ARCHIV FÜR HYGIENE
BEGRÜNDET VON MAX VON PETTENKOFER FORTGEFÜHRT VON MAX RUBNER
UNTER MITWIRKUNG VON ge
Prof. Dr. R. ABEL, Jena; Prof. Dr. O. BAIL, Prag; Prof. Dr. BONHOFF, Marburg
Dr. R. DOERR, Basel; Prof. M. FICKER, Berlin-Dahlem; Prof. Dr. R. GRASSBERGER, Wien; Prof. Dr. M. HAHN, Berlin; Prof. Dr. L. HEIM, Erlangen; Prof. Dr. K. KISSKALT, München; Prof. Dr. W. KRUSE, Leipzig; Prof. Dr.Ph. KUHN, Gießen; Prof. Dr. A. LODE, Innsbruck; Prof. Dr.R.O.NEUMANN, Hamburg; Prof. Dr. L. PFEIFFER, Schwerin; Prof Dr. W.PRAUSNITZ, Graz; Prof. Dr. Fr. RENK, Dresden; Prof. Dr. P.SCHMIDT, Halle a.8.; Prof.Dr. W.SILBER- SCHMIDT, Zürich; Prof. Dr. K. SÜPFLE, München; Prof. Dr. W. WEICHARDT, Erlangen ;
Prof. Dr. J. WILHELMI, Berlin
HERAUSGEGEBEN VON
M.v.GRÜBER - K. B. LEHMANN - P. UHLENHUTH
MÜNCHEN UND BERLIN DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG 1926
a. L.: Prof. *"*
Inhalt.
Seite
Über die Pestepidomie in der Mandschurei im Jahre 1910. Von Staatsrat Dr. Hans Adolphi in Riga, ehem. Arzt an der Chinesischen ER (Mandschurei). (Eingegangen am 17. November 1925) . . . .
Zur Kenntnis der Mykobakterien, insbesondere ihres quantitativen Stoff- l
wechsels auf Paraffinnährböden. Von Hr. med. vet. Hans Büttner, Distriktstierarzt in Windsbach, früher Hilfsassistent am Institut. (Aus dem Hygienischen Institut der Universität Würzburg. Vorstand: Geh. Rat Professor Dr. K. B. Lehmann.) (Eingegangen am 8. Dezember 1925)
Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin des Handels für das Wachstum von Bakterien. Von Dr. med. Friedrich Erh. Haag, Assistent am Institut. (Aus dem Hygienischen Institut der Universität Würzburg. Vorstand: Geh. Rat Professor Dr. K. B. nn EDBSERIEED am 8. Dezember 1925). . . . FE
Über das Verhalten von Triolin and Linoleum a F ußbodenbelag hinsicht- lich der Abgabe von gesundheitsschädlichen Substanzen an die Raum- luft Von Dr.-Ing. Franz Noziczka. (Aus dem Hygienischen Institut der Universität in Wien. Vorsteher: Prof. R. ee) (minge gangen am 20. Februar 1926)
Grundfragen zur Fliegenplage und ihrer Bekämpfung. Von Prof. Dr. J. Wil- helmi. (Aus der Preuß. Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Luft- hygiene, Biol.-Zool. Abt., Berlin-Dahlem.) (Eingegangen am 1. März 1926)
Die Wirkung von Ammoniak, Ameisensäure, Ammonchlorid, Schwermetall- salzen und Mineralgiften auf Fliegenbrnt in Rinderkot. Von Dr. G. Kunike, Mitarbeiter an der Landesanstalt. (Aus der Preuß. Landes- anstalt für Wasser-, Boden. und Lufthygiene, Biol.-Zool. Abt. Berlin- Dahlem.) (Eingegangen am 1. März 1926) . .
Bioskopische Reduktions-Methoden. Bemerkungen zu den gleichnamigen Mitteilungen von O. Kirchner. Von Professor Dr. Werner Lipschitz. (Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Frankfurt a. M. ) (Eingegangen am 11. Mai 1926).
Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädisungen, dureh prophylaktische An. wendung von Toxin-Antitoxin-Gemischen. Auf Grund der gemeinsam mit Dr. Karl Bauer, Dr.-Ing. Franz Noziczka und Emma Wödl ausge- führten Untersuchungen mitgeteilt durch Dr. Roland Graßberger. (Aus dem Hygienischen Institut der Universität ne En am 4. März 1926) ; i
Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji. Dr. Kiyoshi Suzuki. (Aus dem Hpygienischen Institut der deutschen Universität in Prag. Vor- stand: Prof. Oskar Bail.) (Eingegangen am 8. März 1926) .
Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung bei maximalen körperlichen Anstrengungen. I. Das Verhalten der Aufmerksamkeit. Von W. Ewig und T. Wohltfeil. (Aus der Medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Königsberg i. Pr. Direktor: Professor Dr. O. Bruns.) (Eingegangen am 12: März 1926) 5, 0 42.5. u u 26 Se An hear ee ee a ae +
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IV Inhalt. i Seite Über den Mechanismus der Desinfektionswirkung von Chlorkalk und von Chloramin-Heyden. Von Karl Süpfle (Aus dem Tierhygienischen Institut der Universität München. Vorstand: Prof. Dr. Karl aurie] (Eingegangen am 26. März 1926) . sa 176 Über die Bakterizidie der Milch. Von Dr. med. vet, Eberhard Hennin zar. (Aus dem Tierhygienischen Institut der Universität München. Vorstand: Professor Dr. Karl Süpfle.) (Eingegangen am 26. März 1926) . . . . 183
Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch. Von Dr. med. vet. Georg Heiserer. (Aus dem Tierhygienischen Institut der Univer- sität München [Vorstand: Prof. Dr. Karl Süpfle] und aus dem Kloster- gut St. Ottilien.) (Eingegangen am 26. März 1926). . . . .» . . 195
Über den Einfluß vitaminfreier Nährböden auf die Bakterien-Virulenz. Von Dr. med. Stephan Wurzinger. (Aus dem Tierhygienischen Institut der Universität München. Vorstand:. Prof Dr. Karl RD) Engegangen am 5. Mai 1926) . . . ae u Lu . 219 Über eine Abänderung des Cronerschen Verfahren; Mangan im Trinkwasser nachzuweisen Von Dr. phil. Günther Lode. (Aus dem Hygienischen Institut der Universität Innsbruck. Vorstand: Prof. Dr. Alois 0 (Eingegangen am 3. Mai 1926) . . . . . 227 Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beian von Schul- plätzen. Von F. Geschke, ehem. Assistent und T. Wohlfeil, Assi- stent am Institut. (Aus dem Hygienischen Institut der Albertus-Uni- versität zu Königsberg. Direktor: Prof. Dr. ne (Eingegangen am 25. Juni 1926) . . . . En s . 234 ‘Psychologische Beiträge zur Einldingsforschung bei aien Körper- anstrengungen. II. Mitteilung: Über das psychomotorische Verhalten. Von Wilhelm Ewig und Traugott Wohlfeil. (Aus der Medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Königsberg i. Pr. Direktor: en Dr. O. Bruns.) (Eingegangen am 31. Juli 196) . ... ; . . 251
Psychologische Beiträge zur Ermüdungnforschung bei meman Körper- anstrengungen. III. Mitteilung: Über die geistige Leistungsfähigkeit. Von Wilhelm Ewig und Traugott Wohlfeil. (Aus der Medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Königsberg i. Pr. Direktor: Professor Dr. O. Bruns.) (Eingegangen am 31. Juli 1926) . . 2 2 2 2 222. . 261
Über die biologische Wirkung des Saccharins. (Zum Artikel von Professor R. Neumann. Von Professor der Leningrader Universität W. A. Bern (Eingegangen am 4. August 1926). . . ... . . 272
Bemerkungen zu der vorstehenden Erwiderung von W. A. Uglow anf meine Arbeit „Wird die Ausnutzung des Nahrungseiweißes durch Saccharin beeinflußt? Von Professor R. O. Neumann, mus (Piogegengon am 13. August 1926). . . .27
Über die Beurteilung des roten Blutbildes bei der Bleiv eigiftung er Be- rücksichtigung verschiedener Darstellungsmethoden der polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten. Von Dr. med. H Brückner und Dr. med. R. Spatz (Aus dem gewerbehygienischen Laboratorium des Reichsgesundheitsamtes.) (Eingegangen am 13. September 1926) . 277
Untersuchungen über das Vorkommen der Gruber-Widal’schen Reaktion bei Nichttyphuskranken. Von Dr. med. Hans Gottlieb Huber. (Aus der Staatlichen Landesstelle für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden. Direktor: Prof. Dr. Philalethes Kuhn.) (Eingegangen am 3. Oktober 1926) 299
Über die Pestepidemie in der Mandschurei im Jahre 1910.
Von Staatsrat Dr. Hans Adolphi in Riga,
ehem. Arzt an der Chinesischen Ostbahn (Mandschurei).
(Bei der Redaktion eingegangen am 17. November 1925.)
Im Gebiet der südtransbaikalischen und mandschurisch-mongolischen Steppe ist die Pest in ihren beiden Formen, als Bubonen- oder Beulenpest und als Lungenpest, schon im verflossenen Jahrhundert beobachtet worden. Die einheimische Bevölkerung sieht in dem dort weit verbreiteten Steppenmurmeltier oder ‚„Tarbagan‘‘, wie der örtliche Name dieses Tieres lautet, den Träger und Verbreiter der Pest, weiß sich durch rigorose Ab- sperrungsmethoden gegen diese furchtbare Seuche zu schützen und erklärt die Identität der „Tarbagankrankheit‘‘ und der Pest der Menschen durch verschiedene Legenden, denen zufolge der Tarbagan ein von der erzürnten Gottheit verwandelter Mensch ist.
Wissenschaftlich studiert worden ist die Pestfrage in diesem Gebiet erst seit dem Bau der Chinesischen Ostbahn, auf dessen Territorium fast alljährlich einzelne Pestfälle und in den Jahren 1905, 1910 und 1920 mehr oder weniger bedeutende Pestepidemien zur Beobachtung gekommen sind. 1905 konnte Tschaußoff die Empfänglichkeit des Tarbagan für die menschliche Form der Pest durch Impfung feststellen; doch erst 1911 glückte es, in der Freiheit lebende kranke Tarbangane zu fangen (Ißajeff, Pißemsky), in deren Kadavern Pestbazillen nachgewiesen werden konnten (Sabolotny, Pißemsky). Seitdem kann die a priori vermutete und durch die Erfahrungen höchst wahrscheinlich gemachte Verbreitung der Pest durch die Tarbagane als wissenschaftlich erwiesen gelten.
Die ersten Beschreibungen des Steppenmurmeltieres verdanken wir den berühmten Forschungsreisenden Radde und Prschewalsky, die in den sechsziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Inner- asien und die Mongolei bereisten. Radde nennt das Tier Bobak, nach seinem wissenschaftlichen Namen Arctomys bobac. Das Tier und seine Lebensweise sind in Brehms Tierleben treffend geschildert.
Der Tarbagan erreicht eine Körperlänge von etwa 35 cm, hat einen nur 2 cm langen Schwanz, ganz kurze Beine, einen kleinen, breiten Kopf, kurze Ohren, kleine Augen und einen walzenförmigen, feisten Körper. Archiv für Hygiene. Bd. 97. 1
2 Über die Pestepidemie in der Mandschurei.
Der dichte, kurzhaarige Pelz ist braungelb, auf dem Rücken etwas dunkler. Der Tarbagan bewohnt die weite Grassteppe und bevorzugt ein steiniges Hügelland, sandige Gegenden vermeidet er konsequent, niedriger gelegene Stellen, die ihn freilich durch besseren Graswuchs anlocken, werden ihm nicht selten bei stärkeren Regengüssen, die seine Höhlengänge überfluten,
„.. verhängnisvall. ‘An Stellen mit wirklich hohem Graswuchs baut er sich
‘aber nicht’ an; ‘dört könnte sein Späherauge nahende Feinde nicht be- obachten.. u 0%
. Der Tarbagan levt gesellig in großen Siedelungen, die sich zuweilen auf ein überaus umfangreiches Gebiet erstrecken. So stieß z. B. Dr. Chmara- Borschtschefsky im Sommer 1914, von der Bahnverwaltung in die Mongolei abkommandiert, auf ein Gebiet von 50 km im Durchmesser, das dicht besät war mit den kleinen charakteristischen Erdhügeln, die der Tarbagan beim Bau seiner Erdhöhlen aufwirft.
Von außen betrachtet, gleicht ein Bau des Tarbagan dem andern: zur Seite eines aufgeworfenen kleinen Hügels führt ein Loch in die Tiefe. Die innere Ausdehnung der Baue aber schwankt in ganz bedeutenden Grenzen, und je härter und steiniger der Boden ist, desto weitverzweigter und großartiger ist auch der Bau. In 1—1% m Tiefe gabelt sich die Ein- gangsröhre in mehrere Arme und diese wiederum verzweigen sich häufig in weitere Nebenarme. Ein Teil derselben endet blind, die andern aber führen zum geräumigen Lager, das ıneist 5—7 m vom Eingange entfernt ist; zuweilen beträgt aber die Entfernung auch die doppelte Meterzahl.
Das Winterlager ist vom Sommcerlager getrennt, was für unsere Betrachtungen von Wichtigkeit ist und worauf ich später noch zurück- kommen werde.
Im Frühling graben sich die Tarbagan aus ihrem sorgfältig ver- schlossenen Lager heraus und erscheinen in den warmen Mittagsstunden feist und dick, wie sie im Herbst verschwunden sind, wieder auf ihren Hügeln. Sie schlafen nämlich durchaus nicht den ganzen Winter. Von Ende September ab verlassen sie ihren Bau allerdings nicht mehr, zehren aber noch bis zum Dezember von ihren im Sommer gesammelten Vor- räten. Beträchtliche Kotansammlungen, die man im Winterlager findet, zeugen von ihrem regsamen Leben unter der Erde. Erst um diese Zeit, im Dezember, fallen sie in einen etwa 3 Monate währenden todähnlichen Schlaf. Anfang März beginnen sie sich wieder zu regen, zu fressen und wahrscheinlich auch sich zu begatten.
Bereits im Juli wird es Zeit, an den Winter zu denken: Vorräte müssen eingesammelt und im Winterlager deponiert werden; für die herangewachsenen Jungen muß Raum geschafft werden, die alten Woh- nungen reichen nicht mehr aus, und — auf der Suche nach neuen Winter- quartieren naht das Verhängnis:
Eine Pestepizootie hat im vorigen Jahre die Murmeltiere heim- gesucht; Adler und Wolf, die Sanitäre der Steppe, selbst immun gegen den todbringenden Bazillus, haben die meisten der elenden und kranken Tarbagane weggefangen. Aber einzelne kranke Tiere sind der Sanitäts- polizei entronnen, haben sich in das Winterlager zurückgezogen und gegen
Von Dr. Nans Adolphi. 3
die Umwelt abgeschlossen. Hier wirkt das Gift weiter. Ein Tarbagan nach dem andern erliegt der Seuche; bis zu 18 Stück hat man in einem Nest tot gefunden.
Die äußerst niedrige Eigentemperatur der Winterschläfer, die bei- spielweise nach den Angaben Gustav Bunges bei einem schlafenden Ziesel, das ihm 1875 in Straßburg demonstriert wurde, nur —0,2° C, im Rektum gemessen, betrug, läßt den toten Tarbagan sehr bald gefrieren. Und der Pestbazillus, der im verwesenden Körper nach den Untersuchungen Dr. Konstantinoffs je nach der Höhe der umgebenden Lufttemperatur schon in 24 Stunden, spätestens aber in 2—3 Tagen, seine Virulenz ver- liert, konserviert sich in der gefrorenen Leiche viele Monate lang, wie das die Ärztin Ssurashefskaja festgestellt und darüber 1912 auf dem Bak- teriologenkongreß in Moskau berichtet hat. Und Dr. Dudtschenko- Kolbaßenko hat gleichfalls in der mongolischen Steppe gefrorene und 5 Monate alte Tarbagankadaver gefunden, in denen er lebensfähige, viru- lente Pestbazillen nachweisen konnte.
Es ist leicht verständlich, daß im Spätsommer, wenn die Wohnungs- suche beginnt und die Tiere jene alten Winterlager, aus denen die Ein- wohner nicht hervorgekommen sind, ausgraben, um sie für sich einzu- richten, sie sich infizieren und so zu einer neuen Pestepizootie Veranlassung geben können. Wie die Infektion zustande kommt, wissen wir allerdings zurzeit nicht mit Bestimmtheit anzugeben, doch läßt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen, daß die Tarbagane die Kadaver der an der Pest verendeten Artgenossen benagen und dabei sich die Krankheit holen.
Diese meine Behauptung dürfte bei den Zoologen wahrscheinlich Beiremden erregen. Die allgemeine Meinung, daß das Murmeltier ein reiner Pflanzenfresser ist, wurde jedoch bereits 1900 dadurch in Zweifel gezogen, daß Dr. Podbjelsky in einem Tarbaganbau Menschenknochen fand. Und tatsächlich konnte der Veterinärarzt Dudakaloff nachweisen, daß es durchaus möglich ist, Tarbagane lange Zeit hindurch gleichzeitig mit Pflanzennahrung und Rindfleisch zu füttern; während Dr. Tschaußoff beobachten konnte, daß Tarbagane sogar die Kadaver ihrer gefallenen Brüder anfraßen. Freilich waren das Laboratoriumsversuche, die natur- gemäß keine volle Beweiskraft haben. Ob der in Freiheit lebende Tarbagan seine während des Winterschlafes an der Pest eingegangenen Artgenossen frıißt, ist damit nicht erwiesen. In erster Linie kommt es aber nur darauf an, daß das Verbindungsglied zwischen der im Hochsommer beginnenden Pestepizootie und der vorigjährigen in dem im Winterlager verendeten und jetzt wieder ausgegrabenen .Tarbagan gefunden worden ist. Bewiesen ist hierdurch für die transbaikalisch-mongolische Steppe der endemische Charakter der Pest. Auf die mißlungenen Versuche, die lamaistischen Pilger, die alljährlich auf ıhren Wallfahrtszügen die weiter gelegenen Pest- herde besuchen, auf ihrer Rückwanderung für die Einschleppung der Pest und als Verbreiter der Krankheit unter den Tarbaganen verantwortlich zu machen, will ich nicht eingehen, das würde mich zu weit führen.
Die einzelnen Erkrankungen und Todesfälle unter den Tarbagan- jägern pflegen im Juli, August und September vorzukommen, und wenn diese Leute dann in bewohntere Gegenden zurückkehren, kann die ver-
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& Über die Pestepidemie in der Mandschurei.
hängnisvolle Krankheit weitere Verbreitung finden. Daß es nicht häufiger zu einer Epidemie kommt, liegt in erster Linie daran, daß die Eingeborenen die Tarbagankrankheit genau kennen und ungemein vorsichtig sind. Er- eignen sich z. B. in einer Kosakenstaniza Transbaikaliens Pestfälle, so wird das verseuchte Haus aus eigener Initiative der Dorfbewohner selbst auf das strengste isoliert, wobei nicht selten das ganze Haus ausstirbt und der Seuchenherd erlischt.
Anders gestaltete sich aber die Sache, als nicht mehr die örtliche Bevölkerung allein, sondern von weither hinzugezogene chinesische Saison- arbeiter, die weder mit dem Leben der Tarbagane, noch mit der Gefahr, die die Berührung mit den kranken Tieren in sich birgt, vertraut waren, sich in großen Scharen mit dem Fang der Murmeltiere zu beschäftigen be- gannen, wie das im unheilvollen Jahre 1910 beobachtet werden konnte.
Die Tarbaganjagd hatte sich bisher in mäßigen Grenzen gehalten. Die Beute, die 1908 7000 und im folgenden Jahre 8000 Felle betrug, stieg plötzlich 1910, als der Preis eines Felles von 30 Kopeken bis auf 1 Rubel 20 Kopeken in die Höhe gegangen war, auf die kolossale Anzahl von 24, Mil- lionen Stück.
Der Zuzug von ortsfremden Chinesen muß in dieser Saison weit über 10000 Mann betragen haben, denn Ende Oktober konnten auf der Station Mandschuria noch 4600 solcher chinesischer Tarbaganjäger gezählt werden, während in der letzten Zeit etwa 6000 Mann mit der Bahn in die Heimat abgereist waren.
In der Steppe lebten die Jäger in Gruppen zu 5—20 Mann in primitiven Zelten oder unter freiem Himmel. Bei dieser Lebensweise waren nur cin- zelne Erkrankungen, und zwar an verschiedenen Stellen, die in gar keiner Beziehung zueinander gestanden hatten, vorgekommen.
Das Bild änderte sich aber bald, als die Leute, um ihre erbeuteten Felle abzuliefern, nach Mandschuria zurückzuströmen begannen. Unter- kunft für solch einen bedeutenden Zuzug war in dem kleinen Ort nicht vorhanden. Der Winter meldete sich bereits mit seinen Frösten, unter freiem Himmel die Nächte zuzubringen, war nicht mehr möglich. Die Haus- besitzer der Privatsiedelung führten in Eile eine Menge primitiver Erd- hütten auf, die von Unternehmern zu sehr hohen Preisen gemietet und als Nachtasyle eingerichtet wurden. Holzpritschen wurden hineingebaut, die in 3—4 Reihen übereinander, nur einen ganz schmalen Gang zwischen sich frei ließen und bald ganz maßlos überfüllt waren. Bei der gegen die Europäer völlig abgeschlossenen Lebensweise dieser Leute dauerte es einige Zeit, bis endlich am 12. Oktober (a. St.) die Epidemie zu unserer Kenntnis gelangte.
Bei der Besichtigung dieser Räumlichkeiten konnte man bis zu 10 und 12 Mann auf einen Kubikfaden Luftraum zählen; ja, in einer solehen Erdhütte fanden sich sogar 207 Asylanten bei 12 Kubikfaden Luftraum, d.i. 17 Mann auf einen Kubikfaden oder auch: auf 1 Kubikarschin fast genau 2 Mann! (1 Faden = 2,135 m; 1 Arschin = 0,715 m.)
Und hier lagen nun in maßloser Enge zusammengepfereht Gesunde und Pestkranke bunt durcheinander! Das Bild spottet jeglicher Beschrei- bung. Es handelte sich diesmal um die Lungenpest; — Milliarden von
Von Dr. Hans Adolphi. r
Pestbazillen wurden mit dem blutigen Auswurf der Kranken in die Luft geschleudert, Schmutz, Unrat, Dunkelheit, eine zum Ersticken verdorbene Luft, — wahrlich das Sanitätspersonal war zu bewundern, das sich in diese fürchterlichen Pesthöhlen hineinwagte.
Die bei der ersten Besichtigung gefundenen 12 Kranken wurden isoliert und ebenso wie diejenigen Leute, die mit den Kranken in Berührung ge- kommen waren, wegen Mangel an sonstigen geeigneten Räumlichkeiten in ihren Quartieren von einem Militärkordon eingeschlossen, wobei es aber durchaus nicht ausgeschlossen war, daß so mancher Chinese schon vorher aus den infizierten Wohnungen hatte flüchten können. So konnten denn auch am 16. Oktober bei der zweiten mit bereits vermehrtem ärztlichem Personal systematisch durchgeführten Besichtigung der ganzen Ortschaft ' 17 Kranke und 32 Leichen registriert werden.
Mittlerweile wurde eiligst etwas abseits von der besiedelten Station ein Pestpunkt geschaffen. In gesonderten Gruppen wurden heizbare Warenwaggons aufgestellt für die Kranken, für die der Beobachtung Unter- liegenden, für das Sanitätspersonal und für die militärische Wache, die Ordre erhielt, jegliche Flucht im schlimmsten Falle mit der Waffe zu ver- hindern.
Am 18. Oktober waren sämtliche Pestkranke hier untergebracht und 328 Mann in Observation genommen.
Der Kampf mit der zurückgebliebenen Bevölkerung war nicht leicht zu führen, da die Chinesen allen vernünftigen Maßnahmen den äußersten Widerstand entgegensetzten. Nicht nur daß sie ihre Kranken und Toten verheimlichten und versteckten, sondern bald begannen sie auch, dieselben nachts auf die Straße zu werfen, um den Pestherd nicht zu verraten und um dadurch selbst der Observation zu entgehen. Und glückte es, Kranke in einer Wohnung zu finden, so konnte man sicher sein, daß sämtliche Einwohner eines solchen verseuchten Hauses beim Nahen des Sanitäts- personals nach allen Seiten auseinanderstoben und man nur einzelner von ihnen habhaft wurde.
Infolgedessen wurden nächtliche Besichtigungen eingeführt. Die vor- her dazu bestimmten Häuser wurden von Militärpatrouillen umzingelt und dann begab sich das Sanitätspersonal auf die Suche. Diese Methode mußte jedoch sehr bald als irrationell wieder aufgegeben werden. Die Dunkelheit und fürchterliche Enge, die in den Nachtasylen herrschten, ließen eine wirklich erfolgreiche Besichtigung der schlaftrunkenen und mit Recht wegen der Störung unzufriedenen Leute nicht zu. Zu wieder- holten Malen wurden in denselben Baracken, die nachts besichtigt worden waren, am Morgen nicht nur Pestkranke, sondern sogar Tote gefunden.
Um endlich Herr der Epidemie zu werden, wurde schließlich zu einem radikalen Mittel gegriffen.
Etwas abseits vom bisherigen als verseucht anzusehenden Pestpunkt wurde ein neuer großer Observationspunkt oder, richtiger gesagt, ein Konzentrationslager für die gesamte chinesische Bevölkerung Mand- schurias hergerichtet. In mehreren weit voneinander stehenden Reihen und in Gruppen zu je 5, wurden 114 heizbare Warenwaggons aufgestellt, dazu noch etwas weiter weg 8 Waggons zur Unterbringung von Pestver-
6 Über die Pestepidemie in der Mandschurei.
dächtigen und schließlich noch einige Waggons für das Sanitätspersonal, das speziell diesen Punkt zu bedienen hatte, und für die milıtärische Wache. Kranke sollten sofort nach erfolgter Diagnose in das mittlerweile her- gerichtete und schon einige Zeit funktionierende Pestlazarett übergeführt werden.
In der Nacht auf den 12. November wurden die Quartiere mit dichter chinesischer Bevölkerung von Militär eng eingeschlossen, und vor Tages- anbruch wurden alle aufgegriffenen Chinesen mit Ausnahme der besser situierten Kaufleute, unter denen übrigens nie eine Pesterkrankung vor- gekommen war, in das Konzentrationslager übergeführt. Die Desinfektion der Bekleidung und sonstiger mitgenommener Habseligkeiten konnte bei dem großen Andrange wegen Mangel an Raum in den Desinfektions- kammern erst um die Mittagszeit beendet werden.
3282 Mann waren im Konzentrationslager untergebracht und unter- lagen der strengsten Beobachtung. Die ärztlichen Besichtigungen der ganzen großen Schar fanden dreimal täglich statt; wir verfuhren dabei folgendermaßen. Sobald der dujourierende Arzt an einen Waggon heran- trat, mußten sämtliche Insassen denselben verlassen und sich in einer Reihe aufstellen. Der Arzt schritt die Reihe ab und erkundigte sich nach dem Befinden. Dann trat er 25—30 Schritt zurück, und auf ein gegebenes Zeichen mußten die Chinesen die Strecke bis zu ihm in vollem Lauf zurück- legen, dort angekommen, kehrt machen und zu ihrem Waggon zurück- _ laufen. Wer beim Laufen zurückblieb, Schwäche zeigte oder gar schwankte, wurde eingehend untersucht und vor allem thermometrisiert. Sobald auf diese Weise ein Pestverdächtiger gefunden war, wurde er sofort isoliert, während die Kleider der übrigen Insassen des betreffenden Waggons sowie der Waggon selbst augenblicklich ausgiebig desinfiziert wurden.
In den ersten 5 Tagen gab es noch zahlreiche Erkrankungen, das waren Fälle, die bereits infiziert in das Konzentrationslager gekommen waren und außerhalb desselben zu neuen Pestherden Veranlassung gegeben hätten. Nach dem fünften Tage gab es jedoch nur noch vereinzelte Krank- heitsfälle und bald konnte die Epidemie in Mandschuria als erloschen gelten, da auf der Station und in der Siedelung nach der Überführung der ‚Chinesen in das Konzentrationslager kein einziger Pestfall mehr vorgekom- man war.
Das klinische Bild der Lungenpest, wie wir es nach den verschiedenen Be- obachtungen der in Mandschuria während dieser Epidemie arbeitenden Ärzte gemeinschaftlich entworfen haben, war folgendes.
Die Krankheit beginnt stets plötzlich mit einem Schüttelfrost. In den ersten Stunden erhebt sich die Körpertemperatur des Patienten rasch bis gegen 39°. Fast ausnahmslos klagt der Patient über Kopfschmerzen, Schmerzen in der befallenen Brustseite und über große allgemeine Schwäche. Dieses Schwäche- gefühl nimmt in einem großen Teil der Krankheitsfälle bis zum letalen Ausgang stetig zu, während es in einem andern Teil der Fälle von einem Erregungszustande verbunden mit Gesichtsrötung und Pupillenerweiterung abgelöst wird.
Die Auskultation und Perkussion des Herzens läßt keine Abweichung von der Norm kKonstatieren; der Puls ist in den mit Prostration einhergehenden Fällen ein wenig beschleunigt, seiner Qualität nach aber unverändert. Ist der Patient erregt, so finden wir gleichfalls eine relativ nur unbedeutende Pulsbeschleunigung, doch ist in diesen Fällen der Puls immerhin deutlich gespannt und voll.
Von Dr. Hans Adolphi. Ä 7
Ein nie fehlendes Symptom ist ein kurzer, in der ersten Zeit zuweilen noch trockener, häufiger jedoch mit blutigem Auswurf verbundener Husten. In einigen, allerdings seltenen Fällen bleibt der Husten bis zum Tode trocken. Die Atmung ist stets beschleunigt, aber nicht gerade schmerzhaft.
Die Zunge weiß belegt. Appetit geschwunden. Der Durst aber erhöht. Nicht selten Erbrechen einer grünlichen, durchsichtigen Masse. Zuweilen Durchfall. |
Die Haut ist während der ganzen Krankheitsdauer trocken. Eine charakte- ristische aschfarben-erdige Verfärbung der Haut tritt deutlich nie früher als am zweiten Krankheitstage auf, fehlt aber zuweilen auch gänzlich.
Die einer äußeren Untersuchung zugänglichen Lymphdrüsen wurden in keinem einzigen Falle verändert gefunden.
Gegen Ende der ersten 24 Stunden erreichte die Temperatur ihr Maximum mit 40—40,2° und hielt sich in den meisten Fällen mit einer unbedeutenden Morgenremission bis zum Tode auf dieser Höhe. In einigen Fällen betrug die Morgenremission aber auch mehr als einen Grad.
Im Verlauf der Krankheit wurde der Puls immer frequenter und schwächer, schließlich unregelmäßig und sehr frequent; in den letzten 2—6 Stunden vor dem Exitus unzählbar oder sogar unfühlbar. 5
Anormale Herzgeräusche hat kein einziger der beobachtenden Ärzte gehört, doch pflegten beim Schwinden des Pulses die Herztöne dumpf zu werden.
Die Atmung, von vornherein beschleunigt, wurde im Verlauf der Krankheit immer frequenter und oberflächlicher und ging zuletzt in ein Stöhnen über.
Der quälende Husten war dasjenige Symptom, das das ganze Krankheits- bild vornehmlich beherrschte. Nur ausnahmsweise blieb derselbe bis zuletzt trocken, während der mehr oder weniger reichliche Auswurf blutig gefärbt war. Das Aussehen des Sputums war in der Regel hellrot, seltener schleimig-eitrig mit einzelnen Blutstreifen, in einigen Fällen erinnerte er aber auch an den rost- braunen Auswurf bei kroupöser Pneumonie. In ganz vereinzelten Fällen blieb das Sputum bis zum Tode von Blutbeimischungen völlig frei.
Die Perkussion der Lungen ließ meistenteils zirkumskripte Dampfungsherde erkennen und nur in seltenen Fällen erstreckte sich die Dämpfung über einen ganzen Lungenlappen und ging dann wohl auch in Schenkelschall über.
Die Atmungsgeräusche erinnerten im allgemeinen an die bei der kroupösen Pneumonie: Knisterrasseln oder feuchte Rasselgeräusche mittlerer Größe, Bronchialatmen. |
Von seiten des Nervensystems konnte Herabsetzung des Schmerzgefühls und des Temperatursinnes beobachtet werden; ferner taumelnder Gang, ver- wirrte Sprache; auch das Erbrechen, ein häufiges, wenn auch nicht konstantes Symptom, muß wohl gleichfalls unter die Nervenerscheinungen gezählt werden. Das Sensorium war stets mehr oder weniger getrübt; dazu gesellte sich in einem Teil der Fälle die denkbar größte Schwäche und völlige Apathie, während eine andere Gruppe von Patienten mehr oder weniger laut delirierte; in ganz.seltenen Fällen steigerte sich aber auch die Erregung der Kranken bis zu vollkommener Raserei und Tobsucht.
In den letzten 2—4 Stunden vor dem Exitus war das Bewußtsein stets erloschen.
Der Tod trat meist am zweiten Krankheitstage ein; doch ist dabei zu berück- sichtigen, daß ein großer Teil der Patienten erst in vorgerücktem Stadium der Krankheit zur Beobachtung gelangte. Waren die Patienten zu Beginn der Krank- heit eingeliefert worden, so erfolgte der Tod gewöhnlich am dritten oder auch in seltenen Fällen am vierten Tage.
Bei dem geschilderten Krankheitsbilde ist es klar, daß in manchen Fällen klinisch eine bestimmte Diagnose nicht zu stellen war und erst eine bakteriologi- sche Blutuntersuchung Klarheit schaffen mußte; wobei ich nicht unterlassen will, ganz besonders darauf hinzuweisen, daß in vereinzelten Fällen sogar die bakteriologische Untersuchung des Sputums kein positives Resultat gab, wenn- gleich der Tod auch in diesen Fällen in der üblichen Frist eintrat.
Sektionen der Pestleichen wurden wegen Überbürdung des spärlichen ärzt- lichen Personals nur in einzelnen Fällen ausgeführt. Ich selbst habe keiner
8 Über die Pestepidemie in der Mandschurei.
Obduktion beigewohnt, bin aber in der Lage, ein interessantes Sektionsprotokoll kurz wiedergeben zu können.
Es handelte sich um eine Jüdin, die, wie es sich später herausstellte, als Kassiererin in der Mehlhandlung ihres Mannes viel mit Chinesen zu tun gehabt hatte. Sie erkrankte in den ersten Tagen nach Entdeckung der Pestepidemie unter den typischen Symptomen einer kroupösen Pneumonie. Da der Tod un- erwartet bereits am zweiten Krankheitstage eintrat, entstand beim behandelnden Arzt der Verdacht auf Lungenpest, und er obduzierte die Leiche.
Der Befund war: Der obere, linke Lungenlappen schiefergrau, fast diffus hepatisiert; keine Blutergüsse; Bronchialschleimhaut trocken, Lymphdrüsen unverändert, insbesondere keine Bubonen; Leberinfarkte; Milz leicht vergrößert, morsch; Herzmuskulatur morsch, das Herz enthält einige Blutkoagula. — Die bakteriologischen Untersuchungen des Blutes, dem Herzen, der Milz und der Leber entnommen, geben positive Resultate und bestätigen den Verdacht auf Lungenpest.
Diese Frau und einzelne ihrer Familienglieder waren übrigens, nebenbei bemerkt, die einzigen Europäer, die (abgesehen vom Sanitätspersonal) in
Mandschuria an der Pest erkrankt sind.
Wenden wir uns jetzt zur Desinfektion der verseuchten Wohnungen und der bei der Bekämpfung der Epidemie zur Benutzung gelangten Waggons.
Bei den Einzelfällen der Bubon£npest, die in früheren Jahren auf der Station Mandschuria zur Beobachtung gekommen waren, war die Des- infektionsfrage stets äußerst radikal gelöst worden. Es handelte sich meist um minderwertige temporäre Bauten; sie wurden von außen und innen mit Petroleum besprengt und zusammen mit der Leiche verbrannt. Auch bei der eingangs kurz erwähnten, lokal begrenzten Epidemie von Bubonen- pest im Jahre 1905 auf den Kohlengruben von Dschalai-nor wurde die gesamte, etwas abseits stehende und aus lauter primitiven und im Privat- besitz befindlichen Hütten bestehende Siedelung mitsamt dem ganzen Hausrat und dem Wirtschaftsinventar von Wagen, Geschirren usw. dem Feuer überantwortet.
Solch ein heroisches und teueres Desinfektionsverfahren war 1910 bei der räumlichen Ausdehnung der Epidemie absolut ausgeschlossen, ja, nach Meinung der Ärzte auch durchaus nicht nötig. Bei der geringen Resistenz- fähigkeit der Pestbazillen glaubten wir, der Sanitätskommission gegenüber eine völlig gefahrlose Desinfektion auch der primitiven Bauten garantieren zu können. Und der Erfolg hat uns recht gegeben; in keiner einzigen des- infizierten Wohnung ist nachher ein Pestfall vorgekommen.
Zur Desinfektion gelangten sämtliche bisher von Chinesen bewohnten Räumlichkeiten, einerlei, ob in derselben ein Pestkranker gefunden worden war oder nicht. Sie mußten eben alle als verseucht angesehen werden.
Ebenso wurde auch kein einziger Waggon vernichtet, sondern alle einer eingehenden Desinfektion unterzogen. Mit ganz besonderer Sorgfalt wurden diejenigen Waggons behandelt, in denen Pesterkrankungen vor- gekommen waren. Sie wurden zunächst wie alle übrigen Waggons und auch die Wohnungen der Chinesen einer oberflächlichen Säuberung und dann einer Besprengung mit einer heißen (des Frostes wegen) Sublimatlösung mit nachfolgender gründlicher Waschung mit einer wiederum heißen Lösung von grüner Seife und Karbolsäure unterzogen und darauf einer
. Von Dr. Hans Adolphi. 9
monatelangen Durchlüftung ausgesetzt. Schließlich unterlagen sie im März des folgenden Jahres, ehe sie wieder ihrer gewöhnlichen Bestimmung zugeführt wurden, einer nochmaligen Desinfektion, indem sie einer zwei- stündigen Einwirkung von unter einem Druck von 11 Atmosphären strö- menden Wasserdampf ausgesetzt wurden.
Große Schwierigkeiten bereitete uns die Unschädlichmachung der vielen Pestleichen. Der Boden war fest gefroren und mußte beim Aus- heben der Gräber durch kleine Scheiterhaufen schichtweise zum Auftauen gebracht werden, was natürlich sehr viel Zeit und Kosten beanspruchte. Außerdem blieben die Pestbazillen in der gefrorenen Erde noch lange virulent, die Tarbagane konnten möglicherweise an die Leichen heran- kommen. Es erhob sich daher gleich zu Anfang die Frage nach der Ver- brennung der Leichen, die aber zunächst am Protest der chinesischen Ver- treter in der Sanitätskommission scheiterte. Erst später, als die Epidemie in Harbin wütete, gab die chinesische Administration ihre Einwilligung zu dieser Art der Vernichtung der Pestleichen.
Während der Epidemie sind in Mandschuria 372 Pestleichen auf dem eigens zu diesem Zweck hergerichteten Friedhofe beerdigt worden. Als aber im April der Schnee wegschmolz, wurden unter seiner Decke in der nächsten Umgebung von Mandschuria noch 191 Leichen gefunden, und diese wurden in einem großen Ziegelofen verbrannt.
Natürlich ging vom ersten Augenblick der Entdeckung der Pest in Mandschuria unser Bestreben dahin, die Epidemie zu lokalisieren. Eine völlige Absperrung des ganzen Rayons ließ sich nicht durchführen, dazu war er zu ausgedehnt und unsere Hilfskräfte zu klein. Auf den Grundwegen rings herum wurden allerdings Besichtigungspunkte eingerichtet, doch in der Steppe ist überall ein Weg und niemand konnte daran verhindert werden, abseits von der Fahrstraße den Ort zu verlassen. Bei der Be- sichtigung der Passagiere, die Mandschuria mit der Bahn zu verlassen wünschten, konnten allerdings einige Pestverdächtige gefunden und zurückgehalten werden. Eine sichere Garantie gewährte diese Methode aber keineswegs, denn die Krankheit kommt meist erst am dritten bis fünften Tage nach der Infektion zum Ausbruch und während dieser Inkubations- zeit verrät nichts den Pestkandidaten.
Daher wurde sehr bald für die abreisenden Chinesen eine Quarantäne- station eingerichtet, doch kam es auch hier zu einer unliebsamen Ent- deckung. Findige Leute, die ihre Quarantänezeit regelrecht abgesessen hatten, fanden sich zum zweiten Male auf der Station ein und meldeten sich wiederum zur Aufnahme. Sie hatten ihren Passageschein anderen Chinesen verkauft, die nun, ohne die Quarantäne durchgemacht zu haben, das Weite gesucht hatten. Um diesem eigentümlichen Gewerbe einen Riegel vorzuschieben, erhielten von nun ab die Chinesen nach absolvierter Quarantäne einen mit einer Plombe geschlossenen Drahtring um das Hand- gelenk und nur solche ‚„‚plombierte‘‘ Chinesen durften den Zug besteigen, wobei ich nicht unterlassen will, zu bemerken, daß sie zu den von sonstigen Passagieren benutzten Zügen die ganze Zeit über keinen Zutritt erhielten, sondern nur mit Warenzügen befördert wurden.
10 Über die Pestepidemie in der Mandschurei.
Wie zu erwarten, hatten alle unsere Maßregeln die Ausbreitung der . Epidemie über Mandschuria hinaus nicht verhindern können. Abgesehen von einzelnen kleineren Stationen war im November die Epidemie auch in Harbin zum Ausbruch gkommen.
Hier fand sie bei der dicht und unter völligungenügenden hygienischen Verhältnissen lebenden chinesischen Bevölkerung den günstigsten Nähr- boden. Die Methode der Unterdrückung der Seuche, die bei uns so rasch zum Ziele geführt hatte, konnte hier in der Großstadt natürlich nicht zur Anwendung kommen; dazu kam noch, daß sich unmittelbar an Harbin, aber außerhalb des Expropriationsgebietes, eine große chinesische Stadt anschließt, wo die russische Bahnadministration keinerlei Verfügungsrecht hat, und wo die Pest auf das fürchterlichste wütete. In Harbin erlosch die Epidemie erst nach Monaten auf dem auch sonst beobachteten natür- ‚ lichen Wege, wobei aber die Mortalität bis zuletzt 100%, betrug.
Über den Verlauf der Pestepidemie in Harbin und auch sonst auf der Bahnlinie und weiter hinaus bis einerseits nach Wladiwostok, wo übrigens auch fast nur Chinesen von der Seuche ergriffen wurden, und andererseits bis in das eigentliche-China hinein und von unserer Bahnlinie abseits in die mandschurischen Städte und Dörfer, will ich mich nicht weiter auslassen, da ich außerhalb Mandschurias keine eigenen Beobachtungen gemacht habe. Der Verlust an Menschenleben, die diese Epidemie gefordert, muß schätzungsweise mehr als Hunderttausend betragen haben.
Kurz möchte ich nur erwähnen, daß gegen Ende der Epidemie in Mandschuria aus Petersburg Antipestserum geschickt worden war, das bei uns nur in einem einzigen Falle, später aber in Harbin in größerem Maßstabe zur Verwendung kam. Die Wirkung war aber leider gleich Null, es starben eben alle von der Pest Ergriffenen. Durch Anwendung des Serums konnte der letale Ausgang, der sonst meist am zweiten oder dritten Krankheitstage eintrat, höchstens um ein geringes hinausgeschoben werden. Und auch die prophylaktischen Immunisierungsversuche mit dem Haff- kineschen Impfstoff, in erster Linie beim Sanitätspersonal angewandt, gaben keine zufriedenstellenden Resultate.
Und nun will ich nicht unterlassen, noch auf eine höchst merkwürdige und völlig unaufgeklärt gebliebene Erscheinung hinzuweisen. Wie bekannt, gelten Ratten mit Recht als Träger und Verbreiter der Pestbazillen. In unserer Epidemie aber, wo Ratten und Mäuse in ausgiebigster Weise Ge- legenheit hatten, Pestleichen zu benagen und sich zu infizieren, ist ebenso wie auch in früheren Jahren keine Epizootie unter diesen Nagetieren be- merkt worden und die zahlreichen Tiere, die zwecks Untersuchung ge- fangen und getötet wurden, haben sich ausnahmslos als gesund erwiesen. In der letzten Pestepidemie, die ich 1920 in der Mandschurei erlebt habe, ist ebenfalls in den Grenzen der Chinesischen Ostbahn keine pestkranke Ratte oder Maus gefunden worden, wohl aber sind 1921, als die Pest auch nach Wladiwostok hinübergegriffen hatte, dort sieben tote Ratten ge- funden worden, in deren Kadavern Pestbazillen nachgewiesen werden konnten.
Diese Tatsache schon widerspricht der Annahme, daß das auffallende Freibleiben der Ratten in der Mandschurei auf eine Immunität der dortigen
Von Dr. Hans Adolphi. 11
Ratten gegen den Pestbazillus zurückzuführen sei. Daß von einer solchen Immunität keine Rede sein kann, haben zahlreiche Laboratoriumsimp- fungen von Mäusen und Ratten mit Pestmaterial unzweideutig bewiesen. Die geimpften Tiere gingen prompt an der Pest zugrunde. Es scheint also so, als ob die Ratten nicht erkrankten, weil sie sich nicht infizierten. Vielleicht daß der spezifische Geruch, der denChinesen der niedrigen Stände anhaftet (ein Gemisch von Knoblauch- und Bohnenölgeruch), diesen Nage- tieren widerlich ist und sie abhält, die Leichen zu benagen ?
Um nun zum Schluß wieder auf den Tarbagan zurückzukommen:
Zahllose bakteriologische Untersuchungen sowie auch langjährige Er fahrung haben zur Evidenz erwiesen, daß die in den Lagerräumen befind- lichen Felle keine Ansteckungsstoffe mehr bergen und vollkommen un- gefährlich sind. Bei der von mir bereits betonten geringen Resistenz- fähigkeit der Pestbazillen ist das ja auch nicht weiter verwunderlich, denn die erbeuteten Tiere werden gleich nach dem Fange abgehäutet und die Felle an Ort und Stelle sorgfältig an der Sonne getrocknet. So präpariert gelangen sie erst später in die Lagerräume. Nichtsdestoweniger sind seit 1910 auf höheren Befehl von der Verwaltung der Chinesischen Ostbahn in Mandschuria und Hailar, den beiden einzigen Stationen, die das Recht haben, Tarbaganfelle zum Versand ®ntgegenzunehmen. große Desinfek- tionskammern erbaut worden, wo sämtliche Felle, ehe sie verfrachtet werden, Formalindämpfen ausgesetzt werden. Mithin ist jegliche Gefahr einer Verschleppung der Pest durch die Tarbaganfelle, die ihren Absatz auf russischen Märkten, hauptsächlich aber in Leipzig, haben, absolut ausgeschlossen. Gefährlich sind einzig und allein die Tarbaganjäger, deren strengste Überwachung, wenn sie im Herbst ihre Beute nach Mandschuria und Hajlar in die Lagerräume abliefern, die Bahnverwaltung sowie die Selbstverwal- tungsorgane der genannten Ortschaften sich seit der großen Pestepidemie zur Pflicht gemacht haben.
Und auf Grund unserer langjährigen Beobachtungen und Erfahrungen läßt sich die Meinung wohl aller Ärzte in der Mandschurei dahin prä- zisieren, daß die Pest, endemisch in der transbaikalisch-mongolischen Steppe und gebunden an die Epizootie unter den Tarbaganen, gegenwärtig für die einsichtige und unter genügenden hygienischen Bedingungen lebende Bevölkerung keine ernste Gefahr bietet; selbst dann nicht, wenn am Orte unter den im höchsten Grade unhygienisch lebenden niedrigsten Schichten der chinesischen Bevölkerung eine Epidemie ausgebrochen ist.
Zur Kenntnis der Mykobakterien, insbesondere ihres quantitativen Stoffwechsels auf Paraffnnährböden.')
Von Dr. med. vet. Hans Büttner, Distriktstierarzt in Windsbach, früher Hilfsassistent am Institut.
(Aus dem Hygienischen Institut der Universität Würzburg. Vorstand: Geh. Rat Professor Dr. K.B. Lehmann.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 8. Dezember 1925.)
Herr Geheimrat Lehmann beauftragte mich mit der Nachprüfung und Weiterführung einer Arbeit, welche Söhngen unter dem Titel „Benzin, Petroleum, Paraffinöl und Paraffin als Kohlenstoff- und Energiequelle für Mikroben‘‘ veröffentlicht hat?).
Dieser Arbeit war schon ein Versuch Rahns?°) vorausgegangen, Or- ganismen zu kultivieren, welche Paraffine oxydieren; er fand eine paraffin- spaltende Penicilliumart, doch keine paraffinspaltenden Bakterien. Dies war Söhngen vorbehalten, welcher die verschiedensten Mikrobenarten feststellte, die Paraffin als Kohlenstoffquelle verwenden.
Nach Söhngen sind es zwei Gruppen von Mikroorganismen, welche Paraffin zu Kohlensäure und Wasser oxydieren:
1. Eine Gruppe echter, in der Luft vorkommender Bakterien: Bact. fluorescens liquefaciens, Bact. fluorescens non liquefaciens, Bact. punctatum, Bact. pyocyaneum, Bact. lipolyticum a, 2, 7 und Micro- coccus paraffinae.
2. Mikroorganismen aus der Gattung Mycobacterium L. et N.: die bei Zimmertemperatur üppig wachsenden saprophytischen Arten. Diese sollen nach Söhngen auch noch andere Stoffe angreifen, wie Zellulose und Kautschuk.
1) Die Arbeit ist im Wintersemester 1922/23 begonnen und im Frühjahr 1924 vollendet worden. In ausführlicherer Form ist sie der tierärztlichen Hoch- schule in München als Inauguraldissertation vorgelegt worden.
2) C. f. Bact. Abt. Il. Bd. 37.
3) Ebenda, Band 16.
Zur Kenntnis der Mykobakterien. Von Dr. Hans Büttner. 13
I
Vorversuche zur Prüfung der Söhngenschen Grundangaben.
Einige Kulturen aus der Sammlung des Hygienischen Instituts:
1. Mycobacterium lacticola planum,
2. Mycobacterium lacticola friburgense,
3. Mycobacterium phlei „rot“ wurden auf die Fähigkeit geprüft, Paraffine als alleinige Kohlenstoffquelle zu verwenden. Die Kulturflüssigkeit setzte sich folgendermaßen zusammen:
Leitungswasser . . 2 2 22.02. 100
Dikaliumphosphat . ...... 0,05 Chlorammonium . . . ..... 0,05 Magnesia usta . . . 2 2 22.0. 0,02 Kalziumkarbonat.. . . . . . . . 0,02.
Anfangs wurde als Kohlenstoffquelle ein niedriger schmelzendes wei- cheres Paraffin, später das bei 60° schmelzende reinste Produkt von Grübler verwendet. Um eine möglichst große Angriffsfläche für die Bakterien zu bieten und um diese dem Sauerstoff der Luft zugänglich zu machen, wurde das in einem Reagensglas sterilisierte Paraffin noch heiß mit Hilfe einer sterilen Pipette auf die Kulturflüssigkeit getropft; dort bildeten sich pfennigstückgroße, ziemlich gleichmäßige, zarte Plättchen. Nicht beimpfte Kolben gaben weder Bakterienwachstum noch Kohlen- säurebildung. In den beimpften Kolben zeigte sich nach 5 Tagen bei Brutschrankaufenthalt (37°) leichte Trübung der Kulturflüssigkeit, nach 10 bis 12 Tagen ein flacher, glatter, ockergelber, matter Belag, und zwar sowohl am Rand, wie auch auf der Luft- und auf der Wasserseite der Plättchen. Bei Zimmertemperatur ging die Entwicklung bedeutend lang- samer vor sich: Erst nach 5 Wochen war ein Wachstum makroskopisch deutlich sichtbar. Bei Mycobacterium phlei war das Wachstum etwas lang- samer. An der Wasserluftgrenze, am Rand der Paraffinplättchen, trat das Wachstum zuerst auf. Das Wachstum ist rascher bei Zuleitung von Sauer- stoff; doch genügt der im Wasser befindliche Sauerstoff, indem auch an der Wasserseite der Plättchen ein Bakterienbelag entsteht und außerdem sterile, mit Paraffin überzogene Steinchen auf dem Boden der Kölbchen massenhaften Bewuchs mit Mykobakterien zeigen.
11. Reinzüchtung von drei Spezies von Mykobakterien nach der Söhngen- schen Methode. | Die große Verbreitung der saprophytischen Mykobakterien in der Um- gebung des Menschen und der Tiere ist von mehreren Autoren hinreichend
beschriebent). Um die Eignung der Anreicherungsmethode Söhngens zu prüfen, wurden verschiedene Erd- und Pflanzenproben ausgewählt:
1) Bruno Lange, Veröff. d. R. Koch-Stiftung, 2. Bd., 1921; und als ältere Arbeit Potet, Les Paratubereulibaeilles, Paris 1902.
14 Zur Kenntnis der Mykobakterien.
1. Erdsorten (alle aus Würzburg): Gartenerde, Lauberde, Kompost- erde, Blumentopferde, Ackererde und Waldboden;
2. Heu: Wiesenheu, Waldheu, Kleeheu;
3. Blätter: Buchsbaumblätter von einer Wegeinfassung, Erdbeer- blätter, Buchenblätter vom Baume ım Walde, Taxusnadeln von einem Streuhaufen;
4. Pfützenwasser, Pferdemist, Panseninhalt von einem Rind, Torf.
Es wurden je 2 g der Erdsorten und je 1 g der Gras- und Blätterproben in 100 ccm Kulturflüssigkeit gegeben; dazu je 1 g Paraffin als Plättchen oder in Form von Spänen. Ferner wurde die von Söhngen angewandte Methode, das in der heißen Kulturflüssigkeit flüssige Paraffin unter Schüt- teln und unter Wasserabkühlung zu verteilen, immer bei einem der Kölb- chen angewandt. Die Kölbchen wurden bei einer Temperatur von 37°C. gehalten, da nach Söhngen bei dieser Temperatur die Mykobakterien in ihrem Wachstum die anderen paraffinoxydierenden Arten übertreffen. Nach 3 Tagen wurden im mikroskopischen Präparat vereinzelt säurefeste Stäbchen und Bakterien, Bazillen, oft auch Kokken in fast allen Kölbchen festgestellt. Trübung trat in den meisten Kölbchen nach 5 bis 6 Tagen auf. Eine Vermehrung der Mykobakterien ließ sich besonders durch Abstriche von den Plättchen feststellen. Nach 10 Tagen erhielten manche Plättchen eine leichte ockergelbe Verfärbung, nach 15 Tagen war ein deutlicher Belag meist sichtbar. Je nach Medium überwog entweder eine feine, zarte oder eine plumpe, dicke Form der säurefesten Stäbchen. Meist traten auf den Paraffinplättchen noch weitere Organismen, namentlich Aktinomyzeten und Schimmelpilze, in Massen auf, die den Untersuchungen hinderlich waren; besonders häufig war das Auftreten des weit verbreiteten Actino- myces chromogenes var. albus auf den Plättchen der mit den Erdproben beschickten Kölbcehen. Er bildete einen weißen Wall am Rand der Plätt- chen. In der Kulturflüssigkeit selbst wurde er nicht festgestellt. Die oft stark üerwuchernden Schimmelpilze waren Penicillium- und Aspergillus- Arten, die nicht näher untersucht wurden.
Im einzelnen ergaben diese Rohkulturen folgendes:
41. Gartenerde: Meist schlanke Mykobakterien, die sich stark vermehren: daneben Aktinomyzeten und Schimmelpilze stark entwickelt. Die Aktinomyzeten wuchsen erst nach 10 Tagen deutlich.
2. Lauberde: Mykobakterien meist mittellang und dick; sehr üppiges Wachstum. Daneben Aktinomyzeten und Schimmelpilze, stark ent- wickelt. Aktinomyzeten erst nach 10 Tagen auftretend.
3. Komposterde: Mykobakterien meist kurz, dick, sehr stark entwickelt; nach 6 Tagen treten Aktinomyzeten auf, die sich neben den Schimmel- pilzen sehr stark vermehren.
A. Blumentopferde: verhält sich wie Komposterde.
5. Ackererde: Mykobakterien meist kurz dick, in mäßiger Menge. Die Aktinomyvzeten entwickeln sich vom 6. Tage an üppig. Schimmelpilze fehlen.
6. Waldboden: Die Mykobakterien sind meist mittellang und plump. Sie entwickeln sich sehr gut, während Aktinomyzeten spärlicher und Schim- melpilze nicht vorhanden sind.
. Wiesenheu: Die Mykobakterien sind meist schlank, ihr Wachstum gering; sie werden von Aktinomvzeten und vor allem von Schimmelpilzen über- wuchert.
x)
Von Dr. Hans Büttner. | 45
8. Waldheu: Es finden sich keine Mykobakterien, doch in großer Zahl Aktinomyzeten, welche aber von Schimmelpilzen überwuchert werden. 9. Kleeheu: wie Waldheu.
10. Buxbaumblätter: Die Mykobakterien sind meist kurz und fein. Sie ent- wickeln sich bis zum 30. Tage sehr gut. Am 10. Tage beginnt ein spär- liches Aktinomyzetenwachstum; Schimmelpilze fehlen.
11. Erdbeerblätter: Mykobakterien meist kurz, fein, bis zum 30. Tage üppig. Es fehlen Aktinomyzeten und Schimmelpilze.
42. Buchenblätter verhalten sich wie Waldheu und Kleeheu.
13. Dürre Taxusnadeln: Die Mykobakterien sind meist kurz und dick; ihr Wachstum ist üppig, ebenso das der Schimmelpilze, während Aktino- myzeten spärlich vorhanden sind.
14. Straßenpfütze: Mykobakterien meist schlank und fein; ihr Wachstum ist am 30. Tage üppig. Es fehlen Aktinomyzeten und Schimmelpilze.
15. Pferdemist: Die Schimmelpilze überwuchern derart, daß von Myko- bakterien und Aktinomyzeten nichts zu sehen ist.
16. Panseninhalt vom Rind: Die Mykobakterien sind meist lang und schlank ; sie wachsen sehr üppig. Das Aktinomy zetenwachstum setzt am 6. Tage
ein und ist am 30. Tage ebenso üppig, wie das der Mykobakterien. Schimmelpilze fehlen.
17. Torf: Die Mykobakterien sind mittellang, kurz und plump. Sie werden sehr üppig; ebenso entwickeln sich die Aktinomyzeten sehr gut; ihr Wachstum setzt am 6. Tage ein. Von Schimmelpilzen ist nichts zu sehen.
- In sämtlichen Proben waren neben den erwähnten Organismen auch allerlei Begleitbakterien zu sehen: Bakterien, Bazillen und Kokken.
Aus diesen Versuchen geht hervor, daß die Mykobak- terien sehr weit verbreitet sind, in sämtlichen Erdproben und in den meisten Proben von Pflanzenteilen festzustellen sind. Sie ließen sich mit Hilfe der Paraffinplättchen an- reichern. Weiterhin wurde festgestellt, daß auch Aktino- myzeten paraffinfressende Mikroben sind. Die Anreiche- rungsmethode durch Paraffin vermehrt wohl elektiv die Säurefesten und die Aktinomyzeten, hemmt aber Schimmel- pilze in keiner Weise in ihrem Wachstum.
Die Reinzüchtung. Verschiedene Methoden zur Reinzüchtung der saprophytischen Mykobakterien sind bereits ermittelt worden. Sie alle haben zum Grundsatz die Abtötung der Begleitbakterien, sei es durch Meerschweinchen-Impfung (Züchtung aus der Butter, Petri!) und Ra- binowitsch?), Formalindämpfe (Weber und Taute?°)), Formalinzusatz (Piatkowski#)) oder Antiformin (Kersten?°)). Möller hat eine An- reicherung der Säurefesten auf Grasarten dadurch erreicht, daß er diese mit Wasser übergoß und 24 Stunden stehen ließ, dann direkt auf Platten möglichst dünn ausstrich. Eine elektive Methode hat Söhngen angegeben, indem er bei Verwendung eines kohlenstoffreien Kulturbodens Petroleum- dämpfe als Kohlenstoffquelle benutzte. Dieser Nährboden hat folgende Zu- sammensetzung:
Ausgew
aschener Agar . .... 2,00 Dikaliumphosphat . . ..... 0,05 Magnesiumsulfat . . . . .. 2... 0,05 Destilliertes Wasser . . . . . . 100,00.
1) Arb. a. d. k. Gesundheitsamte 1898, Bd. 14. — 2) Z. f. Hygiene, Bd. 26. — 3) Tub. Arb. a. d. k. G. A. 1905, 3. — A) D. m. W. 190%, 877.— 5) C.f. B. orig., Bd. 51, 494, 1909.
16 Zur Kenntnis der Mykobakterien.
Die Petroleumdämpfe werden aus einem auf dem Deckel der um- gekehrten Petrischale stehenden Uhrglase zugeführt. An Stelle des aus- gewaschenen Agars verwendete ich ausgefaulten Agar, der folgendermaßen hergestellt war: Die 2proz. in destilliertem Wasser gequollene Agarmasse wurde zerschnitten und einige Wochen in Brunnenwasser bei öfterem Wechsel des Wassers ausgefault. Der Agar wurde dann gewaschen, ver- flüssigt, filtriert, mit den Salzen versetzt und sterilisiert. Zur Prüfung des Kohlenstoffmangels machte ich Kontrollversuche mit verschiedenen Mi- kroben. Es zeigte sich kein Wachstum: von Micrococcus pyogenes, Bac. anthracis, Vibrio cholerae, ganz schwaches Wachstum von Micrococcus flavus, Bact. coli, Bact. typhi, Bac. mycoides, Mycobacterium lacticola. Es sei bemerkt, daß keine Stickstoffquelle zugegeben war.
Es wurden nun auf dem ausgefaulten Agar Striche aus den Roh- kulturen angelegt. Während aus der Kulturflüssigkeit keine Mykobak- terien wuchsen, gaben die Abstriche von den Paraffinplättchen gutes Wachstum. In ersterem Falle zeigten die Platten nur ein reichliches Wachs- tum von Schimmelpilzen und nicht säurefesten Mikroben. Bef Abstrichen von Paraffinplättchen, auf denen auch Schimmelpilze wuchsen, war eine Reinzüchtung unmöglich, da die Schimmelpilze, die auch den Petroleum- dampf als Kohlenstoffquelle verwenden, die Mykobakterien infolge starken Wachstums unterdrückten. Aktinomyzeten hatten mit den Mykobakterien die gleiche Wachstumsgeschwindigkeit. Es traten die Mykobakterien und der Actinomyces chromogenes albus nebeneinander auf. Bei reichlichem Vorhandensein von Mykobakterien und bei Abimpfung von jungen Rohkulturen eignet sich also die Methode Söhngens sehr gut zur Reinzüchtung. Vorausbedingung ist eine gut- durchgeführte Anhäufungsmethode. Rein elektiv für Myko- bakterien ist die Methode nicht, da sie für die ganze Gruppe der paraffinoxydierenden Mikroben in Betracht kommt. Vierling hat diese Methode Söhngens unter Verwendung von Benzin- dämpfen angewandt und auch gute Erfolge erzielt.
Nach 2 bis 3 Wochen waren feine Kolonien entwickelt, die sich durch Farbe, Oberflächenbeschaffenheit und Form unterschieden. Es waren erstens weiße, mattglänzende, später leicht gefaltete Kolonien mit stark säurefesten, länglichen Stäbchen vorhanden; zweitens runde, ‚halbkuge- lige, mattglänzende Kolonien von gelblicher bis brauner Farbe, welche dicke, gut säurefeste Stäbchen enthielten und drittens rosa gefärbte Kolonien ähnlichen Aussehens, die schwach säurefeste Stäbchen zeigten. Auf Glyzerinagar konnten diese drei Kolonietypen genauer bestimmt werden und lieferten drei Gruppen (Tabelle I), die 3 Spezies entsprechen.
Über die drei Spezies der Tabelle möchte ich folgendes sagen:
In der Gruppe 1 haben wir zwei Stämme, die mit Mycobacterium lacticola L. et N., in Gruppe 2 sieben, die mit Mycobacterium phlei L. et N. identisch sind. Die drei Stämme der Gruppe 3 haben große Ähnlichkeit mit von Hormann und Morgenrot!) Graßberger?) und Weber?)
1) Hygienische Rundschau 1898, S. 229. 2) Münchner medizinische Wochenschr. 1899, N. 342. 3) Arb. a. d. k. Gesundheitsamt, 1903, Bd. 19.
17
Von Dr. Hans Büttner.
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Bd. 9
Archiv für Hygiene.
18 Zur Kenntnis der Mykobakterien.
beschriebenen Stäbchen, die in der Butter vorkommen. Sie bilden auf Serum kurze, feine, dagegen auf fetthaltigen Nährböden lange, schlanke Formen. Diese Eigenschaft, sowie dasselbe Wachstum auf Kartoffeln, die ziegelrote Farbstoffbildung und das Aussehen auf festen Nährböden, die Häutchenbildung auf Bouillon und die erhöhte Säurefestigkeit auf fett- haltigen Nährboden spricht für eine Identität mit meinen Organismen. Söhngen hat ein Mycobacterium rubrum herausgezüchtet; nähere mor- phologische Einzelheiten gibt er nicht. Es wird weiteren Bemühungen überlassen werden müssen, die Frage, ob Myc. Eos. als Mycobacterium rubrum zu bezeichnen ist, zu klären.
Nach öfteren Umzüchtungen auf Glyzerinagar ist das Wachstum rascher. Man sieht dann schon nach 30 bis 40 Stunden feine Kolonien auftreten, während es anfangs drei Tage dauert, bis Wachstum zu bemerken ist. Gelatine und gewöhnlicher Agar!) geben schlechteres Wachstum. Gelatine wird nicht verflüssigt.
Morphologische Betrachtung: Vierling stellt in eingehenden Untersuchungen fest, daß die normale Wuchsform der Mykobakterien die Fäden seien, die bei Anfertigung der Präparate in Stäbchen von verschie- dener Größe zerfallen. Bei den Stämmen der Gruppe 1 und 2 konnte ich auch in manchen vorsichtig gefärbten Präparaten Fäden feststellen, zum mindesten immer längere Fadenbruchstücke. Die Fäden und die Stäbchen waren nicht gleichmäßig dick. Ferner zeigten sich bei der Gruppe 2 be- sonders in den etwas älteren Kulturen neben vollständig rot gefärbten Individuen Stäbchen, die weniger stark gefärbt schienen. Die stark ge- färbten Individuen traten in den jungen, ausgewachsenen Kolonien am meisten auf. Sie erschienen oft in kurzen Fäden, in denen in bestimmten Abständen helle, farblose, quer verlaufende Stellen zu sehen waren. An anderen Stäbchen waren diese Stellen breiter. Es scheint sich hier bei den jungen Formen um eine Segmentation: Teilung durch Einschnürung der Membranen, zu handeln. Diesen Vorgang beobachtete auch Lachner- Sandoval:), und zwar bei jungen Fäden von Streptotrix nigra. Die stark gefärbten Stäbchen sind deshalb wahrscheinlich die jungen, die etwas schwächer gefärbten die älteren Formen. In diesen sah man Körnchen aul- treten, dunkelrot bis schwarzrot. Körnchen zeigen aber auch die anderen zwei Gruppen. Sie liegen in den einzelnen Individuen teils allein, teils in Mehrzahl, bei einzelnem Auftreten liegen sie in der Mitte der Zelle, wenn doppelt, an den Polen. Oft liegen mehrere Körnchen in einer Zelle un- gleichmäßig verteilt. Sie waren neben der Karbolfuchsinfärbung auch nach der Methode von Neißer kenntlich zu machen. In einigen Prä- paraten der Stämme der Gruppe 2 sah man in 48 Stunden alten Kulturen ganz große, runde Körner in ungefähr gleichen Abständen auftreten. Das Vorkommen dieser Körnchen war in dieser Gruppe überhaupt viel stärker. Daneben zeigte sich in den schwächer gefärbten Formen stärker und schwächer gefärbte Stellen des Protoplasmas von unregelmäßiger Form, gerade als ob es sich zusammenziehen wollte. Diese Plasmateile waren
1) Demgegenüber teilt Söhngen mit, daß bei seinen Stämmen Glvzerin- zusatz zum Agar die Entwicklung hemmte. 2) Über Strahlenpilze. Inaug.-Diss. Straßburg 1898.
Von Dr. Hans Büttner. 19
nicht mit den Körnchen in Zusammenhang zu bringen. Man sah oft neben den kreisrunden Körnchen die verschiedenen, oft länglichen Teilstücke des Plasmas liegen. Rosenblat?) findet eine Gruppierung des Protoplasmas um die Körnchen und spricht ihnen deshalb eine Bedeutung bei der Frag- mentation zu. |
Diese ungleiche Färbung zeigte sich bei den Stämmen der Gruppe 2 auch nach Gram, besonders wenn die Individuen etwas älter waren. Es zeigten sich neben vollständig violetten Stäbchen bei starker Fuchsin- nachfärbung Stäbchen, die violette Teile besaßen und dazwischen rot gefärbte Zwischenräume. Es scheint sich also um eine Verdichtung des Plasmas an einzelnen Stellen zu handeln. Dieser Vorgang im Plasma scheint einen Zerfall der Stäbchen einzuleiten. Es wurde nämlich an fortlaufenden Präparaten von Kolonien der Stämme 3 und 4 der Gruppe 2 folgendes beobachtet: Die Stäbchen sind anfangs meist durchgefärbt. Nach einigen ‘Tagen vermehrt sich die Zahl der weniger durchgefärbten Stäbchen. Sie zeigen die Kontraktion des Protoplasmas. Neben den geraden Faden- stücken traten später stark gebogene auf, die meistens cine S-Form hatten und ebenfalls stark tingiert waren. Bei starker Entfärbung und starker Kontrastfärbung mit Methylenblau lagen zwei Tage später in den Fäden Formen, die teils eineinhalbmal so lang wie breit und stellenweise breiter wie lang, teils rot, teils rosa, teils blau waren, während die Membran schwach gefärbt war. Später war dann eine Membran überhaupt nicht mehr vorhanden, so daß man je nach Größe und Art der Zerfallselemente kurze Kokkenketten oder kurze Fäden mit kurzen, keulenartigen Formen bemerkte. Ferner kommen außer dieser Anordnung die einzelnen Teile frei, teils in Haufen, teils oft in Parallel- und Winkelstellung vor. Dieser “Vorgang hängt wohl einerseits von der betreffenden Art der Stämme ab, denn im besonderen tritt er bei den Stämmen der Gruppe 2 auf. Anderer- seits spielt der Nährboden eine Rolle, da der Zerfall auf Kartoffeln, Stearin- 'säure und Cholestearin besonders stark auch bei der Gruppe 1 und 3 zu sehen ist. Dieser Zerfall wurde auch von Vierling bei Mykobakterien beobachtet und mit der bei den Aktinonfyzeten auftretenden Fragmentation für identisch erklärt, während Söhngen eine Einschnürung der Stäbchen als Vorstadium zu den kokkenartigen Formen beobachtet.
Es spielte der Nährboden auf die Gestalt und Färbbarkeit der Myko- bakterien eine große Rolle. Auf saurem Glyzerinagar (Säuregehalt bei 10 cem: 2,5 cem n/10 NaOH) nimmt Größe und Säurefestigkeit ab. Nach der ersten Impfung zeigt sich keine Veränderung, nach der zweiten Imp- fung waren die Stämme der Gruppe 3 nicht mehr säurefest; die der Gruppe 2 zeigten ein Überhandnehmen der blauen Stäbchen. Nach der vierten Impfung waren die Stämme der Gruppe 2 ganz schwach säurefest, nur noch einige rote Stäbchen traten auf. Die Stämme der Gruppe 1 zeigten einige blaue Stäbchen. Bei Züchtung auf normalen Nährboden konnte die frühere Säurefestigkeit nicht mehr erhalten werden. Diese Beobachtung findet Bestätigung in einer umfangreichen Arbeit von Frei und Pockschi-
1) Zur Kenntnis der zur Gruppe der Tuberkelbazillen gehörenden säurefesten Mikroorganismen. Inaug.-Dissert. Zürich 1905. 9%
4s
.20 Zur Kenntnis der Mykobakterien. schewsky!), welche die Säurefestigkeit vom Gehalt an H- und OH- Jonen des Nährbodens abhängig machen. Olschanetzky?) und Weber machen die Säurefestigkeit bei manchen Mykobakterien überhaupt von bestimmten Nährböden abhängig. Olschanetzky beschreibt ein Myko- bakterium, das auf Milch seine Säurefestigkeit verlor. Weber berichtet von dem schon erwähnten, der Gruppe 3 ähnlichen Organismus, daß er nur auf fetthaltigem Nährboden säurefest war.
Die Stämme der Grüppe 3 waren säurefester, wenn man von Paraffin direkt Abstriche machte, als bei Wachstum auf Glyzerinagar. Weiterhin konnte bei Stamm 3 und 4 der Gruppe 2 und sämtlichen Stämmen der Gruppe 3 eine Steigerung der Säurefestigkeit auf Paraffin, Paraffinöl, Petroleum, Wachs und Kokosbutter, nicht aber auf Stearinsäure und Cholesterin festgestellt werden. Doch ist diese Steigerung an die be- treffenden Nährböden gebunden und bleibt nicht konstant, indem nach Umzüchten der Stämme auf Glyzerinagar die gesteigerte Säurefestigkeit verschwindet, ein Ergebnis, welches dem von Bienstock®) und Gott- stein?) auf Butteragar ähnlich ist.
IM. Das Wachstum auf Paraffin. >
a) Saprophytische Mykobakterien. Die zwölf Stämme wurden als Reinkulturen in Kölbchen geimpft, welche Paraffin in Plättchenform als Kohlenstoffquelle enthielten. Die Paraffinplättchen waren nach einer bestimmten Zeit nahezu gleichmäßig von einem Bakterienbelag bedeckt. Unterschiede waren nur in Wachstumgeschwindigkeit und Farbstoff- bildung vorhanden. Die beiden Stämme der Gruppe 1 zeigten nach sechs Tagen leichte Trübung der Kulturflüssigkeit, nach zehn bis zwölf Tagen färbten sich die Plättchen besonders am Rande weißgelblich, nach 20 Tagen war ein deutlich sichtbarer weißgelber Belag vorhanden, welcher da und dort Erhebungen, wie bei einer Koloniebildung, zeigte. Die Stäbchen sind bedeutend kürzer und ganz fein; sie liegen parallel, zeigen keine Faden- bildung, wenig Involutionsformen und sind stark säurefest. Die Stämme der Gruppe 2°) zeigten gutes Wachstum; nach fünf Tagen Trübung der Flüssigkeit, nach acht Tagen sichtbare Verfärbung, besonders am Rand, nach 15 bis 24 Tagen ein flacher, mattgelber Belag, manchmal kolonie- artige Erhebungen. Anfangs sah man längere und kürzere Formen, später nur noch kürzere Formen, vor allem kokkenartiger Zerfall in Ketten oder Häufchen. Säurefestigkeit ist gut, Involutionsformen sind selten. Die Stämme der Gruppe 3 wachsen auf Paraffin ebenfalls gut. Die Kultur- flüssigkeit trübte sich nach sechs Tagen, nach acht Tagen waren die Plätt- chen rosa gefärbt, nach 15 Tagen war ein deutlicher rosaroter Belag vor- handen, der später ziegelrot wurde. Diese Gruppe zeigte im Gegensatz
1) C. f. Bact. Orig. Bd. 60. 1911.
2) C. f. Bact. Orig. Bd. 32. S. 16.
3) Fortschritte der Medizin 1886, Bd. 4, S. 193.
4) Ebenda S. 252.
5) Mit Ausnahme des Stammes 4, welcher nur langsam und spärlich wuchs.
.
Von Dr. Hans Büttner. 21
zu den anderen überwiegend lange, leicht gebogene Stäbchen, meist in Parallellagerung. Meistens waren die Stäbchen schlank, teils gleichmäßig gefärbt, teils granuliert; kürzere Fadenbildungen und Verzweigungen waren zu sehen. Die Säurefestigkeit ist gut. Impft man diese Stäbchen auf Glyzerinagar ab, so werden die Formen sogar noch etwas länger; nach der zweiten Abimpfung aber waren wieder zarte Formen zu finden. Das Paraffin als Nährboden beeinflußt die Stämme morphologisch; während bei Gruppe 1 die Stäbchen verkürzt sind, in Gruppe 2 die Stäbchen kokken- artig zerfallen, zeigt Gruppe 3 eine Vergrößerung der Stäbchen und stärkere Säurefestigkeit.
b) Aktinomyzeten. Einige Kulturen aus der Sammlung des Hygie- nischen Institus wurden auf ihr Wachstum in Paraffin-Salzlösung geprüft: 1. Actinomyces chromogenes albus: Nach sieben Tagen tritt ein weißer Wall an den Plättchen auf, der am zwöften Tage ziemlich stark wird; dann sieht man Ausläufer zur Mitte der Plättchen ziehen. Nach zehn bis zwölf Wochen sind die Plättchen schmutzig grau gefärbt, wobei der Wall noch deutlich zu sehen ist. Ein zweiter Stamm wächst genau so. Präparate nach zwei Wochen ergeben
zarte Aktinomyzesfäden mit Einlagerung von Körnchen. À
2. Actinomyces bovis: Nach zwölf Tagen tritt ein deutlicher weißer Wall am Rande auf, der leicht wellig und zentralwärts leicht gezackt ist. Nach zehn bis zwölf Wochen, wie 1. Mikroskopische Präparate zeigen feine Fäden.
3. Aktinomyzes „Eppinger“. Nach sieben Tagen feiner Wall, anfangs hellgelb, glatt; nach zehn bis zwölf Wochen ist das ganze Plättchen gelb. Der Wall ist nach der Mitte zu vorgerückt, peripher ist an Stelle des Walles weißes Paraffin zu sehen, dünn, zart, durch- scheinend, deutlich gezackt und gewellt; es sieht aus, als ob eine Paraffinschicht abgetragen sei. Im mikroskopischen Präparat: Fäden mit vielen Verzweigungen. Ein weiterer Stamm, ein gelber Aktinomyzet, gibt genau dieselbe Erscheinung.
4. Aktinomyzes „Trautwein“. Nach 14 Tagen rötlicher Wall hart am Rande der Plättchen. Nach vier Wochen färbt sich das ganze Plättchen, der Wall bleibt. Das mikroskopische Präparat zeigt verzweigte Aktinomyzesfäden mit Körncheneinlagerung.
Es bildeten also die aeroben Aktinomyzeten auf Paraffin einen Wall, im Gegensatz zu den Mykobakterien; die Wasser- luftgrenze scheint optimale Bedingungen zu geben, indem die Aktinomyzeten, im Gegensatz zu den Mykobakterien auf dem Grund des Kölbchens (Paraffinüberzogene Steinchen) kein oder nur ganz schwaches Wachstum zeigen. Es läßt “sich auf diese Art makroskopisch eine Verschiedenheit zwi- schen den Mykobakterien und den aeroben Aktinomyzeten feststellen.
c) Tuberkelbazillen. Die nahe Verwandtschaft der saprophytischen Mykobakterien mit dem echten Tuberkelbazillus rechtfertigt den Versuch, das Wachstum dieses Organismus auf Paralfin zu prüfen. Es wurden Rein-
22 Zur Kenntnis der Mykobakterien.
kulturen und Auswurf mit Salzlösungen und Paraffin, Paraffinol, Wachs und Cholesterin als Kohlenstoffquelle geprüft; es zeigte sich aber kein Wachstum. Als Kulturflüssigkeit wurde die bereits erwähnte Zusammen- stellung genommen, ein Versuch mit anderen Stickstoffquellen wurde nicht gemacht. Meine Versuche sollen im ‘Institut weitergeführt werden.
-
IV.
Das Wachstum. der Mykobakterien auf anderen Kohlenwasserstoffen.
Über weitere Kohlenwasserstoffe als Kohlenstoffquellen gibt Tabelle II Auskunft. Die Stämme der Gruppen 1, 2, 3 zeigten unter sich gleiches Verhalten. Die zugesetzten Substanzen wurden in Mengen von 1g in die anorganische Kulturflüssigkeit gegeben, infiziert wurde bei „Roh- kultur‘ mit je 1g Erde, und zwar mit einer Sorte, die Mykobakterien, Aktinomyzeten und Schimmelpilze enthielt, bei „Reinkultur‘‘ mit einer Öse Stammkultur.
Der Beginn des Wachstums war bei den einzelnen Stoffen verschieden; er war bei Paraffin, Paraffinöl, Schreibmaschinenöl und Petroleum inncr- hälb sechs bis zehn Tagen, bei Kokosbutter erst nach 15 bis 20 Tagen be- merkbar. Bei Wachs fiel ein starkes Wachstum von Schimmelpilzen in den Rohkulturen auf. Wachs scheint ein guter Nährboden zu sein; es wurde fesgestellt, daß der Verbrauch durch ein zwölfwöchentliches Wachstum von Mycobacterium lacticola 0,452 g Wachs betrug. Die Farbstoffbildung der einzelnen Stämme wechselt nach Nährboden, was Tabelle III zeigt.
Die Untersuchungen ergaben somit: Außer Paraffin sind Paraf- finol, Petroleum, Nähmaschinenöl, Kokosbutter und Wachs mehr oder weniger gute Nährquellen für Mykobakterien.
V. Quantitative Versuche über Paraffinverbrauch und Kohlensäurebildung an verschiedenen Mikroorganismen (Stoffwechselversuche).
Es wurde geprüft, ob aus einer bestimmten Menge Paraffin auch eine bestimmte Kohlensäuremenge gebildet wird. Diesem Abschnitt wurde auf Wunsch von Herrn Geheimrat Lehmann besondere Sorgfalt gewidmet. Die Kohlensäurebestimmung wurde nach der Pettenkoferschen Röhren- methode durchgeführt. Durch Natronlauge und Barytwasser gereinigte Luft wird in die Kulturkolben, welche sich im Brutschrank befinden, ein- geleitet. Der austretende l.uftstrom passiert zwei mit Barytwasser ge- füllte Röhren, in welchen die Kohlensäure gebunden wird. Die Luft- bewegung geschieht durch eine Wasserstrahlpumpe. Die Bestimmung der gebundenen Kohlensäure erfolgte durch Titrierung des Barytwassers. In den Kulturkolben wurde das Paraffin nieht ın Plättchenform verwendet, sondern es wurden die Kolben bis zum Wasserspiegel mit Paraffin aus- gekleidet. Durch geschickte Einstellung der Temperatur wurde dann ein Teil des an der Wand befindlichen Paraffins als dünnes Häutchen an der Oberfläche der Kulturflüssigkeit gesammelt.
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24 Zur Kenntnis der Mykobakterien.
Der Paraffinverlust wurde bestimmt, indem man das Restparaffin in den Kolben durch Tetrachlorkohlenstoff extrahierte. Diesen reinigte ich vorher durch dreimaliges Auswaschen mit 5proz. Sodalösung, dreimaliges mit destilliertem Wasser, Trocknen, Destillieren. Der Kolbeninhalt wurde durch ein Filter abgegossen, Kolben und Filter getrocknet. Das Filter wurde in den Kolben gegeben, dazu 100 ccm Tetrachlorkohlenstoff, der Kolbeninhalt 1 Stunde mit Rückflußkühler gekocht. Darauf filtrierte ich den Inhalt in ein gewogenes Kölbchen ab, wusch mit heißem Tetrachlor- kohlenstoff nach, destillierte letzteren auf dem Wasserbad ab und trocknete den Kolbeninhalt im Trockenschrank bis zur Gewichtskonstanten. Schon Rohkulturen zeigen einen erheblichen Paraffinverlust; gibt man zu ver- schiedenen Erdsorten Kulturflüssigkeit und 1 g Paraffin, so stellt sich nach sechs Wochen folgender Paraffinverlust ein:
Komposterde . . . 0,563 g Waldboden . . . . 0,649 g Gartenerde . . . . 0,573 g Blumentopferde . . 0,507 g Buxbaumblätter. . 0,517 g
Diese Zahlen sind nicht genau, weil noch Fette des Bodens durch Tetrachlorkohlenstoff ausgezogen sein können. Ein Kontrollversuch zeigte, daß Mycobacterium lacticola in reiner Kulturflüssigkeit ohne Paraffin nur wenig Kohlensäure bildet (nach zwölf Tagen 5 mg). Weitere Versuche ergaben, daß das Alter der Kultur nur geringe Unterschiede in der Kohlen- säurebildung ausmacht, und daß die Kohlensäurebildung nicht dauernd gleichhoch ist, sondern gesetzmäßig ansteigt und abnimmt. Dies zeigt die folgende Tabelle deutlich:
Tabelle IV.
Kohlensäurebildung aus 1,0 g Paraffin 7.mit }10. mit 13. mit | 18, mit | 31. mit | 39. mit
—
Nr. des
Menge von Versuchs co
l.
6 Wochen alte Lacti- colakultur
IV. 3 Tage alte | 16,5 | ne 43,34 In 38 Tag Lacticola- also in 24 Stunden: 942,76 mg kultur 8,25 | 14,85 | 21,67 | 24,23 | 25,52 | 28,92! 27,56| 25,13] —
Es wurde nun ein Stamm von Mycobacterium phlei auf Kohlensäure- bildung und Paraffinverlust in zwei parallelen Versuchen (V und VI) unter- sucht, wobei zwei gleichalte Kulturen unter ganz gleichen Bedingungen gehalten waren. Nach 41 Tagen war die Kohlensäurebildung beim Ver- such V 364 mg, bei Versuch VI 366 mg, der Paraffinverlust ist in dieser Zeit bei V 135, bei VI 136 mg. Die beiden Versuche zeigen also eine vor- zügliche Übereinstimmung in Kohlensäurebildung und Paraffinverlust. Als Verhältniszahl zwischen Paraffinverlust und Kohlensäurebildung er- halten wir in beiden Fällen 0,37.
Von Dr. Hans Büttner. l 25
Weitere Versuche sollen feststellen, ob diese Verhältniszahl immer eine konstante ist. Das Ergebnis mit Stamm 1, Stamm 2 und Stamm 10 zeigt folgende Tabelle:
Tabelle V. Kohlensäurebildung in mg l Paraffin- a Nr, des Or yerlust in Judex- Versuchs , „mit | 9.mit | 12.mit | 22. mit ae 31 a araffin 4. Tag | 8. Tag | 11.Tag| 21.Tag| 31.Tag| | co,
VII 31,90 | 74,80 | 78,25 | 206,80! 203,50 0,38 Stamm 1 also in 24 Stunden
Paraffin | 7,97] 18,70] 26,88 | 20,68 | 20,35
i ee
6,30 | 73,70 | 78,10 | 164,78| 101,44 0,36 Stamm 2 also in 24 Stunden Paraffin 9,07 | 18,42 | 26,03 | 16,47 | 15,14 : X 23,10 8,40 | 47,30 | 179,30] 183,70] 460 170 0,37 Stamm 10 also in 24 Stunden
+ Paraffin | 5,77) 6,60| 15,76| 17,93 | 18,37
Die weitere Tabelle zeigt zum Vergleich Versuche mit Bacterium pyocyaneum und Actinomyces chromogenes; auch hier bewegt sich die Verhältniszahl um 0,37; dabei ist die Kohlensäurebildung geringer als bei den Mykobakterien.
Tabelle VI.
Kohlensäurebildung in mg | Paraftin- Index: Co, in | verlust in 1. mit | 5. mit | 9. mit 12. mit] 24 Tagen 21 Tagen | Paraffin
Nr. des Versuchs
4. Tag 8. Tag | 11. Tag | 2i. Tag mg Co, X .| 22,0 33,0 39,60 | 155,93 0,37 Bacterium also in 24 Stunden pyocyaneum 55 | 82 13,2 15,59 K 9,70 | 28,82 | 36,80 | 139,61 234 8l 0,35 Actinomyces also in 24 Stunden
chromogenes 7,42 | 720| 122 | 13,9 Nach 21 Tagen bilden Kohlensäure:
Gruppe 1, Stamm 1. ....... -e . 392 mg a a e A nee ee 353 „ aw Sr Sye AO ea ee Ba 276 p,
39
Bacterium pyocyaneum . .. .. .. . 251
Actinomyces chromogenes . .. ... . 234 „
Bei der Petroleumoxydation gibt Söhngen für die Kohlensäure- bildung in 24 Stunden Zahlen an, die bei den verschiedenen Kulturen ' zwischen 93 mg und 55 mg CO, schwanken. Ob es sich um Durchschnitts- werte oder Höchstwerte handelt, ist nicht ersichtlich. Weiterhin gibt Söhngen Angaben über den Paraffinverlust. Er findet nach einem Monat durch Mycobacterium rubrum und album 330 mg und 300 mg Verlust, während meine Verluste mit den drei Stämmen 1, 3 und 10 224, 172 und 170 mg ergaben. Die Errechnung einer Verhältniszahl ist aus seinen An- gaben nicht möglich, weil keine Angaben über Kohlensäurebil- dung vorhanden sind,
`~
26 l Zur Kenntnis der Mykobakterien.
Ich stelle in folgender Tabelle die von mir gewonnenen Verhältnis- zahlen zusammen:
Tabelle VII
Nr. des | Paraffinverlust | zu CO„-Bildung | Verhältnis-
Versuchs | mg | mg zahl V 135 0,37 VI 136 0,37 VII .224 0,38 VIII 182 0,36 IX 170 0,37
' im Mittel
Es schwankt also die Verhältniszahl bei den einzelnen Versuchen zwischen 0,35 und 0,38. Im Mittel erhielt ich eine praktische Verhältniszahl von 0,37. Es fragt sich nun, wieviel Parafiin müßte theoretisch verzehrt sein, wenn die Kohlensäure aus dem Paraffin gebildet wäre.
Paraffin hat die Formel C„Hng + 2. Für ein großes „n“ nähert sich diese Formel der einfachen CnHen oder CH,. Es enthält also das Paraffin auf 14 Gewichtsteile CH, 12 Gewichtsteile C oder es besteht zu 12/14,
44 12 44 (07A SEREI . also 86%, aus C. 1gC liefert i CO, oder 1 g Paraffin — 75” 3,1 CO}.
Es ist also zu erwarten, daß für je 3,1 g gebildete Kohlensäure 1 g Paraffin verschwunden wäre ‚oder daß für 1 g CO, = 0,32 g Paraffin ausreichte. Als Mittelwert meiner Zahlen hat sich, wie Tabelle X zeigt, 0,37 statt 0,32 ergeben. Ich habe also ungefähr vier Fünftel der theoreti- schen Kohlensäuremenge gefunden. Wenn man bedenkt, daß auch die Leibessubstanz der Bakterien aufgebaut werden muß und daß es sehr leicht möglich ist, daß aus dem Paraffin nicht bloß Kohlensäure gebildet wird, sondern noch andere, kohlenstoffhaltige Produkte, z. B. niedere Fettsäuren, so hat dieser Verlust nichts Auffallendes. Daß bei meinen Versuchen etwa Kohlensäure zu Verlust gegangen sei, kann ich nicht an- nehmen, da sie nach allen Regeln der wissenschaftlichen Kohlensäure- bestimmung angestellt sind. Eher habe ich zeitweise befürchtet, daß durch Undichtigkeit der Verbindungen, schlechte Qualität der Schläuche (Kriegsschläuche) der Kohlensäuregehalt zu hoch wäre. Die Ähnlichkeit der Versuche beweist aber, daß die theoretisch möglichen Versuchsfehler vermieden sind.
Die Versuche haben also gezeigt, daß aus einer bestimm- ten Menge Paraffin von den Mykobakterien durch Oxy- dation eine bestimmte Menge Kohlensäure gebildet wird, wobei eine Verhältniszahl im Mittel von 0,37 entsteht, die ungefähr vier Fünftel der theoretisch zu erhaltenden Koh- lensäuremenge ergibt.
Von Dr. Hans Büttner, 27.
Bei meiner Arbeit hatte ich mich der liebenswürdigen Anregung und Förderung durch die Herren Geheimrat Lehmann, Professor H. K. Lang, und Assistent Dr. Haag zu erfreuen, wofür ich auch hier bestens danke.
Zusammenfassung.
1. Die Ergebnisse Söhngens werden bestätigt. Es konnten aus ver- schiedenen Erd- und Grassorten und aus anderen bakterienreichen Medien die saprophytischen Mykobakterien mühelos herausge- züchtet werden.
2. Die Anreicherungsmethode durch Paraffin vermehrt wohl elektiv die Säurefesten, hemmt aber die Schimmelpilze und andere’ paraf- finfressende Mikroben in keiner Weise.
3. Die Züchtung ergab drei Gruppen von Säurefesten; die erste Gruppe war identisch mit Mycobacterium lacticola L. et N., die zweite Gruppe mit Mycobacterium phlei L. et N., die dritte Gruppe scheint mit den Organismen von Hormann und Morgenröth, Graß- berger und Weber identisch zu sein.
4. Säurefestigkeit und Farbstoffbildung zeigen mäßige Änderungen durch den Wechsel der Nährböden.
5. Neben Paraffin sind Paraffinöl, Petroleum, Nähmaschinenöl, Kokos- butter und Wachs mehr oder weniger gute Nährquellen für Myko- bakterien, Schmieröl nicht.
6. Weiterhin sind auch die aeroben Aktinomyzeten gute Paraffin- zehrer; sie unterscheiden sich von den Mykobakterien in ihrem Wachstum auf Paraffin durch eine Wallbildung am Rande der Plättchen.
7. Es wurden quantitative, sehr gut übereinstimmende Versuche über Paraffinverlust und Kohlensäurebildung an verschiedenen Orga- nismen (meist Mykobakterien aber auch Bacterium pyocyaneum und Actinomyces chromogenes) durchgeführt. Sie zeigten, daß aus einer bestimmten Menge Paraffin eine bestimmte Menge Kohlen- säure gebildet wird — auf 1 g CO, wird 0,37 g Paraffin verbraucht — die etwa vier Fünftel der theoretisch zu erhaltenden CO,-Menge ausmacht.
Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin des Handels für das Wachstum von Bakterien.
Von Dr. med. Friedrich Erh. Haag, Assistent am Institut.
(Aus dem Hygienischen Institut der Universität Würzburg. Vorstand: Geh. Rat Professor Dr. K.B. Lehmann.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 8. Dezember 1925.)
I
Die folgende Arbeit versucht die von Rahn!), Söhngen?) und Bütt- ner?) festgestellte merkwürdige Fähigkeit gewisser Organismen, Paraffin. als Kohlenstoffquelle zu verwenden, unserem Verständnis näher zu bringen.
Als Kulturflüssigkeit verwendeten Söhngen und Büttner: Lei- tungswasser 100,0; Bikaliumphosphat 0,05; Chlorammonium 0,05; Kal- ziumkarbonat 0,02; Büttner außerdem eine Spur Magnesia usta. Die Kohlenstoffquelle war verschieden:
a) Paraffin. Söhngen benutzte das bei 56° und das bei 60° schmel- zende reinste Produkt von Grübler, Büttner anfangs nieder- schmelzendes, weiches, später das bei 60° schmelzende reinste Produkt von Grübler.
b) Petroleum. Büttner hat nur Handelspetroleum; Söhngen da- neben ein mit Schwefelsäure und Kalilauge gereinigtes, dann destil- liertes Petroleum verwendet.
c) Benzin und Paraffinöl. Beide verwendeten die Handelsware.
Die Anwendung des Paraffins erfolgte in Erlenmeyer-Kölbchen, wobei das durch Erhitzen verflüssigte Paraffin mit der Kulturflüssigkeit bis zum Erkalten geschüttelt oder auf diese geträufelt wurde. Petroleum wurde in ganz geringer Menge auf die Kulturflüssigkeit gegeben, anderer- seits wurde ausgewaschener oder ausgefaulter 2proz. Agar ‚verwendet, dem 0,05%, Bikaliumphosphat und 0,05%, Magnesiumsulfat beigemischt waren. Unter der Agarfläche befand sich in der Petri-Schale in einem
1) C.f. Bact. 2. Abt. Bd. 16, S. 382, 1906. 2) Ebenda. Bd. 37, S. 595, 1913. 3) Siehe vorstehende Abhandlung.
Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw. 29
Uhrglas Petroleum!). Allerdings machen, wie ich selbst an über 100 Züch- tungen von Mykobakterien aus Mist, Moos, Ackererde, Schlamm usw. beobachten konnte, andere, ebenfalls auf Paraffin wachsende Organismen den langsam wachsenden Mykobakterien unangenehme Konkurrenz (Penicillium glaucum, Aspergillusarten, Oidien, Aktinomyzeten), doch tritt das Wachstum dieser Organismen auf ausgefaultem Agar in Petroleum- dämpfen so sehr zurück, daß sich Mykobakterienkolonien entwickeln können.
Zu genaueren Untersuchungen war zunächst ein Ausprobieren der besten Salzzugäben in qualitativer und quantitativer Richtung nötig. Beim Studium der Literatur fällt auf, daß Proskauer und Beck?) und Lockemann®) für ihre Nährlösungen zur Tuberkulosezüchtung die zehn- fache Menge an Phosphaten und das Doppelte bis Vierfache an Ammonium- salzen und Asparagin von der Menge nehmen, welche Krainsky*), Waks- man and Curtis (1916) und Conn für Aktinomyzeten- und Söhngen für Mykobakterienzüchtung verwenden. A. Fischer (1900), Browne (1922), Winslow and Falk (1923) sehen bei den Bakterien eine erstaunliche Toleranz gegen Änderungen des osmotischen Druckes; vielleicht haben deshalb nur wenige Forscher (Lipman) die quantitativen Verhältnisse genauer studiert.
An Mikroorganismen wurden von mir verwendet: Mycobacterium lacticola perrugosum (Lehmann u. Neumann), das Mykobakterium der Schildkrötentuberkulose (Friedmann?)), das Mykobakterium der Frosch- tuberkulose. Züchtungstemperatur: 220. Züchtungsgefäße: Erlenmeyer- Kölbchen. C-Quelle: 1%, Paraffin (Schmelzpunkt 58°). N-Quelle: Am- moniumchlorid 0,05%. Das Wachstum wurde in jeder Woche zweimal beobachtet und ergab nach drei Wochen:
Tabelle I. Menge: 0,05% 0,05% 0,01% 0,025% 0,25% 1. Reihe: K,HPO, kein Wachstum. 2. Reihe: K,HPO, Na,HPO, mäßiges Wachst. 3. Reihe: Na HPO, gz. schw. Wachst. 4. Reihe: MgSO, kein Wachstum. 5. Reihe: CaCl, kein Wachstum. 6. Reihe: CaCl, MgSO, kein Wachstum. 7. Reihe: K,HPO, MgSO, üppiges Wachst. .8. Reihe: K, HPO, CaCl, gutes Wachstum. 9. Reihe: Na,HPO, MgSO, üppig. Wachstum. .10. Reihe: Na HPO, CaCl, üppiges Wachst. 11. Reihe: K,HPO, CaCl, MgSO, gutes Wachstum. 12. Reihe: K, HPO, Na HPO, CaCl; MgSO, mäßiges Wachst. 13. Reihe: K; „HPO, Na HPO, CaCl, Magnesiumzitrat gz. schw. Wachst 14. Reihe: K, HPO, Magnesiumzitrat mäßiges Wachst.-
En Ich habe mit großem Vorteil die Küsterschen Anaerobenschalen ver- wendet.
2) Zeitschr. f. Hyg. und Infektionskr. Bd. 18, 128, 1894.
3) Veröff.d. R. Koch-Stiftung, 1. bis 4. Mitteilung. 1. Band 1913, und 2. Band 1918.
4) C. f. Bact. 2. Abt. Bd. 41, S. 649, 1914.
5) Im folgenden zur Abkürzung: Mycob. testud. bezeichnet.
30 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
Es mußte also entweder Kalium- oder Natriumphosphat, und entweder Kalzium oder Magnesium anwesend sein; ob in Sulfat- oder Chloridform, schien gleich.
Bei allen drei Stämmen war das Wachstum etwa gleich. ‘Am besten wuehs das Mykobakterium der Schildkrötentuberkulose, etwas zarter das der Frosehtuberkulose. Die Stämme waren bereits auf eiweißfreiem Nähr- boden einige Generationen forgeführt. Solche Untersuchungen mit Paraffin als Kohlenstoffquelle und Ansiedlungsfläche haben vor ähnlichen Unter- suchungen in Flüssigkeiten den Vorteil besserer Beurteilungsmöglichkeit, vor Agarkulturen den größerer Einfachheit des Substrats. ' Bei der Prüfung der quantitativen Verhältnisse zeigte sich, daß einige Änderungen möglich sind,.daß aber sämtliche benutzte Konzentrationen innerhalb der optimalen Grenzen liegen. Bei der 12. und 13. Reihe konnte dureh Herabsetzung der einzelnen Mengen etwas besseres Wachstum erzielt werden. Das Er- gebnis bestätigt, was Falk in einem weitläufigen Überblick!) über die Rolle bestimmter Ionen in der bakteriologischen Physiologie zusammen- faßt: Bivalente und univalente Kationen antagonisieren sich, jede Gruppe für sich wirkt hemmend, bestimmte Mischungen cinwertiger - mit zwei- wertigen Kationen geben optimale Bedingungen.
Im folgenden wählte ich stets die Zusammensetzung der Reihe 7:
G-Quelle: variabel (1%,),
"N-Quelle: Ammoniumchlorid (0,05%).
Salze: Dikaliumphosphat (0,05°⁄), Magnesiumsulfat (0,02%).
IT.
Bei der Prüfung verschiedener organischer Kohlenstoffquellen ergab sich, daß von den Triglyzeriden Tripalmitin und Tristearin geringes, Tri- olein und das verwandte Lezithin?) starkes Wachstum zeigten, von den Verbindungen höherer einwertiger Alkohole mit hohen Fettsäuren gaben Bienenwachs und Walrat sehr gutes Wachstum, dagegen Cholesterin?) nur geringes Wachstum, während auf Lanolin (Cholesterinfettsäure- ester) die Mykobakterien wiederum trefflich ansprachen. Auf den Rat von Herrn Prof. Skraup vom Chemischen Institut untersuchte ich die Jodzahl dieser Substanzen als Maßstab für die Menge der ungesättigten Verbin- dungen. Die Bestimmung erfolgte nach der v. Hüblschen Methode. Die Natriumthiosulfatlösung wurde nach Volhard mit einer Kaliumbichromat- lösung eingestellt. Da sich bei der Mischung von Jodlösung und Sublimat-
1) Abstracts of Bacteriology. Vol. VII. 1923.
2) „Man kann das Lezithin als ein Triglyzerid (Fett) auffassen, indem ein Fettsäureradikal durch den Phosphorsäure-Cholinkomplex ersetzt ist. Es ist wahrscheinlich, daß von den zwei Fettsäureradikalen das eine eine gesättigte, das andere eine ungesättigte Fettsäure ist. Diese Fettsäure soll das biologisch Wirksame an dem Lezithin und den Phosphatiden allgemein sein.“ Zur Biologie der Lipoide, H. Schmidt, Leipzig 1922, Kabitzsch.
3) Wie mir von chemischer Seite mitgeteilt wurde, ist Cholesterin -— ein ein- wertiger Alkohol in Ringform — in der Natur sicher teilweise mit Fettsäuren ver- estert, die bei der Reindarstellung abgespalten werden, aber wahrscheinlich nicht vollständig, so daß eine geringe Jodzahl bleibt.
Von Dr. Friedr. Erh. Haag. | 34
lösung der Jodtiter stark ändert, blieb die Mischung für alle Versuche genau 48 Stunden lang stehen. Von jeder Substanz wurde 1 g in 50 cem Cloro- ` form gelöst, darauf 25 cem Jodsubhmatlösung zugegeben und nach 6 Stun- den titriert. Als Kontrolle diente jedesmal eine Mischung von 50 ccm Chloroform mit 25 ccm Jodsublimatlösung, weil Chloroform den Titer beeinflußt. Als Jodkalium wurde nicht die vorgeschriebene 10 proz. Lösung verwendet, sondern für jeden Versuch die entsprechende Menge frisch in Wasser gelöst. |
Die erhaltenen Jodzahlen zeigt Tabelle Il. Es findet sich eine große Übereinstimmung zwischen Jodzahl und Wachstum: Wo üppiges Wachs- tum vorlag, zeigt die Substanz, welche den Kohlenstoff für die Kultur lieferte, hohes Jodbindungsvermögen; wo die Bakterien nur schlecht auf die angebotene Kohlenstoffquelle ansprachen, ergibt die letztere eine niedere Jodzahl!?).
Ein genauer Vergleich zwischen Jodzahl und Wachstum ist möglich, wenn man als Maß des Wachstums die von den Bakterien gebildete Kohlen- säuremenge bestimmt. Diese Bestimmung wurde mit der Pettenkofer- schen Röhrenmethode durchgeführt. Stellt man die einzelnen Substanzen nach der Jodzahl zusammen, so erhält man:
Tabelle II. Ä ar | Es bilden in 3 Wochen CO. INNERN ( PR LIEBEN (bei Zimmertemperatur): Substanz für 100 g Be SEAN
| Mycob. lactic. mg
| Trioein .. 222... 147,8 | 126,5 Lanolin) ....... 115,4 | 79,0 Lezithin®) As 1172 | 57,5 Bienenwachs . . .... 111,9 | 64,8 Walrat . .:... 220. 74,9 ! 44,1 Stearin des Handels, alt 127,3 76,8 Paraffinkerzensubstanz 127,3 77,8 Cholesterin ...... 35,7 | 24,4 Stearin des Handels, neu 32,9 19,9 Tripalmitin ...... 10,1 | 8,3 Tristearin 59 4,6 1) Die nach der v. Hüblschen Methode erhaltenen Jodzahlen sind — wie verschiedene Arbeiten der Literatur besagen — gewöhnlich etwas zu nieder,
darum auch meine Ergebnisse. In der Literatur findet sich für Bienenwachs 8—11, Walrat 6—9, Lanolin 15—17.
2) Daß Lanolin ein guter Nährboden ist, zeigt die enorme Bakterienvermeh- rung unter Salbenverbänden ohne desinfizierende Zusätze (Hidaka, Med. Klinik, 1911, S. 1698). |
3) Während Claudio Fermi (C. f. Bact. 1. Abt. Orig. Bd. 45 und 48) bei 2,50% Cholesterin- oder 2,5% Lezithinzusatz zu Glyzerinagar üppiges Wachstum der - verschiedensten Organsimen sieht, Beyer (ebenda, Bd. 54) ebenfalls keine bakterizide Wirkung durch Lezithin sieht, Stoklasa (2. Abt., Bd. 29) eine Lezithase bei verschiedenen Bakterienarten als zersetzendes Enzym für die labilen Lezithinmoleküle nachweist, haben andere Forscher eine bakterizide Wirkung gesehen. Bassenge sind jedoch Versuchsfehler nachgewiesen (Sleeswyk, Bassenge D. M. W. 1908), und Deyke und Much (M. m.\W. 1909) geben für die Lyse des Tuberkelbazillus selbst an, daß sie bei den einzelnen Lezithinen inkonstant und wohl durch Verunreinigungen verursacht ist.
32 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
Es zeigt sich somit trotz weitgehender chemischer Ver- schiedenheit dieser Substanzen ein Parallelgehen von Wachs- tum und Jodzahl. Nur das Stearin des Handels (alt) und die Paraffin- kerzensubstanz sind Ausnahmen, aber beim Vergleich mit dem neuen Handelsstearin könnte man vermuten, daß mit der Zeit irgendwelche Zer- setzungen vorsich gehen, oder daß nicht erfaßbare Unreinheiten unberechen- bare Nährquellen für die Organismen darstellen. Lakticola zeigt durchwegs geringeres Wachstum, da es 37° als Temperaturoptimum hat.
Gleichzeitig waren feste Nährböden angesetzt worden, indem zum ausgefaulten Agar die nötigen Salze und je 1% der betreffenden C-Quellen gegeben wurden. Sie lieferten parallele, wenn auch nicht ziffermäßige Er- gebnisse: i
Triolein, Lanolin, Lezithin, Bienenwachs sehr gutes Wachstum,
Walrat, Handelsstearin alt. . . . . . . gutes Wachstum,
Cholesterin . . .. 22 2222000. . dürftiges Wachstum,
Tripalmitin, Tristearin. . . .. . . . . kein Wachstum.
HI.
Aus diesen Beobachtungen heraus erhob sich die Frage: Wie kommt es, daß diese Organismen auf dem völlig gesättigten Grenz- kohlenwasserstoff, dem Paraffin, von der Formel CnHan +2 wachsen?
- Bei der Erdöldestillation liefert die vierte Fraktion (über 350°, Vakuum) gleichzeitig Schmieröl und Paraffin. Zur Abtrennung des Paraffins kommt das Destillationsprodukt in Kältemaschinen, wobei sich großschuppige Kristalle an den Kühlplatten absetzen, die eine breiige Masse darstellen. Diese wird abge- strichen;; auf Filterpressen unter starkem Druck wird das flüssige Öl abgepreßt. Je nach der Abkühlung erhält man Hart- oder Weichparaffine. Die gepreßten Paraffinkuchen sind noch ölreich, sie werden langsam erwärmt, dasÖl schwitzt heraus und tropft ab. Dies wird zweimal wiederholt. Dann werden durch Schwe- felsäure Fremdstoffe und ein Teil der Olefine verharzt, es wird aber nur so viel Schwefelsäure benutzt, daß das Paraffin farblos wird und einige Zeit farblos bleibt. Durch Natronlauge werden dann Reste der Schwefelsäure entfernt. Weitere Bleichung erfolgt durch Filtrieren (Knochenkohle).
Das im Handel befindliche Paraffin ist meist Petrolparaffin, nach Gräfe mit Jodzahlen von 0,3 bis 2,92; das Paraffin aus den Braunkohlenteerfabriken mit Jodzahlen von 3,3 bis 5,75 wandert meist direkt in die Kerzengießereien. Nach dem Arzneibuch kommt als Paraffinum solidum nur ein Zeresin in Frage, ein aus gebleichtem Ozokerit gewonnener Stoff, der bei 68 bis 72° schmelzen soll und eine feste, weiße, geruchlose Masse bildet. Die reinsten Produkte von Grübler sind wiederholt erhitzt und filtriert und so von mechanischen Verunreinigungen befreit.
Da die Gewinnung der Handelsparaffine billig und einfach sein muß und in der Technik geringere Verunreinigungen nebensächlich sind, sind die Paraffine nicht rein. Eine völlige Reinigung ist schwierig, Naphthene sind chemisch über- haupt nicht abzutrennen (siehe später), die olefinischen Bestandteile werden bei der fabrikmäßigen Raffination nie vollkommen beseitigt; solche Verunreinigungen werden durch die Jodzahl und durch die Formolitzahl angezeigt. Der große Unterschied im Schmelzpunkt spricht dafür, daß komplizierte Mischungen vor- liegen, aus denen es gelang, einzelne Bestandteile (Normaldodekosan u. a.) zu isolieren.
Bei Rahn findet sich die Bemerkung, daß auf niederschmelzendem Paraffin sowohl Bakterien wie Schimmelpilze besser gedeihen als auf
Von Dr. Friedr. Erh. Haag. 33
Paraffin mit höherem Schmelzpunkt. Ich hatte dasselbe beobachtet. Daher untersuchte ich Paraffine von verschiedenem Schmelzpunkt (meist von . Grübler u. Co., Leipzig) auf ihre Jodzahl.
1. Paraffin mit Schmelzpunkt 36° Jodzahl 4,6
2. 29 2) ’„ 40/42° 99 4,5 h G äf . 3. 440 (alt) E n 4 ” R 27 441460 > h 1 Schwelparaffine s 3) 79 1? 29 I
5. ?9 29 39 50/520 19 3,8
6. EZ) 19 19 56/580 19 2,8
7. Re ie . 58° (alt) „, 2,81 nach Gräfe: 8. ” a > 590 (alt) „, 2,8 | Petrolparaffine Fe a i 60/620 „n 24
10. Zeresin!) ,, RR ‚620 $ 1,8 ;
11. Ozokerit?) ” 67/60. E Erdwachsderivate
Daraus ergibt sich:
1. Die Jodzahl ist um so kleiner, je höher der Schmelz- punkt des Paraffins ist, sie zeigt also ganz bestimmte Gesetzmäßigkeit.
2. Viele Monate im Institut vorhandene Paraffine, vor Licht und Luft nicht besonders geschützt — Nr. 3, 7 und 8 — stehen sowohl mit ihrem Schmelzpunkt, als auch mit ihrer Jodzahl an richtiger Stelle. Man kann somit annehmen, daß sie ihre Jodzahl nicht verändert haben.
3. Zusatz von Schwefelsäure zum geschmolzenen Paraffın gibt bei den meisten der untersuchten Sorten eine sehr starke dunkel- braune Verfärbung von Säure und Paraffin, ein Indikator für chemisch nicht bezeichenbare Verunreinigungen. Das Paraffin vom Schmelzpunkt 59° und das Zeresin sind Ausnahmen; sie nehmen nur ganz geringe Bräunung an. Da die Bräunung der Paraffine in keinem Verhältnis zur Jodzahl steht, stehen wohl auch diese undefinierbaren Verunreinigungen in keinem Verhältnis zur Jod- zahl.
4. Ferner zeigen sich alle untersuchten Paraffine neutral (Phenol- phthalein, Wasserstoffionenkonzentration).
Über das Wachstum des Mycobact. testud. auf diesen Paraffinen klärten Kohlensäurebestimmungen auf, wobei alle drei bis vier Tage die Röhren entleert und die gebildete CO, bestimmt wurde. Eine Zusammen- stellung dieser Versuche gibt Tabelle ITI.
Sieht man von den Erdwachsderivaten ab, so ist das Wachstum um so stärker und setzt um so früher ein, je nie- derer der Schmelzpunkt und je größer die Jodzahl ist. In der dritten Woche ist das Wachstum am stärksten und sinkt dann langsam
4) Zeresin ist durch Säurebehandlung, Filtration und Benzinauszug ge- reinigtes Erdwachs, vom Arzneibuch als Paraffinum solidum vorgeschrieben. 2) Ozokerit ist das Erdwachs selbst, grob gereinigt, gelb. Das Erdwachs ist der feste Bestandteil vieler Erdöle, wird aber auch frei von Ölen gewonnen (Öst- galizien). Archiv für Hygiene. Bd. 97. 3
34 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
Tabelle III !).
(Menge der durch Mycob. testud. bei Zimmertemperatur gebildeten Kohlen- säure in mg).
66,0 33,5
zusammen | | | | | Ä i nach |
21 Tagen | 309,0: 290,8| 280,6: 268,3
| | 214,4 125,1: 117.0! 122,8. 96,5| 252,5 1161,3 wieder. Die Abhängigkeit von der Temperatur ist ganz außerordentlich groß, viel größer, als ich sie bei Wachstum dieser Organismen auf anderen Nährböden gesehen habe, so liefern sie bei 18° Temperatur nur etwa die Hälfte der CO,-Menge als bei 24° und Mycobact. lacticola liefert bei 37° fast die dreifache Ausbeute als hei 18%. Aber immer steigt das Wachstum mit der Jodzahl und sinkt mit dem Schmelzpunkt. Auf die Erdwachs- präparate komme ich später zurück.
Die Paraffinstücke umgeben sich ganz mit einem dicken Bakterien- mantel, in alten Kulturen wächst seine Dicke auf über 1 mm, wobei sie sich teilweise braun färben. Die Organismen sind sehr gut säurefest, im allgemeinen feiner als auf den gewöhnlichen Nährböden und, wie mich Schnitte eingebetteter Paraffinkulturen lehrten, sie sitzen dem Paraffin auf, ohne in das Innere einzudringen. Sehr stark ist das Wachstum vor allem an der Wasser-Luftzone. Die säurefesten Bakterien wachsen auf den Paraffinstückchen nicht, wenn andere Kohlenstoffquellen (Glyzerin, Zucker) vorhanden sind; die Flüssigkeit ıst dann stark getrübt, an den Plättchen sind keine Auflagerungen zu erkennen, erst nach drei bis vier Wochen erscheinen Ansiedlungen.
IV.
Es fragt sich nun: Ist die Jodzahl oder ist der Schmelzpunkt, sind also chemische (Anzahl der Doppelbindungen) oder physikalische (Zähig- keit usw.) Zustände für das Verhalten der Bakterien verantwortlich zu machen ? Die Untersuchung dieser Frage kann zwei Richtungen gehen:
Man kann erstens niedere reine Grenzkohlenwasserstoffe von bekannter chemischer Struktur und deren ungesättigte Verwandte aus der Alkylenreihe mit korrespondierender Kohlenstoffatomzahl untersuchen. Da die höheren Kohlenwasserstoffe und die zugehörigen Alkylene im Handel nicht zu er- halten sind, mußte auf die niedersten, leicht darstellbaren gaslörmigen (Methan, Äthan, Äthylen) und flüssigen (Pentan, Amylen) zurückgegriffen 1) Diese Tabelle läßt sich nicht mit Tabelle II vergleichen, da durch Ge- wöhnung der Bakterien an eine Kohlenstoffquelle und veränderte Zimmer- temperatur -— technisch nicht vermeidbar - sich ganz andere Wachstums- verhältnisse ergeben.
Von Dr. Friedr. Erh. Haag. 35
werden. Hier scheint aber eine tötende Wirkung auf verschiedene Mikro- organismen vorhanden zu sein, die mit fallendem Siedepunkt zunimmt (Walbum!), Hall?2), Grimm?). Andererseits hat Kaserer?) ein Wasser- stoff, und Söhngen?°) ein Methan oxydierendes Stäbchen gefunden und Jentsch®), welcher ausführlich die bakterizide Wirkung des Leuchtgases studiert hat, kommt zum Schluß, daß nur die zyklischen Kohlenwasser- stoffe des Leuchtgases, nicht aber die aliphatischen (Methan, Äthylen und Azethylen) für Bakterien und Schimmelpilze schädlich sind.
Das Methan wurde hergestellt durch Aufgießen von Wasser auf Alu- miniumkarbid und Auffangen des Gases im Gasometer. Es roch stark und wurde deshalb durch gesättigte Kaliumpermanganatlösung und 10 proz. Kupfersulfatlösung gereinigt, welche zwischen Gasometer und Kultur- kolben eingeschaltet waren. Das Äthan wurde aus Methyljodid mit Zink, das Äthylen aus Äthylenbromid und Zink, das Isopentan aus käuflichem Amylen?) hergestellt. Neben dem flüssigen anorganischen Kulturmedium wurden feste Nährböden verwendet, die aus ausgefaultem Agar mit an- organischen Salzen in üblicher Anwendung bestanden. Als Kulturgefäße benutzte ich für den Agar Anaerobenröhrchen nach Süßmann, bei denen gewöhnliche Reagensgläser, die nach schräger Erstarrung und Beimpfung des Agars oben fest verschlossen werden, je zwei seitliche Öffnungen haben: tief, gegenüber der Agarfläche, wird der Luft-Gasstrom eingeleitet, hoch, über dem Ende des Schrägagars erfolgt die Ausleitung. Untersucht wurden: Mycobacterium lacticola, testudo, phlei.
Methan, Äthan und Äthylen gaben kein Wachstum, bei verschiedenen Mischungsverhältnissen von Luft und Gas, auch ‚nicht, wenn geringe Mengen Kohlensäure aus dem Kippschen Apparat oder frei mit unge- reinigter Luft zugeleitet wurden 8).
Amylen gab Spuren von Wachstum, Pentan kein Wachstum.
V.
Man kann zweitens die Reinigung des Paraffins versuchen. Rahn hatte darangedacht, daß Verunreinigungen seines Paraffins das Pilz- wachstum hervorgerufen haben könnten. Er reinigte sein Paraffin durch „Verseifen aller Fettsäuren“ in alkoholischer Kalilauge, durch Wässern und durch nachträgliche Behandlung mit Äther und glaubte so, ein völlig reines Paraffin zu besitzen. Ich suchte vor allem die ungesättigten Kohlen-
4) °C. f. Bact. Ref. Bd. 69, S. 6, 1920.
2) Berl. klin. W. 1915, S. 1326.
3) C. f. Bact. 2. Abt. Bd. 41, S. 648, 1914.
4) Ebenda, Bd. 16, S. 681, 1906.
5) Ebenda, Bd. 15, S. 513, 1906.
6) Ebenda, Bd. 53, S. 130, 1921.
7) Im käuflichen Amylen sind etwa 10 bis 25°, gesättigte Körper, also Isopentane. Da beide gleich hoch, zwischen 35 und 40°, sieden, bromiert man die ungesättigten, die dadurch einen Siedepunkt von 130° erhalten.
8) Neuere Arbeiten (Theob. Smith, Journ. of exp. M. 1924/40 und Rock- well, Journ. of inf. Dis. 1923/32) zeigen, daß viele Bakterien zu ihren ersten Kulturen und zum anfänglichen Wachstum mindestens 14% CO, brauchen. Auch Kaserer (C. f. Bact. 2. Abt. Bd. 16, 1906) gibt an, daß zur Wasserstoff- oxydation unbedingt etwas CO,-Zusatz nötig sei.
3*r
36 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
wasserstoffe zu beseitigen. Dazu schienen zwei Möglichkeiten vorhanden zu sein: das Formolitverfahren nach Sommer und Nastjukoff und das Merkuriazetatverfahren nach Engler (Abtrennung der ungesättigten Kohlenwasserstoffe durch Merkuriazetat).
Die Formolitreaktion beruht auf der Tatsache, daß ungesättigte und aromatische Kohlenwasserstoffe durch Schwefelsäure + Formaldehyd angegriffen und in roter bis rotbrauner Farbe aus den Abkömmlingen des Erdöls abgeschieden werden. ‚Die Grenzkohlenwasserstoffe und die gesättigten Naphthene werden nicht angegriffen. Vom Paraffin trennt sich das Reaktionsprodukt ab, es wird im Scheidetrichter mit Chloroform ausgeschüttelt und die Formolitmenge nach Abdunsten des Chloroforms getrocknet und gewogen. Die Formolitzahl war:
für Paraffin vom Schmelzpunkt 41°: 1,35, 99 ?9 39 I? 56°: 0,45.
Auf diese Weise hoffte ich, ein von ungesättigten Körpern völlig be- freites Paraffin zu erhalten. Zur Prüfung nahm ich das bei 44° schmelzende Paraffin, löste 20 g in der Wärme, gab 20 ccm konz. Schwefelsäure zu, wodurch sich der Inhalt braun färbte, darauf 20 ccm Formalin, wodurch der Inhalt fast schwarz wurde. Nach 1, Stunde Aufenthalt auf dem Wasserbad wurde der Kolbeninhalt in eine Porzellanschale entleert, es trennte sich schwarzes Paraffin von brauner Flüssigkeit. Das Paraffin wurde in Chloroform gelöst, und nachdem das Auswaschen mit Wasser und Lauge ohne Erfolg war, getrocknet, im Ölbad und Vakuum bei 210° (Siedepunkt also etwa 310°) destilliert, wobei ich ein ganz wasserhelles Paraffin erhielt, welches einen Erstarrungspunkt nicht mehr von 44°, sondern von 41° besaß. Die Jodzahl ergab cin völliges Fehlen ungesättigter Körper:
Jodzahl des ungereinigten Paraffins 44°: 4,5, ie „ gereinigten ih 41°: 0,0.
Versetzt man jedoch das gereinigte Paraffin nun wieder mit Schwefel- säure, so entsteht eine Braunfärbung, die etwas schwächer ist als beim ungereinigten Paraffin. Es müssen also bei der Destillation gesättigte, chemisch nicht bestimmbare Verunreinigungen mit dem Paraffin über- gegangen sein. Auch nach Behandlung mit Natronlauge und Wasser ist die Schwefelsäureprobe gleich positiv.
Deshalb führe ich das Formolitverfahren mit dem Paraffin vom Schmelzpunkt 59° durch, bei welchem die Schwefelsäureprobe fast negativ ist. Das über der Reaktionsflüssigkeit stehende Paraffin ist nur bräunlich, es wird abgespült, auf Tonplatten gepreßt und so vom Wasser befreit, ge- trocknet und nun destilliert. Die Destillation machte Schwierigkeiten, indem das Ölbad nicht ausreichte, man mußte frei erhitzen und die Va- kuumdestillation ging zwischen 240 und 300° vor sich, was einem Siede- punkt von 350 bis 400° entspricht!). Das Destillat war wasserklar, der Er- starrungspunkt war 56°, die Schwefelsäureprobe und Jodzahl vollkommen negativ. Schüttelt man beide Paraffine im geschmolzenen Zustand mit
1) Das Gelingen der Destillation verdanke ich großenteils Herrn Dr. phil. Steinruck, Assistenten von Herrn Professor Skraup.
Von Dr. Friedr. Erh. Haag. 37
Wasser und mit Natronlauge aus, so findet man, daß sie völlig neutral sind. Sowohl Paraffin, wie Wasser haben eine Wasserstoffionenkonzen- tration von 6,8, ein Tropfen !/,, n NaOH gibt mit Phenolphthalein Rötung.
Nach einigen Tagen findet sich aber plötzlich wieder eine, wenn auch geringe Jodzahl. Diese Beobachtung ergab in weiteren Untersuchungen folgende Tatsachen:
440-Paraffin ungereinigt . . . 2 2 2 2220. Jodzahl 4,5 gereinigt, sofort untersucht. . . . 0,0 gereinigt, vor Licht und Luft ge-
schützt, nach 8 Tagen untersucht „n 0,2
gereinigt, vor Licht und Luft ge- schützt, nach 8 Tagen bei 60° ge- schmolzen, mit heißem Wasser und
schwacher NaOH geschüttelt . . is 1,6 gereinigt, Licht und Luft ausgesetzt, nach 8 Tagen untersucht. . . . er 2,8 59%-Paraffin ungereinigt . . . 2: 2 2 2 2 20. k 2,8 gereinigt, sofort untersucht. . . . „ 00 gereinigt, geschmolzen, mit Wasser und NaOH ausgeschüttelt . . . j 0,9.
Mithin gelingt es zwar, ein völlig jodzahlfreies Paraffin zu erhalten, doch treten sehr bald durch Erhitzung, Ausschütteln mit Wasser und Natronlauge wieder Jodzahlen auf. Bleibt das Paraffin offen längere Zeit im Laboratorium stehen, so wächst die Jodzahl langsam und nähert sich wieder der Jodzahl des Ausgangsproduktes. Nach drei Wochen waren die Jodzahlen der Destillationsprodukte: 44°-Paraffin 2,4 und 59°-Paraffin 1,5. Legt man beide vor das Fenster, so daß Regen, Sonne, Tageslicht und freie Luft einwirken können, so steigen die Jodzahlen in wenigen Tagen auf 3,3 und 1,9, schmilzt man die Paraffine in Wasser auf dem Wasserbad und schüttelt sie bei Sauerstoffzuleitung, so nehmen sie Jodzahlen an, die denen des ungereinigten Paraffins entsprechen: 44°-Paraffin 4,5 und 59°-Pa- raffin 2,8.
Nunmehr war zu untersuchen, wie sich das destillierte Paraffin den physikalischen Bedingungen gegenüber verhält, die sich durch das Sterili- sieren und durch den Kulturversuch ergeben. Gibt man 1 g Paraffin zur Salzlösung und sterilisiert dies im Dampftopf, gießt das Wasser ab, trocknet im Bfutschrank, so ist das Paraffin wasserfrei und man erhält als Jod- zahl 0,7 (Paraffin mit Schmelzpunkt 59°), also gibt schon diese einfache Manipulation eine geringe Jodzahl. Läßt man durch einen so vorbereiteten ungeimpften Kolben eine Woche lang täglich %, Stunde lang, wie beim Kulturversuch CO,-freie Luft durchströmen, so erhält man nach Ablauf dieser Zeit eine Jodzahl von 1,2. Gibt man dagegen das gereinigte Paraffin unerhitzt in kleineren Bröckelchen in die Kulturflüssigkeit, so hat sich nach einer Woche unter den gleichen Bedingungen das Paraffin nicht geändert und erhält erst nach 14 Tagen die Jodzahl 0,5.
38 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
Wir kommen zu folgenden Schlüssen:
1. Es gelingt, durch Reinigung nach der Formolitmethode., und durch daran anschließende Destillation ein jod- zahlfreies Paraffin zu erhalten.
2. Dieses jodzahlfreie Paraffin wird aber wieder dehy- driert — ın Sauerstoffatmosphäre am schnellsten --- und kehrt ungefähr wieder zu seinem früheren Gehalt an Doppelbindungen zurück.
VI.
Das Wachstum des Mycobact. testud. ergibt auf den gereinigten Paraffinen folgende Kohlensäureproduktion:
Tabelle IV.
Paraffin Kohlensäurebildung in mg bei Zimmertemperatur 1 g mit 100 ccm nach nach nach j Kulturflüssigkeit 3 Tagen 6 Tagen 10 Tagen ‚Zusammen
44° ungereinigt . . . . .
28,7 44° gereinigt (41°) . 15,4 44° gereinigt, doch nicht er- hitzt (nicht sterilisiert) . 0,1 59° ungereinigt . .. . . 14,1 59° gereinigt (56°) . 9,2 59° gereinigt, doch nicht er- hitzt (nicht sterilisiert) 0,0
Die Tabelle zeigt ein stark verzögertes Angreifen der Mikroorganismen an gereinigten Paraffinen. Dort, wo jede Erhitzung unterblieb, wo das Paraffin in kleinen Bröckelchen in die sterile Kulturflüssigkeit gegeben und nıcht sterilisiert wurde, ist in den ersten 10 Tagen überhaupt kein Wachstum vorhanden. In der Folgezeit aber, zwischen dem 12. und 21. Züchtungs- tage, ist das Wachstum auch auf den gereinigten Paraffinen so stark, daß
es sich mit dem Wachstum auf den ungereinigten Paraffinen fast ausge- glichen hat.
Interessant wäre zu wissen, wie sich die Jodzahl unter der Bakterie wirkung verhält. Dies ist jedoch nicht zu bestimmen, da Bakterienkulturen immer jodbindend sind. Ich habe die Paraffinstückchen aus Kulturen stark und mehrfach mit Wasser geschüttelt, um zu versuchen, die Bakterien mechanisch von der Oberfläche des Paraffins zu entfernen, dieses ge- trocknet, in Chloroform gelöst und die Jodzahlen bestimmt. Es zeigte sich keine Gesetzmäßigkeit, im allgemeinen war aber die Jodzahl zunächst niederer (10. Kulturtag), dann nach drei Wochen etwas höher als die je- weilige Jodzahl des zugesetzten Paraffins vor der Züchtung. So zeigten Testudokulturen auf dem 59°-Paraffın:
Paraffin vor der Züchtung . . . . . Jodzahl 2,8 nach 10 Züchtungstagen . . . . 5 0,4
7? 21 7? Eo shr eh e 7? 4,1
Von Dr. Friedr. Erh. Haag. 39
und auf 44°-Paraffin: | Paraffin vor der Züchtung . . . . Jodzahl 4,5 nach 10 Züchtungstagen . . . . 5 2,9 1? 21 7? s 39 6,5. Entsprechend verhielten sich die gereinigten Paraffine. Ich gebe diese Zahlen mit allem Vorbehalt, weil ich mir der Fehlerquellen bewußt bin, die hierbei nicht auszuschalten sind.
Läßt man durch Züchtungskolben, welche nicht beimpft sind, während einer Woche täglich 1, Stunde lang CO,-freie Luft durchsaugen und beimpft dann erst diese Kolben, so ist das Wachstum merklich rascher, und setzt eher ein.
Mit der Reinigung war der Schmelzpunkt der beiden Paraffine ge- sunken, trotzdem war das Wachstum nicht vermehrt, sondern verringert. Weiterhin zeigt das Wachstum eine solch starke Abhängigkeit vom Reini- gungsprozeß, also von der Zahl der Doppelbindungen, daß der Schmelz- punkt als ursächlicher Faktor für die Verschiedenheit des Wachstums wegfällt.
Andererseits könnte aber beim Formolitverfahren irgendeine Sulfonie- . rung eingetreten sein, welche die Jodzahl und gleichzeitig die Angreifbar- keit für Bakterien ändert. Die gereinigten Paraffine wären gar nicht rein, sondern es wären Schwefelsäureverbindungen da, die sich langsam wieder lösten und so wieder Jodzahlen gäben. Dem widerspricht die genaue Prüfung der gereinigten Paraffine auf ihre Reaktion, die vollkommen neutral war, ferner erscheint dies höchst unwahrscheinlich, da bei längerem Wachstum der Mikroorganismen auf diesem Paraffin kein Unterschied in der Wachstumsintensität gegenüber dem Wachstum auf ungereinigtem Paraffin besteht.
Aus diesen Versuchen ergibt sich somit:
1. Das Wachstum von Mykobakterien auf Paraffinen hängt von der Menge der. Doppelbindungen ab, deren
Ausdruck die Jodzahl ist. Wo die Jodzahl fehlt, ist kein Wachstum. Je größer die Jodzahl ist, desto ra- scher setzt das Wachstum ein.
2. Der Schmelzpunkt (physikalische Verhältnisse) ist wahrscheinlich ohne Einfluß auf das Wachstum der Mikroben. Er ist der Ausdruck bestimmter chemischer Strukturen im Paraffin, ebenso wie die Jod- zahl und steht deshalb nur indirekt in Beziehung zum Wachstum.
VII. Söhngen und Büttner haben beide exakte Versuche über Paraffin- verbrauch angestellt. Sie erhalten:
Söhngen aus 2 g Paraffin: verbraucht 300 und 330 mg, also 15% und 16,5%; Büttner aus 2 g Paraffin bei 37° einen Verbrauch von: mit Mycobact. phlei in 41 Tagen 135 mg und 136 mg, also 6,8%,
. 40 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
mit Mycobact. lactic. in 31 Tagen 224 mg, also 11,2%, mit Mycobact. phlei in 31 Tagen 182 mg, also 9,1%, mit einem weiteren in 31 Tagen 170 mg, also 8,5%.
Der höchste Tagesverbrauch liegt zwischen dem 10. und 20. Tag, dann geht er langsam zurück. Ich selbst fand einen Verbrauch von 19,8%, mit dem Mykobakterium der Schildkrötentuberkulose nach fünf Monaten. Nach dieser Zeit ist der Tagesbedarf minimal.
Nun haben 1919 Tauß und Peter!) festgestellt, daß die aliphatischen Paraffinkohlenwasserstoffe von gewissen Bakterien, die sie Bact. ali- phaticum (Fluoreszensgruppe ?) und Paraffinbakterium (Pseudomilzbrand- gruppe). nennen, vollständig zerstört werden, während die zyklischen Naphthenkohlenwasserstoffe nicht angegriffen werden, so daß man Naph- thene von Paraffinen isolieren kann, was bisher auf chemischem Wege nicht gelang.
Diese Organismen zersetzen n-Hexan, n-Oktan, Dekan, Hexadekan, Triakontan, Tetratriakontan, Diisoamyl, Kaprylen und Hexadezylen voll- ständig, und zwar besonders beschleunigt, wenn unter Sauerstoffdruck geschüttelt wird. In die Nährlösungen (Stöpselflaschen) wurden von den festen Kohlenwasserstoffen einige Körnchen gegeben, im Trockenschrank bis zum Schmelzen erhitzt und dann bis zum Erkalten tüchtig geschüttelt, so daß eine Emulsion entstand. Die Verfasser messen das Bakterien- wachstum an der Menge des verbrauchten Sauerstoffs.
Als ich die Untersuchungen von Büttner und meine eigenen über das Wachstum nach fünf Monaten mit diesen Ergebnissen von Tauß und Peter verglich, glaubte ich — wenn auch ganz andere Organismen diese Zerstörung der Paraffine durchführen — der Sauerstoffzufuhr und dem Schütteln besondere Bedeutung zuschreiben zu müssen, zumal von che- mischer Seite eine interessante Arbeit über die Oxydation der Paraffine vorliegt.
A. Grün?) konnte im Laboratorium Schicht in Aussig zeigen, daß bei Erhitzen des Paraffins auf 160° und Durchleiten eines Gasstroms mit 1 Gewichtsprozent Sauerstoffgehalt ohne Katalysator in 20 Stunden die - Hälfte des Paraffins in hochmolekulare Fettsäuren übergeführt wird. Gibt man sauerstoffreichere Gasgemische zu, etwa atmosphärische Luft, so kann in 4 bis 5 Stunden eine noch viel größere Ausbeute erzielt werden. Es wird ein Kohlenstoffatom nach dem andern wegoxydiert. Man erhält die ganze Skala der Fettsäuren von den hochmolekularen bis zu den flüch- tigen Säuren (Ameisensäure). Verwendet man reinen Sauerstoff, so kann es zu Explosionen kommen. Außerdem können sich Wachse bilden. Th. T. Gray konnte mit Hilfe ultravioletter Strahlen ebenfalls Esterbildung erhalten.
Hitze und Licht sind bei Sausertoffanwesenheit die Faktoren der Zersetzung. Was hier bei Hitze erfolgt, wird wohl auch bei niedereren Temperaturen in geringem Umfange vor sich gehen. Paraffine, die man vor das Fenster legt, die man also dem Licht und der Luft aussetzt, werden
1) C. f. Bact. 2. Abt. Bd. 49, 8.497 bis 554, 1919. 2) Berichte der Berl. deutschen chemischen Gesellschaft, Bd. 53, S. 987, 1920.
Von Dr. Friedr. Erh. Haag. 4
gelb, und zwar um so mehr, je niederer der Schmelzpunkt ist. Dieses Ver- gilben hängt nach Sommer vom Gehalt an ungesättigten Kohlenwasser- stoffen ab. Tatsächlich wird die Jodzahl um 0,1 bis 0,3 höher. Vor allem ist die Auflösung in Chloroform deutlich beschleunigt, was man auch jeder- zeit bei den äußeren Schichten von Paraffinblöcken beobachten kann (eine Differenz der Jodzahl zwischen äußeren und inneren Schichten von Paraffinblöcken konnte ich nicht nachweisen).
Bei jodzahlfreiem Paraffin war es ohne weiteres möglich, die Aus- gangsjodzahl wieder herzustellen, es fragte sich nun, ob es mit Hilfe der Tauß-Peterschen Technik möglich ist, die Jodzahl über die normale Größe hinaus zu erhöhen.
Ich verwendete 2-l-Flaschen, welche außer ihrer Öffnung am Flaschen- hals noch eine seitliche Öffnung nahe dem Boden besaßen. Ich füllte sie mit Sauerstoff, gab 1 1 Kulturflüssigkeit und 2 g Paraffin in jede der Flaschen, erhitzte bis zum Schmelzen des Paraffins, worauf sie sofort auf die Schüttelmaschine kamen, und zwar so, daß die Flaschen lagen, die Öffnung am Flaschenhals (vorne) geschlossen und die seitliche Öffnung (oben) mit dem Sauerstoffgasometer verbunden wurde. Sie wurden unter Gasometerdruck geschüttelt. Sowohl beim 60- bis 62gradigen Paraffin als auch beim 36gradigen Paraffin blieb eine starke Trübung der Kultur- flüssigkeit nach dem Erkalten und nach der Bildung von Paraffinkügelchen, was sonst nie eintritt, wenn man die Züchtungskölbchen nach dem Steri- lisieren bis zum Erkalten schüttelt. Nach 8stündigem Schütteln fand ich die Jodzahl auf das Zehnfache gestiegen. Da jedoch bei jeder Flasche zwei Gummistöpsel verwendet waren, suchte ich diese Fehlerquelle dadurch auszuschalten, daß ich Scheidetrichter verwendete und die Auslaufröhre mit dem Gasometer verband. Sie wurden 16 Stunden lang geschüttelt und zeigten:
Paraffin 36°: Jodzahl 3,9 (Kontrolle mit Ausgangsmaterial 4,5) „60: „ 3I y 1 7 2,4).
Schüttelt man das 36gradige Paraffin fünf Tage lang unter Sauerstoff- zuleitung, so erhält man eine sehr starke Trübung der Nährflüssigkeit, ohne Niederschlag, das Paraffin besteht aus runden, sehr festen Kugeln, die Jod- zahl beträgt 2,5. Auf der Flüssigkeit ist das Wachstum der Myko- bakterien sehr gut, sie bilden in drei Tagen 18 ccm Kohlensäure.
Durch dieses merkwürdige Verhalten des 36gradigen Paraffins kam ich zu folgender Überlegung: Der Sauerstoff wirkt zunächst so, daß jedes Atom O dem Paraffin zwei Atome H entreißt, so daß letzteres Doppel- bindungen und Jodzahl erhält. Bei weiterer Einwirkung des Sauerstoffes lagert sich dieser an, vielleicht unter Bildung von Fettsäuren, die Paraffine werden wieder teilweise gesättigt und die Jodzahl vermindert sich. Viel- leicht haben wir also beim 36gradigen Paraffin bereits diese zweite Phase der Oxydation vor uns, beim 60 bis 62gradigen Paraffin noch die erste. Dies suchte ich dadurch zu erfahren, daß ich zur obigen Versuchsanord- nung in eine der beiden Flaschen — mit Korkverschluß — nach dem Schmel- zen des Paraffins 20 ccm Jodlösung gab. Bis zum Erkalten war die Flüssig- keit braun, das Paraffin ziegelrot (wohl HgJ,-Bildung), beim Zusammen-
42 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
ballen des Paraffins wurde die Flüssigkeit mäßig trüb und farblos, das Paraffin hatte nur noch rötlichen Schimmer. Nach einer weiteren halben Stunde Schüttelns begann das Paraffın sich rosa, dann rot zu färben. Schmilzt man das Paraffin nochmals ein (40°), so ändert sich das Paraffin ın seiner Farbe nicht, auf der Flüssigkeit bleibt aber ein geringer Schaum einige Minuten stehen. Die Kontrollflasche, die keinen Jodzusatz erhalten hatte, wurde bei beginnender Färbung des Paraffins in der ersten Flasche aus der Schüttelmaschine entnommen, das Wasser abgeleert, das Paraffin getrocknet, in Chloroform gelöst. Die Jodzahl war 3,0.
Da ich so nicht zum Ziele kam, versuchte ich es auf andere Weise. kin Erlenmeyer-Kölbchen, mit eingeschliffenem Stöpsel, nach Art der Waschflaschen konstruiert, wurde auf dem Wasserbad gehalten, es enthielt Wasser und 2 g in der Hitze geschmolzenes Paraffin. Durch diese Flüssig- keit wurden langsam etwa 10 ] Sauerstoff geleitet; etwa 7 1 ‚während der Kolben unter Abkühlung stark geschüttelt wurde. Die Jodzahlen änderten sich durch diese Manipulation folgendermaßen:
Paraffin 36°: von 4,6 auf 4,0, Y) 40/42°: 77 4,5 ?9 6,2, er 60/620: „ 28 „ 3,7.
Nun wurde in einer weiteren Versuchsreihe während der Erhitzung auf dem Wasserbad je 10 ccm Jodsublimatlösung zugegeben, wobei, um die Joddämpfe aufzufangen, drei Peligotsche Röhren vorgelegt wurden, zwei enthielten je 5 ccm Natriumthiosulfatlösung von bekanntem Jodbin- dungsvermögen, die dritte Röhre Jodkaliumlösung. Sie waren unter sich und mit dem Erlenmeyer-Kolben durch Korkstopfen verbunden. Der Sauerstofistrom entfernte viel Jod aus dem Erlenmeyer-Kolben, doch wurde die dritte Vorlage (Jodkaliumlösung) nur wenig gefärbt. Die Paraffinstücke waren nach der Abkühlung braunrot, die Flüssigkeit farb- los. Die Paraffinstückchen wurden von Wasser befreit, in Chloroform gelöst, die Vorlagen zugegeben und nun unter Berücksichtigung der vor- . gelegten 10 ccm Natriumthiosulfatlösung die Jodzahlen berechnet. Sie waren: Paraffin 36°: 7,1.
M 40/420: 6,1. = 60/620 3,6.
Bei den beiden hochschmelzenden Paraffinen sehen wir einen Verlust von je 0,1g Jod (in Wirklichkeit 0,002 g, da nicht 100 g, sondern 2 g Paraffin verwendet wurden), der sich wahrscheinlich in den Korken be- findet. Dagegen zeigt das 36gradige Paraffin weitgehende Unterschiede. Seine Jodzahl entspricht der Jodzahl der beiden anderen Paraffine, wenn das Jod die Möglichkeit hat, sofort die entstehenden Doppelbindungen anzugreifen. So kommt es einer weiteren Oxydation zuvor, welche die Jodzahl erniedrigt. Während bei den höherschmelzenden Paraffinen unter diesen Bedingungen durch die Oxydation nur Olefinbildung eintritt, geht bei dem niederschmelzenden Paraffin der Prozeß schon weiter zur An- Jagerung von Sauerstoff.
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- Von Dr. Friedr. Erh. Haag. 43
Ich habe versucht, durch Schütteln unter Sauerstoffzutritt die Jod- zahl noch mehr zu steigern. Ich habe viele Tage geschüttelt. Ich habe geringe Mengen Kohlensäure oder Essigsäure oder Milchsäure zugegeben, um die Verhältnisse denen anzugleiehen, welche unter Bakterienanwesen- heit bestehen, es ist mir nicht gelungen, (die Jodzahlen nennenswert zu steigern. Das 60- bis 62gradige Paraffin war bis 4,0 zu bringen, das 40- bis A2gradige Paraffin auf 6,9. Ganz besonders lag mir daran, für das starke Wachstum der Organismen auf Zeresin und Ozokerit, die beide eine geringe Jodzahl besitzen, eine solche Erklärung zu suchen, indem bei diesen beiden Substanzen die Jodzahl unter Sauerstoffzufuhr vielleicht besonders labil wäre. Aber gerade das Gegenteil trat ein: die Jodzahl blieb dauernd konstant. |
Aus diesen Versuchen ergibt sich:
1. Bei der Oxydation der Paraffine kommt es unter Be- dingungen, welche beim Sterilisieren und: bei der Züchtung von Mikroorganismen nicht überschritten werden, nur zur Wasserstoffabspaltung, also zur Bil- dung von Doppelbindungen. Nur bei einem Paraffin mit sehr niederem Schmelzpunkt auch zur Sauerstoff- aufnahme. Ä
. Diese Veränderungen der Paraffine erfolgen nur in einem ganz bestimmten Umfang, der wohl durch die Struktur der Paraffine gegeben ist.
3. Im Hinblick auf die Abhängigkeit des Wachstums von der Jodzahl besteht somit die größte Wahrscheinlich- keit, daß jeweils die Doppelbindungen von den Bak- terien angegriffen werden. Im jodzahlarmen Paraffın setzt dann die Oxydation ein, um gemäß der Struktur des Paraffins eine bestimmte Jodzahl zu erreichen. Dem Abbau durch Bakterien ginge dann ein chemischer Prozeß immerfort voraus, welcher um so schneller verläuft, je stärker die Bakterientätigkeit ist. Beide sind somit voneinander abhängig.
. Genau so sind die Erdwachse zu- beurteilen. Ihre Struktur mag anders sein, als die der Paraffine, und darum sind die Wachstums- verhältnisse andere. Aber auch bei ihnen sehen wir bei größerer Jodzahl stärkeres Wachstum.
. Die Versuche von Tauß und Peter könnten so gedeutet werden: An sich greifen die Organismen weder die Paraffine, noch die Naphthene an. Die ersteren erfahren jedoch ihrer Struktur ent- sprechend eine Dehydrierung; an den Doppelbindungen setzen die Keime an und der chemische Abbau liefert wieder Doppelbindungen nach. Der Sauerstoffverbrauch in der Versuchsanordnung ist nicht das Maß der Bakterientätigkeit, sondern ein wahrscheinlich sehr großer Teil ist auf Rechnung der chemischen Oxydation zu setzen.
Sind diese Überlegungen richtig, dann muß es möglich sein, ein Paraffin unter Bedingungen, welche denen der Züchtung gleichen, völlig abzubauen,
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(Sr
. 44 Über die Bedeutung von Doppelbindungen im Paraffin usw.
wobei nur die Naphthene erhalten bleiben. Es müßte möglich sein, durch Wegnahme der Doppelbindungen in bestimmten zeitlichen Abständen an einer einzigen Paraffinprobe bei Zimmertemperatur immerfort Doppel- bindungen zu erhalten.
Dieser Versuch wird mit dem Paraffin vom Schmelzpunkt 40/42° durchgeführt. Zur Wegnahme der Doppelbindungen dient die Formolit- methode.
30. Oktober 1925. 60 g Paraffin, 60 ccm konz. Schwefelsäure und 60 ccm Formalin. Formolitzahl: 1,4. Das Paraffin ist schwarz. Zur Befreiung von Säure wird es in Chloroform gelöst, mit Wasser, Natronlauge und wieder zweimal mit Wasser ausgeschüttelt. Destillation im Vakuum bei 12 mm Hg. Das Destillat ist ganz klar. Schmelzpunkt 41°. Jod- zahl und Formolitzahl fehlen. .
1. November 1925. Das gereinigte Paraffin wird auf drei Arten be- handelt:
a) 10 g werden dreimal 8 Stunden unter Sauerstoffdruck ge- schüttelt. Nach dieser Zeit!) beträgt die Jodzahl 2,3 und die Formolitzahl 1,0.
b) 10 g werden auf dem Wasserbad — auf destilliertem Wasser schwimmend — erhitzt und Sauerstoff durchgeleitet. Nach einigen Stunden ließ ich erkalten, löste in Chloroform, schied dieses vom Wasser und erhielt nach Abdestillieren des Chloro- forms ein Paraffin mit Jodzahl 1,8 und Formolitzahl 0,8.
c) 10 g bleiben mehrere Tage bei Zimmertemperatur offen stehen. Die Jodzahl beträgt nun 2,5, die Formolitzahl 1,3.
7. November 1925. Diese 30 g Paraffin, von denen 3 g für die drei Jodzahlbestimmungen weggingen, sind durch die Formolitreaktion braun, sie werden in Chloroform gelöst, zweimal mit Natronlauge und zweimal mit Wasser geschüttelt. Die Vakuumdestillation gibt ein klares Paraffin, das völlig formolit- und jodzahlfrei ist.
Das gereinigte Paraffin wird teils vor dem Fenster, teils im Zimmer aufbewahrt und zeigt nach zwei Tagen eine geringe, nach weiteren Tagen eine immer stärker werdende Formolitreaktion. Damit ist der Beweis geliefert, daß durch Wegnahme der Doppelbindungen immer- fort Oxydationen eintreten, welche das Paraffin wieder auf einen ganz bestimmten Gehalt an Doppelbindungen bringen.
VIII.
Grimm hat flüchtige organische Verbindungen als einzige C- Quelle studiert?) und kommt zu dem Schlusse, daß durch Schimmelpilze solche Körper nur dann assimilierbar sind, wenn sie C, H, und O enthalten. Pentan, Hexan, Heptan und Oktan waren nicht assimilierbar. Weder
1) Die Schüttelflüssigkeit ist stark getrübt. Diese Trübung läßt sich nicht mit Chloroform ausziehen, die Flüssigkeit ist jodbindend (Jodzahl 0,6), gibt einen Abdampfrückstand von 0,396 g und einen Glühverlust von 0,136 g.
2) C. f. Bact. 2. Abt., Bd. 41, S. 648, 1914.
Von Dr. Friedr. Erh. Haag. 45
das C, noch das O der Karbonylgruppe sind assimilierbar, sondern das O der Hydroxylgruppe.
Errechnet man die Verhältniszahl zwischen Paraffinverlust und CO,- Bildung, so erhält man, wie Büttner zeigte und ich bestätigen konnte, mit ziemlicher Konstanz 0,37. Berechnet man den theoretischen Paraffin- verlust aus der CO,-Bildung, so erhält man:
Formel: CnHgn +2- Da n groß ist, so nähert sich diese Formel der einfacheren Formel C„Hon-
Es enthält also das Paraffın auf 14 Gewichtsteile 12 Teile C.
1gC liefert 75 2 z CO2 und
: u 44 1 g Paraffin: a i2 3,1 g CO, Man sollte also erwarten, daß für je 3,1 g gebildete CO, 1 g Paraffin verschwunden wäre. Somit: theoretische Verhältniszahl: 1,0:3,1 = 0,32, praktische Verhältniszahl: 0,37.
Diese Unstimmigkeit führt Büttner auf die Möglichkeit zurück, daß aus dem Paraffin nicht bloß CO,, sondern noch ein anderes C-haltiges Produkt gebildet wird.
Die Verhältniszahl ist abhängig von dem Verhältnis des C-Atoms zu anderen Atomen im Paraffinmolekül!), für Doppelbindungen wäre die theoretische Verhältniszahl noch geringer, sobald aber Sauerstoffatome dazukommen, also OH- oder COOH-Gruppen substituiert sind, steigt die theoretische Verhältniszahl auf Werte um 0,36 und 0,37, wie sie praktisch erhalten wurden.
Dies würde für die Grimmsche Ansicht sprechen, andererseits kann ich . auf Grund meiner Untersuchungen keine so weitgehenden Oxydationen annehmen.
Die praktische Verhältniszahl kann nicht genau sein: Durch die Extraktion des Paraffins aus der Kultur mit Hilfe von Tetrachlorkohlen- stoff läßt es sich nicht vermeiden, daß auch die lipoidartigen Bakterien- bestandteile, die ja bei den säurefesten Bakterien besonders reichlich vor- handen sind, ausgezogen werden. Es wird also ein Gewichtsteil des zurück- gewonnenen Paraffins aus Bakteriensubstanz bestehen, somit der Paraffin- anteil geringer sein. Der Paraffinverlust ist also größer und die Verhältnis- zahl dadurch ebenfalls größer, was eine noch größere Differenz zwischen theoretischer und praktischer Verhältniszahl gibt. Auf der anderen Seite geht in der Kultur ein Teil des Kohlenstoffs durch den Aufbau von Leibes- substanz für die Kohlensäurebildung verloren, und zwar sicher mehr als durch die Tetrachlorkohlenstoffextraktion an Substanz gewonnen wird. Denkt man sich im Nenner eine höhere Kohlensäurezahl (die man haben
1) Nehmen wir an, das Paraffin besitze auf 15 Gewichtsteile 12 Teile C, so liefert 1 g Paraffin 12/15 - 44/12 = 2,9 g CO,. Damit wird die Verhältniszahl 1,0:2,9 = 0,35. Eine solche Annahme ist berechtigt, weil wir wissen, daß das Paraffin kein reiner Körper ist.
46
Über die Bedeutung von Doppelbindungen im. Paraffin usw.
müßte, wenn alles Paraffin in CO, umgewandelt würde), so nähert sich die praktische Verhältniszahl wieder der theoretischen. Man kann somit aus der Verhältniszahl nur Schlüsse ziehen, wenn man auch den Kohlen- stoff der zurückbleibenden Kulturflüssigkeit und der darin befindlichen Bakterien bestimmt.
4.
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~]
6.
Zusammenfassung.
. Verschiedene Bakterien aus der Tuberkulosegruppe (Mykobakterium
der Schildkrötentuberkulose, der Froschtuberkulose und das Myeo- bacterium lacticola) werden auf ihre Fähigkeit untersucht, einige Kohlenstoffverbindungen der Fettreihe (Triolein, Tripalmitin, Tri-
‘stearin, Lezithin, Bienenwachs, Walrat und Cholesterin als Kohlen-
stoffquelle zu verwerten.
. Es zeigt sich trotz weitgehender chemischer Verschiedenheit dieser
Kohlenstoffverbindungen ein Parallelgehen von Wachstum und Jodzahl, also von Wachstum und der Menge der Kohlenstoffdoppel- bindungen in den untersuchten Substanzen.
. Dies führte zur Fragestellung, wieso diese Organismen die Fähigkeit
haben, auch Paraffine, also gesättigte Grenzkohlenwasserstoffe, anzugreifen.
Dabei stellte sich heraus, daß die käuflichen Paraffine durchwegs eine Jodzahl besitzen, welche um so kleiner ist, je höher der Schmelz- punkt des Paraffins liegt.
. Das Wachstum der Bakterien ist um so stärker und setzt um so
früher ein, je niederer der Schmelzpunkt und je höher die Jod- zahl des Paraffins ist. Eine Ausnahme bilden die Erdwachsderivate. Es gelingt, durch Reinigung nach der Formolitmethode und durch daran anschließende Destillation ein jodzahlfreies Paraffın zu er- halten. Dieses dehydriert sich aber von selbst und kehrt ungefähr wieder zu seinem früheren Gehalt an Doppelbindungen zurück.
. Das Wachstum der Mykobakterien hängt auch bei den gereinigten `
Produkten vom Gehalt an Doppelbindungen ab; wo die Jodzahl fehlt, ist kein Wachstum.
. Bei der Oxydation der Paraffine kommt es unter Bedingungen,
welche beim Sterilisieren und bei der Züchtung nicht überschritten werden, nur zur Wasserstoffabspaltung, also zur Bildung von Doppelbindungen; nur bei einem Paraffin mit sehr niederem Schmelzpunkt auch zur Sauerstoffaufnahme.
9. Diese Veränderungen der Paraffine erfolgen nur in einem ganz
bestimmten Umfang, der wohl durch die Struktur der Paraffine gegeben ist.
. Im Hinblick auf die Abhängigkeit des Wachstums von der Jodzahl
ist es wahrscheinlich, daß jeweils die Doppelbindungen von den Bakterien angegriffen werden. Es wird zu beweisen versucht, daß in dem durch Bakterientätigkeit jodzahlarmen Paraffin aufs neue eine Oxydation einsetzt, um gemäß der Struktur des Paraffins eine bestimmte Jodzahl zu erzielen. Demnach ginge dem Abbau durch Bakterien immerfort ein chemischer Abbau voraus.
Über das Verhalten von Triolin und Linoleum als Fuß- bodenbelag hinsichtlich der Abgabe von gesundheitsschäd lichen Substanzen an die Raumluft.
Von Dr. Ing. Franz Noziczka.
(Aus dem Hygienischen Institut der Universität in Wien. Vorsteher: Prof. R. Graßberger).
(Bei der Redaktion eingegangen am 20. Februar 1926.)
Im Auftrage des Verbandes der österreichischen Linoleum- und Wachstuchhändler wurde von der. Firma W. W. Wagner, Wien I, Hoher Markt Nr. 3, im September 1925 an das Hygienische Institut der Univer- sität in Wien das Ersuchen gestellt, Untersuchungen darüber anzustellen, ob und inwiefern der Fußbodenbelag ,‚Triolin‘‘ gesundheitsschädlich wirken kann und wie sich Triolin in dieser Beziehung gegenüber dem „Linoleum“ verhält.
Dem Ansuchen lagen in Abschrift eine Reihe von Gutachten anderer Institute und Fachleute bei, die sich mit den Eigenschaften von Triolin und Linoleum befassen.
1. Ein Gutachten des Geh. Regierungsrat Prof. Robert Otzen von der Technischen Hochschule in Hannover über ‚das Verhalten von Linoleum und Triolin unter der Einwirkung von Hitze‘.
Es wird in diesem Gutachten über Experimente berichtet, nach welchen Triolin bei 115—120°C sich plötzlich unter starker Wärmeentwicklung und Rauchbildung zersetzt, während Linoleum noch bei 240°C seine Eigenschaften nur unwesentlich verändert.
Aus dem geschilderten Verhalten von Triolin werden Bedenken gegen die Verwendung des Triolins als Bodenbelag abgeleitet.
2. Ein Gutachten des Prof. Dr.M. Popp, Vorsteher der Versuchs- und Kontrolistation der Landwirtschafskammer Oldenburg, über „Das Verhalten von Triolin und Linoleum bei Erwärmung“.
In diesem Gutachten wird ausgesprochen, daß sich Triolin bei 130° C spontan unter Feuererscheinungen und starker Rauchentwicklung zersetzt und daß beim Verschwelen von Triolin CO,, CO, N,0,, N,0,, HCN, Benzol und Homologe, Nitrobenzol und Homologe, Phenol, Nitrophenol und Homologe gebildet werden.
Das Gutachten betont das Bedenkliche des Enistehens von Blausäure (2 g pro 1 m? Triolin), neben einer Anzahl von anderen intensiv giftig wirkenden Stoffen.
48 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Weiters behauptet der Gutachter, daß Triolin bei Temperaturen unter 100°C, ja selbst bei Zimmertemperatur salpetrige Säure abspaltet und so zur dauernden Verschlechterung der Luft in Wohnräumen führen kann.
In den Eigenschaften des Triolins erblickt der Gutachter schwere Gefahren gegenüber der Gesundheit und im Falle eines Brandes und spricht sich dafür aus, die Verwendung von Triolin zu verbieten.
3. Ein Bericht der deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, e. V., Berlin- Adlershof (Gez. i. V. der Abteilungsleiter Dr. Rackwitz), über Vergleichs- versuche in Bezug auf das Verhalten von Linoleum und Triolin unter Wärme- einwirkung.
Auf Grund der Versuchsergebnisse wird in dem Bericht das Linoleum als ein verhältnismäßig wärmebeständiges und brandsicheres Material bezeichnet.
Vom Triolin wird behauptet, daß es sich bei 140°C spontan unter starker Rauchentwicklung zersetzt und gegen starke örtliche Erwärmung recht emp- findlich ist und werden aus diesem Grunde Bedenken gegen die Verwendung von Triolin als Bodenbelag erhoben.
4. Ein Gutachten des Prof. Dr. W. Schlenk vom chemischen Institut Universität in Berlin über „Das Verhalten des Bodenbelages Triolin in der
itze‘.
In diesem Gutachten wird behauptet, daß Triolin bei 40°C Geruch nach Phenolen verbreitet und sich bei 140°C spontan unter starker Rauchentwicklung zersetzt und die dabei entstehenden Gase und Dämpfe aus Nitrophenolen und Kresolen, CO,, CO, Stickoxyd, Blausäure und Zyangas bestehen.
Diese Eigenschaften des Triolins werden vom Gutachter in Brandfällen als verheerend wirkend betrachtet.
5. Ein Gutachten des pharmakologischen Institutes der Universität in Berlin (gez. der Direktor i. V. Joachimoglu) über die Frage „Qb Triolin bei seiner Verwendung in Wohnungen und Laboratoriumsräumen gesundheits- schädliche Wirkungen auf den menschlichen Organismus ausübt‘.
Der Gutachter behauptet folgendes: Wenn 5cm? Triolin in einer Glas- glocke mit 1001 Inhalt verbrannt werden, sterben Meerschweinchen, die sich unter der Glasglocke Aufhalten, in 3—12 Minuten.
Ferner soll Triolin bei 24—27°C so viel giftige Stoffe an die Luft abgeben, daß Meerschweinchen, die sich in dem Versuchsraum aufhalten, in 60— 70 Stunden sterben; wird die Temperatur im Versuchsraum auf 28—320 C gesteigert, so sterben Meerschweinchen schon in 34—40 Stunden.
Nach diesem Versuchsergebnisse könne die Verwendung von Triolin als Fußbodenbelag nicht verantwortet werden.
6. Ein Gutachten von Dr.-Ing Sander, Oberbaurat der Hamburger Feuerwehr.
In diesem Gutachten wird ausgesprochen, daß alle jene Versuche, bei denen Triolin freihängend der Wärmewirkung ausgesetzt wird und aus dem Verhalten des Triolins bei diesen Versuchen auf die Feuergefährlichkeit rückgeschlossen wird, als praktisch wertlos und durchaus irreführend bezeichnet werden müssen, da sie nicht den Verhältnissen, wie sie bei einem Brande herrschen, entsprechen.
Diesem Gutachten schließt sich Branddirektor Floeter, Vorsitzender des Reichsvereins deutscher Feuerwehr-Ingenieure vollinhaltlich an.
7. Ein Gutachten des Prof. Dr.-Ing. A. Heiduschka, Geh. Hofrat, Prof. Dr.- Ing. E. Müller und Prof. Dr.-Ing. E. Sachsenberk über Triolin und Linoleum.
Es wird dort die Feuergefährlichkeit bei Triolin und Linoleum als gleich ge- ring bezeichnet und das Triolin als in manchen mechanischen Eigenschaften dem Linoleum überlegen bezeichnet.
8. Ein Gutachten des Geh. Regierungsrat, Prof. R. Otzen von der Tech- nischen Hochschule in Hannover, über die Feststellung der Abnützungsgrade von handelsüblichem Linoleum und Triolin.
Aus diesem ist zu ersehen, daß nach den Versuchsergebnissen vom Gut- achter dem Triolin ein höherer Abnützungsgrad zugeschrieben wird, als dem Linoleum.
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 49
9. In der Allgemeinen Bau-Zeitung, Heft Nr. 45, vom 20.12.1925, findet sich ein Aufsatz von Prof. Dr.-Ing. Heuß, Chemnitz, „Ein neuer Bodenbelag“, in welchem die wirtschaftlichen und mechanischen Vorteile von Triolin erörtert werden. l
Die im. vorhergehenden zitierten Gutachten und Angaben ließen es, um die vorgelegte Frage beantworten zu können, geboten erscheinen, folgende Einzelfragen experimentell nachzuprüfen, bzw. ergänzend zu beantworten.
1. Wie verändern sich bei Triolin und Linoleum die äußerlich erkenn- baren Eigenschaften beim Erwärmen;
2. welche flüchtigen Stoffe entstehen a) beim Erwärmen von Triolin und Linoleum bis etwa 100°C, b) bei Temperaturen über 100°C und beim Verbrennen oder Verglimmen von Triolin und Linoleum;
3. welche Wirkung üben die Verbrennungsprodukte von Triolin und Linoleum auf Versuchstiere aus;
4. spaltet Triolin oder Linoleum bei Temperaturen von 17—50°C, wie sie im praktischen Leben unter dem Einflusse der Raum- heizung oder der sommerlichen Erwärmung vorkommen, Stoffe ab, deren schädliche Wirkung im Tierversuch festsgestellt werden können ?
Für die nachstehend beschriebenen Untersuchungen wurde folgendes Material verwendet:
2 an 3. XI. 1925 wurden dem Institute durch die Firma Wilhelm Wagner übergeben:
in Stück grünes Triolin, 100 cm lang und 50 cm breit, im Gewichte von 1550 g. Es trug an der oberen Seite einer Schmalseite eine Etikette mit der Be- zeichnung ,Triolin“, auf der Rückseite war über das ganze Stück mit Blaustift geschrieben ‚Triolin“. Die Platte hatte eine Dicke von ea. 2 mm, war auf der Vorderseite glatt und mattglänzend, auf der Rückseite lag das Gewebe offen (Probe A, Triolin).
Ein Stück braunes Linoleum, 100 cm lang und 61—62 cm breit, im Gewichte von 2230 g. Es trug an der Vorderseite eine Etikette mit der Bezeichnung: „Linoleum 3 mm dick, gleicher Preis wie Triolin‘“. Auf der Rückseite war ein unleserlicher, großer Fabrikstempel. Das Gewebe an der Rückseite war mit einer braunen Masse überstrichen (Probe B, Linoleum).
2. Am 17. XII. 1925 wurden von der Firma W. Wagner dem hygienischen Institut übergeben:
Ein Stück braunes Triolin (2 x 1 m) im Gewichte von 6550g. Auf der Rückseite: blauer Stempelaufdruck ‚‚Triolin‘* und ein weißer Zettel angeklebt mit folgendem Inhalt: „Köln-Rottweil“-A.-G., Berlin NW 40, Hindersinstr. 8, Zweigniederlassung, Düneberg. Triolin, Fußbodenbelag, 28. X1. 1924. Farbe: hellbraun, Ballen Nr. 349, Gewicht: 95,0/96,0 kg, Länge: 30 m, Breite: 1 m.
Außerdem war auf der Rückseite ein dreieckiger roter Zettel angeklebt, mit folgendem Inhalte: „Vorsicht, stehend aufbewahren, nicht werfen, nicht drücken, vor Nässe zu schützen“ (Triolin, Probe C).
Ein Stück braunes Linoleum (2 x 1 m) auf der Rückseite keine Schrift. Gewicht 5350 g (Linoleum, Probe D).
3. Am 11. I. 1926 erhielt das hygienische Institut von einer neu adaptierten Heilanstalt über Ansuchen leihweise ca. 100 m? graues Triolin im Gewichte von 250 kg für Versuchszwecke überlassen (Probe E). Dieses Triolin war, nach einer nachträglich eingeholten Zuschrift der Köln-Rottweil-A.-G. vom 22.1.1926, zu einem Teil in der Zeit vom 26. bis 29. V. 1925, zum andern Teil in der Zeit
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 4
50 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
vom 1. bis 7. IX. 1925 fabriziert. Der größte Teil dieses Fabrikats war bereits in der Heilanstalt zur Herstellung des Fußbodenbelags zahlreicher Zimmer ver- wendet worden, und zwar zu einer Zeit, wo über die Absicht des hygienischen - Instituts, vergleichende Versuche vorzunehmen, noch nichts bekannt war.
Untersuchung der Brennbarkeit und Entzündbarkeit von Triolin und Linoleum.
1. Versuch (23. X.1925): Auf ein Musterstück des grünen Triolins (Probe A) (ca. 10 x 6cm) wurde eine brennende Zigarette fest angelegt. Die Zigarette wurde mehrmals wieder in Brand gesetzt und immer wieder auf dieselbe Stelle gelegt. An der Berührungsstelle war außer einem kleinen braunen Fleck und mehreren ganz kleinen Bläschen nichts zu beobachten. Ein Übergreifen der Zersetzung des Triolins auf Partien, die nicht direkt mit der Glutstelle in Berüh- rung standen, konnte nicht festgestellt werden. Die Brandstelle entwickelte vorübergehend den charakteristischen Geruch nach verbranntem Triolin.,
2. Versuch (23. X. 1925): Das bei Versuch 1 verwendete Musterstück von grünem Triolin (Probe A) wurde an einem Eck hintereinander mit fünf brennenden Zündhölzchen in Berührung gebracht. An der Berührungsstelle der Flamme trat Verkohlung ein, unter reichlicher Entwicklung weißer, stechend riechender Dämpfe. Das Triolin ließ sich aber bei dieser Versuchsanordnung nicht in Brand setzen. Der Verkohlungsprozeß zeigte auch keinerlei Neigung, sich von der ur- sprünglichen Stelle weiter zu verbreiten.
3. Versuch (23. X. 1925): Das bei Versuch 1 und 2 verwendete Muster- stück von grünem Triolin (Probe A) (ca. 10 x 6cm) wurde auf einen Dreifuß gelegt und unter ein Eck die Flamme eines Bunsenbrenners gebracht, wobei auch Gelegenheit gegeben war, daß das Eisengestell stark erhitzt wurde. Es entwickel- ten sich zuerst über der Spitze der Flamme weiße Dämpfe, dann entzündete sich das Triolin. und brannte unter Bildung von weißen, stichflammenartigen Flammen rasch zur Gänze ab. Dann verlöschte das Feuer und die Masse glühte unter Aus- stoßung von dichten Rauchwolken noch längere Zeit weiter. Der stechende, stark zum Husten reizende Rauch machte den Aufenthalt in dem 209 m? fassen- den Raum so belästigend, daß ein längeres Verweilen nicht erwünscht schien. Zurück blieb eine schwarze, innen weiße Masse, die leicht zerfiel und die Struktur des Stückes noch deutlich erkennen ließ.
4. Versuch (19. XI. 1925): Auf einen Dreifuß wurde ein Eisendrahtnetz gelegt und auf dieses ein Stück grünes Triolin (Probe A) (6 x 10 cm) so aufgelegt, daß ein Streifen von 4 cm Länge und 6 cm Breite über den Rand des Drahtnetzes herausragte, während der Rest der Triolinplatte möglichst dicht am Drahtnetz auflag. Nun wurde unter einer Ecke des überragenden Teiles der Triolinplatte ein Bunsenbrenner derart aufgestellt, daß die Spitze der ca. 6 cm hohen nicht leuchtenden Flamme das Eck der Triolinplatte eben berührte. Zuerst entwickelte sich eine dichte Rauchwolke, dann begannen plötzlich weiße Stichflammen aus der Schmalseite der Platte zu dringen und es begann eine rasch fortschreitende Verbrennung unter dichter Rauchentwicklung und hoher, weißer, spitzer Flam- menbildung. Sobald jedoch die Verbrennung den Rand des Drahtnetzes erreichte, wurde sie plötzlich sehr schwach und erlosch ca. 14, cm hinter dem Rande des Drahtnetzes. Der ganze Brand dauerte 31, Minuten. Der verbrannte Teil der Triolinplatte glühte unter kräftiger Rauchentwicklung noch 20 Minuten weiter. Ungefähr bis zum Rande des Drahtnetzes war das Triolin zu grauweißer Asche verbrannt, die bei Berührung abfiel. Dort, wo das Triolin über dem Draht- netz abbrannte, war es braunschwarz, aber nicht zu Asche verbrannt, so daß es noch eine gewisse Festigkeit besaß. Auf die eben beschriebene Partie folgte dann ein hellbrauner, beinahe gerader Strich, an welehen sich dann das unverbrannte Triolin anschloß, dieses zeigte nur in den ganz unmittelbar an den braunen Strich grenzenden Partien eine schwärzliche Verfärbung mit wenig kleinen Blasen, während das übrige Triolin ganz unverändert blieb.
5. Versuch (19. XI. 1925): Nach dem Muster des Versuches 4 wurde unter möglichst genauer Einhaltung derselben Bedingungen ein Stück braunen
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Linoleums (Probe B) (6x 10 cm) behandelt. Bei Berührung mit der Flammen- spitze des Bunsenbrenners begann eine sehr langsam fortschreitende Verbrennung des überragenden Teils der Linoleumplatte. Es bildete sich dabei nur sehr wenig Rauch und die Flammen waren klein und gelb und brannten ruhig. Gelangte die Verbrennung bis zu der Drahtnetzunterlage, so verlöschten die Flammen fast plötzlich und die Verbrennung hörte auf. Der Brand dauerte 10 Minuten. Der verbrannte Teil der Platte bestand aus brauner Asche, die bei Berührung abfiel. Auf diesen gänzlich verbrannten Teil folgte eine ca. 8 mm breite Zone, wo das Linileum geschwärzt wurde, der Rest war vollkommen unverändert.
Bei dieser Versuchsanordnung brennt das Linoleum nur bis zu dem Drahtnetz, während das Triolin noch ca. 11% cm weiter brennt. :
6. Versuch (20. XI. 1925): Auf ein Stück hartes, trockenes, gehobeltes Holz von 17,8 cm Länge, 4 cm Breite und 0,5 cm Dicke wurde ein Stück Triolin grün (Probe A) (3x 13,2 cm) mit M. K.-Kleister so aufgeklebt, daß an 3 Seiten das Holz um 0,5 cm überragte, während an der 4. Seite ein größeres Stück Holz frei blieb. Mit diesem freien Holzende wurde das Brett horizontal festgeklemmt, so daß der Triolinbelag nach oben zu liegen kam. Nun wurde eine 6 cm hohe rauschende Bunsenflamme so aufgestellt, daß die Schmalseite des Brettes in der Mitte der Flamme ca. 0,5 cm in dieselbe hineinragte. Das Holz begann zu brennen, und zwar auf der ganzen Schmalseite und auf beiden Breitseiten ca. 3,5 cm weit. Zunächst begannen nur die Ecken des Triolinbelages zu brennen unter starker Rauchentwicklung, dann griff der Brand auf weitere Partien über. Sobald jedoch das brennende Holz zu verlöschen begann, verlöschte auch der Brand des Triolin- belages. Es war dann noch kurze Zeit ein Weiterschreiten der Zersetzung zu be- obachten, mit starker Rauchentwicklung ohne Flammenbildung, dann hörte auch diese auf. Wieder war eine scharfe lichtbraune Begrenzungslinie zwischen dem zersetzten bzw. verbrannten Triolin und jenem, das ganz unverändert blieb, zu sehen. Ca. 3,5 cm weit war das Holz verkohlt und in seinen vordersten- Par- tien zu weißer Asche verbrannt. Ebensoweit war der Triolinbelag in eine schwarze, verhältnismäßig harte Masse verwandelt.
7. Versuch (20. X1. 1925): Versuch 6 wurde unter möglichst genauer Einhaltung derselben Bedingungen wiederholt, nur wurde statt eines Triolin- belags ein solcher von Linoleum (Probe B) verwendet. Nachdem das Schmal- ende des Brettes, wie bei Versuch 6 beschrieben wurde, mit einer Bunsenflamme in Berührung gebracht worden war, stand in einiger Zeit das überragende Holz in hellen Flammen, trotzdem begann das Linoleum nur langsam zu brennen. Es brannte am Höhepunkt des Brandes ein ca. 1 cm breiter Streifen. Gleichzeitig mit dem Verlöschen des Holzbrandes verlöschte auch das brennende Linoleum. Eine weitergreifende Zersetzung nach dem Verlöschen konnte nicht beobachtet werden. Das Brett war ca. 3,5 cm weit verkohlt bzw. verascht, das Linoleum nur ca. 1,5 cm weit, das übrige war ganz unverändert.
8. Versuch (10. XI. 1925): Auf ein Stück grünes Triolin (Probe A) (13 x 10 cm) wurde ein Stück glühende, brennende Steinkohle gelegt. Das Stück war ca. 2 cm lang, 1,5 cm breit und 1,5 cm hoch und brannte am Triolin noch 5 Mi- nuten weiter. Außer einer geringen Entwicklung eines stechend riechenden Rauches waren keine Erscheinungen zu beobachten.
Unter der Kohle war ein kreisförmiger dunkelbrauner Fleck von ca. 2 cm Durchmesser, derselbe war brüchig und bestand aus schwarzer Asche. Auf das- selbe Stück Triolin wurde auf eine andere Stelle ein hellrot glühendes Stück Eisen von 1,7 cm Breite, 2,5 cm Länge und 1 cm Höhe gelegt und bis zur Abkühlung darauf liegen gelassen. Es fand eine starke Rauchentwicklung statt, die aber nur 30 Sekunden dauerte. An der Berührungsstelle des Eisens war das Triolin in eine schwarze brüchige Masse verwandelt, die bis zu der Jutelage ging. Diese war nicht verbrannt, nur dunkelbraun verfärbt. Ein Weitergreifen des Zersetzungs- prozesses auf Partien, die nicht mit dem glühenden Eisen in Berührung standen, fand nicht statt.
9. Versuch (10. XI. 1925): Versuch 8 wurde unter möglichster Einhaltung derselben Bedingungen wiederholt, nur wurde statt Triolin ein gleich großes Stück braunes Linoleum (Probe B) verwendet.
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'52 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
An der Berührungsstelle mit dem Stück glühender und brennender Kohle entstand ein schwarzer Fleck, der brüchig war. Die Zersetzung war nur oberfläch- en denn in einer Tiefe von ca.4 mm konnte man das unzersetzte Linoleum sehen.
Bei der Berührung. mit dem Stück glühenden Eisen entstand starke Rauch- entwicklung und Geruch nach verbranntem Öl. Die Berührungsstelle war schwarz und brüchig, doch blieb die unterste Lage ganz unverändert.
40. Versuch (10. XI. 1925): Auf ein Stück grünes Triolin (Probe A) (13 x 10,5 cm) wurde ein Stück Watte ca.6 x 4 x 1 cm gelegt, das mit 5 cm? konz. Alkohol befeuchtet worden war. Hierauf wurde der Alkohol entzündet. Neben den Flammen der brennenden Watte waren vereinzelt stichflammenartige Flammen bemerkbar. Besonders reizende Dämpfe entstanden nicht. Der Brand dauerte 5 Minuten.
Nach dem Verlöschen des Brandes war unter der verbrannten Watte das Triolin unverändert. Um die Wattereste herum befand sich jedoch ein ca. 1 cm breiter braunschwarzer Ring.
411. Versuch (10. XI. 1925): Versuch 10 wurde unter möglichst genauer Einhaltung derselben Bedingungen wiederholt, nur wurde statt Triolin eine gleichgroße Platte braunes Linoleum (Probe RB) verwendet. Die mit Alkohol befeuchtete Watte brannte innerhalb 4%, Minuten ohne besondere Erschei- nungen ab.
Unter der verbrannten Watte war das Linoleum unverändert. In der un- mittelbaren Umgebung der Wattereste befand sich ein ca. Y, cm breiter, schwarzer, spröder Ring.
42. Versuch (11. XI. 1925): Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (5 x 6 cm) wurde durch 24 Stunden im Wassertrockenschrank auf ca. 100°C erhitzt. Während der Erhitzung wurde das Triolin weicher, es konnten mit dem Finger- nagel leicht Kerben erzeugt werden. Nach ca. 10stündiger Erhitzung zeigten sich vereinzelt kleine Bläschen, die bei weiterer Erhitzung aber nicht mehr zunahmen. Sonst waren keine Erscheinungen zu beobachten.
43. Versuch (10. XI. 1925): Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (6 x 10 cm im Gewichte von 20 g) wurde in einen Trockenschrank gelegt und das Verhalten des Triolins bei steigender Temperatur beobachtet:
In 25 Minuten von 20 auf 85°C: Bei ca. 60°C beginnt die Masse weich zu werden und läßt sich bei 85°C mit dem Fingernagel leicht kerben. — In weiteren 5 Minuten von 85 auf 100°C: Es traten bei 100°C an den Rändern Blasen auf, die Masse wird weich und erscheint in ihrem ganzen Gefüge gelockert. — In weiteren 5 Minuten von 100 auf 115°C: Bei 115°C ist das ganze Stück mit flachen breiten Blasen bedeckt, beim schwachen Biegen treten tiefe Sprünge auf und es ist ein unangenehmer, stechender Geruch bemerkbar. — In weiteren 6 Minuten von 115 auf 125° C: Bei 125°C zeigt sich dasselbe Aussehen, wie bei 115°C, nur tritt von Zeit zu Zeit ein wenig Rauch auf und der unangenehme Geruch ist stärker. — In weiteren 7 Minuten von 125 auf 135°C: Bei 130°C beginnt sich das Stück schwarzbraun zu färben und ist bei 135° C ganz verfärbt. Die Masse ist leicht blättrig-brüchig und verbreitet einen unangenehmen Geruch. — In weiteren 7 Minuten werden 140°C erreicht, jetzt entwickelt sich plötzlich ein starker weißer qualmender Rauch und nach kurzer Zeit beginnt die ganze Masse lebhaft zu glühen. Der Rauch riecht stechend, verursacht Tränen und reizt stark zum Husten. Durch 30 Minuten glüht die Masse im Zimmer unter mäßiger Rauch- entwicklung weiter. Zurück bleibt eine grau-weiße Asche. l
14. Versuch (41. XI. 1925): Fin größeres Stück Triolin (Probe A) (11,5 x 11,8 cm im Gewicht von 43 g) wurde, wie bei Versuch 13, in einen Trok- kensehrank gelegt und das Verhalten bei steigender Temperatur beobachtet:
In 19 Minuten von 20 auf 100°C: Bei 100°C traten an den Rändern Blasen auf und die Masse wurde weich. — In weiteren 2 Minuten von 100 auf 110°C: Bei 110° war die ganze Platte mit flachen Blasen bedeckt. — In weiteren 3 Minuten von 110 auf 120° C: ‘Die Platte beginnt sich schwarzbraun zu verfärben und es tritt starker stickiger Geruch auf. — In weiteren 8 Minuten werden 138°C erreicht, es beginnt eine plötzliche, sehr starke Rauchentwieklung und nach
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2 Minuten fängt die Masse zu glühen an. Später läßt dann die Rauchentwicklung nach, doch glüht die Masse noch 25 Minuten im Zimmer weiter. Flammenbildung konnte keine beobachtet werden. Zurück bleibt eine grau-weiße Asche.
15. Versuch (19. X1.1925): Ein Stück braunes Linoleum (Probe B) (6 x 10cm im Gewichte von 21,5 g) wurde in einen Trockenschrank gelegt und das Verhalten bei steigender Temperatur beobachtet:
In 20 Minuten von 20 auf 100°C: Die Platte ist unverändert. — In weiteren 3 Minuten von 100 auf 110°C: Die Platte ist unverändert. — In weiteren 2 Mi- nuten von 110 auf 120°C: Die Platte ist unverändert. — In weiteren 4 Minuten von 120 auf 130° C: Die Platte erscheint etwas weicher und die Rückseite klebrig. — In weiteren 3 Minuten von 130 auf 140°C: Es beginnen sich vereinzelte flache Blasen zu bilden. — In weiteren 5 Minuten von 140 auf 150°C: Die Blasen haben sich nicht vermehrt, die Masse raucht ganz wenig und riecht deutlich nach Leinöl. — In weiteren 9 Minuten von 150 auf 160° C: Dieselben Erscheinungen wie bei 150° C, nur hat sich die Platte dunkler gefärbt. — In weiteren 8 Minuten von 160 auf 170°C: Erscheint wie bei 160°C.
16. Versuch (21. XI. 1925): Auf ein gehobeltes Brett (30 x 25 x 1,6 cm) wurde eine Platte grünes Triolin (Probe A) (24,9 x 20,2 cm) aufgeklebt und in einen Trockenschrank gelegt. |
Nach 30 Minuten sind 50°C erreicht: Es wird aus einem in voller Glut befindlichen Holzkohlenbügeleisen ein Stück hellglühende Holzkohle (ca. 2 x 2 x 2cm) auf die im Trockenschrank befindliche Triolinplatte gelegt und der Schrank sofort wieder geschlossen. Es entwickelte sich ein verhältnismäßig starker Rauch und es entstand ein runder Brandfleck von ca. 2,5 cm Durch- messer. — In weiteren 20 Minuten von 50 auf 58°C: Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt dieselben Erscheinungen wie bei 50°C. — In weiteren 21 Mi- nuten von 58 auf 62°C: Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt dieselben Erscheinungen wie bei 50°C. — In weiteren 19 Minuten von 62°C auf 70°C: Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt dieselben Erscheinungen wie bei 50°C. — In weiteren 15 Minuten von 70 auf 80°C: Beim Auflegen eines Stückes hellglühender Holzkohle entwickelt sich deutlich mehr Rauch als bei den vor- hergehenden Versuchen und die Zersetzung des Triolins schreitet etwas fort, so daß circa der doppelte Flächenraum bei gleich großer glühender Fläche zersetzt wird. — In weiteren 17 Minuten von 80 auf 90°C: Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt dieselben Erscheinungen wie bei 80°C. — In weiteren 23 Mi- nuten von 90 auf 100°C: Die Triolinmasse ist sehr weich, aber ohne Blasenbil- dung. Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt dieselben Erscheinungen wie bei 80° C. — In weiteren 25 Minuten von 100 auf 110°C: Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt dieselben Erscheinungen wie bei 80°C. — In weiteren 12 Mi- nuten von 110 auf 120°C: Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt dieselben Erscheinungen wie bei 80°C. — In weiteren 6 Minuten von 120 auf 124°C: Es beginnen sich auf der ganzen Platte Blasen zu bilden. Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt eine fortschreitende a aung unter sehr starker Rauch- entwicklung, die aber bald von selbst. zum Stillstand kommt (nach cä. 2 Minuten). Es entsteht ein braunschwarzer, runder Fleck von 4cm Durchmesser (aufge- legtes Kohlestück ca. 2x 2 x 2cm). — In weiteren 12 Minuten von 124 auf 130°C: Ein Stück hellglühende Holzkohle erzeugt eine rasch um sich greifende Zersetzung. Die Zersetzung greift in Form von kreisförmigen Wellen um sich unter Bildung erheblicher Rauchmengen. Nach 2 Minuten wurde die Triolin- platte samt dem Holz aus dem Trockenschrank genommen und aufs 'offene Fenster gelegt. Die Zersetzung wurde immer schwächer und hörte nach 3 Mi- nuten auf. Es war ein runder schwarzbrauner Fleck entstanden, der brüchig war.
17. Versuch (26. I. 1926): Ein Stück braunes Triolin (Probe C) (50 x 45 cm) wurde auf den Xylolithfußboden eines Raumes gelegt und an den Rändern mit Gewichten beschwert, so daß das Triolin fest an dem Boden anlag. Nun wurde gegen die Mitte der Triolinplatte die Stichflamme einer Spirituslötlampe gerichtet (ca. 1 Minute), das Triolin begann zuerst Blasen zu werfen und dann dichten weißen Rauch zu entwickeln, dann begann es auch an der von der Stichflamme bestrichenen Stelle zu brennen.. Nachdem die Flamme entfernt worden war,
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brannte das Triolin noch ca. 1⁄4 Minute unter Rauchentwicklung weiter, ein Fort- schreiten des Brandes konnte nicht beobachtet werden. Nach Verlöschen des Brandes war ein schwarzer Fleck von ca. 8 cm Durchmesser zu sehen, auf diesen wurde nun nochmals ca.1 Minute lang die Lötlampenflamme gerichtet. Das Triolin begann wieder zu brennen, der Brand verlöschte aber fast gleichzeitig mit der Entfernung der Flamme. Der schwarze fast runde Fleck hatte jetzt einen Durchmesser von 8—9 cm Durchmesser und bestand aus einer kohligen, blättrigen Masse. An dêr Rückseite war das Gewebe noch beinahe vollständig erhalten und nur von einer braunen öligen Flüssigkeit durchtränkt.
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Zusammenfassung der Ergebnisse der Versuche 1—17.
Aus den Versuchen ist zu ersehen, daß das Triolin gegenüber lokaler Erhitzung, wie sie durch ein brennendes Zündholz, eine brennende Ziga- rette, ein Stück glühende Kohle, oder Eisen, ein Stück mit Alkohol be- feuchteter, brennender Watte oder direkte Berührung mit einer Flamme an einer Stelle, unter den bei diesen Versuchen gewählten Bedingungen erzeugt wird, insofern widerstandsfähig ist, als zwar die mit den heißen Gegenständen oder der Flamme direkt in Berührung kommenden Stellen verqualmen bzw. verbrennen, daß hierbei aber ein Übergreifen der Zer- setzung auf das übrige Triolin nicht erfolgt.
Beim Verglimmen und Verbrennen von Triolin treten verhältnismäßig große Mengen von weißem Rauch auf, der sich unangenehm beklemmend auf die Atmungsorgane legt und stark zum Husten reizt.
Das Linoleum verhielt sich unter den gleichen Bedingungen, lokaler Erhitzung ausgesetzt, dem Triolin ähnlich, die hervorgerufene Zerstörung war aber nicht so tiefgreifend und weniger ausgebreitet. Auch entwickelte sich entweder kein oder nur bedeutend weniger Rauch, der auch bei weitem nicht so unangenehm auf die Atmungsorgane wirkte, sondern nur nach verbranntem Öl roch.
Gänzlich verschieden jedoch verhält sich das Triolin gegenüber dem Linoleum bei der gleichmäßigen Erwärmung größerer Partien an der Luft.
Triolin zersetzt sich bei 138—140°C ganz plötzlich sehr schnell, was von einer außerordentlich intensiven Entwicklung von Rauch begleitet ist. Diese Zersetzung ist durch eine exotherme Reaktion hervorgerufen, bei welcher die Temperatur so hoch steigt, daß die Masse zu glühen an- fängt und unter ständiger Rauchentwicklung noch längere Zeit im Innern .weiterglüht‘
Das Linoleum dagegen kann ohne tiefgreifende Veränderungen auf 170°C erhitzt werden; außer der Bildung vereinzelter flacher Blasen und einer dunklen Färbung konnten keine Erscheinungen beobachtet werden.
Auch bei viel tieferen Temperaturen als 140°C verändert das Triolin seine Eigenschaften. Bei 60°C beginnt das Triolin deutlich weich zu werden. Bei 100°C läßt sich die Masse schon mit dem Fingernagel tief ritzen und es treten Blasen auf.
Bei 120—125°C verfärbt sich die Masse schwarzbraun und verbreitet einen unangenehm stickigen Geruch.
Aus dem Versuch 16 ist zu entnehmen, daß bei Temperaturen bis 120°C ein hell glühendes Stück Holzkohle keine spontane Zersetzung der
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ganzen Platte hervorruft, sondern nur jene Teile unter starker Rauchent- wicklung zersetzt werden, die mit der glühenden Kohle in direkter Be- rührung standen. Erst bei 130° C wird durch ein Stück glühende Kohle die spontane Zersetzung der Platte unter sehr starker Rauchentwicklung hervorgerufen.
Nach dem Vorhergehenden sind unseres Erachtens in Wohnräumen, Kanzleien usw., deren Fußböden mit Triolin belegt sind, die Bedingungen, welche ein fortschreitendes Verqualmen oder Verbrennen von einer durch Verstreuen glühender Kohle, Wegwerfen von brennenden Zündhölzchen, glimmenden Zigaretten usw. erhitzten Bodenstellen bedingen, nicht ge- geben. Daß bei einem umfangreichen Zimmerbrand zumal mit Beteiligung der Zwischendecke schließlich auch die Temperaturen erreicht werden können, bei welchen das Triolin umfangreich verqualmt bzw. verbrennt, ist selbstverständlich.
Es ist nun zu untersuchen, in wie weit beim Verbrennen oder Ver- qualmen des Triolins (140° C) giftige Gase oder Dämpfe entstehen.
Versuche zum Nachweis, ob und in welchen Mengen beim Verglimmen oder Verbrennen von Triolin oder Linoleum Blausäure oder phenolartige Stoffe gebildet werden.
18. Versuch (3. XI. 1925) soll nachweisen, ob und in welchen Mengen Blausäure und phenolartige Stoffe beim Verbrennen von Triolin entstehen.
Für diesen Versuch wurde ein Apparat verwendet, der im wesentlichen aus einem großen Trichter bestand, an welchem sich ein System von Kühlern und Waschflaschen anschloß, das mit einer Saugpumpe in Verbindung stand. Drei der Waschflaschen waren mit einer SEENUNE von Ferrosulfat und Kali- lauge beschickt. (Siehe Skizze I.)
Unter dem Trichter wurden 6 Streifen grünes Triolin (Probe A) vonca. 24 cm Länge und 1,4 cm Breite im Gesamtgewichte von 60 g derart zur Verbrennung gebracht, daß je ein solcher Streifen an der Flamme eines Bunsenbrenners brennend gemacht und nun unter dem Trichter abbrennen gelassen wurde.
Die Streifen brannten mit hell leuchtender oft stichflammenartiger Flamme, unter starker Entwicklung von weißem Rauch und reichlicher Rußbildung ab. Trotzdem die Dämpfe so stark wie möglich abgesaugt wurden, gingen doch nur schätzungsweise 50% durch den Apparat, während der Rest außerhalb des Trich- ters entwich und für den Versuch verloren ging. Die Verbrennung der 6 Streifen Triolin beanspruchte 25 Minuten.
Nach Beendigung der Verbrennung waren der Trichter, die erste trockene Vorlage und der erste Kühler dicht mit Ruß bedeckt. Die erste trockene Vorlage enthielt ca. 5 cm? einer durch Ruß schwarz gefärbten Flüssigkeit. Der zweite Kühler und die zweite trockene Vorlage waren trocken und enthielten wenig Ruß. An den drei mit in KOH aufgeschlämmten Fe(OH,) beschickten Vorlagen war nichts: Auffälliges zu beobachten.
Aufarbeitung:
Der Trichter, die beiden Kühler und die beiden trockenen Vorlagen wurden mit heißem Wasser abgespült. Die so erhaltene von Ruß schwarz gefärbte Lösung wurde filtriert und auf 300 cm? aufgefüllt.
Diese Lösung enthielt deutlich nachweisbare Mengen von Essigsäure, Sal- petersäure und sehr geringe Mengen phenolartiger Stoffe, aber nur Spuren von Blausäure.
Zur Bestimmung der Blausäure wurde nach dem Vorgange von Feld (siehe Lunge-Berl, Chemisch technische Untersuchungsmethoden, 1911; HI. Bd., 341) der Inhalt der drei Vorlagen, welche in Kalilauge aufgeschwämmtes
56 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Ferrohydroxyd enthielten, in einen 21 fassenden Rundkolben gespült und mit 112 cm? 8 n-Schwefelsäure neutralisiert. Hierauf wurden 30 cm? 8 n-Kalilauge und 60 cm? 3n-Magnesiumchloridlösung zugesetzt und einmal aufgekocht. Nach Zugabe von weiteren 60 cm? 3 n-Magnesiumchloridlösung wurde 5 Minuten gekocht und sodann 100 cm? n/1-Sublimatlösung zugesetzt und weitere 10 Mi- nuten gekocht.
Nun wurde der Kolben mit einem Kühler verbunden, an den sich ein Kolben und an diesen ein Dreikugelrohr anschloß. Der Kolben war mit 20 cm? 2/n-Natron- lauge und das Kugelrohr mit 10 cm? 2/n-Natronlauge beschickt. Nachdem durch einen Tropftrichter 100 cm? 8/n-Schwefelsäure zu dem Inhalt des Destil- lationskolben fließen gelassen wurde, wurde 30 Minuten lang destilliert.
Skizze I.
) gm Zur Saugpumpe
A & r
Vorla e Vorlage Vorlage T á a a 4
Nach, beendeter Destillation wurde der Inhalt des Vorlagekolbens und des Dreikugelrohres in einen Kolben gespült und zur Bestimmung des Zyanwasser- stoffes, nach Zugabe von 5cm? 1/n-Jodkaliumlösung mit n/10-Silbernitrat- lösung, bis zur eben beginnenden Trübung titriert.
Es wurden 6,50 cm? n/10-AgNO,-Lösung verbraucht.
Da 1 cm? n/10-AgNO,-Lösung 5,4 mg Blausäure entspricht, so entsprechen 6,50 cm? n/10-AgNO,-Lösung 35,10 mg Blausäure.
Da nur ein Teil der aus 60 g Triolin entwickelten Dämpfe bei diesem Versuche durch den Trichter in den Apparat gelangte, berechnet sich, daB bei der Ver- brennung von im? Triolin grün, demnach weit mehr als 1,5g Blausäure gebildet werden.
19. Versuch (4. XII. 1925): Um nachzuweisen, welche Mengen Blausäure bei der Verglimmung von Triolin entstehen.
Für diesen Versuch wurden in eine 461 fassende Glasflasche 8 cm? n/1- Ferrosulfatlösung, 40 cm? 8/n-Natronlauge und 50 cm? Wasser gegeben.
Hierauf wurde ein Stück grünes Triolin (Probe A), (4,1 x 46,Acm = = 190,24 cm?) im Gewichte von 58,6 g in 8 Stücke von 4,1 cm Breite und 5—6 cm ne geschnitten und jedes dieser Stücke an einen ca. 40 cm langen Eisendraht
efestigt.
Sodann wurde eines dieser Stücke Triolin so lange auf einer, von unten durch einen Bunsenbrenner erhitzten Asbestplatte erwärmt, bis die spontane Zersetzung unter Rauchentwicklung eingeleitet war und wurde nun rasch in die Glasflasche gegeben, die verschlossen wurde. Unter starker Rauchentwicklung verglimmte rasch das ganze Triolin. Sobald die Rauchentwicklung aufhörte, wurde nach vorsichtigem Lüften des Flaschenverschlusses der Rest, das Aschenskelett des Triolinstreifens herausgenommen und nun durch 10 Minuten langes Rollen der Flasche die Verbrennungsgase möglichst innig mit der Apsorptionsflüssigkeit in Berührung gebracht. Sodann wurden mit einem Blasebalg die restlichen Ver- brennungsgase aus der Flasche entfernt.
Auf diese Art und Weise wurden hintereinander alle 8 Stück Triolin zur Ver- glimmung gebracht. Verglimmte eines der Stücke nicht vollkommen, so wurde
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es herausgenommen, auf der Asbestplatte nochmals erwärmt und dann unverzüg- lich wieder in die Flasche gegeben.
Nach der Verbrennung des 4. Stückes Triolin wurden in die Flasche noch 8 cm? n/1-Ferrosulfatlösung und 50 cm? Wasser gegeben.
Nachdem alle 8 Stück Triolin verglimmt waren, wurde die Absorptionsflüssig- keit aus der Flasche in einen 2 | fassenden Rundkolben gespült und die Blausäure nun wie im vorhergehenden Versuch’ nach dem Verfahren von Feld bestimmt.
Es wurden 14,90 cm? n/10-Silbernitratlösung verbraucht.
Dies entspricht, da 1 cm? n/10-AgNO, 5,4 mg HCN entspricht, 80,46 mg HCN.
Beim Verglimmen von 1 m? Triolin werden demnach mehr als 4g HCN gebildet.
20. Versuch (7. XI. 1925): Um festzustellen, ob beim Verbrennen von Linoleum Blausäure gebildet wird.
Dieser Versuch wurde mit demselben Apparat wie der 18. Versuch ausgeführt, unter möglichst genauer Einhaltung derselben Bedingungen. Es wurden 60g Linoleum, braun (Probe B), in Form von 6 Streifen a 16,4 cm Länge und 1,6 cm Breite verwendet.
Die Streifen wurden ebenfalls an einem Bunsenbrenner zur Entzündung gebracht und brannten dann mit kleiner, ruhiger Flamme ab. Die Rauchent- wicklung war mäßig, so daß nahezu aller Rauch durch den Apparat ging. Zum Verbrennen der 60 g Linoleum waren 2 Stunden erforderlich.
In den beiden trockenen Vorlagen kondensierte sich eine geringe Menge (ca. 5 cm?) einer wässerigen Flüssigkeit, die nur aus Wasser und geringen Mengen Essigsäure bestand. Blausäure, Salpertersäure oder phenolartige Stoffe konnten nicht nachgewiesen werden.
Der Inhalt der drei Vorlagen, welche mit in Kalilauge aufgeschwämmten Ferrohydroxyd beschickt worden waren, wurden genau so, wie bei Versuch 18, nach der Methode Feld aufgearbeitet, doch konnte keine Spur von Blau- säure nachgewiesen werden.
Versuche zum Nachweis, ob und in welchen Mengen bei der Verglimmung oder Verbrennung von Triolin oder Linoleum Stickoxyde gebildet werden.
Durch den 21. Versuch (27. XI. 1925) soll nachgewiesen werden, welche Mengen Stickoxyde bei der Verglimmung von Triolin entstehen.
Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (2 x 4,2 cm) im Gewichte von 2,66 g wurde an einem ca. 40 cm langen, 4,24 g schweren Eisendraht befestigt.
Die so adjustierte Triolinplatte wurde auf eine Asbestplatte gelegt, die durch einen darunter gestellten Bunsenbrenner erhitzt wurde. Sobald die Triolinplatte weißen Rauch zu entwickeln begann, wurde sie mit dem Draht rasch in eine 46 l] fassende Glasflasche gestellt und dieselbe mit einer dichtschließenden Glas- platte verschlossen. Unter Bildung von weißem Rauch, der die Flasche dicht erfüllte, verglimmte das ganze Stück Triolin. In der Glasflasche befanden sich 100 cm® 10proz. Natronlauge. Nachdem die Rauchentwicklung aufgehört hatte, wurde durch 15 Minuten langes Rollen und Schwenken das Gas möglichst intensiv mit der in der Flasche befindlichen Natronlauge in Berührung gebracht.
Sodann wurde eine Gasprobe entnommen, deren technische Analyse folgende Werte ergab:
0,4 Vol.-% Kohlenoxyd, — „Kohlensäure.
Von den in die Flasche gegebenen 100 cm? Natronlauge wurden ca. 50 cm3 herauspipettiert und der Gehalt an salpetriger Säure und Salpetersäure auf kolo- rimetrischem Wege bestimmt.
Es ergab sich, daß von den.100 cm? 10 proz. Natronlauge
30 mg N,O, und 32 mg N,0, absorbiert worden waren.
x
58 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Das verglimmte Triolin samt dem Draht wog 6,02 g; es waren demnach 33%, des angewandten Triolins verbrannt.
Der 22. Versuch (1. XII. 1925) ist eine Wiederholung des Versuches 21 und soll nachweisen, welche Mengen Stickoxyde bei der Verglimmung von Triolin gebildet werden.
Ein Stück grünes Triolin (2 x 4,2 cm) (Probe A) im Gewichte von 2,66 g wurde an einem 4,42 g schweren Eisendraht befestigt.
Diese Triolinplatte wurde auf einer durch einen Bunsenbrenner von unten erwärmte Asbestplatte so lange erwärmt, bis sich weißer Rauch zu entwickeln begann. Dann wurde die Triolinplatte rasch in eine 461 fassende Glasflasche gegeben. Es verglimmte ca. %, des Triolins. Hierauf wurde das Triolin aus der Flasche genommen, wieder auf die heiße Asbestplatte gelegt, bis zum beginnenden Rauchen und rasch wieder in die Flasche gegeben. Unter Entwicklung von weißem Rauch verglimmte nun das ganze Stück. Die Rauchentwicklung dauerte ca. 3 Minuten. Es wurde nun durch Rollen und Schwenken das Gas gemischt und eine Gasprobe entnommen.
Hierauf wurden mit einer Pipette 100 cm? 10 proz. Natronlauge in die Flasche gegeben und die Flasche durch 10 Minuten gerollt.
Die technische Analyse der Gasprobe ergab: 0,4 Vol.-% Kohlenoxyd, " — » Kohlendioxyd. | Die 100 cm? Natronlauge hatte, wie die kolorimetrische Prüfung ergab 40 mg N,0, 24 mg N,O, absorbiert. Das verglimmte Triolin samt dem Draht wog 6,25 g, es waren demnach 31,2%, des angewandten Triolins verbrannt.
Durch den 23. Versuch (28. XI. 1925) soll nachgewiesen werden, in welchen Mengen Stickoxyde bei der Verbrennung von Triolin gebildet werden.
Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (ca. 2 X 4,2 cm) im Gewichte von 2,66g wurde an einem ca. 40cm langen Eisendraht befestigt und wog samt diesem 7,2 g. |
Dieses so adjustierte Stück Triolin wurde in einem Trockenschrank in der Zeit von 25 Minuten von 15 auf 135°C erwärmt, dann rasch herausgenommen, an einem Bunsenbrenner entzündet und in die 46 I fassende Glasflasche gegeben, die mit 100 cm? 40proz. NaOH beschickt worden war und die Flasche rasch verschlossen. |
Das Triolin brannte mit langen spitzen Flammen in ca. 1 Minute ab und rauchte noch ca. 3 Minuten weiter.
In der Flasche war grauer Rauch zu sehen und die Wände waren so dicht mit Ruß belegt, daß die Durchsicht verhindert war.
Nachdem durch 10 Minuten langes Rollen der Flasche gemischt worden war, wurde eine Gasprobe entnommen. i
Die technische Analyse der Gasprobe ergab:
0,40 Vol-%9, Kohlenoxyd, 0,75 » Kohlendioxydrest.
Die Untersuchung der Lauge ergab, daß die 100 cm3, die in die Flasche gegeben worden waren,
4 mg NO, und 120 mg N;0, enthielten.
Das Triolin war zu grau-weißer Asche verbrannt, die bei Berührung zerfiel.
Durch den 24. Versuch (2. XII. 1925) soll nachgewisen werden, ob und in Mengen Stickoxyde bei der Verbrennung von Linoleum gebildet werden.
Ein Stück braunes Linoleum (Probe B) {4,4 x 1,8 cm) im Gewichte von 2,66 g wurde an einem Draht befestigt und wog samt diesem 7,30 g.
Das so adjustierte Linoleum wurde in der Zeit von 25 Minuten in einem Trockenschrank von Zimmertemperatur auf 135°C erhitzt, dann rasch heraus-
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 59
enommen, an einem Bunsenbrenner angezündet und in eine 46 I fassende Glas- lasche gegeben. Innerhalb 3 Minuten brannte das Linoleum mit ruhigen gelben Flammen ab und rauchte dann noch einige Sekunden.
In der Flasche war wenig Rauch zu sehen, die Glaswände waren mäßig mit Ruß beschlagen.
Nach dem Mischen des Gases durch Rollen und Schwenken der Flasche wurde eine Gasprobe entnommen.
Sodann wurden mit einer Pipette 100 cm? 10 proz. Natronlauge in die Flasche gegeben und die Flasche durch 10 Minuten gerollt.
Die technische Analyse der Gasprobe ergab:
0,25 Vol.-% Kohlenoxyd; 2,3 ‚» Kohlendioxyd.
Die Untersuchung der Lauge auf kolorimetrischem Wege ergab, daß die 100 cm? Lauge 2,4 mg N,O, und Spuren N,O, absorbiert hatten. Gewicht der Linoleumasche samt Draht 5,85 g, es waren demnach 54,4% des angewandten Linoleums verbrannt.
Der 25. Versuch (28. XI. 1925) ist eine Wiederholung des Versuches 24 und soll nachweisen, ob bei der Verbrennung von Linoleum Stickoxyde gebildet werden.
Ein Stück braunes Linoleum (Probe B) (4,4 x 1,8cm) im Gewichte von 2,66 g wurde an einem Draht befestigt und wog samt diesem 7,20 g.
Das so adjustierte Linoleum wurde auf eine Asbestplatte gelegt, die von unten mit einem Bunsenbrenner erhitzt wurde und solange darauf belassen, bis sich eine geringe Menge Rauch zu entwickeln begann. Dann wurde das so vorgewärmte Linoleum an einem Bunsenbrenner entzündet und rasch in eine 461 fassende Glasflasche gegeben, sodann die Flasche verschlossen. In der Flasche befanden sich 100 cm? 10proz. Natronlauge. Das Linoleum brannte mit ruhigen, großen, gelben Flammen ab. Die Rauchentwicklung war gering, die Wände der Flasche waren mäßig mit Ruß bedeckt.
Nach beendeter Verbrennung wurde durch 10 Minuten langes Rollen und Schwenken das Gas innig mit der Natronlauge in Berührung gebracht und so- dann ca. 50 cm? von dieser herauspipettiert.
Die Prüfung der Lauge auf salpetrige Säure und Salpetersäure verlief negativ.
Das verbrannte Linoleum samt Draht wog 5,82 g, es waren demnach ca. 48% des verwendeten Linoleums verbrannt.
Versuche zur Feststellung, welche Mengen CO und CO, bei der Verbren- nung oder Verglimmung von Triolin oder Linoleum gebildet werden.
Durch den 26. Versuch (27. XI. 1925) soll festgestellt werden, welche Mengen CO und CO, beim Verbrennen von Triolin gebildet werden.
Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (ca. 2 x 4,2 cm) im Gewichte von 2,66 g wurde an einem ca. 40 cm langen Eisendraht befestigt und wog mit diesem 7,4g.
Dieses Stück Triolin wurde an der Flamme eines Bunsenbrenners entzündet, wobei es mit weißer Flamme zu brennen begann, es wurde rasch in die 46 | fassende Glasflasche gegeben, nach kurzer Zeit verloschen die Flammen und es entwickelte sich ein dichter, weißer Rauch. Rasch wurde das Triolin am Draht aus der Flasche genommen, am Bunsenbrenner nochmals entzündet und unver- züglich wieder in die Flasche gegeben. Es brannte kurze Zeit mit langen Flammen weiter, dann verloschen dieselben und nach ca. 3 Minuten entwickelte sich aus der im Innern glühenden Masse ein weißer Rauch. — Das Triolin war zu grau- weißer Asche verbrannt, die beim Berühren zerfiel.
60 Über das Verhalten von Trivlin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Nach dem Mischen des Gases wurde eine Probe des Gases entnommen.
Die technische Analyse der Gasprobe ergab: 0,4 Vol.-% Kohlendioxyd, 0,5 „» Kohlenoxyd.
Der 27. Versuch (27. X1.1925) ist eine Wiederholung des Versuches 26 und soll nachweisen, welche Mengen CO und CO, bei der Verbrennung von Triolin gebildet werden.
Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (ca. 2 x 4,2 cm) im Gewichte von 2,66 g wurde an einem ca. 40 cm langen Eisendraht befestigt und wog samt diesem 728g. Dieses Stück Triolin wurde in einem Trockenschrank in der Zeit von 20 Mi- nuten von 15° auf 130°C erhitzt, dann rasch herausgenommen, an einem Bunsen- brenner entzündet und in die 46 1 fassende Glasflasche gegeben. Da nach kurzer Zeit die Flammen verlöschten, wurde das Triolin herausgenommen, am Bunsen- brenner nochmals entzündet und wieder in die Flasche gegeben, dort brannte es mit großen Flammen ca. 1 Minute weiter, verlosch dann, entwickelte aber ca. 4 Minuten noch einen weißen Rauch. — Das Triolin war zu grau-weißer Asche verbrannt, die beim Berühren zerfiel. — Der Rauch in der Flasche war grau, an den Gefäßwänden war leichter Rußbeschlag zu bemerken.
Nach dem Mischen durch Rollen des Gefäßes wurde eine Gasprobe entnom- men. Die technische Analyse der Gasprobe ergab:
0,9 Vol.-%2L Kohlendioxyd, 0,5 „ Kohlenoxyd.
Durch den 28. Versuch (27. XI. 1925) soll nachgewiesen werden, welche Mengen CO und CO, bei der Verglimmung von Triolin gebildet werden.
Ein Stück grünes Triolin (2 x 4,2 cm) (Probe A) im Gewichte von 2,66 g wurde an einem ca. 40 cm langen Eisendraht befestigt (Gewicht der Triolin- platte + Draht = 6,75 g).
Die so adjustierte Triolinplatte wurde auf eine Äsbestplatte gelegt, die durch einen darunter gestellten Bunsenbrenner erhitzt wurde. Sobald die Triolinplatte weißen Rauch zu entwickeln begann, wurde sie mit dem Draht rasch in eine 46 l fassende Glasflasche gesteckt und dieselbe mit einer dichtschließenden Glas- platte geschlossen. Nachdem ca. 14 der Triolinplatte unter Rauchentwicklung verglimmt war, hörte die Zersetzung auf. Unter möglichst geringem Öffnen der Flasche wurde die Triolinplatte an dem Draht herausgenommen und auf der Asbestplatte wieder erwärmt, bis sich Rauch zu entwickeln begann und hierauf wieder rasch in die Flasche gegeben. Unter Bildung von weißem Rauch zersetzte sich nun das ganze Stück Triolin. Das zersetzte Triolin war dunkel-schwarz- braun gefärbt und war leicht zerbrechlich, es wog samt dem Draht 5,90 g, es es waren demnach 31,9% des angewandten Triolins verbrannt.
Durch Rollen und Schwenken wurde hierauf das Gas gemischt und vom Boden der Flasche eine Gasprobe entnommen. Die technische Analyse der ent- nommenen Gasprobe ergab:
0,5 Vol.-% Kohlenoxyd, — » Kohlendioxyd.
Der 29. Versuch (4. I. 1926) ist eine Wiederholung des Versuches 28 mit abge- änderter Apparatur und soll, wie bei jenem, bestimmt werden, wieviel CO und CO, bei der Verglimmung von Triolin gebildet werden.
In eine 46 | fassende Glasflasche wurde ein Mikrobrenner gestellt und über diesen ein Dreifuß mit einer Asbestplatte. Der Mikrobrenner erhielt die Gaszufüh- rung durch einen Schlauch, der durch eine Bohrung der Verschlußplatte ge- führt war. Nachdem der Mikrobrenner angezündet worden war, wurde ein Stück grünes Triolin (Probe A) (5,2 cm? = 1,6 g) auf die Asbestplatte gelegt und die Flasche verschlossen. Nach 1 Minute begann das Triolin zu glimmen und es wurde die Mikroflamme gelöscht. Im ganzen brannte der Mikrobrenner 14, Minuten. Nach 3 Minuten vom Auflegen des Triolins gerechnet, war das ganze Stück zu leicht zerfallender, schwarz-grauer Asche verglimmt. In der Flasche war so dichter Rauch, daß der Mikrobrenner, der in der Mitte stand, nur mehr sehr undeutlich
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 61
zu sehen war. Das Gas wurde dann durch Drehen und Schwenken 10 Minuten lang gemischt und dann vom Boden der Flasche eine Gasprobe entnommen.
Die technische Analyse der entnommenen Gasprobe ergab:
Kohlensäure . . . . 0,75 Vol.-% Kohlenoxyd . . . . 0,35 "a
Durch den 30. Versuch (28. XI. 1925) soll nachgewiesen werden, welche Mengen von CO, und CO bei der Verbrennung von Linoleum gebildet werden.
Ein Stück braunes Linoleum (Probe B) (4,4 x 1,8cm) im Gewichte von 2,66g wurde an einem ca. 40 cm langen Eisendraht befestigt und wog samt diesem 7,35 g.
Dieses Stück Linoleum wurde auf eine, von unten durch einen Bunsenbrenner erwärmten Asbestplatte gelegt, bis sich eine geringe Menge Rauch zu entwickeln begann. Dann wurde das Linoleum an einem Bunsenbrenner entzündet und rasch in eine 461 fassende Glasflasche gegeben. Das Linoleum brannte mit großen Flammen ab. Nach dem Verlöschen rauchte das Stück noch ca. 2 Mi- nuten. — In der Flasche war nur wenig Rauch zu sehen und die Wände waren mäßig mit Ruß bedeckt.
Nach dem Mischen des Gases durch 10 Minuten langes Rollen wurde eine Gasprobe entnommen. Die technische Analyse der Gasprobe ergab folgende Werte:
0,25 Vol.-% Kohlenoxyd, 1,90 » Kohlensäure.
Versuche zum Nachweis, ob und in welchen Mengen Triolin hei gewöhnlicher oder erhöhter Temperatur Stickoxyde an die Luft abgibt.
31. Versuch (3. XII. 1925): Um nachzuweisen, ob Triolin bei Zimmer- temperatur (17°) Stickoxyde abspaltet.
Der für diesen Versuch verwendete Apparat bestand im wesentlichen aus einer breiten Glasröhre, an welche sich eine Reihe von Waschflaschen an- schlossen, die mit 10 proz. Natronlauge beschickt waren. Mittels einer Saug- pumpe wurde Luft, die durch Schwefelsäure und Natronlauge gereinigt worden war, durch die Glasröhre gesaugt und verließ durch eine Gasuhr den Apparat.
In die Glasröhre wurden Streifen von Triolin, grün (Probe A), eingelegt, die zusammen ein Gewicht von 143,3 g hatten und eine Fläche von 468 cm? repräsentierten. — Der Luftstrom wurde so reguliert, daß pro Stunde 1001 ` Luft durch den Apparat gingen. (Siehe Skizze II.)
Nach 5 Stunden, nachdem also 500 I Luft über das Triolin gestrichen waren, wurde der Versuch unterbrochen und der Inhalt der Vorlagen auf das Vor- handensein von salpetriger Säure und Salpetersäure untersucht.
Es waren nur kaum nachweisbare Spuren salpetrige Säure und keine Salpetersäure vorhanden.
Durch den 32. Versuch (14. I. 1926) wurde festzustellen gesucht, ob Triolin bei 40—50°C Stickoxyde abspaltet.
Der Versuch wurde mit demselben Apparat wie Versuch 31 vorgenommen, nur wurde über die breite Glasröhre ein doppelwandiger Heizmantel aus Eisen- blech geschoben, der es gestattete, mittels zweier Brenner die Glasröhre auf eine bestimmte Temperatur zu erwärmen. (Siehe Skizze Il.)
An beiden Seiten der Röhre waren zwei Waschflaschen angeschaltet, die mit je 100 cm? 10proz. chemischreiner Natronlauge beschickt waren. An das eine Paar der Waschflaschen war eine Gasuhr angeschlossen, die mit einer Saug- pumpe in Verbindung stand. Die durch den Apparat gesaugte Luft passierte zuerst zwei Waschflaschen, wo sie von eventuell vorhandener Salpetersäure und sal- petriger Säure befreit wurde, strich dann durch die weite Röhre und das zweite Paar Waschflaschen und verließ durch die Gasuhr den Apparat.
Die Glasröhre enthielt 7 Streifen grauen Triolins (Probe E) von 46—48 cm Länge und 3—4 cm Breite. Die Streifen wogen insgesamt 362,5 g und hatten eine Fläche von 1130 cm?.
- 62 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Der Luftstrom wurde so geregelt, daß innerhalb 5 Stunden 250 1 Luft durch den Apparat strichen.
‚ Nach dieser Zeit wurde der Versuch abgebrochen und der Inhalt der beiden Waschflaschen, die zwischen Glasröhre und Gasuhr standen, auf das Vorhanden- sein von Salpetersäure und salpetrige Säure untersucht.
Das Ergebnis war negativ.
Durch den 33. Versuch (5.1. bis 8. 1. 1926) sollte festgestellt werden, ob Triolin bei einer Temperatur von 37°C Stickoxyde an die Luft abgibt.
Auf ein Stück graues Triolin (Probe E) wurde eine Glasglocke gestellt. Dieselbe war halbkugelförmig, hatte unten einen Durchmesser von 40 cm und oben einen ca. 10 cm breiten Tubus. Die Glocke faßte ca. 401. In die Mitte der Glocke, auf das Triolin, wurde eine offene Petrischale gestellt, in welcher sich 10 cm? A0proz. Natronlauge befanden. Die Glasglocke wurde oben mit einer Glasplatte luftdicht abgeschlossen. Das Ganze wurde in einen Brutschrank gestellt, der auf 37° geheizt war, und blieb dort 3 Tage unberührt stehen. — Nach dieser Zeit wurde die Petrischale mit der Natronlauge herausgenommen und auf das Vorhandensein von salpetriger Säure und Salpetersäure untersucht.
Es ergab sich, daß die Lauge Spuren von salpetriger Säure und kaum sicher nachweisbare Mengen Salpetersäure enthielt.
34. Versuch (16. XI. 14926): Durch diesen Versuch sollte ermittelt werden, ob þeim Erwärmen von Triolin auf 85° dieses Stickoxyde an die Luft abgibt.
Ein Stück grünes Triolin (Probe A) von einer Fläche von 244 cm?, im Gewichte von 76,4 g, wurde in Streifen von ca. 6 cm Länge und ca. 5 cm Breite geschnitten, diese in eine Waschflasche gegeben und in einem Wasserbad auf 85°C erwärmt. Durch die Waschflasche wurde ein langsamer Luftstrom gesaugt. Die Luft war mit Natronlauge und konz. Schwefelsäure gereinigt und in einem Vorwärmer auf 85° vorgewärmt. Die von der mit Triolin..beschickten Waschflasche kommende Luft wurde durch zwei mit je 100 cm? n/4-Natronlauge beschickte Waschflaschen geleitet. In denselben Luftstrom eingeschaltet war eine leere Kontrollwasch- flasche in dem gleichen auf 85° erhitzten Wasserbad stehend, an welche sich ebenfalls zwei mit n/4-Natronlauge gefüllte Waschflaschen anschlossen. Es wurde 10 Stunden auf 85° erhitzt. — Der Luftstrom wurde so geregelt, daß 18—25 Blasen pro Minute durch den Apparat strichen. — Nach Beendigung des Versuches wurde in den Waschflascheninhalt die salpetrige Säure und die Salpetersäure bestimmt. (Siehe Skizze III.)
Vorlage I enthielt ca. 0,5 mg N;0, und ca. 0,5 mg N,0,.
Vorlage Il enthielt ca. 0.2 mg N.O, und ca. 0,2 mg N,0,.
Versuche, um festzustellen, ob etwa der Fußbodenbelag in der Nähe eines Gasofens oder eines Dampfheizkörpers unter dem Einflusse der Strahlung eine Temperatur annimmt, bei welcher bestimmbare Mengen Stickoxyde aus Triolin abgespalten werden. 35. Versuch (18. XI. 1925): Für diesen Versuch wurde ein Kupferblech- reflektorgasofen der Firma Friedrich Siemens, 88 cm hoch, 70 em breit und 31 cm tief, verwendet.
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 63
Vor den Ofen wurde ein großes Stück Linoleum auf den Xylolithfußboden des Raumes gelegt. Auf das Linoleum kam in Abständen von je 10 cm ein Ther- mometer, und zwar beginnend von der Unterkante des Kupferblechreflektors. Die Quecksilberkugeln er Thermometer wurden in ein Häufchen feinstes Eisen- pulver eingebettet, so daß ein gut leitender Kontakt zwischen Thermometer und Unterlage hergestellt: war. — Der Gasofen wurde auf ‚groß‘ gestellt. Die Zimmertemperatur betrug bei Beginn des Versuches 19° C. — Die ‚auspeiegten Ahermürneter zeigten fo gende Temperaturen:
pee p
Nach Nach | Nach | Nach 45 Minuten 30 Minuten 45 Minuten 60 Minuten
eC °C eC oC
u S Q (e>)
2,242 10 „ 62 wErsE W, 62 gago 30 99 57 Sonoran 40 48 [77) > ga v tad
2S nS 50 „ 42 <E 60 „ 38
Die maximalen Temperaturen im bestrahlten Felde lagen demnach unter 63°? C.
Skizze III.
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na Vorwarmer für dia luf? Woschflasche Waschflasche ‚mit H550, mit NaOH
36. Versuch (22.1.1926): Unter einem 12teiligen Niederdruckdampf- heizungskörper, der in voller Tätigkeit war und dessen unterste Kante 9 cm vom Fußboden entfernt war, wurde ein Stück Triolin gelegt und auf dieses ein Thermometer, dessen Quecksilberkugel in ein Häufchen Eisenpulver eingebettet war.
Nach ca. einer Stunde war die höchste Temperatur von 32° C erreicht. Auch an beiden folgenden Tagen, während welchen das Thermometer über die ganze Heizperiode unter dem Heizkörper verblieb, konnte nie eine höhere Temperatur als 32°C. beobachtet werden.
Durch den 37. Versuch (10. XII. 1925) soll konstatiert werden, ob Triolin ie: N a bei Zimmertemperatur auf Lackmuspapier reagierende Stoffe abgibt.
In einen sorgfältig gewaschenen und getrockneten Glaszylinder mit Glas- stöpsel wurden Streifen von grünem Triolin (Probe A) eingefüllt (117 cm? im Gewichte von 36,6 g) und dann ein angefeuchtetes Stück blaues Lackmuspapier in den Zylindern so eingehängt, daß es mit dem Triolin nicht in Berührung kam (Zylinder I). In ganz gleicher Weise wurde ein zweiter Glaszylinder beschickt, der aber anstatt Triolin Linoleum (Probe B) (102 cm? im Gewichte von 36,6 g) enthielt (Zylinder Il). In einem dritten leeren Glaszylinder wurde zur Kontrolle nur ein Stück blaues Lackmuspapier eingehängt (Zylinder III).
Alle drei Zylinder wurden bei Zimmertemperatur stehen gelassen.
. 64 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Beobachtung nach 5 Stunden: Zylinder I mit Triolin: Das Lackmuspapier beginnt am untersten Ende sich schwach rot zu färben. Zylinder II mit Lino- leum: Das Lackmuspapier ist vielleicht etwas stärker rot als in Zylinder I. Zylinder III Kontrolle: Das Lackmuspapier ist unverändert blau.
Beobachtung nach 8 Stunden: Zylinder I mit Triolin: Das Lackmuspapier zeigt in seiner ganzen Ausdehnung ungefähr die Neutralfarbe.. Am untersten Ende ist es deutlich rötlich gefärbt. Zylinder II mit Linoleum: Das Lackmus- papier ist in seiner ganzen Ausdehnung sicher etwas röter gefärbt, als jenes in Zylinder I. Zylinder III Kontrolle: Das Lackmuspapier ist unverändert blau.
Beobachtung nach 24 Stunden: Zylinder I mit Triolin: Das Lackmuspapier ist schwach rötlich gefärbt. An seinem unteren Ende deutlich rot. Zylinder II mit Linoleum: Das Lackmuspapier ist in seiner ganzen Ausdehnung deutlich rot gefärbt. Zylinder III Kontrolle: Das ee E ist unverändert blau.
Beobachtung nach 2 Tagen: Zylinder I mit Triolin: Das Lackmuspapier ist schwach rötlich gefärbt, vielleicht etwas stärker als am Vortage. Zylinder II mit Linoleum: Das Lackmuspapier ist deutlich rot gefärbt. Zylinder III Kontrolle: Das Lackmuspapier ist unverändert blau.
Durch den 38. Versuch (2. XII. 1925) soll konstatiert werden, welche Ge- wichtsabnahme Triolin bei verschiedenen Temperaturen erleidet.
Acht Platten aus grünem Triolin (Probe A), in der Größe von 4,5 x 9 cm, wurden für sich gewogen, dieselben sodann in einen Trockenschrank neben- einander gelegt und nun die Temperatur langsam gesteigert. Nachdem die Tem- peratur im Trockenschrank 60° C erreicht hatte, wurde nach je 10°C weiterer Temperatursteigerung eine der Triolinplatten herausgenommen, 10 Minuten an der Luft abkühlen gelassen und hierauf gewogen. .
Die durch das Erhitzen der Triolinplatte auf verschieden hohe Temperatur verursachte Gewichtsabnahme ist aus der folgenden Tabelle ersichtlich.
Gewichte Gewichte | ER _ Die Erhitzung 2 Gewichts- Nr. der ee von 15° C auf larien nach Gewichts- abnahme in Platten dem Erhitzen x° C dauerte dem Erhitzen abgabe in g Gewichts-", y Minuten abgerundet
ing in g
1 1340 | oo Min 13,32 0,6 2 13,32 ze 13,25 0,6 3 1358 | in, | BA 1,2 4 13,70 | SZ 115 Min. | 13,50 1,4 5 13,22 | XZ jomin | 1398 1,8 6 1417 | SZ le2Min | 1385 2,2 7 1390 | X2 lo Min, | 13,57 2,3 8 1325 | ga Min | 1290 2,5
Durch den 39. Versuch (2. XI. 1925) soll festgestellt werden, welche sewichtsabnahme Triolin beim Trocknen über konz. Schwefelsäure erleidet.
Ein Stück grünes Triolin (4,5 x 9cm) im Gewichte von 13,45 g, gewogen nach längerem Aufenthalt in Luft von 74°, relat. Feuchtigkeit, wurde in einen Fxikator über konz. Schwefelsäure gelegt und nach 24 Stunden wieder das Ge- wicht bestimmt. Es wog 13,25 g. Die Gewichtsabnahme betrug 0,20 g == 1,5%.
Nachdem die Triolinplatte weitere 24 Stunden über konz. Schwefelsäure gelegen hatte, wog sie wieder 13,25 g.
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 65
Zusammenfassung der Ergebnisse der Versuche Nr. 18—39.
Aus den Versuchen Nr. 18—30 ersieht man, daß beim Verbrennen von Triolin Kohlensäure, Kohlenoxyd, salpetrige Säure, Salpetersäure und Blausäure gebildet werden.
Beim Verglimmen von Triolin bei 140° entstehen meist keine nennenswerten, durch die technische Analyse bestimmbare Mengen von CO,, im übrigen aber dieselben Zersetzungsprodukte, wie beim Verbrennen des Triolins. |
Wird dagegen Linoleum verbrannt, so entsteht nur Kohlensäure und Kohlenoxyd.
Aus der Tabelle Nr. I sind die Mengen der bei dem Verglimmen oder Verbrennen von Triolin oder Linoleum entstehenden flüchtigen Zersetzungsprodukte zu entnehmen und ist zu ersehen, daß beim Ver- brennen und beim Verglimmen von 1 m? Triolin die gleiche Menge, ca. 290 g Kohlenoxyd gebildet wird. Bei beiden Prozessen werden auch erhebliche Mengen Stickstoffverbindungen frei, die zum größten Teil, höchstwahr- scheinlich als Stickoxyd abgespalten werden und unter den gewählten Versuchsbedingungen als salpetrige Säure und Salpetersäure bestimmt werden. Ein kleiner Teil des Stickstoffes wird als Blausäure abgespalten. Es ist bemerkenswert, daß beim Verbrennen von Triolin um ca. 70% mehr Stickstoff als Stickoxyd abgespalten wird, als beim Verglimmen. Es entstehen beim Verglimmen von 1m? Triolin ca. 100 g Salpetersäure (die gefundenen Mengen N,O, und N,O, auf HNO, umgerechnet) und beim Verbrennen von 1m? Triolin 170g Salpetersäure. Blausäure scheint beim Verbrennen und beim Verglimmen von Triolin ungefähr in gleichen Mengen, ca. 4g aus einem Quadratmeter zu entstehen.
Beim Verbrennen von Linoleum dagegen entsteht nur zirka halb so viel Kohlenoxyd, wie beim Verbrennen von Triolin, und zwar ca. 170 g aus 1 m? Linoleum, dagegen bildet sich ungefähr doppelt so viel Kohlen- säure, ca. 2400 g aus 1 m? Linoleum, während aus 1 m? Triolin bei der Verbrennung nur ca. 1000 g entstehen.
Der wesentliche Unterschied zwischen Triolin und Linoleum besteht also, nochmals zusammenfassend, darin, daß bei der Verbrennung von Triolin doppelt so viel Kohlenoxyd als bei der Verbrennung von Linoleum entsteht und außerdem noch bei der Verbrennung von Triolin erhebliche Mengen von Stickstoff in Form von Stickoxyden und Blausäure abgespal- ten werden.
Zur ungefähren Orientierung über die im praktischen Fall zu erwar- tenden Verhältnisse diene die Tabelle II.
Es ist hier berechnet, welche Zusammensetzung die Luft etwa annimmt, wenn in einem Zimmer von 4 x 5 x 3,5 m bei Ausschluß einer Lufterneue- rung oder eines Verschwindens der Gase durch Absorption der 10. Teil des Bodenbelages, das sind 2 m? Triolin oder Linoleum verglimmen oder verbrennen.
Bei der Annahme, daß der 10. Teil des Triolinfußbodenbelages verglimmt, würde die Luft in dem Zimmer pro 1,0 Liter ca. 8,4 mg Kohlenoxyd, 3 mg Salpetersäure und 0,1 mg Blausäure enthalten.
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Archiv für Hygiene. Bd.97. Y
66 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Nach Lehmann ist die Giftigkeit der in Betracht kommenden Stoffe folgende: Enthält die Luft 5 mg Kohlenoxyd pro Liter, so werden Ver- suchstiere in 1 bis 1, Stunde getötet, mehr als 0,9 mg Salpetersäure pro Liter Luft wirken rasch lebensgefährdend, ebenso 0,14 mg Blausäure.
Die Konzentration von Kohlenoxyd und Salpetersäure in der Luft wäre demnach im angenommenen Falle bedeutend höher als jene, welche von Lehmann als die rasch lebensgefährdende angegeben wird. Dabei muß noch bedacht werden, daß Kohlenoxyd und Salpetersäure gleichzeitig und von der Blausäure unterstützt zur Wirkung gelangen.
Wird der 10. Teil der Triolinfußbodenbelages verbrannt, so müßte die Luft in dem Zimmer ca. 30 mg Kohlendioxyd, 8,4 mg Kohlenoxyd, > mg Salpetersäure und 0,1 mg Blausäure pro Liter Luft enthalten, dem- nach wegen des höheren Gehaltes an Salpetersäure noch giftiger wirken als jene nach der Verglimmung von Triolin unter denselben Bedingungen.
Würde unter den angenommenen Bedingungen der 10. Teil des Linoleumfußbodenbelages verbrennen, so müßte die Luft in dem Zimmer ca.65 mg Kohlensäure und 5 mg Kohlenoxyd pro 11 enthalten. Es würde demnach auch der längere Aufenthalt in dem Raum eine Kohlen- oxydvergiftung bedingen.
Tabelle I
über die beim Verglimmen oder Verbrennen von Triolin oder Linoleum unge- fähr entstehenden Mengen flüchtiger Zersetzungsprodukte.
| Summe der!
salpetrigen | | Salpetrige | Salpeter- | Säure und |
Kohlendioxyd | Kohlenoxyd | Säure | säure Salpeter- | Blausäure (N-03) | (N:O,) saure als | HNO,
| berechnet |
I m? | Geringe mittels |
le PAA dertechnischen >
Triolin Analyse nicht 230 1 -= wird immer nach- 290 g
age i veisbare verglimmt | ar
‚in
40 g 30 g 100 g
| Í = == Á -C ÃĂ— -l l × c lM ťľ
D | | | | Triolin 500 1 = 2301 = ap 140 v 170 g | mehr als wird 1000 g 290 g 8 g E 9 g
verbrannt I m? Linoleum 1201 = 140 | . wird 2400 g 170 g = j Sá
verbrannt
Aus allen diesen Versuchen kann geschlossen werden, daß bei der Verbrennung der Fußbodenbeläge Triolin und Linoleum das sich bildende Kohlenoxyd in beiden Fällen ein wesentliches Moment der Vergiftungs- gefahr darstellt, daß aber beim Verbrennen von Triolin außer der Bildung größerer Mengen von Kohlenoxvd noch erhebliche Mengen von Stick- oxyden, sowie von Blausäure entstehen, durch welche die Giftwirkung der flüchtigen Verbrennungsprodukte des Triolins wesentlich gesteigert wird.
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 67
Tabelle II
über die errechnete ungefähre Zusammensetzung der Luft in einem Raum von 4x5m=20 m? Bodenfläche und 3,5 m Höhe, wenn der zehnte Teil des Bodenbelages von Triolin oder Linoleum verglimmt oder verbrennt.
| | Summe der . | Salpetrige| & salpetrigen ar Í Salpeter- ta . pr p S{ Si T ` Kohlensäure | Kohlenoxyd iure | säure (mg | Säure und | Blausäure
À | Salpeter- | (mg pro | (mg pro l Luft)|(mg pro ! Luft) (mg pro pro | Luft) E > 1 Luft) (N,0,) säure als Luft)
| (N03) HNO, | berechnet
1 _ Geringe mittels f1 d. Boden ‚der technischen!
| Analyse nicht 8.4 | 1.0 1,0 | 3,0 | 0,1
belages Triolin | immer nach- | . | weisbare | verglimmt | "Wengen | | |
1/,,d. Boden-
belages 1 | | LEF Triofin | 15 Vol-o, | 84 0,1 4,0 5,0 0,10 verbrennt | 1/,. d. Boden- | | | belages | 65 = | | | Linoleum | 3,0 Vol.-ofo ny = bd = = verbrennt | |
Inwieweit sich z. B. bei Zimmerbränden die erhöhte Giftwirkung des Rauches von verbrennendem Triolin in der Praxis bemerkbar machen könnte, ist schwer zu beurteilen. Auch kann man nach den Ergebnissen der Laboratoriumsexperimente nicht schließen, inwiefern die Eigenschaft des Triolins bei 140° C sich spontan unter starker Rauchentwicklung und Erglühen zu zersetzen, z. B. bei einem vorgeschrittenen Brande, der auch die Zwischendecken ergreift oder einem reinen Zwischendeckenbrand, dazu beitragen kann, einen Brand zu verbreiten bzw. die Löschaktion zu erschweren.
Diese Frage könnte nur von einem erfahrenen Feuerwehrtecehniker beantwortet werden.
A priori legt aber unseres Erachtens derzeit keine Veranlassung vor, das Triolin von der Verwendung als Fußbodenbelag wegen der Feuer- gefährlichkeit des Materials in Wohnräumen auszuschließen. Anders ist die Sachlage für Laboratorien, Werkstätten und Betrieben mit erhöhter Brandgefahr zu beurteilen. Hier wird wohl erhöhte Vorsicht am Platze sein.
Da das Triolin aus Nitrozellulose hergestellt wird und bei.der Ver- brennung des Triolins Stiekoxvde entstehen, erschien es nicht unmöglich, daß das Triolin auch bei Temperaturen unter 100° C Stiekoxyde abspaltet. Um dies zu konstatieren, wurden die Versuche 31-34 angestellt. Aus diesen ist zu entnehmen, daß Triolin bis zu einer Temperatur von 50°C unter den gewählten Bedingungen, wenn überhaupt, nur Spuren von sal- petriger Säure abspaltet. Bei höherer Temperatur, z. B. bei 850C, gibt Triolin sehon sieher meßbare Mengen Stiekoxvde an die Luft ab (1 m? Triolin in 10 Stunden ea. S0 mg Salpetersäure).
J
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Daß jedoch sowohl Triolin als auch Linoleum schon bei Zimmertem- peratur gegen Lackmuspapier sauer reagierende Stoffe abgibt, ist aus Ver- such 37 zu ersehen. Welcher Art diese Stoffe sind, konnte nicht ermittelt werden.
Aus den Ergebnissen dieser Versuche kann somit geschlossen werden, daß es sehr unwahrscheinlich ist, daß bei der Verwendung von Triolin als Fußbodenbelag, durch Stoffe, die von dem Triolin an die Luft abgegeben werden, eine solche Verschlechterung der Luft in Wohnräumen bedingt wird, daß dadurch gesundheitliche Schädigungen hervorgerufen werden können. |
In einer Reihe von Tierversuchen war nun weiters zu ermitteln:
1. Welche Wirkung die beim Verglimmen oder Verbrennen von Triolin oder Linoleum entstehenden Dämpfe auf Versuchstiere ausüben,
2. ob, wie dies in dem Gutachten von Joachimoglu aus dem phar- makologischen Institut der Universität ın Berlin behauptet wird, bei höheren Zimmertemperaturen tatsächlich das Triolin giftige Stoffe an die Raumluft abgibt, so daß dadurch Versuchstiere geschädigt werden.
Versuche zum Nachweis, welehe Wirkung die flüchtigen Zersetzungs- produkte, die beim Verglimmen oder Verbrennen von Triolin oder Linoleum entstehen, in verschiedenen Konzentrationen auf Versuchstiere ausüben.
Tierversuch 1 (24. X1. 1925): Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (3,2 x 7,2 cm = 23 cm?) im Gewichte von 7,25 g wurde auf einer Asbestplatte, unter welcher sich ein brennender Bunsenbrenner befand, so lange erwärmt, bis das Triolin zu rauchen begann, dann wurde es in eine 461 fassende Glasflasche ge- gegeben, in der sich ein 330 g schweres Meerschweinchen befand. Unter Ent- wicklung eines weißen Rauches zersetzte sich ca. 1⁄4 der Triolinplatte, während der Rest unverändert blieb. Die Ausmessung ergab, daB 8,4 cm? des Triolins verglimmt waren. Das Triolin wog nach dem Versuch 6,45 g, es waren daher 0,80g Triolin verbrannt. Nach dem Versuch war in der Flasche starker Geruch nach Stickoxyden bemerkbar und die Luft in der Flasche erschien schwach braungelb gefärbt.
Verhalten des Meerschweinchens: Nach 1 Minute (gerechnet von dem Moment, wo die glimmende Triolinplatte in die Flasche zu dem Meerschweinchen gegeben 'wurde): Das Tier putzt und kratzt sich, sucht an der Glaswand hinauf- zukriechen,. starkes Tränen der Augen, Flankenschlagen. — Nach 5 Mirfuten: Das Tier putzt sich, zuckender Atem, sehr starkes Tränen der Augen. — Nach 7 Minuten: Es wird Futter in die Flasche geworfen, das Tier frißt aber nicht, starke Tränensekretion, putzt sich. — Nach 20 Minuten: Geringere Tränensekre- tion, Tier putzt sich, erscheint aber matt, zuckender Atem, Tränen der Augen, zittern. Das Tier wird nun aus der Flasche herausgenommen und kommt in den gewöhnlichen Käfig. — Nach 1 Stunde 20 Minuten: Das Tier hat sich anschei- nend erholt, es läuft herum, kein Tränen der Augen mehr, atmet rasch, frißt nicht. — Nach 1 Tag: Tier ist beweglich, läuft herum, etwas frequenter Atem, frißt nicht, Gewicht 305 g. — Nach 2 Tagen: Wie nach einem Tag, Gewicht 275 g. — Nach 3 Tagen: Wie nach einem Tag, Gewicht 250 g. — Nach 4 Tagen:
Anscheinend munter, frißt wenig, Gewicht 250 g. — Nach 6 Tagen: Anscheinend munter, frißt wenig, Gewicht 235g. — Nach 7 Tagen: Anscheinend munter, frißt wenig, Gewicht 235 g. — Nach 8 Tagen: Anscheinend munter, frißt wenig,
Gewicht 235 g. — Nach 9 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 245g. — Nach 10 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 255 g. — Nach 13 Tagen:
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 69
Munter, frißt wieder normal, Gewicht 265 &. — Nach 14 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 270 g. — Nach 16 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 290 g. — Nach 20 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 305 g. — Nach 24 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 320 g. — Nach 26 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 330 g. — Nach 28 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 340 g. — Nach 30 Tagen: Munter, frißt wieder normal, Gewicht 350 g.
Tierversuch 2 (25. X1. 1925): Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (7,2 x 3,2 = 23 cm?) im Gewichte von 7,25 g wurde an einem ca. 40 cm langen Eisendraht befestigt und wog samt diesem 11,2g. Das so adjustierte Stück Triolin wurde auf eme Asbestplatte gelegt, die von unten mittels eines Bunsenbrenners erwärmt wurde.
Nach 1 Minute: Die Zersetzungsreaktion unter Rauchentwicklung ist einge- . leitet. Das glimmende Triolin wird in eine 461 fassende Glasflasche gegeben, in der sich ein 350 g schweres Meerschweichen befand und die Flasche verschlcs- sen. — Nach 2 Minuten: Das Triolin hört auf zu glimmen, es ist nur ein kleiner Teil zersetzt, es wird herausgenommen, einige Sekunden auf die heiße Asbest- ds gelegt und dann wieder in die Flasche gegeben. Es verglimmt circa die
älfte der Triolinplatte. — Nach 4 Minuten: Das Tier putzt sich, kratzt an den Glaswänden, hat Lufthunger. — Nach 5 Minuten: Das Triolin wird aus der Flasche genommen, nochmals auf der Asbestplatte erwärmt und wieder hinein gegeben. Es raucht nun kräftig und erfüllt die Flasche mit einem weißen Rauch. — Nach 6 Minuten: Das Tier putzt sich, schließt die Augen, Tränenabscheidung. — Nach 8 Minuten: Das Triolin raucht noch kräftig. Das Tier geht unruhig herum, hat Lufthunger. — Nach 9 Minuten: Das Triolin raucht noch. Das Tier sucht an den Wänden hinaufzuklettern, hält das Maul offen. — Nach 11 Minuten: Das Triolin raucht noch wenig. Das Tier ist sehr unruhig, sucht zu klettern. — Nach 12 Minuten: Das Triolin raucht noch wenig. Das Tier stößt einen Schrei aus, sehr unruhig, sucht zu klettern. — Nach 14 Minuten: Das Triolin raucht nicht mehr. Das Tier zeigt Krämpfe, es hebt die Schnautze. — Nach 15 Mi- nuten: Das Triolin wird herausgenommen und einige Sekunden in die Flamme eines Bunsenbrenners gehalten, dann rasch wieder in die Flasche gegeben. Es raucht dann wenig weiter. — Nach 16 Minuten: Das Tier taumelt, legt sich auf die Seite, steht wieder auf, starker Lufthunger. — Nach 17 Minuten: Das Tier wird herausgenommen. Der Rauch der Flasche riecht stark nach Stickoxyden. Das: Tier ist apathisch, legt sich auf die Seite. Es wird künstliche Atmung ein- geleitet. — Nach 18 Minuten: Das Tier atmet schwach, setzt sich aber auf, hat die Augen offen. — Nach 20 Minuten: Das Tier hat sich sichtlich erholt, fre- quenter Atem. — Nach 1 Stunde: Das Tier läuft herum, ist aber matt und frißt nicht. — Nach 4 Stunden: Das Tier ist matt, atmet rasch, frißt nicht. — Nach 6 Stunden: Das Tier ist matt, frißt nicht. — Nach ca. 20 Stunden: tot (am 26. XI. früh tot aufgefunden).
Obduktionsbefund (26. XI. 1925, 9 Uhr vorm.): Starke Anschoppung beider Lungenunterlappen. Im bakteriologischen Präparate (Gram) sind keine Mikroorganismen zu finden. Beide Vorhöfe des Herzens sind mit geronnenen Blut- massen reichlich gefüllt. Im Myocard sind markroskopisch keine Veränderungen. Abdominalorgane gut durchblutet ohne markroskopisch sichtbaren patholo- gischen Befund. (Dr. K. Bauer.)
Tierversuch 3 (25. XI. 1925): Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (7,2 x 3,2 = 23 cm?) im Gewichte von 7,25 g wurde in einem Trockenschrank in der Zeit von 4! Stunden von Zimmertemperatur auf 130°C erhitzt. Dann wurde es schnell herausgenommen, an einem Bunsenbrenner entzündet und in eine 46 | fassende Glasflasche, in der sich ein 250 g schweres Meerschweinchen befand, gegeben. Da der Brand kurz nach dem Einbringen in die Flasche erlosch, wurde das Triolinstück wieder herausgenommen und nochmals an der Flamme ent- zündet. Da es beim Einführen in die Flasche wieder erlosch, wurde es ein drittes Mal entzündet und brannte dann mit großen Flammen unter starker Rauch- und Rußentwicklung ab. Der Rauch war so dicht, daß das Meerschweinchen nur mehr sehr undeutlich zu sehen war,
70 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Verhalten des Meerschweinchens: »Nach 41, Minuten: Das Meer- schweichen ringt nach Atem und bekommt Krämpfe. — Nach 5 Minuten: Das Tier wird herausgenommen, es ist sehr matt, taumelt, legt sich auf die Seite, - zittert. Es wird künstliche Atmung eingeleitet. — Nach 6 Minuten: Das Tier erholt sich sichtlich. — Nach 20 Minuten: Das Tier hat sich deutlich erholt, zittert ein wenig, atmet ruhiger. — Nach 2 Stunden: Das Tier läuft herum, etwas frequenter Atem, frißt nicht. — Nach 7 Stunden: Anscheinend munter, frißt nicht. — Nach 1 Tag: Etwas matt, frißt nicht, Gewicht 225g. — Nach 2 Tagen: Etwas matt, frißt nicht, Gewicht 205g. — Nach 3 Tagen: Munter, frißt sehr wenig, Gewicht 210g. — Nach 5 Tagen: Munter, frißt sehr wenig, Gewicht 220 g. — Nach 6 Tagen: Munter, frißt sehr wenig, Gewicht 220 g. — Nach 7 Tagen: Munter, frißt sehr wenig, Gewicht 220 g. — Nach 8 Tagen: Munter frißt normal, Gewicht 225 g. — Nach 9 Tagen: Munter, frißt normal, Gewicht. 235 g. — Nach 12 Tagen: Munter, frißt normal, Gewicht 245 g. — Nach 20 Tagen: Munter, frißt normal, Gewicht 280 g. — Nach 24 Tagen: Munter, frißt normal, jewicht 295 g. — Nach 30 Tagen: Munter, frißt normal, Gewicht 345 g.
Tierversuch 4 (26. X1. 1925): Ein Stück braunes Linoleum (Probe B} (3 x 7cm = 21 cm?) im Gewichte von 7,25 g wurde an einem ca. 40 cm langen Eisen- draht befestigt und wog samt diesem 12 g. Das so adjustierte Stück Linoleum wurde auf eine Asbestplatte gelegt, die von unten mittels eines Bunsenbrenners erhitzt wurde. |
Nach 2 Minuten: Das Linoleum beginnt ein wenig zu rauchen, es wird an einem Bunsenbrenner entzündet und in eine 46 l fassende Glasflasche gegeben, in der sich ein 325 g schweres Meerschweinchen befand. Das Linoleum brennt mit großen gelben, ruhigen Flammen ab. Es wird relativ wenig Rauch gebildet, die Rußabscheidung ist kräftig. — Nach 5 Minuten: Der Brand verlöscht, das verbrannte Linoleum raucht,noch ein wenig. Das Tier putzt sich und wird unruhig. — Nach 6 Minuten: Das Linoleum wird herausgenommen und an einer Bunsenflamme nochmals zu entzünden versucht. Es wird dann rasch wieder in die Flasche gegeben und raucht dort wenig weiter. Das Tier putzt sich und wird unruhig. — Nach 18 Minuten: Das Tier hat starken Lufthunger und taumelt. — Nach 22 Minuten: Das Tier wird aus der Flasche genommen. Tränen der Augen, zittern, stellt die Haare auf. — Nach 45 Minuten: DasTier ist matt, zittert, stellt die Haare auf. — Nach 1 Tag: Das Tier ist anscheinend munter, frißt aber nicht, Gewicht 320 g. — Nach 2 Tagen: Wie nach 1 Tag, Gewicht 300 g. — Nach 4 Tagen: Anscheinend munter, frißt wenig, Gewicht 290 g. — Nach 5 Tagen: Wie nach 4 Tagen, Gewicht 290 g. — Nach 6 Tagen: Wie nach 4 Tagen, Gewicht 280 g. — Nach 7 Tagen: Munter, frißt wieder, Gewicht 290 g. — Nach 8 Tagen: Munter, frißt wieder, Gewicht 290 g. — Nach 10 Tagen: Munter, frißt wieder, Gewicht 305 g. — Nach 14 Tagen: Munter, frißt wieder, Gewicht 320 g. — Nach 18 Tagen: Munter, frißt wieder, Gewicht 335 g. — Nach 22 Tagen: Munter, frißt wieder, Ge- wicht 350 g. — Nach 30 Tagen: Munter, friBt wieder, Gewicht 405 g.
Tierversuch 5 (12. XII. 1925): In einem Zimmer mit 21,8 m? Boden- fläche und 3,5 m Höhe, das ein Doppelfenster und eine Doppeltüre ins Freie besaß, wurde auf einen in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch ein Käfig mit einem 425 g schweren Meerschweinchen gestellt. — Am Boden des Zimmers in einer Entfernung von ca. 11% m vom Käfig wurde auf einer von unten erhitzten Asbestplatte, ein Stück grünes Triolin (Probe A) (4,1 x 10 cm im Gewichte von 13,1 g) zur Verglimmung gebracht. — Der Rauch war so stark, daß in einer Entfernung von 2 m vom Käfig das Tier nur mehr undeutlich gesehen werden konnte. Der Rauch reizte stark zum Tränen und legte sich stark beklemmend auf die Atmungsorgane und erzeugte starken Hustenreiz. Der Rauch wurde mit zwei großen Fächern gut gemischt. Ein Aufenthalt von 4 Minuten in dem Raum war schon fast unerträglich, hauptsächlich durch das starkbeklemmende_ Ge- fühl und den Tränenreiz. — Nach 13 Stunde vom Beginn der Verglimmung ge- rechnet, wurde das Tier herausgenommen, es zeigte außer Tränensekretion keine Erscheinungen und war anscheinend munter.
Das verbrannte Stück Triolin war der 5300. Teil der Bodenfläche des Raumes.
Nach 2 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 430 g. — Nach 3 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 445 g. — Nach 4 Tagen: Tier munter und frißt, >
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Gewicht 460 g. — Nach 5 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 450 g. — Nach 42 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 465 g. — Nach 20 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 480 g. — Nach 25 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 515 g. — Nach 30 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 535 g.
Tierversuch 6 (20. I. 1926): In demselben Zimmer, in welchem der Ver- such 5 ausgeführt worden war, das eine Bodenfläche von 21,8 m? und 3,5 m Höhe hatte, wurde auf einen in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch ein Käfig mit zwei Meerschweinchen und ein solcher mit zwei weißen Mäusen gestellt. Am Boden des Zimmers in einer Entfernung von ca. 1 m von den Käfigen wurde auf eine von unten erhitzte Asbestplatte ein Stück graues Triolin (Probe E) (43,6 cm? = 13,5 g) gelegt.
Nach 1 Minute: Das Triolin begann zu verglimmen unter starker Räauchent- wicklung. — Nach 2 Minuten: Das Triolin qualmt sehr kräftig. — Nach 3 Mi- nuten: Es wird ein 2. Stück graues Triolin (43,6 cm?) dazu gelegt und ebenfalls verglimmt. — Nach 5 Minuten: Das Triolin qualmt sehr kräftig. — Nach 7 Mi- nuten: Das Triolin qualmt sehr wenig. — Nach 8 Minuten: Das Triolin raucht nicht mehr.
Es wurden knapp vor dem Aufhören des Qualmens nach dem Mischen der Luft mit zwei großen Fächern Luftproben entnommen, um den Gehalt derselben an CO, CO,, N,O, und N,O, zu bestimmen. Die Tiere blieben 30 Minuten in dem Raum, gerechnet vom Ende der Verglimmung des Triolins. Die Untersuchung der entnommenen Gasproben ergab:
Kohlenoxyd . . . . 0,036 Vol.-% Kohlensäure . . . . 0,24 = N.O5, 2 u 2 ne EF
NO5 :» 2.2.2.0... Spuren.
Verhalten der Versuchstiere: Die Meerschweinchen und Mäuse zeigten nach dem 30 Minuten langen Aufenthalt in dem mit Rauch erfüllten Zimmer keinerlei Erscheinungen.
Meerschweinchen I: Gewicht vor dem Versuch 220g. Nach 1 Tag: Tier normal 205 g, nach 2 Tagen: Tier normal, 200 g, nach 3 Tagen: Tier normal, 200 g, nach 4 Tagen: Tier normal, 205 g, nach 5 Tagen: Tier normal, 215g, nach 6 Tagen: Tier normal, 220 g, nach 8 Tagen: Tier normal, 230 g, nach 10 Tagen: Tier normal, 240 g, nach 12 Tagen: Tier normal, 245 g.
Meerschweinchen II: Gewicht vor dem Versuch 270 g. Nach 1 Tag: Tier normal, 260 g, nach 2 Tagen: Tier normal, 250 g, nach 3 Tagen: Tier normal, 260 g, nach 4 Tagen: Tier normal, 260 g, nach 5 Tagen: Tier normal, 265 g, nach 6 Tagen: Tier normal, 270 g, nach 8 Tagen: Tier normal, 275g, nach 10 Tagen: Tier normal, 285 g, nach 12 Tagen: Tier normal, 295 g.
Tierversuch 7 (16. XII. 1925): Für diesen Versuch wurde eine 46 1 fas- sende Glasflasche verwendet. In dieselbe wurde ein Mikrobrenner gestellt und über diesen ein Dreifuß mit einer Asbestplatte. Die Verschlußplatte der Flasche hatte in der Mitte ein Loch, durch weclhes eine Glasröhre geführt war. Diese Röhre war einerseits mit der Leuchtgasleitung, anderseits mit dem Mikrobrenner durch Schlauch verbunden. Diese Apparatur ist ähnlich jener, die von Joachi- moglu in seinem Gutachten vom 11. XI. 1925 angegeben wird. Nachdem der Mikrobrenner angezündet worden war, wurde rasch ein Stück grünes Triolin (Probe A) (4,2 x 2cm = 2,66g) auf die Asbestplatte gelegt und die Flasche geschlossen. In die Flasche war vorher ein 350 g schweres Meerschweinchen gegeben worden.
Nach 1 Minute (vom Anzünden des Brenners gerechnet): Das Triolin be- ginnt zu rauchen. — Nach 3 Minuten: Das Triolin hört auf zu rauchen, die Gas- flamme wird abgedreht. Der Rauch in der Flasche ist so stark, daß das Meer- schweinchen nur undeutlich zu sehen ist. Das Tier ist unruhig, Lufthunger. — Nach 6 Minuten: Das Tier putzt sich, zuckender Atem, Tränen der Augen. — Nach 12 Minuten: Es wird vom unteren Teil der Flasche eine Gasprobe ge- nommen. Das Tier läuft unruhig herum. — Nach 15 Minuten: Das Tier wird herausgenommen, es ist matt, stellt die Haare auf, zuckender Atem. -— Nach 2 Stunden: Das Tier hat sich anscheinend erholt. — Nach 1 Tag: Tier frißt sehr
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wenig, anscheinend aber munter, Gewicht 335 g. — Nach 2 Tagen: Tier frißt wenig, Gewicht 305 g. — Nach 3 Tagen: Tier frißt wenig, Gewicht 305 g. — Nach 5 Tagen: Tier frißt wenig, Gewicht 330 g. — Nach 6 Tagen: Tier frißt wenig, Gewicht 340 g. — Nach 7 Tagen: Tier frißt wenig, Gewicht 335g. — Nac 8 Tagen: Tier frißt wenig, Gewicht 340 g. — Nach 13 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 365 g. — Nach 15 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 375g. — Nach 19 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 395 g. — Nach 21 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 400 g. — Nach 25 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 415g. — Nach 30 Tagen: Tier frißt normal, Gewicht 435g. |
Die technische Analyse des Gases ergab folgende Werte:
Sauerstoff . . ... 17,8 Vol.-% Kohlensäure . . . . 1,25 mn Kohlenoxyd . . . . 0,18 .
Tierversuch 8 (23. XII. 1925): In einer 46 l fassenden Glasflasche wurde, wie bei Versuch 7, ein Mikrobrenner aufgestellt und über diesen ein Dreifuß mit einer Asbestplatte. Nachdem auf die Asbestplatte ein Stück grünes Triolin (Probe A) (5,2 cm? = 1,62 g) gelegt worden war und ein Meerschweinchen im Gewichte von 320 g in die Flasche gegeben worden war, wurde der Mikrobrenner angezündet. l
Nach 1 Minute: Das Triolin war vollkommen verglimmt, die Flamme wurde abgedreht, die Flasche war mit einem sehr dichten, weißen Rauch erfüllt, so daß der in der Mitte der Flasche stehende Mikrobrenner nicht mehr zu sehen war. Das Tier putzt sich und läuft herum. — Nach 3 Minuten: Das Tier ist unruhig und putzt sich. — Nach 6 Minuten: Das Tier ist unruhig. — Nach 9 Minuten: Das Tier ist sehr unruhig, putzt sich und sucht die Wände hinaufzuklettern, hat starken Lufthunger. — Nach 14 Minuten: Der Rauch wird zusehend lichter, es ist der Mikrobrenner schon undeutlich zu sehen, an den Wänden entsteht ein Kondensbelag. Das Tier erscheint matt und atmet rasch und unruhig. Starke Tränensekretion. — Nach 18 Minuten: Das Tier taumelt, legt sich hin, richtet sich auf und springt die Wände hinauf. — Nach 30 Minuten: Der Rauch ist so licht, daß der Mikrobrenner ganz deutlich zu sehen ist. Das Tier springt an den Wänden hinauf und atmet schnell und unruhig. — Nach 40 Minuten: Das Tier liegt ruhig, senkt den Kopf, richtet ihn wieder auf, kriecht wenig herum, atmet schnell und zuckend. — Nach 50 Minuten: Das Tier liegt ruhig, atmet schnell und unruhig, schließt vorübergehend die Augen und senkt den Kopf. — Nach 58 Minuten: Es wird vom Boden der Flasche eine Gasprobe entnommen. Der Rauch ist sehr licht geworden, so daß nur mehr wie ein schwacher, gelb- brauner Nebel zu sehen ist. Die Wände der Flasche sind dicht mit kleinen Wasser- tröpfchen bedeckt. — Nach 60 Minuten: Das Tier wird herausgenommen. Es ist sehr matt und legt sich auf die Seite, schließt vorübergehend die Augen, zeigt starke Tränensekretion. — Nach 2 Stunden: Das Tier kriecht im Käfig herum, ist aber sehr matt und legt sich immer wieder auf die Seite. — Nach 3 !4 Stunden: Das Tier ist tot.
Obduktionsbefund: Leichte Hyperämie der Lungen, mäßige Degenera- tion der parenchymatösen Organe. (Dr. K. Bauer.)
Ergebnis der Analyse der entnommenen Luftprobe:
Sauerstoff . . .. . 18,0 Vol.-% Kohlensäure . . . . 1,5 5a Kohlenoxyd .... 0,37 er
Tierversuch 9 (14. XII. 1925): Für diesen Versuch wurde derselbe Apparat wie bei Versuch 7 verwendet, um mittels eines Mikrobrenners in einer 46 |] fassen- den Glasflasche Triolin auf einer Asbestplatte zur Verglimmung zu bringen.
In die Flasche wurde ein 380 g schweres Meerschweinchen gegeben, auf die Asbestplatte ein Stück grünes Triolin (Probe A) (2,3 cm? im Gewichte von 0,73 g) gelegt und der Mikrobrenner angezündet, und die Flasche luftdicht verschlossen.
Nach 1 Minute (vom Anzünden des Brenners gerechnet) begann das Triolin zu rauchen und erfüllte die Flasche mit weißem Rauch. — Nach 3 Minuten: Das Triolin hört auf zu rauchen, die Gasflamme wird abgedreht, die Flasche
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ist mit weißem Rauch erfüllt, der in der Mitte stehende Mikrobrenner ist nur mehr undeutlich zu sehen. Das Tier ist unruhig, hustet, putzt sich, schnappt nach Luft. — Nach 6 Minuten: Das Tier putzt sich, läuft unruhig herum, zuckender, unregelmäßiger Atem. — Nach 9 Minuten: Das Tier sitzt ruhig, putzt sich, unregel- mäßiger Atem. — Nach 12 Minuten: Es wird nach vorsichtigem Lüften des Ver- schlusses eine Gasprobe vom unteren Teil der Flasche entnommen. Das Tier kriecht herum, Tränen der Augen, zuckender Atem. — Nach 15 Minuten: Das Tier wird herausgenommen, es kriecht herum, ist aber matt, zeigt starkes Tränen der Augen und zuckenden Atem. — Nach 30 Minuten: Das Tier ist anscheinend munter. — Nach 1 Tag: Tier munter und frißt, Gewicht 390 g. — Nach 2 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 400 g Nach 3 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 405g. — Nach 9 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 455g. — Nach 19 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 490 g. — Nach 25 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 510g. — Nach 30 Tagen: Tier munter und frißt, Gewicht 535 g.
Die technische Analyse der Gasprobe ergab folgende Werte:
Sauerstoff . . .. . 17,8 Vol.-% Kohlendioxyd . . . 1,0 i Kohlenoxyd .. .. 010 ,,
Tierversuch 10 (21. XII. 1925): In eine 46 1 fassende Glasflasche wurde wie bei Tierversuch 7 beschrieben, ein Mikrobrenner gestellt und über diesen ein Dreifuß mit einer Asbestplatte. Nachdem auf die Asbestplatte ein Stück grünes Triolin (Probe A) (1,3 cm? = 0,40 g) gelegt worden war, wurde der Bren- ner angezündet und nach einigen Sekunden begann das Triolin zu verglimmen. Das hineingesetzte Meerschweinchen hatte ein Gewicht von 230 g.
Nach 1 Minute: Das Triolin ist verglimmt, der Brenner wird abgedreht. Die Flasche ist schwach mit Rauch gefüllt. Der in der Mitte der Flasche stehende Mikrobrenner ist noch deutlich zu sehen. — Nach 10 Minuten: Das Tier ist ruhig, putzt sich von Zeit zu Zeit, schwache Tränensekretion. — Nach 20 Minuten: Das Tier ist ruhig, putzt sich von Zeit zu Zeit, etwas unruhiger Atem. — Nach 30 Minuten: Das Tier sitzt ruhig, atmet etwas schneller und unruhig. — Nach 45 Minuten: Das Tier sitzt ruhig, etwas kurzer Atem, putzt sich. — Nach 1 Stunde: Das Tier sitzt ruhig, etwas kurzer Atem, putzt sich. — Nach 1 Stunde 15 Minuten: Das Tier sitzt ruhig, putzt sich sehr oft und hat kurzen, unruhigen Atem. Der sichtbare Rauch ist beinahe verschwunden, an den Wänden der Flasche sind feinste Wassertröpfchen zu sehen. — Nach 1 Stunde 30 Minuten: Aus der Flasche wird vom Boden eine Gasprobe entnommen. Das Tier wird heraus- genommen, es ist matt, schwache Tränen der Augen, unruhiger Atem. Nach 1 Tag: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 220 g. — Nach 2 Tagen: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 220 g. — Nach 3 Tagen: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 230 g. — Nach 8 Tagen: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 235g. — Nach 12 Tagen: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 250 g. — Nach 14 Tagen: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 270 g. — Nach 16 Tagen: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 285 g. — Nach 20 Tagen: Das Tier ist munter und frißt, Gewicht 295 g.
Die technische Analyse des Gases ergab folgende Werte:
Sauerstoff . . ... 18,5 Vol.-% Kohlensäure . ... 06 ,, Kohlenoxyd . ... 01 I
Tierversuch 11 (4. I. 1926): Ein Stück grünes Triolin (Probe A) (7 x 3,1cm = 6,9g) wurde mittels eines Eisendrahtes so an einen Mikrobrenner befestigt, daß es senkrecht herunterhing und die unterste Kante ca. 2 cm über der Brenneröffnung zu liegen kam. Der so adjustierte Brenner wurde in eine 46 | fassende Glasflasche gegeben. Die Gaszuführung erfolgte, wie bei den vorher- gehenden Versuchen, mittels eines Schlauches. der mit einem durch die Ver- schlußplatte gehenden Glasrohr in Verbindung stand, das anderseits mit der Gasleitung verbunden war.
74 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw,
In die Glasflasche wurde ein 360 g schweres Meerschweinchen gegeben, dann der Mikrobrenner angezündet und die Flasche verschlossen. Die Flamme des Brenners reicht bis ungefähr zur Mitte der Triolinplatte.
Nach 1, Minute (vom Anzünden des Mikrobrenners gerechnet) : Das Triolin
brennt mit großen hellen Flammen. — Nach 1 Minute: Mikrobrenner abgedreht. Das Triolin brennt mit sehr großen Flammen unter immenser Rauchentwicklung. Das Tier putzt sich und läuft herum. — Nach 2 Minuten: Der Brand verlöscht,
das Triolin raucht noch. Der Rauch ist so dicht, daß das Tier nur sehr undeutlich zu sehen ist, wenn es auch in der Nähe der Wand ist; der Mikrobrenner ist nicht zu sehen. Das Tier ist sehr unruhig und putzt sich. — Nach A Minuten: Das Tier ist sehr unruhig, sucht die Wände hinaufzuklettern, putzt sich. — Nach 8 Minuten: Das Tier sucht die Wände hinaufzuspringen, ist sehr unruhig und putzt sich. — Nach 11 Minuten: Das Tier legt sich hin, wirft sich dann hin und her, steht wieder auf, fällt hin. — Nach 15 Minuten: Es wird eine Gasprobe entnommen. Das Tier wird herausgenommen, es ist sehr matt, legt sich auf die Seite und atmet stoßweise und zittert. Das Triolin war zu schwarz-grauer, leicht zerfallender Asche verbrannt. — Nach 1 Stunde: Im Käfig hat sich das Tier aufgesetzt, es atmet zuckend und unruhig und zittert. — Nach 1 Tag: Tier sehr mett, frißt nicht, Gewicht 320 g. — Nach 2 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 295 g. — Nach 3 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 260 g. — Nach 4 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 240 g. — Nach 5 Tagen: Um 10 Uhr vormit- tags tot.
Obduktionsbefund (Dr. Bauer): Leichte Hyperämie der Lungen, mäßige Degeneration der parenchymatösen Organe.
Die technische Analyse der entnommenen Gasprobe ergab folgende Werte:
Kohlenoxyd . . . . 0,7 Vol.-% Kohlensäure . . . . 1,68 y
Tierversuch 12 (4.1.1926): Ein Stück graues Triolin (Probe E) (7 x 3,1 cm = 6,9 g) wurde, wie bei Tierversuch 11, an einem Mikrobrenner befestigt und in eine 47 I fassende Glasflasche gegeben, in der sich ein 395 g schweres Meer- schweinchen befand. Nach dem Anzünden des Mikrobrenners wurde die Flasche verschlossen.
Nach 13 Minute (vom Anzünden des Mikrobrenners gerechnet): Das Triolin beginnt mit ruhiger Flamme zu brennen. — Nach 1 Minute: Der Mikrobrenner wird abgedreht. Das Triolin beginnt plötzlich mit sehr starker Flammenbildung und unter immenser Rauchentwicklung zu brennen. — Nach 2 Minuten: Der Brand ist beendet. Der Rauch ist so dicht wie bei Tierversuch 11. Das Tier ist sehr unruhig, putzt sich. — Nach 5 Minuten: Das Tier springt unruhig herum, wirft den Mikrobrenner um. — Nach 8 Minuten: Das Tier sucht die Wände hinaufzuklettern, ist sehr unruhig. — Nach 10 Minuten: Das Tier liegt zeitweise und wirft sich hin und her, springt dann wieder auf. — Nach 13 Minuten: Das Tier liegt zum größten Teil, zuckt und zittert. Es wird eine Gasprobe entnom- men. — Nach 15 Minuten: Das Tier wird herausgenommen, es liegt auf der Seite, atmet zuckend. Starkes Tränen der Augen. Das Triolin war zu grau-weißer Asche verbrannt. — Nach 1 Stunde: Das Tier sitzt im Käfig aufrecht, atmet zuckend und zittert. — Nach 1 Tag: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 355 g. — Nach 2 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 315 g. — Nach 3 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 295g. — Nach 4 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 280 g. — Nach 5 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 270g. — Nach 7 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 265g. — Nach 8 Tagen: Tier sehr matt, frißt nicht, Gewicht 265 g. — Nach 9 Tagen: Früh tot aufgefunden.
Obduktionsbefund (Dr. Bauer): Leichte Hyperämie der Lungen und mäßige Degeration der parenchyınatösen Organe.
Die technische Analyse der Gasprobe ergab folgende Werte:
Kohlenoxyd . . . . 0,68 Vol.-°, Kohlensäure . . . . 1,60 =
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 175
Tierversuch 13 (4.1.1926): Ein Stück braunes Linoleum (Probe B) (7 x 31cm = 7,6 g) wurde mittels eines Drahtes an einem Mikrobrenner so befestigt, wie es bei Tierversuch 11 eingehend beschrieben wurde. Der so adju- stierte Mikrobrenner wurde in eine 46 I fassende Glasflasche gestellt, in der sich ein er g schweres Meerschweinchen befand, und dann der Mikrobrenner ange- zündet.
Nach 1, Minute (vom Anzünden des Mikrobrenners gerechnet): Das Lino- leum beginnt mit großen Flammen zu brennen. — Nach 1 Minute: Der Mikro- brenner wird abgedreht, das Linoleum brennt mit großen Flammen. — Nach 3 Minuten: Der Brand ist verlöscht, die Flasche ist mit wenig grauem Rauch erfüllt, die Wände der Flasche mäßig mit Ruß bedeckt. Das Tier putzt sich, sitzt sonst ruhig. — Nach 5 Minuten: Das Tier putzt sich, sitzt sonst ruhig, geringes Tränen der Augen. — Nach 8 Minuten: Das Tier putzt sich, sitzt sonst ruhig. — Nach 43 Minuten: Das Tier putzt sich zeitweilig, sitzt sonst ruhig. Es wird vom Boden der Flasche eine Gasprobe entnommen. — Nach 15 Minuten: Das Tier wird herausgenommen, es ist anscheinend munter, schwaches Tränen der Augen. Das Linoleum war zu leicht zerfallender Asche verbrannt. — Nach 1 Tag: Das Tier scheint etwas matt zu sein und frißt wenig, Gewicht 235 g. — Nach 2 Tagen: Das Tier ist munter, frißt wenig, Gewicht 225 g. — Nach 3 Tagen: Das Tier ist munter, frißt wenig, Gewicht 225g. — Nach 4 Tagen: Das Tier ist munter, frißt wenig, Gewicht 225 g. — Nach 5 Tagen: Das Tier ist munter, frißt normal, Gewicht 225 g. — Nach 7 Tagen: Das Tier ist munter, frißt normal, Gewicht 235 g. — Nach 8 Tagen: Das Tier ist munter, frißt normal, Gewicht 240 g. — Nach 9 Tagen: Das Tier ist munter, frißt normal, Gewicht 245 g. — Nach 10 Tagen: Das Tier ist munter, frißt normal, Gewicht 250 g. — Nach 11 Tagen: Das Tier’ ist munter, frißt normal, Gewicht 250 g. — Nach 12 Tagen: Das Tier ist munter, frißt normal, Gewicht 260 g.
Die technische Analyse der entnommenen Gasprobe ergab folgende Werte:
Sauerstoff . . . . . 146 Vol.-% Kohlensäure 5 4,2 3 Kohlenoxyd . . .. 037 ,
Zusammenfassung der Tierversuche Nr. 1—13.
Aus den Ergebnissen dieser Versuche ist zu entnehmen, daß im großen und ganzen die erwartete größere Giftigkeit der Dämpfe von ver- brennendem Triolin, im Gegensatz zu denen des Linoleums bestätigt wird.
Um die Resultate der einzelnen Versuche untereinander vergleichen zu können, wurde berechnet, welchen Bruchteil der Bodenfläche eines Raumes von 3,5m Höhe und 20 m? Bodenfläche das verbrannte Stück Triolin oder Linoleum ausgemacht hätte. Bei den Versuchen mit der Glasflasche (461 Fassungsraum) wurde für diese Berechnung folgende F ) deti 0,046 x 20 ormel verwendet: x = Xa” Stückes Triolin oder Linoleum in Quadratmetern bedeutet und „z“ den Bruchteil des Bodenbelages. Bei den Zimmerversuchen Nr. 5 und 6 wurde dieser Bruchteil mit Hilfe einer ähnlichen Formel berechnet.
worin „a die Fläche des verbrannten
: 1 1 | 1 ‘ ESEE 7 ” jet Bam, In gr ` Dp a, lo na Es ergab sich, daß wenn 5000 (Vers. 5), 3500 (Vers. 6) odeı {00 (Ver
such 10) des Triolinbodenbelages verglimmt, keine nenenswerte Schädi- gung der Versuchstiere eintritt, wenn dieselben bis zu 11%, Stunden den Dämpfen ausgesetzt werden.
76 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Auch wenn u (Vers. 9) des Triolinbodenbelages verglimmt, werden
durch die Dämpfe Versuchstiere bei kurzem (15 Minuten) Aufenthalt kaum geschädigt.
Wird jedoch 2: (Vers. 8) des Triolinbodenbelages verglimmt, so ver-
ursachen die Dämpfe, wenn die Tiere 1 Stunde denselben ausgesetzt werden, den Tod derselben.
Werden größere Mengen Triolin verglimmt, z. B. !/, des Boden- belages, so genügt schon ein kurzer 5 Minuten währender Aufenthalt, um bei Versuchstieren sehr deutliche Schädigungen hervorzurufen. Wird die Aussetzungsdauer auf 17 Minuten verlängert, so werden Versuchs- tiere schon so stark geschädigt, daß sie nach einigen Stunden sterben.
Wird dagegen z. B. !/, (Vers. 4 u. 13) des Linoleumbodenbelages verbrannt, so zeigen Versuchstiere nach einer Aussetzungsdauer von 15—22 Minuten eine deutliche aber vorübergehende Schädigung. Wenn aber unter den gleichen Umständen, siehe Versuche Nr. 11 und 12, !/, des Triolinbodenbelages verbrannt wird, sterben bei gleicher Einwirkungs- . dauer die Tiere regelmäßig nach einigen Tagen.
Zu allen jenen Versuchen, bei welchen mehr als ca.6cm? Triolin in der 461 fassenden Glasflasche verbrannt wurden, muß bemerkt werden, daß durch die starke Erwärmung der Luft und die Gasbildung bei der Verbrennung sich zeitweilig der Verschluß der Flasche geöffnet hat und mit der ausströmenden Luft auch ein Teil der flüchtigen Zersetzungspro- dukte entwich. Auch sei darauf aufmerksam gemacht, daß bei den Ver- ‘ suchen mit der 461 fassenden Glasflasche, sich während des Versuches reichlich Wasserdampf an den Glaswänden kondensierte, durch welchen bei den Versuchen mit Triolin sicher ein Teil der Stickoxyde absorbiert wurde und sodann nicht mehr auf die Versuchstiere einwirken konnte.
Aus allen diesen Versuchen, insbesondere den Vergleichsversuchen Nr. 11, 12 und 13 ist zu entnehmen, daß die Verbrennungsgase und Dämpfe von Triolin bedeutend giftiger auf Versuchstiere wirken, als jene, die aus Linoleum entstehen, wie dies ja aus den vorhergehenden Untersuchungen dieser Gase und Dämpfe zu erwarten war.
Die Frage, inwieweit diese erhöhte Giftigkeit der Zersetzungspro- dukte von Triolin sich bei einem Brande in der Praxis bemerkbar machen könnte, ist, wie schon auf Seite 18 gesagt wurde, nur im Ein- vernehmeu mit einem Feuerwehrtechniker zu beantworten.
Soviel kann aber gesagt werden, daß die durch kleine Verbrennungen, wie sie z. B. durch aus einem Ofen fallende glühende Kohle oder einem heißen Bügeleisen usw. hervorgerufen werden, entstehenden Zersetzungs- produkte von Triolin keine ernste Gefahr auch bei längerer Einwirkung bedeuten. Es kommt da dem Triolin die Eigenschaft zustatten, bei der Verbrennung sehr auffällige Dämpfe zu entwickeln, die zum Husten reizen, wodurch eine rechtzeitige Mahnung verursacht wird.
Selbstredend ist das Linoleum wegen seiner höheren Widerstands- fähigkeit gegen Wärme und der Eigenschaft, beim Verbrennen bedeutender
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 77
weniger giftige Dämpfe zu entwickeln, in dieser Beziehung dem Triolin überlegen.
Versuche zum Nachweis, ob Triolin bei gewöhnlicher oder erhöhter Zimmertemperatur Stoffe an die Luft abgibt, durch welche Versuchstiere geschädigt werden.
Durch Tierversuch 14 (8. I. bis 26. I. 1926) sollte festgestellt werden, ob Triolin bei Temperaturen von ca. 17—33° C giftige Gase an die Luft abgibt.
Auf ein Stück graues Triolin (Probe E) wurde eine Glasglocke gestellt. Diese war halbkugelförmig, hatte unten einen Durchmesser von 40 cm und oben einen ca. 10 cm breiten Tubus. Sie faßte ca. 40 1. — Unter diese Glocke wurde ein 250 g schweres Meerschweinchen gegeben. Der Tubus der Glocke wurde: mit einem Stück Filtrierpapier lose bedeckt. Als Futter erhielt das Tier täglich 60 g Hafer und 100 g Rübe, und zwar nach dem Wägen um 149 Uhr früh. Täglich wurde die Triolinunterlage durch Abwischen mit einem nassen Tuch vom Kot befreit und dann wieder getrocknet.
Am 9.1.: Das Tier frißt normal, Gewicht 265 g. Tagestemperatur im Zimmer ca. 17°C. — Am 10.1.: Das Tier frißt normal, Gewicht 265 g. Tagestemperatur im Zimmer ca.18°C. — Am 11. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 265g. Das Tier samt der Glocke und dem Triolin wird in ein Zimmer gestellt, das auf 25° geheizt wird, es ist jenes Zimmer, in welchem die Tiere des Tierversuches 16 stehen. — Am 12.1.: Das Tier frißt normal, Gewicht 245 g. — Am 13.1.: Der Tier frißt normal, Gewicht 250 g. — Am 14. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 260 g. Die Temperatur im Zimmer wird auf 30—35° gesteigert. — Am 15. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 270 g. — Am 16. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 270 g. — Es bekommt von nun an eine Schale mit Wasser zum Futter. Am 17. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 270 g. — Am 18. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 280 g. — Am 19. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 285 g. — Am 20. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 285g. — Am 20.1.: Das Tier frißt normal, Gewicht 295 g. — Am 21.1.: Das Tier frißt normal, Gewicht 290 g. — Am 22. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 305 g. — Am 23. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 305 g. — Am 24. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 305 g. — Am 25. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 305 g. — Am 26. I.: Das Tier frißt normal, Gewicht 310 g.
Durch Tierversuch 15 (19. X11. 1925 bis 25. I. 1926) sollte nachgewiesen werden, ob Triolin bei einer Temperatur von 20—25°C Versuchstiere schädi- gende Stoffe an die Luft abgibt.
In einem Zimmer von 6,1 m Länge, 3,3 m Breite und 4 m Höhe wurden zwei mit Glaswänden versehene Stoffwechselkäfige aufgestellt. Das Zimmer war durch einen beim Fenster aufgestellten Dampfheizungskörper und einen Gas- ofen, an der gegenüberliegenden Wand stehend, heizbar. — Die beiden Glas- käfige waren 83 cm lang, 50 cm breit und 68 cm hoch. Die beiden Breitseiten waren als Schiebetüren eingerichtet. Der Boden bestand aus einem Eisenrohr- rost, durch welchen Kot und Harn in den unterhalb angebrachten Sammel- behälter fallen.
Käfig I war mit braunem Triolin (Probe C)im Gesamtausmaß von 17,250 cm? = 5650 g, Käfig II mit 17,250 cm? = 4615 g braunem Linoleum (Probe D) ausge- kleidet. Es waren drei Seitenwände des Käfigs I bis zu einer Höhe von 50 cm mit einer aus einem Stück bestehenden Triolinbahn ausgekleidet. Die dritte Seitenwand war nur soweit verkleidet, daß ein 20 cm breiter Streifen der Glaswand frei blieb. Auf diese Triolinwandbekleidung wurde ein entsprechendes Stück Triolin als Deckenstück aufgelegt. Am Boden des Käfiges wurde ein Stück Triolin gelegt, welches die halbe Bodenfläche einnahm. Auf diese Weise entstand eine Kammer von 0,2 m? Inhalt, die aus 4 ganz aus Triolin bestehenden Flächen und zwei zum Teil mit Triolin bekleideten Flächen bestand.
Der Käfig -Il war auf genau dieselbe Art und Weise mit Linoleum aus- gelegt.
In die Käfige wurden am 19. XII. 25 um 10 Uhr früh je zwei Meerschweinchen gegeben und dieselben nun täglich vor der Fütterung um 149 Uhr früh gewogen.
78 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Die Temperatur in dem Zimmer und die relative Feuchtigkeit wurden durch ein selbstregistrierendes Instrument kontrolliert. Die Temperatur schwankte zwischen 24 und 25°C, die relative Feuchtigkeit war zumeist 35% und über- stieg niemals 45%.
Am 29. XII. 25, nachdem also die Tiere 10 Tage in dem Käfig waren, wurden jene Tiere, die in dem mit Triolin ausgekleideten Käfig waren, in jenen gegeben, der Linoleum enthielt, und die Tiere, die in dem mit Linoleum ausgekleideten Käfig waren, in jenen, der Triolin enthielt, gegeben.
Am 13. I. 1926 wurde das Triolin und das Linoleum aus den Käfigen ent- fernt, sonst aber nichts an den Versuchsbedingungen geändert und die Tiere bis zum 25.1.1926 weiter beobachtet.
Tabelle III.
er: 7
Gehalt d l Adhlensäure
Relatıre
m 7%
2erlaaası]as7l20r 377130. 20° 20° 31°\30°\29°,28°1 29° 30°129° = $ i
Meint | 1 aoo
| | t 1 l.’ tog Pa | Jm Zimmer mit Triolin NEHMEN TED
A 1 ! ' I i wi i | in araen | Im leeren Zimmer Im leeren Zimmer, | l po | A E nitg [l | i i T E A E = eu eee -7 | a | | ! PEA i E Bu I KafigI
4-4 ae + -- ‘ | | ! =
Durch Tierversuch 16 (9. I. bis 26. I. 1926) sollte festgesetllt werden, ob Triolin bei Temperaturen von 25—350 C giftige Stoffe an die Luft abgibt.
Am 9.1.1926 um 1310 Uhr vormittags wurden in einem Raum von]J>5,80 m Länge, 2,70 m Breite und 3,90 m Höhe, 5 Gitterkäfige mit \Versuchstieren auf
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. .79
50 cm hohen Sesseln aufgestellt. An der einen Schmalseite hatte der Raum ein 1,60 m breites und 2,50 m hohes, gut schließendes Doppelfenster, unter dem- selben befand sich ein Niederdruckdampfheizungskörper aus 12 Sektoren. An der anderen Schmalseite des Zimmers stand im Eck ein 75 cm breiter, 35 cm tiefer und 85 cm hoher Kupferblechreflektorgasofen. Die einzige Türe im Zimmer war an einer Breitseite und war 1 m breit und 2,20 m hoch. Die Ventilationsöffnungen waren alle mit Papier verklebt. — Jeder Käfig war mit einem Thermometer ver- sehen, außerdem war in der Mitte des Zimmers in der Höhe der Käfige ein selbst- registrierendes Instrument zur fortlaufenden Kontrolle der Temperatur und der relativen Feuchtigkeit aufgestellt.
In den Käfig Nr. 1, 2 und 5 wurden je zwei Meerschweinchen gegeben, in den Käfig Nr. 3 und 4 je ein Meerschweinchen. Die Tiere wurden täglich um 8 Uhr früh vor der Fütterung gewogen. Sodann wurde nach gründlicher Reinigung der Käfige und Entfernung des vom Vortage übrig gebliebenen Futters so viel frisches Futter in Form von Hafer und Rübe in den Käfig gegeben, daß die Tiere immer Futter übrig ließen. Außerdem wurde täglich in jeden Käfig eine Hand voll frisches Heu gegeben.
Am Boden des Zimmers, in der Nähe des Gasofens, wurden in einem Glas drei weiße Mäuse aufgestellt, die ebenfalls täglich frischen Hafer, eine harte Brot- rinde und eine Schale Wasser bekamen.
Vor der Fütterung wurden aus dem Zimmer, nachdem mit zwei großen Fächern die Luft gemischt worden war, zwei Luftproben entnommen. In einer dieser Proben wurde der Gehalt an Kohlensäure nach der Methode von Petten- kofer bestimmt, in der anderen versucht, salpetrige Säure oder Salpetersäure nachzuweisen. Das Ergebnis war negativ.
Am 11.1.1926 wurde um 41 Uhr vormittags durch Öffnen von Fenster und, Türe der Raum 15 Minuten gelüftet.
Am 13.1.1926 wurden in dem Zimmer 6 Stücke 2 m hohe Rollen Triolin (Probe E) ausgebreitet.
Mit 2 Rollen wurde der ganze Fußboden des Zimmers bedeckt, die restlichen 4 Rollen wurden längs der Wände aufgestellt, so daß nahezu alle freien Mauer- flächen bis zur Höhe von 2 m mit Triolin bedeckt waren. Die Enden der Triolin- bahnen, die keinen Platz mehr an den Mauerflächen fanden, wurden lose einge- rollt. — In dem Raum waren im ganzen 67,3 mè Triolin untergebracht, davon waren 31,9 m? frei liegend, während der Rest 35,4 m? verdeckt bzw. lose eingerollt sich im Zimmer befand, im ganzen demnach das ca. 4fache der Bodenfläche! — Am 13.1.1926 um 4 Uhr nachmittags ist in dem Zimmer ein ganz schwacher, süßlicher an Anilin erinnernder Geruch bemerkbar. — Am 14. I. 1926 um 11 Uhr vormittags wird der Gasofen stärker geheizt, damit die Temperatur im Zimmer auf 30—35° C ansteigt. — Um 41 Uhr vormittags betraten 15 Personen den Raum und blieben dort ca. 10 Minuten. Es wurde als Unterrichtsbeispiel eine Luft- probe zur Bestimmung des Kohlenoxydgehaltes der Luft entnommen. Dieselbe ergab einen Gehalt von 0,037°/,u. Kohlenoxyd, wie er sich in unserer Laborato- riumsluft sehr häufig vorfindet.
Am 20. 1. 1926 um 11 Uhr vormittags wird das ganze Triolin aus dem Zimmer herausgenommen und das Zimmer sodann durch Öffnen von Türe und Fenster durch 15 Minuten gelüftet.
Die Tiere werden in den folgenden Tagen genau so behandelt wie in der vorhergehenden Zeit. (Siehe Tabelle lII.) i
Ergebnisse der Versuche Nr. 14—16.
Bei diesen drei Versuchen zeigten die Tiere (Meerschweinchen und weiße Mäuse) keinerlei auffällige Symptome. Die Tiere fraßen ziemlich gleichmäßig, zeigten keinerlei Atembeschwerden und ganz normalen Stuhl.
Es konnte, wenn Triolin oder Linoleum in den Versuchsraum gebracht wurde, an dem Verhalten der Tiere und der Bewegung ihrer Gewichte, kein soleher Unterschied beobachtet werden, daß daraus auf eine
.80 Über das Verhalten von Triolin u. Linoleum als Fußbodenbelag usw.
Schädigung der Tiere durch Stoffe, die vom Triolin an die Raumluft abge geben werden, geschlossen werden konnte.
Selbst bei übertriebenen Bedingungen (siehe Versuch 16), wo in einem nichtventilierten Raum, bei einer Temperatur von 30—33°C, eine der vierfachen Bodenfläche entsprechende Menge Triolin zur Ausbreitung gelangte, konnten keine irgendwie nachweisbaren Schädigungen an den Versuchstieren beobachtet werden.
Aus den Versuchen ergaben sich keinerlei Anhaltspunkte für die von anderer Seite aufgestellte Behauptung, daß Triolin als Fußbodenbelag bei so niederen Temperaturen gesundheitlich bedenkliche Stoffe an die Luft abgibt (vgl. dazu S. 2.
Schlußfolgerungen.
Nach den vorstehend geschilderten Versuchen ist die ein- gangs gestellte Frage, ob und inwiefern der Fußbodenbelag „Triolin“ gesundheitsschädlich wirken kann und wie sich Triolin in dieser Beziehung gegenüber „Linoleum“ verhält, folgendermaßen zu beantworten.
1. Triolin wird bei 60°C weich, bei 100°C treten Blasen auf, bei 420°C verfärbt sich die Masse, bei 140°C zer- setzt sie sich regelmäßig spontan unter starker Rauch- entwicklung.
Bei Temperaturen unter 130°C schreitet die dureh lokales starkes Erhitzen eingeleitete Zersetzung des Triolinfußbodenbelages nicht fort.
Linoleum kann ohne tiefgreifende Veranderingen bis auf 170°C erhitzt werden.
2. Beim Anzünden von Triolin und Verbrennen mit Flamme, sowie beim Verglimmen (Zersetzung bei 140°C ohne Flamme) entstehen CO}, CO, Stickoxyde und Blausäure, letztere beide in beachtenswerten Mengen.
Beim Verbrennen von Linoleum entsteht, bezogen auf gleiches Gewicht, neben Kohlensäure nur ungefähr die Hälfte von CO und weder Stickoxyde noch Blau- säure. Die Tierversuche bestätigten die nach diesen Feststellungen zu erwartende höhere Giftigkeit der Raumluft nach dem Verbrennen von Triolin, im Gegen- satz zu jener nach dem Verbrennen von Linoleum.
Bei Temperaturen bis 50°C spaltet Triolin keine oder höchstens Spuren von Stiekoxyden ab, bei 85°C geringe aber meßbare Mengen.
3. Im Gegensatz zu den in dem Gutachten des pharmako- logischen Institutes der Universität in Berlin (Gez. Joachimoglu) beschriebenen Versuchen, zeigten Ver- suchstiere in keinem Falle in mit Triolin ausgekleide- ten Versuchsräumen bei Temperaturen
Von Dr. Ing. Franz Noziczka. 81
auch nach 7tägigem Aufenthalte, irgendwelche Gesund- heitsschädigungen.
Nach den vorstehend mitgeteilten Ergebnissen der Ver- suche sind Einwände, die gegen die Verwendung des Triolins als Fußbodenbelag in gewöhnlichen Wohn- und Schlafräumen auf Grundlage der angeblich zu erwartenden ungünstigen Beeinflussung der Raumluft erhoben werden, prinzipiell nicht berechtigt; dies allerdings nur unter der Voraussetzung, daß alle in den Handel und Verkehr gebrachten Triolinrollen sich so verhalten, wie die ın unserem Institute untersuchten. In Räumen mit erhöhter Brandgefahr (Laboratorien, Werk- stätten usw.) ist wegen der äußerst stürmischen Zersetzung, die auf jeden Fall bei Temperaturen über 140°C eintritt und der erhöhten Giftigkeit der beim Verbrennen entstehenden — Stickoxyde und Blausäure in erheblichen Mengen enthal- tende — Dämpfe, erhöhte Vorsicht am Platze.
Im übrigen ist die Frage, inwieweit bei Haus- und Zim- merbränden das Verhalten des Triolins eine raschere Aus- breitung des Brandes bewirkt, sowie durch die erhöhte Giftig- keit der Dämpfe die Löschaktion erschwert, durch besondere feuerwehrtechnische Versuche zu studieren. Die Anregung zu solchen Versuchen wurde unsererseits an die maßgebenden Behörden gegeben. Zumal wenn für das Triolin eine u.mfang- reichere Anwendung in Aussicht genommen ist, sollten sich die Behörden ernstlich mit dem Problem befassen.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 6
Grundfragen zur Fliegenplage und ihrer Bekämpfung.')
Von Professor Dr. J. Wilhelmi.
(Aus der Preuß. Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, Biol.- zool. Abt., Berlin-Dahlem.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 1. März 1926.)
Die Fliege ist der ständigste und häufigste Begleiter des Menschen auf dem Erdenrund und zugleich als Belästiger des Menschen und als Überträger von Krankheitskeimen der ausgesprochene Feind des Men- schen. Ihre Literatur, deren Zahl Legion ist, lehrt leider, daß die Fliegen- plage bisher noch allen Bekämpfungsversuchen trotzt und daß es ein einzelnes Mittel, ihrer Herr zu werden, selbst wenn es allgemeine Anwen- dung fände, nicht gibt und wahrscheinlich auch nie geben wird.
Der Fragenkomplex, den die Fliegenbekämpfung darstellt, ist von mir durch eine Reihe eingehender Untersuchungen, welche in der am Schluß gegebenen Übersicht zusammengestellt sind, aufgerollt worden, und die Lösung zunächst durch systematische Sicherstellung der Be- kämpfungsbedingungen sowie bereits durch Teiluntersuchungen einzu- leiten versucht worden. Nach mehrjähriger Arbeit brachten die ungün- stigen Verhältnisse der Arbeitsmöglichkeiten die freilich immer nur als Nebenarbeiten ausgeführten Untersuchungen im Jahre 1923 zum fast völligen Stillstand. Erfreulicherweise hat nun die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft neuerdings die Wiederaufnahme der Untersuchungen im Rahmen der Arbeiten der oben genannten Anstalt ermöglicht.
Über die systematische Durchführung der Aufgaben soll in fort- laufenden Beiträgen zu „Untersuchungen über die Fliegenplage‘“ berichtet werden. Um nun die Bedingungen und Wege, die eine wirksame Be- kämpfung ermöglichen dürften, zu kennzeichnen, soll hier einleitend über den Stand der Frage- und Aufgabestellung und die Teilergebnisse in ganz kurzer Zusammenfassung berichtet werden.
Der Begriff „Fliege“ darf nicht zu eng gefaßt werden. Im Vorder- grund des Interesses stehen die gewöhnliche Stubenfliege, Musca
1) I. Beitrag zu „Untersuchungen über die Fliegenplage“ von J. Wil- helmi und G. Kunike.
« Grundfragen zur Fliegenplage und ihrer Bekämpfung. 83
. domestica L., die kleine Stuben- oder Hundstagsfliege, Fannia canicularıs L. (und F. scalaris L.), sowie die gemeine Stechfliege, auch Wadenstecher genannt (Stomoys calcitrans L.), welche die wich- tigsten Fliegenarten der Wohnungen und Stallungen sind. Ferner sind außer diesen zur Musciden-Unterfamilie der Muscinen gehörigen Fliegen- arten noch eine ganze Reihe zu den Unterfamilien der Calliphorinen, Sarcophaginen, Hypoderminen, ferner Gattungen der Borboriden u.a. Cyclorrhaphen zu nennen. Aber auch unter den Orthorrhaphen haben wir von den Brachyceren die Tabaniden einzubeziehen. Damit kommen wir also etwa auf die praktische Scheidung der Dipteren in Mücken und Fliegen heraus: Diptera (Zweiflügler) Orthorrhapha Nematocera, Brachycera Cyclorrhapha
Mücken Fliegen
Bei den gesundheitlichen Schadenwirkungen der Fliegen haben wir zu unterscheiden zwischen: 1. Massenauftreten der Imagines in Wohn- räumen unter Belästigung des Menschen (M. domestica, Fannia, Stomoxys, seltener Muscina, Pollenia, Calliphorinen und in ganz vereinzelten Fällen aber massenhaft Chloropiden), damit verbunden Verschleppung und Übertragung pathogener Keime und Eier parasitärer Würmer; 2. Ver- schmutzung von Hausgerät und Lebensmitteln durch Imagines (Musciden); 3. Blutsaugen von Imagines, selten in Wohnungen (Stomoxinen), nur im Freien (Tabaniden, Lyperosia u. a.), damit verbundene gelegentliche oder spezifische Übertragung bazillärer oder protozoischer Erreger von Infektionskrankheiten und parasitärer Würmer; 4. stationärer Ecto- parasitismus von Imaginen auf Haustieren (Hippobosciden); 5. Larven- entwicklung in Lebensmitteln, z. B. in Fleisch, Fett, Käse (Piophila, Calliphorinen u. a.); 6. gelegentliche Entwicklung in Wunden und bei Hautkrebs, und Blutsaugen an Warmblütern (verschiedene Musciden), gelegentlicher oder zwangsläufiger Entoparasitismus von Larven in Körper- gewebe oder in Organen (Musciden, Oestriden, Hypoderminen u. a.).
Unter den weiter oben genannten Fliegen der Wohnungen bzw. der Stallungen haben wir (Übersicht Nr. 7) diaeto- bzw. stathmophile und diaeto- bzw. stathmoxene (wohnungs- oder stalliebend bzw. -fremd) zu unterscheiden. So ist z. B. M. domestica ausgesprochen diaetophil und bedingt stathmoxen, Fannia (13) nur bedingt diaeto- und stathmophil, Stomoxys stathmophil und diaetoxen, die kleine Stechfliege Lyperosia (2) ausgesprochen stathmoxen und diaetoxen, Pollenia nur zur Überwinterung diaetophil. Gemeinsam haben alle diese in Wohnungen und Stallungen mehr oder weniger häufigen Fliegenarten, daß sie in den durch Tier- haltungen erzeugten Mist und den durch die Häuslichkeit der zur Auf- stapelung kommenden, z. T. organischen Abfallstoffe (Müll) die infolge optimaler Ernährungsbedingungen zur Massenentwicklung führenden Brutplätze finden. Die durch diese Arten bedingte Fliegenplage ist also im wesentlichen ein Kulturprodukt, wenn man den Kulturbeginn etwa
6*
. 84 Grundfragen zur Fliegenplage und ihrer Bekämpfung. +
gleichsetzt mit dem Einsetzen des menschlichen Siedlungswesens, das den ersten Eingriff in die vorher auch für den Urmenschen geltende natür- liche Gleichgewichtsregulierung bedeutete. Näher hier auf biologische, ökologische und entwicklungsgeschichtliche Fragen einzugehen, ist nicht möglich. Erwähnt sei nur, daß die Überwinterungsweise der genannten Arten noch nicht genügend sichergestellt ist, wenn es auch den Anschein hat (8), daß jeder Art sowohl imaginale wie präimaginale Überwinterung aufweist, daß aber mobile und immobile Imaginalüberwinterung nieht bei ein und derselben Art vorkommt.
Die Bekämpfungsmöglichkeiten bestehen in biologischen, mecha- nischen und chemisch-physikalischen Verfahren bezüglich der Imaginal- und Präimaginalstadien — letztere Eier, Larven und Puppen betreffend — und haben auch bezüglich der Wohnungs- und Stallfliegen auf den spezifischen ökologischen und phänologischen Grundlagen zu fußen.
Die biologischen Verfahren der Nutzung der Feinde, Parasiten und Krankheitserreger (4, 11) versprechen wenig Aussicht auf Erfolg. Deswegen ist der der Erhaltung der Vogelwelt dienende Vogelschutz keineswegs als zwecklos zu betrachten. Wenn die Maßnahmen der Ima- ginal- und Präimaginalbekämpfung mittels chemisch-physikalischer und mechanischer Verfahren stets auf die örtlichen Verhältnisse (ländliche und städtische Viehhaltung, häusliche und städtische Müllstapelung usw.) zugeschnitten und oft kombiniert anzuwenden sind, so erscheint doch die Präimaginalbekämpfung, und zwar besonders die T,.arvalbekämpfung am aussichtsreichsten und wichtigsten.
An die für die Larvalbekämpfung durch Behandlung der städti- schen und ländlichen Viehhaltungsabfälle (Mist) anzuwendenden Ver- fahren oder Mittel sind bezüglich ihrer Wirksamkeit zunächst für den Laboratoriumsversuch folgende Mindestforderungen zu stellen: Die Fliegenlarven müssen bei bezüglich Temperatur und Ernährung günstigen Entwicklungsbedingungen in dem für die Larvalentwicklung mit etwa 8 Tagen anzusetzenden Zeitraum zum größten Teil abgetötet werden. Man wird für die Praxis freilich eine wöchentliche, .also siebentägige Be- handlung der Brutstätten ansetzen müssen: 7- bzw. 8-Tageforderung. Mit Rücksicht darauf, daß in der Natur nicht alle zur Verpuppung kom- menden Individuen ausschlüpfen, schien es mir bei den auf 10 Tage aus- gedehnten Laboratoriumsversuchen berechtigt, ein Mittel als ausreichend wirksam zu betrachten, wenn es innerhalb 8 Tagen 75 vH der Larven abtötete: 75 vH-Forderung. Von chemischen Stoffen müssen die- jenigen als die wirksamsten gelten, die in den geringsten Mengen der 8-Tage- und 75 vH-Forderung genügen. In landwirtschaftlicher Hinsicht besteht für die Mistbehandlung eine weitere dahingehende Forderung, daß die anzuwendenden Stoffe den Düngerwert des Mistes zum mindesten nicht wesentlich schädigen, wenn möglich aber erhöhen.
Von diesen Gesichtspunkten aus wurde die erste größere Serie von Versuchen der Präimaginalbekämpfung betreffend Eier und Larven in Reihe von 194 Versuchen mittels Kalisalzen und anderen Chemikalien mit folgendem Ergebnis (6) durchgeführt. Von den Einzelsalzen Chlor- kalum, Chlormagnesium, Chlornatrium, Kaltumsulfat, Magnesiumsulfat
Von Prof. Dr. J. Wilhelmi. 85
= und Natriumsulfat bewirkte keins eine Abtötung von 75 vH in 8 Tagen, sobald die Salze in geringerer Dosis 1:80 dem Rinderkot beigemengt wurden. Verpuppungen wurden selbst bei größeren Zusatzmengen nicht verhindert. Auch die Eierentwicklung unterblieb bei Zusatzmengen, die unter 1:80 waren, nicht. Als verhältnismäßig am wirksamsten erwies sich Chlormagnesium, das im Mengenverhältnis 1:60 noch der 75 vH- und 8-Tageforderung genügen dürfte., Ein auffälliger Unterschied zwi- schen den Wirkungen der Chlorverbindungen gegenüber denjenigen der Sulfate ergab sich — abgesehen von der erwähnten etwas stärkeren Wirk- samkeit des Chlormagnesiums — nicht. Am unwirksamsten zeigte sich das Chlornatrium. Von den wichtigsten Einzelbestandteilen des Endlaugenkalkes (ca. 40 vH Kalk, 10 vH Magnesia und 15 vH Chlor in Form von Chlorkalzium) wies das hygroskopische Chlorkalzıum etwa die gleiche Wirkung wie Chlormagnesium auf, indem die 75 vH- und 8-Tageforderung noch bei etwa 1:60 erfüllt wurden und die Larven- entwicklung aus Eiern noch bei 1:40 verhindert wurde, Magnesium- hydrat (Magnesiumhydroxyd) hingegen erwies sich selbst bei starken Zusatzmengen (1:10) als ganz unwirksam, d. h. als den Forderungen in bezug auf Larvenvernichtung auch nicht annähernd entsprechend; auch verhinderte Magnesiumhydrat (1:10) Entwicklung von Larven aus Eiern nicht. Der dritte Hauptbestandteil des Endlaugenkalkes, nämlich Kalk- hydrat (Kalziumhydroxyd), in Form von gelöschtem Kalk der Kalk- gruben, zeigte eine ganz außerordentlich starke Wirkung, die noch bei 1:320 bestand und bei 1: 160 mit 100proz. Abtötung der Larven inner- halb durchschnittlich 3 Tagen noch über die 75 vH- und 8-Tageforderung hinausging; auch Larvenentwicklung aus Eiern, bis 1:80 geprüft, wurde durch Kalkhydrat verhindert. Bemerkenswert erscheint, daß Kalkhydrat, wie Versuche mit vollständig ausgewachsenen Larven ergaben, Verpup- pung fast durchweg verhinderte. Im Gegensatz zu Kalkhydrat zeigte Chlorkalk (35 vH), selbst in starken Mengen gegeben (1:10 und 1:20), weder auf Eier noch auf Larven eine befriedigende Wirkung. Diese Be- funde wurden später auch durch v. Schuckmann!) bestätigt. Trotz- dem wird Chlorkalk in der Praxis wie in der wissenschaftlichen Literatur nach wie vor als Fliegenbrutbekämpfungsmittel genannt. Wenn schon aus der bakteriologischen Literatur die geringe Tiefenwirkung des aktiven Chlors bekannt ist, so kann das Versagen desselben in der Fliegenbrut nicht wundernehmen. Lediglich mit feinen Plasmagebilden, Wimpern und schleimiger Beschaffenheit der Körperhaut ausgestattete tierische Organismen haben sich als wenig resistent gegenüber aktivem Chlor er- wiesen?2). Borax (Natriumtetraborat) wies eine ganz ähnlich starke Wirkung wie Kalkhydrat auf, indem er bei Larven im Mengenverhältnis 1:160 innerhalb durchschnittlich 3 Tagen völlig (100 vH) abtötend wirkte und Larvenentwicklung aus Eiern, selbst im Mengenverhältnis
4) v. Schuckmann, Über Mittel zur Fliegenbekämpfung. Zeitschr. f. org. Entw., 1923, Bd. 9, H.1, S. 82—104.
2) Wilhelmi. Über die Desinfektion des Wassers mit aktivem Chlor, unter besonderer Berücksichtigung der tierischen Organismen. Desinfektion, 7. Jg., 1922, S. 2—4, 15—18, 35—38.
.86 Grundfragen zur Fliegenplage und ihrer Bekämpfung.
von 1:320 gegeben, noch gänzlich verhinderte; auffällig war auch die Erscheinung, daß selbst völlig ausgewachsene, verpuppungsreife Larven bei Boraxzusatz zum Rinderkot nicht mehr zur Verpuppung schreiten konnten, sondern eingingen. Von den Kalimischsalzen: Karnallit, Bergkieserit, Kainit, 20-, 30- und 40proz. Kalidüngesalz und schwefel- saure Kalimagnesia zeigte keins eine der 75 vH- und 8-Tageforderung genügende Wirkung, sobald die Zusatzmenge unter 1 :,20 war. Verhältnis- mäßig am wirksamsten war das 40proz. Düngesalz, am unwirksamsten der zuweilen praktisch zur Fliegenbrutbekämpfung empfohlene Kainit, namentlich wenn er magnesiareich ist, d. h. wenn er mehr als 6 vH Ma- gnesia enthält. Endlaugenkalk zeigte eine unregelmäßige Wirkung. Im Mengenverhältnis 1:80 dem Rinderkot zugesetzt, entsprach er noch annähernd der 75 vH- und 8-Tageforderung und verhinderte Larven-. entwicklung aus Eiern noch, wenn er im Mengenverhältnis 1:60 gegeben wurde. Der wirksame Stoff im Endlaugenkalk ist offenbar der Kalk (CaO), der durchschnittlich 40 vH ausmachen soll und bei dem zu den Versuchen benutzten Endlaugenkalk 37 vH betrug. Die bei den Versuchen zutage getretene wechselnde Wirkung des Endlaugenkalkes dürfte dadurch be- dingt worden sein, daß bei den geringen in den Versuchen benötigten Mengen des Endlaugenkalkes eine etwas unregelmäßige Zusammen- setzung desselben doch nicht ganz vermieden werden konnte. Bei Sicher- stellung einer Höchstmenge von etwa 10 vH Magnesia und einer Mindest- menge von etwa 50 vH Kalk dürfte er im Mengenverhältnis 1:80 die Forderungen erfüllen, vielleicht auch noch im Mengenverhältnis 1: 160. Bei der genannten Zusammensetzung würde allerdings das Optimum des Kalkfaktors, wie es im Kalkmagnesiaverhältnis für Düngung gefordert wird, erheblich überschritten sein, welche Verhältnisse jedoch erst bei praktischen Versuchen der Fliegenbrutbekämpfung näher zu berück- sichtigen wären.
Wenn nun die Verwendung des Kalkes als Zusatz zu Dünger schon infolge der dabei eintretenden Ammoniakverluste praktisch auf Schwierig- keiten stoßen würde, so wird man nach Möglichkeiten suchen müssen, Stoffe mit einzubeziehen, die der Konservierung des Mistes dienen, bzw. Ammoniakverluste verhüten. Die ersten in Verbindung mit anderen Untersuchungen (11) in dieser Richtung mit schwefelsaurem Kalk (Gips) angestellten Vorversuche lassen diesen Weg nicht als aussichtslos er- scheinen; auch in der Kokereiwirtschaft hat man ja bei dem im Kriege bestehenden Mangel an Schwefelsäure die Bindung des Kokerei-Ammoniaks durch Gips versucht!). War schon das Bestreben, den Mist in seinem Düngewert schädigende Substanzen auszuschalten, gekennzeichnet wor- den, so muß es als selbstverständlich gelten, daß auch Stoffe, welche mit dem behandelten Dünger auf das Land gebracht werden, weder den Pflanzenwuchs schädigen, noch die Pflanzen für die Ernährung des Men- schen oder der Nutztiere ungeeignet machen dürfen. Damit sind aber die in landwirtschaftlicher und hygienischer Einsicht an ein Fliegenbrut- bekämpfungsmittel zu stellenden Anforderungen m. E. noch nicht er-
4) Tunius, G. E., Über die Bindung des Kokereiammoniaks durch Gips. Das Gas- und Wasserfach, 1923, 67. Jg., H.8, 5.91 u. 92.
Von Prof. Dr. J. Wilhelmi. 87
. schöpft. Vielmehr muß das letzte Ziel das sein, wirksame, leicht an- wendbare und nicht zu teure Mittel verschiedener Zusammensetzung zu ermitteln, die es dem Landwirte ermöglichen, sein Mittel je nach der Beschaffenheit seines mit dem behandelten Miste zu düngen- den Bodens bzw. nach Art der Bebauung zu wählen, d.h. es müssen besondere Stoffe für kalkarmen oder sauren, kaliarmen oder be- sonders gearteten Boden bzw. für kalibedürftige usw. Pflanzen zu Ge- bote stehen.
Etwas weniger schwierig liegen die Verhältnisse bezüglich der Be- handlung der Abfallstoffe, insbesondere des Mülls. Gegenwärtig läßt es sich zwar nicht übersehen, ob die Müllbeseitigung mehr zum. (alten) Scherbelbergsystem bzw. zur landwirtschaftlichen Nutzung (Ödland- meliorierung usw.) oder zur Müllverbrennung bzw. technischen Müll- verwertung entwickeln wird. Bei landwirtschaftlicher Verwertung wer- den für Fliegenbekämpfungsmittel also ähnliche Gesichtspunkte, wie sie oben für Mist dargelegt wurden, Geltung haben. Dient die Müllstapelung lediglich der Auffüllung von Gelände, so stehen der Verwendung von Kalk keine Bedenken gegenüber. Auch kommen in diesem Falle Teeröl- produkte, die gleichzeitig geruchbindend wirken, in Betracht. Nach dieser Richtung angestellte Vorversuche (12) ergaben, daß Formaldehyd nicht ausreichend wirksam ist, daß jedoch Kremulsion (Nördlinger) eher wirksam war. Außer chemischen Mitteln kommen hier aber auch tech- nische Verfahren wie die Beerdigung des Mülls in Betracht, deren Wirk- samkeit und Bedingungen bereits genauer festgelegt werden konnten (12). Hier verdient aber auch das Massenauftreten von Fliegenarten, die sich nur in organischen Bestandteilen des Mülls, wie in Fleisch, Fett und Käse, entwickeln, Berücksichtigung; die erfolgreiche Anwendung einer Köder- methode konnte bereits gezeigt und praktisch erprobt werden (12). Aber nicht nur am Orte der endgültigen Stapelung (Abladung), sondern bereits bei der freilich möglichst kurz zu bemessenden häuslichen Stapelung des Mülls in den Müllkästen erscheint eine die Fliegenbrut vernichtende Be- handlung des Mülls geboten und insofern aussichtsreich, da ja die Müll- kästen geradezu Köderfallen darstellen.
Nächstes Ziel der Fliegenbrutbekämpfungsversuche wird sein müssen, weitere Stoffe auf ihre Eignung zur Bruttötung und sodann auf die Erfüllung der besonderen Bedingungen zu prüfen?).
Gegenüber der Fliegenbrutbekämpfung erscheint die lImaginal- bekämpfung für menschliche Wohnungen wohl etwas weniger wichtig. Die üblichen Fliegenpapiere haben mancherlei Nachteile und beseitigen, namentlich wenn sie an der Zimmerdecke angebracht werden, ganz vor- wiegend die dem Menschen weniger lästige kleine Stubenfliege Fannia (4). Hier dürfte aber die Verwendung des sehr wirksamen Formalins zu einem brauchbaren, selbsttätigen Verfahren ausgestaltet werden können. Auch über die Verwendung des elektrischen Staubsaugers!) zur Beseitigung von Fliegen, besonders in Stallungen soll demnächst berichtet werden.
1) Der folgende Aufsatz meines Mitarbeiters, Herrn Dr. Kunike, bringt bereits solche Versuche betreffend Metallsalze u. a. chemische Stoffe. |
88 Grundfragen zur Fliegenplage und ihrer Bekämpfung.
Wird es einmal erreicht sein, verschiedenartige brauchbare Mittel und Verfahren zur Fliegen- und Fliegenbrutbekämpfung sicherzustellen, so daß der städtische oder ländliche Viehhalter, der Hausbesitzer und die Stadtverwaltungen je ihren Bedürfnissen Entsprechendes zur Anwendung bringen können, dann wird auch der Zeitpunkt gekommen sein, mit dem durch gesetzliche Regelung die Verwendung nach eigener Wahl des Betreffenden zu brauchender Mittel vorgeschrieben und der Nachweis einer bestimmten Menge je nach Art der als Brut- stätten dienenden Abfallstoffe entsprechend der Kopfzahl der Viehhaltung bzw. der Müllmenge gefordert werden kann.
Ein gesetzlicher Zwang zur Fliegenbekämpfung (14) kann auch da, wo tatsächlich von Tiergärten, Müllhaufen und Stallungen her starke Fliegenbelästigungen ausgehen, zurzeit nicht ausgeübt werden, sondern es besteht,. zum wenigsten in Preußen, für den Geschädigten nur die Zuhilfenahme der Zivilklage. In Preußen ist die Polizei nach $ 10. Il. 17 des Allgemeinen Landrechts und Polizeigesetz vom 11. März 1850 nicht berechtigt, auf Grund eigener Vollmacht Verfügungen und Verordnungen zur Bekämpfung einer Stechfliegen- oder gar nur gewöhn- lichen Fliegenplage zu erlassen, da eine solche in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung bisher nicht als eine unmittelbare Gefahr für die menschliche Gesundheit anerkannt worden ist. Vom hygieni- schen Standpunkt aus kann diese Rechtsauffassung nicht an- erkannt werden. Eigenartigerweise ist der Stich der Biene im Gegensatz zu dem von Fliegen und Mücken als unmittelbare Gefahr für die mensch- liche Gesundheit anerkannt. Sofern sich nicht die Rechtsprechung — etwa auf Grund der Urteile von Sachverständigen — ändern wird, kann also der Zwang zur Fliegenbekämpfung nur durch ein neues Gesetz erreicht werden. Scharf zu trennen von der im vorstehenden erörterten unmittelbaren Gesundheitsgefährdung ist die durch die Möglichkeit der Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten durch Fliegen be- dingte Gesundheitsgefährdung des Menschen. Auch hier kann die Polizei nicht auf Grund ihrer allgemeinen Vollmachten einschreiten, son- dern nur auf Grund ihrer durch besondere Gesetze zur Bekämpfung über- tragbaren Krankheiten erschöpfend geregelten Befugnisse. Diese Gesetze sind das Reichsgesetz vom 30. Juni 1900 (R.B.G. 1. 1. S. 306) und das preußische Gesetz vom 28. August 1905 (G.S. S. 373). Gleiches gilt übri- gens auch bezüglich der Stechmücken!) und würde auch bezüglich der freilich in der einschlägigen Literatur nicht berücksichtigten Läuse gelten. Interessant ist, daß auch von juristischer Seite?) bezüglich der Läuse neuerdings gegen die bisherige Rechtsauffassung Stellung genommen worden ist.
Erfolgreiche Bekämpfung der Fliegenplage erscheint nur möglich, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage allgemein, und zwar zwangsweise zur Durchführung kommen wird. Voraus-
1) Wilhelmi und Jancke, Die Stechmückenplage und die Verwendung des Staubsaugers zu ihrer Bekämpfung.. Desinfektion 1926, H. 3/4 u. 5/6.
2) Delius (Kammergerichtsrat). Einschreiten gegen verlauste Schul- kinder. Preuß. Verwaltungsbl., 1924.
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setzung für die Berechtigung eines solchen gesetzlichen Zwanges ist die Schaffung von wirksamen Mitteln und Verfahren, die allen Anforderungen der Interessenten in wirtschaftlicher Hinsicht und den Ansprüchen der Allgemeinheit in hygienischer Hinsicht genügen und auch durch die Wahl- möglichkeiten die Härten des Zwanges mildern.
Übersicht über die bisherigen eiuschlägigen Untersuchungen des Verfassers.
1. Über Stomoxys calcitrans. Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde, Berlin 1917, Nr. 3, S. 179—195.
2. Zur Biologie der kleinen Stechfliege, Lyperosia irritans. L. Sitzungs- ber. d. Ges. nat. Freunde, Berlin 1917, Nr. 8, S. 510—516.
3. Übersicht über unsere Kenntnisse von Stomoxys calcitrans als Über- träger pathogener oder parasitischer Organismen. Hyg. Rundschau, 1917, H. 1% u. 15, S. 465—471, 501—508.
4. Die g?meine Stechfliege (Wadenstecher). Monographien z. ang. Entom., Nr. 2, P. Parey, Berlin, 1917, 110 Ss., 28 Abb.
5. Zur Biologie der kleinen Stubenfliege, Fannia canicularis L. Zeitschr. f. angew. Entom. 1919, Bd. 5, S. 261—266.
6. Versuche zur Bekämpfung der in Kot, Mist und anderen Abfallstoffen lebenden Muszidenbrut, insbesondere der gemeinen Stechfliege, mit Kalisalzen u. a. Chemikalien. I. Laboratoriumsversuche. Mitt. d. Landesanst. f. Wasser- hygiene. 1919, H. 25, S. 190—273, 27 Abb.
7. Zur Frage 'der Übertragung der Maul- und Klauenseuche durch stechende Insekten unter besonderer Berücksichtigung von Stomoxys calci- nn Verh. d. D. Ges. f. angew. Ent.; München (1918), erschienen 1919,
. 156—167.
8. Zur. Frage der Überwinterung der Musziden. Zeitschr. f. angew. Entom., 1920, Bd. 6, S. 296—302.
9. Die Bekämpfung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schädlinge, (Vortr. geh. a. d. Vers. D. Naturf. u. Ärzte in Nauheim 1920). Veröff. a. d. Ge- biete d. Med. Verwalt., R. Schötz, Berlin, 1921, H. 123, 34 Ss.
10. Die Überträgerfrage bei der infektiösen Anaemie der Pferde. B. Tier. Wochenschr., 1922, Jg. 38, Nr. 24, S. 277—280.
11. Zur Bekämpfung der Fliegenplage ‘auf Müllplätzen. Gesundheits- Ing., 1922, Jg. 45, H. 36, S. 42—464 (Vorl. Mitt.)
12. Müllbeseitigung und APPEN PIage: Veröff. a. d. Geb. d. Med. Verw., R. Schötz, Berlin 1922, H. 169, 33 Ss.
13. Biologische Bemerkungen zur Wohnungshygiene in Gartenstädten. Gesundh.- :Ing., 1922, 45. Jg. 1922, H. 52, S. 644—645.
14. Fliegenplage und Polizei. Preuss. Verwaltungsbl., 1923, Jg. 44, Nr. 42, S. 409—411
15. Die Stubenfliege und die Stechfliege (Musca domestica L. u. Stomoxys calcitrans L). Schädlingstafeln, herausgeg. v. d. D. Ges. f. ang. Entom., Dr. Schlüter u. Dr. Mass, Halle a. d. S., 1923.
Die Wirkung von Ammoniak, Ameisensäure, Ammonchlorid, Schwermetallsalzen und Mineralgiften auf Fliegenbrut in Rinderkot.!)
Von Dr. G. Kunike, Mitarbeiter an der Landesanstalt.
(Aus der preuß. Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, Biol.- Zool. Abteilung, Berlin-Dahlem.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 1. März 19826.) -
Die hier vorliegenden Untersuchungen verdanken der ausbauenden Tätigkeit der Preußischen Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Luft- hygiene, Berlin-Dahlem, und dem freundlichen Entgegenkommen und der Unterstützung der „Notgemeinschaft zur Förderung der Deutschen Wis- senschaft‘‘ ihr Entstehen. Sie wurden in der genannten Anstalt unter der Leitung von Prof. Dr. J. Wilhelmi ausgeführt und stellen gewissermaßen eine Fortsetzung seiner Arbeiten auf dem Gebiete der Fliegenbekämpfung in der staatlichen Forschungsanstalt auf Riems dar. Da in seinen Arbeiten (besonders „‚Versuche zur Bekämpfung der in Kot, Mist und anderen organischen Abfallstoffen befindlichen Muszidenbrut, insbesondere der gemeinen Stechfliege [Stomoxys calcitrans] mit Kalisalzen und anderen Chemikalien [,Mitteilungen aus der Landesanstalt für Wasserhygiene 1919, Heft 25]) alles Nähere über die vorkommenden Arten, ihre Lebens- weise, Larvenzucht usw. gesagt ist, erübrigt sich hier eine Wiederholung.
Über die Möglichkeit der biologischen Fliegenbekämpfung ist in der vorstehenden Abhandlung berichtet worden.
Die im folgenden dargelegten Untersuchungen stellen Vorversuche dar. Die von Wilhelmi angewandten Mittel waren außer dem Borax, welches wirksamere Eigenschaften hat, meist neutrale Salze, welche nicht imstande sind, andere Stoffe anzugreifen bzw. umzusetzen, sondern nur in stärkeren Konzentrationen physiologisch als Gifte wirken. Die Widerstandsfähig- keit der Fliegenlarven ist allgemein relativ groß; auch gegenüber Sauer- stoffmangel. Setzt man z. B. Larven etwa eine Minute lang unter einer Glasglocke unter Vakuum (3 mm Druck), so hören sie zwar auf, sich zu
1) 2. Beitrag zu „Untersuchungen über die Fliegenplage‘“ von J. Wil- helmi und G. Kunike.
Die Wirkung von Ammoniak usw. auf Fliegenbrut in Rinderkot. 9]
bewegen, leben aber bei Zuströmenlassen von frischer Luft weiter, ohne Schaden genommen zu haben. Zu den hier vorliegenden Versuchen wurden daher aktivere Reagenzien herangezogen, und zwar Ammoniak, Ameisen- säure, Schwertmetallsalze und Mineralgifte (Barium, Arsen).
Die Versuche fanden im September und Oktober des Jahres 1925 in den Arbeitsräumen der biol.-zool. Abteilung der Landeanstalt, und zwar bei gewöhnlicher Zimmertemperatur statt. Benutzt wurden Petrischalen von etwa 9cm Durchmesser und 11, vm Höhe. Sie wurden mit je 10g frischem, gut feuchtem Rinderkot versehen, gut verschlossen und mit einem Pappdeckel bedeckt, um den Zutritt von direktem Licht zu ver- meiden. Die Chemikalien wurden stets in völliger Lösung zugesetzt und gut durchgemischt. An Larven wurden nur solche von Musca domestica verwandt, und zwar meist ältere, da diese widerstandsfähiger als jüngere sind.
A. Versuche mit Ammoniak und Ameisensäure.
Ammoniak stellt eine starke Base dar, welche Eiweißstoffe sehr energisch angreift. Eine Beeinträchtigung der Dungstoffe ist nicht zu befürchten, da der Dung selbst Ammoniak enthält und das zur Verwendung kommende Ammoniak sehr stark flüchtig ist.
Ameisensäure ist eine starke organische Säure, allerdings schwach im Verhältnis zu den Mineralsäuren. Sie zeichnet sich durch leichte Oxy- dierbarkeit aus, wobei Kohlendioxyd und Wasser entstehen. Ihre Salze (Formiate) sind fast alle wasserlöslich. Physiologisch wirkt die Ameisen- säure stark zersetzend, sie ist das einzige, bekannte Lösungsmittel für Chitin, greift aber die pflanzliche Zellulose in keiner Weise an. Ihre Abbau- produkte würden der Pflanze kaum schädliche Stoffe zuführen. Auch ist sie relativ flüchtig.
Um die Fliegenbrut mit Erfolg zu bekämpfen, muß man die Reagenzien möglichst stark anwenden. Bei schwächeren Konzentrationen liegt die Gefahr nahe, daß die Larven vorzeitig abwandern und so die Wirkung der Bekämpfungsmittel in Frage stellen. Zu empfehlen wäre also die Ver- wendung von technischem Ammoniak (ca. 25%) und technischer Ameisen- säure (ca. 85%). Letztere würde sich mit dem Ammoniak des Dunges zu wasserlöslichem Ammonformiat verbinden. Eine Gefährdung von Haus- tieren ist wegen des scharfen Warngeruches der Reagenzien nicht zu be- fürchten.
Ihre Wirkung ergibt sich aus den nachfolgenden Tabellen.
Zu der Mischung von Rinderkot mit den angegebenen Mengen der Chemikalien wurden stets je 10 kräftige Fliegenlarven dazugesetzt. ft be- deutet tot, vp. verpuppt. Zugleich wurden als Kontrolle die gleichen Ver- suche ohne chemische Zusätze angesetzt. Bei diesen ergab sich regelmäßig die normale Verpuppung sämtlicher Larven.
Technisches Ammoniak 25proz. 1. 10g Rinderkot, 2 cem NH, ca. 20 proz., 10 Larven, Tage: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 10 t.
92 Die Wirkung von Ammoniak usw. auf Fliegenbrut in Rinderkot.
2. 10 g Rinderkot, 2 cem NH, ca. 10proz., 10 Larven, Tage: 1, , 3, 4 5 6 7, 8 910, = ie ON 3. 10g Rinderkot, 2 ccm NH, ca. 5proz., 10 Larven, Tage: 1, 2, 3, 4 5, 6, 7,89, 10, —, 11%, —, —, 9vp. (1 norm. Gr.).
Technische Ameisensäure 85proz. 4. 10g Rinderkot, 2ccm H (COOH) ca. 40 proz., 10 Larven, Tage: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 9, 10, 10%. 5. 10g Rinderkot, 2 ccm H(COOH) ca. 20proz., 10 Larven, Tage: 4, 2, 3, 4' 5,6,7,8, 9, 10, y3 tT 1t, 2 vp. 6. 10g Rinderkot, 2 cem H (COOH) ca. 10proz., 10 Larven, Tage: 1, , 3, 4. 5, 6 77,8, 9, 10, —, —, 2 tł, —, 2 vp., —, 6 vp.
B. Versuche mit Kupfersullat, Bleinitrat, Bariumchlorid und Natrium- arseniat.
Mit Rücksicht auf die große Widerstandsfähigkeit der Fliegenlarven wurden einige Versuche mit Stoffen angestellt, welche effektive Gifte darstellen, wenn sie auch in höheren Konzentrationen praktisch weniger in Frage kommen, da sie immerhin imstande sind, Menschen oder Tiere direkt oder indirekt zu gefährden. Wenn auch die alleinige Ver wendung eines stark giftigen Stoffes praktisch nicht in Betracht kommen wird, so ist die Prüfung] solcher Giftstoffe doch bezüglich ihrer Verwendung als in geringen Mengen wirksame Zusatzstoffe von Wert. Es wurden die Schwermetallsalze Kupfersulfat und Bleinitrat und die starken Mineralgifte Bariumchlorid und Natriumarseniat verwandt. Der Zusatz von 1 g Kupfersulfat bewirkte das Absterben von 10 Larven inner- halb von 6 Tagen, während 1 g Bleinitrat bzw. Bariumchlorid in 10 g Nahrungsbrei die Larven in 4 bzw. 2 Tagen zum Absterben brachten. Natriumarseniat, im Verhältnis 1:10 ‚angewandt, vernichtete alle 10 Lar- ven in 24 Stunden.
Anschließend folgen die genaueren Daten an Hand der Tabellen: 7. 10g Rinderkot, 1g Kupfersulfat, 10 Larven, Tage: 14, 2, 3, 45 6 7,8, 9, 10, 37 15 521,2521 8. 10 g Rinderkot, 1g Bleinitrat, 10 Larven, Tag: 1, 23, 345,6, 7,8 9, 10, 3 t; > f, — 3 2 T- 9. 10g Rinderkot, 1g Bariumchlorid, 10 Larven, Tage: 1, 2,3, 4,5, 6, 7,8 9, 10, 67, 4
Von Dr. G. Kunike. 93
10. 10 g Rinderkot, 1 g Natriumarseniat, 10 Larven, Tage: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 10 7. |
C. Versuche mit Ammoniumehlorid.
Zum Schluß seien noch die Versuche mit Ammoniumchlorid erwähnt. Es ist ein neutrales Salz, welches durch seinen Stickstoffgehalt die Düngewirkung erhöhen würde. Es zeigt trotz seines für uns äußerst, scharfen Geschmackes bei den Versuchen kein eindeutiges Ergebnis. Bei Zusatz von 1g zu 10g Rinderkot war nach 24 Stunden schon 6 von 10 Larven getötet, dagegen lebten am 6. Tage noch 3 und am 9. Tage noch eine, die erst am 10. Tage tot war. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Larven beim Einsetzen in die Vegsuchsgläser schon ziemlich verpup- pungsreif, also nicht mehr nahrungsaufnahmebedürftig waren und sich vielfach nicht in dem Nahrungsbrei sondern an Wänden und Decke der Petrischale aufhielten. Ob es chemische Einflüsse sind, welche die Ver- puppung der Larven verzögern, oder der Widerwillen, sich in feuchtem Medium zu verpuppen, kann ohne weiteres nicht entschieden werden. Sicher ist aber, daß sich die Larven selbst unter Überwindung der größten Schwierigkeiten stets trockene Stellen zum Verpuppen aussuchen.
Wir sehen also, daß wir im Ammoniak und in der Ameisensäure Mittel finden, die unter Umständen geeignet sein können, zur Bekämpfung der Fliegenplage verwendet zu werden. Wieweit sie im einzelnen auf dem Dung bzw. auf die Pflanzenentwicklung einwirken, wird der Gegenstand späterer Untersuchungen sein; ebenso die Frage, ob bereits von Wilhelmi (s. o.) geprüfte Stoffe wie Kalkhydrat, Endlaugenkalk, Kali-Einzel- oder -Mischsalze usw. in geringerer Konzentration, aber mit bestimmten Zu- sätzen versehen, sich gleichfalls als wirksam erweisen bzw. die Dünge- wirkung noch erhöhen.
Bioskopische Beduktionsmethoden.
Bemerkungen zu den gleichnamigen Mitteilungen von 0. Kirchner.
Von Werner Lipschitz.
(Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Frankfurt a. M. Direktor: Professor Dr. Lipschitz.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 11. Mai 1926.)
In zwei Abhandlungen beschäftigt sich O. Kirchner!) mit biosko- pischen Reduktionsmethoden und findet den Chemismus der Dinitro- benzolreduktion so kompliziert, daß die mit dieser Methode gewonnenen Resultate nicht beweisend seien.
Zu diesem Ergebnis kommt Kirchner im wesentlichen durch Ver- wendung nicht des Dinitrobenzols, sondern des Nitroanthrachinon (Bieling) — der ‚„bequemeren Handhabung“ halber — und Heran- ziehung einer Mitteilung von Waterman und Kalff?), deren Wert be- reits gekennzeichnet wurde), und einer von Neuberg und Rein- furth?), die sich ausschließlich mit durch lebhaft gärende Hefe lang- fristig bewirkten Umsetzungen beschäftigten.
Das Wesentliche ist Kirchner trotz seines Literaturstudiums ent- gangen, daß nämlich Lipschitz und Osterroth?°) als reduzierbare Sub- stanz neuerdings das fast stets im m-Dinitrobenzol enthaltene o-Dinitro- benzol feststellten und die farblose erste Reduktionsstufe, o-Nitronitroso- benzol noch sehr rasch biologisch reduzierbar, also praktisch verwendbar fanden. Übersehen hat Kirchner ferner die aus dieser Arbeit wie einer weiteren von Lipschitz und Meyer®) von dem Autor selbst gezogene Folgerung, daß die Verwendbarkeit der Methode auf vergleichend- quantitative Studien beschränkt ist, da o-Nitrophenylhydroxylamin bis- her noch nicht rein dargestellt wurde, — und daß der Dehydrierungs- quotient von Nitrokörpern wie Methylenblau bei Verwendung von
1) O. Kirchner, 1., Arch. Hyg. 95, 280; II., 96, 195 (1925).
2) Waterman u. Kalff. Bioch. Z. 185, 174 (1923).
3) W. Lipschitz, Bioch. Z. 188, 274 (1923).
4) C. Neuberg u. E. Reinfurth, Bioch. Z. 138, 561 (1923).
5) Lipschitz u. J. Osterroth, Prlüg. A. 205, 354 (1924).
6) Lipschitz u. P. Meyer, Pflüg. A. 205, 366 (192%).
Bioskopische Reduktiensmethoden. 95
atmender Froschmuskulatur normal, d. h. ca. = i gefunden wurde. Un- beachtet ließ Kirchner schließlich, daß auch schon Lipschitz und Osterroth (l. cit.) die Inkongruenz der Farbe von kristallisiertem Aminoanthrachinon (gelbrot) und biologisch entstandener 'Reduktions- lösung (karminrot) fanden und auf Sekundärreaktionen bezogen.
Auf die theoretisierenden Ausführungen von Kirchner einzugehen, dürfte sich erübrigen.
Was die Nitroreduktionsmethode gerade bei Stoffwechselversuchen an Bakterien, deren Gaswechsel meistens so kompliziert ist, daß die Barcroftsche Druckdifferenzmethode versagt, zu leisten imstande ist, geht aus den bisherigen experimentellen Befunden hervor, von denen erwähnt sei: Die weitgehende Übereinstimmung der Abnahme der Keim- zahl mit der Atmungsverminderung in Bakterienkulturen unter Einwir- kung von Antisepticis, die unverminderte Redüktionsgröße in Auf- schwemmungen von nur gehemmten Bakterien, die therapeutischen Quotienten der Chininderivate, die den mittels anderer Methoden ge- wonnenen Erfahrungen entsprechen (Lipschitz u. Freund!}), Bieling?), Lipschitz’).
Auch Kirchner selbst scheint schließlich der Nitroreduktions- methode wenigstens in Kombination mit der Methylenblaumethode einen gewissen Wert zugestehen zu müssen, was für spätere Untersucher von Bedeutung ist. _
4) Lipschitz u. H. Freund. Arch. exp. Path. u. Pharm. 99, 226 (1923) 2) R. Bieling, Ztschr. Hyg. 100, 270 (1923). 3) Lipschitz, Zentralbl. f. Bakt. I. Abt. Orig. 90, 570 (1923).
Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen durch prophylaktische Anwendung von Toxin-Antitoxin- Gemischen.!) |
Auf Grund der gemeinsam mit Dr. Karl Bauer, Dr. Ing. Franz Noziczka und Emma Wödl ausgeführten Untersuchungen mitgeteilt durch Dr. Roland Graßberger.
(Aus dem Hygienischen Institut der Universität Wien.) (Bei der Redaktion eingegangen am 4. März 1926.)
Im Jahre 1924 ereigneten sich in Österreich in einem Säuglingsheim eine Anzahl von Todesfällen nach der Behandlung der Kinder mit Löwen- stein-Bussonschem Impfstoff. Das hygienische Universitätsinstitut bzw. der Vorstand desselben war vom Gericht im Dezember 1924 als Sach- verständiger behufs Aufklärung des Zusammenhanges herangezogen wor- den, und hat in dieser Angelegenheit, die begreiflicherweise Aufsehen und Beunruhigung erregte, mit seinen im Titel genannten Schülern und Mit- arbeitern umfangreiche Untersuchungen und Experimente vorgenommen.
Gegenstand unserer nachfolgenden Mitteilung ist nicht die gerichtliche Seite der Frage, sondern ausschließlich das wissenschaftliche Ergebnis der Untersuchung. Dieses den Fachkreisen vorzulegen, erachtet das hygienische Institut bei der großen Wichtigkeit der im Zusammenhang mit diesem Vorfall lebhaft erörterten Frage: Unter welchen Umständen wird aus Toxin-Antitoxingemischen Toxin frei? für alle Institute und Ärzte, die sich mit der Herstellung, dem Vertrieb und der Anwendung der gleichartigen oder analog zusammengesetzten Gemische befassen, als selbstverständliche Pflicht. Wir haben in unserer Darstellung die Namen aller beteiligten Per- sonen und Institute weggelassen und durch nach. dem Alphabet gewählte Buchstaben ersetzt. Es ist aber unerläßlich, etwas Ausführliches über den Hergang des Unglücks zu berichten wegen der großen Zahl von Haupt- und Nebenumständen, die dabei ins Spiel gekommen sind.
4) Die Tabellen, in denen die Ergebnisse der nachstehenden Untersuchungen im einzelnen nachgewiesen sind, mußten wegen der hohen Druckkosten weg- gelassen werden. Fachgenossen können in sie bei Herrn Graßberger in Wien oder bei dem Unterzeichneten Einsicht nehmen. M.Gruber.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 7
98 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
I. Die Diphtheriegift-Erkrankungen im Säuglingsheim der Stadt B.
Das Land A hat in der Stadt B ein im Januar 1923 eröffnetes Säuglings- heim, das für 100 Säuglinge, 20 Kleinkinder und 18 bis 20 stillende Mütter Platz bietet.
Am 8. September 1924 starb ein 31% Monate alter Anstaltspflegling an Diphtherie. Am gleichen Tage erkrankte ein 101, Monate altes Kind der Anstalt an Rachen- und Kehlkopfdiphtherie und starb trotz der Behand- lung mit Heilserum (30000 Antitoxin-Einheiten) am 11. September.
Der Leiter der Anstalt, der sowohl wissenschaftlich als praktisch gut ausgebildete Dr. C, veranlaßte, daß am 9. September 18 Kinder jenes Zimmers, in welchem sich die Diphtheriefälle ereignet hatten, passiv immu- nisiert wurden. Jedes erhielt am 9. September eine 500 Antitoxin-Einheiten enthaltende Diphtherieserummenge subkutan injiziert.
Am 10. September wurden sämtliche in der Anstalt untergebrachten Kinder mit dem von Professor Dr. Bela Schick und Michiels im Jahre 1912 angegebenen Verfahren auf die Empfänglichkeit für Diphtherie geprüft. Dieses Verfahren besteht bekanntlich darin, daß jedem Kind ein sehr ge- - ringer Bruchteil der für ein Meerschweinchen minimal tödlichen Dose von Diphtheriegift intrakutan injiziert wird, und sodann auf Grund der auf- tretenden Erscheinungen entschieden wird, ob das Individuum für die natür- liche Diphtherieinfektion empfänglich ist oder nicht.
Aus der Tabelle I ist zu entnehmen, welche Kinder positive Schick- reaktion zeigten.
Zur weiteren prophyl. Behandlung der diphtheriegefährdeten Kinder der Anstalt wurde am 12. September eine Schachtel mit 50 Ampullen des Löwenstein-Bussonschen Impfstoffe aus dem Institute G in W. beschafft. Jedes einzelne von 34 Kindern erhielt den Inhalt (1,0 cm?) einer Ampulle am Bauche subkutan injiziert.
Jede Injektion dauerte ca. eine halbe Minute. Fast bei jeder Injektion gingen einige Tropfen verloren. Aus der Haut soll kein Inhalt mehr zu- rückgeflossen sein.
In der Nacht auf den 13. September und am 13. September selbst waren alle injizierten Kinder unruhig. Am 14. September nachmittags und abends traten nach Angabe des Sekundararztes der Anstalt, Dr. D, die ersten Reak- tionen in Form von Anschwellungen in der Umgebung der Injektionsstelle (Infiltrationen) auf. Dr. D verständigte hievon den Dr. C. Der fernere Verlauf der Erscheinungen ist in der Tabelle I kurz angegeben. Es wurde dann aus einer Apotheke in B auf den von Dozent Dr. T in Wien eingeholten Rat, sofort Diphtherieheilserum anzuwenden, solches beschafft und den in der Tabelle I ersichtlich gemachten Kindern am 15. September je 3 bis 31, cm? entsprechend 2000 Antitoxin-Einheiten subkutan injiziert. Ein Teil dieser Kinder erhielt an einem späteren Tage noch eine 2. Injektion von je 2000 Antitoxin-Einheiten.
Trotzdem traten bei etwa 16 Kindern schwere allgemeine und Lokal- erscheinungen auf. Die Schwellung und Rötung breitete sieh in den näch- sten Tagen von der Injektionsstelle zum Teil bis in die Leisten- und Achsel- gegend aus, es kam zum Auftreten von Blasen auf der Hautoberfläche und
Von Dr. Roland Graßberger. 99
‚Nekrosen der Haut. Sieben von den injizierten Kindern starben. Aus den Obduktionsbefunden, die sehr kurz gehalten sind, läßt sich doch mit Sicherheit entnehmen, daß der Tod bei den Kindern (Ordnungsnummern der Tabelle I: Nr. 4, 7, 11, 22, 29, 30) im wesentlichen durch die Wirkung. von Diphtheriegift bedingt war. Der charakteristische Befund der Neben- nieren findet sich bei allen Fällen verzeichnet. Bei den übrigen im Gefolge der Injektion erkrankten Anstaltspfleglingen gingen die Hauterscheinungen schon am Ablauf der ersten Woche zurück, und nahm das Körpergewicht wieder zu.
Auf Grund der vorstehenden Befunde ist nicht zu bezwei- feln, daß die im Gefolge der Behandlung mit dem Ampullen- inhalt auftretenden Erkrankungen und Todesfälle durch den Gehalt dieser Ampullen an freiem Diphtheriegift bedingt waren.
II. Läßt sich aus dem Verlauf der Erkrankungen und den Todes- . fällen der Gehalt des Ampulleninhaltes an wirksamem Diptheriegift annähernd schätzen?
Aus der Tabelle I ist zu entnehmen, daß jene 34 Kinder, welche Am pulleninhalt injiziert bekommen hatten, sich sehr verschieden verhielten. Die Kinder Nr. 2, 3, 15, 21, 27, 31 zeigten keine Reaktion (erste Gruppe).
Die Kinder Nr. 1, 6, 8, 10, 12, 14, 16, 17, 18, 23, 24 wiesen nur leichte Reaktionen auf (zweite Gruppe).
Die Kinder Nr. 5, 9, 13, 19, 20, 25, 26, 28, 33, 34 zeigten schwere Reaktionen (dritte Gruppe).
Die Kinder Nr. 4, 7, 11, 22, 29, 30, 32 starben (vierte Gruppe).
Das verschiedene Verhalten dieser 4 Gruppen von Kindern ist durch folgende Besonderheiten zu erklären:
1. Die Kinder der ersten Gruppe, mit Ausnahme von Nr. 2 und 31, und sämtliche Kinder der zweiten Gruppe waren am 9. September mit 500 Antitoxin-Einheiten behandelt worden. Die mit Antitoxin 3 Tage vor der Injektion des Ampulleninhaltes behandelten Kinder waren daher gegen die Giftwirkung weitgehend geschützt. Nur in dem Falle Nr. 19 entwickelte sich bei einem mit 500 Antitoxin-Einheiten vorbehandelten Kind eine Nekrose.
2. Unverkennbar läßt sich bei den nicht mit 500 Antitoxin-Einheiten vorbehandelten Kindern der Einfluß des verschiedenen Alters bzw. Körper- gewichtes erkennen.
Aus der Tabelle I ist zu entnehmen, wieviel Kubikzöntimeter der zur Herstellung des Ampulleninhaltes verwendeten und hiebei 10fach ver- dünnten Originalflüssigkeit pro 250 g Körpergewicht!) des betreffenden Kindes injiziert worden sind — unter der Voraussetzung, daß bei der In- jektion von dem 1 cm? betragenden Inhalt der Amuplle nichts verloren ging. Die Kinder sind nach dem Körpergewichte geordnet und in der letzten Vertikalkolonne sind die pro 250 g Körpergewicht berechneten Mengen der
4) Bei Bei der Wahl dieser Einheit ist allerdings zu beachten, daß der Vergleich auf Grund dieser von den Meerschweinversuchen hergenommenen Basis nur be- dingt statthaft ist.
m 7 *
400 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
Tabelle I. Übersicht über den Krankheitsverlauf und die Obduktionsbefunde bei den mit Ordn.-Nr. Alter und önstilaticn Vorbehandlung Befund nach und Name Gewicht 1 Tag 2 Tagen
1. N. G. 1118 Tage 2030 g Geburts-
Frühgeburt 19.1X. 500 A.E.| Umgebung d. | Keine Reak- sehr schwach [10. IX. Inj.-Stelle tion, Rötung
meningeale |Schick + gerötet ge-
Symptome schwunden
2. I.G. 102 Tage offenbar 2740 8 schwächlich 3. B.H. 43 Tage | mäßig kräftig, 2900 g |manifeste Lues
4. H.S. 50 Tage schwach 2920 g
Frühgeburt m. | Schick + 5. A.N. 49 Tage offenbar 11. IX. Inj.-Stelle blau-| Temp. 37,5 3150 g schwächlich į Schick —? rot infiltriert
8 Monaten 9. . 6. H. Schr.| 89 Tage | Lues 3280 g zu 500 A.E
k
Keine Reaktion | Temp. 36,8 Temp. 37,6
Keine Reaktion Keine Reaktion
Haut blaurot | Temp. 37,6 infiltr. Umgeb. gerötet
10. IX. Schick +
9. IX. Schick — 9. 1X.500 A.E.
Inj.-Stelle leicht gerötet u. geschwollen
Haut blaurot | Temp. 36,8 infiltr. Umgeb. gerötet Temp. 36,8
sı t Q
Schick +
BP 9. 1X. 500 A.E.| Haut leicht Keine 8. R.B. A kräftig Schick F gerötet Reaktion 8 Temp. 37,4 Temp. 37,3
9. [X. Schick +
Haut blaurot infiltriert |
9. H. Scho. age | mäßig kräftig
|
40. R. H. 39 Tage fraglich 9, IX. 500 A.E. | Leichtes Ödem,! Keine 3620 g i Sehick — Rötg. Temp.36,6i Reaktion
11. K. M. 30 Tage kräftig! 10. IX. Temp. 37,5 3700 g „ikterisch !“ Schick +
Umgeb. d. In).-
Stelle blaurot | infiltriert Temp. 36,5
t |
9. IX. 500 A.E.|1n).-Stelke gero-
12.5.1. aD schwächlich Temp. 37,0
3750 g Schick — tet Temp. 36,9 13. E.R. 62 Tage schwächlich 9. IX. an der Inj.- | Temp. 37,4 3850 g Schick — Stelle Haut |
blaurot |
Von Dr. Roland Graßberger. ..- ` Tabelle I. |
101
Ampulleninhalt am 12. 1X. 1924 injizierten Kindern. des Säi :elingeheins in B...
der Injektion : Ausgang 3 Tagen 4 Tagen 5 Tagen weiterhin
lassen 15. XI. 24
entlassen
entlassen 19. I. 1925
. ag Blutung im Lokalersch.
zentralen gehen zurück Hautherd dem am
Rücken
Nekrose 36,6 deutliche | hellerstück- Demarka- große tion 37,6 Nekrose
Temp. 36,9
2000 A.E. Aus-| Weitere Aus- breitung der breitung der Schwellung Bläschen und
Bläschenbildg. |Hautrötung 37,0
2000 A.E. Ent- zündung schiebt sich gegen den Nabel vor. 36,6
7. Tag Ne- bennieren blutig infiltr.
entlassen 14. II. 1925
entlassen 2. X. 1924
00 A.E. R Schwellung u. [f b früh Kollaps tot 4 am Rötung bis zum | 11 P Kollaps g 2 h Kollaps
Schwertfort-
keine deutliche Veränderung Demar- | kation
2- H =
900 A.E. Rö- | Ausbreitung d. | weitere Aus-
Entzündl. ver- änderte Stelle induriert 37,2
tung u. Schwel- | Lokalerscheing. |br. d. zentr. ta” lung reicht bis | bis axilla, i. d. | Schwellung Nebennieren
Mons vener. u. | Leisten Blasen- | etwas achol blutig Brustwarzen bildung 37,0 | Stuhl 35, 8! infiltriert
entlassen
2000 A.E. |Entzündl. Ver- entzündl. | 37,0 |6. III, noch Temp. 37,4 änderungen im | Voränd. inder Anstalt
Bereiche des vs Nabels stationär Rückbildg |
’
Berechn. Dose des Orig.-Gitt
pro 250 g
Körpergewicht 0,00893 ?
0,0091 0,00862
0,00856
0,00794
0,00762
0,00735
0,00731
0,00694
0,0069
0,00676
0,0066
0,00649
102 ; -Zur Frage.der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
HL na $ Tabelle I. (Fortsetzung)
a ea men,
Ordn.-Nr. È Alter und i
l E R Befund nach und Name Gewicht Konstitution Vorbehandlung
1 Tag 2 Tagen
14. H. W. |100 Tage relativ gut |9. IX. 500 A.E.| Haut gerötet |Keine Reakt. 4050 g entwickelt Schick — Temp. 36,5 | Temp. 36,8
15. 1. M. 135 Tage | schwächlich 19.1X. 500 A.E. | Keine Reaktion| 2000 A.E. 4280 g Schick + Temp. 37,1 | Temp. 36,8 y 16. Th. L. | 15% Tage ? 9.1X. 500 A.E.| , „P3 -Stele ame l . leicht gerötet | Reaktion .. Dr PUR TE und ge ; Bere In).-Stelle leicht 17. 1. F. oe Fhachitisch Schick + A.E. gerötet und ge- schwellt 36,5 ?
. 36,8 Temp. 36,4 18. M. Sch.| 191 Tage 9. 1X. 500 A.E. | Fe 7 ıh; a nee SCHERE Temp. 37,3 | aut etwas gerötet und infiltriert 37,5
Haut bläulich- | Temp. 37,6 rot, geschwellt | 37,6 |
Temp. 36,4
19. 9. IX. 500 A.E.
Schick +
schwächlich Temp. 37,3
9. IX. Schick +
mäßig kräftig
| iq 8. IA. 500 A.E.| Keine Reaktion | m, ee 1190 g i Schick 37,9 mp0 22, F. Pi gut genährt | 10. IX. Inj.-Stelle _ Temp. 37,5 Schick + bläulichrot
hart infiltr. |
= Er Vase ae ii ; Haut über d. | Keine 23. LW. mae gut entwickelt ae A.E. Inj.-Stelle , Reaktion g Sn ödem., gerötet | Temp. 37,0 Es Haut über der Keine 24. M. F. 145 Tage kräftig, 9. IX. 500 A.E. . . 6300 g ziemlich fett [Schick + I B es 25. 1.B 121 Tage | mäßig kräftig Inj.-Stelle leicht) Rötung
6320 g rot bläulich hält an
verfärbt 37,7 | Temp. 37,5
Rötung u. harte! Temp. 37,0 Schwellung | 5-Kronenstück groß
26. L.R. 195 Tage 6400 g
9. IX.
mäßig kräftig Schick +
G.H. | 206 Tage | mäßig kräftig |9. IX. 500 A.E. [Haut zeigt keine Temp. 37,0
6520 g Schick + en
to `l
der Injektion
3 Tagen
Temp. 36,8
|
Von Dr. Roland
Tabelle I. (Fortsetzung)
4 Tagen 5 Tagen
Graßberger.
103
weiterhin
Temp. 37,0 36,8 | | | | Temp. 36,8 | 37,2 37,0 32:5 3 ; | ng Temp. 36,5 36,9 36,6 | 36,6 Temp. 36,5 36,4 >58 19. IX. keine Reaktion 5 5 19. IX. ` om fl | FE d Temp. 37,0 37,4 | 37,4 EA A Nekrose!! Temp. 37,8 |, RE SE 2000 A.E. Ze en 37,6 Schwellung a ° | a ee > 37,8 nicht wes. ver- | größert | Temp. 37,3 | 373 N Temp. 37,5 | weiteres Fort- | 2000 A.E.!!| Entzündl. 2000 A.E. | schreiten, abends | Er- Schwellung Blasen, bis Kollaps, |scheinungen reicht bis kronenstück- | vermehrte (gehen zurück Leistengegend, groß 37.3 | Blasenbil- | 18. IX. 37,8 Bläschen ı dung. 37,5 | Temp. 36,9 37,3 37,0 Temp. 36,8 36,7 37,2
Temp. 37,5
.. 2000 A.E. Odem, Rötung u. Schwellung
etwas zugenom-
men. Temp. 37,0
Temp. 37,0
36,8
deutliche Demarka- tion 37,0
ER: EX.: Demar- kation
- | Berechn. Dose des Orig.-Gift
Ausgang pro 250 g Körpergewicht entlassen 0,0062 7. X. 1924 entlassen 26. XI. 1924.| 000554 17. X]. pos. Rachen- ausstrich entlassen 0,0054 26. XI. 1924 i. d. Anstalt entlassen 0,00512 22. X1: 1924 entlassen 0,00505 =: X 11. 1924 entlassen 0,00502 17:%11.1924 entlassen 5 i7. KII: 1992] 028 9, Tage Ne. | 0,00450% bennieren
stark durch- blutet, Thy- mus reicht bis weit über das Herz
entlassen 0,00442
0,00397
entlassen TE Ma TRY
0,00396
entlassen 12.1: 1925
0,00390
entlassen L PD A ERA ES SA
28.
29.
30.
104 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
I. O. 184 Tage | 6900 g
starke Schwel- | Schwellung
A. B. sehr mager 10. IX. ` Idiotie ? Schick + lungüberd.Inj.-| u. Rötung (dieses Kind Stelle, Rötung |sich ausbreit. erh. am 8. III. | Temp. 38,4 Temp. 37,5 1924 eine Inj. v. 4500 A.E.) O. B.
schwächlich | 10. IX. starte öcnwe | Rötung Schick + tötg. ü. d. breitet sich Inj.-Stelle, aus 36.8 zentral blau i 3 rot. 36,5
31. L. Sch. Sep ? 9.1X.+ [keine Reaktion 13 T $ 8050 g uns 32. M.F. I 1 Jahr u.| schwächlich | 10. IX. Rötung der ? 309 Tage Schick + Inj.-Stelle 8350 g bläulich im Zentrum 39,0 33. F.E. ? 10. IX. Injektionsstelle Schick + blaurot 34. F. K. |2 Jahre u. 9. IX. Schwellung 105 Tage Schick + u. Rötung d. 14200 g Inj.-Stelle 38,0
Originalflüssigkeit abzulesen. Die Werte sinken von Nr. 1—34. Ein Blick auf die Tabelle zeigt, daß „Frühtod‘ innerhalb der ersten Woche nur bei den niederen ÖOrdnungsnummern zu finden ist, während „Spättod“ nur bei den höheren Ordnungsnummern vorkommt. 3. Zweifellos spielen auch im vorliegenden Falle die persönlichen Verhältnisse der injizierten Kinder eine mitbestimmende Rolle, wobei die durch Erbanlagen und Umwelteinflüsse bedingte Konstitution, die durch vorausgegangene und bestehende anderweitige Erkrankungen beeinflußte Empfindlichkeit gegen das Diphtheriegift zu berücksichtigen sind. Nach der Bestimmung der Anstalt sind es ja vielfach abnorme oder kränkliche Kinder, die Aufnahme finden. (Vgl. die Vertikalkolonne 3 und 11 der Tabelle I.) So sind, wie aus der Tabelle I zu entnehmen, die Spättodfälle
Von Dr. Roland Graßberger.
Tabelle I. (Fortsetzung)
105
der Injektion
3 Tagen 4 Tagen 2000 A.E. Tal Entzündliche | Nekrose 37,3 Veränderung stationär 37,6 | 2000 A.E. Blasenbildung Blasenbildung nimmt zu.
im Zentrum 36,8 | Schwellung bis in d. axilla
Blasenbildung
2000 A.E.
n er vermehrt,
LINE | Rötung bis ! Leistengegend, Erbrechen 36,0 2000 A.E. Blasenbildung Blasenbildung | blaurote Ver- 36,8 färbung, Odem
bis axilla 38,2 |
2000 A.E. entzündl. Ver- ändg. nicht aus- gedehnt zentral
nekrot. 5. | stark ab (!)
Schwellung induriert, geht eher zurück. Zentral leicht | blau verfärbt
2000 A.E.
| > Tagen
Blasen- bildung nimmt zu
Inf. ind. Lende vor- gerückt 37,9
lauptherd lin Demarka-
d. Lymph- netze
‚2000 A.E.!!
|
tion. Rötg. |
weiterhin
| Herd deut!. abgegrenzt, keine bedeu- Itend. Rötung
nach 6 Tagen Blasenbil- dung zu- nehmend, im Epigast. Rückg.
Rötung u.
, Schwellung
blaßt ab. 38,1
Rötung u. Schwellung nimmt am 18: 1X. ZU: 1000 A.E.!!
if
Ausgang
tot -am 12. Tag Neben- nieren stark durchblutet, rechte ver- größert, Thy- mus reicht bis ü. d. Mitte des Herzens tot am 17. Tag Neben- nieren groß mit Blut refüllt
entlassen 16. X. 1924
tot am 41. Tag Pachy- meningitis Hydroceph. int. Pleuritis acuta
entlassen 23,X11:1924
Berechn. Dose des Orig.-Gift pro 250 g Körpergewicht
0,00362
0,00333
0,0033
0,00310
0,0030
0,00176
der schwereren Kinder Nr. 22 und 29 durch abnorm große Thymus gekenn- zeichnet, das Kind Nr. 30 war „schwächlich‘‘, das Kind Nr. 32 ebenso. 4. Aus den Mitteilungen der Anstaltsärzte ergibt sich, daß kleine Ver- luste von Ampulleninhalt bei der Injektion nicht zu vermeiden waren, so daß auch hiedurch der Analyse des Falles unzugängliche Verschiedenheiten im Verlaufe bedingt sein konnten. Für die Fälle Ordnungsnummer 2 und 31 der Tabelle I kann mit größter Wahrscheinlichkeit behauptet werden,
daß der Inhalt der Ampullen völlig ungiftig war.
Es ıst nicht
ausgeschlossen, daß auch unter den mit 500 Antitoxin-Einheiten vor- einige mit „ungiftigem" Am-
behandelten Kindern der
Gruppe 1
pulleninhalt injiziert worden sind.
106 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
Was nun den Grad der Giftigkeit der giftigen Ampullen betrifft — soweit er aus diesen unfreiwillig am Menschen angestellten Versuchen zu entnehmen ist — so geben die Ordnungsnummern 7 und 11 noch die besten Anhaltspunkte, indem hier ein Kind am 4., ein zweites am 5. Kranheitstage unter den für Diphtherievergiftung charakteristischen Erscheinungen ge- storben ist. Es läßt sich aus diesem Befunde die minimale tödliche Dose des Inhalts der giftigen Ampullen pro 250g Mensch mit etwa 0,007 bis 0,01 cm? einschätzen, falls man als „minimal tödliche Dose“ jene Menge bezeichnet, die ein Kind in 3—4 Tagen tötet.
Aus der vorstehenden Beschreibung der Tabelle I ist daher zu ent- nehmen, daß
1. zumindestens zwei der zur Injektion verwendeten Ampullen ver- mutlich völlig ungiftig waren,
2. daß kein Anlaß vorliegt, anzunehmen, daß unter den giftigen Am- pullen die einzelnen Exemplare einen verschiedenen Grad der Gift- wirkung besaßen,
3. daß die giftigen Ampullen eine relativ große Menge freien Giftes _ enthielten, so daß der Inhalt der giftigen Ampullen in der Giftkonzentration vielen in den bakteriologischen Laboratorien für die aktive Immunisierung im Tierversuche verwendeten und für sonstige Tierexperimente aufbewahr- ten Diphtheriegiftlösungen etwa gleichkommt, falls die Giftempfindlichkeit des Menschen sich nicht wesentlich von jener des Meerschweinchens unter- scheidet. Ä
Die Injektion von je 2000 Antitoxin-Einheiten drei Tage nach der Injektion des Ampulleninhalts (s. o.) hat anscheinend keinen Einfluß auf den Krankheitsverlauf ausgeübt. Dies entspricht den Erfahrungen bei den Tierversuchen, bei denen auch spät nach der Injektion der Giftlösung einverleibtes Heilserum kaum noch irgendeine Wirksamkeit zu entfalten vermag, da das Gift schon fest mit den giftempfindlichen Bestandteilen des Körpergewebes verbunden ist bzw. die lebenswichtigen Organe schon irreparabel geschädigt hat.
III. Toxische Wirksamkeit und Serumbindungsvermögen der von der Behörde beschlagnahmten restlichen Ampullen.
A. Übersicht über das dem hygienischen Institute zur Verfügung gestellte Ampullenmaterial.
In dem Ausweisbogen des Institutes G über die Abgabe des Diphtherie- Toxin-Antitoxin-Gemisches nach Busson-Löwenstein fanden sich vom Juni 1923 an folgende Posten verzeichnet:
11::Jun1.1923: Pror- Dr- U: 2 Sue a a a a a a 1 Ampulle
22. September 1923 V, Wien . 2: aaa nen 1. 4
19. November 1923 Institut zur Erforschung der Inf.-Kr. in W. 20 Ampullen
28. April 1924 Dr. X in Wien. . 2. 2 2 2. EL Er nr ren 4 i (Über das Schicksal der vorstehend verzeichneten Ampullen liegen keine An-
gaben vor. Es ist weder etwas darüber bekannt geworden, daß nach der Injektion
irgendwelche Krankheitserscheinungen beobachtet wurden, noch sind restliche
Ampullen zurückgesendet worden.)
7. Mai 1924 Apotheke des Y-Spitales, Wien. . . . 22... . 20 Ampullen
7. Juli 1924 Allgemeines Krankenhaus in L. .. . 2. 22..
Von Dr. Roland Graßberger. | 107
l Über das Datum der Abfüllung sämtlicher vorstehend angeführten vom
14. Juni 1923 bis zum 7. Juli 1924 durch das Institut G abgegebenen Ampullen ist in dem Ausweis nichts vermerkt, die Ampullen tragen auch wie alle übrigen Ampullen und Ampullenschachteln keinen Vermerk, der das Datum der Füllung betrifft.
Weiters findet sich verzeichnet: | 10. Juli 1924 Apotheke des Y-Spitales, Wien. . . 2.2.2.2... 20 Ampullen
* 3 *
Von den nach L gelieferten Ampullen wurden (am 18. Dezember 1924) zwei in einer kleinen ‚Vier Ampullenpappschachtel durch Dr. O an Graßberger übergeben. Von den ins Y-Spital gelieferten wurden am gleichen Tage sechs Ampullen an Graßberger eingehändigt. Sie lagen in zwei Originalschachteln, wie solche im Institut G für je 15 Ampullen benütxt werden. Über unliebsame Erscheinungen bei der Verwendung der nach L sowie der an das Y-Spital gelieferten Ampullen ist nichts bekannt geworden. Die weiter unten folgende Berechnung ergibt, daß nicht nur die am 7. Mai, sondern auch die am 10. Juli an das Y-Spital gelieferten Ampullen aus einer Abfüllung vor dem 10. Juli 1924 stammen dürften,
Unmittelbar unterhalb des Ausweises der am 10. Juli 1924 an das Y-Spital gelieferten 20 Ampullen findet sich im Ausweisprotokoll mit roter Tinte das Datum zweier Abfüllungen von Ampullen verzeichnet, und zwar:
410. Juli 1924 H. o. abgefüllt . . 2... 2 2 2 En 0 nn 110 Ampullen 21. Juli 1924 H. o. abgefüllt . . 2 2 En nen 100 m
Anschließend sind mit schwarzer Tinte die nach dieser Zeit abgegebenen Ampullen verzeichnet:
31. Juli 1924 Handelsvertretung der sozialistischen Sowjetrepublik
in Wien, Prof. Dr. Z in Minsk . . .. 2.22 2 2 200. 100 Ampullen 7. August 1924 Dr. Z, Kinderklinik in Lettland . ...... 5 a 9. September 1924 Säuglingsheim in B. . . .. 2.22 2.. 50 =
Es sind nach diesen Angaben nach der Abfüllung am 21. Juli 1924 100 + 5 + 50 = 155 Ampullen vom Institut G ausgegeben worden. Von den nachher noch restlich im genannten Institute vorhandenen Ampullen wurde eine Schachtel mit 36 Amp. über Auftrag der Sanitätsoberbehörde durch ihren Delegierten Dr. P beschlagnahmt. In dem Bericht des Dr. P an seine vorgesetzte Behörde vom 9. Oktober 1924 finden sich keine näheren Angaben über diese beschlagnahmten und andere restliche Ampullen. In der von Dr. P am 15. Januar dem hygienischen Institut über Gerichtsauftrag übersendeten Schachtel waren 33 Ampullen in kleinen zylindrischen Pappschachteln und 3 freiliegende Ampullen enthalten.
Im Protokoll der gerichtlichen Kommission, die am 18. Dezember 1924 im Institut G stattfand, werden 10 der restlich in diesem Institut aufbewahrten Am- pullen als von Dr. O verwendet angegeben. 6 weitere Ampullen wurden in einem Briefkouvert an diesem Tag an Graßberger übergeben.
Addiert man die einzelnen vorstehend angeführten Posten, so ergibt sich folgende Aufstellung:
Es wurden nach dem 21. Juli 1924 abgegeben:
an die Sowjetrepublik . . 2: 2 2 2 EEE nn nn. 100 Ampullen an Dir. Aer e ee ee ee ee 5 z an das Säuglingsheim nach B geliefert. . . . .. 22 22.0. 50 "i von Dr. O verbraucht . . . saaa a a e 10 = von Dr. P beschlagnahmt und an Graßberger übersendet . . . 36 = von Dr. O an Graßberger übergeben . . . ... 2.2... 6 i
Demnach Summe 207 Ampullen
Da hei den beiden Abfüllungen am 10. und 21. Juli 1924 210 Ampullen gefüllt wurden, bleibt eine Differenz von 3 Stück, die auf irgendeine nicht mehr feststell- bare Art verbraucht wurden oder in Verlust gerieten.
Welches Schicksal hatten nun die vom Institute G versendeten bzw. von den Behörden beschlagnahmten Ampullen ?
Wir wissen bereits, daß von den nach B gesendeten 50 Ampullen 34 Stück zur Injektion der Kinder verbraucht wurden. Eine Ampulle wurde über Inter-
108 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
vention des Dr. C durch das Bezirksgericht an das Institut für gerichtliche Medizin und von diesem Institut am 26. November an das hygienische Institut gesendet, drei Ampullen waren schon im September 1924 durch den Landessanitätsinspek- tor Dr. Q im Ber Säuglingsheim beschlagnahmt worden. Sie wurden im Auftrag des Bezirksgerichtes am 15. Januar 1925 an Graßberger gesendet. Diese Am- pullen befanden sich in einer kleinen Bureaunadelschachtel, verschnürt und mit grünem Siegel verschlossen. Sie waren von den Amtsorganen in den Schreibtischen der Kanzleien bei hierorts unbekannten Temperaturen aufbewahrt worden. 9 von den in B nicht verbrauchten Ampullen gelangten in die Hände des Dr. O, der sie in einem Karton eingeschlossen in seinem Schreibtisch verwahrte, zwei für Ver- suche verwendete und die restlichen 7 am 18. Dezember an Graßberger übergab. Es sind demnach von den nach B gelieferten 50 Ampullen 2 von Dr. O verwendet. worden, weiters 1 + 3 + 7 = 11 Stück nach mehr oder minder langer Wanderung durch Wiener Amtslokale schließlich bei Graßberger gelandet. Das macht zu- sammen mit den 34 in B verbrauchten Exemplaren insgesamt 47 Stück — der Rest von 3 Stücken ist im Institut G verwendet worden. Es dürfte sich hier um von der Laborantin R des Institutes G nach einer Angabe zur Sterilitätsprüfung verwendete Ampullen handeln.
Aus einer Zuschrift des österreichischen Konsuls in Lettland an das Bundes- kanzleramt ist zu entnehmen, daß Dr. Z, „den Inhalt der 5 Ampullen an Meer- schweinchen, die vorher mit Diphtheriebazillen infiziert waren, ausversucht hat, wobei durchwegs ein negatives Resultat erzielt wurde‘. ‚Ob die Meerschweinchen an Diphtherie oder durch das Serum zugrunde gingen, wurde nicht festgestellt. Aus diesen Angaben des österreichischen Konsuls ergeben sich somit keine Anhalts- punkte für die Beurteilung der Giftigkeit oder Ungiftigkeit dieser Ampullen.
Am 2. Mai 1925 langte endlich nach langer Fahrt — nahezu 8 Monate nach dem Ereignis in B — die durch das Bundeskanzleramt f. Auswärtige Angelegen- heiten über Antrag des Bezirksgerichtes reklamierte Sendung aus der Sowjet- republik im hygienischen Institut ein. Sie enthielt in doppelter Packpapierhülle eingeschlossen 6 Originalpappschachteln des Institutes G, die von uns sofort nach dem Öffnen des Pakets entsprechend der Lage von oben nach unten mit den Nummern 1—6 bezeichnet wurden. Diese 6 Schachteln enthielten in einfacher Lage alternierend mit der Spitze nach dem oberen und unteren Rande gewendet und in dieser Stellung durch winkelig geknickte Kartonstreifen festgehalten rechts und links gelegt — die Lage mit Watte sorgfältig bedeckt, im ganzen 85 Ampullen, zugeschmolzen und anscheinend völlig unberührt. Die Schachteln Nr. 1, 2, 3, 4, 6 waren noch mit den Original-Verschlußstreifen zugeklebt, die Schachtel 2 hat am Deckel den Vermerk aufgedruckt: ‚Inhalt 10 Ampullen a 1 cm?“‘, die übrigen 5 Schachteln: ‚Inhalt 15 Ampullen a 1 cm?“.
15 der an die Sowjetrepublik gelieferten Ampullen sind verbraucht oder zurückgehalten worden. Welche Erfahrungen bei der Anwendung dieser Ampullen in der Sowjetrepublik gemacht wurden, ist uns nicht bekannt.
Nach vorstehenden Ausführungen standen demnach dem hygienischen In-
stitut bis zum Mai 1925 zur Untersuchung im ganzen folgende Impfstoffampullen zur Verfügung:
1. 2 Ampullen aus I. abgefüllt vor dem 10. Juli 1924.
2. 6 er des Y-Spitales in Wien abgefüllt vor dem 10. Juli 1924. .
3. 6 i aus dem restlichen Vorrat des Institutes G (abgefüllt „wahr- scheinlich“ am 10. Juli oder 21. Juli), übergeben durch Dr. O.
4. 36 t aus dem restlichen Vorrat des Institutes G (abgefüllt am 10. Juli oder 21. Juli), übergeben durch Dr. P.
5. 1 5 aus Säuglingsheim in B stammend, durch das Institut für gerichtliche Medizin übersandt am 10. Juli oder 21. Juli).
6. 3 5 aus Säuglingsheim in B stammend, durch Dr. Q übersendet (abgefüllt am 10. Juli oder 21. Juli).
28: 2 n aus Säuglingsheim in B stammend, von Dr. O übergeben
(abgefüllt am 10. Juli oder 21. Juli).
Summe 61 Stück.
Von Dr. Roland Graßberger. 109
Vom Mai 1925 angefangen überdies:
8. 85 Ampullen von der Sowjetrepublik im Mai 1925 zurückgesendet (abge- füllt am 10. Juli oder 21. Juli).
Summe 146 Ampullen
hievon 8 ir vor dem 10. Juli 1924 abgefüllt. 3 5 wahrscheinlich am 10. Juli oder 21. Juli 1924 abgefüllt. 135 = sicher am 10. Juli oder 21. Juli 1924 abgefüllt.
B. Äußere Beschaffenheit und Aussehen der Ampullen.
Sämtliche Ampullen waren aus blauem Glase und hatten flaschenförmige Gestalt mit rundem Boden; nur einige Ampullen älteren Datums hatten flachen Boden. Der Hals war in eine Spitze ausgezogen und wies verschiedene Länge und Durchmesser auf; die Spitze war zugeschmolzen.
Mehr als zwei Drittel des bauchförmigen Anteils war mit Flüssigkeit gefüllt. Alle Ampullen wurden Stück für Stück mittels Lupe bei entsprechender Beleuch- tung sorgfältigst auf die Klarheit ihres Inhaltes untersucht, wobei überdies darauf geachtet wurde, ob etwa Bodensätze oder durch Hin- und Herschwenken aufzu- wirbelnde Flocken vorhanden sind. Der Inhalt der Ampullen war im allgemeinen völlig klar, bei einigen wurden Wattefäserchen und im Inhalt der Ampulle Nr. 31 (Glattampullel) einige winzige Flöckchen gefunden. Ausgesprochene Trübungen oder Niederschläge waren in dem Inhalt keiner der Ampullen festzustellen. Die genaueren Eigenschaften des Glases sind in Kapitel VI beschrieben.
Sämtliche Ampullen wurden, sobald sie in die Verwahrung des Instituts überge- gangen waren, dauernd im Vorraum des Instituts- Kühlschrankes bei ca. 8° C unter Sperre in verschließbaren Kisten gehalten. |
C. Anordnung der Versuche zur Feststellung der toxischen Wirk- samkeit.
Da schon nach den Krankengeschichten (siehe Tabelle I) zu vermuten war, daß nicht alle von den beiden Abfüllungen am 10. oder 21. Juli 1924 stammenden Ampullen giftig waren, mußten von jeder einzelnen untersuchten Ampulle, bevor der Inhalt anderweitig chemisch geprüft oder für Versuche verwendet wurde, genau gemessene Mengen nach Abbrechen der Spitze unter aseptischen Kautelen entnommen werden und Versuchstieren zur Bestimmung der Giftigkeit injiziert werden. Hiebei mußte gleichzeitig ein Anhaltspunkt für die Beurteilung des Grades der Giftigkeit gewonnen werden, um zu erfahren, ob die als giftig befun- denen Ampullen den gleichen oder einen verschiedenen Grad von Giftwirkung besaßen. Dies war wichtig für die Entscheidung, ob die zum Füllen verwendete Flüssigkeit von vorneherein einen bestimmten Grad der Giftigkeit besaß oder ob etwa erst nach dem Füllen unter dem Einfluß irgendwelcher, auf die verschiedenen Ampullen ungleich einwirkender Einflüsse (Temperatur, Licht, Abgabe von lös- lichen Substanzen des Glases usw.) sich die verhängnisvolle Veränderung der Wirksamkeit des Inhalts vollzogen habe. Um ungefähr über die zu erwartende Anzahl giftiger Ampullen und die Lagerung der giftigen und ungiftigen Ampullen orientiert zu sein und mit dem vor dem Eintreffen der ‚„Sowjet‘‘-Ampullen spär- lichen Material haushälterisch umzugehen, waren die Ampullen der ‚36 Ampullen- Schachtel‘ (Nr.4 S.108) mit den Nummern 1—35 versehen, nachdem die Lage in der Schachtel genau verzeichnet war. Nun wurden durch das Los 8 Ampullen bestimmt, die geöffnet und untersucht wurden. Das Los traf die Nummern 1, 4, 415, 17, 25, 26, 27, 30. Als Versuchstiere wurden in der üblichen Weise Meer- schweinchen verwendet; die Menge der injizierten Flüssigkeit variierte von 0,05 bis 0,4 cm®.
Die Entnahme der gewählten Flüssigkeitsmenge aus den Glasampullen er- folgte mit genau — auf Einguß mit der chemischen Wage — geeichten, eigens für diesen Zweck hergestellten sterilisierten Glaspipetten. Die bis zur Marke aufge- sogene Flüssigkeit wurde in sterilen Blockschälchen in der Regel mit 2 cm? steriler physiologischer Kochsalzlösung vermischt. Sodann wurde das Gemenge von Ampulleninhalt und Kochsalzlösung je einem Meerschweinchen subkutan
410 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
injiziert. Die zur Injektion verwendeten Glas-Luer-Spritzen waren wie alle ande- ren Geräte sorgfältig mit destilliertem Wasser gereinigt, vollkommen frei von Säure und Alkali. Der unvermeidbare Flüssigkeitsverlust bei der Injektion wurde in eigens angestellten Wägeversuchen bei 8 gleichartigen Spritzen mit 0,1 cm? bis höchstens 0,13 cm? festgestellt.
Sämtliche verwendeten Tiere, es gilt dies, mit Ausnahme einiger Vorversuche, für alle Versuche, wurden vor und nach der Injektion täglich genau beobachtet und das Gewicht fortlaufend festgestellt. (Genaue Angaben in den Tabellen.) Das Abmessen der Flüssigkeitsmengen geschah unter dreifacher Kontrolle, über alle Versuche wurde unmittelbar während des Verlaufes der einzelnen Akte ein genaues Protokoll geführt, dessen Bögen fortlaufend numeriert wurden, so daß nichts ohne Aufzeichnungen erfolgte und jede auffällige Erscheinung nachträglich aus den Protokollen einer Diskussionzugänglich war und das Variieren der Funk- tionen gestattete. Jedes Tier wurde vor dem Versuche genau mit farbigen Stiften im Protokoll nach der Zeichnung seines Felles abgebildet, so daß noch nach Monaten die Auffindung im Protokolle trotz der vielen Hunderte von Tieren anstandslos bewerkstelligt werden konnte. Die Kadaver der eingegangenen Tiere wurden obduziert und der Befund im Protokolle eingetragen.
D. Giftwirkung der Ampullen.
Schon die ersten Tierversuche mit dem Inhalte der oben genannten Ampullen 1, 4, 15, 17, 25, 26, 27 und 30 ergaben, daß giftige und ungiftige Ampullen nebeneinander vorhanden waren; 15 und 17 waren völlig un- giftig, die übrigen giftig. Das Endergebnis aller untersuchten Ampullen ist in der folgenden Tabelle II zusammengestellt. Es bestätigte sich immer wieder, daß nur zwei scharf getrennte Arten von Ampullen vor- lagen. Der Inhalt der einen Gruppe zeigte nach der Injektion weder irgendwelche Hauterscheinungen noch Allgemeinerscheinungen, wie Ge- wichtsverlust usw. („Glattampullen‘). Im Gegensatze hiezu reagierten bei der anderen Gruppe sämtliche Tiere, selbst auf die Injektion ganz geringer Mengen der Flüssigkeit, mit schweren lokalen und Allgemein- erscheinungen („Giftampullen‘“).
Die Versuche bestätigten im übrigen nur die alte Erfahrung von der Abhängigkeit der Schwere der Erkrankung von der injizierten Menge im Verhältnis zum Körpergewichte. Mengen von 0,07 cm3 des Ampullen- ıinhaltes führten bei Tieren unter 190 g den Tod herbei; Mengen von 0,1 cm, für Tiere von 250 bis 280 g, lagen bereits nahe an der minimalen tödlichen Dosis.
Trotz der sehr verschiedenen Art der Aufbewahrung der Ampullen und der Dauer der Aufbewahrung bis zur Injektion waren die Unterschiede in der Wirksamkeit der Lösungen unter Berücksichtigung des verschiedenen Gewichtes ‘und des Einflusses der Individualität der Tiere so geringfügig, daß mit Sicherheit angegeben werden kann:
daß die Ampullen mit giftigem Inhalt keine dem Ex- periment zugängliche Verschiedenheit in der Konzentration des Toxins zeigten.
Aus dem Verhältnis der ungiftigen zu den giftigen Ampullen ist zu schließen, daß nur die an einem der beiden Tage (10. bzw. 21. Juli 1924) abgefüllten Ampullen, und zwar diese alle giftig, die am anderen Tage abgeefüllten Ampullen alle ungiftig waren.
Von Dr. Roland Graßberger. 111
Tabelle II.
Die Verteilung von ‚‚giftig‘‘ und „ungiftig‘‘ auf die 210 Ampullen, die am 10. und 21. VII. 1924 abgefüllt wurden.
ze u De ne IV
| a; | nicht ge- ;
| sicher- auswärt.
gestellt| PTÜft, aber Verbrauch
Zr ER ohne Nach-
giftig | giftig |Univ.Wien| (rtiekeit aufbewahrt!
sicher- gestellt)
Wohin geliefert
Ord.-Nr.
1. | An das Säuglingsheim in B... 50 St. | a) in B... verbraucht 34: .,; 2*) =. 4*) in B... nicht verbraucht, und zwar: | b) von Dr. Qu... übersendet 3. = 3 — — =- _—_ »„@G@rünsiegel““ Nr. 37, 38, 39 c) Durch das Inst. f. ger. Mediz. — -- | | —- = übersendet (Inventar Nr.157) 1 ,, | d) An Dr. O... gesendet 97; Hiervon: | Von Dr. ©... verbraucht A 1 — — 1 an Graßberger gesendet D | 7 — | — | — Nr. 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46 | | e) Verschwunden an A ==. EZ | 3 2.|An die Sowjetrepublik 100 ,, | a) Hiervon nicht zurückgesendet 15 „| — | — z S 15 b) zurückgesendet 85 „, und zwar: | in Schachtel 1 untersucht Lr eg — 19 —- Nr. 1, 2,3, 4,5, i er AA E E iN 11, 12, 13, 14, 15 in Schachtel 2 untersucht Nr. 16, 10 ,, 10 - —- u 17,18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25 | in Schachtel 3 untersucht B ai — 8 — _- Nr. 26, 28, 30, 32, 34, 36. 38, 40 nicht untersucht die Nr. 27, 29, 31, 33::.309:.32,:39 U Yen — — 7 — in Schachtel 4 untersucht Nr. 41, 8 = 8 — = 42, AA, 46, 48, 50, 52, 54 | nicht untersucht die Nr. 43, 45, 47, | 49.934,94 00 Dr = — | 7 — in Schachtel 5 untersucht Nr. 56, 8 2 6 -— — 58, 60, 62, 64, 66, 68, 70 (68,70) nicht untersucht die Nr. 57, 59, 61, 63, 65, 67, 69 Ji eg — _ 7 — in Schachtel 6 untersucht Nr. 71, 8 4; à I 8 — — 72, 74. 76, 78, 80, 82, 84 nicht untersucht die Nr. 73, 75, | 77, 79, 81, 83, 85 Bi 48 — | — 7 — 3. An Dr. lis NERTI" 5 d — — | - 5 Summe | 51 17 | 21) 28
*, Anmerkung: Nach den Krankengeschichten zu schließen, sind die Kinder Nr. 2 und 31 mit ungiftigem Ampullen-Inhalt injiziert worden.
112 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw. Tabelle H. (Fortsetzung)
nn nn
I II ıı IV = _| nicht auswärts Z , , sicher- | Sicher |pran, Der ß Wohin geliefert posteli Stellt Pim fyg” [onne Nacn- $a j un- Inst weis © giftig | giftig Univ. Wien aufbewa hrt tetelt
die Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9,14, 24,
25, 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 34,
35, 36 — — — untersucht und ungiftig befun-
den die Nr. 7, 8, 10, 11, 12,13,
15, 16, 17, 18, 19, 20, 31 13 — —
nicht untersucht d. Nr. 21, 22, 23 ee EE) — b) Von Dr. OÖ... verbraucht 10 „| 2 | — | — 8 c) An Graßberger übergeben 6 „ untersucht Nr. „Dr. 0O.“ 1,2,3 3 „ — — nicht untersucht Nr. „Dr. O“ 4,5,6 . 3 — d) Verschwunden 8 „ — 3 Summe | 76 60 35 39
E. Das Antitoxin-Bindungsvermögen der giftigen Ampullen.
Die Auswertung erfolgte nach der üblichen Methode von Ehrlich.
Von dem Institute G wurden uns eine Anzahl von mit Kork und Pa- raffin verschlossene Fläschchen eines bestimmten Di-Serums, bezeichnet mit Serie 1307, zur Verfügung gestellt. Da Serum der gleichen Serie auch seinerzeit für die Herstellung des Löwenstein-Bussonschen Stamm- gemisches (Flasche V) verwendet worden war, haben wir auch für unsere Versuche ausnahmslos dieses Serum verwendet. Nach den Angaben von Dr. O wirkte dieses Serum im März 1922 gegenüber einer bestimmten Gift- lösung „Toxin Kling VI“ — es ist dies dieselbe Giftlösung, die für die Her- stellung des Stammgemisches des Löwenstein-Bussonschen Impf- stoffes seinerzeit verwendet wurde — derart, daß ein Gemisch von 0,40 cm3 der Giftlösung mit 0,0033 cm? des Di-Serums, Serie 1307, vermischt, ein Meerschweinchen am dritten Tage tötete, während ein Gemenge von 0,40 des Giftes und 0,00359 nur ein Infiltrat verursachte und ein Gemenge von 0,40 Gift und 0,00385 des Serums, einem Meerschweinchen injiziert, keine Schwellung und auch keine Lähmungen verursachte. Die Menge von 0,40 des Toxins war nach den Versuchen, die im Jahre 1922 im Institute G angestellt wurden, gerade so bemessen, daß sie eine Antitoxin-Einheit neutralisierte. Was die minimale tödliche Dose (D. l. m.) dieser Giftlösung betrifft, so wurde sie, wie uns Dr. O angab, 1922 mit 0.005 bestimmt.
Von Dr. Roland Graßberger. 113
Über das Serumbindungsvermögen der Giftampullen konnten wir folgendes feststellen: 0,40 cm? des giftigen Inhaltes (der Ampullen 2, 9, 28, 29, 32) gab vermischt mit 0,0001 des Diphtherieserums Serie 1307 in 48 Stunden Tod; mit 0,0002 Di-Serum in vier Tagen Tod, mit 0,0003 ober- flächliche Nekrose. 0 5 des Inhaltes der Ampulle Nr. 14 — Ordnungsnum- mer 18 — mit 0,00033 Di-Serum (dies entspricht 0,4 Toxin plus 0,00026 Di-Serum) gab Lähmung am 19. und Tod am 22. Tage.
Diese Zahlen für Giftigkeit und Serumbindungsvermögen sind nicht ohne weiteres mit den von Dr. O angegebenen Zahlen für das ursprünglich zur Herstellung der Löwenstein-Bussonschen Impfstoffe im Jahre 1922 verwendete Gift und Serum zu vergleichen; schon deshalb nicht, weil sich beim Lagern der Gehalt an wirksamen Substanzen je nach den Umweltseinflüssen in verschiedener Weise geändert haben konnte. Über- dies sind die oben zitierten Eichungen von Dr. O mit 0,4 cm? unverdünntem Toxin vorgenommen, demnach einer Menge, welche damals 80—100 tödliche Minimaldosen enthielt, während der Ampulleninhalt in 0,4 cm8 (= 0,04 einer unverdünnten Giftlösung bzw. Gemischlösung) nur etwa 4—6 tödliche Dosen enthielt. Wir haben parallel mit den Eichungen der B-Giftampullen auch die Giftwirkung und das Serumbindungsvermögen von i0fach ver- dünnten Lösungen des noch heute im Institute G aufbewahrten großen in einer ca. 8 l fassenden Flasche aufbewahrten Vorrats der oben genannten Giftlösung. „Toxin Kling VI“ vorgenommen. Im Januar 1925 lag die dosis letalis minima sicher über 0,005 cm? — die genauere Grenze wurde damals nicht bestimmt —, im März zwischen 0,006—0,007 ; das Serumbindungsver- mögen des Toxin Kling VI war für die 10fach verdünnte Lösung so, daß 0,4 cm? mit 0,0001 Serum in 48 Stunden tötete, mit 0,0002 in drei Tagen tötete, während es mit 0,0003 Serum gemischt ein 210 g schweres Meer- schweinchen in sechs Tagen tötete, in einem anderen Versuche bei einem 200 g schweren Tiere eine schwere Nekrose verursachte. 0,4 der unverdünn- ten Giftlösung tötete im Januar 1925 mit 0,0033 Serum nach drei Tagen ein 250 g schweres Meerschweinchen, während Mengen von 0,4 des gleichen Giftes mit 0,0036 und 0,004 cm? Serum bei Meerschweinchen von gegen 300 g Gewicht Nekrose und Spättod nach 8 bzw. 9 Tagen verursachten.
Im Februar 1926 tötete 0,4 cm Toxin Kling VI mit 0,0033 Di-Serum ein 230 g schweres Meerschweinchen in 72 Stunden, aber auch noch 0,4 To- xin mit 0,0038 und 0,0040 Di-Serum führten in 4 bzw. 3 Tagen den Tod von 280 g schweren Meerschweinchen herbei, während 0,4 cm? einer frisch her- gestellten 10fachen Verdünnung des Toxins (entsprechend 0,04 unverdünn- tes Toxin) mit 0,003 Di-Serum vermischt ein 220 g schweres Tier nach 4 Ta- gen tötete. Es ist nach diesen Stichproben anzunehmen, daß von März 1925 bis Februar 1926 in dem Bindungsverhältnis keine die Verwertbarkeit der inzwischen angestellten Versuche störende erhebliche Verschiebung einge- treten ist. 1)
Der Vergleich der Wirksamkeit der giftigen Ampullen mit jener des seinerzeit nach Angabe des Dr. O zur Herstellung des Impfstoffes verwendeten „Toxin Kling VI“ ergibt somit,
u 1) Das Toxin Kling VI wurde nachträglich auch mit Normalserum des Instituts f. exper. Therapie in Frankfurt a. M. ausgewertet.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 8
114 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
daß der Inhalt der giftigen Ampullen nur halb so giftig befunden wurde wie 10fach verdünntes Toxin Kling VI, daß hingegen das Serumbindungsvermögen des giftigen Ampullen- inhaltes und der 10fach verdünnten Lösung des Toxin Kling VI sich nicht so erheblich voneinander unterschieden.
IV. Enthalten die giftigen Ampullen neben dem Diphtherietoxin antitoxisches Serum?
Es galt nun zu prüfen, ob der Inhalt der giftigen Ampullen wirklich aus einem Gemisch von Toxin und einer, wenn auch ungenügenden Menge von antitoxischem Serum bestehe, oder ob er nicht etwa lediglich eine ver- dünnte Giftlösung darstelle. Der Verdacht, daß bei der Herstellung der giftigen Ampullen eine Verwechslung von Impfstoff mit Giftlösung stattgefunden habe, war ja sehr naheliegend. Es galt also, zu entschei- den, ob eine solche Verwechslung beim Abfüllen der Ampullen stattgefunden habe oder ob eine Zersetzung des aus Toxin und Antitoxin richtig bereiteten Impistoffes unte Freiwerden von Gift erfolgt war.
Es mußten eine Reihe von Reaktionen und Bestimmungen vorge- nommen werden, und zwar
1. solche, um nachzuweisen ob in den Giftlösungen Pferdeserum, also Serum von jener Tierart, die zur Herstellung des Heilserums verwendet wird, enthalten ist.
2. solche, um festzustellen, ob sich der Inhalt der giftigen Ampullen in seinem Gehalt an Eiweiß bzw. an gebundenem Stickstoff wie das 10fach verdünnte Originalgemisch V oder wie das 10fach verdünnte Toxin Kling VI oder etwa von beiden abweichend verhält.
Es handelte sich um vergleichende Versuche an ganzen Serien von Lösungen. Es wurden hinsichtlich des Ausfalls der Reaktionen miteinander verglichen: Der Inhalt ungiftiger und giftiger Ampullen, verschiedene Ver- dünnungen des noch vorhandenen Vorrats von Serum Serie 1307, sowie von Toxin Kling VI und von Gemischen, die von uns aus diesen Lösungen hergestellt wurden, verschiedene Verdünnungen der damals und noch heute im Kühlraum des Institutes G aufbewahrten Vorräte von Gemischen des Löwenstein-Bussonschen Impfstoffes, von denen die Stammflasche für die Abfüllung, die aus 400 cm? Toxin Kling VI und 5 cm? Diphtherie- serum Serie 1307 hergestellt wurde, mit V bezeichnet ist, während vier andere Flaschen, die der Reihe nach gleichfalls aus 400 cm? Toxin mit den Serummengen von 3,57, 3,84, 4,00 und 4,50 cm? hergestellt waren, mit den Ziffern I, II, III, IV bezeichnet waren, ferner Verdünnungen einer großen Anzahl von Giftlösungen, die im gleichen Fache des Kühlraumes des In- stituts G aufbewahrt waren. Da diese Lösungen in den weiteren Aus- führungen wiederholt vorkommen, sei einiges über sie mitgeteilt.
Die abgefüllten Ampullen wurden im Parterre, im Vorraume einer Kühl- kammer in einem offenen Fache aufbewahrt. Im Mezzanin in einem versperrbaren Fache standen die 5 Flaschen mit Serum-Toxingemisch, bezeichnet mit I—V sowie 19 Flaschen mit verschiedenen Diphtheriegiftlösungen und eine Flasche mit Dysenterietoxin.
Von Dr. Roland Graßberger. 115
Tabelle III.
Verzeichnis der Toxinlösungen, welche neben den 5 Flaschen I-—V mit Löwen-
stein-Bussonschem Impfstoff (und 1 Flasche mit Dysenterie-Toxin) im ver-
sperrten Schrankfach der Kühlkammer im Mezzanin des Institutes G.... aufbewahrt wurden.
Die von uns | Die von uns Originalbezeichnung gewählte Originalbezeichnung | _ gewählte Bezeichnung | Bezeichnung | I. | Diphth. Toxin Kling Holler Diphth. Toxin Höchst Fichte Nr. III vom 25. X. 1921 | I, III, V vom 4. V. 1915 11. | Diphth. Test-Toxin Kling Speik Diphth. Test-Toxin Ame-| Nelke vom 25. X. 1921 rika I vom 19. II. 1915 Let. Dos. 0,01 + in 2 Tagen | I |
Diphth. Test-Toxin Ame-| Jasmin rika I vom 13. VII. 1910 0,01 in 3 Tagen |
Diphth. Test-Toxin Kling | Viola
vom 15. X. 1921 Let. Dos. 0,01 + in 2 Tag. | | Diphth. Toxin-Kolle vom Weide Diphth. Toxin Dean I | Lärche
25: A. 1921. Nto Vy | vom 3. VIII. 1915 | Diphth. Toxin-Kolle 3 ET a er T vom 25. X. 1921 Nr. IV ba: iS NIE ın 2 Tagen Diphth. Toxin Amerika la | Buche 2 Flaschen ohne Etikette | Vergißmein- vom 27. X. 1921 | nicht I u. II Diphth. Test-Toxin Fl. II] Veilchen [Diphth. Test-Toxin Mac | Kastanie Martha vom 7. III. 1918 Farland vom 18. I. 1909 Diphth. Test-Toxin Mac | Flieder Diphth. Test-Toxin ande Be 5 re Amerika I und II U:
Farland vom 18. VII. 1909 en vo vom 7. X. 1910
II. | Il. Diphth. Test-Toxin Mac | Rose Diphth. Test-Toxin Kolle3 Tulpe Farland vom 18. VI. 1909 vom 15. X. 1921 0.005 in 9 Tagen | Diphth. Toxin Kling VIII Tanne
vom 15. X. 1921 Die Toxinlösung Viola befand sich in einer nach Farbe, Form und Größe
den 5 Flaschen I—V mit dem Impfstoff völlig gleichen Flasche; alle anderen Giftlösungen in abweichenden.
Die ca. 8 l fassende Flasche mit der Vorratslösung von Toxin Kling VI war im Mittelteil des Kühlraumes (nicht im Schrank) aufbewahrt.
Versuche, die Anwesenheit von Pferdeserum in den verschie- denen Lösungen durch die Präzipitinreaktion nachzuweisen.
Da das Gemisch der Originalflasche V in 405 cm? nur 5 em? Diphtherie - heilserum enthält, demnach kaum mehr als 1° und da das 10fach verdünnte Gemisch, das normalerweise zur Füllung der Ampullen verwendet wird nur etwas mehr als 1 pro mille, so mußte zum Nachweis des Gehaltes der Lösungen an Pferdeserum ein besonders hochwirksames präzipitierendes Serum gewonnen werden; zumal mit Rücksicht auf den Umstand, daß ın den giftigen Ampullen bei Annahme einer unter irgendwelchen Einflüssen
g*+
116 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
erfolgten Zersetzung noch geringere Mengen von Pferdeserum enthalten sein konnten. Dieses präzipitierende Serum mußte überdies die Bedingung erfüllen, daß es mit Toxin Kling VI zusammengebracht keinerlei Fällung ergab.
Es ist uns nach der Methode von Uhlenhuth gelungen, durch Behandlung eines Kaninchens mit wiederholten Injektionen von normalem, sterilem Pferdeserum ein Serum zu gewinnen, das diese Bedingungen in weitgehen- dem Grade erfüllte, indem es noch mit 40000fach verdünntem Diphtherie- serum eine Trübung ergab und mit 16000fach verdünntem Diphtherieserum einen Bodensatz, während es, dem 10fach und stärker verdünnten Toxin Kling VI zugesetzt, in keinem Verhältnis eine Trübung hervorrief.
Es zeigte sich nun, daß das gleiche Serum noch mit 16fach verdünntem Inhalt ungiftiger Ampullen, ebenso mit dem weitgehend verdünnten Originalgemisch der Flasche V eine charakteritische Fällung ergab, wäh- rend sich der Inhalt der giftigen Ampullen aus dem Säuglingsheim in B in jeder Verdünnung wie die 10fach verdünnten serumfreien Lösungen von Toxin Kling VI und Viola verhielten. Es geht aus diesem Versuche hervor, daß in den Giftampullen keine irgendwie in Betracht kommende, geringste Menge von „Pferdeserum‘ enthalten sein kann.
Die Verläßlichkeit der Verwendung unseres, Pferdeserum präzipitieren- den Kaninchenserums für die Unterscheidung giftiger und ungiftiger Ampul- len hat sich in allen Fällen bewährt. So zeigten sämtliche 10 Ampullen ın Schachtel 2 Sowjet negativen Ausfall der Probe. Die hierauf erfolgende In- jektion von je 0,1—0,11 Inhalt dieser Ampullen rief bei sämtlichen Meer- schweinchen die typischen Vergiftungserscheinungen hervor; dagegen zeig- ten die Ampullen Sowjet Nr. 1, 26, 41, 56, 71 Präzipitation und erwiesen sich im Tierversuch als ungiftig. Wir haben anschließend, um Tiere zu sparen, alternierend bei allen Sowjetschachteln Nr. 1, 3, 4, 5, 6, jede zweite Ampulle auf Präzipitation untersucht und in allen Fällen ein positives Resultat erhalten. Nur die Ampullen Nr. 68 und 70 zeigten keinen Nieder- schlag, sind demnach Giftampullen.
Anaphylaktische Versuche.
Es gibt bekanntlich eine feinere Methode zum Nachweis von Pferde- serum, die auf der Beobachtung beruht, daß winzige Mengen eines art- fremden Serum, einem Meerschweinchen injiziert, nach wenigen Wochen bei dem Tiere eine Veränderung hervorrufen, darin bestehend, daß nunmehr intrakardial oder intravenös (in die Jugularvene) einverleibtes Serum der zur Vorbehandlung verwendeten Tierart (0,7 cm?) bei einer Mehrzahl so behandelter Tiere einen charakteristischen Anfall auslöst, der unter Krämpfen und Erscheinungen von Lufthunger in wenigen Minuten zum Tode führt, wobei der Obduktionsbefund das typische Bild der Lungen- blähung zeigt.
In einem Bericht des Dr. O über die von ihm angestellten Versuche ist erwähnt, daß er gleich anfangs zwei solehe Versuche über anaphylak- tischen Schock angestellt habe und mit ihnen den Nachweis von Pferde- serum in den Giftampullen geführt zu haben glaube. Dr. O ging aber von der Annahme aus, daß alle in B verwendeten Ampullen giftig waren und
Von Dr. Roland Graßberger. 4117
hat es unterlassen, die zur Vorbehandlung verwendeten Ampullen einzeln vorher darauf zu prüfen, ob sie giftig waren oder nicht.
Wir haben nun alle verfügbaren überlebenden Tiere unserer Versuche dem anaphylaktischen Experiment unterzogen. Es zeigte sich, daß eine über- raschend große Zahl der mit dem Inhalt von Glattampullen vorbehandelten Meerschweinchen das typische Bild des anaphylaktischen Anfalles mit töd- lichem Ausgang zeigte, während dies beikeinem einzigen der mit giftigen Ampullen vorbehandelten Tiere der Fall war. Es zeigten sich allerdings einzelne Erscheinungen, die als zum Bilde des anaphylaktischen Zustandes gehörend beschrieben werden (kratzende Bewegungen, Unruhe usw.), auch bei solchen Tieren, die mit verschiedenen Giftlösungen ohne Serum behandelt waren. Diese Tatsache wird einen Forscher, der mit anaphylak- tischen Versuchen vertraut ist, ebensowenig befremden wie die ‚„Versager‘‘ bei einigen mit impliziertem Serum vorbehandelten Tieren. Dörr sagt in „Kraus und Levaditi‘, Handbuch der Technik und Methodik der Immunitätsforschung II. Bd., 2. Lieferung, 1909, S. 866, über die ana- phylaktischen Erscheinungen, die beim Meerschweinchen, dem klassischen Versuchstier für solche Versuche, nach Vorbehandlung mit körperfremdem Eiweiß auftreten: | l
„Bei den Meerschweinchen zeigen sich, und es ist wichtig. auf diesen Punkt stets zu achten, ganz erhebliche individuelle Differenzen. Wenn man eine Reihe von Tieren gleichartig vorbehandelt und nach derselben Zeit sowie mit derselben Methode ihre Hypersensibilität prüft, so ergeben sich recht auffallende Unterschiede; ein Teil zeigt leichte, ein anderer schwerste Krankheitserscheinungen, die bisweilen zum raschen Exitus führen, ein oder das andere Tier endlich zeigt kein von der Kontrolle abweichendes Verhalten. Diese Unregelmäßigkeit tritt in allen anaphylaktischen Versuchen störend zu tage, allerdings nicht immer im gleichen Grade.“
Die in den Spezialtabellen genau geschilderten anaphylaktischen Ver- suche bestätigen daher das Ergebnis der Präzipitationsversuche, daß im Inhalt der giftigen Ampullen überhaupt kein Pferdeserum, also auch kein Heilserum enthalten ist.
Wir haben nachträglich daran gedacht, ob sich nicht auch durch die von Ra- mon zuerst ausgearbeitete Flockungsreaktion bei der Mischung von Diphtherie- toxin Anhaltspunkte für die Beurteilung der Verschiedenheit bzw. Idendität der Giftlösung Toxin Kling VI, der Giftlösung Viola und des Ampulleninhalts ge- winnen lassen. Was den Ampulleninhalt betrifft, so lagen hier allerdings die Ver- hältnisse wegen der geringen Menge der zur Verfügung stehenden Flüssigkeit und der 10fachen Verdünnung recht ungünstig, so daß für das Anlegen von Reihen mit abgestuftem Serumzusatz weder Gelegenheit noch Aussicht auf Erfolg vorhanden war. Immerhin konnten wir mit Toxin Kling VI, von dem uns größere Mengen zur Verfügung standen, und in beschränktem Maße auch mit Toxin Viola Flockungsversuche vornehmen. Aus unseren Versuchen ist zu entnehmen, daß die Flockungswerte für Toxin Viola und Toxin Kling anscheinend nahe beieinander liegen, und zwar beim Toxin Kling VI bei einer Verdünnung von 1:8 entsprechend einem Serumzusatz von 0,0033 zu 0,4 cm? Toxinlösung. Bei konzentrierteren Lösungen etwa bei demselben Verhältnis, während bei 10fachen und größeren Verdünnungen die Grenzen etwas verschoben werden; und zwar gilt dies für beide Gifte. Bemerkenswert ist es, daß die Flockungsmaxima in beiden Fällen bei Ge- mischen liegen, die weniger Serum enthalten, als dem L-Tod-Gemisch entspricht.
Bedenkt man, daß der Ampulleninhalt stark alkalisch ist, so scheint es aus- sichtslos zu sein, die Flockungsreaktion für den Ampulleninhalt einwandfrei fest-
Gesamt-N- Gehalt
der verschiedenen Stammlösungen von Gift, Serum, Gemisch sowie der giftigen
und ungiftigen Ampullen, berechnet bei den unverdünnten Giften und Ge-
mischen als Milligramme N. in 100 cm?, bei den Ampullen, entsprechend der 40fachen Verdünnung als mg N. in 1000 cm®.
Milligr. N. |
800 315 830 345 860 875 890 405 420 435 450 465 480 495 510 535 540 555
Toxin Kling VI 383
*Di-Serum, Serie 1307,
in (!) 20 cm? ) TI "S gefunden aI E 410
BL berechnet?) E 396 *Sowjet-Glattampullen 411 Y-Spital- Glattampullen Jen 418 Toxin-Viola 336 Giftampullen a Ar 333 Giftampullen (B...) fe=—— 339 Toxin-Tanne 335 Toxin-Primel |[—————— 344 Toxin-Lärche 365 Toxin-Tulpe 368 Toxin-Veilchen 451 Toxin Nr. 2 Linde jų 512 Toxin Nr.4 Linde 5314
i 1 ! ! i | 285 8300 815 330 345 BO 375 BNO 405 420 485 450 düd 480 495 510 525 540 555 Milllgr.N.
Mit Ausnahme der mit * bezeichneten wurden alle Bestimmungen mikro- analytisch ausgeführt.
1) In 100 cm? 1939 mg N.
2) Berechnet nach dem Herstellungsrezept: 400 cm? Toxin -+ 5 cm? Di-Serum.
Von Dr. Roland Graßberger. 119
zustellen, um mit entsprechenden Versuchen mit 10fach verdünntem Toxin Kling VI und Viola zu vergleichen.
Was den gegenwärtigen Stand der Frage über die Ausflockungsreaktion be- trifft, so sei auf die umfangreichen Arbeiten von Hans Schmidt und Wilhelm Scholz im 95. und 96. Band des Archivs für Hygiene verwiesen.
Bestimmung des Gesamt-Stickstoffes in den verschiedenen Lösungen.
Die Bestimmung des Gesamtstickstoffes wurde nach der Methode von Kjehldal in der für die Mikroanalyse von Prof. Pregel in Graz an- gegebenen Weise durchgeführt. Die Ergebnisse sind aus dem Graphikon s. S.118 zu entnehmen. Es ist hieraus zu ersehen, daß im Frühjahr 1925 das unverdünnte Toxin Kling VI im Mittel aus 5 Bestimmungen einen Stick- stoffgehalt von 383 mg in 100 cm? besaß, während die Originalflasche V un- verdünnt einen Stickstoffgehalt von 410 aufwies und der zusammengemischte Inhalt von 4 Glattampullen ,„Y. Spital‘ einen Stickstoffgehalt von 41,8 besaß. Unverkennbar entspricht der höhere Stickstoffgehalt, welchen die Originalflasche V und die Glattampullen gegenüber dem Stickstoffgehalt des Toxin Kling VI aufweisen, der Vermehrung des Stickstoffgehaltes durch die bei der Herstellung des Gemisches der Flasche V zugegebenen Serummengen. (Nach den Aufzeichnungen des Dr. O waren damals zu 400 cm? Toxin 5 cm? Diphtherieheilserum zugesetzt worden.) Im Gegensatz hiezu zeigte der vereinigte Inhalt von 4 giftigen Ampullen Nr. 40—43 einen Stickstoff- gehalt von 33,9 und jener von 4 weiteren giftigen Ampullen (3 von Dr. Q ' und Sowjet Nr. 68) 33,3. Er liegt also bedeutend niederer als jener der i0fach verdünnten Flüssigkeit der Original- flasche V und auffälligerweise auch deutlich niederer als jener des 10fach verdünnten Toxin Kling VI. Das Graphikon zeigt weiter, daß ein Teil der Giftlösungen, die sich im gleichen Schrank befanden, wesentlich höhere Gift-Werte besaßen, als Kling VI — es sind dies die Giftlösungen Linde und Veilchen —, während die Giftlösungen Tulpe, Lärche, Primel, Viola, Tanne Werte zeigten, die dem Stickstoffgehalt der giftigen Ampullen in zehnfacher Konzentration sehr nahe kommen. Nahezu völlig stimmt die 10fach verdünnte Giftlösung Viola, die bei 2 Proben im Mittel 33,8 und bei einer dritten 33,1 mg N pro 100 cm? aufwies, mit dem Inhalt der Gift- ampullen überein.
Wir haben später, um die Stichhaltigkeit unserer Behauptungen zu überprüfen, noch eine Reihe weiterer Untersuchungen angestellt, bei welchen einerseits genau abgemessene Mengen von mehreren Kubikzentimetern Flüssigkeit verarbeitet wurden, andererseits, soweit dies tunlich war — bei den konzentrierten Lösungen — nicht die mikroanalytische Methode, son- dern das gewöhnliche Kjeldahlverfahren, wie es in der Makroanalyse üblich ist, angewendet wurde. Die betreffenden Flüssigkeitsmengen hat — wie immer — Graßberger selbst genauestens abgemessen. Sie wurden in Kjel- dahlkolben gefüllt, die sodann mit Nummern bezeichnet wurden, deren Bedeutung dem chemischen Mitarbeiter Dr. Noziezka nicht bekannt gegeben wurden. Die mit Nummern bezeichneten Kolben wurden mit dem, Graßberger und seinen zwei anderen Mitarbeitern bekannten Inhalt ent-
120 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
sprechend im Protokoll verzeichnet, während Dr. Noziczka die Analysen allein ausführte und die Analysenresultate überreichte, die dann entspre- chend ihren Nummern in das Protokoll eingetragen wurden.
Nr. I und II entstammen dem Inhalt der Flasche V. Es sollte bei dieser Gelegenheit gleichzeitig geprüft werden, ob die in den Toxin- und in den Gemischflaschen regelmäßig vorgefundenen feinen Bodensätze, deren Beschaffenheit wir schon früher mehrmals untersucht hatten, wobei sich die Hauptmenge als in Äther löslich erwies, nennenswerte Mengen von Stickstoff enthalten, die je nach dem verschiedenen Sedimentierungszustand beim Aufziehen der Flüssigkeit in die Meßgeräte gelangen und kleine Ver- schiedenheiten des Stickstoffwertes der einzelnen Proben aus derselben Flasche bedingen konnten. Bei der Probe I wurden genau 4 cm? vorsichtig „us der klaren Flüssigkeit entnommen, sodann der Niederschlag aufgewir- belt und für Probe II aus der nun leicht trüben Flüssigkeit nochmals 4 cm? entnommen. Das Ergebnis der beiden Stickstoffbestimmungen stimmte voll- ständig überein. Der Stickstoffgehalt betrug in beiden Proben in 100 cm? 401 mg.
Probe Nr. III wurde in der Menge von genau 4,0 cm? mit dem klaren Inhalt einer laut Protokoll S. 175 am 29. Januar 1925 in Anwesenheit von Dr.O mit Toxin Kling V I aus der großen Vorratsflasche des Institutes G gefüllten, etwa 1 1 fassenden besonders signierten Flasche entnommen, die seither in unserem Institute im Vorraum des inneren Kühlabteils aufbewahrt worden war. Die Menge des Gesamtstickstoffs in 100 cm? Toxin Kling VI betrug 377 mg. |
Nr. IV. Für diese Probe wurden 3 cm? der noch restlich vorhandenen einwandfrei verschlossen aufbewahrten Probe der Flasche „Viola“ ent- nommen, die uns seinerzeit in der Menge von 20 cm? durch das Institut G abgefüllt worden war. Es ergab sich pro 100 cm? berechnet ein Stickstoff- gehalt von 342 mg N.
Nr. V. In diesem Falle wurden 2 cm? aus einem uns von Dr. O über- gebenen Fläschchen mit Diphtherieserum Serie 1307 (mit paraffinier- tem Stoppel verschlossen, seit Dezember 1924 im Institute von uns auf bewahrt) verarbeitet. In 100 cm? des Diphtherieserums Serie 1307 waren 1,939 g N enthalten.
Nr. VI. Die Stickstoffbestimmung in den aus dem Y.-Spital seinerzeit rückgestellten Glattampullen hatte einen N-Wert von 41,8 ergeben. Fast genau den gleichen Wert erhielten wir in der Mischung des Inhalts der aus Sowjet-Rußland zurückgekommenen Glattampullen 28, 30, 34, 36, 38 und 40: pro 100 cm? Al,img N.
Das Resultat dieser Bestimmungen ist durchaus eindeutig. Die Ab- stände, welche die Mittel- und Grenzwerte für Toxin Kling VI (große Fla- sche) „Viola“, Glatt- und Giftampullen voneinander zeigen, lassen weder an der Zuverlässigkeit unserer Methodik noch an der Verschiedenheit bzw. Übereinstimmung der einzelnen Flüssigkeiten in dem schon von uns früher betonten Sinne einen Zweifel übrig.
Ja, noch mehr. Wir wissen aus den Angaben des Dr. O, daß der Inhalt der Flasche V seinerzeit aus 400 cm3 Toxin Kling VI und 5,0 em? Diphtherie- serum Serie 1307 hergestellt worden ist. Nachdem 100 cm? des Serums
Von Dr. Roland Graßberger. 121
1,939 g N enthalten, enthalten 5 cm? den 20. Teil hievon, das ist 0,09695. Vermengt man 400 cm? Toxin, welche 0,377 x 4 d. i. 1,508 g N enthalten, mit 5 cm? Serum, die 0,09695 g N enthalten, so erhält man 405 cm? mit 1,60495 g N, demnach entsprechend der Proportion: 405:1,60495 = 100: X. x = 0,396 g N in 100 cm? des Inhalts der Flasche V. Vergleichen wir hiemit die von uns in Flasche V festgestellten Stickstoffgehalte von 0,401 g (Proben I und II), so ergibt sich eine Übereinstimmung, wie sie besser nicht gewünscht werden kann.
Durch die Gesamtheit dieser Analysen ist bewiesen, daß eine analytisch verfolgbare Abnahme des Gesamtstickstoffs weder im Toxin Kling VI der großen Flasche, noch in der Originalflasche V, noch in den verschie- denen Glattampullen im Laufe der Jahre eingetreten ist. Dies wird ver- ständlich, wenn man bedenkt, daß in den phenolhältigen (!) Toxinlösungen und deren Gemischen jede Bakterientätigkeit erloschen ist. Wenn auch langsam erfolgende Veränderungen bestimmter Substanzen zu einer längst beschriebenen, nach Lösung und Lagerperiode verschiedenen Abnahme der Giftigkeit führen, so tritt doch keine, den Gang unserer Aufstellungen störende Abnahme des Gesamtstickstoffs ein.
Aus den Ergebnissen dieser späteren Stickstoffbestim- mungen geht hervor, daß der Gesamt-N-Wert des Inhalts der Flasche „Viola“ seit einem Halbjahre bis heute völlig kon- stant geblieben ist; daß ebenso das Gemisch, das vor fast 314, Jahren aus dem Toxin Kling VI und Serum Serie 1307 bereitet wurde, auch heute noch genau jenen N-Wert auf- weist, welcher der Summe der zur Bereitung verwendeten, bis heute getrennt aufbewahrten Lösungen (Toxin und Serum) entspricht. Da Toxin Kling VI, die Flasche V und die Flasche „Viola“ seit Jahren unter ganz ähnlichen Verhältnissen auf- bewahrt wurden, ist mit Sicherheit anzunehmen, daß im Juli 1924 bereits die Verschiedenheit des N-Gehaltes zwischen dem Inhalt der Flasche „Viola“ und jenem der großen Flasche Toxin Kling VI bestanden hat.
Die vorzügliche Übereinstimmung der verschiedenen Analysenresultate belehrt nicht nur über die Verläßlichkeit der so geistvoll ausgedachten und so geschickt ausgebauten Methoden der Mikroanalyse, sondern kann auch geradezu als ein Schulbeispiel für den Wert der Mikroanalyse für die Auf- klärung verwickelter forensischer Fälle angesehen werden.
Vergleich des Gehaltes der verschiedenen Lösungen an Ei- weiß und Albumosen durch Versetzen gleicher Mengen der Lösungen mit bestimmten Mengen 20proz. Sulfosalicylsäure.
Ein vorzügliches Reagens zum Nachweis geringer Mengen von Eiweiß und Albumosen ist 20 proz. Sulfosalicylsäure, die (vgl. die Arbeit von Bus- son in der Wr. kl. Wochenschr. Nr. 28) auch von anderen bei Versuchen zur Fällung des Diphtherietoxins angewendet worden ist. Wir haben eingehend verfolgt, wie sich die verschiedenen Lösungen gegenüber dem Zusatz von Sulfosalicylsäure verhalten. Der Hauptversuch zeigte, daß 10fach ver- dünnte Gemische, die von uns ganz nach dem Rezept der Flasche V aus
122 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
400 cm? Toxin Kling VI und 5 cm? Diphtherieserum Serie 1307 hergestellt waren — sie führen in unseren Versuchsprotokollen die Bezeichnung Affe V und Simili V — weitaus die stärkste Trübung zeigen, die der Trübung des 10fach verdünnten Gemisches aus der Originalflasche V und des Inhalts der ungiftigen Ampullen durch Sulfosalicylsäure nahezu gleichkam. An nächster Stelle folgte das 10fach verdünnte Toxin Kling VI. Von da angefangen nimmt die Trübung ab in der Reihenfolge:
Lärche, Viola, Linde, Tulpe, Primel, Tanne, Veilchen, Nelke, Buche, Rose, Lilie, Eiche. Vier weiter folgende Giftlösungen bleiben auf Zusatz der Sulfosalicylsäure nahezu vollständig klar und die übrigen Giftlösungen zeigen auf Zusatz des Reagens keine Spur von Trü- bung. |
Da für diesen Hauptversuch bei der geringen Zahl der Giftampullen und der durch die beschränkte Zahl der verfügbaren Giftampullen gebotenen Ökonomie der Verwendung kein Inhalt giftiger Ampullen zur Verfügung stand, sei auf einen Vorversuch verwiesen, bei welchem der Inhalt der Ber Giftampulle Nr. 42 eine geringere Trübung aufwies als das 10fach verdünnte Toxin Kling VI.
Es gelang also weder durch präzipitierendes Serum noch durch den anaphylaktischen Versuch, die Anwesenheit von Pferdeserum in dem Inhalt der giftigen Ampullen nachzu- weisen. Ja, durch die Bestimmung des Gesamtstickstoffes nach Kjeldahl und die Fällungen mit Sulfosalicylsäure ist sogar der Nachweis erbracht, daß der Inhalt der giftigen Ampullen weniger Gesamtstickstoff und weniger durch Sul- fosalicylsäure fällbare Eiweißabkömmlinge enthält, als die entsprechenden Verdünnungen der zur Herstellung des Gemisches V verwendeten Giftlösung Toxin Kling VI.
V. Wie ist die Giftigkeit eines Teils der Ampullen zu erklären?
Ich möchte als wichtige Tatsache voranstellen, daß, gleich nachdem das Institut G von der Katastrophe in B verständigt worden war, bei der Nach- prüfung des Inhalts der Flasche V sich herausstellte, daß der Inhalt auch jetzt keineswegs giftig war, sondern genau so wie bei den früheren Untersuchun- gen, zuletzt noch bei einem von einem Dr. S am 14. Juli 1924 demonstrierten Experimente die Injektion größerer Mengen bei Meerschweinchen keine Gift- wirkung hervorrief.
Auch die genauere Untersuchung des Toxinbindungsvermögens, die wir nachher mit dem Inhalte der Flasche V vorgenommen haben, sowie die Parallelversuche mit frisch hergestellten und gelagerten Gemischen, die wir entsprechend den Aufzeichnungen von Dr. O aus Toxin Kling VI und Heil- serum 1307 so herstellten, daß wir diese Flüssigkeiten im Verhältnis von 400 zu 5 vermischten, zeigten unverkennbar, daß das Gemisch der Original- flasche V das gleiche Toxinbindungsvermögen aufwies, wie es das gelagerte von uns hergestellte Simili V-Gemisch zeigte. |
Nach diesen Ausführungen bleibt keine andere Erklärung übrig, als die Annahme einer Verwechslung der Lösungen bei der Her-
Von Dr. Roland Graßberger. 123
stellung der Ampullenflüssigkeit, da an eine verbrecherische absichtliche falsche Füllung nicht gedacht werden kann.
Das ziffernmäßige Verhältnis der giftigen zu den ungiftigen Ampullen, das sich aus der Untersuchung des uns zur Verfügung gestellten Materials ergibt, läßt keinen Zweifel darüber, daß nur bei der einen der beiden Ab- füllungen am 10. und 21. Juli, dann aber alle Ampullen mit Gift gefüllt wurden. Da wir nicht sämtliche Ampullen zur Untersuchung bekommen haben, sind wir nicht in der Lage zu sagen, ob die Abfüllung der 110 Am- pullen oder die der 100 Ampullen, die in den rot geschriebenen Zeilen des Abgabeausweises des Institutes G verzeichnet sind, giftig war.
(Von den 85 Sowjetampullen waren alle 10 Ampullen der Schachtel 2 giftig, alle 15 der Schachtel 1 ungiftig. Aus der Schachtel 5 waren 6 Ampullen, und zwar die Nummern 56, 58, 60, 62, 64, 66 ungiftig und 2 Ampullen Nr. 68 und 70 giftig. Die restlichen 7 Ampullen dieser Schachtel wurden nicht geöffnet. Aus der Schach- tel 3 wurden die Ampullen Nr. 26, 28, 30, 32, 34, 36, 38, 40 geöffnet, sie erwiesen sich alle als ungiftig. Ebenso erwiesen sich die geöffneten Ampullen der Schachtel 4 und zwar Nr. 41, 42, 44, 46, 48, 50, 52, 54 und die geprüften Ampullen Nr. 72, 74, 76, 78, 80, 82, 84 der Schachtel 6 als ungiftig. Da nach unserer Berechnung wegen des unbekannten Verhaltens von 15 nicht zurückgesandten Sowjetampullen und der 5 an Dr. Z, gelieferten Ampullen, sowie der von Dr. O zum anaphylaktischen Versuch verbrauchten 6 Ampullen und der nicht nachweisbaren fehlenden Ampul- len auf keinen Fall heute noch zu eruieren ist, ob die Zahl der giftigen Ampullen oder jene der ungiftigen Ampullen 100 bzw. 110 betrug, haben wir, um dem Ge- richte uneröffnete Ampullen zur Verfügung zu lassen, von einer Öffnung sämtlicher in unsere Hand gelangten Ampullen abgesehen.)
Wir haben bei der Aufnahme am 18. Dezember 1924 auf unsere Frage, in welcher Reihenfolge und Ordnung die gefüllten Ampullen gleich nach der Abfül- lung im Juli und bis zur Verwendung im Parterrekühlschrank gelagert waren, keine irgendwie verwertbaren Angaben erhalten. Es konnte sich niemand von den Beteiligten an die Einzelheiten erinnern.
Daß eine Verwechslung der Stammflasche V mit einer der im gleichen Schranke aufbewahrten Giftflaschen stattgefunden hat, ist nicht zu be- zweifeln. Dagegen sind wir begreiflicherweise nicht imstande, mit ab- soluter Sicherheit auszusagen, welche von den Giftflaschen mit der Flasche V verwechselt wurde. Es spricht jedoch die größte Wahr- scheinlichkeit dafür, daß die Flasche „Viola“ mit der Flasche V verwechselt wurde. Abgesehen davon, daß die Flasche „Viola“ als einzige von allen im Schranke genau die gleiche Form und Größe wie die Flasche V hat, sprechen hierfür folgende Gründe:
1. Nach dem Verhalten bei der Sulfosalicylsäurefüllung sind mit den Giftampullen nur die 10fach verdünnten Nachbargifte „Lärche, Viola, Linde, Tulpe, Primel, Tanne, Veilchen‘ zu vergleichen, wobei Viola sich von „giftigen Ampullen“ nur ganz minimal, und zwar in derselben Richtung unterscheidet, wie bei dem Parallelversuch mit !/,, Toxin Kling VI, was auf die Beeinflussung zurückzuführen ist, welche die Fällung infolge der aus dem Glase aufgenommenen Substanzen zeigt. Die anderen hier angeführten Nachbargifte geben stärkere bzw. schwächere Trübung mit Sulfosalicyl- säure.
2. Nach dem N-Gehalt scheiden Linde (0,0512—0,0531), Veilchen
(0,0451), Lärche (0,0365), Tulpe (0,0368) als zu reich an Stickstoff aus. Es bleiben nur Primel, Viola, allenfalls Tanne, welch letztere aber (siehe
124 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
Punkt 1) mit Sulfosalicylsäure beträchtlich weniger Niederschlag gibt. Nach dem N-Gehalt ordnen sich diese Gifte in folgender Reihe:
è 1. Giftige Ampullen . . . . . 2 2 ......0,0333—0,0339 2. Viola . . 2 22 222 222.22. 0,0331—0,0339 3. Primel 22... 2.2.2.0.0344.
3. Vergleicht man nun den Grad der Giftwirksamkeit der giftigen Am- pullen mit Viola und Primel, so ergibt sich, daß Primel (10fach verdünnt) schwächer wirkt als Viola, während Viola und Giftampullen überaus ähnlich wirken.
4. Was das Serumbindungsvermögen betrifft so verhalten sich Viola und giftige Ampullen sehr ähnlich, während Primel weniger Serum bindet.
Die Ähnlichkeit von Viola (10fach verdünnt) und Giftampulleninhalt ist also in der Tat sehr weitgehend.
VI. Versuche über die Möglichkeiten des Giftigwerdens von Toxin- Antitoxin-Gemischen unter dem Einfluß verschiedener chemischer und physikalischer Einwirkungen.
Einleitung.
Unsere Darstellung in den vorausgehenden Kapiteln hat wohl jedem Sachverständigen bewiesen, daß die Giftampullen gar kein antitoxisches Serum enthalten haben, daß daher ein Giftigwerden ihres Inhalts durch Zersetzung des ursprünglich vorhandenen Toxin-Antitoxingemisches gar nicht in Frage kommen kann. Da aber immer wieder recht kritiklos von der Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit der Beteiligung einer solchen „Zersetzung“ im Ber Falle gesprochen wurde, haben wir es bei der außer- ordentlichen Tragweite der Frage für nötig gehalten, auch über die Be- dingungen des Giftigwerdens von Toxin-Antitoxin-Gemischen nach allen Richtungen eingehende Versuche anzustellen, die für die Fachgenossen ein über den konkreten Fall hinausgehendes Interesse bieten dürften.
Es ist seit längerer Zeit bekannt, daß Gemische von Toxinlösungen und anti- toxischem Serum sich unter bestimmten Einflüssen so verändern können, daß sie, wenn sie vorher schwach giftig waren, an Giftigkeit zunehmen, ja, daß sogar solche Gemische, die einen solchen Überschuß von Antitoxin enthalten, daß sie frisch hergestellt gar nicht giftig wirken, unter ganz bestimmten Verhältnissen giftig werden. Derartige Erfahrungen liegen z. B. für Gemische von Schlangengift und seinem Gegengifte vor. Auch für Gemische von Diphtheriegift und Antitoxin liegen experimentelle Studien aus der Vorkriegszeit über die Zersetzung durch Salz- säure, aus der Nachkriegszeit über Veränderungen der Gemische durch Ein- frieren vor. Letztere haben besonders deshalb die Aufmerksamkeit der Forscher erregt, weil in Amerika durch die Verwendung von solchen eingefrorenen und wieder
aufgetauten Gemischen zur prophylaktischen Behandlung von Personen Unfälle vorgekommen sind. Drei Arbeiten in dem Journal of the American Medical Asso- ciation 1924, Bd. 82, bringen zum Teil sehr ausführliche Angaben über Experi- mente, Gemische durch Einfrieren giftig zu machen. Die gesamte ältere und neuere Literatur über die unter dem Einfluß von Alkali, von Säure, durch Ein- frieren bedingten Veränderungen von solchen Gemischen; über den Einfluß ver- schiedener Oxydationsmittel, höherer Temperaturen, sowie der Belichtung auf Gift, Antitoxin und Gemische von beiden sind reich an interessanten Beobach- tungen, aber auch an bisher nicht gelösten Widersprüchen. Für die vorliegende Veröffentlichung muß auf eine eingehende kritische Besprechung des gesamten in der Literatur besprochenen Tatsachenmaterials verzichtet werden.
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Bevor wir auf unsere Versuche, die möglichen Veranlassungen zu einer Zersetzung der Gemische mit dem Endresultat ihres Giftigwerdens experi- .mentell zu verfolgen, eingehen, müssen wir uns etwas näher mit der Art der Gemische befassen, die für den Löwenstein-Bussonschen Impfstoff benützt werden. Der Gedanke, an Stelle von Toxinlösungen zur sog. ak- tiven Immunisierung Gemische von Toxin und Antitoxin zu verwenden, ist bereits vor diesen beiden Autoren von anderen verfolgt worden. Für Diphtherie hat diese Methode unseres Wissens zuerst von Kretz angeregt, in einer von Behring empfohlenen Form ausgedehnte Anwendung gefunden. Das Charakteristische dieser Gemische liegt darin, daß hier zu einer bestimmten Menge von Giftlösung nur so viel Antitoxin hinzugesetzt ist, daß das Gemisch im Tierversuch keine akuten Erscheinungen macht. Bei der in Amerika in großem Ausmaß nach den Angaben von Park gewähl- ten Modifikation dieser Methode wird bei der Bereitung der Gemische zu einer Giftlösung, die in 1,0 cm3 drei „L-Toddosen“ enthält (das ist dreimal so viel als nötig ist, um — einer Antitoxin-Einheit zugesetzt — subkutan injiziert ein Meerschweinchen nach 4 Tagen zu töten), soviel Antitoxin zugesetzt wird, daß 1cm? einem Meerschweinchen subkutan injiziert, erst ungefähr nach 25 Tagen unter Lähmungserscheinungen den Tod ver- ursacht. Es geht aus dieser Angabe hervor, daß jedes Kubikzentimeter dieser Lösung ‚impliziert‘ eine sehr beträchtliche Menge von Gift enthält, da einer „A.E.“ z. B. 0,4 cm? Toxin Kling VI (das sind 70 tödliche Dosen) und drei „A.E.“ daher 210 tödlichen Dosen entsprechen, so daß demnach durch dieses Gemisch, wenn ein wesentlicher Teil des Giftes frei wird, in der Tat schwere Giftwirkungen entstehen können. Auch die amerikanischen Autoren haben in neuerer Zeit Gemische zur Immunisierung verwendet, die pro 1,0 cm? nur 0,1 L-Tod, also nur den 30. Teil der oben angegebenen Menge des Giftes, impliziert enthalten, so daß z. B., wenn aus dem Toxin Kling ein solcher Impfstoff hergestellt würde, in 1,0 des so verdünnten Impfstoffes 0,04 Toxin, das sind etwa 7 tödliche Dosen impliziert enthalten wären. Dieser Impfstoff entspricht in der Größenordnung des implizierten Impfstoffes einigermaßen dem Busson-Löwensteinschen, aber das _ Charakteristische dieses Impfstoffes liegt darin, daß der Giftlösung verhält- nismäßig mehr Serum zugesetzt wird, so daß die Giftlösung überneutrali- siert ist, oder um einen anderen Ausdruck zu gebrauchen, der von Graß- berger und Schattenfroh schon vor 20 Jahren bei ihren Studien über die Immunisierung durch überneutralisierte Rauschbrandgift-Gegengitt- gemische angewendet wurde — daß die Gemische ‚„Überserumgemische“ sind, so daß die Meerschweinchen auch nach Injektion von 0,4 und mehr cm? des nicht verdünnten Gemisches aus der Originalflasche V oder analoger Gemische nicht erkranken.
Aus dem überneutralisierten Gemische aus der Originalflasche V des Institutes G, von dem wir schon früher gesprochen haben (400 cm? Toxin Kling VI + 5 cm? Di-Serum) wird nun nach Bedarf bei der Abfüllung der Ampullen durch Verdünnung der Stammlösung mit karbolisierter physio- logischer Kochsalzlösung in dem Verhältnis: 1 em? Stammlösung plus 9 cm? Phenol-Kochsalzlösung der für die Praxis bestimmte Impfstoff bereitet.
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Von diesem gebrauchsfertigen Löwenstein-Bussonschen Impf- stoffe entspricht 1,0 cm3 — soviel ist in jeder Ampulle enthalten — 0,1 cm? Gemisch der Flasche V und enthält „impliziert“, d.h. ursprünglich vor- handen 0,098 cm? Toxin, das ist etwa 19—14 tödlichen Meerschweinchen- dosen, je nachdem ob die minimale Dose des Original Toxin Kling VI für ein 250 g schweres Meerschweinchen mit 0,005 oder mit 0,007 cm? angenom- men wird (s. o.)
Aus dem Vergleich der „Ber Todesfälle“ und der „Meerschweinchen- todesfälle nach Injektion des Inhaltes giftiger Ampullen‘ läßt sich nun fol- gendes berechnen. Falls die Giftwirkung der Ampullen durch eine Zerset- zung des (regelrecht aus dem Originalgemisch V durch 10faches Verdünnen bereiteten) Impfstoffes bedingt war, und die Empfindlichkeit des Kindes pro 250 g Gewicht annähernd dieselbe ist wie jene des Meerschweinchens, so mußten, um ein 3400 gschweres Kind zu töten, von dem implizierten Toxin, das in einer Ampulle enthalten war, etwa 1,—?/, wieder frei geworden sein. Das ist ein sehr beträchtlicher Anteil.
Es seien nun der Reihe nach alle irgendwie in Betracht kommenden Einwirkungen besprochen, die hätten etwa im Stande sein können, eine so merkwürdige, weitgehende Zersetzung hervorzurufen, wenn in die Gift- Ampullen wirklich der Löwenstein-Bussonsche Impfstoff ein- gefüllt gewesen wäre.
Veränderungen, die sich beim einfachen Lagern von Gift- lösungen, Serum und Gemischen einstellen.
Es ist seit langem bekannt, daß sich auch in einwandfrei gewonnenen und aufbewahrten Giftlösungen und Heilserumvorräten mit oder ohne anti- septisch oder desinfizierend wirkenden Zusätzen im Laufe des Lagerns Ver- änderungen vollziehen, die teils sichtbar sind und zum Auftreten von Boden- sätzen führen — letztere werden zumeist bei der Entnahme von Proben möglichst wenig aufgewirbelt in den Flaschen belassen —, zum Teil aber nur am Abnehmen der Wirksamkeit der Giftlösungen und des Serums er- kennbar sind. Auf Grund einschlägiger Erfahrungen ist von den serothera- peutischen Instituten bei der Ausgabe von Serumfläschchen und Impfstoffen verschiedener Art die Dauer der Verwendbarkeit vielfach befristet, was auf den Etiketten vermerkt wird. Auch die Giftlösungen verändern sich be- kanntlich so, daß die Giftigkeit und der Serumbindungswert bei manchen Lösungen, z. B. gerade Diphtheriegiftlösungen nicht parallel abnehmen bzw. in gewissen Stadien der Bindungswert erhalten bleibt, der Giftwert sinkt. Bei der Verwendung des Antitoxins als Ausgangspunkt für die Be- rechnungen der Eichungen müssen oft komplizierte Verfahren zur Konser- vierung (Eintrocknen im Vakuum usw.) Anwendung finden, um die Garan- tie zu geben, daß durch Abwägen einer bestimmten Menge wirklich jedes Mal die erwartete Antitoxinmenge z. B. 1 A.E. in Anwendung genommen wird. Der Verlauf der spontanen Veränderungen beim Lagern erfolgt nach komplizierten Gesetzen, die Kurve der Veränderungen ist „persönlichen“ Verschiedenheiten der einzelnen Lösungen unterworfen, so daß es reicher Erfahrungen, mancher Kunstgriflfe und eines oft monatelangen Lagerns der
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‚Lösungen bedarf, um — durch einige Zeit für bestimmte Eichungen ver- wendbare — Flüssigkeiten zu erhalten. Belangreich für den vorliegenden Fall, wo der Vergleich derselben Lösungen in durch Monate und Jahre ge- trennten Abständen in Frage kommt, wobei überdies die Versuche in der Hand verschiedener Personen lagen und zum Teil nur mit einer für die nähere Fragestellung eben hinreichenden Anzahl von Versuchstieren, nicht mit erschöpfender Genauigkeit durchgeführt wurden, sind die Veränderungen, die sich beim Lagern von Glattgemischen, Überserum- und Übertoxin- gemischen vollziehen. Für das vorliegende Problem sind besonders die zumal beim Rauschbrandgift und beim Diphtheriegift bzw. deren Ge- mischen mit dem betreffenden antitoxischen Serum sich einstellenden Veränderungen beachtenswert, die experimentell dadurch nachzuweisen sind, daß sich beim Lagern die Verbindung von Gift und Gegengift festigt, so daß sich die durch Einwirken von irgendwelchen Agentien erfolgende Zerstörung des im Gemisch implizierten Toxins unmittelbar nach dem Mi- schen, sowie nach Tagen und Wochen in verschiedenem Maße bemerkbar macht.
Es äußert sich dies bekanntlich in den Tierversuchen so, daß Gemische, frisch hergestellt, bis zur Erzielung einer erstrebten „Gift‘‘- oder „Glatt‘- Wirkung mehr Toxin bzw. mehr Serum-Zusatz erfordern, als nach kürzerem oder längerem Lagern.
Aus unseren Spezial-Tabellen sind die Belege für die Verfestigung der Bindungen beim Lagern zu entnehmen. Um diese Arbeit nicht über- mäßig mit Ausführungen zu belasten, sei hier angeführt, daß nach unseren zahlreichen Experimenten die Richtung und Größenordnung dieser beim „Lagern“ eintretenden Veränderungen die Annahme zurückweisen, als sei etwa durch solche Einflüsse beim Aufbewahren der Ampullen der vorerst harmlose Inhalt auch nur entfernt in dem Grade giftig geworden, wie er sich bei der Prüfung der „Giftampullen‘“ im Tierversuch erwiesen hat.
Veränderungen, die sich etwa durch Übergehen von Alkali und anderen Substanzen aus dem Glase in die Flüssigkeit der Flaschen und Ampullen vollzogen haben, oder dadurch hervorgerufen waren, daß sich aus dem Glase der Meßpipet- ten, die zum Übertragen von Flüssigkeiten bei der Herstel- lung der Verdünnungen dienten, Substanzen lösten, oder daß Reste der zum Reinigen der Glasgefäße benützten Sodalösun- gen auf das Gemisch wirkten.
Wir haben uns zunächst davon überzeugt, daß nach der im ganzen gewiß sehr exakten Betriebsweise, die im Institute G bei der Reinigung, Sterilisation und anderen Handgriffen des Bedienungspersonales gehandhabt wird, die Aufnahme von Resten der zum Reinigen verwendeten Sodalösung überaus unwahrscheinlich ist, und daher die letztgenannte Eventualität füglich außer Betracht bleiben kann. Was die Aufnahme von Substanzen aus dem Glase betrifft, so liegt hier die Sachlage etwas anders. Maßgebend hiefür ist erstens die Beschaffenheit des Glases, zweitens die Beschaffenheit der Flüssigkeiten, drittens die Dauer des Kontaktes von Flüssigkeit und
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Glas und viertens das Verhältnis der Flüssigkeitsmenge zur Kontaktober- fläche. Je leichter löslich das Glas ist, je länger die Dauer des Kontakt und je größer das Verhältnis der Oberfläche zum Inhalt des Gefäßes, um so reichlicher ist die Menge der vom Glas in die Flüssigkeit des Aufbewahrungs- gefäßes abgegebenen Menge der im Glase enthaltenen Substanzen bis der — durch Zusammensetzung der Lösung und des Glases — bestimmte Gleich- gewichtszustand erreicht ist. Da sind es nun gerade die Ampullen, welche Beachtung verdienen.
In der Tat dachte man im Institute G anfangs an die Möglichkeit einer Zersetzung des Ampulleninhalts durch das vom Glas abgegebene Alkali. Dr. O, der von Grassberger ausdrücklich ersucht wurde, jede ihm - irgendwie wahrscheinliche Ursache für das Giftigwerden des Ampulleninhal- tes durch Zersetzung anzugeben, machte uns darauf aufmerksam, daß man- che Gläser, die für Ampullen verwendet werden, trüb anlaufen und hatte die Liebenswürdigkeit, uns etwa 15 Ampullen aus farblosem Glase, welche die Erscheinung der Trübung besonders auffällig zeigten, zur Verfügung zu stellen. Die Provenienz dieser Gläser, Dauer der Aufbewahrung usw. war nicht mehr festzustellen. Wir sprengten die Ampullen auf und fanden nun, daß die innere Oberfläche mit nadelförmigen Kristallen bedeckt war. Nach Betupfen mit Salzsäure zeigte sich Aufbrausen. Es handelte sich in diesem Falle demnach vermutlich um Ampullengläser, die mit Sodalösung ausgewaschen waren. Wir besitzen allerdings keine hinreichenden Erfah- rungen darüber, ob beim Lagern blind gewordenen Glases etwa unter dem Einfluß der Kohlensäure der Luft sich Karbonate bilden können, welche so auffälliges Aufbrausen bei Zusatz von Salzsaure ergeben. Da nun aber diese Ampullen aus farblosem Glas waren, haben wir uns darauf beschränkt, Dr. O den Sachverhalt mitzuteilen. |
Das Blauglas der in unserem Falle verwendeten Ampullen ist, wie aus unseren Analysen-Protokollen zu entnehmen ist, ein ausgesprochen weiches Natronglas. Offenbar ist diese Glassorte deshalb gewählt, weil sie sich leich- ter schmelzen und blasen läßt. Es gehen nun tatsächlich Substanzen aus dem Glase recht ausgiebig in den Ampulleninhalt über. Wir haben zuerst durch die einfache Probe des Betupfens von Lackmuspapier mit je einer Dose Ampulleninhalts gleich bei den ersten giftigen Ampullen eine auf- fällıg starke alkalische Reaktion feststellen können, da wir aber später auch den Inhalt der ungiftigen Ampullen mit der gleichen Reaktion stärker al- kalisch fanden als frisch hergestellte Verdünnungen von Toxin oder Gemi- schen war ein genaueres Verfolgen der Reaktion geboten.
Wir haben alle in Betracht kommenden Lösungen (Toxinlösungen, Gemische, Verdünnungen) auf ihre Wasserstoffionen-Konzentration nach der Methode von Michaelis unter Anwendung einer kleinen Modifikation (Komparator für kleine Flüssigkeitsmengen), die durch das geringe Quantum der zur Verfügung stehenden Flüssigkeiten geboten schien, untersucht.
Der Inhalt der geprüften Ampullen wies eine auffallend stark alkalische Reaktion auf, wobei aber kein Unterschied zwischen giftigen und ungiftigen Ampullen zu bemerken war. Weitere Versuche zeigten, daß Lösungen mit fein gepulvertem Ampullenglas zusammengebracht und unter wiederholtem Aufschütteln einige Tage und viele Wochen stehen gelassen, sich völlig
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oder annähernd auf den gleichen Grad der Alkaleszenz einstellten, den der Inhalt der Ber und Sowjet-Ampullen aufwies. Giftlösung mit Glaspulver stellte sich nach 6 Wochen auf Pu =8,0 ein. Durch einige Versuche ist auch festgestellt worden, wie sich die in Betracht kommenden Giftlösungen und Gemischlösungen unter dem Einfluß bestimmter Zusätze von normal und !/,, normal NaOH und Na,CO,-Lösungen verhalten bzw. welche Ände- rungen der Wasserstoffionenkonzentration hiedurch hervorgerufen werden.
Ist durch diese Versuche bewiesen, daß die Alkaleszenzverschiebungen sich in den giftigen und ungiftigen Ampullen im gleichen Sinne und in ähnlicher Größenordnung vollzogen, so wurde andererseits eine große Zahl von Versuchen angestellt, um unabhängig hievon festzustellen, ob etwa durch Alkalizusatz Gemische und deren Verdünnungen giftig werden. Es ließen sich keinerlei Anhaltspunkte dafür gewinnen, daß die Giftigkeit des Ampulleninhaltes irgend etwas mit dem Aufnehmen von Alkali oder anderen Substanzen aus dem Glase hätte zu tun haben können.
Veränderungen durch die mit der Verdünnung unvermeid-
liche Anderung der Konzentration der H- bzw. OH-Ionen und
der übrigen Stoffe bei der Zubereitung der Ampullenflüssig- keit?
Bei regelrecht nach der Anweisung vorgenommener 10facher Verdünnung des Inhalts der Flasche V mit karbolisierter physiologischer Kochsalzlösung stellen sich meßbare Veränderungen der lonenkonzentration ein. Während die Originalflüssigkeit V eine PH-Konzentration von 7,7 besitzt, ebenso wie das Toxin Kling VI, zeigte eine mit Hilfe der im Institute G noch heute aufbewahrten Karbolsäure, chemisch reinem Kochsalz und sorgfältigst gereinigtem destilliertem “ Wasser hergestellte karbolisierte Kochsalzlösung (sie enthält in 100 cm? 0,85 Kochsalz und 0,45 Phenol) eine Pn-Zahl von 6,8. Die frisch hergestellte 10fache Verdünnung des Toxin Kling VI mit dieser Lösung zeigte hingegen eine Pn-Zahl von 7,4. Ein sichtbarer Ausdruck der sich durch die Ver- dünnung vollziehenden Veränderungen in diesem physikalisch-chemisch sehr komplizierten System von gelösten und pseudogelösten Stoffen ist vielleicht gegeben durch das gelegentliche Auftreten von charakteristischen spärlichen fein- sten Flocken oder unregelmäßig begrenzten winzigen Schollen, die bei manchen Lösungen so auch bei dem Inhalt der Originalflasche V beim Verdünnen zumal dann beobachtet werden, wenn das Mischen der Flüssigkeit nicht sehr vorsichtig erfolgt, sondern hiebei schwach geschüttelt wird oder der Zusatz der Verdünnungs- flüssigkeit langsam und schubweise erfolgt.. Für manche dieser Niederschläge ist es charakteristisch, daß sie infolge ihres geringen spezifischen Gewichtes beim Stehenlassen der Flüssigkeit nach oben steigen und sich in den Randteilen des Flüssigkeitsmeniskus so wie die Seifenflöckchen in einem seifenhältigen Schmutz- wasser an das Glas anlegen. Das Interessante hiebei ist, daß die Flockenbildung bei dieser Verdünnung von dem Verdünnungsfaktor abhängt, so daß bei Reihen- versuchen, bei welchen die Verdünnung mit der einfachen, zweifachen, dreifachen, vierfachen ...... achtfachen, zehnfachen Flüssigkeitsmenge vorgenommen wird, bei bestimmten Graden der Verdünnung Maxima der Flockenbildung zu beobach- ten sind. Es sei hier darauf verwiesen, daß sich auch in frisch hergestellten Gemischen mit Konzentration von Giftlösung und Serum im Verhältnis der Zu- sammensetzung der Flaschen I—V beim Stehen Bodensätze von weißlicher Farbe bilden, die sich am Rande zwischen Boden und Seitenwand als ringförmige Gebilde absetzen, die beim Bewegen der Flasche sich als Ganzes oder in Streifen loslösen. Diese Massen sind verhältnismäßig reich an in Äther löslichen Stoffen.
Es zeigte sich z. B., daß beim Verdünnen des Toxin Kling VI mit Serum Serie 1307 in einem Verhältnis, welches ungefähr jenem bei der Herstellung des
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Gemisches der Flasche V entspricht, unmittelbar nach dem Mischen solche Trü- bungen beobachtet wurden, die den Flockungstrübungen ähnlich sich verhalten, obwohl, wie später noch besprochen werden wird, das Tlockungsmaximum für das Toxin Kling VI gegenüber dem Serum Serie 1307 bei einem wesentlich geringeren Serumzusatz (0,0033 Ser für 0,4 cm?) liegt. Die mikroskopische Untersuchung die- ser Flocken im polarisierten Licht, die wir der Freundlichkeit Dr. Gangls ver- danken, ergab, daß der Niederschlag in seiner Hauptmenge optisch isotrop ist. Neben der amorphen Hauptmenge des Niederschlages, der ungefähr ähnlich aus- sieht wie frisch gefällte Eiweißflocken, sind ganz vereinzelt kleine doppelbrechende Kriställchen zu beobachten, die wegen ihrer geringen Menge nicht genauer be- stimmt werden konnten. Wir haben uns davon überzeugt, daß diese Trübung nichts mit etwaigen Verunreinigungen des Glases zu tun hat, daß aber ihr Auftre- ten nicht nur von den Konzentrations- und Verdünnungsverhältnissen, sondern auch von anderen Einflüssen abhängt, deren Bestimmung zum Teil nicht in der Hand des’ Experimentators liegt. Es sei aber hervorgehoben daß von solchen Röhrchen mit Verdünnungstrübungen weder die Gesamtflüssigkeit, noch der Bodensatz, noch die darüberstehende Flüssigkeit nach kurzem und längerem Stehen irgendwie giftig wirkt. Es sei hier übrigens daran erinnert, daß der Inhalt der Originalflasche V unverdünnt und verdünnt keine Giftwirkung aufwies.
Bei unseren Versuchen konnte in keinem einzigen Falle durch die Verdünnungsfällungen eine Abspaltung vonGiftbzw.einGiftigwerden vonToxin-Serumgemischen
beobachtet werden.
Veränderungen, die etwa durch das Hineingelangen von Säu- ren bei der Manipulation veranlaßt wären. |
Wenn auch, wie in dem früheren Punkte erwähnt wurde, die Wahr- scheinlichkeit des Hineingelangens und Verweilens von Waschflüssigkeiten in die gebrauchsfertigen Meßgeräte, die im Institute G beim Herstellen . der Verdünnungen verwendet werden, angesichts des exakten Arbeitens sehr unwahrscheinlich ist, so muß doch diese Möglichkeit eingehend er- örtert werden, da
1. tatsächlich zum Waschen der Pipetten starke Salzsäure ausgiebig Anwendung findet und es nicht ganz ausgeschlossen ist, daß durch irgend- einen unglücklichen Zufall einmal in eines der Gefäße ein oder zwei Tropfen dieser Substanz hineingelangen; und da
2. wie aus der Literatur bekannt ist, schon in der Vorkriegszeit ein Gif- tigwerden von Gemischen unter dem Einfluß geringer Mengen von Salzsäure beobachtet worden ist.
Morgenroth und Willanen haben bereits im Jahre 1907 versucht, die Verbindung von Diphtherietoxin und Antitoxin durch Zusatz von Salz- säure, wie sie sich ausdrücken, „zu sprengen“. Sie mischten Diphtheriegift. mit einer bestimmten Menge des Serums so, daß 5 cm? des Gemisches auf 230/200 Immunitätseinheiten eine 200/200 Immunitätseinheiten entspre- chende Menge Gift enthielten. Das Gemisch war daher ein schwach über- neutralisiertes „Überserumgemisch‘“. Von zwei Portionen dieses Gemisches erhielt die zweite soviel Salzsäure zugesetzt, daß das Gemisch etwas weniger Salzsäure enthielt, als einer 1/ioọ normalen Lösung entspricht, d. h. in 1 cm? etwa 0,36 mg Salzsäure. Ließen sie nun dieses Gemisch einige bis 24 Stunden im Brutschrank bei 37° stehen und injizierten sie hievon 5 em3 einem Kahin- chen intravenös, so erzielten sie Vergiftung und Tod, während das nieht mit
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Salzsäure versetzte Gemisch keine Giftwirkung zeigte. An Meerschwein- chen wurden damals keine Versuche vorgenommen. Diese Versuche sind theoretisch sehr interessant, aber praktisch weniger bedeutungsvoll, da die injizierten Mengen außerordentlich groß waren und die intravenöse Injektion bei Kaninchen zweifellos den Nachweis kleinerer Mengen frei gewordenen Giftes gestattete. Ja, es kann sogar als sicher angenommen wer- den, daß die beiden Autoren, die zu ihrer Arbeit durch eine vorausgehende Arbeit über die Abspaltung von Gift aus mit Säure versetzten Kobra- Gift-Gegengiftgemischen angeregt wurden, das Kaninchen deshalb als Versuchstier wählten, weil sie in Meerschweinchenversuchen — das Meer- schweinchen ist ja sonst für solche Versuche die allgemein benützte Tier- art — Mißerfolge hatten.
Wir haben nun zur Nachprüfung der Morgenroth-Willanenschen Resultate eine große Zahl von Versuchen angestellt, aus denen hervorging, daß wir beim Versetzen von Gemischen aus Toxin und Serum in allen möglichen, um diese Größenordnung der Salzsäurekonzentration variieren- den Dosen von Salzsäurezugabe, in keinem einzigen Falle eine irgendwie nennenswerte Giftwirkung auftreten sahen, die im Sinne Morgenroths und Willanens zu deuten gewesen wäre, wenn wir — dies sei nachdrück- lich betont — das mit Salzsäure versetzte und verschieden lang aufbewahrte Gemisch in verschiedener Menge als Ganzes injizierten. Wir haben aber bei dem Versetzen der aus Toxin Kling VI und Heilserum hergestellten Gemische mit Salzsäure beobachtet, daß bei dem unverdünnten Gemisch nach Zusatz von 0,25 cm? Normalsalzsäure zu 5,0 cm? (bei 10fach verdünn- tem Gemisch V nach Zusatz von 0,25 cm? 1/,, Normalsalzsäure zu 5,0 cm? Gemisch) eine Fällung entsteht. Es zeigte sich weiter, daß, wenn man durch Zentrifugieren oder einfaches Absetzenlassen die klare Flüssigkeit von dem Bodensatz trennte, der wiedergelöste Niederschlag nennenswerte Mengen von wirksamem Gift enthielt, während die klar über dem Nieder- schlag abgehobene Flüssigkeit eine beträchtliche antitoxische Wirkung besaß, deren Ausmaß in unseren Tabellen verzeichnet ist.
Schüttelte man aber eine ebenso behandelte Parallelprobe ein wenig und injizierte rasch, so daß Niederschlag und darüberstehende Flüssigkeit gleichzeitig einem Tiere injiziert wurden, so ließ sich weder beisubkutaner, noch bei intravenöser Injektion von Meerschweinchen eine Giftwirkung feststellen. Eine überaus große Zahl von mannigfach variierten Versuchen zeigte uns nun, daß i
1. nur bei Behandlung konzentrierter Gemische nennenswerte Mengen des implizierten Giftes in dem Niederschlag nachzuweisen waren, während bei der bestgewählten Versuchsanordnung mit 10fach verdünnten Gemischen stets nur so viel freies Gift im Niederschlag enthalten war, daß erst mehrere Kubikzentimeter des auf das ursprüngliche Volum gebrachten Niederschlages die tödliche Dose für ein Meerschweinchen enthielten, daß
2. auch bei den gelungenen Versuchen der Zusatz der Salzsäure zum Gemisch I bis zur Fällung in ganz bestimmter Weise, und zwar in 4 Por- tionen mit Pausen von 1, 3, 30 Minuten erfolgen mußte, daß überdies beim Zentrifugieren und Wiederauflösen des Niederschlages alle möglichen
g*
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Kniffe angewendet werden mußten, da die Salzsäure auf das gefällte bzw. mitgefällte Toxin selbst rasch schädigend wirkt. Daß starke Säuren, wie Salzsäure, das Toxin rasch zerstören, ist bereits bekannt und besonders in den Arbeiten von Busson über die Fällung von Toxin durch Säure be- schrieben.
Ohne auf die Einzelheiten unserer zahlreichen Versuche einzugehen, die in ihrer Anordnung — wie ersichtlich — auf das persönliche Verhalten des Toxin Kling VI eingestellt waren und einen ganz außergewöhnlichen Aufwand an Zeit und peinlicher Genauigkeit erforderten, sei für die vor- liegende Arbeit so viel betont, daß nach unserer Überzeugung keine einzige Möglichkeit auszudenken ist, die es irgendwie wahrscheinlich macht, daß etwa die Laborantin durch Benützen einer, Spuren von Salzsäure ent- haltenden Pipette oder eines „„Stamperls‘‘!) (Likörglas) mit ein oder mehre- ren Tropfen Salzsäure, unfreiwillig eine solche Versuchsanordnung getroffen habe, die alle Voraussetzungen zusammenfaßt, die nach unseren Experi- menten unter Verwendung von Stoppuhr, Zentrifuge, Neutralisations- mitteln usw. notwendig sind und dabei noch zufällig unsere mühsam er- worbene Kunstfertigkeit in dem „Freimachen und Trennen“ von Gift und Antitoxin wesentlich übertroffen habe.
Im übrigen sei bei dieser Gelegenheit betont, daß es durchaus angezeigt ist, bei dem Ausfällen des giftigen Niederschlages aus einem Gemische durch Salzsäure, Ausdrücke wie „Sprengen‘“, „Dissoziieren‘‘ usw. zu ver- meiden, da es bei dem Charakter der Verbindungen von Toxin und Antitoxin und ihrer Beziehungen zu den übrigen kolloid verteilten Substanzen der Toxinlösungen, bei welchen neben der spezifischen Bindungstendenz von Antitoxin und Toxin zweifellos auch Adsorptionserscheinungen eine wich- tige Rolle spielen, völlig unzulässig ist, bei der Beschreibung der zu beobach- tenden Erscheinungen solche Ausdrücke zu verwenden, die teils Kenntnisse vortäuschen, die wir noch nicht besitzen, teils Termini, die in der Chemie für bestimmte faßbare Vorgänge festgelegt sind, mißbräuchlich auf unge- nügend erforschte Vorgänge anwenden. \Väre es nicht an der Zeit, mit der verschwenderischen Anwendung von Suggestivmitteln aus dem Arsenal der serologischen Terminologie, die wie die Worte ‚„Seitenketten‘, „Sprengung“ usw. schon so viel Unheil angerichtet und zumal dilettantischen Ver- einfachungen des Erklärens komplizierter Vorgänge Vorschub geleistet haben, endlich einmal Schluß zu machen und sich dort, wo die theoretische Sichtung der Vorgänge auf Hindernisse stoßt, mit dem Beschreiben der Erscheinungen zu begnügen ?
Wir haben weiter festgestellt, daß die übrigen im Institute G aufbewahr- ten Diphtheriegiftlösungen sich bei tropfenweise vorgenommenem Zusetzen von Salzsäure ganz verschieden verhalten; daß einige der Giftlösungen sehr bald eine starke Trübung ergeben, die sich im Überschuß von Salzsäure wieder löst, während andere vollständig klar bleiben, mit Salzsäure über- haupt keine Fällungen ergeben und wieder andere schon auf den ersten Trop- fen oder später eine Spur Trübung zeigen, die bei weiterem Zusatz nicht mehr zunimmt.
1) Ein solches Glas wird im Institute G bei der Herstellung der Verdünnung benützt.
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Die mehrfach wiederholten Versuche zeigten, daß z. B. die Giftlösung Nr. 17 (Kastanie) mit Salzsäure überhaupt keine Fällung gibt, während der Tierversuch ergab, daß die Lösung sicher erhebliche Mengen von Toxin enthält. Es ergibt sich aus solchen Beobachtungen, daß
1. bei den oben genannten Versuchen, Gemische giftig zu machen, durch die Salzsäurefällung nicht das Toxin gefällt wird, sondern eine Fällung an- derer Substanzen erfolgt, wobei etwa infolge Adsorption Toxin bzw. toxin- reiche Toxin-Antitoxin-Komplexe mitgerissen werden und anscheinend der Erfolg von einer bestimmten Zeitdauer der Pausen zwischen den fraktio- nierten HCI-Zusätzen abhängt;
2. daß eine Reihe von Widersprüchen zwischen den aus der Literatur zu entnehmenden Angaben der Autoren über diese oder jene Erscheinung aus dem Gebiete der Immunitätsforschung nicht durch Beobachtungsfehler sondern durch die persönlichen Eigenschaften der verwendeten Lösungen zu erklären sind.
Wir haben schließlich auch versucht, bei dem giftigen Inhalt der Ber Ampullen durch Fällen mit Salzsäure das Gift in den Niederschlag zu brin- gen und in der darüberstehenden Flüssigkeit Antitoxin nachzuweisen, indem wir gemessene Portionen mit verschiedenen Mengen von Giftlösung ver- setzten und dieses Gemisch Meerschweinchen injizierten. Anfänglich glaubten wir tatsächlich auf diese Weise in der Flüssigkeit Antitoxin nach- weisen zu können. Es stellte sich aber heraus, daß die nicht hinreichend neutralisierte Salzsäure das neuerdings zugesetzte Gift geschädigt hatte und so eine Serumwirkung vortäuschte. Als wir vor dem Zusatz des Giftes eine genaue Neutralisation der über dem Bodensatz stehenden Flüssigkeit vornahmen, zeigte sich, daß die Flüssigkeit nicht im geringsten anti- toxisch wirkte. Genaueres enthalten die Tabellen.
Konnte der Einfluß des Lichtes aus dem Gemische Gift frei machen?
Daß das Diphtheriegift unter dem Einfluß der Belichtung geschädigt werden kann, ist seit langem bekannt. Ebenso wird angenommen, daß auch alle anderen Impfstoffe wegen der Empfindlichkeit der spezifisch wirk- samen Substanzen und der Umsetzung, welche die Begleitstoffe erfahren, vor dem Licht geschützt werden müssen.
Aus diesem Grunde werden auch das Serum, die Giftlösungen, die Gemische, die im Institute G vorrätig gehalten werden, ausnahmslos in Flaschen aus dunklem z. B. braunem Glas mit Kautschukstopfen verschlos- sen aufbewahrt. Abgesehen hievon ist es in allen Laboratorien üblich, Flaschen, welche solche liehtempfindliche Stoffe enthalten, nach der Ent- nahme von Proben baldigst wieder in die völlig dunkel gehaltenen Kühl- schränke zurückzustellen. In dem vorliegenden Falle wäre höchstens an eine Einwirkung des Lichtes auf die konzentrierte oder verdünnte Gemisch- flüssigkeit beim Abfüllen der Ampullen oder nach dem Abfüllen bis zum end- gültigen Verpacken der Ampullen zu denken. Die Ampullen selbst sind aus blauem Glas, offenbar in der Absicht mit dieser Farbe gewählt, die wirk- samen Strahlen von dem Inhalt abzuhalten. Es ist eine andere Frage, ob gerade die gewählte Glassorte und Farbe einen besonderen Lichtschutz
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verleiht. Es ist durch unsere Versuche festgestellt, daß dieser Lichtschutz
sehr gering ist. Im vorliegenden Falle dürfte die Wahl kaum durch eine besondere physikalisch-biologische Untersuchung bestimmt gewesen sein, sondern mehr einer beiläufigen Vorstellung und einer Gewohnheit entsprun- gen sein.
Nach der ganzen Anordnung der Räumlichkeiten und Art des Labo- ratoriumsbetriebes ist es höchst unwahrscheinlich, daß bei der Abfüllung der Ampullen oder nachher zu irgendwelcher Zeit der Inhalt der Ampullen unter dem Einfluß einer intensiven Wirkung des diffusen Lichts, des Himmels- lichts oder gar des direkten Sonnenlichtes gestanden ist. Aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätte dies nach unserer Anschauung unter gar keinen Umständen ausgereicht, um aus ungiftiger Mischung Gift ab- zuspalten und die andere für die giftigen Ampullen charakteristische Zusammensetzung hervorzurufen. Daß zumal für das Toxin Kling VI und das Serum 1307 sowie Gemische von dem Charakter der Flasche V und 10fache Verdünnungen in Ampullen aufbewahrt, auch stundenlange Belichtung, selbst tagelange Belichtung (mit direktem Sonnenlicht, mit elektrischem Licht) unter den verschiedensten Verhältnissen in keiner Weise Veränderungen hervorruft, die irgendwie im Sinne einer Annahme der Zer- setzung von harmlosem Gemisch durch Licht mit einer hiedurch bedingten Abspaltung von Gift zu deuten wäre, haben unsere Versuche ganz un- unzweifelhaft festgestellt.
Hätte etwa durch Temperatureinflüsse eine Zersetzung des Ampulleninhalts erfolgt sein können, die ein Freiwerden von Gift bedingte? i
1. Die höhere Temperatur. In der Literatur liegen zahlreiche Erfah- rungen darüber vor, daß sich bei verschiedenen Bakterien- und anderen Giften, welche den Charakter von Toxinen tragen und dementsprechend durch Behandeln von Tieren spezifische Antitoxine gewinnen lassen, unter dem Einfluß höherer Temperaturen verändern.
In einzelnen dieser Fälle ist das Antitoxin beträchtlich widerstandsfähiger als das Toxin und es äußert sich diese Eigentümlichkeit, so z. B. beim Rausch- brandgift, auch in Gemischen in dem Sinne, daß sich diese Gemische durch ein- stündiges Erhitzen bei einer Temperatur von 60° so verändern, daß nach dem Er- hitzen die Gemische weniger giftig wirken bzw. mehr Toxin binden als vorher. Auf diesem Wege sind z. B. beim Rauschbrandgift von Graßberger und Schat- tenfroh schon vor mehr als 20 Jahren Aufschlüsse über die Art der Bindung erhalten worden, die sich zwischen diesen rätselhaften Substanzen Toxin und Antitoxin in den Gemischen herstellen.
Analoge Verhältnisse sind beim Diphtheriegift nicht vorhanden. Abgesehen davon, daß sich durch ein Zerstören des Giftes — wenn es weniger widerstandsfähig ist als das Antitoxin — die Gemische niemals giftiger machen lassen, liegen die Verhältnisse beim Diphtheriegift schon aus dem Grund anders, daß 1. die Empfind- lichkeit der beiden Substanzen gegen Erhitzen anders beschaffen ist, wie beim Rauschbrandgift und Gegengift, daß 2. hier jene Temperaturen, bei welchen in absehbarer Zeit Veränderungen der im Gemische implizierten in Betracht kommen- den Stoffe erfolgen, so hoch liegen, daß das Einwirken dieser Temperaturen bei der Herstellung der Gemische und bei der Aufbewahrung der Ampullen ganz bestimmt im vorliegenden Falle als Ursache der Veränderung nicht in Betracht kommt. Abgesehen hievon, haben auch besonders angestellte Versuche ergeben, daß tat- sächlich bei den verschiedensten höheren Temperaturen, die irgendwie in Betracht kommen, die Gemische nicht giftig werden.
Von Dr. Roland Graßberger. 135
2. Einwirken niederer Temperaturen und des Einfrierens. Im Gegensatz zu dem vorstehend Besprochenen verdient die Einwirkung niederer Temperaturen und zumal jene des Einfrierens für das vorliegende Problem eine eingehende Besprechung. Die Entmischung beim Frieren ist für Elektrolyte und kolloide Stoffe enthaltende Lösungen schon vielfach studiert. Besonders eingehend sind diese Verhältnisse für die Bodenkolloide durch Agrikulturchemiker untersucht, wobei einerseits die Wasserentziehung bzw. die Oberflächenverringe- rung der Bodenkolloide, andererseits die Erhöhung der Salzkonzentration verfolgt wurde. Auch in der keramischen Industrie ist die Bedeutung des Frostes für die Vorbereitung des Tons längst bekannt. In agrikulturchemischen Werken, z. B. dem vorzüglichen Werk über die Bodenkolloide von Paul Ehrenberg (Dresden und Leipzig, Theodor Steinkopf, 1918) ist alles dies und auch die Frage der Rever- sibilität der durch Frost bewirkten Fällung der Kolloide eingehend behandelt. Weitere Angaben finden sich Zsigmondy’s Kolloidchemie, III. Auflage, S. 113, sowie in Bechhold, Die Kolloide in Biologie und Medizin, 1I. Auflage, 1919, Theodor Steinkopf, S. 71.
Über die Gefrierpunktserniedrigung kolloider Lösungen enthält der Grundriß der Kolloidchemie von Wo. Ostwald, VI. Auflage, Theodor Steinkopf, 1921, S. 162, ausführliche Literaturangaben.
Für das vorliegende Problem wäre in erster Linie an das Ausfällen von, die antitoxische Komponente enthaltenden Serumanteilen durch das Frieren zu den- ken. Daneben kämen: allenfalls Strukturveränderungen der gefällten Kolloide durch die mit dem Frost verbundenen Konzentrationsänderungen der Elektrolyte in Betracht. Sehr anschaulich lassen sich die Vorgänge der Entmischung, wie wir gefunden haben, an Lösungen von Farbstoffen verfolgen, die entsprechend ver- dünnt beim Einfrieren deutlich erkennen lassen (Lösungen von Fuchsin, Methylen- blau, Gampecheholz usw.), daß der Farbstoff, wenn die in Eprouvetten aufbe- wahrten Lösungen durch Einstellen in Kältemischungen gefroren werden, mit der fortschreitenden Eisbildung wandert und in dem zentralen am längsten flüssig bleibenden Kern konzentriert angesammelt wird. Eine ganz charakteristische Lage in einer Mittelzone nehmen dabei die beim Einfrieren aus der Lösung freiwerdenden Gasblasen ein. Überaus anziehend sind die Bilder, die sich beim langsamen Auf- tauen ergeben. Es lassen sich die reversiblen und irreversiblen oft recht auffälligen Veränderungen der Farben in den einzelnen Schichten des schmelzenden Eisblocks sehr schön verfolgen. Die Versuche geben wertvolle Aufschlüsse über die Lagerung der gefällten bzw. konzentrierten Stoffe und der Gasbläschen. Wieder andere Bilder erhält man, wenn solche Farbstofflösungen vorher durch Sieden im Vakuum von den gelösten Gasen befreit werden. Ein sehr anschauliches Beweismittel für eine unter Umständen eintretende Begünstigung chemischer Umsetzungen durch die mit dem Frost verbundene Konzentrationsänderung der Elektrolyte bieten Gemische gleicher Mengen von !/,. normal Oxalsäure und Permanganatlösungen (in einer Eprouvette etwa 5—10 cm?), die beim Einfrieren sofort braun werden. Setzt man zu dem Gemische einige Tropfen Schwefelsäure vor dem Einfrieren, so bleibt die Veränderung beim Einfrieren aus.
Wir haben über die äußeren sichtbaren Erscheinungen an Toxinlösungen, Gemischen usw. umfangreiche Versuche angestellt. Das Einfrieren erfolgte in allen erdenklichen Verschiedenheiten der Versuchsanordnung, Zeitdauer, Wiederholung, nach langsamem oder schnellem Auftauen usw.
Wie schon an einer früheren Stelle angedeutet worden ist und hier näher aus- geführt werden soll, sind in Amerika tatsächlich durch gefrorene und wieder aufgetaute Ampullen mit Gemischen von Di-T.A. bei der Anwendung in der Praxis in zwei Städten in Massachusetts bei 42 Personen typische Diphtherievergiftungen hervorgerufen worden. Drei Arbeiten von amerikanischen Autoren befassen sich ausführlich mit der experimentellen Erforschung der Veränderung, welche die in Amerika zur Diphtherieprophylaxe benützten Gemische durch Einfrieren erleiden. Freilich handelt es sich hier nicht um stark überneutralisierte ‚„Überserum- gemische‘“‘ nach Art des Löwenstein-Bussonschen Impfstoffes, sondern um noch, wenn auch nicht sehr stark toxische, um solche, die — bezogen auf eine Immunitätseinheit — mehr Toxin als das Löwenstein-Bussonsche Gemisch und auch meist viel mehr ‚impliziertes‘‘ Toxin enthalten als dieses.
136 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
Bei der Wichtigkeit der Sache seien diese Arbeiten im folgenden etwas aus- führlicher besprochen.
I. White and Robinson berichten im Journal of the American Medical Asso- ciation 1924, Bd. 82, folgendes:
Sie arbeiteten mit einem Gemisch, das entsprechend der in Amerika am mei- sten verbreiteten Methode aus einer sehr wirksamen Giftlösung und einem in besonderer Weise gereinigten antitoxischen Serum so hergestellt war, daß es in 1,0 cm? 210 tödliche Minimaldosen für ein 250 g schweres Meerschweinchen impli- ziert enthielt. Sie beobachteten nach Einfrieren bei etwa — 12° C durch mehrere Stunden bis zu mehreren Tagen das Entstehen eines Niederschlages und fanden, daß die Flüssigkeit nach dem Frieren merklich an Giftigkeit zugenommen hatte. War die Flüssigkeit durch 18%, Stunden eingefroren, dann stieg die Giftigkeit auf das Zehnfache der vor dem Gefrieren beobachteten. Bei diesen und einigen ande- ren Versuchen zeigten allerdings die gefrorenen und wieder aufgetauten Gemische nur einen solchen Grad der Giftigkeit, daß 270—330 g schwere Meerschweinchen nach der Injektion von 1%, cm? des wiederaufgetauten Gemisches erst nach mehre- ren Wochen starben. Wenn sie aber das Einfrieren durch 75 Stunden aufrecht hielten und nicht den Bodensatz, sondern die über dem Niederschlag stehende Flüssigkeit injizierten, so erzielten sie durch die Injektion von % cm? in 3 Tagen den Tod des Tieres. Die Autoren konnten in ihrer sehr gründlich durchgeführten Arbeit nachweisen, daß Serumlösungen allein gefroren und wieder aufgetaut, eine deutliche Fällung ergaben, die sich auch nach längerem Stehen der Flüssigkeit bei Zimmertemperatur nicht mehr löste, während sich durch Einfrieren der Toxin- lösungen ein Präzipitat bildete, das sich beim darauffolgenden Auftauen wieder löste.
II. Kirkbride and Dow berichten in der gleichen Zeitschrift, gleicher Band, S. 1679, folgendes:
Sie haben schon im Jahre 1922 bei einer Anzahl von Proben eines Gemisches, das in 1 cm? 5 L-Toddosen (nicht minimale tödliche Meerschweinchendosen, sondern L-Toddosen, enthielt, beim Einfrieren Präzipitate, jedoch kein An- steigen der Giftigkeit beobachtet. Sie haben später ihre Versuche mit solchen Gemischen wiederholt, die in 1,0 cm? 3 bzw. 1 bzw. !/,, L-Toddosen impli- ziert enthielten, und, obwohl sie, bei verschiedenen Temperaturen von —5° C bis —17°C durch 3—72 Stunden einfroren, niemals ein Ansteigen der Giftigkeit der Gemische beobachtet, obwohl sie bis zu 5 cm? injizierten und zum Teil auch nur die klare über dem Präzipitat stehende Flüssigkeit verwendeten, ja, sie konnten sogar in einigen Fällen eine deutliche Abnahme der Giftigkeit beobachten.
II. Weisen die in Punkt II berichteten Beobachtungen und Experimente schon auf die durch das persönliche Verhalten der für die Herstellung der Gemische verwendeten Komponenten für den Ausfall des Experiments hin, so bringt die Arbeit von Anderson and Leonhard in demselben Band der gleichen Zeitschrift weitere für unser Problem beachtenswerte Aufschlüsse. Die Resultate seien durch Wiedergabe eines Teiles der Zusammenfassung am Schlusse der Arbeit wieder- gegeben. In der Zusammenfassung wird darauf hingewiesen, daß 15 Proben eines Gemisches, das in 1,0 cm? 3 L,-Toddosen enthielt und mit weitgehend gereinigten Globulin-Antitoxin unter Zusatz von 0,3% Trikresol hergestellt war, kein Anstei- gen der Giftigkeit nach dem Frieren zeigten. Ebensowenig war dies bei solchen Gemischen der Fall, die nur !/,, tödliche Dosen pro 1,0 cm? impliziert enthielten. Während Gemische, die mit einem nicht besonders behandelten Antitoxin her- gestellt waren, dann wenn sie 3 L-Toddosen in 1,0 cm? unter Zusatz von 0,3% Trikresol oder 0,5% Phenol enthielten, nach dem Frieren giftiger waren, zeigten sich ähnlich hergestellte Gemische mit nur !/,. L-Toddosen nach dem Frieren nicht giftiger. Diphtherietoxin allein erfuhr nach dem Gefrieren bei —5° C durch 48 Stunden eine Abnahme der Giftigkeit. Was den Grad der Giftigkeit bei den oben genannten eingefrorenen gehaltreichen Gemischen mit 4 L-Toddosen im Kubikzentimeter betrifft, so wurden hier nur ca. 20 minimal tödliche Meerschwein- chendosen Toxin abgespalten (das ist etwa nur der 10. Teil des implizierten Toxins (Graßberger).
Zieht man aus diesen vorzüglichen, sorgfältig angestellten Arbeiten der amerikanischen Autoren, die für unser Problem in Betracht kommenden Schlüsse,
Von Dr. Roland Graßberger. 137
so ergibt sich abgesehen von der schon entsprechend gewürdigten Bedeutung der persönlichen Eigenschaften der Lösungen hieraus die Lehre, daß bei allen diesen Versuchen mit Gemischen, die nur geringe Mengen implizierten Toxins von einer Größenordnung enthielten, die sich nicht wesentlich von jener des Löwenstein- Bussonschen Impfstoffes unterscheidet, gar keine oder nur sehr geringe Gift- mengen durch das Einfrieren frei wurden, die in keiner Weise mit dem Giftgehalt der giftigen Ampullen verglichen werden können. Dabei ist überdies noch in Betracht zu ziehen, daß bei diesen Versuchen vielfach extrem tiefe Temperaturen und lange Einwirkungsdauern in Anwendung kommen.
Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit der Vorstellung, daß etwa bei dem Giftigwerden des Busson-Löwensteinschen Impfstoffes, das in B zu der Kata- strophe führte, das Einfrieren beteiligt war. Die Antwort lautet nach der in den Akten ersichtlichen, Vorgeschichte, nach unseren genauen Erhebungen über die Verhältnisse der Kühlkammern im Institute G und unseren nach allen denkbaren Variationen angestellten Versuchen ebenso kurz wie der Weg zur Antwort lang war:
41. Es ist uns niemals gelungen, das unverdünnte Gemisch der Flasche V und andere Gemische durch’ Einfrieren giftig zu machen. | 2. Ebenso wenig haben wir durch Einfrieren des Inhalts ungiftiger Ampullen oder durch Einfrieren analog künstlich hergestellter Gemische Resultate erzielt, die im obigen Sinne zu deuten wären. Wenn wir bei diesen Versuchen Giftwirkung bekamen, so ließ sich diese nur durch Injektion des von der Frierfällung getrennten klaren Teiles der Flüssigkeit erzielen und überdies war die Giftwirkung nur eine geringe und trat erst bei der Verwendung eines Kubikzentimeters Flüssigkeit und mehr deutlich zum Vorschein. Unsere Versuche enthalten hievon abgesehen manches Detail, das eine Bestätigung zum Teil aber auch eine Erweiterung der Erfahrung der amerikanischen Autoren bringt.
3. Nach unseren Erhebungen kann ausgeschlossen werden, daß in dem Kühlraum des Parterres in dem Fache des Vor- raumes, wo die Ampullen aufbewahrt wurden, jemals die für das Einfrieren nötigen Temperaturen in der fraglichen Zeit herrschten. Nach Angabe der Herren des Institutes G soll es gelegentlich vorgekommen sein, daß einzelne Flaschen im Mezzaninkühlraum eingefroren sind. Es betrifft dies jedoch nicht die Flaschen, die in dem versperrten Schranke auf- bewahrt wurden, wo die VorratsflaschenGem für die ische I—V und die ‚„Nachbar- gifte“ (so seien diese im Schrank aufbewahrten Giftlösungen genannt) standen. Es wäre hier auch darauf hinzuweisen, daß zwar der Gefrierpunkt aller genannten Lösungen nach unseren Gefrierpunktsbestimmungen bei etwa —0,5° C liegt, daß jedoch Unterkühlungen bei diesen ruhig stehenden Flüssigkeiten nach unseren Experimenten so häufig vorkommen, daß in eigens angestellten Experimenten Glasgefäße mit den Flüssigkeiten selbst bei Aufbewahrung durch mehrere Tage bei einer durch Kältemischung erzielten Temperatur von —5° bis —10° nicht ge- froren aufgefunden wurden. Es wäre weiter zu bemerken, daß zwar in den mit 4 cm? gefüllten Ampullen genügend Raum ist, um die Ausdehnung der wässerigen Flüssigkeit beim Gefrieren (sie beträgt mehr als !/,, des Volumens; 108,7 cm? Eis von 0° C entsprechen 100 cm? Wasser von 0° C,) Platz zu bieten, daß hingegen von den Flaschen, die im versperrten Fache im Mezzaninkühlraum standen, einige so hoch gefüllt waren, daß sie beim Frieren unbedingt zersprungen wären. Da überdies beim Gefrieren der verdünnten Gemische Präzipitate entstehen, die sich auch nach Monaten!) nicht lösen, wie wir dies bei einzelnen absichtlich eingefro- renen ungiftigen Ampullen, die zugeschmolzen in Kältemischungen bis zum Einfrieren abgekühlt wurden, feststellen konnten, ist bei der schon beschriebenen
41) Die betreffenden zugeschmolzenen Ampullen, im März 1925 gefroren, die wir seit 10 Monaten, ohne sie zu öffnen, aufbewahren, zeigen ausnahmslos unver- ändert die beim Frieren entstandene flockige Trübung. Es kann hieraus mit Sicher- heit der Schluß gezogen werden, daß die Giftampullen, deren Inhalt ausnahmslos nicht getrübt war, niemals vorher gefroren waren.
138 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
Tatsache, daß der Inhalt der giftigen Ampullen sich als völlig frei von Niederschlä- gen erwies, mit aller Bestimmtheit zu behaupten, daß die giftigen Ampullen nicht durch Einfrieren der Lösungen giftig geworden sein können.
Sehr bemerkenswert ist es, daß während alle Gemische beim Einfrieren Trü- bungen ergaben, auch solche die nur 0,5 cm? Serum pro 400 cm? Toxinlösung enthalten, im Gegensatz hiezu frisch bereitete 10fache Verdünnungen der Gift- lösungen ohne Serum selbst bei wiederholtem Einfrieren fast vollkommen klar hleiben. Längere Zeit in Eprouvetten aufbewahrte Giftlösungen zeigten gelegent- lich nach 2- bis 3maligem Einfrieren schwache Trübungen. Der Inhalt der Gift- ampullen, zumal die länger gelagerten Sowjetampullen, zeigten, dem Einfrieren unterzogen, deutliche Trübung. In gleicher Weise erhielten wir noch stärkere Trübung, wenn wir Toxinlösung mit Glaspulver 6 Wochen stehen ließen und die vollkommen klare Flüssigkeit über dem Bodensatz abpipettierten und einfroren. Bemerkenswert und für die Anteilnahme des Alkali abgebenden Glases an dieser Friertrübung beweisend scheint uns die Beobachtung zu sein, daß bei nachträg- lichem Aufbewahren der getrübten Flüssigkeit in Eprouvetten aus Sch ottschem Glas sich diese nach einigen Tagen wieder vollkommen aufgehellt zeigte. Diese Fällung ist also eine reversible.
Wir haben schließlich, um die Verhältnisse möglichst auszugleichen, am 20. März 1925 eine Anzahl von Blauglasampullen mit je 1,0 cm? 10fach verdünn- tem Toxin Kling VI gefüllt, zugeschmolzen und bei 12°C im Dunkeln bis zum 10. Februar 1926 aufbewahrt. Der Inhalt dieser Röhrchen, der zu Beginn und am 10. Februar 1926 völlig klar war, zeigte.am 10. Februar 1926 schon beim 1. Ein- frieren nach 10 Minuten wieder aufgetaut, eine ausgesprochene Trübung, während unmittelbar nach der Herstellung der Verdünnung am 20. März 1925 selbst nach dreimaligem Frieren und Wiederauftauen keine Trübung eingetreten war.
Auch durch Kombination von .‚Verdünnungsfällung‘‘ und Einfrieren wurde keine Giftabspaltung erreicht. (Alle Einzelheiten in den Tabellen.)
Läßt sich etwa annehmen, daß bei der Herstellung der Ver-
dünnung statt der vorgeschriebenen Kochsalzlösung eine
andere Lösung und statt des vorgeschriebenen Phenolzusatzes
ein höherer oder niederer Phenolzusatz erfolgte und hiedurch
eine Zersetzung der Flüssigkeit hätte eingeleitet werden können?
Wir konnten nachweisen, daß die im Institute G verwendete Karbol- lösung einen solchen Gehalt an Phenol besitzt, daß 0,5 cm? zu 100 Koch- salzlösung zugesetzt, eine Konzentration von 0,45°, Phenol ergibt. Wir haben nun in giftigen und ungiftigen Ampullen die entsprechende Phenol- konzentration gefunden. Es ist weiters durch die Bestimmung des Chlor- gehaltes sichergestellt, daß nicht etwa statt physiologischer Kochsalzlösung eine andere Flüssigkeit, etwa Na,CO,-Lösung, genommen worden ist. Die ver- wendete Karbolsäure ist zwar durch das lange Stehen am Licht, dem sie in der nur eine geringe Flüssigkeitsmenge enthaltenden großen Vorratsflasche des Institutes G, die wir am Fenster stehend vorfanden, ausgesetzt war, braun gefärbt und enthält Spuren von Eisen. Wir haben aber durch ein- gehende Versuche, wobei wir Parallelproben von Verdünnungen mit reiner Phenollösung und mit der Lösung des Institutes G denselben Einwirkungen von Licht usw. aussetzten, uns davon überzeugen können, daß sich nicht der geringste Unterschied im Ausfall der Experimente zeigt.
Von Dr. Roland Graßberger. 139
Konnten bei dem Giftigwerden Mikroorganismen beteiligt sein, die durch eine Verunreinigung in den Ampnllennaelt hineingelangten?
Ein Zusatz von 0,45%, Phenol wirkt stark antiseptisch, er wirkt ab- tötend nach wenigen Minuten, Stunden oder Tagen auf viele Bakterien. Schon die Untersuchungen im Institute G nach der Katastrophe haben keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme ergeben, daß sich im Ampullen- inhalt Bakterien entwickelt haben. Die Flüssigkeit in den Giftampullen ist vollkommen klar, wir haben auch durch einen Versuch festgestellt, daß Inhalt von giftigen Ampullen in geringer Menge dem Inhalt von Glatt- ampullen zugesetzt, zu keiner fortschreitenden Veränderung im Sinne einer Abspaltung von Gift führt. Es schien uns deswegen völlig überflüssig, einen nennenswerten Teil des für die Untersuchung in so geringer Quantität zur Verfügung stehenden Inhalts giftiger Ampullen für die experimentelle Nachprüfung dieser ganz fernliegenden Annahme zu verschwenden.
Zusammenfassung.
Die im Säuglingsheim in B im September 1924 im Gefolge der Injektion des Löwenstein-Bussonschen Impfstoffes bei einer Anzahl von Kindern festgestellten leichteren und schwereren Erkrankungen und bei sieben Kindern beobachteten Todesfälle sind durch den Gehalt der ver- wendeten Ampullen an freiem Diphtheriegift bedingt.
Aus der den Kindern injizierten Dosis des Impfstoffes, dem Körper- gewichte der Kinder und dem zeitlichen Abstand zwischen Injektion und Tod läßt sich berechnen, daß der Inhalt der giftigen Ampullen etwa so stark wirkte wie das 20fach verdünnte Originalgift (Toxin Kling VI), das seinerzeit zur Herstellung der Stammflasche (Flasche V) verwendet worden “ war, während sich der Inhalt der Stammflasche V, die bei der Herstellung
des Comischesi im Jahre 1922 neben dem Toxin einen Überschuß an anti- -
toxischem Serum erhielt, ebenso wie die aus dem Inhalt der Stammflasche V hergestellten 10fachen Verdünnungen bei der im Hygienischen Institut vorgenommenen Untersuchung sowohl unmittelbar nach der Bereitung, als auch nach monatelangem Lagern als vällig ungiftig erwiesen.
Die Untersuchung der im Institute G noch restlich vorhandenen, sowie der von den Behörden nachträglich beschlagnahmten Ampullen, welche den Abfüllungen im Jahre 1924 (10. und 21. Juli) entstammen, zeigt, daß annähernd die Hälfte dieser Ampullen völlig ungiftig ist, während der andere Teil der Ampullen im Tierversuche sich als stark giftig erweist. Die giftigen Ampullen besitzen sämtlich den gleichen Grad der Giftigkeit, der sich zur Zeit der vorgenommenen Untersuchung mit 0,10 cm? bis 0,12 cm? als der tötlichen Dose für 250 g schwere Meerschweinchen berechnen läßt.
Der Inhalt der giftigen Ampullen ist ungefähr halb so giftig als die entsprechend verdünnte Giftlösung Toxin Kling VI; er besitzt im Gegen- satz hierzu ein Antitoxinverbindungsvermögen, das sich von jenem des Toxin Kling VI in geringerem Maße unterscheidet.
In dem Inhalt der giftigen Ampullen läßt sich weder durch ein hochwirksames, Pferdeeiweiß präzipitierendes Kaninchenserum noch durch
140 Zur Frage der Möglichkeit von Impfschädigungen usw.
den anaphylaktischen Versuch die Anwesenheit von Antitoxin bzw. Pferde- serum nachweisen.
Die Bestimmung des Gesamtstickstoffes durch Mikroanalyse, der Ausfall der Eiweiß- und Albumosenfällungsreaktionen, die mit giftigen und ungiftigen Ampullen, mit dem noch aufbewahrten Originalgemisch der Flasche V und anderen Lösungen angestellt wurden, zeigen, daß der Inhalt der giftigen Ampullen nicht identisch ist mit dem zehnfach verdünnten Toxin Kling VI, sondern noch ärmer an Gesamtstickstoff und fällbaren Ei- weißabkömmlingen ist als dieses.
Der Inhalt der giftigen Ampullen ist nach dem Vorstehenden als eine völlig antitoxinfreie Diphtheriegiftlösung zu betrachten, die sich aber in ihrem chemischen und biologischen Verhalten von der 10fach verdünnten Lösung ‚Toxin Kling VI“ wesentlich unterscheidet.
Die eingehende vergleichende Untersuchung des Inhaltes der gif- tigen Ampullen und sämtlicher Giftlösungen, die in dem gleichen Schranke des Kühlraumes im Institute G aufbewahrt waren wie die normalerweise zur Abfüllung des Löwenstein-Bussonschen Impistoffes bestimmte Flasche V, zeigt, daß der Inhalt einer bestimmten Flasche, welche die gleiche Form und Größe besitzt wie die Flasche V, biologisch und chemisch weit- gehend übereinstimmt mit einer Lösung, welche der 10fachen Konzen- tration des Giftampulleninhaltes entspricht.
Nach dem Vorstehenden ist anzunehmen, daß bei einer der im Juli 1924 erfolgten Abfüllungen irrtümlich statt der Originalflasche V diese Flasche benützt wurde, um durch Verdünnen mit karbolisierter Kochsalzlösung die in die Ampullen zu füllende Flüssigkeit herzustellen.
Es ist heute nicht mehr festzustellen, welche der beiden Abfüllungen am 10. bzw. am 21. Juli 1924 die giftigen Ampullen und welche die un- giftigen lieferte, da über 39 Ampullen, die dem Hygienischen Institute nicht mehr zur Verfügung gestellt werden konnten, keine verläßlichen- Daten zu erlangen waren.
Durch umfangreiche Versuche, die sich nach allen Richtungen und Möglichkeiten erstreckten, wurde überdies sichergestellt, daß die zehnfache Verdünnung einer Mischung von Diphtherie-Toxin und Antitoxin, wie die in Flasche V, unter den Bedingungen, unter denen die Ampullen gefüllt und aufbewahrt wurden, nicht hätten giftig werden können, nicht durch die Einwirkung von Licht, von höheren oder niederen Temperaturen, nicht durch Einfrieren, nicht durch die Wirkung von Substanzen, die aus dem Glase der Flaschen und Ampullen beim Lagern aufgenommen wurden, nicht durch Alkali oder Säuren, die etwa aus den Resten der Waschflüssigkeiten in den Meßgefäßen stammten, nicht durch abnorme Phenolkonzentration usw.
Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
Von Dr. Kiyoshi Suzuki.
(Aus dem hygienischen Institut der deutschen Universität in Prag, Vorstand: Prof. Oskar Bail.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 8. März. 1926.)
Unter den im Laboratoriumsversuch viel bearbeiteten Vibrionen zeich- net sich die El-Tor-Kadikjö-Gruppe in vielfacher Hinsicht aus. Es sei hier nur an die Toxinbildung, Haemotoxin usw. erinnert (siehe von Eisler, Ztbtt. f. Bakt. I, Bd. 83, 353). Das Verhalten dem Tierkörper gegenüber scheint aber ähnlich dem der echten Choleravibrionen zu sein, wenn man von einzelnen Abweichungen, wie die höhere Empfänglichkeit der zu diesen Versuchen meist benützten Meerschweinchen für subkutane Infektion ab- sieht. Seit den Untersuchungen Pfeiffers repräsentieren die Vibrionen die Gruppe von Mikroorganismen, die anscheinend die reinsten Vertreter einer bakteriolytischen Immunität darstellen. Doch fehlt es nicht an Be- funden, die die Rolle der Serumantikörper in weniger günstigem Lichte erscheinen lassen. Bail (Zeitschr. f. Immun. XXIV, 396) konnte fest- stellen, daß auch hochwertiges Antiserum gegen die Vibrionenvergiftung wirkungslos bleibt zum guten Teil deshalb, weil die Bindung Antikörper- Cholerasubstanz reversibel ist und auch im Tierkörper immer wieder disso- ziiert, was die Wirkung des Antikörpers natürlich beeinträchtigt. Dagegen wurde von Petterson bereits nachgewiesen, daß den Leukozyten starke entgiftende Wirkungen zukommen. Bail (Zeitschr. f. Immun. XXV, 249) konnte feststellen, daß diese Zellwirkung anscheinend vital ist, da gefrorene oder inaktivierte Leukozyten nur mangelhaft wirksam sind. Auch bei Infektion mit Vibrio Kadikjö folgen diese Erscheinungen denselben Ge- setzen. Weiters konnte Bail (Zeitschr. f. Immun. XXVI, 97) feststellen, daß es zwar leicht gelingt, gegen Vibrio Kadikjö ein antitoxisches Serum herzustellen, daß es im Schutzversuch gegen lebende Vibrionen aber fast versagt.
In eigentümlicher Weise bestehen somit Unterschiede im Verhalten dieser Vibrionen zu der Infektionsgruppe der Halbparasiten, der sie sonst anzugehören scheinen. Es finden sich Züge, die an die Ganzparasiten er- innern (subkutane Infektion) und solche, die mit den Eigenheiten der Nekro-
142 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
parasiten identisch zu sein scheinen (Toxin). Die Halbparasiten zeichnen sich dadurch aus, daß bei ihnen im allgemeinen nur die intraperitonealen, allgemeiner intraserösen Infektionen erfolgreich sind, andere hingegen in der Regel nicht. Bei Einspritzung in die Blutbahn kann wohl Vergiftung in kurzer Zeit erfolgen, zu einer wirklichen Vermehrung kommt es kaum je. Subkutane Einführung der Erreger bleibt entweder überhaupt erfolglos oder führt zu lokalen Infektionen und vielleicht Abszedierungen, eine Aus- breitung über den Organismus schließt sich nicht an. Ein weiteres Kenn- zeichen dieser Halbparasiten liegt in der Beeinflußbarkeit der serösen In- fektionen durch den Zutritt von Leukozyten. Man kann die Schwere einer solchen Infektion mit Sicherheit am Zellgehalt der Exudate erkennen. Je weniger Zellen in die seröse Höhle übertreten, um so schwerer ist die Infektion. Sehr oft beobachtet man, daß eine in den ersten Stunden sehr gut einsetzende Vermehrung der Erreger zögernd wird und wohl auch ganz aufhört, sobald Leukozyten in größerer Zahl in der Bauchhöhle auftreten. Damit hängt zusammen, daß eine der Infektion vorangehende Eiteransamm- lung in der Bauchhöhle, selbst die Einspritzung von Leukozyten eines andern Tieres der gleichen Art (Petterson, C, I, XL, 537; XLII, 56; XL, 634) die Infektion ungemein erschwert und oft gänzlich vereitelt.
Choleravibrionen und die meisten Vibrionen überhaupt, Typhus und Colibazillen stellen die reinsten und typischesten Vertreter dieser Halb- parasiten dar: Abweichungen nach verschiedener Richtung hin kommen bei Fleischvergiftern, Paratyphus u. dgl. vor.
Für El-Tor und Kadikjövibrionen war insbesondere die in der Literatur bekannte Empfindlichkeit des Meerschweinchens für subkutane Infektionen der Grund, aus welchen die folgenden Untersuchungen angestellt wurden. Es sollte ermittelt werden, ob diese Vibrionen Beziehungen zu echt para- sitischen Bakterien aufweisen.
Der zum Versuche benützte Kadikjöstamm war aus der Kralschen Sammlung in Wien bezogen worden, hatte aber leider bei Beginn seine Infektiosität so gut wie verloren. Selbst 5 cem einer jungen Fleischbrühe- zucht vermochten ip. Meerschweinchen nicht zu infizieren. Indem die Vi- brionen wiederholt aus dem Tierkörper gezüchtet wurden, stieg nach einiger Zeit die Infektiosität nahezu plötzlich an, und schließlich tötete 0,15 ccm etwa 16stündiger Brühezucht mit vollständiger Sicherheit bei intra- peritonealer Einspritzung. Die Infektiosität war eine ganz scharf abge- grenzte, 0,1 ccm tötete niemals. Interessant ist auch, daß die so erreichte Grenzmenge eine konstante blieb, eine Steigerung über sie hinaus trat bei der weiteren Tierimpfung nicht ein.
Spritzt man Tieren diese tödliche Menge intraperitoneal ein, so zeigt sich im Peritoneum selbst das für Halbparasiten gewöhnliche Bild rasch fortschreitender Vermehrung, bei geringem Eintritt von Leukozyten in die mit serösem Exudate erfüllte Bauchhöhle. Untertödliche Mengen führen ebenfalls in gewohnter Weise zur eitrigen Entzündung.
Überraschend für die Kadikjöinfektion ist aber der außerordentlich schnelle Übertritt der Vibrionen in das Blut und damit in den übrigen Kör- per, wo man sie schon wenige Minuten nach der Infektion nachzuweisen vermag. Als Übertrittsstelle kommt nach den angestellten histologischen
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 143
Untersuchungen in Übereinstimmung namentlich mit J. Koch (C, I, Ref. 1922, Sitzungsber. a. berl. Mikrob. Ver.) vorwiegend das Netz in Be- tracht. In den Milchflecken (tâches laiteuses) und auch außerhalb derselben anscheinend frei im Gewebe findet man mit Löfflerblau oder Karbol- fuchsinfärbung mit nachfolgender Differenzierung schon einige Minuten nach der Infektion reichlich Vibrionen, teils frei, teils in Makrophagen vom Aussehen der Histiozyten phagozytiert. In diesen Zellen finden sich stets auch bei der erfolgreichsten und schwersten Infektion Zerfall der Vibrionen und viele Granula, ein deutlicher Beweis der hohen Wirkung und Über- legenheit dieser Zellen, sobald sie nur mit den Vibrionen in jedem Statium der Infektion in Beziehung treten können.
Unerwartet war auch das Ergebnis der subkutanen Infektion. Sonst ist eine solche mit Halbparasiten g. B. Choleravibrionen von hoher In- fektiosität bei intraperitonealer Infektion, oft überhaupt nicht, sonst nur mit starker Steigerung der Dosis zu erzielen. Meist kommt es dabei auch nur zur Bildung von Infiltraten und Abszessen. Wenngleich für El-Tor- und Kadıkjöstämme die Möglichkeit einer erfolgreichen Subkutaninfektion bereits bekannt war, so wurde doch auch hier eine wesentlich höhere Mini- maldosis als bei Intraperitonealimpfungen erwartet.
4 Meerschweinchen von ca. 200 g erhielten 2, 1, 0,5, 0,2 cem Kadikjö- bazillenkultur und starben sämtlich innerhalb 24 Stunden.
Der Sektionsbefund war im ganzen ein negativer. Etwas Hyperämie des Peritoneums und Darms fand sich wohl vor, aber keine irgend stärkeren Veränderungen. ' Vibrionen fanden sich reichlich im Peritoneum und Herz- blut, ebenso in Leber, Milz, Knochenmark und Niere, während der Harn sie nicht enthielt. Im Magen und Dünndarm konnten Vibrionen auch mittelst Anreicherung nicht nachgewiesen werden, während sie sich im Dickdarm- inhalt damit auffinden ließen.
3 Meerschweinchen von 200 g erhielten 0,2, 0,1 und 0,05 cem Brühe- kultur subkutan. Davon starb nur das erste Tier innerhalb 24 Stunden, die beiden andern blieben ohne Krankheit am Leben. Der Reaktions- befund war negativ, der bakteriologische ergab reichlich Vibrionen in Peri- tonealflüssigkeit und Herzblut, spärliche in der Leber. Negativ war er in Milz, Knochenmark, Niere, Harn und im Inhalt des ganzen Darmtraktes.
Die subkutan tödliche Infektionsdosis lag also zwischen 0,2 und 0,1 ccm Brühekultur, war also gleich der intraperitoneal wirksamen, ein jedenfalls sehr auffälliger Befund. Die Vibrionen dringen, wie der Befund der gestor- benen Tiere beweist, in die Säfte (Blut und seröse Flüssigkeit) und mit ihnen in die Organe. Die Untersuchung des zweiten mit 0,2 ccm erfolgreich infi- zierten Tieres zeigt aber, daß sie in den Organen selbst auf ein Hemmnis stoßen müssen; denn nur die Leber enthielt spärliche lebende Vibrionen. ‚Anscheinend handelt es sich also um ein Befallen der Säfte, wie es auch echt parasitische Bakterien, Milzbrand oder Pneumokokken etwa, zeigen. Aber der Infektionsverlauf ist ein ganz anderer. Bei Milzbrand erscheinen die Bakterien erst spät im Blute; sind sie früh darin, wie man dies durch intra- venöse Injektion erreichen kann, so verschwinden sie daraus in kurzer Zeit und lassen sich nur in den Organen nachweisen, von wo aus sie erst die Säfte infizieren. Bei Kadikjö ist ziemlich das Umgekehrte der Fall: ein schwer
144 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
verständlich frühes Erscheinen in der Flüssigkeit seröser Höhlen und im Blute, mit diesen natürlich auch Befallen der inneren Organe, die aber auch steril befunden werden können. Das ist gar nicht anders als durch ein Untergehen der aus dem Blute in Organe gelangten Keime zu verstehen. Da das Blut aber, wie der Befund lehrt, die Vibrionen nicht abtötet, eine Bakterizidie desselben übrigens im Gewebe die schlechteste Möglichkeit der Entfaltung fände, so bleibt kaum etwas anderes als die Annahme übrig, daß die Keime von Zellen, Makrophagen, Retikuloendothelien aufgenommen werden und darin in der Weise zugrunde gehen, von der man sich im Netz leicht zu überzeugen vermag.
Von Interesse ist in diesen Versuchen auch das Übertreten der Vibrionen ın den Darm. Während der Dünndarm und auch der Blinddarm selbst im toten Tiere frei von Vibrionen waren, fanden sie sich in allen Fällen im Diekdarminhalt. In diesen erfolgt also eine Ausscheidung, ähnlich wie die von Quecksilber und Metallsalzen überhaupt. Es sei bei diesen wie bei späteren Versuchen auf die diesbezüglichen Versuche Sanarellis (Ann. Past. 1924, 11, s. d.) verwiesen.
Um die Verhältnisse der Vibrionenverbreitung nach subkutaner In- fektion näher kennen zu lernen, wurde dieselbe in aufeinanderfolgenden Stadien der Infektion ermittelt.
Tabelle 4.
7 Meerschweinchen erhielten am Rücken, nahe dem Halse die doppelt töd- liche Dosis von Kadikjöbrühekultur subkutan, wurden nach verschiedenen Zeiten getötet und untersucht. Zu bemerken ist, daß das Tier, welches 24 Stunden nach der Infektion untersucht wurde, bereits spontan gestorben war; der Tod dürfte etwa 18—20 Stunden nach der Impfung eingetreten sein. Die Bezeichnung + bedeutet das Aufgehen zerstreuter, ++ zahlreicher, ++ gedrängt SISUenaeT Kolonien auf der Platte.
15Min.|30Min.| ı Sta. | 2 Sta. | a sta. | 8 Sta. |z Std.
Herzblut . . . . ++ daea e HE Peritoneum E E T Pleura. . .... -© > -+ + -+ Leber . ..... -© -© +- + 4- PEN + Milz 3.2 2. 24 © © © -+ ++ ++ + Knochenmark!) © © -© + -+ ++ | +++ Galle ...... ©- © -© + + © + iere .. 22.0. © © ©- ++ -+ ++ | +++ Muskel!) ©- -© © © © © ++ Harie 2 280 -© © ©- -©- © -> + Mageninhalt . .. © © © © © ©- S Dünndarm . . . . ı steril | steril | steril | steril ' steril |vielColi jviel Coli Blinddarm . . | So | Son | Con | Com | Cor | Con Co Dickdarm . . © viel e viel Æ viel | Vibrio + ! Vibrio | | Vibrio +- | Vibrio + Coil Coli Coli Coli , Coli Coli Coli
1) Knochenmark und Muskulatur vom Oberschenkel.
Zum Versuche ist zu bemerken, daß im einzelnen allerdings gewisse Unregelmäßigkeiten vorkommen. So hat die Peritonealflüssigkeit des ersten Tieres bereits nach 15 Minuten einen reichlichen Vibrionengehalt,
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 145
die des zweiten Tieres nicht.. In der Pleura gelang beim 6. Tier der Vibrionen- nachweis nicht, was sehr unwahrscheinlich ist. Es mag dies mit Individual- eigentümlichkeiten der Tiere zusammenhängen, ist aber wahrscheinlich durch die Unvollkommenheiten der Methodik veranlaßt. Es ist nicht ganz leicht, aus einer nicht entzündeten, normalen serösen Höhle gleichmäßige Entnahmen zu machen.
Im ganzen aber bestätigt der Versuch klar den überaus raschen Eintritt der Vibrionen in das Blut und die Säfte überhaupt, wo sie die erste Zeit einzig, später doch reichlicher als in den andern Organen zu finden sind. Mit aller Wahrscheinlichkeit deutet das auf einen Abtötungsmechanismus in den Organen hin, der im Blute selbst nicht zur Geltung gelangen kann, also wohl auf gewebsständige, phagozytäre Elemente bezogen werden muß. In den Magen vermögen die Vibrionen nicht einzudringen, ebenso wenig in den Dünndarm. Während dessen Inhalt aber anfänglich praktisch (bei Verimpfung von 1 Öse) steril ist, wird er später reichlich von Colibakterien bevölkert, ein Befund, der in ähnlicher Weise von Sanarelli erhoben wurde und mit Rücksicht auf die neuerdings viel beachteten Florenänderungen des Dünndarmes bei menschlichen .Krankheiten (perniziöse Anämie) Aufmerk- samkeit verdient. Zweifellos muß auf der Höhe der Kadikjöinfektion (nach 8 Stunden) im Darm eine schwere Veränderung eintreten, wenn sie auch nicht durch ein Wuchern der infizierenden Keime selbst angezeigt wird.
Der Dickdarm hingegen wird schon verhältnismäßig frühzeitig. (2 Stun- den) zur Niederlassungsstätte der Vibrionen. Leider war eine eingehende quantitative Untersuchung in dem Bakteriengemisch nicht möglich. Der Blinddarm des Merrschweinchens hält die Mitte zwischen den Befunden an Dick- und Dünndarm.
Die Infektion per os gelingt bekanntlich mit den Erregern menschlicher Darminfektionen bei Meerschweinchen nur schwer, wenn man von gewissen „Fleischvergiftungserregern‘‘ absieht. Sie ist nur unsicher bei ‘gewissen Tieren im frühen Jugendzustande, sonst nur durch eingreifende Maßregeln
Tabelle 2.
4 Meerschweinchen erhielten nüchtern je 5 ccm :Kadikjöbouillon mit der Magensonde eingegossen und wurden zu verschiedenen Zeiten auf ihren Vibrionen- gehalt untersucht. Zusammenfassend sei angegeben, daß bei allen Tieren Herz, Peritoneum, Pleura, Leber, Milz, Knochenmark, Niere, Harn und Galle völlig steril befunden wurden.
i = | 1Std. | 5Std.
De a viele Vibrionen | wenig Vibr. | keine Vibr. keine Vibr. Dünndarm . . viele Vibr. Coli, Kokken | keine Vibr. steril zahlreiche keine Vibr. steril Aktinomyzeten | Aktinomyzes Blinddarm . . .|keine Vibr. Akti-| keine Vibr. keine Vibr. \ keine Vibr. nom. viel Coli, Aktinom Coli | Coli, sonstige {| Coli, sonstige sonst. Bakterien | sonst. Bakt. | gorn Bakterien Dickdarm . . .| wie Blinddarm |w. Blinddarm | | Mesenterialdrüse steril | steril steril | steril
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 10
146 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
(R. Koch bei Cholera, Gallenverfütterung nach Besredka) zu erzielen. Als Ursache dieser Unempfindlichkeit wird vielfach ein antiseptisches Ver- halten der Magentätigkeit, überdies mit Besredka als wohl wichtiger die Undurchdringlichkeit der Darmoberfläche und Darmwand angesehen.
Auch der Kadikjövibrio vermochte bei Verfütterung keine Infektion zu veranlassen: 5ccm und mehr der Brühekultur, von der 0,15 ccm subkutan und intraperitoneal sicher töteten, wurden ohne Schaden vertragen, die Vibrionen drangen niemals ins Körperinnere ein.
Die Säfte und die Tätigkeit des Magens können die Fütterungsunemp- findlichkeit des Meerschweinchens höchstens teilweise erklären. Nach 1⁄4 Stunde sind die Vibrionen reichlich vorhanden, nach 1 Stunde noch leicht nachweisbar. In der ersten halben Stunde haben sehr viele Vibrionen den Magen passiert und sind im Dünndarm auffindbar. Über ihn hinaus kom- men sie aber nicht, wurden niemals in den tieferen Darmpartien gefunden und waren auch im Dünndarm noch nach 1 Stunde bei noch positivem Magen- befund nicht mehr nachweisbar. Nach 5 Stunden und später ist von der großen Menge eingegossener Vibrionen im ganzen Tiere nichts mehr zu finden.
Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß außer der schon wegen der Säure nicht bezweifelten antiseptischen Wirkung des Magens, auch im Dünn- darm sehr energische bakterientötende Wirkungen vorhanden sein müssen. Dafür spricht nicht nur die als Regel aufzustellende Sterilität oder doch Keimimmunität des normalen Organs, trotz ständiger Infektionsmöglichkeit von oben und unten her, sondern auch die Ergebnisse einer direkten Unter- suchung, wie der obigen. Die Annahme eines Einflusses der sonstigen Darm- bewohner fehlt bei der Keimfreiheit des Dünndarms weg. Daß im Versuche zwei der Tiere nicht wenige Aktinomyzeten im Dünn- und auch im Dickdarm enthielten, hängt jedenfalls mit der Fütterung derselben zusammen; diese Keime sind offenbar widerstandsfähig, wie denn überhaupt zu erwarten ist, daß Sporen oder auch resistente vegetative Bakterien den Dünndarm ungestört durchlaufen; die keimtötende Wirkung des Dünndarms, um deren Annahme nicht länger herumzukommaen ist, könnte möglicherweise überhaupt von vornherein eine elektive sein. Das absolute Sterilbleiben der Körper- säfte und des Blutes, in die der Kadikjövibrio sonst mit fast unbegreiflicher Schnelle gelangt, könnte durch eine vollkommene Undurchdringlichkeit der Darmoberfläche erklärt werden, die nicht einmal eine Infektion der Mesen- terialdrüse gestattet. Aber auch dieser Befund wird bei Annahme von Abtötungsvorgängen im Darmkanal begreiflicher.
Die Vibriolysine des Blutes kommen zur Erklärung des Absterbens der Vibrionen im Darm wohl kaum ernstlich in Frage; gerade bei Kadikjö sind sie im Blute selbst nahezu machtlos. Sonst käme eine abtötende Wirkung der Darmsäfte oder eine solche der Epithelien selbst in Betracht. Die Angaben über das Verhalten der Darmsäfte schwanken in derLiteratur ebenso, wie die über die Wirkung anderer Oberflächenflüssigkeiten im höch- sten Grade. Die Ursache liegt ohne Zweifel einerseits in der angewendeten Methodik, andererseits in der Wahl der Versuchsbakterien. Obwohl bei solchen Untersuchungen es gerade oft auf die Prüfung von Bakterien ankommt, die mit dem Darm in nähere Beziehung treten, muß es doch fraglich erscheinen, ob z. B. Colibakterien, die den Verhältnissen des Darmes
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 147
irgendwie angepaßt sein müssen, das richtige Prüfungsobjekt sind. An diesem Fehler leiden zum Teil vielleicht auch die neueren Untersuchungen von Bogendörfer (Zeitschr. f. exp. Med. Bd. 4, S. 637, 1924), der zur An- nahme bestimmter bakterienfeindlicher Stoffe (der Bakterienstanine) ge- langte, die aus den Epithelien stammen und im Glasversuche eine deut- liche allerdings mehr hemmende als abtötende Wirkung zeigten.
Außer diesen sind nur die Lysozyme von Flemming (Proc. ofthe Royal Soc. Vol. 93) als bakterizide Mittel des Organismus bekännt. Ihre Wir- kungsstärke, die noch bei starker Verdünnung bis zur vollständigen klaren Lösung dichter Bakterienaufschwemmungen geht, übersteigt das gewohnte Maß keimtötender Körperwirkungen, hat aber das Eigentümliche, daß sie nur gegenüber gewissen, namentlich aus der Luft zu züehtenden Kokken, Sarzinen und Bakterien ausgesprochen ist, während andere Bakterien, dar- unter die infektiösen gar nicht angegriffen werden.
Bei der Untersuchung der Verteilung der Lysozyme im Tierkörper fand nun Kimura (dieses Archiv Bd. 96, Heft 5 u. 6, S. 277), daß sie im Dünn- darm des Meerschweinchens regelmäßig und in starker Konzentration vor- handen seien. Er beobachtete weiter die überaus interessante Erscheinung, daß tierische Galle und gewisse Gallensalze die Lysozymwirkung zu hemmen imstande sind. Es ist klar, daß diese Befunde in einem offenbaren Zusam- menhange mit gerade gegenwärtig viel studierten Fragen der Darm- bakterien und Darminfektionen stehen müssen; nur ist die Art des Zusam- menhanges nicht klar erkennbar. Denn die Feststellungen Kimuras gelten bisher nur für saprophytische Keime und es ist noch nicht zu sagen, in welcher Form sie auf solche übertragen werden könnten, die der Lysozym- wirkung nicht unmittelbar zugänglich sind.
Zur Orientierung über die Abtötungsbedingungen des Kadikjövibrio durch den Tierkörper wurde zunächst ein Versuch mit Meerschweinchen- leukozyten angestellt.
Tabelle 3.
Nahezu 1 g Meerschweinchenleukozyten wurden auf 4 Röhrchen in je 1 ccm verteilt; die Röhrchen 3 und 4 wurden 1⁄4 Stunde auf 56° erhitzt. Zu Nr. 2 und 4 kam je 1 Tropfen reiner Rindergalle, in jedes Röhrchen 1 Tropfen junger Kadikjö- brühe. Die Proben blieben bei 37° stehen und wurden zu bestimmten Zeiten mikroskopisch untersucht.
Sofort 1 Std. | 4 Std. | 8 Std. 24 Std. 3 2 R | 2 er š 2. i Nr.4 viele deutliche Gra- wenige Vibr. | viele Vibr. | viele Vibrionen | nulabildung |wenige Granula | wenige Granula| Vibrionen Nr. 2 viele wenige Vibr. | wenige Vibr. wie 4 Std. wenige Vibrionen | zum Teil deutliche Gra- Vibrionen
verdickt nulabildung u. keine Granula Phagozytose |
viele viele viele Vibrionen sehr viele wie 8 Std.
Nr. 3 Vibrionen Vibrionen keine Granula- Vibrionen bildung | Nr. 4 viele viele | viele Vibrionen nicht viele Vibr.| viele Vibr. Vibrionen Vibrionen keine Granula- | als Nr. 3, alle | aber schwach
bildung Vıbr. dünn u. gefärbt schwach gefärbt) 40*
1.48 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
Tabelle 4.
Geprüft wird die Wirkung von Serum, Leukozyten, Milz, Dünndarm und Nebenniere im aktiven Zustande und nach % Stunde Erhitzung auf 56° mit und ohne Zusatz von Rindergalle. Von Leukozyten wurden je 0,2 g in je 1 ccm phy- siologischer NaCl-Lösung verteilt. Die Organe wurden in der Menge ca. 0,8 g fein zerrieben, in 4 ccm NaCl-Lösung aufgenommen, darin einmal gefroren, zu je 1 cem verteilt.
4 cm NaCl- | viele andauernd viele Vibrionen, keine Veränderungen
lösung Vibr. 1cm NaCl- | ,„ | Vibr. scheinen andauernd viele Vibrionen ohne lösung + | etwas verdickt besondere Veränderunnen 1 Tr. Galle
|
1 cm Serum | „ |starke Abnahme,
aktiv | viele Qellungen 2 i cm Serum| ,, Vibr. sehr ge- wie nach 1 Std., sehr wenige keine aktiv + quollen, schlecht dünne schlecht | Vibr. 1 Tr. Galle gefärbt | | gefärbte Vibr,
1cm Serum| ‚, |keine Veränderungen an den sich vermehrenden Vibrionen
56°
Icm Serum| ‚„ | ausser anfänglicher schwächerer Farbbarkeit nichts 56° + Galle | Besonderes beobachtet Leukozyten | Vibr. scheinen | deutliche wie 4 Std. | wenig aktiv etwas verdickt | Granulabildung Vibr. | wenig frei Vibr. | Leukozyten | _,, Vibr. spärlich |keine freien Vibr.| keine Vibrionen | keine aktiv + gequollen und deutliche | Vibr. Galle schlecht gefärbt, | Granulabildung | | Phagozytose ind. Leukozyten | Leukozyten ra besondere Veränderungen nicht beobachtet, doch nach 56° 24 Std. wenig Vibrionen Leukozyten re genau wie ohne Galle 56° + Galle Milz aktiv 7 keine besonderen Veränderungen und Abnahme der Vibrionen beobachtet Milz aktiv = deutliche fast keine fast keine wenig + Galle Granulabildung \ibrionen \ıbrionen Vibr. Milz 56° n keine besonderen Veränderungen und Abnahme der Vibrionen beobachtet Milz 56° + E keine sichere fast keine wenig Vibrionen keine Galle Granulabildung Vibrionen Vibr.
Die Proben mit Nebenniere ergaben innerhalb 8 Stunden keine beson- deren Veränderungen, nach 24 Stunden waren aber die Vibrionen in den beiden gallehaltigen Proben nur spärlich vorhanden.
Dünndarm ließ mit oder ohne Gallezusatz eine besondere Wirkung nicht erkennen.
Um nicht durch die Anführung der weiteren, sehr umständlichen Ver- suche zu ermüden, sei zusammenfassend angeführt, daß die sonstigen Organe des Meerschweinchens nie eine mikroskopisch beachtenswerte Wirkung auf die Vibrionen ausübten, daß der Dünndarm, der im Versuch der Tabelle 4
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 149
wirkungslos war, einmal im aktiven Zustande mit und ohne Galle die Zahl der Vibrionen innerhalb 6 Stunden sehr stark herabdrückte, der Dickdarm aber immer wirkungslos war.
Die bakterizide Wirkung von Serum und Leukozyten, wie auch die eigentlich verstärkende Wirkung der Rindergalle kam nicht nur bei mikro- skopischer Untersuchung, sondern auch im bakteriziden Plattenversuch zu Wirkung.
Tabelle 5.
Die Versuchsproben wurden mit 1 Tropfen einer starken Verdünnung einer Kadikjöfleischbrühekultur beimpft (—4100), 6 Stunden bei 37° gehalten und der Vibrionengehalt in 4 Öse derselben mittels Agarplatten bestimmt.
1. 0,2g Leukozyten in 14 ccm NaCl aktiv . 2. 2. 2 2 2 2 2 22. 1400 2. an e S a“ „ +1TrGale ......n. 120 3. Wie 11, Stunden 36%. 2: l. oo nen 415000 b „AM u 560 +1 Tr. Galle 3:55 2.05.82 2 2 Kees 1200 5. 1ccm Serum aktiv .. oo on 100 6: 4.4; cn = FT DRG 2 ee 102 Ve s.. 4% Stunde 56%, s s 3 bou w 0 aa ioa sed
8. 1 „» w% „ 560°+14fTr. Gale .... 2 2 2 2 on 10800 Fot eeM NAGE 22 ee eh ee ee ee en G co 10.1 „ SEITE Gale a ee er a Bee ec ©
Organextrakte ließen bakterizide Wirkung mit Ausnahme eines Ver- suches, wo in aktivem Muskelextrakt bei Gallezusatz starke Hemmung auftrat, im Plattenversuche nicht erkennen.
Wie in vielen andern Fällen haben die bakteriziden Reagensglasversuche etwas Unbefriedigendes an sich. Es sei von vornherein festgestellt, daß sich das Verhalten des Darmkanals gegenüber der oralen Vibrioneninfektion nicht hat aufklären lassen. Insbesondere wurde im Dünndarm nichts Sicheres von vibriozider oder Iysozymer Wirkung gefunden.
Hingegen ließ sich eine beträchtliche Wirkung der Exudatleukozyten feststellen, welche sehr gut zu der aus den Tierversuchen zu erschließenden Wehrlosigkeit des Vibrio gegen phagozytäre Zellen stimmt. Daß auch nur vergleichbare Wirkungen in den Organen, die im Tierversuch sicher abtötend wirken, im Glasversuche nicht aufgefunden werden konnten, braucht nicht zu befremden. Die Methode, Organzellen als solche oder als Extrakte in den Versuch zu bringen, ist eine so unnatürliche und rohe, daß sichere Resultate eigentlich gar nicht zu erwarten sind. Auch das Serum normaler Meerschweinchen entfaltet im Glasversuche recht ansehnliche vibriozide, thermolabile Wirkungen. Vergleicht man damit das Verhalten der Vibrionen im Tierkörper, wo die Vibrionen in ganz kurzer Zeit im Blute auftreten und daselbst immer nachweisbar sind, während sie in den zelligen Organen mindestens eine Zeitlang in hohem Grade absterben müssen, so wird die Schwierigkeit, Schlüsse aus der Serum- bakterizidie des Glasversuches auf die Verhältnisse des Tierkörpers zu ziehen, ganz offenbar.
Ganz unerklärlich bleibt die Wirkung der Galle. Sie war mit Rück- sicht auf ihre von Kimura studierte antilysozyme Wirkung in Versuch genommen worden; Iysozymen Äußerungen haben sich aber die Vibrionen überhaupt, im Dünndarm insbesondere unzugänglich erwiesen. Dafür wurde
150 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
die unverkennbar verstärkende Wirkung des Gallezusatzes für Leukozyten aufgefunden, teilweise auch für die Bakterizidie des Serums. Ob diesem Befunde eine Bedeutung für die Verhältnisse der Infektion zukommt, läßt sich nicht sagen. An sich ist er interessant wegen der mannigfachen Beziehungen, die dieses Sekret für Infektionsversuche bereits gewonnen hat. Von einem zusammenfassenden Einblicke sind wir freilich noch so weit entfernt, daß die Forschung sich vorläufig mit dem Sammeln von Material begnügen muß, auch wenn sie dasselbe noch nicht einzuordnen vermag.
Für die Beurteilung der Anfangsstadien einer Tierinfektion hat sich wenigstens für rein parasitische Bakterien die Einführung der Bakterien in die Blutbahn sehr bewährt. Bei ihr sind die Erreger zwar unmittelbar den Säften einverleibt, kommen aber mit dem größten Teile der Körper- zellen in Berührung. In der Regel findet man, vorausgesetzt, daß zu große Mengen von Bakterien vermieden werden, ein schon Wyssokovitsch bekann- tes Absinken, meist vollständiges Verschwinden der Bakterien aus dem Blute, das zum kleineren Teil auf direkt bakterizide Wirkungen desselben, zum größeren auf eine Zurückhaltung der Bakterien in den Organen zurück- zuführen ist.
Bequemer für solche Versuche als das Meerschweinchen ist das Kanin- chen, das gleichzeitig Gelegenheit gab, die Beeinflussung des Vibrio durch einen anderen Organismus zu studieren. Das Kaninchen verhält sich bei intravenöser Einspritzung von Kadikjö sehr eigenartig. Wendet man grö- Bere Mengen Kultur an, so stirbt das Tier in oft sehr kurzer Zeit, ganz offen- = kundig an einer Vergiftung, ganz sicher ohne Vermehrung der Vibrionen an irgendeiner Stelle des Körpers. Tritt diese Vergiftung bei geringerer Infektionsmenge nicht ein, so stirbt nie ein Tier. sofort angeschlossene Blutentnahme ergibt in 1 ccm Blut aus der Jugularis unzählige Vibrionen, ebenso nach Y, Stunde, nach 1% Stunde finden sich noch 20000, nach 1 Stunde, wo schon der Tod eintritt, 3000. Im toten Tiere lassen sich aus Blut und allen Organen reichlich Vibrionen züchten, nicht aber, auch mittels Anreicherung nicht, aus Harn, Dünn- und Dickdarm.
Genau das gleiche Ergebnis hatte ein Versuch mit der gleichen Vibrio- nenmenge, die aber durch sorgfältiges Zentrifugieren von aller Kulturflüssig- keit befreit war. Auch mit 4, 3,5 und 3 cem Bouillonkultur trat noch rascher Tod nach ein und mehreren Stunden ein. Immer waren während dieser Zeit Vibrionen im strömenden Blute, wenn auch in sinkender Zahl nachweisbar und ließen sich nach dem Tode aus allen Organen gewinnen.
Erst bei der Dosis von 2,5 ccm Bouillonkultur wird das Ergebnis schwankend. Die Tiere sterben wieder entweder innerhalb weniger Stunden, oder sie bleiben dauernd am Leben. Kaninchen, 1500 g, erhielt 2,5 ccm Bouillon Kadikijöji intravenös. In 1 cem Blut waren bei sofortiger Ent- nahme unzählige, nach 1⁄4 Stunde 94, nach 1, Stunde 80, nach 1 Stunde 43 Vibrionen. Nach 4 Stunden war das Tier tot und cs ließen sich weder im Blute noch sonst Vibrionen mehr nachweisen.
Kaninchen, 1100 g, erhielt 1 cem Bouillonkultur intravenös. Die so- fortige Entnahme lieferte in 1 ccm Blut noch unzählige Vibrionen, nach
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 151
14 Stunde fanden sich 59, nach Y, Stunde 19, nach 1 Stunde 14, dann waren die Vibrionen in dem ungeschädigt überlebenden Tiere ‘dauernd ver- schwunden.
Das Kaninchen ist somit zwar für die in diesem Zusammenhange nicht .weiter verfolgte Vergiftung in hohem Grade empfindlich, einer Infektion mit onen im Blute bei der Vergiftung so reichlich und bei überlebenden Tieren durch eine Zeit, die im Vergleich mit andern Bakterien als beträchtlich bezeichnet werden kann, halten. Zusammen mit den Befunden am Meer- schweinchen wird so eine Deutung der Infektiosität des Kadikjöji möglich.
Die Vibrionen gehören im Meerschweinchenversuch zu den ausge- sprochendsten Halbparasiten, für die unter anderem bezeichnend ist, daß andere als intraperitoneale Infektionen nur sehr schwer, wenn überhaupt, ge- lingen. Subkutane Einspritzungen führen zu ganz leichten Erscheinungen, bei Steigerung der Bakterienmenge zu Infiltraten und Abszessen, intra- venöse (intrakardiale) ev. zu verhältnismäßig schweren Vergiftungen, aber nıcht zur Ansiedlung und Vermehrung im Körper. Bail und Singer (Krankheitsforschung Bd. 1, Nr. 2) betrachten die Halbparasiten als reine Säfteparasiten, die nur dann zur erheblichen Vermehrung im Tierkörper ge- langen können, wenn der zellige, phygozytäre Verteidigungsapparat des- selben ausgeschaltet wird.
Halbparasiten, die in den Bereich von Retikuloendothelien (Makropha- gen) ja auch nur in den der gewöhnlichen Exudatleukozyten geraten, sind regelmäßig verloren. Eine erfolgreiche Ansiedlung ist daher nur in den Säften bei möglichstem Ausschlusse von Zellwirkungen möglich. In der Bauchhöhle mit ihrem nicht hohen Zellgehalt, dem beschränkten Wechsel der leicht zu vermehrenden Flüssigkeit sind diese Bedingungen am ehesten vorhanden. Zwar stehen die bakteriziden Wirkungen der Säfte der Bak- terienansiedlung entgegen, aber sie sind nicht unerschöpflich und werden durch die Bakteriensubstanz selbst gebunden. Die eigentümlich negativ chemotaktische Wirkung der gleichen Substanz von einer gewissen Konzen- tration an, hält die Leukozyten vom Infektionsorte fern. In der Tat beob- achtet man die stärkste Vermehrung derartiger Halbparasiten im Anschlusse an eine seröse Peritonitis mit Bildung eines zellarmen, aber sehr bakterien- reichen Exudates. Die intraperitoneale Halbparasiteninfektion gelingt daher nur, wenn ein Haften und ein Vermehrungsbeginn in den Säften unter Fern- haltung der Zellen ermöglicht wird. Sie bleibt auch im Verlauf eine reine Säfteinfektion, wesentlich auf den Infektionsort beschränkt. Zwar ist es unausbleiblich, daß bei starker Vermehrung im Peritoneum die zellige, wenn auch immer wirksame Schranke des Netzes überschritten wird und eine massenhafte Einschwemmung ins Blut stattfindet. Zu einer eigentlichen Vermehrung im Blute kommt es aber nicht, nicht so sehr deshalb, weil die bakteriolytischen Kräfte desselben nicht überwunden werden könnten, sondern deshalb, weil das Blut in regem Wechsel mit den zelligen Schutz- kräften steht, gegen welche Halbparasiten bis zuletzt machtlos bleiben.
Aus dem gleichen Grunde ist es daher auch schwer, mit Halbparasiten primär vom Blute aus zu infizieren; auch bei subkutancer Infektion ist die Möglichkeit der Zellwirkung und des Zellzutrittes zum Impforte zu günstig,
152 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
als daß es zu einer erheblichen Vermehrung bei dem Mißverhältnis von wenig Sälten zu vielen Zellen kommen könnte. Der Kadikijöjivibrio scheint von diesem Verhalten des Halbparasitismus insofern abzuweichen, als bei ihm sowohl die subkutane (als auch intrakardiale) Infektion des Meer- schweinchens erfolgreich ist, und zwar mit den gleichen Dosen wie die intra- peritoneale. Dennoch bleibt er, wie die angestellten Versuche aufs deutlich- ste zeigen, ein Halbparasit, der durchaus an die Säfte gebunden bleibt, und dem phagozytären Apparate des Körpers immer unterliegt. Nur insofern zeigt er eine etwas vorgeschrittenere Stellung, als er überraschend schnell in alle Säfte des Körpers vordringt, bei subkutaner Impfung schon nach 1, —1% Stunde sowohl im Blute, wie in der Peritonealflüssigkeit auftritt. Dadurch wird im Gegensatz zu den meisten sonstigen Halbparasiten die anfänglich nur lokal gesetzte Säfteinfektion sehr rasch zu einer allgemeinen, statt eines Herdes bilden sich in kurzer Zeit unzählige aus. Die Wirkung der Zellen bleibt zwar aufrecht, aber sie wird sozusagen durch die Massen- haftigkeit der Infektion umgangen. Die hohe, namentlich beim Kaninchen, aber auch beim Meerschweinchen ausgesprochene Giftigkeit führt rasch zum Tode, sobald nur durch die Universalinfektion der Säfte eine genügende Menge von Bazillensubstanz gebildet ist. Man wird schwerlich fehl gehen, bei der Vorstellung, daß bei der Kadikijöjiinfektion ein großartiges Abster- ben der Vibrionen erfolgt, die mit zelligen Schutzapparaten in allen Ge- weben in Berührung kommen, neben einer Vermehrung in allen Säften, in welche die Keime so rasch eindringen. Sobald das Abfangen der Vibrionen durch die Zellen in Rückstand gegen die Vermehrung in den Säften kommt, ist die Infektion erfolgreich, die wahrscheinlich infolge der Giftigkeit der Erreger sehr rasch zu tödlichem Ausgange führt.
Paßt sich so der Kadikijöjivibrio vollständig in das Schema der Halb- parasiten ein, so spricht doch seine schnelle Ausbreitung im Körper dafür, daß er innerhalb der Gruppe der Halbparasiten sehr hoch steht. Daß Säfte und gewöhnliche polynukläre Leukozyten gegen ihn wirksam sind, läßt sich im Reagensglasversuch viel leichter als bei dem in dieser Hinsicht sehr spröden Choleravibrio (vgl. Weil, C. I, Bd. 43, 1901) feststellen. Wenn auch der Tierversuch zeigt, daB diese Kräfte im Tierkörper nicht ausreichend sind, so ist deshalb nicht gesagt, daß sie daselbst nicht wirken könnten: nur muß der Keim die Fähigkeit haben, sie verhältnismäßig leicht zu überwinden. Diesem Gegenstand wurde nunmehr einige Aufmerksamkeit zugewendet.
Es ist bekannt, daß eine sonst erfolgreiche intraperitoneale Halb- parasiteninfektion aufs äußerste erschwert, oft ganz unmögich gem acht wird, wenn man vorher Leukozyten-Anhäufung in der Bauchhöhle erzeugt.
Petterson hat dann gezeigt, daß auch Leukozyten eines fremden Tieres, mit Halbparasiten eingespritzt, deren Ansiedlung und Vermehrung verhindern. Beide Versuchsanordnungen beweisen aufs deutlichste die hohe Wichtigkeit der gewöhnlichen Mikrophagen für die Infektionsabwehr. Auch der Vibrio Kadikijöji zeigt dieses Verhalten der Halbparasiten.
Meerschweinchen 1 erhielt 0,2 cem Leukozyten eines anderen Tieres
Meerschweinchen 2 erhielt das gleiche unter Zusatz 1 Tropfens Rinder- galle.
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 153
Meerschweinchen 3 und 4 wurden entsprechend injiziert, wobei die Leukozyten vorher 4, Stunde auf 56° erhitzt waren.
Die mikroskopische Verfolgung des Infektionsablaufes ergab bei 1 und 2 schon nach 15 Minuten Phagozytose und Granulabildung, Abnahme der freien Vibrionen, die bei Nr.2 schon nach 30 Minuten verschwunden waren, um nicht mehr wiederzukehren. Bei Nr. 1 war der Vorgang ähnlich, aber langsamer, die kulturelle Untersuchung von je 1 Tropfen der entnommenen Exudatprobe ergab bei den Tieren 1 und 2:
nach 15 Minuten: 40 bzw. 5, nach 30 Minuten: 38 bzw. 0, ieh 1 Stunde: 61 bzw. 1, nach 5 Stunden: 19 bzw. 0, nach 8 Stunden: 19 bzw. 0.
Auch die Tiere 3 und 4, welche erhitzte Leukozyten erhalten hatten, überlebten, nur erfolgte das Verschwinden der freien Vibrionen und die Bildung der Granula bei Nr. 3 ganz entschieden verlangsamt, während der Gallezusatz bei Nr. 4 beides beschleunigte. Die kulturelle Untersuchung lieferte für Nr. 3 und 4 nach 15 Minuten: 251 bzw. 10, nach 30 Minuten: 200 bzw. 5, nach 1 Stunde: 112 bzw. 2, nach 5 Stunden 26 bzw. 0, nach 8 Stunden 16 bzw. 0 Kolonien. Die Tiere, welche die Vibrionen ohne Leuko- zyten mit und ohne Galle erhalten hatten, starben mit dem gewöhnlichen Bilde der Vermehrung.
Es vermögen somit Leukozyten die einfach infizierende Dosis des Vi- brio unschädlich zu machen, wobei vorhergehende Erhitzung die Schutz- wirkung zwar deutlich vermindert, aber nicht aufzuheben vermag. Der Zusatz von Galle verstärkt ähnlich wie im Reagensglasversuche die Leuko- zytenwirkung.
Erhöht man aber die infizierende Dosis der Vibrionen, so sind nur noch Spuren des Leukozytenschutzes wahrzunehmen.
Meerschweinchen 1 erhält 0,8 g Leukozyten eines anderen Tieres mit 0,25 cem Kadikjöjibouillon ip.
Meerschweinchen 2 ebenso mit 1 Tropfen Rindergalle.
Meerschweinchen 3 hatte 24 Stunden vor der Injektion von 0,25 ccm Kadikjöjibouillon 5 cem sterile Fleischbrühe ip. erhalten.
Meerschweinchen 4, wie 3 vorbehandelt, erhielt 0,25 ccm Kadikjöjibouil- lon mit 1 Tropfen Rindergalle.
Meerschweinchen 5 und 6 erhielten als Kontrollen nur 0,25 cem Kadik- Jöjibouillon ohne und mit Galle.
Beim Tiere Nr. 2 waren schon nach 30 Minuten nur Phagozytose und Granula, aber keine freien Bazillen bemerkbar, das blieb so bis 8 Stunden, wo spärlich frei Vibrionen auftraten. Nach 24 Stunden war starke Vermehrung eingetreten, die bis zum Tode nach 36 Stunden anhielt. Bei Nr. 1 war der Befund ähnlich, nur verschwanden freie Bazillen auch in den ersten 8 Stun- den’nicht vollständig; der Tod trat nach 31 Stunden ein. Genau ebenso wie
‘der Verlauf bei Nr. 1 war der Verlauf bei Nr. 3 und 4 mit Tod nach 27 und 26 Stunden. Bei den Kontrollen 5 und 6 war nach 1, und 1 Stunde Phago- zytose und Granulabildung in den spärlichen Leukozyten nachweisbar, da- neben freie Vibrionen, die bereits nach 4 Stunden vermehrt waren. Der Tod trat bei beiden Tieren nach weniger als 20 Stunden ein. Steigerung der Leukozytenmenge auf 1 g und darüber führte bei Anwendung von 0,25 ccm
154 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
Kadikjöjibouillon (infizierende Dosis 0,15 ccm) keine wesentliche Ände- rung herbei; doch hielt die mikroskopische Vibrionenfreiheit 8 Stunden lang vor und noch nach 24 Stunden waren erst spärliche freie Vibrionen vorhan- den. Dennoch war der Tod mit Vermehrung nach ca. 40 Stunden nicht aufzuhalten.
Die Versuche bezeugen nicht nur deutlich die Macht der Zellen, son- dern lassen auch genau erkennen, wie ihrer Hemmungswirkung die Vibrionen- vermehrung in den Säften gegenübersteht, welche bei diesem Vibrio leichter als bei sonstigen Halbparasiten das Übergewicht erhält. Damit hängt es jedenfalls zusammen, daß fremde oder eigene Leukozyten noch gegen ein Vielfaches der tödlichen Dosis von Choleravibrionen oder Typhusbazillen schützen, während bei Kadikjöji nur die eben infizierende Menge unschäd- lich gemacht werden kann.
. Nach der Aggressintheorie beruht die Infektiosität eines Mikroorganis- mus darauf, daß derselbe die Schutzmittel des Körpers aktiv zu überwinden vermag. Dies geschieht wesentlich durch Ausbildung der Aggressine, welche Ausscheidungen der Bakterien darstellen, die die antibakteriellen Verrichtungen des Organismus lähmen und ausschalten. Bail (dieses Arch. Bd. 52, S. 272; Bd.53, S. 302) hat solche für Halbparasiten im Peritonealexudate infizierter Tiere nachgewiesen, das nach Beseitigung der Bakterien die Infektion außerordentlich zu erleichtern vermochte. Diese Aggressine sind bei Halbparasiten enge an der Substanz des Bazillus selbst geknüpft, die sehr leicht nach außen abgegeben werden kann, und zwar unter Umständen in das Exudat von infizierten Tieren übertritt, wo nicht das geringste von einem Zugrundegehen von Bakterien zu bemerken ist (Bail und Singer a. a. O.). Diese enge Gebundenheit der Aggressin- wirkung an die Bakteriensubstanz erklärt es, daß aggressive Eigenschaften auch Auszügen von Halbparasiten, die außerhalb des Tierkörpers gezüchtet wurden, zukommen, wie dies von Kruse (künstliche Aggressine), Wasser- mann und Citron u.a. in der Diskussion über die Aggressinlehre hervor- gehoben wurde. Es läßt sich leicht zeigen, daß die Exudate infizierter Meerschweinchen sehr starke Aggresivität besitzen und die Infektion des Kadikijöjivibrio in hohem Grade erleichtern.
Zur Gewinnung des Aggressins wurde das Exudat interperitoneal ın- fizierter Meerschweinchen sorgfältig zentrifugiert und mit Ather sterilisiert, was sehr leicht gelingt.
Meerschweinchen 1 erhielt 1 ccm Aggressin subkutan, nach 24 Stun-
überlebte. Meerschweinchen 5 und 6 ohne Aggresinvorbehandlung ip. infiziert
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 155
. Meerschweinchen 7, vorbehandelt mit 1 cem Kadikijöjibouillon durch
Äther sterilisiert ; 24 Stunden später 0,05 cem Kadikjöjibouillon ip., überlebte.
Meerschweinchen 8 erhielt 1 ccm Aggressin subkutan, nach 24 Stunden
0,2 ccm Bouillonkultur eines Colistammes, von dem 0,5 cem mit Sicherheit tödlich infizierte. Überlebte.
Die Aggressininjektion allein wurde schadlos vertragen.
Die Anwendung des Aggressins erfolgte vorzeitig und an anderer Stelle als die Infektion. Dennoch konnte durch diese Versuchsanordnung die Infektionsdosis auf 1/ der sonst tödlichen herabgedrückt werden. Gegen noch kleinere Dosen versagte die Aggressinwirkung. bouillon konnte ein ähnlicher Effekt nicht erzielt werden. Auch ließ diese Versuchsanordnung das Spezifische der Aggressinwirkung, die eine Coli- infektion nicht zu befördern vermochte, sehr klar hervortreten. Ohne Zwei- fel ist somit im Körper eines infizierten Tieres nicht nur aggressive Wirkung nachweisbar, sondern sie ist für den Vibrio auch stärker und klarer, als bei sonstigen Halbparasiten ausgeprägt. Es ist aber zu bemerken, daß das Aggressin vollständig versagte, als es sich um die Erzielung einer Infektion durch Fütterung handelte.
Weitere Versuche hatten die Immunitätsverhältnisse beim Kadik- Jöjıvibrio zum Gegenstande. Die Erzielung einer Immunität und die Ge- winnung eines Immurserums mit den Eigenschaften eines bakteriziden macht wie bei den meisten Halbparasiten keine Schwierigkeiten. Pfeiffer und Marx hatten zuerst als Bildungsstätte für Bakteriolysine die blut- bereitenden Organe angesprochen, Bieling konnte als genaueren Ursprungs- ort der Gegenkörper die Zelle des 'retikulo-endothelialen Apparates ermit- teln. Es mußte aussichtsreich erscheinen, in dieser Hinsicht dasjenige Organ zu untersuchen, das zuerst und am meisten mit den Vibrionen in Beziehung kommt, das Netz, das gleichzeitig einen hohen Gehalt retikulo- endothelialer Zellen aufweist.
Tabelle 6.
8 gleichgroße Meerschweinchen erhielten je 0,1 ccm abgetötete 56° Kadik- jöjibrühekultur intraperitoneal. Nach verschiedenen Zeiten wurde je 1 Tier ver- blutet und auf seinen Agglutiningehalt untersucht. Zu diesen Zwecken wurden entsprechende Mengen der in der Tabelle angeführten Organe fein verrieben, dreimal im Eiskochsalzgemisch gefroren, bei 37° wieder aufgetaut, die Röhrchen zentrifugiert und der klare Abguß auf Agglutinine untersucht.
Verdünnung 1 cm | 0,5 | 0,2 0,05 | 0,025 | 0,0125 | | |
Stunden. . +++ | -+ vo: | o o
24 Stunden. +++ | T | Poi | &- O-
36 Stunden. . E u
48 Stunden. . +-+ T © o o
= | 72 Stunden. + n ©- o- S Z 5 Tage.. +++ ++ | 4 + o- A | 5 Tage HHH HH +I E| e 8 Tage Mer P afe T normal \ | + © ©- © normal $ Kontrollen. 4 |) E o o- e
normal Í all + Ə 9 ;
156
Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
Tabelle 6.
(Fortsetzung.)
Iseber Knochenmark Milz
Netz
Verdünnung
12 Stunden. . . ... 24 Stunden.. .. .
normal normal $ Kontrollen. normal
412 Stunden. . ... 24 Stunden.. . . . 36 Stunden. . .. .
normal Kontrollen. normal
42 Stunden. . . . . 24 Stunden. . . . . 36 Stunden... -. . . 48 Stunden. . . . . 72 Stunden. . . . .»
12 Stunden. . . . . 24 Stunden. . . . .
36 Stunden. . . . .
48 Stunden. . . . .
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0,05
0,025
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Die geringfügige Immunisierungsdosis ist wohl schuld an scheinung, daB Milz und Knochenmark kaum zur Bildung von ninen gekommen sind. Man erhält den Eindruck, daß die intraperitoneal eingespritzte Vibrionensubstanz gar nicht weit über den nächsten Bereich der Organe und des Pfortadersystems herausgekommen ist. Nur in dieser hat eine bemeßbare Bildung von Agglutininen stattgefunden. Für die Leber fällt zunächst auf, daß bereits Extrakte des normalen Organes immer bis etwa zu 0,05 ccm herab manchmal noch tiefer agglutinieren. Dadurch wird
0,0125
RR ZZ ZU ZZ En Zr ZZ Zu Zr
| | | i der Er- Aggluti-
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 157
Tabelle 7.
8 Meerschweinchen erhalten je 4 ccm abgetötete Kadikjöjibouillonkultur intraperitoneal und werden verschieden lange nachher verblutet. Netz, Milz, Knochenmark und ein der Größe nach entsprechendes Stück der Leber werden in 4 cem NaCl-Lösung frisch zerrieben, dreimal eingefroren und bei 37° wieder auf- getaut, sodann klar zentrifugiert und auf agglutinierende Eigenschaften unter- sucht.
Verdünnung 1 cm 0,5 0,2 0,1 0,05 nos 0,0125 | 0,00625 EEE HHHH4ls|Ie|e|e*e| e 2 Tage. . HHHH +I +l ele] eje Tage, EE Ea T SNE EAS = |5 Tage. . HHHH H EZ ze Z 4 5 Tage. . HHHH HHH + + E 3 | Tage . . HH Ka 444444 | F| F Ik | | + normaj Kontrollen EHI EI EI 8|8 ETa er er ag + lil- aa | o & 2 Tage apo > | © o STARE y 2. s a || + o- | 9 Tage T &- ©- o- = 4 5 Tage ra B Z- 9 “ | 7 Tage T. o- © ©- mallır -© normal, Kontrollen $ = es Ki e Tapie Ia 5 Be O -S +% |2 Tage ka ka -© ke T Ea Ea &- © © = |» lage F -> -© u S e E © © © © E 7 Tage Ses; D- ©- B i normal, Kontrollen a ETa 1 Tag HAHH HHH HH ll l l 2 Tages 3 agense o EEE IE 5 |5 Tage. . HHHH a EEE 215 Tage. . HHHH H l S | 7 Tage. HEHH H E H = normal Kontrollen A Tr a Fe E goi normal m HHHH HHH H+ F | Tag . HHHH+H ++ + | 8 | e | >» 2 Tage. ran ra ps n Wr A U su -a s, 3 Tage. alert retr ater I + © s | 5 Tage. HHHH +I + tlela |e © 5 Tage. 22 ae Ben. : S- | -9 Ə A 1-9 Tage . . a &- a O N amal Kontrollen I | ý i i
158 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
natürlich die Beurteilung des Auftretens von Gegenkörpern außerordentlich erschwert, so daß nur mit einiger Wahrscheinlichkeit ein gewisses Ansteigen derselben von 2 oder 3 Tagen an zu vermuten ist. Ganz klare Ergebnisse lieferte die Untersuchung des Netzes, von dem normale Extrakte nicht oder nur äußerst schwach agglutinieren. Nach 24 Stunden läßt sich in schönster Weise ‘das Auftreten von Agglutininen nachweisen, die sich bis etwa zum 3. Tage erhalten oder noch zunehmen, um dann wieder zu verschwinden. Um diese Zeit, etwa vom 5. Tage an, merkt man das Auftreten neuer Aggluti- nine im Blute.
Die Steigerung der Vibrionenmenge auf das Zehnfache hat also das Ergebnis nicht wesentlich ändern können. Namentlich Milz und Knochen- mark zeigten auch jetzt keinen nennenswerten Gehalt an Agglutininen. Hingegen hat sich, abgesehen von der wegen ihres schon normal hohen Agglutiningehaltes schwer zu beurteilende Leber, der Befund am Netz vollständig bestätigt. Es scheint darnach hier die Hauptquelle für die Bil- dung der Gegenkörper gelegen zu sein. Die Versuche erinnern an die Er- gebnisse Wassermanns über die lokale Bildung von Immunkörpern, die sicher eine Bedeutung hat, ohne daß deshalb die Wichtigkeit der sonstigen retikuloendothelialen Organe, etwa bei der Einspritzung in die Blutbahn im geringsten bestritten werden soll. Es ist immer noch das wahrschein- lichste, daß relativ geringe Mengen von Bakteriensubstanz in den sehr stark wirksamen lokalen Retikuloendothelansammlungen (z. B. den Milchflecken des Netzes) zu einem so großen Teile festgehalten werden, so daß nur geringe Mengen davon in den sonstigen Körper gelangen.
Die bisherige Untersuchung, die sich nur auf Agglutinine eiairsckte; mußte nun durch Untersuchung der schützenden Wirkung der Netzauszüge immunisierter Tiere ergänzt werden.
Meerschweinchen 1, 200 g, erhielt 1 cem des Auszuges eines normalen blieb zunächst unverändert, hatte in der 3. Stunde bereits gewaltig zu- genommen und stieg bis zum Tode (weniger als 24 Stunden) an: Leukozyten traten nur in sehr geringer Zahl ins Exudat über.
Meerschweinchen 2, 200 g, mit 2 ccm des gleichen Netzauszuges, zeigte das gleiche Bild. Nur nach 3 Stunden waren bei beiden Tieren vereinzelte freie Granula zu finden.
Meerschweinchen 3 und 4 wie 1 und 2 aber mit 1 ccm bzw. 2 ccm des vorbehandelten Meerschweinchens zeigten schon nach 15 Minuten reichliche Granulabildung, die anhielt und nach 1⁄ Stunde und 1 Stunde nur noch wenige Vibrionen übrig ließ. Nach 3 Stunden waren sowohl Granula als Vibrionen spärlich, nach 5 Stunden traten Leukozyten auf, konnten aber den Tod der Tiere in der gleichen Zeit wie Nr. 1 und 2 nicht verhindern. Die Vibrionenanzahl im toten Tiere war wieder gestiegen.
Die bakteriolytische Wirkung des Netzauszuges des immunisierten Tieres war im mikroskopischen Bilde eine so ausgesprochene und starke, daß die Tiere danach für gerettet hätten angesehen werden können. Sie reichte schließlich aber doch nicht aus. Deshalb wurde in der Folge der
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 159
Auszug des ganzen Netzes eines immunisierten einem normalen Meer- schweinchen einverleibt..
Meerschweinchen 1 erhält den ganzen Auszug des Netzes eines Normal- von Granulabildung sichtbar. Sonst vermehrten sich die Bazillen ständig bis zum Tode, der schon bald nach der Entnahme nach 8 Stunden eintrat. Der Zellgehalt des Exudates war sehr gering.
Meerschweinchen 2 wie 1 mit dem gesamten Netzauszuge eines vor Nach 15, 30 und 60 Minuten starke Granulabildung, Bazillen verminderten sich rasch. Nach 3 Stunden traten bereits Zellen in das Exudat über. Diese Wendung zum Besseren hielt aber nur sehr kurze Zeit vor, schon nach 5 Stun- den nahmen die Vibrionen gewaltig zu, um sich ständig unter Sistierung weiteren Zellzutrittes bis zu dem in der Nacht eingetretenen Tode zu ver- mehren.
In einem weiteren Versuche wurde die tödliche Kadikjöjidosis mit dem ganzen Netzauszuge eines 4 Tage vorher und zweier 2 Tage vorher immuni- sierten Tiere gemischt injiziert. Wieder trat nach 15, 30 und 60 Minuten starke Granulabildung mit sehr starker Vibrionenverminderung auf, auch zu einer gewissen Leukozytose kam es, doch war schon nach 3 Stunden bei allen Tieren an der wiedereinsetzenden Vermehrung der Vibrionen, die bis zum Tode nach ca. 20 Stunden anhielt. Das Kontrolltier mit normalem Netzauszug zeigte nach einer Stunde geringe Granulabildung, welche die ständige Vibrionenvermehrung bis zum Tode nach wenig mehr als 8 Stunden ohne Leukozytenzutritt nicht beeinflußte.
Der geschilderte Befund trat auch bei allen andern Versuchen der gleichen Anordnung auf. Ohne Ausnahme verriet sich der Gehalt des Netz- auszuges an Bakteriolysinen durch die reichliche Granulabildung, oft von einer sehr bedeutenden Vibrionenverminderung gefolgt. Auch die in Ver- bindung damit einsetzende Leukozytose, die bei Anwendung normaler Netzauszüge nie eintrat, kann als Andeutung einer Schutzwirkung aufgefaßt werden. In keinem einzigen Tiere vermochte aber der Netzauszug der im- munisierten Tiere die schließliche Vibrionenvermehrung und den höchstens etwas verzögerten Tod der Meerschweinchen zu verhindern. Er enthielt also nicht einmal die einfachschützende Menge von Gegenkörpern.
Selbstverständlich könnte dieses teilweise Versagen durch die mangel- hafte Methode der Extraktherstellung bedingt sein. Jedoch ergab sich daraus die Notwendigkeit, zu prüfen, ob denn zu der Zeit, wo das Netz ‚nachweisbare Gegenkörpermengen enthält, bereits aktive Immunität aus- gebildet ist. bouillon (tödliche Dosis: 0,15 cem) je 1 ccm toter Kadikjöjibouillon ip., so daß sie 1, 2, 3, 4,5 und 7 Tage in Behandlung waren. Es starben inner- halb weniger als 24 Stunden die 3 Tiere, die 1, 2 und 3 Tage vorher behandelt waren. Bei allen war, am deutlichsten nach 1 bis 2 Stunden, Granulabildung geringen Umfanges festzustellen, nach 3 und 5 Stunden be- stand über die Vibrionenvermehrung, die dann anhielt, kein Zweifel mehr. Bei den Tieren, die 5 und 7 Tage vorbehandelt waren war, schon nach 30 Mi-
160 Infektionsversuche mit Vibrio Kadikjöji.
nuten stärkste Granulabildung vorhanden, wesentlich geringer wurde sie bei dem Tier mit 4tägiger Vorbehandlung gefunden. Doch waren bei allen nach 2 Stunden und auch später mikroskopisch keine Vibrionen mehr aufzu- finden, die Tiere überlebten unter rasch einsetzender Eiterbildung im Perito- neum. Ein unbehandeltes Kontrolltier starb typisch. Antikörperbildung ist ein Symptom der eintretenden Immunität, aber nicht mit ihr identisch (siehe Tuscheversuche). '
Der Kadıkjöjivibrio ist zu solchen Versuchen, wie kaum ein anderer Halbparasit geeignet, weil bei ihm, wie erwähnt, die intraperitoneale Vor- behandlung mit der ihr folgenden Leukozytose jenen unspezifischen Schutz, der sonst Versuche dieser Art unmöglich machen würde, nur sehr unvoll- kommen, . einzig gegen die einfach tödliche Dosis gewährt. Man sieht deutlich, daß noch am 2. und 3. Tage der Vorbehandlung, zu einer Zeit, wo das Netz schon einen sehr reichlichen, kaum mehr zunehmenden Gehalt an Gegenkörpern hat, noch keine aktive Immunität gegen eine verhältnis- mäßig sehr geringe Infektionsdosis besteht. Ganz typisch erscheint das Bild der bakteriolytischen Immunität erst am 5. und 7. Tage nach der Vorbehand- lung, also zu einer Zeit, wo die Gegenkörper am Netz schon zurückgehen, sich aber im Blute bemerklich machen. Der 4. Tag nach der Immunisierung scheint gerade den Beginn einer aktiven Immunität zu bezeichnen, wo sich zwar noch keine hochgradige, aber genügende Bakteriolyse im Peritoneum erkennen läßt.
Die große Bedeutung, welche den phagozytären Zellen bei der Kadik- Jöji-Infektion zukommt, konnte weiter durch Blockadeversuche mittels Tusche nachgewiesen werden. Singer und Adler (Zeitschr. f. Immun. 1924) sowie Bass (Zeitschr. f. Immun. 1924) haben mittels dieser Methode die Infektion mit Pneumo- und Streptokokken in unspezifischer Weise er- schweren können. Singer (Zeitschr. f. Immun. 1925) vermochte auch die natürliche Immunität des Huhnes gegen Milzbrand auf diese Weise zu be- einträchtigen. Die sterile Tusche wurde in der Menge von 10 ccm einer »proz. Aufschwemmung 2 Tage vor dem Infektionsversuche intraperitoneal injiziert, also wieder dies Risiko einer unspezifischen Schutzwirkung ein- gegangen.
Die Versuche wurden mit solchen verbunden, bei denen Tieren das Netz exstirpiert worden war, eine leicht durchführbare Operation, welche Meerschweinchen ohne erkennbaren Schaden ertragen.
Meerschweinchen 1, 48 Stunden früher Tusche, dann 0,1 ccm Kadikjöji- bouillon ip. Leukozyten, darunter Makrophagen, sind von vornherein zahl- reich in der Bauchhöhle vorhanden. Die Zahl der freien Vibrionen bleibt bis zu 3 Stunden gering, nach 5 Stunden erfolgt starke bis zum Tode in weniger als 24 Stunden anhaltende Vermehrung.
Meerschweinchen 2 wie 1; dem Tiere war aber 4 Wochen vorher das Netz exstirpiert worden. Der Verlauf war genau der gleiche wie bei Nr. 1.
Meerschweinchen 3, normales Tier, mit 0,1 cem Bouillon infiziert, blieb am Leben, zeigte bis zu 3 Stunden reichlich Vibrionen; dann verschwanden diese unter reichlichem Zelleintritt in das Peritoneum.
In einem zweiten Versuche dieser Art mit der gleichen untertödlichen Dosis von 0,1 cem Kadikjöjibouillon starb das Tier, dem früher das Netz
Von Dr. Kiyoshi Suzuki. 161
entfernt und das 48 Stunden mit Tusche vorbehandelt war: dagegen blieb ein nicht operiertes, aber mit Tusche behandeltes Tier diesmal am Leben. Ebenso überlebte ein normales Tier und ein solches, dem nur das Netz ent- fernt war.
Es ist also möglich, durch Tusche und die darauf zurückzuführende Blockade der Retikuloendothelien eine Infektion, ähnlich wie mit Aggressin, zu erleichtern. Allerdings gelingen nicht alle Blockadeversuche mit abso- luter Regelmäßigkeit, was leicht mit der Schwierigkeit, eine wirklich hin- reichende Blockierung durchzuführen (vgl. Aschoff, Ergen. a. inn. Med. u. Kinderh. 1924), zu erklären ist. Die positiven Versuche behalten aber hier ihren Wert.
Von Interesse ist es, daß auch die aktive Immunität von Meerschwein- chen gegenüber einem Multiplum der tödlichen Dosis durch Zellblockade gebrochen werden kann.
Die beiden Versuchstiere waren erst mit abgetöteten, dann mit leben- den Vibrionen vorbehandelt worden und hatten schon wiederholt schwere ip- Infektionen überstanden. Das eine erhielt Tusche ob und aa Stunden ohne Widerstand innerhalb 16 Stunden.
Das zweite, ohne Tuschblockade blieb bei schnellster Vibriolyse am Leben.
Der Versuch zeigt, worauf schon die Versuche mit aktiver Immuni- sierung hindeuten, daß der Gehalt der Säfte an bakteriolytischen Gegen- körpern allein, so wichtig er sonst sein mag, zur Erklärung der Immunität nicht ausreichend ist. Der Einwand, daß Komplementverarmung den Ausfall bei den tuscheblockierten Tieren hervorgerufen habe, ist bei der gewählten Versuchsanordnung, wo zwischen Tusche und Bakterieninjek- tion 48 Stunden lagen, nicht wohl anwendbar, wo zudem bekannt ist, daß Tusche nur sehr schwach adsorbierende Wirkungen entfaltet. Eher ließe sich der umgekehrte Einwand (Blockadewirkung) bei den zur Komplement- absorption verwendeten Substanzen (Praezipitate, Kaolin, Zellen usw.) machen.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 11
Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung bei maximalen körperlichen Anstrengungen.
I. Das Verhalten der Aufmerksamkeit.
Von W. Ewig und T. Wohlfeil.
(Aus der Medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Königsberg i. Pr. Direktor: Prof. Dr. O. Bruns.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 12. März 1926.)
Der Aufschwung der Turn-, Spiel- und Sportbewegung nach dem Kriege hat das Interesse der Medizin und Psychologie an den Fragen der psycho-physiologischen Wirkung sportlicher Körperarbeit sehr belebt. Das Bedürfnis hiernach war um so größer, als es galt, in Hinblick auf die Befürwortung und Ausbreitung der Leibesübungen, Schädigungen durch eine allzu intensive Betätigung zu vermeiden, und Richtlinien für eine vom gesundheitlichen Standpunkt aus zweckmäßige Ausübung aufzustellen.
Das Problem, welches wir uns hier gestellt hatten, galt der Erforschung der Beziehungen von Leib und Seele zueinander bei maximalen körperlichen Leistungen.
Höchstleistungen unter Einsetzung der gesamten vorhandenen Energie werden auf dem Gebiet sämtlicher Sportarten vollbracht, besonders wenn es sich um den Wettkampf handelt. Bei allen Sportarten tritt bei maxi- maler Ausübung nach einer gewissen Zeit — sofern es sich nicht um ganz kurzdauernde Leistungen handelt wie z.B. um den 100 m-Lauf — ein psychologisch sehr interessanter Moment ein, in dem das Individium glaubt, am Rande seiner Kräfte zu sein. Er ist gekennzeichnet durch einen Zustand höchsten körperlichen Unbehagens, mit den physiologischen Begleiterschei- nungen von intensiver Atemnot, Beklemmungsgefühl, jagendem Puls, Muskelschmerzen, die zum Teil sehr intensiv sind, und psychologisch charakterisiert durch Unlust- und Insuffizienzgefühle, ev. Mutlosigkeit und anscheinend auch durch die Beeinträchtigung sämtlicher psychischer Teil- erscheinungen des Seelenlebens. Diesen Zustand beschreibt G. Kolb!) beim Rennrudern über 2000 m sehr zutreffend. „Es kommt am Ende der
1) G. Kolb, Beiträge zur Physiologie maximaler Muskelarbeit und besonders des modernen Sports. Berlin 1891.
Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw. 163
2. Minute der Moment, wo man im gewöhnlichen Leben bei maximaler An- strengung aufhört und sagt, ich kann nicht mehr. Die Dyspnoe ist sehr fühlbar geworden, die Atmung ist tief und ebenfalls sehr frequent wie die Herztätigkeit. Die Haut ist noch trocken. Die Muskulatur zeigt sehr starke Ermüdungserscheinungen. Es wird natürlich im Rennen weiter- gerudert und dieser Berg, wie die Ruderer die scheinbare Insuffizienz zu nennen belieben, wird überwunden. Ein profuser Schweißausbruch erfolgt und leitet, trotzdem die Atmung erheblich steigt, ein Stadium relativen Wohlbefindens ein, welches von allen guten Ruderern erfolgreich ausgenutzt wird.“
Diesen mehr oder weniger lange dauernden Zustand hat nun der Sport- ler heutzutage sehr charakteristisch mit „toter Punkt“ bezeichnet. Mit Aufbietung größter Energie ist es möglich, diesen Zustand höchster Ermüdung meist auffallend schnell zu überwinden. Der Körper kann dann wieder intensiver die betreffende Tätigkeit, fast in gleicher Weise wie vor- her, fortsetzen. Das Eintreten des „toten Punktes‘ erfolgt je nach der Sport- art, nach dem augenblicklichen Zustand des Individuums und nach den vorhandenen individuellen Unterschieden früher oder später. Er kann ein mehr momentaner sein; er kann sich aber auch über mehrere qualvolle Sekunden, ja sogar Minuten hinziehen. Nach Überwindung desselben macht sich stets ein Zustand der Erleichterung physischer und psychischer Art bemerkbar. Unter Umständen ist das Auftreten des „toten Punkt“ nicht so charakteristisch, wie der Zustand der Erleichterung nach Über- windung desselben. Der Sportsmann hat seinen ‚2. Atem“ gewonnen oder wie der Engländer sagt, „Second Wind‘. Außer gelegentlichen Andeutun- gen!) findet man nur noch bei Zuntz?) und einigen ausländischen Autoren?) diesen Erscheinungskomplex in der medizinischen Literatur erwähnt und bis zu einem gewissen Grade auch wissenschaftlich physiologisch er- forscht. Eingehende physiologische Untersuchungen werden in Kürze von E wig®) mitgeteilt.
In der vorliegenden Arbeit haben wir auch die psychologische Er- forschung dieses „toten Punktes‘ und der Überwindungsphase versucht.
Im psychologischen Experiment kann man nun entweder einen größeren seelischen Komplex untersuchen, etwa wie die Psychotechnik verfährt bei ihren Handfertigkeitsprüfungen, bei denen sie stets mehrere geistige Tätigkeiten in ihrer Gesamtheit beobachten will, oder aber man schält, soweit das möglich ist, einige Teilfunktionen®) des Seelenlebens heraus und macht sich sukzessiv zum Gegen- stand besonderer Betrachtung (wie es im Gebiet der wissenschaftlichen, theoreti- schen Psychologie üblich ist). Dabei muß man sich freilich klar sein, daß man doch stets noch einen — wenn auch kleineren — Komplex vor sich hat. Man kann z. B.
nie Gedächtnisversuche machen, ohne gleichzeitig auch etwa die Willenstätigkeit und Aufmerksamkeit des Individuums in Anspruch zu nehmen.
4) R. W. Schulte, Leib und Seele im Sport. Charlottenburg 1921.
2) Zuntz, Loewy u.a., Höhenklima und Bergwanderungen. 1906.
3) Cook und Pembrey, Journal of Phys. 47, 1911. Mac Keith und Mit- arbeiter, Proc. of the royal soc. B. 670, Bd. 95, 1923.
4) Ewig, Physiologische Untersuchungen über die Wirkung maximaler körperlicher Anstrengungen, insbesondere über den ‚Toten Punkt‘. Zeitschr. f.d. ges. exp. Med. 1926, Bd. 51.
5) Der Ausdruck ‚Funktion‘ soll hier nicht einer psychologischen Theorie das Wort reden.
11*
164 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
Wir entschlossen uns in unseren Versuchen zu der letzteren Methoden- gruppe und untersuchten zunächst in größeren Versuchsreihen das Verhalten der Aufmerksamkeit mit Hilfe der tachisstoskopischen Methode. Die Untersuchungen wurden dann auch auf das Gebiet der Willenstätigkeit und der geistigen Arbeit fortgesetzt (worüber wir in der 2. Mitteilung berichten werden).
Da bei der Behandlung unseres Problems gelbstverständlich Massen- versuche nicht in Frage kamen, so stellten wir wiederholte Versuche an
wenigen Versuchspersonen an.
Das psychologische Experiment als solches birgt schon beim Laboratoriums- versuch, bei welchem man einen störungsfreien Raum und andere Vorsichtsmaß- nahmen zur Verfügung haben muß, eine Reihe von Fehlerquellen in sich. Für den Ablauf eines psychischen Vorganges sind weiterhin eine Reihe Faktoren ver- antwortlich zu machen, die man als die allgemeine Bewußtseinslage der Ver- suchsperson bezeichnen kann. Die Gefühlslage der Versuchspersonen, ihre Stim- mung, Ermüdung, vorherige Aufmerksamkeitsrichtung u. a. kommen als ablenkende Faktoren und Fehlerquellen in Frage. Auch individuelle Verschiedenheiten können sich bemerkbar machen wie z. B. durch Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Begabung usw. bedingt sind.
Wir wählten für unsere Untersuchungen das Rudern. Beim Rudern vom Rollsitz, wobei im Gegensatz zum Rudern vom festen Sitz fast der gesamte Körper beansprucht wird, tritt vor allem der Zustand des ‚toten Punktes relativ schnell ein. Er ist hier meist so ausgeprägt wie bei kaum einer anderen Sportart. Auch die Überwindung des ‚toten Punktes“ kennzeichnet sich meist prompt durch einen bestimmten Moment. Man kann weiterhin beim Rudern relativ leicht die geleistete Arbeit an der Bootsgeschwindigkeit feststellen. Was aber von beson- derer Wichtigkeit war, wir konnten ohne Schwierigkeit alle gewünschten Apparate in einem Boote unterbringen und unsere Untersuchungen während der Körper- arbeit ohne Unterbrechung des Ruderns anstellen. Die Untersuchungen wurden in einem Ruderboot mit Skulleinrichtung auf dem Oberteich der Stadt Königsberg i. Pr. durchgeführt, und zwar in der Regel in den Morgenstunden, um möglichst ungestört zu sein. Es ist aber selbstverständlich, daß Experimente, die auf einem Teich an der Peripherie einer Großstadt durchgeführt wurden, der auch von Schwimmern in Anspruch genommen wird, Fehlerquellen in sich bergen können, die in reinem Laboratoriumsversuch fehlen. Diese Faktoren traten im Experiment allerdings relativ wenig hervor, da die Versuchsperson selbst sich nicht um das Steuern zu bekümmern hatte; denn der Versuchsleiter steuerte selber. Ganz lassen sich geringgradige störende Faktoren im Gebiet der praktischen Psycho- logie überhaupt nie vollkommen ausschalten.
Um die Resnltate verwerten zu können, war noch zweierlei zu beachten. Es mußten erstens einmal möglichst viel Einzelversuche angestellt werden, um nach dem Gesetz der großen Zahl die gröbsten Fehlerquellen tunlichst auszu- schalten. Weiter konnte man überhaupt nur solche Resultate verwerten, wenn sie nanezu alle dieselben Ausschläge nach der gleichen Richtung zeigten.
Was die Häufung von Einzelversuchen betrifft, so standen hier nicht un- erhebliche Schwierigkeiten im Wege. Galt es doch erstens einmal Versuchsper- sonen zu finden, die sich diesen anstrengenden Experimenten überhaupt unter- zogen und dann es noch über sich brachten, sie öfters zu wiederholen. Als Ver- suchsperson für die psychologischen Versuche diente der eine’von uns (Vp. E.). Außerdem stellten sich noch Herr cand. jur. O. Hassenpflug (Vp. ©. H.) und der Schüler Alfred Wölk (Vp. W.) zur Verfügung. Was die konstitutionell-körperliche Seite!) der Versuchspersonen betraf, waren Vp. E. und Vp. W. zum pyknischen, Vp. O. H. zum asthenischen Typus mit einem leichten, athletischen Einschlag zu rechnen. Was es für diese Versuchspersonen. denen wir hier unseren besonde- ren Dank aussprechen, bedeutet hat, diese Experimente in der wiederholten Zahl, man kann fast sagen, zu erdulden, wird nur der verstehen, der sich selber unter
1) Kretschmer, Körperbau und Charakter. Berlin 1923.
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 165
diesen Umständen ohne das anpeitschende Moment des Wettkampfes auf den „toten Punkt“ gerudert hat.
Das psychische Phänomen, das man allgemein Aufmerksamkeit nennt, kann man mit Bühler!) definieren ‚als ein lebhaftes Hervortreten und Wirk- samwerden einzelner seelischer Gebilde auf Kosten anderer, mit den Eigen- schaften der Klarheit und l,ebhaftigkeit‘‘ oder vielleicht noch besser nach Dürr?) „als die zuweilen willkürlich herbeigeführte, zuweilen auch ohne Zutun des Willens sich ergebende Abgebung von Bewußtseinsinhalten‘“.
Es mag gleich hier hervorgehoben werden, daß wir.bei diesen Experimenten im Gebiete der angewandten Psychologie darauf verzichtet haben, zu den ver- schiedensten Theorien der Aufmerksamkeit, etwa den physiologischen, psycho- logischen, den Hemmungs-Bahnungs-Widerstandstheorien usw. Stellung zu nehmen. Gleichgültig, ob man auf den Boden der Assoziations- oder Funktions- psychologie oder auf dem anderer Richtungen steht, der experimentelle Tat- sachenbestand und seine unmittelbare Deutung wird immer gleich bleiben.
Wir hatten es bei unseren Experimenten mit einem willkürlichen Aufmerk- samkeitsvorgang zu tun, da wir übereinkamen, die Versuchsperson durch ein vorheriges Ankündigungskommando auf das Kommen des Reizes vorzubereiten, in der Vp also den Zustand der Erwartung auszulösen. — Bei einem Aufmerk- samkeitsprozeß kann stets nur eine begrenzte Zahl von Gegenständen gleichzeitig klar und deutlich erfaßt werden. Man spricht von dem Umfang der Aufmerk- samkeit. Der Umfang der Aufmerksamkeit ist unter den noch zu erwähnenden Einschränkungen mit der Anzahl von Objekten gleich zu setzen, die gleich- zeitig erkannt werden. Man zeigt z.B. der Vp. in einer kurzen Expositionszeit eine Reihe von Buchstaben, einfachen Wörtern, geometrischen Gebilden usw. Vp. hat die Aufgabe, die aufmerksam wahrgenommenen Gebilde zu Protokoll zu geben. Nun muß man sich darüber klar sein, daß in dem Begriff des Umfanges dreierlei enthalten ist. 1. Es kann der Umfang des tatsächlich Erfaßten mit der angegebenen Zahl von z. B. Buchstaben übereinstimmen. 2. Es können wohl mehrere der an Gebilde aufgefaßt werden, bei der Widergabe ist aber ev. ein Teil derselben bereits vergessen. 3. Es kann sukzessiv mehr angegeben wer- den, als simultan tatsächlich erfaßt wurde. Man hat es also bei einer derartigen Prüfung des Aufmerksamkeitsumfanges auch gleichzeitig u. a. mit einer solchen der Merkfähigkeit und bis zu einem gewissen Grade der Treue des Gedächtnisses zu tun.
Untersuchungen über den Umfang der Aufmerksamkeit nach dieser Methode sind in großem Maße bereits vorgenommen. Als das mittlere Maß der in kurzer Zeit richtig erkannten Gebilde ist. die Zahl 5—6 angegeben worden?).
Man kennt eine Reihe von Versuchsanordnungen (Exner, Erdmann und Dodge, Schumann, Marbe usw.), welche sich zur tachisstoskopischen Dar- bietung von Reizen eignen und im einzelnen ihre Mängel und Vorzüge aufweisen. Uns selber kam es darauf an, ein Tachisstoskop zu verwenden, welches relativ klein war und auf einem Brett in dem Skullboot zusammen mit der übrigen Ver- suchseinrichtung Platz haben konnte. Wir benutzten daher ein etwa 30 cm hohes Falltachisstoskop mit einem Kartenausschnitt von 7 x 8 cm, bei welchem durch Fallen der vorderen Scheibe der Reiz sichtbar, beim Fallen der zweiten derselbe wieder verdeckt wurde. Die günstigste Expositionszeit ist 0,1—0,01 Sekunden, da dann Augenbewegungen?!) mit Sicherheit ausgeschaltet werden können und das Zustandekommen aufeinander folgender Wahrnehmungen verhindert wird. Immerhin werden im allgemeinen bei einer längeren Expositionszeit von 0,1 bis 1 Sekunden auch nicht mehr als 4—5, höchstens 8 Gebilde?) erkannt. — Für die Zeitregistrierung benützten wir ein Kontaktmetronom, dessen kürzeste Schwin-
4) C. Bühler, Aufmerksamkeit. Handwörterbuch der Naturwissenschaften, Fischer, Jena 1912, S. 732.
2) E. Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Leipzig 1914, S. 20.
3) W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. 3, S. 351, VI. Aufl., 1908.
4) R. Paili, Psychologisches Praktikum. Fischer, Jena 1923, S. 168.
5) A. Messer, Psychologie. Stuttgart, Berlin 1920, S. 257.
166 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
gungszeit nach unseren Messungen von dem Eintauchen in den einen Kontakt bis zum Eintauchen in den andern im Mittel 0,3 Sekunden betrug. Auf Grund der vorher erwähnten Tatsache schien uns daher für unsere Zwecke die Expositionszeit von 0,3 Sekunden genügend kurz zu sein, was auch die Vorversuche bestätigten.
Die Versuchsmethodik im einzelnen war folgende: Es wurden während der Expositionszeit von 0,3 Sekunden 9 Buchstaben in Druckschrift dar- geboten, die zufällig zusammengestellt, in regellose Anordnung über die dar- gebotenen Karten verteilt war. Für einen Versuchstag kamen 24 Karten in Anwendung. Ein Versuchstag umfaßte 3 Versuchsreihen, die erste vor Beginn des Ruderns I, die zweite während der mit maximaler Anstrengung vor sich gehenden Ruderarbeit bis auf dem ‚‚toten Punkt“ II, die dritte nach Überwindung des „toten Punktes“ III. Es wurde nun so verfahren, daß in jeder der drei Versuchsreihen 8 Karten je etwa dreimal zur Darbietung gelangten, wobei die Aufeinanderfolge der Karten mit Hilfe der Varia- tionsrechnung bestimmt worden war. Die Karten wurden zu jedem Ver- suchstag in neuer Buchstabenanordnung hergestellt, so daß also Vp. sowohl von Versuchstag zu Versuchstag als auch innerhalb der drei Versuchsreihen stets unbekannte Buchstabenkombinationen vor sich hatte. Bevor wir an diese Haupt versuche herangingen, hatten sich die einzelnen Yp. durch 6 Tage dauernde Vorversuche ein mittleres Maß von Übung angeeignet. Auch das Skullrudern war vorher in erforderlicher Weise lang genug geübt worden. Die Experimente gingen bei Vp. O. H. und W. nach dem unwissentlichen Verfahren vor sich, während Vp. E. natürlich die Problemstellung der Arbeit im einzelnen kannte. Es lag in der Natur der Dinge, daß man die Methode der experimentellen systematischen Selbstbeobachtung nicht anwenden konnte. Immerhin wurde die Vp. aufgefordert, möglichst ent- weder gleich oder nach Beendung der Versuchsreihe den Vorgang des Erlebten zu beschreiben.
Tabelle I gibt die Resultate der 3 Versuchstage der Vp. O. H. an.
Tabelle I. Datum Versuchsreihe n ad | ee | / 14. August 1925 I 24 39 | 0 Il 20 32 2,2 III | 24 36,5 3,7 18. August 1825 I | 23 41 3,4 Il 18 32 1,8 III 24 37 1,3 12. September 1925 l | 24 36 3,25 Il 16 31,5 1,37
Mittel aus drei Versuchs- reihen
Es bedeutet hier wie in den folgenden Tabellen n = Anzahl der dar- gebotenen Karten zu je 9 Buchstaben. Die Anzahl der gesamten erkannten Buchstaben und die gemachten Fehler werden prozentual angegeben. Bei den wagerechten Kolonnen 1, II, IH bedeutet I = Versuchsreihe vor Beginn
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 167
des Ruderns, II = Versuchsreihe während des Ruderns bis zu dem „toten Punkt“, III = Versuchsreihe während des Ruderns nach Überwindung des „toten Punktes“.
An allen drei Versuchstagen zeigt sich nun, daß die Anzahl der er- kannten Buchstaben vor Beginn des Ruderns am größten ist. Wurde nun der Vp., während sie mit maximaler Anstrengung ruderte und sich auf dem Zustand des sog. „toten Punktes“ befand, Karten dargeboten, so erkannte sie merklich weniger. Hatte dann Vp. den ‚toten Punkt“ überwunden, so war sie wieder imstande, mehr Buchstaben aufzufassen und zu Protokoll zu geben. Diese Verhältnisse finden sich nun ohne Ausnahme an sämtlichen 3 Versuchstagen in gleicher Weise vor.
Betrachtet man das Verhalten der Fehler von Versuchsreihe I zu II und III, so findet man bei Vp. O. H.: Am meisten Fehler werden nach Überwindung des „toten Punktes‘‘ gemacht. Abgesehen vom ersten Ver- suchstag sind am wenigsten Fehler während des Ruderns auf dem „toten Punkt‘ zu beobachten. Die Anzahl der Fehler vor Beginn des Ruderns (I) steht dazu in der Mitte. Diese Verhältnisse BESSER am deutlichsten die Mittelwerte aus sämtlichen Versuchstagen.
Tabelle IE vB E.
Datum Versuchsreihe | | n | RER u. ME EEE EEE 10. August 1925 I ge aA 6
I |© 2 42,5 7,3 III | 7 | 49 6,3 12. August 1925 I 24 51 11,6 II 14 38 13,5 Ill 16 47 7,6 1%. August 1925 4 | 5 5,1 [I H. | 4 11,2 III 16 | 52 6,9 Mittel T 2 | 9508 7,4 11 51 | 45 10,6 III 39 49,3 6.9
Ähnliche Ergebnisse zeigt nun auch die Vp. E. in Tabelle II. Während des Ruderns bis zum ‚toten Punkt“ (II) erkennt diese Vp. ebenfalls merk- lich weniger als vorher. Betrachtet man nun das Verhalten von I zu III, so findet sich eigenartigerweise, daß am 1. Versuchstage nach Überwindung des „toten Punktes‘ sogar mehr erkannt worden ist, als vor Beginn des Ruderns. Einen besonderen Wert kann man freilich. auf dieses Ergebnis nicht legen, da die Anzahl der Versuche zu gering ist. Am 14. August ist die Zahl der erkannten Buchstaben bei I und III die gleiche, während sie am 12. August 1925 bei III, d. h. nach Überwindung des „toten Punktes“ merklich geringer als bei I ist. Im Mittel ergibt sich dann aber das gleiche Bild wie bei Vp. H. Bei I wird am meisten erkannt, bei II wesentlich weniger als bei I, bei III wieder merklich mehr als bei II, fast soviel wie bei I. — Betrachtet man die Zahl der Fehler, so findet sich hier ein typisch anderes Verhalten als bei Vp. O. H. Während diese Vp. bei der maximalen Anstren-
168 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
gung und auf dem „toten Punkt‘ am wenigsten eine Tendenz zum falschen Erkennen zeigt, ist bei Vp. E. gerade auf dem ‚toten Punkt“, sowohl an den einzelnen Versuchstagen, als auch im Mittel die Anzahl der Fehler am größten. Hinterher (III) werden an 2 Versuchstagen (10. und 14. August 1925) mehr Fehler gemacht, als bei I vor Beginn des Ruderns. Einmal (12. August) sind aber am meisten Fehler bei I festzustellen (11,6%). Damit hängt es dann zusammen, daß sich im Mittel bei I mehr Fehler finden als bei III. Es ist sicherlich bei der relativ kleinen Anzahl von Versuchen bei einer Vp. hierauf nicht viel zu geben, da die hohe Fehlerzahl bei I am 12. August auf irgendwelche ablenkende und dispositionelle Ein- flüsse zurückzuführen ist. — Bei Vp. W. (Tabelle III) liegen die Ver- hältnisse ähnlich. Auch hier werden wie bei Vp. E. auf dem ‚toten Punkt‘ die Fehler am häufigsten. Nach Überwindung desselben sind sie immerhin im Mittel noch zahlreicher als vor Beginn des Ruderns.
Bezüglich der Quantität des Erkennens herrschen bei allen Vp. die gleichen Tendenzen. Das zeigt deutlich Tabelle IV, die das Mittel aus den Ergebnissen der sämtlichen Versuchsreihen der 3 Vp. wiedergibt.
Tabelle IH. Vp. W.
Datum Versuchsreihe n Erkannt Fehler
19
8. August 1925 I 22 42 3 Il 3; III 11. August 1925 I JI II] 14. August 1925 | II i III 3, Mittel l 69 43,3 3,48 Il 49 39,9) 9,4 III 42 41,8 4,2
Tabelle IV. Vp. O.H., E. und W.
Erkannt | Fehler u,
Versuchsreihe | n er | i0
Gesamtmittel aus neun Versuchsreihen
Mit einer erstaunlichen Deutlichkeit, wie sie nicht immer im psycho- logischen Experiment zu beobachten ist, zeigen sich sowohl im einzelnen, als auch ım Mittel stets nahezu die gleichen Ausschläge nach der gleichen Richtung. Es ıst also auf Grund der Ergebnisse eindeutig festzustellen, daß maximale körperliche Anstrengung den Umfang der Aufmerksamkeit merklich herabsetzt. Nach Überwindung des „toten Punktes“ wird der Umfang der Aufmerksameit wieder größer, ja, er erreicht fast den Wert, den er vor Beginn des Ruderns aufwies.
Von W. Ewig und T. Wohlteil. 169
.Das qualitative Verhalten bei den Aufmerksamkeitsprozessen vor, wäh- rend und hinter dem ‚toten Punkt‘ ist nun nicht bei allen Vp. ganz gleich. Vp. O. H. zeigt im Zustand der Einengung des Umfanges der Aufmerksam- keit eine Verminderung der Fehler. Sie erkennt zwar weniger, aber was sie erkennt, das erkennt sie auch richtig, respektive gibt es richtig an. Die Vp. E. und W. machen aber im Zustand der Einengung der Aufmerk- samkeit auch noch mehr Fehler als vorher.
Es ist der oben konstatierten Tatsache von der Einschränkung des Aufmerksamkeitsumfanges bei II entgegen zu halten, daß allein schon die Tätigkeit des Ruderns im Sinne einer Ablenkung und auch Verkleinerung des Umfanges der Aufmerksamkeit gewirkt haben kann. Ohne Zweifel wird der Ruderarbeit eine gewisse Wirkung auf den Aufmerksamkeitsprozeß zuzusprechen sein, wenn auch eine nahezu automatisch gewordene körper- liche Tätigkeit, wie z. B. das Rudern im ‚second wind‘, keinen großen Stö- rungsfaktor darstellt. Die bemerkenswerte Verkleinerung des Umfanges der Aufmerksamkeit bei II im Verhältnis zu I kann nicht allein auf jenen Faktor zurückzuführen sein, denn nach Überwindung des „toten Punktes“ erreicht der Umfang der Aufmerksamkeit fast wieder die gleiche Größe wie vor Beginn des Ruderns. — Es wird in der Hauptsache bei II weniger erkannt und nicht allein weniger angegeben, d. h. die Verminderung der erkannten Buchstaben war nicht allein auf eine akute Störung der Merkfähigkeit zurückzuführen. Diese Deutung ergibt sich aus den Angaben der Vp. in der Selbstbeobachtung. Die Vp. sagten u.a. aus, die Buchstaben er- schienen ihnen verschwommen. Sie könnten dieselben weniger deutlich auffassen. Ob das durch einen peripheren oder zentralen Prozeß zustande- gekommen ist, läßt sich nicht aussagen. Freilich wird oft auch eine gewisse Beeinträchtigung der Merkfähigkeit eine Rolle gespielt haben. Die Vp. sagten z. B. aus: „Sie hätten zwar mehr Buchstaben erkannt, aber beim Aus- sprechen diese schon wieder vergessen.“ Man wird also in erster Linie eine Beeinträchtigung der Auffassung als solche, in zweiter Linie eine gewisse Störung der Merkfähigkeit für die Verkleinerung der Gesamtleistung bei der Erkennung von Buchstaben, d. h. des Umfanges der Aufmerksamkeit verantwortlich zu machen haben.
Die Wirksamkeit körperlicher und auch geistiger Arbeit auf den Um- fang der Aufmerksamkeit ist bereits von einem Schüler Kraepelins, K.Mies- mer!) untersucht worden. Die Experimente, die im übrigen nuraneiner Vp. ausgeführt wurden, beschränkten sich auf die Untersuchung der Einwirkung eines einstündigen Spaziermarsches auf verschiedene psychische Teilerschei- nungen, darunter auch die Auffassungsfähigkeit. Ein einstündiger Marsch läßt sich aber mit einer sportlichen maximalen Leistung nicht vergleichen. Weiterhin kommen für die Beurteilung der Wirksamkeit bei nur einer Vp. noch andere Momente in Frage, wie die körperliche Geübtheit und konstitu- tionelle Beschaffenheit der Vp., die Art, wie der Marsch ausgeführt wird usw. Immerhin sind jene Ergebnisse für die Beurteilung der eigenen von Interesse. Miesmer konstatiert nun unter anderem: Nach einem Marsch werden mehr
1) K. Miesmer, Über psychische Wirkungen körperlicher und geistiger Ar- beit. Kraeplin, Psychologische Studien, Bd. 4, 1904, S. 384.
170 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
Buchstaben angegeben, als vor demselben. Es nimmt aber die Anzahl der richtig aufgefaßten Buchstaben ab und die der falsch aufgefaßten zu. Nach geistiger Arbeit dagegen nimmt die Anzahl der überhaupt aufgefaßten Buchstaben, d. h. die Gesamtleistung mehr ab auf Kosten der richtigen Wahrnehmungen, während die falschen keine wesentliche Zunahme er- fahren.
Eine weitere Frage war die, ob die Vp. während der maximalen An- strengung leichter ablenkbar in ihrer Aufmerksamkeit waren als vor- her und nachher. Als Maß der Ablenkung ist von uns nach den bekannten Formeln der Variationsstatistik?) die mittlere Streuung (0) der Anzahl der im einzelnen erkannten Buchstaben um das arithmetische Mittel (M) angenommen worden. Erkennt die Vp. in einer Versuchsreihe im allge- meinen etwa 3 und 4 Buchstaben, so ist naturgemäß das Streuungsmaß (o) geringer, als wenn sie außer 3 und 4 Buchstaben einmal nur 2, dann ev. wieder 5 Buchstaben erkennt usw.
Tabelle V. I 701 II III während des Ruderns | während des Ruderns Vp. vor dem Rudern auf dem toten Punkt | hinterdem toten Punkt n M o n M | o n M a
VD: Be... % 72 4,6 | 0,794 48 3,8 | 0,77 39 4,5 |0,671 Vp.O.H.... 71 3,5 | 0,732 54 2,9 | 0,52 72 3,3 | 0,6072 VDEW: ma ne 69 3,9 | 0,775 47 3,2 | 0,633 43 3,4 | 0,686 Gesamtmittel . 212 4 0,767] 149 3,3 | 0,641] 154 3,4 | 0,655
Faßt Vp. aber quantitativ ungleichmäßiger auf, so kann man annehmen, daß auch ihre Ablenkbarkeit durch Vorgänge in der Umgebung größer ge- wesen ist, ala wenn sie quantitativ gleichmäßig erkannt hat. Es bedeuten in der Tabelle V:M = die Anzahl der im Mittel erkannten Buchstaben und o = mittlere Streuung, d. h. das Maß der Ablenkbarkeit. n = Anzahl der dargebotenen Karten.
Es zeigt sich nun wieder bei sämtlichen Vp., daß die Gesamtleistung, d. h. die Anzahl der richtig erkannten Buchstaben bei den Ruheversuchen (I) am höchsten, und bei der maximalen Anstrengung bis auf dem toten Punkt (IT) am niedrigsten ist. Nach Überwindung desselben macht sich wieder eine Erhöhung der Leistung bemerkbar, die aber nicht den Aus- gangswert erreicht.
Das Verhalten der Streuungswerte ist nun recht eigenartig. Diese sind beim Rudern bis zum „toten Punkt“ geringer als vor Beginn des Ruderns, und auch kleiner als bei III, d. h. nach Überwindung des toten Punktes. Sie bleiben aber doch durchgängig bei sämtlichen Vp. nach Überwindung des toten Punktes (III) geringer als in den Ruheversuchen (I). Es läßt sich also hiermit feststellen, daß die Vp. am meisten ablenkbar vor Beginn des Ruderns ist. Die geringste Ablenkbarkeit besteht in dem Stadium des toten Punktes. Etwas größer ist dieselbe nach Überwindung des toten
1) A. Lang, Die experimentelle Vererbungslehre in der Zoologie seit 1900. Bd. I, Jena 1914, S. 201.
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 171
Punktes. Es wird also bei der Verkleinerung des Umfanges der Aufmerk- samkeit eine geringere Ablenkbarkeit der Vp. beobachtet als vorher und nachher, wie auch allgemein ein Vergleich von M und o zeigt.
Auf Grund der oben konstatierten Tatsache ist nun auch eine Deutung der Feststellung bezüglich des Verhaltens der Fehlerzahlen möglich. Die Tabellen I, II, III und IV zeigten, daß bis zum „toten Punkt‘ (bei Vp. E. und W.) und auch nach Überwindung desselben (Vp. H., E. und W.) stets mehr Fehler gemacht wurden als bei den Ruheversuchen vor Beginn des Ruderns. Da nun die in Tabelle IV demonstrierten Resultate deutlich be- wiesen, daß auf dem toten Punkt und nach Überwindung desselben eine geringere Ablenkbarkeit bestand, so könnte die Tatsache der Fehlerver- mehrung bei II und III nicht auf die Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit zurückgeführt werden.
Wie die Selbstbeobachtung ergeben hat, ist es zum Teil die Schädigung der Merkfähigkeit oder, besser gesagt, der Treue des Gedächtnisses gewesen, die dieses Phänomen zeitigte. Die Vp. glaubten zwar, die Buchstaben er- kannt zu haben, aber beim Aussprechen bezweifelten sie selber die Richtig- keit ihrer Angaben. Es fehlte ihnen also gelegentlich die Erinnerungs- gewißheit, wobei sich öfters objektiv die Angaben als falsch herausstellten. Vielfach wurden aber auch mit subjektiv großer Gewißheit Buchstaben angegeben, die objektiv nicht dargeboten waren. Das konnte dann in einem kleineren Teil der Experimente vielleicht auf Verwechslungen partiell ähnlich aussehehender Buchstaben wie z. B. B und R beruht haben. In der Hauptsache sind aber diese Fehlleistungen darauf zurückzuführen gewesen, daß Vp. ganz falsch erkannt hatte.
Bei der Protokollierung der Angaben während der Experimente fiel es dem Versuchsleiter auf, daß gelegentlich bei den falsch angegebenen Buchstaben einige ganz bestimmte, von Versuchstag zu Versuchstag und von Versuchsreihe zu Versuchsreihe wechselnde Buchstaben in der Angabe bevorzugt wurden. Auch die Vp. gaben in der Selbstbeobachtung an, es drängten sich ihnen unter Umständen bestimmte Buchstaben immer wieder bei der Angabe der erkannten auf, und sie wüßten nicht recht, ob sie die- selben auch tatsächlich gesehehen hätten. Dies Phänomen ist nunzweifels- ohne jenes, welches E. Müller und Pilzecker!) als Perseveration des Näheren beschrieben haben. Die beiden Autoren meinen dabei, daß jeder Vorstellung nach ihrem Auftreten im Bewußtsein eine im allgemeinen schnell abklingende Tendenz zukomme, frei ins Bewußtsein zu steigen, wobei es hier wieder gleichgültig sein soll, welcher theoretischen Deutung?) man zuneigt.
Die Perseveration von Vorstellungen ist im Gebiet der psychischen Vor- gänge eine relativ weit verbreitete Erscheinung. Sie spielt z. B. auch bei Täuschungen im Gebiet der Raumwahrnehmung?) eine Rolle usw. Man muß
1) E. Müller und Pilzecker, Experimenteller Beitrag zur Lehre vom Ge- dächtnis. Zeitschr. f. Psychologie, Ergänzungsband I, 1900. 5 2) Th. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie. 12. Aufl., 1924, . 420, 421. 3) T. Wohlfeil, Über die Lokalisation von Tastreizen. Dissertation Königs- berg i. Pr., 1923.
172 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
aber wohl unter den Begriff der Perseveration zweierlei unterscheiden!). 1. das unmittelbare Haften von Vorstellungen in einer gewissen Zeit und 2. das sog. freie Steigen derselben. Müller und Pilzecker geben nun unter anderem an, daß Ermüdung die Perseveration von Vorstellung be- fördere. Im übrigen bestehen aber sicher individuelle Unterschiede; die eine Person neigt mehr, die andere weniger dazu. Wir nahmen nun an, daß Perse- veration in unseren Versuchen da in Frage kommen konnte, wo in einer Versuchsreihe mehr als zweimal, also dreimal, viermal, fünfmal die gleichen falschen Buchstaben kurz hintereinander angegeben wurden. Um nun einen zahlenmäßigen Vergleich der Größe der Perseverationstendenzen der Versuche vor Beginn des Ruderns mit denen bei maximaler Anstrengung bis auf den toten Punkt und hinterher zu haben, führten wir folgende Be- rechnung durch: Es wurde die Häufigkeit des Vorkommens der wiederholten Angabe gleicher falscher Buchstaben innerhalb einer Versuchsreihe addiert, und, um relative Zahlen zu erhalten, durch die Anzahl der überhaupt vor- handenen Fehler dividiert. Es wurde damit gewissermaßen ein mittleres Maß der Perseverationstendenzen für die betreffende Versuchsreihe er- halten, welches mit dem anderer Versuchsreihen unter Vorbehalt vergleich- bar war.
Tabelle VI gibt diese Zahl bei den 3 Vp. an. Es zeigt sich nun bei Vp. O. H., daß bei II überhaupt niemals die Tendenz zur Wieder- holung der Angaben der gleichen falschen Buchstaben eintritt, wobei freilich zu erwähnen ist, daß diese Vp. nach Tabelle I bei II überhaupt eine Ver- minderung der Fehlerzahl aufweist. Dagegen ist diese Tendenz im Mittel aus sämtlichen Versuchsreihen am größten bei III nach Überwindung des toten Punktes.
Auch die Vp. E. und W. zeigten in der Periode vor dem Second Wind (II) eine Verringerung der Tendenz, dieselben falschen Buchstaben wiederholt anzugeben. Bei ihnen ist auch im allgemeinen diese Tendenz am größten bei I, d. h. vor Beginn des Ruderns. Im einzelnen ist die Tendenz bei Vp. W. nach Überwindung des toten Punktes am geringsten, bei Vp. E. am gering- sten in der Periode bis auf den toten Punkt.
Tabelle VI. Vp. O. H.
I 0,64 II 0,615 ITI 0,507
= 4) J. Froebes, Lehrbuch der experimentellen Psychologie. 2. Aufl. Frei- burg 1923.
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 473 Tabelle VI. Vp. O. H. (Fortsetzung.)
12. Aug. 25 14. Aug. 25
10. Aug. 25 Mittel
Vp. E. Versuchsreihe
I 0,688 II 0,425 II 0,521
Nimmt manan, daß die Neigung zu wiederholter Angabe gleicher falscher Buchstaben tatsächlich auf Perseveration beruht (was uns sehr wahr- scheinlich erscheint), so ist hier die eigenartige und interessante Tatsache zu beobachten gewesen, daß die Tendenz zur Perseveration von Vorstellungen in dem Zustand höchster akuter Ermüdung geringer war, als im Zustand vollkommener Frische, vor Beginn der Ruderarbeit.
Sie ist bei Vp. O. H. nach Überwindung des toten Punktes am stärk- sten ausgeprägt, während sie sich bei den übrigen beiden Vp. E und W. hinter dem toten Punkt im Mittel noch als geringer herausstellt, als vor Be- . ginn des Ruderns. Akute körperliche Ermüdung führt also selbst bei hoher Fehlerzahl (Vp. E. und W.) nicht zu einer Vergrößerung der Tendenz zur Perseveration von Vorstellungen, sondern eher zu einer deutlichen Ver- kleinerung. |
In der letzten Tabelle, VII sollen die Gesamtmittel aus sämtlichen Ver- suchsreihen der 3 Vp. gegenübergestellt werden.
Tabelle VII.
| | Erkannt 0
Fehler
.H 19 W. 160 — 40,68 | 5,7 E. | 162 467 i 83
Am meisten hat im Mittel Vp. E. richtig erkannt. Sie machte aber auch die meisten Fehler. Weniger erkennt Vp. W. und am wenigsten Vp. O. H.
Beim Vergleich der Leistungen und Fehler miteinander stellt sich heraus, daß je mehr im allgemeinen richtig erkannt wurden, um so mehr Fehler auch gemacht worden sind. Eine größere Quantität der Leistung geht also in unseren Fällen auf Kosten der Qualität. Diese Feststellung sei nur beiläufig erwähnt, da aus ihr, wegen der für solche Fragen zu geringen Anzahl von Versuchen, noch keine allgemeine Bedeutung oder Gesetz- mäßigkeit abgeleitet werden kann.
Wie sind nun diese Ergebnisse in Einklang zu bringen mit dem physio- logischen Geschehen während derartiger maximaler Anstrengungen? Die an anderer Stelle veröffentlichten Untersuchungen von Ewig brachten im wesentlichen folgende Resultate: Mit Beginn der angestrengten Ruder- arbeit stieg der Stoffwechsel und synchron mit ihm die Ventilationsgröße ; die Herztätigkeit und Atmung wurden frequenter, der Blutdruck höher; nur die Vitalkapazität sank. Diese Erscheinungen steigerten sich immer mehr bis zum toten Punkt. Da trotz enorm erhöhter Ventilation die gebildete
174 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
Kohlensäure nicht ausreichend ausgeschieden werden konnte, so trat eine Anhäufung von Stoffwechselschlacken auf. Die CO,-Spannung des arteri- ellen Blutes stieg; die aktuelle Blutreaktion wurde saurer; die Alkali- reserve und mit ihr die CO,-Bindungsfähigkeit nahm ab. Die Atmung war dabei mühsam und keuchend. Der Blutdruck erreichte exzessive Werte, die Herztätigkeit war äußerst frequent. Die Vitalkapazität nahm weiter ab. Mit der Überwinddng des toten Punktes trat mit Zunahme der Vital- kapazität eine plötzliche Ausschwemmung der CO, und Ausschüttung der retinierten Stoffwechselschlacken aus den Muskeln zutage. Dabei sank die CO,-Spannung des arteriellen Blutes mächtig ab. Die Blutreaktion wurde trotz weiterer Senkung der Alkalireserve weniger sauer als im t. P. Sofort ging die Atmung freier und leichter. Die Atemfrequenz, die im t. P. auf das 4fache des Ruhewertes gestiegen war, wurde erheblich geringer, dafür waren die einzelnen Atemzüge sehr tief und ausgiebig. Der Blutdruck sank; die Muskelschmerzen verschwanden und es stellte sich wieder ein Zustand relativen’ Wohlbefindens ein.
Was die Ruderleistung betrifft, die sich aus der Bootsgeschwindigkeit ergab, so zeigte sich auf dem toten Punkt eine merkliche Herabsetzung der Leistung als objektives Zeichen der Ermüdung. Mit der Überwindung des toten Punktes trat wieder eine Verbesserung der Arbeitsleistung ein, Ja, die Gesamtleistung stieg unter Umständen wieder bis zum Anfangswert zurück. Es bestand also objektiv auf dem toten Punkt eine Art akute Ermüdung, die nach Überwindung desselben eine Zeit lang wieder zum gro- ßen Teil behoben war. |
Vergleicht man die körperlichen Veränderungen mit dem psychischen Verhalten, so ergeben sich enge Beziehungen. Bezüglich des Umfanges der Aufmerksamkeit zeigt sich, daß dieser immer mehr abnimmt, je inten- siver die Einwirkung der Muskelarbeit auf den Gesamtorganismus ist. Im Zustand des toten Punktes, in dem der Körper fast am Ende seiner Lei- stungsfähigkeit angekommen ist, so daß er nicht mehr mit den durch die Arbeit erzeugten Umsetzungen fertig werden kann, ist der Umfang der Aufmerksamkeit ganz erheblich verschlechtert. Sobald aber der Organismus durch Intätigkeittreten bestimmter Ausgleich- und Regulationsmechanis- men sich von den Stoffwechselschlacken befreit und die akuten Insuffizienz- und Ermüdungserscheinungen beseitigt sind, bessert sich sofort auch die psychische Leistungsfähigkeit. Daß die Ruhewerte nicht erreicht werden, kann nicht wunder nehmen, da ja auch nach dem Verschwinden der akuten Störungen die, wenn auch wesentlich automatischere Tätigkeit doch noch eine sehr große Menge Energie — körperliche wie psychische — absorbiert. In großer Linie betrachtet, zeigen aber unsere Versuche, daß die Größe der psychischen Leistungen sich in umgekehrter Richtung bewegt, wie die Größe der körperlichen Anforderungen. Würde man die Ergebnisse kurven- mäßig darstellen, so sinkt die Kurve der psychischen Leistungsfähigkeit immer tiefer, je höher die Kurve der physischen Beanspruchung steigt und umgekehrt. Es gilt dies, wie wir noch später sehen werden, nicht nur für das hier untersuchte Verhalten der Aufmerksamkeit, sondern im wesentlichen auch für die anderen psychischen Qualitäten, wenigstens so lange es sich um maximale Anforderungen an den Organismus handelt.
Von W. Ewig und T. Wohltfeil. 175
Zusammenfassend läßt sich der psychologische Befund unserer Untersuchungen durch folgende Sätze charakterisieren:
1. Der Umfang der Aufmerksamkeit während der maximalen Anstren- gung vor Überwindung des toten Punktes ist auf Grund einer Art akuten Ermüdung kleiner als vorher in Ruhe gemessen. Nach Überwindung des toten Punktes erreicht er wieder einen relativ hohen Wert, der aber geringer ist als jener in Ruhe.
2. Die Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit, gemessen an der Streuung der Einzelwerte um den Mittelwert, ist im Mittel am größten bei den Ruhe- versuchen, am geringsten während der maximalen Anstrengung auf dem toten Punkt. Sie steigt etwas nach Überwindung des toten Punktes.
3. Bei 2 Vp. ist eine Zunahme der Fehlerzahl auf dem toten Punkt, bei 1 Vp. eine Abnahme bemerkbar.
4. Inden Ruheversuchen tritt eine weitaus größere Tendenz zur Wieder- holung der Angaben gleicher falscher Buchstaben auf, als während des Ru- derns mit maximaler körperlicher Anstrengung auf dem toten Punkt.
Bei einer Vp. ist nach Überwindung des toten Punktes diese Tendenz relativ am größten. Es scheinen also im akuten Ermüdungszustand Per- severationstendenzen nicht aufzutreten.
5. Je mehr eine Vp. an Buchstaben erkennt, umso größer wird im Mittel auch die Fehlerzahl.
Über den Mechanismus der Desinfektionswirkung von Chlorkalk und von Chloramin-Heyden.
Von Karl Süpfle.
(Aus dem Tierhygienischen Institut der Universität München. Vorstand: Prof. Dr. Karl Süpfle.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 26. März. 1926.)
Chlor in wässeriger Lösung und unterchlorige Säure gehören zu den wirksamsten Desinfizientien, die wir besitzen. Mit Recht ist daher der Chlorkalk in die Reihe der Desinfektionsmittel aufgenommen worden, die in den amtlichen medizinalpolizeilichen und veterinärpolizeilichen An- weisungen zur Ausführung der Desinfektion empfohlen werden. Eine zu- verlässige Wirkung hat der Chlorkalk jedoch nur dann, wenn er einen ge- nügenden Gehalt’an wirksamem Chlor besitzt. Nun ist aber die Zusammen- setzung der im Handel erhältlichen Präparate großen Schwankungen unter- worfen; ein weiterer Übelstand ist die geringe Haltbarkeit der Chlorkalk- lösungen. Es war daher ein großer Fortschritt, daß es Dakin im Anschluß an die grundlegenden Arbeiten von Chattaway gelang, chlorierte Toluol- präparate darzustellen, die sich durch große Haltbarkeit auszeichnen. Das wichtigste derartige Präparat ist das sog. Chloramin-T, das seit Be- endigung des Krieges auch in Deutschland hergestellt wird und u. a. seit 1921 von der Chemischen Fabrik von Heyden in Radebeul-Dresden unter dem Namen „Chloramin-Heyden‘“ in den Handel gebracht wird; das billigere „Roh-Chloramin“ enthält nach Angabe der Firma „etwa 80% Rein- Chloramin, im übrigen indifferente, neutrale, unlösliche Beimengungen“.
Über die Desinfektionswirkung des Chloramins liegen bereits mehrere Veröffentlichungen vor, die F. Falk!) in seinem Sammelreferat zusammen: stellt; die meisten Autoren beurteilen das Chloramin sehr günstig. Auch die in unserem Institut mit Unterstützung von Herrn Dr. Paul Hofmann angestellten Untersuchungen lassen die hohen bakteriziden Eigenschaften des Chloramins erkennen, wenn wir freilich bei Anwendung dichter Bak- teriensuspensionen und bei Benutzung geeigneter Nachkulturnährböden etwas spätere Abtötungszeiten erhielten als andere Untersucher; um Staphylokokken in 5 Minuten zu töten, sind 2proz. Chloraminlösungen er-
1) F. Falk, Zeitschr. f. Desinfektion und Gesundheitswesen, Bd. 17, S. 1.
Über den Mechanismus der Desinfektionswirkung usw. 177
forderlich. Aber auch gegen Milzbrandsporen fanden wir passende Konzen- trationen von Chloramin (5 proz. in 3 Stunden) wirksam.
Im Hinblick auf die chemische Natur des Chloramins war es nahe- liegend, die Desinfektionskraft des Chloramins mit der Wirkung des Chlorkalkes zu vergleichen. Wir haben dabei einige Überlegungen und Versuche angestellt, deren Mitteilung vielleicht einiges Interesse bietet.
Chloramin ist das Mononatriumsalz des p-Toluolsulfondichloramids, p-Toluolsulfonchloramid-Natrium der Formel!)
CH, C HC CH | | +3 H,O us Pi N C Na | "SO, Z N Cl
In Wasser zersetzt sich dieses organische Chlorpräparat nach H ailer ?) unter Entstehung von Natriumhypochlorit und Toluolsulfamid :
Na T-SO, . N + H,O = T-SO, °. NH, + NaOCl Cl
„und zwar nicht momentan und vollständig, sondern nur bis zu einem ge- wissen Gleichgewicht zwischen unzersetztem Präparat und Hypochlorit: verschwindet ein Teil des letzteren durch Oxydationsvorgänge oder anders- artige Bindung, so zersetzt sich cin neuer Anteil des gelösten Präparates, so daß stets eine gewisse Konzentration an dem bakterizid ja sehr wirk- samen Hypochlorit in Lösung vorhanden ist. Das Sulfamid, das andere Spaltungsprodukt, ist ohne Keimtötungsvermögen auch in gesättigter Lösung“.
Entsprechend der Entstehung von Natriumhypochlorit läßt sich ın der wässerigen Lösung von Chloramin jodometrisch Chlor nachweisen. Die Firma von Heyden schreibt hierüber in einem ihrer neuesten Prospekte (10. Sptember 1925): „Einen Maßstab für die antiseptische Wirksamkeit des Chloramins gibt die Menge von aktivem Chlor, die durch Salzsäure- zusatz zu der Lösung freigemacht und durch Titration nachgewiesen werden kann. Sie beträgt für Chloramin-Heyden etwa 25%, für Rohchloramin 20%.“ Auf Grund unserer eigenen Untersuchungen verschiedener Proben kann ich bestätigen, daß der durch Salzsäurezusatz nachweisbare Gehalt an „aktivem Chlor“ bei Rein-Chloramin in der Tat 25—26°,, bei Roh- Chloramin 20--21°;, beträgt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß man andere Werte erhält, wenn man Chloramin ın Form der wässerigen Lösung, wie sie als Desinfiziens dient, also ohne Salzsäurezusatz
1) Mercks Jahresbericht 1921, S. 208. 2) Hailer, Z.f. B., Bd. 89, Beiheft S. 12. Archiv für Hygiene. Bd. 97. 12
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jodometrisch titriert: auf Chlor berechnet findet man dann einen Gehalt von ca. 18%, bei Rein-Chloramin, von ca. 13%, bei Roh-Chloramin.
Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Chlorkalk. Die Forderung des Arzneibuches, daß der Chlorkalk mindestens 25%, wirksames Chlor enthalten soll, besagt, daß in einer Chlorkalklösung nach Zusatz von Salzsäure mindestens 25%, freies Chlor jodometrisch nachweisbar sein müssen. Wenn man jedoch Chlorkalk mit Wasser versetzt und z.B. in der frischen 1 proz. filtrierten Lösung das hierbei ohne Salzsäurezusatz abgespaltene, also zurzeit der Untersuchung durch die Kohlensäure der Luft freigemachte Chlor bestimmt, so findet man nicht etwa 0,25%, , sondern nur ca. 0,04—0,08% freies Chlor.
Will man den Gehalt an augenblicklich reaktionsfähigem Chlor als Gradmesser einerseits für Chloramin, anderseits für Chlorkalk benutzen, so darf man also nur das in der betreffenden wässerigen Lösung abge- spaltene Chlor zum Vergleich heranziehen, nicht den Gehalt — wenn man so sagen kann — an potentiellem Chlor, wie er erst nach Salzsäurezusatz in die Erscheinung tritt.
Für den von uns beabsichtigten Vergleich zwischen der Desinfektions- kraft von Chloramin und von Chlorkalk war der Versuchsplan, Chlorkalk- lösungen und Chloraminlösungen mit dem gleichen Gehalt an abgespaltenem Chlor parallel gegenüber den gleichen Testbakterien zu prüfen. Wie wir uns bei Vorversuchen dieser Art überzeugten, führt dieser Vergleich beı kurzfristigen Versuchen in die Irre: die Chloraminlösung wirkt hierbei unerwartet schwächer, als die Chlorkalklösung, obwohl wir sorgfältig da- nach trachteten, den Chlorgehalt der im Versuch verwendeten Chloramin- lösung auch in der frisch bereiteten, filtrierten und nach dem Ergebnis der Titration verdünnten Chlorkalklösung einzuhalten.
Aufklärung brachte die fortlaufende Titration des Chlorgehaltes in ‚Gemischen von Bakterienaufschwemmungen einerseits mit Chlorkalk, anderseits mit Chloramin: es besteht in der Konstanz des Chlorgehaltes einer wässerigen Lösung ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Chlor- kalk und Chloramin. Setzt man mit einer wässerigen Chloraminlösung einen Desinfektionsversuch an, indem man eine Chloraminlösung mit einer Bakterienaufschwemmung vermischt, so bleibt der Gehalt an Chlor längere Zeit fast unverändert, wie das folgende Beispiel eines Versuches mit 2,5%, Rohchloramin zeigt:
Chlorgehalt in Prozenten eines Bakterien-Chloramin-
Gemisches: titriert obne titriert mit Salzsäurezusatz Salzsäurezusatz nach 1 Minute . ...... 0,36 0,50 „ 30 Minuten. . . 2... 0,36 0,50 „ 2 Stunden. . . 2... 0,33 0,50 „ 24 Stunden. . a... 0,34 0,50
Ganz anders verläuft der analoge Versuch mit einer 2.5 proz. filtrierten Chlorkalklösung:
Von Karl Süpfle. 179
ChlorgehaltinProzenteneinesBakterien-Chlorkalk-Gemisches:
titriert ohne titriert mit Salzsäurezusatz Salzsäurezusatz nach 4 Minute ....... 0,13 1,00 » 30 Minuten. ...... 0,23 0,98 »„ 2 Stunden. ...... 0,46 0,93 „ 48 Stunden. ...... 0,16 0,85
Das in der wässerigen Chlorkalklösung ohne Salzsäurezusatz titri- metrisch nachgewiesene Chlor steigt unter der Wirkung der Kohlensäure der Luft an, um dann wieder abzufallen; das bei Salzsäurezusatz nachweis- bare Chlor sinkt ständig ab.
Wir verstehen jetzt, warum die Chloraminlösung schwächer wirkte als die auf gleichen Chlorgehalt eingestellte Chlorkalklösung: es bleibt bei einer Chlorkalklösung der Gehalt an abgespaltenem Chlor, der zu Beginn des Versuches festgestellt wurde, im Laufe des Versuches nicht unver- ändert, wie bei der Chloraminlösung, sondern steigt zunächst an und fällt dann ab. Diese Schwankungen müssen im Desinfektionsversuch sehr auf- fällig in die Erscheinung treten, wenn das Testobjekt Wuchsformen sind, die je nach den Versuchsbedingungen schon gegen relativ geringe Konzen- trationserhöhungen empfindlich sind. Dagegen war zu erwarten, daß ein bakteriologischer Vergleich zwischen Chlorkalklösungen und Chloramin- lösungen durchführbar sei, wenn als Testobjekt sehr resistente Keime und wenn passende Konzentrationen des Desinfiziens gewählt werden: die Ab- tötung erfordert dann einen längeren Zeitraum, währenddessen es nicht von wesentlichem Belang ist, ob die wirksame Konzentration innerhalb gewisser Grenzen schwankt. Hierzu eigneten sich besonders Versuche mit Milzbrandsporen. Wir konnten feststellen, daß z. B. 10 proz. Chloramin- lösungen resistente Milzbrandsporen in 2 Stunden töten, ebenso rasch wie eine Ghlorkalklösung mit dem entsprechenden Anfangsgehalt an abge- spaltenem Chlor.
Bei dieser Versuchsanordnung trat die erwartete Gleichartigkeit der Wirkung von Chloramin und Chlorkalk zutage. Die Gleichartigkeit ließ sich noch an einem anderen Merkmal prüfen: bekanntlich lassen sich mit Chlorkalk geschädigte Versuchskeime bei einem bestimmten Grad der Schädigung durch passende Behandlung mit Natriumthiosulfat ent- giften und als lebensfähig erkennen. Wenn Chloramin nach demselben Mechanismus wirkt, wie Chlorkalk, so muß auch nach der Desinfektion mit Chloramin unter bestimmten Versuchsbedingungen eine Entgiftung mit Natriumthiosulfat möglich sein. Wie besondere Vergleichsversuche lehrten, ist dies tatsächlich der Fall. Die Analogie geht bei Versuchen mit Milz- brandsporen so weit, daß die Entgiftung genau oder fast genau nach ebenso- langen Einwirkungszeiten von Chlorkalk wie von Chloramin möglich ist; so erwiesen sich in einer Versuchsreihe Milzbrandsporen, die 15 Stunden in 5proz. Rohchloraminlösung (0,62%, ohne Salzsäurezusatz titrierbares Cl) lagen, nach Entgiften mit Natriumthiosulfat in der Nachkultur noch als lebensfähig; ebenso verhielten sich Milzbrandsporen der gleichen Zube- reitung nach 15stündiger Einwirkung von Chlorkalklösung mit einem Anfangschlorgehalt von 0,62%, (ohne Salzsäurezusatz titriert); dagegen
412*
480 Über den Mechanismus der Desinfektionswirkung usw.
waren die Milzbrandsporen nicht mehr als lebend zu erkennen, wenn die Entgiftung erst nach 24stündiger Einwirkung derselben Rohchloramin- lösung bzw. derselben Chlorkalklösung versucht wurde. Ohne Entgiftung waren schon nach 2stündigem (Chlorkalk) bzw. nach 3stündigem (Chlora- min) Aufenthalt in der Desinfektionslösung die Milzbrandsporen der Fähig- keit beraubt, in optimalen Nachkulturböden auszukeimen.
Wie die Chemische Fabrik von Heyden in ihren Prospekten austührt, beruht die Desinfektionskraft des Chloramins ‚nicht eigentlich auf einer Abspaltung von Chlor, sondern auf einem Freiwerden von aktivem Sauer- stoff, etwa nach folgender Gleichung:
| CH, Na CH, CC -N 4 -+ H,O = CHK + NaCl +0. SO, Cl SO, d NH,
Dieser naszierende Sauerstoff übt eine oxydierende Wirkung aus, die sich in einer starken Schädigung der Mikroorganismen, außerdem in einer milden Reizwirkung auf granulierende Flächen äußert“. Man kann dieser Darlegung durchaus beistimmen, wenn man berücksichtigt, daß diese Gleichung den Endzustand der chemischen Zerlegung des Chloramins wiedergibt: wie wir bereits gesehen hatten, zersetzt sich Chloramin in Wasser zunächst in Toluolsulfamid und Natriumhypochlorit; bei Anwesenheit oxydabler Substanzen zerfällt dann Natriumhypochlorit in Kochsalz und Sauerstoff Na OCI = NaCl +0
und dieser naszierende Sauerstoff übt letzten Endes die Desin- fektionswirkung aus.
Es wäre aber cin ganz unzutreffendes Bild von dem Vorgang der Chloraminwirkung, wenn man sich — wie einzelne Autoren — vorstellen wollte, daß das Chloramin, sobald es in Wasser gelöst ist, sofort in Toluol- sulfamid, Kochsalz und Sauerstoff zerfallen würde. Die wässerigen Chlor- aminlösungen enthalten vielmehr — und das ist ihr großer Vorzug — sehr lange reaktionsfähiges Chlor; lediglich dann und insoweit oxydable Sub- stanzen anwesend sind, treten jene Reaktionen in bemerkenswertem Um- fang in Kraft, die zum Auftreten von naszierendem Sauerstoff führen. Bevor dieser Sauerstoff eine zellschädigende Wirkung entfaltet, kann er, so lange er nur adsorbiert ist, nach unseren Versuchen mit Natriumthio- sulfat reduziert werden — ganz ebenso, wie dies bei der Wirkung von Wasserstoffsuperoxyd auf Bakterien möglich ist. Wie wir uns über- zeugt haben, lassen sich Staphylokokken, die 1 Stunde in 4,5proz. H,O, (15proz. Perhydrol-Lösung) lagen, nach Entgiftung mit Natriumthio- sulfat noch als lebensfähig erkennen (nach 2stündiger Einwirkung nicht mehr), während die Keime schon nach einem Aufenthalt von nur 5 Minuten in 4,5proz. H,O, ohne Entgiftung nicht mehr imstande sind, in der Nach- kultur zur Vermehrung zu schreiten.
Aber nicht nur das Chloramin, sondern auch der Chlorkalk wirkt letzten Endes durch Auftreten von aktivem Sauerstoff. In den Prospekten der Firma v. Heyden ist. nirgends ausgesprochen, daß in dem Mechanismus
Von Karl Süpfle. 181
der desinfektorischen Wirkung prinzipiell ein Unterschied zwischen Chlor- amin und Chlorkalk besteht. Die Fassung, die Desinfektionskraft des Chloramins beruhe „nicht eigentlich auf einer Abspaltung von Chlor, son- dern auf einem Freiwerden von aktivem Sauerstoff‘ scheint jedoch von manchen Untersuchern des Chloramins so -ausgelegt worden zu sein, als ob die schließliche Bildung von aktivem Sauerstoff ein Vorzug sei, der nur dem Chloramin zukomme, nicht aber dem Chlorkalk, der lediglich durch Abspaltung von Chlor wirke. Diese Deutung wäre irrig. Die Chlorkalk- lösung zerfällt beim Stehen an der Luft zunächst in Kalziumkarbonat und Chlor: | Cl
cal + CO, = Ca CO; +- Che. OCI
Das Chlor reagiert dann mit Wasser weiter nach der Gleichung: H,O +2Cl=2HC-+O.
Es entsteht also neben Salzsäure auch hier naszierender Sauerstoff, der die eigentliche Desinfektionswirkung herbeiführt.
Das Chloramin ist demnach ein durch Oxydation wirkendes Chlorpräparat, ganz ebenso wie der Chlorkalk, nur mit einigen für die Praxis wesentlichen Unterschieden:
1. Die Zusammensetzung der frisch aus dem Handel bezogenen Chlor- kalkpräparate ist sehr schwankend; bei unseren Vergleichsuntersuchungen hatten wir Chlorkalkpräparate in Händen, die 32%, wirksames Chlor enthielten, aber auch Präparate, deren Chlorgehalt nur 10% betrug. Die verschiedenen Packungen Rein-Chloramin und Roh-Chloramin dagegen, die wir prüften, enthielten der Angabe der Fabrik entsprechend stets etwa 25%, bzw. 20%, (durch Salzsäure freizumachendes) Chlor.
2. Nicht nur in Substanz, sondern auch in wässeriger Lösung zeigt der Chlorgehalt des Chloramins große Haltbarkeit im Gegensatz zu Chlor- kalklösungen. Werden die Lösungen in gut schließenden Flaschen dunkel aufbewahrt, so zeigen 0,25— 10 proz. Chloraminlösungen während 15 Tagen (länger haben wir die Prüfung nicht fortgesetzt) einen unveränderten Chlor- gehalt. Wegen dieser guten Haltbarkeit von Chloraminlösungen, die auch von Lockemann und Ulrich!) festgestellt wurde, ist Chloramin von A. Noll?) als Jodersatz in der technischen Analyse empfohlen worden. Auch bewahrten 10 proz. Chloraminlösungen, die offen bei Zimmertempera- tur stehen blieben, 6 Tage hindurch (länger haben wir die Prüfung nicht durchgeführt) im Gegensatz zu 10 proz. filtrierten Chlorkalklösungen ihren Chlorgehalt unverändert. '
3. Chlorkalk ergibt in Wasser eine milchig-trübe Suspension; die Lösungen von Rein-Chloramin sind klar (bis 1proz.) oder nur leicht getrübt; bei den Lösungen von Rohchloramin ist die Trübung stärker und immerhin erheblich genug, um zur Bildung eines sichtbaren sandigen Bodensatzes
4) Lockemann und Ulrich, Desinfektion 1925, H. 2. 2) A. Noll, Chemiker-Zeitung 1924, S. 845.
182 Über den Mechanismus der Desinfektionswirkung usw.
zu führen; doch ist die Trübung der Roh-Chloraminlösung weit entfernt von dem milchig-trüben Charakter der Chlorkalkmilch.
4. Die Reaktion der Chloraminlösungen ist zwar nicht neutral, aber nur wenig alkalisch; für eine 1proz. Lösung fanden wir mittels des Kompa- rators nach Michaelis pg = 8,0; bei 1proz. Chlorkalklösungen war die Alkalität größer; wir fanden bei einem Präparat pn = 8,9, bei anderen 9,1—9,4.
Das Chloramin, das im Prinzip nach dem gleichen Mechanis- mus zur Keimtötung führt, wie der Chlorkalk, ist also vorzüglich gceignet, in passenden Konzentrationen in der Desinfektionspraxis an die Stelle des Chlorkalkes zu treten. Es muß nur berücksichtigt werden, daß die oxydierende Wirkung des Chloramins nicht weniger zu Schädigungen bestimmter Gegenstände führen kann, als die gleiche, längst bekannte Wirkung des Chlorkalkes.
Über die Bakterizidie der Milch.
Von Dr. med. vet. Eberhard Henninger.
(Aus dem Tierhygienischen Institut der Universität München. Vorstand: Prof. Dr. Karl Süpfle.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 26. März 1926.)
Frischermolkene, rohe Milch, die man bei gewöhnlicher Temperatur stehen läßt, erleidet infolge der Vermehrung bestimmter Bakterienarten verschiedene Zersetzungsprozesse, unter denen zunächst die Milchsäure- gärung in die Erscheinung tritt. Die damit einhergehende Erhöhung der Azidität der Milch macht sich jedoch nicht sofort geltend, sondern erst nach einem, je nach dem Anfangskeimgehalt bald längeren, bald kürzeren Intervall, das Soxhlet das ‚„Inkubationsstadium‘‘ der Milch genannt hat. Verfolgt man während dieser Inkubationszeit den Keimgehalt, so findet man, daß die Keime, mit denen die frische Milch bei ihrer Gewinnung verunreinigt wurde, nicht sofort zu lebhafter Vermehrung kommen, sondern zunächst an Zahl etwa gleich bleiben oder sogar eine oft recht erhebliche Verminderung erleiden. Erst nach Ablauf dieser Periode des Stillstandes bzw. des Rückganges der Keimzahl setzt eine schrankenlose Wucherung gewisser Keime ein.
Eine ganz ähnliche Erscheinung nimmt man wahr, wenn man mög- lichst reinlich ermolkene, frische rohe Milch mit Reinkulturen bestimmter pathogener Bakterien beimpft: die Keime vermehren sich nicht etwa, wie in gekochter oder auf ca. 60—70° erhitzter Milch sofort, sondern erst nach einiger Zeit; ein großer Prozentsatz der eingesäten Keime fällt so- gar der Abtötung anheim, wie das zeitweise Absinken der ursprünglichen Keimeinsaat dartut.
Diese Beobachtung wurde von einer Anzahl Autoren gemacht und dahin gedeutet, daß die Milch bakterizide Eigenschaften besitze, ähnlich wie das Blut und die Säfte des Organismus. Es war sehr einleuch- tend, bakterizide Körper, etwa alexinartigen Charakters, in der Milch nor- maler Tiere und Menschen zu postulieren, da ja zahlreiche, im Säftestrom des Organismus kreisende Stoffe in die Milch übergehen können, sowohl chemisch wohl definierte Stoffe, wie gewisse Arzneimittel, als auch bio- logisch nachweisbare Immunkörper, wie experimentell erzeugte Anti-
184 Über die Bakterizidie der Milch.
toxine, Agglutinine, Bakteriolysine. In diesem Sinne wird von einer Bakterizidie der frischen Milch gesprochen, die gegenüber verschie- denen Bakterien nachweisbar sei, während allerdings andere Keime in der Milch weder eine Entwicklungshemmung noch eine Abtötung erleiden, sondern vom Beginn der Überimpfung an sich üppig vermehren sollten. Dies ist, in wenige Worte zusammengefaßt, etwa der Standpunkt, der vertreten wird von Fokker (1890)!), v. Freudenreich (1891), M.Cohn und H. Neumann (1892)?), Hesse (1894), Schottelius (1896), Park (1901), Hunziker (1901), Rosenau und Mc Coy (1903), v. Behring (1904), Schenk (1904), Kolle und Mitarbeiter (1905), Koning (1905)?), Rullmann und Trommsdorff (1906), P. :G. Heinemann (1906), Hippius (1906)*), Moro (1907)°), Myer Coplands (1907)%), Much (1908)?), Sassenhagen (1909), Brudny (19%09)), Bub (1910), Meier (1919)%9), Hanssen (1924)1%). Auch Weigmann (1905)!!) und ebenso Burri (1906) 12) schließen sich in den von ihnen bearbeiteten Kapiteln in l.afars Handbuch der technischen Mykologie der Auffassung an, daß eine Bakterizidie der Milch nachgewiesen sei. Wie P. Mazé (1924)!) berichtet, hat man in Käsereien, wo die bakterizide Kraft der frischen Milch durch Verzögerung der Gerinnung zu gewissen Zeiten, besonders im Frühjahr störend bemerkbar wird, längst Stämme unter den Milchsäure- bildnern ausgewählt, die eine gewisse Festigung gegenüber der Bakteri- zidie der Rohmilch zeigen; dies ist z. B. der Fall in der Bretagne bei der Bereitung des keltischen „Gweden‘“, einer viskösen Art von Sauermilch.
Andere Autoren haben zwar gleichfalls festgestellt, daß in roher Milch eingesäte pathogene Keime absterben; sie sehen jedoch die Ursache in der Konkurrenz der saprophytischen, in der Milch vorhandenen Bakterien, die namentlich durch die zunehmende Säuerung die patho- genen Keime schädigen. Dieser Auffassung sind Wolffhügel und Riedel (1886), Heim (1889), Kitasato (1880), Uffelmann (1892), Friedrich (1893), Schrank (1895), Rubinstein (1903), Bartelli (1909%)). Auch
1) Veröffentlichungen vor dem Jahre 1910 zitiere ich der Raumersparnis halber nicht, soweit sie sich in den guten Literaturverzeichnissen finden bei: Kolle), Moro!®), Bub").
2) Cohn und Neumann, Arch. f. path. Anat. u. Physiol., Bd. 126, 3, 1891.
3) Koning, Milchwirtsch. Zentralblatt, Bd. 1, 1905.
4) Hippius, Zentralbl. f. Bakt., Abt. II, Bd. 15, Ref., 1906.
5) Moro, Zeitschr. f. exp. Path. u. Therapie, Bd. 4, 1907. l 6) Myer Coplands, Lancet 1907, ref., Münchn. Med. Wochenschr. 1908,
7) Much, Münchn. Med. Wochenschr., S. 384, 1908.
8) Brudny, Zentralblatt f. Bakteriologie, Abt. Il, Bd. 22, 1909.
9) Meier, Botanisches Zentralbl., Beih. 36, 1, 1919.
10) Hanssen, Zentralbl. f. d. ges. Hygiene u. i. Grenzgeb., Bd. 10, H. 1,
11) Weigmann in: Lafar, Handbuch d. techn. Mykologie, Bd. 2, S. 7, 1905. 12) Burri in: Lafar, Handbuch d. techn. Mykologie, Bd. 2, S. 253, 1906. 13) Mazé, Zentralbl. f. d. ges. Hygiene u. i. Grenzgeb., Bd. 9, H. 1, 1924. 14) Bartelli, Milchwirtschaftliches Zentralblatt, Bd. 5, 1909.
15) Kolle, Klinisches Jahrbuch, Bd. 13, 1905.
16) Moro, ].c.
17) Bub, Zentralblatt f. Bakteriologie, Abt. II, Bd. 27, 1910.
Von Dr. Eberhard Henninger. 185
Stocking (1902) und Conn (1903) stellen die Abnahme der Keimzahl in roher Milch nicht in Abrede, erklären sie aber damit, daß die rohe Milch für manche Keimarten kein passendes Medium sei (Stocking) bzw. daß die Bakterien sich erst an das neue Nährsubstrat gewöhnen müssen (Conn). |
Im Gegensatz hierzu habe einige Forscher in ihren Versuchen eine abtötende Wirkung der rohen Milch überhaupt nicht feststellen können; sie sprechen daher der frischen Milch jede Fähigkeit ab, eingesäte patho- gene Keime zu vernichten. Zu dieser Schlußfolgerung gelangen Honig- mann (1893), Basenau (1895), Klimmer (1903); Sommerfeld (1904), Knox und Schorer (1907).
Angesichts dieser Divergenz der Versuchsergebnisse habe ich auf An- regung von Herrn Prof. Dr. K. Süpfle, dem ich für seine Unterstützung herzlich danke, neue Untersuchungen über die Einwirkung roher Milch auf verschiedene Bakterienarten durchgeführt, über die ich im folgenden kurz berichten möchte.
Die zu meinen Versuchen benötigte Milch konnte ich von Kühen und Ziegen gewinnen, die mir von der Medizinischen Tierklinik, der Chirur- gischen Tierklinik, dem Institut für Geburtshilfe und dem Institut für Tierpathologie zur Verfügung gestellt wurden; für die gütige Erlaubnis hierzu statte ich den Herren Prof. Dr. Schmitt, Geheimrat Prof. Dr.‘ Mayr, Prof. Dr. A. O. Stoß und Geheimrat Prof. Dr. Kitt meinen ergebensten Dank ab.
Versuchsanordnung.
Die für meine Versuche bestimmten Milchproben wurden bei Ge- legenheit des gewöhnlichen morgendlichen Melkens entnommen. Um im Rahmen des üblichen Melkgeschäftes möglichst keimfreies Material zu gewinnen, wurde das Euter und die angrenzenden Körperteile nach gründ- licher Reinigung mit Wasser und Seife einer Desinfektion mit Alkohol unterzogen; ebenso mußte der Melker seine Hände waschen und mit Alko- hol desinfizieren. Nachdem ein bis zwei Drittel des Gemelkes abgemolken waren, wurden die für den Versuch erforderlichen Milchmengen in weit- halsigen sterilisierten Fläschchen (,„Saftfläschchen‘‘) aufgefangen und, falls nicht der Versuch unmittelbar angeschlossen werden konnte, bis zur Verarbeitung nach Kühlung im Eisschrank aufbewahrt. Zur Entfernung des Fettes wurde die Milch 1, Stunde bei 1200 Umdrehungen in der Minute zentrifugiert; die Rahmschicht wurde mit einer an die Wasserstrahlpumpe angeschlossenen sterilen Pipette abgesaugt und die Magermilch von dem geringen Bodensatz durch Umgießen befreit. Die so vorbereitete Versuchs- flüssigkeit wurde zu je Accm in Reagensgläschen verteilt; eine Probe kam in aktivem Zustande zum Versuch, andere wurden im Wasserbad %, Stunde inaktiviert, teils bei 56—57°, teils bei 65° bzw. 75°, teils bei ca. 98° (Tem- peratur des kochenden Wassers in München).
Die auf Zimmertemperatur gebrachten aktiven und inaktivierten Milchproben wurden nun mit Reinkulturen beimpft; hierzu wurden vom Agarbelag 16—18stündiger Kulturen Aufschwemmungen in Bouillonkoch- salzlösung (90 Teile 0,85 proz. Kochsalzlösung, 10 Teile gewöhnliche pepton-
186 Über die Bakterizidie der Milch.
haltige Fleischwasserbouillon) angefertigt; die Bakteriensuspensionen erfuhren dann mit Bouillonkochsalzlösung eine derartige Verdünnung, daß in einer Öse die für 4 cem Milch gewünschte Keimeinsaat enthalten war. In dieser Weise wurden die zu einer Versuchsserie gehörenden Milch- proben gleichmäßig besät. Nach gründlichem Mischen bestimmte ich sofort nach der Einsaat die Keimzahl dadurch, daß ich eine bestimmte Milch- menge mit einer großen Öse bekannten Inhalts auf die Oberfläche vorge- trockneter Agarplatten ausstrich. Nach Bebrütung bei optimaler Tem- peratur nahm ich die Zählung der Kolonien vor, wobei sorgfältig darauf geachtet wurde, nur Kolonien des zum Versuch benutzten Bakterienstammes zu zählen, nicht aber die gelegentlich auftretenden Kolonien von sapro- phytischen Milchkeimen. Ich legte von jedem Versuchsröhrchen jeweils 3—5 Parallelplatten an; aus den Kolonienzahlen der Parallelplatten wurde das arithmetische Mittel berechnet und protokolliert.
Die besäten Milchproben wurden nun bei bestimmter Temperatur, meist bei 37°, gehalten und in der Zwischenzeit öfters durchgeschüttelt. Nach gemessenen Zeiten wurde aus den neuerdings gründlichst durch- mischten Proben wieder in der beschriebenen Weise die Keimzahl ermittelt und hierdurch festgestellt, ob die betreffende Bakterienart in der gewählten Einsaatmenge von der Milch abgetötet worden war oder nicht. In manchen “Versuchen, in denen es nicht gelungen war, die Milch keimarm zu ge- winnen, war in den 24 Stunden und später nach der Einsaat angelegten Zählplatten die Zahl der aufgegangenen Kolonien von Milchkeimen so groß, daß es nicht möglich war, die Zahl der Kolonien von Versuchsbakterien genau zu erfassen. Ich mußte mich dann darauf beschränken, die Art- zugehörigkeit der verdächtigen, isoliert stehenden oder durch Plattenver- fahren isolierten Kolonien mittels der üblichen Identifizierungsverfahren zu bestimmen und die Zahl solcher Kolonien schätzungsweise anzugeben.
Gerade im Hinblick auf die in der Milch enthaltenen Saprophyten besaß die von uns gewählte Methode der Keimzählung erhebliche Vorzüge. Die meisten Autoren bedienten sich zur Keimzählung der Verarbeitung gemessener Milchmengen zu Gelatine- oder Agargußplatten. In solchen gegossenen Zählplatten ist es, wie ich in einigen Parallelversuchen fand, außerordentlich schwer, unter den uncharakteristischen tiefliegenden Kolonien die etwa aufgegangenen Kolonien der eingesäten Keime von den Kolonien der saprophytischen Keime zu unterscheiden, sobald die zum Versuch gewählte Milchprobe nicht nahezu keimfrei ist. Erzeugt man aber, wie dies unsere Methode des Ausstreichens auf die Oberfläche von Agar- platten ermöglicht, ausschließlich oberflächlich liegende Kolonien, so ist die Identifizierung der Kolonien sicher und relativ einfach durchzuführen.
Versuchsergebnisse.
Bei seinen Versuchen über das Wirkungsbereich der Alexine im Blutserum der Haustiere fand Ph. Nickl!), daß die Alexine des Rinderserums regelmäßig imstande sind, u. a. Bact. typhi murium, Bact. pneumoniae Friedländer und Vibrio Metschnikovii noch bei einer Einsaat
1) Ph. Nickl, Archiv für Hygiene, Bd. 89.
Von Dr. Eberhard Henninger. 187
von ca. 200000 Keimen in 1 ccm innerhalb 4 Stunden restlos abzutöten. Wenn alexinartige Körper in der Kuhmilch enthalten sind, durfte also angenommen werden, daß die gleichen Keimarten auch in der Milch ge- schädigt werden. Allerdings konnte nicht erwartet werden, daß die Milch die gleiche bakterizide Kraft entfalten werde, wie das Serum. Ich arbeitete daher von vornherein mit kleineren Einsaatmengen als Nickl. Die ersten Versuche lehrten, daß eine Einsaat von 20000 Keimen des Bact. typhi murium pro ccm von der rohen Milch nur wenig auffällig beeinflußt wird. Auch als die Keimmenge auf 4—5000 vermindert wurde, war die bakteri- zide Wirkung der aktiven Milch lediglich daran — allerdings zweifellos — zu erkennen, daß die Einsaat in den ersten Stunden auf konstanter Höhe blieb, um erst nach 5 Stunden einen langsamen Anstieg zu zeigen, während in den inaktivierten Proben nach 5 Stunden die Keimzahl bereits das 20—25fache der Einsaat erreicht hatte (siehe Tab. I).
Tabelle I. _ Wirkung von Kuhmilch auf Bact. typhi murium bei 87°.
Milch einer Kuh der Medizinischen Tierklinik. Datum des Versuches: 10. XII. 1924.
Keimzahl in 14,9 mg
Zustand der Milch
nach nach 1°/, Std. 5 Std.
Einsaat
akli e 2. 5. 2% inaktiv. 56°. .... inaktiv. 98%. . ...
Sehr deutlich trat die bakterizide Fähigkeit der Milch zutage, wenn nur ca. 300 Keime pro ccm zur Einsaat verwendet wurden. Hierbei sank die Keimzahl innerhalb 5 Stunden zumeist soweit ab, daß bei der Probe- entnahme mit einer 10 bzw. 15 mg fassenden Öse kein einziger vermehrungs- fähiger Keim mehr auf die Zählplatte gebracht wurde. Dieser erhebliche Rückgang des Keimgehaltes blieb weitere 20 Stunden lang nachweisbar. Wie ein Versuchsbeispiel dieser Art (Tab. II) zeigt, reichten jedoch die bakteriziden Stoffe nicht aus, alle eingesäten Keime restlos zu vernichten: die nach 48 Stunden aus der aktiven Milch entnommenen Proben enthielten wieder Kolonien von Mäusetyphusbazillen (neben zahlreichen Kolonien von Milchkeimen).
Tabelle II. Wirkung von Kuhmilch auf Bact. typhi murium bei 87°.
Milch einer Kuh des Instituts für Geburtshilfe, 7 Tage nach der Geburt eines gesunden Kalbes; Nachgeburtsverhaltung. Datum des Versuches: 15. I. 1925.
Keimzahl in 14,9 mg
ie nach 1 |) 315 | 8 | 24 | 48 Stunden
Zustand der Milch
Einsaat
inaktiv. 56°. .... inaktiv. 989. ....
188 Über die Bakterizidie der Milch.
Auf Grund dieser Erfahrung trachtete ich in den späteren Versuchen, die Keimeinsaaten auf niedriger Höhe zu halten, um eine auch nur geringe bakterizide Wirkung nicht zu übersehen. Es zeigte sich, daß bei Einsaaten von 500 und weniger Keimen die Bakterizidie der rohen Milch meistens in ähnlicher Weise zum Ausdruck kam, wie in dem in Tab. II mitgeteilten Versuch. Doch hatte ich auch Milchproben in den Händen, die selbst diesen geringen Einsaaten gegenüber insofern nur eine schwache Bakterizidie erkennen ließen, als die Keimzahl in den nächsten 4—6 Stunden konstant blieb bzw. ganz langsam anstieg. Anderseits war in manchen Milchproben die bakterizide Wirkung ausreichend, auch Keimeinsaaten von 1000 und mehr Keimen erheblich herabzudrücken. Ebensowenig wie in dem Ver- suchsbeispiel in Tab. II konnte ich aber jemals eine so kräftige Bakteri- zidie beobachten, daß alle eingesäten Keime ausnahmslos vernichtet wur- den; war auch einige Stunden nach der Einsaat zunächst in den überimpften Probemengen kein entwicklungsfähiger Keim enthalten, so mußten doch vereinzelte resistente Keime der bakteriziden Wirkung der Milch ent- gangen sein: denn 24 Stunden, spätestens 48 Stunden nach Beginn des Versuches waren die Versuchskeime — wie die Zählplatten ergaben — wieder zur Vermehrung gekommen, wenn auch zunächst vielfach nur sehr spärlich und verzögert.
Die Resultate änderten sich nicht wesentlich, wenn ich zur Einsaat andere Keime wählte. Wie Tab. III und IV zeigen, sind die in der rohen Milch enthaltenen bakteriziden Stoffe imstande, nicht nur Bact. typhi murium, sondern auch Bact. pneumoniae Friedländer und Vibrio Metschnikovii zu schädigen.
Tabelle IHI. Wirkung von Kuhmilch auf Bact. pneum. Friedländer bei 87°.
Milch einer Kuh der Medizinischen Tierklinik. Datum des Versuches: 16. IV. 1925.
Keimzahl in 10,3 mg
Zustand der Milch
ern nach Einsaat | 417, Std.
aktiv . . er inaktiv. 56°. . ... inaktiv. 98%. . 2...
Keimzahl in 10,3 mg
| nach | nach “nach | 4 Std. 6 Std. | 30 Sta.
aktiv e re aai 5 N | 0 1 inaktiv. 56°. . ... 6 | inaktiv. 98°. .... a I 0.1350 |! ©
Von Dr. Eberhard Henninger. 189
Etwas anders verhält sich Mier. pyogenes; auch er erfährt zwar in roher Milch eine deutliche Hemmung, die in der bei 56° inaktivierten Probe ebenfalls noch deutlich ist. Aber die Hemmung führt nur zu einer Verlangsamung des Keimanstieges, der in gekochter Milch sofort erfolgt, reicht aber nicht aus, um die Zahl der eingesäten Keime auch nur zeit- weise zu verhindern. Ein Versuchsbeispiel dieser Art ist in Tab. V mit- geteilt. |
Tabelle V. Wirkung von Kuhmilch auf Micr. pyogenes bei 87°.
Milch einer Kuh der Medizinischen Tierklinik. Datum des Versuches: 24. IV. 1925.
Keimzahl in 10,3 mg
et Een ee nt gi a nach ' nach nach Einsaat | 414 Std. | 6 Std. | 24 Sta.
Zustand der Milch
aktivy 2.8.02 er 11 25 75 oo inaktiv. 57°. .... 12 30 170 oo inaktiv. 98%. .... 10 100 600 00
Die Ergebnisse meiner bisherigen Versuche lehren, daß die rohe Milch auf verschiedene Bakterienarten bakterizid wirkt. Die Bakteri- zidie ist allerdings in verschiedenen Milchproben verschieden hoch und bleibt auch im günstigsten Fall hinter der Wirkung des aktiven Blutserums erheblich zurück. Daß aber die bakterizide Wirkung der Milch prinzipiell den Gesetzen entspricht, die für die bakteriziden Stoffe bekannt sind, zeigten Versuche mit Variierung der Einwirkungstemperatur. Die bakteri- ziden Stoffe des Serums besitzen ein Temperaturoptimum ihrer Wirkung: bei 37° ist die Intensität am größten. Sind die Stoffe imstande, die gesamte Einsaat zu vernichten, so erfolgt bei 37° innerhalb 4—6 Stunden ein steiler Abfall der Keimzahl bis 0; reichen die Stoffe nur aus, einen Teil der Keim- einsaat abzutöten, so sinkt die Keimzahl zwar auch steil, aber nicht bis zum Nullpunkt, sondern sie steigt, sobald die Wirkung der bakteriziden Stoffe erschöpft ist, wieder an. Und zwar geht jetzt der Anstieg der Keim- zahl ebenfalls steil vor sich, weil bei 37° auch die gewählten Bakterien ihr Vermehrungsoptimum besitzen. Lasse ich den Versuch bei niedriger Tem- peratur, z. B. 20°, vor sich gehen, so erfolgt die Keimabnahme viel lang- samer, weil die bakteriziden Stoffe nicht so rasch wirken können. Die Kurve verläuft jetzt flacher und erreicht den Nullpunkt bzw. ihren tiefsten Punkt erst später als bei 37°. Einerseits erschöpft sich also die Wirkung der bakteriziden Stoffe langsamer, anderseits erfolgt, sobald die Erschöp- fung eingetreten ist, der neuerliche Anstieg der Keimzahl verzögerter als bei 37°, da die Keime bei 20° sich langsamer vermehren als bei 37°.
Ganz in diesem Sinne verhalten sich die Keimzahlen, die wir fest- stellen, wenn wir gleichartige Milchproben in gleicher Weise besäen, aber den einen Teil der Versuchsröhrchen bei 37°, den anderen Teil bei 20° beobachten. Wie Tab. VI erkennen läßt, sinkt in roher Milch die gleiche Einsaat von 680 Keimen pro cem des Bact. pneumoniae Friedländer bei 37° auf 195 Keime ab, bei 22° nur auf 390; nach 30 Stunden aber ist in der bei 37° gehaltenen Probe die Keimzahl bereits etwa auf das 145fache der Einsaat angewachsen, in der bei 20° gehaltenen Probe erst auf das 6%, fache.
190 Über die Bakterizidie der Milch.
Tabelle VI. Einwirkung von Kuhmilch auf Bact. pneumoniae Friedländer bei variierter Temperatur.
Milch einer Kuh der Medizinischen Tierklinik. Datum des Versuches: 16. IV. 1925.
Keimzahl in 10,3 mg
Zustand der Milch Versuchs- nach temperatur | Einsaat Af | 6 | 30 Stunden
De eh ee über 1000 45
inaktiv. 56°. .... 00 ca. 6000
inaktiv. 98%. .... 00
ca. 10000
Nunmehr interessierte die Frage, ob die bakterizide Wirkung der rohen Milch auf alexinartigen bzw. nur auf alexinartigen Stoffen beruht oder ob auch andere Stoffe beteiligt sind. Ob ein Teil der bakteriziden Wirkung auf Körper alexinartigen Charakters zu beziehen ist, kann schon aus den bisher besprochenen Versuchen gefolgert werden, da stets Material der gleichen Herkunft in aktivem Zustande sowie inaktiviert untersucht wurde, und zwar sowohl bei 56° als auch bei 98° inaktiviert. In den Ver- suchen — vgl. Tab. I—-VI — ist nun ausnahmslos sehr deutlich zu sehen, daß die hemmende Wirkung der rohen Milch zukommt, nicht dagegen der gekochten Milch; die bei 56° inaktivierte Milch besitzt nur noch eine verminderte Hemmungswirkung. Charakteristisch für die Alexine ist ihre Thermolabilität. Die deutliche Einbuße an bakterizider Kraft, die das halbstündige Erhitzen auf 56° bei der Milch zur Folge hat, beweist, daß ein großer Teil der Bakterizidie roher Milch auf der Wirkung von Alexinen beruht. Immerhin ist der Rest von Bakterizidie, den auch die bei 56° inaktivierte Milch noch behalten hat, erheblicher, als man erwarten sollte, falls die Milch nur Alexine enthielte.e Es mußte daher die Möglichkeit geprüft werden, ob auch thermostabile Körper, etwa Leukine, im Spiele sein könnten; die wenn auch geringe bakterizide Wirkung auf Staphylokokken — siehe Tab. V — die durch Erhitzen auf 56° nur wenig vermindert wurde, sprach bereits für die Anwesenheit von Leukinen, da Staphylokokken alexinfest, aber leukinempfindlich sind.
Ich habe daher in einer Reihe von Versuchen dieselbe Milch nicht nur im aktiven Zustande und nach Inaktivierung auf 56 oder 98° unter- sucht, sondern auch nach halbstündiger Erhitzung auf 65 und 75° (vgl. Tab. VII—-IX).
Die Versuche ergaben, daß die Bakterizidie, die in der bei 56° inaktıi- vierten Milch noch besteht, durch Erhitzen auf 65° nur sehr unwesentlich vermindert wird; sie tritt sogar noch deutlich, wenn freilich erheblich ge- schwächt, hervor, nachdem die Inaktivierungstemperatur von 75° eine halbe Stunde eingewirkt hatte. Dies Verhalten stimmt völlig mit den Eigenschaften des thermostabilen Leukins überein; danach erscheint der Schluß berechtigt, daß die Milch neben Alexinen auch Leukine enthält.
Von Dr. Eberhard Henninger. 191
Tabelle VII. Einwirkung von Kuhmilch nach verschiedener Inaktivierung auf Bact. typhi murium bei 87°. Milch einer Kuh der Medizinischen Tierklinik. Datum des Versuches: 29. I. 1925.
Keimzahl in 14,9 mg
Zustand der Milch
oe ee 8 8 0 o o
inaktiv. 57°... .. inaktiv. 65° . .... 150 500 inaktiv. 989. .... 275 2500
Tabelle VIII. Einwirkung von Kuhmilch nach verschiedener Inaktivierung auf Vibrio Metschnikovii bei 87°. Milch einer Kuh der Medizinischen Tierklinik. Datum des Versuches: 17. III. 1925.
nu mn nn
Ia aa S a m
Keimzahl in 10,3 mg
nach nach 30 Std.
Zustand der Milch
Einsaat
aktiv ... sase.’
0 einige inaktiv. 57° ..... 0 einige inaktiv. 65°. .... 2 einige inaktiv. 98? . .... 26 viele. Tabelle IX. Einwirkung von Ziegenmilch nach verschiedener Inaktivierung auf Bact. typhi murium.
Milch einer Ziege des Institutes für Tierpathologie, die am 3. IV. 25 geworfen atte. Datum des Versuches: 5. IV. 1925.
Keimzahl in 10,3 mg nach 6 Std. | nach 30 Std.
Zustand der. Milch
Einsaat
e ee» o ae ọọ [9 . 9
inaktiv. 57°. 2.2... inaktiv. 75°. .... 00 inaktiv. 98 . .... o0
Erinnern wir uns der verschiedenen Deutungen, mit denen man die auch von mir festgestellte Tatsache der keimschädigenden Wirkung frischer Milch zu erklären versuchte, so können wir auf Grund meiner Versuche die Meinung, es handle sich lediglich um eine Folge der Kon- kurrenz der saprophytischen Milchbakterien, als völlig unbe- wiesen ablehnen. Habe ich ja doch nicht nur mit Proben, die von Hause aus keimarm waren, sondern oft genug mit Milchproben gearbeitet, die trotz reinlicher Gewinnung eine so rasch einsetzende Vermehrung sapro- phytischer Keime zuließen, daß es außerordentlich schwer war, in den nach 24 Stunden angelegten Zählplatten unter den „Verunreinigungen“ die Kolonien der eingesäten Versuchsbakterien zu erkennen. Und trotz dieser
499 Über die Bakterizidie der Milch.
starken Konkurrenz der Milchkeime kamen die — den bakteriziden Stoffen entgangenen — Versuchsbakterien zur Vermehrung. Gerade aber zu der Zeit, wo die saprophytischen Milchkeime erst in spärlicher Menge vor- handen waren, lag das Optimum der Bakterizidiewirkung.
Wenn ich also auch nicht die Möglichkeit leugnen will, daß bestimmte in die Milch gelangte Keime durch die Konkurrenz der gerade zur Wucherung gelangenden Flora geschädigt oder gar getötet werden, so muß ich doch den Standpunkt vertreten, daß die in der frischen rohen Milch eintretende Hemmung oder Tötung verschiedener Keimarten vor allem der Eıfekt bakterizider Stoffe ist.
Schließlich ist noch die weitere Frage zu erörtern, welche Berechtigung jene Auffassung hat, es sei die in roher Milch zu beobachtende Abnahme der Keimeinsaat lediglich ein Ausdruck dafür, daß die frische Milch für viele Bakterienarten kein guter Nährboden sei. Um zu dieser Frage Stellung nehmen zu können, habe ich Versuche nach folgendem Plan durchgeführt. Es wurden aktive und inaktivierte Proben Milch sowohl unverdünnt untersucht, als auch nach Verdünnung mit Bouillon bzw. mit. gekochter Milch gleichen Ausgangsmaterials; alle Röhrchen wurden mit einer bestimmten Keimeinsaat versetzt und es wurde das Schicksal der Einsaat verfolgt.
Tabelle X. Einfluß der Verdünnung auf die bakterizide Wirkung der Milch.
Milch einer Ziege des Instituts für Tierpathologie. Datum des Versuches: 4. VI. 1925. Einsaat: Bact. typhi murium.
— ———— nn _
Keimzahl in 9,3 mg
: Art und m ee Zustand der Milch Menge des | nach Zusatzes Einsaat | 4 | 6 30 Stunden
Be nee re en gar inaktiv. (98°) Milch; 5°/,
5 10 65 6 130 über 1000
82888 28
inaktiv. 579.2... 6 : 70 600
inaktiv. 989. .... — 4 | 100 unzählbar inaktiv. 98? . .... Bouillon ; 5°/, 5 ' 200 ı unzählbar Kochsalz . . .... Bouillon ; 5°/, 6 600 unzählbar
Der in Tab. X wiedergegebene Versuch zeigt, daß ein 5proz. Zusatz von gekochter zu roher Milch die bakterizide Wirkung zu einem großen Teil verdeckt; die rohe Milch verhält sich infolge dieses Zusatzes, der eine Verdünnung der bakteriziden Stoffe bedingt, etwa so, wie die auf 57° inaktivierte Probe; überraschend ist nun, daß in der gekochten Milch die Keimvermehrung erheblich langsamer erfolgt als in einer Nährlösung, die aus 95 Teilen physiologischer Kochsalzlösung und 5 Teilen gewöhnlicher Bouillon besteht. Sieht es schon hiernach so aus, als ob gekochte Milch den zur Einsaat gewählten Keimen nicht gerade die günstigsten Vermehrungs- bedingungen — wenigstens in den ersten Stunden — gewährt, so wird dieser Eindruck vertieft durch die weitere Beobachtung, daß 5proz. Zu- satz von Bouillon zu gekochter Milch den Keimanstieg beschleunigt.
Von Dr. Eberhard Henninger. 193
Tabelle XI. Einfluß der Verdünnung auf die bakterizide Wirkung der Milch.
Milch einer Ziege des Instituts für Tierpathologie. Datum des Versuches: 19. V. 1925. Einsaat: Bact. typhi murium.
Keimzahl in 9,3 mg
Art und Menge des Zusatzes
nach Einsaat Allg | 6?/: | 24 Stunden
Zustand der Milch
i oo inaktiv. (98°) 20 150 1500 | æ
Milch; 25°% las AKV o 2 Since Bouillon ; 25°/, 15 550 o jį œ inaktiv. 57° .... _ 17 200 œo 1.00 inaktiv. 989... .. — 20 500 oo | © inaktiv. 98°. .... Bouillon ; 25°/, 17 2000 o i œ Bouillon. ...... = 17 2000 oo | oa
In einer anderen Versuchsreihe — siehe Tab. XI — wurde der Zusatz von gekochter Milch bzw. Bouillon auf 25%, erhöht. Hierbei wurde die Hemmungswirkung der rohen Milch zwar erheblich herabgesetzt; aber es bedingte der 25proz. Zusatz von gekochter Milch eine wesentlich geringere Herabsetzung als der 25proz. Zusatz von Bouillon. Obwohl in beiden Versuchsvariationen die bakteriziden Stoffe im gleichen Verhältnis ver- dünnt wurden, war doch nach Zusatz von gekochter Milch die Keimver- mehrung in der rohen Milch noch deutlich gehemmt, während der Zusatz von Bouillon die rohe Milch so verändert hat, daß zwischen ihr und gekoch- ter unverdünnter Milch kein besonderer Unterschied mehr wahrzunehmen war: so auffällig verbessert der 25proz. Zusatz von Bouillon die Ver- mehrungsbedingungen der Keime, daß sie sich in der rohen Milch nahezu ungehemmt vermehren können, obwohl die Konzentration der bakteri- ziden Stoffe immer noch groß genug war, um an sich eine Hemmungs- wirkung zu ermöglichen.
Auch in diesem Versuch ist bemerkenswert, daß die gekochte Milch durch 25proz. Zusatz von Bouillon ein erheblich besseres Nährmedium für die zur Einsaat gewählten Bakterien wird; vermehrte sich innerhalb 41, Stunden die eingesäte Keimmenge in der gekochten Milch lediglich auf das 25fache, so betrug in der mit Bouillon versetzten Milch in der glei- chen Zeit der Keimanstieg das 118fache — ebenso hoch wie in reiner Bouillon.
Wenn einige Autoren den Rückgang einer Keimeinsaat in roher Milch damit erklären wollen, daß die rohe Milch für manche Bakterienarten ein schlechteres Nährsubstrat sei, als die durch das Kochen veränderte Milch, so lehren meine Versuche, daß die Milch manche Bakterienarten tatsäch- lich nicht so rasch zur Vermehrung bringt wie andere Nährböden; aber diese Eigenschaft zeigt nicht nur die rohe, sondern auch die gekochte Milch. Nur so viel ist an diesem Erklärungsversuch richtig, daß bestimmte Bakterien in roher und in gekochter Milch nicht so rasch zur Vermehrung schreiten, wie z. B. in Milch mit Zusatz von Bouillon oder in reiner Bouillon.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 13
194 ` | Über die Bakterizidie der Milch.
Daß Milch, die als ein so guter Nährboden für viele Keime bekannt ist, manchen Bakterienarten etwas weniger als Bouillon zusagt, liegt vermutlich daran, daß die zur Einsaat benutzten Bakterienstämme infolge der langen Fortzüchtung im Laboratorium an Fleischwassernährböden
ewöhnt sind und in der Milch zunächst ein teilweise fremdes Milieu finden. Übrigens besagen meine Versuche nichts darüber, ob die gewählten Ver- suchsbakterien in der Milch nicht nach mehreren Stunden gleichfalls zu ebenso üppiger Vermehrung kommen wie in Bouillon; denn meine Beob- achtungen beziehen sich nur auf die ersten 4—6 Stunden nach der Keim- einsaat. Ä
Der Umstand, daß rohe und gekochte Milch unseren Versuchsbakterien etwas weniger günstige Vermehrungsbedingungen gewährt als Bouillon, mag das Absinken einer Keimsaat in roher Milch zum Teil mitbedingen; dieser Faktor ist aber viel zu wenig wirksam, um für sich allein die beob- achtete zeitweise Keimverminderung erklären zu können, die zudem nie in der inaktivierten Milch eintritt. Entscheidend ist vielmehr die Wirkung der in der rohen Milch wirksamen Alexine und Leukine.
Schlußfolgerungen.
Die wesentlichen Ergebnisse meiner Untersuchungen lassen sich folgendermaßen kurz zusammenfassen.
1. Frische rohe Kuhmilch und Ziegenmilch besitzt bakterizide Eigen- schaften; die Intensität der Bakterizidie schwankt bei Milchproben ver- schiedener Herkunft, reicht aber auch im günstigsten Falle nicht aus, eine Einsaat von 300 Keimen pro ccm restlos zu vernichten; spätestens 48 Stunden nach der Einsaat ist die zunehmende Vermehrung einiger am Leben gebliebener Keime nachweisbar.
2. An dem Erklärungsversuch, der Rückgang einer Keimeinsaat in roher Milch beruhe darauf, daß die rohe Milch für manche Bakterienarten ein schlechteres Nährsubstrat sei, als die durch Kochen veränderte Milch, ist nur so viel richtig, daß bestimmte Bakterienstämme in roher und in gekochter Milch in den ersten Stunden nach der Einsaat nicht so rasch zur Vermehrung schreiten wie in Milch mit Bouillonzusatz oder in reiner Bouil- lon; dieser Faktor mag das Absinken einer Keimeinsaat in roher Milch zum Teil mitbedingen, ist aber für die der rohen Milch zukommende Bakterizidie nicht entscheidend.
3. Die bakterizide Wirkung der aktiven Milch ist ferner unabhängig davon, ob neben der experimentellen Einsaat saprophytische, bei der Gewinnung in die Milch gelangte Keime zur lebhaften Vermehrung kommen oder nicht.
4. Die Bakterizidie der aktiven Milch entspricht vielmehr in ihren von mir genauer studierten Merkmalen der Wirkung von Alexinen und Leukinen.
Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Von Dr. med. vet. Georg Heiserer.
(Aus dem Tierhygienischen Institut der Universität München. [Vorstand : Prof. Dr. Karl Süpfle] und aus dem Klostergut St. Ottilien.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 26. März 1926.)
Daß rohe Milch imstande ıst, Stärke fermentartig zu zersetzen, hat Bechamp 1883 nachgewiesen. Dieses saccharifizierende Ferment, das in der Literatur ursprünglich Diastase, später — den Grundsätzen der Ferment- nomenklatur entsprechend — auch Amylase genannt wird, wurde von einer Reihe von Autoren in der Frauenmilch gefunden, in der Kuhmilch aber zunächst vermißt (Bechamp, Spolverini, Moro, Bouchut, Luz- zati und Biolchini), bis dann Zaitscheck 1904 zeigte, daß alle Milch- arten, auch Kuhmilch, Amylase enthalten. ‘Am meisten sind unsere Kennt- nisse über die Amylase der Milch durch Koning 1905 gefördert worden; seine Methode der quantitativen Bestimmung der Amylase ist das Ver- fahren geworden, mit dem alle späteren Autoren gearbeitet haben. Koning stellte gewisse Zahlenwerte auf, innerhalb deren sich der Amylase- gehalt der normalen Milch nach seinen Beobachtungen bewege; Abweichungen von dem Mittelwerte sollten einerseits in Kolostrum und in Milch vor dem Trockenstehen vorkommen, anderseits in Milchproben kranker Tiere. So schien die Bestimmung des Amylasegehaltes ein dia- gnostisches Hilfsmittel werden zu können, mit dem Krankheitsprozesse erkennbar sind, namentlich Euterkrankheiten und verschiedene innere Erkrankungen.
Überblickt man die in der Literatur niedergelegten Ergebnisse, so kann als gesichert gelten, daß Milch gesunder Kühe stets Amylase als originäres Ferment enthält. Keine Übereinstimmung dagegen besteht darüber, ob die Höhe des Amylasegehaltes diagnostisch verwertbare Schlüsse über das Vorliegen von Erkrankungen des milchliefernden Tieres zuläßt; die Ansichten der Autoren (Giffhorn, Lenzen, Eugen Gruber, Vollrath, Stapensea, Bergema, Diener, Detlefsen u.a.) stehen sich teilweise schroff gegenüber.
Diese Widersprüche können verschiedene Ursachen haben; am näch- sten liegt der Gedanke, daß die als „Normalzahlen“ geltenden Durchschnitts- werte des Amylasegehaltes der Milch gesunder Kühe zu eng begrenzt sind.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 14
196 - Beiträge zur Kenntnis des.Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Tatsächlich ist die Zahl der Untersuchungen, die sich mit der Milch gesunder Einzelindividuen beschäftigen, gering. Außer Koning haben zwar noch Giffhorn und Lenzen den Amylasegehalt normaler Milch geprüft, aber in Mischmilch, nicht in der Milch einzelner Tiere.
Diese Lücke auszufüllen, war das Ziel meiner Versuche, denen ich mich auf Anregung und unter Leitung von Herrn Prof. Dr. Karl Süpfle vom April 1924 bis März 1925 widmete. Nachdem ich mich im Tierhygie- nischen Institut mit freundlicher Unterstützung des Herrn Assistenten Dr. Paul Hofmann mit der Methodik vertraut gemacht hatte und das Verfahren des quantitativen Amylasenachweises weiter ausgebaut hatte, habe ich den Amylasegehalt der Milch einer größeren Zahl gesunder Kühe während einer längeren Zeitperiode untersucht; es gab sich dabeł Gelegenheit, den Einfluß der Weidehaltung auf die Milchzusammen- setzung im Vergleich mit der Stallfütterung zu verfolgen; ebenso konnte das Verhalten der Kolostralmilch sowie der Milch von Kühen vor dem Trockenstehen studiert werden. Die Durchführung dieser Unter- suchungen wurde mir dadurch ermöglicht, daß ich den Tierbestand des Klostergutes St. Ottilien — Höhenfleckvieh (Miesbacher Schlag), das nur zu Hochzuchtzwecken verwendet wird — benutzen durfte und in einem Raum des Klosters alle erforderlichen Reaktionen anstellen konnte. Für die Genehmigung hierzu spreche ich Seiner Gnaden Hochwürdigstem Vater Herrn’ Erzabt Dr. Norbert Weber O.S.B. meinen ehrfurchts- vollsten Dank aus; es ist mir auch ein Bedürfnis, dem Vorsteher der Öko- nomie des Klosters und Vorstand der landwirtschaftlichen Winterschule, Seiner Hochwürden Herrn Pater Basilius Konrad O.S.B. für die bereitwillige Förderung meiner Untersuchungen herzlichst zu danken.
Methodik.
Meinen Untersuchungen legte ich die von Koning angegebene Methode der quantitativen Amylasebestimmung zugrunde. Koning versetzt gleiche Mengen Milch mit steigenden Mengen von Amylum solubile, indem er zu 10 ccm Milch 1 Tropfen einer 1 proz. Stärkelösung gibt, zu den folgen- den Röhrchen mit je 10 ccm Milch 2, 3 usw. Tropfen der iproz. Stärke- lösung. Die Röhrchen werden dann geschüttelt und bei 37—45° gehalten. Nach 30 Minuten fügt er dem Inhalt jedes Röhrchens 1 ccm einer Jod- jodkalilösung (1:2:300) zu, schüttelt und stellt sofort die eingetretene Färbung fest. Ist die Farbe zitronengelb, so ist alles Stärkemehl verzuckert; enthält die Mischung noch unzersetztes Stärkemehl, so ist die Färbung gelbgrau, grau, graublau bis blau.
Um die zersetzte Stärkemenge möglichst genau ermitteln zu können, benützte ich nicht eine 1 proz., sondern eine 0,25 proz. Lösung von Amylum solubile (das als ‚Reisstärke‘‘ gelieferte Präparat erwies sich bei der mikro- skopischen Prüfung als Maisstärke mit einer unbedeutenden Beimengung von Linsenstärke). Von dieser Lösung setzte ich 0,1, 0,2, 0,3 usw. ccm zu 10 ccm der zu untersuchenden Milch; die Abmessung der Stärkelösung mit der Pipette verbürgte eine genauere Dosierung als die von Koning und den meisten Nachprüfern gewählte Zugabe von abgezählten Tropfen.
Von Dr. Georg Heiserer. 197
0,2 ccm .0,25 proz. Amylumlösung enthalten 0,0005 g Stärke, d. h. dieselbe Menge, die Koning in 1 Tropfen 1proz. Stärkelösung zusetzt. Erwies sich der Amylasegehalt als vermehrt, so mußte ich konzentriertere Stärke- lösungen verwenden, damit die zugesetzte Stärkemenge in dem Volumen von höchstens 1 ccm enthalten war. Es wurden nur Stärkelösungen be- nutzt, die nicht älter als 5 Tage waren. Mußten 3—5proz. Stärkelösungen herangezogen werden, so war es unumgänglich, die Lösungen ganz frisch zu bereiten, da derart konzentrierte Lösungen nach einem bis einigen Tagen so diekflüssig werden, daß eine exakte Abmessung mit der Pipette unmöglich wird. Die bisher ‘übliche Berechnung der Stärke nach Tropfen würde hier besonders große Fehler bedingen.
Bei der Anstellung der Prüfung achtete ich darauf, daß die gleich- zeitig in Arbeit genommene Serie so rasch wie möglich erledigt wurde, um der Gefahr zu entgehen, daß in den ersten mit Stärkelösung versetzten Röhrchen unbeabsichtigt die Amylase länger auf die Stärke einwirken konnte, als in den letzten Röhrchen. Alle Milchproben wurden gründlich gemischt und alsdann in ein Wasserbad von 37° eingestellt; nach einer Viertelstunde wurden die Röhrchen noch einmal geschüttelt. Nachdem die Röhrchen 30 Minuten bei 37° gehalten waren, wurden sie aus dem warmen Wasser herausgenommen und sofort in fließendem kaltem Wasser gekühlt, um die Amylasewirkung zu unterbrechen.
Den Jodjodkalizusatz erhöhte ich auf 2 ccm, da ich mich bei Ver- gleichsversuchen überzeugte, daß hierbei die Reaktionen deutlicher und länger ablesbar bleiben, als wenn man, wie Koning, zu 10 ccm Milch nur 1ccm Jodjodkalilösung zufügt. Die Ablesung der Farbe erfordert ge- nügende Einübung, die ich durch Anstellung von Parallelversuchen und Wiederholungsversuchen erlangte. Versuche, eine haltbare Vergleichs- flüssigkeit herzustellen, mißlangen leider. Nicht unwichtig erwies es sich, stets gleichweite Reagensgläser zu wählen, da sich je nach der Dicke der F lüssigkeitssäule auch die Farbennuance ändert. Als „positive Amylase- reaktion‘ protokollierte ich jene größte Stärkemenge, die noch vollständig verzuckert worden war; wo die Farbe nicht mehr rein gelb oder bräunlich war, sondern Mischtöne von braungrau aufwies, wurde „negative Amylase- reaktion“ vermerkt.
Koning drückt die Intensität der Amylasewirkung in der Anzahl Gramm Amylum aus, die durch 100 ccm Milch innerhalb 30 Min. zersetzt werden, und nennt diese Zahl die Diastasezahl (D). In normaler Kuhmilch pflegt nach Koning D einen Wert von 0,015—0,020 zu zeigen. Ich ändere diese Ausdrucksweise dahin ab, daß ich von der „Amylase- zahl“ (A) spreche; um die etwas unübersichtlichen Dezimalzahlen zu vermeiden, gebe ich die Intensität der Amalysewirkung nicht in Gramm, sondern in Milligramm Amylum an, die durch 100 ccm Milch innerhalb e Minuten vollständig verzuckert werden. Was Koning in dem Wert
= 0,015“ ausdrückt, entspricht meiner Amylasezahl „A = 15“, Wenn ich in meinen späteren Ausführungen meine Ergebnisse mit den Angaben von Koning vergleiche, werde ich der größeren Übersichtlich- heit halber die Koningschen Zahlen in die Werte der Amylasezahl um- gerechnet anführen.
14*
198. Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Als Einwirkungstemperatur der Amylase wählte ich 37°. Koning gibt an, daß die Reaktionen bei 37° und 45° wenig verschieden seien, ob- schon die optimale Temperatur näher bei 45° liege. Bei einigen Vergleichs- versuchen fand ich die Verzuckerung bei 37° etwas intensiver als bei 45°
Damit die Amylasewirkung nicht nur bei optimaler Temperatur, sondern auch bei der optimalen Reaktion vor sich gehe, haben wir getrachtet, durch Zusatz einer geeigneten Pufferlösung die günstigste Wasserstoffionenkonzentration zu sichern. In Tab.I ist ein derartiger Versuch wiedergegeben, der den Einfluß der Reaktion auf die Amylase- wirkung demonstriert.
Tabelle I.*) Amylasewirkung der Milch bei verschiedener Wasserstoltionenkonzeniralion:
nn E E I omg Amylum 1,0 | 1,25
40 ccm Milch ohne Zusatz . plera |
10 u... + 1cemH,O RR BER Een
10 ,, » +1 „ Puffer pa 9,23 +|+ f
10 ,„ „ +1 „ Puffer Ppa 5,87 ++ | Ä
40. =; „ +1 ,„ Puffer pu 6,00 ee |
10 ` , -}- 1 FR Puffer Pu 6,22 + zj | es
10 19 3, + 1 an Puffer Pu 6,44 + + | + + | -+
10 ,, „ +1 „ Puffer pı 6,87 E pek
10 , „ + 1 „ Puffer Pu 7,22 + + + |
10, „ +1 „ Puffer pu 8,64 +4] + | | | gd
*) In den Tabellen bedeutet +: Verzuckerung der zugesetzten Stärke.
Nachdem ich so festgestellt hatte, daß die Amylasewirkung am gün- stigsten bei einer Wasserstoffionenkonzentration von Py 6,44 verläuft, bin ich bei meinen sämtlichen Untersuchungen so verfahren, daß die auf Amylasegehalt zu prüfenden Milchproben zunächst mit Phosphatpuffer Pu 6,44 (ccm auf 50ccm Milch) versetzt wurden. Erst dann wurden Reihen von 10 cem der gepulfferten Milch in der angegebenen Weise mit steigenden Amylummengen vermischt und die Amylasewirkung bei 37° festgestellt. Die Prüfung wurde jeweils an 2 Parallelreihen durchgeführt; bei der erstmaligen Untersuchung wurde zu je 10 cem Milch 0,2, 0,4, 0,6, 0,8, 1,0 cem Stärkelösung zugesetzt, bei der dann folgenden Prüf.:ng wurden Reihen mit 0,1, 0,2, 0,3 usf. ccm Stärkelösung angesetzt.
In den meisten Fällen habe ich nicht nur die Amvlasezahl bestimmt, sondern auch die Säuregrade der Milch nach Henkel-Soxhlet in üblicher Weise ermittelt. Alle Untersuchungen erfolgten spätestens 2 Stunden nach der Gewinnung der Proben, die während des Melkens in gründlichst gereinigten, trockenen Glasgefäßen aufgefangen wurden.
Ergebnisse. 1. Amylasegehalt der Milch gesunder Kühe auf der Höhe der Laktation.
Es interessierte zunächst, bei einzelnen Individuen zu verfolgen, ob alle vier Euterviertel einer Kuh eine Milch gleichen Amylasegehaltes liefern
Von Dr. Georg Heiserer. 199
vder ob die Amylasemenge bei Milch verschiedener Viertelschwankt. Bei neun völlig gesunden Kühen mit gesundem Euter wurde jeweils die erste Milch getrennt nach den vier Vierteln gewonnen (ca. 150 ccm Milch aus jedem Strich) und in den Proben die Amylasezahl und der Säure- grad bestimmt.
Bei allen 9 Tieren war der Amylasegehalt in den 4 Eutervierteln ein und desselben Individuums stets gleich. Auch der Säuregrad zeigte bei 6 Fällen in der Milch aller Euterviertel eines Tieres dieselbe Höhe; bei 3 Tieren lieferten jedoch einzelne Viertel desselben Tieres Milch von etwas verschiedenem Säuregrad; Paralleluntersuchungen der gleichen Proben ergaben ein übereinstimmendes Resultat.
Über die Frage, ob die ersten und die letzten Strahlen eines Gemelkes einen verschiedenen Amylasegehalt aufweisen, liegen zwei Literatur- angaben vor: Koning findet in der Restmilch meist etwas weniger Amy- _ lase, als in der Anfangsmilch, während Eugen Gruber die umgekehrte Beobachtung verzeichnet. Bei meinen daraufhin gerichteten Versuchen mit der Milch von 8 Kühen konnte ich einen Unterschied im Amylase- gehalt zwischen der Anfangs- und der Endmilch im allgemeinen nicht wahrnehmen. Nur in einzelnen Fällen — ich untersuchte die Milch der- selben Kühe nicht nur einmal, sondern mehrfach an verschiedenen Tagen — schien der Amylasegehalt der Endmilch bald um ein weniges höher, bald um ein weniges tiefer zu liegen, als bei der Anfangsmilch. Doch muß hervorgehoben werden, daß das Ablesen der Reaktion in der Schlußmilch wegen des erhöhten Fettgehaltes manchmal sehr schwierig ist. Unter diesen Umständen möchte ich aus den gelegentlich beobachteten Ver- schiedenheiten der Amylasezahl in den ersten und letzten Strahlen eines Gemelkes keine bindenden Schlußfolgerungen ziehen; wenn über- haupt ein Unterschied im Amylasegehalt besteht, ist er jedenfalls un- beträchtlich. -
Ich habe dann weiter untersucht, wie sich der Amylasegehalt des Gesamtgemelkes einer Melkzeit bei derselben Kuh im Laufe mehrerer Tage verhält. Möglichst an aufeinanderfolgenden Tagen wurde bei 8 Kühen jeweils die Morgenmilch und die Abendmilch auf Amylasegehalt und Säuregrad untersucht. Bei 4 Tieren fiel die Untersuchung in die Weide- periode (Tabelle II); die Versuche bei den 4 anderen Kühen wurden während _ der Stallfütterung (Tabelle III) im Dezember angestellt. Eine Betrachtung der Tabellen zeigt, daß die Amylasezahlen im Verlauf der Untersuchungs- periode nicht unverändert bleiben, sondern beim einen Tier mehr, beim anderen weniger schwanken. Die Schwankungen bewegen sich um einen Mittelwert, der ganz offensichtlich von der Individualität abhängt; es fällt aber auch auf, daß dieser Mittelwert deutlich höher liegt bei der Milch von Tieren, die auf der Weide Grünfütterung erhalten, als von Tieren bei Trockenfütterung im Stall. Zwischen dem Amylasegehalt der Morgenmilch und der Abendmilch sehen wir entweder keinen oder nur einen geringen Unterschied. Unter den 39 Tagesbeobachtungen bei Grün- fütterung bleibt der Amylasegehalt der Abendmilch 18mal derselbe, wie _ bei der Morgenmilch; 7mal ist die Amvlasezahl abends höher, 14 mal: niedriger als am Morgen. Bei Trockenfütterung ist unter 24 Tagesbrob-
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Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch,
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Von Dr. Georg Heiserer.
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202 Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
achtungen 21 mal der Amylasegehalt in Morgen- und Abendmilch unver- ändert, 3mal am Abend vermindert.
Auch der Säuregrad der Milch zeigt während der Untersuchungs- zeit Schwankungen. Er ist bei Weidefütterung 9mal abends und morgens gleich, 20 mal in der Abendmilch höher, 10 mal niedriger, als in der Morgen- milch. Bei Trockenfütterung ist der Säuregrad der Morgen- und Abend- milch 16mal unverändert, 6mal in der Abendmilch höher, 2mal niedriger als in der Morgenmilch. Dabei läßt sich ein kongruentes Verhalten zwischen Amylasegehalt und Säuregrad nicht feststellen; bei Grünfütterung folgt der Säuregrad dem Gleichbleiben bzw. dem Steigen oder Sinken der Amy- lasezahl nur 15mal, während in 24 Milchproben Säuregrad und Amylase- zahl keine konforme Bewegung zeigen. Bei Trockenfütterung folgt der Säuregrad der Amylasezahl etwas häufiger; hier verlaufen Amylasezahl und Säuregrad 15mal in der gleichen Richtung, 9mal entgegengesetzt.
War schon in diesen Versuchen ein Einfluß des Weideganges und der Fütterung auf den Amylasegehalt unverkennbar, so brachten weitere Prüfungen eine zweifellose Bestätigung dieser Beobachtung. Mitte Juli, zu einer Zeit also, wo die Kühe schon seit Wochen auf die Weide gingen und die Stallfütterung völlig aufgehört hatte, untersuchte ich alle milchen- den Kühe — 49 Stück — des Klostergutes. Wie aus der Zusammen- stellung der Tabelle IV hervorgeht, fand ich bei Weidefütterung als Amylasegehalt der Milch bei:
7 Kühen die Amylasezahl 5
D 1 ”„ ” 7,5 12 5 1 „ 10,0 ll n” „ 1 12,5 4 „ 19 „ 15,0 5 ” „ 1 17,5 4 „ 1 „ 20,0 2 1 „ 33 22,9 1 Kuh = z 30,0 1 1) 1 ” 32,5
Als dann am 12. bzw. 13. November die Weidefütterung eingestellt wurde und die Kühe im Stall nur mehr Häcksel (Heu und Stroh) mit Rüben bekamen, nachdem schon ca. 14 Tage vorher morgens im Stall Heu vor dem Austreiben gefüttert worden war, benützte ich diese Zeit der Übergangsfütterung, um bei 8 Tieren zu wiederholten Malen die Milch zu untersuchen. Die in Tabelle V protokollierten Ergebnisse zeigen, daß die Amylasezahlen während der Übergangsfütterung im allgemeinen wenig verändert sind; doch herrscht die Tendenz zu einer allmählichen Senkung vor. Lag bei den Milchproben, die während reiner Weidefütterung ge- wonnen waren, die Amylasezahl am häufigsten bei dem Wert von 10 mg, so finden wir bei der Übergangsfütterung als häufigsten Wert 5 mg. Ebenso vermindert sich die Milchmenge. Die Zahlen für den Säuregrad der Milch schwanken; sie lagen bei den zur Untersuchung gewählten Tieren zu Beginn der Untersuchungszeit auffällig niedrig und stiegen dann etwas an.
203
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Von Dr. Georg Heiserer.
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Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
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Von Dr. Georg Heiserer. 205
Tabelle IV. Amylasezahl und Säuregrad der Milch bei Weidefütterung.
Kuh
N Säuregrad nach | Milchmenge r.
Amylasezahl | Henkel-Soxhlet! in Liter
| 7,8 12,7 Ä 7,2 11,8 8,4 | 5,8 7,6 | 11,0 8,0 12,0 7,8 16,5 7,4 12,4 8,6 9,8 7,4 10,0 7,0 11,4 7,4 13,4 8,2 | 9,8 36 10,0 10,0 10,8 37 30,0 7,8 3,5 44 5,0 ! 7,6 12,9 47 15,0 8,2 | 8,3 49 12,2 8,2 | 7,2 53 12,5 6,2 7,3 55 10,0 9,2 11,1 58 5,0 8,0 89 60 20,0 7,2 7,3 62 7,5 6,4 11,0 63 10,0 7,2 | 9,4 67 20,0 7,8 Ä 10,5 69 12,5 7,0 | 15,2 70 5,0 7,0 99 71 15,0 7,6 13,2 72 7,5 8,2 10,2 76 17,5 7,2 | 8,2 78 17,5 8,2 9,6 80 17,5 9,0 Saugkalb 8l 10,0 7,8 11,6 83 22,5 7,2 6,4 84 10,0 8,6 | 11,6 86 12,5 6,2 l 11,4 87 5,0 6,2 | 11,2 90 32,5 | 7,8 14,8 101 10,0 | 7,2 7,2 105 15,0 7,2 9,2 110 5,0 7,4 13,7 114 10,0 7,0 12,5 120 17,5 7,6 8,2 126 10,6 7.6 12,3 128 10,0 8,2 17,4 144 10,0 7,4 16,0 151 7,5 7,2 12,0 177 5,0 7,0 9,6 195 15,0 8,0 10,0
206 . Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Tabelle V. Amylasezahl und Säuregrad der Milch bei Uebergangsfütterung.?)
Säuregrad nach Milchmenge Amylasezahl | Henkel-Soxhlet in Liter
Datum
7,5 7,5 7,5 | 7,5 M II 30. 10. 24. ` 2,5 6,0 16,0 2.11. 24. 3,5 6,0 16,0 15. 11. 24. 2,5 6,0 12,0 16. 11. 24. | 2,5 6,6 12,0 MHI | 30. 10. 24. | 7,5 5.8 12,0 0211.24 | 5,0 6,0 12,0 15. 11. 24. | 5,0 6.2 10,0 17.11. 24. 5,0 6.6 10.0 M IV! 30. 10. 24. 0 | 3.6 8.0 2,11. 24. 3,0 | 6,2 8,0 15. 11. 24. 3.0 6,2 7.0 17. 11. 24. 5,0 6,8 7.5 13 | 31. 10. 24. 25. 6.0 17.0 15.11.24. N 7.0 15.3 | 17.11. 24. 10,0 | 0 15.3 39. 11. 24 os 7.8 150 9. 12, 24 25 7.8 | 15,0 1.19: 24.) 1.5 | 7,8 14.0 | 12.24. 3.0 | 7,8 140 49 23.10. 24. 5 5.4 16.0 2410.24 5.0 3.4 160 31. 10. 24 zo 5.3 10 15. 11. 24 3,0 7.2 109 17. 11. 24. 3.0 6.8 109 19. 11. 24, 23 TÀ 11.2 29. 11. 24. 5.0 | 6.8 11.2 9, 12, 24. 25 6.6 11.2 II. 12. 24. 5.0 6.8 11.2 13. 12. 24. 5.0 6.8 11.2 D0 20. 10. 24. aO 6.0 10.0 15. 11. 24 50 6.5 s.0 17. 11. 24 5.0 6.6 Ss0 11. 24 50 66 5.5 86 22.10.24, 10,0 | 4.6 14,0 24. 10. 24. 10,0 4,8 140 25. 10. 24 15 5,0 14,0 15. 11. 24. 75 6.2 A 29. 11. 24. 3.0 6.2 7,9 9,12. 24. 5 5.0 12,0 nn. 12. 24. 2,5 5.8 | 12,0 13. 12. 24. 5,0 6.0 | 12,0
I) Die Tiere Nr. MI, MIHL MIIL M IV waren bis zum 12. November, die Tiere Nr. 13, 49, 50, 86 bis zum 13. November auf der Weide, erhielten aber vom 27. Oktober ab vor dem Austreiben morgens im Stall Heu; vom 12. bzw. 13. No- vember an wurden die Tiere ausschließlich im Stall gehalten.
Von Dr. Georg Heiserer. 207
Tabelle VI. Amylasezahl und Säuregrad der Milch bei Stallfütterung.
Eh | Amylasenanı | Säutsgrad nach] Milchmenge 2 2,5 6,2 | 8,2 3 7,5 7,4 | 7,7 7 7,5 7,4 | 7,6 8 7,5 6,0 | 20,4 10 15,0 6,6 | 9,7 12 2,5 6,8 | 13,8 13 5,0 7,8 | 10,0 15 20,0 6,8 9,7 16 10,6 | 6,8 20,6 25 2,5 | 6,0 9,4 33 15,0 6,6 6,4 34 5,0 7,8 5,0 7 5,0 6,4 14,4 38 2,5 6,4 9,5 39 10,0 6,2 1,5 40 7.5 6.4 9,5 49 2,5 7,8 10,2 50 5,0 6,2 7,8 57 2,5 7,2 10,6 58 2,5 7,4 | 13,1 63 2,5 6,2 ! 7.2 67 10,0 6,6 | 5,6 69 2.5 7,2 9,0 70 7,5 7,2 15,8 73 2,5 6,8 9,0 75 2,5 7,6 7,4 76 5,0 8,0 5,6 97 7.5 6,2 12,5 7 5,0 6,8 20,0 80 2,5 6,8 12.8 84 25 7,6 | 7,0 85 2,5 6,2 8.5 86 5,0 3,8 8,1 90 5.0 8.2 8.4 93 10,0 5,4 8.8 96 5,0 6,6 9,9 101 25 6,8 | 14.0 108 25 7,0 | 12,7 110 7,5 7,2 9,4 114 10.0 7,0 7,0 144 25 6,0 8,1 151 5,0 6,8 7,8 195 17,5 6,4 3,2
Der gesamte Bestand wurde darauf neuerdings in der Zeit vom 17. bis 27. Dezember durchuntersucht; die 43 Kühe waren damals schon ca. 6 Wochen im Stall und wurden mit Häcksel und Rüben gefüttert. Bei dieser reinen Trockenfütterung fand ich (vgl. Tabelle VI) in der Milch bei:
17 Kühen die Amylasezahl 2,5 10 i > P 5,0 í 73 T? ’ 1,9
208 - Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
5 Kühen die Amylasezahl 10,0 2 ?? ” 2? 15,0 1 Kuh ,, 35 17,5 1 73 1 „ j 20,0 f
Der Amylasegehalt, der bei Weidefütterung hoch war — häufigste Amylasezahl 10,0 — erreicht bei Trockenfütterung bei den meisten Tieren nur den Wert von 2,5—5,0. Der Säuregrad schwankt bei Trocken- fütterung am häufigsten um den Wert von 6—7,5, während er bei Weide- fütterung meistens 7—8,5 betragen hatte.
Unter den 49 Weidetieren und 43 Stalltieren befanden sich 24 Kühe, deren Milch ich sowohl während der Weideperiode als auch während der Stallfütterung untersucht hatte. Es war daher interessant, bei den ein- zelnen Individuen den Einfluß der verschiedenen Fütterung vergleichen zu können. Diesen Vergleich veranschaulicht Tabelle VII. Von den in Betracht kommenden 24 Tieren stellen wir bei der Milch von 18 Indivi- duen eine Abnahme der Amylasezahl fest, die teilweise recht erheblich ist; bei 3 Tieren ist der Amylasegehalt unverändert geblieben und nur bei 3 Kühen ist eine ganz geringe Steigerung der Amylasezahl zu verzeichnen, zweimal von 5,0 auf 7,5, einmal von 15,0 auf 17,5. Diese Ergebnisse be- legen aufs neue unsere Schlußfolgerung, daß bei Weidefütterung der Ampylasegehalt der Milch höher ist, als bei Trockenfütterung. Auch das Verhalten des Säuregrades stimmt bei diesen Individualuntersuchungen mit dem Befund überein, den ich bei der Kollektivuntersuchung der Weide- kühe und Stallkühe erhoben hatte: der Säuregrad sinkt bei der Milch von 17 Kühen, er bleibt unverändert bei einem Tier und steigt nur bei 6 Indi- viduen um den geringen Betrag von 0,2—0,8 an. Der häufigste Wert war bei den Weidetieren 7,0—8,0 Säuregrade, bei denselben Individuen während der Stallfütterung 6,4—7,4 Säuregrade.
Wenn Koning auf Grund seiner Untersuchungen die Amylasezahl auf 15—20 normiert und Giffhorn auf 10—25, so zeigen meine Fest- stellungen, daß diese Zahlen keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Bei Weidefütterung fand ich als häufigsten Wert Amylasezahlen von 5,0— 20,0, während bei Trockenfütterung die Amylasezahl um den Wert von nur 2,5—10,0 schwankt. Anderseits sah ich in einzelnen Fällen Amylasezahlen bis zu 20,0 bei Trockenfütterung und bis zu 32,5 bei Weide- fütterung; es geht also auch nicht an, Amylasezahlen über 20 in der Milch als Ausdruck pathologischer Zustände bei den Kühen anzusprechen, wie dies Koning meint; denn die von mir beobachteten Tiere mit den höheren Amylasewerten der Milch erwiesen sich als völlig gesund.
Bei dem Vergleich der von Koning gefundenen Amylasezahlen mit meinen eigenen Ergebnissen muß ein Umstand berücksichtigt werden, auf den ich erst beim Abschluß meiner Untersuchungen aufmerksam ge- worden bin: Welzmüller hat neuerdings das Augenmerk darauf gelenkt, daß die einzelnen Stärkearten verschieden leicht von der Milch- Amylase zersetzt werden; so wird Kartoffelstärke vergleichsweise in sehr viel größerer Menge verzuckert als Reisstärke. Koning hat nun mit der leicht verzuckerbaren Kartoffelstärke gearbeitet, ich dagegen mit Mais-
Von Dr. Georg Heiserer. 209
Tabelle VII.
Amylasezahl und Säuregrad der Milch derselben Kühe bei Weidefütterung (Untersuchungszeit 18. VII.—26. VII. 1924) und bei Stallfütterung (Unter- Ä suchungszeit 20. XI1.—27. XII. 1924).
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Weidefütterung Stallfütterung h Nr. Amyl- | Säure- Amyl- | Säure- Bemerkungen asezahl | grad in Liter asezahl | grad
3 7,5 7,2 11,8 7,5 7,4 7,7 5 Monate trächtig
7 10,0 7,6 11,0 7,5 7,4 7,6 3 5 Y
15 20,0 7,8 16,5 20,0 6,8 9,7 gedeckt v. 8. Tgn. 16 20,0 7,4 12,4 10,0 6,8 20,6 gekalbt 26. 9. 24. 34 10,0 7.4 13,4 8,0 7,8 5,0 5 Monate trächtig 37 30,0 7,8 3,5 5,0 6,4 14,4 gekalbt 5. 10. 24. 49 12,5 8,2 7,2 2,5 7,8 10,2 „ 8. 8. 24. 58 5,0 | 8,0 8,9 2,5 7,4 13,1 „ 9.11. 24. 63 10,0 7,2 9,4 2,5 6,2 7,2 4 Monate trächtig 67 20,0 7,8 10,5 10,0 6,6 5,6 A K m
69 12,5 7,0 15,2 2,5 7,2 9,0 bth u iR
70 5,0 7,0 9,9 7,5 7,2 15,8 gekalbt 18. 11. 24. 76 17,5 7,2 8,2 5,0 8,0 5,6 5 Monate trächtig 78 17,5 8,2 9,6 5,0 6,8 20,0 gekalþt 31. 10. 24. 80 17,5 9,0 Kalb 2,5 6,8 12,8 As Monate trächtig 84 10,0 8,6 11,6 2,5 7,6 7,0 2! 2 l 73 23 86 12,5 6,2 11,4 5,0 5,8 8,0 nicht trächtig
90 32,5 7,8 19,8 5,0 8,2 8,4 5 Monate trächtig 101 10,0 7,2 7,2 2,5 6,8 14,0 gekalbt 7. 12. 24. 110 5,0 7,4 13,7 7,5 7,2 9,4 3 Monate trächtig 114 10,0 7,0 12,5 10,0 7,0 7,0 5 i i, 144 10,0 7,4 16,0 2,5 6,0 8,1 Se- G "i 151 7,5 7,2 12,0 5,0 6,8 7,8 2 Y Mi 195 15,0 | 8,0 10,0 175 | 64 3,2 6 X is
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stärke, die etwas weniger von Amylase angegriffen wird. Nach Welz- müller wird die Maisstärke etwa viermal weniger von der Milchamylase zersetzt, als Kartoffelstärke. Ich habe bei 12 Milchproben den Amylase- gehalt parallel mit der von mir benutzten Maisstärke und mit einer im Institut hergestellten Kartoffelstärke geprüft; hierbei entsprach eine Amylasezahl von 15,0 für Kartoffelstärke der Amylasezahl 10,0 für Mais- stärke. Die von mir ermittelten Amylasezahlen müßten danach sämtlich mit 1,5 multipliziert werden, um Werte zu liefern, die mit den Zahlen von Koning ziffernmäßig verglichen werden können. Die niederste von mir gefundene Amylasezahl 2,5 würde in 3,75 zu verwandeln sein, die höchste Amylasezahl 32,5 hätte 48,75 zu lauten. Wenn diese Umrechnung zutrifft, wo würde dies bedeuten, daß die Amylasezahl in der Milch gesunder Kühe zum mindesten zwischen ca. 4—48 schwanken kann, nicht, wie Koning normierte, nur zwischen 15—20.
210 Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Tabelle VIII. Amylasezahl und Säuregrad in Kolostralmilch. u Zeitpunkt der == em zn i à Gewinnung | „Säuregrad : Kuh Nr. nach dem Amylasezahl | nach Henkel- Aussehen der Milch Kalben Soxhlet
17 2 Std. über 80,0 | 12,6 gelb, dickflüssig gekalbt am 1 Tag 65,0 10,0 weiß, Stich ins Gelbe 20. 10. 24. 2 Tage 45,0 9,0 | weiß, Stich ins Gelbe
3 Tage 50,0 9,0 | weiß, Stich ins Gelbe 4 Tage 50,0 9,0 | weiß, Stich ins Gelbe 6 Tage | 15,0 8,4 weiß, Stich ins Gelbe 7 Tage 15,0 | 8,8 weiß 8 Tage 10,0 8,2 weiß 10 Tage 20,0 8,0 weiß 12 Tage 12,5 j | weiß
2 Std. bbraun, klebrig
repe S6
Schondorf 1ıTag | 70,0 12,4 hellgelb gekalbt am 2 Tage | 20,0 12,0 weiß, Stich ins Gelbe 31. 10. 24. 3 Tage 25,0 12,0 weiß 5 Tage 79,0 | 12,0 weiß
15
6 Std. 1000,0 14,0 braungelb, dickflüssig, gekalbt am
klebrig, Stich ins Rote
1. 11. 24. 1 Tag 90,0 12,0 diekflüssig, rosafarbig 3 Tage | 25,0 12,0 weiß 4Tage | 10,0 11,2 weiß > Tage 15,0 8,2 weiß 6 Tage 10,0 10,0 weiß
55 700,0 gelb, dickflüssig, klebrig gekalbt am 1 Tag 20,0 14,0 weiß, Stich ins Gelbe 31.10. 24. 2 Tage 39.0 14,0 weiß 3 Tage 10,0 12,0 weiß 4 Tage 5,0 9,8 weiß > Tage 1:0 9,0 weil 6 Tage 2:5 8,8 weil 105 3 Std. 660,0 hellgelb, dickflüssig gekalbt am l Tag 50,0 14.0 klebrig
311,28, 2 Tage 5.0 11.0 hellgelb 3 Tage 10,0 9.5 weiß, Stich ins Gelbe T Tage 50 9:2 weil bi 9 Std. 600.0 17.4 gelbgrau, dick, klebrig gekalbt am I Tag 140,0 10,2 gelbgrau 9; 11.24. 2 Targ 60,0 9.4 gelbrot t Taxe 25,0 o Br gelblich > Tage 30.0 9.2 weiß 7 Tage 10,0 S.S kreideweib 8 Tage 10.0 9.4 werk o Tage 15.0 S.6 weil ih 12,5 S,0 weil 0) S 260.0 velb, Stich ins Braune,
vekalbt am diek. klebrig, fast klump Ee FAE I SAA | Tag GO H.S hellrelb 2 Tara 30,0 30 helleelb > Tao 23:1) 6.6 welp f Tare BA 1.4 werd velbhieh 6 Fae at) rt wer TE Lr TA Y 1.4 Werl S Five ZEHN} 1.8 wegl Ho Tagi PNET S Werk
Von Dr. Georg Heiserer. 211
Tabelle VIII. (Fortsetzung)
Zeitpunkt der i
i | Säuregrad Kuh Nr. DER EUNE | Amylasezahl Bach Henkel- Aussehen der Milch Kalben | Soxhlet 57 2 Std. | 400,0 | 224 | dunkelgelb, dickflüssig, gekalbt am | | klebrig 20. 11. 24. 1 Tag 60,0 | 8,8 | gelb 2 Tage 20,0 9,9 weiß, Stich ins Gelbe 4 Tage 20,0 | 9,4 weiß 5 Tage 10,0 10,2 weiß 6 Tage | 10,0 10,2 weiß 8 Tage | 5,0 9,2 weiß 5 1 Std. | 140,0 14,0 | braunrot, dickflüssig, gekalbt am | | etwas weniger klebrig 25.11, 24. | als gewöhnlich 1 Tag | 100,0 12,8 grau, Stich ins Rote 2 Tage | 35,0 12,0 weiß, Stich ins Gelbe 3 Tage 15,0 10,6 weiß, Stich ins Gelbe 4 Tage 20,0 10,0 weiß 6 Tage 15,0 10,2 weiß 7 Tage 15,0 9,8 weiß 8 Tage 7,5 8,9 | weiß i 6 Std. 100,0 | gelb, wenig klebrig gekalbt am vor dem 26. 11. 24. Kalben | abends l1 Tag 30,0 9,8 hellgelb, Stich ins Graue, wässerig 2 Tage | 30,0 9,4 weiß, Stich ins Gelbe 4 Tage | 25,0 7,6 weiß 5 Tage | 12,5 7,2 weiß 6 Tage 15,0 7,2 weiß
2. Amylasegehalt der Milch gesunder Kühe während und nach der Trächtigkeit.
Die Kühe, die mir zu meinen Untersuchungen zur Verfügung standen, waren teils nicht trächtig, teils trächtig. Ich sonderte daher mein Material nach der Trächtigkeitsdauer, um entscheiden zu können, ob sich Bezieh- ungen zwischen der Trächtigkeit und dem Amylasegehalt der Milch aufstellen lassen; im Hinblick auf den besprochenen Einfluß der Fütterungs- art auf den Amylasegehalt der Milch habe ich die nach der Trächtigkeits- dauer gruppierten Milchproben. auch geschieden je nach der Fütterungs- art der Tiere. Der so gewonnenen Übersicht konnte ich zwanglos entnehmen, daß die Trächtigkeit einen merklichen Einfluß auf den Amylasegehalt der Milch nicht ausübt. Sowohl bei den nicht trächtigen Tieren, als auch bei den verschieden lange trächtigen Kühen fand ich dieselben bald niederen, bald höheren Amylasezahlen vorherrschend, je nachdem die Tiere bei Grünfütterung oder bei Stallfütterung gehalten wurden.
Ein ganz anderes Bild erhalten wir, wenn wir Kolostrum unter- suchen. Ich hatte in 10 Fällen Gelegenheit, kurze Zeit, meist wenige Stun- den nach dem Kalben, Kolostrum zur Untersuchung zu erhalten; ebenso konnte ich in den nächsten 5—10 Tagen fortlaufend Proben gewinnen. Wie Tabelle X zeigt, ist der Amylasegehalt der Kolostralmilch außer-
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 15
212 Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Tabelle IX. Amylasezahl und Säuregrad in Milch von Kühen vor dem Trockenstehen.
Säuregrad a ' Kuh- Amylase- P un Aussehen Melkzeit Nr. zahl Henkel- | ‚TE der Milch Melkzeiten -l Soxhlet in Liter
|
24 7,5 4,4 1,5 weiß = 2mal täglich 7,5 4,6 3,0 » | 2» » 5,0 4,8 3,0 weißgelb 4» » 25,0 4,8 2,0 gelblich 1» ò. 30,0 — 0,75 gelb | letzt. Gemelke 169 7,5 | 60 | 15 weiß 2mal täglich 30,0 — ; 40 » 1» » 30,0 | 58 | 20 » 1» » | St. i. Gelbe 16 7. X. 20,0: 48 4,0 | weiß, flockig | alle 2 Tage 30. » 20,0 — ` 0,25 | gelb, wässrig, | nach 8tägiger l : wenig Fett Melkpause 7. XI 20,0 4,8 0,25 ı gelb, wässrig | nach neuer | | kein Fett 8täg. Pause 58 IR, 17,5 ' 5,0 | 2,1 | gelbwässrig | nach 8tägiger | | ' Melkpause _ 60 2mal täglich 1» » alle 2 Tage 36 | | 2mal täglien | 1» » | 1» » » 1» Do St. i. Gelbe ; | weiß Amal täglich 28. » 10,0 59 ' 60 ? 1» » 29. » 5,0 6,0 7,8 » IA» Do 6. XI. 45,0 5,8 3,0 wässrig nach Ytägiger Melkpause ' 10. » 10,0 6,6 2,0 kreideweiß nach Atägiger Melkpause 12. » 15,0 4,6 0,25 gelb nach 2tägiger | : Melkpause 55 17,5 | 54 | 60 i weiß Imal täglich 30,0 — 4,0 , gelblich alle 2 Tage 5,0 4,8 — 05 — gelbweiß | nach 3tägiger | ' dickflüssig | Melkpause
35,0 5,0 0.75 | weiß | alle 2 Tage | | St. i. Gelbe 32,5 5,6 3,0 weiß p 2» 10,0 3,6 0,25 gelb nach 9tägiger | | Melkpause 10,0 4,0 | 0.5 gelbwässrig | nach Atägiger
| kein Fett Melkpause
101
11
177
18 14. XI. 18. »
72
87
Von Dr. Georg Heiserer.
Amylase- zahl 27. X. 15,0 30. » 80,0
40,0 40,0 60,0
30,0 80,0
20,0 25,0
19. XI. 3. XII.
50,0 15,0
3. a 30,0
Tabelle IX.
Säuregrad nac Henkel- Soxhlet | |
6,0 5,0
Sa >
(Fortsetzung.\
= . Melkzeiten
Milch- menge in Liter
7,0 3,0
weiß weiß, St. i. Gelb, wässrig wenig Fett
weiß
» gelb, schlik- kerig, wässr. weiß » St. i. Gelbe gelblich
kreideweiß
weiß »
» gelblich »
St. i. Gelbe
gelb, St. i. Braun, fast wie Kolostr.
weiß
normal weiß gelblichweiß kreideweiß
weiß weiß St. i. Gelbe
gelblich gelb, wässrig
weiß St. i. Gelbe
|
i 1 ! f | [] i |
213
alle 2 Tage nach 3tägiger Melkpause
alle 2 Tage » 2 »
nach 4wöch. Melkpause
1mal täglich nach 4tägiger Melkpause nach 1tägiger Melkpause nach 2tägiger Melkpause
2mal täglich 2» »
1» »
vor 4 Tagen letz. Gemelke nach 6tägiger Melkpause
sei, 1 Tag nur Amal täglich 1» » 1» »
i » » nach 2tägiger Melkpause
imal täglich nach Atägiger Melkpause
nach 2tägiger Melkpause n. 14 tägiger Melkpause
nach 3tägiger Melkpause
15*
214 . Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Tabelle X.
Verhalten der Amylase nach längerer Aufbewahrung der Milchproben bei verschiedener Temperatur.
Die Milch war"seit der
Kuh Datum der Gewinnung aufbewahrt | Amylase- | Säuregrade nach Nr. Milchgewinnung |a . Zahl Henkel-Soxhlet Stunden | Temperatur
101 25. 8. 1924 1 16° 10,0 5,6
12 16° 5,0 5.6
26. 8. 1924 1 16° 10,0 5,6
12 16° 10,0 5,8
27. 8. 1924 1 16° 10,0 | 6,0
! 12 16° | 50 | 6,0
8. 1924 l 16° l 10,0 Ë 5,6
12 16° 7,5 ; 5,6
8. 1924 16° | 10,0 | 5,6
16° 10,0 5,6
l > l 12? 27. 8. 1924 l | ; 12 | 16° 100 6.6 28. 8. 1924 l | 16° 17.5 6.6 12 | 16" 17.5 6.8 29. 8. 1924 ] 16" 17.5 6,4 1? 16" 15.0 6.6 47: 481094 | l i 16° 17.5 5.6 | | 24 16° 7.5 6,6 | | 48 16" = geronnen Parallelprobe | 24 sy ID 6.2 48 3" | 25 6.6 79 230 >> 6.6
9 zu O 6.6
Von Dr. Georg Heiserer. 215
Tabelle X. (Fortsetzung)
Die Milch war seit der Datum der Gewinnung aufbewahrt
Milchgewinnung
Säuregrade nach Henkel-Soxbhlet
Kuh Amylase- N zahl
Stunden Temperatur
1 8. 8. 1924 | ı 16° 10,0 | 5,0
24 16° 5,0 | 5,4
| 36 16° 5,0 5,8
48 16° o | 9,0 | | 60 16° — geronnen
| Parallelprobe | 24 30 2,5 5,4
| 36 30 2,5 5,4
| | 48 30 2,5 5,4
8. 8. 1924 |
24 16° 7,5 5,8
36 16° 7, 5,8
48 16° 0 9,8
Parallelprobe 24 3 7,5 5,8
36 30 7.5 5,8
48; 3 2,5 5,8
60 | 3° 2,5 5,8
72 | 30 0 6,0
Misch-| 15.9. 1924 | 1 ! 10 | 100 > 56
milch | 24 | 16° 0 10,2 36 | 16° — geronnen
Parallelprobe 24 3° 5.0. 6,0
36 | 25 6,0
| 48 30 25 6,0
| 60 3 o, 7 6.2
| | 72 30 j 8,4
| i
ordentlich hoch. In dem zuerst nach dem Kalben ermolkenen Sekret fand ich Amylasezahlen von 100—700, in einem Fall sogar den Wert von 1000. Am 1. Tag nach dem Kalben fällt die Amylasezahl schon erheblich, hält sich aber in 8 von 10 Proben über dem Wert 50. Das Absinken schreitet in den folgenden Tagen weiter, bis durchschnittlich vom 5.—10. Tage an die Amylasezahl schon fast den Stand erreicht, den Milch von Kühen auf der Höhe der Laktation zu zeigen pflegt. Der Säuregrad, der in der ersten Kolostralmilch — wie gewöhnlich — sehr hoch ist, fällt im Laufe der folgenden Tage ebenfalls, aber mehr stetig zum durchschnittlichen Wert ab.
Bemerkenswert ist die Untersuchung einer Milchprobe, die 12 Stunden nach einer Frühgeburt ermolken wurde; die Kuh, die bis dahin 5—6 Liter Milch pro Tag lieferte, hatte im 7. Trächtigkeitsmonat verworfen. Das erste Gemelke nach der Geburt betrug 3 Liter und stellte eine Milch von makroskopisch normaler Beschaffenheit dar. Als Amylasezahl fand ich hier 5,0, als Säuregrad 7,0, also durchaus normale Werte.
. Daß das Kolostrum sich durch einen hohen Amylasegehalt auszeichnet, ist von Koning in 3 Fällen bereits beobachtet worden; die Amylasezahlen, die er mitteilte, betrugen in 2 Kolostrumproben 600, in einer dritten etwa
216 Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmiilch.
300. So hohe Werte, wie ich sie fand, scheinen bisher noch nicht ermittelt worden zu sein.
3. Amylasegehalt der Milch gesunder Kühe vor dem Trockenstehen.
Nach einer Literaturangabe, die von Koning herrührt, besitzt die Milch in den letzten Tagen der Laktationszeit einen erhöhten Amylase- gehalt. Koning fand in dem einen seiner 2 Fälle die Amylasezahl 140, in dem anderen 105. Ich habe bei 16 Kühen die Milch vor dem Trocken- stehen auf Amylasezahl und Säuregrad geprüft und die Untersuchung, wo es möglich war, noch zur Zeit des normalen Melkens begonnen. Die in Tabelle IX protokollierten Ergebnisse lassen erkennen, daß der Amylase- gehalt gegen Ende des Trockenstehens ansteigt; so hohe Zahlen, wie in Kolostrum habe ich jedoch nie erhalten. Der höchste von mir beobachtete Wert betrug 100.
Manche der untersuchten Milchproben, namentlich die, die nach einer längeren Melkpause gewonnen waren, sahen schon makroskopisch ver- ändert aus. Das wenig milchähnliche Sekret war eine wässrige gelbe Flüssigkeit, der mehr oder weniger große Flocken beigemengt waren. In solehen Sekreten war die Amylasezahl meist besonders hoch.
Der Säuregrad sinkt mit dem zunehmenden Trockenstehen beträcht- lich und erreicht Werte von 4—5, einmal sogar von nur 2,6 Säuregraden.
4. Verhalten der Amylase in Milchproben unter verschiedenen Außenbedingungen.
Die sorgfältigen Versuche von W. Rullmann (1911) haben einwandfrei festgestellt, daß in aseptisch entnommenen, steril befundenen Milchproben ausnahmslos Amylase nachweisbar ist. Besteht hiernach kein Zweifel, daß die Amylase ein originäres Ferment der Milch ist, so bleibt zu erörtern, ob in Milchproben, die längere Zeit stehen, zu der originären Milchamylase in steigender Menge Amylase bakterieller Natur hinzutritt.
Koning macht einige Bakterienarten namhaft, deren Reinkulturen die Fähigkeit besitzen, in steriler Milch bei ihrer Vermehrung gewisse Mengen von Amylase zu bilden; es sind dies: Bact. prodigiosum, Bact. fluorescens, Bact. putidum, „Milchbakterie I“, Bac. mesentericus, Bac. subtilis. Der Umstand, daß gerade die hauptsächlichen Säurebildner, die gewöhnlich in frischer unerhitzter Milch wuchern, von Koning ausdrück- lich unter den Arten genannt werden, die keine Amylase bilden, macht es schon wahrscheinlich, daß ein Auftreten von bakterieller Amylase in un- erhitzter Mileh, die einige Zeit stehen bleibt, nicht zu erwarten ist. Eher ist der Fall denkbar, daß in einer erhitzten Milchprobe, in der nachträglich amylasebildende Sporenbildner zur Vermehrung kamen, Amylase bakteriel- ler Herkunft gefunden wird.
Um mir über diese Fragen ein eigenes Urteil bilden zu können, habe ich mehrere Versuchsreihen angestellt. Es wurden frische Milchproben teils bei 16°, teils bei 3° einige Zeit aufbewahrt; 1 Stunde nach der Ge- winnung und nach verschieden langem Stehen wurde der Amylasegehalt und der Säuregehalt ermittelt. Bei 20 Proben betrug das Intervall zwischen
Von Dr. Georg Heiserer. | 217
den Beobachtungen 11 Stunden; nach dieser kurzen Aufbewahrung bei einer Temperatur von 16° war in 13 Fällen der Amylasegehalt unverändert geblieben; bei 7 Proben war die Amylasezahl abgefallen, einigemale auf die Hälfte des ursprünglichen Wertes. Der Säuregrad blieb unverändert oder stieg nur um 0,2—0,4. Wurde die Beobachtungszeit länger ausge- dehnt, so sank die Amylasezahl stets bis auf 0 ab, rascher bei 16° als bei 3°, spätestens aber nach 96stündiger Aufbewahrung bei 3° (vgl. Tabelle X).
In anderen Versuchen wurde frische unerhitzte Milch teils mit Häcksel, teils mit Rüben, teils mit Mist versetzt, um hochgradig verunreinigte Milchproben mit verschiedener Bakterienflora zu erhalten. Auch in diesen Proben verschwand der ursprüngliche Amylasegehalt im ‚Lauf von 40 Stunden völlig.
In frischer unerhitzter Milch bewirkt die zunehmende Bakterien- vermehrung also nicht etwa ein — durch bakterielle Amylase bedingtes — Steigen der Amylasezahl, sondern im Gegenteil ein Absinken. Die unter natürlichen Verhältnissen in unerhitzter Milch praktisch zur Wucherung gelangenden Bakterienarten spielen also die umgekehrte Rolle, wie sonst, indem sie ein ursprünglich vorhandenes Ferment dem Nachweis entziehen.
Dieses Resultat lehrt, daß der Amylasegehalt in der frischen Milch bestimmt werden muß; war die Milchprobe einige Zeit gestanden, so kann’ unter Umständen ein zu niederer Wert gefunden werden.
Schlußfolgerungen.
Das Ergebnis meiner Untersuchung läßt sich folgendermaßen kurz wiedergeben:
1. Die Milch gesunder Kühe enthält stets Amylase, deren Wirkungs- optimum bei 37° und einer Wasserstoffionenkonzentration Py 6,44 liegt.
2. Der Amylasegehalt der Milch hängt von der Individualität der Tiere .und von verschiedenen Einflüssen ab; die vier Euterviertel eines Tieres liefern bei einer Melkzeit Milch mit gleichem Amylasegehalt; Abendmilch enthält meistens dieselben oder etwas geringere Amylasemengen als die Morgenmilch desselben Tieres.
3. Während des Weideganges ist der Amylasegehalt durchweg höher. als bei Trockenfütterung im Stall; ebenso verhält sich der Säuregrad.
4. Die von Koning angegebenen Werte für den Amylasegehalt normaler Milch sind zu eng begrenzt; in der Milch völlig gesunder Kühe können Amylasezahlen gefunden werden, die nach Koning als Ausdruck pathologischer Zustände diagnostisch verwertbar sein sollen.
5. Die Trächtigkeit übt keinen merklichen Einfluß auf den Amylase- gehalt der Milch aus.
6. Sehr hohen Amylasegehalt zeigt Kolostrum sowie Milch von Kühen vor dem Trockenstehen.
7. In Milchproben, die nach der Gewinnung bei Zimmertemperatur oder Eisschranktemperatur aufbewahrt werden, sinkt der Amylasegehalt bis zum völligen Verschwinden.
218 Beiträge zur Kenntnis des Amylasegehaltes der Kuhmilch.
Literatur.
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Diener, Paul, Untersuchungen über die Milch scheidenkatarrhkranker Kühe. Inaug.- -Diss. Hannover 1921.
Giffhorn, Adolf, Untersuchungen über Enzyme in der Kuhmilch. Inaug.- Diss. Bern 1909.
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Koning, C. G., Biologische und biochemische Studien über Milch.
Derselbe, Milchwirtschaft!. Zentralbl., Bd. 3, S. 41, 1907; Bd. 5, S. 156, 1909; Bd. 6, S. '82, 1910; Bd. 7, S. 114, 1911.
Lenzen, Heinr., Über die Bedeutung und den praktischen Wert der ge- bräuchlichsten Untersuchungsmethoden der Milch. Inaug.-Diss. Berlin 1911. l Rullmann, W., Archiv für Hygiene, Bd. 73, S. 81.
Seligmann, E., Die Fermente der Milch, in: P. Sommerfeld, Handbuch der Milchkunde.
Vollrath, Carl, Untersuchungen über den Einfluß äußerer und innerer Krankheiten auf den Enzymgehalt der Kuhmilch. Inaug.-Diss. Stuttgart 1912.
Welzmüller, Ferd., Die Abbaufähigkeit der Kuhmilchdiastase gegen ver- schiedene Stärkearten. Biochem. Zeitschr., Bd. 125, H. 1/4, 1921.
Zaitscheck, A., Pflügers Archiv 1904, Bd. 104, S. 539.
Über den Einfluß vitaminfreier Nährböden auf die Bakterienvirulenz.
Von ` Dr. med. Stephan Wurzinger.
(Aus dem Tierhygienischen Institut der Universität Moncaen; Vorstand: Professor Dr. K. Süpfle.) i
(Bei der Redaktion eingegangen am 5. Mai 1926.)
Verschiedene Beobachtungen sprechen dafür, daß eine der Bedingungen, von denen der normale Resistenzgrad des Organismus gegen Infektionen abhängt, die ausreichende Zufuhr von Vitaminen ist. So erliegen, wie Petragnani und Guerrini zeigten, vitaminarm ernährte Beriberi- Tauben einer Infektion mit Milzbrand, gegen die normale Tauben relativ immun sind. Ja, es sind nach Setti!) nicht nur virulente Milzbrand- bazillen, sondern auch abgeschwächte Milzbrandbazillen imstande, bei Beriberi-Tauben eine tödliche Infektion herbeizuführen; das gleiche gilt für abgeschwächte Schweinerotlaufbazillen, die von gesunden Tauben anstandslos vertragen werden.
Diese Befunde werden am ungezwungensten so gedeutet, daß durch den Vitaminmangel die Empfänglichkeit des Organismus für Infektionen in ähnlicher Weise erhöht werden kann, wie dies erfahrungsgemäß durch andere Einflüsse, Unterernährung, Überanstrengung, Giftzufuhr, Er- kältung u. a. bewirkt wird.
Ascoli?) und sein Schüler Setti’) sind zu einer ganz anderen Auf- fassung gelangt: sie stellen die These auf, daß avirulente oder wenig- virulente Krankheitserreger in dem vitaminverarmten Tierkörper eine Virulenzsteigerung erfahren und deshalb befähigt werden, Beriberi- Tauben zu töten. Sie stützen diese überraschende Auslegung auf zwei Befunde: erstens hätten sich die aus den eingegangenen Beriberi-Tauben gezüchteten Milzbrand- und Schweinerotlaufkulturen zum Unterschied von den Ausgangskulturen auch für normale Tauben als virulent erwiesen, zweitens gelinge es, abgeschwächte pathogene Mikroorganismen durch Züchtung in künstlichen, vitaminfreien Nährböden ebenfalls virulent zu
4) Setti, Biochimica e Terapia Sperimentale, 1922. Heft 7.
2) Ascoli, Hoppe-Seylers Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 130, S. 259.
3) Setti, Biochimica e Terapia Sperimentale 1922, Heft 7; 1923, Heft 5; Heft 6. 1924, Heft 6; 1925, Heft 4.
220 Über den Einfluß vitaminfreier Nährböden auf die Bakterienvirulenz.
machen. Eine aus poliertem, vitaminfreiem Reis hergestellte Nährflüssig- keit steigere die Virulenz von Keimen, während eine Nährflüssigkeit aus vitaminreicher Reiskleie keine Virulenzerhöhung bewirke; die virulenz- steigernde Fähigkeit eines Nährbodens aus poliertem Reis werde schon durch einen geringen Zusatz von Reiskleie-Extrakt aufgehoben.
Es bot Interesse, die Versuche von Ascoli und Setti einer Nach- prüfung zu unterziehen. Diese Aufgabe habe ich auf Anregung und unter Leitung von Herrn Prof. Dr. K. Süpfle, dem ich für seine Unterstützung ergebenst danke, übernommen. Sehr gerne hätte ich zu meinen Versuchen dieselben Bakterienstämme benützt, mit denen Setti gearbeitet hatte; leider waren sie nicht zu erhalten. Dagegen war Herr Dr. Setti so liebens- würdig, mir die Anfertigung der Nährböden dadurch zu erleichtern, daß er mir nicht nur alle seine einschlägigen Veröffentlichungen übersandte, sondern auch brieflich noch weitere technische Winke gab; ebenso erhielt ich von ihm die Adressen einiger italienischer Firmen, die mich mit Reis- kleie beliefern konnten. Ich möchte nicht verfehlen, auch an dieser Stelle Herrn Dr. Setti für sein freundliches Entgegenkommen verbindlichst zu danken.
Nährbodenbereitung.
Der polierte Reis wird zunächst sorgfältigst von allen Beimengungen und etwaigen schlechten oder nicht polierten Körnern befreit. Zur Berei- tung der Reisbrühe hat Setti zwei Vorschriften angegeben. Ursprüng- lich!) kochte er 100 g Reis, den er zuvor 3 Tage lang in feucht-warmer lUmgebung hatte macerieren lassen, 4—6 Stunden in 61 Wasser; hierbei äßt sich, wie auch wir feststellen konnten, trotz wiederholten und lang- :wierigen Filtrierens keine klare Flüssigkeit gewinnen. In einer späteren Publikation hat Setti?) eine verbesserte Bereitungsweise beschrieben, die ich zu meinen Versuchen hauptsächlich befolgte: 200 g polierter Reis werden in ein Baumwolltuch mit mittelgroßen Maschen gegeben. Das Baumwolltuch, das sackartig verschlossen wird, soll so groß sein, daß das während des Kochens erfolgende Aufquellen der Reiskörner ungehindert vor sich gehen kann. Das mit Reis gefüllte Säckchen bringt Setti in ein weithalsiges GlasgefäßB mit 11 Wasser und verschließt mit einem Kork- pfropfen und einer Kapuze undurchlässigen Papieres; ich befestigte das Säckchen am Rand eines milchkannenförmigen Emaillegefäßes passender Größe so, daß es allseitig von dem darin befindlichen 1 1 Wasser umspült war, und verschloß das Gefäß mit dem eingepaßten Deckel und mit Perga- mentpapier möglichst dicht ab. Nun wird das Gefäß 40 Minuten lang im Autoklaven bei 120° erhitzt. Nach dieser Kochdauer ist der im Tuchsack eingeschlossene Reis zu einer halbfesten, gelatinösen Masse gequollen, während sich im Gefäß ca. 150—200 cem einer gelblichen, leicht opaleszen- ten Flüssigkeit befindet. Diese Reisbrühe, die gegen Lackmuspapier neutral reagiert, wird zur Entfernung etwaiger Stärkeflöckcehen filtriert, schwach alkalisiert, in Röhrehen abgefüllt und in üblicher Weise sterilisiert.
) Biochimica e Terapia Sperimentale 1923, Heft 6.
1 2) Biochimica e Terapia Sperimentale 1925. Heft 4.
Von Dr. med. Stephan Wurzinger. 221
Pepton wird der Reisbrühe nicht zugefügt. Da der Zusatz schon einer winzigen Menge von Kochsalz eine Trübung hervorruft, hat Setti eine Zeit lang mit Reisbrühe ohne physiologischen NaCl-Gehalt gearbeitet; später war es ihm dann durch Hinzufügen von Glyzerin möglich, Kochsalz zusetzen zu können, ohne daß eine Trübung auftrat. Die von mir herge- stellte Brühe aus poliertem Reis enthielt, wie durch Titration ermittelt wurde, 0,08%, NaCl; Bact. typhi murium zeigt in ihr nach mehreren Pas- sagen Involutionsformen und geringe Beweglichkeit, Sarcina tetragena kam nur sehr spärlich zur Vermehrung. Wir versetzten daher je 100 cem der Reisabkochung mit 7,2ccm steriler 10proz. NaCl-Lösung, so daß ein NaCl-Gehalt von 0,8% entstand. Die ausgeflockten Trübungen setzten sich, wenn die Röhrchen ruhig standen, am Boden ab, ohne bei den Ver- suchen nennenswert zu stören. Wir haben daher auf "das von Setti an- gegebene Hilfsmittel, die Ausflockungen durch Zugabe von Glyzerin zu vermeiden, verzichtet. In der Reisbrühe mit physiologischem Kochsalz- gehalt gediehen Bact. typhi murium und Sarcina tetragena, ebenso die anderen von mir geprüften Bakterienarten zwar nicht üppig, aber ohne jene Schädigungserscheinungen, die in Reisbrühe mit zu geringen Koch- salzmengen zutage getreten waren.
Die Reiskleienbrühe bereitete ich so, daß 100g Reiskleie mit 11 Wasser versetzt und 1⁄4 Stunde gekocht wurde; die entstandene schmutzig- bräunliche, trübe Flüssigkeit wurde filtriert und auf physiologischen Koch- salzgehalt gebracht. Das neutral reagierende Filtrat, das hellgelb und klar wie Fleischwasserbouillon aussieht, wird schwach alkalisiert, in Reagens- gläser abgefüllt und sterilisiert. Diese vitaminreiche Reiskleienbrühe ist ein Nährboden, der — im Gegensatz zu den Angaben von Setti — den Bakterien ganz gute Vermehrungsbedingungen zu bieten scheint; jeden- falls gediehen in ihm die von mir verwendeten Bakterienarten nicht schlech- ter als in Brühe aus poliertem Reis. Mittels der Reiskleienflüssigkeit wurden Proben der vitaminfreien Brühe aus poliertem Reis für die Kontroll- versuche in der Weise vitaminhaltig gemacht, daß zu je 10 ccm Reisbrühe 5 Tropfen Reiskleienbrühe gefügt wurden.
Versuchsergebnisse.
Es war zunächst erforderlich, avirulente bzw. schwach virulente Bakterienstämme zu beschaffen. Da ich der Kostenersparnis halber die Virulenzbestimmungen an weißen Mäusen vornehmen wollte, versuchte ich, verschiedene mäusepathogene Bakterienarten der Institutssammlung in ihrer Virulenz zu schwächen. Wiederholtes Erhitzen von Bakterienauf- schwemmungen bei 55— 60° und Isolierung der überlebenden Keime führte leider nicht zu dem gewünschten Ziel. Erfolgreicher war die fortgesetzte Züchtung auf O,1proz. Phenolagar. Zwar gelang es mir nicht, alle fünf Bakterienarten, mit denen ich arbeiten wollte, weitgehend genug zu schwächen; doch erhielt ich nach 60 Passagen auf Karbolagar einen Stamm von Bact. pneumoniae Friedländer, der so wenig virulent war, daß seine dosis letalis minima für Mäuse bei intraperitonealer Einverleibung 800—2000 Millionen Keime betrug: nicht ganz so tief war die Virulenz
339 Über den Einfluß vitaminfreier Nährböden auf die Bakterienvirulenz.
bei Bact. typhi murium zu senken, das trotz 150 Karbolagarpassagen bereits mit 3—7 Millionen Keimen tödlich wirkte. Immerhin verfügte ich nunmehr über zwei Bakterienarten mit geringer Virulenz, so daß ich jetzt prüfen konnte, ob das Wachstum in Brühe aus poliertem Reis eine Viru- lenzsteigerung herbeiführe.
Entsprechend den Angaben von Setti wurden die beiden schwach virulenten Stämme wiederholten Passagen in Reisbrühe unterworfen; da abwechselnde Passage über Reisbrühe und gewöhnlichen Serumagar besonders virulenzerhöhend wirken sollte, haben wir auch solche Nähr- bodenreihen durchgeführt. Zum Vergleich züchteten wir die Stämme auch auf Serumagar allein, ferner in gewöhnlicher Fleischwasserpeptonbouillon allein; außerdem führten wir abwechselnde Passagen einerseits über Reis- bouillon und Fleischwasserpeptonbouillon durch, anderseits über Reis- brühe mit Zusatz von Reiskleienbrühe und über Fleischwasserpepton- bouillon. Nach 10 Passagen bzw. 5 Wechselpassagen wurden je 0,3 ccm der Nährflüssigkeit Mäusen intraperitoneal einverleibt; von den auf Serum- agar gewachsenen Kulturen wurden 0,3 ccm einer Suspension von 1 Öse Kulturmasse in 5cem Bouillonkochsalzlösung’ injiziert.
Ich habe mehrere Versuchsserien dieser Art angestellt, von denen ich die Ergebnisse der mit Friedländerbazillen durchgeführten Versuche ın Tabelle I wiedergebe. Die Versuche fielen nicht gleichmäßig und nicht eindeutig aus. In dem Versuch vom 4. Februar 1925 blieb zwar die Maus am Leben, die mit Keimen aus vitaminfreier Reisbrühe geimpft war; doch starben die Mäuse, deren Impfmaterial Wechselpassagen über Reis- brühe und Serumagar bzw. über Reisbrühe und Fleischwasserpepton- bouillon durchlaufen hatte, während die Einverleibung von Keimen, die 10 Tage hindurch ausschließlich von Serumagar auf Serumagar überimpft waren, die Versuchsmaus nicht töteten. Dieses Ergebnis ließ sich mit den
Tabelle I. Virulenz von Bact. pneumoniae Friedländer für Mäuse.
4.11. 25 5, III. 25 | 22. IV. 25 Art der 117 0 1- a Ergebnis der Verimpfung von 0,3 ccm Nährbodenpassage een
Reisbrühe t nach : f nach 24 Stunden 24 Stunden
|
Reisbrühe t nach ' t nach | t nach abwechselnd mit Serumagar 5 Tagen 24 Stunden | 12 Stunden Serumagar lebt lebt | ft nach | ' 5 Tagen Reisbrühe tnach | lebt | lebt abwechselnd mit Fleischwasser- 24 Stunden peptonbouillon | Fleischwasserpeptonbouillon — | *nach . t nach 2% Stunden ' 36 Stunden Reisbrühe mit Reiskleiezusatz = t nach : ț nach
abwechselnd mit Fleischwasser-
'20 Stunden ! 18 Stunden peptonbouillon |
| |
Von Dr. med. Stephan Wurzinger. 223
Angaben von Setti ohne Zwang in Parallele bringen. Bei der Wieder- holung dieser Versuchsreihe ergaben sich aber Widersprüche: entgegen dem, was nach Setti zu erwarten wäre, bleiben bei den Versuchen vom 5. März und 22. April die Mäuse am Leben, die mit Material von Wechsel- passagen über vitaminfreie Reisbrühe und Fleischwasserpeptonbouillon geimpft waren, während die Mäuse sterben, die Kulturen aus Passagen in Fleischwasserpeptonbouillon erhielten; ebenso sterben die Mäuse nach Ein- verleibung von Keimen, die abwechselnd vitaminhaltige Reiskleien-Reis- brühe und Fleischwasserpeptonbouillon passiert hatten. Ferner wirkte in dem Versuch vom 22. April eine nur auf Serumagar gezüchtete Kultur tödlich.
Auf der Suche nach einer Erklärung dieser Unstimmigkeiten machten wir uns den Einwand, daß wir die quantitativen Verhältnisse der ein- verleibten Dosis nicht genügend berücksichtigt hätten. Es war von vorn- herein wahrscheinlich, daß wir in den 0,3ccm der verschiedenartigen Kulturflüssigkeiten ganz ungleich große Keimmengen injiziert hatten; es konnte also sein, daß wir die qualitativen Unterschiede der Virulenzhöhe der einzelnen Passagenstämme deswegen übersahen, weil wir z. B. von einer schwachvirulenten Modifikation sehr viele Keime, von einer hochvirulenten Modifikation dagegen nur sehr wenig Keime unseren Versuchstieren ein- verleibten. Wir beschlossen daher, in den künftigen Versuchen die Keim- zahl unserer Kulturflüssigkeiten und Bakterienaufschwemmungen stets durch sorgfältige Keimbestimmungen auf Agarplatten festzustellen und die Versuche dahin zu erweitern, daß das gleiche Passagenmaterial jeweils in abgestuften Dosen an eine Anzahl Mäuse verimpft wurde. Die Versuche wurden hierdurch allerdings wesentlich komplizierter; ihre Durchführung war nur möglich dank der freundlichen Mitwirkung der Institutslaborantin, Fräulein Helene Hartmann, die namentlich bei den umfangreichen Bestimmungen der Keimzahl mir ihre bewährte Hilfe widmen konnte.
Eine exakte Feststellung, in welchen kleinsten Dosen die einzelnen Passagenstämme tödlich wirkten, erschien für die Lösung unserer Frage um so bedeutungsvoller, als die Angaben von Setti in dieser Richtung wenig aufschlußreich sind. Was Setti über die Keimmengen, mit denen er arbeitete, sagt, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Von dem abgeschwächten Hühnercholerastamm Manninger war 1 ccm einer Auf- schwemmung von 10 Serumagarkulturen in 10 ccm physiologischer NaCl- Lösung (= 1 Serumagarkultur) weder für Normaltauben noch für vitamin- frei ernährte Tauben tödlich; auch 2 ccm einer Aufschwemmung von 20 Serumagarkulturen in 10 ccm physiologischer NaCl-Lösung (= 4 Serum- agarkulturen) vermochten eine Normaltaube nicht zu töten, dagegen eine 24 Tage vitaminfrei ernährte Taube. Der Ausgangsstamm Manninger war nach 5 abwechselnden Passagen über Reisbrühe und Serumagar imstande, in der Dosis von 2ccm einer Aufschwemmung von 15 Serumagarkulturen in 4 ccm physiologischer NaCl-Lösung (,la dose di 2 cc. di sospensione di colera Manninger avirulento ottenuta passando Ace. di soluzione fisio- logica in quindici agar siero“1)) eine Normaltaube zu töten; die tödliche
1) Setti, Biochimica e Terapia Sperimentale 1923, Heft 6.
92994 Über den Einfluß vitaminfreier Nährböden auf die Bakterienvirulenz.
Dosis errechnet sich also auf 74, Serumagarkulturen. Leider ist aus den Protokollen von Setti weder zu entnehmen, ob diese extrem bakterien- reiche Injektionsmenge die dosis letalis minima war, noch, ob etwa auch der avirulente Ausgangsstamm — vor der Züchtung auf vitaminfreier Reis- brühe — in der Menge von 71, Serumkulturen imstande gewesen wäre, eine Normaltaube zu töten; es liegt nur die erwähnte Angabe vor, daß 4 Serumagarkulturen zur Tötung einer Normaltaube nicht ausreichten.
Es hat zahlreicher Wiederholungen der Versuchsanordnung bedurft, um verwertbare Resultate zu erhalten. Weil wir an Tieren sparen wollten, hatten wir bei verschiedenen Versuchsreihen die Abstufung der Injektions- menge nicht weit genug getrieben; daher starben bei den einen Serien alle Tiere, bei den anderen blieben alle am Leben. Andere Male ereignete sich das Mißgeschick, daß von mehreren Mäusen, die in einem Mausglas untergebracht waren, die Eingegangenen von den Überlebenden gefressen worden waren, so daß eine bakteriologische Kontrolle des Befundes un- möglich war. Einige Versuche erlaubten deswegen kein abschließendes Urteil, weil von den Mäusen, bei denen die einverleibte Keimmenge in der Nähe der dosis letalis minima lag, die einen starben, während andere in der Reihe vorausgehende Tiere am Leben blieben oder erst sehr spät mit unklarem bakteriologischem Befund verendeten. Soweit die Versuche brauchbare Ergebnisse lieferten, sind sie in Tabelle II und III zusammen- gestellt. Bei der letzten Versuchsreihe sind wir so vorgegangen, daß wir jede Abstufung der Injektionsmenge an zwei Mäuse verimpften und daß wir jede Maus getrennt in cinem eigenen Glas unterbrachten (17. X11.25).
Tabelle IT. Virulenz von Bact. typhi murium für Mäuse.
29, VIII. 25 26. XI. 25 Art der g
Nährboden passage
tödlich indifferent
Reisbrühe
Reisbrühe abwechselnd mit Serum- TE - 252 | 25 agar | Serumagar =& 7e 29 Reisbrühe abwechselnd mit Fleisch- 48 10 1 wasserpeptonbouillon Fleischwasserpeptonbouillon — - - 25 5
Reisbrühe mit Reiskleiezusatz 390 000 19 500 2 830 283
abwechselnd mit Fleischwasser- peptonbouillon
Betrachten wir die in Tabelle II dargestellten Versuche mit Mäuse- typhusbazillen, so sehen wir, daß die Virulenz der durch verschiedene Passagen gewonnenen Stämme ungleich groß ıst. Vor den Passagen hatte, wie ich früher erwähnte, die dosis letalis minima 3—7 Millionen Keime betragen; im Vergleich zu dieser Dosis haben alle Passagenstämme — mit Ausnahme des Stammes von reiskleienhaltiger Reisbrühe — eine Virulenz- erhöhung erfahren (in der Tabelle sind die Keimzahlen in Tausenden an-
Von Dr. med. Stephan Wurzinger. 225
Tabelle III. Virulenz von Bact. pneumoniae Friedländer für Mäuse. E 20. VIII. 25 26. XI. 25 417. XII. 25 2 Art der Keimmenge in Millionen Nährbodenpassage in: | in- ar Sie tödlich| different | tOdlich'Jirrerent |töalich different Reisbrühe 9 50 25 Reisbrühe abwechselnd — 9 4 mit Serumagar Serumagar 122 — — Reisbrühe mit — 57 11 Reiskleiezusatz Reisbrühe mit Reiskleiezusatz 3 — us
abwechselnd mit Fleischwasser- peptonbouillon
gegeben). Die kleinste tödliche Keimmenge ist bei den Stämmen aus Reisbrühe sowie .aus Reisbrühe abwechselnd mit Fleischwasserpepton- bouillon auf einen etwa tausendfach geringeren Wert gesunken. Bei den > Stämmen von Serumagar und von Fleischwasserpeptonbouillon ist die dosis letalis minima etwa hunderfach kleiner, als beim Ausgangsstamm. Nur etwa zehnfach erhöht in seiner Virulenz erscheint der Stamm, der abwechselnd die vitaminfreie Reisbrühe und Serumagar passiert hatte — also gerade der Stamm, der nach Setti allein eine Virulenzerhöhung hätte gewinnen sollen. Die abwechselnd über reiskleienhaltige Reisbrühe und Fleischwasserpeptonbouillon passierten Stämme sind die einzigen, deren Virulenz, verglichen mit dem Ausgangsstamm, unverändert geblieben ist, oder sogar etwas (Versuch vom 20. August 1925) vermindert wurde. Dieser Befund würde im Sinne von Setti so zu deuten sein, daß die auf vitaminfreien Reisnährböden erfolgende Virulenzerhöhung durch den Vitamingehalt der zugesetzten Reiskleie gehemmt worden sei, wenn wir nicht gleichzeitig Kontrollversuche mit Passagen über Serumagar sowie über gewöhnliche Fleischwasserbouillon angesetzt hätten. Diese Kontrollversuche haben die Feststellung erbracht, daß nicht nur die in vitaminfreien Reisnährböden oder in Wechselpassagen über -vitaminfreie Reisbrühe und vitaminhaltigen Nährböden gezüchteten Stämme eine Virulenzerhöhung erfuhren, sondern auch die ausschließlich in vitamin- haltigen Nährböden (Serumagar, Fleischwasserpeptonbouillon) zehnmal überimpften Stämme. Unter diesen Umständen kann keine Rede davon sein, daß die relativ geringe Virulenz der in reiskleienhaltiger Reisbrühe gezüchteten Stämme mit der Anwesenheit von Vitaminen in Zusammen- hang gebracht werden dürfe; wenn man eine unvoreingenommene Inter- pretation dieser Beobachtung überhaupt versuchen will, würde man höch- stens die Vermutung aussprechen können, daß mit dem Reiskleienextrakt Stoffe in die Reisbrühe gebracht wurden, die einen gewissen virulenz- erniedrigenden Einfluß auf Mäusetyphusbazillen ausüben. Die Züch- tung in vitaminfreien Nährböden hat also bei unserem Stamm von Bacterium typhi murium zwar eine Virulenzerhöhung
996 Über den Einfluß vitaminfreier Nährböden auf die Bakterienvirulenz. bewirkt, die aber bei analoger Züchtung in vitaminhaltigen Nährböden ebenfalls aufgetreten ist.
Ganz ähnlich fielen unsere Versuche mit Bact. pneumoniae Fried- länder aus, über die Tabelle III (die Keimmengen sind hier in Millionen angegeben) unterrichtet. Bact. pneumoniae Friedländer war vor den Pas- sagen in der Dosis von 800—2000 Millionen Keimen tödlich. Diese Virulenz- höhe blieb nach Passage auf Serumagar unverändert. Die Züchtung in Reisnährböden ergab Stämme von teilweise erheblich höherer Virulenz; eine besonders geringe Keimzahl war von dem Stamm tödlich, der ab- wechselnde Passagen über vitaminfreie Reisbrühe und Serumagar erfahren hatte. Würde dieses Ergebnis für sich allein zugunsten der These von Setti zu verwerten sein, so lehrt das Verhalten des in reiskleienhaltiger Reisbrühe sowie der abwechselnd in reiskleienhaltiger Reisbrühe und in Fleischwasserpeptonbouillon gezüchteten Stämme, daß die Beweisführung abermals nicht im Sinne von Setti geglückt ist. Denn auch diese in vitaminreichen Reisnährböden kultivierten Stämme von Bact. pneumoniae Friedländer zeigen gegenüber der Virulenz des Ausgangsstammes eine beträchtliche Steigerung, die ‘dem Virulenzgrad der in vitaminfreien Nährböden gezüch- teten Stämme nicht nachsteht.
Das Ergebnis unserer Versuche läßt sich kurz dahin zusammenfassen, daß es uns bei sorgfältiger Berücksichtigung der dosis letalis minima nicht gelungen ist, bei Bact. typhi murium und Bact. pneumöniae Friedländer durch Züchtung in vitaminfreien Nährböden eine Virulenzsteigerung zu erzielen, die im Sinne von Ascoli und Setti auf den Vitaminmangel der Nährböden bezogen werden könnte.
Über eine Abänderung des Cronerschen Verfahrens Mangan im Trinkwasser nachzuweisen.
Von Dr. phil. Günther Lode.
(Aus dem Hygienischen Institut der Universität Innsbruck. Vorstand: Professor Dr. Alois Lode.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 3. Mai 1926.)
Der sichere Nachweis von Mangan im Trinkwasser ist für den Hygie- niker nicht einfach. In den Lehrbüchern der Methodik finden sich meist folgende Angaben: das Verfahren, das Marshall!) vorschlägt, der Nachweis nach Tillmans und Mildner?), der Nachweis nach Klut?) und schließ- lich der nach Cronert).
Das erste, voll befriedigende Verfahren verlangt Ammonpersulfat, ein Reagens, das nicht immer zur Verfügung steht und verursacht längere Arbeit. Der Nachweis nach Tillmans und Mildner erfordert Kalium- perjodat, Eisessig und eine frisch bereitete Lösung von Tetramethyl- diamidodiphenylmethan in Chloroform; das Gelingen des Nachweises ist an die genaue Einhaltung der Vorschrift gebunden. Auch diese Reaktion befriedigt wegen ihrer Umständlichkeit nicht. Schneller ausführbar ist der Nachweis nach Klut, nach welchem Mangan durch konz. Salpeter- säure und Bleioxyd zu HMnO, oxydiert wird. Doch zweifellos am be- quemsten wäre der Nachweis nach Croner, der Mangan durch Fällung mit Ferrozyankalium als Ferrozyanmangan in Form eines weißen Nieder- schlages erhält. Nach dieser Methode wird das Wasser mit Weinsäure und Ammoniak versetzt und dann Ferrozyankaliumlösung hinzugefügt. Wer diese Reaktion öfter ausführt, macht aber die Erfahrung, daß der kolloidale Niederschlag von Mn,FeCN, manchmal nicht zur Ausfällung gelangt. Es war daher die Aufgabe gegeben, die Bedingungen für das Ausfallen des Niederschlages festzustellen und den Fehlausfall ver- meiden zu lernen.
1) Chem. News, 83, S. 76. Z. f. anal. Chemie. 43. S. 418 u. 655. 1904.
2) Journ. f. Gasbeleuchtung u. Wasserversorgung LVII. 8.496, 1914.
3) Dr. H. Klut. Untersuchung des Wassers an Ort und Stelle. 2. Auflage. S. 117, 1911.
4) Gesundheits-Ing. Bd. 28. Nr. 12, 1905. Z. f. anal Chemie 48, S. 128, 1909.
Archiv f. Hygiene. Bd. 97. 16
228 Über eine Abänderung des Cronerschen Verfahrens usw.
Nach der Vorschrift werden 100 ccm des Wassers in einem 30 cm hohen Schaurohr nach Proskauer mit 2 ccm gesättigter Weinsäurelösung versetzt. Hierauf wird Ammoniak so lange zugegeben, bis nach kräftigem Umschütteln des Zylinders ein Überschuß von Ammoniak durch den Ge- ruch deutlich zu erkennen ist. Es werden nun 2ccm einer gesättigten Ferrozyankaliumlösung hinzugefügt. Die Lösung muß grünlichgelb bleiben. Eine blaugrüne Färbung deutet auf zu wenig Ammoniak. Wenn Mangan vorhanden ist, bildet sich in der klaren Flüssigkeit je nach seiner Menge sofort oder erst nach einiger Zeit ein weißer Niederschlag oder eine Trübung. Verfasser konnte noch 0,5 mg Mangan im Liter Wasser nachweisen.
Vorversuche zeigten bald, daß die richtige Menge des zuzusetzenden Ammoniaks für die Fällung wesentlich ist. Wenn zu wenig Ammoniak zugesetzt wurde, blieb die Fällung aus, ebenso wenn zu viel Ammoniak vorhanden war. Demnach wurdenVersuche mit Lösungen von verschie- denem Gehalt an Mangan angestellt, um die richtige Ammoniakmenge aufzufinden.
Diese Versuche wurden mit 100 ccm des Mangan enthaltenden Wassers in Glaszylindern mit eingeriebenen Stoppeln von 35 cm Höhe ausgeführt. Verwendet wurden zu diesem Zweck:
1. Eine n/100 KMnO,-Lösung in 1 ccm 0,1098 mg Mangan, 2. ein NH, aq. in 1 cem 35 mg NH} ” 3. eine gesättigte K,FeCN,-Lösung, 4. eine gesättigte Weinsäurelösung.
Bei der Ausführung blieben die Mengen von Weinsäure- und Ferro- zyankalium gleich, die der KMnO,-Lösung und des Ammoniak wechselten. Man erhielt folgende Ergebnisse:
mg Mangan in 100 ccm Wasser
I 0,439 0,329 0,219 0,109 |
Nr 70 * in mg |175 | *— — i; — | — = =
Erklärung: * Niederschlag, *— Trübung, — keine Trübung.
Diese Versuche ergaben, daß ein Überschuß vòn Ammoniak die Aus- fällung des Mangans als Ferrocyanmanganverbindung verhindert.
Um der Gefahr des Ammoniaküberschusses zu begegnen, haben wir versucht, statt der getrennten Zugabe der Lösungen ein Reagens von gleich- bleibender Zusammensetzung zu verwenden. Dieses wurde bereitet, indem man zu gesättigter Weinsäurelösung Ammoniak so lange zusetzte, bis der anfangs entstandene Niederschlag sich wieder löst. Mit diesem Reagens wurden ähnlich wie oben Versuche gemacht, wobei die Menge der KMnQ,- Lösung und des Reagens wechselte, die der K,FeCN,-Lösung gleichblieb.
Diese Versuche ergaben, daß der Nachweis von 0,549 mg in 100 ccm Flüssigkeit innerhalb des bedeutenden Abstandes von 0,1—8 cem des Reagens mit Sicherheit gelingt. Geht man über 8 ccm hinaus, so wird die Reaktion unverläßlich oder bleibt ganz aus, ähnlich wie bei zu großem
Von Dr. phil. Günther Lode. 229
mg Mn in Menge des Reagens in ccm
100 ccm
Ammoniakzusatz. Mit fallendem Mangangehalt gelingt es noch, bei gleichem Reagenszusatz 0,109 mg Mangan nachzuweisen, während die halbe Menge nur noch mit 0,2—6 ccm des Reagens nachweisbar ist. Oft entsteht die Trübung erst nach einiger Zeit.
Durch die Verwendung des Reagens war die Schwierigkeit bezüglich des Ammoniakzusatzes beseitigt. Es blieb noch zu untersuchen, wie sich das Reagens bei Anwendung auf natürliches Wasser bewähre. Dabei mußte das Vorkommen von Kalzium und Magnesium, von Eisen und von Mangan in Form von feinverteiltem Manganperoxydniederschlag beachtet werden. Zu diesem Zweck wurden eigene Versuche unternommen.
Kalzium und Magnesium.
Bei der Verwendung des Reagens in kalk- und magnesiumhaltigen Wassern zeigte sich, daß Kalzium und Magnesium als Tartrate gefällt wurden und einen Niederschlag bildeten, der die Flüssigkeit ähnlich wie Ferrozyanmangan trübte. Daher wurde bei der Herstellung des Reagens die Weinsäure durch die Zitronensäure ersetzt, welche lösliche Kalzium- und Magnesiumsalze bildet. Das Reagens wurde nun bereitet, indem man zu gesättigter Zitronensäurelösung Ammoniak bis zur schwach alkalischen Reaktion zusetzte. Versuche bei Verwendung dieses Zitronensäure-Am- moniak-Reagens erwiesen, daß Kalzium und Magnesium nicht mehr störten und Mangan sicher nachweisbar war.
Eisen.
Um zu ermitteln, wie groß der Gehalt an Eisen sein kann, ohne die Reaktion zu stören, wurden Versuche mit eisenhaltigem Wasser ausgeführt. Verwendet wurden zwei Eisensalzlösungen: eine FeSO,-Lösung mit 5,92 mg und eine FeCl,-Lösung mit 5,4 mg Eisen im ccm. Die Versuche wurden wieder wie oben mit. manganhaltigem Wasser ausgeführt.
Ferrolösung, mg Eisen in 100 ccm Wasser
5,92 29,6 88,8 1184 18 ` 177,6 |
Ferrolösung, mg Eisen in 100 ccm Wasser | i RB AR, 135 162 216 * “| * + * * * j
16*
230 Über eine Abänderung des Cronerschen Verfahrens usw.
Es blieben in allen Fällen die bekannten Zyaneisenreaktionen aus und Mangan konnte unbehindert nachgewiesen werden.
Mangansuperoxyd.
Nun wurden noch Versuche angestellt, um das Verhalten des Reagens in Wasser, das Mangan in Form von MnO, enthält, zu prüfen. Vollkommen reines, fein gepulvertes Manganperoxyd wurde in destilliertes Wasser ge- bracht und lange geschüttelt. Dadurch erhielt man eine kaum getrübte Flüssigkeit, in der das Mangan fein verteilt schwebte. Ähnliche Versuche, wie die früheren ergaben, daß auch hier die Reaktion als deutliche Trübung auftrat. Allerdings nach sehr langer Zeit; in den meisten Fällen erst nach 2—3 Stunden. Es folgt daraus, daß Mangan, auch wenn es nicht als Salz gelöst, sondern als MnO, im Wasser suspendiert vorhanden ist, dennoch durch das Reagens allmählich in Lösung gebracht wird und so dem Nachweis nicht entgeht.
Aus obigen Versuchen geht hervor, daß das Gronersche Verfahren bei Abänderung der Vorschrift für Trinkwasser anwendbar ist und mit Sicherheit noch sehr geringe Mengen von Mangan nachweisen läßt. Die Abänderung besteht darin, daß man Säure und Ammoniak nicht getrennt, sondern als Mischung zusetzt und daß man die Weinsäure durch Zitronen- säure ersetzt.
Die Vorschrift müßte daher lauten: Man setzt zu 100 ccm Wasser, das sich in einem 30—40 cm hohen Zylinder befindet, 2 ccm des vorherbereiteten Zitronensäure-Ammoniak-Reagens hinzu. Dann fügt man 2 ccm einer ge- sättigten K,FeCN,-Lösung zu und schüttelt um. Ist Mangan vorhanden, so entsteht je nach der Menge eine weiße Trübung oder ein weißer Nieder- schlag. Das Reagens bereitet man, indem man zu kalt gesättigter Zitronen- säurelösung Ammoniak bis zur schwach alkalischen Reaktion zusetzt.
Versuche, die Empfindlichkeitsgrenze des Mangannachweises nach Croner durch Anwendung des Tyndall-Effektes zu erweitern.
Wie aus den oben mitgeteilten Versuchsergebnissen zu ersehen ist, liegt die Empfindlichkeitsgrenze der Cronerschen Reaktion bei einem Gehalt von 0,5 mg Mangan im Liter. Ein Vergleich mit den anderen oben ausgeführten Methoden zeigt, daß dieses Verfahren an Empfindlichkeit hinter jenen zurückbleibt. Nach Marshall kann noch 0,02 mg im Liter Flüssigkeit nachgewiesen werden. Mit dem Verfahren von Tillmans und Mildner erhält man noch bei 0,05 mg eine deutliche Reaktion. Auch der Nachweis nach Klut zeigt noch 0,05 mg im Liter an. Es entstand nun die Frage, ob es nicht möglich sei, die Empfindlichkeit des Cronerschen Verfahrens zu erhöhen. Ein Verfahren, kleinste Niederschlagsmengen, die unter gewöhnlichen Umständen nicht mehr wahrnehmbar sind, messend zu erfassen, besteht in der Nephelometriet). Dieses Verfahren macht sich
1) Ph. W. Richards und R. C. Wells, Americ. Chem. Journ. 31, S. 235, 1904; 35, S. 510, 1906. Hans Kleinmann, Abderhaldens Hande. f. biochem. Arbeitsmeth., IV. Abt., HI. Teil, 106. Liefg., S. 358.
Hans Kleinmann, Biochem. Zeitschrift 99, 115, 1919.
Hans Kleinmann, Kolloid. Zeitschr. 27, N. 236—241, 1920.
Von Dr. phil. Günther Lode. 231
. den sog. Tyndall-Effekt zunutze und beruht darauf, daß unter gewissen Bedingungen die Menge des durch einen Niederschlag reflektierten Lichtes proportional der Menge des Niederschlages ist. Gemessen wird die Intensität des Beugungslichtes mit Hilfe des Nephelometers. Dieses ist so ein- gerichtet, daß die Bilder der zu untersuchenden Flüssigkeit und der Ver- gleichslösung durch Prismen zu einem Gesichtsfeld vereinigt werden. ‘Da ein Nenhelometer nicht zur Verfügung stand und es bei diesen Unter- suchungen nicht auf Messen, sondern bloß auf Nachweisen ankam, konnte man sich mit einer einfachen Vorrichtung begnügen. Es wurde in den Pro- jektionsapparat mit einer Bogenlampe von 20—30 Ampere an Stelle des Diapositivs ein Stück Blech eingesetzt, das mit zwei übereinanderliegenden Löchern von 10 mm Durchmesser versehen war. Dadurch wurden aus dem Lichtkegel der Sammellinse zwei Strahlenbüschel abgesondert. Vor diese Öffnungen wurden zwei kleine Küvetten mit 25 cem Inhalt senkrecht über- einander in einem Ständer aufgestellt.
Ausführung der Versuche.
"Um unter Benützung dieser Vorrichtung die Empfindlichkeitsgrenze ins Gebiet größerer Verdünnungen zu verlegen, wurden die Versuche wie folgt ausgeführt.
Destilliertes Wasser wurde auf optische Leerheit geprüft und nur vollkommen einwandfreies für den Versuchszweck tauglich befunden. Mit diesem Wasser wurden die Reagentien (Ferrozyankaliumlösung und Zitro- nensäure-Ammoniak-Lösung) hergestellt und ebenfalls auf optische Leer- heit geprüft, bevor sie zur Verwendung kamen. Die erforderlichen mangan- haltigen Lösungen wurden in 35 cm hohen Zylindern von 100 cem Inhalt hergestellt, indem man von 100 ccm Lösung, die 1 mg Mangan enthielt, ausging, die Hälfte dieser Lösung in einen leeren Zylinder goß, diesen auf 100 ccm mit optisch leerem Wasser auffüllte und so im ganzen 20mal ver- fuhr. Dadurch erhielt man Lösungen, deren erste in 100 ccm 1 mg, deren letzte 0,0000018 mg Mangan enthält.
Es wurden alle Zylinder mit je 4 ccm der Reagentien versetzt und etwa eine Stunde stehen gelassen. Es trat in den Zylindern 1—5 Trübung ein, in allen übrigen nicht. Nun wurden die Lösungen dieser Zylinder im verdunkelten Zimmer vor der Bogenlampe mit Hilfe der oben beschrie- benen Vorrichtung weiter untersucht. Die Küvetten, die eine mit optisch leerem Wasser, die andere mit der ersten der zu untersuchenden Flüssig- keiten gefüllt, wurden in den Ständer vor die Blende gestellt und die Bogen- lampe in Betrieb gesetzt. Der Tyndall-Effekt konnte gut beobachtet werden. Dann wurde der Reihe nach jede der Lösungen in die Versuchs- küvette eingefüllt und der jeweils entstehende Effekt verglichen und beur- teilt. Die Ergebnisse sind in folgender Tabelle (S. 232) zusammengefaßt:
Aus diesen Ergebnissen geht hervot, daß das Gebiet der Nachweis- barkeit mit dieser Methode derart erweitert werden kann, so daß es gelingt, noch 0,000121 mg Mangan in 100 ccm Flüssigkeit sicher aufzufinden; jedoch nur bei Verwendung optisch einwandfreier Lösungen. Unter dieser Grenze wächst die Möglichkeit einer Täuschung durch sehr kleine zufällige Verunreinigungen. Es empfiehlt sich daher, dieses unter der genannten
232 Über eine Abänderung des Cronerschen Verfahrens usw.
z1. | me in 100 ccm Reaktion
l 1 Gebiet der Trübung unter gew. Um- 2 0,5 Cronerschen ständen sichtbar 3 0,25 Reaktion 4 0,125 5 0,0625 6 | 0,03125 Gebiet des | Durch dieFlüssigkeit streicht 7 0,0156 Tyndall- ein Lichtkegel, dessen Hel- 8 >’ 0,0078 Effektes ligkeit mit zunehmender 9 | 0,0039 Verdünnung abnimmt 10 : 0,00195
11 , 0,000975
12 | 0,000487
13 | 0,000243 Grenze des sichern Nach- 14 0,000121 weises
15 0,00006 Der Effekt ist noch wahr- 16 0,00003 nehmbar; jedoch schwin- 17 | 0,000015 det die Sicherheit, weil . 18 0,0000075 kleinste zufällige Verun- 19 0,0000037 reinigungen zu Täuschun- 20 0,0000018 gen führen können.
Grenze liegende Gebiet bei obiger Versuchsanordnung nicht mehr einzu- beziehen.
Mit dem oben geschilderten Verfahren wurden nun Versuche an mangan- haltigem Brunnenwasser gemacht. Zuerst mußte das Wasser optisch leer gemacht werden. Dies geschah, indem man es in einem Kolben mit kolloi- dalem Fe(OH), versetzte und diesen mit einem Kork verschloß. Das Fe(OH), wird durch die Elektrolyte des Wassers gefällt und reißt alle störenden Teilchen mit sich. Nach vollkommenem Absetzen des Nieder- schlages ist das Wasser optisch leer. Die Untersuchung wurde wie folgt ausgeführt: 100 cem des Wassers werden in einem verschließbaren Kolben mit 5—6 Tropfen koll. Fe(HO), versetzt und umgeschüttelt. Das Fe(OH), wird allmählich ausgefällt. Nach dem vollkommenen Absetzen des Nieder- schlages hebert man sehr vorsichtig etwa 25 ccm der darüberstehenden Flüssigkeit in eine der Versuchsküvetten, versetzt mit 1, cem Reagens und mit 1, ccm K,FeCN,-Lösung und beobachtet nach ca. 10 Minuten vor der Bogenlampe. Ein deutlicher Lichtstreifen durch die Flüssigkeit zeigt Mangan an.
Ist Mangan nicht in Lösung, sondern als Manganperoxyd vorhanden, so muß dieses erst gelöst werden, bevor das Wasser mit Fe(OH), versetzt werden kann. Man fügt daher 2 ccm n/10 HCI, dann 2 cem NH,-Lösung, die genau auf die Salzsäure eingestellt ist, zu, danach erst das Fe(OH), Schließlich wird die Untersuchung wie oben ausgeführt.
Allgemeine Zusammenfassung und Beurteilung der Ergebnisse.
1. Durch einige Versuchsreihen wurden die Fehlerquellen des Groner- schen Verfahrens aufgesucht und eine entsprechend abgeänderte Vorschrift
Von Dr. phil. Günther Lode. 233
angegeben. Dadurch hat man ein sicheres und einfaches Mittel, um Mangan ım Trinkwasser nachzuweisen. Die Reaktion kann auch eindeutig genannt werden, weil alle Metalle, die als Ferrozyansalze fällbar sirid (Ag, Pb, Cu, Cd, Sn, Co, Ni, Zn, Ba) mit Ausnahme des Eisens, im Trinkwasser wohl nie vorkommen dürften. Das Eisen aber wird durch die Zitronensäure in Lösung gehalten. |
2. Die Empfindlichkeit des Cronerschen Verfahrens steht den anderen angeführten Verfahren bedeutend nach. Wie schon gesagt, kann nach Marshallnoch etwa der zwanzigste Teil der Grenzmenge dieses Verfahrens nachgewiesen werden. Auch die Grenzmenge des Tillmans- und Mildner- schen Verfahrens und des von Klut beträgt bloß das Zehntel dieser. Es wurde daher versucht, die Empfindlichkeitsgrenze dieses Verfahrens mittels des Tyndall-Effektes zu erweitern. |
3. Durch die Anwendung des Tyndall-Effektes wird das Gebiet des Nachweises von Mangan mit dieser Reaktion auf das etwa 200fache er- weitert, so daß es ermöglicht wird, noch !/,900 mg Mangan im Liter aufzu- finden. Das Wasser muß man durch einen Zusatz von kolloidalem Fe(OH), optisch leer machen, bevor die Reaktion ausführbar ist. Ist Mangan als Peroxyd im Wasser vorhanden, so hat man dieses durch Zu- fügen von 2 cem n/10 HCl in Lösung zu bringen, dann die Flüssigkeit mit 2 ccm gleichwertiger NH,-Lösung zu neutralisieren, bevor mit koll. Fe(OH), versetzt wird. Die Anwendung der „Tyndall-Methode‘“ empfiehlt sich besonders da, wo Mangan nicht mehr durch das Gronersche oder andere Verfahren angezeigt wird, oder erst nach Eindampfen großer Mengen Flüssigkeit nachgewiesen werden könnte.
Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Be- leuchtung von Schulplätzen.
Von F.Geschke, ehem. Assistent und T.Wohlfeil, Assistent am Institut.
(Aus dem Hygienischen Institut der Albertus-Universität zu Königsberg. Direktor: Prof. Dr. Selter.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 25. Juni 1926.)
Die Einwirkungen des Lichtes auf den Gesundheitszustand des Men- schen sind schon seit langem Gegenstand der Spekulation und der Beob- achtung gewesen. Deutliche Angaben über angebliche Wirkungen des Lichtes auf die Augen der Schulkinder im Schulbetriebe findet man zum ersten Male bei J. P. Frank: „Das Licht ist ein Haupterfordernis für jede Schulstube;... Zu geringe und zu starke Beleuchtung wird die Ursache von heftigen Augenerkrankungen in der Schule, insbesondere vom Schielen“. Um dem abzuhelfen, fordert er einen Einfall des Lichtes auf die Arbeitsplätze von oben, hinten und links, weiterhin, zur Vermeidung der Blendung, die Wände nicht weiß zu streichen, weder in der Schulstube selber, noch draußen.
So lange es aber an exakten wissenschaftlichen Feststellungen über die Beziehungen zwischen Augenerkrankungen und Beleuchtungsquantität und -qualität des Arbeitsplatzes fehlte, konnten allgemeine Forderungen nach einer hygienischen Einrichtung der Beleuchtung der Schulzimmer nicht durchdringen. H. Cohn war es dann durch seine Untersuchungen vorbehalten, den Anstoß zu einer Fülle von Erhebungen über die Be- ziehungen zwischen der Beleuchtung der Schulklassen und den Augen- erkrankungen zu geben. Etwa zwei Jahrzehnte später war folgendes, an einem Material von 50000 Schülern von verschiedenen Autoren gewon- nenes Resultat als einigermaßen feststehend anzusehen: Während des Schullebens wandelt sich der Refraktionszustand des jugendlichen Auges bei der Mehrzahl der Schüler im Sinn einer Verlängerung der Augenachse, bei einer ganz verschwindend kleinen Anzahl im Sinn einer Verkürzung.
Die Tatsache einer Zunahme der Myopenziffer auf den höheren Klassen und das verschiedene Verhalten derselben mit der Art der Schule — in Volksschulen geringer als auf höheren Schulen — konnte von vielen Autoren bestätigt werden. Cohn selber forderte daraufhin die Einführung von
Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beleuchtung usw. 235
. Schulärzten zur fortlaufenden Kontrolle des Refraktionszustandes der Augen der Schüler und der Einrichtungen in der Schule.
Es wurden nun bald in einer schier unübersehbaren Fülle von Arbeiten von den verschiedensten Seiten hygienische Forderungen aufgestellt, die eine ausreichende Beleuchtung bei einer Vermeidung von Schädigungen garantieren sollten.
Diese Forderungen bezogen sich einmal auf ein bestimmtes Verhält- nis von Fensterfläche zur Bodenfläche, um eine einwandfreie Beleuchtung zu erzielen. Andere Autoren stellten Minimalforderungen bezüglich der Helligkeit des Arbeitsplatzes auf. Es wurden bestimmte Maße für den Ein- fallswinkel des Lichtes auf den betreffenden Arbeitsplatz oder eine be- stimmte Ausdehnung der lichtzuführenden Fensterflächen in vertikaler Richtung (Öffnungswinkel) oder eine solche nach allen Richtungen des Raumes (Raumwinkel) verlangt. Schließlich erforschte man auch die Bedeutung des Wandreflexes für die Beleuchtungsgüte eines Platzes.
Die Forderungen einer minimalen Anzahl Quadratzentimeter Glas- fläche für jeden Schüler, die Forderungen einer bestimmten Höhe des Fensters im Verhältnis zur Klassentiefe (etwa ein Drittel) oder eines be- stimmten Verhältnisses von Fensterfläche zu Bodenfläche (ein Viertel bis ein Sechstel), stellten sich als unbrauchbar heraus, wogegen die Javal- sche Forderung eines freien Himmelsstückes von 30 cm Höhe schon dem Kern der Beurteilung näher kam. Beim heutigem Stande der Fensterbau- technik erscheint es im übrigen durchaus möglich und wünschenswert, ein Verhältnis der Fenster- zur Bodenfläche von etwa 1:3 herzustellen.
Von größerem Interesse sind die Anforderungen der verschiedensten Autoren an die Mindeststärke der Beleuchtung. Das Cohnsche Minimum von 10 Meterkerzen in Rot wurde der mannigfaltigsten Kritik und Befür- wortung unterzogen.
Uhthoff fand das Maximum der Sehschärfe bei 33 MK., bei Werten bis zu 10 MK. eine erträgliche Abnahme, bei solchen unter 10 MK. eine sehr starke, während Cohn später selber feststellte, daß eine volle Sehschärfe bei manchen Augen noch bei 1,5 MK. in Rot vorhanden war. Die durchschnittliche normale Sehschärfe ergab sich bei 6,9 MK. Es bestanden außerordentlich große indivi- duelle Differenzen. Curé hielt das Cohnsche Minimum auf Grund seiner Beob- achtungen für ‚exager&‘‘, während Huth an der Mindestforderung von 10 MK. festhalten wollte, da sonst angeblich Klagen über schlechte Beleuchtung geführt wurden. Andere Autoren wie Renk und Menning pflichteten wieder der Cohnschen Forderung bei. Ein russischer Autor, Katz (1), hält dagegen diese für viel zu hoch, insbesondere bei künstlicher Beleuchtung, und betont seinerseits, 4—5 MK. in Rot wären ausreichend.
Eine geringere Forderung stellten auch Kermauer und Prausnitz (2) auf. Sie fanden auf den verschiedensten Plätzen in verschiedenen Auditorien eine Platzhelligkeit von meist weniger als 10 MK. rot, die aber zum Lesen als subjektiv durchaus genügend empfunden wurde. Sie hielten 10 MK. in Rot für eine sehr gute, 7—8 MK. für eine gute und ausreichende Beleuchtung.
Erisman (3) forderte in mehreren Publikationen und Vorträgen für feinere Arbeiten mindestens 50 MK. und hielt für Lesen und Schreiben etwa 20—30MK., für grobe Arbeiten 12—15 MK. in weißem Licht für ausreichend.
Die Anzahl der Arbeiten, in denen Minimalforderungen aufgestellt worden sind, ist schier unübersehbar. Es soll hier auf ein eingehendes Referat verzichtet werden. Erwähnen wollen wir nur, daß die eine Gruppe von Autoren, wie Römer, Hammerl, Seggel und Eversbusch, Wingen, Tiessen, Schilling,
. 236 Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beleuchtung usw.
Roth (4), Lux (5), Bohle (6), Broca (7), Bargeron (8) und andere mehr mit geringen Abweichungen an der Cohnschen Mindestforderung von 10 MK. in Rot esthielten. Einer Reihe von Autoren, wie Bayer, Schubert, Wolpert, E. Pfeiffer, Nußbaum, Pröbsting, Darch (9), Bartelsmann (10), Korff-Petersen (11), erschienen auf Grund der verschiedensten Überlegungen 10 MK. mehr oder weniger zu gering.
Außer den schon genannten Autoren Katz, Kermauer und Praus- nitz war E. Posselt (12) bei Emmetropen zu einer Mindestforderung von 6 MK. in Weiß gelangt, die er auf Grund seiner Versuche über den Einfluß verschiedener Beleuchtungsstärken auf die Sehleistungsfähigkeit für richtig erachtete. Die Leistungsfähigkeit beim Lesen nahm bei einer Verminderung der Beleuchtungsstärke von 30 auf 6MK. weiß nur um 7,5%, ab, bei einer Verminderung von 30 auf 3 aber bereits um 18,34 %. Für Myopen wollte er freilich die Cohnsche Mindestforderung von 10 MK. rot bestehen lassen. In letzter Zeit halten C. und W. Prausnitz (13) für gewöhnliche Verhältnisse 10 MK. in weißem Licht, bei Zeichensälen etwa 25 MK. für genügend.
Die Beleuchtungsstärke eines Platzes hängt in der Hauptsache von der Größe des lichtspendenden Himmelsstückes ab. Foerster forderte als erster bezüglich der vertikalen Ausdehnung des direkten Himmels- lichtes einen Öffnungswinkel an den Arbeitsplätzen von 50 und einen , Einfallswinkel von mindestens 25—27°. Die Aufstellung von Normen für
die vertikale Ausdehnung der lichtspendenden Himmelsfläche war insofern besonders beachtenswert, als derartige Normen schon leicht bei Bauplänen Berücksichtigung finden: könnten, wie Wingen bemerkt, wenn es auch gelingt, durch eine umständlichere Berechnung (F. v. Gruber) (14) die vertikale und horizontale Ausdehnung {d. h. den Raumwinkel) zu er- fassen. | |
Gottschlich (15) ging in seinen Folgerungen noch weiter, wenn er den Öffnungswinkel als den gemeinsamen Ausdruck aller die Beleuch- tung eines Raumes beeinflussenden Momente bezeichnete. Er forderte einen solchen von mindestens 4° bei einem Einfallswinkel von mindestens 27°, unter welchen Verhältnissen auch an trüben Tagen 25 MK. in weißem Licht garantiert sein sollten. Demgegenüber bemerkte M. v. Gruber (16), daß die Gottschlichsche Forderung nicht verallgemeinert werden könne, da sie in dem einen Falle zu hoch, in dem anderen zu niedrig wäre, je nach der Breitenausdehnung des Fensters. Mit steigendem Einfallswinkel genüge ev. auch cin kleinerer Öffnungswinkel als 4°. Bei Bauplänen wäre ein möglichst großer Einfallswinkel vorzusehen, weiterhin aber auch eine Berücksichtigung des Breitenwinkels. Reichenbach (17) erschien das letztere nicht unbedingt erforderlich, da man wohl auch mit der Bestim- mung des Öffnungs- und Elevationswinkels auskäme. Insofern stimmten seine Forderungen mit denen M. v. Grubers überein, als er ebenfalls mehr, als es Gottschlich tat, die Beachtung des Einfallswinkels empfahl. Er wollte seinerseits den Begriff des reduzierten Öffnungswinkels einführen, der sich aus dem Produkt des Öffnungswinkels und dem Sinus des Eleva- tionswinkels ergibt, und der dann bei Änderungen der Faktoren stets einen bestimmten Wert haben sollte. In neuerer Zeit kam Winslow (18) auf Grund photometrischer Messungen von Arbeitsplätzen, Berücksichtigung
Von F. Geschke und T. Wohlfeil. | 237
. von Fenstern und Bodenfläche u. a. m. zu dem Resultate, daß man bei der Begutachtung derartiger Plätze vor allen Dingen den Öffnungswinkel berücksichtigen müsse.
Die Gewährung eines Öffnungswinkels von 4° auch für die fenster- fernsten Plätze bedeutet wegen der dann erforderlichen Höhe der Klassen- zimmer eine nicht unerhebliche Verteuerung der Baukosten, zumal man nach den Untersuchungen von Schwarz (19) weiß, daß die damit auch gegebene erhebliche Größe des Luftraumes pro Kind für den Gesundheits- zustand und die Leistungsfähigkeit der Schüler nicht die Rolle spielt, die man ihr früher zuschrieb. H. Selter (20) erachtete daher bei entspre- chender schulärztlicher Überwachung einen Öffnungswinkel von 2° noch für genügend. Korff-Petersen (21) hält die Seltersche Forderung für zu gering und will die alte Gottschlichsche Forderung, 4° Öffnungswinkel, beibehalten.
Was die räumliche Ausdehnung des lichtspendenden Himmelsstückes betrifft, so stellte als erster H. Cohn, auf Grund der Tatsache, daß man eine Beleuchtungsstärke von 10 MK. im allgemeinen bei 50 Raumwinkel- graden gewährleisten könnte, 50° als Norm auf.
Dieser ne pflichteten Wachs, Studtmann und Weber restlos bei. -Jedoch Gillert konnte zeigen, daß auch noch bei einem Raumwinkel von 0—1? 26—27 MK., allerdings im Sommer, zu finden waren, weswegen der Raum- winkel nicht als Maß für die Helligkeitsgüte eines Platzes betrachtet werden könne. Die Anderung der Beleuchtung geschähe mit dem Stande der Sonne, der Reflexion und anderen Faktoren, an welchen Bemerkungen Kirchner eine strenge Kritik übte. Aber auch Erisman sprach auf Grund seiner Beobach- tungen die Ansicht aus, daß 50 Raumwinkelgrade als Minimum keine allgemeine Bedeutung beanspruchen dürften. Der Unterschied der Helligkeiten war überall bedeutend geringer als der Unterschied der Raumwinkel. Bei 5—10 Raumwinkel- graden waren noch mehr als 25 MK. in Weiß und bei gar keinem Raumwinkel waren nur vier Plätze vorhanden, die weniger als 20 MK. hatten. Dieser Ansicht traten Homburger und Gottschlich (15) bei, während im Gegenteil E.Wagner die Cohnsche Forderung noch für viele Verhältnisse als zu gering erachtete. Man wird nun der Ansicht Korff-Petersens und G. Wagners (22) ‚Die Cohnsche Forderung, daß ein einwandfreier Arbeitsplatz einen Raumwinkel von mindestens 50 Quadratgraden haben muß, wird bei günstigen Reflexionsverhältnissen nicht mehr aufrecht erhalten werden müssen‘ beipflichten können, wie auch unsere Ergebnisse erwiesen haben.
Der Einfluß der Wandreflexion ist von nicht zu unterschätzender Be- deutung für die Beleuchtungsgüte eines Arbeitsplatzes, wie schon Gillert, Huth, Erisman, Rotgießer annahmen und wie es Pleyer (23) be- rechnen und beweisen konnte. Die Beleuchtungsstärke eines Platzes läßt sich durch die Formel (Weber) (24) B = (R + D): H ausdrücken, wobei R = Raumwinkel, D = Wandreflex und H = Himmelshelligkeit dar- stellen. Die Reflexwirkung tritt um so stärker auf, je weiter der Platz vom Fenster entfernt ist. Bei guten Fensterplätzen beträgt nach Brill- mann (25) R/D gleich 5°, von R, bei mittleren Plätzen 10% von A, für Plätze ohne Raumwinkel wird es = œ.
Es geht aus der Fülle der Arbeiten hervor, daß eine befriedigende und allgemein anerkannte Antwort auf die Frage, welches Beleuchtungs- minimum ein Arbeitsplatz haben soll, noch keineswegs gegeben worden ist. Das hat auch daran gelegen, daß die Begutachtung einer Beleuchtung
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von den verschiedensten Standpunkten aus, stets einem bestimmten Zweck entsprechend, erfolgen kann. Wir können von mindestens vier Standpunkten aus Minimalanforderungen an das Beleuchtungsmaß stellen. Wir können erstens einmal eine Beleuchtung auf Grund unseres subjektiven Wohl- befindens bei derselben begutachten (z. B. Huth u. a. m.), wie man etwa die Verdorbenheit einer Luft mit der Nase prüfen kann. Es ist weiterhin die Sehschärfe als Gradmesser der Beleuchtungsstärke und Beleuchtungs- güte herangezogen worden (Cohn, Uhthoff u.a.m.). Drittens fragte man nach den Schädigungen, die durch zu geringe, falsche oder zu starke Beleuchtung zustande kommen können. Schließlich hat man in letzterer Zeit die Änderung der geistigen Leistungsfähigkeit auf Grund verschiedener Beleuchtungsintensitäten und Qualitäten als Kriterium herangezogen (W. F. Fröhlich (26), Ruffer (27), Korff-Petersen und Ogata (28)).
Die erste Art der Begutachtung ist höchstens gelegentlich als ein akzidentelles Hilfsmittel heranzuziehen. Die Sehschärfe ist ebenfalls recht ungeeignet, weil sie sich als individuell außerordentlich verschieden heraus- gestellt, und man bisher keinen allgemeingültigen Ausdruck für die Be- ziehungen zwischen Beleuchtungsintensität und Sehschärfe gefunden hat. Von größerer Wichtigkeit ist dagegen die Begutachtung auf Grund mög- licher und beobachteter Schädigungen des Auges. Die Erhebungen Cohns und die einer großen Zahl anderer Autoren mußten im ersten Enthusias- mus notgedrungen zu der Ansicht führen, daß die Zunahme der Myopen- ziffer direkt als eine Schulschädigung durch ungeeignete Beleuchtung aufzufassen wäre. Aber bald wurden auch Erhebungen bekannt, wie, um nur einige zu nennen, die von Hippel, Just (29), Van der Meer und Dinger (30), Struben (31), welche zeigten, daß statistisches Material von im Sinne Cohns gut und schlecht beleuchteten Schulen keinerlei Unterschied aufwies. Die Entstehung und Zunahme der Myopie wurde daher auf die häusliche Arbeit bei schlechter Beleuchtung geschoben (Struben). Man erkannte schließlich, daß ein erheblicher Prozentsatz der Kinder bereits von Hause aus Brechungsfehler mitbrachten (E. Schle- singer (32)), und daß sich anderseits die Zahl der Schüler mit voller Seh- schärfe und normaler Sehfähigkeit im Laufe der Schulzeit nicht oder kaum verringert. Es entstand der Begriff der Vorschulmyopie, der letzten Endes auch keine Erklärung, sondern nur eine Verschiebung des Problems mit sich brachte. Vergleiche früherer Erhebungen mit neueren ergaben unter Umständen (im Gegensatz zu Cohns ersten Behauptungen), ohne daß in den Zeiträumen dazwischen eine Änderung der Schulbeleuchtungsver- hältnisse eingetreten war, eine Verringerung der Myopenziffer (Wiede- mark (33)). So darf man sich nicht wundern, wenn es Autoren gab, die eine Schulmyopie für überhaupt nicht existierend hielten, z. B. K. Kunn.
Abgesehen von den sich teilweise widersprechenden statistischen Re- sultaten waren es aber auch die im Laufe der Jahre sich ändernden An- sichten über die Entstehungsweise der Myopie, welche allmählich zu einer anderen Beurteilung der Schulkurzsichtigkeit führen mußten. Ohne auf die große Zahl der Myopietheorien einzugehen, wollen wir hier nur folgendes erwähnen: Man hielt früher von augenärztlicher Seite aus die Entstehung einer Myopie auf Grund langdauernder Akkomodation oder übermäßiger
Von F. Geschke und T. Wohlteil. 239
- Konvergenz für möglich. Cohn selbst glaubte erstere als Hauptursache verantwortlich machen zu müssen.
Dem heutigen Stande der Ophthalmologie nach sind diese beiden Theo- rien als nicht zutreffend abzulehnen. Stilling stellte die interessante Theorie auf, daß die Myopie eine Rassenfrage wäre, da sie angeblich von der Höhe und Breite der Orbita, d. h. dem Orbitalindex abhänge. Bei Myopie wäre eine niederer Index zu beobachten. Es hat sich aber gezeigt, daß auch dieser Theorie keine Allgemeingültigkeit zukommt. Die Ent- stehung der Schulkurzsichtigkeit durch Naharbeit wurde von Stilling doch bis zu einem gewissen Grade zugegeben, wenn er die Arbeitsmyopie auch als eine leichte und erträgliche betrachtete.
Die Stillingsche Theorie verlegte nun bereits das Schwergewicht auf angeborene konstitutionelle Momente. Sie kam damit den Theorien nahe, welche die Myopie überhaupt als eine vererbbare Anomalie betrach- teten, Theorien, welche Cohn als die der Nativisten bezeichnet hatte. Die Tatsache, daß bei kurzsichtigen Kindern auch fast stets die Eltern kurz- sichtig waren, führte u. a. Steiger (39) zu der Ansicht, daß das myopische Auge wohl in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle einfach deshalb kurz- sichtig ist, weil es vermöge seiner vererbten Keimanlagen nicht anders werden konnte. In neuester Zeit konnten Autoren, z. B. Clausen (35), aus umfangreichen Stammbaumuntersuchungen nachweisen, daß es sich bei der Myopie um eine rezessive Erblichkeit handelt.
Wenn also auch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die statistisch beobachtete, fortschreitende Kurzsichtigkeit der Kinder in der Schule auf erblichen Anlagen beruht, so wird sich doch in einigen Fällen, abgesehen von einer Verstärkung, eine Entstehung der Myopie durch übermäßige anstrengende Naharbeit nicht leugnen lassen. Einiges Licht in diese Frage scheint die Ansicht Lewinsohns (36) über die Entstehung der Kurzsich- tigkeit zu bringen. Dieser Autor vertritt in seiner Arbeit die Schwerkraft- theorie der Myopiegenese. Das wesentlichste Moment wäre die Verlagerung des Auges nach vorn, welche durch Bücken und Vorwärtsbeugen des Kopfes zustande kommt. Dadurch entsteht eine Entspannung der Augen- muskeln, bei längerem Bücken und öfterer Wiederholung desselben eine V 'erlängerung der Augenachse und damit Kurzsichtigkeit. An einiger Überzeugungskraft gewonnen hatte diese Theorie, als es dem Autor (37) gelang, bei Affen, die er längere Zeit mit dem Kopf schräg nach unten in einem Kasten eingesperrt hatte, eine deutliche Kurzsichtigkeit zu erzeugen.
Es scheint daher tatsächlich bewiesen zu sein, wie es auch Dinger (38) bei aller Anerkennung der Erblichkeitstheorien schon früher aussprach, daß alles, was die Augenmuskeln schwächt, also auch das Vorwärtsbeugen bei angestrengter Naharbeit das Hervorsinken des Bulbus und damit das Entstehen der Myopie fördert.
Auf Grund aller dieser Tatsachen, wird man wohl von einer über- triebenen Myopiefurcht abkommen können. Man wird weiterhin folgern müssen, daß eine direkte Beziehung zwischen der Beleuchtung und der Entstehung der Kurzsichtigkeit überhaupt nicht existiert. Nur eine indirekte ist zuzugeben, insofern als bei wirklich sehr schwacher Beleuch- tung ein Annähern und damit meistens ein Vorwärtsbeugen des Kopfes
240 Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beleuchtung usw.
an das Objekt stattfinden muß, da die Sehschärfe herabgesetzt wird. Mit einem häufigen Vorwärtsbeugen ist dann die Entstehung einer Kurzsich- tigkeit leichten Grades jedenfalls denkbar. Die volle Sehschärfe ist aber nach den Untersuchungen Cohns in der Mehrzahl der Fälle noch bei einer Beleuchtungsstärke von 6,9 MK. in Rot vorhanden. Es wird daher auf Grund dieser theoretischen Überlegungen für die fenster- fernsten Plätze ein Minimum von etwa 7—8MK.ın Rot als ein ausgezeichnet gutes zu betrachten sein.
Kinder, die schon von Hause aus myopisch sind, wird man, da sie ja, je nach dem Grad der Myopie eine größere Helligkeit, etwa 10 MK. rot (Possek, a.a. O.) zur Erlangung des vollen Visus beanspruchen, näher an das Fenster setzen müssen, wie es schon oft von Autoren, Katz, Selter, Quirsfeld, gefordert worden ist. |
Wenn aber die Tatsache einer Entstehung der Myopie durch lang- andauerndes Vorwärtsbeugen des Rumpfes und damit des Kopfes als feststehend zu betrachten ist, dann wird man auch der Schulbank und der Haltung der Schüler während des Schulbetriebes und bei der häuslichen Arbeit eine besondere Beachtung schenken müssen. Theoretisch besteht die Möglichkeit, daß Schulkinder, die beim Schreiben andauernd krumm sitzen, nicht nur Verkrümmungen der Wirbelsäule davontragen, sondern auch selbst bei hellster Beleuchtung kurzsichtig werden können. Die Beschaffenheit der Schulbank wäre insofern von Bedeutung, als alles, was durch sie zu einem Abweichen von der vertikalen oder schwach nach vorn geneigten Sitzhaltung verleitet, auch indirekt zur Myopieentstehung führen kann, wie z. B. eine zu große oder zu kleine Differenz, eine zu ge- ringe Neigung des Pulttisches u. a. m.
Was nun die Wirkung verschiedener Beleuchtungsintensitäten, die der Dauer und Qualität der Beleuchtung auf das psychische Verhalten der Menschen betrifft, so wird man je nach den Umständen auch diese zur Auf- stellung von Anforderungen an die Beleuchtung mit Vorteil benutzen. Fröhlich stellte fest, daß die optische Empfindungzeit bei größerer Inten- sität der Beleuchtung kürzer wird. Ruffer und andere Autoren beobach- teten einen leistungssteigernden Einfluß bei Verstärkung der Beleuchtung auf die gesamte technische und geistige Leistungsfähigkeit in gewerblichen Betrieben. Korff-Petersen und Ogata zeigten schließlich, daß auch die Qualität des Lichtes den Umfang des mit schnellem Blick Erfaßten (39), d. h. den der Aufmerksamkeit oder, wie sie es nannten, der Lesegeschwin- digkeit, und die Schschärfe, was freilich schon bis zu einem gewissen Grade früher bekannt war, beeinflußten. Die Sehschärfe war bei allen Lichtstärken am größten im Gelbgrün. Die sog. Lesegeschwindigkeit stellte sich bei allen anderen Farben besser als bei der roten heraus. Die letzten Ergebnisse werden in schulhygienischer Hinsicht erneut auf die Bedeutung der Wandfarbe und der Farbe des Lichtes bei künstlicher Be- leuchtung hinweisen. Der leistungssteigernde Einfluß verschiedener Licht- intensitäten spielt schulhygienisch keine Rolle, da es dem Hygieniker nicht, wie etwa dem Fabrikunternehmer auf eine möglichst hohe Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit der Kinder ankommt. Auch die Fröhlichschen Untersuchungen haben mehr für die Pädagogik als für die Hygiene Bedeutung.
Von F. Geschke und T. Wohlfeil. 241
Es scheint uns daher, als ob man bei der Begutachtung der Stärke und Qualität einer Beleuchtung mit der Berücksichtigung der durch sie mög- lichen Schädigungen auskommt.
Derartige Überlegungen mußten zu einer anderen Beurteilung der Anforderungen an die Größe des freien Himmelsstückes, d.h. des Raum- winkels und der Anforderungen an den Öffnungswinkel führen. Selter hatte, wie schon erwähnt, allerdings ohne speziellen experimentellen Be- weis, einen Öffnungswinkel von 2° für ausreichend gehalten.
Wir waren auf Grund der modernen Theorien über die Entstehungs- weise der Myopie und der Ansichten über die benötigte Leuchtstärke zur Erlangung eines vollen Visus zu der Ansicht gekommen, daß eine Minimal- forderung von etwa 7—8MK. in Rot, die den neuesten Prausnitzschen Forderungen noch weit überlegen war, genügend wäre. Es galt daher, zu untersuchen, ob bei einem Öffnungswinkel von 2° und einem Einfallswinkel von 27° (welch letzterer stets als Konstante genommen wurde) noch eine Beleuchtungsstärke von 7—8 MK. in Rot vorhanden wäre. Diese Experi- mente wurden, um den praktischen Verhältnissen möglichst nahe zu kom- men, erst einmal in Schulen ausgeführt, später auch zur Elimination des Wandreflexes und zur Untersuchung der Bedeutung des Raumwinkels in einem dazu hergerichteten Raum des Hygienischen Instituts. Die Arbeit haben wir uns so’ geteilt, daß Dr. Geschke in den Monaten Januar bis Juni 1923 die Untersuchungen in den Schulen in.Gang brachte, während Dr. Wohlfeil im Winter 1925/26 die Experimente im Institut anstellte.
Als Schulen wählte Geschke die Goltz- und die Kantschule in Königsberg. Beide Schulen gehörten zu den wenigen in dieser Stadt, deren oberer Fenster- sturz in gerader Linie verläuft. In beiden Schulen wurden je zwei Plätze ausge- wählt, deren einer, mit dem Gottschlichschen Apparat gemessen, einen Öffnungs- winkel von 2°, deren anderer einen Öffnungswinkel von 4° besaß. In der Kant- schule hatte der Kontrollplatz einen Einfallswinkel von 38°, d. h. er war günstiger daran, als es die Gottschlichschen Minimalforderungen verlangten. Der Platz in der Kantschule mit dem Öffnungswinkel von 2° entsprach hingegen annähernd der Forderung, indem sein Einfallswinkel 27 1,° betrug. In der Goltzschule waren in dieser Hinsicht beide Plätze gleichgestellt, da beide einen Einfallswinkel von 27 42° hatten. |
In der Kantschule lagen beide Plätze in einer Klasse, die im ersten Stock- werk nach Süden gelegen war. Die Klasse war dreifenstrig, ihre Wände bis zur Höhe von 1,5 m mit braungelber Farbe, darüber weiß gestrichen. Länge zu Breite zu Höhe betrug 6,70:5,89:3,76. Der Platz mit dem Öffnungswinkel von 2° war 3,15 m vom Fenster entfernt und 62 cm über dem Fußboden gelegen. Der Kontrollplatz war 2,10 m vom Fenster entfernt und 65 cm über dem Fußboden. In der Goltzschule war es unmöglich, eine Klasse zu finden, in der sich beide Plätze in demselben Raum befanden.- Die Plätze lagen im ersten Stock nach Süden in verschiedenen Zimmern, deren eines mit dem zu untersuchenden Platze von einem Öffnungswinkel von 2° dreifenstrig und grauweiß gestrichen war (Maße: Länge zu Breite zu Höhe = 9:6,64:4,10; 4,90 m vom Fenster entfernt, 71 cm über dem Fußboden). Der Kontrollplatz befand sich in einer zweifenstrigen Klasse, deren Wände braungelb gestrichen waren (Länge zu Breite zu Höhe — 6,64:6:4,10 m). Der Platz war 5,07 m von der Fensterwand entfernt und lag 71 cm über dem Fußboden. Da es sich natürlich als unmöglich herausstellte, über eine längere Zeit persönlich an jedem Tage zur bestimmten Zeit (mittags zwischen 12 und 1 Uhr) in jenen Schulen photometrische Platzmessungen vor- zunehmen, so wurden in beiden Schulen je ein interessierter Lehrer damit betraut (Herr Philipp und Herr Reuh). Den Nachteil, bei photometrischen Messungen nur Momentanwerte zu erhalten, hoffen wir dadurch auszuschalten, daß die
- 942 Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beleuchtung usw.
Untersuchungen in jeder Schule über etwa 2—3 Monate ausgedehnt wurden (Kantschule Januar bis März 1923, Goltzschule März bis Juni 1923).
Als Photometer wurde für die Schuluntersuchungen der Wingensche Apparat gewählt, da er den Anforderungen an Einfachheit, wenn auch leider auch nicht an Genauigkeit, am besten entsprach. Von Nachteil war es besonders, daß Werte unter 10 MK. nur schätzungsweise abgelesen werden konnten. Bei der zweiten Versuchsgruppe ist der Webersche Photometer benutzt worden, der ja bekannt- lich wesentlich genauere Resultate gibt. Letzterer wurde vor Beginn der Ver- “suche im hiesigen physikalischen Institut mit liebenswürdiger Hilfe von Herrn Prof. Dr. Kaufmann in allen seinen Konstanten neu geeicht.
Was nun die photometrischen Messungen in den beiden Schulen be- trifft, so wäre vor der Deutung der folgenden Tabellen zu sagen, daß wır möglichst gleiche Verhältnisse betreffs der Himmelsbedeckung zum Ver- gleich herzustellen suchten und deswegen nur die gleichmäßig trüben Tage berücksichtigt haben.
Die folgende Tabelle I gibt die Ergebnisse der Messungen an 20 aus- gesprochen trüben Tagen in der Kantschule.
Tabelle I. Kantschule.
Meterkerzen in rot auf dem Platz mit dem Öffnungs- winkel von Datum Zeit 40 20 Witterung
Einfalls- Einfalls- winkel 38° winkel 27!/,
23. 1. 23 12 Uhr 52 13 Gleich- 25. 1. 23 M 32 10 mäßig 29. 1. 23 i£ 56 14 trübe an 30. 1. 23 ji 130 26 allen Tagen 31. 1. 23 A 56 15 „
1. 2. 23 5 62 18 e
3. 2. 23 H 54 14 pi
6. 2. 23 i 44 fast 16 .
7. 2. 23 J 64 13 S
8. 2. 23 i 54 14 y
9. 2. 23 : 82 20 i
12. 2. 23 & 58 14 4
14. 2. 23 : 56 15 ce
15. 2. 23 $ 52 14 $
19. 2. 23 5 135 28 4
20. 2. 23 4 145 30 y
22, 2, 23 Mr 90 32 Bi 23.2. 23 a 72 22 n
24. 2, 23 5 96 21 .
2. 3. 23 6. 36 fast 10
Es zeigte sich nun, daß auf dem Platz mit einem Öffnungswinkel von 2° an keinem Tage (vielleicht mit Ausnahme des 2. März 1923) weniger als 10 MK. in Rot zu beobachten gewesen waren. Der Kontrollplatz wies eine ganz beträchtlich höhere MK.-Zahl auf, was außer auf den größeren Öffnungswinkel sicherlich auf den größeren Einfallswinkel und Raum- winkel zurückzuführen sein wird. Infolgedessen bestand zwischen den Be-
Von F. Geschke und T. Wohlfeil. 243
leuchtungsstärken der beiden Plätze ein Unterschied um ein Drittel bis ein Fünftel. Die Untersuchungen in der Gotzschule ergaben folgendes Resultat (Tabelle II). Tabelle II.
Goltzschule.
Meterkerzen in rot auf dem Platz mit dem Öffnungs- winkel von 40 | 20 Einfalls- | Einfalls- winkel 27!/2° | winkel 27'/,®
Datum Witterung
17 | l1 Gleich-
3. ek 14 | 11 mäßig e 21 | 17 trübe an . 3. 23 | 18 allen Tagen 8. 20 21 ja 3. 27 23 H . $. 20 23 y. : 3. 31 36 A >; 12 22 PR 4. 14 19 R: . 4. 24 24 u. .4. 26 30 ; . 4. 18 14 „ .4. 14 13 m . 4. 24 əl i . 4. 150 130 x .4. 160 115 > i 80 | 90 ; .4. 13 | 15 Ei 60 18 A 90 42 5 .d. 10 13 ji a, 65 85 T D.A 95 110 ji De 44 56 is 0 85 95 s i A 10 14 $ 0 26 28 ; . 5. 23 30
l
Der Platz in der einen Klasse mit dem Öffnungswinkel von 2° und dem Einfallswinkel von 27° wies nie eine geringere MK.-Zahl als 11 auf. Der Platz in der Nebenklasse mit gleichem Einfallswinkel, aber dem Öff- nungswinkel von 4° hatte keine sehr viel intensivere Beleuchtung. Direkte Vergleiche zwischen den beiden Klassen sind nicht möglich, da die erst- genannte eine dreifenstrige, die Kontrollklasse eine zweifenstrige war, mithin also ein größerer Gesamtraumwinkel bei der ersten Klasse als bei der Kontrollklasse bestand. Außerdem hatte die Kontrollklasse un- günstigere Wandreflexverhältnisse (braun gestrichene Wände) als die Klasse mit dem Öffnungswinkel von 2° (grauweißer Anstrich). Als Fehler- quelle bei diesen Messungen ist zu buchen. daß die Messungen sukzessiv
Archiv f. Hygiene. Bd. 97. 17
.244 Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beleuchtung usw.
ausgeführt werden mußten, was bei Schwankungen der Himmelshellig- keit ev. viel ausmachen konnte. Immerhin wird diese Fehlerquelle nicht das Gesamtbild der Resultate beeinflußt haben, da wir ja nur die gleich- mäßig trüben Tage berücksichtigten.
Vergleicht man die MK.-Werte der Schulen miteinander, so ergibt sich ohne weiteres daraus der Einfluß der Jahreszeit. In der Kantschule, in welcher die Messungen während des Ausganges des Winters ausgeführt wurden, sind die MK.-Zahlen, abgesehen von sonstigen, auf die Beleuch- tungsstärke wirkenden Faktoren, niedriger als in der Goltzschule (Messungen im Frühjahr und Sommer).
Es ging jedenfalls aus dieser Versuchsgruppe hervor, daß auch an trüben Tagen noch auf Plätzen mit dem Öffnungswinkel von 2° eine Be- leuchtungsstärke von 10 MK. in Rot unter jenen Umständen zu beobachten gewesen war.
Um nun aber den Einfluß verschiedener Öffnungs- und Raumwinkel und den des Wandreflexes zu prüfen, wurden im Winter 1925/26 folgende Versuche durchgeführt:
In einem Laboratoriumsraum des Instituts, der zum Teil als Photographie- raum benutzt worden war und im 2. Stock lag, verhängte der Versuchsleiter von den drei nach NW orientierten Fenstern die beiden Seitenfenster vollständig, während das Mittelfenster nur in der oberen Hälfte zugedeckt war. Den Fenstern befanden sich in 200 m Entfernung keine Wände und Häuser gegenüber. Der untere Teil des Mittelfensters konnte durch einen beweglichen, schwarzen Schirm beliebig groß gemacht werden. Es wurde auf einem in der Mitte des Raumes be- findlichen Tisch mit dem Gottschlichschen Apparat ein Platz gesucht, welcher gerade der Mitte des Fensters gegenüber in 34, m Entfernung einen Einfalls- winkel von 27° aufwies. Durch Verstellen des unteren Schirmes ließen sich nun für diesen Platz bei konstantem Einfallswinkel von 27° beliebig große Öffnungs- winkel herstellen. Bei der Beleuchtung des Platzes wirkte in der Hauptsache die Größe der Fensteröffnung, d. h. der Öffnungs- und Raumwinkel. Der Wand- reflex spielte eine unmeßbar kleine, zu vernachlässigende Rolle, wie wir noch sehen werden, da die übrigen Teile des Raumes mehr oder weniger in Dunkel gehüllt waren. Das zur Untersuchung dienende Fenster bestand aus einer ein- zigen Scheibe von gewöhnlichem Fensterglas, dem nach Selter (40) u. a. eine beträchtliche Absorptionskraft zukommt. War das Fenster befroren, so wurden die Eisblumen vor den Experimenten entfernt, weil nach Wolpert gefrorene Scheiben bis zu 20—30% des Lichtes verschlucken können.
Mittags um 12 Uhr führte der Versuchsleiter auf dem genannten Platz Messungen mit dem Weberschen Photometer aus. Untersucht wurde die Be- leuchtungsstärke eines horizontal liegenden, weißen Kartons bei einem Einfalls- winkel von 27° (konstant) und den Offnungswinkeln von 2°, 3° und 4°. Es ent- sprachen diesen im Mittel die Raumwinkel von 25,89, 37,23, 49,94 reduzierten Quadratgraden, mit dem Weberschen Raumwinkelmesser geprüft. Die Mes- sungen kamen in den Monaten Dezember, Januar und Februar zur Durchführung. Da an manchen Tagen die Himmelshelligkeit stark wechselte, wurden die Mes- sungen bei den verschiedenen Öffnungswinkeln mehrfach wiederholt und das Mittel genommen. Mit den MK.-Zahlen wurde jedesmal die Beschaffenheit der Witterung protokolliert.
Tabelle III gibt die Ergebnisse dieser Messungen.
Als erstes fällt die Tatsache auf, daß bei den 43 Messungen, selbst bei einem Offnungswinkel von 4° und einem Raumwinkel von 49,90 15mal weniger als 10 MK. in Rot festzustellen waren, also in 34,8°% der Fälle. An besonders trüben Tagen (7. Januar 1926) ließen sich unter Verhält- nissen, die den bisher üblichen Minimalforderungen an Einfalls-, Öffnungs-
Von F. Geschke und T. Wohlfeil. 245
ad
Tabelle III.
Beleuchtungsstärke eines weissen Kartons, gemessen mit dem Weberschen Photometer.
Meterkerzen in rot bei einem
Öffnungswinkel von
20 |
30
>
1 | 6,35| 9,43] 13,12 12 | 6,23' 8,2 | 10,86 12 | 507| 54 | 69 12 | 245| 3,12| 4,51 12 | 14,2 | 20,4 | 24,2 1 | 9,15! 1215| 14,6 12 | 8,3 | 14,4 | 15,3 121/,| 16,8 | 36,1 | 61 124] 9,35 | 11,5 | 20,4 | 121/,| 13,7 20,4 23,8 12 | 2,93| 3,26! 5,48 | |
12/1 6,4 | s | 104 12 |20 | 23,6 | 30,06 1 | 37 | 56 | 79 12 3,02. 445. 7,08 121, 9,14. 2,61 3,2 12 | 1,95 2,51| 3,05 1 | 5,25: 72 |103 12] 1,95 22 | 3,26 12 | 695 91 |137 121] 7,5 ,198 | 14,1 2 | 7
Klar, ohne Wolken, Boden mit Schnee bedeckt, etwas windig.
Himmel gleichmäßig grau, mit Wolken bedeckt, verschneit, ganz leichten Schneefall; schwach windig.
Gleichmäßig grau bewölkt, verschneit, leichter Schneefall, windstill.
Gleichmäßig grau, Schnee zum Teil weg- getaut, windstill.
Himmel mit langsam ziehenden, weißen Wolken bedeckt, vereinzelt blaue Stel- len, stark verschneit.
Himmel mit Wolken bedeckt, stark ver- schneit, windstill.
Himmel blaugrau, ohne Wolken, stark verschneit, windstill.
Hellblauer Himmel mit langsam ziehen- den weißen und grauen Wolken, win- dig, stark verschneit.
Hellblauer Himmel mit relativ schnell ziehenden weißen Wolken bedeckt, stark verschneit. Starke Schwankungen in der Helligkeit.
Himmel mit grell weißen Wolken be- deckt, stark verschneit. Etwas Wind.
Himmel, trübe, mit grauen Wolken be-
deckt, Schnee zum Teil weggetaut, etwas neblig. Trübe, mit grauen Wolken bedeckt,
Schnee zum Teil weggetaut. Hellblauer Himmel mit weißen und grauen Wolken, die schnell ziehen, windig, Schnee zum Teil weggetaut. Trübe, neblig. Schnee zum Teil wegge- schmolzen. Himmel gleichmäßig grau bewölkt, windstill.
Trübe, Schnee weggetaut, Himmel gleich- mäßig grau bewölkt.
Trübe, neblig, grauer Himmel.
Sehr trübe. Himmel grau, regnerisch. Trübe, regnerisch. Kein Schnee, wind- still.
Trübe. Himmel mit schwarzen Wolken bedeckt. Klarer Himmel, Sonnenschein. Kein Schnee.
Himmel zum Teil klar, teils mit weißen Wölkchen bedeckt. Kein Schnee.
10,28 11,38] Himmel mit grauweißen Wolken be-
| deckt. Kein Schnee.
Fia
246 Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beleuchtung usw.
Tabelle III. (Fortsetzung).
bei einem Öffnungswinkel von
Je 30 i 49
Witterung
è 1
2,76| 3,59, 5,4 | Himmel mit grauweißen Wolken be- deckt. Kein Schnee. Windig.
2,55| 3,43| 5,11f Himmel mit grauweißen Wolken be- deckt. Windig, kein Schnee.
bedeckt. Erde und Dächer mit Schnee bedeckt. Windstill.
22,7 | Himmel mit leuchtend weißen Wolken bedeckt. Erde und Dächer mit Schnee bedeckt. Windstill.
28,5 | Himmel mit leuchtend weißen Wolken bedeckt. Erde und Dächer mit Schnee bedeckt. Windstill, noch stärker ver- schneit.
26,6 | Himmel mit leuchtend weißen Wolken
. bedeckt, stark verschneit, leicht windig.
10,8 | Trübe und neblig. Himmel mit grauen
und weißen Wolken bedeckt. Schnee
13,7 | 15,5
121] 15,8 | 23,7
17 19,5 24,4 | Himmel mit leuchtend weißen Wolken | |
13,7 | 20,5 Ä
5,04 | 6,85
| geschmolzen, leicht windig.
26. 1. 26. 12 2,2 2,53| 3,48| Trübe und regnerisch. Himmel mit | grauen Wolken bedeckt. Schnee voll- | ständig geschmolzen. Windig.
27.1. 26 1 5,08| 5,98! 8 Trübe, mit weißen und grauen Wolken, | | kein Schnee. Windstill. 28. 1. 26. 13⁄4 5,1 , 6,05| 7,6 | Trübe, mit weißen und grauen Wolken. Kein Schnee. Windstill. 28. 1. 26. 121/4 8,6 | 12,7 | 18,7 | Leicht bewölkt. Etwas Schnee. 2. 2. 26. 121/3 6,21| 88 | 12,5 | Leicht bewölkt. Etwas Schnee. 3. 2. 26. 121 14,3 | 19 28,9 | Klar, Sonnenschein mit blendenden Wolken, etwas windig, kein Schnee. 4.2.26. | 12⁄4} 5,21) 6,3 | 7,5 | Trübe und neblig. Himmel grau, wind- still, kein Schnee. 8. 2. 26 12 9,1 | 13,8 | 20,55 | Bedeckt, graue und weiße Wolken, kein Schnee, windig. 9. 2. 26. 12!/| 20,2 | 23,5 Ä 32 Stark verschneit, Himmel mit hellgrauen | | Wolken bedeckt. 12.2.26. | 12 9,35 : 13,88 20,5 | Trübe, Himmel mit hellgrauen Wolken | | bedeckt. Windig, zum Teil liegt Schnee. 13. 2. 26. l 9,0 | 11,6 | 20,1 Trübe, hellgraue Wolken, windstill. | Kein Schnee. 19. 2. 26 l 5,39 6,051 9,1 | Dunkle und hellgraue Wolken. Kein Schnee. 22. 2., 26. 12 7,05 10,43, 20,25 | Bedeckt, kein Schnee. Dunkelgraue Wolken.
23. 2. 26. 12 11,88 18,3 | 20,8 I Klarer Himmel mit blendenden Wolken, | etwas windig.
und Raumwinkel entsprachen, nur 3,05 MK. nachweisen. Bei einem Öff- nungswinkel von 3° und einem reduzierten Raumwinkel von 37,230? war in 14,2°,, der Fälle der Platz schlechter als mit 10 MK. beleuchtet, bei einem Offnungswinkel von 2° und Raumwinkel von 25,890 in 60,5°, der Fälle.
Von F. Geschke und T. Wohlfeil. 247
. Aus alledem erhellt die außerordentliche Bedeutung des reflektierten Lichtes für die Helligkeit eines Platzes. Es kann selbst bei dem kleinen Öffnungswinkel von 2° dem Platz eine Be- leuchtung von 10 MK. garantieren, wie die Versuche in den Schulen (ins- besondere Kantschule) gezeigt haben. Anderseits wird sein Fehlen etwa in einem Drittel der Fälle nicht verhindern können, daß Plätze mit einem Raumwinkel von 50 reduzierten Quadratgraden und einem Öffnungs- winkel von 4° bei einem Einfallswinkel von 27° weniger als 10 MK. in Rot aufweisen.
` Es ist also die Größe der lichtzuführenden Fensteröffnung mit den eben genannten Forderungen keineswegs allein geeignet, abgesehen noch von den exzessiv-trüben Tagen, eine Beleuchtungsstärke von 10 MK. rot zu garantieren. Dies wird gleichzeitig nur bei einem Minimum von Wand- reflexwirkung der Fall sein. Anderseits wird bei günstigen Wandreflex- verhältnissen bei genügend großem Raumwinkel auch ein Öffnungswinkel von 2° genügen, um selbst an den trübsten Tagen nahezu 10 MK. in Rot zu gewährleisten.
Zwei mögliche Fehlerquellen wären bei diesen Messungen noch zu berücksichtigen. Einmal könnte der Winter 1923 (Januar, Februar, Kantschule) weniger stark bewölkte, trübe Tage gehabt haben, als der Winter 1925/26; d.h. es hätten Messungen im letzten Winter, in der Kant- schule vorgenommen, vielleicht geringere Werte ergeben, als die des Winters 1923. Es bestanden außerdem zwischen den beiden Photometern kleine Unterschiede insofern, als der Wingensche, verglichen mit dem geeichten Weberschen, etwa 0,5—1 MK. zu wenig angab. Zweitens waren die Fenster der Schulen nach Süden orientiert, die des Laboratoriumsraumes nach Nord- westen. Wenn man aber bedenkt, daß die Sonne in unseren Klimaten mittags um 12 Uhr lange nicht mehr im Zenit steht, so wird der Einfall des Lichtes in beide Räume in nicht allzu verschiedenen Winkeln erfolgt sein. Man wird diesen Möglichkeiten cine überwiegend große Rolle zuzuschieben nicht berechtigt sein.
Die Tabelle IV zeigt, daß an den heiteren Tagen auch bei einem Öff- nungswinkel von 2° im Mittel mehr als 10 MK. zu beobachten gewesen sind, während an den trüben Tagen im Mittel auch bei einem Öffnungs- winkel von 4° nur 9,3 MK. vorhanden waren.
Tabelle IV.
M.K K. Rot JM M. K. Rot Gesamt-
Heitere |! Trübe | mittel Tage Tage , M.K.Rot
Einfallwinkel stets 27°
Öffnungswinkel 2°
Red. Raumwinkel 25, 89° 11,22 4,9 8,06
, Öffnungswinkel 3° z | s Red. Raumwinkel 37 230 15,53 6,36 , 10.95 Öffnungswinkel 4° 21.49 931 154
Red. Raumwinkel 49,94 D
248 Über die Bedeutung des Öffnungswinkels für die Beleuchtung usw.
‘Das Gesamtmittel hat bei einem Öffnungswinkel von 2° noch 8,06MK. ergeben, wobei also in der Hälfte der Fälle die MK.-Zahl unter 8,06 lag. Bei einem Öffnungswinkel von 3° waren im Mittel 10,95 MK. zu finden. Nimmt man nun eine MK.-Zahl von 7—8 MK. in Rot nach dem früher Gesagten als Minimalforderung, so waren nur in 34,8%, der beobachteten Fälle bei einem Öffnungswinkel von 30 weniger als 8 MK. vorhanden ge- wesen. Wir hatten aber früher gesehen, daß bei den bisher üblichen For- derungen (Einfallswinkel 27°, Öffnungswinkel 4%, Raumwinkel 50 red. Quadratgrade) ebenfalls in einem Drittel der Fälle beim Fehlen des Wand- reflexes die MK.-Zahl unter 10 lag.
Wir könnten daher bei Beachtung einer Minimalforderung von etwa 8 MK. rot einen Platz vom Öffnungswinkel 3%, dem Einfallswinkel 27° und dem Raumwinkel 37° selbst beim Fehlen jeder Wandreflexwirkung noch für genügend erachten, wenn wir etwa einen Platz vom Raumwinkel 50°, Einfallswinkel 27° und Öffnungswinkel 4° ohne Wandreflex als ge- nügend betrachten wollten. Das würde natürlich dem Sinn einer Minimal- forderung widersprechen, da diese bezweckt, dem betreffenden Platz zu jeder Benutzungszeit das Beleuchtungsminimum zu gewähren.
Ein wirkungsvoller Wandreflex wird aber nicht nur dem Platz mit dem Öffnungswinkel 3° eine erforderliche Beleuchtungsstärke von 8MK. zu jeder Benutzungszeit garantieren; er wird auch bei einem Öff- nungswinkel von 2° eine Beleuchtungsstärke von mindestens 8MK., ja sogar 10 MK., wie die Versuche in der Kantschule annehmen lassen, auch an den exzessiv trüben Tagen gewährleisten.
Daß nun bei den Ergebnissen der Laboratoriumsversuche eine Reflex- wirkung nicht in Frage kommt, beweist die Tabelle V.
Tabelle V.
Verhältnis der Raum- und Öffnungswinkel und der Beleuchtungs- stärken zueinander.
ee —— | = a z Denun s Raumwinkel | Mittlere Beleuchtungsstärke
Beim Vergleich der Raumwinkel mit den Beleuchtungsstärken zeigt sich eine weitgehende Übereinstimmung der Proportionen, wobei die kleinen Verschiedenheiten ohne weiteres als innerhalb der Fehlergrenze zu bewerten sind. Wäre eine Reflexwirkung vorhanden gewesen, so hätte man nach den Untersuchungen von Huth, Erismanu. a. m. mit kleinerem Raumwinkel einen geringeren Abfall der Beleuchtungsstärken erwarten müssen.
Es zeigt sich aber auch, daß ohne die Mitwirkung des Wandreflexes die Beleuchtungsstärke mehr von der Größe der Raumwinkel abhängt, als von jener der Öffnungswinkel, und daß die Raumwinkel bei Vergröße- rung der Öffnungswinkel in einem kleineren Verhältnis anwachsen als die Öffnungswinkel, wenn die Vergrößerung des sichtbaren Himmelsstücks nur in vertikaler Riehtung erfolgt. Aus alledem ergibt sich, daß man beı
Von T. Geschke und T. Wohlteil. 249
. der Begutachtung eines Platzes außer dem Einfallswinkel mit größerem Vorteil den Raumwinkel berücksichtigt als nur den Öffnungswinkel, wobei man sich freilich darüber klar sein muß, daß man ohne Berücksichti- gung des Wandreflexes einen außerordentlich wirksamen Faktor einfach negieren würde.
Von diesen Gesichtspunkten aus kann die Seltersche Forderung eines Öffnungswinkels von 2° für die fensterfernsten Plätze kaum noch als zu gering erscheinen. Man hat zu ihr nur folgendes hinzuzufügen: Es müssen genügend große Breitenwinkel der Fenster bestehen, d. h. der Raumwinkel darf nicht zu klein werden. Vor allen Dingen ist aber für eine gute Reflex- wirkung durch entsprechenden Anstrich der Wände und Sauberhaltung derselben im Laufe der Klassenbenutzung Sorge zu tragen.
Man wird dann, wie die Versuche in den Schulen annehmen lassen, sogar 10 MK. auch an trüben Tagen erwarten können. Die auf Grund unserer früheren Überlegungen gefundene MK.-Zahl von 7—8 MK. in Rot wird jedoch unter allen Umständen garantiert sein. Eine Augenschädigung der normalsichtigen Kinder ist nach dem oben Gesagten unter diesen Um- ständen ausgeschlossen. Vom Schularzt kurzsichtig befundene Kinder wird man auf die fensternächsten Plätze setzen müssen. Vor allen Dingen hat aber der Lehrer auf ein möglichstes Geradesitzen der Kinder, insbe- sondere Geradehalten des Kopfes bei der Lese- und Schreibtätigkeit zu achten, wobei Nachlässigkeit der Kinder in dieser Beziehung genau so zu rügen und zu strafen wäre, wie Vergehungen gegen die Schuldisziplin. Erleichtert und befördert wird diese Geradehaltung durch fleißige Übung der Rückenmuskulatur in Turnen, Spiel und Sport.
Wenn wir also in Übereinstimmung mit der von Selter aufgestellten Forderung unter all den erwähnten Umständen einen Öffnungswinkel von 2° bei einem Einfallswinkel von 27° unter guter Reflexwirkung der Wände für genügend erachten und als Minimalforderung 7—8 MK. in Rot für vollkommen ausreichend halten, so tun wir das aus der Überzeugung — die dem heutigen Stande des Wissens entspricht — heraus, daß hiermit einmal für den Schüler keine gesundheitlichen Störungen erwachsen können und anderseits eine Verbilligung des Schulhausbaues ermöglicht wird.
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D nD
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Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung bei maximalen Körperanstrengungen.
II. Mitteilung: Über das psychomotorische Verhalten.
Von Wilhelm Ewig und Traugott Wohlfeil.
(Aus der Medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Königsberg i. Pr. Direktor: Professor Dr. O. Bruns.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 31. Juli 1926.)
Nachdem wir in einer kürzlich publizierten I. Mitteilung!) das Ver- halten der Aufmerksamkeit während maximaler körperlicher Anstrengung geprüft hatten, dehnten wir hier unsere Experimente auf das Gebiet des motorischen Verhaltens, d. h. mit einer gewissen Einschränkung des Ver- haltens der Willenstätigkeit aus.
Die Frage, die wir im besonderen aufwarfen, war: Wie wird der Ablauf der Willensvorgänge, demonstriert an dem motorischen Verhalten des Individiums mit Hilfe von Reaktionsversuchen, durch eine derartige maximale Anstrengung beeinflußt ? Oder mit anderen Worten: In welchem Sinne wirkt eine derartige akute Ermüdung auf das Handeln des Menschen ein? — Die Untersuchungen wurden wieder beim Rudern angestellt unter den gleichen äußeren Bedingungen wie.in der I. Mitteilung. Wir erwähnen, daß wir, wie in der ersten Arbeit, auch hier auf eine weitgehende theoretische Auswertung des rein psychologischen Tatsachenmaterials verzichtet haben.
Seit jener von Astronomen beobachteten Tatsache, daß bei Sterndurch- gangsbeobachtungen durch den Meridian ein jeder Beobachter eine sogenannte persönliche Gleichung aufweist, d.h. daß der betreffende Beobachter meist etwas verspätet reagiert, stand es fest, daß Willensvorgänge eine gewisse, meßbare Zeit beauspruchen. Auf Grund solcher Beobachtungen setzte eine Reihe von Arbeiten (Exner, Donders, Wundt u. a.) auf physiologischem Gebiet ein, die sich der Erforschung derartiger Reaktionsvorgänge widmeten. Aber erst vor relativ kurzer Zeit führten die bahnbrechenden Untersuchungen Achs’?)
1) Ewig und Wohlfeil, dieses Archiv Bd. 97, 3. u. 4. Heft 1926.
2) N. Ach, a) Über die Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1905; b) Willensakt und Temperament, Leipzig 1910; c) „Wille“, Handwörter- buch der Naturwissenschaften 1913; d) Untersuchungen zur Psychologie und Philosophie Bd. I bis V, 1910 bis 1925.
- 252 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
und seiner Schüler durch die Anwendung der Methode der experimentellen systematischen Selbstbeobachtung nach jedem Reaktionsvorgang zu einer gründlichen Analyse des quantitativen und qualitativen Reaktionsverlaufes. Man versteht unter einem Reaktionsvorgang einen psychischen Prozeß, bei dem auf einen bekannten oder nicht bekannten Reiz mit einer zugeordneten oder nicht zugeordneten Tätigkeit geantwortet wird. Man kennt je nach dem Standpunkt . des Forschers viele Prinzipien, nach denen die Einteilung der Reaktionsvorgänge erfolgen kann. Aus der obigen Definition ergibt sich nun am besten eine Ein- teilung der möglichen Reaktionen (nach Ach) 1. in solche mit eindeutiger und 2. in solche ohne eindeutige Zuordnung des Reizes oder der Tätigkeit. Es lag auf der Hand, für unsere Versuche Reaktionen mit eindeutiger Zuordnung zu wählen. Diese lassen sich nun weiterhin unterscheiden in:
a) Reaktionen mit einfacher Zuordnung, d. h. in die muskulären und sen- soriellen Reaktionen (nach Wundt verlängerte und verkürzte), wobei die Ver- suchsperson (Vp.) bei der ersteren sich mehr auf die kommende Bewegung, bei der sensoriellen sich mehr auf den kommenden Reiz beziehungsweise die Er- fassung desselben eingestellt hat.
b) in Reaktionen mit mehrfacher Zuordnung, bei denen Vp. auf verschie- dene Reize in verschieden zugeordneter Weise reagieren soll.
c) und in bedingte Reaktionen, bei welchen Vp. nur unter ganz bestimmten Bedingungen auf verschiedene Reize zu reagieren hat.
Auf ein weiteres Fortführen der Einteilung der Reaktionen soll hier verzich- tet werden, da andere Reaktionsformen bei unseren Untersuchungen nicht in Frage kommen.
Der Einfluß körperlicher Arbeit auf die Willenstätigkeit ist sehr selten Gegenstand psychologischer Untersuchungen gewesen. Aus der Kraepelin- schen Schule hat Bettmann!) in Experimenten an einer Vp. gefunden, daß ein zweistündiger Marsch sich bereits deutlich in seiner Einwirkung auf mehrere Teilerscheinungen des Seelenlebens bemerkbar macht. Bei der Anstellung mehrfach zugeordneter Reaktionen (von ihm ‚„Weahlreak- tionen“ genannt) zeigten sich nach der körperlichen Leistung eine Ver- kürzung der Reaktionszeiten gegenüber den Werten der Normaltage. Geistige Arbeit verlängerte dagegen die Reaktionszeiten. Den verkür- zenden Einfluß der Ermüdung erklärte sich B. aber nur aus dem Auf- treten von rein muskulären und vorzeitigen Reaktionen, welche aus dem gehäuften Vorkommen von Fehlreaktionen zu erschließen waren. Kam es aber im Zustand der Ermüdung nach körperlicher Arbeit zu einer wirklichen „Wahlreaktion‘‘, so stellten sich die beobachteten Zeiten stets als länger heraus, als die der Normalversuche. In Fortführung der Bettmannschen Versuche kommt Miesemer?) auf Grund von Experimenten über den Schreibweg, die Schreibgeschwindigkeit, Schreibdauer, und den Schreib- druck unter anderem zu dem Schluß, daß körperliche Arbeit auf die Willenstriebe im Sinne einer psychomotorischen Erregung wirke.
Uns interessierte nun zuerst die Frage nach dem motorischen Ver- halten während maximal angestrengter Ruderarbeit. Wir trennten auch hier wieder wegen des gänzlich verschiedenartigen Verhaltens in den einzelnen Arbeitsphasen die Periode bis zum sog. „toten Punkt“ von der nach Überwindung desselben, der „2. Atem‘“-phase oder dem „second
1)S. Bettmann, Die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch körperliche und geistige Arbeit. Kraepelin, Psychologische Studien, Bd. I, 1895.
2) K. Miesemer, Über psychische Wirkungen körperlicher und geistiger Arbeit, Kraepelin, Psycholog. Studien. Bd. 4. 1902.
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 253
.wind‘“.!) Bezüglich der Wahl der Methode erschien es uns vorteilhaft, etwas komplexere Reaktionsformen zu bevorzugen, bei denen schwierigere An- forderungen gestellt wurden, um jenes von Bettmann beobachtete Zurückfallen in rein muskuläre Reaktionen tunlichst auszuschalten. Wir führten daher bedingte Reaktionen durch. Vp. erhielt die Instruktion, auf zwei verschiedene Farben, rechts oder links je nach Vereinbarung, zu rea- gieren; jedoch nicht zu reagieren, wenn eine andere als vorher bekannt- gegebene Farbe erschien. Gerade durch ein häufiges Einschalten solcher Nebenreize suchten wir es zu erzielen, daß rein muskuläre Reak- tionen nicht, oder doch sehr selten auftreten würden. Es wäre nun von unschätzbarem Vorteil gewesen, hätten wir ebenfalls die experimentelle, systematische Selbstbeobachtung in unsere Untersuchungen mit einbegreifen können. Bei der Kürze der für die Versuche auf dem „toten Punkt“ und nach Überwindung desselben zur Verfügung stehenden Zeit ließ sich eine Aufzeichnung der Angaben der Vp. nach jedem einzelnen Versuch jedoch unmöglich durchführen. Wir waren daher darauf angewiesen, nur gelegent- lich und vorwiegend am Schluß der Versuchsreihe die Selbstbeobachtung zu protokollieren. Gegenüber wenig Versuchen mit genauer Selbstbeob- achtung erschien uns dies Verfahren vorteilhafter zu sein. Da nun Vp. während der Ruderarbeit reagieren sollte, so mußten wir uns dazu ent- schließen, die Reaktionsbewegung mit den relativ frei beweglichen Füßen ausführen zu lassen. Wenn auch Reaktionen mit den Füßen als solche im all- gemeinen nach R. W. Schulte?) länger dauern und auch etwas größere Schwankungen aufweisen als Reaktionsversuche mit den Händen, so zeigen doch in unseren Versuchen — wie wir sehen werden — die Reak- tionszeiten dieselben Verhältnisse.
Die Versuchsmethodik im einzelnen war folgende: In ein Boot mit Skull- einrichtung bauten wir hinten auf dem Boden das Hipp’sche Chronoskop zur Zeitmessung ein. Zum Betrieb des Ankers diente eine Kastenbatterie (BI) von 4 Volt Spannung und ungefähr 15 Ampere Stromstärke. Das Chronoskop wurde selbstverständlich vor jeder Versuchsreihe mit Hilfe eines auf 127 Sigmen ge- eichten Fallapparates neu geprüft. Zur Ausführung der Reaktion mit den Füßen benutzten wir 2 umgebaute Morsetaster, die auf dem Fußbrett des Bootes an beiden Seiten-angeschraubt waren. Vp. hatte ihre Füße gegen die Mitte des Fuß- brettes angestemmt. Bei der Ausführung der Reaktion schlug sie mit dem Seiten- rand des Fußes gegen den betreffenden Morsetaster. Der Chronoskopkreis wurde bei der Reizgebung durch den Versuchsleiter mit Hilfe eines Kartenvorzeige- apparates geschlossen. Durch die momentane Unterbrechung des Fußkontaktes
wurde der Strom eines Relais und gleichzeitig der des Chronoskopkreises wieder geöffnet. Das Schema auf S. 254 zeigt die Anordnung im einzelnen.
Als Reize dienten farbige Karten (rot, blau, gelb, grün, lila, schwarz). Für jede der 3 \Versuchsreihen (l vor Beginn des Ruderns, Il während des Ruderns bis auf den ‚‚toten Punkt“, und III. während des Ruderns nach Überwindung des „toten Punktes‘, im „2. Atem‘) wurden als Reize 2 Farben dargeboten, und zwar für jeden Versuchstag und jede Versuchsreihe verschiedene. Durch ein vorheriges Ankündigungskommando (,Achtung‘‘!) bereitete der \Versuchsleiter die Vp. auf das Kommen des Reizes vor. Die für rechts und links vereinbarten
1) Siehe 1. Mitteilung und Ewig, Über die Wirkung maximaler körper- licher Anstrengungen, insbesondere über den sog. „toten Punkt“. Zeitschrift für die ges. exp. Medizin Bd. 51, 1926.
2) R. W. Schulte, Eignungs- und Leistungsprüfung im Sport. Berlin 1925. Kap. 6.
254 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung nsw.
Farben boten wir in regellosem Wechsel der Vp. dar. Vp. sollte sich nun be- mühen, so exakt und so rasch wie möglich zu reagieren. Es wurde weiterhin selbstverständlich die vorherige Bewußtseinslage der Vp. vermerkt.
Als hauptsächliche technische Fehlerquelle bei der Apparatur kam in Frage, daß 1. das Chronoskop durch die Schaukelbewegung des Ruderns Ungleichmäßig- keiten im Gange aufweisen konnte, daß 2. durch die Erschwerung der Beweglich- keit der Füße in gewissen Phasen des Ruderns Verlängerungen der Reaktions- zeiten zustande kommen könnten. á
Die erste Fehlerquelle kann keine allzugroße Rolle gespielt haben, denn Werte bis zu 20 Sigmen sind ohnehin schon im einzelnen nicht zu rechnen, wie Untersuchungen von Ach!) ergeben haben.
V ? / ironisko orzeigeappara
Vaster] Zster U
Die zweite wurde insofern beseitigt, als nach Erkennung der Fehlerquelle bei den ersten Versuchen die Reizgebung stets entweder an den Anfang oder am Ende des Ausrollens mit dem Rollsitz erfolgte. Auf die übrigen Fehlerquellen sind wir bereits des näheren in unserer ersten Arbeit eingegangen. Als Vp. hatten sich außer dem einen von uns (E). noch Herr cand. jur. F. Hassen- pflug (Vp. F. H.) und der Schüler Alfred Wölk (Vp. W.) zur Verfügung gestellt, denen wir hier für ihr Ausharren bei derartig anstrengenden Experimen- ten bestens danken. In Vorversuchen, die 4 bis 6 Tage dauerten, eigneten sich die Vp. ein gewisses ausreichendes Maß von Übung an.
Tabelle I gibt die Ergebnisse der 7 Versuchstage mit je 3 Versuchs- reihen der Vp. E.
Während des Ruderns
Während des Ruderns bis zum ‚‚toten Punkt“ i
im ,,2. Atem‘ M: l}
Versuchstag
19. August 1925 23. a 1925 5. Sept. 1925
E EE 5 395 `: —
10. ., 1925
ll. ,, 1925 17 512 ı 259 l4. , 1925 324,5 260 15. „ 1925 252 | 44,5
Mittel I) Ach, Über das Hipp’sche Chronoskop, Anhang zu „Willenstätigkeit und Denken’”,. Göttingen 1905.
126 ı 447,5 160,6
"Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 255
Es bedeuten hier wie in den folgenden Tabellen: N = Anzahl der Versuche, Z = Zentralwert der gefundenen Reaktionszeiten, Mz = Mittel- zone, gleichbedeutend mit dem Maß der Streuung der Reaktionszeiten. Ein Vergleich der Z-Werte ergibt nun durchgängig an sämtlichen Ver- suchstagen bei II deutlich längere Reaktionszeiten als bei I. Diese Erhöhung beträgt im einzelnen (bis auf eine Ausnahme) mehr als 20 bis 30 Sigmen, so daß sie sicher außerhalb des Bereichs der Fehlergrenze liegt. Nach Überwindung des „toten Punktes“ werden die Reaktionszeiten dagegen bei sämtlichen Versuchsreihen wieder kürzer. Vergleicht man aber die Reaktionszeiten von I und III, so finden sich bei zwei Versuchs- tagen die Werte bei III höher als bei I, an drei Versuchstagen aber niedriger. An zwei dieser Versuchstage konnte die Vp. wegen zu starker Armermüdung und Muskelschmerzen beim Rudern bis zur Überwindung des „toten Punktes“ leider nachher nicht mehr lange genug weiter rudern.
Es geht also aus diesen Versuchen folgendes hervor: Die längste Zeit für das Ausführen bedingter Reaktionen wird während des Ruderns bis auf dem ‚toten Punkt“ beansprucht. Nach Überwindung desselben werden die Reaktionszeiten deutlich allgemein kürzer, ja sie sinken einige Male im einzelnen und auch im Mittelwert sogar unter den Ruhewert vor Beginn des Ruderns.
Betrachtet man die Reaktionszeiten der Ruheversuche (I) vom 1. bis zum 7. Versuchstage, so ist trotz der Vorversuche hier noch eine gewisse Übungsverkürzung (mit Schwankungen) erkennbar. Im übrigen ist aber der Einfluß der Übung im Verhältnis zu dem der Ermüdung (in ihrer Einwir- kung auf Il und Ill) so verschwindend gering gewesen, daß er als Fehler- quelle nicht in Betracht kommt.
Beim Vergleich der Mittelzonen findet man (mit einer Ausnahme (23. August), welche durch irgendeinen Zufall bedingt sein wird) eine Er- höhung in der Periode bis zum „toten Punkt“ im Vergleich zu denen vor Beginn des Ruderns. Nach Überwindung des „toten Punktes‘‘ werden die Mittelzonen wesentlich geringer als vorher und stellen sich hier gegen- über den Ruhewerten teils als kleiner teils als etwas größer heraus; im Mittel resultiert sogar eine kleinere Mz.
Die Reaktionen sind also während der Ruderarbeit bis zum ‚toten Punkt“ am ungleichmäßigsten. In der Periode des ‚2. Atems‘‘ werden sie aber wieder wesentlich gleichmäßiger, ja sie sind durchschnittlich sogar noch gleichmäßiger als während der Ruheversuche.
Die Ergebnisse bei der Vp. E. würden also sagen, daß selbst ange- strengte körperliche Arbeit nicht unbedingt zu einer Störung des psycho- motorischen Verhaltens zu führen braucht, ja daß eventuell eine geringe Verbesserung möglich ist. Das gilt aber nur für die Arbeitsperiode, in der keine psychisch störenden Faktoren, wie Ermüdungsschmerzen in den Muskeln, Atemnot usw. hervortreten, also bei maximal angestrengter Arbeit nach Überwindung des „toten Punktes“. Bestanden dagegen subjektive Beschwerden, wie sie besonders in der 1. Phase intensivster körperlicher Arbeit bis zum „toten Punkt“ auftreten, so wich das psycho- motorische Verhalten ganz beträchtlich von der Norm ab; es verschlech-
256 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsferschung usw.
terte sich die Reaktionszeit ebenso wie die Regelmäßigkeit des Reaktions- ablaufes.
Mit diesen Resultaten stimmen auch die der anderen Vp. im wesent- lichen überein.
Tabelle II. Vp.F.H.
I II > III N Z Mz N Z Mz N Z | Mz
11. Sept. 1925 | 19 512 | 118,5] 12 634 | 251,5] 21 | 634 251,5 14. ,, 1925 I 20 509 | 113 17 641 | 402 19 | 528 128 18. , 1925 | 21 409 | 140,51 17 481 | 270 18 | 406,5 | 317 24. „. 1925 | 17 401 79,55 11 447 | 182 17 | 401 164
Mittel 77 | 457,7 | 112,9] 57 | 550,7| 276 | 75 | 492 | 217,3
Versuchstag
Tabelle II zeigt ebenfalls eine Verlängerung der Reaktionszeiten bei II gegenüber I, und eine Verkürzung von III gegenüber Il. Nach Überwindung des ‚toten Punktes“ sind die Reaktionszeiten zu einem größeren Teil gegenüber den vor Beginn des Ruderns etwas verlängert, zum Teil sind’ sie gleich lang. Im Mittel stellen sie sich hier als verlängert heraus. Auch die Mittelzonen zeigen insofern ty pisches Verhalten, als sie bis zum ‚toten Punkt“ wesentlich größer, nach seiner Überwindung 'aber wieder merklich kleiner werden. Bei dieser Vp. sind aber die Mittelzonen bei III gegenüber I deutlich größer. Die Reaktionen erfolgen also in beiden Arbeitsphasen beträchtlich ungleichmäßiger als in der Ruhe.
Diese Ergebnisse stimmen also bis auf die Beziehungen von III zu I mit denen der Vp. E. überein. Nach Überwindung des „toten Punktes“ sind hier im Gegensatz zur Vp. E. die Zentralwerte im allgemeinen höher als vor Beginn des Ruderns. Es besteht jetzt auch im Verhältnis zu den Ruheversuchen eine größere Ungleichmäßigkeit der Reaktionen, d.h. die Mz sind größer (bei Vp. E. ist Mz im Mittel niedriger).
Die 3. Vp. (W.) zeigt folgende Verhältnisse (Tab. III):
Versuchstag
. 1925 537 |235 21. „ 1925 634 | 227 131 31. „ 1925 631,5 | 222 189 1. Sept. 1925 748,5 — 322 3. „ 1925 766 |419
Mittel | 80 531 | 206,7| 52
83 | 583,3 | 229,8
5,15
Wieder finden wir:
l. Die längsten Reaktionszeiten in der ersten Phase des Ruderns bis zum „toten Punkt‘,
. ein Kürzerwerden derselben nach Überwindung des ‚toten Punktes“,
. die größten Mittelzonen bis zum „toten Punkt‘‘,
. ein Kleinerwerden der Ms nach dessen Überwindung.
IV
r a Wn u
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 257
In den Beziehungen zwischen llI zu I weist Vp. W. das gleiche Ver- halten auf wie Vp.Fr.H.: 1. Die Reaktionszeiten nach Überwindung des „toten Punktes‘ sind länger als die vor Beginn des Ruderns. 2. Die Mittelzonen sind in dieser Phase im allgemeinen länger als die vor Beginn des Ruderns. |
Wie ist nun diese bedeutende Verlängerung der Reaktionszeiten bei der angestrengten Arbeit bis auf dem „toten Punkt‘ gegenüber denen vor Beginn des Ruderns zu deuten ? Daß allein die Tätigkeit des Ruderns diese Verlängerung bewirkt hat, ist deswegen ausgeschlossen, weil die Zeiten nach Überwindung des ‚toten Punktes‘ trotz Weiterruderns wieder kürzer werden, ja bei Vp. E. sogar unter den Ruhewert sinken. Eine ge- wisse unbedeutende Wirkung wird die Tätigkeit des Ruderns an sich wohl oft auf die Länge der Reaktionszeiten ausgeübt haben, wie wir es ja auch in unserer ersten Arbeit über das Verhalten der Aufmerksamkeit zeigen konnten. In der Hauptsache hat aber zweifelsohne die akute Ermüdung im Zustand des ‚toten Punktes‘ und kurz vorher die Verlängerung der Reaktionszeiten bewirkt. Denn wenn dieser Ermüdungszustand, der sich stets auch durch ein Nachlassen der Ruderleistung offenbarte, gewichen war, so wurden sofort die Reaktionszeiten wieder kürzer. Allerdings be- stand aber auch trotz der Überwindung der akuten schweren Ermüdung in der „2. Atem“ -Phase doch oft noch ein Zustand leichter Ermüdung, wie aus den Aussagen der Selbstbeobachtung dieser Vp. zu schließen ist.
Hiezu kommt noch ein zweites Moment. In der ersten Phase des angestrengten Ruderns ist stets eine außerordentliche Willensanstrengung nötig, um dem Boot die höchste Geschwindigkeit zu geben und entgegen den bald auftretenden Atembeschwerden durchzuhalten. Jeder einzelne Ruderschlag erfordert eine mächtige bewußte Konzentration der Willens- impulse. Hierdurch wird der Ablauf von neu eingeschalteten Willens- impulsen erheblich gestört, so daß die Reaktionen langsamer und unregel- mäßiger erfolgen. In der zweiten Arbeitsphase nach Überwindung des „toten Punktes‘ verläuft dagegen die Arbeit viel mechanisierter; sie läuft oft fast ganz subkortikal ab, so daß nur wenig bewußte Impulse auf das Rudern konzentriert werden. Diese Art der Arbeitsverrichtung stört natürlich die Reaktionsversuche weit weniger, ja sie kann diese unter Umständen unbeeinflußt lassen. — Eine geringe Störung ließ sich bei 2 Vp. (Fr. H. und W.) nachweisen. Die Reaktionszeiten waren etwas länger als in Ruhe! Bei einer Vp. (E.) waren sie dagegen noch kürzer als vor Beginn der Ruderarbeit. In diesem Falle dürfte allerdings für diese deutliche Verkürzung der Z-Werte noch ein anderer Umstand mit- sprechen. Da das Rudern bis zum ‚‚toten Punkt‘ und darüber hinaus eine ganz außerordentliche Anstrengung ist, so hatte sich durch die vielen Ver- suche auch schon aus den früheren Versuchsreihen eine gewisse negative Gefühlslage vor Beginn der Versuche eingestellt. Die heftige Anstren- gung, die oft mit starken Muskelschmerzen besonders auf dem „toten Punkt“ verbunden ist, stand noch bevor. Um so intensiver war dann nach Überwindung des ‚toten Punktes‘ — nachdem also alle Beschwerden verschwunden waren — das Gefühl der Erleichterung und Befreiung, das ein ausgesprochenes Lustgefühl ausübte. Diese positive Gefühlsbetonung
258 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
bewirkte dann wohl sicher, wie das auch sonst der Fall ist, die Beschleuni- gung des Ablaufs der Reaktionen.
Bezüglich der Deutung der Mittelzonen (Mz) ist folgendes zu sagen: Die akute Ermüdung im Zustande des „toten Punktes“ führt zu einer merklich größeren Ungleichmäßigkeit im Reagieren, als sie vorher bestanden hatte. Nach Überwindung dieses Stadiums werden die Reak- tionen wieder gleichmäßiger. Sie werden bei zwei Vp. (Fr. H. und W.) aber nicht mehr so gleichmäßig wie vor Beginn des Ruderns, was auf die ablenkende Tätigkeit des Ruderns und auf einen noch be- stehenden Zustand leichter Ermüdung zu beziehen ist. Vp. E. reagiert dagegen im Mittel bei III gleichmäßiger als bei I. Die erwähnte positive Gefühlsbetonung verbesserte also nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch die Gleichmäßigkeit der Reaktionen. Vielleicht spielt dabei auch der Umstand eine Rolle, daß Vp. E. ja als Autor das Problem der Arbeit kannte. Sie bemühte sich freilich während der Versuchsreihe weder über den Zweck dieser, noch über ihr eigenes Verhalten während derselben kritisch irgendwie nachzudenken. Auch waren die Ergebnisse der anderen Vp. noch nicht ausgewertet, so daß der Ausfall der Versuche noch unbe- kannt war. Zwar ist irgendeine Wirkung im Sinne einer Suggestion nicht vollständig auszuschließen, aber sicherlich nicht von ausschlaggebender Bedeutung, da ja im übrigen die Ergebnisse bei allen Vp. in gleicher Rich- tung liegen.
Neben der Auswertung des quantitativen Verhaltens bei derartigen Reaktionen interessierte nun aber auch die mehr qualitative Seite, d. h. die Richtigkeit oder Falschheit der ausgeführten Handlung. Tabelle 4 bringt die in den verschiedenen Stadien gemachten Fehler in Prozent. Als Fehler wurde gebucht, wenn Vp. mit dem falschen Fuß, oder auf einen absichtlich eingeschalteten Nebenreiz hin reagierte. Im allgemeinen wurden relativ wenig Fehlreaktionen gemacht, insbesondere von Vp. Fr. H. und W.
Tabelle IVa. Vp. Fr. H. Fehlreaktionen in Prozent.
18. Sept. F.R.-*/,
14. Sept. F. R.-%,,
r ; 11. Sept. 24. Sept. Versuchsreihe FR-Y Mittel
I Il ITI
Versuchs- | ne | 19. Aug. | 23. Aue. 5. Sept. |10. Sept. 11. sent.| 14. Sept. | 15. Sept. | Mittel ! l | Ta ee a
— |! — an 10,5 | 8,3 | 17,49 = o — |: 101
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 259
Vp. Fr. H. hat nur einmal bei II (14. Sept.) Fehlreaktionen — und zwar dann auch relativ viele — gemacht. Im Mittel daher 4,43%. Alle drei Vp. weisen sowohl in der 1. Arbeitsphase bis zum „toten Punkt“ (Vp. Fr. H. und E.) wie auch in der zweiten nach Überwindung des- selben (Vp. W.) mehr Fehlreaktionen auf als vor Beginn des Ruderns. Vp. W. macht bei III im Mittel die meisten Fehlreaktionen. Das hängt aber sicher damit zusammen, daß bei der geringen Anzahl von Versuchen die hohe prozentuale Fehlerzahl bei III am 20. August das Gesamtmittel beeinflußt hat. Bei Vp. Fr. H. und E. ist dagegen die hohe Fehlerzahl auf dem ‚‚toten Punkt‘ zweifelsohne aus dem Vorhandensein einer akuten Ermüdung zu verstehen. — Es kann bei der geringen Anzahl von Ver- suchen auf die Fehlreaktionen nicht allzuviel Gewicht gelegt werden, da zum wirklichen Verständnis derselben die hier nicht durchgeführte genaue experimentelle systematische Selbstbeobachtung erforderlich ist.
Betrachtet man einmal nebeneinander die Anzahl der Fehlreaktionen, die Bettmann (S. 252.1)) in seinen Versuchen erhalten hat, mit den unsrigen, so ist bei Bettman.n die hohe Fehlerzahl erstaunlich. Ein exakter Vergleich ist selbstverständlich nicht möglich, da 1. Bettmann Reaktions- versuche mit den Händen anstellte, 2. als Körperarbeit nur einen Spazier- gang wählte, 3. nur nach Beendigung des Marsches experimentierte, 4. Ruhe- und Arbeitsversuche an aufeinanderfolgenden Tagen ausführte, während wir beides auf einen Tag zusammenlegten und 5. die Art der Reaktion eine andere war.
Tabelle YV.
—— nn — S nn a ._—_
Bettmann Eigene Versuche
Reaktion mit den | Reaktion mit den
IHländen — Mittel | Füßen — Mittel F . R. -*/o F. R.-%;,
Versuchsreihe
Vor Beginn der Arbeit bzw. Normalver- suens ogr (Bettmann). .' rend max. Ruderarbeit. bis zum „toten Punkt“ . Nach Überwindung des „toten Punktes“ während max. Ruderarbeit . Nach einem Marsch (Bettmann)
Bettmann fand, wie schon oben erwähnt, nach körperlicher Arbeit eine Verkürzung der Reaktionszeiten, einhergehend mit einer starken Erhöhung der Fehlerzahl. Er führte letztere auf das Auftreten von musku- lären und vorzeitigen Reaktionen zurück. Wir selber stellten eine Ver- längerung der Reaktionszeiten stets während der Arbeit bis auf dem „toten Punkt“, bei zwei Vp. auch noch nach Überwindung desselben fest; mit dieser Verlängerung parallel gehend eine Erhöhung der Fehlerzahlen. Bei unseren Versuchen konnten durch die besondere Wahl der Versuchs- anordnung die Fehler nicht wie bei Bettmann auf dem Auftreten mus- kulärer und vorzeitiger Reaktionen beruhen. Die Farben als solche wurden in dem Ermüdungszustand auch gut erkannt, so daß eine optische Störung nicht in Frage kommen dürfte. Es ließ sich dagegen in einigen Fällen, wie die gelegentliche Selbstbeobachtung ergab, feststellen, daß Vp. die
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 18
- 260 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
Farbe erkannte, aber ihr die damit verbundene Bedeutung nicht einfiel. Da sie aber die Instruktion hatte, zu reagieren, bewegte sie einen beliebigen Fuß, der dann ev. der falsche war.
Eine Zusammenfassung der Resultate ergibt:
1. Angestrengte körperliche Arbeit führt stets zu einer Störung des psychomotorischen Verhaltens, sobald Zeichen von Ermüdung vorhanden sind. Bei Fehlen derselben können die Reaktionen ungestört ablaufen; in der Regel ist jedoch auch dann eine geringe Verlangsamung und Un- gleichmäßigkeit der Reaktionen nachweisbar.
2. In sämtlichen Versuchsreihen sind die Reaktionszeiten während des Ruderns bis zu dem Ermüdungsstadium des „toten Punkt“ wesentlich länger als in den Ruheversuchen; es wird also langsamer reagiert. Nach Überwindung des „toten Punktes“ werden die Reaktionszeiten wieder kürzer, sind aber im allgemeinen noch länger als bei den Ruheversuchen.
3. Auch die Mittelzonen, welche ein Maß für die Gleichmäßigkeit der Reaktionen darstellen, sind bis zum ‚toten Punkt“ durchweg größer als bei den Ruheversuchen; es wird also während der Ermüdung erheb- lich ungleichmäßiger reagiert.
4. Am wenigsten Fehlreaktionen werden bei den Ruheversuchen gemacht, am meisten im allgemeinen während des Ruderns bis zur Er- müdung im „toten Punkt“. Nach Überwindung desselben nimmt die Fehlerzahl meist wieder ab.
Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung bei maximalen Körperanstrengungen.
II. Mitteilung: Über die geistige Leistungsfäbigkeit.
Von
Wilhelm Ewig und Traugott Wohlfeil.
(Aus der Medizinischen Universitäts-Poliklinik zu Königsberg i. Pr. Direktor: Prof. Dr. O. Bruns.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 31. Juli 1926.)
Im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen stellten wir uns die Frage: Wie wirkt eine maximale körperliche Arbeit auf die geistige Leistungs- fähigkeit ein?
Die Einwirkung körperlicher Arbeit auf nachfolgende geistige Arbeit ist besonders in bezug auf die Verhältnisse im Schulbetrieb!)?) oft Gegen- stand von Experimenten gewesen. Allerdings ist von diesen Versuchen eine große Anzahl kaum zu verwerten, da mit unzureichender Methodik gearbeitet wurde. So z. B. alle diejenigen Untersuchungen, welche die ermüdende Wirkung vorheriger Körperarbeit auf die nachfolgende geistige Leistungsfähigkeit mit Hilfe einer anderen körperlichen Arbeit, z. B. der Ergographenmethode, bestimmen wollten (Keller), Kemsiest)). Diese sind prinzipiell bereits von Sippel°) abgelehnt. Denn die Änderung der Qualität und Quantität einer körperlichen Arbeit auf Grund einer vorherigen Körpertätigkeit kann schon wegen der mitwirkenden reinen Muskelermüdung keinen hinreichenden Aufschluß über die geistige Lei-
1) M. Lobsien, Bedeutung der Übungen für das tägliche Turnen für die geistige Frische des Schulkindes. Zeitschr. f. Philos. und Pädagog. 19 bis 1912.
2) B. Massler, Beobachtungen über den Einfluß des Pausenturnens. Dtsch. Turnerztg. 13,1, 1921.
3) R. Keller, Experiment. Untersuchungen über die Ermüdbarkeit von Schülern durch geistige Arbeit usw. Zeitschr. f. Schul.-Gesundh. 2. Bd. 1897.
4) F. Kemsies, Arbeitshygiene d. Schule auf Grund von Ermüdungs- messungen. Samml. u. Abhandl. aus d. Gebiet. d. pädagog. Psychologie und Physiologie Bd. 2, 1 Berlin 1899.
5) H. Sippel, Der Turnunterricht u. d. geistige Arbeit des Schulkindes. Beitr. z. Turn- u. Sportwissensch. C. Diem, Heft 5, 1923.
18*
262 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
stungsfähigkeit geben, wenn auch im besonderen oft gewisse Parallelen und Beziehungen bestehen. Auch die ästhesiometrischen Methoden (Wagner!), Griesbach?)) sind hierfür unbrauchbar, da nach Bolton?) keine sichere Beziehung zwischen der Raumschwelle der Haut und der Ermüdung besteht.
Für die Prüfung dieser Frage kommen überhaupt nur psychologische Methoden) in Betracht, auch schon deswegen, weil physiologische bei der geringen Kenntnis von physiologischen Vorgängen im Zustand geistiger Ermüdung nicht fein genug in ihren Ausschlägen sein dürften.
Man kennt nun eine Reihe von psychologischen Methoden?) ®) 7), welche den Ermüdungswert vorheriger Arbeit, geistiger oder körperlicher, zu messen imstande sein sollen. Die Prüfung fast sämtlicher Teilerschei- nungen des Seelenlebens wie Gedächtnis, Kombinationsgabe usw. ist dazu mit mehr oder weniger Glück verwandt. Am meisten erscheinen aber für die Feststellung jenes komplexen Vorganges, den man als geistige Lei- stungsfähigkeit bezeichnet, solche Methoden angebracht zu sein, die sich zur Prüfung wiederum einer geistigen Arbeitsleistung bedienen.
Die Verfahren zur Prüfung der geistigen Leistungsfähigkeit müssen nun 1. aus zahlreichen, einander völlig gleichwertigen Einzelleistungen bestehen, bei denen möglichst nur die Menge eine Rolle spielt, und 2. müssen sie ein- fach sein*). Als die geeignetsten Stichproben — denn um solche kann es sich ja meist nur bei Messungen im Gebiete der Sportpsychologie handeln — sind von O. Graf angegeben worden 1. das Bourdonsche Verfahren, bei welchem das Durchstreichen von Silben in einem bestimmten Text als Arbeit gilt, 2. die von Kraepelin angegebene Methode der Rechen- arbeit. Bei beiden läßt sich allerdings im hohen Maße Übungsfähigkeit®)?), Anregbarkeit und Antriebsfähigkeit nachweisen, deren Wirkungen den Einfluß der Ermüdung unter Umständen zu überdecken imstande sind. Unter Übungsfähigkeit versteht man dabei eine Zunahme der Arbeits- leistung durch die Arbeit selbst; unter Anregbarkeit die Überwindung innerer Widerstände durch die Arbeit und unter der Antriebsfähigkeit die Tatsache, daß kurzdauernde Besserleistungen auf Grund von Willens- impulsen mit triebartigem Charakter zustande kommen. Man wird daher bei Experimenten im Gebiet der angewandten Psychologie oft mit einem
4) L. Wagner, Unterricht u. Ermüdung. Berlin 1899.
2) H. Griesbach, Energetik u. Hygiene des Nervensystems in der Schule. Leipzig 1895.
3) Th. L. Bolton, Ermüdung, Raumsinn der Haut und Muskelleistung Kraepelin, Psychologische Arbeit Bd. 4. 1904.
4) ©. Graf, Über Ermüdungsmessungen durch Stichproben. Krae- pelin, Psychologische Arbeiten 1923 S. 1.
5) E. Neumann, Vorles. z. Einführung in die experiment. Pädagog. und ihre psycholog. Grundlage. Leipzig, Berlin 1914, 3. Bd. S. 156 bis 316.
6) Offner, Die geistige Ermüdung. Berlin 1910.
7) F. Wolf, Ermüdung und Übermüdung. Arch. f. Hyg. Bd. 91, 1922; 99.
8) E. Gellhorn, Übungsfähigkeit und Übungsfestigkeit bei geistiger Arbeit. Beihefte z. Zeitschr. f. angewandte Psycholog. 23, 1920.
9) E. Bischoff, Untersuchungen über Übungsfähigkeit u. Ermüdbarkeit bei geistiger unn körperlicher Arbeit. Arch. f. d. ges. Psychol. 22, 1922.
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 263
Durch- und Nebeneinander dieser Faktoren zu rechnen haben. Dem- entsprechend sind auch bezüglich der Frage: wie wirken maximale Körper- anstrengungen auf die geistige Leistungsfähigkeit ein ? — die eigenartigsten Resultate gefunden worden. Flockenhaust), der sich der Bourdonschen Methode bediente, stellte bei Sportlern, die eben den 42 km langen eminent anstrengenden Marathonlauf beendet hatten, zum größeren Teil eine Verbesserung der Leistung gegenüber der des Vortages, zum kleineren Teil eine Verschlechterung fest. Den Folgerungen dieses Autors, daß man es mit einer „Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit‘‘ zu tun habe, kann man aber auf keinen Fall beistimmen, wie wir unten noch zeigen werden. — Haeseler?) untersuchte u. a. Soldaten vor und nach einem 5000- und 3000 m-Lauf mit Hilfe der Kraepelinschen Rechenmethode und zweier von Jaentsch angegebenen Methoden. Die Methode Jaentsch I gehört zu der Gruppe der Einordnungsmethoden, wie sie öfter auch von anderer Seite, z.B. R. B. Schulte?°), angegeben worden ist. Die Methode Jaentsch 1I stellt eine Untersuchung des Gedächtnisses und der Kombinationsgabe, mit gewisser Einschränkung eine solche des „logischen Gedächtnisses“‘, dar. Er kommt, wesentlich vorsichtiger als Flockenhaus, zu dem Ergebnis, daß Sportleistungen von kurzer Dauer anscheinend keine: geistige Ermüdung hervorrufen. Haeseler legt zwar auf die Ausschaltung des Übungseinflusses großen Wert. Es könnte sich aber bei seinen Ergebnissen um die Wirkung von Willensantrieben gehan- delt haben, die kurzdauernde Besserleistungen hervorriefen und damit. die Ermüdung verdeckten.
Weiterhin beschäftigte sich Richter‘) mit diesem Gegenstand. Er stellte nach der Methode Jaentsch II Reihenuntersuchungen an Sol- daten in verschiedenen Trainingsabschnitten an, und zwar vor und nach einem Kurzstreckenlauf von 50 m, einer Kraftübung — Klimmzüge an der Sprossenwand — und einem 3000-m-Lauf. Dabei kommt er zu dem Er- gebnis, daß sportliche Anstrengungen bei Ungeübten auch schon bei kurzer Dauer geistige Ermüdung bewirken. Planmäßiges Training setzt die geistige Ermüdung durch sportliche Anstrengungen stufenweise herab und führt schließlich zu einer Steigerung der geistigen Arbeitsleistung. Wie weit im einzelnen der Übungseinfluß bei letzteren Ergebnissen eine Rolle spielt, kann nur eine Nachprüfung mit Kontrollversuchen ergeben, die leider nicht ausgeführt worden sind
1) M. Flockenhaus, Die geistige Leistungslähigkeit nach schwerer körperlicher Arbeit. Med. Klinik 1923, No. 17. .
2) Haeseler, Bericht über einige Versuche zur Feststellung geistiger Ermüdung nach Sportleistung. Arztl. Monatschrift Jahrgang 1924.
3) R. B. Schulte, Leib und Seele im Sport. Charlotenburg 1921 und Eignungs und Leistungsprüfung im Sport, Berlin 1925.
4) H. Richter, Einige Versuche zur Feststellung der geistigen und körperlichen Ermüdung d. sportliche Anstrengungen in verschiedenen Trainings- abschnitten. \Veröffentlichungen aus dem Gebiet des Heeres-Sanitätswesens Heft 78, 1925, S. 15.
264 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
Methodik.
Wir entschlossen uns nun nach mehrfachen Vorversuchen zu dem Bourdonschen Verfahren. Zwar ist das Verfahren ursprünglich nur als eine Methode zur Erfassung der Aufmerksamkeit gedacht, wobei letztere um so wachsamer sei, je weniger Fehler gemacht würden und umge- kehrt. Wenn wir aber durch ein besonderes Bewertungsverfahren neben der Fehlerzahl auch die benötigte Zeit und die Größe der zu leistenden Arbeit berücksichtigen, so konnten wir dies Verfahren mit Vorteil als eine einfache Methode zur Arbeitsleistungsprüfung verwenden. Anfangs hatten wir die Absicht gehabt, die von Ziehen!) modifizierte Bourdonsche Methode anzuwenden, bei welcher drei Texte, 1. mit sinnlosen Silben, 2. mit sinnvollem, aber schwerem Text. 3. mit stark gefühlsbetontem Text, dargeboten wurden. Durch diese Variation läßt sich bis zu einem gewissen Grade auch die Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit — durch den Inhalt des Textes hervorgerufen — feststellen. Die Ablenkbarkeit ist aber bei der Prüfung der reinen geistigen Arbeitsleistung ein erheblich komplizierender Faktor, durch den die wirkliche Größe der Leistungs- fähigkeit verdeckt und verschleiert wird. Wir wählten daher zur Aus- schaltung dieser ablenkenden Wirkung des Inhaltes nur die Schriftprobe von sinnlosen Silben, von denen jedesmal 300 der Versuchsperson darge- boten wurden. Bei der Anwendung dieser Methode ist es meist so üblich gewesen ?), daß die Vp. während einer bestimmten Zeit möglichst viele der angegebenen Buchstaben ausstreichen mußte. Es wurde also hierbei die Zeit als Konstante genommen und die Zahl der in der konstanten Zeit ausgestri- chenen Buchstaben und der gemachten Fehler berücksichtigt. Wir haben es aber im Hinblick auf die psychologische Analyse der Leistung für aus- sichtsreicher gehalten, der Vp. bezüglich der Zeit freien Spielraum zu lassen. Eine Leistung läßt sich dann ausdrücken durch das Verhältnis der zu bewältigenden Arbeit zu der Zeit, in welcher die Arbeit geschaffen wurde. Wir verfuhren also so, daß wir den Auftrag gaben, zwei oder drei bestimmte Buchstaben richtig und so schnell wie möglich auszustreichen. Die Zeit (Z), die für die Arbeit erforderlich war, wurde mit der Stoppuhr gemessen. Als Buchstaben wählten wir stets einen Vokal und ein oder zwei Konsonanten. Die Auslassungen und falschen Streichungen wurden als Fehler (n F-°,) gebucht, die Anzahl der richtigen Ausstreichungen in bezug auf die Anzahl der überhaupt vorhandenen, auszustreichenden Buchstaben als eigentliche Arbeit (= nR-%) gerechnet. Die Anzahl dieser Buch- staben (n) war naturgemäß bei jedem Versuch eine verschieden große und schwankte zwischen 70 und 200. Dementsprechend konnte natürlich für Vergleiche die Zeit, in welcher die Arbeit geleistet worden war, nicht absolut, sondern nur relativ gerechnet werden (relative Zeit = Zeit in Sekunden: Anzahl der Buchstaben (rZ = Z/n). Wir führten also hier den Begriff der Relation in bezug auf die zeitlichen Verhältnisse zum Vergleich ein, wie es
1) Th. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie, 12. Auf- lage 1924.
2) J. Roes, Über die Messung der Auffassungsfähigkeit.e. Kraepe- lin Psychologische Arbeiten, Bd. 8. 1925. S. 93.
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 265
in. anderer Beziehung z. B. Martin und Müller!) getan haben. Die relative Arbeitsleistung (= rL) in jedem Versuch war dann direkt pro- portional der Anzahl der richtigen Ausstreichungen und umgekehrt pro-
oO portional der relativen Zeit | r5 e) Die Leistung wird also be-
wertet auf Grund der Qualität und der Zeitdauer der geleisteten Arbeit. Selbst wenn keine Fehler gemacht wurden, konnte die Leistung im Ver- gleich zu einer anderen mit Fehlern schlechter sein, wenn Vp. eine merk- lich längere, relative Zeit benötigte. Je weniger Fehler gemacht wurden und je kürzere Zeit zum Ausstreichen gebraucht wurde, um so höher stieg die Leistung. Es bestehen nun bei dem Zusamfnenwirken von Zeit und geleisteter Arbeit drei Möglichkeiten: 1. Vp. kann nach der körperlichen Anstrengung mehr Fehler machen als vorher und auch eine größere rela- tive Zeit benötigen. Wir können in diesem Falle eine beträchtliche reelle (d.h. wirkliche) Leistungsverminderung beobachten. 2. Es werden nach der Arbeit mehr Fehler gemacht als vorher, die relative Zeit wird dagegen kürzer; oder aber es werden weniger Fehler bei längerer Zeit gemacht. Hierbei resultiert je nach Umständen eine gewisse virtuelle (d. h. scheinbare) Verbesserung oder eine virtuelle Verschlechterung der Leistung. 3. Es werden weniger Fehler gemacht und auch die Zeit ist gegenüber der ersten verkürzt. Dann stellt man eine ausgesprochene reelle (d.h. wirkliche) Leistungssteigerung fest.
Unsere Untersuchungen fanden am frühen Morgen statt. Eine irgend- wie nennenswerte körperliche oder geistige Arbeit war vorher nicht ver- richtet worden. Die Prüfung geschah in der Mehrzahl der Fälle vor dem Rudern und nach Beendigung desselben. Da die körperliche Anstrengung eine maximale sein sollte, so ließen wir noch lange nach Überwindung des „toten Punktes‘ weiterrudern (s. frühere Mitteil.). Wir sind uns darüber klar, daß wir bei diesen Prüfungen nichts über die geistige Leistungsfähig- keit in der ganzen folgenden Zeit aussagen konnten, sondern daß die Re- sultate sich nur auf den montanen Zustand unmittelbar nach der maxi- malen Arbeit beziehen. In einigen Experimenten stellten wir daher einige Zeit nach der 2. Prüfung, nachdem sich Vp. vollständig ausgeruht hatte, wiederum eine Probearbeit an. Es wäre nun interessant und von prak- tischer Bedeutung gewesen, zu untersuchen, wie derartige Ermüdungs- messungsstichproben im Laufe des ganzen Vormittags, an welchem Vp. meist bis zur Mittagszeit ihrem Berufe nachgehen mußte, sich weiter gestal- tet hätten. Es fiel jedoch dieses Problem nicht mehr in den Rahmen dieser speziellen Untersuchungen. Der eine von uns wird sich in der nächsten Zeit aber noch weiter damit befassen.
Vp. waren zum Teil wir selbst (Vp. E. und W.). Außerdem stellten sich zur Verfügung Herr cand. jur. Fr. Hassenpflug (Vp. Fr. H.) und Herr Medizinalpraktikant E. Weiß (Vp. We.). Alle Vp. außer Vp. We. hatten in Vorversuchen ein gewisses Maß von Übung erreicht. In einigen Versuchsreihen bei Vp. E und Vp. Fr. H. wurden sowohl zu Beginn des
1) L. J. Martin u. G. E. Müller, Zur Analyse der Unterschieds- empfindlichkeit. Leipzig 1899.
.266 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
Ruderns als auch nach Beendigung desselben zwei Bogen sinnloser Silben hintereinander ausgefüllt. Um den Übungsfaktor möglichst weit- gehend auszuschalten, wurde stets für jede Versuchsreihe eine neue Buch- stabenkombination gewählt. Wenn auch die Anzahl der Versuchsreihen (23) etwas gering erscheint, um aus ihnen absolute Folgerungen zu ziehen, so haben wir die Ergebnisse vor allem deswegen ausgeführt, um einmal zu zeigen, daß die Bourdonsche Methode entgegen den Ansichten Haeselers, in dieser Weise angewandt, für sportpsychologische Zwecke wohl geeignet erscheint, und zweitens, daß die Feststellung einer deutlichen Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit nach maximalen Körper- anstrengungen auf einem Trugschluß beruht.
Ergebnisse.
Bei Vp. E (Tabelle I) ist am 1. und 2. Versuchstage nach dem Rudern ein eindeutiger Leistungsabfall zu beobachten. Dagegen ist an den folgen- den Tagen die Leistung nach der Ruderarbeit ziemlich die gleiche wie vorher. Die geringe Steigerung an zwei Tagen (5. und 10. August) liegt innerhalb der Fehlergrenzen. Betrachtet man aber in der vorletzten Kolumne das Ver- halten der Fehlerzahl (F-%,), so findet man, daß überall nach dem Rudern wesentlich mehr Fehler gemacht werden als vorher (im Mittel mehr als die doppelte Zahl, von 2,4 auf 6,7).
Tabelle I. Vp.E.
Versuchsreihe 4
1,85 | 99,25, 0,75: 53,8 96,3 | 37 | 102 98,161 1,84 55 842 | 158 | 48 1,55 94° 66 | 60 89,1 ' 10.9
97,1 2,9 | 56 97,05 | 2,95] 58
Der Leistungsabfall bei I und Il wird also zu einem Teil bedingt durch die geringere Anzahl richtig ausgestrichener Buchstaben (n R-%), weiter- hin dadurch, daß (1 und 6) die benötigte relative Zeit (rZ) länger wird. In anderen Versuchen werden zwar auch nach dem Rudern mehr Fehler ge- macht, die Vp. leistet jedoch die Arbeit in einer merklich kürzeren Zeit, so daß eine scheinbare Leistungssteigerung zustande kommt.
Als weitere Ergänzung hierzu dient die folgende Tabelle II. Sie enthält die Resultate derselben Vp. E. von zwei Versuchstagen (5 und 8), bei der vor und nach der Körperarbeit aber je zwei Bogen mit je ver- schiedenen Buchstaben ausgestrichen wurden. l
Von W. Ewig und T. Wohlteil. 267 Tabelle II. Vp.E.
Datum
247 239 298 | 1,98 272 | 2,25
An beiden Versuchstagen läßt sich von Versuchsreihe Ia zu Ib vor Beginn des Ruderns ein gewisser Leistungsabfall feststellen (von 59,5 auf 56,5 und von 55,8 auf 51), der vielleicht auf Grund einer leichten Ermüdung durch die immerhin anstrengende Probearbeit verständlich wird. Das gleiche Verhalten finden wir auch wieder bei Vp. Fr. H., Ta- belle V. Nach dem Rudern weist die Vp. in der Versuchsreihe Ila un- mittelbar nach der Anstrengung eine virtuelle Leistungssteigerung auf. Diese ist durch die außerordentliche Verkürzung der Zeit bedingt, obgleich mehr Fehler gemacht wurden. In der zweiten Probearbeit (IIb) kommt jedoch ein großer virtueller Leistungsabfall zustande. Vp. arbeitet zwar ohne Fehler, aber sie benötigt zu der Arbeit eine sehr lange Zeit. Nimmt man aus je zwei Versuchsreihen das Mittel, so resultiert eine Leistungs- verminderung. An dem 8. Versuchstage zeigt sich schon unmittelbar nach dem Rudern bei ITa und dann noch stärker bei IIb eine virtuelle Leistungsverminderung.
Während wir zur Verminderung des Übungsfaktors jedesmal eine neue Buchstabenkombination aufgaben, so erschien es uns zur Kontrolle von Wert, die Wirkung der Übungsfähigkeit einmal bei gleichen Buch- staben für je zwei Versuchsreihen von derselben Vp. zu beobachten. In Tabelle III läßt sich in der Tat sowohl vor wie nach dem Rudern eine merkliche Leistungsverbesserung feststellen. Nach dem Rudern
Tabelle Ill. Vp.E.
Ver- Ver- Datum suchs- | suchs- rL mrL tag reihe 14.11.25 l 339 | 2,45 | 95,87! 4,13 | 39 Jao ER 218 | 2,25 | 95,87! 4,13 | 42,5 | 4 | n 4 269 | 1,5 | 94,95 5,05 | 69° '\ ess | IIb. ' 178 | 254 | 1,42 | 96,62| 3,38 | 68 'f°>
steigt die Leistung bei IIa vermöge einer beträchtlichen Verkürzung der relativen Arbeitszeit wie wir es z. B. auch bei Versuchstag 5 beobachten konnten. Auffallenderweise tritt in der folgenden Versuchsreihe (Ib) aber kein Leistungsabfall zutage, wie er an dem 5. und 8. Versuchstag vor- handen gewesen war, sondern im Gegenteil eine Leistungsvermehrung auf, welche sowohl auf einer Verkürzung der Zeit als auch auf einer Verringerung der Fehlerzahl beruht. Es überdeckt also unter diesen Versuchsbedingungen
268 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
der Übungsfaktor die (zweifellos bei diesem Versuch in gleicher Stärke wie früher vorhandene) Ermüdung. — Vergleicht man einmal bei Vp. E. die Werte der relativen Leistungen vor Beginn des Ruderns von Versuchs- tag zu Versuchstag, so sieht man (Tabelle I) trotz der Vorversuche noch vom 1. bis zum 3. Tage eine geringe Übungswirkung, dann aber Schwan- kungen in den Leistungen (Tabelle II und III) vom 4. bis zum 8. Ver- suchstage, so daß hier die Übung von Tag zu Tag keine erkennbare Rolle mehr gespielt hat.
Bei den übrigen Vp. finden wir im wesentlichen die gleichen Verhält- nisse, wie wir sie soeben bei der Vp. E. besprochen haben.
Tabelle IV. Vp. We.
Versuchs- Buch- reihe stabe
20.7. 25 122 | 191,5 109 | 185,4 Tabelle V. AP Fr. H. Ver- Ver- i Datum suchs- au Buch- zu au rz nR®/, | nF’, rL mrL
15.11.25 Kur | 99,25 | 0,75 As n,o,b 77,5 | 22,5 l e, x 87,9 | 12,1 n, i, g 848 | 152 49,2 24.11.25] 2 la `r, = 140 | 233° 1,64 | 96,451 3,55 60 lse ! Ib |4x.a| 117 | 210 | 1,8 |94 60 | 5 ‚ Ha e, az | 145 | 279,8| 1,92 | 77,4 Ki 40 laa IIb | kvm| 117 | 370 | 3,15 88,9 | 111
Vp. We., bei der eine einmalige Untersuchung angestellt wurde, zeigt einen deutlichen reellen Leistungsabfall (von 69 auf 49). Einen reellen Leistungsabfall zeigt auch Vp. Fr. H. (Tabelle V) an dem 2. Versuchstage. Im übrigen gleicht diese Versuchsreihe ganż auffallend der analogen der Vp. E. in Tabelle Il.
Vp. Wo., Tabelle VI, macht dagegen insofern eine Ausnahme, als sie an den zwei Versuchstagen eine geringe virtuelle Leistungssteigerung aufweist.
Tabelle VI. Vp. Wo.
|
Mes Ver- ` suchs- | tag
Versuchs- Buch-
| |
Datum reihe | stabe |
y.o | 67
Zusammenfassend ist also festzustellen, daß in der Mehrzahl der Versuche (in 2, der Fälle) eine Leistungsverminderung, in einem
Von W. Ewig und T. Wohlfeil. 269
kleineren Teil anscheinend eine Steigerung der Leistung zu beobachten gewesen ist. Im allgemeinen (83,3%, der Fälle) war die Fehler- zahl nach dem Rudern beträchtlich größer als vorher; dagegen ist die für die Arbeit benötigte Zeit in vielen Fällen (50%) nach der maximalen Anstrengung verkürzt gewesen. Es bestand also oft nach der Arbeit die Tendenz, rascher zu arbeiten. Das ging dann aber stets auf Kosten der Güte der Arbeit. Dabei wurden im Mittel 76,8%, mehr Fehler gemacht als vorher. Die Leistungssteigerung war also nur eine virtuelle. Eine reelle Leistungsvermehrung auf Grund der zwei möglichen Faktoren, der Verkürzung der Zeiten und der gleichzeitigen Verringerung der Fehlerzahlen, ist nach dem Rudern nie beobachtet worden.
Für die Bewertung einer Arbeit ist die Qualität derselben in erster Linie maßgebend. Nehmen wir beispielsweise an, eine Person führt die Korrektur einer Arbeit durch. Macht sie dieselbe rasch, aber fehlerhaft oder, wie man im praktischen Leben sagt, „flüchtig“, so muß sie zwecks Ausmerzung der noch vorhandenen Fehler die Korrektur noch einmal an- stellen. Selbst wenn die zweite Korrektur, die die endgültige Richtig- stellung der Arbeit herbeiführt, wieder sehr schnell erfolgt, so wird die Gesamtleistung eine merklich schlechtere sein, als wenn die betreffende Person in einer einmaligen Korrektur die Arbeit fehlerlos aber etwas langsamer ausgeführt hätte.
Auf Grund dieser Erwägungen ist auch eine derartige, aus der Berech- nung sich ergebende virtuelle Leistungssteigerung keineswegs als eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit aufzufassen. Im Gegenteil, sie ist unbedingt als eine Schädigung derselben durch die Ermüdung anzu- sehen. Die Verhältnisse liegen hier ähnlich, wie sie Bettmann!) bei seinen Reaktionsversuchen vorfand. Er konnte nach der Körperarbeit eine Verkürzung der Reaktionszeiten beobachten, die mit einer merk- lichen Vermehrung der Fehlerzahl einherging (s. Mitt. II).
Betrachten wir nun von diesem Gesichtspunkte aus auch die Ergeb- nisse von Flockenhaus, so läßt sich darüber folgendes sagen: Die an- gebliche Leistungssteigerung ist ebenso wie in vielen unserer Fälle bedingt durch das zeitliche Verhalten der Vp., durch das schnellere Arbeiten. Tat- sächlich besteht dort aber nur eine virtuelle Leistungssteigerung. Es hat eben die Methode von Flockenhaus als solche die nähere Analyse der Vorgänge erschwert und durch die unrichtige Auswertung zu den Fehl- deutungen Anlaß gegeben.
Diese bisherigen Darlegungen würden haltlos sein, wenn wir nicht in Kontrollversuchen zeigen könnten, daß bei Wiederholung einer der- artigen Probearbeit nach 1 bis 2 Stunden, ohne daß eine körperliche oder geistige Anstrengung dazwischen liegt, die Verhältnisse merklich anders liegen. Derartige Kontrollen haben uns gezeigt, daß bei einfacher Wieder- holung der Leistungsprüfung entweder eine sonst nie beobachtete reelle Leistungssteigerung (Tabelle VII und VIII) oder eine beträchtlichere vir- tuelle Leistungssteigerung (Tabelle VIII) eintritt.
1) S. Bettmann, Die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch körperliche und geistige Arbeit. Kraepelin, Psychol. Studien Bd. 1, 1895.
270 Psychologische Beiträge zur Ermüdungsforschung usw.
Tabelle VII. Vp. Wo.
Versuchs- Buch- stabe
152 119
236 244,5
3.8.25 12,5 : 25 10,7 55 Tabelle VIII. Vp. E. Datum | sucns- | Versuchs- | Buch- | „ Z Z R'e | nF'e| rL tag | reihe stabe r Ws a ! 3. 8. 25 ı | 9Uhr 97 ' 214 | 2,2 | 93,35, 6,65, 44
n, 0, li
10 Uhr 136 : 208 : 1,52 | 96,9 3,1 6l
a | ‚x | VYp.M.L. 9Uhr | caz 91 | 230 97,8 | 2,2 30 2 | | nUr num 19 | 2m | 181| ons | 84 | so 10. 1. 26 850 Uhr | w, i,r | 143 | 205 1,43 | 94,4 5,6 66 2 930 Uhr | l,e, x | 146 | 206 | 1,4 | 94,5 | 5,5 67 Warum kam es nun aber bei den Versuchen mit körperlicher Arbeit in einem Teil derselben zu einer reellen oder virtuellen Leistungsverminde- rung, in einem anderen Teil zu einer virtuellen Leistungssteigerung ?’ Hier scheint, da allein der Übungsfaktor nicht in Frage kommt, vor allem die von Richter beobachtete Einwirkung des Trainingszustandes von Bedeutung zu sein. Denn z. B. bei Vp. We. und Fr. H. zeigte sich auffallender- weise stets eine Leistungsabnahme. Beide Vp. traten aber auch gänzlich untrainiert an die Ruderversuche heran. — Bei Vp. E. trat eine merkliche Leistungsabnahme insbesondere an den ersten beiden Versuchstagen (1 und und 2) hervor. Später dagegen ist eine virtuelle Zunahme oder nur eine sehr geringe Abnahme zu beobachten gewesen (wenn man bei den Versuchen, bei welchen zwei Bogen ausgefüllt wurden, nur die ersten Bogen rechnet, was ja den Versuchstagen 1 bis 4 und 6 entsprechen würde). Die Vp. be- gann ebenfalls diese Versuche noch ziemlich untrainiert. Im Laufe der Zeit kam sie dagegen in einen immer besseren Trainingszustand hinein, so daß ihr auch die Ruderarbeit subjektiv wesentlich leichter fiel. — Vp. Wo endlich befand sich in einem relativ guten Trainingszustand, als sie diese Versuche begann. Sie hatte schon oft gerudert, da sie bis dahin Vp. bei den von Ewig ausgeführten zahlreichen physiologischen Versuchen bei maximal an- gestrengter Ruderarbeit gewesen war, und hatte bereits ein hohes Maß von Übung erreicht. Die bei ihr stets beubachtete virtuelle Leistungssteigerung könnte hierauf sehr wohl zurückzuführen sein. Wenn auch das relativ ge- ringe Material keine bindenden Schlüsse erlaubt, so ist doch der Parallelismus zwischen der Güte des Rudertrainings und der Güte der geistigen Lei- stungen nach der Ruderarbeit ganz auffallend. Insofern kann man also allge- mein die Feststellungen Richters bestätigen, als es im Laufe der Ruder- versuche zu einer Änderung des Verhaltens der geistigen Leistungsfähig- keit unmittelbar nach körperlicher maximaler Anstrengung kommt. Ob es sich dabei ausschließlich um ein spezifisches Charakteristikum des
Von W. Ewig und T. Wohltfeil. 271
Trainings handelt, das können allerdings weder unsere Versuche noch die von Richter, welche ohne Kontrollversuche angestellt worden sind, defi- nitiv entscheiden. Eine reelle Leistungssteigerung nach körperlicher An- strengung im Laufe des Trainings, wie sie Richter gefunden zu haben glaubte, ließ sich aber auf Grund unserer Ergebnisse nicht erzielen.
Eine Zusammenfassung unserer Resultate ergibt:
1. Maximale körperliche Arbeit hat meistens eine reelle oder virtuelle Verminderung, zu einem kleineren Teil aber auch eine virtuelle Vermehrung der geistigen Leistungsfähigkeit zur. Folge. Eine reelle Leistungsver- mehrung hat sich nie beobachten lassen, während sie in der Hälfte der Kontrollversuche- aufgetreten ist.
2. Die Schädigung der geistigen Leistungsfähigkeit durch eine vor- herige maximale körperliche Anstrengung äußert sich vorwiegend in einem „Flüchtigwerden in der Arbeit‘, d. h. die Qualität derselben wird schlechter, die Arbeitszeit dagegen verkürzt. In einem Teil der Experimente tritt aber auch eine offensichtliche intensive Ermüdung zutage, welche sich durch ein Langsamerwerden bei der Arbeit und durch eine Verschlechterung der Arbeitsqualität dokumentiert.
3. Die Bourdonsche Methode erscheint in der von uns angegebenen Modifikation zu sportpsychologischen und zu anderen Ermüdungszwecken geeignet, da bei Verwendung sinnloser Silben und stetig wechselnder Buchstabenkombinationen eine Übungswirkung nur in relativ geringem Maße beobachtet wird, und eine Analyse des Arbeitsvorganges bezüglich der Verwertung der Resultate sich gut durchführen läßt.
Über die biologische Wirkung des Saccharins.
(Zum Artikel von Professor R. Neumann.)
Von Professor der Leningrader Universität W. A. Uglow. (Bei der Redaktion eingegangen am 4. August 1926.)
Im 96. Band, Lief.5 und 6, des Archivs ist ein Artikel von Prof. Neumann unter dem Titel „Wird die Ausnützung des Nahrungseiweißes durch Saccharin beeinflußt ?‘‘ erschienen, welcher durch meine in dem- selben Archiv (Bd. 92, Heft 8) veröffentlichte Arbeit ‚Über die Wirkung des Saccharins auf Bakterien, Plankton und Verdauungsfermente‘‘ ver- anlaßt wurde.
Prof. Neumann führt in seiner Arbeit keine experimentellen Ein- wände gegen meine Versuche an, welche er nicht wiederholt hat, und widerlegt nicht die fünf Schlußfolgerungen, welche aus den Versuchen unmittelbar gezogen werden müssen und zum Schluß meiner Arbeit angeführt sind.
Prof. Neumann bezweifelt einfach die Richtigkeit unserer Angaben. Er schreibt z. B. l
„Die Ergebnisse, die zum Teil mit eigener neuer Methode gewonnen wurden, weichen von den Befunden anderer Autoren in mancher Be- ziehung nicht unwesentlich ab. So ist z. B. für den Bakteriologen neu, zu hören, daß die bakterizide Kraft des Saccharins diejenige des Phenols erheblich übertreffen soll, es wird auch davon (?)!) gesprochen, daß eine Lösung von Saccharın 1:500 innerhalb 40 Tagen die Sporen von Bacillus subtilis abtöte. Wir sind bei unseren gelegentlichen Untersuchungen über den Einfluß des Saccharins auf Bakterienwachstum zu dem Resultat gekommen, daß das Wachstum verschiedener sporenloser Bakterien bis zu einer Konzentration von 3°, noch nicht unterbunden wurde. Auch Hefe war noch nicht geschädigt.‘
Auf diese Bemerkung kann ich erwidern: 1. Die Resultate, nach welchen die bakterizide Kraft des Saccharins diejenige des Phenols in bezug auf dieselben sporenlosen Bakterien um das Zehnfache über- trifft. habe ich ausschließlich nach der Methode von Rideal-Walker
1) Meine Frage.
Über die biologische Wirkung des Saccharins. . 273
und Esmarch erhalten. Einen Versuch über die Abtötung der Sporen des Bacillus subtilis habe ich gar nicht angestellt.
2. Die Bestimmung der bakteriziden Kraft habe ich, wie ich in meiner Arbeit schreibe (S. 334, Zeile 5 von unten), mit saurem schwer löslichen Saccharin ausgeführt, während Prof. Neumann augenscheinlich mit 30proz. Natronsalzlösung des Saccharins — mit der Kristallose — expe- rimentiert hat, welche in der Tat beinahe gar keine bakterizide Kraft be- sitzt. Prof. Neumann hat meinem Artikel keine genügende Aufmerksam- keit geschenkt, bevor er die Widerlegung schrieb.
3. Unsere Resultate sind für die Bakteriologen nicht neu, da schon Stutzer, welchen ich zitiere, im Jahre 1888, unter Anwendung einer primitiven Methodik, die Beobachtung gemacht hat, daß die iproz. Sac- charinlösung, mit Zuckerbouillon oder Sirup vermischt, ein die Gärung hinderndes Mittel ist. Landolt und Mercier haben diese Beobachtung bestätigt. Beinahe den gleichen Wert der bakteriziden Kraft habe ich nach der Methode von Esmarch und einen etwas größeren nach der eng- jischen Methode von Rideal-Walker gewonnen.
Abgesehen davon sagt auch Prof. Flügge (die Zitate sind in meiner Arbeit angeführt), daß das Saccharin für eine Salizylsäure gehalten werden muß. Daß diese stärker wirkt als das Phenol, muß den Bakteriologen bekannt sein. Wie im Salizylnatron die bakteriziden Eigenschaften der Salizylsäure schwinden oder sich stark verringern, so schwinden im Natron- salze des Saccharins die bakteriziden Eigenschaften der Orthosulfamido- benzoesäure, obgleich das Lösungsvermögen sich stark vergrößert. Im Magen verdrängt jedoch die Salzsäure aus den Salzverbindungen sowohl die Salizyl- als auch die Orthosulfamidobenzoesäure.
Prof. Neumann führt in seiner Arbeit nur die Literatur an, welche zugunsten der Unschädlichkeit des Saccharins spricht, und erwähnt nicht solche Autoritäten wie der oben genannte Flügge, v. Jaksch, Brouar- del, Ponsche, Dujardin-Beaumetz u.a. Prof. Neumann erklärt die Beobachtungen dieser Forscher einfach durch die Erscheinung der Idiosynkrasie, was bei weitem nicht überzeugend ist und selbst als Ein- wand gegen die Versuche von Prof. Neumann am Stoffwechsel dienen kann.
Endlich schreibt Prof. Neumann zum Schluß, daß schon vor 25 Jahren Prof. K.B. Lehmann sich für die vollständige Unschädlichkeit des Sac- charins ausgesprochen hat, und daß es Zeit ist, das Märchen über die Schädlichkeit des Saccharins ein für allemal zu begraben. Obgleich wir die Autorität von Prof. K.B. Lehmann sehr hoch schätzen, denken wir, daß die deutsche Gesetzgebung durch gewisse wissenschaftliche Er- wägungen veranlaßt war, als sie noch im Jahre 1902, d. h. vor 23 Jahren, das Saccharin für einen Gegenstand des Apothekenhandels erklärte und dessen Beimischung zu Nährstoffen und Getränken verbot; der freie Saccharinhandel wurde nur für den Export ins Ausland erlaubt. Es fragt sich, weshalb hat die deutsche Regierung dieses Gesetz bis zum Weltkriege nicht rückgängig gemacht ? Sollte es dazu durch das Märchen über die Schädlichkeit des Saccharins veranlaßt sein ?
274 Von Prof. W. A. Uglow.
Endlich hat Prof. Neumann außer acht gelassen, daß wir die Re- sultate unserer Untersuchungen in vitro auf die Verdauung in vivo über- tragen haben, da die Versuche der Doktoren Folbort und Rastor- gujewa an Hunden im Laboratorium von Prof. J. P. Pawlow unsere Beobachtungen und die aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen vollends bestätigt haben.
Bemerkungen zu der vorstehenden Erwiderung von W.A. Uglow auf meine Arbeit „Wird die Ausnutzung des Nahrungseiweißes durch Saccharin beeinflußt?
Von Professor R. O. Neumann, Hamburg.
(Bei der Redaktion eingegangen am 13. August 1926.)
Die Einwände Uglows an sich würden mir nicht Veranlassung geben, darauf zu erwidern, da sie keinerlei Beweisstücke gegen die Richtigkeit der Resultate meiner Stoffwechselversuche bringen. Weil sie aber auch gar nicht den Kern der Sache treffen, so möchte ich nur folgendes be- merken:
Meine Untersuchungen verfolgten zunächst den ausgesprochenen Zweck, durch experimentelle Versuche die Behauptungen Uglows, daß beim Saccharingebrauch nur 85—87°, des Nahrungseiweißes ausgenutzt würden, widerlegen zu können. Das schien mir um so notwendiger, als er daran die sehr verwunderliche Frage knüpfte: „Wird dies nicht zur Aushungerung beitragen ?“ und zweitens wünschte ich zeigen zu können, daß von einer Schädlichkeit des Saccharins, die Uglow für so groß hält, daß das Saccharin im freien Handel verboten werden müßte und nur noch in den Apotheken abgegeben werden dürfe, keine Rede ist.
Den Beweis für die Unhaltbarkeit der Uglowschen Behauptungen hat der Stoffwechselversuch erbracht. Da das Eiweiß der Nahrung ohne Saccharin mit 82,55%, ausgenutzt wurde, so hätte die Ausnutzung des Nahrungseiweißes durch den Saccharinzusatz auf 71,82%, herabgedrückt werden müssen. Das war aber ganz und gar nicht der Fall, da nicht ein- mal die hundertfache Dosis dies fertig brachte. Die Ausnutzung wurde vielmehr nur auf 0,5%, vermindert. Hierzu hat sich Uglow in seinen Einwendungen nicht geäußert. Es ist daher anzunehmen, daß diese Tatsache auch ihn zu der Überzeugung geführt hat, daß eine Aushungerung wegen des Saccharingenusses nicht zu befürchten ist.
Auch die polemischen Auseinandersetzungen Uglows über die Schäd- lichkeit des Saccharins vermögen die Tatsache nicht zu entkräften, daß das Saccharin in den Mengen, in denen es dem Menschen zu- geführt wird, niemals und nimmermehr schädlich ist. Hier ent- scheiden nicht Versuche an Bakterien, Schimmelpilzen und Zooplankton, auch nicht die von Volborth und Rastorguiew angegebene unter- drückende Wirkung des Saccharins auf die. Magensekretion beim Hunde,
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 19
276 Bemerk. z. d. vorsteh. Erwiderung v. A. Uglow. Von Prof. O. Neumann.
sondern einzig und allein die Versuche und Erfahrungen an Men- schen. Wenn, wie in meinen Versuchen, innerhalb 13 Versuchstagen 50 g reines Saccharin, und zwar dazu noch in Einzeldosen von 3, 4 und 5g ohne jede subjektive Beschwerden und ohne jeden nachhaltigen Ein- fluß auf den Organismus genommen werden konnten und wenn seit mehr als 40 Jahren Millionen von Menschen das Saccharin ungefährdet ver- wendet haben und noch verwenden, dann gehört die Annahme der Schädlichkeit des Saccharins für den Menschen unbedingt in das Reich der Fabel. Dagegen fallen die wenigen gegenteiligen Beob- achtungen, die mir wohl bekannt sind, und auch in meinem Artikel im Technischen Gemeindeblatt, Jahrg. 1926, Nr. 17, gewürdigt worden sind. gar nicht ins Gewicht.
Da ich von vornherein gar nicht die Absicht hatte, die biologischen Versuche Uglows mit Bakterien, Schimmelpilzen und Zooplankton zu wiederholen, so erübrigt es sich, auf die von ihm gemachten Einwände, die zum Teil einen persönlichen Anstrich haben, einzugehen. Erwähnt sei nur, daß ich die früheren im Technischen Gemeindeblatt angedeuteten Versuche mit Bakterien auch mit reinem Saccharin, nicht mit Kri- stallose ausgeführt habe.
Über die Beurteilung des roten Blutbildes bei der Blei-
vergiftung unter Berücksichtigung verschiedener Darstel-
lungsmethoden der polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten.
Von
Dr. med. H. Brückner und Dr. med. R. Spatz.
(Aus dem gewerbehygienischen Laboratorium des Reichsgesundheitsamtes.) (Bei der Redaktion eingegangen am 13. September 1926.)
Die in der diagnostischen Beurteilung von Bleiblutbildern herrschende Unsicherheit, deren Ursachen zum Teil in der Verwendung verschiedener Darstellungsmethoden der polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten zu suchen sind, gab uns Veranlassung, den Einfluß ver- schiedener Farbstoffe auf das Zählungsergebnis und die Darstellbarkeit der basophilen Erythrocyten!) zu untersuchen. Außerdem ergab sich ım Laufe unserer Tierversuche über die Blutpathologie bei der Blei- vergiftung die Notwendigkeit, zu einer Methodik zu gelangen, welche die Schwankungen in der Häufigkeit des Vorkommens der pathologischen Blutzellen mit genügender Genauigkeit zahlenmäßig zu verfolgen gestattet.
Bevor wir die eigentliche Fragestellung in Angriff nehmen konnten, mußte zunächst die Möglichkeit geschaffen werden, die Durchschnitts- zahl der Erythrocyten pro Gesichtsfeld sowie der krankhaft veränderten Blutzellen in einer Million Erythrocyten annähernd quantitativ zu be- stimmen.
I. Methodik zur Ermittelung der Durchschnittszahl der Erythrocyten in einem Gesichtsfeld sowie der pathologisch veränderten Zellen in einem Kubikmillimeter Blut oder in einer Million Erythrocyten.
Für die Auszählung der basophil punktierten roten Blutkörperchen wird in der Literatur verlangt, die mikroskopische Vergrößerung so zu wählen, daß ım einwandfreien Blutausstrich das Gesichtsfeld durch- schnittlich 200 Erythrocyten enthält. Offenbar galt es bislang als sicher. daß man bei Verwendung der üblichen Ölimmersionen in Verbindung
1) Basophile Erythrocyten = Polychromaten - basophil punktierte Ery- throcyten.
19*
278 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
mit schwachen Okularen dieser Forderung hinlänglich entsprechen könnte. So benutzte P. Schmidt (1), der im Zusammenhang mit der Aufstellung seiner Grenzzahl den Durchschnittswert der Erythrocyten mit 200 pro Gesichtsfeld angenommen hat, die Leitzsche Optik, !/,, Ölimmersion und Okular I mit einer 555fachen Vergrößerung, während wir für unsere Untersuchungen das Zeißsche Aprochromat ‚90‘, Apertur 1,3 und das Kompensationsokular ‚„5mal‘‘ = A50fache Vergrößerung verwendet haben.
Nach Zeiß entspricht eine
Vergrößerung von 450 einem Flächeninhalt des Gesichtsfelds von 0,0513 mm? (rund), |
Vergrößerung von 630 einem Flächeninhalt des Gesichtsfelds von 0,0314 mm? (rund),
Vergrößerung von 900 einem Flächeninhalt des Gesichtsfelds von 0,0164 mm? (rund).
Danach ergibt sich bei der 555fachen Vergrößerung des genannten Leitzschen Systems eine Gesichtsfeldgröße von etwa 0,04 mm?, was einer Differenz von rund 18— 20%, gegenüber der 450fachen Vergrößerung der Zeißschen Optik entspricht. Das Gesichtsfeld des Leitzschen Systems besitzt also einen um diesen Betrag kleineren Flächeninhalt. Daraus folgt, daß die Zahl der Erythrocyten pro Gesichtsfeld beim Leitzschen System um etwa 20%, kleiner ist als bei der von uns verwendeten Zeiß- schen Optik.
Der Versuch, die Menge der Erythrocyten pro Gesichtsfeld durch Auszählung genau zu ermitteln, mußte vorerst als undurchführbar auf- gegeben werden, weil ein geeignetes Okular-Zählfenster, das einiger- maßen Aussicht auf einwandfreie Zählung hätte gewährleisten können, zurzeit von keiner der einschlägigen Firmen zu erhalten war. Jedoch ließen bereits überschlägige Zählungen der Erythrocyten unschwer er- kennen, daß etwa das Doppelte bis Dreifache der seither festgestellten Zahl in einem Gesichtsfeld vorhanden war. Wir mußten deshalb vor Inangriffnahme der geplanten Versuche den Durchschnittswert der Erythro- cyten pro Gesichtsfeld in unseren Ausstrichen auf andere Weise bestimmen.
a. Einige Bedingungen für die Erzielung guter Blutausstriche.
Wegen der Besonderheit unserer Methodik, bei welcher genau ab- gemessene Mengen Blutes in Form eines Rechteckes gleichmäßig und quantitativ auf vollkommen fettfreien Objektträgern auszustreichen sind, mußte auf die Herstellung der Präparate, insonderheit auf das Aus- streichen, größte Sorgfalt verwendet werden. Dabei ergab sich, daß die Beschaffenheit des Ausstriches neben einer Reihe anderer Umstände von der Geschwindigkeit abhängig ist, mit welcher das Ausstreichen vollzogen wird. Während die Präparate infolge zu langsamer Bewegung nicht selten recht mangelhaft ansprechen!), wodurch nur ein Teil der auszustreichenden Menge auf den Objektträger zu liegen kommt, wird
I) Das Blut bleibt nicht von Anfang an, sondern erst gegen Ende auf dem Objektträger haften, wodurch das Ausstreichen nicht quantitativ gelingt; das gilt besonders für das Blut mancher Tiere.
Von Dr. H. Brückner und Dr. R. Spatz. | 279
die. Blutschicht bei zu großer Geschwindigkeit am Anfang zu dick und am Ende zu dünn, so daß eine ganz ungleichmäßige Verteilung der Zellen auf die Flächeneinheit erzielt wird. Durch Beschleunigung oder Ver- zögerung der Bewegung während des Ausstreichens entstehen Uneben- heiten, die wiederum eine Störung der gleichmäßigen Verteilung der Zellen bewirken. Offenbar gibt es für jede Blutart ein Optimum der ein- zuhaltenden Geschwindigkeit, das manchmal erst durch Ausprobieren ermittelt werden muß. Die Ursache der verschiedenen Ansprechbarkeit der Ausstriche dürfte im wesentlichen in der von Tiergattung zu Tier- gattung wechselnden physikalischen Beschaffenheit des Blutes zu suchen sein (Gerinnbarkeit, Viskosität). Die besten Ausstriche werden bei einer jeweils durch Ausprobieren zu ermittelnden optimalen Geschwindigkeit erzielt, wobei gegen Ende des Ausstreichens eine ganz leichte Verzögerung eintreten muß.
b. Herstellung der Ausstrichpräparate zur Berechnung der Zahl patho- logisch veränderter roter Blutkörperchen pro Million Erythrocyten sowie zur Ermittelung der Durchschnittszahl der Erythrocyten pro Gesichtsfeld.
Eine bestimmte Menge Blutes wird unter Berücksichtigung obiger Vorsichtsmaßnahmen auf einem Objektträger so ausgestrichen, daß ein Rechteck entsteht, dessen Flächeninhalt durch Abmessen der Seiten berechnet werden kann. Das Verhältnis des Flächeninhaltes des Prä- parates (b) zum Flächeninhalt des Gesichtsfeldes des Mikroskopes (c) ergibt die Zahl der Gesichtsfelder des ganzen Präparates = D. Auf die gefundene Zahl von Gesichtsfeldern ist die gesamte Menge des ausgestri- chenen Blutes verteilt. Ist die Zahl der Erythrocyten pro Kubikmilli- meter bekannt, so kennt man auch die Zahl der Erythrocyten in der Menge des ausgestrichenen Blutes. Diese Zahl von Erythrocyten ist auf die Gesamtzahl der Gesichtsfelder verteilt. Das Verhältnis der Gesamt- zahl der Erythrocyten (e) zur Gesamtzahl der Gesichtsfelder (D) ergibt die Zahl der Erythrocyten pro Gesichtsfeld = Æ. Aus dem Faktor E und der Zahl der basophilen Erythrocyten pro Gesichtsfeld (f) läßt sich deren Zahl (Z) pro Million Erythrocyten leicht berechnen.
Die Brauchbarkeit der Methode ist abhängig von der Genauigkeit, mit welcher die Abmessung der verwendeten Blutmenge und die Ausmessung der Seitenkanten des entstandenen Rechteckes ausgeführt werden kann.
Die für die Abmessung der kleinen Blutmengen von 2—3 mm? ver- wendeten Pipetten müssen auf das genaueste geeicht werden. Wir be- nützten die bekannten Blutmischpipetten von Zeiß!), deren Kapillare eine Graduierung von 10 Teilstrichen aufweist. Das Volumen der Ka- pillare wurde durch Abwägen der bis zum Teilstrich 5 oder 10 aufgezogenen Wassermenge bestimmt (Spuren von Gentianaviolett zur Sichtbarmachung der Wassersäule).
1) Blutmischpipetten nach Zeiß zur Zählung der Erythrocyten (Verdünnung 1:101).
280 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
Die nachfolgenden Zahlen geben eine Vorstellung von der Genauigkeit der Eichung.
Pipette Nr. 288. 1. Wägung des Pipetteninhalts (10 Teilstriche) durch Ausblasen in ein Wägegläschen. Brutto . . . . . a) 7,7184 g b) 7,7813 g c) 7,7801 g Lars: soc u. % 7,1118 g 7,7746 g 7,1135 g Netto... 0,0066 g 0,0067 g 0,0066 g 2. Wägung des Pipetteninhalts (5 Teilstriche) durch Ausblasen in ein Wägegläschen. Brutto. . . . . a) 7,7766 g b) 7,7769 g
Taraa e 7,1133 g 7,1131 g Netto ..... 0,0033 g 0,0032 g
Die Pipette, von welcher 3 Teilstriche 1,98 mm? enthielten, wurde für sämtliche Versuche verwendet. i
Die Fehler!) bei der Abmessung der Blutmenge können, wie wir durch Kontrollversuche ermittelt haben, einige Prozente (bis zu 5%) betragen. Eine Fehlergrenze von ähnlicher Größenordnung kann auch bei der Ausmessung der Seitenkanten des Rechteckes auftreten, weil das Ende des Ausstriches nicht immer rechtwinklig ausläuft. Für den Ver- such dürfen deshalb nur ganz einwandfreie Präparate ausgewählt werden. Nach einiger Übung gelang es uns, unter 10 .Ausstrichen 7—8 brauch- bare Präparate zu erzielen.
Die angegebene Methodik kann — wenigstens für wissenschaftliche Zwecke — zur Ermittlung der Durchschnittszahl pathologischer Zellen in einem Kubikmillimeter Blut oder in einer Million Erythrocyten ganz allgemein verwendet werden.
c. Die nach obiger Methode gefundene mittlere Zahl von Erythrocyten pro Gesichtsfeld.
Durch überschlägige Auszählung der Erythrocyten in einer Reihe von Gesichtsfeldern einwandfreier Menschen-Blutausstriche erhielten wir Werte, welche die in der Literatur angegebenen Zahlen um etwa das Doppelte bis Dreifache übertrafen. Wir untersuchten nun, ob sich ähn- liche Unterschiede auch am Hundeblut feststellen ließen. 87 gut gelungene Ausstriche von Hundeblut unter Verwendung der beschriebenen Methode lieferten folgendes Ergebnis:
°) Zur Vermeidung der Blutgerinnung in der Kapillare muß die Pipette nach jeder Blutentnahme sofort vollständig ausgeblasen und dann mit physio- logischer Kochsalzlösung gut durchgespült werden. ‚Schlieren‘ in der Kapillare sind unzulässig. Beim Auftragen des Kapillarinhalts auf den Objektträger darf der letzte Teilstrich nicht verwendet werden, weil vollständiges Ausblasen des Inhaltes das quantitative Ausstreichen unmöglich macht; die Spitze der Pipette muß dabei den Objektträger berühren. Von der Blutentnahme bis zur Vollendung des Ausstriches ist rasches Arbeiten erforderlich.
Da das Volumen der Kapillare von Teilstrich zu Teilstrich unterschiedlich groß sein kann, so muß unter Umständen der für den Versuch verwendete Meß- bereich noch besonders geeicht werden. Die Kontrolle durch wiederholtes Aus- wägen der erhaltenen Bluttropfen muß gut übereinstimmende Werte ergeben.
Von Dr. H. Brückner und Dr. R. Spatz. 281
Die Zahlen stellen Mittelwerte dar aus 87 Präparaten; die Menge des ausgestrichenen Blutes betrug stets 1,98 mm3.
ES Zi EEE Er EEE EEE EEE EEE EEE EEE RE EEE TEE EEE, Zahl der Erythro-| Flächeninhalt Zahl der ‚Zahl der Erythrocyten cyten pro mm? der Präparate Gesichtsfelder | pro Gesichtsfeld
4,509000 | 63 12 420 707
Für das Hundeblut ergibt sich somit ein Mittelwert von rund 700 Ery- throcyten pro Gesichtsfeld.
Bei der Übertragung dieser Ergebnisse auf die Leitzsche Optik!) muß ein Abzug von etwa 20°, gemacht werden, so daß rund die Zahl von 560 Erythrocyten pro Gesichtsfeld sich errechnet. Ausstriche von Menschenblut liefern etwas kleinere Werte. Es fanden sich im Mittel aus einer Anzahl gut gelungener Menschenblutpräparate rund 660 Erythro- cyten pro Gesichtsfeld. Auf die 555fache Vergrößerung übertragen gibt unsere Berechnung demnach die Zahl von etwa 500—530 Erythrocyten pro Gesichtsfeld im Durchschnitt. Diese Zahlen haben nur für verhältnis- mäßig dichte Ausstriche Gültigkeit, bei denen ohne wesentlichen Zwischen- raum Zelle an Zelle sich lagert.
Il. Untersuchungen über die Fehlergrenzen bei der Auszählung poly- chromatischer und basophil punktierter Erythrocyten (Standardmethode für die Auszählung).
Über die Fehler bei der Auszählung von polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten in Blutpräparaten finden sich in der Literatur recht unsichere Angaben. Ergebnisse der Auszählung lassen sich aber nur unter der Voraussetzung vergleichen, daß die angewandte Methodik und deren Leistungsfähigkeit bekannt ist.
Die Verteilung der Polychromaten und basophil punktierten Erythro- cyten im Ausstrich ist außerordentlich unregelmäßig. Nur eine Gesetz- mäßigkeit ließ sich mit einiger Sicherheit erkennen. Man beobachtet näm- lich, daß sich die größere Zahl der basophilen Erythrocyten auf der linken Hälfte des Präparates?) findet, während rechts stets weniger gezählt werden. Nicht selten zeigt sich am oberen und unteren Rand des Prä- parates eine kleine Anhäufung gegenüber der Mitte, ein Befund, der im übrigen jede Regelmäßigkeit vermissen läßt.
Um einwandfreie Zählresultate zu erhalten, muß man demnach das Präparat parallel der Längsseite in 3 gleiche Zonen einteilen und außer- dem bei der Auszählung die rechte und linke Hälfte ganz gleichmäßig berücksichtigen: Rechte und linke Hälfte. obere, mittlere und untere Zone. Man zählt dann je zweimal 10 Gesichtsfelder in der oberen, mitt- leren und unteren Zone = 60 Gesichtsfelder derart durch. daß jeweils 10 Gesichtsfelder mit Hilfe der Millimetereinteilung am Objekttisch von links nach rechts ganz gleichmäßig verteilt werden.
1) 1/2 Ölimmersion und Okular I = 555fache Vergrößerung. 2) Links = ursprünglicher Sitz des Bluttropfens. Die Durchzählung der Präparate erfolgte stets in diesem Sinne von links nach rechts.
282 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
obere Zone u. mittlere Zone felder.
untere Zone
linke rechte Hälfte
Zwecks Ermittlung der Fehlergrenzen bei Verwendung obigen Schemas wurde folgendermaßen vorgegangen:
1. Zunächst interessierte uns die Frage, welche Differenzen sich er- geben bei der vollständigen Auszählung einer Längsreihe des gleichen Präparates von links nach rechts (Gesichtsfeld an Gesichtsfeld) gegen- über der intermittierenden Auszählung (Teilauszählung) mittels 10 Ge- ‚sichtsfeldern derselben Längsreihe. Es wurde deshalb in den folgenden Versuchen jeweils die wirkliche Zahl der Polychromaten pro Gesichts- feld mit dem entsprechenden” Ergebnis der Teilauszählung verglichen. An der Vergleichszählung beteiligten sich jedesmal 5 verschiedene Personen, aus deren Ergebnissen der Mittelwert errechnet und die höchste Fehler- grenze vermerkt wurde. Die Präparate wurden aus einer beliebigen Reihe von Meerschweinchen-Blutausstrichen wahllos herausgenommen.
— m e
Vollständige Auszählung | Teilauszählung Versuch Gesichts- | Polychro- | Polychro- _ a FAR felder | maten 'Ges.-Feld Ä = o, : ne | | Nr. 1 (gutes Präparat). . 148 | 814 | 5,5 78 | 3 Nr. 2 (schlecht gefärbtes | | | Präparat) . 22.2... 138 | 1363 |! 99 J10 i —20 Nr. 3 (gutes Präparat) . 143 | 1527 | 10,6 5 ' +19 Nr. 4 (gutes Präparat). 119 568 | 4,7 +8, +123 Nr. 5 (zahlreiche zweifelhafte | Polychromaten) .. | 2124 Im | wo | 8 | -ı Nr. 6 (gutes Präparat) . 120 900 ; 15 | +8 ; +16
Bei der Teilauszählung, die jedesmal von 5 verschiedenen Personen ausgeführt wurde, schwankte die Mehrzahl der Fehler zwischen 3 und 8°.%-
Aus den Versuchen ist zu schließen, daß wir unter den obigen Be- dingungen bei der Auszählung einer Längsreihe im Sinne des Schemas mit einer mittleren Fehlergrenze von + 8 bis 10°, gegenüber dem wirk- liehen Wert rechnen müssen, daß die Mehrzahl der Fehler in den Grenzen von 3—8°,, schwankt und daß die höchste Fehlergrenze 20°, erreichen kann. Rückschlüsse auf die Fehlergrenzen in Präparaten mit sehr hohen ort er sehr niedrigen Zahlen von Polyehromaten pro Gesichtsfeld sind nur mit großer Vorsicht und Einschränkung erlaubt. Immerhin ergaben die Resultate gewisse Anhaltspunkte über die Grenzen der Fehler in einer L.ängsreihe.
Von Dr. H. Brückner und Dr. R. Spatz. 283
.2. Die Bestimmung der Fehlergrenzen bei der Auszählung des ganzen Präparates nach unserem Schema stieß auf erhebliche Schwierigkeiten. Das Ideal bei dieser Untersuchung hätte darin bestanden, daß man sämt- liche ca. 12000—15000 Gesichtsfelder eines Präparates ausgezählt und den Mittelwert der Polychromaten pro Gesichtsfeld mit dem nach unserem Schema erhaltenen Wert verglichen hätte. Ein derartiges Vorgehen scheiterte an der gewaltigen Arbeitsleistung.
Wir stellten deshalb den Vergleich zunächst so an, daß wir das Er- gebnis der vollständigen Auszählung von 3 Längsreihen des Präparates dem Mittelwert pro Gesichtsfeld, welches sich bei Auszählung von 60 Ge- sichtsfeldern nach dem Schema ergab, gegenüberstellten. Ein derartiger Vergleich kann selbstverständlich nur einen bedingten Wert besitzen.
'Fehlergrenzen bei der Teil-
Vollständige Auszählung auszählung durch 5 Personen
Polychro- Versuch | _ | Fehlergrenze Gesichts- |; Polychro- : maten pro slttlere höchste
felder maten | Gesichts- feld
a/o o/o F8 | +10 +10 — 18
Auch bei dieser Versuchsanordnung tritt die Fehlergrenze im Mittel von Je 5 Vergleichszählungen (5 Personen) mit + 8 bis 10% in Erscheinung.
Da die Vergleichszählung in sämtlichen Versuchen von 5 verschie- denen Personen ausgeführt wurde, so ist in der ermittelten Fehlergrenze auch der Fehler enthalten, welcher sich von Individuum zu Individuum unter der Voraussetzung sorgfältiger Arbeit geltend macht.
Der letzte Versuch ist von zwei besonders gut geübten Untersuchern ausgeführt worden. Es wurden zu diesem Zwecke in jeder Zone je 5 Längs- reihen, im ganzen also 25 Längsreihen ausgezählt. Mit dem Mittelwert der Polychromaten pro Gesichtsfeld wurde dann der Durchschnittswert von 3 Auszählungen nach dem Schema (60 Gesichtsfelder über das ganze Präparat) verglichen.
Nr. 7
329 2854 | 8,6 Nr. 8
362 ! 3896 10,8
Vollständige Auszählung
Fehlergrenze bei der Teil- auszählung durch 5 Personen Polychro- Versuch Nr. 9 Gesichts- | Polychro- | maten pro 1 SDIEEBEENZE ea felder maten Gesichts- mittlere höchste 0: 0;
| Vollständ. Auszählung| 1305 | 1,7 Teilauszählung in } 1. 60 | 102 1,7 .— 1,3 — 3,9 60 Gesichtsfeldern z 60 | 108 1,8 0 0 (Schema) 3. 109 | 18 0 | 0 Man ersieht aus diesem Versuch, daß man — geübte Untersucher und sorgfältigste Arbeit vorausgesetzt — die Genauigkeit sehr weit
treiben kann.
Für die Feststellung der Fehlergrenzen haben wir absichtlich Poly- chromaten gewählt, weil diese uns von vornherein die größeren Schwierig- keiten zu bieten schienen. Bei der Verwendung des beschriebenen Zähl- schemas dürfen wir demnach unter den Bedingungen unserer Arbeits-
284 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
weise mit einer ungefähren Fehlerbreite von F 10%!) rechnen. Es können aber, wie aus den Versuchen hervorgeht, Fehler bis zu 20%, auftreten. Derartige Extreme werden bei längeren Untersuchungsreihen ausge- glichen, so daß sie unter dieser Bedingung nicht allzusehr ins Gewicht fallen. Selbstverständlich stellen die angegebenen Fehlergrenzen keine mathematisch genauen Zahlen dar; sie können nur einen ungefähren Anhalt geben über die Fehler, welche der gewählten Art der Standard- auszählung anhaften.
Die Feststellung der Fehlergrenze bei basophil punktierten Erythro- cyten haben wir unterlassen, weil die dahin gerichteten Orientierungs- versuche erkennen ließen, daß die Fehler bei dieser Art pathologischer Zellen sicher nicht größer sind als bei Polychromaten.
Ill. Die Untersuchung des Einflusses verschiedener Farbstoffe auf die Darstellbarkeit bzw. Zahl der polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten (Färbbarkeitsgrenze).
Das Auftreten von polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten in kreisendem Blut bei der Bleivergiftung wird heute allgemein als eine gesteigerte Erythropoese des durch die Giftwirkung gereizten Knochenmarkes aufgefaßt. Es handelt sich also um einen einfachen Regenerationsprozeß als Ausdruck eines krankhaften Reizes. Polychromasie und Basophilie sind nach V. Schil- ling (2) verschiedene Erscheinungsformen der gleichen basophilen Grundsubstanz. Die beiden Erscheinungsformen gehen ineinander über. Auch darüber haben sich alle Autoren allmählich geeinigt. Dagegen besteht heute im Zusammenhang mit der Frage der Genese und Abstammung dieser basophilen Substanz (ob plasmogen oder karyogen) immer noch ein lebhafter Streit darüber, ob die Poly- chromasie durch ‚‚tropfige Entmischung‘“ in basophile Punktierung übergeht oder obals primärer Zustand die Granulation angenommen werden muß, die infolge eines Auflösungsprozesses in diffuse Polychromasie übergeht. V. Schilling (3) und alle Anhänger der plasmogenen Entstehung der basophilen Substanz nehmen tropfige Entmischung an, während die Anhänger der Kerngenese einen Auf- lösungsprozeß unterstellen. Wir haben uns bei unseren Arbeiten der Auffassung Schillings angeschlossen, weil seine Theorie die einleuchtendste und wenigstens vom biologischen Standpunkt aus die klarste ist. Wir verkennen aber durch- aus nicht die Einwände der Anhänger der Kerngenese. Für die weitere Unter- suchung der vorliegenden Frage vom Standpunkt der praktisch-färberischen Betrachtungsweise ist die Abstammung der basophilen Substanz (ob karyogen oder plasmogen) durchaus gleichgültig, weil ihre Färbbarkeit im wesentlichen von dem jeweiligen chemischen und physikalischen Zustand, d.h. von ihrer Affinität zu einem bestimmten Farbstoff abhängig ist.
Die Untersuchungen von Schwarz und Helfke (4) an Bleiarbeitern sowie unsere eigenen Erfahrungen an bleikranken Tieren haben gelehrt, daß die Zahl der mit basophiler Substanz begabten Erythrocyten, je nach dem zu ihrer Darstellung verwendeten Farbstoff schwankt. Am Menschen konnten die beiden Autoren folgendes Zahlenverhältnis feststellen; zitiert nach Teleky (5): Hamel 100; Azur II 95; May-Grünwald 41,6; Leish- mann 8,0.
1) Fehlergrenzen von etwas kleinerem Ausmaß fand Lehmann: Archiv für Hygiene 192%, Bd. 94, 8.12.
Von Dr. H. Brückner und Dr. R. Spatz. 285
lila: Untersuchung des Einflusses der verschiedenen Farbstoffe auf die Darstellbarkeit bzw. die Zahl der polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten mittels Auszählung nach dem Schema.
Aus den Erfahrungen bei Verwendung verschiedener Farbstoffe geht mit großer Deutlichkeit hervor, daß zur Erzielung einheitlicher und unter sich vergleichbarer Resultate eine Einheitsmethode hinsichtlich der Färbung Voraussetzung ist. Dem Zweck vorliegender Arbeit entsprechend wurde eine Nachprüfung der Resultate von Schwarz und Hefke an Meerschweinchen und Hunden mit verschiedenem Grade der Bleivergif- tung vorgenommen.
Die Vergleichspräparate jedes einzelnen Versuches wurden aus ver- schiedenen Blutstropfen des gleichen Einstiches hergestellt; die Dauer bis zur Lufttrockenheit der Präparate wurde ziemlich gleichmäßig auf 11, Stunden festgesetzt. Die Fixierung!) erfolgte mit Methylalkohol Kahlbaum pro analysi bei einer Einwirkungsdauer von 3 Minuten.
A. Untersuchung an bleikranken Meerschweinchen.
Bei den nachstehenden Meerschweinchenversuchen kamen folgende Farbstoffe zur Verwendung:
a) Giemsa (Eosin-Methylenblaugemisch), b) Azur II, 0,05 proz. wässe- rige Lösung, c) Methylenblau 0,05proz. wässerige Lösung, d) Manson- färbung (Borax).
Es wurden die pathologischen Erythrocyten jeweils in 60 Gesichts- feldern nach dem Schema ausgezählt.
Tabelle Í.
ee i In je 60 Gesichtsfeldern fanden sich o Basophil Punktierte Polychromaten Normoblasten
ser g RES SR
Soe 1232| F|j2sl :|2|15|l3:|2]2 ||| 8
© | < JZ j2]|°©)|<[|= “pos <]žz j; z
1 60: 56 60 176 | 509: 407 |a15 sel u | ale
2 43 111 196 213 | 275 | 143 | 259 , 508 | 24 | 24 | 21 | 19
3 44 60, 94 95 | 148 | 91 | 245 | 416 | 19 | 16 | 24 | 13
4 85: 64 111: 299 | 136 | 133 | 114 ; 405 | 18 | 22 ıı
5 31 ' 257 148 289 | 128 | 220 | 215 | 600 | 25 | 31 | 27 | 45
6 14 ` 70 150 127 | 277 | 142 | 264 | 273 | 27 | 15 ! 19 | 12
7 64 112 153 77 |168 | 75 ' 215 |328| 8| 6 | 5 7
8 15 125 72 164| 97| 47| 44|10ļf12' 7 1 7
9 35: 38 46 76] 63| 34; 64| 9f 5 5 7 5
10 6 15, 12 45] 93| 63:138|146| 9112| 7] 8
Summel| 627 | 908 |1042 1561 |1884 1355 | 1903 | 3503 |158 |142 |130 |138 Im Mittel | v.10 Aus- |
strichen | 63 _ 90 , 104 156| 188. 136 190 | 350] 16 14 13 14
1) Die Untersuchung des Einflusses verschiedener Fixierungsmittel und ver- schiedener Fixierungsdauer liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit. Die Fixierung ist aber nach Schwarz und Hefke (4) von bestimmendem Einfluß auf den Färbungsprozeß.
286 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
Wenn man die für Manson gefundene Durchschnittswerte für Poly- chromaten und basophil punktierte Erythrocyten = 100 setzt, so zeigt sich folgendes Bild:
Tabelle Il.
Basophile Polychromasie| punktierung
Methode
a) Giemsa . ......
. b) Azur II 0,05% - - c) Methylenblau 0 05%. d) Manson . . .....
Hinsichtlich der basophil punktierten Erythrocyten ergibt sich also eine Reihenfolge aufsteigend von Giemsa über Azur Il, Methylenblau nach Manson, welch letzteres die größte Zahl der basophil Punktierten liefert. Etwas anders verhalten sich die Polychromaten, insofern die Färbung nach Giemsa gleich viel Polychromaten liefert wie die Methylen- blaufärbung.
B. Untersuchung an bleikranken Hunden.
Die weiteren Untersuchungen wurden an einem Hunde vorgenommen, der durch Bleiazetat per os vergiftet worden war. Die Herstellung der Blutpräparate und die Berechnung der polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten erfolgte nach der unter I beschriebenen Methode; Färbung und Fixierung wie bei den Meerschweinchenversuchen. Zur Verwendung kamen folgende Farbstoffe:
1. Giemsa (Eosin-Methylenblaugemisch);
2. 0,05proz. wässerige Lösungen von Azur II (Giemsa, Hersteller Dr. Hollborn, Leipzig) und von Methylenblau-medizinale (Höchst);
3. alkalisierte Lösungen von Methylenblau nach Manson (Borax) und nach Manson, Modifikation von Schwarz.
Tabelle 1. Polychromaten.
= |
7 Ciems Azur 1I Methylenblau Manson- Manson- 5 -| me 0,05 9/0 0,05% Borax Schwarz PA Datum Zahl pro Zahl pro Zahl pro Zahl pro Zahl pro D 5e
Ges.-F.' 1 Mill. [Ges,-F. |1 Mill. | Ges. -F.: I Mill.|Ges.-F. 1 Mill.IGes.-F.: 1 Mill.
112.5. 406 , gi 0,51' 616| 0,46, 672 2! 18. 5. : 3g 0,4 463| 0,28 328 3| 20. 5. 281 ) 3l 0,38 462| 0,25 392 4! 25.5. 1783 , 1,6 : 2101| 14 1955 5 27.5. 2313 1774 ; | 36 3561| 3.1 _ 3659 6 29.5. 2351 0, 540 043 522| 0.7 788 7 315. 125 ; 412 = 32 0,23! 267| 028: 313 8 46 2999 )L 4833 | 3,86, 6200| 4,1 ` 6138 9 7.6. 1730 2984 f 535 4,85 7146| 51 8219 10 7.6. 4207| 1.75 23465 T8 i: 48 7605 7
6 Summe | 10,34 15019 | 11,69 16747 | 16,04 23398 | 20,66 28943 | 22,37 | 32803
Von Dr. H. Brückner und Dr. R. Spatz. 287
Tabelle II. Basophil punktierte Erythrocyten.
Azur II Methylenblau Manson- Manson- Giemsa 0,05°/, 0,05°%,, Boraü Schwarz
Datum Zahl pro Zahl pro Zähl pro Zahl pro Zahl pro Ges.-F.| 1 Mill. Ges.-F.| 1 Mill. | Ges.-F.| 1 Mill. | Ges.-F.| 1 Mill. | Ges.-F.| 1 Mill.
0,45| 5201 0,21 246 0,9 | 1096] 1,1 1728
Versuchs- Nr
Summe | 5,79| 7662 14,67 |18111 12,86 | 16961 | 15,08 |20204 | 17,03 | 23728
Nimmt man aus obigen Tabellen für Polychromaten und basophil punktierte Erythrocyten sowie für die Summe aus Rolychromaten + baso- phil punktierte Erythrocyten den Mittelwert, so ergibt sich folgendes Bild:
Azur II Methylenblau Manson-
Giemsa 0,05 JA 0,05°/, Manson-Borax Schwarz Zahl pro _ Zahl pro Zahl pro Zahl pro i Mill. Ges.-F.|Erxthr.
Setzt man Manson-Schwarz = 100, so ergibt sich für:
; l Manson- Giemsa | Azur II | Methylenblau Manson-Borax | Schwarz
Tabelle IV. Polychromaten. 45,8 | 51,1 | 71,3 | 88,2 | 100 Tabelle V. Basophil punktiertce Erythrocyten. 32,3 | 76,3 | 71,5 | 85,1 | 100 Tabelle VI. Polychromaten + basophil punkt. Erythrocyten im Durchschnitt. 39,0 | 63,7 | 71,4 | 86,8 | 100 Tabelle VII.
Azur Il } Methylenblau (Mittelwert)
= Manson-Borax = Manson- Sehwarz (Mittelwert)
Giemsa
Wie aus den Tabellen VI und VII ersichtlich, zeigt sich auch am Hunde- blut die bekannte aufsteigende Reihenfolge, die sich, wenn man Manson- Schwarz = 100 setzt, durch folgende Verhältniszahlen darstellen läßt:
Giemsa Azur II Methylenblau Manson-Borax Manson-Schwarz
39,0 63,7 71,4 86,8 100
288 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
Bei näherer Betrachtung der Zahlen kann man eine gewisse Zu- sarmmengehörigkeit bestimmter Gruppen von Farbstoffen erkennen, nämlich: Giemsa — Azur II und Methylenblau — Manson/Borax und Manson/Schwarz.
Die Tabellen IV und V lassen erkennen, daß die relative Färb- barkeit der Polychromaten einen regelmäßigen Anstieg von Giemsa bis Manson aufweist, während die basophil punktierten Erythrocyten von der hier gefundenen Reihenfolge insofern abweichen, als das Azur dem Methylenblau zahlenmäßig um Weniges überlegen scheint. Die für die Summe von Polychromaten und basophil punktierten Erythozyten bei den Hundeversuchen ermittelte Reihenfolge läßt den regelmäßigen Anstieg von Giemsa bis Manson wieder erkennen (Tabelle VI).
Diese Regelmäßigkeit hat offenbar für die Einzelversuche keine Gül- tigkeit. Bei näherer Betrachtung der Tabelle I der Meerschweinchen- versuche erkennt man nämlich, daß die Regelmäßigkeit innerhalb der einzelnen Präparate nicht selten unterbrochen wird. Es finden sich bei- spielsweise folgende Zahlen:
Für basophil punktierte Erythrocyten im Versuch Nr. 6.
Manson- Giemsa Methylenblau Schwarz
144 70 150 127 Für Polychromaten im Versuch Nr. 1. 509 | 407 | 35 | 53 Also deutliche Unterbrechung der bisher angenommenen Reihenfolge. Desgleichen in den Hundeversuchen: Für Polychromaten Tabelle I Versuch 47
Giemsa Methylenblau | Manson-Borax
2660 1783 3498 2101 Für basophil punktierte Erythrocyten Tabelle II Versuch 4: 2590 | 521 | 508 | 2077 | 2868
Manson-
Azur II Schwarz
Also desgleichen deutliche Unterbrechung der bisher angenommenen Reihenfolge. Derartige Beispiele könnten beliebig vermehrt werden.
Diese weit außerhalb der Fehlergrenze liegende Inkonstanz deutet auf prinzipielle Unterschiede in den Präparaten selbst hin, welche durch die große Zahl verdeckt werden und sich durch gleichmäßige Färbung mehrerer Präparate derselben Blutentnahme zu erkennen geben müssen. Es wurden deshalb weitere Untersuchungen in dieser Richtung ‘gemacht.
C. Untersuchung über die zahlenmäßige Schwankung an mit gleichem Farbstoff gefärbten Präparaten.
Mehrere Präparate aus verschiedenen Bluttropfen derselben Blut- entnahme wurden unter möglichster Einhaltung aller Bedingungen je- weils mit dem gleichen Farbstoff gefärbt und die Auszählungsergebnisse der einzelnen Präparategruppen in 60 Gesichtsfeldern untereinander ver- glichen.
Von Dr. H. Brückner und Dr. R. Spatz. 289
Tabollen?!).
Tabelle 1 (Meerschweinchen). 1. Präparatengruppe Azur Il Präparat Polychromaten Basophil Punktierte
1 178 41
2 205 34
3 284 30
4 265 52
Tabelle II (Hund.) 2. Präparatengruppe Manson-Borax.
1 1098 66 2 1129 0!
3 1433 297
4 2603 354
5 1483 132
Tabelle HI (Hund). 3. Präparatengruppe Manson-Schwarz.
1 5595 255
2 2869 75!
3 4934 509
4 7847 675
Tabelle IV (Hund). 4. Präparatengruppe Azur II. 1 4764 175 2 6690 271
Wie aus den Tabellen hervorgeht, finden sich trotz gleicher Blut entnahme innerhalb jeder Präparatengruppe ganz erhebliche Schwan- kungen, die weit über die Fehlergrenze hinausgehen und bei allen Farb- stoffen zu beobachten sind.
Es erhebt sich nun die Frage, ob derartige Schwankungen auch bei solchen Zellen vorkommen, die mit allen Farbstoffen leicht darstellbar sind, wie etwa die Normoblasten.
D. Untersuchung der zahlenmäßigen Schwankung bei Normoblasten unter Einwirkung verschiedener Färbestoffe. Die folgenden Zahlen stellen Mittelwerte dar aus 9 Versuchen an einem
bleikranken Hunde. Tabelle.
Me D Manson- Giemsa en re Manson-Borax on a pro Zahl pro Zahl pro Zahl pro voe p | Í Mill. ; „i4 Mil. | Mil. Ges.-I . Erythr. Ges.-F . Erythr. Ges. F. Erythr. 0,24 0,26| 344 | 0,26| 367 363
Man sieht aus dieser Tabelle, daß die Zahl der Normoblasten sich auf dem gleichen Niveau hält, gleichgültig mit welchem Farbstoff das Prä- parat behandelt worden ist. Hinsichtlich der Darstellbarkeit bzw. der Zahl der Normoblasten spielt die Eigenart des Farbstoffes offenbar keine Rolle. Die absolute Zahl der Normoblasten ist zu gering, als daß man Schwankungen von bestimmt gefärbten Präparatengruppen aus ein und derselben Blutentnahme ohne weiteres miteinander vergleichen
1) Diese Beispiele sind aus einer großen Zahl ähnlicher Untersuchungen herausgegriffen.
290 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
könnte, es müßten für diesen Zweck besonders schwere Bleivergiftungen erzeugt werden, so daß in 60 Gesichtsfeldern mindestens 10 bis 20 Norm- oblasten gefunden würden.
Einzelne Stichproben in dieser Richtung haben zwar ergeben, daß auch bei den Normoblasten gewisse Differenzen auftreten, die aber die Größe der Schwankungen bei den Polychromaten und basophil Punk- tierten bei weitem nicht erreichen.
Zusammenfassend ist zu sagen, daß das immer wiederkehrende regel- mäßige Ansteigen der Verhältniszahlen von Giemsa bis Manson, welches vorzugsweise an den basophilen Erythrocyten (Polychromaten + basophil Punktierte). mit ihrer feinen Nuancierung beobachtet wird, sich offenbar nur aus dem Mittel einer größeren Zahl von Untersuchungen zu erkennen gibt, daß aber innerhalb von Präparatengruppen der gleichen Blutentnahme, welche mit ein und demselben Farbstoff ge- färbt sind, Differenzen auftreten können, die weit über die -Fehlergrenzen der Auszählung hinausgehen.
Im Hinblick auf das Zustandekommen der beobachteten Differenzen lassen sich gewisse Ursachen erkennen, welche die Inkonstanz — wenig- stens zum Teil — verständlich machen. Von Bedeutung sind hierbei 3 Faktoren:
1. Der Einfluß der Färbemethoden,
2. die Verteilung und die Variation der Erythrocyten in verschiedenen Blutstropfen,
3. der Einfluß des Grades der Vergiftung.
Die Gleichmäßigkeit des Färbeerfolges ist abhängig von dem Zu- sammenwirken einer Reihe verschiedener Bedingungen, deren einzelne Komponenten wir durchaus nicht sicher beherrschen:
Gerinnungszustand des Blutes während des Ausstreichens, Tempe- raturverhältnisse und Feuchtigkeitsgehalt der Luft beim Trocknen, Alter und Feuchtigkeitsgehalt der lufttrockenen Präparate (6), der jeweilige Zustand des Fixierungsmittels und des Farbstoffes, die kurze Färbe- dauer bei alkalisierten Farbstoffen (Sekunden) und anderes mehr. Man denke an die Überfärbung oder Unterfärbung!) mancher Präparate, während andere Blutausstriche unter scheinbar ganz gleichen Bedingungen den gewünschten Farbton annehmen. Manchmal findet man in einem Präparat trotz makroskopisch einwandfreien Farbtons ganz wenige Polychromaten, während das entsprechende Kontrollpräparat eine erheb- liche Zahl davon aufweist. Bei der Nachfärbung solcher Präparate, wenn auch nur ganz kurze Zeit, treten dann die Polychromaten in Erscheinung. Neben diesen Extremen beobachtet man besonders bei den alkalisierten Farbstoffen nicht selten feinere Unterschiede, wobei die Polychromaten in einer Färbenuance dargestellt werden, die zwischen grün und blau liegt, so daß Zweifel über ihre Zugehörigkeit entstehen. Selbst die beste Färbemethode kann also eine exakte Gleichmäßigkeit des Färbeerfolges von Präparat zu Präparat nicht gewährleisten.
~
1) Nach unseren Beobachtungen finden sich Ungleichmäßigkeiten der Färbung am häufigsten bei den alkalisierten Farbstoffen.
Von Dr. H. Brückner und Dr, R. Spatz. 291
Bei der Beurteilung vorliegender Tatsachen müssen wir von der Vor- stellung ausgehen, daß jede einzelne Blutzelle und somit auch jeder Ery- throcyt als ein Individuum für sich zu betrachten ist, mit ganz besonderen, nur ihm eigenen morphologischen, chemisch-physikalischen und bio- logischen Eigenschaften. Je nach dem Alter und Reifezustand des ein- zelnen roten Blutkörperchens muß der Gehalt an basophiler Substanz, deren Anordnung im Zellgerüst sowie deren Alkalität im hohen Grade ver- schieden sein. Auch die Affinität der einzelnen Individuen zu einem ganz bestimmten Farbstoff, die Permeabilität von Farbstoffen durch die Lipoidhüllen dürften namentlich unter pathologischen Verhältnissen individuellen Schwankungen unterworfen sein. Der Gedanke, daß das erythrocytäre Blutbild von Blutstropfen zu Blutstropfen innerhalb ge- wisser Grenzen Unterschiede in der Zusammensetzung der zellulären Ele- mente aufweist, macht die beobachteten Differenzen innerhalb gleich behandelter Präparategruppen derselben Blutentnahme verständlicher.
Das Ausmaß der Variabilität von Blutstropfen zu Blutstropfen scheint an sich verschieden und in stetem Schwanken begriffen; einige Beob- achtungen sprechen dafür, daß die Größe der Schwankung im Ver- hältnis zum Grade der Vergiftung steht. Diese Beobachtung bedarf aller- dings noch des sicheren Beweises. Es besteht aber durchaus die Mög- lichkeit, daß unter dem Einfluß der Bleiwirkung qualitativ und besonders auch quantitativ in verschiedenem Maße an den Erythrocyten Verände- rungen vor sich gehen, die wir garnicht übersehen. Hierbei ist an die Abnahme des Cholestringehaltes zu denken mit ihrer Einwirkung auf die Diffundierbarkeit der Farbstoffe und an andere Veränderungen che- mischer und physikalischer Art, welche die Färbbarkeit beeinflussen können.
Aus diesen Erörterungen geht hervor, daß im Zustande der Blei- vergiftung die Inkonstanz des erythrocytären Blutbildes (auch bei gleicher Blutentnahme) Regel zu sein scheint, und daß wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn trotz gleicher Färbung innerhalb von Präparategruppen ein und derselben Blutentnahme verschiedene Mengen basophiler Erythro- cyten zu finden sind.
Aus dem regelmäßigen Ansteigen der Verhältniszahlen von Giemsa bis Manson-Schwarz ist zu schließen, daß die verschiedenen Farbstoffe jeweils nur bestimmte Typen von basophilen Erythrocyten zur Darstellung bringen, während andere Typen nicht mehr gefärbt werden und unter den Schwellenwert der Erkennbarkeit zu liegen kommen. Die relative Darstellbarkeit der basophilen Substanz unter der Einwirkung verschie- dener Farbstoffe deutet also Grenzen in dem variablen Zustand der Ery- throcyten an (Färbbarkeitsgrenze). Mittels geeigneter Methoden!) müßte man wenigstens theoretisch in der Lage sein, die Darstellbarkeit der baso- philen Substanz in den Erythrocyten über die Färbbarkeitsgrenze von Manson-Schwarz bis zu ihrem Verschwinden aus den Zellen (Orthochro- maten) zu erweitern.
2) Daß die von K. B. Lehmann empfohlene Färbemethode, Toluidinblau nach Lütten-Süßmann, quantitativ Besseres leistet als Manson-Schwarz, hat sich bei unseren Versuchen nicht bestätigt.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 20
292 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
E. Die Beurteilung der Auszählungsergebnisse von Bleiblutpräparaten.
Auf welche Ursachen wir auch immer das regelmäßige Ansteigen der Verhältniszahlen von Giemsa bis Manson-Schwarz sowie die zahlen- mäßige Schwankung der basophilen Erythrocyten innerhalb gleich- gefärbter Präparategruppen derselben Blutentnahme zurückführen mögen, so müssen wir doch stets, und zwar sehr viel mehr als dies seither ge- schehen ist, mit diesen Faktoren rechnen. Man findet in der Literatur nicht selten Angaben, daß bei dem Vergleich verschiedener Präparate eine „relativ‘‘ gute Übereinstimmung sich ergeben habe und leitet von einer derartigen Übereinstimmung Gesetzmäßigkeiten ab, die der Kritik nicht immer standhalten. Für exakte wissenschaftliche Arbeiten ist bei fortlaufenden Untersuchungen die Auszählung eines einzigen Präparates ungenügend; einen einigermaßen einwandfreien Wert liefert erst der Durchschnitt von mindestens 4—6 Präparaten. Nur auf diese Weise kann man das Fallen und Steigen der Zahl der basophilen Erythrocyten von Tag zu Tag mit der erforderlichen Genauigkeit kontrollieren.
Das Ergebnis einer fortlaufenden Untersuchung (Bleiblutkurve), welche aus der Auszählung nur jeweils eines Präparates hervorgegangen ist, muß mit Vorsicht beurteilt werden. In sehr viel höherem Maße gilt das, wenn man aus einer einzigen Blutuntersuchung den Zustand eines bleikranken Menschen beurteilen will. In diesem Falle trifft eine große Zahl unberechenbarer Faktoren zusammen: Zeitliche Variation im Auf- und Abstieg der Zahl der basophilen Erythrocyten, Variabilität von Bluts- tropfen zu Blutstropfen und eine Reihe anderer uns vielleicht noch ganz unbekannter Faktoren.
Aus dem Vorhandensein und der Zahl der basophilen Erythrocyten erkennen wir biologisch nichts anderes, als den Grad der Reaktions- fähigkeit des Knochenmarks. Daran muß man festhalten, wenn man ‘ein Bleiblutbild beurteilen will. Selbstverständlich können aus der Zahl der Erythrocyten bei der nötigen Kritik und Vorsicht gewisse Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand bzw. den Grad der Vergiftung gezogen werden. Nur muß man sich davor hüten, rein schematisch vorzugehen und den Krankheitszustand zahlenmäßig eng begrenzt fixieren zu wollen. Zweifellos ist auch P. Schmidt (1) bei der Aufstellung seiner Grenzzahlen von diesem Gedanken ausgegangen.
lib. Untersuchung des Einflusses der verschiedenen Farbstoffe auf die Darstellbarkeit bzw. die Zahl der polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten mittels Umfärbung der Präparate.
Wenn man in einem mit Methylenblau gefärbten Blutausstrich die Zahl der Polychromaten bestimmt und das Präparat nach vollständiger Entfärbung in Methylalkohol mit Methylenblau nachfärbt, so findet man in dem nachgefärbten Präparat die gleiche Menge von Polychromaten wie im ursprünglichen Ausstrich. Bei mehrmaliger Wiederholung dieses Vorganges kommt man immer wieder zu demselben Resultat. Sobald man aber die Nachfärbung etwa mit Azur vornimmt, so erhält man — in Übereinstimmung mit der oben besprochenen geringeren Leistungs- fähigkeit des Azurs — eine kleinere Zahl von Polyehromaten. Man kann
Von Dr. H. Brückner und Dr. R.'’Spatz. 293
den obigen Versuch auch so anstellen, daß man die im Gesichtsfeld ge- fundenen Polychromaten genau notiert, um dann bei der Nachfärbung zu beobachten, ob dieselben Polychromaten sich wieder als solche zu erkennen geben oder verschwunden sind. Bei der Nachfärbung mit Me- thylenblau findet man die gleichen Polychromaten wieder, während bei Nachfärbung mit Azur ein Teil der Polychromaten nicht mehr erscheint. Auf diese Weise kann man die Veränderung von einzelnen Individuen von Erythrocyten oder Polychromaten unter dem Einfluß verschiedener ` Faktoren studieren. Ob es sich bei diesen Beobachtungen, deren Zahl noch recht beschränkt ist, um eine Regelmäßigkeit handelt, müssen unsere- weiteren Untersuchungen ergeben.
ilic. Untersuchung: des Einflusses der verschiedenen Farbstoffe auf die:
Darstellbarkeit bzw. die Zahl der polychromaten und basophil punktierten
Erythrocyten durch Veränderung der physikalischen Bedingungen mittels Vitalfärbung.
Das immer wieder zu beobachtende regelmäßige Ansteigen der Ver- hältniszahlen von Giemsa bis Manson läßt vermuten, daß mittels ge- eigneter Methoden auch das Gebiet jenseits der Färbbarkeitsgrenze Manson-Schwarz erschlossen werden kann. Von den Methoden, die hier in Frage kommen, scheint uns die Vitalfärbung an erster Stelle zu stehen, weil durch die osmotische Wirkung der Methode die basophile Substanz den Farbstoffen leichter zugänglich gemacht wird. Die Darstellbarkeit: der basophilen Substanz steht offenbar in engem Zusammenhang mit der Zellstruktur und dem chemisch-physikalischen Zustand des Zellinhaltes: Alkaleszenz sowie Menge und Anordnung der basophilen Substanz, Reife- stadium des Erythrocyten, Diffusionsmöglichkeit der Farbstoffe durch die Lipoidhüllen. Theoretisch ermöglicht demnach die Erschließung der Zelle durch Osmose die weitgehendste Differenzierung der basophilen Erythrocyten. Die morphologische Veränderung (Kunstprodukte), welche durch die Überführung der Polychromasie und basophilen Punktierung (des fixierten Präparates) in die vitalgranuläre Form der basophilen Sub- stanz zustande kommt, dürfte vom Gesichtspunkt unserer Betrachtungs- weise zunächst gleichgültig sein. Die Frage lautet ganz einfach so: Ist die Zahl der ‚vitalgranulären‘‘ Zellen (= mit basophiler Substanz be- gabe Erythrocyten) im unfixierten Präparat größer als die Summe der Polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten im fixierten Kontrollpräparat ? Welche theoretischen Rückschlüsse sich daraus er- geben, bleibt zunächst abzuwarten. Eine Anzahl von Veröffentlichungen läßt neuerdings die zahlenmäßige Überlegenheit der vitalgranulären Zellen erkennen. Schon im Jahre 1911 hat Victor Schilling (7) darauf aufmerksam gemacht, daß die „Vitalfärbung in der Tat viel exakter die basische Substanz erreicht und darstellt als die Färbung ım getrockneten und fixierten Präparat“. G. Seiffert-München (8, 9) fand, daß das Vor- handensein basophil punktierter Erythrocyten im unfixierten dünnen Ausstrich noch besser als im „dicken Tropfen“ nachzuweisen und quan- titativ abzuschätzen sei. H. Engel (10) hat darauf hingewiesen, daß die im unfixierten Blutpräparat in viel größerer Menge gefundenen ‚baso-
20*
294 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
philen Granula“ nicht ohne weiteres identisch sind mit denen des fixierten Präparates, daß aber eine Beziehung ihres Auftretens zur Blutregeneration und zur Polychromasie angenommen werden kann. Nägeli (11) spricht den vital granulären roten Blutkörperchen als Indikator für die Re- aktionsfähigkeit des Knochenmarkes eine große klinische Bedeutung zu. Bei dem Vergleich von Giemsa- und Vitalfärbungen treten nach Nägeli die sehr engen Beziehungen zwischen Polychromasie und vitalgranulärer Substanz deutlich hervor, doch ist die Menge der bei Vitalfärbung nach- weisbaren veränderten Erythrocyten stets weit größer. K.B.Leh- mann (12) konnte bei einer Nachprüfung der Seiffertschen Beobachtungen und Ergebnisse feststellen, daß man unfixiert etwa doppelt soviel granu- lierte Erythrocyten findet als im fixierten Präparat.
Die Klärung dieses Fragenkomplexes hängt von der Möglichkeit der Schaffung einer ‚quantitativen‘ Auszählungsmethode für das Vitalpräparat ab. Der dicke Tropfen, die Modifikation der Pappenheimschen Brillant- Kresylfärbung in der feuchten Kammer nach V.Schilling, sowie die hämolytische (pseudovital) Färbung nach Sabrazes sind für diesen Zweck vielleicht nicht vollkommen genug. Die bisherigen Erfahrungen mit unserer „quantitativen“ Vitalagarfärbung stimmen im allgemeinen mit den Beobachtungen und Ansichten der genannten Autoren überein. Indessen ist unser Material als Unterlage für bindende Rückschlüsse noch zu klein. Wir hoffen aber, über unsere weiteren Erfahrungen in einer späteren, bereits begonnenen Arbeit berichten zu können.
IV. Einheitsmethode der Färbung.
Die Erkenntnis der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der ver- schiedenen Farbstoffe in quantitativer Hinsicht haben Teleky (13) und W.Koch (14) veranlaßt, eine Einheitsmethode zur Blutuntersuchung Bleikranker zu fordern. Auch wir halten diese Forderung besonders für den Vergleich der Ergebnisse von Reihenuntersuchungen an bleikranken Arbeitern für unerläßlich.
Die Entscheidung, welche Färbemethodel) als die geeignetste emp- fohlen werden soll, bietet allerdings nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Unsere Blutuntersuchungen an bleikranken Tieren haben gelehrt, daß schließlich jede der gebräuchlichen Methoden unter der Voraussetzung zum Ziel führt, daß die Ergebnisse einer bestimmten Methodik mit der Pathologie und Klinik der Bleivergiftung in Beziehung gebracht werden. Nur unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die verschiedenen Methoden bei dem gleichen Krankheitsfall verschiedene Zahlen von basophilen Erythrocyten liefern, kann die Schmidtsche Grundzahl oder deren Modi- fjikationen von W. Koch und Trautmann eine sichere Grundlage für die Beurteilung Bleikranker und namentlich für den Vergleich von Reihen- untersuchungen abgeben.
Unter den gegenwärtig zur Darstellung der Polychromaten und baso- phil punktierten Erythrocyten verwendeten Farbstoffen und Farbstoff-
1) Als Einheitsmethode der Fixierung kommt nur Methylalkohol in Frage; Fixierungsdauer von 3 Minuten.
Von Dr. H. Brückner und Dr. R, Spatz. 295
gemischen lassen sich 3 Gruppen erkennen, deren gemeinsamen Ausgangs- punkt das Methylenblau!) bildet. a) Methylenblau- oder -Azur-Eosingemische (Giemsa, May-Grün- wald und Leishmann), b) Methylenblau oder Azur in wässeriger Lösung, c) Methylenblau mit Alkalizusatz (Hamel (15), Manson, Manson- Schwarz).
An eine allen Anforderungen gerecht werdende Färbemethode müssen folgende Anforderungen gestellt werden:
1. Die Methode muß nach Möglichkeit beginnende pathologische Ver- änderungen des Blutbildes anzeigen. Die besten Leistungen in dieser Hinsicht weisen die alkalisierten Farbstoffe auf, während die Methylenblau- Eosingemische die obige Forderung nicht im idealen Sinne erfüllen. Die wässerigen Lösungen von Methylenblau und Azur stehen in der Mitte zwischen den genannten Farbstoffgruppen.
2. Die Methode muß größtmögliche Gleichmäßigkeit des Färbeerfolges gewährleisten. Die alkalisierten Farbstoffe haben den Nachteil, daß sie zu rasch färben, weshalb die Färbedauer nicht gleichmäßig aufrecht er- halten werden kann. Über- und Unterfärbungen sowie große Differenzen der Zahl der Polychromaten und basophil Punktierten von Präparat zu Präparat sind die Folge. Demgegenüber garantieren die basischen Farb- stoffe in wässeriger Lösung eine sehr viel größere Gleichmäßigkeit im Färbe- erfolg; sie sind aber in quantitativer Hinsicht den alkalisierten Farb- stoffen unterlegen. Für die Beurteilung der Bleivergiftung, namentlich bei Reihenuntersuchungen, ist aber die größere Gleichmäßigkeit im Färbe- erfolg von ungleich größerem Wert. Das Azur II nach Koch-Schmidt zeichnet sich (wie auch Koch hervorhebt) dadurch aus, daß sich die Zellkerne der Leucocyten, die basophil punktierten Erythrocyten und die Polychromaten sehr kontrastreich gegen das im übrigen schwach gefärbte Präparat abheben. Zweifelhafte Färbungen der Polychromaten und baso- phil Punktierten sind bei Azur II-Präparaten sehr viel seltener als bei alkalısierten Farbstoffen.
3. Die Gleichmäßigkeit der Färbung hängt außerdem noch von der- Haltbarkeit der Farbstoffe ab. Die alkalisierten Farbstoffe leiden wegen der Veränderung des Farbstoffes und der Abnahme der Färbekraft infolge Einwirkung des Alkalis an dem Mangel, daß ihre Haltbarkeit durchweg begrenzt ist. Die Mansonfärbung nach Schwarz bildet eine Ausnahme. Auch das Methylenblau in wässeriger Lösung weist eine große Veränder- lichkeit auf, während das Azur Il sich durch gute Haltbarkeit auszeichnet. Nach Koch ließ Azur II in 0,05proz. Lösung nach 2 Monaten keine nach- weisbare Veränderung seiner Färbekraft erkennen.
4. Für die Praxis ist unter Umständen die Einfachheit der Methode ausschlaggebend. Die zur Zeit gebräuchlichen Methoden sind alle relativ einfach zu handhaben; nur Manson-Schwarz scheint etwas komplizierter.
1) Vereinzelt werden auch andere Farbstoffe verwendet, wie das Toluidin- blau nach Litten-Süßmann.
296 Über die Beurteilung des roten Blutbildes etc.
Aus diesen Erörterungen geht hervor, daß den beiden Methoden: Azur II nach Schmidt-Koch und Manson nach Modifikation Schwarz der Vorrang zuerkannt werden muß.
Die Manson-Schwarzfärbung hat den Nachteil, daß sie etwas kom- plizierter ist und daß sie wegen der kurzen Färbedauer leicht zu Über- färbungen und Ungleichmäßigkeiten im Präparat führt, wodurch nicht selten Zweifel in der Zugehörigkeit der basophilen Erythrocyten auftreten. Dafür hat sie den Vorteil, daß sie frühzeitig basophile Erythrocyten er- kennen läßt und hinsichtlich der quantitativen Färbung die beste Leistung aufweist.
Azur II hat den Vorteil der einfacheren Technik, der Gleichmäßigkeit der Färbung, der kontrastreicheren Darstellung der basophilen Erythro- cyten und der guten Haltbarkeit. Ein Nachteil besteht darin, daß das Azur II je nach seiner Herkunft in der Qualität und Färbekraft recht verschieden sein kann. Stets gleichmäßige und einwandfreie Ergebnisse erzielten wir bei Verwendung von Azur II von Dr. Hollborn, Leipzig!). Gegenüber der Manson-Schwarzfärbung hat Azur II den Nachteil der ge- ringeren „quantitativen“ Leistungsfähigkeit (60—70% von Manson- Schwarz).
Eine endgültige Entscheidung, welche der beiden Methoden als Ein- heitsmethode der Färbung den Vorzug verdient, scheint uns bei dem gegenwärtigen Stand der Bleiblutfrage noch verfrüht.
Zusammenfassung.
1. Es wird eine ‚quantitative‘ Methode angegeben zur Ermittlung der Durchschnittszahl der Erythrocyten in einem Gesichtsfeld so- wie der pathologisch veränderten Zellen in einem Kubikmillimeter Blut oder in einer Million Erythrocyten. 2. Die Durchschnittszahl der Zellen im mikroskopischen Bilde der nach unserer Methode hergestellten Blutausstriche beträgt a) bei Verwendung des Zeißschen Apochromaten 90 mit Kom- pensationsokular 5,,mal‘‘ (450fache Vergrößerung) rund 600 Ery- thocyten pro Gesichtsfeld,
b) bei Verwendung der Leitzschen Optik: 1/1 Ölimmersion mit Okular I (555fache Vergrößerung) rund 500 Erythrocyten
pro Gesichtsfeld. Vorausgesetzt werden dabei Präparate, bei denen
ohne wesentlichen Zwischenraum Zelle an Zelle sich lagert.
3. Es wird ein einheitliches Schema aufgestellt zur Auszählung von basophilen Erythrocyten (Standardauszählung).
4. Die für obiges Schema geltenden Fehlergrenzen der Auszählung betragen etwa + 10°. Es können aber Fehler bis zu 20%, auf- treten. Bei guten Ausstrichen und sorgfältiger Auszählung darf
G s
man mit einem Fehler von + 5°% rechnen.
1) Ein von uns verwendeter Farbstoff anderer Herkunft zeichnete sich durch geringe Färbekraft aus. Außerdem beobachteten wir bei der Färbung, daß die fixierten Präparate bei Konzentrationen über 0,05 quantitativ vom Objektträger abschwammen. Die Ursache dieser Erscheinung konnte nicht ergründet werden.
9.
~]
Von Dr. H. Brückner und Dr. R. Spatz. - 297
Die Zahl der basophilen Erythrocyten ist je nach dem verwendeten Farbstoff verschieden. Setzt man Manson-Schwarz = 100, so ergibt sich an Hunden etwa folgendes Zahlenverhältnis:
Giemsa Azur II Methylenblau Manson (Borax) Manson/Schwarz 40 60 70 8 100
Diese Regelmäßigkeit, welche streng genommen allein für die Summe der Polychromaten und basophil punktierten Erythrocyten ermittelt ist, gibt sich nur aus dem Mittel einer größeren Zahl von Untersuchungen zu erkennen. Im einzelnen werden sehr häufig große Ausnahmen von dieser Regel beobachtet, die in dem Ein- fluß der Färbemethoden, in der Giftwirkung selbst und in der zahlenmäßigen Schwankung der pathologischen Erythrocyten von Blutstropfen zu Blutstropfen ihre Ursache haben. Das erythro- cytäre Blutbild ist in diesem Sinne offenbar als ein Konglomerat der heterogensten Elemente aufzufassen. Das Ausmaß der Varia- bilität von Blutstropfen zu Blutstropfen scheint in einem gewissen Verhältnis zum Grade der Vergiftung zu stehen.
. Das regelmäßige Ansteigen der Verhältniszahlen von Giemsa bis
Manson zeigt an, daß eine bestimmte Färbemethode jeweils nur bestimmte Typen aus der Entwicklungsreihe der Erythrocyten zur Darstellung bringt: Fàrbbarkeitsgrenze.
. Die Inkonstanz des erythrocytären Blutbildes im Zustande der
Bleivergiftung, welche sich innerhalb von gleichgefärbten Prä- parategruppen ein und derselben Blutentnahme zu erkennen gibt, weist auf die Unmöglichkeit hin, die Veränderung des Blutbildes zahlenmäßig scharf begrenzt zu ermitteln und auszudrücken.
. Zur Verfolgung des Auf- und Abstiegs der Zahl der basophilen
Erythrocyten liefert nur der Mittelwert aus 4—6 gleichgefärbten Präparaten brauchbare Ergebnisse.
. Von den zurzeit gebräuchlichen Färbemethoden zur Darstellung
der basophilen Erythrocyten muß der Methode Schmidt-Koch (Azur II) und der Methode Manson, Modifikation nach Schwarz, der Vorrang zuerteilt werden. Azur II hat den Vorteil großer Gleichmäßigkeit im Färbeerfolg; die Haltbarkeit der wässerigen Lösung kann durch Zusatz von 2—5% Alkohol noch erhöht werden. Manson-Schwarz hat den Vorteil der größeren quantitativen Leistungsfähigkeit.
298 Üb. d. Beurteil. d. rot. Blutbild. etc. Von Dr. H. Brückner u. Dr. R. Spatz.
1:
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Untersuchungen über das Vorkommen der Gruber-Widal- schen Reaktion bei Nichttyphuskranken.
Von Dr. med. Hans Gottlieb Huber.
(Aus der Staatlichen Landesstelle für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden. Früherer Direktor: Prof. Dr. Philalethes Kuhn.)
(Bei der Redaktion eingegangen am 3. Oktober 1926.)
Auch jetzt noch, nachdem seit der Entdeckung der Gruber-Widal- schen Reaktion bereits drei Jahrzehnte verstrichen sind, tritt der prak- tische Arzt öfters an den Bakteriologen mit der Frage heran, wie ein posi- tiver Gruber-Widal zu bewerten sei.
Die Antwort darauf muß je nach der Methode, deren sich das be- treffende Untersuchungsamt bedient, verschieden lauten.
Die in Frage kommenden Untersuchungsmethoden sind die mikro- skopische, die am hängenden Tropfen mit lebender Kultur vorgenommen wird, und die makroskopische, bei deren Anstellung auch abgetötete Kul- turen benützt werden können.
Der Vorteil der mikroskopischen Methode liegt in der Schnelligkeit ihrer Handhabung, im Einzelfall. Sie wird daher nach Paltauf in der Hauptsache von den inneren Klinikern angewendet. Dem Vorteil der Schnelligkeit im Einzelfall stehen, im Massenbetrieb angewendet, eine Reihe von Nachteilen gegenüber. Einmal ist die mikroskopische Methode, da bei ihr mit lebenden Kulturen gearbeitet wird, nicht ganz ungefähr- lich, dann verlangt sie zur Vermeidung von Fehlerquellen eine genaue Kontrolle. Da eine mikroskopische Gruber-Widalsche Reaktion 1:100 oder 1:200 keineswegs als Beweis für Typhus angesehen werden kann, sind weitere Verdünnungen des Serums notwendig, was vermehrte Arbeits- kräfte fordert, falls der ersterwähnte Vorteil der Schnelligkeit auch bei Massenuntersuchungen aufrecht erhalten bleiben soll.
Der Nachteil der Gefährlichkeit entfällt unter Verwendung abgetöteter Kulturen bei der makroskopischen Methode, die sich weiterhin durch ihre Einfachheit in der Handhabung sowie durch ihre relative Schnelligkeit bei Massenuntersuchungen auszeichnet.
Mit Recht fordert Schottmüller, daß bei der Mitteilung eines Er- gebnisses einer positiven Gruber-Widalschen Reaktion angegeben wird,
300 ° Untersuch. über das Vorkommen der Gruber-Widalschen Reaktion etc.
in welcher Verdünnung, ob mikroskopisch oder makroskopisch, in wel- cher Zeit, bei welcher Temperatur und in welcher Stärke die Reaktion eingetreten ist.
Seit einer Reihe von Jahren wird an der Staatlichen Landesstelle für Öffentliche Gesundheitspflege die makroskopische Methode zum Typhusnachweis nach Gruber-Widal verwendet. Dabei werden Typhus- bazillenaufschwemmungen benützt, die nach den Mitteilungen von Loele folgende Forderungen erfüllen: Die zum makroskopischen Agglutinations- nachweis benützte Typhusaufschwemmung muß mit einem agglutinieren- den Testserum des Reichsgesundheitsamtes in einer Verdünnung von 1:1000 in wenigen Minuten einen deutlich sichtbaren grobflockigen Niederschlag hervorrufen. Sie darf fernerhin, mit normalem Blutserum (am besten 6 verschiedenen Blutseren) zusammengebracht, innerhalb der ersten 4—6 Stunden keinerlei Agglutination zeigen.
Aufgabe vorliegender Arbeit war es, mittels der makroskopischen Methode eine möglichst große Anzahl von Blutseren systematisch auf Gruber-Widal zu untersuchen, um bei kleinster Fehlerquelle Schlüsse aus der Häufigkeit und Art des Ausfalles einer positiven Gruber-Widal- schen Reaktion ziehen zu können. Besonders schien die Anstellung dieser Untersuchungen in Hinsicht auf die die bakteriologische Typhusdiagnose bisweilen erschwerende Typhusschutzimpfung von Wichtigkeit. Zu diesem Zweck standen Wassermannblutseren, also Seren, die von teils syphilis- kranken, teils syphilisverdächtigen Personen stammten, und die somit als nicht normale Blutseren bezeichnet werden müssen, zur Verfügung.
Untersucht wurden insgesamt 10000 Blutseren. Die Sera verteilten sich zu etwa 60% auf das männliche, zu etwa 40%, auf das weibliche Geschlecht.
Über das Alter der Patienten gibt Tabelle 1 Aufschluß. Aus ihr geht hervor, daß der größte Prozentsatz der auf Gruber-Widal untersuchten Patienten im 21. bis 40. Lebensjahr stand.
Tabelle 4. Die Altersklassen der Patienten verteilen sich, soweit feststellbar, wie folgt:
Alter
In Prozenten?): männlich | weiblich
männlich weiblich
1—10 11—20 18,4 21—30 42,9 43,9 31—40 20,6 41—50
51 u. darüber zusammen
1) Das Prozentverhältnis der bei der staatlichen Landesstelle zur Unter- suchung eingesandten Blutproben auf Wassermannsche Reaktion verhält sich zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht anders wie das bei den:
Von Dr. med. Hans Gottlieb Huber. 301
Die Methodik der Untersuchung war folgende: In kleine Reagens- gläschen wurde je 25 cmm Blutserum eingebracht und dazu je 0,5 ccm einer Typhusaufschwemmung, die die obengenannten Forderungen er- füllte, hinzugesetzt, so daß eine Verdünnung 1:20 entstand. Die gefüllten Reagensgläschen wurden bei Zimmertemperatur stehengelassen und stünd- lich auf Eintritt der Agglutination untersucht.
Von den Seren, die in einer Verdünnung von 1:20 einen positiven Ausfall gaben, wurden weitere Verdünnungen, und zwar 1:50, 1:100 und 1:200 hergestellt, deren Agglutination abgewartet und erneut abgelesen.
In allen Fällen, die bis zu 200 und darüber agglutinierten, wurde an den den betreffenden Patienten behandelnden Arzt folgender Frage- zettel geschickt:
„Bei Durchuntersuchungen der zur Untersuchung auf Wassermann- sche Reaktion eingesandten Blutprobe auf Gruber-Widal zwecks sta- tistischer Feststellungen über das Vorkommen von positiver Agglutination bei Nichttyphuskranken fanden wir einen positiven Ausfall dieser Reaktion
Del. ae
Da diese Untersuchungen auch für die Ärzte von Wichtigkeit sind, wären wir Ihnen für die Beantwortung folgender Fragen dankbar:
1. Hat Typhusschutzimpfung (Kriegsimpfung) vorgelegen ?
2. Hat der Betreffende Typhus durchgemacht ?
3. Besteht irgendeine andere Erkrankung und welche ?
Bei Patienten mit positivem Gruber-Widal1:200, die weder typhus- schutzgeimpft waren noch einen Typhus durchgemacht hatten, wurde, soweit es möglich war, stets Stuhl und Harn auf Typhusbazillen unter- sucht.
Wenn obige drei Fragen nur in solchen Fällen gestellt wurden, bei denen die Agglutination einen Titer von 1:200 und darüber erreichte und in den übrigen Fällen diese Anfragen unterlassen wurden, so lag dies daran, daß dem praktischen Arzt das Mehr an Arbeit, das durch die Beantwortung dieses Fragezettels für ihn entstand, im großen Umfang nicht zugemutet werden konnte.
Über Grad und Häufigkeit einer Eulen Wassermannschen Reaktion (Originalmethode) gibt Tabelle 2 Aufschluß.
In Zahlen In Prozenten
634 272 1341
13,41
173 | 132 1,73 | 1,32
Agglutinationsversuchen mitgeteilte, und zwar: Männliches Geschlecht 45%, weibliches Geschlecht 55°/,. Der Unterschied erklärt sich dadurch, daß im all- gemeinen bei Frauen weniger Blut eingesandt wird als bei Männern, so daß für die Anstellung unserer Versuche eine Reihe von Blutproben, die von Frauen oder Mädchen stammten, entfallen mußte, da das Serum zur Anstellung der Wassermannschen Reaktion aufgebraucht war.
302 Untersuch. über das Vorkommen der Gruber-Widalschen Reaktion etc.
Nach dieser Zusammenstellung kommen auf 100 syphilisverdächtige Fälle 25,5, bei denen die Wassermannsche Reaktion einen positiven Ausfall zeigte.
Die Tabelle 3a gibt Aufschluß über die Beziehungen einer positiven Wassermannschen Reaktion zu einer positiven Gruber-Widalschen Reaktion.
-+ bis Seren 4-
Es zeigt sich, daß der Anteil an den nach Wassermannscher Reaktion positiven Seren unter 2107 typhus-agglutinierenden Seren — von den 1:20 bis 1:100 positiven Seren wurden nur die Ergebnisse der ersten fünf Tausend ausgewertet — in allen Gruppen kaum von dem Er- gebnis der Tabelle 2 abweicht. Die Serumveränderungen, die zur posi- tiven Wassermannschen Reaktion führen, haben daher kaum einen Einfluß auf die Gruber-Widalsche Reaktion gezeigt.
In Tabelle 3 wird das Vorkommen eines positiven Ausfalls der Gruber- Widalschen Reaktion bei den uns zur Verfügung stehenden 10000 Blut- seren dargestellt. In ihr kommt das deutliche Überwiegen des männlichen Geschlechtes gegenüber dem weiblichen hinsichtlich einer positiven Ag- glutination klar zum Ausdruck, weiterhin geht aus ihr hervor, daß die höheren Agglutinationstiter im Vergleich zu den niederen weit öfters festgestellt werden konnten und daß mit zunehmendem Agglutinations- titer die Zahl der weiblichen Patienten sinkt. Besonders scharf tritt das bei den Fällen, die in einer Verdünnung von 1:200 positiv agglutinierten, hervor. Hier ist das Prozentverhältnis zwischen Männern und Frauen 87,91 zu 12,09.
Tabelle 3.
Bei den 10000 untersuchten Seren wurde ein positiver Gruber-Widal fest- gestellt.
Positive Männliche Patienten
d Falle | tes 5000 2tes5000 1.+2 | ites 5000| 2tes 5000| 1 -2 en
ar
x A i männlich Prozente Prozente Weibliche Patienten der lauf posi- Gesamt tive Fälle
zahl berechn.
1:20 +| 160 | 142 17,1 1:504] 84 51 72 1:80 +| 23 34 29 1:100+| 190 | 109 13,7 1:150 12 9 09 1:2 632 | 685 58.2
zus. | 1101 1030 100
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Die Tabellen 4—8 geben unter Berücksichtigung von Alter und Ge- schlecht einen Einblick in die verschiedenen Krankheiten, an denen die Patienten, deren Blutserum zum Gruber-Widal verwendet wurde, litten, ferner einen Überblick über den Ausfall’ der Wassermannschen
Tabelle 4. Von den ersten 5000 Fällen agglutinierten 1:20 231 Seren, darunter waren: Geschlecht a. R. Alter Diagnose rn: d in. 2A y | ył Bar Ea ri 9 Lues-Verdacht . — 8 5 1 15 Lues I 5 8 23 -— 11 Lues II. 4 1! 1,20 11.38 Lues III 1 -- 4 7| 6 Lues latens. .. 2 — 19 3 9 Infektionskrankhe ite n — — — — — Erkrankungen d. Haut und Schleimhäute . -- 5 ] 2 Erkrankungen der Knochen u. Gelenke — l | — l Erkrankungen des in- neren Organe ; — 2 — 1 Erkrankgn. d. Herzens u. des Gefäßsystems = 3 2 l Erkrankungen d. Ner- vensystems — 4 2 6 Allgemeinsymptome — 3 = 1 Ohne Diagnose 1 16 6 | 19 Zusammen 5 5
Tabelle 5. Von den ersten 5000 Fällen agglutinierten bis 1:50 113 Seren, darunter waren: 2 Geschlecht Wa. R. Alter agnose = £ zus. | m. | w. | | 8 | 4 Pal Lues-Verdacht . 4 2 2 3| — 1| — 3 l | — Lues I ; 9 9| — 6| — 3 l 5 — 3 Lus Ik e e keas a a 9 i 2 3| — 6| — 8 l LMS ALL ui aA 5 3 2 4 l| —| — l 1 3 Lues latens . 26 | 22 4 | 21 l 4 l 16 - 9 Infektionskrankheiten | — | — | - | - | - | =| - — = |= Erkrankungen d. Haut und Schleimhäute . 9 8 1 7 1 l 2 4 2 1l Erkrankungen der Knochen u. Gelenke l 1| — 1| —| — | — — o l Erkrankungen der in- neren Organe .. . | — | —|ı — | -| —| —| — — — |— Erkrankgn. d. Herzens und d. Gefäßsystems 4 3 | 3| — 1| — 2 1 l Erkrankungen d. Ner- vensystems aé - . 6 4 2 4| — 2] — + — 2 Allgemeinsymptome . 2 1 1 2| =| I — l — 1 Ohne Diagnose . . . | 38 | 26 | 12 | 29 4 5 2 18 2 |16 Zusammen |113 | 86 | 27 | 83 7 | 23 6 62 | 7 | 38
304 : Untersuch. über das Vorkommen der Gruber-Widalschen Reaktion etc.
Reaktion. Es sind darin die bei den ersten 5000 Blutseren gefundenen Resultate für Gruber-Widal 1:20, 1:50, 1:80, 1:100 und 1:150 positiv angeführt.
Tabelle 6. Von den ersten 5000 untersuchten Fällen agglutinierten bis 1:80 37 Seren, darunter waren: = ə
Alter unter Den über
Lues latens. ... . Infektionskrankheiten Erkrankungen d. Haut und Schleimhäute . Erkrankungen der Knochen u. Gelenke Erkrankungen der in- neren Organe Erkrankgn. d. Herzens und d. Gefäßsystems Erkrankungen d. Ner- vensystems ; Allgemeinsymptome . Ohne Diagnose
Zusammen
Von den ersten 5000 untersuchten Fällen agglutinierten bis 1:100 216 Seren, darunter waren:
Alter I ama er eg
=
Lues-Verdacht 9 9 | — 5] — | 4| — | 9 — '— Lues-L».::;8 e e 3% 5 4j 1 Jees 2 1 | 3 — 1 Lues II ...... 9 8j 1 6! — 31 — ! 7 — 2 Lues III... ... 9) 8j I| 5, 1:3 u 5 1:38 Lues latens. . . . . 72 | 63 91 46. 6. 20 5 4l 3 23 Infektionskrankheit.. | — | — | -1—- 1 -.—-1 — — u Erkrankung der Haut |
und Schleimhäute. | 16 | 14 21 12 | 2 2| — 12 — 4 Erkrankung der Kno- | | |
chen und Gelenke I ae l | — — | — — ne l Erkrankung der in- | |
neren Organe. .. 3.1 Pj= Bes l — l lI — Erkrankung des Her- | !
zens und des Gefäß-
systems . 2... 12 10 21 10 --- 2 == l 4 T Erkrankung des Ner- |
vensystems. ... | 9 8) 1| 6: — 3| — | 3 2 4 Allgemeinsymptome . 4 3 | |. 47 el er ie 3 Ohne Diagnose .. . 168 60! 8152: 2 14 218386 16 |24
Zusammen |216 190 | 26 |151: 11 | 54 8 19|1|17 72
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In Tabelle 9 sind dieselben Verhältnisse für die Seren, die in einer Verdünnung von 1:200 positiv agglutinierten, zusammengestellt, und zwar von sämtlichen 10000 untersuchten Fällen.
Tabelle 8.
Von den ersten 5000 untersuchten Fällen agglutinierten bis 1:150 12 Seren, darunter waren:
—
Geschlecht Wa. R. Alter unter |21—50| über +10 nn?
Diagnose
Lues-Verdacht Lues I... ....
ol
Infektionskrankheit.. Erkrankung der Haut und Schleimhäute Erkrankung der Kno- chen und Gelenke Erkrankung der in- neren Organe . . Erkrankung des Her- zens und des Gefäß- systems ..... Erkrankungd.Nerven Allgemeinsymptome . Ohne Diagnose. . .
Summe
Tabelle 9.
Von den 10000 untersuchten Fällen agglutinierten 1:200 1498 Seren, dar- unter waren:
CEEE 5i Geschlecht Wa. R. Alter iagnose : x | ee e Lues-Verdacht . . . | 143| 119| 24 | 103| 10 30| 5| 9! 3|26 Lues I... ..... 170| 147 | 23 | 98| 10 | 62 4 | 139 4 | 23 Lues II ...... 139 | 122| 17 I 77| 11 | 5l — i; l 8 | 20 Lues II... ... 105| 8 al 61| 12| 32| — | 72 | 23 | 20 Lues latens. .. .. 356 | 318 | 38 | 238| 28 | 90 2 | 266 11 | 77 Infektionskrankheit. . 8 | T | 1 8&8 —. — — 1 7 — l Erkrankung der Haut | | und Schleimhäute. | 89! 78| 11 | 67| 4, 18 4.701 3112 Erkrankung der Kno- 1 | i chen und Gelenke. | 20 18!) 2f 5: 2) 3| — | 188: — | 2 Erkrankung der in- | | neren Organe. . . 17 15; 2| 14 — 3i — 13 3 1 Erkrankung des Her- | | zens und des Gefäß- | systems ...:14| 6 2| 4 1 6] —: 32: 8 8 Erkrankung des Ner- | | | vensystems . . . . 86 | 78 8 753.3 8 1 64 6 15 Allgemeinsymptome . 48 42 6| 39 5 4 1 35 | 4 8 Ohne Diagnose . . . | 269: 234 35 | 228 8 | 33 4 166 : 14 85
Zusammen |1498 1317 181 [1064: 94 340 | 21 1092 87 298
306 : Untersuch. über das Vorkommen der Gruber-Widalschen Reaktion etc.
Auffallend niedrig ist die (Tabelle 4—9) Zahl der Infektionskrank- heiten, was dadurch erklärlich ist, daß sie verhältnismäßig leicht sicher diagnostiziert werden, so daß nur in seltenen Fällen eine Wassermann- sche Reaktion angestellt wird, Infektionskrankheiten somit selten zur Untersuchung kommen.
Tabelle 10 zeigt das zeitliche Eintreten der Agglutination. Dabei fällt auf, daß bei den untersuchten Fällen der Eintritt der Agglutination nur in ganz seltenen Fällen nach Ablauf der zweiten Stunde eintritt, wäh- rend nach den Erfahrungen der Landesstelle das Serum von Typhus- kranken bei Anwendung der makroskopischen Untersuchungsmethode häufig bereits innerhalb der ersten 2 Stunden eine positive Reaktion bedingt.
Tabelle 10. Zeitlicher Eintritt der Reaktion: (in Zahlen und Prozenten)
be SR ee ee Fa He SR ar Be re 4 SEE Fa a Er A ne DR ETN Ue DOREEN Ye ne een er m m m reg oe m a Tr ee ee nm RE T Teuer 2] Zeit 5 > . A . B . . t Sach 1:20+ 1:50 + 1:100- 1:150+ | 1:200-
2 Std. = 2 2 16 3 Std. u — l = 105 4 Std. 1 2 l 112 5 Std. 9 49 4 125 6 Std. 27 167 ll 426 8 Std. 2Y 82 5 435 10 Std. 6 24 x 165 12 Std. 5 11 2 41 24 Std. =E 16 u 73 Zus. 441 185 77 | 352 23 1498
2 Std. | 3Std. | 4Std. | 5Std. | 6Std. | 8Std. | 10Std. |12Std. | 24 Std.
0,8% | 41% | 45% | 99% | 34,7% 29,9%, 89% | 2,7% | 45% .
Von den 1498 verschickten Fragebogen kamen 897 beantwortet zurück. Frage 1: „Hat Typhusschutzimpfung (Kriegsimpfung) vorgelegen ?“, wurde mit ,‚Ja‘‘ beantwortet bei 761 männlichen und 12 weiblichen Patienten. Mit „Nein“ bei 29 männlichen und 95 weiblichen Patienten. Von diesen 29 Männern hatten 5, von den 95 Frauen 15 einen Typhus überstanden. Die Frage 2: „Hat der Betreffende Typhus durchgemacht ?“, wurde mit ‚Ja‘ beantwortet bei 28 männlichen und 15 weiblichen Patienten. Typhusverdacht bestand bei 15 männlichen und 1 weiblichen Patienten. Über Frage 3: „Besteht irgendeine andere Erkrankung und welche ?“, gibt Tabelle 11 Aufschluß. Von den verbleibenden 24 männlichen und 80 weiblichen Patienten, deren Blutserum in einer Verdünnung 1:200 agglutinierte, ohne daß der
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Nachweis einer Schutzimpfung oder eines überstandenen Typhus gelang, wurde bei 21 männlichen und 36 weiblichen Patienten Harn und Stuhl auf Typhusbazillen untersucht. Sämtliche Untersuchungen zeigten ein negatives Ergebnis. Da die Untersuchung von Stuhl und Harn jedoch jeweils nur einmal durchgeführt werden konnte, so schließt dieses Er- gebnis das Vorhandensein von Bazillenträgern unter den Untersuchten nicht aus.
Die diagnostischen Daten der Tabelle 11 stützen sich auf die ver- besserten Angaben der Ärzte auf Grund der Rückfragen. Sie weichen daher von den Daten der Tabelle 9, die sich auf die ersten Angaben stützt, insofern ab, als die dort ohne Diagnose aufgeführten 269 Fälle hier diagno- stisch eingereiht werden konnten.
Tabelle 11. Die 897 beantworteten Fälle (1:200 positiv) verteilen sich wie folgt: Geschlecht Wa.R. Alter Diagnose w iof ibe ee zus. | m. | w. | — | F | ek | er rd ? Lues-Verdacht. . . . | 99 | 89 | 10 | 90 | 3 | 6 2 | 24 aT a R aan 76 | 62 | 14 3l 13 32 5 fy 5 — 13 Lues II, 15 er RB 2 15 | 63 — 93 | 2 | 23 LUSS TET: a aa A 61 | 56 51 24| 7| 30 40 | 11 10 Lues latens . . . 197 |179 | 18 |122 | 12 | 63 | ı |150| 9 | 7 Infektionskrankhe ite n | | bei Lues latens . . 4 2 2 4 — - 3 l — Infektionskrankheiten 22 | 21 l 19 ] 2 - 13 | 8 Erkrankungen d. Haut
und Schleimhäute . [100 | 87 | 13 | 81 3| 16 D | 8 2, i Erkrankungen der | |
Knochen u. Gelenke | 18 | 15 s t 15 l 21 — | 14 — 4 Erkrankungen der in- | |
neren Organe . . . | 21 | 20 | 1 17 l 31 — | 1| 1 5 Erkrankgn. d. Herzens |
und d. Gefäßsystems | 35 | 33 | 2| 28 2 5 - | «26 3 6 Erkrankungen d. Ner- |
vensvystems . 73 | 868 | 17 162 3 8 — 46 13 14 Allgemei insymptome 13:1 .04 9| 59 7 7 | pLi 7 14
Ohne Diagnose
Zusammen |897 | 790 107 | 592 68 | 237 12 663 52 170
Die ın Tabelle 11 aufgeführten 22 Infektionskrankheiten verteilen sich folgendermaßen:
13 Fälle von Lungentuberkulose, 1 Fall von Bauchfelltuberkulose, 1 Fall von schwerer Sepsis, 2 Fälle von Lungenentzündung, 1 Fall von hochfieberhafter Kopfgrippe, 3 Grippefälle, 1 Malaria tertiana-Fall.
Weiter sind 5 Fälle von schwerem Ikterus hervorzuheben, die in der Tabelle unter Erkrankungen der inneren Organe aufgeführt sind.
An Hand der durch die Untersuchung festgestellten Ergebnisse soll nunmehr zu der Frage: ‚Wann ist ein positiver Ausfall der Gruber- Wiıdal-schen Reaktion für die Typhusdiagnose verwendbar‘, Stellung genommen werden.
Archiv für Hygiene. Bd. 97. 21
308 : Untersuch. über das Vorkommen der Gruber-Widalschen Reaktion etc.
Wie aus den aufgestellten Tabellen ersichtlich wird, läßt sich bei 10000 untersuchten Fällen 2576mal eine positive Gruber-Widalsche Reaktion beobachten. Davon kommen auf eine positive Reaktion mit einer Titerhöhe von 1:100 bis 1:200 1873 Fälle, auf eine Titerhöhe von 1:20 bis unter 1:100 703.
Es konnten aus den angeführten Gründen nur über die 1498 Fälle mit einer Agglutination von 1:200 Rückfragen gestellt werden, die in 897 Fällen, also zu 60 %,, beantwortet wurden und so einer genaueren Betrachtung zugänglich waren.
Wenn bei 104, das ist bei 12,2%, dieser 897 Fälle, weder eine voraus- gegangene Schutzimpfung noch ein überstandener Typhus anamnestisch nachgewiesen werden kann, so muß, ehe diese 12,2%, als unspezifische Reaktion gewertet werden, die Wahrscheinlichkeit ungenauer Angaben, z. B. bei überstandenem, nicht diagnostiziertem Typhus levis oder ambu- latorius, berücksichtigt werden.
Da nur bei 4,9% der Fälle ein Typhus mit Sicherheit anamnestisch nachgewiesen ist, so wird die Bedeutung der Typhusschutzimpfung klar, die fast ausnahmslos in die Kriegszeit fällt, also 8—10 Jahre zurückliegt. Diese Tatsache wird weiter unten noch eingehend betrachtet.
Bei Beurteilung der Fälle mit Agglutination unter 1:200 ist zu be- merken, daß erfahrungsgemäß die Wahrscheinlichkeit einer unspezifischen Reaktion mit der Höhe der Konzentration des angewandten Serums steigt. In gleichem Maße fällt hier der Anteil der Typhusschutzgeimpften, wie aus dem beträchtlichen Anstieg der Anteilziffer der Frauen bei den unter 1:200 agglutinierenden Seren besonders in den Verdünnungen von 1:80 bis 1:20 ersichtlich ist. Dies zeigt deutlich Tabelle 12.
Agglu- Auf 6317 Auf 3683 |
tination Zahl der Sera von Zahl der Sera von | danach entfallen au, Verdün- Männer | Männern Frauen | Frauen | z nungsgrad | berechnet | berechnet | Männer | Frauen
4,8%, | 19: 37% WW ; 24 21, 0 50. | 1A 100 30
57 09, o 20 0,59 „ 100 60 1:50 135 47, 3 o lá., 100 66,7 1:20 302 | 20,8 „ 3 49. 100 | 77,3
Über das Vorkommen einer unspezifischen Gruber-Widalschen Reaktion bestehen in der Literatur zahlreiche Beobachtungen.
Stern fand bei Anwendung der von ihm beschriebenen Untersuchungs- methode auf Gruber-Widalsche Reaktion in 70 Fällen Nichttyphöser 20mal eine Agglutinationskraft bei 1:10, hiervon 5mal auch bei 1:20 und 2mal bei 1:30; Köhler bei 100 untersuchten Nichttyphuskranken und einer Reihe gesunder Personen 12mal Agglutination bis 1:20, von diesen 6mal bis 1:30 und hiervon 2mal bis 1:40; Sklowers bei 100 Fällen Nichttyphöser in 25% 1:10, in 8% 1:20, in 2% 1:30, in 19% 1:40 positive Agglutination. Lommel sah bei Puerperalsepsis, Lubowski und Stein- berg bei Staphylokokken- und Proteusinfektionen eine Agglutination mit Typhusbazillen. Kassel und Mann beschreiben 2 Fälle von Pneumonie, Köhler einen Fall von perniziöser Anämie mit positivem Gruber-Widal,
Von Dr. med. Hans Gottlieb Huber. 309
H oke konnte in einem Fall von akutem Rotz eine Agglutination von 1:200 feststellen. Loele hat das Verhalten von Blutserum von 100 nicht an Typhus verstorbenen Personen gegenüber der Widalschen Reaktion untersucht und bekam in 10 Fällen einen positiven. Ausfall derselben. In allen Fällen schloß die Sektion Typhus völlig aus, so daß diese Befunde mit großer Sicherheit als einwandfrei zu betrachten sind. Es zeigte sich, daß vor allem Geschwulstbildungen und in 2. Linie schnell verlaufende Prozesse phlegmonöser Art für die positive Agglutination in Frage kamen. Der Agglutinationstiter lag in sämtlichen Fällen unter 1:100. Die zahl- reichen serologischen Untersuchungen, die während des Krieges angestellt worden waren, gaben ebenfalls Gelegenheit, unspezifische Agglutination zu beobachten. Marek, Gaethgens und Wolff-Eisener berichten darüber. Gaethgens faßt das Ergebnis seiner Feststellungen dahingehend zusammen, daß eine auf Grund der Agglutinationsbefunde als Y-Epidemie angesprochene Anhäufung von ruhrartigen Erkrankungen sich durch die starke Einwirkung der Kranken- und Rekonvaleszentensera nicht nur auf Flexner-Bakterien, sondern teilweise auch auf Typhus-, Paratyphus B- und Gärtnerbazillen auszeichnete. R. Goldschmidt untersuchte das Blutserum von 83 fieberhaft Erkrankten (Angina, Grippe, Dysenterie, Enteritis acuta unbekannter Aetiologie, Tuberkulose, Pyelitis, Erysipel, Scharlach, Diphtherie) auf Gruber-Widal und fand in 5% der Fälle einen positiven Ausfall der Reaktion. Für eine unspezifische Beeinflussung der Gruber-Widalschen Reaktion sprechen weiterhin die Ergebnisse der von Stuber ausgeführten experimentellen Untersuchungen. Letz- terer konnte nach Fettemulsionsinjektionen, die von Staphylokokken, Tuberkel- und Diphtheriebazillen gewonnen waren, Typhus-Agglutination bis 1:600 feststellen. Hergt kommt in seinen Untersuchungen über die diagnostische Verwertbarkeit der Gruber-Widalschen Reaktion zu dem Ergebnis, daß auch Nichtgeimpfte fieberhaft erkrankte Personen eine unspezifische Typhusagglutination (1:200 +4) zeigen können. Korbsch stellt in seinen Betrachtungen über Cholelithiasis, Pyelitis und Gruber- Wiıdalsche Reaktion fest, daß bei beiden Erkrankungen in der Mehr- zahl der Fälle die Gruber-Widalsche Reaktion positiv ausfällt, ja, daß sie mit Vorteil bei der Diagnosestellung beider Erkrankungen angewendet werden kann. Vorschütz hat 1923 mitgeteilt, daß er über etwa 120 Fälle, die sämtlich unspezifische Widalsche Reaktion gaben, verfüge. Unter diesen sind auch solche von Lueskranken. Ihre Erklärung findet diese Tatsache in der Vorstellung, daß im Serum einer erkrankten Person neben den eigentlichen Hauptagglutininen noch Mit- oder Nebenagglutinine gebildet werden, die eben dann die unspezifische Agglutination, die im allgemeinen nicht über 1:100 hinausgeht, bedingen.
Aus diesem Grunde wurde im Laufe der Zeit der Titer der für Typhus sprechenden positiven Gruber-Widalschen Agglutination mehr und mehr erhöht: von Widal auf 1:10, von Gruber auf 1:30, von Stern auf 1:50, von Bruns und Kayser auf 1:75 und von Jürgens auf 1:100. | l
Ob der Krankheitsprozeß der Lues beziehungsweise die Veränderungen
der Blutserumzusammensetzung infolge der Luestherapie die Gruber- 21*
310 Untersuch. über das Vorkommen der Gruber-Widalschen Reaktion etc.
Widalsche Reaktion zu beeinflussen imstande sind, ist ohne weiteres nicht von der Hand zu weisen, bedarf jedoch weiterer Untersuchungen.
Vorschütz stellt auf Grund seiner Untersuchungen über die Spezi- fizität der Gruber-Widalschen Reaktion die Frage: „Kann man den unspezifischen Widal vom spezifischen unterscheiden ?“ und beantwortet sie mit Nein. Auf Grund vorliegender Untersuchungen sei die Frage so formuliert: Mit welchen Einschränkungen ist heute die Gruber-Widal- sche Reaktion (trotz des Vorkommens einer unspezifischen Agglutination) für die Typhusdiagnose verwertbar ?
Um letztere beantworten zu können, wurde der zeitliche Eintritt der Gruber-Widalschen Reaktion bei unseren Wassermannseren genau beobachtet, wobei sich eine erhebliche Abweichung von der Reaktionszeit bei sicher Typhuskranken zeigte. Das Ergebnis dieser Beobachtungen ist in Tabelle 10 zusammengestellt.
Über die Notwendigkeit einer längeren Beobachtungszeit äußern sich Korte, Steinberg, Brion und Kayser. Sie halten gerade bei der makroskopischen Methode eine längere Beobachtungszeit als zwei Stunden für notwendig. Gräf berichtet über Spätagglutination nach vier und sechs Stunden. Hilgermann tritt ebenfalls für eine längere Beobachtung als zwei Stunden ein. Konrich kommt auf Grund seiner Untersuchungen zu der Forderung, daß ein endgültiges Urteil über ein positives bzw. nega- tives Ergebnis einer Gruber-Widalschen Reaktion erst nach längerer Beobachtungszeit (etwa 12—16 Stunden) abgegeben werden soll. Weiter- hin stellten Höfer und Schiemann bei einer Reihe sicherer Typhus- fälle fest, daß die Reaktion später als nach zwei Stunden eintrat. Über den zeitlichen Ablauf der Gruber-Widalschen Reaktion hat vor allem Kleinsorgen eingehende Untersuchungen angestellt. Er fand, daß in 50%, der Fälle die Reaktion nach 2 Stunden noch nicht voll abgeschlossen und daß in 441% der Fälle nach 2 Stunden überhaupt noch keine Aggluti- nation eingetreten sei, so daß die letzteren Fälle bei nur einmaliger Be- trachtung für die Diagnose Typhus vollkommen verloren gehen würden.
Dies hindert jedoch nicht, im frühzeitigen Eintritt der Agglutination eine Erscheinung zu sehen, die die Wahrscheinlichkeit eines Typhus größer macht als ein verlangsamtes Eintreten. Ein langsamer Eintritt der Reaktion schließt zwar die Diagnose Typhus keineswegs aus, wird jedoch mit mehr Vorsicht beurteilt werden müssen als ein positiver Aus- fall der Reaktion innerhalb der ersten 2 Stunden,
In die Beurteilung der diagnostischen Verwertbarkeit der Gruber- Widalschen Reaktion hat vor allem die Typhusschutzimpfung während des Krieges eine gewisse Unklarheit gebracht.
Bereits Ende 1914 lag eine Veröffentlichung vor, die sich mit der durch die Typhusschutzimpfung geänderten Beurteilung des Gruber- Widals befaßte. Kellermann war es, der bei 3 typhusschutz- geimpften Verwundeten eine starke positive Gruber-Widalsche Reak- tion noch in einer Verdünnung von 1:200 erhielt. Er schloß daraus, daß die nachgewiesene Agglutination bei vorher typhusschutzgeimpften Personen einen Beweis für die Typhuserkrankung nicht erbringen kann. Lipp ist 1915 derselben Ansicht. Er will an Stelle der Gruber-
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Widalschen Reaktion die Betrachtung des Blutbildes herangezogen wissen und spricht mit Nägeli das normale oder gesteigerte Vor- kommen von Eosinophilen als Gegenbeweis gegen Typhus an. Dünner, Hage und Korff-Petersen sowie Kühl kommen in gleichem Jahre zu demselben Ergebnis und sprechen der Gruber-Widalschen Reaktion bei Schutzgeimpften jeden ‘diagnostischen Wert ab. Riebold vertritt 1916 die Ansicht, daß unter der Voraussetzung, eine Typhusschutzimp- fung liege wenigstens 2—21, Monate zurück, ein während einer typhus- verdächtigen Krankheit beobachtetes Ansteigen eines niedrigen Aggluti- nationstiters auf höhere Werte (1:500 bis 1:1000) und längeres Verharren auf denselben, für die Typhusdiagnose verwertet werden kann, während nur eine einmalige Feststellung eines noch so hohen Agglutinationstiters erst dann einige diagnostische Beweiskraft beanspruchen kann, wenn die Schutzimpfung wenigstens 10 Monate zurückliegt. Roth hat 1920 Beobachtungen über die Gruber-Widalsche Reaktion bei Typhus- schutzgeimpften angestellt. Das Ergebnis dieser Beobachtungen ist, daß das Verhalten des Titerwertes der Gruber-Widalschen Agglutination bei Schutzgeimpften mit länger als einem Jahr zurückliegendem Impf- termin völlig unberechenbar ist, daß sich eine gesetzmäßige Beeinflussung durch bakterielle Infektionen, durch Einverleibung artfremder Eiweiß- körper und anderer hochwirksamer therapeutischer Mittel nicht erweisen läßt. Für den praktischen Arzt ergibt sich nach Roth daraus, daß auch bei länger als 2 Jahre zurückliegender Schutzimpfung gelegentlich mit einem hohen Titerwert gerechnet werden muß, so daß die einmalige Fest- stellung eines solchen noch nicht für Typhus zu sprechen vermag. R. Gold- schmidt hebt in einer 1921 veröffentlichten Arbeit hervor, daß sich die Typhusagglutination bei Schutzgeimpften von der des Typhuskranken- serums in quantitativer Hinsicht nicht unterscheidet. Weder die Titer- höhe noch das Ansteigen des Titers während einer fieberhaften Erkrankung stellen unterscheidende Merkmale dar, so daß eine serologische Typhus- diagnose bei Typhusschutzgeimpften aus der Gruber-Widalschen Re- aktion in ihrer alten Form nicht gestellt werden kann. In qualitativer Hinsicht jedoch fand R. Goldschmidt zwischen den Seren Typhus- kranker und Geimpfter Unterschiede, die es ermöglichen, auch bei Ge- impften die Diagnose einer typhösen Erkrankung zu stellen. Es zeigte sich nämlich, daß das Typhuskrankenserum im Gegensatz zum Serum Schutzgeimpfter in mehr als der Hälfte der Fälle eine Mivagglutination der Paratyphus-A-Bazillen ergab, jedoch nur, wenn die Bazillen vorher mit Formol abgetötet waren. Hergt stellt sich auf den Standz£unkt, daß die Gruber-Widalsche Reaktion in ihrem Wert von den im Kriege erfolgten Typhusschutzimpfungen nicht berührt wird (nachdem seit den letzten Impfungen über 2 Jahre vergangen sind). Durch eine einmalige Untersuchung läßt sich jedoch seiner Meinung nach nicht entscheiden, ob es sich um eine durch eine typhöse Infektion bedingte Agglutination oder um eine noch bestehende Impfreaktion handelt. Hage verficht in seiner Arbeit über das Fortbestehen der Gruber-Widalschen Reaktion nach Typhusschutzimpfungen die Ansicht, daß auch jetzt noch infolge der Kriegsimpfung eine Beeinflussung der Gruber-Widalschen Reaktion
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besteht und daß die serologische Diagnostik, die gerade beim Typhus eine große Rolle spielt, hierdurch eine Einschränkung erfährt, die vor- läufig nicht zu vernachlässigen ist.
Aus den angestellten Versuchen ist zu entnehmen, daß — wie be- reits früher angeführt — von 790 beantworteten Fällen mit positivem Gruber-Widal 1:200, die sich auf Männer im Alter zwischen 21 und 50 Jahre bezogen, 761 typhusschutzgeimpft waren. Es läßt sich damit sagen, daß auch heute noch, nachdem seit Kriegsende 8 Jahre vergangen sind, mit einer Nachwirkung der Typhusschutzimpfung hinsichtlich der Agglutination auf Typhusbazillen unzweifelhaft gerechnet werden muß, ein Schluß, der. mit der Ansicht Hages und der anderen angeführten Autoren, die sich für eine Berücksichtigung der Typhusschutzimpfung bei positivem Gruber-Widal aussprechen, voll übereinstimmt.
Ein weiterer Beweis für obige Ansicht ist in der seit Kriegsende erhöhten Typhusmortalität für das weibliche Geschlecht zu erblicken, einer Erscheinung, die mit den ermittelten Ergebnissen hinsichtlich Schutz- impfung im Kriege und Gruber-Widalscher Reaktion gut in Einklang zu bringen ist.
Abel hat in seiner Arbeit über ‚‚die Typhussterblichkeit des männ- lichen und weiblichen Geschlechtes in Preußen vor und nach dem Welt- kriege“ genaue Ermittelungen angestellt. Aus den Schlußsätzen dieser Arbeit sei folgendes entnommen und hervorgehoben: Während vorher die Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes Jahr für Jahr höhere Zahlen aufwies, zeigt sich seit 1917 in der Sterblichkeit an Typhus ein Überwiegen des weiblichen Geschlechtes. Diese Umgestaltung in den Sterblichkeits- verhältnissen äußert sich nur in den Altersklassen, unter denen sich eine große Zahl während des Weltkrieges gegen Typhus schutzgeimpfter Männer befindet. In dieser Erscheinung ist also ein neuer Beweis für den Wert der Typhusschutzimpfung zu sehen. Diese verminderte Typhussterblich- keit der Männer hält bis 1922 (einschließlich) an. Danach muß sich die Wirkungsdauer der Typhusschutzimpfung auf etwa 4—5 Jahre erstrecken. Die Typhusschutzimpfung der Kriegsjahre scheint den Geimpften nicht nur Schutz gegen den Tod im Falle einer Typhuserkrankung zu gewähren, sondern auch ihre Erkrankungsfähigkeit an Typhus herabzusetzen.
Für Mecklenburg-Schwerin hat Scheven sich derselben Arbeit unterzogen. Er faßt das Ergebnis seiner Untersuchung dahingehend zu- sammen, daß seit 1919 eine deutliche Abnahme der Typhuserkrankungen der Männer in den mittleren Lebensjahren besteht. Seiner Meinung nach muß diese Abnahme auf die bei den Männern im Kriege vorgenommene Typhusschutzimpfung zurückgeführt werden. Der Impfschutz macht sich auch noch im Jahre 1924 bemerkbar. Diese Tatsache läßt die Möglichkeit zu, daß mancher früher typhusschutzgeimpfte Mann zu Unrecht als typhus- krank gemeldet wurde, da bei ihm, als bei einer einzelnen fieberhaften Erkrankung aus anderer Ursache ein hoher Agglutinationstiter des Blutes gefunden worden war, das Vorliegen eines Typhus angenommen wurde. Eine Arbeit von Hage beschäftigt sich eingehend mit den Nachwirkungen der Typhusschutzimpfung im Kriege. Er weist in derselben nach, daß der von Friedberger geforderte große Unterschied in Typhuserkrankungen
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bei Geimpften und Nichtgeimpften durch die anläßlich der verstärkten Typhusbekämpfung in Mitteldeutschland aus den Jahren 1921/22 erhal- tenen Befunde gegeben ist, und kommt nach eingehender Berücksichtigung all der Umstände, die außer der Schutzimpfung für einen Überschuß der weiblichen Typhuserkrankungen in Betracht gezogen werden müssen, zu dem Schluß, daß dieselben nicht imstande sind, die auffallenden Unter- schiede der Typhussterblichkeit zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht vor und nach dem Kriege zu erklären, und ferner, daß die Typhusschutzimpfung einen nachhaltigen Einfluß hinsichtlich der Wider- standsfähigkeit gegenüber Infektionen typhöser Natur auszuüben imstande ist. Nach ihm haben sich eine Reihe französischer Autoren, ebenfalls ge- stützt auf die nach dem Kriege gewonnenen Erfahrungen, sehr warm für den Wert der Typhusschutzimpfung eingesetzt.
Wichtig erscheint wieder, darauf hinzuweisen, daß ebenso wie bei den Fällen von unspezifischer Agglutination auch bei den Fällen, bei denen es sich um Typhusschutzgeimpfte handelte, ein verlangsamter Eintritt der Agglutination gegenüber der von Typhuskrankenserum beobachtet werden konnte.
So fand sich unter 1498 Fällen nur 16mal Agglutination nach 2 Stunden. Unter diesen 16 Fällen, die nach 2 Stunden bereits 1:200 agglutinierten, waren 7, die Typhus überstanden hatten, und zwar in 5 Fällen vor je 8, 9, 12, 21 und 45 Jahren. 6 Fälle waren typhusschutzgeimpft, über die übrigen 3 Fälle war eine nähere Auskunft nicht zu erreichen. Einer der 7 Typhusfälle war zugleich typhusschutzgeimpft.
Wie lange noch ein überstandener Typhus nachwirken kann, zeigt der eine Fall, bei dem eine positive Agglutination von 1:200 innerhalb der ersten 2 Stunden eintrat, trotzdem seit der Typhuserkrankung bereits 45 Jahre vergangen waren. In einem zweiten Fall, der durch die ange- stellten Untersuchungen ermittelt werden konnte, trat eine positive Gruber-Widalsche Reaktion nach 6 Stunden auf, wobei die Typhus- erkrankung 36 Jahre zurücklag.
Bei 1414% der beobachteten Fälle trat die Agglutination bereits nach der 3. und 4. Stunde ein. Die Hauptzahlen, 77%, entfallen jedoch auch hier auf die 5. bis 10. Stunde.
Was die Beurteilung des Agglutinationstiters der Typhusschutz- geimpften anlangt, so ist dabei zu berücksichtigen, daß die untersuchten Seren von mehr oder weniger kranken Personen stammen, der Titer also beeinflußt sein kann. Daß dies wahrscheinlich geschehen ist, läßt sich aus der folgenden Aufstellung über das Ergebnis der Gruber-Widal- schen Reaktion erkennen, die an Blutseren von 50 schutzgeimpften Kriegs- teilnehmern, die klinisch gesund waren, angestellt wurde.
Von 50 Blutseren klinisch gesunder Kriegsteilnehmer, die sämtlich typhusschutzgeimpft waren, war die Gruber-Widalsche Reaktion
negativ in 33 Fällen,
nur bis 1:20 .. 2 u, re positiv in 2 Fällen, w I ee e ao a > = ar age DE ME wor er 2 Br ie re y 2 =
l 1:100 und darüber bis 1:200 ,, Ri 10 y
314 Untersuch. über das Vorkommen der Gruber-Widalschen Reaktion etc.
Der Eintritt der Reaktion erfolgte meist zwischen der 10. und 12. Stunde. Da diese Zahlen von den bei Patientenseren gewonnenen ab- weichen, so muß mit der Erhöhung des Titers durch Krankheit gerechnet werden.
Interessant sind die Veröffentlichungen Curschmanns und anderer Autoren über das Ansteigen des Agglutinationstiters von Typhusschutz- geimpften bei fieberhaften Erkrankungen, insbesondere bei Grippe.
Während Rosenthal und Hamburger, deren Untersuchungen vor den großen Grippeepidemien liegen, durch ihre Untersuchungen die von Conradi und Bieling experimentell festgestellte Steigerung der Typhus- agglutininbildung durch unspezifische bakterielle Reizung nicht bestätigen konnten und eine unspezifische Reizung der Typhusagglutination für eine Seltenheit erklären, ergibt sich aus den Beobachtungen Curschmanns: „Die Grippeerreger oder aber der komplexe Grippekrankheitsprozeß haben bei ehemals Typhusschutzgeimpften sehr häufig eine unspezifische agglu- tinogene Wirkung auf den Typhusagglutinationstiter. Diese Eigenschaft ist in abnehmender Häufigkeit 1% bis über 3 Jahre nach der Typhus- schutzimpfung feststellbar. Innerhalb der ersten 3—4 Jahre nach der- selben ist daher die Gruber-Widalsche Reaktion bei einer Titerhöhe von 1:400 zur Differenzialdiagnose gegenüber einer Grippe nicht zu ver- wenden. Nur durch das rasche Eintreten (gemeint ist wohl das Eintreten in den ersten Krankheitstagen der Grippe?) und ebensobaldige Ver- schwinden der Reaktion, also die sehr kurze. Dauer von oft nur wenig Tagen, ist die unspezifische Agglutinationssteigerung durch den Grippe- infekt von spezifischer durch eine Typhuserkrankung einigermaßen sicher zu unterscheiden. Der Praktiker wird daher gut tun, vor der Bewertung der Gruber-Widalschen Reaktion bei einer jeden fieberhaften Er- krankung vor allem natürlich bei der Grippe, festzustellen, ob und wann der Kranke typhusschutzgeimpft ist.“
Nach diesen Erörterungen seien die Ergebnisse dieser Arbeit noch- mals kurz zusammengestellt:
Zusammenfassung.
Bei 10000 untersuchten Fällen Nichttyphöser, bei denen eine syphi- litische Erkrankung bzw. der Verdacht einer solchen vorlag, war 2576mal eine positive Gruber-Widalsche Reaktion zu finden, die teils unspezi- fischer Natur, teils durch Typhusschutzimpfungen, die während der Kriegsjahre vorgenommen worden waren, oder frühere Typhuserkran- kungen bedingt war, und zwar verteilten sich die Fälle hinsichtlich der Titerhöhe wie folgt: Positive Fälle 1:20 441, 1:50 185, 1:80 77, 1:100 352, 1:150 23 und 1:200 1498.
Aus den Ermittlungen der Fragebogen geht hervor, daß von 897 der beantworteten Fälle 793, also 88,49% der Fälle, die 1:200 agglutinierten, während des Krieges nachweislich typhusschutzgeimpft worden waren. oder einen Typhus überstanden hatten. l
Auch heute noch, also 8—10 Jahre nach erfolgter Typhusschutz- impfung, kann bei Schutzgeimpften eine positive Gruber-Widalsche
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Reaktion fortbestehen, eine Erscheinung, die mit der von Abel fest- gestellten verminderten Typhussterblichkeit der Männer im Alter von 25—50 Jahren gut in Einklang zu bringen ist.
Bei der Beurteilung des positiven Ausfalls einer Gruber-Widal- schen Reaktion ist ihr zeitlicher Eintritt von Bedeutung. Er war bei den angestellten Versuchen gegenüber den Seren von Typhuskranken wesentlich verzögert und erfolgte meist erst zwischen der 5. und 10. Stunde. Nur in 0,8% der Fälle war nach Verlauf von 2 Stunden bereits eine posi- tive Reaktion vorhanden.
Bei fieberhafter Erkrankung Typhusschutzgeimpfter ist der sero- logische Nachweis des Typhus besonders erschwert, weil der Agglutinati- onstiter für kurze Zeit ansteigen und eine für Typhus sprechende Höhe erreichen kann, trotzdem kein Typhus vorliegt. Auch hier kann die Be- obachtung des zeitlichen Eintritts der Reaktion differentialdiagnotisch mitwirken. In manchen Fällen wird man ohne eine Wiederholung der Reaktion nicht auskommen. Tritt die Reaktion sehr rasch und zugleich bei starker Verdünnung ein, so liegt begründeter Verdacht auf Typhus vor.
Die makroskopische Agglutinationsmethode ist durchaus zuverlässig und infolge ihrer einfachen und ungefährlichen Handhabung bei Massenuntersuchungen, wie sie eine verstärkte Typhusbekämpfung bisweilen notwendig macht, mit Erfolg anzuwenden.
Ein positiver Gruber-Widal ist für die Diagnose Typhus sofort verwendbar, wenn bei einem klinisch Typhusverdächtigen, nicht schutz- geimpften Patienten die Agglutination bei Anwendung der makroskopischen Methode innerhalb kurzer Zeit (2—3 Stunden) eintritt. Auch ein nicht hoher Agglutinationstiter kann für Typhus sprechen, sofern die Reak- tion frühzeitig eintritt, bei unspezifischem Gruber-Widal ist der zeit- liche Eintritt der Reaktion verzögert.
Die Gruber-Widalsche Reaktion stellt somit nach wie vor ein wertvolles Hilfsmittel für die Diagnosestellung ‚Typhus abdominalis‘“ dar und ist wohl geeignet, im Zusammenhang mit dem klinischen Befund die Diagnose Typhus zu erhärten.
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