft von Aſtrachan. Gmelin erzählt, daß noch zu ſeiner Zeit ſilberne oder goldene tata— riſche Münzen, Ringe, Ohrgehänge, Armſpangen u. dgl. gefunden wurden. Der wichtigſte Ort war übrigens Aſtrachan ſelbſt, das die eingebornen Tataren Haidar-Chan, und noch häufiger Hadſchi-Tar⸗ chan nennen. Wenn man den Erzählungen der Jurken-Tataren glauben darf, ſo war auf der Inſel, wo jetzt Aſtrachan ſteht, ſtets das Winterlager der Nogaier. Ein Hadſchi aus der Familie Ali, mit Namen Tarchan, befeſtigte dies Winterlager mit einem Wall und einer Backſteinmauer, und ſeit der Zeit hat dieſe Inſel mehr und mehr Einwohner an ſich gelockt; nach der geographiſchen Lage und den Vortheilen, welche die Oertlichkeit bot, mußte man ihm den Vorzug geben vor Dſchigyd, und die Sache endigte damit, daß hier endlich das Hauptwinterlager der Nogaier gegründet wurde. Die Stelle der frühern kleinen Veſte von Hadſchi Tarchan, woraus die Ruſſen Aſtrachan gemacht haben, war in einem der der Wolga zu— nächſt liegenden Winkel des jetzigen Kremls von Aſtrachan; gerade unter den Wauern deſſelben lief damals die Wolga vorüber, die jetzt weit von der Stadt entfernt iſt. Die tatariſchen Mafarken oder Begräbnißplätze waren im Umkreis des jetzigen Kremls und eine halbe Werſt von da auf dem runden Platz der Hauptſtraße, wo jetzt die Kirche zur Geburt der Wutter Gottes ſteht. Stoß— winde und Platzregen führen jetzt die Schichten von Sand und trockenem Thon weg, und dem Zuſchauer bietet ſich mitten in der Stadt ein Platz dar, der mit weißen Schädeln und hervorſtehenden Knochen überſäet iſt.

In frühern Zeiten theilten ſich die Jurten-Tataren in Uluſſe oder Tabune “), die unter einem Aelteſten ſtanden, den die Ruſſen, wie aus alten Urkunden über die Geſandſchaften an den Falmüfi- ſchen Altyn⸗Chan hervorzugehen ſcheint, Tabunan nannten. Jeder

*) Unter dieſem Worte verſteht man jetzt im ſüdlichen Rußland eine Pferdeheerde.

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Uluß hatte feinen eigenen beſondern Namen, und wurde außerdem noch nach ſeinem Tabunan genannt. Solcher Tabunans waren es neun, von denen ſieben den Titel Aga, und zwei den Titel Murſa führten.

Jede Familie meiſtens beſtanden die Uluſſe nur aus einer, in andern hatten ſich zwei vereinigt hatte ihre eigene Tamga, die als Stempel, Petſchaft und Wappen diente; dieſe Tamga ver— trat indeß bei den Jurten-Tataren nicht das Zeichen, welches man dem Vieh einbrennt, ſondern ſie hatten für letzteres verſchiedene Kennzeichen.

Zu der Zeit, als bei den Jurten-Tataren die Zertheilung des Volks in Uluſſe noch in ihrer alten Kraft beſtand, beſtand auch noch die Eintheilung in Uluſſen-Leute und Emeſch-Leute (von „Emek“ oder „Dſchemek“). Uluſſen-Leute nannte man diejenigen, welche unter ſich einen Tabun bildeten, Emeſch-Leute diejenigen, welche bei dem Tabunan als perſönliche Diener des Aga ſelbſt und des Tabu— nans ſtanden. Es ſcheint, die Emeſch-Leute waren diejenigen, welche man bei den Kirgiſen der entferntern transuraliſchen Steppe „Tü— lengü“, bei den Kalmüken „Kötötſchiner“ nannte.

Die Ländereien der Jurten-Tataren liegen in verſchiedenen Ab— theilungen theils an der Wolga ſelbſt, theils an ihren Armen. Vach oficiellen Nachrichten belaufen ſie ſich auf höchſtens 80,000 Desjä— tinen, von denen etwa ein Dritttheil zum Anbau und zum Heu— mähen tauglich iſt, zwei Drittel aber für vollkommen öde gelten. Obwohl der Landbeſitz vieler tatariſchen Güter an die Wolga ſtößt, ſo haben die Tataren doch keinen Antheil an dem Fiſchfang zur eigenen Benützung, und ſie nehmen höchſtens als Tagelöhner Theil daran.

Bezüglich der Beſchäftigung der Jurter-Tataren müſſen wir im allgemeinen bemerken, daß die Bewohner der Dörfer Bobrowsko und Jeſaulſkoje, ebenſo wie die an der Grenzlinie hauſenden Tas taren ſich ausfchließlich mit Viehzucht beſchäftigen; die Bewohner der Aſtrachan näher liegenden Dörfer beſchäſtigen ſich vorzugsweiſe mit dem Anbau ihrer Küchengärten, deren Ertrag ſie auf dem Ge— müſemarkt abſetzen; Melonen und Kürbiſſe ſind ein bevorzugter Ge— ſchäftsbetrieb; ein Theil treibt auch Viehzucht, die Mehrzahl aber

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geht auf Taglohn aus, ſelten auf die Fiſchfangſtation am Strom oder im Weere, öfter noch als Muſure (Burlaken, Watroſen) auf die Seeſchiffe. Daraus, daß die Jurten-Tataren ſelten auf die Fiſch— fangſtationen ſich begeben, ſondern größtentheils an den Orten ihres ſtändigen Aufenthalts befchäftigt find, kann man den Schluß ziehen, daß ſie ziemlich im Wohlſtand leben und nicht viel von Noth zu leiden haben.

Die aſtrachaniſchen Koſaken.

Der Grund zu dem jetzigen aſtrachaniſchen Koſakenheer wurde im Jahre 1730 gelegt, als das Koſakenregimeut von Aſtrachan aus 300 Kalmüken gebildet wurde, die das Chriſtenthum angenommen hatten. Im Jahre 1750 wurde das Regiment auf 500 Mann ge— bracht, und durch allerlei Leute completirt, welche der Kopfſteuer nicht unterlagen, durch die Kinder ehemaliger Strelizen, doniſcher Koſaken und neubekehrter Kalmüken und Tataren. Unter der Kai- ſerin Katharina wurden drei ſtädtiſche Koſakencommandos damit vereinigt, das von Tſchernojar, Jenotajewsk und Krasnojar, im Jahre 1801 drei weitere Commandos: das von Saratow, Zarizyn und Kamyſchin. Im Jahre 1804 kamen zu dem Corps der aſtra— chaniſchen Koſaken alle ehemaligen Wolgakoſaken, die man bei der Verſetzung des ehemaligen Wolgaregiments nach der kaukaſiſchen Linie im Jahre 1777 in ihren Wohnungen an der Wolga gelaſſen hatte. So entſtand das aſtrachaniſche Koſakenheer, das in der Folge ſeine beſondern Einrichtungen erhielt.

In gegenwärtiger Zeit iſt dieſes vertheilt von der Stadt Aſtra— chan die Wolga aufwärts bis Saratow einſchließlich. Anf dieſer 775 Werſte langen Strecke befinden ſich 13 Stanizen (d. i. Dörfer von 100 bis 200 Häuſern) und die ſechs oben erwähnten Comman— dos; 12 Stanizen liegen auf dem rechten oder weſtlichen Wolgaufer und eine bei Aſtrachan ſelbſt auf dem linken. Das Heer theilt ſich in drei Kreiſe und enthält drei Regimenter und eine reitende Artilleriebrigade. Die Ländereien des erſten Kreiſes beſtehen aus ſünf Stanizen im Bezirk von Aſtrachan, zwei in dem von Jenota— jewsk und dem Commando von Krasnojarsk. Im zweiten Kreiſe ſind vier Stanizen und drei Commandos, im dritten Kreiſe zwei

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Stanizen im Kreiſe von Zarizyn und zwei Commandos (das von Kamyſchin und das von Saratow). Die Uniform beſteht aus dem gewöhnlichen Koſakenrock (Tſchekmen), mit gelben Aufſchlägen. Die ganze dazu gehörige Volksmaſſe betrug im Jahre 1850 15,822 Köpfe, worunter 7696 männlichen Geſchlechts. Im Dienſt waren 86 Stabs⸗ und Oberoffiziere mit 2644 Unteroffizieren und Gemei— nen, die Zahl der ausgedienten betrug 20 Offiziere und 1174 Un⸗ teroffiziere und Gemeine; die Zahl der männlichen Kinder be— trug 3772.

Privatlandbeſitz haben die Koſaken nicht, zur perſönlichen Be— nutzung aber erhalten Stabsoffiziere 400 Desjätineu, Oberoffiziere 200, gemeine Koſaken 30 Desjätinen aus dem allgemeinen Landbeſitz des Heeres. Dieſer liegt an der Wolga und ihren Armen, zum Theil auf der Bergſeite, zum Theil auf der Wieſenſeite im Achtuba— Thal, mitten innen zwiſchen Krons- und Privatgütern, fo wie zwi⸗ ſchen ſtädtiſchem Beſitzthum und dem den Kalmüken zum Viehtrieb zugeſchiedenen Antheil; gegenwärtig berechnet man das ſpezielle Beſitzthum des Heeres auf 150,000 Desjätinen fruchtbaren und 170,000 Desjätinen unfruchtbaren Landes; die übrigen 167,000 Desjätinen ſtehen unter der Verwaltung einer beſondern Commiſ— ſion in Aſtrachan. Das den Koſaken des erſten Kreiſes gehörige, auf dem rechten Wolgaufer liegende Land iſt mit Ausnahme eines kleinen Theils ſandig und völlig unfruchtbar, aber die Wieſenlände⸗ reien dieſes kleinen Theils ſind reich an vortrefflichem Gras und enthalten auch gutes Ackerfeld. Bei den Koſaken des zweiten Kreiſes wird ſchon mehr Ackerbau getrieben, namentlich wenn ſtarke Regen die Erde genugſam befeuchten. Die Koſaken des dritten Kreiſes, welche einige Striche von Saratow bis Zarizyn innehaben, beſitzen humusreichen Boden und treiben auch faſt ausſchließlich den Ackerbau mit großem Erfolg. Was das Holz betrifft, ſo theilen die Ländereien des Heeres das allgemeine Loos des Landes, und ſie haben nichts als ſpärliche Wäldchen von Sandbäumen, hauptſäch⸗ lich auf denjenigen Strichen, die im Frühjahr überſchwemmt werden.

Das Heer beſitzt auch ſeinen Antheil an dem Fiſchfang auf der Wolga, die Koſaken treiben aber den großen Fang niemals ſelbſt, ſondern verpachten ihn und behalten ſich dabei nur den freien Fang

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zu eigenem Verbrauch vor. Die Pachtſumme wurde früher zur Be— ſtreitung verſchiedener allgemeiner Bedürfniſſe verwendet, und der Reſt unter den Offizieren und Gemeinen vertheilt, jetzt fließt das Geld insgeſammt in die allgemeine Heereskaſſe. Dieſe Einkünfte betragen jetzt 16,000 R. S., beliefen ſich aber früher faſt auf das Doppelte. Bei den Koſaken des erſten Kreiſes wird wegen der Menge der in den Strom vom Meere herdringenden Fiſche ziemlich viel Fiſchfang getrieben, wie von denen des dritten Kreiſes mehr Ackerbau getrieben wird; außerdem ſind ſie alle mit Viehzucht be— ſchäftigt, und das Heer beſitzt über 12,000 Pferde, ebenſo viel Stück Rindvieh und 20,000 Schafe. Viele Koſaken, welche die Kunſt mit dem Vieh gehörig umzugehen bei ihren Nachbarn, den Kalmüken, gelernt haben, betreiben dieſe Induſtrie auf den Heeresländereien mit beſonderem Vortheil und ſind im Beſitze großer Pferde- und Schafheerden. Der Abſatz des Viehes wird hauptſächlich auf den Jahrmärkten in den den Stanizen nahgelegenen Kreisſtädten bewirkt, namentlich aber auf dem Frühjahr-Warkt in dem Dorfe Stawka (Standlager), dem ehemaligen Lager des Chans der innern oder Bukei⸗Kirgiſenhorde, die zwar im Gebiet von Aſtrachan herumzieht, aber nicht von dem aſtrachaniſchen, ſondern von dem orenburgiſchen Commando abhängt.

Wir fügen hier (nach Haxthauſen, Studien über die innern Zuſtände ꝛc. Rußlands Th. 3), noch einiges Allgemeine über die koſa— kiſchen Verfaſſungen hinzu:

Die Hauptſpitze, die der koſakiſchen Unabhängigkeit und Wi— derſpenſtigkeit abgebrochen iſt, beſtand in dem Rechte, ihre Offiziere, zugleich Beamte, zu wählen und in der Gewohnheit, dies nur auf Zeit zu thun. Es liegt in den Privilegien aller Koſaken, vorzüg— lich der ältern Koſakenſtämme, faſt nur Offiziere und Beamte aus ihrer Witte zu beſitzen. Bei den Doniſchen und Tſchernomoriſchen wurden ſelbſt die Atamane bis jetzt nur aus ihrer Witte ernannt. Bei allen andern werden jetzt die Atamane aus Vicht-Koſaken meiſt aus den Offizieren der regulairen Kavallerie ernannt. Ein Gleiches geſchieht bei den Koſaken der kaukaſiſchen Linie und der Donau mit den Brigade- und Regiments-Commandeurs: bei den Orenburgſchen und ſibiriſchen mit den Brigade-Commandeurs. Man

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fieht alſo, daß das Privilegium, nur aus ihrer Witte Offiziere zu erhalten, am ausgedehnteſten von den ältern Stämmen bewahrt iſt. Das der Wahl ihrer Offiziere und vollends auf Zeit iſt hinge— gen gänzlich beſeitigt. Der Kaiſer ernennt ſie ſämmtlich auch die niedern Grade, die nur aus den Koſaken ſelbſt beſetzt werden und zwar auf Lebenszeit. Die Beſetzung der höheren Stellen mit Nicht⸗Koſaken hat übrigens wohl mindeſtens eben fo ſehr militairiſche als politiſche Gründe. Man hat nämlich bemerkt, daß die Koſaken zu höhern Poſten ſich ſelten eignen und daß fie unter Fremden weit beſſer fechten als unter ihren eingebornen Offizieren. Die oberſten Atamane der Heere heißen Koſchewoi oder Woiskowoi atamani Heeres-Hetmänner.

Iſt es ſo mit der demokratiſchen Beſetzung der Aemter vorbei, ſo hat ſich dagegen durch die Ertheilung kaiſerlicher Patente unter den Koſaken ein erblicher Adel gebildet, während früher alle Koſa— ken gleichberechtigte Brüder waren. Angeſehene und einflußreiche Familien wie die Platoff, Grekoff, Kraßnoff, Kutznetzow, Orloff— Deniſſoff, Selowaisfy u. a. waren zwar längſt unter ihnen; der neuentſtandene Adel aber beanſprucht auch die Rechte des ruſſiſchen Adels. Da nun ſchon ſeit dem vorigen Jahrhundert die altruſſi— ſche Gemeinſchaft des geſammten Grundbeſitzes, wie ſie bei den ural— ſchen Koſaken noch jetzt beſteht, bei einem Theil der Koſaken aufge— hoben war, ſo fing dieſer Koſaken-Adel im doniſchen Lande an, Leibeigene auf feinen Gütern anzuſiedeln. Es haben die daraus ent⸗ ſtehenden Streitigkeiten über die Anſprüche an das noch beſtehende Gemeindeland dazu geführt daß endlich im doniſchen Lande eine Theilung in 5 Diſtrikte ſtattgefunden hat, wovon der eine lediglich ür den Adel war, ſo daß nur in dieſem Leibeigene ſein dürfen.

Die Koſaken ſind von der Kopfſteuer wie von der damit ver— bundenen Rekrutirung frei, dazu haben ſie das Recht, Branntwein zu brennen und Bier zu brauen, große Fiſchereien und Jagdfrei— ten, auch das Recht, Salz für eignen Bedarf zu fabriziren. Ueber— haupt gelten die Regierungsmonopole unter ihnen nicht, ſoweit der eigene Bedarf in Frage kommt. Für alle dieſe Vorzüge leiſten ſie Kriegsdienſte und zwar mit Pferd und Waffen. Sold und Ver— pflegung für Mann und Pferd, wie die andern Truppen bekommen

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fie nur, wenn fie aufgeboten werden. Dagegen bekommen fie Mus nition und das todte Metall von der Regierung.

Die einzelnen Koſakenheere find in Regimenter, Bataillone, Batterien eingetheilt. Die Regimenter und Bataillone in Sottnen (wörtlich hunderte), kleine Escadrons von gewöhnlich 120 bis 150 Pferden oder auch Compagnien der Infantrie und Artillerie; die Anzahl der Sottnen eines Regiments iſt verſchieden, gewöhnlich ſechs. Die Regimenter werden geſtellt, wie ſie aufgeboten werden und erhalten auch dann gewöhnlich erſt Nummer oder Benennung.

Dieſes Aufgebot geſchieht nach den Umſtänden, bald mehr bald weniger Regimenter, bald zum Dienſte der militairiſchen Cordons gegen die unruhigen Grenzvölker, bald zum polizeilichen Dienſt im Innern, bald zum Douanendienfte, bald zur Begleitung des Heeres in eigentlichen Feldzügen.

Der Eintheilung in Regimenter und Sottnen entſpricht die bürgerliche Eintheilung des Landes, ganz ähnlich wie die des preu— ßiſchen der der Landwehr-Bataillone ꝛc. In demſelben Heere wechfelt dann der Dienſt regimenterweiſe, gewöhnlich nach drei Jahren; in den Heeren von wenigen Regimentern wahrſcheinlich ſottnenweiſe.

Jeder Koſak ohne Ausnahme iſt zum Dienſt verpflichtet; für die Zahl der dem Heere aufgegebenen Regimenter muß daſſelbe auch Pferde und Waffen haben. Die wohlhabenden Koſaken halten ſie ſich ſelbſt, den Armen giebt ſie das Heer; denn jedes Heer hat ſeine eigenen Finanzen, Arſenale ꝛc. ꝛc.

Die Koſaken werden nach ihrem Alter in drei Klaſſen getheilt; die jüngſte von 18 bis 25 Jahren wird im Reiten, in der Füh— rung der Waffen, der Handhabung der Bote zc. ꝛc. geübt; die mitt⸗ lere von 25 bis 40 Jahren iſt beſtimmt, die Regimenter zu bilden; die noch älteren bilden die Reſerve “).

Natürlich iſt den Koſakenländern, deren Stanitzen für ſich nichts

) Nach Koch (Reife durch Rußland nach dem kaukaſiſchen Iſthmus, Th. 1.) ſind fie nach dem Alter in vier Abtheilungen getheilt: die erſte Ju⸗ gend, Knaben bis zum 16. Jahre; die zweite Jugend von 16 20; die Männer von 20 60 Jahren; die Greiſe über 60 Jahre. Die Männer geben allein die Soldaten; ſie ſind getheilt in Neſtrojewen (paſſive) und Strojewen (active).

IV. 8

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mehr von den unruhigen Nachbarn zu fürchten haben, und deren Einwohner ſchon längſt bei friedlichen Gewerben wohlhabend gewor— den ſind wie das namentlich am Don und theilweiſe am Ural, in Sibirien und ſelbſt bei den Tſchernomoren etwas der Fall ſein ſoll, in dieſen Ländern iſt begreiflich die Luſt, in's Feld zu zie⸗ hen, wohl ſehr gering. Der wenig einträgliche und gefährliche Dienſt am Kaukaſus und der Polizeidienſt mit feiner für Bolizei- truppen zwar wohl noch immer ſehr laxen, aber für Koſaken-Maaß⸗ ſtäbe gewiß recht harten Wanneszucht, kurz die Dienſte, wobei es nichts zu erwerben giebt, ſondern nur die Pferde und Waffen rui— nirt, die heimathlichen Gewerbe vernachläſſigt werden, ſind bei den Koſaken wenig populär. Hieraus iſt denn ganz von ſelbſt ein Stellvertretungsmodus entſtanden, der kaum einfacher gedacht wer- den kann.

Wenn nämlich eine Koſaken-Stanitze aufgefordert wird, eine gewiſſe Anzahl Koſaken zu ſtellen, fo kommen die ſämmtlichen Män— ner im pflichtigen Alter auf dem Warkte zuſammen. Wird nun etwa ein Drittel davon aufgeboten, ſo gruppiren ſich die zu Dreien, welche nicht Luſt haben zu gehen, oder welche ſich damit etwas zu verdienen denken. Die Befreiung vom Dienſte geſchieht dann völlig nach dem Weiſtgebot. Einer ſagt: ich biete ſo und ſo viel dem, der ſtatt meiner auszieht; der Nächſte bietet höher u. ſ. f; der zuletzt das mindeſte Gebot hat, zieht aus und erhält, was die anderen Bei— den boten.

Es muß dies Verfahren jedoch zu einigen Unzuträglichkeiten für den Dienſt geführt haben, es ſoll neuerdings nämlich durch eine Einrichtung des Kriegsminiſters Tſchernitſcheff, nach welcher genaue Liſten aufgeſtellt ſind, bedeutend eingeſchränkt, wo nicht ganz abge— ſtellt ſein.

Im Jahre 1837 verlangte der Krieg eine augenblickliche Rü— ſtung, es ſollten 4 Regimeter, jedes zu 550 Mann, geſtellt werden. Sie waren binnen 3 Wochen völlig beritten, bewaffnet und ausge— rüſtet auf dem Platze. Von Gemeinde zu Gemeinde lief der Befehl, ſich auf dem Markte von Uralsk zu ſammeln; nun ritt der Woska⸗ woi, der Stellvertreter und Adjutant des Hetmanns, unter die ver— ſammelte Menge und rief, den Befehl des Kaiſers über ſeiner Mütze

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hochhaltend, ihnen zu: „Attamans! ihr ſeid gefordert aufzuſitzen und 4 Regimenter zu ſtellen.“ Dann nahm er ſeine Mütze ab, las ihnen den Befehl vor und ſagte ihnen, wo ſie ſich ſammeln ſollten. Und damit war alles Handeln von Seiten der Behörde zu Ende! Noch auf dem Warkt bildet ſich, wie ſchon bemerkt, bei ſolchen Ge— legenheiten der größere Theil der Mannſchaft. Gewöhnlich treten ſie in Familien zuſammen. Heißt es: 7 Mann oder 5 Wann ſol⸗ len einen ſtellen, ſo halten ſich die nächſten Verwandten zuſammen; wer unter ihnen am beſten abkommen kann, oder Luſt hat, geht; die übrigen zahlen ihm, equipiren ihn, ſorgen für ſeine Familie: iſt er ein Säufer, ſo wird das Geld nicht ihm, ſondern ſeiner Familie gegeben ꝛc. ꝛc. Der Preis ſteigt und fällt nach den Ver— hältniſſen. Wird nur eine kleine Partie ausgehoben, ſo erhält Je— der, der für den Andern dienen will, viel, denn es ſteuern eine Menge zu; vielleicht ſtellen 8 oder 10 einen Mann, und da wird es Jedem leicht, 1 bis 200 Rubel zu geben. Die für die Garde in Petersburg geforderten, welches natürlich nur ſchöne, große Leute fein können (die Annahme jedes Andern wird verworfen), und die verhältniß— mäßig ſehr beſchwerlichen Dienſt haben, erhalten zuweilen 5 bis 6000 Rubel. Auch der Dienſt im Lande auf den verſchiedenen Wacht— poſten wird ſtets durch Abmachung unter ihnen ſelbſt verſehn; die zunächſt dem Poſten wohnenden und lebenden übernehmen den Dienſt, die andern zahlen zu 2 bis 300 Rubel an dieſe. In jenem Seit: punkt war es nun fo weit gekommen, daß unter 3 Wann 2 mar⸗ ſchiren ſollten; der Dritte mußte alſo die beiden Andern ſtellen; alſo nur die Allerreichſten und zu Haufe Vothwendigſten konnten daheim bleiben und mußten einen bedeutenden Theil des Vermögens für die Uebrigen opfern. Der Preis ſchwankte zwiſchen 900 bis 2000 Rbl., worin ſich die beiden Warſchirenden theilten. Es brachten damals 1100 reiche Koſaken in ein paar Tagen nicht weniger als 14 Wil- lion Rubel auf! Den vierten Tag nach Ableſung des Befehls war alles Volk wieder auf dem Warkt von Uralsk verſammelt. Jedes der 4 Regimenter hatte ſeine Stelle, dort waren die Offiziere. Nun traten die Parteien heran; der, welcher zu Hauſe blieb, ſtellte die beiden Andern und nannte den Preis, wofür ſie einig geworden; ſie geben ſich die Hände, der Offizier legt ſeine Hand darauf und 8 *

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der Vertrag iſt geſchloſſen und gültig. Nun ging alles nach Haufe, und in 14 Tagen waren die Regimenter völlig ſchlagfertig zuſam— men. Dieſe Vereinigungen kommen immer zu Stande, denn kämen fie es nicht, ſo würde nach 14 Tagen das Gouvernement einſchrei— ten und ohne weiteres Jeden faſſen, der eben vorhanden iſt.

Ueber die allmälige Regulariſirung der Koſaken als Truppen be— merkt Haxthauſen: Viele haben daraus den Verfall der koſakiſchen Kriegertugenden herleiten wollen, der ſich ohne Zweifel am Don und ſelbſt bei den Tſchernomoren äußert. Nun aber wird über die geſunkene Mannhaftigkeit der Saporoger und kleinruſſiſchen Koſa— ken ſchon von Mannſtein um 1730 geklagt, und es iſt daher kein Zweifel, daß die regulaire Kampfweiſe, die man den Koſaken nach und nach gegeben hat, mehr als eine Wirkung denn als eine Ur⸗ ſache des Verfalls angeſehen werden muß.

Zwar iſt es wahr, daß wer Koſaken pedantiſch in der Art führen wollte, wie ein regulaires Regiment, wer keiner freien Regung des kriegeriſchen Inſtinkts Lauf laſſen wollte, der auch die verweichlichſten noch immer in hohem Grade auszeichnet, wer Alles bei ihnen in der Hand behalten und ſie zu bloßen Händen des Füh— rerhaupts machen wollte: daß der ihren Impuls nur dämpfen würde ohne entfernt mit ihnen zu erreichen, was eine regelmäßige Truppe leiſtet.

Auf der andern Seite aber kann ſich der alte kriegeriſche Sinn und Inſtinkt nicht mehr wie früher bilden, wo die Koſaken in ge— ſicherten Wohnorten aufwachſen. Seit jene krimmiſchen Chane nicht mehr exiſtiren, die ſich ſchämten, wenn fie nicht einmal in ihrem Le— ben ihren Säbel an den Ufern der Oka (Fluß unweit Woskau) ges ſchwungen hatten, ſeit die Kalmüken und Baſchkiren gezähmt, die Nogaier über Kuban und Terek zurückgedrängt ſind, iſt am Don, Donetz und der Wolga die Gefahr verſchwunden. Die alteigenthüm— lichen Koſakenpoſten auf hohem Holzgerüſte mit einem Fanale da= neben, von denen aus der Allarm raſch in das Land verbreitet wurde, ſtehen jetzt an den Linien des Kuban und Terek und weiter öſtlich gegen die Kirgiſen der kleinen Horde und die Tataren von Chiwa. Daher ſind auch die Krepoſten (kleine Forts) vorgeſchoben.

Der junge Koſak des Don lernt jetzt feine Kriegskünſte in fried—

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licher Schule. Wenn er durch die Steppe reitet, ſchaut er nicht mehr in die Ferne nach dem lauernden Feinde, und wenn er in kriegeriſche Verhältniſſe kommt, ſo weiß er es gewöhnlich Wonate lang vorher.

Der Brand der benachbarten Stanizen ruft nicht mehr in den Sattel, was die Pike führen, den Kantſchu und Säbel ſchwingen, Piſtol und Bogen handhaben kann. Die aus dem Schlafe geſtör— ten Koſaken eilen nicht mehr nach den Fuhrten des Donez und Don, um den mit Raub und Gefangenen beladenen abziehenden Tataren auf dem Rückzuge die Beute abzujagen. Die Zeiten, wo die Bewohner des Don und Donez auf eigene Hand das Ant— werpen des Pontus, Aſow, nahmen, Trebiſond plünderten, ſind nicht mehr.

Mit einem Wort, die eigentlichen Koſaken find angeſiedelte Ber: theidiger unruhiger Grenzen, die das Land zu Lehen tragen und da— für einen permanenten Krieg führen. Wo ſie in ihrem Lande ſitzen geblieben ſind, während Rußland ſeine Grenzen über ſie hinaus ſchob, da wird aus ihnen alles Mögliche, Douaniers, Gensd'armen, gute friedliche Staatsbürger, aber von Koſaken bleibt zuletzt nur der Name. Ja man ſagt, daß ſich die Ueberlieferungen des Heldenthums raſcher verwiſchten als die der langen Finger. Doch find die Koſaken un⸗ ter ſich ohne Zweifel ehrliche Leute. Diebereien kommen bei ihnen nicht vor. Sie wiſſen aber nicht immer zu unterſcheiden, daß der Krieg nicht mehr nach alter Weiſe zum perſönlichen Vortheile des Kriegers geführt wird, und ihre Ueberlieferungen finden durchaus nichts Unrühmliches darin, den Bewohner des Kriegsſchauplatzes zu berauben.

Die Kalmüken.

Die Kalmüken find an die Wolga von jenſeits des Altai ges kommen. Von jenem Urſitze her rückten ſie ihre Nomadenzelte in die Kirgiſen-Steppe vor, erreichten die Quelle des Tobol, die Jemba, überſchritten dann den Ural-⸗Fluß, und erſchienen bereits im 17. Jahr⸗ hundert an dem niederen oder linken Ufer der Wolga, ſpäter auch auf der nogaiſchen Seite, ſo daß ſie beide Ufer der Wolga in Beſitz nahmen, und über die Steppen von den Flüſſen Ufen und den Na⸗

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ryn⸗Peßki bis an die Höhen von Erghene und den Kuma-Fluß ſich ausbreiteten.

Die Kalmüken nennen ſich ſelbſt Eluth; ſie bildeten in früheren Zeiten mit einigen andern Wongolenſtämmen eine geſchloſſene Horde oder, wie die Kalmüken ſelbſt ſich ausdrücken, ein „Derbun-Oiruth“ d. h. ein „Vier-Bündniß“ oder Verband von vier Stämmen, den Dſungaren, Tergeten oder Torgouten, Choſchouten und Choiten.

Zuerſt kamen nach Rußland, die Tergeten, mit denen ſpäter, in Folge von Uebereinkünften von Ehebündniſſen zwiſchen den Fa— milien der Anführer, auch einige Theile anderer Stämme in Ver— band traten. Nachher aber zogen Zweige jener Stämme, die an- fangs an ihren urſprünglichen Nomadenſitzen geblieben waren, ſelbſt trotz weiter Ferne, nach den fetten Weiden der Wolga-Viede⸗ rungen hin.

Nachdem die Kalmüken dieſe Niederungen länger als ein Jahr: hundert bewohnt hatten, begannen ſie in Gruppen ſich von dem gemeinſamen Verbande loszutrennen, indem ein Theil derſelben wie— der zurück nach dem Altai und über denſelben fortging, ein anderer beſſere Nomadenſitze weſtwärts von der Wolga fand, noch andere endlich ihre heidniſche Religion und alte Sitten gegen die Lehre des Chriſtenthums und eine neue Lebensweiſe eintauſchten. Nach Abzug dieſer von der gemeinſamen Waſſe der anfangs auf den Wolga— Niederungen nomadiſirenden Kalmüken losgetrennten Zweige, die nach anderen Orten in- oder außerhalb Rußlands fortgewandert ſind, blieb an der Wolga ein buntes Gemiſch jener Stämme, die die frühere Horde gebildet hatten, zurück. Und dieſe Wiſchung der Stämme wurde beſonders noch dadurch größer, daß im Jahre 1772, nachdem der Kalmüken-Chan Übuſcha mit zahlreichen, ihm unterge— benen Familien die Grenzen Rußlands verlaſſen hatte, die übrigen Kalmüken nicht nach Stämmen, ſondern je nachdem ſie mit anderen

ihrer Glaubensgenoſſen zuſammen beſtimmte Theile der Wolga-Step—

pen einnahmen, unter ihre Häupter vertheilt wurden. So zerfallen jetzt die Kalmüken der Wolga in neun beſondere Hauptgruppen, deren jede unter dem Namen „Uluß“ ein Ganzes für ſich bildet, im übrigen aber aus jenen erwähnten vier Stämmen mannigfach zu- ſammengeſetzt iſt. >

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Ein großer Theil der Kalmüken an der Wolga iſt Eigenthum der Krone, und bildet ſogenannte Krons-Uluſſe, die unter beſtimm— ten, von der Krone ernannten Oberhäuptern, in unmittelbarer Ab— hängigkeit von der Reichsdomainen-Verwaltung zu Aſtrachan ſtehen. Andere Uluſſe werden als Erbeigenthum gewiſſer adeliger, ange— ſtammter Kalmüken-Häuptlinge angeſehen, die ſich Noionen nennen, und übrigens, ebenſo wie jene von der Krone ernannten Oberhäup— ter der Kalmüken, von der Reichsdomainen-Verwaltung zu Aſtrachan unmittelbar abhängig ſind. Voch giebt es einzelne kleinere, an Kopf— zahl nur ſchwache Uluſſe, die aber im Syſtem der Verwaltung nicht für beſondere Ganze gerechnet, ſondern mit der Bezeichnung „kleine— ren Häuptlingen zugehörig“ zu anderen größeren Uluſſen zugeſchla— gen werden. Zuweilen ſind auch, einer leichteren Geſchäftsführung und Ordnung wegen, mehrere Uluſſe in ein einziges Ganze ge— bracht worden. Zu demſelben wohlthätigen Zwecke der Aufſicht und Fürſorge iſt endlich für die Verarmten, in verſchiedenen Erwerbs— zweigen und beſonders zum Fiſchfange nach den Steppen an den nordweſtlichen Küſten des kaſpiſchen Meeres, in die ſogenannten „Wotſchagen“ ausgewanderten Kalmüken eine Art beſondtrer Ver— waltung eingeſetzt, und bilden demnach alle beſtändig dort ſich aufs haltenden Kalmüken eine beſondere, von allen anderen unabhängige Gruppe ſogenannter Wotſchager-Kalmüken. Dahin ſtrömen Kal— müken aller Nomadenſitze zuſammen; dort kann man daher Reprä— ſentanten aller Zweige und Stämme, aller Krons- und Privat— Uluſſe der Kalmüken finden.

Seit alten Zeiten beſteht bei den Kalmüken der Gebrauch, eine Collecte an verſchiedenen Gaben zu veranſtalten, den ſogenannten Alban, für die Bedürfniſſe des Volkes, oder wie die Kalmüken ſich ausdrücken Nutugia⸗gharud, d. h. für die Bedürfniſſe des Nutuf, wo⸗ runter ſie das geſammte Land verſtehen, auf welchem ein Stamm nomadiſirt. Die Häupter ſolcher Stämme, die ſich früher Taiſchen, ſpäter Noionen nannten, verwandelten dieſe Collecte in eine Geld— ſteuer, die ſie nicht ſowohl den Bedürfniſſen des Volks, als vielmehr ihrem eigenen Gebrauche zuwandten, und nach Maßgabe der Ver— hältniſſe willkürlich erhöhten. Allein im Jahre 1,25 fette die ruſſ. Geſetzgebung dieſer Willkühr eine Schranke, und durfte demnach

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der Alban als Geldſteuer nicht über 25 Rubel Aſſ. gehen. Dieſe Summe (7 Rubel 14 Kopeken S.) iſt jetzt die bleibende, und fließt die Steuer in den Krons-Uluſſen der Krone, in den Erb-Uluſſen den Einnahmen des Noionen oder Häuptlings zu.

Die intereſſanteſte, zugleich aber ſchwierigſte Seite der Unter- ſuchungen über ein Nomadenvolk, wie die Kalmäken, iſt die Erfor— ſchung der Orte des Nomadiſirens und des bei Vertheilung der Land— ſtrecken unter dem Nomadenvolke befolgten Syſtems. Wir hören und leſen oft, daß „die Nomaden heute hier, morgen dort ihr Zelt aufſchlagen, daß ſie über die Steppe fortirren ohne Sinn und Ver— ſtand, und heute nicht wiſſen, wohin morgen das Schickſal fie ver— ſchlägt.“ An ſolchen Phraſen iſt aber nicht ein Wort wahr.

Was kann dem Wenſchen ſchätzenswerther ſein, als der Boden, der ihn trägt und nährt, und dem er ſeine Exiſtenz verdankt? Zu— gegeben daher, daß wir es bei Nomaden mit einem halb-, wenn nicht ganz wilden Volke zu thun haben, ſo iſt es dennoch nicht wohl denkbar, daß ſie den ihnen von der Regierung ertheilten Boden, auf dem ihre Heerden weiden, und von deſſen Freigebigkeit ihr ganzer Wohlſtand abhängt, gar nicht ſchätzen ſollten? Ausſprüche wie die folgenden, „daß heute dieſe, ums Jahr vielleicht ganz andere Stämme an demſelben Orte nomadiſiren“, „daß überhaupt im Wech— ſel der Nomadenorte kein leitender Gedanke aufzufinden ſei“ ver— dienen nicht den geringſten Glauben. Es bedarf nur eines guten Willens und herzlichen Wunſches, die Wahrheit zu erkennen, um im Ortswechſel der Nomaden, Kalmüken, Kirgiſen oder anderen Völker, eine ſtrenge Conſequenz, ein geregeltes Syſtem zu entdecken.

Wir beginnen mit dem Winter. Den Winter über bleiben die Nomaden meiſt an einem Orte ſitzen: fie ſchlagen ihr Zelt auf und umgeben es mit einer Koppel, die ihre Heerden aufnimmt und gleich— zeitig der leichten Behauſung der Nomaden gegen Stürme und winterliche Unwetter einigen Schutz bietet. Das kleinere Vieh wird in der Nähe des Zeltes oder der Kibitka gehalten, und mit vors räthig gemachtem Heu beſorgt, oder es ſucht auf den nahegelegenen Weiden Nahrung. Rindvieh und Schafe bleiben aber nur den Tag über auf der Weide, zur Nacht werden ſie in die Koppel getrieben;

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nur die Pferde weiden Tag und Nacht auf den Feldern in größerer oder geringerer Entfernung von den Zelten der Nomaden umher.

Iſt aber der Boden ſo fruchtbar, ſind die Weiden ſo fett und reich, daß weder Heuvorräthe nöthig ſind, noch Glatteis zu befürch— ten iſt, und es von Futter für das Vieh über und über genug giebt, dann bleiben auch die Nomaden den Winter über nicht ſitzen, ſon— dern ziehen umher. Wie dieſes Umherziehen oder Nomadiſiren vor ſich geht, das wollen wir nun ſogleich näher erläutern, indem wir das Leben derjenigen Familien weiter verfolgen, die für die rauhe Jahreszeit beſtändige Winterſitze nehmen.

Im Frühjahr, ſobald der Schnee geſchwunden iſt und das erſte Grün der Wieſen ſichtbar wird, brechen die Nomaden auf, verlaſſen ihre Winterſitze, reißen die Zelte nieder, packen dieſelben mit allem Hausgeräthe auf Kameele, oder wo dieſe nicht mehr ſind auf Ochſen oder Pferde, und treten ihre Wanderung an, die Richtung nehmend, die ihnen eine alt hergebrachte Wahl und die Gewohnheit vieler Jahre vorzeichnen.

Sind drei bis fünf oder gar zehn Werſte zurückgelegt, ſo macht der tatariſche Aul oder kalmükiſche Choton (denn beides bezeichnet eine Gruppe mehrerer einander durch Bande der Verwandtſchaft oder dergleichen Intereſſen naheſtehender Familien) Halt. Die Män⸗ ner unterſuchen zuerſt den Ort, ob er auch reichen Graswuchs auf den Weiden und hinlänglich Vorräthe Waſſers in den Brunnen bietet, und ſchreiten dann, falls alles gut beſunden worden, ſogleich an ihre Arbeit, das Vieh auf ſeine Weide zu bringen und den Pferden, Schafen und auch Rindvieh, wenn es in größerer Wenge vorhanden iſt, ihre beſonderen Weiden anzuweiſen. Die Weiber ſind inzwiſchen beſchäftigt, die Zelte aufzuſchlagen, das Hausgeräthe in denſelben zu ordnen, Speiſe zu bereiten und überhaupt die Wirth— ſchaft zu beſorgen; zu einer beſtimmten Zeit melken ſie dann die Stuten, Kühe oder Mutterſchafe, während die Männer für das Vieh die Brunnen in Ordnung bringen und tränken. Die übrige Zeit beſchäftigen ſich die Weiber mit den anderweitigen Zweigen eines Nomadenlebens: ſie nähen Kleider, flicken die Zelte, bereiten ſich eine Fußbekleidung, walken Filz, und ſorgen überhaupt für mancherlei Vorräthe in die Zukunft.

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Nach Verlauf von acht Tagen oder oft längerer, oft kürzerer Zeit, wenn das Vieh alles Gras der Umgegend abgeweidet hat, bricht der Aul oder Choton auf, und nimmt in der Entfernung von ungefähr 5 bis 7 Werſt und weiter oder auch näher einen neuen Sitz. Und in dieſer regelmäßigen Weiſe ſtreichen Tage, Wochen und Monate nach einander hin.

Gegen Ausgang des Sommers erreichen fie den äußerſten Punkt des Weges, dem ſie Jahr aus Jahr ein beſtändig folgen, und kehren dann im Auguſt oder zuweilen Anfang September um, indem ſie entweder denſelben Weg zurückgehen, oder einen andern wählen, und dann einen neuen Bogen beſchreiben. Wenn ſie aber auch an denſelben Brunnen wieder Halt machen, an denen ſie auf dem Hin— zuge das Vieh getränkt haben, ſo bringen ſie letzteres doch nicht mehr auf dieſelben Weiden, wo der einmal zertrampelte Erdboden an Futterkräutern nur arm iſt, ſondern wählen dazu ſolche Stellen aus, die ihren Heerden reiche Nahrung bieten. Und ſo erreichen gegen Ende des Herbſtes alle Nomaden ihre beſtändigen Winter— ſitze wieder, wohin ſie auch die reichlichen Heuvorräthe bringen, die ſie während der Wanderung gemacht haben.

Bei dieſen Wanderungen wird der Weg, dem einige Familien folgen, von anderen nach verſchiedenen Richtungen durchkreuzt; nie— mals aber wird es einer Nomadengruppe einfallen, fi) an den her— gebrachten Haltpunkten einer anderen niederzulaſſen. Dafür ſind mancherlei Gründe vorhanden. Erſtens nimmt jede Nomadengruppe die ihr nach dem Rechte der Erſt-Beſitzergreifung und nach dem durch lange Zeit und Gewohnheit der Nutznießung geheiligten Rechte zugehörige Localität ſelbſt vor allen andern ein. Ferner nutzt jede Vomadengruppe an den ihr geſetzlich zuſtehenden Orten alle im nä— heren Umkreiſe liegenden Weiden aus, und macht ſie dadurch für andere, den Weg durchkreuzende Vomadengruppen unbrauchbar. Und drittens endlich fällt es den Nomaden, in der Einfachheit ihrer patriarchaliſchen Sitten, auch nicht im Entfernteſten ein, von dem Be— fi zu ergreifen, was in althergebrachter, durch lange Jahre gehei— ligter Weiſe, Anderen gehört und ihnen alſo ein Fremdes iſt.

In Folge dieſes Feſthaltens an althergebrachten Rechten iſt alles Steppenland ſorgfältig unter den Uluſſen vertheilt, und den

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einzelnen Familien und Familienzweigen innerhalb des Uluſſes find wiederum ihre beſonderen Landſtücke innerhalb des Nomadengebietes des Ganzen beſtimmt. Wer daher das Leben der Nomaden, ihre Sitten, die Orte ihres Nomadiſirens u. ſ. w. kennen gelernt hat, der wird auch jederzeit beſtimmen können, wo nicht bloß ein Uluß, ſon— dern auch eine Familie oder auch nur ein durch größere Anzahl von Gliedern ausgezeichneter Zweig einer Familie zu einer beſtimmten Zeit nomadiſirt. Natürlich aber hat dieſe von uns allgemein dargeſtellte Regel des Nomadenlebens, wie jede andere Regel, ihre Ausnahmen, die durch mehr oder minder beachtungswerthe Verhältniſſe bedingt werden. Wie dieſe Regel des Vomadenlebens aber im Allgemeinen gilt, ſo findet ſie auch ihre genaueſte Anwendung auf die Kalmüken. Nach ausführlichen Nachfragen und Nachforſchungen haben wir uns überzeugt, daß die Steppen an beiden Ufern der Wolga bis an die Kuma und den Jegorlyk-Fluß unter den zahlreichen Uluſſen der Kalmüken und einiger nachbarlichen Nomaden vertheilt ſind. Die meiſten Uluſſe und Zweige derſelben haben an der Kuma ihre Win— terſitze, welche ſie im Oktober oder November beziehen, während ſie den Sommer über jene Gegenden, zahlreicher, den Heerden läſtiger Mückenſchwärme wegen, meiden. Andere Uluſſe nehmen ihre be— ſtändigen Winterſitze an der Wolga oder an kleineren Flüſſen der Steppe, und mannigfach durchkreuzen ſich die Nomadenwege aller Kalmüken in der Steppe ſelbſt, wobei aber immer die von uns oben dargelegten Regeln in Hinſicht auf die Wahl von Haltpunkten und die Bedeutung der Viehweiden u. ſ. w. während der Wanderung be— folgt werden, wir wollen daher das Genauere davon übergehen und ſtatt deſſen im Folgenden noch nach einigen anderen Seiten hin einen Blick in das Leben, die Sitten und Eigenthümlichkeiten der Kalmüken werfen.

Unter den Kalmüken giebt es drei Stände, die vom ruſſiſchen Geſetze anerkannt und durch beſondere Rechte von einander unter— ſchieden find. Den erſten Stand bilden die Noionen, die gleiche Rechte mit dem Adel haben; den zweiten die Saißangen, welche je nach der Stufe, die ſie in der Verwaltung einnehmen, die Rechte des perſönlichen oder erblichen Ehrenbürgerthums genießen; im drit— ten Stande endlich ſind die gemeinen Kalmüken begriffen, die in

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gleichen Rechten mit den Bauern anderer Orte ſtehen. Aber es giebt auch einen vierten Stand die Geiſtlichkeit. Die Kalmüken ſind bekanntlich Buddhaiſten. Ihre Geiſtlichen dürfen, den Vor— bes Lehre gemäß, nicht in die Ehe treten. Die kalmüki⸗ ſchen Tempel heißen Kurulen. Die Geiſtlichkeit zerfällt in drei Grade: Ghelungen oder Magier erſten Ranges, Ghezulen oder Ma— gier zweiten Ranges und Wanſchiken oder Discipeln der Lehre. Die Noionen, Saißangen und Geiſtlichen werden kopfweiſe, die ge— meinen Kalmüken aber familien- oder kibitkenweiſe in die Zählungs⸗ liſten eingetragen, und man kann im Durchſchnitt mit ziemlicher Genauigkeit eine Kibitke oder ein Zelt auf drei Perſonen männ⸗ lichen und drei weiblichen Geſchlechts rechnen.

Die Kalmüken raſiren ihr Haupthaar ringsum, zwei bis drei Finger breit von der Stirn bis zum Nacken; das übrige Haar ſcheiteln ſie in der Witte, und ſcheren es nach Art der Koſaken. Kinn und Wangen raſiren ſie ebenfalls, und nur der Schnurrbart bleibt ſtehen, wird aber niemals gedreht. Greiſe laſſen das Haupt- haar lang wachſen und flechten es nach hinten in einen Zopf. Faſt jeder Kalmüke trägt im linken Ohrläppchen einen Ring, und einen Ring an einem der Finger.

Die Kopfbedeckung der Kalmüken beſteht in einer runden, mit Schaffell verbrämten Mütze von gelbem Tuche, mit viereckigem Tels ler, an welchem eine rothe Troddel hängt. Die Weiber tragen eben= ſolche Mützen, zuweilen aber auch welche von Glacé oder mit Gold und Silber durchwebtem Seidenſtoffe, die mit koſtbarem Pelzwerk verbrämt ſind. Das Haar ſcheiteln ſie in der Witte und flech— ten es in zwei Zöpfe, die ſie über die Schultern nach vorn her— überſchlagen, und mit langen Haarbeuteln von ſchwarzem Plüſch verſehen.

Die eigentlichen Steppenkalmüken tragen hohe Mützen, den Czakos der Ulanen ähnlich. Eine beſondere Eleganz liegt darin, daß die Männer das Haupthaar beinahe eine Handbreit rundum raſiren, die Weiber aber ſich ſchminken und an die kurzen eigenen Flechten falſche von Roßhaar binden.

Die Kalmüken beiderlei Geſchlechts tragen kurze bis an den Gürtel reichende, vorn offene Hemden und weite Pluderhoſen. Die

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Männer tragen darüber kurze Ueberröcke von blauem Nanfing, und umgürten ſich mit einem Riemen; im Herbſt, bei feuchtem Wetter, brauchen ſie kurze Pferdepelze, im Winter lange Schafpelze, oder ein anderes Pelzwerk, das ſie je nach den Witteln, mit einem mehr oder minder koſtbaren Oberzeuge verſehen. Die Weiber kleiden ſich in Ueberröcke von Zitz oder Seide, um die ſie einen ebenfalls ſeide— nen Gürtel tragen, oder in weite Ueberröcke mit aufrechtſtehendem Kragen, über welchen der lange weiße Hemdskragen zurückgeſchla— gen wird. Dieſe letzteren Ueberröcke ſind von Nanking, Zitz, Kattun, Seide, Glacé oder Sammet, und werden gewöhnlich mit Borden und ſeidenen Bändern benäht. Zum Reiten werden dieſelben Ueber— röcke getragen, nur ohne Aermel und mit vorn und hinten zurück— zuſchlagenden Schößen. Schnupftücher und Ringe an den Fingern ſind ein unumgängliches Bedürfniß der Eleganz für beide Geſchlech— ter; aber die Mädchen tragen den Ring am kleinen oder Ohrfinger, die verheiratheten Frauen am vierten oder Zeigefinger; auch pflegen die Mädchen ihre Zöpfe nicht nach vorn herüberzuſchlagen, welches ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen ihnen und den verheiratheten Frauen iſt.

Die Kalmüken beiderlei Geſchlechts hängen leidenſchaftlich dem Tabakrauchen an: eine kurze, eigenhändig verfertigte Pfeife fehlt keinem. Zur Nahrung bedienen ſie ſich derſelben Speiſen, wie die ihnen benachbarten muhammedaniſchen Stämme. Dem Branntwein, deſſen Genuß der Buddhaismus nicht verbietet, ſind ſie ſehr erge— ben, und bereiten denſelben in einfachſter Weiſe aus der Stutenmilch. Von dieſem Branntwein, den ſie „Arsa“ nennen, werden im Lauſe des Sommers große Quantitäten verbraucht; im Winter dagegen halten ſie ſich an den Kornbranntwein. Die Arſa bereiten ſie außer der Stutenmilch noch aus Schaf- und Kuhmilch. Pferdefleiſch eſſen alle Kalmüken, mit Ausnahme der Geiſtlichkeit; auch darf dieſes, ſo wie alle geiſtigen Getränke ebenfalls, den Götzen nicht geopfert wer— den. Auch wilde Eber werden von ihnen gegeſſen; von Schweine— fleiſch ſind fie große Freunde, aber ihr Nomadenleben geſtattet ihnen nicht, Schweine in größerer Quantität zu ziehen; auch kleine Step— penthiere werden von ihnen verſpeiſt; desgleichen wird niemand ein

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gefallenes Pferd als Nahrung verſchmähen, ſobald nur dargethan wird, daß es nicht in Folge der ſogenannten ſibiriſchen Seuche gefallen iſt: denn dieſe Krankheit wagen die kalmükiſchen Ma— gier⸗Aerzte, den Vorſchriften der Buddhalehre gemäß, nicht zu be— handeln.

Siedentes Kapitel

Eine Audienz bei der Kalmüken⸗Fürſtin. Der Götzentempel der Kalmüken.

Der allgemeinen Schilderung der Kalmüken, wie ſie Vebolſin in dem Vorhergehenden entworfen hat, reihen wir zwei ſehr charak— teriſtiſche Sittenbilder eines deutſchen Malers an“), der längere Zeit unter den Völkerſtämmen der Wolganiederung verweilte.

Eine Audienz bei der Kalmüken-Fürſtin.

Der Fürſt der „kleinen Derbäten-Horde“ herrſcht über zehn— bis zwölftauſend Zelte oder Familien, welche in größeren oder klei— neren Abtheilungen auf der Steppe herumziehen. Die Abtheilung, in welcher ſich das Hauptlager des Fürſten befindet, beſteht aus drei Hauptquartiren; dem Wohnzelte des Fürſten zunächſt wohnen die Rathsherren oder Richter, ſo wie der höhere Adel, und etwas entfernter der niedere Adel und ein Theil des Volkes. In der Ent⸗

*) Dieſer aus Berlin gebürtige Maler iſt Hr. Kieſewetter, der von ſeinen Wanderungen eine Menge ſehr lehrreicher ethnographiſcher Bilder zu⸗ rückgebracht und zur Erläuterung derſelben ſeine Erlebniſſe in einer Reihe ungemein friſcher und lebenstreuer Skizzen veröffentlicht hat. Das höchſt empfehlenswerthe Büchlein führt den Titel: Mittheilungen aus dem Tage⸗ buch zu Kieſewetter's ethnographiſchen Reiſebildern. Geſammelt auf 16 jäh⸗ riger Wanderung bei den Völkerſtämmen Schwedens, Rußlands und den aſiatiſchen Nomaden, den Kalmüken, Kirgiſen, fo wie den Tataren, den in⸗ diſchen Feueranbetern, den Bewohnern der Krim, Armeniens, Perſiens und den kriegeriſchen Gebirgsbewohnern des Kaukaſus ꝛc. 2c. Bevorwortet von Alexander von Humboldt und Carl Ritter. Berlin 1855.

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fernung von einer „Stimmenlänge“ nach Art der Kalmüken den Abſtand zu berechnen, oder ungefähr hundert Klafter befindet ſich das Lager für die Geiſtlichen, ſo wie die Götzentempel. Die dritte Abtheilung, drei Stimmenlängen entfernt, iſt der Baſar oder die Warktſtadt.

Bei meiner Ankunft in dem Hoflager befand ſich der regierende Fürſt in einer entfernteren Abtheilung ſeiner Horde, und ich wen— dete mich an den Winiſter oder Oberrichter, welcher in Abweſenheit des Fürſten das Regiment führte. Ich fand denſelben in der Ge— richtshütte, welche ihm und ſeiner Familie auch zugleich als Woh— nung dient. Er ſaß im Hintergrunde, der Thür gegenüber, auf einer Erhöhung von übereinandergelegten Filzdecken unter einer Art Thron⸗ oder Betthimmel von rother perſiſcher Seide. An den Wänden zur Seite hingen hölzerne Näpfe, lederne Flaſchen mit Milchbranntwein, Kameelmagen, die mit Käſe gefüllt waren und mehrere Stücke Fleiſch von einem friſch geſchlachteten Schafe, mit deſſen Pelz ſich der Sohn des Miniſters umwunden hatte. Wehrere Richter, die zur Zeit anweſend waren, ſaßen auf kleinen Filzteppichen und bildeten, theils als berathende Gruppen, theils als tiefſinnig ſchweigende Individuen, einen großen Kranz der edelſten Kalmüken rund um einen eiſernen Keſſel mit Theeſuppe, die aus kleingeſchnit— tenem Tafelthee, Wilch, Schaffett und Salz in der Witte des Zel— tes über getrocknetem glühenden Mift und brennenden Reiſern be— reitet wurde. Rauch und Waſſerdämpfe, welche die innern Räume erfüllten und nicht zu allen Zeiten eine Durchſicht geſtatteten, ließen einzelne Gruppen vor meinen Blicken erſcheinen und wieder verſchwin— den. Ein blaues Himmelslicht, welches von dem Gipfel des Zeltes durch eine kreisförmige Oeffnung drang, bahnte ſich bisweilen einen Weg durch die Dämpfe, und verbreitete über die Richter einen mas giſchen bläulichen Schein; oft aber wurden die rothen Reflexe des Feuers, welches unter dem Keſſel hervorleuchtete, überwiegend, ſo daß die Anweſenden abwechſelnd röthlich und bläulich erſchienen, im klaren oder gedämpften Licht, oder auch im ſanften Farbenſpiel hinter dem Nebel verſchwanden.

Der Winiſter war mit einem weißen Schafspelze und blauen, rothgeſtreiften Beinkleidern bekleidet, und rauchte gemüthlich aus

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einer kurzen Pfeife. Sein volles glühendes Geſicht, welches von einer zottigen Pelzmütze beſchattet wurde, und ſeine freundlichen chineſiſchen Augen ſchienen anzudeuten, daß er zur Zeit mit keiner politiſchen Oppoſition zu kämpfen habe. An ſeiner Seite auf dem Fußboden ſtand ein irdenes Gefäß mit Streuſand und ein hölzer— nes Tintenfaß neben dem Geſetzbuche. Die Frau des Winiſters, in einem blauen, rothgeſtickten Gewande und einer gelben Koſakenmütze, ſo wie die Mutter mit dem jüngſten Kinde hatten ſich hinter den Betthimmel zurückgezogen.

Bei meinem Eintritt in das Zelt war ich zwei Schritte nach der linken Seite der Thüre gegangen und hatte mich dort ſchwei— gend, und ohne zu grüßen, mit untergeſchlagenen Beinen auf dem Fußboden niedergelaſſen, weil es ſo die gute Sitte erfordert. Ein Kalmük mir zur Seite, der hier durch Vermittelung der ruſſiſchen Sprache als Dolmetſcher dienen ſollte, weil ich noch nicht fertig kalmükiſch ſprechen konnte, mußte wie ein Kameel mit zurückgeboge⸗ nen Ferſen auf den Knieen liegen, weil er im Range etwas niedri— ger war. Es iſt nicht Gebrauch, ſogleich beim Eintritt in ein Zelt zu ſprechen, und nur dem, welcher ein Unglück zu verkünden hat, iſt ſolches erlaubt. Nach längerem Schweigen gab der Minifter meinem Dolmetſcher ein Zeichen, daß die Unterhaltung beginnen könne. 8

Der erſte Gebrauch, den ich von der Redefreiheit machte, war der, daß ich um die Erlaubniß nachſuchte, mich zuweilen platt auf den Fußboden niederlegen zu dürfen, weil der Rauch in den höhe— ren Regionen mich oft beim Sprechen hindern möchte. Ich erzählte ſodann der hohen Verſammlung von meiner Pilgerfahrt aus dem Lande der Preußen, und zwar aus meiner Heimath Berlin, oder demjenigen Theile der preußiſchen Horde, wo ſich das Hoflager be— findet, ſowie von meinen vieljährigen Wanderungen und Streife— reien unter den verſchiedenſten wilden und civiliſirten Völkerſtäm— men. Ich zeigte mehrere Walereien, die ich bei verſchiedenen Völ— kern angefertigt hatte; u. A. tatariſche Männer mit raſirten Köpfen und langen Bärten und ihre Frauen mit künſtlich roth gefärbten Haaren und Fingerſpitzen; ruſſiſche Bauern in farbigen Blouſen, und Pilger im Kloſter, die ihre mit Hanföl gewürzte Suppe ver⸗

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zehren; keuſche Nonnen unter langen ſchwarzen Schleiern und über- müthige Brautjungfern, die ſich beeilen, den Hochzeitsgaſt zum Dank für ein dargebrachtes Brautgeſchenk zu küſſen; eine von ihren Braut- jungfern umgebene Braut bei den Delekarlieren, die, mit bunten Glasperlen behängt, unter einer goldpapiernen Krone dem Publikum öffentlich zur Schau ausgeſtellt iſt; und eine tatariſche Braut, welche man, tief verſchleiert, geheimnißvoll nach dem finſtern Gemache des Bräutigams führt.

„Dergleichen Sittengemälde ſagte ich wünſche ich auch bei den Kalmüken anzufertigen, wozu ich den Schutz und Beiſtand des Miniſters und der hohen Verſammlung anrufe. Nachdem ich meine Arbeiten hier beendet haben werde, will ich meine Wanderun⸗ gen zu den übrigen Völkern der Erde fortſetzen, und endlich die Bilder aller Welt in einer Sammlung vereinigen. Mannigfach ſind die Gebräuche überall; wo ſie kindlich geblieben ſind, da tragen ſie noch zum Glücke der Wenſchen bei; am tollſten findet man ſie bei denen, die ſich am klügſten dünken. In meiner Sammlung ſollen die Völker Gelegenheit finden, ſich gegenſeitig kennen zu lernen; haben ſie erſt mit einander Bekanntſchaft gemacht, ſo lernen ſie ſich lieben, und wenn ſie einander recht verſtehen, dann lernen ſie ſich zu ihrem Heile auch wohl endlich ſelber kennen.“

Nachdem ich meine Rede beendet hatte, ſchloſſen die Rathsherren einen engeren Kreis um den Winiſter, Einige ſetzten ſich mit unter— geſchlagenen Beinen nieder, Andere, welche einen geringeren Rang bekleideten, knieeten wie Kameele, und nur die höchſten Herrſchaften waren berechtigt, ſich nach Belieben auf den Bauch oder auf den Rücken zu legen. Die Gemahlin des Winiſters drängte ſich ebenfalls heran, mit der Abſicht, wie ich aus ihren zur Zeit mit dem reinſten Himmelslicht beleuchteten Geſichtszügen ſchließen konnte, mein Geſuch zu unterſtützen. Der Beſchluß der Verſammlung fiel jedoch für mich nicht unbedingt günſtig aus. Eine Unternehmung wie die meinige war hier noch nicht vorgekommen und daher im Geſetzbuche nicht vorgeſehen. Der Winiſter, welcher jetzt wieder ſeine Beleuch— tung vom Flammenlicht unter dem Keſſel erhielt, wollte die Ver— antwortlichkeit nicht übernehmen und faßte den Beſchluß, einen Eil— boten an den Fürſten zu entſenden und ſeine Befehle zu erwarten,

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mir aber vorgängig eine Wohnung bei feiner Familie in der Nähe zu gewähren.

Der Bote mit den nöthigen Inſtructionen wurde entſendet und ich begab mich auf den Weg nach meiner neuen Wohnung; doch hatte ich dieſelbe noch nicht erreicht, als ich bemerkte, wie die Frau des Winiſters nach dem Zelte der Gemahlin des Fürſten eilte, und bald darauf erhielt ich den Befehl, einige von meinen Gemälden dorthin zu ſchaffen. Nach Verlauf von einer halben Stunde em— pfing ich dieſelben wieder zurück und ſah zugleich einen Diener der Fürſtin auf einem edlen Renner aus der fürſtlichen Heerde in ge— ſtreckten Galopp über die ausgedehnte Ebene dem vom Minifter fortgeſchickten Boten nacheilen, offenbar in der Abſicht, demſelben den Vorſprung abzugewinnen. Wir blieb nun über das Gelingen meines Unternehmens kein Zweifel mehr übrig, denn wo man den Beifall der Frauen gewinnt, erreicht man ſicher ſein Ziel!

Die Hausfrau der gaſtfreundlichen Familie, unter deren Obdach ich die Enthüllung meines nächſten Schickſals erwarten ſollte, beeilte ſich ein Lamm aus der Heerde zu holen, daſſelbe im Zelte zu ſchlachten und zu bereiten; und die übrigen Perſonen, groß und klein, unterwarfen meine Perſönlichkeit während der Zeit einer ſtrengen Kritik, um wo möglich die Eigenſchaften zu entdecken, wo— durch ſich ein Preuße von einem Kalmüken unterſcheidet. Ihre Stu— dien wurden jedoch bald durch das Erſcheinen eines fürſtlichen Die: ners unterbrochen; derſelbe kam im Auftrage der Fürſtin Mutter, welche ſo eben von einem Spazierritte zurückgekehrt war und die Gemälde zu ſehen wünſchte, welche den Beifall der Herrſcherin, ihrer erlauchten Tochter, erworben hatten. Ich beeilte mich, ihren Wunſch zu erfüllen, und hatte nach einiger Zeit das Vergnügen, ein Zeichen ihrer Gunſt zu empfangen; ſie ſendete mir nämlich eine lederne Flaſche mit Milchbranntwein die Flaſche jedoch ſollte ich, wie der Ueberbringer bemerkte, wieder zurückſchicken, nachdem ich die darin befindliche Flüſſigkeit verzehrt haben würde.

Am folgenden Tage kehrten die beiden Eilboten, beſtäubt und auf ſchweißbedeckten Pferden zurück, und ich ſah bald nachher eine kleine Karawane über die Steppe daherziehen. Ein Mann in einem mit ſilbernen Treſſen beſetzten Kaftan führte ein Kameel, welches

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mit Bündeln von rothbemalten Stangen, kameelwollenen Decken, Schnüren und anderen Unterſilien, die zu einem Zelte gehören, belaſtet war. Auf einem zweiräderigen Karren befand ſich das nöthige Haus— geräth, welches in einem eiſernen Keſſel, einem Dreifuß und einigen hölzernen Näpfen beftand. Dem Karren folgte ein Mann, von deſ— ſen Beinkleidern die obere Hälfte aus rothem und die untere aus blauem Stoffe beſtand, der ein fettes Schaf mit ſich führte. Die Karawane lagerte ſich auf einem Platz zwiſchen dem Gößentempel und dem Hoflager, und in wenigen Minuten erhob ſich daſelbſt ein prächtiges Zelt, welches mir zur Wohnung dienen ſollte. Von dem Minister erhielt ich die Nachricht, daß der Fürſt mein Geſuch geneh— mige und mir während der Zeit meines Aufenthalts hierſelbſt einen eigenen Haushalt beſtimmt habe, von welchem ich nunmehr Beſitz nehmen könne. Ein Dolmetſcher und zwei Diener ſollten zu meiner Verfügung ſtehen und jeden dritten Tag mir zu meinem Unterhalt aus der fürſtlichen Heerde ein fettes Schaf geliefert werden, deſſen Fell jedoch Eigenthum der fürſtlichen Schatzkammer verbleibe.

Wein Hausſtand war ſchon völlig geordnet, als ich von dem— ſelben Beſitz nahm. In der Witte des Zeltes brannte ein lebhaf— tes Feuer unter dem eiſernen Keſſel und die Dienerſchaft war be— ſchäftigt, von dem geſchlachteten Schafe das Fell abzuziehen, um es dem Fürſten aufzubewahren. Während unſer Wahl bereitet wurde, fanden ſich verſchiedene Gäſte bei uns ein; es waren größten— theils ſolche, in deren Haushaltung heute nicht gekocht wurde, und die ſich deshalb nach einem rauchenden nachbarlichen Schornſteine umgeſehen und den meinigen entdeckt hatten. Außerhalb des Zeltes hatten ſich die Hunde aus der Umgegend geſammelt, die durch den Wohlgeruch des fürſtlichen Geſchenkes herbeigelockt worden waren und ihre ſchnüffelnden Naſen unter die Filzbedeckung durch das Gitterwerk des Zeltes ſteckten. Der Dolmetſcher, welcher auch zu— gleich mein Ceremonienmeiſter und Haushalter war, theilte ohne Anſehn der Perſon die Fleiſchportionen unter die Anweſenden aus, ſo daß zum andern Tage nur wenig von dem fetten Schafe zurück— blieb und wir bald genöthigt waren, uns ſelbſt nach einem rauchen— den Schornſteine umzuſehen.

Meine erſte Arbeit beſtand darin, mir aus rothen Zeltſtangen

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und Schnüren eine Staffelei anzufertigen und die Farben in mei⸗ nem Walkaſten zu ordnen, die durch einen mehrtägigen Ritt auf dem Wege hierher wild durcheinander geſchüttelt worden waren. So— dann ließ ich die Fürſtin erſuchen, mir eine Audienz zu ertheilen und zur Anfertigung ihres Bildniſſes eine Sitzung zu gewähren. Weine Wünſche ſollten erſt nach einigen Tagen in Erfüllung gehen, weil, wie ein geſchwätziges Hoffräulein meinem Abgeordneten als Geheimniß anvertraute, die Fürſtin zuvor das Innere ihrer Woh— nung ausſchmücken und ſich von ihren Hofdamen ein neues Kleid anfertigen laſſen wollte.

Ich hatte einſtweilen nichts Beſſeres zu thun, als mein Atelier ebenfalls nach den Umſtänden auf das Beſte auszuſchmücken, indem mein Ceremonienmeiſter der Weinung war, daß ich mich noch nicht mit Walen beſchäftigen dürfe, weil es nicht höflich ſei, einen Unter— than zu malen, ehe noch das Bildniß der Fürſtin beendet ſei. Ueber— haupt, äußerte er, würde ich wohl thun, bei den Kalmüken eine ge— wiſſe Rangordnung bei meinem Arbeiten zu beobachten und nach dem Portrait der Fürſtin zunächſt den Lama und die Prieſterſchaft, ſodann den Winiſter mit den Rathsherren, den hohen und den nie— dern Adel und zuletzt das Volk zu malen. Vach dieſer Anordnung wäre ich wohl etwas mit Arbeit überhäuft geweſen und hätte nicht weniger als 100,000 Perſonen zu malen gehabt; um aber niemand zu beleidigen, entwarf ich den Plan, die Fürſtin im Vordergrunde eines Bildes an der Spitze ihres wandernden Volkes darzuſtellen, welches ſich im Hintergrunde in Staub und Vebel verliert. Wer ſodann ſein Portrait im Bilde vermiſſe, dem könne ich leicht be— greiflich machen, daß er ſich noch in zu großer Entfernung befinde, um jetzt ſchon ſichtbar zu ſein.

Voch hatte ich dieſen Entwurf nicht beendet, als ein Mann zu uns hereintrat und uns den Tod eines Nachbars anzeigte. Meine Leute beeilten ſich, alle auf dem Fußboden ſtehenden Gegenſtände an den Wänden aufzuhängen und zu befeſtigen, und einer von ihnen ging hinaus, um kleine Pfähle, welche in der Erde ſtecken und woran das Zelt mit Stricken gegen den Wind befeſtigt war, herauszuziehen. Sodann ſtellten ſie ſich an den Wänden im Innern des Zeltes in gleichen Entfernungen von einander auf, hoben das

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ganze Gebäude einige Zoll über den Boden empor und trugen es fort. Ich hatte Staffelei und Walkaſten ergriffen und ging mit, ohne die Urſache dieſer ſonderbaren Wanderung zu kennen und ohne zu wiſſen, wo ſich das Atelier mit dem Waler niederlaſſen würde. Durch die offene Thür bemerkte ich, daß die Zelte meiner Nachbarn ebenfalls in Bewegung waren und den Anblick eines wandernden Dorfes gewährten.

Die Zelthütten der Kalmüken haben eine ſehr ſinnreiche Con— ſtruction; die Geſtelle derſelben beſtehen aus mehreren hundert feſt in einander gefügten Stäben und bilden ein bewegliches Ganze, wel— ches nur mit Stricken an kleinen Pfählen in der Erde gegen den Wind befeſtigt wird, die aber weder zur Form noch zum Zuſam— menhange des Zeltes etwas beitragen, ſo daß daſſelbe von dem La— gerplatze, worauf es ſteht, vollkommen unabhängig bleibt.

Wir bewegten uns unter unſerm Obdach einige hundert Schritte vorwärts, ließen uns dann nieder und ſuchten die alte Ordnung wieder herzuſtellen. Unſere Wanderung war für diesmal keine von den Zügen der ganzen Horde mit den Heerden, bei welcher Gele— genheit die Zelte größtentheils auseinander genommen und durch Kameele transportirt werden; es war nur unſere Abſicht, wie ich ſpäter erfuhr, uns von dem verſtorbenen Nachbar zu entfernen, deſſen Leiche auf dem Platze ſeines Sterbelagers unter einigen Stei— nen begraben worden war.

Bei Begräbniſſen iſt gewöhnlich ein Prieſter gegenwärtig, wel— cher unter verſchiedenen Gebeten und Ceremonien die Leiche mit heiligen Zeichen einſegnet, damit die Seele nicht, zur Strafe für ein ungeſühntes Verbrechen, nach dem Tode mit dem Körper vereint bleiben möge. Zuweilen wird auch die Haut der Leiche aufgeritzt, in der Abſicht, der Seele den Ausgang zu erleichtern. Wenn man ſich überzeugt hält, daß die Seele den Körper verlaſſen hat, wird derſelbe mit Hülſe eines der fünf mongoliſchen Elemente, Holz, Feuer, Erde, Eiſen und Waſſer, zur Ruhe gebracht und entweder in die Erde vergraben, in's Waſſer geſenkt, verbrannt oder auch mit Steinen verdeckt; die Wahl der Begräbnißart beruht auf dem Geburtsjahr des Verſtorbenen.

Die Jahre der Kalmüken werden nach zwölf Thieren benannt,

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als: Maus, Rind, Tiger, Haſe, Drache, Schlange, Pferd, Schaf, Ochſe, Huhn, Hund, Schwein. Dieſe Benennungen werden verviel— fältigt durch Beifügung eines der genannten fünf Elemente, ſo daß 60 Jahre einen Cyclus bilden, in welchem die Reihenfolge noch durch männlich und weiblich abgewechſelt wird. Der Cyclus beginnt mit einem männlichen Holz Mäuſejahr; das folgende Jahr wird ein weibliches Holz Rinderjahr; ferner folgen männliches Feuer Tiger— jahr, weibliches Feuer Haſenjahr u. ſ. w. Wenn ich bei den Kal- müken mein Lebensende gefunden hätte, ſo würde mein Körper in's Waſſer verſenkt worden ſein, weil das Jahr meiner Geburt ein männliches Waſſer Pferdejahr war.

Von meinem Ceremonienmeiſter hatte ich bereits die Regel kal— mükiſcher Hof-Etiquette erlernt, als ich den Befehl erhielt, vor der Herrſcherin zu erſcheinen. Nicht ohne einige Befangenheit, doch aber mit Zuverſicht, welche das Bewußtſein, die Protection der Gebie— terin gewonnen zu haben, einflößte, begab ich mich mit meiner Dies nerſchaft auf den Weg. Der Ceremonienmeiſter, welcher mir bei der Fürſtin als Dolmetſcher dienen ſollte, eröffnete den Zug. Seine Bekleidung beſtand in einem gelben kameelwollenen Kaftan, mit ſil— bernen Treſſen beſetzt, und weiten blauen Beinkleidern; auf ſeiner viereckigen Mütze war ein rothes ſeidenes Läppchen befeſtigt, worin ein auf Papier geſchriebenes Gebet als Talisman eingenäht war. Sein lederner Leibgurt war rund herum mit ſilbernen Knöpfen be⸗ ſetzt, und an demſelben hing ein kurzes Weſſer in einem ledernen Futteral und ein lederner Tabaksbeutel. In der linken Hand trug er meine Staffelei und mit der rechten hob er in regelmäß gen Zwiſchenräumen eine kurze Tabakspfeife zum Wunde empor. In einiger Entfernung folgte ich ſelbſt, in meiner Eigenſchaft als kal— mükiſcher Hofmaler, und hinter mir die beiden Diener mit Pinſel, Pallette und Malkaſten. Vor dem Zelte der Fürſtin, welches ſich nur durch feine Größe von den Wohnungen der Unterthanen aus⸗ zeichnete, wehete eine kleine“ weiße Flagge an einer roth bemalten Stange. Als wir uns bis auf zehn Schritte dem Zelte genä gert hatten, entfernten ſich meine Diener zu beiden Seiten des Eing an⸗ ges, vor welchem ein Vorhang plötzlich zurückflog, und ich bewegte mich langſam und mit niedergeſchlagenen Augen hindurch. Im in—

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nern Raum, drei Schritte von der linken Seite der Thür, war ein Teppich für mich ausgebreitet, worauf ich mich knieend niederließ.

Bei meinem Eintritt in das Zelt hatte ich nicht unterlaſſen können, gegen die Etiquette zu ſündigen, indem ich es wagte, meine Augen einen Augenblick zu erheben, wobei ich die Bemerkung machte, daß die Fürſtin im Kreiſe ihres Hofſtaates mit niedergeſchlagenen Augen und unbeweglich ſaß. Der Dolmetſcher war hinter mir her— eingetreten und hatte ſich in der Mitte des Zeltes hingekauert, wo— ſelbſt die männliche Dienerſchaft beſchäftigt war, einen Haufen ge— trockneten Düngers in Gluth zu erhalten, welcher dazu beſtimmt war, die inneren Räume des Zeltes zu erwärmen,

Noch längere Zeit herrſchte ein tiefes Schweigen. Die feine geſellige Sitte bei den Kalmüken gebietet, daß man ſchweigend und geräuſchlos in einer Geſellſchaft erſcheine, um dieſelbe in einem be— gonnenen Geſpräch oder einer Beſchäftigung nicht zu ſtören, und erſt nach längerer Anweſenheit, wenn man den Sinn der Unterhal: tung richtig aufgefaßt hat, darf man ſich in dieſelbe miſchen. Dieſe, wie ſo manche in ihrem Urſprunge löbliche Sitte der Wenſchen iſt auch hier zu einer beläſtigenden leeren Ceremonie geworden. Als die Zeit gekommen war, wo ich, ohne unhöflich zu ſein, mich etwas in dem Zimmer umſehen durfte, bemerkte ich, daß die Fürſtin ihre Augen ſchon erhoben hatte. Sie ſaß der Thür gegenüber mit un⸗ tergeſchlagenen Beinen auf einem niedrigen Divan unter einem rothen Thronhimmel, der mit farbigen Bändern bunt verziert war. Ueber einem längeren Gewande trug ſie einen kurzen Kaftan von gelber, mit Gold- und Silberfäden durchwirkter Seide, welcher von einem ſilbernen Leibgurt zuſammengehalten wurde. Eine rothe viereckige Kopfbedeckung, mit rothen Vogelfedern geſchmückt, bildete eine Art Krone, unter welcher zu beiden Seiten des Geſichts ihr glänzend ſchwarzes Haar, zum Theil in ſchwarze Sammethülſen eingehüllt, herabfiel, die nach unten mit Flechten von Pferdehaar verlän— gert worden waren. Vor dem Divan ſtand der Thronfolger, ein Knabe von etwa vier Jahren, mit einem violetten ſeidenen Kaftan bekleidet und zur Seite knieeten zwei Hofdamen in langen blauen, über der Bruſt mit rother Wolle geſtickten Gewändern. Zur rech— ten Seite der Fürſtin ſtand ein Altar mit metallenen Hausgötzen,

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die mit verſchiedenfarbigen Röckchen bekleidet waren, und vor dem— ſelben befanden ſich kleine, mit Schnitzwerk verzierte Tiſchchen, auf welchen ſilberne Opferſchalen mit Speis- und Trankopfer ſtanden. Auf der andern Seite waren Transportkaſten übereinander geſtellt und mit perſiſchen Teppichen bekleidet; mit ähnlichen Teppichen war auch der Fußboden bedeckt. Die zarte Wuſik einer Spieldofe tönte zu mir herüber, welche, wie es ſchien, unter dem Divan der Fürſtin verborgen war.

Als die Zeit des höflichen Schweigens und der Ruhe vorüber war, nahm die Fürſtin einen Stickrahmen vor ſich auf die Knie und die Hofdamen begannen die Wolle zu der Arbeit der Gebieterin aufzuwickeln. Ich hatte meine Staffelei vor mir aufgeſtellt und be— gann mit einem Entwurf der Figurengruppe im Zelte, wovon ich zuerſt das Bildniß der Fürſtin ausführte. Während der Arbeit wurde es mir ſehr beſchwerlich, auf den Knieen zu liegen, wie es die Etiquette in der Nähe der Herrſcherin gebietet, auf mein Anſu— chen erhielt ich jedoch die Erlaubniß, meine Beine vor mir auszu— ſtrecken. Nach einiger Zeit wurde in hohen hölzernen Kannen eine Theeſuppe hereingetragen. Ein Diener füllte den Thee in hölzerne Schälchen, nachdem die Hausgötzen ihren Antheil daran erhal— ten hatten, und präſentirte denſelben, auf den Knieen laufend, im Kreiſe herum.

Die Fürſtin hatte mit mir eine Unterhaltung über mein Vater⸗ land und deſſen Herrſcherfamilie angeknüpft, welche nur ſehr lang— ſam von Statten ging, weil der gute Ton es erforderte, zwiſchen Rede und Antwort eine längere Pauſe inne zu halten; dieſe Pauſe wird zum Nachdenken verwendet, um eine möglichſt kluge Antwort zu erſinnen, damit die Unterhaltung nicht zum leeren Geſchwätz werde. Der Dolmetſcher ſchwieg einige Winuten, ehe er mir die Rede der Fürſtin überſetzte, eben ſo lange mußte ich meine Antwort zurückhalten, die ſodann erſt nach einer langen Pauſe der Fürſtin überſetzt wurde. Im Laufe ünſeres bedächtigen Geſprächs war die Spieldoſe abgelaufen, die Töne folgten langſam aufeinander und drohten endlich ganz zu verklingen, als ich hörte, wie ſie wieder aufgezogen wurde. Ich fragte den Dolmetſcher, ob eine Perſon unter dem Divan der Fürſtin, von wo ich das Geräuſch vernahm,

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verborgen ſei, und erwartete eine directe Antwort in ruſſiſcher Sprache von ihm; er hielt jedoch dies für eine officielle Frage und überſetzte dieſelbe mit gewohnter Feierlichkeit in's Kalmükiſche, wo— durch die ernſte Etiquette für einige Zeit unterbrochen wurde, indem die Fürſtin und ihre Hofdamen ſich vergebens bemühten ihre Hei— terkeit zu unterdrücken. Die Fürſtin hatte die Spieldoſe von einem armeniſchen Kaufmann eingetauſcht und war der Weinung geweſen, daß einem preußiſchen Manne die Erfindung noch unbekannt ſein müſſe; als ſie ſich aber hierin getäuſcht ſah, ſo erhielt ein Hoffräu— lein, die verborgene Virtuoſin, Erlaubniß, mit ihrem Inſtrumente unter dem Divan hervorzukriechen.

Die Kunſt bei den Kalmüken iſt nicht ganz unbekannt; ihre Prieſter malen die Bilder der Heiligen und Götter, von denen ſie mehrere tauſend verehren, mit Waſſerfarben auf Papier; allein eine Perſon ähnlich zu malen, war ihnen bisher noch nicht gelungen. Das Portrait der Fürſtin, als ich daſſelbe beendet hatte, erregte deshalb hier ein allgemeines Erſtaunen; die Fürſtin äußerte den Wunſch, daſſelbe zu behalten, und daß ich mir ein zweites malen möge, und die Kalmüken pilgerten aus der Nähe und Ferne herbei, um das Bildniß ihrer Gebieterin zu ſehen. Der Lama und die Geiſtlichen, der Winiſter mit den Rathsherren und alle Perſonen des Adels oder des Volkes, welche ich ſpäter noch malte, fühlten ſich dadurch geehrt und geſchmeichelt und meinten, ich wäre der größte Künſtler bei den Kalmüken.

Götzentempel bei den Kalmüken.

Nachdem ich das Bildniß der Gemahlin des Fürſten in ihrem Staats⸗Koſtüm vollendet hatte, machte ich auh dem Lama einen Bes ſuch. Er war hoch erfreut und fühlte ſich geſchmeichelt, als er ver— nahm, daß ſein Bildniß ebenfalls der großen, ihm unbekannten Welt vorgezeigt werden ſollte, und arrangirte ſelbſt mit großer Sorgfalt feine Umgebung. Als er vor mi: ſaß, um gemalt zu werden, verblieben die betenden Lippen in beſtändiger Bewegung, weil er wünſchte, daß ich ihn betend darſtellen möchte.

Ein hohes Alter und der häufige Genuß von Opium hatten tiefe Furchen in ſein Geſicht gezeichnet, was ihm den Ausdruck einer

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frommen Gottergebenbeit verlieh. Er ſaß mir gegenüber im Hin— tergrunde des Zeltes mit untergeſchlagenen Beinen auf einem ſei— denen Divan, unter einem mit Gottheiten und andern himmliſchen Geſtalten bemalten und reich verzierten Thronhimmel. Ueber einem rothen Meßgewande mit gelben Aermeln trug er die den Prieſter— ſtand auszeichnende ſeidene Binde, von der rechten Schulter über Bruſt und Rücken, und fein geſchorener Kopf war mit einer Pelz— mütze bedeckt, auf welcher ſich ein auf Papier geſchriebenes Gebet in einem rothem Tuchläppchen eingenäht befand.

An ſeiner Seite ſtand ein Altar mit den metallenen Hausgötzen des Lama, welche reich mit ſeidenem Zeuge und Goldpapier be— klebt waren, und vor denſelben befanden ſich Opferſchalen mit den verſchiedenſten Speiſen und Getränken gefüllt. Veben dem Altare hingen einige Heiligenbilder; dieſelben werden von den kalmükiſchen Prieſtern ſelbſt mit Waſſerfarben auf Papier gemalt und ſind, in chineſiſcher Manier, zum Theil ſehr ſauber ausgeführt.

Als ich dem Lama mehrere von meinen Walereien zeigte, ſprach er die Vermuthung aus, daß ich wohl in meiner Heimath auch dem geiſtlichen Stande angehören möge. „Die Waler“, ſagte ich, „ha— ben zwar zu allen Zeiten der Geiſtlichkeit beigeſtanden; jedoch bil— den wir eine beſondere Klaſſe geweihter Männer, welche die ur— ſprünglich unſichtbaren Götter und Heiligen unſerer Prieſter den Menſchen ſichtbar machen.“

Als ich das Bildniß des Lama beendet hatte, und den Wunſch äußerte, nun auch ein Bild vom Götzentempel anfertigen zu dürfen, nöthigten mich zwei im Zelte anweſende Prieſter vor dem Lama niederzufnien, um die zum Tempelgange nöthige Weihe zu em— pfangen. Derſelbe benetzte meine Stirn mit wunderthätigem Sa— franwaſſer, berührte meinen Kopf einige Mal mit ſeinem geheilig— ten gelben Prieſterkragen und geleitete mich mit dem Klange einer Glocke und einer kleinen Doppelpauke zur Thür des Zeltes hinaus.

Der Umfang des Götzentempels beträgt etwa ſiebzig Fuß, bei einer Höhe von ungefähr funfzehn Fuß. Das Geſtelle deſſelben be— ſteht aus mehreren hundert künſtlich in einander gefügten hölzernen, roth übermalten Stäben, die ſich oben in einen großen hölzernen Ring vereinigen, welcher den Schornſtein bildet. Der untere Theil,

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aus kreuzweiſe über einander befeſtigten Stäben beſtehend, bildet ein zuſammenhängendes rundes Gitterwerk von ſechs Fuß Höhe, welches ſich beim Transport leicht zuſammenſchieben läßt. Längere einzelne Stäbe, welche mit ledernen Riemen oben am Gitterwerk befeſtigt ſind, und in einem Loche des hölzernen Ringes enden, bilden das Dach. Dieſes Geſtelle, welches auf den erſten Augenblick einem Vo— gelbauer nicht unähnlich ſieht, iſt mit dicken kameelwollenen Decken bekleidet.

Verſchiedene Feſttage der Kalmüken erfordern auch eine ver— ſchiedenartige Ausſchmückung ihres Tempels. Zur Zeit, wo ich den— ſelben beſuchte, wurde das große Frühlingsfeſt gefeiert. Schon mit dem Aufgange der Sonne ertönte die lärmende Tempelmuſik, und verkündete dem Volke den Anfang der religiöſen Ceremonien. Die Prieſter hatten ſich auf einem Platze vor ihren Wohnzelten ver— ſammelt, und zogen in geordneten Reihen zum Tempel.

Zwei Poſaunenträger, mit entblößten Häuptern, eröffneten den Zug. Auf ihren Schultern ruhte das dicke Ende der metallenen, verſilberten Poſaunen, welche eine Länge von ſieben Fuß haben, und deren erſchütternde Töne in einem weiten Umkreiſe auf den endloſen Steppen gehört werden können. Die Poſaunenbläſer ſelbſt, in rothen Gewändern, folgten in gehöriger Entfernung, am andern Ende der Poſaunen, mit dem Wundſtücke in den Händen nach, und brachten von Zeit zu Zeit mit großer Anſtrengung einzelne Töne hervor.

Eine Truppe von Schalmeibläſern in dem religiöſen Zuge ſchien ihren beſonderen Director zu haben. Derſelbe kümmerte ſich nicht darum, zu welcher Zeit die Poſaunenbläſer hinreichend Athem geſchöpft haben würden, um einen neuen Ton hervorbringen zu können, ſondern behandelte ſein Inſtrument, welches ſechs Löcher hat und ſechs Töne mittheilt, mit großer Freiheit, und gab nach Belieben ſeinen Nachfolgern den Ton an, welchen ſie blaſen ſollten. Dieſel— ben hatten ihre Augen ſtets auf ihren Director gerichtet, und wenn derſelbe von einem Loche ſeines Inſtruments einen Finger aufhob, um einen andern Ton hervorzubringen, machten ſie ſogleich dieſelbe Bewegung, um daſſelbe Reſultat zu erzielen. Einige Pauker, welche

ihre Inſtrumente auf Stäben in die Luft hielten, bearbeiteten die—

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ſelben mit großem Fleiße, indem fie mit Schafsknochen gegen die Felle ſchlugen; bisweilen ließ ſich auch eine Muſchel-Trompete hören, und endlich füllten chineſiſche Klangteller alle Pauſen, welche noch zufällig entſtanden, ſo daß die Luft beſtändig mit einem muſikali— ſchen Geräuſch angefüllt war.

Hinter dem Muſikcorps folgte die Geiſtlichkeit mit ihrem Lama an der Spitze. Dieſelbe beſteht aus drei Klaſſen, nämlich aus Gäl— lungen (Ghelungen), Gättzüllen (Ghezulen) und Wandſchi (Man⸗ ſchiken), d. h. der hohen und niedern Geiſtlichkeit und den Schülern. Die Gällungen waren größtentheils in ſcharlachrothe Gewänder ge— kleidet und einige von ihnen trugen eine Art Krone auf dem Kopfe, die mit den Bildern verſchiedener böſer Gottheiten beklebt war. Auf der Spitze jeder Krone befand ſich ein auf Papier geſchriebe— nes Gebet; daſſelbe war ſo befeſtigt, daß es leicht vom Winde hin und her bewegt werden konnte, wodurch die böſen Götter beſänf— tigt werden. Die Gättzüllen waren weniger koſtbar gekleidet; einige von ihnen trugen grüne, ſilbergeſtickte Kragen oder kurze Wäntel, und andere waren mit der rothen Prieſterbinde umwunden. Die Schüler gingen größtentheils mit Schafpelzen bekleidet einher, doch auch auf ihren gelben viereckigen Mützen befanden ſich bewegliche Gebete, um den Zorn der Götter von ihren Häuptern abzuleiten.

Einer der Prieſter hatte mir zu dieſem religiöſen Feſte einen weißen, mit breiten blauen Bändern beſetzten Schafpelz und eine rothe, neun Fuß lange Prieſterbinde geliehen, und ſo durfte ich, mit einem Gebete auf der Mütze und meinem Malfaften unter dem Arme unbefangen dem Zuge folgen. Wir wanderten langſam ver— ſchiedene Wale um den Tempel herum und hielten ſodann durch die niedrige Thür des Tempels, in gebückter Stellung, unſern feierlichen Einzug. Die höhere Geiſtlichkeit ſetzte ſich in der Witte des Tem⸗ pels in zwei Reihen, mit untergeſchlagenen Beinen, auf den mit Tep— pichen belegten Fußboden nieder, das Muſikcorps aber und die Schüler nahmen rund herum an den Wänden ihre Plätze ein.

Im Hintergrunde des Tempels, der Thür gegenüber, ſtand der Altar, welcher mit einem weißen ſeidenen, mit farbigen und golde— nen Fäden geſtickten Tuche bedeckt war. Auf dem Thronhimmel über demſelben zeigte ſich das Bild des himmliſchen Drachen,

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welcher Blitz und Donner regiert. Auf dem Altare befanden ſich verſchiedene metalleue Götzenbilder in farbigen hölzernen Nifchen. Dſchagdſchamuni, die höchſte Gottheit, wurde durch eine weibliche Figur mit ſehr großen Ohren repräſentirt. Zur Seite ſtand Erlik Kan, ein böſer Gott; er ſchien im höchſten Zorn auf einer weibli— chen Kalmüken⸗Seele herumzutanzen, welche ausgeſtreckt unter ſeinen Füßen lag. In der rechten Hand hielt er einen Donnerkeil, wel— chen er auf die Sünderin herabzuſchleudern drohte, und eine Glocke in der Linken ſollte den Ruf ihrer böſen Thaten verbreiten. Seine Kopfbedeckung ſtellte eine Flamme dar, aus welcher rund herum Prieſterköpfe herausblickten, und der Leibgurt war von den Köpfen der verſchiedenſten Miſſethäter gebildet, die auf einer Schnur dicht an einander gereiht waren. Vor demſelben ſtand eine betende Göttin mit acht Händen und vierundzwanzig Köpfen, welche ſeinen Zorn befänftigen zu wollen ſchien. Die Götzenbilder find ausgehöhlt und mit den Knochen und der Aſche ehrenvoll nach ihrem Tode verbrann— ter Oberprieſter gefüllt.

Vor dem Altar ſtand ein niedriger, mit Schnitzwerk verſehener Tiſch, auf welchem die ſilbernen Opferſchalen ſtanden; dieſelben ſind mit den verſchiedenſten Früchten, Saamen und Wurzeln gefüllt. Die Opfer ſind heilig und dürfen nur bei ſchweren Krankheitsfällen als Heilmittel genoſſen werden. Zwei ſilberne Vaſen auf dieſem Tiſch— chen enthalten wunderthätiges Waſſer und ſind mit Pfauenfedern in Form von Blumenſträußen geſchmückt.

Auf einem in die Erde geſteckten Stab, vor dem Opfertiſch, ſtand die Dätſchiſchaale, worin die täglichen Opfer gebracht wer— den, und die nach einiger Zeit von den Prieſtern genoſſen werden dürfen.

Zwei ſeidene halbe Ballons, die zu beiden Seiten des Altars auf rothen Gerüſten befeſtigt waren, dienen dazu, die Götter vor Regen oder Sonnenſchein zu bewahren, wenn fie an gewiſſen Feſt— tagen dem Volke vorgezeigt werden. Der gemeine Mann hat keinen Zutritt zum Tempel, ſondern darf ſich nur, auf Händen und Füßen kriechend, demſelben nahen, wenn er ein Opfer bringt, um damit die Fürſprache der Prieſter für ſein Wohlergehen bei den Göttern in Anſpruch zu nehmen.

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Zu beiden Seiten des Altars, auf rothſeidenem Grunde, hangen die gemalten Götter und Heiligen; dieſelben ſind mit Rahmen von gefärbter Seide umklebt und mit einem Vorhang verſehen. Die guten Götter ſind zum Theil in reichen prieſterlichen Gewändern, von Licht und Feuer umgeben, dargeſtellt, weil fie die Himmelskör⸗ per bewohnen. Nach der Weinung der kalmükiſchen Prieſter beſteht die Sonne aus Feuer und Glas, der Mond aber aus Waſſer und Glas, in welchen beiden ſich ein Gott mit ſtrahlendem Geſichte be— findet. Die Sterne ſind leuchtende Glaskugeln, von denen die größ— ten dreitauſend Ellenbogen im Durchmeſſer haben.

Die böſen Götter ſind immer als furchtbare Ungeheuer darge— ſtellt und werden am meiſten verehrt und angebetet; denn die gu— ten Götter können nur unabänderlich das Gute wollen, darum iſt es nöthiger, die böſen Götter durch Gebete zu beſänftigen.

Zur rechten Seite der Thür ſtand eine Gebet-WMaſchine; fie beſteht aus einer großen und einer kleinen hölzernen Walze, welche in einem zierlich geſchnitzten und bunt bemalten Geſtelle auf einer ſenkrechten Spindel befeſtigt ſind und ſich vermittelſt einer Schnur hin und wieder drehen laſſen. Sie wird beſonders bei Gewit— tern oder andern Naturerſcheinungen, welche den Zorn der Götter andeuten, in Bewegung geſetzt. Die hohlen Räume ihrer Walzen ſind mit Gebeten gefüllt, die, auf Papier geſchrieben und eng zuſammengerollt, an jeden Gott beſonders gerichtet ſind. Die oberſte kleinere Walze enthält die Gebete für die Götter des erſten Ranges, und der Inhalt der großen Walze iſt für die Gottheiten der zweiten und dritten Klaſſe beſtimmt. Im Augenblicke der Ge— fahr werden die Gebete ſchnell in Wirkung geſetzt; denn ihre Be— wegung in der Waſchine iſt nach der Meinung der kalmükiſchen Prieſter eben ſo zweckmäßig, als die Bewegung der Lippen beim Herſagen der Gebete. Vor dem Tempel war an einer rothen Stange eine Flagge befeſtigt, worauf ebenfalls ein Gebet geſchrieben ſtand. Dieſelbe betete, wenn ſie vom Winde bewegt wurdez ſie betete mit mehr Eifer und größerem Fleiß bei ſtarken Stürmen, ſo daß es gewiſſermaßen den kalmükiſchen Göttern ſelbſt überlaſſen bleibt, nach Belieben zu ſich beten zu laſſen.

Nachdem wir unſere Sitze, worauf wir den ganzen Tag ber-

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weilen ſollten, fo bequem als möglich eingerichtet hatten, herrſchte einige Minuten eine tiefe Stille im Tempel; ſodann nahm der Oberprieſter einige von den Fruchtkörnern, welche ein Gällung ihm darreichte, warf dieſelben in die Luft und goß etwas Safranwaſſer in ein Schälchen, welches er den Göttern zum Opfer brachte. Hier— auf begann ein Baßſänger einen monotonen Geſang, indem er mit dem tiefſten Ton ſeiner Stimme einen Vers herbrummte; bei dem zweiten Vers ſtieg er einen Ton höher und führte auf dieſe Art ſeinen Gefang allmälig die Tonleiter empor. Die andern Sänger fielen begleitend ein, ſobald der Umfang ihrer Stimmen es ihnen erlaubte, bis endlich alle Anweſenden mitſingen konnten. Vach eini— ger Zeit ſahen ſich die Baßſänger jedoch genöthigt, zu ſchweigen, weil ſie mit ihren Stimmen nicht höher kommen konnten, und es blieb nun den Schülern überlaſſen, die Höhe der Tonleiter zu er— reichen. Endlich konnten nur noch drei von den kleinſten Knaben mitſingen; ſie lehnten den Kopf hintenüber, brachten den Mund in eine ſchiefe Stellung, und die- zuſammengezogenen Augenbraunen bildeten dichte, ſenkrechte Falten zwiſchen ſich auf der Stirn. Aber auch von ihnen blieben bald zwei erſchöpft zurück, und nur der kleinſte Mandſchi, in halb erhobener Stellung, erreichte mit einer Art Vogelgeſang die Spitze der Töne. In dieſem Augenblick erhob ſich ein lautes Gemurmel; die Prieſter hatten ihre Roſenkränze ergriffen, welche aus 108 Kügelchen beſtehen, und wiederholten ſchnell hinter

einander das heiligſte Gebet der Buddhaiſten: „om ma ni pad ma

chom“. Dieſe Worte haben wohl eigentlich keine Bedeutung, we— nigſtens iſt den kalmükiſchen Prieſtern eine ſolche nicht bekannt, allein ſie ſind im Stande, die Lippen des Betenden in eine ſo ſchnelle Be— wegung zu bringen, wie dies bei keinem andern Gebete der Fall iſt.

Der Roſenkranz hatte dreimal ſeinen Kreislauf in den Händen der Prieſter vollendet und das dreihundert und vierundzwanzigſte „om ma ni pad chom“ angezeigt, als zwei Männer mit einem Faſſe voll „Kumis“ oder geſäuerter Pferdemilch im Tempel erſchie— nen. Von den Anweſenden war jeder mit einem hölzernen Napfe verſehen, welchen ſie im Buſen oder in einem Tuche mitgebracht hat— ten; auch ich hatte den meinigen nicht vergeſſen, weil ich wußte, daß ein echter Kalmük ſich keine hundert Schritt von ſeinem

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Zelte entfernt, ohne feinen Napf mitzunehmen, damit er ſogleich an einer Mahlzeit Theil nehmen könne, wo ſolche ſich ihm zufällig bietet.

Nachdem wir den Göttern ein Speiſeopfer dargebracht und uns ſelbſt an der Wilch erfriſcht hatten, wurden die Näpfe geſäu— bert. Die Wandſchi vollbrachten dieſes Geſchäft unmittelbar mit der Zunge, die höhere Geiſtlichkeit aber ſtrich wiederholt mit dem Daumen über das Gefäß und leckte daſſelbe ab.

Ich hatte mit meinem Wal-Apparat neben der hölzernen Gebet— Maſchine Platz genommen, weil ich von hier das Innere des Tem— pels bequem überſehen und eine Skizze davon entwerfen konnte. Die Prieſter beſchäftigten ſich unabläſſig mit Beten und Singen, unter mannigfachen Bewegungen und Ceremonien; bald wurden die Gebete an dem Roſenkranze abgezählt, dann wieder unter dem Klange kleiner Glocken und Doppelpauken hergemurmelt; einzelne Götzen— bilder wurden verhüllt, andere wiederum entſchleiert. Von dem Volke aus der Nähe und Ferne kamen Einzelne auf Händen und Füßen kriechend langſam herbei, reichten kleine ruſſiſche oder perſiſche Sil— bermünzen als Opfer zur Thür des Tempels herein und zogen ſich wieder zurück, nachdem ein Geiſtlicher mit einem zuſammengelegten Prieſterkragen ihnen einen Schlag auf den Kopf verſetzt hatte.

Die Prieſter mochten ſchon mehrere tauſend Geſänge und Ge— bete vollendet haben, und ich hatte bereits einen großen Theil des Tempels auf meiner Leinwand entworfen, als ein großes Faß mit Fleiſchſuppe, welches hereingetragen wurde, unſere Arbeit für einige Zeit unterbrach. Nach der Suppe wurde Schaffleiſch, welches in Waſſer und Salz gekocht war, herumgereicht und mit unbewaffne— ten Fingern verzehrt. An Brot leiden die Kalmüken gänzlich Man⸗ gel, weil ihre wandernde Lebensweiſe ihnen den Landbau nicht er— laubt. Nur eine Art Kringel, welche ſie bisweilen auf den Wärk— ten von ihren Nachbarvölkern einhandeln, werden hier an Feſttagen zum Thee genoſſen. 4

Am Abend, als wir allmälig von dem Beten und Arbeiten ermüdeten, wurden verſchiedene hölzerne Kannen herbeigetragen, welche mit der hier ſo beliebten Theeſuppe gefüllt waren. Dieſelbe wird aus feingeſchnittenem Tafelthee, Schaffett, Milch und Salz

IV. 10

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bereitet. Nachdem dieſelbe verzehrt war, gebührte den Göttern nur noch ein Dankgebet, worauf wir entlaſſen worden wären hätte ſich nicht unglücklicher Weiſe ein ziemlich ſtarker Sturm erhoben. Einige Prieſter gingen hinaus, um das Zelt mit Stricken an kurzen Pfäh— len, welche in einiger Entfernung in die Erde geſchlagen waren, gegen den Wind zu befeſtigen.

Wie der Kapitän auf ſeinem von Sturm bedroheten Fahrzeuge, ſo theilte hier der Lama die nöthigen Befehle aus. Es wurden andere Götzenbilder auf den Altar geſtellt, rund herum an den Wän— den Heiligenbilder aufgehängt, andere mit Vorhängen bedeckt, ſo wie auch ein Wann bei der Gebet-Waſchine angeſtellt. Ein jeder erfüllte feine Pflicht. Dennoch wurde der Sturm fo heftig, daß ich fürchtete, der Wind würde den Tempel entführen, und ich beeilte mich, meinen Walkaſten zu ſchließen, ſo wie auch meine Skizze, die ich im Tempel entworfen hatte, einzupacken, um dieſelbe nicht mit dem Originale vernichtet zu ſehen. Ein heftiger Windſtoß drückte zwei von den Dachſparren ein und ſchien ſich einen Weg durch den Tempel bahnen zu wollen; aber in dieſem Augenblick gab der Lama den Befehl, das größte Götter-Gemälde über dem Altare zu enthül— len, worauf es einigen Prieſtern gelang, die Sparren an ihren Ort zurückzubringen und dieſelben mit Stricken zu befeſtigen. Bald dar⸗ auf machte ich die Entdeckung, daß die Flagge vor der Thür des Tempels ſich, vom Sturme heftig bewegt, mit ihren betenden Zun⸗ gen um die Flaggenſtange verwickelt hatte und dadurch zum Schwei— gen gebracht worden war. Als ich den Waſchinenmeiſter darauf aufmerkſam machte, eilte er ſogleich hinaus, um das Gebet der Flagge wieder in Bewegung zu bringen, und ich bemühte mich wäh— rend der Zeit, die Gebet-Maſchine in Thätigkeit zu erhalten. Wir thaten nun Alles, was der Wenſch zur Beſänftigung eines Stur— mes vermag, und das Unwetter zog an uns vorüber.

Achtes Kapitel.

Ankunft in Aſtrachan Gemiſchte Bevölkerung. Beſchreibung der Stadt. Weingärten. Kathedrale. Perſiſcher und indiſcher Kaufhof. Gottesdienſt der Hindus. Fakir. Armeniſcher Ball.

Wir kehren zu unſern Reiſenden zurück, die wir auf dem Wege nach Aſtrachan verlaſſen haben.

In der Nähe von Aſtrachan wird die Straße belebter. Man kam bei einzelnen rechts und links am Wege liegenden Weierhöfen und Weingärten vorüber, in welchen die vortrefflichen aſtrachani— ſchen Trauben gebaut werden, und gelangte endlich zu einem tata— riſchen Dorfe, das ſich am dieſſeitigen Ufer, gleichſam wie eine Vor— ſtadt von Aſtrachan, entlang zieht, bis endlich am jenſeitigen Ufer des mächtigen Stroms die Stadt ausgebreitet da lag, doch faſt von den Maften der vorliegenden Schiffe verdeckt, über welchen die weiße Kathedrale hoch hervorleuchtete.

Die Reiſenden waren um 4 Uhr Nachmittags an der Stelle angekommen, wo man überzuſetzen pflegt. Hier erwartete ſie ſchon ein Dampfboot, das von dem General-Gouverneur Herrn von Oſſi— poff zu ihrer Ueberfahrt abgeſendet war, und auf welchem ſie auch ſogleich unter Abfeuerung der auf dem Dampfboote befindlichen Kanonen nach Aſtrachan hinüber fuhren, ohne erſt die Verladung ihrer Wagen abzuwarten, die man, um jeden Aufenthalt zu ver— meiden, auf einem anderen Boote einſchiffte. Unter einem großen Zuſammenfluß von Wenſchen, welche die ungewöhnlichen Veranſtal— tungen herbeigelockt hatten, ſtiegen unſre Reiſenden an's Ufer, und

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ſetzten ſich in ein Paar vierſpännige Wagen, die gleichfalls ſchon für ſie bereit ſtanden, und ſie in die für ſie beſtimmte Wohnung, in einem Hauſe des Kaufmanns Federoff, führten, eines alten ſehr reichen Mannes, deſſen Vermögen auf 3 Willionen Rubel geſchätzt wird, und der vier Häuſer in Aſtrachan beſitzt. Das untere Stock— werk von einem dieſer Häuſer war zur Aufnahme der Fremden beſtimmt, es enthielt einen großen Saal und mehrere hohe und prächtig, wenn gleich altmodiſch decorirte Zimmer nach der Straße zu, nebſt anderen ſchlechten und verfallenen nach dem Hofe zu, die gegen den Glanz der vorderen merkwürdig abſtachen. Kaum an— gekommen, wurden unſere Reiſenden auch ſchon vom General-Gou— verneur begrüßt, deſſen Beſuch ſie, nachdem ſie ſich umgekleidet hat— ten, erwiederten. g

Aſtrachan hat keine große Bevölkerung. Die Einwohnerzahl betrug im Jahre 1849 nur 44,798. Sie ift aber früher größer geweſen und ſoll ſich vor einem Jahrhundert auf 70,000 belaufen haben. In den letzten Jahrhunderten hat die Stadt mannigfache Schickſale erlitten. Nachdem Aſtrachan eine Zeitlang zu dem von Batu Chan gegründeten Reiche Kaptſchak gehört, bildete es ſich end— lich im Anfang des 15ten Jahrhunderts zum unabhängigen Staat aus. Hundert und funfzig Jahre ſpäter begann der erbitterte Kampf zwiſchen den Ruſſen und Tataren, der das Land der Czaaren von dem Joche feiner Unterdrücker befreien ſollte. Im Jahre 1554 be— mächtigte ſich Iwan der Schreckliche halb durch Verrath, halb durch Gewalt des Chanats am kaſpiſchen Meer, und nahm zuerſt unter allen Großfürſten den Titel eines Königs von Kaſan und Aſtrachan an. Dieſe für das Reich ſo koſtbare Eroberung wurde den ruſſi— ſchen Beſitzungen einverleibt, und zog die Unterwerfung oder Aus— wanderung aller benachbarten Völker nach ſich. Seit dieſer Zeit gehörte Aſtrachan zu Rußland, verlor aber bald den großen Wohl— ſtand, der es unter den Tataren der goldenen Horde ſo berühmt gemacht hatte. Funfzehn Jahre nach der Eroberung unternahmen die Türken in Verbindung mit den Tataren der Krim einen Zug gegen Aſtrachan, der aber mißlang, indem die türkiſche Armee gro— ßentheils in den Wüſten des Manytſch umkam. Gegen Ende des I7ten Jahrhunderts (1670) erfuhr. Aſtrachan noch eine kurze, aber

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blutige Revolution: der Rebell Stenka Razin bemächtigte ſich der Stadt, ließ eine Wenge Wenſchen niedermetzeln, und erweckte eine Zeitlang Rußland ernſtliche Beſorgniſſe. 1692 und 93 wurde Aſtra— chan von der Peſt heimgeſucht, der 16,009 Wenſchen zum Opfer fielen; 1705 wurde die Stadt von den Strelitzen hart bedrückt, 1719 von den Perſern geplündert und 1767 durch einen Brand zum Theil eingeäſchert. Gegenwärtig iſt die alte Hauptſtadt des tata— riſchen Reichs einfach der Hauptort eines Gouvernements, das zwar 4000 Quadratmeilen Oberfläche, aber nur 386,700 Einwohner hat, worunter 200,000 Nomaden ſind.

Der verhältnißmäßig geringen Bevölkerung Aſtrachans unge— achtet wird man ſelten eine Stadt finden, in welcher eine ſo ge— miſchte Bevölkerung lebt, die das merkantiliſche Intereſſe aus den entfernteſten Enden von Aſien und Europa zuſammengeführt hat. Außer den Ruſſen, die etwa die kleinere Hälfte der Bewohner Aſtrachans ausmachen, den Koſaken und den übrigen hier anſäßi— gen Europäern, finden ſich hier noch Armenier, Tataren, Georgier, Bucharen, Chiwenſen, Truchmenen, Perſer, Hindus, Kirgiſen und Kalmüken; demnach Bekenner der verſchiedenſten Religionen, Chriſten, Mohamedaner, Brahmaiften, und Buddhaiſten. Auch Juden leben hier, doch nicht in großer Zahl, da ſie wegen der vielen Armenier, die nach den Berichten aller Reiſenden ihnen im Charakter gleichen, nicht beſtehen können.

Unſere Reiſenden hatten gleich am Worgen des 13. Oktober Gelegenheit dies bunte Gemiſch von Völkerſchaften kennen zu lernen, indem Abgeordnete der meiſten von ihnen Humboldt ihre Aufwar— tung zu machen kamen, und der Reihe nach von dem General-Gou— verneur vorgeſtellt wurden. Zuerſt erſchien der Bürgermeiſter mit den Aelteſten der Kaufmannſchaſt, die, nach ruſſiſcher Sitte, die Zei— chen der Ehrerbietung, aber ſtatt wie gewöhnlich Brod und Salz, hier einen mit den vortrefflichſten aſtrachaniſchen Früchten, mit Wein⸗ trauben, großen Eierpflaumen, Birnen und Aepfeln geſchmückten Napfkuchen und Salz brachten. Darauf kam der Adel, die Offiziere der Garniſon, und dann die Abgeordneten der Armenier, Perſer, Hindus, Tataren u. ſ. w. Die Armenier ſind unter den aſiatiſchen Bewohnern Aſtrachans die zahlreichſten. Sie tragen eng anſchlie—

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ßende Röcke und darüber Kaſtans mit aufgeſchlitzten Aermeln, weite Beinkleider, enge Stiefeln und hohe Pelzmützen ?). Die Perſer find faſt alle hohe und ſchlanke Figuren mit ſchmalen Geſichtern und ſchwarzen Bärten. Sie ſind mit zwei Kaftans über einander be— kleidet, die vorn offen ſind und mit einem Gürtel zuſammengehalten werden, und von denen der untere von geblümtem Zitz, der obere von einfarbigem Zeuge, gewöhnlich von blauem Tuche iſt; die Aer— mel ſind lang, die des unteren Kaftans eng anſchließend, die oberen aufgeſchlitzt, und am Körper herabhängend; an den Füßen tragen ſie Socken von bunt gemiſchter Wolle mit ledernen Pantoffeln, und auf dem Kopfe hohe Pelzmützen. Die Hindus ſind ebenfalls lange hagere Figuren, an ihren braunen Geſichtern kenntlich, mit langen weißen Kaftans bekleidet und mit weißen Turbans bedeckt; die Ta— taren ſind von den übrigen in Rußland wohnenden Tataren nicht verſchieden. Dies find zugleich die hauptſächlichſten der in Aſtrachan eigentlich anſäßigen Völkerſchaften; denn die Koſaken aus den Dör— fern (Stanitzen) auf der Straße nach Aſtrachan, und die Kalmüken und Kirgiſen der Steppe ſieht man wohl häufig auf den Straßen, ſie kommen aber nur zufällig zur Stadt; und eben ſo die Bucharen, Chiwenſen und Truchmenen.

Nach dieſen Beſuchen fuhren unſre Reiſenden mit Herrn von Oſſipoff durch die Straßen, um die Stadt kennen zu lernen. Sie liegt auf der Nordfeite einer Wolga-Inſel (Dolgoi-Oſtroff, die lange Inſel genannt), und wird weſtwärts von dem Hauptſtrom, nord- und oſtwärts von einem Vebenarme, dem Kutum, der ſich faſt unter rechtem Winkel von der Wolga abzieht, umfloſſen. Ihre Hauptausdehnung iſt demnach auch von Oſt nach Weſt. Man theilt ſie ein in die Feſtung (Kreml), die weiße Stadt (beloi Gorod) und die Vorſtädte oder Sloboden. Die beiden erſtgenannten Theile liegen auf einem hohen Plateau, das nie den Ueberſchwemmungen der Wolga ausgeſetzt iſt, hart an der Wolga und im Süden des Ku— tums, die Vorſtädte niedriger und tiefer im Oſten und Süden der weißen Stadt. Der Kreml und die weiße Stadt waren urſprüng⸗

„) Daß ſich die Armenier gegenwärtig großtentheils deutſch tragen, wurde früher bemerkt.

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lich mit Mauern und Thoren umgeben, die aber jetzt ganz verfal— len ſind, und daher die Stadt von keiner Seite abſperren. Sie enthalten meiſtens ſteinerne Gebäude und gerade, aber ungepflaſterte Straßen und Plätze. In dem Kreml liegen die Kathedralkirche, die Wohnung des griechiſchen Erzbiſchofs, das Dreieinigkeitskloſter und die Kaſernen der Garniſon; er iſt eigentlich nur ein freier Platz im Weſten der weißen Stadt, der mit den genannten Gebäuden umgeben iſt; in der weißen Stadt befinden ſich die vorzüglichſten Kronsgebäude und die Kaufhöfe der verſchiedenen Nationen. Die Sloboden haben faſt nur hölzerne Häuſer, übrigens auch nur gerade Straßen. Die vorzüglichſten derſelben ſind die alte armeniſche Slo— bode, öſtlich von der weißen Stadt, und im Vorden und Oſten von dem Kutum umgeben, und die neue armeniſche und die tatariſche Slobode, im Süden der weißen Stadt und der alten armeniſchen Slobode. Dieſe letzteren Sloboden werden von dem Kreml, der weißen Stadt und der alten armeniſchen Slobode durch einem 1200 Faden langen Kanal getrennt, der von Oſten nach Weſten gehend, die Wolga mit dem Kutum verbindet, und den nördlichen. Theil der Inſel, worauf Aſtrachan liegt, abſchneidet. Er bietet für den Waarentransport große Vortheile dar, war ſchon 1745 ange— legt, fpäter aber ganz verfallen, und wurde im Jahre 1812 von einem reichen Griechen Warwazi auf eigene Koſten wieder herge— ſtellt. Er iſt an beiden Seiten mit Weiden bepflanzt, die aber bei dem ſalzigen Boden von Aſtrachan und den Stürmen des Winters nur kümmerlich zu gedeihen ſcheinen. Nördlich von dem Anfange dieſes Kanals befindet ſich in der Wolga der Hafen.

Zu den hauptſächlichſten Gebäuden von Aſtrachan gehört die große Kathedrale Uspenskoi Sobor. Sie wurde im Jahre 1696 von dem Wetropoliten Samſon auf eigene Koſten erbaut, und iſt wie die meiſten ruſſiſchen Kirchen, ein viereckiges Gebäude, welches fünf mit Kreuzen verſehene Kuppen trägt, in der Witte eine große, und vier kleinere zu den Seiten; die Ausführung iſt aber doch in einem größeren Waßſtabe, als gewöhnlich bei den Kirchen in Rußland. Im Innern iſt ſie reich, doch nicht geſchmackvoll verziert, und wegen der ſtarken Mauer und der mächtigen Pfeiler, welche die Hauptkuppel tragen, bei den verhältnißmäßig kleinen Fenſtern in der Höhe, finſter.

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Sie beſitzt viele Koſtbarkeiten, wie unter andern ein ſehr reich ver— goldetes Warienbild, ein 98 Pfund ſchweres ſilbernes Taufbecken, und viele mit Gold geſtickte und mit Perlen beſetzte, zum Theil ſehr alter— thümliche Weßgewänder und Erzbiſchofsmützen, welche letztere in einem großen Schranke aufbewahrt werden, der ſich in einem Gewölbe über der Sakriſtei befindet. Hier ſieht man auch die Oelbilder des jetzigen Erzbiſchofs, des oben erwähnten Griechen Warwazi und des ruſſiſchen Kaufmanns Sapoſchnikoff, welche letzteren ſich durch anſehnliche Geſchenke Verdienſte um die Kirche erworben haben. Dem Erſteren verdankt man namentlich die Erbauung eines großen ſteinernen Glockenthurms neben der Kathedrale. Außer dieſer be— finden ſich in Aſtrachannoch 19 griechiſche, fo wie auch 4 armeniſche Kirchen, welche letztern unter einem eigenen Biſchof ſtehen, da die Armenier ſowohl in den Glaubensartikeln als auch in dem Ritus von den griechiſchen Katholiken abweichen. Der tatariſchen Wed— ſcheds giebt es 16, von denen die meiſten aus Holz, und nur we— nige von Stein erbaut ſind.

Wir fügen hier noch Einiges über Aſtrachan nach Hommaire de Hell“) hinzu:

Das intereſſanteſte Denkmal Aſtrachans iſt eine kleine, im Fort Peters des Großen verſteckte Kirche, die man Iwan IV. zuſchreibt. Ihre ganz mauriſche Architektur iſt mit Einzelheiten überſäet, welche für den Künſtler unendlich merkwürdig ſind. Leider iſt ſie ſeit langer Zeit verlaſſen, und dient nur noch als Waarenmagazin.

Aſtrachan beſitzt ſeit einigen Jahren an den Mündungen der Wolga, 75 Werſte von feinen Mauern, ein Lazareth. Die Ge— ſchichte der Gründung deſſelben iſt ziemlich merkwürdig. Ehe man die jetzige Stelle wählte, hatte man ſich genöthigt geſehen, zweimal bedeutende Bauten zu verlaſſen wegen der ſchlechten Wahl der Orte. Erſt nach großem Zeit- und Geldverluſt wies ein Ingenieur eine Inſel in günſtiger Lage an, wo das Lazareth endlich errichtet wurde. Einige Jahre ſpäter fand man in den Archiven der Stadt eine hand— ſchriſtliche Vote, welche Peter der Große bei ſeiner Abreiſe aus Aſtrachan zurückgelaſſen hatte, und worin er gerade dieſe Inſel zur

) Les Steppes de la Mer Caspienne.

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Anlegung eines Lazareths bezeichnete. Ein Blick hatte ihm genügt, um die Wichtigkeit einer Lage zu würdigen, die mehrere Ingenieur— commiſſionen erſt nach langem Suchen auffanden.

Das Pflaſter iſt ein in Aſtrachan unbekannter Luxus: ſeine Straßen ſind ſandig, wie der Boden ſeiner Umgebungen; am Tage ſind ſie wegen der Sonnenhitze, die ſich hier concentrirt, faſt ver— laſſen, aber man kann nicht leicht ein belebteres und maleriſcheres Schauſpiel ſehen, als das, welches ſich am Abend darbietet, wenn die ganze Stadt erwacht und ſich aus dem Schlummer aufrüttelt, in welchen ſie eine Hitze von dreißig Grad verſenkt hatte. Dann beeilt ſich Jeder die Friſche des Abends zu genießen, die Thüren füllen ſich mit Neugierigen, die Geſchäfte nehmen ihren Gang, die Maga— zine beleben ſich, und eine zahlreiche Bevölkerung von allen Racen und Sprachen verbreitet ſich raſch auf den Brücken und den mit Bäumen beſetzten Quais, der Kanal bedeckt ſich mit Kaiks, die mit Früchten, namentlich Welonen, beladen ſind, die Droſchken, Kaleſchen und Reiter wetteifern in Zierlichkeit und Schnelligkeit, kurz die ganze Stadt erhält ein feſtliches Anſehen, das den Reiſenden in Er— ſtaunen ſetzt und verlockt. Er findet hier Alles, was er Waleriſches auf ſeinen Reiſen geſehen, alle Eindrücke, die er anderswo nur ein— zeln gefühlt. Neben einer tatariſchen Wohnung dehnt ſich ein gro— ßes, durch die Zeit geſchwärztes Gebäude aus, deſſen Spitzbogen und halb verlöſchte Figuren an's Wittelalter erinnern. Ein euro— päiſches Magazin bietet ſeine Moden einem Karawanſerai gegen— über aus; die prächtige Wetropolitankirche ſchirmt unter ihren Schat— ten eine zierliche Mofchee mit ihrem Brunnen; ein mauriſcher Bal— kon zeigt eine Gruppe junger Europäerinnen, die an Paris mahnen, während ein weißer Schatten von ſchlanken ſtrengen Formen ge— heimnißvoll unter der Gallerie eines alten Palaſtes dahinſchwebt. Alle Contraſte ſind vereinigt, und wenn man von einem Quartier in's andere geht, hat man eine Maſſe Beobachtungen und Erinne— rungen aus allen Zeiten und Gegenden geſammelt. Die Ruſſen dürfen ſtolz ſein auf eine Stadt, die nicht von geſtern iſt, wie alle andern Städte ihres Landes, und wo man nicht von der alten Ein— förmigkeit und ſyſtematiſchen Regelmäßigkeit verfolgt iſt, die man allenthalben im Reiche antrifft.

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Im höchſten Theile der Stadt hat man einen arteſiſchen Brun— nen gebohrt. Man war ſchon auf 130 Wetres Tiefe hinabgekom— men, als noch immer kein Waſſer ſprang; dagegen hatte der Bohrer einem Kohlenwaſſerſtoffgas Ausgang verſchafft, das mehrere Wochen lang brannte und eine große Helle verbreitete.

Aſtrachan zählt jetzt in 146 Straßen 3883 Häuſer, von denen aber nur 288 von Stein ſind.

Das Klima von Aſtrachan iſt trocken und ſehr warm. Wäh— rend mehr als drei Monaten fällt das Thermometer bei Tage ſelten unter 28° R. Dieſe Hitze, die ein ſandiger Boden noch heftiger macht, entnervt Körper und Geiſt, und erklärt die arge Trägheit ſämmtlicher Einwohner zur Genüge. Aber in Folge der Trocken— heit der Luft erhält auch die Atmoſphäre eine Reinheit, welche die Bewunderung eines Walers erwecken würde. Sämmtliche Gegen— ſtände erhalten dadurch eine warme Farbe und eine Durchſichtigkeit würdig des italieniſchen Himmels. Ein bedeutender Nachtheil für die Aſtrachaner und noch mehr für die Fremden iſt die Menge von Schnacken und andern Inſekten, welche zu manchen Zeiten des Jah— res die Luſt erfüllen. Alle Vorſichtsmaßregeln richten dagegen nichts aus; vergebens umgiebt man ſich die ganze Nacht mit Gaze, ver— gebens entſchließt man ſich zu einer tiefen Dunkelheit bei Tage, ihre Angriffe werden um nichts minder grauſam und es bleibt nichts übrig, als ſich ganz unnütz gegen einen unſichtbaren Feind zu ſchlagen.

Nachdem unſre Reiſenden die Straßen durchfahren und eine Vorſtellung von dem Aeußern der Stadt erhalten hatten, fuhren ſie nach einem der größeren Weingärten, außerhalb der Stadt, um den hieſigen Weinbau kennen zu lernen, der einen ſo großen Nah— rungszweig der Stadt ausmacht. Die Reben wurden in dieſem wie in allen übrigen Weingärten nicht an einzelnen Stäben, ſondern an Spalieren gezogen, die reihenweiſe neben einander ſtehen; im Som— mer werden ſie wegen der großen Dürre bewäſſert, und im Win— ter unter die Erde gelegt. Auf das Bewäſſern wendet man vorzüg— lichen Fleiß. Ueberall ſieht man in den Weingärten unſeren Wind— mühlen ähnliche Thürme, die auf einem gewöhnlich ausgemauerten Baſſin ſtehen, aus welchem Eimer, die durch Räder in Bewegung

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geſetzt werden, Waſſer in die Höhe heben und in ein Reſervoir aus— gießen, aus welchem es dann durch hölzerne Röhren in alle Theile des Gartens, wo es nöthig iſt, geleitet, und durch verſchließbare Oeffnungen in die Furchen, in welchen die Reben ſtehen, ausgelaſſen werden kann. Wan zieht in dieſen Weingärten verſchiedene Wein— ſorten, die aber meiſtens alle ſehr große und ſaftige Beeren ha— ben. Am häufigſten iſt eine Art, deren Trauben dickhülſig, aber ſehr ſüß und wohlſchmeckend, und im Anſehen und Geſchmack mit den Walagaiſchen zu vergleichen ſind. Dann zieht man auch häufig den ſogenannten Kiſchmiſch, eine Weinſorte, deren Beeren keinen Kern haben. Die Aſtrachaniſchen Trauben werden größtentheils friſch genoſſen, und werden weit und breit verſendet. So gehen ſie nach dem 2142 Werſt entfernten Petersburg, wo ſie auf den Tafeln der ruſſiſchen Großen nie fehlen, wie auch nach allen andern ruſſi— ſchen Städten, wohin nur irgend Waſſertransport möglich iſt.

Die Aufbewahrung dieſer Trauben, welche den ganzen Winter hindurch in vortrefflichem Zuſtande in Petersburg zu haben ſind, iſt ſehr einfach. Wan ſchneidet die Trauben ab, ehe dieſelben ihre vollkommene Reife erlangt haben, ohne die Beeren nur irgendwie mit den Händen zu berühren, ſondert alle nur im Entfernteſten ſchadhaften ab, legt nun die Trauben, ſo daß dieſelben ſich nicht berühren können, in ungeheure große ſteinerne Töpfe (30 Quartier Inhalts) und füllt die Zwiſchenräume mit Hirſe aus. Eine der Hauptſachen iſt nun, den ebenfalls ſteinernen Deckel des nach oben zu ziemlich eng auslaufenden Topfes ſo luftdicht als möglich auf den Topf zu ſchließen. Dies geſchieht auf chineſiſche Weiſe, indem man die Fuge fo dick als möglich mit Glaſerkitt ausſtreicht und zus letzt noch über dieſe Fuge ein ſtarkes Papier klebt. Sind dieſe Er— forderniſſe gehörig erfüllt, ſo halten ſich die Trauben in den Töp— fen, wie Petersburger Kaufleute verſichern, länger als zwei Jahre.

Weniger bedient man ſich in Aſtrachan der Trauben, um Wein daraus zu keltern, da ſie wegen der ſtarken Bewäſſerung der Reben, wie Pallas meint, zu wäſſrig ſind, und keinen feurigen Wein geben. In der That iſt der einheimiſche Wein, wenigſtens der, den unſre Reiſenden in Aſtrachan zu koſten Gelegenheit hatten, wenig genießbar; am wohlſchmeckendſten fanden ſie von den im ſüdlichen Rußland ge—

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felterten Weinen den, welcher ſüdlich von Aſtrachan zu Kislar am Terek, nicht weit vom kaſpiſchen Meere, gewonnen wird, und der manchen rothen franzöſiſchen Weinen wohl nahe kommt. Auch Obſt wurde in dem von unſern Reiſenden beſuchten Weingarten ge— zogen, namentlich vortreffliche Birnen und Aepfel. Eben ſo fand ſich auch hier noch eine ziemlich große Eiche (Quercus pedunculata), was wegen der allgemeinen Seltenheit der Bäume in dieſer Gegend bemerkenswerth iſt.

Was das Gebiet von Aſtrachan betrifft, jo iſt dies nach Hom- maire de Hell eines der dürrſten. Der Ackerbau iſt hier ganz uns ergiebig, men ſäet hier gewöhnlich nichts als Mais und etwas Gerſte, und alle Lebensmittel kommen auf der Wolga aus dem Gouvernement Saratow. Dies belebt einigermaßen die Schifffahrt dieſes Stromes, denn außer den Cerealien, welche Aſtrachan und die von ihm ab— hängigen Städte verzehren, wird auch noch Guriew von Saratow und den benachbarten Ländern verſorgt, eben ſo die am Terek ſte— hende Armee und ſelbſt die transkaukaſiſchen Länder.

Intereſſant ſind die Kaufhöfe der verſchiedenen in Aſtrachan wohnenden Völkerſchaften, die meiſtens alle in der weißen Stadt liegen. Es befinden ſich hier mehrere ruſſiſche, armeniſche und tata— riſche, ſo wie auch ein perſiſcher und ein indiſcher Kaufhof. Sie beſtehen wie immer aus einem viereckigen Gebäude, das nach außen zu lauter neben einander liegende Läden enthält, und einen innern Hofraum einſchließt, zu welchem man durch ein Thor von außen gelangt. Der Kaufhof der Perſer iſt ein ſteinernes Gebäude, das in einem zweiten Stockwerk Wohnungen enthält, in welchen auch der größte Theil der Perſer, welche ſich in Aſtrachan aufhalten, wohnt, da ſie meiſtens Kaufleute ſind. Erdmann giebt die Zahl derſelben nur auf 500 an, fie ſtammen größtentheils aus den Pro— vinzen Maſenderan und Gilan, den Seidenländern des perſiſchen Reichs, mit deren Erzeugniſſen ſie auch größtentheils handeln. Sie ſind meiſtens unverheirathet, Handelscommis perſiſcher Kaufleute, die ab⸗ und zugehen; nur wenige von ihnen ſind in Aſtrachan fixirt und einige mit tatariſchen Weibern verheirathet, welche dann auch meiſtens in der Stadt wohnen. Sie handeln mit perſiſchen ſeidnen Shawls und Tüchern, auch mit indiſchen Zeugen, perſiſchen trocke—

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nen Früchten u. ſ. w., ſtehen ſonſt aber den ganzen Tag müßig ſchwatzend vor ihren Läden. Sie haben in Aſtrachan keinen Med: ſched, und beſuchen auch nur ſelten die zahlreichen Wedſcheds der Tataren, da ſie zu einer andern Sekte der Muhamedaner gehören. Hanſteen bekam Erlaubniß, ein Bethaus in der Wohnung eines perſiſchen Kaufmanns zu beſuchen. In einer großen Stube ſtand an der einen Wand ein Schrank mit mehreren Fächern, in welchem verſchiedene Götterbilder von Bronce oder Kupfer aufgeſtellt waren, die Glasthüren deſſelben waren offen und auf einer hervorſpringen— den Klappe unter denfelben ſah man metallene Gefäße mit brennen— dem Spiritus, woraus große Flammen aufſtiegen. Vor dieſen ſtan— den die Perſer, laſen ihre Gebete ab und ſuhren unaufhörlich mit den Händen durch die Flamme, gleichſam um ſie zu reinigen und zu heiligen. Nach dem Ceremoniel wurde Hanſteen erlaubt, an den heiligen Schrank heran zu treten und die Götzenbilder zu beſchauen, aber verboten, ſie anzurühren.

Hommaire de Hell bemerkt: Die Perſer verlaſſen wie die Indianer allmälig Aſtrachan. Das Prohibitivſyſtem Rußlands hat alle ihre Handelshülfsquellen zerſtört, und jetzt ſind nur noch einige Hunderte da, die blos vom Elend in ihrem Adoptiv-Vaterlande zu— rückgehalten werden, wo ſie einen kleinen Detailhandel treiben. Ich habe die ungeheuren perſiſchen Chane in Aſtrachan durchwandert, und vergebens die reichen und glänzenden Stoffe geſucht, wodurch ſie ehemals ſo berühmt waren. Die Magazine ſind leer, und nur mit Mühe kann der Reiſende noch Kaſchmirſhawls, ſeidenweiche Terma— lams und einige andere von den Erzeugniſſen Aſiens finden, welche unſere Neugierde ſo lebhaft reizen und einſt für die Stadt eine Quelle des Reichthums wurden.

Sehr bezeichnend für den perſiſchen Charakter iſt, was uns Hanſteen von ſeiner Bekanntſchaft mit Wirza Abdulla Veziroff erzählt. <

Dieſer Mann, welchen Hanſteen bei dem engliſchen Miffionair Glen in Aſtrachan kennen lernte, war Vezier bei dem perſiſchen Schach geweſen, und da eine Verſchwörung, welche er zur Enthro— nung des Schachs angeſtiftet hatte, entdeckt wurde, ſah er ſich genö— thigt, nach Aſtrachan zu flüchten. Um das Andenken an ſeine frühere

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hohe Stellung ſich lebhafter zu erhalten, hatte er den Beinamen Veziroff angenommen. In Aſtrachan iſt ein Gymnaſium, wo Un— terricht in den orientaliſchen Sprachen, welche von den angrenzen— den Nationen geſprochen werden, ſo wie in andern Wiſſenſchaften ertheilt wird; an dieſem wurde Veziroff als Lehrer der perſiſchen Sprache angeſtellt, und half außerdem Glen die Bibel in's Perſiſche überſetzen. Er war ein großer Mann von echt perſiſcher Race, mit ſcharfen Geſichtszügen, glänzenden dunklen Augen und einem leichten Gange. Auf der Straße ging er in leichten Holzpantoffeln mit ziemlich hohen lakirten Abſätzen, und einem grünen mit Figuren verzierten Oberleder. Wenn er an die Stubenthür kam, ſtreiſte er dieſelben von den Füßen, die mit einer Art Strümpfe oder Sok— ken von dünnem, weichen, hellgrünen Leder bekleidet waren. Stan— den dieſe Pantoffeln auf dem Gange vor der Thür, ſo war Han— ſteen gewiß, Wirza Abdulla darin zu finden. Ich bat ihn einmal, erzählt Hanſteen, ſeinen Namen mit perſiſchen Buchſtaben auf ein Stück Papier zu ſchreiben, und mir daſſelbe zur Erinnerung an den erſten Perſer, deſſen Bekanntſchaft ich auf meiner Reiſe gemacht hätte, zu verehren. Zur Erwiederung erbat er ſich meinen Namen und ich gab ihm der Bequemlichkeit wegen eine gedruckte Viſiten— karte, auf der folgende Worte ſtanden: „Chr. Hansteen, professeur de mathematique appliquee et d' astronomie à P'universitéè de Christiania.“ Nach einigen Tagen brachte er mir zwei vollgeſchrie— bene Quartblätter, von welchen das eine Blatt eine mit perſiſcher Phantaſie gedichtete und mit orientaliſchen Blumen und Schleifen überladene Umſchreibung der obigen Worte auf der Viſitenkarte, das andere eine eben ſo übertriebene und ſchwülſtige Anrede enthielt, welche er Alexander von Humboldt, welcher vier Wochen vorher einige Tage in Aſtrachan verweilt, vorgeleſen und überreicht hatte. Dieſe Blättchen enthielten, nach der engliſchen Ueberſetzung des Wiſ— ſionairs Glen, wörtlich Folgendes:

I. (An Hanſteen). „Der geringſte unter den Dienern, Mirza Abdulla Veziroff,

welcher ſeinen Platz hat unter den Lehrern am Gymnaſium in Aſtrachan, hat auf Verlangen eines der erhabenſten wiſſenſchaftlichen

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Charaktere der Welt, welcher damit beſchäftigt ift, die Stunden der Nacht und des Tages genau zu beobachten und Zeit und Ort des Aufganges der wandelnden Sterne zu beſtimmen, eines der er— ſten Aſtronomen unſeres Zeitalters und eines Lehrers der mathe— matiſchen Wiſſenſchaften, ausgezeichnet durch Gelehrſamkeit und Ver— ſtand, nämlich Chriſtopher Hanſteen, der ſeine Stelle hat unter den Gelehrten an der Univerſität in der herzenöffnenden Stadt Chriſtia— nia im Königreiche Schweden, und der in der Eigenſchaft eines Reiſenden nach Aſtrachan gekommen iſt, für ihn dieſes Gedenk— blatt am 15. des Monats Februar im Jahre 1830 der chriſtlichen Aera niedergeſchrieben.“ II. (An Humboldt).

„Ehrwürdiger Herr, von welchem, wie aus einer Quelle, die edelſten Tugenden und Vollkommenheiten fließen, und bei welchem, wie in einer Schatzkammer, die köſtlichſten Perlen der Weisheit und Erkenntniß niedergelegt ſind, ſeien Sie verſichert, daß, wenn es auch nicht in Ihres demüthigen Dieners Wacht ſteht, durch Worte die Freude und Wonne auszudrücken, die unſere Herzen beim Auf— gange von Ew. Excellenz welterleuchtender Sonne über Aſtrachans Horizont erfüllte, indem ſie Alles in ſich begreift, was liebenswür— dig und gut iſt: ſo wird doch die Erinnerung des Glücks, in deſſen Beſitz uns unſer günſtiges Geſchick heut geſetzt hat, da wir, als Stäubchen im Sonnenſtrahl, uns in der ſchimmernden Nähe eines der gelehrteſten Männer der Welt, des Plato unſerer Zeit, zeigten, und ſo unter unſeres Gleichen durch die Ehre und das Ver— gnügen von Ew. Excellenz freudeverbreitendem Angeſicht ausgezeichnet wurden, dieſe Erinnerung ehrwürdiger Herr, wird niemals von der Tafel der Herzkammer Ihres demüthigen Dieners ausgelöſcht oder abgewiſcht werden.“

Mirza Abdulla zeigte Hanſteen das Concept zu dieſen Denk— blättern, auf welchem die Linien Kreisbogen von bedeutender Krüm— mung bildeten. Der Grund liegt darin: da die Morgenländer auf Divans ſitzen und unſere Stühle und Tiſch nicht kennen, ſo legen ſie während des Schreibens das Papier auf das rechte Knie, und indem die Hand während des Schreibens auf dem Papier von rechts nach links fortrückt, wird das Papier in entgegengeſetzter

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Richtung gedreht, damit der Punkt, auf welchem ſich die Feder be— wegt, ſtets mitten auf dem Knie bleiben kann. In der Reinſchrift waren dagegen die Worte in wagerechter gerader Linie gehalten. Sowohl dieſe mechaniſche Schwierigkeit, als auch insbeſondere die Qual, welcher die Phantaſie unterworfen werden mußte, um alle dieſe Blumen und Schleifen zu erſinnen, mag wohl die Urſache ge— weſen ſein, daß das Werk mehrere Tage zu ſeiner Vollendung er—

forderte.

Nicht weit von dem perſiſchen Kaufhof befindet ſich der indiſche, der nur aus Holz gebaut iſt. Die Zahl der in Aſtrachan lebenden Hindus iſt nicht groß, Erdman gab ſie ſeiner Zeit nur auf 70, Goebel auf 17 an. Sie ſtammen aus der Landſchaft Multan am Indus, und machen theils Handelsgeſchäfte, theils leihen ſie Geld zu hohen Zinſen, zu 12—36 pC., aus, und werden dadurch reich, weil ſie ein ſehr mäßiges Leben führen. Sie ſind ebenfalls unver— heirathet, ergänzen ſich daher durch junge Leute von ihren Verwand— ten und Freunden, welche ſie von Zeit zu Zeit als Gehülfen und Theilnehmer ihres Handels nachkomnten lajjen*). Sie werden ſonſt als ſehr gutmüthig und ehrlich gerühmt, wie ſie auch ein ſolches Aeußere haben, und zeichnen ſich dadurch vortheilhaft vor den Ar— meniern aus, deren Charakterloſigkeit ſchon Gmelin mit lebhaften

*) Dagegen bemerkt Hommaire de Hell aus neuerer Zeit: Was die ehemals in großer Anzahl ſich hier aufhaltenden Indier betrifft, ſo haben ſie dem Handel, der ſie herführte, lange entſagt und ſind nur noch durch einige von unabſehbaren Proceſſen aufgehaltene Prieſter repräſentirt. Aber aus ihren alten Verbindungen mit den kalmükiſchen Frauen ſind einige hun⸗ dert Meſtizen hervorgegangen, die man ſehr uneigentlich Tataren nennt. Die Vermiſchung dieſer beiden weſentlich aſiatiſchen Racen hat einen dem euro» päiſchen ſehr naheſtehenden Typus hervorgerufen, der weder die ſchiefen Augen der Kalmüken noch die Broncefarbe der Hindus hat, auch liegt in ihrem Charakter und ihren Gewohnheiten nichts, was an ihren doppelten Urſprung erinnert. Mitten unter den apathiſchen, nachläſſigen Bevölkerungen, unter denen die Meſtizen leben, zeigen ſie in allem ihrem Thun und Treiben die Thätigkeit und Entſchloſſenheit eines nordiſchen Stammes. Laſtträger, Kar⸗ renführer und Matroſen zugleich, ſcheuen ſie keine Arbeit, wie mühſam ſie auch ſein mag. Ein weißer breitrandiger, zugeſpitzter Filzhut, hoher Wuchs und eine kecke muntere Phyſiognomie geben ihnen viel Aehnlichkeit mit den ſpaniſchen Maulthiertreibern.

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Farben ſchildert. Sie wohnen ebenfalls in ihrem Kaufhofe, und halten dort auch ihre gottes dienſtlichen Uebungen. Unſere Reiſen— den wünſchten einen ſolchen Gottesdienſt kennen zu lernen, und wurden deßhalb von dem Gouverneur eines Nachmittags um 5 Uhr zu den Hindus geführt, denn fie beginnen ihre Uebungen jeded- mal mit Sonnenuntergang.

Der Ort, an welchem die Indier den Gottesdienſt hielten, war ein niedriges, mäßig großes Zimmer mit 2 Fenſtern, denen gegen— über man eintrat. Es hatte, einen kleinen Raum an dem Eingange ausgenommen, einen erhöhten Fußboden, der mit Teppichen belegt war, und zu welchem ein Paar Stufen führten. In der Ecke rechts am Fenſter ſtand ein mit Seidenzeugen behängter Tiſch, und auf demſelben die Pagode, ein etwa 14 Fuß langer und breiter Unter— ſatz, mit einem terraſſenförmigen Thron und einem von vier kleinen hölzernen, roth angeſtrichenen Säulen getragenen Baldachin. Auf und neben dem Throne ſtanden ihre Götter aufgeſtellt, unförmliche menſchliche Figuren, welche von 6—12 Zollen Höhe und aus Kup— fer gegoſſen und vergoldet, zum Theil mit blauen und rothen Män— telchen behängt waren, und wie Kinderpuppen ausfahen*). Vor dieſem hatte der Seligran feinen Platz, ein ſchwarzer unförmlicher Stein von etwa 2 Zoll Höhe und 4 Zoll Länge, der den verförs perten Wiſchnu vorſtellt, und jedesmal beim Anfang des Gottesdien— ſtes bemalt wird. Friſche Blumen ſchmückten den übrigen Theil des Tiſches. In dem Fenſter ſtand noch eine große Talglampe mit 2 Dochten, welche ſtets brennend erhalten wird.

Mit dem Bemalen des Seligrans fanden die Reiſenden, als ſie hereintraten, den Braminen beſchäftigt. Er hatte das Geſicht gegen die Pagode gekehrt, und ſuhr in ſeinem Geſchäft fort, ohne ſich von den Eintretenden ſtören zu laſſen; hinter ihm ſtand ein zweiter Prieſter mit ebenfalls nach der Pagode gekehrtem Geſicht und ihm rechts zur Seite mit dem Geſicht nach dem Fenſter gewandt ein dritter; der zweite hatte in jeder Hand ein Becken, der dritte hielt mit der Rechten eine Schnur, durch welche er ein Paar Glocken,

*) Pallas hat in feiner Reife in die ſüdlichen Statthalterſchaften des ruſſ. Reichs Th. 1. S. 225 ff. alle dieſe Götter ausführlich beſchrieben. IV. 11

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die an der oberen Wand hingen, läuten konnte. Um dieſe Prie— ſter herum in einiger Entfernung ſtanden mit abgelegten Pantoffeln die übrigen Hindus, etwa 30 an der Zahl, und hier hatten auch unſre Reiſenden ſich hingeſtellt. Nachdem der erſte Bramin ſein Geſchäft beendet hatte, legte er den Seligran vor ſich hin, füllte eine Schnecke aus einer zur Rechten ſtehenden Schale mit Waſſer, ergriff darauf mit der Linken eine Klingel und klingelte, während er mit der Rechten die Schnecke in Kreiſen um die Figuren der Götter bewegte, und von Zeit zu Zeit immer wieder etwas Waſſer in die Schale zurückgoß, bis die Schale leer war. Darauf erhob er mit dem hinter und neben ihm ſtehenden Prieſter einen mono— tonen Geſang, wobei er immerwährend klingelte, der zweite Prieſter die Becken an einander ſchlug, und der dritte Prieſter die Glocken durch die Schnur taktmäßig läutete, was alles in dem kleinen Zim⸗ mer einen ziemlichen Lärm hervorbrachte. Dieſer monotone Geſang währte eine geraume Weile fort; nachdem er beendet war, nahm der erſte Prieſter etwas Brod, welches er aß, ſchöpfte dann mit einem ziemlich großen Löffel Waſſer aus der Schale, koſtete davon, und reichte ihn ſodann zum Koſten ſowohl den beiden andern Prie— ſtern, als auch den übrigen Hindus. Darauf ergriff er einen Leuch— ter mit 5 kleinen Wachslichtern, zündete dieſelben an der Lampe an, und hielt die brennenden Lichter einem jeden der Hindus hin, die andächtig ihre beiden Hände eine Zeitlang darüber hielten, und dann mit den erwärmten Händen die Augen berührten. Hiermit endete die Ceremonie, die eine gewiſſe Aehnlichkeit mit den Ceremonien der chriſtlichen Kirche nicht verkennen ließ. Nach beendigtem Gottes: dienſte zerſtreute ſich ein Theil der Hindus, unſre Reiſenden aber wurden noch in demſelben Zimmer von dem Braminen mit Wein- trauben, Obſt, getrockneten Datteln, Aprikoſen, Piſtazien, Roſinen, Zuckerkant und anderem Zuckerwerk bewirthet, Aufmerkſamkeiten, welche ſie nicht zurückweiſen durften.

Es wird von Intereſſe fein, hiermit die Schilderung zu verglei⸗ chen, welche Hommaire de Hell entwirft“). „Man führte uns,“ er⸗

*) Auch Goebel giebt eine ausführliche Beſchreibung des indiſchen Got- tesdienſtes.

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zählt dieſer Reiſende, „gleich nach unſerer Ankunft zu Aſtrachan, in das Haus eines indiſchen Braminen, wo wir einem Abendgebete bei— wohnen ſollten. Wir wurden von dem Oberhaupt auf die höflichſte und zuvorkommendſte Weiſe aufgenommen. Das Zimmer, in welches man uns führte, lag gegen Abend und hatte ſtatt aller Möbeln nur große Divans nach türkiſcher Sitte; das Einzige, was unſere Aufmerk— ſamkeit auf ſich zog, war eine kleine in der Mauer angebrachte Kapelle, bei der ſchon zwei Prieſter ſtanden. Der eine derſelben hielt ſeine Augen ſtets gegen Weſten gerichtet und folgte mit Andacht der am Horizont hinabſteigenden Sonnenſcheibe. Dieſe Braminen waren in lange braune Gewänder gekleidet, über welche der Quere nach eine weiße Schärpe herabhing, deren beide Enden auf dem Boden ſchlepp⸗ ten. Ein Turban von weißem Wuſſelin in weiten Falten umſchloß das bronzefarbene Geſicht mit antikem Profil. Das Oberhaupt, min⸗ der andächtig als die andern, lächelte uns fortwährend zu, indem er ſeinen ungeheuren perſiſchen Fächer vor uns ſchwenkte, deſſen Bewegungen uns in einen wahren Luftſtrom einhüllten. Indeß ſenkte ſich die Sonne raſch, und ihr völliges Verſchwinden ward angekündigt durch den ſcharfen Ton einer Seemuſchel. Alsbald zün⸗ dete der Prieſter mehrere Kerzen an, die er vor ein Bild der Ka— pelle ſtellte. Ein anderer war beſchäftigt mit dem Auswaſchen bi— zarr geſtalteter Gefäße, füllte ſie mit Reinigungswaſſer, und warf ſich mit vieler Andacht davor nieder. Ein großer grauer, in der Wand eingefügter Stein ſchien der Hauptgegenſtand ſeiner Anbe— tungen. Nach der Erklärung des Oberprieſters hatte ſich die Seele eines berühmten Heiligen, müde der Welt und der Wenſchen, uns ter dieſe myſtiſche Hülle geflüchtet; darum iſt dieſer Stein in den Augen der Hindus ein heiliger Gegenſtand, deſſen bloßer Anblick ihrer Angabe nach Wunder wirken kann. Das Oberhaupt ver⸗ brannte, nachdem er eine Zeit lang im Stillen angebetet hatte, einige wohlriechende Stoffe, und der Rauch füllte alsbald das Zimmer mit einer Art Wolke, durch welche hindurch alle Gegenſtände eine unbeſtimmtere und geheimnißvollere Form annahmen. Der durch⸗ dringende Geruch, verbunden mit der Hitze und der Seltſamkeit der Scene, die wir vor Augen hatten, wirkte auf uns ſo lebhaft, daß wir bald das Wahre vom Phantaſtiſchen nicht mehr unterſcheiden 11*

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konnten. Uebrigens paßte unſer halb ekſtatiſcher Zuſtand wunder⸗ bar zu der moraliſchen Stimmung der Braminen. Ihr religiöfer Enthuſiasmus begnügte ſich bald nicht mehr mit eitlen Niederwer— fungen: bisher war alles in tiefem Schweigen vor ſich gegangen, auf ein gegebenes Zeichen aber knieten zwei Prieſter vor dem heili— gen Stein nieder und ſprachen in langſamen Gutturaltönen ein Gebet. Ein anderer blieb, die Hände über die Bruſt gekreuzt, einige Schritte vor der Kapelle ſtehen und ſetzte von Zeit zu Zeit eine Pfeife an den Mund, aus der er durchdringende Töne hervorlockte. Der letzte, mit der Seemuſchel ausgerüſtet, ſteigt auf einen der Di— vans und vereint ſeine Stimme mit der ſeiner Gefährten, die ſich fortwährend mehr belebt und immer deutlicher wird. Die Augen werden glänzend, die Glieder ſtarr, die Muſchel ertönt, die Glocke wird von dem Oberhaupt heftig angezogen, und nun beginnt ein fo ſeltſames, fo hölliſches Charivari, eine fo burleske und fo wilde Scene, daß man alle dieſe Braminen für vom böſen Geiſt beſeſſen hätte halten ſollen. Ihre Stellungen und ihre raſenden Geberden erinnerten mehr an einen Exorcismus als an ein Gebet. Unſere Em— pfindungen waren unbeſchreiblich: es war eine Wiſchung von Stau— nen, Neugier, Ekel und Schrecken. Hätte die Erſchöpfung nicht die Theilhaber dieſes Hexenſabbaths nach zehn Minuten genöthigt aufzuhören, ich zweifle, ob wir das Schauſpiel länger ausgehalten hätten. Ich habe zu Konſtantinopel die drehenden und heulenden Derwiſche geſehen, es iſt etwas Bizarres und Schreckliches, was ſich nur mit den Veitstänzen des Mittelalters vergleichen läßt. Die religiöſe Muſik der Kalmüken ſteht mit dieſen Verwirrungen des menſchlichen Geiſtes im Einklang, aber dieſer indiſche Cultus ſcheint mit Allem, was die andern Religionen Ausſchweifendes haben, an Wahnſinn wetteifern zu wollen.

Als das abſcheuliche Concert zu Ende war, nahm das Ober— haupt eine Handvoll gelber Blumen, ähnlichn den Ringelblumen, tauchte ſie in Gangeswaſſer, und bot jedem von uns davon an; dann knetete er zwiſchen den Fingern ein Stück Teig, dem er eine ſymboliſche Geſtalt gab, ſteckte ſieben kleine angezündete Kerzen hinein, ſchwenkte es nach allen Richtungen vor der Kapelle, und machte dann gegen uns gewendet dieſelbe Ceremonie. Endlich nahm er

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eine kleine weiße Muſchel, die bisher auf dem heiligen Stein lag, füllte ſie mit heiligem Gangeswaſſer und befprengte uns damit. Während dieſer Zeit richteten ſeine Gefährten auf einem Tiſch eine kleine Erfriſchung aus Früchten und Backwerk her, die uns dann das Oberhaupt mit ausgezeichneter Höflichkeit anbot. So en⸗ dete ein Schauſpiel, das eben ſo ſchwer zu beſchreiben als zu ver— geſſen iſt.“

Wir kehren zu unſeren Reiſenden zurück. Auf dem innern Hofe des Kaufhofes ſtanden noch andere hölzerne Gebäude; auch war hier ein kleiner Garten angelegt, in welchem Blumen zur Aus— ſchmückung des Tempels gezogen wurden. Reben den hölzernen Ge: bäuden war aber ein Verſchlag angebracht, auf welchem auf einem durchlöcherten Fußboden ein Fakir ſaß, ganz zuſammengekauert, das Kinn auf die Knie geſtützt, zwiſchen denen der lange weiße Bart bis zu dem Boden hinunter reichte. Er war ganz nackend, und nur mit einem Schaffelle loſe bedeckt, ſaß aber, wie erzählt wurde, nun ſchon 15 Jahre auf derſelben Stelle, ohne ſich von ihr fortbewegt zu haben. Wie er dies, bemerkt Prof. Roſe, bei der ſtrengen Winterkälte Aſtra— chans aushält, die in Folge der öſtlichen Lage der Stadt, und ihrer ſüdlichen, mit der von Venedig übereinſtimmenden Breite ungeachtet, doch fo groß iſt, daß die breite Wolga ſich Monate lang mit Eis be- deckt, iſt freilich zu bewundern. Er war ſchon alt und blind, und ſollte zolllange Nägel haben. Er wurde von den übrigen Hindus unterhalten, die ihm von Zeit zu Zeit Eſſen reichten; Geld nahm er nicht, wohl aber ſollte er gern Tabak ſchnupfen.

In ähnlicher Weiſe lebte ein anderer Fakir, deſſen Hanſteen erwähnt. Wan erzählte uns, ſagte Hanſteen, daß in einem offenen Schuppen auf dem Warkte ſeit vielen Jahren ein folder indiſcher Fakir läge, und wir bekamen Luſt, ihn zu ſehen. Wir nahmen einen Arbeitsmann an, um uns zu ihm zu führen, und als er uns die Thür öffnete, welche unverſchloſſen war, ſahen wir nichts Anz deres, als ein ſchmutziges Fell, welches flach auf der Erde lag: Unſer Begleiter gab darauf einen Laut von ſich, vermuthlich den Namen des Hindu, und wir ſahen zu unſerm Erſtaunen, wie das Fell ſich hob und unter ihm eine menſchliche Geſtalt ſich zeigte, welche allmälig eine ſitzende Stellung annahm, mit ausgeſtreckten

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Armen das Fell in die Höhe hob und uns mit einem wilden Blicke aus einem Paar von unterlaufenem Blute gerötheten Augen an— ſtierte. Seine Hautfarbe war beinahe kaffeebraun, theils von Schmutz, theils in Folge des Hindu'ſchen Racenunterſchieds. Man hatte uns geſagt, daß der größte und einzige Genuß, den man ihm bereiten könnte, wäre, ihm Schnupftabak zu geben. Wir überreichten ihm daher eine Düte mit Schnupftabak, und dieſe ergriff er mit großer Begierde, und ſtopfte ſich eine tüchtige Priſe in die Nafe. Darauf legte er ſich wiederum nieder, den Kopf zwiſchen den Beinen, und verbarg ſich unter dem Fell. Die ſtarke Biegung des Rückgrates hätte ihm kaum ein Equilibrift nachmachen können; fie muß weit peinlicher ſein, als das Krummſchließen, welches früher als mili— tairiſche Strafe gebraucht wurde, zumal da er dieſe Stellung eine lange Reihe von Jahren ausgehalten hatte; und es wunderte mich nur, daß er noch Kraft genug in den Rückenmuskeln hatte, um ſich aufzurichten. Um nicht unter dem Felle zu erſticken, hatte er ein kleines Loch in daſſelbe gemacht, gerade über der Stelle, wo der Kopf lag, etwa ſo groß, daß er ein Paar Finger hindurchſtecken konnte. Zu der Zeit, da wir uns in Aſtrachan aufhielten, war die Kälte mehr als 20 Grad, und der Schuppen war aus ſchlecht ſchlie— ßenden Brettern zuſammengeſchlagen, und der äußeren Luft durch— aus zugänglich. Wan hätte es höchſtens für einen paſſenden Zu⸗ fluchtsort eines wilden Thieres anſehen können. Die Einwohner ſetzten ihm täglich einen Krug Waſſer in den Schuppen und war⸗ fen ihm einige Stücke Brot zu, und einmal im Jahre gab man ihm einen Schafpelz, deſſen Wolle er nach innen kehrte. Wir fragten unſeren Begleiter, wie lange er in dieſer Stellung zugebracht hätte, und er antwortete: „Er kam vor 12 Jahren hierher, und in der ganzen Zeit iſt er verrückt (Durak) geweſen.“ Er hielt alſo, und wohl nicht mit Unrecht, dieſes Streben nach Heiligkeit für eine Ver— rücktheit. Wie viel Gutes hätte nicht ein ſo unerſchütterlicher Wille ausrichten können, wenn er auf ein vernünftigeres Ziel hingelenkt worden wäre!

Die Armenier machen, wie ſchon angeführt, nächſt den Ruſſen den anſehnlichſten Theil der Bevölkerung von Aſtrachan aus. Sie ſind meiſtentheils Kaufleute, da ihr Adel von der ruſſiſchen Regie—

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rung nicht anerkannt ift, doch können fie den ruſſiſchen Adel ſich durch Staatsdienſte erwerben. Es finden ſich unter ihnen ſehr reiche Perſonen. So lernten unſere Reiſenden einen Armenier Simon Jer— jewitſch Iwanoff näher kennen, der in feinem prächtig eingerichteten Hauſe Humboldt ein ſehr luxuriöſes Diner gab, und ihm zu Ehren am Abend einen brillanten Ball veranſtaltete. Es war intereſſant, auf demſelben die verſchiedenſten Nationen im lauten Gewirre ſich durch einander bewegen zu ſehen, und neben dem Europäer, der ſich überall gleich iſt, den Turban der Armenier, die langen Figuren der Perſer in ihren blauen Kaftans mit aufgeſchlitzten Aermeln, und die braunen Geſichter der Hindus mit in der Witte geſchornen Köp- fen, zu ſehen. Eben ſo kontraſtirten die franzöſiſchen Moden der ruſſiſchen Damen mit der Vationaltracht der Armenierinnen, die für unſre Reiſenden beſonders intereſſant war, da die Armenierinnen, wenn ſie auf der Straße erſcheinen, von Kopf bis zu den Füßen in große weiße Schleier gehüllt ſind, und nur einen Theil ihres Geſichts blicken laſſen. Sie trugen auf dem Scheitel ein weißes Käppchen, um Stirn und Hinterkopf eine ſchwarze Binde, von der über den Nak— ken und Rücken ein weißes ſeidenes Tuch mit einer Ecke nach un= ten herabfiel, ferner ſchwere ſeidene Kleider, meiſt von dunkler Farbe, und um den Hals dicke goldene Ketten, an welchen eine oder meh— rere goldene Wedaillen hingen. Die Mädchen unterſcheiden ſich von den Frauen dadurch, daß bei den erſteren ihr ſchwarzes Haar in Flechten unter dem Tuche herabhängt, während es bei den letzteren auf dem Kopfe zuſammengeflochten iſt. Eben ſo eigenthümlich wie ihre Tracht ſind auch ihre Tänze, die ſtets nur von einem Paare aufgefübrt werden, und in nichts anderem beſtehen, als daß ſich Herr und Dame mit halb erhobenen Händen abwechſelnd trippelnd nähern und wieder von einander entfernen. So einfach dieſer Tanz iſt, ſo wurde er doch von den Armenierinnen, von denen mehrere bei ihren feurigen ſchwarzeu Augen ein ſehr feines Geſicht hatten, mit vieler Grazie ausgeführt, ſo daß man ihn recht gern ſah. Außer dieſen Tänzen wurden nun die gewöhnlichen Polonaiſen, Ecoſſaiſen, Walzer und Contretänze wie in Berlin aufgeführt. Viele der vor⸗ nehmen Armenier trugen indeſſen nicht ihre Nationaltracht, ſondern hatten europäiſche Kleider angelegt.

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Was endlich die Tataren anbetrifft, fo find fie die Abkömm— linge der ehemaligen Bewohner der Stadt und des Landes, und auch jetzt noch zahlreich. Sie ſind den Tataren von Kaſan ähnlich, und auch in Aſtrachan, wie dort, die eigentlichen Fabrikanten, be— fonders Färber, Gerber und Seifenſieder. Die aſtrachaniſche Krapp— färberei iſt berühmt; Prof. Roſe beſah dieſelbe nicht bei einem Ta— taren, ſondern bei einem Armenier, Sacharoff mit Namen, zu wel— chem ihn Herr Stranak hinführte. Der Armenier zeigte ihm mit vieler Freudlichkeit das ganze Verfahren, und beſchrieb ihm daſ— ſelbe ganz ſo, wie es Pallas bereits in ſeiner Reiſe in Südruß— land (Th. 1. S. 203 ff.) ausführlich dargeſtellt hat. Er klagte ſehr über ſchlechte Zeiten, indem er jetzt nur 200 bis 250 Pud baum— wollenes Garn färbe, ſonſt aber 2000 Pud gefärbt habe. Den Krapp bezieht er dazu aus Derbend, und das gefärbte Garn führt er größtentheils nach Niſchni-Nowgorod zur Weſſe. Er führte Roſe darauf noch zu einem anderem Färber, der in Seide mit Indigo und Scharte blau, grün und gelb färbte, und zum Gelbfärben die Scharte aus Saratow bezog, wo ſie gebaut wird.

Wir ſchließen hier noch Folgendes über den Handel von Aſtra— chan in alter und neuer Zeit nach Hommaire de Hell an:

Unter allen Städten des öſtlichen Europa giebt es vielleicht keine, die in den Handelsverhältniſſen zwiſchen Europa und Aſien eine glänzendere Rolle geſpielt hat als Aſtrachan. Am untern Ende des größten ſchiffbaren Stroms in Europa gelegen, ſteht dieſe Stadt durch das kaſpiſche Weer mit Turkomanien und den nördlichen Ge— genden Perſiens, auf der andern Seite durch den Don und die Wolga mit dem Wittelpunkt des moskowitiſchen Reichs und dem ganzen Littoral des ſchwarzen Meeres in Verbindung. Bei ſolchen Quellen des Reichthums mußte Aſtrachan natürlich einer der Haupt— ſammelplätze der indiſchen Waaren während des Wittelalters wer— den, als die Fahrt um's Cap noch unbekannt und die europäiſchen Seefahrer noch nicht im perſiſchen Golf erſchienen waren. Gegen die Witte des 13 ten Jahrhunderts nach der Gründung des Reichs Kaptſchak und des Staats der kleinen Tatarei entwickelte ſich auf dem kaſpiſchen Weere der indiſchen Handel, dem ſchon die Petſche— neger, die Vorgänger der Tataren in Taurien, nicht ganz fremd

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geweſen zu fein ſcheinen. Aſtrachan auf der einen und Soldaia am ſchwarzen Weer auf der andern Seite wurden die beiden gro— ßen Seeplätze der Tataren, und vermittelſt der Karawanen, die am Kuban und längs der Wolga zogen, tauſchten dieſe beiden Häfen gegenſeitig die Waaren Europas und Aſien Von Soldaia gingen die indiſchen Erzeugniſſe nach Konſtantinopel, wo man ſie entweder in den Provinzen dieſes Reichs oder an die fremden Han— delsleute, welche nach dieſer Hauptſtadt kamen, verkaufte. Später, gegen 1280, als die Genueſer das Littoral von Taurien in Beſitz nahmen, verlor Soldaia ſeine Handelsbedeutung, und die prächtige Colonie Kaffa wurde der Mittelpunkt des ganzen aſiatiſchen Han⸗ dels. Die Handelsverhältniſſe mit Indien gewannen um die Zeit eine neue Thätigkeit, beſonders als nach Auflöſung des Reichs Kap— tſchak unter Hadſchi Dewlet Girei die Genueſer Weiſter in Tana am Don wurden. Der ganze Handel mit Gewürzen und Wohlge— rüchen, mit Droguen, Seide und andern in Europa geſuchten Er— zeugniſſen des Orients lag bald in den Händen dieſer unerſchrocke— nen italieniſchen Kaufleute, deren Verbindungen ſich über's kaſpiſche Weer, den perſiſchen Golf und mittelſt der Karawanen bis nach In— dien ausdehnten.

Bald brach aber ein neuer Sturm los, furchtbarer als bisher irgend einer den Boden des Orients erſchüttert hatte. Im Jahr 1453 nahm Mohammed II. Konſtantinopel, und 20 Jahr ſpäter fielen ſämmliche Colonien der Republik Genua nach einander in die Hände der Ottomanen. Vergebens ſuchten die Venetianer den Handel des ſchwarzen Meeres und des Orients an ſich zu ziehen, ihre Bemühungen blieben fruchtlos, und das Verbot der Durchſchif— fung der Dardanellen wurde definitiv ausgeſprochen. Die alten Verbindungen zwiſchen Europa und Aſien wurden ſo unterbrochen, und während mehrerer Jahre floſſen die reichen Waaren des Orients nicht mehr nach Europa; da ſie aber ſehr geſucht waren, und man ſie ſehr theuer bezahlte, ſo fanden die Kaufleute endlich einen andern Weg und Smyrna wurde das Entrepot. Die Lage dieſer Stadt erſetzte indeß bei weitem nicht den Vachtheil eines langen, gefahrvollen und koſtſpieligen Landtransports. Der Handel mit

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Indien hatte bis zu dem Augenblick, wo Vasco de Gama den Weg um's Cap auffand, nur noch eine geringe Thätigkeit.

Smyrna behauptete das Monopol des orientaliſchen Handels über 250 Jahre 0 und bis um die Witte des 17 ten Jahrhun⸗

derts war Perſi Entrepot für die Erzeugniſſe Indiens, die ihm über den perſiſchen Golf, Afghaniſtan und Beludſchiſtan zuka⸗ men. Dieſe Erzeugniſſe wurden zum Theil im Lande verbraucht, der übrige Theil ging theils über Bagdad und Erzerum nach Smyrna, theils über das kaſpiſche Meer und Georgien nach Ruß— land. In Folge dieſer großen Handelsumwälzung verloren die ſüdlichen Provinzen Rußlands alle ihre Wichtigkeit für den Aus— tauſch zwiſchen Europa und Aſien. Als die großen Entrepots Kaffa und Tana einmal zerſtört waren, wurden alle Verbindungsſtraßen, die dahin führten, verlaſſen. Die großen Karawanen an der Wolga und dem Kuban verſchwanden, die Schifffahrt auf dem kaſpiſchen Weer nahm beinahe ein Ende, und Aſtrachan war ausſchließlich auf den Rocalhandel und die Verbindungen mit den anſtoßenden Län⸗ dern beſchränkt. :

Hundert Jahre nach der Einnahme Konſtantinopels pflanzte Iwan der Schreckliche ſeine ſiegreichen Fahnen an den Ufern des kaſpiſchen Meeres auf, und die alte Stadt der Tataren der golde— nen Horde fiel unter moscowitiſche Herrſchaft. Seit dieſer Zeit haben die Geſchichtſchreiber nur noch eine lange Reihe von Unfäl— len und Fehlern zu berichten, und ſeit mehr als drei Jahrhunder— ten ſind die Annalen von Aſtrachan, ſonſt ſo reich an mannichfachen Berichten der Blüthe, faſt ſtumm. Es ſcheint indeß, daß Aſtrachan unter Iwan VI. und ſeinen nächſten Nachfolgern Rußland ſortwäh⸗ rend die Erzeugniſſe Perſiens und einige Waaren Centralaſiens lie⸗ ferte. Eine engliſche Compagnie verſuchte ſogar um das Jahr 1560 über das kaſpiſche Meer eine Handels verbindung mit Perſien und den Turkomanenländern anzuknüpfen, aber alle ihre Bemühungen ſcheiterten, und ſpäter entriß die Erſcheinung der holländiſchen und engliſchen Flagge im perſiſchen Golf dem Hafen von Aſtrachan jede Hoffnung, ſeine alten Verbindungen wieder anknüpfen zu können. Von dieſem Augenblick an wurde die Beſchiffung des kaſpiſchen Meeres vollſtändig aufgegeben, und die wenigen aſiatiſchen Pro—

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ducte, deren Rußland nicht entbehren konnte, kamen ihm auf einem eben ſo gefährlichen als koſtſpieligen Landwege zu. Als gegen die Witte des 17 ten Jahrhunderts Alexis Wichaelowitſch den Thron be— ſtieg, war der Weg nach Perſien zur See faſt zum Problem ge— worden. Dieſem Fürſten gebührt indeß die c. daß unter ihm Rußland den erſten Verſuch machte, den Handel des kaſpiſchen Mee— res wieder herzuſtellen. Im Jahre 1660 wurde unter Leitung hol— ländiſcher Seeleute eine Seeexpedition zu Aſtrachan ausgerüſtet, aber der Aufſtand der Koſaken und die Erfolge ihres Anführers Stenka Razin vereitelte fie. Seit dieſer Zeit fiel Alles in den urſprüng⸗ lichen Zuſtand zurück, und bis zur Thronbeſteigung Peters des Gro— ßen bezeichnet keine beſondere Thatſache die Handelsgeſchichte dieſes Theils des ruſſiſchen Reichs

Unter dieſem großen Reformator Rußlands wurde der aſiatiſche Handel nicht vergeſſen. Peter I. richtete ſeine ganze Aufmerkſamkeit und die ganze Energie ſeines Geiſtes auf den Orient. Ganz voll von dem großen Gedanken, die Producte Indiens durch feine Staa: ten zu leiten, begab er ſich ſelbſt nach Aſtrachan, durchzog die Mün- dungen der Wolga, bezeichnete den Platz zu einer Quarantäne, und ließ die Küſte des kaſpiſchen Meeres durch Holländer aufnehmen, bis die politiſchen Umſtände ihm erlauben würden, am perſiſchen Uſerland mit Waffengewalt Viederlaſſungen zu gründen. Die glän- zenden Züge der Ruſſen jenſeits des Kaukaſus hatten indeß damals noch keine commercielle Folge; denn Centralaſien behielt ſeine Ver— bindungen mit Europa über Smyrna und das indiſche Weer, und nach dem Tode des Zaaren gab Rußland alle Anſprüche auf die Südküſte des kaſpiſchen Meeres auf, wo es ganz ernſthaft ſeine Herr⸗ ſchaft zu begründen gedacht hatte.

Die Ausdehnung der ruſſiſchen Beſitzungen im Süden bis zu den Ufern des Kuban und Terek, im Oſten bis zum Ural trug in- deß doch einige Früchte. Durch die Sicherheit der Reiſe nach Geor— gien gewann der Handel in Perſien einige Thätigkeit; Aſtrachan ſah mit den perſiſchen und indiſchen Kaufleuten die Karawanen von Chiwa und Buchara wieder erſcheinen, die weſtliche und öſtliche Küſte des kaſpiſchen Meeres wurden neuerdings von Schiffen bes ſucht und die zahlreichen Nomadenhorden längs den Steppen der

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Wolga und Kuma trugen nicht wenig zur Bewegung des Tauſch— handels zwiſchen Rußland und den transkaukaſiſchen Ländern bei“).

Unter Katharina II. erſchienen die Ruſſen zum zweitenmal jen- ſeits des Kaukaſus am Ufer des kaſpiſchen Meeres, aber ihre Herr— ſchaft erhielt e n e eine feſte Begründung. Einmal im Beſitz eines ungeheuren an Perſien und die Türkei ſtoßenden Lan— des, welches zugleich das kaſpiſche und ſchwarze Weer berührte, hatte Rußland alle möglichen Mittel zu feiner Verfügung, um den Tauſch⸗ handel zwiſchen Europa und dem größten Theil der Länder Weſt— aſiens zu ſeinem Vortheil zu entwickeln. Durch das kaſpiſche Meer und die Wolga konnte es allen ſeinen innern Provinzen die Seiden— und die Baumwollenwaaren Perſiens liefern, ſo wie die Farbmate— rialien und Droguen; dann konnte es den ganzen Tranſithandel aus den deutſchen Meßplätzen und die Donau herab an ſich ziehen. Im Anfang ſchien die ruſſiſche Regierung alle dieſe großen Han— delsverhältniſſe begünſtigen zu wollen, blieb aber nicht lange bei dieſen liberalen Anſichten, ſondern betrat bald die Bahn der be— ſchränkenden Maaßregel, und bereitete jo auf das große Proſcrip— tionsſyſtem vor, daß es ſpäter annahm. Im Anfang der Regie: rung Alexanders beſtand noch der alte Handel mit Perſien, und die Ruſſen kauften fortwährend in Maſanderan vortreffliche Baumwollen— ö zeuge zu niedrigem Preiſe auf“). Die Kaufleute zahlten damals | in Dukaten, die unerläßliche Goldmünze auf allen Märkten. Aber im Jahre 1812 und 1813 wurde die Ausfuhr der Dukaten verbo— ten, und die Perſer, denen das Silbergeld nicht taugte, lieferten

*) Unter den verſchiedenen Nomadenhorden, die damals auf dem Bo⸗ den Rußland ſich lagerten, machten die Kalmüken allein mehr als 124,000 Familien aus; die Krim hatte mehr als 600,000 Seelen. Seit Peter dem Großen aber hat ſich das Anſehen dieſer Länder ſehr verändert. Die Kal- müken ſind großentheils nach China ausgewandert, und die moslemitiſchen Stämme haben über 9 Zehntheile ihrer Bevölkerung verloren. Man ſieht leicht ein, welchen nachtheiligen Einfluß das Verſchwinden dieſer aſiatiſchen Völker auf den Handel mit Perſien und Centralaſien ausüben mußte.

) Auf den Abhängen des Elbruz gewinnt man die beſte Baumwolle Perſiens; dieſe Länder konnten leicht ein Jahr in's andere anderthalb Mil- lionen Kilogramme Baumwolle liefern, die an Ort und Stelle auf 60 bis 70 Centimes der Kilo kamen.

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feine Producte mehr. Die engliſchen Kaufleute, ſtets bereit alle vor: theilhaſten Gelegenheiten zu benutzen, beſuchten ſogleich die Märkte von Waſanderan, deſſen wohlfeile Baumwolle über den perſi— ſchen Golf nach Europa gelangte. Anfangs wurde mit Dukaten bezahlt, aber bald traten an die Stelle des Goldes Tücher, Stoffe und andere für dieſen Theil Perſiens paſſende Waaren. Nament— lich während des Krieges von 1813 brachten die Engländer allmä— lig ihre verſchiedenen Manufacte nach Perſien. Durch das Auf— hören der Handelsbewegungen aus feiner Sorgloſigkeit aufgeſchreckt, nahm der ruſſiſche Handelsminiſter das Verbot der Dukatenausfuhr zurück, aber das Uebel war geſchehen. Dieſe empfindliche Lehre trug indeß keine Früchte. Um eine einzige Manufactur in Moskau zu begünſtigen, wurden alle fremden, tranſito für Perſien durch Rußland gehenden Sammete mit einem verbotähnlichen Zoll belegt. Von dieſem Augenblick an trat dieſer mächtige und geſuchte zu. in dem Tranſithandel mit Perſien nicht mehr auf.

Im Jahre 1821 ſchien die ruſſiſche Regierung auf eine beſſere Anſicht zu kommen, und gewährte den europäiſchen Waaren fuaien Eintritt in die georgifchen Häfen. Von dieſem Augenblick an ent— wickelte ſich raſch ein ungeheurer Tranſithandel zwiſchen der Türkei, Perſien und den großen deutſchen Meppläßen über Radziwilow, Odeſſa, Redut Kaleh und Tiflis. Dieſe neue Verbindungslinie, welche glänzende Hoffnungen erweckte, war von kurzer Dauer, denn zehn Jahre nachher zerſtörte Rußland alle dieſe prächtigen Handels— elemente: es ſchloß die transkaukaſiſchen Provinzen den europäiſchen Erzeugniffen, und erhob dadurch alsbald in feiner Nähe die furcht— bare Handelsniederlaſſung von Trapezunt, welche bald zum Nach— theile der Handelsplätze am perſiſchen Golf der Haupthafen Perſiens und der Anlandungspunkt für eine Maſſe engliſcher Waaren wurde, deren Werth ſich jetzt auf 50 Will. Fr. beläuſt. Als die Straße über Trapezunt nun einmal eröffnet war, ging auch der Handel mit Droguen und Farbmaterialen für Rußland verloren.

Aber obgleich die Bevölkerungen Perſiens und der Türkei ihre Handelsſtraße verließen, um anderswo Abſatzwege und Hülfsquellen zu entdecken, dehnte Rußland ſein Proſcriptionsſyſtem nur immer weiter aus; es hat ſogar die gewöhnlichen Töpferwaaren, wovon

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Chiwa und Buchara zum Gebrauch der Tataren und Kalmüken ſonſt eine ungeheure Wenge nach Aſtrachan ſandten, verboten. Un— ter der Herrſchaft dieſer unglücklichen Maßregeln verlor endlich dieſe ihrer Karawanen und ihrer Handelsſchiffe aus Aſien beraubte Stadt alle Erinnerungen ihrer ehemaligen Größe, und der Bau ihres ehe— maligen Wohlſtands ſtürzte zuſammen unter den unbarmherzigen Streichen des Prohibitivſyſtems der Centralverwaltung. Im Jahr 1839 enthielt Aſtrachan nur noch 47 Kaufleute erſter Gilde, Weiber und Kinder mit eingeſchloſſen, und man zählte 48 zu dieſem Hafen gehörige Fahrzeuge mit etwa 9000 Tonnen, davon gehörten aber 9 Schiffe der Krone, und 21 Privatſchiffe waren nur mit dem Trans⸗ port von Lebensmitteln und Munition beſchäftigt; für den Handel blieben alfo nur 12, wovon ein Drittheil ohne Beſchäftigung war“). Rußland wird es indeß nie dahin bringen, daß die Woslims im Sü— den des Reichs die ruſſiſchen Waaren an der Stelle der aſiatiſchen nehmen, die ſo ſehr ihren Sitten und Gewohnheiten entſprechen. Die Entwickelung des engliſchen Handels in Weſtaſien iſt jetzt eine vollendete Thatſache, und Rußland kann fie nicht mehr aufhalten, und wenn auch in Wanchem die ruſſiſchen Waaren mit denen Eng— lands concurriren könnten, ſo würde das Prohibitivſyſtem des Reichs und die Vernichtung des Tranſits ſchon allein hinreichen, dem Lande allen Ausfuhrhandel nach dem kaſpiſchen Meere zu nehmen, denn die Bewohner Aſiens ſuchen immervorzugsweiſe diejenigen Handels— verhältniſſe, die ihnen einen ihren Bedürfniſſen entſprechenden Tauſch darbieten. Im Jahr 1835 betrug die Ausfuhr aus Aſtrachan und Baku 2,791,530 Rubel, die Einfuhr 3,800,438. Im Jahr 1839 war zwar die Ausfuhr ſowohl zu Lande als über das ſchwarze und kaſpiſche Meer 3,889,707 Rubel, die Einfuhr dagegen nur 2,896,008 Rubel, alſo faſt um eine Willion weniger. In demſelben Jahre ver— kaufte Perſien an die kaukaſiſchen Provinzen für 8,545,331 Rubel, und zwar beſtand dieſer Handel, nach den Documenten der ruſſi— ſchen Regierung ſelbſt, nicht im Ankauf von Rohſtoffen, ſondern faſt

*) Im Jahre 1847 wurden indeß, um den Handel Aſtrachans zu bele- ben, am Oſtufer des kaſpiſchen Meeres zwei neue Jahrmärkte im Herbſt und Frühjahr zum Behuf des Handels mit Chiwa eröffnet. (S. Journal für Manufacturen und Handel. April-Mai 1847).

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ausſchließlich in dem bon Seiden- und Baumwollenſtoffen, da trotz der hohen ruſſiſchen Zölle die aſiatiſchen Bevölkerungen, den Ver— gnügungen der Eitelkeit und einer unbeſtändigen Mode unzugäng— lich, ſtets die ſoliden Stoffe Perſiens den mittelmäßigen ruſſiſchen Waaren vorziehen, um ſo mehr, da dieſe bei der großen Entfernung von Moskau, dem einzigen manufacturirenden Punkt des Reichs, nicht ſehr wohlfeil ſind. Die Perſer, welche in Rußland nur wenige Induſtrialartikel nach ihrem Geſchmack finden, bewahren alle Roh— ſtoffe ihres Landes, ſo wie diejenigen, welche ihnen aus Centralaſien zukommen können, für ihren Austauſch gegen europäiſche Producte auf, welche jetzt durch thätigen Verkehr in Trapezunt und Tauris aufgeſpeichert werden. So haben jetzt die Seide von Ghilan ), die Baumwolle aus Maſanderan, die Galläpfel von Kurdiſtan, der Ta— bak von Schiras, die Gummiarten, die Gelbbeeren, der Safran u. ſ. w. den Weg über das kaſpiſche Weer ſowie über Tiflis nach Redut Kaleh ganz verlaſſen, und gehen über Erzerum nach Trape— zunt. Was dieſen neuen Weg begünſtigt, iſt der mäßige Trans: portpreis und die geringen Tranſitzölle durch die Türkei. Dieſelben betragen nur 3 Procent für Europäer und 4 Procent für die Ber: ſer, factiſch aber bezahlen die Kaufleute ſelten mehr als die Hälfte. Der Transport von Konſtantinopel nach Tauris vermehrt den Preis der Waare um nicht mehr als 10 Procent. Daraus kann man leicht ſchließen, wie ſchwer es Rußland werden muß, mit andern europäiſchen Staaten auf dem perſiſchen Markt zu concurriren, und wie groß ſein Fehler war, indem es allen Tranſit vernichtete, in der Hoffnung den transkaukaſiſchen Bevölkerungen ſeine eigenen Er— zeugniſſe aufzunöthigen.

Wan weiß, welche Hoffnungen Peter der Große auf das ſchwarze Meer, auf das kaſpiſche und die Länder jenſeits des Kaukaſus ge- ſetzt hatte, wir wollen darum nur noch kurz unterſuchen, ob es Rußland je möglich ſein wird, dem indiſchen Handel ſeinen alten Lauf anzuweiſen. Jetzt wo die Schifffahrt jo wunderbare Fort— ſchritte gemacht, wo die Einführung der Dampfboote auf dem Euphrat

*) Im Jahre 1836 ſchickte Ghilan für I Mill. Rubel Seide nach Ta⸗ pezunt.

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und dem indiſchen Meer ein aufgelöftes Problem ift, wo die Preiſe des Seetransports ſo außerordentlich ermäßigt ſind, hat Rußland keine Hoffnung mehr, den indiſchen Handel durch ſeine Staaten zu lenken. Rußland grenzt an China, und hat ſeit langer Zeit ſichere und regelmäßige Handelsverbindungen mit dem himmliſchen Reich. Nichtsdeſtoweniger verkaufen die Engländer mit großem Vortheil zu Odeſſa und im ganzen ſüdlichen Rußland den Thee, den fie ums Cap der guten Hoffnung herum transportiren. Indien findet ſich für Rußland in einer noch ungünſtigeren Lage als China. Wenn die Ruſſen eines Tages ſich des Aralſees bemächtigten, ſo könnten fie vielleicht auf dem Sir und Amu (Jaxartes und Oxus) nach Buchara und Samarkand vordringen. Peter der Große hatte die— ſen Plan, allein ſeine wiederholten und ſtets fruchtloſen Verſuche beweiſen, daß Eroberungen in dieſen Ländern nicht ſo leicht ſind, und daß die Armeen unſerer Zeit die dürren Steppen der Kirgiſen und Turkomanen nicht ungeftraft durchziehen. Wie könnte man von Indien über Perſien und die Bucharei ſo regelmäßige, wenig koſtſpielige Verbindungen unterhalten, als jetzt zur See beſtehen! Die Ideen Peters des Großen ſind alſo ganz chimäriſch geworden.

Wie wir bereits angegeben, ſo iſt die Schifffahrt auf dem ka— ſpiſchen Meer dem Verfall des aſiatiſchen Handels auf dem Fuße gefolgt, indeß iſt es von Intereſſe, über die Art und Verwendung der jetzt auf dem kaſpiſchen Meere und auf der Wolga gebräuch— lichen Fahrzeuge einige Nachweiſungen zu geben. Dieſe Fahrzeuge theilen ſich je nach ihrer Bauart in fünf Klaſſen. Die erſte um— faßt diejenigen Schiffe, welche ohne Unterſchied alle Häfen des kaſpi— ſchen Meeres beſuchen, die zweite die, welche allein in der Nähe von Aſtrachan fahren; die dritte befährt nur die Mündungen der Wolga von Aſtrachan bis an's Weer; die vierte begreift die Fluß— ſchiffe, welche nie die Wolga verlaſſen, und die fünfte die den per— ſiſchen Provinzen gehörigen Fahrzeuge. Die erſten führen den (hol— ländiſchen) Namen Schkouten, und gleichen auch hinſichtlich ihres Rumpfes den holländiſchen Schiffen; man baut ſie aus ſchlechtem Holz und ganz den Regeln der Kunſt zuwider. Ihre Anzahl, ob— gleich nicht über SO, überſteigt die Bedürfniſſe des Handels; fie ha— ben 60 bis 120 Tonnen Trächtigkeit. Die Rheder kaufen gewöhn—

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lich in Viſchni-Vowgorod alte Schiffe, aus denen fie ihre Schkouten bauen, ohne zu bedenken, daß der Mangel der Feſtigkeit und Regel— mäßigkeit fie hoͤchſt gefährlich für die Seefahrt macht; die Beman— nung dieſer Fahrzeuge entſpricht dieſem Erſparungsſyſtem, unauf— hörlich ereignen ſich die größten Unfälle, und man wird am Ende noch dieſe Schifffahrt aus Mißtrauen ganz aufgeben. Die Schkou— ten transportiren ruſſiſche und perſiſche Waaren, die Arbeiter, das Waterial, die Vorräthe der Fiſchereien zwiſchen Salian, Spithitu— rinsk, Akhrabad und Aſtrabad, endlich die Kriegs- und Mundbe— dürfniſſe für die verſchiedenen Beſatzungen im öſtlichen Theile des Kaukaſus. Letztere ergeben allein noch Vortheil, die Waarenfracht iſt durch die Concurrenz und die häufigen Schiffbrüche ſehr herun— tergekommen, und der unbedeutende Einfuhrhandel aus den perſi— ſchen Provinzen thut das übrige.

Die Fahrzeuge, die auf dem kaſpiſchen Meere in der Nähe von Aſtrachan fahren, find unter den Namen Rasſchiwa bekannt. Sie unterſcheiden ſich wenig von den Schkouten. Die Seeleute derſel— ben theilen ſich in Mangiſchlaks und Aslams. Die erſten führen den Namen des Hafens, von welchem aus ſie ehemals die Waaren der Karawanen von Chiwa und Buchara nach Aſtrachan brachten. Dieſe Schifffahrt wurde ausſchließlich von Tataren getrieben, weil dieſe allein, im Fall des Landens von Kirgiſen und Turkomanen, nichts zu fürchten hatten. Im Jahre 1832 zählte man nur noch 8 Wangiſchlaks und dieſe zum Theil dienſtunfähig. Die Aslams, von einem tatariſchen Worte, welches „Frachtfuhrmann“ bedeutet, ſo genannt, dienen zum Transport der Geräthſchaften, der Lebens— mittel, des Holzes und anderer für die Fiſcherei nöthigen Artikel. Sie gehen nach Kislar, Gurieff, Tſchetſchenze und überhaupt längs der Vordweſtküſte des kaſpiſchen Meeres von der Wolga bis zum Terek, führen Mundvorräthe für die Truppen im Kaukaſus und nehmen als Rückfahrt Wein, Reis und namentlich den beliebten Branntwein von Kislar. Ihre Zahl beträgt etwa funfzig und ſie machen je fünf Reiſen im Jahre. Die Schifffahrt mit dieſen Fahr— zeugen iſt einträglicher als die der Schkouten, und da ſie die Küſte ſelten aus dem Geſicht verlieren, ſo ſind auch weniger Schiffbrüche zu fürchten.

IV. 12

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Die Fahrzeuge, welche in den Mündungen der Wolga fahren, ſind theils gedeckt, theils ungedeckt, und ſie verſehen, da das Waſſer in der Mündung und ſelbſt außerhalb derſelben ſehr wenig tief iſt, hauptſächlich den Dienſt der Lichterſchiffe. Die Schiffe, welche auf der Wolga bis hinauf nach Niſchni-Vowgorod fahren, kommen bei— nahe zu feſtgeſetzten Epochen zu Aſtrachan an, nämlich im Mai, Juli und September. Das Dampfboot macht regelmäßig Eine Reife im Jahr nach Niſchni-Nowgorod und braucht zum Hinauf— fahren 40 bis 50, zum Hinabfahren 15 Tage. Die Schifffahrt auf der Wolga wird nach der Ausſage der Mannſchaften von Jahr zu Jahr ſchwieriger, und es ſcheint auch wirklich, daß die Wolga ſeit einem Jahrhundert bedeutend an Waſſer verloren hat. Fügen wir dieſen Einzelnheiten noch hinzu, daß alle ruſſiſchen Waaren zu Lande nach den kaukaſiſchen Provinzen gehen, ſo wird man den gänzlichen Verfall der Schifffahrt auf dem kaſpiſchen Meere voll— kommen begreiflich finden.

Die Induſtrie des Landes Aſtrachan leidet natürlich, wie der Handel, und im Grunde ſind es die Fiſchereien der Wolga, welche der Bevölkerung die Unterhaltsmittel liefern; jedenfalls ſind ſie die Haupthülfsquellen des Landes. Die Gewäſſer, wo der Fiſchfang ftattfindet, find im Beſitz von Einzelnen, oder von der Krone und den Städten in Pacht überlaſſen, oder endlich allen denen, welche ſich mit dem Fiſchfang befaſſen wollen, frei gegeben. Die reichſten Striche gehören den Fürſten Kurakin, Juſſupoff, Besborodko u. ſ. w. Die Fiſchereien der Krone waren ehemals Gemeindeeigenthum; man hat die, welche ſich an den Hauptorten der Diſtricte des Gouverne— ments Aſtrachan befinden, hinzugeſchlagen, um ſie alle mit einander an einen Einzelnen zu verpachten. Die Gewäſſer von Aſtrachan ſelbſt, die dem Fürſten Kurakin gehören, wurden der Stadt unentgeltlich überlaſſen, eben fo iſt der Fiſchfang der Emba frei, welche einen Uferſtrich von 500 Kilometres (65 deutſche Meilen) umfaſſen. Kraft der Verordnung vom 31. März 1803 iſt der Robbenfang im gan— zen kaſpiſchen Meer und der Fiſchfang überhaupt in den Gewäſſern von Tſchetſchenze*) frei. Die Inſel Tſchetſchenze enthält jetzt un—

) Eine Inſel nicht weit von dem Golf von Agrachan.

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geheure Anftalten zum Räuchern, Salzen und Trocknen der Fiſche, ſo wie zahlreiche Fiſcherwohnungen. Hier dauert der Fiſchfang das ganze Jahr hindurch; er liefert den Bjeluga und den großen Stör, der manchmal gegen 700 Pud wiegt, den gewöhnlichen Stör, die Lachsforelle, den Wels“) und zwei Arten Karpfen. Unter den Robbenfängern iſt es ſeit uralter Zeit Sitte, keines dieſer Thiere vor dem 13. April zu tödten; wer dawider handelt, verliert den Ertrag ſeiner Fiſcherei, die unter den übrigen vertheilt wird. Der Krieg gegen die Robben wird auf fünf verſchiedene Arten geführt: während des Sommers jagt man ſie auf den Inſeln oder fängt ſie im Meer mit Netzen; im Winter tödtet man fie auf dem Eis mit Keulen oder mit dem Gewehr; auch erſchlägt man ſie an den Lö— chern, die ſie in's Eis machen, und wohin ſie kommen, um Luft zu ſchöpfen. Im Sommer wiegt ein Robbe 15 Kilo, im Herbſt ge— gen 30, im Winter bis 48.

Die dauernden Fiſchereien nennt man Watagen und Utſchugen, diejenigen Stellen, wo man ſich nur zeitweiſe niederläßt, heißen Stania. Die Utſchugen beſtehen in einem Zaun von Pfoſten, um den Fluß zu ſperren, und ſind manchmal durch ein Gitter verſtärkt. Unterhalb dieſer Sperre ſtellt man je nach der Strömung eine Zu— rüſtung auf, welche im Ruſſiſchen Samoloff (zu deutſch der „Selbſt— fänger“) heißt. Man hat ihrer zweierlei Arten. Die erſte beſteht aus Tonnen, durch die ein Strick über mehrere Theile des Fluſſes hinläuft; an dem Strick hängen eine Menge kleiner Schnüre, von denen jede mit einer eiſernen Angel ausgerüſtet iſt; am zweiten Apparat fehlen die Bojen, und die Schnüre ſind mit angeſteckten kleinen Fiſchen als Lockſpeiſe verſehen. Die Arbeit der Fiſcher be— ſteht bloß darin, daß fie die Fiſche wegnehmen, welche ſich gefan— gen haben. Die Fiſche werden ſogleich unter einen auf Pfählen errichteten Schuppen gebracht, dort der Laich, das Fett und die Muskeln herausgenommen und beſonders zubereitet.

Vermittelſt dieſes Verfahrens kann der Fiſch nicht über die Sperre hinaufgehen, und die beſten fängt man natürlich in den feichten Theilen des Fluſſes. Die Regierung hat deshalb ſeit eini-

) Siluris glanis, den man in der Donau, der Wolga und dem Dniepr findet, wo ihn ſeine Gefräßigkeit und Stärke den Badenden furchtbar macht. 12 *

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gen Jahren die Utſchugen verboten, fo wie alle dieſe Angelapparate. Die Erfahrung hat auch gelehrt, daß man auf dieſe Weiſe kaum einen von hundert Fiſchen fängt, die an den Haken anbeißen; die meiſten machen ſich, wenn auch verwundet, los, und gehen ohne allen Nutzen zu Grunde. Wan ſchreibt die Erfindung dieſer Sperren den alten Tataren des Chanats Aſtrachan zu; da der Fiſch für fie ein wichtiger Gegenſtand des Handels mit den Ruſſen war, ſo er— ſannen ſie wahrſcheinlich dies Wittel, um die Fiſche zu hindern, in die obern Gegenden der Wolga hinaufzugehen.

Die Watagen, welche gewöhnlich an der. Uferhöhe errichtet find, beſtehen in Höhlen, in denen man die Fiſche trocknet und ein— ſalzt. Vor der Thüre iſt ſtets ein Bretterboden, der durch ein Ge— flecht von Buſchwerk gegen den Wind geſchützt iſt. Hier werden die Fiſche zerſtückt und erfahren die erſten Zubereitungen zur Ver— ſendung. Für dieſe Anſtalten bedient man ſich ausſchließlich der Netze, wovon einige mehrere hundert Metres lang find. Es iſt in— deß verboten, die ganze Flußbreite auf dieſe Weiſe zu ſperren.

Der Fang theilt ſich in verſchiedene Zeiträume ab. Der erſte vom Wärz bis Wai, d. h. vom Aufgehen des Eiſes bis zum großen Waſſer heißt die Caviar-Zeit, es iſt die wichtigſte und ergiebt am meiſten Caviar, Leim und Sehnen. Die zweite iſt im Wonat Juli, wenn der Strom in ſein gewöhnliches Bett zurückgetreten iſt, und der Fiſch, nachdem er ſeinen Laich gelegt, in's Weer zurückkehrt. Der dritte vom September bis November iſt der, wo der Bjeluga, der kleine Stör und der Sevriuga (Sternſtör) die tiefern Stellen des Fluſſes wieder aufſuchen. Dieſe Fiſche fängt man auch im Winter vermittelſt beſonderer Netze. Während dieſer Jahreszeit machen die Fiſcher am Weere oft Züge von mehreren Weilen weit auf's Eis hinaus. Sie haben dann einen Schlitten und ein Pferd für zwei Mann, und ſchaffen jo bis 3000 Wetres Vetze fort, mit denen ſie unter dem Eis die verſchiedenen Störarten, Welſe und Robben fangen. Dieſer Fang iſt ſehr gefährlich, denn häufig treibt der Küſtenwind das Eis plötzlich in's offene Meer hinaus, und der Untergang der Fiſcher iſt unvermeidlich, wenn nicht der Wind wech— ſelt und ſie zum Ufer zurückbringt. Erfahrene Fiſcher behaupten, der Inſtinct der Pferde zeige dieſe atmoſphäriſchen Veränderungen

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zum voraus an, und ihre Unruhe benachrichtige ihre Herren von dem Herannahen der drohenden Gefahr; denſelben Angaben zufolge nehmen die einmal angeſchirrten Pferde ſelbſt die Richtung nach der Küſte und laufen mit unglaublicher Schnelligkeit.

Die Fiſcher von Aſtrachan theilen die Fiſche in drei Kategorien; die erſte umfaßt den Bjeluga, den Sewriuga und den eigentlichen Stör unter dem Namen Rothfiſch. Die zweite beſteht aus weißen Fiſchen, nämlich Lachsforellen, dem falſchen Bjeluga, dem Sterled, dem Karpfen oder Sazan, dem Sudak (Perca asper, der Streber) und dem Wels; die dritte Art umfaßt die kleinen Fiſche überhaupt, auf die man kein großes Gewicht legt, man ſalzt ſie ein und ſchickt ſie in's Innere des Reichs.

Eine beſondere Behörde iſt mit der Aufſicht über die Fiſche— reien beauftragt: fie ertheilt den Fiſchern die Erlaubnißſcheine, wacht über die Wahl der Aelteſten, ſchickt Aufſeher ab zur Erhaltung der Ordnung, und ſammelt die Vachrichten über den Ertrag des Fangs. Im Jahr 1838 waren 8887 Wenſchen mit dem eigentlichen Fiſch— fang und 254 mit dem der Seehunde beſchäftigt. Der Fang be— trug 43,033 Störe, 653,164 Sewriugas, 23,069 Bjelugas, aus denen man 369,516 Kilogramme Caviar, 18,328 K. Sehnen und 19,600 K. Leim gewann; außerdem wurden 8335 Sudalk und die ungeheure Zahl von 98,584 Robben gefangen. Der Fang der Störe ergiebt allein jährlich 2 Mill. Rubel, aber die Koſten ſind auch ſehr bedeutend. Das Einkommen der Regierung von den Fi— ſchereien der Wolga beträgt 800,000 R. B.

Neuntes Kapitel.

Excurſion nach dem kaſpiſchen Meere. Wolga-Mündungen. Dampfſchifffahrt auf der Wolga. Inſel Birutſchicaſſa mit der un⸗ tern Quarantaine. Fahrt in's kaſpiſche Meer. Beſchaffenheit des Waſſers vom kaſpiſchen Meere. Leuchthurm auf der Inſel Tſchetyre bugri. Fiſchereien in der Wolga. Tiefe Lage des kaſpiſchen Meeres.

Am 14. October unternahmen unſre Reiſenden, da die Witte— rung günſtig war, eine Excurſion nach den Wolga-Mündungen und dem kaſpiſchen Meere. Die Mündungsarme der Wolga find über— aus zahlreich, und ſchließen ein ausgedehntes Deltaland ein, deſſen Länge am Meere über 140 Werſte beträgt“). Wiewohl aber ſchon oberhalb Zarizyn die Achtuba von der Wolga ſich abzweigt, und ſtets durch viele Arme mit ihr in Verbindung bleibt, ſo fängt die eigent— liche Verzweigung der Wolga und ihr eigentliches Deltaland doch erſt 40 Werſte oberhalb Aſtrachan an. Hier zieht ſich zuerſt von ihr oſtwärts der Buſan ab, der bald darauf den Parallelfluß der Wolga, die Achtuba, aufnimmt, und ſodann, bei der Stadt Kras— nojarsk vorüberfließend, ſich in beſonderer Mündung in's Weer er— gießt. Drei Werſte oberhalb trennt ſich darauf die Bolda, und bei der Stadt ſelbſt der Kutum, der ſich ſpäter wieder mit der Bolda vereinigt. Von den unterhalb Aſtrachan abgehenden Armen ſind

*) Vgl. S. 86 die geographiſche Schilderung der Wolga-Niederung.

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die Zarewa unmittelbar unter der Stadt, die Bachmakowka, der Tſchagan, der Iwantſchuk und der Bachtemir die bemerkenswerthe— ſten. Alle dieſe Arme gehen aber, ſowohl die oberen als die unte— ren, bis auf den Bachtemir von ſeiner linken Seite ab, und fließen mit kurzem ſüdöſtlichen und ſüdlichen Laufe in's Meer, während der Hauptſtrom immer auf der rechten Seite bleibt, und ſich mit einem großen Bogen in das Weer ergießt. Schon nach Ausſendung des Buſan nämlich verläßt derſelbe ſeine ſüdöſtliche Richtung und nimmt eine ſüdliche, und unterhalb der Stadt eine ſüdweſtliche Richtung an, in welcher Richtung auch die weſtliche Küſte des kaſpiſchen Meeres noch weiter fortſetzt. Der Hauptſtrom bildet auf dieſe Weiſe faſt überall die weſtliche Begränzung des Deltalandes, hat aber dadurch von Aſtrachan bis zur Mündung noch eine Länge von 85 Werſten, während die Entfernung der Stadt von dem Weere in gerader Richtung und auf den Seitenarmen nur etwa 30 Werſte beträgt. Wegen dieſer großen Entſernung der Haupt-Wolgamündung von der Stadt ſowohl, als auch wegen der beabſichtigten Fahrt auf dem kaſpiſchen Weere, erſchien es am rathſamſten, die Excur— ſion auf einem Dampfboote zu machen. Es waren damals auf der Wolga ſchon mehrere im Gange, nämlich 1 Krondampfboot und 3 Privatdampfboote, die dem aſtrachaniſchen Kaufmanne Jevreinoff gehörten, und ſämmtlich vorzugsweiſe dazu benutzt wurden, die Schiffe aus dem kaſpiſchen Meer zum Hafen zu bugſiren und ums gekehrt. Mit einem derſelben machte auch Herr Jevreinoff eine jähr— liche Fahrt zur Meſſe nach Niſchni-Nowgorod. Dieſe Dampfſchiff— fahrt auf der Wolga hat zwar in der neueren Zeit noch zugenom— men, allein ſie iſt noch immer mit großen Schwierigkeiten verbun— den, da die Wolga ſehr viele ſeichte Stellen hat, und bei ihrer Breite, die ungeachtet der Theilung bei Aſtrachan noch 2200 Fuß beträgt, beſonders nach den großen Ueberſchwemmungen im Früh— jahr häufig den Lauf ihres Fahrwaſſers ändert. Sie reißt dann ſtellenweiſe den Sand vom Ufer los, und ſetzt ihn, Untiefen bildend, an anderen Stellen wieder ab, die ſich zu Inſeln geſtalten und aus dem Waſſer hervorragen. Beſonders häufig finden ſich dieſe Un— tiefen gegen die Mündungen, wo bei anhaltenden Südoſtwinden

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die Wolga in ihrem Laufe gehemmt wird, und den mitgeführten Sand abſctzt.

So hat auch ſchon der Hauptſtrom mehrfach ſeine Richtung geändert; denn abgeſehen davon, daß er in früherer Zeit ganz öſt— lich auf dem kürzeſten Wege gegangen zu ſein ſcheint, hat auch noch in neuerer Zeit ein ſolcher Wechſel ftattgefunden. 15 Werſte von Aſtrachan abwärts bei der Quarantaine Bertul ſendet die Wolga weſtwärts 2 Arme aus, von denen der weſtlichſte Arm der Bachte— mir iſt, der andere, nur unbedeutende, Tſchelima genannt wird. Zu Gmelins Zeiten war hier die Wolga der Hauptſtrom, und auf ihr fuhr er in einer dreimaſtigen Galiote nach Perſien. Im An— fang dieſes Jahrhunderts iſt ſie hier ſo ſeicht geworden, daß ſie oft nur 4 Fuß tief iſt, dagegen der Bachtemir jetzt an Tiefe gewonnen hat und nun den Hauptſtrom bildet. Aber auch er leidet ſehr an ſeichten Stellen, zu welchen beſonders die berüchtigte Rakuſcha, eine über 600 Faden lange Sandbank, zwiſchen der alten und neuen Quarantaine, gehört, auf welcher der Waſſerſtand ſelten über 4 bis 6 Fuß iſt. Die Corvette, womit Eichwald im Jahre 1828 die Reiſe in's kaſpiſche Meer machte, und die ungeachtet ihrer halben Ladung 8 Fuß tief in's Waſſer griff, mußte auf ihr faſt 4 Wochen ſitzen bleiben, bis endlich ein anhaltender Süd-Oſtwind ſich ein— ſtellte, der das Wolgawaſſer bis zu einer Höhe von 10 Fuß auf— ſtaute, ſo daß ſie über die Sandbank bugſirt werden konnte. Das Jahr vorher hatte die Corvette drei Wonate darauf zugebracht. Noch ſchlimmer aber als dieſe ſtellenweiſe Verſandung des Fahr— waſſers iſt der Umſtand, daß der Waſſerſtand der Wolga im All— gemeinen von Jahr zu Jahr abzunehmen, und dieſelbe fortwährend ſeichter zu werden ſcheint, was natürlich für ihre Benutzung durch größere Schiffe große Beſorgniß erwecken muß, und für den Handel von Aſtrachan ſehr gefahrdrohend iſt. Schon lange können die gro— ßen Permſchen Laſtſchiffe keine ſo große Laſt mehr tragen, wie zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, und man denkt demnach, wie Prof. Roſe mittheilt, ernſtlich daran, den ſchon von Gmelin in Vorſchlag gebrachten Plan auszuführen, den Hafen von Aſtrachan, der jetzt faſt ganz verſandet iſt, aufzuheben, und einen neuen an der Mündung der Wolga anzulegen.

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Außer allen dieſen Uebelſtänden, die eben fo für die Beſchiffung der Wolga mit größeren Schiffen im Allgemeinen als für die Dampf— ſchifffahrt ſtattfinden, beſteht für letztere noch ein anderer Uebel— ſtand in dem Mangel an Steinkohlen. Bei allen Dampfmaſchinen in Aſtrachan bedient man ſich noch zur Feuerung des Holzes, das nicht allein hier, wo es von fern herbeigeführt werden muß, ſehr theuer iſt, ſondern auch einen großen Raum erfordert. Für größere Fahrten reicht daher der in dem Dampfboote ſelbſt befindliche Raum nicht aus, und man iſt gezwungen, für den Transport des nöthigen Holzes noch beſondene Boote mitzuführen, die von dem Dampf— boote in's Schlepptau genommen werden. Doch ſelbſt mit dieſer Hülfe iſt man oft nicht im Stande, eine hinreichende Menge Brenn— material bei ſich zu haben. Dieſer Uebelſtand wird ſich indeſſen, bemerkt Prof. Roſe, mit der Zeit wohl mehr und mehr heben, wenn erſt die Steinkohlen von Lugan an dem Donetz ſtärker bearbeitet werden, und man Wittel gefunden haben wird, den Transport der— ſelben zur Wolga zu erleichtern.

Dieſem Umſtande war es auch hauptſächlich zuzuſchreiben, daß Humboldt die Reiſe nicht bis zu den Schlammvulkanen von Baku ausdehnte, wohin man ſonſt bei hinreichendem Brennmaterial von Aſtrachan in 24 Tagen gelangen könnte. Es war viel davon die Rede, und alle Wöglichkeiten der Reiſe wurden reiflich überlegt, in— deß wurde ſie zuletzt doch aufgegeben.

Humboldt miethete für die Fahrt das große Jevreinoffſche Dampfboot, welches zwei Dampfmaſchinen eine jede von 30 Pferde— kräften und einem 30zölligen Dampfcylinder hatte. Die Maſchinen waren in der Waſchinenbauerei des Engländers Baird in Peters— burg gebaut. Sie verzehrten in 24 Stunden für 100 bis 120 Ru⸗ bel Holz. Unſere Reiſenden wollten ſchon früh am Morgen ab- reifen, aber mehrere Reparaturen, die an dem Dampfboote vorzu— nehmen waren, und ein ſtarker Wind aus Weſt-Süd-Weſt verzö⸗ gerte die Reife bis zum Nachmittag. Um 4 Uhr endlich lichtete man die Anker, und fuhr nun raſch vorwärts. Das Wetter war äußerſt angenehm, der Himmel heiter, die Temperatur der Luft 12 R. Wan ſchiffte bei dem Schiffswerft und den vielen Wolga— Schiffen vorbei, die bei Aſtrachan vor Anker lagen, und ſah noch

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lange die hohe Kathedrale und die übrigen vielen Thürme der Stadt, bis die Sonne um 5 Uhr unterging, und die eintretende Dämme— rung die Ausſicht verdunkelte. Unſre Reiſenden fuhren auf der breiten Wolga, an deren ſeichten, ſchilfbewachſenen Ufern nichts ihre Auf— merkſamkeit auf ſich zog, die Nacht hindurch, und gelangten ſo am Worgen um 7 Uhr nach der kleinen Inſel Birutſchicaſſa, die auf der rechten Seite in der Mündung der Wolga liegt, und von Aſtra— chan 85 Werſte entfernt iſt. Sie wären ſchon früher hier ange— kommen, waren aber in der Dunkelheit auf eine ſeichte Stelle gerathen und hatten hier bis zum Anbruch des Tages gehalten, um in der Nacht nicht bald wieder einen ähnlichen Aufenthalt zu haben.

Auf Birutſchicaſſa iſt die untere Quarantaine “), die obere und Hauptquartaine befindet ſich auf der Inſel Bertul, 15 Werſte unterhalb Aſtrachans. In der unteren Quarantaine müſſen die aus Perſien kommenden Schiffe 4 bis 6 Tage und nur bei Peſtzeiten länger, auf der oberen dagegen, wo ſie auch ausladen müſſen, wenig— ſtens 12 Tage liegen bleiben; auf der unteren Quarantaine ſind daher auch nur einige hölzerne Häuſer für die Aufſeher errichtet, die hart am Ufer liegen, welches man hier etwas von dem Schilſe, das die übrigen Theile des Ufers dicht bedeckt, gereinigt hat. Da Humboldt nicht unterlaſſen wollte, an dieſem ſüdlichſten Punkte ſeiner Reiſe die Inklination der Magnetnadel zu beſtimmen, ſo wurde hier gelandet. Das Dampfboot blieb wegen des ſeichten Grundes in einiger Entfernung vom Ufer, und man landete in einem klei— nen Boote.

Während Humboldt an einer geeigneten Stelle ſeine Beobach— tungen anſtellte, unterſuchten Ehrenberg und Roſe die großen Haufen von Kalkſteinblöcken, die am Ufer lagen, und von den aus Baku kommenden Schiffen als Ballaſt mitgebracht werden, daher ſür die Kenntniß der dort vorkommenden Gebirgsarten von Wichtigkeit waren. Der Kalkſtein beſteht faſt nur aus größeren und kleineren Muſchelfragmenten, die ohne alle Bindemittel mit einander verbun— den ſind. Es iſt offenbar ein ſehr neuer Kalkſtein, wenn er nicht

„) Nach Goebel iſt indeſſen ſeit 1833 hierher die Hauptquarantaine vers legt worden.

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gar der jetzigen Zeit angehört, da der Mytilus polymorphus, welchem ein kleiner, in jenem Gemenge befindlicher Mytilus durch Form und Größe verwandt iſt, im kaſpiſchen Weere lebt, und ihn Prof. Ehrenberg namentlich an der Stelle, wo der Ballaſt lag, in vielen friſchen, eben ausgeworfenen Exemplaren ſammelte. Einen ähnlichen „mit Cardium- und Wytilus-Reſten erfüllten Kalkſtein“ beſchreibt auch Eichwald bei Baku; doch findet ſich derſelbe nicht allein hier und auf der Halbinſel Abſcheron, wo aus ihm die Schlammvulkane hervorbrechen, ſondern auch auf der ganzen Küſte, ſowohl ſüdlich bis zum Kur, als auch nördlich bei Derbend und Tarki in großer Verbreitung.

Nachdem Roſe und Ehrenberg Proben von dieſem Kalkſtein ge— ſammelt hatten, ſetzten ſie mit Herrn Stranak auf einem Boote über einen Buſen nach einem höheren Theile der Inſel, auf welchem etwas weiter links eine dem Griechen Warwazi gehörige Watage (Fiſcherdorf), rechts einzelne Kalmükenkibitken ſtanden. Letztere wa— ren größtentheils verſchloſſen, und ihre Bewohner abweſend, nur eine fanden ſie geöffnet, und in derſelben ſaß eine junge Kalmükin, mit dem Kratzen von Wolle beſchäftigt. Sie ſah recht hübſch aus, hatte rothe Wangen, und ihr ſchwarzes Haar hing ihr in dicken Flechten über den Rücken, zum Zeichen, daß ſie noch Jungfrau ſei; unſre Reiſenden aber hielten es doch bei der großen Unſauberkeit, die in einer Kalmükenkibitke herrſcht, nicht für rathſam, ſich näher darin umzuſehen. Die Unreinlichkeit wird durch den Hang der Kal— müken zur Faulheit hervorgebracht, aber auch durch ihre Religion be— günſtigt. Da es nach der Lehre der Seelenwanderung, woran ſie glauben, eine große Sünde iſt, Creaturen zu tödten, ſo werden auch die beſchwerlichen Gäſte ihrer Köpfe möglichſt verſchont, und bei allzu großer Zudringlichkeit gewöhnlich bloß abgeleſen; wodurch ſie aber in ihren Kibitken außerordentlich überhand nehmen. Bei jedem Beſuche beim Lama oder Fürſten oder einem andern vornehmen Kalmüken mußte Zwick auf ſeiner Reiſe unter den Kalmüken-Horden ſie immer bei ſich emporklimmen ſehen, und jeder Beſuch eines Kalmüken in ſeiner Hütte brachte ihm immer eine Wenge neuer Einquartirung. So vertraut dagegen die Kalmüken mit dieſem kriechenden Inſekte umgehen, ſo ſehr entſetzen ſie ſich doch, wie Zwick verſichert, vor

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den hüpfenden Thierchen, und fie geben gegen dieſe ihren Ekel fo ſtark zu erkennen, wie ein Europäer den ſeinigen gegen jene den Kalmüken befreundeten kleinen Geſchöpfe. Uebrigens wimmelte dieſer hohe Theil der Inſel von Schlangen (Coluber seutatus und Dione) die in der warmen Sonne ruhig da lagen, und von denen Prof. Ehrenberg viele mit beſonderer Geſchicklichkeit zu fangen verſtand. Unter dem Geſtrüpp fanden ſich eine Menge Eidechſen, die bei An— näherung der Reiſenden entſchlüpften, und in dem Sande ſahen dieſe häufig kleine trichterförmige Vertiefungen, aus denen die Füße der ſchwarzen Tarantel hervorragten. Außer dem Geſtrüpp, das ſich hier und da fand, war die Inſel kahl und ſandig.

Als Humboldt ſeine Beobachtungen beendet hatte, war inzwi— ſchen auch das Regierungs-Dampfboot angekommen, das in der Nähe poſtirt geweſen war, und welches die Reiſenden nun am Nach— mittage beſtiegen, um auf demſelben die weitere Exkurſion in's ka— ſpiſche Weer zu machen. Der Befehlshaber, Capitain Krüger, war ein gebildeter und angenehmer Mann, der zwar, ungeachtet ſeines deutſchen Namens, nicht deutſch, aber doch fertig engliſch ſprach, da er längere Zeit in England zugebracht hatte. Hinter Birutſchicaſſa gelangte man nun in's offene Meer hinein; zur Linken verſchwand das Land bald gänzlich, nur zur Rechten fuhren ſie noch bei einzel— nen Schilfinſeln vorüber, die ſich an der Nordweſtſeite des kaſpi— ſchen Meeres entlang ziehen, bis mit der Inſel Tſchetyre bugri (der Vierhügelinſel) auch dieſe aufhören. Dieſe Inſel iſt 20 Werſt von Birutſchicaſſa entfernt, und auf ihrer ſüdlichen Spitze befindet ſich der Leuchtthurm (Majak). Sie fuhren jetzt bei ihr ohne Aufenthalt vorüber, und lenkten nun in die hohe See hinein. Es wehte nur ein leiſer Wind aus OSO, das Meer war ruhig, und nur das Schiff von dem Schlage der Schaufelräder der Dampfmaſchine bewegt. Bald ſtellte ſich die Dämmerung ein, der Wond trat im Oſten hervor, und leuchtete mit ſeinem milden Lichte zu der weite— ren Fahrt. Es war ein warmer ſchöner Abend, der unſre Reiſen— den noch lange auf dem Verdecke feſſelte, bis ſie ſich endlich in die Kajüte zurückzogen. Das Weer war hier wieder überaus flach, ſo daß man beſtändig den Grund ſondiren mußte, um nicht auf eine völlige Untiefe zu gerathen. Lange Zeit hindurch hörte man von

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dem Matrofen, der das Senkblei hielt, beſtändig nur den unförmi— gen Ruf schest s’polowinoi (d. i. 63), der nun mit dem von schest s’tschetwertju (d. i. 64) nämlich Fuß, abwechſelte. Die Reiſenden legten ſich endlich zur Ruhe; in der Nacht um 3 Uhr aber wurde Prof. Roſe vom Capitain geweckt, da dieſer wegen eintretenden Mangels an Holz weiter zu fahren anſtand, und deshalb umzukeh— ren für nöthig fand. Sie waren nach ſeiner Ausſage nun 75 Werſt von Tſchetyre bugri und 95 Werſt von Birutſchicaſſa entfernt. Prof. Roſe füllte einige Flaſchen mit dem Weerwaſſer, aber ungeachtet des doch keineswegs ungünſtigen Windes, der das Waſſer aus dem Weere nach der Wolga treiben mußte, und der nicht unbeträchtlichen Entfernung von den Wolga⸗Mündungen, war das geſchöpfte Waſ— ſer ſo wenig ſalzig, daß man es recht gut trinken konnte. Die Temperatur deſſelben war 13° R., die der Luft 13°, 3, die Tiefe des Meeres an dieſer Stelle 3 Faden. Wan ſah auch jetzt ſo wenig wie früher ein Leuchten des Weeres ), vielleicht nur wegen des Mondſcheins, denn zu anderen Zeiten ſoll es doch zu ſehen ſein, auch keine Fucus-Arten, wie ſie doch in anderen Weeren vor— kommen, weder hier noch am Ufer; das Waſſer war ganz rein.

Der geringe Salzgehalt des geſchöpften Waſſers ergab ſich noch beſtimmter, als Roſe nach Aſtrachan zurückgekehrt war; denn er dampfte hier das Waſſer einer der Flaſchen ab, und erhielt da— bei nur ſo wenig Rückſtand, daß derſelbe in eine ganz kleine Kap: ſel gefüllt werden konnte. Das Waſſer der anderen Flaſche unter— ſuchte nach Roſe's Rückkehr in Berlin ſein Bruder, Prof. H. Roſe, und fand das ſpecifiſche Gewicht deſſelben bei 10° R. nur 1,0013, alſo nicht größer als das vieler Brunnenwaſſer.

Einen ſchon bedeutend größeren Salzgehalt fand Goebel in dem

) Hablizl ſah im Mai 1774 zu Enzelli am kaſpiſchen Meere Feuer⸗ funken im Schlamm des Ankers und in todten Muſcheln des Mytilus poly- morphus. Die Leuchtthierchen waren Weibchen des Cancer pulex, die kleine gelbe Eier unter dem Bauche trugen. Auch den Hauſen und Zander ſah er todt leuchten. (Vergl. Ehrenberg über das Leuchten des Meeres in der Abhandl. d. Akad. d. Wiſſ. von Berlin 1834 S. 434 und 535). Eichwald ſah kein Leuchten, hörte aber von den Schiffern, daß das Meer im Sommer in den ſüdlichen Gegenden Licht gebe.

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Waſſer des kaſpiſchen Meeres, 40 Werſte ſüdlich vor den Mündun⸗ gen des im Vergleich zur Wolga freilich ungleich kleineren Ural, wo er das zur Unterſuchung beſtimmte Waſſer ſchöpfte. Indeſſen iſt doch auch hier wie überhaupt im ganzen nördlichen Theile des ka— ſpiſchen Meeres wegen der großen Menge ſüßen Waſſers, das in dieſen Theil, außer der Wolga und dem Ural, auch noch die Emba, der Kur und der Terek ergießen, der Salzgehalt nur unbedeutend. Nach Eichwald verliert ſich der Einfluß, den dieſe Ströme, und na— mentlich die Wolga auf die Beſchaffenheit des Waſſers im kaſpiſchen Meere ausüben, auf dem Wege von Aſtrachan nach dem ſüdöſtlich gegenüberliegenden Vorgebirge Tük-Karagan erſt jenſeits der ſoge— nannten reinen Bank, wo die Tiefe des Meeres von 24 Faden plötz⸗ lich bis zu 10 Faden zunimmt; hier erſt wird das Weer eigentlich ſalzig und nimmt die ihm eigenthümliche meergrüne Farbe an“); und weiter ſüdlich vermehrt ſich dieſer Salzgehalt noch mehr. Bemerkenswerth ift aber dabei die große Bitterkeit des kaſpi— ſchen Meeres. Schon in den nördlichen Theilen, wo das Waſſer nur ſchwach ſalzig iſt, iſt doch der Gehalt an Talkerdeſalzen ver: hältnißmäßig größer, als in anderen Meeren; denn während Goebel in dem Waſſer dieſes Theils des kaſpiſchen Meeres bei 0/68 pC. fe⸗ ſten Beſtandtheilen 0,12 Bitterſalz auffand, enthält nach demſelben Chemiker das Waſſer des ſchwarzen Weeres bei 1,766 pC. feften Beſtandtheilen nur 0, Bitterſalz. Weiter ſüdlich ſcheint ſogar mit dem Gehalt von Kochſalz der Gehalt an Bitterſalz noch zu— zunehmen. Zwar beſitzen wir von dem Waſſer dieſer Theile des kaſpiſchen Meeres keine Analyſen ““); denn die vielen Flaſchen, die Eichwald von den verſchiedenſten Stellen des kaſpiſchen Meeres mit Waſſer füllte, wurden leider zerbrochen, doch zeigt dies ſchon der Geſchmack, indem Eichwald anführt, daß ſchon beim Vorge— birge Tük-Karagan das Waſſer des Meeres ſehr ditter ſei, weiter ſüdlich bei Baku in dem Maaße, daß fein Genuß faſt Brechen errege. Dieſer große Bitterſalzgehalt des Meeres, verbunden mit dem

) Reiſe auf dem kaſpiſchen Meere Th. 1. S. 46. ) Es darf nicht außer Acht bleiben, daß Prof. Roſe dies im Jahre 1842 ſchrieb.

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Umſtand, daß daſſelbe gar keinen Abfluß hat, und die große Menge Waſſers, welches die darin ſich mündenden Ströme ergießen, nur durch Verdunſtung verliert, während die feſten Beſtandtheile zurück— bleiben, und ſich anhäufen, kann daher wohl zu der Vermuthung Veranlaſſung geben, die auch Goebel aufgeſtellt hat, daß das ka— ſpiſche Weer urſprünglich ein Süßwaſſerſee geweſen ſei, und ſeinen Salzgehalt allmälig aus der angränzenden Steppe erhalten habe. Indeſſen würde ſich damit doch nicht das Daſein der in dem ka— ſpiſchen Meere lebenden Säugethiere erklären laſſen. Allerdings ſind dieſe nicht ſehr zahlreich, ſowohl in Rückſicht der Spezies als auch der Individuen, denn der große Reichthum an Fiſchen, der das ka— ſpiſche Meer ſo berühmt gemacht hat, findet ſich nur in der Nähe der ſchilfreichen Mündungen der Flüſſe, wo der Salzgehalt des Meeres durch das ſüße Waſſer der Flüſſe verdünnt iſt. Das eigent— liche Meer wird von allen Reiſenden als arm an Seethieren ge— ſchildert; aber ihre Zahl iſt nach der Ueberſicht, die Eichwald da— von giebt, doch nicht ſo gering, als man bisher vermuthet hatte, und unter dieſen fanden ſich recht eigentliche Seefiſche wie Heringe, und die Arten der Gattungen Atherina und Syngnathus.

Wir verlaſſen unſre Reiſenden für jetzt und ergänzen die bis— herigen Wittheilungen durch die in neueſter Zeit von dem Peters— burger Akademiker von Baer angeſtellteu Unterſuchungen“), denen wir auszüglich Folgendes entnehmen:

Schon im vorigen Jahre (1854), ſchreibt Hr. v. Baer, hatte ich in der Nähe der Landſpitze, welche ruſſiſch Tjuk-Karagan ge— nannt wird, tatariſch aber eigentlich wohl Tüb-Karagan heißt, Waſſerproben geſchöpft, um ſie einer chemiſchen Analyſe unterwer— ſen zu laſſen. Bei meiner Rückkehr übernahm Hr. Mehner, Pro— viſor der Oſſe'ſchen Apotheke in Petersburg und gewandter Che— miker, dieſe Unterſuchung. Dieſe Analyſe iſt, fo viel ich weiß, die erſte von wahrem kaſpiſchen, durch Flüſſe nicht verdünnten See— waſſer.

) „Kaſpiſche Studien“ in der wiſſenſchaftlichen Beilage der St. Peters— burger Zeitung 1855 Nr. 51 ff, aus dem Bull, de la Classe phys., mathem. de Acad. Imp. des Sciences,

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Bevor ich aber das Nefultat derſelben Analyſe mittheile, muß ich die Localität noch etwas näher bezeichnen, um anſchaulich zu machen, daß dieſes Waſſer ſchon als wahres kaſpiſches Seewaſſer betrachtet werden muß, abgeſehen von Wodificationen, welche nach Localitäten und Tiefen noch vorkommen mögen und ohne allen Zweifel vorkommen, ſelbſt ohne die ſubmarinen Exhalationen, welche in der Mitte des Beckens ſich zeigen, und die, beim Aufſteigen, die Qualität des Waſſers, wenn auch nicht gerade durch chemiſche Ver— bindung, doch jedenfalls durch Beimengungen verändern müſſen. Hat doch die letzte Befahrung des großen öſtlichen Buſens, den wir gewöhnlich Kara Bugas nennen, obgleich eigentlich nur der Ein— gang ſo heißt, hat doch, ſage ich, die Unterſuchung durch den Lieu— tenant Sherebzow beſtätigt, was ſchon durch Karelin berichtet und früher ſchon der Sage nach bekannt war, daß ununterbrochen Waſſer durch den engen Eingang in dieſen Buſen einſtrömt, und daß in ihm das Waſſer eine ſo ſtark geſalzene Soole bildet, daß kein Fiſch darin weilt, und überhaupt, jo viel die Mannſchaft be— merken konnte, kein lebendiges Thier. Auf dem Boden aber fand Sherebzow eine Salzſchicht von unbekannter Mächtigkeit. Es ſcheint alſo dieſer Buſen eine der Sättigung nahe Salzlauge zu enthalten und eine natürliche Salzpfanne von gigantiſchen Dimenſionen zu bilden, welche das Meer ſelbſt, ohne fremde Hülfe ſpeiſt, und in welcher die Steppenhitze die Soole abdampfen läßt. Die größte Länge beträgt nach dem Weridian 85 Seemeilen, die größte Breite (im Parallel von 41° 10° n. Br.) aber 75 Seemeilen. Die Ober: fläche dieſer Rieſen-Kothe läßt ſich nach der Karte von Shereb— zow auf 3000 Quadrat⸗Seemeilen abſchätzen. Außer dieſem gro— ßen, mit dem Haupt-Becken eng zuſammenhängenden Baſſin, giebt es noch andere durch ihre Beſonderheit ausgezeichnete Baſſins. So ſoll auch der ſchmale Buſen, der aus dem nordöſtlichſten Winkel des kaſpiſchen Meeres nach Südweſt ſich erſtreckt, Kara-Su auf uns fern Karten, ſonſt auch Kaidak genannt, nach allen Nachrichten, die wir in Nowa-Petrowsk einzogen, ein ſehr ſcharfes, bitteres oder bitterſalziges Waſſer enthalten. Aber auch der breitere Theil des Weeres ſelbſt, von dem der Kara-Su abgeht, der Wertwyi Kultuk, mag ein eigenes Waſſer enthalten, wenn es wahr iſt, was

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die Fiſcher und die ehemaligen Bewohner der Feſtung Nowa-Ale— randrowsk behaupten, daß hier gar keine Fiſche vorkommen. „Gar keine Fiſche“ heißt nun freilich in der Sprache der kaſpiſchen Fiſcher keinesweges ſo viel wie nicht ein einziger Fiſch, ſondern nur etwa: keine Rothfiſche und auch von andern werthvollen Fiſchen nicht ſo viel, daß es ſich der Mühe verlohnte, auf ihren Fang nur zu gehen. Aber ein unterrichteter Arzt in Nowo-Petrowsk, Hr. Vikolskii, der früher in der jetzt aufgegebenen Feſtung Nowo— Alexandrowsk gewohnt hat, verſichert, daß man von dieſer Fe— ſtung aus nie in der Umgegend gefiſcht habe, und auch er meinte, daß gar keine Fiſche da ſeien. Daß die aſtrachaniſchen Fiſcher nie dahin fahren, wird auch von Hrn. Danilewski und Sſemenow beſtätigt, die zwar nicht in den Kultuk ſelbſt hineingekommen ſind, aber Fiſcher in benachbarten Gegenden ausgefragt haben. Nun ift zwar der Wertwyi-Kultuk ſehr verſandet, und wenn dieſer Sand, wie es bei der breiten Fläche wahrſcheinlich iſt, viel bewegt wird, ſo wird er der Entwickelung des organiſchen Lebens hemmend ent— gegentreten und wenig Nahrung für Fiſche enthalten, wie ich in an— dern Gegenden des Weeres beobachtet habe; allein wenn dieſe be— hauptete Abweſenheit von Fiſchen nur einigermaßen dem Wortſinne nach zu nehmen iſt, ſo möchte auch wohl das Waſſer daran Schuld ſein. Das wird auch wahrſcheinlich, wenn wir ſein Verhältniß be— trachten. Weit umher iſt kein Zufluß von ſüßem Waſſer. Die Quantität, welche der Ural dem Weere zuführt, iſt gering, und die des Emba-Fluſſes, mit Ausnahme des Frühlings, ganz unbe— deutend; die verdunſtende Fläche iſt groß und das tiefſte Ende, der Wertwyi-Kultuk, ſteht mit dem Kara-Su in Verbindung, den man vielleicht als einen in der Entwickelung begriffenen Salz— ſee zu betrachten hat. Ueberdies ſoll das wenige Waſſer, das aus dem benachbarten Uſtjurt zufließt, nach der Verſicherung des Hrn. Nikolskii, ziemlich ſtark bitterſalzig ſein. Der kleinen Buſen, die in Abtrennung begriffen ſein mögen, um Salzſeen zu bilden, wollen wir gar nicht gedenken. Im Süden haben wir dagegen zwei größere Buſen, den Aſtrabat'ſchen und den von Enſeli, von denen beſon— ders der erſtere ſtarken Zufluß von ſüßem Waſſer, und alſo einen geringern Salzgehalt hat. N. 13

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Nach Abſcheidung dieſer einzelnen abgeſonderten Glieder bleibt das große Becken übrig, das nach ſeinen phyſiſchen Verhältniſſen wieder in zwei Abtheilungen zerfällt, in das nördliche flache und das ſüdliche tiefe Becken. Bekanntlich iſt nicht nur die geſammte Nord: küſte flach, ſondern die Tiefe wächſt auch außerordentlich langſam bis 8 Faden. Um die Seehunds-⸗Inſeln erhebt ſich der Boden wieder zu einer weit ausgedehnten Untiefe, auf welcher die Thätigkeit des Meeres allmälig die Inſeln neuer und neueſter Bildung Kulaly, WMorskoi, Swjatoi und Podgornyi erzeugt hat. Schreitet man aber von der Wolga-Mündung nach Süden vor, ſo findet ſich, daß, wenn man die Tiefe von 9 Faden ganz allmälig erreicht hat, der Uebergang zu 10 Faden raſch erfolgt und ſehr raſch noch viel bedeutendere Tiefen folgen. Wenn man nun eine faſt parabo- liſche Bogenlinie, deren Scheitel gegen die Wolga gerichtet iſt, von dem Agrachan'ſchen Vorgebirge nach Oſten hinüberzieht, nicht nach dem Vorgebirge Tjuk-Karagan ſelbſt, wie gewöhnlich angegeben wird, ſondern auf ein Drittheil der Entfernung zwiſchen dieſem Vorgebirge und dem Südende von Kulaly, ſo ſcheidet dieſe Linie ein nördliches flaches Becken, deſſen größte Ausdehnung von Oſt nach Weſt geht, von einem ſüdlichen tiefen Becken ab, deſſen größte Ausdehnung von Nord nach Süd ſich erſtreckt. Das flache nördliche Becken hat nach dieſer Abtheilung nicht über 9 Faden Tiefe, und da es das Waſſer der mächtigen Wolga, des Terek, des Ural und der Emba aufnimmt, ſo enthält es nur ein braki⸗ ſches, an der Vordküſte faſt ungeſalzenes Waſſer, deſſen allmälige Zunahme an Bitterkeit und Salzgehalt nach Oſten erſt dann ge— hörig bekannt ſein wird, wenn die Waſſerproben, die Hr. Seme— now mitgebracht hat, unterſucht ſein werden. Das tiefe Becken dagegen gewinnt ſehr raſch an Tiefe, die ſüdlich von Tarki ſelbſt in der Nähe der Küſte ſehr bedeutend wird. Schon im 16. Jahr- hundert fiel es dem engliſchen Handlungs⸗Factor Arthur Edwards auf, daß er, nur 12 Leagues von der Küſte hinſteuernd, (bei 41° 28“ Polhöhe), mit 200 Faden den Grund nicht erreichen konnte. Die Witte gilt für unergründlich tief. In der That hat man jedoch noch keine continuirlichen Lothungen mit gehörig langen Leinen ver— ſucht. Nur ſo viel ſcheint gewiß, daß dieſes tiefe Becken wieder

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in zwei Abtheilungen zerfällt, eine nördliche und eine ſüdliche. Die Gränze zwiſchen ihnen iſt da, wo das Meer am meiſten verengt iſt, zwiſchen dem Apſcheronſchen und dem Kras nowodskiſchen Vorgebirge. Man wußte ſchon ſeit längerer Zeit, daß an dieſer verengten Stelle man weit in's Meer hinein den Boden mit gewöhn— lichen Lothleinen erreichen kann, und glaubte daher, daß ein ſtark erhobener Kamm von einem Ufer zum andern hinüberlaufe und beide Abtheilungen völlig ſcheide. Eine ſpecielle Unterſuchung, welche die Admiralität vor wenigen Jahren veranſtalten ließ, hat aber doch nachgewieſen, daß in der Mitte zwiſchen beiden Ufern, und zwar auf eine bedeutende Strecke hin, der Boden mit einer Lothleine von 100 Faden nicht erreicht werden konnte. Von dieſen beiden Ab— theilungen ſcheint die nördliche im Allgemeinen die tiefere zu ſein, da die Kolotkinſche Karte in der ſüdlichen, an einigen Stellen wenig— ſtens, ziemlich weit vom Ufer 35 Faden notirt, auch iſt ihr ganzes Oſtufer weit ins Weer flach nach Kolotkin und noch mehr nach Karelin, aber in der Witte der Südküſte, unter 49 ¼ öſt⸗ licher Länge von Paris, notirt Kolotkin, kaum 8 Seemeilen von der Küſte entfernt, 80 Faden Tiefe. Das flache Becken wird immer flacher an allen ſeinen Rändern, von dem Abſatz der großen Flüſſe und vom Sande der öſtlichen Steppe, den der vorherrſchende Oſt— wind in's Meer treibt. Im tiefen Becken verſandet aus demſelben Grunde der ſüdöſtliche Winkel. Schon Ewersman hat über die Zunahme des Landes an der Oſtküſte des flachen Beckens berichtet und den Sand der Steppe als den Grund erkannt, weshalb hier die kleinen Inſeln allmälig mit dem Lande ſich verbinden. Weine Begleiter, die Hrn. Danilewski und Semenow haben dieſe Küſte beſucht und die Zunahme des Landes beſtätigt. Sie konnten in der von ihnen betretenen und befahrenen Gegend keine der in Kolot— kin's Atlas verzeichneten Inſeln wieder finden. Ueberhaupt iſt die Gränze zwiſchen Meer und Land ganz unbeſtimmt und wechſelt mit der Richtung des Windes. Nach Weſten wirken die Flüſſe durch Anſchwellung noch raſcher und zwar der Terek verhältnißmäßig viel mehr als die Wolga. Ich habe ſelbſt eine Watage (Fiſcherei⸗ Etabliſſement) am nördlichſten Arme des Terek, dem Proruſa, beſucht, über welche hinaus das Land jetzt ſich weit vorgeſchoben 13 *

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hat. Die älteften Bewohner deſſelben haben noch in ihrer Jugend am Hofe des kleinen Hügels, auf dem die Watage ſteht, das Meer geſehen; wir dagegen mußten vom Meere 16 bis 20 Werft zurück— legen, um ſie zu erreichen. Jene Ausſage wird aber durch die Local⸗Verhältniſſe und durch den Namen ſelbſt beſtätigt. Dieſe Watage heißt Schwarzes Vorgebirge (Rynok). Rynok bedeutet nach der hieſigen Landesſprache ein Vorgebirge, wenn es etwas abgerun— det iſt. An der Wolga iſt dieſe Benennung ganz allgemein. Die Watage des „Schwarzen Vorgebirges“ iſt erſt in der zweiten Hälſte des vorigen Jahrhunderts gegründet, und jetzt iſt das Meer von dort gar nicht mehr ſichtbar. Der Steppenboden hört mit fcharfer Gränze auf, um ihn herum läuft eine ſchmale Einfaſſung von Sali— cornien, und dann folgen, ſo weit das Auge reicht, Sumpfpflan— zen, beſonders Rohr. Es iſt alſo nicht ein Boden, den das Meer abgegeben, ſondern ein Boden, den der ſeichte Flußarm neu gebil— det hat. An den ſüdlichen Armen des Terek wächſt das Ufer eben ſo oder vielleicht noch mehr in das Meer hinein. Dieſe Mündungen des Terek haben ſich dem Agrachan'ſchen Vorgebirge nach den neueſten Karten auf ein Paar Werſt genähert. Ein Fiſcher, der dort geweſen iſt, wollte den Abſtand jetzt auf nur 11 Werſt ſchätzen. Im tiefen ſüdlichen Becken iſt nur die Mündung der Kura bedeu— tend vorſchreitend.

Im flachen Becken iſt das Waſſer weit in's Weer hinein trübe von den in ihm ſchwebenden Beimiſchungen, ja im Weſten reicht die Trübung bis zum Agrachanſchen Vorgebirge, im Oſten aber lange nicht ſo weit. In der Witte ſcheint die Trübung ziemlich genau am Rande der unten näher bezeichneten Wuſchelbank aufzu— hören, oder in der Gegend, wo die äußerſt geringe Senkung des nördlichen Saumes etwas mehr zunimmt. Von hier an wird das Waſſer durchſichtig und ſchön ſeladon-grün.

Füge ich noch hinzu, daß das flache Becken überall von flachen Steppenländern umgeben iſt, mit alleiniger Ausnahme des Ueber— ganges von Mertwyi Kultuk in den Kara-Su, in der Gegend der ehemaligen Feſtung Nowo-Alexandrowsk, wo der hohe Uſtjurt nahe zum kaſpiſchen Weere vortritt, das tiefe Becken aber meiſt hohe Uferländer, hie und da mit ſchmalem Vorlande, hat, an

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der Oſtküſte jedoch um den Kara Bugas und von dem Kras— nowodski'ſchen Buſen bis zum Aſtrabat'ſchen flaches Land, fo glaube ich ein gedrängtes Bild des kaſpiſchen Meeres gegeben zu haben.

Ich komme nach dieſer langen Einleitung auf den Punkt zu— rück, an welchem das Waſſer geſchöpft wurde. Wenn ich oben die Scheidungslinie zwiſchen dem flachen und dem tiefen Becken des kaſpiſchen Meeres nicht nach der vorragenden Spitze Tjuk-Kara— gan gezogen wiſſen wollte, ſondern auf ein Drittheil der Diſtanz zwiſchen ihr und der Südſpitze von Kulaly, ſo geſchah es, weil um das Vorgebirge ein verhältnißmäßig tiefer Kanal ſich zieht. Seine Tiefe wird von den hieſigen Fiſchern zu 12 Faden angege— ben, Obriſt Iwaſchinzow hat auch noch in dieſem Jahre dieſe Tiefe gefunden. Ich ſelbſt habe zwar nur wenig über 11 Faden gemeſſen, kann aber darauf gar kein Gewicht legen, da ich nicht oft genug gelothet habe, um die tiefſte Stelle zu finden. Das aber kann ich aus eigener Beobachtung bezeugen, daß die Tiefe über 10 Faden ziemlich ſchmal iſt, alſo einen Kanal bildet, denn ein Paar Seemeilen von der Küſte wächſt die Tiefe raſch, und ſchon wenige Seemeilen weiter hat man 8 und bald 6 Faden Tiefe, wenn man von' der Diſtanz des Südendes von der Inſel Kulaly kaum ein Drittheil erreicht hat. Wir ſcheint, daß in dieſer Furche, wenn nicht bleibend, doch ſehr gewöhnlich, eine Strömung von SW. nach NO. herrſcht, denn die Schiffe legen den Weg von dem Hafen (der nicht an der äußerſten Spitze ſelbſt, ſondern SSW. von ihm liegt) nach der Spitze gewöhnlich ſchneller zurück, als umgekehrt von der Spitze nach dem Hafen. Eine ſolche Strömung erſcheint aber auch höchſt wahrſcheinlich, weil der Verluſt, den das Waſſer in der Oſthälfte des nördlichen flachen Beckens durch Verdunſtung erleidet, nicht allein durch den waſſerarmen Ural und den ganz unbedeu⸗ tenden Zufluß aus der Emba erſetzt werden kann, ſondern eine Zuſtrömung von Weſten fordern muß, vorzüglich aber weil das mehr geſalzene und deshalb ſchwerere Waſſer des tiefen Beckens gegen das weniger geſalzene flachere Becken in der Tiefe ausſtrömen muß. Nach der Oberfläche zu würde eine entgegengeſetzte Strömung aus demſelben Grunde entſtehen, wenn der Verluſt, welchen die

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breite Oſthälfte des flachen Beckens durch Verdunſtung erleidet, durch den Zufluß aus dem Ural und der Emba erſetzt werden könnte. Das iſt aber ſicher nicht der Fall, ſondern auch an der Oberfläche iſt ein Zufluß von Weſten her nothwendig. Ueberhaupt haben ja beide Becken, ſowohl das flache als das tiefe, faſt nur Zufluß von friſchem Waſſer von Weſten her, aus der Wolga, dem Terek, dem Kur, der aus zwei anſehnlichen Flüſſen gebildet wird, und aus unzähligen kleineren Bergflüſſen. Gegen dieſe kom— men die Emba und der Atrek gar nicht in Betracht. Aber auch wenn in dem Kanale um die Spitze von Tjuk-Karagan keine fortgehende und ſelbſt keine vorherrſchende Strömung aus dem tiefen Becken in das flache ginge, und der Kanal nur tief erhalten würde durch das wechſelnde Andrängen des Waſſers gegen die vorragende Spitze des Vorgebirges, bald von Oſten und Norden, bald von Weſten und Süden in Folge der verſchiedenen Winde immer wäre dieſe Stelle vorzüglich als der Miſchpunkt der Waſſer beider Becken zu betrachten, oder als die Gegend, wo man zunächſt hoffen kann, die mittlere Beſchaffenheit des Waſſers vom kaſpiſchen Meere zu finden.

Aus dieſem Kanale nun hatte ich das Waſſer geſchöpft, deſſen Analyſe Herr Wehner übernahm. Es iſt jedoch nicht aus der Tiefe geholt, wozu ich keinen Apparat bei mir hatte, ſondern von der Oberfläche. Welche Zunahmen des Salzgehaltes nach der Tiefe ſich finden, oder welche Wodificationen auch an der Oberfläche in den ſüdlichern Regionen vorkommen mögen, wird man erſt erfahren, wenn die Waſſerproben unterſucht ſein werden, welche Herr Seme— now in dieſem Augenblicke zu ſammeln abgereiſt iſt. Daß das Waſſer in dem tieferen Becken überhaupt mehr geſalzen iſt, läßt ſich nicht nur aus der großen Tieſe und dem geringern Zufluß von ſüßem Waſſer vermuthen, es wird auch beſtätigt durch den Geſchmack und durch die größern Wuſcheln.

Vach der Analyſe des Herrn Mehner betrug der Salzgehalt in dieſem Waſſer 1,4 pCt. und war alſo mehr als doppelt fo groß wie in dem Waſſer, welches Goebel nicht weit von der Wolga— Mündung ſammelte, und mehr als acht Wal ſo groß als in dem Waſſer, das Roſe 95 Werft jenſeit der Wolga-Mündung (Bir⸗

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jutſchja Koſſa) ſchöpfte. Stellen wir die drei Analvfen über: ſichtlich zuſammen.

Das kaſpiſche Waſſer enthält: 1) faſt einen Grad ſüdlich von der ſüdlich-weſtlich—

ſten Wolga- Mündung, nach Roſe 0,1654 pCt. Salze 2) einen halben Grad ſüdlich von der Ural⸗

Mündung, nach Goe beeeennnnns. 0,6294 3) vor dem Vorgebirge Tjuk-Karagan, nach

e er 1,4000

Wan überſieht hier nicht nur ſogleich die Armuth an Salztheilen im nördlichen flachen Becken, ſondern wird es wahrſcheinlich finden, daß das tiefere Becken weiter nach Süden bedeutend reicher an Salz- theilen iſt als da, wo es in das flache Becken übergeht.

Roſe und Goebel haben ihre Waſſerproben allerdings nicht weit von Flußmündungen geſammelt, allein man würde ſehr irren, wenn man glaubte, daß am Vordufer zwiſchen beiden Flüſſen die Sättigung viel bedeutender iſt. Wir haben faft in der Mitte zwi⸗ ſchen dem öſtlichſten Arme der Wolga und dem weſtlichſten des Ural, 30 40 Seemeilen von der Küſte, Waſſer geſammelt und die Bei— miſchung von Salz durch den Geſchmack zwar ſehr gut erkennbar, aber doch ſo gering gefunden, daß gar manches Trinkwaſſer, das in der Umgegend des kaſpiſchen Weeres im täglichen Gebrauche iſt, weil man kein anderes haben kann, ſalziger iſt. Wir hatten 2 Fa⸗ den Tiefe. Es ſcheint mir daher, daß die von Hrn. Sſokolow aufgeſtellte Regel, daß (bei ruhigem Wetter) das Waſſer des ka⸗ ſpiſchen Meeres als ſüß zu betrachten iſt, jo lange man die Tiefe von 2 Faden nicht überſchritten hat, von der Wolga bis zum Ural als gültig betrachtet werden kann. Weiter nach Oſten aber gilt dieſe Regel nicht mehr.

Daß der Salzgehalt in den einzelnen Gegenden nach den Win- den und Strömungen ſehr wechſelt, vorſteht ſich von ſelbſt. Be— hauptet man doch hier, daß in ſeltenen Fällen, wenn ein heftiger SW. längere Zeit anhält, ſelbſt bei Aſtrachan das Wolga-Waſſer einen ſalzigen Beigeſchmack haben ſoll. Dieſe Behauptung halte ich zwar für ſehr übertrieben, allein nicht ganz ſelten iſt das See—

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waſſer bis faſt in die Mitte der Entfernung zwiſchen Aſtrachan und den Wolga-Wündungen kenntlich.

Für die Anſicht, daß die Mullusken-Fauna des kaſpiſchen Meeres im Abſterben begriffen ſei, habe ich noch keine Gründe finden können. Allerdings zieht man faſt immer ſehr viel mehr leere Schaalen auf, als ſolche, die lebenden Thieren angehören, allein dieſes Verhältniß wird wohl überall ſich finden, wo nicht die leeren Schaalen durch eine ſehr ſtarke Strömung weggeführt werden. Sie erhalten ſich ſo lange an der Luft, um wie viel mehr unter einer Waſſerſchicht. Es giebt weite Strecken im kaſpiſchen Meere, wo leere Schaalen und Schaalentrümmer hoch über einander liegen. Unſere große Dragge zog ein Wal eine ſolche Waffe davon herauf, daß wir bis in den dritten Tag die wenig lebenden ausſuchten und dann der Reſt noch mehrere Pud in's Weer zurückgeſchüttet wurde. Der ganze Vorrath mochte wohl 10 Pud betragen haben. Nur die kleinern Schaalen waren ganz, von den größern waren nur Trüm— mer da. Voch ein anderes Mal war der Inhalt einer kleinen Dragge, die viel weniger tief gegriffen hatte, ziemlich derſelbe. Es ſcheint in der Längenrichtung des flachen Beckens weithin eine ſolche Muſchelbank zu verlaufen und zwar da, wo der lange Zeit außer— ordentlich langſam ſich ſenkende Boden von 3 oder 34 Faden Tiefe ein wenig raſcher abzufallen beginnt. Ich denke mir, daß die Wel— len, wenn ſie von Süden kommen, hier, wo der Boden flacher wird in einer Art Brandung anſchlagen, und den in ihnen ſchwebenden Inhalt weiter wegſchleudern, wodurch allmälig ein Wuſcheldamm gebildet iſt, der nur einer Erhebung des Bodens oder eines Abfluſſes des Waſſers bedarf, um eben ſolche Felſen aus Muſchel-Trümmern zu bilden, wie ſie an der Oſt- und Weſtküſte jetzt aus dem Waſſer vorragen. Groß iſt auch überall die Zahl der auf die Küſten aus— geworfenen Muſcheln, wo das Meer neben ihnen ſich nicht allzulang— ſam vertieft. Herr Danilewski, der vor mir die Inſeln Kulaly und Worskoi beſucht hatte, ſagt in ſeinem Bericht, dieſe Inſeln beſtänden aus Sand, ausgeworfenem Seegras und Mufcheln. Für Worskoi, welches ganz neuen Urſprungs iſt, muß ich dieſer Dar— ſtellung vollkommen beiſtimmen. Es iſt bedeckt mit kleinen Hügel- chen, die aus der Ferne ſchon durch ihre weiße Farbe auffallen

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und vorherrſchend aus gebleichten Wuſcheln beſtehen, die der Wind hin und her weht, bis einzelne Gräſer oder andere Pflanzen ihnen einige Feſtigkeit geben. Für Kulaly möchte ich dieſen Ausdruck nur für die Ränder gelten laſſen, wo man mehr Wuſcheln und Schnecken oder Sand ſieht, aber die Scheitelfläche beſteht doch vor⸗ herrſchend aus Sand, dem nur eine anſehnliche Wenge Muſcheln beigemengt iſt; die meiſten hat der Wind ohne Zweifel verweht, denn die hieſigen Muſcheln werden ſehr leicht vom Winde gehoben, da unter ihnen eine große Menge von dünnſchaligen Adacnen oder Pholadomyen ſich befinden und auch die Herzmuſcheln meiſtens nur klein find. Ueber die große Beweglichkeit der hieſigen Muſcheln habe ich gelegentlich eine eigenthümliche Erfahrung gemacht. Es kam mir darauf an das Niveau des Waſſers in einem Brunnen, der auf der Düne am Hafen von Tjuk-Karagan ſich findet, ge- gen das Meeres-Niveau zu beſtimmen. Dieſer ſogenannte Brunnen iſt, wie manche ähnliche hier, nichts weiter als eine Grube, die man in den Sand gegraben und in die man ein Faß eingeſenkt hat, um als Brunnen-Einfaffung zu dienen. Damit der Brunnen aber nicht zugeweht werde, hatte man ihn mit einem Dache von Rogoſhen in Form eines Zeltes bedeckt. Mit dem Vivellement bis zu dieſem Brunnendache angekommen, ſah ich kein anderes Wittel, es bis über den Brunnen zu leiten, als das Dach ein Paar Quadrat⸗Fuß weit aufreißen zu laſſen, um eine Latte in horizontaler Richtung bis über den Brunnen zu führen. Es wehte an dieſem Tage ein ſo heftiger Wind, daß man beim Ableſen durch das Fernrohr Mühe hatte, ſich zu halten. Kaum war nun die Brunnendecke aufgeriſſen, als durch die Oeffnung eine Wenge leichter Muſcheln mit ſeinem Sande in dieſe Bedachung flog, und da der gewöhnliche Eingang zur Seite lag, darin umher wirbelte. Ich war umgeben von einem wahren Muſchelgeſtöber mit feinem Sande, als ich den Abſtand der Waſſerfläche des Brunnens von der Latte maß und mußte eilen, die gemachte Oeffnung zu ſchließen, um den Brunnen nicht verſchüt⸗ ten zu laſſen. Grobe Sandkörner ſcheinen nicht ſo hoch gehoben zu werden. Dieſes ſeltſame Muſchelgeſtöber erinnerte mich, daß man in dieſem Lande, wo alles an die Vergangenheit mahnt, zuweilen auch von vorweltlichen Muſcheln umſtöbert werden muß, zwar nicht

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hier bei Tiuk-Karagan oder Wangiſchlak, wo die in den Bo⸗ den vergrabenen Muſcheln maſſiger ſind, aber weiter nördlich in der Wolga⸗Steppe.

Die Frage, ob die Wollusken-Fauna des kaſpiſchen Weeres im Abſterben begriffen iſt, ſcheint auch inſofern wichtig, weil die Mu⸗ ſcheln weſentlich zur Ernährung der Rothfiſche beitragen.

Daß die nordkaſpiſche Steppe zwiſchen der Wolga und dem Ural⸗Fluſſe Boden des kaſpiſchen Meeres war, und war zu einer Zeit, als dieſes ſchon feine jetzige Fauna hatte, bezweifelt wohl Nie- mand mehr, da in allen Einriſſen des Bodens kaſpiſche Wuſcheln zu Tage kommen. Ich kenne die Vordgrenze dieſes alten Meeres⸗ Beckens nicht aus eigener Anſicht, allein ich kann nicht zweifeln, daß ſchon die Gegend des Elton-Sees hoch bedeckt war von einem ziemlich ſtark geſalzenen Waſſer, denn ſehr häufig findet man in den Einriſſen, welche das Frühlingswaſſer macht, Cardium trigo- noides und C. erassum von einer Größe, wie ſie nicht im flachen, ſondern nur im tiefen Becken der Jetztzeit oder an ſeinen Grenzen vorkommen. Es iſt aber auch leicht, die Muſcheln des Brakwaſſers vom damaligen Weere aufzufinden, und das Vorkommen derſelben ſpricht mächtig dafür, daß Pallas ganz richtig die Randſtufe der Doniſchen Hochſteppe für das Ufer des alten kaſpiſchen Meeres an⸗ ſah. Bekanntlich fließt die Wolga ſeit längerer Zeit am Rande dieſer Stufe, hat alſo rechts zuerſt das Kreideland, dann die Do⸗ niſche Hochſteppe, links aber eine viel tieſere Grasſteppe und dann die ſalzige Steppe, charakteriſirt durch Salzkräuter und Artemiſien. Bei Zarizyn und noch entſchiedener bei Sarepta biegt die Stufe der Hochſteppe von dem jetzigen Wolgabette ab, und dieſe fließt durch den ehemaligen Meeresboden. Dennoch bleibt das rechte Ufer höher, weil der Fluß, nach Weſten drängend, hier eingeriſſen hat und noch immer einreißt, nach Oſten aber abſetzt. In dieſem rech⸗ ten Ufer nun ſieht man, wo es ſteil abgeriffen iſt, eine Schicht Mu⸗ ſcheln, welche ſämmtlich den Charakter der kaſpiſchen Brakwaſſer⸗ Wuſcheln an ſich tragen. Man ſieht dieſe Wuſchelſchicht ſtellenweiſe ſchon bei Sarepta, aber am ſchärfſten in dem faſt ſenkrechten Ufer, auf welchem Tſchernoi Jar liegt. Sie iſt auch weiter un⸗ ten von Zeit zu Zeit noch recht deutlich. Dreissena polymorpha

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und eine andere Dreissena, die nie im Flußwaſſer vorkommt, find am meijten aufgewachſen und am häufigſten, die Myaceen find Hein und die Cardien am wenigſten aufgewachſen und am ſeltenſten. Hier war alſo wohl das alte Ufer nahe. Gewöhnlich liegen die Mufcheln im Sande. Wo nun der Steppenboden dieſer Gegend, ein zäher Lehm, die obere Schicht bildet, da liegt die Muſchelſchicht vor jeder Auferſtehung geſichert und die Ufer⸗Einſtürze zeigen den Durchſchnitt derſelben. Vor Lebäſhje aber läuft die Lehmſchicht aus, der Bo— den wird ſandiger und geht ſtellenweiſe in wahren Flugſand über. Hier nun, wo auch die Muſchelſchicht wohl urſprünglich ſchon der Bodenfläche näher lag, haben die Winde ſie aufgewühlt und als die leichteſten Theile nach oben gebracht. Eine ſandige ſanft auf— fteigende Höhe hinanfahrend, ſah ich nicht ohne Verwunderung glänzende Streifen, netzförmig verbunden, die wellige Fläche weit hin überziehen. Die nähere Unterſuchung zeigte bald, daß hier unzäh— lige Muſchel-Splitter mit einigen größeren Stücken, mitunter auch ganzen Muſcheln, vom Winde umhergetrieben werden, und bei ſtil⸗ lem Wetter zwiſchen den Sandwellen Waſchen bilden, wie jede leich— tere Subſtanz, die auf dem Sande vom Winde bewegt wird. Un⸗ ter den kenntlichen Muſchelbrocken findet man hier auch ſolche, welche größer waren, weil offenbar das alte Meer hier ſchon anſehnlich an Tiefe gewonnen hatte.

Und nun die Nutzanwendung. Wenn dieſe Muſcheltrümmer, welche Jahrhunderte hindurch nicht zur Ruhe gekommen find, fon- dern von den Winden umhergetrieben werden, noch nicht verwittert ſind, wie will man, daß im Boden ſie bald verweſen? Und wenn ſie ſehr lange ſich erhalten, ſo iſt es wohl nothwendig, daß man mit lebenden Wuſcheln immer eine Wenge leerer Schalen aufzieht. Zieht man doch von den Wolga-Mündungen die Dragge zuweilen gefüllt mit Paludina vipipara heraus, und findet unter 1000 Scha⸗ len kaum zwei, welche Thiere enthalten! Wer wollte indeß glaus ben, daß die Schnecke in der Wolga abſtirbt? Allerdings ſieht man auf den Inſeln und an einigen Stellen des kaſpiſchen Meeres Lager ausgeworfener Muſcheln. Allein gegen die Lager, welche ich auf den Schären von Bohus-Län geſehen haben, ſind ſie doch unbedeutend u nennen. Die Oſtſee freilich, an deren Ufer, ſo weit ich ſie

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kenne, die Muſcheln einzeln aufgelefen werden müſſen, ift in Bezug auf Muſchel-Production gegen das kaſpiſche Meer jungfräulich zu nennen.

In einer anderen Wittheilung geht Hr. v. Baer auf die Hy— potheſen ein, die, nicht nur über ein mögliches Abſterben der Mollusken-Fauna, ſondern über die Unterhaltung des thieriſchen Lebens im kaſpiſchen Weere überhaupt aufgeſtellt worden ſind.

Wir nehmen, ſagt Baer, die Veränderung, oder die mehrfachen Veränderungen des kaſpiſchen Beckens als geſchehen an, und haben alſo das Meer in feiner jetzigen Form, umgeben in feiner Nord: hälfte von einer weiten ſalzreichen Steppe, aus welcher nothwendig allmälig Salz durch das meteoriſche Waſſer aufgelöſt und der tief— ſten Region, die das jetzige Meer ſelbſt einnimmt, zugeführt wird. Da hat ſich denn in neuerer Zeit die Ueberzeugung hie und da aus— geſprochen, daß es zur Unterhaltung des thieriſchen Lebens nicht mehr tauglich bleiben werde, ſolche kleine Krebschen (Artemia) viel leicht ausgenommen, welche auch in ſtarker Salzſoole leben können. Es iſt nicht unwichtig, die Begründung einer ſolchen Meinung zu unterſuchen, denn das kaſpiſche Weer liefert jetzt eine ſo große Quan— tität von Fiſchen, wie vielleicht kein anderes Waſſer von dieſer Ober— fläche. Beauftragt mit einer Unterſuchung der Fiſcherei im kaſpi— ſchen Meere, mußte es mir von dem größten Intereſſe ſein, zu er— forſchen, ob Beweiſe für ein fortſchreitendes Abſterben vielleicht jetzt ſchon ſich nachweiſen laſſen, oder, wenn dieſe ſich nicht zeigen, ob in den phyſiſchen Verhältniſſen dieſes Sees ſich die Nothwendigkeit erkennen laſſe, daß er immer mehr mit Salz geſchwängert wer— den müſſe.

Goebel hat, allerdings in zweifelhafter Form, die Vermuthung hingeworfen, daß das kaſpiſche Meer, urſprünglich ein Süßwaſſer— See, aus der angrenzenden Steppe erſt allmälig ſein Salz erhalten haben möge. Eichwald hat nicht angeſtanden, das kaſpiſche Waſ— ſer ſchon ſehr ſalzig und bitter zu finden, und zu erklären, daß die Thiere in ihm im Abſterben begriffen, und, zum Theil wenigſtens viele Mufcheln, deren Schaalen man noch friſch ausgeworfen findet, ſchon ausgeſtorben ſind. Hommaire de Hell hat die erſte Angabe dazu benutzt, für das kaſpiſche Seewaſſer 5 pCt. Salzgehalt anzunehmen, womit es das Weltmeer überbieten und eine Stufe in der Reihe der

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Salzſeen ſchon erreicht haben würde. Hrn. Stuckenberg dient aber die zweite Mittheilung zu dem Thema einer Art Leichenrede, worin er erklärt, das kaſpiſche Weer habe ſich „überlebt“ und leide an Altersſchwäche, weil die Thiere in ihm abſterben u. ſ. w.“).

Goebel drückt ſich fo aus: „Faſt ſollte man glauben, das kaſpiſche Meer ſei ein Süßwaſſer-See geweſen, und habe allmälig aus der angrenzenden Steppe ſeinen Salzgehalt erhalten. Doch dies iſt eine Frage, die eben ſo ſchwer zu löſen ſein möchte, als die, woher es kommt, daß das Weltmeer mit ſo vielen Salzen angeſchwängert iſt, und woher es dieſelben genommen, ſo vielfach man auch ſeit Ariſtoteles Zeiten dieſe Fragen zu beantworten geſucht hat“ **).

Was die erſte anlangt, ſo ſcheint mir ihre Beantwortung ſo außerordentlich ſchwierig nicht. Die Cardaceen und an— dere Salzwaſſer⸗Muſcheln, welche wir in allen Ablagerungen des kaſpiſchen Meeres, in den felſigen ſowohl, als loſe in der Steppe in zahlloſer Menge finden, werden wohl nachweiſen, daß das ka— ſpiſche Meer von unmeßbarer Zeit her ſalzig war, wahrſcheinlich ſchon in früheren Bildungs-Perioden des Erdballs, wo es vom all— gemeinen Meere nicht geſchieden geweſen ſein wird. Iſt es denn leichter, eine urſprünglich geſalzene Steppe und einen urſprünglich ſüßen See daneben anzunehmen, als den ſalzreichen Steppenboden von dem See abzuleiten? Was aber die zweite Frage anlangt, ſo wird ſie allerdings oft aufgeworfen, allein es ſcheint mir, daß man ſie eben ſo wenig aufwerfen darf, als man fragen ſollte: wie kommt die Milch in die Kuh, oder wie kommen die Blutkörperchen in's Blut, die Knospen in den Baum? da man vielmehr fragen ſollte: wie kommt ſie heraus, d. h. wie werden ſie gebildet? Daß das füge Waſſer aus dem Meere herauskommt durch Verdunſtung, wiſ— ſen wir nur zu gewiß; warum ſollen wir denn ein urſprünglich ſüßes Waſſer annehmen? Blos um trinken zu können? Es war dafür geſorgt, daß das ſüße Waſſer früher da war als der Dunſt,

) Hydrographie des ruſſiſchen Reichs IV. S. 38. **) Goebel, Reife in die Steppen des ſüdlichen Rußlands. Bd. II. S. 104.

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und beſonders der Durſt des Wenſchen. Alle thieriſchen Reſte aus den älteſten Formationen des Erdkörpers haben ihre nähern und entfernteren Verwandten, wenn dieſe überhaupt noch vorhanden find, nicht unter den Süßwaſſerthieren, ſondern unter den Bewoh— nern des ſalzigen Waſſers. Was hat man alſo für Gründe, ſich ein urſprüngliches Meer von ſüßem Waſſer zu denken, und ihm dann von unten Salz beizubringen, damit es nicht faule?

Was das Abſterben der Thiere anlangt, ſo darf, wenn man leere Schaalen am Ufer findet, nicht daraus geſchloſſen werden, daß auch im Weere die Bewohner abgeſtorben ſind. Allerdings haben in viel früheren Zeiten, deren Abſtand von heute wir nicht abſchäz— zen können, im Bereiche des kaſpiſchen Meeres Thiere gelebt, die nicht mehr in demſelben lebend vorzukommen ſcheinen, wie z. B. die Mus ſcheln, welche vorherrſchend das hohe Felſenufer bei Wangiſchlak bilden, Mactra Caspia bei Eichwald, eine Pecten-ähnliche Schaale am Weſtufer u. ſ. w. Dieſe und andere Wollusken-Arten, die man in den felſigen Ufern findet, hat Niemand bisher lebend, oder auch nur friſch ausgeworfen geſehen. Aber Aehnlichkeit iſt ja überall. Unter den Schaalen, welche man in der Steppe zerſtreut findet, möchten nicht ſo viele ausgeſtorbene Formen vorkommen, als man annimmt. Was aber die Muſcheln anlangt, welche noch in friſchem Zuſtande ausgeworfen werden, ſo habe ich ſie alle lebend aus dem Meere gebracht, obgleich, wie ſich von ſelbſt verſteht, im Meere außer— dem eine noch viel größere Menge leerer Schaalen ſich findet. Seit jener (vorhergehenden) Wittheilung habe ich außerdem eine kleine Er— fahrung gemacht, die ich nicht unterlaſſen will, hier noch beizufügen. Ich habe die Inſel Tſchetſchen beſucht, und an der Küſte, beſon— ders an der weſtlichen, eine faſt unglaubliche Wenge ganz friſch aus— geworfener Schaalen derjenigen Muſcheln, welche Eichwald Adacna laevigata nennt, gefunden, und konnte nicht umhin die Austwürfs linge einem Sturme zuzuſchreiben, der wenige Tage vorher geherrſcht und uns gehindert hatte, gerade nach Tſchetſchen zu gehen, wie un— ſere Abſicht war. Ich mußte glauben, daß ſie vor ganz kurzer Zeit ausgeworfen waren, weil in allen das Band am Schloſſe noch er— halten war, und die Schaalen zuſammenhielt. Von den Thieren war aber nichts mehr zu erkennen. Die Beſtätigung dieſer Ver:

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muthung erhielt ich bald. Während des Sturmes felbit hatte der Kriegs⸗Gouverneur von Aſtrachan, Contre-Admiral Waſſiljew, ſich an der Inſel vor Anker gelegt, um ruhigere See abzuwarten. Ihn begleiteten die Herren Semenow und Weideman, und dieſe jungen Naturforſcher haben viele der ausgeworfenen Schaalen noch mit dem lebenden Thiere gefunden und mitgebracht, von denen ich einige beſitze. Die Adacnen gehören aber beſonders zu den Schaal— thieren, welche man für ausgeſtorben oder ausſterbend erklärt hat. Es giebt überdies ein Zeugniß, welches gültiger als alle übrigen be— weiſt, daß die Thierwelt im kaſpiſchen Meere nicht in ſichtlicher Ab- nahme begriffen iſt. Dieſes Zeugniß liegt in der Geſchichte der Fiſche— rei. Es iſt keinem Zweifel unterworfen, daß der allgemeine Ertrag derſelben mit den Jahren immer größer geworden iſt, ſo wie man mehr Wittel zum Fange angewendet hat. Ob das Verhältniß des Er— trages zu den aufgebotenen Witteln für den Einzelnen jetzt ſo günſtig iſt als früher, iſt eine andere Frage. Aber daß der Geſammt-Ertrag noch immer im Zunehmen iſt, läßt ſich erweiſen. Wehrere Willio— nen Pud Fiſche werden jährlich aus dem kaſpiſchen Meere gezogen. Dieſe haben ſich nicht aus ſalzigem Waſſer allein gebildet, ſondern aus organiſchem Stoffe, und zwar vorherrſchend aus thieriſchem.

Gegen das Zeugniß der Decrepidität, welches Stuckenberg dem kaſpiſchen Meere ausſtellt, möchte ich ein Zeugniß der Unreife ſtellen. Unreif iſt es deshalb, weil es in ſeinen jetzigen Verhältniſ— ſen noch neu iſt, neuer als andere Meere. Die Folgerungen der neueren Verhältniſſe gehen noch fort, und werden noch längere Zeit merklich bleiben. Das Weer wird fortfahren, aus der Steppe durch Waſſer und Wind neuen Bodenſatz zu erhalten. Die Thätigkeit der Hitze unter ſeinem Boden geht auch noch fort. Durch beide Verhältniſſe iſt es vielmehr in Veränderung begriffen, wie ſein ab— gelöfter, ruhigerer Zwillingsbruder, das ſchwarze Meer. Tumul—⸗ tuariſche und überthätige Jugend iſt eher Fehler des kaſpiſchen Meeres, als hinfälliges Alter.

Aber die Frage hat doch auch eine ernſte Seite. Wir haben jetzt ein kaſpiſches Meer mit geſchloſſenem Umfange, und in jeiner Umgebung eine weitgedehnte, ſalzreiche Steppe. Wenn die Ver⸗ hältniſſe ſo wären, daß das kaſpiſche Waſſerbecken allmälig alles

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Salz aufnehmen müßte, welches in dieſer Steppe enthalten iſt, ohne von ſeinem Salzvorrathe bedeutende Quantitäten abzugeben, ſo müßte es nothwendig an Salzgehalt zunehmen, denn es würde in einem ſehr viel kleineren Becken der Jetztzeit alles Salz ſich ſam— meln, das in der Vorzeit, als das kaſpiſche Meer noch bis Chwa— linsk oder bis Spask ſich ausdehnte, in dieſem ſehr viel größern Becken enthalten war. Es wäre doch möglich, daß dann manche von den Thieren, welche jetzt in ihm leben, nicht mehr beſtehen könn— ten, und da das Weer abgeſchloſſen iſt, fo iſt eine Einwanderung von Salzwaſſer⸗Thieren anderer Art nicht gut denkbar. Die nörd— liche Hälfte des flachen Beckens muß wohl immer wenig geſalzen bleiben, da von hier das ſüße Waſſer, das durch Verdunſtung ver— loren geht, vorzüglich zufließt. Hier wird alſo immer eine große Wenge organiſchen Stoffes gebildet werden, wie es jetzt beſonders in den Nebenbuchten der Wolga geſchieht, und dieſer Stoff wird dem Fiſchvorrathe auf irgend eine Weiſe zu gute kommen. Allein es wäre ein ſchlimmer Umſtand, wenn das tiefe Becken des Meeres ſo geſalzen würde, daß das organiſche Leben in ihm, wenn auch nicht ganz aufhören, doch ſehr beſchränkt würde. Die Fiſche wür— den dann in dem engen Raume des wenig geſalzenen Waſſers ſich ſammeln, und der Erwerbſucht der Fiſcher ſo preisgegeben, daß der Staat kräftige Maaßregeln für die Erhaltung derſelben zu ergreifen hätte, und wahrſcheinlich die Fiſcherei beſchränken müßte.

Glücklicher Weiſe iſt das kaſpiſche Meer keine Porzellanſchaale, welche Salzwaſſer aufnimmt und nur das ſüße Waſſer verdampfen läßt, das Salz aber zurückbehält. Es hat ſeine Einnahme, aber auch ſeine Ausgabe an Salzen, und es kommt nur darauf an, ob es gelingt, beide gegen einander abzuſchätzen.

Wir ſcheint die Einnahme viel geringer als man gewöhnlich glauben mag, wenigſtens bei Aufſtellung der oben erwähnten An— ſicht, wogegen der Verluſt an Salzgehalt, den man gewöhnlich ganz außer Acht läßt, jedenfalls anſehnlich, vielleicht ganz groß iſt.

Das kaſpiſche Meer bildet ebenſowohl feine Salz-Lagunen und Salzſeen, wie ſein Zwillingsbruder, das ſchwarze Weer, und in manchen Gegenden das Weltmeer, allein in dem erſteren kann der Verluſt an Salz nicht anders erſetzt werden, als aus ſeinen eigenen

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Ufern. Im Weltmeere kann der Verluſt dieſer Art gar nicht in Betracht kommen; bei Weeren, die wenig geöffnet ſind, wie das baltiſche und das ſchwarze, hängt der Salzgehalt ſo ſehr von der Quantität des einſtrömenden ſüßen Waſſers, und ſeinem Verhält— niſſe zum Abfluſſe in das offene Meer, einer etwaigen Gegenſtrö— mung u. ſ. w. ab, daß auch ſtarke Salzablagerungen kaum eine be— merkbare Wirkung hervorbringen werden.

Die Abſcheidung von Weerestheilen durch verlängerte Sand— bänke erfolgt an den Küſten des kaſpiſchen Weeres allerdings nicht in fo großem Maßſtabe, wie am ſchwarzen, oder wie am mexicani— ſchen Golfe, allein ſie fehlt keineswegs, namentlich an der Oſtküſte. Nicht weit von der Alexander-Bai iſt der langgezogene Salzſee Karakul, der ſich über 40 Werſte erſtreckt, von dem Weere durch eine Sandbank ſchon abgetrennt. Die noch längere Sandbank wei— ter im Süden, welche auch Karelin beobachtet und gezeichnet hat, kann auch kaum anders enden, als mit Abſperrung. Den Aſtra— badſchen und Senſilinskiſchen Golf ſchützt das einſtrömende ſüße Waſſer, das beſonders bei dem erſtern in großer Wenge zu— ſtrömt, vor ähnlichem Schickſal. Allein dem Kenderlinskiſchen Golfe, ſo tief er auch iſt, könnte man doch eine Abſperrung vor— herſagen, wenn man bedenkt, was vollkommen beglaubigt zu ſein ſcheint, daß man bei den erſten Beſuchen nur eine vorliegende lang— gezogene Inſel fand, und daß ſpäter dieſe Inſel nach Süden mit dem Feſtlande ſich verbunden zeigte. Man braucht auch nur die Form dieſes Golfes ohne Zufluß ſich anzuſehen, um ſich zu über— zeugen, daß eine Anſchwemmung von Sand gegen ihn erfolgen müſſe. Es wird darauf ankommen, wie lange die Ausſtrömung des gelegent— lich aufgeſtauten Seewaſſers aus ihm der Einſtrömung die Waage halten wird. Wenigſtens läßt ſich eine Abſcheidung ſeines ſüdlichen Theiles in einen Salzſee erwarten, wie fie an der Bucht von Man— giſchlak oder Tjuk-Karagan ohne Zweifel erfolgt iſt.

Auf der Spitze der Halbinſel Mangiſchlak, zwiſchen der Feſtung Nowo-Petrowsk und dem Hafen, liegen drei oder, wenn man will, vier Salzſeen nahe bei einander, welche die verſchiedenen Bildungsperioden derſelben zeigen, jo daß fie als belehrende Wuſter für die Entſtehungsgeſchichte von Salzſeen dieſer Art gelten können.

IV. 14

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Da wir längere Zeit in der Nähe derſelben gaftliche Aufnahme bei dem Commandanten von Nowo-Petrowsk fanden, fo hatten wir Muße genug, ſie zu beobachten.

Es iſt bekannt, daß die Halbinſel Wangiſchlak, deren Spitze auch Tjuk-Karagan genannt wird, ein hohes Tafelland iſt, aus Kalkfelſen neuerer Formation gebildet. Etwas ſüdlich von der Außer: ſten Spitze liegt an der Weſtküſte die Bucht, in welche die Schiffe einlaufen, die entweder die Feſtung verſorgen, oder den Handel mit den Kirgiſen, und weiter nach Chiwa und Buchara unterhalten. Dieſe Bucht dringt nicht etwa in das Felsgebäude ſelbſt ein, ſondern fie liegt vor ihm. Am weſtlichen Fuße des Felsrandes hat ſich näm— lich ein niedriges Vorland aus Weerſand mit großen Muſcheln aus der Tiefe gebildet. Es wird nach Norden immer breiter. Am Fuße der Feſtung iſt dieſes Vorland ſchon mehr als 14 Werft breit, und hier liegt dicht unter der Feſtung ein Salzſee, der im Sommer faſt voll— ſtändig mit Salz angefüllt iſt; nur am weſtlichen Rande, dem Weere zu, ſahen wir in einem kleinen Raume kein Salz, und hier ſoll, nach der Ausſage der Bewohner der Feſtung, nie feſtes Salz ſich bilden, ſondern nur Rapa, d. h. ſtarke Salzſoole ſein. Im Frühjahr nach dem Aufthauen des Schnees fließt ſo viel Waſſer in den See zu— ſammen, daß man nur eine Waſſerfläche ſieht. Einige Perſonen verſicherten ſogar, daß er dann gar kein feſtes Salz enthalte. Allein das iſt wohl nicht richtig, denn man findet ſehr leicht unter der dies— jährigen Schicht eine frühere, durch eine dünne Lage von Schlamm getrennt. Ob die untere Lage wieder aus mehreren Schichten be— ſteht, weiß ich nicht mit Beſtimmtheit anzugeben, da Viemand hier Bohrverſuche gemacht hat. Es giebt Salzſeen, in denen unter der oberen Schicht eine Wenge anderer liegen, die wie Flötze von ein— ander getrennt ſind, wie im Elton-See, und andere, wo das un— tere Salz, der Koren (die Wurzel) der Ruſſen nur eine unfoͤrm— liche Maſſe bildet. Ich kann nur aus dem Umſtande, daß das Stück welches man mir als untere Schicht heraufbrachte, nach der Reini— gung vom Schlamm, eine untere und obere Fläche zeigte, ver— muthen, daß mehrere Schichten über einander liegen. Das Waſſer, welches die obere Schicht auflöſt, und aus der unteren durch den Schlamm hindurch ſo viel auslaugt, daß es dem Sättigungsgrade

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nahe kommt, verdunſtet bei eintretender Wärme und das Salz kryſtal⸗ liſirt wieder, eine obere Schicht bildend. In der Witte des Auguſtes ſahen wir ſchon den See faſt angefüllt mit röthlichem Salz, mit Ausnahme des weſtlichen Ausſchnittes, und dieſe Anfüllung war ſchon viel früher erfolgt, da man ſchon ſeit längerer Zeit gebrochen hatte. Das Salz war im Auguſt und September, je nach der Windes⸗Richtung, entweder ſehr weit ganz entblößt von Waſſer, ſo daß man trockenen Fußes eine Strecke in den ſogenannten See auf dem Salze fortgehen konnte, ohne auch nur die Sohlen naß zu machen, oder es war einige Linien hoch mit Waſſer bedeckt, und bei heftigem Weſtwinde auch wohl etwas mehr als einen Zoll hoch. Daß die Tiefe der geringen Schicht Soole nach dem Winkel zu, der nie Salz hat, langſam zunimmt, läßt ſich erwarten. Ich finde es un⸗ recht, daß man ſolche Ausfüllungen mit Salz „Salzſeen“ nennt, und möchte ſie lieber Salz-Mulden nennen. Es giebt in der Steppe ſolche, die während des Sommers ganz trocken ſind, wie eine Eis— fläche. Daß das Frühlingswaſſer eine Menge Salz auflößt, würde ja auch in jeder gemeinen Holz-Mulde mit Salz geſchehen, aber die Soole iſt in brauchbaren Salzſeen nur unbedeutend, nur ein Waſ— ſer auf dem Salze, und man darf nicht glauben, daß auf dem El— ton⸗See die vielen Arbeiter den See in Kähnen befahren. Sie ſte— hen vielmehr auf dem Salze, wobei freilich die Füße, oder, wo vor kurzem die oberſte Schicht des Salzes weggebrochen iſt, auch die Beine“) in der Soole ſtehen. Allerdings hat man Boote, um das Salz zu transportiren, aber für dieſe iſt ein Kanal aus dem Salze ausgehauen, der nicht nur jährlich, ſondern wenigſtens mehrmals im Jahre gereinigt werden muß, um auf ihm fahren zu können. Auf der Chara duſunskiſchen Salz⸗WMulde, weſtlich von Aſtra— chan, bin ich mit dem Salz-Director Bergſträßer in einem drei ſpännigen Wagen umhergefahren. Hier bei Nowo-Petrowsk iſt die Salz⸗Mulde, von der wir geſprochen haben, noch nicht ganz fertig, denn man wird wohl errathen haben, daß in dem Winkel,

*) Nach ſehr ſchneereichen Wintern, wie in dem laufenden Jahre, iſt die Maſſe der Soole etwas größer, immer aber iſt nur Soole auf dem Salze in dieſem ſogenannten Salzſee.

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dem Meere gegenüber, noch Einriefelungen aus demjelben ftattfinden, welche die Soole hier nie zur völligen Sättigung kommen laſſen. Wan erkennt ſie im Boden des Waſſerbeckens. Ich verſuchte durch einen in den See eingeſetzten Meßſtab zu beſtimmen, ob bei ſtarkem Weſtwinde, wo das Weer gegen dieſe Küſte aufgeſtaut und der Druck alfo größer wird, der Zufluß von Seewaſſer ſich mehrt, habe aber kein beſtimmtes Reſultat erhalten, da ich nicht weiß, wie hoch der Wind das Waſſer des Salzſees von ungefähr 2 Werſt Durchmeſſer, oder etwas weniger, aufſtauen mag. Der Meßſtab war nämlich an der Oſtküſte des Sees in eine kleine Waſſerrinne eingeſetzt, wo er nie ganz in's Trockene kommen konnte. Bei heftigem Weſtwinde ſtieg nun allerdings das Waſſer um faſt einen Zoll; allein da im zweiten, nörd— lichen See, der keinen Zufluß von der Weſtſeite haben kann, das Waſſer faſt eben ſo viel an ſeinem Oſtrande wuchs, fo muß ich die- ſen Wechſel mehr der Aufſtauung in den Seen zuſchreiben. Ueber— dies war der höhere Waſſerſtand ſehr vergänglich, denn hörte der Sturm auf, jo war das Waſſer am Weßſtabe auch gleich geſunken und das Salz war einmal am dritten Tage in der Oſthälfte ſchon wieder ganz entblößt von Soole. Ich muß alſo glauben, die Rieſe— lungen durch die ziemlich breite Düne ſeien gleichbleibend. Sie wer— den unterhalten, da die Oberfläche der Mulde 33 englifche Fuß tie— fer liegt als das Meer. Sie ſind ſehr gering, müſſen aber doch die Mulde immer mehr mit Salz füllen. Dieſe Mulde oder dieſer Salzſee hat übrigens andere Zuflüſſe, die viel bedeutender an Waſ— ſergehalt ſind, aber nur ſehr wenig Salz zuführen. Am Fuße des Berges, auf dem die Feſtung ſteht, ganz nahe am Rande des Salz⸗ ſees ſind mehrere Brunnen und eine etwas größere Ciſterne, zum Baden beſtimmt, gegraben worden. Aus einem dieſer Brunnen fließt das überflüſſige Waſſer in Form eines kleinen Bächleins von freie lich nur ſehr geringer Tiefe und Breite in die Mulde, und erhält ſich weithin in der Salzfläche einen Kanal von einigen Zoll Tiefe offen. Es iſt derſelbe, in den der Weßſtab eingeſetzt wurde. Ein ähnlicher kommt aus der Ciſterne. Das Waſſer aus dem Brunen, obgleich zum Trinken beſtimmt, iſt doch nicht ganz ohne ſalzigen Beigeſchmack, das Waſſer aus der Ciſterne iſt mehr geſalzen und hat eben deshalb eine andere Beſtimmung erhalten. Beide jedoch

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führen der Mulde nur ſehr wenig Salz zu, könnten aber denen, welche nicht begreifen, wo das Waſſer bleibt, das das kaſpiſche Meer von feinen Zuflüffen erhält, augenſcheinlich machen, wie dieſe kleine Fläche von etwa einer halben Quadrat-Werſt durch Verdun— ſtung mehr verliert, als die beiden Rinnſale und das Filtrirwaſſer aus der Düne zuführen.

Weiter nach Norden, dem Hafen näher, iſt ein zweiter Salz⸗ ſee, der dieſe Benennung mehr verdient, denn er hat nur am Boden eine feſte Salzlage, auf der man ſichern Schrittes fortſchreiten kann, aber ſo viel Soole darüber, daß ein Wenſch darin ſchwimmen kann, auch im Spätſommer. Sie ſoll in der Witte 2 Arſchin 6 Werſchok 5 Fuß 6 Zoll engl.) tief fein. Doch liegt die Waſſerfläche dieſes Sees noch tiefer unter dem Weere, als die des erſten. Sie lag nach meiner Meſſung 4 Fuß 44 Zoll unter dem Spiegel der Bucht, der zur Zeit der Meſſung etwas mehr als den mittlern Stand gehabt haben mochte. Dieſer See erhält von der Bergſeite gar keine Zu— flüſſe, dafür aber viel größere Einrieſelungen als der erſte See, und auch offenbarere. Sie gehen durch die Sand-Düne, die ihn von der Bucht trennt. Dieſer aus grobem Sande gebildete Zwi- ſchenraum zwiſchen dem See und dem letzten Theile der Weeres— Bucht iſt nur 3 Werft breit; da er aber über den höchſten Stand der Bucht bedeutend erhoben iſt, fo kann man ihn eine Düne nen— nen. Oben iſt dieſelbe völlig trocken. Doch dringen in der Tiefe aus ihm vier kleine Waſſerrinnen gegen das Becken des Sees, ober— halb ſeines Spiegels, hervor, ſo daß ſie, bevor ſie ſich in ihn er— gießen, eine Strecke offen fließen; das Waſſer iſt Seewaſſer, von dem Geſchmacke des Waſſers in der Bucht, und es fließen dieſe Strömchen offenbar viel ſtärker, wenn das Waſſer in der Bucht höher aufgeſtaut iſt, als bei niedrigem Stande deſſelben. Man kann nicht zweifeln, daß der Salzabſatz in dieſem See allmälig zunehmen muß, und zwar auf Koſten des Meeres.

Das Vorland, in dem beide Seen liegen, iſt hier, wo der zweite See ſich befindet, viel breiter geworden, als in der Gegend des er— ſten. Dadurch iſt Raum für noch zwei kleinere Becken gewonnen, die der Weſtküſte näher liegen, als die beiden größern. Das eine von ihnen, etwas langgezogen, und nicht vielmehr als 1 Quadrat:

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werſt einnehmend, bildet einen Salz-See, der nur eine ftarfe Soole enthält, aber kein Salz abgeſetzt hat. Das andere Becken, oder das vierte, wenn wir ſie alle zuſammenzählen, iſt noch viel kleiner, war aber jetzt völlig ausgetrocknet, und hatte nur eine dünne Schicht kryſtalliſirten Salzes zurückgelaſſen.

Wir haben hier vier Stufen von Salzſeen, nur daß im erſten die Ausfüllung der Mulde mit Salz noch nicht ganz vollendet iſt, und alle vier haben ſich, wie man gar nicht bezweifeln kann, auf Koſten des Meeres gebildet. Sieht man von der Höhe der Berg— ebene auf die Seen und den Weerbuſen hinab, ſo erſcheinen die Seen durchaus als abgelöſte Theile des Meerbuſens, der noch jetzt in der Bildung eines neuen Beckens begriffen iſt, und ſchon zu einem fol⸗ genden die Einleitung getroffen hat. Wan ſieht nämlich von dem Vorlande, das immer weiter vom Fuße der felſigen Hochſteppe ſich entfernt, eine breite, gegen zwei Werſt lange Landzunge in derſel— ben Richtung fortlaufen, und den Buſen zwiſchen ſich und die Hoch ſteppe einlaſſen. Von der breiten und mäßig hoch in Form einer Düne aufgeworfenen Landzunge geht aber eine viel ſchmälere und niedere zuerſt in rechtem Winkel ab, und krümmt ſich dann gegen Süden in einem Haken um. Sie iſt es, die den eigentlichen Hafen bildet, den beſten im kaſpiſchen Meere, und einen der ſicherſten, die man ſich denken kann, der nur nicht ſehr tief iſt. Es iſt mir wahr⸗ ſcheinlich, daß dieſe Landzunge ſich verlängert, und den Hafen, wenn auch ſpät, in einen geſchloſſenen See verwandeln wird. Die Be— dingungen dazu ſcheinen gegeben. Heftige Nordwinde müſſen die Wellen mit ihren vom Boden aufgeriſſenen Inhalte gegen das Ende der Bucht treiben. Ein Theil des Sandes wird zur Verſtärkung des entgegenſtehenden Dammes zwiſchen dem Ende der Bucht und dem zweiten Salzſee, ein Theil zur Verlängerung der zurückge— krümmten Landzunge dienen. Kein Wind kann den letztern wieder wegführen. Eine halbe Werſt weiter hat ſchon eine zweite, ſeitliche Sandbank begonnen. Werden dadurch neue Seen abgeſchloſſen, ſo werden ſie nicht die Reihe der größern Seen fortſetzen, ſondern die Reihe der kleinern, weil jetzt das Ende des Buſens viel breiter iſt, als vor einer Reihe von Jahrhunderten. Wan findet auch ſehr be— ſtimmte, beſondere Veranlaſſungen zur Abſcheidurg der größern Seen

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in zwei ſehr anſehnlichen Vorſprüngen der tiefern Schichten der Felsmaſſen, welche die urſprüngliche Bucht verengten, hinter denen alſo Sand und Lehm bei jedem hohen Seegange ſich abſetzen muß— ten. Den Dämmen, welche ſich dadurch bildeten, hatte nur der Sand der damaligen Landzunge (des jetzigen Vorlandes), entgegen zu wach): ſen, um die Seen abzuſchließen. Die Schaalen der Schaalthiere, welche in trockenem Boden ſich ſo außerordentlich lange erhalten, geben überdieß ein Wahrzeichen, das für mich entſcheidend iſt. An den Keſſelrändern dieſer Seen oder Mulden findet man in ziemli— cher Wenge die Schaalen von kleineren Paludineen, die noch jetzt in großer Anzahl in Buchten leben, im offenen Weere aber nur ſel— ten und dann leer gefunden werden. Sie leben ſehr zahlreich in der benachbarten Bucht, in oder vielmehr auf dem zähen Lehmboden derſelben. Feſter Lehm bildet auch den Boden der Salzſeen. Das kleine Becken jedoch hat vorherrſchend Sandboden. So mag denn auch ſein Waſſer nicht allein verdunſtet, ſondern auch verlaufen ſein. Bei dieſer Uebereinſtimmung in den Local-Verhältniſſen macht es mich auch wenig irre, daß das Salz in beiden größern Seen nicht gleich iſt. In beiden hat es zwar eine röthliche Farbe, allein in einem gilt es für rein, und kryſtalliſirt dort in großen, ſehr regel— mäßigen cubiſchen Kryſtallen, im andern für unrein. Auch ſieht man am Rande dieſes zweiten Sees ſehr anſehnliche Efflorescenzen von Glauberſalz, am Rande des erſten nicht, und die Kryſtalliſatio— nen im zweiten See, in Cuben beginnend, ſchienen leicht in unförm— liche Maſſen überzugehen. Dieſe Unterſchiede in dem Salzgehalte müſſen von Wodificationen des Bodens abhängen. Der ſchwarze, nach Schwefelwaſſerſtoffgas riechende Schlamm, welcher in Seen, wo das Kochſalz reiner iſt, immer die Schichten trennt, ſcheint auf die beſſere Abſonderung des Kochſalzes zu wirken. Er iſt im Um— fange und zwiſchen den Salzlagen des erſten Sees in hinlänglicher Wenge vorhanden, beim zweiten See aber, deſſen Umgebung rein wie eine gefegte Tenne iſt, gar nicht zu bemerken.

Es iſt möglich, daß noch weiter nach Süden, wo das Vorland ſchmäler iſt, ſchon früher Salzablagerungen ſich gebildet haben, aber ſpäter verſchüttet find, da der Dünenrand hier dem Fuße der Fels— wand näher kommt. Wan ſieht nämlich von der Südſpitze des ſüd—

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lichen Salzſees einen rothen Streifen von Salicornia herbacea zwiſchen dem Seeufer und dem Fuße der Felswand ſich weit hin— ziehen und von Zeit zu Zeit ſich ſtark erweitern. Salicornia herbacea kann außerordentlich ſalzreichen Boden vertragen; man ſieht ſie zuwei— len bis dicht an des Salz treten, wenn deſſen Umgebung nur einige Feuchtigkeit behält. Dann iſt ſie aber tiefroth. So iſt das Becken des Elton-Sees von einem purpurrothen Saum umgeben, keine an— dere Salzpflanze tritt, ſoviel ich weiß, ſo nahe an das Salz. Man hätte dann bei Vowo-Petrowsk auch die höchſte Form des Ab— ſatzes aus dem Meere von Sand verdeckt als Steinſalz. Solche verſchüttete Salz-Mulden find weſtlich von Aſtrachan ganz bekannt;

kleine halbverſchüttete Lager habe ich ſelbſt geſehen.

Im Lande der Kirgiſen ſind viele Salzſeen, Salzmulden und Salzlager (ſecundäres Steinſalz). Die näher an der Küſte liegen— den werden ähnlichen Urſprunges aus dem jetzigen Meere fein. Es leuchtet aus dem Geſagten ein, daß ſolche Ablagerungen viel mehr Salz enthalten, als der Theil des Weerwaſſers enthielt, deſſen Stelle ſie jetzt einnehmen, daß alſo durch ſie das Weer einen Ver— Iuft an Salz erlitten hat.

Aber es giebt überdies große, buchtenförmige Abtheilungen des Meeres, welche zahlreicher find, als das allgemeine Becken, und welche auf Koſten deſſelben ihren größeren Salzgehalt gewonnen zu haben ſcheinen. Es iſt ſchon des ſchmalen Buſens Erwähnung geſchehen, der vom Wertwyi-Kultuk nach SSW. abgehet und Kara-Su heißt. Auch ging ſchon früher von einem andern großen Buſen der Oſtküſte, dem Kara-Bogas, die Sage, daß er ein ſehr ge— ſalzenes Waſſer habe, daß keine Fiſche in ihm lebten, und daß un- unterbrochen eine Strömung in ihn einlaufe, und nie heraus. Durch Karelin's Reiſe, in Begleitung der Herren Blaremberg und Völkner, iſt er bekannter geworden. Da man jedoch von ſeinem Umfange die widerſprechendſten Nachrichten und Zeichnungen hatte, jo verordnete die Admiralität im Jahre 1847 eine nähere hydro— graphiſche Unterſuchung. Dieſe wurde durch den Lieutenant She— rebzow ausgeführt, auf dem kleinen Dampffchiffe Wolga, das weniger als vier Fuß Tiefe braucht. Er fand den Weerbuſen viel größer, als man ihn erwartet hatte, obgleich ſchon Karel in ihm

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eine weite Ausdehnung von Oft nach Weſt gegeben hatte, aber we— niger von Norden nach Süden. Sherebzow beſtimmt die größte A isdehnung von Norden nach Süden auf 85, die größte von Oſten nach Weſten auf 75 Seemeilen. Doch könnte die letztere Ausdeh— nung noch anſebnlicher ſein, da man, wie Herr Sherebzow mir mündlich mittheilte, den öſtlichen Winkel nicht ganz überſehen konnte, auch nicht Zeit hatte, ihn zu verfolgen. Man fuhr nämlich am Ufer entlang, um es aufnehmen zu können. Bei der unerwartet langen Fahrt mußte man fürchten, an Kohlen Wangel zu leiden, da man, ohne neue einnehmen zu können, noch nach Baku zurück— zukehren hatte. Wirklich mußte aus dieſem Grunde die Durchſege— lung durch die Mitte, welche auf die Umſegelung folgen ſollte, un⸗ terbleiben. Bei der Umſegelung fand man abwechſelnd 2 bis 6 Fa— den Tiefe, den Eingang aber in den Buſen bildet ein kurzer, ge— wundener Kanal, der auf einer Stelle bis auf 80 Faden ſich ver— engt. Die Tiefe dieſes Kanals iſt zuerſt 4 Faden, nimmt aber raſch ab. Wo er in dem Buſen ſich erweitert, giebt es ſchon Untiefen von nur 3 Fuß. Nahe an dem einen Ufer ließ ſich doch ein Fahr— waſſer von 9— 12 Fuß auffinden, das aber beim Uebergang in den Buſen nur 5 Fuß hatte. Ein größeres Fahrzeug hätte alſo gar nicht einlaufen können. Herr Sherebzow ſagt ausdrücklich, die Strömung gehe immer durch dieſen Kanal in den Buſen hinein, bei Weſtwinden betrage fie 24, bei Oſtwinden 12 Knoten, beim Uebergang in den Buſen (bei der Tiefe von 5 Fuß) ſei fie 24 bis + Knoten geweſen. Auch Karelin und Blaremberg hatten die Strömung, ungeachtet des damals herrſchenden Oſtwindes, nach Oſt gehend gefunden. Nach Sherebzow wird 25 Seemeilen von der Einmündung die Strömung unmerklich, oder iſt 1 Knoten und vom Einfluſſe des Windes nicht unterſcheidbar. Das Waſſer im Buſen iſt „beißend⸗ſalzig“. Kein Fiſch lebt in ihm. Fiſche, die dennoch in ihn gerathen, werden zuerſt blind, und dann in wenigen Tagen todt ausgeworfen“). Kein Thier zeigt ſich, nach mündlichen

*) Alle obigen Angaben, fügt Herr von Baer hinzu, ſind entweder Herrn Sherebzow's Bericht oder feinen mündlichen Mittheilungen entnom⸗ men. Das Erblinden wird wohl Niemand beobachtet haben, ſondern es wird darauf beruhen, daß die Turkmenen an den todten Fiſchen die Hornhaut ge⸗

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Mitteilung, an feinen Ufern. Auf dem Buſen ruht bei ftillem Wet— ter ein beſtändiger Nebel. Die Turkmenen nennen nur den Ein— gang: Kara-Bogas, „ſchwarzer Schlund“, den Buſen ſelbſt aber Adſhikouſſar, „den bittern Brunnen“. Nachdem man aus der Bucht ausgelaufen war, fand man den Dampfkeſſel mit einer Salzkruſte von + Zoll Dicke beſetzt, obgleich man während der 5 Tage der Umſegelung den Keſſel alle 10 Winuten hatte durch— blaſen laſſen. Beim Ablöſen dieſer Kruſte ſand ſich, daß der Keſſel durchfreſſen war. Das merkwürdigſte Ergebniß der Unterſuchung beſtand aber darin, daß man den Boden der Bucht aus Salz be— ſtehend fand. Nur näher am Eingange und an einem ſüdlichen Vor— gebirge (etwa 20 Seemeilen vom Eingange) fand man Sand und Schlamm. f

Das wäre das volle Bild eines Salzſees, und zwar eines fol: chen, der ſchon Salz abſetzt, alſo im Uebergange zur Salze Mulde begriffen iſt, aber von einer Ausdehnung, welche der des Kur— fürſtenthums Heſſens gleichkommt. Nur ein Umſtand macht etwas be— denklich, die Betrachtung, daß Herodot ſchon das kaſpiſche Meer in ſeinen jetzigen Verhältniſſen kannte, und daß dieſe ſicher nicht kurz vor ſeiner Zeit eingetreten waren, weil ſonſt die Nachricht davon bis zu ihm ſich erhalten hätte. Wenn alſo das kaſpiſche Meer ohne Zweifel über drittehalb Tauſend Jahre in ſeinen jetzigen Verhältniſſen, viel— leicht aber ſchon ſehr viel länger beſtanden hat, und wenn dieſe Ver— hältniſſe es mit ſich bringen, daß in eine koloſſale Mulde das Seewaſ— ſer fortwährend einſtrömt, und daſelbſt Salz abſetzt, wie kommt es, daß dieſer Abſatz nicht weiter gediehen iſt, beſonders in der Oſthälfte des Buſens? Wären Gegenſtrömungen in der Tiefe da, welche die Sättigung nicht vollſtändig werden laſſen, ſo wären dieſe doch wohl der Unterſuchung nicht immer entgangen. Jedenfalls muß man künftig ſein Augenmerk beſonders darauf richten. Auch iſt ſehr zu bedauern, daß die Tiefe in der Witte nicht hat gemeſſen werden können. Iſt hier eine Salz-Wulde in Bildung begriffen, ſo läßt

trübt ſahen. Selbſt die Salzbildung aus dem Meerwaſſer iſt noch nicht genug außer Zweifel. Herr Akademiker Abich hat ein aus dem Boden der Kara-Bogas mitgebrachtes Probeſtück geſehen, und Gyps mit wenigem an⸗ hängendem Salze erkannt.

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fid) erwarten, daß die Mitte nicht viel tiefer fein wird, als die Nän- der. Die Salzſchichten pflegen ſich von der horizontalen Ebene nicht allzu ſehr zu entfernen, wie ſich auch erwarten läßt. Die ältere Sage ſpricht von erreichbarer Tiefe in der Mitte, die man vielleicht nur vorausſetzte, weil man einen Abfluß in unbeſtimmbare Tieſen zu glauben geneigt war. Oder ſollte wirklich hier eine Verände— rung lange nach der Geſtaltung des kaſpiſchen Weeres eingetreten ſein, deren Folgen ſich noch nicht ganz entwickelt haben? Soll man annehmen, daß die ganze große Wulde erſt neuerlich ſich geſenkt, und dem kaſpiſchen Meere den Abzug bereitet hat? Aber da wir aus hiſtoriſcher Zeit von Senkungen nur in ſehr kleinem Waßſtabe Zeugniß haben, ſo widerſteht es, dieſe Um- und Einſturz-Theorien auf ganz neue Vorgänge in weitem Umfange anzuwenden. Auch ſcheint die Form des Eingangs-Kanals gegen eine ſolche Hypotheſe zu ſprechen. Hätte ſich eine ſo weite Einſenkung gebildet, ſo würde das aus dem großen Becken einſtürzende Waſſer den Eingang wohl weiter durchgeriſſen haben, da er aus zerbröcklichem muſchelreichem Kalk neuer Formation zu beſtehen ſcheint. Von einer anderen Seite tritt uns dagegen eine viel einfachere und wahrſcheinlichere Weiſe entgegen, wie hier eine Veränderung eingetreten ſein kann, wenn wir uns an den alten Streit über den Oxus erinnern. Ich will das oft wiederholte Regiſter widerſprechender Nachrichten über die— ſen Fluß hier nicht nochmals wiederholen. Ich erwähne blos, daß Herr v. Humboldt, nach Anhörung aller dieſer Zeugen, beſonders auf Abulghaſi, Hamdallah und Pomponius Wela fußend, die ehemalige Einmündung eines Armes vom Oxus oder des ganzen Flußes in den Scythiſchen Golf annimmt, und den Scythiſchen Golf in Kara-Bogas wiederfindet. Die Wöglichkeit einer an— dern Einmündung in den Balchan-Buſen ſoll damit nicht geleug— net werden.

Die Turkmenen, die Herr Sherebzow am Eingange des Kara-Bogas fand, behaupteten von ihren Vorfahren gehört zu haben, daß ehemals das Waſſer des Buſens weniger geſalzen ge— weſen ſein, und daß früher ſich auch Seehunde auf den Inſeln hin— ter dem Eingange gelagert hätten, jetzt aber geſchehe dies nie. Ergoß ſich vor wenigen Jahrhunderten ein allmälig abnehmender

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Arm des Oxus in den Kara-Bogas-Buſen, jo mochte dieſer von Oſten ſo viel Zufluß erhalten, als er zum Verdunſten brauchte. Ja, verſiegte auch der Flußarm, ſo mußte doch ſein Bett lange Jahre hindurch von weit und breit das Frühlingswaſſer ſammeln, und er ſammelt es vielleicht noch. Einen ſolchen Zuſtand ſcheint Jenkinſon in der That gefunden zu haben. Dann könnte die Sät— tigung und Salzbildung ein ziemlich neu begonnener, vielleicht jähr— lich unterbrochener Vorgang fein. Was aber Voth thut, damit des vielen Rathens über den Oxus ein Ende werde, das wäre eine neue gründliche Unterſuchung des Kara-Bogas-Golfs, eine Bereiſung ſeiner Ufer, und eine von jugendlichen Kräften ausgeführte Verfol— gung des vermeintlichen, alten Flußbettes, das man im Balchan— Buſen erkannt zu haben glaubt, wenigſtens 100 Werſt aufwärts, wo möglich aber bis Chiwa.

Nach Allem, was ich von Salzſeen und deren Verhältniſſen früher in der Wolga-Uraliſchen Steppe und ſpäter an der Dit: küſte des kaſpiſchen Meeres geſehen hatte, würde ich eine beſondere Bereiſung der Salzſeen, die an der Vordweſtküſte dieſes Meereslie— gen, vielleicht nicht für nothwendig gehalten haben, wenn nicht einige irrige Angaben in Hommaire de Hell's Abhandlung über Salz— ſeen mich ganz beſonders dazu angereizt hätten.

Der Director der Salz-Verwaltung in Aſtrachan, Hr. Berg- ſträßer, hatte die Gefälligkeit, mich zu begleiten. Unſer Weg führte uns nur im Bereiche der gedrängten Bugors und der zwiſchenlie— genden Limane umher. Die Salzſeen, welche weſtlich von Aſtra— chan liegen, ſind faſt alle langgezogen; nur die ganz kleinen, die wie Reſte ausſehen, pflegen rundlich zu fein. Sehr häufig, ja faſt im⸗ mer, liegen mehrere in einer Reihe, was ſchon nothwendige Folge ihrer Lage zwiſchen den langgeſtreckten Bugors iſt. Die Abgren— zung eines Sees vom andern iſt dann in der Regel niedrig. So tritt dem Beobachter bald der Gedanke entgegen, daß dieſe Seen, wenn fie vereinigt wären, einen Liman, oder eine Reihe von II mens bilden würden, wie man ſie, wenn man über einen Bu— gor geht, hier ſehen kann. Dieſe Anſicht iſt offenbar die richtige, denn man ſieht zuweilen das Längenthal, in welchem mehrere Salz— ſeen abwechſelnd mit bloßen Salzrinden und Salzgründen hinter

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einander liegen, in ein anderes Thal übergehen, in welchem noch jetzt Süßwaſſer-Limane mit ihren Erweiterungen (Ilmens) und Verengerungen (Jeriks) ſich befinden. Dann pflegt nur die zwi— ſchen dem Liman und dem nächſten Salzſce liegende Abgrenzung mächtiger zu ſein, als die der Salzſeen unter ſich, welche häufig nur durch eine geringe Sediment-Anhäufung getrennt ſind.

Wit Hülfe des Atlaſſes der Salzverwaltung und der Karten in der Kartenkammer des hieſigen Gouvernements finde ich ſo viele ſolcher Zuſammenmündungen von Salzſeethälern und Süßwaſſer— Limanen, daß ich keinen Augenblick anſtehe, die Bildung der hie— ſigen Salzſeen aus abgeſperrten Limanen herzuleiten. Der Vor— gang iſt außerordentlich einfach. Zuerſt ſehen wir die Limane näher an. Sie hängen nicht nur mit der Wolga, ſondern unter ſich neßförmig, und dadurch auch mit dem Meere zuſammen, in welches die letzten übergehen. Alle Veränderungen im Waſſerſtande der Wolga und des Weeres wirken auf fie ein, und treiben das Waſſer bald nach den blinden Enden, bald zurück. Auch haben ſie ihre eigenen Niveau-Veränderungen. Im Frühlinge nämlich, wenn der Schnee ſchmilzt, erhalten die Limane mehr oder weniger Waſ— ſer, nach der Menge des Schnees und Regens aus der Steppe, und von ihren eigenen Bugors und Baſſins. Das Reſultat iſt eine allgemeine Bewegung des Waſſers von Weſt nach Oſt, nach der Wolga und dem Weere. Vald darauf ſteigt die Wolga, die Limane werden von Oſten nach Weſten aufgeſtaut und das Waſſer wird aus einer Erweiterung durch die engen Verbindungen in die andere getrieben. Sie nehmen gemeinſchaftlich mit den Ilmens des Deltas ſo viel Waſſer auf, daß das Steigen der Wolga, welches bei Aſtrachan noch bedeutend iſt, an der Hauptmündung, bei Bir— jutſchaja Koſſa, wo noch keineswegs offenes Meer iſt, ſondern nur ein enger Eingang in daſſelbe, kaum bemerkt wird. Im Jahre 1853 z. B. war der Waſſerſtand höher, als er ſeit Menſchen-Gedenken geweſen war; die Stadt Aſtrachan, obgleich bedeutend höher lie— gend, als der gewöhnliche Wolgaſpiegel und noch durch Dämme geſchützt, glich einer Gruppe Inſeln im Meere. Nach den Weſſun— gen im hieſigen Hafen war das Waſſer bei Aſtrachan 11 Fuß 51 Zoll geſtiegen. In Birjutſchaja Koſſa, wo auch täglich

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Beobachtungen über den Waſſerſtand gemacht werden, wollte man nicht einmal einen halben Fuß Steigung erfahren haben. Sinkt die Wolga, ſo muß alles dieſes Waſſer aus den Limanen wieder den Rückweg antreten. Außer dieſen jährlich wiederkehrenden Be— wegungen erzeugen die Auſſtauungen und Senkungen des Meeres raſchere und unregelmäßige. Südoſtwinde ſtauen das Weer gegen den Nordweſtwinkel bei Birjutſchaja Koſſa um mehrere Fuße auf, hemmen den Abfluß der Wolga, und treiben das Waſſer durch die ſüdlicheren Ilmens und die Wolga in die nöͤrdlichern. Durch dieſe Bewegung hin und her iſt an den Limanen viel Sand, der theils aus der Wolga ſtammt, theils vom Fuße der Bugors abgeſpült wird, in Bewegung geſetzt. Er häuft ſich bald hier, bald da an, und erzeugt jene Form von Korallen-Seen, indem einzelne Waſſerbecken oder Teiche durch ſchmale Kanäle verbunden ſind. Die engen Verbindungs-Kanäle gehen durch dieſen Sand. Sie wer: den eingeriſſen und unterhalten durch den Druck, welchen das ver— ſchiedene Niveau eines Teiches gegen den andern ausübt. Man ſieht ihnen zuweilen an, daß ſie ganz künſtlich eingeriſſen ſind. So ſahen wir ein Flüßchen, nicht 2 Fuß breit, das ſich 2 Fuß tief in den Sand eingegraben hatte und ſtark fließend weiter grub, andere ſind flacher und breiter. In der erſten Hälfte des Sommers, wo der Waſſerſtand andauernd höher iſt, mögen ſolche Wände von lo— ſem Sande verwachſen werden. Es iſt nun einige Wochen hindurch Waſſer genug in dieſen Kanälen, um das Salz auf großen Kähnen aus den einzelnen Stapelplätzen in die Magazine von Bertul zu bringen. Beim Abfluß des Hochwaſſers ſproßt aus den Böſchun— gen (Wänden) der Limane Gras hervor; wo das Waſſer länger verweilte, an den Zuſammenmündungen der Limane, wo ein Bu— gor endet, gewöhnlich Rohrgebüſche, die zuweilen anſehnlich ſind, und an verengten Theilen des Thales wird das Sandbette ſichtbar mit den ſchmalen Verbindungen (Jeriks) der einzelnen Teiche (Il- mens), die einen mehr ſchlammigen Boden haben. Im Sande ſieht man hie und da, zwar lange nicht allgemein, aber durchaus nicht ſelten, einen Kranz von rothen Salicornien.

Die Entſtehung der Salzſeen wird nun dadurch bewirkt, daß ganze Limane, oder einzelne Theile derſelben abgeſperrt werden von

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der Verbindung mit den' andern, wodurch fie auch die Verbindung mit der Wolga und dem Weere verlieren. Wenn einzelne Theile abgeſperrt werden, fo können es immer nur die äußerſten, d. h. die weſtlichen ſein, und für die Abſperrung ganzer Limane iſt in der ſüdlichen Bugor-Gegend gar keine Möglichkeit, da die Verbindungen mit dem Meere zu weit und mächtig find; die Bug ors find hier nur Inſeln. Am Nordrande der Bugor-Gegend iſt aber am meiſten Gelegenheit dazu, weil die Verbindungen urſprünglich enger waren, auch die Wolga abſperrende Anſchwemmungen machte und ihr Bette allmälig tiefer gegraben hat, wodurch die Verbindung mit einigen noch ſehr kenntlichen, ehemaligen Limanen aufgehört hat. Zur Abſperrung der weſtlichen Enden einzelner Limane geben ohne Zweifel heftige und raſch endende Seewinde Veranlaſſung. Staut ein Sturm aus SO. das Waſſer im nordweſtlichen Winkel des Mees res um mehrere Fuß auf, ſo drängt es mit Gewalt in die Limane, die engen Kanäle im Sande können das andringende Waſſer nicht ſchnell genug faſſen, der Sand wird, zum Theil wenigſtens, fortge— ſchoben und das Waſſer dringt über ihn weg, in den nächſten Teich, dieſer wirkt eben ſo auf ſeinen weſtlichen Nachbar u. ſ. w. Fällt nun aber die Aufſtauung, ehe noch der letzte Teich erreicht iſt, ſo iſt dieſem nur eine Barriere von Sand zugeſchoben, aber es fehlen ihm die Wittel, ſie zu durchbrechen, da er noch kein neues Waſſer erhalten hat. Die anderen öſtlichern Teiche, die höher aufgeſtaut waren, laſſen das Waſſer wieder nach Oſten abfließen und halten ſich den Verbindungsgraben, der ihnen das Waſſer brachte, offen, indem ſie durch denſelben das Waſſer auch wieder abfließen laſſen. Es iſt in den hieſigen Gegenden die Verdunſtung ſehr viel größer, als die Regenmenge, der abgeſperrte Teich ſinkt alſo in feinem Ni— veau immer mehr. Nun kommt es darauf an, ob das nächſte Hoch— waſſer der Wolga hoch genug iſt, um den neugebildeten Damm zu durchbrechen, oder nicht. Geſchieht es nicht, oder wird der Sand— wall durch neuen Andrang nur vermehrt oder gar mit etwas Lehm und Schlamm, welcher letztere in den Limanen aus der Vegetation der Waſſerpflanzen ſich bildet, verſtärkt und ſolider gemacht, ſo iſt ſein Schickſal entſchieden, er wird allmälig ein Salzſee, indem der abſperrende Damm durch die Vegetation feſter wird. Was ihm ge

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ſchehen iſt, kann und wird im Laufe der Jahre feinem öftlichen Nach: bar widerfahren.

Wie das Salz ſich in ihm ſammelt, werden wir ſogleich un— terſuchen. Aus der Vertheilung der Salzſeen zeigt ſich, daß dieſe Vorgänge die wahren ſind. Ich will die Gegend der zuſammenge— drängten Bugors, welche zwiſchen dem weſtlichen Arme der Wolga und der ſeſten ungetheilten Steppe liegt, nach Norden nur wenig nördlicher als Aſtrachan beginnt, und nach Süden in's Meer ſich verliert, der Kürze wegen die eigentliche Bugorgegend nen— nen, obgleich das Bereich vereinzelter Bugors viel weiter geht. In der eigentlichen Bugorgegend nun ſind die Salzſeen am häufigſten im Vorden, wo ſie lange Reihen bilden, und am Weſt— rande, wo ſie mehr vereinzelt ſind oder kurze Reihen bilden. Etwas weiter nach Süden, und etwas weiter nach Oſten wechſeln Reihen von Salzſeen mit Limanen. Dieſes iſt die Region, in der jetzt allein für die Aſtrach an' ſchen Magazine Salz gebrochen wird, weil das Abführen durch die Limane zur Zeit des Hochwaſſers ſo vortheilhaft iſt. An der Oſtgränze, in der Nähe der Wolga, und an der Südgränze giebt es gar keine Salzſeen, weil alle Thäler zwiſchen den Bugors mit ſüßem Waſſer, theils aus der Wolga, theils aus dem Uebergange zum Weere angefüllt ſind.

Gehen wir etwas mehr in's Einzelne mit Zuziehung der Kar— ten der Salz-Verwaltung. Schreitet man auf der Poſtſtraße fort, die von Aſtrachan nach Kisljar über das Dorf Soljanka geht, ſo ſieht man, nur wenige Werſt jenſeit des Dorfes Soljanka, fünf längliche Seen mit Salzwaſſer hinter einander in einem Thale liegen, der Weg biegt dann ſüdlicher, aber die Karte zeigt, daß die— ſelbe Reihe noch durch fünf andere, viel längere Seen nach Weſten ſich fortfeßt, und faſt auf 58 Werſt ſich ausdehnt. Sie haben ches mals, als ſie noch unter ſich in Verbindung waren, einen vollſtän— digen Liman ausgemacht. Dieſe Reihe aber iſt nicht die erſte, von Vorden gerechnet, denn nördlicher liegen noch zwei andere un— vollſtändigere. Dieſe Reihen haben nicht ganz die OW.-Richtung, ſondern weichen, wie die nördlichen Bugors an der Wolga zwiſchen 12 20% nach NO. und SW. ab. In der vierten Reihe ſieht man nach Weſten mehrere große Salzſeen, nach Oſten

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einen langen Süßwaſſer-See und einen kleinen ſalzigen. Ss ſel— ten dieſe ſcheinbare Ausnahme iſt, ſo belehrend iſt ſie. Das kleine abgeſchloſſene Waſſer iſt ſchon als ſalziger See aufgeführt, der große noch nicht. Es iſt aber gar kein Zweifel, daß wenn dieſer See durch die Ueberſchwemmungen nicht erreicht wird, er bald in die Reihe der ſalzigen Seen wird aufgenommen werden, denn in der That findet man von Zeit zu Zeit neue Salzſeen, die nichts anders find als ehemalige Süßwaſſerſeen“). Nun erft folgt der erſte lange nicht abgeſchloſſene Liman, der ſich an 30 Werſt nach Weſten ausdehnt. An ſeinem Nordufer liegt die erſte Poſtſtation, an ſeinem Südufer das Dorf Vikolskaja. Sein Oſtende iſt unregelmäßig, zeigt aber unverkennbar, daß er die Oſtenden zweier Limane auf— genommen hat, aus deren weſtlichem Verlaufe zwei Reihen abge— ſchloſſener Seen geworden ſind. Der Liman, von dem wir ſpre— chen, wird nämlich nach Weſten fortgeſetzt durch eine Reihe anſehn— licher Salzſeen, die auch eine Strecke von 30 Werſt einnehmen. Sie heißen Koſchkakaſchinskije und Beſchkulskije. Es folgt ein Süßwaſſer⸗-Liman fo lang als der vorhergehende mit feiner Reihe von Salzſeen zuſammen genommen. In der nächſten Reihe ſind im Weſten wieder Salzſeen, nach Oſten iſt ohne Zweiſel ein Liman, doch giebt die Karte darüber nicht Auskunft. Es folgt weiter nach Süden wieder ein langer Liman, und hinter ihm die Reihe der Darminskiſchen Salzſeen. Weiter ſüdlich nach Weſten noch ein Salzſee und Salzgründe, nach Oſten ein mäßig langer Liman, der wenig weiter als die zweite Station Kurotſchkinskaja aufhört. Darauf wieder ein Zug von Süßwaſſerteichen, oder ein Liman, und hinter dieſen ein Train Salzſeen, der aber weniger nach Oſten vorrückt, als der vorhergehende Zug. Immer kürzer werden die Züge der Salzſeen. Bei der dritten Station von Aſtrachan hat man zuletzt im Weſten 7 Salzſeen in einem Thal zuſammen, dann kommen ſie mehr vereinzelt vor, während im Oſten die Limane ſchon in ein vollſtändiges Netz übergegangen ſind.

) So iſt in dieſem Jahre (1854) wieder ein neuer Salzſee aufgefunden, und zwar in einer ſehr beſuchten Gegend, in den Dolgorukiſchen Beſitzun⸗ gen. Ueberſehen konnte er nicht ſein. Nur ſeine Salzablagerung iſt neu.

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Für den Uebergang eines geſchloſſenen Teiches ſüßen Waſſers in einen Salzſee erzählten die hieſigen Beamten ein intereſſantes Beiſpiel aus neueſter Zeit. In dem Choſchatinskiſchen See hat man bis vor 40 Jahren gefiſcht, und es leben noch Perſonen, die in ihrer Jugend Fiſcherei hier getrieben haben. Jetzt ſind aus ihm drei Salzſeen geworden.

Hinter dem Salz-Priſtan (Stapelort) Baſſy iſt ein faſt abge— ſperrter Ilmen, der nicht in jedem Jahre Zufluß erhält. Wird er von dieſem nicht erreicht, ſo wird er im Sommer ſalzig. Daher ſchlug der Inſpector dieſes Priſtans vor, man möchte doch in dem kleinen Zufluß (Jerik), der noch zu ihm gelangt, einen Damm machen laſſen, um mit der Zeit einen ganz nahen Salzſee zu haben. Der Director des Salzweſens hat die Abſicht, auf dieſen Vorſchlag einzugehen.

Aberzwoher kommt das Salz in einen ſolchen See? Ohne Zwei— fel aus dem Erdboden, und insbeſondere aus den benachbarten Bu— gors, vielleicht zum Theil auch unmittelbar aus dem Thale, wenn dieſes noch nicht ganz ausgelangt ſein ſollte, ſicher aber mehr aus den Bugors, weil die Salzſeen um ſo ſalzreicher zu ſein pflegen, je anſehnlicher, länger und höher die Bugors zu ihren Seiten find, und je mehr das Becken, in welchem fie liegen, der Länge nach aus— gehöhlt iſt, ſo daß nicht allein von der Seite, ſondern auch von vorn und hinten das Waſſer zuſammenfließt. Die Bugors ſind hier ſandiger als gewöhnlich, man kann ſie aber noch lange nicht Sand— berge nennen. Im letzten Falle würden ſie vielleicht ſchon ausge- ſüßt ſein. Die Schneewaſſer und der Regen dringen in dieſe Berge ein, die überdies an ihrem Fuße entweder Salzſeen (welche im Früh— ling auch anſchwellen) oder Süßwaſſer-Limane haben, und daher wohl immer etwas feucht und durchdringlich erhalten werden. An manchen Salzſeen ſieht man am Fuße der Berge die Spuren ſchma— ler Rinnſale aus ihnen. Kommt das geſalzene Waſſer in ein ab— geſchloſſenes Becken, ſo wird es durch die anhaltende Verdunſtung im Sommer concentrirt. Daſſelbe wiederholt ſich im nächſten Jahre, bis ſich Salz niederſchlägt. Der ſchwarze Schlamm, der ſich abſetzt und der die unterſte Lage nicht nur bedeckt, ſondern durchdringt, wird ſeine organiſchen Beſtandtheile von den Pflanzenreſten haben,

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welche der Regen und das Schneewaſſer in das Salzbecken jährlich ſpülen. Dieſe Pflanzen enthalten auch Salz, das ſie bei der Zer— ſetzung hergeben müſſen. Iſt einmal eine Salzlage gebildet, ſo wird ſie jährlich durch das Frühlingswaſſer, das ſich über ihr ſammelt, wieder ausgelaugt, und die neue reine Schicht bildet ſich auf Koften der alte ö ſchmutzigen, faſt ſchwarzen. Wie viel folder Schichten ſich hier finden, ſcheint nie mit Umſicht unterſucht worden zu ſein, doch ſind hier ohne Zweifel nicht viele, ja wenn ich mich nicht irre, unterſcheiden die Salzbeamten gewöhnlich nur zwei, eine obere, neu— gebildete, reine, und eine untere, die man die Wurzel nennt, und die ſehr mächtig ſein kann. Wenigſtens brachte man mir, als ich die Wurzel verlangte, ein Stück der Schicht unter der neueſten. In anderen mögen mehr Schichten vorkommen, aber ſo vollſtändige Flötze wie im Elton ſind hier offenbar nicht; davon hat man im laufenden Jahre den ſprechendſten Beweis darin gehabt, daß von 18 Salzſeen, die hier überhaupt im Gebrauche ſind, zu der Zeit, als das Brechen des Salzes beginnen ſollte, nur zwei bearbeitungs— fähig befunden wurden. Es war nicht nur der Winter außeror- dentlich ſchneereich geweſen, ſondern die erſte Hälfte des Sommers hatte ungewöhnlich viel Regen gebracht. Nachdem dieſer aufgehört hatte, begann die Kryſtalliſation keineswegs gleich, wahrſcheinlich doch, weil das Waſſer nicht Salz genug auflöſen konnte, um gefät- tigt zu werden. Der Darminskiſche See gehört mit zu denen, welche nicht gebraucht werden konnten, als wollte er Hommaire de Hell verhöhnen, der feinen Salzvorrath auf mehr als 10 Jahr: hunderte ausreichend fand. Erſt als wir ihn in den letzten Tagen des Octobers beſuchten, hatte er eine neue Schicht angeſetzt. Ich glaube überhaupt, das jeder einzelne See der hieſigen Gegend kei— neswegs unerſchöpflich iſt, und ich höre von den Beamten des Salz— weſens, daß ſeit langer Zeit eine Wechſelwirthſchaft eingeführt iſt, daß die meiſten Seen ein bis zwei Jahre Ruhe haben müſſen, daß die Dar minskiſchen Seen dazu gehören, und, wenigſtens jo weit die Erinnerung der jetzigen Beamten reicht, nur abwechſelnd benutzt ſind. Die Zahl der hieſigen Seen iſt aber außerordentlich groß, und es werden ſich noch neue bilden, denn die Bugors ſind noch lange nicht ausgelaugt, wie die Salzkräuter erweiſen, mit denen ſie 15*

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bedeckt ſind. Ja man wird neue Salzablagerungen an bequemern Orten anlegen können, wenn man unterſucht, wo der Boden noch den nöthigen Salzreichthum hat, und dort das benachbarte Thal abdämmt.

Das von dem alten Weere bedeutende Reſte ſich hier eingefan— gen und in den Thälern Salz abgeſetzt hätten, iſt aber n. wahr— ſcheinlich, da es umgekehrt ſcheint, daß in allen Thälern die Com— munication mit dem neuen Weere blieb, welches in dieſer Gegend ſehr ſchnell ſalzlos werden mußte. Wan braucht auch dieſen unmit— telbaren Abſatz nicht, da im zuſammengetriebenen Erdreich mittel— barer genug zurückblieb. Allerdings will es auf den erſten Anblick unglaublich erſcheinen, daß aus dem Erdreich Salz genug ausgelaugt werden konnte, um dieſe Lager abzuſetzen, allein man berechne die Maſſe Erdreich, welche das Gehänge eines ſolchen Thales bildet, und nehme Yıoooo des Gewichts an Salz, und man wird erſtaunen über die Quantität deſſelben. Ja, ſelbſt wenn man Yıooooo des Gewichts an Salz annimmt, kommt man wenigſtens bei Becken von mehre— ren Werft Länge, wie fie für die größern Ablagerungen gewöhn— lich ſind, auf eine Quantität Salz, wie ſie vielleicht in keinem dieſer natürlichen Magazine jetzt ſich findet.

Es iſt nicht daran zu denken, daß das jetzige Meer zu den Vor— räthen der Salzſeen etwas beitrüge. Vielmehr bekommt es aus dem hieſigen Boden noch einen kleinen Zuſatz von Salz. Ich habe bis jetzt die noch nicht abgeſperrten Limane als Südwaſſerkanäle behandelt, allein daß ſie dennoch einen kleinen Beitrag von Salz aus den benachbarteu Hügeln bekommen, wird erwieſen durch den Saum von Salicornia herbacea, der hier und da ſich zeigt. Ge— wöhnlich findet ſich dieſer Saum dicht am Waſſer im Sande, und zwar an ſolchen Stellen, wo der benachbarte Boden ein merkliches Gehänge hat, wo alſo das Durchſeihen etwas lebhafter ſein wird. Beſtätigt aber wird dieſe Behauptung durch eine mir ſehr merk— würdige Ausſage der Salzbeamten im Stapelorte Darma. Sie behaupteten, weit entfernt, daß das Meer ihnen beim Steigen Salz— waſſer brächte, würde das Waſſer in den Ilmen oder Limanen bra— kiſch, wenn im Spätſommer lange kein Seewind geweſen ſei, ſo wie aber ein Seewind ſich erhöbe, würde das Waſſer rein. Wenn man

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weiß, daß der Liman an dieſem Orte ſein blindes Ende hat, wird man dieſe Behauptung nicht nur glaublich, ſondern durchaus in Har— monie mit der bisherigen Darſtellung finden. Der kleine Zuſatz von Salz, den die Limane ohne Zweifel bekommen, und den die rothe Salicornia ) nachweiſt, wird ganz unmerklich durch das viele Waſſer im Frühlinge und deſſen Abfluß; auch im Sommer wird es von Zeit zu Zeit mit Wolgawaſſer neu gemiſcht, und fließt wie- der ab. Wenn aber das verringerte Waſſer lange ſtockt, mag es, beſonders nach den blinden Enden zu, wohl ſchwer genießbar ſein “). Ein Wind aus der See ſtaut die Wolga auf, und treibt ihr Waſ— ſer zur Seite in die Limane, das Brakwaſſer wird mit einer viel größern Wenge Süßwaſſer vermiſcht, und das Gemiſch fließt wieder ab. Einrieſelungen aus dem Meere ſind alſo unmöglich Grund des Salzgehaltes der Salzſeen, die oft ein höheres Niveau (im Herbſte) haben, als die benachbarten Limane. Die erſteren können durch Filtration nur Verluſte erleiden.

Es werden Diejenigen, denen es ſchwer wird zu glauben, daß in dem Erdreiche ſelbſt die Quelle des Salzgehaltes der Seen liegt, vielleicht mit Herrn Karſten annehmen, daß er durch Soolquellen zugeführt werde. Ich antworte, daß ich nicht die mindeſten Spuren ſolcher Quellen aus Salzlagern gefunden habe, wenn man nicht die Spuren der ganz kleinen Rieſelungen aus den Bergen ſo nennen will. Dann müßte man in jedem Berge, der neben einem Salzſee liegt, ein Salzlager annehmen, ſtatt des zerſtreuten Salzes; eine ſehr ſorgſame Einrichtung, um eine Hypothefe feſtzuhalten. Salz: fümpfe, ja überhaupt eine verſumpfte Stelle habe ich gar nicht ge— ſehen, außer dem nicht ſalzigen Röhrigt an den Limanen. Von einer ſalzigen Quelle weiß kein Menſch etwas. Von Salzablage- rungen kennt man nur ſolche, die in den Thälern liegen, aus ſalzi⸗

*) Salicornia herbacea kommt auch an den Küſten des finniſchen Meer⸗ buſens vor. Nie habe ich ſie dort, am wenig geſalzenen Waſſer, roth geſe⸗ hen, ſondern nur grün, ganz oder theilweiſe grün.

*) Ein früherer Aufſeher in Darma beſtätigt das Brakiſchwerden des Waſſers, wenn die Seewinde lange ausbleiben. Außerdem aber erzeugen ſich in den Limanen ſo viele Algen der niederſten Stufe, daß ſie den Genuß des Waſſers verleiden, wenn es nicht von Zeit zu Zeit abgeführt wird.

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gem Waſſer ſich bildeten, und, nachdem das Waſſer ganz verdunſtet war, als eine trockene Schicht zurückbleiben und ſpäter von Sand überweht werden können.

Ich brauche nicht darauf hinzuweiſen, daß dieſe ganze Darſtel— lung, mit Ausnahme der Salzhaltigkeit des Bodens, von der Hom— maire'ſchen abweicht. Sonderbar genug, daß Hommaire den Salzgehalt des Bodens im Allgemeinen anerkennt, bei der ganzen Darſtellung vom Urſprung der hieſigen Seen ihn aber außer Acht läßt, und nur das Meer das jetzige wie das frühere in Thätigkeit ſetzt.

Wir kehren nach dieſer längeren Unterbrechung wieder zu un— ſern Reiſenden zurück.

Nachdem dieſelben Weerwaſſer geſchöpft hatten, kehrten ſie um und fuhren auf demſelben Wege wieder zurück, auf welchem ſie ge— kommen waren. Um 102 Uhr des 16. Oktobers waren fie wieder im Angeſicht von Tſchetyre bugri, wo ſie diesmal aber nicht vorüber fuhren, ſondern, um die Inſel kennen zu lernen, landen wollten. Wegen des flachen Ufers konnte dies jedoch nur mit Schwierigkeiten bewerkſtelligt werden. Das Dampſſchiff konnte ſich dem Ufer nur bis auf eine Entfernung von drei Werſten nahen; hier mußten fie ſchon das Boot, und als auch dieſes nicht ſich dem Ufer hinreichend nähern konnte, noch ein kleineres Fiſcherboot beſteigen, das ſie glücklicherweiſe in der Nähe mit einigen Fiſchern ſahen und zu Hülſe riefen, und welches ſie nun wenigſtens ſo weit brachte, daß die Fiſcher in's Waſſer ſteigen und ſie einzeln an's Land tragen konnten.

Die Inſel iſt wie alle übrigen an den Ufern größtentheils mit Schilf bewachſen, weiterhin iſt Graswuchs. Das Gras war gemähet, und das Heu in einzelnen Haufen zuſammengethürmt und mit klei— nen Gräben und Staketen umgeben, um es vor dem umher weidenden Viehe zu ſchützen. Hinter den Wieſen erhebt ſich ein höheres, ſan— diges Plateau, das bis zur ſüdlichen Spitze der Inſel reicht, wo der Leuchtthurm und neben demſelben einige hölzerne Häuſer ſtehen. Der Leuchtthurm iſt ein ſehr altes baufälliges, hölzernes, ſechseckiges, nach oben ſpitz zulaufendes Gebäude, das durch große Taue, welche von der Spitze nach Pfählen gehen, die in den Boden eingepflanzt

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und rund um das Gebäude vertheilt find, gehalten, und vor dem Umſturz durch heftige Windſtöße bewahrt wird. Es beſteht aus drei Stockwerken, die beiden oberen haben rund herum Fenſterſchei⸗ ben, und man gelangt zu ihnen auf Leitern, die eben ſo ſchmutzig als halsbrechend zu beſteigen ſind. Die Erleuchtung des Vachts iſt ſehr kläglich, und gar nicht mit den Einrichtungen auf anderen Leucht⸗ thürmen zu vergleichen. In dem dritten Stockwerk waren an die Fenſter flache Schalen mit Thran geſtellt, an deren Rändern, aber nur auf der einen Seite, Dochte lagen, die angezündet werden; in dem zweiten Stockwerk waren die drei Fenſter der einen Hälfte ein jedes durch drei Lichte erhellt. Der Thurm verdiente wohl bei dem immer mehr zunehmenden Handel Aſtrachans einem andern Platz zu machen, der der Würde des ruſſiſchen Reichs angemeſſener wäre.

Einen beſſern Eindruck macht die neben dem Thurme befind⸗ liche Wohnung des Wärters des Leuchtthurms, die reinlich und nett iſt. Die Reiſenden traten hier ein, und wurden von der Wirthin mit einem Frühſtück bewirthet, wozu ſie ſpendete, was ſie hatte, Milch, Butterbrot und Eier. Auf dieſem höheren Theil der Inſel ſahen ſie noch viel mehr Tarantellöcher als auf Birutſchicaſſa; auch Eidechſen giebt es in Menge. Am Vachmittage kehrten ſie auf die⸗ ſelbe Weiſe, wie ſie gekommen waren, wieder in dem Kronsdampf⸗ boote, und auf demſelben nach Birutſchieaſſa zurück, wo ſie wiederum ihr gemiethetes Dampfboot beſtiegen.

Da die Reiſenden vor ihrer Rückkehr nach Aſtrachan noch die berühmten Fiſchereien auf der Wolga kennen lernen wollten, welche ſich hauptſächlich auf den Seitenarmen des Fluſſes befinden, jo fuh⸗ ren ſie nicht den alten Weg nach Hauſe, ſondern bogen von Birut⸗ ſchicaſſa rechts ab, um in den öſtlichen Wolga-Arm, den Tſchagan, einzulenken, in welchem ſich die Fiſchereien des Herrn Sapoſchnikoff befinden. Sie konnten indeß den Weg nicht lange ſortſetzen, denn nicht lange fo erhob ſich plötzlich ein ſolcher Nebel, daß fie anhal- ten mußten, bis ſich derſelbe gelegt hatte, was nicht vor Anbruch des Tages geſchah. Als die Sonne aufgegangen war, befanden ſie ſich ſchon in dem ſchmalen Tſchagan, deſſen Ufer jo flach und der— maßen mit Schilf bewachſen waren, daß man von ihnen und dem angränzenden Lande nichts wahrnehmen konnte. Erſt weiter auf⸗

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wärts erhoben ſich die Ufer mehr, blieben aber bis zur Watage des Herrn Sapoſchnikoff, wo man um 3 Uhr ankam, immer noch ſehr ſchilfreich.

Unſre Reiſenden landeten in der Nähe eines ſehr ſchönen Ge: bäudes, das Herr Sapoſchnikoff bei Gelegenheit der Reiſe des Kai— ſers Alexander nach dem Ural im Jahre 1824 hatte aufführen laſſen, in der Hoffnung, daß der Kaiſer auch nach Aſtrachan kom— men und ſeine Fiſchereien beſehen würde, was aber nicht geſchah. Herr Sapoſchnikoff, ſchon von der Ankunft der Fremden benachrich— tigt, empfing dieſelben ſehr zuvorkommend, und führte ſie nach ein— genommenem Frühſtück ſogleich zu der Fiſcherei. Die Fiſche, welche hier wie in den übrigen Fiſchereien der Wolga gefangen werden, ſind die nämlichen, welche in dem Ural vorkommen, und früher be— reits angeführt ſind. Sie pflegen bei ihren Zügen immer gewiſſe Striche zu halten, und vorzugsweiſe dazu gewiſſe Arme der Wolga zu wählen, die durch genaue Unterſuchung nun ſchon gekannt, und an denen daher vorzugsweiſe die Fiſchereien angelegt ſind. Zu einem der fiſchreichſten Arme gehört nun, vielleicht wegen ſeiner beſonders ſchilfreichen Ufer, der Tſchagan.“) Wie im Ural war hier der ganze Strom durch ein Pfahlwerk (Utſchug) geſperrt, das in einem ſtumpfen Zickzack quer durch den Fluß geführt war. An den ein— ſpringenden Winkeln des Utſchugs, (wenn man nämlich ſtromauf— wärts geht,) waren Oeffnungen angebracht, die wiederum an der Außenſeite in einiger Entfernung durch halbzirkelförmige Flechtwerke, die bis an den Boden reichten, verſchloſſen waren. Die großen Haufen und Störe ſchwimmen ſtromaufwärts durch die Oeffnung des Utſchug in die mit dem Flechtwerk umgebenen Kammern, aus denen ſie, wegen der Schwierigkeit des Umwendens, nicht wieder zurückkehren können, und ſo dann von Zeit zu Zeit mit Haken her— ausgezogen werden **).

Die Fiſche, welche die ihnen verderblichen Oeffnungen nicht fo

) Zu den übrigen fiſchreichen Armen gehören der Iwantſchug, Uwari und Kumuſik.

*) Man ogl., was bereits nach Hommaire de Hell (S. 178), der auch des unlängſt erfolgten Verbotes der Ütſchugen erwähnt, über die Wolga— Fiſchereien angeführt wurde.

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bald finden, ſammeln ſich vor dem Utſchug in großer Wenge an, und es wird ihnen nun hier noch auf andere Weiſe nachgeſtellt. Durch den ganzen Fluß ſind querüber Taue gezogen, welche an dem Boden deſſelben liegen. An dieſen ſind alle anderthalb Spannen Schnüre von zwei Spannen Länge angebracht, an deren Enden eiſerne Haken befeſtigt ſind, die durch andere Schnüre mit kleinen Stücken Holz, die auf dem Waſſer ſchwimmen, in der Höhe erhal— ten werden. Dergleichen Taue gehen nun mehrere in gewiſſen Ent— fernungen durch den Fluß. Die Störe, Haufen und Sewrugen, die ſehr gefräßig ſind, ſchnappen nach dem Holze, bewegen dabei den Angelhaken, und ſtoßen ſich denſelben in den Leib; ſie ſuchen ſich nun loszureißen, ſtoßen den Haken aber dabei nur immer tiefer, und verwickeln ſich wohl gar noch in einen benachbarten. Von Zeit zu Zeit fahren nun die Fiſcher in einem Kahne an den ſchwim— menden Hölzern entlang, ziehen mit Haken die gefangenen Fiſche heraus und bringen ſie gewöhnlich erſt nach einem durch Flecht— werk abgezäunten ſeichten Platz am Ufer, in welchem ſie dann bis zur weitern Benutzung aufbewahrt werden.

Als unſre Reiſenden in einem Kahne über den Fluß fuhren, wurden in ihrer Gegenwart eine Wenge Fiſche herausgezogen, welche man, um die weitere Zubereitung derſelben zu zeigen, ſogleich mit einigen Schlägen auf den Kopf tödtete. Sie wurden ſodann nach der Werkſtätte der Watage gebracht, einem hölzernem Hauſe, das auf Pfählen auf der Wolga neben dem etwas erhöhten Ufer ſo ſtand, daß man auf der Landſeite mit Wagen bis zu ihm heran— fahren, von der andern mit den Böten an ihm anlegen konnte. Der Boden des Hauſes hatte eine gleiche Höhe mit dem nebenlie— genden Ufer, und beſtand aus Brettern, die nicht enge an einander ſchloſſen, damit durch die Zwiſchenräume das Blut der auf demſel— ben geſchlachteten Fiſche in die Wolga fließen konnte. Auf der dem Ufer entgegengeſetzten Seite ging eine geneigte Fläche in's Waſſer hinab, an welcher die Fiſche aus den Böten, die hier anlegen, mit Haken in das Haus gezogen wurden; an den beiden andern ſchmä— leren Seiten waren Stiegen angebracht, auf denen man aus den Böten in das Haus gelangen konnte.

Als alle Fiſche heraufgezogen waren, konnte man ſie näher be—

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trachten. Der größte Theil der gefangenen Fiſche waren Haufen (acipenser Huso, bjeluga ruſſiſch), nächſt dieſen fand ſich am häufigſten eine Störart (acipenser Güldenstädtii, ruſſiſch ossetr); von einer anderen Störart (acipenser stellatus, sewruga ruſſiſch) waren nur zwei Exemplare gefangen. Unter den Hauſen waren auch die größten Fiſche; der größte derſelben hatte nach der Weſſung von Prof. Goebel eine Länge von 9 pariſer Fußen und 5 Zollen; ſie kommen aber noch größer vor, und erreichen nach Pallas eine Größe von 12 bis 14 Fuß, nach Gmelin von 25, ja zuweilen von 35 Spannen. Die Oſſeters und Sewrugen ſind im Allgemeinen kleiner, die erſteren, nach Gmelin, höchſtens 9, gewöhnlich 5 bis 7 Spannen, die Sewrugen höchſtens 8, gewöhnlich 5 bis 6 Span— nen lang. Die Sterledde ſind am kleinſten, ſie überſchreiten ſelten die Größe von 2 Fuß. Die gefangenen Fiſche wurden nun zer⸗ legt, man ſpaltete ihnen mit einem Beile den Kopf, ſchlitzte ihnen ſodann mit einem ſcharfen Meſſer den Bauch auf, nahm Rogen, Eingeweide und Schwimmblaſe heraus, und that, jeden dieſer Theile von einander abgeſondert, in beſondere Fäſſer, wobei man auch Acht hatte, die Theile der verſchiedenen Fiſcharten nicht mit einander zu verwechſeln; man riß ſodann die Scheide mit dem Rückenmark aus dem Rückgrat heraus, und ſpaltete die Fiſche endlich vollends in zwei Hälften. Die Scheide wurde ausgeſchwenkt und auf dieſe Weiſe von dem Rückenmark gereinigt, welches fortgeworfen wurde.

Man ging nun zu der Bereitung des Kaviars, die in nichts anderem beſtand, als daß man den Rogen, um ihn von dem an— hängenden Fette und dem Zellgewebe zu trennen, mit den Händen durch ein grobes Sieb drückte, das auf einem größeren oben offe— nen Kaſten ſtand, und die durchgeriebenen Körner ſodann ſalzte. Das Salzen geſchieht mehr oder weniger ſtark, je nachdem der Ka— viar längere oder kürzere Zeit aufbewahrt werden ſoll. In letzte— rem Falle wird er nur etwas mit Salz angerührt, im erſteren aber in ſehr ſcharf geſalzenes Waſſer geſchüttet, und darin umgerührt. Wan füllt ihn dann in leinene Beutel, preßt ihn zuſammen, und packt ihn hierauf in die zum Verſchicken beſtimmten Fäſſer, in welchen man ihn mit Fiſchfett übergieft. Das auf dem Siebe zurückbleibende

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Fett und Zellgewebe wird nicht ſortgeworfen, ſondern mit den Eins geweiden zu Thran benutzt.

Die Wenge Rogen, die dieſe Thiere enthalten, iſt außerordent— lich. Große Haufen ſollen nach Pallas bis 5 Pud Kaviar geben“); da nun nach demſelben Naturforſcher fünf Hauſeneier einen Gran wiegen, ſo würden dergleichen Hauſen faſt ſieben Willionen Eier ent— halten, woraus ſich ihre unglaubliche Vermehrung erklärt. Die Oſ— ſeters und Sewrugen haben weniger Rogen, die erſteren geben nach Pallas niemals über JO Pfund Kaviar, die letzteren nicht mehr als 10 bis 12 Pud; auch ſind die Eier dieſer Störarten kleiner, in— dem davon ſieben auf einen Gran gehen; dagegen wird der Kaviar von den Oſſeters und Sewrugen und beſonders der Sterledde für wohl— ſchmeckender gehalten und theurer bezahlte, als der der Hauſen, der wegen des vielen Schleims die ſchlechteſte Sorte abgiebt.

Der Rückenſehne, die getrocknet unter dem Namen Weſiga ver— kauft wird, bedient man ſich in Rußland zu Suppen und Saucen, um ſie durch die darin enthaltene Gallerte kräftiger zu machen, oder um mit den kleingeſchnittenen Stücken eigene Backwerke zu beſtreuen, die in Rußland ſehr häufig ſtatt des Brotes zur Brühſuppe ge— noſſen und Pirogi genannt werden.

Die geſpaltenen Fiſche werden noch mehrmals durchſchnitten, einige Tage in Salzwaſſer gelegt, und ſodann in beſonderen Be— hältern mit Salz geſchichtet. Dieſe Behälter liegen in eigenthüm— lichen Kellern, die an dem Abhange in das ſteile Ufer der Wolga ſo eingegraben ſind, daß das Dach mit dem Boden des Landes, und die vordere Seite mit dem Abhange des ſteilen Ufers in einem Niveau iſt. Ihr Grundriß bildet ein Rechteck; in der Witte der vorderen ſchmalen Seite des Kellers befindet ſich der Eingang und von dieſem aus geht durch den Keller der Länge nach ein Gang,

Reiſe in verſchiedene Prov. Th. 1. S. 133. An einer anderen Stelle (Th. II. S. 343) führt er aber an, daß man 1769 in dem Bagatoi Kultuk (der reichen Bucht), einem 70 Werſte von den Mündungen des Ural gele- genen Buſen des kaſpiſchen Meeres, einen achthalb Ellen langen Hauſen ge— fangen habe, deſſen Gewicht auf 70 Pub geſchätzt wurde und deſſen Rogen zwanzig Pud gewogen hat.

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zu deſſen Seiten rechts und links die Behälter, drei große vertiefte viereckige Kaſten auf jeder Seite ſich befinden, in welche die Lagen der zerſchnittenen Fiſche abwechſelnd mit Lagen von Salz gelegt werden. Ueber dem mittleren Gange an der Decke ſind einige Fall— thüren angebracht, durch deren Oeffnung Licht in den Keller ein— gelaſſen werden kann; und um den Keller kühl zu erhalten, ſind die drei äußern Wände deſſelben unter der Erde mit einer dicken Lage von Eis umgeben, die 24 Faden dick und 19 Fuß hoch iſt. Dieſe Lage ſchwindet im Sommer bis auf ein Viertheil ihrer Dicke, und wird alle Winter erneuert.

Das Fleiſch der Hauſen iſt zwar wohlſchmeckender, aber weil es ſchwerer verdaulich als das der Oſſeter und Sewrugen iſt, jo wird es dem Fleiſche dieſer Fiſche, wenigſtens dem der Oſſeter, nach— geſetzt. Am meiſten unter dieſen Störarten werden indeſſen wegen ihres Fleiſches die Sterledde geſchätzt; ihr Fleiſch iſt friſch am wohl— ſchmeckendſten, daher ſie lebend mit vielen Koſten von Aſtrachan und aus der oberen Wolga, wie auch aus ihren Zuflüſſen, der Kama und Oka, wo ſie noch häufig vorkommen, bis nach Petersburg ge— führt und dort theuer bezahlt werden.

Außer den Fiſchereien des Herrn Sapoſchnikoff finden ſich noch mehrere an anderen Stellen der Wolga-Arme, von denen die vor— züglichſten dem ſchon oben erwähnten Griechen, Major Warwazi, gehören. Die Wolga-Fiſcherei iſt, wiewohl fie von dem Kaiſer Alexander freigegeben worden, noch immer wie früher das Mono— pol einzelner Weniger, da einmal ſchon die vorzüglichſten Stellen, an welchen die Fiſche vorzugsweiſe ihren Strich halten, in Beſchlag genommen ſind, und dann auch die reichen Beſitzer der vorhandenen Fiſchereien alle möglichen Wittel anwenden, um keine neue aufkom— men zu laſſen. Herr Sapoſchnikoff hat die ſeinigen nur gepachtet, und zahlt dafür dem Fürſten Kurakin und dem Herrn von Besba— rodski und von Wſewolodski, denen ſie gehören, eine jährliche Pacht von reſp. 500,000, 175,000 und 300,000 Rubel). Wenn man be:

Man vgl. Erdmann, Beitr. zur Kenntniß des Innern von Rußland Th. 2, S. 195. Die Fiſchereien des Fürſten Kurakin gehörten urſprünglich

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denkt, welche Koſten außerdem noch die Unterhaltung der Anſtalten und der vielen dabei beſchäftigten Menſchen verurſacht, ſo erhält man einen Begriff von der Wichtigkeit dieſer Fiſchereien für Aſtra— chan. Sie übertreffen, nach Pallas, an Ausdehnung bei weitem nicht nur die übrigen Fiſchereien Rußlands, ſondern auch, mit ein— ziger Ausnahme der Veu-Fundländiſchen, die aller übrigen Länder; für Rußland haben ſie aber eine um ſo größere Wichtigkeit, da ſie vorzugsweiſe der ruſſiſchen Bevölkerung in dem mehr als ein Drit— theil des Jahres ausmachenden Faſten, die die griechiſche Kirche vor— ſchreibt, die hauptſächlichſte Nahrung geben.

Wir ergänzen dieſe und die früheren Mittheilungen von Hom— maire de Hell über die Fiſchereien auf dem kaſpiſchen Meere und den Gewäſſern von Aſtrachan durch einen Auszug aus dem Berichte des Herrn v. Baer über die Arbeiten und Leiſtungen der „kaſpiſchen Expedition“ im Laufe des Jahres 18525). Dieſe gemeinſchaftlich von dem ruſſ. Miniſterium und der geographiſchen Geſellſchaft in Petersburg abgeſandte und von Herrn v. Baer geleitetete Expedition hatte beſonders Rückſicht auf die Fiſchereien im kaſpiſchen Meere zu nehmen.

Wir erhielten, ſchreibt Hr. v. Baer, von dem Herrn Commandan— ten der Nowo-Petrowskiſchen Feſtung die genaueſte Auskunft über die hieſigen Fiſchereien und über den jährlichen Fang jedes Anſied— lers ſeit dem Jahre 1850, aus welchem hervorging, daß der Erwerb fortwährend zunimmt. Nun bin ich zwar weit entfernt von die— ſem ergiebigen Fang auf eine Zunahme der Fiſche überhaupt ſchlie— ßen zu wollen: denn Uebung, Geſchicklichkeit und die immer zahl— reicher werdenden Netze und Geräthe müſſen ohne Zweiſel einen reichlichen Fang zur Folge haben; aber dennoch läßt die nachſte— hende Ueberſicht des jährlichen Fanges die Behauptung bezweifeln, daß die Maſſe der Fiſche im kaſpiſchen Meere augenſcheinlich im Abnehmen ſei.

der Krone, und waren früher den Aſtrachaniſchen Kaufleuten für 15,000 Ru⸗ bel verpachtet, wurden aber dem Fürſten Kurakin vom Kaiſer Paul geſchenkt, als die aſtrachaniſchen Kaufleute ſich über zu hohe Pacht beſchwerten.

*) Beilage zu Nr. 233 und 236 der St. Petersburger Zeitung 1854.

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Gewonnen wurde: an Fiſchen, an Haufenblafe, an Caviar, an See—

hundsfellen,

in den Jahren Pud. Pfd. Pud. Pfd. Pud. Pfd. Stück. 1880 il. Kerle 988 5 2 14 4 15 10 in. d s ve 1745 30 47% ⁹⁰ nn 37 49 18 c rs 2882 7 DNN 4 15 134

1853 bis zum 1. Oct. 2344 7 5 33½ 7 15 1455

Die anſcheinende Abnahme im Jahre 1853 gegen das vorher— gehende rührt daher, weil die Angaben nur bis zum 1. October reichen: da nun noch einige Monate fehlen, in welchen der Fiſchfang in dieſen Gegenden gedeiht, ſo wird der Ertrag dieſes Jahres ohne Zweifel alle anderen an Reichthum übertreffen.

Auch über die ſehr fiſchreiche Alexander-Bai konnte uns der Hr. Commandant ausführlich berichten; über die weiter nach Sü— den hinliegenden Fiſchereien an den öſtlichen Küſten des kaſpiſchen Meeres konnten wir aber keine Auskunft erlangen. Nur ſo viel iſt bekannt, daß ruſſiſche Fiſcher die Naphta-Inſeln beſuchen, und ſchon feit vielen Jahren einen Tauſchhandel in Fiſchen mit den Truchme— nen betrieben, der übrigens für eine Zeitlang, durch die Ermordung eines ruſſiſchen Handelsmanns durch die Truchmenen, eine Unter— brechung erlitt.

In der Bucht von Tjuk-Karahan wird eine Art kleiner Fiſche gefangen, von der für einen Leckerbiſſen gehaltenen Gattung Athe- rina L., welche ſich häufig auch im ſchwarzen Weere vorfindet und hier von den Koſaken Löffelſtint genannt wird, ſich aber durchaus von den gewöhnlichen Löffelſtinten unterſcheidet. Schon Pallas und der Profeſſor Eichwaldt erwähnen dieſes Fiſches, ſagen aber nicht, in welcher Wenge er ſich hier vorfindet: in jedem Falle wäre es der Mühe werth, auf eine geeignete Zubereitung dieſer Fiſchart zu ſinnen, welche denn ohne Zweifel einen wichtigen Artikel, wenn auch nicht für die Ausfuhr, doch für den innern Handel liefern könnte. Vielleicht thut wirklich die ſtarke Beimiſchung von Bitterſalz (ſchwe— felſaurer Magneſia) dem Wohlgeſchmacke der an den öſtlichen Ufern gefangenen Rothfiſche Abbruch; (auch ſollen die aſtrachanſchen Han— delsleute für die hieſigen Fiſche niedrigere Preiſe bieten als für an—

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dere, obgleich fie ihre Waare, meines Wiſſens, darum nicht billiger verkaufen); immer iſt jedoch der große Ueberfluß an Löffelitinten in Betracht zu ziehen und auch noch zu bemerken, daß dieſe Fiſch— art, da ſie zum Laichen kein Süßwaſſer braucht, ſich durch den Fang wenig vermindert, und ſchnell und zahlreich wieder ergänzt.

Durch Krankheit wurde ich verhindert perſönlich die Seehunds— inſeln zu beſuchen, aber die Herren Schulz und Danilewski brachten genaue Angaben über den dortigen Seehundsfang ).

Zugleich hatten die beiden genannten Herrn den Auftrag, die erwähnten Inſeln auch in geologiſcher Hinſicht zu erforſchen und beſonders wichtig war für mich die Inſel Worskoi, welche auf der Karte des Hrn. Kolodkin noch gar nicht angegeben iſt, und deren Entſtehen und Daſein als ein Hauptbeweis für das Sinken des Waſſerſtandes im kaſpiſchen Weere ſeit den letzten dreißig Jahren gilt. Sie beſuchten die Inſeln Kulala, Morskoi und Sſwjatoi, und dem Augenmaße nach ſcheint der Höhenunterſchied zwiſchen den bei— den erſten ein ſehr geringer zu ſein. Sie beſtehen aus faſt paralell— laufenden Anſchwemmungen von Seegras, Muſcheln und Sand, und find, nach der Meinung des Hrn. Danilewski, dadurch entſtan— den, daß herandringende Eismaſſen die Beſtandtheile der ſchon vor— handenen Untiefen und Sandbänke über die Oberfläche des Waſſers emportrieben, wobei die Inſel Morskoi ſich bei Weitem ſpäter bil— dete. Dergleichen Sandbänke entſtehen hier übrigens ſehr häufig und bei der Inſel Kulala z. B. beträgt die Tiefe des Waſſers nur etwa vier Fuß, welche auf der Karte des Hrn. Kolodkin auf mehr als zwei Faden angegeben iſt. Außerdem war die längliche Inſel Kulala ſchon vor 120 Jahren dem Seemann Sſoimonow be— kannt, und müßte alſo im Verhältniß zur Inſel Morskoi gegen— wärtig viel höher über dem Weeresſpiegel erhoben ſein, wenn ihr allmäliges Wachſen von dem Sinken des Waſſers abhinge. Daſſelbe gilt auch von der Seehundsinſel, welche auf der Kolodkinſchen Karte nur als eine ſandige Untiefe bezeichnet iſt (auf der Sſoimonowſchen aber als ein ziemlich bedeutendes Eiland), und auf der ſich gegen— wärtig mehrere Fiſcherhütten befinden. Die kleinen Seen, welche

) Der Seehund des k. M. ſoll eine eigene Art fein. Phoca caspica.

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Hr. Kolodkin auf die Inſel Kulala hinverlegt, find jetzt, wie auch ſchon der Lieutenannt Sſokolow in den „Notizen des hydrogra— phiſchen Departements“ bemerkt, gänzlich ausgetrocknet.

In Nowo-Petrowsk glaube ich auch genaue und beſtimmte Aus— kunft über die Lage und den gegenwärtigen Lauf des Fluſſes Emba erhalten zu haben, das heißt, ſo genau dieſes möglich iſt, ohne ihn mit eigenen Augen geſehen zu haben. Ich erhielt nämlich die glaub— würdigſten Berichte über dieſen Fluß von einem den Winter über an deſſen Ufern nomadiſirenden Kirgiſen-Häuptling, und von einem Koſaken, der ſich im Sommer des Jahres 1839 an Ort und Stelle befunden. Beide ſtimmen darin überein, daß die Mündung der im Winter ſehr waſſerreichen Emba, die ſich durch fünf Arme in das kaſpiſche Meer ergießt, zur Sommerzeit allerdings ſehr ſeicht und ſelbſt mit dem kleinſten Nachen nicht zu befahren iſt, die Verbin— dung mit dem Weere aber, bis zum Wonat Juli wenigſtens, kei— neswegs aufhört, wie das, nach dem einſtimmigen Bericht aller Augenzeugen bei der Kama, an der weſtlichen Weeresküſte, allerdings der Fall iſt. Dieſe angebliche Unterbrechung der Verbindung mit dem Meere, welche ſelbſt auf einigen Karten angegeben iſt, beruht alſo auf einem Irrthum, und die Abnahme des Ertrages der Emba— Fiſchereien muß eher der vermehrten Thätigkeit des Menſchen als dem Wirken der Vatur zugeſchrieben werden, obgleich in dieſer Ge— gend des kaſpiſchen Sees allerdings fortwährend neue Sandbänke und Untiefen entſtehen und wieder verſchwinden “).

*) Nach einem Bericht, welcher kürzlich in der geographiſchen Gefell- ſchaft zu St. Petersburg geleſen wurde (f. die Nord. Biene Nr. 66 1855), ha- ben die HH. Danilewski und Semenow noch im Spätherbſt 1854 eine eigent— liche Entdeckungsreiſe nach der Embamündung unternommen. Weder der Par tron des Fahrzeugs, auf welchem ſie die Fahrt machten, noch die zahlreichen Fiſcher, welche ſie in dieſen Strichen antrafen, konnten ihnen näheres über die geſuchte Mündung angeben. Das Meer iſt in der Embabucht ſo ſeicht, daß zuletzt ſelbſt ein kleines Boot mit flachem Boden über eine Werſt von dem flachem, ſandigen Strande ſitzen bleiben mußte alſo ähnlich wie im aſowſchen Meere die Reiſenden ſtiegen aus und wateten an's Ufer. Die Grenze zwiſchen Waſſer und Land iſt hier überhaupt unbeſtimmt, ſie wech— ſelt je nach dem Land- oder Seewind. Deutlich aber ſah man im Meere einen Streifen bläulichen, faſt ſüßen Waſſers, der ſich vom übrigen Meer-

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Nach unſerer Zurüdfunft von Nowo-Petrowsk nach Aſtrachan beſuchten wir noch zwei Fiſchereien an den Mündungen der Wolga, um die großartige Seehundsthran-Schmelze mit Dampfapparaten der Herren Sapoſchnikoff auf der Inſel Ikrjanoi (Caviar-Inſel) zu beſichtigen, fo wie auch den in größerem WMaßſtabe betriebenen Fang des Kleinfiſches“) in Augenſchein zu nehmen, indem wir uns bis jetzt faſt ausſchließlich nur mit dem Fange des Rothfiſches be— ſchäſtigt hatten. Endlich ſahen wir noch eine beſondere Art von Fiſcherei mit an, „die Schwemme“ genannt, welche vor den Winter— fröſten ſtattfindet und wobei die aus dem Meere in die Flüſſe hin⸗ aufſteigenden Fiſche in beſonders dazu eingerichtete Netze geſcheucht werden.

Ein ganz beſonderes Studium widmete ich der Nahrung der

waſſer ſehr wohl unterſchied. Etwa acht Werſt gingen die Wanderer nach Süden, und kamen durch Schilfrohrwälder endlich auf eine ſcharf abgegrenzte Lichtung, welche dicht mit Aster Tripolium L. bewachſen war, und hier ſa⸗ hen ſie den geſuchten Fluß. Er war aber durch einen Seewind geſtaut, ſeine ſeichte Ueberſchwemmung bildete eine und dieſelbe Fläche mit dem am Strande höher ſteigenden Meeresniveau, und der Fall war jo gering, daß die Strö- mung ſogar rückwärts zu gehen ſchien. Hier hatte das Waſſer nun auch etwas mehr Tiefe, bis zu zwei Arſchinen (43 engl. Fuß); die Breite des Fluſſes mochte 50 Saſchenen betragen (etwa 350 Fuß). Seine Mündung war deutlich ſichtbar, er machte von derſelben einen großen Bogen nach Nor- den zu, und das linke Mündungsufer bildete eine lange Zunge in das Meer hinaus. Wegen des heftigen Seewindes wagten die Reiſenden es nicht, ſich weiter von ihrem Kahne zu entfernen. Hiermit war die Frage über den wirk⸗ lichen Ausfluß der Emba in's Meer gelöſt und die kirgiſiſchen Berichte be⸗ ſtätigt. Die beiden Reiſenden überzeugten ſich zugleich, daß ſeit Kolodkin's Aufnahmen bedeutende Veränderungen vorgegangen waren; die damaligen Ufer⸗Inſeln Jertſchaſchnyj, Schiloi, Solenyj und andere jetzt mit dem Feſt⸗ land vereinigt; der Embensky Kultuk exiſtirt nicht mehr, er lag gänzlich trok⸗ ken; und von den Seehunds⸗Inſeln an hatte die Meerestiefe ſehr beträchtlich abgenommen. Wo Kolodkin 31—4 Saſchenen (24— 28 Fuß) angiebt, find jetzt nicht mehr als 2, noch öfter 24 Saſchenen (171—153 Fuß).

) Der Kleinfiſch, eigentlich die Fiſcharten, die in Netzen mit kleinen und dichten Maſchen gefangen werden, im Gegenſatz zum Rothfiſche, d. h. dem Hauſen, dem Stör, der Sſewrjuga, dem Sterledd, welcher einen ver⸗ hältnißmäßig viel höhern Werth hat.

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Fiſche; denn um ihre Fortpflanzungsart genauer kennen zu lernen, muß man das Frühjahr erwarten.

So ungeheuer der Reichthum an Fiſchen im kaſpiſchen Weere auch immer ſein mag, ſo ſind die darin einheimiſchen Gattungen doch nur wenig zahlreich und fait alle ſchon von den Herren Gmelin, Pallas, Menetrier, Brandt, Lowezki und Eichwald be— ſchrieben worden. Doch glaube ich, daß die hieſige Plötze oder Rothfeder, welche von der nördlichen Plötze verſchieden, noch in kei— nem wiſſenſchaftlichen Werke erwähnt worden iſt. Auch von der Weißauge, welche von Pallas zwar beſchrieben, aber nicht gezeich— net worden und von der man im Auslande nur ſehr unbeſtimmte Begriffe hatte, indem man ſie, unter einem andern Namen, für eine neue Fiſchſpecies ausgab, lieferte Hr. Nikitin eine ſehr gelungene Abbildung. Aber in zoologiſcher Beziehung iſt es viel wichtiger, die ruſſiſchen volksthümlichen Benennungen mit den wiſſenſchaftlichen Namen des Syſtems in Uebereinſtimmung zu bringen, als neue Fiſcharten zu beſchreiben. Pallas aber hatte ſelten Gelegenheit, die hieſigen Fiſche mit denen anderer Gewäſſer vergleichen zu können und daher find einige feiner Irrthümer auch in die Ar— beiten anderer Forſcher übergegangen. So hält er z. B. den hie⸗ ſigen Stör für identiſch mit dem baltiſchen Fiſche dieſes Na— mens, während ſchon der Akademiker Brandt die Verſchieden— heit dieſer beiden Gattungen nachgewieſen hat, und ich, nach einem von mir in Kaſan geſehenen ausgeſtopften Exemplare des Irtyſch⸗ Störs, dieſen wieder für eine dritte ebenfalls von den beiden an— dern verſchiedenen Abart erklären muß. So hält Pallas die hier vorgefundene Fiſchart Taran für den eyprinus vimba des Peipus⸗ Sees, obgleich ich hier letzteren niemals angetroffen habe und auch fein Vorhandenſein im kaſpiſchen Meere überhaupt bezweifle. Eben ſo geht es ihm auch mit der Wobla und mehreren anderen hie— ſigen Fiſcharten. Manche neuere Beobachter dagegen haben für einige Fiſcharten des kaſpiſchen Meeres ganz neue Benennungen er— funden, wodurch in den naturwiſſenſchaftlichen Forſchungen und Be zeichnungen die größte Verwirrung entſtand. Dazu kommt noch, daß die Fiſcher im Allgemeinen, und ſelbſt die mehr gebildeten Auf— ſeher, denjenigen Fiſchen, die nicht in den Handel kommen, nur ſehr

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wenig Aufmerkſamkeit ſchenken, und wir bisweilen unter den Ges werbtreibenden ſelbſt die lebhafteſten Meinungsverſchiedenheiten und Disputationen erweckten, wenn wir uns nach dem obenerwähnten Taran erkundigten und wiſſen wollten: welche Fiſchart eigentlich mit dieſem Namen bezeichnet wird? Im weiteren Sinne heißen alle Fiſche Taran, die nicht für den Handel taugen, indem das auf ihre Zubereitung verwendete Salz ſich aus dem Erlös nicht bezahlt ma— chen würde. Dieſe Unbeſtimmtheit des Ausdrucks würde übrigens in der Praxis keine Bedeutung haben, wenn der Taran nicht eben beim Thranſchmelzen von Wichtigkeit wäre.

Auch was die Lebensweiſe der Fiſche anbelangt, ſo beachten die hieſigen Fiſcher ausſchließlichsfaſt nur diejenigen Eigenthümlich— keiten, welche einen unmittelbaren Einfluß auf die Zeit, den Ort und die Art und Weiſe des Fanges ausüben: alles andere iſt ihnen gleichgiltig und ſelten nur kann man von ihnen etwas Belehrendes erfahren. So hat ſich unter ihnen das unnatürliche Vorurtheil feſtgeſetzt, daß zur Bildung eines kleinen Fiſches drei Körnchen Laich zuſammenwachſen müſſen. Eine ſo ſehr allen naturhiſtoriſchen Be— griffen zuwiderlaufende Anſicht wäre kaum unter den Fiſchern des Peipus⸗Sees anzutreffen.

Aus eben dieſem Grunde konnte ich auf keinerlei Weiſe erfah— ren, ob die hieſigen Fiſche, und beſonders der Rothfiſch, durch hel— len Feuerſchein angezogen werden oder nicht. Ein alter, erfahrener Aufſeher, der mir ſonſt ſo manche befriedigende Aufſchlüſſe gegeben, erklärte gerade heraus, daß er über dieſen Punkt nichts ſagen könne, daß man auf dem kaſpiſchen Weere niemals mit Feuerſchein gefiſcht habe und daß ohne Zweifel Niemand mir darüber etwas Näheres und Beſtimmteres berichten würde als er ſelbſt

Selbſt nach Beendigung unſerer Arbeiten wird es für den Sta— tiſtiker ſehr ſchwierig fein, eine kritiſch wohlbegründete Schätzung von dem Geſammtertrag der Fiſche des ganzen kaſpiſchen Meeres und der hereinſtrömenden Flüſſe abzugeben. Um nun zufoͤrderſt einen wenn auch nur annähernden Aufſchluß über die wirkliche oder angebliche Abnahme der Fiſche zu erhalten, iſt man für jetzt auf Schätzungen und Veranſchlagungen beſchränkt, die von umſichtigen

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u EIER . —˙

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und erfahrenen Perſonen unternommen und uns mitgetheilt wor— den ſind.

Dergleichen Angaben lagen uns drei vor, von denen die eine den Geſammtwerth des jährlichen Fangs auf 4,000,000, die zweite auf 3,200,000, die dritte endlich auf 4,830,000 Rubel S. rechnet. Wenn man nun auch zwiſchen der höchſten und niedrigſten Schät⸗ zung die Mitte nimmt und den Fang auf 4,400,000 Rubel ver⸗ anſchlagt, jo muß dennoch dabei berückſichtigt werden, daß 1) bei al- len dieſen Taxationen der Uralfluß mit dem Seegebiet an ſeiner Mün⸗ dung nicht in Anſchlag gebracht iſt; 2) daß bei derſelben nur die in den Handel gehende Waare berechnet wird, während der unmit— telbare Verbrauch an Fiſchen ſehr bedeutend iſt und bei der Frage berückſichtigt werden muß: Welchen Einfluß hat auf die Staats- ökonomie der Fiſchfang auf dem kaſpiſchen Meere und allen feinen Zuflüſſen, mit Ausnahme der obern und mittlern Wolga? Die Aufſeher und ſehr zahlreichen Arbeiter auf den Fangplätzen, ſowie alle übrigen Küſtenbewohner nähren ſich faſt ausſchließlich von Fi— ſchen, und die ruſſiſche Gaſtfreiheit hat es zum feſten Gebrauch ge— macht, daß alle vorüberſegelnden Fahrzeuge, von denen bisweilen über hundert auf den Untiefen längere Zeit vor Anker liegen, und die Mannfchaften der Wacht- und Inſpectionsſchiffe öſtlich von den Mündungen der Wolga, ſich zum täglichen Gebrauch unentgeltlich mit Fiſchen verſorgen: allerdings meiſtentheils mit Kleinfiſch, deſſen Preis hier ſehr niedrig, aber der Verbrauch iſt ſo groß, daß er noth— wendiger Weiſe in ſtaatswirthſchaftlicher Hinſicht in's Gewicht fallen muß. Selbſt der ohne Vergleich werthvollere Kaviar wird in bedeu— tenden Quantitäten verſchenkt und ſogar zu dieſem Behuf eine be— ſondere Sorte davon angefertigt. Aus allen dieſen Gründen glaube ich den Geſammtertrag der genannten Fiſchereien auf über 5,000,000 Silberrubel ſchätzen zu können, was alſo eher eine Wehr-, als eine Mindereinnahme vermuthen ließe, wie denn auch in der That noch niemals jo viel animaliſcher Vahrungsſtoff aus dem kaſpiſchen Meere gezogen worden iſt, als in unſern Tagen: andererſeits aber darf man nicht aus den Augen verlieren, daß dieſer größere Vortheil nur dadurch erreicht wird, daß man die Fiſcherei faſt auf allen Küſten betreibt, viel weiter im Weere vordringt als in frühern Zei—

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ten und ſelbſt in einer Tiefe von fiebenzig Faden Hamen ausſtellt. Da nun, wie ſchon geſagt, dieſer weit ausgedehnte Fang faſt ausſchließlich auf den verhältnißmäßig viel werthvolleren Rothfiſch gerichtet iſt und nur an den Mündungen der Bergſtröme auch Lachſe gefangen werden, ſo muß ich, nach den uns zugekommenen, aller— dings noch ſehr unvollſtändigen Angaben, die Behauptung von der allmäligen Abnahme der alſo benannten Fiſcharten, für nicht un— wahrſcheinlich halten. Pallas (der vermuthlich während ſeines Aufenthaltes in Aſtrachan im Jahre 1793 ſeine Unterſuchungen an— ſtellte) veranſchlagt, nach den Angaben der Fiſchereibeſitzer und aſtra— chanſchen Fiſchhändler, den Geſammtwerth des damaligen im ganzen kaſpiſchen Meere, mit Ausnahme des im Ural und im Seegebiet ſeiner Wündungen, gewonnenen Rothfiſches, auf 1,868,480 R. S., während die höchſte Schätzung aus unſerer Zeit die Summe von 3,550,000 Silberrubeln nicht überſteigt. Das wäre nun allerdings faſt das Doppelte der von Pallas angegebenen Summe, aber es darf nicht aus den Augen gelaſſen werden, daß in jener Zeit der Silberrubel beinahe noch einmal ſo hoch im Werthe ſtand als jetzt; daß der Fiſchfang lange nicht ſo ausgebreitet war wie gegenwärtig, und daß die Zahl der dabei beſchäftigten Arbeiter kaum ein Drit— theil im Vergleich zu denen ausmachte, welche in unſern Tagen das Gewerbe betreiben: daher läßt ſich ein größerer Ueberfluß an Fiſchen in damaliger Zeit kaum bezweifeln, und vorzüglich ergiebig mag der Fang an den Stellen geweſen ſein, wo die Fiſcherei in größe— rem Waßſtabe erſt neuerlich eingeführt worden. So erwähnt Pal— las, daß bei der Saljanſchen Wehre (Pfahlwerk) bisweilen an einem Tage 15,000 Stück Rothfiſche gefangen wurden, und daß, wenn der Fang aus irgend einer Urſache auf vier und zwanzig Stunden ausgeſetzt wurde, der 60 Faden breite und vier Arſchin tieſe Fluß dermaßen mit Fiſchen überfüllt war, daß ſie ſchichten— weiſe über einander lagen und die oberſten mit dem Rücken aus dem Waſſer hervorragten. Aehnliches wird auch vom Ural berich— tet und der Zudrang des Rothfiſches auf die Wehren ſoll zuweilen ſo ungeheuer geweſen fein, daß man genöthigt war die anſtürmen— den Waſſen durch Kanonenſchüſſe zu verſcheuchen, um das Pfahl⸗ werk vor dem Einſtürzen zu bewahren: jetzt kommt man natürlich

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nicht mehr in den Fall zu ſolchen Schutzmitteln ſeine Zuflucht neh— men zu müſſen.

Indeſſen iſt bei Pallas der Werth des Geſammtfanges nach ſehr unbeſtimmten, wenn auch mäßigen Preiſen berechnet: als Grundlage ſeines Calculs nimmt er die Quantität des Fanges an verſchiedenen Oertlichkeiten. Ein und vierzig Jahre ſpäter, als die Fiſcherei ſchon eine weit größere Ausdehnung erlangte, wurde Hrn. von Humboldt eine annähernde Schätzung des Geſammtbetrages nach der Zahl der gefangenen Fiſche mitgetheilt. Schon hier wird eine Verringerung in der Zahl des gewonnenen Fiſches bemerkbar, obgleich die Menge der Fangapparate zugenommen hatte: denn ein Ueberſchuß von 4500 Haufen kann nicht die ausfallenden 27,000 Störe und 60,000 Sewrugen erſetzen;

Nach Pallas. Nach Humboldt. Differenz Haufen . . t 103,500 108,000 + 4,500 State e AR 302,000 275,000 27,000 Sewruge nn 1,445,000 1,325,875 119,125

Bei näherer Prüfung der Humboldt'ſchen Tabelle bemerkt man, daß ſie, mit Beobachtung einiger allgemeinen Regeln, nach einer approximativen Taxation gemacht iſt, und eben dadurch viel an Ge— nauigkeit und Beſtimmtheit zu verlieren ſcheint. Noch vor Erſchei— nen derſelben aber wurde in dem Jahrgange 1832 des „Journals des Winiſteriums des Innern“ ein Bericht eingerückt über die Fiſche— rei im kaſpiſchen Meere im Jahre 1830. Leider ſind die Quellen, aus denen der Bericht geſchöpft iſt, nicht angegeben, aber offenbar ſind die einzelnen Zahlen darin nicht durch Dividiren der General— ſumme erlangt worden. Allem Anſcheine nach wurden, behufs die— ſer Zuſammenſtellung, die Ertragzahlen von jedem einzelnen Fiſcherei— Diſtrict angegeben und der Unterſchied mit der Pallas'ſchen Ta— belle iſt ſehr bedeutend:

Tabelle d. Pallas, Tab. d. J. d. Min. d.

vom J. 1793. Innern v. J. 1830. Differenz. Hauſen 103,500 225,832 + 122,332 ee 2 303,000 263,310 38,690 Sewrugen . . . 1,445,009 932,968 512,041

In der letzten Tabelle ift die Zahl der gewonnenen Haufen 7

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mehr als noch einmal ſo groß wie bei Pallas; der Ertrag der beiden andern Fiſcharten dagegen um ein Bedeutendes geringer. Bemerkenswerth iſt auch, daß das Reſultat das nämliche bleibt, ſelbſt wenn man das Gewicht und nicht die Anzahl der gefangenen Fiſche zur Baſis der Berechnungen nimmt. Wenn man einerſeits im Durch— ſchnitt den Ueberfluß an Haufen im Jahre 1793 und die Winder— zahl von Stören und Sewrugen im Jahre 1830 dem Gewichte nach rechnet, ſo erlangt man einen Erlös von 50 bis 80,000 Pud Fiſchfleiſch. Berückſichtigt man dagegen, den der Tabelle beigefüg— ten Preiſen nach, den Geldwerth der Waare, ſo weiſt ſich dieſer für das Jahr 1830 um ein Geringeres vortheilhafter aus, da überhaupt der Hauſen theurer im Handel iſt als die Sewruga. Vergleicht man endlich noch genauer die Tabellen vom Jahr 1830 und 1834, ſo findet man, daß die Quantität des in Saljan gewonnenen Ka— viars und der Hauſenblaſe unverhältnißmäßig groß iſt zu der an— gegebenen Zahl der gefangenen Fiſche. Daher zweifle ich gar nicht, daß dieſe Angaben aus einer Zeit ſtammen, wo in den dortigen Ge— wäſſern in den Sommermonaten gar keine Fiſche geſalzen wurden, unter dem Vorwande, daß ſie zu leicht der Fäulniß unterworfen ſind, oder vielmehr weil man die Koſten einer ſchnellen, ſtarken und dauerhaften Einſalzung ſcheute. Endlich iſt noch zu bemerken, daß nach allen drei verſchiedenen Tabellen die Quantität der auf den Markt und in den Handel gebrachten Fiſche ungefähr dieſelbe blieb, denn die einzelnen Ab- und Zunahmen waren immer nur ſehr un— bedeutend.

Richtete ſich nun die Produktion einzig und allein nach der Nachfrage und dem Verbrauch des Artikels? und blieb die Nach— frage immer die nämliche? Um alſo ein ſolches Reſultat zu erhal— ten, mußte ſich die Zahl der Fiſcher und der Fänge fortwährend vergrößern: im Jahre 1815 zählte man im aſtrachaniſchen Gouver— nement etwa 7000 Fiſcher, während im Jahre 1830 die Zahl der: ſelben ſchon auf 16 bis 17,000 geſtiegen war. Gegenwärtig kommt bei weitem mehr Fiſchfleiſch auf den Markt als fonft*), weil der

*) In allen neueren Berichten wird der Ertrag des Fanges nach dem

Gewicht berechnet, daher ſich mit den ältern Veranſchlagungen, in welchem die Zahl der Fiſche angegeben war, keine genanen Vergleiche anſtellen laſſen.

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Fiſch jetzt in Saljan zu jeder Jahreszeit geſalzen wird: damit wuchs aber auch natürlich die Zahl der Arbeiter und der mit der Ausübung des Gewerbes verbundenen Ausgaben.

Aus allem dieſen erſcheint es höchſt wahrſcheinlich, daß der Vorrath an Fiſchen im kaſpiſchen Meere gegen frühere Zeiten ab— genommen hat, noch gewiſſer aber, daß die Fiſche ſelbſt in unſern Tagen von geringerer Größe und Gewicht ſind, oder, um ſich rich— tiger auszudrücken, daß ſie nicht die Zeit haben ihre vollkommene Größe zu erreichen. Dieſe Bemerkung bezieht ſich nicht auf den Rothfiſch allein, ſondern auch auf alle andern Arten von Fiſchen: man muß ſich wundern, daß man noch tauſend Brachſen von mitt— lerer Größe beiſammen finden kann und die ſonſt ſo anſehnlichen Karpfen ſind jetzt ſehr rar. Unter vielen Hunderten von Welſen, die vor meinen Augen gefangen wurden, fand ich keinen einzigen von zwei Arſchin Länge; die ſehr großen von mehr als 30 Pud ſind ſo ſelten, daß ihrer im ganzen kaſpiſchen Meere und im Ver— laufe mehrerer Jahre nur einige wenige gefangen wurden; ſelbſt 20 pudige Haufen gelten ſchon für eine Seltenheit, indem für einen Fiſch eine bedeutende Reihe von Jahren erforderlich iſt, um eine ſolche Größe zu erreichen. Andererſeits aber ſind ſie unendlich vie—

len Zufällen ausgeſetzt; daher es denn ſehr natürlich iſt, wenn das

Weer für das in ſeinen Schooß geſenkte Capital die Procente in kleiner Münze auszahlt, wenn man ſich fo ausdrücken darf. Bei ſo bewandten Umſtänden kann aber ſehr wohl Verluſt eintreten, ſelbſt wenn die Anzahl der gefangenen Fiſche ſich gleich bleibt; denn der Rothfiſch von größerer Dimenſion ſteht verhältnißmäßig immer viel höher im Preiſe, als der von geringerer Größe.

Pallas giebt im Jahre 1793 den Geſammtbetrag des ge— wonnenen Kaviars auf 123,970 Pud an, während wir in Herrn von Humboldt's Tabelle 119,568 Pud verzeichnet finden. Herr Koſhewnikow rechnet 104,358 Pud, und eine uns zugekommene handſchriftliche Schätzung veranſchlagt denſelben auf 151,235 Pud ).

) Wenn dieſe letzte Zahl vielleicht auch zu hoch ſein ſollte, jo würde ſie dennoch mit dem immermehr zugenommenen Fiſchfange nicht im Ver⸗ hältniß ſein.

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Die nicht ausgewachſenen Fiſche geben bekanntlich weniger Kaviar, da aber leider in den neuern Schätzungen nicht die Zahl der Fiſche, ſondern das Gewicht derſelben im Allgemeinen angezeigt iſt, ſo läßt ſich auch hier kein genauer Vergleich anſtellen. Den Durchſchnitts— preis des Kaviars, der allerdings ſehr ſchwierig zu beſtimmen iſt, ſchlägt Pallas auf 31 Rubel S. per Pud an, während er in den neuen Tabellen auf 10 Rubel S. angegeben iſt.

Dagegen aber habe ich durchaus keine Angaben finden können, welche mich eine Abnahme des Kleinfiſches vermuthen ließ. Wenn man ſich nun die Frage vorlegt: wie es wohl zugehen mag, daß bei der fortwährenden und ſchonungsloſen Ausbeutung des Meeres der Vorrath deſſelben an Fiſchen noch nicht erſchöpft iſt? ſo muß der Naturforſcher mit dankbarer Ehrfurcht die Kraſt der Natur ge— genüber den Bemühungen des Wenſchen gewahr werden: jene er— ſetzt dem Meere immer wieder aufs Neue, was dieſer ihm entzieht. Die Ströme, und vorzüglich die Wolga, welche mit ihren Veben— flüſſen alljährlich weite Strecken überſchwemmt, führen ihm eine Wenge organiſcher Theile zu; in vielen Gegenden verſchmäht man es die Felder zu düngen und gebraucht den Wiſt, wie z. B. in Simbirsk und deſſen Umgegend, als Schutz und Feſtigungsmittel der Ufer gegen die Untergrabungen des Fluſſes: aber jeder Regen wäſcht einiges davon hinunter und die Wolga ſchwemmt unauf— hörlich Maſſen von dem lockern Uferboden hinweg. Wenn nun die animaliſchen Excremente in größerer Wenge allerdings für die Fiſche tödtlich ſind, ſo verwandeln ſie ſich andererſeits, in einer großen Quantität Waſſer verdünnt, in einen nährenden Stoff für dieſelben. Aber eine noch ergiebigere Nahrungsquelle finden die Fiſche in den unermeßlichen Wäldern von Schilf und Rohr, welche ſich an den Mündungen der Wolga und des Urals bilden und auf den alle Jahr zukommenden Anſchwemmungen ſich immer weiter ausdehnen. Wenn auch ein bedeutender Theil davon den Wenſchen als Brenn⸗ material und zu manchen andern Bedürfniſſen dient, ſo wird doch eine noch viel größere Maſſe, nachdem das Schilf von der Wurzel abgetrocknet, hinaus in's Meer geführt: hier geht es allmälig in Verweſung über, und wenn gleich kein Fiſch, ſo viel man weiß, den dürren Stengel freſſen kann, ſo nähren ſich doch viele und unzäh—

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lige Inſektenlarven, Würmer und Schnecken von den darin enthal- tenen, in ihre feinſten Theile zerſetzten vegetabiliſchen Reſter. So kommt zuletzt Alles den Fiſchen, ſogar den Raubfiſchen zu gut, und unmittelbar durch dieſe wiederum dem Wenſchen. Damit aber immer genug hungrige Magen vorhanden ſeien, um dieſe ihnen von der Natur gebotene Speiſe zu benutzen, ſo muß man ſich hüten die ausgewachſenen Fiſche allzuſehr in ihrem Drängen nach den Laich— ſtellen zu hindern; vorzüglich aber muß man vermeiden, die junge Brut auszufiſchen, welche noch keinen Laich abſetzt; und in dieſer Hinſicht iſt es ein Unglück zu nennen, daß ein großer Theil der kaſpiſchen Fiſche zu ihrem Fortpflanzungsprozeſſe ſo hoch in die Ströme hinaufſteigt, oder wenigſtens die Untiefen aufſuchen muß, wo der Wenſch auf ſie lauert, mit all' ſeiner Liſt und ſeiner lang— jährigen Erfahrung.

Bis jetzt iſt übrigens noch ein großer Ueberfluß an Kleinfiſch vorhanden und die ganze Wolga entlang, bis nach Kaſan hinauf, ſteht er ſehr niedrig im Preiſe, obgleich er jetzt doch etwas höher geachtet wird als früher. Vor 60 Jahren berechnete Pallas den Geſammtwerth des gefangenen Kleinfiſches auf bedeutend weniger als ein Drittheil von dem des Rothfiſches: jetzt ſchätzt man ihn auf etwas über ein Drittheil, den unmittelbaren Verbrauch an Ort und Stelle nicht mit einbegriffen. Vielleicht wird die in Erwartung ſte— hende Dampfverbindung auch dieſen Zweig der Induſtrie entwickeln, obgleich allerdings nicht zu erwarten ſteht, daß ſie auf das Innere des Reichs in dieſer Hinſicht einen bedeutendeu Einfluß haben könnte.

Wir kehren wiederum zu unſern Reiſenden zurück, die, nachdem ſie den Fiſchfang in Tſchagan vollſtändig kennen gelernt hatten, und noch von Herrn Sapoſchnikoff vortrefflich bewirthet worden waren, bei welcher Gelegenheit ihnen auch der kurz zuvor bereitete Kaviar vorgeſetzt wurde, um 6 Uhr mit dem Dampfboot abfuhren und um 1 Uhr in der Vacht in Aſtrachan wieder anlangten.

Zehntes Kapitel.

Beſuch bei dem Kalmükenfürſten Sered-Dſchab. Niveau des kaſpi⸗ ſchen Meeres; raſches Sinken deſſelben. Die Bugors.

Unſere Reiſenden hatten nun die merkwürdigſten Gegenſtände Aſtrachans und ſeiner Umgebungen geſehen, und es blieb ihnen nur noch wünſchenswerth, die Kalmüken und beſonders ihren merkwür— digen Fürſten Sered-Dſchab kennen zu lernen, der durch ſeine Bil— dung und ſeine wiſſenſchaftlichen Kenntniſſe vor allen anderen kal— mükiſchen Fürſten hervorragt. Er iſt der Fürſt der Choſchuder-Horde, die in den reichen Wieſen zwiſchen der Wolga und der Achtuba no— madiſirt, dorthin aber erſt von der weſtlichen Steppe nach der gro— ßen Flucht der Kalmüken der öſtlichen Steppe im Jahre 1770 mit Erlaubniß der Regierung eingewandert iſt. Fürſt Sered-Dſchab hat als Anführer der Kalmüken nicht blos ſeiner Horde, ſondern auch der Horden der weſtlichen Steppe die Kriege der Ruſſen gegen die Franzoſen mitgebracht, iſt in Paris geweſen und war nun ruſſiſcher Oberſt und Ritter mehrerer Orden. Vach ſeiner Rückkehr hat er ſich nicht weit von dem Wolga⸗-Ufer ein ſtattliches hölzernes Haus vor ruſſiſchen Werkmeiſtern aufführen laſſen, in welchem er wenig— ſtens den Winter über wohnt, wenngleich er, der Sitte ſeines Volks gemäß, im Sommer noch in der Steppe nomadiſirt. Eben ſo hat er ſich nicht weit davon einen ſteinernen Tempel von ſeinen Prie— ſtern, die dieſe heiligen Gebäude allein bauen dürfen, aufführen laſſen.

Da die Wohnung des Fürſten Sered-Dſchab nicht weit von der Wolga in der Nähe von Semänowskaja, der dritten Station von Aſtrachan auf der Straße nach Sarepta, liegt, ſo wurde be—

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ſchloſſen, dieſe auf der Rückreiſe von hier aus zu beſuchen, denn die Reiſe auf dem linken Ufer der Wolga zu machen, war wegen der vielen Kanäle und Flüſſe, die das Land zwiſchen der Wolga und der Achtuba durchſchneiden, nicht ausführbar. Die Reiſenden ver— ließen demnach Aſtrachan am 21. Oktober, ſetzten am Morgen früh, in Begleitung des Herrn v. Oſſipoff, in einem kleinen Boote über die Wolga, und warteten auf dem jenſeitigen Ufer in dem hier ge— legenen Haufe der Frau v. Sawarikin auf die Ankunft ihre Reiſe— wagen, die, da ſie in größere Boote geladen werden mußten, zur Ueberfahrt längerer Zeit bedurften. Um 10 Uhr war auch dieſe be— werkſtelligt, worauf ſie ſich dann von Herrn von Oſſipoff in dank— barer Anerkennung der vielen genoſſenen Aufmerkſamkeiten trennten, und ihre Rückreiſe auf dem ſchon bekannten Wege antraten.

Bei der ſandigen Beſchaffenheit des erſten Theils des Weges kamen ſie in Semänowskaja (66 Werſte von Aſtrachan) erſt am Abend an. Da ſie von hier nach Tumeniewka, der Reſidenz des Fürſten Sered⸗Dſchab, überſetzen mußten, jo blieben fie hier die Nacht, wurden aber noch denſelben Abend von dem jüngeren Bruder des Fürſten, Serra-Vorwa, begrüßt, den der Fürſt, von ihrer Ankunft un- terrichtet, ihnen entgegengeſandt hatte, um ihnen zu verkündigen, daß er (der Fürſt) ſie am folgenden Tage erwarte. Der Bruder deſſel— ben war ein junger Wann, nach tſcherkeſſiſcher Art mit einem kur— zen blauen, mit ſilberner Borte beſetzten Ueberrock bekleidet, der vor der Bruſt auf beiden Seiten mit einer Art Taſche zum Einſtecken von Patronen verſehen war. Er blieb mit ihnen die Nacht in Se— mänowskaja, und führte ſie nun am folgenden Worgen auf ſeinem mit zwölf kräftigen Kalmüken bemannten Boote über die Wolga.

Die Nacht war ziemlich kalt geweſen, und noch jetzt am Wor— gen um 9 Uhr, wo man überſetzte, hatte die Luft nur eine Tempe— ratur von 3“ R. Viel weniger war das Waſſer der Wolga erkal— tet, es hatte noch eine Temperatur von 75, und bewirkte durch Erwärmung der über ihm ſtehenden Luftſchicht eine Luftſpiegelung, die ſo ausgezeichnet war, wie unſre Reiſenden ſie nur mitten im Sommer in den Steppen des Altai geſehen hatten. Die höhern Gegenſtände des gegenüber liegenden Ufers erſchienen dadurch geho— ben und nach unten zu verkehrt, wie wenn ſich ein Gegenſtand im

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Waſſer ſpiegelt. Sie fuhren bei mehreren mit Pappeln und Mei- den beſetzten Inſeln vorüber, und hielten endlich in ziemlicher Ent— fernung vom jenſeitigen Ufer ſtill, denn bis zum Ufer ſelbſt konnten ſie in dem Boote, wegen der Seichtigkeit des Waſſers an dem Lan— dungsplatze, nicht gelangen. Ihre kalmükiſchen Ruderer ſprangen da— her in's Waſſer und trugen fie, je zwei einen Seſſel mit ihren Hän— den bildend, an's Ufer. Hier wartete ihrer ſchon eine vierſpännige und eine zweiſpännige Kutſche, ſowie eine Menge Reitpferde, die ihnen Fürſt Sered-Dſchab entgegengeſchickt hatte, in der Meinung, daß Humboldt mit einem viel größeren Gefolge ankommen würde.

Tumeniewka, die Reſidenz des Fürſten, liegt von dem Landungs— platze noch 12 Werſte weiter aufwärts an der Wolga. Sie hat ſchon ziemlich das Anſehen eines ruſſiſchen Dorfes und beſteht aus einer Menge unregelmäßig ſtehender hölzerner Häuſer und Kibitken, über die alle das hölzerne Schloß des Fürſten emporragt, ein etwa 30 Schritt langes Gebäude von zwei Stockwerken, deſſen zweites Stockwerk gegen das untere etwas zurücktritt, und hier mit einem Ge— länder umgeben, in der Mitte aber mit einer gläſernen Kuppel verſe— hen iſt. Die umgebenden Kibitken werden von Kalmüken, die höl— zernen Häuſer aber meiſtens von Ruſſen bewohnt, die ſich bei dem Fürſten angeſiedelt haben und ihm dienſtpflichtig ſind.

Fürſt Sered⸗Dſchab empfing ſeine Gäſte an der Thür ſeines Schloſſes. Er war ein Mann von mittleren Jahren, in eine dun— kelgrüne Kutka als ruſſiſcher Oberſt gekleidet und mit allen ſeinen Orden geziert. In ſeiner Begleitung befand ſich ſein dritter Bru— der, Seren⸗Danduk, in ähnlicher tſcherkeſſiſcher Kleidung, wie ſein vierter Bruder Seren-Nowa, der die Reiſenden von Semänowskaja hergeleitet hatte. Sein zweiter Bruder, Batur-Übaſchi, war, wie man nachher erfuhr, krank und zeigte ſich nicht. Die Reiſenden traten in einen ſchmalen tiefen Saal, in deſſen Mitte ein Billard ſtand und deſſen Seiten mit Möbeln von Mahagoni, großen Spiegeln und Spieluhren geſchmückt waren. Aus dieſem wurden ſie rechts in ein kleines Seitenzimmer geführt, in welchem ſich Humboldt und Fürſt Sereb⸗Dſchab auf ein Kanapee von rothem Saffian, den Fen— ſtern gegenüber, niederließen; die übrige Geſellſchaft ſetzte ſich auf Polſterſtühle von Mahagoni, die mit perſiſchem ſeidenen Zeuge über—

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zogen waren, und ordnete ſich um einen größeren runden Tiſch, der vor dem Kanapee ſtand. Ueber dem Kanapee an der Wand hingen die wohlgetroffenen Oelbilder des Kaiſers und der Kaiſerin. Der Fürſt ſprach fertig ruſſiſch und unterhielt ſich mit Humboldt durch Herrn Menfchenin und Herrn Stranak, welchen letzteren unſre Rei— ſenden auch jetzt noch die Freude hatten bei ſich zu ſehen, da er ſie bis zur Gränze des Gouvernements, wo er ſie empfangen, zurück— geleitete. Die Unterhaltung hatte aber nicht lange gewährt, als ganz unerwartet ein reichgekleideter junger Mann von mongoliſcher, doch angenehmer Bildung, der Chan der inneren Kirgiſen-Horde, Dſchangir, mit feinem Gefolge hereintrat. Er war, wie man erfuhr, beim Fürſten Sered-Dſchab, ſeinem Nachbar, zum Beſuch ge— kommen, hatte ſchon den Tag vorher abreiſen wollen, war aber auf die Nachricht von der Ankunſt Humboldt's noch geblieben. Er trug ein weites, vorn offenes Oberkleid von blauem Tuch mit goldener Borte, und ein engeres Unterkleid von eben dem Tuche, das um den Leib mit einem breiten Gürtel zuſammengehalten wurde, und nur auf der Bruſt etwas geöffnet war, ſo daß man noch ein wenig die dar— unter befindliche mit Silber geſtickte Weſte und die große goldene mit Brillanten beſetzte Medaille, die er vom Kaiſer Alexander er— halten hatte, ſehen konnte. Er hatte ferner weite Beinkleider von violettem Sammet, und auf dem Kopfe eine kleine ſpitze Mütze von blauem Tuche, die mit Gold geſtickt und rund herum mit Zobel be— ſetzt war, und über welche er nachher beim Ausgehen noch eine ähn— liche, aber weitere von rothem Sammet ſetzte, welche er beim Her— eintreten in der Hand hielt. Er ſprach ebenfalls fertig ruſſiſch, konnte aber außerdem noch perſiſch und arabiſch ſprechen, ſo daß in letzterer Sprache Profeſſor Ehrenberg ſich unmittelbar mit ihm unterhalten konnte. Er bedauerte ſehr, daß Humboldt nicht von Orenburg aus durch ſeine Steppe gereiſt ſei, er habe dies geglaubt, und deshalb ſchon Pferde in der Steppe aufſtellen laſſen. Humboldt ſprach dann mit ihm von ſeinem Lehrer Karelin in Orenburg, der ſich lange bei ihm in der Steppe aufgehalten hatte, und den er ſehr zu lieben ſchien. Dabei wurde in Gläſern auf einem Präſentirteller von lakirtem Eiſenblech Kumis oder Tſchigan, wie die Kalmüken die geſäuerte Stutenmilch nennen, herumgereicht.

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Nachdem unſere Reiſenden hier einige Zeit verweilt hatten, fuh— ren ſie in Begleitung des Chans der Kirgiſen nach dem Tempel, in welchem der Fürſt eine Feier zur glücklichen Beendigung des Krieges der Ruſſen gegen die Türken veranſtaltet hatte. Er liegt in einiger Entfernung von dem fürſtlichen Wohnhauſe nach der Steppe zu und iſt ein länglich-viereckiges Gebäude mit einem japaniſchen Dache. Der Eingang liegt an einer der ſchmalen Seiten, und von dieſer gehen zu beiden Seiten bogenförmige Säulengänge aus, wie bei der Kaſaniſchen Kirche in Petersburg. Dieſe hatte der Fürſt nach eigener Idee ſeiner Kirche hinzufügen laſſen, die ſonſt ſtreng nach tibetanifchen Modellen, wie man erzählte, erbaut war.

Das Innere des Tempels hatte in der Ordnung der einzelnen Theile große Aehnlichkeit mit dem Innern des Kalmükentempels, den unſere Reiſenden auf der Hinreiſe bei Aſtrachan beſucht hatten, nur war hier Alles in einem großartigeren Styl eingerichtet. Der innere Raum war im Allgemeinen hell, die Fenſter befanden ſich an den längeren Seiten, und alle Wände waren weiß getüncht. Zwei Rei— hen viereckiger Pfeiler gingen von beiden Seiten der Thür aus der Länge nach durch den Tempel, und theilten das Innere gleichſam in 3 Abtheilungen, zwei äußere und eine innere, welche letztere aber eine größere Tiefe als die äußere hatte, und daher am Ende einen etwas finſteren Raum bildete. Hier befand ſich, dem Eingange ge— genüber, der Altar mit dem terraſſenförmigen Aufſatze, worauf die Figuren der Götzen aufgeſtellt waren, und der hier durch angezün— dete Lichter erleuchtet war. An den Wänden der äußeren Abthei— lungen, zwiſchen und unter den Fenſtern, hingen die Abbildungen der Götzen, die der Buchanen oder guten Geiſter, des Oſchagſchai— muni, Abida und Waidarin in betender Stellung und mit unterge— ſchlagenen Beinen, die Figur des böſen Geiſtes Erlik-Chan in ſtehen— der drohender Stellung. In der mittleren Abtheilung ſaßen auch hier die Prieſter, wie in dem Tempel bei Aſtrachan, in zwei Reihen neben einander mit untergeſchlagenen Beinen, den Rücken gegen die Säulen und das Geſicht einander zugekehrt, und brachten auch hier mit ähnlichen Inſtrumenten wie dort ein ähnliches Getöſe hervor. Es waren aber hier ihrer ſechs in jeder Reihe; auch waren ſie ſtattli— cher in lange bunte Gewänder gekleidet, und trugen beſonders eigen—

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thümliche ſechseckige, ſpitze, nach unten umgekrempte Mützen; die umkrempten Theile waren in der Form gothiſcher Kirchenfenſter ausgeſchnitten, und eine jede dieſer Spitzen mit einem Götzen bemalt. Der Lama zur Rechten des Altars hatte eine Klingel, die Gellongs Becken, Pauken, die auf beſonderen Geſtellen ſtanden, kleine gerade Hörner oder große Schnecken; die Muſik, welche ſie mit dieſen In— ſtrumenten machten, war aber hier um ſo bedeutender, da ſie noch durch die Töne zweier wohl acht Fuß langer, auf beſonderen Unterlagen ſtehender Trompeten verſtärkt wurde, welche zwei Gel— longs blieſen, die in jeder der äußeren Abtheilungen des Tempels, das Geſicht nach der Thüre gekehrt, ſaßen.

Die Wuſik wechſelte mit Geſang ab, ſie ſchallte unſern Reiſen— den ſchon von fern entgegen und währte auch noch nach ihrem Ein— tritte fort. Sie blieben in dem inneren Gange zwiſchen den Prie— ſtern und der Thür, Fürſt Sered-Dſchab an ihrer Spitze, ſtehen, und hörten zu, Chan Oſchangir nicht ohne ein gewiſſes Lächeln, da er als Anhänger Mohamed's den Buddhaismus der Kalmüken verachtete. Während des Muſicirens ſtand einer der unteren Gel— longs auf, nahm ein Räuchergefäß vom Fuß des Altars, räucherte, und hielt darauf das Gefäß jedem der Prieſter vor das Geſicht. Als die Ceremonie nach einiger Zeit aufhörte, ſprach der Fürſt ein Paar Worte mit dem Lama, worauf die Muſik wieder anfing, und die ganze Ceremonie ſich in derſelben Weiſe wiederholte, ſo daß es ſchien, als habe der Fürſt blos eine Wiederholung beſtellt.

Humboldt hatte ſchon vor der Beſichtigung des Tempels zum Füſten Sered-Dſchab den Wunſch geäußert, die Bereitung des aus dem Kumis dargeſtellten Branntweins zu ſehen; der Fürſt hatte deshalb eine ſolche Deſtillation veranſtalten laſſen, und führte nun ſeine Gäſte zu der Kibitke, in welcher dieſelbe vorgenommen wurde. Hier fand man die Deſtillation ſchon in vollem Gange. In der Mitte der Kibitke war ein Feuer angemacht, und auf dieſem ſtand ein eiſerner Dreifuß mit einem halbkugelförmigen eiſernen Keſſel, der als Deſtillir-Blaſe diente und den Kumis enthielt. Er war mit einem zweiklappigen hölzernen Deckel verſehen, der in der einen Hälfte eine, in der anderen zwei runde Oeffnungen hatte. Erſtere diente zum Ein⸗ und Nachfüllen des Kumis, und aus jeder der anderen führte

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eine gekrümmte hölzerne Röhre zu einem runden eiſernen Topfe, der die Vorlage abgab, und in einem Gefäße mit kaltem Waſſer ſtand. Jede Röhre war mit einer beſonderen Vorlage dieſer Art verſehen, ſo daß in dem Kühlgefäße deren zwei ſtanden. Die Fugen am Dek— kel der Blaſe und bei der Vorlage waren mit einem Kitt aus Erde und Pferdemiſt verklebt, und hieraus beſtand auch der Stöpſel, mit welchem die Oeffnung in dem Deckel zum Nachfüllen verſchloſſen war. Dieſer Stöpſel wird jedesmal erſt aufgeſetzt, wenn der Kumis in's Kochen gekommen iſt, worauf dann das Feuer unter dem Keſſel vermindert wird. Das erſte Deſtillat, welches man auf dieſe Weiſe erhält, ſieht bräunlich aus, hat einen ſehr fuſeligen Geſchmack und wird Araca genannt. Es wird noch einmal deſtillirt, und liefert nun ein zweites Deſtillat von weißerer Farbe, und ſtärkerem, wenn— gleich immer noch etwas fuſeligen Geſchmack, welches Arſa genannt wird. Aus 6 Wedro Tſchigan oder Kumis erhält man ein Wedro Araca, und aus 96 Stoff Araca 8 Stoff Arſa, alſo aus 72 Maaß Tſchigan 1 Maaß Arſa.

Es iſt aber nicht geſäuerte Stutenmilch allein, aus welcher die Kalmüken dieſen Branntwein machen; im Winter, wo die Stuten weniger Wilch geben, bedienen ſie ſich auch dazu der geſäuerten Kuh— milch, welche ſie Arjän nennen, ſo wie der daraus dargeſtellte Brannt— wein Airak heißt. Aber dieſer Branntwein iſt nicht allein ſchwächer als der Arſa, er wird auch in geringerer Wenge als dieſer erhalten.

Die Bereitung des Tſchigans geſchieht auf die Weiſe, daß die Wilch der Stuten, ſo wie ſie gemolken iſt, in Beutel von Schaffel— len gethan und fleißig umgeſchüttelt wird. Gemeiniglich ſind die unreinen Gefäße allein ſchon hinreichend die Säuerung zu bewirken, doch läßt man auch wohl etwas Tſchigan in dem Beutel, worin man die neue Wilch thut, worauf dieſe dann bald ſauer wird. Der reinlich bereitete Tſchigan hat, wie ſchon oben bei Gelegenheit des Saban der Tataren, wo die Reiſenden auch damit bewirthet worden, angeführt, einen nur wenig ſäuerlichen ſehr angenehmen Geſchmack und ſoll überaus nahrhaft fein. Der aus der Kuhmilch dargeſtellte Airak ſoll dick und weniger wohlſchmeckend ſein.

Sered⸗Dſchab iſt ein großer Liebhaber der Jagd, beſonders der Falkenjagd, und ſoll deshalb beſonders Kalmüken halten, die ſich mit

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nichts anderem als der Abrichtung von Falken beſchäftigen. Da Humboldt äußerte, daß er auch dieſe Jagd gern kennen lernen möchte, fo ließ Sered-Dſchab einen Falken und einen Schwan holen, auf den der Falke ſtoßen ſollte. Der Falke ſtieg hoch in die Höhe, und wurde kaum des Schwans anſichtig, als er auf ihn zuſtürzte, und ihn mit ſeinem Schnabel ſo heftig auf den Kopf hackte, daß er ihn getödtet haben würde, hätte man nicht die Vorſicht gehabt, dem Schwane, ehe man ihn laufen ließ, einen dicken wollenen Ueberzug auf den Kopf zu binden. Aber auch dieſer würde ihn noch nicht gerettet haben, wenn man ihn nicht ſchnell von dem Falken befreit hätte. Nachdem unſere Reiſenden jetzt auch noch den Obſtgarten des Fürſten hinter ſeinem Wohnhauſe, und ſeine Arjamaks oder bucha— riſchen Pferde, die ihnen aus ſeinem Stalle alle einzeln vorgeführt wurden, geſehen hatten, kehrten ſie nach ſeiner Wohnung zurück, wo ſie ſich in ein großes Zimmer links von dem Saale mit dem Billard begaben, in welchem die Tafel gedeckt war. An dieſer nahmen außer ihnen nur der Fürſt und ſeine beiden Brüder, ein ruſſiſcher Secretair des Fürſten und der Chan Oſchangir Platz, das Gefolge des Chans ſpeiſte in einem Nebenzimmer. Von den Frauen des Fürſten, wie überhaupt von Kalmükinnen war nichts zu ſehen. Die Brüder des Fürſten legten vor. Die Speiſen waren vortrefflich zubereitet, da der Fürſt einen ruſſiſchen Koch in ſeinen Dienſten hat, der ſein Geſchäft ſehr gut verſteht; ſie waren daher aber auch ganz europäiſch zubereitet. Nur ein den Kalmüken eigenthümliches Ge— richt befand ſich darunter, das fie Iſchkizin-machan nennen, und das aus kleingeſchnittenem gekochten Schaffleiſch beſteht. Es ſolgte gleich nach der Sterledſuppe, mit welcher angefangen wurde. Champagner, wie auch andere franzöſiſche und einheimiſche Weine fehlten nicht. Während der Tafel führte ein Chor von Kalmüken, unter Anfüh— rung eines ruſſiſchen Kapellmeiſters, Ouvertüren von Mozart und Roſſini, wie auch Märſche und Tanzmuſik mit vieler Fertigkeit aus. Es gewährte allerdings einen merkwürdigen Anblick, die Muſikanten ihre europäiſchen Inſtrumente ſo fertig handhaben zu ſehen. Nach Tiſche wurde noch Kaffee herumgereicht, worauf unſere Reiſenden, ſehr zufrieden mit dem eigenthümlich verlebten Tage, ſich empfah— len. Der Fürſt beſchenkte ſie beim Abſchiede noch mit einer Flaſche

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Araka und eine Flaſche Arſa, um die fie gebeten, fo wie mit einer kalmükiſchen ledernen Flaſche, und ließ ſie dann quer über die Wolga, und darauf in ſeinen Equipagen, die ſchon früher hinübergeſchafft waren, bis nach Seroglaſinskaja, der vierten Station von Aſtrachan, fahren, bis wohin ſie auch der junge Fürſt Seren-Danduk begleitete. Hierhin hatten ſie ihre Reiſewagen beſtellt, und mit dieſen ſetzten ſie nun bei einbrechender Nacht, wohl eingehüllt denn es war kalt und der Winter nahte ſich mit ſtarken Schritten die Reiſe wei— ter fort.

In den folgenden Tagen war ſchon die ganze Landſchaft mit Schnee bedeckt. Die Reiſenden verfolgten in umgekehrter Richtung die auf dem Hinwege genommene Straße bis Zarizyn, gingen dann über die Scheide zwiſchen der Wolga und dem Don, und machten, da die Straße nach Woskau nicht unmittelbar bis zum Don führt, von der Stanitza Tiſchanskaje, wo ſie ſich dieſem Fluſſe am meiſten genähert hatten, eine eigene Excurſion dorthin, um an ſeinem Ufer noch den Stand des Barometers zu beobachten. Es war dies die letzte von den vielen Barometer- Beobachtungen, die ſie an dem ganzen Laufe der Wolga, ſowohl auf der Hin- als auf der Rückreiſe bis hierher, beſonders in der Abſicht angeſtellt hatten, um nach Möglichkeit auch das Ihrige zur Löſung der Frage über die relative Höhe des kaſpiſchen Meeres beizutragen. Die Beobach- tungen wurden ſpäter mit den gleichzeitig in Kaſan angeſtellten Be— obachtungen verglichen, und ergaben zwar im Allgemeinen wohl für den Spiegel des kaſpiſchen Meeres, im Vergleich mit dem des atlantiſchen Weeres, einen lange nicht ſo bedeutenden Unterſchied der Höhe, als aus dem im Jahre 1811 von Parrot und Engelhardt angeſtellten barometriſchen Nivellement zwiſchen dem kaſpiſchen und ſchwarzen Meere hervorging; doch war der gefundene Unterſchied immer noch bedeutend genug, um Humboldt zu veranlaſſen, ſein Bedenken über das Reſultat des neuen, im Jahre 1829 angeſtellten barometriſchen Nivellements von Parrot, wonach ein Unterſchied in der Höhe des kaſpiſchen und ſchwarzen Meeres ſo gut wie gar nicht ſtattfinden ſollte, auszuſprechen. Das Problem iſt durch das im Jahre 1837 auf Befehl des Kaiſers Nikolaus von den Herren G. v. Fuß, Sabler und Sawitſch ausgeführte trigonometriſche Nie

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vellement zwifchen dem kaſpiſchen und dem ſchwarzen Meere gelöft. Die tiefere Lage des erſteren Meeres iſt dadurch feſtgeſtellt worden, fie beträgt aber hiernach nur 76,32 par. Fuß).

Es wird von Intereſſe ſein, hier, im Auszuge, die neueſten Unter— ſuchungen anzureihen, welche Hr. v. Baer in ſeinen Studien über das kaſpiſche Meer, über das raſche Sinken feines Niveaus und über die Bugors, als Zeugniſſe deſſelben, angeſtellt hat““):

Ein augenfälliger Beweis für die raſche Veränderung des Ni— veaus liegt in gewiſſen Einwirkungen, welche das frühere Meer mit ſeiner Brandung an ſteilen, vortretenden Fels-Ufern hinterlaſ— ſen hat. Murchiſon hat ſchon der ſonderbar geformten Aus— waſchungen erwähnt, welche an den aus Sandſtein beſtehenden Vor— bergen des großen Bogdo ſo auffallend ſind. Sie ſcheinen nicht nur durch einſchlagende Wogen ausgehöhlt, ſondern einigen glaubt man auch deutlich anzuſehen, daß harte Steine, ſogenannte Reiber, in ihnen umhergedreht ſind. Geſchiebe ſind hier freilich weit und breit nicht zu haben, wie die Reiber in den Rieſen-Töpfen Finn⸗ lands, aber Bruchſtücke des Felſens ſelbſt mögen hier längere Zeit umbergeworfen fein, und dieſe gewundenen Höhlen ausgearbeitet haben. Dieſe Höhlen nun gehen nicht bis unten fort, ſondern zei— gen ſich in einer gewiſſen Höhe. Die Felſen auf denen die Feſtung Nowo-Petrowsk auf der Halbinſel Mangiſchlak erbaut iſt, ſcheinen mir ebenfalls eine beſtimmte Höhe eines früheren Weeres— ſpiegels anzudeuten. Dieſe Felſen ſind durch einen breiten Thal— Einriß von dem eigentlichen Plateau geſchieden, und werden jetzt vom Meeresufer durch ein niedriges Vorland getrennt. Sie müſſen alſo bei höherem Stande des Waſſers ein iſolirtes Riff gebildet haben, und wie ſolche iſolirte Riffe in der Regel ſtark angegriffene, benagte Formen haben, ſo iſt es auch hier. An eine ſüdliche, mehr compacte Felſenmaſſe reihen ſich vereinzelte und immer kleiner wer—

*) Man vergleiche Humboldt, Centralaſien Th. 2 S. 432 ff. über das „aralo⸗caſpiſche Becken“, ſo wie Th. 4 S. 351 ff. Bemerkungen über das aralo⸗caſpiſche Becken von Wilhelm Mahlmann.

**) Der Aufſatz des Hrn. v. Baer, den die wiſſenſchaftlichen Beilagen der Petersburger Zeitung vom Juni 1855 mittheilen, iſt aus Aſtrachan vom 30. November 1854 datirt.

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dende kegelförmige Felſen nach Norden an. Das ſpräche nur für Einwirkung des Meeres, aber nicht für eine beſtimmte Höhe deſſelben. Allein ſieht man die nördlichen, niedern Felshöhen nä— her an, ſo findet man einen oben abgeglätteten Scheitel, als ob Wellen, Sand und Felstrümmer Jahrhunderte über dieſen weg— geſpült hätten. Daſſelbe ſieht man an allen niedern Vorſprüngen der höhern Felſen, auf welchem die Feſtung erbaut iſt. An den höhern Theilen ſelbſt ſchien mir die Einwirkung des Waſſers durch Abglätten der compactern, und Ausbrechen der dünneren Schichten nur bis zu einer gewiſſen Höhe zu gehen, dort aber am ſtärkſten zu ſein, über dieſer Region der Brandungen aber plötzlich auf— zuhören.

Außerdem aber finde ich, daß die Abnahme des kaſpiſchen Mee— res ein Zeugniß darüber, daß ſie eine verhältnißmäßig raſche und gewaltſame war, in gigantiſchen Schriftzügen hinterlaſſen hat. Ich begreife kaum, wie es zugegangen iſt, daß die vielen Schriftſteller über das kaſpiſche Weer und ſeine früheren Verhältniſſe, ſo viel mir erinnerlich iſt, dieſe Documente entweder gar nicht beachtet, oder wenigſtens nicht in der Deutung aufgefaßt haben, wie ſie mir allein verſtändlich ſcheinen, ich meine, die langgezogenen, faſt parallelen Hügel aus feſtgedrücktem Steppenboden, welche ſich beſonders zu— ſammendrängen, wo die Ufer des kaſpiſchen Meeres ſich dem Flach— lande zwiſchen der Doniſchen Hochſteppe und den Vorbergen des Kaukaſus nähern, am meiſten aber gegenüber dem weſtlichen Ende des Manyſch-Thales. Die mir ertheilten Aufträge haben mir noch nicht erlaubt, den ganzen Bericht und alle Verhältniſſe dieſer Hügel eigenthümlicher Art zu unterſuchen. Ich will deshalb auch nicht weiter gehen, als zu der ſchon ausgeſprochenen Behauptung, daß fie einen raſchen und gewaltſamen Ab- oder Zufluß des kaſpi— ſchen Meeres, und zwar durch die Kama-Wanyſch-Niederung nachweiſen, einen Abfluß, der immerhin Wochen und Monate ge— währt haben mag. Ob dieſer Abfluß aber durch eine raſche He— bung der öſtlichen, oder irgend eines Ufers anzunehmen iſt, oder durch raſches Sinken des ſchwarzen Meeres, oder eine dritte denk— bare Urſache, darüber würde ich vielleicht ein Urtheil mir gebildet

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haben, wenn ich alle Verhältniſſe, welche dabei berückſichtigt werden müſſen, vollſtändig kennte.

Ich muß vor allen Dingen ſagen, worin die Eigenthümlichkeit dieſer Hügel beſteht. Wenn man einen der Wolga-Arme befährt, und am meiſten, wenn man dem weſtlichen Arme, dem jetzigen Fahr— waſſer für größere Schiffe, folgt, ſo ſieht man zu beiden Seiten, doch nach Weſten mehr als nach Oſten, eine Wenge Hügel, ſcharf abgegrenzt, aus der Ebene hervorragen. Sie find ſämmtlich in die Länge gezogen, und ihre Längen-Dimenſionen find faſt parallel un— ter einander, und in dieſer Gegend faſt genau von Weſten nach Oſten. Sehr häufig ſind ihre nach der Wolga gekehrten Enden abgeriſſen, und, was ganz fonderbar ſcheint, und mir lange unver— ſtändlich blieb, die nach der Wolga gekehrten Enden ſind faſt immer die höheren. Ihre Länge iſt am häufigſten ? bis 3 Werft; an de— nen, welche kürzer ſind, erkennt man gewöhnlich, daß ſie ſtark ab— geriſſen ſind. Es giebt aber weiter nach Weſten welche, die 5, 7 und mehr Werſt lang ſind. Ihre Breite iſt immer geringer als die Länge, und ſcheint, was wieder ein beachtungswerther Umſtand ſein dürfte, ſich ziemlich genau nach der Höhe zu richten. Wenigſtens habe ich, wenn ich den gegen die Wolga gekehrten Abriß mit dem Auge abzumeſſen ſuchte, die Höhe des Durchriſſes gewoͤhnlich zu 25 feiner Baſis taxirt. Die abſolute Höhe iſt nicht gleich, doch wenn man einige niedere und nur ein paar, die merklich höher zu ſein ſcheinen als die übrigen, ausnimmt, ſo ſcheinen dem Auge in einer beſtimmten Region die meiſten nicht ſehr ungleich. Unterhalb Aſtrachan mögen ſie meiſt etwas weniger oder mehr als vier ruſ— ſiſche Faden Höhe haben, die wenigſten wohl über 6, weiter weſt— lich kommen höhere vor, wohl von 8 bis 10 Faden Höhe. Ober— halb Aſtrachan aber find fie 3 Faden, oder noch weniger hoch). Alle haben einen breiten Rücken, und ſanſte Abdachung nach den Seiten. Des breiten gewölbten Rückens wegen iſt es oft ſchwierig,

*) Nur einen der wolgaiſchen habe ich bisher wirklich gemeſſen, den Krasnoi Bugor, der von einem Wolga-Arm der Länge nach faſt ſenk— recht abgeriſſen iſt. Ich hatte ihn vor der Meſſung 4 Faden hoch taxirt. Die Meſſung zeigte genau 11 Arſchin, alſo % weniger

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die Streichungs-Richtung genau zu beſtimmen, da die Mittellinie nicht ſcharf genug hervortritt. Sie ſind mit einem Worte, mit Wellen zu vergleichen, aber nicht vom Winde heftig aufgeworfenen und darum überſtürzenden Spritzwellen, ſondern mit den ſanften, gleichmäßig gewölbten Wogen, welche entſtehen, wenn man einen breiten Körper im Waſſer ſortſchiebt. Sie gleichen Wellen, die aus Erdmaſſen nachgebildet wären. Daher die faſt gleichmäßige Anſicht des Durchſchnittes. Die niederen Hügel könnte man Wellen nennen, welche weniger erhoben ſind, vielleicht aber iſt ihr Fuß auch nur mehr verdeckt. In der That ſieht man unterhalb Aſtrachan, daß der Boden zwiſchen ihnen, der nicht ſelten völlig eben erſcheint, ein anderer iſt, als die Subſtanz der Hügel. Zu gleich darf man ſie ſich freilich nicht denken. So iſt Aſtrachan auf mehreren niedern Hügeln dieſer Art erbaut, welche nahe zuſammenſtehen, und alle, wie ſchon der aufmerkſame Gmelin bemerkt, von Oſt nach Weſten ſtreichen.

Wan nennt dieſe Hügel hier Bugry. Bugor, in der Mehr— zahl Bugry, heißt überhaupt im Ruſſiſchen ein Hügel. Da hier aber alle Hügel einander ähnlich ſind, ſo will ich dieſes Wort auch in deutſcher Sprache für dieſe langgezogenen Hügelrücken oder Wel— lenhügel gebrauchen. Sie hören bei Aſtrachan nicht auf, ſondern ſind die Wolga hinauf noch mehrere Weilen weit auf dem hohen Ufer zu erkennen, aber nicht auf den Wolga-Inſeln, wo alle Höhen, wie ſich erwarten läßt, die Richtung des Flußbettes annehmen, und aus lockerem Sande beſtehen. Alle kleinen Ortſchaften, alle Poſt— ſtationen des rechten Ufers ſtehen auf ſolchen Bugors. Sie ſind bei Seroglaſinskaja, 85 Werſt nördlich von hier, noch ſehr deut— lich. Näher nach Aſtrachan iſt ein ſandiges Terrain mit ganz uns regelmäßigen Flugſand-Hügeln, die ſich ohne Zweifel aus urſprüng— lich parallelen, lang gezogenen, ſpäter verwehten Hügeln gebildet haben. Jenſeit Jenotajewsk, wo der Boden unbeweglicher und bewachſen iſt, ſieht man wieder lange parallele Höhen, aber ſie ſind flacher, weniger geſondert, und bilden mit einander ein welliges Terrain, das noch einige Zeit fortgeht. Ich glaube, daß hier die Bugor⸗-Bildung verliſcht, denn ſchon lange vor Tſchernoi-Jar

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iſt flache Steppe, oder eine ganz unregelmäßige Abwechſelung der Fläche durch Waſſereinriſſe ꝛc.

Der Hauptſitz der Bugors iſt weſtlich von den Hauptarmen der Wolga, und zieht ſich an der Weſtküſte des Meeres gegen die Kuma fort. Hier bilden ſie theils eine lange Reihe lang geſtreckter Inſeln im Meere, theils liegen fie in dicht gedrängten Neihen auf dem Lande und laſſen ganz ſchmale Waſſerarme zwiſchen ſich, welche ſich zum Theil auf 30, 40, ja 60 Werſt in's Land hinein erſtrecken, und bald von der Wolga aus, mit welcher die nördlichen in un— mittelbarer Verbindung ſtehen, wenn dieſe anſchwillt, bald vom Weere aus, wenn das Niveau deſſelben durch die Winde erhöht wird, mit Waſſer ſich füllen. Die Anſchwellung vom Weere aus gilt beſonders für die ſüdlichen Waſſerfurchen. Die ganze Gegend ſieht aus, als wenn ſie mit einem Rieſenpfluge durchzogen wäre, oder als wenn Jemand mit den Fingern in einer weichen Maſſe Furchen ge— zogen hätte, ohne eben einem Lineal zu folgen, oder ängſtlich in einem Striche zu verharren, denn die Kanäle laufen hier und da in einander über, wobei gewöhnlich ſich eine größere Waſſerfläche bildet. Die Waſſerläufe kann man auf jeder Karte von nicht allzu kleinem Maßſtabe erkennen, und fie find öfter und namentlich von Pallas ausführlich beſprochen. Es iſt mir nur auffallend, daß man dabei überſehen hat, daß die Bugors das Beſtimmende und das Regelmäßige ſind. Die Waſſergräben nämlich, die man hier Ilmeny nennt, und die ich Limane nennen möchte, weil man mit dem Ausdrucke Ilmeny auch ganz anders geſtaltete Ver— tiegungen bezeichnet, welche die Wolga zu Zeiten mit Waſſer füllt, und weil man ſonſt ſchon langgeſtreckte Seitenbuchten des Meeres Limane genannt hat, wenn ſie in flaches Land einſteigen, wogegen der Ausdruck Fiorde für Verlängerungen des Weeres in breite und gewöhnlich veräſtelte Spalten in hohem Felsgebäude bleiben mag; dieſe Limane alſo fließen nur hie und da zuſammen, weil ein Bugor aufhört, während ſeine ſeitlichen Brüder noch fortlaufen. Die Limane ſind auch darin viel ungeregelter, als ſie, beſonders die nördlichern, eine ſehr ungleiche Breite haben, wenn man nur die Waſſerfläche berückſichtigt, denn dieſe beſteht bei den nördlichern nicht ſowohl aus einem gleichmäßigen Kanale, als aus einer Reihe

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langgeſtreckter Korallen-Seen, die durch ſchmale Waſſerläufe ver— bunden ſind, welche man bei niedrigem Waſſerſtande zum Theil überſpringen, und häufiger noch durchfahren kannn). Das kommt daher, daß die obern Limane vielen Sand abgeſetzt haben, den ſie zum Theil vom Fuße der Bugors abgewaſchen, zum Theil aber auch aus der Wolga beim hohen Stande derſelben erhalten haben. Schlamm bildet ſich mehr im Boden der Erweiterungen. Sinkt nun der Waſſerſpiegel, ſo arbeitet ſich, wenn es noch möglich iſt, ein Waſſerfluß aus einem weſtlichern See in den öſtlichern durch. Von Zeit zu Zeit wird aber durch den hin und her bewegten Sand ein See ganz abgeſchloſſen, wobei er dann feiner eigenen Verdunſtung überlaſſen bleibt. Je mehr das ganze Terrain nach Süden zu ſich ſenkt, deſto breiter bleiben die Limane, und ſo kommt es denn, daß man weiter nach Süden einen wahren Archipel von lang gezogenen Inſeln hat, während freilich nach dem Weſtufer hin immer noch durch parallele Furchen eingeriſſenes Feſtland bleibt. Ich ſage, daß die Bugors das Beſtimmende ſind, weil man zuvörderſt nicht ein Tafelland hat, das vom Waſſer ſo eingeriſſen, oder gleichſam ein— geſägt iſt, wie ein Kamm, ſondern eine Schaar geſtreckter Hügel, zwiſchen welche das Waſſer eintritt, und weil dieſe Hügelrücken viel regelmäßiger ſind als die Limane, beſonders die nördlichern. In dieſen Hügeln iſt nichts von Veräſtelungen und Erweiterungen, ſondern ſie ſind lange, ſanft gewölbte, nebeneinander liegende Rük— ken, auch ſind ſie hier nicht an den Enden abgeriſſen (mit Aus— nahme derer, die weit in's Meer vorragen, und gleichſam an der Fortſetzung der Wolga liegen), weil keine Kraft da iſt, um ſie ab— zureißen. Wenn fie am Fuße ſeitlich eingebuchtet find, fo ſcheinen Abſpülungen durch das Waſſer dazu Veranlaſſung gegeben zu ha—

*) Man nennt in ruſſiſcher Sprache eigentlich nur die Erweiterungen oder Teiche Ilm eny, die verbindenden Kanäle aber Jeriki. Ich wähle das ſonſt ſchon aufgenommene Wort Liman um einen ganzen Tractus von Seen und Kanälen zu bezeichnen, da der Unterſchied von See und Ka— nal um fo mehr ſchwindet, je mehr man ſich dem Meere nähert. Eine Karte würde zum Verſtändniſſe ſehr viel beitragen, muß aber im großen Maßſtabe ausgeführt ſein. Ich hoffe künftig der geographiſchen Welt eine ſolche vor— legen zu können.

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ben, die Witte des Rückens aber gerade zu bleiben. Ihre Richtung ſcheint faſt ganz parallel, iſt es aber genau genommen, nicht, denn die nördlichern, weſtlich von Aſtrachan, ſchienen mir, wo ich den Kompaß anlegte, durchſchnittlich um 10° von der OW. Richtung abzuweichen, weiter ſüdlich fand ich nur 5 (immer ganz einfach nach dem magnetifchen Meridian gerechnet); etwas weiter, in der Höhe von Ikränoje, ſcheinen die meiſten gerade von Oſten nach Weſten gerichtet. Die letzten, in der Nähe der Kuma-Wün— dung, kenne ich aus eigener Anſchauung nicht; nach Baſſarg in's Karte ſind aber, wenigſtens die Inſel-Bugors, je weiter man kommt, um ſo mehr mit dem Weſtende nach Vorden gerichtet. Ich habe die Watage Tſchernoi-Rynok, etwa 40 Werſt jenſeit der ehemaligen Kuma-Mündung, beſucht. Hier tritt die Bugor-Bil— dung ſchon ſehr zurück. Dennoch ſchien mir die geringe Höhe, auf welcher die Watage liegt, durchaus den Charakter eines Bugors zu haben. Seine Richtung iſt mit dem Weſtende ſchon ſehr ſtark nach Norden gerichtet, faſt RW. Eine Specialkarte dieſer Gegen— den zeigt einige geringe, weit zerſtreute Hügel, welche ſämmtlich von SD. nach NW. gerichtet find, aber wenig geſtreckt und jo niedrig ſind, daß man mir auf mein Befragen immer zu ſagen pflegte: „bei uns ſind keine Bugors.“ Dennoch iſt auf der Karte jene gemeinſchaftliche Richtung nicht zu verkennen, und die ſtarken Alluvionen dieſer Umgegend mögen manchen wenig vortretenden Bu— gor verdeckt haben. Doch muß man jedenfalls geſtehen, daß nach dem Terek hin die Bugors ſehr vereinzelt und niedrig, und wenig charakteriſtiſch find. Da hier die letzten Spuren von SO. nach NW. gerichtet find, weiter oben die Bugors von OSO. nach WNW., dann gerade von Oſt nach Weſt ſtreichen, weiterhin das Weſtende um 5°, 10°, von Jenotajewsk um 15°, und in den letzten Spuren die Streichungslinie von NO. g. N. nach SW. g. W. zu ſein pflegt, ſo ſieht man, daß ſie, wenigſtens am Weſtrande ihres Bereichs, keil— förmig oder fächerfoͤrmig geordnet ſind. Die Sehne dieſes Fächers oder Kreisausſchnittes iſt über 400 Werſt lang, wenn wir die letz— ten Spuren mitzählen, und gegen 300 Werſt, wenn wir die ſcharf und beſtimmt ausgeprägten Formen allein gelten laſſen.

Wenn man nun wenigſtens 300 Werſt weit geſtreckte Hügel

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gegen einen verengten Raum keilförmig zuſammenlaufen fieht, und die Spitze dieſes Keils gerade auf die tiefſte Gegend zwiſchen der Doniſchen Hochſteppe und den Vorbergen des Kaukaſus trifft, ſo könnte man vielleicht glauben, mit der Erklärung ſogleich fertig zu ſein. „Es müſſen, könnte man denken, die letzten Spuren des abfließenden Waſſers ſein. Ein altes Binnenmeer beſtand aus zwei großen Becken, dem ſchwarzen und dem kaſpiſchen, verbunden durch eine enge und ſeichte Verſchnürung; die feſte und hohe Fels— mauer, welche dieſes Binnenmeer von dem mittelländiſchen trennte, wurde durchbrochen, das Waſſer des geöffneten Binnenmeeres ſtürzte durch die neue Pforte, ſein Spiegel ſank verhältnißmäßig raſch. Dem Waſſer des ſchwarzen Meeres mußte das Waſſer des kaſpi— ſchen folgen. Der letzte Abfluß von hier riß Furchen in den auf— gewühlten, weichen Boden. Vatürlich mußten dieſe Furchen gegen den gemeinſchaftlichen Abzugsgraben zuſammenlaufen, und zwiſchen ſich erhöhte Rücken des ſpäter austrocknenden Bodens laſſen.“

Das klingt ganz einfach und nothwendig. Allein das kaſpiſche Weer ſteht jetzt um 82 84 engl. Fuß niedriger als das ſchwarze. Der Abfluß des erſteren mußte aufhören, als es das jetzige Niveau des ſchwarzen Weeres erreicht hatte, und die Bugors ſind ſo hoch nicht, ihr Fuß aber iſt, beſonders in der unmittelbaren Gegend des Durchbruches, noch tiefer als das jetzige Niveau des kaſpiſchen Wee— res. Man ſieht, es ſtellen ſich noch ſehr bedeutende Bedenken gegen dieſe Hypotheſe. Es ginge eher, wenn wir Grund hätten, eine raſche Erhebung eines großen Theils der jetzigen Oſtküſte anzuneh— men. Das Meer würde dann nach Weſten überſtrömen, und durch die niedrige Stelle abfließen, wie man eine Schaale Waſſer durch eine Abgußröhre ausgießt. Doch müßte die Hebung ſehr bedeutend ſein, damit das Waſſer mit ſeinen letzten Strömungen ſo tief in den Boden der Ausgußröhre einſchneiden könnte. Leichter würde man ſich eine feſte Anſicht über die Entſtehung der Bugors bilden können, wenn man Grund hätte, ein plötzliches Einſtürzen des Waſ— ſers vom ſchwarzen Meere in das kaſpiſche zu denken. Wenn durch einen engen Kanal das Waſſer eindringt in ein weiteres Becken, würde es auch wohl in den Boden Ausfurchungen hervorbringen, die fächerförmig auseinander laufen. Aber, was könnte dieſes Ein—

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ſtürzen veranlaſſen? Vielleicht ein plötzliches und ſehr bedeutendes Sinken vom Boden des kaſpiſchen Meeres? Aber wenn die übrigen Verhältniſſe blieben, mußte doch das Becken allmälig wieder bis zu der früheren Höhe ausgefüllt werden, dagegen liegt ein wei— ter Raum des Bodens trocken da.

Auch geht die Bugor-Bildung weiter nach Oſten, als ich bis— her angedeutet habe. Wan ſieht ſie vereinzelt an den mittleren Wolga-Armen innerhalb des Deltas. Alle Fiſcherei-Anlagen und die wenigen Dörfer dieſer Gegend ſind auf ſolchen Bugors ange— legt, um vor den Ueberſchwemmungen geſichert zu ſein. Daſſelbe gilt von allen Begräbnißplätzen, Klöſtern und Weinbergen um Aſtra— chan. Die Bugors an den mittleren Armen der Wolga ſtehen ſehr weit auseinander, ſind meiſt niedrig und kurz, zum Theil freilich, weil die Wolga-Arme an ihnen nagen. Auf der allgemeinen Fläche der Steppe ſcheinen ſie zu fehlen, wenigſtens habe ich auf dem Wege von Kamyſchin nach dem Elton-See, 130 Werſt weit, keinen etwas markirten Hügel geſehen. So eben wie eine Tenne iſt die Steppe freilich nicht. Sie hat auch ihre Niederungen, und ſogar mit Rohr bewachſene, allein die Senkung dahin iſt ſo ſanft, daß das Auge ſie ſchwerlich erkennen würde, wenn die veränderte Vegetation ſie nicht merklich machte. Vom Elton-See nach dem Bodgo-Berge, und von dieſem nach Nowo-Vikolskoje, Tſchernoi-Jar gegenüber, habe ich eben ſo wenig einen Bugor geſehen, und der Bodgo hat mit einem Bugor noch weniger Aehnlichkeit, als ein Kameel mit einer Schlange.

Faſſen wir alles über die Verbreitung der Bugors Geſagte kurz zuſammen, ſo ſehen wir ſie in dem nordweſtlichen Winkel in großer Anzahl an einander gedrängt, und zwar fächerförmig gegen die Kuma-Manytfch- Niederung gerichtet, und mehr noch gegen den letzteren Steppenfluß, als gegen den erſteren, ferner zeigen ſie ſich nicht nur an allen größern, unteren Armen der Wolga und zwar in weitern Entfernungen, ſondern ſie begleiten dann auch beide Ufer des Flußthales weit hinauf, ſo daß ſie auf dem rechten Ufer der Wolga ſowohl, als auf dem linken der Achtuba ſich finden, auf allem neugebildeten Lande innerhalb dieſes langen Thales, welches Herr v. Humboldt ſehr gut den Schlund des kaſpiſchen Weeres

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nennt, aber fehlen. Allerdings iſt es dieſes lange Thal ſelbſt, wel— ches in das Wolga-Delta übergeht, und daß ſie dennoch an den weitern Verzweigungen ſich wieder finden, ſcheint damit zuſammen zu hängen, daß überhaupt am Meeresufer zu ihrer Bildung eine Veranlaſſung geweſen ſein muß, da von Krasnoi-Jar aus nahe am Ufer noch eine lange Reihe dieſer geſtreckten Hügel bis in den Bogatoi Kultuk, der genau den nördlichen Winkel des kaſpi— ſchen Weeres ausmacht, fortläuft.

Da dieſer etwas iſolirte Zug weder von mir, noch von einem meiner Reiſegefährten geſehen worden iſt, ſo kann ich freilich nicht ganz ſicher ſein, ob es nicht bloß Sanddünen ſind, was die mir vorgelegten Karten hier zeigen. Allein dieſe Höhen ſind dort ſo gerade und ſteif gezeichnet, und zwiſchen ihnen ſind häufig ſo enge, von Oſt nach Weſt gerichtete Waſſer-Furchen, daß ich bis zu nä— herer Unterſuchung das Bereich der Bugors bis in den Bogatoi— Kultuk annehmen muß“).

Damit aber die Leſer nicht glauben, es ſeien die Bugors über— haupt nichts anderes, als langgedehnte Sandhügel, die von den vor— herrſchenden Winden eine beſtimmte Richtung erhalten haben, ſo muß ich von dem innern Bau noch Einiges ſagen, da bisher nur von der äußeren Form geſprochen iſt. An den Armen der Wolga ſcheinen ſie ziemlich gleich. Ihre Oberfläche iſt meiſt ſo hart, daß der Fuß des Wenſchen ſelten einen merklichen Eindruck auf ihnen zurückläßt, auch wo jede Begraſung fehlt. Man könnte ſie daher für hartgeſchlagenen Lehm halten, da die Steppe in manchen Ab— ſchnitten faſt ausſchließlich aus feſtem und zähem Lehm in ihrer obern Schicht beſteht. Allein in den Bugors der Wolga iſt immer ein weſentlicher Antheil von Sand in der obern oder Scheitelſchicht. Zerreibt man ein Stück aus dieſer Schicht, ſo findet man oſt ſo viel feinen Sand darin, daß man ſich wundert, wie dieſer Sand fo feſt zuſammenhängen könne. Iſt der Boden vom Herbſtregen erweicht, ſo wird der beigemiſchte Lehm freilich ſehr kenntlich, allein weicht man ein Stück im Waſſer auf und ſucht es dann zu formen,

) Nachträglich erhalte ich (bemerkt Hr. v. Baer) von Herrn Schewe— lew, der das Juſſupow'ſche Gebiet kennt, die Verſicherung, daß die dor— tigen Hügel ganz ſo gebildet ſind wie die hieſigen.

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fo erſcheint der Lehm oft in fo geringer Menge, oder fo wenig bin— dend, daß die feſte Zuſammenfügung bei ſo mäßigem Lehmgehalte nur unter ſtarkem Drucke geſchehen konnte. Allerdings muß ich be— merken, daß die feſte Zuſammenfügung am meiſten von der oberſten Schicht gilt, welche das Frühlings- und Herſtwaſſer mit einer dün⸗ nen, aus dem Bugor ſelbſt gezognen Lehmſchicht oft bekleidet.

Das Verhältniß an Lehm und Sand iſt keineswegs überall gleich. Bei Aſtrachan und an dem weſtlichen Wolga-Arm, Bach— temir, iſt ſo viel Lehm in den Bugors, beſonders in den untern Schichten, daß nicht nur alle Ziegelbrennereien ihren Bedarf aus dieſen Hügeln nehmen, ſondern auch der Lehm, den man zum Ver— ſchmieren der Oefen und zu anderen Bauwerken braucht, aus dieſen Bugors kommt. Ich kenne überhaupt ſüdlich von Aſtrachan nur einen Bugor, der ſo viel Sand enthält, daß der Wind an ihm zehrt. Es iſt der, auf welchem die Watage Obraszowaja gebaut iſt. Dagegen weſtlich von Aſtrachan, in der Region der Salzſeen, iſt der Sandreichthum größer, wie ſchon das äußere Anſehen und die Vegetation bezeugen. Dieſer Sandreichthum wächſt nach Sü— den immer mehr. Einige Stationen vor der Kuma iſt der Sand ſchon ganz vorherrſcheud, und weicht dem Einfluſſe des Windes. Ich bin daher auch zweifelhaft, ob man in der Niederung zwiſchen der Doniſchen Hochſteppe und dem kaukaſiſchen Berglande noch viel von den urſprünglichen Formen erkennen werde. Pallas betrachtet die dortigen Sandhügel geradezu als Dünen. Allein es beweiſen nicht nur die von Oſt nach Weſt gerichteten Einſchnitte des Meeres, die ſicher bis zur Kuma-Mündung reichen, daß wenigſtens urfprüng: lich dieſelbe Richtung der Höhen und Tiefen hier beſtand, ſondern ich finde auch auf einer Specialkarte des Madſhariſchen Salz— fees in der Umgegend dieſes ſchon ziemlich weit vom Meere ablie— genden Sees ſchmale Höhenzüge verzeichnet, welche im Allgemeinen die Richtung von Oſten nach Weſten haben. Gewöhnliche Dünen— bildung müßte unter Einwirkung des Windes, wenn ich nicht irre, die Richtung von Norden nach Süden hervorbringen. Die Waſſe, aus welcher die Bugors beſtehen, iſt alſo nicht ganz gleich, und richtet ſich darnach, welche Subſtanzen, und in welchem Verhält— niſſe ſie in den verſchiedenen Gegenden ihrer Bildung vorräthig

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waren. Aus alter Zeit ſtammen ſie gewiß, denn im eigentlichen Delta decken die Alluvionen ihren Fuß. Die Vegetation auf dem Bugor und der Alluvion iſt ſcharf geſchieden. Ich muß einen Schreib— fehler bei Herrn Staatsrath Eichwald annehmen, wenn er S. 37, Bd. J. feiner Reife ſagt, er habe, auf der Untieſe Rakuſcha auf günſtigen Wind wartend, die nahe gelegenen Hügel beſucht, und hinzufügt: „ſie waren alle von Flugſand, mit Muſcheltrümmern gemiſcht, gebildet.“ Der Flugſand iſt beweglich und verſchüttet, weil ihn der Wind fortführt. Hier aber ſtehen alle Fiſchereien, Dörfer und überhaupt alle feſten Anſiedlungen auf Bugors. Kein Bugor iſt fortgerückt, wie Flugſandhügel thun, und ich kenne, wie geſagt, nur einen, den der Wind benagt hat, und auch dieſer iſt kein Flugſandhügel, denn er iſt umgeben von Sumpfland. Was Stürme ihm genommen haben, können ſie ihm nicht von der andern Seite wiedergeben. In anderen Gegenden, wo ver Flugſand vorherrſcht, mögen urſprüngliche Bugors aus Flugſand geweſen ſein, wie wir ſogleich ſehen werden.

Alle Bugors ſcheinen Muſcheltrümmer zu enthalten. Nur ganz kleine Muſcheln habe ich vollſtändig in ihnen gefunden, und zwar nur ſehr ſelten, von größern immer nur die Trümmer. An einer abgeriſſenen Wand ſieht man häufig, ſtatt der Wuſcheltrümmer, nur unregelmäßige kleine weiße Linien, die mit einem kalkigen Pul— ver gefüllt ſind. Wan kann nicht zweifeln, daß dies die Spuren von Muſchelſtückchen ſind, die unter dem Einfluſſe der Luft und Feuchtigkeit, vielleicht auch der Salze des Bugors, verwitterten, denn bricht man nur einen Fuß weiter die entblößte Wand ab, ſo findet man kenntliche Muſcheltrümmer ungefähr ebenſo zerſtreut. Deswegen glaube ich auch, daß die Flugſandhügel, durch welche auf der zweiten Station von hier die Heerſtraße führt, aus verwehten Bugors, die aus reinem Sande gebildet waren, entſtanden find, denn hier ſieht man eine Wenge Wuſcheltrümmer bloß gelegt und zwiſchen den kleinen Wellen des Flugſandes netzförmig vertheilt. In trockenem Sande widerſtehen die Wuſchelſchaalen der Verwitte— rung außerordentlich lange; iſt der Sand mit Lehm gemiſcht, und bietet er der Luft und der Feuchtigkeit eine entblößte Seite, ſo geht die Zerſetzung raſcher vor ſich.

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Die Bugors enthalten ferner Salze. Wenn noch wahre Bus gors, aus reinem Sand beſtehend, ſich erhalten haben follten, fo mögen dieſe eine Ausnahme machen, weil der Sand, je reiner er iſt, um ſo ſchneller ausgewaſchen wird, aber alle feſtern Bugors ſcheinen noch Salz zu enthalten. Sehr häufig findet man es an den abgeriſſenen Wänden, als Efflorescenz, die von jedem Regen abgewaſchen wird, aber doch bald wieder da iſt; man erkennt das Salz auch durch den Geſchmack, und kann es auswaſchen. Das Salz ſoll auch in den hieſigen Ziegeln ſein Daſein verrathen.

Das wichtigſte Verhältniß für eine vollſtändige Erklärung der Bugors ſcheint mir das der Schichtung. Leider kann ich über die: ſes Verhältniß am wenigſten allgemein ſprechen. In der ganzen Region der gedrängten Bugors, wo ſie etwas ſandiger ſind, als an der Wolga, ſah ich keinen belehrenden Abſturz. Es fehlte hier eine Veranlaſſung dazu. Was ich von Entblößungen des Innern geſehen habe, fand ich nur an den Wolga-Ufern, theils durch die Fluthen des Stromes bewirkt, theils durch Wenſchen für menſch— liche Zwecke.

Zuvörderſt iſt zu bemerken, daß ein Bugor in der Wolga— Gegend keineswegs immer gleichmäßig aus demſelben Waterial be⸗ ſteht. Es giebt allerdings ſolche, in denen man außer der unter— geordneten Schichtung keine weſentlichen Differenzen erkennt, wie z. B. in dem der Länge nach abgeriſſenen Krasnoi Bugor. Häufig aber ſieht man große Hauptſchichten wechſeln. Die oberſte Schicht iſt faſt immer das röthlich-gelbe Gemiſch von Lehm und Sand, einige Arſchin mächtig. Darunter folgt zuweilen eine mehr weiße Schicht aus weniger gemiſchtem und mehr grobkörnigem Sande, dann wieder eine Schicht mit mehr Lehm, auf welcher dann wohl eine Schicht folgt, die ganz vorherrſchend aus Lehm beſteht. Nicht nur bei Aſtrachan, ſondern auch in der Umgegend, ſind es in der Regel die unterſten Lagen, die man zum Ziegelbrennen, oder als Lehm verwendet. Von dieſen haben die mehr ſandigen eine ſehr feine untergeordnete Schichtung, die mir zuerſt auffiel, als ich den Eingang in eine in den Bugor der Watage Ikränaja hin— eingebaute Ziegelhütte betrachtete. Die Schichten ſind ſo dünn, wie dünne Pappe, und ſo deutlich, daß ich ſie von allen Seiten

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zeichnete. Später habe ich dieſelbe dünne Schichtung öfter an na— türlichen oder künſtlichen Abſtürzen geſehen, die etwas geglättet wur— den, um die Einwirkungen der Luft auf die äußerſte Lage zu ent- fernen. Ich zweifle nicht, nach dieſen Anſichten als allgemein gültig ausſprechen zu können: daß die Schichten nach beiden Seiten eines Bugors geneigt ſind, aber unter viel ſtärkern Winkeln (25°—30°, zu— weilen noch mehr) einſchießen, als die Abdachung der Oberfläche bildet. Daraus folgt, daß zur Seite eine Wenge kürzerer Schichten auf⸗ gelagert ſein müſſen. Vollſtändig habe ich das Bild eines Durch— ſchnittes nie geſehen, weil die natürlichen Abriſſe durch den Fluß ſehr ſtark überſchüttet, zuweilen ganz mit Pflanzenwuchs ver— deckt ſind.

So lange man nicht ganze Schichten, oder große Lager von wenig zerbrochenen Mufcheln in den Bugors nachweiſen kann, halte ich ſie nicht für ausgefurchte, oder ausgewaſchene Reſte des Weeres— bodens. Dieſe ganz zerſtreuten Wuſcheltrümmer, und dieſes durch die ganze Höhe gehende, ſo gleichmäßige Gemiſch von Thon und Sand, die doch ein ſo verſchiedenes Sinkvermögen haben, laſſen mich glauben, daß die Bugors ſich während eines heftig ausgewühl⸗ ten Meeres bildeten. Die dünne Schichtung würde ich mir am liebſten durch zuſammenſchlagende Wellen erklären, die in einer ge⸗ wiſſen Regelmäßigkeit gegen einander ſchlagen, und auf derſelben Stelle zuſammentreffend, einen Theil ihres Inhaltes fallen laſſen müſſen. Das fachförmige Streichen der Bugors nach der Kuma— Manytſch-Niederung und die Art ihrer Schichtung laſſen auf eine gleichzeitige Strömung dahin oder von da ſchließen.

Wenn ich über die Richtung dieſer Strömung auch nicht ein- mal eine vorläufige Weinung ausſprechen möchte, ſo geſchieht es nicht aus Furcht vor Widerlegung; dieſe wäre in ſolchen Ange— legenheiten ſehr an unrechter Stelle, denn eine in's Einzelne aus: geſprochene Meinung über ein zweifelhaftes Verhältniß führt durch Widerlegung viel früher zur Erkenntniß der Wahrheit, als die Un⸗ beſtimmtheit, wie Herr von Humboldt in ſeiner Geſchichte der geo- graphiſchen Entdeckungen eben fo ſchön, als ſchlagend nachgewieſen hat. Ich habe vielmehr mir ſelbſt noch keine Ueberzeugung bilden können, weil die Unterſuchung noch mangelhaft iſt, dieſer Wangel

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aber mir völlig klar ift, und mich hindert, auch nur aus den bis— herigen Beobachtungen mir eine Richtung zu bilden. Mein Beden— ken iſt Folgendes: Es ſcheint unverkennbar, daß die Wolga Ein— fluß auf die Bildung der Bugors an ihren Uſern ausgeübt hat, ſo wie ſie ſpäter wieder beim Ausgraben ihres Bettes vielfach nach den Bugors ſich hat richten müſſen. Der letztere Umſtand zeigt ſich in den ſcharfen Winkeln, welche ſelbſt die größern Arme bil— den, ſo daß die allgemeine Richtung ſehr häufig durch die Richtung nach Oſten oder Weſten unterbrochen wird. Das jetzt vorgeſchrie— bene Fahrwaſſer durch den Arm Bachtemir u. ſ. w., iſt vollkommen abenteuerlich darin, daß es mehrmals ganz nach Oſten, oder ganz nach Weſten gerichtet iſt. Ganz entſchieden iſt aber dieſe Richtung in den öſtlichen und weſtlichen Nebenarmen, die man auf Karten von kleinerem Maaßſtabe nicht ſieht. Doch hat die Wolga wohl nicht von Anfang an bloß den Einfluß der Bugors erfahren, ſonden auch auf ihre Bildung eingewirkt. Zuvörderſt ſind ſie nirgends ſo hoch hinauf in's Land kenntlich, als zu beiden Seiten des Wolga— Thales. Der auffallendſte Umſtand iſt aber wohl der, daß die be— nachbarten Bugors faſt immer ihr höheres Ende gegen das Wolga— Thal, oder, wo dieſes ſchon ſehr erweitert iſt, gegen die einzelnen größern Arme gerichtet zu haben ſcheinen, und daß dennoch die Wolga⸗Arme gerade dieſes höhere Ende ſpäter abgeriſſen haben. Ich bin auf dieſes Verhältniß beim Hinabfahren der Wolga u. ſ. w. ſehr aufmerkſam geweſen, und muß es für die Regel halten, obgleich ich gern geſtehe, daß die Perſpective täuſchen kann, da das abge— kehrte Ende immer das entferntere bleibt. Nur ein Paar Wal ſchien mir ein Bugor umgekehrt zu ſtehen, da fand ſich aber bald, daß er von einem Vebenarme ebenfalls eingeriſſen war, und dadurch die ungeregelte Form erhalten hatte. Aber auch die nicht abge— riſſenen ſchienen mir nach dem Fluſſe zu höher, obgleich es bei ihnen weit weniger auffällt, da der ſcharfe Abſturz fehlt. Wan kann da⸗ her auch nicht bei der Vorſtellung verweilen, daß ſie eine Art von Barre bildeten, die der in ſeiner Strömung aufgehaltene Fluß habe fallen laſſen. Eine Barre, erzeugt, wo die Strömung des Fluſſes aufhört, müßte einen Bogen bilden, den der Fluß an mehreren Stellen einreißt, hinter welchen er dann, wenn er nicht die erſte

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Barre ganz fortſchaffen kann, einen zweiten Bogen bilden würde. Aber ſo iſt es hier nicht: eine allgemeine Richtung des Bugors, un— abhängig von den Flußarmen, iſt unverkennbar. Ein zäher Boden— ſatz, den der Fluß aufgewühlt hätte, ohne ihn fortführen zu können, würde an der niedrigſten Stelle umgegangen werden, nicht an der höhern. Doch mag der Lehm, der in der Tiefe manches Bugors liegt, dieſen Urſprung haben, die weitere Bekleidung gewiß nicht, denn wollte man denken, der Strom, über einen Lehmwall wegge— hend, den er nicht fortſchaffen kann, habe ihn mit Sand beſchüttet, ſo müßten nothwendig dieſe Wälle auf der Seite des Zufluſſes eine andere Neigung haben, als auf der entgegengeſetzten, was ich nicht finden kann. Wenn ich nun aber auf die gegenein— anderſchlagenden Wellen zurückkomme, ſo ſcheint es, daß die von Süden kommenden Wellen den ſtärkſten Gegenſtoß erhalten mußten, wo die Gegenſtrömung durch den Fluß vermehrt wurde, und daß dort die Viederſchläge deswegen am meiſten ſich aufhäuften. Es iſt auch wohl nicht zu willkührlich, wenn ich annehme, daß ſchon damals die Wolga, obgleich ihr Bette noch nicht ſo tief ausgegra— ben war als jetzt, ſondern ihr Waſſer mehr die ganze Breite der Vertiefung einnahm, doch nach einigen Richtungen ſtärker ſtrömte, und daß ſie beim tiefern Einfurchen gerade deshalb die höheren Enden der Bugors abreißen mußte, um ſich Bahn zu brechen. Dieſe Annahme macht es mir verſtändlich, warum rechts und links im Wolga⸗Delta größere und mehr Bugors find, in der Mitte, wo ſchwächere Arme ſich gebildet haben, viel weniger. Doch läßt ſich das ohne Karte im großen Waßſtabe nicht ſpecieller durchführen. Ich kann mich aber deshalb weder für die Oft, noch für die Weſt⸗Strömung entſcheiden, weil die beiden einzigen Bugors, deren Schichtung der Länge nach ich mit einiger Beſtimmtheit erkennen konnte, auf der linken Seite eines Hauptarmes der Wolga liegen. Dieſe Schichtung war ſo, daß die obern Schichten nach Weſten, und zugleich nach dem Fluſſe ſich ſenkten. Allein iſt die Richtung der Schichten auf der andern Seite des Fluſſes die umgekehrte oder dieſelbe? Das läßt ſich nicht voraus ſagen, und doch kenne ich keinen Länder⸗Abriß auf der andern Seite. ö 18 *

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Bei dieſer Anſicht ſcheint mir das Bedenkliche und vielleicht Unwahrſcheinliche nur darin zu liegen, daß gegeneinander ſich bewe— gende Wellen längere Zeit in denſelben Linien zuſammentreffen mußten, wie anzunehmen wäre, um daraus den Abſatz der Bugors zu erklären. Ich hatte wohl an die kleinen Aufſtauungen gedacht, welche man mehr oder weniger beim Aufgießen von Waſſer durch eine Abgußröhre bemerkt, allein ich geſtehe, daß ich dieſelben für zu wenig anhaltend hielt, um bei dieſer Vorſtellung zu verweilen. Der Zufall wollte, daß ich Gelegenheit haben ſollte, ſie viel conſtanter zu ſehen, als ſie ſind, wenn wir ein kleines Gefäß ausgießen, und überdies es mit der Hand halten. Dieſer Aufſatz war faſt been⸗ det, als ich erfuhr, daß ein Baſſin von 10 Faden Breite und viel⸗ leicht zehnfacher Länge, das im hieſigen Hafen gegraben war, um im Winter Schiffe aufzunehmen, gegen die Wolga eröffnet werden ſollte. Ich eilte, Zeuge dieſes Schauſpiels zu ſein. Das Niveau der Wolga ſoll, nach Angabe des Ingenieurs, ſo lange der ab— ſperrende Damm noch unverletzt war, mehr als 5 Fuß über dem Niveau des Waſſers im Baſſin geſtanden haben. Als in den Damm künſtlich nur eine Lücke von etwa mehr als 3 Fuß gemacht war, ſtürzte ſich das Wolga-Waſſer zuerſt in Form eines halbirten hoher len Trichters hinab, der mir nichts Belehrendes bot. Nachdem aber das ſtürzende Waſſer den Damm auf mehr als eine Klaſter er— weitert, und der Waſſerfall eine geringere Krümmung angenommen hatte, bildete das von allen Seiten zuſtrömende und ſich drängende Wolga-Waſſer gegen den Abſturz eine ſanſt geneigte Ebene, und auf derſelben fünf convergirende Aufſtauungen. Die beiden äußern, ohnehin ſchwächer als die andern, ſchwanden früher, die drei mitt: leren aber erhielten ſich lange, und zwar auf derſelben Stelle. Auf der mittelſten war die Zuſammenpreſſung ſo ſtark, daß längere Zeit auf ihr ein bedeutend erhobener Kamm ſich erhielt. Die ganze An— ſicht beſtand jo lange, als der Abfluß dieſelbe Breite behielt. Nach— dem aber noch eine Anzahl der ſeſt zuſammengefügten, viereckigen Balken, welche die vordere Wand des Dammes bildeten, umgewor— fen war, verſchwanden dieſe Rücken, und das ganze Baſſin war nun auch in kurzer Zeit angefüllt. Von dem Phänomen, das ich eigent⸗ lich zu ſehen hoffte, habe ich dagegen nur die Hälfte beobachten kön—

277 nen. Wer durch einen Schleuſen-Kanal gefahren iſt, wird ſich er— innern, daß nach Anfüllung der Schleuſe eine Wellenbewegung ge— gen den Zuflußkanal ſich zeigt, und dieſen Wellen andere aus dem Zuflußkanale entgegenkommen. Da das Schiff nun gleich in Ber wegung geſetzt wird, habe ich nie geſehen, wie lange dieſe entgegen— geſetzte Wellenbewegung anhält, und ob die Interferenzen der Wel- len wohl auf dieſelben Linien treffen mögen. Auch hier war das Waſſer in dem abgekehrten Ende des Baſſins ſo hoch aufgeſtaut (nach Angabe des Ingenieurs öber einen Fuß), daß es ſtark gegen die Wolga abfloß, in äußerſt regelmäßigen, kurzen Wellen. Allein es wurden dadurch jo viele Balken und andere Holzſtücke in die Wolga hinausgeſpült und es waren auch noch ſo viele Reſte des Dammes ſtehen geblieben, daß das Zuſammentreffen dieſer Rückſtauung mit dem Niveau der Wolga keine geregelten Folgen erkennen lich

Ob nun bei dem Abfluſſe eines ſo weiten Baſſins, wie das kaſpiſche Weer iſt, ſich eine ſo große Anzahl von Aufſtauungen lich weiß dieſe erhobenen Rücken, die Jedermann kennt, nicht beſſer zu bezeichnen) bilden mögen, als hier Reihen von geſtreckten Hügeln find, werden Perſonen beſſer entſcheiden koͤnnen, welche mehr Erfah— rungen über die Bewegung großer Waſſermaſſen haben. Es kön⸗ nen auch, ſo wie das Viveau ſank, neue Aufſtauungen innerhalb der früheren ſich gebildet haben. Das längere Beſtehen an ſich würde, wie es ſcheint, keine Schwierigkeiten darbieten. Ich habe das Be— ſtehen freilich wohl nur wenig länger als eine Winute geſehen, allein die ganze Ausfüllung hat nur eine Viertelſtunde gewährt, und das beſchriebene Verhältniß würde ſich länger erhalten haben, wenn nicht die Geſtalt der Communications-Oeffnung ſich plötzlich und vollſtän— dig geändert hätte.

Was für Bedenken ſich mir gegen die einfachſte Anſicht, daß die Bugors durch Abfluß bewirkte Auswaſchungen ſind, erheben, habe ich ſchon oben auseinandergeſetzt, um zu den anderen Mög— lichkeiten überzugehen. Ich will hier aber doch noch hinzufü— gen, daß ich allerdings in meinem Tagebuche Notizen über einen Bugor finde, der recht viele ganze Muſcheln zeigte. Er liegt nach der nördlichen Grenze des ganzen Bezirkes eine Werſt nörd— lich von der Watage Seroglaſinskaja, und iſt gegen einen

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Wolga⸗-Arm ſcharf abgeriſſen. In dieſem Abriffe ſieht man fehr verſchiedene Schichten. In einer untern Lehmſchicht findet man eine Wenge unbeſchädigter Muſcheln mit nicht getrennten Schaalen zu— ſammenliegen, eine Klafter höher in einer Sandſchicht noch mehr. Beide Schichten aber ſind nicht in ungeſtörter Lage, ſondern die Mufcheln liegen neſterweiſe zuſammen, fo daß ich ganze Klumpen mit hunderten von Wuſcheln mitnehmen konnte. Wan ſieht alſo ſchon hierin die Spuren von wühlendem Waſſer. Noch mehr er— weiſen ſich dieſe, wenn man bedenkt, daß Muſcheln nur auf ſandi— gem Boden gedeihen. Wo im Meere der Lehm entſchieden vor— herrſcht, fand ich bisher nur die kleinen Schnecken und kleine Exem— plare von Cardium edule, das ſich über dem Lehm zu erhalten weiß. Ueberdies iſt in unſerm Bugor eine Wuſchelſchicht über der andern, und doch nicht ſo weit entfernt, daß man die untere einer ganz anderen Periode zuſchreiben könnte. Nun zeigt aber gerade dieſe Erfahrung, daß es doch lebende Wuſcheln genug zur Zeit der Bugor-Bildung gab. Warum findet man nicht mehr unzertrüm⸗ merte in den Bugors an den Mündungen der Wolga? Vielleicht kann man ſie bei einer vollſtändigeren Unterſuchung häufiger finden, da die unſrigen nur gelegentlich vorgenommen wurden, während unſere Hauptbeſchäftigung in den Watagen war, und unſere Auf— merkſamkeit überhaupt erſt allmälig darauf geleitet wurde. Alſo, ſollten ſie hier, oder vielleicht in anderen Gegenden, wo wir gar keinen Abſturz unterſucht haben, künftig häufiger ſich finden oder ſollte ſich nachweiſen laſſen, wohin ſonſt der große Vorrath lebender Mufcheln geſpült wurde, ſo würde ich meine übrigen Bedenken fallen laſſen und die Anſicht der unmittelbaren Auswaſchungen annehmen, welche auch jetzt Herr Danilewski für die wahrſcheinlichere hält.

Den Zuſammenhang der Bugors mit anderen großen Vor— gängen ſchon jetzt feſtzuſtellen, fühle ich mich nicht berufen. Die Erhebung des Kaukaſus ſoll neu ſein, ſagen die Geologen. Myocen-Gebilde hat man 6000 Fuß gehoben gefunden. Allein woher ſoll man den Muth, und hinlängliche Beweiſe nehmen, um die Bugors für ſo alt zu halten, als der Kaukaſus neu ſein mag? An Wellen kann es bei dieſer Gelegenheit wohl nicht gefehlt haben.

Warum ſoll man denn nicht bei der ein fachen Vorſtellung von

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Dünen zur Erklärung dieſer Reihen lang geſtreckter Hügel ſtehen bleiben? wird ohne Zweifel ein Theil der Leſer bei ſich denken. Ich will nachträglich noch auf dieſen Entwurf eingehen, da ich ihn im Aufſatze ſelbſt vielleicht zu wenig berückſichtigt habe.

An wahre Dünen, d. h. vom Winde in Hügelform aufgehäuf— ten Weeresauswurf, habe ich nie ernſtlich denken können, allein eine verwandte Anſicht, indem ich die Hügel für feſtere, unmittelbare Ufer wälle hielt, habe ich lange ſelbſt gehabt, und gegen meine Reiſege— fährten zu begründen geſucht, ſie aber doch zuletzt aufgegeben. Wahre Dünen beſtehen aus Sand, Muſchelſchaalen und überhaupt aus fol- chen Stoffen, die der Wind bewegt. Die geringe Beimiſchung von Lehm, welche in einigen Regionen vorkommt, ließ ſich ebenfalls noch dadurch erklären, daß in dieſen Gegenden der Staub, den der Wind auf ſchlecht bewachſenen Theilen der lehmigen Steppe erhebt, ein lehmiger Staub iſt, der dem aufgeſchütteten Sande ſich beigemiſcht haben könnte. Allein dieſe Beimiſchung kann doch unmöglich genü— gen, um die lehmreichen, tieferen Schichten in anderen Gegenden zu erklären. Auch ſpricht der Salzreichthum gegen die Dünen. Aus dem Sande werden die beigemiſchten Salztheilchen ſo leicht ausge— waſchen, daß ich zweifle, ob irgendwo eine wirkliche Düne ſalzreich iſt, obgleich dem von der See ausgeworfenen Sande urſprünglich Salzwaſſer anhaften mußte. Hier aber iſt das jetzige Weer faſt ganz ohne Salz. Dann ſind die Dünen, wenigſtens die, welche ich zu ſehen Gelegenheit hatte, viel unregelmäßiger. Allein es wäre unnöthig, mehr gegen die Dünenähnlichkeit dieſer Bugors zu ſagen, da alle Einwürfe, die ſich mir gegen meine urſprüngliche Anſicht darboten, auch gegen die eigentlichen Dünen ſprechen.

Weine urſprüngliche Anſicht war, daß die beſprochenen Hügel unmittelbare und feſtere, daher vom Winde nicht faßbare Uferrän— der ſein könnten, wie ſie an großen Landſeen ſich bilden. Ich kenne ſie am beſten vom Peipus-See, der allerdings auch eine wahre Dünenkette hat, nämlich an der Südgrenze des größern Abſchnittes, wo der See in lockeren Sandboden eingebettet iſt, und deshalb auch ſein Grund aus reinem Sande beſteht. Allein auf einem großen Theile der livländiſchen Seite läuft ein erhöhter, feſter Wall um den See, weil hier der Auswurf deſſelben mit Lehm und Schlamm

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gemiſcht iſt, den die livländiſche Flüſſe hineinbringen. Der Wall, der jetzt das Ufer umgrenzt, iſt ganz unbedeutend, drei, zwei, ja ſtellenweiſe nur einen Fuß hoch, und hie und da vom Frühlingswaſ— ſer, das ſich um den See ſammelt, eingeriſſen. Allein man findet ſehr deutliche Reſte von früheren Wällen, die in vorgeſchichtlichen Perioden die Uferränder bildeten, als der See einen größern Umfang hatte, ohne Zweifel, weil die Narowa den ihr Bette bildenden ſiluri— ſchen Kalkflötz weniger eingeriſſen hatte. Dieſe Reſte alter Uferwälle laufen faſt parallel, wie mir eine Special-Karte gezeigt hat, und ſind um ſo mehr aus Driftmaſſen dortiger Gegend (Grand mit größeren Kalkgeröllen) gebildet, je älter ſie ſind. Einige Aehnlichkeit iſt da, obgleich am Peipus die Höhenzüge viel weiter von einan— der ſtehen. Als ich aber ſpäter in die Gegend der dicht gedrängten Bugors kam, ſchwand die Aehnlichkeit ganz. Es war nicht mög— lich, ein ſo oft wiederholtes Zurücktreten des Meeres in faſt gleichen Abſätzen ſich zu denken, wobei jede Zwiſchenperiode lange genug anhielt, um ſolche Höhen auszuwerfen, und doch die allgemeine Senkung der Bodenfläche ſo wenig zugenommen haben mußte, daß noch jetzt das Waſſer in faſt alle Zwiſchenräume eintritt. Ueber— dies kannte ich die Schichtung nicht, und wußte nicht, daß die Bugors über das Gebiet der Wolga ſoweit nach Oſten ſich aus— dehnen, wo nur Sand im Weeresboden zu erwarten iſt.

Elftes Kapitel.

Das Lager des Chans der innern Kirgiſenhorde. Rückreiſe nach Berlin.

Wir haben früher ſchon erwähnt, durch welche Gründe unſre Reiſenden bewogen worden waren, die Reiſe zu Dſchangir, dem Chan der innern Kirgiſenhorde aufzugeben. Hanſteen, der ihn be— ſuchte, hat uns in ſeinen öfter erwähnten Reiſe-Erinnerungen aus Sibirien eine ſehr lebendige und lehrreiche Schilderung ſeines Auf— enthalts bei Dſchangir gegeben. Wir ergänzen den Bericht un— ſerer Reiſenden ſchließlich noch durch folgende Wittheilungen eines ruſſiſchen Schriftſtellers, M. Kittary*), über das Lager des Chans der inneren Kirgiſenhorde.

Im nordweſtlichen Rand der inneren Kirgiſenſteppe, zwiſchen 48 und 49 N. B. 65° bis 66° O. L., 66 Werſte von dem Eltonſchen Salzſee, liegt jetzt eine kleine Anſiedelung, bekannt unter dem Namen das „Zelt des Chans.“ Vor 20 Jahren war hier noch nicht eine Spur von Anſiedelung, ſondern die flache Steppe, eben ſo öde als am Ufer des kaſpiſchen Meeres. Die Geſchichte dieſer Vie— derlaſſung iſt kurz: vor 1824 führte der Chan der innern Kirgiſen⸗ horde, Dſchangir, wie ſeine Vorgänger und überhaupt alle Kirgiſen, ein nomadiſches Leben, in dieſem Jahre aber, in den erſten Tagen Oktobers, trat er in die dritte Ehe mit Fatima, der Tochter des Orenburger Mufti, einem ganz europäiſch gebildeten Mädchen, das

*) Ruſſiſches Journal des Miniſteriums des Innern. Ausland 1849. Nr. 275 ff.

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Sprachen, Muſik und Tanz verftand*). Den Reſt des Winters 1824 brachte er mit feiner jungen Gattin am Ufer des kaſpiſchen Meeres zu und hier fiel ihm endlich auf, welche Unbequemlichkeit im Win— ter eine Kirgiſenkibitke für eine Frau habe, die von Kindheit auf an warme wohnliche Stadthäuſer gewöhnt ſei. Indeß brachte Fa— tima auch die Wintermonate des Jahres 1825 in einer Kirgiſenkibitke nahe bei dem tatariſchen Dorfe Kotſchetajewka zu, aber langweilig wurde ihr der Winter ohne Chan Oſchangir, der um dieſe Zeit in Petersburg ſich aufhielt, und im Winter des Jahrs 1826 mit Ge— ſchenken des Kaiſers überhäuft zurückkehrte; unter andern hatte er auch eine Summe von 10,000 R. erhalten, um für Fatima eine ſtändige Wohnung in der Steppe zu bauen. Im Herbſt 1826 wurde zu dieſem Bau geſchritten, von einem Bürger in Dubow ein kleines hölzernes Haus angekauft, und dies in der Steppe eine Werſt von dem jetzigen „Zelt des Chans“ aufgerichtet; in dieſem engen Hauſe brachte die chaniſche Familie den Winter des Jahres 1826 zu. Von dieſer Zeit an war Oſchangir, eben fo wie früher fein Vater Bukei, der Grün— der der innern Kirgiſenhorde, im Winter nach dem ſüdlichen Theil der Steppe gezogen, am Ufer des kaſpiſchen Weeres, da das Klima hier viel wärmer und der Schnee nicht jo tief iſt *); darum erſcheint es ſeltſam, daß Dſchangir eine weiter nach Norden gelegene ſchnee— reichere und kältere Gegend für ſeine Wohnung auserſah. Dſchangir hatte bei ſeiner Wahl nicht blos den Winter, ſondern auch den Sommer im Auge: er gedachte an dem ausgewählten Platze ſeinen ſtändigen Wohnſitz aufzuſchlagen, dadurch den Sultanen und übrigen

*) Der Chan, erzählt Hanſteen, hatte ſich zuerſt mit einer Kirgiſin ver heirathet, die ihm einen Sohn geboren, bald darauf aber geſtorben war. Jetzt hatte er ſich mit ihrer Schweſter vermählt. Seine liebſte Gemalin, an der er mit größter Innigkeit hing, war aber Fatima. Die kirgiſiſche Gemahlin hatte der Chan nehmen müſſen, um bei ſeinen Landsleuten nicht anzuſtoßen; da ſie aber eine Kirgiſin wie alle andern war, geboren und erzogen in einer Kibitke und eben jo roh und unwiſſend wie ihre Schweſtern, war fie ihm vollkom⸗ men gleichgültig.

**) Die Tiefe des Schnees iſt ein wichtiger Umſtand im Leben der Kir⸗ giſen, denn davon hängt die Erhaltung ihrer Heerden ab, welche auch den Winter hindurch von dem Futter auf dem freien Felde ſich nähren und es unter dem Schnee herausſcharren.

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Kirgiſen ein Beispiel zu geben und ſolchergeſtalt eine Viederlaſſung zu gründen, welche für die von ihm beherrſchte Kirgiſenhorde als Mittelpunkt dienen und der erſte Schritt zu einer Anſäſſigma— chung ſein könnte. Zu dieſem Zweck konnte er keine beſſere Aus— wahl treffen. Der für das „chaniſche Zelt“ gewählte Punkt iſt faſt der einzige im Gebiet der innern Kirgiſenhorde, welcher Quellen ent— hält und dadurch die Wöglichkeit gewährt, ſtändige Brunnen zu graben, ein ſehr wichtiger Umſtand in einem Lande, das von flie— ßendem ſüßem Waſſer ganz entblößt iſt. Außerdem finden ſich in geringer Entfernung nördlich einige ſehr große Süßwaſſerſeen, welche zur Tränke für die ungeheuren kirgiſiſchen Pferdeheerden dienen konnten; auch boten die damals mit Schilf bewachſenen Seeufer reich— lichen Vorrath von Feuermaterial dar. Gegen Oſten dehnte ſich ein ziemlich großer Wald aus, welcher die Anſiedlung gegen die faſt unaufhörlich in der Steppe wehenden Oſtwinde und vor dem Sand— trieb aus den Sandſtrichen von Ryn ſchützen konnte. Der ſalzige Boden der Umgebung im Süden bot dem Rindvieh reichliches Futter. Die Nähe der Wolga und ſomit auch der Orte Tſcherno— jar, Kamyſchin und Saratow verſprach manche Vortheile für den Handel der Kirgiſen. Dieſe Urſachen waren es vermuthlich, welche den Chan bewogen dieſe Stelle auszuſuchen.

Nachdem im Früjahr 1827 alles nöthige Material herbei— geſchafft war, ſchritt Dſchangir zum Bau eines großen Hauſes, an welches zwei Flügel ſtießen, die aber damals noch nicht mit dem Hauſe verbunden waren. Gegen den Winter ward der ganze Bau vollendet, und das neue Jahr 1828 fand den Chan bereits in der neuen Anſiedlung. Außer dem Haupthauſe baute er noch einige Wohnungen für ſeine zahlreiche Dienerſchaft, zugleich folgten einige Sultane feinem Beiſpiel und ließen ſich gleichfalls hier nieder. Den⸗ noch ging die Erweiterung der Niederlaſſung anfangs ſehr langſam, ſo daß ſie nach Verlauf der erſten 14 Jahre nur aus 41 Häuſern beſtand. Aber ſeit dem Jahre 1841 nahm ſie raſch an Umfang zu, und im Juli 1846 befanden ſich daſelbſt 89 Häuſer. Die raſche Vergrößerung muß man ohne Zweifel dem ſchon im J. 1833 da— ſelbſt errichteten Jahrmarkt zuſchreiben, welcher im Anfang nicht ſehr

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bedeutend war, aber immer mehr ſich entwickelte und mit jedem Jahre mehr die Kirgiſen und Fremden anlockte.

Unter den 89 Häuſern gehören dem Chan 6, verſchiedenen Sul- tanen 4, orenburgiſchen aſiatiſchen Beamten 4, ruſſiſchen Einwoh— nern 10, kaſaniſchen Tataren 13, Armeniern 2, Bürgern von Aſtra— chan 5, Kirgiſen 41, den uraliſchen und aſtrachaniſchen Kordonkoſa— ken 2. Bei vielen dieſer Häuſer finden ſich Buden und Waaren— lager, die indeß nicht bleibend ſind, ſondern ſich nach dem Bedürfniß des Handels richten.

Das „chaniſche Zelt“ bietet ein in langer Linie ausgeſtecktes Dorf dar, das faſt gerade von Oſt nach Weſt geht. Die Häuſer ſind ziemlich regelmäßig vertheilt, ſo daß man Quartiere und Straßen unterſcheiden kann. Die Hauptſtraße geht durch die ganze Länge des Orts hindurch. Die Gebäude zerfallen in vier Gruppen: die erſte beſteht aus den chaniſchen Gebäuden, die zweite aus hölzernen Gebäuden mit 4, 5 oder 6 Vorderfenſtern, die dritte aus kleinen hölzernen Häuſern mit 2 bis 3 Vorderfenſtern, und die vierte aus ſteinernen Gebäuden mit einem oder zwei Fenſtern vorn. Die Woh— nung des Chans iſt ein ſehr großes hölzernes Haus, das jedoch mit Backſteinen eingefaßt ſein ſoll; in der That aber giebt nur der Umſtand, daß es außen mit Kalk beworfen, geweißt und mit einem grünen eiſernen Dach bedeckt und mit Röhren zur Ableitung des Regens verſehen iſt, ihm ganz das Anſehen eines ſteinernen Hauſes. Die Fagade iſt recht hübſch, und beſteht aus fünf, ſehr deutlich gez ſchiedenen Theilen, von denen das Hauptgebäude die Witte ein— nimmt. Letzteres hat 12 Fenſter und ftatt des 13 ten in der Witte eine Thüre, die auf eine kleine Terraſſe führt, die vor den vier Wittelfenſtern angebracht iſt. Ueber der Terraſſe und von gleicher Größe iſt ein Balkon, der von ſechs ſchönen weißen Säulen geſtützt und außer einem hübſchen Holzgitter noch mit ſechs dünnen Säul⸗ chen geſchmückt iſt, auf welchen das über den Balkon vorſpringende Dach ſich ſtützt. Alle andern Fenſter des chaniſchen Hauſes ſind mit grünen Läden verſehen. Von der Terraſſe geht eine breite Treppe von fünf Stufen hinab, von wo aus ein mit Sand be— ſtreuter Weg nach der Woſchee führt. Im Innern des Hauſes zählt man 33 Zimmer, von denen ein Theil von der Familie des

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verſtorbenen Chan Dſchangir eingenommen und deshalb der Neugier der Reiſenden unzugänglich war.

Der mittlere Flügel der hintern Façade führt nach einem ziem— lich großen Vorzimmer in einen Empfangſaal, der von vier Fenſtern und einer Glasthüre beleuchtet iſt, welche auf die Terraſſe führt. Dieſer Saal iſt europäiſch möblirt, und zu den merkwürdigſten Gegen— ſtänden darin gehören aſtronomiſche Uhren, die rechts am Eingang ſtehen; ſie ſind mit kunſtreicher Bronzearbeit verziert und liegen in einer kleinen Commode von rothem Holz, auf deren Ecken Globuſſe, ein Erd⸗, ein Himmels- und zwei Wondglobuſſe, aufgeſtellt waren; der Mechanismus der Commode begleitete den Schlag der Uhren mit einer Orgelmuſik und ſetzte die Mondglobuſſe in Bewegung.

An der rechten Wand des Saales findet ſich eine Thür, die in ein kleines, gleichfalls europäiſch geſchmücktes Gaſtzimmer führt. Hier hängt das reiche Portrait des Kaiſers, ſo wie die Portraits Dſchangir's und feines Sohnes Sahib Gerai, letzteres daguerreo- typirt. An der linken Wand des Saales iſt gleichfalls eine Thür, welche in ein kleines, von zwei Fenſtern beleuchtetes Zimmer führt, das ſich von den beiden vorhergeheuden durch einen um eine halbe Arſchine erhöhten Boden an der Fenſterſeite ſcharf unterſcheidet. Zu dieſer Erhöhung führen zwei Stufen, und zu Lebzeiten Chan Dſchan— gir's war ſie mit reichen perſiſchen Teppichen bedeckt, auf denen man ſtets ein großes mit Goldfranzen und an den Ecken mit dergleichen Troddeln beſetztes Sammtkiſſen fand, das nahe an der Mauer in der Mitte der Erhöhung lag; über dem Kiſſen hing an der Mauer ein koſtbarer Teppich, und auf demſelben in ſymmetriſcher Ordnung reiche Schwerter, Säbel und Gewehre, und an den Seiten der Fen— ſter koſtbare Sättel und anderes Pferdegeſchirr. An den Seiten— wänden der Erhöhung ſtehen noch jetzt zwei ſchmale aber hohe Schränke von rothem Holz, in denen hinter Glas verſchiedene aſia— tiſche Panzerhemden, Armſchienen, Helme und andere Kriegsausrü— ö ſtungen aufbewahrt werden; unter dieſen ſeltenen und koſtbaren Ge— genſtänden fiel namentlich ein ſchöner Stahlhelm in die Augen, in Form einer baſchkiriſchen Plattmütze mit goldener Damascirung.

Im übrigen Theil dieſes Zimmers, das hier das Waffenzim— mer heißt, liefen an den Wänden breite Schränke von rothem Holz

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hin, in denen ſchön geordnet hinter Glas eine Wenge verſchiedener Arten von Gewehren, Büchſen, Säbeln, Dolchen ꝛc. aufgeſtellt find, darunter auch ſehr koſtbare, z. B. zwei Säbel, Geſchenke des Kai— ſers, mit eingelegter Goldarbeit und koſtbaren Steinen. Unter den Gewehren, von denen Dſchangir ein großer Liebhaber war, find na— mentlich zwei intereſſant; das eine von ſehr ſchöner aſiatiſcher Arbeit iſt auf 1000 S. R. geſchätzt, das andere iſt ausgezeichnet durch ſeine Länge, die etwa eine Klafter beträgt. Ueberhaupt enthält dieſe Sammlung, die Frucht vieljähriger Mühe, eine Wenge alter aſiati— ſcher Waffen und iſt wohl die größte Werkwürdigkeit im „Zelte des Chans“.

Von dem Waffſenzimmer führt eine dem Eingang gegenüber: liegende Thüre, den Angaben Profeſſor Goebel's zufolge, der das „Zelt des Chans“ noch zu Lebzeiten Dſchangir's beſuchte, in ein von zwei Fenſtern erhelltes Zimmer, das wie der Saal europäiſch aus— geſchmückt iſt; nach dem Tode des Chans ward dieſe Thür ve ſchloſſen und das dahinter liegende Zimmer zum Rathszimmer für den die Geſchäfte der bukei'ſchen Kirgiſenhorde leitenden Rath ein— gerichtet. Auch im linken Seitenflügel iſt ein ſolcher Rathsſaal, wo ſich die Sultane, Beys und Aelteſten verſammeln. Dieſer iſt von zwei Fenſtern erhellt, hat in der Witte einen ziemlich langen Tiſch, der mit rothem Tuche mit Goldfranzen bedeckt und von Lehnſtühlen aus rothem Holz umgeben iſt. An der Wand hängt das Bildniß des Chans, auf dem Oſchangir in voller Lebensgröße abgebildet iſt, eine mit Gold geſtickte Baſchkirenmütze (Tjubetaika) auf dem Kopfe in grünem Sammtkaftan, der am Kragen, an der Bruſt, dem Saum der Schöße und den Umſchlägen reich mit Gold geſtickt iſt; die linke mit einem großen Ring geſchmückte Hand hält einen reichen Säbel und auf der Schulter hängt ein mit Berkan bedeckter Zobelpelz, ein Geſchenk des Kaiſers bei der Erhebung Dſchangir's zur Würde eines Chans.

Im Hofe des chaniſchen Gebäudes kann man ſtets eine inter— eſſante Seltenheit treffen, einen Tarpan, d. h. ein kleines, ſehr hüb— ſches, wildes Pferd (equs hemionus); dies ſeltene Thier erhielt Chan Dſchangir vor 15 Jahren aus Chiwa zum Geſchenk, und zwar ein Männchen und ein Weibchen, letzteres iſt aber ſeit gerau—

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mer Zeit geftorben, und nur das Männchen übrig geblieben, wel ches ein weit heimlicheres Thier geworden iſt als unſer gewöhnliches Hauspferd. Am intereſſanteſten iſt am Tarpan ſeine Vorliebe zum Spiel; läßt man ihn frei laufen, ſo bleibt er faſt bei jedem Vor— übergehenden ſtehen, und nimmt ihm, ſanft ſich heranſchleichend, die Mütze ab; trägt derſelbe etwas, ſo wird ihm auch das genommen, und wer dieſe Späße nicht liebt, gegen den ſtellt ſich das Thier auf die Hinterbeine; mit den Jungen jagt es ſich herum, manch— mal aber bemerkt man auch etwas Tücke. Namentlich verfolgt es unabweisbar die Weiber, deren Streicheln es beſonders liebt, und die es manchmal durch ſeine luſtigen Streiche ſchreckt. Die Leben— digkeit und Gewandheit des Tarpans find fe erftaunlich, daß in der ganzen Horde keiner ſo keck iſt, ſich auf dies kleine Pferdchen zu ſetzen.

Vor der Facade des chaniſchen Hauſes iſt ein noch junger Gar— ten angelegt, der in einem langen Viereck auf's freie Feld hinaus— geht. Dieſer Garten iſt auf der Oſtſeite durch ein hübſches höl— zerned Gitter, von der Süd- uno Weſtſeite durch einen einfachen Bretterverſchlag umgeben. An die Witte der Südſeite ſtößt ein ziemlich großer hölzerner Schuppen, der die Teppiche, Filzdecken und Kibitken des Chans enthalten ſoll. Der Garten ſelbſt bietet nichts merkwürdiges dar, im Gegentheil iſt er ziemlich öde, ganz mit hohem Gras bewachſen, und man ſieht nicht Ein Blumenbeet; nur eine längs der Umzäunung hinlaufende Birkenallen beweiſt, daß es ein nicht ganz wilder Ort iſt. Dagegen ſteht faſt in der Witte des Gartens die chaniſche Moſchee, das ſchönſte Gebäude des Orts, und außer ſeiner künſtlichen, ganz europäiſchen Architektur nament— lich dadurch bemerkenswerth, daß Chan Dſchangir Grundriß und Fagade ſelbſt entworfen hat. Das Gebäude iſt von Backſtein, innen und außen mit Stuccatur verſehen, hübſch ausgeweißt, und ſtellt ein längliches Viereck dar, deſſen lange Axe von Norden nach Sü— den läuft. Die nördliche Wand iſt gegen das chaniſche Haus ge— richtet, und mit einer kleinen Terraſſe verziert, über die ein Dach vorſpringt, das durch ſechs große Säulen joniſcher Ordnung ge— ſtützt wird. Von den vier mittlern Säulen geht eine breite Treppe von fünf Stufen hinab, und von da führt ein mit Sand beſtreuter

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Weg nach dem Paradeflügel des chaniſchen Hauſes. Die ſübliche Mauer des Gebäudes hat weder Terraſſen noch Säulen; in ihrer Witte ſteht vom Boden auf eine halbrunde, von einem gleichfalls halbrunden Dach bedeckte Erhöhung, in der eine Niſche und zu den Seiten derſelben zwei Fenſter angebracht ſind, welche das Innere des Gebäudes von Süden her beleuchten. Jede der Seitenmauern der Moſchee iſt mit ſieben Fenſtern verſehen, außerhalb derer, den mittlern fünf gegenüber, ſechs Säulen, ähnlich denen am Eingange, ſich finden, welche gleichfalls auf der Terraſſe ſtehen und ein vor— ſpringendes Dach ſtützen. Durch dieſe Einrichtung erhält der Grund— riß der Mofchee die Form eines Kreuzes. Das Dach beſteht aus grün angeſtrichenem Platteneiſen. Aus der Witte des Dachs er— hebt ſich ein ſehr hübſches Minaret, das man in zwei Theile theilen kann, in einen untern, breitern, viereckigen, und einen obern ſchmalern, ſechseckigen, über welchem die von ſechs Säulen getragene Kuppel ſteht; ihre Spitze iſt mit einer vergoldeten Kugel geziert, über der eine kleine vergoldete Spitze befeſtigt iſt, welche den Mond trägt. Vom Winaret aus hat man eine ſehr hübſche Ausſicht auf den gan— zen Ort und deſſen Umgebung.

Wir kommen jetzt zu den andern Gebäuden, und zwar zuerſt zu denen mit 4, 5 oder 6 Vorderfenſtern. Dieſe ſind größtentheils von Holz, ohne ſteinernes Fundameut, meiſt mit Brettern verkleidet, mit hohen hölzernen Dächern. Innen ſind ſie mit Stuck belegt und enthalten fünf bis ſechs kleine, gewöhnlich europäiſch möblirte und nur bei einigen aſiatiſchen Hausbeſitzern mit Teppichen belegte Zimmer. In's Haus führen gewöhnlich zwei Treppen, beide im Hofe, und die dem Thore zunächſt liegende bildet den Paradeein— gang; nur zwei oder drei haben den Eingang von der Straße her. Zur Einrichtung dieſer Art von Häuſern gehört ein ſehr geräumi— ger, mit einem Bretterzaun umſchloſſener Hof, der mit den noth— wendigen Dienſtgebäuden und manchmal auch von kleinen Seiten⸗ flügeln umgeben iſt. Von Gärten und umſchloſſenen Grasplätzen weiß man hier nichts, dafür aber ſind dieſe Gebäude mit ziemlich geräumigen Hinterhöfen verſehen, die zur Unterbringung des Viehs dienen. Die dritte Gruppe von Gebäuden ſind ſolche mit zwei oder drei Vorderfenſtern. Dieſe ſind, mit Ausnahme von fünf oder ſechs

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armeniſchen und ruſſiſchen, das Eigenthum kaſaniſcher und oren— burgiſcher Tataren und Kirgiſen, und darum ganz in aſiatiſchem Geſchmack gebaut. Wie die vorhergehenden ſind ſie ohne Funda— ment und nicht mit Brettern verſchlagen. Viele derſelben haben vor den Vorderfenſtern einen kleinen von einem Holzgitter umgebe— nen Raum, der meiſtens mit Gras und nur bei wenigen mit Ge— büſchen und jungen Bäumen bepflanzt iſt. Im Innern dieſer Häuſer finden ſich zwei, manchmal drei Zimmer, die hie und da mit grüner, hell- oder dunkelblauer Oelfarbe ſchachbrettartig bemalt ſind. Der Hof iſt außer den unerläßlichen Wohnungen für die Dienerſchaft meiſt mit Bau- und Vorrathshäuſern verſehen, nicht ſelten aber mit Sumpfgras bedeckt, und im Sommer von Tauſen— den kleiner Kröten bewohnt, die in ungeheurer Zahl durch den ſchlechtgefügten Boden und die offenen Thüren in die Zimmer drin— gen, wo ſie Fliegen haſchen und in großer Anzahl vernichten, wes— halb ſie von den Hausbewohnern geduldet werden.

Endlich müſſen wir noch mit der vierten Häuſergruppe des „chaniſchen Zelts“ bekannt werden, mit den „ſteinernen“ Häuſern von einem oder zwei Fenſtern vorn. Ehe wir uns aber damit be— ſchäftigen, müſſen wir ſehen, aus welchem Waterial ſie gebaut ſind, und wie dies Material bereitet wird. Da es weder um das „cha— niſche Zelt“ her, noch in den andern Strichen der Kirgiſenſteppe Granit, Kalk oder Marmor giebt, aus denen man Steine hauen und Häuſer bauen könnte, und wenn auch dies der Fall wäre, die Kirgiſen doch keinen Nutzen daraus zu ziehen verſtänden, ſo machen ſie es wie die Europäer, ſie bereiten zum Bau ihrer Wohnungen Backſteine; da aber die Vorbedingungen zur Backſteinbereitung bei den Kirgiſen ganz andere ſind, ſo gleichen auch ihre Backſteine den unfrigen gar nicht. Ihr Material beſteht aus Thon, der aber in der Steppe mit einer ungeheuren Wenge Sand verbunden iſt, ſo daß ihm der nöthige Grad von Zähigkeit durchaus abgeht. Da, wo wenig Sand im Thon iſt, erſetzt ihn Kochſalz, und Stellen mit ſolchem Grunde bilden die ſogenannten Salzlaken (solontschaki) welche, wenn ſie feucht und alſo weich ſind, den Vamen Salzmoore oder Chak führen. Von dieſen zwei Arten Thon gebraucht man zur Backſteinbereitung den letztern, weil er noch ſo viel Cohäſion

IV. 19

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behalten hat, um ihm die nöthige Form geben zu können. Auch kann man Wergel, woran die Umgebungen des Bogdoberges reich find, dazu verwenden; da aber die Kirgiſen in der Nähe des „cha— niſchen Zeltes“ ſelbſt ein Salzmoor gefunden haben, ſo kümmern ſie ſich nicht um ein anderes, weit beſſeres Waterial.

Die Bereitung der Backſteine findet am Ufer eines kleinen Sees ſtatt, welcher bis in die Straßen ſich hineinzieht; da man aber an dieſen Ufern weder Brennöfen noch Schuppen ſieht, ſo möchten wohl die Technologen das Vorhandenſein einer Backſteinbereitung kaum glauben, indeß wird der Kirgiſe damit ohne Brennöfen ſehr leicht fertig. Dieſe Backſteine ſind dreimal ſo groß, als die unſrigen und werden folgendermaßen bereitet: im Jahre 1846 ſah man am Oſtufer des erwähnten Sees wiederholt vier oder fünf kleine Gru— ben, die nicht fern vom Ufer ausgegraben waren; in dieſen Gruben kneteten Kirgiſen, je einer in einer Grube, mit nackten Füßen den feuchten Thon, ſchöpften, je nach Bedürfniß, das Waſſer ab, und ſetzten eine erkleckliche Wenge friſchen Graſes zu. Der Thon wird dann alsbald nach dem nördlichen Ende der Anſiedlung gebracht, ſieht hier hellgrau aus, und hat einen merklichen ſalzigen Geſchmack; der Grad ſeiner Cohäſion iſt nicht groß, ſo daß die Kirgiſen feuch— tes Gras zuſetzen müſſen. Zu dieſem Ende nehmen ſie das Gras nicht ohne Auswahl, ſondern vorzugsweiſe dasjenige, welches bei vielen Zweigen keine großen und breiten Blätter hat. In dieſer Beziehung ziehen ſie die verſchiedenen Arten von Wermuth vor, woran die Umgegend ſehr reich ift. Nachdem fie dieſe Miſchung von Thon, Sand, Gras und Salz gehörig durdygefnetet haben, überge— ben ſie ſolche dem Meiſter, der mit Hülfe einer hölzernen Form dar⸗ aus Backſteine macht, und dieſe auf einem beſonders dazu beſtimm— ten Platz aufrecht in Reihen aufſtellt, fo daß jeder Backſtein befon- ders ſteht, und den nächſten nicht berührt. In dieſen Reihen iſt es ſchwer einen Backſtein zu finden, der hinſichtlich der Form une tadelhaft wäre, aber daran iſt die Kunſt des Meiſters nicht Schuld, ſondern das dem Thone hinzugefügte Gras, welches bei der Heraus⸗ nahme des Backſteins aus der Form an den Seiten und Ecken des Backſteins hervorſteht und ihn oft ganz rauhaarig macht. Bei einer Sonnenhitze von 40° trocknen die friſchen Backſteine bald aus, aber

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dieſe Operation geht ſelten ohne einige für den Unternehmer nicht ſehr angenehme Umſtände ab: bald kommen muthwillige Kinder auf den Platz, bald verirrt ſich ein Schaf, eine Kuh oder ein Pferd da— her, und jedes läßt tiefe Spuren zurück; zuweilen weht ein heſtiger Wind und bringt mit dem Sand noch eine Wenge Unrath, und nicht ſelten ereignet es ſich auch, daß ein unerwartet ergiebiger Re: gen kommt, und die ſchwere Arbeit des kirgiſiſchen Meifters in einen flüßigen Brei verwandelt. Aber nach allen ſolchen Unfällen ſeufzt der kirgiſiſche Meifter, zankt und fängt feine Arbeit von vorn an, ohne auch nur an die Möglichkeit zu denken, je einen Schuppen oder mindeſtens einen Zaun anzulegen.

Auf das Austrocknen der Backſteine ſollte nun die Operation folgen, die man bei uns das Brennen nennt, aber dies kann bei der kirgiſiſchen Backſteinbereitung nicht ſtatt finden aus zwei Grün⸗ den, erſtens wegen der Beimiſchung einer ſolchen Wenge Gras, daß beim Ausbrennen Riſſe entſtänden, welche die Backſteine durchaus unbrauchbar machten; zweitens iſt das Brennen unmöglich, weil es an Brennmaterial fehlt; man könnte zwar Holz an der Wolga haben, das iſt aber an Ort und Stelle ſo theuer, und die Kirgiſen, welche ſich ſolche ſteinerne Häuſer bauen, ſind ſo arm, daß es durch— aus unmöglich iſt, Holz zu bekommen. Somit trägt der Kirgiſe ſeine an der Luft getrockneten Backſteine nach einer trockenen ſan⸗ digen Stelle, woran kein Mangel iſt, legt die Backſteine horizontal, dreht ſie einigemal in der glühenden Sonne um, und trocknet ſie vollſtändig aus; dann find fie zur Verwendung fertig. Ehe man nun zum Bau ſchreitet, reinigt man den Platz von Gras und Schmutz, und überzieht ihn mit Thon, der, zuſammengetreten und ausgeebnet, den Boden des künftigen Hauſes bildet. Nach dieſer Operation, welche bei uns die letzte iſt, beginnt man die Mauern aufzuführen, mit zwei, drei, vier Backſteinen Breite, je nach dem Vermögen des Bauenden. Die Backſteine werden horizontal nach ihrer breiten Seite gelegt, und mit einander durch feuchten Thon verbunden, den man dabei in ſolcher Wenge anwendet, daß das Haus mit Backſteinen beſetzt, aber aus Thon boſſirt ſcheint. An den Fenſtern und Thüren wird der Backſtein durch ſchwache Hölzer gehalten. Die Decke wird ſelten aus Brettern gemacht, die hier zu theuer

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find, viel häufiger erſetzen fie mit Thon verklebte Backſteine, die auf ein hölzernes Geſtell von ſchwachen Stangen gelegt werden, deren Enden ſich auf die Seitenmauern ſtützen. Das Dach wird gewöhnlich aus Baumrindenſtücken, ſeltener aus dünnen Brettern aufgeführt, und manchmal iſt gar keins vorhanden. Innen im Hauſe iſt nur ein einziges und oft nur ſehr kleines Zimmer mit einem ruſſiſchen Ofen, oder auch nur mit Flieſen, in welche der Keſſel eingeklebt iſt.

Solche ſteinerne Häuſer bieten freilich eine Parodie auf die unſrigen, es find ihrer im ganzen aber ſehr wenig, nur ſieben. Ihre Vermehrung iſt ſchwerlich anzunehmen bei der Unwahrſcheinlichkeit, daß ſie bei Regenwetter ſtehen bleiben, denn bei ſolchem bilden ſich darin anfangs mächtige Waſſerläufe, dann wird das Haus allmälig unterwaſchen, ſtürzt endlich ein und wird zu einem formlofen Koth— haufen. Der Sommer des Jahrs 1846, der ſehr regenreich war, lieferte mehrere ſolche Beiſpiele.

Der Bevölkerung des Lagers, obgleich dies ein ſtehender Wohn: ſitz geworden, iſt noch der Charakter des Nomadenlebens ſtark auf— geprägt. Im Frühjahr zur Zeit des Jahrmarkts ſchwillt ſie durch das Hinzuſtrömen der Fremden und der Kirgiſen ſelbſt ſtark an; nach dem Jahrmarkt vermindert ſie ſich um die Hälfte im Vergleich mit der Winterszeit, denn ein bedeutender Theil der hier lebenden Kirgiſen und Tataren nimmt wenigſtens im Sommer das Noma⸗ denleben wieder auf. Jur Zeit des Herboſtjahrmarkts mehrt ſich die Zahl der Bevölkerung abermals, doch weit weniger als im Früh⸗ jahr; im Winter geht ſie wieder auf ihr gewönliches Waß zurück, nämlich etwa auf 500 Seelen. Darunter befinden ſich 20 Kaufleute, die im Ganzen zwiſchen 30 bis 40,000 R. S. umſetzen; einer allein aber ſetzt ſchon 23,000 R. um, daß alſo die andern ſämmtlich ohne Bedeutung ſind, iſt natürlich. Dennoch dient der kleine Ort als ein in ſeiner Art nicht unbedeutender Sammelpunkt. Von den Reich⸗ thümern der Horde giebt obige Angabe freilich keinen großen Begriff, und man wird ſich nicht wundern, wenn Holz, das allerdings auf der Wolga zugeführt werden muß, nur in einem einzigen Hauſe, nämlich in dem des Chans, als Brennmaterial dient; die andern müſſen ſich theils mit einigen Grasarten, die im Herbſt, wenn Blü-

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then und Blätter gefallen und nur der trockene Stengel geblieben iſt, geſammelt werden, theils mit „Kiſik“ d. h. Mift, namentlich mit Kuhmiſt, behelfen; letztern braucht man theils im natürlichen Zu— ſtand, theils vermiſcht man ihn mit dem oben erwähnten Gras, und ſchlägt ihn in Formen wie Backſteine. Dieſe Sitte iſt übrigens bei den Kirgiſen nicht allein üblich, faſt ſämmtliche Kleinruſſen an der Wolga, faſt das ganze Gouvernement Cherſon und viele andere Diſtrikte bereiten ſich ihr Brennmaterial ganz auf dieſelbe Weiſe.

Zur Erleichterung des Handelsverkehrs ſind, wie ſchon erwähnt, zwei Jahrmärkte eingerichtet, von denen der erſte und bedeutendſte zwiſchen dem 20. April und 1. Mai, je nachdem die Kälte länger oder kürzer anhält, beginnt und am 1. Juni endet; der im Herbſt dauert nur 6 bis 7 Tage am Ende Septembers; früher fanden beide Jahrmärkte in kirgiſiſchen Kibitken auf freiem Felde ſtatt; Chan Dſchangir aber erbaute nicht lange vor ſeinem Tode vier Werſte von ſeinem Lager einen großen Kaufhof aus Holz, der 235 Buden enthält. Vor 1845 reichte dieſer Kaufhof hin, ſeit dieſer Zeit hat ſich aber doch der Verkehr ſo gehoben, daß ſehr viele Händler wie— der ihre Zuflucht zu Kibitken nehmen müſſen. Zur Erhaltung der Ordnung findet ſich ein Stabsofficier des Gensdarmencorps aus Aſtra⸗ chan ein, die gewöhnlichen Streitigkeiten ſchlichtet aber der Baſar— Sultan. Die Zahl der Kirgiſen, die zum Jahrmarkt hier zuſam— men ſtrömen, beträgt zwiſchen 2 und 5000, das Vieh aber, das ſie herbeitreiben zum Verkauf, beträgt häufig über 70,000 Hammel und 12,000 Pferde; indeß iſt der Herbſtjahrmarkt, obgleich in an— dern Beziehungen viel bedeutender, hinſichtlich des Verkaufs von Vieh und Fett weit wichtiger. Das Fett wird hier in Kameelma— gen gegoſſen verkauft. Im Jahre 1846 betrug die Anzahl der Be— ſucher des Marktes nahe an 4000 Perſonen, darunter zwei Drit⸗ theile Kirgiſen und ein Drittheil Fremde, größtentheils Ruſſen aus den Wolgaſtädten und der Umgegend, aber auch Tataren, Armenier, Kalmüken, Truchmenen und Chiwaer.

Das Lager des Chans liegt auf völlig flachem, thonig ſandi— gem, zum Theil mit Salz geſchwängertem Boden. Gegen Vorden ift dieſer Boden ganz trocken, und enhält nur Einen uns befann- ten kleinen See, gegen Süden aber wird der Grund gleich am Rande

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der Anſiedelung einer großen, mit kleinen Erderhöhungen befäcter Sumpf, in welchem eine Menge Wild hauſt, das, von den Bewoh⸗ nern des Lagers unbeläſtigt, ſich in ungeheurer Zahl vermehrt. Jenſeits dieſes Sumpfes weiter nach Süden folgt ein trockener hö— her gelegener Boden, und noch weiter hin eine ungeheure flache Ebene von Salzſchlammbecken, welche in der Regenzeit ſich vollſtän⸗ dig mit ſehr ſalzigem Waſſer bedecken und den Namen „Sor“ füh⸗ ren, in der Hitze aber äußerlich vollkommen austrocknen, und dann „Chak“ heißen. Ich ſage äußerlich, weil in der That die Chaks ſtets feucht, ja ſo naß bleiben, daß das darüber hinwandelnde Vieh vollkommen darin verſinkt und umkommt. Vor etwa 12 Jahren wurde eine Heerde von etwa 1000 Stück Pferden auf die trügeriſche Fläche eines Chak getrieben, und von dem Salzſchlamme vollſtändig verſchlungen. Dieſer Umſtand zeigt auch, daß die feuchte Schicht der Chaks eine ſehr bedeutende Tiefe haben muß. Weſtlich von dem Lager des Chans iſt der Boden etwa 6 Werſte weit ſandig, und hie und da mit ziemlich großen Sandaufwürfen bedeckt, zwiſchen denen tiefe, im Frühjahr mit Schnee und Regenwaſſer angefüllte Rinnen bleiben. Hinter dieſem Sand folgt feſter, thonig ſandiger Boden, der zehn Werſte vom Lager von einer langen, tiefen und ſchmalen Schlucht, Jarik oder Jerik genannt, durchſchnitten wird. An dieſer Schlucht findet der Wanderer Winter und Sommer eine kleine, aber zum Ueberſetzen ſehr bequeme Brücke, im Anfang des Frühlings aber nur deren Trümmer, denn die Frühjahrsgewäſſer verſchonen dieſe einzige Brücke in der Steppe der Bukeikirgiſen nicht. Im Jahr 1846, das ſich durch Ueberſchwemmungen und Frühjahrs—⸗ regen aus zeichnete, war im April der erwähnte Jarik faſt ganz an⸗ gefüllt mit einem ſchmutzigen Waſſer von ſtarkſalzigem Geſchmack, und auf der grüngrauen Oberfläche ſchwamm, mit einem Strick an⸗ gebunden, ein Floß, das die Brücke erſetzte, aber ſo in Miniatur war, daß Reiter, Pferde und Wagen alles einzeln übergeſetzt werden mußten.

Oſtwärts gleich an den letzten Häuſern des Lagers beginnt eine ungeheure, mit Sand bedeckte Fläche, welche ſich in einem breiten Streif durch die ganze Steppe zieht, nach Südoſten geht und nur am kaſpiſchen Meer nach Weſten ſich umwendet. Dieſes

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Sandmeer nennt man die Barchane oder Ryn-Sanditriche*). Alle dieſe Ryne beſtehen aus ziemlich großen Sanderhöhungen, zwi— ſchen denen breite und tiefe, mit einem prächtigen Futtergras reichlich überdeckte Thäler ſich finden. Nach den Anſichten der Kirgiſen theilen ſich dieſe Sandſtriche in zwölf Theile oder Diſtrikte, die be— ſondere Vamen haben. Dieſe Diſtrikte bieten im Sommer ein reiches Futter für das Vich, und dienen im Winter als Lager— ſtellen für die Kirgiſen ſelbſt, welche hier in der Tiefe der Thäler durch die Sanderhöhungen gedeckt vor Stürmen und Winden ihr Lager aufſchlagen; ſelbſt die Kälte iſt an dieſen Orten nicht ſo empfindlich als auf den oberen Strichen. Daher trifft man in den Thälern der Ryne im Sommer ſtets auf dem Boden regelmäßige Kreiſe, die nicht mit Gras bewachſen find; dies find die Spuren der im Winter hier ſtehenden Kirgiſen-Kibitken.

Je mehr man ſich dem Lager nähert, deſto kleiner und von einander abgeſonderter werden die Sanderhöhungen, aber ſo zahl— reich, daß wenn man auf den Rynen geht, man zwiſchen einer Wenge von Kurganen herumzuwandeln glaubt, und betrachtet man die Sandſtriche vom Winaret der Moſchee aus, ſo ſehen ſie aus wie ein wogendes Sandmeer. Die Höhe der Hügel iſt verſchieden von einer bis zwei Klafter und darüber, die Geſtalt iſt kegelförmig mit ftumpfem, abgerundetem Gipfel. Der Sand dieſer Hügel hat eine helle, rothgelbe Farbe, iſt vollkommen rein und erhält ziemlich viel verſchiedenartige Weeresmuſcheln. Die Oberfläche der Hügel iſt auf dem Gipfel vollkommen flach, an den Abhängen wellen— förmig und jo leicht, daß fie beim geringſten Wind oder dem leich— teſten Anſtoß eines andern Körpers gleichſam in Fluß zu kommen ſcheint. Dieſe Oberfläche iſt größtentheils nackt und nur da, wo die Hügel in länger geſtreckten Erhöhungen ſich ausdehnen, kann man kleine Büſche von dunkelrother Weide (salix fusca), weiß- blättrigen Pappeln (populus albus) und gelbblühende wilde Re— ben (elematis glauea) treffen. Zwiſchen den Hügeln bleiben mehr oder weniger tieſe grubenförmige Thäler, gewöhnlich mit einem dicken Sumpfgras überwachſen und manchmal ſelbſt mit Waſſer bedeckt.

) Vergl. Th. 1. S. 336 ff.

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Der Hügelſand iſt von außen vollkommen trocken, aber dieſe Trockenheit durchdringt, trotz der ſengendſten Hitze, die Sandmaſſe bis in eine ſehr unbedeutende Tiefe, nicht mehr als zwei Zoll tief. Unter dieſer dünnen trockenen Schicht beginnt mit Einemmal feuch⸗ ter Sand, der, je tiefer man dringt, deſto mehr ſich vom Waſſer durchdrungen zeigt; die Wenge dieſes letztern in den Sandhügeln iſt ſo groß, daß man nur ein kleines Loch auszugraben braucht, um es nach einer halben Stunde zur Hälfte mit dem reinſten Waſſer angefüllt zu finden. Dieſen reichen Waſſergehalt benützt man hier zur Einrichtung von Brunnen, die ſehr einfach ſind: man nimmt eine ausgetrocknete, zum Gebrauch nicht mehr taugliche Kufe, ſtellt fie an eine niedrige und flache Sandſtelle, deckt fie mit einem Brette zu, und nach zwölf Stunden läuft das friſcheſte Waſſer hinein; verdirbt das Waſſer durch längeres Stehen, ſo ſchöpft man es aus, und läßt friſches hineinlaufen.

Die Einwirkung des Windes auf die Sandhügel iſt ſehr merk— lich: indem er den Sand herabweht, verändert er ihre Form und ihre Größe, und verſetzt ſie endlich mit der Zeit von einer Stelle zur andern. Den beſten Beweis, wie groß dieſer Einfluß iſt, lie— fert die Geſchichte des chaniſchen Lagers. Vor der Gründung dieſes Ortes und ſelbſt noch in den erſten Jahren ſeines Beſtandes lagen die Ryne 14 Werſte gegen Oſten, und zwiſchen ihnen und dem Lager, nach der Ausſage alter Leute, ein ziemlich großer Wald, der den Sand hinderte, weiter nach Weſten vorzurücken. Aber das Holzbedürfniß zum Bauen und zum Heizen machte, daß der Wald bald vollkommen vernichtet war, und die unangenehmen Folgen hie— von zeigten ſich bald: vom Winde gejagt rückten die Ryne mit jedem Tage näher an das Lager, und gegenwärtig iſt die Lage der Dinge ſo, daß der Sand ſich faſt zur ganzen Höhe der dagegen errichteten Einſchließungsmauern aufthürmt, und ſogar vom Winde in's Innere der Höfe geweht wird. Außerdem hat der Wind den Sand auch in die ſüdlichen und nordöſtlichen Umgebungen des La— gers geführt. Die letztern haben, wie die weſtlichen Umgebungen, viele große Rinnen, die im Frühjahr mit Waſſer gefüllt ſind, wel— ches bei nicht allzu trockenem Sommer bis zum Winter bleibt. Auch zeigt ſich hier eine ſehr ſeltſame Erſcheinung; das Waſſer in

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den Rinnen, welches im Frühjahr vollkommen rein und ſüß iſt, wechſelt allmälig Farbe und Geſchmack, jo daß es im Juli bereits eine dicke Kaffeefarbe und einen merklich bittern Geſchmack ange— nommen hat. Beides hindert allerdings die Bewohner des Lagers nicht, ſich in dieſen Teichen zu baden, und ſie verſichern, das ſchwarze braune Waſſer ſei ihnen ſehr geſund.

Ehe wir den Sand verlaſſen und uns zu den nördlichen Um— gebungen des Lagers wenden, will ich noch die Aufmerkſamkeit des Leſers auf die Temperatur dieſes Sandes lenken. Im Jahr 1846 machte ich eine Reihe Beobachtungen darüber. Ich beobachtete z. B. an einen ſolchen Hügel die obere Schicht, dann die Tem— peratur in 6, 8 und 10 Zoll Tiefe. Es giebt einen Augen- blick, wo die Temperatur der obern Schicht mit der Temperatur der Atmoſphäre zuſammenfällt, nämlich zur Zeit des Sonnenauf: gangs (am 6. Jul. a. St. 4 Uhr 21 W.). Dieſer Augenblick iſt namentlich darum bemerkenswerth, weil die Gleichheit der Tempe— ratur ſich nicht auf die ganze Maffe des Sandhügels bezieht; bei 8“ Tiefe iſt fie um höher, bei 10“ nur um 2°. Je weiter die Sonne hinaufſteigt, deſto mehr erwärmt ſich Atmoſphäre und Sand, aber der Sand iſt jetzt um 2“ heißer als die Luft, jo daß er um 12 Uhr 37° erreicht; jetzt aber wird die Wärme je weiter nach innen deſto geringer, und um 12 Uhr iſt bei 6“ Tiefe nur 26°, bei 8“ nur 224? Wärme; dieſe Verminderung geht anfangs ſehr raſch, dann, je tiefer, deſto langſamer. Von 12 bis 2 Uhr iſt die Tem: peratur der Sandhügel faſt unverändert, weil der Sand die erlangte Hitze lange hält, obgleich die Temperatur der Atmoſphäre ſchon um ſinkt. Bis 7 Uhr Abends nahm nun Atmoſphäre und Sand ziemlich gleichmäßig ab, wobei aber die Atmoſphäre conſtant um kälter iſt.

Gegen Norden von dem Lager liegt eine ſehr flache Steppe von ſandig thonigem Grunde. Zehn Werſte vom Lager, innerhalb dieſer Steppe, finden ſich zwei oder drei Süßwaſſerſeen, unter denen der größte zwei Werſt lang iſt und bei den Kirgiſen Tſchulak-Kopa heißt. Dieſer See iſt zur Hälfte rein, zur Hälfte mit Schlamm und Gras bedeckt, und bildet einen Lieblingsplatz für Gänſe, Enten und andere Waſſervögel. Alte Leute verſichern, die Ufer dieſes Sees

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ſeien früher reichlich mit dichtem und hohem Schilf bewachſen ge— weſen, worin auch Wildſchweine eine Zuflucht gefunden hätten, aber das Schilf iſt der Feuerung wegen längft geſchnitten und vers brannt.

Nordweitli von dieſem Lager, 110 Werſte von Kamyſchin und 180 von Saratow, iſt ein anderes Lager, bekannt unter dem Namen „des Chans Sommerlager“; es wurde vor acht Jahren gleichfalls von Chan Dſchangir gegründet. Es liegt am Bache Torgun und beſteht aus neun hölzernen, nur für den Sommer ein— gerichteten Häuſern, denn es ſind keine Oefen darin. An einem dieſer Häuſer iſt auch ein Garten mit Fruchtbaͤumen angelegt.

Eine charakteriſtiſche Scene, welche Hanſteen ſchildert, führt uns ſehr anſchaulich auch in das häusliche Leben des verſtorbenen Chans ein. Eines Nachmittags, erzählt Hanſteen, lud uns der Chan ein, in ſeiner Wohnſtube Thee zu trinken. Als ich neben ihm auf dem Sopha ſaß, fragte ich ihn, ob er irgend einen charakteri— ſtiſchen Unterſchied zwiſchen unſern Geſichtszügen und den ruſſiſchen finden könnte, ſowie wir die ſeinigen von ihnen abweichend fänden. Nachdem er uns einige Zeit betrachtet hatte, beantwortete er dies mit Ja. Ich fragte nun Karelin, ob er wohl glaubte, daß es den Chan unterhalten möchte, wenn wir ihm einige Leibesübungen, einen norwegiſchen Bauerntanz und dergleichen zeigten. Wit Vergnügen wurde das Anerbieten vom Chan angenommen. Das Fortepiano, welches ich am Vormittage ſo gut wie möglich zu ſtimmen ver— ſucht hatte, wurde jetzt herbeigetragen. Ich verlangte nun zuerſt eine Flaſche, legte dieſelbe auf den Fußteppich und ſetzte mich auf dieſelbe ſo, daß der Hals der Flaſche nach den Füßen zu gekehrt war; zugleich ruhte die rechte Ferſe auf dem Boden, die linke auf den Zehen des rechten Fußes. In dieſer balancirenden Stellung nahm ich in jede Hand einen ſilbernen Leuchter mit einem Wachs— licht, von welchen das eine angezündet war und das andere, ohne ſonſtige Stütze auf dem Boden dabei angezündet werden ſollte. Nach einigen vergeblichen Verſuchen glückte es. Tauke, der ältere Halbbruder des Chans, verſuchte dies nachzuahmen und machte das bei recht gelungen den Bajazzo. Nachdem er mehrere Mal bald den einen, bald den andern Leuchter gegen den Boden geſtoßen und

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das brennende Licht ausgelöſcht hatte, ſtieß ers endlich gegen ſeine Naſe, löſchte es aus und kollerte auf dem Boden umher. Darauf balancirte ich mit dem einen Arm auf dem Sitze eines Stuhles und ſchwang die Beine über die Stuhllehne, ging auf den Händen, ſchoß Purzelbäume vor- und rückwärts, und machte den ſogenann— ten Krabbenſprung. Wehrere von dieſen Uebungen machte Lieute— nant Due glücklich nach; aber der Sultan Tauke erweckte als Ba— jazzo allgemeine Heiterkeit. Er war klein, unterſetzt, hatte breite Schultern und einen dicken Bauch. Um bei dieſen ihm ungewohn— ten Uebungen ganz ungenirt zu ſein, zog er ſeinen Kaſtan ab. Wir hatten nun das vollſtändige Bild eines europäiſchen Bajazzo vor uns, indem ein kurzes mancheſternes Wamms auf ſeine mit weiten Leinwandhoſen bedeckten, in ein paar grobe Stiefeln mün⸗ denden dicken Lenden halb herabreichte, während ſeine ſpitze Mütze das Bild vervollſtändigte. Bei jedem ſeiner plumpen Verſuche, die er indeſſen mit einer gewiſſen komiſchen Laune ausführte, rollte er kopfüber, und die ſpitze Mütze fiel von dem glattraſirten Kopf, wobei der Chan dermaßen lachte, daß er ſich den Bauch halten mußte. Es war für uns alle eine höchſt beluſtigende Scene. Als die Kirgiſen, die in dem großen Saale verſammelt waren, das Ge— räuſch dieſer Scene hörten, glotzten ſie an der Thür in des Chans Stube hinein, hockten, um Etwas zu ſehen, einander auf die Schul— tern und rollten vor Lachen bisweilen herab, wodurch unſere Fröh— lichkeit noch vermehrt wurde. Endlich bat ich Lieutenannt Due, ſich an das Fortepiano zu ſetzen und einen hübſchen norwegiſchen Halling— tanz zu ſpielen. Als Schulknabe hatte ich zur Warktzeit bisweilen die Bauern Halling tanzen ſehen, und kannte einige der kunſtreichen Sprünge, die darin vorkommen. Dieſe verſuchte ich, ſo gut es mir möglich war, nachzuahmen. Als dieſer Tanz zu Ende war, kam Karelin zu mir und bat mich, denſelben noch einmal zu wieder— holen. Ich fragte nach der Urſache und bekam zur Antwort, daß er mir dies nicht ſagen könnte, ich aber doch ſeine Bitte erfüllen möchte. Ich war dazu bereit, und bemerkte während des Tanzes, daß die Thür zur Stube der Chanin Fatime nur angelehnt ſtand; auch nahm ich in der dunklen Stube den Schimmer von einer weißen Geſtalt wahr. Tags darauf erzählte Karelin, daß die Cha—

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nin einen Lehnſtuhl an die Thür hätte feßen laſſen, welche ſo weit geöffnet wurde, daß fie dadurch heimlich den norwegiſchen Halling⸗ tanz ſehen konnte.

Wir haben Humboldt und ſeine Gefährten noch auf ihrer Rückreiſe nach Berlin zu begleiten, die indeß, wie Prof. Roſe be— merkt, wenig Gelegenheit zu Beobachtungen darbot. Ueber Wo— roneſch, Tula und Woskau gelangten ſie wiederum nach Peters— burg, und nach einem vierwöchentlichen Aufenthalte in der Kaiſer— ſtadt kehrten ſie nach Berlin zurück, wo ſie den 28. Dezember 1829 Abends 10 Uhr nach einer Abweſenheit von faſt neun Wonaten glücklich und geſund wieder eintrafen.

Nachdem wir in der Darſtellung der großen Humboldt'ſchen Reiſen zugleich eine Schilderung der wichtigſten Ereigniſſe in dem äußern Lebenslauf dieſes außerordentlichen Mannes gegeben ha— ben, ſei es uns ſchließlich vergönnt, durch eine allgemeine Skizze ſeines Lebens das Bisherige zu ergänzen und zu verbinden. Nur dies kann und ſoll die Aufgabe der nachfolgenden Blätter ſein.

Leben

Alexander's von Humboldt.

NSS.

Aland mau s önnbnle

Humboldt's Leben.

Friedrich Heinrich Alexander Freiherr von Humboldt wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren). Sein Großvater hatte unter dem Könige Friedrich Wilhelm dem Erſten in preußi— ſchem Dienſt als Kapitain geſtanden; der Sohn deſſelben, der Vater des berühmten Brüderpaars Wilhelms und Alexanders, war zur Zeit des ſiebenjährigen Krieges Major und Adjutant des Herzogs Ferdinand von Braunſchweig geweſen, und wurde ſpäter von Fried— rich dem Großen zum Kammerherrn ernannt. Er war Erbherr der Güter Hadersleben und Ringenwalde, wozu er noch das in der Nähe von Berlin gelegene Schlößchen Tegel, ehemals ein Jagdſchloß des großen Kurfürſten, von dem königlichen Forſtdepartement in Erbpacht nahm. Seit dem Jahre 1769 lebte er abwechſelnd in Berlin und in Tegel. Seine Gemahlin, eine geborne von Colomb, ſtammte aus einer franzöſiſchen Emigrantenfamilie.

Alexander von Humboldt verlebte ſeine Kinderjahre meiſt in dem anmuthigen Tegel. Er war acht Jahr alt, als ſein Vater, (der ſchon im Januar 1779 ſtarb) die Erziehung feiner beiden Söhne

*) Als authentiſche Quellen für das Leben Alexanders von Humboldt, die auch der nachfolgenden Darſtellung zu Grunde liegen, ſind zu bezeichnen ein Aufſatz „Aus dem früheren Leben Alexanders von Humboldt“, welchen Bergrath Freiesleben, einer der älteften Feunde Humboldt's, am 27. De⸗ zember 1826 im Geſelligen Verein zu Freiberg vorgeleſen hat (mit einigen Abkürzungen abgedruckt in den „Zeitgenoſſen“, dritte Reihe Bd. 2. 1830), ſo wie ein biographiſcher Artikel der „Gegenwart“ (Bd. 8, Leipzig 1853), welcher Humboldt's eigene Angaben enthält.

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einem trefflichen jungen Manne, dem nachmaligen Geheimen Ober» Regierungsrath Kunth“), übergab. Seiner großen Jugend unge— achtet der Erzieher zählte nicht über zwanzig Jahre und ob— gleich er aus Mangel an Unterſtützung die akademiſchen Studien hatte abbrechen müſſen, war die Wahl dennoch eine äußerſt glück— liche geweſen; denn an höherer Geiſtesbildung war er feinen Jahren weit voraus, in der lateiniſchen, franzöſiſchen und deutſchen Litera— tur, in Philoſophie und Geſchichte wohl bewandert, und außerdem auch für den Umgang in gewählten Kreiſen hinlänglich vorgebildet. Sein unermüdliches Streben während einer elfjährigen erfolgreichen Wirkſamkeit ging dahin, Alles, was Berlin an ächten Bildungs— mitteln beſaß, für die geiſtige Entwickelung feiner Zöglinge frucht— bar zu machen. Von dieſen zeigte der ältere eine ſehr frühzeitige Entwickelung, während der zwei Jahr jüngere kränkelnde Alexan— der die Vortheile der gemeinſamen Unterweiſung anſangs mit gro— ßer Anſtrengung erkaufen mußte. Verzweifelte man doch in den erſten Jahren ſeiner Kindheit gänzlich daran, daß ſich je nur ge— wöhnliche Geiſteskräfte bei ihm entwickeln würden. Erſt im ſpäte⸗ ren Knabenalter trat, wie uns Freiesleben berichtet, auf einmal das Licht in ſeinem Kopfe ein, das ſpäterhin im Reiche der Wiſſen⸗ ſchaften ſo wohlthätig ausſtrömte.

Die Zeit vor ihrem Abgange auf die Univerſität brachten die Brüder mehr in Berlin als in Tegel zu, denn nur dort war es möglich, durch die Vorträge ausgezeichneter Männer eine würdige Vorbereitung für das akademiſche Leben zu empfangen. Hier hör⸗ ten ſie bei dem berühmten Aeſthetiker und Popularphiloſophen En— gel ein Privatkollegium über Philoſophie und nahmen auch an einer Reihe ſtatiſtiſch-politiſcher Vorleſungen Theil, welche der ausgezeich— nete Publiciſt Dohm, vom Herbſt 1785 bis zum Juni 1786, auf den Wunſch des Miniſters von Schulenburg einem jungen Grafen von Arnim hielt.

So in aller Weiſe trefflich vorgebildet, bezogen beide Brüder die damalige, in großem Rufe ſtehende Univerſität zu Frankfurt an

*) Derſelbe ſtarb im November 1829 zu Berlin. Er hat ſich um das preußiſche Gewerbweſen große Verdienſte erworben.

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der Oder, wo ſich der ältere dem Studium der Rechte, der jüngere den Kameralwiſſenſchaften widmete. Alexander verweilte in Frankfurt Herbſt und Winter 1787 88; den folgenden Sommer und Win— ter brachte er wiederum in Berlin zu, um Technologie in ihrer An— wendung auf das Fabrikweſen zu ſtudiren und ſich, nun erſt ſeinem fleißigen Bruder nachſtrebend *), ernſthafter mit der griechiſchen Sprache zu beſchäftigen. In dieſer Zeit ſchloß ſich Humboldt mit warmer Freundſchaft an den jungen aber ſchon berühmten Botani— ker Willdenow an, und zeigte eine beſondere Vorliebe für das Stu— dium der Kryptogamen und der zahlreichen Familie der Gräſer. Im Frühjahr 1789 bezog er die Univerſität Göttingen, deren reiche Schätze er ein Jahr lang benutzte. Gemeinſchaftlich mit feinem Bruder beſuchte er die philologiſchen Collegia des Heyneſchen See minars und verfaßte, als erſten Verſuch einer literariſchen Arbeit, eine kleine Schrift über die Webereien der Griechen, die, wie man aus dem Briefwechſel Wilhelms von Humboldt erfährt, 1794 an F. A. Wolf zur Durchſicht geſandt wurde, aber im Druck nie er— ſchienen iſt. Die Liebe zu naturhiſtoriſchen Studien wurde in Göt— tingen mannigfach genährt durch den Unterricht von Blumenbach, Beckman, Lichtenberg und Link, durch Neifen in den Harz und an die Rheinufer. Eine Frucht der letzten Excurſion war Humboldt's erſtes gedrucktes Buch: „Ueber die Baſalte am Rhein (vorzüglich den Unkeler Steinbruch), nebſt Unterſuchungen über Syenit und Baſanit der Alten“; dieſe Arbeit, welche gleichzeitig eine Menge ſchätzbarer antiquariſcher Unterſuchungen enthält, verwickelte ihn in einen ſeinerſeits ſehr humoriſtiſch behandelten Streit mit dem Profeſſor Witte in Roſtock, da dieſer die ägyptiſchen Pyramiden für ein Naturprodukt, und zwar für Reſte eines vulkaniſchen Aus⸗ bruchs, ſowie die Hieroglyphen daran für Schörlkryſtalle erklärt hatte.

Bei Heyne, dem Schwiegervater des geiſtvollen und unglück— lichen Georg Forſter, waren die Brüder mit dem letzteren bekannt und befreundet worden. Im Frühjahr und Sommer 1790 beglei— tete ihn Alexander von Wainz aus, wo Forſter als Bibliothekar der daſigen Univerſität angeſtellt war, auf einer ſchnellen aber übers

) Wir bemerken, daß dies Humboldt's eigene Worte find. IV. 20

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aus lehrreichen Reiſe durch Belgien, Holland, England und Frank— reich. Dieſe Begleitung, das Wohlwollen von Sir J. Banks, eine große, plötzlich erwachende Leidenſchaft für das Seeweſen und den Beſuch ferner tropiſcher Länder äußerten (wie Humboldt ſelbſt er— zählt) den belebendſten Einfluß auf Entſchlüſſe, die nach dem Tode der Mutter einſt zur Ausführung kommen ſollten.

Die Wärme und Innigkeit, mit welcher Humboldt noch in ſpäteren Jahren wiederholt Forſter's gedenkt“), bezeugt, wie tief die Erinnerung an jene kurze aber nachhaltige Zeit ihres Zuſammen— lebens in ihm wurzelte. Der eigenthümlich anregende Geiſt jenes außerordentlichen Mannes, der ſchon als ſiebenzehnjähriger Jüng⸗ ling Capitän Cook auf einer Reiſe um die Welt begleitet und ſo frühzeitig einen ſeltenen Reichthum von Erfahrungen und Anſchauun⸗ gen gewonnen hatte, macht es leicht begreiflich, daß ſich die Seele Humboldt's gleichſam an ihm entzündete, und ſeine lang genährte Sehnſucht nun eine beſtimmte Richtung empfing. Auch darf man annehmen, daß noch in anderer Beziehung Forſter günſtig auf ihn einwirkte, indem die unbefangene Anſchauung aller menſchlichen Ver— hältniſſe, ſo wie die ächte Humanität, die, aus dem inneren Wohl— wollen für Andere und aus der ſittlichen Achtung ihrer Rechte her⸗ vorgehend, in Humboldt's Leben überall ſo ſchön an den Tag tritt, ſich an Forſter's Charakter noch klarer ausbildete und ſtärker be— feſtigte.

Wenn man bedenkt, mit welcher Lebensfriſche und Unermüd— lichkeit Humboldt in ſeinem hohen Greiſenalter thätig iſt, ſo über— raſcht es um ſo mehr, ihn vor 66 Jahren körperlich ſo leidend zu finden. Herr von Humboldt, ſchreibt Forſter, kurz nach der Rük— kehr, aus Mainz an Heyne, iſt bei mir, er hat ſich die Reiſe hin— durch ziemlich, jedoch nicht ſo gut, als ich wünſchte, gehalten. Er jagt zwar, daß er ſeit fünf Jahren immer krank ſei, und nur uns mittelbar nach einer großen Krankheit ſich etwas beſſer befinde, dann aber immer ſchlechter würde, bis der Ausbruch einer neuen

) In den Vorleſungen, welche Humboldt im Winterhalbjahr 1827 und 1828 in Berlin hielt. Man vergleiche auch die „Anſichten der Natur“ Bd. 2 S. 365 ff.

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Krankheit ihn von neuem von dem Uebermaß verdorbener Säfte auf einige Zeit befreit; ich bin aber feſt überzeugt, daß bei ihm der Körper leidet, weil der Geiſt zu thätig ift, und weil die logiſche Erziehung der Herren Berliner ſeinen Kopf zu ſehr mitgenom— men hat“).

Im Wonat Juli 1790 aus England nach Deutſchland zurückge— kehrt und damals noch zu einer praktiſchen Laufbahn im Finanz- und Kameralfache beſtimmt, begab ſich Humboldt nach Hamburg auf die Handelsakademie von Büſch und Ebeling, um ein Collegium über den Geldumlauf zu hören, das Buchhalten zu erlernen und von den Comp— toirgefchäften genaue Kenntniß zu nehmen. Der Zuſammenfluß fo vieler jungen Leute aus den verſchiedenſten Theilen von Europa gab auf dieſem Inſtitute die günſtigſte Gelegenheit zur Uebung in lebenden Sprachen; auch machte die Berührung mit Klopſtock, Voß, Claudius und den beiden Stolberg (im nahen Holſtein) den Ham— burger Aufenthalt ſehr lehrreich und angenehm.

Nach einem fünfmonatlichen Aufenthalte in Berlin und Tegel im mütterlichen Hauſe erlangte endlich Humboldt die Erlaubniß, ſeine nächſte Lebensbeſtimmung zu verändern und nach ſeinem ſehnlichſten Wunſche außerhalb der Städte in der freien Natur zu leben, nämlich zum praktiſchen Bergbau überzugehen. Er hatte indeſſen ſeine bo— taniſchen Excurſionen mit Willdenow fortgeſetzt, fleißig gearbeitet an Uſteri's „Journal der Pflanzenkunde“, und bei Keimverſuchen die reizende, alle Keimkraft jo auffallend beſchleunigende Eigenſchaft des Chlors aufgefunden.

Im Juni 1791 bezog Humboldt die Bergakademie zu Freiberg, deren Director Werner, der berühmteſte Geognoſt ſeiner Zeit, war. Er war ihm durch die obenerwähnte mineralogiſche Schrift bereits günſtig empfohlen. Gleich am Tage ſeiner Ankunft (14. Juni) ward er durch Werner mit Freiesleben bekannt, der Tags darauf mit ihm auf dem „Kurprinzen“ anfuhr. Dies war die erſte Excurſion, mit welcher Humboldt ſein bergmänniſches Leben begann, und die Gegen— ſtände deſſelben erſchienen ihm ſo anziehend, daß er ſchon in der nächſtfolgenden Woche mit Freiesleben eine Wanderung in's böh—

) Forſter's Briefwechſel. Leipzig 1829, Th. 2. S. 11. 20 *

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miſche Mittelgebirge machte, deſſen geognoſtiſche Beſchreibung beide gemeinſchaftlich veröffentlichten. Mit Leopold von Buch, welcher gleichfalls hier den Bergbau ſtudirte, erneuerte Humboldt die frü— here Bekanntſchaft, die ſich in ſchöner Weiſe zu einem Freund— ſchaftsbande für das Leben wob. Ihm, „dem geiſtreichen Forſcher der Natur, dem größten Geognoſten unſers Zeitalters“, widmete Humboldt im Januar 1853 den erſten Band ſeiner kleineren Schrif— ten als ein „Denkmal ſechzigjähriger, nie getrübter Freundſchaft“.

Unter Werner's Leitung und in ſeinem vertrauteren Umgange ſtudirte Humboldt nicht nur mit enthuſiaſtiſchem Eifer die minera— logiſchen und techniſchen Theile der Bergwerkskunde, ſondern ſam— melte nebenbei auch Materialien zu ſeinem berühmten Werke über die Flora der Gruben. Die Früchte ſeines achtmonatlichen Aufent- haltes im Erzgebirge waren die Beſchreibung der unterirdiſchen kryp— togamiſchen Pflanzen und die Verſuche über die grüne Farbe der aller Luftwirkung entzogenen phanerogamiſchen Gewächſe, wenn ſie von irreſpirabeln Gasarten umgeben find. (Die „Flora subterra- nea Fribergensis et aphorismi ex physiologia chemiva planta- rum“ erſchien indeß erſt 1793). Da es in Freiberg keinen Lehr: ſtuhl für Chemie gab, ſtudirte Humboldt für ſich die anziehenden Schriften von Lovoiſier, Berthollet und andern damals auftretenden franzöſiſchen Chemikern. Sie wurden zugleich Veranlaſſung für ihn, einige wichtige auf die neuen phyſiſch-chemiſchen Lehren gegrün— dete ſaliniſtiſche Aufſätze von anerkanntem praktiſchen Werthe für das „Bergmänniſche Journal“, ſo wie kleinere Aufſätze für Grell's und Green's Zeitſchriften zu arbeiten.

Sehen wir, wie ſich der Geiſt Humboldt's in allſeitigem Stre— ben bereits glänzend entfaltet, ſo wollen wir andererſeits nicht minder Gewicht darauf legen, welches Zeugniß ſein Studiengenoſſe Freiesleben dem Wenſchen ausſtellt. Daſſelbe lautet wörtlich: „Die hervorſtechenden Züge ſeines liebenswürdigen Charakters, eine ganz unendliche Gutmüthigkeit, wohlwollende und wohlthätige, zuvorkommende, uneigennützige Gefälligkeit; warmes Gefühl für Freundſchaft und Natur; Anſpruchsloſigkeit, Einfachheit und Offen⸗ heit in ſeinem ganzen Weſen; immer lebendige und unterhaltende Mittheilungsgabe; heitere, humoriſtiſche, mitunter wohl auch ſchalk—

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hafte Laune; dieſe Züge, die ihm in ſpäteren Jahren dazu hal— fen, wilde und rohe Wenſchen, unter denen er ſich Jahre lang auf— hielt, zahm und ſich geneigt zu machen, in der geſitteten Welt aber allenthalben, wo er auftritt, Bewunderung und Antheil zu erregen dieſe Züge erwarben ihm ſchon während ſeiner Studienzeit in Frei— berg allgemeine Liebe und Ergebenheit. Er wollte Jedem wohl, und wußte jeden Umgang ſich unterhaltend oder nützlich zu machen; nur gegen inhumane Rohheit, jede Art von Inſolenz, Ungerechtig— keit oder Härte konnte er erzürnt und heftig, ſowie gegen Senti— mentalität und Affectation konnte er bitter, gegen Schlaffheit, oder wie er es nannte Breiigkeit des Gemüths, und gegen Pedanterei konnte er ungeduldig werden.“

Durch das beſondere Wohlwollen des Winiſters Fr. v. Heinitz wurde Humboldt ſchon im Februar 1792 zum Aſſeſſor beim Berg— departement in Berlin ernannt. Er meldete dies, ſeinem Charakter entſprechend, mit folgenden Worten an Freiesleben: „Es iſt ſehr unbillig, mich gleich zum Aſſeſſor zu machen, da es ſo eine Schaar uralter Bergeadets giebt; denn meine literariſchen Verdienſte geben doch weder Erz noch Aufſchlagewaſſer, die letzeren noch allenfalls! Ich habe dies hier öffentlich geäußert, aber zur Antwort erhalten, daß ich bei dem hieſigen Departement ja keinem Wenſchen vorge— zogen würde und dies iſt auch wahr.“

Im Juli des nämlichen Jahres (1792) begleitete er den Wi— niſter in das Baireuthiſche, zur Unterſuchung des daſigen Berg— und Hüttenweſens. Im folgenden Monat empfing er die Er— nennung zum Oberbergmeiſter am Fichtelgebirge in den fränkiſchen Fürſtenthümern Anſpach und Baireuth, die erſt vor kurzem preu— ßiſche Provinzen geworden waren, und deren geognoſtiſch-berg— männiſche Unterſuchung gewiſſermaßen ſein Anſtellungs-Specimen geweſen war. „Alle meine Wünſche“, ſchrieb er damals, „ſind nun erfüllt; ich werde nun ganz dem praktiſchen Bergbau und der Wi— neralogie leben.“

Wit beiſpielloſer Thätigkeit und Anſtrengung brachte Humboldt die Organiſation des dortigen Bergbaus zu Stande; ihm allein, ſagt Freiesleben, dankte der uralte Bergbau zu Goldkronach, wo ſchon im 13. Jahrhundert ein Amalgamirwerk ſtand, damals ein

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glückliches (wenn auch ſpäter wieder erloſchenes) Wiederaufleben und einige Jahre lang etwas Goldproduktion. Seinen Hauptwohn— ſitz nahm er in dem kleinen bei Naila gelegenen Bergorte Steben, und ſtiftete daſelbſt eine Bergſchule, welche er mit befonderer Liebe pflegte. Er behielt die Leitung des praktiſchen Bergbaus faſt fünf Jahre lang, von 1792—97, aber mit vielen ſehr heterogenen Unter: brechungen. Seine Arbeitſamkeit war unbeſchreiblich; ſie richtete ſich außer ſeinem eigentlichen Beruf noch auf die verſchiedenſten tech— niſchen Geſchäfte und Studien. So ließ ſich, um nur ein Beiſpiel zu geben, Humboldt mehrere Kiſten voll Akten des 16. Jahrhun⸗ derts von der Feſtung Plaſſenburg zuſchicken, und ſtudirte gleich einem Archivar die alte baireuthiſche Bergwerksgeſchichte.

Auch durch Reiſen wurde ſeine nächſtliegende amtliche Thätig— keit vielfach unterbrochen. In Aufträgen des Berliner Bergdepar— tements, von dem das fränkiſche gänzlich getrennt war, wurde Hum— boldt noch im Herbſt zur Unterſuchung der Steinſalzgruben und Siedvorrichtungen nach Oberbaiern, Salzburg, dem öſterreichiſchen Salzkammergute und (über Tarnowitz) nach Galizien geſchickt. Seine trefflichen Arbeiten über Farbe und Keimen der Pflanzen, über die vegetabiliſche Muskelſaſer und andere Gegenſtände der Pflanzen— phyſiologie bereiteten ihm in Wien, beſonders bei Jacquin, eine ſehr gute Aufnahme. Die Rückreiſe nahm er durch Schleſien, wo er mit dem Winiſter Grafen Reden mehrere Gebirgsunterſuchungen vorzunehmen und eine Wenge Planzeichnungen zu vollenden hatte, nach Berlin, um ſich hier einige Monate mit dem preußiſchen Sa— linenweſen und der Herausgabe ſeiner Flora Fribergensis zu be— ſchäftigen. Letztere erſchien indeß, wie ſchon erwähnt, erſt 1793 in lateiniſcher Sprache, wurde aber bald darauf von dem ruſſiſchen Staatsrath Fiſcher in's Deutſche überſetzt. In Folge dieſes Wer: kes nannte Profeſſor Vahl in Kopenhagen Humboldt zu Ehren einen prachtvollen oſtindiſchen Baum Humboldtia laurifolia: eine Huldigung, die ſich ſpäterhin oft wiederholt hat.

Im Frühjahr 1793 kehrte Humboldt zu ſeinem Dienſte beim baireuthiſchen Bergbau zurück. „Das allgemeine Vertrauen“, ſchrieb er damals an Freiesleben, „welches der gemeine Bergmann mir überall zeigt, macht mir meine Arbeit lieb, denn ſonſt ift meine Lage

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ſonderbar genug; ich thue eigentlich Dienſte als Geſchworener, nicht als Oberbergmeiſter.“ Auf dieſen ganz praktiſchen Zeitraum ſeines Lebens legte Humboldt ſpäter großen Werth. Seine Bemühungen im Baireuthiſchen glückten ihm übrigens ſo, daß er von dem dorti— gen, vorher ganz ärmlich geweſenen Bergbau im Jahre 1793 mit kaum 350 Wann ein Ausbringen von 300,000 Fl. an Eiſen, Kup⸗ ſer, Gold und Vitriol bewirkte.

Im Sommer 1794 wurde Humboldt, wieder zu halurgiſchen Zwecken, nach Kolberg, dem Vetzdiſtriet, den Weichſelufern ſüdlich von Thorn und nach Südpreußen geſchickt. Politiſche Begebenheiten, die eine Folge der großen Kriegsereigniſſe waren, zogen ihn, nach der Rückehr aus Poſen, ihm ſelbſt ſehr unerwartet, nach den Rhein— ufern. Ein im April 1794 mit England und Frankreich abgeſchloſ— ſener Subſidienvertrag vermochte Preußen zur Fortſetzung des Krie— ges gegen die franzöſiſche Republik. Der dirigirende Winiſter in den fränkiſchen Fürſtenthümern, Baron von Hardenberg, wurde nach Frankfurt geſandt, um dort (für die Zeit der Dauer des Sub— ſidientraktats) mit dem engliſchen und holländiſchen Geſandten, Lord Malmesbury und Admiral Kynkel, zu unterhandeln. Humboldt erhielt nun von dem preußiſchen Staatsmanne, deſſen Vertrauen und freund— lichen Umgang er lange genoſſen, die Aufforderung, ihn nach der Armee zu begleiten, um ſeine Thätigkeit zu Wiſſionen nach dem Hauptquartier des Feldmarſchalls von Wöllendorf und zur Kabinets— korrespondenz zu benutzen. In einem Briefe Humboldt's, welchen er aus dem engliſchen Hauptquartier bei Ueden in Brabant unterm 10. September 1794 ſchrieb, heißt es: „Nie war mein Leben ab— wechſelnder als jetzt; ich bin lange aus meinem Fache herausge— riſſen geweſen, mit Arbeiten, welche mit den diplomatiſchen Auf— trägen des Winiſters von Hardenberg zuſammenhängen, belaſtet, meiſt dem Feldmarſchall Wöllendorf und ſeinem Hauptquartier ge— folgt, jetzt auf Befehl hier im engliſchen Lager. Ich gehe von Ueden den 14. nach der Grafſchaft Altenkirchen, um dort die Generalbe— fahrungen zu halten, und von da in's Lager bei Kreuznach und Frankfurt zurück. So geht es immer fort. Froh war ich wenig, doch auch zu zerſtreut, um traurig zu ſeiu. Ich gewann an neuen Ideen, und das beſtändige Reiſen in mineralogiſch intereſſanten

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Gegenden hat mir zu meinem Buche über Schichtung und Lage: rung viel geholfen.“

Erſt nach vier Monaten, im Oktober 1794, kehrte Humboldt wieder in's Baireuther Gebirge zurück. Seine chemiſche Arbeit über die Natur der Grubenwetter, wie feine oft gefahrvollen Verſuche über eine von ihm conſtruirte, nicht verlöſchende Lampe und die Re— ſpirationsmaſchine nach dem Principe don Beddoes in Räumen, die er künſtlich mit irreſpirabeln Gasarten gefüllt hatte, wurden eifrigſt fortgeſetzt. Schon jetzt entwarf er die Pläne feiner Zukunft. Er ſchlug deshalb die ihm angebotene Bergwerksdirection in Schleſien aus, wurde zwar im Mai 1795 zum Oberbergrath im Berg— Manufactur- und Commerzdepartement des Winiſters von Harden— berg ernannt, blieb aber im Baireuthiſchen und bereitete ſein großes Werk vor „Ueber die gereizte Muskel- und Vervenfaſer, nebſt Ver— muthungen über den chemiſchen Prozeß des Lebens in der Thier— und Pflanzenwelt“. Daſſelbe erſchien 1797 in zwei Bänden von Humboldt ſelbſt [nicht von Blumenbach, der das Manufeript nie geſe— hen “)] herausgegeben. Schon ſeit 1792, wo er bei ſeinem erſten Aufenthalte in Wien Nachricht von Galvani's bewundernswürdiger Entdeckung erhielt, ſammelte er Waterialien zu dieſer wichtigen Ar— beit. Außer unzähligen Verſuchen, die er zu dieſen Zwecke an Thieren, ſelbſt an Inſekten machte, führte ihn ſein Eifer ſo weit, daß er durch Inciſionen und Ziehpflaſter ſich die Schultern und Muskeln des Rückens wund machen ließ, um die Erſcheinungen des galvaniſchen Reizes durch Empfindungen an ſeinem eignen Körper deſto genauer ſtudiren zu konnen.

Im Juli 1795 reiſte Humboldt mit einem ihm ſehr befreun— deten Offizier der baireuthiſchen Garniſon, dem Lieutenant Reinhard von Haften über Tirol nach Oberitalien und durch einen Theil der Schweiz zurück bis Schaffhauſen, wo er ſich von ſeinem Reiſegefähr— ten trennte, und dann vom 20. September bis Anfangs November die Reife durch die intereſſanteſten Gegendeu des Jura, der Schweizer und der Savoyer Alpen, bis zur italieniſchen Schweiz, in Begleitung

*) So berichtigt Humboldt ſelbſt andern irrthümlichen Angaben ge- genüber.

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von Freiesleben fortſetzte. Dieſe Reife brachte Humboldt in be— lehrenden Verkehr mit Volta in Como und Scarpa in Pavia.

Auf allen dieſen Reiſen, bemerkt Freiesleben, waren es zwar hauptſächlich die Lagerungsverhältniſſe der Gebirge und die Pflan— zenwelt, die ihn beſchäftigten, aber auch kein anderer Gegenſtand, der auf Phyſik der Erde, Atmoſphäre und Vaturgeſchichte Einfluß haben konnte, lag außer ſeinem Bereiche, und wenn ich bedenke, daß wir binnen ſieben bis acht Wochen meiſt zu Fuß, die Gebirge von Schaffhauſen, Zürich und Bern, bis über das Chamounithal hinaus, dann wieder bis über den großen Bernhard, und endlich von Alt— dorf über den Gotthard bis Airolo, beſuchten, ſo freue ich mich noch der guten Benutzung unſerer Zeit, welche überhaupt Humboldt ſo meiſterhaft verſteht. Sein Eifer für die Wiſſenſchaften und ſeine beiſpielloſe Arbeitſamkeit hat ihn von früher Jugend an angetrieben, jeden Augenblick nützlich oder lehrreich zu verwenden; ſelbſt ſeine nächtliche Ruhe beſchränkte ſich immer nur auf einige Stunden.

Vom Vovember 1795 bis zum Februar des folgenden Jahres blieb Humboldt wieder auf dem Gebirge praktiſch beſchäftigt in Ste— ben, Lauenſtein, Goldkronach und Arzberg bei Wunſidel. Veben— bei beſchäftigten ihn auch eudiometriſche Arbeiten und phyſiologiſche Verſuche über den Lebensprozeß; beſonders eifrig war er in Ver— ſuchen über das Leuchten, ſo wie über das Pflanzen- und Thierleben in verſchiedenen Gasarten.

Die ſchweren Leiden ſeiner kranken Mutter zogen ihn nach Ber— lin, doch nur auf einige Wonate. Der plötzliche Einfall des fran— zöſiſchen Heeres unter Moreau in das Herzogthum Würtemberg und die Flucht des Landesherrn ließen den König von Preußen be— ſorgen, daß die fürſtlich Hohenloheſchen Beſitzungen, auf denen im Anfang der franzöſiſchen Revolution (1791) der Vicomte de Wi— rabeau eine der Emigrantenlegionen des Condéſchen Corps errichtet hatte, aus Wotiven der Rache Plünderung und Unbill von den weiter gegen Franken vordringenden Heeren von Woreau oder Jour— dan erleiden würden. Wan hoffte, den kommandirenden General dazu bewegen zu können, da ſeit dem Frieden, den der Winiſter von Hardenberg zu Baſel den 5. April 1795 abgeſchloſſen hatte ein ſehr freundſchaſtliches Verhältniß zwiſchen Frankreich und Preußen einge—

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treten war, die kleinen Hohenloheſchen Länder wie eine preußiſche Enclave zu betrachten. Humboldt erhielt den Auftrag, ſich mit dem Hauptmann von Pirch, von einem einzelnen Trompeter begleitet, Ende Juli 1796 von Ingolfingen aus nach dem franzöfifchen Haupt: quartier in Schwaben zu begeben. Es war kurze Zeit nach dem Treffen bei Cannſtadt. Man ſah auf dem Wege noch den General St. Cyr in einem durch Seile gehaltenen Contéſchen Luftballon (Ballon captiv), der mehrere Monat lang gefüllt blieb, den Feind recognosciren. Bei der Milde des Charakters, die den General Woreau auszeichnete, wurde es nicht ſchwer, in wenigen Tagen das zu erlangen, was man wünſchte. Es ſollten die Hohenloheſchen Beſitzungen mit preußiſchen Adlern umgeben werden. In dem franzöſiſchen Hauptquartiere hatte Humboldt die Freude, den General Deſaix zu finden, der ſchon damals, 14 Monate vor dem Frieden von Campo-Formio, mit Bonaparte's ägyptiſchen Planen bekannt war, ja mehrmals Humboldt aufforderte, nicht die Tropenländer des Neuen Continents zu beſuchen, ſondern ſich einer franzöſiſchen Expedition nach Aegypten anzuſchließen. Die Rückkehr aus dem Woreau'ſchen Hauptquartier, in Begleitung eines franzöſiſchen Inge: nieurs, der die Adler auſpflanzen ſollte, war, trotz der ſichernden Töne des preußiſchen Trompeters, in einem Walde bei Nacht, wo öſterreichiſche und franzöſiſche Vorpoſten ſtark gemiſcht ſtanden, ſehr unbequem.

Die lang gefürchtete Nachricht von dem am 20. November 1796 erfolgten Tode ſeiner Mutter brachte Humboldt's Entſchluß einer großen wiſſenſchaftlichen Expedition der Ausführung näher. Auf den Rath des Freiherrn von Zach hatte er ſchon längſt angefangen ſich mit praktiſcher Aſtronomie, d. h. mit Sextantenbeobachtungen zu geographiſchen Ortsbeſtimmungen, ernſthaft zu befchäftigen. Es war dabei ſein reger Wunſch, ehe er Europa auf mehrere Jahre verließ, brennende Vulkane zu ſehen, den Veſuv, Stromboli und den Aetna.

Sein Bruder Wilhelm wollte ihn mit ſeiner Familie auf dieſer zweiten italieniſchen Reiſe begleiten. Um ſich nun mit dieſem zu vereinigen, löſte er ſeine dienſtlichen Verhältniſſe gänzlich auf und beſchloß in völliger Unabhängigkeit und mit Inſtrumenten ausge⸗

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rüſtet, in deren Gebrauch er fidy lange eingeübt, allein dem Studium der Natur zu leben. Er verließ Baireuth im Jahre 1797 und verweilte in inniger Verbindung mit Goethe und Schiller drei Monate in Jena. Sier beſchäftigte er ſich vorzugsweiſe mit prak— tiſcher Anatomie. Er hatte dieſelbe bisher nur rhapſodiſch un— ter Sömmering, dem er ſein Werk über die gereizte Muskelfaſer zueignete, ſtudirt, und hörte jetzt ein zweimonatliches Privatiſſimum darüber bei Loder (den er 23 Jahre ſpäter auf der ſibiriſchen Er- pedition wieder in Moskau begrüßte), während deſſen er täglich ſechs bis ſieben Stunden auf dem anatomiſchen Theater arbeitete. Freiesleben gedenkt eines ſehr lehrreichen Abends bei Schiller, wo die beiden Brüder Humboldt und Goethe unter Anderm mit großem Intereſſe ſich über ihre zoologiſchen Präparate unterhielten.

In Jena vollendete Humboldt auch ſein Werk über den Mus— kelreiz und hatte die Freude, daß hier ſchon mehrere Perſonen mit ſeinen Verſuchen über Stimmung der Lebenskraft durch chemiſche Wittel, über das Geben und Vernichten der Reizbarkeit, mit Erfolg beſchäſtigt waren; man fing ſich an zu überzeugen, ſagt Freiesleben, daß dieſe Verſuche einmal die Grundlage einer neuen Wiſſenſchaft, der vitalen Chemie, werden könnten.

Im Sommer 1797 brachte Humboldt in Geſellſchaft ſeines Bru⸗ ders und deſſen Familie einige Wochen in Dresden zu, theils um Familiengeſchäfte zu beendigen, zu welchem Zweck auch ihr ehema— liger Erzieher, Geheimrath Kunth ſich dort eingefunden hatte, theils um mit dem Inſpector Köhler aſtronomiſche Beobachtungen zu machen. Von hier aus reiſte das geſammte Humboldt'ſche Haus nach Wien; Alexander aber hatte vorher noch ſein geliebtes Frei— berg beſucht, an welches er in dankbarer Erinnerung der durch Werner genoſſenen wiſſenſchaftlichen Ausbildung jederzeit die treueſte Anhänglichkeit bewahrt hat. In Erwartung des Ausganges der obſchwebenden Kriegsereigniſſe verweilte man in Wien länger als urſprünglich beabſichtigt war; hier geſellte ſich zu ihnen ein, Alexander befreundeter, junger Naturforſcher, der nachmalige ruſſiſche Staats— rath Fiſcher, ſo wie die von Haftenſche Familie aus Weſtphalen. Die prächtigen Sammlungen exotiſcher Gewächſe im Schönbrun— ner Garten, ſo wie die Freundſchaft Jacquin's und van der

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Schotts', eines jungen braſilianiſchen Reiſenden“), gaben Humboldt Gelegenheit, ſich durch botaniſche Studien für ſeine größere Reiſe immer trefflicher vorzubereiten.

Inzwiſchen ließ der kriegeriſche und revolutionaire Zuſtand von Italien vorläufig jeden Gedanken einer wiſſenſchaſtlichen Reiſe in dieſem Lande zurücktreten. Humboldt's Bruder ging von Wien un— mittelbar nach Paris, während ſich Alexander entſchloß, mit ſeinem Freunde Leopold von Buch den Winter, mit meteorologiſchen Beob— achtungen beſchäftigt, in Salzburg und Berchtesgaden zuzubringen, um, wenn der Zuſtand von Unteritalien es erlaubte, im nächſten Frühjahr über die Alpen zu gehen“ “).

Dieſen Ideen nachhängend, erhielt Humboldt eine Aufforderung von dem in Dalmatien und Griechenland viel gereiſten Lord Bri— ſtol (einem Wanne, deſſen Einkünſte ſich jährlich auf 300,000 Pfund beliefen), ihn auf einer Excurſion nach Oberägypten auf acht Monate zu begleiten: er habe eigene Boote zu dieſem Unternehmen ausrüſten laſſen und mehrere Zeichner ſollten ihn, den ſehr unterrichteten Kunſt— liebhaber, begleiten. Humboldt nahm das Anerbieten unter der Bedin— gung an, daß es ihm freiſtehen ſollte, bei der Rückkehr ſich in Alexan— drien von Lord Briſtol zu trennen, um ſeine Reiſe allein durch Syrien und Paläſtina fortzuſetzen. Zum Ankauf der ihm fehlenden In— ſtrumente entſchloß er ſich vorher auf einige Wochen über Straß— burg nach Paris zu gehen, wo er, der getroffenen Uebereinkunft nach, Briefe von Lord Briſtol erwarten ſollte. Es war der An— fang des Monats Mai 1798; am 20. deſſelben Monats ging Bo» naparte mit ſeiner Expedition von Toulon nach Malta und Alexan— drien ab. Statt die erwarteten Briefe zu erhalten, las Humboldt zu feinem großen Erſtaunen in der Straßburger Zeitung die Vach— richt, daß Lord Briſtol auf Befehl des Directoriums in Wailand verhaftet worden ſei, weil man ihn beſchuldige, daß der geheime Zweck ſeiner ägyptiſchen Reiſe dahin gehe, auf irgend eine Weiſe zum Vortheile Englands an den Nilufern zu wirken. So unge—

) Gegenwärtig Director des botaniſchen Gartens in Schönbrunn.

) Die geographiſchen Ephemeriden von Zach vom Jahre 1798 ent- halten mehrere Mittheilungen Humboldt's aus Salzburg vom Januar und Februar des nämlichen Jahres.

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recht und unwahrſcheinlich auch eine ſolche Beſchuldigung war, fo hätte fie doch, wenn man in Mailand Briefe von Humboldt aufs gefunden hätte, auch ſeine perſönliche Sicherheit gefährden können. Als er ungehindert in Paris ankam, wo er ſich mit der Familie ſeines Bruders vereinigte, fand er die Mitglieder des Inſtituts, die Profeſſoren des Jardin des Plantes und das ganze gebildete Publikum mit den viele Hoffnung erregenden Ausrüſtungen zu einer großen Weltumſeglung beſchäftigt, die das Directorium unter An— führung des Kapitän Baudin ſeit einigen Monaten dekretirt hatte. Die Expedition ſollte Buenos Ayres, das Feuerland und die ganze amerikaniſche Weſtküſte von Valparaiſo bis zum Iſthmus von Pa— nama berühren, viele Inſeln der Südſee, Veuholland und Mada— gascar beſuchen, und um das Kap der guten Hoffnung zurückkehren. Humboldt, der die erſte ſich darbietende Gelegenheit zu einem großen Unternehmen benutzen wollte, obgleich er zu dem perſönlichen Cha— rakter Baudin's wenig Vertrauen hatte, war ſogleich bereit, ſich auf gut Glück dieſer Expedition anzuſchließen. Er erhielt von dem Di— rectorium, in dem zwei Mitglieder, Francois de Neufchateau und La Reveillére-Lepaux ſich beſonders für Bereicherungen der Gärten und Sammlungen intereſſirten, die Erlaubniß, ſich mit allen ſeinen Inſtrumenten einzuſchiffen, mit der Berechtigung, die Schiffe ver— laſſen zu dürfen und da zu bleiben, wo er tiefer in das Land ein— zudringen wünſchte. Vier volle Monate vergingen in peinigender Spannung und Ungewißheit. Die politiſche Lage von Italien und die wohlbegründete Beſorgniß eines neuen und nahen Ausbruchs des Krieges mit Deutſchland bewogen die Regierung, die für die Expedition ausgeſetzten Fonds zurückzuziehen und das ganze Unter— nehmen bis auf eine günſtigere Zeit zu vertagen. Die innige freund— ſchaftliche Verbindung, die ſich ſo leicht und ſchnell zwiſchen Per— ſonen anknüpft, die beſtimmt ſind, mehrere Jahre auf demſelben Schiffe zu leben, hatte Humboldt mit dem ausgezeichneten jungen Botaniker Aimé Bonpland befreundet, der ſpäter ſo viele Schickſale mit ihm getheilt hat, und der von dem alten Juſſieu, Richard und dem aus Algier und Conſtantine rückkehrenden Desfontaines eben— ſowohl ſeiner Kenntniſſe wie ſeines liebenswürdigen Charakters we— gen geſchätzt war.

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Während Humboldt ſeine ſüßeſten Hoffnungen ſo bitter ge— täuſcht ſah, machte er die Bekanntſchaſt eines ſchwediſchen Conſuls Skjöldebrand, der durch Paris reiſte, um ſich mit Geſchenken ſeines Hofes für den Dey von Algier in Warſeille auf einer für ihn be— ſtimmten Fregatte einzuſchiffen. Da ſein Haus alle Jahre eine Barke nach Tunis ſchickte, ſo beſchloß Humboldt das freundliche Anerbieten des Conſuls dankbar anzunehmen und ſich jo der franzöſiſchen Ex— pedition in Aegypten anzuſchließen. Er ſetzte alſo eiligſt die Samm⸗ lung ſeiner Inſtrumente in Stand, und vervollſtändigte dieſelbe durch ſolche, welche für das Land, das er beſuchen wollte, nothwen— dig ſchienen. Hierauf trennte er ſich von einem Bruder, der durch ſeinen Rath und durch ſein Beiſpiel einen großen Einfluß auf die Richtung ſeiner Gedanken ausgeübt hatte, und verließ Paris in der Abſicht ſich nach Algier und Aegypten einzuſchiffen. Durch den Wechſel der Begebenheiten, der alle menſchlichen Dinge beherrſcht, ſah er ihn wieder, ohne das Feſtland von Afrika berührt zu haben.

Die ſchwediſche Fregatte, die Herrn Skjöldebrand nach Algier führen ſollte, wurde zu Warſeille in den letzten Tagen des Oktobers erwartet. Humboldt und Bonpland, fein Reiſegefährte, beſchleu— nigten ihr Eintreffen daſelbſt, in beſtändiger Furcht zu ſpät anzukom⸗ men und die Einſchiffung zu verfehlen. Eben ſo ungeduldig war der ſchwediſche Conſul ſelbſt, an den Ort ſeiner Beſtimmung zu gelangen. Die beiden Freunde beſtiegen mehrere Mal des Tages den Berg Notre dame de la garde, der eine weite Ausſicht über das mittelländiſche Weer gewährt. Jedes Segel, das man am Horizont erblickte, erregte in ihnen eine lebhafte Bewegung; doch nach zwei Monaten ungeduldiger Erwartung erfuhren ſie durch die öffentlichen Blätter, daß die ſchwediſche Fregatte, auf der ſie reiſen ſollten, an den Küſten von Portugal durch Stürme ſehr gelitten habe, und daß ſie, um wieder ausgebeſſert zu werden, genöthigt worden ſei in den Hafen von Cadix einzulaufen. Privatbriefe beſtätigten die Nachricht und gaben ihnen die Gewißheit, daß der Jaramas (dies war der Namen der Fregatte) vor dem Anfang des Frühjahrs nicht in Mar⸗ ſeille ankommen würde.

Die Freunde fühlten ſich nicht ſtark genug, ihren Aufenthalt in der Provence bis dahin zu verlängern. Das Land und beſon—

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ders das Klima behagten ihnen zwar ungemein, allein der Anblick des Meeres rief ihnen auch beſtändig ihre verfehlten Pläne in's Gedächt⸗ niß zurück. Bei einem Ausflug, dem ſie auf die Hyeren und nach Toulon machten, ſahen fie an dem letzteren Ort die Fregatte la Boudeuse, die Bougainville auf ſeiner Reiſe um die Welt befehligt hatte, ihre Segel nach der Inſel Corſika lichten. Dieſer berühmte Seefahrer hatte Humboldt, während ſeines Aufenthaltes in Paris, als ſich derſelbe rüſtete, den Kapitän Baudin zu begleiten, mit ſei— nem beſondern Wohlwollen beehrt. Der Anblick des Schiffes, wel— ches Commerſon nach den Inſeln der Südſee geführt hatte, rief daher in Humboldt um ſo lebendigere mit einem ſchmerzlichen Ge— fühl gemiſchte Empfindungen hervor.

Die Freunde beharrten immer noch auf dem Plan, ſich an die Küſten von Afrika zu begeben, und wenig hätte gefehlt, ſo wäre ihnen dieſe Beharrlichkeit verderblich geworden. Es befand ſich nämlich um dieſe Zeit in dem Hafen von Warſeille ein kleines Schiff, das bereit war, nach Tunis unter Segel zu gehen. Es ſchien ihnen daher vortheilhaft, eine Gelegenheit zu benutzen, die ſie Aegypten und Syrien näher brächte. Sie kamen mit dem Kapitän über den Ueberfahrtspreis überein, und die Abreiſe war auf den folgenden Tag beſtimmt; zum Glück aber wurde dieſelbe durch einen an ſich unbedeutenden Umſtand verſpätet. Das Vieh nämlich, das während der Reiſe zu ihrer Nahrung beſtimmt war, befand ſich in der großen Kajüte. Die Freunde verlangten nun, daß man einige für die Bequemlichkeit der Reiſenden und für die Sicherheit ihrer Woh— nungen höchſt nothwendige Einrichtungen treffe. Während dieſer Zwi— ſchenzeit erfuhr man zu Warſeille, daß die Regierung zu Tunis gegen die in der Berberei angeſiedelten Franzoſen wüthe, und daß alle Perſonen, die von einem franzöſiſchen Hafen kämen, in's Ge— fängniß geworfen würden. Dieſe Nachricht rettete Humboldt und Bonpland von einer drohenden Gefahr. Sie ſahen ſich genöthigt, die Ausführung ihrer Abſichten aufzuſchieben und beſchloſſen nun, den Winter in Spanien zuzubringen, in der Hoffnung, ſich nächſtes Frühjahr, wenn es der politiſche Zuſtand des Orients erlauben ſollte, entweder zu Carthagena oder zu Cadix einzuſchiffen.

Die Reiſenden gingen langſam und angenehm mit Herbariſa—

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tionen, aſtronomiſchen Ortsbeſtimmungen und magnetiſchen Inten— ſitäts- und Inclinationsbeobachtungen auf dem Wege beſchäſtigt, über Perpignan, Barcelona, den Wontſerrat und Valencia nach Madrid, wo ſie Anfangs Februar 1799 anlangten. Die außeror⸗ dentliche Gunſt, deren ſich Humboldt an dem ſpaniſchen Hofe in Aranjuez drei Wonate lang durch Vermittelung des ſächſiſchen Ge— ſandten, Baron von Forell, eines kenntnißreichen Mineralogen, und des erſten Staatsſekretärs (Miniſter der auswärtigen Angelegen— heiten) Don Mariano Luis de Urquijo, zu erfreuen hatte, änderte auf einmal wieder feine Lebensplane. Der erſte Staatsſekretär er— klärte, daß ihm alle ſpaniſchen Beſitzungen in Amerika und dem In— diſchen Ocean (Marianen und Philippinen) geöffnet ſein würden, aus rein perſönlichem Vertrauen, denn Humboldt war von keiner anderen Regierung an die ſpaniſche empfohlen. Der Erlaubniß wurden offi⸗ zielle Befehle an alle Behörden beigefügt, wie ſeit der Expedition von Bouguer und La Condamine noch keinem Fremden geſchehen war. Von den zwei Päſſen war der eine von der Primera Secre- taria de Estado, der andere von dem Consejo de Indias. Der erſte „geſtattete den freien Gebrauch aller Inſtrumente zu aſtronomi— ſchen geodätiſchen Zwecken, die Weſſung der Berge, das Einſammeln von Naturalien, ja Unterſuchungen jeglicher Art die zur Erweiterung der Wiſſenſchaften führen könnten“. Humboldt verſichert in der Ein— leitung ſeiner Reiſebeſchreibung ausdrücklich, daß ihm dies ſo wohl— wollend ertheilte Verſprechen auf das pünklichſte gehalten worden ſei, und daß er während der fünf Jahre, in denen er den neuen Continent durchwanderte, nie das geringſte Zeichen des Wißtrauens erfahren habe.

Mitte Mai verließ Humboldt in Begleitung Bonpland's Aran⸗ juez und Madrid und ging, die Höhen meſſend, durch Alteaſtilien, Leon und Galizien über Villaplando, Aſtorga und Lugo nach dem Hafen Coruna, um ſich daſelbſt am 5. Juni 1799 auf der Fregatte Pizarro einzuſchiffen “).

*) Das Nähere über die Einſchiffung findet man in Humboldt's Reiſen in die Aequinoctial⸗Gegenden Amerika's (Bd. 1. Kap. 1.), auf welche wir auch für die nächſtfolgenden Erlebniſſe verweiſen.

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„Welch ein Glück iſt mir eröffnet,“ ſchreibt Humboldt am Tage vor der Einſchiffung an ſeinen Freund Freiesleben, „mir ſchwin— delt der Kopf vor Freude. Welchen Schatz von Beobachtungen werde ich nun nicht zu meinem Werke über die Conſtruktion des Erdkörpers ſammeln können! Der Menſch muß das Gute und Große wollen“). Das Uebrige hängt vom Schickſal ab.“

Der Kapitain des Pizarro hatte von der ſpaniſchen Regierung den Befehl erhalten, ſich auf der Fahrt nach Amerika ſo viel Tage in Teneriffa aufzuhalten, als Humboldt zur Beſteigung des Pik de Teyde brauchen würde. Am 19. Juni landeten die Reiſenden im Hafen von Santa Cruz auf Teneriffa und verweilten auf der In— ſel bis zum 25. Juni. Sie beſtiegen den Pik und ſammelten eine große Menge neuer Beobachtungen über die damals wenig gekannte _ natürliche Beſchaffenheit der Inſel. Obgleich in der Nähe der Küſte Paria ein heftiges nervöſes Fieber am Bord des Pizarro ausge— brochen war, ſo betraten ſie doch in voller Geſundheit zum erſten— mal den Boden Amerikas bei Cumana. Achtzehn Wonate verbrach— ten ſie auf einer Forſchungsreiſe durch die Provinzen des ſpäteren Freiſtaats Venezuela, gelangten im Februar 1800 nach Caracas und verließen bei Puerto-Cabello von neuem die Seeküſte, um, nach Süden gewendet, über die merkwürdigen Grasſteppen von Calabozo,

den Fluß Apure und durch dieſen den Orinoco zu erreichen. Auf In— dianerkähnen (ausgehöhlten Baumſtämmen) drangen ſie von den Ka— tarakten von Atures und Maypures bis zum ſüdlichſten Grenzpoſten der Spanier vor, dem kaum zwei Breitengrade vom Aequator ent— fernten Fort San⸗Carlos am Rio-Negro, drangen durch den Tua— mini und die Wälder von Pimichin, wo die Kähne über Land ge— ſchoben werden mußten, gelangten durch den Caſſiquiare in den Ori— noco zurück, fuhren dieſen bis Angoſtura hinab und erreichten Cumana, nach einer Wanderung, die ſie 375 geographiſche Weilen weit nur durch unbekannte Wildniſſe geführt hatte, ja, die erſte war, welche eine auf aſtronomiſche Beſtimmungen gegründete Kennt—

Wie ernſtlich Humboldt wollte, geht u. a. daraus hervor, daß er im Jahre 1802, um die großen Koſten ſeiner Reiſe zu beſtreiten, das ihm aus der väterlichen Erbſchaft zugefallene Gut Ringenwalde in der Neumark an den Dichter Franz von Kleiſt verkaufen ließ.

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niß von der fo lange beftrittenen Gabeltheilung des Orinoco ges liefert hatte.

Humboldt und Bonpland ſchifften ſich nun nach Havanna ein, lebten dort einige Monate und eilten einen Südſeehafen zu erreichen, als ſich die falſche Nachricht verbreitete, Baudin, dem ſie ſich anzu— ſchließen verſprochen, werde an der Weſtküſte Südamerika's erſchei— nen. Von Batabano an der Südküſte der Inſel Cuba ſegelten ſie, im März 1801 nach Cartagena de Indias, um von da aus nach Panama zu gehen; da jedoch die Jahreszeit die Ausführung dieſes Planes hinderte, fuhren fie 54 Tage lang den Wagdalenenſtrom hinauf bis Honda, um über Guaduas das Plateau von Bogota zu erreichen. Von hier aus machten ſie Streifzüge nach den merkwür— digſten Punkten der Umgegend. Im September 1801 brachen ſie trotz der eingetretenen Regenzeit wieder gegen Süden auf, indem fie über Ibague, die Cordillera de Quindiu, Cartago, Popayan am Fuße des Vulkans von Puracé, den Paramo de Almaguer und die große Hochebene von Los Paſtos nach den größten Beſchwerden am 6. Januar 1802 Quito erreichten. Die Reiſe auf dem Rücken der Cordilleren von Bogota bis Quito, immer auf Waulthieren und von vielem Gepäck begleitet, hatte volle vier Wonate gedauert. An— dere fünf Monate vom 6. Januar bis 9. Juni 1802 ver⸗ gingen ihnen unter vielumfaſſenden Unterſuchungen in dem ſchönen Hochlande von Quito und in der Kette von mit ewigem Schnee ber deckten Vulkanen, welche daſſelbe umſchließen. Durch zufällige Um— ſtände begünſtigt, ſtiegen ſie an mehreren derſelben bis zu früher nicht erreichten Höhen. Auf dem Chimborazo gelangten ſie am 23. Juni 1802 bis zu einer Höhe von 18,096 pariſer Fuß. Sie ſtanden hier auf dem höchſten, je vorher von Wenſchen erſtiegenen Punkte feſter Erde, und wurden nur durch eine tiefe Schlucht an der Erklimmung der äußerſten, noch um 2004 Fuß höheren Spitze gehindert. Ueber den Andespaß im Paramo de Aſſuay (wo der Weg bei Cadlud faſt die Höhe des Gipfels des Montblanc erreicht), über Cuenca und die Chinawälder von Zora ſtiegen fie in das Thal des obern Amazonenfluſſes bei Jaen de Bracamoros hinab und er— reichten über die fruchtbare Hochebene von Caxamarca, über die Bergſtadt Wicuipampa und über Montan den weſtlichen Abfall der

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Cordilleren von Peru. Hier genoſſen fie auf dem Alto de Guanga— marca zum erſten Wale von einer Höhe von 9000 Fuß herab des langerſehnten Anblicks der Südſee. Sie gelangten bei Trupillo an die Küſte und gingen durch die waſſerarme Sandwüſte vor Nieder: peru bis zu dem mit Gärten umgebenen Lima. Nachdem einer der Hauptzwecke der peruaniſchen Reiſe, die Beobachtung des Durch— gangs des Merkur durch die Sonne erfüllt war, ſchifften fie ſich, Ende Dezember 1802, von Callao nach Guayaquil ein und landeten am Schluſſe einer zweiten ermüdenden Fahrt am 23. Wärz 1803 in Acapulco. Ueber Tasko und Cuernaraca erreichten ſie im April die Hauptſtadt Mexiko's, wo fie einige Monate verweilten, und dann, nach Norden gewendet, Guanaxuato und Valladolid beſuchten, die Provinz Wechoacan durchſtreiften, die Küſte der Südſee nahe dem Vulkan von Jorullo maßen, und über Toluca nach Mexiko zurückkehrten. Ein nochmaliger Aufenthalt in dieſer damals ſehr reichen und durch die Bildung der höheren Einwohnerklaſſen aus— gezeichneten Stadt wurde zur Ordnung der reichen Sammlungen und zur Zuſammenſtellung der vielſeitigen Beobachtungen verwen— det. Im Januar 1804 gingen die Reiſenden, nachdem ſie vorher den Vulkan von Toluca und den Cofre de Perote beſtiegen und ge— meſſen, durch die Eichwälder von Jalapa, die ſchon in einer Höhe von 2800 Fuß über der Meeresfläche anfangen, nach Vera-Cruz hinab, wo ſie dem damals wieder ausgebrochenen ſchwarzen Er— brechen (Vomito prieto) entkamen. Das barometriſche Nivelle— ment des weſtlichen Abfalls des Hochlandes von Wexiko (7000 bis 7200 Fuß) gegen Vera-Cruz hin konnte nun mit dem früher voll— endeten Nivellement des weſtlichen Abfalls nach Acapulco an der Südſee verglichen werden. Aus beiden wurden von Meer zu Meer die Profile (ſenkrechte Projectionen) conſtruirt, die erſten, die man je von einem ganzen Lande bis dahin gegeben hatte. Am 7. März 1804 verließ Humboldt die mexikaniſche Küſte, ſegelte auf der könig— lichen Fregatte „La O“ nach der Havanna, wo er wieder zwei Mo— nate verweilte und die Materialien vervollſtändigte, die ihm zu ſeinem Werke: „Essai politique sur Pile de Cuba“ (2 Bände, Paris 1827) gedient haben. Am 29. April 1804 ſchiffte er ſich mit Bonpland nach Philadelphia ein, wo fie jedoch nach einer 20 tä⸗

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gigen, geſahrvollen ſtürmiſchen Fahrt anlangten. Humboldt konnte ſich nur wenige Wochen lang in Waſhington der freundſchaftlichen Aufnahme bei dem edeln Präfidenten Jefferſon erfreuen. Am 9. Juli verließ er den Neuen Continent und am 3. Auguſt landete er in Bordeaux, an Sammlungen, beſonders aber an Beobachtungen aus dem großen Gebiete der Vaturwiſſenſchaften, der Geographie und Statiſtik vielleicht reicher als irgend ein früherer Reiſender. Humboldt wählte Paris zum Aufenthalte, da kein Ort des Continents damals einen gleich zugänglichen Schatz von wiſſenſchaft— lichen Hülfsmitteln darbot, keiner eben ſo viel große und thätige Forſcher einſchloß als jene Haupſtadt. Er hatte bei ſeiner Ankunft die Freude dort die geiſtreiche Gattin ſeines Bruders mit ihren Kin— dern zu finden. Den Bruder ſelbſt feſſelten gelehrte Arbeiten und Geſchäfte als preußiſcher Geſandter in Rom. Die vorläufige Anord— nung der Sammlungen und zahlreicher Manuſcripte, mehr aber noch chemiſche Arbeiten über das Verhältniß der Beſtandtheile der Atmo— ſphäre, gemeinſchaftlich mit ſeinem Freunde Gay-Luſſac in dem La⸗ boratorium der Ecole polytechnique unternommen, verlängerten Humboldt's Aufenthalt in Paris bis zum Wai 1805. Er trat nun, begleitet von Gay-Luſſac, der einen langdauernden Einfluß auf ſeine chemiſche Thätigkeit ausgeübt hat, eine Reiſe nach Italien (Rom und Neapel) an, wo ſie vom 1. Wai bis 17. Sept. 1805 verblieben. Zunächſt erfreute ihn in Rom, wo er mehrere Wonate ver—

weilte, das Wiederſehen ſeines geliebten Bruders. Welch ein Wie— derſehen für beide nach ſolcher Trennung! Wilhelm von Humboldt hat die Sehnſucht und Sorge, die er Jahrelang empfunden, in einem ſinnigen, an feinen Bruder ſelbſt gerichteten Gedicht ſpäter ver, ewigt“). Die erſten Strophen fo wie die letzte deſſelben lauten:

Das Kreuz, das nie der ferne Nord erſchauet,

Das zieret fremder Himmel Luftgebilde,

Da, wo vom Pol der Pol geſchieden ruht,

Das ſeinen Glanz des Südens Fluth vertrauet,

Der Doppelwolke nah, die, ſtill und milde, Hernieder leuchtend, ewig unbethauet,

) Wilhelm von Humboldt's geſammelte Werke Bd. 1, S. 361. „An Alexander von Humboldt. Albano im September.“

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Das Meer nur grüßt mit ihrem Strahlenbilde, Das, Theurer, kühn durchſchiffend Atlas Fluth, Sahſt du, gedenkend dort in fremder Zone,

Daß fern ein Bruder, dich erſehnend, wohne!

Ach! Alle, die dich liebend hier umfingen,

Vertrauten ungern dich des Meeres Pfaden,

Als ab du ſtießeſt von Iberiens Strand.

„O! Wind,“ ſo flehten ſie, „mit leiſen Schwingen

Geleite den, den ferne Kiüften laden,

Die Welt der Welt tiefſpähend abzuringen!

O! Meer, laß ſich in ſtillen Fluthen baden

Sein Schiff, und du empfang' ihn mild, o Land,

Das ihn, wann er von Fluth und Sturm befreiet,

Mehr noch, als Sturm und Fluth, mit Tod bedräuet!“ ie

Glücklich biſt du gekehrt zur Heimathserde

Vom fernen Land und Orinocos Wogen.

O! wenn die Liebe ſpricht es zitternd aus Dich andren Welttheils Küſte reizt, ſo werde

Dir gleiche Huld gewährt, und gleich gewogen Führe das Schickſal dich zum Vaterheerde,

Die Stirn von neu errungnem Kranz umzogen. Mir gnügt, im Kreis der Lieb', im ſtillen Haus, Daß mir den Sohn zum Ruhm dein Name wecke, Mich einſt Ein Grab mit ſeinen Brüdern decke!

„Voll von den großartigſten Anſchauungen einer faſt neuentdeck— ten Welt, und im Begriffe dieſe in einer Reihe unſterblicher Werke mitzutheilen, brachte Alexander von Humboldt die ganze Unmittel— barkeit und Friſche des Eindrucks in den Kreis der Seinen, in den Wittelpunkt der alten, der claſſiſchen Welt, und an das Ohr eines allem Wiſſenden lauſchenden, für Alles empfänglichen Bruder. Wit hinreißender Beredſamkeit breitete er die Fülle ſeiner Erfahrungen und Gedanken vor den erſtaunten Hörern aus und feſſelte jeden! Vor allen aber einen Bruder, der in die entlegenſten Wiſſensre— gionen folgen, die neueſten Anſchauungen ergreifen, die alte Welt mit dieſer neuen verknüpfen konnte, wie nicht leicht ein Andrer “)!“

) „Erinnerungen an Wilhelm von Humboldt von Guſtav Schleſier.“ Th. 2, S. 87.

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Auch ſprachliche Schätze hatte Alexander für den Bruder mit— gebracht. In Klöſtern und Wiſſionen hatte er mit nicht geringer Mühe eine bedeutende Zahl bisher unbekannter Sprachlehren ame— rikaniſcher Wundarten aufgetrieben. Zwar überließ er dieſe Samm— lung gleich nach ſeiner Rückkehr dem Vollender des Adelungſchen Wi— thridates, Profeſſor Vater in Königsberg, ſo wie auch Einzelnes Friedrich Schlegel zu einſtweiligem Gebrauch; ſpäter aber überlieferte er Alles den Händen ſeines Bruders, der dadurch nun in den Stand geſetzt ward, auch die Neue Welt in feinen Studien zu um— jaffen und dieſe Sprachen gründlich zu ſtudiren.

Im Auguſt traf Alexander von Humboldt in Neapel ein, wo ſich auch Leopold von Buch befand, und beſtieg am 12. mit dieſem und Gay⸗Luſſac den Veſuv, der eben in einer merkwürdigen Eruption begriffen war. Buch begleitete die Freunde auch auf der Rückreiſe durch die Schweiz nach Berlin, welches Humboldt am 16. November nach einer neunjährigen Abweſenheit wieder ſah. Gay-Luſſac ver— ließ ſeinen Freund und Witarbeiter im Winter 1806.

Das Unglück des Vaterlandes im Jahre 1806 und die Hoffnung, die durch den ſchmachvollen Tilſiter Frieden auferlegten Laſten mittelſt einer Unterhandlung zu vermindern, brachte die Regierung zu dem Entſchluß, den jüngſten, damals 25 jährigen Bruder des Königs, den durch perſönliche Tapferkeit und Anmuth der Sitten gleich ausgezeich— neten Prinzen Wilhelm von Preußen, zum Kaiſer Napoleon im Früh— jahr 1808 nach Paris zu ſenden. Humboldt, der ſich während der franzöſiſchen Beſetzung von Berlin in einem einſamen Garten eifrigſt mit ſtündlichen magnetiſchen Declinationsbeobachtungen beſchäftigte, erhielt ſehr unvermuthet den Befehl des Königs, den Prinzen Wilhelm auf feiner ſchwierigen politiſchen Miffion zu begleiten, und ihm durch ſeine genaue Bekanntſchaft mit damals einflußreichen Perſonen wie durch größere Welterfahrung nützlich zu werden“). Der Aufenthalt des Prinzen Wilhelm, dem als Adjutant ein nachmals lieber Ver—

*) Pertz in ſeinem „Leben des Miniſters Freiherrn von Stein“ ſchreibt darüber: „der Prinz Wilhelm traf in Frankfurt mit Alexander von Humboldt zuſammen, welcher der Geſandtſchaft beigegeben war und als ausgezeichneter Gelehrter und Weltmann durch ſeinen in beiden Welttheilen gefeierten Namen,

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wandter, A. v. Hedemann (Schwiegerſohn Wilhelm's v. Humboldt), beigegeben war, dauerte bis zum Herbſt 1809, und da der Zuſtand von Deutſchland es unmöglich machte, die Herausgabe ſo vielum— faſſender, von keiner Regierung unterſtützter Reiſewerke (in der Folio- und Quartausgabe 29 Bände mit 1425 geſtochenen, zum Theil fertigen Kupfertafeln) auf deutſchem Boden zu wagen, ſo erhielt Humboldt von dem Könige Friedrich Wilhelm III., der ihm perſönliches Wohlwollen ſchenkte, die Erlaubniß, als eines der acht auswärtigen Witglieder der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften in Frankreich zu verbleiben. So hat Alexander von Humboldt ſeinen dauernden Wohnſitz, kleine Abweſenheiten abgerechnet, faſt zwanzig Jahre lang (von 1808 27) in Paris gehabt.

In dieſe Zeit des Pariſer Aufenthalts fällt auch zum größten Theil die Herausgabe jenes rieſenhaften bewunderungswürdigen Rei— ſewerkes, welches die Frucht fünfjähriger Anſchauungen und Beobach— tungen in den Aequinoctial-Gegenden Amerikas iſt. Unabhängig von dem in franzöſiſcher Sprache geſchriebenen Werke, aber gleichfalls ein Ergebniß der amerikaniſchen Reiſe, erſchienen 1808 in deutſcher Sprache (Stuttgart 2 Bände) Humboldt's Anſichten der Natur. Dieſe, in ihrer Art einzige Erſcheinung, die wir gewiſſermaſſen als eine Blüthe der Wiſſenſchaft bezeichnen möchten, haben, vor allen Arbeiten Humboldt's, dazu beigetragen, die Vermittelung der Wiſſenſchaft mit der großen Anzahl gebildeter aber nicht fachgelehrter Leſer in Deutſchland anzubahnen. Der Reiz dieſer Naturbilder, denen die Sprache ihr lebendigſtes Colorit geliehen hat, und die uns in ſelte— ner Unmittelbarkeit vor Auge und Seele treten, war von mäch— tiger und allgemeinſter Wirkung. Welchen Gebildeten giebt es heut zu Tage in Deutſchland, der nicht, ſei es auch nur mit einem Bruchſtück derſelben, bekannt geworden wäre, und ihre Anmuth und Großartigkeit empfunden hätte! Durch den äſthetiſchen Werth der Darſtellung bezeichnen ſie zugleich eine neue eigenthümliche Entfal— tung der deutſchen Literatur, indem ſie muſterhafte Vorbilder ga—

ſeine genaue Kenntniß der Perſonen und der Verhältniſſe vorzüglich geeignet war, um dem Prinzen auf dem ſchwierigen Boden beizuſtehen. Er reiſte ihm nach Paris voraus und bereitete dort eine günſtige Stimmung, welche dem Prinzen bei ſeiner Ankunft entgegenkam und ſeine Stellung erleichterte.“

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ben, Kunſt und Wiſſenſchaft in maleriſcher Auffaſſung zu verbinden; „gleichzeitig die Phantaſie zu beſchäftigen, und durch Vermehrung des Wiſſens das Leben mit Ideen zu bereichern“)“. Eine Reihe vortrefflicher Arbeiten, die ſeitdem, bis auf die neueſte Zeit herab, auf dieſem Gebiet erſchienen ſind, verläugnen den Einfluß nicht, den ſie empfangen haben. Humboldt widmete die „Anſichten“ ſeinem Bruder, der ihm als Gegengeſchenk das oben erwähnte Gedicht darbrachte. Sie ſind, wie Humboldt in der Vorrede zur erſten Aus— gabe ſagt, „im Angeſicht großer Naturgegenſtände, auf dem Ocean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde peruaniſcher und mexikaniſcher Gebirge entſtanden. Ein— zelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeſchrieben und nachmals nur in ein Ganzes zuſammengeſchmolzen“. Ueberblick der Natur im Großen, Beweis von dem Zuſammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genuſſes, welchen die unmittelbare Anſicht der Tro— penländer dem fühlenden Menfchen gewährt, find (fährt Humboldt fort) die Zwecke, nach denen ich ſtrebe. Ueberall habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiefen, welchen die phyſiſche Natur auf die moraliſche Stimmung der Wenſchheit und auf ihre Schickſale aus— übt. Bedrängten Gemüthern ſind dieſe Blätter vorzugsweiſe gewidmet. „Wer ſich herausgerettet aus der ſtürmiſchen Lebens welle“, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabſehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andeskette.

Eine zweite Ausgabe der Anſichten der Natur erfdyien 1826, eine dritte 1849. Die darin enthaltenen einzelnen Aufſätze, denen ein überaus reicher Schatz wiſſenſchaftlicher Erläuterungen und Zu— ſätze beigefügt iſt, ſind folgende: Ueber die Steppen und Wüſten Ueber die Waſſerfälle des Orinoeo bei Atures und Maypures Das nächtliche Thierleben im Urwalde Ideen zu einer Phyſiog— nomik der Gewächſe Ueber den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verſchiedenen Erdſtrichen Die Lebenskraft oder der rhodiſche Genius (dieſer und der vorhergehende Aufſatz kamen erſt in der 2. Ausgabe hinzu. Für den rhodiſchen Genius, der zuerſt in den „Horen“ veröffentlicht wurde, hatte Schiller eine beſondere

) Humboldt, im Vorwort zur 2. Ausg. der Anſichten.

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Vorliebe) Das Hochland von Caxamarca, der alten Reſidenzſtadt des Inca Atahuallpa, und erſter Anblick der Südſee von dem Rüf- ken der Andeskette.

Jenes früher erwähnte großartige Reiſewerk, bei deſſen Ausar— beitung Humboldt durch eine Anzahl der namhafteſten Gelehrten bereitwilligſt unterſtützt wurde, gehört ausſchließlich der Wiſſenſchaft an. Es iſt die geiſtige Eroberung eines ungeheuren Erdtheils, der nach allen Richtungen in feſten dauernden Beſitz genommen wird. Das ganze Werk erſchien in folgenden ſechs Abtheilungen:

Die erſte Abtheilung unter dem Titel: „Voyage aux régions equinoxiales du Nouveau Continent, par A. de Humboldt et A. Bonpland“ zerfällt in zwei Sectionen, von denen die eine den hiſtoriſchen Bericht (3 Bände, Paris 1809 —25, Fol. und 4., und 13 Bände, 1816-31, 8.; deutſch 6 Bände, Stuttgart 1815— 32, 8.) enthält, die andere durch die „Vues des Cordilleres et Monuments des peuples indigenes de l’Amerique* (Paris 1810, gr. Fol. mit 60 zum Theil color. Kpfrn.; 2 Bände., Paris 1816, 8., mit 19 Kpfrn.) gebildet wird. Humboldt ſelbſt äußert ſich in der Ein— leitung zu dem hiſtoriſchen Bericht über das letztere Werk, welches als der pittoreske Atlas ſeiner eigentlichen Reiſebeſchreibung anzuſe— hen iſt, folgendermaßen: „Dieſes Werk ſoll dienen, einmal, einige der großen Naturſcenen aus der hohen Andeskette darzuſtellen, und dann über die alte Civiliſation der Amerikaner Licht zu verbreiten, welches durch das Studium ihrer architektoniſchen Monumente, ihrer Hieroglyphen, ihres Cultus und ihrer aſtrologiſchen Träumereien geſchieht. Man findet darin die Beſchreibung von der Bauart der Teocallis oder mexikaniſchen Pyramiden, mit der Architektur des Belustempels verglichen; die Arabesken, womit die Ruinen von Witla bedeckt find; Idole aus Baſalt mit der Calantika der Iſis— köpfe verziert; endlich eine große Anzahl ſymboliſcher Gemälde, welche die Frau mit der Schlange (die mexikaniſche Eva), die Sünd— fluth von Coxcox und die erſten Wanderungen der Völker von az— tekiſcher Race vorſtellen. Ich bin bemüht geweſen, die auffallenden Aehnlichkeiten zu zeigen, die theils der Toltekiſche Kalender, und die Kataſterismen des Toltekiſchen Thierkreiſes mit der Zeitrechnung der tatariſchen und tibetaniſchen Völker, theils die mexikaniſchen Tra⸗

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ditionen über die vier Erdregenerationen mit den Pralayas der Hin- dus und den vier Weltaltern des Heſiod haben. Endlich theile ich außer den hieroglyphiſchen Gemälden, die ich mit nach Europa brachte, auch Fragmente von den mexikaniſchen Handfchriften mit, die ſich zu Rom, Veletri, Wien und Dresden befinden und wovon das letztere durch Linearſymbole an die Kouas der Chineſen erin— nert. Neben dieſen plumpen Monumenten der amerikaniſchen Völ— ker befinden ſich in demſelben Werke die pittoresken Anſichten der Gebirgsländer, die ſie bewohnten; eben ſo die Abbildungen des Waſ— ſerfalles von Tequendama, des Chimborazo, der Vulkan Jorullo und Cayambeé, deſſen pyramidenförmige Spitze, mit ewigem Schnee

bedeckt, gerade unter dem Aequator liegt. In allen Zonen hat die

Bildung des Bodens, die Phyſiognomie der Pflanzen und der An— blick einer freundlichen oder wilden Natur auf die Fortſchritte der Künſte und auf den eigenthümlichen Styl ihrer Produkte Einfluß ge— habt. Dieſer Einfluß iſt um fo größer, je weiter der Wenſch von der Civiliſation entfernt iſt“.

Die zweite Abtheilung umfaßt: „Observations de zoologie et d' anatomie comparée“ (2 Bde. Paris 1805— 32). Dieſes Werk enthält die Geſchichte des Condors; Beobachtungen über die elek— triſche Kraft der Gymnoten; eine Abhandlung über den Luftröhren— kopf der Krokodile, der tropiſchen Vögel und Quadrumanen; die Beſchreibung von mehreren neuen Arten von Reptilien, Fiſchen, Vögeln und Affen und andern wenig bekannten Säugethieren, ſo wie die Abbildungen von mexikaniſchen, peruaniſchen und aturiſchen Schädeln, welche Humboldt und Bonpland in dem Pariſer Mufeum für Naturgeſchichte niedergelegt haben. Die dritte Abtheilung ent— hält den „Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Es- pagne“ (2 Bde., Paris 1811, 4. mit Atlas; Text beſonders 5 Bde.; Paris 1811, 8.; 2. Aufl., 4 Bde. 1825, 8.; deutſch 2 Bde., Stuttg. und Tüb. 1811). Die Grundlage dieſes Werkes machen eine große Menge offizieller Aufſätze aus. Es enthält in ſechs Abtheilungen Bemerkungen über den Umfang und die phyſiſche Anſicht von Mexiko; über die Bevölkerung, die Sitten der Einwohner, ihre alte Civiliſa— tion und die politiſche Eintheilung des Landes. Es umfaßt zugleich den Ackerbau, die mineraliſchen Reichthümer, die Manufacturen, den

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Handel, die Finanzen und die Wilitairvertheidigung dieſes Landes. Indem ich, ſagt Humboldt, jene verſchiedenen Gegenſtände der Staats— ökonomie abhandelte, ſuchte ich dieſelben unter einen allgemeinen Geſichtspunkt zu bringen. Ich verglich Neuſpanien nicht nur mit den übrigen ſpaniſchen Colonien und den vereinigten Staaten von Nordamerika, ſondern auch mit den engliſchen Beſitzungen in Aſien, eben ſo wie den Ackerbau der Länder in der heißen Zone mit dem Ackerbau in der gemäßigten; auch unterſuchte ich, welche Maſſe von Colonialwaaren Europa bei ſeiner jetzigen Civiliſation nöthig hat. Bei der geognoſtiſchen Beſchreibung der reichſten Gebirgsbezirke von Mexiko brachte ich die Angaben des Wineralertrages, der Bevölke— rung und der Aus- und Einfuhr vom ganzen ſpaniſchen Amerika bei. Endlich berührte ich mehrere Fragen, die aus Mangel an ge— nauen Daten bis jetzt noch nicht ſo gründlich behandelt werden konnten, wie ſie es verdienten. Dahin gehört die Ebbe und Fluth metalliſcher Reichthümer, die allmälige Anhäufung derſelben in Europa und Aſien; die Quantität von Gold und Silber, die ſeit der Entdeckung von Amerika bis auf unſere Zeit aus dem neuen Continent in den alten gefloſſen iſt. Die vierte Abtheilung bil— den die „Observations astronomiques, operations trigonometri- ques et mésures barométriques, redigees et caleulees par Jabbo, Oltmanns“ (2 Bde., Paris 1808 10, 4.). Wan findet darin die Beobachtungen, welche Humboldt, vom 12. Grad ſüdlicher bis zum 41. Grade nördlicher Breite, über die Durchgänge der Sonne durch den Meridian, die Trabantenbedeckungen, Sonnen- und Wondfinſter⸗ niſſe, relative Lichtintenſität der ſüdlichen Sterne, Strahlenbrechung des Lichtes in der heißen Zone als Folge der Abnahme des Wärmeſtoffes in den Luftſchichten u. ſ. w. angeſtellt hat. Ferner ſind darin 459 Höhenbeſtimmungen Humboldt's von der Andeskette, Wexiko, Venezuela, Quito und Neu-Granada gegeben, die für manche Provinzen bis jetzt noch die einzigen geblieben find. Außer— dem wurden von mehr als 700 gewöhnlichen Ortsbeſtimmungen, die hier verzeichnet ſind, 253 durch Humboldt's eigene Beobachtungen feſt— geſtellt. In der fünften Abtheilung hat Humboldt ſeine Beobach— tungen über die „Physique générale et géologie“ (Paris 1807, 4.) niedergelegt. Die ſechſte, der Botanik gewidmete Abtheilung endlich

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vereinigt in ſich: 1) „Plantes éduinoxiales recueillies au Mexi- que, dans l’ile de Cuba, dans les provinces de Caracas, de Cumana, et de Barcelone, aux Andes de la Nouvelle-Grenade, de Quito et du Pérou, et sur les bords du Rio-Negro, de l’Orenoque, et de la riviere des Amazones“ (2 Bde., Paris 1805 1815 gr. Fol. mit 144 Kpfrn.). 2) „Monographie des Mela- stömes, Rhexia et autres genres du m&me ordre“ (2 Bde. Pa- rid 1806—23, gr. Fol. mit 120 color. Kpfrn.); 3) „Nova genera et species plantarum, quas in peregrinatione ad plagam aequi- noctialem orbis novi collegerunt, deseripserunt et adumbrave- runt A. Bonpland et A. de Humboldt, in ordinem digessit C. S. Kunth“ (7 Bde., Paris 1815—25 in 4. und Fol., mit 700 Kpfrn.); 4) „Mimoses et autres plantes legumineuses du nou- veau continent, redigees par C. S. Kunth“ (Paris 1819—24., gr. Fol., mit 60 color. Kpfrn.); 5) „Synopsis plantarum, quas in itinere ad plagam aequinoctialem orbis novi collegerunt A. de Humboldt et Bonpland, autore C. S. Kunth“ (4 Bde. Straßburg und Paris 1822—26, 8.); 6) „Revision des grami- nées publiees dans les nova genera et species plantarum de M. M. de Humboldt et Bonpland; precedee d'un travail sur cette famille, par C. S. Kunth“ (2 Bde., Paris 1829—34, gr. Fol., mit 220 kolor. Kpfrn.).

Ein Exemplar der ganzen Sammlung in der großen Ausgabe mit kolorirten Kupfern koſtete im Jahre 1834 (noch unvollendet) über 10,000 Franken, alſo faſt doppelt fo viel als die Description de l’Egypte, zu der die franzöſiſche Regierung drei Millionen Fran— ken hat vorſchießen müſſen, während das Reiſewerk Humboldt's blos durch die Gunſt des Publikums zur Vollendung geführt worden iſt. Kupfertafeln (1300 in Folio), Druck und Papier haben allein 840,000 Franken gekoſtet (42,000 Louisdor) “).

Unabhängig von dem großen Reiſewerke war ſchon im Jahre 1805 zu Paris Humboldt's berühmtes Werk über die Pflanzen— geographie erſchienen: „Essai sur la geographie des plantes et

*) S. Ideler in Humboldt's kritiſchen Unterſuchungen über die hiſtoriſche Entwickelung der geographiſchen Kenntniſſe von der neuen Welt. Bd. 1. S. 22.

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tableau physique des regions équinoxiales“ (deutſch Stuttgart 1807), welches ſich an die „Ideen zu einer Phyſiognomik der Ge— wächſe“ (in den „Anſichten der Natur“) anſchließt und in der Schrift: „De distributione geographica plantarum secundum coeli temperiem et altitudinem montium prolegomena“ (Paris 1817; deutſch von Beilſchmied, Breslau 1831) eine weitere Aus- führung fand. Die erſten Ideen über die Geographie der Pflanzen, über ihre natürlichen Aſſociationen und die Geſchichte ihrer Wande— rungen befanden ſich ſchon in der Flora Fribergensis. Der for— ſchende, vergleichende und ordnende Geiſt des außerordentlichen Man— nes, deſſen Streben überall dahin geht, die Natur in der Gemein— ſchaftlichkeit ihres Wirkens zu erfaſſen, hat durch jene Arbeiten der Botanik ein neues Fundament untergebreitet, indem er ihren leben— digen Zuſammenhang mit der Cultur des Bodens und der Ent— wickelung des Wenſchengeſchlechtes nachwies.

Wir kehren nach dieſem kurzen vorgreifenden Bericht über die Früchte ſeiner literariſchen Thätigkeit zu Humboldt's äußeren Lebens— ſchickſalen zurück. Als Wilhelm von Humboldt, nach Gründung der Berliner Univerſität im Jahre 1810 als Geſandter nach Wien ging und die oberſte Leitung des Unterrichtsweſens im preußiſchen Staate aufgab, wurde dieſelbe von dem Staatskanzler Freiherrn von Hardenberg dem jüngern Bruder ſehr dringend (ohne oder auch mit dem Miniftertitel) angeboten. Alexander von Humboldt zog es indeß vor, ſich eine freie unabhängige Lage als Gelehrter zu erhalten, weil die Herausgabe ſeiner aſtronomiſchen, zoologiſchen und botaniſchen Werke, trotz der treuen Hülfe von Oltmanns, Bon— pland und Kunth noch nicht weit genug vorgerückt war. Außer— dem hatte er den beſtimmten Entſchluß gefaßt, eine zweite wiſſen— ſchaftliche Expedition nach Oberindien, dem Himalaya und Tibet zu unternehmen. Um ſich zu derſelben vorzubereiten, war er mehrere Jahre lang eifrig unter Sylveſtre de Sacy und André de Nerciat mit Erlernung der perſiſchen Sprache (als der leichtern unter denen des Orients) beſchäftigt. Da zu dieſer Zeit (1812) der Kaiſer Alexan— der von Sibirien aus über Kaſchgar und Varkand eine wiſſenſchaft— liche Expedition nach der tibetaniſchen Hochebene angeordnet hatte, ſo

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wurde Humboldt von dem Reichskanzler, Grafen Romanzow, der ihn perſönlich kannte und ſeinen Unternehmungsgeiſt ſchätzte, auf— gefordert, ſich der ruſſiſchen Expedition anzuſchließen. Humboldt nahm ein ſolches Anerbieten willig an; der Ausbruch des Krieges zwiſchen Frankreich und Rußland vereitelte aber die ſchöne Ausſicht, die Geognoſie des Himalaya und Kuen-lün mit der Andeskette ver— gleichen zu können. Die großen politiſchen Veränderungen vom März 1814 bis November 1815 zwiſchen dem erſten und zweiten Pariſer Frieden veranlaßten Humboldt zu mehreren Reiſen. Er ging nach England, das er ſeit 1790 nicht wiedergeſehen hatte, zuerſt im Ge— folge des Königs von Preußen, 1814, dann mit Arago, als ſein Bru— der, den er ſchon 1811 in Wien beſucht hatte, Geſandter in London wurde, endlich im September 1818, wo.er von Paris aus über London nach Aachen ging, da ihn der König wie auch der Staats— kanzler Fürſt Hardenberg während des Congreſſes in ihrer Nähe zu haben wünſchten. Noch immer beabſichtigte Humboldt die Ausführung ſeiner großen aſiatiſchen Reiſe und der König ſetzte ihm zu Aachen einen jährlichen Zuſchuß von 12,000 Thalern für die Dauer derſelben aus. Sie kam aber, obgleich ſie ſchon in eini— gen Wonaten ins Werk geſetzt werden ſollte, auch diesmal nicht zu Stande, und Humboldt kehrte, nachdem er vom 13. October bis zum 26. November in Aachen verweilt hatte, nach Paris zurück. 1822 begleitete er den König zu dem Congreß von Verona und folgte ihm nach Rom und Neapel. Von hier aus wiederholte er nicht nur die 13 Jahre früher mit Gay-Luſſac und Leopold von Buch gemachten barometriſchen Weſſungen am Veſuv, ſondern es gelang ihm auch, bei dreimaliger Beſteigung des Berges (am 22. und 25. Nov. und am 1. Dez.) eine vollſtändigere Beſtimmung aller Kraterränder zu unternehmen. Dieſe Arbeit verdient um ſo mehr Intereſſe, als ſie die lange Epoche großer Eruptionen zwiſchen 1805 und 1822 umfaßt und vielleicht die einzige in allen ihren Theilen vergleichbare Weſſung iſt, welche man von irgend einem Vulkan be— kannt gemacht. Sie beweiſt, daß die Ränder der Krater nicht bloß da, wo ſie (wie am Pik von Teneriffa und an allen Vulkanen der Andeskette) ſichtbar aus Trachyt beſtehen, ſondern überall ein weit

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beſtändigeres Phänomen ſind, als man bisher nach flüchtig ange— ſtellten Beobachtungen geglaubt hat”).

Nach der Rückreiſe von Verona, in dem ſo ſtreng einbrechen— den Winter von 1823, durch Tirol und Böhmen trennte ſich Hum— boldt von dem Könige erſt in Berlin, das er ſeit vollen 15 Jahren nicht beſucht hatte. Seinen Bruder Wilhelm, der inzwiſchen den Staatsdienſt verlaſſen hatte, fand er in Tegel, wiſſenſchaftlicher Muße lebend. Nach einem Aufenthalte von wenigen Monaten kehrte Hum— boldt nach Paris wieder zurück. Der Wunſch des Wonarchen, ihn als wiſſenſchaſtlichen Rathgeber in ſeiner Umgebung zu behalten, und ihn bleibend für das Vaterland wieder zu gewinnen, konnte erſt im Frühjahr 1827 erfüllt werden, wo Humboldt, ſeinen dauernden Aufenthalt in Paris aufgebend, über London und Hamburg nach Berlin ging und endlich das langentbehrte Glück genoß, mit feinem Bruder an einem Orte zu leben und vereint wiſſenſchaftlich zu ar— beiten.

Noch vor ſeiner gänzlichen Ueberſiedelung hatte Humboldt im Herbſt 1826 einige Wonate in Berlin verweilt, und war auf der Rückreiſe nach Paris auch in Weimar bei Goethe geweſen. Ueber dieſen Beſuch macht uns Eckermann unterm 1. December deſſelben Jahres folgende intereſſante Wittheilung: Ich fand Goethe in einer ſehr heiter aufgeregten Stimmung. „Alexander von Humboldt iſt dieſen Morgen einige Stunden bei mir geweſen, ſagte er mir ſehr belebt entgegen. Was iſt das für ein Mann! Ich kenne ihn ſo lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erſtaunen. Man kann ſagen, er hat an Kenntniſſen und lebendigem Wiſſen nicht ſei— nes Gleichen. Und eine Vielſeitigkeit, wie ſie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen iſt! Wohin man rührt, er iſt überall zu Hauſe und überſchüttet uns mit geiſtigen Schätzen. Er gleicht einem Brun— nen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerſchöpflich entge— genſtrömt. Er wird einige Tage hier bleiben und ich fühle ſchon, es wird mir ſein, als hätte ich Jahre verlebt.“

*) Vgl. Näheres in der Abhandlung „über den Bau und die Wirkungs— art der Vulkane“ (Anſichten der Natur Bd. 2.).

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Am 3. Juli 1827 hielt Humboldt zu Berlin in der Akademie der Wiſſenſchaften eine Vorleſung über ſein Lieblingsthema: die Urſachen der Temperaturverſchiedenheit der Erde, und im Herbſt deſſelben Jahres eröffnete er eine Reihe öffentlicher Vorleſungen über phyſiſche Weltbeſchreibung, die er bereits drei Jahre früher, doch in franzöſiſcher Sprache, zu Paris gehalten hatte. Humboldt begann fie in einem der Säle des Univerſitätsgebäudes am 3. Vovbr. 1827 und ſchloß mit der 61. Vorleſung, am 26. April des nächſten Jah— res. In freier Rede, mit aller Kraft des Geiſtes und aller Wärme des Herzens, führte der beredte Lehrer das Weltall in einer wun— derbaren Bilderreihe vorüber ). Dieſe Vorträge erregten fo großes Aufſehen und zogen ſo viele Zuhörer herbei, daß der Vortragende gezwungen war, faſt gleichzeitig einen zweiten Curſus über denſelben Gegenſtand in der großen Halle der Singakademie zu beginnen, eine Wiederholung des erſtern, nur eingerichtet für eine größere und ge— miſchtere Verſammlung. Da erſchienen der König, die königliche Familie, die erſten Männer und Frauen der Stadt und zwar un— unterbrochen. „Alexander“ ſchrieb Wilhelm von Humboldt an Gentz in Wien, „iſt wirklich eine puissance und hat durch ſeine Vorleſun— gen hier eine neue Art des Ruhmes erworben. Sie ſind unüber— trefflich.“

Die Worte eines deutſchen Dichters (Wolfgang Wüller von Königswinter) machen uns den Eindruck der Vorträge eines Alexanders von Humboldt in ſchöner poetiſcher Weiſe lebendig:

*) Weſen und Begrenzung der phyſiſchen Weltbeſchreibung, allemeines Naturgemälde 5 Vorträge; Geſchichte der Weltanſchauung 3; Anregungen zum Naturſtudium 2; Himmelsräume 16; Geſtalt, Dichte, innere Wärme, Magnetismus der Erde und Polarlicht 5; Natur der ſtarren Erdrinde, heiße Quellen, Erdbeben, Vulkanismus 4; Gebirgsarten, Typen der Formationen 2; Geſtalt der Erdoberfläche, Gliederung der Continente, Hebung auf Spal- ten 2; tropfbar-flüffige Umhüllung und Meer 3; elaftifch-flüffige Umhüllung: Atmoſphäre, Wärmevertheilung 10; geographiſche Vertheilung der Organis- men im Allgemeinen 1; Geographie der Pflanzen 3; Geographie der Thiere 3; Menſchen⸗Racen 2.

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„Wir ſetzen lauſchend uns zu deinen Gäſten, Uns wird, wir reiſ'ten fern in andre Zonen, Im heißen Süd, wo blüh'nde Palmenkronen Uns überwölbten mit den ſchlanken Aeſten.

Du führſt uns zu des Himmels Sterngelüſten, Wo hoch im Aether tauſend Welten thronen;

Du zeigſt das Land, ſoweit die Menſchen wohnen, Weiſt uns zu Meeren und Gebirgeswüſten.

Du lehrſt verſtehn uns Thier und Stein und Pflanze: Es lebet im Gewalt'gen wie Geringen Ernſt der Natur einheitlich großes Leben.

Stets blüht dein Wort in künſtleriſchem Glanze. O Wundermann, welch Land ließ dich entſpringen? Kein Land das All iſt Heimat deinem Streben!“

Noch während der Vorleſungen, Ende Decembers 1827, war im Auftrage des Kaiſers Nikolaus durch den ruſſiſchen Finanzmi— niſter Grafen Cancrin an Humboldt die Einladung zu einer groß— artigen Expedition nach dem nördlichen Aſien (Ural und Altai), nach der chineſiſchen Dſungarei und dem kaſpiſchen Meere ergangen, die auf alleinige Koſten der ruſſiſchen Regierung und ganz nach dem eignen Ermeſſen Humboldt's zur Förderung der Wiſſenſchaft aus— geführt werden follte*). Humboldt konnte von dem edlen Anerbie— ten des Kaiſers nicht ſofort Gebrauch machen, da er die Vorträge, für die ſich eine ſo außerordentliche Theilnahme aller Gebildeten an den Tag legte, nicht zu unterbrechen wünſchte. Die Bitte um Auf— ſchub fand indeß leicht Gehör.

Humboldt verweilte übrigens auch nach Beendigung jener Vor— leſungen noch über ein ganzes Jahr, welches außer den vorberei— tenden Reiſeſtudien noch in anderer Weiſe den Wiſſenſchaften för— derlich wurde. So veranlaßte er (1828), daß in allen preußiſchen Bergwerken zum Zweck vergleichender Forſchung „Temperaturbeob— achtungen“ angeſtellt würden, und als er im Herbſt des nämlichen Jahres von der ſiebenten Jahresverſammlung der deutſchen Natur—

*) Man ſehe das Nähere im erſten Kapitel des erſten Bandes der „Reiſen im europäiſchen und aſiatiſchen Rußland.“ IV. 22

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forſcher und Aerzte, die ihre diesmalige Sitzung in Berlin abhielt, zum Präſidenten erwählt wurde, war er es, der mit praktiſchem Blick die Einrichtung von Sectionen für die verſchiedenen ſpeciellen naturwiſſenſchaftlichen Fächer in Anregung brachte. Dieſe Einrich— tung erwies ſich in hohem Grade zweckdienlich, denn nur dadurch war es möglich, das ungeheure Material der einzelnen Gebiete von einander getrennt zu erhalten, und den wirklichen Fortſchritt klar zu überſchauen. Dagegen fielen die allgemeinen, der Geſammtwiſſenſchaft angehörigen Stoffe den allgemeinen Sitzungen anheim.

Humboldt eröffnete dieſe ſiebente Naturforſcher-Verſammlung mit einer gehaltvollen Rede über den Geiſt und den Putzen ſolcher

jährlichen Zufammenfünfte, und wie anregend fein Wort wirkte,

geht daraus hervor, daß wenige Jahre darauf nach dem Wuſter dieſer deutſchen Verſammlungen ganz ähnliche in England und Ita— lien veranſtaltet wurden.

Sehr ſchmerzlich wurde Humboldt, der ſeinem Bruder und der Familie deſſelben ſo innig nahe ſtand, von dem am 26. Wärz er— folgten Tode ſeiner Schwägerin berührt. Sie war eine in hohem Grade vielfach ausgezeichnete Frau geweſen?), durch ihre Reiſen mit Allem in Verbindung gekommen, was das Zeitalter in Wiſſen— ſchaft und Kunſt Großes aufzuweiſen hatte, und wie in Rom, Wien und Paris, hatte auch in Berlin ihr Haus den Wittelpunkt der geiſtreichſten und angenehmſten Geſellſchaft gebildet.

Am 12. April 1829 verließ Humboldt, in Begleitung der Pro: feſſoren Ehrenberg und Guſtav Roſe Berlin, nachdem er kurz vorher noch einen Beweis königlicher Huld durch die Ernennung zum wirk— lichen Geheimen Rathe mit dem Prädikat Excellenz empfangen hatte. Die Reiſe, deren vorzüglichſte Zwecke die bergmänniſche Unterſu— chung der Gold- und Platinlagerſtätten im Ural, die Entdeckung von Diamanten außerhalb der Wendekreiſe, aſtronomiſche Ortsbe— ſtimmungen und magnetiſche Beobachtungen, geognoftifche und bo— taniſche Sammlungen waren, ging über Woskau, Kaſan, die Rui—

) Rahel, die Gemahlin Varnhagens von Enſe, hat uns ein herrliches Wort von ihr aufbewahrt. Als ſie am 22. ſchon ſterbend dalag, ſchlug ſie die Augen auf und ſagte, ſelbſt den Tod erwartend, zu ihrem Manne: „Es iſt ein Menſch fertig“.

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nen des alten Bulgarü nach Katharinenburg, den Goldſeifenwerken des Ural und den Platinwäſchen von Niſchne-Tagilsk; dann über Bogoslawsk, Werchoturje und Tobolsk nach dem Altai (Barnaul, dem Kolywanſchen See, Schlangenberg und Uſtkamenogorsk), und von da nach den chineſiſchen Wilitairpoſten von Khonimailakhu nahe am Dſaiſang-See in der Dſungarei. Vom Altai wandten ſich die Reiſenden wieder weſtlich dem ſüdlichen Ural zu. Sie zogen durch die Steppe von Iſchim über Petropawlowsk, Omsk, Wiask und den Salzſee Ilmen nach Slatouſt, dem Taganai, Orenburg und dem Steinſalzſtock von Ilezk in der Kirgiſenſteppe der Kleinen Horde. Um Aſtrachan und das kaſpiſche Meer zu erreichen, mußte man der vielen Regengüſſe und Ueberſchwemmungen wegen den Weg über Uralsk, Saratow, den Elton-See, Dubowka und die Herrnhuter— kolonie Sarepta in der Kalmükenſteppe einſchlagen. Nach einem Beſuche bei dem Kalmükenfürſten Sered-Dſchab wurde die Rückreiſe angetreten. Den hiſtoriſchen Bericht dieſer Reiſe hat, wie ſchon erwähnt“) Profeſſor Guſtav Roſe veröffentlicht; hieran ſchließt ſich von Humboldt ſein zu Paris 1843 in 3 Bänden erſchienenes, für die Wiſſenſchaft unſchätzbares: „Asie centrale. Recherches sur les chaines de montagnes et la climatologie comparée“ (Central- Aſien. Unterſuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie. Aus dem Franz. überſetzt und durch Zuſätze ver— mehrt herausgegeben von Dr. W. Mahlmann. 2 Bde. Berlin 1844). Wir finden hier die Reſultate ſeiner Studien über Centralaſien verei— nigt. „Es giebt“, ſagt Humboldt in der Einleitung dazu, „in der Er— hebung der Maffen, in der Ausdehnung und Richtung der Gebirgs— ſyſteme und in ihren relativen Stellungen herrſchende Grundzüge, welche ſeit den älteſten Zeiten Einfluß auf den Zuſtand der menſch— lichen Geſellſchaft ausgeübt, die Tendenzen ihrer Wanderungen be— ſtimmt, die Fortſchritte der geiſtigen Cultur begünſtigt oder verzö— gert haben. Dieſe unvergänglichen Züge zu bezeichnen, durch welche es der Natur gefallen, den Boden, die Klimate und die Erzeugniſſe mannigfaltig zu verändern, iſt mein Hauptbeſtreben geweſen“.

) Vgl. das erſte Kapitel des erſten Bandes von Humboldt's Reiſen im europäiſchen und aſiatiſchen Rußland. 22 *

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Die beiden erſten Theile enthalten Betrachtungen über die Rich— tung der Bergketten und über die großen geologiſchen Eigenthüm— lichkeiten, durch welche ſie ſich von einander unterſcheiden. Von die— ſen Unterſuchungen hebt Humboldt ſelbſt eine erſte Zahlenberechnung der mittlern Höhe der Continente hervor, d. h. der Höhe des Schnee— punktes von dem Volumen des ſich gegenwärtig über das Niveau des Oceans erhebenden Feſtlandes. Die Beſtimmung der Höhen und der Oberfläche des Terrains, welches die Gebirgsketten und die Ebenen einnehmen, iſt aber darum von beſonderer Wichtigkeit, weil ſie die Regionen unſeres Feſtlandes bezeichnet, in welchen die im Schooß der Erde thätigen und ſich entwickelnden Kräfte am mächtig— ſten wirkſam geweſen ſind, die äußere Kruſte zu heben. Im dritten Theil befinden ſich Forſchungen über die Klimatologie Aſiens und den Erdmagnetismus. An die Klimatologie dieſes Erdtheils knüpft Hum— boldt zugleich allgemeine Unterſuchungen über die Form der Iſother— men⸗Linien “) (d. h. der gedachten Linien, die alle Erdpunkte von glei— cher mittlerer Jahreswärme mit einander verbinden), über die Urſa— chen ihrer Krümmungen und über die Höhe des ewigen Schnees auf beiden Hemiſphären, indem Humboldt die untere Grenze deſſelben am Kaukaſus, auf den beiden Abhängen des Himalaya, in Mexiko und auf den Andes von Bolivia verglichen hat.

Die aſiatiſche Reiſe hatte übrigens noch ein anderes unmittel— bar praktiſches Reſultat durch das in Petersburg errichtete phyſi— kaliſche Obſervatorium. „Die größten Vortheile,“ ſagt Humboldt (Bd. 2 S. 49), „welche für die Weteorologie und insbeſondere die Theorie der Iſothermen-Linien dereinſt zu erwarten ſtehen, wird man der kaiſ. Akademie zu St. Petersburg zu verdanken haben, wenn dieſer berühmte Verein dabei beharrt, daß er nach Plänen, welche wir, mein gelehrter Freund, Hr. Kupffer und ich, ihm vorgelegt ha— ben, auf der ganzen Fläche des ruſſiſchen Reichs (von Armenien, Semipalatinsk und Irkuzk bis Kola, Kamtſchatka und zur Inſel Kodiak) ein regelmäßiges Beobachtungsſyſtem über die täglichen Ver—

) Schon früher hatten die Iſothermen, deren Entdeckung Humboldt's großes Verdienſt iſt, ihn zu einer Abhandlung veranlaßt, die im 3. Bande der Memoires de physique et de chimie de la Société d' Aceuil, Paris 1817, veröffentlicht wurde; deutſch in den Kleineren Schriften.

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änderungen des Barometers, Thermometers und Hygrometers, über die Bodentemperatur, die Windrichtung und die Waſſer- und Schnee— menge, welche ſich aus der Atmoſphäre niederſchlägt, ausführen läßt. Die Gleichzeitigkeit dieſer Veränderungen im Druck, in der Tempera⸗ tur, Feuchtigkeit, Richtung und im Vorherrſchen der Winde auf einer ſo ausgedehnten continentalen Fläche wird bei einer verſtändigen Vergleichung der Zahlenelemente uns bisher noch unbekannt gebliebene Geſetze offenbaren. Große Intereſſen des Ackerbaues und des in— duſtriellen Lebens der Völker, welche das europäiſche, aſiatiſche und amerikaniſche Rußland bewohnen, ſind an die Intereſſen der allgemei— nen Klimatologie geknüpſt, der das Wort zu reden meine Pflicht iſt. Die Einrichtung eines phyſikaliſchen Obſervatoriums zu Petersburg, in welchem man ſich mit der Berichtigung und Vergleichung der In—⸗ ſtrumente, der Auswahl der Orte, deren aſtronomiſche Lage genau beſtimmt iſt, mit der Leitung der magnetiſchen und meteorologiſchen Beobachtungen, der Berechnung und Bekanntmachung der mittleren Reſultate beſchäſtigt, wird von der ſpäteſten Nachwelt zu den höch— ſten Dienſten gezählt werden, welche die ruſſiſche Regierung ſeit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts der phyſikaliſchen Kenntniß des Erdballs, der beſchreibenden Botanik und Zoologie erwieſen hat.“ Das Jahr 1830 mit ſeinen großen politiſchen Umwälzungen jenſeits des Rheins gab den Beſchäftigungen Humboldt's auf meh— rere Jahre eine politiſche Richtung, die aber doch ſeiner wiſſenſchaft⸗ lichen Laufbahn nicht hinderlich geworden iſt. Nachdem er den Kronprinzen von Preußen im Wai 1830 nach Warſchau zu dem letzten, vom Kaiſer Nikolaus perſönlich eröffneten conſtitutionellen Reichstage und bald darauf den König in das Bad von Teplitz begleitet hatte, verbreitete ſich die Kunde von dem Sturze der älte— ren Linie der bourboniſchen Familie und der Thronbeſteigung des Königs Ludwig Philipp. Humboldt, der lange fon in ſehr naher Verbindung mit dem Orleans'ſchen Hauſe geſtanden, ward nun vom Könige Friedrich Wilhelm III. beauftragt, die Anerkennung des neuen Wonarchen nach Paris zu überbringen und von dort aus, mit Wiſ— jen des franzöſiſchen Hofes, politiſche Berichte, zuerſt vom Septem= ber 1830 bis Mai 1832, dann in den Jahren 1834—35 nach Berlin einzuſenden. Dieſelben Aufträge wurden mit gleichem Vertrauen

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in den folgenden zwölf Jahren fünfmal wiederholt, fo daß Hum— boldt bei jeder Sendung wieder vier bis fünf Monate ſeinen Auf— enthalt in Paris nahm. In dieſe Epoche fällt die Herausgabe ſei— nes „Examen critique de IThistoire de la geographie du nou- veau continent et des progres de astronomie hautique aux quinzieme et seizieme siècles“ (5 Bände, Paris 1834. Deutſch von J. L. Ideler: Kritiſche Unterſuchungen über die hiſtoriſche Ent— wickelung der geographiſchen Kenntniſſe von der Neuen Welt und die Fortſchritte der nautiſchen Aſtronomie in dem 15. und 16. Jahr⸗ hundert. 3 Bde. N. Ausg. Berlin 1852). Ein überaus ſchmerzli⸗ cher Verluſt traf ihn in dem Tode ſeines Bruders, der am 8. April 1835 zu Tegel in feinen Armen ftarb. Im Januar 1842 be- gleitete Humboldt den König Friedrich Wiihelm IV. nach England zur Taufe des Prinzen von Wales. Als der König im Wai des nämlichen Jahres am 102. Jahrestage der Thronbeſteigung Fried— richs des Großen zu dem von Friedrich geſtifteten Orden pour le mérite noch eine Friedensklaſſe hinzufügte, welche die ausgezeichnet— ſten Gelehrten und Künſtler aller Länder ſchmücken ſollte, wurde Humboldt zum Kanzler dieſes Ordens ernannt. Ein Ausflug nach Dänemark im Jahre 1845 war von kurzer Dauer, dagegen verweilte er vom October 1847 bis Januar 1848 wieder in Paris.

Nach einer ſo bewunderungswürdigen, über funfzig Jahre hin— durch entfalteten literariſchen Thätigkeit überraſcht uns als ein würdiger Schlußſtein derſelben noch am Spätabend Humboldt's ein großartiges Werk, deſſen Bild ihm, wie er ſelbſt ſagt, ſaſt ein hal— bes Jahrhundert lang vor der Seele ſchwebte. Wir meinen den Kosmos, deſſen erſter Band im Jahre 1845 erſchien“) und deſſen vierter und letzter Band noch erwartet wird. Da Humboldt ſeine früheren Vorleſungen über die phyſiſche Weltbeſchreibung nicht ſchrift— lich aufzeichnete, ſo hat der Kosmos, welcher, die Einleitung abgerech— net, erſt ſeit dem Jahre 1843 niedergeſchrieben wurde, mit ihnen nichts gemein, als etwa die Reihenfolge der behandelten Gegenſtände. Ueber den Plan des Werkes hören wir am beſten den Autor ſelbſt.

) Der zweite Band erſchien Stuttgart 1847, Band 3, Abth. 1 1850, Abth. 2 1851.

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„Wenn, ſagt Humboldt in dem Vorwort zum Kosmos, durch äußere Lebensverhältniſſe und durch einen unwiderſtehlichen Drang nach verſchiedenartigem Wiſſen ich veranlaßt worden bin, mich meh— rere Jahre und ſcheinbar ausſchließlich mit einzelnen Disciplinen und mit beſchreibender Botanik, mit Geognoſie, Chemie, aſtronomi— ſchen Ortsbeſtimmungen und Erdmagnetismus als Vorbereitung zu einer großen Reiſe-Expedition zu beſchäftigen, ſo war doch immer der eigentliche Zweck des Erlernens ein höherer. Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Beſtreben, die Erſcheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zuſammenhange, die Na— tur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzu— faſſen. Ich war durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einſicht gelangt, daß ohne den ernſten Hang nach der Kenntniß des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanſchauung nur ein Luftgebilde ſein könne. Es ſind aber die Einzelheiten im Naturwiſſen ihrem inneren Weſen nach fähig wie durch eine an— eigende Kraft ſich gegenſeitig zu befruchten. Die beſchreibende Bo— tanik, nicht mehr in den engen Kreis der Beſtimmung von Geſchlech— tern und Arten feſtgebannt, führt den Beobachter, welcher ferne Länder und hohe Gebirge durchwandert, zu der Lehre von geogra— phiſcher Vertheilung der Pflanzen über den Erdboden nach Maaß— gabe der Entfernung vom Aequator und der ſenkrechten Erhöhung des Standorts. Um nun wiederum die verwickelten Urſachen dieſer Vertheilung aufzuklären, müſſen die Geſetze der Temperatur: Ver: ſchiedenheit der Klimate wie der meteorologiſchen Proceſſe im Luſt— kreiſe erſpähet werden. So führt den wißbegierigen Beobachter jede Klaſſe von Erſcheinungen zu einer andern, durch welche ſie be— gründet wird oder die von ihr abhängt“.

„Es iſt mir ein Glück geworden, das wenige wiſſenſchaftliche Reiſende in gleichem Waaße mit mir getheilt haben: das Glück, nicht bloß Küſtenländer wie auf den Erdumſegelungen, ſondern das Innere zweier Continente in weiten Räumen und zwar da zu ſehen, wo dieſe Räume die auffallendſten Contraſte der alpiniſchen Tropen⸗ landſchaft von Südamerika mit der öden Steppennatur des nörd⸗ lichen Aſiens darbieten. Solche Unternehmungen mußten, bei der eben geſchilderten Richtung meiner Beſtrebungen, zu allgemeinen An⸗

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ſichten aufmuntern; fie mußten den Muth beleben, unſre dermalige Kenntniß der ſideriſchen und telluriſchen Erſcheinungen des Kosmos in ihrem empiriſchen Zuſammenhange in einem einigen Werke abzu— handeln. Der bisher unbeſtimmt aufgefaßte Begriff einer phyſiſchen Erdbeſchreibung ging ſo durch erweiterte Betrachtung, ja nach einem vielleicht allzu kühnen Plane, durch das Umfaſſen alles Geſchaffenen im Erd- und Himmelsraume in den Begriff einer phyſiſchen Welt— beſchreibung über. Der erſte Band des Werkes enthält: Einlei— tende Betrachtungen über die Verſchiedenheit des Naturgenuſſes und die Ergründung der Weltgeſetze (hiermit eröffnete Humboldt auch die Vorleſungen in der Singakademie zu Berlin); Begrenzung und wiſſenſchaftliche Behandlung der phyſiſchen Weltbeſchreibung; allge— meines Naturgemälde als Ueberſicht der Erſcheinungen im Kosmos. Die nachfolgenden Bände enthalten die Anregungsmittel zum Natur— ſtudium, (durch Belebung von Naturſchilderungen, durch Landſchaft— malerei und durch Gruppirung exotiſcher Pflanzengeſtalten in Treib— häuſern); die Geſchichte der Weltanſchauung, d. h. der allmäligen Auffaſſung des Begriffs von dem Zuſammenwirken der Kräfte in einem Naturganzen; und ſchließlich das Specielle der einzelnen Dis— ciplinen, deren gegenſeitige Verbindung in dem Naturgemälde des erſten Bandes angedeutet worden iſt.“

Den „Anſichten der Natur,“ die, wie ſchon früher erwähnt wurde, auch die große Zahl nichtfachgebildeter Leſer zu gewinnen vermochten, iſt der Kosmos inſofern verwandt, als Humboldt in beiden Werken zu zeigen geſucht hat: „daß eine gewiſſe Gründlich— keit in der Behandlung der einzelnen Thatſachen nicht unbedingt Farbenloſigkeit in der Darſtellung erheiſcht.“

Eine andere ungemein ſchätzenswerthe Gabe, die wir der Thätig— keit Humboldt's in neueſter Zeit noch verdanken, iſt die Sammlung ſeiner Kleineren Schriften, deren erſter Band (Stuttgart, 1853) „geognoſtiſche und phyſikaliſche Erinnerungen“ enthält.

Wir können ein Geſammturtheil über die großen und mannig⸗ fachen Verdienſte Humboldt's nicht beſſer ausſprechen, als mit den Worten der Feſtrede, die ein ihm Ebenbürtiger, Prof. Boeckh, am 3. Juli 1850 in der Königl. Preuß. Akademie der Wiſſenſchaften

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über Leibniz und Alexander von Humboldt gehalten hat. Dieſe Worte lauten:

„Am 4. Auguſt des Jahres 1800 iſt Hr. Alexander von Hum— boldt zum außerordentlichen Witgliede dieſer Akademie ernannt wor— den: nur ein Monat fehlt noch daran, daß er ein halbes Jahrhun— dert ihr angehört habe. Die Akademie hat es der Pietät mit Recht angemeſſen gefunden, die Erwähnung dieſer erfreulichen fünfzigſten Wiederkehr ſeines akademiſchen Geburtstages mit der Leibnizfeier zu verbinden. Lediglich in Berückſichtigung des Maßes, womit es ihm ſich zu meſſen beliebt, nicht nach dem Maße, womit wir und die andern Zeitgenoſſen ihn meſſen und die Nachwelt ihn meſſen wird, iſt dieſe Feier nicht um einen Monat weiter hinausgeſchoben, ſondern der heutige Tag beſtimmt worden, an Humboldt's akademiſches Ju— belfeſt zu erinnern, zugleich mit dem Beſchluß, ſein Bruſtbild in Warmor in dieſem Saale aufzuſtellen, wenn, was noch in weiter Ferne liegen möge, das allgemeine menſchliche Loos ihn unſeren Augen entrückt haben wird. Durch erſtere Feſtſetzung ſind wir des Vortheils verluſtig gegangen, daß Humboldt's wiſſenſchaſtliche Größe von einem Epopten an dieſer Stelle dargelegt werde, und der un— eingeweihte Sprecher iſt beinahe nur auf nackte epilogiſche Erwäh— nung der gedachten Beſchlüſſe angewieſen. Indem ich dieſem nach— komme, liegt es dem, der gern in der Einfalt der Betrachtungen bleibt, ſehr nahe, Vegleichungen anzuſtellen. Aber der beherzigungswerthe Sittenſpruch der Volksweisheit von Alt-England: „Wacht keine Vergleichungen (Make no comparisons)!“ muß davon möglichſt zu— rückhalten. Nur eine ſehr allgemeine wird dennoch erlaubt ſein: Alexander v. Humboldt iſt wie Leibniz der wahre akademiſche Mann, und wie letzterer für ſeine, ſo er für unſere Zeit das Ideal des akademiſchen Mannes. Ich führe dies nicht aus, ich ſpreche es nur aus, und biete es dar zu ſtillſchweigender Ueberlegung. Aber er gehört nicht einer, auch nicht blos allen Akademien, ſondern der ganzen gebildeten Welt an. Um nur mit drei Worten auf ſeine Vielſeitigkeit hinzuweiſen, was hat er nicht alles in allen Gebieten der Naturwiſſenſchaft angeregt und geleiſtet, in Zoologie, Phyſiolo— gie und vergleichender Anatomie, in der Botanik durch monogra— phiſche Behandlungen und die großen Werke über die Aequinoctial—

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pflanzen und die neuen Gattungen und Arten der Pflanzen, durch Pflanzengeographie und Forſchungen über Vertheilung der Gewächſe auf der Erde nach Temperatur und Höhe, in der Mineralogie, Geo— logie und Geognoſie nebſt Berg- und Hüttenweſen, in der Chemie, Meteorologie und Klimatologie, über galvaniſche und elektriſche Verhältniſſe, Erdmagnetismus, Wärme, Schall; er hat neben aſtro— nomiſchen Beobachtungen den Luftkreis, die Erde in den verſchieden⸗ ſten Zonen, auf den höchſten Höhen und in den unterirdiſchen Tie— fen unterſucht, Amerika und Aſien unſerem Blicke neu eröffnet und die phyſiſche Erdbeſchreibung im weiteſten Umfange begründet. Aber er hat auch die Geſchichte der Wenſchheit umfaßt, alles Kulturge⸗ ſchichtliche, die politiſche Geſchichte entfernter Länder, die Vethält— niſſe der Bevölkerung und was man ſonſt noch unter Statiſtik zu begreifen pflegt; er hat mit edler und dankbarer Liebe allen Ahnun- gen und Keimen ſpäterer Kenntniſſe des Kosmiſchen und Telluriſchen durch das klaſſiſche und morgenländiſche Alterthum hindurch und in den mittleren Zeiten nachgeſpürt, die Weltanſchauung aller Völker und Zeiten mit feinem Sinn und Gefühl verfolgt. Nach ſeinen eigenen Worten hat er „durch einen unwiderſtehlichen Drang nach Wiſſen ver— anlaßt“ ſich dem Einzelnſten gewidmet und doch niemals feine Haupt⸗ aufgabe aus den Augen verloren, „die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzufaſſen,“ und überall allge— meine weithin tragende Anſichten auf dem Grunde des Beſondern ge— bildet, nicht encyklopädiſch oder polyhiſtoriſch aggregirt, ſondern Fünft- leriſch geſchaffen, und alle Seiten durch einander wechſelſeitig beleuch— tet. Vicht geſchreckt durch Anderer jugendlichen Mißbrauch der Kräfte, ſpricht er auch dem Geiſtigen in der Naturbetrachtung ſeine Stelle nicht ab, will nicht, daß durch den Gegenſatz des Phyſiſchen und Ins tellektuellen „die Phyſik der Welt zu einer bloßen Anhäufung empi⸗ riſch geſammelter Einzelheiten herabſinke.“ Natur und Geiſt haben ſich ihm durchdrungen; mit poetiſcher Kraft der Phantaſie und allem Reiz der Sprache verbreitet er über das Reale den Zauber des Idealen, der die Aelteren unter uns wie ein zephyriſcher Hauch an— weht aus den Tagen der Jugend, da Alexander von Humboldt mit dem unſterblichen Bruder in der Genoſſenſchaft der begabteſten Wän— ner Deutſcher Zunge lebte, denen die Horen und Charitinnen noch

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hold waren. Begeiſtert für alles rein Wenſchliche, iſt er erhaben über die Vorurtheile der Zeit und des Standes, nimmt Antheil an jeder edlen Beſtrebung, erkennt jede Leiſtung an: dazu freies und offenes Urtheil, unabhängige Geſinnung, Wilde und Nachſicht, allgemeines, thätig förderndes Wohlwollen. Und ſo darf ich ohne Scheu mit den Worten endigen, womit ein alter Dichter einen Hymnus für einen zwar mächtigern, aber gewiß nicht edlern Mann ſchließt: „Wie viele Freuden Er Andern bereitete, wer könnte das erzählen,“

Wir beſchließen dieſe Wittheilungen mit zwei intereſſanten Schil— derungen, welche ein Ruſſe und ein Amerikaner von ihrem Beſuch bei Alexander von Humboldt gegeben haben.

Der Erſtere, Herr N. Welgunoff, theilt ſeinen Landsleuten in der ruſſiſchen Zeitſchrift Otet schestwennija (Vaterländiſche Denk— würdigkeiten) Folgendes mit“):

Eines Morgens erhielt ich von Herrn Varnhagen von Enſe folgendes Billet: „Da es mir ſehr leid thäte, wenn Sie in Berlin nicht auch Herrn v. Humboldt ſähen, ſo mache ich, auf die Gefahr hin, Sie zu beläſtigen, den Verſuch, durch das anliegende Billet Ihre ſchwankende Abſicht zur Entſcheidung zu bringen, indem ich Sie jedoch keinesfalls zur Ausführung verpflichte. Man darf nie— mals verſäumen, einen fc ausgezeichneten Mann zu ſehen, und Ihnen beſonders möchte ich von ganzer Seele dieſe Gelegenheit verſchaffen. Erkennen Sie wenigſtens die aufrichtige Bereitwilligkeit, Ihnen an— genehm zu ſein.“

Dieſem Billette lag, wie ſchon erwähnt, ein anderes bei „An Herrn Baron Alexander von Humboldt.“ Schon früher und öfter hatte Herr v. Varnhagen mich aufgeſordert, dem berühmten Reiſen— den meine Aufwartung zu machen; ich hatte mich jedoch bisher nicht dazu entſchließen können, da ich einen beſonderen Anſpruch auf deſſen Aufmerkſamkeit nicht machen konnte. Einige Abende, welche ich mit Herrn v. Humboldt in Moskau verlebt hatte, wo ſtets ein Haufe von Neugierigen den früher nie geſehenen Gaſt umlagerte und er nicht wußte, nach welcher Seite hin er zuerſt Rede ſtehen, mit wem

*) Nach der deutſchen Ueberſetzung im Magazin für die Literatur des Auslandes. Jahrg. 1840 Nr. 37 und 38.

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er das Geſpräch eigentlich führen ſollte; ferner eine außerordentliche Sitzung in der Geſellſchaft der Naturforſcher, zu welcher er mit den ihn auf ſeiner Reiſe begleitenden beiden Berliner Profeſſoren Ehren— berg und Roſe eingeladen war und der ich als Mitglied beiwohnte; endlich ein großes Diner, welches ihm von den Verehrern ſeines Namens, zu denen ich mich ebenfalls zu zählen wagte, im Saale des Adligen-Klubs gegeben worden war dies Alles konnte mir noch nicht das Recht geben, mich ihm vorzuſtellen. Wie hätte er mich in dem zahlreichen Haufen der Moskauer Verehrer, wenn nicht der Wiſſenſchaft und des Genies, wenigſtens doch der Berühmtheit, wohl bemerken können? Da waren ſo viele Sterne, geſtickte Uni— formen und Excellenzen; da waren, wenngleich nur in geringer An— zahl, auf dem Gebiete der Wiſſenſchaften geachtete Namen; wie hätte ich, der Unbekannte, der Laie, in Humboldt's Gedächtniß Raum finden ſollen? Varnhagen's Billet hob jedoch meine Zweiſel; ich beſchloß, daſſelbe zu benutzen, in der Hoffnung, daß ich jetzt eine freundliche Aufnahme nicht bloß der gefälligen Zuvorkommenheit des Herrn von Humboldt zu verdanken haben würde.

Sollte es nöthig ſein, dem ruſſiſchen Leſer zu ſagen, wer Alexander v. Humboldt ſei? Sein in Europa oder vielmehr in der ganzen Welt ſowohl in der neuen als in der alten be— rühmter Name iſt auch bei uns, und beſonders ſeit der Zeit, wo Alexander v. Humboldt ſeine Reiſe nach Sibirien und dem kaſpi— ſchen Meere machte, noch bekannter geworden; denn dieſem Umſtande verdanken wir es, daß ſogar die Isprawniks (d. h. Kreis-Hauptleute Landräthe) und Aſſeſſoren der entfernteſten Provinzen Humboldt's Namen erfahren haben. Bei dieſer unter uns allgemein verbreiteten Kenntniß von Humboldt's Namen und feinen Verdienſten dürfte es aber wohl überflüßig ſein, dem Leſer noch zu erzählen, daß ich eine gewiſſe unwillkürliche Zaghaſtigkeit empfand, als ich Varnhagen's Billet zu Humboldt hintrug. Bis dahin hatte ich Humboldt ſtets nur in verſchiedenen Salons, in einer gelehrten Geſellſchaft, bei einem großen Diner geſehen Humboldt, den officiellen, welcher eine ihm bekannte, durch die Umſtände auferlegte Rolle ſpielte; jetzt ſollte ich Humboldt, den ſchlichten Privatmann im Hauskleide, ſehen, Humboldt, wie er iſt, und nicht, wie er ſich vielleicht gerade

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zeigen muß. Jedermann wird mir aber beipflichten, daß es ein weit größeres Bedenken hat, einem hochberühmten Manne Aug' in Auge gegenüber zu ſtehen, als demſelben im Salon, in der Wenſchenmaſſe zu begegnen. Hierzu kommt noch, daß Humboldt eine literariſche Celebrität iſt, und ſogar die bedeutendſte. Jede andere macht we— niger Anforderungen an den Geiſt, beſonders an deſſen Form und Gewandtheit, bei allen denen, welche ſich ihr nahen. Der Gelehrte oder der Literat begnügt ſich keinesweges mit dem natürlichen Vers ſtande bei dem, der ſich mit ihm unterhält nein, er fordert einen gebildeten, durch Lectüre, Lebenserfahrung und Nachdenken entwickel— ten Geiſt; außerdem aber verlangt er, nächſt dem Schwung und der Originalität der Gedanken, auch Eigenthümlichkeit und Klarheit des Ausdrucks. Alles dies wußte ich und konnte daher meine Schüchtern— heit nicht gänzlich überwinden. Alsdann wußte ich auch, daß nächſt der Schüchternheit nichts lächerlicher iſt, als eine auswendig gelernte Rolle, und nichts ſeltſamer erſcheint, als Affectation, welcher Art ſie auch ſei. Da ich nun Humboldt kennen zu lernen wünſchte, wie er iſt, ſo beſchloß ich, auch mich ihm zu zeigen, wie ich wirklich bin, ohne auswendig gelernte Phraſen und Gedanken.

Ich war indeſſen doch ſehr froh, als man mir auf meine Frage: „Ob der Herr Baron zu Hauſe ſei?“ antwortete, daß er ſich im Königl. Palais befinde. Ich ließ daher Varnhagens Billet nebſt meiner Karte zurück und erkundigte mich, zu welcher Zeit der Herr Baron wohl am leichteſten zu ſprechen ſei. Der mir entgegenge— kommene Jäger, ſowie eine alte Köchin, erwiederten mir jedoch: „Daß der Herr Baron nur den frühen Morgen zu Hauſe zubringe, dann aber gewöhnlich Niemanden annehme, hierauf ausgehe und zu— weilen gegen Wittag, indeſſen nie zu einer beſtimmten Zeit, nach Hauſe zurückkehre, eine beſtimmte Empfangs-Stunde aber nicht habe. Uebrigens,“ fügten die Dienſtboten hinzu, „werden wir dem Herrn Baron Alles melden.“

Noch an demſelben Tage erhielt ich von Herrn v. Humboldt eine Einladung, ihn am ſolgenden Tage um 8 Uhr Worgens zu be— ſuchen. Dieſe mir beſtimmte Zeit mag vielleicht Wanchem zu früh erſcheinen; man muß jedoch wiſſen, daß Humboldt im Sommer um 4 Uhr aufſteht und 8 Uhr daher für ihn ſchon ſpät am Morgen

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iſt. Nächftdem fangen im Sommer: Halbjahr die Vorleſungen auf der Berliner Univerfität ſchon um 6 Uhr des Morgens an, fo doß um 8 Uhr die ganze gelehrte und literariſche Welt Berlin's längſt auf den Beinen iſt. Als ich aber zur feſtgeſetzten Stunde zu Hum⸗ boldt kam, war er ſo eben von ſeinem Worgen-Spaziergange zurück⸗ gekehrt. Die Wohnung, welche er inne hatte, liegt hinter dem Mu— ſeum in einer ziemlich einſamen, ſtillen Straße. Schon die Wahl diefer Straße bezeichnete den Wann, indem man daraus ſchließen konnte, daß Humboldt als Kammerherr dem Palais des Königs und dem Schloſſe des Kronprinzen nahe ſein, als Weltmann ſich von der berühmten Straße „Unter den Linden“, wo die Ber- liner vornehmen Leute wohnen, nicht entfernen, als Gelehrter aber endlich in einem einſamen ſtillen Aſyl ſich befinden wollte.

Der Diener meldete mich ſogleich an, und nicht lange ließ Herr v. Humboldt auf ſich warten. Während der Diener mich anmeldete, warf ich einen Blick um mich her. Sowohl in dem kleinen Saale oder Entree, als in dem Empfangs-Zimmer, welches mir geöffnet wurde, deutete nicht das Geringſte auf die Wohnung eines Gelehr— ten hin. Zwei oder drei franzöſiſche Bücher gelehrten Inhalts lagen zufällig auf dem Tiſche; dieſelben waren aber noch nicht einmal aufs geſchnitten und wahrſcheinlich fo eben erſt aus dem Buchladen ge— bracht worden. Im Empfangs-Zimmer ſtanden ein Sopha, zwei Tiſche und einige Seſſel ganz nach der klaſſiſchen Ordnung der Moskauer Gaſtzimmer. Nirgends war hier Anſpruch auf Wode oder Prunk bemerkbar, noch weniger aber gelehrte Unordnung. Hum— boldt trat endlich aus einem Hinterzimmer; er war im Frack, im weißen Halstuche und wahrſcheinlich bereit, an den Hof zu gehen.

„Es iſt mir ſehr angenehm, meine Bekanntſchaft mit Ihnen zu erneuern,“ ſagte er mir; „ich erinnere mich Ihrer ſehr wohl.“

Er erſuchte mich hierauf, Platz zu nehmen. Da ich ſah, daß er ſich auf einen Seſſel ziemlich entfernt vom Sopha niederließ, ſo wollte ich mich auf einen anderen Seſſel neben ihm ſetzen, doch wiederholte er ſeine Bitte, auf dem Sopha Platz zu nehmen. Da ich nur ungern darein willigte und ihm durch eine beſondere Bewe— gung andeutete, daß ich ihm dieſen Platz zu überlaſſen wünſchte ,

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ſagte er mir: „Ich bitte Sie, ſetzen Sie ſich; ich ſtehe von hier nicht auf, das iſt ſo meine Gewohnheit“.

Ich erinnere mich nun nicht mehr, wie und worüber unſer Ge— ſpräch begann, nur ſo viel weiß ich, daß es über eine Stunde währte, daß ich nicht ſo viel ſprach als hörte, und daß, als ich mich meinem liebenswürdigen Wirthe empfahl, dieſer mich bis in das Vorzimmer begleitete und mich dort noch wohl eine halbe Stunde ſtehend durch feine hinreißende Beredſamkeit unterhielt. In dieſer ganzen Zeit hatten wir von Allem, außer von den Naturwiſſenſchaften, geſprochen, in welchen er mich wahrſcheinlich, und mit Recht, für einen Profanen halten mochte.

Weine anderthalbſtündige Unterredung mit Alexander v. Hum- boldt zeigte mir jedoch die ganze Geſchmeidigkeit ſeines Geiſtes, die ganze Mannigfaltigkeit ſeiner Kenntniſſe, ſeine ungemeine und all— ſeitige Beleſenheit, ſo wie gleichzeitig die große Tüchtigkeit des Welt— mannes, mit welcher er die verſchiedenartigſten Gegenſtände zu er— greifen und von einem zum andern überzugehen verſtand. Humboldt war einer der Erſten in Deutſchland, welcher den Stand des Ge— lehrten mit dem des Weltmannes auszuſöhnen verſtanden hat; außer— dem aber mildern ſeine halbfranzöſiſche Bildung und ſeine Pariſer Manieren noch das, was er als Deutſcher und als Gelehrter etwa Steifes und Pedantiſches an ſich haben könnte. Wit aller Tiefe und Gründlichkeit des Deutſchen verbindet er im höchſten Grade die Gabe der leichten und klaren Rede, bei der größten Natürlichkeit und Une gezwungenheit des Ausdrucks, was er wohl den Franzoſen verdankt. Die Bündigkeit und die Richtung ſeines Verſtandes haben ihn übri— gens von der deutſchen Abſtraction und Grübelei entfernt; der Elaſtizität ſeines Geiſtes nach, gehört er ohne allen Zweifel eben ſo ſehr Deutſchland als Frankreich an, insbeſondere aber jener berühm— ten Generation von Naturforſchern und Wathematikern, welche den Anfang unſeres Jahrhunderts verherrlichen. Viele Jahre ſeines Le— bens hat Humboldt in Paris zugebracht und dort nicht nur ſeinen Be— obachtungsgeiſt, ſondern auch den durchdringenden Forſcherblick des Analytikers, die Klarheit des rationellen Empirikers ausgebildet; er hat ſich dort auch eine große Leichtigkeit des Umganges ſowie Klar— heit und Lebendigkeit der Converſations-Sprache angeeignet und hat

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endlich mit den Franzoſen auch die Neigung zur Satire, zum Epi— gramm, zu feinen und nicht ſelten beißenden Sarkasmen gemein, welche übrigens, nach der ſehr richtigen Bemerkung Goethe's, eine Eigenthümlichkeit der Berliner ſind. Sein vorgeneigtes Haupt, das unter den Brauen aufblickende Auge und das halb ſpöttiſche Lächeln, was jedoch ſelten über ſeine Lippen geht, geben noch mehr Allem, was er ſagt, einen leichten Anflug von Ironie, welcher den, der an den Ton ſeiner Converſation nicht gewöhnt iſt, unwillkürlich ein— ſchüchtert. Der Franzoſe Lerminier, welcher ſelbſt ſich eben nicht durch zu große Herzensgüte auszeichnet, war über Humboldt's ſati— riſchen Geiſt fo verwundert, daß er in feinem „Au delä du Rhin“ unter Anderem ſagt: „Seine (Humboldt's) Gewandtheit in der Un— terhaltung iſt merkwürdig: ſeine Converſation hat tauſend glänzende Eigenſchaften; er iſt tiefer Denker, ſcharfſinnig, ſatiriſch; ſeine witzige Medifance aber giebt ihm eine gewiſſe Schärfe. Herr v. Humboldt hat die Gewohnheit in ſeinen Geſprächen kaum den zu ſchonen, mit dem er ſpricht. Indem man ihn hört, möchte man ſo lange als möglich bei ihm verweilen, und unwillkürlich fürchtet man, ihn zu verlaſſen“.

Dies iſt natürlich übertrieben. Als ich Herrn v. Humboldt zu Anfang des Jahres 1836 ſah, war Lerminier's Buch noch eine lite— rariſche Neuigkeit; Humboldt gedachte deſſelben faſt gleich beim An— fang unſeres Geſpräches und ſagte mit ſpöttiſchem Lächeln:

„Meiner iſt darin auch gedacht. Lerminier macht mir, zwar mit allem Anſtande, den Vorwurf einer gewiſſen Verſchmitztheit im Umgange mit denen, die mich beſuchen. Dies iſt eine der Unbequem— lichkeiten für diejenigen, welche der Neugierde der Reiſenden zu ge— nügen wünſchen! Van ſucht ſich nicht vor denſelben zu verhüllen, man zeigt ſich, wie man iſt, und plötzlich findet man eines ſchönen Morgens in irgend einem ſchönen Buche ſein eben nicht ſchmeichel— haftes Portrait mit übertriebenen Zügen und einem Ausdrucke, den Einem zu geben gerade dem Waler eben beliebt hat!“

Dieſe kleine Zurechtweiſung ging mir nicht nutzlos vorüber, ſondern ward mir ein warnender Rath.

Humboldt ſprach von Varnhagen: „Das iſt“, ſagte er, „auch ein Mann, der gern Portraits zeichnet, und ohne Zweifel wird ihm

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Niemand feine große Geſchicklichkeit abſtreiten. Unlängſt hat er eine Gallerie von den Perſonen herausgegeben, welche zu dem geſelligen Kreiſe ſeiner Frau gehörten. Er ſchneidet darin hier und da zwar in's friſche Fleiſch (il coupe dans les chairs vives), doch dies Alles,“ fügt er lächelnd hinzu, „find kleine Indiscretionen, die ich ihm ſeines guten Zweckes wegen verzeihe.“

Hierauf ſprachen wir ziemlich detaillirt von den bemerkens— wertheſten Erſcheinungen der neueſten deutſchen und franzöſiſchen Literatur, von Rahel, von Bettina's Briefwechſel mit Goethe, vom jungen Deutſchland, von Heine und Börne, von George Sand ꝛc. ꝛc. In allen ſeinen Urtheilen zeigte Humboldt einen ſchnellen Blick, frei von allen Vorurtheilen der Parteien jeder Art, ſowie Scharf— ſinn und Geiſt. Wit Erſtaunen gewahrte ich, daß der große Na- turforſcher über die Literatur der beiden Nachbar-Völker ſo urtheilte, als ob er ſich ewig nur mit der ſchönen Literatur beſchäftigt hätte. In feinen Urtheilen lag allerdings nichts frappirend Neues, doch zeichneten ſich alle in hohem Grade durch geſunden Sinn, Präciſion und praktiſchen Blick aus. Ich erinnere mich, daß er ſehr wohl und ſehr beſtimmt Börne und Heine unterſchied, indem er hinzu⸗ fügte, daß er über ihre Entzweiung“) ſich eben nicht wundere. Sie hätten ſich beide bei der Begründung ihrer Freundſchaft geirrt, in— dem die gleiche Abſtammung, die iſolirte Stellung in der Geſellſchaft, eine gewiſſe Aehnlichkeit in der Richtung und der Art und Weiſe ihrer Gedanken ſie zu dem Glauben veranlaßt hätten, daß ſie ge— borene Freunde wären. Aber das, was Börne nahe am Herzen läge, ſei für Heine nur Gegenſtand der Satire und des Spottes; Börne ſei ganz Seele, Heine ganz Witz; das Falſche in Börne's Richtung könnte durch die Reizbarkeit ſeines Temperaments und die Exaltationen ſeines edlen Charakters gerechtfertigt werden; das Falſche bei Heine aber ſei durch nichts zu rechtfertigen. So von einem Gegenſtand zum anderen übergehend, kamen wir auch auf die Berliner Univerſität.

„Unſere Univerſität,“ ſagte Humboldt, iſt unſtreitig eine der erſten in Europa. Sie iſt reich an ausgezeichneten Lehrern, nur

*) Im Jahre 1836 lebte Börne noch und war mit Heine im Streit. IV. 28

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ſchade, daß bei den deutſchen Univerſitäten, und ſo auch bei der unſrigen, das Diktiren noch nicht abgekommen iſt; dies tödtet jede Redekunſt. Selbſt Gans, der unſtreitig einer der eloquenteſten Lehrer iſt, muß ſich deshalb fortwährend unterbrechen und zwei- oder dreis mal dieſelbe Redensart wiederholen; ich weiß nicht, weshalb man nicht die Methode der Franzoſen annimmt, die, wie ihnen bekannt iſt, ſich nie darum kümmern, ob ihre Zuhörer ihre Worte nach— ſchreiben oder nicht. Warum ſieht man die Studenten immer noch wie Schüler an? Die Thatſachen können fie aus den Büchern ihrer Profeſſoren entnehmen, alles Uebrige aber muß man nicht nach— ſchreiben. Der den Gedanken begründende Geiſt, die Deduction des Profeſſors prägen ſich auch ohnedies dem Gedächtniß und der Phan⸗ taſie des Zuhörers ein, ſobald in dem Geiſte und dem Gedanken nur irgend Schärfe vorhanden iſt. Fehlt dieſe aber, ſo iſt es auch kein Unglück, wenn der Student das Gehörte vergißt. Wollte man übrigens durchaus alle Worte des Lehrers feſthalten, ſo müßte man öffentliche Stenographen einführen, ja die Studenten ſelbſt dürften nur die Stenographie erlernen, was ganz und gar nicht ſchwer iſt. In Paris findet man ſehr viele Stenographen unter den Sluden— ten. Wit der Abſchaffung des Diktirens würden aber die Profeſſoren ihrer Eloquenz freien Lauf laſſen können; der Gedanke würde nicht jeden Augenblick eingezwängt, unterbrochen werden, und die deutſche Gelehrten-Sprache würde dadurch mehr Leben, Action und Colorit erhalten. Dies aber würde ein Gewinn für die Sprache und ſelbſt für die Wiſſenſchaft werden; der Gedanke würde ſich freier und klarer entwickeln.“

Bei dieſer Gelegenheit ſprachen wir auch beſonders über jeden einzelnen der berühmteſten Berliner Profeſſoren, und Humboldt rieth mir unter Anderem auch, zu Böckh zu gehen, deſſen Vorleſungen er ſelbſt ein Jahr zuvor gehört hatte.

Der große Vaturforſcher begnügte ſich aber nicht damit, die Vorleſungen Anderer zu hören, ſondern hat deren ſelbſt gehalten. So las er im Winter von 1334 öffentlich für die höhere Geſellſchaſt Berlin's (und zwar vor zwei beſonderen, in großen Sälen dicht ge⸗ drängten Auditorien) „über phyſiſche Geographie,“ welche er durch ſo viele Entdeckungen bereichert hat; man kann ſich denken,

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wie dieſe Vorleſungen geweſen fein mögen. Bemerkenswerth dabei iſt aber auch noch, daß in Deutſchland, dem Lande der ariſtokra— tiſchen Vorurtheile, ein Baron, Kammerherr, wirklicher Geheimer Rath es nicht für zu gering achtet, öffentlicher Lehrer ſeiner Lieblings— Wiſſenſchaft zu ſein, Vorleſungen darüber zu halten und perſönlich vor einem zahlreichen Publikum das Katheder zu beſteigen. Der edle Mann wollte zeigen, daß der würdige Lehrer der Wiſſenſchaft deren wahrer Prediger ſei, und daß dieſer Beruf ſo heilig ſei, daß vor ſeinem Glanze Titel, Geburt, Ehren und vornehmer Stand verſchwinden.

Im Geſpräch mit einem Ruſſen konnte Humboldt Rußland nicht unberührt laſſen. Er ſprach ſehr detaillirt über das, was er von der damals zur Vivellirung der Höhen des kaſpiſchen und ſchwar— zen Meeres beſtimmten Expedition, vom Pulkowaſchen Obſervatorium, von den Beobachtungen über die Abweichungen der Magnetnadel ec. ꝛc. für die Wiſſenſchaft Alles erwartete. Humboldt iſt in faſt ununter— brochener Verbindung mit unſerer Akademie und dem Winiſterium der Volksbildung. Seine Geburt und ſeine Stellung bei Hofe ſind für ihn fördernde Mittel zur Erreichung feiner hohen Zwecke, die Leiter, mittelſt welcher er für die Wiſſenſchaft das erreichen kann, was für tiefer Stehende unerreichbar bleibt. Seine zahlloſen Verbin— dungen, ſeine Communicationen mit allen Geſandſchaften, mit allen Regierungen, mit allen politiſchen und gelehrten Celebritäten ver— breiten ſich über alle Theile der Welt und umfaſſen alle Zweige der Naturwiſſenſchaſt.

So z. B. hat er den Beobachtungen über die Abweichungen der Magnetnadel durch ſeine Verbindungen das weiteſte Feld eröffnet“).

*) Auf ſeinen Antrieb hat man jetzt über den ganzen mittleren Gürtel des alten Feſtlandes, von Liſſabon bis Peking, mathematiſche Obſervatorien erbaut. Zu Anfang des Jahres 1836 ſchrieb nämlich Humboldt an den Her- zog v. Suſſex, als Präſidenten der Royal Society in London, einen Brief: Sur les moyens propres à perfectionner la connaissance du magnetisme terrestre par l’etablissement de stations magnetiques et d'observations eorrespondantes. Jetzt aber iſt Humboldt's Vorſchlag durch die Londoner Society bereits ausgeführt, und vom Jahre 1840 an hat die neue Reihe von Obſervatorien (stations) in der ſüdlichen Halbkugel bis zu den äußerſten Gren- zen des ſüdlichen Polarkreiſes ihre Wirksamkeit in Verein mit den älteren

23 *

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Ich fragte Humboldt noch, womit er fidy in dieſem Augenblick vorzugsweiſe beſchäſtige? Er antwortete mir: „Wit Vielerlei, aber im Ganzen mit Wenigem. Am meiſten bin ich jedoch mit dem Ordnen der Papiere meines verſtorbenen Bruders und der Heraus— gabe ſeiner Forſchungen über die Kawi-Sprache beſchäftigt“.

Humboldt hatte ſehr Recht; denn während er dem Andenken ſeines berühmten Bruders die letzte Schuld abtrug, beſchäftigte er ſich im Ganzen mit Wenigem. Dieſes für ihn Wenige aber würde eben hingereicht haben, um das Leben mehrerer Gelehrten zu beſchäftigen. So führte ihn z. B. das Werk über Theile der phyſiſchen Geographie auf die Ethnographie, die Ethnographie aber auf das Erlernen der Sprachen, auf die Geſchichte und ſo immer weiter. Zu dieſem Zwecke und um ſich das Sichten der Papiere feines Bruders zu erleichtern, hatte er auch wahrſcheinlich Böckh's Vorleſungen beſucht. Seine unlängſt herausgegebenen Forſchungen über die Epoche der Entdeckung Amerika's “) beweiſen aber, welchen weiten Umfang er Allem, was er unternimmt, zu geben weiß, und wie er alle Wiſſenſchaften als Hülfsmittel zur Erläuterung ſeines Gegenſtandes zu benutzen verſteht. Unlängſt erſt, zu Ende des Jah— res 1838, enthielt ein deutſches Journal“) feine Abhandlung: „Ueber die Schwankungen der Gold-Production mit Rückſicht auf ſtaatswirthſchaftliche Probleme“, welche auch in Paris in franzö— ſiſcher Sprache erſchienen iſt und in der er die Geologie und We— tallurgie mit den wichtigſten ſtaatswirthſchaſtlichen und finanzwiſſen— ſchaftlichen Fragen in Verbindung zu bringen gewußt hat. In allen Wiſſenſchaften aber iſt er wie zu Hauſe.

Die geiſtige Richtung und die Beſchäſtigungen Humboldt' find indeſſen der Art, daß es ſchwer ſein würde, von ihm ein vollſtändig abgeſchloſſenes und ſtrenges Reſultat ſeiner langjährigen gelehrten Erfahrung zu erwarten. Um ſo unerwarteter und angenehmer war

und denen, welche man jetzt in Kanada erbaut, bereits begonnen. Und die⸗

ſes über den ganzen Erdball ausgebreitete Netz magnetiſcher Beobachtungen

iſt durch die Thätigkeit eines einzigen Menſchen bewirkt worden! Dieſer

eine aber iſt Alexander v. Humboldt. (Anmerk. d. ruſſ. Verf.) ) Examen critique de la geographie du Nouveau Continent etc. *) Deutſche Vierteljahrs⸗Schriſt, 1838, Heft IV.

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es mir daher aus Gretſch's „Reiſe-Briefen“ zu erfahren, daß Hum— boldt jetzt mit der Darſtellung ſeines eigenen Syſtems der Natur unter dem einfachen, aber viel bedeutenden Titel „Kosmos“ be— ſchäftigt ſei.

Humboldt's Reife durch Rußland, fein Aufenthalt in Moskau ec. waren ebenfalls Gegenſtände unſeres Geſprächs. Er gedachte mit Vergnügen, jedoch nicht ohne das ihm eigenthümliche Lächeln, der treuherzigen Gaſtfreundſchaft Moskau's, der Soircen, welche daſelbſt ihm zu Ehren gegeben wurden und in denen ein Jeder es für ſeine Pflicht hielt, mit ihm in der Kreuz und Quer „von Byron oder von wichtigen Dingen“ zu ſprechen; auch gedachte er mehrerer ihm bekannter Perſonen, fragte nach Puſchkin, der damals noch in der vollen Blüthe des Lebens ſtand, und erkundigte ſich beſonders nach deſſen hiſtoriſchen Arbeiten; eben fo nach K. K. Jeniſch (Fräulein Pawlowa), und drückte fein Bedauern aus, daß fie, nachdem fie an— gefangen habe, franzöſiſch zu ſchreiben, nun aufgehört habe, uns mit ihren vortrefflichen deutſchen Ueberſetzungen aus dem Ruſſiſchen, Polniſchen und anderen Sprachen, ſo wie mit ihren eigenen Gedich— ten, zu beſchenken.

Ungeachtet ſeiner tiefen Kenntniß vieler ausländiſchen Sprachen, liebt Humboldt doch vor allen ſeine Wutterſprache, die deutſche, und freut ſich ſtets, wenn Fremde ſich mit derſelben beſchäftigen.

Bei dieſer Gelegenheit erzählte er mir eine Anekdote, welche als Beleg für die allgemeine Meinung dienen kann, daß wir Ruſſen uns fremde Sprachen mit großer Leichtigkeit aneignen. S. S. Uwaroff befand ſich in ſeiner Jugend gleichzeitig mit Humboldt in Wien, zur Zeit als Schiller noch lebte. „Eines Tages,“ fuhr Humboldt zu erzählen fort, „erſchien in unſerem Kreiſe ein neues Gedicht von Schiller, welches als eine Novität uns noch im Ma— nuſkripte mitgetheilt wurde. Wir geriethen alle darüber in Ent— zücken, denn es war eins der beſten kleinen Gedichte Schiller's. Dieſelbe Bedeutendheit tiefer Gedanken, dieſelbe Sprache, derſelbe wohlklingende kräftige Vers. Lange Zeit eirculirte dieſes Gedicht in Wien unter Schiller's Namen, als wir plötzlich, ich weiß nicht mehr, auf welche Weiſe, erfuhren, daß Herr Uwaroff dieſe Verſe geſchrieben habe. Sie können ſich unſer Erſtaunen vorſtellen.“

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Aller Details der lebendigen Unterhaltung Humboldt's kann ich mich nicht mehr erinnern, doch habe ich die Hauptſachen berichtet. Das ganze Geſpräch hatte den angenehmſten Eindruck auf mich ge— macht und wird mir natürlich unvergeßlich bleiben. Die Lebendig— keit und Leutſeligkeit, mit welcher Humboldt von den wichtigſten Dingen ſpricht, der leichte Anflug von Ironie, welchen er auf Alles wirſt, über das er nicht ſpricht, ſeine große und tiefe Gelehrſam— keit, der Glanz ſeines Namens, ſein ſcharſer, freier, und klarer Ver— ſtand, ſeine Univerſalität, ſeine Weiſterſchaft in Allem, worüber er nur urtheilt, dies Alles verleiht ſeinem Geſpräch einen beſonderen Reiz und etwas unendlich Hinreißendes. Zu Anfang noch nicht zu geſprächig, fragte er mehr, als daß er ſprach, gleichſam als ob er meine Art zu denken und den Grad meiner Bildung erforſchen wollte, ſpäter aber ergriff er, immer lebendiger werdend, den Faden des Geſprächs und faſt ununterbrochen floß nun ſeine Rede, faſt wie, um ein Gleichniß des verewigten Puſchkin zu gebrauchen, das Waſſer aus dem Wunde jener marmornen Löwen in zwiefachen Strahlen, rechts und links.

Seitdem war ich noch einmal bei Humboldt, begegnete ihm ſpäter noch unter den Linden, und traf ihn noch einmal in einer Sitzung der Akademie der Wiſſenſchaften zwei Tage vor meiner Ab— reiſe aus Berlin, wo er mir ſagte, daß er faſt gleichzeitig mit mir Berlin verlaſſen werde, um nach Teplitz zu gehen, wohin ihn ſeine Pflicht als Kammerherr riefe.

Unter den Linden begegnete ich Humboldt ſtets allein, mit ziem— lich ſchnellen und ungleichen Schritten, vorgebeugtem Kopfe und ge— dankenvoll daher gehend. Jedesmal, wenn ich ihn ſo mit etwas geſenktem Haupte gehen ſah, erſchien er mir wie eine volle, reife, unter der Schwere zahlloſer, vollwichtiger Körner ſich neigende Aehre. Beſteht aber die geiſtige Erndte der Wenſchheit in der That nicht aus ſolchen Aehren, wie Humboldt, und haben nicht ſie allein Gewicht und Bedeutung im Kornhauſe Gottes?

Alexander v. Humboldt widerlegt durch ſein Beiſpiel die Mei— nung, daß das chelofe Leben das Alter des Wenſchen verkürze. Er iſt über 70 Jahr alt, aber noch ſo friſch und kräftig, daß man ihn für noch nicht 60 Jahr alt hält. In ſeinem ganzen Aeußeren be—

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merkt man durchaus nichts Greiſenhaftes, nichts Gebrechliches. Noch im Jahre 1838 war er abermals in ſeinem Paris, reiſte mit Arago nach der Normandie und führte ſtets und überall das thätigſte Leben.“

Ueber einen zweiten Beſuch bei Humboldt, den ein ſehr geach— teter amerikaniſcher Gelehrter Herr Silliman, Prof. der Chemie am Hale-College in New-Haven und Herausgeber des „American Jour- nal of Science and Arts“, im Jahre 1851 abſtattete, finden wir in dem neueſten Reiſewerke deſſelben (A Visite to Europe in 1851. 2 vols. New-Haven, 1853) folgende Wittheilung “):

„Humboldt's Haus iſt ein einfaches Gebäude in einem etwas ab— gelegenen Theile der Stadt Berlin. Wir würden ihn heute nicht zu Hauſe getroffen haben, wenn nicht der König eben nach Königsberg verreiſt geweſen wäre, denn Humboldt weilt gewöhnlich bei dem Kö— nig in Potsdam, deſſen Perſon er ſtets nahe iſt, wie dies auch bereits bei dem verewigten Könige der Fall war, und zwar nicht bloß der Geſellſchaft und Unterhaltung wegen, ſondern unbezweifelt auch als ein Rathgeber, wie es, vermöge feines vorgerückten Alters und feiner großen Welterfahrung, keinen weiſeren geben kann.

„Wir wurden durch ſeine Bibliothek eingeführt, welche einen Saal von anſehnlicher Größe von allen Seiten ausfüllt. Er trat uns in dem Beſuchzimmer aus einer Thür von der entgegengeſetz— ten Seite, wahrſcheinlich aus ſeinem Privatkabinet, entgegen. Er empfing uns mit großer Freundlichkeit und vieler Offenheit, unter Anderem mit einem ſcherzhaften Verweiſe darüber, daß ich Anſtand genommen, ihn zu beſuchen (ich hatte nämlich erſt ſchriftlich um die Erlaubniß gebeten, ihn beſuchen zu dürfen), worin zugleich eine ſehr verbindliche Anſpielung auf meine ihm bekannte wiſſenſchaſtliche Stel— lung und Thätigkeit lag. Ich ſtellte ihm ſodann meinen Sohn und Herrn Bruſh vor, und bald ſaßen wir, wie alte Bekannte, einander gegenüber. In ſeinem lebhaften Geſicht iſt ein unausſprechliches Wohlwollen ausgedrückt, und aus dem Quell ſeines unermeßlichen Wiſſens ergoß ſich beinahe eine Stunde lang ein reicher Strom. Er führte nicht etwa ausſchließlich das Wort, ſondern er gab viel—

*) S. Magazin für die Literatur des Auslandes. Jahrg. 1854. Nr. 2.

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mehr unſerer Aufforderung nach, fo oft wir dies in Form einer Frage thaten, oder W irgend einen beſonderen Gegenſtand zur Sprache brachten. Natürlich waren wir nur beſtrebt, ihn zu hören, keineswegs aber, uns ſelbſt vor ihm auszuſprechen.

„Humboldt iſt des reinſten Engliſch vollkommen mächtig und ſpricht daſſelbe mit großer Anmnth. Ueberhaupt iſt in ihm keinerlei Vornehmheit und Zurückhaltung; er ſpricht mit uns, als ob er un— ſeres Gleichen wäre, als ob er nicht den geringſten Anſpruch auf geiſtige Ueberlegenheit hätte. Seine Stimme iſt außerordentlich wohltönend, und ſeine Formen ſind dabei ſo liebenswürdig, daß uns war, als wären wir bereits ſehr alte Freunde. Sein Wuchs iſt nicht viel über mittlerer Größe. Er geht etwas gebückt, aber weniger als die meiſten Menſchen feines Alters. Er hat durchaus nicht das An— ſehen von Hinfälligkeit, ſeine Augen ſind leuchtend, ſeine Geſichts— farbe iſt klar; ſeine Perſon erſcheint gerundet, doch nicht beleibt; ſein Haar iſt dünn und altersgrau, aber ſein Gemüth noch friſch und jugendlich; ſeine Sprache iſt lebendig und von glänzenden Ge— danken erleuchtet.

„In ſchmeichelhafter Weiſe gedachte er des Fortſchrittes der Wiſſenſchaft in den Vereinigten Staaten und des Einfluſſes, welchen das American Journal of Science and Arts auf dieſen Fortſchritt geübt habe. Er zeigte ſich vollkommen vertraut mit dem Zuſtande der Naturwiſſenſchaften, fo wie mit den Fortſchritten unſeres Landes im Allgemeinen. Beſonders rühmte er die Arbeiten des Oberſt Fre— mont im fernen Weſten, des Profeſſor Bache bei der Küſtenver— meſſung und des Lieutenant Waury bei der Navigation. Auf den Karten, die er uns vorlegte und deren Linien er ohne Augenglas beſchrieb, bezeichnete er uns einen Verbindungskanal über den Iſth— mus von Darien, den er vor mehr als vierzig Jahren angegeben und beſchrieben hatte und auf welchen feine Aufmerkſamkeit neuer— dings durch einen Aufſatz von Oberſt Fitzroy im Journal of the Royal Geographical Society gelenkt worden. Er zeigte uns, daß auf der von ihm bezeichneten Linie, welche ſüdlicher als eine der vorhandenen Straßen liegt, keine Gebirge ſich befinden, und daß dieſe mehrere wichtige Vortheile für ſich habe.

„Ich gedachte ſeines kurzen Aufenthalts in den Vereinigten Staa:

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ten im Jahre 1804, wobei er jedoch 10 K nördlicher als bis Phila⸗ delphia gekommen war. Er erzählte uns, daß er damals drei Wochen in Monticello bei dem verſtorbenen Jefferſon zugebracht, der ihm ein außerordentliches Projekt ſeines erfinderiſchen, aber oft phantaſti— ſchen Geiſtes mitgetheilt, nämlich das Projekt einer dereinſtigen Thei— lung des amerikaniſchen Feſtlandes in drei große Republiken, mit Einſchluß des damals noch der Krone Spanien gehörenden Wexiko und der ſüdamerikaniſchen Staaten.

„Humboldt ſprach über ſehr viele die Vereinigten Staaten be: treffenden Gegenſtände. Die Entdeckung der Goldlager in Kalifor— nien lieferte ihm ein fruchtbares Thema. Unſere Topographie, unſere verſchiedenen Klimate, unſere Erzeugniſſe und Inſtitutionen, ja, ſelbſt unſere politiſchen Streitigkeiten ſind ihm alle auf das Genaueſte be— kannt. Obwohl mit Königen befreundet, iſt er doch auch ein Freund der ſtaatlichen Freiheit und freut ſich über den Wohlſtand unſeres Landes. Er machte einige ſehr anziehende Bemerkungen über die gegenwärtigen Zuſtände von Europa und über die Unmöglichkeit, eine moraliſche Macht durch phyſiſche Gewalt niederzuhalten.

„Zur Zeit unſeres Beſuches war Humboldt damit beſchäftigt, ein neues Werk über die Umriſſe von Gebirgskuppen und Vulkanen vorzubereiten, wobei er eigene Beobachtungen und Zeichnungen be— nutzte, die er im Verlaufe ſeiner verſchiedenen Weltwanderungen ge— macht“). Er erzählte uns, daß er genöthigt ſei, den größeren Theil ſeiner literariſchen Arbeiten zu einer Tageszeit auszuführen, wo An— dere ſchlafen, da er die gewöhnlichen Arbeitsſtunden meiſtens beim Könige zubringe. Er fügte hinzu, daß er frühzeitig die Entdeckung gemacht, er könne mit vier Stunden Schlafes ſehr gut fertig werden und ſich begnügen. Dies allein vermag auch, wie bereits von an— derer Seite bemerkt worden, eine Erklärung darüber zu geben, wie er die Zeit zu ſeinen wunderbaren wiſſenſchaftlichen und literari— ſchen Arbeiten findet“.

) Die ſchon erwähnten „geognoſtiſchen und phyſikaliſchen Erinnerungen“, (Kleinere Schriften Bd. 1.) mit einem Atlas, enthaltend Umriſſe von Vulka⸗ nen aus den Cordilleren von Quito und Mexiko.

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