at PL ie BR BERA N MR . nr en ET Tr anna ns nn ern nn ann tn JE EET wa nn R gern en ae en . “ A ir er AMT IILL \IOHM/IOWN ANALYTISCHE THEORIE 6 DER ORGANISCHEN ENTWICKLUNG VON SOLOG, HANS DRIESCH /., © 5 L 7 > Eu a %s \ Pe ‘ MIT ACHT TEXTTFIGUREN LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1894. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, sind vorbehalten. DEM ANDENKEN AN KARL ERNST vox BAER UND ALBERT WIGAND GEWIDMET Be N Y WA j ' P ie 7 I e / f’ (0% RN . Us: ne ; Ir a ei our . Be A e | Rn ni SWAANUIRE Ma | ee 73 | m BRETT TAFEE AUER | AR ER i se e N RR, = ki e N RER Ei 6 R SACHSEN NR ! u | B 20 e ‚aaınıu Iagaal VORWORT. In dieser Studie habe ich versucht, die Vorgänge der Formbildung der Organismen, mit vorzüglicher Hervorhebung der tierischen Formbildung, in ihre letzten Elemente zu zer- legen, soweit das zur Zeit möglich ist. Eine solche Zer- legung habe ich, dem Vorgange der Physik folgend, eine Theorie genannt, denn Theorie kann jede zusammenhängende Lehre heissen. In der Reihe meiner theoretischen Arbeiten ist diese Studie ein notwendiges Glied, ich hoffe, nicht das letzte. Unbefriedigt von den unbestimmten, unklaren und un- begründeten Phantasien unserer modernen, biologischen For- schung zogen mich zunächst die wenigen Versuche an, welche sich selbst exakt nennen; das führte mich zu einer Analyse dieser »mechanischen« Bestrebungen, gleichzeitig freilich schon zu einem Zweifel an ihrem Wert für die eigentlich biologischen Fragen. Immerhin war durch die Einsicht: »die Biologie muss exakt sein« viel für mich ge- wonnen. Ich hatte das Bodenlose nicht nur, sondern auch das Wertlose der historischen Forschung erkannt: nicht das vI Werden, sondern das Sein, oder das Sein im Werden wurde mir Problem der Naturforschung. Es folgte die klare Erkenntnis, dass Exaktheit nicht Subordination unter, sondern Koordination neben der Physik bedeute (Teil VI, 3 meiner »Studien«), und auf derselben Bahn des Denkens fortschreitend, konnte es mir dann nicht entgehen, dass exakte Biologie, d. h. ganz vorwiegend exakte Formenkunde, nicht nur neben die physikalischen Disziplinen als eine neue, sondern neben das Ganze der Physik, neben den Mechanismus als »selbständige Grundwissenschaft«, näm- lich als Tektonik zu stellen sei. Hier näherte ich mich wiederum den Ansichten mancher Historiker; freilich nur im Negativen, indem sie, wie ich, die rein mechanischen Me- thoden der Forschung für unzureichend zur Bewältigung der Lebensprobleme halten; über den »Wert« der Historie dachte ich damit nicht höher als zuvor. Diese Einsicht in die Sonderstellung der Formprobleme leitete mich nun gleichzeitig zu einer Analyse der gesammten Biologie, zu einer biologischen Wissenschaftstheorie. Indem ich aber diese Analyse am Erkenntnisvermögen mass, wurde sie mir selbst die Quelle neuer Belehrung: ich erkannte die Berechtigung und die Bedeutung der Teleologie und ihr Verhältnis zum Kausalbegriff, alte, aber fast völlig vergessene und von der modernen Oberflächlichkeit nahezu erstickte Wahrheiten. Die hier vorliegende Schrift ist eine Anwendung des in der »Biologie als selbständige Grundwissenschaft« gewonnenen vıl auf einen Teil des thatsächlichen biologischen Wissens; wenn man will: die Ausführung eines ihrer Abschnitte, wenn man anders will: die Durchkreuzung meiner theoretischen und meiner experimentellen Arbeiten. Auch hier wird nicht nur analysiert, sondern auch die Analyse gemessen an grösserem Maassstab. Wenn nun also diese Schrift das vorläufig letzte Glied einer zusammenhängenden Kette ist, so folgt daraus ferner, dass ihr Inhalt dem meiner früheren Arbeiten zwar ver- wandt, aber nicht ohne weiteres kommensurabel ist: sage ich also hier etwas anderes, als ich früher sagte, oder sage ich etwas in anderer Form, so ist das kein Widerspruch in meinen Ausführungen, sondern eine Weiter- oder auch Um- bildung derselben, und ich hoffe, dass auch diese Schrift noch recht weiter- und umbildungsfähig sei. Kritiker aber bitte ich dringend, die Vermengung von Altem und Neuem in meinen Schriften zu unterlassen. Kein Mensch beinahe hat bisher von meinen theoreti- schen Arbeiten Notiz genommen, mag das immer so bleiben. »Interessant« und »modern« ist auch diese Schrift nicht. Ich glaube auch nicht, dass sie leicht zu lesen ist; ja, ich hoffe, dass sie ein oberflächlicher Leser gar nicht versteht. Das soll nicht heissen, dass meine Schrift nicht ebensoviel des Schlechten wie des Guten enthalte, denn gewisse in ihr behandelte Dinge ist es schwer gut, unmöglich »besser« zu sagen. Wenn man sich aber dessen erinnert, dass meine Arbeit der ‚erste Versuch einer wirklichen. Analyse der vll Entwicklung ist, dann wird der Aufbau des Ganzen viel- leicht auch den befriedigen, der an Einzelheiten Anstoss nimmt. Wenn ich dem Leser Ratschläge geben soll, so bitte ich ihn, bei erster Lektüre dem $ 9 des Kapitel III sogleich den zweiten Hauptteil folgen zu lassen; in den S$ 7—9 des genannten Kapitels ist der Höhepunkt kausaler Analyse er- reicht: hier stellt sich die teleologische Betrachtung ganz von selbst ein. Dass ich diesen Gedankenlauf unterbrach, geschah des systematischen Aufbaues des Ganzen wegen. Der Niehtfachmann mag sich die Lektüre des $ 10 im Kapitel III und vielleicht auch der gesammten Einleitung ersparen. Von grossem Nutzen wird es dem Leser sein, im An- schluss an meine Schrift die neueste Arbeit meines Freundes C. Herbst »Über die Bedeutung der Reizphysiologie für die kausale Auffassung von Vorgängen in der tierischen Onto- genese« dem Studium zu unterziehen. Unter mannigfachem gegenseitigem geistigen Austausch sind unsere Arbeiten ent- standen; ich glaube, dass sie sich sehr zweckmässig er- gänzen: wer sich von der starren Abstraktion meiner Dar- stellung zurückgestossen fühlt, der findet dort fortgesetzt den Kontakt mit lebendigen Realitäten und, wenn er das An- schauliche bevorzugt, wahrscheinlich eine grössere Befriedi- sung, als ich sie ihm bieten kann. Man weiss es und merkt es hier wieder, welchen Männern ich vieles danke; es mag mir gestattet sein, Wilhelm IX Roux besonders zu nennen, um es deutlich zu machen, dass Hochachtung und schroffe Gegnerschaft keine Gegen- sätze sind. Der Name aber jenes, hier wie früher in der Widmung genannten, viel geschmähten Mannes, der in langer trüber Zeit neben wenigen anderen die Traditionen der alten, strengen, wahrhaft wissenschaftlichen Biologie hochhielt, mag für ihn selbst ein Zeichen später — leider zu später — Anerkennung, den Zeitgenossen gleichzeitig ein stiller, aber um so ernsterer Vorwurf sein. — Zahlreiche Wiederholungen trifft man in meiner Schrift an, durch ihre Anlage bedingt; da sie vorwiegend das Wichtigste betreffen, halte ich sie eher für einen Vorteil, als für einen Nachteil. Sollte man es tadeln, dass die Polemik in meiner Arbeit eine, wennschon vom positiv aufgebauten deutlich gesonderte, so doch immerhin ziemlich erhebliche Rolle spielt (Einlei- tung), so gebe ich die Berechtigung dieses Vorwurfs zum Teil zu. »Facta loquuntur« hätte ich, wie schon früher einmal, statt aller Polemik sagen können. Ich habe mich aber doch nicht entschliessen können, alle Diskussion zu streichen, denn ich wollte dem Leser etwas vollständiges und nament- lich etwas gut fundiertes bieten. Es ist dieses aber meine letzte Erörterung und Verteidigung der Grundprinzipien meiner Theorie; mag sich von jetzt ab der Leserkreis auf Grund der vorliegenden Darlegungen der widerstreitenden Ansichten selbst seine Meinung bilden, wenn er das noch nicht that und überhaupt will. X Die Lust an thatsächlicher exakter biologischer For- schung, am Experiment, ist erwacht: möge diese Schrift, zugleich ein Arbeitsprogramm für die Zukunft, dazu bei- tragen, dass auch das Verständnis für sie erwache, und damit zugleich die Einsicht heranreife, dass reine natur- wissenschaftliche Spezialforschung, sei sie auch von hoher Güte, innerhalb des Wissenschaftlichen nicht das Höchste und Letzte ist. Zürich, am 31. Juli 1894. Hans Driesch. INHALTSVERZEICHNIS. BEBEWwert. Ne A a Re ee A Re > 0 Einleitung. Die vorhandenen ontogenetischen Theorien, ge- prüftsan’der Hand der Thatsachen u . 1. aa 08. $ 1. Von der realistischen und idealistischen Prüfung von IEHBDEIORN IE A Rn I RO ne 8 2. Die Roux-Weismann’sche Theorie. . . ....... PoDIer Grundannahme en NIEREN ER 23918 ersten Tilisannahmen A re 3 1Herzweite Hilfsannakmer. - nr. See Senn, 2 Die-dritte’Hiliganaahmie: 2 nr a m er 5. Die Abweisung der Roux-Weismann’schen Theorie $ 3. Die Grundansicht meiner Theorie. . . . ...... $ 4. Die Fundierung der Grundansicht meiner Theorie und die Erledigung ihr entgegenstehender scheinbarer Sehwieriskeitene.. a a en Be 1. Die Voraussage der embryonalen Richtungen aus dem Bau,des’Eies' vor der’ Furchung. 2... 2 2% 2738 2. Das Zusammenfallen der Richtung der ersten Furche mit derjenigen der Medianebene des Embryo 2 Roux” halber Fraschembryo..... 2... Hass ; : 4. Die Halbfurchung der isolierten Blastomere des DER CIE Re ae ea 5. Die offene Blastula des Amphioxus. ....... 6. Wie entsteht aus isolierten Blastomeren das typische »Ganze« als Ausgangspunkt der Entwicklung?. . . $5. 0. Hertwig’s und Wilson’s Ansichten von der Entwick- hingen Besumäts Wehr seeiistarst ur ee Erster Hauptteil. Die kausal-analytische Behandlung der Dntokenese wa 2 5 ul MER N, SEE ©, u door! XII Kapitel I Von den morphogenen Elementarvorgängen $ 1. Von den eigentlichen zellulären Elementarvorgängen. 1. Zellteilung und Wachstum . .. . . 2. Das Zellwandern. . : . ..- N NE Be: 3. DieWelekretion' N 20 ee. Re $ 2. Von den abgeleiteten een der Onto- EEE 4 ME Sr. 2 le ; $ 3. Physikalische sn in der nd Ä 1716 Massenkorrelation’ 27. 2.2.7: 2% 2: - 2 Kapillaritäl. vs, ara sen Be 0 RE SEUSEIONe: Sin ee EST Et 20728 $S4. Chemismus als Erunlage) a ontogenetischen yo AO HE N RE $ 5. Die Rolle des Kernes in der De Be one Kapitel II. Von den Auslösungen der ontogenetischen Vor- gänge TER TE PER: 8.2. Beocsit der, Auslösung 2, 2, un ae ee 82. POS#10n And» InAUKLION : 04:0 er Sun PER $S 3. Von den inneren Induktionen. . . . a A N 1: Induktionen . Masseninduktion . ee a u Pe x Zug- und Dinckindakuer TEE EIN: 3. Berührungsinduktion. . . . . ae ea A ur N. Chemisehs Induktienen. >... 00 22 223 a 1. Die chemische Induktion als WER nS ; 2. Die chemische Richtungsinduktion . . . . S 4... Yon Jen Aussenen Taduktionen ;.. sr. u. an $ 5. Von der »funktionellen Anpassun« ...... Kapitel III. Die zeitliche Ordnung der ontogenetischen Vor- gänge. “... BASE STE A ER 2 $ 1: Das reihen! ERBE EI EIERN ER $S 2. Von der beschränkten Dauer der morphogenen Vor- SINE EEE EEE BIT EEE >" S 3. Von dem en eorens I S 4. Von den primären Elementarprozessen. . . »..... $5. Von den sekundären und weiteren Elementarvor- SIRSERE ATI IE I ETF RE =» $ 6. Von der positiven und negativen Bestimmung der Or- gane und von der Bestimmung ihrer Prospektivität . $ 7. Von den zwei Bestandteilen der prospektiven Potenz und von den letzten Grundlagen des Entwicklungs- rhytihmus, © rs 2 ee ea ne Seite XI Seite $ 8.. Die Harmonie der Entwicklungsvorgänge ...... 8 $ 9. Von der Selbständigkeit der morphogenen Elementar- PFOZERBEE ARE OLE EIE Ei a 0 92 $ 10. Von den scheinbaren und wirklichen Schwierigkeiten der Lehre vom ontogenetischen Rhythmus. . .... 9 S:411..Ven,den offenen Bormen PEN. ua. 105 $ 12. Von der Universalität der Entwicklungsprozesse und ihrem Wert fürdie Vergleichung . ... 2.2... 110 Kapitel ME Mies Regeneration un Dave. Il. 2 SS Dehttton ek REIN, AUF LEN S POTTER ; 82... Die Heteromarphaser a 2.2 Salturz!i. EI A $ 3. Ursache und Wesen der Regeneration... ..... 133 SAU onsder Ballunekie} EN TEDEDENE Ey! ae 118 Kapitel V. Von der Bildung neuer ae der Ent- wicklung und von der Vererbung . .... N EBEN ANGABE Sn ar I ATS a rs te 119 5929, QVon, der Knospung.. . ru. re a 120 $-32. Von der -Bibildung und Vererbung . .. 2. 2... 121 $S 4. Vererbungsprobleme Ein Exkurs. . . ..... 125 Zweiter Hauptteil. Die Ontogenie als Entwicklung im Lichte teleologischerBetraehtung - , sn. Na re: 127 $s 1. Von dem Ungenügen der kausalen Betrachtung für das Verstaudnıs der Kormbildame . ie a ae nt. 127 $ 2. Der Begriff der Entwicklung und Ei Einführung des teleslogischen Gesichtspunktes”.. un 2 Ma ..ı 128 $ 3. Von einer problematischen phylogenetischen Entwick- lung: Bin Exkurs ee ae 132 8 4. Von der absurden Annahme eines Zufallcharakters der Bormbildanen. 7. 227.2 ers ae 135 $ 5. Von dem Bildungstrieb und seiner Beschränkung . . 139 S 6. Von einigen Eigenschaften des ontogenetischen Bil- HuneBtrieDas th. "a ae er 142 Dritter Hauptteil. Die Entwicklungstheorie, gemessen am Pruistermder Brkenntnislehre . ....". Ma. 3 ae 147 $ 1. Rekapitulation und Aufstellung des Problems . . . . 147 $S 2. Die Prüfung der Theorie von Roux und Weismann und die Abweisung dieser Theorie . .. - ..... 151 $S 3. Von dem Verhältnis des kausal-analytischen Teiles meiner Theorie zur Lehre von den Kategorien. .. . 157 $ 4. Von der Berechtigung des teleologischen Teiles meiner Theorie. Vom Wissen in teleologischen Dingen. . . 161 $ 5. Von dem wahren Gültigkeitsbereich des Teleologischen 164 $ 6. Ausblick auf eine Metaphysik der Formen. .... . 168 XIV Anhang 1 (zu 8.9 u. 118). Zum Begriff der Regeneration . . . Anhang 2 (zu S. 17 u. 93). Zum Begriff der Selbstdifferenzierung Anhang 3 (zu S. 26). O. Hertwig’s Ansicht von der Entwicklung Anhang 4 (zu S. 34 u. 150). Roux’ Darstellung der zellulären GrundimEHonen wein sahen. mir srl : Anhang 5 (zu 8.49). Zum Begriff des Reizes. ........ Anhang 6 (zu 8.88 u. 156). Über die Anzahl der im Kern an- zunehmenden fermentativen Stoffe . ... 2... Anhang 7 (zu S. 134). Entwicklungsmechanik und Systematik in losgıschem Gegensatz . 2. =... ».. Sea Anhang 8 (zu 8.157). Haacke’s Entwicklungstheorie . . . . . Verzeichnis von Schriften, deren eingehendes Studium dem Leser teils wegen ihres philosophischen, teils wegen ihres biologi- schen ’Inhalteg empfohlen wird =: .2...4r! 1.3.00 % „% 18% Seite 170 171 173 177 178 179 180 182 Binleitung. Die vorhandenen ontogenetischen Theorien, geprüft an der Hand der Thatsachen. $ 1. Von der realistischen und idealistischen Prüfung von Theorien. Unter »Theorie« versteht man die Darstellung eines abgegrenzten Wissensgebietes nach einem einheitlichen Ge- sichtspunkt. Eine Theorie macht das Wissensgebiet über- sichtlich, indem sie sich soweit als möglich der Deduktion, jedenfalls aber der Klassifikation der dasselbe ausmachenden Erscheinungen befleissigt. Da der Gesichtspunkt, unter dem eine Theorie steht, ein einheitlicher sein soll, so beginnt die Darstellung einer solehen naturgemäss mit der Fundierung desselben. Sie be- gründet ihn aus dem Gebiet heraus, um nachher durch ihn das Gebiet darzustellen, man sagt auch wohl, um aus ihm das Gebiet zu erklären. Existieren für ein Gebiet schon andere Theorien, die ebenfalls von einem einheitlichen Gesichtspunkt ausgehen, so hat der Urheber einer neuen Theorie zu zeigen, dass diese besser sei als jene. Das heisst, er hat darzuthun, dass die Grundansicht jener nicht gut fundiert sei. Driesch, Analytische Theorie. 1 2 Nun lässt sich das Fundament jeder Theorie auf zwei verschiedenen Wegen prüfen. Einmal lässt sich von dem Charakter der Grundansicht als solchem abstrahieren; sei es eine für fundamental ausgegebene Thatsache, auf die sich die Theorie stützt, oder sei es eine Hypothese, deren Veri- fieirung man von der Zukunft erwartet, oder endlich, sei es eine erdachte Fiktion, ein Schema, diese logischen Unter- schiede bleiben aus dem Spiel: wir fragen nur, wie die Grundansicht ihre Aufgabe leistet, ob sie vieler Einschrän- kungen, Hilfsannahmen u. s. w. bedarf oder nicht. Wir können, wenn wir den Standpunkt unserer Betrachtung etwas ändern, auch sagen: wir fragen, ob sie wahrscheinlich sei oder nicht, das heisst ganz wörtlich genommen: ob sie Wahrheit scheine. Ich will diesen einen Weg, auf dem wir das Fundament einer Theorie prüfen können, den realistischen Weg nennen, denn er liegt innerhalb solcher Anschauungen, die dem naiven Menschen Realitäten sind. Was die »Wahrheit«, die er findet oder nicht, sei, das kümmert den Forscher hier nicht; die Atome, der Lichtäther sind ihm ebenso real, wie die Thatsache des Gravitationsgesetzes; wenn nur nicht eine andere Grundansicht in einfacherer Weise leistet, was er verlangt, wenn nur nicht eine andere sich enger an be- kanntes anschliesst als jene, die er prüft, dann nimmt er jene als wahrscheinlich an. Es giebt aber noch einen anderen Weg, auf dem sich eine Theorie prüfen lässt, den ich den idealistischen nenne. Hier fragt der Forscher nach der Beziehung des Funda- mentes der Theorie zu unserer Erkenntnisart. Was ist die »Wahrheit« der Theorie in Bezug auf diese? Ist nicht etwa der subjektiven Zuthat gar zu viel, der objektiven Erkenntnis 3 gar zu wenig? Stehen wir nicht etwa gar zu früh an Grenzen der Erkenntnis, früher, als das bei anderer Grund- ansicht nötig wäre? Das sind Probleme für den idealisti- schen Forscher. Wir wollen in dieser Schrift eine Theorie der Entwick- lung!) begründen, wir müssen uns also zunächst mit den Theorien auseinander setzen, die schon auf diesem Gebiet bestehen; wir werden sie prüfen auf beiden von uns vor- gezeichneten Wegen; freilich werden wir aus Zweckmässig- keitsgründen uns zunächst auf die realistische Prüfung beschränken und die andere am Abschluss des Ganzen vornehmen. $ 2. Die Roux-Weismann’sche Theorie. 1. Die Grundannahme. Die verbreitetste Theorie der Entwicklung lässt sich bekanntermassen, trotz Abweichungen der Forscher, deren Namen sie trägt, im Einzelnen als die Roux-Weismann- sche Theorie bezeichnen. Unsere erste Frage lautet also: ist die Grundansicht der Roux-Weismannschen Theorie wahrscheinlich? Einer der wesentlichen Elementarprozesse, welche die Entwicklung eines lebenden Wesens bedingen, ist die Zell- teilung. Die Entwicklung ist, neben anderem, eine Folge von Zellteilungen. Die gemeinsame Grundansicht von Roux und Weis- mann geht nun dahin, dass jede dieser Teilungen zwei 1) Man sagt auch wohl, obschon nicht ganz zutreffend, anstatt »Theorie der Entwicklung«: »Theorie der Vererbung«. 1* 4 ungleiche Produkte liefert, derart, dass beispielsweise die erste Teilung das »Material« für die rechte und linke Hälfte des Embryo sondert, die zweite vorn und hinten. Das Re- sultat dieses Prozesses ist eine Spezifikation der Zellen in dem Sinne, dass jede Zelle (etwa am Ende der Furchung) einem bestimmten Teile des Körpers nicht nur räumlich entspricht, sondern auch mit Kräften ausgestattet ist, diesen und nur diesen Teil aus sich zu gestalten. Am Ende der Furchung sehen wir also den Keim bestehen aus einer Anzahl von Zellen, von denen keine durch die andere ersetz- bar ist, und jede sich für sich zu ihrem spezifischen Resultat entwickelt: der Keim ist ein Mosaik, die Entwicklung Mosaik- arbeit. Es gilt hier nun freilich, soweit Roux in Frage kommt, die Einschränkung !!), dass diese Ansicht nur diejenige (erste) Etappe der Formentwicklung im Auge hat, welche zur Sonde- rung oder »Anlage« der Organe führt, nicht die Ausgestaltung dieser letzteren; davon abgesehen, dürfen wir aber die obige 1) Ich betone das ganz besonders, da Roux wiederholt seinen Gegnern vorgeworfen hat, dass sie seine Ansicht entstellt wiedergeben, ein Vorwurf, der auf OÖ. Hertwig wohl auch in gewissem Sinne passt. In der That hat Roux im »Kampf der Teile« und im Beitrag I zur Entwicklungsmechanik (p. 77 ff.) eine Reihe »differenzierender Correla- tionen« angeführt, aber bereits im Kampf der Teile sagt er (p. 180): »Es müssen also in dem Leben aller Teile zwei Perioden unterschieden werden: eine embryonale im weiteren Sinne, wo die Teile sich von selber entfalten, differenzieren und wachsen, und eine des Erwachsen- seins, wo das Wachstum nur unter Einwirkung von Reizen stattfindet.« Für jene erste Periode, zumal für die Furchung, ist er dann mit der Zeit immer fester für das Walten der »Selbstdifferenzierung« oder »Mosaikarbeit« eingetreten. Da er das nicht bestreiten wird, wird er mir auch Recht geben, wenn ich hier, wo ich ledig- lich von dieser»ersten Periode«chandle, jene Mosaiktheorie als seine Grundansicht hinstelle. > Skizze als Grundansicht von Roux und Weismann be- zeichnen und brauchen ihr nur noch hinzuzufügen, dass beide Forscher sich die bestimmenden Qualitäten im Zellkern an- wesend denken, die Furchung und weitere erste Entwicklung sich also unter qualitativ-ungleicher Kernteilung ab- spielen lassen. 2. Die erste Hilfsannahme‘ Es wäre gegen diese Grundansicht nichts einzuwenden, wenn es nur die als normal zu bezeichnenden Entwicklungs- erscheinungen gäbe. Das ist nun aber nicht der Fall; schon seit langer Zeit kennt man die Erscheinungen der Regene- ration bei Tieren, kennt man die Möglichkeit experimen- teller Erzeugung von Adventivknospen und Adventivwurzeln bei Pflanzen. Naturgemäss konnten die Vertreter der Mosaiktheorie diese Erscheinungen nicht unberücksichtigt lassen, sie glaubten ihnen dadurch gerecht werden zu können, dass sie für die normale (von Roux »direkt« genannte) Entwicklung zwar eine Spezifikation des die Entwicklung Bestimmenden, sei dieses als Stoff (Keimplasma, Idioplasma) oder als Mechanismus auf- gefasst, im Laufe der Zellteilungen annahmen, aber zugleich sollte in den fraglichen Fällen jede Zelle »Nebenkeimplasma« enthalten, das, für gewöhnlich latent, nur eben in Fällen von Regeneration oder Adventivbildung in Aktion treten sollte. Über die Natur dieses Nebenidioplasmas konnte man begreiflicherweise nicht mehr sagen, als dass es eben das vor sich Gehende leiste — war der Begriff doch ad hoc erfunden. Wir wollen die Annahme der auf alle Zellen verteilten 6 latenten Nebenidioplasmen oder Nebenmechanismen für Re- generation und Adventivbildung als erste Hilfsannahme der Roux-Weismann’schen Theorie bezeichnen. Roux denkt sieh das Zustandekommen der Regenera- tion, welche bekanntermassen ein Zellsprossungsvorgang ist, eine Neuleistung der Zellen, namentlich aber, worauf Gewicht zu legen, eine Mehrleistung gegen das Normale, ausgelöst durch das Fehlen normaler Nachbarschaft, ohne diese Wir- kungsart des Einzelnen zu spezifizieren. In den Fällen von Regeneration sind die Zellen so abgestimmt zu denken, dass sie beim Fehlen normaler Nachbarschaft mit Hervorsprossung derselben reagieren und so fort, bis das fehlende ersetzt ist. Man kann gegen diese erste Hilfsannahme der Mosaik- theoretiker nichts einzuwenden haben; nur möchte man sagen, dass man eigentlich nicht viel mehr als eine Um- schreibung des Thatbestandes von ihr erfährt, ohne irgend- wie tiefere Einsicht zu gewinnen; doch sollen uns derartige Einwände in diesem Abschnitt ja nicht interessieren. Der Kategorie der Regeneration würde die von Roux als Postgeneration bezeichnete Erscheinung beizuzählen sein. Ihr Vorkommen wird von O. Hertwig bestritten, und daher darf sie bis zu definitiver Entscheidung in einer Theorie keine Stelle einnehmen. 3. Die zweite Hilfsannahme. Im Jahre 1891 konnte ich feststellen, dass sich aus einer isolierten Zelle des Zweizellenstadiums vom Seeigelei ohne regenerative Sprossungsvorgänge eine ganze kleine Larve entwickelte. Zwar furchte sich die Zelle meist derart, wie sie sich mit der entfernten im Verbande gefurcht haben 1 würde, so dass es am Ende der Furchung oftmals zur Bil- dung einer offenen Halbkugel kam, deren Zellen sich durch Gleitbewegungen zur ganzkugeligen Blastula ordneten, aber diese Fakta konnte ich physikalisch verständlich machen und durfte daher sagen, eine isolierte Echinusblastomere lasse ohne Regeneration eine ganze Larve aus sich hervorgehen. Ja, ein Jahr darauf wurde durch Wilson dieselbe That- sache und zwar ohne vorausgehende »Halbfurchung« am Ei von Amphioxus beobachtet, und seither ist dies auch von Morgan am Fischei geleistet worden. Wie stellen sich zu dieser Thatsache die Mosaiktheore- tiker? Wird nicht ihre Grundansicht durch diese Thatsachen illusorisch, zumal wenn wir zeigen können (und werden), dass ihre schembaren Stützen auch anderem Verständnis zugänglich sind? Wird doch thatsächlich aus jeder Zelle in unseren Fällen etwas anderes als normalerweise aus ihr geworden wäre, und zwar nur etwas anderes, nicht, wie bei regenerativen Vorgängen, zuerst dasselbe, und dann mehr. Roux hat versucht, seine Grundansicht vom Spezi- fikationscharakter der Furchungszellen trotzdem zu halten. Wir nennen die dazu ersonnene Deutung der von mir beob- achteten Erscheinungen die zweite Hilfsannahme der Roux’schen Theorie. Roux nennt die von mir beobachtete Bildung eines ganzen Embryo aus einer Furchungszelle, trotz des Fehlens jeder Sprossung, Regeneration. Das Ganze wird ge- bildet, diese Gleichheit des Zieles beider Vorgänge dient ihm zunächst als Grund, sie gleich zu benennen. Aber sie sollen auch dem Geschehen, nieht nur dem Ziel nach, Ana- logien bieten. Die normale Nachbarschaft fehlt meiner isolierten Blastomere ja auch; wie nun durch dieses Fehlen 6) bei der Regeneration die sichtbaren Sprossmechanismen, so sollen in unserem Falle unsichtbare, unbekannte Mechanismen ausgelöst, oder vielmehr der unbekannte Spezifikationsmecha- nismus bei der Teilung der Zellen soll auf unbekannte Weise durch Auslösung modifiziert werden, so dass etwas anderes, nämlich ein ganzes statt eines halben Tieres aus einer Blasto- mere resultiert. Denken wir uns, um etwas greifbarere Vor- stellungen in diesen unbekannten Dingen zu gewinnen, die Mechanismen einmal nach Weismann’scher Art als »Stoffe«, von denen die Art der Entwicklung funktionell abhängt, so wäre der Vorgang folgender: in der Halbfurchung stellt sich nach Roux noch der Spezifikationscharakter der Entwicklung dar, aber dann tritt bis dahin latentes Nebenkeimplasma in Aktion, es veranlasst zunächst, dass die Zellen aneinander vorbei gleiten und die Ganzblastula bilden. Es veranlasst aber ferner, dass die im normalen Wege eingeleitete Spezi- fikation der einzelnen Zellen oder vielmehr Kerne, welche unter qualitativer Teilung des normalen Keimplasmas vor sich ging, rückgängig gemacht wird und an ihre Stelle eine neue Spezifikation tritt, von der naturgemäss nichts weiter auszusagen ist, als dass sie geeignet sei, nun doch eine ganze Larve ins Dasein treten zu lassen. Auf alle Fälle ist eine neue Unbekannte hier eingeführt, denn Nebenplasma, welches (ohne Proliferationsvorgänge) Zellen zu etwas anderem macht, kannten wir vorher noch nicht. Es ist ferner klar, dass, falls eine oder drei Zellen des Vierzellenstadiums eine ganze Larve bilden, wie ich das auch beobachtete, die Nebenplasmen anderer Natur sein müssen wie im oben erörterten Fall, denn aus jeder Zelle wird hier nun wieder etwas anderes und so fort. 9 Ging in meinen Versuchen noch immer eine Umordnung des Materials vor sich nach Ablauf von Erscheinungen, die Roux als Spezifikation deutet, so fehlt dieselbe bei Am- phioxus gänzlich: hier soll das Nebenplasma sofort nach dem Eingriff in Aktion treten und bereits den Charakter der Furchung bestimmen. Ich glaube nicht, dass man die unbekannten Annahmen der zweiten Hilfshypothese Roux’ als besonders wahrschein- lich bezeichnen kann. 4. Die dritte Hilfsannahme. Wir können uns mit dieser kurzen Darlegung derselben begnügen, da die dritte Hilfshypothese unseres Forschers, zu deren Besprechung wir nunmehr schreiten, .der zweiten nahe verwandt ist. Im Frühjahr 1892 fand ich, dass man durch Druck- wirkungen die Zellen der Echinus-Furchungsstadien oder vielmehr ihre Kerne, um die es sich hier ja vorzugsweise handelt, in durchaus anormale gegenseitige Lagebeziehungen bringen kann, ohne damit die Bildung einer normalen Larve aufzuheben. In diesen Versuchen war den Keimen nichts entnommen, es kann also nicht einmal zum Scheine von Regeneration gesprochen werden. Trotzdem thut dies Roux!) (s. An- hang 1). Die normale Nachbarschaft fehlte meinen Zellen ja auch, behauptete er; es soll nun von einigen (sagen wir 4) in 1) W. Roux, Die Spezifikation der Furchungszellen. Biolog. Centralbl. XIIL 10 normaler Beziehung gebliebenen Zellen ein umdifferenzieren- der Einfluss auf die anderen ausgeübt werden, so dass diese ihre alte durch das normale Geschehen veranlasste Spezi- fikation mit einer neuen passenden Spezifikation vertauschen. Es ist hiergegen zunächst zu bemerken, dass der Aus- druck »Fehlen normaler Nachbarschaft«, der die Analogie mit echter Regeneration zum Ausdruck bringen soll, zwei- deutig ist. Bei Anlass zu echter Regeneration nämlich fehlt wirklich die normale Nachbarschaft, ohne dass etwas anderes dafür da ist; in meinen Versuchen aber ist die normale Nachbarschaft durch eine andere ersetzt. Es ist durchaus willkürlich und wohl nur zur Gewinnung der Scheinanalogie geschehen, dass auf das Nichtvorhanden- sein des Normalen in beiden Fällen das Hauptgewicht gelegt ward. Fragen wir uns nun, was wir über die von Roux postu- lierten Vorgänge wissen. Kein Mensch hat die von ihm postu- lierte Spezifikation der Kerne im normalen Geschehen be- obächtet, kein Mensch hat die Art ihrer Modifizierung oder deren Resultate gesehen. Welcher Art sollen nun diese Modifizierungen oder Umdifferenzierungen sein? Beachten wir wohl, dass als Beobachtungen nur meine äusserlich sichtbaren Experimentalresultate vorliegen. Diese besagen nun: jede Zelle kann im ganzen jeden relativen Platz haben. Also müssen auch wohl die hypothetischen Modifizierungen Roux’ so beschaffen sein, dass sie jede Zelle, mag sie relativ liegen wie sie will, so zurichten, dass sie für die folgende zu normalem Produkt führende Entwicklung ge- eignet wird. Dass sie dies ist, ist ja das einzige, was wir wirklich wissen. Seltsame, äusserst komplizierte, jedem denkbaren Falle der Lagerung angepasste, und dazu 11 durchaus unbekannte, ja! nicht zu kennende Wirkungsarten müssen das sein. 5. Die Abweisung der Roux-Weismann’schen Theorie. Sollten sich nicht Vereinfachungen der Auffassung er- zielen lassen, wenn man die Grundannahme Roux’ vom Spezifikationscharakter der Furchung fallen lässt? Heben nicht so viel Hilfsannahmen die Grundansicht auf? Lässt sich wirklich die Entwicklung auf anderen Fundamenten nicht begreifen oder, besser gesagt, anschaulich machen ? Ist es nicht, wenn ohne Schädigung des Entwicklungs- produktes, jede Zelle jede relative Lage haben kann, wahr- scheinlicher zu sagen, die Kerne der Zellen — wenn wir, der herrschenden Meinung folgend, diese als ihren eigent- lichen Charakter ansehen — seien eben während der Fur- chung gar nicht spezifiziert, sondern indifferent, gleich, und erst später präge ihnen etwa der Bau des protoplasmatischen Keimkörpers ihre Signatur in typischer Weise auf? Um es kurz zu sagen: Roux’ Theorie ist eine auf die Spitze gestellte Pyramide: unten die hypothetische Grund- ansicht, darauf Hilfsannahme auf Hilfsannahme und zuletzt als schwere Basis darauf — meine einfachen Versuchsresul- tate. Sollte es nicht besser sein, die Pyramide umzudrehen, zumal ihre Basis aus Stein, ihre Spitze aus Holz ist? $ 3. Die Grundansicht meiner Theorie. Wenn ich das Schicksal jeder Furchungszelle im Ent- wicklungsgange ihre prospektive Bedeutung nenne, so kann ich meine Versuchsresultate in diesem Satze zusammen- fassen: 12 Die prospektive Bedeutung jeder Blastomere ist eine Funktion ihrer Lage im Ganzen. Das Wort Funktion bezeichnet ein Abhängigkeitsverhält- nis allgemeiner unbestimmter Art. Es soll mein Satz nur der allgemeinen Thatsache Ausdruck verleihen, dass jede Zelle ohne Schädigung der Entwicklung jede relative Lage haben kann oder anders, wenn wir uns die organbestimmen- den Wirkungsweisen in jedem Punkt zu einer Resultierenden vereint denken, dass jede Zelle von jeder solchen Resul- tierenden in ihrem Charakter bestimmt werden kann. Über die Art der Charakterbestimmung der Zelle ist also mit meinem Satze, der die Grundansicht meiner Theorie bildet, und sich wie erörtert auf die von mir ausgeführten Fundamentalversuche unmittelbar stützt, zunächst noch gar nichts gesagt, namentlich ist dabei nicht, wie Roux vermutet, an eine mystische Wir- kung der Lage an sich gedacht. Ein einfacher Bequemlich- keitsausdruck ist das Wort Funktion, weiter nichts. Indem ich nun, wie in folgenden Kapiteln zu zeigen ist, die typischen Vorgänge der Ontogenese mir von typischen protoplasmatischen Verschiedenheiten innerhalb des Keimes ausgelöst denke, kann ich auch sagen, dass ich für eine Entwicklung durch Wechselbeziehungen eintrete. Mit diesem etwas unbestimmten Namen bezeichnet auch OÖ. Hertwig seine Ansicht von der Entwicklung; eine An- sicht, die er freilich nicht im Einzelnen auszubauen ver- sucht hat. 13 $ 4. Die Fundierung der Grundansicht meiner Theorie und die Erledigung ihr entgegenstehender scheinbarer Schwierigkeiten. Um meine Grundansicht zu statuieren, prüfte ich gegne- rische Theorien und fand, dass sie unwahrscheinlich seien. Jetzt gilt es umgekehrt meine Grundansicht im einzelnen zu prüfen und alle Einwände, die ihr gemacht sind oder gemacht werden können, zu widerlegen. Es wird unum- sänglich sein, zu diesem Zwecke einiges der folgenden systematischen Erörterung vorweg zu nehmen!). Ich glaube aber dies um so eher thun zu dürfen, als ja die Grundzüge aller in diesem einleitenden Kapitel dargelegten Dinge den meisten Lesern aus meinen kleineren Arbeiten bekannt sein dürften. Ist doch hier nur der Abrundung und Vollständigkeit halber auf vieles früher Gesagte nochmals eingegangen. Ich bespreche nunmehr die Schwierigkeiten meiner Theorie einzein und ohne inneren Zusammenhang der Teile. 1, Die Voraussage der embryonalen Richtungen aus dem Bau des Eies vor der Furchung. Man kann bisweilen am ungefurchten Ei eine oder beide der Hauptrichtungen (Achsen) des entwickelten Tieres er- kennen. Dieser von Roux auch neuerdings wieder ohne Berücksichtigung meiner Entgegnung aufgestellte Einwand verfehlt sein Ziel, da meine Grundansicht, welche Gegen- stand der Kontroverse zwischen Roux und mir bildet, von der Spezifikation der Furchungskerne handelt, im ungefurchten 1) Sofern jedoch zur Beseitigung entgegenstehender Schwierig- keiten eine eingehendere Kenntnis meiner Theorie notwendig ist, wird dieselbe erst in Kapitel III $ 10 erledigt werden. 14 Ei aber nur ein Kern vorhanden ist. Der Einwand gehört also gar nieht zur Sache. Die in Frage stehende That- sache gebe ich nicht nur zu, sondern dieselbe bildet sogar einen wesentlichen Faktor meiner Theorie der Entwicklung. 2. Das Zusammenfallen der Richtung der ersten Furche mit derjenigen der Medianebene des Embryo. Einwand: Die erste Furche fällt oft mit der Median- ebene oder einer anderen wohl gekennzeichneten Ebene des Embryo zusammen. Antwort: Abgesehen davon, dass sich dieses Verhalten künstlich modifizieren lässt (0. Hertwig, Born), so gilt folgender logische Satz: »Wenn eine Ursache zwei Wir- kungen hat, welche in verschiedenen Zeitpunkten in Er- scheinung treten, so brauchen die Wirkungen untereinander nicht in Kausalnexus zu stehen, wohl aber ist, wenn die Wirkungen a und 5 heissen, «= f(b) undb=yl(a).« Die Richtung der ersten Furche nun und die Haupt- richtungen des Embryo hängen beide vom Bau des Proto- plasma kausal nacheinander ab. Also ...q.e.d. Ich bemerke gleichzeitig, dass bezüglich der Richtung der Furchungsebenen zum Zellganzen die von mir anderen Orts!) erörterten Sätze O. Hertwig’s über die Bestim- mung der Zellteilungsrichtung gelten. Diese Sätze sind Regeln empirischen Charakters, sie gestatten also Ausnahmen. Wenn nun z. B. ein ovales Ei seine erste Furchungswand einmal, aus unbekanntem Grunde, in die Längsachse, an- statt senkrecht zu ihr stellt, wie es normalerweise gemäss jenen Sätzen der Fall ist, so können wir thatsächlich von 1) s. Teil IVb. Anhang meiner »Studien«. 15 einem Anachronismus der Teilung reden. Insofern weitere Teilungsebenen und Ebenen des Erwachsenen beide vom Eibau abhängen, können wir ferner sagen, dass anachro- nistischer Weise die der Medianebene in der Lage ent- sprechende Furche als zweite statt als erste aufgetreten sei oder anderes. Es ist aber mit diesen unseren Anachro- nismen eine ganz unwesentliche, wennschon wirklich vorkommende Thatsache ausgedrückt, und ich bin darum hier auf diese Dinge eingegangen, damit der Leser wisse, dass, wenn ich einmal von Anachronismen reden sollte, dabei an die hypothetischen Anachronismen Roux’ bezüg- lich qualitativ ungleicher Kernteilung in keiner Weise ge- dacht ist. 3. Roux’” halber Froschembryo. Roux tötete eine der ersten Blastomeren des Frosches. Die tote Zelle blieb in ihrer ursprünglichen Lage, aus der überlebenden entwickelte sich ein halber Embryo. ©. Hert- wig bestreitet die Allgemeinheit des Vorkommnisses, erzog selbst gleichwohl einmal einen halben Embryo. Roux be- streitet wieder Hertwig’s Resultate. Ich ergreife keine Partei, gebe vielmehr beiden Forschern Recht. Dass dies kein Widerspruch, zeigt folgendes: Solange nur Roux’ Resultate vorlagen, hatte ich die- selben so erklärt, d. h. mit meiner Theorie in Einklang gebracht: Jedes Massenteilchen der überlebenden Hälfte bewahrt, wie Roux’ Figuren zeigen, die Lage, welche es auch im normalen gehabt hätte. Also wirken auf jedes Massenteilchen, resp. nach Ablauf der Furchung auf jede Blastomere, diejenigen Organbildungsfaktoren, also auch diejenige Bildungsresultante, welche auf sie im normalen 16 gewirkt hätte; ergo: halber Embryo. Ich hatte gleichzeitig betont, dass bei Aufheben der Halbheit des Baues der Froschblastomeren auch aus ihr wohl ein ganzer Embryo hervorgehen möchte. Diese Prophezeiung ist nun durch Hertwig wahr geworden, denn er hob diese Halb- heit auf. Hertwig giebt an, dass er seine Figuren stets in der Stellung zum Horizonte gezeichnet habe, die die Objekte ein- nahmen. Die Objekte drehten also (nach den Figuren) stets ihre lebende Hälfte nach oben, die tote (spezifisch schwere) nach unten. Nur in Fig. 1, Taf. XLII, welche die Halbbildung darstellt, war das nach der Zeichnung nicht so. Ich schliesse nun so: in den Eiern, welche die lebende Blastomere durch Drehung nach oben brachten, mussten sich die spezifisch verschieden schweren Substanzen des Eies wieder ordnen, wie im ganzen normalen Ei, also umordnen, daher resultierte aus solchen ein ganzer Embryo mit De- fekten.. In dem Ei, welches sich nicht drehte, blieb die Materialordnung ungeändert, also resultierte eine Halbbildung, wie bei Roux. Roux bildete eine lebende und tote Zelle immer neben- einander ab; ich weiss nicht, ob das Zufall ist; auf alle Fälle ist meine Erklärung nicht widerspruchsvoll und ver- einist die Beobachtungen zweier als kritisch bekannten Forscher. Ich muss Roux’. abweichendes Resultat mit. meiner Theorie vereinbaren können, sonst würde dieselbe hinfällig sein. Ich bitte aber zu beachten, dass ich bei dieser mir nötigen Hilfsannahme keine anderen Agentien ein- führe, als ich zum Fundament meiner Theorie doch 17 bedarf. Roux dagegen führt, um meine Resultate mit seiner Theorie zu vereinigen, eine grosse Reihe neuer Un- bekannter von grosser Komplikation ein. Meine Theorie ist also wahrscheinlicher (s. Anhang 2). 4. Die Halbfurchung der isolierten Blastomere des Seeigeleies. Die isolierte Blastomere meiner Echinideneier furchte sich oft halb und führte zur Bildung einer offenen Halb- kugel. Die Zellen dieser ordneten sich dann durch Gieiten zur Ganzblastula um. Ich habe schon früher die Gründe auseinander gesetzt, die mir die Halbfurchung als ein physikalisch bedingtes Phänomen erscheinen lassen und ebenso die Gleiterschei- nung. Die Gründe sind kurz resumiert und erweitert folgende: I. Die Blastomere rundete sich durchaus nicht zur Kugel ab, sondern nur etwas wölbte sich die früher innere Fläche heraus. Die relative Lage der Massenteilchen war also minimal gestört, daher wirkten die die Furchung bestimmen- den Faktoren auf dieselbe Weise wie sonst; ergo: Halb- furchung. 2. Die Erscheinung des Gleitens, und was damit ver- bunden ist, des engen Anschlusses der Zellen, ist bei Echinus während der Furchung auch im normalen schwach ausgeprägt, viel schwächer als bei manchen andern Formen. Mit Bildung der Blastula jedoch wird auch im normalen der chemische und damit der physikalische Charakter der Zellen verändert und so der enge Anschluss derselben herbeigeführt. Ich führe also für die Bildung der kleinen Ganzblastula keine anderen Kräfte ein, als normal vorhanden sind. Driesch, Analytische Theorie. 2 18 3. Die Halbfurchung kommt nicht immer vor; freilich sind fast immer zwei Mikromeren da. 4. Aber die Mikromeren sind protoplasmatisch, nicht vom Kern aus bedingt. Beweise: «. Man kann ihre Bildungsart modifizieren durch phy- sikalische Agentien!?). 8. Nach Morgan ist der Ort ihrer Bildung schon am zweizelligen Stadium protoplasmatisch kenntlich 2). y. Man kann ohne Schaden der Entwicklung die Mikro- meren wegschaffen?). In meiner ersten entwicklungsmechanischen Arbeit, in der ich die Halbfurchung des Echinideneies beschrieb, legte ich ihr, noch in Roux’schen Anschauungen allzusehr befangen, eine, wie ich jetzt denke, falsche, übergrosse Bedeutung bei; in meinen letzten Arbeiten‘) bereits nahm und auch hier nehme ich diese Auffassung zurück; ich wollte und will aber damit nicht eine von mir konstatierte Thatsache »desavuie- ren«, sondern einen Irrtum der theoretischen Deutung berichtigen. Dies als Entgegnung auf eine Anschuldigung Roux’>). 5. Die offene Blastula des Amphioxus. Einwand: Wilson zog bisweilen aus einer der acht ersten Blastomeren des Amphioxus keine ganze Blastula, sondern Kugelfragmente. 1) s. Teil IV u. VIII meiner »Studien«. 2) Anat. Anz. Bd. IX. 3) s. Teil IX meiner »Studien«. 4) Teil X meiner »Studien« und »Zur Theorie der tierischen Form- bildung«. Biol. Centrabl. XIII. Im Übrigen ist, wenn keine Quellen in Anmerkungen zitiert sind, das Litteraturverzeichnis einzusehen. 5) Spezifikation der Furchungszellen. S. 616. Biol. Centralbl. XIII. 19 Antwort: Warum reicht hier nicht die physikalische Erklärung unzur&&henden Gleitens der Zellen aus? Man bedenke, dass die Teilstücke häufig geschädigt sind. Auch meine Halbfurchungsstadien fielen oft im entscheidenden Moment, anstatt sich zu einer Ganzblastula zu ordnen, zu einer Platte auseinander und starben dann bald. Schon dass Wilson nicht immer Blastulafragmente aus Achter- zellen zog, spricht für das hindernde Wirken physikali- scher Agentien. Auf Wilsons Beobachtungen wird sogleich von anderer Seite zurückzukommen sein. 6. Wie entsteht aus isolierten Blastomeren das typische »Ganze« als Ausgangspunkt der Entwicklung? Sind die nunmehr zurückgewiesenen Einwände gegen meine Theorie von diesem oder jenem Forscher wirklich ge- macht worden, so ist dagegen die jetzt noch zu erledigende Schwierigkeit von mir selbst aufgeworfen; wie ich hoffe, ist auch sie nicht unlösbar oder vielmehr türmt sie nicht die Unwahrscheinlichkeiten zu solcher Höhe, wie die Roux’sche Theorie es thut. Ich gehe, wie schon gesagt, davon aus, dass die pro- spektive Bedeutung jeder Furchungszelle aus ihrer relativen Lage zum typischen protoplasmatischen Bau des ganzen Keimes resultiert. Wenn ich hier stets nur von Furchungs- zellen rede, so ist das eine willkürliche Beschränkung, die in diesem nur von Prinzipiellem handelnden Kapitel er- laubt ist. Wenn nun Lagebeziehungen zum Ganzen des Keimes nötig sind, so ist Voraussetzung, dass das »Ganze« da sei. I%* 20 Ist nun bei meinen und Wilson’s Versuchen mit isolierten Blastomeren (um von problematischen Dingen abzusehen) irgendwann das »Ganze« da? Es muss wohl da sein, denn sonst entstünden wohl keine ganzen Larven. Die Frage lautet also besser: wie kommt »das Ganze« als Ausgangs- punkt der Entwicklung zustande? Zunächst ist zu bemerken, dass »das Ganze« als Kon- sruenzbegriff des normalen Ganzen naturgemäss nicht zu- standekommen kann, denn eine Hälfte der Masse fehlt ja. Dass das materielle Ganze des Plasmas zur Entwicklung nicht nötig ist, wussten wir auch schon durch frühere Ver- suche Hertwig’s, Versuche, die zugleich mit anderem das alte Prinzip der His’schen plasmatischen Keimbezirke widerlegen. Es kann sich nur um das Ganze als Ähnlichkeitsbegriff handeln. Der Ausgangspunkt der Entwicklung muss dem normalen Ganzen geometrisch ähnlich sein. Ich denke nun, dass diese Herstellung der geometrischen Ähnlichkeit bei Amphioxus und Echinus auf verschiedenen Wegen vor sich geht. Bei Amphioxus furcht sich meist die isolierte Blastomere wie das ganze Ei, das gilt sogar von einer der vier ersten Blastomeren. Da aber die Furchungsgestalt aus dem Eibau folgt, so heisst das: die Blastomere ordnet sich sofort nach der Isolierung in sich zum Ganzen. Wir haben das bis jetzt nicht gesehen, müssen es aber aus dem ge- sehenen Resultate schliessen. | Bisweilen furcht sich aber die isolierte Blastomere des Amphioxus, wie sie sich im Verbande gefurcht hätte: tritt nun später doch normale Entwicklung ein, dann muss wohl diese vom typischen »Ganzen«, d. h. von einer typisch »ganzen« Blastula — denn die Blastula ist Ausgang der 21 eigentlichen Formdifferenzierung — ausgehen, jedenfalls aber ist das »Ganze« nicht sogleich nach der Isolierung da. Solches beobachten wir nun stets bei den isolierten Echinus- blastomeren, und daher mag die nachträgliche Bil- dung des Ganzen zunächst in Hinsicht auf diese erörtert werden. Die erste Differenzierungs-Bildung des Echinus, die Gastrula!), ist einachsig; sie wird also wohl mit der Ein- achsigkeit des Eies zusammenhängen, die wir ja auch in seinem Bau direkt beobachten. Man beachte zunächst, dass in meinen Druckversuchen, trotz der grossen Verlagerung der Kerne, der Bau des Plasmas nur deformiert, dass aber seine Einachsigkeit nicht aufgehoben wird. Die isolierte Blastomere des Echinuseies furcht sich nun aber meist halb, eine annähernde Halbkugel ist Resultat der Furchung; jede Zelle liegt relativ wie im normalen Ganzen und wird also wohl auch gleich orientierten Bau haben wie im normalen. Fig. 1 giebt die aus der Anisotropie des Eies gefolgerte, in jeder Blastomere der Halbfurchung an- zunehmende Substanzorientierung an. Nun schliesst sich die Zellenmasse zur Kugel, freilich geschieht das nicht mit einem Male, meist hat sich schon vorher die Öffnung der Halbkugel verengt, aber das Ende des Fig. 1. Prozesses ist doch ein schnelles. Wie stehen jetzt die hypothetischen Orientierungsachsen der einzelnen Zellen zueinander? sicherlich nieht sogleich parallel, sondern 1) Nur von Prinzipiellem handelnd. ist es uns erlaubt, von der Mesenchymbildung abzusehen. 22 geneigt, wie es Fig. 2 zeigt; kann aber aus einer Blastula, die lauter ungleichsinnig orientierte Elemente aufweist, weitere normale Formbildung hervor- gehen? Nach unserer Theorie [— und dies ist zunächst die einzige naturwissen- schaftlich mögliche Theorie —] nicht. Es ist also hypothetischerweise eine Ordnung des Plasmas innerhalb der ein- zelnen Blastomeren anzunehmen, die zu gleichsinniger Orientierung aller führt. Diese Ordnung wird wohl physikalisch vermittelt sein; man denke sich jede Blastomere als Magneten oder auch mit zwiefacher Elektrizität geladen, so hat man ein Bild der Sache. Die Umordnung wird Zeit beanspruchen und zwar je nach den Individuen verschieden lange Zeit, oft wird sie gar nicht zustandekommen — dann wird auch die Form- bildung des weiteren ausbleiben und der Keim als Blastula sterben. Ich deute in der That die von mir erwähnte Thatsache!), dass Blastulae aus isolierten Blasto- meren oft mehrere Tage in diesem Stadium ver- harren und sich dann (oft zwei Tage später als die Kontrolllarven) doch normal weiterbilden, in dem Sinne eines zur Umordnung des Blastomereninhaltes nötigen Zeitverbrauchs, und die Thatsache, dass Blastulae oftnach tagelangem Umherschwimmen als solehe sterben, deute ich als Folge des Unterblei- bens der Ordnung. g 1) Teil I und III der »Studien«. / 23 Individuelle Schwankungen, bedingt wohl sehr wesent- lich durch den Grad der Schädigung, werden hier eine grosse Rolle spielen. Was ich hier bezüglich des Echinus ausführte, gilt nun ganz ebenso von Wilson’s Forschungen über Amphioxus, Selten an der isolierten Blastomere des zweizelligen, häufiger an der des vierzelligen, ausschliesslich an der des achtzelligen Stadiums beobachtete der amerikanische Experi- mentator, dass die Furchung vor sich ging, wie wenn sich die betreffende Blastomere im Verbande befände und nicht isoliert wäre. Wir haben also auf Grund des oben Gesagten anzunehmen, dass im Falle dieser Partialfurchung — wie ich einmal sagen will — das »Ganze« des Baues der isolierten Mikromere nicht sogleich nach der Isolierung restituiert wurde, son- dern, wie stets bei Echinus, erst später an der Blastula. Wenigstens ist wie erörtert diese nachträgliche Restituierung des Ganzen ein Postulat, falls sich die partial gefurchte iso- lierte Blastomere in der That zu einer Gastrula oder weiter entwickelt. Das geschieht nun bei Blastomeren des zwei- und vierzelligen Stadiums stets, bei solchen des achtzelligen, auch wenn eine geschlossene Blastula resultierte, also die Gleitmechanismen (pag. 19) gut funktionierten, nie, Es er- wächst uns also jetzt noch die Aufgabe zu zeigen, worin diese Unfähigkeit der Achterblastomere des Amphioxus, das Ganze zu bilden, begründet sei; die Lösung dieser Aufgabe liegt im Vorstehenden. Ich habe schon früher die Ansicht Wilson’s zurück- gewiesen, dass jene Unfähigkeit darin begründet sei, dass die äquatoriale Furche des Amphioxuseies das Material von Ektoderm und Entoderm sondere. Versuche (freilich an Echi- nus angestellt), in denen animale und vegetative Zellen- 24 sruppe gesondert, sich gleichwohl jede zu einer ganzen Larve entwickelten!), stützten diese Ansicht. Ich dachte daran, die Kleinheit der Blastula verhindere irgendwie die Invagination; dem entgegnet Wilson, manche seiner Viertel- blastulae seien durch Absprengung von Stücken Plasmas auch nicht grösser gewesen wie die Achtel und hätten doch gastruliert. Ich greife jetzt also zu der, wie ausgeführt, auch durch meine eignen Versuche gebotenen Hypothese, dass die Achterzelle des Amphioxus das physikalische »Ganze« des Eibaues weder sofort, noch auch später in ihren einzelnen Abkömmlingen als Blastula restituieren kann, dass sie dazu nicht mehr die nötigen Eigenschaften besitzt, dass sie dem Ganzen zu unähnlich geworden ist. Wilson scheint seine Viererblastomeren stets zu Gastrulis gebracht und nie aus ihnen hervorgehende langlebige Blastu- lae gesehen zu haben. Die Entscheidung dieser Frage wäre deshalb wichtig, weil eine langlebige Viererblastula nie aus einer Blastomere hervorgehen dürfte, welche sich wie das Ganze gefurcht hätte; denn hier wäre ja das Ganze sofort restituiert, also für das Unterbleiben der Gastrulation kein Grund, es müsste also, unterbliebe sie doch, meine Hypo- these fallen, wofern nicht Gründe für eine anderweitige Schädigung des Objektes vorliegen. Isolierte Blastomeren werden also bei Seeigel- und Am- phioxuseiern, entweder sogleich »auf das Ganze eingestellt« oder es geschieht diese »Einstellung« an der Blastula, dem eigentlichen Ausgang der Formbildung. Die Einstellungs- 1) Teil IX der »Studien«. 25 mechanismen selbst denken wir uns im protoplasmatischen Bau des Eies begründet und sehr wohl der künftigen Be- obachtung zugänglich. Mit der Roux’schen Annahme einer rätselhaften Einstellung des unbekannten Idioplasmas »auf das Ganze« hat unsere Darstellung also nicht das mindeste zu schaffen. Die »Selbstregulation«, wie wir ja auch sagen können, ist uns eine in durchsichtiger Weise physikalisch vermittelte Funktion der Eistruktur. Ähnlich, ja zur Zeit sogar weniger hypothetisch als bei Echiniden und Amphioxus, würde nach O. Hertwig sich der Selbstregulationsvorgang in Froschblastomeren gestalten, indem das »Ganze« aus einer im differenten spezifischen Gewicht von lebender und toter Eihälfte begründeten Drehung des Ganzen resultiert (vgl. pag. 16). O. Hertwig hat selbst auf diesen Vorgang der ‚Selbstregulierung hingewiesen; dass wir unsere Darstellung unabhängig führten, geschah einmal deswegen, weil Gravi- tationswirkungen bei den von uns betrachteten Eiern nicht in Frage kommen können, zum anderen weil wir Gegnern unserer Anschauung die Möglichkeit nehmen wollten, zu sagen, dass wir auf einer zur Zeit nicht von jeder Seite anerkannten Basis, wie es ja die Hertwig’schen Versuche sind, unser Gebäude errichteten. Wenn ich, wie geschildert, mit fortschreitender Furchung die Restituierung des Ganzen in einer Blastomere oder deren Deszendenten sich schwieriger gestalten lasse, so nehme ich also ein Verschiedenwerden der Zellen mit fort- schreitender Furchung an. Ich sehe aber auch dieses Ver- schiedenwerden wie den ganzen Vorgang der Regulation als eine physikalische Erscheinung!), nicht als ein etwa 1) Ich denke z. B. daran, dass bei einem Ei, welches verschie- 26 durch Kernteilungen vermitteltes rätselhaftes vitales Phä- nomen an. Ich weiss nicht, ob ich in dieser Hinsicht mit Wilson übereinstimme; oft kommt es mir vor, als sei hin- sichtlich des Verschiedenwerdens der Zellen im Laufe der Furchung, welches dieser Forscher annimmt, die Frage nach seinem Charakter offen gelassen, damit stimmt aber nicht überein, wenn er sagt: »Roux, I believe, hits the mark when he says: ‚Das Prinzip der organbildenden Keim- bezirke beginnt somit erst mit der Furchung eine feste Bedeutung zu erhalten; und diese seine kausal und topo- graphische Bedeutung wird mit dem Fortschreiten der Fur- chung eine immer speziellere‘«“ Roux denkt doch immer an seine unbekannten, in der Kernteilung sich abspielenden Spezifikations- und Regenerationsmechanismen, die ihn gerade zu einer so ganz gekünstelten Deutung der Wilson’schen Versuche führen. Vielleicht ist das von Wilson nicht be- dacht worden, als er dieses Citat niederschrieb, und so wäre zwischen seiner und meiner Auffassung eine gewisse Über- einstimmung, nur dass ich versuche, das »Verschiedenwerden« der Zellen etwas zu präzisieren. $ 5. 0. Hertwig’s und Wilson’s Ansichten von der Ent- wicklung. Resume. Das Fundament meiner Ansicht von der Entwicklung ist gelegt. Vielleicht ist diese Ansicht eine ähnliche, wie diejenige von O. Hertwig und Wilson (s. Anhang 3). Würde der erstere mit seinen »Beziehungen der Teile zum dene Substanzen einschliesst, durch die Furchung ja naturgemäss die Blastomeren nur je eine oder doch wenige derselben in sich einge- schlossen erhalten. 27 Ganzen« und ähnlichen Ausdrücken irgend welche zur Zeit ganz unvorstellbare Wirkungsweisen bezeichnen wollen, und würde letzterer mit Worten, wie die, dass sich der Organismus »as a whole, as a unit« entwickele, ähnliches meinen, so fände freilich diese Übereinstimmung nicht statt. Denn ich denke mir jeden Formbildungsvorgang in durch- sichtiger Weise rein physikalisch-chemisch vermittelt; freilich denke ich ihn mir ausgelöst, so dass schliesslich auch mir die Entwicklung »ein in lauter Rätseln einherschreitendes Kausalgesetz« ist (Wigand); aber die einzelnen Rätsel sind zu sondern und scharf zu präzisieren. Sollten O. Hertwig und Wilson diese Ansicht nicht teilen, so weiss ich freilich nicht, wie sie ohne die Roux’schen Mechanismen auskommen wollen in der Veranschaulichung des Geschehens. Ein Beispiel mag die vielleicht vorhandene Differenz zwischen O. Hertwig und Wilson und mir nochmals ver- anschaulichen: Nach Hertwig entwickelt sich die eine der beiden ersten Blastomeren des Frosches normalerweise nur deshalb zu einem linken Embryo, weil sie zu einem rechten in Beziehung gesetzt ist. Diesen Satz unterschreibe ich, wenn er wörtlich gemeint ist, nicht. Auch wenn die andere Blastomere durch eine Glasplatte ersetzt wäre, die nur die Konfiguration der linken nicht veränderte, würde sich aus dieser ein linker Embryo entwickeln. Der physikalische Bau des Ausgangspunktes entscheidet mir über das Resultat. Wenn der Ausgangspunkt das »Ganze« oder dem Ganzen geometrisch ähnlich ist, so entsteht auch ein »Ganzes«. Alle Entwicklungsvorgänge, welche sich in geometrisch ähnlichen Bahnen bewegen, fasse ich zusammen: die normale Ent- wicklung, die Entwicklung isolierter Blastomeren, die Ent- wicklung meiner Druckpräparate bilden mir ein und 28 dieselbe Kategorie des Organbildungsgeschehens, da dieses in allen drei Fällen von Ausgangspunkten anhebt, welche relativ »ganz« sind. Die echte Regeneration steht dieser Bildungsweise gegen- über. Es giebt für mich also zwei verschiedene Formbildungs- weisen. Die als normal zu bezeichnende, vom »Ganzen« aus- gehende Formbildungsweise charakterisiere ich zum Schluss noch einmal und zwar mit den Worten, mit welchen Roux!) einst, im Beginne seiner Studien, die Möglichkeit ihrer Realität dargelegt hatte, um sich dann freilich selbst später für die andere Möglichkeit zu entscheiden: »Wenn die Entwicklung wesentlich durch Wechsel- wirkung aller oder vieler Teile vor sich geht, so braucht das befruchtete Ei nur aus wenigen verschiedenen Teilen zu bestehen, welche durch wechselndes Zusammenwirken nach und nach grosse Komplikationen (em Auslösungswege) schaffen. Die Entwicklung ist dann wesentlich Produktion von Mannigfaltigkeit, Epigenesis in unserem Sinne. Es findet ein wechselseitiges Zusammenwirken der Teile zu einem Ganzen statt, wobei ein regulierender Einfluss von dem Ganzen auf die Teile ausgeübt werden kann (Zegeneration); und uns ist in der Feststellung dieser Korrelationen ein reiches Feld mit den Mitteln der Zeit inangriffnehmbarer Forschung gegeben. His’ Prinzip der organbildenden Keim- bezirke hat dagegen dann nur insofern eine Bedeutung, als es die Orte der Resultantenbildung mannigfacher Wechsel- wirkungen bezeichnet, und es ist von nur untergeordnetem 1) In seinem Beitrag I. Das Schiefgedruckte sind Zusätze von mir. Man vergleiche auch die trefflichen Ausführungen in Pfeffer’s Pflanzenphysiologie I. Einleitung und II, Kap. V, Abschn. IV. 29 Werte, diese Orte schon vor der Zeit des Eintrittes dieser Wirkungen auf das noch indifferente Keimmaterial (oder Kernmaterial) des ungeteilten oder unbefruchteten Eies zu projizieren «. Ist das nun Epigenesis? Doch wohl, denn die Zahl der Mannigfaltigkeiten nimmt mit fortschreitender Entwick- lung zu. Aber ist es nicht auch Evolution, d. h. Hervor- treten spezifischer, als Anlagen latent gewesener Mannig- faltigkeiten? Ich denke auch. Wozu soll sich jede wissenschaftliche Frage in scharfe Gegensätze zuspitzen, zumal, wenn keiner von beiden ein- deutig ist? Nennen wir also unsere Ansicht als Ganzes: Theorie der epigenetischen Evolution. Erster Hauptteil. Die kausal-analytische Behandlung der Ontogenese. Eine Theorie der Entwicklung, oder eine entwicklungs- mechanische Theorie will zeigen, mittels welcher fundamen- talen Prozesse sich aus dem Ei ein Organismus bildet. Alle Formerscheinungen bis zum Tode des Organismus sind in den Begriff der Entwicklung einzuschliessen. Die Organismen nun treten uns in mannigfachen Formen vor Augen, auch die Vorgänge ihrer Entwicklung sind ver- schieden. Für jede Organismenform sind sie, so wollen wir sagen, spezifisch. Das Spezifische der Formenprozesse will aber die Ent- wicklungsmechanik nicht betrachten, sondern das allgemeine; sie abstrahiert daher von der Spezifizität der Formen, sie nimmt diese als eine gegebene Grösse in jedem Falle hin. So nimmt sie z. B. die Thatsachen hin, dass die See- igelblastula sich durch Wachstumsvorgänge mit einem Darm versieht, dass bei Nereis diejenige Zelle, welche die meso- dermalen Organe bildet, sehr früh gesondert ist, dass dem Elefanten ein Rüssel wächst und dass die Labiaten vier Staubgefässe besitzen. Sie fragt nur: wie entstehen diese Gebilde, welche fundamentalen, d.h. nicht weiter analysier- baren Vorgänge sind hier im Spiele? 31 Sie fragt nicht, warum entstehen diese Gebilde in dieser typischen Art und Weise — eine Frage, auf die eine kausale Antwort überhaupt nicht möglich ist!). Offenbar muss die Theorie nun damit beginnen, zu er- wägen, welche Arten von Fundamentalvorgängen es in der Ontogenese giebt. Betrachten wir zu diesem Zwecke einen ontogenetischen Prozess genauer. Die Blastula der Seeigel besteht, wie schon oben er- örtert, aus einer Anzahl von Zellen, welche eine Höhlung begrenzen. Die Kerne dieser Zellen sind gleichwerthig, d. h. es könnte der Kern «a in der Zelle B liegen, der Kern z in der Zelle A u.s. f. Das Ei aber, aus dem die Blastula hervorging, besass einen besonderen Bau, der einachsig un- sleichpolig ausgeprägt war. Diese Baudifferenz ist auf die Blastula als Ganzes übergegangen. Die Bildung von Mesenchymzellen an einem Pole ist der erste Organbildungsvorgang, der uns nun an der Bla- stula entgegen tritt. Warum tritt er auf? Dass wir diese Frage nicht in ihrer Ganzheit beant- worten können, ist schon gesagt; vielleicht können wir sie aber in Unterfragen gliedern und wenigstens einige von diesen erledigen. Zunächst: was ist die Mesenchymbildung ? Sie ist ein Zellteilungsvorgang, aber nicht nur dies, sondern auch ein Wachstumsvorgang, denn bei blosser Zell- teilung würden wohl keine Zellen aus dem Verbande aus- treten, herausgepresst werden. 1) In meiner Schrift »Die Biologie als selbständige Grundwissen- schaft« findet der Leser über diese Probleme näheres. 32 Es treten also Zellteilungsvorgänge mit Wachstum ver- bunden an der Blastula auf; aber nicht überall, sondern an einer Stelle. Was heisst das? Es heisst erstens, dass sich an der Blastula eine Ver- schiedenheit zeigt; sie zerfällt in einen Mesenchym bilden- den und in einen nicht Mesenchym bildenden Abschnitt. Für jede auftretende Verschiedenheit fragen wir aber a priori nach einer Ursache. Es muss also eine Ursache für die Mesen- chymbildung geben, und da dieselbe lokal beschränkt ist, muss es eine auf ihren Ort wirkende Ursache für sie geben. Diese Ursache aber kann (da Licht, Druck ete. exfahrungs- semäss!) keinen Einfluss auf den Ort der Mesenchymbildung haben) nur eine bereits innerhalb der Blastula vorhanden sewesene Ungleichheit sein und zwar eine solche, welche zum Ort der Mesenchymbildung eine feste Richtungsbeziehung hat. Die einzige Verschiedenheit an der Blastula aber, die eine Richtung überhaupt hat, ist ihr eigenartiger Plasma- bau. Also ist die Anisotropie des Plasmas der Blastula Ursache der Mesenchymbildung. Ich betone ganz besonders, dass wir eine Ungleichheit im Bau der Blastula als Ursache für die erste Organbildung heranziehen müssen, auch in Fällen, wo ihr Vorhandensein noch nicht konstatiert ist; wenigstens gilt das stets, sobald äussere Faktoren experi- mentell ausgeschlossen sind. Denn ein durchaus gleich- artiges Gebilde kann sich nicht aus sich selbst ungleich verändern, diese Annahme würfe unsere gesammte Natur- forschung über den Haufen. Nun sind aber die Kerne der Blastula gleichartig, also muss ihr Bau eine Differenz zeigen, und diese muss Ursache für das folgende Geschehen sein. 1) s. Teil IX meiner »Studien«, S8. 233. 33 Die Wirkung, die diese Ursache nun übt, ist aber eigen- artig beschaffen: wir lernen sie erst dadurch kennen, dass sie in Erscheinung tritt. Wir konnten aus der Thatsache, dass da eine Blastula sei, mit gleichen Kernen und aniso- tropem Plasmabau, nie voraussagen, dass diese Blastula an einem Pol der Achse Zellteilungs- und Wachstumsvor- gänge darbieten würde. Das heisst aber, die Mesenchym- bildung ist ausgelöst, der anisotrope Bau ist ihre Aus- lösungsursache, eine Ursache, welche nicht in die Wirkung aufgeht. Neben elementaren Zellenvorgängen finden wir also in der Ontogenese Auslösungsfaktoren, welche nach Ort und Qualität spezifischen Effekt haben. Wir finden noch mehr. Der Mesenchymbildung folgt, von demselben Pol aus- gehend, die Gastrulation, sie ist wieder neben anderem ein Teilungs- und Wachstumsvorgang, sie steht wieder in Be- ziehung zum einachsigen Plasmabau. Sie tritt nach der Mesenehymbildung auf. Dies ist das neue, was wir aus ihr für unseren Zweck lernen: die Auslösungsfaktoren sind im Effekt ihrer spezifischen Wirkung an eine Zeit gebunden, jeder Auslösungseffekt geht vor sich nach und vor einem anderen bestimmten spezifischen Auslösungseffekt. Wenn wir also die Frage nach der Ursache der spezi- fischen Formbildungsvorgänge auch nicht beantworten können, so können wir diese doch in drei elementare Erscheinungen auflösen, in 1. Elementarleistungen der Zellen = morphogene Ele- mentarvorgänge, 2. Auslösungsfaktoren, die örtlich bestimmt sind und damit den Ort ihres Effektes bestimmen, 3. Die Thatsache des Entwicklungsrhythmus. Driesch, Analytische Theorie. 3 34 Es wird Aufgabe der folgenden Kapitel sein, diese Klassen von Elementarerscheinungen gesondert zu be- trachten. Kapıtelr Von den morphogenen Elementarvorgängen. $ 1. Von den eigentlichen cellulären Elementarvorgängen. Räuber hat sich das Verdienst erworben, zum ersten- male die »Grundfunktionen der ontogenetischen Entwicklung«, dasselbe, was wir die morphogenen Elementarvorgänge nannten, zusammengestellt zu haben. Er zählt deren vier auf: 1. Zellvermehrung = numerisches Wachstum, 2. Zellvergrösserung —= trophisches Wachstum, 3. Zellwanderung — fugitives Wachstum, 4. Zeilendifferenzierung — differentielles Wachstum. Abgesehen davon, dass, wie schon früher!) von mir be- tont wurde, der Ausdruck Wachstum hier nicht überall am Platz ist, trifft diese Einteilung im Ganzen das Wesen des Problems und ist auch vollständig (s. Anhang 4). Es giebt nämlich einen sicheren Weg, um zu entschei- den, ob eine solche Einteilung vollständig ist. Wir haben es durchweg mit Erscheinungen des Zellenlebens zu thun, mit den Problemen der Zellenphysiologie.. Wenn wir uns nun überlegen, welche Arten von Problemen uns diese Wis- senschaft darbietet, oder anders gesagt, wenn wir fragen, welche Grundvorgänge der Physiologie die Zelle darbietet, 1) »Mathem. Mech. Betr.« s. Litt.-Verz. 3) und wenn wir von diesen Grundvorgängen alle die aus- scheiden, welche nicht »morphogen« werden können, so haben wir eine vollständige Tabelle, wie wir sie wünschen. Eine solehe Überlegung, wie sie uns durch die vortreffliche »Zelle« OÖ. Hertwig’s wesentlich erleichtert ist, ergiebt nun in der That, dass Rauber’s Tabelle die Forderung der Vollständig- keit erfüllt. 1. Zellteilung und Wachstum. Das erste Grundphänomen der Ontogenese ist die Zell- teilung. Würde sich aber das Ei nur fortgesetzt teilen, so würde es in immer kleinere Stücke zerfallen, der Keim würde aber nie grösser werden. Das zweite Phänomen der Entwicklung ist also das Wachsen und zwar ist, da der Embryo aus Zellen besteht, als zweites Grundphänomen das Zellwachsen zu bezeichnen. Zellteilung und Zellwachsen gehen oft zusammen, brauchen es aber nicht: Es kann eine Zelle fortgesetzt sich teilen, ohne dass die Teilstücke nach jeder Teilung wachsen: das geschieht bei der Furchung. Es kann auch eine Zelle stark wachsen, ohne dass dieses Wachsen Teilung zur Folge hat; das geschieht bei der definitiven Zellstreekung der Pflanzen und sonst oft. Das meist beobachtete freilich ist dieses, dass nach jeder der vor sich gegangenen Teilungen die Deszendenten ganz oder nahezu auf das Maass ihrer Mutterzelle heran- wachsen, ehe sie sich wieder teilen. Dieser Prozess liegt fast stets vor, wenn man bei Beschreibung einer Ontogenese sagt, dass ein Teil des Embryo wachse oder ähnliches. Es 3#+ 36 wäre aber gut, immer genau zu statuieren, wie das Wachs- tum und mit welcher Beteiligung von Teilungen es vor sich geht, wie das z. B. von Herbst geschehen ist. Ich bemerke der praktischen Wichtigkeit dieser Dinge wegen, dass aus der Beobachtung zahlreicher Kernspindeln an einer Stelle des Keimes zwar mit Wahrscheinlichkeit, aber noch nicht mit völliger Sicherheit auf Wachstum dieses Teiles geschlossen werden kann: es könnte sich auch nur um eine Vermehrung der Zellenzahl handeln, wobei alle Zellen kleiner würden, als es vorher die Zellen an dieser Region des Keimes waren. Die sehr wichtige scharfe Analyse der wirklichen Wachs- tumsvorgänge wird von unserer durch die Phylogenie ver- oberflächlichten Forschung unglaublich vernachlässigt. Um nur eines herauszugreifen, so dient zur Beschreibung der sogenannten Gastrulationsvorgänge noch immer das Wort »Einstülpunge. Nun kann sich eine »Gastrula« durch »Ein- stülpung« auf folgende Arten bilden: 1. Ein ganz beschränkter Teil der Blastulazellen gerät in Teilung, wobei die Produkte nach jeder Teilung auf das alte Maass heranwachsen und sich dann wieder teilen (Echi- niden). 2. Schon an der »Blastula« sind infolge des Eibaues die künftigen Ekto- und Entodermzellen äusserlich gesondert, jede von beiden Gruppen nimmt etwa die Hälfte der ge- sammten Blastulawand ein; es findet nun ein reger Teilungs- Wachstumsprozess im zukünftigen Ektoderm statt, dadurch wird passiv das Entoderm ins Innere gedrängt und gefaltet. 3. Ebenso; aber die Teilung geht in den zukünftigen Entodermzellen vor sich, die sich, weil sie sich nicht tan- gential ausdehnen können, ins Innere falten. 37 Wenn man diese drei Vorgänge als »Einstülpung« be- zeichnet, dann wundert uns allerdings auch das nicht, was man alles als »Gastrula« bezeichnet hat. Doch beenden wir diesen durch die Zeitumstände ge- botenen Exkurs. Es ist notwendig, verschiedene Arten des Zellenwachs- tums scharf zu sondern: 1. Das passive Wachstum findet dann statt, wenn der Körper einer Zelle nur durch Wasseraufnahme gedehnt wird, welche etwa durch eine in seinem Inneren vorhandene osmotisch wirkende Substanz bedingt ist. Diese Art des Wachstums spielt eine grosse Rolle in den theoretischen Erörterungen von Herbst!) und Loeb. 2. Das aktive Wachstum, welches auf assimilativer Neubildung von Protoplasma beruht. Wir können diese zweite Wachstumskategorie noch in das rein-protoplasmatische und in das halb-protoplasmatische Wachstum sondern. Der erste Begriff bedarf keiner Er- läuterung. Der zweite besagt, dass eine Vermehrung einer organischen, vital erzeugten Substanz statt hat, welche zur Vergrösserung der Zelle führt. Ob diese Substanzen (der Membranstoff der Pflanzenzellen und anderes) vom lebenden Plasma abgespalten werden, oder unter einer rätselhaften »Leitung« desselben, aus Nährstoffen direkt entstehen, er- scheint zur Zeit nicht ausgemacht (0. Hertwig, Zelle, I. S. 123 u. 124). Für die letztgenannte Kategorie des aktiven Wachstums kann das passive Wachstum die notwendige Vorbedingung sei», 1) Wenn Litteraturanmerkungen fehler, findet man, soweit wich- tige Dinge in Frage kommen, im Litteraturverzeichris den Schriften- nachweis. 35 wie das viele Botaniker für Bildung der Zellmembran an- nehmen: nur nach Dehnung der alten Membran kann diese (wenigstens intussusceptiv) wachsen. 2. Das Zellwandern. Ein anderes Phänomen der Ontogenese, das als Grund- phänomen bezeichnet werden muss, ist das Zellwandern. Die Zelle vermag ihren Ort zu verändern und zwar in bestimmter durch eine Reizursache ausgelöster Richtung. Diese als tropische Richtungsbewegungen bezeichneten Wan- derungen von Zellen spielen offenbar in der tierischen Onto- genese eine grosse Rolle; man denke an alles, was Mesen- chym heisst. Als konkretes Beispiel wäre das von Herbst vermutete Wandern der Kalkbildungszellen von Echinus an die Gesammtoberfläche, dem Sauerstoff zu, zu nennen (Oxy- genotropismus). Nicht das Zellwandern an und für sich, sondern das Wandern in bestimmter Richtung dürfte das wesentliche dieser Elementarkategorie der Erscheinungen sein, und aus diesem Grunde können wir das Richtungs- wachsen dem Richtungswandern, ohne eine neue Kategorie zu begründen, zugesellen. Richtungswachsen hat sich bisher (Heliotropismus der Pflanzen und Polypen) zwar stets nur an den Organismen als Ganzen gezeigt; es ist aber nicht a priori zu sagen, dass es nicht auch (als Chemotropismus?) als ontogenetische Leistung im engeren Sinne vorkäme. 3. Die Zellensekretion. Die Zellensekretion nennen wir an letzter Stelle; soweit Abspaltungsprodukte des Protoplasmas eine spezifische Form haben und nicht nur im Organismus verbleiben, 39 sondern dort auch eine Rolle im Haushalt spielen, kommt der Sekretion eine grosse morphogene Bedeutung zu (Muskel- fasern, Sehnen ete.). $2. Von denabgeleiteten krunderscheinungen der Ontogenese. Sobald wir nicht die Zellen an und für sich ins Auge fassen, sondern unsere Beobachtung auf Formänderungen des Keimes im Grossen und Groben richten, ergeben sich eine Reihe immer wiederkehrender Entwicklungsphänomene, welche in früherer Zeit wohl für elementar gehalten werden konnten und auch von verdienstvollen Forschern (Baer, Pander, His) für elementar gehalten worden sind: hierher gehören die mit den Worten »Faltung«, »Abschnürung« u. 8. w. bezeichneten Erscheinungskomplexe. Es ist aber unschwer, die Zusammensetzung dieser Erscheinungen aus zwei Komponenten zu erkennen: einmal aus einem unserer vier vitalen Elementarphänomene (meist Wachstum), und zum andern aus physikalischen Massen- wirkungen, welche sich als Widerstände und anders äussern. Für einige Fälle der »Gastrulation« versuchten wir oben an- deutungsweise eine solche Analyse. $ 3. Physikalische Erscheinungen in der Ontogenese. Den Fundamentalerscheinungen, welche von den leben- den Zellen ausgehen, stehen alle diejenigen Formbildungs- phänomene gegenüber, welche der lebende Körper zeigt, sofern er zugleich ein physikalischer Körper ist und sofern er ein fest verbundenes Ganzes, ein mechanisches System ausmacht. So kann ein wachsender Zellenschlauch nicht in 40 gleicher Richtung weiterwachsen, wenn er auf einen Wider- stand trifft, so können auf einer gegebenen Fläche nur eine bestimmte Anzahl von Organen gegebener Grösse dieselbe völlig ausfüllen und sind dazu noch an eine bestimmte Ord- nung gebunden (Schwendener’s Blattstellungstheorie), und so fort. Ich habe früher bereits einmal eine grosse Reihe derartiger Phänomene analytisch!) behandelt und beschränke mich daher hier auf Andeutungen. 1. Die Massenkorrelation. His hat zuerst auf gegenseitige reine Massenwirkungen, die sich als Widerstand, Zug, Druck etc. äussern, innerhalb des Rahmens der Formbildung aufmerksam gemacht. Roux hat derartiges als Massenkorrelationen bezeichnet. Es ist nicht leicht, im einzelnen Falle zu entscheiden, was von einer beobachteten Erscheinung auf Kosten der Massenkorrelation zu setzen ist. Wenn z.B. £ ein wachsender Schlauch a in beistehender Figur auf den Punkt 5 der Wandung trifft und AN sich dann blasenförmig nach den Seiten aus- breitet, so kann das wohl darauf beruhen, dass ‘das Wachstum in alter Weise vor sich geht Fig. 3. und nur die äussere Formgestaltung des wachsenden Teiles dem Widerstande Rechnung trägt; es kann aber auch die Berührung in 5 als Reiz wir- ken, der etwa die Richtungen der Teilungsspindeln ändert. Und ebenso, wenn eine Zellenkette von typischer Rich- tung (Mesodermstreifen) entsteht, kann man nicht ohne Weiteres sagen, ob etwa die sprossende Mutterzelle (eine 1) s. meine »Math. Mech. Betrachtung etec.« 41 solche ist meist vorhanden) sich nach jeder Teilung ihre alte Form und Grösse durch Wachsen rekonstituiert und daher alle Tochterzellen in einer Reihe, jede durch die proximal gelegenen, vor sich hin stösst oder ob irgend ein tropischer Reiz die Richtung des Ganzen, für jede einzelne Zelle be- sonders, bestimmt. Zwar dürfte der erste Fall und überhaupt oft die In- anspruchnahme der Massenwirkung wahrscheinlicher sein. Man erwäge, dass doch auch die reinen Massenwirkungen, wegen der typischen Konfiguration des Ganzen, in ihrem Effekt leidlich gesichert sind — Dinge, auf die wir später zurückkommen. 2. Kapillarität. Kapillaritätswirkungen dürften bei Umordnungsvorgängen der Zellen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Im einleitenden Kapitel rechneten wir mit ihnen. 3. Osmose. Osmotische Wirkungen nicht vitaler Natur können eben- falls im Laufe der Ontogenese auftreten. Wenn in irgend eine von Zellen begrenzte Höhle von Seiten der Wandung osmotisch wirkende Stoffe ausgeschieden werden, so ist die eventuelle Wirkung, welche der osmotische Druck der Höhle auf das Ganze ausüben kann, nicht als vitale Erscheinung zu betrachten, da sie nicht unmittelbar von Zellen ausgeht. Herbst ist geneigt, das Gesammtwachstum des Pluteus der Echiniden auf Rechnung eines im Inneren der primären Leibeshöhle herrschenden hohen osmotischen Druckes zu setzen. Diese Art des Wachstums hat also weder mit unserem aktiven noch auch mit unserem passiven Wachstum etwas zu 42 thun und ist ohne Zweifel sehr verbreitet. Die Wandungs- zellen des Pluteus verändern bei diesem Vorgang zwar ihre Dimensionen (sie werden platt), aber nicht ihr Volumen, sie wachsen also nicht. Wir wollen diese Erscheinung als Dehnungswachsen bezeichnen. $ 4. Chemismus als Grundlage aller ontogenetischen Vorgänge. Das ontogenetische Geschehen setzt sich also aus einer Reihe verschiedener cellulärer Elementarvorgänge zusammen. Diese Vorgänge werden (im Einzelnen) ausgelöst und kenn- zeichnen sich (als Ganzes) durch einen Rhythmus. Ehe wir jedoch auf die beiden soeben genannten Grunderscheinungen der Formbildung eingehen, dürfte zu untersuchen sein, ob sich nicht jene cellulären Grundvorgänge, welche ja für sich betrachtet die eigentlichen Effekte oder auch Resultate der Entwicklung ausmachen, aus einem einheitlichen und gleich- sam tieferen Gesichtspunkt begreifen lassen, als das bis jetzt geschah. Das Wachsen in seiner passiven Form ist im Grunde jedenfalls ein physikalischer Vorgang osmotischer Art. Das Richtungsgeschehen (Wachsen und Wandern) als solches wird wohl auch einst einer physikalischen Analyse standhalten (Bütschli u. a... Die Sekretion liefert Produkte von wohl charakterisierten physikalischen Eigenschaften. Alle diese drei Vorgänge sind Gestaltänderungen (sofern wir bezüglich des zweiten das Ganze des Keimes als Maass- stab nehmen), sie sind also elementar-morphologisch. Wir zeigten aber soeben, dass sie auch elementar-physikalisch seien. Das elementar-morphologische ist also eine Folge elementar-physikalischen Geschehens. 43 Nun wird der zur osmotischen Wirkung notwendige physikalische Zustand (Anwesenheit osmotischer Substanzen) in einem jedesmal wohl gekennzeichneten Zeitpunkte ein- geleitet, er ist nicht von Anfang an da. Das heisst aber, die osmotisch wirksamen Substanzen entstehen in einem Zeitpunkte, sie waren nicht vorher da. Das Entstehen einer Substanz zu einer gewissen Zeit ist aber ein chemischer Vorgang; da dieselben in der Zelle entstehen, so muss also ein chemischer Vorgang in der Zelle statthaben, wenn irgendwo in einer Zelle osmotische Wirkung, wenn Wachstum statthat. Ebenso ist eine Richtungsbewegung auf einen bestimmten Stoff hin (um hier nur den Chemotropismus heranzuziehen) physikalisch nur vorstellbar, wenn das Bewegte ebenfalls specifische chemische Eigenschaften hat. Dass die geformten Sekretionsprodukte der Zelle spe- zifische chemische Körper darstellen, ist klar. Wir haben also unsere elementar-morphologischen Vor- gänge nicht nur auf elementar-physikalische, sondern auch auf elementar-chemische Vorgänge zurückgeführt. Sonach wären also bei vertiefter Betrachtung alle morphogenen Elementarvorgänge (von der Zellteilung ab- gesehen) chemische Elementarvorgänge oder wenigstens durch solche eingeleitet. Wenn aber die morphogenen Elementarvorgänge in ihrer Gesammtheit das Ganze der Geschehenseffekte der Onto- genese ausmachen und damit das Resultat der Ontogenese, so können wir sagen, das Resultat der Ontogenese komme durch chemische Phasen zu Stande. Es bedeutet dieser Satz also, dass der Effekt jeder elementaren ontogenetischen Auslösung ein chemischer ist, 44 welcher physikalische und somit morphologische Folgen hat (Wachstum ete.). Es steht nichts im Wege, uns die Mehrzahl solcher chemischen Effekte als völlig greifbare, fassliche darzu- stellen, d.h. wir können wohl diejenige neugebildete Sub- stanz, welche den neuen morphologischen Vorgang einleitet, als solche deutlich kennen lernen, wennschon wir nie zu sagen vermögen, warum sie und warum sie gerade jetzt entsteht. Wenn ich also für jede Organauslösung die Bildung eines Stoffes, also gleichsam organbildende Stoffe annehme, so darf doch nicht ungesagt bleiben, dass diese meine An- schauung mit derjenigen, wie sie von Sachs und neuerdings von Loeb vertreten wird, nicht ohne Weiteres identisch ist. Denn diese beiden Forscher nehmen ganz hypothetische Stoffe mit ganz rätselhafter Wirkung (nach Sachs fermen- tativer Wirkung) an, während in meinem Sinne z. B. Zucker als organbildender Stoff, d.h. als eine neue Bildung ver- ursachender Stoff dienen kann. Wir werden auf diese Dinge später zurückkommen (Kap. Il. $ 8). Noch vor einem anderen Missverständnis muss ich war- nen: Herbst denkt sich die Entodermbildung der Seeigel- larven dadurch bedingt, dass die (im Auslösungswege fixierten) entodermatogenen Zellen Salze des Seewassers im Gegensatz zu den Ektodermzellen in sich aufspeichern können, welche dann ihrerseits, indem sie nicht wieder auszutreten vermögen, osmotisch wirken und Wachsen hervorrufen. Diese Salze sind natürlich nicht meine morphogenen Stoffe, sie entstam- men ja dem Seewasser, wohl aber kann die chemische, plötzlich eintretende Modifizierung der Plasmahaut jener Zellen, welche letztere eben für die Seewassersalze permeabel 45 macht, den organogenen Stoff darstellen, oder auch, falls etwas derartiges vorliegen sollte, die Substanz, an welche etwa die Salze des Wassers innerhalb der Zelle gebunden würden. Ein Rhythmus chemischer Vorgänge ist also die Onto- senese; chemischer Vorgänge, deren jeder durch Auslösung bewirkt wird, dann sich eine bestimmte Zeit hindurch abspielt und dann beendet ist. Doch wollen wir den Untersuchungen über den Rhythmus der Entwicklung nicht vorgreifen. $ 5. Die Rolle des Kernes in der Ontogenese. Die am meisten in die Augen fallende Rolle spielt bei der Ontogenese die Zellteilung. Fast jede Organbildung wird durch Zellteilungen vermittelt. Da wir nun zu der Einsicht gelangten, dass alle morphologischen Elementar- erscheinungen in letzter Instanz chemische Wirkungen seien, so drängt sich uns die Frage auf, in welcher Beziehung wohl Zellteilung zu jenen chemischen Elementarerscheinungen stehe. Die Ansicht unserer Zeit neigt dahin, im Kern der Zelle ihren weitaus wesentlichsten Bestandtheil zu erblicken. Das spricht sich auch in den Entwicklungstheorien von Roux und Weismann aus, welche beide die Ontogenese durch qualitativ ungleiche Kernteilungen vermittelt werden lassen. Welche Thatsachen sprechen nun dafür, dass der Kern der Zelle eine wesentliche formbildende Bedeutung habe? Es sei mir gestattet diese Thatsachen — sie sind allbekannt — ohne nähere Ausführung hier zusammenzustellen. Es sind folgende: 46 1. Die komplizierte morphologische Erscheinung der Karyokinese. 2. Die dominirende Rolle des Kerns im Befruchtungs- vorgang; damit in Verbindung 3. Die Thatsache der Vererbung vom Vater her, speciell die Bastardbildung. 4. Die Resultate der Regenerationsversuche an ein- zelligen Organismen (Gruber, Verworn). Speciell die Thatsache 3. zeigt uns, dass das Entwick- lungsresultat vom Kern abhängt. Da sich nun das Ent- wieklungsresultat jedesmal aus einer Reihe von Entwick- lungsphasen zusammensetzt, so wird auch der Effekt jeder dieser Phasen von der Natur der Zellkerne, welche an ihr beteiligt sind, abhängen. Wohl gemerkt, es dürften bei der Entwicklung eines Bastards alle in Aktion tretenden Aus- lösungsursachen, welche uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden, wie bei Entwicklung jedes der Eltern sich bethätigen, aber der Keim, oder genauer die Zellen ihrer Wirkungs- sphäre, sind anders abgestimmt als normal, antworten mit anderem Effekt. Wir sahen nun oben, dass an eben diesem Effekt chemische Vorgänge einen hervorragenden Anteil nehmen, dass sie ihn neben dem Teilungsvorgang realisieren; wenn nun andrerseits sich uns die Überzeugung aufdrängt, dass der Kern der von der Auslösung beeinflussten Zellen eine hervorragende Rolle am Effekte spiele, dürfte da nicht die Hypothese Wahrscheinlichkeit gewinnen, dass die Aus- lösungursache sich in erster Linie am Kerne jedesmal be- stätigt, dass sie ihn verändert und dass diese Veränderung dann neben der Teilung eine Modifikation des Chemismus der von ihr gelieferten Zellen nach sich zieht, welche eben die ausgelöste Organbildung realisiert? 47 Wie bei Weismann und Roux sich die zellleitenden Kerne durch jede Teilung in geordneter Weise verändern, so lasse ich eine Abänderung der Kernsubstanz durch Aus- lösung als Einleitung jeder Organbildung vor sich gehen. Die Veränderung, oder vielmehr die spezifische Be- schaffenheit des Kernes ist an allen Kernen eines sich bil- denden gleichartigen Organs so lange die gleiche — und zwar die des zuerst von der Auslösung betroffenen Kernes — bis dieses fertig gebildet ist und nun eine neue Aus- lösung in ihm wieder eine Differenz schafft. Ich lasse also die Kerne jeder Bildung so lange gleich sein, wie die Zellen dieser Bildung sichtbarerweise gleichen (histologisch-chemischen) Charakters sind: es ist somit meine Ansicht nur insofern hypothetisch, als sie dem Kern überhaupt einen formativen Einfluss auf die Zelle zu- schreibt, und zu einer solchen Annahme zwingen uns jene oben genannten Thatsachen. Roux und Weismann da- gegen lassen die Kerne in Zellen vollständig gleichen sicht- baren Baues verschieden sein (z. B. in den Furchungszellen), so dass wir also auch hier wieder eine gewisse Unwahrschein- lichkeit an ihrer Ansicht nebenbei entdecken. Ueber die Art und Weise, wie die Veränderung der Kerne zu denken ist, muss endlich noch eine Bemerkung beigefügt werden. Die Thatsachen der Regeneration, der adventiven Vermehrung bei Pflanzen und andere Dinge zwingen zu der Annahme, dass die Möglichkeit der Bildung des ganzen Organismus nicht nur in jeder Furchungszelle, was direkt bewiesen, sondern in jeder Zelle des Körpers über- haupt gleichermaassen vorhanden und nur meist durch be- stimmte Bedingungen gleichsam verschleiert sei. Diese Mög- lichkeit liegt nach uns im Kern, also muss der Kern in jeder 48 Zelle seine Totalität bewahren. Wenn die Kerne nun, wie wir ebenfalls voraussetzen, im Laufe der Entwicklung beeinflusst, also verändert werden und so zur Wirkung auf die Zelle gelangen, so muss doch diese Beeinflussung durch die auslösenden Reize derart sein, dass sie eben jene Totalität wahren. Dass hier kein Widerspruch, sondern ein Ausgangspunkt für fruchtbare Betrachtungen vorliegt, werden, spätere Abschnitte zeigen (Kap. III. 87 u. 8). N ‘Le Kan Ion iy Kapitel I. ISIS "Auslösungen der ontogenetischen Vorgänge, $ 1. Begriff der Auslösung. Wenn uns ein Gegenstand eine andere Sinnesempfindung bereitet, als wir sie vorher von ihm gewannen, so sagen wir, der Gegenstand habe sich verändert. Die Empfindung der Veränderung zwingt uns zu der Frage: warum hat er sich verändert? das heisst, wir forschen nach der Ursache der Veränderung. Es ist bekannt, dass die Beziehung von Ur- sache und Wirkung, zu der wir so gelangen, fast stets einen empirischen Charakter hat, es ist ferner bekannt, dass das lediglich in Bezug auf quantitative Übertragung von Energie nicht der Fall ist; das heisst, nur im letzteren Falle ist für unseren Verstand die Wirkung eine wahre Folge der Ur- sache, lässt sich ohne empirische Einzelkenntnis aus ihr prophezeien, sonst aber geht das nicht an. So ist es uns z. B. nicht möglich, vorauszusagen, dass ein fahrender Eisen- bahnzug die Schienen erwärmt, wenn wir die allgemeine 49 Wirkungsbeziehung zwischen Arbeit und Wärme nicht vorher kennen. Alle natürlichen Ursachen sind also causae occasio- nales, sofern die Qualität der Wirkung in Frage kommt. Neben Wirkungen, in denen sich zwar die Qualität der Ursachen verändert, das Quantum ihrer Energie aber er- halten bleibt, giebt es nun auch Effekte von einer solchen Art, dass ihr Quantum das Quantum der Ursache um unge- heueres überragt und ihm entweder überhaupt nicht kom- mensurabel oder doch nur irgendwie proportional, aber nicht gleich ist. Wir nennen in diesem Falle die Ursache eine Auslösung und reden ferner von Spannkräften, welche in dem von der Auslösung betroffenen Körper in Aktion treten. Wir sagen auch wohl, dass die eigentliche Ursache des Effektes in diesem Falle in dem betroffenen Körper gelegen habe, obwohl das in zwiefacher Hinsicht nicht ganz streng ist, denn eine äussere Ursache ist in jedem Falle für jede Veränderung zu postulieren und der Effekt einer Wirkung liegt stets, wenn überhaupt Qualität in Frage kommt, in der Natur des betroffenen Körpers mit begründet. Das einzige also, was die Auslösung von einer anderen causa occasionalis wirklich scheidet, ist die Ungleichheit der zu- geführten und der auftretenden Energie (s. Anhang 5). Wir haben nun in vorigen Abschnitten schon wiederholt angedeutet, dass das Auftreten der elementaren Vorgänge in jeder Ontogenese durch eine Auslösung zu Stande käme. Es ist also damit gesagt, dass die bei jeder ontogenetischen Veränderung wirkende Ursache nur ein Anstoss sei, welche die ihm qualitativ und quantitativ ungleiche Wirkung gleich- sam herausspringen lasse, dass aber nicht nur das Quale des Effektes im betroffenen Körper liege, sondern auch die sich dabei bethätigende Energie in ihm latent vorhanden Driesch, Analytische Theorie. 4 90 gewesen sei, soweit Energie nicht, wie es ja in der That zum Teil der Fall ist, dem Kraftvorrat des den Keim um- sebenden Mediums entnommen wird (Sonnenwärme, osmo- tische Wirkung aufgenommener Salze etec.). Dass in Wirklichkeit die Organbildung veranlassenden Agentien Auslösungscharakter haben, geht ohne Weiteres daraus hervor, dass diese Organbildung, wie wir sahen, in chemischen Prozessen begründet ist, denn chemische Pro- zesse sind qualitative Neuschöpfungen, zu denen die nötige Energie von beiden betheiligten beigebracht wird. Wir zählen unten im Anschluss an einiges Bekannte die Zahl der möglichen Auslösungsfaktoren für Organbildung auf. Man wird bemerken, dass der wirkende Faktor stets entweder irgend eine im Bau des Ganzen ausgeprägte Ver- schiedenheit oder irgend eine im Verlaufe einer Phase der Entwicklung auftretende physikalische Beziehung wie Zug, Druck, Berührung ist, oder aber, dass eine Wirkung sich selbst wieder als Ursache einer späteren Wirkung bethätigt. Mag also ein Verschiedenheitszustand oder eine vorüber- gehende Differenz Ursache von Organbildung sein; stets ist der Effekt nicht nur nicht der Qualität nach prophezeibar, sondern verläuft auch (als Wachsen, Wandern etc.) unter einem Energieverbrauch, der die etwa in dem von einer wandernden Zelle ausgehenden Stosse zu Tage liegende Energie um ganz ungeheures überragt. $ 2. Position und Induktion. Als ich zum erstenmale versuchte!), die Thatsache des Auslösungscharakters der Entwicklung zu formulieren, hatte 1) In Nr. X meiner »Studien«. 51 ich die statthabenden Wirkungen mit Ausnahme der Be- stimmung der allgemeinen Richtungen oder Achsen, welche ich Korrelation nannte, in solche der Position!) und solche der Induktion gesondert. Positionswirkungen sollten »aus starren Beziehungen zum Ganzen resultieren«, Induktionen jedoch durch eine Ursache ausgelöst werden, welche für den betroffenen Ort Aussenwelt sei, möge sie dem umgebenden Medium angehören oder Teil des Keimes sein. Jene Arbeit war ein erster Versuch, ihr Ergebnis war nicht falsch, aber, wie ich jetzt denke, doch nicht zureichend. Es bedarf nämlich der Begriff der Position (und derjenige der Korre- lation) einer Auflösung. Ich hatte mir eine Positionswirkung etwa unter folgen- dem Beispiel vorgestellt: an dem in beistehender Figur dargestellten Keime ist das Organ «@ durch irgend ein Auslösungsgeschehen ins Dasein - gerufen, dadurch ist das Ganze einachsig ge- ® worden, es besitzt zwei ungleiche Pole, und wir können nun jeden Punkt der Körperwand durch seinen Abstand von einem der Pole de- finieren; freilich ist er zunächst dann noch Fig. 4. nicht definitiv bestimmt, vielmehr nur der Um- fangskreis, auf dem er liegt, aber, sobald wir uns noch irgend ein nicht in der Achse liegendes Organ vorhanden und damit die Bilateralität induziert denken, können wir jeden Punkt eindeutig durch zwei Abstandsmaasse bezeichnen. Wenn nun von irgend einer Organbildung nichts weiter 1) Pfeffer bezeichnet in dem bezüglichen trefflichen Abschnitt seiner Physiologie meine Position ebenfalls als Korrelation. (Pfilanzen- physiol. II. Kap. V. Abschn. IV.) 4* 52 ausgesagt werden könnte, als dass die beiden Abstands- maasse für ihren Ort z und y heissen, dann sagte ich, läge Position vor: durch zwei gegebene Organe seien zugleich andere in ihrem Orte mit bestimmt. Um meine Ansicht an einem konkreten Beispiel noch deutlicher zu machen: so würde ich also gesagt haben, dass in sehr vielen Fällen die morpho- logische Ober- und Unterseite von Blättern durch Position bestimmt sei, sie ist nämlich »durch die Lage« zum Ganzen, zu Spitze und Basis des Sprosses bestimmt; dass dagegen etwaige Abweichung von der Symmetrie an Blättern durch Induktion bestimmt sei, nämlich durch die Schwere, »durch die Lage« des Blattes zur horizontalen '). Roux hat schon vor Veröffentlichung des soeben heran- gezogenen Versuches, aus einer anderen früher gethanen Äusserung von mir, welehe absichtlich sehr allgemein ge- halten war, eine Auffassung der Position herausinterpretiert, an welche ich nie gedacht hatte und auf Grund eigener Resultate gar nicht denken konnte: naturgemäss konnte er sie da mit Recht widerlegen. Es handelt sich um meinen fundamentalen Satz, dass die prospektive Bedeutung einer Furchungszelle eine Funktion ihrer relativen Lage sei. Im ersten Kapitel ist dargelegt, wie dieser Satz verstanden werden soll und auch, wie mir scheint, allgemein verstanden worden ist: »mit der Lage wechselt ihr Schieksal«, besagt er, von der Art der Schick- salsbestimmung handelt er gar nicht. Roux meint jedoch, ich liesse die geometrische Zuordnung der Punkte des 1) Wiesner (Unters. über den Einfluss der Lage etc. Sitz.-Ber. Akad. Wien. Math.-nat. Kl. Ba. CI. Abt. I) redet beidemale vom »Ein- fluss der Lage« Es ist aber klar, dass das Genannte zwei ganz ver- schiedene Dinge sind. a) Keimes als solche wirken. Dann, sagt er mit Recht, dürfen deformierte Keime keine der normalen entsprechende Organisation bekommen. Solche von ihm und von mir be- schriebene unter Deformation entwickelte Keime sehen in der That aus, als seien sie erst gebildet und dann als Ganzes deformiert. Position in meinem Sinne wäre es nun aber, wenn am polar differenzierten Echinidenkeim das eine Organ etwa an einem Pol und das andere am Äquator, d.h. auf einem von beiden Polen gleichweit entfernten Kreise sich bildete: die Beziehungen der relativen Lage blieben hier ja aber bei Deformationen erhalten; ähnliches gilt, wenn etwa beim Froschei die Grenze der schwarzen und weissen Kugelschale als solche organauslösend wirkt. Dass ich den Begriff meiner Positionswirkungen, we- nigstens als einheitlichen Begriff, fallen lasse, hat also andere Gründe als die Einwände Roux’, und zwar liegen diese Gründe tiefer: Wir postulieren für jede Veränderung eine Ursache: diese Ursache kann nun selbst eine Veränderung sein, oder sie ist eine schon vor ihrer Aktion vorhanden gewesene Verschiedenheit, welche darum erst jetzt, im Zeit- moment z, wirkt, weil das, auf was sie wirkt, vorher nicht fähig war, dem Anstoss zu entsprechen. Es muss aber auf alle Fälle die Ursache etwas gut und scharf gekennzeichnetes sein. Gerade das mangelt meinem Positionsbegriff, dem Be- griff des »durch Bestimmung von anderem Mitbestimmtseins«. Er hat kein eigentlich kausales Gepräge, sondern mehr den unbestimmten Charakter der funktionalen Beziehung (x = fly]. Wir brauchen aber wahre, durchsichtige kausale Agentien. Das heisst aber, wir müssen die Position in 4 Induktionswirkungen auflösen, denn nur ein wirklich induzierter, d. h. von einem Agens eingeführter Zustand ist ein kausal bewirkter. Ich stelle nunmehr die möglichen Arten der Organ- bildung auslösenden Faktoren zusammen, wobei ich die- selben in innere und äussere sondere, Begriffe, die ohne weiteres verständlich sind. $ 3. Von den inneren Induktionen. I. Physikalische Induktionen. 1. Masseninduktion, Ich verstehe unter Masseninduktion die nicht abzu- weisende Thatsache, dass die Anwesenheit verschiedener Materien im Keim einen örtlich determinierten auslösenden Einfluss auf organbildende Elementarvorgänge besitzt, der- art, dass entweder Zellen, welche durch den Furchungs- vorgang ganz wesentlich eine bestimmte der plasmatischen Substanzen eingeschlossen enthalten, damit für eine be- stimmte Organbildung determiniert werden oder auch dass nur die allgemeine durch die etwa spezifisch verschieden schweren Substanzen gegebene allgemeine Richtung als solche den Ort einer Bildung auslösend bestimmt. Am abgefurchten Froschei entsteht nach einem wichtigen von OÖ. Hertwig angebahnten, von Born weitergeführten Versuch die Anlage des Urmundes erstens an der Grenze der schwarzen und weissen Eiwandmasse und zweitens, wenn das Ei durch künstliche abnorme Fixation einer Lage und teilweisen Ausgleich seines Masseninhaltes gleichsam bilateral gemacht wird, stets ziemlich genau am höchsten Punkte des durchfurchten hellen Feldes. »Die durch die #) Strömung des Dotters gesetzte bilaterale Symmetrie des Eies fixiert also die Medianebene des Embryo« (Born). Die Art und Weise der Verteilung der Substanzen verschiedenen spezifischen Gewichts löst hier also den ersten morphogenen Vorgang (damit zugleich die Bilateralität) aus. Dieses und ähnliches Geschehen im einzelnen zu präzi- sieren, ist zur Zeit unmöglich, doch wird man sich den fraglichen Auslösungsfaktor meist als einen physikalischen vorstellen können, womit nicht ausgeschlossen sein soll, dass Zellen, welche durch die Furchung einen spezifischen Ei- bestandteil als Einschluss erhalten, durch diesen nicht auch chemisch in ihrem Schicksal bestimmt werden könnten. In- sofern könnte es also auch chemische Masseninduktion geben. Alle Masseninduktionen gehen vom Eibau aus; es folgt daraus, dass diese Wirkungsart nur in derjenigen Phase der Entwicklung sich zeigen kann, in der der Keim als ganzes gleichsam den Eibau noch repräsentiert, d. h. also bei den ersten der Furchung folgenden Organbildungen. Wenn, wie später erörtert wird, ein neu gebildetes, aus gleich gebauten Zellen bestehendes Organ — also etwa der Darm einer Echi- nidengastrula — nun selbst wieder den Boden für ein Aus- lösungsgeschehen abgiebt, ist an ihm ja keine Massen- verschiedenheit vorhanden. Es ist begrifflich nicht notwendig, dass Masseninduktion gerade von so sichtlich differenten Substanzen wie sie im Froschei vorhanden sind, oder wohl bei Mollusken, Poly- kladen u. a. die erste Richtung auslösend bestimmen, aus- gehen muss: ein gleichsam als Polarität zu bezeichnender minutiöser Bau des Eies dürfte auch Wirkungen dieser Kategorie ausüben können. Wir nahmen das für die erste 96 Organbildung der Seeigel an. Wer dürfte behaupten, dass ein solcher Bau, wohl gar bilateral ausgeprägt, oft nicht auch dort vorhanden ist, wo wir zur Zeit das Ei als gleichartige Masse sehen (Nereis-Wilson)? Wir wollen endlich dieses Kapitel der Masseninduktionen benutzen, um uns den Auslösungs- charakter aller morphogenen Ursachen, zumal hinsichtlich der Qualität ihrer Wirkung nochmals an einem zum teil hypothetischen Beispiel klar vor Augen zu stellen: Die abgefurchten Eier von Anneliden, Gastropoden und Poly- kladen bieten in jeder Hinsicht beinahe vollständig dasselbe Bild dar!), es ist eine zwar problematische, aber nicht von vornherein abzuweisende Annahme, dass die »Masseninduk- tionen«, welche bei allen dreien die ersten Organbildungen einleiten, ganz oder nahezu identisch in allen drei Fällen sind. Nun sind aber die Effekte jedesmal gänzlich ver- schieden: wenn wir die Zellen aller drei abgefurchten Keime identisch numerieren würden, so würde beispielsweise aus den Zellen e jedesmal etwas ganz anderes. Also dieselbe Ursache kann drei verschiedene Wirkungen haben. Das eben nennen wir die auf einer Anlage des Betroffenen be- ruhende Qualität der Wirkung. Wie beschaffen im ein- zelnen Falle die Wirkung ist, das ist, wie oben betont, ein der allgemeinen Entwicklungsmechanik gleichgiltiges Problem, welches sie der in weitestem Sinne Systematik zu nennenden Disziplin zuweist. 1) Für botanische Dinge gilt ähnliches, so ist nach Goebel ein gewisses Stadium des Embryo von Capsella im Querschnitt nicht von einem Sphärulariastämmehen oder Moossporangium zu unterscheiden. (Vgl. Entwicklungsgesch. d. Pflanzenorgane. S. 165—166.) 97 2. Zug- und Druckinduktion. Spannungsdifferenzen im Umfang eines Organs dürften sich der Forschung der Zukunft in nicht geringer Anzahl, als organauslösende Faktoren ergeben. Im bilateral ge- bauten Insektenei dürften solche den indifferenten Blasto- merenkernen ihre organogene Bedeutung aufzwingen. Viel- leicht wirkt auch die oben besprochene Masseninduktion in der hier angedeuteten, physikalisch durchsichtigen Art und Weise; in diesem Falle wäre diese Kategorie mit der jetzt besprochenen zu vereinigen. 3. Berührungsinduktion. Berührung, sei es seitens wandernder Zellen, oder seitens eines fremden wachsenden Organs, vermag Teilung und Wachsen und damit Organbildung auszulösen: hierher ge- hört nach Herbst der Vorgang der Armbildung an den Pluteuslarven der Seeigel.e. Dagegen wird, wie ich zeigen konnte, nicht etwa die Bildung der Mundhöhle der Seeigel- larven durch einen vom Darm ausgehenden Berührungsreiz ausgelöst. II. Chemische Induktionen. 1. Die chemische Induktion als Wachstumsanregerin!). Wenn der Pollen in den Embryosack der Phanerogamen eingedrungen ist, so gehen in dem diesen umgebenden Ge- webe rege Teilungs- und Wachstumsvorgänge vor sich, welche zu typischen Resultaten führen und sich in weit entfernte 1) Von einer etwa vorkommenden »chemischen Masseninduktion« ist oben kurz geredet. 98 Zellschichten hineinerstrecken können; wird die Trichogyne der Florideen vom Spermatozoid befruchtet, so geschieht ähnliches. Es ist schwer der Annahme zu entgehen, dass diese Vorgänge durch einen von dem befruchtenden Körper ausgehenden Reiz chemischer Art hervorgerufen werden, in- dem er etwa einen (fermentativen?) Körper ausscheidet, der, langsam diffundierend, nun seinerseits diejenigen zellchemi- schen Vorgänge auslöst, welche eben zu Wachstum und typischer Differenzierung führen. | Wir zogen dieses Beispiel heran, um darauf hinzu- weisen, wie wohl auch im Verlauf der eigentlichen Onto- genese chemische Wirkungen von Bedeutsamkeit sein möchten. Erinnern wir uns zunächst unserer Bemerkung, dass alle elementaren Formbildungseffekte chemischer Natur seien, dass also die Organe chemisch different sind. Wenn wir uns eine aus den drei Organen A, B und © sebildete Larve denken, und uns erinnern, dass A, B und C stofflich verschieden sind, so ist die ie Möglichkeit zugegeben, dass der C-Stoff ] \ auf das Organ B derart wirkt, dass er dort, a a i N) wo er, etwa im Laufe einer Diffusion durch Si ” ) die Wandung und die zwischen C’ und B \__/ befindliche Körperflüssigkeit, zuerst B trifft, Fig. 5. an diesem eine Organbildung, auf die es abgestimmt war, auslöst; das würde also gegenüber C in £ erfolgen. Es ist zu beachten, dass in diesem Falle mit der Lage von C auch die von ß sich ver- ändern würde; das könnte der Fall sein, wenn C einer nicht sehr fest normierten Berührungsinduktion etwa sein Dasein verdankte. 59 Neben dieser Art der chemischen Auslösungswirkung ist noch die Möglichkeit einer anderen zugegeben. Von der Grenze von A und B aus kann sich der B-Stoff durch die A-Zellen hindurch durch Diffusion verbreiten und in einer gewissen Entfernung an ihm auslösend wirken. Jedoch ist eine solche Wirkungsart von vornherein aus- geschlossen, wenn die Zellen von A noch alle gleichartig sind: denn dann ist nicht einzusehen, warum der diffundierte Stoff nur an einer bestimmten Stelle zur auslösenden Wir- kung gelangt, was wir doch annehmen. Ist A jedoch schon in einen über und einen unter « liegenden Teil differenziert, so vermöchte wohl der angenommene Stoff auf die Zellen zu wirken. die unmittelbar über « liegen; ist A ausser- dem noch bilateral differenziert, so könnte auch eine bilate- rale (also etwa paarige Bildung) resultieren. Vorstellbar ist es ferner, dass das Organ D direkt auf die ersten ihm angrenzenden Zellen von A wirkt, und solche Wirkungen mögen ja auch vorkommen. Ich bemerke, dass diese Vorstellungsweise zugleich die Auflösung einer Art meiner früheren Positionswirkungen wäre (s. S. 50). Wer wird freilich zunächst entscheiden wollen, ob, wenn an irgend einem tierischen embryonalen Organ irgendwo ein anderes Organ (als »Ausstülpung«) ent- steht, dessen Bildung in der soeben skizzierten Weise che- misch oder etwa durch Spannungsdifferenzen ausgelöst sei? Aber an irgendetwas derart müssen wir denken!), und es ist 1) Ich empfehle dem Leser, sich die instruktiven Chiton-Längs- schnitte im Kapitel XXV von Korschelt-Heider’s Entwicklungs- geschichte eingehend zu betrachten und sich zu fragen, was für organ- auslösende Wirkungsweisen hier in Frage kommen können. 60 die Vermutung nicht abzuweisen, dass gerade innere che- mische Induktionen, wie wir sie skizzierten, wegen ihres so recht eigentlich correlativen Charakters sehr geeignet für die Herstellung des Organismus zu sein scheinen: sie gerade dürften häufig dann vorliegen, wenn wir vom ererbten Wachstumsgesetz einer Species reden; ihnen könnte die Ord- nung z. B. einer Blüte ihre Existenz verdanken. Besser jedenfalls, wir halten hypothetische Vorstellungen einstweilen fest, wenn sie nur mögliche Realität haben, das heisst be- kannten Wirkungsweisen ähnlich sind, als dass wir ganz problematische, etwa von B auf A ausgehende fernkraft- artige Effekte annehmen. So ist denn auch wohl dieser Abschnitt gerechtfertigt; die Möglichkeiten, von denen er handelte, dürften schwer- lich in Bälde zu Wirklichkeiten werden. Ich löse die ganze Ontogenese in eine Reihe einzelner ausgelöster Effekte auf. Die hier skizzierten hypothetischen Wirkungsweisen bilden eine bestimmte Kategorie dieses für die ganze ÖOntogenese giltigen Geschehens. Roux hat in Hinsicht auf von ihm für anormal gehaltene Fälle (meine »Druckversuche« und Verwandtes) von sogenannten Nach- barschaftswirkungen geredet, welche ursprünglich bereits durch die Zellteilung prospektiv determinierte Zellen um- stimmen sollen; wie er sich diese von ihm angenommenen Wirkungsarten im einzelnen vorstellt, hat er nicht gesagt; es ist aber klar, dass man sie sich nach Art unserer che- mischen Induktion vorstellen könnte. Auf alle Fälle aber — und das zu betonen ist der eigentliche Zweck dieser Bemerkung — ist die Konzeption meiner Induktion deswegen etwas ganz anderes als jene hypothetischen Roux’schen Agentien, weil, von Anderem abgesehen, diese nach ihrem 61 Urheber Ausnahmen, meine Induktionen Regel sind, wie denn überhaupt Roux zur Annahme jener auf Grund einer höchst gekünstelten, den Bereich des Normalen willkürlich einschränkenden Auffassung gelangt ist. 2. Die chemische Richtungsinduktion. Dass ein an diesem Orte des Embryo gebildeter Stoff auf wandernde Zellen oder wachsende Organe einen rich- tungsbestimmenden, also chemotropischen Effekt hat, dürfte uns auf Grund unserer Kenntnisse weniger problematisch vorkommen, als die oben erörterten möglichen Wirkungs- weisen. Ein hierher gehöriger Versuch ist von Seiten Loeb’s!) ausgeführt. Bei Herbst bitte ich näheres nachzulesen und will hier nur auf eine mögliche Kombination hinweisen, in welcher a die Richtungsauslösungsart mit einer anderen Induktionsart zugleich auftreten kann: Es Fig. 6. kann der Punkt « chemotropisch-anziehend auf Zelle # wirken; ist aber $ in « angelangt, so wirkt sie durch Berührungsinduktion daselbst formbildend. $S 4. Von den äusseren Induktionen. Der äusseren Induktion stehen beide bisher behan- delten Induktionskategorien als innere Induktionen gegenüber. Der Name »äussere Induktion« bedarf keiner Erläuterung. An jedes Agens der anorganischen umgebenden Natur kann hier gedacht werden. Insofern die Gravitation in Eiern mit verschiedenen Substanzen die Ordnung derselben nach dem 1) Coloration of Animals. Journ. of Morph. VII. 62 spezifischen Gewicht besorgt, könnte auch unsere oben er- örterte Masseninduktion erst hier abgehandelt werden, wenn wir nicht vorgezogen hätten, auf eben die Anwesenheit jener Stoffe im Ei unser Hauptaugenmerk zu richten. Im übrigen mag es für die Zwecke unseres Kapitels, welches nur das Prinzipielle im Auge hat. genügen, auf die Beeinflussung der Organbildung der Antennularia durch Schwerkraft seitens Loeb, und auf die Beziehung des Lichts zur Ausgestaltung der Marchantiabrutknospen hin- zuweisen; auch sind äussere Richtungsinduktionen möglich. Wollen wir mit allem doch nur die Berechtigung unserer Grundanschauung darthun, also hier im Besonderen zeigen, dass uns in der That eine grosse Anzahl möglicher Aus- lösungsursachen für die Entwicklungsprozesse zur Verfügung stehen. $ 5. Von der »funktionellen Anpassung«. Wir handelten von denjenigen Ursachen, welche (aus- lösend) die zur Organbildung führenden cellulären Elementar- vorgänge hervorrufen. Wir erwähnten schon gelegentlich und werden darauf zurückkommen, dass die Elementarvor- gänge nach ihrer Auslösung eine jedesmal bestimmte Zeit lang vor sich gehen und dann beendet sind. Innerhalb dieser Zeit entsteht also das durch sie gebildete Organ, und sobald an diesem Organ nicht noch weitere Auslösungs- prozesse sich abspielen, ist also ein definitives Organ des Körpers entstanden. Obwohl nun der chemische, also histologische Charakter eines jeden definitiven Organs im Grossen und Ganzen schon mit dem Charakter des zuletzt ausgelösten Elementar- vorganges, welcher eben bloss eine Zeit lang zu verlaufen 63 hat, gegeben ist; sind doch einige Fälle bekannt, in denen die Massenentwicklung des Organs sowie auch die besondere Tektonik der dasselbe konstituierenden Zellen von äusserem abhängt. So verdicken sich Muskeln durch häufige Kontraktion, so verstärkt sich das mechanische Gewebe der Phanero- gamen durch Zug und so fort. Es ist passend, die letzte Wirkungsart nicht etwa als äussere Zuginduktion zu be- zeichnen, sondern allgemein zu sagen, dass Inanspruchnahme eines Organs in derjenigen Hinsicht, für welche es beson- ders eingerichtet ist, Verstärkung desselben, d. h. Teilung und Wachstum seiner typischen Zellen, und, soweit die In- anspruchnahme in einer Richtung erfolgt, Ausbildung eines ausgeprägten Baues, zur Folge habe. Roux hat diese letztere äusserst zweckmässige Erschei- nung, die z. B. vom Knochenbau bekannt ist. schon vor längerer Zeit auf jene celluläre Grundfunktion zurückzuführen gesucht, also auf die Thatsache, dass jede einzelne Zelle durch Ausübung ihrer »Funktion« zu Wachstum und Teilung angeregt wird. Wenn nun nur in einer Richtung die »Funk- tion« (etwa durch gerichtete Widerstände) ausgelöst wird, so werden nur diejenigen Zellen, welche vermöge ihrer Lage der Auslösung entsprechen können, an Zahl und Güte zu- nehmen, das heisst aber, sie werden am meisten Nahrung verbrauchen, also sie den nicht funktionierenden Zellen mehr oder weniger entziehen, also werden diese letzteren in der Ausbildungsgüte weit hinter jenen zurückbleiben: so ist dann ein bestimmt gerichteter Bau des Ganzen entstanden. Roux versucht also eine äusserst zweckmässige Erschei- nung am Bau gewisser Organe aus einer sehr zweckmässigen anderweit bekannten cellulären Erscheinung mittels einfacher 64 Schlüsse abzuleiten. Von einer »mechanischen« Erklärung der betreffenden Erscheinung, mit welchem Namen Roux seine Ansicht belegt, ist dabei selbstverständlich keine Rede, sondern es handelt sich, wie gesagt, um die Ableitung einer Zweckmässigkeitseinrichtung aus einer anderen. Wie wäre auch wohl etwas anderes möglich? — Wenn wir die in einem bestimmten Bruchteil der Ent- wicklungszeit von einem Elementarprozess gelieferte Zellen- zahl die Intensität dieses Elementarprozesses nennen wollen, so können wir zusammenfassend und einiges ter- minologische vorwegnehmend sagen, dass funktionelle Inanspruchnahme eines ultimären Organs die In- tensität des dasselbe liefernden und fortdauernd er- neuernden Elementarprozesses erhöhe. Es ergiebt sich also beiläufig, dass die Intensität aller Elementarpro- zesse bis zum penultimären wohl konstant ist, diejenige der ultimären jedoch nicht; es sei jedoch besonders betont, dass dabei die Intensität auf die relative Entwicklungszeit be- zogen wird, welche ihrerseits von Temperatur und anderem abhängen kann. Kapitel I. Die zeitliche Ordnung der ontogenetischen Vorgänge. $ 1. Das Problem. Wir gelangen zur Analyse des schwierigsten der Pro- bleme, welche uns die Entwicklung der lebenden Formen stellt: aus cellulären Elementarvorgängen setzt sich dieselbe zusammen, auslösenden Ursachen, innerhalb oder ausserhalb 65 des Ganzen gelegen, verdankt die Inszenierung dieser ihr Dasein. Die Ursachen aber sowohl wie die ausgelösten Effekte zeigen eine 'bestimmte feste Ordnung in der Zeit. Die Entwicklung zeigt Phasen. Worauf beruhen die Phasen der Entwicklung in letzter Instanz? Was sind sie in letzter Instanz? Das sind die Fragen, welehe uns nunmehr beschäftigen. Beachten wir, um uns vor Irrwegen des Forschens zu hüten, zunächst, dass nur diese beiden von uns gestellten Fragen das Problem richtig kennzeichnen. Wie wir kon- statieren konnten, dass celluläre Elementarvorgänge die Entwicklung zusammensetzen, und wie wir ihren in letzter Instanz chemischen Charakter feststellen konnten und auch sahen, dass eine Ursache sie ins Leben, und zwar an einem bestimmten Orte ins Leben rief, wie wir aber nicht sagen konnten, warum nun diese Ursache A an diesem Orte x gerade diesen Effekt B habe, so werden wir auch zeigen können, dass Ursachen und Effekte eine typische Zeitordnung inne halten, und werden diese Ordnung in ihre letzten Ele- mente zerlegen und so ein Schema der Entwicklung schaffen, wir werden aber nicht sagen können, warum eine Ordnung da sei. »Eine Ordnung«, sage ich absichtlich, denn der nur das Allgemeine betrachtenden Entwicklungsmechanik gehört das Studium des Spezifischen dieser Ordnung im einzelnen Falle nicht an. Gehen wir nunmehr in unserer Betrachtung von ganz allgemein bekannten Dingen aus. Jedes Organ entsteht auf einem Mutterboden, es ent- steht also erst, wenn dieser da ist; da er nun meist nicht von Anfang der Entwicklung an da ist, so entsteht ein be- stimmtes Organ also in einem bestimmten Zeitpunkt der Driesch, Analytische Theorie. 5 66 gesamten Entwicklungszeit. Aber auch an einem und dem- selben Mutterboden entstehen verschiedene Organe oft in bestimmter Reihenfolge nach einander; und zwar tritt hier das elementargesetzliche des Zeitrhythmus mehr her- vor, als in jenen erst genannten Fällen, in denen die Zeit- folge selbstverständlich erschien, gleichwie es selbstverständ- lich ist, dass man den Bau einer Kirche nicht mit der Erriehtung der Kirchturmspitze beginnt. Diese allgemeinen Verhältnisse der Zeitfolge der Ele- mentarprozesse sind jedem geläufig, der die Elemente der Embryologie kennt. Wenn nun aber jeder Elementarprozess einer Ursache sein Dasein verdankt, so ist weiter klar, dass, wie jene cellu- lären Prozesse, so auch die Ursachen, welche sie auslösen, einen zeitlichen Rhythmus haben müssen, und zwar müssen in jedem Stadium der Ontogenese die Auslösungsursachen für das folgende vorhanden sein. Da nun in sehr zahlreichen Fällen, wie unser Kapitel von den auslösenden Ursachen zeigt, die Bildung der Organe einer Phase B von der Anwesenheit derjenigen der Phase A im Auslösungswege abhängt, nämlich bei allen inneren Induktionen, so ist der Zeitrhythmus der Ursachen also mit dem der Elementarprozesse zugleich so gut wie ganz gegeben: wenn die Organe einer Phase A vorhanden sind, so sind auch die Ursachen der Phase B vorhanden. Nach diesen allgemeinen einleitenden Betrachtungen können wir nun darangehen, zu untersuchen, in welcher Weise wir wohl das Ganze der Entwicklung am besten in seine einzelnen in der Zeit geordneten Phasen zerlegen können und welchen Charakter diese einzelnen Phasen be- sitzen, und zwar soll das in einer systematischen und gleich- sam dogmatischen Art und Weise geschehen. Ich werde 67 dem Leser nämlich die Früchte einer Analyse der Entwick- lung, nicht die Analyse selbst zur Prüfung vorlegen: er mag sich dann fragen, ob er da wirklich letzte Elemente und deren Charakteristik vor sich habe. Wir werden auf diese Weise zuerst ($ 2—6) zu einem Schema der Entwicklung gelangen; einem Schema, das uns zur Bequemlichkeit dient und dem sich die Natur gleichsam nähert, oder auch, um das sie herum- schwankt. In Fällen, wo sich die Natur nicht völlig mit der Starrheit unseres Schemas deckt, werden wir uns den Aus- druck erlauben, dass sie sich Abweichungen gestatte, uns dabei wohl bewusst bleibend, dass unsere ganze Betrachtung ja nur den Zweck hat, die Erscheinungen der Natur uns fasslich und übersichtlich zu machen. Unser Schema wird ($ 7 und 8) mn dem Nachweis der eigentlichen Grundlage der zeitlichen Entwicklungsordnung gipfeln. $ 2. Von der beschränkten Dauer der morphogenen Vorgänge. Wenn ein auslösender Faktor einen morphogenen Ele- mentarvorgang hat ins Dasein treten lassen, indem er Zell- teilungen und Wachstum nebst anderen chemischen Vor- sängen (Wachstum ist auch ein solcher, s. Kap. I, $4) an bestimmtem Orte hervorrief und damit eine Differenz schuf, so dauert der Zellteilungsprozess eine fest normierte Zeit hindurch an und liefert dabei Produkte, welche sämtlich den gleichen chemischen Charakter tragen, wie er eben aus- gelöst war. Das Wort »Zeit« ist hier nicht absolut zu verstehen, sondern relativ. Die Zeit des Verlaufes jedes Entwicklungs- vorganges hängt bekanntlich von der Temperatur und an- derem ab. Es kann also mit dem Ausdruck »fest normierte 5*+ 68 Zeit« nur gemeint sein ein fest normierter Bruchteil der unter den vorhandenen Bedingungen nötigen gesamten Ent- wicklungszeit. Wir können auch sagen, jeder ausgelöste Elemen- tarvorgang verlaufe bis zur Erfüllung einer fest normierten Zahl von Zellteilungen, unter Lieferung sleicher Produkte. Freilich scheint auch die Zahl der Zellteilungen nicht absolut normiert: wenn sich nämlich nur aus einer der ersten Blastomeren des Eies, welche etwa isoliert ist, ein Blasenkeim bildet, so besteht dieser aus einer weit kleineren, wohl nur halb so grossen Zellenzahl, wie der normale Blasenkeim; es ist aber zu bedenken, dass ja die Blastomeren isoliert wurden, nachdem der vorliegende (erste) Elementarvorgang (die Furchung) durch das aus- lösende Agens (die Befruchtung) bereits inszeniert war: da war er auch bereits auf die Lieferung einer normierten Zellenzahl eingestellt, und da ihm die Hälfte des aktivierten Materials genommen ward, konnte er diese nicht liefern. $ 3. Von dem ersten morphogenen Elementarprozess. Der erste Elementarprozess, welcher sich am tierischen Ei abspielt, ist die Furchung. Dieselbe wird durch die Befruchtung ausgelöst. Die Furchung besteht lediglich in einer Zerkleinerung des Eies mittels Zellteilung. Es folgt den einzelnen Zellteilungen kein Wachsen der Teilstücke auf das Maass der Mutterzelle heran. Nachdem die Furchung eine (annähernd). fest normierte Zahl von Zellen geliefert hat, ist sie beendet. Die Tektonik der einzelnen Furchungsbilder lässt sich 69 aus der Form des Eies und aus seinem Bau ableiten. Jede Teilungsrichtung ist nämlich durch einen bekannten von O. Hertwig gefundenen Satz bestimmt, welchen ich experi- mentell bestätigt fand. Die Anwendung dieses Satzes auf die Furchungsbilder, welche ich bereits andeutete, ist neuer- dings von Braem im einzelnen durchgeführt. Die späteren Furehungsstadien sind kuglige Körper: eine aus Zellen ge- bildete Wand umschliesst einen Hohlraum. Auch dies ist ohne weiteres daraus ableitbar, dass alle Zellteilungen tan- gential geschehen und jede Zelle sich nach jeder Teilung teilweise abrundet; aus letzterer Thatsache folgt ferner, dass sich die Zellen der oben genannten Wand nicht vollständig berühren, dass also die Wand nicht geschlossen ist. Bei Eiern mit viel Nahrungsdotter werden die letztgenannten Erscheinungen getrübt. Es liegt also nach allem Gesagten in der That kein Grund vor, in der Furchung etwas anderes als reine Zellteilung zu sehen: ja die Gleichheit der Furchungs- kerne ist direkt durch Versuche bewiesen. Die Thatsache ferner, dass durchaus verschiedene Tierformen (Polyeladen, Gastropoden, Anneliden) nahezu identische Furchungsbilder zeigen, scheint ebenfalls die nicht eigentlich morpho- logische Natur dieser Bilder als solcher zu beweisen und dürfte gestatten, auch dort, wo (wie bei Nereis) gleich- sam spontan ein typisches Furchungsbild auftritt, nur die Folge einer zur Zeit freilich unbekannten Struktur des Eies zu sehen. Bisweilen ist der Abschluss der Furehung durch ein in allen Zellen gleichzeitig eintretendes chemisch-histologisches Verschiedenwerden bezeichnet: in diesem Falle nennt man das Resultat der Furchung eine Blastula. Eine Blastula 70 kommt also nur wenigen Tiergruppen zu. Das Wort ist nur ein Ausdruck der Bequemlichkeit und bezeichnet in jedem Falle etwas anderes. Bei Echiniden ändern die Furchungszellen am Ende der Furchung ihre physikalische (also auch chemische) Natur, pressen Substanz aus und gewinnen engen gegenseitigen Anschluss: so entsteht hier die Blastula!); bei Insekten dürften ehemotropische Vorgänge eingeleitet werden, welche das Aufsteigen der Kerninseln an die Peripherie hervor- rufen. Da das Furchungsresultat (beziehungsweise die Blastula) lediglich durch Zellteilungen aus dem Ei hervorging, so be- sitzt sein Bau zu dem des Eies noch gewisse nahe Be- ziehungen, wennschon er wegen der jeder Teilung folgenden Zellrundung nicht direkt als Abbild des Eibaues zu be- zeichnen ist. $ 4. Von den primären Elementarprozessen. Der erste Elementarprozess, die Furchung, führt also zur Bildung einer bestimmten Anzahl von Zellen, welche gleichartige Kerne, aber naturgemäss einen verschiedenen plasmatischen Bau besitzen; führt sie ausserdem noch am Schluss der Teilung zu einer (wohl für alle Elemente glei- chen) chemischen und damit physikalischen Änderung, so sagen wir, sie liefere eine Blastula. Wir wollen uns im folgenden der Bequemlichkeit halber stets des Wortes Bla- stula bedienen, wenn wir vom Resultate der Furchung reden, 1) Auf Grund der Versuche von Herbst könnte man annehmen, dass dieses gleichartige Verschiedenwerden der Zellen in chemischer Hinsicht sich bereits im Verlauf der Furchung allmählich äussert. ii uns dabei wohl bewusst bleibend, dass eine wahre Blastula vielen Tiergruppen fehlt. Da wir nur von Prinzipien han- deln, so ist uns diese kleine Ungenauigkeit gestattet. Ich nenne nun einen primären Elementarvorgang jeden solchen, welcher von Zellen der Blastula, dem Produkt des ersten Elementarvorgangs, ausgeht, indem solche Zellen im Auslösungswege zu Teilung und chemischen Vorgängen angeregt werden und zur Organbildung führen. Organe, deren Bildung von Blastulazellen als solchen ausgeht, sind also primäre Organe. Es ist von besonderer Wichtigkeit, hervorzuheben, dass erst die vollendeten Blastulazellen fähig sind, einem In- duktionsreize durch Einleitung morphogener Elementarvor- gänge zu entsprechen, dass aber nicht etwa schon im Ver- laufe der Furchung die einzelnen Zellen eine ihrer späteren relativen Lage entsprechende Determination erfahren. Meine Versuche der Trennung des animalen und vegetativen Fur- chungmaterials mit nachfolgender Lieferung normaler Pro- dukte beweisen diesen Satz. Es sind also primäre Elementarvorgänge diejenigen, welche zur Mesenchymbildung, zur Urdarmbildung, zur Wimperringbildung bei Ecehinidenlarven führen, denn alle diese Vorgänge gehen von Blastulazellen als solchen aus; das »Ektoderm« repräsentiert gleichsam noch die Blastula. So sind auch die Schalendrüse der Muscheln, der Vorderdarm der Anneliden primäre Organe. Dagegen sind die Cölomsäcke der Echinodermen keine primären Organe, da ihre Ent- stehung nicht von Produkten des ersten Elementarvorganges als solchen ausgeht. Wie der erste Elementarvorgang, die Furchung, eine bestimmte relative Zeit hindurch, oder auch eine bestimmte 12 Zahl von Teilungen hindurch vor sich ging und dann (oft zugleich mit einem chemischen Effekt) abschloss, so verhalten sich auch alle elementaren primären Vorgänge; sie dauern eine beschränkte, bestimmte Zeit lang und sind dann be- endet. Alle durch einen primären Vorgang gelieferten Zellen haben gleichen chemischen Charakter, welcher ein anderer ist, als derjenige der Zellen der Blastula, ihres Mutterorgans: war doch eben die Bildung des primären Vorgangs durch chemisches Differentwerden der von der Auslösung betrof- fenen Zellen eingeleitet, mögen wir die chemische Differenz auch nur an ihrem Effekt, dem Wachsen, erkennen. Wir haben keinen Grund, die Kerne eines primären Organs für verschiedenartig unter sich zu halten: ginge es an, so müsste man auch wohl die Entodermkerne einer Echinidenlarve unter einander vertauschen können, ohne die fernere Entwickelung dieses Entoderms zu beeinträch- tigen, ganz wie das bei den Kernen der Blastula möglich war; und ebenso ist nicht einzusehen, warum man nicht diesem Darm Zellen entnehmen könnte, ohne dadurch die Bildung einer typischen (wennschon ähnlich verkleinerten) Darmdifferenzierung zu hindern, falls nicht in diesem Falle Regeneration das Resultat trübt. $5. Von den sekundären und weiteren Elementarvorgängen. Wird an einem primären Organ durch Auslösung eine neue Elementarleistung in Gang gesetzt, so nennen wir diese eine sekundäre, sie führt zur Bildung eines sekundären Organs. Sekundäre Organe sind also beispielsweise: die Cölomsäcke der Seeigellarve, denn sie gehen vom Ip; Entoderm aus, und die Arme dieser Tiere, denn sie gehen vom Wimperring aus. Im übrigen liegt der aufs Allgemeine gehenden ent- wicklungsmechanischen Forschung nicht viel an der Er- kenntnis, ob nun dieses oder jenes Organ primär, sekundär oder etwa quintär sei, ihr liegt nur an der Thatsache, dass sich die Ontogenese in die durch diese Namen ausgedrückten Phasen sondern lässt. Es ist ein wesentlicher, für primäre Vorgänge, wie er- wähnt, bewiesener Bestandteil unseres Entwicklungs- schemas, dass ein Organ höherer Ordnung an einem solchen niederer erst dann durch Auslösung in seiner Bildung ein- geleitet werden kann, wenn letzteres vollendet ist. Wohl erst mit dieser Vollendung erlangt ein Organ den ihm eigenen Chemismus in typischer Weise, wie das von der Furehung direkt gezeigt ist: erst dann treten die neuen Auslösungs- ursachen an ihm in Kraft; dagegen kann ein neues sekun- däres Organ 5 an einem primären Organ A ausgelöst wer- den, ehe ein anderes sekundäres Organ «, welches früher eingeleitet wurde, in seiner Bildung beendet ist, denn sowohl für « wie für 5 ist das Mutterorgan vollendet. Die Thatsache der Vollendung der Elementarprozesse führt, wenn an allen in Gang gesetzten Prozessen gleichzeitig auftretend, oft zur Unterscheidung wahrer Stadien der Entwicklung, wie es z. B. die Larven sind. Von Interesse sind in mancher Hinsicht die ultimären Organe: dieselben sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht den Boden für weitere Elementarvorgänge abgeben; die Chemismen (im weitesten Sinne), denen sie ihr Dasein verdanken, gehen in ihnen nun aber nie zu Ende, sondern dauern bis zum Tode fort, indem sie die Organe zunächst 74 auf ihre definitive normale Grösse bringen und sie dann auf gleicher Höhe ihrer Güte erhalten, sie vermitteln also an- fangs das Wachstum unter Wahrung der geometrischen Ähnlichkeit, das also, was wir z. B. am menschlichen Kinde als »Wachstum« bezeichnen. Man hat schon früher die Ausbildung der ultimären Organe, als Phase der histologischen Ausbildung par excel- lence der vorhergehenden organanlegenden Phase gegenüber- gestellt und beide wieder von der Furchung gesondert!): wir hoffen, in unserer Analyse wesentlich weiter vorgedrungen zu sein. Histologisch, d. h. chemisch spezifisch ausgebildet ist eigentlich jedes Organ jedes Stadiums der Ontogenese; dass die »Histologie« lediglich die geformten Produkte des Zellen- chemismus studiert, ist streng genommen eine willkürliche, freilich praktische Beschränkung. Da jedes Organ an jedem anderen infolge einer chemi- schen Änderung der Zellen, von denen es ausgeht, gebildet wird, und dann an sich wieder eine chemische Änderung erfährt, die zum nächsten Organ führt, so wird durch unsere Betrachtung ohne weiteres die einmal von Roux aufgewor- fene Frage erledigt, ob eine Zelle im Laufe der Entwicklung nach einander mehrere histologische Charaktere haben könne: freilich ist das möglich; es ist sogar Grundbedingung der Entwicklung, wennschon die Zahl der im wahren Wortsinne histologisch, also sichtlich spezifisch ausgeprägten nach ein- ander angenommenen Zustände eine beschränkte sein dürfte. Wenige der ultimären Organe sind einfache Organe; die meisten »Organe« der höheren Tiere sind vielmehr aus den verschiedenartigsten Zellenarten zusammengesetzt (Leber, 1) s. meine »Math. Mech. Betrachtung etc.« 75 Niere, Nerven, Haare): dem theoretischen Forscher muss hier, wenn er die Einheit der Betrachtung wahren will, wohl jede dieser Zellarten (Leberzellen, Bindegewebe, Gefässe etc.) als ein ultimäres Organ für sich gelten: doch wollen wir, angesichts der Jugend unserer Wissenschaft, uns mit dieser blossen Erwähnung einiger ihrer schwierigeren Probleme begnügen und, auf Herbst!) verweisend, nur bemerken, dass die Elementarvorgänge des Richtungswanderns bei Bildung von Organen gleichsam höherer Ordnung wohl eine grosse Rolle spielen. $ 6. Von der positiven und negativen Bestimmung der Organe und von der Bestimmung ihrer Prospektivität. Wenn an einem gegebenen Organ ein Elementarprozess an bestimmtem Orte ausgelöst wird, so werden daselbst, wie wir des Näheren darlegten, gewisse Zellen zu Teilung und zu bestimmter chemischer Leistung angeregt?): indem die Teilung unter Lieferung gleicher Produkte eine Zeit lang vor sich geht, liefert der Elementarprozess ein Organ. Ein ‚so entstandenes Organ wollen wir ein positiv bestimmtes nennen, denn es verdankt sein Dasein einem wirklichen sichtbaren Geschehen. Was ist aber nun mit dem Rest des Mutterorgans ge- schehen, d. h. mit denjenigen seiner konstituierenden Zellen, 1) s. dessen im Vorwort erwähnte neue Arbeit. 2) Wir reden von prinzipiellen Dingen und erläutern diese an einem, freilich sehr allgemeinen Beispiel. Es ist klar, dass wir auch den Elementarprozess des »Richtungswanderns« (Kap. I. $ 1, 2) als Beispiel wählen könnten. Es wird dem Leser von Nutzen sein, alle durch dieses Beispiel benötigten Modifikationen der folgenden Erörterung bei sich durchzudenken. 76 welche nicht zu neuer Leistung angeregt wurden? Etwas doch wohl auch: sie werden nämlich nicht nochmals die Organbildung aus sich hervorgehen lassen, die soeben aus ihren Genossen hervorging, sie haben also wohl eine Fähig- keit verloren. Haben sie diese Fähigkeit wirklich verloren? Wir wissen das nicht bestimmt. Denken wir uns eine Echiniden- blastula, welche bereits Mesenchym gebildet hat und soeben die Darmbildung beginnt, im Äquator durchgeschnitten, und nehmen wir dann an, das »animale«, dem Darmbildungsort gegenüber gelegene Stück der Wandung schlösse sich kraft seiner Spannung zu einer neuen kleinen Kugel: wer will behaupten, dass an dieser neuen Blastula nicht noch- mals Mesenchym- und Darmbildung beginnen? Wäre das aber der Fall, dann wäre jene Fähigkeit der organbildenden Reaktion im Normalen den »Ektodermzellen« nicht wirklich verloren, sondern sie könnte sich äusserer Bedingungen, der relativen Lage der Zellen zum polarigen Ganzen wegen nicht äussern; nur die Zellen, welche der Auslösung ent- sprachen, konnten dies thun, eben vermöge ihrer Lage, nur sie wurden im realen Geschehen von der auslösenden Ur- sache, auf die alle abgestimmt waren, getroffen. Doch gleichgültig, wie dem sei, jedenfalls sind that- sächlich, in jedem einzelnen Falle, diejenigen Zellen eines Organs, welche sich nicht an der Bildung eines be- stimmten Tochterorgans beteiligen, insofern auch durch die Bil- dung desselben determiniert worden, als sie seinen spezifischen Charakter nicht besitzen: sie sind negativ bestimmt. Es wäre. allerdings auch denkbar, dass die nicht von der Auslösung betroffenen Blastulazellen nun doch mit ihr zugleich einen positiven Charakter ebenfalls im Auslösungs- 77 wege annehmen, dass also, um die Schulausdrücke zu ge- brauchen, das Ektoderm der Echinodermen beispielsweise doch positiv, nicht nur als nicht-Entoderm gekennzeichnet sei: da jedoch sichtbarlich die »Ektodermzellen« genannter Tiere von Blastulazellen zunächst nicht differieren, scheint uns diese Annahme, obwohl bisweilen (Wurzel-Spross) sicherlich das rechte treffend, doch nicht ohne Vorbehalt verallgemei- nert werden zu können. Negativ bestimmte Embryonalorgane der ersten Phasen werden meist oder immer im späteren Verlauf noch positive Bestimmungen erhalten, wenn dagegen in einer sehr späten Phase der Entwicklung ein Organ negativ bestimmt wird, d. h. unverändert bleibt, so wird dasselbe häufig als solches, so, wie es ist, ultimär werden. Dass diese ganze Darlegung nun keine unnütze Pedan- terie ist, wird das folgende klar machen. Hat wirklich das positiv bestimmte Tochterorgan als unterscheidendes Merkmal vom Mutterorgan nur seinen spe- zifischen chemischen (histologischen) Charakter erlangt, nichts weiter? Es hat doch offenbar auch die Fähigkeit erlangt, auf diejenigen Auslösungsursachen spezifisch zu reagieren, von welchen es später getroffen werden wird; genau genommen, sind das zwei Eigenschaften, nämlich einmal die Fähigkeit, neue Elementarprozesse aus sich hervorgehen zu lassen, und sodann diejenige: bestimmten Auslösungsursachen zu ant- worten. Diese »Fähigkeiten« hat nun jedenfalls das Mutter- organ nicht, es hat aber dafür (z. B. als Ektoderm im Gegensatz zum Entoderm, als Wurzel im Gegensatz zum Spross) andere entsprechende, welche das Tochterorgan nicht hat. Nennen wir nun, um einen besseren Ausdruck zu ge- winnen, diese Fähigkeiten oder Anlagen:- prospektive Potenz, so können wir sagen: auch ein negativ bestimmtes 78 Organ besitzt als positive Eigenschaft eine spezifische pro- spektive Potenz. Ich bitte den Ausdruck prospektive Potenz nicht mit dem oben (und früher) eingeführten Ausdruck der prospektiven Be- deutung einer Zelle zu verwechseln. Von der prospektiven Bedeutung, von dem wirklichen Schicksal einer Furchungs- zelle sagten wir, dass sie Funktion ihrer Lage sei, d.h., dass dieses Schicksal je nach ihrer Lage im Ganzen ein anderes sei, und solches gilt, wie wir andeuteten, wohl von jeder Zelle jedes Organs, an dem fernere Auslösungen statt- haben: wir sprachen ja von der wohl nur technisch ausge- schlossenen Möglichkeit einer Kern- und Zellvertauschung im Entoderm. In Hinsicht der prospektiven Potenz oder des möglichen Schieksals verhalten sich jedoch Furchungs- zellen und solche primärer oder anderer Organe unter sich gleich, aber von einander verschieden: Die prospektive Po- tenz jeder Furchungszelle ist = 7, wenn T die Summe der gesamten latenten morphogenen Energie des Keimes dar- stellt. Die prospektive Potenz a eines bestimmten primären Organs A ist = T— x, wo x Summe aller derjenigen An- lagen, welche in den übrigen Organen latent sind, darstellt, wir können auch sagen, x sei die Summe der prospektiven Potenzen dieser Organe. Oder, um die mathematische Sprache mit einer recht trivialen zu vertauschen: am Spross einer Pflanze entstehen keine Wurzelhaare, an ihrer Wurzel keine Blätter, und weder bildet sich die Augenlinse des Menschen am Fuss, noch Nägel an seinem Kopf: in der prospektiven Potenz von Fuss und Kopf (um diese der Einfachheit wegen als einfache Organe anzusehen) sind eben Linse und Nagel nicht enthalten. Im Laufe der einzelnen Entwicklungsprozesse wird also 19 die prospektive Potenz der einzelnen elementaren Kon- stituenten des Keimes spezialisiert, und zwar gilt das von positiv bestimmten Organen ebenso wie von negativ be- stimmten. Es ist dies ein ganz wesentlicher Charakterzug der Entwicklung. Unnötig dürfte es fast sein, zu betonen, dass die prospektive Potenz ultimärer Organe — 0 ist. $ 7. Von den zwei Bestandteilen der prospektiven Potenz und von den letzten Grundlagen des Entwicklungsrhythmus. Wir sind jetzt soweit vorbereitet, dass wir in die Er- örterung des wichtigsten Teiles unserer Lehre vom embryo- nalen Rhythmus eintreten können; desjenigen Teiles nämlich, welcher recht eigentlich von seinem Wesen, seiner Grundlage handelt. Es muss zu diesem Behufe der Begriff der prospektiven Potenz näher analysiert werden. Wir nannten die prospek- tive Potenz eines Organes die Summe aller in ihm vorhan- denen Anlagen. Als Sitz von »Anlagen« haben wir oben mit gutem Grunde den Zellkern bezeichnet. Also wäre der Kern Sitz der prospektiven Potenzen, also nur jeweils eines Teiles der Gesamtanlagen ? Wir haben es oben schon angedeutet und werden darauf zurückkommen, dass uns die Annahme, es habe jeder Kern der Embryogenese die Totalität aller Anlagen in sich, eine zwingende Notwendigkeit zu sein scheine. So wären wir also in einen Widerspruch geraten ? Vielleicht liegt dieser Widerspruch nur in einem Mangel, der unserer Analyse der Begriffe Anlage und prospektive Potenz noch anhaftet. Wir sprachen bisher immer davon, dass eine Auslösungsursache oder Reizursache die Anlagen 80 oder Fähigkeiten wachriefe. Vor Kurzem (S. 77) jedoch sagten wir bereits, dass dieser »Fähigkeiten« eigentlich zwei seien, nämlich einmal die Fähigkeit, spezifisch zu reagieren, und zum andern die Fähigkeit, das auf eine spezifische Ursache hin zu thun. Anders gesagt: das von einer Reiz- ursache betroffene Organ muss zu Reizempfang und zu Reizantwort befähigt sein. Wir berühren hiermit eine Beziehung, die für alle kausalen Wirkungen, auch in anorganischem Gebiet, ganz allgemein gilt, sobald der Effekt, die Wirkung, irgendwie qualitativ charakterisiert ist. Sind solche Effekte gleich- wohl nicht eigentliche Auslösungswirkungen, so erscheint wohl die Empfangs- und Antwortsbefähigung des Betroffenen nicht deutlich gesondert, sie ist aber nichtsdestoweniger da: um durch Druck erwärmt zu werden, darf ein Körper z. B. nicht vollständige Elastizität besitzen; die unvollständige Elastizität ist vielmehr hier. die Empfangsfähigkeit, welche dann die Antwort, die Wärmeproduktion nämlich, möglich macht. Chemische Wirkungen zeigen ähnliches und führen zugleich zu den eigentlichen Auslösungserscheinungen über, in denen Quantität und Qualität der Wirkung so gut wie ganz nur vom Betroffenen abhängen: hier ist die Empfangs- und die Antwortsfähigkeit für eine Ursache begrifflich deutlich trennbar. Wir können die Thatsache, dass ‚zu jeder Aus- lösung eine spezifische Reizempfangsfähigkeit und eine spe- zifische Antwortsfähigkeit nötig ist, in der anorganischen Natur jeden Augenblick konstatieren: ein Pulverfass, ob- schon zur Explosion als Antwort auf eine Auslösung immer vorbereitet, leistet diese doch nur, wenn ihm ein Wärmeanstoss gegeben wird, für diesen hat es eine spezifische Empfangs- fähigkeit; zugeführte Feuchtigkeit beispielsweise würde die s1 Reaktion nicht hervorrufen. Von Wichtigkeit wird uns nun die Annahme, dass bei ontogenetischen Reaktionen eine räumliche Trennung von Empfangs- und Antwortsfähigkeit im betroffenen Teile vorliegt, also ein ähnliches Verhältnis, wie es dem Botaniker in der Lehre vom Heliotropismus und verwandtem bekannt ist!), und wie es jedes eigentlich me- chanische »System«, jede Maschine uns zeigt. Die Fähigkeit der Reizantwort verlegen wir in den Kern, diejenige des Reizempfanges aber in das Protoplasma, welches ja (Kap. I. $ 4) in jedem Elementarorgan chemisch spezifiziert ist. Das Protoplasma ist also der Mittler (die » Perzeptionszone«) zwischen Auslösungsursache und dem Kern (der »Aktionszone«). Hiermit nun lösen wir den soeben aufgedeckten schein- baren Widerspruch: insofern sie einen Kern besitzt, ist jede Zelle der Ontogenese in der That Trägerin der Totalität aller Anlagen, insofern sie aber einen spezifischen Plasma- leib besitzt, ist sie, eben durch diesen, nur befähigt, gewisse Ursachen zu empfangen; sie kann daher als Ganzes, da zur Antwort auf eine Ursache doch deren Empfang vorausgesetzt ist, jedesmal auch nur gewissen Ursachen antworten. Es haftet jetzt der eigentlichen Rolle, welche der Kern, dem wir früher einen so wesentlichen Anteil an In- szenierung der Elementarvorgänge zuschrieben, bei dieser seiner »Antwortsthätigkeit« nun wirklich spielt, naturgemäss noch eine Dunkelheit an, wir wollen aber mit Absicht die- selbe einstweilen auf sich beruhen lassen und zunächst aus unserer Analyse des Begriffs der prospektiven Potenz weitere Schlüsse ziehen. Uns Fi Sur. PN Su IN? EN 1) s. Pfeffer, »Die Reizbarkeit der Pfanzen« / Ay je er Driesch, Analytische Theorie. ; “u GR, EN € ung ” ir wi ; 9) 82 In der spezifischen Plasmanatur der Zellen jedes Elementarorgans ist diese prospektive Potenz also begründet. Dureh sie ist dieselbe beschränkt und wird sie im Verlauf des Geschehens immer beschränkter. Wir können auch sagen: im Laufe der Entwicklung seien die Zellen eben durch und für dieses jetzt ablaufende Geschehen aktuell prospektiv beschränkt geworden, während sie eine poten- tielle Totalität in sieh bergen, welche aber um aktuell zu werden, besonderer, in diesem ablaufenden Geschehen als solchem nicht enthaltener Bedingungen bedarf. Verstümmelungen und anderes schaffen bekanntlich Be- dingungen der Entfaltung der Totalität (z. B. bei Pflanzen), aber sie sind nicht »normale« Vorkommnisse. »Durch und für« das ablaufende Geschehen seien, so sagten wir, die embryonalen Zellen prospektiv beschränkt geworden. Das verschafft uns noch einen weiteren Einblick in dieses Geschehen selbst. Jede Auslösungsursache schaft nicht nur chemische Spezifizität und damit den neuen Ele- mentarvorgang als solchen, sie schafft in dieser Spezifizität zugleich die Beschränkung, indem eben wegen derselben die geschaffene Zelle nur gewissen Ursachen des ferneren empfangszugänglich ist. Schon im Beginne unseres ganzen Kapitels sahen wir ein, »dass der Rhythmus der Ursachen mit dem der Effekte zusammen gegeben sei«, indem nämlich, soweit innere In- duktionen in Frage stehen, ein Effekt zugleich wieder Ur- sache für folgendes werde. Wir vertiefen nun jetzt unsere Kenntnis der Grundlagen des Rhythmus der Entwicklung wesentlich dadurch, dass wir sagen können: nicht nur Ursache für folgendes ist ein Elementarprozess, sondern kraft seiner Spezi- 83 fizität ist er auch zugleich spezifische Empfangs- station für das zukünftige, eben das ist seine beschränkte prospektive Potenz, darin ist sie begründet. Damit kein Missverständnis sich einschleiche, sei daran gemahnt, dass, wennschon der Begriff der beschränkten Pro- spektivität eine Prädetermination der Zellen für das zu- künftige normale Geschehen einschliesst, diese Vorbestimmung doch noch manche Möglichkeiten der Entfaltung für jede einzelne Zelle eines Elementarorgans einschliesst. Diese einzelnen Konstituenten eines Elementarorgans nämlich sollen (S. 78) unter sich gleiche, aber von den Zellen eines anderen Organs verschiedene Prospektivität besitzen. Da nun in der That aus einem Elementarorgan meist noch, zumal im An- fang der Entwicklung, recht viele verschiedene Bildungen gleichzeitig hervorgehen können, so folgt, dass seine kon- stituierenden Zellen gleichzeitig eine mannigfache auslösbare, wennschon immerhin im Verhältnis zum Ganzen beschränkte Prospektivität besitzen. Auf welchen der mannigfachen Reize, zu deren Empfang sie befähigt ist, jede einzelne Zelle nun wirklich reagiert, also antwortet, das hängt von der Lage der unter sich gleichen Zellen im Organ ab, ist »Funktion der Lage«. Ist also z. B. in einem Organ, das im Schnitt die Form A zeigt, eine Zelle « an der Spitze x gelegen, so wird sie dort etwa einer physikalischen Zuginduktion ent- sprechen, läge sie bei y, so folgte sie einer chemischen Induktion, die vom Organ Bb ausgeht. Die Zelle « konnte also beiden Induktionen antworten, sie folgte dem ver- möge ihrer Lage stärkeren, oft wohl auch dem vermöge 6* 54 ihrer Lage allein zur Wirkung gekommenen Reiz. Um eine Konkurrenz der Reize je nach ihrer Stärke oder Inten- sität dürfte es sich zumal da handeln, wo etwa unter sich anfangs gleiche Mesenchymzellen durch Richtungsinduktionen zum Wandern und damit zu ihrem Schicksal bestimmt werden. Also nur als Teilhaber an einem Elementarorgan, nicht für sich im Einzelnen, werden Zellen prospektiv beschränkt. Kehren wir nach dieser Erläuterung zu allgemeinen Fragen zurück, so schafft sich also das ontogenetische Geschehen im Verlauf Beschränkung dadurch, dass es sich chemische Spezifikationen schafft. Durch diese Spezifika- tion schafft es sich zugleich Ordnung, wahren festen Rhythmus. Betrachten wir rückblickend die Totalität des embryo- nalen Geschehens, so treffen wir in den von uns primär ge- nannten Bildungen ($ 4 dieses Kap.) solche Spezifizierungen an, welche durch eine bestimmte, auf die Blastula überge- sangene Baubeschaffenheit des Eies resultieren. Bei ihnen allein ist esalso nicht das spezialisierende Entwicklungs- geschehen selbst, welches für die Schaffung spezifischer Reiz- empfangsfähigkeit verantwortlich zu machen wäre; bei ihnen allein ist auch kein Entwicklungsprodukt, wenn der Aus- druck gestattet ist, induzierende Reizursache: sondern hier allein ist Reizempfangsfähigkeit und Reizursache von Anfang an gegeben. Obwohl nun die Furchungszellen meist!), wie durch Versuch dargethan, die Totalität der Möglichkeiten überhaupt nicht nur, sondern auch die totale prospektive Potenz für 1) Vgl. 8 10. 85 alles in der sich gerade abspielenden ÖOntogenese zu- künftige Geschehen besitzen, so darf doch nicht vergessen werden, dass in Hinsicht auf die unmittelbar aus ihnen hervorgehenden Bildungen ihre Prospektivität so gut beschränkt ist, wie die jedes anderen Elementarorgans: denn von der Blastula aus entstehen jedesmal nur gewisse Organe, nicht aber alle beliebigen. Wenn wir bedenken, dass die Fur- chungszellen, oder auch die Zellen der Blastula, doch eben als solche so gut ihre chemisch-histologische Spezifizität be- sitzen, wie Zellen jedes anderen Organs (obschon hier der Charakter vom gegebenen Eibau überkommen ist), so werden wir diese Beschränkung ihrer näheren aktuellen Prospek- tivität begreifen. Sollte man es vorziehen diese Darlegung zu bestreiten und die Thatsache, dass aus der Blastula un- mittelbar immer nur etwas bestimmtes hervorgeht, aus einer Beschränkung der im Eibau gegebenen Ursachen abzu- leiten, wogegen dann die eigentliche innere Prospektivität der Furchungszellen, auch als aktuelle nähere Prospektivität, nämlich als Empfangsfähigkeit für Reize, in Hinsicht auf alle in der Ontogenese möglichen Reizwirkungen total wäre, so ist dagegen einzuwenden, dass ein chemisch spezifischer Stoff, und einen solchen sehen wir ja in den Plasmaleibern auch der Zellen der Blastula, welcher unbegrenzt viele Reize erfolgreich zu empfangen befähigt wäre, eine Annahme von grösster Unwahrscheinlichkeit, ja geradezu ein Unding sein würde. Dieser letzte Exkurs hat uns noch auf die nicht bedeu- tungslose Unterscheidung der unmittelbaren oder nähe- ren und der weiteren Prospektivität, welche also beide, als aktuell, der potentiellen Totalität jeder Zelle entgegenstehen, geführt. Eine weitere Verfolgung dieser 86 Begriffe dürfte freilich, wie mir scheint, hier nur geringen Nutzen bieten. Fassen wir endlich unsere Resultate in einem kurzen Satze zusammen: Es geht, um uns früher genannter Worte Roux’ zu bedienen, die Entwicklung von einigen wenigen geordneten Mannigfaltigkeiten, die im Eibau gegeben sind, aus; aber die Mannigfaltigkeiten schaffen sich durch Wirkungen auf einander neue Mannigfaltigkeiten und letztere können nun wieder auf die ursprünglichen ihrerseits wirkend wieder neue Differenzen schaffen und so fort. Mit jedem Effekt zugleich ist eine neue Ursache und die Möglichkeit neuer spezifischer Wirkung, nämlich eine spezifische Reizempfangsstation ge- geben. Wir leiten also aus einer einfachen, im Ei gegebenen Form eine komplizierte Form ab. Denn der Kern, obschon Träger aller Möglichkeiten, braucht diese doch nicht in einer besonderen Form zu besitzen; somit ist unsere Theorie epigenetisch in Hinsicht auf das Entstehen der Form als solches. Stösst uns jetzt nicht noch zuletzt eine seltsame Frage auf? Wie? wenn es für jeden ontogenetischen Effekt not- wendig ist, dass eine Ursache vorhanden sei und auch die Fähigkeit, gerade dieser Ursache zu antworten, müssen sich da nicht Ursachen und Empfangsfähigkeiten in jeder Phase der Entwicklung entsprechen, müssen sie nicht einander zugeordnet sein? Müssen nicht jedesmal, wenn ein che- motaktischer Effekt etwa statthaben soll, eine reaktionsfähige Zelle und eine reizende Zelle gleichermaassen vorhanden sein, um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen? Nun — so ist es ja auch; sonst würde es wohl keine Tiere und Pflanzen geben. Aber was heisst das? Das heisst: wir 87 haben die Thatsache der Harmonie im Entwick- lungsrhythmus festgestellt. $ 8. Die Harmonie der Entwicklungsvorgänge. Wir wollen uns an diesem Ort, gleichsam am Gipfel- punkte unserer Analyse der Entwicklung angelangt, eine Abweichung von dem rein empirischen Vorgehen der For- schung gestatten und wollen versuchen, von allem bisher Erörterten eine anschauliche Vorstellung zu gewinnen. Wir haben im ersten Kapitel betont, dass jede im Laufe der Ontogenese auftretende Zeilenart ihr Wesen einem spe- zifischen Stoffe verdanke; wir fügten hinzu, dass wir diese organogenen Stoffe für wohl gekennzeichnet und erforschbar hielten und nicht an rätselhafte Stoffe rätselhafter Wirkung im Sinne von Sachs dächten. Wir werden aber jetzt gezwungen sein, uns doch diesen Anschauungen von Sachs, welche auch Loeb acceptirt hat, zu nähern. Wir lassen alle Elementarprozesse durch einen auf die Zellkerne ausgeübten Reiz ausgelöst werden; ist es nun mit unseren Anschauungen von der Anwesenheit der Totalität des Kernes in jeder Zelle verträglich anzunehmen, dass dieser Reiz etwa die Abspaltung eines Stoffes, nämlich des für den gerade vor sich gehenden Elementarprozess charakte- ristischen Stoffes, aus dem Kern im Gefolge habe? Wir deuteten bereits im vorigen Kapitel an, dass das nicht ver- träglich mit einander sei. Der Kern muss vielmehr in einer solchen Weise in Aktion gesetzt werden, dass er trotzdem unverändert seine Totalität bewahrt. Wir können uns diesen scheinbaren Widerspruch lösen, 88 wenn wir annehmen, dass die organogenen, den einzelnen Elementarprozess bestimmenden Stoffe gar nicht unmittel- bar aus dem Kern hervorgehen, sondern nur unter seiner Leitung im Protoplasma entstehen. Diese Leitung des Kernes aber sehen wir als eine fermentative Wirkung an. Wir lassen also den Kern ein Gemenge von ferment- artigen Stoffen sein, deren jeder eine Elementarprozessart der vorliegenden Ontogenese repräsentiert (s. Anhang 6). Durch einen Auslösungsvorgang wird nun ein bestimmtes dieser Fermente in Aktion versetzt, und zwar kann das ein bestimmtes spezifisches Ferment sein, weil ja der Proto- plasmaleib, der als Reizempfänger, als Mittler zwischen Reiz und Antwort fungiert, einen spezifischen Chemismus be- sitzt. Wird ein Kernstoff aktiviert, so wird unter seiner Lei- tung das Plasma!) seiner Zelle, das zuerst ihn beeinflusste, nun selbst verändert und somit der Grund zu einem neuen Elementarprozess gelegt, welcher, wie erörtert, selbst nun nicht nur Effekt, sondern auch Ursache, ja, besonders auch Reizempfänger für folgendes sein kann, also eine besondere prospektive Potenz besitzt. Es ist weiter klar, dass bei Annahme dieser fermenta- tiven Wirkung des Kernes auf das Protoplasma, welches sie vorher (als Mittler) hervorrief, eine fernere Annahme gemacht werden muss, nämlich die, dass dieses Plasma jener Fer- mentwirkung auch jedesmal zugänglich sei, dass es also jedesmal den durch sie gegebenen Reiz sowohl empfangen 1) Dieses Wort ist im weitesten Sinne zu verstehen; es bezeichnet, kurz gesagt, das Gesamte des nichtnukleären Zellinhaltes. 89 als ihm antworten könne. Es würde sich also jener ganze Verkettungsmodus, den wir bei der Wirkung von Aus- lösungsursache auf Elementareffekt annahmen, nochmals, wennschon umgekehrt und wegen des Mangels lokaler Tren- nung von Aktions- und Perceptionsstation vereinfacht wieder- holen; das Plasma der Zelle erhielte für sich noch eine neue »Fähigkeit«, nämlich die, auf den von ihm selbst her- vorgerufenen Kernreiz reagieren zu können. Die Harmonie des ganzen Geschehens, wie wir sagten, würde noch präg- nanter. Ich denke aber, in sich widerspruchsvoll ist mein ganzer Annahmekomplex nicht. Die eigentliche, wirkliche Kompliziertheit unserer Theorie des Auslösungsgeschehens gegenüber einer gleich- sam naiven Auffassung derselben liegt in der Annahme der lokalen Trennung von Empfangs- und Antwortsstation für den ursprünglich auslösenden organogenen Reiz. Diese An- nahme, in letzter Instanz darin begründet, dass die Zelle ein »System« im mechanischen Sinne ist, machten wir aber bereits in unserer vertieften, wennschon empirischen Analyse im vorigen Abschnitt, sie ist also gar kein Bestandteil unserer Fiktion einer Fermentwirkung als solcher. Die Annahme dieser Trennung oder, was dasselbe heisst, die eines Mitt- lers zwischen der wahren Ursache und dem wahren Ant- wortgeber zieht die übrigen Annahmen des vielseitigen harmonischen Entsprechens als Postulate nach sich. Ohne irgend eine Harmonie an jeder Stelle der Formbildung könnte es ja aber auch bei naiverer, weniger analysierter Auffassung des Geschehens gar keine Ontogenese geben; es giebt aber Ontogenese. Ob uns die in ihr aufgedeckte Thatsache der Harmonie, welche, wie gesagt, für die em- pirische Auffassung ebenso besteht, ob uns diese Thatsache 90 zunächst rätselhaft erscheint, das ist der Analyse völlig gleichgültig, ja auch ob jene Harmonie mehr oder weniger ‘ kompliziert erscheint, wird einer 4 vertieften Analyse gleichgültig sein. 62 Es sei mir gestattet meine Ansicht an einem Schema noch- mals zusammenfassend zu erläu- tern. A ist das Protoplasma, 7 Fig. 8. die Totalität der elementaren Möglichkeiten, d.h. der Kern, X, und X, sind induzierende Reizquellen. Die Folge des Ge- schehens ist nun diese: Das Geschehen. Voraussetzung der Mög- lichkeiten des Geschehens. X, macht A zu 4 A ist für X, empfänglich A’ aktiviert T partiellzu 7, | T ist für A’ empfänglich T, macht A’ zu A, A’ ist für 7, empfänglich X, macht A, zu A, A, ist für X, empfänglich uU. 8. W. u. 8. W. Die rechte Seite dieser Übersicht giebt der Thatsache der durchgängigen Harmonie zwischen Ursachen und pro- spektiven Potenzen, der Kausalharmonie oder der Har- monie erster Art entsprechenden Ausdruck. Diese Harmonie als solche ist Thatsache!). 1) Bei einer naiven, ungenügend analysierten Auffassung würde unser Schema lauten: X, macht Z zu Zı Z ist für X, empfänglich Xa macht Zı zu Z Z, ist für X2 empfänglich etc. etc. Er Z wäre dabei = T +4 etc. ete. ER; EIS 91 Die Komplikation der Harmonie, herbeigeführt durch Annahme einer Trennung von Reizempfangs- und Reizant- wortsstation ist Hypothese, obschon sehr wahrscheinlich. Diese Hypothese schliesst diejenige der Bewahrung der Kerntotalität trotz Kernveränderung ein. Die Annahme, dass der Kern fermentativ aktiviert werde, ist allein Fiktion, aber auch eine solche, die sich dem Charakter der Hypothese nähert. Ich bin mir des Problematischen, welches die Annahme einer fermentativen Kernwirkung einschliesst, völlig bewusst; vielleicht mehr als meine Leser, welche in letzter Zeit mehr und mehr an eine Vermengung des Thatsächlichen und Problematischen seitens vieler Autoren gewöhnt wurden. Ich denke aber, dass meine Annahmen anschaulicher als andere jene zwei Postulate erfüllen, zu denen uns die Thatsachen zwingen, nämlich 1) dass der Kern der eigentliche Leiter der Onto- genese ist, 2) dass der Kern in jeder Zelle trotzdem total vor- handen ist. Ich verhehle mir nicht, dass auch bei Annahme unbe- kannter dynamischer Wirkungen von Kern auf Plasma, zu denen ersterer durch jene Induktion jedesmal in typischer Weise angeregt würde, die Thatsache der Aktion des Kernes bei gleichzeitiger Bewahrung seiner Totalität verständlich zu machen wäre (Strasburger). Solche Wirkungsweisen wären aber prinzipiell unbekannt. Auch gebe ich die Annahme von de Vries, dass aus dem Kern austretende Stoffe den Charakter einer Zelle bestimmen und dieser dennoch seine Totalität bewahrt, als möglich zu und könnte sie wohl mit den Resultaten meiner Analyse vereinen. Aber auch sie 92 operiert mit gänzlich unbekannten Grössen, denn um che- mische Abspaltung könnte es sich da naturgemäss nicht handeln. Da meine Fiktion sich näher an bekannte Wirkungs- weisen anschliesst, glaube ich ihr den Vorzug geben zu müssen. Aber es liegt mir in diesem ganzen Kapitel weniger an der fiktiven Annahme als solcher, als an der durch sie bis ins Letzte ermöglichten anschaulichen Analyse des Rhythmus und der Kausal-Harmonie der Entwick- lung. Ich denke, dass diese Analyse, welche ja schon im vorigen Abschnitt rein empirisch begründet wurde, in diesem Kapitel noch an Deutlichkeit gewann. Der Kern ist uns ein Stoffgemenge, wir redeten nicht von einer Struktur des Kernes; also ist auch in fiktiver Ein- kleidung unsere Theorie in Hinsicht auf Form als solche epigenetisch: die Ausgangsform, der Bau des Eies, ist weit einfacher als die Endform. $ 9. Von der Selbständigkeit der morphogenen Elementar- Prozesse. In der Aufstellung der Kausalharmonie ist der eine Endpunkt unserer Analyse erreicht. Wir haben jetzt den Blick wieder zurückzuwenden auf früher erörtertes, um die- selbe nach anderer Richtung hin zu Ende zu bringen. Wenn an einem Mutterorgan A ein Elementarprozess £ inszeniert ist, welcher zum Organ B führt, so sind im fol- senden A und B in ihrer Ausbildung meist von einander vollständig unabhängig, soweit nicht die Anwesenheit des einen Lebensbedingung des anderen ist. Sie sind nur partiell von einander unabhängig, wenn etwa im Normalen von A 93 ein Auslösungsreiz auf B ausgehen würde oder umgekehrt: in diesem Fall resultiert bei fehlendem A die Wirkung dieses Reizes am Organ B natürlich nicht. Auch zwei Tochterorgane, welche an demselben Mutterorgan entstanden, sind unter sich unabhängig und zwar, da zwischen ihnen Beziehungen auslösenden Charakters in späterer Zeit meist gänzlich fehlen dürften, vielleicht in noch ausgeprägterer Weise als unsere Organe A und 2. Ich konnte die Unabhängigkeit der Entwicklung des Ektoderms der Echiniden von der Anwesenheit des voll- ständigen Entoderms (freilich nicht von derjenigen seines Ansatzpunktes) darthun!). Einfache Versuche zeigten mir ferner, dass die angelegten Teile einer Blütenknospe sich ohne Rücksicht auf einander typisch ausbilden, und ähnliches wissen wir durch van Tieghem von den isolierten Be- standteilen phanerogamer Keimpflanzen. Ja, durch Born haben wir kürzlich erfahren, dass Teile eines Organismus sich sogar in ganz fremder Umgebung in der für sie ty- pischen Weise weiterbilden, und Vöchting’s Transplantationen an Pflanzen lehrten dasselbe. Hier allein können wir für den von Roux getroffenen Ausdruck »Selbstdifferenzierung « eine berechtigte Verwendung finden (vgl. Anhang 2). Das Ektoderm der Echiniden differenziert sich wirklich selbst zu seinem Ziele, d. h. ohne das Entoderm, und solches gilt mehr oder weniger von der Ausbildung jedes Teiles des Organismus, sobald er sichtbar als An- lage vorhanden ist. Es gilt jedoch dieser Ausdruck der »Selbstdifferenzierung« stets mit zwei Einschränkungen: erstens ist beizufügen, zu welchem Ziele die Differenzierung 1) s. Teil VII meiner »Studien«. 34 statt hat, und zweitens ist zu sagen, in Bezug auf was die Differenzierung eine selbstige, selbständige ist, in Bezug auf welches Andere Abhängigkeit nicht statt hat, denn dass jede Differenzierung nicht nur nicht ohne die allgemeinen Bedingungen des Lebens statthaben kann, son- dern auch nicht einmal ohne spezifische Bildungsursache, haben wir oft genug betont. Dass A sich in Bezug auf B selbständig entwickelt, heisst also nur, dass die spezifischen Ursachen seiner Differenzierung nicht in B liegen. In diesem Sinne ist nun Selbstdifferenzierung einmal angelegter Teile ein wesentliches Merkmal der Onto- genese; ja sie ist in Hinsicht auf die spätere Einheitlichkeit und das physiologische Zusammenwirken unabhängig ent- wickelter Gebilde von einem ganz eigenartigen Interesse. Eben diese Thatsache, welche uns bei der geschilderten Larvenbildung der Ecehiniden, sehr deutlich ferner in der Metamorphose der Asteriden entgegentritt, dass ganze ein- heitliche Organe sich aus getrennten von einander unmittel- bar unabhängigen Stücken zusammenfügen, liesse sich als eine Harmonie zweiter Art bezeichnen. Es läuft somit unsere nunmehr völlig beendete Analyse in die Konstatierung eines doppelten Harmoniecharakters der Entwicklung aus. $ 10. Von den scheinbaren und wirklichen Schwierigkeiten der Lehre vom ontogenetischen Rhythmus. Unsere bisherige Betrachtung lehrte uns den Rhythmus der Entwieklung als eine verhältnismässig übersichtliche Erscheinung kennen. Ein Elementarvorgang ward einge- leitet, dauerte eine bestimmte Zeit lang, war beendet und 95 konnte dann selbst den Boden für neue Elementarprozesse abgeben; das war das in jeder Spezialerörterung wieder- kehrende Grundthema. Der Leser wird bemerkt haben, dass ich bei diesen Darlegungen immer eine bestimmte Ent- wicklungsgeschichte anschaulich vor Augen hatte, allein schon deshalb, weil sie mir besonders geläufig ist. Das war die Entwicklung des Seeigels, welche allerdings auch den Vorzug grosser Übersichtlichkeit besitzt. Ich gehe nunmehr dazu über darzuthun, dass sich die- selbe Darlegung der Phasen in jeder Ontogenese darthun lässt, wennschon die Natur bisweilen, wenn ich so sagen darf, von ihrem Schema abweicht. Beim Seeigel gingen die ersten primären Elementar- prozesse (Mesenchym, Entoderm) von einem ganz winzigen Bezirk der Blastula aus und bestanden durchweg in reiner Neubildung in strengstem Wortsinn, fast die ganze Blastula wurde (durch negative Bestimmung) zum Ektoderm. Beim Amphioxus ist das nun schon nicht so, hier wird etwa die halbe Wandung der Blastula zum Ektoderm, die halbe zum Entoderm. Wir wissen nicht genau, wie der »Ein- stülpungsprozess« hier vor sich geht. Der polarige Bau des Ganzen lässt uns vermuten, dass eine Masseninduktion, wie beim Seeigel, hier auslösend und richtungsbestimmend wirkt. Aber welcher Art die ausgelösten Elementarprozesse sind, das, dünkt mich, steht hier noch nicht ganz sicher fest. Es sind nämlich zwei Fälle denkbar: 1) In der dünneren Hälfte der Wandung der Blastula wird ein Elementarvorgang (Wachstum) induziert, durch diesen wird passiv die diekere Hälfte zusammengedrängt und dann gefaltet und eingedrückt, zugleich wird ihr damit ein spezifisch chemischer Charakter induziert. Somit sind 96 Ektoderm und Entoderm beide positiv bestimmt, wennschon nur eines durch Wachsen, und zwar gerade dasjenige (Ekto- derm), welches beim Echinus nicht wuchs. 2) Die diekere Hälfte erhält einen Wachstumsvorgang induziert, stösst auf Widerstand und faltet sich ein. Das Entoderm wäre also positiv, das Ektoderm negativ bestimmt wie bei Echinus, und die Differenz zwischen beiden Formen bestünde nur darin, dass der primäre Induktionsvorgang bei Echinus nur wenige Blastulazellen anregt, bei Amphioxus nahezu die Hälfte. Das liegt am spezifischen Eibau und an der spezifischen Eienergie, kurz ist ein Ausdruck der That- sache, dass Amphioxus eben eine spezifische Form ist und Eehinus eine andere. Verschiedenheit der fundamentalen Vorgänge und etwa eine Zellenprädetermination im Kern im Sinne Weismann’s ist da nicht anzunehmen: ja eine solche wurde gerade hier von Wilson widerlegt. Wir wissen allerdings nicht, ob die vier grösseren oder die vier kleineren Zellen des Amphioxus, je isoliert, eine ganze Larve liefern würden: des polarigen Eibaues wegen ginge das vielleicht nicht an; aber ich habe bei Echinus aus der »animalen« und aus der »vegetativen« Hälfte des Furchungsmaterials je ganze Plutei gezogen, also wirkt hier jedenfalls der Eibau nur der allgemeinen Richtung seiner Tektonik nach. Amphioxus lässt sich also sehr wohl nach unserem Schema betrachten. Er besitzt ein wohl gekennzeichnetes Ende der Furchung, eine Blastula u. s. w. Die spezielle Art der an ihm auftretenden Elementarvorgänge ist dagegen anders als bei Echinus. Die soeben erörterte Thatsache, dass ein Elementar- vorgang von vielen Zellen seines Mutterorgans, und nicht wie die Entodermbildung der Echiniden von einer ganz 97 beschränkten Stelle ausgeht, dass also Wachstum an seiner Bildung zwar einen erheblichen, aber doch nicht einen so ganz fundamentalen Anteil hat, ist überaus häufig. So tritt die Differenzierung des »Entoderms« des Echinus in Vorder-, Mittel- und Enddarm ohne nennenswerte Wachstumsvorgänge, gleichsam durch Aufteilung des Materials unter die drei Tochterorgane ein, und ebenso betrifft beispielsweise die bei Paludina zur Schalendrüse führende Induktion einen sehr erheblichen Teil des früheren Ektoderms!); diese Schalen- drüse wird ungefähr genau nach dem Schema der Entoderm- bildung des Amphioxus gebildet. Und, um nicht immer nur von primären Organen, und speziell von den sogenannten »Keimblättern«e zu handeln, sondern um zu zeigen, dass unsere Betrachtungsart für das Hervorgehen jeder Differen- zierung aus jeder anderen verwertbar ist, so wird die em- bryonale Masse des Pflanzenkeimes in Wurzel, Sprossteil und Kotyledonen, und so wird auch durch die zur Differen- zierung der Augenblase der Vertebraten in ihre beiden Ab- schnitte führende Induktion das Material dieses Organs in seine beiden Tochterorgane völlig aufgeteilt: ganz wie das Blastoderm des Amphioxus in die Keimblätter. Die beiden Hälften der Augenblase differenzieren sich bekanntlich jede in typischer Weise: das Elementarorgan »Augenblase« ist also als solches bald gar nicht mehr vor- handen und das dürfte mit fast allen Elementarorganen der Fall sein. Ja wenn wir konsequent sein wollen, müssen wir auch sagen, der Mitteldarm des Echinus sei nicht ein Teil des Urdarmes, sondern aus ihm hervorgegangen: er hat ja in der 1) s. Korschelt-Heider. Vgl. Entwicklungsgesch. S. 1015. Fig. 596 2. Driesch, Analytische Theorie. 7 98 That eine andere prospektive Potenz, als der Urdarm hatte, und auch wohl einen anderen Chemismus. — Wir haben bis jetzt Entwicklungsfälle besprochen, in denen die Richtigkeit unseres Schemas bis ins Einzelne be- wahrt blieb, und Abweichungen von der speziellen Art, in welcher wir dasselbe in der Hauptbesprechung dargelegt hatten, nur Modifikationen der einzelnen Geschehensmöglich- keiten waren: so war bald das erste primäre Organ positiv, bald negativ bestimmt, bald wirkte die Induktion auf viele Zellen zugleich, bald auf wenige; bald bestand die aus- gelöste Reaktion in Wachstum, bald nur in chemischer Differenz. Wenn wir nunmehr zur Erörterung der Ctenophoren- entwicklung schreiten, so werden wir auf wirkliche Abwei- chungen stossen und müssen uns fragen, wie sie aufzufassen seien. Nachdem hier nämlich eine beschränkte Anzahl von Zellen entstanden ist, unter denen sich (wie ja häufig) grössere und kleinere unterscheiden lassen, teilen sich die grösseren Zellen wie bei der Furchung normal unter stetem Kleinerwerden fort, die kleineren Zellen jedoch liefern Pro- dukte, welche nach jeder Teilung auf das Maass der Mutter- zelle heranwachsen, und somit umwachsen (als Ganzes) die kleinen Zellen die grossen. Es fehlt hier also ein Ab- schluss der eigentlichen Furcehung, d. h. der wachs- tumslosen Teilung des Eies, oder vielmehr, während dieser Vorgang innerhalb einiger Zellen noch vor sich geht, ist in anderen bereits ein richtiger Elementarvorgang induziert. Es treten hier also die induzierenden Masseninduktionen gleichsam zu früh in Aktion. Wenn uns Chun sagt, dass bei der letzten wirklichen Furchungsteilung, welche grosse und kleine Zellen sondert, die letzteren fast alles Ektoplasma 39 erhalten, die ersteren alles Endoplasma, nur von einem minu- tiösen Ektoplasmasaum umgeben, so verstehen wir dies Ge- schehen zum Teil. Die Zellen sind wirklich im einzelnen stofflich verschieden und diese verschiedenen Stoffe treten wohl bald nach ihrer Verteilung in induzierende Thätigkeit. Auch bei Polykladen geht wohl die »Umwachsung« des Entoderms seitens des Ektoderms recht früh und von den wachstumslosen Teilungen nicht recht scharf abgesetzt vor sich, immerhin ist das Ende der Furchung hier leidlich scharf normiert. Wir haben also soeben auf eine als Verwischung der Phasen zu bezeichnende Erscheinung hingewiesen. Nunmehr sind wir dazu vorbereitet, auch scheinbare Abweichungen grössten Betrages an unserem Schema zu messen, und schreiten zur Erörterung der Entwicklung der Nereis, wobei wir nicht unterlassen zu bemerken, dass sich tür die Entwicklung der Polykladen oder Gastropoden ähn- liche Betrachtungen durchführen lassen würden. Es ist bekannt, dass sich bei Nereis in ziemlich früher Phase der Furchung der sogenannte Somatoblast bildet, später der Mesoblast. Die Ektoblasten sind in grosser Zahl vorhanden, haben zunächst gleiches Aussehen und sind uns hier nur dadurch bemerkenswert, dass sie auch »zu früh« den Keim umwachsen. Worauf ich das Augenmerk nun zunächst richten möchte, das ist die Thatsache, dass Somatoblast und Mesoblast (und z. B. auch die Mesoblasten der Lamellibranchier) sehr lange ungeteilt verharren, dann sich später aber doch nach Art der Furchung völlig aufteilen, zunächst ohne zu wachsen. Sie können sich also teilen, thun es aber lange Zeit nicht; dazu kommt, dass Wilson eine sichtbare Aus- prägung ihres plasmatischen Baues behauptet. 7*r 100 Wilson hat seine wertvollen Beobachtungen an Nereis zur Stütze seiner Theorie verwertet, wonach das Idioplasma der Zellen im Laufe der Entwicklung verschieden werden soll (vgl. Einleitg. $ 4,s und $ 5). Den Begriff Idioplasma definiert er nicht. Das Verschiedenwerden soll durch die Anwesenheit anderer Teile desselben »unit«, durch »Wechsel- wirkung« bedingt werden. Ich habe schon oben gesagt, dass ich ein Verschieden- werden der Furchungszellen während der Furchung gern zugebe, aber hierin nichts anderes als die Folge eines spe- zifischen Plasmabaus des Eies sehe. Diese Art der Auffassung soll uns nun auch bei Nereis leiten. Ich unterscheide also, wie angedeutet, zwischen Rich- tungsbau und Stoffbau des Eies. Den Richtungsbau hat man als blosse Polarität, meinetwegen im Bilde als elek- trische Polarität der kleinsten Teile, zu denken, der Stoff- bau bezeichnet ganz wörtlich, dass das Ei aus verschiedenen, typisch gelagerten Stoffen besteht. Wenn nun ein Ei mit Stoffbau sich furcht, so werden naturgemäss die Furchungszellen stofflich verschieden, und wenn etwa spezifische Eistoffe zur Einleitung spezifischer Elementarinduktionen nötig sind (indem sie etwa sich an der Bildung des zu bildenden morphogenen Stoffes beteiligen oder sonst irgendwie), so kann diese Induktion natürlich nur in den Zellen stattfinden, wo sie anwesend sind. Die Zellen werden somit im Laufe der Furchung wirklich verschie- den, ganz wie es nach Chun auch die grossen und kleinen Zellen der Ctenophoren wegen der Verteilung von Ekto- plasma und Endoplasma sind. Ich nehme nun bei Nereis wirklichen Stoffbau des Eies 101 an und setze das eigenartige Verhalten des Somatoblast und Mesoblast auf Anwesenheit gewisser Stoffe in ihnen; in der That gewährt ja nach Wilson ihr Plasma einen spe- zifischen Anblick gegenüber den anderen Zellen. Diese Stoffe wirken nun, wie das für Ütenophoren erörtert ist, »frühzeitig« induzierend und bestimmen somit den Charakter dieser Zellen von vornherein vor Ablauf der eigentlichen Furehung. Dagegen brauchen die Ektoblasten unter ein- ander nicht verschieden zu sein, trotz der Voraussage über ihr Schicksal aus ihrer Lage, wozu Wilson befähigt ist. Ihre Differenzierung geht vielleicht ganz nach unserem Schema vor sich: sie wären wohl unter sich ohne Schaden vertausch- bar. Gilt also für sie wohl Hertwig’s Satz, dass sich ja naturgemäss jedes Organ rückschreitend bei genauer Be- obachtung auf Furchungszellen zurückführen liesse, so ge- winnt dagegen bei allen vom Stoffbau des Eies abhängigen Erscheinungen das His’sche Prinzip der Keimbezirke einen tieferen Sinn. Es gewinnt also diesen Sinn, wenn Phasenverschie- bung eintritt, und das ist nach dieser Darstellung bei Bil- dung des Somato- und Mesoblasts der Nereis der Fall. Wir können die Verhältnisse aber auch so auffassen, dass der Kern des Somatoblasten bis zum Ablauf der Fur- chung doch ein echter Furchungskern sei, dass also die In- duktion doch nicht vor Ablauf der Furchung statthatte, son- dern die Anwesenheit des spezifischen Stoffes zunächst blos aus irgend welchem Grunde die Teilung verhinderte. Sowie die Furchung beendet, würde dann die Induktion vor sich gehen. Ich erwähne diese die Phasenverschiebung in etwas künstlicher Art vermeidende rein schematische Auffassung 102 blos deshalb, um zu zeigen, dass man aus einem hoffentlich bald ausgeführten Versuche, einen gewissen Schluss nicht ziehen könnte und einen gewissen anderen erst recht nicht. Wenn es nämlich gelänge den Somatoblast zu isolieren, so würde er sich, wie ich prophezeien möchte, nicht zu einer ganzen Nereis entwickeln, denn das »Ganze« kann er, der nicht alle Stoffe des Ganzen einschliesst. wohl nicht restituieren (vgl. Einl. S 4,6), sondern er wird seine bekannten Streifen liefern. Es wäre aber damit durchaus nicht bewiesen, dass wirk- lich sein Kern während der Furchung schon spezifisch ge- wesen war, sondern nur, dass eben der Somatoblast als Ganzes spezifisch ist, dass also hier die Furchungszellen nicht, wie auch sonst, zwar in ihrer näheren prospektiven Potenz beschränkt (S. 85) aber unter sich gleich, sondern dass sie kraft ihres verschiedenen histologischen Baues unter sich prospektiv ungleich sind. Aber selbst wenn der Kern des Somatoblast sogleich nach seinem Einschluss in den spezifischen Plasmakörper, also schon während der Furchung verschieden (nämlich spe- zifisch aktiviert $ 8) würde, so würde damit doch, und das ist uns das wichtigste, nie und nimmer die Existenz wahrer, qualitativ ungleicher Kernteilung im Sinne von Weismann und Roux auch nur irgendwie wahrschein- lich gemacht. Gegen diese sprechen eine sehr grosse Zahl von Thatsachen, während die Agentien, welche ich in der Entwicklung der Nereis hypothetischerweise thätig sein lasse, nämlich frühzeitige Induktion seitens des spezifischen Plasma- baues auf den Kern, doch nur Variationen der auch sonst (bei Echinus, Amphioxus) von mir benötigten Wirkungs- weisen sind. Ich weiss wohl, dass Wilson für seine Nereis einer 103 primären, zellbeeinflussenden Wirkung des Kerns (das ist aber doch »qualitative Zellteilung«) wieder Zugeständnisse macht; erst kürzlich hob er das hervor'). Ich glaube aber, auch die hauptsächlich dafür vorgebrachte Thatsache zwingt nicht zu seinem Schluss, und so lange sie das nicht thut, ist unsere gut fundierte Ansicht nieht preisgegeben: Wilson meint zunächst, man müsse bedenken, dass das »Verschiedenwerden« der Zellen bei verschiedenen Tieren zu anderen Zeiten der Furchung statthabe; so trete die »first visible differentiation« bei Echinus erst bei der 16-Teilung auf. Dem ist zunächst zu entgegnen, dass das zwar richtig ist, dass aber die im 16-zelligen Stadium auftretende spe- zifische Ausbildung der recht charakteristischen Mikromeren ein sehr unwesentlicher Vorgang ist, denn ich brachte sie fort und die Larve bildete sich ganz normal; der Vorgang ist also schon allein nach diesem Versuchs- resultat (wenn wir nicht noch mehr über ihn wüssten, was gleich zu erörtern ist) nicht als Resultat qualitativ-ungleicher Kernteilung aufzufassen. Nun soll diese »visible differentiation« bei Nereis schon durch die erste Furche geliefert werden; thatsächlich sind beide Stücke ungleich gross, auch ihre Kerne sind ungleich gross?). Da nun im Bau des Eies durchaus keine Differenz 1) Biological Lectures at Wood’s Holl. I. The mosaie theory of development. 2) Wilson fügt noch bei, auch ihre prospektive Bedeutung sei eine andere, das passt aber nicht, denn die prospektive Bedeutung ist doch — von der Lage abhängend — für jede Zelle eine andere und ist dazu keine »visible differentiation«. Wilson mag an das ge- dacht haben, was ich prospektive Potenz nenne, aber das ist auch keine »visible differentiation«. 104 in Richtung dieser Teilung zu sehen ist, auch die beiden ersten Furchungszellen, abgesehen von der Grösse, einander sichtbarlich gleich, und nicht etwa wie Somatoblast und Mesoblast plasmatisch spezifiziert sind, so soll die Eistruktur hier nieht für die ungleiche Teilung verantwortlich ge- macht werden können, sondern diese eben vom Kern, wie nach Roux und Weismann, ausgehen. Beweist bei unseren unzureichenden Mitteln der Untersuchung, zumal in che- mischer Hinsicht, Nichtsiehtbarkeit wirklich Nichtexistenz ? Können wir hier nicht doch dieselben Gesichtspunkte wie oben bei der Beurteilung der Somatoblastbildung an- wenden ? Man erwäge, dass Morgan kürzlich die schon erwähnte Mikromerenbildung der Arbacia als Folge einer lange vor der 16-Teilung, im Zweizellenstadium, auftreten- den Differenzierung des Plasmas am künftigen Mikro- merenpol nachwies. An Eiern von Echinus, welche nicht das rote Pigment der Arbaciaeier besitzen, hätte man das gar nicht konstatieren können! In Verbindung mit meinem obengenannten Versuch zeigt diese Beobachtung also nicht nur die Möglichkeit eines plasmatischen Grundes der Zellgrössendifferenz, sondern warnt zugleich, verschieden aus- sehende Furchungszellen unter allen Umständen für unersetzbar und namentlich nicht sichtbare Differenzen für nichtexistierend zu halten. Wir stimmen also Wilson’s Schluss nicht bei; unsere Hülfsmittel der Untersuchung sind sehr unvollkommen, un- vollkommen sind auch unsere Kenntnisse der Gesetze, welche die Zellteilung, die Stellung der Zellwand beherrschen, das letzte Wort ist hier in den Hertwigschen Regeln jedenfalls noch nicht gesprochen. Wir schliessen von dem bilateralen 105 Charakter der Furchung der Nereis auf einen bilateralen Bau ihres Eies und halten die Thatsache der ungleichen ersten Teilung des Nereiseies, Wilson’s Hauptargument für seine Theorie, für ebenso vereinbar mit unserer Auf- fassung, wie die frühzeitige Differenzierung des Somato- blast. So lässt sich auch eine Abweichung grösseren Betrages unserem Schema einreihen. Ausgeprägter Stotfbau des Eies vermag dieses Schema allerdings zu alterieren: schon wäh- rend der Furchung mögen Induktionen vor sich gehen: die Furehung als solche jedenfalls führt zu Organ- anlagen in grösserer Zahl, nicht folgt eine Organbildung in regelmässigem Verlaufe der anderen. Die Zellen werden wirklich während der Furchung verschieden, aber nicht be- ruhen diese Verschiedenheiten auf Differenzierungen eines rätselhaften Idioplasmas im Kern (woran Wilson doch wieder denkt), sondern sie sind scharf analysierbare und kenntliche Folgen der Struktur des Eies. Aber mögen selbst noch grössere Abweichungen vom Schema, als wir sie darstellten, vorkommen, der Grundthatsache des Rhythmus und der Harmonie im Rhythmus des Geschehens würden auch sie keinen Abbruch thun. $ 11. Von den offenen Formen. Ultimäre Organe nannten wir solche, an denen nicht wieder organbildende Elementarprozesse eingeleitet werden, während dagegen sich derjenige letzt eingeleitete Prozess, welcher zu ihrer Bildung führte, bis zum Tode fortsetzt, indem er zuerst das Ähnlichkeitswachsen, sodann die Erhaltung des Organs vermittelt. 106 Bei vielen Pflanzen und den Stöcken der Hydroidpolypen und Korallen giebt es ultimäre Organe in diesem Sinne nicht, die Kette der neuen Induktionen und neuen Elementar- prozesse geht hier unbegrenzt weiter. Im Gegensatz zu den geschlossenen wollen wir hier von offenen Formen reden. Wir wollen auf die Erörterung der Frage, ob der »vegetativen Vermehrung«, von der man mit einem nicht ganz korrekten Ausdruck redet, hier wirklich keine Grenze gesetzt sei, ob also ein Baum, ein Korallenstock prinzipiell als Ganzes nicht sterben kann, nicht eingehen; es genügt uns, dass die Entwicklung nicht bestimmt oder auch scharf begrenzt ist. Wir wollen, da wir nur von Prinzipiellem handeln, uns im folgenden auf die kurze Erörterung der bei den Hydroid- polypen beobachteten Verhältnisse beschränken und die botanischen Thatsachen nur streifen. Es ist für die offenen Formen häufig charakteristisch, dass an einem Organ derselbe Elementarprozess, welcher zu seiner Bildung führte, wiederum eingeleitet wird und so fort, so dass eine Folge gleicher Organe in fortlaufender Reihe an einander sitzt, so Polyp an Polyp, Stolo an Stolo, Spross an Spross. Oftmals kommt (bei racemösen Formen nämlich) jeder dieser Prozesse selbst, oder wenigstens viele derselben nie zu Ende, was nicht hindert, dass neue Prozesse an ihnen ausgelöst und eingeleitet werden; so wächst der Hauptstamm einer Tubularia immer weiter und giebt fortgesetzt Seitenäste ab und dasselbe gilt von Wurzeln und Stämmen der Pflanzen. Freilich ist hier ein Teil der in Frage stehenden Bildung stets vollendet, indem er nicht mehr wächst; nur die Spitze oder ein anderer bestimmter Teil des Ganzen (der »Vegeta- tionspunkt«) wächst, und neue Induktionen geschehen wohl 107 stets an dem ausgewachsenen Teil. Es ist klar, dass unsere der tierischen Entwicklung angepasste Lehre von den Phasen der Entwicklung hier nicht ohne Modifikationen Anwendung finden kann; aber Phasen, d. h. ein »Nacheinander« der Ent- wicklung ist auch vorhanden. Ich habe in früherer Zeit die hegelmässigkeit der so gegliederten Polypenstöcke in ana- Iytischer Beschreibung dargestellt und möchte hier bemerken, dass das dort geschilderte sich sehr wohl den Elementar- erscheinungen unserer Entwicklungstheorie einreihen lässt, nur ist das Einzelne der Lehre vom Rhythmus, wie bemerkt, zu modifizieren. Wir haben in der Bildung von »Stöcken« auch nichts anderes vor uns als eine Ontogenese, nur dass die einzelnen Elementarprozesse und daher auch wohl die ein- zelnen Auslösungsfaktoren, mit Ausnahme der zur Bildung des ersten Polypen (oder zur Keimpflanze) führenden, viel- fach derselben Art und unbeschränkt an Zahl sind. Dass die Schulsprache hier von dem Aufbau der »Stöcke« aus »Personen« redet, ist rein formale Bequemlichkeit und uns gleichgültig. Immerhin bedingt der geschilderte Charakter der offenen Formen eine grosse Verschiedenheit im Äusseren von den geschlossenen, zumal den Tieren. Bei diesen findet, wie wir lernten, allemal eine mehr oder minder weitgehende Aufteilung des Mutterorgans in die Tochterorgane statt; ein Elementarorgan existiert bald als solches nicht mehr. Bei offenen Formen dagegen entspringt jede Bildung an einem wohlumschriebenen Bezirk der vorigen, und diese vorige Bildung bleibt dann wie sie war erhalten. So kommt es, dass wir bei offenen Formen die ganze Entwicklung immer vor uns sehen; wir können auch sagen: die Teile entstehen hier nach einander, nicht aus einander, um mit diesem 108 zwar nicht ganz korrekten Ausdruck das Wesentliche der Differenz zu kennzeichnen. Von Wichtigkeit ist nun eine Erscheinung, auf die ich auch schon früher hingewiesen habe, und die seither beson- ders von Loeb studiert ist. Unter gewissen Umständen entsteht im Verlauf der Bildung eines Sertulareilastockes anstatt eines Polypen ein Stolo, an diesem wieder ein Stolo und so fort. Wird eine Antennularia horizontal gelegt, so bilden die nach unten sewandten Fiederchen nicht weiter Polypen und somit eine »eymöse Scheinähre«, sondern Stolonen, und um auch ein verwandtes botanisches Beispiel zu nennen, so werden die Anlagen der Schuppen der Rhizome von Dentaria nicht zu solchen, sondern zu normalen Blättern, wenn das Rhizom der Luft (dem Licht?) ausgesetzt wird, und ein derartiges »Anderswerden« einer »Anlage« ist namentlich nach Ampu- tationen von Teilen häufig (Goebel), vielleicht können wir auch die sogenannten Adventivbildungen der Pflanze hierher zählen (Vöchting). De Vries hat alle diese Erscheinungen als Dichogenie bezeichnet; sie allein haben bisher ana- lytisch-kausalen Forschungen im Gebiet der Morphologie zum Ausgang gedient, während ich, was hier nochmals betont werden mag, das Gesamte der Formbildung in (auslösende) Ursachen und Wirkungen zerlege. Es schafft also in Fällen der Dichogenie eine äussere (Schwerkraft, Licht ete.) oder eine innere (Am- putationen) Induktion die Bedingung dafür, dass der Effekt der wie sonst statthabenden organbildenden Induktionen ein anderer wird. Es war also die Möglich- keit zwiefacher Antwort, also eine zwiefache Anlage, wenn wir uns dieses Ausdrucks bedienen wollen, in dem von der 109 organbildenden Induktion betroffenen Organ vorhanden; das Organ besass zwiefache prospektive Potenz. Dieselbe wird von aussen determiniert!) und dann im ontogenetischen Wege entfaltet. Ich bitte nun diese Thatsache zwiefacher prospektiver Potenz, welehe durch eine äussere Induktion erst zu einer eindeutigen Potenz gemacht wird, mit den von mir andern Orts?) ausführlich diskutierten Resultaten der Versuche von Herbst zu vergleichen. Hier, sagte ich, entstünde thatsächlich eine neue »spezifische Form« durch Änderung der einzelnen organbildenden Reaktionen durch das Lithium. Eine ge- schlossene Form war in den Herbst’schen Versuchen von der Veränderung affiıziert worden; wenn man bedenkt, wie sehr hier der Typus jeder einzelnen Phase für das Ganze in Betracht kommt, wird man unserem Ausdruck recht geben. Bei einer offenen Spezies möchte ich wenigstens in Fällen der echten Dichogenie nicht von Bildung einer »neuen spezi- fischen Form« reden; auf das »Ganze« kommt hier nicht so viel an, es ist gleichsam immer fertig. Dass ich dagegen die als Standortsvarietäten bekannten total veränderten Er- scheinungsformen der Pflanzen für »spezifisch neu« halte, habe ich am genannten Orte ausgesprochen und zugleich entgegen der herrschenden Ansicht die Erwartung ausge- sprochen, dass diese »sprungweise« erzeugten »Modifikationen«, wofern sie unabänderlich fixiert werden könnten, einer rationellen Descendenzlehre einst als Basis dienen möchten. I) Noll bezeichnet ähnliche Erscheinungen der reinen Reiz- physiologie als »heterogene Induktion. 2) s. meine »Biologie« $4 und Teil X meiner Studien“. R 110 $ 12. Von der Universalität der Entwicklungsprozesse und ihrem Wert für die Vergleichung. Zelluläre Elementarvorgänge, Induktionen, welche sie auslösen, und einen harmonischen Rhythmus des Geschehens finden wir überall, wo in der belebten Natur Entwicklung vor sich geht: wir sehen sie walten bei der Bildung der Seeigellarve, wie in der seltsamen Entwicklung der Trikladen, bei der Bildung der Blätter der Palme wie bei derjenigen des Rüssels des Elephanten. Hat die scharfe Analyse des Elementargeschehens der Entwicklung Wert an und für sich, so gewinnt sie noch eine andere Bedeutung als Basis einer rationellen Form- vergleichung: namentlich die Unterscheidung der primären und sekundären!) etc. Organe, sowie diejenige der positiv und negativ bestimmten, wird hier neben Berücksichtigung des wirklichen, zellulären ausgelösten Geschehens von Wich- tigkeit sein. Das Experiment wird suchen, den Charakter der ausgelösten Erscheinungen und damit die »spezifische Form«?) zu verändern, eine Aufgabe, zu der seitens Herbst ja schon der Anfang gemacht ist. Die Entwicklungsmechanik hat also der gesamten For- menkunde als Basis zu dienen. 1) Die zeitliche Reihenfolge der Entstehung etwa von sekundären Organen, welche am nämlichen primären Organ sich bilden, scheint dagegen von minderer Bedeutung für die Vergleichung; so soll bei den Pteropoden die Reihenfolge des Auftretens vieler Organe nach den Arten durchaus verschieden sein. 2) 8. meine »Biologie« und Teil X meiner »Studien«. vH Kapitel IV. Die Regeneration. $ 1. Definition. Während das Wesen der bisher von uns betrachteten Entwicklungsvorgänge in der Hervorrufung (Auslösung) von Bildungen bestand, welche von anderer Beschaffenheit waren, als das Mutterorgan, von dem sie ausgingen, welche also als Neubildungen bezeichnet werden können, ist das nicht der Fall bei demjenigen Modus der Formbildung, welche wir jetzt in Kürze erwähnen müssen, bei der Regeneration. Es darf, namentlich auf Grund der systematischen Unter- suchungen von Fraisse und Barfurtb, als gesichert gelten, dass jedes »Gewebe« (also »Organ« in unserem Sinne, Kap. III, $ 5) nur seines Gleichen regeneriert; auch Organe, welche nicht ultimär sind, sondern »embryonalen« Charakter tragen, regenerieren nur ihres Gleichen. Dureh denjenigen Faktor, welcher Regenera- tion auslöst, wird also nicht ein neuer Elementar- prozess eingeleitet, sondern es wird veranlasst, dass bereits beendete Elementarvorgänge wieder (dureh Teilung undWachsen, unter Lieferung gleich- artiger Produkte) in's Spiel treten. Dieser Satz kann geradezu als Definition desjenigen Vorgangs gelten, den ich als Regeneration sensu strietiore bezeichnen möchte. Er muss jedoch, um alle Thatsachen zu umfassen, einige Modifikationen und Erweiterungen erleiden. Wenn ein Triton ein Bein regeneriert, so sprosst zwar auch jedes Gewebe von seines Gleichen aus, aber es 112 treten im Verlaufe der Wiederbildung nun doch an dem Wiederbildungsmaterial »Differenzierungen« auf: so erhält der Triton eben seinen wirklichen Fuss wieder und nicht nur einen alle typischen Gewebe enthaltenden Stumpf; es wird also von etwas indifferenterem aus etwas spezielleres gebildet. Ich denke, wir geben dieser Thatsache am besten den folgenden Ausdruck: das Muttergewebe regeneriert zu- nächst äusserlich seines Gleichen, aber es regeneriert das- selbe behaftet mit derjenigen prospektiven Potenz, welche der entnommene und zu regenerierende Teil (also etwa das Bein eines Triton) in einem früheren Entwicklungsstadium, welches dem zunächst regenerierten gleich, einst selbst besass: wie nun damals im normalen diese prospektive Potenz zum ty- pischen Bein und Fuss führte, so auch die Potenz des zu- nächst regenerierten Gebildes. Sollte unsere früher ausge- sprochene Vermutung berechtigt sein, dass ein irgendwann negativ bestimmtes Organ (S. 76) A nur insofern überhaupt bestimmt ist, als es nicht die Charaktere von B und dessen prospektive Potenz besitzt, dass es aber nicht etwa irgendwie gegensätzlich positiv geworden ist, so würde daraus folgen, dass es auch noch in seinen einzelnen Zellen die vor der Bestimmung von B innegehabte prospektive Potenz bewahrt, also auch noch die Potenz B zu produzieren. Bleibt irgend ein Teil von A ohne Veränderungen, also wie er ist, die ganze noch folgende Entwicklung hindurch, wird er also als solcher ultimär, so hätte er also, obwohl ultimär, doch noch eine Reihe von Potenzen, die nur wegen Mangels der Auslösungs- ursache nicht zur Entfaltung kamen (da er so gelegen war, dass keine Ursachen ihn trafen). Auf Grund dieser Erörterung können wir nun sagen, Jedes Gewebe (Organ) sprosse regenerativ eine Substanz 113 hervor mit denselben Potenzen, welche es selbst be- sitzt. Also auch wenn die Regeneration unter Spezialisierungs- erscheinungen verläuft, ist sie in erster Linie nur Wieder- aufnahme bereits in Gang gesetzter und abgelaufener Ele- mentarbildungen. Ja, es ist klar, dass auch in Fällen, wo Regeneration eines Gewebes von einer »Matrix« ausgeht, oder, wie bei Plathelminthen') und einigen Oligochaeten, von sehr indifferenten »embryonalen« Zellen, sodass weitgehende Spezifizierungen nötig werden, dass auch dann nichts anderes geschieht, als die Wiederaufnahme von Elementarprozessen, deren in diesem Falle sehr reiche, prospektive Potenzen sich später entfalten. $ 2. Die Heteromorphose. Es kann nun aber auch in gewissen Fällen die »Re- generation« nicht zur Wiederentstehung des Genommenen, sondern zur Entstehung von anderen Gebilden führen: Loeb hat diese von ihm entdeckten Erscheinungen als Hetero- morphose bezeichnet. Dieselben kommen in besonders aus- geprägtem Sinne nur bei offenen Formen vor: so kann ein Polypenstock, dem die Spitze abgeschnitten ward, von der Schnittfläche aus Stolonen produzieren, und umgekehrt ein anderer von einer basalen Schnittfläche aus einen neuen Spross; äussere Faktoren (Licht, Schwerkraft) entscheiden oft über das Resultat. 1) Bei Trieladen ist die Ontogenie ein seltsames, scheinbar ganz regelloses Geschehen, und ebenso die Regeneration (wenigstens bei spontaner Teilung): die Regeneration geschieht also auch nach »em- bryonalem« Typus. Driesch, Analytische Theorie. 8 114 Es ist hier zunächst zu bedenken, dass das Wesen einer offenen Form in zwei Eigenschaften vorwiegend besteht: einmal fehlt ihr ein eigentlicher Abschluss und zweitens wiederholt sich fortwährend die Einleitung und Ausbildung derselben Elementarprozesse an einander. Während also sonst die Regeneration als Ersatz eines fehlenden bezeichnet werden kann, fehlt bei offenen Formen eigentlich immer etwas, indem dieselben nie wahrhaft fertig sind. Es dürfte daher vielleicht etwas künstlich erscheinen, die Entwicklungs- vorgänge, welche bei offenen Formen nach Amputationen auftreten, überhaupt der Regeneration zuordnen zu wollen. Auf Grund einer einfachen Betrachtung wird das jedoch trotzdem unschwer gelingen. Betrachten wir zunächst homomorphe Regenerationen: In den Versuchen Loeb’s ging der Schnitt bei allen theca- phoren Polypen naturgemäss durch die Scheinachse hindurch: die Scheinachse ist nun aber der Träger der unbegrenzten Entwicklungsenergie, daher geht von der Wundfläche aus gleichsam die gesamte, nie beendete Entwicklung einfach weiter. Davenport!) dagegen hat in seinen Versuchen den Stiel des eigentlichen von der Scheinachse abge- wandten Polypen abgeschnitten: dieses von der Schein- achse abgewandte, an ihrer Bildung nicht beteiligte Ende jeder einzelnen den Stock bildenden Person besitzt nun nicht mehr jene universelle aktuelle prospektive Potenz der Schein- achse, und dem entsprechend erzielte denn auch Daven- port eine echte Regeneration, die mit derjenigen des Tritonfusses vergleichbar ist. Sowohl von Loeb wie von Davenport ist also richtige Regeneration mit nachfolgender 115 Spezifikation, also Wiederbildung von Organen mit prospek- tiver Potenz, beobachtet, ganz wie bei der Regeneration eines Fusses und Beines, nur dass im ersten Falle eben Scheinachsensubstanz zu regenerieren war, und diese hat potentia das Ganze noch zu bildende in sich. Was nun aber die »Heteromorphose« als solche betrifft, so beachte man die Thatsache (Kap. III, $ 11), dass ja im normalen Verlauf der Stockbildung der Charakter der ein- zelnen Bildungen von äusseren Agentien abhängt (Licht, Schwerkraft ete.), dass eine morphogene auslösende Induktion oft, je nach Umständen, in zwiefacher Weise wirken kann (Dichogenie): insofern ist die »Heteromorphose« ein Wieder- bilden von potentiell vorhanden gewesenen Teilen, also auch eine dem allgemeinen Regenerationsbegriff nicht prinzipiell fremde Erscheinung. $ 3. Ursache und Wesen der Regeneration. Wir stehen zum Schluss vor den beiden schwierigsten Fragen der Regenerationslehre: Lässt sich die Regeneration den Vorgängen der normalen Entwicklung irgendwie ein- reihen? und wie wird sie ausgelöst? Ich erwähnte früher, dass jeder induzierte Elementar- prozess, sofern er überhaupt unter Zellteilungen und Wachs- tum verläuft, was ja nicht nötig ist, und nicht nur in Aus- bildung chemischer (histologischer) Differenz an örtlich bestimmter Stelle des Mutterorgans besteht, eine Anzahl von Zellteilungen hindurch dauere und dann beendet sei. Wenn ich nun sagen würde, Regeneration sei die Wieder- herstellung normaler Zellenzahl, so würde das naturgemäss eine Umschreibung der Regeneration sein, aber nicht die S* 116 Zurückführung derselben auf anderes Bekannte. Anders wenn ich so sage: die Zahl der Zellen, welche ein Ele- mentarprozess liefert, ist gar nicht in ihm bestimmt, sondern sobald er auf Widerstände stösst, hört seine Bildung auf, nun werden durch Amputationen Widerstände entfernt, also geht er weiter; also ist Regeneration gar nichts spezifisch Neues. Dieser Gedankengang hat auf den ersten Blick etwas Bestechendes; leider beweist das nicht seine Richtigkeit. Es giebt nämlich Organe, welche in ihrer Bildung nicht auf Widerstände stossen und doch eine beschränkte Grösse be- sitzen, und dazu gehören gerade solche, die sich regene- rieren, wie der Polyp der Obelia nach Davenport. Roux will sich sowohl die Einleitung als auch den Fortgang der Regeneration durch »Nachbarschaftswirkungen« ausgelöst denken. Leider wissen wir von diesen Wirkungen nichts weiter, als dass sie den Effekt haben die Wieder- bildung des verlorenen zu realisieren, ebenso wie wir von den zum Verständnis meiner Versuche am Echinidenei von Roux angenommenen Wirkungsweisen nur wussten, dass sie es ermöglichen, dass eine normale Larve herauskommt: das heisst die Wirkungsweisen sind ad hoc konstruiert, sind blosse Umschreibungen, ja Roux hat nicht einmal den Ver- such unternommen sie sich irgendwie kausal vorzustellen, wie ich das gelegentlich der Auflösung meiner Positions- wirkungen that (Kap. II, $ 2f.). Roux giebt indessen selbst zu, dass es möglich sei, dass der Mangel von Widerstand, also das Fehlen von Nach- barschaft an einer Seite überhaupt, die Herstellung einer Unterbrechungsfläche, die Regeneration auslöse, und ich denke, wir müssen das zunächst festhalten. Es giebt näm- lich eine Beobachtung, welche die Nachbarschaftswirkungen 117 Roux’, abgesehen von ihrem rätselhaften Wesen, unannehm- bar erscheinen lässt: Wird dem Salamander bei der Ampu- tation der Knochen des Beines mit verletzt, so entsteht vom Knochen aus auch wieder Knochen bei der Regeneration, und dieser differenziert sich nach embryonaler Art in typi- scher Weise; wird aber!) das Bein exartikuliert, so dass der Knochen nicht verletzt ist, so findet zwar auch Regene- ration des Beines statt, aber Knochengewebe beteiligt sich nicht an ihr. Hier wird also die typische Nachbar- schaft gar nicht wiederhergestellt und wir sehen, dass Re- generation als »Wiedererweckung von Elementarvorgängen durch Herstellung einer Unterbrechungsfläche« am besten definiert ist: im Knochen war bei der Exartikulation eben keine Unterbrechungsfläche vorhanden. Dass nun Widerstandsaufhebung die regenerative Spros- sung im Gefolge hat, das müssen wir als spezifische Eigenschaft der jedesmal in Rede stehenden Tierart hin- nehmen, wie wir jeden Auslösungsvorgang der normalen Entwicklung hinnehmen müssen. Wir können nur analy- sieren, worin der Vorgang in letzter Instanz besteht, und können bei heteromorpher Regeneration die Bedingungen der Homo- oder Heteromorphose aufsuchen. So würden wir denn auf Grund unserer Ausführungen sagen, dass der eigentliche regenerative Sprossungsvorgang, die Wiederaufnahme beendeter Elementarprozesse, etwas der normalen Entwicklung fremdes, zu ihr hinzu- kommendes ist, dass jedoch etwaige Spezialisierung an dem mit spezifischen prospektiven Potenzen ausgestatteten Ge- sprossten wohl stets nach embryonalem Typus vor sich geht. 1) Nachzusehen in Weismann’s Keimplasma (dargestellt nach Goette-Fraisse). 118 Die Regeneration wird also, wie schon seit lange üblich, mit Recht der normalen Entwicklung gegen- über gestellt (vgl. Anhang 1). $ 4. Von der Teilung. Wenn wir endlich noch auf die beispielsweise bei Würmern beobachteten Erscheinungen der spontanen Tei- lung in Kürze die Aufmerksamkeit lenken wollen, so wäre zunächst zu beachten, dass hier das Fehlende häufig nicht nach, sondern bereits vor der Sonderung der Teilungs- individuen, wennschon wie es scheint durchaus nach regene- rativem Modus, also mit nur wenigen neuen Induktionen, gebildet wird. Es ist klar, dass in diesen Fällen, in denen keine »Unterbrechungsfläche« vorhanden ist, und noch weniger »normale Nachbarschaft« fehlte, die regenerative Bildung auch nicht durch diese Faktoren eingeleitet werden kann. Wir werden wohl am besten die spontanen Teilungen als reine Ontogenesen oder vielmehr, bestimmter ausgedrückt, als offene Ontogenesen auffassen, wennschon die Teil- produkte sich meist von einander trennen. Wir gestehen ferner, über die jede Teilung und Neubildung auslösende Ur- sache. eben so wenig näheres zu wissen, wie über diejenige Induktion, welche etwa die Bildung einer neuen Person an einem Polypenstocke an bestimmtem Orte einleitet. 119 Kapitel'V. Von der Bildung neuer Ausgangspunkte der Entwicklung und von der Vererbung. $ 1. Die Aufgabe. Ich bitte den Leser wohl zu beachten, dass in unseren Ausführungen bisher das Wort »erklären« nie gebraucht wurde, ein Wort, das doch sonst gerade in unserer bio- logischen Litteratur eine so grosse Rolle spiel. Da wir wissen, dass eben diese Litteratur eine grosse Vorliebe für Unbestimmtheiten und Nebelhaftigkeiten besitzt, so wird uns das gegen das Wort selbst misstrauisch machen. Dass unsere Biologen, wenn sie etwas »erklären«, dasselbe dadurch klar machen, wird man nicht behaupten wollen; sie denken meist an Angabe der Ursachen eines Vorganges, wenn sie von erklären reden, und übersehen dabei stets das, wofür sich keine Ursache nennen lässt. Damit möchten nun wir unser Bemühen, dessen Aufgabe es ist, die letzten Elemente eines Wissensgebietes, seien sie kausale oder nicht kausale, darzustellen, nicht gern verwechselt wissen, und darum vermeiden wir den Ausdruck, obwohl wir wirklich unser Gebiet auf»klären «. Dass ich gerade diesem Kapitel den eben beendeten Exkurs voranstelle, hat seine guten Gründe, denn schon in seinem Titel kommt ein Lieblingswort unserer Biologie vor. Gerade diesem Wort gegenüber galt es nochmals scharf zu präzisieren, was allein wissenschaftliche Aufgabe sein kann. Treten wir nunmehr in medias res. 120 $ 2. Von der Knospung. Unter einer Knospe verstehe ich einen nicht einzelligen Teil eines Organismus, welcher im Stande ist, den Organis- mus nach embryonalem Typus aus sich hervorgehen zu lassen. Es braucht dieser embryonale Typus nicht derselbe zu sein, wie der sich in der Entwicklung des Eies zeigende (Tunicaten), sondern es ist mit dem Worte nur gesagt, dass die drei Elemente der embryonalen Entwicklung: Induktionen, Elementarvorgänge und Rhythmus ihn konstituieren; wie ja auch nach Häcker bei Tieren mit zwei verschiedenen Ei- arten die Entwicklung aus jeder derselben nicht nach dem- selben spezifischen Modus im Einzelnen vor sich geht. Wenn von einer Knospe Entwicklung nach embryonalem Typus ausgehen soll, so muss dieselbe eine dazu geeignete Beschaffenheit besitzen und zwar muss, da doch dasselbe Tier wie aus dem Ei resultiert, diese Beschaffenheit ähn- lich sein derjenigen, welche ein gewisses Ent- wicklungsstadium des Eies darstellt. Das »Ganze« muss in irgend einer Form da sein, damit »das Ganze« daraus resultiere. So dürfen wir eine von einem Zellhaufen ausgehende Entwicklung der Entwicklung von einem Furchungsstadium an vergleichen; bisweilen weist eine Knospe zweierlei Ele- mente (Ektoderm- und Entodermzellen) auf: die Knospen- entwicklung geht hier gleichsam von einer Gastrula aus; bisweilen (Tunicaten)!) werden noch mehr verschieden- artige Elemente zu einer Knospe vereint und produzieren nun zunächst nur je ihresgleichen. 1) s. Korschelt-Heider S. 1418. 121 Es ist klar, dass die erste Art der Knospenentwicklung die grösste Ähnlichkeit mit der Entwicklung aus dem Ei aufweist, die letzte die geringste; die letzte Art klingt einiger- maassen an Regeneration an, sie dürfte sich in Bezug des Charakters der einzelnen Entwieklungsvorgänge am weitesten von der normalen Entwicklung entfernen, wenigstens bis ein gewisses Stadium erreicht ist. Ich bemerke hier, dass die Bildung einer ganzen Hydra aus sehr wenigen Zellen der drei Kategorien mir besser als Entwicklung einer künstlich erzeugten Knospe, denn als regenerative Entwicklung aufzufassen ist, ebenso möchte ich die von Ö©. Rechinger mitgeteilte Thatsache auffassen, dass ein 4 ecem grosses, von Augen freies Stück, das aus einer Kartoffelknolle geschnitten wurde, im Stande ist, die gesamte Pflanze aus sich hervorgehen zu lassen, sowie das bekannte Versuchsresultat Vöchting'’s, dass jedes kleinste Stück einer zerhackten Marchantia, wofern es überhaupt lebt, im Stande ist, die ganze Pflanze zu bilden; und der- artiger Dinge giebt es zahlreiche. Schliesslich kann man ja aber auch die Entwicklung aus dem Ei Regeneration nennen: es fehlt eben alles bis auf eine Zelle; eine solche Wortverwendung würde uns freilich nicht weiter bringen. Wenn eine Knospe nur von einer Zelle ausgeht, so ist es klar, dass sich ihre Entwicklung von parthenogenetischer Eientwicklung nicht unterscheidet; damit sind wir denn zum Problem der Eibildung gelangt. $ öd. Von der Eibildung und Vererbung. Da aus dem Ei, sei es nach Befruchtung oder ohne solche, ein Entwicklungsprozess hervorgeht, welcher dem- jenigen gleich ist, der es lieferte, so folgt, dass das Ei, 122 welches ein gegebenes Tier bildet, demjenigen gleich ist, aus dem es hervorging. Wir nennen die Thatsache, dass jeder Organismus seinen Ausgangspunkt wieder bildet und dass dieser dann ihn wieder- bildet, Vererbung; mit den Worten, dass das Vererbungs- problem auf die Frage hinauslaufe: »warum ein Teil eines Eiproduktes sich stets in einige dem Ausgangspunkt relativ gleiche Gebilde verwandle«, hat Goette demselben die auch von uns acceptierte strengste Fassung gegeben. Die Eier sind also ein ultimäres Organ; sie entstehen im Auslösungsweg durch einen Elementarprozess wie jedes andere. Warum sie entstehen, d. h. warum eine bestimmte Auslösung zu Bildung (Differenzierung) eben der Eier führt, vermögen wir ebensowenig zu sagen, als warum der Ele- phant einen Rüssel bekommt. Vielleicht können wir jedoch einst genauer sagen, auf welche Auslösungen hin sie, oder die ihnen verwandten ein- oder wenigzelligen Knospen sich bilden. Was die Adventivbildungen der Pflanzen angeht, die doch auch wohl hierher gehören, so wissen wir bereits mit einiger Bestimmtheit, dass z. B. Amputationen von Pflanzenteilen ihrer Entstehung förderlich sind, und solche Kenntnisse dürften sich im Laufe der Zeit vermehren. Eine andere Frage ist nun, wie die Eier und verwandte Bildungen entstehen. Ich denke, einen gewissen Einblick in dieses Problem haben wir schon heute. Wir kennen nämlich zwei Eigen- schaften, welche die Eier jedenfalls haben müssen, und zwar ergeben sich dieselben aus den Grundanschauungen unserer Theorie. Wir lernten im Verlauf dieser Untersuchung, dass jeder embryonale Vorgang ein Auslösungsvorgang ist; zu einem 123 solchen gehören nun immer zwei Dinge: das auslösende Agens und dasjenige, welches die Auslösung aeceptiert, auf sie antwortet. Die ersten auslösenden Faktoren nun, sahen wir, seien im Bau des Ausgangspunktes der Entwicklung vorhanden: daraus folgt aber, dass das Ei einen spezifischen Bau besitzen muss. Alle Auslösungen, sahen wir ferner, wirken höchst wahr- scheinlich auf den Kern; also muss das Ei auch einen spezifischen Kern besitzen, und zwar muss derselbe derart beschaffen sein, dass er und seine Deszendenten allen sie betreffenden Auslösungen in richtiger Weise entsprechen können. Ein solcher Kern wird auch im Spermatozoon vor- handen sein, aber da ihm der typische Bau fehlt, so müssen seine Anlagen latent bleiben, wenn nicht ein Eibau auf sie wirkt. Es ist nun klar, dass der auslösend wirkende Bau des Eies, da er nur zu wenigen Erscheinungen der Ontogenese (zu den ersten nämlich) und auch hier nur als Anstoss in Beziehung tritt, der Natur des Kernes, gleichgiltig, wie wir uns diese denken, an Komplikation weit nachsteht. Weis- mann, der sich die Ontogenese durch Kernspezifikation zu Stande kommend dachte, liess daher jedem Kern der »Keim- bahn« doch ein klein wenig der ursprünglichen Eikernsubstanz mit gegeben werden und diesem die Fähigkeit aktiven Wachs- tums inne wohnen. Unter dem Namen der Theorie von der Kontinuität des Keimplasmas ist diese auch schon vor Weismann bisweilen angedeutete Ansicht allgemein bekannt. Wir acceptierten ihren Grundgedanken, wennschon wir durch die Thatsachen genötigt waren, die Lehre von 124 der Kernspezifikation zu verwerfen. Wir denken uns vielmehr die Kerne aller Zellen eines Organismus gleich beschaffen und lassen jeweilen einen Einfluss des Kernes auf die Zelle, welche ihn umschliesst. ausgelöst werden, wobei wir gestehen über die Natur dieses »Ein- flusses« mit Sicherheit nichts einzelnes zu wissen. Wir wissen nur, dass jede Zelldifferenz, jeder Elementar- vorgang durch Auslösung oder Induktion zu Stande kommt, halten für sehr wahrscheinlich, dass dieselbe durch eine Veränderung des Kernes veranlasst wird, und denken uns, dass diese Veränderung wohl in einer fermentativen Akti- vierung eines jedesmal bestimmten Kernbestandteils be- stehe. Der Zustand des Kernes der Eizelle ist also, wie wir mit Weismann annehmen, ein im Verlauf aller Teilungen der Ontogenese überkommener, der Bau des Eies eine Neu- bildung. Ist nach unserer Ansicht also der Kern eine wich- tige »Vererbungssubstanz«, so ist es doch nicht ausschliess- lich Organ der »Vererbung«; ohne spezifisch gebautes Ei- plasma würde er nicht zur Entwicklung führen. Ich erwähne beiläufig, dass bekanntlich die Abspaltung der Generationsanlagen während der Furchung als ein sehr ausnahmsweises Vorkommnis (Moina, Dipteren) erkannt ist; gehen aber beispielsweise die Generationsorgane vom »Meso- derm« aus, also etwa von einer Urmesodermzelle, so ist zu bedenken, dass diese durchaus nicht ohne weiteres mit dem ebenso beliebten wie unklaren Ausdruck »embryonal« zu bezeichnen ist, was doch bedeuten soll »ursprünglich«. Bei Echinodermen z. B. wären die Ektodermzellen noch mit mehr Recht als »ursprünglich« zu bezeichnen, als Mesenchym-, Entoderm- und Cölomzellen, denn sie sind das Produkt des 125 ersten alle Zellen gleichmässig am Ende der Furchung be- treffenden Veränderungsvorganges, sie sind ein Überkommnis von der Blastula; die anderen genannten Zellkategorien da- gegen verdanken neuen Elementarprozessen ihr Dasein, haben also, schon da sie wachsen, jedenfalls einen von den Furchungszellen noch differenteren Chemismus als jene. Vererbung heisst also die Thatsache, dass jeder Or- sanismus seinen Ausgangspunkt wieder bildet. Vererbungs- erseheinungen im einzelnen sind nun ferner alle diejenigen Elementarerscheinungen der Ontogenese, deren Zustande- kommen im Ei an und für sich gesichert ist, also alle, welehe nichtauf äusseren Induktionen beruhen und deren spezifischer Charakter auch nicht von äusseren Bedingungsinduktionen (S. 108) abhängt; es ist also der Habitus einer horizontal gelegten Antennularia keine Ver- erbungserscheinung. Freilich wird auch in den von uns ausgeschlossenen Fällen die spezifische Potenz des Keimes vererbt. $ 4. Vererbungsprobleme, ein Excurs. Zwei spezielle Probleme der Vererbungslehre stehen zur Zeit auf der Tagesordnung: 1) Wenn, nach Art heterogener Induktion, ein äusseres Agens den spezifischen Effekt einer oder mehrerer organo- genen Auslösungen verändert, kann dann dieser veränderte Effekt einer oder mehrerer Induktionen auch auftreten, ohne Wirkung jenes Agens? Ist etwa dazu eine Generationen lange Wirkung der heterogenen Induktion notwendig? Ich habe mir früher erlaubt auf einen Fall hinzuweisen, welcher 126 diese, für die Formverwandlungslehre wichtige Frage, viel- leicht stützt'). 2) Werden mechanische Eingriffe in den Körper eines Organismus vererbt? d. h. wird etwa durch Entnahme von Organen (Verletzungen) die Möglichkeit ihres Auftretens in dem vom Ei des betroffenen Organismus ausgehenden Ent- wieklungsprozesse ausgeschlossen ? Ist etwa dazu eine Gene- rationen lange Entnahme desselben Teiles nötig? Diese, von der ersten durchaus verschiedene, wennschon leider oft mit ihr vermengte Frage ist zuerst von Weismann in Schärfe als ein Problem aufge- stellt und, wie wir denken, mit Recht verneint worden. Alle »Vererbungen« durch Übung gekräftigter Organe würden, wenn sie vorkommen, der ersten Kategorie ange- hören. Doch müssen wir uns hier mit dieser Andeutung der genannten Probleme begnügen. 1) s. Teil VI meiner »Studien«. - y * x% a7 & ir Zweiter Hauptteil. EN Die Ontogenie als Entwicklung im Lichte teleologischer Betrachtung. $ 1. Von dem Ungenügen der kausalen Betrachtung für das Verständnis der Formbildung. Die Analyse der Entwicklungsvorgänge hat uns dieses Resultat geliefert: Die Ontogenese setzt sich aus einer grossen Zahl zellulärer Elementarleistungen zusammen, deren jede durch eine Ursache ausgelöst wird, dann aber in ihrem weiteren Verlaufe von den übrigen ganz oder theilweise un- abhängig ist. Die Thatsache, dass eine Elementarleistung selbst wieder Ursache für eine folgende sein kann, anderer- seits auch den Boden für weiteres Geschehen abgiebt, führt zur Erscheinung eines festen zeitlichen Rhythmus der onto- genetischen Vorgänge, und in diesem Rhythmus offenbart sich zugleich eine Harmonie. Sofern eine Zerlegung in Elementares hier stattfand, kann uns diese Analyse befriedigen, in kausaler Hinsicht kann sie es nur in sehr beschränktem Maasse: da alle Ur- sachen Auslösungen sind, so sind alle Wirkungen trotz ihrer kausalen Bedingtheit doch etwas durchaus neues, aus der Ursache unverständliches, das sich nur empirisch konstatieren 128 lässt, und von allem, was auf der prospektiven Potenz jeder Elementarleistung beruht, gilt das in erhöhtem Maasse. Man hat nun wohl die Ansicht geäussert, dass jedes Stadium der Ontogenese die notwendige Folge des vorher- gehenden und die Ursache des folgenden sei; dieser Satz ist aber nicht ohne weiteres zuzugeben, denn erstens ist die Ontogenese kein einheitlicher Vorgang, sondern ist aus vielen teilweise von einander gänzlich unabhängigen und in eben dieser Unabhängigkeit »gegebenen« Vorgängen zusam- mengesetzt, zum andern verstehen wir, wie erörtert, keinen dieser Vorgänge aus seiner Ursache auch nur einiger- maassen. Für ein in lauter Rätseln einherschreitendes Kausalgesetz müssen wir daher mit Wigand die Onto- genese erklären; die kausale Analyse derselben liefert uns nur Stückwerk. $ 2. Der Begriff der Entwicklung und die Einführung des teleologischen Gesichtspunktes. Mangelt uns somit der einheitliche Gesichtspunkt in der Betrachtung und somit ein eigentliches Verständnis der Onto- genie, solange wir auf der bisher betretenen Bahn der For- schung vorgehen, so ist ein solches doch auf anderem Wege wohl gewinnbar; ja die Art seiner Gewinnung ist in dem Abschnitte von der Harmonie des Geschehens (Kap. II, $ 7 und 8) bereits implieite angedeutet. Wir erschlossen nämlich die Notwendigkeit der Existenz dieser Harmonie zwischen Ursachen und Fähigkeiten des Empfanges derselben in jeder Phase aus der Thatsache, dass die Ontogenie in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle 129 zu einem typischen Resultate führt: wenn stets ein typisches Resultat herauskommt, so sagten wir, dann müssen auch die Bedingungen zu demselben jedesmal gegeben sein; diese Bedingungen bestehen aber eben in der Harmonie. Es bedarf nur einer geringen Modifikation des Aus- drucks, um nunmehr einen neuen Standpunkt der Beurteilung zu gewinnen: eben weil immer ein typisches Resultat den Abschluss bildet, so sagen wir jetzt, müssen wir alle ana- lytisch festgestellten Einzelheiten der Ontogenese auch von diesem Resultat aus beurteilen, sie zielen alle auf dieses Resultat zu, sind seinetwegen, zu seiner Verwirklichung da, das Resultat ist Zweck der Ontogenese. Die Dinge liegen in der That durchaus, wie wenn wir täglich eine Werft besuchen, auf der man ein Schiff baut: auch hier ist uns das, was vorgeht, ein Chaos von Einzel- heiten, wenn wir es nicht aus dem, was werden soll, zu begreifen trachten. Jetzt auch, auf der Basis des teleologischen Gesichts- punktes, haben wir erst ein eigentliches Recht gewonnen von einer Entwicklung zu reden, denn dieser Begriff er- fordert zu bedeutsamer Anwendung durchaus die Existenz eines Objektes des Entwickelns, wenn ich so sagen darf, und wird nur mit Unrecht, wenn nicht gar mit einer ge- wissen trügerischen oder meinetwegen selbsttrügerischen Nebenabsicht, die das Eigenartige der Lebensvorgänge ver- schleiern soll, von den Modernen auch auf Bildung eines Gebirges oder Flussdeltas, kurz auf blosse Umkehrungs- betrachtung reiner Kausalketten angewendet. Kant sah die fundamentale Bedeutung des teleologi- schen Standpunktes für die Organismenwelt, trotz seines Mangels eigentlich ontogenetischer Kenntnisse und wohl Driesch, Analytischa Theorie. 9 130 allein von der physiologischen Harmonie ausgehend, vor 100 Jahren deutlich voraus, freilich nur, damit eine sich unendlich über diesen grossen Mann erhaben dünkende Zeit der Oberflächlichkeit seine Lehren vergass. Gingen wir nun zur Ableitung des teleologischen Stand- punktes von dem aus, was wir Harmonie des Geschehens erster Art nannten und im engeren Sinne als Kausal- harmonie bezeichnen können, so ist doch nicht zu ver- gessen, dass wir diese Deduktion ebensogut von unserer Harmonie zweiter Art (Kap. II, $ 9) oder anders von der Kompositionsharmonie aus hätten führen können). Wenn von einander durchaus unabhängige Vorgänge im Verlauf ihrer Ausbildung zu einem ganzen Einheitlichen, einheitlich funktionierenden Gebilde zusammenschliessen, dann ist uns das auch auf kausalem Standpunkt einfach gegeben oder meinetwegen eine (zwar im einzelnen unver- ständliche) Folge aus der Tektonik des gegebenen Eibaues, und ähnliches gilt von der Funktionalharmonie, in wel- cher die Eigenschaften sämmtlicher Organe des entwickelten Tieres (oder auch bereits von Larven) zu einander stehen und welche, ein Objekt der Physiologie, es allein ermög- licht, dass nicht nur eine Form, sondern auch eine lebende Form geschaffen ist. Auch hier gewährt uns die Ein- 1) Die Deduktion würde kurz lauten wie folgt: Wenn zwei oder mehr von einander unabhängige Kausalreihen zusammentreffen, so redet man von Zufall; geschieht dieses Zusammentreffen aber immer wieder in derselben typischen Weise und mit demselben typischen Effekt, so redet man, wie z.B. beim Bau von Maschinen, von Zweck. Nun treffen in der Ontogenese eine Anzahl von einander unabhängiger Kausalreihen jedesmal zu typischem Effekt zusammen (Kap. III, $ 9: Also offenbart sich in der Ontogenese ein Zweck (s. auch meine »Biologie« $3 und $ 10, 8. 50). 151 führung des Zweckbegriffes einzig und allein eine wirklich befriedigende einheitliche Einsicht in das Geschehen, ganz abgesehen davon, dass dieser Begriff als heuristisches Prinzip nun auch wieder der kausalen Analyse dienstbar werden kann, was zumal in der Physiologie der Fall ist. Die Kausalharmonie, oder die Harmonie der durch- gsängig möglichen Wirkungsentfaltung im allgemeinen, die Kompositionsharmonie, oder die Harmonie der Verteilung und Ordnung des elementaren Entwicklungsgeschehens im einzelnen, die Funktionalharmonie endlich, oder die Har- monie der Leistungen an dem durch Kausal- und Kompo- sitionsharmonie gewordenen: alle diese Arten der organischen Harmonien und ihr wechsel- und vielseitiges Ineinander- greifen!) zwingen uns also die teleologische Beurteilungs- art ab2). Anders gesagt: Wir beurteilen auf Grund einer objectiven Nötigung, nämlich deswegen, weil das lebensfähige Ganze als deutlich erkennbares Ende der Gesamtheit aller Pro- zesse der Ontogenese gegeben ist, diese Vorgänge so, als seien sie von einer Intelligenz nach Qualität und Ordnung bestimmt, mit diesen Worten geben wir dem kritisch-teleologischen Standpunkt den eigentlich adäquaten Ausdruck. 1) Wenn z. B. eine Elementarbildung A eine andere B durch Induktion hervorruft, dann sich A und B für sich weiter »selbst diffe- renzieren« zu ihrem typischen Ziele und zwar mit dem Resultat, dass die Produkte von A und BZ nun morphologisch und funktionell zu- sammen eine höhere Einheit bilden, so finden wir Kausal-, Kompo- sitions- und Funktionalharmonie alle drei vereint. 2) Von dem »Angepasstsein« der Organismen an die Aussenwelt (Auge—Licht, Ohr— Schall, Darm—Nahrung etc.) sehen wir hier, nur _ vom ontogenetischen Problem handelnd, ab. (Äussere Zweckmässig- keit im Gegensatz zur inneren.) 9* 132 $ 3. Von einer problematischen phylogenetischen Ent- wicklung. (Ein Exeurs.) Wir betonten, dass der Begriff der Entwicklung mit techt nur auf die allmähliche Entstehung eines vorgesehenen Zieles anwendbar sei, man spricht jedoch auch wohl von einer Entwicklung des Reiches der Organismen als eines Ganzen, oder (weniger hypothetisch) von derjenigen einer beschränkten Gruppe desselben, z. B. der Ammoniten oder Selachier. Ist — um von der Berechtigung der Auffassung im Einzelnen hier abzusehen — die Anwendung des Wortes Entwicklung hier am Platze? Untersuchen wir zunächst einmal, was bei dem fraglichen Prozesse eigentlich geschehen muss, analysieren wir ihn: es wird, wenn Nachkommen von Formen einen anderen Bau besitzen als die Eltern oder eine frühere Generation, jeden- falls die Form verändert oder umgewandelt. Was besagt nun bei organischen Formen der Begriff der Umwandlung? Wir stehen hier wiederum vor einem undefinierten Lieblingsausdruck unserer modernen Biologen, wiederum vor einem solchen, welcher vermöge seiner Dehnbarkeit und Unbestimmtheit sich überall und nirgends mit scheinbarem Rechte anwenden lässt. Ich finde etwas wirklich klares über den fraglichen Umwandlungsbegriff, freilich in aller Kürze, nur bei Dühring gesagt. Es wird von diesem Phi- losophen auf die notwendige Komposition alles Zusammen- gesetzten aus einer Reihe elementarer bestimmt geord- neter Bildungen hingewiesen und die Umwandlung wird als Substitution eines elementaren durch ein anderes bezeichnet. Die organischen Formen setzen sich nun in der That aus einer Reihe von Elementen, von unseren Elementar- 139 vorgängen nämlich, zusammen und es ist ebenfalls wahr, dass eine Form B aus einer solchen A durch Veränderung des Wesens eines oder mehrerer Elementarvorgänge, welche wie sonst auf die morphogenen Auslösungen hin erfolgen, oder durch Anfügung neuer Elementarprozesse in irgend einer Phase der Entwicklung hervorgehen kann. An Herbst's Versuchen wurde das schon oben und auch früher!) er- läutert. Die »Umwandlung« der Formen ist also als Veränderung einer oder mehrerer elementarer morphogener Reaktionsarten oder als Vermehrung derselben zu bezeichnen, und zwar hat diese Veränderung denselben unverständlichen, ausgelösten Charakter, wie ihn jeder einzelne Vorgang der Ontogenese besitzt. Kann nun diese Umwandlung der Formen im Grossen als Entwicklung bezeichnet werden? Ich denke, wir müssen das dem Belieben des Lesers überlassen. In Strenge ist der Begriff der Entwicklung, wie wir sahen, nur anwendbar, wenn ein Ziel durch an die Thätigkeit einer Intelli- senz ermahnende Prozesse erreicht wird. Was sind nun die Ziele der phylogenetischen Entwicklung, und in welcher Hinsicht ist dieselbe in Bezug auf das Ziel besonders zweck- mässig ? In einigen Fällen (Standortsvarietäten der Pflanzen, Wasserpflanzen ete.) wissen wir allerdings, dass veränderte Bedingungen des Lebens eine Umwandlung zur Folge haben, welche das Gedeihen des Organismus unter eben diesen neuen Bedingungen ermöglichen; freilich sind diese (meist histologischen) Erscheinungen nicht ohne weiteres als ziel- strebig im eigentlichen Sinne zu bezeichnen; hat man doch 1) s. Teil X meiner Studien S. 247 und meine »Biologie«. 134 schon lange Organisationshöhe und Anpassungsvoll- kommenheit unterscheiden gelernt. Sie sind aber jeden- falls lebenerhaltend, also doch wichtige Faktoren bei der Erreichung eines etwa vorhandenen Zieles, und so ist es denn wohl erlaubt die Vermutung zu äussern, dass unsere Unkenntnis uns den wahren »Entwicklungs«charakter der Formenumwandlung im Ganzen bisher verschleiert habe. Wir werden in Kürze noch einmal, besser gewappnet, an diese Frage herantreten. — Was wir hier erörterten, gehört, streng genommen, nicht zu unserem Thema, denn wir handeln vom Problem der Formentstehung aus dem Ei. Da wir uns aber nun doch einmal einen Exkurs gestatteten, so sei derselbe auch dazu benutzt einem Missverständnis vorzubeugen. Es gilt Form- entstehung und Formumwandlung nicht mit einander zu ver- wechseln (s. Anhang 7). In kausal-analytischer Hinsicht können wir beide cha- rakterisieren wie folgt: Formentstehung ist eine bestimmte Ordnung bestimmter zellulärer Prozesse, deren jeder einzelne uns kausal unver- ständlich, nämlich eine Reaktion ist, die auf einen Anstoss hin erfolgt. Formumwandlung ist Veränderung des Charakters dieser Reaktion wiederum auf einen Anstoss hin, also wieder als Reaktion Die Reaktionsfähigkeit reagiert« — Teil X). In teleologischer Hinsicht aber sagen wir so: Die Formentstehungsvorgänge sind in ihrer Art und Kombination zweckmässig, denn einmal zielen sie auf das Ganze hin, zum anderen sind sie der Erhaltung jeder Stufe sowohl wie des Resultates angepasst, was des Näheren in der Physiologie gelehrt wird. 135 Die Formumwandlungsvorgänge zielen vielleicht auch auf ein Resultat hin, auch sind sie, falls sie (auf eine An- stoss-Ursache hin) überhaupt auftreten, wohl meist dem Er- haltenbleiben der Form unter den neuen Umständen, die sie hervorriefen, angepasst. Man sieht, wir wissen über die teleologischen Eigen- schaften der Umwandlungen recht wenig, erschliessen sie vielmehr aus dem »Angepasstsein« der Formen an ihre Um- gebung an der Hand einer hypothetischen Abstammungs- lehre. Kombination und Chemismus der ontogenetischen Vor- gänge sind in zwiefacher Hinsicht viel deutlicher zweck- mässig und doch haben unsere Darwinisten gerade diese Zweckmässigkeit übersehen! $ 4. Von der absurden Annahme eines Zufallcharakters der Formbildung. Es ist das Bestreben unserer Zeit, die Zweckmässigkeit aus der organischen Welt dadurch hinwegzubringen, dass man die Natur herumprobieren und zufällig auch einmal etwas Erhaltungsfähiges herausbringen lässt. Gerade als wenn man sich, um ein treffendes Beispiel Wigand’s heran- zuziehen, das Parthenon durch geologische Erscheinungen entstanden denkt oder die Dampfmaschine gelegentlich einer absichtslosen Spielerei von kleinen Kindern erfunden. Frei- lich hat — das lehrt das Resultat, das Vorhandensein dieser organischen Welt — die Natur rechtes Glück bei ihrer Spielerei gehabt, jedenfalls mehr als die geologischen Fak- toren bisher bei der Erzeugung von griechischen Tempeln oder von Renaissancepalästen hatten, so dass wir wohl besser 136 annehmen, sie habe mit falschen Würfeln gespielt, sei also doch nieht so »ganz dumm« gewesen, wie ihre Deuter es annehmen. Betrachten wir doch noch einmal jenen Darm der See- igellarve, der sich aus zwei unabhängig gebildeten Teilen zusammensetzt: hier hat also die Natur alle möglichen Ele- mentarvorgänge sich abspielen lassen; da passten zufällig einmal zwei zusammen, der Darm war da, die lebende Larve war »aus Versehen« fertig geworden. Nun stelle man sich auch noch den Kopf eines Hundes mit seinen Nerven, Mus- keln und Gefässen in richtiger Verteilung, mit seinen Spür- haaren, mit Zähnen, Mund und Zunge, mit Nase, Auge und Ohr vor, man denke an den Bau des Auges und Ohres im einzelnen und dann frage man sich, ob wirklich mit dem Ausspruch, dass das alles »aus Versehen« da sei, etwas wahrscheinliches behauptet werde. Sagt man aber, der Hundekopf sei ja nicht auf einmal, er sei allmälig im Umwandlungswege entstanden, so be- denke man, dass jenes Probierspiel der Natur, welches wir bei der Seeigellarve schilderten, sich so oft und zwar er- folgreich wiederholt haben muss, als es Elementarvorgänge bei der Bildung des Kopfes eines Hundes giebt. Wie viel Tausende sind das aber? Ist »Tausende« hier nicht ein lächerlicher Ausdruck? Aber, abgesehen davon, was heisst diese »allmälige« Zufallsentstehung? Man denke sich Je- manden, der mit einer grossen Menge kleiner quadratischer Steinchen von einer gewissen Entfernung aus in ein hinge- zeichnetes Feld wirft — wird er das Parthenon werfen? Hat er selbst dann auch nur die geringste Chance es einmal zu werfen, wenn man ihm gestattet, jedesmal wenn er einen richtigen Ansatz des Baues warf, diesen fest zu verkitten, 137 damit es durch die folgenden Würfe nicht wieder falle? Was aber bietet ein hoch organisiertes Wesen an Kompli- ziertheit gegenüber dem Parthenon! Und nun gar die »mutuelle Anpassung« und verwandtes ')! Nach allem diesen ist also die Annahme einer Zufalls- entstehung der spezifischen Formen von einer so ungeheuer- lichen Art, dass, wenn anders wir überhaupt eine allgemeine organische Deszendenz hypothetisch behaupten wollen, wir uns diese schon a priori in der Weise vorstellen müssen, dass äussere Agentien als Reize (und zwar als »morpho- logische Reize« s. »Biologie«, $ 4) Umwandlungseffekte er- zielen, welche eben die kausal nicht weiter analysierbare, sondern hinzunehmende Eigenschaft haben, zweckmässig d. h. lebensfähig zu sein; eine Annahme, die ja auch durch das wenige, was wir von solchen morphologischen Reizen und damit von der Möglichkeit einer Formumwandlung wirklich wissen (Wasserpflanzen, Gebirgspflanzen u. a.), wie schon im vorigen Paragraphen betont, gestützt wird. Gehen wir nun aber gar von der Betrachtung der »Züch- tung« von spezifischen Formexistenzen als einheitlicher ganzer Gebilde zu derjenigen der »Züchtung« der spezifischen Arten ihrer jedesmaligen Individualentstehung, also der ontogene- tischen »Mechanismen«, unserem eigentlichen Thema, über, so verwandelt sich die Absurdität der »Zufallsansicht« bei- nahe in Komik. Alles in Darwin’schem Sinne Gezüchtete soll nämlich durch langsame Steigerung zu Stande gekommen sein; viele Übergangsstufen unvollkommener Art vermitteln gleichsam 1) s. Weiteres bei Wigand und bei Wolff, Beiträge zur Kritik der Darwin'schen Lehre. Biol. Centr. X. 138 das Heranreifen des Vollkommenen im Laufe der Gene- rationen. Schade nur, dass ontogenetische Mecha- nismen eine Organismenart gar nicht in ausgebil- dete Existenz treten lassen können, wenn sie nicht stets vollkommen und vollendet funktionieren! Jeder »Übergang«, jede »Steigerung« ist hier logisch ausge- schlossen! — Die Zufallsansicht also lässt die Organismen in der ersten in Betracht gezogenen Generation wegen un- genügend (d. h. auf einer Zwischenstufe) funktionierender Mechanismen zum Teil sterben, oder vielmehr überhaupt nicht gebildet werden und dann — doch bedarf es weiterer Worte? Wir haben zum Leser das Zutrauen, dass auch er hier nicht weiter denken, sondern das bisher Gedachte für immer über Bord werfen wird, und ebenso, denken wir, würde er handeln, wenn er die »Züchtung« der Selbstregulations- mechanismen, wie sie bei der Entwicklung isolierter Blasto- meren zu ganzen Tieren in Wirkung treten (Einleitung, $ 4),. bei sich durchdenken würde. Soll also, das ist unser Schluss in diesem unerfreulichen, durch die Zeitumstände aber zugleich gebotenen und ent- schuldigten Kapitel, allgemeine Formumwandlung (auf äussere Reize hin) überhaupt statthaben, dann kommt als erstes und wichtigstes zu jener oben erwähnten allgemeinen Existenzzweckmässigkeit (Funktionalharmonie + Anpassung) der jedesmaligen Umwandlungswirkung die elementare Forderung hinzu, dass die zu diesem neuen Produkte führenden ontogenetischen Mechanismen ebenfalls in zweck- mässiger Weise d. h. unter Wahrung vollendeter Kausal- und Kompositionsharmonie umgewandelt seien. Denn die Sicherheit der »Vererbung«, der typischen Ontogenese, ist die Fundamentalzweckmässigkeit der Formen, da sie ohne 139 diese gar nicht in Erscheinung treten können. Will man wirklich diese Sicherheit der Vererbung durch »Zuchtwahl« erklären ? | $ 5. Von dem Bildungstrieb und seiner Beschränkung. Nachdem nunmehr der teleologischen Betrachtung im grossen und ganzen eine feste Basis geschaffen und der Bereich ihrer Notwendigkeit scharf umgrenzt ist, wird es von Nutzen sein zu prüfen, ob sich nicht von der Zweckmässig- keit, wie sie sich in organischen Bildungsprozessen zeigt, noch eine speziellere Vorstellung gewinnen lässt. Wir wollen zur leichteren Durchführung dieser Betrachtung eine Hilfsvor- stellung einführen: wir wollen uns jene Intelligenz, welche die organischen Bildungen zu fertigen scheint, als thätiges Subjekt denken und Bildungstrieb nennen; indem wir diesen alten, lange in Misskredit geratenen Ausdruck ein- führen, thun wir durchaus nichts anderes, als der Physiker thut, wenn er von einer Kraft redet. Anstatt zu sagen: die ontogenetischen Elementarvorgänge sind nach Zeit, Ort und Qualität so geordnet, als ob sie von einer Intelligenz, der am Ziel der Entwicklung liegt, geordnet seien, sagen wir jetzt, der Bildungstrieb habe diese Vorgänge geordnet. Oder da alle Vorgänge der Ontogenese uns aus Eibau und Kern in letzter Instanz, wennschon wegen des Qualitativen in auch im einzelnen nicht begreiflicher Weise folgen, können wir auch sagen, der Bildungstrieb habe Eibau und Kern gefertigt. Wir gewinnen eine wich- tige Einsicht über diesen Bildungstrieb, wenn wir das Ver- halten des Keimes nach Störungen der Entwicklung ins Auge fassen: eine der zwei oder vier ersten Blastomeren des Am- phioxus kann das ganze Tier bilden, eine der acht ersten 140 nicht; der Triton regeneriert das Bein, die Maus nicht; ja der Triton regeneriert, wie wir oben sahen, den Knochen des Beines nur, wenn dieser verletzt ist, nicht aber wenn das Bein exartikuliert war: der Bildungstrieb kann also nicht alles, sondern er ist an gewisse bestehende Gesetze gebunden und zwar sind das nicht nur die all- gemeinen Gesetze der Materie, an die ja auch der Techniker gebunden ist (lenkbarer Luftballon), sondern es kommen zu diesen gewisse elementare Zellengesetze hinzu. Freilich hat der Bildungstrieb auch das spezifische der Zellarten ge- schaffen (oder, um die teleologische Sprechweise zur Belehrung des Lesers einmal aufzuheben: auch der spezifische Bau der Zelle ist uns nur analysierbar, aber kausal ein Letztes), da wissen wir wegen unserer Unkenntnis der Zelle nicht, ob er nicht doch nur an die Chemie und Physik gebunden ist wie der Techniker. Wie nun ein Techniker ferner, um im Gleichnis zu bleiben, oft einen Vorzug einer Maschine auf Kosten anderer Seiten ausbildet, also sich selbst beschränkt, so auch der Bildungstrieb: wenn er wie im Annelidenei frühzeitige Anlage recht vieler Organe will, so muss er einen Eibau schaffen, welcher die Selbstregulationsvorgänge wahrschein- lich ganz aufhebt. Diese Thatsachenvon der BeschränkungdesBildungs- triebes lassen uns nun auch über jene angeregte Frage nach dem Ziel einer hypothetischen grossen phylogenetischen »Ent- wicklung« im wahren Sinne eine festere Vermutung gewinnen: wenn nämlich der phylogenetische Bildungstrieb den Menschen wollte, wäre es dann nicht möglich, dass er dabei nicht anders als durch eine lange Reihe von Substitutionen und Neuschaf- fungen von Elementarvorgänge zum Ziele gelangen konnte 141 und dass dabei vieles gleichsam als »Abfall« entstand, was zum Ziele nicht in Beziehung steht, wie alle diejenigen Formen, welche jetzt als hochorganisierte leben (Insekten). So würde es denn kommen, dass uns ein Ziel der Formen- umwandlung im ganzen nicht recht deutlich ist. Oder hat etwa auch der Gedanke, dass die Pflanzen »für« die Tiere daseien, seine Berechtigung ? Dass ein hypothetischer phylogenetischer Bildungstrieb etwas anderes wäre als ein ontogenetischer, ist oben betont: dieser richtet die Elementarvorgänge, jener würde ihren Charakter ändern, wennschon immer auf eine anstossende Ursache hin; und zwar würde er diese Änderung, abgesehen von dem Erstreben eines Zieles, derart vornehmen, dass etwaigen neuen Lebensbedingungen jedesmal genügt wird. Man nennt seine Produkte dann Anpassungen, und hat leider, zumal auf botanischer Seite, beim Nachweis solcher Erscheinungen im einzelnen gar zu oft seiner Phantasie die Zügel schiessen lassen; das thut freilich der Thatsache der Anpassung und ihrer grossen Bedeutung!) an und für sich keinen Abbruch. Freilich leistet der Bildungstrieb das Ge- schilderte auch nur »wenn er kannc; er kann z.B. aus Seeigeleiern, die man an die Luft legt, keine zweckentspre- chenden Organismen machen. Damit hätten wir denn sogar die vernichtende Wir- kung einer natürlichen Auswahl konstatiert, freilich in anderem Sinne als üblich ist; veränderte Lebensbedingungen merzen thatsächlich alles, was sich nicht ihnen entsprechend verändern kann oder ihnen entsprechend geartet ist, aus. Soweit veränderte Bedingungen lediglich ein gewisses grös- seres Durchschnittsquantum von irgend einer physiologischen 1) Vgl. $. 131 Anm. 2. 142 Resistenzfähigkeit zum Erhaltenbleiben postulieren, kann diese Auslese sogar wirklich einen besseren Durch- schnitt schaffen; aber wohl gemerkt nur in quantitativ physiologischer Hinsicht, was nie bestritten wurde. Dass im übrigen die Annahme eines »Herumprobierens« des phylo- genetischen Bildungstriebes im Sinne Darwin’s ebenso ab- surd ist, wie jenes oben geschilderte Herumprobieren der Natur in Hinsicht der ontogenetischen Mechanismen, ist oft genug dargelegt. $ 6. Von einigen Eigenschaften des ontogenetischen Bildungstriebes. Die allgemeine Einsicht in die Gebundenheit oder Beschränkung des Bildungstriebes, welche wir durch Betrachtung der Entwicklungsstörungen gewannen, gilt es nun durch eine teleologische Analyse des normalen onto- genetischen Geschehens noch wesentlich zu erweitern. Wenn wir oben die Beziehung der Teile zur Herstellung des Ganzen dem Bau eines Schiffes verglichen, so ist wohl zu bedenken, dass der Vergleich nur einseitig passt: er würde vollständig passen, wenn es gelänge ein Etwas zu bilden, welches aus sich die Maschine herausbildete, und selbst dann würde noch die Wiederbildung des Ausgangs- punktes, die Fortpflanzung fehlen. Wie wir aber, wenn ein Schiff oder eine Lokomotive oder auch ein Haus gebaut wird, sagen können, diese Art des Bauens sei zweckmässiger, »praktischer« als jene; diese sichere die spätere Funktion des Ganzen mehr denn jene, so können wir die Frage auf- werfen, ob die Elementarvorgänge der Ontogenese hinsicht- lich ihrer Leistungsfähigkeit zur Herstellung des Ganzen von verschiedener Güte seien. 143 Wir stellen hiermit das Postulat einer teleologischen Analyse als Gegenstück der kausalen Analyse auf, die Forderung einer reinen teleologischen Detailforschung, welche in Zukunft diese Art der Betrachtung recht eigentlich frucht- bar zu gestalten berufen ist. Naturgemäss sind wir aber zur Zeit gänzlich ausser Stande zu sagen, ob etwa die Art der Elementarprozesse die denkbar beste, oder ob ihre zeitliche Ordnung irgendwie die zweckmässigste sei; es ist uns vielmehr nur möglich, die Arten der Auslösungsursachen (Kap. 1I) auf ihre Güte hin zu prüfen. Wir haben die Arten der Induktionen in äussere und innere gesondert. Es ist nun zunächst klar, dass jede äussere Induktion nur zweifelhafte Gewähr für die Sicher- heit eines von ihr ausgelösten Effektes bietet, denn das äussere Agens ist doch etwas dem Organismus fremdes. Wird es immer zur Ausübung seines Effektes anwesend sein? Be- züglich der Schwerkraft werden wir da keine Bedenken haben, bezüglich des Lichtes jedoch einige, wennschon geringe. Es tritt hier nämlich eine andere Gruppe zweckmässiger Erscheinungen in den Kreis der Betrachtung: die schon ge- nannten Anpassungen an die Umgebung, die Erscheinungen nämlich, dass jeder Organismus funktionell so beschaffen ist, dass er unter den ihn gewöhnlich umgebenden Verhält- nissen leben und sich mit Erfolg fortpflanzen kann. So heben z. B. die phanerogamen Wasserpflanzen durch einen Wachstumsvorgang ihre Blüten über den Wasserspiegel, sonst würde Befruchtung nicht möglich sein. So werden wohl diejenigen Keime oder Teile von Organismen, die des Lichtes zu einer Induktion bedürfen, ans Licht befördert worden sein. 144 Eine ähnliche Unbestimmtheit, wie bei äusseren In- duktionen, waltet bei dem Effekt gewisser rein physika- lischer Wirkungen im Laufe der Entwicklung. Zwar ist unschwer einzusehen, dass der Effekt von reinen Massenwirkungen, welche Teile des Organismus auf einander ausüben, wegen der typischen Konfiguration des Ganzen nicht so gar unsicher ist; "anders wenn die Aussenwelt rein physikalisch im Laufe der Ontogenese wirkt. So geht z. B. der zur Darmbildung führende Wachstums- vorgang bei Seeigellarven von einer gewissen Temperatur an nicht nach innen, sondern nach aussen vor sich, wo- durch von vornherein der Entwicklungsabschluss unmöglich gemacht wird. Aber auch hier müssen wir erwägen, dass das Mittelmeer jene künstlich erzeugte Temperatur, wenig- stens dort wo die Seeigel meist leben, nie aufweist: ihre Entwicklung ist also, wennschon ein rein physikalisch wirkender äusserer Faktor in ihr eine Rolle spielt, doch »angepasst«!). So ganz und gar allein in ihr selbst liegen also alle Faktoren der Entwicklungsrealisation nicht; in beschränktem Maasse ist diese dem Zufall preisgegeben; wenn also Roux missverständlicherweise meiner (damals erst ganz flüchtig angedeuteten) Theorie im Ganzen vorwirft, dass sie das »typische« im Verlauf der Entwicklung durchbreche, so er- widere ich ihm, dass sie das in einigen Fällen auf Grund von Thatsachen thun muss. Würde es sonst auch wohl Monstrositäten geben? Alle äusseren Induktionen und alle inneren oder äusseren rein physikalischen Agentien sind in der That nur in beschränktem Maasse für den Er- folg gewährleistend. 1) s. Teil VII meiner »Studien«. 145 Von den inneren Induktionen erscheint die Berührungs- induktion als die unsicherste, wofern sie nicht, wie in einem von uns genannten fiktiven Beispiel (S. 61) zugleich mit chemotropischen Wirkungen auftritt. Wenn aber etwa Wander- zellen sich regellos bewegen und Berührungsreize auslösen, so kann wohl nichts typisches resultieren: freilich wird das eben nicht statthaben, wenn typisch-geordnetes resultieren soll. Alle übrigen inneren Induktionen resultieren aus Be- ziehungen der Teile des Ganzen zu einander, insofern dieses ein starres System ist; sie umfassen das, was ich früher Position nannte; da das starre System seinen Ursprung von dem typischen Eibau nimmt, so ist auch das Auftreten so induzierter Elementarvorgänge wohl stets nach Ort und Zeit ein typisch gesichertes. Trotz der Sicherheit ihres Effektes regen nun aber die Positionswirkungen, wie wir sie der Bequemlichkeit halber jetzt wieder nennen wollen, in anderer Hinsicht doch Zweifel an ihrer vollendeten Zweckmässigkeit an. Man schreibt der Natur die Befolgung einer Lex par- simoniae zu. Befolgt sie dies Gesetz in jedem einzelnen Falle oder nur in dem allgemeinen Charakter ihrer Natur- gesetze, ihrer Ideen? Wenn ein Haus während des Baues halb einstürzt, so wird man nicht die stehen gebliebene Hälfte fertig stellen und das Ganze dann seinem Schicksal überlassen. Das thut aber die Natur. Wenn, wie oben erörtert, der Darm einer Seeigellarve nach aussen gewachsen ist und dann abstirbt, dann bildet sich die Körperwandung doch lange Zeit hindurch typisch weiter und erhält sogar einen Mund. Trotzdem ist die Larve dem Tode geweiht. Driesch, Analytische Theorie. 10 146 Hier verschwendet also die Natur Entwicklungsenergie, wenn der Ausdruck erlaubt ist, im einzelnen Falle, um dafür im Grossen und Ganzen die einzelnen Teilprozesse des normalen Geschehens um so besser, d. h. eben durch Position zu sichern; diese allgemeine Sicherung geht ihr vor gegenüber einzelner Verschwendung. Bei geregelter Berührungsinduktion (ef. Herbst) dagegen will sie jedes- mal entweder das typische Ganze oder nichts. Hier ver- schwendet sie also nie, dagegen bietet diese Induktionsart, wie erst erörtert, nicht ohne weiteres die gleiche Garantie für typischen Effekt wie die Position. Bei Position also sowohl wie bei Berührungsinduktionen stehen die Teile des Organismus in gewisser Hinsicht in Beziehung zu einander: aber bei ersterer nur eine Anlage zu einer anderen, bei dieser ein ausgebildetes Organ zu neuer mit ihm später eine Einheit bildender Anlage; ist hier das Organ nicht fertig da, dann bildet sich auch die neue ohne dasselbe unnütze Anlage nicht, während dort die beiden Anlagen ihre wei- teren prospektiven Potenzen grösstenteils unabhängig von einander entfalten, auch wenn sie später teilweise berufen sind, ein einheitliches Ganze zu bilden. Würde es nun wohl zweckmässiger sein, wenn sich der Mund des Echinidenpluteus auf einen Berührungsreiz vom Darm hin bildete? Zweckmässiger von unserem Standpunkt aus wohl, denn es könnte nichts verschwendet werden — aber auch krämerartiger. Die Natur will die Realisation ihrer Ideen sichern; die einzelnen Individuen sind ihr gleich- gültig. Also 'keine lex parsimoniae ? Dritter Hauptteil. Die Entwieklungstheorie, gemessen am Prüfstein der Erkenntnislehre. $ 1. Rekapitulation und Aufstellung des Problems. »Erklärung« nennen wir's: aber »Beschreibung« ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet, Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten. F,. Nietzsche, Fröhliche Wissensch. 112. Die Vorgänge der Entwicklung setzen sich aus einer Reihe von in ihre letzten Elemente zerlegbaren und, soweit sie Veränderungen sind, kausal nach Art von Reizeffekten auffassbaren getrennten Erscheinungen zusammen; eine solche Analyse der Entwicklung lässt jedoch sehr vieles unver- standen und über diesen kausal unauflöslichen Rest vermag nur die teleologische Beurteilungsart ein gewisses Maass von Einsicht zu verbreiten. Zu diesem Schluss drängte uns unsere bisherige Untersuchung. Es ist nun schliesslich noch unsere Aufgabe, zu zeigen, dass dieses unser Resultat in jedem seiner beiden sich er- gänzenden Teile den Forderungen der Erkenntnistheorie entspricht; indem wir ferner zeigen werden, dass es das in höherem Maasse thut, als irgend eine andere Theorie der Entwicklung, werden wir gleichzeitig den Leser zu seiner | 10* 148 Annahme und zur Verwerfung jener anderen Theorien philo- sophisch zwingen, wie wir ihn in der Einleitung natur- wissenschaftlich dazu gezwungen haben. Wir betonen zunächst die kausale Seite unserer Theorie nochmals besonders scharf: unsere Grundansicht zwingt uns für jede am Keim auftretende Veränderung eine (in oder ausser ihm gelegene) Causa zu postulieren; mag dieselbe auch noch so sehr den Charakter der Auslösung, des An- stosses haben, mag sie auch für den Vorgang, der sich neu abspielt, nicht mehr sein, als glimmende Zigarrenasche für eine Explosion, sie muss da sein. Kausalloses Geschehen kann es für unser Erkenntnisvermögen nicht geben. Die Ordnung der Causae und Effekte in Raum und Zeit und nach Qualitäten dagegen fordert die teleologische Betrachtungsweise heraus. Es dürfte nicht überflüssig sein, diese fundamentalen Beziehungen unserer Theorie zu unserem Erkenntnisvermögen vor aller Detailerörterung nochmals an einem Beispiel zu erläutern; wir wählen dazu den teleologischen Vorgang der Selbstregulation, welcher bei Störungen der Entwicklung in Erscheinung tritt. Ist eine Blastomere des Eies von Amphioxus isoliert, so bildet sich ihr Bau so um, dass er demjenigen des Eies in verkleinertem Maasstabe ähnlich wird; wird dem Triton ein Bein abgeschnitten, so sprossen so lange Zellen aus der Wundfläche hervor und differenzieren sich in solcher Weise, dass das Ganze wieder resultiert; bei Wasser-Ranunkeln verlängern sich die Blütenstiele jedesmal bis über den Wasserspiegel hinaus, mag er hoch oder tief sein. Wie gestaltet sich die analytische und kausale Betrach- tung dieser Vorgänge ? 149 Das Protoplasma der Blastomere des Amphioxus besitzt einen bestimmten physikalisch-tektonischen Zustand, welcher es mit sich bringt, dass in ihm nach vorgenommener Isola- tion Verschiebungen auftreten. Wir wissen über den Zustand nichts genaues, können jedoch zur Veranschaulichung an einen elektrischen Zustand der kleinsten Teilchen denken; als Analogie können wir ferner die Substanzumlagerungen in einem gedrehten Amphibienei heranziehen (S. 25). Die Gewebe des Tritons besitzen die als elementar anzusehende Fähigkeit, sobald sie, ihrer Nachbarschaft be- raubt, frei endigen, ihresgleichen in typischer Weise hervor- sprossen zu lassen; die Existenz der Wundfläche löst diese Sprossung aus. Die Blütenstiele des Ranunculus besitzen eine eigen- artige chemisch-physikalische Natur und einen eigenartigen Bau, vermöge welcher Eigenschaften sie von Wasser um- geben fortgesetzt wachsen, in der Luft aber das Wachsen einstellen. Das sind drei Analysen der in Frage stehenden Er- scheinungen in ihre zunächst letzten Elemente qualitativer und kausaler Natur. Ja wir erwarten sogar von der Zukunft, dass sich diese Analysen aus ganz klaren und deutlich greif- baren chemischen, physikalischen und tektonischen Elementen zusammensetzen werden, und dass innerhalb der Analyse auch nicht der geringste Schein einer teleologischen Be- trachtungsart zu finden sei; schon jetzt sehen wir im Froschei die geschilderten Umordnungsvorgänge in sehr einfacher Weise, auf Grund der Anwesenheit von Substanzen differenten spezifischen Gewichtes im Ei verlaufen, und es liegt durchaus kein Grund vor, hier immer an grösste Kompliziertheiten zı denken, wie es neuerdings beliebt ist. 150 Warum aber ist nun jener Bau der Blastomere ein solcher? Warum löst die Existenz der Wundfläche typische Sprossungen aus? Warum hat der Blütenstiel jene Eigen- schaften? Das wissen wir, seien auch die Verhältnisse noch so einfach und durchsichtig, nicht. Wohl sehen wir aber, dass die beiden ersten Erscheinungen denselben typischen Effekt haben, die Herstellung des typischen Ganzen, und dass die letzte die Fortpflanzung der Art ermöglicht. Wenn wir da die Erscheinungen dem teleologischen Begriff der Selbstregulation unterordnen, so wird also unsere Erkenntnis, wennschon sie nun aus zwei heterogenen Bestandteilen gemischt ist, doch zu einer Vollständigkeit gebracht; wir haben, kurz gesagt, nun nichts mehr zu fragen. In dieser Hinsicht ist die klare Einsicht, dass der Natur vor allem am Ganzen, am Resultat der Entwicklung gelegen sei, wahrlich nicht wertlos. Hüten müssen wir uns nur vor einer Vermengung kausaler und teleologischer Be- griffe. Wir können es daher nicht billigen (vgl. Anhang 4), wenn Roux in seiner Aufzählung der Elementarleistungen der Organismen!) die Selbstregulation der Teilung und Assimilation koordiniert aufzählt; in Wirklichkeit setzt sich erstere aus letzteren bei gewisser gegebener Struktur zusammen. Sie ist etwas ganz anderes, vielleicht höheres. Ja die Frage, ob denn nun das kausal-analytische oder das teleologische Element unserer Einsicht das Wesentlichere von beiden sei, könnte uns wahrlich in Verlegenheit bringen. 1) Auch schon früher; z. B. in Beitrag I heisst es, dass er in der »Selbstregulation die wesentlichste allgemeine Eigenschaft des Or- ganischen erblicke«. Ganz recht, aber eine teleologische Eigenschaft. 151 $ 2. Die Prüfung der Theorie von Roux und Weismann und die Abweisung dieser Theorie. Wir gehen dieser Frage jedoch zunächst aus dem Wege, um auf einen Punkt der Einleitung unserer gesamten Be- trachtungen zurückzukommen: es gilt der idealistischen Prüfung der Entwicklungstheorie von Roux und Weismann, der Prüfung derselben am Maasstab der Erkenntnistheorie. Die reale Prüfung dieser Theorie, ihre Prüfung an den Thatsachen, ergab, dass sie des äussersten unwahrscheinlich sei, dass sie den Thatsachen die äusserste Gewalt anthat, dass sie alles auf den Kopf stellen musste, während unsere Grundansicht mit wenigen der Verifikation zugänglichen Hypothesen operierte. Aber Unwahrscheinlichkeit ist noch keine Unmöglichkeit, und wir müssen zugeben, dass die Roux-Weismann’sche Entwicklungstheorie logisch möglich ist, dass sie keine inneren Widersprüche birgt. Aber diese Theorie leistet zu wenig in kausaler Hin- sicht, sie macht mit der kausalen Auffassung des Geschehens früher Halt, als nötig ist. Roux und Weismann lassen alles typische Geschehen der Ontogenese, von Einschränkungen!) Roux’, die nicht die eigentliche Organanlage betreffen, und von den Erschei- nungen der Dichogenie (Kap. III, $ 11) abgesehen, ledig- lich und vollständig durch die Befruchtung (oder, bei parthenogenetischen Eiern, durch ihren Ersatz) in Gang ge- setzt werden. Die Befruchtung ist für sie im normalen Ge- schehen die einzige Auslösung, die für die vollständige Inszenierung des ganzen ontogenetischen Anlageprozesses in 1) Vgl. Anm. auf S. 4. 152 Frage kommt. Das Ei ist nach dieser Ansicht also derart abgestimmt, dass es mit einer Folge typischer, typisch ge- ordneter im Verlaufe von einander unabhängiger Teilungen und Differenzierungen!) antwortet, d.h. die gesamte Onto- genese ist ein einziges, einheitliches Problem für die For- schung; sie ist nicht analysierbar oder vielmehr ihre Analyse führt auf einen Bestandteil, was dasselbe heisst. Das heisst aber mit anderen Worten: es ist das Entwicklungs- problem?) von allem Anfang an als ein Ganzes hinzu- nehmen und es ist, ausser Konstatierung dieser Thatsache der völligen Auslösung derselben lediglich durch die Be- fruchtung, keine weitere kausal-analytische Einsicht über dasselbe zu gewinnen; es lässt sich nur in an- schaulicher Weise umschreiben, wie das von Weismann ausführlich geschehen ist. Auch wir nehmen naturgemäss eine Summe von Anlagen im Ei an, aber wir nehmen in ihm nur eine beschränkt geartete Form an; Roux und Weismann dagegen wollen eine Struktur, die sich succes- sive bildet — wir können sagen, die genetische Form des Organismus — erklären aus einer Struktur, welcher die Fähigkeit eines typischen Entfaltungsrhythmus inhäriert, während sie in Wahrheit eben wegen der Annahme 1) Es soll also durchaus nicht geleugnet werden, dass mit der fraglichen Ansicht eine Analyse in Elementarvorgänge chemischer Art sehr wohl verbunden sein könne, aber die Elemente dieser Analyse würden unter sich in keinem Kausalnexus stehen, sondern in ihrer Reihenfolge lediglich von jener hypothetischen ungleichen Kernteilung abhängen. 2) Um allen Einwänden Roux’ zu begegnen, erinnere ich zum zweiten Mal an die Anm. auf S.4 und sage nochmals, dass mich nur seine »erste Periode« der Entwicklung hier angeht. 153 dieser Inhärenz der Entfaltungs-»Kräfte« nichts als gleichsam eine Photographie des Problems liefern. Beide Forscher fassen den Begriff des Normalen äusserst eng, und sie müssen ihn so eng fassen. Liegen Alterationen der Entwicklung irgend welcher Art vor, also nicht nur echte Regeneration, sondern auch Verlagerungen der ersten Zellen, wie in meinen Versuchen, so sind Hilfsannahmen zu machen. Diese »Hilfsmechanismen«, die dann in Kraft treten, sind nun zwar nicht durch die Befruchtung, sondern durch den Eingriff ausgelöst, aber auch wiederum als Ganzes, und, was be- sonders zu bemerken ist, es lässt sich über ihr Wesen durchaus keine andere Einsicht gewinnen, als die- jenige, dass es auf Grund ihres Vorhandenseins möglich ist, dass das folgende geschieht, d. h. sie sind auch nur veranschaulichende Umschreibungen, aber keine Analysen. Roux und Weismann sehen, streng genommen, in der Ontogenese nur ein teleologisches Problem: das Ei ist so beschaffen, dass sich der Organismus bilden muss, das ist alles, was sie aussagen, wennschon sie das eigent- lich teleologische dieser Ansicht nicht zugeben; sie ist darum aber im Grunde doch teleologisch, wenigstens lässt sich, wenn man überhaupt reflektieren will, nur in dieser Weise über den Begriff der Zusammensetzung des einzelnen aus unabhängigen Teilen, welcher bei Roux und Weismann als »Mosaikarbeit« und »Selbstdifferenzierung« ja nahezu allein eine Rolle spielt, eine Einsicht gewinnen; und was kennt Roux von seinen »Hilfsmechanismen« anders als ihren Zweck? Bezeichnet er sie doch selbst stets als Mechanismen der Selbstregulation. Da nun eine andere Ansicht, als die soeben skizzierte, von den Entwicklungsvorgängen möglich ist, nämlich die 154 meinige, welche, obschon auch an vielen Punkten vor Un- verständlichkeiten Halt machend, doch zu einer Analyse derselben in kausale und qualitative Einzelelemente vor- dringt, so müssen wir allein unserer methodologischen Prin- zipien wegen diese Ansicht annehmen, und diejenige von Roux und Weismann verwerfen. Ich sage zwar auch, um an oben gebrauchte Worte an- zuknüpfen: das Ei ist so beschaffen, dass sich der Organis- mus bilden muss; ich sage sogar, damit er sich bilde, was jene zu sagen sich scheuen, aber ich sage: diese Folge- zustände des Eies sind eine Reihe einzelner chemischer und physikalischer Vorgänge, die, wennschon ihres qualita- tiven Charakters wegen nicht eigentlich kausal erschöpfbar, doch nach Analogie der Reizwirkungen ursächlich aufgefasst und analysiert werden können; auch den Begriff der Selbstregulation zerlege ich analytisch in letzte Bestandteile tektonischer und physikalischer Art. Wir müssen also die Theorie von Roux und Weismann verwerfen, weil sie früher als notwen- dig unsere Kausalauffassung der in Rede stehen- den Vorgänge abschneidet, weil sie zu früh ver- zichtet. Wir müssen das aus demselben Grunde, wie wir — um das Ganze am Einzelnen zu verdeutlichen — die Begriffe der »Faltung« und »Abschnürung« nicht für elementare mor- phogene Prozesse halten dürfen, da uns die Möglichkeit ge- geben ist, solche elementare Prozesse aufzufinden, aus denen diese sich aufbauen. Sollte man uns aber diesen Gedankengang nicht zu- geben, so würde das zeigen, dass man die Begriffe der 155 Analyse und der Veranschaulichung, der Umschrei- bung verwechselt. Gewisslich hat Kirchhoff Recht, wenn er sagt, dass es nur wissenschaftliche Aufgabe sein kann, die Erscheinungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben, das heisst die für uns letzten Elemente eines Gebietes aufzu- suchen und es daraus zusammenzusetzen; gewisslich können wir in keinem Gebiete über eine Reihe empirischer Data hinaus. Eben aus diesem Grunde haben wir das dunkle Wort des »Erklärens« immer vermieden. Aber diese Art des Beschreibens d. h. Analysierens ist etwas anderes als das Umschreiben eines nicht ana- lysierten Problems. Freilich können wir auch ein endgiltig »beschriebenes« Gebiet »umschreiben« d. h. anschaulich machen; das thut z. B. die kinetische Gastheorie, die Optik, die Chemie. Eine solche Umschreibung aber dient wirklich nur zur Veranschaulichung, zur leichteren Fasslichkeit, zur Gewinnung von Einheitlichkeit; gewonnen an neuer Ein- sicht, an neuer Analyse wird durch die bewegten Gas- moleküle, durch den Äther, durch die Atome nichts und die mechanische Wärmetheorie, sowie die Theorie der Elasti- zität stehen nieht etwa darum tiefer, weil sie ihre Elementar- einsichten nicht umschreiben. Aber die Gebiete, in denen diese drei Fiktionen!) eine Rolle spielen, waren auch be- reits analysiert, ehe die Umschreibung begann. Für ein nicht endgiltig analysiertes Gebiet ist da- gegen Umschreibung eine direkte Gefahr, denn sie täuscht uns in blendender Weise eine Einsicht vor, 1) Fiktion ist eine Annahme, welche, im Gegensatz zur Hypo- these, bewusstermaassen ausserhalb der Möglichkeit der Erfah- rung liegt; die akustische Theorie verwendet also keine Fiktion. 156 wo gar keine vorhanden ist. Weismann’s Buch hat wahrlich viele geblendet! Die typische Zerlegung seines Keimplasmas in Deter- minanten und weiteres sagt aber nichts weiter, als dass sich eben der Organismus successive in typischer Weise ent- wickelt; jene berühmte einschläfernde Kraft des Opiums leistet genau dasselbe an Gewinn von Einsicht. Wir dürfen uns also nicht frühzeitiger Umschreibung der Thatsachen hingeben, sondern müssen uns ihrer Analyse befleissigen, da wir gesehen haben, dass sie mög- lich ist. Liesse sich nun aber nicht unsere analytische Theorie der Entwicklung in fiktiver anschaulicher Weise darstellen ? Ich zweifle nicht, dass das möglich wäre, und habe in diesem Sinne oben einige Andeutungen gegeben (Kap. HI, $ 9). Eine detaillierte fiktive Darstellung meiner Ansicht würde ich aber für gänzlich verfehlt halten (vgl. Anhang 6) und zwar aus folgenden Gründen: wenn wir auch eine vorläufig endgültige Zerlegung der Entwicklung in ihre letzten Fak- toren anstrebten, so wäre es doch vermessen zu sagen, dass sie eine absolut endgiltige sei. Unsere Kenntnisse von der Zelle, in Hinsicht auf Bau sowohl, wie in Hinsicht auf Che- mismus, sind zur Zeit noch viel zu dürftig. Man verstehe mich nicht falsch: was gegenwärtig Grenze der Erkennt- nis ist, wird auch Grenze der Erkenntnis bleiben, auf unvermittelt dastehende elementare Faktoren verschie- dener Kategorien wird auch eine künftige kausale Ent- wicklungsanalyse stossen, aber diese Faktoren werden viel- leicht andere sein und sich vielleicht in jeder Kategorie an Zahl reduzieren lassen. Auch wenn sie nicht endgültig ist, hat meine Theorie 157 einen grossen Vorteil vor derjenigen Roux’, denn sie ope- riert lediglich mit Hypothesen, die der Verifikation zugäng- lich sind: kurz, sie ist fruchtbar, die Theorien von Roux und Weismann aber, welche mit ad hoc ersonnenen Phantasiegebilden operieren, sind unfruchtbar (Anhang 8). $S 3. Von dem Verhältnis des kausal-analytischen Teiles meiner Theorie zur Lehre von den Kategorien. Es gilt nun unsere Lehre in Hinsicht auf ihren logischen Wert noch etwas näher zu betrachten: vergessen wir da nicht die fundamentale Einsicht, dass der Natur- forscher nicht das Wesen der Dinge kennen lernen kann und, wenner besonnen ist, auch nicht kennen lernen will, sondern dass seine Aufgabe lediglich die sein kann festzustellen, wie sich die Erschei- nungen in das Schema der aprioristischen Be- gsriffe der Anschauung und des Denkens einordnen lassen. Es kann als Postulat jeder Wissenschaft, welche auf Vollständigkeit Anspruch macht, angesehen werden, ihre ge- samten Probleme an der Hand der »Tafel der Kategorien« zu erläutern und sie deren Gliedern zuzuordnen. Von Wi- gand ist (Band II, Anhang Nr. 11) eine derartige Andeutung ausgegangen. Ich will hier ebenfalls nur andeutungsweise darauf hinweisen, wie sich unsere Analyse der Entwicklung jenen Kategorien zuordnen lässt, wobei ich eine Kritik der- selben im einzelnen unterlasse!). 1) s. Schopenhauer, Welt als W. u. V. Band I. Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie. 158 Es handelt sich ganz vorwiegend um die Kategorien der Relation. Da wir die Verschiedenheit der Typen nicht in Betracht ziehen, also keine Systematik treiben, so fällt die Kategorie der Disjunktion fort. Der Kategorie der Kau- salität genügen wir, wie oft erörtert, wenn wir für jede Ver- änderung im Lauf der ÖOntogenese eine Ursache fordern, mag sie auch auslösenden Charakter haben. Die Kausalitäts- kategorie nötigt uns, anders gesagt, jedesmal nach einer Ursache zu fragen. In einem eigenartigen Lichte zeigt sich die Bedeutung der Kategorie der Inhärenz: sie nötigt uns jedesmal zu der Frage nach einem Subjekt. Wenn wir eine Empfindung haben, so müssen wir fragen: »was erregt sie«, wir kommen im Anorganischen auf diesem Wege zur Konstruktion des Stoffbegriffs als Träger seiner Eigenschaften, zu der Konstruktion der Materie. Im Organischen fragen wir bei jeder Veränderung: »was verändert sich?« und gelangen so mit Notwendigkeit zu der Annahme, dass »ein Stoff« sich ver- ändere, wir gelangen dazu das Ganze der Entwicklung an einen »Stoff« gebunden zu denken, die Ansicht von dem Keimplasma enthüllt sich uns also als eine er- kenntnistheoretische Notwendigkeit. »Sie ist gar keine Hypothese, ebensowenig wie die Annahme einer Ur- sache für jede Veränderung im allgemeinen eine Hypothese ist, sondern entspringt einem aprioristischen Begriffe, der »allererst Erfahrung möglich machte. Wie aber das Keimplasma der »stoffliche« Träger der gesamten Entwicklung ist, so ist jeder einzelne der Ele- mentarprozesse, welche diese zusammensetzen, an einen einzelnen spezifischen »Stoff« gebunden, wie wir denn (Kap. I, $ 4) sagten, dass jede morphologische Änderung im Grunde 159 eine physikalische, als solche aber in letzter Instanz eine chemische Änderung sei; wir hätten auch sagen können: die morphologischen Änderungen (z. B. Wachsen) sind Folgen einer Änderung von physikalischen Konstanten (z. B. osmo- tischen Drucks), eine solehe aber nennen wir eine Änderung des Stoffes. Also auch unsere Analyse der Entwicklung in chemisch Letztes ist keine reine Hypothese, sondern eine Notwendigkeit, hypothetisch wird unsere Auffassung erst in ihrer einzelnen Gestaltung. In Bezug auf den anorganischen Materienbegriff ist diese Ansicht bei einsichtsvollen Forschern (z. B. Ostwald) seit lange Allgemeingut des Wissens: auch sie ist, wie fast alles Gute, nicht neu. Unsere Analyse der Entwicklungsvorgänge in kausales Geschehen und einzelne qualitative Effekte, welche wir in letzter Instanz chemisch, also »stofflich« nannten, hat also durch unsere Erörterung ihre logische Berechtigung erhalten, der wir noch hinzufügen können, dass die Verteilung der Effekte in Raum und Zeit einer Nötigung unseres An- schauungsvermögens entspringt. Es könnte jetzt einer die Frage aufwerfen, in welchem Verhältnis denn das, was wir eine kausal-analytische Be- trachtung der Entwicklung, oder Entwieklungsmechanik im allgemeinen Sinne nannten, zum allgemeinen Charakter der anorganischen Naturforschung stehe. Die Physik nennt man bekanntlich Wissenschaft des Mechanismus, indem in der That jeder ihrer Teile sein Pro- blem als besonderes Bewegungsproblem, also als quanti- tatives Problem fasst. Die Qualität der einzelnen Natur- kräfte soll damit nicht aus der Welt geschafft werden, was ja schon daraus erhellt, dass es in jedem Gebiet eine 160 besondere Bewegungsart ist, die untersucht wird. Die Auffassung aller »Kräfte« als spezifischer Bewegungen dient vielmehr nur dazu, die Probleme der mathematischen Be- handlung möglichst zugänglich zu machen, insofern haben hier auch Fiktionen ihre Berechtigung. In der Chemie spielt nun der Mechanismus in diesem Sinne nur mehr eine verschwindend kleine Rolle, nur die Affinitäts»kraft« liesse sich vielleicht als quantitativ messbare Energieart in diesem Sinne behandeln; alles Qualitative der chemischen Körper aber ganz und gar nicht. Ein chemischer Stoff ist eine Summe stets mit einander verbundener physi- kalischer Konstanten (Ostwald), was hat das mit Bewegung zu thun? Dadurch, dass die Entwicklungsmechanik in ihrer Ana- lyse vorwiegend auf chemisches Geschehen stösst, ist schon gesagt, dass ihr Problem kein Problem des Mechanismus ist. Sie geht aber ausserdem von einem formal Geordneten, dem Ei aus und dieses Formale schafft die spätere Endform; selbst wenn wir uns auf den Standpunkt wahrer äusserer Epigenese stellen wollen, also (um uns unserer Fiktion zu bedienen) die in jedem Kern gleicherweise befindliche Ge- samt»anlage« ein richtiges strukturloses Stoffgemisch sein lassen, so muss doch eine Ausgangsform da sein, wenn eine Endform da ist. Freilich nimmt die kausale Entwicklungs- mechanik als solche dieses Morphologische ihres Problems als gegeben hin, sie beginnt gewissermaassen erst hinter dem Morphologischen, insofern ist sie nicht selbst Morpho- logie!). Aber dass die Bezeichnung »Entwicklungsmechanik« 1) Vgl. meine »Biologie« $ 7—9. Die eigentliche Morphologie oder Systematik reflektiert über das in jedem einzelnen Falle spezi- fische der Form oder besser der »genetischen Form«. Die Physio- 161 auch in diesem Falle keinen wahren »Mechanismus« be- deutet, hoffen wir dem Leser klar gemacht zu haben. Dass wir den Namen anwandten, geschah aus histo- rischer Hochachtung gegen seinen Autor. Entwicklungs- mechanik heisst uns die kausal-analytische Behand- lungsart der Ontogenese. $ 4. Von der Berechtigung des teleologischen Teiles meiner Theorie, vom Wissen in teleologischen Dingen. Aber nicht nur unsere Analyse, sondern auch unsere teleologische Synthese der Entwicklung wollen wir auf ihre Berechtigung hin prüfen. Was wir an der Entwicklung teleologisch auffassen, ist ausführlich erörtert: es ist, kurz gesagt, jenes Morphologische, das die kausal- analytische oder entwicklungsmechanische Forschung als gegeben hin- nimmt, also alles dasjenige, wovon die Qualität der einzelnen Effekte und deren Harmonie im Ganzen in einer uns zwar auch im einzelnen nicht verständlichen Weise abhängt: Das Ei ist gleichsam von einer Intelligenz gebaut wor- den. Oder wenn wir weniger den Ausgangspunkt des Ge- schehens als dieses selbst betrachten, können wir auch sagen: die Ordnung der von uns analytisch aufgedeckten Einzel- heiten dient einem Zwecke; oder in unserer Sprache (Zweiter Hauptteil, $ 5): der Bildungstrieb benutzt Ursachen und Quali- täten zu einem Zwecke, indem er sie ordnet. Die teleo- logische Betrachtung kommt also zur Analyse hinzu, aber logie untersucht, wie die Formmaschine arbeitet, speciell wie auf Grund ihrer physikalisch-chemisch-strukturellen Natur äussere Agen- tien umgewandelt werden. Physiologie ist also Lehre der Maschinen- funktion, Entwickelungsmechanik Lehre vom Maschinenbau — aller- dings baut die Maschine sich selbst. Driesch, Analytische Theorie. 11 162 nicht als Schlussstein, der sie krönt — dieser Schlussstein vielmehr war die Aufdeckung der ontogenetischen Harmonie (Kap. UI, $ 7—8) — sondern als Band, welches sie umfasst. Sie hat mit der Analyse selbst nicht das geringste zu thun und ist aus ihr auf das strengste zu verbannen. Es ist also ein dem kausal-analytischen durchaus fremder Standpunkt, dessen Berechtigung wir jetzt zu prüfen haben. Da die Zweckmässigkeit ein aprioristischer Begriff ist, seradeso wie die Kausalität, so folgt daraus eigentlich ohne weiteres die Gleichberechtigung kausaler und teleologischer Forschung. Da jedoch gerade teleologische Forschungen häufig der Missdeutung eines unkritischen Realismus ausgesetzt sind, so können wir doch nicht Abstand nehmen, hier eingehender zu werden. Man benennt teleologische Bestrebungen wohl mit dem Ausdruck metaphysisch; so hat Roux seine Ansichten ein »Umgehen metaphysischer Vorstellungen« genannt, und meine oben entwickelte Ansicht wird wohl auch als meta- physisch verschrieen werden. Ein solches Vorgehen würde aber ein Verkennen der Natur des Kant’schen Kritizismus an den Tag legen: Es muss nämlich aber- und abermals betont werden, dass die teleologische Auffassung der Dinge ebenso gut ein Postulat unseres Erkenntnisvermögens ist, wie die kausale; dass wir mit beiden gleichermaassen nicht die wahre Existenz der Dinge kennen lernen. Die Strömung unserer Zeit geht aber immer und immer wieder dahin, das kausale als das reale anzusehen und das teleologische als schwärme- tisch zu verdammen oder es wenigstens nicht als gleich- berechtigt gelten lassen zu wollen. Der Vorwurf — denn 163 ein solcher soll es sein —, dass etwas »metaphysisch« sei, soll ja doch nur heissen, dass das in Rede stehende von Dingen handle, von denen wir nichts wissen können. Wir können aber kausal und teleologisch von den Dingen gleich viel, oder auch gleich wenig wissen. Was wir von dem Bildungstrieb aussagten, dass wissen . wir genau so gut, wie alles, was sich über die Vorgänge der Induktionswirkung aussagen liess; nur ist dies Wissen anderer Art. Die Madonna della Sedia nimmt sich auf 1 cm Entfernung mit der Lupe betrachtet auch anders aus, als auf 5m Distanz. Das erste Mal sehen wir nur Klexe. Ist denn das Studium von Klexen wirklich die einzige Aufgabe des Biologen ? Kausale und teleologische Betrachtung sind also beide gleichberechtigt, sie sind aber, wie wir eingangs be- merkten, einander durchaus fremd und entgegengesetzt. Wie ich vom Gipfel eines Berges nur bergab und von seinem Fusse nur bergauf sehen kann, wofern ich den Berg über- haupt sehen will, so kann ich auch teleologisch nur Zweck- mässigkeiten und kausal nur Wirkungen in einem Form- prozess erkennen. Es wird Späteren als trauriges Charakte- ristikum unserer Zeit gelten, dass man die fundamentale Thatsache des Gegensatzes von Teleologie und Kausali- tät übersehen konnte, und dass die »kausale Erklärung der Zweckmässigkeit«, ein Wort, das weit grösseren Nonsens einschliesst, als von einer »optischen Erklärung der Wasser- synthese« zu reden, einst eine zeitgemässe, zum Überdruss oft wiederholte Phrase war!). Diese unsere Zeit begeh 1) Von einem — in beschränktem, vorsichtigem Maasse gewiss berechtigten — phylogenetischen Standpunkt der Auffassung aus, glaubt man wohl gar dadurch, dass man zeigt, wie Unzweckmässiges 112 164 fortgesetzt dieselben Fehler, nur nach entgegengesetzter Rich- tung, wie die von ihr so gern verspotteten Forscher der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Freilich thue ich unseren Zeitgenossen mit diesen Worten zu viel Ehre an, denn nicht, dass sie etwa eine wahre analytisch-kausale Biologie in falschem Wahne für einzig schätzenswert und berechtigt hielten, sondern sie haben gar keine solche Analyse, viel- mehr nur ein paar unbestimmte Worte, und wollen mit denen nicht nur die Analyse ersetzen, sondern gar die Teleologie entthronen — und dabei denken sie noch, sie erkennen das wahre Wesen der Welt. Um es zum Schluss noch einmal kurz und bündig zu sagen: die Teleologie betrachtet einen Trieb, die Analyse Kräfte: der Trieb ordnet die Kräfte. Alles hier Gedruckte ist in den letzten Kapiteln von Kant’s »Kritik der Urteilskraft« und auch gelegentlich von Schopenhauer mit grösster Meisterschaft dargelegt; es ist daher eine undankbare Aufgabe, es wieder und wieder zu erörtern. Aber die Modernen hören einen Lebenden immer noch lieber und eher als einen grossen Toten. $5. Von dem wahren Gültigkeitsbereich des Teleologischen. Es wird dem Verständnis des letzten Abschnittes dien- lich sein, wenn wir nochmals kurz auf seinen Anfang zurück- gehen. Ich sagte, wir beurteilten das gegebene Morpho- logische der Entwicklung, also in letzter Instanz ihren Ausgangspunkt, das Ei, teleologisch. nicht existiren könne, zugleich gezeigt zu haben, »warum« Zweck- mässiges existiere! Ist denn unsere Generation derartig degeneriert, dass sie die »Kritik der Urtheilskraft« absolut nicht mehr verstehen kann? 165 Hier sei es mir gestattet an entsprechende Ausführungen meiner »Biologie« zu erinnern: von der Physiologie sagte ich damals, dass sie wohl keiner besonderen Lebenskraft benötige, dagegen Mechanismus auf Basis von Struk- tur sei, d. h. ihre Erscheinungen spielen sich auf einer ge- gebenen Struktur mit Hilfe der bekannten (oder auch noch unbekannten, aber nicht prinzipiell neuartigen) Agentien der Physikochemie ab. Aber eben diese morphologische ge- gebene Basis, sagte ich weiter, schafft das Zweckmässige; sie ist zweckmässig, fordert den Zweckgesichtspunkt heraus. Ich bemerke, dass in dem Begriff der morphologischen Struktur etwaige typisch verteilte chemische Differenzen ein- geschlossen sein sollten. Das physiologische Geschehen (die »Funktionalharmonie«) war also dem Getriebe einer Maschine zu vergleichen. Ich bitte nun zu beachten, dass die Anwendung des Zweckbegriffes in der Entwicklungstheorie derjenigen in der reinen Physiologie sehr ähnlich ist; hier ist nämlich auch eine Struktur »gegeben«, nämlich der typische Eibau, der ja nicht nur Ursachen, sondern auch typische Empfangsstationen (S. 84) für Ursachen repräsentiert, und der Kern, ein Ge- misch von Stoffen nach unserer fiktiven Ansicht. Es ist also auch gleichsam eine Maschine gegeben, freilich eine vorwiegend chemische Maschine, aber doch etwas typisch formales; nur dass diese Maschine nicht, wie in der Phy- siologie, als Basis für Kraft- und Stoffwechsel dient, sondern vermöge der in ihr ausgeprägten »Kausal-« und » Kompo- sitionsharmonie « (s. S. 130) selbst als Leistung eine neue weit kompliziertere Maschine produziert. Der Leser mag diese Parallelen noch weiter ziehen; mir liegt hier nur an einem, nämlich den Begriff des 166 typisch-spezifisch Formalen, des Geordneten, welches stets der kausalen wie der deduktiven Forschung »gegeben« ist, als eigentliche Domäne der Teleologie darzuthun. Auf Basis dieses »„&@egebenen«, dieser »Maschine« verstehen wir mit Hilfe von Chemie und Physik die Funktion prin- zipiell sehr wohl kausal'), ’ nicht minder die Leistung der entwicklungsmechanischen als die der physiologischen »Ma- schine«, wobei freilich durch den chemisch- qualitativen Charakter des Geschehens eine neue andere Art der Un- verständlichkeit im einzelnen dazukommt, welche jedoch, wohl verstanden, keine den Formproblemen als solchen spezifische Unverständlichkeit ist. Aber das »Gegebene« selbst vermögen wir nur teleologisch zu verstehen. Schon oben ist betont (S. 149), dass auch die allerein- fachste Struktur, eben weil sie doch einmal eine Struk- tur ist, kausal gegeben ist und teleologisch beurteilt werden muss, und es wurde erwähnt, dass solche wirkliche sehr ein- fache strukturelle Beschaffenheiten, mit einem gewissen phy- siko-chemischen Zustand verbunden, oft gerade da vorliegen mögen, wo die Selbstreparabilität der entwiecklungs- mechanischen Maschine so ganz eminent zweckmässig ist. Ja, wenn auch nur zwei differente Stoffe zu einfachster aber typischer Formeinheit verbunden in der Natur gegeben sein würden und stets einen bestimmten Folgeeffekt erzielten, müssten wir den teleologischen Gesichtspunkt heranziehen, denn schon das allereinfachste Geordnete und in diesem Sinne Formale ist kausaler Erkenntnis nicht zu- gänglich. 1) Es ist bei dieser rein abstrakten Erörterung vorausgesetzt, dass die elementaren vital-chemischen und vital-physikalischen Vor- gänge (Atmung, Bewegung etc.) der anorganischen Physikochemie nicht prinzipiell fremd seien. Wir wissen darüber nichts. 167 Ganz allgemein gesprochen sind also »Kräfte« und »Stoffe« das Areal der kausalen, »Formen« dagegen das- jenige der teleologischen Betrachtung!). Der förmliche Beweis für alles hier und im vor- sehenden Paragraphen Gesagte ist aber dieser: Jede geordnete Form, d. h. jedes Beisammensein von Mannigfachem in bestimmtem Raum, ist deswegen in strengem Sinne kausal gegeben, weil der Begriff dieses Beisammen- seins von Mannigfachem in umschriebenem Bezirk mit dem Begriff der physikalischen oder chemischen Kraft (Energie) gar nichts gemein hat. Nur diese Kräfte nämlich existieren als einfache Ursachen im Weltgeschehen; sollten ihre Effekte verständlich sein, so müssten sie ihnen nun wenigstens im Grade gleichen (obschon sie auch dann, des Qualitativen wegen, noch unverständlich. sein könnten); weil nun jene Mannigfaltigkeit im Raum, da sie nicht einfach ist, ihnen im Grade nicht gleicht, so ist sie in Bezug auf sie, also in Bezug auf einfache Ursachen überhaupt, etwas prinzipiell Neues. Eine zusammengesetzte Ursache andererseits, wie es eine Münze für ihren negativen Abdruck in Wachs ist, ist selbst etwas Geordnetes im Raum, also das, was erklärt . werden soll. Die geordneten Formen nun könnten zufällig oder zweck- mässig sein; da sie im Organischen stets mit gleichen Folge- erscheinungen wiederkehren (mit den ontogenetischen nämlich, wenn wir dag Ei, mit den physiologischen, wenn wir das aus- gebildete Wesen ins Auge fassen), so sind sie hier zweck- mässig, während Inseln, Wolken, Gebirge als Mannigfaltig- 1) Dass »Form« im Sinne von geordneter, also nicht als geo- metrische Form (Krystalle) zu verstehen ist, wurde hinreichend betont. 168 keiten in bestimmtem Raum zufällig sind!). Können ferner letztere Formgebilde, wennschon nicht aus einer einzigen, so doch aus einer Reihe, einem Nacheinander von Wirkungen auf Grund der chemisch-physikalischen Kenntnisse verstanden werden, und kann man sich hier dieses Nacheinander der Effekte, wie in der Geologie, rekonstruieren, so bringt dagegen in biologischen Dingen auch dieser »historische« vom Ein- fachen zum Komplizierteren aufsteigende Standpunkt prin- zipiell nicht weiter, denn, wenn überhaupt, so ging diese Komplikation in einer Weise vor sich, die in Hinsicht auf das Formale nicht regellos ist, sondern an das Wirken einer Intelligenz gemahnt. $ 6. Ausblick auf eine Metaphysik der Formen. Ist, wie erörtert, Teleologie an und für sich nicht Meta- physik, so will ich dagegen nicht leugnen, dass sie es werden kann, ebensogut, wie aus der kausalen Betrachtungsart eine transzendente zu entstehen vermag. Für denjenigen, welcher auf dem Boden Kant’s und Schopenhauer’s steht, han- delt es sich da allerdings beidemale um Ausschreitungen der Vernunft. Aus dem von uns gebrauchten Ausdruck, dass die Ent- wicklung der organischen Körper eine derartige sei, als wäre dieselbe von einer Intelligenz geleitet, wird metaphysisch die Annahme einer realen solchen Intelligenz oder eines re- alen Bildungstriebes. Und aus der Ansicht, dass jede Ver- änderung eine Ursache haben müsse, welche aber nur quan- titativ (Gesetz der Erhaltung der Energie) in die Wirkung 1) Vgl. Anm. auf S. 130. 169 aufgehe, aber ihre Qualität als Rätsel übrig lasse, wird metaphysisch die Annahme einer Ursache des Seins über- haupt. Wenn wir nun aber in dieser Arbeit das Metaphysische verworfen haben und uns strenge an die Lehren unserer grossen Philosophen hielten, nach denen Kausalität und Finalität gleichermaassen Inhärentien unserer Subjektivität sind, so muss doch andererseits nochmals erwähnt werden, dass die Wissenschaft der organischen Formbildung denn doch ein ganz anderes Ding ist als etwa die dynamische und histo- rische Geologie. Wie kommt es, dass wir hier gar nicht nach Zwecken fragen, wenn doch kausaler und teleologischer Gesichtspunkt gleichermaassen berechtigt sind? Wie kommt es, dass uns die Form der Alpenberge und der Küsten des Mittelmeeres ohne Zögern als zufällig, d. h. nicht beab- sichtigt, nicht an und für sich bedeutungsvoll erscheinen ? Das liegt denn doch wohl im Objekt der Forschung selbst begründet, und so sind denn doch wohl die orga- nischen Formen selbst ein ganz ander Ding als die anor- ganischen Gebilde. Fragten wir doch früher schon, ob nicht für jene die teleologische Betrachtung die wesentlichere sei, d.h. ihr Wesen besser enthülle, als die kausal-analytische, welche hier auch die chaotische genannt werden kann und uns, ihrer prinzipiellen Berechtigung zum Trotz, im ganzen wie im einzelnen unbefriedigt liess, ja sich gleichsam nur auf der Oberfläche des eigentlichen Problems zu bewegen schien. Doch wir wollten dem kritischen Standpunkt in dieser Schrift treu bleiben. Anhang |. (Zu S. 9 u. 118.) Zum Begriff der Regeneration. Barfurth’s Arbeit über die Regeneration der Keim- blätter zeigt, wohin die Roux’sche Verflüssigung des Re- generationsbegriffes führt: er beschreibt an seinen Extraovaten fortgesetzt Erscheinungen, welche, wennschon nicht sehr deutlich ausgeprägt, doch der Roux’schen Fundamentalansicht durchaus entgegengesetzt sind. Es handelt sich nämlich immer darum, dass Zellen in den Extraovaten eine prospektive Be- deutung gewinnen, die sie in der Blastula nicht be- sassen, dass also »ihre prospektive Bedeutung eine Funktion der Lage« ist. Das nennt Barfurth nun ohne weitere Definition Regeneration! Von dem, was man sonst Regene- ration nennt, ist auf einer halben Seite (S. 324) und dort noch in unsicherer Weise die Rede. Barfurth weiss, um seine eignen Worte zu benutzen, wirklich nicht, »wo Entwicklung aufhört und Regeneration beginnt«e. Überaus deutlich zeigt das auch sein »Regenera- . tions«-Bericht in den anatomischen »Ergebnissen«. Ich möchte mir bei dieser Gelegenheit erlauben zu bemerken, dass die »Ergebnisse« doch dem Forscher eine Erleichterung bieten, nicht aber die Zahl der vorliegenden Arbeiten um eine neue, überflüssige vermehren sollen. Das thun sie aber, wenn sie 1 anstatt einer vorsichtig kritischen Darstellung des Geleisteten eine »Meinungs«- und »Überzeugungs«-Äusserung bieten und in derselben nur diejenigen Forscher zu Worte kommen lassen, die dem Referenten genehm sind. Ich erkenne den »Er- sebnissen« dieses angemaasste Recht der wissenschaftlichen Selbständigkeit nicht zu und ersuche in Zukunft jeden, der meine Resultate und Ansichten zu kennen wünscht, sich diese Kenntnis nicht aus den »Ergebnissen« zu holen — wenigstens nicht aus dem genannten Meinungsergebnis Barfurth’s —, sondern meine Arbeiten zu lesen. Anhang 2. (Zu S. 17 u. 93.) Zum Begriff der Selbstdifferenzierung. Mit dem Worte Selbstdifferenzierung kann man folgende Thatsachen und Alternativen bezeichnen: 1) Dass sich ein Ei als Ganzes nur aus in ihm liegen- den Kräften überhaupt entwickelt, wennschon äussere Agentien (Wärme etc.) dazu Vorbedingung sind. (Ohne Ent- wicklungsfähigkeit keine Entwicklung; ein totes Ei ent- wickelt sich nie und nimmer.) 2) Dass dasselbe von einem beliebig in’s Auge gefassten embryonalen Teil gilt. (Eine tote Blastomere entwickelt sich nie und nimmer.) 3) Dass das Ei sich als Ganzes nur aus in ihm liegen- den Kräften spezifisch entwickelt. (Ein Froschei wird nur zu einem Frosch.) 4) Ob sich ein beliebig in’s Auge gefasster Embryc- 172 teil nur aus in ihm liegenden Kräften spezifisch, d.h. zu einem bestimmten Ziele entwickelt oder nicht. 1) 2) und 3) sind allbekannte, ich möchte sagen triviale Thatsachen. In der zwischen Roux und mir stattgehabten Polemik handelte es sich nur um 4): ich bestritt, dass die einzelnen Blastomeren sich aus sich selbst nur zu einem spezifischen Ziele entwickeln könnten oder auch, dass die Furchung qualitativ ungleiche Stücke liefere. »Die Furchung ist keine Selbstdifferenzierung«, sagte ich, auch die isolierte Frosch- blastomere wird nur deshalb zu einem halben Frosch, weil ihr von aussen (nämlich durch die anliegende tote Eihälfte) eine bestimmte Form aufgezwungen wird, also nicht aus sich selbst allein wird sie zu einem typi- schen Resultat. Roux hat in den letzten gegen mich gerichteten Publi- kationen übersehen, dass nur diese vierte der oben gegebenen Bedeutungen des Wortes Selbstdifferenzierung eine Berechti- gung hat, dass nur sie nicht trivial ist, dass ich also, wenn ich von Selbstdifferenzierung sprach, nur diese Bedeutung (= Mosaikarbeit) im Sinne hatte und daher das Wort ohne nähere Erläuterung gebrauchen durfte. Im Sinne 3) ist Furchung naturgemäss Selbstdifferenzierung, denn »ohne Fur- chungsfähigkeit keine Furchung«, um es kurz zu sagen, und im Sinne 2) gilt das natürlich auch von jeder einzelnen Blastomere. Die ziemlich ausgedehnten Erörterungen und Definitionen Roux’, die bisweilen selbst die vier Bedeutungen jenes Wortes vermengen !), bisweilen auch mir eine Nichtkenntnis 1) So findet sich S. 670 der »Spezifikation« (Biol. Centr. XIII) folgendes: »Die Protisten sind gleich der befruchteten Eizelle der 179 jener vier Bedeutungen unterschieben, verfehlen also ihr Ziel; sie schaffen Schwierigkeiten, wo für die unbefangene Auffassung gar keine sind, denn diese hat bisher das Wort Selbstdifferenzierung stets zutreffend verstanden. Ich will gern zugeben, dass es, anstatt zu sagen: »Die erste Entwicklung ist keine Selbstdifferenzierung«, korrekter ist, zu sagen: »Bei der ersten Entwicklung findet Selbst- differenzierung der einzelnen Blastomeren zu bestimmten Stücken des Embryo nicht statt. Aber das ist alles, was ich Roux zugeben kann. Im Übrigen denke ich, ist der Begriff Selbstdifferen- zierung nunmehr zum Überfluss oft hin und her erörtert. Dass ich eine bedeutungsvolle Anwendung desselben durchaus nicht in Bausch und Bogen verwerfe, sieht der Leser in Kapitel II, $ 9. Anhang 9. (Zu S. 26.) 0. Hertwig’s Ansicht von der Entwicklung. Als die vorliegende Arbeit bereits seit längerer Zeit vollendet war, erschien das erste Heft von O. Hertwig’s Zeit- und Streitfragen: »Präformation oder Epigenese ?« Ich habe nach Lektüre desselben mit Absicht nichts am Texte meiner Arbeit geändert, möchte aber hier im Zusam- menhang über jene Schrift einiges sagen. Hauptsache nach vollkommen selbstdifferenzierungsfähig, denn in dem- selben Tümpel ... entwickeln sich die verschiedenen Protistenformen neben einander«. Ein Satz, der zur wirklich diskutierten Frage in absolut keiner Beziehung steht. 174 Der Inhalt der Hertwig’schen Arbeit deckt sich im Grossen und Ganzen mit meiner Einleitung, liefert also das, was ich als »Fundierung der Grundansicht« bezeichnen würde; eine wirklich analytische Behandlung der Entwick- lung auf dieser Grundansicht als Basis wird im Zusammen- hange nicht versucht. Hertwig hat diese Begründung der Fundamente seiner (und meiner) Ansicht weit umfassender dargelegt, als ich es hier, wo mir die Analyse als wichtigstes galt, versuchte; das gilt namentlich von den Beweisen für die Totalität der Vererbungssubstanz in jeder Zelle, welche ich nur nannte; in dieser Hinsicht, also auch in Hinsicht auf das Polemische, ist mir Hertwig’s Schrift eine willkommene Ergänzung. Wir begegnen uns hier in unseren Ansichten, und ebenso darin, dass wir uns für epigenetische Evolutionisten oder evolutionäre Epigenetiker, und dass wir die Roux- Weismann’sche Theorie für unfruchtbar erklären. Die wenigen Vorstösse zu einer Analyse, welche Hert- wig’s Schrift enthält, scheinen mir dagegen einer Klärung bedürftig. Einmal wird das eigentliche reine Problem der onto- genetischen Analysis nicht genügend von den Problemen der Diehogenie und Heteromorphose gesondert. Gerade die kausale Auflösung der einfachen normalen ÖOntogenese ist aber unser Hauptproblem. Wohl im Zusammenhang damit, dass eben dieses Pro- blem nicht genügend hervorgehoben wurde, ward auch der wahre Entwicklungscharakter der Formbildung, der letztinstanzlich in der Thatsache der Harmonie, im Rhyth- mus des Geschehens (Kap. III, $ 7—8) begründet liegt, und, kausal hinzunehmen, die teleologische Auffassung heraus- 175 fordert, übersehen; die Ontogenese erscheint bei Hertwig (wie auch bei Haacke, s. Anhang 8) als gar zu begreif- lich, wenn ich so sagen darf. Berücksichtigung des Teiles X meiner »Studien« hätte Hertwig vor diesem Irrtum be- wahren können. Der Vergleich der Entwicklung mit der Bildung eines Staatswesens passt nicht ohne weiteres, weil hier kein Ziel gegeben ist, ferner auch nicht, weil hier die Unabänderlichkeit dessen, was wir Rhythmus nannten, nicht konstatierbar ist. Die beiden »Beziehungen zwischen Form und Wachstum« sind keine wahren Elemente einer Analyse; die erste (S. 102 u. 103 der Hertwig’schen Schrift) handelt mehr von durch die Konfiguration des Ganzen bedingten Massenwir- kungen, also von Folgen des Wachsens, als vom Wachsen als örtlich und qualitativ ausgelöstem, elementarem Ge- schehen selbst. Es sieht ferner bei Hertwig so aus, als sei die Gastrula aus dem Eibau und der Thatsache des Wachsens ohne weiteres ableitbar (wie sich auch Goette und Haacke das vorstellen), während sie doch die Insze- nierung eines neuen an spezifischem Ort ist. Die zweite (S. 103 ff.) bringt eine teleologische Erörterung, welche an sich gewiss berechtigt ist, in eine angebliche Analyse hinein. Das Bemerkenswerteste des analytischen Teils von Hertwig’s Schrift ist im Abschnitt »Einwände gegen die Determinantenlehre« enthalten und besteht in der Erkenntnis, dass sich die, Ontogenese aus zellulärem Geschehen zusam- mensetzt, dass aber die elementaren zellulären Grössen auf einander wirkend neue Mannigfaltigkeiten höherer Ordnung erzeugen, dass also nur eine gewisse Summe von »Eigen- schaften« im Ei gegeben zu sein braucht. Freilich wird auch hier, um von anderem abzusehen, die »Wechselwirkung« 176 (kein schöner Begriff) der Zellen unter einander, und die Wirkung äusserer Agentien auf sie in einer Weise vorge- stellt, die gerade das Wesentliche jedes Vorgangs, die In- duktion des Neuen, ausser Acht lässt. So sollen Zellen zu Entodermzellen werden, weil sie eingestülpt, also in anderen Lagebeziehungen zur Umgebung sind; die Einstülpung soll »aus den Wachstumsverhältnissen der Blasenwand zu er- klären« sein. Eben dieses Wachsen aber an spezifischem Ort — muss ich da, wie schon erst, entgegnen — ist zu »erklären«, d.h. eine Auslösungsursache ist dafür anzugeben; und zwar ist dieses Wachsen etwas Neues, nicht mechanisch Ableit- bares; es ist in einem ausgelösten chemischen Different- werden gegenüber dem Nichtwachsenden in letzter Instanz begründet; also werden »Entodermzellen« doch in ihrem Charakter bestimmt, ehe sie drinnen sind; als wachsende und sich teilende Zellen (im Gegensatz zu den nicht wach- senden und sich nicht teilenden) sind sie eben zunächst Entodermzellen, wennschon sie später im Laufe weiterer Induktionen ihr Wesen noch mehrfach ändern mögen. Die von Hertwig bekämpfte Auffassung der Entodermbildung ist also doch richtig, wennschon es die Determinantenlehre nicht ist. Ich habe alle diese Punkte, in denen ich O. Hertwig berichtigen muss, namentlich deshalb hier hervorgehoben, obwohl sie sich ja aus dem Text meiner Arbeit vom Leser selbst erledigen liessen, um damit das Verständnis meines eigenen analytischen Versuches dem Leser zu erleichtern. Denn es ist meine Schrift der erste Versuch einer onto- genetischen Analysis; so wird es nicht ausbleiben, dass die Bahnen, in denen sie sich bewegt, den meisten ungewohnt und hart erscheinen. 181 Anhang 4. (Zu 8. 34 u. 150.) Roux’ Darstellung der zellulären Grundfunktionen. Roux hat kürzlich!) in ähnlicher Weise wie Rauber die Grundfunktionen der Zelle zusammengestellt. Zwar that er dies nicht mit der eigentlichen Absicht, die Grundphäno- mene der Entwicklung darzustellen, sondern zum Zwecke einer »Definition des Wesens des Organischen«. So kommt es, dass für den rein morphologischen Zweck Rauber’s Einteilung den Vorzug verdient. Die Bezeichnung einer »Definition des Wesens des Or- sanischen« erscheint mir nun freilich auch für die Roux- sche Aufstellung etwas gewagt, und im einzelnen möchte ich gegen das Zusammenwerfen kausaler und teleo- logischer Gesichtspunkte Protest erheben. Schon in meiner »Biologie« warnte ich im Schlusskapitel dringend davor, einer Schrift, die Roux jedoch zur Zeit der Abfassung seines Referates noch nicht vorlag. Die unter dem Namen der »Selbstregulation« eingeführte Elementarleistung des Organischen darf unter keinen Umständen als den übrigen Leistungen gleichwertig aufgefasst werden, sie entspringt vielmehr als Resultat für den teleologischen Standpunkt aus dem geordneten Wirken dieser. Diese Vermengung des kausalen und des finalen ist wohl aus dem Bestreben Roux’, alles Biologische kausal verständlich erscheinen zu lassen, erwachsen: es wird in dem genannten Referate auch nicht mit einem Worte der 1) In dem Bericht »Entwicklungsmechanik« der »Ergebnisse«. Driesch, Analytische Theorie. 12 178 kausalen Unverständlichkeiten gedacht — und sie sind wahrlich zahlreich genug —, welche die Lebensprobleme darbieten. Im übrigen vergleiche man das im Text Gesagte. (Dritter Hauptteil, $ 1.) Anhang >. (Zu 8. 49.) Zum Begriff des Reizes. Ich habe in meiner »Biologie« das Wesen der Physiologie nicht lediglich in dem Stadium von wahren Auslösungs- erscheinungen erblickt. Ich schied vielmehr zwischen solchen Wirkungen, welche bloss ihrer Qualität, und solchen, welche auch ihrer Quantität nach aus der Ursache unverständlich seien. Beide nannte ich Reizungen, freilich die letzteren explosionsartige. Diese Verhältnisse erläuterte ich am Bei- spiel einer Maschine. Dieses Beispiel war durchaus nicht neu, jedoch ist es immer nur auf die explosionsartigen Reizungen oder Reiz- erscheinungen im engeren Sinne angewandt worden; man sah bei der Maschine dann mit Recht die Ursache, oder vielmehr die Auslösung, im Öffnen des Ventils (Strasburger, Pfeffer), Ich sah dagegen die zugeführte Wärme als Ursache der betrachteten spezifisch umgeänderten Wirkung an, denn ich hatte vorwiegend die nichtexplosionsartigen Wir- kungen im Auge. Erscheinungen dieser Art bietet z. B. das Verhältnis von Art und Menge der Nahrungseinnahme zur Art und Menge der Sekretion. Ich subsummierte, wie gesagt, 179 Dinge solcher Art ebenfalls unter den Begriff Reiz, viel- leicht nicht genau dem Sprachgebrauch entsprechend. Man bedenke aber, dass das Wesen aller Lebens- erscheinungen, seien sie nun wahrhaft »ausgelöst« oder »verur- sacht«, auf der chemisch-morphologischen Natur des Substrats, auf den »Bedingungen des Systems« beruht. Pau im Dies zur Aufklärung, falls solche nötig. % a _— Anhang 6. Wenn (Zu 8. 88 u. 156.) Über die Anzahl der im Kern anzunehmenden fermentativen Stoffe. Es könnte einer die Frage aufwerfen, wieviel Fermente im Kern enthalten sind. Etwa soviele, wie eine vorliegende Ontogenese Elementarvorgänge aufweist, für jeden Elementar- vorgang auch ein besonderes Ferment? Wohl nicht, denn es sind die Elementarvorgänge zwar chemisch von einander geschieden, es dürften sich aber im Lauf der Entwicklung an sehr vielen Orten des Embryo dieselben chemischen Prozesse abspielen, wie die Bildung von Nerven- und Muskel- substanz und anderes. Es würde also besser sein, anzu- nehmen, dass es soviel Fermentarten giebt, wie sich Zellarten finden im Laufe der Entwicklung. Aber wieviel Zellarten giebt es nun? Unsere deskriptive Histologie lässt uns hier wohl im Stich; vergessen wir nicht, dass es »embryonale« Zellarten geben kann, welche etwa in langlebigen Larven vorhanden, im Erwachsenen ganz fehlen; vergessen wir auch nicht, dass Zellen sichtbarlich durchaus gleich beschaffen 12* 180 sein können und doch etwa bezüglich ihrer chemotaktischen Reizbarkeit durchaus verschieden sind: das wären denn doch auch verschiedene Zellarten. Wer sich diese und andere Schwierigkeiten vergegenwärtigt hat, der wird eine detaillierte Ausführung meiner Fermentfiktion nicht ver- langen. Anhang 7. (Zu S. 134.) Entwicklungsmechanik und Systematik in logischem Gegensatz. Der begriffliche Unterschied zwischen dem entwick- lungsmechanischen und dem systematischen, oder auch meinetwegen ontogenetischen und phylogenetischen Problem, oder vielmehr der in beiden Problemen liegenden kausalen Unverständlichkeiten lässt sich am besten vielleicht durch folgende kurze Thesen darlegen. 1) Entwieklungsmechanisch können wir nicht ein- sehen, warum eine Ursache einen bestimmten Effekt hat und warum eine Harmonie der Ursachen und Effekte besteht, gleichgültig welcher Art Ursache, Effekt und Harmonie sind. Die Entwicklungsmechanik geht aufs Allgemeine. Systematisch können wir nicht einsehen, warum eine einzelne vorliegende Kombination von Ursachen, Effekten und harmonischem Rhythmus, d. h. das was wir eine spe- zifische Form nennen, da sei. Die Systematik geht aufs Spezielle, Spezifische. 2) Entwicklungsmechanisch sagen wir: die Art und Weise der Entfaltung einer »Anlage« (im Ei) können 181 wir nicht im einzelnen begreifen, sondern nur analy- sieren. Systematisch sagen wir: das Vorhandensein der spe- zifischen Anlage selbst können wir nicht begreifen. 3) Entwieklungsmechanisch heisst es: dieser ein- zelne Vorgang, diese Harmonie ist da, damit das Ganze sich bilde. Systematisch heisst es: dieses spezifische Ganze ist da, vielleicht als Glied einer später zu vollendenden Kette. 4) Entwicklungsmechanisch: der einzelne Effekt ist nach Qualität, Ort und Zeit gegeben. Systematisch: die Gesammtheit und Ordnung der Effekte, kurz die spezifische Form ist gegeben!). Ein Beispiel mag diese Erläuterung beschliessen und das in so mancherlei Form Gesagte nochmals verdeutlichen. Das abgefurchte Ei von Anneliden, Gastropoden und Polykladen stellt, wie schon im Text hervorgehoben wurde, ein sehr ähnliches Bild dar. Was wir nun entwicklungs- mechanisch und systematisch an diesen drei Formen ver- stehen und was wir nicht verstehen können, ist folgendes. Entwicklungsmechanisch können wir konstatieren, dass die erste primäre Organbildung bei allen drei Formen eine andere ist, wir können sie vielleicht einst in jedem der drei Fälle auf einen bestimmten Chemismus zurückführen, und können auch sagen, wodurch sie jedesmal ausgelöst wird, wir verstehen aber in keinem Falle, warum die Wir- kung aus der Ursache folgt. Ja, es ist gerade dieses Bei- spiel von mir gewählt worden, weil es die »Anlage« im Ei, 1) Dass die »Form« gegeben ist und doch entsteht, ist kein Widerspruch, sie ist eben ein typisches, spezifisches Ent- stehen eines Resultats. Vgl. auch meine »Biologie« 8. 17. - 182 das Abgestimmtsein des Keimes, den Reizcharakter der hier vielleicht in allen drei Fällen gleichen Ursache deutlich zeigt!). Es ist nun aber offenbar eine andere Sache, wenn wir fragen, nicht, warum hat diese Ursache diesen Effekt? (und weiterhin jene jenen und zwar in bestimmter Zeitordnung und Harmonie), sondern, warum ist diese ganze jedesmal spezifische Kombination von Effekten überhaupt da?; kurz, warum giebt es das Annelid, den Gastropoden und den Polykladen? Entwicklungsmechanisches und systematisches Problem, oder auch meinetwegen ontogenetischer und phylogenetischer Bildungstrieb sind also zwei Dinge; was nicht ausschliesst, dass letzterer ersteren umfasst, und was ferner eben des- wegen nicht ausschliesst, dass im Laufe der Einzeldarstel- lung entwicklungsmechanische und systematische Probleme bisweilen gleichzeitig und einander gleichsam durchdringend behandelt wurden; aber logisch sind sie verschieden. Anhang 8. (Zu 8. 157.) Haacke’s Entwicklungstheorie. Es sei mir gestattet, auf Haacke’s »Gestaltung und Vererbung« in Kürze zusammenhängend einzugehen. 1) In der Sprache unserer fiktiven Annahme würden also die Eier der drei genannten Tiergruppen zwar gleichen oder doch sehr ähnlichen Bau (und zwar »Stoffbau«, vgl. Kap. III, $ 10) besitzen; ihre (in allen Zellen des Organismus gleichermaassen total vorhandenen) Kerne jedoch wären in jedem der drei Fälle durchaus andere Ferment- gemische. 183 Der kritische, gegen Weismann gerichtete Teil dieses Werkes scheint mir dasselbe für sich allein zu einem ver- dienstvollen zu machen. Hier decken sich ja unsere An- schauungen, wie dem Leser nicht entgangen sein wird, wennschon Haacke die Weismann’sche Lehre weit gründ- licher in die Enge trieb, als ich dies, zumal nach ihm, für nötig hielt. Der Gemmarienlehre muss ich vor allem den Vorwurf verfrühter fiktiver Umschreibung machen. Haacke hat eine Analyse der Ontogenese unterlassen und überhaupt das eigentliche handgreifliche ontogenetische Problem zu Gunsten phylogenetischer Phantasien arg vernachlässigt, sonst hätte er eingesehen, dass seine Lehre doch herzlich wenig Einsicht bringt. Er will die ontogenetische Formbildung durchaus mechanisch aus der Form der Gemmarien im »monotonen« Keimplasma in Verbindung mit den äusseren Agentien, also aus »Form und Energie«, ableiten, ähnlich wie Goette das einst in der »Unke« anstrebte; wohlweislich führt er diese an und für sich logisch berechtigte Aufgabe nur durch für die Ab- leitung »der Grundformen« und einiger schematischer »Gastru- lations«- oder richtiger »Gastraea«-Fälle. Bezüglich der ersteren muss ich meine früher!) betonte Ansicht festhalten, dass die »Grundformen« der Häckel’schen Promorphologie etwas für das Wesen der organischen Formen recht gleich- gültiges sind; die mechanisch-formale Ableitung der Gastru- lation würde aber schon bei der Echinidengastrula und überhaupt bei jedem nicht willkürlich konstruierten Fall scheitern, und bei späteren (nicht primären) Organbildungen tritt der Auslösungscharakter, also das nicht rein Mecha- nische der ontogenetischen Entwieklung noch viel deutlicher 1) s. meine »Math. Mech. Betr.» 184 hervor: das Wachstum ist eben an bestimmte Orte verteilt, ist etwas typisches, neues; das vergisst Haacke gänzlich. Haacke könnte hier zwar auch mit der Annahme eines tektonischen Wachstumsrhythmus seiner Gemmarien logisch noch weiter kommen, aber dann würde aus diesen ein Abbild des Organismus; dann würde Haacke auch, wie Weismann und Roux, eine sich typisch entfaltende Struktur durch eine andere typischer Entfaltung fähige Struktur »er- klären«, was er mit Recht als unfruchtbar verwirft. Haacke’s Fehler war es, wenn er einmal eine epi- genetische Theorie wollte, dem »Keimplasma« Struktur zuzuschreiben; thut er das, dann muss er ihm auch typisch geordnete Entfaltungskräfte zuschreiben und aus seiner »Epi- senesis« wird trotz allen Widerstrebens »Evolution«e Wir glauben (z. B. Kap. III, $ 8) gezeigt zu haben, wie weit eine »Epigenesis« in der That möglich ist, absolut ist aus guten Gründen unsere Epigenesis ja auch nicht. Das Ge- heimnis unserer Theorie liegt darin, dass wir im Ei zwei Dinge als gegeben annehmen, das Anlagengemisch des Kernes und den Eibau, von denen nur letzterer formal, aber nicht kompliziert formal ist. . 2 Pen s f IFA £ 4 179 di PEN e P 4 IN ’ re % PL AN ar % . Br R A 22 6; 5 I > »- N E R 13 . Pr) 2 - rn. ; EL.» ,9 oaj %“ = er 7 mi % 2. RVG - 4 co bs 07. F % > 63 5) Ro 72 wi En 4 a 4 ae 2 As zur AN As Pz 5 | & er Verzeichnis von Schriften, deren eingehendes Studium dem Leser teils wegen ihres philosophischen, teils wegen ihres biologischen Inhaltes empfohlen wird. K. E. v. Baer, Reden und kleinere Aufsätze. II. Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaft. 2. Aufl. Braunschweig 1886. P. du Bois-Reymond, Uber die Grundlagen der Erkenntnis in den exakten Wissenschaften. Tübingen 1890. F. Dreyer, Ziele und Wege biologischer Forschung. Jena 1892. H. Driesch, Die mathematisch- mechanische Betrachtung morpholo- gischer Probleme der Biologie. Jena 1891. —— Entwicklungsmechanische Studien. 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