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ARCHIV FÜR wp RELIGIONSWISSENSCH HAFT |

HERAUSGEGEBEN VON

HEINRICH HARMJANZ unp WALTHER WÜST

SECHSUNDDREISSIGSTER BAND

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1939 LEIPZIG UND BERLIN VERLAG UND DRUCK VON B.G.TEUBNER

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PRINTED IN GERMANY

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INHALTSVERZEICHNIS

Seite Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage. Von J.W. Hauer in. Tübingen. s a = 2:2 2 a2 2a 238 % 3.8 2 8. 25 OE See Be 1 Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung. Von Walther Wistin Münchens <e im rare ne ee. ce HS ee Genet et 64 Der Feuerkult der Germanen. Von Otto Huth in Berlin. ....... 108 Lustrum und Circus. Von Árpád Szabó, z. Z. Frankfurt a. M.. .. . . 135 Ein neues thrako-mithrisches Relief. Von Gawril Kazarow in Sofia. (Mit ir Abbisaal Tel Don a un ong Bt g ee er un a 161 Die Seelenwägung in Ägypten und Griechenland. Von Ernst Wüst in München. (Mit 1 Abb. auf Taf. II) ...............4. 162 Arktischer Schamanismus und altnordischer seidr. Von A. Ohlmarks in Lund 4.0 22 4 sa Be Re et ee 171 ANachruf auf K. Th. Preuß. Von Richard Thurnwald in Berlin . . - 181

„zu einem neuen Calvinbuch. Von Walter Engels in Marburg (Lahn) . 190 S = + ee

: Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte. I. Von R. F. Merkel in

=. Miinchen. u a eu aan (hd oe el, ee er se mR 193

mZur Geschichte der iranischen Religionen. Von Otto Paul in München. 215

` Bestand die zoroastrische Urgemeinde wirklich aus berufsmäßigen Eksta- tikern und schamanisierenden Rinderhirten der Steppe? Von Walther

Wüst in München. 2... 2 CC nn nn 234 Gear XLII 4, 2/3. Von Walther Wüst in Miinchen......... 250 Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran. Von J.C. Tavadia in y Hamburg: -p e we 4.2 06 e a ae we See BE A 256 Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels. Von Franz Dirlmeier in München. su s eaaa 5 5 eee, n Se SR aE N 277 \ Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte. Von N Carl Schneider in Königsberg/Pr. (Mit 7 Abb. auf Taf. II—V) . . 300 «Eine späte Attisdarstellung. Von Herbert Schmidy in Königsberg/Pr. = (Mig Abb aur Taf VD. 202.2... ee ee EH S 348 {Nietzsches Schicksal und Werk. Von Kurt Schilling in München . . 350 *SelbsttStung bei den Germanen. Von Alfred Dieck in Arolsen/Waldeck 391 > Der Kult der Nabarvalen. Von Thede Palm in Lund ........ 398 Indra in neuer Sicht? Von Ernst Schneider in Minchen...... 405 CCarl Clemen +. Von R. F. Merkel in München .........2... 414 Register zum vollständigen Band. .......... L E te ca ae 3 415

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ZUM GEGENWÄRTIGEN STAND DER INDOGERMANENFRAGE

VON J. W. HAUER IN TÜBINGEN I. EINLEITUNG

Die Indogermanenfrage, um die sich seit der Entdeckung des Sanskrit und der indogermanischen Sprachverwandtschaft durch Bopp und andere vor nun mehr als einem Jahrhundert die westliche Wissenschaft bemüht, ist in den vergangenen Jahren in eine neue Phase eingetreten. Nach- dem zunächst einmal die indogermanische Grundsprache und ihre Gram- matik durch die Arbeiten des eben genannten Bopp und vieler anderer klargestellt war (das neueste zusammenfassende Werk, das allerdings viele Lücken aufweist, ist Alois Walde „Vergleichendes Wörterbuch der indogermanischen Sprachen“, herausgegeben und bearbeitet von Julius Pokorny, Berlin und Leipzig 19307), trat die Frage der Urheimat und der Wanderungen der Indogermanen in den Vordergrund. Auch hier war zunächst die deutsche Sprachwissenschaft führend. Sie ver- suchte eine Lösung mit Hilfe klimatologischer und pflanzen- und tier- geographischer, ab und zu auch kulturgeschichtlicher Untersuchungen und Vergleiche. Im allgemeinen neigte man unter dem starken Über- gewicht der indo-iranischen Forschungen und wohl auch unter dem un- bewußten Einfluß des ex oriente lux einer Ostheimat der Indogermanen zu, die man teilweise bis nach Innerasien legte. (Auch Menghin, der Vorgeschichtler und Ethnologe, neigt dazu, die protoindogermanische Kultur von Asien herzuleiten, doch läßt er dann die indogermanische Einheitskultur im neolithischen Kulturkreis des nördlichen Mitteleuropa sich entwickeln.?) v. Eickstedt in seiner „Rassenkunde und Rassen- geschichte der Menschheit“ (Stuttgart 1933) vertritt eine ähnliche These. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Bald tauchte eine vermittelnde Richtung auf, die vor allem in 0. Schrader, dem Verfasser des „Reallexikons der indogermanischen Altertumskunde“ (2. Aufl. besorgt und mit Anmerkungen versehen von A. Nehring, Berlin-Leipzig 1917—1929) und anderer für die Indo- germanenfrage wichtiger Bücher, einen ausgesprochenen Vertreter fand.

ı Das Material, das in dem Wörterbuch verarbeitet ist, stammt allerdings in der Hauptsache aus der Zeit vor 1918, worauf besonders mein Kollege Wüst, München, aufmerksam macht.

* Vgl. O. Menghin, Weltgeschichte der Steinzeit (Wien 1931) 552 ff.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 1 1

2 J. W. Hauer

In dem eben genannten Werke II, 580ff. verlegt Schrader die Heimat der Indogermanen in ein Gebiet, wo Wald und Steppe zusammenstoßen, da er der Meinung ist, daß man schon sehr früh zwischen Wald- und Steppen-Indogermanen zu unterscheiden habe. Am besten schien ihm die stidrussische Steppe dem zu entsprechen, was gefordert war, und zwar in der Ausdehnung. vom Aralsee und dem Kaspischen Meer bis nach Westen, wobei er es offen ließ, wie weit dieser ,, Westen“ reichte. Diese oder eine ähnliche Auffassung hat weitere Vertreter ge- funden, z.B. in V. G. Childe „The dawn of european civilization“ (1925) und The Aryans (London 1926) wie in Chr. Dawson, einem Schüler von ihm, in dem neuerdings erschienenen Buche „The age of the Gods“ (London and New York 1933) u.a. Ähnliche Standpunkte vertreten E. Wahle in seiner „Deutschen Vorzeit“ (Leipzig 1932), J.O. Forssander in „Die schwedische Bootaxtkultur und ihre kon- tinentaleuropäischen Voraussetzungen“ (Lund 1932), der Pole T. Suli- mirski in „Die schnurkeramischen Kulturen und das indoeuropäische Problem“ („La Pologne au VII® Congrès Internat. des Sciences Hist.“, Warschau 1933, 1—22) und andere. Neuerdings hat dann Nehring in dem hier besonders eingehend zu besprechenden, von Wilhelm Kop- pers herausgegebenen Buch „Die Indogermanen- und Germanenfrage. Neue Wege zu ihrer Lösung“ (Salzburg-Leipzig 1936) versucht, die Indogermanen mit den Bandkeramikern, die ja in diesem Bereich eine besondere Rolle spielen, in Verbindung zu bringen, während R. Pittioni an die auch nicht weit entfernten Kamm keramiker, Brandenstein im selben Buche an die Kirgisensteppe denkt. Auf diese These ist noch einzugehen.

Doch fanden sich zunächst unter den Sprachwissenschaftlern auch gewichtige Vertreter der Hypothese einer Nordwestheimat der Indo- - germanen, so vor allem Herman Hirt in seinem umfassenden Werke „Die Indogermanen“ (Straßburg 1905 u. 1907) und dem I. Teil seiner „Indo- germanischen Grammatik“ (Heidelberg 1927) 74ff., der sich ausführ- lich mit der Urheimatfrage befaßt und zu dem Ergebnis kommt, daß die Ansetzung der Urheimat in der norddeutsch-russischen Tiefebene gegeben sei, und daß keine der vorgeschichtlichen und sprachlichen Tatsachen dieser Ansetzung widerspräche (Gr. 94ff.)

Seit nun vollends die deutsche Vorgeschichtsforschung unter der Führung von Kossinna („Die Indogermanen“, I. Teil, Leipzig 1921) in die Aussprache eingegriffen hat, ist die Hypothese einer Nord- westheimat stark in den Vordergrund getreten, wie überhaupt die Vor- geschichtsforschung der Indogermanenfrage einen ganz neuen Schwung gebracht hat, sind doch durch ihre Arbeit ganze Kulturkreise der Jung- steinzeit mit genügender Sicherheit herausgestellt worden, wenn auch

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 3

ihre Herleitung von den vorausgehenden Epochen noch vieler Einzel- arbeit bedarf. Ihre Zugehörigkeit zu bestimmten vorgeschichtlichen Völkerkreisen kann ebenfalls in einer Anzahl von Fällen, z. B. bei der Schnur-, Megalith- und Kammkeramik, festgestellt werden. Damit haben wir eine feste Grundlage für den Versuch, die Geschichte der Indo- germanen über ihre literarischen Dokumente hinaus in die Jahrtausende der Entstehung des Indogermanentums zurückzuführen. Eine außer- ordentlich kenntnisreiche und in jeder Beziehung ansprechende Gesamt- darstellung des Problems vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Vor- _ geschichte ist Walther Schulz’s kurzgefaßtes, aber inhaltsreiches Buch „Indogermanen und Germanen“ (Leipzig-Berlin 1938), während das Büchlein von Schrader-Krahe „Die Indogermanen“ (Leipzig 1935, „Hochschulwissen in Einzeldarstellungen“) keinen wirklichen Fort- schritt über Schrader hinaus bedeutet. Besonders schwach ist der Ab- schnitt über die sittlichen Zustände und die Religion der Indoger- manen.!

Neben der Frage der Urheimat kommt heute, und zwar wiederum weithin auf Grund vorgeschichtlicher Funde (Skelettreste und Schädel), der Frage nach der rassischen Herkunft der Indogermanen ein be- deutendes Gewicht zu. Zunächst einmal ist es die Frage, welche

1 Hier finden sich besonders in dem Abschnitt „Handel und Gewerbe“, der auch „Feind und Freund“ und „Gastfreundschaft“ behandelt, beim heutigen Stand der völkerpsychologischen Forschung unhaltbare Hypothesen. Krahe muß die unmittelbaren Zeugnisse für die uralte Übung der Gastfreundschaft und des Gastrechts bei den Indogermanen anerkennen. Aber wie erklärt er die Entstehung dieser von einer sittlichen Höhe zeugenden Einrichtung? (70):

So möchten wir also glauben, daß es zunächst die Bedürfnisse des Handels (Geschenkhandels) waren, welche den ursprünglichen Fremdenhaß nach und nach in eine gastfreundliche Gesinnung, wenigstens gegenüber dem etwas bringenden Fremden verwandelten. Dies ist ja auch, wenn man die Sache unbefangen überlegt, ganz natürlich. Warum zogen denn die Menschen in ältester Zeit in die Ferne? Doch nicht, wie wir, um eine schöne Gegend zu bewundern oder einen lieben Verwandten zu besuchen, den es ‚außerhalb der Sippe, also der Nachbarschaft, damals überhaupt nicht gab. ,,Verkehren“ ist in jener Epoche vielmehr soviel wie „Handel treiben“, wie denn z. B. unser „wandeln“, „Wandel“ (ahd. wandelunga) auch ganz gewöhnlich mit negotiari („handeln“), vendere („verkaufen“), commercium („Handel“) glossiert wird. Unzähligemal mag zuerst der fremde Händler dabei erschlagen und beraubt worden sein. Allmählich aber mußte man erkennen, daß es nützlicher sei, den Fremden, der so viele neue und wichtige Dinge bringe, zu schonen, damit er wiederkomme. Dabei braucht nicht geleugnet zu werden, daß an diesem zunächst rein egoistischen Trieb auch altruistische Empfindungen sich frühzeitig empor- rankten, die schließlich dazu führten, eine Verletzung des fremden Mannes als eine Verletzung der Götter (vgl. oben den griechischen. Zevs E€vtog und den lettischen Ceroklis) zu betrachten.

1*

4 J. W. Hauer

Rasse vornehmlich das Indogermanentum geschaffen und getragen hat, und zweitens, woher diese Rasse kam. Daß langschädelige, hellfarbige, hellhaarige und blauäugige, also nordische Menschen im Indoger- manentum immer eine führende Rolle gespielt haben, steht heute fest. Hier hat Hans F.K. Günther mit seinen bekannten Büchern (,,Her- kunft und Rassengeschichte der Germanen“ München 1935, „Rassen- geschichte des hellenischen und des römischen Volkes“, München 1929, und „Die nordische Rasse bei den Indogermanen Asiens“, München 1934) der Indogermanenforschung einen außergewöhnlichen Dienst getan. Ebenso Otto Reche in seinem Buch „Rasse und Heimat der Indo- germanen“ (München 1936) (vgl. dazu seinen Artikel „Entstehung der nordischen Rasse“ in der Hirtfestschrift I, 287—316).! Alle Versuche, dieses enge Verhältnis von nordischer Rasse und Indogermanentum zu lockern, sind mißlungen. Zudem ist selbstverständlich hier zu bedenken, daß, worauf ja Reche schon früher aufmerksam gemacht hat, Rasse und Sprache eng zusammengehören. Wenn wir die Sprachgeschichte der Menschheit betrachten, so ist zwar zuzugeben, daß viele Mischungen und Verschiebungen stattgefunden haben. Auf der andern Seite steht aber fest, daß bestimmte Sprachkreise mit Rassenkreisen aufs Ganze gesehen zusammenfallen. Daß z. B. die mongolische Sprache von den innerasia- tischen Kurzköpfen geschaffen und entwickelt wurde trotz aller Mi- schungen und Verschiebungen, ist gar keine Frage, sowenig es eine Frage ist, daß die kaukasischen Sprachen von den kaukasischen Kurzköpfen des großen zentralen Berglandgürtels von den Pyrenäen bis zum Kauka- sus geschaffen worden sind, wie wiederum die semitischen Sprachen von der orientalischen, die amerikanischen von den amerikanischen Rassen. Welche Rasse soll nun das Indogermanische geschaffen haben, wenn nicht die nordische? (Auf die geradezu unmögliche Hypothese Nehrings, daß das Indogermanische von einer Mischung von kaukasischen und . ugrischen Elementen geschaffen worden sein soll, ist am Schluß noch zurückzukommen.) Wiederum: welche Sprache, wenn nicht die indoger- manische, soll die doch weit verbreitete und im Indogermanentum so aktive nordische Rasse gesprochen haben? Hier ist ein berechtigter Zweifel überhaupt nicht möglich. Nordische Rasse und Indogermanen-

ı Sehr schöne Arbeit leistet heute auf dem Gebiet der vorgeschichtlichen Rassenforschung G. Heberer, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die rassischen Verhältnisse der neolith. Kulturen genau zu untersuchen. Er veröffentlicht eben jetzt eine grundlegende Untersuchung über die Mitteldeutschen Schnurkera- miker (Veröff. der Landesanst. f. Volkheitskunde zu Halle, H. 10, 1988). Wichtig ist sein Ergebnis: auch bei den Schnurkeramikern Mitteld. haben wir die zwei Variationen der nord. Rasse, die fälische und die im engeren Sinn nordische (Eickstedt nennt sie Teuto-Norden) mit ausgesprochenen (oft extremen) Lang- schädeln.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 5

tum gehören von Uranfang an zusammen; es kann kein einziger triftiger Grund dagegen angegeben werden.!

Es ist bei solchen, die sich gegen die Nordwestheimat der Indo- germanen wenden, zu beobachten, daß sie sich auf v. Eickstedts ` Hypothesen in der 1. Auflage seines Werkes „Rassenkunde und Rassen- geschichte der Menschheit“, 263 ff. (vgl. 407, 461) und vom selben Ver- fasser „Die rassischen Grundlagen des deutschen Volkstums“ (München 1934), 233ff. stützen. Er setzt die Entstehung der nordischen Rasse, mindestens des östlichen Flügels, in die südwestsibirischen Flachländer. Und zwar soll die Entstehung der nordischen Rasse dort noch in der Eiszeit sich vollzogen haben. Irgendwelche rassenkundlichen oder vorgeschichtlichen Grundlagen hat Eickstedt für diese Hypothese nie beigebracht. Es wird ihr darum auch von den Fachmännern energisch widersprochen.? Zudem ist vom Standpunkt der Indogermanenforschung zu sagen, daß das, was v. Eickstedt, 277 ff., für „protonordische Rassen- trümmer“ in Asien hält, keineswegs solche sind. Alle die von ihm Ge- nannten sind keineswegs „Protonorden“, sondern es sind, wie die Kultur- geschichte deutlich genug erkennen läßt, versprengte Reste von in Asien seit der neolithischen Zeit eingewanderten nordischen Menschen. Dazu ist vor allem zu vergleichen H. F. K. Günther, „Die nordische Rasse bei den Indogermanen Asiens“, der erschöpfendes Material bei- gebracht hat. So sind z. B. die Langköpfe der Minussinskkultur, die in diesen Argumenten eine Rolle spielen, niemals Protonorden, sondern nach meiner Meinung Ableger der gegen Ende des 3. Jahrtausends zu- sammenbrechenden transkaspischen Kultur, die von Indogermanen ge- tragen ist (vgl. darüber später).

Die sehr wichtigen Untersuchungen Reche’s vorgeschichtlich-rassen- kundlicher und rassenphysiologischer Art müssen in diesem Zusammen- hang ganz ernst genommen werden. Reche, wie ebenso Günther, hat festgestellt, daß wir schon in der Mittelsteinzeit überall in dem Raum Nordwest- und Mitteleuropas nordische Rassenelemente antreffen, während wir sonst nirgends (außer in der von der Fremde gekommenen Nagada-Kultur in Ägypten) aus dieser Zeit Funde nordischer Rassen- elemente haben; und zweitens, daß diese nordische Rasse anthropolo- gisch sich anschließt an die alteuropiden Langkopfrassen der Eiszeit, wozu heute noch gesagt werden kann, daß „der Steinheimer Mensch“, welcher der vorletzten Eiszeit oder Zwischeneiszeit angehört, also älter ist wie der Neandertaler, als der Vorfahre dieser alteuropiden Lang-

1 Vgl. zu der Frage auch Bruno K. Schultz, Das Indogermanenproblem in der Anthropologie (Hirt-Festschrift I, 277 286).

3 Vgl. dazu R. Grahmann, Lag die Urheimat der nordischen Rasse in Sibirien? (Rasse 1936) 337 ff.

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képfe, wenn auch iiber eine Anzahl verlorener Zwischenglieder, ange- sehen werden kann. Wir haben also tatsächlich im europäischen Raum eine Kontinuität der Rassenentwicklung von den Zwischeneiszeiten bis in die geschichtliche Zeit. (Einzelnes darüber in dem Kapitel über „Die Herkunft der nordischen Rasse“ in meinem 2. Teil der „Glaubensgeschichte der Indogermanen‘“).! Diese Argumente sind so schwerwiegend für eine Entwicklung der nordischen Rasse im euro- päischen Raum, daß dagegen zunächst nichts mehr eingewendet werden kann, außer es könnten neue vorgeschichtliche und rassenkundliche Tatsachen vorgebracht werden. Dazu kommt aber noch eine bis jetzt gänzlich übersehene Erwägung rassenphysiologischer Art, auf die vor allem Reche Nachdruck legt. Er weist auf Grund einer Reihe von Untersuchungen nach, daß der Differenzierungsraum der nordischen Rasse rassenphysiologisch nirgends anderswo gewesen sein kann als in dem Raum und Klima Europas, wie sie in den letzten Phasen der Eiszeit und unmittelbar danach auf Grund der Forschungen der letzten Jahrzehnte sich finden. Damit haben wir zunächst eine un- bedingt sichere Grundlage zur Entscheidung dieser Frage.

Diese vorgeschichtlich-rassenkundlichen Beweise wurden gestützt durch eine Feststellung der vorgeschichtlichen Wissenschaft, wie sie sich vor allem im Laufe der letzten Jahre entwickelt hat. Durch die For- | schungen von J. Andree und F.K. Bicker ist parallel der Rassenkon- tinuität seit der Eiszeit auch eine kulturelle Kontinuität ganz klar festzustellen.” Bicker hat den Versuch unternommen, die großen jung-

ı Vgl. dazu auch noch Werner Hülle, Zur Herkunft der nordischen Rasse (Mannus 28 [1936], H. 2, 139 ff.) und Hans Weinert, Neue Untersuchungen über den Ursprung der nordisch-fälischen Rasse an Skelettfunden in Frankreich (Germanien, Monatshefte für Germanenkunde zur Erkenntnis deutschen Wesens, Juni 1937, H. 6, 173ff.) sowie den zusammenfassenden, eben in „Volk und Rasse‘ (1938, H. 12, 404ff.) erscheinenden Aufsatz von F. K. Bicker, Wichtige Neu- funde in Mitteldeutschland zur Frage nach der Herkunft der nordischen Rasse.

2 Bodenständige Kulturentwicklung in Mitteldeutschland von der Altstein- zeit bis zur Indogermanenzeit: 1. Von der Altsteinzeit zur Mittleren Steinzeit (Julius Andree), 2. Von der Mittleren Steinzeit zur Indogermanenzeit (F. K. Bicker) (Mannus 28 [1936] H. 4, 407 ff). Mesolithisch-neolithische Kulturverbindungen in Mitteldeutschland (Mannus 25 [1933]); Dünenmesolitbikum im Fiener Bruch (Jahresschr. f. d. Vorgeschichte d. sächs.-thür. Länder XXIl); Die Indogermanen- frage (Rasse 2 [1935]); Ein schnurkeramisches Rötelgrab mit Mikrolithen und Schildkröte bei Dürrenberg, Kr. Merseburg (Jahresschr. f. d. Vorgeschichte d. sächs.-thür. Länder XXIV [1936]); Die mittlere Steinzeit in Mitteldeutschland und ihre Beziehungen zum deutschen Osten (Mitteldeutsche Volkheit 1937); Die Bedeutung der Mittleren Steinzeit im nördlichen Mitteldeutschland für die Indogermanenfrage (KZ. 64 [1937] 24 ff.). Vgl. zu diesen Fragen auch die oben angeführte Arbeit G. Heberers besonders S. 42 und die dort angeführte Literatur

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage q

steinzeitlichen nordischen Kulturkreise Nordwest- und Mitteleuropas bis in ihre Wurzeln in der Mittelsteinzeit und darüber hinaus in der Alt- steinzeit zu verfolgen. Nach dem bis jetzt vorliegenden Material sind zwar in diesem Versuch noch eine Reihe hypothetischer Aufstellungen, aber es scheint nach allem Vorliegenden doch gesichert, daß sich diese neolithischen Kulturen in der Tat im nordwest- und mitteleuropäi- schen Raum selbständig aus den Voraussetzungen der Mittelsteinzeit und weiterhin der Altsteinzeit entwickelt haben.

Ein großes Verdienst Bickers sehe ich darin, daß er entgegen der bisherigen Behauptung, die Schnurkeramiker seien die Indogermanen, die These vertritt, daß die Lösung der Indogermanenfrage in derMittel- steinzeit liege. Eine ähnliche These vertrat ja auch H. Kühn.! Bicker hat für Nordwest- und Mitteldeutschland eine von ihm so genannte „grobfeine Mischkultur“ herausgearbeitet, in der eiszeitliche Faustkeil- und Klingenkultur sich verbunden haben und die wohl als vorgeschichtlich faßbare indogermanische Kultur angesehen werden kann.? Es treffen sich also hier Rassen- und Kulturgeschichte zu einem, wie mir scheint, zwingenden Beweis.

Diese neuesten Untersuchungen geben meinem Ansatz der Entstehung des Indogermanentums im 5. und 6. vorchristlichen Jahrtausend, den ich auf Grund meiner indoarischen Forschungen in der Hirt-Festschrift I, 200 ff. vorgetragen und kurz zu begründen versucht habe, eine Stütze, und ich habe die Genugtuung, zu bemerken, daß sowohl von der Rassen- wie von der Kulturgeschichte her (vgl. den schon genannten Aufsatz von G. Heberer) dieser Ansatz mehr und mehr sich durchsetzt.

Damit ist ein Hindernis gefallen, das einige Jahrzehnte hindurch und auch heute noch da, wo man diese neuesten Forschungen noch nicht aufgenommen hat oder nicht ernst nimmt, die Lösung der Indogermanen- frage hintangehalten hat: Es ist der viel zu niedrige Ansatz der Ent- stehung des Indogermanentums, der mit der These, daß die Schnur- keramiker des 3. Jahrtausends die Urindogermanen gewesen seien, zu- sammenhängt. DieSchnurkeramiker sind, worauf sprachgeschichtlich auch Specht? verschiedentlich aufmerksam gemacht hat, der Kern der

ı Herkunft und Heimat der Indogermanen (Proceedings of the First Inter- national Congress of Prehistoric and Protohistoric Sciences, London 1934, '237— 242). Vgl. dazu Hirt-Festschrift I, 36 und W. Schulz, Die Indogermanen- frage in der Vorgeschichte (KZ. 62, 1985, 184 ff.). Schon Kossinna hat die These vertreten, daß die Ellerbeker Vorindogermanen seien, vgl. Die Indogermanen S.29 und W. Hülle’s Anhang zur 7. Aufl. S. 274.

2 Entstehung und Herkunft der Klingenkulturen und geologische Einglie- derung der Kulturen in den Ablauf des Eiszeitalters (Mannus 28 [1986] H.4) und die oben genannten Aufsätze.

3 Vgl. besonders Zur Geschichte der Verbalklasse auf ë (KZ. 62, 29—114).

8 J. W. Hauer

West- oder Kentumindogermanen. Aber lange vor der schnurkerami- schen Zeit liegt die Entstehung des Indogermanentums und die Abwan- derung der Ostindogermanen. Die grofen neolithischen Kulturen Nordwest- und Mitteldeutschlands sind schon differenzierte indogerma- nische Einzelkulturen.

Dabei muß die Frage der Bandkeramiker heute noch offen bleiben. Sie sind nach den neuesten Untersuchungen von Heinrich Butschkow . in Mitteldeutschland älter als die Schnurkeramiker.! Und nach Heberers mündlichen Mitteilungen scheint es wahrscheinlich, daß die ursprüng- lichen Träger dieser alten Bandkeramik westischer Rasse zuzuschreiben sind, wogegen die Untersuchungen W. Gieselers und seiner Schüler über Schädelfunde der süddeutschen Kulturen der Jungsteinzeit gezeigt haben, daß die den bandkeramischen Fundstätten sicher oder wahrschein- lich zuzuweisenden Schädel fast durchweg nordischer Rasse sind (wir haben diese Schädel hier in der schönen Schädelsammlung des Rassen- kundlichen Instituts verschiedentlich persönlich eingesehen). Auch Reche stellt in seinem oben erwähnten Buche im Bereich der Bandkeramik neben seiner sug. „sudetendeutsche Rasse“ nordische Rasse fest.” Da- nach scheint es wohl so zu liegen, daß die ursprünglichen Schöpfer der bandkeramischen Kultur vornehmlich der westischen Rasse zugehörten, daß sie aber, wie das in dem Raum, in den sie einwanderten, selbstver- ständlich ist, sehr rasch von nordischen Elementen durchdrungen wurden, so daß die bandkeramisehen Kulturen des Vollneolithikums doch auch weithin von Indogermanen getragen gewesen sein müssen. Die band- keramischen Einwanderer westischer Rasse sind offenbar im neuen Raum schon im Neolithikum indogermanisiert worden. Kossinna hat darum schon ein Richtiges gesehen. (Über den Zusammenhang des bandkera- misch-buntkeramischen Kreises in Ostindogermanien vgl. später).

Die zweibändige Hirt-Festschrift hatte das bis in die Mitte der 30er Jahre erarbeitete Material zusammengefaßt (die Andree-Bicker’- schen Untersuchungen sind hier noch nicht oder noch nicht voll ver- wertet), und es schien mit dieser Veröffentlichung zunächst die Frage nach der Urheimat und der Rasse der Indogermanen im Sinne der Nord- westthese befriedigend beantwortet.

Aber kaum ein Jahr nach Veröffentlichung dieser beiden Bände er- schien ein gewichtiges Werk „Die Indogermanen- und Germanenfrage. Neue Wege zu ihrer Lösung“, herausgegeben von Wilhelm Koppers (Salzburg -Leipzig 1936), der sozusagen einen Generalangriff auf die

1 Heinrich Butschkow, Die bandkeramischen Stilarten Mitteldeutschlands. Jahresschr. f. d. Vorgeschichte d. sächs.-thür. Lander 33 (Halle/S. 1985). 2 Vgl. dazu noch M. Much, Die Heimat der Indogermanen (Berlin 1902) 254.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 9

Nordwesthypothese und einen Versuch, die Ostheimat der Indogermanen zu retten, darstellt.

Koppers hatte schon in einer Reihe von Artikeln, besonders Anthro- pos XXIV (September—Dezember 1929) H. 5/6, 1073ff. und Anthropos XXX (Januar— April 1935) H.1/2,1—31 sich mit der Indogermanenfrage beschäftigt und die These einer Ostheimat vor allem vom ethnologi- schen und religionsgeschichtlichen Gesichtspunkt her zu beweisen ver- sucht. Er wendet sich scharf dagegen, daß man in der Indogermanen- frage die Ethnologie und damit die universalgeschichtliche Betrachtung nicht genügend zu Wort kommen lasse, und meldet den Anspruch der Ethnologie, hier mitzureden, energisch an mit dem von Graebner ge- nommenen Motto: „Um so kühner darf nun umgekehrt die Ethnologie ihren alten und selbstverständlichen Anspruch erheben, ein ausschlag- gebendes Wort in dieser (Indogermanen-)Frage zu sprechen“. Liest man Koppers, der sich stark auch auf Schrader stützt, so scheint es fast, als ob so ziemlich alle Ethnologen sich für eine Ostheimat erklärt hätten. Fritz Flor in seinem Aufsatz „Die Indogermanenfrage in der Völkerkunde“ (Hirt-Festschrift I, 79 ff. und sonst) weist aber darauf hin, daß dies so nicht stimmt, daß z. B. selbst Fr. Ratzel eine Nordheimat nicht für ausgeschlossen hält. Flor selbst kommt zu dem Resultat (I, 128), daß die Herkunft der Indogermanen aus Norden nicht nur möglich, son- dern auch vom Standpunkt der Völkerkunde längst wahrscheinlich sei. Zugleich übt er in dem genannten Artikel eine sehr eingehende und z. T. auch sehr scharfe Kritik an den Koppers’schen Aufsätzen im An- thropos (wir werden auf die Einzelthesen von Koppers gleich einzugehen haben). |

Betrachtet man sich nun das Gesamtergebnis des Buches von Koppers und seiner Mitarbeiter, so ist zu sagen, daß durch dieses Buch eine zu- nächst ziemlich hoffnungslos erscheinende Verwirrung in der Frage der Urheimat der Indogermanen entstanden ist. Die Resultate des Koppers’- schen Buches sind nichts weniger als einheitlich. Koppers selbst hat sich mit Beziehung auf die Osthypothese, nachdem man aus seinen frü- heren Arbeiten den Eindruck gewonnen hatte, daß er nicht nur gewisse Kulturelemente, sondern auch die Indogermanen selbst aus Innerasien _ herkommen läßt, in dem neuen Buch außerordentlich eingeschränkt, und zwar in der Anmerkung 4 S. 304: „Dieses soll natürlich nicht heißen, daß die Indogermanen als solche, gewissermaßen in “geschlossener Ko- lonne’, aus Innerasien heranmarschiert kamen, sondern nur, daß ihre Kultur wenigstens in einer ihrer Komponenten von dorther starke und entscheidende Beeinflussungen empfing. Ja, die betreffenden Gemeinsam- keiten mit den Altai-Türken sind nach Art und Zahl so bedeutend, daß sie nur in der Annahme einer ehemaligen (direkten oder indirekten ?)

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Nachbarschaft ihre befriedigende Erklärung finden.“ Wenn er jetzt, wenn auch mit Fragezeichen, eine indirekte Nachbarschaft annimmt, so denkt er bei dieser vagen Bezeichnung wohl an die Kirgisensteppe oder an Südrußland und gleicht sich damit Brandenstein, Childe und Neh- ring an.

Nehring versucht die These zu erweisen, daß die Bandkeramiker die Indogermanen seien, während die Schnurkeramiker eingewanderte hellfarbige Asiaten sind, die von den Bandkeramikern indogermanisiert werden. Childe dagegen hält doch die Streitaxtleute, also Schnurkera- miker, für Indogermanen. Pittioni verfällt gar auf die Idee, die Kamm- keramik als die eigentlich indogermanische Kultur anzusehen. Woher kommen diese Widersprüche ?

Damit ist ein zweites Hindernis, das der organischen Lösung der Indogermanenfrage entgegensteht, aufgezeigt: Es ist die Tatsache, daß fast durchweg jeder Wissenschaftler nur von seinem Spezialfach her die Frage zu beantworten sucht, oder daß, wenn ein Wissenschaft- ler über dieses Spezialfach hinausgreift, es an der umfassenden Kennt- nis der Tatsachen und Ergebnisse der andern in Betracht kommenden Wissenschaften mangelt. Dies zeigt sich z. B. am deutlichsten bei dem Beitrag Brandensteins „Die Lebensformen der ‚Indogermanen‘“ (231 ff.), der auf einer früheren Arbeit von Brandenstein fußt: „Die erste ‚indo- germanische‘ Wanderung“ (Klotho 2, Wien 1936). In diesem äußerst anregenden Werkchen, welches das Verdienst hat, einmal klar auf die zwei Etappen der Entwicklung der indogermanischen Sprache, des Früh- und Spätindogermanischen, hinzuweisen und dafür Beispiele zu bringen . (die allerdings, wie später zu zeigen sein wird, nicht immer gut genug begründet sind), kommt Brandenstein zu dem Ergebnis, daß der frühindo- germanische Raum den Charakter besessen habe, der etwa der nordwest- lichen Kirgisensteppe eignet. Also sei dort die Urheimat der Indoger- manen zu suchen. Er geht dabei von der These aus, daß sich Klima, Flora und Fauna dieses Raumes seit den Jahrtausenden, in denen die Entstehung des Indogermanentums angenommen werden muß, nicht wesentlich ge- ändert haben. Und gerade diese Annahme ist falsch. Wir wissen heute auf Grund sehr eingehender Forschungen über Pollenanalyse usw., daß sich das Klima im Raume Nordwest-Eurasiens nicht nur von der Eiszeit zur Nacheiszeit, sondern auch in der Nacheiszeit bis in die geschichtliche Zeit hinein ganz wesentlich verändert hat.! Diese Forschungen beweisen,

ı Vgl. darüber Karl Bertsch, Klima, Pflanzendecke und Besiedlung Mittel- europas in vor- und frühgeschichtlicher Zeit nach den Ergebnissen der pollen- analytischen Forschung (Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 18. Frankfurt a. M. 1928); Hugo Groß, Das Problem der nacheiszeitlichen Klima- und Florenentwicklung in Nord- und Mitteleuropa (Beihefte zum Botanischen

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daß im 5./6. Jahrtausend etwa, also zu der Zeit, in der wir die Ent- stehung des Indogermanentums annehmen, gerade in Mittel- und Nord- westeuropa Klima, Flora und Fauna sich finden, wie sie etwa dem von Brandenstein herausgearbeiteten frühindogermanischen Raum eignen, während die Kirgisische Steppe in diesen Jahrtausenden ein viel trocke- neres Klima gehabt haben muß. Der spätindogermanische Raum Bran- densteins aber, der viel mehr Feuchtigkeit, Sümpfe usw. hat, ist nicht etwa ein anderer Raum, sondern ist der nordwest-mitteleuropäische Raum des anbrechenden und fortschreitenden Atlantikums mit seiner zunehmenden Feuchtigkeit und Vermehrung des Waldgebietes in jenen Gegenden. Weil Brandenstein diese Tatsache nicht kennt oder nicht in Betracht zieht, geht er in seinen Schlußfolgerungen irre. (Dabei lasse ich die vielen Willkürlichkeiten von Brandenstein zunächst außer Acht. Ich werde später darauf einzugehen haben.)

Nun zieht dieser vom Sprachgeschichtler verbrochene Irrtum neue Irrtümer nach sich. Pittioni trat bisher für eine Nordwestheimat der Indogermanen ein. Er läßt sich nun von Brandenstein auf Grund dessen sprachlicher Forschungen (die er als Vorgeschichtler unbesehen über- nimmt) überzeugen, daß die Kirgisensteppe die Urheimat der Indoger- manen ist. Dann macht er sich als Vorgeschichtler auf, eine einheitliche Kultur in der Nähe der Kirgisensteppe zu finden. Dies aber ist die Kamm- keramik. So kommt er zu dem Schluß, daß die Kammkeramik als die im besonderen Sinne indogermanische Kultur zu gelten habe, obwohl alle andern Merkmale dieser Kultur dagegen sprechen. Diese These von Pittioni hat deshalb auch energische Ablehnung bei den Vorgeschicht- lern gefunden. Sie ist schlechterdings unmöglich. Wenn die Kammkera- mik irgendeinem Volke zugeschrieben werden kann, so ist dies, wie ziem- lich allgemein anerkannt ist (darüber auch einzelnes in meinem II. Teil „Glaubensgeschichte der Indogermanen“) das Volk der Ugrofinnen, das nach sprachgeschichtlichen und andern Forschungen seine Heimat an der mittleren Wolga und Oka gehabt haben muß, also eben in dem Gebiet, das das eigentliche Gebiet der klassischen Kammkeramik ist.

Aus dem Gesagten wird klar, daß wir auf diese Weise in der Indoger- manenfrage nicht weiterkommen. Es bleibt in der Tat nichts übrig, als daß wir das Wagnis wagen und den Versuch machen, einmal umfassend von den verschiedenen in Betracht kommenden Wissenschaften her zusammen- schauend das Indogermanenproblem zu betrachten und wenn möglich zu lösen. Jedenfalls kann nur durch eine solche zusammenschauende Be- trachtung eine Lösung angestrebt werden. Ich bin mir durchaus be- wußt, welche Gefahren ein solches Wagnis in sich birgt. Es ist un-

Zentralblatt 47, 1980). Dazu die Zusammenfassung dieser Arbeiten in Kurt v. Bülow, Wie unsere Heimat wohnlich wurde, 2. Aufl. (Stuttgart 1983).

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möglich, daß ein Forscher auf dem Gebiet der Sprachgeschichte, der Religionsgeschichte, der vergleichenden Völkerkunde, der Rassenkunde, der archäologischen Vorgeschichte, der Klima-, Flora- und Faunakunde überall selbständig arbeiten und diese Wissenschaften alle beherrschen kann. Und kein verantwortungsbewußter Forscher wagt sich gern in ein ibm nicht als Fachmann zugehöriges Gebiet. Aber es muß sein! Daß bei einem solchen Versuch, bei dem man sich ja weithin auf die sich oft widersprechenden Ergebnisse der verschiedenen Fachwissen- schaftler stützen muß, im einzelnen mancherlei Fehler unterlaufen mögen, ist von vornherein klar. Und doch bleibt nichts anderes übrig, als diese Gefahr zu laufen, wenn wir nicht in der Indogermanenfrage in einem unfruchtbaren Nebeneinander und Widereinander stecken bleiben wollen. Ich bin überzeugt, daß es möglich ist, sich so weit in die verschiedenen hier mitsprechenden Wissenschaften einzuarbeiten, wenn man selbst in irgendeinem Fachgebiet unbedingt sicher gegründet ist, daß man eine solche Zusammenschau wagen kann. Der hier vorliegende Aufsatz soll nur das Vorspiel dafür sein. Die Ausführung wird der II. Teil meines Werkes „Glaubensgeschichte der Indogermanen“ geben.

Hier müssen wir uns nun auch unmittelbar an Koppers selbst wen- den. Wir sind durchaus bereit, die Ethnologie in der Indogermanen- frage mitsprechen zu lassen und universalgeschichtliche Betrachtung zu üben. Aber dann müssen wir auch fordern, daß mit der Universal- geschichte Ernst gemacht wird. Es darf dann nicht so sein, wie es bei Koppers fast durchweg ist, daß die vorgeschichtliche Forschung weithin außer acht gelassen wird. Universalgeschichtliche Betrachtung kann nicht nur, wie Koppers sie meistens übt, in die Breite gehen (wo- bei zu sagen ist, daß Koppers z. B. Rassen- und Sprachforschung eben- falls kaum beachtet); sie muß auch in die Tiefe der Zeiten dringen und besonders bei der Betrachtung von religionsgeschichtlichen Fragen bis in die Anfänge der Homo sapiens-Epoche der Menschheit zurück- blicken (darüber später bei der Einzelkritik von Koppers). Ferner ist, hier auf die von Flor HF I, 75 ff. geübte Kritik hinzuweisen, daß man bei der Betrachtung einer Kultur nicht einfach von Einzelelementen ausgehen darf, sondern daß hier auch das organisch-ideenhafte Erken- nen geübt werden muß, d.h. daß die Frage immer im Auge behalten werden muß, was denn nun die Kernkraftundder gesamteForm- wille einer Kultur ist. Das ist durch Aufzeigen von Ähnlichkeiten ein- zelner Elemente in den zu vergleichenden Kulturen noch lange nicht getan.

Doch ist bei der Betrachtung der Indogermanenfrage noch eine letzte Schwierigkeit zu nennen: Es scheint mir trotz aller Versicherungen von Koppers (Anthropos XXX, Januar— April 1935, Heft 1/2, S. 31) bei

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dem Versuch, die Ostthese zu erweisen, doch sehr stark das ex oriente lux mitzusprechen. Koppers verwahrt sich dagegen, daß die Bibel hinter diesem Streben stehe. Aber er stellt dann doch wieder von den Indo- germanen, unseren Altvordern, dogmatisch fest, „daß sie keineswegs in der Schaffung der höheren Kultur zeitlich vorangegangen sind und daher denn auch nicht für alle höhere Kulturentwicklung verantwortlich gemacht werden dürfen.“ Lassen wir die zweite Hälfte des Satzes außer Betracht. Warum aber steht es denn so fest, daß die Indogermanen in der Schaffung der höheren Kultur zeitlich nicht vorangegangen sind? Ist das etwa vor- geschichtlich oder ethnologisch erwiesen? Keineswegs! Im Gegenteil: wenn wir die Vorgeschichte sprechen lassen, so sind die Spuren der Indogermanen in allen Zentren höherer Kultur Eurasiens nachweisbar. Koppers dürfte doch z. B. die Feststellung von Gertrud Hermes, daß die im 4. Jahrtausend in Vorderasien auftauchenden Pferdezüchter (auf Kriegswagen!) Indogermanen gewesen sein müssen!, nicht einfach mit Stillschweigen übergehen und die Thesen Reche’s unbeachtet lassen. Hängt die Behauptung von Koppers nicht doch auch mit der Meinung zusammen, daß die höhere Offenbarung auch in der Kultur eben von Osten kommen müsse? Damit aber sind wir mitten drin in welt- anschaulichen Fragen. Es ist kein Zweifel: die Indogermanenfrage ist heute nicht mehr nur eine wissenschaftliche, sie ist eine weltan- schauliche Frage. Dies hängt mit der völkischen Selbstbesinnung zu- sammen, die in der Vorgeschichte und in der Rassenkunde ihren wissen- schaftlichen Ausdruck findet. Diese Selbstbesinnung führt notwendiger- weise zu der Erforschung der mit uns organisch verbundenen Vergangenheit. Die Erkenntnis der indogermanischen Geistesart gehört zu den entscheidenden Faktoren der völkischen Selbstbesinnung. Wir sind nun einmal nicht nur Gegenwart, die alles aus sich selbst schafft, sondern wir wurzeln tief in der Vergangenheit. Und unsere artgemäße Ver- gangenheit zu ergründen, ist eine ganz tiefe Sehnsucht unserer Seele und eine Notwendigkeit in unserem Werden. Das sind die Hintergründe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über Rasse und Urheimat des Indogermanentums, über die man sich klar sein muß. Es ist in der Tat nicht dasselbe, ob die Indogermanen ursprünglich irgend ein Gemengsel von Rassen waren, oder ob sie ursprünglich mit der Rasse verknüpft sind, die in der völkischen Besinnung der Gegenwart als Richtbild wirkt, mit der nordischen. Auch die Frage der Urheimat ist in diesem Zu- sammenhang nicht gleichgültig: Es gibt den Nachfahren der Indogermanen

1 Vgl. Gertrud Hermes, Das gezühmte Pferd im neolithischen und frühbronze- zeitlichen Europa? (Anthropos XXX [Sept.— Dez. 1935] H. 5/6, 803 ff.; XXXI [(Januar—April 1936) H. 1/2, 115 ff.) und Das gezähmte Pferd im alten Orient (An- thropos XXXI [Mai—August 1936) H. 3/4, 364 ff.).

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in Großgermanien, die sich in besonderer Weise verpflichtet fühlen, das indogermanische Erbe zu hüten und zu vermehren, ein anderes Gefühl, wenn sie wissen, daß ihre Altvorderen hier in ihrer seit vielen Jahr- tausenden angestammten Heimat gelebt und gewirkt, gekämpft und ge- blutet haben, um von hier aus immer neue Wellen indogermanischer Wanderer in die weite Welt zu schicken, als wenn wir glauben müssen, die Indogermanen seien als Barbaren aus dem Osten in dieses ihnen ur- sprünglich fremde Land eingewandert, um hier von andern Rassen und Völkern die höhere Kultur zu empfangen.

Aber gerade weil hinter der wissenschaftlichen Auseinandersetzung diese weltanschaulichen Sehnsüchte und Überzeugungen stehen, ist es uns als strenge Pflicht auferlegt, unsere Bemühungen um eine Lösung der Frage immer wieder strengster sittlich-wissenschaftlicher Prüfung zu unterziehen. Nur ganz saubere Arbeit kann hier weiterhelfen. Alle All- gemeinheiten und vagen Beweisführungen werden nur die Verwirrung und das Gegeneinander steigern. Dabei soll nicht vergessen werden, daß es sich bei der Lösung der Indogermanenfrage nie um einen Beweis im mathematischen Sinne handeln kann. Was aber erreicht werden kann, ist dies, das heute Begründete und Wahrscheinlichste in einer Zusammen- schau darzustellen und damit eine neue Grundlage zur Lösung der Indogermanenfrage zu schaffen. In diesem Sinne betrachten wir die Indogermanenfrage im Lichte der Ergebnisse aller in Betracht kommen- den Wissenschaften. Zunächst müssen wir uns mit den Ethnologen Schmidt-Koppers’scher Richtung auseinandersetzen.

II. DIE SOGENANNTEN HIRTENKULTURLICHEN ELEMENTE BEI DEN INDOGERMANEN

Die Auffassung, daß die Indogermanen als Hirtenkrieger (oder gar als Räuberhirten, wie neuerdings Chr. Dawson in seinem Buch „The age of the Gods“ wieder vorträgt) anzusehen seien, ist bei gewissen Ethnologen zu einer Art von Dogma geworden. (Leider hat auch v.Eick- stedt in seinem Beitrag „Arier und Nagas“ (HF I, 364 ff.) für die in Indien einziehenden Arier eine ähnliche These vertreten. Was aber v. Eickstedt dort bietet, ist für denjenigen, der die Quellen wirklich kennt, reines Phantasiebild. Wirkliche Beweisgründe sucht man in allen diesen Behauptungen vergebens.) Die auf Pferden daherbrausenden, die Kultur zerstörenden Indogermanen, die dann langsam von der kulturell im allgemeinen viel höherstehenden Urbevölkerung zur Kultur geführt werden, müßten endlich aus dem Repertoire der Gegner einer Nordwest- heimat der Indogermanen verschwinden. Weder sprachliche, noch vor- geschichtliche, noch religionsgeschichtliche Tatsachen entsprechen diesem Bild.

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Dagegen steht auf Grund der vergleichenden ethnologischen Forschung fest, daß sich bei den Indogermanen tatsächlich sogenannte hirtenkultur- liche Elemente finden. Und da die afrikanischen Hirtenkulturen dem indo- germanischen Bereich ferner liegen, da ferner die Indogermanen Pferde- züchter und in später Zeit auch Reiter waren, liegt es nahe, den aus- geprägtesten hirtenkulturlichen Kreis Eurasiens, nämlich die innerasiatische Reiterkultur, zum Vergleich heranzuziehen.! Alshirtenkulturliche Elemente werden angegeben: wirtschaftlich selbstverständlich zunächst einmal die Pferdezucht, in soziologischer Beziehung Großfamilie, Patri- archat, ferner im Gebiet der Religionsgeschichte Feuer- und Herd- kult, Himmelsgottglaube, Hypostasenbildung, Dios- kurenkult und im Zusammenhang mit der Pferdezucht Pferdeweihe und Pferdeopfer.? Abgesehen vom Dioskurenkult, dessen Vorhanden- sein in der innerasiatischen Reiterkultur ich bezweifle, steht es fest, daß diese Elemente tatsächlich eine auffallende Gemeinsamkeit zwischen der indogermanischen und innerasiatischen (Reiter)Kultur bilden. Fraglich ist nur, erstens, ob es sich hier um ursprünglich reiterhirtenkulturliche Elemente handelt oder um solche aus älteren Kulturschichten, die an der Basis sowohl des Indogermanentums wie der innerasiatischen Reiter- hirtenkultur liegen; und zweitens, ob nicht eine Anzahl gleichartiger Elemente Allgemeinerscheinungen höherer Kultur sind; und drittens, ob, wenn tatsächlich Entlehnung hinüber und herüber stattgefunden hat, die Indogermanen immer die Empfangenden und die Innerasiaten die Gebenden gewesen sind. Dies wird nämlich im allgemeinen bei Koppers und bei ihm nahestehenden Ethnologen als selbstverständlich voraus- gesetzt.

Wenn z.B. Koppers (Anthr. XXX, S.12) die Hypostasenbildung nennt, so scheint mir dies methodisch darum unangebracht, weil erstens Hypostasenbildung eine allgemeine Erscheinung religiöser Entwicklung auf den höheren Stufen, also kein besonderes Merkmal der Hirtenkulturen ist. (Hier zeigt sich gleich zu Anfang ein Mangel der Koppers’schen Betrachtungsweise: religionspsychologische Gesetze in der Entwicklung der Menschheit scheinen für ihn nicht zu existieren.) Hypostasenbildung findet sich überall da, wo eine zentrale Gottgestalt im Laufe der Ent- wicklung sozusagen ein großes Reich gewinnt, in dem verschiedene

1 Vgl. dazu W. Schmidt und W. Koppers, Völker und Kulturen I. Teil: Ge- sellschaft und Wirtschaft der Völker (Regensburg 1924) 502 und 560, ferner die genannten Aufsätze von Koppers im „Anthropos“. Fritz Flor, Haustiere und Hirtenkulturen (Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik 1, 1980, 217 ff.) O.Menghin, Weltgeschichte der Steinzeit 310 ff. Vgl.auch den Aufsatz Flor’s, Die Indogermanenfrage in der Völkerkunde (HF I, 69 ff.)

2 Vgl. die beiden oben angeführten Aufsätze von Koppers.

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Mächte als Vasallen herrschen, in Afrika sogut wie in Ozeanien. Und dieser Prozeß der Abspaltung beginnt schon auf ganz niederen Stufen der primitiven Religionen. Es ist also völlig unmöglich, von diesen aus religionspsychologischen Notwendigkeiten sich ergebenden parallelen Entwicklungsformen auf Verwandtschaft oder gar Entlehnung zu schließen. Ferner, wenn gerade bei den innerasiatischen Religionen 7 oder 9 Hypostasen (die Herrscher der verschiedenen Himmelsstufen usw.) vorkommen, so ist doch methodisch die Frage aufzuwerfen, ob hier nicht eine Beeinflussung von den indogermanischen Indoariern oder Iraniern oder vielleicht schon von den einst vereinigten Indo-Iraniern vorliegt. Die Zahl 7 oder auch 9 der Abspaltungen des Himmelsgottes tritt uns ja doch in den vedischen Adityas und den avestischen Amoga Spontas entgegen. Die Adityas sind aber schon im vedischen Indien sehr alte, schon verblassende Gestalten. Daß von Indoarien und besonders vom Iran gewisse Kulturgüter nach Innerasien gewandert sind, steht fest. Holmberg nimmt deshalb auch in „The Mythology of all Races“ IV „Finno-Ugric Siberian“ (Boston 1927) 400ff.; vgl. „Der Baum des Lebens“ (Helsinki 1922) 25ff. an, daß die siebenfache himmlische Ordnung mit den sieben Göttern bei den Altaiern nicht ursprünglich sei, sondern von auswärts komme, besonders da auch gar keine Übereinstimmung in den Einzelnamen vorliege. Er leitet allerdings diese Ordnung vom alten Babylonien ab. Wir brauchen aber so weit gar nicht zu gehen; die ver- einigten Indo-Iranier liegen viel näher. Ich frage: warum zieht Koppers diese Möglichkeit einer Entlehnung aus dem Arischen überhaupt nicht ernstlich in Betracht? Daß der Jagdglückspender Ilibem-Berti usw. eine noch wenig entwickelte Form der Hypostasierung darstelle, aus der die andern herausgewachsen seien, ist eine völlig willkürliche Behauptung: denn wie sollen daraus die Adityas und Amo%a Spontas entstanden sein ? Mit so vagen Darlegungen darf auch der Ethnologe keine vergleichende Religionsgeschichte treiben.

Mit Beziehung auf den indogermanischen Himmelsgottglauben hat Koppers durchaus recht: die Fachleute sind sich über die Existenz und den Charakter des indogermanischen Himmelsgottes so gut wie einig. Ebenfalls steht fest, daß sich der Himmelsgottglaube bei den Innerasiaten findet. Beweist diese Gemeinsamkeit aber gegenseitige Ver- wandtschaft oder Entlehnung? Warum übersieht Koppers in seinen ‚Schlußfolgerungen die Tatsache, daß sich dieser Himmelsgottglaube auch ‚ganz ausgeprägt bei den Uraliern findet und überhaupt bei den Völkern arktischer Kultur, z. B. den Eskimo!? Ebenso findet sich dieser Glaube

1 Vgl. dazu U. Holmberg in „Mythology ofall races“ IV, 217 ff. und P. W. Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee (Münster 1931) Bd. III, bes. 493 ff.

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bei den Ainu.! Haben diese alle auch von den Innerasiaten entlehnt? Das ist religionsgeschichtlich und ethnologisch ausgeschlossen. Es ist vielmehr ganz klar, daß der Himmelsgottglaube kulturgeschichtlich einer älteren Schicht angehört, als die innerasiatische Reittierzüchterkultur sie darstellt. Er ist nach Flor (HF I, 122 ff.) gemeinviehzüchterisch und seine Wurzeln stecken in der arktischen Grundkultur Nord- eurasiens, aus der auch die Reittierzüchterkultur Innerasiens er- wachsen ist. Ja, die Anfänge dieses Himmelsgottglaubens gehen ohne Zweifel in noch frühere Zeiten zurück, denn wir finden Ansätze dazu überall bei den „Urvölkern“ von heute; soviel ist jedenfalls durch die ausgedehnten Forschungen von P.W.Schmidt („Ursprung der Gottes- idee“ 6 Bände) festgestellt.” Diese „Urvölker‘, abgesehen von den Es- kimo, die Schmidt ohne Rücksicht auf anthropologische Gegebenheiten zu Unrecht unter die Urvölker einreiht, gehören aber zu ganz niederen Formen des Homo sapiens. Wenn wir also der Forderung von Koppers gerecht werden und die universalgeschichtliche Betrachtungsweise an- wenden wollen, dann muß von Koppers energisch gefordert werden, daß er diese uralten Wurzeln des Himmelsgottglaubens beachtet, ehe er aus dem gemeinsamen Besitz bei Indogermanen und Innerasiaten nähere Verwandtschaft oder Entlehnung annimmt. Auf Grund religionsgeschicht- licher, ethnologischer und vorgeschichtlicher Tatsachen ist doch eher der Schluß zu ziehen, daß die Anfänge des Himmelsgottglaubens schon früh in der Homo sapiens-Epoche, also in der Eiszeit liegen, deren Kulturen wir ja in Westeurasien am klarsten fassen können, und daß dann die altviehzüchterische Kultur, die sich in der Nacheiszeit in dem eurasischen Nordwestkreis entwickelt hat (Hund und Renntier als die ältesten Haustiere) und die an der Basis der großen nordeurasi- schen Kulturen liegt, diesen Himmelsgottglauben weitergebildet hat. Aus diesem uralten Stamm sind dann die Einzelformen des Himmels- gottglaubens sowohl bei den Uraliern, wie bei den Indogermanen und den Innerasiaten usw. erwachsen. Ja, wir müssen annehmen, daß der Himmelsgottglaube der afrikanischen Viehzüchter ebenfalls aus jener uralten Wurzel stammt. Was vielleicht herüber und hinüber gegangen ist, sind kleine Einzelzüge, wobei aber nachdrücklich für die Behaup- tung, daß die Indogermanen entlehnt hätten, wie z.B. bei den Hypo- stasen, ein Beweis gefordert werden muß. Das nenne ich universal- geschichtliche und methodisch saubere Betrachtungsweise. Wir fügen hier gleich hinzu, daß also der Schluß, gemeinsamer Besitz des

ı Vgl. dazu J. Batchelor, The Ainu and Their Folk-Lore (London 1901) 575 ff. und Schmidt a.a. O. 436 ff. 3 Vgl. dazu meine Besprechung und Kritik des Werkes von P. W. Schmidt im ARW. 33, H.1/2, 152 ff. Archiv für Religionswissenschaft XXXVI.1 2

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Himmelsgottglaubens bei den Innerasiaten und bei den Indogermanen spreche fiir eine Ostheimat, klarerweise nicht zu Recht besteht.

Der Versuch, den Dioskurenkult der Indogermanen auch aus Innerasien abzuleiten, muß als völlig mißlungen betrachtet werden, ob- wohl Koppers behauptet, daß dieser Dioskurenkult ,,totsicher“ nach Innerasien weise. Als Grundlage für den Dioskurenkult bei den Inner- asiaten dient ihm eine Bemerkung U.Holmbergs in „Der Baum des Lebens“ 23, der wie folgt berichtet: „Die Mongolenstämme sehen in dem Sternsystem eine große Herde Rosse, welche der im Sattel sitzende Tsolbon (Plan. Venus) und sein Knecht namens Dogedoi oder Toklok hüten (vgl.ind.Asvin). Wir erwähnen diese Beispiele nur, um zu ver- stehen, warum die Weltsäule in den Erzählungen der türkisch-tatarischen Völker oft als mächtiger Roßpfahl geschildert wird. Als solchen be- zeichnen sie die Jakuten mit „Roßpfahl-Herr“ ... „Ebenso, wie bei den Nomaden Mittelasiens vor den Wohnstätten ein Pfahl zum Anbinden der Pferde steht, wird erklärt, daß auch die Götter ihre Rosse am Himmels- pfahle befestigen. Gewisse Tatarenstämme Sibiriens glauben, die Götter wohnen im Himmel in einem Zelte, vor welchem ein goldener Roßpfahl ist“. Bezeugt dieser Bericht einen innerasiatischen Dioskurenkult? Von einem Kult ist nirgends die Rede. Das einzige, was in dieser Erzählung und in dem Mythos von den indogermanischen Dioskuren gleich ist, ist, daß von Zweien die Rede ist, die reiten, und daß der eine mit dem Stern Venus ineinsgesetzt wird. Alles andere ist so verschieden, als es nur sein kann, obwohl auch schon Holmberg auf die Asvin hinweist. Nirgends im indogermanischen Mythos hüten die Dioskuren die große Roßherde des Sternsystems, nirgends sind sie Herr und Knecht, sondern zwei kämpfende, licht- und heilbringende Heroen, Zwillinge. Daß Tsolbon dem Planeten Venus gleichgesetzt ist, beweist nicht das geringste. Denn erstens kann es nicht auffallen, daß, wenn man das Sternsystem als Roßherde betrachtet, ein so auffallender und stiller Stern, wie der Morgen- und Abendstern, als Hüter betrachtet wird. Zweitens aber ist es keineswegs erwiesen, daß die indogermanischen Dioskuren Morgen und- Abendstern gleichzusetzen sind trotz Schröders sehr schönen Ausführungen in „Arische Religion“ II, 438 ff. und Oldenbergs Zustimmung in „Religion des Veda“? 207 ff.* Gerade da, wo im Indogermanischen der Mythos der Dioskuren am aus- führlichsten, in den Gestalten der Asvins, auftaucht, ist ihre Identifizierung mit Morgen- und Abendstern am schwersten, wenn nicht unmöglich.? Aber selbst wenn die Dioskuren Morgen- und Abendstern wären, können der innerasiatische Tsolbon-Mythos und der Dioskuren-Mythos nur ganz

1 Vgl. dazu A. A. Macdonell, Vedic Mythology (Straßburg 1897) 53. 2 Vgl. dazu A. Hillebrandt, Vedische Mythologie I, 2. Aufl. (Breslau 1927) 54 ff. Hillebrandt wendet sich gegen die These vom Morgen- und Abendstern-

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schwer miteinander verglichen werden. Wenn je eine Entlehnung in Be- tracht käme, dann könnte der Tsolbon-Mythos genau so eine innerasiati- sche Ausleerung des von den Ariern übernommenen Mythos von den zwei Heilbringern sein (so wie auch wohl die 7 oder 9 Hypostasen von dort kommen) als umgekehrt der indogermanische Mythos eine Entfaltung des innerasiatischen. Jedenfalls, der Beweis, daß der indogermanische Dioskurenkult ,,totsicher“ nach Innerasien führe, ist auch mit nichts er- bracht. Ich bin auch überzeugt, daß von einer beiderseitigen Entlehnung in diesem Fall nicht die Rede sein kann. Dazu sind sie zu verschieden. Vielmehr wird es wohl so liegen, daß wir auch für die Verehrung des Morgen- und Abendsternes eine uralte nordeurasische Grundlage anzu- nehmen haben, die darum bei den baltischen Völkern noch in ganz be- sonderer Weise durchschimmert. Auf dieser Grundlage und in Verbindung mit der vielleicht altarktischen Zwillings-Heilbringer-Idee (vgl. dazu Flor HF I, 124) konnte sich dann bei den Indogermanen der großartige Dioskurenkult entwickeln, der bei manchen indogermanischen Stämmen und Völkern, z.B. bei den Germanen, Spartanern und Römern, geradezu ein Hauptkult wurde!, während er dann bei den Innerasiaten zu dem Pferdehüter-Mythos sich entwickelt hat. Gegen eine Entlehnung spricht auch der offenbar uralte Name für die Dioskuren „Söhne des Himmels‘? Denn Tsolbon und seine Knechte sind das offenbar nicht, jedenfalls ist nichts derartiges gesagt. Nun haben sich sowohl Koppers wie Much durch die Sätze von Holmberg zu der Annahme verführen lassen, daß mit dem Tsolbon-Kult eine Pflockverehrung verknüpft sei. Dies wollte aber Holm- berg keineswegs in der angeführten Stelle sagen. Denn die Weltsäule als Roßpfahl und der Pfahl zum Anbinden der Pferde der Götter, der seine Entsprechung in dem Pfahl vor den Wohnstätten der Nomaden Mittelasiens zum Anbinden der Pferde hat, sind ja mit dem Tsolbon- Mythos gar nicht verbunden. Holmberg sagt doch ausdrücklich, er führe diesen Tsolbon-Mythos nur an, um einen anderen Mythos zu erklären, nämlich denjenigen, warum die Weltsäule in den Erzählungen der türkisch- tatarischen Völker oft als mächtiger Roßpfahl geschildert werde, darum nämlich, weil diese Völker das Sternsystem als Roßherde betrachten.

ı Vgl:dazu Tacitus Germania 43 und Rudolf Much, „Die Germania des Ta- citus (Heidelberg 1937) 379 ff.; Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte I (Berlin und Leipzig 1935) 186 ff.; Karl Helm, Altgermanische Religionsgeschichtell Heidelberg 1937) 42f.; Preller-Robert, Griechische Mythologie II, 1 (Berlin 1920) 306 ff.; Wissowa, Religion der Römer, 171, 268 ff.

3 Auf die Ableitung der Namen Alkis, Näsatya usw. gehe ich hier nicht ein. (Vgl. dazu auch noch H. Güntert, Der arische Weltkönig und Heiland (Halle 1923) 259; A.Macdonell, Vedic Mythology 54; Walde-Pokorny, Vgl. Wörterbuch der indogermanischen Sprachen JJ, 343.) Soviel ist sicher, daß diese Worte irgendwie mit dem Heilandscharakter dieser beiden Gestalten zu tun haben.

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Also Tsolbon und Pflockverehrung haben nicht das geringste miteinander zu tun. Und darum besteht es nicht zu Recht, wenn Koppers im Anschluß an Much ,,Wandalische Götter“ (in: „Schlesische Gesell- schaft für Volkskunde“ 27, Breslau 1926 36ff.), der die beiden Namen der hasdingischen Herrscher ‘Péog und “P&rros („Rohr und ,,Balken“) mit den Dioskuren in Verbindung bringt und an die Verehrung der doxava („zwei Balken“) bei den Spartanern erinnert (vgl. dazu Preller-Robert „Griechische-Mythologie“ II, 1, 307), von einer Pflockverehrung bei den Innerasiaten spricht und diese dann mit der ,,Pflockverehrung“ im Dioskurenkult vergleicht. Der heilige Roßpfahl der Innerasiaten (der, um es noch einmal zu betonen, mit dem Tsolbon-Mythos nichts zu tun hat, sondern nur von Holmberg zusammen mit ihm genannt wird), ist religionsgeschichtlich schlechterdings nicht mit den déxeve und mit ‘Pos und ‘'P&rtog zu vergleichen. Denn die döxave sind zwei durch einen Quer- balken verbundene Hölzer, also doch wohl Symbol für die beiden eng verbundenen Zwillingsgötter. Ist das gleich „Roßpfahl“ und haben ‘Päos und Pantos etwas mit der Weltsäule zu tun? Much hat dann versucht, in einem Aufsatz, überschrieben „Aurvandils tá“1 die falsche These von der Pflock-Stern-Verehrung im Zusammenhang mit den Dioskuren bei - den Germanen noch weiter zu stützen, indem er den Ausdruck Aur- vandills als Aurvandills *taho (*tagö) „Stab, Stock“ faßt und, da Aurvandills ein Stern ist, diesen mit (der nicht bestehenden) Pflock- verehrung des Tsolbon-Venus-Mythos verkniipft. Vom Standpunkt der Religionsgeschichte sind gegen diese Art von Methoden der Vergleichung schwere Bedenken geltend zu machen. Was kommt denn religionsge- schichtlich bei einer solchen Methode heraus? Daß jetzt der ,,Pflock“ nicht mehr die Weltsäule bedeuten müßte, wie in dem Bericht von Holmberg, sondern Tsolbon selber. So hat man nun so lange mit sprachlichen und religionsgeschichtlichen Daten manipuliert, bis wir folgende Ineinssetzung haben: Venus = Tsolbon = Stange = Weltsäule, also Pflockverehrung. Nun kann aber Tsolbon ja nicht gut Stern = Rossehüter = Venus und Roßpfahl sein, denn auch in der Religionsgeschichte kann man nicht so hantieren, daß alles alles ist, nämlich eben das, was man gerade haben möchte.

Wir müssen hier aber auch sowohl ethnologische wie religions- und rassenpsychologische Erwägungen anstellen. Daß die indo- germanischen Dioskuren so eng mit dem Pferd verknüpft sind und reiten, zwingt uns nicht, diesen Mythos mit der Reiterkultur Innerasiens in Verbindung zu bringen. Wir haben Zeugnisse genug, vor allem im Vedischen, aber auch imLitauisch-Lettischen und im Griechisch-Römischen,

1 Vgl. Altschlesien 5, Breslau 1934 (Seger-Festschrift 387 ff.).

Q - ne » Sg a! - ot. Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 21

daß die Dioskuren nicht nur reiten, sondern auch fahren (sie sind die siegreichen Wagenfahrer!). Das Fahren der Dioskuren muß aber älter sein als das Reiten. Dies zeigt vor allem ein Vergleich mit der indo- arischen Fassung des Mythos, wo das Fahren der Aśvinen durchweg einen archaischen, das Reiten einen jüngeren Eindruck macht (sie fahren dort z.B.noch mit Buckelochsen, auch auf Vehikeln von Vögeln gezogen usw.) Und es ist ganz klar, daß der indogermanische Mythos der Dios- kuren schon eine hohe Ausbildung gewonnen hatte, als die Dioskuren auch zu Reitern wurden. Wir werdenimKapitel über dieindogermanische Pferde- zucht zu zeigen haben, daß das Fahren mit Pferden bei den Indogermanen älter ist als das Reiten. Es gibt kein gemeinindogermanisches Wort für Reiten, dagegen ein solches für Fahren, das dann in einzelnen Sprachen gelegentlich auch für Reiten benützt wird. Es ist nicht unmöglich, daß bei der Ausbildung der Reiterkunst in der Tat Anregungen durch die Reiterhirtenkultur mitgewirkt haben, vor allem bei den Ariern, die ja diesen Kulturen benachbart waren. Und diese Wandlung in der Kultur hat dann selbstverständlich auch den Dioskurenkult beeinflußt und die Dioskuren auch zu Reitern gemacht. Es ist aber auch nicht die geringste Spur vorhanden, daß der Tsolbon-Mythos, selbst in dieser Epoche, auf den Dioskurenkult der Indogermanen eingewirkt hat.

Zu diesen ethnologischen kommen aber auch noch rassenpsycho- logische Erwägungen. Der Tsolbon-Mythos, der sich an den Stern Venus knüpft, ist im innerasiatischen Reiterhirtentum rassenpsycho- logisch betrachtet durchaus organisch. Es ist auch hier kein falscher Zug. Ebenso aber liegt es mit dem Dioskurenkult der Indogermanen. Nicht nur die großen Züge dieses Mythos und Kultes, sondern auch alle Einzelzüge fügen sich in das Gesamtbild des Indogermanentums fraglos ein. Und nicht ein einziger Zug in diesem Kult und Mythos weist in eine fremde Sphäre. Betrachten wir ihn in seinem Kern und in seiner ausgebildeten Form bei den Einzelvölkern, so entspricht seine Art durch- aus der Eigenart der indogermanischen Weltanschauung überhaupt. Ohne diese rassenpsychologische, gesamtorganische Betrachtungsweise, die ja allerdings von Koppers und den ihm nahestehenden Ethnologen nicht geübt wird, dürfen wir heute füglich keine vergleichende Reli- gionsgeschichte mehr treiben. Einzelzüge herauszureißen und aus ihnen Entlehnungen abzuleiten, entspringt aus einer Haltung, die wissenschaft- lich nicht mehr zu verteidigen ist.

Es war nötig, den Versuch Koppers’ und anderer, den indogermani- schen Dioskurenkult aus Innerasien abzuleiten, so ausführlich zu behan- deln, um an diesem Beispiel die unzulängliche, ja verkehrte Methode der Koppers’schen völkerkundlichen und nn ae ei- = chung klar aufzuzeigen. . < ae

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Ein weiteres Stück der Beweisführung von Koppers ist der indo- germanische Kult des Feuers und des Herdes, der mit dem der Altaier viel Ähnlichkeiten aufweist, die nicht zu bestreiten sind.! Diese Ähnlichkeiten beweisen nach Koppers Abhängigkeit des Feuer- und Herd- kultes der Indogermanen von dem innerasiatischen. Flor hat an diesen Schlußfolgerungen (HF I, 118ff.) eine zwingende Kritik geübt. Er weist einmal darauf hin, daß wir auch bei den Finno-Ugriern ein Hervortreten des Herdes bei den Heiratssitten finden. Vor allem ist hier auch die schöne Arbeit von Leopold v. Schroeder zu beachten „Die Hochzeits- gebräuche der Esten und einiger anderer finno-ugrischer Völkerschaften im Vergleich mit denen der indogermanischen Völker“ (Berlin 1888). Flor vermutet als gemeinsamen Ausgangspunkt für diese drei Be- reiche eine pflanzerische Kultur, die auch die Altaier beeinflußt hat. Eine Entlehnung der Indogermanen aus Innerasien braucht also nicht angenommen zu werden, jedenfalls ist sie nicht erwiesen. Ich glaube aber, daß wir den gemeinsamen Ursprung eines Feuer- und Herdkultes ethnologisch-vorgeschichtlich noch viel weiter zurückführen müssen. So ist auch z. B. bei den Gilyaken das Feuer ein Symbol der Einheit des Klans. Als Besitzer des Feuers gilt eine Urahne, die als guter Geist und Vermittlerin zwischen den lebenden und abgeschiedenen Vorfahren wirkt. Nur Angehörige des Klans haben das Recht, das Feuer am Herd zu ent- zünden oder von dort Feuer nach ihrer Jurte zu nehmen. Der Klan- älteste hütet das Feuer. Nur von diesem kann das Feuer zum Kochen des Fleisches beim großen Bärenfest genommen werden. Wenn ein Klan sich spaltet, so bricht der Älteste des Mutterklans den Feuerbrand in zwei Teile und gibt den einen dem Ältesten der abziehenden Tochter- gruppe. Daß wir hier im Zusammenhang mit den Bärenfesten ältestes arktisches Kulturgut vor uns haben, kann wohl nicht in Frage gestellt werden. Auch die Ainus haben eine Feuergöttin, die Krankheit heilt, das Kochen der Speisen ermöglicht usw. Auch bei den nordamerika- nischen Indianerstämmen finden wir Ansätze zum Feuerkult, z.B. bei den Hopi-Indianern und sonst. Ja, wir können diesen Kult völkerkund- lich noch weiter zurückverfolgen. Das zeigt der Feuerkult des südafrika- nischen Jäger- und Sammlervolkes der Bergdama, wie das in der schönen Darstellung von Vedder „Die Bergdama“ (1923) gezeigt ist.” Auf Grund dieser ethnologischen Tatsache müssen wir annehmen, daß die Wurzeln des Feuerkults irgendwie wiederum in der frühen Homo sapiens - Epoche stecken, wie die für den Himmelsgottglauben. Daraus erwachsen dann

1 Vgl. dazu neben dem Aufsatz von Flor in HF auch noch N. Poppe, Zum

Feuerkult der Mongolen (Asia Major II [1925] 130—145).

„2 Vgl za ‚diesön' Ausführungen auch noch Ebert, Reallexikon der Vor-

es i „: since 1E2785 f, Y.H Hass; Die Ainu und ihre Religion (Leipzig 1925) S.X.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 23

im Ganzen: auffallend ähnliche, im einzelnen aber sehr verschiedene Formen dieses Kultes, die darum nicht voneinander abgeleitet werden dürfen. Denn gerade diejenigen Einzelheiten in den Feuerzeremonien, die eine Entlehnung oder gegenseitige Abstammung beweisen würden, fehlen gänzlich. Zudem müßte, wenn tatsächlich irgendwo solche unmiß- verständlich identischen Einzelheiten zwischen dem innerasiatischen und dem indogermanischen Feuerkult sich herausstellen würden, immer wieder die Frage aufgeworfen werden, ob diese nicht von den Indogermanen zu den Innerasiaten gelangt sind. Also auch dieses „hirtenkulturliche Element“ beweist nichts für eine Ostheimat.

Die soziologischen Verhältnisse der Indogermanen, die nach Innerasien weisen sollen, hat Flor in der angeführten Arbeit einer gründ- lichen Analyse unterzogen, so daß wir an diesem Ort darauf weiter nicht einzugehen brauchen. Flors Ausführungen zeigen durchweg, daß überall da, wo solche Ähnlichkeiten vorhanden sind, eine kulturliche Grund- lage angenommen werden muß, auf der sowohl die indogermanische, wie die protouralische, wie die innerasiatische Kulturentwicklung sich aufbaut. Hine gegenseitige Ableitung ist auch durch keine einzige Tat- sache erwiesen.

Es kann ferner gezeigt werden, daB auch die Herleitung der indo- germanischen Pferdezucht mit ihren soziologischen und religions- geschichtlichen Ausformungen aus der innerasiatischen Reittierhirten- kultur als nicht erwiesen zu betrachten ist, ja daß schwerwiegende Gründe dafür sprechen, sie in ihrem Ursprung gegen jene abzugrenzen.

Ill. PFERDEZUCHT UND PFERDEOPFER IN ETHNOLOGISCHER SICHT

1. ARKTISCHE UND HIRTENKULTURLICHE ELEMENTE

Für Koppers steht es fest („Indogermanenfrage“ 304), „daß die Ur- heimat der Pferdezucht in Innerasien zu suchen ist, daß also ihre ur- sprünglichen Träger nicht die Indogermanen sind, sondern eher Urtürken oder Proto-Turko-Mongolen in Betracht kommen“. Er versucht nun, diese These durch eine viel Material ausbreitende ethnologische und religionswissenschaftliche Studie zu stützen: „Pferdeopfer und Pferde- kult der Indogermanen“ in dem eben erwähnten Buch 279—411. Diese Studie zeigt gegenüber seinen früheren Arbeiten den Vorteil, daß sie die der „altarktischen“, d.h. also der nordwesteurasischen Urkultur entstammenden Elemente des indogermanischen Pferdekult- . komplexes klarer herausstellt. Es sind dies vor allem die Schädelpflege, das Nichtzerbrechen der Knochen beim Opfer, bzw. Kopf-, Schädel- und Langknochenopfer und die Ostung, d. h. die östliche Orientierung. Die

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beiden ersten sind von A. Gahs in seiner kenntnisreichen Studie „Kopf-, Schädel-, Langknochenopfer bei Renntiervölkern“ (W.Schmidt-Festschrift, Mödling 1928, 231—268) als zur arktischen Kultur gehörig erwiesen worden. Gahs faßt die Ergebnisse seiner Studien in den Worten zu- sammen:

So kann man als Endresultat dieser ganzen Untersuchung konstatieren, daß in den um den nördlichen Polarkreis liegenden Ländern zwei ganz spezifizierte Kulturerscheinungen überall zusammen auftreten und auch mit- einander verbunden werden: erstens, die Idee eines Weltgottes, dessen Name „Universum“ und „Himmel“ bedeutet, und von dem sich ein hypo- stasiertes Attribut ,Jagdgliickspender“ (wahrscheinlich unter Einwirkung der von Süden vordringenden Anschauung von der hohen Stellung des mythischen Urmenschen, des Urvaters oder der Urmutter) als selbständiges Wesen abtrennt; zweitens die Kopf-, Schädel- und Langknochenopfer von Jagdtieren, die als eine Art Primizialopfer unmittelbar oder mittelbar dem genannten höchsten Wesen dargebracht werden.

Da diese Schädel- und Langknochenopfer aber bis in die diceuipldea Kulturen des Magdalénien, ja bis in das „Prämousterien“ zurück- gehen (S. 261 ff.), wie die Funde im Drachenloch ob Vättis in der Schweiz und in der Petershöhle bei Velden in Mittelfranken zeigen, so ist der Schluß zwingend, daß gewisse Elemente der sog. arktischen Grund- kultur ihre Wurzeln in der Eiszeit haben, in welche nach den Unter- suchungen von Andree-Bicker auch die Wurzeln der indogermanischen Kultur hinunterreichen. Die aus jenen uralten Wurzeln erwachsene arktische Grundkultur entspricht etwa jener vorgeschichtlichen Kulturschicht, die bei Menghin („Weltgeschichte der Steinzeit“ 227 ff.) als „miolithische Knochenkultur“ bezeichnet wird, und die sich seit der Mittelsteinzeit vom Nordwesten Europas bis weit hinein nach Sibirien erstreckt! Über das höhere kulturgeschichtliche Alter dieses Kreises gegenüber dem reittierhirtenkulturlichen Innerasiens besteht auch für Koppers kein Zweifel. Er gibt also damit zu, daß im Indogermanen- tum und auch in seinem Pferdeopferkomplex ein uraltes Element ist, das nicht. original vom innerasiatischen Kulturkreis kommen kann, sondern aus einer älteren Grundlage, die beiden gemeinsam ist, wie dies ja auch beim Himmelsgottglauben festzustellen ist. Ja, dieser Himmelsgottglaube ist nach Gahs unter den arktischen Völkern sogar

1 Ob der Ausdruck „miolithische Knochenkultur“ geschickt gewählt ist, lasse ich dahingestellt. Von Fachleuten wird eingewendet, daß es eine solche „Kno- chenkultur“ nicht gebe, da immer auch Steinwerkzeuge mit gefunden werden. Aber der besondere und geschlossene Charakter dieser nordwesteurasischen Kultur am Ausgang der Mittelsteinzeit steht fest; von Kossinna wurde diese Kultur die „Dobertiner K.“ genannt. Indog. S. 17 ff. Sie entspricht auch einem in mancher Beziehung verwandten Rassenbereich, denn es ist der Bereich der aufgehellten Rassen, der nordischen, der sog. ostbaltischen und der nur teilweise aufgehellten Eskimovölker und Sibiriden.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 25

noch reiner und aktiver zu finden als bei den Innerasiaten.! Damit ist aber universalgeschichtlich für die Betrachtung der Frage der Ostheimat der Indogermanen ein neuer Standpunkt gewonnen. Die angegebenen Elemente beweisen nichts für eine Nachbarschaft der Indoger- manen mit den Innerasiaten. Denn, wie schon erwähnt, erstreckt sich jene arktische Grundkultur von Nordwesteuropa bis hinein nach Asien und aus ihr und ihren alteuropiden Wurzeln sind die verschie- denen Ausprägungen bei den drei Völkern erwachsen. Auch Flor in HF I, 107 ff. hat ja energisch darauf hingewiesen, daß die „Beziehungen“, die von den Ethnologen Graebner, Koppers usw. zu innerasiatischen Hirten behauptet werden, sich viel besser durch die protouralische Kultur- verwandtschaft erklären lassen. Damit bin ich ganz einverstanden, wobei allerdings nicht das Verhältnis etwa so gedacht werden darf, als ob die Indogermanen von den Protouraliern entlehnt hätten. Vielmehr wurzeln beide in derselben Grundkultur, was ja auch sprachlich und rassenkund- lich zu belegen ist. Ich wundere mich, daß Koppers mit dieser klaren Schlußfolgerung, die von höchster Bedeutung für die Indogermanenfrage ist, nirgends ernst macht, wie wir das schon in dem früheren Kapitel ge- sehen haben. | |

Von den altarktischen Elementen trennt nun Koppers die nach seiner Meinung der innerasiatischen Hirtenkultur im besonderen zu- kommenden Elemente und von diesen wiederum in einem ausführ- lichen Kapitel „Die ‘siidlichen’ Elemente im indogermanischen Pferde- opferkomplex“ (dabei „südlich“ zunächst ganz vage verstanden als,, nicht innerasiatisch hirtenkulturlich“). . Später versucht er dann dieses „süd- lich“ in engeren Zusammenhang mit dem kaukasisch -altorientalischen Kulturkreis zu bringen. Es liegt hier, wie wir im Laufenden sehen wer- den, eine methodische Ungenauigkeit vor, die einer klaren Beweisfüh- rung hindernd im Wege steht. Koppers versucht weiter zu beweisen, daß es zwei Hauptarten der Beziehung der Indogermanen zum „Süden“ gebe. Erstens haben „südliche“ Elemente ihren Weg, wenn zunächst auch nur in der Form von disjecta membra (in einzelnen Stücken) in das Urindogermanentum hineingefunden, während später dann, aber „auch noch vor der Aufteilung der Indogermanen als vollzogene Tatsache“ sich der von ihm so genannte kosmogonische Komplex nicht mit Pferd, sondern mit Rind— Stier im Mittelpunkt zu Ariern und Ger- manen verbreitet habe.? So unterscheidet er drei Etappen in der Beein- flussung des indogermanischen Pferdekomplexes, den altarktisch-hirten- kulturlichen und den südlichen A und B.

1 Gahs a. a. O. 268f. Vgl. Anthropos XXX, 1075. 2 Vgl. Koppers, Indogermanenfrage 368 ff.

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Schon hier ist natürlich die Frage aufzuwerfen, wie es kommt, dai | der „kosmogonische Komplex“ (Urmensch, Urkuh, Urstier) sich von Vorderasien nicht nur zu den Ariern, sondern auch zu den Germanen verbreitet haben soll, sonst aber zu keinem andern indogermanischen Volk. Doch wollen wir auf diese Frage jetzt nicht eingehen, sie wird in meinem II. Teil der „Glaubensgeschichte der Indogermanen“, wo auch die immer wieder behaupteten Entlehnungen der Germanen aus Vorder- asien (selbst die Baldurgestalt soll aus Kleinasien kommen!) einer ein- gehenden Kritik unterzogen werden.

Als die der innerasiatischen Hirtenkultur im indoger- manischen Pferdeopferkomplex zu dankenden Elemente nennt Koppers S. 303ff.: 1. Pferd als Opfertier, 2. Frühling als Opferzeit, 3. Junger Hengst als Opfertier, 4. Freilassung (Weihe) des Opferpferdes, 5. Weißfarbigkeit, 6. Kennzeichnung (Schmückung) des Opferpferdes, 7. Wettreiten und Wettfahren, 8. Adressaten des Pferdeopfers (ursprüng- lich der Himmelsgott), 9. „Herrschaftlicher“ Charakter des Pferdeopfers, 10. Pferd und Sonne. Er untersucht, bei welchen indogermanischen Hinzelvélkern sich diese hirtenkulturlichen Elemente finden, und faßt dann seine Ergebnisse in einer Tabelle S. 365 zusammen.

Wir können nicht auf alle die einzelnen Punkte näher eingehen. Aber da diese Kapitel des Buches die Koppers’sche Methode sehr klar kenn- ‚zeichnen, ist es nötig, einige Beispiele kritisch zu beleuchten.

Daß das Pferd als Opfertier gebraucht wird, hängt mit der Pferdezucht überhaupt zusammen. Wenn wahrscheinlich gemacht werden kann, daß die indogermanische Pferdezucht nicht von der innerasiati- ‚schen Reittierhirtenkultur abgeleitet werden darf!, so beweist dieser Punkt für einen Zusammenhang mit den Innerasiaten natürlich nichts. Punkt 2. Frühling als Opferzeit, beweist aus zwei Gründen nichts. Erstens ist der Frühling in sehr verschiedenen Bereichen Opferzeit (dies hängt selbstverständlich mit dem Kreislauf der Natur zusammen). Zwei- tens aber ist der Frühling als Opferzeit nur bei Indern undRömern bezeugt und auch bei den letzteren schwankend, wie das Oktoberroß zeigt. Für die Germanen ist mir keine derartige Bestimmung für das Roßopfer bekannt. Trotzdem erscheinen in der zusammenfassenden Ta- belle die Römer ohne Fragezeichen unter 2, ebenso die Germanen, wenn auch mit Fragezeichen.

Methodisch sehr wichtig ist die Art, wie Koppers Punkt 3 behandelt. Bei den nordost-altaischen Türken, den Kumandinern, muß das Opfer- pferd jung und unberitten sein. Fänden wir nun bei den Indo-

1 Ich werde in meinem demnächst im Mannus erscheinenden Aufsatz zu

begründen versuchen, daß die Pferdezucht bei den Indogermanen zuerst auf- ‚gekommen ist.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 27

germanen durchgehend oder wenigstens bei einigen wichtigen Einzel- völkern dieselbe Vorschrift, so könnte man, sofern nicht auch hier der „Elementargedanke“ der „Jungfräulichkeit‘“ mitwirkend gewesen ist gegen Elementargedanken wendet sich Koppers von seiner Kultur- kreislehre her allerdings immer mit besonderem Nachdruck an einen Zusammenhang zwischen Indogermanen und Innerasiaten denken. Aber ehe wir zu dieser Annahme gezwungen sind, muß nach allem, was wir bis jetzt vorgetragen haben, vorher zweitens die Frage aufgeworfen werden, ob dieser Zug, wie auch die weiße Farbe des Opfertieres, nicht einer älteren Kulturschicht, diesowohl den Altaiern, wie den Indo- germanen zugrundeliegt, zugehört. Und gerade dies ist als sicher anzu- nehmen, denn die Waldyuraken (Samojeden, also Uralier) opfern dem Num einen weißen Renntierstier oder -ochsen. Er wird dem Num schon als Kalb gelobt und darf als „Geist der Herde“ immer frei wandeln, wird also nicht zur Arbeit als Last- oder Reittier verwendet. Wir haben also weiße Farbe und Jungfräulichkeit in dem hier verstandenen Sinne tatsächlich als einen Zug im Opfer jener älteren Kulturschicht. Das Prin- zip war also gegeben, es brauchte dann nur bei der Entstehung des Pferdeopfers (das, wie die Pferdezucht jünger ist als Renntieropfer und Renntierzucht) auf das Pferd übertragen werden. Denn daß der Brauch bei den Waldyuraken Ähnlichkeit hat mit dem türkischen und dem freien Umherschweifen des Opferrosses in Indien während des dem Opfer vorausgehenden Jahres, liegt klar auf der Hand. Da sich aber bei den Samojeden als den kulturgeschichtlich älteren dieser Brauch findet, so haben wir hier nicht einen reiterhirtenkulturlichen, sondern einen altviehzüchterischen Brauch vor uns. Dieses Altviehzüchter- tum geht aber im nordwesteurasischen Kreis in die Mittelsteinzeit zu- rück, ist älter als die asiatischen Reiterkulturen und die Grundlage der indogermanisch-uralisch-innerasiatischen Viehzüchterkultur. Also selbst wenn dieser Zug als gemeinindogermanisch nachgewiesen werden könnte, wäre dies kein Beweis für einen Zusammenhang der Indogermanen und Innerasisten. Nun liegt es aber drittens (und wir müssen dies zur Kenn- zeichnung der Koppers’schen Methode klar belichten) mit diesem Nach- weis sehr schlimm. Nicht einmal Indien ist hier restlos sicher, denn hier ist kein junger und unberittener Hengst als Opfertier ge- fordert, sondern ein wertvoller und schneller, was gar nicht, wie Koppers meint, um zu seinem Punkt 3 zukommen, „offenkundig“ ein junger Hengst im Sinne des altaischen Opferpferdes sein muß. Ebensowenig ist das Unberittensein überhaupt gefordert, sondern nur das Nichtberitten- werden während des Jahres seines freien Schweifens. Diese ausgespro- chene Forderung aber weist doch eher darauf hin, daß es, abgesehen von diesem Jahr, beritten wurde. Um eine wirkliche Parallele zu dem „jungen,

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unberittenen Opferpferd“ der Kumandiner handelt es sich also selbst bei den Indern nicht. Noch fraglicher steht es aber mit den andern Indogermanen, die Koppers als Beweis anführt. Zum römischen Ok- toberfest! wird das rechte Pferd des siegreichen Gespannes bei dem kultischen Wagenrennen geopfert. Dies gestattet zwar, wie Koppers sagt, den Rückschluß, daß als Opferpferd von vornherein nur ein beson- ders tüchtiges und wertvolles Tier in Betracht kommt. Darum geht es doch aber bei seiner „Parallele“ nicht, sondern daß es jung und unbe- ritten ist. Und von Jung- und Unberittensein ist beim römischen Oktoberro gar nicht die Rede, sondern es ist klar, das hier ganz andere Forderungen für das Opferroß in den Vordergrund gestellt werden als die innerasiatische und wohl auch altarktische „Jungfräulich- keit“, nämlich Bewährung im Kampfe, wobei die indogermanische Rechtsorientierung noch mitspricht. Das ist sowohl ethnologisch wie rassenpsychologisch gesehen ein völlig anderes Prinzip, Gemeinsam ist hier nur die allgemein menschliche Grundforderung für das Opfertier: es muß ein Ausnahmetier sein. Die geforderten Eigen- schaften aber sind so verschieden, daß sie entschieden gegen einen ge- schichtlichen Zusammenhang sprechen. Obwohl sich nun bei den Rö- mern mit Beziehung auf Punkt 3 schlechterdings keine Parallele auf- stellen läßt, erscheinen sie in der Tabelle auf S. 365 unter 3 ohne Fragezeichen! Die Griechen erscheinen mit Fragezeichen, obwohl sich dort überhaupt keine Spur dieses Brauches findet. Die Slawen werden wiederum ohne Fragezeichen aufgeführt, obwohl dort beim Nichtberittenwerden von einem schwarzen Divinationspferd und nicht von einem hellfarbigen Opferpferd die Rede ist. Und wie es mit den Indern, die ebenfalls in der Tabelle ohne Fragezeichen erscheinen, steht, haben wir gesehen. Dies ist ein typisches Beispiel für die Art, wie Kop- pers arbeitet (wir können das bei allen andern Punkten genau so nach- weisen): Zuerst werden ganz vage Ähnlichkeiten festgestellt. Diese werden dann begrifflich so geschoben, bis sie in das Schema passen und dann erscheinen die betreffenden Völker als tatsächliche Vertreter dieses hirtenkulturlichen Elementes in der Tabelle. Diese Tabelle täuscht also Gemeinsamkeiten vor, die in Wirklichkeit gar nicht vor- handen sind. So werden alle diejenigen, die sich nicht so gründlich mit den Einzelheiten dieser „Studien“ beschäftigen können, irregeführt und selbst Eduard Hermann in seiner kritischen Besprechung des Buches? „begrüßt die tabellarischen Aufstellungen ganz besonders“. Nein! Diese tabellarischen Aufstellungen sind nicht zu begrüßen, sie sind methodisch äußerst fragwürdig! 1 Wissowa, Römische Religion 144f., 421 A.2, 450, 517. 2 Göttingische gelehrte Anzeigen 3/4 (März-April 1938) 162 ff.

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Denn mit Beziehung auf andere Punkte des Vergleiches steht es nicht besser. Nehmen wir Punkt 4: Freilassung und Weihe des Opferpferdes, so ist hier erstens ebenfalls wieder zu sagen, daß dies nicht ein eigentümliches reiterhirtenkulturliches, sondern ein altvieh- züchterisches (arktisches) Element ist, wie wir schon gesehen haben. Wiederum aber zeigt eine genauere Prüfung, daß von einem auch nur annähernd durchgängigen Vorhandensein dieses Brauches bei den Indo- germanen nicht die Rede sein kann. Bei den Römern finde ich derartiges überhaupt nicht bezeugt. Um eine Parallele zu bekommen, führt Koppers die Freilassung von Rossen durch Caesar an, als er im Begriff stand, den Rubikon zu überschreiten. Aber dies ist doch kein Opfer oder Vor- bereitung zu einem Opfer gewesen, sondern es handelt sich doch wohl hier sicher, da die Pferde frei dem Rubikon zuschweifen durften, um eine Divination. Daß es bei den Germanen im Zusammenhang mit Freyr vorkommt, wie Koppers nach A. Cloß („Indogermanenfrage“ 286) an- führt, ist mir unbekannt. Denkt Cloß vielleicht an das dem Freyr ge- weihte Pferd, das de Vries „Altgermanische Religionsgeschichte“ 2, 265 erwähnt? Aber dort ist nur davon die Rede, daß es nicht beritten sei. Für die Slawen finde ich den Brauch nicht bezeugt, auch bei den Iraniern nicht. Denn daß weiße Pferde dem Königswagen frei vorangehen, wie Koppers, „Indogermanenfrage‘‘ 294 gesagt ist, ist doch nicht als Frei- lassung noch Weihe für das Opfer zu betrachten. Es ist der auch heute noch übliche Brauch, junge Pferde unangebunden mitrennen zu lassen. Wirklich bezeugt ist der Brauch nur von den Indern. Trotz- dem erscheinen in der Tabelle Germanen, Römer, Slawen, Iranier als Vertreter des Punktes 4. Ich muß wiederum fragen: ist das wissen- schaftliche Methode?

Eine ganz andere Übereinstimmung haben wir in Punkt 5 mit Be- ziehung auf die Weißfarbigkeit des Opferpferdes (306f.), ob- gleich gerade auch hier die Sache bei den Indern nicht eindeutig ist. Dort werden nämlich sehr verschiedene Farben gefordert, und unter ihnen auch weiß. Es scheint also hier der Gedanke der Weißfarbigkeit durch ganz andere Farbensymbolik durchbrochen. Nehmen wir aber an, auch hier sei die Weißfarbigkeit ursprünglich gewesen und sie gehöre zum indogermanischen Opferpferd überhaupt. Wie kommt es, daß gerade hier so große Übereinstimmung herrscht? Die Antwort ist sehr einfach: einmal liegt der Grund sicher wieder in einem Elementargedanken: Weiße Farbe ist auffallend, eindrucksvoll, feierlich, so wie auch schwarze z. B. beim Divinationspferd der Slawen, beim Rosse, das Erlik reitet, bei Melanippe = „schwarze Stute“ usw. Zudem haben wir Beziehung zum Licht, denn das Pferd ist sicher ursprünglich dem höchsten Gott, dem Himmelsgott, geopfert worden, so wie auch der Renntierstier der

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altarktischen Kultur. Zweitens aber ist die Weißfarbigkeit alt- viehztichterisch, wie die Waldyuraken zeigen. Auch die Wogulen opfern vor der Jagd ein weißes Renntierkälbchen. Aber auch die Indianer Nordwestamerikas haben weiße Opfertiere. So gehört also das weiße Opfertier spätestens der altviehzüchterischen Kultur an, der Grundlage sowohl der indogermanischen Kultur wie der innerasfatischen Reittier- hirtenkultur und ist nicht von der einen in die andere Kultur über- nommen worden. |

Für Punkt 6: Kennzeichnung (Schmückung) des Opfer- pferdes, findet Koppers auch nur bei den Indern Parallelen. Bestünde nun zwischen dem innerasiatischen und dem indischen Brauch eine wirk- liche Ähnlichkeit, so würde das nicht besonders auffallen, denn daß die Arier und die Innerasiaten benachbart gewesen sind, liegt auf der Hand. Es können also wohl Bräuche herüber und hinübergegangen sein (z. B. scheint mir die Erstickung des Opferpferdes eine solche Beeinflussung zu sein). Aber nicht einmal in diesem Punkt 6 bestehen wirkliche Par- allelen. Kennzeichnung und Schmückung des Opferpferdes kann ganz allgemein als psychologisch begründeter Brauch erklärt werden. Die Schmückungsart aber müßte gleich sein, gewisse Einzelheiten der Schmuckgegenstände, der Zahl usw. Von der Art aber, wie das Opfer- pferd bei den Altaiern geschmückt wird, finden wir nirgends etwas bei den Indogermanen, auch bei den Indern nicht. Diese innerasiatischen Hirten befestigen an dem Weiheroß irgendwelche Bänder an Mähne und Schwanz oder auch an den Ohren. Dabei spielen die weiße, schwarze und die gelbe Farbe eine bestimmte Rolle. Koppers erwähnt dann noch den kaukasischen Brauch eines Schnittes ins Ohr bei einem Roß, das bei der Leichenfeier auftritt. Wie steht es mit den indischen Parallelen ? „Nach der Rückkehr salben die ersten drei Frauen des Königs je nach ihrem Range sein Vorder-, Mittel- resp. Hinterteil und flechten ihm mit bhur, bhuvah resp. svar je 101 Goldzieraten fest in Mähnen und Schwanz, wobei sich nach einigen ihr Gefolge beteiligen kann“.! Wer findet hier bei den Indern zu den Innerasiaten eine wirkliche Parallele, von den andern Indogermanen ganz zu schweigen?

In diesem Zusammenhang muß noch ein anderer Brauch bei dem Pferdeopfer der Innerasiaten, den Koppers („Indogermanenfrage‘ 400 f.) _ anführt, genannt werden. Dort amtiert ein Schamane, welcher der „Wedler“ heißt. Mit einem weißen und roten Tuch befächelt er am Ende des Opfers die Frauen und Mädchen. Sie laufen davon und sagen: „Nähere dich nicht.“ Damit vergleicht Koppers das Befächeln des Opfer- rosses durch die obengenannten Frauen. „Die Frauen umschreiten das

1 A. Hillebrandt, Ritual-Litteratur, Vedische Opfer und Zauber (Straßburg 1897) 161.

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verendete Roß je dreimal von links nach rechts und rechts nach links“, nach Asv. 10,8,8 „es (mit den Gewändern) fächelnd, ihre rechten Haar- flechten hinaufbindend und die anderen auflösend (?), den linken Schenkel schlagend“.! Zu dieser Parallele sagt Koppers: „Abgesehen von dem Rollenwechsel erscheinen Situation und Manipulation einander wohl zu ähnlich, als daß sie auf das Konto eines bloßen Zufalls gesetzt werden könnten.“ Wir haben hier wieder einen ähnlichen Fall wie beim Roß- pfahl und der Pflockverehrung. Was ist hier gleich? Daß „gewedelt“* wird. Daß bei den Innerasiaten der Schamane die Frauen anwedelt, die dann davonlaufen, während beim indischen Roßopfer die Frauen das Opferroß befächeln, stört Koppers in keiner Weise; denn: es wird ja gewedelt und gewedelt ist gewedelt. Damit haben wir eine auf universalgeschichtlich-ethnologischer Betrachtung gefundene Parallele! Wir müssen wiederholen : mit solchen Methoden kann man alles beweisen, was man beweisen will. Aber sie wissenschaftlich zu nennen, wer will das wagen?

Daß Wettreiten und Wettfahren (Punkt 7) mit den indoger- manischen Festen und darum auch mit den Roßopferfesten verbunden ist, ist wohl keine Frage. Aber nicht nur, daß diese Tatsache für einen Zusammenhang mit der innerasiatischen Reiterhirtenkultur nichts be- weist, sie widerlegt diesen Zusammenhang: Nirgends gibt es dort Wettfahren! Die Innerasiaten sind ja Reiter und kennen bis heute das regelrechte Wagenfahren mit Pferden nicht.” Und gerade das Wett- fahren, wie überhaupt das Fahren mit Pferden, ist bei den Indogermanen ja das ältere. Das indogermanische Wagenrennen ist etwas so eigen- tümliches und von dem innerasiatischen Wettreiten verschiedenes, daß ich nicht begreife, wie ein Ethnologe hier Parallelen und Abhängigkeit feststellen kann.

Zu Punkt 8 ist zu sagen: daß das Pferdeopfer ursprünglich dem Himmelsgott dargebracht wird, hat wiederum nichts mit Reiter- hirtenkultur zu tun. Dieser Brauch, das höchste Opfer dem höchsten Gott zu weihen, ist ja ein uralter altviehzüchterischer Brauch.

Punkt 10 beweist ebenfalls nichts für einen Zusammenhang mit der innerasjatischen Reiterhirtenkultur. Denn erstens gehört Ostorien- tierung zu den Elementen der arktischen Grundkultur (301ff.) und zweitens ist von einer besonderen alten Beziehung des Pferdes zur Sonne bei den altaischen Völkern nichts bekannt. Vielmehr scheint die Verbindung Sonne Pferd typisch urindogermanisch zu sein.

1 Hillebrandt a. a, O. 152. 2 Vgl. dazu Schmidt-Koppers, Völker und Kulturen (Regensburg 1925) 533 f. mit Abb. 482.

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Methodisch wichtig ist noch Punkt 9: Der „herrschaftliche Charakter des Pferdeopfers“. Man lese einmal die Sätze auf S. 301 des Koppers’schen Buches (Mangel an Raum verbietet, sie hier zu zitieren). Die Art, wie hier die innerasiatischen Pferdehirten zu „Aristokraten“ gestempelt werden, von denen dann offenbar die Indo- germanen dieses Aristokratentum übernommen und auch im.Pferdeopfer zur Darstellung gebracht haben, erinnert doch allzusehr an seinen Satz von der höheren Kultur, die nicht von den Indogermanen ausgegangen sei. An diesem Punkt zeigt sich aber auch am deutlichsten, wie ver- lassen die Methode Koppers’ von jeder völkerpsychologischen Einsicht ist. Wenn eines ganz klar ist, so dies, daß die Indogermanen, wo immer sie auch hinkommen, als Herrenvölker, als „Aristokraten“ auftreten. Sollten sie dies in der Tat von den Innerasiaten übernommen haben und waren sie vorher keine Herrennaturen? Gilt Koppers Blut, Rasse, An- lage nichts? Und wo ist denn das Aristokratentum der Innerasiaten völkerkundlich greifbar? Denn dazu gehört doch vor allem auch die Fähigkeit, herrschen zu können und im Herrschen große Kulturen auf- zubauen. Welche Völkergruppe zeigt diese Eigenschaft in der eurasi- schen Weltgeschichte mehr, die Innerasisten oder die Indogermanen ? Darüber ist kein weiteres Wort mehr zu verlieren, denn hier wird der weltanschauliche Hintergrund, ja die anti-indogermanische Einstellung Koppers’ ganz deutlich.

Die vorausgegangene Kritik zeigt, daß die Schlußbemerkungen Kop- pers’ zu seiner Tabelle auf S. 365, „daß die hirtenkulturlichen Elemente des Pferdekult- und Pferdeopferkomplexes schon dem Urindogermanen- tum eigentümlich gewesen sein müssen, und daß bereits die Einheits- kultur einer entsprechenden Beeinflussung von jenem innerasiatischen Zentrum her ausgesetzt gewesen sein muß“, schlechterdings nicht zu Recht bestehen. Er hat gar nichts derartiges bewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht.

2. DIE „SÜDLICHEN“ ELEMENTE IM INDOGERMANISCHEN PFERDEKULT UND PFERDEOPFER

Unter „südlichen“ Elementen versteht Koppers, wie schon erwähnt, zunächst negativ „nichthirtenkulturliche“‘, die er an anderem Ort mit der kaukasisch-orientalischen Welt in nähere Verbindung bringt, und von denen er sagt, daß es sich in der Hauptsache und dem Ursprung nach um Erscheinungen einer agrar-mutterrechtlichen Kultur bzw. einer darin wurzelnden lunar-manistischen Religion handelt („Indogermanenfrage“ 313ff.). Zwar betont er, daß diese „südlichen“ Elemente bei den Ariern am deutlichsten seien, daß aber ein gut Teil davon der indogermanischen Einheitszeit angehöre (314). Er verweist auf noch nicht veröffentlichte

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Untersuchungen von Gahs tiber den Ursprung der blutigen Menschen- und Tieropfer (gegenüber den unblutigen Opfern und Weihen von Haus- tieren, Pferd Ren bei den altaischen Hirtenvölkern). Diese seien in Südostasien, Ozeanien, Innernordasien, in Amerika und Afrika nach- zuweisen. Das Menschenopfer gehöre zum Geheimbundwesen und zu einer manistisch-lunarmythologischen Geistigkeit der primitiven agrar- mutterrechtlichen Kulturen. Dabei sei eine ältere Schicht nachzuweisen, zu der die Knabenweihe gehöre und eine jüngere mit Todes- und Sieges- festen. In diesen Kreis gehörten vielleicht auch noch die Opfer im nord- asiatischen Schamanismus, der tibeto-indoiranische Tantrismus und die orientalisch-griechischen Mysterien. Die besonders wichtigen Punkte in der Gahs’schen Arbeit fait dann Koppers S. 316 ff. in a—n zusammen. Es ist, solange die Untersuchungen von Gahs nicht veröffentlicht und damit der kritischen Prüfung zugänglich sind, zwecklos, sich über diese Aufstellungen des weiteren zu verbreiten. Doch kann ich einige kritische Bemerkungen schon hier nicht unterdrücken. Daß z. B. eine klare Be- ziehung des Schweines zum Mond festzustellen sei, scheint mir religions- wissenschaftlich-ethnologisch zunächst unerwiesen. Man kann den Beweis nicht damit bestreiten, daß man die tibetanische Göttin Dorje-P°’agmo („die Donnerkeilsau“) anführt, denn daß diese Mondgöttin ist, müßte noch bewiesen werden. Auch daß die Zerstückelung des Opfers oder im Mythos des Urmenschen mit dem Mondmythos zusammenhänge, ist mir mehr als fraglich. In den Mythen, die wir tatsächlich über die Zerstücke- lung des Urmenschen im indogermanischen Bereich kennen (bei den Germanen und Indoiraniern), ist von einer Mondmythologie auch nicht die geringste Spur.

Dagegen müssen die „südlichen“ Elemente, die Koppers im indoger- manischen Pferdekult und Pferdeopfer aufzuzeigen sich bemüht, einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Koppers redet von einem magischen Weltschöpfungsmysterium bei den Indogermanen und bringt das Pferd damit in Verbindung. Das ist aber bei den Indoger- manen nirgends bezeugt als in dem doch sehr späten Weißen Yajurveda. Diese verhältnismäßig späte indo-arische Entwicklung kann aber nicht für das Indogermanentum als maßgeblich erachtet werden. Dagegen ist der Weltschöpfungsmythos, bei dem ein Urwesen (Kuh, Stier oder Mensch) das Leben spendet oder schöpferisch wirksam zerstückelt wird, bei den Indogermanen sicher vorhanden gewesen. Denken wir an Audh- umla-Ymir bei den Germanen, an Gayomart-Urstier bei den Iraniern, purusa und die Urkuh bei den Indern. Ich glaube auch, daß derselbe Mythos im Timäus des Plato seine Spuren hinterlassen hat. Liegt nun ein Grund vor, hier Entlehnungen der Indogermanen aus einem Süd- kreis anzunehmen? Keineswegs. Vielmehr zeigen die Wurzeln dieses

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ganzen religionsgeschichtlichen Komplexes wie die Knabenweihe und die damit zusammenhängenden Opfer und Mythen bei den Australiern, den Ozeaniern, den Westafrikanern, den Nordamerikanern und Paläo- Sibirern, daß die Grundelemente dieser Opfer und Mythen zu einem sehr alten Bestand der Menschheit gehören. Auch sie gehen womög- lich in die Altsteinzeit zurück und gehören also zu den frühen Ent- wicklungsstufen der Homo-sapiens-Epoche. Koppers bringt auch nicht einen Schatten von Beweis dafür, daß die Indogermanen in ihrem Welt- schöpfungsmythos und den damit zusammenhängenden Opfern in Ab- hängigkeit von einem Südkreis stehen. Welcher sollte das sein? Viel- mehr müssen wir annehmen, daß dieser uralte Bestand von den einzelnen Rassen und Völkern jeweils ihrer eigentümlichen Art entsprechend weiter- gebildet worden ist. Daraus erklären sich bei gemeinsamen Grund- linien die nicht übersehbaren großen Verschiedenheiten in den rassisch und völkisch verschiedenen Bereichen. Man vergleiche doch etwa den Ymir- oder Purusa-Mythos mit den Mythen der Nordamerikaner oder der Paläo-Sibirer. Wo ist da, abgesehen von der allgemeinen Idee der magisch wirksamen Zerstückelung, auch nur irgendeine Einzelähnlich- keit, die auf geschichtlichen Zusammenhang, auf Entlehnung deuten könnte? Gerade die Forschungen von Gahs, soweit sie Koppers uns vor- legt, scheinen mir das Gegenteil zu beweisen. Hier erklärt sich alles viel organischer, sobald man einmal den richtigen Standpunkt, nämlich den im wahrsten Sinne universalgeschichtlichen, einnimmt und nicht in einer dogmatisch verfestigten Kulturkreistheorie befangen bleibt. Man kann gerade bei diesen religionsgeschichtlichen Vergleichen, wie ver- schiedentlich betont, heute keine fruchtbringende Arbeit mehr tun, wenn man nicht die Möglichkeit urgeschichtlicher Voraussetzungen in Betracht zieht und sehr eingehend prüft. Daß Koppers das nie tut, nimmt seinen Darlegungen, trotz der Masse des Materials, das er beibringt, jede Beweiskraft. Wo er auch nur die entfernteste Ähnlichkeit entdeckt, sieht er im Sinne der Kulturkreislehre Ent- lehnung.

Was er dann im einzelnen noch als Beweis „südlicher“ Elemente im indogermanischen Pferdekult und Pferdeopferkomplex auf S. 329 ff. unter 2—23 anführt, sind wieder entweder ganz allgemein magisch- religiöse Grundelemente, die als vorindogermanischer Urbesitz gelten müssen, oder es sind Erscheinungen, die sich nur in Indien finden und deshalb nicht auf die Indogermanen allgemein bezogen werden dürfen. Denn daß die Inder unter „südlichen“ Einfluß geraten sind und auch von den Ureinwohnern manches übernommen haben, ist wohl nicht zu bezweifeln. (Hier möchte ich allerdings nicht versäumen, eine Warnung anzubringen gegen die’ heute oft übliche Art, im Indo-Arischen Vor-

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arisches festzustellen.)1 Wir versagen es uns, wie bei den hirtenkultur- lichen Elementen die einzelnen Punkte durchzugehen, nur auf eine Reihe krasser Willkürlichkeiten, mit Hilfe derer dann die Tabelle wieder schön schematisch gefüllt wird, müssen wir hinweisen.

Die von Koppers aufgestellten 23 Punkte (sie sind im Buche nach- zulesen), finden sich auch nach ihm nur bei den Indern. Nach der Ta- belle sollen dann die Iranier mit den Indern übereinstimmen in 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 (mit Fragezeichen), 12 und 13. Unter 5 gibt Koppers das tapas- und Wiedergeburtsmotiv an, das er im Iran und bei den Germanen findet, weil auch dort der Schweiß im Schöpfungsmysterium eine Rolle spielt. Dies könnte noch hingenommen werden. Aber 6, das „magische“ Moment, ist etwas so Vages, daß es bedeutungslos ist. 7, Prajäpati hat in Iran nichts Ähnliches. 8, daß Indra früher Adressat des Pferdeopfers gewesen sei, ist möglich, aber nicht sicher. Dagegen hat Vorathragna nichts mit Pferdeopfer zu tun, so wenig wie Indra lunar-mythologisch zu fassen ist. Wenn etwas sicher ist, so dies, daß erkeinMondgott ist. Die Beziehungen Indras zu Soma haben nichts mit dem Mond, sondern mit dem Rauschtrank zu tun. Daß (unter 9) Varuna früher mit dem Roßopfer zu tun hatte, mag stimmen, aber wo ist im Iranischen eine Spur davon (es wäre schön, ein solches Beispiel zu finden!), daß der entsprechende Gott mit dem Roßopfer verknüpft ist? Das Fruchtbar- keitsmotiv (10) ist ein so allgemeines bei einem jeden großen, wichtigen Opfer, daß dies nichts beweist. Wir sehen also, daß zwar die Zahlen von 5—13 für die Iranier in der Tabelle stehen; schauen wir aber nach den entsprechenden Tatsachen, so sind sie nicht vorhanden. Es ist die- selbe Methode, ja noch vager, wie die bei den hirtenkulturlichen Ele- menten.

Unter 11 haben wir das Ersticken des Opferpferdes, wie es in Indien, aber auch bei den Altaiern geübt wird. Bei den Iraniern findet sich davon, wie schon gesagt, keine Spur. Dafür setzt aber Koppers in der Tabelle S. 366 die Germanen ohne Fragezeichen ein. Man staunt und sieht sich nach einem Beweis um. Der Beweis aber (350) ist dies, daß Odin ja auch der Gott der Gehenkten sei! Dann allerdings greift man sich an den Kopf. Das Ersticken des Opferpferdes unter Tüchern in Indien habe in Germanien eine Parallele, weil Odin der Gott der Gehenkten ist! Bei dieser Art, „Parallelen“ festzustellen, verschlägt

ı Ich sehe eben bei der Fertigstellung dieses Aufsatzes, daß H. v. Glase- napp in einer Besprechung meines I. Teiles, Glaubensgeschichte der Indoger- manen von „neueren Forschungen“ spricht, die an Herkunft des Yoga usw. aus dem vorarischen Indien denken ließen. Ich habe aber gegen diese vor- geblichen Forschungen ebendort 279 Stellung genommen. Damit müßte sich v. Glasenapp auseinandersetzen und nicht einfach die alten Behauptungen wieder- holen. aoe?

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es einem allerdings etwas den Atem. Ebenso schlimm ist es, wenn er für 11 die Römer in seiner Tabelle einsetzt. Warum? Grund S. 350: es gab dort auch eine Tötungsart mit dem Spieß! Hat man bei den Römern vielleicht den Spieß gar zum Erdrosseln benutzt? Koppers scheint das anzunehmen. Mit solchen Parallelen aber füllt er seine Ta- belle, für die dann Kritiker sogar glauben, ihre Dankbarkeit aussprechen zu müssen, weil sie leider die Einzelheiten nicht nachgeprüft haben. Diese Beispiele mögen genügen zur Begründung meiner Behauptung, daß die _ Koppers’sche universalgeschichtlich- ethnologisch -religionsgeschichtliche Vergleichsmethode nicht den Anspruch erheben darf, wissenschaftlich zu sein, so wie wir es nach strenger Methode fordern müssen.

Koppers faßt auf S. 405 seine Darbietungen dahin zusammen, daß die Ergebnisse dieser Untersuchung für eine Ostthese günstiger seien als für eine andere. Ich hoffe aber, klar gemacht zu haben, daß diese Art von „Beweisführung“ für eine Klärung der Urheimatfrage der Indogermanen ungenügend ist. Der Wert dieser Studie von Koppers liegt auch nicht darin, daß er für die Frage der Urheimat der Indo- germanen etwas Wesentliches beigebracht hätte, sondern in dem aus- gedehnten Material, das er vorlegt. Solange aber zu dieser außer- ordentlichen Belesenheit nicht eine strengere Methode tritt, kann uns Koppers in dieser nicht immer leichten Frage, die nach seinen eigenen Worten des Schweißes der Edlen wert ist, nicht weiterhelfen. Vielleicht darf ich hoffen, daß diese meine Kritik Koppers anregt, seine Methode straffer zu gestalten.

Sehr wichtig wäre es noch, das 8. Kapitel seiner Studie, in welcher er Beziehungen der Indogermanen zur kleinasiatisch-kaukasi- schen und altorientalischen Welt, besonders auch in der Re- ligion, aufzuzeigen sucht, im einzelnen kritisch zu beleuchten. Bei dem geringen Raum, der mir zur Verfügung steht, muß ich mich beschränken, denn hier müßte sehr ausführlich gehandelt werden. Koppers kommt noch einmal auf den germanisch-arischen Mythos einer Urkuh (eines Ur- stieres) zurück, der ja mit dem Schöpfungsmythos verbunden ist. Es ist immerhin auffallend, daß dieser Mythos sehr klar auch bei den Nord- germanen auftaucht, während er sonst weithin bei den Indogermanen zu fehlen scheint. Hier vermutet Koppers besonders enge Beziehungen zwischen der altorientalischen und der germanischen Welt. Ich glaube nicht, daß dies angenommen werden darf. Vielmehr liegt es so, daß dieser Mythos über die ganze zirkummediterrane Welt verbreitet ist. Daß er eine gemeinsame Wurzel hat, die im Domestikationszentrum des Rindes liegt, ist klar. Es ist aber nicht erwiesen, daß Vorderasien die Urheimat der Rinderzucht ist. Dieses Domestikationszentrum kann also gut in der von uns angenommenen Urheimat der Indogermanen liegen, wo schon

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zur Kjökkenmöddingerzeit das zahme Rind nachgewiesen ist. Hier muß die Wurzel des germanischen Mythos von der Urkuh gesucht werden, der übrigens, wie ich glaube, zeigen zu können, seine Spuren überall bei den Indogermanen hinterlassen hat (auch Hera ist Kuh, wie Zeus Stier; auch der Juno werden Kühe geopfert!) Hier ist aber ferner die Mög- lichkeit zu erwägen, ob der Urkuh-Urstier-Mythos nicht seine Wurzeln in einem alteurasischen Rindmythos hat, der möglicherweise schon mit dem Wildrind verknüpft war. Denken wir an die eiszeitlichen Zeich- nungen und Malereien. Im Züchtungszeitalter des Rindes konnte sich dann dieser Mythos in den verschiedenen Domestikationszentren weiter entwickeln. Selbst Opferriten sind für jene Zeit nicht ausgeschlossen. Eiszeitliche Funde weisen jedenfalls auf einen Bärenkult hin, bei dem auch rituelle Tötung der Bären stattgefunden hat. Um mit Beziehung auf den Urkuh-Urstier-Mythos Abhängigkeit der Indogermanen von Vorderasien nachweisen zu können, müßte zuerst der Nachweis erbracht werden: erstens, daß die Rinderzucht in Vorderasien allein beheimatet ist, zweitens, daß mit dieser Rinderzucht der Mythos vom Urrind und Urstier eben dort geschaffen worden ist. Aber diese Frage faßt Koppers gar nicht an. |

Daß zwischen den Gestalten des Adad-Teschub in Vorder- und Kleinasien und Indra-Mithra (und zwar „für Mithra in seiner späteren Gestalt, nachdem er Indras Züge angenommen hatte“) gewisse Ähnlich- keiten und Übereinstimmungen bestehen, soll nicht verneint werden (wo- bei wir allerdings die Frage nicht unterdrücken können, welchen späteren Mithra, der Indras Züge angenommen haben soll, Koppers denn meint). Aber neben den Ähnlichkeiten (Verbindung mit Stier und Fruchtbarkeit) stehen doch so große Verschiedenheiten, daß eine gegenseitige Abhängig- keit wiederum schwer auzunehmen ist trotz der Tatsache, daß ja die Indo- Iranier in allernächster Nachbarschaft der altorientalischen Welt ihre frü- heste Kultur geschaffen haben und gegenseitige Entlehnungen fast selbst- verständlich sind. Zunächst einmal können Mithra und Indra nicht einfach miteinander verglichen werden, weder in ihrem Ursprung, noch in ihrer weiteren Entwicklung. Indra ist ursprünglich sicher auch Fruchtbar- keitsgott, wird ja aber dann in erster Linie Kriegs- und Wettergott. Mithra ist ursprünglich ein mit dem Himmelsgott eng verknüpfter Licht- gott und ist nie in dem ausgesprochenen Sinne wie Indra Kriegs- und Wettergott, sondern Schöpfer- oder Fruchtbarkeitsgott im allgemeinen geworden. Adad-Teschub aber sind Himmelsgottheiten, die in ganz be- sonderer Weise zu Sturm und Wetter Beziehung haben. Abhängigkeit der einen von der anderen Gestalt kann durch kein besonderes Merk- mal zwingend erwiesen werden. Vielmehr handelt es sich hier (z. T. um sehr verschiedene) Gestaltungen eines Licht-, Himmels- und Wetter-

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gottes, die ihre Prototypen in viel älterer Zeit haben, als die Rassen- und Völkerkreise noch nicht so streng voneinander getrennt waren. Bestünden wirkliche Beziehungen in diesen Gestalten zwischen der indogermanischen und der vorderasiatischen Götterwelt im Sinne der Entlehnung, müßten doch auch wieder Einzelheiten aufgezeigt werden können. Koppers versucht solche Einzelheiten zu geben (S. 378). Er vergleicht die drei Ähren, die aus dem Schwanz des Mithra-Stiers (der ja als Weltschöpfungsopfer geschlachtet wird) herauswachsen und die 55 Getreidearten, welche aus dem Körper des von Ahriman getöteten Urstieres hervorgingen, mit den Ähren, die der syrische Wettergott in der Hand hält. Aber haben wir hier nicht wieder eine jener allgemeinen Ähnlichkeiten: Ähren als Symbol der Fruchtbarkeit der Erde, die vom Wettergott beregnet wird und auf der anderen Seite die Ähre als Symbol der sprossenden Erde, d. h. ihrer Urkraft selbst. Was hier gleich ist, ist die Ähre als allgemeines Symbol der Frucht- barkeit, alles andere ist wiederum verschieden.

Wir wollen hier gleich Stellung nehmen zu den religionsgeschicht- lichen Ausführungen Nehrings, Indogermanenfrage 390 ff, der sich mit denselben Problemen beschäftigt. Nehring hat, wie zu zeigen sein wird, die Tendenz, die nach Koppers nicht aus Innerasien stammenden hirtenkulturlichen Elemente bei den Indogermanen aus dem kaukasisch- alt-orientalischen Kulturkreis abzuleiten: Von dort stammt auch der Glaube an die Erdmutter. Der indogermanische Donnergott ist der von Kleinasien entlehnte Teschub, der Himmelsgott stammt aus Asien usw. Sucht man nach Beweisen, so finden wir dieselbe Methode: Allgemeinste, entfernteste Ähnlichkeiten und bei Nehring noch oft sehr erzwungene sprachliche Vergleiche zwischen dem Kaukasischen und Indogermanischen. Die Große Mutter ist ganz sicher eine alteuro- pide Gestalt, wie die Statuetten der Altsteinzeit zeigen.! Sicher hat diese alteuropide Gestalt im kaukasisch-kleinasiatischen Bereich eine besondere Blüte erlangt. Die Muttergottheit fehlt aber auch nirgends im Indogermanischen, und es ist unnötig, sie aus Kleinasien abzuleiten, denn die Wurzeln des Indogermanentums stecken, wie wir gesehen haben, ja auch im alteuropiden Kulturkreis. Und warum sollten die Indogermanen nicht von sich aus einen Wettergott gekannt haben? Hat es bei ihnen vielleicht sogar, im Unterschied von Kaukasien und Kleinasien, nicht einmal gewittert? Hier legen wir den Finger auf einen sehr wunden Punkt in dieser ganzen sprachgeschichtlich-kultur- kreislichen Methode: der eigenen Schöpferkraft der Völker wird -gar nichts zugetraut, (eine Ausnahme machen nur die Innerasiaten und die

ı Vgl. dazu Eberts Reallexikon der Vorgeschichte VII, Taf. 98/99, und die Tonplastiken von Butmir, Ebert II, 244 usw.

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Kaukasier!). Alles muß irgendwie entlehnt sein. Als ob nicht das Er- lebnis des Gewitters im Zusammenhang mit dem, wie wir festgestellt haben, uralten, Himmelsgottglauben mit innerer Notwendigkeit in jedem großen rassischen und völkischen Bereich eben einen Gewittergott hätte entstehen lassen. Ihn finden wir auch bei den westafrikanischen Negern und bei vielen anderen primitiven Völkern. Es wird aber niemand ein- fallen, den indogermanischen oder vorderasiatischen Gewittergott von dort herzuleiten und umgekehrt.

Der sprachgeschichtliche Versuch Nehrings, über Perkünas- Phorkys-Porkos den indogermanischen Gewittergott mit Kleinasien zu verknüpfen wegen des Wechsels von II und 9, der nach Nehring typisch kleinasiatisch sein soll, ist nach meiner Ansicht wirklich nicht ernst zu nehmen. Phorkys und Porkos können wohl indogermanische Wörter ver- schiedener Schichten sein, deren Wandel von TI zu ® durch verschiedene Aussprache nicht unmöglich zu erklären ist. Der phonetische Wert von Din dem Namen müßte zuerst festgestellt werden. Auf solchen schwachen Grundlagen darf man so schwerwiegende Behauptungen nicht aufbauen.

Viel wichtiger scheint mir hier wieder die Anwendung der wirk- lich universalgeschichtlich-vorgeschichtlichen Betrachtung zu sein, nach der die Frage aufgeworfen werden kann, ob nicht in den Worten Te- schub, Ten-gri, Tien usw. vielleicht derselbe Stamm steckt wie in dem indogermanischen Wort für Himmel, wobei dann die Möglichkeit in Betracht gezogen werden muß, daß dieser Stamm in vorindogermanische d. h. in die alteuropide Zeit vor der Trennung in die geschichtlich faßbaren Einzelsprachen zurückgeht, ebenso wie die Frage erwogen wer- den mag, ob in dem Namen der kleinasiatischen Muttergöttin He-pa nicht dasselbe Wort steckt wie in I7 Mé&, was ja wohl beides Mutter Erde heißt. Könnten dagegen Entlehnungen wahrscheinlich gemacht werden, müßte in erster Linie, da das Wort *dicos usw. aus dem indo- germanischen Wortschatz erklärt werden kann (Wurzel *dei, di usw.), an eine solche aus dem Indogermanischen in die anderen Sprachen gedacht werden, nicht umgekehrt.

Wenn Koppers weiter zur Stützung seiner These der religionsge- schichtlichen Beeinflussung der Urindogermanen durch die kaukasisch- vorderasiatische Welt mögliche sprachliche Zusammenhänge zwischen dem Indogermanischen und Kaukasischen (im Anschluß an Uhlenbeck, Robert Bleichsteiner und andere) anführt, so ist dazu wie zu allen diesen und ähnlichen Thesen (auch den Nehring’schen Aus- führungen) zu sagen: Wo solche Zusammenhänge wirklich bestehen, muß in erster Linie die Möglichkeit eines alteuropiden Zusammen- hanges vor der strengen Trennung der beiden Rassen- und Sprach- kreise gedacht werden, wie auch mit Beziehung auf das Semitische, für

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das ja Möller schon längst überzeugende Zusammenhänge mit dem Indo- germanischen nachgewiesen hat.! Wenn je geschichtliche Übertra- gungen stattgefunden haben, so kann dies nur für einzelne Lehn- oder Wanderwörter angenommen werden. Eine Beeinflussung der ur- indogermanischen Sprache in ihrer Gesamtstruktur durch das Kaukasische ist ausgeschlossen! Dazu sind die Ähnlichkeiten denn doch zu geringfügig. Jedenfalls läßt sich aus diesen keine kulturell- religionsgeschichtliche Abhängigkeit der Indogermanen von den Kau- kasiern und Altorientalen erweisen. Zudem muß bei nachgewiesenen Entlehnungen immer wieder die Frage aufgeworfen werden, wer denn die Gebenden und wer die Nehmenden waren. (Mit welcher Selbst- verständlichkeit wird im allgemeinen angenommen, das Sumerische gud= Kuh, sei ins Indogermanische übergegangen, statt umgekehrt, trotz der Tatsache, daß das d eine sumerische Femininendung ist, also zu dem indo- germanischen gu hinzugefügt wurde, währemd bei umgekehrter Entleh- nung der Verlust des d nicht erklärt werden könnte.) Ich möchte hier auf eine wirkliche Parallele hinweisen, die Koppers offenbar nicht kennt, und die so frappant ist, daß gegenseitige Abhängigkeit schwer geleug- net werden kann. Bei dem Stieropfer in Altbabylonien, das am Neujahrs- fest vorgenommen wird, wird mit dem Fell des Opferstieres die Kessel- pauke bespannt (Koppers 375). Ganz denselben Brauch haben wir im indo-arischen Mahävrata.” Koppers würde hier selbstverständlich an- nehmen, daß die Indogermanen diesen Brauch von den Altbabyloniern entlehnt haben. Nun haben aber die neueren Forschungen die Anwesen- heit der Indogermanen in Mesopotamien schon für das 4. Jahrtausend, wenn nicht früher, erwiesen. Gertrud Hermes in ihrem Aufsatz über „Das gezähmte Pferd im alten Orient“ ist der Meinung auf Grund von Darstellungen, daß die damals in Mesopotamien auftauchenden, schon mit Kriegswagen fahrenden Pferdezüchter nur Indogermanen gewesen sein können. Ich stimme ihr zu, denn Semiten können es nicht gewesen sein; diese haben nachweislich das Pferd von den Indogermanen über- ‚nommen. Aber auch Innerasiaten kommen nicht in Betracht, denn diese sind nicht Wagenfahrer, vor allem nicht Kriegswagenfahrer, son- dern Reiter.

1 Zur Kritik der sprachgeschichtlichen Methode Nehrings vgl. die einge- hende Besprechung seines Beitrages von G. Deeters in K. Z. LVI (1938) 2. H., 188 ff., der u. a. nachweist, daß N. teilweise mit Wörtern operiert, die es gar nicht gibt. Vgl. zu diesen Fragen auch HF II, 45—198.

2 Vgl. J. W. Hauer, Der Vrätya. Untersuchungen über die nichtbrahma- nische Religion Altindiens (Stuttgart 1927) 253 f. Vgl. auch W. F. Albright and P. E. Dumont, A parallel between Indic and Babylonian sacrificial ritual (JAOS 54, p. 107—128).

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In diesem Zusammenhang ist die weitschichtige Frage der bunt- keramischen Kultur rings um das Kaspische Meer, die sich schon im 4. Jahrtausend, wenn nicht noch früher bis nach Südmesopo- tamien verbreitet hat, zu stellen.! Ich werde diese zirkumkaspische Kultur, wie ich sie nennen möchte, in meinem II. Teil „Glaubens- geschichte der Indogermanen“ ausführlich behandeln und den Nachweis versuchen, daß sie, wenigstens was die Herrenschicht anbelangt, von Indogermanen getragen war. Das heißt also, wir haben mit der Anwesenheit von starken indogermanischen Elementen in Mesopotamien schon spätestens im 4. Jahrtausend vor Christus zu rechnen. Die Bunt- keramik Südmesopotamiens steht in Abhängigkeit von derjenigen in Anau. Für die Zugehörigkeit dieser Kultur zu dem Kreis der Indo- germanen, selbstverständlich der fernsten Ostindogermanen, spricht in erster Linie die Tatsache, daß überall da, wo wir in der transkaspischen Kultur, zu der Anau gehört, wie auch in Susa und Mussian anthropo- logische Reste haben, diese mit höchster Wahrscheinlichkeit, wenn . nicht mit unbedingter Sicherheit, der nordischen Rasse zuzurechnen sind. Wenn also die Kesselpauke beim Stieropfer tatsächlich von einem - völkischen Bereich in den andern gegangen ist, so sind die Gebenden eher die Indogermanen, die Empfangenden die Babylonier gewesen. Die altbabylonische Kultur ruht auf jener buntkeramischen, die wir nach Anau zurückverfolgen können. Und Anau selbst, d. h. die gesamte trans- “"kaspische Kultur des 4. und 3. Jahrtausends, enthält die Voraussetzung für die indo-arische und die iranische Kultur. Ja, der Schluß liegt sehr nahe, jene durch Jahrtausende hindurch dauernde, außerordentlich fried- liche Kultur Transkaspiens der indo-iranischen Einheitszeit zuzuschreiben, in der Varuna oder der ihm entsprechende Hochgott als Samraj in Frie- den geherrscht hat, so daß das große Schlüsselwort jener Zeit riam = aša „Weltordnung und Rechtsordnung“ überhaupt war. Unter diesen neuen Gesichtspunkten muß die Indogermanenfrage und ihr Zusammen- hang mit der kaukasisch-altorientalischen Welt betrachtet werden.

Wir haben versucht, den Forderungen von Koppers, universalge- schichtlich-ethnologisch zu denken und zu vergleichen, nachzukommen. Dabei mußten wir aber feststellen, daß er selbst diesen seinen Forde- rungen nicht gerecht wird, und daß man, sobald man sie ernst nimmt, zu ganz andern Resultaten kommen muß als zu den seinigen.

1 Vgl. dazu Ernst Herzfeld, Völker- und Kulturzusammenhänge im alten Orient (Berlin 1928), ebenfalls Hubert Schmidt, Die Buntkeramik des Susa- Kreises in der Oppenheim-Festschrift 97 ff., ferner die Ausführungen von Reche in dem obengenannten Buch 183 f.

2 Vgl. dazu C. U. Ariens Kappers, An introduction to the anthropology of the Near East (Amsterdam 1934) 94 ff.

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Die positive Widerlegung der Aufstellungen von Koppers muß selbst- verständlich, wie schon gesagt, in einer besonderen Abhandlung über die Herkunftderindogermanischen Pferdezucht und derindo- germanischen Viehzucht überhaupt und des damit zusammen- hängenden Ackerbaues gegeben werden. Dafür ist in diesem Auf- satz kein Raum. Doch will ich hier meine Auffassung, die ich in den angekündigten Kapiteln eingehend begründen werde, kurz darlegen. Erstens: die indogermanische Pferdezucht kann unmöglich von der inner- asiatischen Reiterhirtenkultur abgeleitet werden, weil erwiesen ist, daß das Pferd bei den Indogermanen ursprünglich nicht zum Reiten, sondern vör dem Wagen benützt wurde. Dafür haben wir schon das sprachliche Zeugnis, daß es kein gemeinindogermanisches Wort für Reiten, wohl aber für Fahren gibt. Ferner hat Gertrud Hermes in den schon er- wähnten Aufsätzen den Beweis dafür geliefert, daß die in Vorderasien schon im 4. Jahrtausend festzustellenden Pferdezüchter Wagenfahrer waren. Zu demselben Schluß kommen wir, wenn wir die Ausgrabungen von Tell-Halaf heranziehen, wo auf der bemalten Keramik ebenfalls Pferde vor dem Kriegswagen vorkommen, die sich dann auf den Siegeln von Kültepe wiederholen.! In diesen östlichen Bereichen ist wohl auch zum erstenmal dann das Reiten aufgetaucht (dafür ein Beweis die Knochenritzung, die Amschler beibringt), welches, wie schon erwähnt, wohl durch die innerasiatische Reiterhirtenkultur angeregt gewesen sein mag. Ferner haben wir in dem Bereich, den wir als die Urheimat der Indogermanen ansehen, schon aus sehr früher Zeit Funde von Pferde- knochen wie z. B. diejenigen des Kolsan-Fundes, ferner den Schädel aus dem Uellstorp-Bach usw.” Daß das Wildpferd in Schweden um diese Zeit nicht vorgekommen sein soll, ist unerwiesen. Daß es aber unmittel- bar südlich davon in dem trockenen Boreale des 7., 6., 5. Jahrtausend noch wild gelebt hat, ist durch Funde bewiesen, denn in der sogenannten Rhinlochkultur (Havelland) sind neben Knochen von Wolf, Bär, Katze, Wildschwein, Reh usw. auch Pferdeknochen gefunden worden. Und es liegt kein Grund vor, an Einführung aus dem Osten zu denken (Ebert, Reallex. der Vorg. XI, 128). Im östlichen Europa lebte das Pferd noch wild bis weit hinein in geschichtliche Zeit. Ferner ist darauf hinzu-

1 Vgl. dazu neben den erwähnten Aufsätzen von Gertrud Hermes, Freiherr von Oppenheim, Der Tell Halaf (Leipzig 1931) unter „Pferd“, zusammen mit den Tafeln der Buntkeramik. Ferner Eduard Meyer, Reich und Kultur der Che- titer (Berlin 1914) 54 ff. mit der dazugehörigen Tafel, und den Aufsatz Amschlers im Koppers’schen Buch, Die ältesten Funde des Hauspferdes 497—516.

2 Vgl. Flor, Haustiere und Hirtenkulturen 153; B. Schnittger, Feuerstein- gruben und Kulturlager bei Kvarnby und Sallerup (Präh. Zeitschrift II [1910] 178 ff.).

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weisen, daß der Hauptpferdetyp bei den Indogermanen nicht das mon- golische Przewalski-Pferd ist, sondern der Tarpan, der in der geschichtlichen Zeit noch in den siidrussischen Steppen lebte. Ganz sicher können wir die älteste Pferdezucht in Anau nachweisen.! Da wir als die Träger der Anau-Kultur Indogermanen annehmen müssen, fassen wir hier ein Zentrum der frühen indogermanischen Pferdezucht, das irgendwie mit dem uralten Viehzüchtertum der Indogermanen zu tun haben muß, wenn sie auch das Przewalski-Pferd eingekreuzt hat. An diesem alten Viehzüchtertum haben sicher auch die Finno-Ugrier teil- gehabt, weshalb ja Flor in seinem Aufsatz HFI die indogermanische Pferdezucht in Verbindung mit den Proto-Uraliern bringt. Dies scheint mir aber nicht nötig zu sein. Die Wurzeln dieser Viehzucht liegen noch in der Zeit vor der Trennung der beiden Völkergruppen. Daß das ge- zähmte Pferd erst gegen Ende des Neolithikums und zu Anfang der Bronzezeit in Europa eingeführt worden sei, wie Gertrud Hermes in ihrem zweiten Aufsatz will, ist meiner Ansicht nach unmöglich. Der Gebrauch der Trense in so früher wie der bandkeramischen Zeit wider- spricht dem, denn vor der Trense liegen entwicklungsgeschichtlich eine Reihe von andern Arten der Lenkung des Pferdes.?

Ebenso wie die Pferdezucht muß auch die Rindviehzucht in der Urheimat der Indogermanen bis ans Ende der Mittelsteinzeit zurück- gehen, eben in jenen nordwesteurasischen Kreis, wo der Hund als frü- hestes Haustier und der Schlitten und die Schleife als Beförderungs- mittel nachgewiesen sind.” In diesen Kulturen ist übrigens auch das Prinzip des Rades zu finden, das dann in Verbindung mit der Last- schleife zur Entwicklung des Wagens führt. Das Rad scheint zu den großen Entdeckungen des Frühindogermanentums zu gehören, denn es spielt im Mythos der Indogermanen eine bedeutende Rolle. Wie die in- dogermanische Viehzucht, so hat auch der indogermanische Ackerbau seine Wurzeln in der Alt- und Mittelsteinzeit.* Hier in diesem Raum

ı Vgl. darüber Ulrich Duerst, The horse of Anau in its Relation to History and the Races of Domestic Horses (Exploration in Turkestan. Prehistoric Civi- lizations of Anau II, 73 [Washington 1908]) 401—431 u. Amschler a. a. O.

2 Während der Drucklegung dieser Arbeit erhielt ich einen kurzen Bericht über die Ausgrabungen am Dümmer (Oldenburg— Hannover), nach dem die aus einer Siedlung der Ganggräberzeit zutage geförderten Knochenfunde eindeutig den Nachweis des gezähmten Pferdes für diese Epoche gebracht haben (Ger- manenerbe H. 11 [1938] 350).

s Vgl. dazu Menghin a. a. O. 119 ff. u. 227 ff. mit den dazugehörigen Tafeln.

+ Vgl. dazu Menghin a.a.0. 236 ff. und jetzt die schöne Zusammenstellung in der Zeitschrift ,Germanien“: Beitrag zur Urgeschichte des Getreidebaues H.7 (Juli 1937) 200ff. und F. Mühlhofer, Pflanzenbau während der Eiszeit H. 1 (Januar 1938) 11 ff.; H. 2 (Februar 1938) 56 ff.

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ist auch der älteste Pflugbau nachzuweisen, denn der Holzpflug von Walle ist nach der Pollenanalyse in die Mitte des 4. Jahrtausends zu setzen. | | Ä Mit dieser Kulturentwicklung im Frühindogermanentum hängt auch der Hausbau zusammen, der wiederum am frühesten in Nordwesteuropa festzustellen ist. Wir haben schon in der Duvensee- und Maglemose- Kultur, die ganz klar in die Mittelsteinzeit gehören, Beweise für feste Siedlungen. Dies spiegelt sich ja auch, wie wir sehen werden, in der Sprachgeschichte wider. Betrachten wir also Vorgeschichte und ver- gleichende Ethnologie unvoreingenommen, so ergibt sich der Schluß, daß wir für die großen Kulturgüter der Viehzucht, des Ackerbaues und des Hausbaues, also der Seßhaftigkeit, nicht über die Grenzen der von uns angenommenen indogermanischen Urheimat hinauszugehen brauchen. Wir haben genügend Funde, die wahrscheinlich machen, daß dieser ganze Komplex sich hier selbständig entwickelt hat, selbstverständlich auf einer älteren Grundlage, die er mit andern Bereichen, nämlich dem uralischen und vielleicht auch dem innerasiatischen, gemein hat.

IV. DER SPRACHGESCHICHTLICHE BEITRAG ZUR FRAGE DER URHEIMAT DER INDOGERMANEN!

Die andern Beiträge des Buches, die demselben Zwecke dienen, nämlich eine Ostheimat der Indogermanen zu erweisen und die in erster Linie auch auf sprachgeschichtlichen Ausführungen fußen, sind für die Betrachtung der Gesamtmethode nicht weniger bedeutsam.

1. BRANDENSTEIN

Brandenstein hat zur Lösung der Urheimatfrage ein sehr anregen- des Werkchen veröffentlicht „Die erste ‚indogermanische‘ Wanderung“ (Klotho 2,Wien 1936). Die Bedeutung dieser Arbeit liegt darin, daß Branden- stein den methodisch wichtigen Versuch unternimmt, Schichten in der

ı Während der Drucklegung dieser Abhandlung wurde mir durch die Freund- lichkeit des Indogermanisten F. Specht dessen ausführliche und kenntnisreiche Arbeit: Sprachliches zur Urheimat der Indogermanen, die eben in der K. Z. erscheint, zugänglich, Seine äußerst scharfe Kritik an Nehring und Branden- stein trifft sich weithin mit der meinigen, die ohne Kenntnis dieser Arbeit geschrieben war. Auch die Kritik von E. Benveniste in Nr. 114 des Bulletin de la Société de linguistique de Paris (1937) 30—34, auf die mich mein Kollege Wüst aufmerksam gemacht hat, ist ähnlich scharf und in vielem ablehnend wegen der gewagten Hypothesen und Willkürlichkeiten der beiden Forscher. Benve- niste steht aber sicher nicht im Verdacht, von irgendwelchen weltanschaulichen Gründen bestimmt zu sein!

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Entwicklung des Indogermanischen herauszuarbeiten und durch Unter- suchung von Bedeutungsfeldern ein Gesamtbild der indogermanischen Kultur zu gewinnen. Er hat dann diese Arbeit fortgesetzt in einem aus- führlichen Aufsatz in dem Koppers’schen Sammelwerk: „Die Lebens- formen der Indogermanen“ (S. 231—277). Im ersten Werk kommt er, wie schon erwähnt, zu dem Resultat, daß die nordwestliche Kirgisen- steppe als Urheimat der Indogermanen anzusehen sei, während der spät- indogermanische Raum weiter nach Westen, im sumpfigen Gebiet der Rokitno-Sümpfe, liege. Wir haben schon auf die Fehlerquelle dieses falschen Schlusses "hingewiesen, nämlich die Unkenntnis betreffs der Klimaveränderungen im eurasischen Raum seit der Mittelsteinzeit. Damit ist die Beweisführung Brandensteins ja hinfällig.

Es ist aber doch auch nötig, zur Kennzeichnung der Methode Bran- densteins Einzelheiten zu betrachten. Wenn er z. B. S. 81 (Klotho) die Behauptung aufstellt (auf Grund der sprachgeschichtlichen Vergleiche), alle typisch europäischen Tiere und Pflanzen fehlten im frühindogermanischen Raum, muß man sich sehr wundern, wie er überhaupt hier Willkürlichkeit an Willkürlichkeit fügt. So ist z. B. seine Behauptung, das Wort für Buche sei ein Fremdwort, doch völlig unerwiesen (vgl. dazu Walde II, 128). Daß es nur westindogermanisch (und vielleicht kurdisch) bezeugt ist, erklärt sich wiederum aus dem Klima- und Florawechsel. Die Buche marschiert (nach den Ergebnissen der Pollenanalyse) tatsächlich erst im Laufe des Atlantikums in die von uns angenommene Urheimat der Indogermanen ein, als die ,,Arier“ im engeren Sinne schon längst nach Osten abgewandert waren. Sie haben die „Buchenzeit“ in Europa nicht mehr miterlebt. Dagegen haben wir in der Mittelsteinzeit, also in der Zeit der Entstehung des Urindogermanen- tums, durch die Pollenanalyse diejenigen Hauptbäume nachgewiesen, für die wir durchgehende gemeinindogermanische Entsprechungen haben. Wir haben ein gemeinindogermanisches Wort für Baum allgemein (Walde I, 804), das wohl ursprünglich Eiche „das Harte“ bedeutete, denn dies war der vorzüglichste Baum dieses Raumes im 6. und 5. Jahrtau- send („Eichenzeit“!). Ferner gibt es dann ein besonderes Wort für Eiche (Walde II,47). Dieses Wort wurde dann in Indien auf den vor- nehmsten Baum, die ficus religiosa übertragen. Ferner haben wir ein Wort für einen Harzbaum (Walde II, 74), ebenso für ein elastisches Holz (Walde I, 825), wohl die Lärche.! Ebenso haben wir ein Wort für Birke (Walde II, 170). Diese Bäume sind ganz typisch „euro- päische‘ Bäume, d.h. solche, die in Mittel- und Nordwesteuropa für jene Zeit charakteristisch sind, die wir als die frühindogermanische be-

ı Vgl. dazu Brandenstein, Klotho 63 ff.

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trachten miissen. Brandenstein konnte zu seiner Behauptung nur darum kommen, weil er von Klima und Flora jener Zeit nichts wußte. Er legt S.63 ff. Nachdruck darauf, daß wir kein gemeinindogermani- sches Wort für Urwald haben. *venom (Walde I, 259) bedeutet nicht Urwald, sondern schütterer Wald (da in germanischen Sprachen das Wort auch für Weideplatz steht). Das soll gegen eine Westheimat der Indogermanen sprechen. Hier unterliegt Brandenstein demselben Irr- | tum, dem viele Sprachwissenschaftler unterliegen, wenn sie für das vor- geschichtliche West- und Mitteleuropa zu allen Zeiten die Vorstellung eines dichten Urwaldes haben. Die Klima- und Floraforschung zeigt uns aber, daß das falsch ist. Das Wort *venom paßt ganz ausgezeichnet auf den europäischen Wald, der in der von uns angenommenen frühindo- germanischen Zeit des 6. und 5. Jahrtausends vorherrschte. Denn wir haben hier keineswegs einen dichten Urwald, sondern einen ganz lichten parkartigen Wald, in dem genügend Raum für Unterholz (z. B. Hasel) und Weideplätze war.! Also alles, was Brandenstein aus dem Wort *venom gegen eine Westheimat herausdestilliert, ist hinfällig, weil er die Tatsachen nicht kennt.

Bei den Tiernamen steht es ebenso. Wir haben ein ER germanisches Wort für Elch, für Schwein, für Wolf, für Fuchs, für Bär, für Hirsch, für Hase, für Maus, für Wiesel, für Iltis, für Eichhörnchen, für Biber und Hischotte?? also typisch „euro- päische‘“ Tiere, wenn diese auch nicht auf Europa beschränkt sind. Oder welche „typischen europäischen Tiere“ könnte denn Brandenstein meinen ? Der Elch verlangt überdies eine nördliche Heimat, er ist in der Mittel- steinzeit noch im indogermanischen Raum anzutreffen, aber schwerlich in der Kirgisensteppe. Die Behauptung, der Auerochse fehle, ist wieder eine der Willkürlichkeiten von Brandenstein. Selbst wenn die Zusammen- stellung Hirts germ. urus usw. nicht zu Recht besteht, haben wir doch den gemeinindogermanischen Ausdruck *g*oy (Walde I, 696), der ganz allgemein Rind, auch das Wildrind (Ur, Auerochse, wie noch gauk im Sanskrit) bezeichnet. Daraus, daß wir keinen besonderen indogermani- schen Namen für den Auerochsen feststellen können, kann doch nicht abgeleitet werden, daß er fehle. Zusammenfassend: Wir können auf Grund der Sprachforschung durchweg eine Fauna feststellen, die dem entspricht, was wir aus der Vorgeschichte für den frühindogermanischen Raum erschließen können. | Brandenstein (Koppers 239) stellt weiter die Behauptung auf, im

Frühindogermanischen sei nichts von einer Jägersprache zu finden 1 Vgl. dazu das oben angegebene Büchlein von v. Bülow, Wie unsere Heimat

wohnlich wurde 30 ff. 2 Vgl. dazu Hirt, Indogermanische Grammatik I, 86 und Klotho 56 ff.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 47

und die Wörter für „aufsuchen“, „begehren“ usw. hätten keine Bezie- hung zur Jagd. Die Behauptung, das einzige gemeinindogermanische Wort für Jagd bedeute „Treibjagd“ steht wieder unbewiesen. Wir haben *agra (Walde I, 36) für Jagd, die dem Wort zugrundeliegende Wurzel *ag bedeutet ganz allgemein „treiben, antreiben, treibend aufsuchen“ (vgl. lateinisch indages, indago). Dies braucht keine Treibjagd im tech- nischen Sinne zu sein, sondern ist Jagd überhaupt, auf der man dem Wild nachjagt und es vor sich hertreibt. Es ist also ein guter Jäger- ausdruck. Offenbar will Brandenstein mit seiner Verneinung der Jagd bei den Frühindogermanen ihren Nomadencharakter beweisen. Dem- gegenüber muß aber betont werden, daß die Indogermanen, wo immer sie in die Geschichte eintreten, neben Viehzucht und Ackerbau auch Jagd getrieben haben, ja daß sie unter den großen Kulturvölkern als die eigentlichen Tierheger und Tierjäger gelten können. Für die liebevolle Tierbeobachtung gibt ja Brandenstein selbst (S. 240) eine ganze Reihe von Ausdrücken (vgl. auch W. Schulze, Kl. Schr. 177, 3 über lat. explorare).

In dieselbe Richtung geht die Behauptung Brandensteins, daß Fisch- fang der frühindogermanischen Zeit gefehlt habe, ja daß die Früh- indogermanen aller Wahrscheinlichkeit nach den Fisch überhaupt nicht gekannt hätten. Schon Otto Schrader war der Meinung, daß Fischfang und Fischessen bei den Indogermanen offenbar keine große Rolle ge- spielt haben. Das ist sicher sehr verschieden gewesen, denn der früh- indogermanische Raum erstreckt sich von den Nordwestküsten Europas über Mitteldeutschland bis herüber nach Osteuropa. Aber man denke sich nun eine ganze Kulturepoche eines großen Volkes, das den Fisch überhaupt nicht kennen soll. Da müßten die Indogermanen doch schon in der Wüste Gobi ihre Urheimat gehabt haben! Es liegt aber auch gar nicht ganz so, wie Brandenstein behauptet. Jedenfalls haben wir einen indogermanischen Namen für Angelhaken (vgl. dazu Walde I, 61), wozu. noch das indoarische ankusa zu stellen ist. Das Fehlen eines gemein-indo- germanischen Fischnamens hat sicher einen andern Grund als die Nicht- kenntnis des Fisches (vielleicht religiöse Gründe, Tabu!). Übrigens fehlen Entsprechungen für das Gemeinindogermanische nicht ganz. Jedenfalls steckt in dem indo-arischen Ausdruck jhasa (vgl. Uhlenbeck „Etymo- logisches Wörterbuch zur Sanskritsprache“ 104 und Walde I, 610) ein ur- indogermanisches Wort. jhasa bedeutet im Indoarischen auch noch in der geschichtlichen Zeit neben einer besonderen Fischart Fisch allgemein!. |

1 Ich glaube übrigens, daß die Frage erwogen werden müßte, ob nicht in jhasa, das wahrscheinlich eine Form der Volkssprache ist (Präkrit), ein Wort steckt, das auch dem griechischen iy9vg und dem indogermanischen *ghud (Walde I, 664) zugrundeliegt. Jedenfalls müßte diese ganze Sippe neu untersucht werden.

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Mit großem Nachdruck trägt Brandenstein die Behauptung vor, daß dem Frühindogermanentum eine Bezeichnung für Ton und Tongefäße gefehlt habe. Er bemerkt dazu (Koppers 265): „Diese Tatsache ist außer- ordentlich schwerwiegend; denn damit fallen alle nord- und mitteldeutschen Keramikprovinzen der jiingeren Steinzeit I bis III als indogermanischer Siedlungsraum neuerlich weg. Gleichzeitig beweist der Mangel an Ton- gefäßen das Nomadentum; da irdene Geschirre gegen jeden längeren Trans- port sehr empfindlich sind, sind sie bei den Nomaden nicht üblich.“ Dieser Abschnitt ist für die Methode von Brandenstein von Bedeutung, denn er zeigt, wie sprachgeschichtliche Tatsachen so lange geschoben werden, bis sie in das von vornherein feststehende Schema der Beweisführung passen. Schon die Bemerkung Brandensteins, auch in spätindogermanischer Zeit fehle der Hinweis auf tönerne Gefäße, zeigt, daß hier in der Beweis- führung etwas nicht stimmt. Denn das wird er doch wohl nicht behaupten wollen, daß auch die Spätindogermanen keine Tongefäße gekannt und etwa nur Gefäße aus Holz, Knochen usw. benutzt hätten. Er kommt zu einer solchen Behauptung darum, weil für ihn die im Indogermanischen für Gefäße vorhandenen Wörter keine solche aus Ton bezeichnen dürfen, weil ja sonst der Nomadencharakter der Indogermanen in Frage gestellt ist. Wie steht es nun, wenn wir die sprachgeschichtlichen Tatsachen un- befangen betrachten? Erstens haben wireinfrühindogermanisches Wort fürLehm, das „milde Erde“ bedeutet (vgl. dazu Walde II, 288). Die Entsprechungen im Altindoarischen und Germanischen-zeigen den früh- indogermanischen Charakter des Wortes. Zweitens haben wir ein früh- indogermanisches Wort für „Lehm kneten“, nämlich *dheigh (Walde I, 833). Daß dieses Wort, wie Brandenstein behauptet, in Wirklichkeit für das Verkitten von Palisaden und nur dafür gebraucht wurde, ist wiederum eine reine Willkür. Kommt doch unser Wort Teig auch davon, und das indoarische Wort deha für „Körper“, das mit dieser Wurzel zusammenhängt, wird wohl nicht im Vergleich mit der Palisadenverkittung, sondern mit der Töpferei gebildet worden sein. Auch die slavischen Entsprechungen weisen nicht nur auf Verkitten von Palisaden, sondern auf Kneten. Drittens: die gemeinindogermanischen Wörter *geu-p (*qupo) (Walde L, 372) und *qumbo (376) (vgl. dazu Brandenstein [Koppers 266]), die als Gefäßbezeichnungen verwendet werden, hängen keineswegs mit *gowo „Gelenkskopf‘“ zusammen (woher bringt Brandenstein überhaupt diese Form, für die er Walde I, 370 zitiert, wo gar nichts derartiges steht? Es scheint eine Erfindung ad hoc zu sein), sondern, was auch noch nie bestritten worden ist, mit *gei, das einfach „biegen, drehen“ heißt und ein ausgezeichneter Ausdruck für das Formen in Lehm ist, wie ja. auch in dem schönen Lied Atharvaveda X, 8 der Ewige, der eine große Gott, die Gestalten der Welt aus dem Urstoff „herausbiegt‘‘. Sehr wahr-

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scheinlich haben wir noch weitere indogermanische Wörter für Ton- gefäße, wie z. B. *kuelp (Walde I, 474). Sicher ist es nicht, aber umso sicherer steht das gemeinindogermanische Wort für Kochtopf, *aug"(h) usw. (Walde I, 24). Aus welchem Material soll nun dieser frühe indo- germanische Kochtopf gewesen sein, wenn nicht aus Ton? Aber Bran- denstein weiß sich zu helfen: da man ihn über die Glut stellt und dieses Gefäß der indogermanischen „Nomaden“ also doch wohl nicht gut aus Fell gewesen sein kann, muß er eben aus Knochen gewesen sein! Ein sprachlicher Beweis wird hier gleich gar nicht versucht, denn der ist von Anfang an aussichtslos. Also wird einfach behauptet! Am liebsten möchte man zu solchen „Beweisführungen“ schweigen und Branden- stein einmal in eine Küche setzen, wo man Kochtöpfe aus Röhren- oder Gelenksknochen auf das Feuer stellt. Am grünen Tisch in der Studier- stube mag die Nase Phantasien wie denen Brandensteins standhalten, dort aber sicher nicht!

Daß neben diesen Gefäßen, die nicht nur wahrscheinlich, sondern sicher aus Ton waren, die Indogermanen selbstverständlich auch solche aus Fellen, Knochen oder Binsen hatten, braucht nicht bestritten zu werden. Aber selbst indogermanisch *go(u)los (Walde I, 555) braucht nicht ein Beutel zu sein. Es bedeutet einfach das kugelige Gefäß und könnte ebensogut für die Vorform der Amphore, wie für ein Beutel- gefäß gebraucht werden. Daß die Töpferei im Bereich der von uns an- genommenen Urheimat der Indogermanen schon im 5./4.Jahrtausend oder noch früher beheimatet war und eine bedeutende Höhe erreicht hatte, zeigen die vollkommenen Tongefäße der sogenannten Ertebölle-Kultur.! Wir sehen also, der Versuch Brandensteins, aus den Gefäßnamen usw. das Nomadentum der Indogermanen zu beweisen, besteht aus einer Reihe von Willkürlichkeiten, die nur Nichteingeweihte täuschen können.

Es ist hier nicht der Raum, diese Methoden im einzelnen noch weiter kritisch zu beleuchten. Ich weise nur noch allgemein auf einiges hin, was Brandenstein für wichtig hält im Beweis für das Nomadentum der Indogermanen (Koppers, 268 ff.). Die Wörter für Kleider sollen stark auf Tierhäute hinweisen. Das Nähen soll mit Tiersehnen geschehen sein. Dabei sollen diese Schafzüchter aber auch einfache Wollgeflechte hergestellt haben usw. Daß Fellbekleidung oder Sehnenbenützung be- sonders auf Nomaden weisen soll, leuchtet nicht ein. Sowohl Jäger wie Ackerbauern benützen auch heute noch beides. Die wohlgeprägten Aus- drücke für Spinnen, Weben usw. und die Rolle, welche diese Tätig- keit auch in der Mythologie der Indogermanen spielt, zeigen uns, daß

1 Vgl. dazu Ebert II, 262 mit der dazugehörigen Tafel, ebenso Menghin a, a. O. 220.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 1 4

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Spinnen und Weben ganz intensiv betrieben worden sind und tief im Zentrum der Kultur und der seelischen Haltung der Frühindoger- ~ manen gewirkt haben müssen. Ein besonderer Hinweis auf Nomaden scheint mir das nicht zu sein, sowenig wie andere Werkstoffe (Koppers 270ff.), die auf Knochen, Stein und Holz hinweisen. Das stimmt alles ausgezeichnet mit der Kultur, die vorgeschichtlich erwiesen an der Basis des Indogermanentums liegt. Dasselbe trifft zu für die Ernäh- rung (Koppers 262 ff.), die Fleischnahrung und Pflanzenzukost, z.B. ausgepreßte Beerensäfte zeigt. Dabei wundert es uns sehr, daß Branden- stein bei der Aufzählung der Nahrungsmittel die gemeinindoger- manischen Getreidenamen gar nicht erwähnt.! Diese sind aber doch sehr wichtig für die Frage, ob Indogermanen reine Nomaden waren oder nicht. Daß die Frühindogermanen einen Pflanzenbau betrieben haben, bei dem auch gesät wurde, steht fest, denn ich stimme der Zu- rückführung des indo-arischen sita, siram auf indogermanisch *sé usw. durch Bloch durchaus zu, zudem zeigt die Vorgeschichte im Raume Nord- westeuropas den ältesten Pflanzenbau, der überhaupt nachgewiesen ist.? Wie steht es nun auf Grund der sprachgeschichtlichen Forschung mit den Siedlungsformen der Indogermanen, denn diese sind doch entscheidend für die Feststellung ihrer Kultur? Daß herumziehende No- maden keine festen Siedlungen haben, ist selbstverständlich und durch die vergleichende Völkerkunde ja hinreichend festgestellt. An diesem Punkte nun gerät Brandenstein in die größte Not. Er sagt (S. 258):

„Wenn wir die Wörter betrachten, die sich iu der frühindogermanischen Zeit auf das Wohnen und Siedeln beziehen, so können wir feststellen, daß es sich um keine stabilen Wohnstätten und Siedlungen gehandelt haben kann, sondern um flüchtige Aufenthaltsorte: Die Wohnstätte ist jener Ort, an den man sich gewöhnt hat. Dort, wo man verweilt oder übernachtet, das kann schon als „Sitz“ oder „Stätte‘‘ gelten. Die Frühindogermanen pflegten also häufig im Freien zu nächtigen. Dafür ist es bekanntlich notwendig, daß man sich einen passenden Platz dafür sucht. Hat man eine besonders geeignete Stelle gefunden, so bleibt man gerne auch länger.“

Trotzdem muß er dann auf S.259 auf Grund der sprachlichen Indizien erklären: „Die Frühindogermanen kannten auch den Wohnbau, wie er vermutlich insbesondere für den Winter notwendig war.“ Und dann muß er auf Grund der Sprachvergleichung das frühindogermanische Holz- haus beschreiben. Wie sieht nun dieses aus? Ein solches Holzhaus hat Türen, hölzerne Türrahmen, es ist aus Pfosten, die man aus behauenen Balken machte (und zwar gab es schon einen Zimmermann). Dieses Haus

1 Darüber ausführlich in dem Kapitel über indogermanischen Ackerbau in meinem II. Bd. Glaubensgesch. d. Indog. |

2 Vgl. dazu J. Bloch, La charrue védique (Bull. of the School of Or. Stu- dies VIII. Parts II and III [Koppers, Nehring 150)).

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hatte einen Sockel, es hatte ein Balkengerüst, das man durch Widerlager stützte usw. Die Belege dafür bringt Brandenstein selbst bei. Er kann ja nicht anders, wenn er, was wir sprachlich vom indogermanischen Haus wissen, nicht alles unterschlagen will. Dies sind nun seltsame Nomaden, die solche Häuser bauen. |

Zudem lebten die Haustiere dieser „Nomaden“ nicht nur im Freien, man baute für sie (was alles aus dem frühindogermanischen Wortschatz erschlossen werden kann!) Hürden, aber auch Umwallungen, die aus einem Palisadenzaun bestanden und durch Erdreich oder Lehm verstärkt wurden. Ja, Brandenstein muß Wörter anführen, die zeigen, daß diese „Nomaden“ befestigte Stätten, „Burgen“ bewohnten. Wo sind solche „Nomaden“ in der Welt zu finden? Dieses ganze Bedeutungsfeld weist doch auf eine Kultur mit festen Siedlungen hin. Und zwar ist hier von entscheidender Bedeutung, daß die Wurzel für bauen *dem (Walde I, 786), woraus das frühindogermanische Wort für Haus *domos (Walde I, 788) entstand, mit welchem auch das gemeinindogermanische Wort für Viehzähmen *demä, *domä usw. zusammenhängt, ein Wort ist, das nichts anderes als Holz- oder Balkenbau bedeuten kann. Und das Wort für zähmen = „ans Haus gewöhnen‘ zeigt, daß die indogermanische Viehzuchtim engsten Zusammenhang mit diesen festenSiedlungen gestanden hat, also schon nicht mehr eine nomadische Viehzucht war. An diesem sprachlichen Befund kann niemand zweifeln! Er wirft alle „Nomadentheorien“ über den Haufen (wenn wir nicht schon abgesehen davon genügend Gegenbeweise hätten, daß die Frühindogermanen schon nicht mehr frei umherschweifende Nomaden im Sinne des innerasiatischen Viehzüchtertums waren). Dieser sprachliche Befund stimmt aber, wie schon erwähnt, ausgezeichnet zu den Ergebnissen der Vorgeschichte im frühindogermanischen Siedlungsraum, denn dort sind in der Tat die ältesten Spuren von Häusern gefunden worden, deren Bauart dem ent- spricht, was wir durch die Sprachgeschichte gefunden haben. Und zwar gehen diese Häuser, wie z.B. die Kultur von Duvensee zeigt, bis in die Mittelsteinzeit zurück. Auch im Süden dieses Raumes, im Federseemoor, | wurden Siedlungen aufgedeckt, deren früheste Spuren in die Mittel- steinzeit gehen und die zeigen, wie alt die Besiedlungsgeschichte im europäischen Raum ist.!

2. NEHRING

Während sich Brandenstein darauf beschränkte, die Urheimat der Früh-Indogermanen in der Kirgisensteppe und ihr Nomadentum zu er- weisen, versucht A. Nehring in einem weit ausgespreiteten und material-

1 Hier sind vor allem die Untersuchungen von Reinerth von-grundlegender Bedeutung geworden. 4*

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reichen Beitrag „Studien zur indogermanischen Kultur und Urheimat“ (Koppers „Indogermanenfrage“ 9—223) vor allem die Abhängigkeit der Indogermanen von dem kaukasisch-altorientalischen Kulturkreis nachzu- weisen und damit die zweite Koppers’sche These zu stiitzen, wobei er die Herleitung der ,,hirtenkulturlichen“ Elemente aus Innerasien als er- wiesen hinnimmt. Er ergänzt seine sprachgeschichtliche Beweisführung durch vorgeschichtliche und ethnologisch-religionsgeschichtliche Er- wägungen, macht also einen Versuch der Zusammenschau verschiedener Wissenschaften. Dieser Versuch ist allerdings ein erneuter Beweis da- für, wie gefährlich ein solches Unterfangen ist.

Auf Grund seiner Feststellung, daß die Heimat der Urindogermanen in der Nachbarschaft der uralischen gesucht werden müsse, daß die ur- indogermanische Kultur starke Einflüsse aus dem Süden, dem kaukasisch- kleinasiatisch-altorientalischen Raum zeige, daß sie ferner von Inner- asien her beeinflußt sei, kommt Nehring zu dem Ergebnis, daß die Ur- heimat der Indogermanen damit sozusagen durch geometrische Örter festgelegt sei. Es handelt sich um das Gebiet, das etwa als Mittelpunkt die südrussische Steppe hat und sich dann von hier nach Osten und Westen ausdehnt. Die Grenzen im einzelnen werden 'genauer nicht bestimmt. Da dies das Gebiet der Bandkeramiker ist, so kann für ihn (S.62f.) „kein begründeter Zweifel daran bestehen, daß die Träger der Bandkeramik Indogermanen waren. Unindoger- manische Züge innerhalb der bandkeramischen Bevölkerung und Kultur sollen jedoch damit in keiner Weise geleugnet werden. Eine kulturelle und auch rassische Mischung ist sicherlich anzuerkennen, aber gerade das ist auch für das indogermanische Urvolk und seine Kultur anzunehmen.“

Wenn nun allerdings Nehring die Bandkeramiker als die eigentlichen Urindogermanen ansieht und den indogermanischen Charakter der Schnurkeramiker in Zweifel zieht, so müssen wir ihm hierin ernstlich widersprechen. Nehring hat auf S. 40 ff. die Auseinander- setzung der Vorgeschichtler über die Herkunft und völkische Zugehörig- keit der Schnurkeramiker ausführlich behandelt. Er bekennt sich schließlich mit Beziehung auf die Herleitung der Schnurkeramik zu der auch von Güntert („Der Ursprung der Germanen“ 69) im Anschluß an Wahle ver- tretenen These Sulimirskis, daß zwar eine ältere Schnurkeramik von Osten, etwa Südrußland-Südostpolen, sich ausgebreitet hätte, daß aber dann von dem neuen Zentrum dieser Kultur in Sachsen-Thüringen ein -westéstliches Rückfluten bis zum Kaukasus usw. stattgefunden habe.! Dieser These der Herkunft der älteren Schnurkeramik aus dem Osten

ı Aus der Arbeit von Specht entnehme ich, daß Sulimirski seine Ansicht

auf Grund der Einsichtnahme in das Material der thüringischen Schnurkeramik beute nicht mehr aufrecht erhält.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 53

widersprechen aber die Funde ältester schnurverzierter Becher in Dänemark.! Ich möchte hier, obwohl Nichtfachmann, zu dieser Streitfrage eine Meinung äußern, die vielleicht einiges zur Lösung beitragen könnte. Auf Grund der ganzen Auseinandersetzung habe ich den Eindruck, daß eine sehr alte Schicht frühjungsteinzeitlicherSchnurkeramik anzunehmen ist, die sich in einem Querstreifen von Dänemark über Mitteldeutschland, Südostpolen,Südrußland (Oussatowa, wo Rosenberg sehr alte Schnurkeramik festgestellt haben will) erstreckt, und die von einem weitverbreiteten, einheitlichen Volk getragen war. In diesem Bereich entwickelt sich dann zur vollneolithischen Zeit in Mitteldeutschland der eigentlich schnurkeramische Kreis mit Streitaxt. Diese Streitaxtleute breiten sich dann gegen Ende der Jungsteinzeit nach vielen Richtungen aus, ein Zeichen dafür, daß hier ein sehr aktives Kulturvolk sich entwickelt hatte. Daß sie Indogermanen waren, kann gar nicht bezweifelt werden, denn erstens treffen wir in geschichtlicher Zeit überall da Indogermanen, wo die Schnurkeramik festgestellt ist bis hinein in den Kaukasus, in erster Linie aber in Westindogermanien. Zweitens ist in Sachsen-Thüringen und im Norden Deutschlands, wohin die jüngere Schnurkeramik ebenfalls vorgedrungen ist, kein Bruch zwi- schen dieser schnurkeramischen und der germanischen Zeit, vielmehr hat sich dort die Schnurkeramik mit der Megalithkeramik vermischt oder sich über sie gelegt. Aus dieser Mischung ist dann das Germanentum, dessen indogermanischer Charakter nicht bezweifelt werden kann?, ent- standen. Was Nehring gegen diese völkische Zuordnung einwendet, ist nicht stichhaltig. Die Behauptung V.Christians, auf die er sich beruft, im vorindogermanischen Mittel- und Nordeuropa habe Mutterrecht ge- herrscht, während die Indogermanen Vaterrechtler seien, istreine Phantasie. Die von den Schnurkeramikern geübte Hockerbestattung soll ebenfalls nach Koppers und Pittioni vorindogermanisch sein. Dies stimmt insofern, als Hocker- und Rötelbestattung ein uraltes Element in den europäischen. Grabriten besonders der paläolithischen Zeit ist. Daß ihre Heimat in Asien sei, wie Menghin angibt, ist durch keine Funde gewährleistet. Die ältesten Hocker- und Rötelbestattungen haben wir in Europa und von da aus scheinen sie sich in weitem Umkreis ausgebreitet zu haben. Aus dieser Wurzel ist dann die Rötel-Hockerbestattung bei den Schnur- keramikern entsprungen. Die Behauptung also, die Hockerbestattung sei

ı Vgl.dazu Hans Seger, Vorgeschichtsforschung und Indogermanenproblem (HF I, 22 ff.), der sich besonders auch auf die Bicker’schen Arbeiten bezieht.

2 Alle Versuche, das Germanische als weithin nichtindogermanisch zu er- weisen, müssen nach dem heutigen Stand der Forschung als gescheitert betrachtet werden. Wer würde z.B.den germanischen Charakter des Neuenglisch bestreiten ? Und doch: Welcher Unterschied zwischen ihm und etwa dem Altisländischen.

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vorindogermanisch in dem Sinne, daß sie nichtindogermanisch sei, ist wiederum völlig ungerechtfertigt.

Daß die Thüringer Schnurkeramiker Jäger und Fischer aber keine Ackerbauern gewesen seien, ist eine längst überholte An- schauung. Nehring führt hier Bremer als Zeugen an und nicht die neueste Arbeit, die davon handelt, und die er doch sonst zitiert, nämlich eben Seger in HF I, 30ff., der ausführlich von den Siedlungen der Schnur- keramiker spricht, wo auch Mahlsteine und verkohlte Weizenkörner ge- funden worden sind.

Daß das Pferd der Indogermanen nach Asien weise, ist eine These, die sich natürlich Nehring von vornherein zu eigen macht. Die Unbe- weisbarkeit dieser These habe ich hier schon verschiedentlich betont. In diesem Zusammenhang muß aber doch der Versuch Nehrings (im Anschluß an andere), das indogermanische *ekwos (Walde I, 113)! von türkisch ikiusw. = zwei, Paar abzuleiten, kurz besprochen werden. Nicht nur be- steht der sprachgeschichtliche Einwand Brockelmanns zu Recht, daß im Türkischen dann ein entsprechendes Apellativ für Gespann oder Pferd nachgewiesen werden müßte, sondern wir müssen hier auch einen kultur- geschichtlichen Einwand machen. Das von Innerasien kommende Pferd kann ja gar nicht ein Zweigespann gewesen sein, denn eine Reiter- hirtenkultur hat eben kein „Zweigespann“. Wie soll dann aus ‘einem türkischen Wort für zwei das indogermanische ekuos entstehen? Man manipuliert hier so, daß man indogermanische Kulturzustände (näm- lich Wagenfahren mit Pferden) nach Innerasien projiziert (wo sie gar nicht vorhanden sind), dann ein innerasiatisches Wort sucht, das von ferne wenigstens mit diesem Element der Kultur (Zweigespann) ver- knüpft werden könnte. Und nun hat man auf einmal eine schöne Ab- leitung aus dem Türkischen! Ganz abgesehen von der philologisch sehr fragwürdigen Beweisführung, sehen wir hier also wieder: wenn wir nicht nur von einer Wissenschaft her, sondern universalgeschichtlich und vor allem auch ethnologisch denken und schließen, kann man zu solchen un- möglichen Hypothesen überhaupt nicht gelangen. Wenn dann Nehring noch auf das udische Wort für Pferd ek hinweist, so kann ja dieses Wort ebensogut aus dem Indogermanischen ins Nordkaukasische einge- drungen sein statt umgekehrt, denn in Nordkaukasien sind gegen Ende der Steinzeit überall Streitaxtleute festzustellen.

Eine andere sprachgeschichtliche Unmöglichkeit, mit Hilfe des ger- manischen (as. und an.) Wortes, das in Verbindungen mit Axt gebraucht wird (tapor, taparr usw. S. 57; im Anschluß an Günterts ,,Labyrinth“)

1 Ich bemerke hier, daß ich mich im allgemeinen an die Schreibweise halte,

die in der neuen Auflage des vergleichenden Wörterbuchs der indogermanischen Sprachen angewendet ist.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 5D

eine Herleitung der Axt und des Wortes aus dem kleinasiatischen Kreis zu begriinden, ist von Deeters in dem schon genannten Aufsatz einer kritischen Priifung unterzogen worden. Er fragt mit Recht, wie dieses Wort, wenn die Schnurkeramiker Streitaxt und Wort AdBovus (über Laut- wechsel mit kleinasiatisch tapa zu taparr usw. geworden) aus dem kleinasiati- schen Bereich nach dem Norden gebracht hätten, unversehrt durch die Laut- verschiebung hätte schlüpfen können? Ja, Deeter weist nach, daß es tatsächlich diese Wörter als Bezeichnungen für Axt gar nicht gibt, sondern nur aengl. *fapor-aex entsprechend dem aisl. *lapar-öx, das so etwas wie Spitzaxt gemeint haben wird, wenn man die übertragenen Bedeutungen von engl. taper, aengl. *tayor nur „kleine Wachskerze“ heranzieht. Diese Kritik zeigt uns, auf welch unsicheren Grundlagen diese sprachlichen Vergleiche stehen. Zweitens aber haben wir auch einen vorgeschichtlichen Grund gegen diese Übertragung; denn Adßevs be- zeichnetkeineswegsdieschnurkeramischeStreitaxt,sondern,wenn irgendeine besondere Axt, dieDoppelaxt, also gerade nicht die schnur- keramische. Auch die vorgeschichtlichen Funde von Äxten stimmen damit überein. Nirgends im kleinasiatisch-kaukasischen Kreis außer im nörd- lichen Teil des Kaukasus und in Westkleinasien sind Streitäxte der schnurkeramischen Form gefunden worden. Da, wo sie sich finden, sind sie aber offenkundig von Schnurkeramikern eingeführt worden wie z.B. in Troja.

Die Behauptung Nehrings, daß die angeführten Gründe mit aller Ent- schiedenheit für die Schnurkeramiker als für ein von Südosteuropa nach dem Norden zugewandertes Volkstum sprächen und ebenso dafür, daß dieses Volkstum unindogermanischen Charakter gehabt hätte, steht also unbewiesen. Der indogermanische Charakter der Schnurkeramiker steht nach wie vor unerschüttert.

Wiederum muß ich es mir versagen, an diesem Ort alle Einzelstücke der versuchten Beweisführung Nehrings in dieser Weise kritisch zu be- leuchten. Es genügt, ihre Grundtendenz aufzuzeigen und noch einige besonders krasse Beispiele anzuführen, um klar zu machen, daß Nehrings Methode nichts weniger als gültig ist. Seine Formeln sind bei jedem Gegenstand, den er behandelt, geradezu stereotyp: zuerst lange Aus- führungen, die z.T. gutes Material bringen, dann irgendeine philologische Überlegung (nicht selten, wie wir gesehen haben, philologische Bock- sprünge) und zum Schluß dann das von vornherein feststehende Ergebnis: Also ist die Herleitung aus dem kaukasisch-orientalischen Kulturkreis erwiesen. Man braucht seine Schlußzusammenfassungen schon gar nicht mehr zu lesen; sie sind alle auf diesen einen Ton gestimmt. Es gibt schlechterdings kein Kulturgut sachlicher oder geistiger Art, das (sofern es nicht nach Koppers’scher Beweisführung aus Innerasien stammt), nicht

56 J. W. Hauer

vom kaukasisch-vorderasiatischen Bereich zu den Indogermanen gekommen wäre, sei es nun Viehzucht, Ackerbau, Hausform, Familienformen, Götter- glaube, nichts, auch gar nichts bleibt den Indogermanen zu eigen. Was für unschöpferische Horden müssen diese Urindogermanen gewesen sein, bis sie, von der schöpferischen Gewalt der Kaukasier und Orientalen angestoßen, zur Kultur aufwachten. Sollten hier wirklich nicht Weltan- schauungstendenz (und Blut) bei der Beweisführung mitgesprochen haben? Seltsam, daß diese ursprünglich so unschöpferischen Indogermanen dann die großen Kulturschöpfer des Erdkreises geworden sind. Ist das etwa am Ende der Beimischung kaukasisch orientalischen Blutes zu ver- danken?

Nur noch einige Beispiele: Der Ackerbau der Indogermanen muß natürlich vom Orient kommen (obwohl Nehring einen gewissen Pflanzen- bau in Form des Hackbaus auch bei den abgewanderten arischen Indo- germanen schom annimmt). Das muß nun auch sprachlich belegt werden. Hier leistet sich Nehring S. 155 folgende Gleichung: Als indogermanische Wurzel für pfligen nimmt er (nach Waldel,78) *ar@ an, das auch er für eine junge Bildung erklärt. (Auf die Streitfrage, ob statt *ura@ *aro an- gesetzt werden muß, soll hier nicht eingegangen werden. Ebenso kann hier die Frage des Pflugbaues der Indogermanen nicht behandelt werden.) Nehring findet nun, daß *ar@ und semitisch karaš für pflügen einen „auffälligen“ Anklang zeigen. Er spricht dann die Vermutung aus, das indogermanische Wort ara gehe auf das semitische bzw. ein ihm zu- grundeliegendes vorderasiatisches Lehnwort zurück, „das zusammen mit dem Pflugbau zu den Indogermanen kam“. Ich frage: wo bleibt da das philologische Gewissen? Worin besteht, da die Vokale im Semitischen nicht zählen (was doch auch Nehring wissen muß) der „auffällige“ Anklang zwischen den beiden Wörtern? Daß sie ein r gemeinsam haben, sonst aber nichts! Nehring ist also bei dieser Gleichung nicht einmal von der „Sirene Gleichklang“ verführt worden, wie Deeters in andern Fällen fest- stellt, sondern erlaubt sich philologische Unmöglichkeiten, um seine These glaubhaft zu machen. Oder sind etwa die beiden andern Konsonanten auf der Wanderung zu den Indogermanen verlorengegangen? Zudem ist ara sicher mit der urindogermanischen Wurzel r usw. (und ihren Erweite- rungen) „laufen, rinnen“ zu verbinden, gehört also einer wohlbezeugten indogermanischen Wortsippe an. Warum hat denn Nehring das semi- tische haras, das ursprünglich nach den Wörterbüchern „einschneiden, ritzen“ bezeichnet, nicht mit dem indoiranischen Wort für pflügen karş (kars) zusammengestellt, das dieselbe Bedeutungsentwicklung durchge- macht hat, (da *gers[WaldeI, 429] ohne Zweifel mit *gars [Walde I, 355] in Verbindung zu bringen ist) und wirklich einen „auffallenden Anklang“ zeigt? Der Grund ist durchsichtig: Er muß ja nach seiner vorgefaßten

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 57

Theorie den ausgebildeten europäisch-indogermanischen Ackerbau, d. h. den Pflugbau aus Asien, ableiten. ara ist nur west- indogermanisch, es muß aber aus dem Orient kommen; also bringt er es philologisch mit karas zusammen, was in jeder Hinsicht unerlaubt ist.

Es ist bei Nehring selbstverständlich, daß auch dieWohnstatten der Indogermanen von den Kaukasiern stammen. Er weist zunächst auf zahl- reiche sprachliche Gleichungen für „Grube“ hin. Ein solcher Stamm er- streckte sich vom Indogermanischen zum Finno-Ugrischen, vielleicht auch zum Kaukasisch-Baskischen und Altaischen. Er sagt dann einfach (S.157): „Es kann kein Zweifel bestehen, daß wir hier die Bezeichnung der alten, schon für die Indogermanen hinreichend bezeugten Wohngruben vor uns haben.“ Aber wie kommt er denn zu dieser Behauptung? Denn erstens bedeutet das Wort nur im Griechischen auch Wohnung, sonst ist es einfach „Höhlung, Grube, Grab“ usw., also gerade nicht Wohn- grube. Im Germanischen entwickelt sich aus diesem Wort dann „Hof“. Dies ist aber nicht „Wohngrube“ oder „Haus“, sondern „umschlossener Raum beim Haus“ (vgl. dazu auch Brandenstein in Koppers 260, der mit Beziehung auf die Wohngrube auf Grund sprachgeschichtlicher Forschung gerade das Gegenteil von dem behauptet, was Nehring hier für das Richtige ansieht)!. Zudem ist es vorgeschichtlich falsch, „von der für die Indogermanen hinreichend bezeugten Wohngrube“ zu reden. Das kann man nur, wenn man Indogermanen = Bandkeramiker setzt. Daß diese aber der urindogermanische Kreis sind, ist ja eben zu beweisen (vgl. dazu auch noch Flor in HF I, 115, der die Wohngrube bei den Uraliern nach- weist und Nehring in Koppers 159, Anmerkung 13).

Aber nicht nur die Wohngrube, auch das rechteckige Megaron- haus stammt natürlich von den Kaukasiern. Daß das Vorhallenhaus den nor- dischen Kreis in neolithischer Zeit nur in seinen südlichen Grenzgebieten er- reicht hätte, ist nach dem heutigen Stand der Forschung nicht mehr haltbar.? Nehring beruft sich für seine These auf W.Schulz. Er hat offenbar ganz übersehen, daß Schulz diese seine Auffassung auf Grund neuer vorge- schichtlicher Funde korrigiert hat („Indogermanen und Germanen“ 56), wo Schulz sagt: „Die Indogermanen (für die er als Urheimat Nord- und Mitteldeutschland annimmt) haben diese Hausform (Megaron) in das öst- liche Mittelmeer gebracht.“ Die Ausführungen Nehrings über die indo- germanische Gleichung *domo usw. (vgl. Walde I, 788), die er (wohl mit Recht) auf das Megaronhaus bezieht, zeigen wieder, wie eine falsche Orientierung und Zielsetzung zu unmöglichen Schlüssen führt. Nehring

1 Zu seinen sprachlichen Beweisführungen an diesem Ort vgl. die oben an- geführte Kritik von Deeters.

2 Vgl. dazu Max Schneider, Die Steinzeitsiedlung Schmergow in Havelland (Mannus 30 [1988] H. 1, 10 f.).

58 J. W. Hauer

weist auf die immerhin auffallende Tatsache hin (S. 165), daß im Sume- rischen dur „Türe“ und dim „bauen“ (indogermanisch *dem) heißt, eben- so, daß in einigen kaukasischen Sprachen Entsprechungen für das indo- germanische Wort Dach vorkommen. Damit begründet er sprachlich die Herkunft des Megaronhauses aus jenem Bereich. Hier läßt er aber die Ergebnisse der Vorgeschichtsforschung vollends völlig aus den Augen. Nirgends sind in jenen Gegenden Vorhallenhäuser ausgegraben worden, die vor dem möglichen Eindringen indogermanischer Elemente liegen. Zudem hat Anau zu Anfang seiner Kultur feste Häuser. Die Anau-Kultur liegt aber der friihmesopotamischen, also auch der sumerischen zugrunde. Wenn also hier tatsächlich Entlehnungen stattgefunden haben, so sind sie in umgekehrter Richtung gegangen, wie ja auch sonst indogerma- nische Einflüsse im Sumerischen nachzuweisen sind.! Zudem ist das Wort für Dach (Walde I, 620ff.) spätindogermanisch (vgl. dazu auch Branden- stein in Koppers 260), kann also gar nicht von den Urindogermanen ent- lehnt sein, während umgekehrt die spätindogermanisch-schnurkeramische Kulturwelle auch den Kaukasus berührt, so daß mit dem nordischen Haus möglicherweise auch Bezeichnungen in die Kaukasusgegend eingedrungen sein können. Hier mag noch bemerkt werden, daß zwar Nehring ständig enge Beziehungen zwischen Kaukasiern und Orientalen feststellt, diese aber gerade bei den Indogermanen, die dem Bereich am nächsten liegen, ja ihn teilweise sogar besiedelt haben, sprachlich am allerwenigsten nach- weisen kann. |

Soweit sich Nehring auf die religionsgeschichtlichen Behaup- tungen Koppers stützt, ist meine Kritik der Koppers’schen These zu be- trachten. Sie gilt selbstverständlich auch für Nehring. Ich habe dort auch schon die Nehring’sche Methode beleuchtet.

Hier noch einige Versuche Nehrings, indogermanische Wörter für Bäume, Tiere usw. aus dem Asiatischen abzuleiten. Bisher ist das indogermanische Wort für Birke, das sich auch ganz deutlich etymolo- gisieren läßt, nie angezweifelt worden. Aber selbst dieses Wort ist bei Nehring „asiatischer Herkunft verdächtig‘. Dabei ist gerade Birke nie ein Baum der Gegenden gewesen, in denen Koppers, Nehring und andere die Heimat der Indogermanen suchen. Dagegen gehört die Birke durch- aus seit den Zeiten der frühesten Mittelsteinzeit zu dem Bereich Nord- westeurasiens. Aber auch für das Wort „Gans“ besteht für Nehring „der stärkste Verdacht“, daß es „aus einer altaischen, jedenfalls aber aus einer asiatischen Sprache entlehnt ist“. Er denkt wohl hier an Günterts Glei- chungen („Ursprung der Germanen“ 50f.). Diese Gleichungen beweisen

1 Vgl. oben S.40 und zu Megaron-Haus vgl. noch Behn in Eberts Real- lexikon 14, 216 ff.

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 59

aber, wie schon erwähnt, nichts, denn wie die Wörter für Kuh und Hund von den Indogermanen über die Yan Shao-Kultur entlehnt sein können, so auch das Wort für Gans. Wenn Nehring auch hier wieder ein ,,merk- würdig anklingendes“ kaukasisches Wort findet, wundert uns das nach dem Vorausgehenden nicht mehr.

Daß bei dieser Einstellung Nehrings der rassische Aspekt des Indogermanenproblems nicht befriedigend behandelt wird, ist nicht verwunderlich. Auf diesem Gebiet zeigt Nehring überdies die ge- ringste Kenntnis. Er wendet sich zunächst einmal scharf gegen eine Iden- tität der nordischen Rasse mit den Indogermanen (221). Die Indoger- manen der Urzeit seien auch keine reine Rasse mehr gewesen, denn Indogermanentum sei Volkstum. Das letztere ist ja nun auch wohl richtig, aber die Frage, worauf es ankommt, ist doch die: waren die Schöpfer der indogermanischen Sprachen ein beliebiges Rassengemengsel oder war in den Ursprüngen dieses Volkstums eine Rasse führend, die auch seine Sprache geschaffen hat?!

Zwar muß auch Koppers zugeben, daß im Indogermanentum große, langschädelige, blonde und blauäugige Menschen eine Rolle spielen. Aber diese stammen selbstverständlich aus Asien (er führt hier die Hypo- these von Eickstedt an). Und diese „Teuto-nordischen Asiaten“ sind dann in Südrußland, im Kernbereich des schon bestehenden indo- germanischen Volkstums, indogermanisiert worden. Dieses Volkstum aber ist eine „mögliche Mischung aus Kaukasiern und Ugriern“. Also nicht nordische Menschen, sondern ein kaukasisch-ugrisches Mischvolk hat die indogermanische Sprache geschaffen! Nicht einmal die Sprache haben diese „langschädeligen, blonden, blauäugigen Menschen, die im Indoger- manentum eine solch große Rolle spielen“, zu eigen wie wären denn auch langschädelige, blonde und blauäugige Menschen überhaupt imstande, eine Sprache zu schaffen? Das steht nur Kaukasiern und andern Orien- talen zu! Und wo haben dann diese kaukasisch-ugrischen Mischlinge, diese „Urindogermanen“ ihre kaukasische und ugrische Sprache gelassen, und wie sind sie denn nur dazu gekommen, auf einmal eine neue und zwar eine so reiche und wohlgegliederte Sprache, wie die indogermani- sche, zu schaffen ? Und welche Sprache haben denn diese „teutonordischen Asiaten“ gesprochen, ehe sie Indogermanisch lernten, etwa Mongolisch ? Und haben dann etwa die Altaier diese Sprache von ihnen übernommen ? Oder haben sie vielleicht überhaupt keine Sprache gehabt, etwa nur barbarisch gelallt, bis sie zu den kulturschöpferischen Kaukasiern in die Schule gingen ? Es ist unmöglich, hier nicht ironisch, ja bitter zu werden.

Vollends unbegreiflich wird die Nehring’sche These ja angesichts der

ı Vgl. dazu oben S.4 dieses Aufsatzes.

60 _ J. W. Hauer

Tatsache, die er aus Reches Buch doch kennen muß, daß die Nordischen schon lange vor den schnurkeramischen Einwanderern in der Mittel- steinzeit in Nordwest- und Mitteleuropa nachgewiesen sind, und daß gegen die These Reches von der Entstehung der nordischen Rasse in diesem Raum bislang noch kein ernstlicher Grund geltend gemacht worden ist.

Es ist kaum nötig, zum Schluß dieser Kritik noch einmal zu begründen, warum der Versuch Nehrings, die Urheimat der Indogermanen für das band- keramische Gebiet festzulegen und die Herleitung der entscheidenden Kulturelemente des Indogermanentums aus Kaukasien, dem alten Orient und Innerasien auf der ganzen Linie als mißlungen betrachtet werden muß. Einen Wert.allerdings besitzt die Arbeit: es ist eine außerordentlich weitschichtige Materialsammlung, die viele Anregung bietet, wobei aber jede einzelne Aufstellung streng und kritisch geprüft werden muß, damit diese oft sehr flüchtige und phantasiereiche Arbeit nicht Schaden an- richtet. a Diese Sätze treffen weithin auch für das ganze hier besprochene Buch zu. Man wundert sich immer wieder, welche Fiille von Stoff diesen Autoren zur Verfügung steht, und ist beeindruckt von dem Fleiß, mit dem alles oft von weither zusammengetragen wird. Auch soll nicht verschwiegen werden, daß die Koppers’schen Bemühungen, ethnologische Betrachtungs- weise in die Indogermanenfrage einzuführen, sehr anregend wirken und uns Nichtethnologen den Blick öffnen für Tatsachen, die leicht über- sehen werden. Aber die Art, wie diese Tatsachen in der Beweisführung verwendet werden, fordert unsere schärfste Kritik heraus. Verglichen mit den Beweisführungen der Hirt-Festschrift für eine Nordwestheimat der Indogermanen macht dieser Gegenbeweis für eine Ostheimat doch all- zusehr den Eindruck eines hoffnungslosen Rückzugsgefechtes. Es müßten ganz andere Tatsachen vorgebracht werden, wenn die heute mehr denn je feststehende These einer Nordwestheimat erschüttert oder auch nur in Frage gestellt werden sollte.

Mit den vonSprachgeschichtlern wie Giintert vorgebrachten Beweisen fiir eine Ostheimat und mit der Frage der Herkunft der germanischen Viehzucht und im besonderen der Pferdezucht, des indogermanischen Ackerbaues und der Entwicklung des Indogermanentums tiberhaupt wird sich ein besonderer Aufsatz in Zukunft zu befassen haben. Zu den Giintert- schen Thesen sei nur dies noch bemerkt: Die Vorgeschichte und die vor- geschichtliche Rassenkunde hat Wanderungen von Kulturelementen, die von europiden Rassen getragen sind, quer durch Nord- und Mitteleura- sien bis an die Küste des Stillen Ozeans, ja bis zu den Ainu und schließ- lich zu den Polynesiern festgestellt. Diese Wanderungen miissen schon in der Mittelsteinzeit begonnen haben und haben sich dann in der Jung-

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 61

steinzeit fortgesetzt. Die Yan Shao Kultur im 3. Jahrtausend v. Ch. im Hoangho-Knie in China ist davon nur ein bekanntes Beispiel. In ihr stecken die Wurzeln der sogenannten austronesischen Kultur, die dann bis hinüber nach Ozeanien gewirkt hat.! Diese Wanderungen er- klären auch die so oft behaupteten indogermanischen Elemente im Korea- nischen und die Lehnwörter im Chinesischen, auf die ja Güntert so großen Nachdruck legt.” Ganz abgesehen von den hypothetischen Elementen in Günterts philologischer Beweisführung fällt die Grundlage für eine Her- leitung der Indogermanen aus dem Osten, die durch diese und andere Wortgleichungen bewiesen werden soll, wenn durch die Vorgeschichte gezeigt wird, daß die Kulturwanderungen umgekehrt gegangen sind. Und dieser Beweis ist heute erbracht. (Über den besonderen Fall der Gleichung Mähre mongol. morin usw. werde ich in dem Aufsatz über indogermanische Pferdezucht handeln.) Alle diese für die Indogermanen- frage so wichtigen Elemente der Vor- und Rassengeschichte müssen heute beachtet werden, wenn wir zu einer richtigen Orientierung kommen wollen. Es wird sich dann zeigen, daß die These, das Indogermanentum

1 Vgl. dazu Flor in HF I, 85 ff. Und für diese europiden Wanderungen vor allem auch das zwar in vielem hypothetische aber trotzdem bahnbrechende und viel zu wenig beachtete Werk von Max Schneider, Die Urkeramiker; ein zweiter, leider immer noch ungedruckter Band enthält eine Fülle von Material, welches diese Wanderungen noch deutlicher erkennen lassen. In diesem Zusammenhang ist die Ainufrage von ganz besonderer Bedeutung. Diese werde ich in dem II. Teil meiner Glaubensgeschichte der Indogermanen ausführlich behandeln. Batchelor, wohl der beste Kenner der Ainu, hat seit langem die These ver- treten, die Ainusprache trage indogermanischen Charakter (vgl. z. B. The Ainu and their Folklore, London 1901, 11). Von anderen, besonders von B. Laufer, ist diese Auffassung entschieden bestritten worden. Ich habe aber den Ein- druck, daß die Diskussion über diese Frage keineswegs abgeschlossen ist. Daß die Ainu rassisch europider Herkunft sind, steht fest. Also muß auch ihre Sprache europider Herkunft sein. In der Tat steht sie mit ihren Dialekten im Kreis der ostasiatischen Sprachen zusammen mit dem Giljakischen auch völlig isoliert. Man rechnet sie häufig zu den sogenannten paläoasiatischen Sprachen. Dies ist allerdings mehr ein geographischer als ein sprachgeschichtlicher Aus- druck; eine Verwandtschaft dieser Sprachen unter sich ist noch nicht erwiesen. Doch stehen auch die „Paläoasiaten“ in irgendeiner Verbindung mit dem euro- piden Rassenkreis. Die bluthafte Grundlage für einen uralten Zusammenhang der Ainu-Sprache mit dem doch auch europiden Indogermanischen fehlt also nicht. Die Frage bedarf einer erneuten Prüfung im Lichte der Vorgeschichte und der vorgeschichtlichen Rassenkunde. In dem Ainuwort kamui (ein Wort für die ewigen Mächte, das auch ins Japanische übergegangen ist, vgl. H. Haas, Die Ainu und ihre Religion, Leipzig 1925, IX) und in dem anderen Wort für den höchsten Gott tuntu „Stützpfeiler“ (also die indogermanische Idee des Weltenstützers!) stecken vielleicht protoindogermanische Götternamen. Vgl. auch ~ noch den Artikel Rhinluch in Eberts Reallexikon der Vorgeschichte XI, 127 ff.

2 Vgl. dazu auch Hirt-Festschrift II, 139 f., 159 ff.

62 J. W. Hauer

habe sich im Nordwestkreis Eurasiens (also Nordwestdeutschland, Mittel- deutschland) zu Ende der Mittel- und der frühen Jungsteinzeit entwickelt und die Indogermanen seien von dort dann schon von der Wende des 5./4. Jahrtausends an nach dem Osten bis an die Ufer des Kaspischen Meeres und bis nach Transkaspien vorgestoßen, von wo aus sie bald auch Vorderasien beeinflußten, die den Tatsachen am meisten entsprechende ist. Wenn wir noch bedenken, daß schon für das 6./5. Jahrtausend v. Chr. als Träger der Nagada-Kultur Ägyptens nordische Menschen nachgewiesen sind (nach Petrie fanden sich in den Gräbern sogar noch blonde Haare, vgl. dazu noch Ebert, Reall. VIII, 421), haben diese frühen Wanderungen in ferne Länder nichts Verwunderliches mehr. Sie zeigen, welche unge- heure Kraft des Ausgriffs dieser in der harten Schule der Eiszeit erzogenen Rasse eigen war. Wer heute unbefangen alle in Betracht kommenden Tatsachen prüft, kann zu keinem anderen Schluß kommen, als zu dem, daß die These einer Ostheimat der Indogermanen, vollends einer asiatischen, nicht nur unerwiesen, sondern widerlegt ist. Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß da, wo heute noch das Indogermanentum seinen Mittel- punktsbereich hat, in Großgermanien, auch seine Urheimat gewesen ist.

NACHTRAG

Ich habe noch die angenehme Pflicht, den Herren G. Heberer, W. Hülle und besonders dem Indogermanisten F. Specht und meinem näheren Kollegen W. Wiist, die sich die Mühe genommen haben, die Korrekturen dieses Auf- satzes zu lesen und mich mit ihrem Rat zu unterstützen, zu danken. Leider konnte ich die oben in der Anmerkung S. 44 erwähnte ausführliche Abhand- lung F. Spechts nicht mehr berücksichtigen, da mein Aufsatz, wie erwähnt, schon im Druck war, als ich die Bogen der Specht’schen Abhandlung zu- geschickt bekam. Durch diese inhaltsreiche sprachgeschichtliche Untersuchung ist es mir wieder aufs neue klar geworden, daß die Indogermanenfrage nur durch eine umfassende Arbeitsgemeinschaft gelöst werden kann, in welcher Männer der verschiedenen in Betracht kommenden Wissenschaftszweige in stän- digem Austausch miteinander stehen. Es ist mir aber auch klar geworden, daß es an der Zeit ist, daß jemand es wagt, zunächst einmal auf Grund einer um- fassenden Zusammenschau eine neue Grundlage für eine zielsichere Be- handlung der Indogermanenfrage zu schaffen. Es wird viele Einzelfragen geben, in denen die Ansichten der Teilnehmer an einer solchen Arbeitsgemeinschaft auseinandergehen. So bin ich immer noch davon überzeugt, daß der ausgebil- dete Pflugbau der Indogermanen erst nach Abwanderung der fernsten Ost- indogermanen, der Arier, eingesetzt hat, und daß dies der Grund ist, warum die klassischen Wörter für pflügen bei den Ariern (Indo-Iranier) und den West- indogermanen verschieden sind (dort ai. karş, av. karš, hier *aro [ara]), während Säen und Hackbau (neben Viehzucht) frübindogermanische Kulturerrungen- schaften waren, an denen auch schon diese fernsten Ostindogermanen teilbatten (das Ausführliche in dem öfters erwähnten Buch). Daß die Baltoslawen und die Armenier an der westindogermanischen Gleichung teilhaben, ist ganz in Ord-

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage 63

nung. Denn die ersteren haben die Fühlung mit den Westindogermanen nie verloren, und die letzteren haben noch lange nach der Abwanderung der Arier (Indo-Jranier) Zuzug aus dem Westen erhalten, während ein solcher bei den Ariern nicht festzustellen ist. Aber gerade diese verschiedenen Meinungen in Einzelheiten können in einer solchen gemeinsamen Aussprache gelöst werden. Ich bin überzeugt, daß wir einer endgültigen Lösung der Indogermanenfrage mit Beziehung auf Ursprung, Urheimat und Wanderungen entgegengehen, wenn wir nur den Mut haben, alle in Betracht kommenden Wissenschaften mit- einander in Beziehung zu bringen.

Inhaltsübersicht

Der Verfasser gibt zunächst einen kurzen Überblick über die bisherigen Darstellungen zur Frage des Ursprungs, der Urheimat und der Wanderungen der Indogermanen und setzt sich dann sehr eingehend mit den Vertretern der Ostthese, vor allem mit Koppers, Nehring, Brandenstein, Pittioni und anderen auseinander. Die von den genannten Autoren in dem Buche „Die Indogermanen- und Germanenfrage. Neue Wege zu ihrer Lösung“ (= Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik. Band IV, Salzburg und Leipzig 1936) auf- gestellten Thesen werden eingehend geprüft, vor allem die These von Koppers, der auf Grund der sogenannten hirtenkundlichen Elemente in der indogerma- nischen Kultur und des Pferdeopfers bei den Indogermanen einen engen Zu- sammenhang zwischen Indogermanen- und Innerasiatentum zu beweisen sucht. Der Verfasser kommt dabei zu dem Schluß, daß erstens die von Koppers und anderen aufgestellten Parallelen weithin gar nicht zu Recht bestehen, daß z. B. die Koppers’schen Tabellen wissenschaftlich unmöglich sind. Wo Par- allelen bestehen, können diese aus alteuropiden Zusammenhängen oder aus Übertragungen von den Indogermanen in den innerasiatischen Bereich erklärt werden. In dieser Beweisführung wird aber nicht nur von den ethnologischen, sondern auch von den kulturgeschichtlichen, sprachgeschichtlichen, rassenkund- lichen, religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Gesichtspunkten her das Problem erörtert, in der Überzeugung, daß nur eine umfassende, uni- versalgeschichtliche Betrachtung uns in der Indogermanenfrage weiterhelfen kann. Der Verfasser kommt zum Schluß, daß nach den uns aus diesen ver- schiedenen Bereichen bis jetzt vorliegenden Tatsachen die These einer Ost- heimat der Indogermanen, vollends einer asiatischen, nicht nur unerwiesen, sondern widerlegt ist, und daß wir allen Grund haben, anzunehmen, daß da, wo heute noch das Indogermanentum seinen Mittelpunktsbereich hat, in Groß- germanien, auch seine Urheimat gewesen ist.

64 Walther Wiist

VON INDOGERMANISCHER RELIGIOSITAT: SINN UND SENDUNG:

VON WALTHER WÜST IN MÜNCHEN

I.

Es ist in Goethes „Faust“, im fünften Akt der Tragödie Zweiter Teil. Wir befinden uns nach den Worten des Dichters in einem weiten Ziergarten. Ein großer, gradgeführter Kanal wird sichtbar und Faust selbst, wie er im höchsten Alter nachdenklich wandelt, derweilen Lyn- ceus, der Türmer, durchs Sprachrohr die Begebnisse des Abends schil- dert: die sinkende Sonne, die letzten, munter hafenein ziehenden Schiffe und unter ihnen den bunten, großen, mit Kisten, Kasten, Säcken be- ladenen Kahn, der auf dem Kanale mit frischem Abendwind heransegelt als ein Sinnbild tätigen Lebens. Mephistopheles, die drei gewaltigen Ge- sellen entsteigen ihm, die reichen, aus fremden Weltgegenden stammen- den Güter werden ans Land geschafft, und nun hebt Mephistopheles an: „So haben wir uns wohl erprobt, vergnügt, wenn der Patron es lobt.

Nur mit zwei Schiffen ging es fort,

mit zwanzig sind wir nun im Port. Was große Dinge wir getan,

das sieht man unsrer Ladung an.

Das freie Meer befreit den Geist,

wer weiß da, was Besinnen heißt!

Da fördert nur ein rascher Griff,

man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff, und ist man erst der Herr zu drei,

dann hakelt man das vierte bei;

da geht es denn dem fünften schlecht, man hat Gewalt, so hat man Recht.

Man fragt ums Was, und nicht ums Wie. Ich müßte keine Schiffahrt kennen:

Krieg, Handel und Piraterie,

dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“

Faust aber, an den diese Worte eines tätigen, ja gewalttätigen Lebens gerichtet sind, hat weder Gruß noch Dank. „Er macht ein widerlich Gesicht; das Königsgut gefällt ihm nicht.“ „Mit ernster Stirn, mit

ı Vortrag, gehalten am Donnerstag, dem 24. August 1939, im Rahmen der „Salzburger Wissenschaftswochen“, veranstaltet vom Reichsministeriam für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sowie von der Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“.

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung .. 65

düstrem Blick“ vernimmt er sein „erhaben Glück“, und als Mephisto- pheles nach den Gründen der tiefen, grimmigen Pein forscht und Faust dem Vielgewandten antwortet:

„die Alten droben sollten weichen,

die Linden wünscht’ ich mir zum Sitz, die wenig Bäume, nicht mein eigen, verderben mir den Weltbesitz.

Dort wollt’ ich, weit umher zu schauen, von Ast zu Ast Gerüste bauen,

dem Blick eröffnen weite Bahn,

zu sehn, was alles ich getan,

zu überschaun mit einem Blick

des Menschengeistes Meisterstück ...“,

da ist, vom Türmer erspäht, das greuliche Entsetzen, das schreckliche Abenteuer, der unbesonnene, wilde Streich des Mephistopheles und seiner Gesellen, der Mord an dem alten Siedlerpaar gegen Fausts Willen gar zu bald geschehen und den greisen Meister umfangen die Schatten der grauen Weiber: Mangel, Schuld, Not und Sorge. Und es ist die Sorge, durch deren Anhauch dann Faust zur Mitternacht desselben Tages er- blindet. Denn die Tat war stärker gewesen als die Lust, das Was stärker als das Wie. Goethe ist von diesem Gegensatz den übrigens viele Stellen in seinem dichterischen und wissenschaftlichen Gesamtwerk, wenn gleich mit anderen Worten und Wendungen, widerspiegeln auch im Rahmen des „Faust“ mächtig bewegt und schicksalhaft durch- drungen gewesen. Denn im gleichen Zweiten Teil seines „Faust“, und zwar im zweiten Akt vor der klassischen Walpurgisnacht auf den phar- salischen Feldern, zu denen der soeben aus der Retorte Wagners ge- schliipfte Homunculus den liisternen Mephistopheles verlockt, spricht das artige Männlein zu seinem Väterchen und Erzeuger, der von Pro- blemen bestiirmt ist, aus Tatenlust die kecken, ironischen Abschiedsworte:

iS oe! Hee ee cae et a eg, Aon,

Du bleibst zu Hause, Wichtigstes zu tun.

Entfalte du die alten Pergamente,

nach Vorschrift sammle Lebenselemente

und füge sie mit Vorsicht eins ans andre.

Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.

Indessen ich ein Stückchen Welt durchwandre,

entdeck’ ich wohl das Tüpfchen auf das i.

Dann ist der große Zweck erreicht;

solch einen Lohn verdient ein solches Streben:

Gold, Ehre, Ruhm, gesundes, langes Leben,

und Wissenschaft und Tugend auch vielleicht.“ Faust und Wagner, Meister und Schüler, Feuergeist und trockner Schlei- cher, aber Forscher und Gelehrter, kurzum Menschen des erkennen- den Lebens beide, wenn auch von zwei gänzlich verschiedenen Seiten

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 1 5

66 . Walther Wüst

dieses Lebens aus dichterisch gesehen und gestaltet, so müssen sie sich an Wendepunkten ihres Erdenwallens von Mephistopheles und Homun- culus bedeuten lassen, daß in ihrem Seinsbereich das Wie wichtiger sei als das Was. |

Damit aber ist eineEntscheidung gefallen, die schlechthin wesen- haft ist für jegliche Wissenschaft, und man wird es mir nicht verargen, daß ich dieser lebens- und sinnkräftigen Szenen in Goethes „Faust“ ge- dachte, als ich mich anschickte, einen so schwierigen und weitläufigen Gegenstand vorzubereiten, wie er notwendig in dem Titel „Von indo- germanischer Religiosität‘“ beschlossen liegt. Denn „indogermanische Religiosität“, das ist bekanntlich ein Teilgebiet der sogenannten „all- gemeinen Religionswissenschaft“ und diese „allgemeine Religionswissen- schaft“ hinwiederum weist ein Wie vor, das, nach Sache oder Sach- behandlung, zerklüftet ist wie wohl kein Wie irgendeiner anderen Geistes- und Kulturwissenschaft. Da begreift ein Fachmann den Gesamt- gegenstand unter den Stichworten „Religionskunde“!, „Hierologie“? und „deskriptive Hierographie“®, ein anderer ihn unter den Begriffen „Mythologie“ und „Mythographie“, oder „Theogonie‘“ und „Kosmogonie“. Derselbe Zeitraum indogermanischer Geistesgeschichte, wie er sich im indoarischen Veda darbietet, wird von Hermann Oldenberg als „Re- ligion des Veda‘, von Alfred Hillebrandt als „Vedische Mythologie“ und in einem Teilausschnitt von Hermann Mandel als „Arische Gott- schau“ behandelt. Was ist hier richtig, was falsch? Mandel scheint von J. W. Hauer beeinflußt, da dieser ein Jahr zuvor ein Buch mit dem Titel „Deutsche Gottschau“ herausgebracht hat. Andere Ausdrücke durch- kreuzen sich mit den bereits vorgeführten, Ausdrücke wie „das Heilige“, „Gottesidee“, „Gottesglauben“, „Religionsleben“.* Hans F. K. Günther hat ein Büchlein „Frömmigkeit nordischer Artung“ veröffentlicht und meint dabei mit „Frömmigkeit“ im wesentlichen dasselbe wie mit dem Fremdwort „Religiosität“.® Den Oberbegriff „Glaube“ setzt man etwa dem Oberbegriff „Religion“ gleich und zerfällt ihn noch in die Unter- begriffe „Glaubensvorstellung“, „Glaubensgeist“, „Glaubensformen“, „Glau- benswert“, „Glaubensleben“, „Glaubenshaltung“. Dabei muß man sich ge- mäß einer Mahnung Hermann Useners® stets bewußt sein, daß „echter Aberglaube ... stets einmal Glaube gewesen“ ist. Solche Entwicklungs- hergänge durchforschte bisher die „Religionsgeschichte“; nun soll dies auf einmal Aufgabe einer „völkischen Glaubensgeschichte“’ sein, wobei ich meinerseits diesen letzten Ausdruck für nicht ganz zweckentspre-

ı E. Hardy, ARW. 4 (1901) 46. 2 Tiele bei Hardy, ebd. 4 (1901) 222. 3 Ders., ebd. 1 (1898) 11 u. und f., 14f. $ Ders., ebd. 1 (1898) 31.

5 Vgl. a. a. O. 7 und 14. 6 ARW. 7 (1904) 15.

? Herbert Grabert, ARW. 33 (1936) 192 u.

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 67

chend halte, weil er sinngemäß nicht nur auf deutsche oder germanische, sondern überhaupt auf jede rassisch einigermaßen geschlossene Glaubens- geschichte, also z. B. die der innerafrikanischen Neger, ebensogut an- wendbar ist. Bei dem Worte „Kirche“ dürfte ein derartiger Zweifel kaum mehr aufkommen, obwohl es im Laufe religiöser Gestalt- und Wissenschaftsbildung nie an zweideutigen Versuchen gefehlt hat, Wort und Begriff „Kirche“ in Eins zu setzen mit Sinngehalten wie „Religion“ oder „Glaube“. Immer wieder hat in solchem Streit die „Religions- geschichte“, wenn sie nur richtig aufgefaßt wurde, ein kräftiges Wört- lein mitzureden gehabt. Aber heutzutage, kaum daß sie es tun will, fallen ihr „Religionssoziologie“, „Religionspsychologie“ und „Religions- philosophie‘‘ als Kinder der einen Mutter „Religionswissenschaft“ ge- schwisterlich in den Arm und dringen darauf, daß „Religion“? in sich etwas anderes sei als der sogenannte „Volksglauben“® und daß man bei ihr grundsätzlich eine „subjektive“ von einer „objektiven“ Seite scheiden müsse.* Mir scheint ein solches Verfahren nicht sachdienlich. Denn auch „die Religion als Tatsache der religiösen Erfahrung und des eigenen Bewußtseins, die Religiosität‘‘ sind sogenannte „objektive Religion“, wie sich später noch klar erweisen wird. Es ist demgemäß auch nicht nötig, der „Religionspsychologie“ eine eigene „Volkstumspsychologie‘“ aufzu- pfropfen oder umgekehrt. Doch es sei genug mit soviel Differentia speci- fica, wobei ich die Gegenstände von „Mythos“ und „Kult“ fürs erste überhaupt unberührt gelassen habe! Tatsache ist und bleibt, daß die im Vorstehenden geschilderte Begriffsbildung, der kein Verständiger eine gewisse Berechtigung aberkennen wird, solange sie sich von jeder lebensfeindlichen Wucherung fernhält, nicht nur eine sprachliche Un- ordnung geschaffen hat, die langsam einem Unfug gleichkommt, son- dern auch insbesondere eine sachliche Unsicherheit, dergestalt, daß Fach- leute wie Liebhaber anfangen, vor lauter Bäumen, wie man im Volks- mund sagt, den Wald nicht mehr zu sehen oder, mit anderen Worten, den tragfähigen Standort, von dem aus allein sich der Gesamtgegen- stand „Religion“ anvisieren läßt, unter den Füßen zu verlieren. Denn das und nichts anderes besagt es, wenn da und dort ernsthaft ge- fragt wird, wo die Grenze zwischen Religion und Zauberei gezogen werden solle®, und man unbedenklich Religion und Magie als Einheit ansieht, wie dies beispielsweise Gustav Mensching in dem voriges Jahr

1 Treffend Hermann Usener, ARW. 7 (1904) 18—20.

2 Vgl. Heinrich Frick, Religionskundl. Beiblatt IX, Nr. 2 (1939) 6 u.: „Wir sind dem Ziel einer wissenschaftlich überzeugenden Definition des Wesens der Religion, die sich allgemein als verbindlich durchsetzen konnte [könnte], ferner ala je.“ l

3 Vgl. Friedrich Pfister, ebd. 33 (1936) 9. 4 Pfister, ebd. 2, 3.

5 So schon Usener, ARW. 7 (1904) 20.

5*

68 Walther Wist

\

erschienenen Büchlein „Vergleichende Religionswissenschaft“ tut!, ohne dabei die entscheidende Mitwirkung des Priestertums zu erwägen. Oder wenn man die Auffassung eines Mitbegründers dieser Religionswissen- schaft, Max Müllers, Religion sei eine Art „Druck des Unendlichen“ ohne weiteres beiseite schiebt?, während Forscher unserer Tage mehr oder minder bewußt an ähnliche Gedankengänge anknüpfen, indem sie von einer „letzten Wirklichkeit“ sprechen. In all diesen Äußerungen, Benennungen und Begriffsordnungen wird m. E. das gleiche falsche Be- zugsverhältnis oder die gleiche ungesunde Überbetontheit wie etwa in der Formulierung, Kult sei eine „Antwort des Menschen’, sichtbar. Denn „Antwort‘ setzt eine Anrede voraus, und es ist nicht ohne wei- teres deutlich, wer den Menschen anredet und von welchem sinnlich- geistigen Raume aus. Kein Einsichtiger, vor allem aber kein unbefangen. Einsichtiger, wird verkennen, daß diese gesamte Lage, wie ich sie mit wenigen Strichen zu zeichnen versucht habe, wirklich gefahrdrohend ist. Der Wesenskern, das Was dessen, das man gemeinhin „Religion“ nennt, scheint sich vor unseren Augen aufzulösen, zersetzt von soviel unechtem, ziellosem Wie einer Wissenschaft, die nach übereinstimmen- dem Urteil von Kennern? bisher weder eine richtige, allgemeingültige Betrachtungsweise ausgebildet noch ein sicheres Verhältnis zu den Da- seinsmächten Welt und Mensch angebahnt hat.

Hier hilft nur Eines: wir müssen uns auf das all den gesamten Sachen und Sachbehandlungen Gemeinsame besinnen und auf alt-neuem Grunde wieder bauen. Der Baustoff dazu läßt sich auf zweifache Weise gewinnen. Einmal durch die kurze Nachprüfung einiger weniger Stich- worte, die ich aus der vorne gegebenen Zusammenstellung auswähle, sodann aber durch die etwas ausgedehntere Würdigung dreier bezeich- nender religionswissenschaftlicher Gedankengebäude, die von Rudolf Otto, Hermann Usener und Herbert Grabert errichtet worden sind. Zur Stichprobe ließe sich sehr viel Nachdenkliches sagen, angefangen bei den rein wissenschaftsgeschichtlichen Fragen wie der Herausbildung einer eigenen Religionswissenschaft zur Zeit der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis hin zu der Erörterung des Ranges und Wertes einzelner aus dem heutigen Gesamtrahmen deutlich ausgeglie- derter Teilgebiete wie der Religionsphilosophie, die immerhin als die bei weitem ältere Betätigung nachweisbar ist. Doch lassen wir dies auf

1 a. a. O. 39; vgl. auch 73f. 2 So E. Hardy, ARW. 4 (1901) 199f.

3 Hermann Mandel, Arische Gottschau 33 u.

4 Vgl. z. B. Usener, ARW. 7 (1904) 24 f. Sinnbildlich für die obigen Zusammen- hänge ist auch, daß Usener im Programmband 7 des „Archivs“ von „Mytho- logie“ schreibt, ich heute „von indogermanischer Religiosität“. Auch die Titel

der großen Sammelwerke „Religiöse Stimmen der Völker“ gegenüber “Sacred books of the East“ usw. sind lehrreich.

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 69

sich beruben! Wichtiger ist anderes, so z. B. das Verhältnis von Reli- gion und Theologie, das ein Dichter wie Emanuel Geibel mit dem unübertrefflichen Verse bestimmt hat:

„Religion und Theologie

sind grundverschiedne Dinge:

eine künstliche Leiter zum Himmel die,

jene die angeborne Schwinge.“ (Sprüche Nr. 23.) Treffendes gegen die Kirchengeschichte hat Grabert gesagt!, und seinen Worten über die Fragwürdigkeit von Theologie und Reli- gionsphilosophie wohlverstanden immer in ihrer Ausrichtung zur allgemeinen Religions- und völkischen Glaubensgeschichte ist von meiner Seite aus nichts hinzuzufügen. Wir sind heute wahrlich weit genug entfernt von einer „psychologischen Analyse“, wie sie einstens von Thomas Achelis befürwortet worden ist. Aber auch die Bedeutung von Mythos und Mythologie ist zeitweise nicht zutreffend einge- schätzt worden. Damit meine ich nicht, wenigstens nicht in erster Linie, daß man der Mythologie vielfach eine „allzu idealisierende Tendenz“ ? unterschob oder daß man irrig im Mythos das „ursprüngliche Zentrum einer primitiven Weltanschauung“? erkennen wollte. Nein! Ich meine vielmehr die allgemeinen Zweifel, die ein Meister der Mythologie wie Hermann Usener gegen sie erhoben hat, wenn er schreibt: „Die Vor- stellungen sind der Gegenstand der Mythologie. Aber diese erfüllt nicht die Erwartung, daß sie die religiösen Vorstellungen mit möglichster Vollständigkeit zu sammeln bemüht sei. Sie berücksichtigt dieselben nur so weit, als sie an Götternamen geknüpft sind“. Oder noch schärfer und weitreichender: „Kann die Mythologie ein ausreichendes Bild der antiken Religion liefern? Sie beschäftigt sich doch nur mit dem Glau- ben: von dem Gottesdienste, in dem die Religion lebendig ist, berück- sichtigt sie im besten Falle die Kultusstätten und die Feste, die Haupt- sache überläßt sie den sog. gottesdienstlichen Altertümern“.? Im Be- wußtsein dieser Enge hatte schon vor Usener Edmund Hardy an der gleichen Stelle® die beachtliche Forderung erhoben, „daß die Mytho- logie aus ihrer Isolierung befreit und zur Religionsgeschichte werden müsse, um sich den Namen einer Wissenschaft ernstlich zu verdienen, in dem Sinne, daß die religiösen Mythen im Zusammenhang mit den religionsbildenden Faktoren und insofern religionsgeschichtlich zu be- trachten sind. Mit anderen Worten, die Mythologie hat in der Religions- geschichte aufzugehen, nicht aber umgekehrt diese in jener“.°

Ein ähnlicher Rangstreit, nämlich der vorhin bereits gestreifte zwi-

1 ARW. 33 (1986) 202. 2 Achelis, ebd. 1 (1898) 2. 3 Achelis a. a. O. 6. Sperrung von mir. + ARW. 7 (1904) 10. 5 ARW. 7 (1904) 7. 6 Ebd. 4 (1901) 215%.

70 . Walther Wüst

schen Zauberei und Religion, beherrscht gleichfalls schon mehrere Jahrzehnte lang die Fachleute, um nicht boshaft zu sagen „die Geister“. Noch Usener hat seinerzeit die Auffassung vertreten, wer Zauberei von Religion trenne, verbaue sich damit von selbst „das Verständnis der Religion“. Allerdings hat Usener gleichzeitig die Erscheinungen der Zauberei großenteils „fremdartig“ geheißen und damit, wenn freilich wohl gänzlich unbewußt und unbeabsichtigt, uns den Schlüssel zum Ver- ständnis dieser wichtigen Erscheinungsgruppe geliefert, insofern als die meisten Zauberriten letzten Endes auf Fremdeinfluß und Einbruch eines artverschiedenen Seelentums dermaleinst zurückgeführt werden können, eine Erklärung, von der ich nur die mancherlei Belege einer allver- götternden, Tier, Stein und Pflanze gleichmäßig BRENNER indoger- manischen Bruderliebe auszunehmen bereit bin.

Auf solche Möglichkeiten wie die ebengenannten den Blick zu richten, hat die Allgemeine Religionswissenschaft trotz aller Morpho- logie und Typologie verabsäumt, ganz einfach deshalb, weil einerseits die Unübersehbarkeit des Stoffes, andererseits die gar nicht selten ge- waltsam durchgepeitschte Vereinfachung desselben Stoffes es nicht zu- ließen. Wir tun hier einen tiefen Blick hinein in den wesenhaften Wider- spruch, in welchem unweigerlich jede allzu starre Systembildung zur lebendigen Erfahrungswirklichkeit steht, wobei ich noch nicht einmal all die theologisierenden Hinter- und Untergründe sowie die unbestreit- baren missionskundlichen Vorteile aufdecke, die eine sogenannte All- gemeine Religionswissenschaft buchen kann und auch de facto ge- bucht hat.?

Fassen wir an Hand dieses notgedrungen kurzen Überblickes zu- sammen, so ergibt sich als bündiger Schluß: die Theorien und System- planungen müssen, so nützlich die Hypothesenbildung an und für sich ist’, während der sich immer deutlicher abzeichnenden kommenden Ent- wicklungsstufe der Erforschung allgemein menschlicher und insbesondere indogermanischer Religiosität so gut wie ganz zurücktreten. Hervor- treten muß dafür wiederum die alte, viel zu früh verworfene Ansicht Max Müllers, daß es „keine Wissenschaft von einer Religion ..., wohl aber eine von vielen“ geben könne*, und dazu die Forderung nach einer „konstruktiven Synthese“, die bewußt aus dem Geist der Zeiten- wende hervorwächst, welcher sichtbar genug sich in der Kulturwissen- schaft des Neuen Deutschland und des Neuen Italien offenbart. Eine derart sich ausrichtende „besondere und vergleichende Religionswissen- schaft“ aber wird vor der Wesenserforschung des „Heiligen“ nicht etwa

1 ARW. 7 (1904) 20. 2 So auch Grabert, ARW. 38 (1936) 192 u. 3 Hardy, ebd. 1 (1898) 33 u. 4 Essays 4 (1876) 139. 5 Hardy, ARW. 1 (1898) 12f.

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 71

zaghaft zurückschrecken!, sondern sie bewußt pflegen und damit: immer mehr in die Nachbarschaft derjenigen Geisteswissenschaft rücken, die zwar zur selben Zeit wie jene entstanden, sich aber eine unbedingt zu- verlässigere Betrachtungsweise erarbeitet hat, der „Vergleichenden indo- germanischen Sprachwissenschaft‘“. Mit einem Schlage wird dann die schwelende Streitfrage ausgetreten sein, welche Forschungsart wert- voller sei, die „Allgemeine Religionswissenschaft“ oder die „Besondere vergleichende Religionsgeschichte“, ganz einfach deshalb, weil trotz aller durchsichtigen Bemühungen auch keine echte allgemeine Sprachwissen- schaft bisher hochgekommen ist noch hochkommen kann, sondern weil das, was man gemeinhin so nennt, ein dürftiges Schattendasein führt, verglichen mit der Lebensfülle und dem Aufgabenreichtum einer wirk- lichen, völkisch gebundenen Geisteswissenschaft. Dann wird aber auch eine auf Irr- und Abwege geratene Theologie ihre in eine sogenannte „Allgemeine Religionswissenschaft“ hineingepumpten, übertriebenen An- sprüche zurücknehmen müssen und, vielleicht mit ehrlichem Staunen, er- kennen, wie unter dem magnetischen Zwang eines kraftvoll echten Wie das großartige Formenfeld des religionsgeschichtlichen Was sich zu- sehends klärt und ordnet. Dann wird zwischen „Allgemeiner verglei- chender und besonderer vergleichender Religionsgeschichte‘‘ genau das- selbe fruchtbare Verhältnis bestehen wie in der „Indogermanischen Sprachwissenschaft“ zwischen allgemein-linguistischer und einzelsprach- licher Forschung. D. h. der gute Philologe soll und muß ein guter Iin- guist sein, der gute Linguist aber ebenso ein guter Philologe. Die Fol- gerungen für das Fach der Erforschung indogermanischer Religiosität ergeben sich daraus von selbst.

Doch ich muß noch einen tüchtigen Schritt weitergehen, damit ich der Haupt- und Kernfrage nach dem Wesen indogermanischer Religio- sität und ihrer Erforschung immer näher rücke. Dieser erkundende Schritt führt wie oben vorweggenommen zunächst in die theo- logisch unterbaute, der allgemeinen Religionswissenschaft verpflichtete und mit Vorstellungen der Menschenbruderschaft reich verbrämte Ge- dankenwelt Rudolf Ottos und seiner Gesinnungsfreunde, von dain den vielfach anders gearteten Bereich der folgerichtig vertretenen Entwick- lungsgeschichte, wofür als hervorragender Vertreter unter anderen Her- mann Usener betrachtet wird, um schließlich von der Höhe völkischer Lebensweisheit bei Herbert Grabert Ausschau zu halten nach den ewigen Gipfeln im Bereiche indogermanischer Religiosität. Es ist mir selbstverständlich im Rahmen dieses Vortrages nur möglich, auf die eigentümlichen Fragestellungen bei Otto einzugehen, die für meine

1 Irrig Friedrich Pfister, ebd. 33 (1936) 13.

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Gedankenplanung wesentlich sind. In diesem Sinne halte ich an Ottos Denkweise fiir weiterfübrend, daß im Mittelpunkte seines „Heiligen“ auch das religiöse Leben, das religiöse Gemüt steht, freilich nur neben der überwältigenden Erscheinung eines Gottes, der nach seinem Wunsch und Willen wiederum dieses religiöse Gemüt in die drei Zustände des mysterium tremendum, fascinosum und augustum versetzt, ein Zustand, der auf Seiten des damit bedachten Menschen ein deutliches Empfinden für Abhängigkeit und Rangordnung sowie den Hang zur empfangenden Un- tätigkeit, auf Seiten des Gottes aber den Entschluß zur Gnade voraus- setzt. Indogermanisch im tiefsten Grunde scheint mir das nicht, da in diesem Bezugsverhältnis weder von einem Vorbild noch von Gleich- berechtigung noch von Freiheit noch von selbständiger Leistung die Rede ist. Im Gegenteil, es wird eine „Gesamtsituation“ angenommen, die als „generelle Störung“ bzw. als „existenzielles Unheil“ erlebt wird, sei es weil das einzelmenschliche Ich von einem ruhenden Weltsein ge- schieden, sei es weil dieses gleiche Ich in einer dem Göttlichen stracks zuwiderlaufenden Richtung aller seiner ichsüchtigen Kräfte befangen ist. Beide Zustände aber verkörpern letzten Endes „Sünde“, „Isolierung vom Numinosen“!, die ihrerseits auch wieder, genau wie das Leben und Er- leben selbst, der Regelung von einer „heiligen Überwelt“? her grund- sätzlich bedürfen. Ein Grundriß wird sichtbar, der nichts anderes will, als den Menschen aus seinem natürlichen Weltzusammenhang mit Tier und Pflanze herauszureifien®, ihn zu demütigen und den alten Heilsplan christlicher Theologie mit neuen Formeln zu verteidigen, ja zu verherr- lichen. Ein schwerer Widerspruch hiebei ist auch, daß die Erscheinung der Religion zwar für konstant erklärt wird, daß aber für die Erklärung wesenhafter religiöser Erlebnistypen doch sogenannte religiöse Stadien, also geschichtliche Stufen, gewählt werden, ein Beweis dafür, daß man, bewußt oder unbewußt, doch mit einer Entwicklung rechnet.

Mit diesem Stichwort ist die Usenersche Umwelt erreicht, in die Begriffsbestimmungen Max Müllers hineinspielen, dann beinahe eine Satire! die Ansicht Edmund Hardys, es müßten sich geradezu Voraus- sagen religionsgeschichtlicher Entwicklung aussprechen lassen ?, der aber auch ein sinnbildlicher Werktitel wie „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ entwächst und der ganze, vor gar noch nicht langer Zeit be- sonders heiß und zäh geführte Kampf, ob in der Erscheinungswelt der Religion denn überhaupt der Entwicklungs- und Fortschrittsgedanke

1 Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft 145 u,

2 Mensching a. a. O. 9, 144.

3 Mensching spricht in diesem Zusammenhang unmißverständlich von einem „Genus des Seins vor aller Tat und Gesinnung“, 2.8.0. 144 u.

4 ARW. 1 (1898) 34f.

A

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 73

möglich, ja statthaft sei. Dem Nein aller christlichen Orthodoxie mit einem Entfaltungsbegriff entgegenzutreten, ist bedenklich. Enthält er doch Anlagen zu einer Art Leibnizscher „prästabilierter Harmonie“ und wird eben der Orthodoxie auch deswegen nicht passen, weil die Ent- faltungsschwierigkeiten! es zum mindesten ahnen lassen, daß eine Reli- gion nicht geoffenbart sein könne, was den Entrüstungssturm der Gegner nur verdoppeln dürfte. Man wird mit dem Entwicklungsgedanken auch nicht fertig, indem man, wie Mensching, feststellt, daß die „Frühreligion allenthalben so gut wie identisch ist“, ein Zugeständnis?), das m. E. ledig- lich geeignet ist, in maiorem gloriam ecclesiae zu wirken, da nun einmal die Entwicklung als solche nicht scheint geleugnet werden zu können. Nein! Die Hauptfrage bleibt: „Ist denn der Entwicklungsgedanke über- haupt ‘eine moderne Erkenntnis’“?* Hier bezieht Usener, einer für viele, Stellung, indem er der Religionsgeschichte „die große Aufgabe“ zuweist, „das Werden und Wachstum des menschlichen Geistes von den ersten Anfängen bis zu den Punkten aufzuhellen, wo mythische Vor- stellung durch vernünftige Erkenntnis und religiös gebundene Sitte durch freie sich selbst bestimmende Sittlichkeit abgelöst wird“. Zwangsläufig stößt zu dieser Aufgabe die Forderung des gleichen Usener: „Wir müssen uns gänzlich frei machen von den Vorstellungen unserer Zeit und Kirche, wenn wir ältere Stufen verstehen wollen“. Oder: „Wir haben gesehen, daß die mythologischen Gebilde und religiösen Formen durchweg vor- geschichtlicher Zeit angehören; sie verdanken ihre Entstehung einer Richtung und Form des menschlichen Vorstellens, welche unvereinbar ist nicht nur mit dem Bildungsstand des zwanzigsten Jahrhunderts, son- dern überhaupt mit jeder höheren Kulturstufe“.®

Man verzeihe mir, daß ich diese Belegstellen so ausführlich gebracht habe! Aber sie sind zu lehrreich; sprechen sie doch bis auf wenig Untertöne eine tragikomische Sprache, die Sprache des Liberalismus, der in einem antiquarischen Fortschrittswahne befangen ist, Wissen mit Schöpferkraft verhängnisvoll verwechselt, sich bürgerlich freut darüber, wie herrlich weit wir es gebracht haben, und gänzlich übersieht, daß die großen, uralten Welträtsel genau so ungelöst noch auf uns lasten wie vor tausend und abertausend Jahren. Und wenn Usener’ die Li- turgie als grundlegend für die religionsgeschichtliche Erkenntnis an- sieht, so ist er auch hierin zeitbedingt, indem er an einem Punkt das Christentum aus den Angeln heben will. Dieser Einsicht eignet selbst- verständlich ein Teil Wahrheit. Die ganze Wahrheit aber, auf die wir unnachgiebig vorstoßen, lautet so: Useners Lehrmeinungen sind nur be-

ı Mensching a. a. O. 182 f. 2 Mensching a. a. O. 124.

3 Mensching a. a. O. 127 u. Sperrung von mir. 4 ARW. 7 (1904) 18 u. 5 Ebd. 16. $ Ebd. 27u. 7 Ebd. 80.

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dingt richtig. Denn es gibt ein ununterbrochenes Fortleben heiliger Ge- danken auf allen Gebieten der Religiosität bis in unsere Tage und, so das Schicksal will, bis weit darüber hinaus, Gedanken, auf die wir stolz sind und die wir ehrfürchtig wiederzuerkennen und wiederzubeleben suchen: uraltes Ahnenerbe. Ob das Märchen oder Sinnbilder, Führergestalten oder Brauchtümer sind, sie sind jedenfalls als Kultur- werte ewig, unvergänglich, weil sie aus unserem Blute, aus unserem Lebensraum und aus unserer Urgeschichte gezeugt sind. Hieran vermag kein „Evolutionismus“ zu rütteln. Denn auch das Gesunkene vermag plötzlich wieder aus längst verschollen geglaubten Tiefen zu tauchen.! Und wenn ein Brauch gar nur noch bei Kindern fortlebt, so ist das nach meiner Überzeugung kein Wesensmerkmal seiner Vergänglichkeit, sondern vielmehr ein ergreifendes Zeichen seiner besonderen Lebendig- keit; dauert ein solcher Brauch doch in der völkischen Keimzelle fort, um die sich jederzeit die älteren Lebens- und Jahresringe wieder herum- schließen können, wie z. B. um deutsche Staatsjugend die Schutzstaffel des Führers bei der Sonnwendfeier. Und wer will bestreiten, daß dies nicht von je so gewesen ist! Diese und ähnliche Gedanken haben sich heute bereits breite Bahn gebrochen und werden es immer mehr tun. In ihrer Wahrnehmung befinde ich mich in erfreulicher Übereinstim- mung mit J. W. Hauer und seiner Absage an den Fortschrittsgedanken in der religionsgeschichtlichen Entwicklung?, in Übereinstimmung aber auch mit einem Begründer der gegenwärtigen Religionsforschung, Al- brecht Dieterich’, und sogar, wie ich vermeine, mit Gustav Men-

1 Dies gegen Usener a. a. O. 32 m.

2 ARW. 33 (1936) 158f., besonders treffend 158 u.

3 Beleg bei Grabert, ARW. 33 (1936) 194: „Nur wer die ganze Kultur eines Volkes kennt und im ganzen zu erkennen sucht, kann die Religionsgeschichte und die tieferen Probleme fördern.“ So schon Edmund Hardy, ebd.1(1898)15. Richtige Sicht bricht bei Usener durch, wenn er, ebd. 7 (1904) 11 u. (vgl. auch 12 m.) bemerkt: „Alle wichtigeren Fortschritte der Kultur haben sich in Götterglauben und Mythus eingegraben“, folglich, ergänze ich, müssen diese heute auch noch da sein. Was Mensching anbetrifft, so beziehe ich mich auf folgende Stellen in seinem schon öfter erwähnten Büchlein „Vergleichende Religionswissenschaft“ : 140 („ur- alte Grundmotive“, „uralte Motive“ und die merkwürdige Feststellung, daß die Kirche „die überwundenen Religionsvorstellungen als pädagogisches Mittel“ gelten läßt); 139 („Formen aus grauer Vorzeit“. Wenn M. dann äußert: „Be- sonders im Kultus wird Vernunft so oft zum Unsinn“, so spricht hier der Fort- schrittsgedanke vernehmlich mit); 139 („angestammte Religion“, der gegenüber die Fremdreligion sich nur durch Gewalt „auf die Dauer“ erhält; „artgemäße Formgebung“); 138 („religiöse Erfahrung der Väter“); 137 („Anfangsverbunden- heit“ eines Reformators. Dieses Aufbrechen der ,Anfangsverbundenheit* kann m. E. nur durch rassische Erbanlage erklärt werden; widrigenfalls man ja in Gegensatz zu den Naturgesetzen geriete, dann nämlich, wenn ein Gott den Zu- stand der „Anfangsverbundenheit“ hervorgerufen hätte). Völlig irrig dagegen

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 75

sching. Bekennen wir uns also, aus strengster wissenschaftlicher Er- kenntnis heraus, zu diesem Gedanken des Ahnenerbes und derleben- den Dauerüberlieferung, den ein verflossener Abschnitt deutscher Religionsforschung verständnis- und geschmacklos genug mit der fremd- ländischen Bezeichnung survival abtun zu können geglaubt hat. Angesichts solcher und anderer Umstände ist es kaum verwunder- lich, daß Herbert Grabert in einem großangelegten Aufsatze, betitelt „Allgemeine Religionsgeschichte und Völkische Glaubensgeschichte. Ein Beitrag zur Frage Volk und Glaube ...“1 einer derartig umkämpften Wissenschaft den Spiegel vorgehalten und sie wieder einmal an das große Wie erinnert hat mit den mahnenden Worten, es gehe „nicht mehr um einen Methodenstreit, sondern um die jedesmal dahinterstehende Weltanschauung und Werthaltung der einzelnen Forscher, von denen sich niemand freimachen kann“.” Diese Grundeinstellung teile ich mit Gra- bert, der darüber hinaus tiefgreifende Einsichten sein Eigen nennt und mit dem ich eine weite Strecke Weges voll Überzeugung gehen kann. So in bezug auf die Deutung der ,, Lebensmitte“*® oder in der Auslegung des Glaubens als der „Schwungkraft und Quelle alles Gestaltens“4, wie nachher noch deutlicher werden wird, oder in der Forderung, daß dieser Glaube nicht „eine besondere Angelegenheit“ sein darf, die „neben oder jenseits vom völkischen Leben sich“ abspielt.” Auseinander gehen unsere Ansichten dort, wo Grabert beginnt, zu sagen, was er unter „Glaube“ im einzelnen versteht. Zunächst ist „Glaube“ bei Grabert, der sich hierin seinem Lehrer J. W. Hauer‘ anschließt, völlig verschieden von „Reli- gion“, und zwar deswegen, weil „Religion“ wiederum gemäß Gra- bert soviel wie „Kirche“ ist und dementsprechend „Religionsgeschichte“ gleich „Kirchengeschichte“. Grabert versucht diesen Wechsel in der Fachsprache zu begründen und Unterschiede zwischen Religion und Glaube aufzuzeigen’, allein ich muß mich als nicht überzeugt bekennen und diesen Wechsel für eine unnötige Verwechslung erklären. Wir sollten nicht so leichten Herzens ein Begriffs- und Gegensatzpaar um- stoßen, an dessen Klärung und Herausarbeitung beste in- und auslän- dische Wissenschaft nahezu ein Jahrhundert erfolgreich tätig gewesen ist. Doch könnte man sich schließlich und trotz allem mit einer der- art weittragenden Änderung in der Terminologie allgemach abfinden. Schwerer wiegt etwas Anderes. Grabert spricht seinem „Glauben“ Kräfte zu, sogenannte „Glaubenskräfte“, ohne sich genauer darüber auszulassen, will Mensching a. a. O. 137 u. die „dynamische Frömmigkeit“ von der Masse der Menschen trennen und sie dem schöpferischen Einzelnen zuweisen, ı Erschienen im ARW. 33 (1936) 191—220. a. a. O. 192. 3 a. a. O. 214f. t a. a. O. 196 u. 5 a. a. O. 201 f.

2 c Glaubensgeschichte der Indogermanen 1 (1937) VII. 7 a. a. O. 197, 200, 198.

16 Walther Wüst

was er mit diesen „Glaubenskräften“ meint.! Wenn ich recht sehe, ist darunter etwa „Willenskraft“ zu verstehen, insofern als „nicht irgend- welche religiösen Einrichtungen oder Verrichtungen ... als unmittelbare Glaubenszeugnisse zu gelten [haben], sondern die Art, wie ein Volk als Lebensganzes sich verhält, wie es kämpft, seine Eigenart schützt, wie essein Leben in Freude und Leid, in Arbeit und Kampf, in Recht und Er- ziehung, in Ehe und Sippe gestaltet. Nicht das religiöse Bekenntnis, sondern die Lebensart eines Volkes macht seinen Glauben aus“.” „Glaube, so ge- sehen, ist völkisches Seelentum. Und völkisches Seelentum entfaltet sich in der Geschichte einer Volkswerdung. Die Geschichte ist nichts anderes als der Weg eines Volkes zu sich selbst‘‘.3 Ich befürchte, Grabert ist hier in ent- scheidender Weise fehlgegangen. Nicht nur, daß der von ihm vertretene „Glaube“ begrifflich viel zu weit, ich möchte fast sagen, zu schwammig be- stimmt ist, stellt das, was hier „Glaube“ heißt, auch einen ausgesprochenen Hochglauben, eine Art Lebensphilosophie dar, die durchaus nicht für jeden Durchschnittsmenschen faßbar oder gar tauglich ist. Denn Grabert setzt in seiner Gedankenführung unverkennbar ein rassisch einheitliches Volk voraus, was das deutsche nach dem Urteil aller Kenner aber nicht oder noch nicht ist. Und wie will Grabert diese Hauptfrage richte ich an ihn! einem solchen Volk beweisen, daß das, was er als Glau- bensgeschehen mit seinen dem vollsten Tatleben entnommenen Bei- spielen schildert, sittlich recht ist? Wird das Ende eines solchen „Glaubens“ nicht unter Umständen plattester Materialismus oder anar- chistischer Individualismus sein, nur weil der Einzelne für sein Glaubens- leben keinerlei Richtschnur hat oder aus rassischen Gegebenheiten ein- fach nicht haben kann? Mich bedünkt, hier gilt das weise Wort Her- mann Useners: „Von keiner Sphäre des menschlichen Geistes haben wir philosophische Spekulation ferner zu halten als von der Religion“. Zugleich wird aber „Glaube“ als das sichtbar, was er wirklich ist: als ein Teil des völkischen Seelentums, als eine Kraft, die unverdrossen

durch die Jahrtausende her daran schafft, einen Kern sichtbar zu machen,

ein Erbe zu gestalten, das Einzelleben zu überhöhen, als eine Gleich- mittigkeit im Innern des umschließenden Volkskreises, eine Schatz- kammer tief drinnen im Erbhof der Nation, wo das heilige, kostbare Gut der Ahnen und Altvorderen verwahrt, von Zeit zu Zeit durch Hinzufügen köstlicher neuer Geräte gemehrt und an den Hoch - Zeiten einem ehrfürchtig staunenden Volke gezeigt wird, Vorbild zu Freude, Frommsein und Freiheit.

1 a. a. O. 200—203. Insofern ist es auch nicht leicht, im Sinne der Grabert- schen Forderung (204 u.), „die vom Christentum nicht gebundenen Glaubens- kräfte aufzusuchen und in ihrer Wirksamkeit aufzuzeigen“.

2 a. a. O. 214. 3 a. a, O. 201. 4 ARW. 7 (1904) 27 u.

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 17

II.

Mensch, Ahnenerbe, Glaubenskraft oder, verdichtet, der völkische Mensch in seiner Glaubenskraft des Ahnenerbes, das ist der Dreiklang, für den sich jeder Einsatz lohnt, weil in ihm das Wesen der Religion beschlossen ist. Denn Religion erschöpft sich keineswegs darin, „Beziehung... zu einer unsichtbaren Welt‘!, eine „Gottschau“ zu sein oder „irgendwie eine irgendwie geartete Einheit mit der Gottheit zu gewinnen“.? Lauter Begriffsbestimmungen, die, „wie das nicht anders sein kann“, auch nach einem so unverdächtigen Eingeständnis wie dem Gustav Menschings®, „mehrere Unbekannte enthalten“ und zudem ein völlig schiefes, einseitiges Rangverhältnis zwischen dem Einzelmenschen oder ebenso wesentlich der Volksgesamtheit und einem über ihnen stehenden Außen bedingen. Dem Tüchtigen ist aber auch diese Welt nicht stumm“, genau so wie das „Numinose“ nach der Ansicht seines geistigen Urhebers, R. Ottos, im Meister, im Prediger, im Sädhu, im Reformator menschliche Gestalt angenommen hat. Wohin wir uns wen- den nach dem Religiösen in uns, außer uns, um uns, überall stoßen wir auf den Geist des Menschen, „der die wichtigste Tatsache seines Be- wußtseins, die Beseeltheit, auf das Unbekannte anwendet und überträgt“®, und damit auf den Menschen selbst. In seinem umstürzlerischen Buch „Das Wesen des Christentums“ hat Ludwig Feuerbach es ausgesprochen: „Der Mensch ist der Anfang der Religion, der Mensch der Mittelpunkt der Religion, der Mensch das Ende der Religion.“ In ihrem Stolz sind diese Worte vielleicht zu schroff ausgefallen, aber Tatsache war, ist und bleibt, daß der Mensch es ist, der die Gottheiten ersinnt und benennt, die Mythen und Legenden dichtet, im Gottesdienst und Opfer das reli- giöse Leben gestaltet, sich zu religiösen Gemeinschaften aller Art zu- sammenschließt und Feste feiert, zaubert, Magie treibt, betet, Gelübde auf sich nimmt und sich kasteit, leidet und jauchzt, blutige Glaubens- kriege führt und schließlich die Wissenschaft von der Religion begründet hat. Der Mensch, der Mensch, der Mensch ... und nicht das Tier und nicht die Pflanze, so wenig wie Tier oder Pflanze Sprache, Wissenschaft im allgemeinen oder Kunst ihr Eigen nennen.® Tier und Pflanze haben

1 Achelis, ARW. 1 (1898) 6.

2 Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft 141.

3 a. a. O. 141. * Goethe, Faust, II. Teil, 5. Akt.

5 Usener bei Schrader, Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde 2% (1929) 248, Sp. 1.

Das Tier besitzt Staatsformen, treibt Musik und plastischen Nestbau und erteilt lautliche Signale. Aber es fehlen ihm, wie noch einmal betont sei, die Hochformen der Religion, Kunst, Sprache und Wissenschaft. Daß in dieser Zu-

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keine Religion, nur dem Menschen scheint von Natur aus eine religiöse Teilanlage seines Seelenganzen zu eigen zu sein. Denn es gibt keine so- genannten „religionslosen“ Völker. Und trotzdem scheint mir die unbe- streitbare Tatsache, daß der Mensch durchgängig „Religion“ besitzt, genau so sehr oder wenig wichtig wie die andere Tatsache, daß er Augen hat. Entscheidend ist vielmehr, wie er beides hat. Und damit stehen wir wiederum bei dem großen Schicksalspaar „Was und Wie“, aufs Religiöse angewendet, bei der Glaubenskraft, dem Gestaltungsvermögen, den ganzen, ungeheuren Bereich des religiösen Lebens, der religiösen Formen- und Erscheinungswelt aufzufassen und zu durchwalten in einer unaufhörlichen, unauflöslichen Verschmolzenheit von Neuschöpfung und Urbeginn. Wir stehen mit einem Worte bei der Religiosität. Noch herrscht erfreulicherweise! keine volle Einmütigkeit unter den gerade auf diesem Gebiete arbeitenden Forschern über den Sinngehalt des Wortes, noch schwanken die Gelehrten in der Begriffsbestimmung zwischen „Bindung und ihrer Begrenzung“!, zwischen Verpflichtung und „Herzenston des Zusammenklangs von Gott und Mensch“?, zwischen ausschließlicher Frömmigkeit und der Feststellung: „Religiosität gehört zum Verschleiertsten, der Selbstbeobachtung und nun gar der überlegten Darstellung gegenüber Sprödesten‘“.? Aber soviel ist bereits hinreichend klar: unter dem Zeichen der Religiosität bedarf es keiner aufreibenden Rangstreitigkeiten mehr zwischen all den Sachgebieten Mythologie, Kultus, Gottschau, Mystik und dergleichen mehr, weil sie innerhalb dieser Bezogenheit sämtlich gleichwertig sind. Die Entscheidung ist an den Gestalter der Religiosität, den Menschen, zurückgefallen. Ferner ent- springt alles Fragen nach Religiosität dem tiefeingewurzelten Streben

ordnung Religion insbesondere mit Wissenschaft und Kunst zusammensteht, hat bereits Goethe in seinen „Zahmen Xenien“ vorweggenommen:

„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion;

wer jene beiden nicht besitzt,

der habe Religion.“

Die Auffassung Menschings, Vergleichende Religionswissenschaft 117 u.: „Wissen- schaftliche Welterkenntnis kann somit die religiöse Weltansicht in keiner Weise erschüttern, denn beide meinen etwas grundsätzlich Verschiedenes“ vermag ich nicht zu teilen, da sie durch die Geschichte der Menschheit und ihre Rich- tung gründlich widerlegt wird. Hat das Denkerlebnis eines Forschers in Stu- dierstube oder Laboratorium nichts Religiöses an sich? Übrigens sind die Sachgebiete der Sprache und der Kunst ausgezeichnete Beispiele, um wie oben bereits geschehen den Evolutionismus zu widerlegen. Man denke an den Hochstand des Vedischen oder an den der germanischen bronzezeitlichen Kunst.

1 So Walther Heinrich Vogt, ARW. 86 (1938) 1. 2 Vogt a. a. O. 4,

s Vogt, Forschungen und Fortschritte 15 Nr. 19 vom 1. Juli 1989, 246.

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des Menschen nach Werterkenntnis, nach Werthaltung! für ihn selbst und sein eigenes Leben und Erleben. Immer wieder schimmert das Art und Ausdruck durchleuchtende Wie vor dem dunkel wuchtenden Was des Tatbestandes, des Stoffes wegesuchend und wegebahnend auf! Religiosität ist aber nicht nur dies. Religiosität ist auch soviel wie „Welt- anschauung“, wobei Weltanschauung (in Anlehnung an Uexküll) als die wesenbezeichnende Art eines Menschen, eines Volkes, einer Rasse gefaßt wird, die Weltwirklichkeit zu erleben, zu gestalten und darin und dar- nach das eigene Leben zu einer höheren Einheit zusammenzufassen. Man wende mir nicht ein, solch eine Religiosität sei nichts anderes als eine ganz gewöhnliche „Diesseitsreligion“, Nein! Dort wo Volk und Volksreligion erlebt und gestaltet werden, ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Einem zugleich, ist gültige Ewigkeit.2 Schließlich und im höchsten, letzten Sinne ist Religiosität „Glaubensenergie“, wie Friedrich Pfister sagt? oder nach H. Graberts und meinem Sprachgebrauch Glau- benskraft. „Diese Glaubensenergie ist nicht lediglich eine blinde Kraft, sondern sie ist ein Fühlen, Vorstellen und Wollen, in ganz bestimmter Ausprägung rassisch gebunden, und sie gehört einem Volke ebenso fest an wie seine übrigen geistigen und körperlichen Merkmale und vererbt sich ebenso wie diese fort“. In dieser Eigenschaft aber ist Glaubens- kraft ebensogut ruhender Mittelpunkt wie der ungebrochene, unersätt- liche Wille zum Hauerschen „Polymorphismus“ 5 wie auch das erhabene neti, neti indoarischer Brahmanenweisheit, alles in allem das Tor zur Freiheit. Daß ein Vortrupp deutscher Religionsforschung der Gegen- wart nach verschiedenen beachtlichen Ansätzen in den letzten Jahr- zehnten’, im Drang nach Innen den entscheidenden Inhalt und die un-

1 Ähnlich so Vogt, ARW. 36 (1938) 1.

2 Ähnlich Hans Lüdemann, Sparta. Lebensordnung und Schicksal 28. Vgl. auch Albrecht Dieterich, ARW. 7 (1904) 2, 8f.

3 ARW. 33 (1936) 11 u., 12 u. und f.

4 Pfister a. a. O. 11 u. und f. 5 Ebd. 33 (1936) 158.

¢ Albrecht Dieterich drückt das so aus: „Wahrhafte geistige Befreiung auch aus den religiösen Fesseln und Nöten der Zeit wird dem wissenschaftlich Ge- bildeten nicht durch Negation oder Position, durch Vermittelung oder Umdeu- tung gewonnen, sondern allein durch geschichtliche Erkenntnis“ (ARW. 7 [1904] 4). In diesem 1904 geschriebenen, erstaunlich treffsicheren Satz sind nur zwei Änderungen nötig: man lese „konfessionell‘‘ statt „religiös“ und statt „dem wissenschaftlich Gebildeten“ „dem Mitmenschen und Volksgenossen“.

? Ich verweise besonders auf Hardy, ARW. 1 (1898) 25: „Es existieren in Wirk- lichkeit nur die konkreten religiösen Thatsachen, und auch diese nur in und mit den Individuen, welche der Möglichkeiten unbegrenzt viele besitzen, sich, den ins unbegrenzte variierten Lebensbedingungen entsprechend, im Verkehre unter einander und mit der sie umgebenden physischen Außenwelt zu verändern.“ Auch die sich noch anschließenden Sätze sind sehr lehrreich. Ferner vergleiche man Usener, ebd. 7 (1904) 9 u. und f.: „Alle tieferen Eindrücke unseres Gemüts

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erhörte Reichweite des Sinnwortes „Religiosität“ erkannt und diese Goldader der Erkenntnis auszubeuten entschlossen ist, wird davon bin ich fest überzeugt das Wesensmerkmal unserer gelehrten, aber volksverbundenen Arbeit im kommenden Vierteljahrhundert sein.

III.

Die Drei-Einheit Mensch Ahnenerbe Glaubenskraft ist geborgen in einer ebenso dreifachen Einheit von Lebensordnungen, die man mit den Kennworten Landschaft Blut Geschichte! oder unter Ver- zicht auf den wissenschaftsgeschichtlichen Verlauf Rasse Raum Zeit (Überlieferung) erfaßt, wobei zwischen Rasse und Raum oder Blut und Boden ein besonders urtümlicher Zusammenhang besteht. Das sind drei Gegenstände, von denen einer gewaltiger ist als der andere, so daß ich mir nicht anmaßen kann, sie alle drei im Rahmen dieses Vortrages auch nur annähernd zu erschöpfen. Nur um Grundlinien kann es sich deshalb in jedem der drei Sachgebiete handeln.

Noch Hardy? wollte die „Ordnung aller überlieferten Thatsachen des Religionslebens nach den Formen des Raumes und der Zeit“ vor- nehmen; heute wissen wir, daß Religiosität zu allererst eine seelisch- leibliche Tätigkeit des Menschen und damit auch eine solche der Rasse ist. Diese Erkenntnis lassen wir uns durch niemanden mehr streitig machen, am allerwenigsten durch den oder jenen Schriftsteller der Gegen-

vermögen sich noch heute zu religiöser Empfindung zu verdichten. Und diese Empfindung äußert sich gleichsehr nach innen wie nach außen, in Vorstellun- gen und in Handlungen, in Glauben und Gottesdienst“, des weiteren Dieterich,. ebd. 8 (1905) 2f. (die Aufdeckung „des uralten, ewigen und gegenwärtigen... Untergrundes‘‘), ja sogar Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft 8. W. Nestle gebraucht den Ausdruck „griechische Religiositat (ARW.84[1987]119°), nachdem schon vorher ebd. 24 (1926) 244 f., 257 f. über den Unterschied grie- chischer und römischer Religiosität gehandelt worden war. Wolf Aly verwendet wenigstens den Aufsatztitel „Über das Wesen römischer Religiosität“ (= ARW. 33 [1936] 57—74), wenn er auch in der Stoffbehandlung alte Geleise wandelt, z. B.: „Freilich können wir den Geist nur in seiner Verwirklichung an Objekten er- kennen“ (57). Der Angelpunkt, der in dem Worte „Religiosität‘ liegt, ist nicht erkannt und auch nicht bezeichnet. Statt dessen erörtert Aly römische Einzel- götter. Am weitesten vorgestoßen ist unter all den Genannten Walther Heinrich Vogt, Altgermanische Religiosität (= Forschungen und Fortschritte 15, Nr. 19 vom 1. Juli 1989, 246—248). Ich verzeichne mit Genugtuung für uns beide und die von uns erkannte Wahrheit, daß ich unabhängig von Vogt auf die gleiche wissenschaftsgeschichtliche Gedankenrichtung gekommen bin, die sich in der Linie Mythologie Religionsgeschichte Glaube Religiosität darstellt. Nur der Ansicht Vogts, daß Religiosität dem Bereich der sogenannten „subjek- tiven Religion‘ zugehöre, vermag ich nicht beizupflichten.

1 So Grabert in seinem mehrfach erwähnten Aufsatz in ARW. 83 (1986) passim.

2 Ebd. 1 (1898) 31.

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wart, wie z.B. Christel Matthias Schröder, dessen überhebliche, einen wesensmäßigen Zusammenhang zwischen Rasse und Religion leugnende Thesen J. W. Hauer in verschiedenen Veröffentlichungen und für jeder- mann faßlich ad absurdum geführt hat.! Es mag, wie auch Hauer richtig hervorhebt, noch so viele Unbekannte in diesem Verbältnis geben, die Bindung als solche besteht. Hölderlin hat sie geahnt in den Urworten „... das meiste nämlich vermag die Geburt“, ein Völkerkundler vom Range des kürzlich verstorbenen Amerikanisten Konrad Th. Preuß hat sich zu ihr bekannt, und die Religionsforschung scheint seiner eindring- lichen Mahnung langsam zu folgen, wenn sie, gestützt auf die guten Beispiele nur ihres Fachs allein, von der „in jeder Religion vorliegenden Einmaligkeit ihrer Lebensmitte“? oder von „Anfangsverbundenheit‘‘3 oder von „der Unproduktivität der Mehrzahl der Menschen auf dem Gebiete des religiösen Lebens“? spricht. Nicht anders verhält es sich ja auch mit ganzen Völkern und Rassen. „Nordische Rasse und Indoger- manentum gehören von Uranfang an zusammen‘, Blutmischung und Ent- artung wirken sich schicksalsträchtig bei Kelten und Römern, Griechen und Hethitern, Iraniern und Indoariern aus: ich denke an den wohl nicht-indogermanischen Einschlag im Druidentum®, an die erschütternde Entwicklungslinie vom Veda zu den Upanisaden, nachdem noch der Rgveda (II 3, 5) verkündet hatte: „Es sollen sich die göttlichen, gern betretenen Tore weit auftun, unter Verneigung angerufen. Die geräu- migen, alterlosen sollen sich breit machen, die angesehene, aus Meistern bestehende Rasse heiligend“ (K. F. Geldner). Der gleiche Klang ist ver- nehmlich in der Darius-Inschrift zu Behistun, deren einzigartige sitt- liche Haltung und Überlegenheit gegenüber dem gesamten vorderasia- tischen Schrifttum der Nicht-Indogermanen nahezu allgemein anerkannt ist. Selbstverständlich lassen sich aber auch aus den nicht-indogermani- schen Religionen ähnlich schlagende Beispiele beibringen; ich denke nur im Vorübergehen etwa an die Todeshaltung der ägyptischen Religion.’ Grundsätzlich ist als Forderung für das Gesamtgebiet aufzustellen, daß viel, viel mehr als bisher die Verfallszeiten indogermanischer Einzel- religionen zu studieren sind, sei es, weil zu den weltgeschichtlichen

1 Ich erwähne seinen Aufsatz im ARW. 34 (1937) 81—97 und das von ihm mit anderen herausgegebene Buch „Glaube und Blut. Beiträge zum Problem Reli- gion und Rasse‘ (Karlsruhe—Leipzig 1938).

2 Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft 141. Die Mahnung Preuß’, ARW. 34 (1937) 353 u.

3 die ich mit etwas anderer Auffassung als die wesenhafte Haltung einer aus Rasse Raum Zeit gezeugten Frömmigkeit ansehe. |

4 Mensching a. a. O. 98. 5 Hauer, ARW. 36 (1939) 4 u. und f.

e J. Pokorny, Mitt. Anthropolog. Ges. in Wien 38 (1908) 34 ff.

7 Mensching a. a. O. 45.

Archiv fiir Religionswissenschaft XXXVI. 1 6

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Stunden der indogermanischen Menschheit in gefährdeten Landschaften ihre rassische, auch religiöse Art und Anlage in hellstem Licht erstrahlt und seelisch-sichtbar wie in Gebärde und Leistung des Einzelnen her- vortritt, sei es, weil nach vollzogenem rassischen Niedergang mischling- hafte Religiositätsformen geboren werden, die man dann ohne tiefere geschichtliche Einsicht so beim Buddhismus, so bei der hellenisti- schen Mysterienreligion dem echten Indogermanentum zur Last legt.!

Kurz kann ich mich fassen in bezug auf das Verhältnis Religio- sität und Raum, nicht nur weil man schon früher, wenn auch irrig, als die „brauchbarste Klassifikation“ der Religion die geographische vorschlug? und von anderem Standort her ebenso Hauer das Gesetz des Raumes ausdrücklich anerkennt®, sondern auch deswegen, weil ich selbst in meinem Beitrag „Raum und Welt-Anschauung“ zu Karl Haushofers Sammelwerk „Macht und Erde“, Bd. HI „Raumüberwindende Mächte“ die ersten Grundlinien zu ziehen sowie durch eine reiche Beispielsamm- lung zu beweisen und zu beleben versucht habe. Auf diese Darstellung sei insgesamt verwiesen. Geopolitik und Anthropogeographie stehen in diesem Teilgebiet der Religiositätsforschung noch vor schweren, aber lohnenden Aufgaben. Man denke nur an den Einfluß des Klimas auf den rassischen Niedergang, nicht minder an den Dämonismus als mittelbare Ausdrucksform eben dieses Seelenbruchs. Weitere Linien wären von hier zu Zauberei und Magie zu ziehen.

Scheinbar am augenfälligsten klar, auch für den Fernerstehenden, liegen die vielfältigen Beziehungen da, die zwischen Religiosität und Zeit geknüpft sind, namentlich dann, wenn das Sinnwort „Zeit“ gemäß alter Übung in Entwicklung, Beharrung und Ausgleich des Geschehens unterteilt wird. Ist es doch „ein ungeheurer Weg, den die Gottesver- ehrung seit ihren ersten Anfängen bis heute zurückgelegt hat“4, und „der Umfang der religiösen Vorstellungen ... unvergleichlich ausge- dehnter, als man gewöhnlich annimmt. Er ist so weit, als der Vorstel- lungskreis mythisch denkender Zeiten überhaupt reicht“. In diesen Ab- lauf Ordnung durch Altersschichtung hineinzubringen, erwies sich somit, immer wieder auch bei methodologischen Anlässen gebührend hervor- gehoben®, als ebenso wichtige wie dringende Aufgabe. Als Ergebnis der

1 So manche Gestaltwerdung des „existenziellen Unheils“ ergibt sich auf diese Weise. Dies nicht erkannt zu haben, ist einer der schwersten Schäden in Chr. M. Schröders Buch „Rasse und Religion".

2 Hardy, ARW. 1 (1898) 31. 3 Glaubensgeschichte der Idg. 1 (1987) XII.

4 Usener, ARW. 7 (1904) 15 und 10.

5 z.B. von Hardy, ARW. 1 (1898) 31 f., 82 f. Die im gleichen Band 7 von Achelis kundgetane Ansicht: „... so wenig entspricht es unserer Absicht, eine chrono- logisch zusammenhängende Religionsgeschichte zu schreiben“ ist eine bedauer- liche Ausnahme.

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vereinten Bemühungen von Religionsforschern, Historikern sowie Philo- logen aller Art kann heute gebucht werden, daß wenige, nachher noch zu behandelnde Fälle ausgenommen volle Einsicht in die Her- gänge der geschichtlichen Zeiten, ihre Bedingtheiten und Auswir- kungen herrscht. Drei große Schwierigkeiten und Fragestellungen haben sich im wesentlichen behauptet. Einmal die aller vorgeschichtlichen Religion. Sie werden uns sofort deutlich, wenn wir an eine Bemerkung Graberts denken: „Wissen wir etwas über den Menschen und die von ihm gestaltete Welt, so wissen wir damit auch etwas über seinen Glau- ben“? und den darin steckenden Denkirrtum etwa an den Neandertaler der letzten Zwischeneiszeit, der bekanntlich noch nicht einmal die Gräberfürsorge kennt, herantragen. Diese Schwierigkeiten werden uns noch klarer, wenn wir uns der kundigen Führung F. Rudolf Lehmanns anvertrauen und „die Religionsgeschichte des Paläolithikums“ in ihrer Verflechtung mit der Völkerkunde durchwandern.” Wir stoßen dabei zweitens nicht nur auf die Frage der Urreligion, die trotz der stattlichen, aber einseitigen Arbeitsleistung des Völkerkundlers und Paters Wilhelm Schmidt zum „Ursprung der Gottesidee“ als gleichfalls ungeklärt gelten muß®, sondern auch auf die nicht minder wichtige Einzelfrage, die Hauer jüngst in die Erörterung geworfen hat, ob .näm- lich die „Anfänge des Himmelsgottglaubens“ nicht in die Eiszeit zurück- reichten.* Sei dem wie ihm sei, wir müssen uns, falls nicht grundstürzende Entdeckungen und Neufunde gelingen, mit der Erkenntnis bescheiden, „daß es nicht möglich ist, den Ursprung der Religion wissenschaftlich zu ermitteln“®, und Hardy hat recht behalten, wenn er gegen den fal- schen Erklärungsgrundsatz der „Annahme einer urmenschlichen Periode der Religionsbildung“ sehr untheologisch, dafür aber um so wirksamer be- reits im 1. Bande des „Archivs für Religionswissenschaft“® Stellung nahm. Die dritte und letzte Schwierigkeitsgruppe, und vielleicht die von der größ- ten Tragweite, besteht darin, Fachleuten und Fernerstehenden immer wieder klarzumachen, daß nicht nur eine irregeleitete Religiosität durch Aufruhr und Glaubenskrieg, Inquisition und Hexenprozeß, sondern in vorderster Linie die Religionsgeschichte selbst das Bild der Weltgeschichte erheb- lich verzerrt hat, einmal dadurch, daß sie in der Religion etwas Über- und Außerweltliches und damit auch Über- und Außergeschichtliches sah, zum andern aber dadurch, daß ein Geschehensablauf als Fortschritt und Entwicklung gedeutet wurde, der in Wirklichkeit gar keiner war. Es hat wahrlich lange genug gedauert, bis die Religiositätenforschung

1 ARW. 38 (1936) 205. 2 Ebd. 35 (1988) 288—306. > Vgl. J. W. Hauer, ARW. 33 (1936) 152—160, besonders 154 f., mit Nachtrag von Friedrich Pfister, ebd. 160 f. + Hauer, ebd. 36 (1939)17. 5 F. R. Lehmann, ARW. 34 (1937) 382. * 25u. 6*

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sich zu dieser allerdings umstürzenden Erkenntnis durchgekämpft hat. Durch die geistige Werkstatt etwa Hermann Useners läuft, wie wir bereits gesehen haben, diese Grenzlinie mitten hindurch.! Aber es steht doch ein Merkstein auf dieser Grenzlinie, die weisen Worte: „Alle volkstümlichen Religionen, von denen wir reichlichere Kunde besitzen, liegen bei dem Eintritt des Volkes in die bezeugte Geschichte fertig vor. Seine Götter und Sagen bringt das Volk als väterliches Erbe in sein geschichtliches Leben mit. Was quellenmäßig festgestellt werden kann, das ist die Ge- schichte ihres Verfalls: ihr Wachstum und ihre Entstehung liegt jenseits der Geschichte. Anläufe zu Neubildungen, wie sie gelegentlich hervor- treten, pflegen selbst Tatsachen des Verfalls zu sein.“? Mit dieser pracht- vollen Aussage, die erstaunlicherweise vor nunmehr genau fünfund- dreißig Jahren niedergeschrieben wurde und seitdem so gut wie ver- schollen war, sind wir in die geistige Heimat indogermanischer Religio- sität gelangt. Hier wird greifbar, was wir in der älteren und ältesten Vorgeschichte vergeblich suchen.

IV.

Ehe wir uns diesem großen und bewegenden Gegenstand, dem zweiten Hauptteil meiner Darlegungen, zuwenden, ist indessen noch eine nicht unwichtige Vorfrage zu klären, die Frage nach den Wissenschaften, die an der Bearbeitung und Aufhellung indogermanischer Religiosität mit- beteiligt sind, und nicht zuletzt die Frage nach ihrer sogenannten Me- thode, d. h. ihrem Verfahren, ihrer Betrachtungsweise. Wert und Reich- weite der einzelnen Wissenschaftszweige sind schnell beschrieben, zumal ich an da und dort im Vorstehenden bereits Bemerktes anknüpfen kann. So z.B. gleich an die Vor- und Frühgeschichte, deren Bedeutung für die Religiositätsforschung unschwer im letzten Abschnitt zu erkennen war.® Ebenso ist es mit der Rassenforschung oder mit ihrem jüng- sten Zweige, der Rassenseelenkunde, bestellt. Ganz besonders eng sind aber von jeher die Beziehungen zwischen Religionsgeschichte und Religionswissenschaft auf der einen Seite sowie der Philologie und Sprachwissenschaft auf der anderen Seite gewesen. Die gesamte

1 Vgl. etwa ARW.7(1904) 29. Im Gegenhalt dazu etwa van der Leeuw, ebd. 29 (1931) 106: „Der Abstand zwischen uns und den Primitiven ist jedenfalls im Religiösen nicht so groß, wie man geglaubt. Der Evolutionismus spukt hier noch immer“.

2 ARW. 7 (1904) 7f.

3 Wenn Hardy, ARW. 1 (1898) 22 u. und f. fordert: „Das [vorgeschichtliche] Material ... muß daher vom eigentlich religionsgeschichtlichen unterschieden werden“, so ist diese Forderung nur zum Teile berechtigt. Man denke nur z. B. an die frühgeschichtlichen Funde altgermanischer Gesittung in ihrem Verhältnis zum vorwiegend schrifttumsgeschichtlichen Tatbestand des indoarischen Veda.

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Wissenschaftsgeschichte beider Fachgruppen, namentlich im 19. Jahrhun- dert mit seiner Aufdeckung der frühvedischen, avestischen, altpersischen, babylonisch-akkadischen, ägyptischen Textquellen und der unendlichen Bereicherung, welche die Religionswissenschaft dadurch erfahren hat, ist dafür ein einziger Beweis. Wenn es auch merkwürdigerweise immer mehr die Philologen ich denke an die Namen Hermann Usener und Albrecht Dieterich gewesen sind, die ihren mehr theologi- sierenden Fachgenossen durch eindeutige Feststellungen und Forderungen das Gewissen geschärft haben. Unverrückbar haben auch heute noch zwei Sätze Geltung von Dieterich der eine, der andere von Wein- reich nämlich: „Besser zuviel ‘Religionsphilologie’ als ein vages Schwelgen im ‘religiösen Erlebnis’ “1, und: „Eine Religionswissenschaft kann nur in den Grundsätzen und mit den Mitteln der philologischen Geschichtswissenschaft aufgebaut und gefördert werden“.2 Zu diesen Grundsätzen, die Friedrich Pfister übrigens ebenso auf „Religionspsycho- logie“ und „Religionsphilosophie“ ausgedehnt wissen wollte®, bekenne auch ich mich, allerdings mit dem Zusatz, daß alle Philologie und alle Historie einer tragenden Empfindung nicht entraten dürfen: der Ehr- furcht. Diese Ehrfurcht aber scheint mir verletzt, wenn Dieterich‘? meint, klassische, semitische, indische und germanische Philologie in einem Atemzug als Betreuerinnen der Religionsgeschichte nennen zu müssen. Gerade lıierin kann die indogermanische Sprachwissenschaft ihrer jüngeren Schwester eine unübertreffliche, vorbildliche Lehrerin sein, indem sie davor warnt, in einen fremdsprachlichen Bereich einzu- dringen, ehe nicht der eigene genauestens abgesteckt ist. Langsam erweitert sich dann der Kreis dieser Hilfswissenschaften. Zu den Theo- logen und Philologen, Psychologen und Historikern treten die Volks- und Völkerkundler, eine Arbeitsgemeinschaft, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von unbefangenen Kennern wie Edmund Hardy und Albrecht Dieterich® begrüßt worden ist. Freilich, wenn man die unter dem Titel „Der Beitrag der Völkerkunde zur Religionswissenschaft“ er- schienene kenntnisreiche Würdigung F. Rud. Lehmanns? liest, so wird einem doch bald klar, daß gerade auf diesem Gebiet neben fraglosen Gewinnen auch noch schwere Kämpfe, ja geradezu Erkenntniseinbußen zu verzeichnen sein werden. Dazu lag die allgemeine Völkerkunde allzu- lange im Einflußbereich der Theologie, und namentlich des römisch- katholischen Klerus®, der sich selbstverständlich aus Gründen der Glau-

ı Weinreich, ARW. 24 (1926) 371. 2 Dieterich, ebd. 7 (1904) 1. 3 Ebd. 38 (1986) V. « ARW. 7 (1904) 1f. 5 Ebd. 1 (1898) 18 u. 6 Ebd. 7 (1904) 2 u. ? Ebd. 34 (1937) 323—350.

8 Ein Gelehrter wie Wilhelm Koppers verficht natürlich die Wichtigkeit der allgemeinen Völkerkunde, vgl. ARW. 36 (1939) 9f., 12 u. und f. Irrig Usener, ebd. 7 (1904) 23.

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bensausbreitung nichts sehnlicher wiinschen konnte, als durch planvoll gesteigerte Forschungen bei den sog. Primitiven aller Erdteile und durch ebenso planvoll unterlassene oder zurechtgebogene Forschungen bei den Indogermanen beide Gesittungsgruppen einander zu nähern, durch Er- höhung und Erniedrigung auf die weltweite Plattform der alleinselig- machenden Una Sancta. Diese hintergründigen Zusammenhänge werden gerne übersehen, nicht minder auch der allgemeine Grundsatz, daß die völkerkundlichen Tatbestände von Rassen und Völkern in Australien, Afrika und Südamerika, die weder einen Homer noch einen Shakespeare noch einen Goethe, Dante oder Beethoven hervorgebracht haben, sich nicht ohne weiteres eignen für die Erforschung gerade indogermanischer Religiosität. Doch darüber später mehr! Hier ist nur noch soviel zu sagen, daß auch der vorhin geschilderte Arbeitskreis noch einmal er- weitert werden muß, sollen alle Aufgaben und Fragen bewältigt werden. Notwendig handelt es sich um eine sinngemäße, nicht wahllose Erweite- rung. Ich denke dabei vor allem an die Kunstgeschichte, die sich von ihrer eintönigen Abhängigkeits- und Vorlagenschnüffelei endlich einmal zu Gedankengängen bekehren sollte, wie sie, wenn auch nicht in allen Einzelheiten richtig, so doch bahnbrechend von Strzygowski zum erstenmal gedacht worden sind.! Welch reicher Stoff ist in Hans Haas’ „Bilderatlas‘‘ aufgestapelt, welch reizvolle Fäden harren zwischen Farbe und Mythos, Farbe und Religion noch der Entwirrung! Einen ersten Anlauf hat Friedrich von Duhn mit seinem Aufsatz „Rot und Tot“? genommen. Andere müssen folgen! Dicht auf die Kunstgeschichte folgt so- dann dieRechtsgeschichte, in welcher diegroßartige Überlieferung eines Leist nahezu ganz verblaßt wäre, wenn nicht Forscher wie Karl August Eckhardt oder Claudius Freiherr von Schwerin und andere in unseren Tagen die Fackel entzündet hätten, um damit auch in die weitverzweig- ten Stollen indogermanischer Religiosität hineinzuleuchten. Überhaupt erst beteiligt werden müssen Musikwissenschaftund Philosophie, Erziehungswissenschaft und Schrifttumskunde, während für das Fach der arischen Kultur- und Sprachwissenschaft ich selbst mich nach Kräften bemühen werde. All dieser Fächer und Forscher harrt eine unerhört reiche Überlieferung, Überlieferung in breitestem Sinne ge- nommen. In der Tat, hier ist ein Einsatz, wo Deutschland, wie schon so oft, erneut beweisen kann, daß es Herzland der Forschung ist. Ganz besonders wünschen aber möchte ich, daß die indogerma- nische Sprachwissenschaft, die schon Achelis und Hardy gerufen

ı Vgl. meine umfassende Anzeige zu Strzygowskis Werk „Spuren indoger- manischen Glaubens in der Bildenden Kunst“: Kulturpolitik und Unterhaltung. Tägl. Beiblatt zum „Völkischen Beobachter“ vom 10. Januar 1937.

2 ARW. 9 (1906) 1—24.

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hatten 1, und in ihr wiederum die Wortforschung sich tatkräftig ein- setzen. Im „Archiv für Religionswissenschaft“, und zwar in den Bänden 7, 8 und 11, hat der namhafte Indogermanist Hermann Osthoff soviel ich sehe als einziger in dieser Richtung gearbeitet mit seinen „Etymo- logischen Beiträgen zur Mythologie und Religionsgeschichte‘‘. Kein Wun- der, daß angesichts der Seltenheit solcher Betrachtungsweise bei Forschern wie Hardy? oder Usener? oder gar noch Nilsson die übrigens leicht zu widerlegende Ansicht aufkam, die „Etymologie“ sei „ein unsicherer Wegweiser“, und die Möglichkeit bezweifelt wurde, „auf dem Wege der Wortvergleichung die Vorgeschichte einer Religion herzustellen‘. Eine neue, allseitige Wortforschung, wie ich sie auffasse und bereits an Bei- spielen dargelegt habe, wird allgemach die Zweifler eines Besseren be- lehren, die doch auch bei Wortgleichungen wie *Dieus, Eos | Aurora | Usas und bei genügender Erwägung der Bedeutungsverschiebungen hätten stutzig werden können. Doch es soll beileibe nicht die Wortforschung allein auf den Plan treten. Da sind die wichtigen Gegensatzpaare Kirche / Tempel, Glaube | Aberglaube mit ihrer Bedeutungsumfärbung durch die christliche Kirche, wie nicht anders der Druck morgenländisch-christ- licher Gesittung und Gesinnung sich auch in der Verwendung des Wortes Erbe hie Erbsünde, hie Ahnenerbe äußert. Es locken die Formeln wie avdoßv te Sedv te, die Zauberlieder des Atharvaveda und des Alt- germanischen, die von Güntert zum erstenmal in ihrer Bedeutsamkeit für die Religionsgeschichte erkannten Gegensätze zwischen ahurischen und daévischen Ausdrücken, die gesamte Ortsnamenforschung, Bedeu- tungsstudien wie die über Leiden = Gehen und vieles andere mehr. „Das Prinzip selbst, die Sprache für den Mythus verantwortlich zu machen, ist, wenn richtig, von allgemeiner Anwendbarkeit. Denn die Polynomie und Homonymie, die Metaphern u. dgl. lassen sich in allen Sprachen nachweisen.“ Doch genug! Wenn die indogermanische Sprachwissen- schaft, erweitert zu einer indogermanischen Kulturwissenschaft, sich wahrhaft bewußt wird, wieviel sie auf dem Felde reiner Linguistik ge- leistet, auf dem der Geistesgeschichte zu leisten aber bisher versäumt hat, dann geht unser Wissen um indogermanische Religiosität ohnehin einer neuen Blüte entgegen.

Das große Mittel all der genannten Wissenschaften ist der Ver- gleich. So ist es wohl berechtigt, auch hierüber ein Wort zu sagen,

ı Ebd. 1 (1898) 1; allerdings meint A., wie sich aus den folgenden Sätzen ergibt, „Philologie“. Hardy formuliert beachtlich: „Die Sprachwissenschaft . . . hat mit der Zeit einen sicheren methodologischen Kanon aufgestellt, der Religions- wissenschaft ist solches noch zu thun übrig‘, ARW. 4 (1901) 201.

2 ARW. 4 (1901) 209. 3 Ebd. 7 (1904) 9. t Ebd. 85 (1988) 157 f.

5 Hardy, ARW. 4 (1901) 211.

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um so mehr, als in der bisher betriebenen Vergleichung der Religions- wissenschaft ein umwälzender Wandel eintreten muß, wenn anders das Vergleichen auch fruchtbar sich auswirken und nicht immerfort in eine Sackgasse führen soll. Die Religionswissenschaft ist nämlich bisher von der Auffassung der „grundsätzlichen Vergleichbarkeit aller Religionen mit- einander‘! ausgegangen und hat diese „grundsätzliche Vergleichbarkeit aller Religionen einschließlich des Christentums“ mit dem „Vorhanden- sein eines religiösen a priori“ begründet.? Man erlaube mir die freimütige Feststellung, daß hier nicht bloß eine Absprache mit der Theologie vor- liegt die über die Einbeziehung des Christentums® anscheinend hin- weggetröstet werden soll eben durch die Annahme eines mir durchaus nicht klaren a priori sondern vielmehr was weit gefährlicher ist ein irreleitendes Dogma. Denn die indogermanische Sprachwissenschaft hat sich während der hundert Jahre ihrer wissenschaftlichen Ausübung zwei Grundsätze erkämpft, die folgendermaßen lauten: 1. „Sofern keine Lehnbeziehungen vorliegen, können nur Sprachen desselben Sprach- kreises miteinander verglichen werden“. 2. „Zeitlich weit auseinander lie- gende Worte desselben Sprachkreises sind durch die historisch bekannten Lautgesetze auf zeitlich gleiche Stufe zu bringen und erst dann mitein- ander zu vergleichen.“4 Was hier von der Sprache gesagt ist, gilt vice versa auch von der Religiosität. Selbstverständlich ist es auf dem ge- duldigen Papier möglich, die Sprache Latein mit der Sprache irgendeines südamerikanischen Indianerstammes zu vergleichen, aber es kommt eben nichts dabei heraus als die an soundsovielen Einzelheiten aufzeigbare Differentia specifica beider Sprachen. Und wenn die bisherige Religions- wissenschaft Formtypen weitauseinanderliegender Rassen und Völker miteinander verglich, so ist und bleibt das im letzten Sinne genau so fruchtlos, wie wenn ich feststelle, daß im Altindoarischen und im Grön- ländischen ein tonloser gutturaler Verschlußlaut % vorhanden ist. Über Feststellungen, die einem sofort unter der Hand zerrinnen, kommt eben niemand bei derlei Vergleicherei hinaus. Und wenn die „Allgemeine, vergleichende Religionswissenschaft‘‘ und ihre Vertreter diese Sachlage nicht begreifen wollen, so ist das nur ein schlüssiger Beweis mehr da- für, daß sie über ihre „Methoden und Arbeitsgebiete bisher noch keineswegs Einstimmigkeit“ erzielt haben trotz mancher trefflicher Bemerkungen gerade über das Vergleichen® sondern in Humanismus, Individualismus

1 Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft 23.

2 Mensching a. a. O. 16.

3 Während sonst die Ordnung gilt: „Das Christentum ist von oben her, ‘die Religionen’ aber sind von unten her“ (bei Mensching a. a. O. 15u.).

« W. Wüst, Z. f. Missionsk. u. Rel. wiss. 44 (1929) 291. ° Menschinga.a.0.3.

6 Weinreich, ARW. 28 (1930) 357. Usener, ebd. 7 (1904) 20 u. bis 28: die

u

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 89

und Doppeldeutigkeit steckengeblieben sind. Ob diese Vergleichsarbeit aber Gemeinsames oder Unterscheidendes und Einmaliges herausholt, ist weniger wichtig! als die Sicherheit, mit der sie es tut. Denu viele solche Sicherheiten begründen die Wahrheit des Erkennens, das höchste Ziel aller Wissenschaft. Wie schon vorhin betont, wird der Vergleich als Arbeitsverfahren immer in der erb- oder lehnverwandten sowie in der eigenständig-innerreligiösen Schicht sich abspielen. Das soll nun nicht heißen, daß er von der elementarverwandten rundweg ausge- schlossen sein soll.” Aber im Ganzen muß es eine erst zu klärende Be- dingtheit bleiben, etwa in der Form, wie Hardy formuliert: „Wenn darum das Wesen der Religion durch die Vergleichung unverwandter Religionen unserm Verständnis nur ein wenig näher gebracht wird, so verschmähen wir diese Hilfe nicht.“ Im übrigen läßt sich mit Men- schingt zwischen Homologie und Analogie scheiden und mit Hardy° vor den bloß zufälligen Übereinstimmungen, meinen Zufallsparallelen, warnen. Bei den reinen Parallelen dagegen ist unbedingt zu beachten, daß oft auch We3ensgemäßes übertragen wird.®

Im vorstehenden Abschnitt ist gezeigt worden, daß das Vergleichen seine in der Natur der Sache liegenden Grenzen hat. Aber es hat ebenso auch Grenzen persönlicher Art, Grenzen, die sozusagen im Vergleicher selbst gezogen sind und die man in dem Grundriß bisheriger Religions- wissenschaft mit dem Stichwort „Verstehen“ begriffen und bezeichnet hat.’ Die wortreichen Erläuterungen, die da und dort über den Begriff „Verstehen“ zu lesen sind und die in ihm eine wertvollere Tätigkeit als das „bloße Beschreiben und Erklären der Phänomene“, ja sogar in ihm das Ziel der modernen Religionswissenschaft sehen, können uns ebenso- wenig wie die ehrlichen Zweifel®, ob denn unser Bewußtsein über Er- fahrungen ähnlicher, den älteren Religionsgebilden zugrundeliegender Art verfüge, der Frage entheben, wer denn verstehen und was ver-

„höhere Art der Vergleichung‘‘ Useners gleicht dem weitesten Untersuchungs- kreise in der Wortforschung, in welchem die Unsicherheit mächtig mitansteigt; Mensching a.a.0. 21—23.

1 Irrig deshalb Mensching a. a. O. 10 u. Auch Vogt wendet sich, Forschungen u. Fortschritte 15, 247 u., dagegen, Maßstäbe aus der Religiosität der Melane- sier zu holen; dies gegen Mensching a. a. O. 8.

2 Ein gutes Beispiel hierfiir ist Richard Lasch, Die Finsternisse in der Mythologie und im religiösen Brauch der Völker (= ARW. 8 [1900] 97—152), gut insofern, als Ursache, Umfang und Begrenzung der Elementarverwandtschaft deutlich hervortreten.

s ARW. 1 (1898) 16 u. und f., Sperrung von mir. + Mensching a. a. O. 11 f.

s ARW. 1 (1898) 27.

° Dies zu Mensching a. a. O. 11, 13, 20 u.

7 z. B. bei Mensching a,a.O. 19 u. und f., 21, 28 f,

s Usener, ARW. 7 (1904) 29.

90 Walther Wüst

standen werden könne, mit anderen Worten, der Frage nach der „Ver- stehbarkeit fremden Seelentums“ und dem „Abstand der Rassen vonein- ander“.! Die Antwort lautet schlicht und klar: verstehen kann nur der rassisch Verwandte den oder das rassisch Verwandte. Daß dem so ist, wird nicht nur durch die deutlich ausgeprägten völkischen Verschieden- heiten der Geisteswissenschaften z.B. der Indologie in Deutschland, Frankreich, England —, sondern auch durch die Weltweisheit Paul Krannhals’ dargetan, wonach die durch die Reize der Außenwelt hervor- gerufene Auslese von der jeweiligen rassischen Lebensform und dem Gefüge ihrer Merkwelt unabänderlich abhänge und wonach ferner das, was für die eine Lebensform von entscheidendem Werte sei, oft einer ‚andern nicht zum Bewußtsein komme oder sogar von ihr als völlig wertlos abgelehnt werde. Diese Lebensgesetzlichkeit gilt selbstverständ- lich auch für den im Laufe der Zeit ungeheuerlich angewachsenen und unübersehbar gewordenen Wissensstoff, so daß seine rassisch-völkisch gebundene Durchdringung gleichzeitig auch die Planung, Gliederung und Klärung eben dieses Stoffes ist. Was diese Ordnung aber nicht zu- letzt auch für die Weitergabe dieses Wissensstoffes bedeutet, liegt auf ‚der Hand. Goethe weiß auch hier das Rechte: „Was Euch nicht angehört, das müßt Ihr meiden, was Euch das Inn’re stört, dürft Ihr nicht leiden.“ In diesem Sinne sei feierlich Verzicht getan auf jeglichen apologetischen Pferdefuß wie auf Wunschbilder?, ebenso aber auch auf „die konsequente und planmäßige Entäußerung von allen nationalen und kulturellen Vor- urteilen“, die Achelis einst gefordert hat®, wenn wir Australnegern oder Andamanen-Insulanern gegenübertreten sollten. Was wir wollen, ist, kurz gesagt, der „kundige und liebevolle Blick“, mit dem deutsche Menschen indogermanische Religiosität betrachten und aus ihr selbst heraus zu begreifen suchen.® Das sind wir nicht nur „uns selbst als Deutsche, als Germanen, als Indogermanen, schuldig“, sondern auch, wie wir sahen, der Wissenschaft, insonderheit der indogermanischen Sprachwissenschaft, .die längst als Grundsatz aufgestellt hat und befolgt: zunächst Durch- schreiten des eigenständig-innersprachlichen Raumes, dann erst Ausgriff zu den verwandten Gebieten. Es hat also seine guten Gründe, wenn 1 Grabert, ebd. 83 (1936) 194—196. 2 Hauer, Glaubensgeschichte der Idg. 1 (1937) 5. 3 ARW. 1 (1898) 4. 4 Mandel, Arische Gottschau 6.

5 H. F. K. Günther, Frömmigkeit nordischer Artung 13. ° ARW. 3 (1900) 323 schärft Steinthal eine Forderung Müllenhoffs ein: „daß

man jeden Mythos, jedes Symbol, jede Sage, jedes Märchen zunächst auf dem |

eigenen Boden umsichtig erforsche’ und von dem Punkte des Fundortes aus ‚schrittweise weitergehe".

- Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 91

wir, auch von den Betrachtungsformen des Vergleichens und Verstehens her, mit Nachdruck verlangen: zuerst indogermanische Reli- giosität.!

V.

Reichweite und Reichhaltigkeit der Gebilde eines so riesenhaften Kulturkérpers, ihr Sinn und ihre Sendung lassen sich nach verschie- denen Richtungen hin darstellen: im Gegenhalt zu den Religiositits- formen anderer Rassen und Völker, in der Scheidung zwischen Sicherem und Unsicherem, in der Aufeinanderfolge von urindogermanischer Reli- giosität zu der der indogermanischen Einzelvölker und ihrer Zusammen- hänge, schließlich in dem Versuch, indogermanische Religiosität als einen gesetzmäßig aufgebauten Glaubenskreis in ihrem tiefsten, von innen nach außen sich entfaltenden Wesen zu begreifen. Alle Darstellung aber, wie geartet sie immer sei, hat von drei Tatsachen auszugehen. Erstens da- von, daß „die Arbeit, indogermanisches Wesen im Glaubensleben“ wissen- schaftlich zu erfassen, vorläufig noch ein Anfang, ein „erster Entwurf“, ein entschlossener Versuch bleiben muß, weswegen hier auch mit Bedacht „Von indogermanischer Religiositat“ gehandelt wird. Zweitens davon, daß die Religiosität aller Indogermanen vor der christlichen Zeitrech- nung zunächst streng von der nach der christlichen Zeitrechnung zu trennen ist, weil dieser Wechsel in der Zeitrechnung mehr als nur eine Zählweise, sondern in der Tat Zeitenwende bedeutet. So daß, drittens, als Quellen für uns in vorderster Linie nur die der Indoarier, Iranier und Grie- chen, in zweiter Linie erst die der Germanen in Betracht kommen, nach- geordnet insbesondere diese letzten auch deswegen, weil ihre Kärglich- keit und Dürftigkeit? im Vergleich etwa mit dem beispiellosen Reichtum

ı Deswegen und aus Gründen, die nachher noch gewürdigt werden sollen, war es verkehrt, daß Friedrich Pfister und Otto Weinreich bei dem Versuch einer Neuordnung des „Archivs für Religionswissenschaft in den Mittelpunkt der Archivarbeit das Thema stellen wollten: „Die Religion und der Glaube der germanischen Völker und ihrer religiösen Führer“ (so auch Pfister, ARW.83[1936] 1). Wenn auch Grabert sich für diesen Pfisterschen Plan einsetzte (ebd. 33 [1936] 193), so mußten sich doch sehr bald Stoffnot und Wertnot zeigen, ganz abgesehen von der unausbleiblichen Enge des Mitarbeiterkreises (daher auch die Bitte ebd. 33 [1936] II 0.) und der unbeantworteten Frage, wo dann die Indogermanen ar-

beitsmäßig hätten betreut werden sollen. Zur Ausweitung der germanischen in indogermanische Religionsgeschichte Pfister ebd. 34 (1937) 250f. mit durchaus einleuchtender Haltung.

2 Hans F. K. Günther, Frömmigkeit nordischer Artung 12, 12 u. und f., 13.

3 Günther a. a. O. 8; Mandel, der den Rgveda als Quelle richtig würdigt, Arische Gottschau 5 f.; Grabert, ARW. 33 (1936) 204. Mit Recht hebt ein Gelehrter vom Range W. Calands, ARW. 25 (1927) 283 hervor: „Es ist eine bedauernswerte Tatsache, daß die Gelehrten, die über Religionswissenschaft schreiben, so gar . wenig die doch so wertvollen Data der altindischen, der vedischen Religion in Betrac it ziehen.“

92 Walther Wüst

des indoarischen Rgveda von allen Fachleuten als unabänderliche Tat- sache zugegeben ist. Was als indogermanische Religiosität vor unseren Blicken erscheint, „ist also immer Frömmigkeit aus denjenigen Zeit- abschnitten der Geschichte indogermanischer Völker, in denen sich die Seele der nordischen Rasse noch hinreichend kraftvoll ausdrücken konnte“!, d. h. eine Religiosität, die ihren Höhepunkt in der Bronzezeit erklimmt?, um dann als echter, wertbeständiger Volksglaube zurück- zutreten vor den verschiedensten Religionen und Bekenntnissen der Ent- _ artung und des Dogmas.

Indogermanische Religiosität verwahrt viele Sinnbilder. Die unser Denken ergreifendsten, unser Empfinden erschütterndsten sind viel- leicht folgende vier. Es gibt, einmal, soviel ich sehe, kein gemeinindo- germanisches Wort für „Religion“. Aber es gibt ein Doppelpaar kost- barer indogermanischer Worte, sogenannte Diphthongstämme, welche zum urältesten Bestand des Indogermanischen selbst gehören und sich zu einem sinnlich-übersinnlichen Bund von naturentsproßener Wucht zu- sammenschließen, gleichsam um uns zu entschidigen für das Fehlen eines Wortes für den Begriff der „Religion“, das sind: *g*0us „das Rind, die Kuh“, *réis „das Gut, das Besitztum“, *naus „das Boot, das Schiff“ und *diéus „der lichte Himmel, der Himmelgott“. Und da ist weiter das der hochaltertümlichen Sprache des Litauischen angehörige Hauptwort gyvata, welches folgende Bedeutungen hat: „Wohnung, Bauerngut, Lebensunter- halt, ewiges Leben, ewige Seligkeit“, und da ist schließlich die Wort- sippe „arisch, Arier“®, in der die Sinngehalte der geraden Pflugzeile, der einzelpersönlichen Art, des Weltlaufs und des Pflugzeile wie Welt- lauf durchmessenden Ariers und Aristokraten mit den vorher bespro- chenen Sinngehalten sich wiederum in einer unzerstörbaren Landschaft zusammenfinden, in der Landschaft eines seßhaften Adelsbauerntums, das auf seinen Erbhöfen die großen Gedanken des Bodens, des Blutes, der Sippengemeinschaft mit den Ahnen, der Zucht und der Weltwirklich- keit für die vorgeschichtllichen wie für die geschichtlichen Zeitalter des Gesamtindogermanentums vorgedacht und vorgelebt hat. Deswegen ist indogermanische Religiosität nicht ein „wirres Gewebe spontaner Apperzeptionen numinoser Krifte‘‘*, sondern durch die schöpferische Hal- tung nordischer Menschen bedingter? Vollzug einer Lebensordnung, die

1 Günther a. a. O. 10 u. und f.

2 So auch Günther a. a. O. 9. Über die Herkunft unserer religiösen Vor- stellungen ganz Irriges bei Usener, ARW. 7 (1904) 31f.

s W. Wüst, Das Reich. Gedanke und Wirklichkeit bei den alten Ariern. Festrede (1937) 3.

* Um Worte Menschings, Vergl. Religionswissenschaft 123 u., zu gebrauchen.

5 Auch Hardy, ARW. 1 (1898) 31 0. und 38, spricht von der „schöpferi- schen Persönlichkeit“ in der Religion. |

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung § 93

gleichzeitig Glaubens- und Weltordnung ist}, und somit gewachsene, nicht geoffenbarte oder gestiftete Religiositét. Volksgemeinschaft und Glaubensgemeinschaft sind wirklich eins, genau so eins, wie auch das Amt des die Volksgemeinschaft führenden Herzogs oder Königs immer zugleich ein priesterliches ist.” Und den Gesittungskreis durchwaltet die tiefsinnige Anschauung, die dann nach Jahrtausenden und Jahr- hunderten in der altindoarischen Chändogya-Upanisad (VII. Prapäthaka, 19. Khanda und folgende) ihren Niederschlag gefunden hat und das dumpfe, knechtische ,,credo quia absurdum“ einzigartig aus der Welt schafft: „Man denkt, wenn man glaubt. Ohne Glauben ist kein Denken; nur wer Glauben hat, hat Denken. Den Glauben also muß man suchen zu erkennen.... Man glaubt, wenn man in etwas gewurzelt ist; ohne Gewurzeltsein darin ist kein Glaube; wer in etwas gewurzelt ist, der glaubt daran. Die Wurzelung also muß man suchen zu erkennen.... Man ist in etwas gewurzelt, wenn man schafft; ohne Schaffen ist kein Ge- wurzeltsein; nur wer etwas schafft, ist darin gewurzelt“®, und so weiter in erhabener Steigerung zur Lust, zur Unbeschränktheit und zur Seele, dem Atman, der die Welt ist.

Um diesen innersten Kreis idg. Religiosität schließt sich gemäß einem ebenfalls echtidg. Denkgesetz, wonach Großwelt und Kleinwelt ohne jede magische Einwirkung engstens zusammengehéren‘, aber ohne eine Spur von künstlicher Organisierung oder gar Konfessionalisierung, viel- mehr in lebensgerechter „Anfangsverbundenheit“5 als gleichmittiger Kreis herum die Sphäre des einen Himmelsgottes, der, wie der Sippen- älteste der menschlichen Gemeinschaft, als Herrscher des Reiches und an der Spitze. einer bunten Götterschar seit uralters die Ehe führt mit der Erde altindoarisch prthivi- = altengl. folde und der Vater der Himmlischen wie der Irdischen, der Sterblichen, ist. Und diese Menschen

1 Abnlich auch Hans Liidemann, Sparta 26; Friedrich Berger im Sammel- band ,Glaube und Blut“ 12.

3 Auch anerkannt von Mensching a. a. O. 107.

3 Deussen, Sechzig Upanishad’s des Veda 184f. Gut beschrieben findet sich dieser altidg. Gesittungskreis auch bei J. W. Hauer, ARW. 36 (1939) 150. Wie kümmerlich, öd und vergewaltigt wirkt dem gegenüber die „arische Feuerlehre“ J. Hertels, etwa in dessen neuester Veröffentlichung „Das indogermanische Neu- jahrsopfer im Veda“ (Leipzig 1938), dessen Inhalt um so bemühender ist, als sein Urheber aber auch gar nichts aus der Kritik durch zuständige Fachgenossen gelernt hat oder lernen will. Diese „arische Feuerlehre* wird in höchstens 10—20 Jahren als groteske Verirrung der Vedaforschung versunken und ver- gessen sein.

* Dieses Denkgesetz wird durch eine Unzahl von Beispielen und Wort- gleichungen gestützt. Ich verweise nur auf J. v. Negelein, Weltanschauung des indogermanischen Asiens 53 f., Mandel, Arische Gottschau 17f.

s Wie ich sie verstehe; anders Mensching a. a. O. 180—132.

94 Walther Wüst

werden „nicht wie anderwärts aus der Materie gebildet und dann be- lebt, sondern in seiner Ehe mit der Mutter Erde richtig erzeugt“.! Es: ist in einer von den Skythen bis zu den Römern reichenden Glei- chung der Dyauspitar der Indoarier, der Zeus der Griechen, der gütige Himmelsvater, der sich wesenhaft vom zürnenden und drohenden, eifersüchtigen und niederwerfenden Gottvater, der „unnatürlichen Mono- polsgottheit“ (Eugen Dühring) der Semiten scheidet?, sozusagen ein vorkeltischer Teutates, „zum Volk gehörig“? und gefeiert von den Dichtern des Rgveda nicht minder als von Goethe oder Binding.“ Von ihm heißt es (Rev. III 54, 9): „Von Ferne erkenne ich das Uralte: Das ist unsere Abstammung von dem großen Vater, dem Erzeuger, (auf dem Weg) zu dem die Götter Beifall spendend auf ihrem weiten, abgeson- derten Wege eilig dazwischen treten“ (K. F. Geldner). In der einzig- artigen Schau dieses weisheitsvollen Verses ist die seit Schelling und schon vor ihm von den Gelehrten aller Geisteswissenschaften heftig umkämpfte Frage? nach der Entstehung des idg. Monotheismus und seinem Ver- hältnis zum Polytheismus eindeutig geklärt: es ist nicht anders möglich als eine religionsgeschichtliche Kette Polydämonismus Polytheismus Monotheismus Polytheismus® sich vorzustellen und die Indogermanen mit einem aus dem Untergrunde ihrer Sippenwelt wachsenden, völlig ‚unorthodoxen Eingottglauben zu verzahnen und die vielfältige Götterwelt des indoarischen Veda als eine durch Rassenmischung und Raumeinfluß entstandene Verfallserscheinung aufzufassen. Dann ergibt sich als

1 Schrader, Reallexikon 2? (1929) 244, Sp. 1.

2 Vgl. z. B. Mandel a. a. O. 6 u., 28, 29.

® Schrader a. a. O. 248, Sp. 1.

‘Ich denke etwa an Goethes Gedichtanfang „Wenn der uralte heilige Vater...“ oder an Bindings Gedicht bei Hauer, Deutsche Gottschau 195. Schöne literarische Gleichungen zum allgegenwärtigen Himmelsgott auch bei H. Hommel, ARW. 23 (1925) 196, 205 u.

5 Vgl. ARW. 1 (1898) 99, 100; ferner Zeller bei Hans Haas, ebd. 3 (1900) 53. mit eindrucksvoller Unterstreichung, wie wichtig die Entstehung des Monotheismus sei, während Ed. Meyer s. ebd. 3 (1900) 53 u. den Gegensatz zwischen Mono- theismus und Polytheismus für unwichtig hält, anscheinend um der Auseinander- setzung mit dem Christentum aus dem Wege zu gehen. Einen reichen Stoff hat dann Hans Haas in seinem Aufsatz „Der Zug zum Monotheismus in den homerischen Epen und in den Dichtungen des Hesiod, Pindar und Aeschylos* (= ARW. 3 [1900] 52—78, 153—183) geboten. Auch Alexander Brückner sieht, im Gegensatz zu Usener, in den Sondergöttern „ein Produkt mythologischer Zersetzung“ bei Schrader a. a. O. 22, 249, Sp. 20. Unverständlich ist mir, wie Pfister, ARW. 33 (1936) 6 vom Monotheismus sagen kann, daß „ein solcher nur in semitischen Religionen vorkommt“.

° Auch Hans F. K. Günther, Frömmigkeit nordischer Artung 9 spricht „von irgendeiner ‘niedrigeren’ Stufe altsteinzeitlichen Zauberglaubens oder mittelstein- zeitlichen Geisterglaubens (Animismus)“.

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 95

Gleichung, daß der uridg. Monotheismus zum vedischen Polytheismus- sich verhält wie auf einer späteren Zeitstufe der Mazdaismus Zara- thustras zum Polytheismus seiner schwächeren Nachfahren, und es wird ebenso der sog. Henotheismus des Rgveda wie der Monotheismus der spätvedischen Zeit gut verständlich als Durchbruch uralter Gesinnung. Dieser Eingottglaube muß, wie noch einmal betont sei, ursprünglich rein sippenmäßig als Gleichnis wie als Zustand bestimmt gewesen sein, dann aber, ebenfalls noch während der ur- oder gemeinindogermanischen Zeit, einen deutlich sonnenbaften Einschlag dadurch erhalten haben, daß. neben den Himmelsvater die Verkörperung des rassisch bestimmten Bewußtseins von der gesamten Weltwirklichkeit in Raum und Zeit ein Sohn trat und sein Widerspiel, die beide durch die verschiedenen Aspekte während eines Jahreslaufes mitbedingt sind. Dieser Sohn, in der arischen Geistesgeschichte noch gut als Trita Aptya,? erkennbar und bei den Griechen, Slawen und Germanen in mancherlei Gestaltwandel auftretend, ist ein Sonnenheld, tötet die riesischen Ungeheuer, so z. B. Wolf, Eber und Drachen, erhält dem Sterblichen das Heil und kehrt nach seinem Erden- und Weltwallen wieder zum Vater zurück, immer- währendes Vorbild den Menschen, weil seine männliche Haltung die Tat vor das Erkennen setzt, dem Schicksal furchtlos und unerschüttert trotzt und die Ewigkeit des Lebens wie der Freiheit verbürgt. Diesem Sonnen- helden und seinem mannigfach abgestuften Wirkungskreis entspringt zunächst „aus engster Verbundenheit mit metaphysischen Welthinter- gründen“® der Mythos? des Gesamtindogermanentums als Spiegel und nach H. Gaidoz schönem Bilde in kleinen, aber deshalb doch bedeutungs- vollen Bruchstücken überall auflesbar und von ewiger Lebensdauer, da er im deutschen Märchen mit derselben Sicherheit festgestellt werden kann wie in russischen Volksliedern.” Dann aber ist dieser Sonnenheld auch Anlaß und Vorlage zu Gestalten wie den altarktischen Zwillings- Heilbringern®, die für das Verständnis des Mazdaismus wichtig sind, oder Herakles, dem einzigen Nationalhelden der Hellenen’, und darüber

ı Hier wird, zum Kapitel „Sprache“ gehörig, eine Untersuchung der „Gottes- prädikate“ weiterleiten.

2 „Erst bei steigender Kultur tritt die Sonnengottheit stärker hervor“, Nilsson, ARW. 80 (1988) 141 u. Was ich hier zusammenstelle, ist einer um- fassenden Monographie entnommen, die ich seit Jahren über Trita Aptya vor- bereite.

3 So Schelling bei Mensching a. a. O. 96.

4 Der solare Mythos schon bei Max Müller, vgl. ARW. 4 (1901) 209.

s Es ist mir unbegreiflich, wieso Mensching a. a. O. 96 u. behaupten kann: „Der Mythos der Frühzeit hat eine bestimmte Lebensgrenze“, um dann zu wünschen (97), auch in den Hochkulturen solle ein Mythus bestehen bleiben.

¢ Darüber Hauer, ARW. 36 (1939) 19.

? Pfister, ARW. 84 (1937) 42, 46 ff.

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hinaus Ursache für das Hochkommen so und so vieler Götter und Helden im vedischen Polytheismus!, wie z. B. Indras, der sich nachträglich an Dyauspitars Stelle geschoben hat.” Angesichts eines so mächtigen Ur- quells aller polytheistischen Gestaltung ist es nicht weiter verwunder- lich, daß nirgends bei den Frühindogermanen beherrschende Götter- persönlichkeiten auftreten, „von denen sich gleichsam eine Biographie entwerfen ließe‘“?, außer eben dem Himmelsvater und seinem heldischen Sohn, die beide, insonderheit aber der Sohn, die nachwachsenden Götter indogermanischer Einzelreligiosität mit Fleisch und Blut, Wesen und Leistung ausstaffieren. Wo aber solche Kinder des alten, bronzezeit- lichen Dieus auftreten, verleugnen sie nicht den urtümlich - bäuerlichen Sippeboden, dem sie entsprossen sind: so die Asvins nicht bei der Wer- bung um die Süryä, so nicht der Zeus Helios und sein Thronkult, so die mancherlei Namen nicht, die, mit -poti „Herr“ gebildet, besonders gern bei den Indoariern und Litauern auftreten: Prajapati „Herr der Nach- kommenschaft“, Vanaspati „Herr des Waldes“, Dimstipatis „Hausherr“, Laükpatis „Herr der Felder“ und Raugupatis „Herr des Sauerteigs“.5 Die Benennungsfülle, die wir hier so schön gewahren, ist demselben reichen indogermanischen Gemüt entsprungen, das auch die erstaun- liche Vielfalt für den Begriff „Gott“ hervorgebracht hat. Wie ärmlich nimmt nach einer feinsinnigen Beobachtung H. St. Chamberlains® das gemeinsemitische, einzige il gegenüber der idg. weltgeschichtlichen ' Reihe mit deus, bhaga, Asen, numen, ®eos und Gott sich aus!

Als dritten gleichmittigen Kreis baut indogermanische Religiosität um die Kreise von Gott, Gottessohn und Göttern, von Mensch, Sippe und Odalshof die Welt und ihren Lauf herum, als Rid bei den Indo- ariern, als Aša bei den Iraniern, als Örlog bei den Germanen” und als Moig« bei den Griechen bekannt. Das hellenische Sparta ist nichts an- deres als ein Rta im Kleinen, nach dem gleichen Denkgesetz geschaffen, ‘das auch in Koouog neben der Bedeutung „Weltall“ die von „Magistrat“ entwickelt als neues Beispiel für den lebensgerechten Zusammenhang von Großwelt und Kleinwelt.® Das Rta wird verschieden, aber immer in

ı Menschings Definition des Polytheismus a. a. O. 115f. ist anfecht- bar, da der vedische Polytheismus ein klares Verhältnis zur Welt aufweist.

2 Rev. 154,3; 131, 1. 3 Usener, ARW. 7 (1904) 7, 17 u.

* In diesem Sinne ist Schrader, Reallexikon 2? (1929) 240 f. zu berichtigen.

5 Schrader a. a. O. 248, Sp. 2u. Es war eine grausame Verirrung eines Inders, V.G. Rele, die vedischen Götter als Figuren innerkörperlicher Organe und Vorgänge deuten zu wollen, vgl. meinen Aufsatz Yoga 1 (1931) 125—130.

e Dilettantismus, Rasse, Monotheismus, Rom. Vorwort zur 4. Aufl. der „Grundlagen des XIX. Jahrh.“. 2. unveränd. Abdruck (München 1903) 52—54, 65.

7 Vogt, ARW. 35 (1938) 22.

® Ganz Irriges über die Rta-Vorstellung bei Schrader a. a. O. 242 u.

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung 97

der gleichen, bezwingenden Mächtigkeit erlebt, einmal in der Unendlich- keit und Welttiefe, dann wieder im Wandel der Sonne und im Lauf der Flüsse, in der Weltgeborgenheit, da man geradezu im „Schoße des Rta“ weilen kann, schließlich als Weltlauf schlechtweg, eine Vorstellung, die dann später in der indoarischen Geistesgeschichte zu dem alle Philo- sophie beherrschenden Gedanken des Samsära geführt hat. Ganz beson- ders aber treten unter den Gebieten, auf denen sich das Rta offenbart, das Feuer, das Licht und der Raum hervor, und die Stellen des Rgveda, die davon in sieghaften Worten und Versen künden, zählen nach Hun- derten.! Das Rta ist der Urgrund, aus dem die Götter stammen, es ist das Seiende, Wahre, Eine, an das erst nach und nach die Gedanken von Weltaltern und Weltschöpfung sich heranwagen.?

Von dieser dreieinigen Schöpfung singen und sagen die Dichter, die „das Herrenaupe besitzen“ und in Hellas sowenig wie in Indoarien oder Germanien au ; dem Gesamtbild indogermanischer Religiosität hin- weggedacht werde‘ können es sei denn, es handele sich um Fremd- rassige. Die Dichter sind es, die, nach einem Rgvedaverse (IV 2, 16), sich um klare Erkenntnis bemühen, und die Dichter sind es, die früh schon die heiligen Sinnbilder als Zeugnisse nicht nur stiller Andacht, sondern auch tätigen Lebens mitgeschaffen haben: Rad und Haken- kreuz, Jahreskreis und Weltenbaum.® Den Sinnbildern gesellen sich zu heilige Tiere, wie Jas Roß, das mit dem König als sonnenhaftes Tier engverbunden ist, und heilige Bäume, Berge, Gewässer, durch die all- beseelende Kraft mythischer Wesensschau in den Bereich indogerma- nischer Religiosität miteingeschlossen. Von Götterbildern freilich be- sitzen wir so gut w:e gar nichts; wenn sie vorhanden waren, sind sie bis auf wenige Au: nahmen geschwunden als Opfer des Klima-Ein- flusses, der die holzgefertigten Denkmäler in Germanien, Indoarien und Iran vernichtet hat. Was dauert, ist die Überlieferung in Fels und Stein, die Felsbilder von Bohuslän und Val Camonica, die In- schriften der persischen Achämeniden und des indoarischen Asoka. Da- mit stehen wir schon mitten in dem Bereich der religiösen Erscheinungs- formen, ausgebreitet in Kultus und Opfer, Reinigung und Weihe, hei- ligem Wort und heiligem Schweigen, um nur einige der wichtigeren zu nennen. Man wird nicht von mir erwarten, daß ich sie auch nur mit annähernder Vollständigkeit hier behandele. Zum Teil sind sie überliefe- rungsmäßig nicht bezeugt so z. B. heilige Orte und heilige Bücher zum andern Teil stammen sie aus späten Schichten einzelindogerma-

ı Vgl. Mandel, A-ische Gottschau 10—13.

2 Mensching a. a. O. 65u. und f.; Hauer, ARW. 36 (1939) 33 u.

3 Vgl. die gute Zusammenstellung bei Otto Sigfrid Reuter, Das Rätsel der Edda und der arische Urglaube 1, 11 ff.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI.1 7

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nischer Religiosität, wie Mysterienfeiern und kultische Gemeinschaften, heilige Stätten als Glaubensmittelpunkte und Wallfahrtsorte, Tempel und Reliquien; und eine letzte Gruppe ist früh- und echt-idg. Religiosität überhaupt fremd, wobei ich an Sakrament und Kloster, Mönchsorden und Priestertum, Theologie und Kirche, Predigt und Buße denke. Da- gegen spielen heilige Zeiten gemäß Mond- und Sonnenlauf, ferner Ka- lender und heilige Zahlen, Feste wie die heute noch im germanischen Raum besonders lebendigen, heiligen Tage der Wintersonnenwende und der Sommertag dieser nach der schönen Entdeckung Albrecht Diete- richs eine bedeutsame Rolle. Das gleiche gilt von den Kultspielen, in denen Götter- und Menschensphäre sich wiederum begegnen, weil der Wettlauf der dem Adelsbauern gehörenden Pferde so noch heute brauchtümlich in Schleswig-Holstein an das Vor- und gleichzeitig Abbild der Sonnenrosse beziehungsreich gemahnt. Solche Feste sind wirk- liche Gemeinschaftsfeiern gewesen, bei denen jeder mitspielte und in den Sinn des Spieles eingefügt war, nicht Unterhaltungen unseres heutigen Stils, wo Zuschauer, mehr oder minder zerstreut, den Vorführungen fremder Menschen und Betriebe beiwohnen, um Geld und Nerven in Bewegung zu setzen. Auf dem Gesamtgebiet der religiösen Erschei- nungsformen bleibt noch unendlich viel zu tun. Ich erinnere nur an die Typologie des Traumes oder des Kultes, der nach wie vor mit das wich- tigste Beweisstück der vom Menschen sich auf Gott oder Götter rich- tenden Religiosität bleibt. Wertvolle Zeugnisse dieser Religiosität sind nicht minder in dem Lehneinfluß zu erkennen, der von Indogermanen in fremde Gesittungen und Glaubensformen eingeströmt ist, von den Indoariern nach Hoch-, Ost- und Südasien, von den Germanen in das Christentum und von den Iraniern in die semitische Welt. Aber der ira- nische Mazdaismus der Spätzeit ist nach meiner Überzeugung auch Be- leg genug für den umgekehrten Vorgang!, und wie tief die Durchstoß- kraft des Fremdeinflusses dringen kann, zeigt die römische Religiosität, die keinen echten Mythos mehr aufzuweisen und von den Etruskern Magie in einem Umfang eingeführt hat, daß sie für ihre Lebensmitte bezeichnend geworden ist.” Die Wege solcher Einflußnahme sind ver- schieden, Wege von oben, Wege von unten; manche führen lediglich ins Literarische, manche bis ins Herzstück einer Religiosität, so daß Niederbruch und Entartung, Seelenangst und Sündenfurcht, Exorzismus

1 Nachdenklich stimmende Beispiele für Zusammenhänge zwischen Maz- daismus und semitiscben Religionen bei Mensching, der freilich nicht an Lebn- einfluß, sondern an Konvergenz der Typen denkt: 64 m., 66 m., 67 m., 68 m, 118u., 125u., 146, 149 u. Ähnlich kritisch wie ich auch Hauer, Deutsche Gott- schau 250f. Über Unterschiede zwischen Jahwe und Ahura Mazda: Mandel,

Arische Gottschau 23f. 2 Mensching a. a. O. 39.

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und Geisterspuk, Astrologie, Alchemie und die schwarze Kunst der Magie wie bei der unmittelbaren Rassenmischung die unausbleibliche Folge sind. Für Luther hat dies C. F. Meyer, Huttens letzte Tage XXXII in dem berühmt gewordenen Zweizeiler ausgesprochen: „Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet Mich wundert’s nicht, daß er Dämonen sieht!“

Christentum, Mazdaismus und Vedismus liefern dazu weitere, bündige Belege und triftige Tatbestände. Freilich darf hier nie in Bausch und Bogen, sondern nur nach sorgfältiger Würdigung aller Kräfte geurteilt werden. So gibt es z. B. auch in idg. Religiosität, wie die von Adalbert Kuhn beobachteten engen Übereinstimmungen zwischen atharvavedischen und altdeutschen Sprüchen dartun, einen echten Zauber. Aber er er- wächst aus der auch sonst im Indogermanischen nachweisbaren Ding- beseelung und ist den soeben geschilderten Auswüchsen einer ursprüng- lich gesunden Frömmigkeit ebensowenig zuzurechnen, wie die religions- geschichtlich gesunde „Menschenkraft‘“ mit den übersteigerten Macht- ansprüchen eines geschlossenen Priesterverbandes verglichen werden kann. Merkwiirdig, welche Konvergenz derTypen sich da auftut! Mensching führt „das bewundernde bzw. das zur Bewunderung auffordernde Wort eines römisch-katholischen Erzbischofs“ an: Wo im Himmel ist solche Gewalt wie die des katholischen Priesters? ... Einmal hat Maria das göttliche Kind zur Welt gebracht, und siehe, der Priester tut dies nicht einmal, son- dern hundert- und tausendmal, sooft er zelebriert’ “1 Wenn das altindo- arische, in Theologenkreisen entstandene Satapathabrähmana anläßlich einer Besprechung des Feueropfers verfügt: „Was er im Feuer opfert, das opfert er in den Göttern; deshalb sind die Götter“ oder verkündet, „die Sonne würde nicht aufgehen, vollzöge man nicht morgens das Opfer (das. II 3, 1, 5)“?, so ist das in Ton und Tonfall dieselbe Gesin- nung, obwohl einige Jahrtausende und einige tausende Kilometer da- zwischenliegen. Mit Erbverwandtschaft und indogermanischer Religio- sität hat man dabei nur mehr sehr wenig zu tun, noch weniger mit den Gestalten religiöser Führer?, die seit den Tagen eines Zarathustra und Buddha, entweder aus dem Stande eines Meisters und Lehrers oder einzigartig darin Zarathustra! eines Propheten oder sonst als Be- rufene in die Religiosität des Volkes und des Einzelnen eingriffen, in den ältesten Zeiten aber ehrfurchtgebietend hinter ihrem Werke zurück- traten. Wenn wir deshalb auch nicht mehr ihre Namen wissen, so können wir doch aus der erlauchten germanischen Reihe, in der Männer

1 Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft 107. 2 Hermann Oldenberg, Vorwissenschaftliche Wissenschaft. Die Weltanschau- ung der Brähmana-Texte 150, 161. 3 Vgl. auch Pfister, ARW. 38 (1936) 2f.

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wie der sächsische Edeling Gottschalk1, der Heliand-Dichter, Eckehart, Luther, Jakob Böhme, Friedrich der Große, J. S. Bach, Beethoven, Höl- derlin, Goethe, Paul de Lagarde, Bismarck zusammenstehen, Rückschlüsse ziehen auf die Art und die Stoßkraft ihrer jeweiligen Frömmigkeit, und die Schrifttumsforschung muß es uns durch tätige Anteilnahme möglich machen, mehr und mehr solcher Schlüsse zu ziehen. Denn erst dann wird sich die Schöpferin indogermanischer Religiosität voll erschließen, die indogermanische Seele, in deren Reichtum wir wieder vom Rgveda her blicken, wo es heißt: „Auf tun sich meine Ohren, auf mein Auge, auf geht das Licht, das mir ins Herz gesenkt ist; es wandert weit mein Geist umher in Fernensehnsucht: wie soll ich Worte finden, was ich denken?“ (Rev. VI 9, 6 in der Übersetzung eines Unbekannten). In ähn- lichem Sinnbezirke dichtet Goethe zu Anfang seines „Faust“, Zweiter Teil: „Welch Getöse bringt das Licht! Es trommetet, es posaunet, Auge blinzt und Ohr erstaunet, Unerhörtes hört sich nicht“. Andere Linien wiederum führen von der seelenfüllenden „Divination“ des Lichts ge- radenwegs zur Sittlichkeit und zum Recht. Denn die Weltordnung ist auch das Sittengesetz; Sittlichkeit, Sitte und Gemeinschaft sind religiös gebunden und die einzige Pflicht heißt, „im Sein das Sollen zu finden“? Sie verkörpert sich, nach den grundlegenden Erkenntnissen des Jenenser Rechtsgeschichtlers Burkard Wilhelm Leist, im sogenannten „arischen Neungebot“, ihre Heimat ist wiederum das adelsbäuerliche Kernerleb- . nis, das durch die sprachlich voll nachweisbaren Reihen Ackerfurche Wahrheit— Recht und Sonnenlauf Wahrheit Reinheit umschlossen ist. Reinheit aber ist Recht und Recht ist Reinheit, und beide werden durch das bäuerliche Sein, durch Pflanzung und Rodung, Wachstum und Jahreslauf verbürgt. „Das Sein ist ewig; denn Gesetze bewahren die lebend’gen Schätze, aus welchen sich das All geschmückt“ (Goethe, Ver- mächtnis).

Kurz kann ich mich fassen, wenn es gilt, die Frömmigkeitsformen dieses indogermanischen Seelentums zu schildern, da wir auf diesem be- sonders wesentlichen Gebiete dank dem Gesamtwerk Hans F.K. Gün- thers bereits kostbare Einsichten genug zu verzeichnen haben. Ich darf sie stichwortartig aufführen: zu allererst die Tatsache der Leib-Seele- Einheit, welche der erlösungshungrigen „Isolierung durch körperhafte Existenz“? einen Riegel vorschiebt, dann das Fehlen falscher Demut, der Amor fati, ergreifend von Hölderlin und Nietzsche ausgesprochen, aber kein islamischer Fatalismus, keinerlei wie immer auch beschaffene Ent- wertung des Diesseits und keinerlei Hang zur Orthodoxie, keine Ge-

1 Grabert, ebd. 33 (1936) 215—220. 2 Gut so Mandel, Arische Gottschau 18 u. 3 Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft 146 u.

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meinde, wohl aber Gemeinschaft, keine Todesfurcht —- man denke hier auch an die Sävitri-Legende des Mahabharata! dafür gläubige Ahnen- verehrung, keine Askese!, sondern seelisches Gleichgewicht und Vor- nehmheit echt adelsbäuerlicher Art. Alles in allem: „Verehrung aus einem heldisch gefaßten Gemüt“?, das sich auch in den sprachlich über- lieferten Ausdrücken für den Begriff „fromm“ widerspiegelt. Denn „fromm“, d.i., da es mit griechisch rsoouos „der erste“ und altnordisch framr „vorzüglich“ nahe verwandt ist, soviel wie „tüchtig“, „förder- lich“ so noch in der Formel „zu Nutz und Frommen“ und hat mit Buße und Zerknirschtheit ursprünglich gar noch nichts zu tun. In die gleiche Kerbe schlägt das altindoarische sādhú- „gerade aus, vor- wärts strebend“, dann „edel, gut, tüchtig, fromm“, namentlich als Be- zeichnung heute in Indien lebender religiöser Menschen. Nur in einem, allerdings nicht unwichtigen Punkte vermag ich mit Günther und an- deren Mitforschern wie Grabert, Hauer und Pfister? nicht ganz überein- zustimmen, in der Bewertung der Toleranz. Nach diesen Gelehrten näm- lich soll idg. Religiosität grundsätzlich auch dadurch gekennzeichnet sein, daß Verdammungsurteile anderen Religionen und Glaubenshal- tungen gegenüber nicht ausgesprochen wurden und Hand in Hand da- mit „ein Mangel an Propagandatätigkeit für den eigenen Glauben“ gehe. Das Schrifttum des ältesten Indogermanentums, also der Veda der Indo- arier, das Avesta Zarathustras und die altpersischen Inschriften der Achä- meniden, versagen sich. Es genügt, eine einzige Rgvedastelle für viele anzuführen, Rgv. II 11,18: „Für den Arier entdecktest du das Licht; der Dasyu wurde links liegen gelassen, o Indra“ (K. F. Geldner). Noch schärfer lauten andere Verse, und die Aussage der jüngst gefundenen, religionsgeschichtlich hochbedeutsamen sog. Daiva-Inschrift des Xerxes paßt aufs genaueste dazu. Vielleicht daß Fremdeinfluß, Rassenmischung und geschichtliche Erfahrung diese Haltungsänderung zuwege gebracht haben oder Duldsamkeit nur gegenüber Religiositätsformen aus gleicher oder ähnlicher Art geübt wurde. Aber auch dann erheben sich Text- schwierigkeiten, die keineswegs unterschätzt werden dürfen. Die Haupt- frage lautet auch bei diesem Gegenstand: was ist früher bezeugt, wie kann man es erklären, wie beweisen ?

Unser altes, vertrautes Gegensatzpaar Was und Wie, das sich frei- lich vor unseren wägenden Blicken in einer höheren Einheit zusammen- findet und auflöst, geleitet uns noch einmal an den Ausgangspunkt zurück,

ı Was in Indien als „Askese“ auftritt, ist seinem Wesen nach etwas völlig Anderes. Man sollte deshalb das Wort, namentlich für ands ganz meiden.

3 Günther, Frömmigkeit nordischer Artung 41.

3 Grabert, ARW. 33 (1936) 201 u., 210 u., 211; Günther a. a. O. 35 f.; Hauer, Deutsche Gottschau 241 f.; Pfister, ARW. 33 (1936) 12,

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nicht um nach so viel Tatsachenmusterung nun den Vergleich mit außer- _indogermanischer Religiosität, insbesondere der des Vorderen Orients, anzutreten!, sondern um innezuhalten und auszuschauen. Wir stehen auf einem ragenden Gipfel, den wir aus Tal und Niederung erklommen haben; um uns ragen andere geschwisterliche Gipfel und „vom Gebirg zum Ge- ` birg schwebet der ewige Geist, ewigen Lebens ahndevoll“ (Goethe). Wir kennen ihn jetzt! Es ist derselbe Geist, der in Indoarien die Einheit des alles umfassenden Seins durch das Erkennen (vidy@a) und durch die Bewältigung eines Weges heraufgeführt hat und dieses Sein als wahr zugleich und gut erscheinen läßt (satya-, hita-, tathatva-)*, der den Welt- lauf als Bruderschaft mit den Geschöpfen begründet und Buddha als den großen religiösen Führer, dem die Götter als Statisten zur Seite stehen®, erzeugt hat, der uns im Veda den Urmythos aller idg. Religio- sität, den Mythos vom Sonnenhelden Trita Aptya, geschenkt hat. Indo- arien ist auch der Boden für das Entstehen von Religionsformen „des erlebenden Erkennens“* geworden, des Buddhismus und der Weltsicht eines Samkara, dem sich in deutsch-germanischer Landschaft Eckehart zugesellt, in Iran aber Zarathustra. In dessen Glaubenswelt, die zugleich durch den Einfluß des Raumes maßgebend mitgestaltet wird, ist der Durchbruch des uralten, bäuerlichen Monotheismus, der Durchbruch zur Zuchtwahl, zur Auslese, zum Kampf um die Entscheidung vollzogen. Aus dem indogermanischen Mythos vom Helden und seinem Wider- part der übrigens auch in der Yamagestalt vedisch bezeugt ist entwickelt sich der unerhört lebendige Dualismus zwischen Gott und Teufel, Gut und Böse, Ahura und Daéva, der überwölbt und überwunden wird von dem Gedanken und der Wirklichkeit des Reichs. Das Reich aber ist die b(h)ümi, die Kleinwelt bäuerlicher Prägung, weswegen hier eben die Paarung Utgard und Mitgard in voller Schärfe erlebt und

ı Den andere bereits angetreten haben und noch viel mehr als bisher an- treten müssen. Schon Eduard Meyer hat die Religion der Indogermanen mit der anderer Völker verglichen und auch Schrader hat sich hierzu geäußert, Reallexikon 2? (1929) 244, 1.Sp., indem er den Gegensatz zu den altorienta- lischen Kulturvölkern, Ägyptern, Semiten, Sumerern, hervorhob. Grundlegend ist Hauers „Glaubensgeschichte der Indogermanen“, Bd. 1, Stuttgart 1937. |

2 Nicht „unheilvoll“, wie Mensching in völliger Verkennung, a. a. O. 30, meint. Auch der indoarische Weltbegriff ist bei Mensching völlig verzeichnet, der ebensowenig die tiefe Kluft zwischen Vedismus und Buddhismus erkannt hat und gänzlich irrig verallgemeinert: „In Indien herrscht allenthalben tiefstes Mißtrauen gegen die Tat. Das ist ganz notwendig so...“ (69). Wie kann er so etwas behaupten angesichts der religiösen Begriffsinhalte von Wörtern wie rtá-, marga-, sadhi-, samsara-, atman-?, weiter angesichts Hauers Buch „Eine indo-arische Metaphysik des Kampfes und der Tat“ (Stuttgart 1934)?

3 Vgl. die schönen Gandhära-Plastiken.

Mensching a. a. O. 154 u. und f.

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durchgekämpft wird. Aus dem ewigen Geiste gleicher indogermanischer Religiosität steuert Hellas das Göttliche als ruhende Gestalt bei und baut in seinem Sinne sozusagen am Brahman-Atman-Verhältnis weiter, Hellas, das von Spannungs- oder Rassegegensätzen schicksalhaft durch- furchte. Nach Germanien endlich winkt die Moira hinüber und findet die Irrationalität, in der altindoarischen Benennung avidya, vor oder die Midgardschlange als den vedischen Vrtra und viele drachenähnliche Widersacher sonst. Die Götter bleiben bis auf wenige Ausnahmen merk- würdig blaß, blutlos, notwendig so wie bei den Indoariern, weil das ganze Leben mächtig um Sippe die indoarische Kaste und Sippen- hof kreist. Der Sippenhof aber, nicht zufällig in Niedersachsen wie in Altserbien vom Sinnbild des Baumes umstanden, ist die Welt, genau so wie in Iran die bumi das Reich ist, und wenn zwischen Person und. Sache kein Unterschied waltet, so sagt der altindoarische Samsara dazu sein Ja! Der Germane stirbt furchtlos, ohne zu Göttern zu flehen, und ordnet sein Recht ohne Götter: uralte Hintergründigkeit des dritten gleichmittigen Kreises, des Schicksals, die bis in das deutsche Geschehen von heute hineinregiert und weiter hineinregieren wird. Unsere Gipfel- schau ist beendet. Sollte ein Zweifler und Zauderer, ein Zünftler und Zelot sie verstohlen miterlebt haben, so mag er sich des Goetheschen Wortes erinnern:

„Hier dacht’ ich lauter Unbekanntes und finde leider Nahverwandtes;

es ist ein altes Buch zu blättern: Vom Harz bis Hellas lauter Vettern.“

VI.

Die im Voraufgehenden beschriebenen und, so gut es hier der Ort war, begriindeten Stichworte Glaubenserbe, Ahnenerbe, Re- ligiosität, rassisch-räumliche Konstante, ewige Glau- benskraft des Volkes, sonnenhafter Eingottglaube der Indogermanen auf adelsbäuerlichem Boden, Hochstand der Vergangenheit bzw. ihr Gleichstand mit Gegenwart und Zukunft, Zweitrangigkeit des Priestertums und ras- sisch-räumliche Bedingtheit jeglichen Exorzismusses schließen für die Forschung, wie ich mir wohl bewußt bin, die Not- wendigkeit ein, soundsoviele Fragen gänzlich neu zu stellen, alte Lö- sungen wieder hervorzuholen und im Lichte frischentdeckter Zusam- menhänge abermals zu prüfen, kurzum an der Planung, Ausrichtung und Auffüllung unserer Wissenschaft zu arbeiten. Davon, für Numina und Nomina, einen Begriff, wenn auch nur in Auswahl, zu vermitteln, soll der Sinn des jetzt folgenden Abschnittes sein. Habe ich doch als

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Vertreter der arischen Kultur- und Sprachwissenschaft das warnende Beispiel der Iranistik vor Augen, die, nach dem Urteil eines Kenners wie des leider vor kurzem verstorbenen Hans Reichelt, gerade durch Planungsschwierigkeiten aller Art sich beinahe um den Erfolg jahr- zehntelanger Mühe gebracht hätte, hätte ihr „nicht das etwa seit dem Beginn unsres Jahrhunderts aus Ostturkestan zuströmende neue Ma- terial eine ungeahnte Aussicht eröffnet‘! Von dem Zufall aber soll keine Wissenschaft abhängen wollen. Unter diesen Aufgaben, die teils aus der Geschichte entspringen, teils aus der Gegenwart was im Grunde kein Zwiespalt ist —, nenne ich mit Bedacht an erster Stelle den bis- her so gut wie gänzlich unbeachtet gebliebenen? Fragenkreis, der sich an die Worte und großen geistesgeschichtlichen Sinngehalte „Gott“ und „Welt“, „Tod“ und „Unsterblichkeit“, „Leib“ und „Seele“, „Schicksal“ und „Schuld“, „Art“ und „Blut“, „Freiheit“ und „Wille“, „Sünde“ und „Sittlichkeit“, „Recht“ und „Sitte“ anschließt und die wirkenden Leit- gedanken indogermanischer Religiosität und Weltanschauung enthält. Eine Bearbeitung dieser hochwichtigen Begriffskreise habe ich schon vor Jahren gefordert®; sie gehört zu den dringendsten Anliegen der Religiositätsforschung und verspricht eine Fülle neuer Erkenntnisse und Ergebnisse, die ihrerseits wiederum auf andere Stoffgebiete befruchtend einwirken werden. Ferner sind zu fordern neue Göttermonographien, die, gestützt auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise, auch das Eigen- namen-Problem nicht vergessen.* Hand in Hand gehen damit müssen Textdeutung und Quellendeutung, und zwar in besonders inniger Ver- bindung, da die schriftlichen Hauptquellen indogermanischer Religiosität

ı Reichelt, Iranisch (Berlin und Leipzig 1927) 19.

2 Außer Erwin Rohdes „Psyche“, ferner der geistesgeschichtlich mißratenen, nur als Stoffsammlung brauchbaren „Weltanschauung des indogermanischen Asiens“ von J. v. Negelein so auch Weinreich, ARW. 28 (1930) 868 und D. Westermanns uns nur mittelbar angehendem Aufsatz „Über die Begriffe Seele, Geist, Schicksal bei dem Ewe- und Tschivolk“ (= ebd. 8 [1905] 104—118) kenne ich nur Henry Lefever, „The Vedic idea of sin“ (Travancore 1935), Carl Anders Scharbaus Doktorschrift „Die Idee der Schöpfung in der vedischen Literatur“ (Stuttgart 1982) sowie verschiedene Veröffentlichungen G. Menschings, z. B. über „Die Idee der Sünde“, „Zur Metaphysik des Ich“, „Das heilige Wort“. Alle die genannten Arbeiten sind sprachwissenschaftlich und philologisch, soweit sie ins Indogermanentum einschlagen, nicht genügend unterbaut. Die obengenannten Sinngehalte müssen unter Anwendung aller handwerklichen Feinheiten aus den Texten selbst von den Fachleuten geholt werden.

3 Deutsche Frühzeit und arische Geistesgeschichte (= Süddeutsche Monats- hefte 1984, 731—789; in Buchform [München 1939] 26 f.).

4 Angerührt von Vogt, ARW. 35 (1938) 181. Die AR Edvard Lehmanns „In der Indologie werden Namenvergleichungen, Naturdeutungen und indo- germanische Gottheiten immer seltener“ (Chantepie de la Saussayes Lehrbuch der Religionsgeschichte* 1, 19 u.) bedarf der Berichtigung.

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im großen und ganzen erschlossen sind und nur noch eine allfällige Nach- lese da und dort, wie im Veda, Altpersischen und Hethitischen, zu ge- wärtigen sein wird. Daß die Literaturgeschichte dabei durchaus auf ihre Kosten kommen wird, habe ich oben schon betont.! Ein wei- terer, ungemein wichtiger Aufgabenkreis wartet im Alten Vorderen Orient, wo der Vorrang der Arier und Indogermanen vor den Nicht- indogermanen und Semiten oder umgekehrt nachzuweisen ist und die Frage geklärt werden muß, wer der Gebende, wer der Nehmende ist. Zu lange hat die Orientalistik hier zuungunsten des Indogermanentums einseitig beobachtet und geantwortet. Das wird und muß anders werden!” Mittelbar fallen unter diesen Arbeitsbereich die Fragen: stammen die Adityas, wie Hermann Oldenberg annahm, aus Babylon? Findet sich Semitisches bei Zarathustra? Was sind die indogermanischen Bestand- teile im islamischen Persien? Von hier aus wendet sich unser Blick etwa auf Europa, wo in bezug auf das Christentum ähnliche Fragen angängig sind und „die alten fröhlichen Gestalten der Heidenwelt in der sittsamen Verkleidung der Kirche“ auftreten? Als Nebenaufgaben sehe ich zeitgeschichtliche Ungeklärtheiten wie die des Altersansatzes von Rgveda und Zarathustra, daneben eine Untersuchung über die Religiosität der Kafirs, die jetzt durch mehrere Forschungsfahrten völkerkundlich ge- nauer bekannt geworden sind. Ein persönliches Anliegen wäre mir der Nachweis der nordischen Bestandteile im Buddhismus sowie in der Gestalt des Buddha selbst* und nicht zuletzt der erbverwandten Schicht im Welt- bild unserer großen Dichter und Denker.’ Im Hintergrunde, der mehr als ein Hintergrund ist, stehen die Märchenforschung, die noch ganz große mythologische Aufgaben hat, die Sinnbildkunde, die allerdings zunächst erst den Stoff sorgfältig sammeln muß, ehe sie ihn in großen Einzel- schriften aufarbeitet, und zuletzt die Gesellschaftswissenschaft, bei der ich etwa an die Maruts des vedischen Altertums denke. Ich schätze mich glücklich, allen diesen Aufgaben, die mich schon seit langen Jahren beschäftigen, und ihren Bearbeitern das „Archiv für Religions- wissenschaft“ als wahrhaften Mittelpunkt klar und straff aus- gerichteter Religiositätsforschung weit auftun zu können. Insonderheit

ı Vgl. z. B. einen so lehrreichen Gegenstand wie die Legende vom Tode der Gottesverächter, den Wilhelm Nestle, ARW. 83 (1936) 246—269 übersichtlich fürs Griechische behandelt hat.

2 Lehrreich und verwendbar J. Wiesner, Fahren und Reiten in Alteuropa und im Alten Orient (Leipzig 1989) 36 o.

3 Usener, ARW. 7 (1904) 30. Wie das Christentum solares Altgut indoger- manischer Religiosität geschickt übernommen hat, zeigt treffend K. Bornhausen, ebd. 83 (1936) 16f. Vgl. auch A. Becker, Wörter und Sachen 20 (1939) 221 f., 231.

4 Wüst a. a. O. 733 und B. Rowland, Zalmoxis 1 (1938) 69—84.

s Wüst a. a. O. 734 u. und f., 737.

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zähle ich dabei auf den wissenschaftlichen Nachwuchs, der in der Front gegen alles verknöcherte Spezialistentum, in der wahren Frei- heit zuchtvoller und doch ganzheitlicher Forschung mitarbeiten und hineinwachsen soll in ein Wissenschaftsgebiet, dessen sich in Deutsch- land vor allem ,,Orientalisten von Fach“ annehmen mußten! und nicht ohne Erfolg auch angenommen haben. „Zumal auf 100 Alttestamentler nicht ein Vedist oder überhaupt nur Sanskritkenner kommt.“? Und auch das muß anders werden! Die gemeinsamen, Alt und Jung zu Sammlung und Vorstoß aber aufrufenden Fragen, die ich vorstehend im Umrisse zu zeichnen versucht habe und die in Zukunft mit Nachdruck bei aller ' Wahrung strenger Stoffbeherrschung behandelt werden sollen, sind in der Tat so allseitig und weltumfassend und berühren das Leben un- serer Gegenwart an so vielen, entscheidenden Stellen, daß eine geistige, bis in die Einzelheiten des Inhaltsverzeichnisses planvoll geordnete Heim- stätte unaufschiebbare Notwendigkeit ist. In diesem Sinne will das „Archiv für Religionswissenschaft“ auch künftighin zwischenstaat- lichen Belangen dienen. Als Albrecht Dieterich im Jahre 1904 die Mitherausgeberschaft des „Archivs“ übernahm, da schrieb er damals aus Anlaß der auch sachlich bedeutsamen Umgestaltung die treffenden Worte: „Zu abschließenden wissenschaftlichen Leistungen auf dem weiten Ge- biete der Religionswissenschaft ist es noch lange nicht an der Zeit. Darum ist hier die Forderung vorbereitender Arbeiten, wie sie eine Zeit- schrift leisten und zusammenfassen kann, in besonderem Maße berech- tigt“.3 Ich kann und brauche diesen Sätzen eines Meisters nichts hinzu- zufügen. Als Arbeitsziel ist vor nunmehr fünfunddreißig Jahren aufge- stellt und auch in der Folgezeit festgehalten worden: Erforschung des all- gemeinen ethnischen Untergrundes aller Religionen, Genesis des Chri- stentums, Untergang der antiken Religionen. Mein Vortrag hat wohl ein- deutig gezeigt, wie und inwieweit wir uns von diesem Arbeitsziel ent- fernt haben und entfernen wollen zu anderen Arbeitszielen hin, von denen wir fest überzeugt sind, daß sie mindestens nicht schlechter sind als jene. „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“: so will es das Ge- setz aller Wissenschaft, aber auch das höchste Gesetz, dem wir untertan sind, das Lebensgesetz unseres Volkes als eines der Erben indogerma- nischer Religiosität. Denn „das Wahre ist das Ganze“ (Hegel).

VII. Damit ist alles gesagt! Folgerungen und Forderungen ziehen sich von selbst, ohne daß das Programm zum Epigramm werden müßte. „Wenn es richtig ist, daß gewisse Probleme gewissen Zeiten vor anderen

1 So schon Hardy, ARW. 4 (1901) 225. 2 Mandel, Arische Gottschau 6 o. 3 Ebd. ARW. 7 (1904) 4 u.

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gestellt sind, so wird von Tag zu Tag sichtbarer, daß die religions- geschichtlichen recht eigentlich die Probleme unserer Zeit sind“ sprach der gleiche Albrecht Dieterich auch im Jahre 1904 aus.! Unser Stand- ort fiir das kommende Jahrtausend ist gewählt. Wir haben diesen Stand- ort nicht leichten Herzens, „mit edeln Purpurröten und hellem Amsel- schlag, mit Rosen und mit Flöten“? oder als satte Spießbürger bezogen, sondern im unerhörten Opfergang eines Volkes, in den Stahlgewittern des Weltkrieges, in den Fieberschauern der Nachkriegszeit und äußerster Unsicherheit, als Idee und Tatsache miteinander rangen um die Seele Deutschlands, bis die Zeit erfüllt war.... Damals, als das erblindete Auge eines Mannes Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchdrang und das älteste, wertvollste, artgemäße Erbe schöpferisch ermaß, fielen zweitausend Jahre von uns ab wie ein zerschlissener Mantel, der den ver- zauberten Helden birgt, und der Sinn wurde sichtbar, die Sendung einer tiefen, echten, die Kulturvölker nordischen Blutes verbindenden Glaubens- kraft. Diese verschüttete Glaubenskraft muß wieder in uns lebendig werden, nicht, in der scheinheiligen Übernahme längst verblichener Götter, sondern in und mit dem, was die Götter erschuf. Im Vorspiel zu Richard Wagners Tondichtung „Tristan und Isolde“ klingt, die tiefe Sehnsucht unserer Seele entsiegelnd, in wundersam gewölbter Steigerung das Eingangsmotiv der drei Sexten auf. Gehen wir über diese Brücken- bogen aus indogermanischer zu indogermanischer Religiosität!

Inhaltsübersicht

Begriffsbildung und Stoffeinteilung der allgemeinen Religionswissenschaft befinden sich in Zersplitterung und Unordnung. Deshalb Forderung nach „kon- ` struktiver Synthese“ der Einzelforschung (auf Kosten von Theorien und System- planungen). Beispielbafte Durchführung einer solchen an Hand der kritischen Würdigung der Lehrmeinungen Ottos, Useners und Graberts. Ergebnis: das Wesen der Religion liegt in Mensch, Ahnenerbe und ewiger Glaubenskraft des Volkes beschlossen.

Einsatz der Begriffe Rasse, Raum und Zeit in der Religionswissenschaft.

Nennung der an der Aufhellung idg. Religiosität beteiligten Wissenschaften. Forderung, daß deren Betrachtungsformen (vor allem Vergleichen und Ver- stehen) zuerst auf die idg. Religiosität anzuwenden sind.

Beschreibung des Wesens der idg. Religiosität: als sonnenhafter Eingott- glauben auf adelsbäuerlichem Boden ist sie gewachsen, nicht gestiftet oder ge- offenbart. Aufstellung dreier Kreise der idg. Religiosität: 1. Lebensordnung: Mensch, Sippe und Odalshof. 2. Sphäre des Himmelsgottes (Entstehung des idg. Monotheismus) und seines Sohnes, des Sunnenhelden (nebst dessen Wider- spiel; Entstehung des idg. Polytheismus): Gott, Gottessohn und Götter. 3. Die Welt und ibr Lauf. Schilderung der idg. Frömmigkeitsformen, ihrer Über-

1 ARW. 7 (1904) 4 o.; ähnlich Pfister, ebd. 33 (1936) 1 u. 2 C. F. Meyer, Morgenlied.

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lieferung und Beeinflussung. Feststellung der Zweitrangigkeit des Priestertums und rassisch-räumlicher Bedingtheit jedes Exorzismusses.

Neue Fragestellungen auf Grund frischentdeckter Zusammenhänge: not- wendig sind Erforschung geistesgeschichtlicher Sinngehalte, Ausarbeitung neuer Göttermonographien in ganzheitlicher Betrachtungsweise mit neuer Text- und Quellendeutung, neue Sichtung der Wirkung des Indogermanentums im Alten Vorderen Orient. Ausblick.

DER FEUERKULT DER GERMANEN

HAT DER LATINISCHE VESTAKULT EINE GERMANISCHE ENTSPRECHUNG ?!

VON OTTO HUTH IN BERLIN

Die Entdeckung der Verwandtschaft der indogermanischen Völker

im vorigen Jahrhundert wurde zum Ausgangspunkt sowohl für die ver- gleichende indogermanische Sprachwissenschaft wie für die vergleichende indogermanische Religionswissenschaft.? Die letztere hat mit der ersteren nicht immer gleichen Schritt gehalten, so daß wichtigste Fragen der vergleichenden indogermanischen Religionswissenschaft bis heute kaum gestellt, geschweige denn beantwortet sind. Vor allem wurde bisher ver- säumt, die von den Sprachforschern erkannte enge Verwandtschaft der

Germanen und Italiker für die Erforschung der Religionen dieser Einzel- .

völker wie darüber hinaus der urindogermanischen Religion fruchtbar zu machen.” Diese Erkenntnis muß zu einer sehr wesentlichen Frage führen, die bisher nicht beachtet wurde zu der Frage nämlich: hat der latinische Vestakult eine germanische Entsprechung ?

Die latinische Göttin Vesta kehrt in Griechenland als Hestia wieder. Die Übereinstimmung beschränkt sich nicht auf den Namen, sondern

1 1983/34 sowie 1935/36 erhielt ich Forschungsstipendien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Notgem. d. Dtsch. Wiss.) zur Untersuchung des indo- germanischen Feuerkultes sowie der indogermanischen Dioskurenmythen. Die Materialien, die in der vorliegenden Arbeit verwertet sind, wurden größtenteils in der damaligen Zeit gesammelt. Ich möchte daher auch an dieser Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft meinen Dank sagen. Eine größere Veröffent- lichung mit dem Titel „Vesta, Untersuchungen zum indogermanischen Feuer- kult“, bereite ich vor.

2 Über die Bedeutung der vergleichenden Methode für die Sprachwissen- schaft s. H. Güntert, Wörter und Sachen, NF. 1 (1938) 8 ff. Ihre Unentbehrlich- keit für die indogermanische Relwissenschaft hob kürzlich J. W. Hauer, Glaubens- gesch. der Indogermanen I (1937) 2, hervor. Vgl. auch J. de Vries, Altgerm. Relgesch. I (1985) 92f.

3 Über die bisherigen dahingehenden Bemühungen vgl. Verf., Janus 1982, 7ff.; ders, ARW. 32 (1985) 198f. Dazu sind jetzt ferner heranzuziehen R. Much, Herkunft der Italiker, Hirt-Festschr. II, 1935; Fr. Altheim, Neue Felsbilder der Val Camonica, WuS, NF. 1 (1938), W. Müller, Kreis und Kreuz 1938, 7—13.

Der Feuerkult der Germanen 109

erstreckt sich auch auf den Kult der beiden Göttinnen. Vesta und Hestia sind jungfräuliche Göttinnen des ewigen Herdfeuers. Außer dem Herd- feuer des Hauses ist ihnen das Herdfeuer des Gaues und Stammes ge- weiht. In Latium wurden die ewigen Stammes- und Staatsfeuer von jungfräulichen Priesterinnen, den Vestalinnen, gehütet, in Griechenland in den Prytaneen von männlichen Beamten, den Prytanen, bewacht. In Athen und Delphi werden auch Witwen als Hüterinnen des ewigen Feuers genannt!, und in Sparta heißt die Priesterin des Gemeinschafts- herdes „Hestia der Stadt bzw. des Staates“ (Eorl móicoç)? und wird daher als jungfräuliche Priesterin aufzufassen sein. Denn der griechische Mythos weiß von der Jungfräulichkeit der Göttin Hestia zu erzählen.? So dürfte uns ein wesentlicher Zug auch des altgriechischen Kultes nur in der Spiegelung des Mythos erhalten sein. Die so betonte Jungfräu- lichkeit der Göttin weist auf die jungfräuliche Priesterin zurück. Damit sind die gemeinsamen Züge des römischen Vesta- und des griechischen Hestia-Kultes keineswegs erschöpft. Deutlich ist in beiden Überliefe- rungen noch, daß ursprünglich der Kult des staatlichen Herdfeuers in enger Verbindung mit dem Königshause stand. Die Göttin des Herd- feuers wurde in Griechenland immer an erster Stelle angerufen und ge- ehrt®, die Herdgöttin in Rom an letzter Stelle, da zu Anfang immer Janus angerufen wurde. Die letzte Stelle kann die erste vertreten, da- her liegt die alte Übereinstimmung darin, daß das Herdfeuer zuerst an- gerufen wird. Dem griechischen und römischen Kultgebrauch schließt sich in diesem Punkt der persische und indoarische an. Die Indoarier opferten und beteten zuerst zu Agni, dem Feuergott, die Perser zu Atar.” Aus diesem Brauch, das Feuer an erster Stelle anzurufen, ergibt sich, daß der Feuerkult bei den Indogermanen eine bervorragende Rolle gespielt hat. Vesta heißt „heiligste Mutter“ (numen sanctissimae Vestae matris) und wird ehrwürdig und seit uralter Zeit verehrt genannt (cana, antiquissima). Ihr Herd heißt prisca religione consecratus, sie selbst ferner „die größte Gottheit“ (deorum maxima)® Ganz entsprechend ist die grie- chische Hestia, die „ehrwürdigste Gottheit“ (9eöv no&oßeıpx), ihr wird

1 A. Preuner, Hestia Vesta 1864, 191.

2 Preuner a. a. O. 102; L. Preller— Robert, Griech. Myth. I (41887) 427.

3 Preuner a. a. O. 153 ff.; Preller a.a. O. 423.

4 Oder an erster und letzter Stelle, s. Preuner 1 ff.

5 Preuner 28f., Wissowa, Vesta in Roscher LM 1925, 245.

Preuner 29f.

7 Der Rigveda beginnt mit der Anrufung Agnis („Ich preise Agni, den Purohita“). Vgl. z. B. Hertel, Sonne und Mithra, Leipzig 1927, 53. Die Perser rufen bei allen Opfern zuerst das Feuer an: Xenophon instit. Gr. 7,57; Strabo 15, 16, 733.

e€ Die Belege bei Wissowa a. a. O, 241.

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älteste Ehre (ngsoßnid« zıunv) zuteil.! Die Skythen verehrten „am meisten Hestia“ (Iorlev piv udlıcıe), die sie Tabiti nennen; „Hestia“ heißt auch die Königin der Skythen.2 Agni, der Feuergott der Indoarier, ist „der vorangestellte“ (Purohita); seine hervorragende Rolle im Kult ist deutlich überliefert, und noch im Mahäbhärata steht er an der Spitze der Götter.? Die große Bedeutung des Feuergottes bei den Slawen wird noch er- wähnt werden. Die angesehene Stellung der Feuergottheit bei den ver- schiedensten Indogermanenvölkern bestätigt den Satz, daß der Feuerkult eine hervorragende Rolle im indogermanischen Kult gespielt hat. Das Feuer war das heiligste Element der Indogermanen und galt als die Substanz der Götter. Die Erscheinungen der Götter sind nach indoger- manischem Glauben durch einen leuchtenden Strahlenschein ausgezeich- net. Den Rang des Menschen bestimmt sein Anteil am göttlichen Feuer. Der rechtmäßige iranische Herrscher muß im Besitz des Hvarenah sein, die germanische Sage hebt immer wieder die strahlenden Augen des Helden königlichen Geblütes hervor.

Des Feuers Wesen ist Glänzen und Glühen, es lodert aufwärts und verliert sich im Luftraum. Zu dem Feuer mußte sich der nordische Mensch als dem Bilde seines innersten Wesens hingezogen fühlen. „Alles was germanischen, gotischen Stammes ist, sowie es das Meer erblickt, reißt sich mit allen Sehnsucht geschwellten Segeln der Seele in die Weltweite hinaus“ (E. M. Arndt). Von den deutschen Dichtern ist die „Feuertrunkenheit“ häufig geschildert worden, so z.B. von Schiller®,

1 Hom. Hymnos an Aphrodite und Hestia.

2 Herodot 4, 59; 4, 127.

8 Adolf Holtzmann, Agni nach den Vorstellungen des Mahabharata, Straß- burg 1878, 7. Die Bemerkung Sten Konow’s (Chant.‘ 2, 38), Agni sei wesent- lich Priestergott und nicht Volksgott, ist verfehlt, wie sich schon aus seinen Ausführungen ebd. 45—47 ergibt.

4 Ludolf Stephani, Nimbus und Strahlenkranz, Petersburg 1859, 363; Fr. Pfister, Epiphanie, RE Suppl. 4, 315. Während in den vorstehenden Ar- beiten Belege fiir das Griechentum gegeben sind, findet man Belege fiir die germanische Religion bei M. Ninck, Wodan, Jena 1935, 264, fiir die Religion der Indoiranier bei J. Hertel, Die awestischen Herrschafts- und Siegesfeuer, Leipzig 1931, XI. Weiteres in meiner in Vorbereitung befindlichen Arbeit , Vesta, Untersuchangen zum indogermanischen Feuerkult“.

5 Arndt, Schriften fiir und an seine lieben Deutschen 4 (1855) 140. Arndt hat die große Glanz- und Lichtliebe des nordischen Menschen eindrücklich dargelegt, z. B. in seiner „Reise durch Schweden“ (1806). Vgl. Arndt, Nordische Volkskunde, Leipzig *1987, 61 ff. (Das schwedische Licht) und Ninck, Wodan 108 ff.

° Vgl. das Lied an die Freude und die beiden letzten Strophen des Ge- dichtes „Das Ideal und das Leben“. Uber das Fever als das Urbild der Schiller- schen Dichtungen s. W. Deubel, Schillers Kampf um die Tragödie, Berlin 1935, 38 ff.

Der Feuerkult der Germanen 111

von keinem aber eindringlicher und tiefer als von Hölderlin.! Es gibt bei ihm Verse, die in letzte Tiefen des alten Feuerkultes führen und in seine Geheimnisse besser einweihen als langwierige Darlegungen. Der „herrliche, geheime Geist der Welt“ offenbart sich Hyperion in der Feuerflamme. „Das Feuer geht empor in freudigen Gestalten, aus der dunkeln Wiege, wo es schlief, und seine Flamme steigt und fällt, und bricht sich und umschlingt sich freudig wieder, bis ihr Stoff verzehrt ist, nun raucht und ringt sie und erlischt; was übrig ist, ist Asche. So geht’s mit uns, das ist der Inbegriff von allem, was in schreckend-rei- zenden Mysterien die Weisen uns erzählen.... Wir sind wie Feuer, das im dürren Aste oder im Kiesel schläft, und ringen und suchen in jedem Moment das Ende der engen Gefangenschaft. Aber sie kommen, sie wägen Äonen des Kampfes auf, die Augenblicke der Befreiung, wo das Göttliche den Kerker sprengt, wo die Flamme vom Holze sich löst und siegend emporwallt über der Asche, ha!, wo uns ist, als kehrte der ent- fesselte Geist, vergessen der Leiden, der Knechtsgestalt, im Triumphe zurück in die Hallen der Sonne‘? Nach diesem Ausblick auf die Rolle der Feuerverehrung im Kult der Indogermanen überhaupt und den Sinn des Feuerkultes in seiner Bedeutung für das Verständnis des nordischen Wesens lenken wir zur Betrachtung des latinischen Vesta- kultes und seiner griechischen Entsprechung zurück. Es ist falsch, den latinischen Vestakult aus Griechenland herzuleiten; daß wir keine sicheren - Zeugnisse für ihn bei den anderen Italikern haben, kann nicht verwun- dern.” Umgekehrt kann es auch nicht zweifelhaft sein, daß Hestia, ob- wohl sie im Olymp Homers keinen Platz hatte, eine altgriechische Gott- heit ist.* Dieser Kult der Herdgöttin und des ewigen Feuers weist über die Zeit der Entstehung des griechischen und römischen Volkes weit zurück in die Vorzeit. Er läßt sich aber auch nicht als: eine Besonder- heit dieser beiden Indogermanenvölker verstehen 5, obgleich der Name Vesta— Hestia nicht über sie hinaus verbreitet ist. Die Italiker sind näher den Germanen und Kelten verwandt als den Griechen. Es ist da- her unmöglich, daß dieser so bedeutsame Kult sich auf die Griechen und Italiker beschränkte. Es ist aber auch schwerlich anzunehmen, daß

1 Über die Verwandtschaft von Dichtung und Mythos vgl. ARW. 32 (1935) 197 Anm. 2 und die Darlegungen von L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele 3, Leipzig 1982, 1251 ff.

3 Hölderlin, Hyperion, vgl. noch das Gedicht „Wie wenn am Feiertage das Feld zu sehen Ein Landmann geht ...“. Tiefe Aufschlüsse über das Sinnbild des Feuers gibt L. Klages a.a. O. 3, 1212f. :

3 Wissowa a.a. QO. 242f. gegen Herleitung aus Griechenland, 243f. über die Nachweisbarkeit allein in Latium.

« M. P. Nilsson, Chant.‘ 2, 321.

5 Daran dachte noch Wissowa, RKR 21912, 157.

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in der Zeit ihrer nachbarlichen Beziehungen sei es vor, sei es nach ihrer Einwanderung nach Italien bzw. Griechenland wesentliche Neue- rungen in der Art dieses Kultes eingetreten sind. Das Wort Vesta bzw. Hestia, das auch das Herdfeuer bezeichnet und eine Ableitung von der Wurzel *aues „leuchten“ ist, hat seine nächsten Verwandten in den ger- manischen Sprachen. Noch heute kann in der deutschen Sprache das Wort Herd das ganze Haus und den zugehörigen Grundbesitz bezeichnen, _ wie im Latinischen aedes Wohnung und Haus bedeutet, ursprünglich aber das Feuer des Herdes. Schon früh hat sich die Bedeutungsentwick- lung der Wurzel *aues vom leuchtenden Feuer des Herdes zu Haus, Wohnung, Mittelpunkt, Hauptsache, Wesen, Wirklichkeit vollzogen. Die ursprüngliche Bedeutung ist im Germanischen ebensowenig erhalten ge- blieben wie im Indoarischen (Altind. vasati „wohnt, verweilt“) und Kel- tischen (altir. feiss „bleiben“, mittelir. feis „essen“, cymr. gwest „Schmaus“‘).! Ein von dieser Wurzel hergeleiteter Name der Herdgöttin, der insbeson- dere im Germanischen zu vermuten ist, ist nicht überliefert. Wichtiger aber als der Name ist die Gestalt der Herdgöttin und die Form ihres Kultes. Auch wenn wir ihren Namen nicht mehr erschließen könnten, wäre an der Existenz einer der latinischen Vesta entsprechenden ger- 'manischen Herdfeuergöttin nicht zu zweifeln. Das ergibt sich aus fol- genden Erwägungen.

Dem latinischen Vestakult und dem griechischen Hestiakult ent- spricht der keltische Brigitkult.” In der römischen Interpretation heißt

1 Vgl. griech. &sri« „Herd, Aufenthalt, Wohnsitz, Haus, Mittelpunkt, Haupt- sache“; éoriaua, &oriacıg „Schmaus, Speisung“; &orıdeyns „Wirt, Gastgeber“, £orıasıy „bewirten, speisen“. Die germanischen Entsprechungen sind wist und ‚wesen: got. wists „Wesen, Natur“; altisl. vist „Wesen, Aufenthalt“; ahd. wist „Wesen, Aufenthalt, Speise“; mhd. wist „Aufenthalt, Wohnung, Nahrung“, nhd. Wesen, Anwesen, „Haus mit zugehörigem Grundbesitz“. [Es ist wir und an- ‚deren Forschern durchaus nicht klar, ob die hier zusammengestellten Wort- formen auf eine idg. Wuazel zurückgeführt werden können. W. Wüst.]

2 Mac Culloch, Chant.? 2, 611, 627. Hier mag noch darauf hingewiesen werden, daß in der jüngeren Steinzeit in Mitteleuropa das ewige Dorffeuer durch die Ausgrabung von Siedlungen nordisch-indogermanischer Stämme mit ‚großer Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist. Inmitten von Rechteckbauten finden sich kleine Rundhütten, die von verschiedenen Forschern unabhängig als Ur- formen des Vestatempels aufgefaßt wurden. S. Bruno Crome, Heiliges Dorffeuer, Mogk-Festschr. Halle 1924, 510f. und 516 (Südhannoversche Siedlungen bei :Göttingen); R. R. Schmidt, Jungsteinzeit- Siedlungen im Federseemoor, 2. Lief. Stuttgart 1936, 177 u. 186 (Aichbühl in Wbg.); vgl. zum letzten meine Bemer- kungen in „Germanien“ 1936, Heft 12, 400. Mit Nachdruck hervorheben möchte ich, daß mir die Abhandlung von Crome erst nach Abschluß der vorliegenden Studie bekannt geworden ist. Ich freue mich, daß Crome zu ähnlichen Frage- stellungen kam; auch er betont die Bedeutung der engen Verwandtschaft von Italikern nnd Germanen für die Erforschung des germanischen Altertums (514f.)

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Der Feuerkult der Germanen 113

Brigit, die Göttin der Gelehrsamkeit, der Heilkunst und der Schmiede- kunst!, Minerva, wie aus Caesar, de bello gall. 4, 16 (Minervam operum atque arteficiorum initia tradere) zu ersehen ist. Als anderer keltischer Name ist Sul, Sulevia anzusehen (zu altir. swil „Sonne, Auge“, also „die Leuchtende“ wie Vesta Hestia und möglicherweise auch Brigit). Sul ist gleichzeitig Quell- und Feuergöttin wie Vesta und ferner Heilgöttin. Als solche wurde sie in Bath in Britannien (Aquae Sulis) verehrt; in ihrem Tempel brannte dort ein ewiges Feuer.” In Irland bestand der Brauch, ein ewiges Feuer zu unterhalten, noch im Mittelalter fort. Die Nonnen der in den Heiligenstand versetzten Göttin Brigit übernahmen den Dienst der Vestalinnen.? Daß diese ewigen Kultfeuer der Kelten wie das Vestafeuer Altroms Stammes- bzw. Staatsfeuer waren und aufs engste mit dem Königshause verbunden waren, ergibt sich aus Schilderungen der Viten des St. Patrick.4 Es handelt sich um eine alte und zuverlässige Überlieferung, da der heidnische Kult nur deshalb erwähnt wird, weil er zu christlichen Zwecken umgedeutet werden konnte. Es ergibt sich aus diesen Quellen, daß es altirischer Brauch war, alle Feuer im Lande an einem bestimmten hohen Festtage zu löschen und erst neu anzuzün- den, wenn an der zentralen Kultstätte das Feuer des Königshauses neu entfacht war. Das in dieser Nacht neu erzeugte Feuer galt als Herr-

und spricht die Vermutung aus, die Germanen hätten eine Gottheit wie Vesta mit dem gleichen Namen gekannt. Seine Gleichstellung von Vesta mit Wurt (Urdr) und Caca mit Hexe (Hag) allerdings halte ich für verfehlt.

ı S. unten S. 120.

2 Solin. 22, 10: quibus fontibus praeest Sul Minervae numen, in cuius aede perpetui ignes numquam canescunt in favillas (praeest Sul statt praesul est mit Holder, Altkelt. Sprachschatz 2, 1661 f.). Vgl. Heichelheim in Pauly-Wissowa, RE s. v. Minerva, Sul, Sulevia; = Gutenbrunner, Die germ. Götternamen, Halle 1936, 196 ff.

3 William Camden, Britannia, London 1607, 747; Mac Culloch a. a. O.; Frazer, The golden bough II (21911) 240 f. (hier weitere Quellennachweise). Frazer halt es für das Wahrscheinlichste, daß die 19 Nonnen, die in Kildare in Irland das heilige Feuer der St. Brigit bewachen, an Stelle eines keltischen Vesta- linnenordens traten (S. 241). Wie er belegt, gab es ewige Feuer nicht nur in Kildare, sondern wie es scheint allgemein in Irland. In mehreren Klö- stern fand sich eine für sich stehende kleine Kirche, in der sich das heilige Feuer befand, so bei den Klöstern von Seirkildan, Kilmaintam und Suishmurray. Diese Kultfeuer bestanden bis zur Auflösung der Klöster durch Heinrich VIII. (16. Jahrh.). Auf der bretonischen Insel Ouessant (Sena) erwähnt Pomponius Mela 3, 48 jJungfräuliche Priesterinnen. Es seien neun an der Zahl, mit Namen Gallisenae, sie seien Seherinnen und Ärztinnen. Man erzähle von ihnen ferner, daß sie über Verwandlungskünste verfügten und zauberische Fähigkeiten hätten, so hätten sie das Meer und den Wind zu erregen vermocht. Ein heiliges Feuer in der Hut dieser Gallisenae wird nicht erwähnt, es darf aber angenommen werden (so bereits Ch. Elton, s. Frazer a.a. O. 241, Anm. 1).

4 Zwicker, Fontes hist. rel. celt. 2, Bonn 1935, 141 ff.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI.1 8

114 Otto Huth

schaftsfeuer, d. h. es war das Unterpfand der königlichen Herrschaft; es ist selbstverständlich, daß es sorgfältig bewacht wurde. Die Erneue- rung des Feuers setzt ein Dauerfeuer voraus und Andeutungen der Texte lassen noch erkennen, daß das Feuer des Königshauses ein ewiges Feuer war. Die verschiedenen keltischen Überlieferungen lassen es also zu, bei den Kelten eine vollkommene Entsprechung zum latinischen Vestafeuer aufzuzeigen. Wir dürfen annehmen, daß ebenso wie im alten Rom auch die Priesterinnen der Brigit in Altirland Töchter angesehener Ge- schlechter waren, und daß das ewige Feuer der Brigit ursprünglich das Feuer des Königshauses war, das als Herrschafts- und Stammesfeuer galt.!

Die ewigen Staats- oder Stammesfeuer finden wir ferner bestens bezeugt bei den baltischen Indogermanen. An der Zentralkultstätte der Stämme wurde ein ewiges Feuer zu Ehren des Hauptgottes Perkun unterhalten. In Romowe im preußischen Nadrauen unterhielt, wie Peter von Duisburg berichtet, der Oberpriester, der den Namen Kriwe führte, ein ewiges Feuer.” Zahlreicher sind die Nachrichten über Altlitauen. Hieronymus von Prag traf im Anfang des 15. Jahrh. in Litauen einen Stamm, der „das heilige Feuer verehrte, das er ewig nannte“? In dem Bericht einer Jesuitenmission von 1583 heißt es: „Dem Perkun unter- hielt man in Wäldern (in Samogitien) ewiges Feuer, wie die Vestalinnen Roms es taten“? Während wir also hier einen männlichen Feuergott und männliche Feuerpriester bezeugt finden, ist daneben auch die Herd- göttin, die „Herrin des Hauses“, überliefert. Schwerlich dürfte die litauische Sage wertlos sein, die über Biruta, die Gemahlin des Litauer- fürsten Kestuit erzählt, sie sei „früher eine der Priesterinnen gewesen,

1 Über den Brauch der Herderneuerung in Irland vgl. Frazer, Der goldene Zweig, Leipzig 1928, 919f.; Verf., Janus, Bonn 1932, 98.

2 Peter von Duisburg, Chronik Preußens 3, 5 (1326); Brückner, Die Slawen, RL! 8, 18.

3 Aeneas Sylvius de Europa, Kap. 26; Briickner a. a. O. 26.

4 Brückner a. a. O. 34. Weitere wichtige Belege bei Joh. Lasicius, de diis Samogitarum, ed. Mannhardt, Riga 1868, 21 und J. Dlugoss— Longinus, hist. pol. lib. 10, ad annum 1387 und lib. 11, ad annum 1413 (Brückner, Chant.* 2, 530 schreibt irrig 1448). Die Texte teilweise bei Clemen, Fontes hist. rel., fase. 6, 1936; vollständig bei W. Mannhardt—Berkholtz, Denkmäler der letto-preuBi- schen Götterlehre, Riga 1936. Vgl. Usener, Götternamen, Bonn 21929, 79 ff.: Brückner, Chant.‘ 2, 528 ff; Heinz Thomas, Die slawische und baltische Religion vergleichend dargestellt, Diss. Bonn 1934, 22—24.

5 Die Nadrauer (Preußen) hielten das Herdfeuer für heilig, das sie szwenta ponyke „heilige Herrin“ nannten (M. Prätorius, Deliciae Prussicae, ed. W. Pier- son, Berlin 1871, 34; Usener a.a. O. 98). Die Göttin Polengabia ist bei den Litauern die ,Walterin des brennenden Herdes“ (Brückner, Slawen, RL* 3, 80; Usener a.a. O. 98; vgl. Mannhardt, Denkmäler 372).

Der Feuerkult der Germanen 115

die das den Göttern geweihte ewige Feuer zu hüten hatten“.! Die litau- ischen Vestalinnen brauchen nicht erst spät bei dem Vergleich des bal- tischen Feuerkultes mit dem altrömischen erfunden zu sein, wie sich aus dem Bericht über den Untergang des altpreußischen Stammes der Galinden ergibt. Die in dieser Erzählung genannte Herrin, die nach einheimischem Brauche „als eine Heilige und Prophetin geachtet wurde, nach deren Geheiß man die Einzelheiten dieses Landwesens regelte“, ist wie Weleda und die anderen germanischen Seherinnen als Ober- vestalin aufzufassen.? Diese baltischen Überlieferungen sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil wir uns hier in unmittelbarer Nachbarschaft Germaniens befinden und die engen nachbarlichen Beziehungen der bei- den Indogermanenvölker bekannt sind.

Auch über den engeren Kreis der den Germanen näher verwandten Westindogermanen und der baltischen Gruppe hinaus läßt sich die Herd- feuergöttin bei indogermanischen Völkern nachweisen. Die Skythen ver- ehrten, wie bereits erwähnt wurde, vor allem „Hestia“, die auf skythisch Tabiti heißt? Als mythischen Gesetzgeber der Geten, eines Thraker- stammes, erwähnt Diodor den Zalmoxis, der seine Gesetze von der „all- verehrten Hestia“ (xoıvn éor/x) erhalten haben will.4 Daraus scheint sich zu ergeben, daß die Geten an ihrer Zentralkultstätte ein ewiges Feuer unterhielten, das einer weiblichen Gottheit heilig war. Ob der Feuer- kult bei den Mongolen der inneren Mongolei®, der aufs engste mit dem Geschlecht des Temudschin (Dschingis-Khan), den Burdschighiten, d.h. „den Blauäugigen“® verbunden ist, skythisch-sakischer Herkunft ist, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls aber ist er indogermanischen Ursprungs. Die mongolischen Feuerbücher lassen noch manche Einzelheit dieses Feuerkultes erkennen, der ganz indogermanisch anmutet. Die Gottheit des Feuers wird u. a. „Mutter des Herdes“ und „jungfräuliche Gottheit des Feuers“ genannt. Die göttliche Feuerjungfrau hat viele Schwestern, die „weiße Ärzte“ heißen. Dschingis-Khan selbst wird als Erzeuger des Feuers genannt, das „von der mächtigen Königin“ aufbewahrt wurde.

ı Th. Schiemann, Rußland, Polen und Livland I, Berlin 1886, 235; vgl. Jungfer, Altlitauen, Berlin 1926, 190 (Jungfer fußt auf Laukys, der, wie J. hervorhebt, nicht immer zuverlässig ist).

2 Der Bericht über die Galinden findet sich bei Peter von Duisburg 3, 4 (Clemen, Fontes f. 6, 96; Brückner a. a. O. 21f.). Über die germanischen Sehe- rinnen als Obervestalinnen s. unten.

® Herodot 4, 59. * Diodor 1, 94.

5 N. Poppe, Zum Feuerkult bei den Mongolen, Asia Maior 2, Leipzig 1925, 130 ff.

e Hans F. K. Günther, Die nordische Rasse bei den Indogermanen Asiens, München 1934, 184 f.

Ss *

116 Otto Huth

Bei verschiedenen anderen Indogermanenvölkern finden wir zwar nicht die Herdgöttin, wohl aber einen männlichen Feuergott und die ewigen Stammesfeuer bezeugt. Der Feuerkult der Slawen ist aus alter Zeit nicht näher bekannt, er wird sich von dem der Balten einerseits und der Arier (Indoiranier) andererseits nicht wesentlich unterschieden haben. Daß er auch bei ihnen einen hervorragenden Platz einnahm, darf aus Bemerkungen eines arabischen Reisenden und eines persischen Geo- graphen geschlossen werden. Bei ihnen lesen wir: „Sie (die Slawen) sind alle Feueranbeter“ (Ibn Rusta 10. Jahrh.) und „sie (die Slawen) verehren alle das Feuer“ (Geographus anonymus Persicus, 10. Jahrh.).! Man wird also auch der Überlieferung trauen können, der zufolge in Nowgorod ein ständiges Feuer vor dem Bilde des Gottes Perun brannte.? Der Hauptgott der Elb- und Oderslawen war Svarog (Diminutiv Suarosiz, russ. svarozic „Feuerchen“); Svarog ist der Kultname des Feuers, das sonst ogni (= lat. ignis, altindoar. agni usw.) heißt. In den russischen Malalasglossen wird Svarog mit Hephaistos übersetzt.” Bei den West- slawen finden wir außerdem die Götter Triglov, Svetovit und Jarovit bezeugt, die als andere Namen des Svarog aufgefaßt werden.* Bedenkt man ferner, daß die beiden anderen Götter, die als Hauptgötter der Slawen belegt werden können, Perun (= Perkun) und Dazbog, der Blitz- und der Sonnengott sind, so erkennt man die große Einheitlichkeit der slawischen Religion, deren oberste Gottheit die Feuergottheit ist. Sonne und Blitz sind nur Formen des heiligen Feuers und das irdische, heilige Feuer wird bei den Slawen wie bei den übrigen Indogermanen als kos- misches Feuer gegolten haben.” Besonders angemerkt zu werden ver- dient noch die Überlieferung, daß dem Priester des Svantevit das Atmen im Tempel des Gottes verboten war.® Dazu ist die iranische Sitte zu vergleichen, daß der Feuerpriester vor dem heiligen Feuer eine Binde vor dem Munde tragen mußte, um das heilige Feuer nicht durch seinen

1 Meyer, Fontes hist. rel. slaw., Berlin 1931, 93 u. 95; vgl. Brückner, Chant.‘ 2, 508.

2 Die Quelle ist spät, es handelt sich um eine Stelle bei Guagnini, Sar- matiae europaeae descriptio 1578, s. L. Leger, La mythologie slave, Paris 1901, 57f.; Frazer I, 2 (31911) 365; Tiele-Söderblom, Kompendium der Relgesch., Berlin 1931, 851.

3 Meyer a.a.Q.8, 10, 13; Brückner, RL? 3, 5; Ders., Chant.‘ 2, 509 f.

4 Brückner a.a. O. 511; gegen diese Auffassung hat jetzt allerdings Thede Palm, Wendische Kultstätten, Lund 1937, 6f. Bedenken geltend gemacht.

5 Über die enge Beziehung zwischen Feuer und Sonne im indogermanischen Kult und Mythos vgl. L. von Schröder, Arische Religion 2, Leipzig 1916, 81 ff. Brückners Theorie der verschiedenen Entwicklungsstufen des slawischen Glau- bens (Chant.‘ 2, 620) beruht auf der Verkennung der symbolischen Einheit von Sonne, Blitz und Feuer.

Saxo Gramm. Gesta Dan. 14.

Der Feuerkult der Germanen 117

Atem zu entweihen.! Man beachte, daß nach Brückner Svantevit ein anderer Name für den Feuergott Svarog ist. Im Tempel des slawischen Gottes dürfte ursprünglich an Stelle des Idols ein ewiges Feuer ge- wesen sein. |

Bei den Ariern (Indoiraniern) finden wir ebenfalls die hervorragende Stellung des Feuerkultes.” Die heiligen ewigen Feuer der Perser be- zeugen auch die Griechen, die den Feuerkult den Hauptkult der Perser nennen.? Bei den Iraniern gab es seit alters neben dem ewigen Feuer des Hauses ewige Gau- und Stammesfeuer, von denen das Feuer des Königshauses besonderes Ansehen hatte.? Die ewigen Stammes- und Herrschaftsfeuer waren einst auch in Indien bekannt, wie aus den Über- ` lieferungen noch zu erschließen ist. Im Iran ist die Löschung des hei- ligen Feuers im Hause, das ebenso wie in Indien dauernd brennen mußte, beim Tode eines Bewohners bezeugt. Entsprechend wurde beim Tode des Königs das Feuer im Kénigsbause gelöscht.” Die periodische Erneuerung ist nur für das Herdfeuer überliefert, und zwar wurde es zu einem größeren und mächtigeren Feuer gebracht, um sich zu reinigen und neue Kraft zu gewinnen.’ In Indien wurde das ewigbrennende Herd- feuer nach dem Zeugnis der Sutren beim Tode eines Bewohners aus dem Hause entfernt und gelöscht.? Die ewigen Feuer wurden hier ferner zur Wintersonnenwende gelöscht und neues Feuer mit dem Holzfeuer-

1 Chant.‘ 2, 236. Weitere Belege für das Verbot des Blasens und Atmens ins Feuer bei Frazer, The golden bough I, 2 (21911) 241 (betrifft Kildare in Ir- land, Südslawien und Altindien). Dazu ist ferner noch das altrömische Verbot zu stellen, eine Lampe auszulöschen, man mußte sie von selbst ausgehen lassen (Plut. quaest. Rom. 75; Bachofen, Grübersymbolik der Alten, Basel 21925, 89 f.). Plutarch (a. a. O.) fragt, „geschieht dies etwa darum, weil die Römer das Licht als mit dem ewigen unauslöschlichen Feuer verwandt und verschwistert ehrten ?“

2 F. Spiegel, Arische Periode, Leipzig 1887, 236: „Gemeinsam ist auch dem arischen Gottesdienst der Zug, daß die vorzüglichste Verebrung dem Feuer dargebracht wird.“ O. G. v. Wesendonk, Das Weltbild der Iranier, München 1933, 143; E. Lehmann, Chant.‘ 2, 235 f.

3 Xen. instit. Cyr. 7, 57; Strabo 15, 15; Curtius Ruf. hist. Alex. 3, 3,9 (ignis ipst sacrum et aeternum vocabant); Lucianus lupp. Trag. 42, 690; Max. Tyrius philosoph. 2, 4; Firm. Mat. de err. prof. rel, 5.

4 Spiegel, Eranische Altertumskunde 8, Leipzig 1878, 575; Wilh. Geiger, Ostiranische Kultur im Altertum, Erlangen 1862, 472; Joh. Hertel, Die awesti- schen Herrschafts- und Siegesfeuer, Leipzig 1931.

5 A Hillebrandt, Vedische Mythologie 1, Breslau 71927, 131f. (Sacra pu- blica); Joh. Hertel a. a. O. 167 f.

e Vd. 5, 123 ff.; vgl. Spiegel, EA 3, 706.

7 Diodor 17, 114; vgl. Christensen, Die Iranier, Hdb. d. Altertumswies. III 1, 3, München 1933, 257; Spiegel, EA 3, 613.

8 Vgl. Vd. 8, 2ö4f.; Spiegel, EA 8, 693 f.

® Caland, Die altindischen Toten- und Bestattungsgebriiuche, Amsterdam 1896, 113.

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zeug gedrillt.! Wenn sich dieses Feuer nicht als kräftig erwies, mußte später im Laufe des Jahres die Feuererneuerung wiederholt werden, d. h. ein Notfeuer erzeugt werden.?

Kleinere Indogermanenvölker, die mit Iran in näherer Verbindung stehen, sind die Osseten und die Armenier. Über den Feuerkult dieser beiden Völker haben wir aus dem vorigen Jahrhundert Berichte. Bei den Osseten ist der Herd der Mittelpunkt des Hauses bzw. des Haupt- raumes und gilt als heilig. „Das Feuer auf ihm brennt ewig und wird durch die Frauen unterhalten“? Ebenso ist den Armeniern das Herd- feuer des Hauses heilig; der Herd wird der Kirche gleichgesetzt. Es gibt aber auch heilige, ewige Dorf- und Gaufeuer, d. h. Herde, die für das ganze Dorf bzw. den ganzen Gau heilig sind Auch ein Uberrest des alten Brauches der jährlichen Feuererneuerung war im vorigen Jahr- hundert noch erhalten.

Aus diesem Befund, nach dem sich also bei allen Indogermanen, von denen wir diesbezügliche Berichte haben, und was sehr zu beachten ist insbesondere aber bei all den Indogermanen, die mit den Ger- manen nächst verwandt sind, die ewigen Stammesfeuer finden, ergeben sich die Schlußfolgerungen: die Germanen übten nicht nur den Herd- feuerkult, den man als allgemein indogermanisch längst erkannte, son- dern ebenso den Stammesfeuerkult; das Herdfeuer wie das Stammesfeuer “war einer weiblichen Gottheit geweiht, die in ihrem Wesen der latini- schen Vesta, griechischen Hestia, keltischen Brigit—Minerva entsprach; der Stammesfeuerkult der Germanen glich in seiner ganzen Ausgestal- tung dem latinischen Vestakult, d. h. die ewigen Stammesfeuer der Ger- manen wurden von jungfräulichen Priesterinnen behütet, die im Dienste der Herdfeuergöttin standen.

Zu diesen Annahmen muß man allein schon auf Grund der engen Verwandtschaft der Germanen mit den Italikern kommen. Sie werden aber ganz unabweisbar, wenn man, wie es oben geschehen ist, die ent- sprechenden Überlieferungen im gesamtindogermanischen Kreis berück- sichtigt. Neuere sprachwissenschaftliche Untersuchungen haben uns ge- zeigt, daß der Gesamtcharakter des Germanischen trotz seiner Wand- lungen dem Altindogermanischen in mancher Hinsicht sehr nahesteht.? Eine Sonderstellung der Germanen innerhalb der Indogermanen und im

1 Hillebrandt a. a. O. 91; Hertel, Das indogerm. Neujahrsopfer im Veda, Leipzig 1938, 45 ff.

2 A. Hillebrandt, Ritualliteratur, Straßburg 1897, 109, § 60.

3 A. H. Post, Das Recht der Osseten (Bericht über das Buch von M. Kova- lewsky über das Gewohnheitsrecht der Osseten), Globus 65 (1894) 163.

4 M. Abeghian, Der armenische Volksglaube, Leipzig 1889, 67.

5 Ebd. 69. 6 Ebd. 72f. |

7 Ammann u. a. in der Hirt-Festschr. 2, 1936.

Der Feuerkult der Germanen | 119

besonderen auch der Westindogermanen kann sprachwissenschaftlich nicht begründet werden und ist auch auf andere Weise nicht stichhaltig begründet worden. Es darf also auch aus der Sachlage, daß die Quellen der germanischen Religion über einen germanischen Stammesfeuerkult nichts aussagen‘, nicht auf eine Sonderstellung der Germanen geschlossen werden. Nichts spricht dafür, daß die Germanen diesen alten indoger- manischen Kult aufgegeben hätten. Man bedenke, welche Rolle die Jahresfeuerfeste im gesamten germanischen Kreis spielen und wie gut die Heilighaltung des häuslichen ewigen Herdfeuers noch im vorigen Jahrhundert bezeugt ist.2 Daß diese späten Volksüberlieferungen voll- wertige Zeugen germanischen Kultes sind, kann niemand bezweifeln, und es ist besonders zu beachten, wie zäh sie bewahrt wurden trotz der feindlichen Einstellung des Christentums. Die Erschließung des germa- nischen Stammesfeuerkultes belehrt uns also vielmehr über die Lücken- haftigkeit der Quellenzeugnisse zur germanischen Religion und vermag andererseits Hinweise zu geben für eine Neuinterpretation der erhal- tenen Quellen. Denn trotz der Folgerichtigkeit, mit der auf Grund der vergleichenden Methode der germanische Stammesfeuerkult erschlossen werden kann, bleibt dieser Kult so lange Hypothese, bis er sich bei der Betrachtung der germanischen Quellen bewährt hat. Erst wenn die auf Grund der vergleichenden Methode gezogene Schlußfolgerung sich für das Verständnis der germanischen Überlieferung als fruchtbar erweist, kann die These vom „germanischen Vestakult“ als bewiesen angesehen werden.

Wenn wir die germanischen Quellen unter dem neuen Gesichtspunkt betrachten wollen, müssen wir uns über das Wesen der indogermanischen Herdgöttin und ihrer Priesterin im klaren sein. Das darüber oben be- reits Gesagte bedarf der Ergänzung. Die latinische Vesta ist als die

1 Vgl. vor allem Walther Schulz, Indogermanen u. Germanen, Leipzig *1938.

2 Das ewige „geweihte Feuer“, das die Kjalnesinga-saga (Kap. 2; Baetke, Die Religion der Germanen in Quellenzeugnissen, Frankfurt a. M. 1937, 6) er- wähnt, scheint allerdings das Kultfeuer eines größeren Verbandes gewesen zu sein. Der Wert dieses Beleges ist umstritten, vgl. J. de Vries, Altgerm. Rel.- gesch. 2, Berlin 1937, 116. F. Jonsson Arbok hins islenzka fornleifafélags 1898, 35 und Aarbgger for nordisk oldkyndighed og historie 24 (1909) 262 will hier nur eine „Reminiszenz an das Vestafeuer“ sehen. Dietrichson bei Hoops, RL II, 318 erhebt zwar Einspruch gegen Jönsson, indem er die Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit der Beschreibungen in der Kjalnesinga-saga betont, glaubt aber gegen den klaren Text annehmen zu sollen, das Feuer habe auf dem Altar nicht „ewig“, sondern nur während des Gottesdienstes gebrannt. Mir scheinen Jénssons Argumente nicht durchschlagend, darüber an anderem Orte.

3 J. Grimm, Deutsche Mythologie‘ 1, 523; H. Freudenthal, Das Feuer im deutschen Glauben und Brauch, Berlin 1931, 53 ff.

Vgl. Verf., Die Fällung des Lebensbaumes, Berlin 1936, Abschn. 3,

N

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Göttin des heiligen Feuers: zugleich eine Göttin der Fruchtbarkeit.! Sie ist ratgebende und weissagende Göttin. Das ergibt sich aus der Identität der Vesta mit Gaia Caecilia, die auch Tanaquil heißt, und Egeria.? Die Hestia der Griechen heißt Bulaia (ßoviale), d.i.die Ratgebende®, und in Delphi opferte jeder, der das Orakel befragen wollte, zuerst der „weis- sagenden Hestia“ (xv@duavtig éorla).4 Die altirische Entsprechung der Vesta ist Brigit, die weibliche Hauptgottheit der Iren. Sie wird in Cormac’s Glossar als Seherin bezeichnet.? Es heißt da: „Diese Brigit ist die Frau der Gelehrsamkeit, eine von den Sehern verehrte Göttin. Ihre schützende Fürsorge war sehr groß und sehr berühmt. Ihre Schwestern waren Brigit, die Frau der Heilkunst, und Brigit, die Frau der Schmiedekunst.“ In diesem Zusammenhang mag ferner daran erinnert werden, daß die heid-

nischen Priester der Litauer nach einem Bericht aus dem 15.Jahrh. für

ein heiliges Feuer sorgten, und „von Freunden Erkrankter um Rat ge- fragt wurden“. Auch Agni, der Feuergott der Indoarier, war zugleich Seher- und Dichtergott.? Im deutschen Volksbrauch ist die Weissagung aus dem Feuer seit dem Mittelalter bezeugt und heute noch in abge- schwächter Form lebendig. Sie ist auch als germanisch anzusehen.® Die germanische Pyromantie macht es wahrscheinlich, daß eine germanische Göttin des Feuers zugleich als Seherin galt® und entsprechend die Priesterin

ı Das Feuer ist immer auch Sinnbild des Eros gewesen; vgl. die noch heute üblichen Sprachwendungen vom Feuer der Liebe. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Keuschheit der Vestalinnen als kultische Keuschheit nicht mit moralischer Keuschheit verwechselt werden darf. Daß die Enthaltsamkeit aus kultischen Gründen den Germanen bekannt war und zu den Maßnahmen der Heiligung und Weihung des Menschen gehörte, legt Grönbech dar (Chant.* 2,569f.). Die kultische Keuschheit erhebt den Menschen in die göttliche Sphäre; die Vestalin lebt im währenden Gamos mit der Gottheit. Daher auch ist ihre Vereinigung mit einem Gotte oder dem Vertreter eines Gottes kein Frevel. Kultische Keuschheit und völlige Preisgabe liegen eng beieinander; die letztere tritt in den Kulten nicht-indogermanischer Völker stärker hervor. Das Wesen der kultischen Keuschheit ist klar gezeichnet von G. v. d. Leeuw, Phänomeno- logie der Religion, Tübingen 1933, 213f. Nonne und Vestalin unterscheiden sich wesentlich; sie stehen sich nicht näher als Christus und heidnischer

Sonnengott. 2 L. Euing, Die Sage von Tanaquil, Frankfurt 1933, 26, 52. 3 Preuner a. a. O. 118 ff. 4 Ebd. 193. 5 W. Krause, Kelten RL? 13, 8. 6 RL? 3, 26.

? E. Hardy, Die vedisch-brahmanische Periode der Religion des alten Indiens, Münster 1893, 66; A. Holtzmann, Agni 29 (Agni = der beste Dichter).

8 Freudenthal a. a. 0. 72 f.

® In der altnordischen Mythologie sind Frigg und Gefjon zukunftskundig. Es ist die Frage zu stellen, ob Frija-Frigg das germanische Gegenstück zu Vesta ist. Sie soll hier nicht ausführlich behandelt werden, es sei aber auf

folgendes hingewiesen: Es läßt sich die Gleichung aufstellen: Frigg = Freyja

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Der Feuerkult der Germanen 121

dieser Göttin nicht nur Hüterin des Feuers, sondern auch Ratgeberin und Wahrsagerin war. Die Priesterin der Herdgöttin war selbst erfüllt vom heiligen Feuer, daher war sie den Göttern nahe und schicksals- und heilkundig. Nach Tacitus’ hatten „nach alter Sitte“ bei den Germanen jJungfräuliche Seherinnen großen Einfluß, die die Ratgeberinnen der Stammesführer waren. Die berühmteste ist die Brukterin Veleda, die sich auf einem Turm in der Nähe der Lippe aufhielt (nach dem Bericht des Tacitus).2 Eine andere dieser Seherinnen ist Ganna, die neben dem Semnonenkönig bei Domitian erschien.* Außer diesen beiden werden uns noch genannt Aurinia, die in alter Zeit vor Veleda großes Ansehen hatte, und Waluburg, die wie Ganna eine Semnonin ist.* So wenig auch die Quellen aussagen, man gewinnt doch den Eindruck, daß es sich um eine ständige Kulteinrichtung handelt. Die Entsprechungen dieser jungfräu- lichen Priesterinnen im nordgermanischen Mythos? legen es nahe, daß die einzelnen Seherinnen Mitglieder oder Anführerinnen einer jungfräulichen Schwesternschaft waren. Da wir einen germanischen Vestakult, der dem latinischen glich, annehmen müssen, ist es wahrscheinlich, daß diese jJungfräulichen Seherinnen gleichzeitig Hüterinnen des ewigen Stammes- feuers waren bzw. Vorsteherinnen eines Vestalinnen-Kollegiums und also als vestalische Priesterinnen und Seherinnen aufzufassen sind. Dem hohen Ansehen der römischen Vestalin®, ihrem Erhobensein in eine sakrale

Gefjon = Menglöd. Über die vestalischen Züge der Menglöd vgl. unten. Gefjon ist jungfräuliche Göttin wie ursprünglich wohl auch Frigg, vgl. den zweiten Merseburger Spruch (Volla, Schwester der Frija; nach Gylf. 35 ist Fulla Dienerin der Frigg und jungfräuliche Göttin). Gefjon dienen diejenigen, die als Jungfrauen sterben (Gylf. 85). Wegen der Namensgleichheit sind von ihr nicht zu trennen die Gabiae, göttliche Matronen (= Disen) des Rheinlandes und, was sehr bedeutsam ist, die litauische Polengabia und Gabia (vgl. Guten- brunner, Die germanischen Götternamen der antiken Inschriften, Halle 1936, 156 f.); Polengabia ist aber die Herdgöttin: „Polengabia diva est, cui foci lu- centis administratio creditur (Laskowski, ed. Mannhardt 1868, 49; Usener, Götter- namen 98). Auch Matergabia und Gabia scheinen Namen des Herdfeuers zu sein, vgl. Usener 90 u. 111. Die von der neueren Forschung erwogene Auffas- sung der Frigg als vergöttlichte Braut agrarischer Riten (J. de Vries, Altgerm. Relgesch. 2, Berlin 1937, 324) widerspricht der hier vorgeschlagenen nicht, son- dern würde sich mit ihr vereinigen lassen. Die Kennzeichnung der Frigg und Freyja als Fruchtbarkeitsgöttinnen, mit der man sich heute begnügt, ist jeden- falls viel zu allgemein, als daß sie das Wesen dieser Göttinnen näher be- stimmen könnte.

ı Tac. Germ. 8, hist. 4, 61. . 2) Tac. hist. 4, 65.

s Dio Cass. 67, 5.

4 J. de Vries, Altgerm. Relgesch. 1, Berlin 1936, 268 f.

5 Menglöd und Brynhild, vgl. unten.

° Die Vestalinnen werden z. B. heilige Jungfrauen (virgines sanctae) genannt (Hor., Oden 1, 2).

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Sphäre! und ihrer Stellung zu Seiten des Königs als dessen Ratgeberin® entspricht genauestens die Stellung der germanischen Seherin. Der Be- richt des Tacitus über das Hausen der Veleda auf dem Turme und die Überbringung der Nachrichten durch einen ihrer Verwandten lassen ihre Absonderung erkennen. Sie ist wie die Vestalin den Göttern näher als der gewöhnliche Mensch. Es darf angenommen werden, daß im Turm der Veleda das heilige Stammesfeuer gebrannt hat, das unter ihrer Auf- sicht von einer priesterlichen Schwesternschaft gehütet wurde.® In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß Longinus-Dlugoss in seiner Geschichte Polens uns berichtet, daß das Zentralfeuer des litauischen Stammes der Samogiten in einem Turme brannte. Während diese Überlieferung als einigermaßen zuverlässig gelten kann, mag mit aller Vorsicht erwähnt werden, daß auch die Griechen möglicherweise den Feuerturm kannten. Die Pythagoreer nannten das Feuer, das nach ihrer Lehre in der Welt- mitte brannte, Hestia. Diese Weltmitte nannten sie ferner „Turm des Zeus“ und „Wacht des Zeus“.5 Daraus scheint sich zu ergeben, daß nach

1 Euing a. a. O. 38; Preuner a. a. O. 301f. 2 Ening a. a. 0. 18f., 52.

3 Es mag hier darauf hingewiesen werden, daß das Märchenmotiv der Jungfrau im Turm (bei Grimm Rapunzel und Jungfrau Maleen) in diesem Zu- sammenhang betrachtet eine neue Beleuchtung erfährt. Besonders verdient es Beachtung, daß die Turmjungfrau, also die Vestalin, als Mutter von Zwillingen erscheint. Außer dem Märchen von Rapunzel gehört hierher vor allem das Märchen vom Wasserpeter und Wasserpaul, die in einem Kästchen in einem Fluß ausgesetzt werden (Grimm, KHM 3, Reclam-Ausgabe 111). Vgl. dazu die altrömische Sage von der Geburt der Zwillinge Romulus und Remus, deren “Mutter eine Vestalin ist. Peter und Paul (beachte den Stabreim wie Hengist und Hors, Raos und Raptos usw.) erscheinen in der deutschen Volksüberliefe- rung als Brüderpaar und sind offenbar an Stelle der germanischen Dioskuren getreten. Über die Verbindung der Dioskuren mit dem Feuerkult vgl. unten. Beachte ferner Grimm, DM 2, 744 ff. (über „Frau Minne“).

+ Joh. Dlugoss-Longinus, Hist. Pol., ed. Frankfurt 1711, lib. 11 (ad annum 1413): ignem videlicet, quem sacro sanctum et perpetuum putabant, qui in montis altissimi tugo super fluvium Nyewyasza sito, lignorum assidua appositione a sacrorum sacerdote alebatur, accedens, turrim, in qua consistebat, incendit, et ignem disiicit et extinguit. Vgl. Joh. Lasicii, de diis Samogitorum libellus, ed. Mannhardt, Riga 1868, 21. Ebd. 65 bemerkt Bielenstein: „Der zemaitische fluvius Newassa dürfte in der Ne-wéza wiedergefunden werden können, die so ziemlich die Grenze zwischen Niederlitauen und Hochlitauen bildet ...; es ist wahrscheinlich, daß man noch heute den dem Perkun geheiligten Berg an den Ufern der Newéza müßte finden können, wenn man suchen wollte.“ Den Be- merkungen Bielensteins wird man nur lebhaft zustimmen können. Wie aus einer Mitteilung des litauischen Volkskundlers Balys hervorgeht, ist bis heute die bedeutsame altlitauische Kultstätte, die erst im 15. Jahrh. zerstört wurde, nicht erforscht. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für Landschaftsforschung und Archäologie.

5 Zavog nvoyog und Zavög pvlæxý; Preuner a.a.0. 159. Preuner sagt an dieser Stelle, es enthalte gewiß die zweite Auffassung die Erklärung, wie

Der Feuerkult der Germanen 123

dieser spätgriechischen Philosophenlehre das heilige Feuer der Weltmitte in einem Turm bewahrt wurde, und diese Lehre könnte auf alte Feuer- kulttürme hinweisen, von denen aber sonst in Griechenland nichts be- kannt ist. Kultische Einrichtungen spiegeln sich im Mythos. Die Jung- fräulichkeit der Göttinnen erklärt sich nur aus dem Kult: die Keuschheit der Priesterin wird auf die Göttin übertragen, obgleich die menschliche Kultvorschrift in der göttlichen Sphäre, streng genommen, sinnlos ist. So weist schon das Vorhandensein jungfräulicher Göttinnen bei den Germanen auf Vestalinnen zurück. Die Annahme eines germanischen Vestakultes ver- mag ferner den germanischen Walkyrenmythos ebenso in ein neues Licht zu setzen wie die nordgermanische Überlieferung von Menglöd. Die Burg . der Menglöd oder Solbjarta liegt auf einem Berg und ist von Feuer um- geben.! Im Lied von Fjolswid heißt es von ihr: „Sie herrscht im Land?, ihr gehören die Säle, die hier glänzen von goldenem Schmuck“. Ihr „Saal“, um den helle zauberische Lohe entzündet ist, heißt Lyr, d. i. der Glänzende. Der Berg, auf dem Menglöd wohnt, heißt Lyfja-Berg, d.i. Berg der Heilmittel. „Lange schon gewährt er Heilung Wunden und Kranken. Jede Frau wird gesund vom gefährlichen Siechtum, die den hohen Hügel erklimmt.“ Neun Mädchen sitzen zu Menglöds Füßen, in Eintracht gesellt Hlif, d. h. die „Beschützerin“, Hlifthrasa, Thjiodwor, d. h. die Volks- schützerin, Bjort, d. i. die Glänzende, Bleik, d. i. die Leuchtende, Blid, d. i. die Freundliche, Frid, d. i. die Schöne, Aurboda, d. i. die Siegfeuer- Spenderin® oder die Reichtumsspenderin, Eir, d. i. die Leuchtende.* Die

xdeyosg zu verstehen sei. Man dürfe „Turm“ nicht wörtlich nehmen. Aber diese Auffassung Preuners ist nicht zwingend, wenn auch dieser spätgriechischen Überlieferung gegenüber selbstverständlich Vorsicht zu üben ist. Es ist zudem zu beachten, daß die Pythagoreer neben den genannten noch andere Namen fir das Feuer der Weltmitte hatten, s. Pauly-Wissowa, RE 8, 1 (1912) 1293. Ebenso mit allem Vorbehalt sei noch darauf hingewiesen, daß Temoria, der altirische Ort der Erneuerung des Königsfeuers, „Babylon“ genannt wird (Zwicker, Fontes 149). In der betreffenden Quelle wird der altirische König mit Nebukadnezar verglichen und entsprechend seine Residenz eben mit Babylon. Diese Vergleiche könnten möglicherweise dadurch mit veranlaßt sein, daß in Temoria ein Kultturm stand. Die zahlreichen, heute noch in Irland stehenden Türme sind zwar zweifellos alte Fluchtburgen, wie schon K. J. Clement, Reisen in Irland, Kiel 1845, 38 ff., insbes. 53, zeigte. Daß diese Türme von irischen Ge- lehrten für Feuertürme gehalten wurden, könnte sich immerhin daraus erklären, daß in Irland noch eine Überlieferung von Kulttürmen lebendig war.

ı Fjolswidlied 31 und 42. Die folgenden Angaben nach Gering, Die Edda 131 ff. und Gering-Sijmons, Edda-Kommentar 1, Halle 1927, 411 ff.

2 Vgl. Tac. hist. 4, 61 über Veleda: ea virgo nationis Bructerae late imperitabat.

3 So kann übersetzt werden, wenn aur- als Nimbus aufgefaßt wird, wie Völuspa 19 (vgl. zu dieser Stelle Gering-Sijmons, EK 1, 23f. und Verf., Lichter- baum, Berlin 1938, 49).

4 Eir kann nicht als die „Schonende“ verstanden werden; die Urbedeutung

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Namen passen gut zu vestalischen Priesterinnen; wir können Menglöd und ihre Mädchen als zu Göttinnen erhobene Vestalinnen betrachten. Der Tempelbau, in dem das heilige Feuer sich befindet, wird im Mythos zu dem von der Waberlohe umgebenen ,,Saal“.1 Menglöd selbst hat man in Verbindung mit dem Mythos vom Brisingamen gebracht, da ihr Name sie als die Halsschmuckfrohe bezeichnet. Es liegt nahe, worauf hier nur hingewiesen werden kann, in dem Brisingen-Schmuck ein Sinnbild des heiligen Feuers zu sehen.” In der Heldensage entspricht der Menglöd die Walkyre Brynhild. Brynhilds Halle wird in der Vélsungen-Geschichte* ähnlich beschrieben wie Menglöds „Saal“, auch sie ist mit Gold geschmückt und steht auf einem Berg. Sie wird auch eine Burg mit goldenem Dach genannt, um die draußen herum ein Feuer brennt. An einer anderen Stelle wird beschrieben, wie Sigurd nach Hindarfjall, d. i. der Berg der Hindin, wo Brynhild schläft, hinaufreitet: „Auf dem Berg sah er vor sich ein großes Licht, wie wenn ein Feuer brannte, und der Schein ging davon bis zum Himmel empor“. Die erweckte Walkyre erteilt Sigurd

der Wurzel ist Glanz (a:s-, s. Walde, LWb.?, s. v. aes und Weigand, DWb.: unter Ehre und ehern). Vgl. Grimm, DM“ 2, 746 (über „Frau Ehre“).

ı Die Waberlohe ist der Bannkreis des heiligen Gebietes, den niemand durchbrechen darf. Zu ihrem Verständnis mag folgendes beitragen: die Grenze wird mit dem Heiligtum der Mitte geweiht, vgl. Landnahmebrauch und Grenz- begebung. Mit dem heiligen Feuer wird das Land bei der Besitznahme um- gangen. Gerade für den Norden ist uns dieser Brauch bezeugt, vgl. dazu J. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit I, Stuttgart 1886, 262. Bis zur hei- ligen Grenze reicht die Macht des heiligen Elements in der Mitte des Bezirks. So kann gerade bei einem Kultbau, der das heilige Feuer birgt, sein Bann- kreis als Feuerwand gedacht werden.

2 Der Mythos vom Raub des Brisingamen meint nicht sowohl den Raub des Sonnenfeuers wie bisher meist angenommen wird im Anschluß an Müllen- hoff, vgl. Mogk in Hoops, RL I 314 als vielmehr das heilige Kultfeuer (vgl. norw. brising „Feuer“). Der finnische Mythos bietet dle nächste Parallele; das Kalewala-Epos (Ausgabe Schiefner, Helsingfors 1852, 274 ff.) erzählt vom Raub des Feuers. Des „Nordlands Wirtin“ stiehlt hier das Feuer aus Kalewalas Stuben, wie in der nordgermanischen Sage Loki den kostbaren Goldschmuck. Das Gold ist bei allen Indogermanen Sinnbild des Feuers. Eine entferntere Parallele ist die indoarische Sage von Agnis Flucht (Hardy a.a. O. 121 f.); über ihre Beziehung zur Erneuerung des Kultfeuers am Jahresbeginn vgl. Hillebrandt, VM? 1, 94f.

3 Völsungen Sage, Thule 2, Bd. 21, Jena 1923, 81f. 91. 94f. 99.

* Die Halle Heorot des Beowulfepos hat ein goldbuntes Dach (Beow. 925), es ist ,von Goldblech bunt“ (faettum fahne, Beow. 716). Von ihm blitzte ein Lichtschein über viele Lande (lixte se leoma over landa fela, Beow. 306— 811). Diese Angaben tiber die Fiirstenhalle des Beowulfepos stimmen tiberein mit der Beschreibung des ,Saales“ von Brynhild; vgl. Suse Pfeilstiicker, Spiitantikes und germanisches Kunstgut in der frühangelsächsischen Kunst, Kunstwiss. Studien 19, Berlin 1936, 52 f.

Der Feuerkult der Germanen 125

„Rat zu hohen Dingen“. Ein andermal findet Sigurd Brynhild auf einem hohen Turm, wo sie an einem Teppich mit golden eingewebten Gestalten sitzt, auf den sie seine vollbrachten Taten stickt. Die Frauen suchen Brynhild auf, um sich von ihr Träume deuten und weissagen zu lassen. Auch der merkwürdige Zug der nordgermanischen Walkyrensage, daß sie einmal als sterbliche Königstöchter erscheinen, dann aber als gött- liche Wesen, kann von den aufgezeigten kultischen Hintergründen aus besser verstanden werden. Daß wir aber überhaupt die Walkyren in Ver- bindung mit Vestalinnen bringen können, veranschaulicht am besten die Gestalt der griechischen Athene, die ebenso sehr die Züge einer vestalischen wie die einer walkyrischen Gottheit trägt. Die vestalische Ratgeberin und Schützerin des Königs kann in kriegerischen Zeiten selber kriegerische Züge annehmen, und das von ihr bewachte heilige Feuer verwandelt sich dann zurück in das wilde Blitzfeuer des Kosmos. Athene, in deren Tempel ein ewiger Leuchter brannte, weiß allein den Zugang zu dem Gemach, wo Zeus den Blitz verschlossen hat, und die Walkyren reiten im Wetterleuchten: „Da flammte Licht vom Feuergebirge und aus dem Licht leuchteten Blitze, helmtragende Jungfrauen sah man am Himmel reiten. Ihre Brünnen waren mit Blut bespritzt und Strahlen zuckten von ihren Speeren“.! Die Gestalt der Athene, deren Verwandt- - schaft mit der germanischen Walkyre schon Roscher und neuerdings Ninck? aufzeigten, stimmt in anderer Hinsicht merkwürdig mit der alt- irischen Brigit übere'n. Die Tochter des Zeus und die Tochter des Dagda? sind nächstverwandte Gestalten. Die germanischen Walkyren haben ihrer- seits wieder Ähnlichkeit mit den Nornen. Die Schwangestalt der Walkyren und Nornen* kann zurückweisen auf die weiße Tracht der Priesterinnen. Die Kleidung der römischen Vestalinnen war eine altertümliche Braut- tracht?, für die charakteristisch ist ein langes weißes Gewand, eine Kopf- binde und eine metallene Brustspange, die nach Abbildungen die Gestalt des vierspeichigen Rades hat. Uber die Tracht der germanischen Seherinnen _ ist nichts überliefert. Wohl aber wissen wir, daß die kimbrischen Opfer- priesterinnen weiße Gewänder trugen und eherne Gürtel. Die Gestalt dieser Gürtel kennen wir durch archäologische Funde”? und können daher

ı Helgakvitha Hundingsbana 1, 15f.; Gering, Edda 163; Simrock-Neckel, Edda, Berlin 1926, 318.

2 W. Roscher, Athene in Roschers LM; ders., Nektar und Ambrosia, Leipzig 1883, 93 f.: Die Grundbedeutung der Athene. M. Ninck, Wodan 251 ff.

3 Die Brigit ist die Tochter des altirischen Himmelsgottes Dagda: RL? 13, 8.

4 Vgl. Gering-Sijmons, EK 1, 24.

5 Dragendorf, Die Amtstracht der Vestalinnen, RhM., NF. 51 (1896) 288 ff. H. Jordan, Der Tempel der Vesta, Berlin 1886, 33 ff.

Strabo 2, 3; Clemen, Fontes hist. rel. germ., Berlin 1928, 5sq.

7 G. Müller, Swebische Gürtel, Mannus 30 (1938) 61 ff.

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auch zeigen, daß die für diese Gürtel charakteristischen Sinnbilder sich in der Volkstracht Nordwestdeutschlands bis in die Gegenwart hinein erhalten haben. Es ist daher nicht zu kühn, von der altertiimlichen weib- lichen Festtracht, im besonderen der Brauttracht Siebenbiirgens und Frieslands, zurückzuschließen auf die Kulttracht der germanischen ve- stalischen Seherinnen. Sie haben vermutlich ein langes, weißes Gewand getragen und eine bronzene oder goldene Spange, die die Form des vier-, sechs- oder achtgeteilten Rades oder einer runden Scheibe mit vier, sechs oder acht Buckeln im Kreis um einen Mittelpunkt gehabt hat. Übrigens läßt sich diese Annahme noch auf einem anderen Weg wahrscheinlich machen. Für das Heidentum ist charakteristisch der Glaube an die Erscheinung der Götter.! Wer nun zugibt, woran meiner Meinung nach kein Zweifel bestehen kann, daß der Wilde Jäger Wodan ist, der hat damit die Erkenntnis gewonnen, daß echte Theophanien im Sinne des Heidentums noch bis in jüngste Zeit vom Volke erlebt wurden. Es liegt dann nahe, auch die Erscheinung der Weißen Jungfrauen, von denen zahlreiche Volkssagen zu berichten wissen, als Theophanien aufzufassen. Wenngleich in der Zeit des Christentums, das dem heidnischen Erleben feindlich und ungünstig ist, die im vollen Glanz erscheinenden Götter- gestalten weithin zu Gespenstern verblaßt sind, so ist doch für den, der insbesondere die alpenländischen Sagen von den Saligen? vergleicht mit altgriechischen Überlieferungen von Göttererscheinungen, darankein Zwei- fel möglich, daß diesen Volkssagen Erlebnisse von Göttererscheinungen zu- grunde liegen. Es ist bekannt, daß die Gestalt des Gottes der Gestalt seiner Priester und die Gestalt der Göttin der Gestalt ihrer Priesterinnen ent- sprechen®; die weiße Kleidung der göttlichen Jungfrau der Volkssage weist daher zurück auf die weiße Kulttracht der Priestérin dieser Göttin. Wenn wir dies immer im Auge behalten, daß schon in heidnischer Zeit sich die Gestalten des Kultes im Mythos spiegelten, so können wir aus diesem in der Volkssage fortlebenden Mythos zurückschließen auf den heidnischen Kult, der der Christianisierung zum Opfer fiel. Neben dem Sagenkreis von der Wilden Jagd gibt es keinen anderen im germanischen Umkreis, der solche Bedeutung hat wie den von den Weißen Jungfrauen. Wenn man die kultischen Hintergründe der Sagen vom Wilden Heer neuer- dings aufdecken konnte und dabei zeigte, daß die der Sage entsprechenden Bräuche bis in die Gegenwart lebendig blieben, so liegt es nahe, nun auch nach etwaigen kultischen Hintergründen der Jungfernsage zu fragen. Bisher hat man sich damit begnügt, die mythische Entsprechung der

1 Vgl. Pfister, Epiphanie in Pauly-Wissowa, RE Suppl. 4, 277ff.; Klages, Vom kosmogonischen Eros, Jena 1930, 166f.

2 P. Zaunert, Deutsche Natursagen, Jena 1921, 69 ff.

3 H. Usener, Götternamen 358.

Der Feuerkult der Germanen 127

Weißen Jungfrauen in den Nornen aufzuzeigen. Wesentliche Züge dieser Volkssage lassen sich aber von hier aus allein nicht verstehen. Sie werden erst verständlich, wenn wir ihre Entsprechung im germanischen Kult aufzeigen, und das ist eben der germanische Stammesfeuerkult, d. h. der germanische ,,Vestakult.“ Dabei muß man sich grundsätzlich klar sein, daß dieser germanische Vestakult sich über die Zeit der Bekehrung hinaus nicht erhalten konnte. Man darf also in den Volksbräuchen der späteren Zeit keine völlige Entsprechung zur Jungfernsage erwarten. Einige Züge der deutschen Jungfernsage, die der neue Gesichtspunkt besser zu verstehen erlaubt, seien angeführt.! Zunächst einmal ist wichtig, daß die weißen Frauen der Volkssage meistenteils ausdrücklich als Jung- | frauen bezeichnet werden. Ferner treten sie als Schwesternschaft auf, und wenn schon meistens in der Dreizahl, so doch mitunter auch in einer größeren Anzahl. Diese jungfräulichen Schwestern sind weißgekleidet, sie wohnen auf Bergen, in alten Burgen oder Schlössern und sehr häufig kehrt in den Erzählungen das Motiv wieder, daß sie ungeheuere Gold- schätze hüten. Sie haben den Zugang zu diesen Schätzen, tragen daher vielfach am Gewande einen Schlüssel oder einen Schlüsselbund, auch die altgriechische Priesterin, z. B. Iphigenie, wird mit dem Schlüssel am Ge- wande dargestellt —; und zu den immer wiederkehrenden Tieren ihrer Umgebung gehören der Hund und die Schlange. In der indogermanischen Symbolik ist das Gold Sinnbild des Feuers.? Die schatzhütende Jungfrau der Sage ist daher als mythisches Spiegelbild der feuerhütenden Vestalin des Kultes anzusehen. Wie die Nornen und Walkyren erscheinen die Jungfern der Sage als spinnende und webende Frauen, sie weben wie diese das Schicksal, dessen Verlauf ihnen bekannt ist, denn sie sind Sehe- rinnen und „Heilrätinnen“.® Nicht nur mit verborgenen Schätzen, die nach der Volkssage zu bestimmten Zeiten „brennen“, sondern ausdrück- lich mit Feuer und Licht werden die weißen Jungfrauen in der Sage verbunden. * Damit sind nur einige Verbindungslinien der späten Volkssage

1 Die Belege zum Folgenden findet man z. B. bei Zaunert, Deutscher Sagen- schatz, Jena 1923 ff. Von älteren Sammlungen sind besonders wichtig: F. Panzer, Bayrische Sagen, München 1848 u. 1855; Heinrich Hoffmann, Sagen aus dem Rur- und Inde-Gebiet, Eschweiler 1911 u. 1914. Eine Zusammenstellung gibt ferner H. Chr. Schöll, Die drei Ewigen, Jena 1936, 140 ff. (die eigenen Aus- fübrungen Schölls sind größtenteils verfehlt).

2 Neckel-Niedner, Die jüngere Edda, Thule 20, Jena 1926, 177 ff.; R. Meißner, Die Kenningar der Skalden, Bonn 1921, 229 ff. (die stärkste Gruppe der Gold- Kenningar bilden diejenigen, deren Grundwort Feuer bedeutet); E. L. Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch, Berlin 1867, 1, 8f.; Preller-Robert, Griech. Myth. 1, Berlin 41887, 368 Anm. 1; Joh. Hertel, Die Sonne und Mithra im Avesta, Leipzig 1927, XXIII; O. G. v. Wesendonk a. a. O. 47; ARW. 34 (1937) 254 ff.; A. Holtzmann, Agni 23f. („Gold ist das Wesen des Agni“).

_ 3 Fr. Liiers, Bayrische Stammeskunde, Jena 1933, 80 ff. 4 Scholl a. a. O. 142.

128 Otto Huth

zum germanischen Vestakult angedeutet. So viel diirfte also deutlich geworden sein, daß die Annahme eines germanischen Vestakultes den Schlüssel bietet auch zum Verständnis der Volkssage von den weißen Jungfrauen.

. Die Fruchtbarbeit der Annahme eines germanischen Vestakultes er- gibt sich ferner aus der Betrachtung des germanischen Herdfeuerkultes und des Notfeuer-Ritus. Jedenfalls können wir, wenn wir die verwandten indogermanischen Bräuche vergleichen, die Probleme klarer sehen. Der Weihnachtsblock, d.h. das Wurzelende eines Baumes, meist einer Eiche, der am Weihnachtsabend ans Herdfeuer gelegt wird und das ganze Jahr über am Herd bleibt, ist der Grundstock des ewig brennenden Herdfeuers des Hauses. Seine feierliche Einführung am Weihnachtsabend deutet, wie man richtig sahl, auf die Erneuerung des häuslichen Herdfeuers im Mittwinter. Hier hat man nun aber vergessen, die Folgerungen zu ziehen und die Frage bis ins letzte durchzudenken. Man sagt, das Weihnachtsfest habe durchaus einen häuslichen Charakter, soweit wir es zurückverfolgen können, und sei kein großes Gemeinschaftsfest. Entsprechend faßt man auch die Erneuerung des Hausherdfeuers als eine Angelegenheit des einzelnen Hauses auf. Die Erneuerung des Feuers bedeutet Löschung und Neuanzündung des Feuers; es erhebt sich also die Frage, wie das neue Feuer erzeugt wurde. Man kann sich nicht dabei beruhigen, daß darüber nichts überliefert sei und der Blockbrauch wohl noch auf die Erneuerung des Herdes hinweise, die aber nicht mehr ausgeführt wurde in der Zeit, aus der allein wir Berichte haben. Wo uns im deutschen Volksbrauch noch Genaueres von der Erneuerung des Herdfeuers über- liefert ist, vollzieht sich diese Erneuerung immer im Rahmen eines großen Gemeinschaftsfestes und das neue Feuer wird durch Holzreiben erzeugt. Auch die Herderneuerung des Mittwinters kann man sich nur als Kult- handlung eines großen Gemeinschaftsfestes vorstellen und über Einzel- heiten dieses Festes kann man sich ein Bild machen nach den entsprechenden Handlungen beim Notfeuerritus. Das Notfeuer, d. h. „Reibefeuer“2, das zur Heilung von Krankheiten des Viehes angezündet wird, ist aufzufassen als die Wiederholung der wintersonnenwendlichen Herderneuerung aus dem Anlaß eines besonderen Notstandes. Da das Notfeuer in mehreren deutschen Landschaften von Zwillingen durch Holzreiben erzeugt werden mußte, ergibt sich, daß auch das heilige Feuer, mit dem man im Mitt- winter die Herde erneuert, von Zwillingen bereitet werden mußte. Aller-

ı H. Freudenthal a. a. O. 126.

2 Grimm, DM‘ 1, 505; Freudenthal a.a. 0. 190f.; K. Helm, Notfeuer, Gies- sener Beiträge zur deutschen Philologie 60 (1938) 75 ff.

8 Verf., Janus, Bonn 1932, 82; Ders., Sonnenwendfest und Zwillingskult, Germanien, H. 6 u. 7. 1983.

Der Feuerkult der Germanen 129

dings war dies neuerzeugte Feuer des Mittwinterfestes das Gemein- schaftsfeuer nicht nur eines Dorfes, sondern des ganzen Stammes oder Reiches. Im alten Rom wurde das ewige Vestafeuer, das Staatsfeuer, und alle Herde am Neujahrstag gelöscht und mit heiligem Feuer, das durch Holzreiben erzeugt wurde, neu entzündet. Wer hier im alten Rom die Aufgabe hatte, das neue Feuer zu bohren, ist nicht überliefert. Bei der Bedeutung, die in der römischen Mythologie die göttlichen Zwillinge haben und in der römischen Sage das Doppelkönigtum, kann kaum ein Zweifel bestehen, daß auch im alten Rom es ursprünglich die Aufgabe von Zwillingen aus königlichem Geblüt war. Es ist zu beachten, daß im altitalischen Mythos neben einer vestalischen Göttin zwei göttliche Brüder erscheinen!, und daß Romulus und Remus, die Gründer Roms?, Söhne des Mars und der Vestalin Rhea Silvia sind, die, wie bereits Schwegler sah®, nur Vesta selbst vertritt. Nach altindogermanischem Mythos ent- ziinden, wie Adalbert Kuhn einigen Rigveda-Versenentnahm‘, die Aschvins, d. s. die indoarischen Dioskuren, mit einem goldenen Feuerzeug das neue Sonnenfeuer. Während in älterer Zeit das römische Neujahrsfest auf den 1. März fiel und erst im zweiten Jahrh. v. Zw. auf den ersten Januar verlegt wurde, gibt es einige Anhaltspunkte dafür, daß die allgemeine Herderneuerung ursprünglich auch in Rom im Mittwinter vorgenommen wurde, d. h. daß auch in Altrom, wie im Iran und in Germanien, das Neujahrsfest mit dem Wintersonnenwendfest zusammenfiel.® Das altirische Neujahrsfest liegt zwar auf Anfang November, gleicht aber völlig dem germanischen und altrömischen Mittwinter-Neujahrsfest. An diesem Tage wurden in Irland alle Feuer gelöscht und neu entzündet.®

Auf Grund der vergleichenden Methode kamen wir zu der Annahme eines in seiner Gestalt dem latinischen entsprechenden germanischen ` Vestakultes. Da dieser in den Quellen, die uns etwas über den Kult der Germanen aussagen, nicht überliefert ist, mußten wir prüfen, ob unsere Annahme sich bei der erneuten Interpretation der germanischen Quellen und der späteren Volksüberlieferungen des germanischen Kreises als fruchtbar erweist. Die in den vorherigen Abschnitten gemachten Aus-

1 Euing a. a. O. 27.

2 Die Gründung einer Stadt war eine Kulthandlung; die wichtigsten Zere- monien waren das Anlegen des neuen Feuers in der Mitte und das Pflügen der Furche, die die Stelle der Stadtmauer anzeigt. Die Belege findet man bei Fustel de Coulanges, Der antike Staat, Berlin 1907, 153 f., beachte vor allem 157 und 169 Anm. 69.

2 A. Schwegler, Rim. Gesch. 1, Tübingen 1853, 429f.

4 A. Kuhn, Die Herabkunft des Feuers, Gütersloh *1886, 68 ff.

s Vgl. Verf., Janus 67 (Germanien); Hertel, Die avestischen Jahreszeiten- feste, Leipzig 1984, 13 (Iran).

e Verf., Janus 93; vgl. oben S. 113.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 1 9

130 Otto Huth

führungen dürften gezeigt haben, daß die Hypothese des germanischen Vestakultes zum tieferen Verständnis der germanischen Überlieferungen beiträgt und daher als auf Grund der germanischen Quellen bestätigt anzusehen ist. | a

Eingangs wurden die sogenannten ethnographischen Parallelen zum latinischen Vestakult erwähnt. Dieser latinische Vestakult ergab sich als die beste Überlieferung des altindogermanischen Stammesfeuerkultes; denn, da dieser Kult Entsprechungen bei Griechen, Kelten und, wie wir erschließen konnten, Germanen hatte, darf er als urindogermanisch gelten, und wir können annehmen, daß der männliche Feuerpriester der Ost- indogermanen anstelle der jungfräulichen Priesterin trat.! Diese Auf- fassung wird durch die Betrachtung der Parallelen gesichert, die die große Bedeutung und das hohe Alter des urindogermanischen Vestakultes erhärtet. Rassenkundlicheundsprachwissenschaftliche Erwägungen können nämlich zeigen, daß es sich nicht um unabhängige, Parallelen“, sondern um Überlieferungen verwandter Völker handelt. Da ist zunächst zu er- wähnen der mit dem Indogermanischen verwandte Feuerkult der finnisch- ugrischen Völker.” Dieser ist der Forschung heute ebenso vertraut wie die Verwandtschaft der Finno-Ugrier und der Indogermanen überhaupt. Neuerdings wurde von Hämäläinen wahrscheinlich gemacht, daß die Finno-Ugrier über das Herdfeuer hinaus auch größere Gemeinschaftsfeuer kannten.’ Im einzelnen ist es aber schwer, bei finno-ugrischen Uberliefe- rungen urverwandte Bräuche von später übernommenen oder beeinflußten zu trennen. In ältere Schichten führen die Entsprechungen im Feuerkult der Urasiaten (Ainu, Giljaken und Korjaken), auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Wichtiger sind die Übereinstimmungen bei den Polynesiern und Inka. Daß die Herrenschicht der Polynesier nordischer Rasse war, kann als erwiesen gelten*, und die Herrenschicht der Inka wiederum ist vermutlich polynesischer Herkunft. Die Maori Neuseelands haben nun eine Überlieferung, daß ihre Vorfahren von der Urheimat Hawaiki heiliges Feuer mitbrachten. Dieses Feuer wird nach einer Sage

ı Das Behüten des Feuers dürfte in der ältesten Zeit Aufgabe von Frauen gewesen sein, da es weiblichem Wesen angemessen ist. Daneben ist aber schon ursprünglich auch ein männlicher Feuerpriester, in ältester Zeit der Häuptling bzw. König, denkbar, dessen Aufgabe aber anfangs nicht das Bewahren des Feuers, sondern das Entzünden des Neufeuers und daneben die Oberaufsicht über das Vestalinnencollegium war.

2 Albert Hämäläinen, Das kultische Wachsfeuer der Mordwinen und Tschere- missen, Helsinki 1937, 9., 86f., 148.

3 Ebd. 59.

« W. E. Mühlmann, Die Frage der arischen Herkunft der Polynesier, Ztschr. f. Rassenkd. 1 (1935) 3ff.; E. v. Eickstedt, Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit, Stuttgart 1934, 785 f.

» Vgl. O. Reche, Verbreitung der Menschenrassen, Leipzig 1938, 37.

Der Feuerkult der Germanen 131

von den Schwestern des Häuptlings bewacht.! Die „Vestalinnen“ des Inkareiches sind bekannt.? Sie heißen Sonnenjungfrauen, waren Töchter angesehener Familien und hatten die Aufgabe, das heilige Feuer zu be- wachen. Wir hören ferner, daß sie spannen und webten und daß sie kultische Rauschgetränke und heiliges Brot zu bereiten hatten. Diese Sonnenjungfrauen trugen. lange, weiße Gewänder. Das Hauptfest der Inka war das Intip-Raymi-Fest; es war das Neujahrsfest und fiel in die Zeit der Wintersonnenwende. An diesem Fest wurde das ewige Feuer gelöscht und feierlich Neufeuer mit hölzernem Feuerbohrer erzeugt. Die Inka- Kultur zeigt manche Beziehung auch zu den altmexikanischen Kulturen; auch hier in Mexico lassen sich Feuerpriesterinnen nachweisen. Das Feuer ist das heiligste Element der Mexikaner?; am Ende jedes Großjahres, d. h. einer 52jährigen Periode, wurden alle Herdfeuer und Kultfeuer ge- löscht und auf dem Berge, auf dem der Tempel des Feuergottes stand, wurde neues Feuer mit dem Holzfeuerbohrer erzeugt. Daneben aber scheint es auch die jährliche Feuererneuerung gegeben zu haben, die am Neujahrstag vorgenommen wurde. Das Feuer galt als das Abbild der Sonne und das Bohren des Feuers als magische Erneuerung des Sonnen- feuers. Die altmexikanische jungfräuliche Feuerpriesterin hütet nicht nur das Feuer, sondern hat ferner die Aufgabe, Tücher für den Tempel zu weben, die heiligen Räume zu kehren und Kultkuchen zu backen. Sie war, wie die peruanische Feuerpriesterin, weiß gekleidet. In Yucatan wurde das heilige Feuer, das als Symbol der Sonne galt, von einem Vestalinnenorden bewacht, den eine Fürstentochter (Prinzessin) gegründet haben soll. Sie war die Leiterin des Ordens und wurde nach ihrem Tode vergöttlicht mit dem Namen „Feuer-Jungfrau“.5 Über die Herkunft der mexikanischen Kulturen wissen wir nichts; mit einiger Gewißheit kann nur gesagt werden, daß sie Übereinstimmungen mit altchinesischen Über- lieferungen zeigen, wobei zu beachten ist, daß die altchinesische Kultur ihrerseits wieder auffällige Beziehungen nach Alteuropa hat.® Auch über die Herkunft der nordamerikanischen Natchez wissen wir nichts Be- stimmtes. Ihr ausgeprägter Feuerkult nimmt wie der der Inka innerhalb der Indianerkulturen eine Sonderstellung ein. Wenn wir mit Recht in

1 Jul. Lippert, Kulturgesch. der Menschheit 1, Stuttgart 1886, 256.

2 R.B. Brehm, Das Inkareich, Jena 1885, 132—142; E. W. Middendorf, Peru, Berlin 1893, 3, 481 ff.; H. Trimborn, Die Gliederung der Stände im Inkareich, Journ. Soc. Americ. Paris, NS., I, 19. Paris 1927, 324 ff.; Max Schmidt, Kunst und Kultur von Peru, Berlin 1929, 50. |

? Karl Th. Preuß, Die Feuergötter als Ausgangspunkt zum Verständnis der mexikanischen Religion, Mitt. Anthrop. Ges. Wien 1903, 140. 158 f.

Frazer, The golden bough 2 (31911) 246.

5 Frazer a.a. O. 2, 245 f.

6 O. Reche, Rasse und Heimat der Indogermanen 183.

9*

132 Otto Huth

den Inka eine Polynesier-Herrenschicht vermuten, so méchte man auch bei den Natchez eine den Indogermanen näherstehende Herrenschicht annehmen, da die Kultentsprechungen auch hier kaum durch die alte europide Rassenkomponente der Indianer, die ein europid-mongoloides Rassengemisch darstellen!, erklärt werden können. Neben dem Feuerkult der Inka ist in Amerika der Feuerkult der Natchez dem indogermanischen Feuerkult nächstverwandt. In ihrem Lande gab es zwei Feuertempel?, die nur von den „Sonnen“ und „weiblichen Sonnen“, d. h. den Prinzen und Prinzessinnen, betreten werden durften. In diesen Tempeln wurde ein ewiges Feuer unterhalten, das der Urkönig des Stammes von der Sonne heruntergeholt haben soll. Das Feuer wurde mit Nußbaumholz genährt und Nacht und Tag von acht Wächtern behütet, die unter einem Oberhaupt standen, das über der Erfüllung ihrer Pflicht wachte. Ein Verlöschen des Feuers galt als ein Unglück, das das Volk mit dem Tode bedrohte, bis das Feuer wieder entzündet war. Der pflichtvergessene Feuerwächter, der das Feuer verlöschen ließ, wurde mit dem Tode be- straft. Über eine etwaige Erneuerung des ewigen Feuers und die Art der Feuererzeugung ist nichts überliefert. Als wichtigste „Parallele“ sind schließlich Kulte afrikanischer Völker zu nennen.’ Bei vielen der hamitischen Hirtenvölker finden wir das ewige Feuer, das bei den Herero von der unverheirateten Häuptlingstochter gehütet wird. Beim Tode des Häuptlings wird es gelöscht, und von dem neuen Häuptling am Grabe des verstorbenen mit dem Holzfeuerzeug neues Feuer entfacht. Bedeut- sam ist die Stellung der Zwillinge bei den Herero; die Geburt von Zwillingen ist ein Ereignis, das den ganzen Stamm in Erregung ver- setzt. Die Zwillinge, die zunächst ihr Vater vertritt, übernehmen das Amt des Priesters, das sonst dem Häuptling obliegt. Das wird so zu erklären sein, daß Zwillinge als besonders geeignet angesehen wurden, das neue heilige Feuer zu bohren. Denn die kultische Feuererneuerung ist eines der wichtigsten Ämter des Priester-Königs. Bei den Baganda wird das ewige Feuer von Jungfrauen behütet. Bei den Vimbunda An- golas wurden beim Regierungsantritt eines neuen Königs alle Herdfeuer gelöscht und mit dem vom König gebohrten neuen Feuer wieder an- gesteckt. Die sog. Hamiten sind der Rasse nach eine europid-negroide Mischung, und zwar genauer wahrscheinlich nordeuropid-negroid. Die nordische Rasse können wir in Nordafrika bei vielen Völkern und schon in sehr alter Zeit nachweisen, so daß sie hier keineswegs etwa auf Ger- manen der Völkerwanderungszeit zurückzuführen? ist. Vor allem die

1 Eickstedt a. a. O. 793; Reche, Verbreitung 36 ff.

2 Preuß, Die Eingeborenen Amerikas, RL? 1926, 35 ff.

3 E. Brauer, Züge aus der Religion der Herero, Leipzig 1925, Kap. 4 „Das heilige Feuer“. 4 O. Reche, Rasse und Heimat der Indogermanen ‘176 f.

Der Feuerkult der Germanen 133

Uberlieferungen der blonden libysch-berberischen Vélker sind fiir die Erschließung der altindogermanischen Kultur von großer Bedeutung. In Nordafrika und vorher in Spanien und Frankreich diirfte die alte Heimat einer der späteren indogermanischen nahe verwandten Kultur gelegen haben. Die neuen Ergebnisse der Sprachwissenschaft legen in Verbin- dung mit den Ergebnissen der Rassenkunde und Religionswissenschaft nahe, hier die Heimat des nordrassischen Kernes der späteren soge- nannten hamitischen und semitischen Völker zu suchen. Die berberischen Sprachen, wie die hamitischen überhaupt, sind mit den semitischen eng verwandt, zeigen aber auch bisher wenig beachtete Beziehungen zum Indogermanischen.! Die Verwandtschaft des Hamitischen mit dem Semi- tischen ist heute allgemein anerkannt, und in steigendem Maße werden die sprachlichen Beziehungen des Semitischen zum Indogermanischen betrachtet.” Der Schlüssel zu der alten nordafrikanischen Kultur, die der nordeuropäischen-indogermanischen nahe verwandt ist, ist die Überliefe- rung der Kanarier.? Die Kultur der Kanarier zeigt durchaus jungstein- zeitlichen Charakter. Die Rasse der Kernschicht ist als nordisch-fälisch zu bezeichnen. Wir haben hier gewissermaßen den stehengebliebenen Rest der westeuropäischen nordischen Megalithkultur vor uns. Auf der größten der kanarischen Inseln, Kanaria, gab es jungfräuliche Prieste- rinnen, die Harimagadas heißen, und beim Volke in großem Ansehen standen.’ Eine dieser jungfräulichen Priesterinnen dürfte die bei Galindo genannte Antidamana sein, die nach seinem Bericht im Galdargau auf Kanaria lebte und hoch geachtet war. Galindo erzählt, .man habe sich häufig an sie gewandt, wenn Streitigkeiten zu schlichten waren und niemals habe man gegen ihr Urteil Einspruch erhoben.® Diese Prieste- rinnen trugen weiße Gewänder und zu ihren Amtspflichten gehörte es, bei festlichen Umzügen ÖOpfergefäße zu tragen und in Tempelhäusern täglich Milch auszusprengen. Vor allem aber war es ihre Aufgabe, das ewige Feuer zu hiiten.®

ı Carl Meinhof, Die Sprachen der Hamiten, Hamburg 1912, IX, 228f.

2 Vgl. A. Schott, Hirt-Festschr. 1936, II, 45 ff.

3 Fr. v. Löher, Kanarierbuch, München 1895; dazu vgl. Verf., Die Gesittung der Kanarier als Schlüssel zum Urindogermanentum, Germanien 2, 1937, und ders., Rasse und Gesittung der Kanarier (Auswahl aus Löhers Kanarierbuch mit Kommentar), Germanien 8, 1937.

4 Löher a. a. O. 505 ff. 5 Ebd. 466.

¢ A. Clog, Die Religion des Semnonenstammes in Koppers, Die Indoger- manen- und Germanenfrage, Salzburg 1936, 582 Anm. 67. Cloß teilt an dieser Stelle mit, daß Wölfel bei seinen Archivstudien den Beleg dafür gefunden hat, daß die kanarischen Harimagadas das ewige Staatsfeuer bewachten. Bevor ich von diesem Fund Kenntnis hatte, schrieb ich in Germanien 1937, 242: „Ich werde an anderem Orte zeigen, daß wir in den Harimagadas ‘Vestalinnen’ zu sehen haben, d.h. Priesterinnen, die das heilige ewige Stammesfeuer bewahren.“

134 Otto Huth: Der Feuerkult der Germanen

Diese sogenannten Parallelen sind also vielmehr Uberlieferungen rassisch verwandter Völker. Insbesondere die nachweislich jungsteinzeit- liche Kultur der Kanarier mit ihrer Entsprechung zum westindogerma- nischen Feuerkult bestätigt das hohe Alter dieses Kultes, der als ur- indogermanisch anzusehen ist. Der scheinbar alleinstehende latinische Vestakult, für den nicht einmal innerhalb der Italikerstimme eine Ent- sprechung nachweisbar ist, erweist sich also als die beste Überlieferung der altindogermanischen Form des Feuerkultes. Der altrömische Kult gestattet es uns, die Kulteinrichtungen und Mythen der übrigen Indo- germanen, insbesondere auch der Germanen, tiefer zu verstehen. Anderer- seits aber vermögen auch die germanischen Überlieferungen wesentliche Hinweise für das Verständnis der altrömischen Quellen zu geben.

Inhaltsübersicht |

Die Fragestellung auf Grund der vergleichenden indogermanischen Reli- gionswissenschaft. Grundzüge des latinischen und griechischen Feuerkultes (das ewige Hausfeuer und das Stammesfeuer). Die Rolle des Feuerkultes im indo- germanischen Kult überhaupt. Zwischenbemerkung über das Wesen des Feuers und sein Verhältnis zur Seele des nordischen Menschen. Der keltische Brigit- Kult als Entsprechung zum latinischen Vesta- und griechischen Hestia-Kult. Der Feuerkult der baltischen Indogermanen. Die Herdgöttin bei Skythen, Geten und Mongolen der inneren Mongolei (mit nordischer Herrenschicht). Der Feuer- kult der Slawen und Arier (Indoiranier), der Osseten und Armenier. SchluB- folgerungen: der germanische Feuerkult im Rahmen des indogermanischen. Zwischenbemerkung über das Wesen der indogermanischen Herdgöttin und ihrer Priesterin. Die Frage der Feuerkulttürme. Die germanischen Seherinnen als Vestalinnen. Menglöd und Brynhild. Die deutsche Volkssage von den Weißen Jungfrauen. Der Julblock und die Erneuerung des ewigen Feuers im Mittwinter. Die sogenannten „ethnographischen Parallelen“ des indogermanischen Feuer- kultes als Überlieferungen rassisch-verwandter Völker.

Dieser Nachweis, der auf Grund des Vergleiches mit indogermanischen Über- lieferungen geführt werden sollte, ist jetzt überflüssig, da der urkundliche Be- leg gefunden ist. Die bisher zugänglichen Quellen zur kanarischen Religion boten diesen Beleg nicht. Es sei bemerkt, daß Cloß an der so bedeutsamen Frage nach der Stellung des latinischen Vestakultes in der indogermanischen Überlieferung ahnungslos vorbeigeht. Auf S. 611 Anm. 26 schreibt er: „Zum Unterschied von den Magadas der Kanarischen Inseln und von den Seherinnen der Bagandas haben die germanischen Prophetinnen keine Beziehung zu einem Feuerkult“. Hätte Cloß die rassische Verwandtschaft der Kanarier und Indo- germanen einerseits und die enge Zusammengehörigkeit der Germanen und Italiker andererseits beachtet, wäre er zu der Einsicht gekommen, daß zumin- dest die Frage gestellt werden muß, ob nicht auch die germanischen Sehe- rinnen als „Vestalinnen“ anzusehen sind. Löhers Verdienste um die Kanarier- forschung kennt Cloß nicht. Er zitiert 571 Anm. 32 eine andere Arbeit von Löher, ohne zu bemerken, daß er von diesem „gewissen Löher* wie er schreibt einiges über die Beziehungen der kanarischen Kulte zu indogerma- nischen hätte lernen können. Löbers Irrtum, in den Kanariern Germanen zu sehen, hebt seine Verdienste um die Kanarierforschung nicht auf; vgl. über diese meinen obengenannten Aufsatz in der Zeitschrift Germanien.

Árpád Szabó: Lustrum und Circus | 135

LUSTRUM UND CIRCUS* VON ARPAD SZABO, z. Z. FRANKFURT A. M.

Das lateinische Wort lustrum bezeichnet als kultischer Terminus eine sakrale Handlung. Dieselbe Handlung, die mit einem lateinisch-deutschen Wort auch Lustration, „Reinigung“ heißt.! Wir kennen ein Lustrum oder eine Lustration des Ackerfeldes, der Stadt, des Heeres, der Flotte und andrer ähnlicher Dinge. Vor allem verwendet aber der klassische Sprachgebrauch das Wort lustrum zur Bezeichnung derjenigen Kulthandlung, die als der wichtigste Schlußakt einer Staatsangelegenheit der römischen Republik, des Census, gilt.” Die römischen Bürger sind nämlich von Zeit zu Zeit d. h. nach dem Staatsgebrauch der Republik in jedem fünften Jahr nach ihrem Vermögen und nach ihren militärischen Pflichten in Klassen eingeteilt worden. Das war der Census. Als nun die Ermittlungen des Census abgeschlossen und auf Grund davon die neuen Bürgerlisten an- gefertigt waren, wurde an einem Tage die gesamte Bürgerschaft zu- sammenberufen und nach der neuen Ordnung gegliedert auf dem Mars- feld aufgestellt.” Dann vollzog man den Lustrumakt folgendermaßen: es wurde eine Prozession von Opfertieren (suovetaurilia) um die versammelte Bürgerschaft dreimal rechtswendig herumgeführt?; die Tiere sind nach- her geopfert worden. |

Von der religiösen Bedeutung abgesehen hatte dieser Akt als Schluß- feier des Census auch eine staatsrechtliche Bedeutung. Denn erst durch ihn erhielten die vorher angefertigten Censuslisten Rechtsgültigkeit.® Da aber die Rechtsgültigkeit der Bürgerlisten von dem Lustrumakt nicht nur insofern abhängig ist, als dieser Akt die Gültigkeit der Listen für die künftige Zeit sichert, sondern als jedes Lustrum gleichzeitig die Gültigkeit der früheren Liste automatisch aufhebt, bezeichnet eben das Wort lustrum nicht nur die Kulthandlung selbst, sondern auffallender- weise auch jene durch zwei Lustrumakte eingeschlossene Zeitspanne, für die die Censuslisten gültig sind. Diese zweite Bedeutung des Wortes

* (Korr.-Note: Vorliegender Aufsatz wurde als Kap. 2 der Habilitations- schrift „Vorklassisches Erbe“ im Wintersemester 1988/39 von der Philosophi- schen Fakultät der Universität Frankfurt a. M. angenommen.]

1 G. Wissowa, RuKdR?, 390 f.

* Th. Mommsen, Röm. Staatsrecht II 412.

3 O. Leuze, Zur Geschichte der römischen Censur 64.

4 G. Wissowa, RuKdR? 142; C. Koch, Gestirnverehrung im alten Italien 23 (Frankfurter Studien zur Religion und Kultur der Antike III).

s W. F. Otto, Rhein. Mus. 71 (1916) 17; O. Leuze a. a. O. 64.

° Vgl. O. Leuze a. a. O. 81 ff. und A. Berve, RE XIII 2057.

136 Árpád Szabó

kommt natürlich daher, daß der Lustrumakt eine periodisch wieder- kehrende sakrale Handlung ist. Die periodische Wiederkehr gehört nicht nur zu dem innersten Wesen des Censuslustrum, sondern überhaupt zu dem jedes Lustrumaktes.! Armilustrium, Tubilustrium, Amburbium und Ambarvalia sind lauter jährlich wiederkehrende Lustrationsfeste der rö- mischen Gemeinde.

Problematisch war für die Philologie neben dieser leicht erkennbaren periodischen Wiederkehr des Lustrumaktes die Frage, ob das Lustrum der Bürgerschaft von Anfang an in festgelegten Perioden abgehalten wurde, oder ob nicht die Dauer der Lustrumperiode ursprünglich eine beliebige gewesen sei. Es ist nämlich eine auch heute noch geltende An- sicht, daß man das Lustrum der römischen Bürgerschaft erst von dem Jahre 230 v.Chr.an regelmäßig in jedem fünften Jahre vollzogen habe. Vor dieser Zeit soll man aber das Lustrum ebenso wie den Census je nach Bedarf in beliebigen Zeitperioden abgehalten haben.?

Diese heute allgemein eingebürgerte Ansicht von der ursprünglichen Unregelmäßigkeit der Lustrumintervallierung soll zum Gegenstand einer kurzen Überprüfung gemacht werden.

I.

Unsere sämtlichen Quellen, die eine Definition des Census- bzw. Lu- strum-Intervalles geben, setzen das Wort lustrum als Zeitmaß dem sog. quinquennium gleich. Eine andere Definition der Lustrumperiode, die dieser Gleichsetzung mit quinquenniwm widersprechen würde, existiert in den Quellen nicht.* Nun ist die nächste Frage, was man unter quin- quennium zu verstehen hat.

1 Vgl. auch G. Wissowa, RukdR? 390.

2 Vgl. O. Leuze a. a. O. 81ff.; A. Berve RE XIII 2057.

3 Suetonius p. 172: lustrum quinquennii tempus apud Romanos, Vans de lingua lat. VI 11: quod censor exercitum centuriato constituit quinquennalem, cum lustrare et in urbem ad vexillum ducere debet. Serv. in Aen. VIII 183: moris fuerat completo lustro pingues victimas offerre censores ... per quin- quennium istis victimis urbs lustrari solebat. Serv. in Aen. I 283: lustram autem dictum, quod post quinquennium unaquaeque civitas lustrabatur. Vgl. Ps. Asc. Ciceronis Verr. p. 188 (Or.).

4 O. Leuze hat die These aufgestellt: Lustrum als Zeitmaß könne nach la- teinischem Sprachgebrauch ursprünglich „jeden Zeitabschnìtt von beliebiger Dauer bezeichnet haben“ (a. a. O. 81). Diese irrige Behauptung wollte Leuze unter anderem auch mit dem Text des Grammatikers Marius Victorinus (Gramm. lat. ed. Keil VI 55) belegen: periodus, quae latina interpretatione circuitus vel ambitus vocatur, est compositio pedum trium vel quattuor vel complurium si- milium atque dissimilium ad id rediens unde exordium sumpsit, sicut temporis lustrum vel sacrorum trieterici. Leuze bemerkt zu dieser Stelle: „Aus dem hier angestellten Vergleich ist zu schließen, daß das Wort lustrum einen durch periodisch wiederkehrende gleichartige Ereignisse begrenzten Zeitraum von be-

Lustrum und Circus 137

Nach den Worten des Varro! bezeichnet man einen quinquennalen Zeitabschnitt? als lustrum deswegen, weil man die Vectigalien und Tri- bute in jedem fünften Jahr bezahlt. Diesen Satz hat Varro einer falschen Abteilung des Wortes lustrum zuliebe (nämlich von luere, das angeblich „bezahlen“ heißen soll), niedergeschrieben. Diese sprachwissenschaftliche Spielerei des Grammatikers interessiert uns jetzt nicht. Viel wichtiger ist für uns die Feststellung, daß im Sinne dieses Berichtes das Lustrum, das Varro als „Bezahlung“ umdeuten möchte, in jedem fünften Jahr er- folgt. Das quinquennium (= lustrum) ist also nach diesem Satz eigentlich ein Zeitabschnitt von 4 Jahren, der nur deshalb mit der Zahl fünf (quinque) bezeichnet werden konnte, weil das terminsetzende Ereignis in jedem fünften Jahr erfolgt. Im Sinne der Varro-Definition hat das lateinische Wort quinquennium genau denselben Sinn, wie die Penteteris der Griechen. Die Penteteris ist auch eine Zeitperiode von 4 Jahren, die ihren Namen aus demselben Grund von der Zahl fünf genommen hat wie das rö- mische quinquennium.

Genau dasselbe sagt von dem Lustrum auch Censorinus’, dessen Glaubwürdigkeit nur mit Unrecht bezweifelt werden konnte. Er sagt auch, daß das Lustrum in jedem fünften Jahr abgehalten wird, und des- halb kann er die Lustrum-Periode der griechischen Penteteris gleichsetzen.

Nun kann aber das lateinische Wort quinquennium auch eine andere Bedeutung haben.* Wie nämlich das quadriennium immer eine Summe von 4 Jahren, und biennium eine Summe von 2 Jahren ist, so kann auch quinquennium eine fünfjährige Periode bezeichnen. Wenn z. B. mit den Ausdrücken duo quinquennia oder tria quinquennia ein Zeitabschnitt von 10 bzw. 15 Jahren umschrieben wird®, so ist das Wort quinquennium in dieser zweiten Bedeutung gebraucht worden. liebiger Dauer bezeichnen konnte.“— Wenn aber dieser Schluß richtig wäre, dann müßte allerdings auch die griechische Trieteris „ein Zeitraum von be- liebiger Dauer“ sein!!

1 Varro de l. 1. VI 11: lustrum nominatum tempus quinquennale a luendo, id est solvendo, quod quinto quoque anno vectigalia et ultro tributa per cen- sores persolvebantur.

2 Der quinquennale Zeitabschnitt tempus quinquennale heißt natürlich ebensoviel, wie quinquennium. Den Versuch von Leuze (a. a. O.), zwei ver- schiedene Gebrauchsweisen des Adjektivs quinquennalis beobachten zu wollen, von denen aber nur die eine fiir quinquennium selbst gelten soll, halte ich für spitzfindig und völlig unbewiesen.

3 Censorinus cp. 18 § 18: idem tempus (scil. 4 Jahre) anni magni Romanis fuit quod lustrum appellabant. Ita quidem a Servio Tullio institutum, ut quinto quoque anno censu civium habito lustrum conderetur, sed non ita a posteris servatum etc.

4 Auf diese zwei Bedeutungsmöglichkeiten hat schon Th. Mommsen (R.Chronol. VI. Abschn. 162—171) hingewiesen.

5 Vgl. die Angaben im Wörterbuch von Georges bzw. in dem Thesaurus s. v. quinquennium.

138 Arpad Szabó

Das Wort quinquennium hat also zwei Bedeutungen je nachdem, ob man den Terminus, d.h. das fünfte Jahr, ausschließt oder einrechnet. Dieselbe doppelte Bedeutung hat auch das Zeitmaß lustrum, das in den Quellen dem quinquennium gleichgesetzt wird.! Es kann genau so gut eine vierjährige, wie auch eine fünfjährige Periode bezeichnen.” Aber trotz dieser kleinen Schwankung bleibt natürlich das Entscheidende an dieser Zeitrechnung das fünfte Jahr, das in beiden Fällen als Termin der Periode gilt.

Wir betonen also nochmals, daß, von dieserunbedeutenden Schwankung abgesehen, das Zeitmaß lustrum einen genau präzisierten Wert hatte. Die regelrechte Lustrumperiode ist immer ein quinquennium.’ Diesen Sinn hat der Terminus technicus lustrum bei jedem einzelnen Schriftsteller allein und ausschließlich, soweit wir es überhaupt kontrollieren können, welchen Sinn die betreffenden Quellen diesem technischen Ausdruck beimessen wollten.* Damit soll natürlich die Nachweisbarkeit anderer unregelmäßiger Lustrumperioden nicht bezweifelt werden. Die Frage ist aber, wo der Ursprung der quinquennalen Lustrumperioden gesucht werden soll. |

II. N

Da man das Vorhandensein unregelmäßiger, also nicht quinquennaler Lustrumperioden für die ältere Zeit der römischen Republik in mehreren Fällen nachweisen konnte, hat O. Leuze aus dieser Tatsache den Schluß gezogen, daß die Gleichsetzung des Zeitmaßes quinquennium mit lustrum erst die Folge einer späteren Entwicklung gewesen sei. Erst die wachsende Bedeutung der censorischen Verpachtungen, die eine konstante Inter- vallierung forderten, und die zielsichere Energie des Senatsregimentes

ı Es ist charakteristisch, daß auch die oben zitierten Quellen die Ausdrücke: quinto quoque anno, per quinquennium und post quinquennium abwechselnd ge- brauchen.

2 Eine vierjährige Periode (quadriennium, eine Summe von 4 Jahren) wird als lustram bezeichnet an den folgenden Stellen: Plin. II 122; II 130; II 78; Ciris 20 ff.; Stat. silv. II 6,70 u. a. m. Dagegen ist lustrum eine öjährige Pe- riode: Hor. carm. II 4.24; IV 1,6; Ovid Ibis 1; Trist. IV 8,88; Am. III 6,27 Ars am. III. 15.

3 Wenn bei Stat. silv. III 1,45 und Mart. IV 1,7 einmal das Jahr velox lustrum und einmal das Säkulum ingens lustrum heißt, so besagen diese dichterischen Ausdrucksweisen nichts gegen unsere Behauptung. In beiden Fällen zeigt das Adjektiv, daß hier der gewöhnliche Sinn des terminus technicus dichterisch umgebildet worden ist.

4 O. Leuze hat versucht nachzuweisen, daß es auch 3-, 6-, 7- und mehrjährige Lustrumintervalle gab. Seine Ergebnisse wollen wir nicht überprüfen, wir be- merken nur, daß man in keinem einzigen Fall nachweisen kann, daß irgend- eine Quelle unter dem Zeitmaß lustrum etwas anderes verstanden hätte, als eben quinquennium.

Lustrum und Circus 139

in dem ausgehenden 3. Jahrh. sollen von der Willkür zu der Regulierung des Lustrumintervalles geführt haben.! Und wenn die Quellen die fünf- ' jährige Periodisierung des Lustrumaktes schon dem König Servius Tullius zuschreiben, so sei es nur ein falscher Rückschluß aus den späteren Tat- sachen auf den vermeintlichen Ursprung der Institution. l

Nach dieser Auffassung erfolgt die quinquennale Periodisierung aus rein praktischen Gründen und erst im Laufe einer späteren langsamen Entwicklung. Man stellt sich gar nicht die Frage, warum das Ergebnis der Entwicklung eben die quinquennale Periodisierung geworden ist. Aus rein praktischen Gründen soll es notwendig geworden sein, daß die ursprünglich beliebigen Perioden reguliert wurden, und aus dieser Not- wendigkeit soll man zu einer willkürlich gewählten Periode gekommen sein, die dann in der Folgezeit konsequent beibehalten wurde.

Die Voraussetzung dieser Erklärung durch praktische Gründe ist der Gedanke, daß das Lustrum der Bürgerschaft eigentlich nur eine neben- sächliche „religiöse Begleiterscheinung“? einer rein praktischen Staats- angelegenheit ist. Aus rein praktischen Gründen soll man von Zeit zu Zeit den Census veranstaltet haben, und man soll das Lustrum, das „inner- lich mit dem Census nicht zusammengehört“?, als Schlußfeier angewendet haben. In diesem Sinne konnte man die Lustrum-Intervallierung als die Folge der rein praktischen Census-Intervallierung auffassen.

Die Unzulänglichkeit dieser Erklärung besteht darin, daß sie dem Kultcharakter des Lustrumaktes nicht gerecht werden kann. Wenn das Lustrum der Bürgerschaft als Kulthandlung in jedem fünften Jahr wiederholt wird, so muß zunächst bei der Erklärung dieser Periodisierung gefragt werden, ob es sich nicht aus dem Kult selbst erklären läßt. Ob nicht das fünfte Jahr auch sonst in dem römischen Kult eine Wichtig- keit hatte.

Nun ist die quinquennale Lustrum-Intervallierung keine isolierte Er- scheinung in dem römischen Kultleben. Wir kennen auch andere Fälle, in denen quinquennale Perioden angewendet worden sind. Wir meinen die sogenannten vota quinquennalia.* Nach der historischen Tradition der Römer galt eben das fünfte Jahr häufig als Einlösungstermin eines von dem Staat unternommenen Gelübdes. Livius überliefert z.B., mit welchen Worten die Volksversammlung vor der feierlichen Ankündigung eines votum quinquennale befragt wurde. Aus diesen Worten erfahren wir,

ı O. Leuze a. a. O. 69 ff; A. Berve RE XIII 2058f. 2 In diesem Sinne O. Leuze a. a. O. 64f, 3 Th. Mommsen, Röm. Staatsrecht lI 412. 4 G. Wissowa, RuKdR? 888, 5 Livius 22, 9—10: velitis inbeatisne sic fieri? si res publica populi Romani Quiritium ad quinquennium proximum, sicut velim eam salvam, servata erit hisce duellis ete.

140 Ärpäd Szabö

daß man einmal geplant habe: die römische Gemeinde soll ein ver sacrum geloben, wenn der Staat von den Göttern bis zu dem nächsten fünften Jahr (ad quinquennium proximum) unversehrt erhalten wird. Von ähn- lichen quinquennalen Gelübden berichtet Livius an mehreren Stellen.’

Diese Zeugnisse und besonders der Wortlaut bei Livius (ad quin- quennium proximum) zeigen, daß die Zeitspanne, die zwischen der feier- lichen Ankündigung des Gelübdes und seiner Einlösung in dem nächsten fünften Jahr lag, von den Römern als eine Einheit aufgefaßt werden mußte. Für diese Zeitspanne, die als Einheit zusammengefaßt wird, ver- sucht man, den besonderen Schutz der Götter durch das versprochene Votum zu sichern. Die Ähnlichkeit mit der Lustrumperiode muß gleich ins Auge fallen. Nicht nur die Zeitspanne ist in beiden Fällen dieselbe, sondern auch die Absicht, mit der die Kulthandlung vollzogen wird. Das Votum sichert in den bei Livius erwähnten außerordentlichen Fällen den Schutz der Götter für den Staat. Denselben Zweck muß aber auch das Votum gehabt haben, das man regelmäßig nach jedem Lustrumakt für das nächste Lustrum versprochen hat.?

Es ist kein Zweifel, daß die quinquennale Periodisierung sowohl in dem Fall der außerordentlichen Vota, wie auch in dem des Lustrum denselben Ursprung haben muß. Nach der historischen Tradition der Römer war das guinquennium als Zeitperiode für kultische Veranstaltungen schon in dem 5. vorchristlichen Jahrhundert üblich? Man hat aber auf diese Weise keinen Anlaß mehr anzunehmen, daß die quinquennale Lu- strumperiodisierung erst in dem ausgehenden 3. Jahrh. aus praktischen Gründen entstanden sei. Das quinquennium ist eine alte, für kultische Veranstaltungen übliche Zeitperiode, die schon in der ältesten Zeit der Republik auch als Lustrumperiode angewendet werden konnte.

Die Tatsache, daß man auch unregelmäßige Lustrum-Intervalle nach- weisen kann, schließt doch die Möglichkeit einer allgemeinen Regel, die schon auf die älteste Zeit zurückgehen kann, nicht aus. Auch die Römer selbst wußten es, daß das Prinzip, das Lustrum der Bürgerschaft in jedem fünften Jahr abzuhalten, nicht immer konsequent befolgt werden konnte.‘

ı Livius 30, 2: consulibus imperatum, priusquam ab urbe proficiscerentur, ludos magnos facerent, quos T. Manlius Torquatus in quintum annum vovisset, si eodem statu res publica staret. Liv. 30, 27: si per quinquennium illud res publica eodem statu fuisset. Liv. 27, 33, 8: senatus... ludos facere dietatorem iussit, quos M. Aemilius praetor urbis C. Flaminio Cn. Servilio consulibus fece- rat, et in quinquennium voverat etc.

2 Suetonius Aug. 97: cum... lustrum conderet... vota, quae in proximum lustrum suscipi mos est, collegam suum Tiberium nuncupari iussit.

3 O Leuze, Die römische Jahrzählung 382 f.

4 Censorinus cp. 18 $ 13: lustrum... ita quidem a Servio Tullio institutum, ut quinto quoque anno censu civium habito lustrum conderetur, sed non ita a posteris servatum,

Lustrum und Circus 141

Nun ist das quinquennium eine alte kultische Zeitperiode. Woher hat aber eben das fünfte Jahr diese religiöse Bedeutung nicht nur als das Jahr des Lustrum, sondern auch als Einlösungstermin des votum quinquennale? Die Frage ist auch schon deswegen berechtigt, -weil der römische Kultus andere ähnliche Zeitperioden, von dem verdoppelten quinquennium, dem decennium abgesehen, überhaupt nicht kennt.! Mit der Begründung, daß das quinquennium als „Rundzahl“ zu dieser Bedeutung gekommen sei, wird man sich wohl nicht begnügen.

ID.

Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß nicht nur bei den Rö- mern, sondern auch bei anderen Völkern des klassischen Altertums das fünfte Jahr eine kultische Wichtigkeit hatte. Herodot berichtet z.B. von . der thrakischen Sitte, in jedem fünften Jahr einen Boten zu dem Gott Zalmoxis zu schicken.? Ebenso wissen wir von den Kelten, daß sie ihre großen Menschenopfer in jedem fünften Jahr veranstaltet haben.? Vor allem müssen wir aber in diesem Zusammenhang der griechischen Pent- eteriden gedenken. Die meisten sogenannten „Nationalfeste“ der Grie- chen wurden in jedem fünften Jahr gefeiert. Es ist eine naheliegende Kombination, auch das römische Quinquennium in diesen größeren Zu- sammenhang einzuordnen.

Nun ist aber der Ursprung der griechischen Penteteriden einiger- maßen schon erklärt worden. Man hat zwar auch in diesem Fall ver- sucht, die Entstehung der Periodisierung aus praktischen Gründen ab- zuleiten, aber man mußte dabei betonen, daß „gerade für die älteste Zeit die praktische Erklärung versagt, und die Wahl dieser Periode noch andere Rücksichten, offenbar chronologisch -kalendarische bestimmt haben‘“.*

Die ältesten griechischen Penteteriden sind nach der heute allge- mein geltenden Ansicht durch die Halbierung der ursprünglichen Ennea- teriden, oder wie sie in der späteren Terminologie heißen, Oktaeteriden, entstanden. Die Enneateris ist der Schalt-Zyklus einer alten Mondsonnen- jahrrechnung. Dieser Zyklus besteht aus 99 Monaten, d. h. 8 X 12 + 3; dreimal wird nämlich ein dreizehnter Schaltmonat eingefügt, um damit die Zeitrechnung nach dem Mond mit der nach der Sonne in Einklang zu bringen.

Diese Zeitrechnung müssen die Griechen schon in archaischer Zeit

ı Das vicennium kommt selten und erst in der Kaiserzeit vor. Vgl. G. Wis- sowa, RuKdR? 383 und ebd. A. 9.

2 Herodot 4, 94.

® Diod. 5, 82, 6. Vgl. dazu G. Kazarow, Klio 12 (1912) 361.

L. Ziehen, RE XIX 1, 259. 5 M. P. Nilsson, RE 17, 2 Sp. 2387 ff.

142 Arpad Szabó,

aus einer älteren Kultur übernommen haben.! Jedenfalls wird der Zeit- punkt der ältesten Penteteriden (halbierten Enneateriden) der olympischen und pythischen Spiele nach dieser Zeitrechnung festgestellt.

Die kultische Bedeutung des fünften Jahres hängt also bei den Griechen mit einer alten kosmischen Rechnung nach der Sonne und nach dem Mond zusammen. Die Penteteris wird ebenso als eine kosmische Periode angesehen, wie die vollständige Form, die Enneateris. In jedem fünften Jahr fängt ein neuer kosmischer Zeitabschnitt an. Die Feste, die bei dieser Gelegenheit veranstaltet werden, müssen ursprünglich den kul- tischen Ausdruck dieses Gedankens dargestellt haben.?

Nun darf auch das römische guinquennium als ein Ableger dieses kosmischen Gedankenkreises betrachtet werden. Es wäre jedenfalls eine falsche Behauptung, anzunehmen, daß man in Italien auf Grund einer astronomischen Rechnung den Zeitpunkt der Quinquennien festgestellt habe. Auch die Griechen haben den Zeitpunkt der ältesten olympischen Spiele nicht nach astronomischer Rechnung, sondern nach einfacher mechanischer Monatszählung festgestellt. Ebenso können auch die Römer das quinquennium als fertiges Kulturgut übernommen haben. Darauf scheint auch die Tatsache hinzuweisen, daß die mechanische Verdoppe- lung des quinquennium in Rom decennium ist. Man war sich also nicht mehr klar darüber, daß das quinquennium die halbierte Form der En- neateris ist. Nicht die ursprüngliche kosmische Zeitperiode, die Ennea- teris, sondern die halbierte Form, die Penteteris, war auch in dem öst- lichen Mittelmeerzentrum, in Griechenland gebräuchlicher, und dieselbe Form ist auch in Italien mechanisch übernommen worden. Auf der an- deren Seite müssen aber die Römer doch gewußt haben, daß das fünfte Jahr der Periode der Anfang eines neuen kosmischen Zeitabschnittes ist. Das beweist auch die folgende religionswissenschaftliche Interpretation des Lustrumaktes.

IV.

Die Philologie hat sich lange bemüht, eine semasiologische Erklä- rung des Ausdruckes „lustrum“ zu geben. Diese Bemühungen haben zuletzt zu einer einleuchtenden Theorie geführt, die jedoch nur andeu- tungsweise ausgesprochen wurde.? Vollständigkeitshalber seien die wich- tigsten Etappen der bisherigen Forschung wiederholt.

ı M. P. Nilsson a. a. O. vermutet, daß die Griechen diese Zeitrechnung aus Babylonien übernommen hätten. In einem anderen Zusammenhang habe ich darauf hingewiesen, daß sie wahrscheinlich schon den alten Kretern bekannt war und infolgedessen altmediterranes Kulturgut ist.

2 Eine religionswissenschaftliche Interpretation des olympischen Festes könnte diese Behauptung am klarsten rechtfertigen.

3 Carl Koch, Gestirnverehrung im alten Italien (Frankfurter Studien zur Re- ligion und Kultur der Antike III 23 ff.); die einschlägigen wichtigsten Arbeiten:

f

Lustrum und Circus 143

Die erste Silbe des Wortes lustrum hat, wie Paul. Fest. p. 120 aus- driicklich bezeugt, ein langes u. Infolgedessen kann das Wort lustrum aus *loucstrum nur zu der Wz. *leuk-louk gehören, welche in lat. luz, luceo, gr. Adevoow vorliegt. Die ursprüngliche Bedeutung von lustrum muß demnach ,,Beleuchtung“ gewesen sein.! Diese Verwendung des Wortes ist nicht mehr zu belegen; doch wird sie bestätigt durch das Verbum lustrare, das als „beleuchten“ geläufig ist und mit diesem Anfangspunkte die Reihe „sehen“ (vgl. gr. Aevoow), „betrachten“, „besuchen“, „erleben“ bildet; dazu kommen als weitere Zeugnisse die Kompositionen collu- strare, illustrare, illustris, sublustris?' Neben dieser Bedeutung „Beleuch- tung“, die für das Wort lustrum selbst nicht unmittelbar belegt, nur re- konstruiert werden konnte, muß auch eine andere, nämlich die Bedeutung »Kreisbewegung“ schon dem ältesten Bestande des Wortes angehört haben.? Auch das Verbum lustrare besitzt von Anfang an neben der ge- nannten Bedeutungsgruppe noch den Sinn von „umgehen“, „umkreisen“ sowohl in sakraler wie in allgemeiner Verwendung.* Demnach muß das Wort ursprünglich eine solche „Beleuchtung“ bezeichnet haben, die gleichzeitig auch mit einer „Kreisbewegung“ verbunden war. Der ein- zige Fall, wo „Beleuchtung“ und „Umkreisung“ eine innige Einheit bil- den, ist der Umlauf des leuchtenden Himmelsgestirnes.

Und tatsächlich ist für die Kreisläufe der Himmelskörper die Be- zeichnung lustrum und lustratio geläufig.

Im Sinne dieser semasiologischen Erklärung muß das Wort lustrum ursprünglich die Kreisbewegung des leuchtenden Himmelsgestirnes, der Sonne, bezeichnet haben. Wenn dasselbe Wort nach antikem Sprachge- brauch den rechtswendigen sakralen Umgang, den Lustrumakt, bezeichnet,

W. F. Otto, Rhein. Mus. 71 (1916) 17 ff., A. Berve, RE XIII 2941 ff. Als Grundlage zu der folgenden kurzen Zusammenfassung diente der Exkurs bei C.Koch 0.c.8.23.

ı W. F. Otto a. a. O. 25.

2 W. F. Otto a. a. O. 29f.; wiederholt von C. Koch a. a. O. 23.

3 Darauf hat A. Berve RE XIII 2041 ff. hingewiesen.

4 Diese Verwendung des Wortes ist schon durch Livius Andronicus (trag. tr. 5 Ribb.*) zu belegen.

5 Cic. de nat. deor. I, 87, I 53; Tim. 32; Lucr. V 79, 981 usw. vgl. bei C. Koch a. a. O, 26. [Kochs Erklärung hat Widerspruch gefunden bei Deubner (oben Bd. 33 [1936] 112), Zustimmung bei K. Vahlert, Praedeismus und rim. Religion (Diss. Frankfurt 1985) 84; Altheim, Wörter und Sachen N. F. 1 (1938) 43 und ist weiter gestützt worden namentlich durch W.Pax in dem Abschnitt Circum- ambulatio und Sonnenlauf seiner Arbeit über &upinolos (Wörter und Sachen 18 [1937] 73ff., bes. 76f.). Es scheint mir wichtig, daß das bei der lustratio umgeführte Suovetaurilienopfer auch solitaurilia hieß (Festus s. v., p. 372f. Lindsay). Die Deutungen befriedigen nicht. Sollie nicht doch sol darin stecken und das Wort die ursprüngliche Bedeutung des Lustrationskreises als einer Nachahmung des Sonnenumlaufs widerspiegeln? Uber die Sonne als alles lu- strierende Kraftquelle vgl. meine Bemerkungen Hermes56(1921)326 ff. Weinreich.]

144 Arpad Szabó

so ist dieser Umstand nach der Erkenntnis von C. Koch ein Beweis da- für, daß die betreffende Kulthandlung die sakrale Nachahmung der Sonnenbewegung ist.

Die Erklärung, daß der Lustrumakt die kultische Wiedergabe des himmlischen Sonnenumlaufes ist, konnte C.Koch auch damit begründen, daß die sogenannte circumactio, die als nächste Parallele zu dem rechts- wendigen sakralen Umgang betrachtet werden kann, nach einer bei Plutarch (Num. 14) überlieferten antiken Interpretation tatsächlich als die Nachahmung der kosmischen Bewegung aufgefaßt wurde. Damit ist ein Beispiel gegeben, daß auch die Rundprozession der Opfer- tiere in dem Lustrumakt ursprünglich als eine kultische Nachahmung der solaren Umkreisung empfunden werden konnte. Bei dem Lustrum handelt es sich jedoch nicht nur um eine Kreisbewegung, die die kul- tische Nachahmung des Sonnenumlaufes darstellen soll, sondern, wie der Ausdruck lustrum selbst zeigt, auch um eine Beleuchtung. Wenn also die Theorie von C. Koch richtig ist, so muß neben der Kreisbewegung auch die Nachahmung der solaren Beleuchtung in dem Kult irgendwie zum Ausdruck gebracht worden sein. Erst wenn wir auch ein Beleuchtungs- moment in dem Lustrumakt nachweisen zu können, wird die an und für sich einleuchtende Theorie vollständig gerechtfertigt.

Nun können wir tatsächlich nachweisen, daß der Lustrumakt ur- sprünglich eine Beleuchtungsprozession gewesen sein mußte, d. h. eine Beleuchtung durch das Feuer, das man in der Rundprozession mit den Opfertieren zusammen herumgetragen hat. Dieser Gebrauch des Feuers in dem quinquennalen Lustrum der römischen Bürgerschaft ist nicht un- mittelbar überliefert; daß er aber doch höchstwahrscheinlich auch in diesem Fall angewendet wurde, können wir aus den folgenden Tatsachen schließen:

Die Lustration der Stadt Rom, das sogenannte Amburbium, war ein jährliches Fest der römischen Gemeinde am Anfang des Monats Februar. Der einzige wesentliche Unterschied zwischen diesem Fest und dem quinquennalen Lustrum der Bürgerschaft besteht darin, daß diesmal nicht die Bürgerschaft, sondern das Stadtgebiet selbst lustriert wurde. Demgemäß wurde die Rundprozession der Opfertiere bei dieser Ge- legenheit um die Stadtgrenzen herumgefiihrt.? Dieses Fest hat später die christliche Kirche als „Lichtmesse“ am 2. Februar übernommen.’ Der wesentlichste Teil der Lichtmesse ist eine Rundprozession der Ge-

1 G. Wissowa, RuKdR? 142.

2 Paul. Fest. 5, 2. amburbales hostise dicebantur, quae circum terminos ur- bis Romae ducebantur. vgl. Serv. Verg. Buc. III 77: amburbale vel amburbium dicitur sacrificium quod urbem circuit et ambit victima.

3 G. Wissowa RuKdR® 101.

Si: ee ee

Lustrum und Circus 145

meinde mit brennenden Kerzen, die nach dem Zeugnis der Kirchen- tradition aus dem Amburbium iibernommen worden ist.! Das Ambur- bium war also tatsächlich eine Rundprozession mit Beleuchtung. Die Nachahmung der Sonnenbewegung und der solaren Beleuchtung ist in diesem Fest mit einer Klarheit, die jeden Zweifel ausschließt, zum Aus- druck gebracht worden.

Es wäre jedoch noch immer eine unbegründete Konstruktion, wenn wir ohne nähere Anhaltspunkte annehmen würden, daß das Beleuchtungs- . moment genau so wie in dem Amburbium, auch in dem Lustrum der römischen Bürgerschaft vorhanden war. Einen näheren Anhaltspunkt bieten aber für diese Annahme die iguvinischen Tafeln. Die iguvinischen Tafeln bezeugen den Gebrauch des Feuers sowohl für die Lustration der Stadt?, wie auch für das Lustrum der iguvinischen Bürgerschaft. ? Wir können also auf Grund dieser Beispiele mit Recht annehmen, daß auch in dem Lustrum der römischen Bürgerschaft die Rundprozession der Opfertiere gleichzeitig auch eine Lichtprozession war: d.h.man hat außer den Opfertieren auch Feuer um die Gemeinde herumgeführt und auf diese Weise nicht nur die Kreisbewegung der Sonne, sondern auch die solare Beleuchtung kultisch nachgeahmt.

Es darf uns nicht überraschen, daß dieser wesentliche Teil des Lu- strumaktes, die Beleuchtung durch Feuer, in den Quellen nicht un- mittelbar überliefert worden ist. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß wir das Rituale des Lustrum der römischen Bürgerschaft überhaupt nicht kennen. Unsere Kenntnisse von dem Lustrum stammen nur aus kurzen Bemerkungen der Alten, die jedoch kein vollständiges Bild von der ganzen Kulthandlung geben. In den antiken Quellen finden wir z.B. kein einziges Wort, das bezeugen könnte, daß die Rundprozession der Opfertiere in dem Fall des Amburbium eine Lichtprozession war. Und

ı H. Usener, Das Weihnachtsfest? 314 zitiert als Quellen: Johannes Beleth (Pariser Theologie um 1182) ration. 81: quare autem candelaria vocetur, aliam autoritatem non habet, sed potius fluxum est ab antiqua consuetudine ethni- corum sive gentilium. erat enim antiquitus Romae consuetudo ut circa hoc tem- pus in principio februarii urbem lustrarent eam ambiendo cum suis processio- nibus gestantes singuli candelas ardentes et vocabatur illud amburbale. und Innocentius III. serm. de sanctis XII bei Migne 217, 510%: quam (Proserpinam a Plutone raptam) quia mater eius quaesisse credebatur, et ipsi ad commemo- rationem ipsius, facibus accensis in principio mensis urbem de nocte lustrabant. unde festum illud vocabant amburbale. etc.

“2 Vgl. Buck, Grammar of Oscan and Umbrian. Taf. VI A 20.

3 Taf. I B 20: armamu kateramu Ikuvinu. Enumek apretu tures et pure- ordinamini catervamini, Iguvini. Tunc ambito tauris et igne. Die lateinische Übersetzung nach Buck-Blumenthal. Zu der Zeremonie vgl. auch I. Rosen- zweig, Ritual and Cults of Pre-Roman Iguvium 34 (Studies and Documents IX. ed. Kirsopp Lake and Silva Lake London 1937).

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI.1 10

146 | Arpad Szabo

doch ist es eine unleugbare Tatsache, die durch die frühchristliche Tra- dition mit einer jeden Zweifel ausschließenden Klarheit bezeugt wird. Genau so kann auch das Lustrum der römischen Bürgerschaft mit einer Lichtprozession verbunden gewesen sein. Das können wir auch schon deswegen mit Recht annehmen, weil das einzig erhaltene altitalische Rituale eines ähnlichen Lustrumaktes, nämlich des Lustrum der iguvi- nischen Bürgerschaft, das Herumtragen des Feuers, wie wir gesehen haben, tatsächlich erwähnt.

Ist aber der Lustrumakt tatsächlich eine „kultisch imitierte solare

Umleuchtung“!, so muß die ganze Kulthandlung im Sinne dieser Er-.

kenntnis erklärt werden.

V.

Vor allem möchten wir feststellen, daß die traditionelle Auffassung, die in dem Lustrum eine „kultische Reinigung“ erkannt hat?, durch die vorherige Erklärung des Lustrumaktes gerechtfertigt wird. Auch die Alten haben ja das Lustrum als „kultische Reinigung“ aufgefaßt.? Es ist eine „Reinigung durch die Strahlen der Sonne“‘, die hier in dem Kult durch die sakrale Nachahmung der solaren Umleuchtung zum Ausdruck gebracht wird. Zweck und Ziel dieser kultischen Reinigung wie es die ältere Forschung formuliert hat muß offenbar die Absicht ge- wesen sein, daß man für das lustrierte Objekt das Wohlgefallen und die Gnade der göttlichen Mächte durch die kultische Reinheit sichert.® Damit haben wir aber das innerste Wesen des Lustrumaktes noch nicht erfaßt. Eine so aufgefaßte Reinigung hätte man nur dann vollzogen, wenn nach der religiösen Empfindung Schmutz und Befleckung zu be- seitigen war. Tatsächlich wird eine Lustration auch in solchen außer- ordentlichen Fällen vorgenommen. Jede Gefahr, die als Folge eines kul- tisch unreinen Zustandes aufgefaßt werden konnte, war Veranlassung zu einer neuen Reinigung. Daneben gehört es aber zu dem Wesen des Lustrumaktes, daß er in bestimmten Zwischenräumen periodisch wieder-

1 Diese bündige Definition stammt von C. Koch a. a. O. 26.

2 Vgl. G. Wissowa, RuKdR? 390.

3 Paul. p. 120 lustratio qua quid solvitur ac liberatur. Serv. Aen. III 279: lustramur, id est purgamur, ut Jovi sacra faciamus.

4 Zum Beweise, daß der römische Kult die „Reinigung durch Sonnenstrahlen“ gekannt hat, sei an den Vers des Paulinus von Nola (82, 189) erinnert:

omnis credula turba | suspendunt Soli per Volcanalia vestes.

Fr. Altheim, Gr. Götter im alten Rom 198 bemerkt zu der Stelle: „Die Kleider wurden also an den Volcanalia der Sonne ausgesetzt offenbar ein Reinigungs- und Entsühnungsritus‘“. Ebenso muß die vom Blitz getroffene Statue des Horatius Cocles den Sonnenstrahlen ausgesetzt werden. Vgl. Gellius 4, 5.

5 G. Wissowa, RuKdR? 390.

Lustrum und Circus 147

holt wird auch in dem Fall, wenn zu der Reinigung kein besonderer Anlaß vorhanden ist.

Es liegt also in dem Wesen des Lustrumaktes, daß er die kultische Reinheit und die Gnade der göttlichen Mächte nur für eine bestimmte Zeitdauer sichert. Deshalb sind die meisten Lustrationen jährlich wieder- kehrende Kulthandlungen.! Die Lustration des Stadtgebietes, das Amb- urbium, wird z.B. am Anfang des 12.sogenannten „Reinigungsmonats“?, Februar, gehalten. Die sämtlichen Reinigungen, die in diesem Monat vollzogen werden, können gewissermaßen als Vorbereitung für das nächste Jahr aufgefaßt werden. Besonders aufschlußreich ist aber für unsere Betrachtungen über die Jahresgültigkeit der Lustrationen das Ambarvalienfest.

Das Fest der Ambarvalia ist ein Flurumgang im Friihling, der die Fruchtbarkeit des Ackerfeldes sichern soll.? Ambarvalis hostia heißt das Tier, das von den Arvalbrüdern um das Ackerfeld dreimal? herum- geführt und darnach geopfert wird.” Der Flurumgang war also eine ähnliche Lustration ‘wie das Lustrum der römischen Bürgerschaft. Wir können sogar annehmen, daß auch diese Lustration mit einer Licht- prozession verbunden war. Darauf hinzuweisen scheint mindestens die Tatsache, daß die Brüder an dem Arvalfeste, das auf das ältere Fest der Ambarvalia zurückgeht®, nach Beendigung ihres Kultgesanges deas un- guentaverunt et cereos: adcenderunt.?

Nun ist der Lusttumakt der Ambarvalia im Sinne der Erklärung, die wir oben von dem Dustrum im allgemeinen gegeben haben, eine kultisch imitierte solare Umleuchtung des Ackerfeldes. Wir können aber jetzt diese Erklärung auf Grund unserer sonstigen Kenntnisse von der Arval- brüderschaft und ihrem Kult wesentlich erweitern.

ı G. Wissowa, ebd.

2 Vgl. das Wort februa und Varros Bemerkung (de 1.1. VI 13): rex cum ferias menstruas edicit, hunc diem februatum appellat ... duodecimus enim mensis fuit Februarius.

3 G. Wissowa, RuKdR? 561.

4 Serv. Verg. Buc. Ill 77: dicitur autem hoc sacrificium ambarvale quod arva ambiat victima: hinc ipse in Georgicis (1, 345) „terque novas circum fe- lix eat hostia fruges etc.

5 Macrob. sat. III 5, 7: ambarvalis hostia est,... quae rei divinae causa circum arva ducitur ab his, qui pro frugibus faciunt. Fest. ep. p. 5: ambar- vales hostiae, quae pro arvis a duodecim (Has. duobus) fratribus sacrificabantur. Varro del. 1l. V 85: fratres arvales dicti, qui sacra publica faciunt propterea ut fruges ferant arva. Vgl. außerdem G. Wissowa, RuKdR? 561.

¢ G. Wissowa, RuKdR? 562 A. 4. | 7 Dessau 9522 II v. 35f.; vgl. G. Wissowa, Hermes 52, 344 f. Ebenso werden

auch an dem dritten Tage des Festes lampades angesteckt. W. Henzen, Acta fratr. Arval. 44; CIL 6, 2065 II 47£. 10*

148 Árpád Szabó

Der Flurumgang soll nach der Auffassung der Alten die Fruchtbar- , keit des Ackerfeldes sichern.! Überhaupt erzielt die ganze Tätigkeit des Arvalencollegiums diese Fruchtbarkeit.” Dabei ist aber das Amt der fratres Arvales mit einem Jahr befristet. Das Amtsjahr der Briiderschaft läuft von einer Aussaat bis zu der anderen. Der jeweilige Magister der Brüderschaft soll alljährlich im ersten Monat seines Amtsjahres das Hauptfest der Gemeinschaft, den Flurumgang, in feierlicher Form an- kündigen. Die Fruchtbarkeit des Ackerfeldes wird also durch die Tätig- keit des Collegiums von Jahr zu Jahr neu gesichert. Die Gemeinschaft der Arvalbrüder hat eine klare Beziehung sowohl zu dem Ackerbau | wie auch zu dem Kalender. Bei jeder neuen Aussaat, d. h. am Jahres- anfang der Ackerbautätigkeit, wird auch die Gemeinschaft der fratres Arvales durch die Wahl eines neuen Magisters erneuert. Das Dasein der Arvalengemeinschaft ist also gewissermaßen die Wiederspiegelung eines allgemeinen, größeren Geschehens. Der Jahresanfang des Land- mannes findet einen greifbaren Ausdruck in dem Leben der Arvalen- organisation durch die Wahl des Magisters. |

Es war eine ansprechende Vermutung von Th. Mommsen, die Zwölf- Zahl der Mitglieder des Collegiums‘ mit der Zahl der Monate des Jahres in Zusammenhang zu bringen. Die Gemeinschaft der 12 fratres Arvales, die sich bei jeder neuen Aussaat erneuert, ist die Projektion des Jahres, d. h. des natürlichen kosmischen Zeitvorganges. Die Richtigkeit dieser Behauptung bestätigt auch das, was wir sonst noch von dem Kult der fratres Arvales wissen.

Im Mittelpunkt des Arvalengottesdienstes steht die geheimnisvolle Göttin Dea Dia. Nach der Vermutung von Henzen? und Wissowa? soll | diese Dea Dia die Indigitation der Erdgöttin Ceres oder Tellus sein. Gegen diese Auffasssung hat man aber darauf hingewiesen, daß der Bei- name der Göttin Dia aus Divia” nur die „Strahlende, Leuchtende“ be- deuten kann.® Die Beziehung auf den Himmel und das himmlische Licht ist also unverkennbar, wie diese Beziehung von dem Kult der Arvalbrüder

1 Vgl. Macrob. sat. III 5, 7: ambarvalis hostia est,... quae rei divinae causa circum arva ducitur ab his, qui pro frugibus faciunt.

2 Varro de 1.1.V 85: fratres arvales dicti, qui sacra publica faciunt prop- terea ut fruges ferant arva.

3 ` Vel G. Wissowa, RuKdR? 562 und ebd. A. 6.

„Daß die Arvalbrüderschaft 12 Mitglieder zählte, steht durch das völlig a an Zeugnis des Masurius Sabinus (bei Gell. VII 78 vgl. Plin. n. h. XVIII6) fest und die Protokolle widersprechen dem nicht.“ G. Wissowa RE II 1468.

5 Th. Mommsen, Grenzboten 1 (1870) 165.

° Henzen, Acta fratr. Arval. 48.

7 G. Wissowa, RuKdR? 195; 562; RE II 1472.

8 F. Solmsen, Stud. zur lat. Lautgesch. 110. 9 Fr, Altheim, Terra Mater 129.

Lustrum und Circus 149

auch sonst belegt ist.! Die „leuchtende Himmelsgöttin“ der Arvalen kann aber nichts anderes sein als der Mond. Heißt es doch eben von dem Mond bei Catull (34, 17), daß er „den Jahresverlauf durch die Monate gliedert und so dem Landmann die Scheuer füllt‘? Es kann doch kein Zufall sein, daß Luna auch bei Horaz (carm. 4, 6, 38f.) und Varro (de ©, to 1,1, 5) unter den Gottheiten des Landbaues erscheint.

Nun gilt das Hauptfest der Arvalen, der Flurumgang, der Mondgöttin, der Göttin, die der Erde Fruchtbarkeit spendet und durch ihren monat- lichen Umlauf das Jahr gliedert. Diese Erkenntnis ist aber wieder eine Stütze der vorher erwähnten Behauptung, daß die Zwölf-Zahl der fratres Arvales der Monatszahl des Jahres entspricht. Die 12 Brüder entsprechen den natürlichen Gliederungen des Jahres, den zwölf Monaten, deren Länge nach dem Umlauf des Mondes, der Göttin Dea Dia, gemessen wird.

Im Sinne dieser Erkenntnis können wir auch die Erklärung des Lu- strumaktes der Ambarvalia ergänzen. Die ambarvalis hostia wird nach den Quellen? von den Arvalbriidern um die Flur herumgeführt.* In dieser Prozession, die die Fruchtbarkeit des Ackerfeldes fiir das laufende Jahr sichert, haben wir die kultisch imitierte solare Umleuchtung erkannt, und wir bemerkten, daß sie höchstwahrscheinlich eine ähnliche Licht- prozession war wie das Amburbium. Es darf aber nicht außer acht ge- lassen werden, daß die Opfertiere in dem Fall der Ambarvalia von den 12 fraires Arvales geführt werden. Die 12 Brüder entsprechen den 12 Monaten des Jahres, und die Feier, die sie begehen, ist das Fest der Göttin Dea Dia, deren erste Hauptfunktion eben darin besteht, daß sie das Jahr in Monate gliedert. Die Prozession der Arvales ist also in diesem Sinne nicht nur eine kultisch imitierte solare Umleuchtung, son- dern gleichzeitig auch eine symbolische Darstellung des Jahresverlaufes.

ı Der Magister der Brüder trat, als er in Gegenwart der anderen Brüder das Fest ankündigte, unter freien Himmel: manibus lautis capite velato sub divo contra orientem (CIL 6, 32340). Vgl. auch Wissowa RuKdR? 562 A. 6.

2 Catull 34, 17 ff.: Tu cursu, dea, menstruo || metiens iter annuum || rustica agricolae bonis || bona frugibus exples. U. v. Wilamowitz-Möllendorf, Hellenist. Dichtg. 2, 289, bemerkt, daß diese Verse „ganz italisch gedacht seien. Vgl. auch Fr. Altheim, Terra Mater 131. Im Exkurs über Dea Dia wiederhole ich nur die Worte von Altheim.

s Vgl. Macrob. sat. III 5, 7; Varro de 1.1. V 86.

4 Seit der größeren Ausdehnung der römischen Feldmark war natürlich die Kulthandlung in dieser Form nicht mehr durchführbar. Man mußte sie aber symbolisch irgendwie doch zum Ausdruck gebracht haben. Vgl.auch G. Wissowa, RukdR? 561.

5 Fest. ep. p. 5: ambarvales hostise, quae pro arvis & duodecim (duobus Hss.) fratribus sacrificabantur. Jedenfalls geben die Handschriften duobus, aber die Korrektur von Augustinus in duodecim hat allgemeine Anerkennung gefunden. Vgl. auch G. Wissowa, RuKdR? 661 A 5.

150 Arpad Szabö

Die 12 Briider, die mit Opfertieren und Licht um die rémische Feld- mark herumgehen, symbolisieren den Umlauf der 12 Monate, genau so „wie bei der Feier im Jahre 17 v. Chr. das Sellisternium der 110 Ma- tronen die 110 Jahre des kommenden Säculums symbolisiert.!

In dem Lustrumakt der Ambarvalia wird nicht nur die Kreisbewegung der Sonne und die solare Beleuchtung kultisch nachgeahmt, sondern es wird auch die Zeitperiode, für die diese Kulthandlung gilt, durch den Umgang der zwölf Brüder symbolisch vorweggenommen. Diese Tatsache erklärt die Gültigkeitsdauer der periodischen Lustration. In dem perio- dischen Lustrumakt wird nicht nur die leuchtende Kreisbewegung des Himmelsgestirns in ihrem allgemeinen Verlauf kultisch nachgeahmt, sondern diese sakrale Handlung bildet gleichzeitig auch die symbolische Antizipation einer bestimmten kosmischen Zeitspanne. Diese symbolische Vorwegnahme der kosmischen Zeitspanne, d. h. in dem Fall der Ambar- valia, die symbolische Vorwegnahme des. Jahresverlaufes, findet einen klaren Ausdruck in dem Umgang der 12 fratres Arvales. |

Wir müssen aber nach diesem Beispiel annehmen, daß nach der re- ligiösen Empfindung der Römer auch die anderen jährlich abgehaltenen Lustrumakte nicht einfach die kultischen Nachahmungen der leuchtenden - Sonnenbewegung waren, sondern daß sie gleichzeitig auch den kosmischen Verlauf des Jahres symbolisch antizipiert haben. Wir können zwar diese symbolische Antizipation nicht in jedem einzelnen Fall mit derselben Klarheit nachweisen, wie es bei dem Fest der Ambarvalia gelungen ist, aber nur mit dieser Annahme können wir die genau festgelegte Jahres- gültigkeit der einzelnen periodischen Lustrumakte erklären. Jedes Lu- strum, das in bestimmten Zeitperioden vollzogen wurde, muß die kul- tisch-symbolische Darstellung der Sonnenbewegung der betreffenden Zeitperiode gewesen sein. Diese Erkenntnis von dem Wesen des Lustrum führt uns um einen Schritt weiter in unseren Betrachtungen.

VI.

. Das Lustrum ist im Sinne der vorangestellten Untersuchung nicht eine „kultische Reinigung“ in dem einfachen Sinne, wie es die ältere Forschung aufgefaßt hat?, sondern eine hochentwickelte kultisch-sym- bolische Darstellung des kosmischen Zeitverlaufes.? Auffallend ist jeden- falls die Zweckmäßigkeit, mit der diese symbolische Dramatisierung des

1 Fr. Altheim, Neue Jahrb. 1932, 142.

2 Vgl. G. Wissowa, RuKdR? 390 und die dort angeführte Literatur.

3 Die hier vertretene Auffassung von dem Sinn des Lustrums scheint mir mit der andeutungsweise ausgesprochenen Erklärung von C. Koch (Gestirnver- ehrung im alten Italien 26) identisch zu sein. Meine Absicht war, eben die Richtigkeit seiner Auffassung auf dem Wege der Interpretation nachzuweisen.

Lustrum und Circus 151

kosmischen Geschehens in dem römischen Kult ausgeübt wird. Die kul- tische Darstellung ist nicht einfach der symbolische Ausdruck des Zu- sammenpulsierens der ergriffenen menschlichen Gemeinschaft mit dem Kosmos, sondern gleichzeitig auch eine zweckmäßige Handlung. Das Fest der Ambarvalia soll z. B. nach der Aussage der Alten die Fruchtbarkeit des Ackerfeldes sichern. Die kultische Darstellung wird nicht einfach als die symbolische Nachahmung des kosmischen Geschehens aufgefaßt, sondern als ein „magisches Vorbild“, das den kosmischen Veran! selbst beeinflussen soll.

Wir wollen jedoch die letzten Konsequenzen dieser Erklärung in bezug auf das religiöse Denken der Römer in dieser Arbeit nicht aus- führlicher behandeln, sondern wir kehren zu dem Ausgang unserer Be- trachtungen, dem quinquennalen Lustrum der römischen Bürgerschaft, zurück.

Die Lustration der Ambarvalia sichert nach römischer Auffassung die Fruchtbarkeit des Jahres. Daß dieses Fest eine klare Beziehung zu dem Jahresverlauf hatte, wurde nach unserer Auffassung durch den Um- gang der 12 fratres Arvales ausgedrückt; die zwölf Brüder vertraten die zwölf Monate des Jahres. Ebenso vertreten aber auch die 110 Matronen an dem Sellisternium der Säkularfeier die 110 Jahre des kommenden Säkulums. Und tatsächlich ist der Sinn der Säkularfeier, mindestens der Säkularfeier der augusteischen Zeit!, daß sie das Glück des kommenden Säkulums sichert. Es sei nur nebenbei erwähnt, daß wir es auch in dem Fall der Säkularfeiern mit einer Lustration zu tun haben.

Ebenso sichert auch das Lustrum der römischen Bürgerschaft in jedem fünften Jahr das Glück dér folgenden Periode. Ein richtig voll- zogener Lustrumakt ist die Gewähr dafür, daß die nächste Periode glücklich wird.” Auch der technische Ausdruck lustrum condere heißt eigentlich: eine Lustrum-Periode durch die Ausführung der sakralen Handlung gründen.? Diese Gründung der Periode durch die sakrale Hand- lung kann man sich kaum anders vorstellen als in der Form einer ähn- lichen symbolischen Handlung, wie die Lustration der Ambarvalia war. Die leuchtende Sonnenbewegung der folgenden Periode, d. h. den kos- mischen Verlauf des nächsten Quinquennium, muß man in dem Lustrum- akt der römischen Bürgerschaft vorweggenommen haben. Die Parallelität zu dem Fest der Ambarvalia muß gleich ins Auge fallen. Wie man den

ı Es wäre wünschenswert, wiederholt die Frage zu stellen, was der Sinn

der älteren Säkularfeiern war. Mit der alten Erklärung (G. Wissowa, RuKdR? 481) wird man sich nach der neuen Definition des Lustrumbegriffes kaum be- gnügen.

2 Über das lustrum felix und lustrum infelix vgl. die zusammengestellten Zeugnisse bei O. Leuze, Zur Gesch. der röm. Zensur 67 f.

3 O. Leuze a. a. O. 77 ff.

152 Árpád Szabó

Flurumgang in dem Monat Mai vollzieht, wo das Ackerfeld in voller Blüte steht, so wurde das Lustrum der Bürgerschaft nach dem Abschluß des Census vollzogen, als einmal die ganze Bürgerschaft in der neuen mustergültigen Ordnung auf dem Marsfeld aufgestellt werden konnte. In beiden Fällen ist der augenblickliche, mustergültige Zustand des lu- strierten Objektes für die Wahl des Zeitpunktes der Lustration aus- schlaggebend. Diesen mustergültigen und glückverheißenden Zustand möchte man in beiden Fällen durch die kultisch-symbolische Darstellung ‘des kosmischen Zeitverlaufes für diejenige Periode sichern, die durch die Kulthandlung symbolisch antizipiert wird. Und wie das Amt der Ar- valenbrüderschaft mit einem Jahr befristet ist, so ist die Censur ein quin- quennaler Magistrat.

Im Sinne dieses Gedankenganges muß das quinquennium ebenso eine kosmische Zeitspanne gewesen sein wie das Jahr. Wie der Umlauf des Jahres durch die Kreisläufe der Himmelskörper Sonne und Mond ge- regelt ist, so muß auch das quinquennium eine kosmische Zeiteinheit sein, die nach den größeren Kreisläufen derselben Himmelskörper ge- regelt ist.

Dieses Postulat bildete aber eben den Ausgang unserer Betrachtung. Wir haben in dem römischen quinquennium die altitalische, halbierte Form des großen Mondsonnenjahres der alten Enneateris erkannt. Die Tatsache, daß die Römer eben diese Zeitspanne, die auch für andere periodische Kultveranstaltungen üblich war, auch als Lustrumperiode verwendet haben, zeigt, daß sie diese Periode als eine natürliche kos- mische Zeiteinheit empfunden haben müssen.

Natürlich sind die Römer nicht auf Grund einer astronomischen Rechnung zu dieser Zeiteinheit gekommen. Dann hätten sie nämlich zu- erst die Enneateris entdecken müssen, die sie dann später halbiert hätten. Das war aber nicht der Fall. Die Enneateris als kosmische Zeitperiode war nur in dem östlichen Mittelmeerbecken bekannt. Und auch dort wurde sie frühzeitig halbiert, damit man das periodische Fest öfters be- gehen kann. Durch diese Halbierung ist die Penteteris entstanden, die dann für periodische Veranstaltungen angewendet werden konnte, ohne daß man sich in jedem einzelnen Fall Rechenschaft gegeben hätte, warum diese Periode als heilig gilt. So müssen auch die Römer die halbierte Form der Enneateris übernommen haben. Sie waren sich nicht mehr darüber klar, warum das quinquennium als heilige Periode gilt; das zeigt auch die Tatsache, daß sie durch die Verdoppelung dieser Zeitspanne das decennium erhalten. Es sei nur nebenbei erwähnt, daß auch die grie- chischen Theoretiker den wahren Grund der enneaterischen und pent- eterischen Rechnung erst viel später erkennen." Die Römer wußten

1 Vgl. Nilsson a. a. O.

Lustrom und Circus 153

nur, daß in jedem fünften Jahr ein neuer Kreislauf der Zeit beginnt, ein ähnlicher, natürlicher Kreislauf wie das Jahr und wie das Säkulum. Diesen neuen Kreislauf der Welt haben sie durch die kultisch-symbo- lischen Handlungen des Censuslustrum, die wir leider nur sehr lücken- haft kennen, vorbereitet.

VI.

Das quinquennale Lustrum der römischen Bürgerschaft ist also im Sinne der vorherigen Untersuchung eine symbolische Handlung.! Der Lustrumakt selbst ist die kultisch imitierte solare Umleuchtung der Bürgerschaft, um für diese das Wohlergehen für die nächste kosmische Periode zu sichern. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, daß diese sym- bolische Darstellung des kosmischen Geschehens eine alleinstehende Einzelerscheinung in dem römischen Kult ist. Dieselbe Symbolik er- kennen wir auch in anderen kultischen Begehungen der Römer.

Es ist eine auffallende Tatsache, daß von den meisten Lustra- tionen überliefert wird, sie seien mit Spielen (Judi) verbunden gewesen. Quinquatrus und Armilustriwm sind von dem ludus Troiae untrennbar? Varro möchte sogar das Wort armilustrium von „armis ludere“ ableiten (de 1.1. VI 22) zum Zeichen dafür, daß mit dem Begriff dieser Art Lustration das Spiel eng verwachsen war. Ebenso sind auch die anderen jährlichen Lustrationen im Frühling und im Herbst mit Spielen ver- bunden. An dieser Stelle sei nur an die Equirria (27. Febr. und 14. März) und an das Fest des Oktoberrosses am 15. Okt. erinnert. Beidemal haben wir es mit einer Art von Spielen zu tun, die mit Lustrationsgebräuchen verbunden sind.?

Dieselbe Verbundenheit der Lustration mit dem Spiel können wir auch in dem Fall des Arvalfestes beobachten. Am zweiten Tage des Maifestes der Arvalen, das auf das ältere Fest der Ambarvalia zurück- geht, begeben sich die Brüder in den Circus, wo der Magister in ele- ganter Festtracht mit Purpurmäntelchen, Sandalen und Rosenkranz unter Vortritt des Kalator über den Carceres Platz nimmt und den quadrigae und desuliores (im J.219 auch bigae) das Zeichen zum Beginn der Spiele gibt. Am Schlusse überreicht derselbe Magister den Siegern die Preise.°

Nur vollständigkeitshalber seien noch die ludi saeculares erwähnt. Auch von der Säkularfeier, die nach der Erkenntnis der älteren For- schung eine Lustration ist®, sind die Säkularspiele untrennbar.

ı Damit soll natürlich die praktische Bedeutung des Lustrumaktes in dem römischen Staatsleben nicht bezweifelt werden. Wir wollten nur neben der prak- tischen Seite auf den sakralen Sinn der Institution hinweisen.

2 Vgl. Wissowa, RuKdR? 450. 3 Vgl. G. Wissowa, RuKdR? 144 f.

« G. Wissowa a. a. O. 451, Henzen, Acta Fratr. Arv. 10 ff., 36 f.

5 G. Wissowa, RE II 1475 ff. ° G. Wissowa, RuKdR? 430.

154 Arpad Szabö

Nun scheint aber auf den ersten Anblick das quinquennale Lustrum der rémischen Biirgerschaft in dieser Beziehung eine Ausnahme zu bilden. Jene kurzen Bemerkungen der Alten, denen wir unsere Kenntnis von dem Censuslustrum verdanken, erwähnen keine Spiele, die man aus dem Anlaß der allgemeinen Lustration der Bürgerschaft veranstaltet hätte! Und doch können wir auch in diesem Fall wenigstens auf eine Parallele hinweisen, die den inneren Zusammenhang des Lustrum mit Spielveranstaltungen bezeugt.

Im Laufe der Untersuchung haben wir schon die außerordentlichen quinquennalen Votivspiele erwähnt. Diese Circusspiele ludi magni, wie sie bei Livius heißen® werden als außerordentliches Gelübde für das nächste fünfte Jahr versprochen, wenn der Staat in demselben Zustande unversehrt erhalten bleibt. Diese außerordentlichen Circusspiele sollen also genau so das Wohlergehen des Staates für ein Quinquennium sichern wie der regelmäßige quinquennale Lustrumakt. Es muß also unter den beiden Erscheinungen, Lustrum und quinquennalem Circus- spiel, irgendeine Verwandtschaft bestehen. Nur so ist es verständlich, daß in außerordentlichen Fällen das Circusspiel mit demselben Zweck veranstaltet wird, wie das regelmäßige Lustrum der Bürgerschaft in jedem fünften Jahr. Damit ist für uns die Frage gestellt, was überhaupt der Sinn der Circusspiele ist.

Die Spiele im Circus Maximus, die ludi magni, oder wie sie später als jährliche Veranstaltungen heißen, ludi Romani, sollen nach der heute allgemein geltenden Ansicht auf zirzensische Spiele zurückgehen, die aus Anlaß von Triumphen abgehalten zu werden pflegten.? Diesen gene- tischen Zusammenhang des Circusspieles mit dem Triumph hat Mommsen

1 An dieser Stelle sei jedenfalls auf die Bemerkung von Suetonius (Aug. 97):

cum... lustrum conderet... vota, quae in proximum lustrum suscipi mos est, collegam suum Tiberium nuncupare iussit, hingewiesen. Nach jedem Lustrumakt hat man also ein Votum für das nächste Lustrum angekündigt. Mommsen und Wissowa (a.a. O. 382) haben als selbstverständlich angenommen, daß man unter diesem Votum das Opfer der suovetaurilia zu verstehen habe. Diese Erklärung ist aber kaum wahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß das Opfer der in der Prozession herumgeführten Tiere einen wesentlichen Teil des Lustrumaktes selbst gebildet hat. Es wire nicht ausgeschlossen, daB dieses Votum die Circus- spiele bedeutet, die man nach dem Lustrumakt regelmäßig veranstaltet hätte. Auf diese bloße Kombinationsmöglichkeit möchten wir jedoch keinen beson- deren Wert legen.

2 Liv. 22, 10; 27, 33; 30, 2; 30, 27; 31, 9; 42, 28 etc. Die ludi magni sind bekanntlich in der späteren Zeit jährlich geworden, und dann hießen sie ludi Romani, vgl. G. Wissowa a. a. O. 463.

3 Th. Mommsen, RF 2, 45 ff; G. Wissowa, RuKdR? 452; F. Noack, Triumph und Triumphbogen (Vorträge d. Bibl. Warburg 1925/26) 157f.; C. Koch, Gestirn- verehrung 48f.

Lustrum und Circus 155

vor allem daraus erschlossen, daß der spielleitende Magistrat auch noch in der späteren Zeit die Triumphaltracht zu tragen pflegte. Eine andere Bestätigung für die Richtigkeit dieses Schlusses fand man darin, daß die Verehrung des Iuppiter O. M. sowohl bei dem Triumph wie auch bei den ludi magni im Mittelpunkt der Veranstaltungen stand. Man müßte also im Sinne dieser Auffassung auch den Sinn der Circusspiele auf dem Wege einer allgemeinen Interpretation des Triumphes selbst suchen. Das Circusspiel war ja nach Mommsen und Wissowa ursprüng- lich nur eine Ergänzung des Triumphaufzuges.

Die Tatsache aber, daß sich das Circusspiel in der späteren Zeit von dem Triumph überhaupt lösen konnte, und daß man Circusspiele als : Votum auch ohne Triumph versprochen hat, zeigt, daß diese Veranstaltung auch in sich von Anfang an einen selbständigen Sinn haben mußte. Wir können also die Frage nach dem Sinn des Circusspieles selbst stellen, ohne daß wir auf den Triumph eingehen müßten.!

Vor allem möchten wir darauf hinweisen, daß die zirzensischen Spiele, und darunter eben die ludi magni, durchaus sakralen Charakters sind.? Den sakralen Charakter dieser Spiele zeigt auch die Tatsache, daß eine zufällige Störung oder der geringste Verstoß gegen das Ritual (ludi in- termissi, minus diligenter facti pollutique) die ganze Feier oder einen Teil davon ungültig machte und eine Erneuerung (instauratio) verlangte.? Das Circusspiel ist viel mehr als eine „für die gesamte Bürgerschaft be- stimmte Lustbarkeit‘; es bildet einen Teil des römischen Gottesdienstes. Die Frage ist also für uns: was ist das Wesen dieses eigenartigen Gottes- dienstes ? | |

Zweifellos war von Anfang an ein wesentlicher Teil des römischen Circusspieles das Pferderennen. In dem ältesten Circus, den die Römer von den Etruskern übernommen hatten, wurden nach Livius (1, 35, 9) eben Pferderennen und Faustkämpfe gehalten. Auch die Grie- chen übersetzten das Wort circus mit „Rennbahn“ (inmödoouos) zum Zei- chen dafür, daß der wesentlichste Teil der zirzensischen Spiele eben das Pferderennen war.

Nun heißt aber das lateinische Wort circus eigentlich „Kreis“, „Um- gang“.* Die Rennbahn ist also ein Kreis, wie Varro sagt, ein Kreisweg,

ı Es ist natürlich ein Problem für sich: was ist der Sion des Circusspieles im Rahmen des Triumphes? Auf dieses Problem könnte man aber nur an Hand einer phänomenologischen Interpretation des Triumphes eingehen,

2 Facti religionis causa; honoris deum immortalium causa; vgl. Liv. 6, 42, 12; 39, 22, 1; ludi circenses coetus quodam modo hominum deorumque. Die obige Feststellung gilt trotz Wissowas Einschränkungen (RuKdR? 451ff.).

3 Vgl. Liv. 2, 86; vgl. Habel, RE Supplbd. V 611 f.

4 Nonius p. 20: circus dicitur omnis ambitus vel gyrus cuius deminutivum est circulus,

156 - Arpad Szabó

auf dem nicht nur die Pferde rennen, sondern vorher auch die feierliche Prozession, die pompa circensis, um die metae herumgeführt wird.! Die pompa circensis ist nicht nur einfach ein Festzug der Götterinsignien vom Kapitol herunter bis zu dem Circus”, sondern derselbe Festzug geht weiter als Rundprozession in dem Circus selbst um die metae her- um. Auf diese Weise gewinnt die runde Rennbahn des Circus durch die vorangehende feierliche Prozession der Götterinsignien eine sakrale Be- deutung. Der Kreisweg, auf dem die Pferde rennen, ist durch die feier- liche Rundprozession der Götterinsignien geheiligt worden. Das Rennen der Pferde in dem Circus ist eigentlich die Wiederholung einer sakralen Rundprozession, nämlich der Rundprozession der pompa circensis.

Wir haben vorher in einer anderen sakralen Rundprozession, in dem Lustrumakt, die kultische Nachahmung der Sonnenbewegung erkannt. Genau so war auch die sogenannte circwmactio die Nachahmung der Sonnenbewegung. Nun können wir jetzt dieselbe Symbolik auch in dem zirzensischen Umlauf erkennen. Das Pferderennen im Circus ist die sym- bolische Darstellung des kosmischen Umlaufes.

Es ist ja kein Zufall, daß der römische Circus eben der Sonne und dem Mond heilig ist. Nach Tertullian (de spect. 8) ist der Circus vor allem der Sonne gewidmet, und wir haben tatsächlich mehrere Zeug- nisse, die Kultstätten und Kultgebräuche des Sonnen- und Monddienstes in dem römischen Zirkus belegen.? Der Gott Sol besaß die Patronschaft über die Viergespanne des Circus, und die Göttin Luna die über die Zweigespanne.*

Wissowa wollte in dieser Beziehung der Sonne und des Mondes zu den Zirkusgespannen einen nachträglichen Zug erkennen. Da man sich in Rom seit dem zweiten punischen Kriege die Gottheiten Sonne und Mond nach der typisch griechischen Darstellungsweise mit Vier- bzw. Zwei- gespannen vorgestellt hatte, sollen diese Gottheiten auf Grund der rein äußerlichen Übereinstimmung ihrer Darstellungsweise mit den zirzen- sischen Viergespannen und Zweigespannen in den Circus gekommen sein, und so sollen sie beide mit der Zeit auch die Schirmherrschaft des Cir- cus übernommen haben.

Diese Auffassung ist seitdem an einer Reihe von Beobachtungen gescheitert. Darstellungen auf etruskischen Bronzespiegeln aus dem 4.

1 Varro de l. l. V 153 circus Mecinus (Maximus) dictus, quod circum spec- taculis aedificatus ubi ludi fiunt, et quod ibi circum metas fertur pompa et equi currunt.

2 Vgl. G. Wissowa a. a. O. 127, 452.

3 Vgl. diese Zeugnisse zusammengestellt bei C. Koch a. a. O. 41. .

4 Tertullian de spect. 9; Cassiodor var. IM 51; Anthol. Lat. 197, 17.

5 G. Wissowa, RuKdR? 315 f.

Lustrum und Circus 157

und 5. Jahrh. v. Chr. lassen uns eindeutig erkennen, daß man schon da- mals, also lange vor der Zeit, in der die typisch griechische Darstellungs- weise der Sonne und des Mondes in Italien aufgekommen war, die zirzensischen Veranstaltungen eben mit diesen Gottheiten in Zusammen- hang brachte.!

Wir können auf Grund dieser Tatsachen annehmen, daß der Circus schon bei den Etruskern die Verehrungsstätte der Sonne war. Die runde Rennbahn, die gleichzeitig auch die Verehrungsstätte der Sonne ist, kann aber doch nichts anderes sein als die kultische Darstellung der Sonnenlaufbahn. Es kann ja doch kein Zufall sein, daß auch in der dich- terischen Beschreibung des Sonnenlaufes die Ausdrücke des Circus so oft wiederkehren.?

Diese Erklärung von der Symbolik des zirzensischen Geschehens, die wir in dieser Arbeit allein auf das Pferderennen im Circus beschränken möchten?, erklärt die Verbundenheit des Circusspieles mit dem Lustrum. Wenn der Magister der Arvalen am zweiten Tage des Maifestes in feier- licher Festtracht in den Circus geht und dort den quadrigae und desul- tores das Zeichen zum Beginn der Spiele gibt‘, so ist dieses Circusspiel ebenso eine symbolische Darstellung des Jahresverlaufes durch die Nach- ahmung der Sonnen- und Mondkreisläufe wie die feierliche Licht- prozession der 12 Brüder am Feste der Ambarvalia um die römische Feldmark herum.

Genau so müssen wir auch die außerordentlichen quinquennalen Votivspiele im Circus verstehen. Durch diese Spiele wird der kosmische Verlauf einer bestimmten Zeitspanne, des Quinquennium, in besonders feierlicher Form ebenso symbolisch dargestellt, wie das gewöhnliche quinquennale Lustrum die Sonnenbewegung der folgenden kosmischen Zeitperiode symbolisch vorwegnimmt.

Es sei hier noch darauf hingewiesen, daß auch die Römer selbst sich immer dieser Symbolik der Circusspiele bewußt waren. Sie bezogen die zirzensischen Spiele auf kosmische Ereignisse, und den Circus selbst be- trachteten sie als Weltbild. Nicht nur das Viergespann und Zweigespann

1 Vgl. dia Ausführungen von C. Koch a. a. O. 43 f. |

2 Ad metam eandem solis (Liv.), sol ex aequo meta distabat utraque (Ov.), nox mediam caeli metam contigerat (Verg.) etc.

3 Eine andere höchst interessante Symbolik steckt auch hinter den Faust- kämpfen im Circus. Auf dieses Problem möchten wir aber an dieser Stelle nicht eingehen.

4 G. Wissowa, RE II 1475 ff

5 Isidorus XVIII 29, 2: Fingunt autem Circensia Romani ad causas mundi referre, ut sub hac specie superstitiones vanitatum suarum excusent. Derselbe ebd. 30: Metarum quippe appellatione proprie terminum ac finem mundi de-

signare volunt, ab eo quod aliqui emensus finis est, sive ad testimonium orientis occidentisque solis.

158 Arpad Szabó

soll das Abbild der Sonne und des Mondes sein, sondern auch die zwei bzw. vier Farben der aurigae sollen den einzelnen Jahreszeiten ent- sprechen.! Diese symbolische Auslegung der Circusspiele wollte man früher für eine lächerliche Erfindung der spätantiken ,,Allegorienjiger‘ halten.” Es ist zwar wirklich nicht ausgeschlossen, daß sich diese Sym- bolik erst in der Kaiserzeit vollständig entwickelt hat, aber ihren Ur- sprung müssen wir doch viel höher datieren. Die Tatsache, daß auf einem etruskischen Spiegel des 5. vorchristlichen Jahrhunderts? eben der Sonnengott usil dem Sieger in irgendeinem athletischen Agone den Kranz überreicht, zeigt, daß schon damals die Circusspiele Sonnendienst waren.?

Es ist ein ganz anderes religionswissenschaftliches Problem, wie das Circusspiel, die symbolische Dramatisierung des kosmischen Geschehens und vor allem eben des Sonnenlaufes, mit dem Kult des Iuppiter O. M. und dadurch auch mit dem Triumph verbunden worden ist. Zu der Lö- ` sung dieses Problems wird man in der Zukunft auf dem Wege einer doppelten Interpretation gelangen. Es muß sowohl die altitalische Götter- gestalt Juppiter wie auch die Institution des Triumphes zum Gegenstand einer phänomenologisch-historischen Untersuchung gemacht werden.

VII.

Am Anfang unserer Betrachtungen haben wir die Vermutung auf- gestellt, daß das römische guinguennium die altitalische halbierte Form des groen Mondsonnenjahres, der Enneateris, gewesen sei. Diese kos- mische Zeitperiode soll man in dem alten Italien als fertiges Kulturgut übernommen haben. Diese Theorie von der kosmischen Zeitperiode wurde für uns bestätigt durch die Interpretation des Lustrumaktes und des quinquennalen Circusspieles. Schon allein die Tatsache, daß die Symbolik des Lustrum und des Circus mit dem quinquennium in Zusammenhang

1 Tertullian de spect. 9. quadrigas soli, bigas lunae sanxerunt... aurigas coloribus idololatriae vestierunt. Namque initio duo soli fuerunt, albus et rus- seus. Albus hiemi ob nives candidas, russeus aestati ob solis ruborem voti erant etc. vgl. Cassiodorus var. III 51, 4 squ.: Colores autem in vicem temporum quarifaria divisione funduntur; prasinus virenti verno, venetus nubilae hiemi, roseus aestati flammeae, albus pruinoso autumno dicatus. Sic factum, ut na- turae ministeria spectaculorum composita imaginatione luderentur. Biga quasi lunae, quadriga solis imitatione reperta est. |

2 Vgl. Pollack, RE VI 1954 ff. s. v. Factiones. Vgl. aber dagegen auch die kurze Andeutung von C. Koch a. a. O. 55 A. 2. („es läßt sich an Hand. eindeu- tiger Indizien nachweisen, daß diese Auslegung der genannten Vorgänge bereits in der Republik vorhanden war'').

3 Vgl. E. Gerhard, Etr. Spiegel, CCCLXIV: G. Körte, Röm. Mitt. 20 (1905) 870.

4 C. Koch a. a. O. 48.

Lustrum und Circus 159

gebracht werden konnte, würde uns zu dem Schluß auffordern, daß diese Symbolik genau so ein fertig übernommenes altitalisches Kulturgut ist wie das quinquennium selbst.

Nun scheint es aber tatsächlich, daß „die Römer bei Anlage ihrer Rennbahnen die Griechen, wahrscheinlich durch die Vermittlung der Etrusker (vgl. Liv. 1, 35 und Tac. 14, 21) zum Muster gewählt haben“.? Der Circus ist höchstwahrscheinlich die etruskisch-italische Form des griechischen inmödgowos. Die Etrusker sollen aber in diesem Fall nicht nur die Anlage des Circus von den Griechen übernommen haben, son- dern auch die kultische Veranstaltung des Pferderennens. Das Pferde- rennen kommt als kultische Veranstaltung bei den Griechen tatsächlich an den sogenannten Nationalfesten, in den olympischen und pythischen Spielen vor. Überraschend ist aber, daß dieses kultische Pferderennen auch bei den Griechen in einem merkwürdigen Zusammenhang mit der- selben kosmischen Zeitrechnung steht. Die olympischen und pythischen Spiele werden in jedem fünften Jahr veranstaltet. Die Vorgeschichte des italischen Circus führt uns also genau so in das östliche Mittelmeerbecken wie das quinquennium. Die beiden Erscheinungen bilden wirklich eine untrennbare organische Einheit. Aber nicht nur die äußere Geschichte des Circus führt uns zu den Griechen, sondern auch die Symbolik des zirzensischen Geschehens. Wir wissen ja, daß man auf der Insel Rhodos zu Ehren des Gottes Helios penteterische Spiele und darunter auch Wagenrennen veranstaltet hat.” Wir können im Rahmen dieser Arbeit auf die nähere Behandlung der griechischen Penteteriden und vor allem auf die Frage, wie weit diese kultischen Spiele als echt griechische Schöpfungen anzusehen sind, nicht eingehen. Soviel sei nur gesagt, daß diese Symbolik des kultischen Spieles, die wir in dem Fall des römischen Circus näher kennengelernt haben, möglicherweise ebenso ein vorgrie- chisches, altmediterranes Kulturgut ist wie das große Mondsonnenjahr, die Enneateris, selbst.

Nachsatz. Einen Kardinalpunkt meiner Arbeit „Lustrum und Cir- cus“ bildet der Versuch nachzuweisen, daß das Lustrum eine Beleuch- tungsprozession war (vgl. Abschn. IV). Mit diesem Versuch wollte ich dem berechtigten Wunsch von L. Deubner (ARW 33, 112) Folge leisten. Die Sonne soll nach meiner Auffassung in der Rundprozession des Lustrumaktes durch brennende Fackeln oder durch das herum- getragene Feuer symbolisch dargestellt worden sein. Nun bin ich seit dem Abschluß dieser Arbeit darauf aufmerksam gemacht worden, daß sich diese Auffassung weder auf Grund einer ausführlichen Beschreibung

1 Pollack, RE III 2671. ? Vgl. den Artikel von Jessen, RE VIII, 1, 62 ff.

160 Arpad Szabó: Lustrum und Circus

einer Lustration bei Cato (de agr. 141) noch auf Grund der archäologi- schen Darstellungen rechtfertigen lasse. Es sollte an solchen unmittel- baren Zeugnissen fehlen, die den rituellen Gebrauch der Fackeln oder des Feuers im Lustrumakt beweisen könnten. Zur Widerlegung dieser Ansicht und zur Ergänzung meiner Auffassung möchte ich an folgendes erinnern.

Der technische Ausdruck für lustrare heißt im archaischen Latein neben circumagere auch circumferre. Vgl. Nonius p. 399 Lindsay: circum- ferre est proprie lustrare. Plautus bei Servius (Aen. 6, 229): pro larvato ie circumferam. Plautus Amphitruo 775: iube istam pro larvato circum- ferri. Das entsprechende umbrische Verbum afero, aferum, anferener ist überhaupt nur in der Bedeutung lustrare bekannt. Zu dem Lustrumakt gehörte also nicht nur das Herumführen der Opfertiere, sondern auch das Herumtragen gewisser Gegenstände. Wir kennen tatsächlich mehrere solcher Gegenstände, die bei einer Lustration um das zu lustrie- rende Objekt herumgetragen worden sind. Z. B. Verg. Aen. VI 229: ter socios pura circumtulit unda; Tibullus I 5, 11: circum lustravi sulphure puro u.a.m. Unter diesen Gegenständen werden mehrfach auch Feuer oder Fackeln erwähnt. Z. B. Tibullus I 2, 61: me lustravit taedis; Ovid Met. 7, 261: terque senem flamma, ter aqua, ter sulphure lustrat etc. Wie wichtig in der Lustration die Fackeln waren, zeigt auch der erst aus der späteren Zeit belegte Ausdruck: faces lustrales bei Claudian VI. Cons. Honor. 324f. Wir kennen sogar einen sehr aufschlußreichen an- tiken Deutungsversuch, der das Wort lustratio von dem Ausdruck taedam circumferre ableiten wollte: Serv. Aen. 6, 229 lustratio a circumlatione dicta est vel taedae vel sulphuris.

Nach solchen Zeugnissen glaube ich die Behauptung wiederholen zu dürfen, daß ursprünglich die genaue Bedeutung von lustrare war: „im Kreise herumpshend irgend jemanden oder irgend etwas mit Feuer oder Fackeln beleuchten“. |

Inhaltsübersicht

Die römischen Lustrumakte (lustrum aus *loucstrum, „Beleuchtung“ zu idg. *Vleuk, louk) waren ursprünglich mit Umgang und Lichtprozession ver- bundene, periodische (Kultisch - -symbolische und magische), meist mit Spielen verbundene Handlungen, die, wie auch die Circusspiele, in ihrer Periodizität als kultische Nachahmung der Sonnenbewegung und als symbolische Darstel- lung des kosmischen Umlaufs aufzufassen sind. Lustrumakt, Circusspiel und kosmische Zeitperiode sind (teilweise über die Etrusker) aus Griechenland über- nommen, wo sie allem Anschein nach altmediterranes Kulturgut waren.

Gawril Kazarow: Ein neues thrako-mithrisches Relief 161

EIN NEUES THRAKO-MITHRISCHES RELIEF VON GAWRIL KAZAROW IN SOFIA

MIT 1 ABB. AUF TAF.I

In der Ephem. Dacoromana VII (1937) 189f. hat D. Tudor die bis jetzt bekannten Denkmäler der sog. ,,thrako-mithrischen“ oder „danu- bischen“ Reiter gesammelt und ausführlich besprochen; einige neu auf- getauchte Stücke hat derselbe Gelehrte in Ephem. Dacor. VIII (1938) 445 nachgetragen. Hier möchte ich noch ein Stück bekannt machen, das im Jahre 1936 in Béla-Cerkova (Bez. Veliko-Tirnovo) bei Erdarbeiten auf dem Platz hinter der öffentlichen Lesehalle in einer Tiefe von 30 bis 40 cm gefunden worden ist, und zwar in der Nähe einer mit kleinen Bruchsteinen gepflasterten Straße; etwa 300 m entfernt von dieser Stelle stieß man auf ein aus großen Ziegeln hergestelltes Bauwerk, das nicht näher erforscht worden ist (nach Mitteilung von Herrn Al. Joakimov in Bela-Cerkova). Aus Béla-Cerkova stammt noch ein Relief desselben Charakters, das öfters veröffentlicht worden ist, zuletzt von Tudor a. a. O. VII 315 nr. 43.

Medaillon aus Marmor; Durchm. 9 cm, dick 7 mm, links ein Stück abgebrochen, Rückseite glatt (Abb. 1 Taf. I). |

Das Relief ist in zwei Felder geteilt; im Hauptfeld: zwei schreitende Reiter in antithetischer Stellung; der Reiter zur Rechten, anscheinend bärtig und mit phrygischer Mütze, bekleidet mit kurzem Chiton und Chlamys, die auf den Hinterteil des Pferdes herabfällt; in der ein wenig vorgestreckten Linken’ hält er den (nicht angedeuteten) Zügel. Unter dem gesattelten Pferde liegt ausgestreckt eine grob angedeutete mensch- liche Gestalt mit dem Kopf nach links; oberhalb des Pferdekopfes sche- matisch ausgeführte Büste (wohl Luna). Der Reiter zur Linken ist mit Ausnahme der rechten Fußspitze weggebrochen; von seinem Pferde ist erhalten das r. Vorderbein, teilweise das Hinterbein und die Spitze des Schweifes: unter ihm liegt auf dem Rücken eine menschliche Gestalt mit rechtwinklig geknickten Beinen und nach oben ausgestreckter Linken; auf sie hat sich ein Löwe von links geworfen, von dem nur Kopf und rechtes Vorderbein sichtbar sind. Der fehlende Teil des Reiters ist nach Analogie des anderen leicht zu ergänzen; ebenso die entsprechende Büste des Sol. Zwischen den Reitern steht, wie gewöhnlich, eine weib- liche Gestalt in Vorderansicht, Oberkörper abgebrochen, bekleidet mit langem, gegürtetem Chiton, vor ihr ein dreibeiniger Tisch, auf dem ein Fisch nach rechts liegt.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 1 11

162 Ernst Wist

Im unteren Feld: links, ein Hahn nach links aufspringend, hinter ihm ein unbestimmbares Tier nach rechts, das aus einem Krater zu trinken scheint; oberhalb dieser Bilder zwei gegeneinander gestellte Schlangen.

Fiir die Deutung der dargestellten Bilder verweise ich auf die oben an- geführte Abhandlung Tudors. (Vgl. Fr. Cumont, Rev. arch. XII [1938] 67.)

DIE SEELENWAGUNG IN AGYPTEN UND GRIECHENLAND VON ERNST WUST IN MUNCHEN MIT 1 ABB. AUF TAF. I

Die ältesten Nachrichten über die Vorstellung der Seelenwägung bei den Ägyptern finden wir im Totenbuch. Der Text des uns hier allein angehenden 125. Kapitels weist in den auf uns gekommenen Papyri große Verschiedenheiten auf; doch berührt keine davon das Wesentliche der Einzelheiten, die im folgenden aus dem „reichsten, vollständigsten, am besten erhaltenen und am besten illustrierten“ Exemplar, dem Pa- pyrus von Ani aus der 2. Hälfte der 18. Dynastie (also zwischen 1500 und 1400), geschöpft sind (Ausgabe von Budge, London 1895). Der Tote erscheint demnach im Saal der zwei Maat, d. i. der Wahrheit und der Gerechtigkeit, vor dem Totenrichter Osiris. In der Mitte des Saales steht, auf einem Träger befestigt, eine Waage, deren Zunge der schakal- köpfige Gott Anubis prüft. Daneben steht Thoth, der Gott mit dem Ibiskopf, der das Ergebnis der Wägung aufzeichnet; er ist also der Ge- richtsschreiber; ferner das Monstrum Ammet, d. i. der Totenfresser; auch andere allegorische Figuren finden sich wohl, wie die Verkörpe- rungen von Glück und Unglück, von der Ewigkeit. Vor allem aber wohnen der Wägung 42 Götter bei, Beisitzer des Osiris und Vertreter der 42 Gaue Ägyptens. Wenn der Tote in den Saal getreten ist, be- grüßt er den Osiris mit einem Hymnus, in dem er u. a. sagt: „Ich komme zu Dir, Du mein Herr; ich nahe mich Dir, um Deine Schönheit zu sehen. Ich habe kennen gelernt Deinen Namen; ich kenne die Namen Deiner 42 Götter, die bei Dir sind in der Halle der doppelten Wahrheit, die da leben in Beaufsichtigung der Bösen, die da essen von deren Blut an jenem Tag des Prüfens der Worte vor den guten, gerechtfertigten We- sen.“ Diesem Hymnus folgt dann die sogenannte negative Konfession. Der Tote wendet sich an jeden der 42 Beisitzer; das Schema dieser An- reden ist leicht erkenntlich; sie beginnen: „Heil Dir, dessen Schritte weit sind, der Du von Anu (d.i. griechisch Heliopolis) ausgehst, ich habe keine Ungerechtigkeit begangen. Heil Dir, der seine eigene Stärke bringt, der Du kommst von Awkert, ich habe nicht gespottet über den

Die Seelenwagung in Agypten und Griechenland 163

Gott, der in meiner Stadt ist.“ Dem „Heil Dir“ folgt also eine aretalogische Wendung, dann der Name des Kultortes (Gaues) des Gottes, zum Schluß versichert der Tote irgendeine Sünde nicht begangen zu haben. Das wiederholt sich 42 mal in dieser negativen Konfession. Von den Sünden, die der Tote nicht auf sich geladen zu haben behauptet, seien außer Mord und Totschlag genannt: Stehlen von Opfergaben, Betrug, Brach- liegenlassen eines Stückes Landes, Belauschen, Verführung einer ver- heirateten Frau, Masturbation, Brandstiftung, Trübung des Wassers (namentlich in der Aufzählung dieser Sünden variiert die Überlieferung). Diese Konfession wurde von jeher als ein Beweis dafür aufgefaßt, auf einer wie hohen Stufe der sittlichen Anschauung die Ägypter bereits 1500 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung standen und von welcher langen Reihe verwerflicher Taten und Gesinnungen der Mensch sich nach ihrem Glauben fernhalten mußte, wollte er sich Hoffnung machen, einmal in das Reich des Osiris aufgenommen zu werden. |

Der Bilderschmuck, der dem Text beigegeben ist, ergänzt diesen um wichtige Züge. Es zeigt sich da eine große Verschiedenheit sowohl in dem, was gewogen wird, was also als Symbol für die Taten des jetzt Toten angenommen wird, als auch in dem, was als Gegengewicht gilt. Meistens wird der Mensch vertreten durch eine herzförmige Urne, manch- mal steht auch der ganze Mensch auf der Waage. Auf der anderen Waagschale sehen wir sehr oft eine Straußenfeder, das ist das Symbol für die Wahrheit. Doch findet sich auch anderes, ja es können auch eine oder beide Schalen ganz leer bleiben. Ein Schema oder eine historische Entwicklung scheint in diesem Punkt nicht feststellbar zu sein. Be- achtenswert ist aber das eine, daß die beiden Waagschalen immer im Gleichgewicht schweben. Vom Herzen wird also erwartet, daß es der Feder, der Wahrheit, das Gleichgewicht hält, nicht sie überwiegt. Auch das ist schon immer so gedeutet worden, daß ein frommer Ägypter an- nehmen durfte, er sei imstande, den Anforderungen des Gesetzes zu ge- nügen, daß er sich beim jüngsten Gericht darauf berufen und hoffen dürfe, kraft des Gewichtes der guten Taten, die er in der Hülle des Körpers vollbracht, frei und selig gesprochen zu werden. Nach der Wä- gung und Feststellung des Urteils kehrt, wie uns der Text belehrt, das Herz in den Menschen zurück; mit diesem Augenblick beginnt, je nach- dem, das selige Leben des Toten oder das Gegenteil.

Der Zeit nach das zweite Volk, bei dem das Motiv der Seelenwägung auftritt, sind die Griechen. Und zwar geht hier neben einer vollständig geschlossenen, einheitlichen kunstgeschichtlichen Quellenreihe eine von dieser wesentlich verschiedene und auch in sich uneinheitliche litera- rische Überlieferung her. Die ältesten Vasenbilder sind sicher älter als die nach Homer nächstälteste literarische Quelle, Aischylos, also bestimmt

11*

164 Ernst Wiist

nicht durch diesen beeinflußt. Das erste, wohl älteste, Vasenbild bringt außerdem gleich die Gruppierung der Wägeszene, die frühzeitig Schema geworden zu sein scheint. Gesammelt haben die sämtlichen Psychostasie- Darstellungen auf Vasen: Studniczka (Arch. Jahrb. 1911, 132ff.) und Lung (Memnon. Diss. Bonn 1912). Seitdem hat sich die Zahl um zwei Bilder vermehrt (nr. 9 und die später zu erwähnende kyprisch -myke- nische Vase). Der Zweck, den diese Untersuchung verfolgt, macht eine kurze Beschreibung sämtlicher Bilder notwendig. Es wird dabei die (anfechtbare; s. Malten RE Suppl. IV 895ff.) Unterscheidung zwischen »noes (geflügelte kleine Todesdämonen) und sidoA« (Miniatur-Menschen) festgehalten und jeweils die am leichtesten erreichbare Abbildung an- geführt.

1. Dinos 235 des kunsthist. Mus. Wien (s. Abb.). Hermes wägt zwei «shoes. L. von ihm Zeus ; weiter nach l. Eos Memnon Wagenlenker; r. von Hermes Thetis Achill Wagenlenker. Es werden also vor dem Zweikampf zwischen Achill und Memnon deren Todeslose gewogen. Eine andere Deutung, etwa auf Achill— Hektor, ist nicht möglich. Man müßte .dann die Gestalt hinter Zeus als Hekabe bezeichnen; die sterbliche, alte He- kabe ist aber in diesem Kreis undenkbar.

2. Sf. Lekythos Brit. Mus. B 639 (Roscher II 1142 Abb. 1). Hermes wägt zwei xfjoes; r. und l. von ihm zwei kampfbereite Krieger (Achill und Memnon).

3. Rf. Stamnos Nat. Bibl. Paris; de Ridder II 385 (Roscher II 1143 Abb. 3). Hermes wägt die cidmia von zwei gewappneten Kriegern. L. von ihm steht Zeus mit dem Donnerkeil, r. von ihm eine Frau in großer Er- regung (nach Roscher III 3224 Achill—Hektor?).

4. Rf. Stamnos Boston (Studniczka S. 133 Abb. 55). Hermes wägt die eiöwA« zweier Krieger; r. und l. von ihm je eine Frau (wohl Thetis und Eos); also handelt es sich um den Zweikampf Achill— Memnon.

5. Rf. Schale, Louvre G 399 (Roscher III 3225 Abb. 13). Hermes wägt die eidoA« zweier Krieger. L. von ihm enteilt Eos mit den Flügeln der Morgenröte; r. geht Thetis weg. Auf der anderen Hälfte des Schalen- randes kämpfen Achill und Memnon. Hinter dem ersten steht eine Frau (wohl Athene) als eine Art Walkyre.

6. Vielfarb. Amphora Leiden (Roscher II 1142 Abb. 2). Oben sitzt Hermes und wägt auf einer vor ihm an einem Baum hängenden Waage zwei xfjoes. L. von ihm Thetis, r. (entsetzt) Eos. Unter ihnen ein kämp- fendes Paar; rechts sinkt, von einem Speer in den Schlund getroffen, Memnon in die Knie; von 1. dringt Achill mit dem Speer auf ihn ein.

7. Etrusk. Spiegel Bibl. Madrid (Roscher II 1143 Abb. 4). Hermes (Turms) wägt zwei bekleidete eidwA«: Achle und Efas (Eossohn). R. von ihm sitzt als Zuschauer Aplu (Apollo).

Die Seeleawagung in Ägypten und Griechenland 165

8. Etrusk. Bronzeciste Mus. Greg. Rom. (Mon. d. J. VI 54). Mircurios hält eine leere Waage; 1. von ihm steht u. a. Aciles, r. Jacor (als Memnon gedeutet, z. B. Roscher III 3224; RE XV 649).

9. Nolaner Amphora, Louvre (CVA Louvre III J c 49, 7.8). Hermes wägt die siwa von Achill und Memnon.

Neben diese Vasenbilder trete gleich das älteste literarische Zeug- nis, das einzige gültige, das wir aus dem Epos besitzen. Im 22. Buch der Ilias verfolgt Achill den Hektor dreimal um die Stadt Troia herum. Aber als sie zum viertenmal an die Quellen kamen,

(209) xal rote Ô) yovora nathe étitave téhavta, êv 0 Erideı Ovo age tavyleyéos Paveroro, thy uèv “Ayddijos, thv 6 “Extogos innxodcporo’ Eine Òè wéoon Außav" bene Ò “Extogos aicimov uag.

Darauf tritt Athene frohlockend drunten in der troischen Ebene zu Achill, feuert ihn wie eine Walkyre zum Kampf an, bringt den fliehenden Hektor durch eine grobe Täuschung dazu, daß er sich dem Achill stellt, und raubt-dem Troianer dadurch, daß sie ihn plötzlich verläßt, allen Mut.

An einer zweiten Stelle (Il. VIII 69 ff.) holt Zeus in ähnlicher Weise die Schicksalswaage hervor. Diesmal wägt er aber die Todeslose der beiden gegeneinander kämpfenden Völker, der Griechen und der Tro- ianer, und die Waage entscheidet gegen die Griechen. Doch ist diese Stelle schon immer (s. Ameis-Hentze, Anh. zu Ilias) als eine schwache Doublette zu XXII 209 ff. verdächtigt worden; sie soll deshalb im fol- genden völlig ausscheiden.

` Angesichts dieser Armut unserer literarischen Überlieferung drängt sich die Frage auf: woher hat dann die bildende Kunst, die nur oder fast nur den Zweikampf zwischen Achill und dem Aithiopenfürsten Memnon durch die Waage entscheiden läßt, ihr Vorbild? Die Antwort ist längst gefunden worden (zuletzt: Robert, Bild und Lied 143 ff.): in der Aithiopis war der Zweikampf Achill—Memnon durch eine Psycho- (oder Kero-)stasie entschieden worden. Auch der naheliegende Schluß, daß die Aithiopis wohl älter und Vorbild für das 22. Buch der [lias sei, ist bereits gezogen worden (Gruppe, Gr. Myth. 681,6; RE XVI 640). Die Kunstgeschichte kann diese Folgerung nur bestätigen; die Keren- wägung Achill—Memnon hat zur Aufstellung eines klaren Schemas der Darstellung geführt; bei Homer steht offenbar nur an der einen Waag- schale eine Fürsprecherin, aber nicht die Mutter des Helden, sondern die Schlachtenjungfrau Athene; die Stelle der anderen Fürsprecherin vertritt Apollo, der damit in einen gewissen Gegensatz zu der Walkyre Athene tritt.

Lange nach Homer hat Aischylos ein Drama Psychostasia gedichtet, in dessen Mittelpunkt ebenfalls der Zweikampf Achill—Memnon steht

166 Ernst Wiist

und das auch eine Seelenwägung enthielt. Diesmal eine wirkliche Seelen- wägung; „Homer ließ xfjees wägen, weil er die yvyý (bei ihm = Leben) nicht als selbständiges Wesen kannte. Erst bei Aischylos werden yvyæí gewogen, weil der attische Sprachgebrauch die wvyoi unter die xjoes subsumierte“ (Walter F. Otto, Die Manen, S. 50f.). Sonst wissen wir leider von dem Drama nur recht wenig; aber doch verrät uns Plutarch (de aud. poet. 17 A) etwas für unseren Zweck sehr Wichtiges, daß näm- lich Aischylos neben die Waagschalen des Zeus (nicht: des Hermes!) zwei Fürsprecherinnen (dsouévac dmte Tüv viéwv uayousvov) hinstellte, Thetis und Eos, Memnons Mutter. Das sieht doch ganz darnach aus, daß zur Zeit des Aischylos das, was oben als schematische Darstellung be- zeichnet wurde, wohlbekannt war. Dafür haben wir aber einen noch sichereren Beweis, nämlich die Szene in den Fréschen 1364 ff. (hierzu auch die Ausgabe von Radermacher S. 331).

Dort kommt, nachdem der Streit um den Dichterthron schon eine Weile gedauert hat, Aischylos endlich auf den Gedanken, die Entschei- dung durch die Waage herbeizuführen. Dreimal sagt jeder der beiden Dichter je einen gewichtigen Vers aus einem seiner Dramen und drei- mal stellt Dionysos fest, jedesmal mit einer spitzfindig-komischen Be- gründung seines Urteils, daß die Waagschale des Aischylos den schwe- reren Inhalt aufweist. Das Bühnenbild mag den Zuschauern, die auch nur ein wenig in der zeitgenössischen Vasenmalerei beschlagen waren, gewiß höchst komisch vorgekommen sein: auf der einen Seite der Waag- schale, auf der Dionysos „wie ein Käsehändler“ den literarischen Wert der konkurrierenden Tragödien prüft, Aischylos, in der Rolle eines Heros und eines Fürsprechers zugleich, hochtouchiert schon von der Notwendig- keit gegenüber einem Euripides das Intimste seiner tragischen Kunst, das echte Pathos Seiner wuchtigen Sprache, auf einer Waagschale pro- stituieren zu müssen, auf der andern Seite, ebenfalls zugleich als Heros und als fürsprechende Heroenmutter, der Sohn der cgoveaia Yeös, der kecke Aufklärer Euripides, der einmal über das andere Mal mit über- legener Siegeszuversicht eine seiner Phrasen auf die Waagschale „hin- feuert“; dreimal siegesgewiß, dreimal schmählich von dem Übergewicht seines Gegners in die Höhe geschnellt,

In der Folgezeit sind die literarischen Zeugnisse für die Seelen- wägung seltener, wenn auch das Motiv nie ganz verschwindet. Von Nachahmern, die entweder ganze Wägeszenen oder nur metaphorische Andeutungen bringen, seien außer Sophokles (Ant. 1158) und Euripides (Hek. 57) noch genannt: Theognis (157), Kerkidas (Oxy. Pap. 1082 frg. T col. II 15, II 1—7), Quintus Smyrnaeus (II 540), Vergil (Aen. XII 725), Horatius (sat. I 3, 69ff.), Anthol. Pal. (IV 3,125. XI 380). Doch bieten sie alle nichts Neues über Homer hinaus.

Die Seelenwigung in Agypten und Griechenland 167

Auch in der bildenden Kunst verbraucht sich das Motiv. Berühmt ist da vor allem die Erotenwägung auf dem sogenannten Bostoner Thron, dem Gegenstiick der ludovisischen Thronlehne in Rom, und eine Eroten- wägung auf einer Vase des Brit. Museums, endlich eine obszöne Phallos- wägung auf einem Relief des Landesmuseums in Trier (Studniczka S. 138. 140).

_ Bei der großen Zahl der archäologischen und literarischen Quellen und der scheinbaren Einstimmigkeit ihrer Aussage fand die Frage: in welchem Verhältnis steht hier Griechenland zu Ägypten? von dem Augenblick an, wo das Motiv der Seelenwägung zum erstenmal wissen- schaftlich behandelt wurde, eine rasche und bestimmte Antwort: das Motiv kam von Ägypten nach Griechenland; so schon A. Maury im 1. Bd. der Revue archéol. (1844, S. 294) und nach ihm viele. Für diese Ab- leitung lassen sich, auch wenn man von dem Instrument der Waage ganz absieht, verschiedene Griinde angeben:

1. Hermes ist auch sonst die interpretatio Graeca des igyptischen Gottes Thoth. Beide sind die Geleiter der Seelen in die Unterwelt, die wvyorourot; beide sind die Schreibkundigen ihres Pantheons, so sind auch beide die Gerichtsschreiber bei der Wägung (s. RE VIII 792f.).

2. Die „schematische“ Anordnung der bei der Wägung beteiligten Personen, wie sie besonders auf dem ältesten griechischen Vasenbild auftritt, kann man mühelos aus dem Ägyptischen ableiten: Gerichtsherr dort Osiris, hier Zeus; an der Waage dort Thoth, hier Hermes; fürspre- chende Personen stehen in Ägypten, wenn auch nicht regelmäßig, zur Seite.

3. Wir sind jetzt nicht mehr nur auf unbestimmte Vermutungen darüber angewiesen, wie die griechische Kunst und die griechische Lite- ratur zu einer Kenntnis des ägyptischen Seelenwägungsmotivs gelangt sein könnten. Als Vermittler kommen für die Zeit, in der die Verwen- dung dieses Motivs in voller Blüte stand, also für die Zeit um und bald nach 1500 v. Chr., nur die Kaufleute des minoischen Reichs von Kreta in Betracht, die den Handel im ganzen Mittelmeer und bis in die äußer- sten Winkel des Schwarzen Meeres in Händen hatten. Die Waagen frei- lich, die im 3. mykenischen Schachtgrab von Schliemann gefunden wur- den, Waagen aus Goldblech gestanzt (yovoea rédavt«), sind für diese Beweisführung unbrauchbar. In dem Grab lagen zwei Frauen mit zwei Säuglingen bestattet und die Waagen stellten wohl Gegenstände des täglichen Gebrauchs der Bestatteten dar (Verteilung des Arbeitspensums an die Sklavinnen oder Abwägung von Edelmetall; s. hierüber zuletzt Wiesner, Grab und Jenseits, RVV XXVI [1938] 186). Aber sicher ge- hört hieher die in Enkomi auf Kypern (Grab 17 nr. 1) gefundene, jetzt in Nicosia befindliche Vase, die Nilsson im Bulletin Soc. Royale des Lettres

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de Lund 1932/33, S. 29ff. und Taf. I (vorher schon in: Homer und My- cenae, Fig. 56) veröffentlicht hat. Sie stellt dar: auf einem Streitwagen mit einem Pferd stehen zwei Manner; vor ihnen und ihnen zugekehrt ein Mann, der ihnen eine Waage entgegenstreckt. Was er wägt, läßt sich nicht bestimmen. Die weiteren auf der Vase dargestellten Wesen: ein Pferd, ein Diener mit einem x-förmigen Gerät, sind bis jetzt nicht gedeutet, auch von Wiesner nicht, dessen Einwände gegen Nilssons Er- klärung „Zeus mit der Schicksalswaage“ (Wiesner 201 f.) nicht ausgeben. Sein Hauptargument, daß zum Wägen zwei gehören, ist sein wesent- lichster Irrtum, wie das folgende zeigen wird. Aber auch von einem Rennwagen, woran er zu denken scheint, kann keine Rede sein; denn warum stünden da zwei Männer im Wagenkorb? Die Vase ist nach Nilsson um 1300, nach Poulsen (Arch. Jahrb. 1911,247) um 1100 v. Ghr. gemalt und stellt zweifellos in primitiver Form eine „Seelenwägung“ dar. So wäre vielleicht die Insel Kypern, die bereits als die Stelle be- zeichnet wird, an der die Übernahme des phönikischen Alphabets durch die Griechen erfolgt sein soll (Am. Journ. Archaeol. 1938, 58 ff.), auch die Vermittlerin der Psychostasievorstellung gewesen. l 4. Eine weitere literarische Brücke von Ägypten. nach Griechenland herüber bildet die Sage von dem König, der in der griechischen Lite- ratur wohl als erster, in der Kunst nahezu als einziger Held mit der Seelenwägung in Verbindung gebracht wird, von dem Aithiopenkönig Memnon. Von den zwei Aithiopenvölkern, die Homer kennt, kommen als Untertanen des Sohnes der Eos nur die östlichen Aithiopen in Be- tracht. Ihre Wohnsitze suchten die Griechen immer im fernen Südosten (RE I 1095); und wenn eine spätere, vielleicht erst die alexandrinische Weiterführung der Sage aus Memnon einen Ägypter machte (REXV 645 ff.), so hat diese gelehrte Dichtung damit kaum weit fehlgegriffen; jedenfalls kann es als kein Zufall mehr erscheinen, daß gerade mit dem einzigen Vertreter, den das griechische Epos aus jener fernen Landschaft auftreten läßt, das Motiv in die griechische Vorstellungswelt eintritt, das bis dahin nur die Ägypter kannten (man vergleiche die Avyo& oý- were und Bellerophon).

Die Zahl und das Gewicht dieser Gründe machten es fast allen, die sich mit der Wanderung des Psychostasiegedankens durch die Jahrtau- sende beschäftigten, zur Gewißheit, daß die Griechen ihn von den Ägyp- tern übernommen haben. Und doch unterscheidet sich die griechische Seelenwägung von der ägyptischen in ganz wesentlichen Stücken. In Ägypten werden Tote gewogen, in Griechenland Lebende; in Ägypten werden alle Menschen gewogen, in Griechenland immer nur (selbst wenn man Achill—Memnon als ein typisches Paar auffaßt) ein kämpfendes Kriegerpaar; in Ägypten dient die Wägung der Gewinnung eines sitt-

Die Seelenwägung in Ägypten und Griechenland 169

lichen Werturteils über ein vergangenes Menschenleben, bei Homer wird durch eine vergleichende Wägung entschieden, wer von den beiden Kämp- fern im bevorstehenden Kampf unterliegen soll. Diese Verschiedenheiten kann man nicht etwa damit erklären, daß die ägyptischen Psychostasie- darstellungen den Griechen nur im Bild bekannt geworden sein sollen, eine Umdeutung deshalb leicht möglich war; oder damit, daß man sagt: die homerische Darstellung bildete nur einen kunstgeschichtlichen Seiten- sprung, in den Mysterien kehrten die Griechen ohnehin bald wieder zur ägyptischen Form zurück. Es handelt sich auch nicht nur um eine Um- bildung dieser ägyptischen Form, sondern Homer gibt einer äußeren, von den Ägyptern übernommenen Form einen Inhalt, der sich himmel- weit vom ägyptischen Denken entfernt und seine Wurzeln in dem mit Homer zu Grabe gehenden heroischen Zeitalter der Griechen hat, dessen letzten Abglanz auch hier wieder Homer widerspiegelt. Sieht man sich nach einer Parallele um, so kommt nur eine in Frage. Der Zeus, der die Schicksalswaage über das Ende eines Zweikampfes befragt, gleicht dem walkiösandi Wodan der Edda, der als Schlachtengott die „Sigeskür“ hat, d. h. sich seine Opfer erwählt. Diese Opfer fällen dann seine Begleite- rinnen, die Walkyren. Die halbe Wal, d. i. die Hälfte der schlachttoten Männer, gehört der Freja, in der die selbständige Walkyre des Jenseits fortlebt. Die Walkyren sind dabei freilich nicht huldreiche Schildmaiden, sondern finstere, dämonische Mächte, die noch den Toten peinigen, indem sie ihm das Blut aussaugen, die wohl auch, um Blut zu sehen, selbst mit dem eigenen Speer den Leib des Helden ritzen. Sie sind dem Ge- schlecht der Riesen beizuzählen und sind deshalb Feinde der Götter, besonders des Thor, des Freundes des Menschen (Paul, Grundriß III 337; Grimm, Deutsche Myth. ‘I 346. 349,1; Neckel, Walhall 51. 74. 81. 83). Auch in der germanischen Sage werden die Walkyren erst später aus Todesgöttinen zu Beschützerinnen, wie in der griechischen Sage aus den »noss oder Erinyen, nicht ohne Zutun des den Menschen freundlicheren Apollo, bei Aischylos die Eumeniden, die freundlichen Schützerinnen der Pietät, werden.

Wer sich der Anschauung anschließen kann, daß in der griechischen Psychostasie zwei gleichmächtige Strömungen zusammenfließen, von denen die eine aus dem heroischen Zeitalter der Griechen, die andere aus der ägyptischen Eschatologie herkommt, der wird leicht alles Beiwerk scheiden: homerisch ist Zeus als Wägender und Athene als Schlachten- jungfrau (gegen Apollo); aus Ägypten stammen die Waage mit Thoth (Hermes), die Fürsprecherinnen an beiden Waagschalen. Und während sich an Homer vielleicht noch Aischylos anschließt, folgen die Vasen- bilder zum größeren Teil und wohl auch die Mysterien der ägyptischen Form, und der Spötter Aristophanes spielt gerade diese Form gegen

t

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den Aischylos aus. Wir blicken nochmals zurück zu dem kyprisch-myke- nischen Vasenbild, bei dem die homerische Form überwiegt: Zeus ist der Wägende; es wird über einen bevorstehenden Kampf entschieden. Von Ägypten ist nur die Waage übernommen, sonst nichts.

Wie kam es, fragen wir endlich noch, daß die spezifisch griechische Auffassung so bald verschwand? Denn die angeführten späteren Stellen ‚haben kein eigenes Leben mehr, sondern nur noch antiquarische Bedeu- tung. Der Hauptgrund wird wohl darin zu suchen sein, daß mit der zeitlichen Entfernung vom heroischen Alter auch die Formen verblaßten, unter denen sich das Leben der Heroen abgespielt haben sollte. Mit dem Kampf der Bürgerheere erloschen die Vorstellungen von dem Zwei- kampf erlesener Ritterpaare und von seiner Bedeutung. Die kämpfende Schicht hatte keine verwandtschaftlichen Beziehungen zum Olymp mehr und kein Gott hatte ein Interesse daran, den Ausgang eines Kampfes vorauszuwissen. Das ist sicher ein Hauptgrund; es ist aber wohl nicht verfehlt anzunehmen, daß auch der starke moralische Antrieb, der in der für jedermann gültigen ägyptischen Form der Seelenwägung lag, diese Psychostasie als brauchbarer, besonders für die Mysterienreligion, erscheinen ließ. Beweisen wird sich ja das Vorkommen einer Psycho-' stasie unter den dowueva in Eleusis nicht lassen. Aber gerade die Psycho- stasie-Karikatur in den Fröschen des Aristophanes legt den Gedanken sehr nahe. Die Frösche enthalten ja auch sonst eine große Zahl erstaun- licher Karikaturen eleusinischer Bräuche (Bayr. Bl. f. d. Gymn. 1929, 201 ff.). l

An der Tatsache läßt sich jedenfalls nicht rütteln, daß alle späteren Abwandlungen des Seelenwägungsmotivs (bei den Juden, im Koran, im Christentum) unter dem Einfluß der ägyptischen Form stehen, auf eine moralische Wirkung des Motivs ausgehen und diese auch tatsächlich er- reicht haben. Und doch ist die homerische Form unsterblich geblieben; da dies aber eine sehr umstrittene Behauptung ist, soll ihr Inhalt hier nur noch angedeutet werden. Bei Homer steht dem Zeus, der zwischen Achill und Hektor die Waage entscheiden läßt, der also die Moira als oberste Instanz anerkennt, ein anderer Zeus gegenüber, der z. B. bei dem Zweikampf seines eigenen Sohnes Sarpedon nach seinem Ermessen die Entscheidung trifft. In dieser Zwiespältigkeit drückte sich vielleicht eine erste Ahnung der Alternative aus: steht Zeus über dem Schicksal (wie im Fall Sarpedon) oder ist das Schicksal, die Waage, stärker als Zeus? Der tiefe religiöse Denker Aischylos macht dann mit seinem Grundsatz Öoacavrı nadev den Menschen sittlich autonom, d. h. er überläßt ihm die Wahl, ob er sich zu einer Tat entscheiden soll oder nicht, für die er vom Augenblick der Entscheidung an auch haften und leiden muß. Da- mit verlegt Aischylos die Spannung, die der homerische Mensch zwischen

A. Ohlmarks: Arktischer Schamanismus und altnordischer seidr 171

Zeus und der Moira ahnte, in die Menschenbrust. Das Problem lautet jetzt, ob die Entscheidung des Menschen für eine Tat, der Entschluß zu einem Handeln, frei ist oder unter einem anderen, stärkeren Einfluß steht (Snell, Aischylos und das Handeln im Drama, 1928, 142f.). Da- mit wird aber auch Aischylos, indem er das Problem so weiter gibt, zum Wegbereiter für die Sophisten und für Euripides, die in ihrem Auf- klärungsglauben die Frage bestimmt zugunsten des Menschen entschei- den. So ist die Psychostasie homerischen Gepräges zur Keimzelle des Problems von der Freibeit des menschlichen Willens geworden, an dessen Lösung auch unsere Zeit noch arbeitet.

Inhaltsübersicht

Vergleich der literarischen und künstlerischen Zeugnisse für den Seelen- wägungsgedanken bei den Ägyptern und den Griechen mit dem Ergebnis, daß die homerische Vorstellung nur in Äußerlichem mit der ägyptischen überein- stimme, ihr Grundgedanke aber aus dem heroischen Zeitalter der Griechen selbst stamme. Mit dem Verblassen der Erinnerung an diese Zeit gewinnt die für den Alltag Jedermanns nützlichere ägyptische Form die Oberhand.

ARKTISCHER SCHAMANISMUS UND ALTNORDISCHER SEIÐR

VON A. OHLMARKS IN LUND

Altere Erforscher des arktischen Schamanismus wie Bogoraz und Jochelson betrachteten diesen gern als durch eine besondere ,arctic hysteria‘ bedingt, R. M. Ryckov sagte: „Der Schamanismus ist eine psychopathologische Erscheinung, die mit der Hysterie sowie mit den epileptischen und scharf hervortretenden Ausbriichen zusammenhingt“?, Sternberg wies auf abnorme „Zugänglichkeit für Hypnose und Auto- suggestion“ hin. In der Tat zeigt auch eine psychologische Untersuchung der schamanistischen Phänomenologie, insbesondere der Seance, daß der Schamanismus in einer Art Geisteskrankheit vorwiegend hysterisch- epileptischer Art und einer damit zusammenhängenden abnorm nervösen Prädisponibilität der Volkspsyche wurzelt. Jüngere Hysteriologen wie Kretschmer, Gadelius und Alfvén haben eben klargemacht, daß die Konzentration auf die Außenwelt, das Verlangen, die sekundär ent- stehenden Symptome der Umgebung zu demonstrieren, das Zentrale der Krankheit ist; man vergleiche die absolute Abhängigkeit des Schamanen von dem Milieu, der Gemeinde. Wie die Hysterie bricht auch die Schamanengabe kraft einer Schreckensneurose oder eines psychischen

1 O rel. v. i. Sam. sib., Zap.-Sib. otd. RGO II, Omsk 1904, 1/2.

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Trauma durch. Die klassische Schamanenseance wie sie SjeraSevskij) bei den Jakuten! geschildert hat, erinnert schlagend an den berühmten bysterischen Ausbruch, den Charcot und Richer „La grande hysterie“ nannten: Der einleitende Geistermahnungsabschnitt ist statt des tonisch- klonischen Eingangsstadiums Richers vorhanden, der wilde Tanz kommt dem Clownismus sehr nahe, und das Endgebet entspricht dem Stadium der Ausdrucksbewegungen. Auch ein Ausbruch der großen Hysterie variiert sehr viel, Stadien werden oft übersprungen und das Krankheits- bild akkomodiert sich bisweilen den Intentionen des Beobachters. Besonders wichtig bei der großen Hysterie ist der in allen schwereren Fällen vor- kommende lethargische Zusammenbruch am Ende des Ausbruchs, den Kretschmer aus dem animalen ,,Totstellreflex“ herleitete. Neben- phänomene der ausgebildeten Hysterie, wie die hysterische Kugel, Anästhesie, Masochismus, Ventriloquismus, Selbstschädigung für geringen Gewinst, das theatralische Moment, die hervorrufende Rolle der physischen Ermattung, das intensive Teilnehmen der Zuschauer an dem Ausbruch, das Halbbewußtsein, die Verwandlungsvorstellungen und die Besessenheit, sind auch für die Schamanenseance charakteristisch. Die Reagenz des tieferen Willens eines in Hypnose versenkten Hysterikers auf Befehl, wie sie Kretschmer dargelegt hat, erklärt die Erweckung des in Lethar- gie versunkenen lappischen Noiden durch ein Wort. V.F.TroScanskij behauptet, daß der einzige Unterschied zwischen der Schamanenseance und einem Ausbruch der sibirischen menerik-Hysterie der sei, daB der Schamane den Ausbruch hervorrufen kann, wann er selbst es will.? Gadelius hat aber aus seiner Klientel Beispiele angeführt, wo ein Hysteriker die Psychose als eine Art Schutzgeist heraufbeschwören kann, wann er ihrer bedarf. Es sieht dennoch so aus, als ob auch andere Geisteskrankheiten als hysterophile und nervöslabile beim Schamanismus eine mitwirkende Rolle spielen sollten. Die Vererbung der Schamanen- gabe, die bizarre Haar- und Fetzentracht des Schamanen, die eskimoischen Geisterzeichnungen, die perseveratorisch wiederholten Phänomene wäh- rend der Seance, gewisse Halluzinationen und die an Magnans „delire systematisé chez les degeneres“ erinnernden Erscheinungen hängen mit einer Art schizophrener Katatonie zusammen, wie auch die Angstzeit vor der schamanistischen Berufung den Gedanken an paranoide Komplexe nahelegt.

Miß Czaplicka lehnte eine spezifisch arktische Hysterie im großen Ganzen ab und betrachtete die schamanophile Nervosität als konstitutiv für „the psycho-physiological nature of Mongols“.? Vergleiche zwischen der vielbeschriebenen psychischen Labilität z. B. der türkischen Jakuten

1 Die Rel. d. Giljaken, ARW. 8 (1905) 465. 2 Ew. tSornoj very u Jak. 3 Aboriginal Siberia, 327.

Arktischer Schamanismus und altnordischer seidr 173

und auf der anderen Seite z. B. der Tungusen, psychologisch untersucht von Shirokogoroff, bestätigen aber nicht eine ähnliche Ansicht. Vielmehr will es aussehen, als ob bei allen, besonders jüngeren arktischen, Völkern, hysterisch-nervöse Geisteskrankheiten mit z. T. auch epilepti- formen und katatonen Schattierungen in einer Stärke und Allgemeinheit vorkommen wie sonst nie auf der Erde. In Sibirien hat S.I. Mickevic die ungeheure Verbreitung der Krankheiten ikota, einer Art hysterischen Schluchzens, emirjacenje oder schizophrene halluzinatorische Echolalie mit Rasereiausbrüchen, und schließlich der Schamanenkrankheit par préférence, menerik, exogene Hysteroepilepsie, dargelegt! P. Naumov hat den hysterischen Charakter der epidemischen černaja nemoč im NiSni-Kolymschen Kreis hervorgehoben.” Nach P. E. Kulakov werden die Geisteskranken najgursin am leichtesten Schamanen’, wie nach Zelenin die burjätischen Epileptiker Schamanen werden.“ Pallas be- schreibt eine Besessenheits-Hysterie bei den Katschinesen um die Jahr- hundertwende®, und Kulakov die epidemischen wlejskie, mnogie und najdur bei den Burjäten. Die mit Diarrhöe vereinte hysterische klikusestvo soll nach Zelenin auch unter den Frauen der russischen Siedler in Sibirien verbreitet sein. Nach Boas werden die Geisteskranken der amerikanischen Eskimos als göttlich inspiriert angesehen, Whitney führt Fälle von Hysterie unter den Grönland-Eskimos an®, und schließlich kann auf die eskimoische hysterische Habakukbewegung in Kangamiut sowie auf die lappischen Koutokeinolästadianer und Korpelaner hin- gewiesen werden. Besonders fallen in diesem Zusammenhange zwei Tat- sachen auf: erstens, daß unter den ältesten arktischen Völkern wie Jenissejern, Tjuktjern und anderen Paläarktikern die hysteriformen Krankheiten viel schwächer und sporadischer sind als bei den Jung- arktikern, zweitens, daß auch europäische Siedler im Arkticum wie Zelenins klikusestvo-Russinnen und die Korpela-Schweden, von hyste- rischen Epidemien angegriffen werden. Dies scheint mir zu zeigen, daß die hysterieauslösenden Faktoren in der arktischen Natur und in diesem Milieu selbst zu suchen sind, in den halbjahrlangen Tagen und Nächten, der unerhörten Kälte, den öden Weiten, der Not und dem Mangel an wichtigen Vitaminen liegen. Gegen das alles greift in normaler Weise die menschliche Psyche zur hysterischen Reaktion wie zum ultimum re- fugium, das die Hysterie immer ist. Gegen diese hysterogenen Elemente der arktischen Natur vermag die Psyche erst in langen Jahrtausenden langsam gewisse Widerstandskräfte auszubilden, die dann auch nur bei den ältesten Arktikern zu finden sind. Aus jener Hysterie und allgemeinen

1 Menerik, emirjatenje usw., Leningrad 1929. 2 Zamecanija usw. 731.

3 Burjaty Irkutsk. g. 139. 4 Id. sib. sam. 727. 5 cit. Zelenin, A. A. 731. 8 cit. Czaplicka.

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Nervosität ist aber einst seit undenklichen Zeiten der arktische Schama- nismus entstanden und hat sich von dort auch nach siidlicheren, sub- arktischen Völkern verbreitet. Nur im Arkticum war die Rolle der Hysterie und der damit verbundenen Geisteskrankheiten, worauf der Schamanismus ruht, genügend groß und normierend, um die ganze Welt- anschauung, die Religion und das Leben zu bestimmen. Insofern sämt- liche Arktiker einmal aus südlicheren Gegenden kamen, ist der Schama- nismus natürlich nicht die älteste arktische Religion, insofern aber die arktische Natur während der Jahrtausende sehr wenig verändert worden ist, stellt er auch gar keine junge Entwicklungsstufe dar. Wenn der Schamanismus von seinem Entstehungsgebiet zu nicht-arktischen Nachbar- völkern verbreitet wird, kann man eigentlich kaum länger von einem reinen Schamanismus reden, da ja die völkerpsychologische Grundlage eine andere ist. Zwar liegt bei allen Primitiven der Erde eine gewisse psychische Labilität und auch hysteroforme Nervosität vor, aber sie ist von dem starken Hysterie- und Geisteskrankheitskomplexe der Arktiker durchaus verschieden. Sie genügt nicht, um den Schamanismus hervor- zubringen, kann aber zur Neigung führen, den Schamanismus als Form aus dem Arkticum zu entlehnen, wobei aber die schwere arktische Seancenextase meistens bedeutend abgeschwächt ist und das ganze oft nur ein äußeres Übernehmen wird. Bei subarktischen Kulturvölkern, die wie die Nordgermanen und Chinesen schamanistische Elemente aufgenommen haben, ist natürlich der völkerpsychologische Grund ganz unbedeutend und deshalb sowohl die Phaenomenologie wie die Inter- pretation nicht mit der rein arktischen zu vergleichen.

Unter den Arktikern kommen schamanistisch-hysterische Ausbrüche und Seancen von allen Schwierigkeitsgraden vor, von der einfachen In- spiration zu der großen Seance, an „la grande hystérie“ erinnernd, mit wiederholten lethargischen Zusammenbrüchen und wirklicher Massen- psychose. Es zeigt sich nun, daß man in praktisch allen arktischen Kul- turen zwischen der geringeren Extase und dem großen, autosuggestiv hervorgebrachten Ausbruch, dem „großen Schamanieren“, unterscheidet.

"Praktisch sind die beiden Seancenarten so zu erkennen: 1. Das große Schamanieren tendiert fast immer gegen lethargischen Zusammenbruch oder Bewußtlosigkeit, die immer damit erklärt wird, daß die Seele des Schamanen seinen Körper momentan verlassen hat um sich in die Welt der Geister zu begeben. Das kleine oder Halbbewußtheits-Schamanieren wird dadurch erklärt, daß die gerufenen Geister herzukommen, mit dem Schamanen reden, ihn inspirieren oder sogar in seinen Körper fahren. Oft geht eine Halbbewußtheitstrance in eine Flugtrance über. 2. Das kleine Schamanieren wird im allgemeinen vorgenommen, um den Grund irgend- einer Sachlage zu entdecken, eine Krankheitsursache klarzulegen, einen

Arktischer Schamanismus und altnordischer seidr | 175

sozialen Verbrecher aufzufinden u. dergl. oder auch es wird mit einer Opfer- zeremonie verschmolzen, wobei der Krankheitsgeist vom Schamanen auf das Tier verpflanzt wird, das danach getötet wird. Das große Schamanieren wird vorgenommen, um die Seele eines starken Schamanen ausfliegen zu lassen, die dann mit den bösen Geistern kämpft oder die guten persönlich be- schwichtigt. 3. Das große Schamanieren ist im allgemeinen von großem äußerem Apparat Opfern, Paraphernalia etc umgeben, es ist eine außer- ordentliche Begebenheit, die lange Zeit, große Anspannung aller An- wesenden und sorgfältige Vorbereitung erfordert. Das kleine Schama- nieren ist einfacher und alltäglicher. Bisweilen, wie bei den Tjuktjen!, finden beide Arten in verschiedenen Lokalen statt, bei den Samojeden kann das kleine eine psychische Vorbereitung zum großen sein?, bei den Tungusen eine Klärung der für das große nötigen Problemlage.* Bei den Jakuten, denen die Terminologie „das große“ und „das kleine“ Schama- nieren entlehnt ist, sind Tracht, Schamanensitz und Zeit verschieden.* Auch bei den Jugrern, Eskimos und Lappen ist der Unterschied ganz klar.

Das Interessante ist jetzt festzustellen, daß wir bei den subarktischen Völkern nie ein großes Schamanieren finden, sondern nur ein kleines, das aber bei einigen Völkern wie den Altaiern, Kirkisen und Haida- Indianern bisweilen als ein großes fingiert wird. Das Entscheidende ist jedoch, daß bei den Subarktikern der lethargische Zusammenbruch, der bei den Arktikern immer vorkam, nicht erreicht werden kann, und daß deswegen ein sporadisch erscheinender Geisterflug in ganz äußerer Weise imitiert werden muß. Die Schamanen, tshi’sagka’s, der Algonkin-Indianer fallen nach Hoffmann? ebensowenig wie die Medizinmänner der Sioux in wirklichen Trance. Der Haidaschamane sucht die Seele des Kranken im Walde und fingiert ihr Einfangen, wonach die Seele zwischen den Händen des Schamanen eingetragen wird. Bei den Tscheremissen und Wotjaken ist Schamanenextase unbekannt. Der Altaischamane imitiert in Radloffs Schilderung® den Geisterflug derart, daß er sich auf eine künstliche Gans setzt, mit den Armen wie mit den Flügeln schlägt und das Gänsegackern nachahmt. Bei den Kamtchadalen fand KraSeninnikov nur ein ruhiges Kleinschamanieren ohne Tracht und Flug.’ Der Geister- flug wird nach Agapytov und Changalov vom burjätischen Scha- manen dadurch nachgeahmt, daß er an einem schräggestellten Birkenstamm Schritt um Schritt emporsteigt.® Bei Tibetanern, Golden und Ainos

ı Bogoraz, The Chukchee 442.

4 Lehtisalo, Entwurf einer Mythol. des Jureksam 152 ff.

3 Sirokogoroff, The psychomental complex 304.

4 Sjeraäevsky. cit. Stadling, Scham. i n. Asien 103ff., 125 ff.

5 The Menomini Indians 148. 6 Aus Sibirien lI 21f.

? Op. s. Kamtäatki II 81f. 8 Harva, der Baum des Lebens 142.

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kommt ebenfalls nur das Kleinschamanieren vor. Die subarktischen Kultur- völker sind noch weiter von dem echten Schamanismus entfernt. Bei ihnen spürt man nur gewisse schamanistische Einflüsse in den medizi- nischen oder divinatorischen Manipulationen, aber sowohl die arktische Schamanenextase wie jeder Gedanke an einen Geisterflug fehlt. Der koreanische Schamane sucht nach Nasekin? in gewöhnlicher primitiver Weise durch Beschwörungen den Krankheitsgeist auszutreiben und ihn dann in die Erde zu bannen. Der altchinesische Schamane diirfte eine ähnliche Praxis geübt haben: die Bücher von Tschou (27,6) reden nur von einem Herabsteigen der Geister zum Schamanen, was ja in allen Arten von Schamanismus als Grundmerkmal vorkommt, aber kennen absolut keinen Flug der Schamanenseele.

Eine außerordentliche Parallele zu den vielen Fällen von typischem Schamanismus in subarktischen Gebieten bietet auf dem altnordischen Felde der sogenannte locus classicus des nordischen seiör, das vierte Kap. der Eirikssaga rauða dar. Hier wird erzählt, wie eine Seherin, pdérbiorg, zu einem Nordmännerhofe in Grönland geholt wird, um über die Art und Dauer des schweren Mißjahres Auskunft zu geben. Sie wird auf die höflichste Art empfangen, ist besonders gekleidet und erhält besondere Speise. Nachdem sie geschlafen hat, fängt sie mit der seiö-Seance an. Um beginnen zu können, d. h. in Extase zu geraten, verlangt sie, daß mehrere Weiber hervortreten mögen, um ein ganz besonderes heidnisches Lied, vardlokkur, d. h. Geisterherbeirufungslied, ihr vorzusingen. Es ist nur eine Frau da, die dieses Lied kennt, und dies muß genügen: als ihre christlichen Bedenklichkeiten weggeräumt sind, singt sie das Lied mit besonderer Stimme, daß niemand so ein Lied früher gehört hatte. Die Seherin spricht ihren Dank aus und erklärt, daß mehrere Naturwesen, die herzukommen müßten, aber ohne weiteres nicht kommen wollten, jetzt durch die besondere Schönheit des Liedes herbeigelockt worden seien, und daß dadurch manches der Seherin klargeworden sei, was sie früher nicht wußte. Sie weissagte jetzt über die Dauer des Mißjahres, die Geschicke der Sängerin und der verschiedenen Anwesenden. Für das erste Glied in vardlokkur ist die Bedeutung „Geist“, „Gespenst“ außer- ordentlich wohl und aus allen nordischen Sprachen bezeugt und ist augenscheinlich in einer Ableitung als vardali, „Gespenst“, ins Lappische entlehnt. Das zweite Glied ist das deutsche „locken“. Gerade das Herbei- locken der Geister vor der Seance ist beinahe der einzige Zug, der keiner Art von Schamanismus auch unter Subarktikern fehlt und der überall die ideologische und psychologische Voraussetzung derselben bildet. Typisch ist auch die herbeiziehende Schönheit des Lieds: von Tungusen,

1 Zelenin, A. A. 741.

Arktischer Schamanismus und altuordischer seiör 177

Wogulen u. a. haben Shirokogoroff, Karjalainen, Gondatti, Suchovskij und Zelenin dasselbe vom Geisterrufen bezeugt.

Sehr nahe stimmt diese Seance mit einer anderen subarktischen bei den Irtysch-Ostjaken überein, die Karjalainen! beschrieben hat. Auch hier ist der Schamane eine Frau, sie ißt besondere (narkotische) Speisen und schläft im Hause vor der Seance. In einer leichten Inspiration teilt sie dann die Auskünfte der Geister mit. Natürlich kommt hier ebenso- wenig wie im nordischen Seiör Lethargie und Geisterflug-Erklärung vor.

Daß der nordische seidr eine Art Schamanismus war, hat man längst gesehen. Schon 1877 stellte Johan Fritzner in seiner für jene Zeit ausgezeichneten Schrift „Lappernes Hedenskab og Trolddomskunst sammenholdt med andre Folks isaer Nordmändernes Tro og Overtro“ diese These auf. Er vergleicht den lappischen Noiden mit der seidkona, und die Lappenseance mit der Schamanseance im allgemeinen. Der seid- terminus „drepu á vett“ in Voluspä bezieht er ganz richtig auf das Schlagen eines trommelartigen Gegenstandes. In unserem Jahrhundert haben sowohl I. Lindqvist? wie auch H. Pipping? den seidr als Schamanismus auf- gefaßt. Vor nunmehr drei Jahren schrieb in Upsala D.Strömbäck als Dissertation eine ganz kleine Monographie über den seiör als Schamanismus. Leider ist das Buch wegen fehlerhafter Quellenkritik und Mangel an tieferen Kenntnissen in Bezug auf den Schamanismus als im großen Ganzen verfehlt anzusehen, da es in erster Linie eine Rekonstruktion der seid- Seance bezweckt aber diese mißversteht. Strömbäck geht von der falschen Voraussetzung aus, daß in jeder an Schamanismus erinnernden Seance lethargischer Zusammenbruch und Geisterflug vorkommen müssen, während in sämtlichen subarktischen Fällen die Lethargie und wenigstens unter allen subarktischen Kulturvölkern die Fluginterpretation fehlen. Ferner kennt er nicht die absolute Notwendigkeit des Herbeirufens der Geister am Anfang der Seance in allen Gebieten. Schließlich begeht er nach dem alten Fritzner den Fehler als Vergleichsmaterial zum seiör statt kritischer Prüfung des ganzen schamanistischen Materials haupt- sächlich nur die isolierten lappischen Verhältnisse heranzuziehen. Damit hängt der Hauptfehler zusammen: er kennt überhaupt nicht den grund- legenden Unterschied zwischen arktischem und subarktischem Schamanis- mus, sondern erwartet, von vornherein in einer subarktischen Hochkultur dieselben Merkmale wie in den rein-arktischen Primitivkulturen wieder- zufinden. Aus diesen falschen Voraussetzungen sucht er dann leider ohne Rücksicht -auf die klaren Angaben der Quellen, die seid-Seance zu er- klären: Die Seherin soll in Lethargie fallen obschon dies in der

1 Die Rel. der Jugrer III 306 ff. 2 Galdrar 1923, 178 usw. 3 Eddastudie I 98 ff., 131? usw.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 1 12

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Eirikssaga unmöglich ist und es aus anderen Quellen wie der Frithiofssaga hervorgeht, daß bei Ohnmacht, die durch absichtliche Störungen eintritt, die volva von ihrem extrem hohen Sitz herabfällt und den Rücken zer- bricht. Die Angabe der Saga, daß durch das Lied die Geister herbei- gerufen wurden, betrachtet er als falsch und erklärt statt dessen den vardlokkur, der gemäß dem Texte der Seance vorangeht, als ein Lied wodurch nach der Seance die nie ausgeflogene Seele der niein Ohnmacht gefallenen Seherin zum Körper zurückgebracht werden soll. Zu dieser klaren Mißdeutung geriet er durch eine lediglich bedeutungsfrequentative Untersuchung von vodr, vard-, wobei er für eine Bedeutung „Freiseele“ in altem Tylorschen Sinn ein unbedeutendes Übergewicht gegenüber der häufigen und in nordischen Worten noch lebenden Bedeutung „Geist, Gespenst“ feststellen zu können glaubt. Dabei gibt der Text selbst durch das Erwähnen der Naturgeister so deutlich wie überhaupt nur mög- lich die andere Bedeutung „Geist“ von varð- an. Vardlokkur muß nach Strömbäck „Seelenzurückrufungslied‘“ bedeuten. Die einzige Parallele, die er dazu finden kann, ist eine in gewissen ziemlich sporadischen Quellenschichten des lappischen Schamanismus wie vor allem im Isaac Olsen-Manuskript auftretende Angabe, daß nach der Seance der Noide durch eine junge Frau aus der arktischen Lethargie auferweckt wird, wofür ihr der Noide einen sexuell stilisierten Dank darbringt. Das sollte dasselbe sein wie das Locklied Guöriös. Strömbäck hat dabei aber nicht gesehen, daß das Normative natürlich nicht die eine zufällig zu- gegen seiende Frau ist, sondern die von der Seherin ausdrücklich ge- forderten mehreren Frauen. Er unterscheidet nicht zwischen Typischem und Situationsbedingtem. Und daß eine oder meist mehrere Frauen dem Schamanen das Geisterherbeirufungslied vor der Seance vorsingen, ist aus dem ganzen arktischen Gebiet reich bezeugt. Bogoraz, Lehtisalo R Sirokogoroff, Vitasevskij, Rasmussen u. a. geben uns hier Material genug und auch auf lappischem Gebiete ist dies u. a. durch Solander, Forbus, Knud Leem und Sigv.Kildal festgestellt. Die einfache Danksprechung der Seherin ist mit den derben sexuellen Vor- schlägen des Lappennoiden um so weniger vergleichbar, wenn man die in altisländischen Texten wie der Gislasaga Surssonar sich findende Häufigkeit des Danksprechens auf Island bedenkt. Um aber eine textliche Grundlage für diese Deutung der Seance schaffen zu können, muß Strömbäck zunächst den klaren Wortlaut der einzigen ergiebigen Quelle verwerfen, und um dies tun zu können, erklärt er die ganze Saga als priesterlich gefärbte Glorifizierungsage der Gudridr Biskupamodir, obschon diese in der Saga nur eine Statistenrolle hat. Die seiöschilderung entspringt also nicht dem wohlbekannten und aus vielen Sagas klar durchschimmernden antiquarischen Interesse der Sagaschreiber, sondern

Arktischer Schamanismus und altnordischer seidr 179

steht da, nur weil die Saga eine Gudridrsaga sein soll und die christliche Guðriðr also sonderbarerweise durch das Ausiiben einer verächtlichen heidnischen Rolle des asozialen Kultes glorifiziert werden soll. Das Haupt- argument fiir den Charakter der Saga als Guöriörsaga geht aber vor allem aus eben der seidschilderung hervor. Also ein Circulus vitiosus! Um ferner vardlokkur als „Zurückrufungslied der Seele“ deuten zu können, ist sich Strömbäck bewußt, daß er die Angabe der Quelle verwerfen muß. Bei der Motivierung dieses Verwerfens heißt es „wie unten dargetan werden soll“: dieses „unten“ finden wir auf S. 134/35, wo es heißt „wenn ich trotzdem ... eine andere Erklärung (als eines Geisterherbeirufungs- lieds) wähle, kommt es daher, daß ich den Worten der Saga ,kuad margar paer náttúrur hingað hafa sótt etc. keine größere Bedeutung zumesse.“ Das will also, wie man sieht, besagen, daß das Verwerfen des Wortlauts derQuelle aufdieInterpretation von vardlokkur basiert wird, aber die Interpretation von vardlokkur wird auf das Verwerfen des Wortlauts der Quelle basiert. Also nochmals ein Zirkelbeweis! Zu all dem kommt aber noch, daß Strömbäck anderer Angaben der seidschilderung in der Eirikssaga rauda bedarf, damit nicht die Untersuchung in nur negative Feststellungen ausebben soll, da ja diese Quelle die Hauptquelle des nordischen seids ist. Deswegen muß er trotz seiner auf Storm und Nordal beruhenden Auffassung, daß die Saga so spät, etwa ein halbes Jahrhundert nach Snorri, verfaßt worden ist, der seiöschilderung eine sehr große Glaubwürdigkeit zusprechen, obschon Snorri augenschein- lich wenig vom seidr wußte. Nur die allerunzweideutigsten und zu den sonstigen subarktischen Seancebeschreibungen schön passenden Angaben betrachtet er ganz willkürlich als Mißverständnisse und Entstellungen des Sagaschreibers. Daß ein solches textkritisches Verfahren, wenn auch in viele vorsichtige Worte eingewickelt, ganz unstatthaft ist, muß ohne weiteres einleuchten. Die in so vielen Seancebeschreibungen vorkommende Angabe, daß das Geisterlied besonders schön war und deswegen die Geister herbeizog, glaubte der Verfasser auch der Unkenntnis des Saga- schreibers zuschreiben zu können. Die Literaturangaben Strömbäcks im Texte sowie manches andere zeigen, daß er seine Kenntnisse vom Schamanismus fast ausschließlich aus zwei kleinen Populärdarstellungen von Nioradze und Stadling geschöpft hat. Er zitiert Czaplickas Terminus „Arctic hysteria“, weiß aber nicht, daß Mii Czaplicka weiter unten im selben Kapitel diesen Terminus bestimmt ablehnt. Andere Quellen werden ganz zufällig angeführt, und man hat den Eindruck, daß der Verfasser sie nicht selbst gelesen hat, sondern, wie wohl der Fall bei Castren liegt, aus zweiter Hand darauf hingewiesen worden ist. Jedenfalls übt er nicht die geringste Kritik bei seinen schamanistischen 12*

180 A. Ohlmarks: Arktischer Schamanismus und altnordischer seidr

Quellen, weswegen auch falsche oder widerspruchsvolle Angaben, die von Castrén zu Nioradze gewandert sind, ohne weiteres gutgeheißen werden. Von solchen Kleinigkeiten, daß er die Rolle der Harfe im Sub- arkticum nicht kennt, oder daß er Sagas aus etwa 1500 als Quellen zum nordischen Heidentum gutheißt, soll geschwiegen werden. Es wäre noch viel mehr über dieses Buch und seine auffallend vielen Fehler in Bezug auf Tatsachen zu sagen. Gewiß trifft man auch auf richtige Beob- achtungen, aber es zeigt sich oft, daß viele von ihnen schon von Fritzner gemacht worden sind: so die Deutung von „drepa á vett“, vom Zauber- stabe als ursprüngliches Fluggerät (dann wohl von reinarktischen Gebieten eingedrungen). Aber auch ganz unrichtige Zusammenstellungen bei Fritzner kehren bei Strömbäck wieder, so die Gleichsetzung des seidjalls mit dem Schamanenhute und die Begrenzung des Vergleichs- materials auf die Lappen. Fritzner schrieb aber zu einer Zeit, wo eine Religionswissenschaft in unserem Sinne nicht existierte. Strömbäcks Buch ist im Jahre 1935 gedruckt. Wenn man zu einer Lösung des gar nicht leichten Problems vom altnordischen seidr und dessen Verhältnis zum arktischen Schamanismus vordringen will, ist es durchaus nötig, mit solchen Versuchen, wie dem Strömbäcks, gründlich aufzuräumen, be- sonders weil dies Buch bei Nicht-Fachleuten eine gewisse Zustimmung gefunden und somit vielleicht schon schweren Schaden angerichtet hat.

Inhaltsübersicht

Ohlmarks geht von den Ansichten der Psychologen über den arktischen Schamanismus aus und übernimmt die Meinung, daß es sich bei der Scha- manenseance um eine psychologische Erscheinung, eine Form der Hysterie, handelt. Er entscheidet folgendermaßen: .

Die hysterieauslösenden Faktoren sind in der NE NE Natur begründet, in den halbjahrlangen Tagen und Nächten, der großen Kälte, der Not und dem Mangel an Vitaminen usw. Die Hysterie ‘ist die notwendige Reaktion gegen diese Übel. Auf ihr und verwandten Geisteskrankheiten beruht der Schama- nismus. Dieser hat sich von der Arktis erst zu subarktischen Völkern ver- breitet. Man muß daher zwischen arktischem und subarktischem Schamanismus streng unterscheiden.

Eine wichtige Parallele zum typischen Schamanismus im subarktischen Gebiet findet O. im Altnordischen. Es handelt sich um den seiör, wie er im 4. Kap. der Eirikssaga rauda beschrieben und in der Dissertation D. Ström- bäcks, Upsala 1935, behandelt wird. O. lehnt dieses Buch im ganzen ab. Ström- bäck kenne nicht den Unterschied zwischen arktischem und subarktischem Schamanismus. Er verbinde daher den seiðr mit den schweren arktischen For- men und richte deshalb beim unbefangenen Leser Verwirrung und Schaden an.

Richard Thurnwald: Nachruf auf K. Th. Preuß u 181

NACHRUF AUF K. TH. PREUSS VON RICHARD THURNWALD IN BERLIN

Die Religionsforschung und die Völkerkunde haben mit K. Th. Preuß einen der eifrigsten Gelehrten von weiten Kenntnissen verloren. Sein Weg- gang hat wirklich eine Lücke gerissen, sowohl in der deutschen religions- wissenschaftlichen Forschung als auch in der Amerikanistik und Völker- kunde überhaupt. Dafür, daß die Lücke nicht auf Deutschland beschränkt ist, spricht der Umstand, daß die Hochschätzung des Auslandes ihm in Form vieler Ehrenmitgliedschaften erwiesen wurde.!

Besonders Amerika war das Land, auf welches sich hauptsächlich die Forschungen von K. Th. Preuß bezogen; dort ist dies dankbar aner- kannt worden. Von Jugend auf kreiste sein Denken um Amerika. Durch- aus wegweisend für seine ganze spätere Tätigkeit wurde seine Doktor- dissertation von 1894: „Die Begräbnisarten der Amerikaner und Nord- asiaten.“ Darin kam schon seine Neigung zu religiösen Bräuchen und zu den alten Völkern Amerikas zum Ausdruck, wie auch sein Streben nach wissenschaftlichem Vergleich. |

Preuß stammte aus Preußisch-Eylau, wo er zuerst die Prediger- schule besuchte. Vielleicht erhielt sein Geist dort die Richtung auf das Religiöse. Später besuchte er das Waisenhausgymnasium in Königsberg; dort bezog er auch die Universität, die er 1894 abschloß. Im März 1895

1 Z. B. von der Gesellschaft der Amerikanisten in Paris (1980), der Anthro- pological Society in Washington (1929) und der Italienischen Anthropologischen und Ethnographischen Gesellschaft in Florenz (1934). Er war korrespondieren- des Mitglied der nationalen Akademie für Geschichte von Ecuador, auswär- tiges Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Amsterdam (1928) sowie der Finnischen Akademie der Wissenschaften in Helsingfors (1933), der Wissenschaftlichen Gesellschaft „Antonio Alzate“ in Mexiko (1920), der Anthropologischen. Gesellschaft in Wien (1922), der Argentinischen Gesellschaft für geographische Studien „Gaea“ in Buenos Aires (1923) und vor dem Kriege (1904) der Russischen Anthropologischen Gesellschaft. Einen Tag nach seinem Ableben traf eine Anfrage um Mitgliedschaft seitens der British Academy ein.

Im Jahre 1932 wurde Preuß eine Ehrenadresse von dem 25. Internationalen Amerikanisten-Kongreß in La Plata gewidmet. Das Nationalmuseum für histo- rische Archäologie und Maya-Ethnographie machte ihn zum Ehrenprofessor (1983). Vorher hatte er die Bronzemedaille des Nationalmuseums in Mexiko zur Erinnerung an das hundertjährige Bestehen dieses Museums erhalten. Im Jahre 1916 bekam er den Preis der Herzog von Loubat-Stiftung der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Im Mai 1938 erhielt er die Schweinfurt-Plakette des Forschungsinstituts für Kulturmorphologie in Frankfurt a. M. An Orden erbielt er den Russischen Stanislaus-Orden J. Kl. im Jahre 1912 und das Kom- turkreuz des Ordens von Boyaca im Jahre 1936.

182 Richard Thurnwald

ging Preuß nach Berlin und trat als Volontär in das Museum für Völker- kunde, zuerst in die afrikanisch-ozeanische Abteilung ein und bald fes- selte ihn die Amerikanistik; unter Seler widmete er sich dem Sprach- studium. Von da an war seine äußere Lebensbahn gegeben. Er gab sich völlig seinen Lieblingsstudien hin und wirkte am Museum, wo er 1900 Direktorialassistent, 1908 Kustos wurde und 1912 den Professortitel erhielt. 1920 übernahm er mit der Amtsbezeichnung Direktor die nord- und mittelamerikanische Abteilung und wurde 1931 Dozent an der Universität Berlin.

Inzwischen hatte Preuß 1905—07 eine Reise nach Mexiko unter- nommen und dabei eine ungeheure Zahl von Texten der Cora und Hiuchol aufgenommen sowie große Sammlungen für das Berliner Museum mit- gebracht. Eine ähnliche Reise führte ihn 1913—19 zu den Uitoto und Kägaba-Indianern in Venezuela, wo er auch Ausgrabungen vornahm. Er war vom Kriege überrascht worden und konnte sich so sechs Jahre lang ausschließlich der Feldarbeit widmen. Für einen Mann mit seiner gründ- lichen Vorbildung und seinem bewundernswerten Fleiß bildete diese Zeit eine unvergleichliche Gelegenheit, immer neuen Stoff zu sammeln. Die Jahre seit dem Kriegsende waren daher der unermüdlichen und ununter- brochenen Verarbeitung seines mitgebrachten Materials gewidmet. Diese überaus mühselige Übersetzung und sorgsame Deutung der Texte hat er beendet, konnte aber leider die Drucklegung nicht mehr erleben. Für uns alle ist es eine Freude zu wissen, daß die Drucklegung dieser letzten wertvollen Arbeit des Verstorbenen gesichert ist.

Es ist nicht möglich, hier die große Liste von kleinen und großen Aufsätzen und Büchern aufzuführen. Das Verzeichnis enthält 148 Nummern. Die Arbeiten können dem Gegenstand entsprechend nach drei Haupt- gesichtspunkten unterschieden werden: 1. amerikanistische Arbeiten, die wieder unterzuteilen sind in a) solche an den sog. Naturvölkern Amerikas, b) an den Völkern des mexikanischen Kulturbereiches, c) Kolumbien, d) an anderen oder besonderen amerikanistischen Problemen und e) amerikanische Linguistik. 2. Religionswissenschaftliche Arbeiten. Aus den allgemeinen Arbeiten heben sich hier besonders die Studien über die höchste Gottheit heraus, die Preuß auch auf andere Naturvölker, z. B. auf afrikanische, ausgedehnt hat. Einen besonderen Platz nehmen die mythologischen Arbeiten ein. 3. die allgemein völkerkundlichen Themen. Dazu gehören einerseits die Bearbeitungen musealer Kunst- werke aus der Südsee und des malayischen Bereiches sowie von Schmuck und Gebrauchsgegenständen der Eskimo. Weiterhin hat sich Preuß mit den Frühformen des Dramas und mit allgemeinen Fragen zur Kunst der Naturvölker befaßt. Zur Beschäftigung mit Religion und Mythos trat also noch die Neigung besonders zur bildenden Kunst.

Nachruf auf K. Th. Preuß 183

Überwiegend, wenn auch keineswegs ausschließlich, fußte Preuß auf amerikanischem Material. Methodisch kann man seine Arbeiten in 1. be- chreibende und berichtende einteilen, zu denen insbesondere auch die vielen Texte von Liedern, Gebeten und Mythen gehören; 2. in zu- sammenfassende Arbeiten, wie Überblicke über die Religion der Natur- völker, insbesondere Amerikas, und 3. deutende Arbeiten, wie die über „das zweite Ich“.

Von den älteren zusammenfassenden und deutenden Werken ist eines der meistgelesenen, ganz besonders am Zeitpunkt des ersten Er- scheinens gemessen, das wertvolle kleine Büchlein: „Die geistige Kultur der Naturvölker“, das in der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt“ als Band 452 bei B. G. Teubner 1914 erschienen ist; 1923 kam davon eine zweite Auflage heraus. `

Es ist nicht verwunderlich, daß ihm diese Arbeit so besonders ge- lungen ist; denn Preuß war durchaus auf das Geistige gerichtet, auch wenn er an Museumsgegenstände heranging, und noch mehr, wenn er Sagen und Geschichten hörte. Es drängte ihn, nach Deutung und Be- deutung zu fragen. Er hatte nichts mit jener Gattung öden musealen Betriebes zu tun, die sich in möglichst denkfernem Beschreiben oder Abzeichnen von Gegenständen erschöpfte und damit den Gipfel von Exaktheit erklommen zu haben meinte. Darum begnügte Preuß sich nicht, wie es sonst häufig vorkommt, Texte schlecht und recht wieder- zugeben und zu übersetzen. Er verfiel auch nicht in den anderen Fehler, Mythen und Sagen ohne den Rückhalt der Texte aufzunehmen und nach eigner Phantasie umzudeuten. Es machte ihn zum zuverlässigen Ge- lehrten, daß er in strenger Zucht vorging, daß er die Texte sowohl genau übersetzte, d. h. wörtlich und sinngemäß, als auch, daß er auf Grund seiner Sprachkenntnisse und seiner vergleichenden Studien sich an eine gewissenhafte Deutung machte. Man muĝ selbst einmal so gearbeitet haben, um das Ausmaß von Geduld, Hingebung und Versenkung bei einer solchen Arbeit abschätzen zu können. Wenn man bedenkt, daß Preuß viele hunderte von Texten so bearbeitet hat und dann zusammenfassend zu deuten unternahm, so muß man so- wohl die Ausdauer und den Fleiß, wie auch seine geistige Leistung be- wundern.

Diese sorgfältigen Forschungen sind deshalb von so großem Wert, weil sie Zeugnisse der Geschichte des menschlichen Geistes sind, der Deutung des Geschehens, des Werdens und Vergehens, also der letzten Fragen, welche die Menschen seit jeher bewegen, und auf die auch Völker viel geringerer Kenntnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen ihre Antwort fanden. Die Antworten aber enthüllen die Art ihres Denkens auf Grund der Gegebenheiten, die ihnen zu Gebote stehen. Diese Gegebenheiten

184 Richard Thurnwald

werden keineswegs in gleicher Weise durch den Stand des Wissens be- stimmt. Der Stand der Kenntnisse hat eine grofe Bedeutung, wenn es sich um Fragen der Technik handelt. Eine etwas geringere, obwohl in nicht zu unterschätzender Weise, z. B. bei der Bewältigung von Krank- heiten. Es sind nämlich alle Menschen sterblich, und der Tod droht allen in gleicher, unabwendbarer Weise. Der Tod hat in den Menschen daher immer und überall die stärksten seelischen Bewegungen hervorgerufen und zum Nachdenken angeregt. Die von diesem Nachdenken und dessen Ausstrahlungen getragenen Vorstellungen und Gedankenreihen bezeichnen wir vor allem als religiös. Sie enthalten die Anerkennung von über uns Menschen stehenden Mächten. Aber ihre Formen hängen mit der ge- samten übrigen Lebensgestaltung zusammen und schlagen sich besonders in den verschiedenen Arten der Kunstübung nieder.

Bedenken wir das, so wird uns auch klar, weshalb Preuß die Fühler seines Arbeitsgebietes nach so verschiedenen Richtungen ausstreckte. Er war sich bewußt, daß die Religion eines Volkes eingebettet ist in dessen verschiedenartige Lebensbetätigungen. Sie ist in ihrer Wechsel- wirkung nicht loszulösen vom Schicksal und der Lebensgestaltung eines Volkes, wie z. B. religiöse Kopfjagden und Menschenopfer oder Wan- derungen und Kriege zeigen. Preuß faßte außerdem die Religionen, auch die der Naturvölker, als Gedankengebäude auf, nicht als ein Mischmasch verschiedener Einfälle oder Kulte, wie er das in einer Auseinandersetzung mit Boas hervorhob.

Er hat, kann man sagen, sein Leben lang mit der Abgrenzung zwischen Religion und Zauberei gerungen. Vor allem hat er sich gegen eine Ig- norierung der Zauberei im Religiösen ausgesprochen (z. B. in der Be- sprechung der zweiten Auflage von P. W.Schmidt’s Ursprung der Gottes- idee 1928). Ebenso erklärte er den Mythos (Lehrbuch für Völkerkunde S.68) „als das kaum jemals unumgängliche, notwendige Korrelat des Kultes, der religiösen Handlung“, sondern „als veränderlichen, uneben- bürtigen Faktor, der wohl Anlaß zu Erörterungen bot, aber keine wesent- liche Stelle in der Religion einnahm“. Vor allem wandte er sich, und mit Recht, gegen die verschiedenen Bestrebungen, teils von der Magie her, teils von der eine Zeitlang zur Zauberformel gewordenen Überbe- tonung des sog. „magischen Denkens“ her die Religion einfach als eine Art von Zauberei abzutun, ja ihr völlig gleich zu setzen. Ebenso wenig darf man nach Preuß den Kult mit Religion verwechseln. Mit Nachdruck be- tont Preuß (Lehrbuch S. 73), daß man an die Religion der Naturvölker nicht mit dem Gedanken „von etwas Absonderlichen und vom Glauben der Kulturvölker im Wesen Verschiedenem“ herantreten darf.

Gerade die eigene tiefe Religiosität gestattete Preuß, das Religiöse gereinigt von den Schlacken des Ausdrucks, der Symbolik und sonstiger

Nachruf auf K. Th. Preu8 185

Mittel der Mitteilung durch alles Geranke hindurch wabrzunehmen. Allein die innere Verwobenheit mit der Mystik bleibt bestehen (Glauben und Mystik im Schatten des höchsten Wesens. S. 12, Leipzig 1926). Preuß meint z. B., daß „die mystische Verwendung eines Gegenstandes stets von der Erfahrung vollständig getrennt sei“. „Aber der Glaube erweist sich auf jeder Stufe als eine völlig reale Größe, der Mensch hat ihn geschaffen als eine übernatürliche Ergänzung seiner nicht ausreichenden kausallogischen Fürsorge“. „Man kann einem anderen wohl klar machen, wie man zu einem Glauben gekommen ist, aber man kann ihm nicht logisch zu demselben Glauben verhelfen.“ Preuß meint, daß es sich bei den Naturvölkern nicht um eine besondere Denkart in dem Sinne handle, wie Levy Bruhl annimmt, sondern um Erlebnisse, die sich zu einer Art Glaubenssystem verdichtet haben (ebd. S. 13).

Durchaus klar ist die Stellung von Preuß zur Vorstellung vom Hoch-

gott. Diese hat er besonders treffend in der kleinen Schrift „Entwicklung und Rückschritt in der Religion“ behandelt (Heft 8 der Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft, 1932). Preuß will hier die Ge- stalt des Hochgottes gegenüber der des Heilbringers abgrenzen. Er be- -tont dabei wohl zum ersten Mal die große Bedeutung die in vielen (nicht allen) Mythen den persönlichen Ursachen zugeschrieben wird, d. h. der Verursachung durch Wollen und Handeln der Menschen. „Die gestaltende Kraft der Phantasie“ ergänzt den Helden dann leicht durch allerhand besondere Züge, durch Schicksale wirklicher Persön- lichkeiten, von Häuptlingen und Schamanen, die gelegentlich mit dem Heilbringer oder Kulturschöpfer identifiziert werden (S. 234). „Zur ursächlichen Festlegung alles Bestehenden“ werden nicht nur Einzel- heiten, sondern auch die Welt als Ganzes durch eine Schöpfung von Seiten einer Persönlichkeit gesichert. Diese Schöpfungen aus dem Nichts oder aus einem Chaos erscheinen bereits bei den Jäger-Sammler- völkern.

Der Unterschied dieser Weltschöpfer gegenüber den Kultur- und Heilbringern liegt nach Preuß darin, daß der Weltschöpfer irgendwie Ursache der Dinge ist, während der Heilbringer ausführendes Organ bleibt (S. 235). Der Heilbringer erscheint als eine mythische Gestalt, dessen religiöse Bedeutung damit erschöpft ist, „daß er den von ihm ge- schaffenen und eingeführten Dingen Bestand und Heiligkeit verleiht.‘ Er wird aber nicht angerufen noch werden ihm Opfer dargebracht. Ein solcher Heilbringer „verrichtet seine Taten manchmal nach eigener Laune und, wie zufällig, gelenkt von seinen Trieben“. Der Zweck des Mythos ist nicht die Gestalt des Heilbringers an sich, sondern die ur- sächliche Begründung und Festlegung der von ihm getroffenen Ein- richtungen“ (S. 236).

186 Richard Thurnwald

Im Gegensatz dazu ist der sog. Hochgott ganz anderer Natur. Obwohl er sich nicht mehr um die Welt zu kümmern braucht, weil er alles vor- trefflich eingerichtet hat, gilt er doch oft nach wie vor als der, durch dessen Willen die Kinder in die Welt kommen, und der den Tod sendet. Er überwacht das gesetzliche Geschehen der Welt, und die Kulte erscheinen als ein Akt des Gehorsams gegen diesen Schöpfer, wie Preuß das bei den Kägaba festgestellt hat. Vernachlässigung der Kulte be- deutet Mangel an Gehorsam und die Gefahr der Bestrafung im Gedeihen der Welt und des betreffenden Volkes. Gebet und Opfer kommen, wenn auch selten, doch häufiger als bei den Heilbringern vor (S. 236f.). Der Hochgott zeigt, oft im Gegensatz zum Heilbringer, ein würdiges Wesen, ihm werden mitunter auch ethische Gebote zugeschrieben. Da sich jeder Stamm und jede Gruppe als Mittelpunkt der Welt fühlt, betrachten sich diejenigen, welche dieselben Gottesgestalten pflegen und die gleichen Kulte verrichten, als unter allen Menschen bevorzugt. Das geht so weit, daß Stämme wie die Kägaba, bei denen Preuß umfangreiche Studien vornahm, sich verpflichtet fühlen, durch ihre Riten für ihre Nachbarn zu sorgen, die diese Kulte nicht kennen. Das eigentliche sittliche Verhalten, wie es besonders bei Reifeweihen und Einführungsfesten gelehrt wird, kann indessen nur selten auf den Hochgott zurückgeführt werden. Hierbei handelt es sich, nach der Ansicht von Preuß, mehr um den Niederschlag der Meinung der Klan- und Stammesgenossen“, Mei- nungen die als Ausfluß uralter Zeit und als mythisch gelten. Solche Meinungen pflegen weder vom Hochgott noch vom Heilbringer be- ‚glaubigt zu werden. Es handelt sich um das Verhalten der Heranwachsenden zu den Älteren, um Lüge, Diebstahl, usw. Das Übertreten solcher Er- ziehungsvorschriften zieht keine göttliche Strafe nach sich. Ganz anders liegen die Dinge bei magisch-religiösen Vergehen. Preuß schlägt vor, deren Übertretungen als „Sünden“ zu bezeichnen, weil die Über- tretung automatisch bestraft wird. Denn hier kommt Verletzung von Wesen und Dingen als geheimer Kraftträger in Betracht. Durch die Sünde ist bei dem, der sie begeht, auch eine Art Befleckung zurück- geblieben, die durch Abwaschen, Blutlassen, Übertragung auf einen Sündenträger (Sündenbock), Beichte usw. beseitigt werden kann. Bei den ‚Sünden läßt sich selten feststellen, von wem eigentlich die Bestrafung ausgeht. Preuß meint (ebd. S. 240), daß die Naturvölker „ganz unter dem Bann der Überlieferung aus uralter Zeit stehen, und daß sie darin das Beständige in allen Einrichtungen der Welt und der Menschen sehen“. Bezeichnend ist, was Preuß diesbezüglich von den Uitoto- Indianern berichtet (Religion und Mythologie der Uitoto, Göttingen 1921—23, U, S. 659), die ihm in ihrer Sprache als einleitende Worte der Überlieferung eines Festes mitteilten: „Im Anfang gab das Wort

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Nachruf auf K. Th. Preuß 187

dem Vater (d.h.dem obersten Gott) den Ursprung“. Mittels des Wortes schafft die oberste Gottheit das Wasser und anderes. Im Wort liegt hier die schaffende Kraft.

Allerdings sind diese Schöpfer- und Hochgottgestalten oft recht ver- schiedenartig, wie Preuß selbst bei den Kägaba-Indianern erfuhr. Dort erscheint die allerhöchste Gottheit als Allmutter, aus deren Schoß alle Naturdinge, d. h. Menschen und Dämonen, hervorgegangen sind. Folge- richtig ist von einer Weltschöpfung nicht die Rede, da wir die höchste Gottheit selbst als Verkörperung der Welt ansehen müssen (in Psychol. Forschungen II 3/4 1922, S. 168). In der Unpersönlichkeit gewisser Hochgötter liegt es nach Preuß auch begründet, daß sie nur „als ein Instrument der Kraft erscheinen, keine Frau und keine Kinder haben, keine Nahrung zu sich nehmen und keine Körper besitzen“. Diese Eigen- schaften werden bei den Kägaba als Ideal auch von den Priesternovizen verlangt, damit diese übernatürliche Kräfte erlangen.

Preuß sucht sehr sorgfältig zwischen dem religiösen Gebet und dem Übergang zur Zauberei zu unterscheiden (S. 245). Doch will er das Opfer nicht unbedingt als Zauberhandlung auffassen und z. B. das Pri- mitialopfer, das Erstlingsopfer, „als bloße Anerkennung der Gottheit als Eigentümerin der den Menschen gespendeten Nahrung“ ansehen. Es kommt indessen, wie Preuß hinzufügt, darauf an, ob es sich um eine Gegengabe für Erfüllung von Wünschen darstellt.

Bezeichnend ist in dem Aufsatz über „Entwicklung und Rückschritt in der Religion“ der Standpunkt des Verf. zum Schluß folgendermaßen umschrieben: „Die Religionsänderung ist nicht eine Folge besseren Wissens, sondern ein psychologischer Vorgang, den man nur ahnen kann. Jeden- falls ist eine Demütigung vor Gott und der Zauberglaube unvereinbar. Doch kann man auch nicht von einer Entwicklung sprechen, d.h. von einer Änderung zu höheren Formen, da die Religion überhaupt unserer Einsicht entzogen ist und nicht einem Werturteil zugänglich wie Wissen- schaft und Technik. Auch liegt in dem Sieg der Gottesanbetung kein Beweis für ihre absolute Überlegenheit, da sie verhältnismäßig jung ist und wir Eintagsfliegen nicht ahnen können, wie lange die Menschheit die mit den Erlösungsreligionen verbundene Zerknirschung ertragen kann, ohne in frühere Formen zurückzuverfallen.“ Das schrieb Preuß 1932.

Wie schon erwähnt, steht an der Schwelle religiöser Empfindungen die Gestalt des Todes. Damit hängt die Frage nach dem Fortleben nach dem Tode zusammen. Den Lösungen dieser Frage bei Naturvölkern hat Preuß seine Aufmerksamkeit wiederholt zugewendet. Er meint: „Wenn man die Tatsachen über den Glauben der Naturvölker an ein Fortleben durchgeht, so findet man, daß Befürchtungen für das Wohl der Über-

188 - Richard Thurnwald

lebenden und die Sorge, sich von dem Toten dauernd zu befreien, im Vordergrund stehen“. Angst und Schrecken, daß das eigne Wohlergehen

bedroht sei, überwiegen die Trauer um den Verlust des Familienmit-

gliedes bei weitem. Preuß erklärt dies mit der Meinung, daß die Auf- fassung der Naturvölker „im Gegensatz zu den Erlösungsreligionen voll- ständig auf dem Boden des Diesseits steht“. Die Trauer um den Toten

und die Sehnsucht, selbst einmal weiter zu leben, können demnach nicht

zur mystischen Durchbrechung der Erfahrungswelt führen (Glauben und Mystik im Schatten des höchsten Wesens, Leipzig 1936, S. 19). Die Furcht vor dem Toten deutet Preuß als die Furcht vor der zum Tode führenden Krankheit. „Der Tote enthält gewissermaßen das den Tod veranlassende Übel in sich und verkörpert es.“ Darauf führt Preuß die Macht des Toten zurück, der aber im mystischen Zusammenhang mit den Lebenden bleibt und so die Gemeinde bedroht, der er bisher an- gehört hat. Daraus werden die zahllosen Formen von Zeremonien ab- geleitet. Daß in den Totenklagen häufig die Beteuerung enthalten ist, am Tode nicht schuld zu sein, soll den Toten abhalten, sich an den Klagenden zu rächen.

Im Anschluß hieran wendet sich Preuß der Frage der Logik zu und meint, daß diese Frage falsch gestellt sei, weil es sich um ein mystisches Erlebnis handle. Ebenso wenig werde Wert darauf gelegt, daß der Mensch nach dem Tode ewig lebe. „Im Gegenteil, es herrschte die An-

schauung, daß er nach einigen Generationen doch zugrunde gehe, wenn ©

er nicht etwa wiedergeboren wird.“ Selbst da, wo ein Totenkult herrscht, dauert die Verbindung mit dem Verstorbenen etwa nur bis zur dritten Generation. Auch in Amerika ist das nicht anders mit der Verehrung von Mumien und Bildnissen der Toten. Der Tote lebt nur so lange als die Erinnerung an ihn besteht. Diesen flüchtigen Überblick über die Auf- fassungen, die Preuß vom religiösen Leben der von ihm vorwiegend unter- suchten Völker hatte, kann ich nicht abschließen, ohne seiner sprach- wissenschaftlichen Studien zu gedenken. Preuß erkannte die Sprache als das Tor zur Seele und zum Geist der Völker und mußte sich daher veranlaßt fühlen, die Sprachen der Völker zu erlernen, mit denen er in Berührung kam und von denen er Texte erhalten hatte. Das ist aber keine leichte Aufgabe. Denn man findet selten gedruckte oder fertige Grammatiken vor, nach denen man die Sprachen erlernen kann, noch weniger Wörterbücher. Preuß war, wie auch andere in ähnlicher Lage, genötigt, aus den gesprochenen Sätzen die Worte heraus zu gewinnen, und dann die Zusammenhänge und den sprachlichen Aufbau zu erschließen: eine äußerst langwierige und mühevolle Arbeit. Er hat mehrere solche Grammatiken und Vokabulare, z. B. von den Kägaba und den Uitoto, verfaßt, welche die Grundlage bilden, um die Texte nachzuprüfen und

Nachruf auf K. Th. PreuB 189

so in das Denken und die Vorstellungswelt dieser Indianerstämme ein- zudringen. Preuß verlangt von uns nicht, wie das mitunter geschieht, daß wir seinen Berichten blindlings Glauben schenken, sondern ver- schafft uns ehrliche Einsicht in die Art seiner Ermittlungen. Darin kommt auch die Aufrichtigkeit und Lauterkeit seines Charakters zum Ausdruck. Er war‘nicht auf Sensation aus, sondern ein ehrenhafter Ge- lehrter.

Plötzlich und unerwartet ist Preuß nun aus unserer Mitte gerissen worden. Seine vielseitige wissenschaftliche Betätigung ist wie sein Lebens- faden mit einem Ruck abgeschnitten worden. Das Lebenswerk aber, das er hinterlassen hat, ist ein Denkmal, das nach zwei Richtungen dauernd sein wird: 1. durch die dokumentarischen Aufzeichnungen und Texte von seinen Reisen und 2. durch sein Durchdenken des großen religions- wissenschaftlichen Materials im weitesten Sinne des Wortes, von dem hier versuchte wurde, nur sehr ungefähre Umrisse zu geben.

Die Berliner Religionswissenschaftliche Vereinigung wird ihn als Träger weiten Wissens und ernsten Eifers für die religionswissenschaftliche Forschung stetig entbehren. Ebenso läßt er das ethnologische Kolloquium verwaist zurück, das er freundlich und freundschaftlich zu betreuen pflegte. Die Völkerkunde selbst wird ihn als einen Mann vermissen, der seinen eignen Weg ging, obwohl er an allen Bewegungen der Wissenschaft Anteil nahm. Aber er ließ sich nicht von einer „Methode“, einer Doktrin einfangen. Seine Methode bestand im wahren Forschen an den Quellen und in deren Auswertung. In dieser Beziehung gibt es nur eine einzige Methode, nämlich die ernste Arbeit ohne Anmaßung und ohne Umtriebe. Dieser Methode hat Preuß sein Leben gewidmet, und so ist er auch in den Tod gegangen. Er war ein guter und idealistisch gesonnener Deut- scher. Sein Lebenswerk liegt beschlossen vor uns. Und so wie er von den Naturvölkern sagt, es lebt der Mensch, so lange sein Andenken lebt, möchte ich wünschen, daß diese Vereinigung vor allem beitragen möge, sein Andenken viele Geschlechter hindurch zu bewahren, auf daß Konrad Theodor Preuß noch lange lebe!

190 Zu einem neuen Calvinbuch

ZU EINEM NEUEN CALVINBUCH

Imbart de Ja Tour, Pierre: Calvin. Der Mensch, die Kirche, die Zeit (Übers. v. Eug. Gottlob Winkler). München, Call- way 36. 474 S. m. 22 Abb. gr. 8. 8,50, Lw. 10,—.

Mit diesem Buch des bedeutenden französischen Historikers liegt endlich ein lebendig geschriebenes, umfassendes, von den Einseitigkeiten einer konfessionellen und dogmatischen Geschichtsbetrachtung sich frei- haltendes Werk über Calvin vor. Der Verf. gruppiert die Fülle seines Stoffes in drei Teile. Der erste Teil handelt von der Persönlichkeit und dem Lebenswerk Calvins, während der zweite und dritte Teil mehr in die spezielle Kirchengeschichte Frankreichs hineinführt und daher we- niger das allgemeine religionsgeschichtliche Interesse beansprucht.

Als Leitsatz des ersten Teiles können folgende Worte des Verf. über Calvin gelten: „Eine Erklärung seiner Persönlichkeit läßt uns sein Werk besser verstehen und macht es möglich, ihn in der allgemeinen Religionsgeschichte an dem entsprechenden Platz einzuordnen“ (S. 124)! So will der Autor zunächst durch eine Darstellung der Jugend- eindrücke Calvins uns den Schlüssel zum Verständnis seiner späteren Wirksamkeit in die Hand geben. Die düstere Atmosphäre seines Eltern- hauses und das heftige Temperament seines Vaters, dann die Schule in Montaigu, in der „es Fasten, Ungeziefer und Schläge im Übermaß gab“ (S. 11), konnten nicht ohne bestimmenden Einfluß auf sein späteres Lebenswerk bleiben. Von entscheidender Bedeutung wurde dann für Calvin, der ja vornehmlich ein Gehirnmensch war, die Zeit seines Stu- diums. Hier wird sein Denken durch drei Elemente geprägt: Einmal durch die Methode der mittelalterlichen Dialektik, die auf dem theo- logischen Seminar von Montaigu damals immer noch die herrschende war. „Calvin blieb ein Schüler der Scholastik, auch indem er sie be- kämpfte“ (S. 13). Die zweite Grundstruktur seines Geistes erklärt sich aus seiner Berufsausbildung zum Rechtsgelehrten. Gerade dieser starke juristische Einschlag „sollte auch den Genfer Meister zum Mann der strengen Regel und zum Theologen des Gesetzes machen“ (S. 15). Die dritte entscheidende Beeinflussung seines Denkens erfolgt von der Antike her. Als ihm der Tod seines Vaters, auf dessen Wunsch er überhaupt Jurist geworden war (vgl. Luther!), freie Verfügung über seine Neigungen gibt, da widmet er sich der klassischen Literatur. „Hier, schien es, lag seine geistige Berufung... Er träumt eine Stellung in den literarischen Kreisen einzunehmen und sich einen Namen zu machen. April 1532 betritt er die Kampfbahn mit seinem ersten Buch, einem Kommentar zu dem Buche von Seneca, De clementia“ (S. 16). Und doch baute er nur an einem Punkte die Antike in sein System ein: Er „über- nahm die Theorie des Staates und der Staatsführung sowohl von Aristo- teles wie von Seneca: ... Keine Gesellschaft kann leben ohne Autorität.

Zu einem neuen Calvinbuch | i 191

Diese Autorität begreift Calvin nach dem Vorbild des Stoizismus als eine Bevormundung; schon hat er den Abscheu vor der Masse und hält das gemeine Volk nicht für fähig, sich selbst zu lenken“ (S. 21 u. 22).

Zu diesen drei „Grundschichten von Calvins Geistigkeit“ (S. 15) tritt als bestimmend für sein Wesen seine religiöse Entwicklung hinzu. Gerade die Beschäftigung mit der Antike hat, in der bewußten Abgren- zung ihr gegenüber, die charakteristischen Merkmale seiner Glaubens- anschauung ausgelöst. An der Wirklichkeit des Lebens zerbricht ihm das stoische Vernunftideal und erkennt er die sittliche Ohnmacht des Men- schen. Für Seneca ist die Grausamkeit eines Nero, die zu einer Wollust wird, unfaßlich; Calvin zieht daraus die Konsequenz: Die menschliche Natur ist sündig und verderbt. So schlug „bei dem jungen Humanisten eine Reaktion gegen den Optimismus der Renaissance“ (S. 27) durch. Dieses eigene Erlebnis verbindet sich mit religiösen Einwirkungen von außen. In der Stadt des Bischofs von Noyon ist er „seit seiner Kindheit in Kreisen groß geworden, die mit der Reformation sympathisierten“ (S.24). Längere Zeit steht er unter dem Einfluß des erasmischen Reform- katholizismus und darauf des Mystikerkreises von Meaux. Durch die Be- kanntschaft mit Luthers Schriften „war er Anhänger der Mystik der Gnade und der Rechtfertigung durch den Glauben geworden... Und war nun einmal der Grundsatz von der Rechtfertigung durch den Glau- ben zugegeben, so konnte der klare und strenge Geist dieses Logikers nicht umhin, die Konsequenzen daraus zu entwickeln.... Das ist der entscheidende Bruch; und er ist es vielleicht, den Calvin gemeint hat, wenn er von dieser plötzlichen Bekehrung spricht“ (S. 31 u. 32). „Man kann nicht bezweifeln, daß er sich unter dem Einfluß des Luthertums von der alten Kirche gelöst hat“ (S. 42). „Wenn er mit seinem Mora- lismus Franzose, mit seinem Sinn für das Soziologische Katholik ist, so ist er in seiner Theologie deutsch“ (S. 173). So ist Calvin nach des Verf. Anschauung theologisch ein Schüler Luthers; lediglich seine Prä- destinationslehre geht in ihren Wurzeln auf Zwingli und Bucer zurück.

Im weiteren Verlauf des ersten Teils schildert dann Imbart de la Tour die „Eroberung Genfs“ (seine dortigen Gegner sind die „nationale Partei“!), die Errichtung der Theokratie in diesem „Neuen Rom“ und die Beziehungen zu den anderen Reformatoren. Der dritte Abschnitt dieses ersten Teils bringt dann zur Beurteilung der Gestalt. Calvins eine Fülle von interessanten Einzelheiten aus seinem Leben und eine Würdigung seiner Persönlichkeit. Bei aller Anerkennung der Größe und Genialitit des Genfer Reformators macht uns der Verf. auch mit den weniger be- kannten Schattenseiten und Einseitigkeiten seines Wesens vertraut. Calvin hat keinen Sinn für die Naturschönheiten seiner Genfer Wahl- heimat, kein Verständnis für die Kunst (Bilderstürme, Einschmelzung der Glocken, Abschaffen der Orgeln!); in seinen theologischen Beweis- führungen schreckt er nicht vor Advokatenkniffen zurück, die Methode der Bekämpfung seiner Gegner ist oft mehr als fragwürdig, den ehren- werten Castellio beschuldigt er sogar des Diebstahls; bei aller Kühnheit

192 | Zu einem neuen Qalvinbuch

seiner Absichten und Entschlossenheit seines Handelns wagt es dieser Mann der Studierstube fast nie, in Öffentlichen Versammlungen der Masse des Volkes entgegenzutreten; selbständige Persönlichkeiten in seiner Umgebung kann er nicht ertragen, dagegen läßt er einen regel- rechten Kult seiner eigenen Person treiben und verträgt es beispiels- weise nicht, wenn jemand seine Predigt einmal für schlecht hält oder ihn begrüßt, ohne ihn mit dem Titel „Herr“ anzureden. Der Abschnitt über die Religiosität Calvins zeigt, daß er trotz allem ein Mann tiefster Frömmigkeit war und daß sich hinter der Strenge dieser aus- gezehrten Gestalt doch ein menschliches Herz verbarg (S. 138—-161).

Der zweite und dritte Teil des Werkes enthält nun eine groß- artige Zusammenschau der Kirchengeschichte Frankreichs mit seiner politischen Geschichte und Geistesgeschichte, von der Zeit des ersten Auftretens reformatorischer Tendenzen auf französischem Boden bis zum Tode Heinrichs II. (1559), wo dann die Darstellung unvermittelt und abrupt abbricht und sich ursprünglich wohl eine spätere Fortsetzung anschließen sollte. Der Verf. will hier zeigen, wie die Reformation in Frankreich erst dann ihren eigentlichen Siegeszug antrat, als das orga- nisatorische und politische Genie eines Calvin ihr durch Ausschaltung der „Spirituellen“ und ,,Nikodemiten“ eine einheitliche Ausrichtung gab. . Was an dem Buch zu Kritik herausfordert, ist rein sprachlicher Natur und geht wohl in der Hauptsache zu Lasten des Übersetzers. Einmal sind eine Reihe französischer Worte teils beibehalten (wie „Ex- posé“, „Raisonnement“), teils sehr schlecht verdeutscht („Evangelismus“ statt „Biblizismus“, „Lutheranertum“ statt „Luthertum“). Zum anderen läßt die Übersetzung stellenweise stilistisch sehr zu wünschen übrig (z. B. folgender Satz, S. 54: „Will man also verstehen, was er gewollt hat, so muß man die Umstände kennen, unter denen er gekommen ist“). Und drittens hat der Verf. auf theologischem Gebiet eine besondere Be- griffsprache, die sehr verwirrend wirken kann, so etwa, wenn wir wieder- ‚holt von der „Schwärmerei Luthers“ lesen, oder, wo es noch unerträg- licher ist, wenn Calvin in dem Kapitel über seine Frömmigkeit als „Mystiker“ bezeichnet wird; jedenfalls kann man die Gnadenreligion eines Augustinus noch lange nicht „Mystik“ nennen.

Abschließend kann gesagt werden, daß in diesem Werk die spezifisch französische Ausprägung der Reformation von der berufenen Hand eines französischen Forschers eine meisterhafte Darstellung gefunden hat. Der deutsche Leser wird immer unwillkürlich seine Vergleiche zu Luther ziehen.

Marburg (Lahn). Walter Engels.

Verantwortlich für den Inhalt: Prof. Dr. Walther Wüst, München 23, Wilhelmstr. 15. Printed in Germany. Verlag und Druck von B. G. Teubner in Leipzig.

G. Kazarow. Ein neues thrako-mithrisches Relief

Tafel ]

Abb. 1. Thrako-mithrisches Relief aus Béla-Cerkova

E. Wüst, Die Seelenwägung in Agypten und Griechenland Tafel U

Dinos 235 des Kunsthistorischen Museums in Wien

2

Abb.

BEITRAGE | ZUR VERGLEICHENDEN RELIGIONSGESCHICHTE

I. EIN VERGESSENER DEUTSCHER RELIGIONSFORSCHER VON R. F. MERKEL IN MÜNCHEN

Die Religionsgeschichte gehört zu den Wissenschaftszweigen, die besonders in Deutschland am schwersten sich durchzusetzen vermochten, weil ihre Berechtigung im Rahmen der akademischen Studien mancherlei Bedenken unterlag. Darauf hat der bekannte Vertreter dieses Fachs Alfred Bertholet-Berlin anläßlich seiner Aufnahme unter die ordent- lichen Mitglieder der Preuß. Akademie der Wissenschaften in Berlin (30. Juni 1938) ganz besonders hingewiesen, wenn er u. a. sagte!: „Die Opposition gegen die Allgemeine Religionsgeschichte kam nicht allein von seiten der Kirche, die von ihr aus einem in Wahrheit klein- gläubigen Glauben eine Gefährdung der Absolutheit ihres Dogmas befürchtete, sondern, was wissenschaftlich ungleich schwerer zu nehmen ist, von seiten einer Philologie, die den Religionshistoriker gerne mit dem Makel des Dilettanten behaftet, weil er die Quellen der Religionen, die er in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen hat, nur zu einem kleinen Teile in ihren Ursprachen zu lesen vermag. Gewiß liegt in diesem Vorwurf ein gut Stück Berechtigung; denn das wäre ein schlechter Religionshistoriker, der nicht strenge Philologie als Grundlage jeder zuverlässigen religionsgeschichtlichen Forschung anerkennte; und der Illusion wird keiner sich hingeben, als vermöchte selbst die beste Über- setzung eines heiligen Textes an den Geist des Originals je heran- zukommen. Darum bedarf, wenn Selbstbescheidung erste Tugend jedes wissenschaftlich Arbeitenden ist, ihrer niemand mehr als derjenige, dessen Arbeitsgebiet nicht weniger als die Religionen sämtlicher Völker und aller Zeiten umspannen möchte.“ In dieser Rede weist A. Bertholet auch darauf hin, daß die Universität Basel eine der ersten gewesen sei, die seit 1837 Vorlesungen über Religionsgeschichte aufzuweisen habe. Nun läßt sich aber nachweisen, daß schon am Ende des 18. Jahrh. Vorlesungen über „Allge- meine und besondere Religionsgeschichte“ an der Universität

ı Vgl. Sonderdruck aus den „Berl. Sitzg.Ber.“ vom 30. Juni 1938; anschließend hielt Bertholet als Mitglied einen Vortrag „Über kultische Motivverschiebungen“ (Sonderausg. aus den B.S.B. Phil.-hist. K1. 1938. XVIII (Bln. 1938)).

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zu Gottingen angekiindigt wurden, und zwar von dem damaligen Privat- dozenten Christian Wilhelm Flügge, der nach Ausweis der Götting. Gel. Anzeigen bereits am 16. September 1797 eine Vorlesung über „Allgemeine und besondere Religionsgeschichte“ ankündigte und dieselbe zwei Jahre später (1799) wiederholte, während er am 16. März 1799 über „All- gemeine und besondere Geschichte der Religionen“ zu lesen gedachte. So darf wohl Chr. W. Flügge als der erste deutsche Dozent an- gesehen werden, der in seinen Vorlesungsplan an einer deutschen Uni- versität dieses Wissenschaftsgebiet einbezog, das dann nach seinem allzu frühen Weggang von der Universität von einem anderen Fakultäts- mitglied, Dr. Stäudlin, übernommen wurde, der im Jahre 1801 eine Vorlesung über „Allgemeine Religionsgeschichte“ ankündigte.

Christian Wilhelm Flügge gehört zu den Dozenten, die am Beginn ihrer Laufbahn in selbstloser Hingabe eine reiche Fülle von Schriften ver- faßt haben und wohl auch höchst anregend in ihren Vorlesungen wirkten, denen aber die Gunst des Schicksals versagt blieb, und die im Lebens- kampf nicht durchzuhalten vermochten, sondern in einen praktischen Be- ruf zurückkehrten, um hier, der Not des Daseins entronnen, ihre reichen Kenntnisse auszuwerten. Die kurzen biographischen Notizen und Nekro- loge der gleichzeitigen oder späteren Handbücher geben uns kein ge- rechtes Bild dieses vielseitigen Gelehrten, dem wir die erste „Einleitung in das Studium der Religionsgeschichte“ sowie in ihre Literatur ver- danken (erschienen 1801 zu Göttingen in dem noch heute bestehenden „Vandenhöck und Ruprechtschen Verlag“). Geboren am 7. Dezember 1773 als der einzige Sohn und Erbe eines angesehenen Handwerksmannes in dem lüneburgischen Städtchen Winsen an der Luhe war er dazu bestimmt, das väterliche Handwerk zu übernehmen. Allein seine Begabung und sein Fleiß trieben ihn dazu, sich dem theologischen Studium zu widmen. So war es möglich, daß er bereits im Alter von 18 Jahren die Universität zu Göttingen bezog, um Philosophie und Theologie zu studieren. Flügge wurde dann als Privatdozent und Repetent in die Theologische Fakultät aufgenommen und hat in siebenjähriger Tätigkeit eine ganze Reihe von z. T. größeren Werken verfaßt, die meist theologische Fragen behandeln, aber auch wiederholt wichtige Beiträge zur Religionsgeschichte bieten, so seinen „Versuch über das Studium der Religionsgeschichte“ (1797) und seine Abhandlung „Über die Ostara der alten Sachsen“ (1797) sowie im gleichen Jahre seine „Beiträge zur Geschichte der Religion und Theo- logie und ihrer Behandlungsart“. Wohl im Zusammenhang mit seiner schon erwähntenVorlesung über „Allgemeine und besondere Religionsgeschichte“ entstand der erste Teil dieser ‚Beiträge‘, der sich ausschließlich mit reli- gionsgeschichtlichen Fragen befaßt und zunächst „Über die Mythologie der Hindus“ (S. 1—97) handelt. Schon in der Vorrede bedauert es Flügge,

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daß „die leidige Dogmatik die Funktionen des Religionshistorikers ge- hemmt und auf bloße Sammlung dessen, was andere Völker für Religion hielten, beschränkt habe ... Die Geschichte der Religionen war, wie ehemals die Geschichte der Philosophie, mehr Geschichte der mensch- lichen Torheit als Geschichte des menschlichen Geistes. Man fand überall nur die gröbsten Irrtümer, wo man Wahrheit, freilich verhüllte Wahr- heit, hätte finden können.“ Als Ziel einer solchen ihm vorschwebenden Religionsgeschichte gibt er an, „sie müsse zeigen, wie die verschiedenen Formen und Arten der Religion unter den Menschen entstanden seien, welchen Einfluß jede derselben auf den Menschen und seine Denk- und Handlungsweise gehabt habe“. Freilich erkennt Flügge sehr deutlich, daß die Verwirklichung eines solchen Ideals einer Religionsgeschichte so lange nicht möglich sei, als nicht die Geschichte der Religionen einzelner Völker, einzelner Glaubensarten und Dogmen und andere damit in Verbindung stehende Punkte vollständiger und befriedigender be- arbeitet sind, als es bis jetzt geschehen sei. Bis dahin würde eine all- gemeine Religionsgeschichte noch immer viele Mängel und Lücken haben, weil es nicht das Werk eines Mannes sein könne, alle propädeutischen Untersuchungen und Vorarbeiten auf sich zu nehmen, die eben erforder- lich sind, jenes Ideal zu verwirklichen.

Überzeugt von der hohen Bedeutung der geistigen Kultur der Inder bedauert er lebhaft die schwankende Ungewißheit, in der seine Zeit sich befinde... die Urgeschichte der indischen Kultur sei für uns ein ver- schlossenes Heiligtum. Sei es doch zu einem System indischer Religion und Mythologie noch viel zu früh, solange wir noch so wenig von indi- schen Glaubensbüchern kennen und religiöse, philosophische, historische Mythen und Volksbegriffe unter einander gemischt sind (S. 11). Für den besten Führer in der indischen Mythologie hält Flügge Fr. Paulinus a Sancto Bartholomaeo, aus dessen ‚Systema Brahmanicum Liturgi- ` cum mythologicum civile. Ex Monumentis indicis Musei Borgiani Velitris Dissertationibus Historico-criticis‘ (Romae 1792)! er seine Mitteilungen über die hinduistischen Gottheiten (Brahma, Vishnu, Shiva, Sarasvadi, Laekshmi, Parvadi oder Bhavani) entnimmt; scheint doch der Mythologie der Inder ... die Idee von einem höchsten, intellektuellen Wesen zu- grunde zu liegen, welches mehr oder weniger in den vielen mytholo- gischen Vorstellungen hervortritt (S. 42 Über das höchste Wesen der

1 Über ‚Paulinus a Sancto Bartholomaeo‘ s. E. Windisch ‚Geschichte der Sanskrit- Philologie‘, 1917, 20ff.; W. Wüst, ‚Geschichte der indogermanischen Sprachwissenschaft' (II. T. 4. Bd., 1. Hälfte). ‚Erforschung der indogermanischen Sprachen‘, 1929, 11. Ferner: J. Fr. Kleuker, ‚Will. Jones’ und anderer Mit- glieder der gelehrten Ges. zu Kalkutta Abhandlungen über Geschichte und Alter- tümer, die Künste und Wissenschaften und Literaturen Asiens übersetzt und

mit Anmerkungen versehen‘ Bd. IV (Riga 1797). 18°

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Hindus). Neben einzelnen Verwandlungen Krsnas—Visnus wird auch als Symbol der Weisheit und Klugheit Gaenesha sowie Yama, der Richter der menschlichen Handlungen, und Indra als König des Firmaments genannt. Abschnitte: ‚Über den Tierdienst der Hindus‘ und ‚Über die dogmatischen Sekten‘, in welche sich die Brahminen teilen (Vishnuviten, Shiveniten, Smarta, Pasbandisten (= Pashubandisten), Shaktisten oder Parashakti- sten), folgen, um dann mit der Wiedergabe der Nachrichten des deutschen Forschungsreisenden Georg Forster ‚Über die Religion der Inder‘ zu schließen, dessen Reise aus Bengalen nach England, durch die nördlichen Teile von Hindostan, durch Kashmir, Afghanistan, Persien und Rußland C. Meiners aus dem Englischen übersetzt und zu Zürich 1796 heraus- gegeben hat. Weitere Mitteilungen ‚Über den religiösen Kultus der Hindus‘ aus dem bereits genannten ,Systema Brahmanicum‘ werden zu- sammengefaßt in Abschnitten ‚über das Opfer Yagam, Homam, Tukam!, Pidruyagam, Bhudayagna‘; über ,Sacrificium et Cultus Lingam, („das Fest des Lingam oder Phallus wird in der Nacht gefeiert, welche dem Shiva heilig ist, in welcher auch Abbildungen des Lingam gekauft werden, um sie am Arm oder am Halse zu tragen“, S. 184); über

1 Nach frdl. Mitteilung von H. Prof. Printz (Halle) und H. Prof. H. W. Scho- merus (Halle) ist Tukam folgendermaßen zu erklären: „Im „Malayälam and English Dict.“ (1872) von H. Gundert heißt es S. 475 Verbal noun tukam Tamil, Malayälam, Canarese, Tulu (Telugu tunika) 1. hanging, esp. the ceremony of swinging suspended by hooks...in honor of Kali. 2. weighing, weight .... 3. precipice, perpendicular .... 4. sleepiness. 5. a cradle of cloth suspended by the 4 corners.... Bailey, Mal.-Engl. Dict. 1846. In dem Madras University Tamil Lexikon, Vol. IV, findet sich nach Schomerus’ Mitteilung unter Tukkam Nr. 14: ,A vow by which a person with a child in his arms is suspended from a pole mounted on a four wheeled contrivance and drawn thrice round a Kali- temple.“ In dieser Bedeutung ist Tikkam abzuleiten von dem Verbum Tikkal „aufheben, aufhängen“; intr. Tünkal „hängen“. Ich bin überzeugt, daß man aus Gundert abgeschrieben hat, und daß dieser, bzw. Bailey (den ich nicht zur Hand habe) lediglich zum bequemeren Verständnis für engl. Benutzer Käli statt Märi-amma gesetzt hat. Auch in den mir zugänglichen Wörterbüchern für Kanaresisch (Kittel) und Telugu (Sankaranarayana) finde ich unter tüka- bzw. tunika nur „weighing; weight“ angegeben. Die Telugu-Form dürfte altertüm- lich sein, die den vier andern (eng verwandten) Sprachen gemeinsame ist dann wohl auf Kontraktion zurückzuführen (wofür ich andere Beispiele kenne, obne jedoch den Umfang dieser Lautregel zu übersehen). Das Schweigen der Wörter- bücher ist natürlich kein Beweis: es ist sehr wohl denkbar, daß ihre Verfasser

den Terminus übersehen haben, als sie die Grundbedeutung hinschrieben. .

Im Engl. hat sich das Wort „hook-swinging“ eingebürgert. Eine lange Ab- handlung bringt Edgar Thurston: Ethnographic Notes in Southern India (Ma- dras 1906, 487—501), der u.a. Sonnerat und den abbé J. A. Dubois (transl. Beauchamp, 8. ed. Oxford 1906, 597f.) zitiert, der aber S. 499 auch mitteilt, daß in Travancore (Malayälam-Gebiet) unter tukkam „lifting“ eine etwas ab- weichende Prozedur verstanden wird.“

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Beitrige zur vergleichenden Religionsgeschichte l 197

Expiationes, Lotiones, Preces, Peregrinationes; über ‚Gnanamadyam- Initiatio seu ad vitam sapientum traductio‘; über ‚Ciadurashrama von den vier vorzüglichsten Instituten der Brahminen, besonders von den Samanäern‘ sowie über ‚Sambhavam seu Genesis mundi et rerum apud Indos‘.!

Man glaubt sich an die jüngsten, so außerordentlich bedeutsamen erscheinungsbildlichen (phänotypischen) und geopsychischen Unter- suchungen über den Gegensatz nordisch-deutschen und morgenländischen Wesens, der für die arteigene rassische Bedingtheit auch der religiösen Erscheinungsformen entscheidend ist, erinnert, wenn Flügge in der Ein- leitung zu den ,Fragmenten über das Nationale, Lokale und Klima- tische in dem Volksglauben verschiedener Völker an Fortdauer nach dem Tode‘ (a. a. O. 97ff.) schreibt: „Man wird nichts dagegen ein- wenden ‘können, daß die verschiedenen Modifikationen religiöser Ideen eine Folge der Verschiedenheit der Volkscharaktere seien, da ja eben diese Verschiedenheit zum Teil Folge des Klimas und anderer äußerer Umstände ist. Hier findet der Psycholog vielfach Stoff zu Beobachtungen, indem er die verschiedenen Erscheinungen auf dem Gebiet der Religion aus dem Nationalcharakter der Völker zu erklären sucht. Man ziehe nur eine Parallele zwischen dem religiösen Charakter der Morgenländer und Abendländer, der fast ganz durch das Klima bestimmt war, und man wird nur zu sehr finden, daß der religiöse Volksglaube durch lokale, klimatische und nationale Bestimmungen die Gestalt erhielt, in welcher ihn uns die Geschichte bei verschiedenen Völkern darlegt“ (S. 102). Zum Beweis seiner Aufstellungen führt er die Bemerkungen eines 'gleich- zeitigen geistvollen Schriftstellers H. E. G. Paulus ‚Memorabilien‘? an: „Der kältere Abendländer hat entschiedenen Hang zur Spekulation. Er will Dogmen, Glaubenswahrheiten, Lehrsätze für den Verstand oder die mit dem Verstande spielende Einbildungskraft ... Dem Morgenländer hingegen sind die Dogmen Gegenstand seiner Phantasie. Um etwas von

1 An diesen Abschnitt anschließend fügt (S. 199 ff.) Flügge einen ziemlich rational gehaltenen Aufsatz von J. Berger ein: ‚Über den Begriff der Religion, Religionswissenschaft, Religionsgeschichte und ihre Prinzipien‘. Nach J. Berger zerfällt „die Religionswissenschaft in zwei Teile: 1. in einen theoretischen, welcher die Beschaffenheit dieser Bedingungen zeigt, und die Ideen von Gott und einer moralischen Welt entwickelt; 2. in einen praktischen, welcher zeigt, wie ihnen gemäß gehandelt werden soll“ (S. 214).

? Es ist der Aufsatz: ‚Über klimatische Verschiedenheit im Glauben an Religionsstifter und in den Forderungen und Zwecken derselben selbst, nebst einem arabischen Anekdoton aus Elmacins ungedrucktem Geschichtbuch, von Hacim‘ in den ,Memorabilien. Eine philosophisch-theologische Zeitschrift der Geschichte und Philosophie der Religionen dem Bibelstudium und der morgen- ländischen Literatur gewidmet‘ von H. E. G. Paulus (1791, Lpg., 1. St., 129 ff.).

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der übersinnlichen Welt zu wissen, genügt es ihm statt subtiler Analysen leicht an Bildern.“ Ja man hat damals schon vor J. G. Herders be- rühmten ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ (1784 bis 1791) sich an Charaktergemälden der merkwürdigsten Nationen Asiens versucht und z. B. die Inder in folgender Weise geschildert: „Die Hitze des Klimas vertrocknet in dem Indier alle heftigen, ausschweifenden Leidenschaften; aber zugleich alle Energie der Seele, die zu großen Revolutionen des Staats und zu wichtigen Fortschritten in den mensch- lichen Kenntnissen erfordert wird. Der Inder ist gutmütig, ruhig, mäßig, sich selbst gleich wie sein immer reiner Himmel“ (S. 104). Auf einen ‚Beitrag zur dichterischen Behandlung des Volksglaubens an Fortdauer nach dem Tode‘ folgt unter dem Titel: ‚Über die Grundbedeutung des schwedisch-gothischen Gud, und anderer alten Benennungen der höchsten Gottheit‘ ein Referat über die zu Stockholm 1796 erschienene Abhand- lung: ‚Ex occasione nummi cufici, de nominis Dei Gud in Suio-Gothica cognatisque linguis origine, disquisitio historica et philologica J.Hallen- berg‘ und schließlich die auch im zweiten Teil (1798) fortgesetzten ‚Beiträge zur Religionsgeschichte der Lappen und Finnen‘, die wiederum auf einer Arbeit von Erich Johann Jessen ‚Afhandling om de Norske Finners og Lappers Hedenske Religion, med en Tegning af en Rune- Bomme‘ (Kopenhagen 1767)! beruhen. In der Vorerinnerung entwickelt Flügge als Herausgeber wiederum die damals so beliebte geopsychische Theorie von der lokalen und klimatischen Bildung der Religion, die be- sonders bei den Lappen nachzuweisen sei. Die hier niedergelegten Mitteilungen über die kultischen Bräuche und Opfer sind um so wert- voller, als ursprüngliches Material erhalten geblieben sei, das für die Kenntnis einer arteigenen, volksmäßigen Religion recht bedeutsam er- scheint. Über die Noaaiden der Lappen, über ihren Stand und ihre Ver- richtungen handelt ein weiterer Beitrag; diese Noaaiden waren als eine Art Priester, Wahrsager und Lehrer des Volks sehr angesehen, aber auch magische Kräfte sind ihnen eigen, denn einige von ihnen standen in dem Ruf, Menschen und Vieh schaden zu können. In einem weiteren Beitrag verwertet Flügge Leems Nachrichten von den Göttern der Norwegischen Lappen es handelt sich um die Abhandlung ,Knud Leem’s Beskrivelse over Finmarkens Lappen‘ (Kopenhagen 1767)! sowie über ‚die Opfer der Lappen‘ und benützt dann die Nachrichten des Missionars Hochström über die Religion der schwedischen Lappen. Diese religionsgeschichtlich wertvollen Darstellungen werden von Flügge erstmals verwertet. Der Herausgeber ist sich der Bedeutung solcher An-

1 Der Titel lautet: Knud Leem ,Beskrivelse over Finmarkens Lapper.. .‘ Anmeerkinger: Schardebgll Erich Johann Jessen, ,Afhandling om de Norske Finners og Lappers Hedenske Religion‘, Kgbanhaven, 1767.

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gaben aus zuverlässiger Quelle über ursprüngliche Naturreligionen wohl bewußt; schreibt er doch auf S. 295f.: „Nirgends ist es so notwendig, allen vorgefaßten Hypothesen und Meinungen zu entsagen, als beim Studium der Religionsgeschichte. Es ist auch nicht bloß die allgemeine Religionsgeschichte, welche bei der leidigen Hypothesensucht verlor; die Geschichte einzelner Religionen litt nicht weniger dadurch, wie die ältesten und neuesten Bearbeitungen derselben beweisen. Indessen gibt es doch einige Spezialreligionen, die von solchen Hypothesen frei blieben, aber vielleicht nur aus der Ursache, weil sie so selten abgehandelt werden.“ Flügge vermutet, daß die Religion der Lappen und Finnen „ein Ableger oder Sprößling des Schamanischen Heidentums“ sei und möchte die Religion der Samojeden mit der Religion der Lappen in Beziehung bringen. Ein letzter Abschnitt des zweiten Teils dieser ‚Beiträge zur Geschichte der Religion und Theologie‘ ist betitelt: ‚Bereicherung der indischen Religionskunde durch das Hindu Gesetzbuch besonders in Hinsicht auf die Schöpfungs- und Seelenwanderungshypothese‘ (a. a. O. 335ff.) und beschäftigt sich mit der deutschen Übersetzung (durch Joh. Christ. Hüttner) des 1794 zu Kalkutta englisch erschienenen Werks: ‚Hindu Gesetzbuch oder Menu’s Verordnungen nach Cullucas Erläuterung, ein Inbegriff des Indischen Systems religiöser und bürgerlicher Pflichten. Aus der Sanscrit-Sprache wörtlich ins Englische übersetzt von Sir William Jones.‘ Dem Zwecke seiner Beiträge gemäß will Flügge freilich „diese merkwürdige Schrift nur insofern nutzen, daß er die einzelnen Momente heraushebt, womit sie die Indische Religionskunde bereichert hat.

Als eine religionsgeschichtliche Monographie ist die vierbändige ‚Geschichte des Glaubens an Unsterblichkeit, Auferstehung, Gericht und Vergeltung‘ von Chr. W. Flügge gedacht, deren 1. Teil 1794 zu Leipzig herauskam (2. Teil 1795; 3. Teil 1799/1800) und die er „den Freunden des historischen Religionsstudiums als einen Versuch übergibt, den wich- tigsten Gegenstand des menschlichen Denkens und Forschens, die Ge- schichte des Glaubens an Fortdauer nach dem Tode nach einem neuen Plane in ihrem ganzen Umfang zu bearbeiten.“ Flügge beginnt denn auch mit der ‚Skizze einer Geschichte der psychologischen Idee oder der Idee eines Geistes‘, um dann eingehend den Unsterblichkeits- und Auf- erstehungsglauben der Juden zu erläutern, wobei er ausdrücklich fest- stellt, daß die Juden vor dem Exil keine Auferstehung kannten, sondern dieselbe erst nach demselben auftaucht, was ihm zum Beweis dafür dient, daß „der Orient und die Nationen, worunter die Juden lebten, Anteil an der Verbreitung derselben gehabt haben“ (S. 204). Unter Heranziehung auch der spätjüdischen Literatur (Midrasch, Apokryphen und Pseudepi- graphen, die er in einem Sonderabschnitt beschreibt (S. 435ff.), befaßt er. sich noch mit dem Glauben der Juden an Seelenwanderung und be-

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tont abermals deren Abhängigkeit von griechischer, besonders neu- platonischer Philosophie (S. 407).

Im zweiten Teil dieses Werks bietet Flügge reiches religions- geschichtliches Material zur Geschichte des Unsterblichkeitsglaubens und beginnt zunächst mit den Ideen der Skandinavier, ihrem Glauben an Walhalla, an Niflheim, an Ragnarockur, an Gimle und Nastrond, wobei er sich vor allem den Arbeiten von Frdr. D. Gräter ‚Nordische Blumen‘ (1789)!; ‚Bragur‘ (1791 ff.); ‚Braga und Hoimode‘ (1796 ff.)° sowie von

1 Mit dieser „kleinen Sammlung von Übersetzungen und Abhandlungen“ wollte der damals 21 jährige Schwabe einen „Beitrag zur näheren Kenntnis der nordischen Dichtkunst und Mythologie‘ geben. An größeren Abhandlungen enthält das Bändchen zunächst die „mythologische Abhandlung“ ,Uber die Nornen‘, sodann ‚Über die Walkyren oder die Göttinnen der Schlacht‘ und schließlich ‚Über Walhalla und ihre Helden‘.

? Dieses erste „Literarische Magazin der Deutschen und Nordischen Vor- zeit" (hrsg. von Böckh und Gräter, ab 1794 hrsg. von Häßlein und Grater) erhielt ab 1796 den Titel ‚Braga und Hermode' oder ‚Neues Magazin für die vater- ländischen Altertümer der Sprache, Kunst und Sitten‘ und weist nach Th. Bieder ‚Geschichte der Germanenforschung, 1500 —1805' (2. Aufl., 1939) 205 „einen erstaunlich reichen und vielseitigen Inhalt auf; seine Bände gehören mit zu dem Schönsten, das unser Schrifttum soweit die bewußt nordische Haltung in Betracht kommt aufzuweisen hat“. H. Kirchner ‚Das germanische Altertum in der deutschen Geschichtsschreibung des achtzehnten Jahrhunderts‘ (1938), S. 94f. bemerkt zwar, daß für Grater „zwischen nordischer und deutscher Vor- zeit schlechterdings kein Wesensunterschied bestehe, weshalb er die Aussagen der skandinavischen Quellen ohne weiteres auch auf deutschen Grund und Boden übertragen kann“. In dem einführenden Aufsatz (in ‚Braga und Hermode*, I. Bd., 2. Abtlg., S. 3ff.) ‚Über den Umfang der vaterländischen Altertümer und unsere Aussichten und Hoffnungen‘ schreibt Gräter über ‘den Begriff des Vaterlands‘ u. a.: „Die teutsche Nation erstreckt sich weiter als die Grenzen des teutschen Reichs. Wer die teutsche Sprache als seine Muttersprache spricht, der ist ein Teutscher ...So weit unsere Sprache gesprochen wird, und so weit die Länder von geborenen Deutschen bewohnt sind, so weit geht das teutsche Vaterland‘ (S. 4). Bringt u. a. der erste Band von dem 1792 verstorbenen Nörd- linger Diakonus Böckh eine Abhandlung ‚Gang der ersten deutschen Schrift- stellerey bis zum Ende der Minnesängerepoche‘, so setzt im zweiten Band Grater seine Briefe ‚Über den Geist der Nordischen Dichtkunst und Mythologie‘ (S. 55ff.; 78ff.) fort. Der vierte Band beginnt mit der „mythologischen Ab- handlang‘“ ‚Braga und Hermode‘ und erzählt dann (S. 18ff.) nach „der jüngeren Edda“ den ‚Raub der Göttin Idunna‘. Die 1798, 1800 und von Grater heraus- gegebenen Bände von ‚Bragur‘ bzw. ‚Braga und Hermode‘ bringen noch einen wenig gründlichen Aufsatz des Hauptmanns Frhr. von Münchhausen über „die zwo altteutschen Gottheiten Wold und Ostar“; ferner eine Abhandlung von Delius ‚Über die Menschenopfer der Teutschen‘; von Gräter ‚Ideen über die Brauchbarkeit der Nordischen Mythologie für die redenden und zeichnenden. Künste‘, derselbe Autor übersetzt auch einen Aufsatz des Dänen P. Fr. Suhm ‚Über die leichte Verdrängung der Odinischen Religion durch das Christentum‘ (S. 96 ff.; 1657 .). Nach 10 Jahren (1812) erschien ein letzter Band dieses ,Lite-

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G. Schütze, Lehrbegriff der Nordischen Völker, vom Zustand der Seelen nach dem Tode, (Lpg. 1750)! besonders verpflichtet weiß. Wie er schon die Vermutung ausspricht, daß der Alfadur der Edda offenbar den orien- talischen Ursprung der nordischen Religionslehre zeige (er möchte in ihm das „Zeruan Akerene“ [= zrvan a-karana] des Zendavesta erkennen), so bedauert er es, daß bei vielen Forschern der Wunsch, überall in den alten Religionen (also auch denen der Skandinavier) Spuren vom Christentum zu finden, den nüchternen Blickpunkt verschoben habe, ja daß man dem Schicksalsgedanken (Nornen) auch in Werdermanns ‚Geschichte der Meinungen über Schicksal und menschliche Freiheit von den ältesten Zeiten an bis auf die neuesten Denker‘ (Lpg. 1793) viel zu wenig Be- achtung schenke?, so bietet er lediglich auf Grund der ihm zugänglichen Literatur eine Zusammenstellung der bisherigen Veröffentlichungen unter dem Hinweis auf das bekannt gewordene nordische Schrifttum. Auch darf nicht verkannt werden, daß schon ähnlich wie bei Schütze (s. meine Studie Zur Geschichte der Erforschung germanischer Religion in ARW. 34 [1937] 32ff.) derartige Arbeiten von Bedeutung für die all- gemeinere Senn der germanischen Religion in der damaligen Zeit waren.

Großes Aufsehen erregte die um 1760 gedruckte Ausgabe der Ossianischen Gesänge durch James Macpherson, die man als altes, durch die nordischen Barden uns erhaltenes episches Liedgut von „Götter- und Heldensagen der gälisch sprechenden Volksstämme Irlands und der schottischen Hochlande“ ansah. Als Grund der Erhaltung solcher Dich- tungen nimmt Flügge an, daß diese Stämme weit „länger Heiden ge- blieben seien und darum auch ihre ursprünglichen Sitten bewahrt hätten, als die ihnen verwandten gothischen Völkerschaften. Dies gab dem Amte der Skalden mehr Wachstum und Reife; und bei einem, viele Jahrhunderte hindurch nie unterbrochenen Besitz der romanhaftesten Religionsmeinun- gen, und der Beibehaltung jener rohen Sitten, welche dem poetischen Geiste so vorteilhaft sind, wurden sie in den Stand gesetzt, nicht nur

rarischen Magazins der Teutschen und Nordischen Vorzeit‘ unter dem Titel ,Odina und Teutona‘ mit einer Reihe von Untersuchungen und Aufsätzen zur nordischen und altteutschen Literatur.

1 Vgl. dazu jetzt Th. Bieder a. a. O. 162. Wie Th. Bieder a. a. O. 173 angibt, wendet sich der allezeit feinhörige Gottfried Schütze in seiner letzten Schutzschrift auch gegen die Anhänger der ‚Klimatheorie‘.

2 Schreibt doch J. C. G. Werdermann a.a. 0. IXf.: „Ist irgendeine aka in der Philosophie, die verdient, daß ihre Geschichte vollständig bearbeitet werde, so ist es, nächst der Lehre von Gott, unstreitig die: von der mensch- lichen Freiheit und der Herrschaft des Schicksals. Sie betrifft den Grund aller Religion; denn das Schicksal ist das Band, wodurch Gott und Welt zusammen- hängen.“

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mehrere Originale, sondern auch zahlreichere Gedichte zu verfertigen“ (S. 162f.). Diesen von J. Macpherson? veröffentlichten ‚Fragments of an- cient Poetry collected in the Highlands‘ entnimmt Fliigge die Belege zu seinen Ausführungen über die Lehren und Meinungen der alten Caledo- nier über Fortdauer nach dem Tode (nach Ossian und anderen keltischen

Gedichten). Für die Geschichte der Religionswissenschaft sind die folgen-

den Abschnitte: Lehren und Meinungen der alten Parsen, der Moslemin, der Inder, Tibetaner, Avaner, Peguaner, Siamesen, Sinesen, Tonquinesen, Laos und Japaner über Fortdauer nach dem Tode (II, 315ff.) besonders wichtig, weil uns darin eine recht nützliche Einsicht in die zu jener Zeit vielbenutzte Literatur gegeben wird. So zitiert er bei der Darstellung der islamischen Lehre die Übersetzung des Koran von F. E. Boysen (Halle 1773) sowie Sale’s Koran, deutsch von Arnold; ferner die Arbeit von Haller ‚Mohammeds Lehre von Gott aus dem Koran gezogen‘ (Altenburg 1779) und den ‚Türkischen Katechismus der Mohammedani- schen Religion‘ nach dem arabischen Original übersetzt von C.H. Ziegler (Hamburg 1792). Flügges Stellung zum Islam ist schon insofern be- merkenswert, als er im Gegensatz zur allgemein christlichen Auffassung (s. darüber meine Studie ‚Der Islam im Wandel abendländischen Ver- stehens‘ in Studi e Materiali [Rom] III 68£f.) ein objektiveres Verständnis des Mohammedanismus und seines Propheten erstrebt in: ‚Versuch einer Geschichte der theologischen Wissenschaften. Nebst einer historischen Einleitung‘ (drei Teile, Halle 1796—98). Den sog. christlichen Apologeten, die zumeist bestimmend waren für die Beurteilung des Islam im Mittel- alter, wirft er ganz im Sinne des Orientalisten H. Reland vor, daß sie aus Unkenntnis des Arabischen den Koran überhaupt nicht verstanden hätten. „Man hielt sich lange nur an Sagen, die von christlichen Mönchen weiter ausstaffiert wurden. Den Geist des Islam konnten diese Menschen am wenigsten fassen“ (S. 468 Anm.) ... „Sie entstellen den Charakter Mohammeds und erzählen sein Leben ganz anders als wir es aus arabi- schen Schriftstellern kennen“ (S. 469).

Ende des 18. Jahrh. begegnet uns bei Erwähnung von Indiens Kultur und Religion immer wieder das Bedauern, daß „die indische Religion und Mythologie im Ganzen noch im undurchdringlichen Dunkel liege, das undurchdringlich bleiben wird, solange wir noch die indischen

Glaubenslehren aus so trüben Quellen schöpfen müssen“... (O,317). Zwar.

fingen die Engländer jetzt an, uns den Zutritt zur indischen Literatur zu öffnen, und von dem von Wilkins, Halhed und Jones angefangenen Studium der Sanskritsprache diirfen wir noch viel Gutes fiir die Wissen- schaft erwarten“(S.318f.). Unter Heranziehung der bekannteren Schriften

1 Vgl. dazu Th. Bieder, Geschichte der Germanenforschung, 1500—1806 ? (1939) 190 ff.

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Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte 203

(von Sonnerat, Abr. Roger!, Ith’s ‚Sammlung Asiatischer Original- schriften‘? u. a.) beschreibt er die indischen Vorstellungen; wir können es wohl verstehen, daß angesichts des mangelhaften Quellenbefunds zu- verlässige Angaben nicht gewonnen werden konnten. Ähnlich verhält es sich bei der Darstellung der Lehren der Tibeter, die sich vor allem auf Georgis ‚Alphabetum Tibetanum‘ (1762) stützt. Die Schilderung eines Missionars Joh. Maria Percoto legt er seiner Darstellung der Religion der Avaner und Peguaner zugrunde, während er für die chine- sische Religion als Religionssekten unterscheidet: die Sekte der Gelehrten oder des Konfucius, die Sekte Laokiun (= Taoisten), die er als ein System

für Schwärmer ansieht, die als „Freunde der Magie glauben einen Trank

der Unsterblichkeit erfunden zu haben“ (S.387) und schließlich die Sekte Fo, für die ihm P. Couplets ‚Confucius Sinarum Philosophus‘ (Paris 1687) als Quelle dient (vgl. dazu mein Buch ‚Leibniz und’ die China-Mission‘, 1920, 17f.).? Engelbert Kämpfers berühmter Beschreibung von Japan (Lemgo 1777) entnimmt Flügge auch die zu entschuldigende mangel- hafte Charakteristik der dortigen Religions-Sekten. Zur Bearbeitung der ‚Meinungen roher Völker über die Natur der menschlichen Seelen über Fortdauer nach dem Tode‘ (S. 210ff.) hat Flügge den damals bekann- testen Kenner auf völkerkundlichem Gebiet herangezogen den Göttin- ger Völkerkundler Christoph Meiners, dem Flügge so manchen wert- vollen Hinweis auch auf religionsgeschichtlichem Gebiet verdankt haben wird (vgl. dazu A. Ihle ‚Christoph Meiners und die Völkerkunde‘ [1931] sowie H. Wenzel ‚Chr. Meiners als Religionshistoriker‘ [1917]).

Die Ergebnisse seiner Untersuchungen und die ihm daraus entstan- denen methodischen Grundsätze faßte Chr. W. Flügge zuletzt in seiner ‚Einleitung in das Studium und in die Literatur der Religions- und Kir- chengeschichte, besonders der christlichen‘ (Göttingen 1801) zusam-

1 Abr. Roger ‚Offene Tür zu dem verborgenen Heidentum‘ (Leiden 1651; deutsch, Nürnberg 1663). Neue Ausgabe 1915 durch W. Caland mit ausführ- licher Einleitung; vgl. dazu auch meinen Aufsatz: ‚Ein vergessener Religions- forscher: Bartholomäus Ziegenbalg (1683—1719)' in Forsch. u. Fortschr. (1933) 234 ff.; ebd. (1935) 451 ff. meinen Beitrag: ‚Anfünge religionsgesch. Forschung in Europa‘.

2 Diese erste Sammlung asiatischer Religionsurkunden von dem Berner Prof. J. Ith wurde in Zürich 1791 anonym veröffentlicht. E. Windisch, der in seiner ‚Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde‘ (I. Teil, 1917) 47f. dieses erste religionskundliche Quellenbuch beschreibt, hat den Verfasser nicht gekannt, obwohl er auf 9f. und 203 Ith nennt. Eine ausführ- liche Charakteristik dieses wenig bekannten Werks werde ich in einer meiner nächsten Studien zur Geschichte der Religionswissenschaft im ARW. geben.

3 S. auch meinen Aufsatz ‚Zur Geschichte der Erforschung chinesischer Religionen‘ in: ‚Studi e Materiali’ (1939) 90 ff.

« Nach Ausweis des Vorlesungsverzeichnisses von Göttingen las Flügge im

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men, deren erster Teil tatsächlich als die erste deutsche Einführung in das Studium der Religionsgeschichte angesehen werden kann. Zu- nächst unterzieht er die vormalige Bearbeitung der Religionsgeschichte einer scharfen Kritik; denn wenn deren Studium Vorteile gewähren solle, müsse es anders getrieben werden, als es bis auf die neuesten Zeiten ` geschah. Hemmt doch die leidige Dogmatik die Funktionen des Reli- gionsgeschichtsschreibers und beschränkt sein Geschäft auf eine bloße Sammlung dessen, was andere Völker für Religion hielten und als Reli- gion glaubten. Darum müsse die Behandlungsart der Religionsgeschichte von Grund aus revolutioniert werden.! Mache doch Sammeln und mecha- nisches Bearbeiten der für die Religionsgeschichte brauchbaren Materia- lien noch nicht zum Geschichtsschreiber der Religion; es sei nicht genug, die alten Denkmäler und Quellen der Religion zu kennen, sondern er müsse von festen, allgemein gültigen Grundsätzen ausgehen .. . Die Religionsgeschichte muß zeigen, wie die verschiedenen Formen und Arten . der Religion unter den Menschen entstanden und welchen Einfluß jede von ihnen auf den Menschen und seine Denk- und Handlungsweise gehabt hat. Auch auf die grundsätzlichen Richtlinien der religionsgeschichtlichen Forschung geht Flügge näher ein ($ 7) und verlangt historisch-kritische Untersuchung der Glaubwürdigkeit der religiösen Zeugnisse.” Ihm gilt schon die Religionsgeschichte als Zweig der allgemeinen Kulturgeschichte des menschlichen Geistes, dessen Studium von hoher Wichtigkeit für den Menschen ist. Ja, ihm schwebt schon die Abfassung eines Handbuchs der allgemeinen Religionsgeschichte vor, die zwar noch viele Mängel und Lücken haben würde, weil es nicht das Werk eines Mannes sei, alle propädeutischen Untersuchungen und Vorarbeiten auf sich zu nehmen, die erforderlich sind, um jenes vollendete Ideal zu realisieren 10). Und in der Tat weist das fast 100 Jahre später von dem holländischen Religionshistoriker Chantepie de la Saussaye herausgegebene ‚Lehr- buch der Religionsgeschichte‘ eine Reihe von Mitarbeitern auf, die die Darstellung der einzelnen Religionen übernommen hatten.

Der Vorbereitung einer solchen umfassenden Geschichte der Reli- gionen sollte nun Flügges Einleitung dienen und mit den besten dahin

Sommer-Semester 1800 über ‚Einleitung in das Studium und in die Literatur der Religions- und Kirchengeschichte‘.

ı Die neuesten Wünsche und Forderungen hat W. Wüst in seinem Salz- burger Referat ‚Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung‘ in: ARW. 36 (1939) TO. vorgetragen.

2 Auf S. 12 nennt Flügge die echt rationalistische anonyme Schrift: ‚Das Theater der Religionen oder Apologie des Heidentums“. Geschrieben von einem Katholiken und mit einer Vorrede und einigen Anmerkungen hgb. von einem Protestanten (Athen 1791). Als Herausgeber ist in dem Exemplar der Münchner Univers.-Bibl. handschriftl. der Name K. Spazier beigefügt.

eee Dumme oa es

Beitrage zur vergleichenden Religionsgeschichte 205

gehörenden Hilfsmitteln bekanntmachen. Sei doch der Umfang der all- gemeinen Religionsgeschichte ein unermeßlicher und fehle noch viel zur Kenntnis der religiösen Kultur aller Völker. Es gebe auch auffallende Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten in den religiösen Ideen und Vor- stellungen älterer und neuerer Völker, die die Forscher zu vielen Hypo- ` thesen über Abstammung, Verwandschaft und Wanderungen ganzer Religionen und einzelner Begriffe veranlaßt haben. Solche Hypothesen standen von jeher der umbefangenen Forschung im Wege und hatten oft so bedeutenden Einfluß auf die Geschichte, daß mehrere Versuche deshalb zu den mißlungenen gehören (S. 38). Lebhaft bedauert es Flügge, daß wir viele Religionen und religiöse Vorstellungen nur aus Reise- nachrichten kennen. Es ist eine bekannte Bemerkung, daß Reisende häufig aus ihrem Gesichtspunkte Beobachtungen anstellten und Nach- richten sammelten, und diesen ihre eigenen Ideen unterlegten. Was ihnen fremd und auffallend war, gab ihnen Stoff zu Vermutungen, die sie als Wahrheiten mitteilten, auch wohl verschönerten oder entstellten, um desto mehr Aufsehen zu erregen (S. 39) eine Beobachtung, die ver- schiedentlich auch heute noch zutrifft. Höchst beachtenswert erscheint mir, daß Flügge bereits auf die Be- nutzung der Volkssagen und Mythen ungebildeter und gebildeter Völker für die Geschichte der Religion, ihrer Bildung und ihres Einflusses be- sonders in Hinsicht auf die Volksreligion nachdrücklich hinweist. Volks- sagen können nämlich gleichfalls als Hilfsmittel zur Religionsgeschichte genutzt werden. Die älteste Geschichte überhaupt und besonders die der Religion haben immer eine mythische Einkleidung, und Volkssagen, be- sonders örtliche, können dazu dienen, die Entstehung der Mythen... zu erklären. Volkssagen tragen stets den Charakter der Zeit und der Kultur- periode, in welcher sie entstanden und gebildet sind. Freilich sind sie selten die unverhüllte Geschichte selbst, sondern größtenteils Dichtungen, durch Empfindungen und Gefiihle veranlaßt, die auf Ereignisse und Be- gebenheiten hindeuten, welche sich, nach der Entkleidung von der dichteri- schen Hülle, dem Forscher hier deutlicher, dort dunkler darstellen (S.41). Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen geht Flügge auch wieder näher auf seine Lieblingsidee ein: den klimatisch-ethnischen Einfluß auf die Gestaltung der Religionsformen, aber auch auf einzelne Volkssagen. „So wie das Klima, der mehr oder minder bewölkte Himmel u. f. auf Religion und Sitten wirkt, so wirkt es auch auf die Volkssagen ... Volkssagen gehen Hand in Hand mit der Volksreligion; beider Charakter steht in Wechselwirkung zueinander“ (S. 42). Solcher Einfluß des Loka- len, des Klimas, der Kultur u. f. auf die Bildung der Religion und reli- giöser Ideen, auch auf die religiösen Volkscharaktere „die Dogmen werden national, lokal und klimatisch gebildet und darauf ist in der Ge-

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schichte der Religionen noch zu wenig Riicksicht genommen“ (S. 44) ergibt fiir Fliigge die Notwendigkeit, auch die kulturelle Bedingtheit der Religion und ihre Bedeutung für die Kultur der Völker zu würdigen. Dies sei bis jetzt leider so wenig und selten geschehen, daß beinahe eine Revision aller Spezialgeschichten der Religion nötig sein dürfte. Gewiß die beste Vorarbeit zu einer allgemeinen Religionsgeschichte S. 45). | l All diese bisher von Flügge erörterten Richtlinien bestärkten ihn in dem Gedanken, die Religionsgeschichte unter dem Gesichtspunkt einer religiösen Geographie zu behandeln, „die es ganz eigentlich mit der religiösen Kultur der Menschen und Völker zu tun habe“ (S. 45f.). Religiöse Geographie sei freilich nur als Teil der Religionsgeschichte gedacht und am besten ließe sich wohl Geographie mit der Geschichte der Religionen verbinden; jene müsse dieser als Einleitung vorangehen. Hier greift Flügge Ideen auf, die von dem englischen Astronomen Eduard Brerewodus in seinem 1650 zu Frankfurt a. M. erschienenen Büchlein ‚Scrotinium Religionum‘! zuerst ausgesprochen wurden (deutsch erschien die Schrift ebenfalls zu Frankfurt 1655 unter dem Titel: Ed. Brerewodius ‚Glaubensforschung von verschiedenen Religionen‘), dann aber von dem Lübecker Gottl. Hch. Kasche in seiner heute fast verschollenen Abhandlung: ‚Ideen über religiöse Geographie‘ (Lübeck 1795) in sehr ansprechender Weise wieder aufgenommen wurden, nach- dem ja auch neben Voltaire, ein Huet, Boulanger’, Banier’, Meiners, Vogel u. a. ganz ähnliche Gedanken verfochten hatten. Waren derartige Vorschläge auch noch reichlich unklar, gaben sie doch den Anlaß, sich mit den verschiedenen, zur Diskussion gestellten Fragen näher zu be- fassen. Vor allem regten sie weite Kreise an, sich mit religionsgeschicht- lichen Tatsachen zu beschäftigen, wie das bei Goethe, den Romantikern und noch besonders bei Hegel deutlich ersichtlich ist. Lebhaft bedauert

1 Der vollständige Titel lautet: Edoardi Brerewodi, Angli, Astronomiae in Collegio Greshamensi Londini olim Professoris, Scrutinium Religionum‘ (Franc- furti 1650). In einzelnen Abschnitten wird der Leser orientiert: ‚De partibus Orbis, quas Idololatrae possident‘ oder ‚De partibis Orbis, quas Muhammedani possident‘ etc.; in dem Abschnitt ‚De quantitate et proportione partium terrae, in quibus modo dictae Religiones vigent' (p. 58 ff.) sind Anfänge einer Religions- geographie zu erkennen, freilich ohne irgendwie tiefer einzudringen.

2 Die deutsche Übersetzung des Werks von N. A. Boulanger durch J. C. Däh- nert erschien 1767 zu Greifswald unter dem Titel: ‚Das durch seine Gebräuche Aufgedeckte Altertum oder Critische Untersuchung der vornehmsten Meynungen, Ceremonien und Einrichtungen der verschiedenen Völker des Erdbodens in Religions- und bürgerlichen Sachen‘.

3 A. Banier ‚La Mythologie et les Fables expliquées par l'histoire‘, 3 Tom. Paris 1738—40. Deutsche Übersetzung unter dem Titel: ‚Erläuterungen der Götterlehre und Fabeln aus der Geschichte‘ (Lpg. 1764—66).

Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte 207

es Kasche, daß bei der Schilderung der Sitten, Staatsverfassungen und Merkwürdigkeiten der Länder und Völker kaum der herrschenden Reli- gion gedacht werde, während doch die religiösen Lehren den größten Einfluß auf die Bildung der Volksbegriffe und die bürgerliche Wohlfahrt‘ gehabt hätten. Noch reichlich unbestimmt werden bei Kasche schon Fra- gen angedeutet, diein neuerer Zeit von der Religionssoziologie (Max Weber und Alfred Weber), besonders aber von der Raumforschung aufgegriffen wurden, worauf namentlich W. Wüst in seiner grundlegenden Studie über ‚Raum und Weltanschauung‘ hingewiesen hat!; Geopolitik und Anthropo- geographie stehen auch heute noch in diesem Teilgebiet der Religions- forschung vor sehr schwierigen Aufgaben.? Ja man forderte damals schon eine Statistik der Religionen und des Kirchenwesens: bei jedem Lande müssen die herrschenden Sekten genannt, die Anzahl der Bekenner der verschiedenen Religionen müsse statistisch bestimmt und die geistliche und gottesdienstliche Verfassung dargestellt werden. Man bemühte sich sogar, wie Flügge (a. a. O. 51ff.) mitteilt, eine Einteilung der Völker nach Religionen (G. A.von Breitenbach ‚Religionszustände der ver- schiedenen Länder der Welt in den älteren und neueren Zeiten“ nebst einer zu dessen Erläuterung entworfenen Karte, hrsg. von J. E. Langen, Lpg. 1787) aufzustellen, z. B. I. nach Völkern, die das höchste Wesen ohne Nebengötter verehren; II. nach Völkern, die neben dem höchsten Wesen Untergötter, doch nicht unter Bildern, verehren; III. nach Völkern, die das höchste Wesen oder die Nebengötter unter dem Bilde von Kreaturen, entweder himmlischen Körpern, oder irdischen, lebendigen Menschen, Tieren, Gewächsen u. a. auch unter künstlichen Abbildungen verehren. IV. nach Völkern, die viele Götter, aber voneinander unab- hängig verehren, als die Anhänger des Laokiun in Sina, und schließlich nach Völkern, die an keinen Gott glauben. Dergleichen sollen sein, wie Flügge nach Breitenbach hinzufügt, die schwarzen Tscherkassier, die Chiquitos in Paraguay, die Brasilier u. a. Dieser erste Versuch einer religionskundlichen Klassifizierung der Religionen der Erde ist insofern bemerkenswert, als er von einem bestimmten Grundsatz aus, Verehrung eines höchsten Wesens, eine Wertstufung der Religionsformen vornimmt.

Wie ernsthaft Flügge um die verschiedenartigsten Fragen auf dem Gebiet der Religionsgeschichte gerungen hat, lassen seine einsichtsvollen Ausführungen in $ 18 seiner ‚Einleitung‘ erkennen, worin er nochmals sich Rechenschaft über die Grunderfordernisse einer brauchbaren Reli- gionsgeschichte gibt. Die allgemeine Religionsgeschichte, welche alle

1 Erschienen in K. Haushofers Sammelwerk ‚Macht und Erde‘ Bd. IJI ‚Raumüberwindende Mächte‘ (Lpg. u. Bln. 1934) 140—170.

2 Vgl. dazu die programmatischen Ausführungen W. Wists in seinem Vortrag ‚Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung‘: in ARW 36 (1939) 64 ff.

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Zeiten und Orter in Hinsicht alles dessen umfaßt, was in einer gewissen Beziehung auf die Religion überhaupt steht, ist daher eine von denjenigen historischen Wissenschaften, welche in Rücksicht einer vollständigen, zweckmäßigen und unparteiischen Darstellung der zu ihr gehörigen Tat- sachen mit den meisten Schwierigkeiten verknüpft, und um deswillen auch noch am weitesten von dem Ziele der Vollkommenheit entfernt ist. Eine solche allgemeine Religionsgeschichte würde nach Flügges Ansicht „die beredteste Apologie einer vernünftig-religiösen Denkart und die beste Schule religiöser Duldung sein, weil es Aberglauben und Intoleranz mit allen ihren traurigen Folgen enthüllen würde“ (S. 61f.). Aber leider ent- spreche bis jetzt keiner von allen Versuchen, welche das Ganze umfassen, selbst den geringsten Forderungen, die man an einen solchen Versuch machen Könnte.

Nach Flügges Ansicht müßte eine solche Religionsgeschichte zeigen, welche religiösen Begriffe und Überzeugungen nach und nach unter den Menschen entstanden, und aus welchen Quellen oder Veranlassungen sie entsprungen seien; welche Männer zu deren Bekanntmachung und Ver- bindung vorzüglich wirksam gewesen, und ob sie durch ihre Bemühungen die religiöse Erkenntnis und Gesinnung der Menschen gereinigt und ver- bessert oder verunstaltet und verdorben haben; endlich, durch was für äußere Mittel und Veranstaltungen man jene Erkenntnis und Gesinnung zu befördern gesucht habe, und welche wichtigen Veränderungen zu ver- schiedenen Zeiten und unter verschiedenen Völkern, sowohl in dem sitt- lichen Betragen als in dem äußern Zustande der Menschen durch alles dieses bewirkt worden seien (S. 61). Zwar sind diese Ausführungen noch ganz beherrscht vom Geist der Aufklärung, allein sie zeigen Richt- linien auf und weisen auf Fragen hin, die erst viel später in den Ge- sichtskreis der religionsgeschichtlichen Forschung getreten sind. Ja, man wird zugeben müssen, daß Flügge in dem Abschnitt über die Literatur der Religionsgeschichte ein Handbuch fordert, das wir gerade auf diesem Gebiete heute noch schmerzlich entbehren. Es „müßte nicht bloß Litera- tur der Quellen und Hilfsmittel der Religionsgeschichte, sondern auch eine Kritik derselben enthalten, besonders in Beziehung auf die Geschichte der Religionsstifter, der Völker, unter welchen sie lebten, der Urkunden, aus welchen die Religionen abgeleitet werden. Sie müßte alle kleinen auf Religionsgeschichte sich beziehenden Abhandlungen verzeichnen und die großen Sammlungen nachweisen, in welchen sie enthalten sind. Sie müßte zugleich ein Repertorium über die vorhandenen Reisebeschrei- bungen sein und die Nachrichten über Religionsgeschichte, welche sie enthalten, ethnographisch klassifizieren“ (S. 55f.). In der Tat wäre eine der dringendsten Aufgaben der heutigen Religionswissenschaft die Her- ausgabe eines Handbuchs der Religionsgeschichte; sind doch wertvolle

Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte 209

Beiträge und grundlegende Abhandlungen nicht selten in den verschie- densten Zeitschriften und Archiven des In- und Auslandes erschienen, die nur mit Mühe aufgefunden werden können. Wenn nach fast 150 Jahren die Anregung. des ersten deutschen Religionshistorikers in die Wirklich- keit umgesetzt werden könnte, würde das der schönste Dank an den selbst- los-vorahnenden, in seiner Zeit einsam dastehenden Chr. W. Flügge sein.

Nach diesen einleitend grundlegenden Ausführungen würdigt Flügge die wichtigsten Erscheinungen auf religionsgeschichtlichem Gebiet, die sich: fast allein mit dem Kultus der Religionen oder mit der gottes- dienstlichen Verfassung beschäftigen, ziemlich kritisch und erwähnt zu- erst J. G. Lindemanns ‚Geschichte der Meinungen älterer und neuerer Völker, im Stande der Rohheit und Kultur, von Gott, Religion und Prie- stertum‘ (Stendal 1784—95, 7 Teile), worin er einen mißglückten Ver- such zu einer allgemeinen Religionsgeschichte sieht, da es lediglich nur eine Sammlung roher unverarbeiteter Materialien darstelle. Nach ziemlich ausführlicher Inhaltsangabe der umfangreichen Erscheinung zieht Flügge den Schluß, „man könne diese Sammlung nur mit'Vorsicht gebrauchen, und wem die Quellen offenstünden, der tue besser, daß er auf diese zu- rückgehe, weil kritische Quellenkenntnis durchaus nötig sei“ (S. 71). Als trefflichen Beitrag zur allgemeinen Religionsgeschichte bezeichnet er den ‚Grundriß der Geschichte aller Religionen‘ von Christoph Meiners (2. Aufl., Lemgo 1787) und erkennt an, daß Meiners bereits durch viele Abhandlungen sich wirklich ein Verdienst um die Religionsgeschichte er- ‘worben habe (über ,Meiners als Religionshistoriker‘ s. H. Wenzel, 1917). Er beschreibt dann noch als weiteres Werk: Ch. Fr. Dupuis ,Origine de tous les Cultes ou Religion universelle‘ (Paris 1795), worin als ursprüng- licher Wesenszug aller antiken Religionen der Naturdienst in poetischer Ausdrucksform erklärt wird. Flügge bedauert die einseitige Stellung- nahme von Dupuis, die einer objektiven Würdigung der Tatsachen von vorneherein hinderlich sei.

Höchst bemerkenswert ist es auch, wie Flügge als empfindlichen Mangel seines Fachs betrachtet, daß „noch so wenig in Schriften ge- schehen sei, welche sich besonders mit einzelnen Religionen und Glau- bensarten, mit einzelnen Dogmen und Lehren und den verschiedenen Modifikationen des religiösen Kultus beschäftigen. Diese notwendigen Vorarbeiten müßten erst im einzelnen leisten, was der Religionsgeschichts- schreiber im ganzen zu leisten habe“ (S. 78f.). Flügge fordert also Mono- graphien über die verschiedenartigen Erscheinungsformen der einzelnen Religionen und berührt sich da mit den grundlegenden Arbeiten der neuesten Religionshistoriker: A. Bertholet und G. van der Leeuw. Wie viel Vorarbeiten und Einzeluntersuchungen auch heute noch gerade auf religionswissenschaftlichem Gebiet notwendig sind, zeigen schon

Archiv für Religionswissenschaft XX XVI. 2 14

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A. Bertholets Einzelstudien (z. B. über „Totemismus‘, ‚Geschlecht der Gottheit‘ u.a.) zu seiner geplanten ‚Phänomenologie der Religion‘ und G. van der Leeuw wäre es nicht möglich gewesen, die Erscheinungswelt der Religion in einem großen Wurf darzustellen, wenn nicht in den letzten Jahrzehnten eine so große Anzahl gediegener Untersuchungen über die verschiedenen Religionen und ihre Wesenseigentümlichkeiten herausgekommen wären. Besonders dankbar empfand A. Bertholet, wie er in seiner bereits erwähnten Antrittsrede bekennt, die Zusammenarbeit mit Vertretern benachbarter Wissenschaftsgebiete. Klar hat dies bereits Flügge erkannt, wenn er schreibt: „Der Religionsgeschichtsschreiber kann unmöglich den Stoff selbst sammeln und bearbeiten, sondern bedarf hier durchaus der Hilfe anderer.“ Flügge macht ferner darauf aufmerk- sam, wie wertvoll es sein könne, die heiligen Bücher einzelner heid- nischer Völker und, wo diese nicht bekannt oder nicht zuverlässig echt sind, ja auch da, wo sie durch die heiligen Sagen und vorhandenen gottesdienstlichen Einrichtungen Licht oder Zusätze bekommen haben“ (S. 80) für die Kenntnis der einzelnen Religionen heranzuziehen ... ein Gedanke, der erst in den ‚Quellen der Religionsgeschichte‘ (hrsg. von der Religionsgeschichtlichen Kommission der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen [1909£f.]) verwirklicht wurde.

Bei der Bearbeitung der religionsgeschichtlichen Literatur der ein- zelnen Völker kommt Flügge so recht zum Bewußtsein, welch treffliche Dienste Schriften über die Religion einzelner Völker leisten würden, wenn sie die Geschichte ihrer Entstehung und Bildung gründlich dar- stellten und im Zusammenhang mit der Kultur, dem Charakter des Volkes, dem Einflusse des Klimas u. f. pragmatisch entwickelten. Ein Werk, welches alles dies nur für die Geschichte einer einzelnen Reli- gion leistete, besitzen wir nicht, und die Versuche dieser Art sind alle noch sehr mangelhaft“ (S. 81). Flügge gibt sodann einen kritischen Überblick über die bisherigen Bearbeitungen der Religionen einzelner Völker (Phönizier, Syrer Ägypter Perser Hindus Sinesen Lamaische Religion Schamanenreligion Griechen Römer, Etrus- ker Skandinavier Deutsche, Slaven, Caledonier Mohammedaner, Drusen Juden Religionsgeschichte unkultivierter Völker), worin die frühere Literatur verzeichnet und verschiedentlich eingehend beschrieben wird. Wenn auch die Angaben Flügges mancherlei Lücken aufweisen, so gebührt ihm doch das Verdienst, nach C. Meiners ‚Grundriß der Geschichte aller Religionen‘ (Lemgo 1785)1, der seine kurzen phäno-

1 Eine wesentlich erweiterte Darstellung der religiösen Erscheinungsformen gab C. Meiners in seiner 1806/7 erschienenen zweibändigen ‚Allgemeinen kriti- schen Geschichte der Religionen‘, die unter eingehender Verwertung der damals bekannt gewordenen Literatur erstmals eine vergleichende Würdigung „aller

)

Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte 211

menologischen Ausführungen (über Opfer, Zauberei, Gebete, Orakel, Reinigungen usw.) mit ausführlichen Literaturangaben belegt, die Fragen der monographischen Erforschung der Religionen auch im Hinblick auf frühere Darstellungen aufs neue beleuchtet zu haben. So weist er bei der Besprechung der Religion der Phönizier außer dem vielgenannten Werk von J.Selden ‚De Diis syris‘ (Amsterd. 1680) und Mignot’s „Mémoires sur les Pheniciens‘ (Paris), auch hin auf ‚Sanchoniathos Phoe- nician History by Richard Cumberland‘ (London 1720). Flügge begrüßt lebhaft in § 27 das beginnende Studium der indischen Literatur, das geeignet sei, wenn auch der Geist indischer Schriften in Ubersetzungen verlieren sollte, immer mehr ins indische Geistesleben einzuführen. Die indischen Religionsschriften werden immer die brauchbarsten Nachrichten liefern ..., um darauf eine Religionsgeschichte aufzubauen; er nennt davon bereits ‚The Bhaguat-Geeta Translated from the original sanskreet by Wilkins‘ (London 1785), ferner ‚Bagavadam, ou doctrine divine, ouvrage indien canonique‘ (Paris 1788); ‚Sakontala‘, aus der Sanscrit-Sprache von Jones ins Englische und aus dieser ins Deutsche übersetzt von Forster und die ‚Sammlung asiatischer Originalschriften‘ (Zürich 1790). Sehr zuversichtlich äußert sich Flügge über die neu er- wachende Beschäftigung mit der skandinavischen Religionsgeschichte ($ 33); bestanden doch bis auf unsere Zeit, so behauptet er, die Schriften über das skandinavische Altertum fast nur aus geschmacklosen und selbst unkritischen Sammlungen, deren Verfasser über die rohen Materialien, die sie zusammentrugen, nicht hinausblickten. Man benutzte zwar Quellen, die in der Edda und den nordischen Sagas zum Teil ergiebig flossen; aber man benutzte sie wie eine rohe Masse, die keinen Geist in sich schloß, und in welche kein Geist hineingebracht werden konnte. Endlich fanden geistvolle Dichter, z. B. Gerstenberg und Herder, daß hier mehr als bloß roher Stoff sei, und bereiteten so eine Revolution im Studium des nordischen Altertums vor, die bisher zwar noch nicht weit um sich gegriffen, hat, aber gepflegt von trefflichen Männern, wie z. B. Frdr. D. Gräter, in dem von ihm unter dem Titel ‚Bragur‘ hgb. ,Literari- schen Magazin der Deutschen und Nordischen Vorzeit‘ (1.Band, Lpg.1791); ferner ders. ‚Nordische Blumen‘ (Lpg. 1789)! keine anderen als wohl- tätige Früchte bringen kann“ (S. 102f.). Eine ähnlich günstige Aussicht

Teile des Götterdienstes“* bei den verschiedensten Völkern der Erde unternimmt. Schreibt doch Edv. Lehmann in seinem Beitrag ‚Zur Geschichte der Religions- geschichte‘ (im ‚Lehrbuch der Religionsgeschichte‘ hrsg. von A. Bertholet und Edv. Lehmann, 1925, 7) mit Recht, sie sei „eine höchst beachtenswerte Leistung, die sachlichen Sinn und scharfe Beobachtung mit gründlichen Kenntnissen ver- binde und eine noch immer lesenswerte Phänomenologie der Religionen biete“. 1 Über Frdr. D. Grater s. H. Kirchner ‚Das germanische Altertum in der deut- schen Geschichtsschreibung des achtzehnten Jahrhunderts‘, 1938, 94f.; 112f. 14°

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der Neubelebung allgemeinen Interesses fiir die Erforschung der Reli- gionsgeschichte Skandinaviens scheint Flügge auch für die der alten Deutschen vorzuliegen; bedarf doch die deutsche Religionsgeschichte noch einer genauen, kritischen Revision, weil sie noch vieles enthilt, was nicht deutsch, sondern slavischen und wendischen Ursprungs sei (S. 105). Er weist hierbei auf K. G. Antons ‚Geschichte der deutschen Nation‘ (1793) hin als einen trefflichen Beitrag zur Scheidung und Son- derung von allem, was nicht deutschen Ursprungs ist. Sei doch an eine eigentliche Geschichte der Religion der Deutschen nur zu denken, wenn man die Religionen der mit den Germanen in Verbindung gestandenen Völker vergleichend heranzieht.!

Flügge hat nun selbst den Versuch einer vergleichenden religions- geschichtlichen Studie gemacht in seinem beachtenswerten in den ,Bei- trägen zur Philosophie und Geschichte der Religion und Sittenlehre‘ hrsg. von C. F. Stäudlin (Bd. DI, 1797, 225ff.) veröffentlichten Auf- satz: ‚Über die Ostera der alten Sachsen‘, der ein gutes Beispiel der von Flügge verfochtenen vergleichenden Forschungsweise darstellt. Gleich zu Anfang seiner Untersuchung spricht Flügge eine Vermutung aus, die auch neuere Forscher auf dem Gebiet der germanischen Religion (z.B. G. Neckel, Jan de Vries) wieder vorgetragen haben, daß die Göttin Ostera gleich der Venus die personifizierte Zeugungskraft der Natur bezeichne, also eine besonders im Frühling verehrte Fruchtbarkeitsgöttin sei und wohl aus dem Orient herkomme, wobei unter Orient in dieser Zeit vor

1 Außer K.G. Antons ‚Geschichte der deutschen Nation‘, 1793 s. darüber H. Kirchner ‚Das germanische Altertum in der deutschen Geschichtsschreibung des achtzehnten Jahrhunderts‘ (1938, 94; 108 ff.) sowie jetzt auch Th. Bieder ‚Ge- schichte der Germanenforschung‘ Deutsches Ahnenerbe, Reihe A, 1989, 239 ff. weist Flügge auch auf B. Frdr. Hummel ‚Compendium deutscher Altertümer' (1788) sowie auf dessen ‚Bibliothek der deutschen Altertümer, systematisch geordnet und mit Anmerkungen versehen‘ (1787) hin (s. auch H. Kirchner a. a. O. S. 86). Ferner nennt er El. Schedius ‚De diis Germanis‘... cum notis ed. Jo. Jarkins, Halle 1728; J. G. Keysleri „Antiquitates septentrionales et Celticae‘, Hannover 1720; G. Schtitzen’s ‚Schutzschriften für die alten Deutschen‘, Neue Ausgabe, Lpg. 1773/76, 2. Vol.; (Fulda) ‚Von den Gottheiten‘ der alten Deutschen in Meu- sels Geschichtsforscher Th. 1. C. Sagittarii ,Antiquitates Gentilismi et Chri- stianismi Thurungii‘, Jena 1685; J. H. von Falkenstein ‚Antiquitates Nordgaviae veteris‘, Schwabach 1784; J. E. Doederlein ‚Bericht von dem Heidentum der alten Nordgauer‘, Regensbg. 1734. Merkwürdigerweise hat Flügge die Abhandlung von Justus Möser ‚Von den Mysterien und dem Volksglauben der alten Deut- schen und Gallier‘ übersehen, die, 1798 in den von Frdr. Nicolai herausgegebenen ‚Vermischten Schriften‘ von A. Möser (II. Teil, 262 ff.) erschienen war. Uber E. Schedius, Keysler, Schütze s. meine Darstellung: ‚Anfänge der Erforschung germanischer Religion‘ in ARW 34 (1987) 28f.; 32 ff.; 38ff.; ferner P. H. Stemmer- mann ‚Die Anfänge der deutschen Vorgeschichtsforschung. Deutschlands Boden- altertümer in der Anschauung des 16. und 17. Jahrhunderts‘, 1934, 52f.; 109ff.

Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte | 213

allem Asien zu verstehen ist. Schreibt doch jüngst Jan de Vries in der ,Altgermanischen Religionsgeschichte‘ Bd. I (1935) 232f.: „Es ist so- gar nicht ausgeschlossen, daß wir sie (die Göttin Ostera) als eine uralte indogermanische Gottheit betrachten dürfen, weil ihr Name in durchaus klarer sprachlicher Beziehung zu der vedischen Usas, der griechischen Eos, der römischen Aurora und der litauischen Auzra steht“. Einen weiteren Erweis für die Verwandtschaft der Ostera mit der Venus sieht Flügge darin, daß sowohl der Venus als auch der Ostera der Monat April heilig war. Im April aber wurde zu Ehren der Venus das große Früh- lingsfest der Römer gefeiert; diesem Fest lag also dieselbe Idee zugrunde, die auch für die Verehrung der Ostera galt. Die Entstehung eines solchen Fruchtbarkeitsmythus und die daraus sich entwickelnde Personifizierung der magisch damit erfüllten Kräfte wird auf S. 230f. von Flügge ein- fühlend folgendermaßen zu deuten gesucht: „Die alles belebende und alles verjüngende Kraft der Natur mußte schon früh das Nachdenken des ungebildeten Menschen auf sich ziehen, seine Bewunderung und sein Staunen erregen dies mußte um so mehr in einem Lande geschehen, wo die zeugende Kraft der Natur sich über alles verherrlicht und in den schönsten Gestalten hervorgeht. Der Mensch mußte auf ein unbekanntes, lebendes Etwas, welches das Ganze durchdringt und erfüllt, fallen. Als bloße tätige Kraft konnte er sich dies wirkende Etwas nicht denken, weil er selbst zu ungebildet war, sich abstrakte Begriffe zu denken und sie noch weniger durch seine arme Sprache bezeichnen konnte. Er mußte die Idee sich im Bilde vorstellen, mußte sie personifizieren. Solche sym- bolische Personifikationen finden wir nun überall im Orient. Nicht bloß die zeugende Kraft der Natur im allgemeinen wurde personifiziert, son- dern auch die einzelnen Kräfte, deren Aggregat jene Personifikation aus- macht. Man bildet weibliche Personifikationen, weil der Anteil weiblicher Wesen in Zeugung neuer Wesen am meisten auffiel —... Hier liegt der Keim, aus welchem sich die Göttin Venus und Ostera bildete, und zwar nach äußeren Veranlassungen verschieden bildete. Der Begriff des Her- vorbringens blieb der Grund und eben daraus läßt sich die Analogie der Symbole und des Kultus erklären, so verschieden auch die Mythe selbst bei Indiern, Persern, Phöniziern u. f. ausgebildet wurde.“ Weiterhin wendet sich Flügge gegen die verschiedenen etymologischen Grübeleien und möchte im Anschluß an Leibniz (in scriptorib. rerum Brunsvic. T. I. p. 45)! und unter Benutzung der Mitteilung von Beda (s. J. de Vries a. a. O.) auf die ursprüngliche Bedeutung des sich häufig findenden

1 Über „den Einfluß G. W. Leibnizens auf die deutsche prihistorische Forschung“ s. Paul Hans Stemmermann ‚Die Anfänge der deutschen Vor- geschichtsforschung. Deutschlands Bodenaltertümer in der Anschauung des 16. und 17. Jahrhunderts‘ (Diss. Heidelberg 1934).

e a ane oe r @

214 R. F. Merkel: Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte

Wortes Oster zurückgehen, das irgendwie mit der fruchtbringenden Sonne und ihren Symbolen zusammenhänge; dadurch werde die Göttin Ostera? irgendwie in den Kreis der Göttin Frigga treten, die als an- fängliches Symbol der erzeugenden Erde zu deuten sei. Sodann be- richtet er nach Beda (De temporum ratione, cap. 15) über die Art der Verehrung der Ostera, deren weite Verbreitung noch aus den Orts- bezeichnungen (Osterwalde, Osterholz, Osterberg, Osterseen) zu erkennen sei. Zwar wurde der Dienst der Ostera durch das Christentum abgeschafft und das Osterfest ins Christentum hinübergenommen und mit der Auf- erstehungsfeier verbunden ... Von der weltlichen Macht verfuhr man ja gewaltsam und die christlichen Apostel waren zufrieden, wenn sie die Menschen nur mit Taufwasser besprengt hatten, gesetzt auch, sie moch- ten nichts vom Christentum wissen ... solche Menschen behielten gewiß

den alten heidnischen Kultus bei...“ Schließlich geht Flügge den bis

auf unsere Zeit erhaltenen Spuren des ehemaligen Osteradienstes im alten Sachsen nach (z. B. der Sitte der Osterfeuer und Ostertänze, die sich im Riesengebirge und in Ostfriesland erhalten hätten).

Wohl im Hinblick auf den ersten Versuch einer religionsphänomeno- logischen Erfassung der Berichte über die verschiedenen Religionen der Erde im ‚Grundriß der Geschichte aller Religionen‘ von dem Göttinger Ethnologen und Religionshistoriker C. Meiners hat auch Flügge seiner Einleitung einzelne Abschnitte über den „Polytheismus Fetischismus“ ($ 42) eingefügt darin der Hinweis auf De Brosses ‚Du Culte des dieux fetiches‘, 1760 (siehe darüber meine Ausführungen in ,Nieuw Theol. Tijdschr.‘ [1933] 230f.) sowie über den „Tierdienst-Sabäis- mus Astrologie“. Man muß anerkennen, daß C. Meiners auf diesem Gebiet eine grundlegende Arbeit geleistet hat, die für viele Jahre der Folgezeit von hoher Bedeutung blieb.

Die oben ausführlich dargestellte ‚Einleitung in das Studium der Religions- und Kirchengeschichte‘ war Chr. W. Flügges letzte Veröffent- lichung während seiner Dozententätigkeit an der Universität Göttingen; denn noch im gleichen Jahr verließ er nach siebenjähriger Wirksamkeit die Universität und da keine Aktenstücke im Archiv der Universität vorliegen, dürfen wir annehmen, wohl aus wirtschaftlichen Gründen und übernahm eine Predigerstelle zu Scharnebeck in der Nähe Lüneburgs, wurde dann nach Pattensen berufen und starb als Superintendent dieser Inspektion am 21. Juni 1828. Flügge gehört durchaus nicht zu den bahnbrechenden Gestalten einer Wissenschaftsdisziplin; seine zahlreichen Schriften sind, wie es in der ‚Allgemeinen deutschen Biographie‘ (s. v.) heißt, „weniger durch Tiefe und Originalität als durch Klarheit, Gewandt-

1 Uber die Göttin Ostera s. auch Jakob Grimm ‚Deutsche Mythologie‘ (1844),

Ba. I, 268f.

Otto Paul: Zur Geschichte der iranischen Religionen 215

heit und vielseitige Belesenheit“ ausgezeichnet, doch bleibt ihm das Ver- dienst, schon um die Wende des 19. Jahrhunderts sich dem Studium der Religionsgeschichte gewidmet und als erster an einer deutschen Univer- sität Vorlesungen über ‚Allgemeine Religionsgeschichte‘ gehalten zu haben. In diesem Punkt war er seiner Zeit vorausgeeilt im Leben eines Wissenschaftlers aber gilt nicht, was er erreicht hat das hängt von vielen, oft sehr äußerlichen Umständen ab —, sondern, was er er- strebt und mit den in seiner Zeit verfügbaren Mitteln erkämpft hat... Es ist Pflicht jedes geschichtlichen Rückblicks auf das Werden eines Wissenschaftsgebietes, auch bisher wenig beachtete Forscher der Ver- gessenheit zu entnehmen.

Inhaltsübersicht

Der Göttinger Privatdozent Christian Wilhelm Flügge war der erste deutsche Dozent, der im Jahre 1797 eine Vorlesung über „Allgemeine und be- sondere Religionsgeschichte“ ankündigte. In verschiedenen Veröffentlichungen hat Flügge die religionsgeschichtlich bedeutsameren Erkenntnisse seiner Zeit darzulegen gesucht und zugleich beachtenswerte Richtlinien zur Erfassung „des Nationalen, Lokalen und Klimatischen im Volksglauben der verschiedenen Völker“ gegeben. Flügge verdanken wir auch die- erste „Einleitung in das Studium der Religionsgeschichte“ (1801), worin bereits die Herausgabe von Quellen zur Religionsgeschichte gefordert wird. Angelegentlich unterstützte er auch die neuerwachenden Bestrebungen zur Erforschung des nordischen Alter- tums und schrieb selbst eine vergleichende Studie: „Über die Ostera der alten Sachsen“ (1797). Auch mit der Religion der Lappen und Finnen beschäftigte sich Flügge, um aus nordischen Schilderungen Angaben über „ursprüngliche Naturreligion“ zu erhalten.

ZUR GESCHICHTE DER IRANISCHEN RELIGIONEN VON OTTO PAUL IN MÜNCHEN

Um die Mitte des ersten Jahrtausends vor Zeitwechsel herrschte in Vorderasien ein reges politisches Leben. Die großen Staatengebilde stießen aufeinander, und es zeigte sich, daß die dadurch herbeigeführten Ereig- nisse in der kommenden Zeit immer weitere Kreise zogen. An folgende Daten sei erinnert:

v. Zw. rd. 900 Šamašmudammit von Babylon durch den Assyrerkönig Adad-nirari Il. besiegt. 835 Erste Erwähnung der Meder in einer Inschrift des Salma- nassar II. ö 810—805 Regentschaft der Semiramis (Sammuramat). 745 Der Assyrerkönig Tiglatpileser IL besiegt die in Babylonien

eingedrungenen Aramäer. 729 Tiglatpileser (Pulu) König von Babylon.

216

v. LW. rd. 700

rd. 700—6751 689 675—640

640—600 zw.630 u. 625 rd. 625—585

626—604

604—502

rd. 600—559 586 584—550 559—529 (30)

539 (88)

536

Otto Paul

Begründung des persischen Königtums durch Achaimenes (Hahamaniš): Achämenidendynastie.

Achaimenes (Hahamaniš) König von Parsumaš.

Zerstörung Babels durch Sanherib.

Teispes (Čišpiš) König von Parsumaš (nach anderen von Per- sien und Anšan).

Kyros (Kuru, Kuras)I. König von Parsumaš.

Medisches Großreich von Kyaxares (Uvahšatra) gegrūndet. Kyaxares (Uvahšatra) König von Medien.

Nabopolassar von Babylon.

Nebukadnezar II. von Babylon. Eroberung der westlichen Provinzen des Assyrerreiches, Syrien und Palästina. Babylon Weltstadt.

Kambyses (Ka”būjiya) I. König von Anšan. ~ Beginn der ,,Babylonischen Gefangenschaft der Juden. Astyagés (Istuvegu) von Medien.

Kyros (Kuru, Koreš) II. König von Angan, später auch von Persien.

Belsazar, Nebukadnezars Sohn geschlagen. Kyros (Kuru) II. König von Babylon.

Ende der ,,Babylonischen Gefangenschaft der Juden. Kyros (Kuru) Il. erteilt die Erlaubnis zur Rückkehr und zum Tempel- bau (Esra 1).

529/80—521/22 Kambyses II. Sohn des Kyros (Kura) II. König. Sein Bruder

622/21—486/5

486/5—465 465—424 428—405 405/4—359 359 388 338—3386 886—330 330

330— 323

Smerdis (Bardiya).

Darius (Därayavaus) I. der Große, Sohn des Hystaspes (Vis- täspa), aus der jüngeren Linie, Großkönig.

Xerxes (Hsayärsan) Großkönig.

Artaxerxes (Artahsassa) Großkönig.

Darius (Därayavaus) If. Sogdianus.

Artaxerxes (Artahsassa) IJ. Mnemon.

Artaxerxes (Artahsassa) III. Ochos.

‚Arses.

Darius (Därayavaus) III. Kodomannus.

Eroberung des persischen Großreiches durch Alexander (Is- kander) von Makedonien.

Alexander der Große.

Die eigentliche Ursache dieser politischen Umwälzungen war der Zu- sammenprall mehrerer Weltanschauungen, die ihrerseits im Grunde durch rassenmäßige Unterschiede bedingt sind. Für das geistige Leben Vorder- asiens kommen als große Völkergruppen hauptsächlich in Betracht?:

1 Die Zahlen sind äußerst unsicher, doch geben sie wenigstens für den Über- blick eine ungefähre zeitliche Anordnung.

2 Die gesperrten Völker- und Ländernamen beider Übersichten lassen den Be- reich des bekannt gewordenen vorderasiatischen Kulturlebens und seine Gliede- rung deutlich hervortreten. Sie zeigen aber auch, welchen umfassenden Anteil die Iranier (Meder, Perser) dabei haben, und zwar erscheinen diese nicht als wilde nomadisierende Horden, sondern als geordnete Reiche. Wenn wir ein möglichst

Zur Geschichte der iranischen Religionen 217

1. DieSumerer, ein friihzeitig hochgebildetes Volk, das um 3000 v. Zw. am unteren Euphrat in Sinear seine Blütezeit erlebte. Im ersten Jahr- tausend v. Zw. spielt es keine Rolle mehr, doch verdanken die semiti- schen Völker des vorderen Orients ihm einen großen Teil ihrer Kultur.

2. Die Akkader (Babylonier und Assyrer), somatisch und sprach- lich zu der noch heute in Vorderasien bedeutenden semitischen Völker- familie gehörend.

3. Die Arier. Sie wanderten seit etwa 2000 v. Zw. in mehreren Schüben aus Nordeuropa nach Asien. Wie die übrigen indogermanischen Völker, Germanen, Griechen, Italer usw. vertreten sie in der Geschichte des Altertums die nordische Rasse. Bei den Staatenbildungen im zweiten Jahrtausend v. Zw. teilten sie sich zunächst in zwei Gruppen, die Indo- arier, die im heutigen Vorderindien Wohnsitz nahmen, und die Iranier, die sich in dem nach ihnen benannten Hochland und den umliegenden Gegenden ausbreiteten.

Die Indoarier hatten wenig Einfluß auf die Gestaltung des geistigen Lebensin Westasien. Sie bewahrten ihr aus dem Norden mitgebrachtes Wissen oder bildeten es auf Grund der Erlebnisse im neuerworbenen Lande weiter. Ihre religionsgeschichtliche Sendung wirkte sich nach der Mitte des ersten Jahrtausends v. Zw. aus, als ein Mann aufgetreten war, der es als seine Berufung ansah, die aus einer besonderen Ansicht der Geburten- kette entstandene Nervosität zu beseitigen, Gautama der Buddha. Seine Lehren lebten unter den Völkern der gelben Rasse in ungeahnter Weise fort, während sie in Indien selbst nicht völlig durchdrangen.

Die Iranier hatten ihre angestammte Geisteskultur viel mehr in acht zu nehmen. Sie war im Westen durch die scharf ausgeprägte sumerisch- akkadische Welt bedroht, im Osten vielleicht durch Einflüsse mongolischer Kultformen, die mit denen Ähnlichkeit haben mochten, welche wir heute als Schamanismus bezeichnen.

Den ureigenen Anteil der Arier an der Förderung des religiösen Lebens im vorderen Orient hat man bisher meist unterschätzt oder gar übersehen. Man stellte es oft so dar, als hätten die Iranier bis zur festen Landnahme in Asien keine Kultur gehabt. Als wilde Horden sollen sie in die Länder der ,,Hochzivilisation“ eingefallen sein. Daraufhin suchte man dann alles derartige, was später bei ihnen in Erscheinung tritt, als Entlehnung einer- seits aus babylonischer, andererseits aus mehr östlicher, etwa mongo- lischer Geistespflege zu erklären.

der Wahrheit entsprechendes Bild von der vorhergehenden Zeit gewinnen wollen, so müssen wir für die Iranier eine Kulturhöhe in Rechnung stellen, die der assy- rischen, babylonischen, aramäischen usw. entspricht. Daß sie anders gerichtet war (Bauernkultur gegen Stadtkultur), und daß akkadische Schriftdenkmale nichts von ihr erzählen, ist schließlich nur natürlich.

218 Otto Paul

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß sich Einzelheiten in den religiösen Quellen der Iranier als solche Einflüsse erweisen lassen. Ge- naue Untersuchungen, die bisher noch keineswegs vorliegen, dürften das sicher einmal ergeben. Dabei kann es sich aber stets nur um einige wenige Züge handeln, die gerade zeigen, mit welcher Kraft und An- strengung die iranische Geisteswelt als Ganzes sich zu wehren wußte und tatsächlich auch behauptete.

Die Frage ist nun: „Wie ergründet man das Wesen der ursprünglichen iranischen Religion, die bei den Siedlern vorlag und nachmals als fester Be- standteil der Lehren, etwa zur Zeit der Achämeniden, erscheint?“ Zunächst denken wir dabei naturgemäß an schriftliche Quellen. Da diese aber für die Jahrhunderte der Wanderung völlig fehlen und auch danach recht trübe und spärlich fließen, so scheint es aussichtslos, dem Problem über- haupt näher zu treten. Und doch, wenn wir das Wenige aus später Zeit nur richtig verstehen und weitere Denkmale, von denen unten ausführ- licher zu sprechen ist, und die bisher viel zu wenig herangezogen wurden, berücksichtigen, so werden wir trotzdem zum Ziel kommen.

Es ist nicht die Aufgabe dieses Artikels, Erschöpfendes zu bringen. Nur einige Grundlagen wesentlich grundsätzlicher Art sollen erörtert werden. Allem Anscheine nach ist das Studium der iranischen Religion auf ein totes Geleise gekommen. Was hat aller Gelehrtenscharfsinn über Zara- YuStra herausbringen können? Eine Reihe einander stark widersprechen- der Ansichten von seiner Lebenszeit. Damit ist uns freilich nicht gedient. Ein Besinnen auf die eigentlichen Erfordernisse der Wissenschaft ist des- halb gerade hier durchaus am Platze. Gewiß soll man nach möglichst ge- nauen Datierungen streben, aber sie sind nicht Selbstzweck. Wichtiger als das Datum sind die geistigen Strömungen zu einem gewissen Zeit- punkt.

Wie gering die Bedeutung des altiranischen Kulturlebens noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts angeschlagen wurde, bezeugt eine Stelle in dem Buche „Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet“ von David Friedrich Strauß. Es heißt dort!:

„Wenn wir einen Augenblick, dem gemeinem Sprachgebrauche folgend, Juden- und Heidentum als die beiden Faktoren betrachten, die einander in die Hand arbeiten mußten, um die neue Weltreligion hervorzubringen, so rechnen wir auf Seiten des ersteren noch diejenigen Einflüsse mit ein, welche das Judentum von . anderen orientalischen Religionen, namentlich während und nach dem Exil von der persischen Religion, erfahren hatte. Unter dem heidnischen Faktor aber ver- stehen wir in erster Linie die griechische Bildung. . .“

Es ist schon sehr verdienstlich, daß der unerschrockene Kämpfer für klare religionsgeschichtliche Erkenntnis das persische Gebiet überhaupt

1 Kap. 27. Volksausgabe (Lpg. o. J.) 84b.

Zur Geschichte der iranischen Religionen 219

in Rechnung stellte. Seine Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse ließ ihn jedoch die iranische Religion im großen Überblick nur als ein An- hängsel der jüdischen betrachten. Die Überschätzung der letzteren spricht dann auch aus dem im gleichen Zusammenhang erscheinenden Gemeinplatz: „Das Judentum in allen Stadien seiner Entwicklung suchte Gott, das Griechentum ebenso den Menschen.“ Gründliche Einsicht in die Quellen und deren einwandfreie Deutung wird immer mehr zeigen, wieviel die jüdische Religion der iranischen verdankt. Soviel läßt sich jetzt schon sagen: das oft gerühmte Gottsuchen der Hebräer ist ein Erbe der Arier Vorderasiens, und wenn der Grieche „den Menschen suchte“, so hoffte er dabei nichts anderes zu finden als Gott in sich. Die Stellung des Irdi- schen zum Höchsten, die wir im Altertum antreffen, ist, soweit sie für uns überhaupt in Betracht kommt, eine Offenbarung nordischen, indo- germanischen Geistes. Man sollte endlich einmal die Meinung von der religiösen Begabung des Semiten auf das gehörige Maß zurückschrauben. Muß nicht das klar vor unseren Augen liegende Beispiel Muhammeds mit seinem inhaltlosen Allah und dem aus jüdischen, gnostischen, späthelle- nistischen und anderen Elementen im wahrsten Sinne des Wortes zu- sammengestoppelten Koran zu denken geben ?

Auf welche Weise läßt sich nun aber der iranische Anteil am vorder- asiatischen Religionsleben rein darstellen? Eingangs wurde erwähnt, daß um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Zw. die kulturellen Bewegungen einen bedeutenden Umfang und tiefgreifende Folgen hatten. Der Anteil Irans daran war nicht gering. Er ist eher vorherrschend zu nennen. Das prigt sich in den Nachrichten griechischer Historiker aus.! Allen voran steht Herodot. Er bezeugt, daß eine regsame Mythenbildung, die ja immer ein Zeichen religiöser Aufwallungen ist, im Schwange war. Seine Mittei- lungen lassen aber auch darauf schließen, daß bereits im ganzen Gebiete ein durchgreifender Synkretismus Platz gegriffen hatte. Hier wird man nun fragen: „Wie können wir da in der Lage sein, aus dieser Masse, in der sich alle Anschauungen vermischt haben, das herauszufinden, was der ursprüngliche geistige Besitz der Iranier ist?“ Wir haben eine Möglich- keit, ihn festzustellen, und das ist der Vergleich mit der stammver- wandten indoarischenKultur. Vergleichende Mythologie und Reli- gionswissenschaft als Gegenstück zur vergleichenden Sprachwissenschaft ist schon oft ohne viel Erfolg gefordert worden. Im arischen Gebiete Asiens ist sie angebracht. Dort verspricht sie eine Erweiterung unserer Kennt-

1 Vgl. Fontes historiae religionis Persicae collegit Carolus Clemen, Bonn 1920, Fontes historiae religionum ex auctoribus graecis et latinis collectos subsidiis Societatis Rhenanae promovendis litteris edidit Carolus Clemen fasciculus I, und Carl Clemen, Die griechischen und lateinischen Nachrichten über die persische Religion, GieBen 1920.

220 Otto Paul

nisse. Sie läßt sich da, wie sonst nirgends, methodisch begründen und aus- arbeiten. Ja, sie an dieser Stelle zu verwirklichen ist geradezu notwendig. Das wird aus dem Folgenden deutlich werden

So ganz einfach ist es allerdings nicht, damit zum Ziel zu kommen. Wenn man denkt, die Ergebnisse seien aus der reichen indoarischen Über- lieferung schlechtweg abzulesen, so ist man auf falscher Bahn. Deutung ist hier ebenso nötig wie in der arg zerklüfteten kulturellen Hinter- lassenschaft der alten Iranier. Die Ursache davon ist eine frühe Trennung und Eigenentwicklung der Völker, also die gleiche, die die sprachlichen Erbverwandtschaftsbeziehungen so undurchsichtig macht.

Gerade die religiöse Spaltung muß einmal besonders tief gegangen sein. Das zeigt die Umwertung der Bezeichnungen für die höchsten Wesen, die wir in unseren Quellen wahrnehmen. Der Indoarier bezeichnet die Gottheit als deva. Dieser Ausdruck lautlich zu daeva, später dew um- gebildet, bedeutet in Iran einen bösen Geist, Dämon. Andrerseits nennt bekanntlich der Zoroastrier den höchsten und reinsten Geist, das Licht- wesen, Ahura Mazda, später zu Ohrmazd, Ormuzd, Hormizd usw. entstellt. Das dem ersten Teil dieses Namens entsprechende indoarische asura-, ist aber bereits im Rgveda ein Wort für „böser Geist“, wenn auch nicht durchweg so gebraucht.

Solche Umwertungen sind uns ja eigentlich nichts Fremdes. Sie kommen u.a. auch in den mohammedanischen Quellen vor. Besonders ist in diesem Zusammenhang aber auf die Herabwürdigung der germanischen Götter durch die christlichen Glaubensboten hinzuweisen. Dadurch erscheint diese kulturgeschichtliche Tatsache in einer eigenartigen Beleuchtung, die ge- rade die Übereinstimmungen zwischen der iranischen und indoarischen Religiosität deutlicher hervortreten läßt. Sind die Denkmale daraufhin erst einmal gründlich durchgearbeitet, so wird uns die urarische Kultur- schicht bereits viel vertrauter geworden sein. Von einigem werden wir dann sogar auf grundlegenden indogermanischen Geistesbesitz schließen können.? |

ı Da ich wegen notwendiger Beschränkung hier nicht alle Fäden verfolgen kann, verweise ich auf den Vortrag von Walther Wüst, „Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung‘ ARW 36 (1939) 64ff., besonders von S. 84 ab.

2 Um diese Betrachtungen fruchtbar weiter zu verfolgen, liegt bereits eine sichere Grundlage vor. Alfred Hillebrandt stellte in seiner „Vedischen Mythologie“ (Bd. 2, 2. Aufl. Brsl. 1929, 417 ff.) den Stoff über die Asuras zusammen. Er knüpft an die Tatsache an, daß der Rgveda sie nur vereinzelt als böse Geister bezeichnet. „Die Lieder, die die Asuras feindlich nennen,enthalten damit ein Krite- rium ihrer Zugehörigkeit zu der Brähmanaschicht oder, vorsichtiger ausgedrückt, zu den Kreisen, deren Anschauungen sich in den Brähmanas fortsetzten. Im Atharva- Veda kommt der Plural asurah = ‚Dämonen‘ schon 30 mal vor“ (a.2.0.427, Anm. 2).

Die Verteufelung der Asuras hat demnach durch eine besondere theologische Richtung stattgefunden. Zu vergleichen ist damit Hermann Oldenberg „Götter-

Zur Geschichte der iranischen Religionen 221

Freilich sind für diese Erkenntnisse auch mittelbare oder unmittel- bare iranische Quellen notwendig. Aber, wie erwähnt, ist es damit nicht zum besten bestellt. Die mittelbare Hauptquelle ist Herodot. Was er über persische Kultur und Verwandtes sagt, liegt nicht klar auf der Hand, es muß erst gedeutet werden. Die unmittelbaren Quellen liegen uns fast nur in später und recht verarbeiteter, zum Teil zerklüfteter Überlieferung vor. Altiranisch sind außer den Inschriften der Achämenidenkönige, die einzelne Schlüsse auf das religiöse Leben gestatten, nur die Bücher des Awesta. Deren älteste uns erhaltene Handschriften sind jedoch jünger als die mittelpersischen Texte und in schlechtem Zustande. Das Awesta (mitteliranisch Apastäk) ist in der Hauptsache eine Sammlung von Lie- dern, Gebet- und Liturgiebüchern. Nur ein Teil, den man, vielleicht zu Unrecht, für den jüngsten hält, das Vidé vdat (Vendidad), besteht aus stark verstümmelten mythischen Erzählungen und einem Reinheitsgesetz. Damit ist uns freilich nicht sehr gedient. Was wüßten wir vom Christen- tum und seinen Heiligen, wenn uns nur das kirchliche Meßbuch, einige Litaneien und ein Bruchstück der Genesis zur Verfügung ständen ?

Ergiebiger ist das mittelpersische (Pahlawi-)Schrifttum, das bisher stark vernachlässigt wurde, weil man meinte, es sei zu jung, um uns über altiranische Geisteskultur unterrichten zu können. Bei ihm muß jedoch die Erforschung der iranischen Religionsgeschichte einsetzen. Die Gründe dafür werden weiter unten, gelegentlich der Besprechung einzelner wich- tiger Punkte, zur Sprache kommen. Die Pahlawi-Literatur ist reichhaltiger als die altiranische, aber auch in sich von verschiedenem Wert. In dieser Abhandlung sei nur auf das B undahišn hingewiesen, eine Darstellung der Weltentstehung und ihrer Schicksale, soweit sie von dem Kampf zwischen dem guten Prinzip (Ohrmazd, awestisch Ahura mazdah) und dem bösen (Ahriman, awestisch Ayra mainyu) bestimmt sind.

Um nun zu veranschaulichen, auf welche Weise man am besten in das Wesen der iranischen Religionslehren, das uns, wie aus dem Vor- hergebenden ersichtlich ist, reichlich Rätsel aufgibt, eindringt, will ich

gnade und Menschenkraft in den indischen Religionen“ (bes. Kap. IV) in „Indien und die Religionswissenschaft“ Stgt. u. Bln. 1906, 52 ff. Walther Wüst vereinigte die einst von Haug ausgehende Ansicht Hillebrandts (a. a. O. 418) mit Olden- bergs Einstellung (vgl. auch Yoga 1 [1931] 125—30 „Biologische Deutung vedi- scher Mythologie“). Die Sachlage ist dadurch ziemlich klar geworden: Devas und Asuras sind beides ursprünglich erhabene und verehrte Wesen. Gewisse priester- liche Gruppen minderten sie zu bösen Geistern herab. Eine iranische die Devas, eine indoarische die Asuras. Sie drangen damit so weit durch, daß in den Quellen der oben geschilderte Zustand hervortritt. Somit handelt es sich um eine reli- gionsgeschichtliche Erscheinung, die der Entwertung germanischer Götter durch die christlichen Missionare im wesentlichen entspricht. Es lohnt sich, den Unter- schied der ahurischen und daevischen Welt im Iranischen auf dieser Basis grona: licher zu behandeln.

222 Otto Paul

einige wichtige Teilgebiete kurz behandeln. Daraus werden sich leicht weitere Gesichtspunkte ergeben. Diese Betrachtungen sind vorerst niitz- licher als die Bestimmung der Götterpersönlichkeiten aus den Quellen. Die Gottheiten schillern doch immer in mehreren Farben je nach den Auffassungen der Priesterschulen.

DER KULTUS DER RAUSCHMITTEL

Es muß hier in erster Linie der Kultus der Rauschmittel besprochen werden. Er zieht sich ohne Unterbrechung durch das gesamte religiöse Schrifttum der Indoarier und der Iranier. Die Ausläufer der vorderasia- tischen Glaubensformen führen ihn fort, sodaß er als Hauptteil der christlichen Messe, der Wandlung von Wein in Gottesblut, in abgeschwäch- ter Form bis heute weiterbesteht. Ferner erscheint er im germanischen Kulturgebiet. Tacitus deutet ihn an. Die Edda zeigt ihn in der Verbin- dung mit der Weltzeitenlehre, was genau dem Vorkommen bei den Ariern Asiens entspricht.! Weiterhin finden wir Reste davon im Brauchtum. Das Genießen von Wein und Bier beim Abschluß von Käufen, Verträgen, bei Familien- und Jahresfesten, beiVerbrüderungen, das sogenannte Schmollis- trinken, gehört hierher, ebenso das im Mittelalter gut bekannte Minne- trinken, das dann auch an kirchliche Heilige geknüpft wurde: Gertruden- minne, Johannesminne.? Das Rauschmittel kann entweder ein Gärungs- getränk sein, Wein, Bier, Met usw., oder in einem Alkaloid bestehen, das ge- nossen, oder dessen Rauch eingeatmet wird. Beides kommt im Altertum vor. Die indoarischen Quellen überliefern die Kunde von einem vielge- brauchten Rauschtrank, der aus dem Saft einer Pflanze, wahrscheinlich einer Rhabarberart, hergestellt wurde. Beides, Trank und Pflanze, hat den Namen Soma.’ Dasselbe Wort kommt auch im iranischen Schrifttum

1 Siehe meinen Aufsatz „Zu Vidévdad 2, Studien über die Sintflut und den Fimbulwinter“ in „Wörter u. Sachen“ 19 (N. F. Bd. 1, Hdbg. 1938) 176 ff. 2 Gertrud oder Gertraud, nach der Legende Aebtissin in Brabant, vertritt - eine Göttin der Frühlingsnachtgleiche. Ihr Feiertag ist der 17. oder 20. März. Die beiden aus dem Neuen Testament bekannten Johannes, der Täufer und der Evangelist, wurden als Sonnwendgottheiten behandelt. Der erstere bekam den 24.Juni als Tag, der andere den 27. Dezember. s Oldenberg hat in dem Vortrag „Göttergnade und Menschenkraft“ (s. oben S. 220, Anm. 2) die Soma-Frage nur gestreift und offenbar nicht richtig aufgefaßt, „Der stärkste Gott Indra ist der unergründlichste aller Somatrinker. Ein Poet schildert, wie er gezecht hat und nun nach Hause geht. In mehr als vergnügter Stimmung denkt er unter anderem auch soweit es mit dem Denken noch gehen will an seinen menschlichen Gastgeber und an dessen Wünsche. Er spricht vor sich hin: So will ich’s machen oder so? Ich schenk ’ne Kuh. Ich schenk ein Pferd! Hab etwa Soma ich gezecht?

Zur Geschichte der iranischen Religionen 223

vor, in der nur lautgesetzlichen Abwandlung Haöma. Daraus haben wir zu schließen, daß der Kult bereits der arischen Gemeinschaft angehörte, ja, wir können wegen der deutlichen germanischen Parallelen mit einem Vorkommen bereits im ursprünglichen indogermanischen Raum rechnen.

Offensichtlich schon sehr früh war man darauf gestoßen, daß der Ge- nuß vergorener Pflanzensäfte eine seltsam belebende und anregende Wir- kung auf den menschlichen Körper ausübt. Auch Erwärmung, die für den Bewohner des kalten Nordens besonders wichtig ist, gehört bekanntlich zu ihren Eigenschaften. Dazu kam die Feststellung, daß diese Gärungs- erzeugnisse die Fäulnis, also, wie man glaubte, den Tod, verhinderten. Das alles wurde einem darin vermuteten göttlichen Wesen zugeschrieben; ein verzeihlicher Irrtum, denn erst seit dem vorigen Jahrhundert ist es ja bekannt, daß man im Alkohol eine Ausscheidung von Sproßpilzen zu sehen hat.

Den Gebrauch eines anderen Rauschmittels, des im Harz gewisser Hanfarten befindlichen Alkaloids, bezeugt Herodot bei den Iraniern. | Er sagt Buch 4, Kap. 75, die Skythen würfen Hanfkörner auf glühend ge- machte Steine, in dem daraus entstehenden Dampf, der ihnen große Freude bereite, nähmen sie ihre Reinigungsbäder. Wir haben damit die älteste Urkunde für das heute noch geübte Rauchen des Hanfes, der arabisch Hašiš, persisch Bang (= altindoarisch bhunga-) heißt. | Bei-gewissen Völkern führte die durch den Rausch erzeugte vermeint-

lich göttliche Begeisterung zu ekstatischen Rasereien, die sogar kultisch gepflegt wurden. Andrerseits erkannte man aber auch wohl schon sehr früh, daß übermäßiger Genuß des Mittels den Menschen kraftlos mache, und vor allem, daß zu gewaltiges Toben doch nicht von einem guten Geiste herrühren könne, da es die göttliche Ordnung störe.

Ein Bild hochaltertümlichen Götterglaubens.* (S. 37) Nach unseren Begriffen ist es das nicht. Es setzt eine beträchtliche Entwicklung voraus und ist sogar helle- nistischen Götterfabeleien an die Seite zu setzen. Nun, Oldenberg wollte nicht besonders in die Tiefe dringen. Seine Absicht war, einem weiteren Kreise von Akademikern die Indologie näher zu bringen, sie ihm schmackhaft zu machen. Da nahm er das Bild her, mit dem er beim damaligen Studenten Eindruck machen konnte, das des gemütlichen Zechens. Es liegt darin aber eine gewisse Gefahr. Man streift an die Scheffelsche Romantik mit den Germanen, die „immer noch eins“ tranken. Auch die Beziehung zwischen dem Gott und dem Menschen, der „zahlungsfähig ist, um den Soma fließen zu lassen und die Priester zu hono- rieren“, wobei „behagliche, beide Teile befriedigende Gegenseitigkeit“ herrscht, sollte nicht als Hauptbeispiel für altertümlichen Gottglauben gelten. Es führt irre. Ein paar Zeilen weiter spricht Oldenberg selbst von langen Zeitperioden, in denen mannigfaltige psychologische und geschichtliche Vorgänge arbeiteten, um die alten Glaubensformen zu schaffen. Das Wesentliche im Rgveda ist etwas anderes als das, was er in seinem Vortrag ausgehoben hat.

224 Otto Paul

DIE ORDNUNG

Der Hauptbegriff der iranischen Religion ist das Asa! (= altpers. arta- in Namen). Lautlich und sachlich entspricht im Altindoarischen das Wort rid-, n. Am besten wird er aufgefaßt als „die göttliche Ordnung“. Die altindoarische Entsprechung macht deutlich, daß der Begriff schon der arischen Gemeinschaft angehört. Wie bei der Auffassung des Rausch- trankes können wir auch wohl annehmen, schon die Urindogermanen hätten ihn hochgehalten und über ihn nachgedacht.

Als ursprünglicher Vertreter der „Ordnung“, als Verkünder des Aša gilt nun aber in Iran Zara$uStra. In der Überlieferung erscheint er stets als mythisches Wesen. Er ist der ratu, der Richter der Welt, der Stellvertreter Ahura Mazdähs auf Erden. Wie von Buddha und Jesus wird auch von ihm eine Versuchungsgeschichte erzählt (Videvdat 19). Gleich- wohl handelt es sich bei ihm ursprünglich um eine historische Person. Man muß den Schluß ziehen, daß er einmal den allgemein arisch-germa- nischen Begriff der göttlichen Ordnung für iranische Verhältnisse wieder belebt, ihm einen neuen Inhalt gegeben hat. Damit wird auch die Ent- stehung der oben erwähnten kulturellen Kluft zwischen Indien und Iran, die Umwertung der Götterbegriffe zusammenhängen. Ferner war er der- jenige, der auf Einschränkung des Rauschgiftgebrauches und Abstellung gewisser orgiastischer Kulte, die wohl von artfremden Steppenvölkern übernommen waren, drängte.

Die Awestasammlung hat uns eine Reihe von Liedern einer beson- deren Mundart bewahrt, die Gädäs. Sie sind schwer verständlich und ähneln im Stil und Versmaß am meisten den Hymnen des Rgveda. Man hat sie unmittelbar auf ZaraduStra zurückführen wollen und sie seine Verspredigten genannt. Wenn das nun auch anfechtbar und wenigstens zum Teil abzulehnen ist, so finden wir in den Ga@as doch die Gedanken- welt des Lehrers und seines Kreises ziemlich unverändert vor, oder ver- muten sie, sofern uns der Text überhaupt klar ist. Eins der am besten zu deutenden Lieder (Yasna 29) läßt die Seele des Stieres um Schutz für das durch ,,Rasereien“ bedrängte Rind bitten. Zaradustra wird ihm als Schirmherr und Ordner der Viehzucht und der Weidegerechtsamen in dieser Welt gegeben. Damit ist sicher ein Teil der Aufgaben, die er sich gestellt hatte, deutlich greifbar. Im Ganzen Können sie als „Herstel- lung und Verteidigung der göttlichen Ordnung auf Erden“ bezeichnet werden. Die Grundlage zu all diesem ist tief mit ur-indogermanischen Ideen verknüpft, mit jenem b(h)umi-Begriff, von dem Walther Wüst

ı Es ist fraglich, ob dieses awestische Wort richtig gelesen ist. Andreas (13. Orientalistenkongreß, Hbg., Leiden 1904, 105) behauptete, man müsse uhra sprechen, Vgl.u.a. Bartholomae, Zum Altiranischen Wörterbuch (StrBbg. 1906) 6 ff.

4

Zur Geschichte der iranischen Religionen 225

im vorigen Jahre in Salzburg sprach.! Das asa ist im letzten Grunde auf die bäuerliche Ordnung zurückzuführen, die wir heute noch als das Wesen der germanischen wie der iranischen Kultur feststellen kénnen. Das dürfte auch die Deutung von Zara@ustras Werk als das eines primi- tiven Hirten ausschliefen.

Fiir das iranische Gebiet sind auch sonst Tendenzen bezeugt, die sich gegen die Rauschwut wenden. So berichtet Herodot 4, 79: „Die. Skythen verhöhnen die Hellenen wegen ihrer Bakchoswut, denn es sei doch un- vernünftig, sagen sie, sich einen Gott zu denken, der die Menschen in Raserei bringt.“? Es ist möglich, daß Zara@ustra zu diesen Skythen einst Beziehungen hatte, oder seine Ideen bei ihnen galten.

Mit dem Begriff der göttlichen Ordnung (asa-, rta-) stehn dann wieder einige andere in Verbindung, die nur kurz angedeutet werden sollen: das Reich (awest. xsa@ra-, altpers. xsassa-, in griechischer Verballhornung xerxes), die Kraft, die Herrlichkeit (awest. zvaranah-) und die Ewigkeit. Sie sind uns, wie man sieht, aus dem Neuen Testament bekannt und be- dürfen auch hier noch einer endgültigen Klärung, die eben nur durch Betrachtung des großen vorderasiatischen Zusammenhangs, in dem das iranische Element einer der wesentlichsten Bestandteile ist, gewonnen werden kann.

Da wir in ZaraduStra eine Persönlichkeit von Fleisch und Blut zu sehen haben, so bemühte man sich auch, Lebensbilder desiranischen Weisen zu entwerfen. Ein stark verzeichnetes schuf James Darmesteter.® Bartholomae setzte diesem einige nüchterne Bemerkungen entgegen‘, die zwar ziemlich unzulänglich sind, aber doch einen zuverlässigen Quer- schnitt von dem geben, was man um die Jahrhundertwende von Zara- Sustra wußte. Mit Vorsicht berücksichtigt werden muß ferner Johannes Hertel, Die Zeit Zoroasters®, als ungleichmäßige Bemühung, den damit verbundenen Fragenkomplex zu umreißen und möglichst zu beantworten. Der neueste Versuch eines Zara@uStra-Bildes wird weiter unten ein- gehender zu behandeln sein.

1 s, ARW 36 (1939) 102f.

2 Die Stelle Darius NRa. Kol. 8, 2.25, wo von den Saka haumavarl[gä], den Haoma pressenden Skythen, die Rede ist, spricht eher für als gegen die Richtig- keit der Nachricht des Herodot. Das Skythenvolk zerfiel in mehrere Stämme. Wenn einer davon als besondere unterscheidende Bezeichnung , Haumapresser“ bekam, so ist das ein Beweis dafür, daß andere dem Rauschtrank abhold warten. Es ist nicht nötig, mit Foy, KZ. 35, 50 „die Haumahemmenden“ (zu altindoar. Yvrj) als Bedeutung anzunehmen. Vgl. Tolman, Ancient Persian Lexicon and Texts (Nashville 1908) 46); 131. Johnson, Index verborum 48.

® La Legende de Zoroastre, Annales du Musée Guimet T. XXIV, Le Zend- Avesta, Chap. VI, LXXV ff.

* Altiranisches Wörterbuch (StrBbg. 1904) 1675.

5 Indo-Iranische Quellen und Forschungen, H. 1, Lpg. 1924.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI.2 15

226 Otto Paul

URGRUND DER SCHÖPFUNG UND DIE WELTZEITEN

Die Wertschätzung des aša- mußte endlich zu einer Darstellung des gesamten Weltgeschehens führen unter dem Gesichtspunkt, daß die wirk- same göttliche Macht die Geschicke lenkt. Störungen des Gleichgewichts wurden darin den Mächten der Finsternis zugeschrieben, während der ordnende Geist das Lichtreich vertrat. Wir besitzen eine späte Fassung dieses Buches, das mittelpersische Bundahisn (Urgrund der Schöpfung). Sie ist in zwei Hauptrezensionen erhalten und stammt aus der Sassaniden- zeit (226—641 n. Zw.), muß aber auf eine Vorlage zurückgehen, die we- nigstens um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Zw. im Gebrauch war und wahrscheinlich, wie der indoarische Rgveda, zunächst mündlich über- liefert wurde. Beweis dafür ist die Mitteilung Herodots (1,132), daß die persischen Priester beim Gottesdienst (Opfer) eine Theogonie (Gesang von der Götterzeugung) vortragen. Dies ist auf Hymnen zu deuten, die von der Weltentstehung und der Verteilung der Zeiten unter die Herr- schaft des Ahura Mazdah und des Anra Mainyu handeln, wie es das Bun- dahisn erzählt. Weiterhin liefert uns folgender Umstand die Bestätigung: Die Schöpfungsgeschichte der Genesis ist ein kurzer Auszug aus jenem verlorengegangenen Ur-Bundahisn. Ich mache mich anheischig, das im Einzelnen zu belegen. Hier nur soviel: Die Schöpfung des Lichts vor aller Kreatur und seine Trennung von der Finsternis deutet zweifellos auf iranischen Einfluß. Ein Kapitel weiter, nach dem Sündenfall (Gen. 2, 14f.) wird das Auftreten des Schlangengezüchtes der Felder erklärt. Es ist etwas undeutlich gesagt, dichterisch umsponnen, entspricht aber der Angabe des iranischen Schöpfungsmythos, daß durch die Macht des Anra Mainyu ( Ahri- man) die Welt von Ungeziefer erfüllt wurde. Dies wird durch den Regen des TiStrya vernichtet, worin wieder eine Parallele zur Sintflut erscheint, von der die Genesis zwei weitere ineinandergeschobene Fassungen dar- bietet. Es sind die bekannten Noahgeschichten, deren Zusammenhang mit der iranischen Weltzeitenlehre ich an anderer Stelle dargetan habe.’

Zu erklären ist diese Abhängigkeit der hebräischen Urzeitlegenden vom iranischen Sagengut aus der Bekanntschaft, die die im Exil befind- lichen Judäer mit medischen und persischen Überlieferungen machten. 586 hatte Nebukadnezar II. eine Anzahl von Bewohnern des Landes um Jerusalem nach Babylon verschleppen lassen. Kyros II., der große Perser- könig, gab nach der Eroberung des Reiches 536 die Erlaubnis zurückzu- kehren und den Tempel der Hauptstadt wieder aufzubauen. Das wurde der Ursprung des jüdischen Volkes. Im Zweiströmeland nahmen begabte Leute aus der Reihe der Verbannten unter anderem die Ideen der auf- strebenden Iranier begierig an. Sie lernten den Wert der Tradition kennen

ı Wörter und Sachen 19 (N.F. 1) 176ff.

Zur Geschichte der iranischen Religionen 227

und schufen für den Zusammenhalt der neuen Nation ein Grundwerk, indem sie eigene und fremde Geschichtsurkunden, Gesetze usw. zusammenrafften und zu einem Buche verarbeiteten. Sie gaben dies als göttliche Uroffen- barung aus, und zwar mit großem Erfolg. Nicht nur die eigenen Stammes- angehörigen glaubten es, sondern bekanntlich hielt es über zwei Jahr- tausende lang fast die ganze abendländische und vorderasiatische Welt für Wahrheit. Außerdem trug diese Sammelarbeit den Juden den weithin verbreiteten Ruhm ein, die von der Vorsehung bestimmten alleinigen Gott- sucher zu sein.! Um hier einen klaren Blick zu bekommen, sei zunächst empfohlen, irgendeinen Talmudrabbi etwa mit den Persern Djeläl-ed-din Rumi und Hafis oder mit dem Deutschen Meister Eckhart zu vergleichen. Sollten wir nicht manche „alttestamentliche“ Gotterkenntnis überhaupt auf ZaraduStra zurückführen dürfen?

Als man seit Ende des vorigen Jahrhunderts bereits bessere Einsichten erhielt und diese weiteren Kreisen zugänglich zu machen suchte, begann man damit, die jüdische Weltentstehungsurkunde aussumerisch-akkadischer Überlieferung zu erklären.? Das reichte aber nicht aus. Die dritte große Kultur, die indogermanische, war nicht in Betracht gezogen. Nach der umfangreicheren Erschließung der iranischen Traditionen sehen wir schon bedeutend klarer. Andrerseits kann das Studium des Alten Testaments und auch des Neuen manche Lücke der Erkenntnis ausfüllen, da auf die Erhaltung dieser Schriften größerer Wert gelegt wurde als auf die der religiösen Urkunden Irans.

Auf einen Punkt sei noch besonders hingewiesen, dieRauschmittel- frage. Obwohl sie für den Kult der Juden im allgemeinen nicht in Be- tracht kommt, erscheint doch an einer wichtigen Stelle der Urgeschichte die Einführung des Weinstockes. Sie ist auch verbunden mit einem Ver- gehen des Sintfluthelden Noah und eines seiner Söhne, das der Sünde des awestischen Yima entspricht.? Diese ist aber ein Hauptstück in der irani- schen Geschichte des Urmenschen und wird durch die Anhänger Zara@ustras erzählt, um das Gebot der Mäßigkeit zu unterstützen (s. Yasna 32,8). Es ist anzunehmen, daß die vielgerühmte Nüchternheit der Semiten, die diese von den Ariern Asiens unterscheiden soll, auch erst auf ZaraduStra zurück- geht. Später, bei den Arabern, wurde sie auf die Spitze getrieben. Muham- meds Weinverbot hat in der Hauptsache seinen Ursprung in der beabsich- tigten Trennung des eigenen Volkes von anderen Nationen im Kultleben.

1 S. oben S. 219.

2 Ich erwähne nur die Vorträge von Friedrich Delitzsch über „Babel und Bibel“ 1902—05. Der erste wurde am 13. Januar 1902 in Berlin gehalten. Ferner die Werke des Panbabylonisten Alfred Jeremias „Das Alte Testament im Lichte des alten Orients“ 1904, 8. Aufl. 1916, „Handbuch der atoneuta sonen Geistes- kultur“ 1913, 2. Aufl. 1929.

3 S. Wörter und Sachen 19 (N. F. 1) 198.

15*

228 | Otto Paul

Die vorstehenden Erörterungen umreißen im Groben die Aufgaben, welche die iranische Religionswissenschaft bat. Dabei sind Einzelheiten, wie etwa die Frage nach der eigentlichen Glaubensform der Achämeniden, die Bedeutung der Magier, die Grundlagen des Mi®rakultes usw., zunächst nicht berücksichtigt. Sie werden sich erst gründlich behandeln lassen, wenn dem Wissensgebiet die erforderliche breite Grundlage gegeben ist. Die letzte umfangreichere Darstellung der altiranischen Religionsgeschichte erschien Ende 1937 in Stockholm. Es ist das Werk von H.S.Nyberg, Irans forntida religioner.!

Es fragt sich, wie weit der Verfasser den oben angedeuteten Auf-.

gabenkreis erfaßt und erfüllt hat. Einem Berichterstatter von heute fällt es schwer, überhaupt zu Nybergs Arbeit Stellung zu nehmen. Man muß weit zurückgehen, wenn man Beispiele finden will, die man seiner Methode an die Seite setzen kann. Zwar ist der Kernpunkt der Unter- suchung das Bestreben, aus den Gaas die Persönlichkeit ZaraduStras und das Wesen seines Kreises, der „Gädägemeinde“ festzustellen, und da- gegen läßt sich im Grunde nichts einwenden. Mit Recht macht N. auch (S. 61ff.) darauf aufmerksam, daß „sakraler Gesang“ eine große Rolle gespielt hat. Der Gedanke, daß es in Y.50 die Lieder sind, die symbol- haft mit schnellen Rennpferden verglichen werden, ist auch nicht zu ver- werfen. Anstatt aber nun bei verwandten indogermanischen Völkern, Griechen und Indoariern, Parallelen zu ergründen oder die auf der Hand liegenden auszunutzen, sucht er eine „religionsgeschichtliche Orientierung“ bei dem „Komplex religiöser Vorstellungen, der viele verschiedene Formen und Ausgestaltungen aufweist, von sehr primitiven Äußerungen bei den Naturvölkern bis hinauf zu den Mysteriengemeinschaften der höheren Religionen“, Zeitliche, kulturelle und rassenmäßige Zusammenhänge sind ihm dabei durchaus nebensächlich. Er nimmt sich auch nicht die Mühe, jene höheren Kulte der Mysteriengemeinschaften heranzuziehen.

ı Svenska Kyrkans Diakonistyrelses förlag. Das Buch wurde von Hans Heinrich Schaeder ins Deutsche übersetzt, unter dem Titel „Die Religionen des Alten - Iran“ (= Mitteilungen der Vorderasiatisch-Agyptischen Gesellschaft, 43. Band, Leipzig 1938, J.C. Hinrichs Verlag. 25 AM. Der Umfang der deutschen Auagabe beträgt 506 Seiten. Die Einteilung des Stoffes ist folgendermaßen vorgenommen: Kap. 1. Quellen und Probleme, Kap. 2. Zarathustras geschichtliche Stellung, Kap. 3. Die altiranische soziale Religion I: Die Mithragemeinde, Kap. 4. Die altiranische soziale Religion II. Die Gathagemeinde, Kap. 5. Zarathustras Werk I: Theologie und Eschatologie, Kap. 6. Zarathustras Werk II: Der Zoroastrismus, Kap. 7. Die . religiösen Verhältnisse im Westen, Kap. 8. Die Sasanidenzeit: der awestische Kanon. Sach-, Wort- und Stellenregister erleichtern die Benutzung. Das Wortver- zeichnis hat insbesondere den Vorzug, daß es auf neu gegebene Deutungen weist.

Der Verfasser, Henrik Samuel Nyberg, ist Professor für semitische Sprachen an der Universität in Uppsala und Vorstand des dortigen Viktoria - Museums ägyptischer Altertümer.

Zur Geschichte der iranischen Religionen 229

Für ihn steht es so ziemlich von vornherein fest, daß Zaradustra ein Schamane ist, etwa nach dem Muster der bei den Tschuktschen, Ju- kagiren, Jakuten, in Minusinsk und bei den Lappen vorgefundenen Ver- hältnisse. Die von da aus gerichteten Streiflichter auf angeblich ähnliche Erscheinungen bei Griechen (Orakel von Delphi), Römern (Vates), Ger- manen (Skalden) sind unzulänglich und werden den tatsächlichen Zuständen nicht gerecht. Dasselbe gilt von der Erwähnung des isländischen seidr (Zauber), der wohl mit Ausläufern schamanistischer Praxis Gemeinsames hat, aber doch wieder anders einzuschätzen ist, als N. es im Anschluß an. die Erörterungen Dag Strömbäcks! darstellt (S. 172). Die Arbeit dieses Autors, die N. eine „scharfsinnige und bahnbrechende Abhandlung“ nennt (S. 167), ist, wie A.Ohlmarks vor kurzem in einem gründlichen Auf- satz „Arktischer Schamanismus und altnordischer seidr“ betonte?, durch

„fehlerhafte Quellenkritik und Mangel an tieferen Kenntnissen in Bezug

auf den Schamanismus“ ausgezeichnet und im großen Ganzen als verfehlt anzusehen. ?

Der arktische Schamanismus ist eine Krankheitserscheinung, die der Hysterie ähnelt. Sie wurde durch die Natur der arktischen Gebiete aus- gelöst, die halbjahrlangen Tage und Nächte, die große Kälte, die öden Weiten, die Not und den Mangel an wichtigen Vitaminen*. Nach ihrer religionsgeschichtlichen Einschätzung gehört sie demnach in die Nähe der „heiligen“ Epilepsie tropischer Lönder. Ob die von Erfolg begünstig- ten Religionsstifter Paulus und Muhammed hierher gehören, bleibe da- hingestellt. Jedenfalls kann auch ihr Beispiel nicht beweisen, daß Zara- $uStras Werk in diese Reihe geistiger Überspannung gehört. Als gesund empfindende Menschen lehnen wir derartiges ab. Wenn es nun von dem iranischen Weisen heißt, daß er die Ordnung (asa, ria) verkündete, so können wir uns dabei kaum einen haltlosen Hysteriker vorstellen. Der Begriff geht ja letzten Endes nicht auf ihn zurück. Er wurde von Führer- naturen in der arischen Gemeinschaft, sicher auch schon im urindoger- manischen Bezirk angestrebt. Bei den Germanen erscheint er später als Treue, ausgeprägt als Ergebenheit zum Gefolgsherrn, zum Reich oder zu . sich selbst, falls die Persönlichkeit, die eigene Ehre oder die der Familie, die „Art“, auf dem Spiele stand. Man denke etwa an die Gestalt Hagens im Nibelungenlied. Zaradustra ließ die positive Einstellung zur „Ord- nung“ für das iranische Geistesleben in den Vordergrund treten. Er hat den Begriff nicht, wie N. annehmen möchte, im schamanistischen Trancezustand gewonnen. Eher dürfen wir schließen, daß er ein streng verstandesmäßiger Logiker war, wenn diese Richtung nicht erst bei den Denkern nach-aristotelischer Prägung ausgebildet worden wäre. Jedoch

1 Sejd. Textstudier i nordisk religionshistoria, Uppsala 1935. 2 ARW 36 (1939) 171—180. 3 a. a. O. 177. 4 Ohlmarks 173.

230 Otto Paul

auch als „Träumer“ braucht der Spitamide nicht folgerechtem Schauen abhold gewesen zu sein. Jedenfalls läßt der Einfluß, der ihm zugeschrieben wird, nur auf gesundes Fühlen schließen. Am besten kann man sich die hier vorliegenden Unterschiede klarmachen, wenn man die Geschichte übertriebener Asketen und hysterischer Nonnen, wie Katharina Emerik, mit den klaren Worten Meister Eckharts vergleicht, den man auch einen Mystiker nennt. Jenes sind tatsächlich Ausgeburten überhitzter Phantasie und beruhen als Seitenstück zur Schamanentrance auf Mangelkrankheiten, ‚diese die Überlegungen eines begabten und ehrlichen Menschenkenners.

Vor allem fehlt auch der Nachweis, woher ZaraduStra den Schama- nismus haben könnte. Stand er in Verbindung mit einem jener paläoasi- atischen Völker, den Tschuktschen oder Jugakiren? N. sind solche Fragen nebensächlich. Ihm genügt die „religionsgeschichtliche Parallele“, und daß der Schamanismus in Nordasien „seit uralter Zeit bodenständig“ ist (S. 167). Bekanntlich ist die Heimat ZaraduStras noch nicht festgestellt. N. tritt entschieden für Ostiran ein. Das hängt offensichtlich mit seiner Grund- annahme zusammen, die Gä9a-Religion sei Schamanismus. Auf welch schwachen Fiifien sie steht, ist klar. Wenn man darauf bauend meint, die Iranier hätten ihre Religion im Osten, etwa von den Turern gelernt, so ist das ein Zirkelschluß.

Sollte nun etwa noch der unklare Stil der Gä9äs in die Waagschale geworfen werden, um zu beweisen, daß der Kreis um Zara$9uätra verworren oder primitiv gedacht habe, so gilt folgendes: die awestischen Hymnen teilen Stil und Versmaß mit dem Rgveda und entsprechen genau der Ge- samtbildung ihrer Zeit. Ihre Wortfügung, die das Verständnis so schwer macht, ist ein Zeichen von Kultur, die nach unseren Begriffen ihren Höhe- punkt schon überschritten hatte. Es liegt die @owov/« avorned, wie es die hellenistische Rhetorik nannte, vor, als deren Meister in der griechischen Kunst Pindar gilt.!

Für Nybergs Einschätzung der arischen Völker zeugt eine weitere „religionsgeschichtliche Parallele“. Die schwierige Voredrayna-V orstellung sucht er durch einen Vergleich mit dem Herrscherkult bei dem Neger- stamm der Schilluk am weißen Nil aufzuhellen. Dieses Hirtenvolk treibe auch etwas Ackerbau, stehe also „in sozialer Hinsicht den iranischen

ı Hier kann nicht näher auf diese Frage eingegangen werden. Man ver- gleiche Norbert von Hellingraths Dissertation „Pindarübertragungen von Hölderlin, Prolegomena zu einer Erstausgabe“ München 1910. Neudruck in „Norbert von Hellingrath, gefallen am 14. Dezember 1916 vor Verdun, Hölderlin- Vermächtnis.“ Eingeleitet von Ludwig von Pigenot (München 1936) 20ff. Hellingrath bezeichnet den Stil treffend als „harte Fügung“. Einsichten, die sich auf seine Beobach- tungen gründen, können vielleicht manches zur stilistischen Interpretation der Gädäs und des Rgveda beitragen. Besonders sei in dieser Beziehung auch ein Vergleich von Hölderlins Pindar-Übertragung mit dem Urtext empfohlen.

Zur Geschichte der iranischen Religionen 231

Stämmen sehr nahe“ (S. 76 f.). Außer einigen, wohl elementar-verwandt- schaftlichen schwachen Ähnlichkeiten weiß er allerdings nichts beizubrin- gen. Überdies dürfte er in Bezug auf die gesellschafts-geschichtliche Stellung der Iranier stark daneben geraten haben.

Mit solchen Schiefheiten nun will der Verfasser die Rätsel, die die awestische Überlieferung immer noch bietet, lösen. Seine Deutung der Gädäs, wobei er mit dem Text manchmal gar nicht zart umgeht, stellt möglichst alles unter den Gesichtspunkt des Schamanismus. „Maga und Ordal sind die beiden Brennpunkte in der Religion der Gadagemeinde. Um diese beiden gruppieren sich die ganze Mythologie, die ganze Theo- logie und alle Riten, die wir unterscheiden können“ (S.187). Paßt etwas nicht ganz zu seiner Auffassung, daß der Iranier ein rückständiger Hirte ist, so hilft er sich auf einfache Weise. Die bereits erwähnte Stelle Yasna 50,7, wo wahrscheinlich die Lieder mit schnellen Rossen verglichen sind, muß „von der Ausdrucksweise eines anderen Kreises gefärbt“ sein.

Es ist nicht möglich, auf alle Worterklärungen einzugehen, die höchst gezwungen die Sprache der Gä$äs auf den Schamanismus beziehen. Hier nur ein paar Beispiele: maga-, m. (Y. 29,11; 46,14; 51,11 und 16; 53,7) wurde von Bartholomae behelfsmäßig mit „Bund“ übersetzt. Eine eigentliche Erklärung ist noch nicht erfolgt. N. knüpft das Wort an jung- awest. maya-, n. den Namen des kultischen Reinigungsraumes im Videvdad (9, 29) und zieht den Schluß, die ursprüngliche Bedeutung müsse auf den Schamanenplatz weisen, die Stelle, wo der „Seher“ bei der Séance inmitten der Anhänger sitzt, um in Trance zu verfallen. Zum Beweis dient noch das an einer Stelle (Y. 45,10) vorkommende Verbum mang-, nach Bar- tholomae „verherrlichen“. N. meint, es sei ein Ausdruck für den Myste- riengesang (S. 175). maga-, m..ware demnach die Sangschar der Eksta- tiker und dann übertragen der Séanceplatz.

Syaodana- n. „Tätigkeit“ muß sich nach N. „ausnahmslos auf ri- tuelle Handlungen und magische Vorkehrungen auf dem Mysterien- oder Ordalplatz“ beziehen (S.163). daéna-, f. bei Bartholomae „Religion“ oder „geistiges Ich“ ist natürlich die „Schauseele“, die nach der Ansicht der Schamanisten den Leib des in Trance Verfallenen verlassen hat und auf Reisen geht (S. 146f.).

1 So ist a. a. O. 158 adistis „Weisung, Lehre“ (Nom.) Yasna 44, 8 wiederge- geben mit „Gesicht (das du) mich sehen ließest“ (Akk.). Der unbefangene Leser muß denken, daß der Begriff des Sehens zweimal im Verse vorkommt. Dabei ist er nur hineingelesen in das Wort, das schlechthin bloß „zeigen“ andeutet. In der gleichen Strophe ist das schwierige Wort agamat.ta (zu gam- „kommen“) übersetzt „Schar der Angelangten“. Überhaupt ist von der Möglichkeit, Singulare ~ als Kollektive zu deuten, zu starker Gebrauch gemacht. Zu dayat von dā- „ge- ben“ Yasna 46, 10 setzt N. die Worte „in der Ekstase“, was garnicht im Verse begründet liegt.

232 Otto Paul

= Das Äußerste, was diese Deutungsweise jedoch leistet, das zeigt, wo- hin eine falsche Grundeinstellung führen kann, ist, daß N. z$a9ra-, n. „Herrschaft“ mit „Ordal“ oder ,,Ordalplatz“ übersetzen will (S.136). Er meint, gewisse Ga@astellen „gewinnen Leben und Sinn erst dann, wenn man davon ausgeht, daß die Darstellung an die Ordalhandlung anknüpft“. (S. 136 u.). Dadurch aber, daß er vorher sagt: „Wie weit man dabei stets eine wirkliche Ordalhandlung hinter dem uns entgegentretenden Wort vorauszusetzen hat, ist ohne Belang“, schwächt er jene Ansicht ab und zeigt, daß er seiner Sache doch nicht sicher ist. Sehen wir uns nun die ' Stellen an: es ist Yasna 32,2 und 6. In Strophe 2 kommt vor xsadrat haca „gemäß der Macht“. Gewiß muß erst bestimmt werden, was unter „Macht“ zu verstehen ist, wie der Iranier sich die Wirksamkeit des Ahura Mazdah vorstellte, aber ob die Sachlage klarer wird, wenn man für x$a$ra- „Ordal“ einsetzt, ist sehr zu bezweifeln. „Gemäß dem Gottesurteil“ sagt zunächst auch nicht mehr als „gemäß der Macht des Gottes“. Strophe 6, deren Schluß N. durch „In deinem Machtbereich möge Entscheidung von Euch, Mazda und Aša, besorgt werden“ wiedergibt, will N. Machtbereich durch „Ordalplatz‘‘ erklären und setzt außerdem noch zu „Entscheidung“ die nicht im Text stehenden Worte „beider Parteien“. Man sieht, daß die durch Strömbecks Buch angeregte Idee, Zaradustra könnte etwa als Schamane zu betrachten sein, die Ursache dieser Annahme ist. Nach dem oben einleitend Gesagten ist wohl eins deutlich: hier hat sich ein Irrweg aufgetan. In die Ga9as läßt sich alles hineinlesen, darum muß man sich hüten, zuviel auf vage, angebliche „religionsgeschichtliche Parallelen“ zu bauen, die mit der arischen Welt sonst nichts zu tun haben.

Das soeben durch nur wenige Proben Gekennzeichnete ist sympto- matisch für eine gewisse Richtung der heutigen Iranistik. Da man sich den oben geschilderten Aufgabenbereich der Wissenschaft nicht klargemacht hat, verfällt man auf die völkerkundliche Anschauung von der arischen “Welt, die etwa in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ihre Blütezeit hatte, und die längst überwunden schien. Man tut so, als ob unsere inzwischen gewonnenen Erkenntnisse über die inneren und äußeren Beziehungen der Völker untereinander, über die Erb- und Lehnverwandt- schaften garnicht vorbanden wären. Deshalb erscheint nun auch in Ny- bergs Buch besonders gegen Schluß fast auf jeder Seite das Wort „pri- mitiv“. Bei dieser Auffassung kann man für die Lösung der eingangs angedeuteten Probleme von dem Werk im Ganzen nichts Positives er- warten.!

1 Auch die ausführliche Besprechung von J.H. Kramers in Jaarbericht No. 6 van het vooraziatisch-egyptisch Gezelschap ex Oriente Lux (Leiden 1939) 15 ff. (Een nieuwe Godsdienstgeschiedenis van het oude Iran) wird den eigentlichen Aufgaben der Iranistik und Religionswissenschaft nicht gerecht.

è

Zur Geschichte der iranischen Religionen 233

Gegen die vorangestellte These, daß im alten Iran mehrere Reli- gionsrichtungen bestanden, ist nichts einzuwenden. N. nennt die Haupt- gruppen die „Mithragemeinde“ (Kap.3) und die „Gathagemeinde“ (Kap.4). Beide verlegt er nach Ostiran. „Die religiösen Verhältnisse im Westen“. das Wichtigste, da nur von hier aus der ganze Synkretismus der Mitte des ersten Jahrtausends v. Zw. aufgelockert werden kann, wird nur in einem Kapitel (7), mehr als Ausblick behandelt. Das ist besonders deut- lich a. a. O. 399, wo es heißt: „Es ist nicht unmöglich, daß eine sorgfältige Untersuchung der Pehleviliteratur uns instandsetzen wird, die älteste Form dieses westlichen Typus einigermaßen wiederherzustellen und im Zusammenhang zu überblicken. Einstweilen ist das nicht möglich; es fehlen auf lange Strecken die*einfachsten Vorarbeiten.“ Damit gibt N. zu, daß für einen Teil des Gebietes eine zusammenfassende Darstellung der Religionsgeschichte als verfrübt zu bezeichnen ist. Da der andere Teil falsch behandelt wurde, so ist zu wünschen, daß das ganze Buch nicht geschrieben worden wäre.

Auf die Parallelen zum Alten Testament (wie gezeigt wurde, ein Haupt- mittel zur Erkenntnis der’ religiösen Verhältnisse im westlichen Iran) weist N. garnicht hin, obwohl er Professor für semitische Sprachen ist. Deshalb kennt er auch das Gegenstück zur Ruhe des Schöpfers bei Theo- pomp (S.393, vgl.S.395 o.) in der Genesis nicht. N. will sich sorgfältig davor hüten, „diese primitive Welt in unseren christlichen Ausdrucks- bereich zu übersetzen.“ Er wendet jedoch oftmals den Begriff Eschato- logie an, der erst aus der iranischen Weltzeitenlehre geflossen ist, wie ich demnächst zu zeigen hoffe. Er scheint nicht zu ahnen, wieviel iranisches Gedankengut in ganz „primitiver“ Form noch im Christentum steckt.

Die auch gerade für die Einschätzung der Entlehnungen wichtige! Weltzeitenlehre ist nur hier und da erwähnt und nicht nach ihrer Be- deutung gewürdigt. Aber der Verfasser sagt selbst (S. VI), daß er nichts Vollständiges geben wollte. Es kam ihm „darauf an, die Grundzüge herauszuarbeiten“. Als „Programmschrift“ will er sein Buch beurteilt wissen. Jedoch ein Programm, das als Hauptpunkt eine irrige, längst überholte Ansicht auftischt, hat seinen Zweck verfehlt. Etwas Versöh- nendes hat N.s Achtung vor dem „westlichen Zoroastrismus“. „Dieser Religionstypus hat indessen für die Religionsgeschichte Vorderasiens eine solche Bedeutung gewonnen, daß man hoffen möchte, er möge trotz

ı Das wird immer noch nicht gebührend betont. Ich habe darauf in meiner bereits erwähnten Arbeit „Wörter und Sachen“ 19 (N. F.1, 1938) 176 f., beson- ders S. 199 hingewiesen. Ebenso in der leider noch nicht im Druck erschienenen Studie „Mose im Lichte der iranischen Weltzeitenlehre, Einiges zur Kenntnis der Gesetzgeberlegende“ (Janmadinäbhinandanam. Geburtssagsgabe für Walther Wüst vom Seminar für Arische Kultur- und Sprachwissenschaft der Universität München 1939).

234 Walther Wiist

aller mit der Arbeit verbundenen Miihe der Gegenstand erneuter Unter- suchungen der Religionshistoriker und Iranisten werden.“ Leider ent- wertet N. diese Aufforderung durch seine Grundeinstellung ziemlich stark.

Das Buch ist aus Vorlesungen entstanden. Den Ursprung verleugnet es auch in der Ubersetzung nicht. Diese ist an sich vortrefflich. Ob Hans Heinrich Schaeder jedoch mit der Verdeutschung des geistreichen aber im wesentlichen verfehlten Werkes der Iranistik einen Gefallen er- wiesen hat, bleibe fiirs erste dahingestellt.

Inhaltstibersicht

Der Aufsatz geht von der politischen Geschichte des vorderen Orients im ersten Jahrtausend v. Zw. aus und gibt eine kurze Aufzählung der an ihr wesentlich beteiligten Völkergruppen. Daraus entwickelt sich der Aufgaben- kreis der altiranischen Religionsgeschichte. Es wird gefordert, daß die indo- germanischen erbverwandtschaftlichen Beziehungen mehr als bisher gewertet werden. Einige Hauptpunkte sind besonders herausgehoben: der Rauschtrank- kult, die „Ordnung“ (aSa-, rta-), Schöpfungsmythos und Weltzeitenlebre. Zum Schluß erfolgt die Ablehnung des Zara@ustrabildes, das H.S. Nyberg in einem 1938 erschienenen Buche zeichnete, und in dem statt auf die Erbverwandt- schaft auf unzutreffende „religionsgeschichtliche Parallelen“ bezug genommen ist.

BESTAND DIE ZOROASTRISCHE URGEMEINDE

WIRKLICH AUS BERUFSMÄSSIGEN EKSTATIKERN

UND SCHAMANISIERENDEN RINDERHIRTEN DER STEPPE?

VON WALTHER WÜST IN MÜNCHEN

In seinem erst vor zwei Jahren erschienenen Buche „Die Religionen des Alten Iran“? hat H. S. Nyberg die im obigen Titel gestellte, von mir in ihren wesentlichen Stücken mit Nybergs eigenen Worten formulierte Frage uneingeschränkt bejaht und durch Darbietung entsprechender Be- weismittel zu einerfür die awestischeKulturgeschichte schlecht- hin unbestreitbaren Tatsache ersten Ranges zu erheben versucht. Ich stelle einige in diesen Zusammenhang passende Bemerkungen Nybergs hierher: „Zarathustra tritt in einem Stamm von Viehzüchtern auf, deren vornehmstes Haustier das Rind ist und die daneben auch Kamele und Pferde besitzen. Der Stamm ist offenbar seßhaft und besitzt eine feste soziale Organisation; nichts in den Gathas deutet indessen darauf hin, daß er Ackerbau in unserm Sinne ausübte was nicht ausschließt, daß

1 Vgl. die durch Otto Paul in diesem Heft des ARW 228 ff. gegebene Wär- digung.

Bestand die zoroastrische Urgemeinde aus Ekstatikern und Rinderhirten? 235

die Weideplätze der Gegenstand besonderer Pflege gewesen sein mögen“ (a. a. O. 48). „Die einzige Kulturstufe, von der die Gathas Zeugnis geben, ist Viehzucht, von einem ansässigen Stamm ausgeübt“ (a. a. O. 193 u.). „Einen Gegensatz zwischen ansässigen und nomadisierenden Viehzüchtern finde ich in den Gathas nirgendwo“ (a. a. O. 193). „Das ideale Hirtenleben ist Zarathustras eschatologisches Endziel“ (a. a. O. 228 u.). „Die alte Hirtenideologie ist natürlich voll lebendig; sie ist als festes Grundelement im Zoroastrismus enthalten“ (a. a. O. 276). „Eine Bevölkerung von seßhaften Rinderhirten“ (a. a. O. 55 u.) haust „auf den großen Grassteppen Ostirans“ (a.a.0.394). „Das Vieh ist für den Weide- besitzer geschaffen worden“ (a. a. O. 210); denn „damals in der Urzeit, als die Kuh ihrerseits vor die Wahl zwischen Gut und Böse gestellt wurde, die allem Lebenden gemeinsam ist“, erwählte sie, „was für sie das Gute war, nämlich den aSa-gläubigen Weidebesitzer (vastrya), unter Verwerfung des ,Nicht-Weidebesitzers‘ (avastrya)“ (ebd.). Schließlich ist es „sicher nicht allzu kühn anzunehmen, daß die Benutzung von Rind- vieh zur Schlachtung der Gathagemeinde beim Einbruch des neuen Kultes unbekannt war oder jedenfalls als schwere Sünde betrachtet wurde“ (a. a. O. 199 m.). Auf die sicher naheliegende Frage, wovon denn dann die frühesten Zarathustrier gelebt haben zumal sie auch „gewiß nicht Handel als Nahrungserwerb trieben“ (a. a. O. 211) antwortet Nyberg mit der Behauptung: „die Jagd ist offenbar ein wichtiger Nah- rungserwerb“ (a.a.0. 276 u.) gewesen. Soviel zur Beleuchtung des Titel- stückes „Bestand die zoroastrische Urgemeinde wirklich aus... Rinder- hirten der Steppe?“ Folgerichtig ist damit gekoppelt, daß im „Sach- register“ des Nybergschen Buches Stichworte wie „Ackerbau“ oder „Landwirtschaft“ gänzlich fehlen, daß der „Bauer“ ebensowenig wie die „Kafiren“! erwähnt werden und daß Nyberg selbst bei seiner freieren Inhaltsbeschreibung des Fravaräne, des großen zarathustrischen Glaubens- bekenntnisses in Yasna 12, mit keinem Worte mehr das im Urtext zwei- mal nachdrücklich gebrauchte Femininum vis „Sippenhof“ wiedererwähnt. Der Unbefangene gewinnt den Eindruck, daß derlei Wörter und Sachen in die vorgefaßte Gesamtansicht Nybergs sich nicht schicken wollen? oder zum mindesten keine mittelpunktbildende Rolle darin spielen.

ı Es wird weiter unten deutlich werden, warum ich die Kafiren vermißt habe. |

2 Vergleichsweise spricht Nyberg a.a. O. 56f. zweimal von einer „Bauern- gesellschaft“ und einmal von der „Dorfgemeinde“ (ebd.). Aber diese Ausdrücke werden nur geprägt, um „unsere“ Vorstellungswelt der „Hirtengesellschaft“ (ebd.) des Mihir-Yärt entgegenzuhalten. Immerhin wird wenigstens am Rande (a. a. 0.250 u.) zugegeben, daß „diejenigen Skythen, mit denen die Griechen vor- zugsweise in Berührung traten,...im allgemeinen ansässige Ackerbauer [waren]; bekannt ist, daß die fruchtbare südrussische Steppe eine der Kornkammern der

236 Walther Wüst

Um so fester und dichter dagegen hängt im Nybergschen Begriffs |

gefüge die Lehrmeinung, die frühesten Zarathustrier seien Steppen- hirten gewesen, mit des Verfassers Anschauung von der Heimat der zoroastrischen Urgemeinde zusammen. Diese Heimat kann klärlich nur in Ostiran gesucht werden und innerhalb Ostirans wiederum nur in einem Raume, der für den Schamanismus genügend Anknüpfungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Weder im Westen noch im Süden noch im näheren Norden Irans hätte sich eine Landschaft finden lassen, die diesem dreifaltigen Dogma gleichermaßen hätte Heimstatt werden können. Deswegen werden alle Versuche, Gestalt und Lehre Zarathustras mit Westiran oder den Achämeniden zu verknüpfen, von Nyberg mit Ausdrücken schärfster Ablehnung belegt!, deswegen muß die „Lokali- sierung der zoroastrischen Urgemeinde an Raha und Vourukaia, die auf Jaxartes und Aralsee bezogen wurden“ (a. a. O. 313), erfolgen. Indem ich zunächst die Richtigkeit der Ost-These einmal unterstelle, weise ich darauf hin, daß Nyberg eine Reihe eindrucksvoller Formulierungen da- für gefunden hat. „Vor unsern Blicken breitet sich also das arische Land von Herät und dem Paropamisus-Gebirge im Süden bis zur Oase von Merw mit ihrem Flußsystem aus, es erweitert sich und umfaßt das mäch- tige Amudarja-Becken bis zum Aralsee hin und verliert sich in der tur- kestanischen Steppe zum Jaxartes hin“ (a. a. O. 54 u.).? A’ryanem Vaéjah aber ist „das Heilige Land des Zoroastrismus“. „Es war. das beste aller

Länder, die Ahura Mazdah schuf, denn dort offenbarte er sich Zara-

thustra“ (a. a. O. 326). „Es ist nicht schwer zu erraten, was für ein Land ... dies ist, da Airyaném Vaejah offenkundig nördlich von Sogdiana und Margiana liegt... Nördlich von Margiana und Sogdiana breitet sich das Land Chwarizm aus, das Huvärazmi der altpersischen Inschriften, das Chorasmia der Alten, durchströmt von dem gewaltigen Oxus oder Amu- darja. Die Ausdehnung dieses Landes scheint im Altertum etwas unbe- stimmt gewesen zu sein; es erstreckte sich nordostwärts bis zum Jaxar- ' tes und sein Kernland war das untere Oxusgebiet ungefähr von dem Punkt an, wo heute die transkaspische Eisenbahn den Fluß überschrei- tet. Südwestwärts erstreckte es sich vielleicht bis zum Kaspischen Meer; die Grenze nach Nordwesten ist sicher nie fest gewesen. Das heutige Chiva umfaßt einen geringen Teil davon auf dem westlichen

Oxusufer. In diesem Gebiet hat Airyanem Vaéjah gelegen, und sein Fluß

Daitya ist der untere Oxus. Die Gathagemeinde hat wohl ihre Wohnsitze

alten Welt war.“ Sofort aber fährt N. fort: „Die östlichen Skythen dagegen |

waren durchgängig Nomaden, deren vornehmstes Tier das Pferd war.“

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12.2.0. 355f., 465f. geben eine Vorstellung dieser Schärfe; siehe aber |

auch 49 f. 2 Ahnlich 53 u. und f., 262 m.

Bestand die zoroastrische Urgemeinde aus Ekstatikern und Rinderhirten? 237

gerade im Flußgebiet gehabt“ (a. a. O. 326). Von hier aus floh Zara- thustra „und begab sich zum turischen Fryana-Stamm am Jaxartes ... Hier gründete er den Zoroastrismus“ (a. a. O. 327). Dies ist die ,,SchluBvignette“, welche Nyberg, gestützt auf J. Markwart, „als einfache und im Grunde selbstverständliche Wahrheit“ (a. a. O. 327) zeichnet.! Aber schon Th. Nöldeke hat in der Kritik des Marquartschen Erangahr? nüchtern festge- stellt: „Ob Airjanem Waego wirklich Ch”ärizm sein kann (155), mögen die Awestä-Kenner entscheiden. Wahrscheinlich ist mir das gerade nicht. Die 10 Wintermonate passen doch weder auf Ch”ärizm noch auf irgendein sonstiges Culturland; eher auf ein mythisch verklärtes Ge- birge. Auch Homers Götter wohnen ja auf (oder über) dem schneebe- deckten Olymp“. Dieses Urteil möchte ich ebensowenig unterschätzen wie Wilhelm Geigers Bemühungen, das Gebiet A’ryanem Vatjah am oberen Jaxartes in der etwa an das Berner Oberland oder Nord-Skandi- navien erinnernden Ferghana-Landschaft festzulegen. Nyberg nennt dies Vorhaben „wenig glücklich“ (a. a. O. 473), ohne uns im einzelnen das Warum auseinanderzusetzen. Ein Mißstand, der um so auffallender wirkt, als Nyberg selbst bei dem Huka'rya-Gebirge „am ehesten an die Berge zu denken“ geneigt ist, „zwischen denen der Fluß [Jaxartes] aus dem Ferghana-Becken in die Steppe hinaustritt“ (a. a. O. 261 m.). Gerade von diesem Gebiet aber haben Erdkundler wie Fritz Machatschek oder Arved Schultz, die den gesamten Raum des heutigen Russisch-Turkistan und seiner Randteile gründlich bereist und persönlich studiert haben, geurteilt, daß „die ältesten Kulturzentren ...der Serawschan, ein ursprünglicher Zufluß des Amu-darja, geschaffen“ habe und daß „ein Zentrum dieser altarischen Kultur... Baktrien zu beiden Seiten des oberen Amu [gewesen sei], zugleich der Ausgangspunkt der Lehre Zara- thustras, die mit ihrem Gegensatz zwischen dem fruchtbaren, schöpfe- rischen Prinzip und dem vernichtenden, mit ihrer Heilighaltung des Ackerbaus so wunderbar an die Natur des Landes angepaßt ist.. .“3 Wird dergestalt der Nyberg schen Auffassung von der ostiranischen SteppenheimatZarathustras und seiner ersten Anhänger weitgehend der Boden entzogen, so steht es auch mit der diesem Raume verbun- denen Annahme eines zarathustrischen Schamanismus nicht viel

| 1 Für Markwart entscheidet sich übrigens auch W. Barthold, Enzyklopae- die des Islam 2,974, Sp. 1; a.a.0. 978, Sp. 1 reiches Schrifttum.

2 ZDMG 56 (1902) 427—436, daraus 434 u. und f.

3 Arved Schultz, Russisch-Turkistan (= Handbuch der geographischen Wis- senschaft [Bd. 7] Nordasien, Zentral- und Ostasien in Natur, Kultur und Wirt- schaft, Potsdam 1937, 211—244) 221 u. und f. bzw. Fritz Machatschek, Landes- kunde von Russisch Turkestan (= Bibliothek länderkundlicher Handbücher [No.3], Stgt. 1911) 109.

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besser. Es nimmt sich zwar auf den ersten Blick verbliiffend aus, durck Nybergs Brille „ekstatische Erscheinungen in der Gathagemeinde“ (a.a.0. 146 u.) zu sehen, sich an dem immer wiederkehrenden Gebrauch des Wortes ,,ekstatisch“ gleichsam zu berauschen, von Begriffen wie „My- steriengemeinschaft“ (a. a. O. 160 m.), „Schamanisieren“ (168, 171), „ek- statisches Erleben“ (184 u., 237), „geistiger Bereich des Schamanismus“ (186), „Trance“ (247), „Séance“ (247), „das alte skythische Schamanen- wesen“ (263) staunend zu erfahren und die „zoroastrische Urgemeinde“ (292) mitten in ihrem „Hirtenleben“ (228 u.) als „Rinderhirten der Steppe“ (211) und ,,Ekstatiker“ (230 o.), ja geradezu als „berufsmäßige Ekstatiker“ (266 u.) kennenzulernen, aber damit ist es nicht getan. So wenig es damit ‚getan ist, die ehrwürdig-großartige Gestalt Zara- thustras uns dazu noch durch auffälligen Kursivdruck als die Ge- stalt eines „primitiven Theosophen“ (266 m.), eines „primitiven Mysti- kers“ (266 u.) und gar als „Prototyp der Apokalyptiker im vorderen Orient“ (267 m.) erscheinen zu lassen. Prüft man dieses merkwürdigste aller Zarathustrabilder, mit dem verglichen das Nietzsches noch schlicht und unverzerrt wirkt, und untersucht man im Zusammenhang damit da Fragen des Geschmacks in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung hier bei mir wie dort bei Nyberg zurückzustehen haben insbesondere den wissenschaftsgeschichtlichen Standort, so sieht man schnell, daß Nyberg den avestischen Gesamtsachverhalt in dieser Frage genau so vergewaltigt wie Johannes Hertel! durch seine „Arische Feuer- lehre“. Bei Hertel lauten die Stichworte „Himmelsfeuer‘, ,,Himmels- licht“, „Himmelslicht strahlend“, „Gegenstrahler“, „leuchtende Verstandes- kraft habend“, „durchglühen“ usw., bei Nyberg „aktive Schkraft“ (cist-), „Schauseele“ (daéna-), „Sangschar, abgesonderter und rituell geschützter Raum, wo die Sangschar agiert und die Ekstase erreicht“ (maga-), ,,Ge- sichte“ (ci@ra), „zum Ordalplatz kommen“ (Ye@-+&), „die kommenden Dinge“ (Busyqsta-), „Doppelgänger“ (mae$a-), „Ordalmeister‘‘ (tkaesa-), „wandern“ in ekstatischem Sinne (Yurvag), „Ordalgenosse“ (urvada-). Auch das Mittel, durch das solche Ergebnisse gewonnen werden, ist da wie dort das gleiche. Es heißt „Etymologie“, und zwar in dem abge- droschenen, nichtssagenden, oberflächlich angewendeten Sinne, der dieses vornehmste, schärfste Beobachtungsgerät der indogermanischen Sprach- wissenschaft immer mehr abgestumpft und damit auch entwertet hat. Ein Hall von dem, was ich, als Dolmetsch vieler Fachgenossen, nach mehr denn sechzehnjähriger Erfahrung auf diesem Gebiete, von bren- nender Sorge um Bestand und Weiterentwicklung einer gesunden, um-

1 Über den sich Nyberg in seinem Buch bezeichnenderweise zwiespältig

äußert. Zu Hertels Ansichten vgl. meine umfassende Besprechung in den „Göt- tingischen Gelehrten Anzeigen“ 1934, Nr. 1/2, 1—39.

Bestand die zoroastrische Urgemeinde aus Ekstatikern und Rinderhirten? 239

fassenden Wortforschung erfüllt, programmatisch formuliert habe}, ist auch zu Nyberg gedrungen. Denn an mehreren Stellen seines Buches? findet er kräftige Worte gegen die „Etymologie“, die „einst in der Kind- heit der Religionsgeschichte eine große Rolle gespielt, ... aber jetzt als endgültig von der Tagesordnung abgesetzt gelten“ sollte, eine Einsicht, die ihn jedoch nicht gehindert hat, seine ganzen schamanistischen Er- kenntnisse nahezu ausschließlich auf dieser Art „Etymologie“ aufzu- bauen.? Die schwere Unfolgerichtigkeit, die in solch einem Verfahren liegt, wird offensichtlich dadurch nicht gemildert, daß Nyberg im Zu- sammenhang mit der Ermittlung der Bedeutung Fragen der Wortbil- dungslehre ebensowenig umfassend stellt wie auf das Zeugnis des engst- benachbarten Veda eingeht.4 Es kann somit nicht ausbleiben, daß das, was Nyberg selbst aus Anlaß eines exegetischen Einzelfalles sich ein- wirft, insgesamt für ihn gilt, nämlich daß er durch die Annahme eines frühzarathustrischen Schamanismus in immer „neue Erklärungsschwierig- keiten... sich verwickelt“ (a. a. O. 452 u.), woraus ich meinerseits fürs erste überhaupt keinen Ausweg zu sehen vermag.

Sollte Nyberg indes an seinen Deutungen festhalten was zu er- warten steht —, dann ist von ihm auf das allernachdrücklichste zu ver- langen, daß er sich im Rahmen seiner kulturgeschichtlichen Annahmen mit einer Reihe von Tatsachen und Sachverhalten auseinandersetzt, die seiner Gesamtschau unversöhnlich entgegenstehen und, ich weiß nicht,

1 z.B. ARW 86 (1939) 87f. oder „Vergleichendes und etymologisches Wör- terbuch des Alt-Indoarischen“ 1, Vorrede, passim.

2 z, B. 20 u., 87, 92.

3 So z. B. 54f., 82, 93f, 118f, 137f, 143f., 147f., 161 f., 175 f., 178 u., 185 f., 189, 206 f., 268 f., 340 u., 341 u., 342 m? 448 f., 450 f., 456 u., 462, 474.

4 Bezeichnend hiefür ist Nybergs Behandlung des Wortes rāti-, f. 156 u., wo wir nacheinander lesen: „Das Wort scheint in sich den Begriff ‚Geschenk‘ oder ‚Schenkung‘ in sakralem Sinn zu enthalten. Mangels konkreter Anhalts- punkte übersetze ich das Wort in 33, mit ‚Weihungen‘. Ich bin geneigt zu glauben, daß damit die spontane Aufgeschlossenheit der Sinne, der ,Schauseele', für das Göttliche und ihre Hingebung gemeint ist. Eine solche Erklärung würde jedenfalls ein ausgezeichnetes Bild der Situation ergeben“. Dabei ist rati-, f. dutzende von Malen im Rgveda überliefert. Aber Nyberg stellt einen Mangel „konkreter Anhaltspunkte“ fest und behilft sich mit „scheint“ und „würde“. Eine weitere, schwere Unfolgerichtigkeit, auf die ich allerdings nur im Vorüber- gehen hinweisen kann, ist in der doppelten Verwendung des Begriffes anman- »(Hanf-) Dampf“ sowohl bei Zarathustriern wie Druj-Anhängern (a. a. O. 178 f.) zu erblicken. Warum hat Zarathustra nicht durch eine andere Wortbildung, durch Ansatz eines Praefixes und dergleichen sprachschöpferische Mittel wie sonst diese Zweideutigkeit beseitigt? Nybergs Erklärung dafür (ebd.) kann nicht genügen, insbesondere nicht, wenn man Hermann Güntert, Über die ahurischen und daévischen Ausdrücke im Awesta. Eine semasiologische Studie (= SB. Heid. Akad., Phil.-hist. Kl. 1914, 13. Abh.) im Auge hat.

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aus welchen Gründen, von ihm bisher nicht gewürdigt worden sind. Da liegt zunächst bereits mitten in den Gä9äs drinnen die hochaltertüm- liche Vorstellung rtá-/aša- in der Ausgangsbedeutung „Pflugzeile“ und Keimzelle für die sinnschwersten Worte und Begriffe des frühindoger- manischen Adelsbauerntums, worüber ich mich bereits mehrmals ge- äußert habe.! Daß aša- in den Gä9äs in eindrucksvoller Mächtigkeit be- zeugt ist, diese Tatsache liefert allein schon einen schlüssigen Gegen- beweis gegen das Vorhandensein schamanisierender Rinderhirten der Steppe. Aber aša- steht nicht allein. Aša vollzieht sich vielmehr wie in der Großwelt des Kosmos so in der Kleinwelt der būmī, eines Wortes, _ das Nyberg (a. a. O. 285) selbst „altertümlich“ nennt, das nach Bartho- lomaes ausdrücklicher Feststellung „im jüngern Avesta nicht üblich“ ist, _ und das keinesfalls als „Erde“, sondern nur in der ursprünglichen Be- deutung „Kulturlandschaft“ gefaßt werden. darf. In diesem Sinne ist Yasna XXXVII1 zu verstehen: „So preisen wir denn jetzt den Ahura Mazdah, der das Rind und das Aša schuf, der die Wasser und die guten Pflanzen, der das Licht und die Kulturlandschaft und alles Gute schuf“; in diesen Sinn stimmt auch die altpersische Aussage der Achämeniden „osayadiya ahyaya bümiya vaerkaya duraiy api“ „Gebieter dieser Kultur- landschaft, die auch weithin mächtig ist“ mit ein, da api hier deutlicher als alles andere sprachliche Zubehör auf die kleine, gerodete und damit wachstumsfähige Landschaft, die Kernzelle des Imperiums, hinweist.?

1 ARW 86 (1939) 92 f., 92°, 96 f. Die Entwicklung von rtá- hat nichts Ver- wunderlicheres an sich als die von latein. cultus „Anbau, Lebensweise, Kultus“.

2 Vgl. meine Bemerkung WZKM 47 (1940) 135. Übrigens hat yb(h)& die urtiimliche Grundbedeutung „pflanzlich heranwachsen“ noch sehr schön be- wahrt in Bh. IV Z. 56 uta taiy tauma vasaiy biya „und deine Sippe wird gar sehr wachsen“ und ebenso in Rgv. 189, 9*"°: Satam in Sarddo anti deva / ydtra nas cakra jardsam taninam / puträso yatra pitäro bhavanti / „hundert Herbste [liegen] ja heute vor [uns], ihr Götter, innerhalb deren ihr uns das Altern der Leiber bestimmt habt, innerhalb deren die Söhne zu Vätern heran- wachsen“. K. F. Geldner gibt yatra unscharf mit „bis“ wieder (Der Rigveda. Erster Teil, Göttingen-Lpg. 1923, 103). Die nachträgliche kosmisch-kosmopoli- tische Ausweitung ist für das mit bum?- in Austausch tretende Wort gam- vgl. O. G. v. Wesendonk, Die religionsgeschichtliche Bedeutung des Yasna hap- tanhäti (Bonn u. Köln 1931) 35? dann gegeben in Yast X 95; vgl. auch noch F. H. Weißbach, Die Keilinschriften der Achämeniden (Lpg. 1911) 86 Anm. H. H. Schaeder hat mich mündlich auf die neupersische Redewendung btm o bar(r) aufmerksam gemacht, in der bum möglicherweise auch noch als „Kultur- landschaft* hervortritt. Zweifellos handelt es sich hier um hochaltertümliche, gesamtiranische Grundvorstellungen, die auch in dem berühmten Schreiben des Darius an seinen Satrapen Gadatas von Magnesia in Karien ihren Niederschlag gefunden haben, in welchem der Herrscher seinen Beamten lobt, weil er das Land sorgfältig bestellt und Fruchtbäume angepflanzt habe. Soviel ich sehe, ist Nyberg auf diese wichtigen Sachverhalte nirgends eingegangen.

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Aus diesem Gesittungskreis wachsen dann Textstellen wie die ,,von hoher Altertümlichkeit“ (a. a. O. 276 0.) umkleidete des Yasna XLII 2 heraus, angesichts der auch Nyberg nicht umhin kann zuzugeben: „Und nun hören wir zum erstenmal etwas, das auf Ackerbau hindeutet: ‚Wir preisen die mit wirksamer Kraft ausgerüsteten Saatfelder (yavino)‘“ (a. a. 0.276). Aber Nyberg, der soviel an Bartholomaes Stichwortbe- handlung und -aufteilung auszusetzen hat, hätte noch mehr solcher Be- lege auffinden können, wenn er Worte wie gaya- oder gaé9a- sprach- geschichtlich anders aufgefaßt bzw. in der Gesamtheit ihrer Belege anders angeordnet hätte. Gaya- z.B. ist und zwar wird dies für das nomen appellativum wie für das nomen proprium gelten ursprünglich soviel wie „bäuerlicher Hausstand“, und bei gaé9a- sind dementsprechend die bei Bartholomae, Altiranisches Wörterbuch Sp. 477 unter Nr. 2 zu- sammengefaßten Belege für die Bedeutung „Anwesen, Gehöft, Haus und Hof“ voranzustellen, da sich aus dieser anschaulichen Begriffssphire erst die abgezogene, sinnenferne mit „Wesen, stoffliches Lebewesen, Einzel- wesen“ entwickelt hat. Ich mache erneut darauf aufmerksam, daß wir in der Bauernsprache des altertümlichen Litauischen diese Entwicklung noch gut beobachten können, weil hier das mit den obigen beiden Wor- ten übrigens sprachlich verwandte Femininum ġyvatà in sich „Wohnung, Bauerngut, Lebensunterhalt, ewiges Leben, ewige Seligkeit“ bedeutet. Daß „Haus und Hof“ aber nur „Haus und Hof“ eben des seßhaften, von seinen Äckern lebenden Bauern bedeuten können, liegt auf der Hand.! Und auch bei ihm nur gewinnt der „Sippenhof“ (vis) von Yasna XI, einem Text, den Nyberg „sehr altertiimlich“ nennt (a. a. O. 273 o.), seine volle Erklärung. Ich kann diese Dinge nur andeuten, nicht erschöpfend behandeln. Aber gestützt auf eine Gruppe völlig neu bestimmter Worte des Gaé@ischen, die ich in ihrem ganzen indogermanischen Zusammen- hang veröffentlichen werde, gestützt nicht zuletzt auf die vielen und wertvollen ackerbaukundlichen Zeugnisse des Videvdät, die vor allem in ihrem zeitgeschichtlichen Befund umgruppiert werden müssen, kann ich zuversichtlich behaupten, daß Begriffe wie „Bauer“ und „Landwirtschaft“ Haupt-undKernbegriffe der gesamten Weltanschauung des Avesta

1 Vgl. ARW 36 (1939) 92. Insofern kann Nybergs Darlegung beider Worte a. a. O. 56 f., 123 f. nicht genügen; bezüglich patrigaéda- schreckt er übrigens sogar vor Willkür nicht zurück (a. a. 0.454). M. E. ist pafrigaed'a- eine Bildung wie griech. wegloıxog = atharvavedisch parivesa-. Man wird hier geradezu er- innert an eine wichtige Bemerkung W. Bartholds in der ,Enzyklopaedie des Isläm* 2, 978, Sp. 1, wo es von Ch"ärizm heißt: „... obgleich sich dort manche Eigentümlichkeiten erhalten haben, die man sonst in Turkestan vergeblich suchen würde. Statt der sonst in Turkestan üblichen Straßendörfer befindet sich das Haus des Landbesitzers in der Mitte seines Landstücks wie bei den Ureinwohnern von Turkestan, den Tädjik“.

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sind, und daß wir endlich ernst machen müssen nicht mit der Annahme „schamanisierender Rinderhirten der Steppe“, wohl aber mit dem Ein- satz echt-indogermanischen Adelsbauerntums, dessen Personennamen,

nicht zufällig, reiche, auch von Nyberg (a. a. O. 249)erwähnte Beziehung :

zum Rosse (aspa-) aufweisen und gerade in der unmittelbaren Umgebung Zarathustras besonders eindeutig auftreten! Daß dieser Einsatz nicht ohne eine tiefgreifende Berichtigungfalscher, ver- schrobener, aus der Stadtluft eines verspießerten Bür- gertums geholter Vorstellungen über diesesindogerma- nische Adelsbauerntum vor sich gehen kann, dürfte eigent- lich nach den umfassenden Veröffentlichungen Hans F.K. Günthers und Max Rumpfs und angesichts einer Erscheinung wie etwa des niedersächsischen, friesischen oder schwedischen Herrenbauern selbst- verständlich sein. Aber diese Hinweise müssen immer wieder ausge- sprochen, diese Forderungen immer wieder auf das allerentschiedenste erhoben werden. Es ist nämlich noch nicht lange her, daß etwa H. Lommel gemeint hat: „Man kann nicht aus Zarathustras Lehre ableiten, daß er ein Bauer gewesen sein müsse, und kann nicht aus der Annahme, daß er ein Bauer gewesen sei, die Religion erklären“ (a. a. O. 256 u.); oder (a. a. O. 257 o.): „Vielmehr hat diese Lehre... das Gepräge einer aristo- kratischen Geistigkeit, die man nicht im Bauernstand suchen möchte“. Als ob Aristokratie und Bauerntum sich ausschließen würden! Der &g160Toc ist ja ursprünglich „der sich aufs Pflügen am besten Verstehende“, das Pflügen seine &ọetń.

In dieser neuen Sicht wird aber auch eine Betrachtungsweise auf ihr richtiges Maß zurückgeführt werden, welche wesentlichen Dar- legungen des Nybergschen Buches ihren verhängnisvollen Stempel auf- geprägt hat: das uneingeschränkte Bekenntnis zum sog. Elementargedanken. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun- derts von englischen und deutschen Forschern, namentlich A. Bastian, voll entfaltet, heute aber, abgesehen von der begreiflichen Übung ge- wisser römisch-katholischer Wissenschafts- und Missionskreise, nur noch mit Vorsicht innerhalb geeigneter Beobachtungsgebiete angewendet, wird die Elementarparallele von Nyberg gerne dort als Beweis gebracht, wo die nächstliegenden Quellen überhaupt schweigen oder sich aus sonstigen philologisch-sprachwissenschaftlichen Gründen versagen. So wird z.B. a. a. O. 76 u. und f. gefolgert: „Es ist nicht schwer, religionsgeschicht-

1 Vgl. Atrvataspa, Jamäspa, Potrusaspa, Vistaspa, Haecataspa. Die oben angedeuteten, reich verzweigten Belege werden ein überzeugenderes Bild von Zarathustras Bauerntum entwerfen, als dies J. Hertel seinerzeit (1924) gelungen ist. Insoweit hat H. Lommel, War Zarathustra ein Bauer? (= KZ 58 [1931] 248—265) mit seiner Kritik gegen Hertel Recht.

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liche Parallelen zu dem Komplex der Véréthraghna-Vorstellungen zu finden. Die besten und erhellendsten finden sich bei gewissen afrika- nischen Völkern. Das Hirtenvolk der Shilluk am Weißen Nil, das auch etwas Ackerbau treibt und also in sozialer Hinsicht den altiranischen Stämmen sehr nahe steht, kennt einen höchsten Gott Juok, den Schöpfer, der die Welt geordnet hat“. Nachdem ‘Nyberg diesen Schöpfergott Juok geschildert, von dem Ahnengott Nyakang abgegrenzt und auch auf die Bantu-Neger hingewiesen hat, kommt er zu dem Schluß: „Diese Paral- lelen erlauben uns, das Wesen des iranischen Véréthraghna ziemlich deutlich abzugrenzen“. Aber Nyberg verschießt noch mehr solchen Feuerwerks. Die nordamerikanischen Indianer werden herangeholt (a.a.O. 267) als „eine aufschlußreiche historische Parallele zu Zarathustra“, wäh- rend a. a. O. 265 die Derwische des Islam es sind, zu denen „er typolo- gisch am besten in Beziehung gesetzt werden kann“. Zur Erläuterung des avestischen asah werden a. a. O. 471 o. „die großen Kirchdörfer der lappischen Gemeinden in Schweden“ sowie die „Versammlungs-, Markt- und Thingplätze“ arabischer Beduinenstämme kulturgeschichtlich be- müht, als ob nicht Germanen, Slaven, Indoarier ausreichende Hilfe- stellung hätten leisten können. Ich muß ausdrücklich fragen: „Auf wel- cher dinglich-geistigen Grundlage lassen sich eigentlich Shilluk, Bantu- Neger, nordamerikanische Indianer, Lappen und Beduinen mit den Ur- zarathustriern und Iraniern der Altstufe vergleichen?“ Ich sebe nur, daß die Vergleichsgrundlage nicht geschaffen sein kann durch gleiche Rasse, nicht durch gleiche Sprache, nicht durch gleiche Entlehnung, nicht durch gleiche Umwelt und schließlich nicht durch gleiches geschichtliches Schicksal. Übrig bleibt der schwache Trost einer aufklärerisch oder kirchlich gebundenen Menschheitsideologie, der die Kultur obiger Ver- gleichsgrößen als eine Art Stempel erscheint, den man aus einem Setz- kasten spielerisch zusammenstellt und von einer unsichtbaren Hand nach Belieben irgendeiner Volkspersönlichkeit aufdrücken läßt. Eine solche. im luftleeren Raum schwebende „Kultur“ gibt es aber ebensowenig wie einen allgemeinen Menschengeist. Nyberg hat völlig übersehen, daß jede wirkliche Kultur nur als Ausdruck eines eigenständigen, künstlerisch- schöpferischen Lebensstiles erlebt und begriffen werden kann, und daß somit seine Vergleiche unstatthaft sind sowie jeder wissenschaftlichen Beweiskraft entbehren. Eine derartige Betrachtungsweise kann, auf sprachgeschichtlicher Ebene gesehen, nur als ein Rückfall in die Zeit vor Bopp bezeichnet werden.!

1 Ich habe dem, was ich ARW 36 (1939) 87 u. 91 o. programmatisch aus- geführt habe, hier nichts mehr hinzuzufügen. Im übrigen hat auch Fritz Schacher- meyr erst jüngst in seinem Aufsatz „Der Begriff des Arteigenen im frühzeit- lichen Kunstgewerbe“ (= Klio 82 [1940] 339—357) erfreulich ähnliche Erwägungen

16*

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Man muß sich auch aus andern Gründen wundern, daß der Verfasser des Buches „Die Religionen des Alten Iran“ eine so abseitige Lehr-

und Forderungen ausgesprochen. Die sklavische Abhängigkeit von den afri- kanischen Parallelen ist der Hauptmangel des an sich fleißigen und durch die Textzusammenstellungen brauchbaren Buches von Geo Widengren, Hochgott- glaube im Alten Iran. Eine religionsphänomenologische Untersuchung (= Upp- sala Universitets Årsskrift 1938 : 6). Was die von Nyberg a. a. 0O. insbeson- dere 166 u. ff. mit einem großen Aufwand von religionsgeschichtlichen Paral- lelen behandelten Erscheinungen des Schamanismus anlangt, so hat mir ein Psychiater, Dr. med. Heinz Riedel, die folgenden, sehr dankenswerten Dar- legungen zur Verfügung gestellt, die ihrerseits auch die Gebundenheit solcher Erscheinungen bzw. ihrer Ursachen und Wirkungen eindringlich bekunden: „Wirkungen von Giften auf dasZentralnervensystem ziehen allgemeine und für jedes Gift eigentümliche seelische Veränderungen nach sich. Die für das Gift typischen von ihnen gruppieren sich hierbei für gewöhnlich um einige prägnante Kernsymptome. Ungeachtet einer solchen Regelmäßigkeit im Auftreten bestimmter, gerade diese oder jene Vergiftung auszeichnender Grund- erscheinungen kann aber gar keine Rede davon sein, daß etwa nun das Gift an einem Gehirn Veränderungen auslöst, die, so typisch sie sein mögen, etwa gänzlich unabhängig von Art und Umfang der seelischen Gesamtqualitäten auf- treten, als deren Trüger bzw. Vermittler gerade dieses oder jenes Gehirn zu gelten hat. Denn was sind denn Giftpsychosen anderes als Störungen des üb- lichen Ablaufs eines diesbezüglichen seelischen Geschehens? Verzerrungen, Trü- bungen, Einengungen, aber auch Lösungen, Erweiterungen, Eröffnungen nor- malerweise nicht in Erscheinung tretender oder wenigstens nicht so sich be- merkbar machender seelischer Assoziations- und Erlebnisvorgänge? Was eben auch geschehen mag, das Gift formt, verändert oder erschließt nur vorher schon Vorhandenes. Diese Gegebenheiten an seelischen Qualitäten, Ausdrucksvermögen, Reaktionsweisen usw. aber wechseln von Fall zu Fall, von Gehirn zu Gehirn, von „Seele“ zu „Seele“, von Persönlichkeit zu Persönlichkeit. Jede floride Psychose läßt bei genauerem Hinsehen an irgendwelchen Zügen und Beständen die präpsychotische Persönlichkeit wiedererkennen. Das gilt auch für die Vergiftungen. So sicher also ein gewisses Gehirngift gewisse giftspezifische seelische Veränderungen nach sich zieht, so sehr zeigt jede Psychose zugleich individuelle Züge der prä- psychotischen Persönlichkeit. Was von Individuum zu Individuum zu beobach- ten ist, die Tatsache, daß die gleichen Psychosen selbst unter Angehörigen der- selben Familie unzweideutig individuelle Züge tragen, sollte das nicht gelten für Angehörige voneinander wesentlich verschiedener Menschentypen, Stämme, Völker und schließlich Rassen? Man denke nur an die Alkoholtoxikose, an die Alkoholpsychose. Welche nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ auf- fallenden Unterschiede bieten und boten doch die alkoholischen Vergiftungs- ‘erscheinungen bei Weißen und Schwarzen, bei Europäern und Rothäuten und dergl.! Die Rassenpsychiatrie ist erst im Werden. Eines aber steht schon fest: es gibt rassisch verschieden ausfallende Symptomenbilder bei gleichartigen toxischen Hirnschädigungen. Dies gilt auch für Haschisch. Es ist also keines- wegs möglich, seelische Veränderungen, Erlebnisweisen und Inhalte, die man bei der Vergiftung eines Menschen dieser Rasse gefunden hat, ohne weiteres für die Erlebnisweisen und pathologischen seelischen Phänomene zu verallge- meinern und sie bei gleicher Hirnschädigung anderer Rassenangehöriger ebenso

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meinung wie die des Schamanismus aufgestellt, durch weithergeholte Elementarparallelen verbrämt und durch die Annahme eines ausgespro- . chenen Steppenhirtentums unterbaut hat. Denn tatsächlich hätte es doch nähergelegen, zu fragen, wie denn die heute noch da und dort sitzenden arischen Restbevölkerungen Ostirans sich zu den von Nyberg behaup- teten Tatbestärden verhalten und welchem Wirtschaftsgefüge die das alte Ch”arizm fortsetzende turkestanische Landschaft einzugliedern ist. Nyberg hätte auf solche Fragen sehr eindeutige Antworten erhalten, so daß sein Versäumnis doppelt bedauerlich wird. Denn „ein Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse macht uns die wirtschaftlichen Zustände des Altertums am ehesten verständlich“.! Wir werfen zunächst einen Blick auf die altertümliche Rückzugskultur der im nordöstlichen Afghanistan ansässigen Kafiren, über die wir durch eine Reihe vorzüglicher For- schungs- und Reiseberichte? besonders gut im Bilde sind. Ich fasse das Wesentliche stichwortartig zusammen. Trotz der Hochgebirgsnatur des Landes mit seinen steilen Hängen und durchschnittlich 1000—4500 m

zu erwarten. Für absolut abwegig aber würde ich es halten, aus der Überein- stimmung psychotischer Erscheinungen bei Menschen wesentlich verschiedener rassischer Zugehörigkeit auf die gleiche Ursache dieser Erscheinungen, beispiels- weise auf die gleiche Giftwirkung zu schließen. Man darf nie vergessen, daß „Rasse“ zumindest im selben Umfange ein seelisches wie ein körperlich-anthro- pologisches Phänomen darstellt. Es dürfte daher kaum noch bestritten werden können, daß die offensichtlichen Differenzen von Rasse zu Rasse auf morpho- logischem Gebiete auf seelischem Gebiete ihr diesbezügliches Gegenstück auf- weisen, ohne daß wir damit unmittelbare Abhängigkeitsbeziehungen vonein- ander behaupten wollen. Eines ist sicher: derselbe Tuberkelbazillus bzw. das- selbe Tuberkelgift prägt bei Europäern und Eingeborenen Afrikas gänzlich ver- schiedene pathologische Erscheinungsformen. Sollten sich da Neger und Weiße nicht auch als „Persönlichkeiten“, d. h. nicht als körperlich (z. B. in bezug auf ihre Lungen), sondern auch seelisch Verschiedenrassige gegenüber Giften, und zwar speziell Gehirngiften, die vorwiegend diese „Persönlichkeit“ zu treffen vermögen, (wie z. B. gegenüber Haschisch) verschieden verhalten müssen? Rüdin hat sich hierzu sehr anschaulich geäußert: man dürfe keineswegs annehmen, ‚daß vorwiegend exogen erzeugte Krankheiten mit exogenem psychischem Reaktionstypus ihre Syndrome aus dem Nichts schöpfen, oder besser ausge- drückt, aus präformierten Mechanismen, die allen Menschen in gleicher Weise und in gleichem Grade innewohnen. Im Gegenteil, auch hier ist verschieden erbliche Veranlagung sicher vielfach entscheidend‘ “.

1 Wilhelm Geiger, Ostiränische Kultur im Altertum, Erlangen 1882, 374.

2 Sir George Scott Robertson, The Käfirs of the Hindu-Kush, Ldn. 1896; Martin Voigt, Kafiristan. Versuch einer Landeskunde auf Grund einer Reise im Jabre 1928, Bresl. 1938; Albert Herrlich, Land des Lichtes. Deutsche Kundfahrt zu unbekannten Völkern im Hindukusch, Mchn. 1988; Deutsche im Hindukusch. Bericht der Deutschen Hindukusch-Expedition 1985 der Deutschen Forschungs- gemeinschaft (= Deutsche Forschung. Schriften der Deutschen Forschungs- gemeinschaft. Neue Folge. Bd. 1), Bln. 1987.

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Höhe findet sich in Kafiristan im Gegensatz zu Afghanistan eine Ver- einigung der zwei Wirtschaftsformen Ackerbau und Viehzucht; sie sind zu gleichen Teilen die Nährquelle der kafirischen Stämme. Selbstver- ständlich können große, zusammenhängende Ackerfluren nicht entstehen, aber die infolge der Gebirgszerklüftung geringe Ackerbaumöglichkeit wird trotzdem wahrgenommen, und zwar von den Kafiren beider Ge- schlechter. Das große Alter der Kultivierung wird hervorgehoben, ebenso der gepflegte Eindruck, den die Acker in ganz Kafiristan machen, und die sorgfältige Wildbachverbauung, welche die Felder vor Überschwem- mungen durch die reißenden Gebirgsbäche schützen soll. Die kleinen Feldstücke sind kunstvoll an die Berghänge geklebt, während ein be- trächtlich erweiterter Talboden von Feldern und üppigen Wiesen durch- zogen wird. Angepflanzt (auch in Mischkulturen) werden Gerste, Weizen, Hirse, Roggen, Mais; Aprikosen-, Walnuß- und Maulbeerbäume werden gezogen; von Körnerhülsenfrüchten erwähne ich neben den Pferde- und Sojabohnen Erbsen, Bohnen, Linsen, von Futterhülsenfrüchten Luzerne sowie Persischen Klee, von Gemüsen Beta, Möhren, Salat, Kürbis und Rhabarber. Besonders bezeichnende kafirische Monatsnamen sind: „Hirse- blüte“, „Hirsereife“, „Weinlese“. Über den anschließenden ostiranischen Raum urteilt Machatschek a. a. O. 101: „Eine geschlossene Kulturzone fehlt in den meisten Gebirgen Turkestans, da ja die seßhafte Bevölke- rung die höheren Lagen zumeist den Nomaden überläßt...Nur die fleißigen arischen Bergvölker der Alai- und Pamirgebiete sind bis zu den äußersten Grenzen der Besiedlungsmöglichkeit vorgedrungen, und hier erreicht die obere Kulturgrenze noch wesentlich größere Höhen. Am Sarafschan finden sich ständige Niederlassungen mit etwas Feldbau noch in 2600 m Höhe... Der Weizenbau reicht im Pamir bis 3000 bis 3200 m, die höchsten Kulturen, Gerste, Rüben und Hülsenfrüchte, bis 3400 m...“. Die Ähnlichkeit der Verhältnisse mit denen der Kafiren ist offensichtlich. Steigen wir nun nach Turkestan hinunter, so gilt als wesentlichster Leitsatz für dieses Gebiet, daß „eine Reihe von Zeugnissen aus dem Altertum und Mittelalter... übereinstimmend einen dem heu- tigen vollkommen gleichen Zustand des Landes dokumentieren“.! Es gibt also keine Klimaänderung in geschichtlicher Zeit. Turkestan selbst „ist eine gebirgsumwallte Tieflandwüste der warmgemäßigten Breite mit viehzüchtenden Nomaden [sic!] und ackerbautreibender ansäßiger Be- völkerung [sic!] in den Oasen“, wobei „ein ständiger Kampf zwischen räuberischen Nomaden und friedlichen Ackerbauern im Laufe der Ge- schichte“ vor sich geht. So der Geograph nicht der Avesta-Forscher!

1 Machatschek a. a. 0. 65, vgl. auch 69f. Das, was Wilhelm Geiger a.2.0.27 über die Wandelbarkeit der Bodenbeschaffenheit in Ch"ärizm äußert, ändert nichts an der allgemeinen Sachlage.

L

Bestand die zoroastrische Urgemeinde aus Ekstatikern und Rinderhirten? 947

A. Schultz a.a.Q. 213. Gleich geblieben ist nur der turkestanische Löß- boden, der „durch Jahrtausende und bei intensiver Ausnützung ohne künstliche Verbesserung gleich hohe Erträge geliefert hat“.! „Der weit- aus größte Anteil der ‚unerschöpflich fruchtbaren‘ Kulturfläche entfällt noch immer auf die Getreidearten und unter ihnen an weitaus erster Stelle auf den Weizen“.? Aber auch die Hirse ist seit alters heimisch, so daß sie „als zweite Frucht nach dem Weizen auf bewässertem Land beliebt ist“. „Der Baumwollbau ist in Turkestan zweifellos uralt.“ „Zu den ältesten und wertvollsten Kulturen gehört die der Luzerne.“ „Im übrigen sind...alle Stufen der landwirtschaftlichen Betriebsformen vom Hackbau bis zur intensiven Gartenkultur vertreten.“ Die Dschugarä (Sorghum cernuum) mit ihren maisähnlichen Körnern „gedeiht sogar auf stark salzigen Böden, die sie für andere Kulturen vorbereitet“.® „Der Wert der gesamten landwirtschaftlichen Erzeugnisse beträgt über 1 Mil- liarde Mark, davon entfallen auf die Ackerwirtschaft 71,5%, die Tier- zucht 19,2%, den Weinbau 8,4%, die Seidenzucht 0,8%, die Imkerei 0,1%. Insgesamt sind etwa 2 Millionen ha Ackerland vorhanden, von denen 1”, Millionen ha bewässert sind“.* Mit Recht zieht Schultz a. a. O. 229 u. selbst den Schluß: „das Wirtschaftsleben Turkistans beruht fast vollständig auf der Landwirtschaft, in erster Linie auf dem Anbau von Baumwolle, demgegenüber der Wert von Getreidebau und Vieh- zucht zurücktritt“. Aber „auch in den Sandwüsten wird zum größten Teil das Landschaftsbild noch durch die Vegetation beherrscht“. Von der Oase Chiwa ist bekannt, daß sie heute Baumwolle, Reis und Ge- treide erzeugt, vorzügliche Kultivierung besonders im Südosten auf- weist und von zahlreichen, vom Amu-darja abgeleiteten Kanälen durch- zogen ist, denen sie im wesentlichen ihre Fruchtbarkeit verdankt.’ „Die Oase von Kharizm stellt ein ausgedehntes Gebiet von Gärten und Fel- dern dar. Es gedeihen vortreffliche Melonen und Trauben und andere Fruchtgattungen. Getreide ist in Fülle vorhanden“. „Der Distrikt von Kungrat [im Amu-darja-Delta] ist wieder sehr fruchtbar und, so weit das Auge reicht, mit Gärten, Feldern und Meierhöfen bedeckt“.” Denn „zu den ältesten und beliebtesten Zweigen der turkestanischen Boden- kultur gehört der eigentliche Garten- und Obstbau, der wohl auch durch

1 Machatschek a.a.O. 139.

2 Machatschek a.a.O. 149 und 148.

s Machatschek a.a.O. 149, 150 o., 149 u., 148, 149.

« Schultz a. a. O. 229 u. und f. Bei den Zahlen ist selbstverständlich die Wirksamkeit der russischen Kolonisation und Verwaltung gebührend zu be- rücksichtigen. Aber selbst dann sind diese Zahlen lehrreich genug. Man be- achte vor allem den Unterschied zwischen Ackerwirtschaft und Tierzucht.

5 Schultz a. a. O. 229 u., 223. ° Vgl. Wilhelm Geiger a. a. O. 378.

7 Wilhelm Geiger a.a. O. 26, 27.

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die Tadschik seine Verbreitung und Entwicklung erfahren hat. Ein Obst- garten von allerdings meist recht bescheidenen Dimensionen fehlt auch dem ärmsten Bauernhaus nicht und findet stets liebevolle, wenn auch nicht gerade sachverständige Pflege“.! Von den genannten Tadschiken stellt Schultz fest, daß sie Ackerbauer seien, „in den Bergen auch Vieh- züchter“. Grundsätzlich gilt, was wir ja der Statistik bereits entnommen haben, und was auch Schultz noch einmal ausdrücklich ausspricht, daß „die Viehzucht... entweder nomadisch, oder, in sehr viel geringerem Maße, in Verbindung mit Ackerbau betrieben“? wird. Zu diesem Gesamt- sachverhalt gehört schließlich als nicht zu übersehende, besonders lehr- reiche Tatsache, daß „trotz hoher Intensität des Betriebs . .. die Acker- geräte seit den ältesten Zeiten die gleichen geblieben“? sind.

Ich habe im Vorhergehenden absichtlich und möglichst ausführlich Fachleute der Erdkunde sprechen lassen. Ihre Aussage, zusammen mit den sonstigen, von mir ermittelten Sachverhalten, bedeutet, daß gegenüber der Titelfrage „Bestand die zoroastrische Urgemeinde wirk- lich aus berufsmäßigen Ekstatikern und schamanisierenden Rinderhirten der Steppe?“ nur ein Entweder Oder möglich ist. Entweder „bestand die zoroastrische Urgemeinde wirklich aus berufsmäßigen Ekstatikern und schamanisierenden Rinderhirten der Steppe“, dann bietet der ost- iranische Raum, den Nyberg ihr zuweist, keine geeignete Stätte, und man sieht schwer, welcher andere Teil des iranischen Gesamtraums passen könnte. Oder aber es bleibt tatsächlich bei dem ostiranischen Raum als der Heimat der „zoroastrischen Urgemeinde“. Dann kann diese Urgemeinde wohl kaum sich aus „berufsmäßigen Ekstatikern und scha- manisierenden Rinderhirten der Steppe“ zusammengesetzt haben. Dies Entweder Oder glaube ich deutlich gemacht zu haben, nebst allen Schlußfolgerungen, die wir daraus für das Nybergsche Buch selbst ab- leiten müssen. Ich möchte es, wiederum mit Nybergs eigenen Worten, ein Werk über eine „große, an fruchtbaren Einzelheiten reiche, aber in wesentlichen Punkten verfehlte Theorie‘? nennen. Die entscheidende Frage der Zarathustra-Forschung „Auf welche Vorgänge stellen die Vers- predigten des großen frübiranischen Religionsstifters die Rückwirkung dar?“ ist durch Nyberg nicht gelöst worden. Auch ich vermag auf diese Frage heute noch keine abschließende Antwort zu geben. Den Lösungs- weg zu skizzieren, hab ich mich im Vorstehenden bemüht. Der Genius des echten, indogermanischen Führermenschen, aus einem für uns vor-

ı Machatschek a. a. O. 151. 2 Schultz a. a. O. 228 und 230. s Machatschek a. a. O. 148.

a.a. O. 461. Nybergs Würdigung bezieht sich auf Maria Wilkins Smith, .

Studies in the Syntax of the Gathas of Zarathustra, together with text, trans- lation, and notes (= Language dissertations Nr. 4), 1929.

Bestand die zoroastrische Urgemeinde aus Ekstatikern und Rinderhirten? 249

derhand unerforschlichen Dunkel kommend, überblitzt diesen Weg, dessen Richtung wohl durch anderes geschichtliches Schicksal als das der West- iranier, vielleicht durch andere Wanderungen, auf jeden Fall aber durch das gleiche Erbe bestimmt war. Steht Zarathustra, ähnlich wie die ragenden Führergestalten unserer Gegenwart, an einer Zeitenwende, die die ewigen Wesenheiten des Reiches und seines Bodens, der Rasse und ihrer Ehre, des Rechtes und der kulturfördernden Tat wieder, wie je und je, aus Urds Brunnen heraufgeholt hat für die kommenden Jahr- hunderte?! Wir wissen dies noch nicht, obgleich wir uns, dies dereinst zu wissen, in Lehre und Leben besser gerüstet glauben denn unsere Vorgänger?, zu denen wir allerdings an dem einen oder anderen Punkt dieser umfassenden Fragestellung werden zurückschauen müssen, um ungesäumt erneut dem Ziele zuzustreben, unter dem dreifachen Gesetz von Philologie, Sprachwissenschaft und Sach- kunde.

Inhaltsübersicht

Die drei Hauptgedankeukreise Steppenhirtentum, Ostiran und Schamanismus des Nybergschen Buches „Die Religionen des Alten Iran“ (Lpg. 1938) werden kritisch beleuchtet und in Nybergs Arbeitsweise „Etymo- logie“, „Elementargedanke“ und der mangelnde Bezug zu dem echt-idg. Adels- bauerntum wie auch zu dem bäuerlichen Wirtschaftsgefüge der verschiedenen, in Ostiran heutzutage seßhaften arischen Restbevölkerungen als besonders frag- würdig herausgestellt. Philologie, Sprachwissenschaft und Sachkunde müssen die von Nyberg nicht gelöste Frage zu beantworten suchen: „Auf welche kulturgeschichtlichen Vorgänge stellen die Verspredigten des großen frühirani- schen Religionsstifters Zarathustra die Rückwirkung dar?“

ı Der Beitrag Hans Franks, Das neue Deutsche Recht als Grundlage völ- kischer Stärke in der „Festschrift zum fünfzehnjährigen Bestehen der Deutschen Akademie am 5. Mai 1940“, Mchn. 1940, 7—12, veranschaulicht sehr passend die Entwicklung einer derartigen Daseinsordnung, in der die oben genannten Be- griffe gleichsam als neue Aməša Spontas auftreten.

2 Ich denke hierbei an Martin Haug, Wilhelm Geiger, Christian Bartho- lomae.

250 Walther Wüst .

YASNA XLII 4, 2/3 VON WALTHER WÜST IN MÜNCHEN

In der Mitte des dem Yasna haptahäti wohl nachträglich angereihten Yasna XLII, welcher eingangs die Verehrung der Wasser und Wege, der Berge, Seen und Getreidefelder ausspricht, stoßen wir, nach dem Lobpreis Ahura Mazdas und ZaraduStras, der Erde und des Himmels, des Windes und des Haralti-Gebirges sowie des Vohu Manah und der Seelen der ASa-Glaubigen, auf die Doppelzeile

„[Satzschluß.] vastmca yam pancasa- dvarqm yazama’de. [Satzbeginn]“ 1

Die in dieser Doppelzeile enthaltene Aussage ist zwar grammatisch völlig durchsichtig, inhaltlich aber alles andere denn dies. Seit J. Darmesteter und Chr. Bartholomae hat man sich gewöhnt, in dem Acc. sing. fem. vastm den Namen eines mythischen Fisches, „Sorte de Le&viathan‘“?, zu sehen, der, im Avesta nur hier vorkommend, noch durch die mittel- iranische Überlieferung des Bundahisn® einigermaßen gestützt wird, im übrigen aber sprachgeschichtlich dunkel ist und in keiner Weise er- kennen läßt, was das attributive Adj. panéa. sadvara-* bei ihm soll. Denn Bartholomae fragt nach dessen Bedeutung, vermutet „Vll. *panéasa- + dvar- ‚der fünfzig Tore hat‘“, ohne die Unregelmäßigkeit des ausge- fallenen Dentals voll erklären zu können, und skizziert auch nicht ein- mal die Umrisse eines mythisch-mythologischen Zusammenhangs. Demgemäß übersetzt Fritz Wolff®: „den [Fisch] Vasi, ihn den..., verehren wir“, indem er Bartholomaes Fragezeichen zu panda. sadvara- getreulich weitergibt, während andere Iranisten wiederum sich gar nicht oder ohne Aufklärung zu geben äußern? So kommt es, daß H. S. Ny-

1 Durch Weglassen entweder des Enklitikums da oder des relativ-demon- strativen Füllworts yam gewinnen wir die regelrechte Zwölfsilblerzeile. Das Handschriften-Zubehör bietet nichts von hieher passender Bedeutung.

2 So J. Darmesteter, Le Zend-Avesta, Paris 1892, I, 276°.

3 Kap. XVIII 5, 7, 8. |

«So nach dem Ansatz Bartholomaes, Altiran. Wörterbuch Sp. 846. |

5 Avesta. Die heiligen Bücher der Parsen. Unveränderter Nachdruck, Bln. und Lpg. 1924, 71 mit FuBn. 2.

° Bei der ersten Gruppe denke ich etwa an Louis H. Gray, The Founda- tions of the Iranian religions (Bombay 1929), der vas?- noch nicht einmal listen- mäßig erfaßt hat, bei der zweiten Gruppe an Jacques Duchesne- Guillemin, Études de morphologie Iranienne. I. Les composés de l’Avesta (= Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liége Fasc. LXXIV), Liége 1936, §§ 12, 14, 49, 215, der tiber folgende Feststellungen nicht hinaus-

Yasna XLII 4, 2/3 251

berg, Die Religionen des Alten Iran (Leipzig 1938) 285f. in einem wissenschaftsgeschichtlich abschließenden und somit bedeutsamen Ab- schnitt dartut: „Nach dem Preis ,Vohu Manahs und der Seelen der Aša- Gläubigen‘ treten seltsame Gottheiten auf: Vasi, ein weibliches Wesen, das ein uns unverständliches Beiwort erhält; Chara, ‚der dem Asa Ge- hörige, der mitten im See Vouru-kasa steht‘; und dann zuletzt Vouru- kaSa (42,). Nach der späteren Überlieferung ist Vasi ein Fisch und der Schutzgenius aller Fische; da die Anwohner des Aralsees im großen Ausmaß von Fischen lebten man denke an die Massageten bei Hero- dot —, ist eine solche Gottheit sehr natürlich. In Chara hat die spätere Überlieferung begreiflicherweise das gewöhnliche iranische Wort für ‚Esel‘ (neupersisch zär) wiedergefunden und weiß sogar zu berichten, daß er drei Beine und sechs Augen hat; aber was ein Esel im Aralsee zu tun hat, ist wenigstens für uns unmöglich zu erraten? Vermutlich bedeutet der Name etwas ganz anderes. Die Hauptgottheit ist hier jeden- falls der See Vourukasa‘, derselbe See Vourukasa, der das X’aronah, den „Herrschaftsglanz“, beherbergt zu Zeiten, in denen kein rechtmäßiger Besitzer dieses X"’aronah vorhanden ist.

Erwägen wir unbefangen diese gesamten Umstände das sprach- geschichtliche Dunkel um v@si-, die Unverständlichkeit des Beiworts panéasadvara-, die Dirftigkeit der Überlie- ferung im Mitteliranischen, vollends die mythische Frag- würdigkeit des „Esels“, so wird man zu zwei Schlüssen gelangen:

kommt: „un composé est coupé, mais la coupure est mal mise: ... panda. sadvara-“ (S. 8 0.); ebenso S. 9 o.: „panda-sadvara- (pour ,panéasa-dvara-)* ; o soll „indiquer une lecture restituée“ (VII). Dies wird bestimmt als „adj. au fém.“ und „aux 500 portes“ (S. 29 m.) übersetzt, S. 177 o. aber „litt. ‚aux 50 portes‘, lect. § 14“ wiedergegeben.

1 Es blieb Johannes Hertel, Die awestischen Herrschafts- und Siegesfeuer. Mit Text, Übersetzung und Erklärung von Yast 18 und 19 (= Des XLI. Bandes der Abhandl. d. Philol.-Hist. Kl. d. Sachs, Akad. d. Wiss. Nr. VI, Lpg. 1931) 107° vorbehalten, diesen Esel als Verkörperung des „Blitzfeuers“ sehr ernst zu neh- men; ähnlich irrig O. G. von Wesendonk, Die religionsgeschichtliche Bedeutung des Yasna haptanhati, Bonn und Köln 1931, 82: „Yasna 42,4 führt mytho- logische Gestalten ein wie den Fisch väsi oder den Esel xara —“ und Wolf- gang Voigt, Die Wertung des Tieres in der zarathustrischen Religion. Mchn. 1937, 32 und 324: „Bestimmt mythologischen Ursprungs sind der Fisch Väsi und der Esel Xara (Ys. 42. 4)“. Man wüßte gerne Näheres über die Grundlagen solcher Bestimmtheit, zumal derselbe Verfasser wenig später (S. 33 0.) meint: „Über die Verehrung dieser Tiere ... können wir Bestimmtes nicht aussagen“. Mein iranischer Schüler D. Monchi-Zadeh hat sich im Rahmen seiner Doktorarbeit über den iranischen Herrschergedanken vergeblich gemüht, dem „fünfzigtorigen Fisch“ auf die Spur zu kommen. Rgved. śatádura- „hundert Tore habend“ und sahdsradvar- „tausend Tore habend“ sind bezeichnend genug Beiworte Pel vedas- „Besitz“ und "grhá- „Haus“ (auch in I 61, 3).

952 ‘Walther Wüst

1. es ist durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, daß vasz- in der Be- deutung „Fisch“, namentlich in der unmittelbaren Nachbarschaft des Vourukasa-Sees, eine leichtere Lesart darstellt, nicht anders als zara- „Esel“; 2. dies zugegeben, rechtfertigt der Gesamtbefund einen neuen Lösungsversuch, welcher, mit Nybergs Wort, vom See Vourukasa als „Hauptgottheit‘‘ ausgehen muß.

Ein solcher Lösungsversuch ergibt sich ungezwungen, indem wir avest. väsi-, f. in morphologisch genau entsprechender Gleichung mit altindoar. vasi-, f. verbinden!, einem Wort, das vorwiegend vedisch (rgve- disch und atharvavedisch) bezeugt ist, auch Komposition und Ableitung - aufweist und etwa soviel bedeutet wie „Axt“, ,Spitzmesser“.? Meiner persönlichen Überzeugung nach ist die Bedeutung ,,Spitzmesser“ die wahrscheinlichere, weil vasi-, f. im Pali, neben vas3-, f. „axe, adze, hatchet“ stehend, gemäß dem von mir erkannten Gesetz „Bedeutungsisolierung durch Formdifferenzierung“, „Rasiermesser“ bedeutet. Die mythische Sphäre, der die vedische vasi- angehört, wird treffend beschrieben durch die rgvedische Visvedevah-Liedzeile VIII 29, 3°:

Vasim éko bibharti hdsta ayasim®

„das Spitzmesser trägt der eine in der Hand, das eiserne“, wobei mit

„der eine“ wohl Tvastr gemeint ist. Sonst erscheint vas?- bei Agni, Indra und den Maruts, bei Brhaspati und den Kavis, bei Püsan und, wie eben gebucht, bei Tvastr, lauter Persönlichkeiten des solaren Bereichs.

Ist es nun Zufall, daß dieser unbezweifelbaren, in über einem Dutzend Textstellen zutagetretenden frühvedischen Überlieferung auch altiranische Zeugnisse sich zugesellen, deren Wert durch das Zusammenstehen mit der vedischen Gesamtaussage nur noch gesteigert wird? Ich denke dabei einmal an den berühmten Satz in der Grabinschrift Darius.I. des Großen

ı Bartholomae, Altiran. Wörterbuch Sp. 1418 hat bereits festgestellt: „s [in vasi-| geht auf ar. š, sh oder ts“.

2 Vgl. Heinrich Zimmer, Altindisches Leben, Bln. 1879, 301; Walter Neisser, Zum Wörterbuch des Rgveda. Erstes Heft, Lpg. 1924, 177; Johann Jakob Meyer, Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthacastra des Kautilya, Lpg. 1926, 151. vasi- geht möglicherweise als Lehnwort ins Tscheremissische (Keleti Szemle 4 [1903] 378 u. und 13 [1912] 220 0.), was mir für avest. vasi- nicht ohne Bedeutung scheint. Die von der mitteliranischen Überlieferung ein- gesetzte Bedeutung „Fisch“ kann aus der ursprünglichen, im Veda noch zweifels- frei festgehaltenen Bedeutung „Axt, Spitzmesser* durch die an ein Messer er- innernde Gestalt eines Fisches oder aber durch eine sog. Kurzform entwickelt sein. Wir sprechen vom Schwertwal, Sdgefisch; gladius besagt im Lateinischen nicht nur soviel wie „Schwert“, sondern auch „Schwertfisch“, ebenso übrigens auch gladiolus.

3 Ich habe diesen Vers gewählt, weil er mit der avestischen Textzeile außer dem Metrum Kasus und Spitzenstellung von vasi- gemein hat.

Yasna XLII 4, 2/3 253

(NRa, Z. 43—45) ,,parsahya martiyahya düraiy arsti$ parägmatä“! „des persischen Mannes Lanze ist weithin durchgedrungen“, wodurch die Lanze? als Herrschaftssymbol nachgewiesen wird, zum zweiten aber an die nicht minder gewichtige Stelle Herodot IV, Kap. 62, die uns den Dolch als Herrschaftssymbol, diesmal des skythischen Ares, veranschau- licht. In der ausgezeichneten Übertragung H. H. Schaeders lautet dieses von H. S. Nyberg a. a. O. 256 kurz und ohne Hinweis auf rgved. vēsi- behandelte Zeugnis: „In jedem Stammesgebiet (vouös) gibt es, von einem jeden Stamm für sich auf dem Versammlungsplatz (èv deynio) erbaut, ein Heiligtum des Ares von folgender Beschaffenheit: Reisigbündel sind zu einer Länge und Breite von drei Stadien (ca. 575X575 m), aber in geringerer Höhe zusammengehäuft. Oben auf diesem [Heiligtum] ist ein ebenes Viereck gebildet. Drei von den Seiten fallen steil ab, aber an einer von ihnen kann man hinaufgelangen. Jedes Jahr führt man 150 Wagenlasten Reisig herbei, denn der Reisighügel sinkt infolge der Winter immer wieder ein. In jedem Stamm hat man einst vor langer Zeit auf diesen Reisigstoß einen persischen Dolch (axıvdans) von Eisen gesetzt, und das ist Ares’ Bild. Diesem Dolch bringen sie jährliche Opfer von Schafen und Pferden dar, und über das hinaus, was die übrigen Götter erhalten, opfern sie noch folgendes: von allen Kriegsgefangenen, die sie von den Feinden gewinnen, nehmen sie jeden hundertsten Mann und opfern ihn.“? Auf Yasna-Formel gebracht, lautet dies: „vasimda yazamalde“.

Was ist nun aber pancasadvara-? Die Antwort auf diese Frage ist zwiefach schwer, da wir weder wissen, ob die Wortform richtig über- liefert ist, noch Kenntnis haben von einem Simplex *sadvara-, *sadvan-

1 Ich gebe einen für die Zwecke dieses vorwiegend religionsgeschichtlichen Aufsatzes normalisierten Text und behalte mir ein näheres Eingehen auf diese Stelle für eine im ARW. demnächst erscheinende größere Studie „Altpersi- sches. III.“ vor. |

2 Die der altpersischen arstz- entsprechende rgvedische Wortform ysti- spielt, wie vagi-, bei den Maruts eine nicht zu übersehende Rolle.

3 Im Urtext lautet die Kernstelle: „Ex! tovrov dn Too Öyxov curvaxng o- dngsog Tevrat dopyalos Excororcr, xal rodr’ Earl tod Aetos yulu. tovtm dt dxıwann Yvolag Ensrelovs neocayover nooßdrov xal innov ...“. Boisacq, Dictionnaire étymologique de la langue Grecque s. v. bezeichnet dxivdxng als „mot iranien“. Es ist wohl zu kühn und gegen das skythische Sprachmaterial, soweit sich daraus Schlüsse ziehen lassen, in &xzv-° einen durch irgendein suf- fixales Formans erweiterten Acc. sing. vas2m > Faxiv zu vermuten. Lautgerecht wäre -o-. Oder ließe sich an -þ- < ar.-5- denken? Über den Akinakes sach- geschichtlich M. Ebert, Reallexikon der Vorgeschichte 1 (1924) 78, Sp. 1 von links. Vielleicht bietet sich von dem merkwürdig an gewisse Teile des skythi- schen Opfervorgangs anklingenden Rgveda-Vers X 101,10 aus die Möglichkeit, in bezug auf das Verständnis van vasi-/vasi- noch weiterzukommen.

254 Walther Wiist

oder ähnlichem. Nahe lage es z. B., in *sadvara-, *sadvan- einen Stoff zu suchen, aus dem vas?- verfertigt wäre: die rgvedische vasi- hat die Beiworte asmanmäyi-, „steinern“, @yas?-, „eisern“ und muß auch in gol-

dener Machart vorgekommen sein, wie rgved. hiranyavasi- und hiranya-

vasimattama- bezeugen. Des weiteren ließe sich nach dem Vorgange solcher rgvedischer Gerät- und Waffennamen wie vdjra- „Donnerkeil“, isu- „Pfeil“, vadhd- „Mordwaffe“ und heti- „Geschoß“ daran denken, in sadvara- einen Gegenstand wie „Ecke“, „Spitze“, „Gelenk“, „funkelnde Fläche“, „Feder“ zu vermuten, da die genannten rgvedischen Substan- tiva Begriffe wie die letztgenannten mit Zahlwörtern gekoppelt als Bei-

wörter zu sich nehmen.! Aber sadvara- versagt sich, ganz abgesehen

davon, daß die vedischen Beispiele überwiegend hohe Zahlen bringen, und daß die Länge in panca-° unerklärt bleibt. Ist sie denn echt? Wenn wir so weiter fragen und nicht irgendeine Kontraktion zu Hilfe nehmen wollen, da panéa- beim einfachen Zahlwort „5“ allem Anschein nach nicht sprachgeschichtlich verbürgt ist, so bieten sich als Möglichkeiten: Verschreibung (statt panéa-°), spätere Angleichung an panéasa(n)t- „50“ oder überhaupt schlechte Überlieferung. Auf die letzte Möglichkeit deutet vielleicht die metrische Gestaltung, die doch wahrscheinlich auf eine Kadenz _v_vvy hinzielt. Diese Erwägungen als zurecht geltend unterstellt, würde sich die Zwischenform panlasadvara- ergeben, Zwi- schenform deswegen, weil nunmehr rgvedisch satd-särada (< satam sarddah), „hundert Herbste gewährend“, d. h. „ein Lebensalter von hun- dert Jahren gewährend“, got. ahtau-dögs (< ahtau + dags) „achttägig“, zusammen mit der Tatsache, daß auch ved. vasi- ein vrddhiertes Adjek- tivum (äyasim) bei sich führt, auf eine ursprüngliche Ausgangsform *yancasadvara- deuten, die durch obiges pancasa(n)t- zur Textform panéa- sadvara- verderbt worden wäre. Sollten sich auch diese Überlegungen bestätigen, dann leistet das Altindoarische, wie im Falle vasi-/väasi-, in Form einer morphologisch genau entsprechenden Gleichung entschei- dende Hilfestellung. Denn hier ist, allerdings nicht rgvedisch, wohl aber seit Panini, sadvald- überliefert in den Bedeutungen „mit Gras bewachsen, grün, frisch, belaubt; Grasplatz, Rasen“.? Mit panca-° im Vorderglied

1 Ich erinnere an sahäsrabhrsti-, Sataparvan-, $atäsri-, Satabradhna-, Satänika-, sahasraparna-.

2 Dieses sadvald- könnte zu dem m. W. nur einmal im altindoarischen Schrifttum belegten Flußnamen Sadvala-, f. (Satrunjayamähätmya 1 55) gehören, der wahrscheinlich im westlichen Vorderindien anzusetzen ist. Das bedeutungs- mäßige Verhältnis von Sadvalä- : sadvald- ließe sich verstehen wie das von Sindhu- „Indus“ zu saindhava- „ein Pferd aus dem Indusland“, „Steinsalz“, „Salziges“ (Gruppe der Deszendenz -Vrddhi; ähnlich so ganga-, u. „Regen- wasser einer besonderen Art“, sarasvata- u.a.m.). Oder wir ziehen das Form- verhältnis Sakvara- : Sakvan-, Säakvari- heran, weswegen ich oben auch mit

Yasna XLII 4, 2/3 255

wiirde sich so ein erdkundlicher Namentypus ergeben, der gerade im ostiranischen Raume häufig ist; ich. verweise nur (neben ind. Pandschab und altindoar. pafcanada-, n. „Fünfstromland“) auf Pančpur, Pandschdeh, Pandschgur, Pandschkor, Pandschschir, Pangher, Pangwaj Tatsächlich ist sädvald- als Landschaftsname verwendet worden. Denn „regarding the original meaning of the name [Munjan] it is worth noticing that the Prasun Kafirs call Munjän Sabsl, a word which seems to be connected with Skr. sädvala- ‚grass, grassy spot‘“.?

Ich schlage somit vor, Yasna XLII 4, 2/3 zu übersetzen: „Und das Spitzmesser [, das Herrschaftssymbol des Gebietes]? Panca-Sadvara ver- ehren wir“. Ob und welche Folgerungen aus Vorstehendem für die Frage nach der Heimat des Avesta gezogen werden müssen, das muß die Wür- digung dieses neuen Lösungsversuches? erbringen. Sprach- und text- geschichtlich scheint er mir jedenfalls einen Schritt über die bisherige, mehrfache Unsicherheit hinauszuführen, inhaltlich fügt er sich dem Ge- samtbefund von Yasna XLII meines Erachtens auch deswegen passend ein, weil Natur und Landschaft gerade in diesem Text ein unverkenn- bares Übergewicht besitzen. Nicht zuletzt könnte die inmitten der Wasserquellen und Wasserfurten, der Gablungen und Kreuzungen der Wege, der Berge, Seen und Getreidefelder beim Behälter des Herr- schaftsglanzes, dem See Vourukasa, aufgerichtete Väsi ein Wahrzeichen

*sadvan- gerechnet habe. Vgl. sonst noch Seb. Zehetmayr, Lexicon etymologi- cum Latino etc. sanscritum comparativum, Vindobonae 1873, 191; L. Renou, Grammaire Sanscrite, Paris 1930, 1, 261 203d); J. Charpentier, Commemora- tive essays presented to Sir George Abraham Grierson, Lahore 1933, 59f., 59°.

1 Wilhelm Geiger, Ostiränische Kultur im Altertum, Erlangen 1882, 64; Grundriß der Iranischen Philologie, Straßburg 1896—1904, II, 379, 886f., 378 u., 393; J. Marquart, Eränäahr nach der Geographie des Ps. Moses Xorenaci. Mit

~ historisch-kritischem Kommentar und historischen und topographischen Exkursen

(== Abhandl. d. Kgl. Gesellsch. d. Wiss. zu Göttingen. Philol.-Hist. Kl. N. F. III, Nr. 2), Bln. 1901, 241, 277, 279.

2 G. Morgenstierne in „A volume of Indian studies presented by his friends and pupils to Edward James Rapson on his seventieth birthday 12th may, 1931“, London 1931, 442 u.

3 Für den Hörer wurde das in eckige Klammern gestellte Satzstück aus der Aussage der denominativen Vrddhi sowie der Komposition in *pancasadvara- voll verständlich. Die Vorstellung vom Herrschaftssymbol und der ihm zuge- hörigen Landschaft, die vielleicht noch im Bundahiän erkennbar ist (E. W. West, Sacred books of the East 5 [1880] 66), ist wahrscheinlicher als das Bild vom „Spitzmesser [, dem Herrschaftssymbol eines Hausbesitzes] von 50 Toren“ (ge- mäß S. 251, Anm. 1 u.).

4 Übrigens hat auch Nyberg a. a. O. 472 u. und f. in avest. Worten wie sanaka, aoda- Eigennamen verschiedener Teile des Rahä-Flusses gesucht. Auch an das Verhältnis des jungavestischen Bergnamens Maönaxan-, m., eigentlich „wo die Quelle des Maénaflusses liegt“ (Bartholomae, Altiran. Wörterbuch s. v.) zu dem altindoarischen Flußnamen Mena-, f., darf erinnert werden.

256 J. C. Tavadia

sein fiir das Begebnis, das wir im 6. Abschnitt unseres Yasna lesen mit den Worten: „und der Priester Rückkehr verehren wir, die fernhin ge- gangen sind als Asa-Sucher der Länder (= in den Ländern)“.

Inhaltsübersicht

Die avestische Fügung vasımda yam pancasadvaram in Yasna XLII 4, 2/3, die bislang offenkundig mißverstanden wurde, erhält eine in mythologischer

und wortkundlicher Hinsicht neue Deutung durch das nächstverwandte Alt-

Indoarische. vas-, f. in morphologisch genau entsprechender Gleichung zu alt- indoar. vasi-, f. „Spitzmesser“ gestellt, bezeichnet einen Dolch, ‚und zwar, wie Zeugnisse altpersischer Inschriften und Herodots nahelegen, als Herrschafts- symbol. panläsadvara-, aus textgeschichtlichen Gründen *pantasadvara- (mit denominativer Vrddhi des zweiten Gliedes) zu lesen, wird wohl die Herkunft von einer Landschaft des ostiranischen Raumes bezeichnen, da sich dort zahlreiche erdkundliche Namen mit der Fünfzahl als Vorderglied eines Kompositums finden und die morphologisch genau entsprechende alt-indoar. Form $ädvalä- als Landschafts- und das Grundwort Sadvala- als Flußname er- scheinen. Der neue Übersetzungsvorschlag lautet: „Und das Spitzmesser [das Herrschaftssymbol des Gebietes] Panéa-Sadvara verehren wir“.

EIN ALTER FEUERRITUS BEI DEN ZOROASTRIERN IN IRAN

VON J. C. TAVADIA IN HAMBURG I.

Den Anlaß zu dieser Arbeit gab mir die Anfrage von Otto Huth,

Berlin, ob ich aus der persischen Überlieferung Belege dafür kenne, daß das ewige Feuer einst an bestimmten Festtagen gelöscht und wieder neu entzündet worden sei.

In den meist bekannten, z. B. von West in SBE übersetzten, alten Schriften ist diese Sitte nirgends aufgezeichnet, und auch bei den Parsen in Indien ist sie nicht im Schwange. Ebenso ist die Vorschrift in dem neu- persischen Werk Sad dar naşr 49 so kurz abgefaßt, daß man daraus allein nicht auf diesen Ritus schließen kann. Außerdem ist weder der Wort- laut der Ausgabe! noch die Übersetzung von West? richtig. Mit Hilfe einer anderen Handschrift? gebe ich hier die Stelle folgendermaßen wieder: „Wenn sie das Feuer auflesen, ist es notwendig, es an demselben Ort für eine Weile zu belassen, bis der Grund der Feuer(stelle) erkaltet ist;

1 Saddar Nasr and Saddar Bundehesh edited by B.N.Dhabhar, Bombay 1909.

2 Sacred Books of the East edited by F. Max Müller, (Pahlavi Texts Part III) Vol. 24, 312.

3 K. R. Cama Oriental Institute and Library No. 610 (Hataria Collection) Kap. 58 (nicht 49).

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 2957

sodann muß man es aufnehmen und zum Feuertempel bringen. Denn es ist nicht erlaubt, daß jener Grund (noch) warm sei, wenn man das Feuer von dort zum Feuertempel bringt...“. Wir sehen hier also nicht, welches Feuer gemeint ist.

Il.

Gliicklicherweise sind die Angaben in den verschiedenen Quellen der späteren Riväyats! etwas ausführlicher, und so wissen wir, worum es sich hier handelt. Hinter der Anweisung, das heilige Feuer atas i adaran (außer dem Hauptfeuer ätas i bahräm) zu gründen, heißt es dort: „aus jedem Hause, wo drei Tage lang Speise gekocht wird, nehme man das Feuer auf und bringe es zum (bi nazd) Adarän-Feuer.“

Die nächste Quelle enthält mehr Angaben. Zuerst eine sonderbare (oder durch eine Textlücke unklar gewordene) Vorschrift, daß das Feuer, mit dem Brot gebacken wurde, zum Weiterkochen für andere Speisen nicht benutzt werden dürfe. Dann heißt es hier nicht „drei Tage“, son- dern „dreimal“, und jedes weitere Mal darauf zu kochen ist eine Sünde von 3 farmän Buße.? Aber die wertvollere Ergänzung ist die folgende: „Jedes Jahr, während der Farvardiän (d. h. den Toten geweihten Fest- tage) soll der Feuerdiener das Adaran-Feuer auflesen und zum (bi pēs) Bahräm-Feuer bringen.

Nach der dritten Quelle soll das Hausfeuer jeden dritten oder sieben- ten Tag aufgelesen und oben auf (bar sar) das Adaran-Feuer gebracht werden und dieses Feuer jedes Jahr oder jedes dritte Jahr oben auf (bar sar) das Bahraäm-Feuer. |

Die vierte Quelle ist in der Ausgabe unvollständig.’ Der fehlende

1 Darab Hormazyar’s Rivayat edited by M. R. Unvala, Bombay 1922, Vol. I, 72, 8ff. Daß diese Angaben sich auf frühere mittel-persische Schriften stützen, werden wir im Laufe dieser Arbeit sehen. Es weist auch die Sprache darauf hin, wenn auch nicht in vollem Maße, wie es öfter der Fall ist (siehe z. B. Tavadia, „An Iranian Text on the Act of Dreaming“ in Festschrift für M. Winternitz 258f.). Es sind nur die folgenden Wörter, die dabeiin Frage kommen. Statt des normalen bahram haben wir überall var(a)hram, (mp. varhran,) das die Schreiber als gelehr- tes Wort gebraucht haben mögen. Aber bemerkenswert sind dasan (72. 16) anstatt dahis „Geschenk, Gabe“ und ganz besonders bed (73. 1) anstatt buvad „ist“. Das Wort für (Feuer) „auflesen‘ tidan existiert auch im Np., aber das für „Flamme“ © barah (13, 10f.; 68, 5) ist dort ganz fremd (siehe jedoch gleich unten). Es ist mp. brah, was ich früher in Sayast-né-sayast 10, 87 mit brih gleichgesetzt und so ge- lesen habe. Jetzt sehe ich es als Neben- oder Dialektform von braz, brazidan „strahlen, leuchten“ an. Im Np. hat dies nur die entwickelte Bedeutung „Schön- heit. Schmuck“ angenommen und genau so auch burah.

2 Über die verschiedenen Grade der Sünde und deren Buße siehe Tavadia, Säyast-ne-Säyast 13 ff.

3 Dies heißt: „Bezüglich des Adarän-Feuers: wenn da drei Priester sind, hat jeder von ihnen drei Atas Niyäis zu rezitieren; wenn da ein Priester ist, hat er neun Atas Niyāiš zu rezitieren. (So) wird sie (die Angelegenheit?) schnell (züd)

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 2 17

258 J. C. Tavadia

Satz, den uns Dhabhar! ermittelt hat, ist besonders beachtenswert: „Je- des Jahr, wenn das Fest von panj i veh (etwa „5 herrlichen“, d. h. Gatha Tagen Farvardian Festtagen) stattfindet, soll das Adaran-Feuer auf- gelesen und zur Seite (bi kanar) des Bahräm-Feuers gelegt werden, da- mit es erkalte (oder: bis es erkaltet ist sard Savad).“

Auch die fiinfte Quelle, die dem Namen nach dieselbe wie die vierte (oder nach Dhabhar die zweite) ist, spricht von dem Erléschen des Feuers. Sie enthält auch andere neue Punkte: „In jedem Orte, wo zehn Häuser der Rechtgläubigen sind, muß ein Adarän-Feuer sein..., damit die Feuer ihrer Häuser nicht verstreut werden. Das Feuer muß man zuerst auflesen und an einem Ort niederlegen, bis der Grund (der ersten Stelle, d.h. des Herdes) erkaltet ist. Darauf muß man es zum Adarän-Feuer bringen und es auf den Platz, wo das Feuer ist, daneben legen, einundzwanzig Mal den Ya9a ahu vairyö Spruch rezitieren, bis es dort erkaltet ist.‘‘*

beendet.‘ Es handelt sich hier wohl um die erste feierliche Entzündung (oder, wie eine Handschrift sagt, um die in die Ranggrad (marätib)-Setzung) des Adarän- Feuers, wobei drei Dasturen tätig sein müssen, wie in der nächsten Quelle ange- geben wird; s. S.258, Anm.2. Falls aber dies nicht gemeint sein sollte, und wenn überhaupt nötig, kann ich den letzten etwas unpassenden Satz (Dhabhar übersetzt ihn freier: „and complete them sooner“, was ebenfalls sonderbar ist) korrigieren: Wenn wir zor „Opfergabe‘‘ und dgl. anstatt zūd lesen und es in dem ursprünglichen Sinne von zu- (Götter zum Opfer) „rufen“ auffassen, wird der Satz heißen: (so) wird die Anrufung (Verehrung) beendet“.

1 The Persian Rivayats of Hormazyar Framarz and Others... (B.N. Dhabhar, Bombay, 1982) 61, Anm. 7. Siehe auch Pazand Texts ed. Antia, 238, 2 ff.

3 Es ist bemerkenswert, daß die Überschrift sich nicht auf diesen Ritus be- zieht, sondern auf die Frage, wie soll man das Adarän-Feuer gründen, die nun erst jetzt beantwortet wird. Dies zeigt den Zusammenhang des Ritus mit der Grün- dung des Feuers, was ich später ausführlich behandle. Die Antwort ohne eine besondere Überschrift und Einleitung lautet:

„In einem Hause in der Straße der kechtgläubigen richtet man einen Ort rein her. Man bestellt als Feuerdiener einen befiihigten Rechtgläubigen, der die Ba- rainum-Zeremonie vollzogen hat. Und man richtet einen Feuerstand ganz aus Stein her. Man entzündet das Feuer, das im eigenen Hause ist. Drei Dasturen kommen hin. Sie richten drei Plätze her. Sie stellen jeden Platz eine Spanne, d.h. eine bidast (so statt dast „Hand“ zu lesen als das erklärende iranische Wort für die Spanne), von einander entfernt auf. Sie halten Brennholz über dem entzündeten ‘Feuer. Sie nehmen (auf diese Weise) eine Flamme aus dem Feuer und legen (das so entzündete Brennholz) auf einen (= den ersten) Platz. Sie legen die zweite Flamme (usw.) auf den zweiten Platz, bis es dreimal erledigt ist. Und beim vier- ten Male legen sie (das so entzündete Brennholz) auf den Feuerstand. Die Dasturen rezitieren Atas Niyäis darüber. In Bezug auf dieses (Feuer) ist es Pflicht, daß der Feuerdiener jeden Tag ein Atas Niyäis darüber rezitiert“.

Es sei hinzugefügt, daß man heute das Feuer nicht unmittelbar auf den stei- nernen Feuerstand legt, sondern erst in den mit Asche gefüllten metallenen Feuer- behälter (atas-dan), und diesen setzt man auf den Feuerstand (adost, mp, tust). Daher haben wir wahrscheinlich hier und auch für die erwähnten drei Plätze einen Feuerbehälter anzunehmen.

Ía es, e a =.

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 959

Hier ist also nicht nur das Erlöschen klar ausgedrückt, sondern auch der Platz, wo das Feuer niedergelegt werden soll, fast ebenso klar an- gegeben, nämlich wohl der steinerne Feuerstand (s. Anm.2). Bei den Aus- drücken der anderen Quellen könnte man an ein Vermischen der Feuer denken. Jedoch ist zu überlegen, ob nicht trotzdem das Vermischen ge- meint sei. Denn was wurde mit dem erloschenen Feuer, d.h.den Schlacken und evtl. den halb verbrannten Holzscheiten gemacht? Man erwartet doch, daß es mit dem Adaran-Feuer vermischt, bzw. verbrannt werde. Und in der Tat lauten zwei unveröffentlichte Alt-Gujarati-Ubersetzungen des Sad dar in diesem Sinne: melavi und malatu karti, „man vermische“!!

II.

Die herrschende Meinung aber ist, daß das Feuer gelöscht wurde, sonst hätte man nicht dagegen polemisiert, als der Ritus auch in Indien bei der Kadimi-Sekte, die unter iranischem Einfluß gegründet wurde, im Schwange war. Darüber sagt z. B. der Herausgeber der Gujarati-Uber- setzung der Riväyat-Sammlung wie folgt?:

„In Iran nennt man dasjenige Feuer Adarän, wohin jeder Recht- gläubige das Herdfeuer, worauf dreimal gekocht wurde, bringt. Daher ist Gdaran einfach der Plural ‚die Feuer‘. Also ist es mit unserem indi-

schen Adarän-Feuer nicht zu vergleichen. Und am Jahresende wurde das

Adarän-Feuer zum Bahräm-Feuer gebracht und gelöscht. Diese beiden Sitten wurden den Glaubensgenossen in Indien besonders empfohlen. Aber dieser Gedanke der iranischen Zoroastrier stammt weder aus der Awesta- noch sogar der Pahlavi-Zeit, sondern ist gahz spät.“ Er führt weiter aus, daß einige indische Zoroastrier, ohne den Sinn dieses Ritus vollkommen verstanden zu haben, begannen, das indische Adarän-Feuer am Jahresende zu löschen. Aber in Indien nennen wir doch das Feuer Adarän, wofür die Feuer der vier Gesellschaftsklassen aufgelesen und be- stimmte Zeremonien vollzogen werden; wir betrachten es auch als Qibla. Ohne den Unterschied zwischen diesem Adarän-Feuer und dem, was man in Iran Adaran-Feuer nennt, zu wissen, ließ man das erstere erlöschen, nur durch den gemeinsamen Namen irregeführt. Er wundert sich auch, daß die Art und Weise, wie man in Indien das Adarän-Feuer gründet, nicht in den Riväyat beschrieben sei, und andererseits wiederum, daß das hier beschriebene Adarän-Feuer nirgends in Indien zu finden sei. .

Nicht nur er, sondern auch ein Gelehrter wie Dhabhar? betont den

1 K. R. Cama Oriental Institute and Library No. 182, Bl. 73; und India Office Library Persian Ms. 8048, Bl. 280, deren Ausgabe ich vorbereite.

* Rivayate Dastur Darab Hamajiar... R.J. Dastur Meherji Ranana, 2. ed. (Bombay 1911) 173.

3 a. a. O. (S. 258, Anm. 1) XLIII, 60 Anm. 6, 62 Anm. 6.

17*

260 a J. C. Tavadia

Unterschied zwischen den beiden Arten von Adaran-Feuern, indem er sagt: die iranische Art sei einfach und die indische Art bediirfe miihe- voller Zeremonien, und das Adaran-Feuer in Iran habe nur den Zweck, das Herdfeuer der Gläubigen aufzunehmen.

Auch Unvala! scheint einen gewissen Unterschied zu machen. Er beschreibt die Sitte nach der von Spiegel zitierten Quelle. (worauf wir später zurückkommen) und sagt dann, daß es nicht richtig sei, in dieser

|

Weise zu vermischen. Aber, so fügt er hinzu, in Iran sei es üblich, das

Hausfeuer zum Dädgäh-Feuer zu bringen. Er betrachtet also das irani-

sche Adarän-Feuer als das einfachere, das in Indien den dritten Grad |

einnehmende Feuer. Aber unten zeige ich, warum diese Gleichsetzung nicht richtig sein kann.

IV.

Es ist nun begreiflich, daß die Parsen in Indien ihre Methode nicht nur für höher, sondern auch für richtiger ansehen. Aber m. E. hat das indische Adarän-Feuer denselben Grundgedanken, nur haben die Parsen ihn einerseits vielleicht falsch verstanden und ihm andererseits sicherlich durch Anhäufung vieler Zeremonien künstlich eine übertriebene Wichtig- keit gegeben. Die obenerwähnten vier Gesellschaftsklassen bedeuten doch nicht mehr und nicht weniger als die Gemeinde der Gläubigen. Wenn man in Iran das Herdfeuer der Gläubigen für das Adarän-Feuer aufliest, dann tut man das Richtige. In der ganz und gar veränderten Lage braucht man die vier Klassen nicht wörtlich aufzufassen; man nimmt eben die vorhandenen Gläubigen als Mitglieder jener Klassen in mehr oder minder losem Sinne. Dabei geschieht kein Verstoß gegen die Vorschrift. In Indien jedoch zählt man z.B. zur zweiten Gesellschaftsklasse sogar den anders- gläubigen Gouverneur, Landrat, Richter, Polizeichef und dergleichen Be- amte.? Dies ist sicherlich eine Neuerung, ebenso wie die Auffassung der Handwerkerklassen, deren Feuer besonders für die Gründung der Bah- räm-Feuer gebraucht werden.

Um davon überzeugt zu sein, lese man nur die Anfrage, die die Parsen bei der allerersten Gelegenheit ihren Glaubensgenossen in Iran stellten, und die Antwort, die sie darauf erhielten: „woher soll man die Feuer bringen, wenn man ein Bahräm-Feuer gründen will? (Denn) alle Werk- stätten sind in die Hände der Andersgläubigen übergegangen“!? Be- greiflicher- oder unbegreiflicherweise haben sie keine unmittelbare Ant- wort erhalten, was doch jeden befremden muß. Wir sehen hier klar, daß nach damaliger Ansicht die Feuer der Gläubigen allein zur Gründung

1 Acta Orientalia 4, 318f. 2 J. J. Modi, The Religious Ceremonies and Customs of the Parsees, 240. 3 Rivayat (S. 257, Anm. 1) 174, 1ff.

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 261

aufgelesen werden sollten. Später aber glaubte man, an den Buchstaben bezüglich der Handwerker usw. festhalten zu müssen. Aber auf diese Fragen werden wir hier nicht näher eingehen. Für unseren Zweck ge- nügt es, die Tatsache festzustellen, daß man in Indien die Gründungs- zeremonie für das Bahram-Feuer viel zu sehr kompliziert hat. Daher können wir schließen, daß dasselbe mit dem Adarän-Feuer geschehen ist, nämlich der späte künstliche Ausbau der Zeremonien, ganz von dem evtl. Mißverstehen abgesehen.

Man vergesse nicht, daß das mit den einfachen Zeremonien herge- richtete Adaran-Feuer auch mit Sorgfalt durch einen Priester mit ge- bührendem Brennmaterial und regelmäßigen Gebetsrezitationen gehütet wird.! Man denke etwa auch nicht, daß das iranische Adaran-Feuer wegen seiner einfachen Gründungszeremonie dem indischen Dadgah-Feuer und nicht dem Adaran-Feuer entspreche und daher meine Auffassung falsch sei. Denn für das Dadgah-Feuer ist weder das technische Auflesen noch die Reinigung des Feuers nötig, während für das iranische Adarän-Feuer das dreistufige Auflesen genau so wie für das indische notwendig ist.? Dieser Punkt ist wichtig und grundlegend für die Entsprechung. Daher glaube ich, daß meine Auffassung der Sache richtig ist, obwohl sie der lang bestehenden Sitte und der Meinung der Parsen-Priester und Ge- lehrten zuwiderläuft. Ä

V,

Sei es, wie es will, die Tatsache bleibt, daß das Adaran-Feuer in Iran an den höchsten, den Toten geweihten Feiertagen am Ende des Jahres aufgelesen und zum Bahram-Feuer gebracht wurde, weshalb es sicherlich wieder von neuem angezündet werden mußte. Und wenn wir die Vorschriften des Wegbringens des Herdfeuers im Auge behalten, können wir ruhig daraus schließen, daß auch das Adarän-Feuer, wenn nicht ganz, so doch fast erloschen war, ehe es fortgebracht wurde. Denn wenn man wartet, bis die Feuerstelle, d.h. der Herd mit der darin befindlichen Asche, kalt geworden ist, muß doch das aufgelesene Feuer ebenfalls erkaltet sein. Und tatsächlich wird dies nach einer anderen Version des Sad dar sogar er- wartet. Dies steht zwar nicht in der von Hyde? ins Lateinische übersetzten. Version, sondern in der anderen ins Gujaräti übersetzten, der sogenannten sad dar i bahr i favi. Ausnahmsweise enthält diese langatmige Fassung doch auch nützliche Angaben für diesen Fall, wenigstens in der Über- setzung. Es heißt da:

1 Siehe z. B. den Schluß des Zitates auf S. 258, Anm. 2. 2 Modi (Anm. 2) 241f.; oben S. 258, Anm. 2. 3 Historia religionis veterum Persarum, S. 468, Kap. 58.

262 J. C. Tavadia

„Wenn das Feuer aus dem Herd in ein Gefäß genommen wird, soll man eine Weile (‚Stunde‘ ist wohl eine falsche Übersetzung) geduldig warten, indem man das Gefäß mit dem Herd in Verbindung (paivand) läßt, bis der Herd erkaltet und auch das Feuer in dem Gefäß etwas er- kaltet ist und sein Licht und seine Flamme verloren hat... Wenn aber das Feuer zum Feuertempel gebracht wird, ehe der Herd erkaltet ist... dann ist es so, als ob das Feuer noch im Herde geblieben (und nicht zum Tempel gebracht worden) sei... Wenn man das zum Kochen oder für Zeremonienzwecke gebrauchte Feuer nicht in der obenbeschriebenen Art nach dem Feuertempel bringt und es sorglos und unaufmerksam erkalten läßt, so ist es eine Sünde.“ 1 l

Diese Vorschrift über die gebührende Erkaltung, ehe es zum Feuer- tempel gebracht wird, muß auch in Kama Bohräs Riväyat gestanden haben, wie uns die Gujaräti-Übersetzung zeigt. Es heißt dort einfach, daß man nach dem Kochen etwas warte, damit die Hitze des Feuers erkalte und die noch vorhandene Flamme ausbrenne.?

Auf den ersten Blick erscheint die Vorschrift über das Erkaltenlassen als unnatürlich, weil es gesetzwidrig ist: das Gesetz verlangt doch, daß das Feuer sorgfältig gehütet werde, damit es niemals erlösche. Aber, wie jenes vorletzte Zitat zeigt, muß zwischen sorglosem Erlöschen und dem- jenigen unter Beobachtung des Ritus unterschieden werden.”

Und wenn man fragt, wozu überhaupt auch dies letztere Erkalten, so kann ich es aus anderer Anschauung über das Feuer folgerichtig er- klären. Diese Anschauung ist, daß auf das Feuer kein fremdes Licht fallen darf. Das Feuer muß so gehalten werden, daß z.B. keine Sonnenstrahlen ` darauf kommen‘, und wenigstens vor dem Tempelfeuer soll auch kein gewöhnliches Licht brennen. Hinwiederum klagen die Modernen, die den

ı Sad dare behere tavil... Dastur Jamaspji M. Jamasp Asajina, (Bombay 1881), 261. Der Text ist noch nicht veröffentlicht, und ich kann ihn augenblicklich in keiner Handschrift einsehen. Auf zwei Gründen beruht mein Zweifel an der Über- setzung: 1.durch gewisse Indizien habe ich öfter bemerkt, daß der Übersetzer den Text frei nach seiner modern parsisch beeinflußten Auffassung sozusagen kommen- tiert und nicht den genauen Wortlaut wiedergibt, 2. und hauptsächlich enthält die auf S.259, Anm. 1 erstgenannte Handschrift zwar den fraglichen Punkt, aber nicht die anderen neuen Angaben, die aber dann zeigen, daß die früheren indischen Dasturen keinen Anstoß an dem Ritus nahmen, sondern ihn folgerichtig vertieften.

2 a.a. O. (S. 259, Anm. 2), 132, 136. `

3 Auf diese oderähnliche Angelegenheiten spielt der eine der eigenartigen, sich widersprechenden Sprüche an. „Das Feuer soll man nicht töten, denn es ist eine Sünde, aber es gibt doch Fälle, wo das Töten gut ist, Säyast-n&-Säyast 20. 15. Auch die anderen Sprüche spielen auf besondere und rechtmäßige Angelegenheiten an, die man ermitteln müßte. Ich glaube z.B. nicht, daß es einfach so heißt, Wahr- heit sprechen ist gut, aber lügen ist manchmal besser.

1 Rivayat (S. 257, Anm. 1), I 65, 16ff.; Sad dar 69.

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 963

alten Sinn nicht mehr kennen, daß diese Vorschrift geändert werden müsse, da sie die Dunkelheit im Vorraum als unwürdig empfinden und als störend beim Gebetlesen. Sie wünschen sogar strahlendes elektrisches Licht! _

Die ursprüngliche Idee ist so sei hier hinzugefügt, daß das Feuer als Alleinherrscher gedacht ist und man ihm deshalb keinen Nebenbuhler beigesellen darf. Daraus erklärt sich m. E. jene Vorschrift über das Er- kaltenlassen des Feuers, ehe man es zum Adarän-Feuer und dieses zum Bahräm-Feuer bringt. Das leuchtende und lodernde Feuer würde deren Herrscherglanz stören.

Leider können wir die Frage nicht erklären, was mit den so kalt ge- wordenen und dort hingetragenen Schlacken und ev. den halbverbrannten Holzscheiten gemacht wurde, Die Quellen geben darüber keine Auskunft, und über die heutige Praxis erfahren wir auch nichts. Oben haben wir das Vermischen und Mitverbrennen als natürlich angenommen und auch von anderer Seite diese Annahme gestützt gefunden. Es wäre wirklich nötig, in Erfahrung zu bringen, wie die Zoroastrier in Iran diesen alten Ritus noch befolgen; wenigstens scheinen sie ihn durch den Einfluß der angeblich besser wissenden Parsen in Indien nicht abgeschafft zu haben.

VI.

Der Vollständigkeit und neuer Gesichtspunkte halber wollen wir auch die anderen Quellen betrachten. Deren eine Quelle betont die Not- wendigkeit des Bahram-Feuers (so anstatt Adaran-Feuer, entweder mit Absicht oder, weil der ganze Abschnitt jenes Feuer betrifft), weil alle Rechtgläubigen wenigstens viermal im Monat das Herdfeuer zum Feuer- tempel bringen müssen. Ferner nennt sie die vier Tage des Monats, wo dieser Ritus des Herdfeuers vollzogen werden soll: Ardibihist, Adar, Sarös und Bahräm.! Das sind also die Tage, beinahe Festtage, die besonders mit dem Feuer verbunden sind.

Die andere Quelle?, die dem Namen nach dieselbe wie die vierte und fünfte (oder zweite) ist, und die schon Spiegel? teilweise mitgeteilt hat, ist sehr umfassend und lehrreich. „Das Feuer, das man dreimal im Hause in Gebrauch genommen hat, muß man auflesen und eine Weile daneben legen, damit der Grund (des Herdes) erkalte, und wenn nicht, geschieht (eine Sünde); man muß eine Flamme daraus nehmen, und diese muß man auf (bi-sar)*das Adarän-Feuer bringen. Und wenn vier Monate und zehn Tage vergangen sind, muß man (dieses Feuer) auflesen und auf (bi-sar) das Bahräm-Feuer bringen. Und wenn es in vier Monaten nicht möglich

1 Ebd. I 75, 8ff. Es bleibt offen, ob diese Tage jene vier Male darstellen oder außerdem dazu gerechnet werden müssen. Es ist mir unverständlich, warum Dhabhar hier überall , oder‘ anstatt, und“ gibt, so daß nur ein Feiertag herauskommt.

2 Ebd. I 67, 3ff, 3 Avesta Übersetzung 2 LXXI.

264 an J. C. Tavadia

sein sollte, dann muß man es aus Not nach einem Jahr tun.“ Weiter unten lesen wir, daß das Verdienst eines solchen Auflesens und Hinbringens des Feuers sechzig aster wert sei; und die Sünde sei achtzig astér schwer. wenn man es (das Auflesen usw.) unterlasse, so daß das Feuer sterbe. Außerdem trete dann Verlust an Reichtum (im Werte von drei diram und zwei dang) und Nachkommen ein. 1

Zu den fraglichen Stellen sei Folgendes bemerkt. Statt des Wortes „Sünde“ lassen drei bzw. vier (zwei von Spiegel und eine bzw. zwei von Dhabhar benutzte) Handschriften einen freien Platz zwischen „wenn nicht“ und „geschieht“ (basad). Nur eine späte Handschrift füllt die Lücke mit gunah (Sünde) aus. Leider ist nicht festzustellen, ob das noch vorhandene Original dazu auch dieses hat. Je nach dem ist die Stelle zweideutig: nach der oben angeführten Quelle kann man schließen, daß es nicht richtig und daher eine Sünde sei, wenn man nicht auf das Erkalten warte. Wenn aber dies nicht gedacht ist, meint etwa die Stelle: „wenn (das Auflesen usw.) nicht geschehen kann, muß man eine Flamme daraus nehmen ...‘?

Ferner scheint sich das „Aufnehmen der Flamme“ auf die Technik des „Auflesens‘“‘ des unrein gewordenen Feuers zu beziehen: also geschieht das Hinbringen des benutzten Feuers nicht unmittelbar, sondern mittelbar durch eine im letzten Augenblick eingefangene Flamme von seinen er- kaltenden Schlacken. Man bringt nur diese Flamme also weder das Feuer noch die Schlacken zum reinen bzw. höheren Feuer, genau so wie die rein gewordene Seele und nicht der Körper „zu den ewigen Lichtern“ geht. Der Ritus ist darnach sozusagen eine Einweihungszeremonie, worüber weiter unten mehr.

Für den fraglichen Ritus aber ist dieser Punkt ganz neu, und daher sage ich „scheint“ und gebe auch eine andere Übersetzung, wonach nicht die Flamme, sondern das Feuer selbst nach dem Feuertempel zu bringen ist. Der Hauptgrund aber, warum ich es tue, ist der, daß ich einen mittel- persischen Text, und zwar aus Pahlavi Riväyat, als ursprüngliche Quelle jenerStelle ansehe und ihn ohne jeden Zweifelin dem zweiten Sinne verstehe.

\

VIL.

Der mittelpersische Text handelt, dem einleitenden Satz zufolge, davon, wie man das Feuer im Hause halten soll.? Das Kapitel ist noch nicht übersetzt, aber es ist eines von denen in diesem Werke, die ifnsere ganze

1 Zum letzten Passus vgl. Sad dar 11.6—7. Die Summe muß ursprünglich als Bußgeld gegolten haben, siehe Tavadia, Säyast-nö-Säyast 14—15. Dhabhar wieder- holt „twopence‘“ als Wert eines Diram, höchstwahrscheinlich weil er s. Z. meine Ausführungen nicht benutzen konnte.

2 The Pahlavi Rivayat accompanying the Dadistan i Dinik edited by B.N Dha- bhar, 115 ff. Zu dem Werk vgl. Tavadia, ZII 10 (1935/36) 206 f.

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Ein ‘alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 965

Beachtung verdienen. Hier wollen wir aber nur die fiir uns in Frage kommenden §§ 4ff. in Betracht ziehen:

„Wenn man das Feuer in Gebrauch nimmt und die Arbeit getan ist, muß man es auflesen. Man muß eine Flamme daraus herausnehmen und auf einen Platz niederlegen und das andere (apärik) zu den Feuerbränden des Varhrän-Feuers bringen.“

Hier ist ganz deutlich gesagt, daß night die Flamme, sondern das andere, d.h. der Rest des Feuers, zum Feuertempel zu bringen ist. Und das ist auch leicht zu erklären. Das benutzte Hausfeuer soll sozusagen gerettet werden, aber gleichzeitig kann das Haus nicht ohne Feuer bleiben, sei es vom weltlichen oder religiösen Standpunkt aus. Daher bedeutet das Aufnehmen der Flamme die Entzündung eines neuen Hausfeuers, ehe das alte Feuer zum Tempel getragen wird. Es ist sehr wohl möglich, daß man dieses Aufnehmen der Flamme mit dem anderen technischen, wohl bekannteren Aufnehmen der Flamme verwechselt hat. Aber ausgeschlossen ist es nicht, daß man mit Bewußtsein, mit oder ohne andere ältere Quelle, das letztere Aufnehmen für unseren gewöhnlichen Ritus verwendet haben will.

Es ist hier notwendig, die Bezeichnung für den Ort des Hinbringens zu klären. Im Text steht ’twrwk(w) [v. 1. ’trwk(w)] © ata$ 7 varhran. Man darf den Text nicht einfach ändern, um in jenem Wort das in den neu- persischen Quellen gebrauchte Adarän-Feuer zu suchen, denn seine Ver- wendung ist doch hier anders als in Mx. 53, 5, wo es u.a. heißt: „man muß Verehrung und Lobpreisung vor @tas 2 varhran oder vor atas 1 atarok machen.“ In diesem Zusammenhang kann es nur Adarän-Feuer bedeuten, wie es auch der neu-persische Übersetzer nimmt. (Das Päzand gibt es natürlich einfach mit @dard wieder, aber auch der Sanskrit-Übersetzer tut dasselbe, weil es damals vielleicht geläufiger war als @daran.) Jedoch der Zusammenhang in unserer Stelle erlaubt diese Bedeutung nicht. -

Daher bin ich geneigt, die Verwendung des Wortes in der mittel- persischen Glosse zum Videvdät 8, 81, 96 zu Grunde zu legen. Im Text heißt es: „als ob er 10000 (bzw. 10) Feuerbrände zum gesetzmäßigen Platz (Tempel) hinbringt.‘“ Dazu sagt die Glosse: „als ob er 10000 (bzw. 10) Feuerbrände zum Bahram-Feuer hingesetzt habe.“ Nun besteht ja die Ein- weihung und Gründung des Bahräm-Feuers darin, daß man die zu ver- schiedenen Zwecken gebrauchten Feuer läutert und im Tempel niederlegt. Auch hier handelt es sich um das Verdienst durch die Rettung oder Läuterung solcher Feuer. Daher ist die Ausdrucksweise der Glosse ganz verständlich. Bartholomae, Altiran. Wb. 319 aber hat die Stelle nicht so

1 Die Form ädaroya- ist wohl deshalb gebildet, um sie der Sanskritsprache anzupassen, ist also eine Art Sanskritismus; anderenfalls müssen wir mit der Möglichkeit einer Lesung -röy anstatt -rök rechnen.

266 J. C. Tavadia

verstanden. Er liest das fragliche Wort atarnak und deutet es als wohl- riechende Hölzer. Dieses Wort ist mir unbekannt, und wenn es ein solches Wort geben sollte, so paßt es doch gar nicht zum Verb „hinsetzen, gründen“, Es ist daher richtiger, dem Wort dieselbe Bedeutung zu geben wie die des Wortes im Text atrs.saoka-, atas 7 socak „Feuerbrand“.

Auch die Deutung des Wortes dürfte klar sein. Wenn das Wort buch- stäblich so heißen sollte, dann können wir es als @twr-rok gleich atur-rör „Feuerentzünder“ auffassen. Sollte dies aber nicht richtig sein, müssen wir es doch als bloße Umschrift des Aw. @iarö, nom. akk. pl. „die Feuer“ ansehen, was auch dem Sinne nach dasselbe ist wie „Feeuerbrände‘ und auch in den Zusammenhang vorzüglich paßt. Vgl.oben die Päzand- und Sanskrit-Lesung. Aus diesem Grunde ist es nicht nötig, das Wort als die Umschrift des Aw. @970 zu nehmen (wie ich s. Z. auch die dialektische Form äsrök dafür gelten ließ)! und es als „heiliges Tempelfeuer“ zu deuten.

Wenn es nun in unserer mittel-persischen Quelle heißt, daß das Hausfeuer zu den Feuer(bränden) des Bahräm-Feuers gebracht werden solle, muß man dann schließen, daß hier die Rede nur von einem Tempel und zwar dem des Bahram-Feuers ist, oder muß man es, um den neu-per sischen Quellen gerecht zu werden, so auslegen: es zuerst zu dem Platz zu bringen, wo die Feuerbrände für das Bahram-Feuer liegen d.h. sagen wir zum Adarän-Feuer, und dann dies zum Bahräm-Feuer? Das letztere ist nicht nötig, denn ausgeschlossen ist es nicht, daß man in früherer Zeit keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Graden von den in Tempeln niedergelegten Feuern machte und man sie einfach Bahräm-Feuer nannte. Wie wir gleich sehen werden, hat man früher nur das Bahräm-Feuer im Gegensatz zum Hausfeuer genannt und nicht da- zwischen oder daneben erst noch das Adarän-Feuer. Erst im Laufe der Zeit machte man gewisse Unterschiede: in kleineren Ortschaften hieß wohl das nach einfacherern Verfahren gegründete Feuer ,,Adaran-Feuer* und in größeren „Bahräm-Feuer“. Daß man solche Unterschiede schon in der späteren mittel-persischen Zeit machte, geht aus einer Stelle her- vor wie: „die aiuran und atasan (Feuer), die in die Tempel gesetzt sind“? Hier steht ata$an für das Bahräm-Feuer, wie ich s.Z. aus Parallelstellen erwiesen habe®, daher steht das andere Wort für das Adaran-Feuer. Es gibt keine andere Erklärung für dieses Wortpaar, das auch in späteren Schriften vorkommt.

1 Zeitschrift für Indologie und Iranistik 10 (1935/36) 196. Der hier be- sprochene Ausdruck asrok-karpak kommt auch im Dätastän I denik 64,8 vor; West (SBE 18,198) aber hat ihn falsch verstanden.

2 Str Saxvan 6. In meiner Abhandlung darüber Sūr Saxvan: A Dinner Speech in Middle Persian (= Journal Cama Or. Inst. 29) 59 f. hatte ich an die

jetzt gegebene Erklärung dieses Wortpaares nicht gedacht. 3 Säyast-nö-Säyast 2, 46 Anm. 3.

!

)

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 267

VII.

Ganz neu und wichtig ist die Vorschrift in §§ 7 ff. „Wenn man das Feuer nicht aufliest ..., muß man Asche darauf tun, im Winter im Maß von einer Spanne und im Sommer von fünf (oder zwei?) Spannen rund- herum um die ganze (Feuer)stelle. Und ... im Sommer während Tag und:

“Nacht dreimal und im Winter während Tag und Nacht zweimal wieder aufdecken und jedesmal wieder entflammen!.. .“

Hier ist also die Vorschrift, nach der sich die Parsen in Indien haupt- sächlich richten. Wenn sie nicht mehr kochen, dann decken sie das Feuer sorgfältig mit der Asche zu; besonders die brennenden Holzscheite werden tief in die Asche gesteckt, damit sie auch am anderen Morgen noch glühend sind. In dieser Weise geht das Feuer nie aus, und geschieht es einmal zufällig doch, dann ist es eine sehr betrübende Angelegenheit. (Die Hindus aber nehmen, wie ich einmal bei meinem Brahmanen-Lehrer sah, die halb- verbrannten Holzscheite vom Herd, löschen sie mit einem Wasserguß und bewahren sie zum nächsten Gebrauch auf.) Daß die Parsen dieser Vor- schrift folgen, erklärt sich aus dem reichlichen Brennmaterial aus hartem Holz. In Iran befolgt man die andere Vorschrift, das Hausfeuer zum Tempel zu tragen, wahrscheinlich wegen leichteren Brennmaterials, das man nicht einfach durch Zudecken mit Asche längere Zeit in Glut halten kann. |

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einige Gepflogenheiten der Parsen erwähnen, die ihre Achtung und Ehrfurcht vor dem Herdfeuer zeigen. Für den Monat Adar, der nach dem Feuer genannt und ihm ge- weiht ist, nimmt man vorher die griindliche Reinigung und besondere Schmückung des Herdes vor. Dann, während des Monats, brennt man nur Holz und nicht daneben auch Kuhdung, wie man es sonst aus Spar- samkeit tut. Außerdem spendet man mehr Sandelholz und wohlriechende Spezereien und rezitiert Lobpreisungen wie vor dem Feuer im Tempel. Derlei dürfte wohl in allen Orten geschehen. Aber das folgende ist wohl eine örtliche Angelegenheit, die als etwas ganz Besonderes gelten muß: in unserem Dorf veranlaßten die Parsen durch ihren Einfluß und ihr An- sehen die Eisenschmiede, an den heiligen Tagen in diesem Monat ihr Handwerk, wodurch doch das Feuer nach ihrer Anschauung in ganz be- sonderem Maße zu leiden hat, einzustellen. Die Eisenschmiede erhielten natürlich dafür eine entsprechende Vergütung in Geld, Lebensmitteln und vor allem in Schnaps.

1 Zu der sonderbaren Verteilung siehe Tavadia, Sir Saxvan 60f. Auch hier werden das Feuer und der aSa-besitzende Mann gleichgesetzt. Und zum bemerkens- werten Ausdruck für „Asche“, wörtlich „Kleid“ (des Feuers), siehe mein Säyast-nö- säyast 2, 49 Anm. 1.

268 J. C. Tavadia

Man bemerke, daß der mittel-persische Text nichts von dem Kaltwerden- lassen des Feuers erwähnt. Aber wie man dazu kam, das können wir aus noch früheren Schriften nachweisen.

IX.

Aber zuvor wollen wir erst noch die folgende neu-persische Stelle erörtern. Es handelt sich um die Notiz in der handschriftlichen Vidévdat- Übersetzung (an der passenden Stelle 8, 81, worüber unten) Anquetils, die uns Spiegel! mitgeteilt hat. Hier werden auch die verschiedenen Zeitangaben genannt, nämlich nach dreimaligem Kochen oder nach vier oder sieben Tagen für das Hinbringen des Küchenfeuers und nach vier Monaten und zehn Tagen oder nach sieben Monaten oder nach einem Jahr für die Überführung des Adarän-Feuers zum Bahräm-Feuer. Er gibt sogar den Namen jama adar als Erklärung oder andere Bezeich- nung für Adarän. Die „Ansammlung der Feuer“ ist sicher eine passende Bezeichnung sowohl für das Wort adaran als auch für die Sache selbst.

Wir wissen nun nicht, ob Anquetil von sich aus oder von seinen Lehrern, den indischen Dasturen, oder aus einer persischen Quelle zu dieser Notiz gekommen ist. Im ersten und zweiten Falle könnte man auf das Vorhandensein der Sitte, wenigstens bis zu seiner Zeit, in Indien schließen. Aber, wie ich schon früher bei anderer Gelegenheit bemerkt habe, benutzt Anquetil wohl auch die schriftlichen Quellen eher als seine eigene Beobachtung oder mündliche Belehrung.* Jene Quelle habe ich augenblicklich nicht ermitteln können. |

Wir haben jedoch andere Tatsachen, die darauf hinweisen, daß der Ritus ebenfalls in Indien, wenn auch nicht in vollem Maße so doch in besonderen Fällen, im Gebrauch war. Unvala? gibt zwei Gelegenheiten, wo das Feuer zum Tempel gebracht wurde: 1. wenn eine Familie verreiste, 2. wenn das Feuer für die Totenzeremonien in den ersten drei Tagen ge- braucht worden war. An den zweiten Fall habe ich auch eine schwache Erinnerung, aber in dem ersten Fall weiß ich bestimmt, daß das Feuer zu einem von den Nachbarn oder Verwandten gebracht wurde. Was Unvala über das Zurückbringen des Feuers aus dem Tempel schreibt, ist mir unverständlich, ob es sich um das alte, weiter unterhaltene Feuer handelt oder um ein neues aus dem Tempelfeuer. Es sei hinzugefügt, daß in jenem zweiten Falle vielleicht nicht Aberglaube, wie Unvala andeutet, sondern die Vorschrift, das Feuer aus dem Hause, wo ein Todesfall ein- getreten ist, zu entfernen, eine Rolle spielt. Bei den anderen Zeremonien

1 Avesta-Ubersetzung 1, 154 Anm. 8. 2 Or. Lit. Ztg. 39 (1936) Sp. 86. 3 Acta Orientalia 4, 319.

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 269

wird das benutzte Feuer wieder zum Herdfeuer gebracht, woraus man es auch vorher geholt hatte. Nach der iranischen Sitte sol] auch solches Feuer, wie wir oben’ einmal gesehen haben, zum Tempel gebracht werden.

X.

Oben haben wir angedeutet, daß der Ritus mit einer Vorschrift im Awesta zusammenhängt; aber ehe ich dies etwas ausführlicher zeige, sei hier einiges über den Ausdruck für ,,Auflesen“ hinzugefügt. Sowohl die neu-persische als auch die mittel-persischen Quellen gebrauchen dafür. ein und dasselbe Wort cidan bzw. čītan (din-), also arisches či-, kay- „le- gere“. Nun kommt das Wort auch im Awesta vor und zwar in derselben Bedeutung „aussuchen, wählen“, aber nicht in Verbindung mit dem Feuer. Dies mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, weil wir doch über solch grundlegenden Gegenstand wie das Feuer sonst allerlei erfahren. Trotzdem müssen wir jenes Fehlen als Zufall betrachten und der bruch- stückartigen Erhaltung des Awesta zuschreiben. Wir können ruhig an- nehmen, daß ci-, kay- in der Bedeutung von ,,auflesen“ des Feuers in der Awestazeit im Gebrauch war.

Den Beweis dafür liefern die aufs engste verwandten Indoarier, deren Sprache dasselbe Wort in Verbindung mit dem Feuer gebraucht. Nach dem PW heißt Vei an erster Stelle „schichten, aufbauen“, im besonderen beim Bau des Feueraltars. Man beachte, daß „schichten, aufbauen“ nicht die eigentliche Bedeutung ist!, sondern die von „(ein)sammeln, belesen“, die dort auch verzeichnet ist. Man hat jene Bedeutung gewählt, um sie dem Gegenstand anzupassen. Im Grunde genommen meint vielleicht der Iranier und der Indoarier ein und dasselbe. In.einem Falle liest man das Feuer auf, um das heilige Feuer zu gründen oder zu weihen. Und im anderen Falle schichtet oder baut man einen Feueraltar, nachdem man das Feuer irgendwie aufgelesen oder entzündet hat. Der Unterschied be- steht also nur in der Übersetzungsgewohnheit, einmal hat man den Anfang, das andere Mal das Ende des Vorganges im Sinne. Selbst wenn die Sache in Indien anders sein sollte, dann beweist die Entwicklung erst recht die Altertümlichkeit des fraglichen Ausdrucks, weil die Grundbedeutung jene andere, eben „auflesen“, ist. Daß die Entwicklung oder Änderung der Angelegenheit sich auf indoarischer Seite vollzogen hat, steht im Einklang mit unseren sonstigen Beobachtungen. Wir kennen viele Sagen und Sitten, die in Indien in der veränderten Lage und unter fremdem Einfluß andere Gestalt angenommen haben, während in Iran die Ursprüng- lichkeit in höherem Maße bewahrt geblieben ist.

1 Siehe jedoch Grassmann, Wörterbuch zum Rigveda s.v. Auch in der Gujarati

bedeutet can- „bauen, richten“ (z.B. Mauer), und ebenso das seltene Hindi cina-, neben cun(t)-, cun- „suflesen‘“.

270 J. C. Tavadia

Einen anderen, mittelbaren Beweis liefert das Awesta selbst. Bekannt- lich heißt die Brücke, die zum Jenseits führt, äinvant-. Bartholomae, Alt- iran. Wb. 441,596 hat es richtig aus či-, kay- abgeleitet, ihm aber eine andere Bedeutung ,,scheidend“ gegeben, was nirgends sonst vorkommt. Es ist nicht nötig, diese Ausnahme zu machen. Bartholomae hat wohl an die Scheidung der guten von den bösen Seelen gedacht, aber wir können dieselbe Bedeutung belassen und ebenso gut an das ,,Auflesen“ der guten Seelen denken. Dies wiederum erinnert uns an die parallele Vorstellungs- weise der Läuterung und der Aufnahme in einen höheren bzw. den ur- sprünglichen Zustand des Feuers und des Menschen bzw. seiner Seele. Wenn also das Wort či-, kay- für das Auflesen der Seelen, wenigstens im Zusammenhang mit der zum Himmel führenden Brücke, gebraucht wird, so liegt es nahe, daß es auch für das Auflesen des Feuers gebraucht wurde, Wir haben nur eben leider keinen Beleg dafür in den Trümmern der alten Literatur.

Daß die Idee vom „Auflesen, Sammeln der Seelen“ sehr vertieft und verbreitet war, wissen wir jetzt, dank Herzfelds Ausführungen (Altper- sische Inschriften, 60, 168), von anderen Stellen, auch mit anderem Ausdruck, wie gar-, gleich &yslow, welche Bedeutung Bartholomae nicht verzeichnet und das Altindoarische nicht kennt. Der viel bekannte und sozusagen klassisch gewordene gäthische Vers in Yasna XXVIII 4 meint nicht, mag es noch so hübsch sein: „der ich des eingedenk bin, über die Seele zu wachen, (oder: die Seele zu erwecken, oder: daß die Seele wach sei)“, sondern: „der ich mich dafür einsetze, die Seele aufzulesen“. Die Pahlavi- Übersetzung setzt das fragliche gairé mit gard dmäna (Ort der Seligen) gleich und faßt die Stelle zwar frei auf: „die Seele in gard dmana setzt“!, was dem Sinne nach aber das Gleiche ist, und daher bedeutet auch garo dmana „Haus des Sammelns“, nämlich der Seelen bzw. deren gute Ge- danken, Worte und Taten.?

Daß gar- „sammeln, auflesen“ bedeutet, geht auch aus einer anderen Stelle klar hervor. Das gelübdeartige Gebet aus Yasna XI 17 muß doch

1 Die mp. Übersetzung hat einfach das Ideogramm von dah-; Herzfeld (Alt- persische Inschriften, 60, 168) schreibt aber stillschweigend nidth-, obwohl das erstere vollkommen genügte.

2 Auch Nyberg, Die Religionen des Alten Iran, 161, erkennt diese Zusammen- stellung an, zieht aber daraus den umgekehrten Schluß: er leitet gaire genau so wie früher garð aus gar- „singen“ ab und übersetzt: „... daß meine Seele singe“, was sicher falsch ist. Es sei auch betont, daß dies nur eine von den vielen neuen Erklärungen Nybergs ist, wonach er Zarathustra zu „einem berufsmäßigen Eksta- tiker“, einem singenden (und vielleicht auch tanzenden) „Derwisch“ macht (S. 265)! Keinesfalls will ich die nützlichen Einblicke, die er uns in diesem Werke gewährt, verkennen, aber unmöglich kann man seine übertriebene, einseitige Gesamt- auffassung als richtig anerkennen. Vgl. auch in diesem Heft O. Paul, S. 228 ff. und W. Wüst, S. 234 ff.

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 971

' nach meiner Meinung heißen: „ich setze mich dafür ein, zu ergreifen (von „auflesen“ und nicht von „preisen“ her) alles, was gut gedacht, gut ge- sprochen und gut getan ist: (im Gegensatz zu) ich setze mich dafür ein, abzuwehren alles, was übel gedacht, übel gesprochen, übel getan ist“.

Auch Mani hat sich als Iranier diese iranische Vorstellung vom „Seelen- auflesen“ zu eigen gemacht und ihr Ausdruck verliehen durch jenes erste Wort cidan: ravan cin heißen die fünf Engel, die die Seelen auflesen, um sie, wie aus dem kosmologischen Zusammenhang zu schließen ist, dem Himmel zuzuführen. Ebenso heißen auch die frommen Menschen, die die eigene Seele oder auch die ihrer Mitmenschen sozusagen läutern und auf- lesen zur Rückkehr zum Urlicht.!

XI.

Wenn nun auch der technische Ausdruck fiir das Auflesen des Feuers im erhaltenen Awesta nicht vorkommt, scheint die Technik selbst jedoch dort angegeben zu sein. Man hat nur die dunkle Stelle, Videvdät VIII 75 nicht aufklären können. Der folgende Versuch würde dieser Technik Rechnung tragen.

„Mit den beiden Flammen aus dem (unreinen) Feuer sollst du Hölzer zum Entzünden bringen, entweder (yat va) die Reiser, die Feuersamen enthalten (d.h. leicht brennbar sind) oder . . . (yat va der Rest fehlt); man soll (vorher)? das Feuer durch Herausziehen des feuerausstrémenden (d.h. brennenden) Reisigs zerteilen und zerstreuen, damit es aufs schnellste ausgehe.“

Bartholomae, Altiran.Wb. 954 hat zwar das fragliche Wort banuwe und seine Form richtig erklärt, aber für die Stelle als nicht passend erachtet, weil er frasaocaya- als „außer Brand setzen, zum Verlöschen bringen“ auf- faßt (a.a. O. Sp. 1549). Für diese gegensätzliche Bedeutung, die doch nirgends sonst vorkommt, auch im Sanskrit nicht sehe ich keinen Grund. Wenn wir dieses normal auffassen und für jenes statt „Strahlen“ „Flammen“ nehmen, die man aus dem Feuer auffängt, dann ist das Wort doch ganz passend. Der Dual läßt sich dadurch erklären, daß die Flamme von den zwei Priestern, die in Verbindung (paivand) bleiben, aufgefangen wird?

1 Siehe z.B. Müller, Handschriftenreste... aus Turfan II 38f.: Andreas-Henning, Mitteliranische Manichaica II 17.

3 So oder ähnlich wegen der späteren Vorschrift und jetzigen Sitte; die Ver- derbnis der Stelle allein aber berechtigt uns dazu nicht; das Naturgemäße ist doch wohl „hinterher“, d.h. nach der erst genannten Maßnahme.

8 Auch die germanische Sitte bei der Entzündung des Notfeuers verlangt zwei Brüder oder sogar.Zwillingsbrüder, siehe Huth, Janus 76. Man bemerke, daß das neue Feuer nicht nach der alten indogermanischen Art durch Reiben von zweier- lei Holz gewonnen wird, weil hier eine andere Anschauung oder Angelegen- heit im Spiele ist.

272 J. C. Tavadia

oder daß, wie es unten im Kommentar heißt, sie „von vorn und von hinten“

oder sonst irgendwie aber zweimal aufgefangen werden soll. Meine anderen Abweichungen, die sich dann von selbst leicht ergeben, brauche ich hier nicht zu erörtern.

Auch das folgende (§§ 76—78) kann man dem späteren Ritus gemäß so auffassen: die neun Bündel wurden in derselben Weise, und zwar der Reihe nach, einer aus dem anderen, entzündet und gelöscht. So wird das Feuer durch die neunstufige Läuterung (wie der Mensch durch die neun- stufige sogenannte BaraSntim-Zeremonie) ganz rein, und wenn man nun, wie es heißt (§§ 79—80), wohlriechendes Holz darin verbrennt, so hat das Feuer volle Kraft, das Böse zu tilgen.

Anschließend (§§ 81—96) wird erzählt, wie hoch das Verdienst sei, -wenn man das benutzte Feuer (es sind hier sechzehn Arten genannt) zum gesetzmäßigen Platz bringt, wohl in der eben beschriebenen Art und Weise. Das letzte von den sechzehn Feuern wird gewöhnlich als das Haus- feuer angenommen, aber die Ausdrucksweise sowohl im Text als auch in der Glosse ist nicht ganz eindeutig. Dort steht nazdista- „das (aller)nächste“ und hier Sapastan „Nachtlager“ (welches auch „königlicher Palast“ heißt). Damit kann man schon ursprünglich Hausfeuer gemeint haben, und es ist nicht die moderne Einsetzung für etwas anderes wie bei einigen an- deren Feuern.

XI.

Wenn aber dies zweifelhaft sein sollte, kann ich auch auf eine sichere Stelle hinweisen, die von der Läuterung des Hausfeuers spricht, nämlich auf den mittel-persischen Kommentar!.zu $78, d.h.also in dem Zusammen- hang der Läuterung des erst genannten Feuers.

„Das Hausfeuer? muß man von vorn und von hinten (?) aufnehmen (d. h. in üblicher Weise auflesen und nacheinander von Platz zu Platz legen). Wenn (alle diese Bündel) mit einem Male erkalten (= ausgehen), dann ist es erlaubt. Wenn (aber) das zweite eher als das erste erkaltet (= ausgeht), dann soll man das dritte zurück zum zweiten bringen, und anstatt der zwei (Zahlen) muß man es auf eine Zahl bringen (d. h. das

1 Diese Kommentare (voller Auslegungen und Zusätze) sind sehr wichtig; darauf beruhen die späteren sogenannten Riväyat und auf diesen die neu-persischen. Aber jene sind noch nicht genügend bearbeitet. Selbst die Ausgaben sind weder kritisch noch zuverlässig. Vor einigen Jahren bat der bekannte Pahlavi-Forscher B.T. An- klesaria eine Umschrift und Übersetzung des ganzen Pahlavi Vidévdat für Cama Or. Inst. angefertigt, aber für die Veröffentlichung solcher wichtigen Arbeiten hat man dort leider kein Geld.

* Es ist kein Zweifel, daß atas i kataktk „Hausfeuer“ meint, katakik „Haus bezüglich“. An katak, das aber als Glosse zu ul dast, Aw. uedana- , Aufban“, § 74 erscheint und auch im Kommentar dazu wiederkehrt, haben wir hier nicht zu denken, obwohl es dasselbe Wort ist.

Se, fe

Fe

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 273

‘dritte Bündel noch einmal machen).“ Es werden dann kasuistische An-

gaben über Kaltwerden und Töten des Feuers gemacht, und daraufhin heißt es weiter: „in bezug auf das Varhrän (Feuer) ist es nicht klar (ob jene Angaben gelten oder nicht)“.

XII.

Es ist von höchster Wichtigkeit, daß der Kommentar auch von dem Erlöschen des Bahräm-Feuers (natürlich bei seiner Läuterung) Andeu- tungen macht, denn es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß man auch dieses Feuer erneut geläutert und geweiht haben mag. Damit wollte man vielleicht sicher gehen oder ibm immer neue Kraft und Macht hin- zufügen. Dies bedeutet, daß auch das Hausfeuer in Wirklichkeit nicht als unrein, sondern höchstens als ausgenutzt gedacht wurde, und eben diese Idee der Verstärkung war der Antrieb und Ursprung des Ritus.

Diese Anschauung erklärt auch die nicht richtig verstandene Sitte, daß der Priester die große Reinigungszeremonie, das Bara5nüm, an sich vollzieht. Man wundert sich einfach, daß der reine Priester so etwas tue; diese Zeremonie sei doch nur für den gefährlich unrein Gewordenen, für den Infizierten, gedacht, aber, so meine ich, der reine Priester, der auch eigentlich „der Feuerhaltige“ (adarvan-, @$ravan-)! heißt, braucht, ebenso wie das reine Feuer (afar), Auffrischung seiner heiligen Kräfte, damit des heiligen Amtes gewaltet werden kann. Aus derselben Anschauung verstehen wir auch, warum der Priester die Hauptzeremonie, Yasna, regelmäßig wiederholen muß, wenn er bei dem Bahräm-Feuer und an- deren höheren Ämtern dienen soll.

XIV.

Zweitens ist in unserem Kommentar das Hausfeuer, das auch geläutert und geweiht wurde im Gegensatz nur zum höheren Bahram-Feuer gesetzt. Von irgend einem anderen gegründeten Feuer wie Adarän-Feuer ist nicht die Rede. Noch deutlicher uud aufschlußreicher ist die Glosse zu $80. Wenn wir dazu noch seine dreistufige Läuterung inbetracht ziehen, die auch für das spätere Adarän-Feuer notwendig ist, können wir gleichzeitig den Zusammenhang und die Entwicklung erkennen.

ı Nach Bartholomae, Altiran.Wb. 66 sind Herkunft und eigentliche Bedeutung dieser Bezeichnung dunkel, aber sonst wird jene Bedeutung angenommen. Sie paßt auch vorzüglich Yast I 12, wo das Wort und der Superlativ davon als Namen Ahura Mazdas vorkommen, denn seine Feuernatur ist z.B. in kosmogonischen Pahlavi- Texten ganz klar ausgesprochen; siehe Tavadia, „Middle Persian Evidence for the Avestan Conception of Fire“ in Studia Indo-Iranica, Ehrengabe für W. Geiger, 238 ff. Dazu siehe auch die Stelle auf S. 266, Anm.1.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 2 18

274 J. C. Tavadia

Diesen Punkt will ich hier nur kurz streifen. Ursprünglich. genügte

wie bei den anderen indogermanischen Völkern das Haus- oder Herd- "feuer als Gegenstand der Verehrung, weil schon das Haus und die Familie allein eine große Einheit bildeten, auf deren Schutz und Gedeihen zunächst es besonders ankam. Daneben bestand, wenn nicht gleichzeitig, so doch bald darnach, ein anderes sozusagen allgemeines Feuer, um eine noch größere Einheit, einen ganzen Ort, zusammenzuschließen und die Gemeinschaft zu symbolisieren.! Erst im Laufe der Zeit fing man an, das letztere in verschiedene Grade zu teilen je nach der Methode der Weihung und Grün- dung, und selbst diese Methoden erweisen sich als später und starker Ausbau der einfachen Regeln nach priesterlicher Auslegung, bedingt durch den einen oder den anderen Grund.

Es ist begreiflich, daß in solchem Falle in unserem Kommentar noch keine Rede von dem Hinbringen des Hausfeuers zum Adaran-Feuer sein kann, denn das letztere war als überflüssig noch nicht vorhanden, weil

das durch dreistufige Läuterung geweihte Hausfeuer als das ursprüng- |

liche dessen Funktion ausübte. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß dieses Hausfeuer zum Bahräm-Feuer gebracht wurde, wenn nicht täglich oder ` öfter, dann wenigstens am Jahresende, wie wir gelesen haben. Sonst fand

die Läuterung und Weihung im Hause statt und galt wohl als tägliches |

Sakrament, das wir in der späteren Zeit in seinem Ersatz, in dem Ritus des Hinbringens des Hausfeuers zum Adarän-Feuer, wiedererkennen.

XY.

|

|

Wo aber kein solches Sakrament gedacht ist, muß der Ritus folgen-

den Sinn haben: einerseits muß man jedes Feuer sozusagen befreien und es zum gesetzmäßigen Platz, zum Tempel hinbringen. Um dies genau und

1 Zu dieser Frage verlangt man vielleicht die Heranziehung der bekannten '

drei Feuer aus dem Indoarischen. Aber ihre Beschreibung (Hillebrandt, Ritual- Literatur 105ff., Oldenberg, Religion des Veda? 347 ff.) läßt m. E. keinen Zweifel zu, daß sie ganz anders entwickelt sind und daher keinen Vergleichspunkt bilden. Hillebrandt (S. 14) verweist auf ihre Erwähnung im Rgveda, obwohl für sie eine andere Erklärung gefunden worden ist (S. 109), nämlich von Koulinkovski, Les trois feux sacrés du RV. (Rev. de l’hist. des Rel. 20. 151 ff.). Diese Auffassung liegt den iranischen Feuern näher, denn darnach sind sie einfach das Hausfeuer (gar- hapatya), das Kommunalfeuer (viSpatz) und das gesamte Kommunal- oder Volks-

| (

feuer (vatsvanara). Man denke aber nun nicht, daß meine These von zwei an- |

statt drei Feuern hinfällig wird. Im Gegenteil, sie wird sogar gestützt, denn das dritte und höchste Feuer konnte es doch nur einmal im ganzen Land oder Reich geben; für die Bevölkerung im allgemeinen kommen also nur zwei Feuer in Frage, das Hausfeuer und Varhrän oder Bahram genannte Ortsfeuer, und daher ist früher nur von diesen beiden die Rede. Das dritte war besonders eine rein

königliche Angelegenheit und kein anderer Fürst z.B. durfte es gründen. Dazu

siehe Tavadia, Or. Lit. Ztg. 1983, Sp. 568f.; 1935, Sp. 247.

Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran 275

vollkommen zu erfüllen, wartet man, bis der Herd erkaltet ist, damit auch keine Spur vom Feuer unbefreit bleibe. Andererseits, wenn das Feuer seine Tätigkeit beim Kochen genau so wie bei anderen lebens- notwendigen Zwecken getan hat, kann man es doch nicht nutzlos weiter- brennen lassen, man muß es löschen. Aber, wie wir schon gesehen haben, darf dies nicht sorglos geschehen, sondern sorgfältig, d. h.in zeremonieller Art, und das ist unser Ritus. Wenn das Feuer so gelöscht wird, dann ist das keine sündhafte Verlöschung, sondern sozusagen Befreiung von der Ver- löschung, insofern als es zum Feuertempel gebracht wird, wo es gleichsam zu neuem und höherem Leben gerufen wird wie der Mensch nach dem Tode. Und schließlich kann auch die Sitte, selbst das Adarän-Feuer, also das geweihte Tempelfeuer, zu löschen und neu zu entzünden, ähnlichen Sinn haben: es wird dadurch in den höheren Stand erhoben. Aber wenn wir bedenken, daß der Zeitpunkt dieser Handlung in den allerhöchsten, den Toten zugedachten Feiertagen am Jahresende lag, erweist sich die Sitte als Rest eines Ritus des indogermanischen Wintersonnenwende- Neujahrsfestes. Diesen Ritus hat Otto Huth in seiner Schrift Janus S.70ff. behandelt und erhellt, besonders in bezug auf das römische Vestafeuer und germanische Notfeuer!, und daraufhin hat Hertel ihn aus dem Indo- arischen nachzuweisen versucht (Das indogermanische Neujahrsopfer im Veda, besonders S. 45f., 51ff., 124ff.)? Huths lehrreicher Schluß lautet: Dioskurenmythos ist der Kultmythos des Wintersonnenwende-Neujahrs- festes, wobei die Jünglinge das Sonnenfeuer neu entzündeten (S. 84), um die Erneuerung des Weltbeginnes darzustellen (S. 89). Und ebenso kann auch der iranische Ritus gedeutet werden, denn nach den iranischen kosmogonischen Texten ist die Welt aus dem Urfeuer oder Urlicht (asar rosnih) geschaffen.? Es ist nicht ohne Nutzen festzustellen, da8 ein Rest des indogermani- schen Neujahrskultes auch noch bei einem Gebirgsstamm an der indo-irani- schen Grenze, der erst vor kurzem zum Islam bekehrt wurde, vorhanden ist. Man beachte die folgende Beschreibung aus Sir George Robertson, The Kafirs of the Hindu-Kush, 583: „Giche, New Year’s Day. The sur- rounding Musalmäns call this the Käfir Eed..... At the first glimpse of

dawn on the morning of the 17th [January], in spite of a heavy snowstorm,

men and women issued from every house carrying torches of pine-wood, .and marched up the hill crying ‘Sich, Sich’, and deposited their brands

1 Die griechische Sitte auf der Insel Lemnos enthält einen besonderen Ver- gleichspunkt: das neuntägige Totenfest am Jahresende (S. 71), im Iranischen ist es zehntägig; für das Römische und Germanische siehe S. 91. Alles dies wird auch für die Frage des ersten Monats im iranischen Kalender wichtig sein.

2 [Für eine Kennzeichnung dieser fragwürdigen Veröffentlichung vgl. meine Bemerkungen, oben 98°. W. W üst]

3 Siehe z. B. den auf S. 273, Anm. 1 genannten Aufsatz des Verf.

18*

276 J.C. Tavadia: Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran

in a heap in front of [the goddess] Dizane’s shrine. The blaze was in- creased by ghee being thrown on the fire.“ Der fragliche Ausruf

bedeutet „brenne, brenne“, arisch <<) suc „brennen“,

Besprochene Stellen, Wörter und Sachen

Awestisch: . bänuwe (XI V. VII. 75 ff. (XI) frasaotaya- (XI) Y. XI. 17 (X) Mp.: XXVII. 4 (X) ätarök, ätur-(r)ök (VID Mittelpersisch: brah (8.257, Anm. 1) Mx. 58.5 (VII) Np. (Parsi): PRiv. 115. 12 ff. (VII, VIII) baräh (S. 257, Anm. 1) PV. 8.78 Kom. (XII) bed (, 257, , 1) 8. 81, 96 (VID burah (, 257, , 1) PY. 28. 4 (X) das(a)n (, 257, 1) Sur Saxvan 6 (S. 266, Anm. 2) zör („ 258) Sn 20. 15ff. (S. 262, Anm. 3) Neupersisch: Adarän-Feuer in Indien (III, IV) Riv. I. 67. 8 f. (VI) n in Iran (II. IV) 72. 8f. (II, Anm. 1, 3, 2) Auflesen des Feuers (3.258, Anm. 2. XI) Sd. 49 (D) Š der Seelen (X) Bahräm-Feuer (IV, XIII) Aw. ‚| Dädgäh-Feuer (IV) adarvan- (XIII, Anm. 1) Feuergrad (XIV, Anm. 1) ädravan- (XIII, Anm. 1) Feuerpriester (XII) gar- (X) Haus- oder Herdfeuer (II, VIII, XI) garo. dmana- (X) Indogermanischer Neujahrskult (XV) či- (X) Löschen des Feuers erklärt (XV) &invant- (X) Totenfest (XV, Anm. 1) Inhaltsübersicht

1. Auflesen des Feuers nach dem Sad-dar. 2. Nähere Angaben darüber aus dem Rivayat: Hinbringen des Herdfeuers täglich oder zu verschiedenen Zeitpunkten nach dem Adarän- oder Tempelfeuer und dieses während der den Manen geweihten Festtage am Jahresende nach dem Bahräm- oder höchsten Tempelfeuer, ihr Erlöschen und evtl. Vermischen mit dem höheren Feuer. 8. Polemik der Parsen-Priester in Indien dagegen. 4. Gründungszeremonie des Tempelfeuers in Indien und Iran.. 5. Weitere Belege und Erklärung für das Erlöschen des Feuers. 6.. Aufnehmen der Flamme beim Auflesen des Feuers. 7. Mittelpersischer Beleg dafür. 8. Wechselweise Vorschrift zur Hütung des Feuers: Zudecken mit Asche; diese und andere Gepflogenheiten der Parsen in Indien. 9. Spuren der ersten Vorschrift unter ihnen. 10. Ein und derselbe Aus- druck für Feuer- und Seelenauflesen. 11. Awestischer Nachweis des Ritus durch neue Erklärung der dunklen Stelle, Videvdat VIII 76 ff. 12. Nähere Angaben aus dem mittelpers. Kommentar zu § 78, 13. Erlöschen und Neuentzünden des Bahräm-Feuers, verglichen mit der Wiederholung der Reinigungszeremonie über dem Priester: nämlich zur Auffrischung ihrer heiligen Kräfte. 14. Ursprünglich nur ein Ortsfeuer im Gegensatz zum Hausfeuer wie bei den anderen indoger- manischen Völkern. 15. Erklärung des Ritus und seine Beziehung zu dem des indogermanischen Neujahrsfestes. Stellen-, Wörter- und Sachverzeichnis.

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Franz Dirlmeier: Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 277

APOLLON,

GOTT UND ERZIEHER DES HELLENISCHEN ADELS

VON FRANZ DIRLMEIER IN SCHLIERSEE, OBB.

Die Dinge, von denen ich zu Ihnen sprechen darf, sind vor mehr als 21/ Jahrtausenden im Süden Europas von den Bewohnern des Landes Hellas gedacht, sie sind in Dichtung und bildender Kunst dargestellt und gläubig verehrt worden. Ob ein Bedürfnis, vielleicht eine Notwendigkeit bestehe, heute von dem zu sprechen, was vom 8. bis zum 4. vorchristlichen Jahrhundert Wirklichkeit gewesen ist, das muß dieser Vortrag! ganz Ihrem Urteil überlassen. Gestatten Sie, daß ich dem eigentlichen Thema ein paar Bemerkungen vorausschicke.

1. Em griechischer Gott ist keine starre, unveränderliche Größe. Je eindringlicher die Anfangsvorstellung von der Wirkungskraft einer Gott- heit ist, desto mehr Wirkungsmöglichkeiten erkennt der Glaube des Volkes dem Gotte zu. So gibt es einen Apollon der Schiffahrt, der Berges- höhen, der Rinderherden, der Vegetation und der Feldmäuse?; ja auf der Akropolis von Athen stand eine Meisterbronze des Phidias: Apollon, der Vernichter der Heuschrecken’. In die Sprache der Handbücher übersetzt heißt das: es gibt viele Apollines. Aber nicht davon soll die Rede sein, sondern ich bitte Sie, mir das methodische Zugeständnis zu machen, die höchsten Aussagen zu prüfen, deren das hellenische Volk über seine Götter fähig war, die Gestalt zu prüfen, die der Dichter durch das künstlerische Wort seinem inneren Gefühle verliehen hat. Ä

2. Apollon war in dem Zeitraum, den wir wählen, kein Sonnengott. Wer dies behauptet, setzt sich mit den gesamten Tatsachen der Über- lieferung in Widerspruch. Was der Beiname Phoibos, Phoebus bedeutet, weiß auch heute kein Mensch.‘ In einer Komödie des Jahres 421 v. Chr. sagt ein attischer Bauer zu dem Gotte Hermes: wir Hellenen verehren die olympischen Götter, die Barbaren dagegen Sonne und Mond.’

1 Vortrag, gehalten am Donnerstag, 24. Aug. 1989, bei den „Salzburger Wissenschaftswochen“, veranstaltet vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, sowie von der Forschungs- und Lebrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“.

3 Zu ouıvdeög kann ich nichts Neues beibringen. Der Verweis auf den Mysing der Edda von A. H. Krappe (ARW 38 [1936] 40—56) ist wichtig.

3 *Axdlioy Ilcgvömıos: Pans. 1, 24, 8. ?

* Auch die Deutung von W. Schmid, Dolßos "Ando , ARW 22 (1923/24) 217—228: Bolßog = Doßos, überzeugt nicht:

5 Aristophanes, Pax 410: isis piv opiv Odopusy, toóroici è? oi Paoßapoı Séover. Genau stimmt damit überein Plato, Crat. 897 cd. Die vielbesprochene

278 Franz Dirlmeier

3. Sie erwarten vielleicht von mir, daß ich die Frage löse: war Apollon in den allerletzten Ursprüngen seines Wesens ein urhellenischer Gott oder war er ein Kleinasiate? Genauer: war er vielleicht ein Anatolier? Denn die kleinasiatische Küste war ja schon lange hellenisch geworden: sie ist die Heimat des homerischen Epos. Wir können zunächst sagen: ungriechische Herkunft ist möglich; denn auch Apollons Mutter und Schwester, Leto und Artemis, tragen Namen, die aus dem Griechischen nicht erklärbar sind. Und eine so urhellenisch anmutende Göttin wie Athene, die Herrin der Akropolis, ist im 2. Jahrtausend eine kretisch- minoische Schild- und Hausgöttin gewesen. Ein ernstes, wenn auch nicht unwiderlegbares Argument ist die Tatsache, daß dem Apollon der 7. Tag des Monats, also der babylonische schabattu heilig war.! Ferner kämpft der Gott bei Homer für die Troer, also auf der Seite der den Griechen feindlichen Barbaren. Aber: wenn man schon nach Osten geht, so kann uns nicht verwehrt werden, gleich bis Indien zu gehen und dort gibt es z.B. den furchtbaren Gott Rudra, der den Bogen trägt und Krank- heit und Tod sendet, genau so wie Apollon. Dann wäre Apollon also Indogermane. Wenn er den Troern hilft, so darf nicht übersehen werden, daß bei Homer die Troer als griechische Menschen geformt sind, und gerade die höchste sittliche Gestalt, die Homer geschaffen hat, Hektor, der für seine Heimat sterbende Held, eine Gestalt der „Gegen- seite“ ist. Ferner: sollte Apollon Kleinasiate sein, so ist er noch lange nicht Orientale.. Denn: einmal ist der Begriff „kleinasiatisch“ in seiner rassischen Grundlage noch nicht recht faßbar nur so viel darf man sagen: „kleinasiatisch“ ist nicht „semitisch“ und außerdem: im 2. Jahr- tausend ist Kleinasien bereits Einwanderungsland für nordische Stämme. Wenn z.B. Troia bei Homer auch Pergamos heißt, so ist dies wahrscheinlich nichts anderes als nhd. bergen, Burg? Der Gott Dionysos ist sicher ein thrakisch-phrygischer, also ein nordischer Gott, aber in den Mänaden des Euripides kommt er aus Baktrien und Arabien. Vieles deutet darauf,

Anbetung der Sonne als Apollon durch Orpheus (Aeschylus, fr. 841 N?) ist von Wilamowitz (Gl.d.H.11135) überzeugend geklärt. Noch in der Mitte des 4. Jahrh. (Plato, Legg. 945e) haben Apollon und Helios einen gemeinsamen Hain, aber es sind eben zwei Götter, nicht einer.

ı M.P. Nilsson, Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollon und der Orient, ARW 14 (1911) 423—448 (Auch später hat N. mit gewichtigen Argumenten an den Erkenntnissen dieses Aufsatzes festgehalten).

2 P. Kretschmer, Nord. Lehnwörter im Altgriechischen, Glotta 22 (1984) 100—122, bes. 113. Wilamowitz, Die Dias und Homer, Bin. 1916, 285: Apollon schaut herab von Pergamos. Eine „hauchdünne“ griechische Schicht in vor- homerischer Zeit in Lykien, also im Lande des Avxnyevijs? Darüber Kretschmer zuletzt, mit Verweis auf die ablehnende Haltung F. Sommers, in Glotta 28 (1939) 101 („Die Stellung der lykischen Sprache“).

3 Bacchae 15.

Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels | 279

daß die Hethiter, also ein innerkleinasiatisches Volk des 2. Jahrtausends, genauer dessen indogermanische Oberschicht, den Apollon kannten. Wenn aber dann der an sich schon unsichere Name Apulunas mit bab. abullu, d.h. Tor, erklärt wird!, Apollon also zum Gott des Stadttores in Form eines Steinkegels gemacht wird, so mag es allerdings erlaubt sein, gegen- über allem Hethitischen die zur Zeit noch angebrachte Reserve zu üben. So wollen wir zunächst die Frage nach der Abstammung zurückstellen und zwei Feststellungen treffen. Einmal: die größte Bereicherung er- fahren wir nicht dann, wenn es uns bei der Analyse der Apollongestalt gelingt zum Fetischismus vorzudringen, denn da verschwindet dann jeg- liche Gestalt: Fidschi-Insulaner und Grieche stehen auf der gleichen Stufe. Und ferner: die Griechen wußten bereits selbst, daß sie manches von den Barbaren übernommen hatten, aber im Vollgefühle ihrer verwandelnden Kräfte haben sie im 4. Jahrh. den Satz geprägt: „Was immer die Hellenen von den Barbaren empfangen, das arbeiten sie um zu edlerer Endform.“?

Nun sind wir bereit die älteste uns zugängliche Formung eines un- zweifelhaft griechischen Apollonbildes zu sehen: den Apollon Homers. Wie jede Szene und jede Einzelheit des Epos, so ist auch die Gestalt des Gottes klar umrissen. Nur muß uns immer gegenwärtig sein: das homerische Epos ist nicht eine religiöse Urkunde im strengen Sinn. Das sind Lieder für den Adel, vorgetragen vor hellenischen Festversammlungen.? Das ist das Leben des edelgeborenen Griechen, hinaufgehoben in eine höhere Wirklichkeit, von einer „höheren Glorie“ umflossen. Darum kann Zeus, der Vater der Götter und Menschen, so menschlich dargestellt werden: wie er den Gott Hephaistos aus dem Olymp schleudert, daß er einen ganzen Tag herniederstürzt, wie er mit Hera streitet, oder wie Hera ihn berückt und ihm eine erhabene, menschlich-göttliche Liebes- stunde schenkt. Nur ein Gott wird nie von der göttlichen Leichtig- keit dichterischer Phantasie hineingezogen ins allzu Menschliche: das ist Apollon Er trägt den Bogen, er ist der Fernhintreffer, der er-

. 1B. Hrozný, Les quatre autels ,hittites* hiéroglyphiques d’Emir Ghazi et d’Eski Kiöla, et les divinités Apulunas(?) et Rutas, Arch. Orientální 8 (1936) 171—199. Dazu (wie auch zu lydisch pAdäns) die sehr zurückhaltende Bemerkung von F. Sommer, IF. 56, 176, Anm. 2. Dort auch über Ardiiov und thessalisch “Axiovy. E. Forrer, Apollon, Vulkanus und die Kyklopen in den Boghazköi- texten, Rev. Hitt. et As. 1 (1981) 141—163.

2 Epinomis 987 d: Strinse dv "Elinves BaePcowy maeaidBact, xækkiov todto sis télos dnsoyakovrat.

3 W. Schadewaldt, Iliasstudien (= Abh. d. phil.-hist. Kl. der sachs. Akad. d. Wiss. 43, 6 [1938] 168).

4 A 590f., 586f, = 292f.

5 $ 833—342 ist kein Gegenbeispiel. Der Scholiast merkt an: vewregıxövV yae to pedvnpa. Und selbst noch auf dieser Stufe einer äußersten dichterischen 6ardwule« wäre es wohl unmöglich, etwa Frager und Antworter zu vertauschen.

280 Franz Dirlmeier

barmungslos tötet.! Er stürmt den Troern voran zu Wall und Lager der Achier: leicht tritt er mit den Füßen die Ränder des Grabens ein und wirft sie mitten in den Graben, so daß eine Brücke entsteht, über die die Troer stürmen. Er stürzt die Mauer um, wie ein Kind am Sandstrand des Meeres baut und dann mit Händen und Füßen alles wieder einebnet.? In furchtbar schrecklicher Gestalt tritt er dem Freunde des Achilleus, dem Patroklos, entgegen, von dunklem Nebel umhüllt. Er schlägt ihn zwischen die Schultern, er stößt ihm den Helm vom Kopfe und reißt ihm den Panzer herab.? Das ist ein Gott der Urzeit, eine geradezu vor- menschliche Wildheit, durch nichts gemildert. Und doch kennt die- selbe Ilias einen ganz anderen Apollon: da ist er nicht mehr von stummer Schrecklichkeit, sondern er spricht. Hier tritt der Sänger der Ilias mit einem ganz anderen Anspruch vor den adeligen Hörer. In der Schlacht des 5. Gesanges‘ stürmt Diomedes der Hellene gegen Aeneas den Troer, obwohl er merkt (yıyv&oxwv), daß diesen Apollon schützt. Dreimal stößt Apollon den Diomedes zurück, das vierte Mal ruft er mit gewaltiger Stimme: „Mäßige dich, erhebe dich in deinem Sinne nicht zu den Göttern! Nimmer sind einander gleich das Geschlecht der unsterblichen Götter ‘und das der Menschen, die auf dem Erdboden wandern!“® Hier steht das Getümmel der Schlacht gleichsam still und zum erstenmal im Werden des hellenischen Volkes wird ein Satz gesprochen, der ein für allemal den Anspruch der Gottesgleichheit in seine Schranken weist. Zwei Welten treten hier auseinander: Apollon hat sie getrennt. Diomedes weicht zu- rück. Es muß gleich bemerkt werden: deswegen entsteht in dem adeligen Menschen Homers nicht ein Bewußtsein der hoffnungslosen Nichtigkeit, hier zerbricht nichts. Diomedes weicht nicht etwa angstvoll zurück, er versteckt sich nicht, sondern und hier enthüllt ein einziges Wort im Urtext ein volles Menschenbild er weicht zurück, turSov (Vs. 443), ein bißchen, nicht mehr als notwendig ist. Diomedes bleibt ungebrochen ganz der er war.

Dies tritt in einem anderen Zusammentreffen zwischen Gott und Mensch noch schärfer hervor. Vor dem Tode Hektors, der ja durch Achills Hand fällt, treibt Apollon ein überlegenes Spiel mit Achilleus. Er nimmt die Gestalt. eines troischen Kriegers an und läßt sich von dem heran- stürmenden Achilleus verfolgen. Er läuft in die Ebene hinaus, Achilleus

1 ’4oyvodrokog; éxarnBddos, éxnfddog sind beide unerklärt; ich habe die traditionelle Übersetzung beibehalten (Wilamowitz. Gl. d. H. I 825)

2 O 355—366. 3 JI 787—809. 4 E 431—442.

5 Vers 484: div 6 y7 &e oùðè Heöv ulyav &Eero. Durch odd¢ wird Dio- medes in den Kreis der dxdefror gestellt. Vgl. Neue Jahrbücher 1 (113) [1988] 808. “AleoPas “Axdllova = A 21.

8 Sodkeo, Tvdstdn, xal yakeo, und? Seoiocy Io Oele poovéay, nel ob xote põlov duotoy &favdrov te Pedy yauad eeyoutvay T avOedxmyv (440—42).

Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 281

immer hart?! hinter ihm her. Da halt Apollon plötzlich inne und gibt sich zu erkennen: ,,Warum verfolgst du mich, du der Sterbliche mich den unsterblichen Gott?“ Und héhnend setzt er hinzu: Inzwischen haben sich die Troer in die Stadt gerettet, „mich aber kannst du nicht töten,

‘denn ich bin dir nicht verfallen.“ Achilleus sagt in schwerem Zorn: ,,Du

hast mich getäuscht, grausamster unter den Göttern, mir meinen Ruhm genommen, du brauchst ja keine Rache zu fürchten. Und doch! wie gerne wollte ich Rache an dir nehmen, wenn ich nur dvvapic, Kraft, dazu hätte!“ So sprach er, wandte dem Gott den Rücken und eilte hohen Sinnes zurück zur Stadt wie ein siegreiches Rennpferd, leicht ‘dahin- fliegend (X 7—14). Aus der Zeichnung dieses Bildes läßt sich ohne weiteres ablesen, daß hier kein Dokument gläubiger Verehrung vorliegt; nur das Wissen um die unangreifbare Überlegenheit des Gottes tritt hervor, also eine Vorstufe, wenn man so will, zu Schleiermachers Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit, eine Erfahrungstatsache menschlichen Lebens. Aber aus diesem Apollon des 22. Gesanges ergibt sich noch kein ‚Ansatzpunkt einer Ethik, seine Größe wird durch die Kritik fast auf- gehoben: er hat Achilleus getäuscht, das war dö4Aos 604). Im Recht ist Achilleus, der Sterbliche.

Aber in der Ilias sind noch zwei Szenen geformt, die Apollon mit einer ganz anderen, fraglosen Göttlichkeit umgeben, die weit über die bloße Feststellung hinausgehen, daß seine Kraft größer ist als die des Menschen. Die eine Szene steht am Anfang, die andere am Ende der Ilias. Man wird schwerlich bestreiten können, daß durch diese Stellung eine ganz be- sondere Wirkungstiefe erreicht wird. Die Ilias beginnt mit dem Zorne des Achilleus. Aber schon nach wenigen Versen stellt der Dichter über den Zorn des Menschen den Zorn des Gottes Apollon?, gleichsam als wäre es für das gewaltige Werk nicht genügend, es aus dem Bereich

1 ® 604: Achill verfolgt ihn rurddow dsxexreoddovra’ ddim 8’ de LFelyev Andhiov, do «isl EAnoıro xıynosodaı noclv olow. Tuthdv = E 443. Eiris für menschliches Wähnen ist ein Lieblingsausdruck Pindars. Auch xıydvo ge- braucht er gern. Es ist pindarisch, wenn Apollon zu Hektor sagt: “Exrog, viv od | piv dda Béerg dxignra dıanmv: P 75.

2 A 8: tig rag opoe Pedy Lords Evvénxe ucyeoPoar; Apollons Stellung im An- fang der Ilias trat offenbar in anderen Versionen des A noch viel mehr hervor: % dt doxoüc« doyala "Ihıds, 7} Aeyoukon "Ansllınovros, wpooluov tyes toto’ „Motoas &elðo xalAndilova nAvrörobov“, ag nal Nixcvoe népyntes xad Kodıns v rols AtogParixoig. Agıoröfevos è èv a’ Teaktdapavrelwy pnol xara tıvag yev’ „Eonere viv por, uodoaı Oldunca Sopar Eyovanı, aros ù uvis ze yółoşs 9 File IInkeiova Anrots T dyAadv viov“. (Anecd. Rom. ed. F. Osann, Gießen 1851, 5). Ein anderes Epos begann: „Es war ein Orakelspruch herausgekommen, daB ... das Geschlecht des Anchises über die Troer herrschen werde. Daher vereinigte sich Aphrodite mit Anchises“ usw. (Akusilaos von Argos = F. Gr. Hist. 2 F 39).

282 Franz Dirlmeier

des rein Menschlichen herauswachsen zu lassen. Der Zorn des Achilleus wird in letzter Ursichlichkeit abgeleitet von dem Groll der Gottheit. Ein Priester des Apollon kommt in das Lager der Griechen um seine Tochter, die in Agamemnons Besitz ist, loszubitten. Die Griechen sollen das Mädchen freigeben &£öuevo: ’Anöllmvat damit ist ein Ausdruck gebraucht wir können ihn wiedergeben mit „in verehrungsvoller Scheu vor Apollon“, der mit seiner ganzen Wortsippe zu den urreligiösen Ter- mini der Griechen aller Jahrhunderte gehört hat. Agamemnon, fern von dieser frommen Scheu, beschimpft den Priester: ein Vergehen segen Apollon steht also am Anfang der Ilias der Priester betet zu seinem Gott und nun folgt die Szene, die ich mit den'Worten des Dichters selbst wiedergeben will: „Apollon schreitet herab vom Gipfel des Olymp, Zornes- mut im Herzen. Den Bogen hat er über die Schulter gehängt und den verschlossenen Köcher. Da klirren die Pfeile wie er so dahinschreitet. Er sieht aus wie die Nacht. Fern von den Schiffen läßt er sich nieder und schickt den Pfeil hinein in das Lager. Furchtbar war das Klingen des silbernen Bogens. Erst streckt er die Tiere nieder, dann die Menschen: ohne Unterlaß lodern die Holzstöße, auf denen sie die Toten verbrannten. Neun Tage gingen so die Geschosse des Gottes durch das Heer der Griechen.“? Am zehnten Tage endlich wenden sich die Griechen an ihren Seher Kalchas, der dies ist ausdrücklich gesagt ein apollinischer Seher war.’ Kalchas erklärt den Grund des Unheils und nun folgt, breit gezeichnet, die Versöhnung des Apollon durch die Griechen. Sie reinigen sich von der Befleckung durch das große Sterben und schütten die Gegen- stände und das Wasser, mit dem sie sich gereinigt haben, ins Meer. Das

ı A 21. In der Odyssee haben wir das Gegenbeispiel, daß die „fromme Ver- ehrung‘“ dem Apollon tatsächlich erwiesen wird. Den schweren Wein von Ismaros hat Odysseus von dem dortigen Apollonpriester bekommen, weil er bei der Zer- störung der Stadt den Priester und sein Weib geschont hatte: dfouevor (t 200). Auch hier handelt es sich also um einen Priester. Ed. Williger, Hagios. Untersuchungen zur Terminologie des Heiligen in den hellenisch-hellenistischen Religionen. Gießen 1922, 4f.

2 A 43—53. Nirgends tritt so klar hervor wie im A, daß Apollon Gott der Troer (Barbaren) und der Griechen ist. Der Zorn und seine Folgen sind in keiner Weise als Hilfe für die Troer charakterisiert. Chryses ist kein troianischer Priester.

3 A 72: er hatte den Schiffen der Griechen den Weg nach Troia gewiesen nv dia uavroodenv, tiv oi nops DoiBog Anoillov (dazu A 86). Der wegweisende Seher ist höchst merkwürdig. Steuermann war er sicher nicht. Hier muß ein Troia-Epes im Hintergrund stehen, wo die Fahrt mit Orakelbefragung begann (# 79—82: zrjuntog doyn) und wo auf der Hinfahrt Apollonheiligtümer besucht wurden 162—165). Die Seher im Griechenheer (bei Herodot, z. B. 7, 221) helfen nicht weiter; denn die führen das Heer nicht, sondern folgen ihm. Die athenische Semgic nach Delos beginnt, Ensıdav 6 iegeis rod ‘Andiavog orépne thy xevpvayv tod xiolov (Plato, Phaedo 58c).

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Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 283

Mädchen wird in seine Heimat gebracht, dort findet ein großes Opfer statt, und nun ein entscheidender Zug: die Griechen versöhnen den Gott, indem sie den ganzen Tag zu seiner Ehre tanzen, singen und den apolli- nischen Kultgesang, den Paian, darbringen. “O di pọéva téomer dxovwv (A 474). Apollon freut sich an den Tönen, er hat also ein inneres Ver- hältnis dazu; in Friede und Heiterkeit geht die schlimme Zeit zu Ende. Auch im Olymp schließt der 1. Gesang nach dem großen Streit zwischen Zeus und Hera mit Freude, und hier, und zwar nur hier bei Homer, ist es Apollon selbst, der die Leier spielt und den Musenreigen führt.! Was das A der Ilias uns lehrt, müssen wir bezeichnen als die Elemente einer festen Apollon-Religion, eines festen Apollon-Glaubens. Hier hat der Seher seinen Platz und der Priester, für den Apollon eintritt. Der strafende Zorn des Gottes, die Reinigungsriten und schließlich die apollinische Musik das ist ein Gott, der einen Wirkungsbereich hat wie wir ihn bei keinem der homerischen Götter von Zeus, dem Walter des Rechts abgesehen nachweisen können.? Wir verstehen, daß ein solcher Gott, der mit so furchtbarer Gewalt die verletzte Ehre seines Priesters wieder- herstellt und die Hybris des Agamemnon rächt, ohne weiteres in den Bereich der Ethosbildung eintrat. Aber noch fehlt uns aus Homer die entscheidende Urkunde. Diese liegt vor in der zweiten Szene, von der ich sprach, am Schluß der Ilias, im 24. Gesang.

Hektor, der Schützling Apollons, ist tot. In vorweltlicher Grausamkeit schleift Achilleus die Leiche Tag für Tag mit seinem Gespann um das Grabmal des Freundes Patroklos. Die Götter greifen nicht ein. Da richtet Apollon das Wort an sie: „Schrecklich seid ihr, Götter, in eurer Lust am Zerstören. Hektor hat euch immer geopfert und ihr laßt ihn liegen in solcher Entehrung. Ihr helft zu Achilleus, in dessen Seele kein Sinn ist für Billigkeit, der starr ist, wild und roh wie ein Löwe, der sich auf eine Lämmerherde stürzt. Er kennt kein Mitleid und keine Ehrfurcht vor dem

ı Die apollinische Stimmung im Zu-Ende-Gehen des A ist jetzt von Schade- waldt, Iliasst. 146—148 herausgearbeitet. Siehe Wilamowitz, Il. u. H. 317.

2 Eine kleine Beobachtung: Zu der Apollon-Erfülltheit des A paßt es, daß der Gott den von Chryse zurückkehrenden Griechen auch noch günstigen Fahr- wind sendet (479). Aber wo hat er sonst diese Funktion? (Aesch. Ag. 147 wird er angerufen, weil er der Bruder der Artemis ist; die Schwester soll keinen Sturmwind senden, der die Ausfahrt unmöglich macht). Es ist, wie wenn man: Bacchylides 3, 55 mit Herodot 1, 87 vergleicht: Dort schickt Zeus, dem diese Funktion ja auch zukommt, hier Apollon, dem sie an sich nicht zukommt, für Kroisos den rettenden Regen. Für mich ist der Schluß notwendig: Der Apollon des A ist der Gott von Delphi, nicht der von Klaros (Wilamowitz, Il. u. H. 2472). In dieser Sphäre ist die Häufung der Funktionen so selbstverständlich wie in der Odyssee für Athena. Das einmalige Vorkommen des Adjektivs fxpevog hier an der Iliasstelle (479) ist willkommene Bestätigung. Es findet sich sonst nur in der Odyssee. B 420: zoicıv È Ixuavor 00009 ta yAavaanıs Adnvn.

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Schutz- und Waffenlosen. In übermäßiger Weise trauert er um Patroklos. Das ist gar nicht mehr Menschenart, denn die Menschen haben von Natur (von der Moira) ein Wesen bekommen, das manches aushält. Er schleift die Leiche Hektors und doch ist das weder schön noch gut. Ja er ist nicht „gut“ (&yaðóç), darum verdient er unsere Mißbilligung: in seinem maßlosen Zorn schändet er sogar die empfindungslose Erde.“!

Wir stehen vor der ältesten Urkunde der hellenischen Ethik. Ein neues Menschenbild wird umrißhaft sichtbar. Die Roheit der Urzeit ist preisgegeben, die wilde Rache an einem Toten ist verurteilt, ebenso das Unmaß der Trauer um den Verlust des Freundes.” Und wenn wir in dem Satze „das ist weder schön noch gut“ die griechischen Wörter (xaAog, &yaðóç) einsetzen, so sagt Apollon: das Verhalten des Achilleus wider- spricht dem Ideal der xaloxeyedla, d.h. jener großartigen griechischen Doppelheit und Einheit von Schönheit des Leibes und Adel der inneren Form. Der Gott, der selbst im A der Ilias furchtbaren Tod sendet, ist hier der Fürsprecher einer neuen Welt- und Lebenssicht, die in einem einzigen Wort zusammengefaßt lautet „oog@eoovvn“, d. h. Haltung einer beherrschten, gebändigten Natur. Wer den delphischen Apollon-Tempel besuchte, dem rief der Gott gleichsam zu: oogpeoveı, sei ein beherrschter Mensch!* Dieser Gott ist nicht mehr nur naive Spiegelung des Daseins

1 Q 38—54, 40: ce obt? de qpotves sloly Evalaıuoı odra vonua yvapardy ev) orýðsoci, léwv È ðs you oldev. 44: Bo "Aydsds Lesov piv dxdiecev, o6d¢ oi aidas ylyvaraı. 52: ob uy of ys xcdditoy odds T ĞČueirov' uù) &yaSau neo Eövrı vessconPénuty oi Ausis (Zu aldag u. veuecıs vgl. C. E. von Erfa, Aldds. Philol. Suppl. 30 [1987] 4—43). Von dieser Szene aus urteilend darf man wohl auch die Schlußpartie des Q als „apollinisch‘‘ bezeichnen. Die großartige Ruhe des Bildes, wie Achilleus und der greise Priamos sich bewundernd gegenüber- sitzen (627—634) ist gepriesen worden. Aber auch daß Achilleus den Priamos zum Essen bewegt durch das Beispiel: „auch Niobe aß, als sie sich ausgeweint hatte“, ist ein kleiner Nebenzug, den man beachten darf. Achilleus bedient sich eines Beispiels aus der „apollinischen Ethik“: Niobe wollte Gott gleich sein (Anrot lodoxsro). Darum zürnte (yaduwevog) Apollon und bestrafte sie (605—607). Zur „Milde“ des 2: Wilamowitz, Il. u. H. 71. Ebenso Schadewaldt, Iliasst. 185, 186. Daß Apollon die Leiche Hektors schützt (18), wie auch II 666—75 (x«- Pnoov, Aoücov, yolcov, Eocov) gehört ebenfalls zu dieser „Milde“. Schön die Be- merkung von Wilamowitz, l. c. 140,2: „Noch hilft er (Apollon) selbst den Zustand, den er fordert, herbeizuführen“ (Reinheit). Man denke an die Reinigung von Delos auf Geheiß des Orakels (Thuc. 3, 104). Ausgezeichnet die Beobachtung Zenodots, daß das Apollon-Bild von II 666—683 nicht in die Ilias passe: xeedloyor yao toy &nav?i toixðra dicnxoveloPat.

2 Wie die ,Humanisierung der alten Sagenstoffe“ mit den semitischen Kultureinfliissen auf Ionien zusammenhängen soll, vermag ich aus der Bemerkung von W. Schmid, Gesch. d. gr. Lit. (1929) 79 nicht zu erkennen.

3 Plato, Charmides 164c: xal Aéyes weds rov del elsıbvra obx Milo ve 7; sopedvar. So interpretiert hier Kritias den Satz: yyadı covrdy. In der Götter- schlacht des ®, als Apollon es ablehnt „wegen der armseligen Menschen“ mit

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Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 285

griechischer adeliger Menschen, sondern hier hat sich der griechische Adel einen Gott geschaffen, der erziehen kann. Erziehung aber ist Jugend- führung und in der Tat hat bereits die Odyssee den Typus eines, wenn ich so sagen darf, apollinischen Jünglings geschaffen: es ist Tele- machos, der Sohn des Odysseus. Der Vater selbst sagt im 19. Gesang unerkannt zu der frechen Magd Melantho: Dir wird es schlecht gehen, wenn Odysseus zurückkehrt. Sollte der aber schon tot sein, so ist ja Telemachos da. Der ist bereits tüchtig „Andllwvos Exnti“. “Exyr: ist ein religiöser Terminus!: Telemachos ist tüchtig geworden durch die Anteil- nahme, Einwirkung Apollons. Hier ist also Apollon „Hovgorgöpog‘ ‘d.h. Er- zieher der Knaben und Jünglinge. Nun verstehen wir einen rätselhaften Ausdruck bei Hesiod (Th. 346): Apollon und die Nymphen xovolfovo. tovg üvdoas: das bedeutet: sie sind Erzieher der Jugend.?

Die homerischen Zeugnisse mußten deshalb mit einer gewissen Aus- führlichkeit dargelegt werden, weil Homer eine Grundlegung bedeutet. Von hier aus entsteht, wie wir bald sehen werden, eine außerordentliche Bewegung in ganz Griechenland. Zuvor dürfen wir uns aber fragen: ist also, da das homerische Epos im Kolonialland entstanden ist, die Versitt- ` lichung der griechischen Lebenssicht von Kleinasien her erfolgt? Nein, sofern darunter etwas Nicht-Indogermanisches verstanden sein soll. Denn der Apollon des A ist ja ein griechischer Gott. Wie Sie aus der Erzählung bemerkt haben, beten gerade die Griechen zu ihm und treten mit ihm in kultliche Verbindung.? Und wir wissen genau, wie griechische Künstler den Apollon des 8. oder 7. Jahrh. aus Bronze geformt haben. Die berühmte Mantiklosstatuette zeigt Apollon als den Herrn des Silberbogens, als den Gott mit wallendem Haupthaar, dessen Farbe, wie wir aus Pindar wissen, gleich war dem leuchtenden Golde.? Die kleine Statuette ist geometrisch Poseidon zu kämpfen, bezeichnet er diese seine Haltung selbst als swpeocóvn (462). Das ist hier ein Ausdruck distanzierter, gemessener Vornehmheit. Dasselbe Wort für dieselbe adelige Zurückhaltung wird ô 158 für Telemachos gebraucht, der von Apollon erzogen ist. Der Gegensatz zu smpeoodvn ist bei Homer (nur Od.) qalipoovta: 13.

1786: KA” Non wats rolog “Andliwvds ye Exnu. Tüg fort sagt Pindar f. 123 (von Aphrodite); das &éxntz Homers hat er aber nicht mehr übernommen.

2 Hesiod nennt als Erzieher an dieser Stelle auch noch die Flüsse (natürlich die Flußgötter). Dazu Preller-Robert, Gr. Myth. I* 273. 646. Man opfert den Nymphen reogela naldo» (Eur. El. 626). Medea gründet ihnen einen Altar im Heiligtum des Apollon Nomios (Ap. Rhod. IV 1218). Koveffo umfaßt natürlich ernähren und erziehen genau so wie reopn. Ob der Notiz des Certamen Hom. et Hes. 14, Hesiod sei in Delphi beim Orakel gewesen, ein historischer Kern zugrundeliegt, kann erst entschieden werden, wenn der Autor der ’Aozlg und der 'Hoicı gefunden werden sollte.

3 E. Bethe, Apollon, der Hellene (Antidoron Wackernagel 1928, 15).

« Ol. 6, 41. Abbildung der Figur jetzt am bequemsten bei H. Koch, Apollon und Apollines, Stuttg. 1930, 2.

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gebaut, d.h. klar gebaut. Dieser Gott ist ein Grieche, denn er ist unbe- kleidet; er trägt keinen Bart: er ist also jung. Es gibt demnach, wenn man an Kleinasien denkt, nur die eine Möglichkeit, daß das griechisch gewordene Kleinasien, also das Kolonialland, diesen Apollon hervor- gebracht hat. In die göttliche Leichtigkeit des Epos wäre also aus dem Boden des Ursprungslandes selbst ein neuer Ernst geströmt, ein neues Menschenbild in den Sätzen des Gottes Apollon geformt worden? Un- möglich ist das nicht von vorneherein, denn es gibt an der ganzen klein- asiatischen Küste alte Apollonkulte und Orakelstitten.1 Aber wir wissen nichts davon, ob sie in diesem Sinn schöpferische Kräfte gehabt haben. Dies wissen wir nur von einem apollinischen Orte mit völliger Sicher- heit, von Delphi, der Felsenstätte am Fuße des Parnaß im Mutterland.

Hier ist der Apollon zu Hause, der bezeichnet ist durch die Wesens-

bestimmung dyvdc, xaPaeds, der die Mordsühne verkündet und über seinen Priestern wacht. Nun ist gerade die Mantiklosstatuette geeignet, die enge religiöse Verbindung des Mutterlandes mit Kleinasien in der Frühzeit zu zeigen. Sie ist in Böotien gefunden und trägt eine Inschrift in böotischen Buchstaben, eine Weihung an Apollon in homerischer Sprache und homerischen Hexametern.? Damit ist eine enge Verbindung zwischen Kolonial- und Mutterland erwiesen. Delphi muß auch ‚drüben‘ bekannt gewesen sein. Und nun haben wir dafür drei unwiderlegbare Beweise. 1. die Ilias selbst nennt Delphi an zwei Stellen (B 519. I 405). 2.in der Aithiopis kam folgende Szene vor: Achilleus erschlägt den häßlichen

Thersites. Das ist eine Tat, die in einem nicht delphisch beeinflußten

Epos kein Problem gewesen wäre. Aber hier stehen wir in einer ganz anderen Welt. Achilleus ist durch den Mord unrein geworden. Odysseus muß ihn auf Lesbos durch Opfer für Apollon wieder reinigen. Erst dann kann er wieder in die Gemeinschaft der Griechen zuriick.‘ Das ist del-

phische Mordsühne. 3. Im 7. Jahrh. komponiert der Lesbier Alkaios ein

berühmtes Apollonlied, in dem erzählt war, wie Zeus seinen Sohn Apollon nach Delphi schickt, damit er von dort „den Hellenen d/xn und Péptc verkünde“. Ein äolischer Dichter der Frühzeit ist also von Delphi er-

1 Paus. 7, 2, 4: dd legov èv Atddporg tod Aróllovoşs xal pavralor sorie Egyusdregon 3 N xarà nv Iovoyv sooixnory. Mavrınkog w avéderne FexaBdlor Koyvporöyooı tas dexdrag’ è Boißs didor yaplFsrıav duoıFav. 3 Ebenso durch die bekannte Inschrift auf der Dipylonkanne des 8. Jahrh. (H. Hommel, Rh. M. 88 [1989] 198f.) Beide Inschriften müßten bei jeder Diskussion über das Alter der homerischen Gedichte gebührend berücksichtigt werden. Der »Kritzelvers“ auf dem attischen Gefäß ist tadellos gebaut. Typ: œ 1. 4 Text bei E. Bethe, Homer II 165. 5 Fr. 2—4 Bergk (Quelle: Himerios). Unbedingt zuverlässig. Beruft sich drei- mal auf Alkaios. Der entscheidende Satz ist: meopnredoonr« dixny xab Deu tols “Elinor.

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griffen und meldet ausdrücklich, daß nicht etwa Kleinasien, sondern das Mutterland Ausgangspunkt einer neuen Ethik geworden ist. Nun hat auch das schon erwähnte Zeugnis des Hesiod über Apollon, den Erzieher der Jugend, sein besonderes Gewicht, denn Hesiod ist ja ein Dichter des Mutterlandes, aus derselben Landschaft, in der auch die kleine Apollon- statuette gefunden worden ist: ein Böoter.

Was wir bisher von Apollon, dem Erzieher der Hellenen, die adeligen Blutes waren, erkannt haben, mußten wir, da es die Anfänge waren, zum Teil erst erschließen. Die Entwicklung tritt aber nun, vom 7. Jahrh. an, in das volle Licht der Geschichte. Bevor ich diese an ein paar wichtigen Punkten festzuhalten versuche, gestatten Sie ein Wort zu der Tatsache, daß es nun nicht mehr so sehr der Herr des Silberbogens ist, der ganz Griechenland mit seiner Wirkung erfüllt, sondern ein Gott, der durch eine ekstatische Priesterin Orakel verkünden läßt. Die mir zur Verfügung stehende Zeit erlaubt es nicht, die vielen Probleme, die mit dem Orakel von Delphi verbunden sind, auch nur anzudeuten. Das Orakel ist in der Tat etwas Merkwürdiges; es hat keinen Sinn darüber hinwegzugehen. Man denkt natürlich an den Orient. Und wirklich erzählt ein alter Hymnus!, daß die delphischen Priester zwar nicht aus dem Orient, aber aus dem orientnahen Kreta gekommen seien, also nicht autochthone Griechen waren. Und doch wäre es, wie ich glaube, verfehlt, bei dem Worte Mantik, Orakel, sofort an die altbabylonische Leberschau oder dgl. zu denken. Mantik scheint zu den Urformen der Verbindung mit einem übermenschlichen Bereich zu gehören. Sie findet sich bei vielen Völkern, darf also gerade nicht als die wesentliche Leistung eines ganz bestimmten Volkes in Anspruch genommen werden.? Wir haben im 2. Jahrtausend bei der indogermanischen Herrenschicht der Hethiter ein ausgebildetes Orakel- befragungswesen, das in vielem ganz überraschend an Griechenland er- innert. Und wer etwa diese Mantik aus Babylon ableiten zu müssen glaubte, der wird doch vor einem bedeutenden Hindernis stehen, falls er dies auch bei der Mantik der Süd- und Nordgermanen versuchen wollte. Ein Blick in jede germanische Religionsgeschichte zeigt, wie bedeutsam das Be- fragungswesen bei unseren Vorfahren entwickelt war“, und wer will an

1 Hymnus in Ap. 388f.

2 Auch der vielbesprochene delphische Omphalos ist doch wohl „international“, er ist sogar bei den Germanen. Siehe W. H. Roschers Omphalosarbeiten: 1. Abh. d. ph.-hist. Kl. d. sächs. Ak. d. W. 29 (1918) 2. Ibid. 31 (1915) 3. Ber. über die Verh. d. sächs. Ak. 70, 1918.

3 Gut orientiert G. Furlani, Mantica hittita e mantica etrusca. Studi etruschi 10 (1936) und besonders Idem, La religione degli Hittiti, Bologna 1936, 149—179.

‘Jan de Vries, Altgerm. Religionsgeschichte (in Pauls Grundriß d. germ. Phil. 12, 1 u. 2) Bln. 1935 u. 1937 (1, 258. 268. 2, 64 usw.) Ob das Orakel in Delphi aus Didyma abgeleitet werden kann, wage ich nicht zu entscheiden.

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das großartige Wort des Tacitus tasten, daß den germanischen Frauen ein divinum innewohne? Wir werden also besser tun, nicht die Orakel- frage zum Mittelpunkt zu machen, um den jegliche Apollonstudie zu kreisen hätte, sondern möglichst scharf die Besonderheit des Einflusses zu beschreiben, der von Delphi ausgegangen ist.

Die entscheidende Tatsache, durch die Apollon panhellenische Be- deutung gewonnen hat, war, daß er die Musik vom Olymp herabholte und bewußt in die Erziehung der Hellenen einfiigte.' Für die Griechen wer Musik nicht Virtuosentum einzelner begnadeter Künstler, kein nur ästhetisches Phänomen, sondern zwischen Melos und Ethos besteht ein unmittelbarer sinnlicher Zusammenhang. Durch die Töne wird die Seele in einen gewissen Rhythmus gebracht, wird die Wertstruktur eines Menschen beeinflußt. Darum ist Erziehung durch Musik möglich, und darum war die Musik zu allen Zeiten des Hellenentums über das Subjektive hinaus- gehoben zu einem staatlichen Instrument der Jugendformung. Man er- mißt nun das Gewicht einzelner antiker Nachrichten über die planvolle Nutzung dieses Mittels durch Apollon: Im frühen 7. Jahrh. brach bei den Spartanern ein innerer Krieg aus. Das Orakel befiehlt, sie sollten von der durch ihre Melodien besonders berühmten Insel Lesbos den Musiker Terpandros? herbeirufen. Und in der Tat beschwichtigt Terpandros durch die Harmonia seiner Töne den gefährlichen Zwist. Er scheint dann in Sparta geblieben zu sein: um 676/3 hat er am Apollonfeste im Agon mit einem Liede gesiegt.” An diese Nachricht ließe sich leicht eine statt- liche Reihe ähnlicher Berichte fügen. Ich nenne nur den Kreter Thaletas‘ und hebe folgendes hervor: griechische Musik ist Saiten- und Flötenmusik. Die Flöte ist ein dionysisches Instrument, ungezügelt, orgiastisch, daher im Gegensatz zur apollinischen Leier. Nun ist aber gerade von diesem Kreter Thaletas, der ebenfalls durch Orakelspruch nach Sparta gerufen war, berichtet, er habe seine Wirkung durch Flötenmusik erzielt. Dadurch ist dieses wichtige Instrument oder sagen wir: dadurch ist Dionysos apollinisch geworden, und so kann der spartanische Dichter Alkman um dieselbe Zeit sagen, Apollon selbst spiele die Flöte (fr. 102 B.). Hat der Gott im 7. Jahrh. Sparta, Ionien, Böotien beherrscht, so zieht er im 6. Jahrh. in Attika ein. Schon unter Solon hat es in Delphi ein Schatz-

War in Didyma Inspirationsmantik? Mit den vorgriechischen Funden in Didyma steht es nicht gut. Und Delphi ist vielleicht doch nicht jünger als Didyma: es gab dort ein uraltes Apollon-Xoanon aus Kreta. Pindar nennt es Py.5, 42: uovó- deoxoy Yvröv (dazu Schol.).

1 Plutarch, de. musica 14: nicht ein Mensch war der edger7js der Musik, sondern 6 madcatg tals koetaig xexoopnutvog Dede Andidior.

2 Diodor 8, 28.

® Hellanikos (F. Gr. Hist. 4 F 85).

Plutarch, de mus. 42 nach alter Quelle.

Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 289

haus der Athener gegeben.! In der Zeit des Peisistratos entsteht in Athen ein Tempel des Apollon Pythios.? Aber entscheidend für die Breite der Wirkung war das Zusammentreffen mit Dionysos auf dem Tanzrund des attischen Theaters. Es ist ein symbolischer Akt von höchster Bedeutung, daß Apollon im 5. Jahrh. auf die attische Orchestra herabsteigt und selbst im Kultspiel des Dionysos mitspielt. Die Kraft seiner Göttlichkeit ist keineswegs erlahmt: während früher noch einzelne Darstellungen des Apollon vorkommen, wo er als bärtiger Mann gebildet ist, ist er jetzt nur noch der strahlende, jünglinghafte Gott.? So tritt er im Jahre 458 in der Orestie des Aischylos vor die Athener als der gewaltige, aber auch als der rettende Gott. Klytaimestra, so kündet Aischylos nach der alten Sage, hat ihren Gatten Agamemnon erschlagen, dafür wird sie von ihrem Sohne Orest getötet: der Gott von Delphi verlangt diese Sühne für das Blut des Vaters. Aber nun gebietet er Einhalt. Die Rachegeister dürfen Orest nicht länger hetzen: er wird entsühnt. Wie im 4 der Ilias die sturmvolle Zeit ausgeklungen war in der Musik Apollons, so bringt der Gott hier für Athen alles zum guten Ende und der letzte Satz der. Trilogie lautet: „Und jetzt jubelt zum festlichen Lied!“ Damit hat Apollon von der Tragödie, die in ihren Ursprüngen durchaus nicht das Werk Apollons ist, ein für allemal Besitz ergriffen. Es sei nur angedeutet: von den erhaltenen 32 Dramen der drei großen Tragiker behandeln nur die Mänaden des Euripides einen dionysischen Stoff. In 30 Tragödien steht Apollons Gestalt oder das Orakel von Delphi im Hintergrund® und beherrscht mehr oder minder die innere Form. So ist das Werk der apollinischen Erziehung denn auch die Tragödie ist hohe zadela sehr vielen Gestaltungen der hellenischen Dichter ablesbar.

Die Elegiendichter, die Sammlung von Adelsnormen, die wir mit dem Namen Theognis® bezeichnen, und besonders der ausgezeichnetste Ver-

T RE Suppl. IV 1278 („Der ältere Porosbau‘).

2 W. Judeich, Topographie von Athen, Mchn. 1981, 65, 386. Farnell, Über den älteren Apollonkult in Lykien und Attika. G. Colin, Le culte d’ Apollon Pythien à Athönes, Paris 1905. W. R. Agard, Athens and Delphi 800—485 B. C. (Mir nicht zugänglich.)

3 W. Zschietzschmann, Apollon (in: die Welt als Geschichte 1 [1985] 21—384).

4 Rud. Staehlin, Das Motiv der Mantik im antiken Drama (= Rel. V. u. V. 12, 1912).

s In der ausgedehnten Literatur über das Theognis-Prooimion findet man viel Scharfsinniges über Komposition usw., aber nirgends wird scharf heraus- gearbeitet, daß durch diese eigenwillige, durch und durch apollinische Einleitung (Apollon, Artemis, Leto, Musen, Charitinnen) der Sammlung mag sie im Augen- blick der Komposition dieses Prooimions ausgesehen haben, wie sie mag das Merkmal aufgeprägt werden soll: das ist im Geiste Apollons oder ArdAAwvos fuente oder wie man will, gestaltet? Hier ist Apollon der &v«& schlechthin. Für den Ausdruck der fraglosen Verbundenheit des Dichters mit dem Gott, wie er

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 2 19

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herrlicher des delphischen Apollon, Pindar in seinen Liedern zur Feier adeliger Sportssieger, und schließlich das attische Drama sind reiche Quellen für die apollinische Ethik. Ich will aus diesem Chorus nur ein einziges Motiv herausgreifen.

Am Eingang des delphischen Apollon- Tempels ist der Satz einge- meißelt: „yvödı oavrov“, d. h. „Erkenne, was du bist!“! Dieser Spruch hat nicht etwa einen orakelhaften, mystischen Halbsinn, sondern bedeutet klar und scharf: „Erkenne dich nämlich, daß du ein sterblicher Mensch bist.“ Über dieses Motiv gibt es nun eine Menge von Variationen, die die Deutung der zwei Worte über jeden Zweifel stellen. Ich will die Variation herausheben, die Pindar im 3. pythischen Liede für Hieron, den Herrscher von Syrakus, gedichtet und komponiert hat. Pindar erzählt hier dem kranken Fürsten die Geschichte des Gottes der Ärzte, des Asklepios. Genauer gesagt: seinen Ruhm und jähen Fall. Asklepios ist der Sohn Apollons und eines sterblichen Mädchens, der Koronis. Obwohl das Mädchen den „reinen Samen des Gottes“ in sich trägt, ist sie „gierig ‚nach dem, was fern ist“. Das Nahe verachtend jagt sie leeren und un- erfüllbaren Erwartungen nach. Sie vereinigt sich mit einem Fremdling. Apollon erfährt es in Delphi von seinem „ehrlichsten Berater“, seinem allwissenden Verstand. Seine Schwester Artemis tötet das Mädchen. Als es auf dem Scheiterhaufen liegt und die Flammen schon lodern, sagt Apollon: „Nicht länger kann ichs ertragen, mein Kind verderben zu sehen. Genug, daß die. Mutter büßt“. Und mit einem Schritt erreicht er den brennenden Stoß, die Flammen teilen sich vor ihm, er nimmt das Kind aus dem Leibe des Mädchens und bringt es zu einem weisen Mann, da- mit es lerne, den Menschen zu heilen die unheilvollen Seuchen. Asklepios

in v.3 geformt ist (&44’ ale) xedrdy rs xal Dorarov Ev ve uécoLoiv &sicœ) gibt es überhaupt keinen Vergleich. Was soll demgegenüber die Feststellung, ob damit etwa der Stadtgott von Megara gemeint sei? Mir ist kein Werk der Dicht- kunst bekannt, das in dieser Weise unter das Patronat Apollons gestellt wäre. Dann aber ist man gezwungen anzuerkennen, daß die folgenden Gedanken sich in Homologie befinden mit dem was AroAlw» xovgorgögpos will; ist ferner gezwungen zu bemerken, daß die yröue:ı allerdings trotz dieses Patronats nicht „Offenbarung“ sind, sondern drodnjaus xar& ve margin: (dxoPyoopai 001) old xeso würdg, Kúgv’, &xd töv Lyadav naş Er’ lòv luaðov und daß sie das Zeichen des apollinischen „Intellektualismus‘ tragen; denn sie beginnen mit x¢zvvoo (29). "1 Die herkömmliche Übersetzung: „Erkenne dich selbst!“ sollte nach

. Wilamowitz, Reden und Vorträge II * 1926, 172 überwunden sein. Bei einer Tasso- Aufführung der Münchner Kammerspiele (Herbst 1989) kamen zu besonderer Wirkung die letzten Worte Antonios: „... Und wenn du ganz dich zu verlieren scheinst, Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!“

2 8,15: Depoıca oxdoua Feod xadapov. 20: oaro av anedvtwmy 28: nxowen nag sddurcarors. |

3 3,40: obxdre TAdoouaı puyie yévos auov diéooar... uarebs Bauoelac ci» ead ce.

- Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 291

wird ein berühmter Arzt aber da kommt Borg über ihn? Aus Gier nach dem schimmernden Golde vermißt er sich, seine Kunst zu versuchen an einem, den der Tod schon dahingerafft hatte. Da schleudert Zeus seinen Blitz durch ihn. Aus dieser Sage lernen wir zunächst folgendes: die Herkunft des Asklepios wird in anderen Sagenformen anders erzählt hier ist er der Sohn des Apollon. Wir sehen, wie er damit in die apollinische Sphäre einbezogen ist und ermessen die Wandlung: in der Ilias schickt Apollon die Pest ins Lager der Achäer hier gibt er den Menschen den großen Arzt für alle Seuchen und Gebrechen. Apollon ist in der Wirkungskraft noch durchaus der gewaltige Gott Homers. Aber die Strafe vollstreckt er nicht mehr selbst. Er ist ein geistiger Gott gewor- den: in einer anderen Sagenversion bringt ihm ein Rabe die Kunde von dem Treubruch des Mädchens hier sagt es ihm sein zuverlässigster Vertrauter, der eigene allwissende Sinn. Und er ist milde geworden: die Rettung des Kindes geschieht aus Mitleid: „oüxerı rAdooues: ich kann es nicht mehr ertragen“. Doch all dies sei nur nebenher vermerkt. Ent- scheidend ist die Norm, die Pindar aus dem Falle des Apollonsohnes ab- leitet: „Nichts soll der sterbliche Mensch von den Göttern verlangen, was sterblichem Wesen nicht angemessen ist, sondern erkennen soll er das, was man so leicht erkennen kann: die Grenze, die unserer Natur gesetzt ist. Nicht nach unsterblichem Leben sollen wir gieren, sondern die Lebens- aufgabe durchführen, der wir gewachsen sind.“? Ich glaube, wir brauchen nicht den Kommentar des antiken Gelehrten’, der uns zu dieser Gnomik erhalten ist, um sofort einzusehen, daß hier nichts anderes vorliegt als die Abwandlung des einen Satzes: yvödı cavróv.

Hier wollen wir nun innehalten, um den Richtungssinn dieser apolli- nischen Ethik möglichst scharf zu fassen. Wilamowitz hat bisweilen in seinen Arbeiten Formulierungen über delphische Ethik in die Debatte ge- worfen, die zu Mißverständnissen Anlaß geben können. Er bringt den Begriff

1 Wir wundern uns vielleicht darüber, daß gerade ein Sohn des Apollon solche Schuld auf sich lädt. Man sieht, mit welch souveräner, durch das numi- nosum durchaus nicht eingeschüchterter Freiheit auch noch der Dichter des 5. Jahrh. den Stoff formt, Platon, der Dichter des 4. Jahrh., der nach antiker Version ein Sohn Apollons war (s. Wilamowitz, Gl. d. H. II 2679, hat gerade in diesem Punkt der Sage das Bild Apollons noch weiter geläutert. In Polemik gegen Pindar schreibt er (rep. 408 b): „nweis dé. ‚od meidöneda adrois (sc. Pindar und den Tragikern) éuqdrega, &AN si uty Feo jy, 0687 NY Prjcousv alozooxeedrs (Sc. Aorinmuög), ei Ö’ alozeoxeedijs, obx Ty Jeo.

2 3,59—62: yon Eorxdta wae datpdvay pacravésey varas poacly yvóvra ro n&E "10865, olas sluiv aloags. un, pla pvz&, Biov &Pdvatoy onadds, tav ð’ Yuxeantoy &vrisı payavdy. (240 sagt Apollon von Achilleus: obs’ de peeves eloly &valoınoı. Man sieht die Tradition).

3 Schol. zu 106: porov tõ: Xlimvos is tõt Ivadı savedr. to lov dre Hynrol mapónauev.

19*

=

292 Franz Dirlmeier

der Offenbarung herein, weil Delphi ja ein Ort der Mantik ist und Apollon eine Macht des Wissens fiir sich in Anspruch nimmt, fiir die es keine Grenzen gibt. Er charakterisiert ferner das Wesen des Gottes als das eines Gebieters und Verbieters, und deutet damit an, daß durch Apollon das glanzvollste signum hellenischer Ethik verdunkelt worden sei: nämlich die nordische, freie, selbstgewisse, ungebeugte Autonomie des sittlichen Wollens. In Apollon zeigt sich so dürfen wir die Gedanken von Wilamowitz zusammenfassen ein befremdender Zug zu heteronomer Wesensgestaltung.! Dazu ist zu sagen:

1. Bei dem ungeheuren Vorrang, den die Vorzüge des Verstandes,

besonders die copie, in der Wertung der Hellenen vom Anfang bis in die

letzten Zeiten der Spätantike hatten, ist es kein fremdartiger Zug, wenn einem Gott dieser Vorzug griechisch dgern in äußerster Potenzierung zuerkannt wurde. Die Griechen haben aus solcher Wertung heraus ja schon einzelnen hervorragenden Menschen ein Höchstmaß von copla zugeteilt: sie haben das Kollegium der sieben Weisen geschaffen. Auf eine Anfrage erklärte der Gott von Delphi, Sokrates sei der weiseste Mensch (Plato, Ap. 21a). Platon hat in die Gründung seines Idealstaates die copl« eingebaut als den distanzierenden Vorzug des obersten Standes, der Wächter und Herrscher des Staates. Wenn Homer von einem Men- schen, nämlich von dem Seher Kalchas, in hochreligiöser Formulierung sagt: „Ihm war bekannt das Gegenwärtige, das Vergangene und das Kommende“ (4 70)?, wenn also einem apollinischen Menschen die All- wissenheit zugesprochen wurde, so ergab sich die Folgerung für den Gott, der Kalchas dieses Wissen verliehen hatte, von selbst. Ich kann in dem Vollzug dieser Denknotwendigkeit keinen fremden Einfluß er- kennen. ' 2. Mit Ausnahme einer einzigen Stelle bei dem mit Pindar gleichzeitigen Dichter Bakchylides® kenne ich keinen Fall, wo Apollon selbst der Prophet

. seiner Weltanschauung wäre, also selbst ausspräche: „Du sollst“ oder „Du

sollst nicht!“ Die Dichter sind es, die durchdrungen von seinem Wesen und in Erfüllung der althellenischen Form der Lyrik die nicht subjek- tive Gefühlslyrik ist, sondern Ansprache an den Standesgenossen, Wir- kung auf den Mitbürger apollinische Weisheit verkünden. Gerade die Orakelspriiche vermitteln überhaupt keine Ethik, sondern ganz konkrete Antworten auf ebenso konkrete Fragen des staatlichen und privaten

1 z.B. Gl. d. Hell. II 27.

2 Ketlyas, ðs Nıön ta t' óvta ta 7’ dooöusva od t' óvta.

3 Bacch., ep. 3,76 sq. 6 ö’ &vak (Axdliwy, Erg. wohl sicher)... sine Déonros vli’ „Hvarov evvta yor dıdduovs Albsıv yrauas, Bri T' adbesov Specs potvoy cdiov pos, yarı nevrijnovt Ersa facy Badunkovrorv velsis. dora doy stpoeative Ouudy- tovro yao xEgdEwv Örkorarov.“

Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 293

- Lebens.! Wenn der Dichter in immer neuen Variationen kiindet: Erkenne dein menschliches Wesen so ist damit weder eine Offenbarung voll- zogen, noch wird der Mensch in eine willenlose Ergebung gedrängt. Es ist jetzt an der Zeit, daß wir uns an Homer erinnern. Man sieht sofort: vom 8.bis zum 5. Jahrh. ist das Verhältnis Gott Mensch bei aller Be- tonung der Unterlegenheit der sterblichen Natur gleichgeblieben. Wie Diomedes in voller Behauptung seines Wesens nur „ein bißchen“ vor der größeren Macht des Gottes zurückweicht; wie Achill in der Begegnung mit Apollon erhobenen Hauptes sich abwendet, so behält auch in der späteren Ausprägung apollinischer Ethik, gerade bei Pindar, der Mensch die volle und ungebrochene Würde seiner Natur. Der Anfang des 6. ne- meischen Liedes lautet: „Eins ist der Menschen, eins der Götter Geschlecht. Doch dieselbe Allmutter hat uns geboren. Aber ganz verschieden zugeteilt trennt uns die Kraft: wir sind nichts der eherne Himmel dagegen ist ein ewig sicherer Sitz. Und doch: in etwas gleichen wir den Unsterblichen: in des Geistes Adel und in der Gestalt.“? Die Helden der griechischen Tragödie empfangen mit ungebrochenem Mute den Schlag der Gottheit. Der Aias des Sophokles weicht aus dieser Welt, in der er wegen seiner geringeren Kraft der Gottheit unterlegen ist er zieht damit klar die Grenzen aber er geht aus der Welt in einer Haltung, die auch der menschlichen Natur den Charakter des Göttlichen aufprägt.

Demnach kann also von einer Verdrängung griechischer Uranlagen durch die Welt Apollons keine Rede sein. Aber die Form, in der dieser Gott das hellenische adelige Wesen und seit dem Zeitalter der Tragödie das hellenische V olk erzog, muß noch in einer letzten Fraglichkeit geklärt werden.

1 In der von Wilamowitz veranstalteten Sammelreihe „Poetarum Graecorum fragmenta" sollte Ed. Schwartz als Bd.Ilı die Orakel bearbeiten. Nauck hatte sich eine Sammlung angelegt. Der Plan ist aber nicht verwirklicht worden. Noch muß man mit G. Wolff (1856) und R. Hendess (1877) arbeiten. Eine Sammlung aller Orakel, auch der prosaischen, wird jetzt von einem meiner Schüler vorbereitet.

2 Die Deutung: hie Menschen hie Götter ist gesichert durch die klare Abfolge der fünf Aussagen über die beiden Geschlechter, von denen immer die folgende die vorhergehende aufhebt (dE—-dE «ild— xuizse). Rhythmisch wechselt Gleichheit und Verschiedenheit: „Beide Geschlechter sind verschieden. Ihr Ursprung ist gleich. Die Kräfte sind verschieden. Wesenhafte Ähnlichkeit besteht. Der Verlauf sterblichen Geschicks ist ungewiß.‘“ Durch diese Abfolge wird letzten Endes doch ein Gleichgewicht zwischen den beiden y&vn geschaffen. So entsteht die Sinnerfüllheit des ersten Satzes: die y&vn sind verschieden, aber sie stehen nicht unter-, sondern nebeneinander. E 441: obxora gilov polov dYavarav re Peay yaual doyoufvov T’ &võgooxaor ist nur ein Teil des Vollsinnes von Ne VI 1, Ilias 22, 7—24 dagegen ist der ganze Pindar. Zum 2. Satz: Erga 108: duddev yaydaoı Deol Ivmol t' &vdomnoı. Wilamowitz, Gl.d.H.1202. O. Schroeder NJ 1923, 151. Andere Vorstellungen: Hy. Hom. 8, 336. 14,1.— Zum 3. Satz: xexoruévaæ nicht acc. pl. ntr. (sc. yévn) nach Christ, ed. maior 1896, sondern zu verstehen nach Theognis381.

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Moral und Leben, genauer gesagt: handelndes, schaffendes, schöp- ` ferisches Tatleben sind nicht nur in der Antike, und zwar zu einer Zeit, als die ersten Zeichen des Verfalls sich meldeten, sondern auch in neueren Zeiten in feindlichen Gegensatz gebracht worden. Moral als Verneinung des Lebens, als heimlicher Instinkt der Vernichtung, das Leben selbst etwas essentiell Unmoralisches unter diesem Aspekte bricht die Leistung Apollons, wir können auch sagen: des hellenischen Volkes, zusammen wird Delphi zur Einbruchsstelle fremder Instinkte in eine Welt natur- hafter Kräfte. Brauchen wir einer solchen Thesis gegenüber eine amoloyla ’Anöllwvos? Ich glaube nicht: die sieghafte Schönheit, in der sich der apollinisch geformte Mensch zu dem Gotte stellt, der in einer alten Darstellung die drei Charitinnen auf seiner Hand trägt, ist aus den Denk- mälern griechischen Denkens und Dichtens von selbst offenbar geworden. Der Satz von der Begrenzung der Menschennatur ist nicht Resignation. Wenn Theognis (555) sagt: „Der Mensch, der von schwerem Leide be- drängt wird, muß den Willen haben zu wagen, und er muß dann die Hilfe der Götter erbitten“, so ist das nicht die Doppelheit der Ergebung, sondern die Doppelheit der Tat. Der Satz, wir sollen nicht nach dem unsterblichen Leben gieren, sondern die Lebensaufgabe erfüllen, für die wir gewachsen sind, ist also nicht quietistische Bescheidung, sondern Ruf zum Handeln. Er ist die Grundlage des Rechtszustandes in Platons Staat, das Element, das allein den Bestand des Staates garantiert.! In yy cavrév liegt nur eines: Menschen-Bild und Menschen-Tun soll ein geformtes sein. Der Satz ist nicht fremder Zwang, sondern naturgewachsenes, in dem Willen zur Gestalt bedingtes Wissen um die Bändigung des wuchernden, sich bäumenden, rauschhaft verstrémenden und fruchtlos zerspellenden Lebens. Wenn das griechische Leben zum Kosmos wurde, wenn der griechische Tempel in Maß und Schönheit emporwuchs, die Jünglings- und Gottes- gestalt zur Erfüllung aller immanenten Leibes- und Geistgesetze, und das griechische Wort zum edlen Klanggebilde wurde wenn der Intellekt sich nicht in einem mystischen Traumleben verlor, sondern Begriff und Anfänge der Wissenschaft schuf, so ist dies geschehen, weil ein ungeheurer Formungsprozeß ganz Hellas umgriff. In dieser schlechthinigen Formung ist die ethische Gestaltung des Menschen nur ein Teil und zwar Teil eines bewußten, vom Erkennen ausgehenden Formens.

So wird nun klar, daß es nicht Zufall ist, wenn die „delphischen Ur- worte‘ mit einem Zeitwort des Erkennens gebildet sind: yıyyooxo, yr Or. Die Wissenschaft von der griechischen Antike kann hier nur feststellen, daß damit nichts Ungriechisches auftaucht, denn die Prägung ethischer

1 Rep. 433a: rd davrod nodırsiv nal un wolumeaypovely ðinxiocóvn fort. (Dazu 443b). Im Charmides hatte eine „Definition“ der cwpeoctyn geheißen: ta éxvtod nodtrev (161b).

Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 295

Verhaltungsweisen mit Termini des Erkennens ist homerisch. Wir wissen

durch einen Vers unserer Odyssee, daß das epische Gedicht über die

Heimkehr der Achäer unter eine sittliche Idee gestellt war. Der Vers lautet: „Als wir Troia zerstört hatten, da ersann Zeus den Achäern eine böse Heimkehr, denn nicht alle waren vonuoves und dixatoe gewesen.“ Entscheidend ist, daß die Verfehlung, die den Zorn des Zeus zur Folge hat, bézeicanet wird durch Begriffe des sittlichen Bereichs: „gerecht und vońýuwv.“ Das letztere ist vom selben Stamme gebildet wie voög und voéw, bedeutet also „gescheit, klug, verständig.“! Die begangenen Fehler sind also Fehler des Intellektes. Wir sind auch durchaus berechtigt”, den Doppelausdruck ,,d/xa:og xal vonuwv“ als eine Einheit zu fassen und zu sagen: das stärker als ethischer Terminus charakterisierte dix«ıos ist durch den Beisatz von vonuwv zu einem Vorzug des Verstandes gemacht. In dem eben genannten Vers der Odyssee haben wir eine besonders klare Formulierung der für den Hellenen untrennbaren Gebundenheit der Ethik an den Verstand. Wenn wir uns jetzt zur Ilias zurückwenden, so verstehen wir, was in der Apollon-Diomedes-Szene der Gott dem Helden zuruft. Ich hatte übersetzt: „Mäßige dich.“ Das griechische Wort heißt aber goaéeo und das bedeutet: „laß es klar werden in dir“. Apollon wendet sich also an den Verstand des Diomedes. Man hat dies mit dem nicht schönen Ausdruck „Intellektualismus“ benannt, aber im wissenschaftlichen Ge- ` spräch darüber sehr häufig außer acht gelassen, daß dies ein Intellekt ganz besonderer Art ist. Für den Griechen gehören Erkennen und Handeln un- trennbar zusammen. Ivö9ı ist niemals Selbstzweck, es bedeutet nicht: „verharre erkennend!“, sondern es löst die Tat aus: „und gestalte ein Leben der Tat in der Entfaltung aller deiner menschlichen Kräfte“. Je höher und durchleuchtender das Erkennen, desto klarer und fehlerloser wird auch das Handeln. Es liegt also ein bezwingender Optimismus in dem schlichten Satz: „erkenne dein Wesen“.

Ein schöner Zufall hat es gefügt, daß in der prachtvollen Festschrift zu den Salzburger Wissenschaftswochen auch ein Teil aus der Staatsrede des Perikles für die gefallenen Athener abgedruckt ist. Darin sind auch zwei großgesinnte Sätze, auf deren Übersetzung durch Rudolf Binding ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte: „Wir unterscheiden uns auch in Anschauung und Betreiben des Krieges von unseren Gegnern... Wir vertrauen nicht so sehr auf Vorkehrungen und Täuschungen als auf den

1 Das Adj. nur hier und v. 209.

2 Wir sind dazu berechtigt, wenn wir z. B. die Verwendung von nervuuaı untersuchen, was hier nicht geschehen kann. (y 52: yaige È Adnvain nenvuulvaı &vdoh diakot). Theognis beginnt seine brodio, wie wir sahen, mit méryvoo (29). Über die Zusammenstellung von sogia und éest7} vgl. B. Snell, Die Aus-

drücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie (= Ph. U.29, Bln. 1924,12). Uber die Bedeutung von yvóun in der Adelsethik das. 34.

296 Franz Dirlmeier

in uns lebenden Mut und Glauben für alle unsere Werke.“ „Denn auch dies ist unsere Art: da am freiesten zu wagen, wo wir am besten durchdacht haben; bei anderen aber erzeugt nur die Unkenntnis den Wagemut, die Überlegung jedoch Zagen. Die seelische Kraft derer wird wohl mit Recht als die stärkste der Welt ge- rühmt, die das Schreckliche wie das Süße mit voller Klarheit erkennen und doch sich keiner Gefahr entziehen.“ Der „Optimismus“, in dem Perikles in Sieg und Not des peloponnesischen Krieges zum Volke der Athener gesprochen hat, ist Geist Apollons dieser Optimismus schließt es aus, eine wie immer konstruierte Ansicht von lebentötender Moral auf die Gesinnung zu übertragen, die mit dem Namen des Apollon von Delphi verknüpft ist.

Es ist wohl klar geworden auch ohne daß davon ausdrücklich die Rede war daß die Ethik Apollons, die Ethik des griechischen Adels, auf einer absoluten Voraussetzung beruhte: auf der Harmonie der Seele mit dem Leibe, auf jener verwirklichten deern, die alle anderen in sich begreift, der xaloxaya®ia. Der jugendlich strahlende Gott der Musik und des Reigentanzes ist daher in einem ganz besonderen Sinne zum Hüter des Lebens oder, um den Titel eines bekannten Platonbuches zu variieren, zum Hüter des schönen Lebens geworden. Er trägt den _ Beinamen &vayavıos!, d.h. er ist der Gott der hellenischen ‘Agone, der sportlichen Wettkämpfe. Nirgends kommt dies so sinnfillig zum Aus- druck wie gerade in Delphi, der Orakelstätte. Noch heute steigt der Besucher vom Tempel aus steil hinauf zum Stadion, wo die pythischen Festspiele gefeiert wurden. Es gibt Sagen, die Apollon selbst als sport- lichen Kämpfer auftreten und siegen lassen, und in den Wettkämpfen des ¥ siegen die Helden, die sich an Apollon wenden (Vs. 660. 850f.). Es ist klar: Sobald die Zeit kam, wo in langsamem Niedergang die Eugeneia des Leibes schwand, mußte die apollinische Ethosgestaltung ihr tragendes Fundament verlieren. Die Empfindung des Niedergangs hat sich schon verhältnismäßig früh in wachen Geistern geregt?, denn der Dichter Theognis klagt in seinen Gnomai von adeligem Wesen mit bitterer Tatsachenerkenntnis: bei Tieren achten wir auf die edyévee, nicht beim Menschen, „nAoürog Eusıke yEvog“: das Geld hat das Geschlecht zusammengemischt (183—190). Da der Dichter sein Werk ‘durch ein sehr

1 Sollte &priroe (nur I 440), das Wilamowitz noch Il. u. H. 66,1 als rätsel- haft bezeichnet, bedeuten: Der Gott, der die Wettkämpfer von der Startlinie ent- laßt? Einen Apollon Ageratog gab es. Paus. 3, 13,4: tod Kapvsiov dt ob Open xalovpevoy gory äyalıa Apsralov. toig Invelónns urnorägol pasiv eyredPev yevéodar tod ðeóuov thy doyn».

2 Eine wertvolle Zusammenstellung bietet W. Haedicke, Die Gedanken der Griechen über Familienherkunft und Vererbung. Halle o. J. (1986).

Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 297

merkwiirdiges Prooimion unter das Patronat Apollons stellt, diirfen wir mit Sicherheit sagen: die vom Dichter geforderte eugenische Reform widersprach nicht apollinischem Geiste. Und als Platon im 4. Jahrb. seinen riesenhaften, aber nicht utopischen Plan faßte, durch Zuchtgesetze von unvorstellbarer Strenge das von den Vätern überkommene Lebens- gut wiederherzustellen, da war dies kein biologischer Materialismus, sondern als verantwortlicher Erneuerer des Vergangenen wußte er sich in einem besonderen Sinne mit Apollon verbunden. Er hat seine Stellung zum Gott von Delphi klar bezeichnet (rep. 427 bc): er ist ihm der schon von den Vätern verehrte &&nynins, der Ausleger und Klärer aller Dinge, die mit Staat, Kult und Glauben zusammenhingen. Aber er hat noch ausdrück- lich gesagt, daß auch die eugenische Gesetzgebung zutiefst mit der Reli- gion der Väter, mit Apollon verbunden sei: Priester und Priesterinnen, der ganze Staat, schicken bei der Schließung der Ehe Gebete zur Gott- heit, daß die Nachkommen immer tüchtiger und wertvoller werden (461a). Und: gewisse Ehebündnisse sind erlaubt, wenn das Los, d. h. hier der Staat, so entscheidet und wenn Delphi ‘seine Zustimmung gibt (461e).!

Aber Platon war, als er diese Gedanken in der Akademie vortrug, bereits ein einsamer Rufer geworden. Die zweite Hälfte des 4. Jahrh. zeigt mit völliger Klarheit, daß mit der vergeblich geforderten Behütung des Lebens auch die Kraft der apollinischen Ethik verschwand. Ein Grund- satz wie yv®dı oavrov erleidet nun den ersten entscheidenden Stoß. Ein anderes yıyv@oxsıv beginnt von außen in Hellas einzudringen und sich mit Strömungen zu verbinden, die auch in Griechenland selbst nie ganz ver- schwunden gewesen waren. Und zwar ist es die Schule Platons selbst dies muß mit aller Schärfe erkannt werden —, die den ersten Schritt in ein neues Zeitalter vollzieht.” Die Epinomis, deren Verfasser noch um-

1 Adam ad l. hat mit Recht erklärt, daß gay 7) IIvdia reocavateje nicht be- deutet, daß die Pythia nachträglich einem fait accompli zustimmt, sondern her assent is given in advance. Vgl.auch rep. 458e: Die Zeugung gehört in den Bereich des apollinischen dsıov. Und legg. 771e—772a: Die gegenseitige Wahl von Jüngling und Mädchen findet statt beim apollinischen Reigen. Platons Haltung zu Delphi ist die des Sokrates: Xen. mem. 1,3,1. Wenn Sokrates die Wahr- heit sucht, so ist dies eo (sc. AndAlmvog) Aurgsia Plato, ap. 23c, 20d sq. Unter seinen wenigen Dichtungen ist ein zgooiu.ov els thy Axddiw (Phaedo 60d), ja er bezeichnet sich als duddoviog der Apollon-Schwäne. Von Apollon hat er die Sehergabe und sein Priester ist er (85).

2 Der Geist des zu Ende gehenden Zeitalters ist in zwei Dokumenten aus Platons Spätwerken charakterisiert. Mensch und Weltall —: diese gigantische Zweiheit ist von jeher die Stätte der Erprobung gewesen, die die Geister scheidet. Als Platon in seinem Alter zum erstenmal nach den Rätseln des Alls greift, da vollzieht er altapollinische Gnosis, da setzt er ein unverrückbares régas: púociv &vdownivnv Eyousv, (Timaeus 29cd). Das Thema IIeg) Sev, Iesel ths roð navros

298 ‘Franz Dirlmeier

stritten ist, führt in voller Bewußtheit die Aufnabme der orientalischen Gestirngottheiten durch und spricht nur die sichere Erwartung aus, daß dieser fremdländische Kult von den Griechen, wie alles was sie übernehmen, emporgehoben und veredelt werde. Veredelt dadurch, daß diealt-apollinische Religion, die delphische mocde/a und povtele weiter in Geltung zu bleiben habe.! Hier blicken wir in einem Satz auf die beiden Zeitalter. Der Verfasser ist sich des Schwebezustandes voll bewußt, denn er fährt fort: „und kein Hellene soll, weil er sterblich ist, Angst davor haben sich hinauszuwagen in die Unendlichkeit der neuen Gestirnmetaphysik, denn dieses neue Denken kann man lernen, weil’ die Gottheit hilft.“ Sie sehen: noch ist die hellenische existenziale Grundlage bewahrt, der von dem apollinischen Maß-Begriff geformte Hellene schaudert davor zurück, die Grundlage zu verlassen, aber der Anfang ist da: die Bescheidung des adeligen Griechen, die menschliches Denken und Wünschen stets fern- gehalten hatte von der waghalsigen Ausweitung des yıyvaoxeıy, wird jetzt aufgehoben. Was der delphische Gott in Jahrhunderten gewirkt hatte, die Empfindung für menschliche Grenzen, aber auch für mensch- liches Können innerhalb dieser Grenzen, verfließt. Die Horizonte weiten sich sie weiten sich ja auch politisch in der Eroberung des Alexander- reiches aber es zerfließt zugleich die in dieser Begrenzung garan- tierte Form und Gestalt des echten Hellenentums. Da und dort ich kann dies nur andeuten entsteht schon die Meeresstille des ruhenden Seins, zeigen sich Keime, die nicht mehr vom Griechischen her begreif- bar sind, sondern nur von der Welt aus, die die Griechen in dem Sammel- begriff Bd&eBaeo: so lange von dem innersten Quell ihres Seins fern- gehalten hatten.

Dieser Wendepunkt der Zeiten, wie ihn die soeben vorgeführten Sätze der Epinomis festgehalten haben, diese Antithese zu dem, was vom 8. zum 4. vorchristlichen Jahrhundert Wirklichkeit gewesen war, ist uns die geschichtliche Bestätigung dessen, was wir aus dem Worte helleni- scher Dichter erkannt haben. Und damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: die klare, harte, von weichlicher Weltempfindung ferne Thesis des Apollon von Delphi: erkenne die Grenzen deines Wesens! ist nicht

yevéoswog gestattet nur einen elxds Adyos. mezesi tovtov undtv ru néga Enrety (ib.). Auf diesem Fundament ruht der ganze Timaios. Und Platon der Gesetz- geber, dem die Sterne durchaus als ¿v odgaväı Geol gelten, prägt in den letzten Kapiteln seines Gesetzwerkes den ganzen Inhalt seines Glaubens i in Sätze, die Wissen sind (legg. XII 13,14).

1 xoll) dns Kua nal xal) xAAlıov nal drxadregoy dvtag rüs ix trav BaueBdewmy 2fovons puns te dpa xal Peoansiag rdvrwmy tortor thy Deady rı- ueinoeodaı tog "Elinvag, matdeiats te nal En Aelpõv pavrelars zgo- utvovs nal noni tie narà vóuovs Hegansicı. Erstmals dazu W. Jaeger, Aristoteles, Bln. 1928, 168f.

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Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels 299

Einbruch fremdartiger Lebensinstinkte gewesen, sondern Denk- und Lebensform eines Volkes, mit dem wir urverwandt sind.

Die Denk- und Lebensformen dieses Volkes nicht nur als etwas Ver- gangenes historisch zu erfassen, sondern auch als wirkende Kräfte uns mehr und mehr zu gewinnen, ist ein Ziel, würdig unseres Volkes, das nicht nur unerschöpfliche Quellen der Kraft sein eigen nennen darf, sondern auch die Entschlossenheit, mit der Klarheit des Geistes diese Kräfte zu einem Kosmos zu bändigen und zu erhöhen.

Inhaltsübersicht

Der Vortrag will nicht die Anfänge der griechischen Apollonvorstellung untersuchen, sondern die im griechischen Schrifttum von Homer bis zum atti- schen Drama (8.—5. Jahrh.) von den Dichtern geformte religiös -künstlerische Gestalt Apollons, also vor allem den Apollon der Ilias, den Gott der Musik (den Führer des Musenchores) und den Gott der Orakelstätte von Delphi. Eine solche Betrachtungsweise ist nicht Asthetisierend, da es eine L'art pour l'art- Kunst in Griechenland nicht gibt, sondern an der Dichtung kann man wie an einer historischen Urkunde ablesen, wie Apollon die Erziehung und sittliche Formung seines Volkes, vor allem des freien Adels, beeinflußt hat. Wenn man aber die Wirkungsform eines Gottes erkennt, erkennt man auch sein Wesen.

An ausgewählten Beispielen, besonders an dem delphischen Satz: „Erkenne was du bist!“ wird gezeigt, daß diese Ethik von Homer bis zum Ausgang der „Klassischen“ Zeit im Grunde immer dasselbe will: der Mensch soll innerhalb seiner Grenzen bleiben, diese aber bis zu den äußersten Möglichkeiten erfüllen. So wirkt der Apollon von Delphi mit an jener völlig klaren Herausarbeitung der reinen Menschenform, die wir in Schrifttum und bildender Kunst der Hellenen gleichzeitig beobachten.

Diese Ethik ist wesenhaft auf den Verstand gegründet, d. h. es liegt ihr der siegreiche Optimismus zugrunde, daß möglichst klares Erkennen wertvolles Handeln ohne weiteres zur Folge habe. Das Erkennen im griechisch-apolli- nischen Sinne ist demnach nichts Quietistisch-meditierendes, Lebentötendes. Der Apollon von Delphi übt auch nicht eine Autorität aus, die die Freiheit der Menschennatur gefährdet, sondern er macht diese Freiheit zu einer geformten Freiheit.

Von hier aus kann die Betrachtung des klassischen Apollonbildes auch einen Beitrag liefern zu der vielverhandelten Frage, ob Apollon eine ungrie- chische Gottheit sei, oder ob die Griechen den Gott aus einer nicht-indogerma-

' nischen Sphäre übernommen haben. Die apollinische Ethik jedenfalls zeigt alle

Merkmale selbstverantwortlicher und zugleich gläubiger Wesenshaltung.

300 | Carl Schneider

DIE GRIECHISCHEN GRUNDLAGEN DER HELLENISTISCHEN RELIGIONSGESCHICHTE = VON CARL SCHNEIDER IN KONIGSBERG/PR. | MIT 7 ABB. AUF TAF. III—V I. FRAGESTELLUNG

Noch immer leidet die hellenistische Religionsgeschichte und mit ihr die gesamte Hellenismusforschung unter einem wirklichkeitsfremden Dogmatismus, der sie weithin fast zu ersticken droht oder zum minde-

sten den Hellenismus in einer Weise ent- und abwertet, wie es der |

historischen Bedeutung dieser Zeit nicht zukommt.! Die Ursache ist das zwar bequeme, aber unrichtige Dogma von der Orientalisierung der griechisch-rémischen Welt in dem Zeitraum von Alexander bis zu den Antoninen, nach dem der Orient mehr und mehr das Griechische ver- schlungen und in Mischgebilde hineingezwängt habe, die dadurch zur Entartung geradezu gezwungen worden seien. Daß in Wirklichkeit der

Hellenismus gerade den letzten großen Sieg des griechischen Geistes |

und der griechischen Seele über den Osten darstellen könnte, dessen Früchte sich bis heute auswirken, ist durch eine maßlose Überschätzung

des Orientes weithin in der Forschung vergessen. Die Gründe für die |

Verbreitung dieses Dogmatismus sind an mehreren Stellen zu suchen. Auf dem engeren Gebiete der Religionsgeschichte bat ihm in vielem die geradezu erdrückende Autorität F. Cumonts und seiner Schule in ge- fährlicher Weise Vorschub geleistet. Die erst noch zu stellende Frage, . ob es überhaupt „orientalische“ Religionen im hellenistischen Raum gibt,

gilt hier geradezu als Voraussetzung. Vielfach ohne Rücksicht auf reli- gionspsychologische Beobachtungen wirkt hier das sonst vielfach |

überwundene rein kausale Ableitungsschema nach, das über den Formen ihre Träger übersehen läßt. Anderseits ist die Erforschung der helle- nistischen Religion des Frühchristentums durch ein historisch verhäng- nisvolles Dogma so schwer belastet, daß dies oft unerkannt sich weit auch in die außerchristliche Religionsgeschichte hinein auswirkt. Man weiß wohl einerseits, daß das Christentum im hellenistischen Raum seiner Struktur nach nichts anderes ist als eine typische Mysterienreligion, ver- sucht es aber besonders von theologischer Seite aus immer wieder vom Alten Testament her zu verstehen. Damit gewinnt man dann eine sichere Einbruchsstelle des Orientes und nach dieser Analogie kann man dann

1 Vgl. zum Ganzen C. Schneider, Archäologie und hellenistische Religions-

geschichte. Forschungen und Fortschritte 15 (1939) 367/9.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 301

alle „orientalischen“ Mysterienteligionen behandeln. Daß aber kaum einer der christlichen Schriftsteller, geschweige denn der christlichen Mysten in dieser Zeit, auch nur die Sprache des Alten Testaments beherrschte, geschweige denn seine Gedankenwelt, und daß schon bei den neutesta- mentlichen Schriftstellern das Alte Testament durch Allegorese meist genau in sein Gegenteil ,,hellenisiert worden ist, ist eine Einsicht, die sich nur mühsam Bahn bricht. Der Archäologe weiß längst, daß man zwischen heidnischen und christlichen Werkstätten oft nicht scheiden kann, aber die Religionsgeschichte hat noch nicht die nötigen Folge- rungen daraus gezogen.?

Die dritte Schwierigkeit liegt bei dem immer noch vorwiegend verti- kalen methodischen Vorgehen der religionsgeschichtlichen Forschung. Man erforscht die Geschichte der Isis von ihren ägyptischen Anfängen bis zu ihrem Übergang in die christliche Maria und bleibt dabei immer im gleichen Kreise. Durch die reiche Erschließung vorgeschichtlichen Materiales ist diese genetische Methodik noch reizvoller geworden und bietet immer neue Aufgaben. Aber so nötig sie ist, für den Hellenismus muß sie durch eine Horizontalarbeit dringend ergänzt werden. Isis hört eben im hellenistischen Raum auf, die ägyptische Isis zu sein sie wird Tyche, Aphrodite, Maria, Muttergöttin kurz, die hellenistische Frau.

Man darf nicht nur fragen, wie haben sich isische oder mithrische Taufen und Kultmahle entwickelt, sondern was ist das Gemeinsame aller helle- nistischen Taufen und Kultmahle, was verbindet alle hellenistischen ster- _ benden und auferstehenden Götter, was ist typisch hellenistisch, und nur hellenistisch an allen Todesvorstellungen aller hellenistischen Religionen, und vor allem, was verbindet alle religiösen Erscheinungen mit dem Er- | leben des hellenistischen Menschen? Die Aufgabe horizontaler Betrach- . tung ist also zu einem guten Teil religionspsychologischer Art. Gerade im hellenistischen Raum kann sich die an und für sich selbstverständ- liche Verbindung von Religionsgeschichte und Religionspsychologie gut ; bewähren. Eine vierte Schwierigkeit ist die noch allzu frühe Setzung von Wert- | akzenten. Weil sich aus verschiedenen Gründen das Dogma Hellenismus | , gleich Entartung, Rassenmischung, Kulturverwaschung, Asphaltkultur festgesetzt hat, ist es nur ein Schritt weiter bis zu der Folgerung: schuld , an dem allen ist der einströmende Orient. Aber ganz abgesehen davon, daß der Orient auch in den großen Zeiten westlicher Kultur „eingeströmt“ ; | ist man denke nur an die Periode der orientalisierenden Vasenmalerei —,

1 M.Gütschow, Ein Kindersarkophag mit Darstellungen aus der Argonauten- s sage. Röm. Mitt. 43 (1928) 256/77.

2 Klar gesehen ist das Problem schon bei Carl Schmidt, Plotins Stellung. gam Gnostizismus und kirchlichen Christentum. TU NF. 5 (1900). l

302 | Carl Schneider

darf doch nicht übersehen werden, daß der Hellenismus noch ganz andere Dinge aufzuweisen hat: wir verdanken ihm die größten Staatsgebilde, politischen Konzeptionen, Führerpersönlichkeiten der Antike überhaupt ebenso wie die exakte Wissenschaft, die pergamenische Kunst, ganze Literaturgattungen und vor allem den unbestechlichen Blick für den Menschen. Unterscheidet man hier klarer zwischen Licht und Schatten, wird das orientalische Dogma auch von hier aus sehr fragwürdig.

Aus dem allen ergibt sich eine doppelte Aufgabe, die im folgenden nur genauer gestellt, nicht völlig gelöst werden kann, weil sie eine Auf- gabe für ganze Forschergeschlechter und viele Sonderarbeiten bleibt. Es ist zunächst zu untersuchen, wie tief die griechische Umprägung der orientalischen Formen in der hellenistischen Zeit gegangen ist, ob über- haupt irgendwo Orientalisches unbesehen übernommen wurde, oder ob nicht orientalischer Staub in griechischen Händen zu Gold wurde. Hat das Griechentum dem Orient nur die Formen geliefert, ist aber damit orientalischem Gehalt unterlegen, oder hat nicht vielmehr der formgierige griechische Sinn mit.freischaltender Über- legenheit orientalische. Formen übernommen, weil seine alten Formen der sich immer mehr ausweitenden Fülle seiner Gehalte nicht mehr Herr werden konnten? Was bedeutet es wie ich an an- derer Stelle formulierte —, daß es nur eine Interpretatio Graeca und Romana, nie aber Aegyptiaca, Coptica, Persica oder Celtica gibt ?

Dazu muß eine zweite Frage kommen. Erklären sich die Besonder- heiten der hellenistischen Welt aus fremdem „Einströmen“ oder aus der folgerichtigen Seelenhaltung des hellenistischen Menschen, die so und garnicht anders sein und sich äußern konnte. Hier setzt die eigentliche psychologische Aufgabe ein, von der in der Hauptsache auch die oft allzu öden Ableitungs- und Entwicklungsschemata in Frage gestellt werden können. | | |

Unter hellenistischem Raum und hellenistischer Zeit verstehen wir hier die Welt der Diadochenreiche und des römischen Reiches von der Alexanderzeit bis zum inneren Auseinanderfallen von Rom und Hellas. Der Hellenismus hört dann auf, als man in Rom nicht mehr Griechisch versteht, schreibt und redet. Warum ich gerade diesen Zeitpunkt wähle, wird am Schluß deutlich werden. Es ist ein Zeitraum von rund 500 Jahren für die Antike eine kleine Spanne Zeit. Ihr inneres, seelisches und kulturelles Gefüge, aber selbst ibre äußeren For- men haben so viel Gemeinsames und Verbindendes, daß man sie zunächst auch einmal als Einheit zum Forschungsgegenstand nehmen darf, wenn man sich klar macht, daß neben ihr stets die genetische, vertikale Me- thode zu ihrem Recht kommen muß.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 303

II. DIE UMSCHAFFENDE KRAFT DES HELLENISTISCHEN GRIECHENTUMS

Die zahlreichen Einzelergebnisse derhellenistischen Religionsgeschichte zeigen immer das gleiche Bild: nie hat eine orientalische Religion sich als solche durchsetzen können. Jede ist in einem mehr oder weniger verwickelten Vorgang umgeprägt und umgeschaffen worden. Es genügt, aus der unübersehbaren Fülle des Stoffes hier nur an einiges zu er- innern. Es hat im hellenistischen Raum bekanntlich zeitweise geradezu eine Ägyptomanie gegeben, aber sie unterscheidet sich kaum von dem liebevollen Ägypten miß verständnis der Zauberflöte und der Obelisken und Sphingen der Parks von Sanssouci und Schönbrunn. Formen hat die griechische Welt von jeher aus Ägypten entlehnt, aber sie von Herodot an sogar literarisch. nachweisbar gründlich mißverstanden oder umgeschaffen. Joh. Leipoldt? hat an der Geschichte des Isis- bildes diesen Sachverhalt anschaulich gemacht; er gilt für die gesamte ägyptische Religion.. Die damit verbundenen Fragen hat Brady neuer- dings in einem kurzen Aufsatz gut gekennzeichnet. Durch das Kultbild des Bryaxis und den Tempel des Parmeniscus hat ein ägyptischer Gott erst den Paßstempel und den neuen Namen bekommen, mit dem er über- haupt in die hellenistische Welt einziehen konnte, er hat aber damit auch, sein Wesen geändert. Aus dem Totengott wird echt griechisch ein Heilgott, ein Helfer in allen Lebenslagen, ein Gott der großen Welt- politik der ersten Ptolemäer, die noch ganz griechisch dachten. Eine große griechische Frauengestalt, Arsinoe II., machte Isis zur Aphrodite und identifizierte sie mit sich selbst. Erst damit wurde sie für griechische Immanenzfrömmigkeit und Vergottungsmystik brauchbar aber ägyp- tisch war das nicht mehr. Gewiß haben griechische Siedler vom Möris- see Krokodilgötter übernommen und hat Anubis seine ägyptische Ge- stalt immer behalten‘, aber Plutarch zeigt klar, wie ein Grieche ägyp- tischen Unsinn in Sinn umschaffen konnte. Daß Isis seit ca. 200 Sarapis

ı Richtig sieht den Sachverhalt F. Cornelius, Hellenismus und Orient. Archiv .f. Kulturgesch. 24 (1934) 304/11. Nur die Ableitung des Sarapis aus Sinope halte ich für unmöglich.

* J. Leipoldt, Die Religionen in der Umwelt des Urchristentums. Haas, Bilderatlas 9/11 (1926) VI und Bilder 23—28.

s T. A. Brady, The Reception of the Egyptian Cults by the Greeks. Univers. of Missouri Studies 10 (1935) 1/88. Vgl. auch schon G. Lafaye, Histoire du culte des divinités d’Alexandrie hors de l'Égypte, 1884.

4 Noch bis in die christlichen Heiligenlegenden hinein, so in der Christo- phoroslegende (Material, doch mit anderer Deutung, bei H. F. Rosenfeld, Der heil. Christophorus. Act. Acad. Aboensis hum. 10, 3 [1937] 351 ff.) oder in der Bartholomäuslegende (vgl. Synaxar, Alex. zum 1. Tut: CSCO Ser. 3, Bd. 18, 1922).

304 Carl Schneider

verdrängt, ist aber nicht eine Folge koptischer Reaktion gegen die Grie- chen, sondern die Folge einer noch zu zeigenden seelischen Entwick- lung: es ist nichts anderes als die Verdrängung des Christus durch Maria, die Überordnung der Kybele über Attis, die Unterordnung des Herakles unter die weiblichen Gottheiten von Eleusis.

Deutliches Kennzeichen griechischer Umprägung der Isis ist vor allem die Identifikationsmystik. Schon der frühhellenistische Isiskopf aus Aschmunen im Louvre zeigt durch seine Korkzieherlocken und die Porträtzüge!, wie rasch diese griechische Gedankenwelt den Sieg über die ägyptische Herkunft davontrug. Das Beispiel der Arsinoe ahmt im Isis-Aphroditetempel von Soli die ältere Agrippina nach?, und die zahlreichen Porträtbilder von Isispriesterinnen gehören in dieselbe Linie.

Griechisch ist ferner die gerade bei Isis virtuose Fülle von Gleich- setzungen mit griechischen Gottheiten, von den einfachen Fällen der Isis-Aphrodite und Isis-Tyche zu so komplizierten wie einer Inschrift von Tivoli: Albulae Isidi C. Ostorius Italus, wo der mit Albula identi- fizierten Isis ein Dianabild aufgestellt wird? Nur auf dem Hintergrund griechischer pantheistischer Konzeptionen war eine Isis Panthea, eine Isis una quae es omnia möglich.

Nun scheint dem aber Verschiedenes zu widersprechen. Sind nicht die Isishymnen, wie W. Peek einmal behauptet hat, ungriechisch? „Nicht der Gläubige preist die Taten der Göttin, sondern sie selbst. ver- kündigt sich in ihrem Evangelium; ihr Verhältnis zum Menschen beruht auf unbedingter Autorität, sie ist Despot, ein potenzierter Pharao .... Es ist nie der Versuch gemacht worden, sie in der Form der griechi- schen Hymnen im Du-Stil zu besingen“.? Aber sowohl die schönen Isis- hymnen „Regina caeli“ und „Tu quidem“ bei Apuleius® wie.der Isis- hymnos von Oxyrhynchus® und der von Peek selbst veröffentlichte Hymnus von Gomphoi? sind im Du-Stil verfaßt. Auch der erste Teil des Satzes enthält keinen echten Gegensatz, denn auch griechische Götter verkünden oft genug ihre eigenen Taten, beanspruchen unbe- dingte Autorität und treten als Despoten auf.® Mögen diese Hymnen auch viel ägyptisches Gut unverstanden mitschleppen, das, was in ihnen ergreift und eigentlich religiös ist, sind doch griechische Gedanken oder wenigstens Gedanken, die in der griechischen Welt ihrem Wesen nach Anklang finden mußten. In dem Oxyrhynchuspapyrus finden sich nicht

ı R. Horn, Ein Isiskopf aus Aschmunén im Louvre. Rim. Mitt. 58 (1938) 87/9. 3 Vgl. Antike 9 (1938) 281 Taf. 38. 3 Not. scavi 1926, 417.

« W. Peek, Der Isishymnus von Andros. Antike 6 (1930) 325.

5 met. 11, 2. 25. ¢ Pap. Oxyr. 11, 1880.

7 W. Peek, Der Isishymnus von Andros und verwandte Texte. 1980, 135f. 8 Eurip. Bakch. 1340/51; Soph. Aias 51/67 im éyo-Stil; Trach. 1089/1111 u. 5.

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Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 305

nur eine Reihe griechischer oder griechisch empfundener Götterattribute wie yagitoddretea (Z. 10), etpoocvvy (Z. 19), pedvnors (Z. 44), dyed (2.59), &tvow (Z. 60f.), &Xevdeole (Z. 80), &yvý (Z. 86), torodsites (Z. 91), pilla (Z. 94), xeaclorn (Z. 96), xaddlorn (Z. 100), tavedmes (Z. 107), son- dern dicht neben Anspielungen an die ägyptische Kultlegende echt grie- chische Grundgedanken: sie ist Freudenbringerin, Weinspenderin ganz wie Dionysos (Z. 176/80), Schöpferin der Elemente, aus denen sich in demokritischer Weise das All zusammensetzt (Z. 184f.), bei Apuleius ist sie Geberin der Feldfrüchte wie Demeter, Schöpferin der Liebe wie Aphrodite, Kulturbringerin wie Athene; im Hymnus von Kyme wird sie in die Theogonie des Kronos als älteste Tochter aufgenommen (Z. 5), in dem von Ios und Kyme macht sie das Wahre schön (Kyme Z. 29, Ios Z. 25), in mehreren trennt sie Griechen von Barbaren (los Z. 27, Kyme Z. 31, Andros Z. 111). Sie lehrt Schénes, von Häßlichem scheiden (Ios Z. 28, Kyme Z. 32), lehrt Erbarmen gegen Schutzflehende wie die klassischen griechischen Götter (Kyme Z. 36), löst die Gefan- genen wie Dionysos (Kyme Z. 48); der Hymnos von Andros bringt zu dem allen noch bukolische Züge (Z. 84).! Schon im hellenistischen Ägypten und erst recht auf dem Missionsfeld hat Isis mindestens ebensoviel ge- nommen wie gegeben.” Peek spricht ja auch von einer „griechisch ge- machten Isis“? Archäologisch liegen die Dinge nicht anders. Gewiß gibt es rein ägyptische Darstellungen auf hellenistischem Boden, aber viel weniger in religiöser Umgebung als in modischen Villen, wo sie eben Mode sind.‘ Meist aber fehlt der griechische Zensurstempel nicht. Bei aller Seltsamkeit ist das Tanzrelief von Ariccia® ein griechisches Werk, und auch so stark ägyptisierende Darstellungen wie das Wandbild von Ostia (Abb. 1)® zeigen viele griechische Attribute: Füllhorn, Steuer- ruder, Fackeln, griechische Gewandstücke. Es ist ungefähr das gleiche Verhältnis wie die unter Palmen springenden Hasen und Rehe in einem geschnitzten Weihnachtsberg des Erzgebirge. Horus behält seinen Falkenkopf, aber er erhält einen griechischen Kranz darauf’, und Anubis verwandelt sich aus dem Gott oft genug zum treuen Wachhund.

Noch stärker ist Adonis griechisch geworden. Theokrit® und Bion® beweisen nicht nur die ästhetischen und künstlerischen Umwandlungs-

1 Vgl. dazu K. Keyßner, Gottesvorstellung und Lebensauffassung im grie- chischen Hymnus. 1932, 17; 82 Anm. 1.

2 Für die römische Kaiserzeit gut beobachtet: E. Breccia, Das römische Ägypten. Antike 13 (1937) 61/76.

3 Der Isishymnus von Andros und verwandte Texte 158.

4 Etwa die Villa des Ti. Claud. Eutyches in Boscotrecase: Not. scavi 1922, 470.

$ Not. scavi 1919, 106/12. © Not. scavi 1915, 247. 7 Vgl. Fresco von Rocca di Papa. Not. scavi 1926, 406 f. 8 buc. 15. buc. 1.

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 2 20

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möglichkeiten, sondern auch die Hellenisierung der Kultformen und der dahinter stehenden religidsen Gedankenwelt. Griechischer kann ein Ge- bet kaum sein als die Schlußformel von Theokrit: yeioe "Adwv cyarearé nab yoloovtas apinev oder die Refrainformel bei Bion: aidfw tov "Adw- viv, ammlero xaddc "Adwrvic’ WAEro unalog “Adwvic. Aus dem ungezähmten syrischen Vegetationsgott ist,der p/Aos "Adwvıs geworden, der schließ- lich zum hellenistischen Rokoko! genau so gehört, wie die „orienta- lischen“ Figuren zum echten Rokoko. Er ist eben auch dem inneren Ge- setz der griechischen Entwicklung gefolgt und hat dabei sein orienta- lisches Gepräge immer mehr abgestreift.

Bei Attis und Kybele war das wesentlich schwieriger, weil hier ganz ungriechische Züge wie die Entmannung eine Kernstellung im Kult- mythos hatten. Trotzdem ist es gelungen. Auch hier gab es verschie- dene Wege. Nahe lag die Verbindung der Kybele mit Rhea, aber auch mit dem apollinischen Kreis ist sie schon in frühhellenistischer Zeit ver- bunden worden.” In einer echt hellenistisch-rührseligen Geschichte ist sie die Schutzflehende, die bei Apoll für ihren Sklaven Marsyas knieend eintritt. Ihre orientalische Wildheit und Hoheit hat sie hier ganz ver- loren. Auch mit Dionysos wird die Verbindung hergestellt: die Kybele- terrakotte der Sammlung Sabouroff zeigt sie in einem korinthischen Tempel sitzend von 6 Mainaden umgeben.? Ein ganz besonders schönes Beispiel der Einschmelzung ist der Silberteller von Parabiago‘, der 1907 an der Via Maggiolini in Mailand gefunden wurde (Abb. 2). Unorienta- lisch ist Bewegung wie Komposition des Stückes, aber ebenso seine Durchsetzung mit bukolischen Motiven, seine naturnahe Darstellungsart, seine Raumerfüllung. Helios und Luna geleitet von Hemera und Nyx stellen oben den griechischen Himmel dar, während unten die griechische Erde in einer Lebendigkeit wiedergegeben ist, die den ganzen Reichtum und die ganze Fülle hellenistischer Gestaltung in später Zeit noch ein- mal zeigt: die Quellnymphe Sangaris mit einem Schilfrohr, ein Jüngling bei ihr mit einer Blume, vier Eroten, die deutlich als die vier Jahres- zeiten gekennzeichnet sind und auf blumiger Wiese tanzen, Okeanos und Thetis in der Tiefe, umspielt von Fischen, Tellus und 2 Eroten auf

1 Schon auf den Adonisvasen des 4. Jahrh. Schöne Beispiele in Berlin: K. A, Neugebauer, Führer durch das Antiquarium. II. Vasen. 1932, 134: Inv. 3248; F. 2705, 2706 und die dort angegebene Literatur. Für kampanische Wand- gemälde außer der Casa d’Adone in Pompeji noch O. Elia Pitture murali e mosaici nel Museo Nazionale di Napoli. Le Guide dei Musei Italiani 1989, Nr. 58; 62.

2 E. Galli, Marsia Sileno. Atti Linc. 1920.

3 C. Schneider a. a. O. 867.

R. Istituto d’Archeologia e Storia dell'Arte. Opere d’Arte 5: A. Levi, La Patera d’Argento di Parabiago, 1935.

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einem prächtigen Ahrenbiindel, um das Salamander, Zikade.und Schlange kriechen. Himmel und Erde schauen nun auf die Mittelszene. In einer römischen Quadriga, der nicht einmal die Nike fehlt nnd die von wunder- voll lebendig-naturnahen Löwen gezogen wird, thronen Kybele und Attis, nur durch ihr geläufiges Zubehör Tympanon, Mauerkrone, Pinienzapfen, phrygische Mütze und Pedum kenntlich; die Syrinx ist schon griechische Zutat. Kybele trägt ein langes, faltiges Himation mit Streifen, Attis lange Ärmeltunika mit Chlamys. Sie sehen nicht starr den Beschauer an wie orientalische Götter, sondern blicken einander vertraut an wie ein griechisches Liebespaar. Die Korybanten, die sie umtanzen, der Atlas, der den Zodiakalkreis trägt, der Kairos mit dem Zepter tragen völlig griechisches Gepräge. Ungriechisch ist nur der Zodiakalkreis selbst, aber er ist aus dem mit innerer Notwendigkeit entstandenen hellenistischen Schicksalsglauben mühelos zu verstehen. Ungriechisch ist endlich der schwer zu deutende Schlangenobelisk. Wenn auch nicht ganz unmöglich ist, daß hier Vorstellungen, wie wir sie aus dem Asklepios- kreis kennen, zugrunde liegen, näher scheinen hier aus dem Osten kom- mende Vorstellungen zu liegen, die etwa auch Joh. ev. 3, 14 begegnen. Die Bedeutung der ganzen Mittelszene wäre dann die: Wir stehen in dem Kairos (der Jüngling im Zodiakalkreis trägt apollinische Züge; Vergil bezeichnet diesen Augenblick in der 4. Ekloge: iam tuus regnat Apollo), in dem die Götter Hochzeit und Triumphzug feiern und die böse Schlange unschädlich an einem Stein aufgehängt ist. Orientalische Formen sind also noch leise erkennbar, aber sie dienen alten, seit Hesiod deutlich nachzuweisenden griechischen Gedanken.

Ein weiteres, freilich weniger durchgeformt griechisches Beispiel gibt die Kybelemitra von Bonn (Abb. 3—5).! Die beiden äußeren der fünf Bilder zeigen kynische Wanderphilosophen in der üblichen Tracht.? Die Attisreligion wird also als eine Art Kynismus interpretiert, was zwar ihrem ursprünglichen Wesen in keiner Weise entspricht, aber dann mög- lich war, wenn man etwa die Entmannung als asketische Leistung im Sinne der Kyniker allegorisierte und damit fortinterpretierte. Attis selbst, der im Mittelbild steht, trägt ausgesprochen hermaphroditische Züge. Man kann bei einer solch nahen Verwandtschaft mit der Popular- philosophie wohl vermuten, daß hier irgendein Mythos von einem zwei- geschlechtigen Urmenschen mit Attis in Verbindung gebracht worden ist, der seinerseits die unbequeme Entmannungsgeschichte hinwegallego- risiert. Besonderes Gewicht hat der Künstler diesmal auf die Pinie ge- legt, hier zeigt sich bukolischer Einfluß. In den beiden Feldern links

ı Die schönen Aufnahmen verdanke ich Frl. Dr. Hagen in Bonn. 2 Zum Typus vgl. den Schalenboden aus Korinth, TC 7521: Neugebauer a. a. O. 196. 20*

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und rechts von Attis erscheinen die drei griechischen Lieblingsgötter der Zeit, alle drei sind Attis freudig zugekehrt. Links befindet sich Hermes mit dem Dionysosknaben auf dem Arm in der bekannten Form, rechts Apoll mit dem heiligen Zweig. Alle drei sind ganz in der Stimmung der Zeit nach geläufigen Vorbildern mit nur leichten individuellen Zügen wiedergegeben. So ist Attis auch hier fest in die griechische Erlebnis- und sogar Formenwelt eingeschmolzen. Attisweihreliefs! tragen ganz griechisches Gepräge und lehnen sich an die Asklepiosvotive an, statt des Pedum erhält Attis da gelegentlich die Keule des Herakles. Veilchen- strauß, Pinienzapfen und Granatäpfel als seine Attribute entsprachen der idyllischen Stimmung.” Auch die melancholischen Attisfiguren auf Grab- stelen und verwandten Darstellungen? sind ganz griechisch empfunden. Was man als Heilgüter von Attis erwartet, ist griechisch und römisch gedacht: edruz/a und põç4, salus et reditus et victoria. Selbst die Weihe scheint eleusinisch-dionysische Züge angenommen zu haben. Trotz des feinen Empfindens für die ursprüngliche Fremdheit hätte Catull Dionysos nicht viel anders besingen können als er Attis besang’, und an einer wichtigen Stelle teilt Hippolyt® mit, daß ein Attisgläubiger den Attis „nicht mit dem Kymbelklang noch mit dem Flötenschall der idäischen Kureten preisen will, sondern zur Leier des Phoibus Euoi und Euan singen will wie Pan, Bakchos, wie der Hirt der leuchtenden Sterne“. Selbst ein so später Ankömmling wie Mithra ist in die griechische Welt ganz anders eingegangen, als er kam. Zeigt das mithrische Haupt- bild trotz seiner Herkunft von der griechischen Darstellung des tier- tötenden Menschen noch viel Fremdes, so zeigen die mithrischen Neben- szenen umso klarer, wie stark der Gott in das Griechische eingegangen ist. E. Wüst hat die Identifikation des Mithra mit Phaeton in allen Einzelheiten aufgewiesen.? Das Mithräum von Sta. Maria di Capua Vetere gibt wertvolle Einblicke in den hohen Grad griechischer Umformung, die Mithra in Unteritalien erlitt!%: außer der üblichen Verbindung mit

1 Ein besonders schönes Beispiel das Attisweihrelief im Museo di Scultura Antica in Venedig, vgl. Roscher 1, 725 f.

2 Vgl. die Athener Attisstatuette. Hesperia 4 (1935) 396 f.

3 Schöne Beispiele aus Schiavonia und Boretto. Not. scavi 1932, 87 u. 180.

* Römische Inschrift. Not. scavi 1922, 81/87. |

5 Inschrift von Ostia: Not. scavi 1916, 424.

° Vgl. die bekannten Weiheformeln Clem. Alex. protrept. 2, 15, 3: Firm. Matern. err. 18, 1.

7 carm. 63.

° Elengchos 5, 9, 9: “Arey dpvijom roy Peins Ob xudavav ctv BouBorg Odd’ alla “Idaiwv Koveýrov puxnra. Ada’ elo DoBelaw wlio Moõsav ooplyyar: ebol, Eddy, œs Ilav, ws Banyds, os worum levudy &oromv.

° E. Wüst, Über einige Probleme der Mithrasmysterien. ARW 32 (1985) 211/27.

10 Not. scavi 1924, 858/75.

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Helios erscheinen hier Eros und Psyche, Lorbeerbäume, ein Hahn, Fackeln, alles alte griechische Kultsymbole. Uber die Aufnahme der vier Winde in die Mithraseschatologie hat Cumont neuerdings Material gesammelt.! Auch die interpretatio keltischer und nordischer Gottheiten geht folge- richtig dieselben Wege. Zur echten griechischen Umformung des Friih- christentums, auf die hier nicht weiter einzugehen ist, ist in den letzten Jahren soviel Material gesammelt worden, daß es nur verarbeitet zu werden braucht.” Hat man doch selbst in einfachen Katakombeninschriften das christliche Symbol, das fremd wirken mußte, gern durch ein der griechischen Welt vertrauteres, ein griechisches Buchstabenmonogramm oder das Hakenkreuz interpretiert (Abb. 6 u. 7). l

Gewiß hat der Osten gegen diese Umformung gelegentlich rebelliert. Curtius hat wohl recht, wenn er die Durakunst als „das früheste Symptom der Rebellion des unterdriickten Ostens“ ansieht.” Aber es hat ihm nichts geholfen. Solche Rebellionen enden, wie etwa die Gro- teske Elagabals, kläglich oder komisch. Als die Germanen sich die An- tike aneignen und nun ihrerseits geistig umprägen, übernehmen sie nicht ein orientalisches Geisteserbe, sondern eine zwar oft äußerlich orienta- lisch erscheinende, aber im Grunde griechisch und römisch gewordene Geisteswelt, die sich nur in einer von innen her zu verstehenden Gesetz- mäßigkeit „hellenistisch“ entwickelt hatte.

III. DIE VORHELLENISTISCHEN UMFORMUNGEN. DIE UMFORMENDEN KRÄFTE

Seitdem es griechische Geschichte gibt, gibt es das Problem der An- eignung, Umformung oder Ablehnung des Orientes. Die Geschichte des Kultbaus, der Vasenmalerei, der vorhellenistischen Philosophie zeigt immer wieder das gegenseitige Geben und Nehmen, aber auch Abgrenzen, Zurückweisen und Umgestalten.® Selbst ausgesprochene griechische Philo- sophen wie die Aristoteliker haben den Orient nicht nur als „Forschungs- objekt“® betrachtet, sondern wertend oder abwertend zu ihm Stellung genommen. Der Hellenismus ist also keineswegs etwas Neues und unter-

ı Cumont, Les Vents et les Anges psychopompes. Pisciculi 1939, 70/5.

2 Eine reiche Materialsammlung stellen die 5 Bände der Zeitschrift Antike und Christentum dar, von der freilich vieles noch der Deutung bedarf.

3 Selbst noch in so komplizierten Fallen wie der Grabschrift aus Rom von 868. AuC 1 (1929) 299/815 und Tafel 16 mit Kranz, einem dem delphischen E ähnlichen Zeichen und dem Hakenkreuz.

4 L. Curtius, Winckelmann und unser Jahrhundert. Antike 6 (1930) 93/126.

5 Besonnene Bemerkungen bei H. Thiersch, Die Kunst der Griechen und der alte Orient. Antike 9 (1933) 208/44.

¢ So F. Dirlmeier, Peripatos und Orient. Antike 14 (1938) 120/36.

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scheidet sich von der Periode der ,,orientalisierenden“ Vasenmalerei, der Naukratisperiode, der Auseinandersetzung mit der thrakischen Geistes- welt, der Entstehung „orientalisierender“ Philosophien etwa des Pythagoreismus oder der frühen Stoa in seiner Haltung zum Orient nicht. Das Griechentum hat sich nie abgesperrt, sondern immer erobert. Was Alexander mit den Waffen tat, hatte der griechische Geist schon seit Jahrhunderten getan: seine Rezeption des Ostens hatte den Osten “ungefährlich gemacht und außer Kraft gesetzt. Nur tritt das alles im Hellenismus heller ins Licht der Geschichte und zeigt deshalb auch die Risse und Sprünge deutlicher.

~ Religionsgeschichtlich besagt das, daß es schon zu Beginn der helle- nistischen Zeit Formen griechischer Religiosität gab, die bereits die Um- formung orientalischer Gedanken vollzogen hatten oder die ihrer Art nach geeignet waren, in den hellenistischen Raum eindringende orien- talische Religionen umformen und interpretieren zu helfen. Seit Sappho! und Pindar? lassen sich in der griechischen Frömmigkeit Mysterien- formeln nachweisen, die sich in der hellenistischen Zeit fast wörtlich wiederfinden, mögen sie nun auf Attis, Mithras, Christus oder irgend- einen anderen Kultgott übertragen werden. Sie enthalten gerade das Zentrale dieser hellenistischen Religionen: den Gedanken der Wieder- geburt, der ewigen Trennung von Geweihten und Ungeweihten, das Fortleben nach dem Tode. Das ist alles nichts Neues, ja nicht einmal für den Hellenismus Charakteristisches, sondern altes griechisches Kultur- gut, das unbedenklich längst überall aufgenommen ist.

Vor allem Eleusis hat formende Kraft ausgeübt. Je weniger Eleusis selbst missioniert hat, um so mehr hat es die hellenistischen Religionen entscheidend bestimmt. Noch die byzantinisch- griechischen Liturgien erben weithin Eleusinisches einfach fort.” Wie in Eleusis wird in der byzantinischen Kirche nicht Brot und Wein beim Kultmahl genossen, sondern ein Brotbrei gleich dem eleusinischen Kykeon mit dem Löffel ausgeteilt, der wie das eleusinische Kultmahl auf nüchternen Magen ge- nossen wird. In schlichter Prozessionsform ohne großen theatralischen Aufwand wird in Eleusis die göttliche Katabase dargestellt, genau so wiederholt es die byzantinische Kirche in ihrem kleinen und großen Ein- zug. Die Elevation der Ähre mit einer kurzen Elevationsformel hat ihre Analogie ebenso wie die Mutterschoßsymbolik: noch Dionysios Areo- pagita nennt das Taufbecken pyre tis viodeolas.?

Aber die Einflüsse gehen noch weiter. Von Eleusis konnten die helle-

ı Fragm. 90/93 (Haines). 2) Fragm. 137 (Schröder).

3 C. Schneider, Das Fortleben der Gesamtantike in den griechischen Litur- gien. Kyrios 1989/40. Im Druck.

4 Eccl. hier. 2,2,7.

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nistischen Religionen die Bedeutung eines Hieros Logos lernen, hier fanden sie die sakramentale Wichtigkeit des Brotes, hier lernten sie die Notwendigkeit einer doppelten Weihe mit wiederholbarem und unwieder- holbarem Sakrament, hier begegnete ihnen der geheimnisvolle numinose Schauer des Adyton, hier fanden sie die Riten des Verhiillens und Ent- hüllens, und, was entscheidend ist, hier fanden sie religiöse Erlebnisse und theologische Zentralidee. Demeter ist das Bild, nach dem sich die ägyptische Isis und die asiatische Kybele formt und Harpokrates wird zu Triptolemos. Die große eleusinische Prozession vom 19. September erscheint hellenistisch aufgelockert in der Isisprozession des Apuleius und in mittelmeerländischen christlichen Prozessionen bis heute wieder. Wenn Mithras sogar im Altbachtal bei Trier eine Bühne braucht und die byzantinische Kirche an das Proskenion erinnert, geht das auf eleu- sinische und dionysische Tradition zurück. Im Telesterion von Eleusis gibt es Stufen, auf denen die Mysten zuschauend standen von hier aus erklärt sich das Zuschauerpodium auf dem Isisrelief von Ariccia und ähnliche Erscheinungen besser als aus orientalischer Herkunft. Mit Wänden und Vorhängen ist das eleusinische Anaktoron abgetrennt wie der Altar- raum der byzantinischen Kirche. Selbst das eleusinische Opaion kehrt in den Mithräen wieder. Hat aber, wie Körte mit Recht nachwies, der Wiedergeburtsgedanke im Mittelpunkt der Frömmigkeit von Eleusis ge- standen, dann brauchen wir für den Hellenismus auch hierfür keine öst- liche Quelle. Schon Eleusis hat ferner die im Hellenismus so beliebte Göttergeburt: fsgòv Erexe nörvia xoteov Botwo Bọruóv.! Von Eleusis konnte man Auferstehungshoffnung und Eschatologie nehmen, ist doch der Gefühlsgehalt des Wortes ’Eievols kein anderer als der des apoka- lyptischen 6 éoyouevoc.” Endlich ist es die eleusinische Ethik, die sich in allen hellenistischen Religionen wiederholt: Liebe zu Mensch und Tier, Ehrfurcht vor den Göttern, kurz die Verpflichtung zu neuem Leben auf Grund der Weihe: Anunteo n Poéwaca thv euhv poEve, elval ue tv ody üblov uvornolav.?

Genau das gleiche ethische Schema benutzt das hellenistische Christen- tum: der Gott muß dem Geweihten zu Hilfe kommen, damit er ein der Weihen würdiges Leben führt, um das er sich aber ernsthaft mühen muß. 4

Der andere große Umformer ist Dionysos gewesen? Schon die un- geheure Ausbreitung des beweglichen Gottes von vorhellenistischer Zeit

ı Hippol. El. 5, 8, 40. 2 Apok. Joh. 1,4 u. 3 s Aristoph. ranae 886 f. ‘In einem dionysischen Bild Joh. 15, 1—10. 5 Material bei Joh. Leipoldt, Dionysos, 1931.

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(schon die Münchener Exekiasschale zeigt ihn auf Reisen) bis zum letzten Ausklang der Antike weist darauf hin, daß er vielleicht die gewichtigste Stellung in der Entwicklung der hellenistischen Religionsgeschichte hat. Selbst in das „rebellierende“ Dura ist der griechische Gott eingezogen.!

Hat für das eigentlich Mysterienhafte Eleusis die größere Rolle ge- spielt, so hat Dionysos die entscheidende Wendung zur Gemeindebildung gegeben. Daß die hellenistischen Religionen fast immer gemeindemäßig geordnet sind, dürfte hier seine entscheidende Wurzel haben. Seit Dio- nysos überhaupt auf griechischem Boden festzustellen ist, hat er seinen Thiasos. Die „charismatische Gemeindeverfassung“, die in der Früh- geschichte des Christentums eine so grofe Rolle spielt, ist ebenso einfach Fortfiihrung dionysischer Gemeindeform wie die anderer hellenistisch- orgiastischer Gemeinden. Aber jede pneumatische Gemeindebildung muß von selbst zu festeren Formen schreiten: die seit Ptolemaios IV. deut- lich nachweisbare Klerikalisierung der Dionysosthiasoi, die ihren Höhe- punkt in der großen Inschrift von Tusculum hat, versteht sich aus einem inneren Entwicklungsgesetz ganz von selbst und ist seither bei den helle- nistischen Religionen immer wieder oft sicher ganz bewußt nach- geahmt worden. Man braucht wirklich nicht erst nach dem Orient zu gehen, um das zu verstehen.? |

In Dionysos besaß das vorhellenistische Griechentum längst den My- thos vom sterbenden und auferstehenden Gott.? Bei der Beliebtheit, die der Gott überall im hellenistischen Raum besaß, wundert es nicht, daß die 'hellenistischen Religionen diesen dionysischen Mythos immer wieder formen. Am deutlichsten erweist sich das Johannisevangelium als eine unter bestimmten Gesichtspunkten erfolgte Umdichtung des dionysischen Mythos, wie schon Joh. Leipoldt richtig sah, aber auch in allen an- deren hellenistischen Mythen von Göttergeburt und Göttersterben spürt man die gestaltende Hand des Dionysos.

Dazu kommt sehr vieles im hellenistischen Kultus. Joh. Leipoldt hat ebenfalls festgestellt, daß in der Entwicklung der Meßliturgien dio- nysische Einflüsse „mit Händen zu greifen seien“. Die Enthüllung des Liknon, die Weinstocksymbolik, der kultische Tanz, die Gottesgewan- dung und die damit verbundene Gewandmystik, die kultische Bekrän- zung® sind wesentliche Bildungselemente der hellenistischen Religionen geworden.

1 F. Cumont, Fouilles 238/40.

2 M. P. Nilsson, En Marge de la grande Inscription Bacchique. Studi e Materiali di Storia delle Religioni 10 (1934) 1/18 hat das zu wenig gesehen.

3 Gute Bemerkungen bei W. F. Otto, Dionysos, 1938, 175/87.

4 Leipoldt a. a. O. 49.

5 K, Kerenyi, Studi e Materiali 11 (1935) 11/40.

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Von seiner orientalisierenden Hypothese her konnte Cumont der Orphik nicht viel Raum gewähren. Aber so umstritten die Verbreitung orphischer Gedanken im hellenistischen Raum noch immer ist, allein die Bedeutung des Namens Orpheus bis zu den Neuplatonikern beweist, daß orphische Gedanken der hellenistischen Entwicklung nicht fremd sind. Wieder haben wir es mit altem vorhellenistischem Gut zu tun: das Er- gebnis des Streites Wilamowitz- Erwin Rohde hat Nilsson richtig zu- sammengefaßt: „There is plenty of evidence for the fact that mystic, ascetic, and cathartic religious ideas were widespread in the archaic age and.appealed strongly to the people“ Von der Orphik hat der Hellenismus insbesondere die Hochschätzung heiliger Schriften?, viel Eschatologisches und Apokalyptisches, vor allem aber Anthropologisches. Der Mensch als Doppelwesen, der der Wiedergeburt bedarf, ist vom Orphischen her verständlich und hat im Hellenismus nur die verschie- densten Gewänder angezogen.

Noch viele andere Göttergestalten und Kulte verbinden die helle- nistischen Religionen mit der klassischen und vorklassischen Zeit: Pan, der schon bei Pindar ceuvév ddurwv pviakg? ist, die Götter von Samo- thrake, ‘die die „hellenistische“ Beichte bereits ausübten und in die Philipp von Makedonien und die Mutter Alexanders eingeweiht waren $, die Dioskuren, denen sogar das Neue Testament ein ehrenvolles Denk- mal setzt, festgeformte Mysterien wie Andania, die, wie Guarducci nachgewiesen hat‘, ihrerseits wieder von Eleusis auf stärkste befruchtet | sind. Vor allem die Heraklesverehrung, besonders nach ihrer Verbindung mit dem Kynismus, hat den hellenistischen Religionen entscheidende Züge verliehen; F. Pfister hat mit Recht die Evangelien im Lichte des Heraklesmythos gesehen.” Schon bei Pindar ist ja Herakles der Mittler, der betend für die Menschen eintritt.? Seine Bedeutung für die Interpretatio ist bis nach Germanien gedrungen.?

Dazu kommt die schöpferische Kraft des griechischen Heroenkultes, über die in den letzten Jahren so viel geschrieben ist, daß nur daran erinnert zu werden braucht und der Philosophien, insbesondere des Neu- pythagoreismus, des Epikureismus, des Kynismus und vor allem die Stoa mag als am wenigsten griechisch hier ausschalten Platons. Man kann getrost sagen, daß alle großen Grundschemen und Grundgedanken

1 M. P. Nilsson, Early Orphism and Kindred Religious Movements. Harvard Theol. Review 28 (1935) 184.

2 Vgl. O. Kern, Die griech. Mysterien der klassischen Zeit. Antike 6 (1930) 802/23. | F Fragm. 95. 4 Plut. Alex. 2,2; Curt. 8, 1, 26. 5 Act. 28, 11.

6 M. Guarducci, I culti di Andania. Studi e Materiali 10 (1984) 174/204.

? F. Pfister, Herakles und Christus. ARW 34 (1937) 42/60. 8 Isth. 6. ° Vgl. neuerdings F. J. Dölger, AuC 4 (1934) 149 f.

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der hellenistischen Religionen verkleideter Platonismus sind oft da, wo man sie gar nicht vermutet. Die platonische Polis wird zur apoka- lyptischen Himmelsstadt, das platonische Abstiegs- und Aufstiegsschema formt alle Mythen um: Abstieg und Aufstieg der Götter oder der Seelen ist das ständige Thema der hellenistischen Religionen geworden. Pla- tonisch ist das hellenistische Theologumenon von Urbild und Abbild; wo eine Religion behauptet, ein Abbild des Göttlichen (eix»v 9:00?) zu besitzen, verrät sie schon platonischen Einfluß. Platonisch ist der Ana- mnesisbegriff, den die hellenistischen Religionen vor allem für ihre Sakra- mentslehre gut gebrauchen konnten: schon Paulus hat ihn für das früh- christliche Kultmahl verwendet.? Die Bedeutung der Pamphyliervision für den gesamten Hellenismus ist schon längst erkannt.* Ja, schon die Spätantike hat gewußt, daß selbst die orientalisierendste Form helle- nistischer Religion, die Gnosis, doch nur schlecht getarnter Platonismus war.’

_ IV. DIE INNEREN ENTWICKLUNGSGESETZE DER HELLENISTISCHEN RELIGIONSGESCHICHTE

Diese formenden Kräfte erklären aber noch nicht alles. Die Reli- gionsgeschichte ist immer nur ein Sonderfall der gesamten Geistes- geschichte, ja, der Gesamtgeschichte einer Epoche und darf deshalb nicht von ihr losgelöst werden. Damit entsteht von selbst die Frage, warum gerade diese genannten formenden Kräfte so stark zum Durch- bruch gekommen sind. Hier muß nun die Psychologie die Geschichte ergänzen. Es ist zu fragen, welche seelischen Mächte und Gesetzmäßig- keiten die Entwicklung gerade so und nicht anders verlaufen ließen. Ist es möglich, eine seelische Entwicklung der hellenistischen Zeit zu er- kennen, die sich ganz selbstverständlich von innen her vollzogen hat, die mit der griechischen Entwicklung zum Hellenismus hin und ana- log mit der römischen untrennbar wesensnotwendig gegeben ist und die sich keineswegs durch fremde Einflüsse erklärt, sondern gut grie- chisch und römisch bleibt, auch wenn sie sich orientalischer For- men bedient. Hat die Ausweitung des Griechentums zur Weltkultur und des Römertums zum Imperium nicht seelische Veränderungen ganz von selbst im Gefolge gehabt, die aus der Gesamtlage heraus verstanden werden müssen und können. Auf diese Weise ergeben sich für die helle- nistische Religionsgeschichte eine ganze Reihe innerer Entwicklungs- gesetze. |

ı Vgl. schon H. Koch, Pseudo-Dionysios Areopagita in seinen Beziehungen zum Neuplatonismus und Mysterienwesen, 1900. C. Schneider, Fortleben. Abschn II. 2 1. Kor. 11,7; 2. Kor. 4, 4. 3 1. Kor. 11, 24¢.; Lk. 22, 19. . 4 H. Koch a. a. O. s Plotin enn. 2, 9, 6.

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1. DIE AUSWEITUNG ZUR GROSSWELT

Einer der Wesenszüge der hellenistischen Götter ist „der Trieb nach der maBlosen Erweiterung der Machtfülle einer Gottheit, die durch die Hinzunahme aller möglichen Gotteskräfte, Göttervorstellungen, Attri- bute und Epitheta ins Unendliche gesteigert wird‘! Aber ist das wirk- lich echt orientalisch? Liegt hier nicht eine ganz natürliche Entwick- lung vor? Die griechische Welt wuchs ins Weite: von den Säulen des Herakles bis nach Indien und vom Pontus bis zum Nil. Sollten die Götter nicht auch wachsen ? Der viel beachtete hellenistische Drang zum Mono- theismus? war eine Folge der Entwicklung zu Einheitsstaaten. Wenn ein Gott oder eine Göttin einer Polis zum Weltgott werden sollte, dann mußte sie ja neue Attribute annehmen. Dazu konnte mancher Weg ge- gangen werden. Man konnte zunächst einfach summieren. Schon an einer so zentralen Stelle wie Olympia errichtete man Altäre Yeois näcıv èv xoivæ. Man konnte aber ebenso die eroberten Götter einfach aufsaugen und mit ihnen ihre Attribute. Hier war es ganz unbedenklich, orienta- lische Formen, Gebetsstile, Aretalogien zu entlehnen, wenn man sie nur griechisch verstehen konnte. Eine so ungriechische Gestalt wie der Baal von Heliopolis* muß dazu dienen, den römischen Juppiter zu verherr- lichen, so wie vorher die ägyptischen Gottheiten in der Gestalt des Sarapis des Bryaxis den griechischen Zeus zum Allgott erweitern und seinen Triumph über Ägypten anzeigen mußten. Die Heis-Zeus-Sarapis- formel ist geradezu richtunggebend. Sie zeigt, daß bei allen Namens- verschiebungen nicht Zeus von ägyptischen Gottheiten verschlungen wird, sondern in Sarapis seine Herrschaft über Ägypten antritt, damit aber über sich selbst hinauswächst so wie Dionysos Herr über Indien wird oder Artemis über Asien, indem sie die alte Herrin von Ephesus einfach verschlingt und dabei selbst wächst.

Noch ein anderer Umstand hat die Götter vergrößern helfen: die Entwicklung von der Polis zur Großstadt und Weltstadt. Von einer Überschätzung der Polis aus hat man der hellenistischen Weltstadt oft Unrecht getan und ihre Schattenseiten überzeichnet. Es gilt auch hier konkreter zu sehen. Sowenig jemand ernstlich wünschen kann, daß Berlin, München oder Leipzig auf der Stufe einer ostpreußischen Klein- stadt hätten bleiben sollen, sowenig darf man es als Entartung beurteilen, daß Rom kein Bauerndorf geblieben ist und Korinth und Antiocheia Weltstädte wurden. Auch die antike Großstadt hat nicht nur Asphalt-

‚+ S. Eitrem, Die magischen Papyri. Klio 18 (1922) 251. 2 E. Peterson, Heis Theos. 1926. 3 Pausan. 5, 15,1; vgl. auch 5, 14, 8. ¢ Vgl. R. Noll, Neue Denkmäler aus dem Kulte des Juppiter Dolichenus. N. Jbb. 1989, 207/16. S. Ronzevalle, Jupiter Heliopolitain, 1937.

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316 Carl Schneider

kultur hervorgebracht, sondern mehr echte Kultur als das Land und mindestens ebenso viel wie die Polis. So bedeutet auch die Verstädte- rung der hellenistischen Götter oft einfach eine Ausweitung. Der Groß- städter hat mehr Bedürfnisse: deshalb werden die Gebete länger, des- halb müssen aber auch die Götter mehr und neue Fähigkeiten haben. Überblickt man einmal eine große Masse hellenistischer Gebetsliteratur, dann wird man erkennen, wie vieles oft als orientalisch Ausgegebene einfach Großstadtbedürfnis ist: Bitten um Arbeitserfolge, um Bewahrung

auf Geschäftsreisen und Seereisen, um Reichtum und allerlei Zivilisa-

tionsgüter. Archäologisch häufen sich die großstädtischen Götterattri- bute: der Geldsack des Hermes, das Steuerruder der hellenistischen Normalgöttin, die Mauerkrone, die, wenn sie auch orientalischer Her- kunft ist, doch nur noch den Stolz auf die wohlummauerten hellenisti- schen und römischen Städte ausdrückt, une alle möglichen anderen Sym- bole stolzen Städtertums.

Es ist reizvoll zu beobachten, wie sich die Ausweitung und Größe der Weltstadt in den hellenistischen Hymnen spiegelt. Wenn in ihnen von Höhe, Breite und Tiefe gesprochen wird!, so erinnert das geradezu an hellenistische Stadtplanung, wenn eine Göttin multiformi specie, ritu vario, nomine multiiugo? verehrt wird, so erinnert das an das bunte Ge- wimmel in einer solchen Stadt. IIloAuvuoeyos wird ein Lieblingsattribut der hellenistischen Götter: es charakterisiert ebenso die hellenistische Stadt. |

Endlich hat das Imperium und haben vor ihm die Diadochenreiche die Ausweitung der Götter veranlaßt. Die mechanische Art, jede Gott- königsbezeichnung für orientalisch zu erklären, ist auch hier ungenügend. Die Begründung der großen griechischen Weltreiche brachte es einfach mit sich, daß nicht nur der Herrscher vergöttlicht, sondern daß auch die Götter analog zu diesen Herrschern erlebt wurden. Die Gottes- bezeichnungen Pactietc, xúgros, deondtys, mavtoxedtwe, duvdorns, ńyeuðv

. sind nicht gedankenlos übernommene orientalische Importware, sondern

Ausdruck des echten religiösen Erlebnisses, daß in einem Diadochenreich nur der Gott sein kann, der Weltherrscher ist und im römischen Imperium erst recht. In diesen Staaten nimmt aber Recht und Gesetz eine ganz andere Stellung ein als in der alten Polis: man darf sich da- her nicht wundern, wenn die Götter immer mehr juristische Qualitäten bekommen. Schon bei Plato stand die dixa:oovvy an hervorragender Stelle: die großen Staatsschöpfungen haben das Problem der Gerechtig- keit immer dringender vor dem Menschen hingestellt, und so bedurfte es nicht erst des Orientes, um diese Probleme auf die Götter zu über-

1 Eph. 3, 18. 2 Apul. met. 11,5; 24; 28. p

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 317

tragen. Alle Isishymnen legen davon ebenso Zeugnis ab wie die früh- christlichen Spekulationen um vóuoç und dixctocdvn oder der stark juri- stische Mithras, doch auch Herakles und selbst Dionysos sind in der hellenistischen Welt Rechtsschöpfer und Rechtsgaranten.

Der Pap. Oxyr. 1380 erweist das Gesagte vielleicht am eindring- lichsten. Das Reich der Göttin spannt sich so weit die griechische Welt reicht und die archaische Form darf über den echt hellenistischen In- halt nicht täuschen: von Indien über Persien und Arabien, Kleinasien, Pontus, die ägäischen Inseln, Kypern, Syrien, Ägypten, Kyrene, Kreta, Griechenland bis nach Italien mit Rom geht ihr Herrschaftsbereich, hier ist sie &vaoon und xvol« dans ydous. Genaue Parallelen bietet die Aus- weitung des Dionysos bis hin zu Nonnos, der Siegeszug des Mithras von Persien bis Nordbritannien oder die Ausweitung des Christenkultes, wie ihn zuerst die Lukasakten! hellenistisch formuliert haben.

2. DER BLICK FÜR DAS KLEINE. VERWEIBLICHUNG UND VERKINDLICHUNG

Der Hellenismus hat zwei scheinbar entgegengesetzte Pole. Neben dem Drang ins Weite und Große steht der Blick für das Zarte und Kleine, neben der großen Dynamik der pergamenischen Plastik das Still- leben des pergamenischen Mosaiks. Aber auch dieser zweite Pol hat seine griechische Geschichte. Schon die homerischen Gedichte sind voll von intimen Szenen und idylihaften Episoden. Das gilt auch für die Religionsgeschichte. Schon die homerischen Götter tragen kleinste Züge des Menschlichen, und die Götterparodie hat hier ihre Wurzel und nicht erst in der griechischen Aufklärung, mag diese sie auch erst zu einem Kampfmittel gemacht haben. Die griechischen Götter sind meist im Gegensatz zu den orientalischen immer immanent gewesen. Wenn der Hellenismus das nur noch steigert, so hängt das wieder mit der Gesamt- entwicklung zusammen: eine Zeit, die mehr auf den Menschen in seinem Alltagsleben achten muß, die in dem Zusammenleben der Großstadt die kleinen Alltagssorgen und -nöte besser erkennen muß, spiegelt das auch in ihren Göttern wieder. Der Grieche hat immer über seine Götter lachen können, die Phlyakenvasen sind nur die gradlinige Fortsetzung griechischer Gottmenschlichkeit. Auch den hellenistischen Christen gilt: Gott muß mit Menschen menschlich reden. So behalten die hellenisti- schen Götter wie die vorhellenistischen alle menschlichen Gefühle, Stim-

ı Vgl. auch Rom. 16, 5/9. |

2 P. Friedländer, Lachende Götter. Antike 10 (1984) 209/26; H. Kleinknecht, Die Gebetsparodie in der Antike, 1937.

3 Orig. in Mt. 17,17 (GCS Org. 10, 635).

318 Carl Schneider

mungen und Leidenschaften: Liebe und Haß, Zorn! und Nachsicht, aber ;

auch Hunger und Durst, Müdigkeit und Katzenjammer.

Das gilt nun auch für die gesellschaftlichen Bindungen und Gemein- schaften. Schweift der hellenistische Mensch im Makrokosmos des Welt- reiches in die Weite, so sichert er sich anderseits in der Kleinwelt von Haus und Familie. Von den kleinen Familienidyllen Theokrits?® bis zu dem entzückenden Bericht des Euseb von Leonides, der jede Nacht an das Bett seines Sohnes Origenes tritt und ihn verstohlen kiiit*, zeigt sich dieser zarte Familiensinn, der auf die Götter wie auf die Herrscher übertragen wird. So wie es nicht orientalisch sondern gut griechisch ist, wenn dargestellt wird, daß die beste Bezeichnung für einen Herr- scher der Vatertitel sei*, so ist es nur selbstverständlich, daß der helle- nistische Mensch, der in der Familie seine innigste Bindung erlebt, seinen Gott gern in der Analogie seines irdischen Vaters denkt. Be- zeichnenderweise findet sich die echt hellenistisch-idyllische Geschichte von dem „verlorenen Sohn“, zu der schon Deißmann mit Recht eine Parallele aus dem hellenistischen Alltagsleben gestellt hat’, nur in dem hellenistischen Lukasevangelium, nicht in dem stärker orientalischen Matthäus.

Aber die Zeit ist vor allem eine Zeit der Frau. Die griechische Auf- fassung von der Frau, die die Frau dem Manne gleichstellte und sie ihm sogar oft seelisch überordnete, überwand im Hellenismus die orienta- lischen Auffassungen von weiblicher Minderwertigkeit. Das Thema Frau in all seinen Variationen erschien gerade dem Hellenismus unerschöpf- lich. Er folgte auch hier nur der alten griechischen Linie, die bereits bei Homer nicht nur große, sondern auch menschliche Frauengestalten aufweist, welche nur in den Rahmen der hellenistischen Großstadtwelt versetzt zu werden brauchten, Die hellenistische Frau begegnet uns nun in den Göttinnen der hellenistischen Religionen. So wie ein Künstler die Locke der Berenike an den Himmel versetzt, so sind alle Typen der hellenistischen Frau im Götterhimmel wieder zu finden: die dämonischen Frauengestalten auf den Diadochenthronen ebenso wie die sorgenden Mütter der Papyrusbriefe oder die leichten Dirnen von Korinth. Nach seinem Frauenideal auch mit den kleinen Unarten der Frau schafft der Hellenismus seine Göttin Psyche, in der er Menschliches und Göttliches auf echt griechische Weise vereint. Animae innocentissimae schreibt man einer Frau auf den Grabstein.®

1 Zum Zorn Gottes als griechischer Vorstellung vgl. S. Eitrem, Daulis in Delphoi und Apollons Strafe. Dragma 1939. 170/80.

2 15, 1—43. 3 Euseb. hist. eccl. 6, 1f.

* Euseb. praep. ev. 8, 14.

5 Licht vom Osten 2 (1909) 128/30. ° Not. scavi 1915, 44.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 319

Am anschaulichsten wird das bei der Verehrung der Miitter. Keine orientalischen Naturmythen, sondern die Verehrung der Mutter steht im Mittelpunkt aller Muttergottheiten der hellenistischen Zeit. Dulcem matris affectionem miserorum casibus tribuis? zufällig kennen wir diese For- mel von Isis, sie könnte aber genau so zu Demeter, Kybele, Maria und den vielen anderen Miittern gesagt sein. Psychologisch ist sie der Ausdruck des gejagten Welt- und Großstadtmenschen, der sich den Weg zurück ins Kinderland sucht. Ziegler hat von Kallimachos gut beobachtet: „Mit Ernst und Ehrfurcht behandelt der Dichter, der sonst nicht leicht etwas mit seinem geistreich spielenden Spott verschont, die Frau als Mutter‘? Weitere Beispiele sind überflüssig und zu bekannt. Es ist bezeichnend, daß, abgesehen von dem persischen Mithras, nur das Judentum keine Muttergöttin kennt. Der griechisch geformte Mensch aber hielt nach Müttern Ausschau, wo er sie fand: bei den Matronen am Rhein wie bei der indischen Maja.’ |

Endlich das Kind. Auch die viel behandelte hellenistische Kinder- liebe setzt nur eine alte griechische Überlieferung fort. Kein Volk ist so erfinderisch in Kinderspielzeug gewesen wie die Griechen: Gelenk- puppen und Wägelchen, Tiere zum Ziehen und Steckenpferde, Bälle und Drachen, Kreisel, Reifen und Schaukeln sind uns durch Vasenbilder be- legt; Kinderfeste sind häufig.* Schon Solon, Lykurg und Sokrates zählen Abtreibung zu den schlimmsten Verbrechen. Der Hellenismus hat hier wieder nur gesteigert: er wehrt sich verzweifelt gegen den Geburten- rückgang der Großstadt und doch auch nicht ohne Erfolg. Hippokrates läßt den Arzt schwören, nie einer Frau ein Abtreibungsmittel zu geben, und das hellenistische Christentum setzt Abtreibung gleich Mord und bedroht sie mit den furchtbarsten Höllenstrafen. Pädagogik und Kinder- psychologie erreichen eine Stufe, die kaum je überboten worden ist.

In drei religionsgeschichtlich erkennbaren Strömen zeigt sich die hellenistische Kinderliebe wieder. Einmal will man das geliebte Kind religiös sichern, um nicht zu sagen versichern. Deshalb überall Kinder- einweihungen und Kinderprozessionen, ja, eigene Jugendpfleger in den Religionen. So weiß man seine Kinder auch in den Schrecken des Jen- seits sicher: die Isisweihe verbürgt auch dem Knaben ein seliges Los im Jenseits’, oder ein in Dionysos, Attis und Adonis eingeweihter Knabe

1 Apul. met. 11, 25.

2 K. Ziegler, Kallimachos und die Frauen. Antike 18 (1937) 23.

3 Pap. Oxyr. 1380, 103.

4 Vor allem die Anthesterien, vgl. L. Deubner, Attische Feste, 1932, 93/123.

5 Reiches Material bei F. J. Dilger, Das Lebensrecht des neugeborenen Kindes. AuC 4 (1934) 1/61.

Leipoldt, Dionysos 18

7 Inschrift Ostia. Arch. Anz. (1938) 669 f.

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erscheint den Eltern nach seinem Tode und mahnt sie, nicht zu trauern, weil es ihm im Jenseits gut geht.! Dieser Heilsgewißheit für das ge- liebte Kind verdanken wird das schéne Grab, das Octavius Felix seiner filia dulcissima et carissima an der Via Trionfale errichtet hat mit seiner farbenprächtigen Darstellung des Kinderelysiums und seinem heiteren Kindersarkophag?, zu dem Rodenwaldt schöne Parallelen gesammelt hat.® Es wundert darum nicht, wenn der Pädagog darauf achten muß, daß die Kinder ordnungsgemäß die Götter verehren, wie es ein schönes Stuck- bild im Kultraum bei der Porta Maggiore zeigt.‘ 7

Der zweite Strom entspringt wieder einer alten griechischen Quelle. Die Religion vermag es, den Menschen wieder in den idealen Zustand des Kindes zu versetzen. Der Wiedergeburtsakt von Eleusis oder die zweite Geburt des Dionysos aus Gott leiten die lange Liste hellenisti- scher Wiedergeburtsgeschichten oder -forderungen ein. In alium matu- rescimus partum. Alia origo nos expectat, alius rerum status®; dst dues yevundiver &vodev.‘ Man fühlt sich nicht wie der Orientale als Sklave, sondern wie der Grieche als Kind des Gottes, denn wie der hellenistische Mensch alles fiir sein Kind tut, so tun es auch die Götter, vorausgesetzt, dafi die Menschen wieder zu Kindern werden.’

Der dritte Strom sind endlich die Kindergötter oder die immer um- fangreicher werdenden Kindergeschichten von Göttern. Literarisch und archäologisch ist das Material darüber schon fast nicht mehr zu über- sehen. Je beliebter die Götter sind, um so dringender hat der Hellenis- mus das Bedürfnis, über ihre Kindheitserlebnissé etwas auszusagen: so erhalten Dionysos, Herakles, Augustus, Christus, Mithras ihre Kindheits- legenden, so übernahm man aber auch Kindergötter, wo man sie fand oder zu finden meinte, vor allem aus dem kinderfreundlichen Ägypten. Namen und Motiv hat man in hellenistischer Zeit schon früh dem jün- geren Horus entlehnt, aber die liebenswürdige Gestalt des Kindergottes mit dem Finger im Mund hat erst die griechische Welt aus ihm ge- macht. Wieder werden bedenkenlos orientalische Formen soweit über- nommen, wie sie griechischer Geschmack ertragen konnte aber sofort werden sie nach den Lebenskräften und -idealen einer griechisch er- lebenden Welt umgeprigt.®

1 Bücheler, Carm. lat. epigr. 2, 508, Nr. 1109. 3 Not. scavi 1922, 429/44; G. Bendinelli, Il concetto dell’oltretomba nel . monumento sepolcrale di Octavia Paulina. Angelos 1 (1925) 122/25.

3 G. Rodenwaldt, Sarkophag-Miscellen. Jahrb. Arch. Inst. 53 (1938) 405/20.

Not. scavi 1918, 46. 5 Seneca epist. 102, 23. e Joh. 8,7.

? Lk. 11,18 Par.; 9, 46/8 Par.; Mk. 10,13/16 Par. J. Leipoldt hat zuerst auf diese Eigentümlichkeit hellenistischer Religionsgeschichte wiederholt aufmerk- sam gemacht. |

8 M. Dibelius, Jungfrauensohn und Krippenkind, 1982.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 321

3. DAS GESETZ DER BUKOLISIERUNG

Liegt aber nicht der eigentlich orientalische Kern der hellenistischen Religionen in den Naturmythen? Keine von ihnen, auch das Christen- tum nicht!, ist ohne Beziehung zur Totenklage oder zum Auferstehungs- jubel über die sterbende und wieder auferstehende Natur.

Sieht man aber näher zu, so sind diese Naturmythen alle sehr ent- scheidend umgewandelt: sie tragen alle die bukolischen Züge des helle- nistischen Naturgefühls.? Dies aber hat, wie schon viele? sahen, wieder eine lange griechische Geschichte. Die griechischen Götter sind immer unlöslich von der Natur gewesen, und auch in der Zeit der Polis ist das nicht vergessen: stets sind Demeter und Dionysos in der griechischen Geschichte Repräsentanten der gezähmten und der wilden Natur. Anders wird im Hellenismus wieder nur das Naturverhältnis durch den neuen Weltraum und durch das Großstadtleben; der Kern des Naturgefühls hat sich seit Homer kaum gewandelt. Aber man denke nur an die beweglichen Klagen Martials über das Leben in Rom als der Mensch eingesperrt war in den weiten Häuserreihen von Alexandreia, Antiocheia oder Korinth mußte er die Natur romantisch verklärt sehen und er- sehnen. Die Ruhe und die Reinheit, die er im Lärm und Staub der Großstadt so schmerzlich vermißt, die vermutet und wünscht er jetzt in der Natur, auch wenn die Natur oft ganz anders aussieht. Alle die Er- lebniswerte, die in der Tiefe jedes vorwiegend griechischen Menschen

- leben und durchbrechen wollen, und die doch nicht durchbrechen können:

alles Numinose, Feierliche, aber auch Idyllische, Gemütswarme, werden jetzt an einer vorhandenen oder konstruierten im Paneion, in Daphne oder Canopus oder auch nur erträumten Natur erweckt. Stadt und Natur verhalten sich jetzt zueinander wie einst die Welt der Sterblichen und der Olymp: in der Stadt wohnen die Menschen, in der Natur die Götter. Mag das lebhafte ägyptische Naturgefühl gelegentlich diese Ent- wicklung beeinflußt oder beschleunigt haben: nötig ist es nicht, es zur Erklärung herbeizuziehen. Nur die Formen hat es oft liefern müssen. Wichtiger ist das Bedürfnis des oft so einsamen und en

1 Joh. 12,24; 1. Kor. 15, 34/44; Rom. 8, 21.

s C. Schneider, Bemerkungen zur Bukolik. Festschr. f. Wobbermin 1939. 565/77.

3 K. Allen, The Treatment of nature in the Poetry of the Ronni Republic, 1899; A. Biese, Die Entwicklung des Naturgefühls bei Griechen und Römern, 1882/4; H. R. Fairclough, Love of Nature among the Greeks and Romans, 1931; A. Geikie, Love of Nature among the Romans, 1912; G. Herrlinger, Totenklage um Tiere in der antiken Dichtung, 1930; J. v. Lorentz, Art. Naturgefiihl. PW 16, 2. 1814/85; E. Martinengo, Outdoor-Life in Greek and Roman Poets, 1911; F. T. Palgrave, Landscape in Poetry, 1897; A. Schober, Die Landschaft i in der antiken Kunst, 1928; F. A. Ferrari, La crisi del sensu della natura in Grecia, 1926.

Archiv fiir Religionswissenschaft XXXVI. 2 21

322 Carl Schneider -

stadtmenschen, sich in der Natur Freunde zu suchen: deshalb hilt man sich die ganze hellenistische Zeit hindurch Singvögel, Zikaden, Hunde, sogar Ichneumons, pflanzt Blumentöpfe!, entwickelt die Gartenkunst zu einer nie dagewesenen Höhe auch im Kleingarten —, malt Land- schaften und dichtet Bucolica. Schon Euripides auch in dieser Be- ziehung bereits Hellenist dichtet gern am Meere? und Epikur philo- sophiert im Garten bis in die späthellenistische Zeit hinein zieht man sich jetzt gern ans Meer zurück um nachzudenken oder religiöse Ge- spräche zu führen.” Man klagt der Natur sein menschliches Leid und erzählt ihr seine Freuden‘, man trauert ebenso über das Leid der Natur, aber die Natur ihrerseits freut sich und klagt mit dem Menschen.’ Der archäologische Befund geht mit dem literarischen Hand in Hand. Von den megarischen Gefäßen an’ hören die idyllischen Szenen nicht mehr auf; in den kampanischen Wandgemälden, den hellenistischen Sarko- phagreliefs und den hellenistischen Mosaiken® erreichen sie ihren Höhe- punkt.

Von hier aus versteht es sich, daß alle hellenistischen Kultlogoi von Anfang bis Ende bukolisch eingekleidet sind. Daß dabei die Landschaften nicht immer griechisch sind, ist ebenso zu bewerten, wie die Bukoli- sierung ägyptischer Landschaften in kampanischen Wandgemilden ; die Welt und damit die Natur war weiter geworden und die fremde Land- schaft bekam ihren Reiz. Nicht in der Großstadt werden die Götter ge- boren, sondern in einer Höhle mit ihrem numinosen Schauer wie Mithras oder nach einer Fassung der Legende Christus. Dionysos wird in ein Liknon gelegt und Christus in eine Krippe. Die Lieblingsgestalten der Bukolik, die Hirten, begrüßen die Geburt des Mithras und des Christus, Dionysos, Attis, Mithras, Herakles und Christus steigen auf Berge, Adonis geht in den Wald. Tiere gehören zum Gefolge des Dionysos, des Chri- stus, der Kybele. Gerade der christlichen Propaganda, insbesondere wieder in der Lukasfassung, ist es sehr zustatten gekommen, daß sie so viele bukolisch-romantische Züge aufzuweisen hatte: Fischer und Bauern, Gleichnisse von Feld- und Weinban, idyllische Seeszenen und Brunnen- szenen. Vor allem die Leidensgeschichten der hellenistischen Götter sind voll von Bukolik. Als Herakles in den Olymp emporsteigt, verschonen

1 H. Sulze, Adonidos Kepoi. Angelos 2 (1926) 44/50; 8 (1928) 72/91.

3 Gellius 15, 20,5 u. Öö.

3 Min. Felix Oct. 1f.; Iustin. c. Tryph. 8, 1.

Ein typisches Motiv der gesamten bukol. Hirtendichtung, vgl. etwa Verg. ecl. 2, 3/6.

5 Herrlinger a. a. O.

° Eurip. Bakch. 726f.; Verg. ecl. 5, 20/44; 6, 25/30.

7 Vgl. Thompson in Hesperia 3 (1984) 353/9; 879.

® Besonders schöne Beispiele von Daphne: Amer. Journ. Arch. 42 (1938) 215/18.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 323

die Wölfe das Wild Der tote Osiris wird in einem Erikastrauch an- geschwemmt.” Aus dem Blut des Adonis entstehen Rose und Anemone, die ganze Natur trauert um ihn, und aus den Tränen der ihn beklagen- den Göttin sprießen Blumen auf.’ Attis stirbt unter einer Pinie, aus seinem Blut wachsen Veilchen.* Der tote Christus wird in einem Garten begraben 5; auch um ihn klagt die ganze Natur.° Das alles ist dem grie- chischen Menschen nicht fremd: im Grunde war es wieder nichts anderes, als was er bei der Elevation der Ähre in Eleusis spürte oder was ihm bei Dionysos längst vertraut war.

An einigen Einzelheiten wird das noch klarer. Hain? und Garten ® sind von jeher griechische Kultstätten. Alsos und Temenos sind auch in der Zeit der Polis nicht verschwunden. Wieder hat der Hellenismus nur angeknüpft und weitergebildet. Die homerischen Gesänge wissen schon viel über heilige Haine zu sagen, Haine der Nymphen?, der Kalypso?®, der Athene!!, des Zeus!?, des Poseidon.!? Dodona, der „älteste aller heiligen Haine“1*, Olympia!°, das Gryneion, Kolophon, Didyma, Ortygia, Daphne, Kithairon, Epidauros, Samos, Paphos auf Kypern, das Nikepho- rion von Pergamon, Helikon, das alles sind Namen, die mit berühmten Hainen zusammenhängen, die meist aus alter Zeit stammen, aber im Hellenismus neu aufleben und durch weitere ergänzt wurden. „Audire et videor pios / errare per lucos, amoenae / quos et aquae subeunt et aurae“16 so sieht der Hellenismus die heiligen Haine. Wie einst _ Odipus im heiligen Hain von Kolonos sein Leben beschließt, so sterben | jetzt Attis und Adonis, aber auch Pan im Haine. Schon früh stiften hellenistische Menschen solche Haine?’ und bis in die Spätzeit hängt man Weihgaben in ihnen auf.’ Seneca hat psychologisch gut beschrie- ben, wie ein solcher Hain auf den hellenistischen Menschen wirkt: hier spürt man die Gegenwart der Gottheit!?, hier „orantibus responsa dantur certa“. Das numinose Schaudern des Schweigens in diesen Hainen be- obachtet Plinius*!; der Wald ist angustus et vere sacer, habitarique a diis et dignus et creditus.?? Echt hellenistisch zeichnet Ovid den heiligen

1 Theocr. 24, 86 f. 2 Plut. Is. et Osir. 15. 3 Bion 1, 64.

« H. Hepding, Attis, 1903, 119. 5 Joh. 19, 41.

6 H. Achelis, Das älteste Kruzifix. Byz.-neugr. Jbb. 5 (1927) 187/197.

7 R. Wäntig, Haine und Gärten im griech. Altertum, 1893.

8 Sulze und Wäntig a. a. O. Ferner: M. Gothein, Geschichte der Garten- kunst 1, 2,.1926; M.P.Grimal, Les jardins et l’eau dans la vie ... romaine, 1934. 9 n. 20, 8; Od. 17, 205 ff. 10 Od. 5, 63/72. u Od. 6, 291. 321.

12 Il. 16, 983 f. 13 Il. 2, 506. 14 Stat, Theb. 8, 106. 475f.

15 Pausan. 5, 7 ff. 16 Hor, carm. 3, 4, 6/8.

17 Xenophon bei Skillos. Anab. 5, 3. ı Vgl. Tibull 2, 5, 29f.

19 Seneca epist. 41, 2f.

_ 20 Thyest. 679f.; vgl. auch Troad. 178f.; Oed. 530/47.

21 nat. 12, 1, 2 ff. 32 Pomp. Mela 1, 13, 75. |

| 21°

324 Carl Schneider

Hain.! Haben die hellenistischen Griechen immer mehr Götter- und Heroensagen und -mythen in Hainen lokalisiert, so haben die Römer ihre geschichtlichen Legenden dort religiös-idyllisch verklärt.?

Auch die große religionsgeschichtliche Bedeutung des. Gartens im Hellenismus hat eine lange griechische Vorgeschichte, die wohl bis in mykenische Zeit reicht. Griechische Tempelgärten sind öfter bezeugt?; Okeanos erscheint schon bei Aristophanes als Gartenbesitzer?: das Ely- sium schildert schon Pindar als Rosengarten.?. Dann bedeuten die Philo- sophengärten einen großen Schritt zur hellenistischen Entwicklung hin; 388 kauft Platon die durch Kimon in einen Garten umgewandelte Aka- demie, die Aristoteliker ahmen das durch Erwerb des Lykeion nach, Antisthenes erwirbt für die Kyniker den Kynosarges und 306 kauft Epikur seinen viel gerühmten Garten. In hellenistischer Zeit wächst das alles organisch weiter, mag auch ägyptische und persische Gartenkunst manchen neuen Antrieb geliefert haben. Gärten mit Tempeln und Altären, wie sie der Silberteller von Corbridge oder das Gartenbild in der Villa der. Livia von Primaporta zeigen, sind ebenso häufig wie Gärten zu Ehren heroisierter Großer.” Die Gartengötter werden immer beliebter, Gedichte auf sie häufen sich. Athen bekommt eine Aphrodite èv vıynoıs® und einen Garten der Musen.? Artemis, die Nymphen, Pan, Priapos, Flora und Pomona kommen zu hohem Ansehen. Kein helle- nistischer Kultgegenstand ist uns so häufig überliefert wie das Adonis- gärtchen!®, schon das zeigt seine große Beliebtheit; es findet sich heute noch auf dem russischen Ostertisch. Mit ihm kam ein Stück idyllischer Natur in das Großstadtzimmer der hellenistischen Dame, mochte man seine Symbolik verstehen oder nicht. Im hellenistischen Mythos werden die Gartenschilderungen immer reicher, immer prächtiger wird der Garten des Jenseits ausgemalt!!, als dessen Herrin Proserpina selber herrscht.!? Im hellenistischen Heraklesmythos werden die Hesperiden- gärten immer schöner, im Dionysosmythos, besonders bei Nonnos, die Gartenschilderungen immer üppiger; im christlichen Mythos wird die Welt zum Garten Gottes!?, in einem Garten spielt sich Leiden und Auf-

ı Ovid. amor. 3, 5,8; fast. 2, 163/70; 3, 295f.; 430f.; met. 3, 171/82; 5, 265f.; 391 f.

2 Dio Hal. ant. 1, 77,1. 79, 8; 3, 43, 1; 4, 15, 5; Liv. 1, 8, 6; Ovid. fast. 2, 163/70. 435/40; 3, 431; 6, 105/96. 411/13. 425f.; Verg. Aen. 8, 842. en

3 Pausan. 2, 1, 7; ' Strabo 8, 8, 13 u. ö.

« Nub. 271. 5 OL 2, 77/84. | © Strabo 17, 1, 10; Plut. Alkib. 24. 7 Vgl. Not. scavi 1926, 284. 8 Plin. nat. 36, 5, 4, 16. ° IG 2, 2, 1095f. 10 Sulze a. a. O.

11 Claud. rapt. Pros. 2, 284/306; Ovid. amor. 2, 6 49/58 u.d. . 12 Aristoph. ran. 440/59; Ovid. met. 5, 535; Seript, rer. a Lat. 1,7; 2, 100. 18 Lk. 18, 19. ; .

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 325

erstehen des Kultgottes ab!, Motive, die die altchristliche Kunst immer weiter ausmalte.?

Auch die altgriechische Tierliebe erwacht im Hellenismus im Gegen- satz zu orientalischer und römischer Tierquälerei neu. Wieder macht sich die Liebe zum Kleinen deutlich bemerkbar. Zu den alten griechischen Lieblingstieren Hund und Pferd, Singvogel und Zikade kommen jetzt See- tiere aller Art®, Mücken und Fliegen, Eulen und Elstern, aber auch, wieder durch die Ausweitung des Raumes bedingt, Ibis, Krokodil, Ichneumon und Affe. Für die hellenistischen Religionen wird diese Tierliebe ein wichtiger Antrieb.»Aelian ist das eigentümlichste Beispiel dafür: die Götter sorgen für die Tiere, tun Wunder an ihnen, aber die Tiere beten sie auch an.? Die hellenistische Tierliebe hat vor allem dazu beigetragen, daß die ägyp- tischen Kulte aufgenommen wurden: tuam maiestatem perhorrescunt aves caelo meantes, ferae montibus errantes, serpentes solo latentes, beluae ponto natantes, betet man zu Isis®; wer an dem allzu viel Tierischen Anstoß nahm wie Plutarch und Porphyrius, der konnte es noch immer allegorisch vergeistigen.° Aber das ist im Grunde alles nicht ungriechisch. Gott und die Tiere war schon ein Thema der Orphik gewesen, der Hellenismus greift die Darstellung von Orpheus inmitten der Tiere immer wieder auf.’ Alle hellenistischen Gottheiten bekommen oder haben ihre Lieblingstiere: der Kaisergott seinen Adler, der ihn in die Höhe trägt, Kybele ihre Löwen, Dionysos die Panther, die Epona das Pferd, der Zeus von Doliche den Stier, Mithras Hund und Rabe, Christus Fisch und Taube.

Vor allem eine Gestalt steht im Mittelpunkt jedes bukolischen Natur- gefühls: der Hirt. Auch in ihm greift der Hellenismus nur wieder auf ein altes Erbe zurück und belebt es neu. Schon sardinische Bronzen zeigen den Hirten, der das Tier auf der Schulter trägt. Die Odyssee enthält bukolische Szenen, die sich vom Hellenismus nicht unterscheiden und auf diesen entscheidend eingewirkt haben. Der homerische Pan-Hymnus setzt das fort. Wo jemals das Schlagwort vom naturnahen Leben auftrat und

1 Joh. 18,1. 26; 20, 15. ; '

2 z. B. Typus der Orans im Garten, Christus im Garten, die Kürbislaube, der Paradiesgarten usw.

3 Schon im Pronaos des Zeustempels von Olympia aus vorrömischer Zeit. Schöne Beispiele: Antiocheia W. A. Campbell, The forth and fifth Season of Ex- cavations at Antioch. Am. Journ. Arch. (1938), 206/17; Italien Not. scavi 1925, 110/13 Pompeji Neapel Elia a. a. O. S. 189 f., Nr. 400.

nat. 4,10; 5,49; 7, 44; 11,31 f. 5 Apul. met. 11, 25.

° Plut. Is. et Osir. pass. Porphyr. abstin. 4, 8f.

7 Die Volkstümlichkeit des Motivs bezeugt das häufige Vorkommen aut Terra- sigillaten.

3? F. W. von Bissing, Die sard. Bronzen. Röm. Mitt. 43 (1928) 67 f.

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wieder war die hellenistische Großstadt der beste Boden dafür mußte der Hirt idealisiert und vergöttlicht werden. Das galt nicht nur fiir den bukolischen Naturdichter, sondern auch fiir die Religionsgeschichte. Des- halb werden die alten Hirtengötter beliebt Pan, Hermes Kriophoros, Orpheus, und neue führen sich rasch ein. Selbst Isis muß zur Hirten- göttin werden!; um diesen bukolischen Zug hat der Verfasser des Isis- hymnus von Andros den ägyptischen Text bereichern müssen. Attis ist Hirt schlechthin, das Pedum ist auf allen hellenistischen Darstellungen sein eigentliches Attribut. Vielleicht tragen es auch seine Kultpersonen, wenn man das Mosaik von Negrar di Valpolicella? auf eine attische Ini- tiation deuten darf. Oherhirten und Hirten, neben den gleichfallsbukolischen Höhlenbewahrern, weist die große Bakcheninschrift von Tusculun auf’; so hat sich auch Dionysos den Einbruch der Bukolik im engsten Sinne gefallen lassen. Mithras und Christus werden schon bei der Geburt von Hirten begrüßt; christlich sind vor allem Lukas und Johannes an Hirten- geschichten und -bildern reicht; schon in der frühesten Katakombenmalerei tritt das bukolische Hirtenbild ebenso auf wie in der ältesten christlichen Taufkapelle von Dura®; eine typische Darstellung die geradezu an Fort- leben orphischer Unterweltsvasen denken läßt, findet sich auf dem Grab des Beratius Nikator.®

Auf den numinosen Zauber der Höhle braucht nur hingewiesen zu werden. Auch er ist seit kretischer Zeit in der griechischen Welt bekannt. Delos, Aegina, der Areopag, Thera, Eleusis beweisen, daß die Höhle keine magische Angelegenheit des Ostens ist, wie noch Spengler meinte, sondern aus griechischem Landschaftserlebnis kam. Wieder hat der Helle- nismus intensiviert. Die Nymphengrotte hat bis zu den Neuplatonikern hin immer neue Anziehungskraft bewiesen, im Kultlogos der Christen spielt die Pansgrotte eine entscheidende Rolle’, Mithras und Adonis sind ohne Höhlen nicht zu denken.

Von jeher war griechischer Mythos und Kultus landschaftgebunden und landschaftumgeben. Bei den hellenistischen Göttern werden die Land- schaften oft andere, aber im Grunde ändert sich nichts. Nur der Bezeich- nung nach und nur infolge der Weite des hellenistischen Raumes nimmt man die Nillandschaft als Hintergrund der Isis, den See von Tiberias als Hintergrund des Christus, die syrischen und kleinasiatischen Gebirge als

1 Hymn. v. Andros her. Peek a. a. O. 163 f.

2 Not. scavi 1922, 351/3.

3 Leipoldt, Dionysos 13; Nilsson, Inscription 11f.

4 Lk. 2,8; Joh. 10.

s J. Quasten, Das Bild des guten Hirten in den altchr. Baptisterien. Pisciculi 1939, 220/44. l

6 J. Quasten, Die Grabschrift des Beratius Nikator. Röm. Mitt. 53 (1988) 50 ff. ? O. Immisch, ZNTW 17 (1916) 18/26.

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è Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 327

Hintergrund des Attis und Adonis und sogar Indien als Hintergrund des hellenistischen Dionysos; entfernt man die leichte fremde Übermalung, so entdeckt man, das überall griechisches Landschafterleben zum Durch- bruch kommt: Wein und Ölbaum, Himmel und Meer, Wolken und Sonne, Mond und Sterne, Quellen und Brunnen, Blumen und Vögel. |

Von hier aus muß auch die Sakramentsfrömmigkeit des Hellenismus, die so oft als orientalisch ausgegeben wird, mehr gesehen werden. Es sind immer die alten Elemente von Eleusis und Dionysos, die die Sakramente bilden: Wein, Brot und Wasser. Griechischer Erdgeruch haftet ihnen allen an. Das ekelhafte jüdische Sakrament der Beschneidung ist nirgends über- nommen worden und über die Taurobolien des Attis fließen die Quellen sehr spät und spärlich. Dagegen findet sich Wasser nicht nur bei den Mysteriengöttern, sondern auch bei Apoll!; eine Zeit höchster Bade- und Bäderkultur konnte dieses Element auch in der Religion nicht missen. Mit der hellenistischen Hochschätzung von Brot und Wein war es nicht anders. Jede hellenistische Großstadt kennt die Schwierigkeiten der Getreideversorgung; nicht zufällig schaffen die Römer eine eigene Göttin der Brotversorgung.

Endlich hat sich die Bukolik einen religiösen Bereich fast völlig er- obert, den von Tod und Jenseits. Zwei psychologische Wurzeln sind hier deutlich zu erkennen. Die ideale Natur, die man hier romantisch suchte, verlegte man ins Jenseits, weil man sie in der Welt nicht völlig fand. Andrerseits aber wollte man sich den Schrecken des Todes durch die Naturgefühle so verklären, wie man sich die Not der Großstadt durch sie

verklärte. Die Städte der schönsten Naturdichtungen, Alexandreia und Rom, sind zugleich die der naturverbundensten Grabstätten. Hat die erste Wurzel die idyllischen Jenseitsdarstellungen hervorgebracht oder wenig- stens begünstigt, die ihren schönsten Ausdruck wieder im Grab der kleinen Octavia Paulina gefunden haben, so hat die zweite die hellenistische Grab- kultur hervorgerufen. Wieder hat man gelegentlich ägyptische Formen entlehnt, aber sie sind durch die bukolische Grundstimmung in völlig andere Erlebnisganzheiten eingebettet worden. Meist aber knüpft man an Griechisches auch in der Form an oder schafft aus dem Leben der helle- nistischen Gegenwart. Die Grabepigramme der Anthologien oder der In- schriften, die längst einmal eine Bearbeitung unter diesen Gesichtspunkten verlangen, reden immer aufs neue von der Verbindung Natur und Grab, indem sie von feinster Einfühlung über echte Trauer bis zur flachsten Sentimentalität reichen. Ebenso deutlich ist die naturnahe Bemalung der Grabanlagen von bukolischen Blüten, Bäumen, Vögeln der Gräber von Alexandreia, Pompeji, Ostia, der Isola Sacra und der römischen oder

1 Vgl. die großen Wasserbecken im Apollontempel von Kyrene. Arch. Anz.

` (1938) 781.

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Neapler Katakomben bis zu den großen bukolischen Mosaikkompositionen etwa im Grabmal der Galla Placitia.! Ein unerschöpfliches Material liefern die Sarkophage. Wieder gibt es keinen Unterschied zwischen den helle- nistischen Religionen; Anhänger des Dionysos, der Isis, des Adonis, des Christus haben die gleichen bukolischen Bilder und Szenen auf ihrem Sar- kophag.? Eine ganze Gattung der Hirtensarkophage gibt es, die sich keiner bestimmten Religion zuordnen lassen.? Die am stärksten bukolische Grab- schöpfung des Hellenismus aber ist das Kepotaphion, das sich aus dem Temenos eines Heros zu einem Grabidyll entwickelt hat. Ein Vorläufer mag die Bestattung im eigenen Garten sein, die wir von Theophrast kennen.? Inschriftlich und literarisch sind dann von der frühen Kaiserzeit an solche Kepotaphien in allen Größen, vom winzigen Gärtchen bis zu riesigen Grabanlagen bezeugt, mit Obstbäumen und Weingärten, Rosengärten und Lauben, Fischteichen und Wirtschaftsgebäuden, Brunnen und Wegen, Baumpflanzungen und blühenden Hecken.” Die Christen lassen sogar ihren Kultgott in einem Kepotaphion begraben sein: hier spürt man deutlich die Bukolisierung der ältesten Überlieferung, die davon nichts weih. Selbst Martial, der keineswegs Sentimentale, ist dem Zauber dieser . Gräberbukolik erlegen’, und eine Inschrift von Cirta? bestätigt ebenso wie Prudentius®, wie griechisch hier noch die spätest hellenistische Zeit empfand.

4. DAS GESETZ DER MILITARISIERUNG

Ganz unorientalisch und nur aus der wirklichen Lage der hellenisti- schen Welt ist die tiefgreifende Bedeutung des Soldatentums in der helle- nistischen Religionsgeschichte zu verstehen. Aus zwei Gründen spielt der Soldat im Leben des hellenistischen Menschen eine besondere Rolle. Einmal ist er unter straffen Diadochenherrschern und bei den „guten“ römischen

ı Im Osten ist dieser echt griechisch-hellenistische Stil siegreich bis Palmyra vorgedrungen. Noch in palmyrenischen Gräbern des 8. Jahrb. finden sich Darstel- lungen des Dionysos i in der Weinlaube, vgl.H.Ingholt, Quelques fresques r6cemment découvertes à Palmyre. Act. Arch. 8 (1982) 1 ff.

2 H. v. Schönebeck, Diechristl. Paradeisossarkophage. Riv. AC. 14 (1987), ferner Not. scavi 1926 Taf. 8; 1922 Taf. 24.

3 Beispiele in Arles und auf der Isola sacra von Ostia.

4 Diog. Laert. 5,53.

5 Einige Belege: Petron Trimalchio 71; Stat. Silv. 5, 1, 222/62; Prop. 1, 17, 22. Inschriften: CIL 1, 1059; 2,3960. 4882. 7454; 2 Suppl. 6081; 8, 2207. 2397; 6, 1, 2176; 6, 1, 3554; 6, 2, 8505. 10287; 6, 8, 20075. 20466. 21020. 22518; 6, 4, 1, 26259. 26 942f. 29 185. 29 322. 29 961; 10, 1, 8594; 11, 8859; 14, 2139; Not. scavi 1924, 348; De Rossi, Roma sott. 1, 207; F. Savio, Di alcuni chiese di Milano. N. Boll. 2 (1896) 163/78; A. Chaillan, Bull. Archéol. 1918, 808/21.

© Joh. 19,41. 7 1,88, 316. 8 CIL 8, 7854.

° Lib. cath. 10, 169/72.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 329

Kaisern Schutz und Sicherheit, ja geradezu pacator orbis.! Ist der Herr- scher Welterléser und Bringer der pax oder der felicitas temporum, so ist der disziplinierte Soldat sein Abbild. Was die Diadochen, insbesondere Pergamon, begannen, hat der römische Imperator vollendet. Die Soldaten der pergamenischen Plastik sind geradezu metaphysisch Helfer der Erlöser- herrscher. Die zweite Bedeutung sieht man am schönsten im hellenistischen Roman. Hier lockt das Abenteuerliche und Romantische am Soldaten, die Weltweite und Beweglichkeit, die Männlichkeit und Unabhängigkeit, der Glanz der Uniform und die Überlegenheit über die Enge der Großstadt. Wieder ist hier vieles idealisiert, aber das ist psychologisch genau der gleiche Vorgang wie beim Naturerlebnis.

So dringt der Soldat in die Kultmythen ein, und zwar umso mehr, je mehr die Götter im Lager selbst verehrt werden. Der Dionysoszug wird in Anlehnung an den Alexanderzug immer soldatischer ausgemalt. Isis bekommt ihre cohors?; sie erhält die militärischen Bezeichnungen orodcoy- eiöns?, vırjıgıa?, vayvvian?, orearia®; Isis-, Adonis- und Attisprozes- sionen bilden ihre Formen triumphalen Einzügen von Feldherren nach. Nur infolge seiner soldatischen Vorzüge ist der Gott. von Doliche oder die keltische Epona aufgenommen worden. Attis ist, wie der Silberteller zeigt, von den soldatischen Korybanten umgeben. Über die soldatischen Elemente im hellenistischen Mithraskult braucht nicht gesprochen werden. Wie Mithras erhält auch der Kaisergott die religiös gedachte Bezeichnung invictus.’ Im christlichen Kultlogos spielen Soldaten, insbesondere Cen- turionen, eine sehr große Rolle: ein Centurio erkennt als erster den ster- benden Kultgott und bekennt sich zu ihm.’ Dieser Centurio Longinus hat bis ins Spätmittelalter und bis in die neuere deutsche Literatur hinein die Gemüter beschiftigt.? Weiter hat die christliche Legende die Gattung der Soldatenmartyrien mit besonderer Vorliebe entwickelt.!?

Militärisch wird auch die Ethik der hellenistischen Religionen. Hier hat das Vorbild der kynisch-stoischen Diatribe eingewirkt. Senecas vivere militare est gibt in kürzester Form das wieder, was die Diatribe in immer neuen Soldatenbildern und -ausdrücken an ethischen Forderungen stellt.

1 Im allgemeinen bedeutet es sogar etwas Gutes, von Soldaten zu träumen; ° Art. Oneir. 112, 20; 127, 14; 128, 4f. Besonders schöne Schlüsse über die Hoch- schätzung des Soldaten lassen die zahlreichen Militärbilder der Diatribe zu.

2 Apul. met. 11, 14. 3 Pap. Oxyr. 1880, 8f. + Ebd. 2.80; 48.

5 Ebd. Z. 69. * Ebd. 2.71; 83; 102f.

7 Vgl. Inschrift Ostia v. 262. Not. scavi 1930, 197.

8 C. Schneider, Der Hauptmann am Kreuz. ZNTW 33 (1984) 1/17.

® Material ebd.

10 Z. B. Mart. der Thebaischen Legion, Sebastians- und Georgslegende, älter und vielleicht mit historischen Erinnerungen gemischt die Basilidesakten. Imübrigen weisen alle Synaxare und Menologien zahlreiche Soldatenlegenden auf.

330 Carl Schneider

In den Religionen wird das dann meist nur in religiöse Zusammenhänge eingebettet. Wieder gilt das für alle. „.. Lucius de sua fortuna triumphat. quo tamen tutior sis atque munitidr, da nomen sanctae huic militiae, cuius non olim sacramento etiam rogabaris, teque iam nunc obsequio religionis nostrae dedica et ministerii iugum subi voluntarium. nam cum coeperis deae servire, tunc magis senties fructum tuae libertatis!“, heißt es für Isis. Für Mithras haben wir den bekannten Bericht Tertullians? und für die Christen ist das überaus reiche Material schon öfter gesammelt.® -

Noch stärker tritt das Militärische im Kultus hervor. Hier mögen die im Lager ausgebildeten Kulte besonders seit der Kaiserzeit befruchtende Einflüsse auf die Zivilreligionen ausgeübt haben.4 Vom Soldatischen her kommt ogoayts und sacramentum in die Kulte.© Wie zum sacramentum militiae das Anlegen der Bleimarke mit dem Namen des Kaisers gehört, so verleihen alle Religionen den neu Hinzugekommenen signa in der Form von Amuletten, Stigmatisierungen oder auch nur bildlichen Gesten. Die Tapferkeitsprobe des Mithra, wie sie am schönsten das Mithräum von Capua Vetere zeigt, die vielleicht Dionysos nachgeahmt hat, wenn man die Bilder der Villa Item so deuten darf, stammen wieder aus dem Militär- lager und nicht aus dem Osten. In den griechischen Liturgien wird noch heute ein &xıvixıog duvog gesungen und militärisch kommandiert: 60®ol, orédnre, nodoywusv,elsders. Sogar ein militärisches Flaggensignal wird dort noch ausgeübt, das Winken mit dem Orarion.

Nicht umsonst ist der Soldat schon der der Diadochenheere jahrhundertelang einer der wichtigsten Träger der hellenistischen Reli- gionen gewesen. Im Lager und auf den Marschstraßen, vor allem in den Lagerstädten, hat sich ein großer Teil der Hellenisierung und Romani- sierung bewußt oder unbewußt, merklich oder unmerklich vollzogen. Hier sind germanische, keltische, persische Gottheiten aufgenommen und aus- gedeutet worden, hier haben unmilitärische Religionen militärische Formen angenommen. Je stärker die Feldherren von griechischer Kultur lebten die Diadochen, die Scipionen, Lucull, Sulla, Cäsar, die meisten Kaiser des ersten und zweiten Jahrhunderts, umso stärker drang diese nach unten bis zum letzten Mann. Wir brauchen dringend eine ausführliche ` Untersuchung über den religiösen Bestand aller hellenistischen und rö- mischen Truppenverbände.® Selbst das späte und recht orientalische Dura

2 Apul. met. 11, 15. 2 Coron. mil. 15.

3 A. Harnack, Militia Christi, 1905; F.J.Délger, Die Sonne der Gerechtigkeit, 1918, 129f.

4 Wichtiges bei A. Alföldi, Die Ausgestaltung des monarch. Zeremoniells am rom. Kaiserhof. Rim. Mitt. 49 (1934) 68 ff.

5 F, J. Dölger, Sacramentum militiae. AuC 2 (1930) 268/80.

° Die Universität Königsberg hat für 1940/41 eine Preisschrift.tiber die reli- giösen Strömungen im röm. Heer gestellt; hoffentlich findet sie einen Bearbeiter.

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Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 331

ist ein lehrreiches Beispiel. Gewiß ist der Tempel der palmyrenischen Gottheiten vorwiegend orientalisch und vielleicht, wie gesagt, Protest gegen den Hellenismus. Aber selbst hier zeigen sich deutliche Spuren einer schon weit gehenden Interpretation. Nach römischem, nicht nach orien-

talischem Ritus verehren die Truppen; römisch bekleidet sind die palmy-

renischen Götter. Es ist geradezu ein Schulbeispiel für das Anfangsstadium einer solchen Unterwerfung und Umprägung einer „orientalischen“ Reli- gion. Man kann an Hand der Analogien vermuten, daß diese palmyrenische Religion allmählich dasselbe Schicksal wie Isis gehabt hätte und aus den starren Frontalbildern etwas ähnlich Lebendiges geworden wäre wie die Neapler Isis aus der starren Gegengleichheit ägyptischer Isisbilder, wo- rauf Joh. Leipoldt nachdrücklich hingewiesen hat!, wenn sie mehr als lokale Bedeutung überhaupt erlangt hätte. Es wäre eine sehr dankenswerte Auf- gabe, einmal an Hand aller Funde und Inschriften zu untersuchen, wie gerade die Grenzlager an Rhein und Donau, an der Parthergrenze und am afrikanischen Limes Umprägestätten des Hellenismus gewesen sind und wie weit ihr Einfluß reichte.

5. DIE MAGISIERUNG

Die große und wertvolle Arbeit, die in den letzten Jahren an allen Zweigen der hellenistischen Magie geleistet worden ist, zwingt, auch hier die Frage nach der Einordnung in ein Gesamtbild der hellenistischen Religionsgeschichte von verschiedenen Gesichtswinkeln aus zu stellen. Die Fülle orientalischer Ausdrücke und Riten, die vor allem die Zauberpapyri enthalten, scheinen hier die These von dem Einströmen des Orientes ohne weiteres zu rechtfertigen. Aber die Zauberpapyri sind eben auch nur ein Teil der magischen Gebilde im hellenistischen Raum und beweisen zunächst nur das größere Interesse weiter hellenistischer Kreise für Magie, ohne etwas über die Beweggründe auszusagen. Hier geben etwa Theokrits

‚Pharmakeutriai ein viel klareres Schlaglicht. Es ist kein orientalischer

Einfluß sondern ganz allgemein menschlich, daß das Mädchen aus dem 5. oder 6. Stockwerk einer staubigen Großstadtstraße in Alexandreia, der der Geliebte untreu geworden ist, zur Zauberin läuft, um das einzige, was sie schließlich in ihrem aufreibenden Leben hat, mit den Mitteln primi- tiver Technik, und nichts anderes ist diese Form von Magie, festzuhalten. Es ist noch zu wenig beachtet, daß der technisierte Zug, der durch die hellenistische Welt geht, auf dem Gebiet der Magie in die Religionsge- schichte einzieht. Magie hat es im Griechentum immer gegeben, aber im Hellenismusistsiezur „großzügigen“ Technikund „Wissenschaft“geworden. - Man arbeitet ja geradezu experimentell: wie die gleiche Zeit alle Pflanzen

1 Umwelt 28/8.

332 l Carl Schneider

auf ihre Heilkraft durchprobiert, so probiert sie etwa bei Artemi- dor alle Träume auf ihre Orakelbedeutung oder in den Zauberpapyri alle Rezepte und alle Götter, griechische und außergriechische, christliche und außerchristliche, auf ihre Wirksamkeit durch. Wer die hellenistische Magie als tiefe Geheimnisse orientalischer Religion nimmt, versteht sie ebenso wenig wie der, der sie nur als geschäftstüchtigen Schwindel an- sieht: in vielen Fällen ist sie nichts als technisches Experiment. Vor mo- dernen Werturteilen muß man sich dabei deshalb sehr hüten, weil die Grenzüberschreitungen ins Übersinnliche dabei im Grunde nicht anders zu beurteilen sind als die Tatsache, daß auch die ernst zu nehmenden antiken Historiker Wundergeschichten, Vorzeichen und Mythologisches von Empirischem oft nicht unterscheiden. Was die Götter der Zaubertexte ursprünglich gewesen sind, oder woher sie sind, ob sie Orpheus, Herakles, Osiris, Attis, Christus, Abrasax oder wie sie sonst heißen, ist dem ma- gischen Experimentator gleichgültig: ihm ist nur wesentlich, welcher von allen mit der größten Wahrscheinlichkeit in einer bestimmten Lage hilft. Vor allem gilt es eins nicht zu übersehen: Die Magie ist im Hellenismus einfach eine Fortführung des alten Sophokleischen Satzes von der über- ragenden Macht des Menschen; es ist gewiß kein Zufall, daß er im neu- testamentlichen Schrifttum in Verbindung mit Wundergeschichten! wieder- erscheint. Es ist eine Seite des hellenistischen Machtstrebens, die freilich dann, wenn sie versagte, einen resignierten Schicksalsfatalismus zur Folge haben mußte, der nur durch neue Magie zu brechen versucht werden konnte. Von hier aus versteht sich das merkwürdige Ineinander von Schicksals- glauben und Magie im Hellenismus ganz zwanglos von selbst.

Mit der zunehmenden Technisierung hängt es auch zusammen, daß die alten Formen griechischer Mantik, Orakel, magische Wirkung von Segen und Fluch, Traum, entweder komplizierter in der Methode werden oder durch rein technische Vorgänge: Zauberrezepte, Zaubergerät, Ho-

roskopwesen ersetzt werden. Aber wo das alles auftritt, finden sich im.

Hellenismus entweder Wissenschaftler wie Artemidor, die es der bloßen magischen Sphäre wieder in einem gewissen Grade entziehen, oder Denker, die es, wie Plutarch oder die Neuplatoniker, allegorisch umdeuten.

Es ist doch seltsam, daß auch die spätesten und albernsten orienta- lischen Amulette, die man vielleicht um ihrerSeltsamkeit willenausprobierte, wenigstens einen griechischen Stempel erhalten mußten, wie etwa die beiden von Elderkin publizierten gnostischen Amulette aus Athen. Neben allen möglichen orientalischen Namen und Symbolen trägt das eine? doch die Bezeichnungen Zeus, Helios, Nike, das andere verflucht nicht zu orien- talischen, sondern echt griechischen Leiden: der Verfluchte werde &yvyo;,

1 Mt.9, 8. 2 G. W. Elderkin, A Gnostic Amulett. Hesperia 2 (1983) 475/9.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 333

&Auhos, &vovs, Kraodıog wg undiv axovov weocegyov Auch darf man diesen Dingen nicht allzu viel Ernst beimessen. Oft genug sind sie rein formelhaft, wie das &Bacxavrws der Briefe.” Oft genug parodiert man in echt griechischer oder gréberer rémischer Weise Fluch- und Zauber- formeln, etwa in Pompeji: cacator cave malum aut si contempseris habeas Iove iratum.? Die hellenistische Astrologie aber, die seit den großen Ar- beiten von F.Boll und seinen Nachfolgern heute ziemlich klar vor uns liegt, ist da, wo sie sich den Religionen anbietet und diese weithin be- ' einflußt hat, wie etwa bei Mithras oder im Frühchristentum in vielen seiner Abarten, psychologisch gesehen schon ein sehr komplexes Gemisch aus griechischer Philosophieund wissenschaftlicherMethodik, verstandenen oder öfter mißverstandenen östlichen Wissensinhalten, hellenistischem Naturgefühl und Weitendrang, also keineswegs Import fertig vorgefun- dener östlicher Gegebenheiten. Im Orakelwesen aber hat sich eigentlich seit vorhellenistischer Zeit wenig geändert. Die Inkubationsorakel, die schon Pindar kennt, werden wieder bekannt; Delphoi, das bekanntlich längst ein technischer Betrieb war, wird von Plutarch auch den Gebildeten wieder schmackhaft gemacht, die Sibyllen werden popularisiert. Auch auf diesem Gebiet wird viel experimentiert und manche östliche Form verwendet, aber ungriechisch ist das alles nicht.

Auch mit den Wundergeschichten, deren Bestand wir heute gleichfalls übersehen, liegt es ähnlich. Einfuhr sind hier eigentlich auch nur Formeln und Motive. Heilungswunder sind in Griechenland längst mit Asklepios oder Apollon verbunden, und zwar. nicht nur in den unteren Schichten. Sophokles dichtet einen Paian auf Asklepios, der lange in Athen gesungen wird, und Euripides erzählt im Hellenismus immer wieder aufgenommene und auf andere Götter übertragene Dionysoswunder.® Der Hellenismus hat wieder nur verbreitert und seiner Stimmung angepaßt. Die bukolische Stimmung liebte es, Wunderan Tieren zu erzählen’, die Kinderfreundlichkeit erfand rührende Geschichtchen von Asklepios, der einem Kind hilft, weil es ihm sein kleines Spielzeug verspricht, oder weil er ihm die Schelte der Mutter für einen zerbrochenen Krug ersparen will. Hier ist nichts östlich, wie ja überhaupt diese griechische Wundergattung schon im letzten Grundsätzlichen sich vom Osten unterscheidet: östliches Transzendenz- erleben hätte die Götterniein diese Menschennähe gebracht. Esistwiederbe-

1 Ders., An Athenian Maledictory Inscription on Lead. Hesperia 5 (1936).

2 z.B. Pap. Oxyr. 2, 292. 3 Not, scavi 1917, 261. 4 Olymp. 13, 62f.:

5 J. H. Oliver, The Sarapion Monument and the Paean of ee Hesperia 5 (1936) 90/ 122.

6 Bakch. 448/50; 616/36; 702/13.

? Hierher gehört auch das lange Nachwirken orphischer Motive: noch W. Till, Kopt. Heiligen- und Märtyrerlegenden, 1985, Nr. 9.

334 Carl Schneider

zeichnend, daß nur der Grieche Lukas erzählt, daß sein Heilgott der alten Mutter den einzigen Sohn von den Toten zurückholt. Östlich sind gewiß die unpersönlichen, mechanischen Wundergeschichten, wie sie etwa die Dea Syria aufweist: redende und schwebende Götterbilder, geheimnisvolle Lichter und ähnliche stärker entmenschlichte Geschichten, aber sie haben im hellenistischen Raum wenig Eingang gefunden oder sie sind sofort wieder mit alten griechischen Vorstellungen, etwa dem troischen Palladion, in Verbindung gebracht und dadurch lebensnäher und konkreter geworden.

6. DAS GESETZ DER INDIVIDUALISIERUNG

Der vielleicht wesentlichste Zug des Hellenismus ist sein Blick für die Eigenart des Einzelwesens, der im Porträt und Lustspiel, in den Terrakotten und im Roman, in psychologischer Literatur und Kunst als Merkmal des Hellenismus längst bekannt ist. Auch das ist aber Ergebnis einer langen, eigenständigen, griechischen Entwicklung und hat seine Vor- läufer. Religionsgeschichtlich hat diese Grundhaltung einen doppelten Niederschlag gefunden: beim Gott und beim Menschen.

Die hellenistischen Götter sind Individuen. Das unterscheidet sie gewiß von den Göttern der klassischen Zeit, aber noch viel mehr von den Göttern des Ostens. Tritt ein östlicher Gott in den hellenistischen Bereich, wird er sofort aufgespalten und mit den lebendigen Farben eines Einzelwesens gemalt. Joh. Leipoldt hat das schon für Isis gezeigt.! Es gibt nicht mehr eine Isis, sondern je nach dem individuellen Bedürfnis ist Isis Mutter, Königin, Schwester, Gattin, Geliebte. Sie individualisiert sich nach den Berufen als Isis der Seefahrer, der Schreiber, der Maultiertreiber, der Kaufleute, der Rennfahrer. Oder sie nimmt nationale und lokale Züge an und wird unterschieden als ägyptische, griechische, römische, germanische (Isis Noreia nach Joh.Leipoldt) oder als Isis einer der vielen Städte, Dörfer und Gaue des Oxyrhynchuspapyrus 1380. Das gleiche gilt von allen hellenistischen Göttern mehr oder weniger. Der hellenistische Diony- sos ist Kind, Liebender, Heerführer, König zugleich, ja sogar Typus des treuen Gatten. Hermes durchläuft alleSchattierungen individuellerMensch- lichkeit: er ist listiger Dieb, Kaufmann mit dem Geldsack, aber ebenso Totengeleiter, Religionsphilosoph und metaphysische Potenz. Alte griechi- sche Ansätze, die bis Homer zurückgingen, machten in solchen Fällen die Individualisierung leicht. Was umschließt alles das hellenistische Herakles- bild! Der Gott ist Kind oder Kraftmeier, lebensmüder Kyniker oder mo- ralischer Weltverbesserer. Wieviele Christusindividualitäten umschließt das frühchristliche Schrifttum: einen dionysischen neben einem apolli- nischen Christus?, einen kynischen Wanderprediger neben einem Arzt,

1 Umwelt VI—VIII. 2 E. WechBler, Hellas im Evangelium, 1986.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 335

einen Christus der „kleinen Leute“ neben einem Weltherrscher, einen weichen, friedliebenden neben einem im Blute watenden.! Alle Züge, die wir an hellenistischen Menschen treffen, finden wir an hellenistischen Göttern wieder; das im einzelnen zu identifizieren ist ein großes und loh- nendes Arbeitsfeld der künftigen Hellenismusforschung.

Fast noch wichtiger aber sind solche Beobachtungen beim Menschen. Nicht aus orientalischem Heilsegoismus begründen die hellenistischen Re- ligionen eine religiöse Anthropologie und stellen die Frage nach dem Heil der Einzelseele, sondern auch hier wirkt sich das hellenistische Gesetz der Individualisierung aus. Was die griechische Mystik seit langem be- gonnen hat, gewinnt jetzt erst individuelle Ausprägung. Beschäftigt sich die Kunst und die Psychologie mit dem Einzelmenschen, warum soll es die Religion nicht tun? Mit den seit Cumont und Spengler allge- mein gewordenen Vorstellungen vom Einströmen orientalischer Sünden- ideen gilt es, sehr vorsichtig zu sein. Die Zeit ist, oft wieder aus den täg- lichen Erfahrungen der in den Großstädten eng zusammen geballten Men- schen heraus, sehr scharfsichtig, aber oft auch sehr ungerecht geworden. Sie sieht jetzt die Schwächen am anderen, aber auch an sich mehr. Auch das setzt, wie Aristophanes und Euripides beweisen, längst vor dem eigent- lichen Hellenismus ein. Nur nimmt es immer mehr zu. In den Terrakotten drückt man aus, daß es nicht nur gerade und schöne, sondern auch buck- lige und häßliche Menschen gibt. Irgendwie muß man damit fertig werden. Wieder experimentiert der hellenistische Mensch. Aus dem glücklichen Besitz griechischen Humors karikiert man seine und anderer Schwächen weithin genügt das. Oder man hilft sich mit platonischen Dogmen so, wie Platon mit der Häßlichkeit des Sokrates. Meist aber wendet man sich an die Religionen. Wieder knüpft man an ältere griechische Formen an. Schon die Mysterien von Samothrake haben ihr individuelles Beichtinstitut; die Orphik, Eleusis und Dionysos geben bestimmte Antworten auf die menschliche Schuldfrage und befreien von allen menschlichen Unzuläng- lichkeiten. Der Osten ergänzte und erweiterte diese Ansätze, aber erbrachte auch hier kaum Neues.

Den Wert der menschlichen Psyche hat das Griechentum immer be- tont. Auf dieser Überzeugung bauten sich die alten griechischen Unsterb- lichkeitslehren auf. Erwin Rohde hat hier besser gesehen als Wilamowitz. Wieder geht die Linie klar und ungebrochen zum Hellenismus hinüber. Wie sich schon im altgriechischen Hades individuelle Seelenschicksale von der kollektiven Schattenhaftigkeit deutlich abheben, so wird mit zu- nehmender Individualisierung der Sinn für das Schicksal jeder Einzelseele immer größer. Das ist der eigentliche Grund, weshalb Platons Unsterb-

ı J. Leipoldt, Gegenwartsfragen in der ntl. Wissenschaft, 1935. F. Gerke, Christus in der spätantiken Plastik, 1940. |

336 | Carl Schneider

lichkeitslehre im Hellenismus so viele Anhänger gehabt hat, aber weshalb auch die hellenistischen Religionen so viele verschiedene Farben für die Ausmalung des Schicksals der Seele nach dem Tode verschwendet haben. Daß sie dabei manche aus dem Osten entlehnten, ist unbestritten. Aber im Grundsatz blieb man nur folgerichtig. Man hatte den Reiz der Indi- vidualität voll entdeckt nun sollte er möglichst nicht mehr vergehen.

Der letzte Schritt war die Ausdehnung dieser Gedanken- und Gefühls- reihe und beides läßt sich in der Antike selten scharf trennen auf den Leib. Freilich mutet das am wenigsten griechisch an. Von einer Un- vergänglichkeit oder Auferstehung des Leiblichen oder gar Sarkischen hat das Griechentum nie gesprochen. Die Wurzeln dieses Kreises weisen allzu deutlich auf Ägypten hin. Aber warum hat man gerade ihm Tür und Tor geöffnet? Kein Volk hat so stark die Tragik des sterbenden Leibes empfunden wie die Griechen. Eine Zeit, die nicht mehr nur den Ideal- typ, sondern die individuelle Gestaltung in Porträtähnlichkeit sieht, mußte eben nicht nur das Verschwinden des schönen Leibes, sondern überhaupt des individuellen Leibes beklagen. Daß hier Gedanken Eingang finden konnten, die auch diesem ein Fortleben zusicherten, nimmt an sich nicht wunder. `

7. DIE HELLENISTISCHE GEFÜHLSWELT

Keine religionsgeschichtliche Arbeit sollte vergessen, die Frage nach dem Verhältnis der religiösen Erscheinungswelt zu den Gefiihlsgrundlagen einer bestimmten Zeitstufe zu stellen. Für den Hellenismus ist das des- wegen besonders erforderlich, weil die Zeit von einigen großen Grund- gefühlen bestimmt ist, die sich auf allen Lebensgebieten Darstellungs- formen gesucht haben, also auch auf religiösem. Wieder sind es im we- sentlichen Gefühle, die sich aus einer inneren und strengen Fortentwick- lung des griechischen Menschen oder des römischen Menschen verstehen.

Das beherrschende Grunderlebnis des Hellenismus ist ein mannigfaltig abgestufter Weitendrang. Er ist tief verwurzelt im griechischen Wesen und begegnet in der Odyssee wie in den großen Epochen der griechi- schen Kolonisation, bis er in Alexander geradezu sein Symbol findet. Im Hellenismus verliert er das gigantische Format und verflacht unter Um- ständen bis zur nervösen Jagd nach Sensationen, was wieder zum Teil Wirkung der Großstadt ist, aber er wird dafür noch allgemeiner. Die hellenistische Welt ist in ständiger Bewegung, der riesige Aufschwung der Touristik und des Reisens, überhaupt die Neugier für alles, was es nur gibt oder nicht gibt man denke an so seltsame Erscheinungen wie die Paradoxographen alles entspringt zuletzt dieser griechischen Un- ruhe, die von der Statik des Ostens so verschieden ist wie eine griechi- sche bewegte Statue von einer ägyptischen statischen. Der hellenistische

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 337

Mensch will sehen und erleben, deshalb verlangt er auch in der Reli- gion nach Dromena. Immer war das Theater eine religiöse Angelegen: heit bei den Griechen, wenn es auch meist neben dem Tempel stand und nur selten, wie in Eleusis, in diesen hineinverlegt wurde. Auch jetzt bleibt es oft‘neben dem Tempel stehen: im Trierer Altbachtal steht das Theater zwar baulich dicht neben dem Mithräum, doch sind beide nicht vereinigt. Meist aber kommt es jetzt in den Tempel selbst; die byzanti- nische Liturgie ist die letzte und vielleicht reinste Ausprägung dieser _ Form. Man will Farben sehen und Musik hören und Handlung miter- leben, so wie die dorischen Frauen in Theokrits Adoniazousai beim Adonis- fest. Mag man auch einmal dabei eine absurde orientalische Burleske aufführen, wie auf dem Relief von Ariccia, das sah man sich an, wie man eine Phlyakenposse ansah. Auch derber Humor hat den Griechen wieder ganz im Gegensatz zum Orientalen nie in der Religion gestört. Der unstillbare griechische Drang nach Sichtbarem und Erlebbarem wird Grund- gefühl aller Kulte: deshalb die Lichteffekte bei Mithras, die Prozessionen bei Isis, die etwas von der alten eleusinischen Prozession enthalten, der kleine und der große Einzug der griechischen Kirche und der a: Bildersieg im byzantinischen Bilderstreit.

Der Globus wird das räumlich größte Symbol dieses Wiciteuivange: er wird auch religiöses Symbol. Die Herrschergötter erhalten ihn zuerst, aber auch die Mysteriengötter.! Der Globus der Götter kann nicht weit genug sein. Die Gestalt der Isis Panthea, die Altäre der unbekannten Götter, eine Sammlung von unbekannten Göttern, Kultbauten und Reli- gionen wie Hadrians Villa sind Ausdruck für denselben Gefühlshinter- grund; die zahlreichen Panformeln in allen hellenistischen Religionen sind der liturgische 'Niederschlag dafür.

Seit der Nostenliteratur drängt der griechische Weitendrang aufs Meer. Im hellenistischen Roman wird das neu lebendig, es gibt kaum einen, der nicht die Schilderung einer Seefahrt oder eines Seesturmes enthält. So weht Seeluft auch um die hellenistischen Götter. Bei Diony- sos war die alte Überlieferung wohl nie abgebrochen: so wie ihn die Münchener Exekiasschale zeigt, ist er immer Seefahrer geblieben. Aber in der griechischen Welt Alexandreias werden auch die ägyptischen Götter, Isis und Sarapis, Seefahrer, ehe sie in die hellenistische Welt eingehen können. Eine große Fülle von Seegeschichten enthält das neu- testamentliche Schrifttum.” Das Schiffsymbol ist eins der beliebtesten Symbole der hellenistischen Kulte.? Des Schiff der Kybele wird in Rom

ı A. Schlachter, Der Globus, 1927. Neuerdings Arch. Anz. (1938) 741f. 2 Lk. 5, 1/11; 8. 22/25; Mk. 6, 45/52; Joh. 21, 1/4; Act. 27. 3 Beliebtes Kulturgerät bei Isis sind die Schiffslampen, von denen sich ein besonders schönes Stück im Museum von Ostia befindet. Für Kybele s.o. Dio- Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 2 22

338 Carl Schneider

verehrt, und unter den Zuschauern der Attishimmelfahrt unseres Silber- tellers sind an wichtiger Stelle Poseidon und seine Fische. Wie die hel- lenistischen Menschen, so reisen ihre Götter. Man darf nicht bei einer solchen Reisegeschichte immer gleich eine „Kulturübertragung“ sehen, wie es heute oft geschieht. Wieder steht die griechische Tradition dahinter. Schon bei Homer reisen die Götter zu den Aithiopen; die Reisegeschichten gehören zu Demeter wie zu Dionysos oder Herakles. Die hellenistischen Mythen gestalten das nach. Sarapis reist von Sinope nach Alexandreia! und Kybele von Pessinous nach Rom; der Grieche Lukas hat die Syn- optiker durch zwei lange Reiseberichte erweitert?, und die Apostelakten gleichen griechischen Reiseromanen.

Hier liegt endlich auch der Hauptgrund für die Aufnahme von Orien- talischem. Es war einfach der Reiz des Weiten und Fremden, so wie immer da, wo orientalisierende Strömungen in der griechischen Geistes- und Kunstgeschichte auftreten. Wie sich das 18. Jahrhundert für Ägypten und China interessiert, ohne beide wirklich zu verstehen, so macht es der Hellenismus mit dem Orient. Aber gerade hier kommt wieder echt grie- chisches Denken, das unerschütterliche Vertrauen des Griechen auf Sinn und Logos ergreifend zum Ausdruck. Es wäre sinnlos, die Götter in Tier- gestalt darzustellen also muß hinter den ägyptischen Göttern ein ver- borgener Sinn liegen. Es reizt über die Maßen, diesen verborgenen Sinn zu ergründen. Plutarch ist das Schulbeispiel dafür, aber bis zu Origenes können wir diese Gedankengänge verfolgen.’ Griechischer Weitendrang und Sensationsbedürfnis der Großstadt wieder sind Theokrits Ado- niazousai ein schöner Beleg erklären die Fülle orientalischer Formen im hellenistischen Raum am einfachsten. Wie wenig hat eine pompe- janische Nillandschaft wirklich mit dem Nil zu tun, aber wie wenig auch der Soldatengott Mithra mit der alten persischen Bauernreligion, obwohl er persische Kleidung trägt. Aber es ist erregend und für den Griechen ein reizvolles Problem, darüber nachzudenken, was es besagt, tiergestal- tige, von Tieren erschlagene oder gekreuzigte Götter zu haben. Daß man dabei auch dem Seltsamsten noch einen tiefen Sinn abgewann, zeigt, daß griechische geistige Schöpfungskraft auch im Hellenismus nie auf- gehört hat,

Aber das unruhige Sehnsuchtsgefühl des hellenistischen Menschen hat noch einen ganz anderen Ausgangspunkt. Die Weltweite bringt Mühe

nysos schon in archaischer Zeit. Christlich sehr häufig. Das gesamte Material muß einmal gesammelt werden, und zwar literarisch und archiologisch. . 1 Plut. Is. et Osir. 28; Tac. hist. 4, 83f, Auch den anderen Reiselegenden des Sarapis aus Seleukeia und Babylon liegt kein historischer Kern zu Grunde. 2 Lk. 9, 51/18, 14; 18, 15/19, 27. 3 C. Cels. 1. 12.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 339

und Unrast, die Großstadt bringt ein viel größeres Verständnis für Leid und Not, als es in der Polis der Fall sein konnte. Das Theodizeeproblem tritt naturgemäß viel stärker in den Vordergrund. Und wieder überträgt eingeborene griechische Frömmigkeit menschliches Schicksal auf die Götter. Wenn es im Osten Naturmythen von sterbenden und sich mühenden Göttern gab, so konnten sie hier entscheidend umgeformt werden, so wie man seine eigenen Götter umformte. Herakles war das Musterbeispiel. Er wurde jetzt der göttliche Typus des leidenden, geplagten, mühseligen und sterbenden Menschen, und um ihn gruppieren sich auf der mensch- lichen Seite die kynischen Philosophen, auf der göttlichen all die leiden- den und sterbenden Götter, die immer menschlicher werden. In ihnen sieht der hellenistische Mensch einmal sein eigenes Abbild, andrerseits aber auch die Verklärung seines eigenen Lebens und Sterbens. Aber er müßte nicht Grieche sein, wenn er sich damit begnügte und nicht viel mehr für seine Götter wie für sich selbst Befreiung und Erlösung aus diesem mühseligen Zustand ersehnte. Hier ist ein wichtiger Ansatzpunkt aller hellenistischen Erlésungsreligionen. ait 7 xrloıg &Aevdegwdnoerer!: dieser echt griechische Satz gibt etwa die Stimmung wieder, um die es hier geht. Die unbändige Freiheitssehnsucht hat der Hellenismus noch einmal religiös sublimiert. „Sit satis laborum, sit satis periculorum“, betet Lucius zu Isis, und die Göttin verheißt ihm: „cum coeperis deae servire, tunc magis senties fructum tuae libertatis“.?

Die Sehnsucht bleibt aber nicht im Negativen stecken. Sie sucht nach ganz bestimmten festen Haltungen und echten Bindungen. Von hier aus verstehen sich eine Menge religionsgeschichtlicher Erscheinungen des hellenistischen Raumes.

Der oft so entwurzelte hellenistische Mensch sucht nach einer Heimat.® Wieder tritt uns ein altes griechisches Grundgefühl entgegen, dessen reiche Entfaltung aus den Erlebniswerten zahlreicher griechischer Worte: matols, olnos, &dquovla, ümellorgioüsder, vooros, Abnuoveiv klingt. Seit Homer ist dem Griechen die Heimat g/Aos*, die den Menschen mit Eltern und Ahnen verbindet.” Schon E. Rohde hat die Verbindungen von griechischer Heimatliebe und Seelenkult schön gesehen. Ursprüng- lich mit Land und Landschaft verbunden, wie das starke böotische Heimatgefühl Pindars oder wie die Stimmung der beiden wundervollen Heimatepigramme des Theognis®, ist es etwa seit Aischylos vorwie- gend auf die Polis bezogen; die Liebe zu Athen, der rıuwrarn nölıs?

ı Rom. 8, 21. ? Apul. met. 11, 2. 15. 3 Vgl. C. Schneider, Die Sehnsucht als konstitutives Moment des religiösen Erlebens. Arch. f. d. Gesamte Psychologie 97 (1936) 82/96. 4 Il. 9, 27. 5 Od. 9, 84 ff.; Hom. Dem. Hymn. 180; Soph. Oed. 822 f. ° Anth. Lyr. 2. I, 2; 52 V 783/8; 77 V 1197/1202. 7 Soph. Oed. Col. 108. 22s

340 Carl Schneider C

verbindet so verschiedene Menschen wie Euripides!, Platon? und Isokra- tes® noch an der Schwelle des Hellenismus. Mit der Erweiterung der Welt wird auch das Heimatgefühl weiter: seit den Perserkriegen tritt die vielseitig erlebte Hellas an die Stelle der Polis. Schon Aischylos weiß davon‘; für Euripides ist dieses allgemein griechische Heimatgefühl feste- ster innerer Halt; Aristophanes setzt es dem Bürgerkrig entgegen® und für Platon ist es neben dem Polisgefühl selbstverständlich.” Auch der Kosmopolitismus der nichtgriechischen Stoiker hat das nicht zu ändern vermocht. Der Hellenismus hat die Formen echter Heimatliebe und echten Heimwehs bewahrt, wo es nur bei der veränderten Weltlage möglich war. Das ist nicht etwa nur literarisch: der Brief des Matrosen Apion® zeigt das Heimweh eines schlichten Soldaten. Plutarchs schönes Buch über die Verbannung strömt die ganze griechische Heimatliebe aus, an Euripides knüpft er an. Vielfältig haben es die Römer aufgenommen, auch sie haben die drei alten Kreise Landschaft, Polis, Rom oder gar das Impe- rium.!° Aber von Platon her kommt noch eine andere Wendung des Heimat- gefühls. Die eigentliche Heimat ist ja garnicht in der Welt der Empirie, sondern in der Welt der Ideen, nach der sich die Seele im tiefsten Heim- weh sehnt. Diese Heimat stand auch dem hellenistischen Menschen offen, der keine heimatliche Landschaft mehr hatte und heute in Korinth, morgen in Rom und übermorgen in Alexandreia lebte. Hier griff der Hellenismus mit vollen Händen zu. Die Schrift Ilsoi xdopou ist ebenso Zeuge davon wie Epiktet!!, Mark Aurel!? oder die griechenchristliche Literatur.!? Einen anderen Ruhepunkt, den man in einer flüchtigen und erregten Zeit gern aufsucht, ist das Alte. Wenn man soviel Dasein zerbrechen sieht, wie es die Zeit der Diadochen- und Bürgerkriege sah, klammert man sich an das, was die Jahrhunderte überdauert. Wieder erhalten wir einen bedeutungsvollen Zug der hellenistischen Religionsgeschichte. Deum vetusta religione in velo formatum et umore obnubilatum marmoreum cum throno omnibusque ornamentis, heißt eine Weihinschrift in einem Mithräum von Ostia.!* Hier liegt die Wurzel des Altersbeweises, der so

ı Medea 824/65; Troad. 207 f.

2 Kriton 52cf; epist. 7. 3 Panegyr. pass.

4 Pers. 232/48. 268/71; Suppl. 914 f. |

5 Iph. Aul. 1386. 1400f; Suppl. 807/13; 588/40; Orest. 486 f. 495; Hek. 1199f. ° Pax 302. 7 Resp. 5, 470 aje. 8 BGU 2, 423. ® Exs. 604 d.

10 Cic. off. 1, 17, 57; Hor. carm. 1, 1, 11f; 1, 7; 1, 20, 5f; 2, 6; 4, 3,13; 4,

14, 44; carm. saec. 11f; epod. 2, 1/3; Verg.ecl.1; Aen. 1, 339 f. 387 f. u. o.; Ovid. `

fast. 1, 85 f.; trist. 1, 1, 57; 1, 3, 49; 4, 6, 45; 4, 8, 9f.; 5, 1, 89; 5, 4, 3£.; Pont. 1, 3, 37; Tib. 1, 1. :

u Ench. 15. : B 3,11; vgl. auch Stobaeus 4, 6, 22. -

13 Lk. 15, 11/82; 2. Kor. 5, 1/8; Phil. 3, 20; Joh. 14, 2f; Hb. 4, 1/11; 11, 14 13, 14; Org. orat. 26, 5; exh. mart. 5; Chrysost. Phil. 14, 2, 4; Greg. Nyss. orat. 2, 4.

14 Not. scavi 1924, 73.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 341

oft in diesen Religionen glücklich oder unglücklich geführt wird, oder der archaisierenden Darstellungen, die so beliebt werden. Das ist kein trockener Historismus, sondern Sehnsucht nach Dauer. Man wird die alt- römischen „Reformen“ des Augustus nur von hier aus ganz verstehen, aber ebenso das Mitschleppen alter,. oft unverstandener und unverständ- licher Formen und alter heiliger Schriften, die sonst für die hellenistischen Religionen nur einen Ballast darstellten. Überhaupt fördert die Sehnsucht nach Dauer die schriftliche Fixierung einer Religion; das Wort verhallt, aber der Buchstabe bleibt. Wie die Kunst immer monumentaler wird, um die Zeiten zu überdauern, belehrt durch die Erfahrungen der Flüchtig- keit, so werden die Religionen immer mehr auf Schriften „fixiert“, und auch das gilt wieder für alle, sobald sie in den Bereich hellenistischen Lebens kommen. | a

Mit dem allen steht nun der Hellenismus mitten in seiner Unruhe vor der Frage nach dem Sinn dieser Unruhe und damit der Welt iiberhaupt und er beantwortet sie, das kennzeichnet ihn, vom Gefühl her. Das allein erklärt die Vorliebe des Hellenismus für Eschatologisches und Apokalyp- tisches, wenn er auch hier mehr östliche Formen übernommen hat als anderswo. Aber auch hier ist längst nicht alles östlich. In einer sehr lesens- werten Arbeit stellt Délger fest: „es obwaltet also zwischen der (außer- - christlichen und christlichen) Eschatologie desgriechischen und lateinischen Kulturgebiets in den ersten Jahrhunderten kein besonderer Unterschied“ ! und belegt das mit reichem Material. Seit Hesiod sind Periodenspekula- tionen apokalyptischer Art dem Griechen nicht fremd. Vor allem aber hat ein apokalyptisches Motiv die Geister beschäftigt, wenn es auch im Mythos und in der Kunst verschiedene Formen annahm, das Motiv des Götterkampfes. Ich glaube nicht, daß B. Schweitzer recht hat, wenn er als das gemeinsame Moment aller der Lapithen-, Kentauren-, Giganten-, Amazonen- und Barbarenkämpfe das Tragische feststellt?; gefühlsmäßig steckt dahinter viel eher die ungeheure apokalyptische Spannung, die der mythische Endkampf zwischen Göttlichem und Untergöttlichem auslöst. Auch hier hat der Hellenismus nur vollendet. Die pergamenische Kunst ist der großartigste Ausdruck dieser apokalyptischen Spannung. Nicht Griechen und Barbaren, nicht Götter und Giganten kämpfen hier, son- dern die letzten Mächte des Lichtes und der Finsternis, und beim genaueren Zusehen entdeckt man, daß ein formal scheinbar so ungriechisches Buch wie die Johannesapokalypse genau die gleiche Stimmung zeigt: nicht zu- fällig ist sie in der Nähe von Pergamon entstanden. Es ist wohl auch kaum Zufall, daß ihr Motto dsi&as... & dst yevéodor bereits in religiöser

1 F. J. Dölger, AuC 2 (1930) 16. 3 B. Schweitzer, Religiöse Kunst im Zeitalter der Tragödie. Antike 5 (1929) 242/86.

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Wendung bei Herodot steht: örı dei yevéodau &x tod Deov. Nicht tragisch ist der Ausgang dieser letzten Entscheidungen, sondern hellenistisches Hoffen erwartet von ihm die Erneuerung der Welt: iam tuus regnat Apollo. So sieht es Pergamon, so die römischen Dichter’, so die apo- kalyptische Literatur aller Art. Die Schattierungen sind wieder sehr ver- schieden je nach der Schicht, aus der die Literatur stammt, oder auch nach individuellem Temperament, aber die tragende Grundstimmung, auf die es in der Hauptsache ankommt, ist die gleiche.

Das letzte Ziel aller hellenistischen Sehnsucht ist auch über diese apokalyptischen dramatischen Kämpfe hinaus nicht orientalische Grellheit der Farben, sondern griechische Ruhe. Dabei handelt es sich um ein altes griechisches Heilsgut, wie schon die große Fülle der synonymen Worte beweist: dvanavoıs, hovyla, yalnvn, elonvn, Kvdanavoıs, Kardnavarg? Pindar hat die griechische Wertschätzung dieser Ruhe auf die kürzeste Formel gebracht: davanavaıg év navel yAvasia Eoyo.’ Geradezu als Heils- gut erscheint sie schon bei Hesiod.* Im Hellenismus ist Ruhe ganz all- gemein eine der besonderen Gaben, für die man den Göttern dankt? oder um die man sie bittet: pausam pacemque tribue, sit satis laborum, sit satis periculorum.® Hellenistische Christen interpretieren diese griechische Ruhesehnsucht ganz textwidrig in die Septuaginta hinein.”

Von der Philosophie her mischt sich die Sehnsucht nach Seelenruhe mit ein. Hier hat vor allem Platon das Leitmotiv gegeben £, auch sie ist im Hellenismus religiöses Gut’; im griechischen Frühchristentum kann diese tranquillitas animae schon sehr früh zentrales Heilsgut werden” Nur durch die mystische Neugeburt kann in der Hermetik diese Ruhe gewonnen werden: BovAn ti of dvanénavuat, Delrjuarı TO 6W Avepsv- výðnņv™, auch das Christentum bringt sie oft mit der mystischen °’ Ev- Formel.!? Worte wie dvanavoıs können Götterbeiname werden 1°, und Epikureer und Christen versenken sich in gleicher Weise in ruhende Götter.!* Einer der typischsten Anhänger dieser religiös gewordenen Ruhesehnsucht ist Clemens von Alexandreia. Er klassifiziert in verschie- dene Ruhegrade!°; Anapausis ist der beste Besitz des téAevog und yvo-

1 Nicht nur Vergil, sondern auch z. B. Horaz, vgl. A. Kurfeß Philol. Woch. 59 (1939) 701 f. |

2 W. Nestle, Der Friedensgedanke in der antiken Welt, 1938.

3 Nem. 7, 52. 4 Theog. 55; vgl. auch Soph. El. 873 f.; Aristoph. ran. 186.

6 Xen memor. 4, 3, 8; Corp. Herm. 1, 408.

* Apul. met. 11, 2; doch schon Eurip. fr. 904, 12f.; ferner Hymn. Orph. 3, 6.

7 Hb. 3, 11.18. 8 Timaios 24, 59c; leg. 1, 722 c. ° Hymn. Orph. 2. 10,

10 Mt. 11, ssf. 11 Corp. Herm. 1,13, 20.

18 Oder ähnlichen mystischen Formeln: 1. Kor 16, 18; 2. Kor. 7,18; Philem. 20.

13 Hymn. Orph. 68, 7; Synes. 3, 493. u Lucr. 5, 169 ff.; Hb. 4, 4. 7—11.

15 Strom. 4, 25, 158, 4; 4, 25, 159, 2; 5, 6, 86, 3; 6, 14, 108, 1; 6, 16, 140,1.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 343

orıxös!; die Seele, die sie erreicht, hat das höchste Ziel erreicht?, sie ist télog Deodeßelag schlechthin*, wobei sich Clemens ganz von Platon

abhängig weiß.? Sie ist keine untätige Ruhe und setzt vor allem ethische

Leistungen voraus.® So mündet hier der Hellenismus in Gedanken aus, die seit Parmenides und den Eleaten zum eigensten griechischen Gut gehören.

Echt hellenistisch, das heißt wirklich erst eigenständig aus der hel- lenistischen Erlebniswelt heraus gewachsen, ist die Verbindung dieser er- sehnten Ruhe mit dem Tode. Allerdings hat auch sie griechische Vor- liufer.’ Altgriechisch ist die Verwandtschaft von Hypnos und Thanatos 8; und die Vorstellung, daß nicht ordnungsgemäß Bestattete ruhelos seien, gehört zu den beherrschenden griechischen Todesvorstellungen.? Auch Vorstellungen von der besonderen 76vyie um das Grab! leiten zum Hel- lenismus hinüber. Doch der Hellenismus prägt gerade das besonders aus, wieder gehen Dichtung! und Religionsgeschichte dabei Hand in Hand. Die stärkste Beliebtheit haben diese Gedanken in epikureischen Kreisen ??, aber auch in den Kreisen um die orphischen Hymnen.!? Im Römischen mögen sie durch etruskische Vorstellungen noch verstärkt und etwas massiver geworden sein. Orcus heißt hier einfach quietalis, und requies ist das beste, was man sich für den Tod erbitten kann.!? Der Tod ist somno similis, qui non numquam etiam sine visis somniorum placatissimam quietem adfert?®, laborum et miseriarum quies was fast wörtlich an das Isisgebet erinnert! dolorum omnium evolutio ... et finis ultra quem mala nostra non exeunt, quae nos in illam tranquillitatem in qua antequam nasceremur iacuimus, reponit.” Auch die Christen haben diese Gedankenkreise übernommen, oft sind sie nur äußerlich mit den Auf- erstehungsvorstellungen verbunden, oft verdrängen sie diese.!® Es gibt

1 Paed. 1, 6, 35, 1; strom. 1, 5, 32, 4; 2, 11, 52, 4: quis dives 6, 1. 2 Strom, 2, 20, 108, 4; 7, 13, 82, 4. 3 Paed. 1, 18, 102, 2; qu. div. 23, 3. 4 Strom. 5, 14, 106, 2f. 5 Strom. 6 16, 187, 4. ¢ Paed. 3, 7, 39, 2; Strom. 7, 16. 93, 3; qu. div. 82, 6. 7 Zam Ganzen: B. Marbury, The Sleep of Death. Mem. of the Americ. Acad. in Rome 11 (1988) 81/117. .8°Schon Hom. Il. 14, 231/4; 16, 454. 667/78, attische Grablekythen, Kyp- seloskasten u. 0. ° Dem Hellenismus ist sie weniger durch die Tragödie, als durch Platon resp. 10, 615 vermittelt worden. 10 Herod. 1, 45; Arist. equ. 1157. 11 Anth. P. 1, 277; 7, 22; Theocr. 1, 138. 12 Epik. epist. ad Men. 8, 125 f. 13 81, 1; 87, 5. 14 Claudian rapt. Pros. 2, 35, 303. 13 Cic. Tusc. 1, 41, 97; vgl. auch 1, 11, 25; 1, 49, 118 16 Cic. Catil. 4, 7. 17 Seneca Marc. cons. 19, 5, vgl. auch 24, 5. 18 Apok. Joh. 6, 11; 14, 18; Clem. Alex. Strom. 4, 22, 141,1; Aug. Conf. 13, 86.

344: | Carl Schneider

- christliche Grabinschriften, die von einer Auferstehung überhaupt nichts mehr sagen, sondern nur von einer ewigen Ruhe: perpetua quiescit in pace? oder auf: griechischem Sprachgebiet: xvote, dvdravcov M. oder avole, &vén«vóov THY puyhy tod Osiva.

Mit diesen mehr abstrakten Vorstellungen begniigte sich der helleni- stische Mensch nicht. Noch einmal sehen wir ein echtes Stiick seiner Le- benswerte auf die religiöse Sphäre des Todes übertragen. So wie der hellenistische Mensch in der unruhigen Welt die Ruhe in seinem Hause fand, das er immer mehr ausschmückte und zu gestalten verstand, so be- deutet der Tod jetzt ein nach Hause kommen, und das Grab wird zum Haus.” Hier drückt der Hellenismus in einer an sich nicht griechischen Form sein Eigenstes aus. Weder der orientalische Grabzippus wie F. Matz gezeigt hat? noch der alte Tumulus ist für ihn wichtig, sondern das Haus, sei es nun als Heroon oder als wirkliches mensch- liches Haus, übersät mit luftigen, leichten Wandbildern oder in der Form der lebendig ausgeschmückten Sarkophaghäuser. Vergeistigt führt das dann zu den beliebten Vorstellungen von den Himmelshäusern.° Wo man im Irdischen bleibt, findet man immerhin in stiller Resignation die Ruhe: ... desine flere meos casus, dulcissima mater, hic est nostra domus, hic habitabimus una, hic ego sum et soror et mamma tres in parva, hic sumus una domu. te rogo, sancta soror, nostros tutare parentes donec fata meis letos contraxerit umbris.® Auch der Tod konnte das hellenistische Haus und die hellenistische Familie nicht zerstören.

Auch hinter dem Grab liegt noch etwas echt Griechisches. Noch ein- : mal hat Platon die letzte Heilsaussicht des Hellenismus entscheidend be- stimmt. Mögen in gewissen Schichten grelle orientalische Bilder von Jen- seitsvorstellungen eingedrungen sein sehr reich ist das Material dafür nicht. Die herrschende religiöse Ansicht ist die, daß am Ende aller Dinge ein geordneter Kosmos steht mit der Sphärenharmonie und der letzten göttlichen Ordnung, ein letztes göttliches Maß, ein über alle Flüchtigkeit und Unruhe fest gegründetes ewiges und göttliches Sein. So hat Plutarch ein uraltes unverstandenes kretisches Symbol umgedeutet in das ewige ei Apollos.” So hat Cicero in echt hellenistisch-römischer Fortbildung Platons den römischen Staat als den verheißungsvollen Hinweis auf jene letzte Gestaltung der großen kosmischen Sphärenordnung, zu der die un- sterbliche Seele einmal Zutritt haben wird, angesehen. So erbittet eine

ı ILCV 1, 315& und b. 2 Preisigke, Sammelbuch 1, 3910; 1, 609 u. o. 5 J. Wiesner, Das altgriechische Totenhaus. ARW 85 (1988) 814/28.

4 F. Matz, Hellenistische und römische Grabbauten, Antike 4 (1928) 266/92. 5 Cie. Tusc. 1, 22, 51; Platon Apol. 82, 40c; 2. Kor. 5, 1; Joh. 14, 2.

6 Not. scavi 1919, 41. |

7 W. Bates, The E of the Temple at Delphi. Am. Journ. Arch, 89 (1925) 240 ff.

BEER SEE ie, <

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 345

hermetische Gebetsformel: rete, rave tv dovuegarviay rod xdouov.! So hat das Frühchristentum als Ziel der Welt einfach formuliert: iva 7) 6 còs ndvra v xčow? oder Ordnung und Harmonie als das letzte Blei-

-bende übernommen.?

Es ist auch hier wieder erstaunlich, wie dünn die orientalische Decke ist, die über der hellenistischen, und zwar griechischen Endschau liegt. Freilich .ist sie oft so schimmernd und bunt, daß man verstehen kann, wie die Forschung jahrzehntelang die Hülle für den Kern hielt. Aber leicht und: mühelos läßt sie sich auch hier abstreifen, und mit Staunen erkennt man, wie auch hier unveränderlich griechischer Geist das einzig Lebendige, selbst in buntem und sogar abstrusem Gewand, bleibt.

Plutarch, selbst Symbol für das alles, hat, ohne es zu wissen, in einer bekannten symbolischen Szene diesen Tatbestand erschütternd und er- greifend geschildert: Nero wird im Tartarus für seine Schändlichkeiten gequält wie die Übeltäter der homerischen Nekyia. Da gebietet eine göttliche Stimme Einhalt: örı ræv daynxdmv Beirıorov zal Heopulk- oravoy yEvog NAsvdEowoe.! Selbst der Muttermörder Nero man bedenke, was das bei dem Ethiker, ja Moralisten Plutarch bedeutet wird erlöst, nur weil er die Griechen liebte. Eine ganz ähnliche, gleich dramatische symbolische Szene bringt die hellenistisch-christliche Schicht des Johannes- evangeliums: während der neue Kultgott von den finstersten Mächten des Ostens, den Juden, gespensterhaft umlauert wird, die ihn hinterrücks töten wollen, kommen in aller Offenheit und Klarheit Griechen zu den beiden Schülern dieses Christus mit den guten griechischen Namen Philippos und Andreas und bitten: «vere, HEelouev tov ’Inooüv ideiv. Sie erhalten von ihm selbst die Antwort, daß diese Stunde, in der seine völlige Schei- dung vom Orient und seine Zugehörigkeit zu den Griechen deutlich wird, ‘die eigentliche Sichtbarwerdung des göttlichen Lichtglanzes sei.° In diesen beiden hellenistischen Bekenntnissen zum Griechentum hat die hellenisti- sche Religionsgeschichte sich selbst am besten erkannt.

V. AUSBLICKE UND WEITERE FRAGESTELLUNGEN

Aus diesen Beobachtungen ergeben sich zwei Fragengruppen, die in Zukunft von der hellenistischen Religionsgeschichte bei aller Schwierig- keit mit Macht angepackt werden müssen. Sie sind nur in Verbindung mit der gesamten Hellenismusforschung philologischer, historischer und archäologischer Prägung im Lauf der Zeit zu lösen. Hier können sie nur kurz umrissen werden.

ı Naasgenerpr. 21 (Reitzenstein, Poimandres 98). 2 1. Kor. 15, 28. s.Clem. Strom. 6, 16, 141 ff. + De sera num. vind. 32, 567 ff. 5 Joh. 12, 20/3.

346 Carl Schneider

Die erste ist bei der heutigen Fragestellung ‘der Forschung der Ertrag fiir die sehr verwickelte Lage der hellenistischen Rassenforschung. Welche Rassenmerkmale dominieren in der hellenistischen Religionsgeschichte? Glaubt man die Thesen Cumonts und anderer vorwiegend westlicher Forscher, dann müßte sich in ihr die Rassenverschlechterung durch Ein- dringen der Orientalen widerspiegeln. Zeigt sie aber im Grunde ein ganz anderes Bild, dann würde sich ergeben, daß gerade hier die rassi- schen Kräfte des Griechen- und Römertums ihren Bestand bewahrt haben und gerade in den religionsbildenden Kräften des Hellenismus viel un- wermischtes und wertvolles, nicht orientales Rassegut lebendig bleibt. Diese Fragestellung verlangt eine Fülle von Einzeluntersuchung!, hier kann nur methodisch abgegrenzt werden, was sich aus unseren Beobach- tungen dafür ergibt. Zwei Gesichtspunkte sind schärfer zu beachten. Erstens darf nie aus dem Vorkommen einer orientalischen Form auf Vor- handensein odergar Vorherrschen orientalischer Rassen geschlossen werden. Das wäre streng gesprochen beim Hellenismus ebenso töricht wie wenn man die Ägypten- oder Chinabegeisterung des 18. Jahrhunderts aus fremdrassischem Einströmen verstehen wollte! Sondern es ist immer in jedem einzelnen Fall zu fragen, ob nicht hinter der entliehenen Form griechisches Erleben steckt, das rassenmäßig auf griechische Menschen hinführt. Andrerseits vertritt auch nicht jede griechische Form griechisches Erleben und damit indogermanisches Rassentum. Wenn der Orient grie- chische Tempel baut, ist auch immer erst nach dem Erlebnishintergrund zu fragen. Nicht von der Form, sondern vom Erlebnis aus wird allmäh- lich mehr Licht auf die Rassenverteilung des Hellenismus fallen können. Eine besonnene historische Psychologie muß hier noch viel mehr in die Forschung eingeschaltet werden.

Die zweite Frage ist für einige Teilgebiete der Religionsgeschichte schon gut bearbeitet, gibt aber noch viele Rätsel auf. Wichtiger als das Einströmen des Orients ist die innere Differenzierung des Hellenistischen in Griechisches und Römisches.” Vor allem für den Herrscherkult ist ja hier das Entscheidende schon gesehen 3, es muß aber auf die ganze helleni- stische Religionsgeschichte ausgedehnt werden und läßt sich bis weit in die Unterschiede von byzantinischem und römischem Christentum hinein verfolgen. Nur einige Gesichtspunkte seien angeführt. Ist das griechische

1 Einen Anfang bildet die umfangreiche Untersuchung von W. Philipp, Weib- und Mutterwertung und die sterbenden Götter Rasseneuropas (Königs- berger Diss. 1939). Im Druck.

2 Vgl. L. Curtius, Der Geist der röm. Kunst. Antike 5 (1929) 187/213.

3 Alföldi a. a. O. M. P. Charlesworth, Some observations on Ruler-Cult, espe- cially in Rome. Harvard Th. R. 28 (1935) 1/44; W. Schubart, Das Königsbild des Hellenismus. Antike 13 (1937) 272/88.

Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte 347

Heilsziel Vergottung, so ist das rémische Reinigung und Entsiihnung. Der Weg dazu ist beim Griechen Palingenesie oder göttliche Adoption, beim Römer innere Entwicklung, Gottesnachfolge, gesetzliche Disziplin einer religiösen Gemeinschaft. Das Mittel ist beim Griechen das Erlebnis der Einweihung oder der mystische Aufstieg, beim Römer die Erfüllung des zeremoniellen oder ethischen Gesetzes. Griechisch ist die Begründung dafür metaphysisch-mythisch, römisch dagegen historisch-traditionell. Grie- chischer Gottesdienst ist immer irgendwie ekstatisch-enthusiastisch, sei es auch in der Form nüchterner Trunkenheit, römischer immer zeremo- niell. Griechische Frömmigkeit ruht auf den beiden Säulen Mystik und Gnosis, römische auf Kultus und Opfer. Griechisches religiöses Ethos hat immer mit einem Liebeserlebnis zu tun, sei es ows, gidta oder aydxn, römisches immer mit Gehorsam, iustitia und aequitas.

So ergeben sich eine Reihe neuer Gesichtspunkte, die aber in beson- derem Zusammenhang für sich behandelt werden müssen. Aber da Hel- lenismusforschung eins der dringendsten wissenschaftlichen Bedürfnisse unserer Zeit ist, werden sie auch ihre Bearbeiter in Zukunft finden, zumal wenn die Befreiung von dem orientalischen Dogma weitere und klarere Ausblicke eröffnet.

Inhaltsübersicht

Eine einseitige dogmatische Betrachtungsweise hatte bisher meist versucht, den Hellenismus geistesgeschichtlich mehr oder weniger dem Orient zuzuordnen. In Wahrheit aber gilt es, in ihm die folgerichtige Fortentwicklung des Griechen- tums zu sehen, die nur in Anpassung an neue Verhältnisse geschieht. Nicht der Orient hat das Griechische verdrängt, sondern das Griechentum hat den Orient überwunden oder wenigstens grundlegend umgeschaffen. Bestimmte Ge- setze dieser Umformung lassen sich schon in vorhellenistischer Zeit erkennen. Im hellenistischen Raum sind es für die Religionsgeschichte vor allem die Ge- setze der Ausweitung zur Großwelt, die durch einen schärferen Blick für das Einzelne und sogar Kleine gezügelt wird, des Verlangens nach der Natur, der Vorliebe für die militärische Ordnung, der zunehmenden magischen Technik. Sie werden von seelischen Kräften bestimmt, die die eigentümliche griechische Gefühlswelt zur Grundlage baben.

348 - Herbert Schmidt

EINE SPATE ATTISDARSTELLUNG . VON HERBERT SCHMIDT IN KONIGSBERG/PR. MIT 1 ABB. AUF TAFEL VI

Der in der Leidener Universitätsbibliothek aufbewahrte Codex Vos- sianus Lat. Qto. 79, der in der Literatur als „Leidener Germanicus-Hand- schrift‘‘! bekannt ist, weist unter seinen Illustrationen, die sich auf die Himmelsbilder erstrecken, eine Darstellung des Wassermann auf (s. Abb.), die bisher in ihrer mythologischen Herkunft als Ganymed bezeichnet worden ist. Diese Deutung ist aber unbefriedigend. Wir müssen viel- mehr in diesem Wassermann eine Attisdarstellung sehen.

Die Leidener Germanicus-Handschrift ist seit dem Ende des 16. Jahrh. in Gent nachweisbar und ist 1716 nach Ausweis des Leidener Katalogs bereits in der Leidener Universitätsbibliothek vorhanden. Sie enthält eine Himmelsbeschreibung, zu der Verse des Germanicus und des Avie- nus verwandt worden sind. Wesentlich ist jedoch weniger diese Be- schreibung als die Illustrationen, wie aus der Verteilung der Illustra- tionen und des Verstextes auf die Buchseiten geschlossen werden kann. Der Text ist in Capitalis rustica geschrieben, eine Schriftform, die sich bis ins 9. Jahrh. hinein erhalten hat. Aus den bruchstückweise erhal- tenen, in Minuskeln ausgeführten Bildbeischriften, die nicht vor dem 9. Jahrh. vorkommen, kann die Handschrift auf das 9. Jahrh. datiert werden. |

Für diese Zeit sind Prachthandschriften profanen’ Inhalts, wie sie die Leidener Germanicus-Handschrift darstellt, nur in ganz geringer Zahl bekannt. Infolgedessen nimmt auch die Leidener Handschrift zur da- maligen Zeit eine Sonderstellung ein. Diese erstreckt sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Illustrationen. Im Gegensatz zu der karolingischen Buchmalerei übernimmt sie aus der Schreibstubentradi- tion heraus weitgehend antike Motive, sowohl in der Ikonographie als auch in der künstlerischen Form. Es ist daher anzunehmen, daß auch die Leidener Germanicus-Handschrift auf eine antike Vorlage zurück- geht, die auf Grund der Textkritik, die G. Thiele (a. a. O.) vornimmt, etwa im 4. nachchristl. Jahrh. zu suchen ist.

Aus dieser Zeit heraus ist die Wassermanndarstellung, deren Deu- tung als Ganymed schon Thiele als unbefriedigend empfand, durchaus ‘als die eines Attis anzusehen. Auf blauen Grund in roter Umrahmung ist die Gestalt gesetzt, die in frontaler Schrittbewegung aus einer Kanne

1 Veröffentlicht in: Georg Thiele, Antike Himmelsbilder, Berlin 1898.

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Eine späte Attisdarstellung | 349

Wasser gießt, die sie in beiden Armen hält, wovon der eine über den Kopf erhoben ist. In den Wasserstrom mischen sich Sterne, die auch weiterhin über die ganze Gestalt verstreut sind. Bekleidet ist die Ge- stalt mit einer roten phrygischen Mütze, einem rosafarbenen, hosen- artigen Gewand, das nur die Beine bedeckt und einer langen, weit- geschwungenen Chlamys, die sich um das rechte Bein windet und sich dann über die linke Schulter legt.

Die hosenartige Gewandform und die phrygische Mütze sind deut- liche Merkmale des Attis. Gewiß ist die Art der Bekleidung des Unter- leibes ein übliches Merkmal hellenistischer Darstellungsweise, jedoch kann man auch eine aus dem Attismythos entstandene, ähnlich ent- blößende Darstellungsweise Attis als Entmannter gerade in römi- scher Kaiserzeit feststellen, wie aus kleinen Bronzen des 2. nachehristi, Jahrh. deutlich zu ersehen ist.

Die Darstellung mit der Kanne ist mit Attis nicht ohne weiteres in Verbindung zu bringen. Zwar kommt Attis mehrmals als Kadmilos— Attis, als Diener der Kybele, in klassischer Zeit vor (z. B. auf einem Weihrelief um 400 in der Berliner Skulpturensammlung), jedoch sind diese Darstellungen später spärlicher. Wir werden vielmehr den Wasser- mann in der Leidener Germanicus-Handschrift im Grundtypus als Gany- med anzusehen haben. Denn als solcher wird er häufig auf den wissen- schaftlich astronomischen Atlantendarstellungen gegeben (obwohl er hier auch in noch anderer Form vorkommt). Diese Unsicherheit der W assermanndarstellung mag daher rühren, daß der Wassermann als Sternbild zunächst keine symbolische Bezeichnung hatte. Diese wurde ihm erst von den Dichtern (Hermesianax) verliehen. In der Leidener Germanicus-Handschrift werden wir daher eine Vermischung des Gany- medtypus mit Attis zu sehen haben. Bei der Bedeutung, die der Kybele— Attiskult in der römischen Kaiserzeit als Staatsreligion hatte, ist es durchaus möglich, daß eine Umdeutung des Ganymed in einen Attis stattgefunden haben könnte.

Wir haben also in der Wassermanndarstellung der Leidener Ger- manicus-Handschrift eine Attisdarstellung zu sehen, die sich auf Grund der im Frühmittelalter üblichen Überlieferungsmethode bis ins 9. Jahrh. erhalten hat. Rein zeitlich gesehen mag die Vorlage des 4. Jahrh., die zu der Leidener Handschrift benutzt worden ist, eine noch frühere Vor- lage gehabt haben. Denn der Stil der Darstellungen, der fast gar nichts

- von karolingischer Malweise aufzeigt, weist engste Zusammenhänge mit

pompejanischer Wandmalerei auf.

350 Kurt Schilling

NIETZSCHES SCHICKSAL UND WERK *) VON KURT SCHILLING IN MÜNCHEN

Nietzsche, dessen Schicksal und Werk ich Ihnen hier am Abschluß der ganzen Vortragsreihe der Salzburger Wissenschaftswochen darstellen möchte, und für den ich Ihre Aufmerksamkeit noch einmal eine Stunde lang erbitte, ist der letzte der großen Philosophen in einer ansehnlichen Reihe von Parmenides und Platon über Descartes, Leibnitz, Hume, Kant, Fichte bis hin zu unseren Tagen. (Der letzte wenigstens von den Ver- gangenen der Geschichte, denn über Lebende ein abschließendes Urteil abzugeben, bevor sie ihre Bahn bis ans Ende durchmessen haben, ver- bietet sich von selber.) Und da erlauben Sie mir gleich die kurze Vor- bemerkung: Wenn wir von einem dieser großen Philosophen der Ver- gangenheit reden, so ist das nicht halbvergessene Kunde ferner Ereig- nisse, die aus unbegreiflichen Gründen, aus Neugier oder Liebhaberei für Antiquitäten, wieder ausgegraben werden soll. Es geht vielmehr auch damit nur um uns selber heute in unsrer unverlierbaren Gegenwart, um die Sache der Philosophie; und weil Philosophie ein unaufhebliches Bedürfnis der Menschennatur ist weit über alle Wissenschaft und alle Wissenschaften hinaus, um den Menschen und die Möglichkeit seines Lebens hier und jetzt. Deshalb ist die Geschichte der Philosophie auch ein Gebiet der Philosophie selber, das wir niemals aus der Hand geben und an Spezialisten ausliefern werden.

* Die nachstehende Arbeit ist der Versuch einer philosophischen Auslegung von Nietzsches Schicksal und Werk im ganzen. Ich habe die Ergebnisse zuerst in einer vorläufigen Gestalt mitgeteilt in Ausländerkursen in München ; dann in breiter Durchführung in Vorlesungen an der Münchner Universität; endlich haben sie ihre abschließende Form gefunden in dem vorliegenden Vortrag, der auf den Salzburger Wissenschaftswochen 1989 auf Veranlassung der Forschungs- und Lehr- gemeinschaft „Das Ahnenerbe“ gehalten werden sollte, aber wegen Kriegsaus- bruch nicht mehr zustande kam. Zur Ergänzung sind eine Reihe von größeren Anmerkungen beigefügt. Alles ist am 28. August 1989 abgeschlossen worden. Ich bitte den Leser, die Anmerkungen besonders zu berücksichtigen. Wenn die Lektüre des Vortrags nicht unterbrochen werden soll, können sie am Schluß hinterein- ander gelesen werden unter gelegentlichem Rückgriff auf den Text. Die Grundlage meiner Auslegung bildet einerseits die Untersuchung der Realität des Kunstwerks in meinem Buch „Das Sein des Kunstwerks“, Frankfurt a. M. 1938, andrerseits eine Gesamtauffassung der geschichtlichen Entwicklung, die bisher erst stück- weise in meinen staatsphilosophischen und philosophiegeschichtlichen Büchern veröffentlicht worden ist. Auch insofern mag die Arbeit als ein Versuch gelten, als jede Auslegung Nietzsches vorläufig bleiben muß, solang nicht der gesamte Nachlaß veröffentlicht und durchgearbeitet ist.

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Nietzsches Schicksal und Werk 351

Mit Nietzsche nun machen wir gewöhnlich, wenn wir den Zugang zu ihm suchen, eine recht merkwürdige Erfahrung. Der Ort, wo wir ihn zuerst kennen lernen, ist meist das Zitat. In irgend einem fremden Zu- sammenhang, ja sogar oft in der Zeitung, begegnen wir plötzlich einem seiner Sätze, der sich da ganz eigenartig ausnimmt in seiner Umgebung, irgendwie mehr ist, glänzender, tiefer, paradoxer, kühner als seine Um- gebung, der uns unmittelbar berührt und erschüttert. Und so greifen wir denn auch einmal zu den Büchern und lesen eines davon ganz oder sogar alle. Aber nun sind wir enttäuscht. Was uns an dem einzelnen Satz wirk- lich ergriffen und gepackt hat, kehrt da in dauernder Wiederholung wieder, ja noch mehr: fast alles scheint sich im großen Zusammenhang zu wider- sprechen und irgendwie umgebogen, schief, nicht letztlich haltbar zu sein.

Noch weiter: Nietzsche ist immer noch modern. Jeder möchte ihn gern für sich gewinnen, jede Partei, Strömung, Tendenz, Persönlichkeit der Gegenwart. Und so kommt es, daß seine verschiedenen Verehrer sich oft in einer recht unerwarteten Gesellschaft treffen. In einem kleinen, im Jahr1928 in Zürich erschienenen Büchlein stehen folgende Sätze: „Nietzsche hat so rastlos nach Erkenntnis gestrebt, daß er schließlich über jedes Ding in der Welt zwei verschiedene Meinungen vorrätig hatte. Durch diese Vielseitigkeit wird er allen Bedürfnissen der modernen Charakter- stärke wie kein zweiter Philosoph gerecht. Den preußischen Konservativen flüstert unser Denker das Geheimnis ihrer Macht ins Ohr, den Revolu- tionären sagt er Dinge, die ein Bolschewistenherz höher schlagen lassen. Der internationale Pazifist sieht Nietzsche in der Gloriole des guten Euro- päers und freut sich, in dem Verfasser von „Menschliches, Allzumensch- liches“ einen hochberühmten Mitstreiter für Völkerversöhnung und Ab- rüstung zu finden, und die alldeutschen Kriegstrompeten Keim und Bernhardi spicken ihre Bücher und Leitartikel mit Nietzschezitaten, die den Krieg über den grünen Klee loben. Der fortschrittliche Pfarrer würzt seine Ermahnungen zu Güte und Reinheit mit Nietzschezitaten, der Conferen- cier im moralinfreien Nachtlokal kann mit Nietzscheworten noch viel leichter das glatte Gegenteil empfehlen. Der Abstinent freut sich, in dem Wein- und Bier-feindlichen Philosophen einen Mitstreiter für sein aske- tisches Ideal zu finden, und wer da liebt Wein, Weib und Gesang, findet im Zarathustra das Evangelium gleichgestimmter Seelen.“ (Gustav Büscher, Nietzsches wahres Gesicht, 51.)

Das wäre nun eigentlich ein vernichtendes Urteil über einen Philo- sophen. Nietzsches Ruhm hat es trotzdem nichts anhaben können. Wenn

es also wahr ist, daß wir doch nicht so leicht von Nietzsche loskommen, daß wir immer wieder einmal von der Tiefe seiner Einsicht, von seinem Anruf getroffen werden, so müssen wir unsere Verehrung und ihren Gegen- stand schon etwas besser schützen vor der Verwechslung mit unerwünschten

352 Kurt Schilling

Anhängern ebenso wie vor Gegnern. Das zu tun geeignet ist die wissen- schaftliche Philosophie, als deren Vertreter ich hier zu Ihnen spreche.

Die Wissenschaft hat Nietzsche gegenüber drei Aufgaben: 1. Eine einwandfreie Auslegung seiner Lehre und seines Lebens. 2. Die Erklä- rung der Tatsache, daß Nietzsches Philosophie uns heute noch etwas an-

geht, daß sie Bedeutung hat: nicht etwa nur für die. Wissenschaft, son- dern gerade für unser Leben. 3. Da unsere Zeit ja unstreitig nicht mehr dieselbe ist wie die Nietzsches: den Unterschied zwischen uns und ihm auf- zudecken und zu zeigen, worin etwa seine Lehre heute nicht mehr ver- bindlich sein kann. Dabei ist keine dieser Aufgaben für sich allein lösbar, etwa das Faktum zuerst feststellbar ohne innere Anteilnahme am Gegenstand. Es ist eine sehr alte Wahrheit, daß nur ein sönnenhaftes Auge das Licht der Sonne erblicken kann, daß wir über einen großen Philosophen und Menschen nur wieder als Philosophen und Menschen in innerer Verwandtschaft der Menschlichkeit und eines Strebens angemessen reden können, das auch schon von sich aus, nicht nur über Texte und Bücher, einen sachgerechten Zugang besitzt zu den Fragen, auf die es hier ankommt. Alles übrige ist Geschwätz der Literaten. t

Wenn wir Nietzsches Entwicklung so verfolgen, wie sie sich nur an Hand von ihm selbst veröffentlichter Bücher?, noch nicht seiner ganzen

Aufzeichnungen und seines Nachlasses, darstellt, bietet sich uns etwa fol-

gendes Bild:

Nietzsche wird geboren und erzogen in einem sehr typischen und

ausgeprägten protestantischen Pfarrhaus des 19. Jahrh. Er zeigt bereits früh eine spielend leichte poetische und musikalische Begabung. In seiner Gymnassialzeit in Schulpforta, den fünfziger und sechziger Jahren, wächst er hinein in die damals schon vergangene und von einem kleinen Epi- gonentum abgelöste große Formenwelt der klassischen deutschen, grie- chisch-lateinischen, englischen und französischen Literatur.? Er beginnt das Studium der griechischen Philologie. Mit 22 Jahren entdeckt er durch Zufall Schopenhauer für sich und wird sofort dessen leidenschaftlicher Anhänger. Eine tief in seinem Wesen gründende Freundschaft verbindet ihn mit Richard Wagner. Er erhält durch Ritschls Empfehlung sehr früh den Basler Lehrstuhl für Griechisch. * Mit 27 Jahren, 1871, veröffentlicht er sein erstes größeres Buch, die „Geburt der Tragödie“, bald danach die vier „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Beides zusammen enthält seine Jugendphilosophie.°-

Drei Lebenserfahrungen sind es, die in erster Linie Nietzsches Jugend- ~ lehre bedingen und tragen: das Ungenügen an der Philologie als Wissen- schaft, deren Historismus damals oft nicht mehr. an die Griechen heran- kam, nicht mehr vermochte, das Griechentum als menschliche Wirk- lichkeit ernst zu nehmen®; der heroische Pessimismus Schopenhauers

Nietzsches Schicksal und Werk 353

als Abschluß und letzter Nachklang der großen klassischen deutschen Epoche Goethes und Kants in seiner Zeit”; und die Freundschaft mit Richard Wagner, in dessen ihm Zeit seines Lebens innerlich verwandter Kunst er zunächst eine Zukunft der deutschen Kultur, noch nicht wie später Verfall und das Ende erblickte.® Es ist ein eigenartiges rätsel- haft geniales und zugleich unreifes Gebilde, das Nietzsches Schöpferkraft als frei gegebene Antwort diesen Erfahrungen entgegenstellt. Als gebo- rener Philosoph geht er mit sicherem Instinkt sofort auf das Leben selber als Maß und Grundquell aller Kultur zurück. Und er stellt von hier aus die Frage: zuerst an die Wissenschaft, gleich darauf aber auch an die Kunst, was beide in einem endgültigen Verstand für den Menschen be- deuten.

In der Antwort, die er sich Frager und Befragter in einem gibt, verknüpft er beide Gebiete. Er sucht, wie er selber später sagt: „Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens.“ (Geb. d. Trag. Vorrede 3) Was ist das menschliche Leben? Er sucht dem näher zu kommen, indem er auf den einheitlichen Grund der Welt verweist, den er mit Schopenhauer als Ur- schmerz und Urwiderspruch versteht. Und er glaubt nun: Um diesen in der Tiefe alles Lebens liegenden Schmerz überhaupt ertragen zu kön- nen, bedarf der Mensch der Illusionen, die ihn im Dasein halten und über die Gefahren seiner eigenen Tiefe hinwegtragen. Solche Illusionen sind zunächst die derberen Genüsse und Ziele des Menschen, dann aber vor allem die Kunst, die uns das Einzelne nur im Ganzen und damit in einem vollkommenen Reich vorspiegelt, das zwar nicht wirklich ist, aber doch in derreinen, beglückenden Betrachtung uns den höchsten Genuß gewährt. Dieses Reich ist Lüge. In „absonderlich düsterer Konzeption“, wie es später heißt, spricht Nietzsche es sogar direkt aus, daß wir Schein und Lüge nötig haben, um überhaupt zum Leben verführt werden zu können, um nicht aus dem „Neinsagen“, der Wahrheit des theoretischen Pessi- mismus, noch ein „Neintun“, also tätliche Flucht aus dem Leben, zu machen.

Immerhin ist die Kunst „Tragödie“. Sie soll und kann den Menschen nicht in eine besinnungslose Verlorenheit im Schein verführen. Damit ginge ihm seine eigene Tiefe verloren. Und die ist und bleibt eben Schmerz und Leiden. Auch das muß offen bleiben im Leben des Menschen. Der „sokratische‘, „wissenschaftliche“ Optimismus, der in seinem Leichtsinn, in verstandesstolzem Fortschritts- und Aufklärungswahn, des Glaubens lebt, der Mensch könne durch Technik und Praktiken, durch Erkennen und Rationalismus je das Leiden in seiner eigenen Tiefe aufheben, hat nach Nietzsche allen Boden unter den Füßen verloren und zeigt den gänz- lichen Verfall an. Die echte Kunst allein hält hier die wahre Mitte und ist Spiel und Lust, aber über dem Abgrund des Leidens. Das Leiden geht

Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 2 23

354 Kurt Schilling

in ihr nicht verloren, es bleibt gegenwärtig, aber es wird künstlerisch ver- klärt im Spiel der Gestalten. Alle echte Kunst ist deshalb Tragödie, von der wahrhaft gilt, was Hölderlin von Sophokles sagte:

„Manche versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen,

hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.“

Der Kunst zur Seite aber tritt die echte Weisheit, Philosophie ım Sinn des grenzensetzenden Entwurfs von Kant und Schopenhauer, die das Leiden im Lebensgrund ausdrücklich aufdeckt. Aber auch sie bedarf der Kunst zur Ergänzung, die allein die höchste, das Leben rechtfertigende Lust enthält. |

So sehr dieser Entwurf in seinen Grundzügen von Schopenhauer stammt, wie Nietzsche nicht leugnet, so wenig ist er doch in Wahrheit mehr Schopenhauer. Es kommt Nietzsche gar nicht so sehr auf den Ur wider- spruch und das Ureine an, sondern auf den einzelnen im Leben selbst erfahrenen Widerspruch, das selbst erfahrene Lebensleid, dem er nur noch die Schopenhauersche metaphysische Konstruktion unterschiebt. Was hier im Leben greifbar ist im Menschen, das ist Nietzsche wichtig, und hier ist ihm eben wie er selber erfahren hat Leben diese eigen- artige Mischung von Lust und Leiden, die erklärt und gerechtfertigt, deren Tiefe aber nicht aufgegeben werden darf, soll der Mensch nicht entarten. So ist der tragische, um das Leiden wissende, trotzdem in der Lust sich erfüllende Pessimismus dieser Zeit, wenn auch nur durch eine dünne Wand, doch noch durch eine Wand getrennt von der hero- ischen fast gewaltsamen Lebensbejahung der Spätzeit. Um diese Wand endgültig zum Einsturz zu bringen, ist die Erfahrung der Enttäuschung an aller Romantik und ihren Illusionen von 1876 und das Durchleben des Nihilismus und Skeptizismus nach dieser Enttäuschung nötig. Aber diese Erfahrungen werden im Grund Nietzsche nur selber auf die volle Höhe seiner Konzeption heben.?

Zunächst dient diese Auffassung des Lebens Nietzsche in seiner Ju- gendzeit noch als Grundlage für den Entwurf der Idee einer neuen Kultur, in der die Kunst und das Künstlerische in der Ausprägung Richard Wagners breit im Vordergrund steht, für die Ausarbeitung neuer Zugänge zum Griechentum und für eine weitausholende Kritik an seiner Zeit und in ihr vor allem an der Wissenschaft. Mit allem dem geht es ihm darum, den Menschen im wahren Sinn zurück zur Natur zu führen, die er ver- loren hat; seine echten ursprünglichen Bedürfnisse wieder zu wecken ent- gegen der Abstumpfung und den bloßen Sensationen seines alltäglichen Lebens in der modernen Zeit.

Aber schon während noch Nietzsche in der Ausmalung der neuen Welt und ihrer Kultur begriffen ist, melden sich bei ihm die ersten Zweifel an der Echtheit des ganzen Baus, den er aufführt.!? Als ihm dann diese

Nietzsches Schicksal und Werk 355

Kultur, fiir deren Vorbereitung und Verwirklichung er sich einsetzen zu miissen geglaubt hatte, bei der Eréffnung der Festspiele in Bayreuth im Jahr 1876 sichtbar und abgelöst vom Traum in der Wirklichkeit vor Augen tritt, ist er schwer enttäuscht. Und zwar nicht allein von der Alltäglich- keit des Kleinkrams und dem, was bei jedem großen Werk an Unerfreu- lichem mitläuft. Er glaubt vielmehr zu sehen, daß alles das, was er bis- her als den Anfang einer neuen Kultur verstanden hat, in Wahrheit ein Ende ist: der zwar in seinem Raffinement aufs höchste gesteigerte, aber eben gerade darin nur abgelebte Ausklang einer früheren größeren Zeit.

Die Enttäuschung greift ihm ans Leben selber, denn Denken und Leben sind von Anfang an eins bei ihm. Er gerät auch physisch in eine schwere Krisis seiner Natur. Er muß schließlich krankheitshalber seine Professur aufgeben und lebt von nun an, nur mehr seine Krankheit pflegend und seinem Werk hingegeben, auf Reisen in der Schweiz und an der Riviera bis zu seinem Ende im Wahnsinn 1889. Nur ganz langsam, Schritt für Schritt, bildet sich von 1876 an aus dem Zusammenbruch seiner Natur eine neue Philosophie, die Philosophie, die wir eigentlich meinen, wenn wir von Nietzsche sprechen.

Zunächst ist das Buch, in dem Nietzsche sich seinen eigenen Zusammen- bruch, den Zusammenbruch der ganzen Kulturidee seiner Jugend, gegen- ständlich und damit zur Keimzelle einer neuen möglichen Philosophie macht „Menschliches, Allzumenschliches“.1? Nietzsche unterwirft sich dar- in einer strengen und harten Zucht seines von Natur allzuromantischen Geistes. Sie besteht in einer bewußten und vorerst noch gewaltsamen Umkehrung aller Wertschätzungen seiner Jugend. Das heißt: Sein Bild der Welt im großen bleibt bestehen. Noch immer ist Leben wesentlich das Gefährdete, Preisgegebene unserer Existenz. Noch immer täuscht uns die Kunst in gewissem Sinn gerade darüber hinweg, und deckt die Wahrheit, Wissenschaft und Psychologie, diesen Schein auf. Aber Nietzsche stellt sich jetzt im Gegensatz zu früher bewußt und entschlossen auf die Seite der Wahrheit an sich, obwohl er weiß, daß sie dem Leben als solchem mindestens zunächst einmal feindlich ist.!? Als freier, mutiger Geist zweifelt er an allem, an allen Stützen und Krücken des Lebens, an allem Festgestellten und Geglaubten. Und er steigert den Zweifel und die Verachtung bis zu einem gefährlichen Extrem von Relativismus und Verneinung. Es ist die große Krisis und zugleich die Probe, was alles ein innerlich anspruchsvolles Leben gerade noch aushalten kann; es ist für ihn die Zeit des aktiven praktisch durchlebten Nihilismus.

Nur auf dem Grund dieses Nihilismus baut sich die neue Welt auf. Wer von uns den Nihilismus nicht selber kennt und auch durchgemacht hat, für den hat Nietzsche nichts zu sagen. Aber gerade weil wir alle ihn ja nicht nur hinter uns wissen, sondern, wenn wir nur aufmerksam sind,

23*

356 Kurt Schilling

ihn immer noch stündlich und überall um uns herum als unsere eigentlichste Gefahr spüren können, ist gerade eine Philosophie, ganz gleich, was für Resultate sie haben mag, so bedeutend für uns, der es ernst ist: sowohl mit dem Durchleben, dem Eingeständnis und der Hingabe an den Nihi- lismus, wie mit seiner Überwindung.

Von der „Morgenröte“ und „Fröhlichen Wissenschaft“ an beginnt langsam der Aufbau der neuen Welt in der Überwindung des Nihilismus." Der „Zarathustra“ und das nachgelassene unvollendete theoretische Haupt- werk des „Willens zur Macht“ sind seine eigentlichen Dokumente. In den Schriften des letzten Jahres, 1888, macht Nietzsche noch einen letzten, fast kann man sagen verzweifelten Versuch, die Verwirklichung seines Ziels zu erzwingen. Der in den ersten Tagen des Jahres 1889 zum Aus- bruch kommende Wahnsinn ist das dazugehörige Ende seines leiden- schaftlichen Strebens.!?

Was‘ist nun der Inhalt dieser neuen, den Nihilismus überwindenden Welt und Lehre, die Nietzsche eben als Philosoph der geschichtlichen Entwicklung vorgreifend entwirft? Das Thema, um das es ihm geht, ist wieder einzig Wahrheit und Leben.!® Nietzsche hatte zunächst einmal, sich selber zwingend, in der Krisis die Wahrheit und den Zweifel als solchen absolut gesetzt; gleichsam um sich grundsätzlich vor jeder zu- künftigen Täuschung und Enttäuschung, sei es des eigenen Instinkts, sei es anderer, zu hüten. Jetzt entdeckt er sogar, daß in der ganzen Geschichte Wahrheit immer wieder verfälscht worden ist, entweder zugunsten der Lebenskrücke Religion oder zugunsten ihrer saekularisierten Nachfolgerin, der bürgerlichen Moral in seiner Zeit. Wahrheit bleibt aber trotzdem immer noch dem Leben feindlich, und das ist ja der Grund, warum sie so leicht und gern verfälscht wird. Was bleibt uns also übrig, wenn wir die Wahrheit festhalten wollen, das Leben als den existenziellen Grund sogar der Wahrheit nicht aufgeben können?

Hier in der Beantwortung dieser Frage setzt nun die geniale Kon- zeption der Spätlehre Nietzsches ein, die ebenso einfach erscheint, wie es schwierig ist, sie durchzuführen.

Nietzsche sagt nämlich: Wenn der Mensch, so wie er heute ist, die Wahrheit nicht ertragen kann, wir aber auch nicht mehr ohne Wahrheit leben können und wollen, somüssen wireinen Typus schaffen, derzugleich lebt und die Wahrheit erträgt, dem sie nicht mehr feindlich ist, sondern im Gegenteil lebenfördernd. Dieser Typus und nichts anderes ist sein bekannter „Übermensch“. In den Fragmenten zum Zarathustra ist das einmal am deut- lichsten ausgesprochen: „Wir ringen mit ihr [der Wahrheit] wir ent- decken, daß unser einziges Mittel sie zu ertragen, dasist: ein Wesen zu schaf- fen, das sie erträgt.“ (W.XII 399) Dem ist nun Nietzsches ganges Bemühen gewidmet. Indem er eine Lehre ausarbeitet, die diesen neuen Menschen und

Nietzsches Schicksal und Werk 357

seine Welt schaffen soll, indem er sie lehrt, soll sie zum „stärksten Mittel“ werden, sie sich und andern direkt physisch ,,einzuverleiben“, wie sein Ausdruck lautet (W. XII 425).

Was fiir eine Lehre ist es, der Nietzsche solche praktisch verwan- delnde Kraft zutraute? Die Lehre von der ewigen Wiederkunft. Sie . soll einen neuen Menschen und fiir diesen Menschen eine neue Welt schaffen. Das Bild dieser Welt und dieses Menschen aber ist immer noch orien- tiert an dem Bild der Griechen in ihrer friihen Zeit, etwa dem bedrohten griechischen Leben der kleinstaatlichen heroischen Kolonisationsepoche, aber auch der frommen hingebenden Heiligung der Natur und des Dies- seitig-Natiirlichen schlechthin, die dieses Leben bei den Griechen von innen her erst ermöglicht hatte.

Die Lehre von der ewigen Wiederkunft nimmt ihren Absprungspunkt im Sein der Natur; und zwar genauer im Sein der Natur so, wie es die große Naturwissenschaft der Neuzeit entdeckt hat. Das Sein der Natur besteht hier in ihrer generellen Gesetzlichkeit. Die Gesetzlichkeit ist ja noch heute die Voraussetzung nicht nur aller Naturwissenschaft, sondern sogar ihrer sogenannten Anwendung, der Beherrschung der Natur in der Technik. Nietzsche gelangt nun durch eine ganz nüchterne naturwissen- schaftliche Überlegung, die die Zeit unendlich und den Raum begrenzt setzt, zu dieser notwendigen ewigen und unzählig oft wiederholten Wieder- kehr des Gleichen in der anorganischen Welt in einem wenn auch un- vorstellbar großen Weltenjahr. Es ist zwar nicht das einzelne Natur- gesetz, wohl aber der allgemeine Typus der Gesetzlichkeit im Sein der . Natur, was er ins Auge faßt.'?

Das dient ihm nun aber doch bloß als Ausgangspunkt. Ihre entschei- dende Bedeutung zeigt diese Lehre erst in ihrer Wirkung auf die Menschen.

Zunächst nämlich ist sie das Schwerste, Niederdrückendste, was es für den Menschen gibt. Und Nietzsche ist der erste, der sich das klar macht. Die Welt hier, in der wir leben, ist ein ewiger Kreislauf, der alles, was wir heute sind und tun, nichts anderes, in alle Ewigkeit immer wieder- bringt. Auf diesen Kreislauf sind wir einzig angewiesen; es gibt keine Erlösung von ihm und keine andere schönere Hinterwelt, in die wir über- wechseln könnten; das ist die nüchterne Wahrheit, die alle zum frommen Zweck ersonnenen Lügen und Täuschungen von Religion und Metaphysik zerstört. Und weil gerade dieses ewige Einerlei und seine Wiederkehr zunächst einmal die letzte Quelle alles Nihilismus, aller Nivellierung und alles „Umsonst bisher“ in der modernen Welt ist, so kann Nietzsche sagen, daß unser Nihilismus das notwendige Ende einer vieltausendjährigen ge- schichtlichen Entwicklung ist, an dem wir stehen.

An diesem Punkt aber erfolgt die Umkehr. Aus dem tiefsten Fall äußerster Gleichgültigkeit und Unentschiedenheit des Menschen in seiner

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Welt, und nur aus ihm, wird die neue Weltprägung möglich. Was den Menschen befreit, ist bloß sein Wille. Der Wille aber kann immer nur Zukünftiges schaffen, der Vergangenheit gegenüber ist er machtlos, die Zeit ist nicht umkehrbar. Wo alles immer schon einmal dagewesen ist und ebenso wiederkehrt, ist alles vom Schicksal bestimmt. Was kann also der Wille ausrichten, der in diesen Kreis der ewigen Wiederkehr gebannt ist? Er kann sich, wie Nietzsche sagt, befreien vom ‚Du sollst‘ zum ‚Ich will‘ und weiterhin sogar zum reinen spielenden ‚Ich bin‘.!? Gerade diese Tatsache der ewigen Wiederkunft ist doppeldeutig. Sie wird den Menschen erdrücken, der sich gegen das Leben, wie es einmal ist, wehrt und feig zu fliehen versucht, denn er ist machtlos gegen die Zeit. Sie kann aber gerade so gut dem Menschen, der sie sich vor Augen hält, das ‚größte Schwergewicht“ seines Lebens geben, ihn in jedem Augenblick vor die Entscheidung stellen, wenn ernur so lebt,daßer wünschen kann, in alle Ewig- keitwiederzuleben.!AufdasLeben, wie esist, wird dann gleichsam der Stem- pel der Ewigkeit gedrückt, und gerade dadurcherhälteserstseineunendliche Wichtigkeit und seinen Wert bis in jeden kleinsten Zug der Alltäglich- keit hinein. Bisher war das Leben hier in unserer Welt entwertet worden durch die Vorstellung des Jenseits, dem allein Ewigkeit und damit aller wahre Wert zugeschrieben war. Dann schwand der Glaube an die Ewig- keit, und der Nihilismus trat an seine Stelle, weil die kurze Spanne, die uns bis zum Tod gelassen ist, wenn es auch die einzige war, die uns blieb, doch nur vergänglich ist. Das Leben wurde „flüchtig“ und gleichgültig, es wurde zum egoistischen Genuß verbraucht.” Jetzt ist gerade dem Leben hier der höchste Wert verliehen, denn seine Entscheidungen sind end- gültig und ewig in der Wiederkunft. „Non alia, sed haec vita sempi- terna“ ist Nietzsches Formel dafür (W. XII 66). Mit ihr will er nach dem abgelaufenen christlichen Weltalter eine neue Zeit diesseitigen, aber nicht egoistisch entarteten, sondern wahrhaft verantwortlichen freien und glück- lichen Lebens einleiten.?!

Zarathustra ist nur der Lehrer der ewigen Wiederkunft. Zwischen den „letzten Menschen“, der im satten Glück einer erbärmlichen Behag- lichkeit verkommt und dem neuen kommenden „Übermenschen“ ist die ganze Handlung eingespannt. Die Lehre von der ewigen Wiederkunft soll direkt als ein „Ausleseprinzip“ dienen, d.h. nur die Menschen, die sie ertragen in ihrer ganzen Schwere, eben nicht verzweifeln vor dem Ge- danken der Wahrheit, die ihr Leben so gestalten können, daß sie zu seiner Wiederkehr aus ganzem Herzen ‚ja‘ sagen können, werden die neue Mensch- heit bilden. Nur sehr schwer fördert Zarathustra diesen seinen „tiefsten Gedanken‘ an den Tag, gelingt es ihm selber, sich zu ihm zu bekennen. Ebenso ist im „Willen zur Macht“ diese Lehre von der ewigen Wieder- kunft der tragende positive Schluß, der züchtend und in Zucht nehmend

Nietzsches Schicksal und Werk 359

den neuen Menschen formt, und von dem aus Nietzsche überhaupt erst die Kritik seiner eigenen entarteten Zeit gelungen ist, die die Haupt- masse der Aufzeichnungen bildet.

Ich habe aber anfänglich schon gesagt: Nietzsches Lehre ist nicht vollig zu Ende gedacht, das theoretische Hauptwerk ist unvollendet ge- blieben, und zwar nicht so sehr, weil sein eigenes Ende ihn überraschte, als weil er immer wieder Vorbereitendes dazwischenschob und zuletzt nur mehr gleichsam mit dem eigenen Leben seine Schuld einlösen konnte. Das führt uns nun noch dazu, Nietzsches Lehre und vor allem sein Schick- sal unter dem Gesichtspunkt nicht nur der von ihm veröffentlichten Bücher, sondern auch seiner unveröffentlichten Aufzeichnungen zu betrachten.

Wenn wir diesen Nachlaß aus den verschiedenen Zeiten seines Lebens dazunehmen, zeigt sich uns ein Grundstrom gleichbleibenden Philoso- phierens von der Jugend an bis zuletzt, der in Ziel und Charakter der späten Lehre ziemlich ähnlich ist, undderbloßinden verschiedenen Zeiten verschie- . dene, von Tendenz und Absicht des Wirkens vielfach getrübte, nicht immer reine Ausprägungen gefunden hat. Dem hat z.B. schon einmal Bäumler Rechnung getragen, indem er versucht hat, aus den Nachlaßfragmenten aller Zeiten ein „System“ Nietzsches zusammenzustellen, und damit die Legende vom dauernd sich wandelnden Nietzsche zu entkriften.”” Wir müssen aber noch weitergehen. Uns kommt es hauptsächlich auf die Be- deutung seiner Lehre im Hinblick auf sein eigenes Schicksal an. Und da zeigt sich nun etwas sehr Merkwürdiges. Der „Zarathustra“ hat bekannt- lich schon aus Nietzsches Jugendzeit, aus dem Jahr 1870/71, einen Vor- läufer: den Plan zu einer Tragödie „Empedokles“. An diesem Plan aber können wir nun ebenso wie aus den nichtverwirklichten Schlußplänen zum „Zarathustra“ Nietzsches eigenes Schicksal und sein Ende ganz so ablesen, wie es sich später ereignet hat. Um das zu tun, muß ich mit der Auslegung etwas weiter ausholen. ;

‘Das Buch „Zarathustra“, so wie wir es heute lesen, ist erstens un- vollendet, zweitens eine Idylle. Es schließt im 3. Teil mit der hymnischen Besiegelung der Lehre von der ewigen Wiederkunft und dem Ausblick auf eine dramatisch unbestimmte Zukunft. (Der 4. Teil als mißlungener Fortsetzungsanfang kann dabei außer Betracht bleiben.??) Gerade dadurch aber wurde Nietzsche von der Sache selber getrieben, nach der visionä- ren dichterischen Darstellung seiner Philosophie noch eine theo- retische zu versuchen, denn ein Lehrer kann letztlich nie durch eine Erzählung, sondern nur durch seine Lehre wirklich beglaubigt wer- den“. Diese Lehre als solche kommt eben in theoretischer Form am rein- sten zur Ausprägung. Deshalb steht in Nietzsches Entwicklung nach dem „Zarathustra“ noch der „Wille zur Macht“ und muß er stehen als eigent- liches philosophisches endgültiges Hauptwerk.

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Anderen Plänen zufolge aber sollte der „Zarathustra“ ganz anders schließen, nämlich nicht als Idylle, sondern als Tragödie. Zarathustra ist nur der Lehrer des Übermenschen, der ihm zur Geburt verhilft, aber nicht schon selber ein Mensch des neuen Zeitalters. An der Stelle, wo er sein Traumgesicht deutet, in dem der neue Mensch auf den Anruf Zarathustras hin die Tat getan hat, die ihn befreit zu seinem neuen Leben, steht der Satz: „Oh, wie ertrage ich [Zarathustra] noch zu leben! Und wie ertrüge ichs, jetzt zu sterben!“ (3. Teil. Vom Gesicht und Rätsel, 2.) Und hier aus diesem Übergangsschicksal, das in Wahrheit sein eigenes war, hat Nietzsche nun zweimal versucht, eine echte Tragödie, also Hand- lung, zu entwickeln: Zarathustra sollte sterben in dem Augenblick, wo er, vom Gipfel seiner Vision abgleitend, wieder zur Menschlichkeit des Mitleids verführt wird, im Schmerz darüber, daß alle ihn verlassen, so kann man die verschiedenen Pläne des Nachlasses kurz zusammenfassen (W. XII 392—420). Und ganz ähnlich sollte bereits die erwähnte Tra- gödie „Empedokles“ enden. In den Aufzeichnungen von 1870/71 findet sich der Satz: „Das Volk um den Krater versammelt: er [Empedokles] wird wahnsinnig und verkündet vor seinem Verschwinden die Wahrheit der Wiedergeburt“ (W.IX 186). Der Nerv des Tragischen aber ist hier ganz kurz so ausgedrückt: „In seiner Göttlichkeit will er [Empedokles] helfen. Als mitleidiger Mensch will er vernichten. Als Dämon vernichtet er sich selbst.‘ Uns, die wir ja das Ende Nietzsches kennen, berühren alle diese 19 Jahre vor diesem Ende geschriebenen Sätze wirklich in ganz beson- derer Weise.

Das Wesentliche an ihnen aber ist nicht diese fast so zu nennende Prophezeiung des eigenen Untergangs. Wesentlich ist vielmehr die Tat- sache, daß in Nietzsches Hauptwerk neben der Lehre, mit der er das neue Zeitalter begründen will, und neben der visionären idyllisch erzählten Schau verborgen noch die Absicht zu erkennen ist, das eigene Übergangs- schicksal zwischen diesen zwei Zeitaltern zur Tragödie zu formen, da- mit gleichsam zu objektivieren und als Kunstwerk von sich abzulösen. Aber ebenso wesentlich ist, daß dies gerade Nietzsche nicht gelungen ist, weder in der Jugend am Stoff des Empedokles, noch auf der Höhe seiner Kraft im „Zarathustra“.

In den letzten Monaten seines wachen Lebens, wo Nietzsche trotz allen gegenteiligen Anscheins von verharrendem Glück doch schon mit allen Sinnen spürt, daß es reißend schnell zu Ende geht, legt er die be- gonnene Arbeit an seinem theoretischen Hauptwerk nieder. An dessen Stelle geht er zum unmittelbaren Angriff auf seine Zeit über unter rück- haltlosem Einsatz der eigenen Person.?” Ein Teil, der wesentlichste, dieses Angriffs ist sein Rückblick auf das eigene Leben, „Ecce homo“ betitelt. Er beginnt mit folgenden Sätzen: „Das Glück meines Daseins, seine Einzig-

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keit vielleicht, liegt in seinem Verhängnis: ich bin, um es in Rätselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. Diese doppelte Herkunft, gleichsam aus der ober- stern und untersten Sprosse an der Leiter des Lebens, décadent zugleich und Anfang dies, wenn irgendetwas, erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältnis zum Gesamtproblem des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet. Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür, ich kenne beides, ich bin beides.“ („Wa- rum ich so weise bin“, 1.) Was ursprünglich nur an fernen dichterischen Gestalten wie Empedokles und Zarathustra gesagt und gezeigt und mit dieser Objektivierung von der eigenen Person abgelöst werden sollte, die Tragik des Übergangsschicksals des geborenen Lehrers zwischen zwei Zeitaltern, das ist hier, wo unter dem sinnlich instinktiven Eindruck des bevorstehenden Endes jede Scheu und Zurückhaltung gefallen ist, unmittel- bar als Bekenntnis von sich selber ausgesprochen. Und darin gerade liegt nun dieser letzte Einsatz der eigenen Person, fast kann man mit Nietzsches eigenen Worten sagen: eine besondere Art des Philosophierens „am Leit- faden des Leibs“, des eigenen Leibs, seiner Geschicke und seiner un- begründbaren Instinkte, Zuneigungen und Abneigungen, die überhaupt in den Schriften dieser Zeit zu einer unüberbietbaren Klarheit und Ein- dringlichkeit kommt.”

„Ecce homo“ ist zusammen mit dem kleinen Nachtrag zum „Fall Wagner“ Nietzsches letzte Schrift. Kurz darauf folgt nach der äußersten unerträglichen Hybris dieser Monate der völlige Zusammenbruch und Unter- gang in geistiger Umnachtung. Aber die Wahnsinnsphantasien ganz gleich, wie medizinisch die Krankheit zu diagnostizieren ist sind durch- aus nicht ohne Zusammenhang mit der Lehre, dem Leben und dem ganzen Schicksal. Es war Nietzsche nicht gelungen, diesem Schicksal als der Tragödie des Lehrers, der das neue erschaute Land nicht mehr betreten kann, im künstlerischen Werk eine objektive reale Form zu geben und es damit von sich abzulösen. Jetzt im Wahnsinn wird er selber der Gott seiner Welt, bald der Gekreuzigte, bald Dionysos philosophos, also Ende des alten und Anfang des neuen Weltalters in einem. An sich selber nur hat er mit unheimlicher Folgerichtigkeit zu Ende gelebt, was ihm im Werk nicht glückte. Nur im Wahnsinn hat die neue erstrebte der griechischen ähnliche „heraklitische“ Welt die volle Wahrheit für ihn erreicht.”

Das Sein dieser neuen Welt nämlich, wie es Nietzsche rein theore- tisch zu konzipieren unternahm, ist widersprüchlich geblieben. Er ver- suchte den Absprung zu ihr einerseits von einer Kritik des entarteten Christentums und seinen Säkularisationen aus, andererseits vom Sein der Natur aus. Nur die Kritik ist ihm gelungen, und nur sie hat er als erstes

362 Kurt Schilling | Buch seiner „Umwertung aller Werte“ im Stil der letzten Monate ee öffentlicht. Der „Wille zur Macht‘ ist von ihm selber nicht als reif zur Veröffentlichung angesehen worden. Die Wiederkunftslehre ist in Wahr heit „Metaphysik“ in seinem eigenen Sinn und deshalb mit dem strengen Wahrheitsbegriff der mittleren Zeit nur vereinbar, wenn sie in der auf- geklärten Epoche des 19. Jahrh., auf deren Boden Nietzsche sich bewußt stellt, im Stil des ‚gleichsam’, einer dem Mythos sehr künstlich nach- gebildeten dichterischen Vision dargestellt wird, wie es der „Zarathustra“ ist. Die Wiederkunftslehre aber ist (für ihn wenigstens) die unaufhebbare Bedingung der neuen Welt.

In der übrigen rein theoretischen Ausarbeitung seiner Lehre hat sich Nietzsche dann weitgehend der biologistischen Vorstellungen seiner Zeit, des späten 19. Jahrh., bedient, die seinen wahren Absichten nicht ganz angemessen waren. So ist er vielfach abhängig geblieben von der falschen Deutung biologischer Tatsachen.°®

Es ist ihm auch nicht gelungen, ein in sich widerspruchsloses Sein als Grundlage der neuen Welt, die ihm unbestimmt vorschwebte, zu kon- zipieren. Er nahm das Bild dieser neuen Welt, wie gesagt, vom Griechen- tum; und zwar aus der Welt des frühen Griechentums, wie es etwa für Heraklit selbstverständliche Voraussetzung seiner Lehre gewesen war. Damit aber versuchte er nun, das als abhängig und kreatürlich begriffene Sein der Physik der Neuzeit zu vereinigen. Und gerade an dieser Auf- gabe ist er gescheitert. Da das die Stelle ist, an der wir heute ebenso eine exakte begriffliche Kritik Nietzsches ansetzen, wie unsere eigene Welt neu bilden müssen, es ist die Schicksalsfrage, nicht nur der Philosophie, son- dern gerade des Lebens, ob wir hierin erfolgreich sein werden oder nicht so sei es mir erlaubt, noch kurz mit ein paar Worten darauf einzugehen.

Die religiöse Welt des Griechentums ist (ganz ähnlich wie die Welt unserer eigenen germanischen Vorfahren von der Jungsteinzeit bis zur Völkerwanderung) die unbedingte ehrfürchtige Hingabe des Menschen an die Natur, und zwar an die Natur außer uns im wechselnden, geord- neten, sichtbaren Weltgeschehen im Großen und im Kleinen, so gut wie an die Natur in uns, an die Leidenschaften der Seele, die auf die Welt als ihren Gegenstand verweisen. Das ist auch so in der olympischen Re- ligion der klassischen Zeit, obwohl man mit Recht darauf hingewiesen hat, daß ihre Götter keine Naturgebilde wie Sonne, Mond, Sterne und Wind mehr sind, und daß sie sich gerade dadurch von der erdschwereren früheren (etwa der germanischen Bronzezeit) vergleichbaren Stufe des Griechentums unterscheidet. (Wenn diese Götter nämlich in ihrer willens- mäßigen Klarheit auch keine gebundenen Naturgewalten sind, so sind sie doch wie gerade ihre Stellung zu Tod und Schicksal erweist der Natur verwandte, natürliche Gestalten.)*

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Nietzsches Schicksal und Werk 363

Diese Welt ist in der griechischen Philosophie nicht weniger der Grund der Erkenntnis, wie im Kult der Götter die tragende Quelle der Frömmig- keit. Ich habe das früher einmal 1928 am System des Aristoteles zu zeigen versucht.** Wenn Nietzsche eine neue Heiligung des Diesseits will und dadurch eine neue Lebensmöglichkeit für den Menschen, so denkt er geradean diese religiöse Welt des Griechentums, ohne daß ihre Struk- tur und ihre Einheit ihm theoretisch völlig klar geworden ist, nur aus dem richtigen Gefühl seines Instinkts für die einzelnen Symbole, Be- griffe und Züge dieser Welt.” Man kann sagen, daß diese griechische Religion eine Ausprägung der ursprünglichen religiösen Lebenswelt der nordischen Rasse auf einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe gewesen ist, und daß es in gewissem Sinn also das urepringnene Gefühl für Verwandtschaft war, das ihn hier richtig leitete.

Diese Welt des Griechentums ist verfallen. Schon die Philosophie Platons und des Aristoteles ist nur mehr ein Reformationsversuch dieser Welt im Großen, der aber letztlich gescheitert ist. Das Leben des späten Hellenismus und des späten Römertums ist entartetes Privatleben im aus- gezeichneten und genauen Sinn, also im Sinn des Nihilismus und des glaubenslosen, vereinzelten, unpolitischen, „flüchtigen“ Genußstrebens. Ich habe das in meinen staatsphilosophischen Büchern nachgewiesen.” Das Christentum wird der Retter dieser Welt, indem es den nun einmal ein- getretenen Verfall des Diesseits und der Natur anerkennt, den Menschen aber in bestimmter Weise auf das Jenseits als auf seine eigentliche Lebens- welt verweist. Ich will hier nicht untersuchen, ob oder inwiefern es sich dabei vielleicht auf Glaubenselemente eines anderen Zweigs der nordi- schen Rasse, der Iranier, stützt, die es übernimmt. Eine echte Naturwissen- schaft ist jedenfalls solange unmöglich, als die Natur des Menschen selber entartet ist und daher als Gegenstand weder Ziel eines religiösen Stre- bens, noch psychisches Medium des reinen und frommen Erkennens werden kann. Wir sehen daher ganz folgerichtig, daß die Naturwissenschaft der Griechen noch in der Antike selber verfällt und auf dem Boden des frühen Christentums auch nicht wieder erneuert werden kann.

Das Christentum wird von den Germanen übernommen. Die ursprüng- lichen Voraussetzungen seiner Lehre aber, der Verfall und die Entartung der menschlichen Natur in der Spätantike, bestehen hier nicht mehr. Wenn daher diese Übernahme überhaupt möglich sein sollte, so mußte die christ- liche religiöse Welt grundlegend umgewandelt werden. Und das ist nicht allein in der Tat geschehen, sondern auch in der Doktrin selber begründbar. Nur ist diese Umwandlung durch die kirchliche Tradition und ihre kon- fessionellen Tendenzen bis heute vielfach verdeckt worden. Die Welt (mundus) kann in der christlichen Lehre ebensowohl als gut wie als böse erscheinen, je nach dem Standpunkt, von dem aus ich sie betrachte: als

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böse vom Sündenfall aus, der sie verdorben hat, indem sie das Streben des Menschen nach Gott verführend ablenkt; als gut aber, indem sie als creatura, als ursprüngliches Werk und Schöpfung Gottes selber nicht wie in der Gnosis irgendwelcher böser Dämonen oder Demiurgen betrachtet wird, der ja nichts Schlechtes geschaffen haben kann. Es kommt. auf den Menschen und sein Lebensgefühl an, welche der beiden Deutungen seiner eigenen Existenz und der Welt er in den Vordergrund rücken ich sage nicht will, sondern der geschichtlichen Situation nach: muß. In der entarteten Welt der Spätantike mußte die böse Welt als Abfall von Gott, etwa als Gegenstand der concupiscentia oculorum, wie Augustin sagt, in der Auslegung leitend sein; in der neuen gesunden Lebenswelt der Germanen die andere. Und so sehen wir in der Tat, daß schon im Mittel- alter, wenn auch noch zögernd und nur als untere Stufe, das art- und glaubensverwandte griechische Weltbild in der reifsten und sich sel- ber klarsten theoretischen Ausgestaltung des Aristoteles wieder aufge- nommen, später aber, als die Kultur mündig geworden ist, ein neues eigenes naturwissenschaftliches Weltbild geschaffen wird. Dieses neue Weltbild hält sich immer noch im Rahmen der christlichen Lehre als ganzer, wenn auch in einer durchaus freien undogmatischen Weise. Es ist immer noch durchaus in innerlich echter Weise religiös bestimmt, nicht „Aufklärung“, sowenig wie die großen Vorsokratiker, mit Ausnahme des Xenophanes, Auf- klärer gewesen sind. Keppler z.B., einer der großen Begründer, hat einmal gesagt, daß sein einziges Bestreben, das letzte Motiv seiner Forschung ge- wesenist,dieGedankenGottesin den mathematisch genauen Planetenbahnen nachzudenken. Darin liegt begrifflich gespro- chen zweierlei: Die christliche religiöse Bindung der menschlichen Seele an den jenseitigen Gott (nicht an die Natur wie bei den Griechen!) und das höchste aber befreite Interesse für die Welt, für das Sein der Phy- sik als die ewig geordnete, gesetzmäßige, mathematisch greifbare Schöp- fung dieses Gottes. Das Sein der Welt ist also hier kreatiirlich bestimmt und abhängig von der Bindung des Menschen an den jenseitigen Gott. So erst wird es Gegenstand der Forschung der großen Naturwissenschaft der Neuzeit von Keppler, Galilei und Descartes bis zu Newton, Leibnitz und Kant und bis in die Spezialforschung des 19. Jahrh. hinein.® Nietzsche nun und damit komme ich nach der notwendigen Ab- schweifung wieder zu unserm Thema steht am Ende dieser Reihe. Im Bild seiner neuen Welt ist die Natur in ihrem Sein durchaus nichts anderes als in der Physik der ganzen Neuzeit: Die vom Menschen beherrschbare Welt, der der Mensch sogar im Denken erst ihre Gesetze vorschreibt. Nietzsche steigert und übersteigert diesen generellen in der Physik vor- ausgesetzten von Kant am klarsten theoretisch bestimmten Charakter der Natur noch bis in ein relativistisch-subjektivistisches Extrem.” Dabei hat er

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aber die Bindung an den überweltlichen Gott ursprünglich die Vor- aussetzung zur Konzeption dieser ganzen Welt im‘äußersten atheisti- schen Radikalismus seiner Aufklärung aufgegeben. Und nun wird ihm der Mensch selber fast wider Willen zum Gott dieser neuen die Natur unter sich schauenden Welt, wird in seiner unbedingten, skeptischen, aufgeklärten Vereinsamung das Letzte, was übrig bleibt. Tatsächlich bedeutet die Wiederkunftslehre, die Lehre vom Übermenschen und die Lehre vom Willen zur Macht nur den verzweifelten Versuch, dieses diesseitige vereinsamte Leben des Menschen ernst zu nehmen, wie es ist, ihm gerade in seiner Vereinsamung doch noch einen Halt zu geben. Und deswegen ist die pure menschlich-natürliche Wohlgeratenheit und Gesundheit Nietzsches letztes theoretisches Ideal. In Wahrheit aber ist gerade dies ein Ideal rein tech- nischer Überlegenheit, der sophistischen Überlegenheit der Mittel des Lebens, bei dem der Mensch nie endgültige Befriedigung und wahre Er- füllung seiner Bestimmung finden kann, das ihn sogar trotz aller Frei- geisterei letztlich nur in den Despotismus führen wird, weil hier die not- wendige Bindung des Lebens nicht mehr auf natürlichem von jedem frei anzuerkennenden Weg, sondern als gesetzte zwingende Willkür erschei- nen muß.” Und so hat denn auch Nietzsche immer wieder auf die Welt der Griechen geblickt, bei denen eine wahre, endgültige, religiöse Heili- gung des Diesseits, keine zwar diesseitige, aber letztlich nur technisch- praktische Mittelüberlegenheit, das Leben getragen und geprägt hat. (Sein letztes Wort gilt ihnen.°®) Aber es ist ihm nicht gelungen, diesen grund- legenden Unterschied zwischen seiner Welt und etwa der des echten Grie- chen Heraklit theoretisch zu durchschauen oder gar das fromme griechi- sche Lebensgefühl in der modernen Welt zu erneuern. So ist seine Lehre auch begrifflich gescheitert.

Und das muß Nietzsche im Grund in seinen letzten Lebensjahren ge- spürt haben, wenn er es auch nie zugestanden hat. Er hat nämlich da nochmals eine letzte Wendung seiner Lehre versucht, die ihn aus dem Atheismus in eine echte Religion führen sollte. Er spricht etwas ironisch von diesem Ansatz, etwa, wenn er einmal sagt, daß in ihm selber „der religiöse, d. h. gottbildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird.“ („Wille zur Macht“ Nr. 1038.) Und er hat in den Dionysosdityramben eine Art von neuer Hymnik und Gebet für diesen neuen Gott versucht. Allein der Ansatz ist nicht einmal sprachlich so weit gediehen, daß er für uns greifbar wäre, und er hat einen deutlichen bruchlosen Übergang in den Wahnsinn. (Das muß selbst Reinhardt zugeben, der diesen Spuren der neuen Religion einmal nachgegangen ist, und der als Philologe noch Dinge ernst nehmen kann, bei denen der nicht nur der Quellentradition ‚gegenüber kritische Philosoph nicht mehr mitkommt. Vgl. „Nietzsches Klage der Ariadne“ S. 24/25.)

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Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß die Revolution, die Nietzsche erstrebt und prophetisch geschaut hat, wesensgleich ist mit den innersten Antrieben und den programmatischen Zielen der nationalsozialistischen Revolution von 1933, so viele Ähnlichkeiten in verstreuten Einzelzügen auch vorhanden sein mögen, ein Irrtum, dem Bäumler verfallen ist. Gerade dieses nur technisch-praktische, sophistische und letztlich zum Despotismus führende Ideal bloßer Wohlgeratenheit, mit allem, was es an entwurzel- ter Aufklärung, Freigeisterei und Atheismus zur Voraussetzung hat, unter- scheidet unser Streben heute eindeutig von Nietzsche. Es mag sein, daß Nietzsches neuer Mensch in der Tat manche Verwandtschaft besitzt mit dem schweifenden, glaubenslosen, heroischen Heldenidealder Völkerwande- rungszeit. Aber nicht dies ist die rassenbildende Entwicklungsstufe un- serer Vorzeit, an der wir uns heute in erster Linie orientieren, wenn wir in unserer Geschichte zurückblicken. (Dies ist auch damals nur der Be- ginn eines Verfalls und der Ansatz zu Neuem gewesen.) Sondern das gläubig gebundene und gerade darin den Menschen wahrhaft und ver- antwortlich freigebende Leben des Bauern auf seinem Boden, wie es viel früher, etwa in der Bronzezeit, bestanden haben mag, von dem Nietzsche nichts wußte, und das er in seiner vorgeblichen Überlegenheit verachtet haben würde, wenn er es gekannt hätte. In Wahrheit sind gerade hierin die vorläufigen technisch-praktischen Werte der bloßen Lebensüberlegen- heit der Nietzscheschen Lehre zu endgültigen Werten überwunden. Und so sehr Nietzsche in seinem praktischen Streben im privaten liberalisti- schen 19. Jahrh. das 20., unser Jahrhundert, vorbereitet hat, wie Bäum- ler richtig gesehen hat, so wenig kann seine eigene positive Lehre für uns heute und für unsere Weltanschauung verbindlich sein. Ja man könnte sogar direktsagen, daß sein atheistisch-skeptisches, glaubens- und bindungs- los freigeisterisches, sophistisches Ideal, wenn es heute erneuert wird, in der Wirklichkeit nur die schrankenlose Despotie der Willkür zur Folge haben müßte.

Was aber ist das Resultat der Philosophie Nietzsches für uns? Nichts anderes als ein Aufruf und eine Frage. Philosophie ist niemals in erster Linie Lehre; sie ist als Lehre immer nur soviel wert, wie sie zuvor schon Leben und Ertragen der eigenen menschlichen Not gewesen ist. So ist uns also auch gerade das Leben und Schicksal Nietzsches wichtig als Beispiel eines wahrhaft philosophischen und damit menschlichen Schick- sals. Und als solches Beispiel ist es nichts anderes als ein Aufruf zur Treue, die praktische Philosophie selbst.

Nietzsches Lehre ist aber zugleich eine Frage. Wir können heute nicht mehr philosophieren und ihn umgehen. Der Nihilismus, der das existen-

zielle und begriffliche Fundament der Philosophie Nietzsches gewesen ist,

und den er sich in der Prophezeiung des Kommenden zu eigen gemacht

Nietzsches Schicksal und Werk 367

hatte, ist inzwischen langst Wirklichkeit geworden. So ist jede Philoso- phie, die heute Beziehung zum Leben haben will, gehalten, hier eine neue Antwort zu wissen, die das, was Nietzsche erstrebte, eine neue Prigung der Welt, die Möglichkeit, das Große groß und das Kleine klein ~ nennen und dafür das Leben einsetzen zu können, wirklich erreicht.

Was hier nicht mehr möglich ist in der modernen Welt, und wie hoch wir unsere Forderungen schrauben müssen, das hat Nietzsche uns deswegen so eindringlich gezeigt, weil er die praktische Erfahrung mit seinem Ver- such bis zum Äußersten, bis zum Ende im Wahnsinn, in seinem Leben durchgeführt hat. Gerade in diesem Sinne gilt die echte Erkenntnis seiner Lehre und seines Schicksals als Grundlage unserer neuen Zeit. Und so` müssen wir seine eigenen Worte aus dem „Zarathustra“, die er im „Ecce Homo“ ausdrücklich wiederholt hat, buchstäblich ernst nehmen, wie sie dastehen: „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt... Ihr verehrt mich, aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage ... Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist so wenig mit allem Glauben. Nun heiße ich euch mich verlieren und

euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren...“ (W. XV 5).

‚ANMERKUNGEN

1. Nietzsche wird hier zitiert mit W. und Band und Seitenzahl nach der Groß- bzw. Kleinoktavausgabe, deren Bände und Seiten gleichlautend sind; mit W.W. und Band und Seitenzahl nach der neuen im Auftrag des Archivs er- scheinenden kritischen Ausgabe, die Karl Schlechta herausgibt; die Aphorismen gewöhnlich nach den Werken und ihren Nummern darin. Die Briefe Nietzsches werden zitiert mit Br. und Band und Seitenzahl nach der Ausgabe „Friedrich Nietzsches gesammelte Briefe“ Leipzig, Inselverlag oder durch die Datierung und den Empfänger, was sie ja ebenfalls eindeutig bestimmt. F.N.I und II bedeutet die Biographie der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in der zweiten kürzeren Bearbeitung, „Overbeck“ das Buch von C. A. Bernoulli „Overbeck und Nietzsche, eine Freundschaft“ 1908. Beide Bücher sind nur als Quellenschriften, nicht als Darstellungen herangezogen.

2. Ich beschränke mich dabei nicht streng äußerlich auf das Veröffentlichte, ziehe aber den Nachlaß in diesem ersten Gang nur da heran, wo er zur Ver- deutlichung der Werke dient, noch nicht, insofern sein Gehalt über den der Werke der betreffenden Zeit wesentlich hinausgeht.

3. Das Material dieser Zeit ist jetzt in den ersten Büchern der neuen Aus- gabe (W. W. I u. II) soweit es erhalten ist, vollständig abgedruckt. Wir können für unser Thema vor allem zweierlei daran beobachten: 1. Die Luft, in der Nietzsche aufwächst, ist die des protestantischen Pfarrhauses des 19. Jahrh. und seiner gesalbten selbstgerechten Tugendhaftigkeit. Nietzsche hat später im „Ecce homo“ einmal gesagt, daß er in besonderer Weise zu seinem Angriff auf das Christentum berechtigt sei, weil er in seiner Jugend von dieser Seite keine

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Hemmungen erfahren habe (W. XV 22). Das ist richtig, unterschlägt aber ge- rade das Wesentliche. Die für jeden Menschen entscheidenden Grunderlebnisse der frühen Jugend sind bei Nietzsche extrem christliche, und zwar gerade im Sinn dieser protestantischen bürgerlichen Tugendhaftigkeit des 19. Jahrh., der

_ das eigentlich erfahrene Sündenbewußtsein uud damit der Grund alles echten

Christentums abhanden gekommen ist. Nietzsche selber hat sich diesem Geist als Kind bis zum äußersten hingegeben. Das zeigen seine eigenen Aufzeichnungen und Gedichte ganz unzweideutig. Weiterhin: Was die Schwester F. N. I 25, 28/29, 31, 36, 41, 47/48 erzählt, sind schon fast die Akten eines Heiligen dieses Geistes, und zwar in einer Steigerung, die kein Mensch als solcher ohne Rück- schlag aushalten kann. Dabei ist die Schwester selber zeit ihres Lebens diesen Geist nicht losgeworden. Ihre Beschreibung des Lebens und der Lehre ihres Bruders ist gerade in dieser Hinsicht als Quelle der Herkunft Nietzsches ebenso wichtig, wie als objektive Darstellung die wahren Absichten Nietzsches verdeckend und umbiegend. Denn es ist ja Nietzsches einziges Bestreben, gerade diesen selber in der Jugend entscheidend erfahrenen Geist zu überwinden. Wenn er später „Christentum“ und „Moral“ sagt, so ist gar nicht in erster Linie das frühe, mittelalterliche oder neue Christentum der Quellen getroffen, sondern dies erfahrene Christentum der eigenen Kindheit. Dies aber war eine ganz bestimmte Form von Christentum, eben die des protestantischen Pfarrhauses des 19. Jahrb. Sein Freund Overbeck hat mit einer ganz anderen Quellenkenntnis, aber wohl unter dem Eindruck Nietzsches die Entstehung dieser Christlichkeit in ihrem Verfallscharakter sehr gut beschrieben in der Schrift über die „Christlichkeit unserer heutigen Theologie“. Daß aber Nietzsche selber sich sehr deutlich bewußt war, wie stark er von diesem Geist beeinflußt war, obwohl er „immer sehr schweigsam über seine Hauptsachen“ gewesen ist, zeigt etwa u. a. noch die 31. Strophe aus dem Vorspiel zur „Fröhlichen Wissenschaft“, die charakteristi- scherweise die Schwester besonders hervorhebt (F. N. II, VII), und die sonst schwer auszulegen wäre. 2. Die spielend leichte, so sehr frühreife formale Begabung Nietzsches auf musikalischem und poetischem Gebiet ist durch die Zeugnisse W. W. I und II und F. N. I erwiesen. Alles, was er hier kennen lernt, ahmt er sofort nach, und formal äußerlich gelingt es ihm auch. Es ist zuerst die klassische Musik, später, hauptsächlich in Pforta, dann die sogenannte Weltliteratur, die klassischen deutschen, griechisch-lateinischen, französischen und englischen Schriftsteller. So ist es gewissermaßen eine Traumwelt, in die er zunächst hineinwächst, und die er sich mehr wie jeder andere als solche zu- eignet. Diese Traumwelt ist ihm so sehr Wirklichkeit, daß er sogar später noch sie als greifbarer empfindet, als die Zeit seines äußerlich regen Verkehrs in der Burschenschaft (Basler Vorträge „über die Zukunft unserer Bildungsanstalten®, W.IX 804ff., deren generelle Beschreibungen fraglos eigene Erfahrungen sind.) Über diesen übermächtig geprägten und festen Formen aber geht ihm nun die eigene Entwicklung fast verloren. Die eigenen menschlichen Bedürfnisse können nicht aufkommen neben dem immer schon Vollendeten. Das Wort hat nicht mehr das volle Gewicht dessen, was es bedeutet; wie Stefan George einmal formuliert: „Sagbar wird alles, Drusch auf leeres Stroh“. So bereitet gerade diese große formale poetische und musikalische Begabung zusammen mit der Erfahrung und Aufnahme der vollendeten großen Formen der klassischen Kunst den Nihilismus vor. Der lang vor ihrer eigenen Reife ins Vollendete gestellten Natur muß die Zukunft ala ein Ende und als nichts erscheinen, ganz ähnlich, wie es später im Zarathustra (W. VI 197 ff.) „Der Wahrsager“ ausspricht. Sie hat keine Möglich- keit der Steigerung mehr. Overbeck hat einmal gesagt: „An Nietzsche wird immer

: Nietzsches Schicksal und Werk 369

bewundernswert sein die heroische Art, wie er seine Frübreife überwunden hat.“ (Overbeck I 164) Das ist richtig. Aber der Keim zum eigenen späteren Nihilis- mus ist doch gerade hier schon gelegt. Und diese Erfahrung wird wohl auch der Grund sein, warum Nietzsche später so selbstverständlich Philologie studiert und keinen Künstlerberuf ergreift. Die Arbeit ist zunächst das Mittel für ihn, diese Frühreife zu überwinden. („Ich verlangte nämlich nach einem Gegengewicht gegen die wechselvollen und unruhigen bisherigen Neigungen, nach einer Wissen- schaft, die mit kühler Besonnenheit, mit logischer Kälte, mit gleichförmiger Arbeit gefördert werden könnte, ohne mit ihren Resultaten gleich ans Herz zu greifen. Dies alles aber glaubte ich damals in der Philologie zu finden.“ Sommer 1865, F. N. I 162). Nachdem aber seine Philologie gescheitert war, oder eigent- lich er mit ihr und weiterhin mit der ganzen Kulturidee der Jugend eine zweite aber sehr ähnliche jetzt nur ausdrückliche Erfahrung des Zusammenbruchs ge- macht hatte, muß gerade dies wieder in ihm aufgestiegen und in den Vorder- grund getreten sein. Und erst jetzt, in der Spätphilosophie, stellt er diesen Nihilismus als bewußt erkannte Vorstufe und Grundlage seiner Lehre voran.

4. Die Quellen zur Basler Berufung sind jetzt vollständig herausgegeben von Stroux: „Nietzsches Basler Berufung“. Daraus ist der Anteil Ritschls erst richtig zu ersehen, ebenso sein damaliges Urteil über Nietzsche.

5. Die Jugendphilosophie als solche ist im Zusammenhang dargestellt bei Werner Brock, Nietzsches Idee der Kultur, 1930. Der Verfasser arbeitet aber auch den Nachlaß in erster Linie nur im Hinblick auf die in den Schriften zur Ausprägung kommende einseitige Lehre hin durch und läßt die in die Spätzeit weiterführenden Züge zu sehr zurücktreten. Im ganzen hat daher seine Dar- stellung einen letzten Charakter von Relativismus und Fremdheit der Sache selbst gegenüber behalten. Die Dinge erscheinen oft nur als Bilder und Meinungen, die festgestellt, beschrieben, aber nicht ganz ernst genommen werden.

6. Nietzsches Verhältnis zur Philologie erforderte eine neue Bearbeitung, denn gerade an ihm hat sich Nietzsche zum Philosophen entwickelt. (Howald, F. Nietzsche und die klassische Philologie, 1920 ist unzureichend geblieben, weil der Ver- fasser auf das philosophische und psychologische Gebiet ausweicht, wo er zu wenig versteht.) Man kann vier Epochen unterscheiden, die Nietzsche durchläuft: 1. Zunächst fesselt ibn das Stoffliche an der Philologie, z. B. die Tyrannis in Megara oder die Ermanerichsage an sich, und da er sich „zu einer dichterischen Be- handlung noch nicht reif“ findet (W. W.1 290), so sieht er sich „notgedrungen“ nach den Quellen um. Die Philologie ist bloß Mittel. 2. Danach, in der Leipziger Zeit, wird er „reiner“ Philologe. Aus dem Interesse für die griechische Tyrannis des VL Jahrh., der alten Theognisarbeit, wird eine Untersuchung der Über- lieferung der Theognisfragmente. Auch sonst feiert der Scharfsinn jetzt Or- gien in philologischen Kombinationen, gegenseitigen Abhängigkeiten, Hand- schriftenstammbäumen und dergl. schönen Dingen. Es ist wenn auch nur ein Spiel ein männlich-jugendliches Spiel des Verstandes, was der Jüngling treibt. Etwas verüchtlich sieht er auf Deussen herunter, der sich einfallen läßt, die Philologie aus Interesse an der Sache mit Platonstudien anzufangen (Br. 1115; 1868). Selbst seine Schopenhauerverehrung ändert zunächst daran nichts. Sie bestärkt ihn sogar noch in der Arbeit an der Philologie. Generell formuliert er: „Nachdem das Leben sich vor ihm [dem jungen Menschen überhaupt) in lauter Rätsel zerlegt, soll er bewußt aber mit strenger Resignation sich an das Wissens- mögliche halten und in diesem großen Gebiet seinen Fähigkeiten gemäß wählen.“

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(W. W. III 297) Also: Freiheit der Tätigkeit auf dem Grund einer Bindung des Herzens außerhalb dieser Tätigkeit. Diese beiden Epochen sind im ganzen doch typische Durchgangsstufen auch jedes echten Philologen. Dagegen gehört, was nun kommt, Nietzsche selber und der Philosophie an: 3. Es zeigt sich näm- lich, daß die Trennung zwischen philologischer Arbeit und philosophischer Lebensauffassung (im Sinn Schopenhauers) doch nur künstlich war und auf die Dauer nicht aufrecht erhalten werden kann. Am 16. 2. 68 schreibt er an Gers- dorff im Hinblick auf seinen neuen Demokritaufsatz: „Bis jetzt habe ich für denselben die schönste Hoffnung: er hat einen philosophischen Hintergrund be- kommen, was mir bis jetzt bei keiner meiner Arbeiten gelungen war.“ (W.W. DI 440) In Verbindung mit seinen philologischen Arbeiten wird ihm die Frage brennend, wie es denn überhaupt in der Geschichte zu so etwas wie einer Philologie oder Literaturkritik als Wissenschaft gekommen ist. Die Pläne einer „Geschichte der literarischen Studien im Altertum“ und das andere vom Ende des III. und Anfang des IV. Bandes W. W. sind durchaus bereits der rein im- manenten Reflexion auf den Sinn der Wissenschaft in der wissenschaftlichen Arbeit in Verbindung mit Vorformen eines Geniekults im Anschluß an Schopen- hauer entsprungen. Beides, vor allem aber das erstere, geht auf die ursprüng- lich philosophische natürliche Anlage zurück, die sich hier durchsetzt und mit der Nietzsche durchaus den Anschluß an die wissenschaftliche Philosophie seiner Zeit hätte gewinnen können. Zu einem fertigen Ergebnis sind diese Bemühungen nicht gekommen. Sie bleiben liegen und brechen ab. Was dazwischen kam, ist die Be- kanntschaft mit Richard Wagner gewesen, die ihn die Philologie immer weniger von einer immanenten Wissenschaftsreflexion aus und immer mehr von einem ihr ganz fremden Standpunkt auße halb aus, dem künstlerischen, sehen ließ. Und das hat seine 4. und letzte philologische Epoche bewirkt. Drei Wochen nach der Bekanntschaft mit Wagner schimpft er auf die Philologen (20. XI. 1868 an Erwin Rohde) und sieht nur mehr die Schwächen der Philologie. Wagner wird ihm zum „Heiligen und Märtyrer“ der Philologie (Br. 1122). In der Basler Antrittsrede äußert er bereits offen den Verdacht, daß „die Philologen selbst die eigentlichen Gegner und Verwüster des Altertums und der altertümlichen Ideale seien“. (W. IX 5) Dem Historiker und Philologen ist der Text und die Quelle selber die einzige Brücke zum Altertum. Wenn er auch in Wahrheit den Text nicht auslegen kann ohne ein „Vorurteil“, ohne daß er den Geist schon hat, in dem er auslegt, so wird ihm das doch nicht in der Arbeit selber klar. Nietzsche geriet zunächst unter den Einfluß des Künstlers Wagner, dem die Quelle überhaupt nicht mehr Ziel, sondern beliebiges Mittel, Beispiel der Ex- plikation und des Ausdrucks seiner in sich selbst wertvollen und selbst bei ge- schichtlichen Stoffen autonomen künstlerischen Absichten bedeutet. Er hat sich zwar diesen Standpunkt nie voll zu eigen gemacht. Aber er beschritt doch in Zukunft bewußt und eindeutig nur mehr den Weg des Philosophen, dem es erst darauf ankommt, in sich selbst, in der Befragung des eigenen Lebens und seiner Möglichkeiten, sich den Standpunkt zu erarbeiten, der aller möglichen Auslegung von Texten zur Voraussetzung dienen muß. („Man bemüht sich, der Entstehung der rätselhaftesten Dinge nahe zu kommen und jetzt verlangt der geehrte Leser, daß das ganze Problem durch ein Zeugnis abgetan [!] werde”. An Erwin Rohde. Br. II 258) Im Gegensatz zur unbedingten Freiheit des Künst- lers hat dies sehr wohl letztlich das gleiche Ziel wie die echte Philologie. Es ist sogar einzig geeignet, eine Reform der Philologie als Wissenschaft zu er- möglichen, da, wo die Philologie einmal den eigentlichen Sinn ihres Tuns ver- loren hat. Und in der Tat hat Nietzsche im ganzen nach seinem Tod durchaus

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O en M eA

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eine starke Wirkung auf die Philologie, und vor allem die Philologie heute, gehabt. Aber der W eg des Philosophen ist doch ein ganz anderer als der des Philologen. Den Mißverständnissen, die durch Verwechslung beider Wege auf beiden Seiten entstehen, entstammt sein Streit mit den Philologen anläßlich der „Geburt der Tragödie“. Am klarsten kommt der Unterschied immer noch in dem Brief Ritschls nach der Übersendung der „Geb. d. Trag.“ zum Ausdruck (Br. III 141) und in einer Antwort Nietzsches an Erwin Rohde (Br. II 258). Nietzsches enges Verhältnis zum Griechentum ebenso wie die Eigenart dieses philosophischen Wegs zu den Griechen (nicht etwa nur zu ihren Phi- losophen) zeigt nichts deutlicher als die Tatsache, daß er sich bis zuletzt nach jedem Wandel und jeder Krisis seiner Lehre immer in erster Linie wieder den Griechen näher fühlt. So z. B. nach der großen Krisis von 1876, nachdem er zu- erst Wagner- und Griechenverehrung verknüpft hatte und nun von Wagner los- gekommen ist: „Könnten Sie mir nachfühlen, in welcher reinen Héhenluft ... ich jetzt hinlebe, den Griechen um hundert Schritt näher als vordem“ usw. (an Mathilde Maier 15. VII. 1878). Noch sein letztes Wort überhaupt im Epilog der kleinen Schrift „Nietzsche contra Wagner“ gilt den Griechen.

7. Der grundlegende Unterschied zwischen Nietzsche und Schopenhauer auch in der Zeit der Anhängerschaft ist aufgezeigt bei Brock a.a.O. Dabei wird die Tatsache, daß Nietzsche auch in seiner Spätphilosophie durchaus von Schopen- hauer abhängig bleibt -— wenn es auch eine Abhängigkeit des Gegensatzes ist meist übersehen. Ich will gar nicht so sehr an den Kampf gegen das Mitleid (Schopenhauers Grundtugend) erinnern, als vor allem etwa an den Ausdruck „Bejahung des Lebens“ und seine Auslegung durch den andern: „Be- jahung des Leibs“, der wörtlich von Schopenhauer stammt („Welt als Wille und Vorstellung“ IV 866); bei ihm nur mit umgekehrtem Vorzeichen zu finden ist. Es wäre ein angemessenem Titel für Nietzsches gesammte Spätphilosophie und mag daher hier an Stelle weiterer Nachweise stehen.

8. Es ist ein Irrtum, wenn Bäumler so stark Nietzsches innere Freiheit von Wagner besonders in der späteren Zeit betont. Nietzsche hat sich zwar verstan- desmäßig sehr eindeutig von ihm unterschieden und dabei wie kein anderer die Schwächen Wagners aufgedeckt. In seinen Instinkten ist er dagegen nie, bis in die letzten wachen Monate hinein nicht, von Wagner losgekommen. Nicht nur stellt das „Ecce homo“ in der Offenheit der äußersten Situation vor dem Ende ganz deutlich Wagner und ihn selber unter den Obertitel „décadence“, nicht nur hat er erklärt, als er mit seiner Schwester den Klavierauszug des Parsifal durchgeht, daß er selber gerade solche Musik als Kind gemacht habe (an Peter Gast 26. VII. 1882), er ist auch immer wieder bis zuletzt trotz alles Wissens um das Abwegige unmittelbar von Wagners Musik ergriffen worden, und er ist ehr- lich genug gewesen, das gelegentlich auszusprechen. Wer daher das Philosophieren „am Leitfaden des Leibs“ und seiner Instinkte ernst nimmt, darf das nicht zu gering veranschlagen.

9. Die Jugendlehre Nietzsches ist einerseits von dem Nachlaßfragment „Meta- physik der Kunst“ (W. IX 163 ff.), andererseits von dem (späten) Vorwort zur „Geburt der Tragödie“ und von den Charakterisierungen dieses Buchs im „Willen zur Macht“ (Nr. 853) aus am besten zu verstehen und auszulegen. Nietzsche konstruiert ein „Ureines“, das er als Urschmerz, Urwiderspruch bestimmt, und das hinter den Erscheinungen stehen soll. Dies ist die Quelle für das Leidende, Gebrochene, Zerrissene im menschlichen Willen. Es ist aber gerade als Nega-

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tives die Quelle des Lebens, denn: ,Je weiter ab vom wahrhaft Seienden um so reiner, schöner, besser ist es [das Leben]. Das Leben im Schein ist das Ziel“ (W IX 168). Und von hier aus entspringt nun der Kult des Genius: „Der Genius ist die Spitze, der Genuß des einen Urseins: der Schein zwingt zum Werden des einen Genius, das heißt: zur Welt. Jede geborene Welt hat irgend- wo ihre Spitze; in jedem Moment wird eine Welt geboren, eine Welt des Scheins mit ihrem Selbstgenuß im Genius.“ „Die Vorstellung ist eine verzückte Welt, die ein leidendes Wesen projiziert.“ „Das Leben darzustellen als ein unerhörtes Leiden, das immer in jedem Moment eine starke Lustempfindung projiziert, wo- durch wir als Empfindende ein gewisses Gleichmaß, ja oft einen Überschuß von Lust erreichen.“ Dies ist das „Wesen der Welt, von dem wir leben.“ (W. IX 163—174) So sehr dies nach Schopenhauer klingt, es ist in Wahrheit doch viel weniger Schopenhauer als eigene Erfahrung; fast könnte man sagen: weniger von Schopenhauer im Anschluß abhängig als die Spätphilosophie vom Gegensatz gegen ihn abhängig ist. Und so, als eigene Lebenserfahrung, spricht Nietzsche das gleiche dann später im Rückblick auf die „Geburt der Tragödie“ aus: „Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es gibt nur Eine Welt und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese Wahrheit zum Sieg zu kommen, das heißt um zu leben... Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die ‚Wahrheit‘ gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch weniger als oberste Macht.“ „Dieses Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das ‚göttlicher‘ ist als die Wahrheit: ‘die Kunst. Niemand würde, -wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß er er hat es erlebt, er hat viel- leicht nichts anderes erlebt! daß die Kunst mehr wert ist als die Wahr- heit.“ („Wille zur Macht“ Nr. 858.) Das gleiche ist ausgesprochen in der „Geburt der Tragödie“ im 18. Aphorismus an der Stelle, die beginnt mit den Worten: „Es ist ein ewiges Phänomen ...“ und die das ganze Programm der Jugend- lehre enthält. Mit dieser am eigenen Leben und insofern auch im Erlebnis der Wagnerschen Kunst gewonnenen Auffassung des Lebens des Menschen über- haupt sucht Nietzsche zunächst einen neuen Zugang zu den Griechen und zur Geschichte. Wenn ihm such der ältere Humanismus als abgetan gilt, so ver- bindet ihn mit ihm doch noch die Tatsache, daß auch Nietzsche die Griechen genau so wie dem Humanismus als vorbildlich und beispielhaft gelten für mensch- liches Leben überhaupt, sowohl im Positiven als auch (warnend) im Verfall. (Gerade deswegen hatte er ja durch die Frage nach dem eigenen Leben und seinem Sinn einen neuen Zugang zu ihnen finden und in diesen „Zirkel des Aus- legens“ hineivspringen können.) Und ebendies unterscheidet ihn ganz ein- deutig von allem Historismus der Nur-Philologen, denen die Griechen als ein Volk neben allen andern und in einer puren neutralen Faktizität gelten. (Man muß allerdings sagen: in Wahrheit gibt es diesen Historismus in Reinkultur mehr in der Polemik seiner Gegner als in Wirklichkeit.) Später, nach dem äußeren Mißerfolg .der Geburt der Tragödie, hat Nietzsche dann versucht, ohne den Um- weg über die Geschichte durch Kritik seiner Zeit eine neue echte der Natur und den wahren menschlichen Bedürfnissen nahe Kultur vorzubereiten, indem er an allen entscheidenden Stellen im öffentlichen Geistesleben seiner Zeit gerade die Tiefe des menschlichen Daseins aufdeckt und seinen Verfall durch Ver-

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oberflächlichung, sei es am „Bildungsphilister“ David Friedr. Strauß, am Historis- mus, an der leeren unexistenziellen Begriffsphilosophie seiner Zeit im Gegensatz zu Schopenhauer oder an der verfallenen Kunst der Zeit im Gegensatz zu Wagner zeigt. Das ist der Gehalt der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Ihnen könnte man Overbecks „Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ direkt anfügen, und zwar vor allem deswegen, weil sie den Verfall der „Bildungstheologie“ im Gegensatz zum echten, natürlich in seiner geschichtlichen Situation begründeten Christen- tum der Frühzeit aufzeigt. (Im Unterschied zu Nietzsche, dem es mit seiner Lebensgrundlage ernst ist, steht Overbeck allerdings nicht auf dem Standpunkt dieser echten frühen Christlichkeit, sondern auf dem der „bloßen“ Wissenschaft und des Kompromisses.)

10. Nietzsches Stellung zur’ Kulturidee seiner Jugend hat sich nur deshalb an Wagner entschieden, weil dies der Punkt war, wo er dieser Idee nicht nur als Traumwelt, sondern als Wirklichkeit im eigenen Erleben eines Gegenständlichen begegnet ist. Dabei ist seine Stellung zu Wagner eigentlich schon seit dem Winter 1870/71 sehr genau festgelegt, was die objektiveCharakterisierung Wagners anlangt. Die erste Aufzeichnungsgruppe aus dieser Zeit (W. IX 250 ff.) scheint mir nämlich doch schon ganz ähnlich deutbar wie die spätere von 1874, die alle Kritik an Wagner bis in die letzte Zeit hinein vor der IV. „Unzeitgemäßen Be- trachtung“ bereits vorwegnimmt (W. X 427 ff.). Es ändert sich bei allen diesen Versuchen über Wagner einschließlich der IV. „Unzeitgemäßen Betrachtung“ immer nur der Akzent, der einmal auf seine Schwächen, einmal auf seine Vor- züge gelegt wird. Selbst in „Richard Wagner in Bayreuth“ von 1876 ist die Kritik für den, der lesen kann, ja nicht unterschlagen, wenn ihr auch in höchster stili- stischer Meisterschaft alles Verletzende genommen ist. So ist auch hier der sich dauernd wandelnde Nietzsche nur eine Legende der Oberfläche, die der genauen Untersuchung nicht standhält.

11. Die Form, in der der Zusammenbruch von 1876 sich zuerst ankündigt, ist durchaus die der physischen Krankheit, oder wenigstens steht die Krankheit im Vordergrund von Nietzsches erhaltenen Äußerungen aus der Zeit selber, nicht so sehr die Enttäuschung. Er hält zunächst auch noch an seiner Kulturidee im ganzen und ihrem Geniekult fest. Frau Luise Ott bietet er die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ mit den Worten an: „Sie sollen doch wissen, woran ich glaube, wofür ich lebe.“ (30. VIII. 1876.) Wenn auch sicher der seelische Zusammenbruch, der in der Enttäuschung an Bayreuth akut wird, die Ursache der Krankheit war, und Nietzsche recht hat, wenn er die Klingenbrunner Aufzeichnungen („Pflugschar“ W. XI und Nachbericht des Herausgebers dazu Seite 895 ff.) als Keimzelle des „Menschlichen, Allzumenschlichen“ betrachtet, so hat er selber diese Deutung erst zwei Jahre später im Rückblick auf diese Zeit (Brief an Mathilde Maier vom 15. VII. 1878) mit voller Klarheit ausgesprochen.

12. Aus drei Gesichtspunkten muß „Menschliches, Allzumenschliches“, das entscheidende Dokument der erlebnismäßigen Grundlegung der Spätphilosophie Nietzsches, ausgelegt werden: 1. Biographisch aus dem Zusammenbruch der Kultur- idee der Jugend in der Enttäuschung an Bayreuth. 2. Aus der Lust am Abenteuer und dem inneren Drang entgegengesetzter Schätzungen, der verwe- genen Leugnung alles bisher Angebeteten. Nietzsche selber hat dies als Stand- punkt der Auslegung genannt in der nachträglichen Vorrede von 1886 zu dem Buch. Er verweist hier auf die große Loslösung von der Pflicht, von der Hand,

die bisher führte, dem Boden, auf dem er wuchs, vom verehrten Heiligtum (Nr. 18);

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er nennt das große Abenteuer (Nr. 4): „Ein Wille und Wunsch erwacht, fort- zugehen, irgendwohin, um jeden Preis; eine heftige und gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flackert in allen... Sinnen... Ein plötzlicher Argwohn gegen das, was sie liebte..., ein vulkanisch stoßendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Ernüchterung, Vereisung, ein Haß auf die Liebe ... ein fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin.“ (Nr. 8) Ähn- lich hat ein moderner Dichter einmal gesagt:

Jetzt will ich einem Brunnen gleichen, der Eisgebirge um sich häuft,

aus dessen Bart, von dessen Weichen klatschend die Feuchte niederträuft.

Unförmlich, aber groß in Vielgestalten, die sich verschlingen wunderlich gepaart, will ich den Gegenpol der Liebe halten und Rache üben an der eignen Art.

3. Aus dem rein sachlichen Tatbestand, daß es für Nietzsche in seiner Zeit (genau so wie für uns heute) nicht mehr möglich war, „mit Illusionen“ zu phi- losophieren, also ohne daß er den Menschen und Zuständen gerade auch in ihren allzumenschlichen Seiten schonungslos ins Gesicht sah und sie als gesehene Tat- sachen in Rechnung stellte bei allem „höheren Streben“. Der Zweifel, als Grund- lage des Philosophierens in der Neuzeit erstmals von Descartes eingesetzt, wird hier im gleichen methodischen Sinn wie bei Descartes, nur anstatt gegen die Möglichkeit des Erkennens gegen die praktischen Grundlagen menschlicher Existenz gerichtet: und ebensowenig des bloßen Zweifelns wegen, sondern um ein unbezweifelbares Fundament übrig zu behalten, auf das Leben, menschliche Existenz, dann wahrhaft'gegründet werden kann. In diesem Sinn hat Nietzsche auch ausdrücklich davon gesprochen, daß er „besser zweifeln wolle als Des- cartes“, und daß wohl niemals „jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehen hat“ als er hier in diesem Buch (M. Allzum. Vorrede Nr.1). Der äußerste Punkt dieses Zweifels ist erst im III. Teil, „Der Wanderer und sein Schatten“ im Aphorismus 284 im Lachen und Schweigen Pyrrhons erreicht. Er setzt sich sogar noch fort bis in das Schattenbild eines Siegs der Demokratie und einer Art von Völkerbund Nr. 292. Aber schon im ersten Teil bildet der V. Abschnitt „Anzeichen höherer und niederer Kultur“ eine Art Kriterium und Prüfstein, von dem an sich dann nach den rein negativen vier ersten Abschnitten in den letzten vier Ab- schnitten immer mehr ein Bestand von menschlichen Möglichkeiten ergibt, der dem Zweifel und der Kur dieses radikalen ,Aufs-Eis-legen“ der Ideale gewachsen ist. Dies wiederholt sich in größerem Maßstab in der Spätlehre als ganzer, die ja auch immer mit dem Nihilismus beginnt. Da ist aber der Nihilismus dann nur mehr als erkannter Tatbestand eingesetzt. Hier in dieser Zeit ist er von Nietzsche praktisch durchlebt. Übrigens steht die „Aufklärung“ dieses freien Geists in Wahrheit vielmehr in Zusammenhang mit dem anthropologischen Fundament der Kantischen Philosophie, das ja auch weitgehend „Aufklärung“ ist (Ausmessen der Möglichkeiten menschlicher Freiheit) als mit Voltaire, dem das Buch ge- widmet ist. Diesen Kant kannte Nietzsche freilich nicht. (Vgl. dazu Gerhard Krüger, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, 1981 und dazu meine Geschichte d. Staats- und Rechtsphilosophie 1987, 174 ff.) Es wäre einmal eine Sonderuntersuchung und systematische Darstellung der Welt des „Menschlichen, Allzumenschlichen“ nötig, ähnlich der von Brock für die Jugendlehre vorge- nommenen.

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13. Dies im ganzen Werk als Grundhaltung. Sehr deutlich z.B. Nr. 109. Hier ist ausgeführt, daß die Wissenschaft sehr gern dem Leben ähnlich förderliche Wahrheiten finden würde, wie es die Irrtümer der Religion und Metaphysik, des Glaubens, gewesen sind: von einem wachenden, lohnenden und strafenden Gott usw. Aber sie kann es eben nicht. Und er zitiert ausdrücklich n- Byrona als

„unsterblich“ bezeichnete Verse: Sorrow is knowledge: they who know the most must mourn the deepest o'er the fatal truth, the Tree of Knowledge is not that of Life.

und er fügt dazu: „Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermut jeden Grades besser als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht.“ Immer von nun an hat Nietzsche nichts mehr bekämpft als einen künstlichen Glauben, der nur zu dem Zweck angenommen wird, um sich das Leben leichter zu machen und über Zweifel gewaltsam-selbstbetrügerisch fortzuspringen. Dies hat er als den eigent- lich unwürdigen und feigen Betrug aller romantischen Lebenspriester angesehen und von da aus jeden Irrtum überhaupt letztlich als Feigheit bestimmt.

14. Wenn Nietzsche die „Morgenröte“ und „Fröhliche Wissenschaft“ ausdrück- lich als „positive“ Bücher bezeichnet im Gegensatz zum „Menschlichen, Allzu- menschlichen“, das „negativ“ sein soll (z.B.in der Rückschau des „Ecce homo* und anderswo), so soll das nicht etwa heißen, daß in ihnen die Kritik an Christen- tum, Religion, Moral usw. geringer wäre. Im Gegenteil. In der „Morgenröte“ „beginnt“ sogar bekanntlich erst sein eigentlicher „Feldzug gegen die Moral“. Es ist nur die Stellung zur Wahrheit als Grundhaltung gemeint. Im „Mensch- lichen, Allzumenschlichen“ ist Wahrheit als lebensfeindlich im ganzen gesetzt (vgl. Anm. 18), später dagegen ist die Bedeutung gerade der Wahrheit für das Leben positiv. Da Nietzsche aber an der Wahrheit vorher wie nachher festhält und nur deshalb —, kann er sagen, daß seine Stellung im ganzen im M. Allzum. negativ, d. h. bezüglich des Lebens selber, später dagegen positiv wäre. Das geht sogar so weit, daß in der „Morgenröte“ die Wissenschaft fast als Vorstufe eine ähnliche auch positive, nicht nur negative Rolle zu spielen hat, wie später die Mystik des Wiederkunftsgedankens, und daß Nietzsche faktisch zu einer Welt ähnlich der Epikurs kommt, wo die Wissenschaft, Wahrheit, Aufklärung, die lebenfördernde Rolle einer Befreierin von den Affekten der Götter- und Todes- furcht zu einer ruhigen natürlichen Weltbetrachtung spielt. Wiederholt verweist er ganz eindeutig auf Epikur in diesem Sinn. Z. B. „Morgenröte“ Nr. 72 und ähnlich Nr. 82, 84, 103, 358, 870, 424, 433, 450, 477, 568. Immerhin soll dieses Zeit- alter der Wissenschaft nur ein „moralisches Interregnum“ und ein „Experiment“ sein (458). In der „Fröhlichen Wissenschaft“ steht dann ein Vorspiel des „Willens zur Macht“ eine Art von biologistischer Theorie des Lebens und der Arterhaltung an der gleichen Stelle. Die neue Welt, die hier errungen wird, ist in der Vorrede von 1886 ausdrücklich als „Philosophie des Genesenden“, also zwischen der romantisch-pessimistischen „Philosophie der Kranken“ mit dem quietistischen ewigen Frieden als Ziel und der geradeso verspotteten Philo- sophie Nur-Gesunder, der „Vierschrötigen des Geistes“, bestimmt. Allein der Genesende hat hier diese heute nötige, erneuerte Sensibilität des Leibs.

15. Die hier angesetzte Periodisierung des Lebens Nietzsches ist belegbar mit Nietzsches eigenen späteren Rückblicken auf sein Leben in Verbindung mit der Sache selbst, dem Werk und der Lehre, und unterscheidet sich dadurch von ähnlichen Versuchen mit einem von außen herangetragenen literarhistorischen

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oder .stofflichen Kriterium: Indem Nietzsche einmal die Lebensentwicklung des Menschen unter den generellen Gesichtspunkt seines Verhältnisses zur Welt über- haupt stellt, sagt er: „Der erste Gang: besser verehren (und gehorchen und lernen) als irgendeiner. Alles Verehrenswerte in sich sammeln und miteinander kämpfen lassen. Alles Schwere tragen. ... Zeit der Gemeinschaft [Es ist bei ihm die Wagner- und Schopenhauerverehrung der Jugendzeit und die daraus entsprungene Kulturidee, zugleich die Zeit der Gemeinschaft mit den Freunden Rohde, Deussen, v. Gersdorff u.a.]. Der zweite Gang: Das verehrende Herz zerbrechen, als man am festesten gebunden ist. Der freie Geist. Unabhängigkeit, Zeit der Wüste. Kritik alles Verehrten (Idealisierung des Unverehrten), Versuch umgekehrter Schätzungen. [Also genau das, was im „Menschlichen, Allzumensch- lichen“ und seiner Krise geschieht]. Dritter Gang: Große Entscheidung, ob tauglich zur positiven Stellung zum Bejahen. Kein Gott, kein Mensch mehr über mir! Der Instinkt des Schaffenden, der weiß, wo er Hand anlegt. Die große Verantwortung und die Unschuld. (Um Freude irgendworan zu haben, muß man Alles gutheißen.) Sich das Recht geben zum Handeln. (Jenseits von Gut und Böse.) Er nimmt sich der mechanischen Weltbetrachtung an und fühlt sich nicht gedemütigt unter dem Schicksal. Er hat das Los der Mensch- heit in der Hand.)“ Und ausdrücklich fügt Nietzsche dazu: „Nur für Wenige:

die Meisten werden schon im zweiten Weg zugrunde gehen. u (W. XIII 39, 40) Somit sollen die drei Stufen seines Wegs auch die typischen Stufen der Menschen- ‘entwicklung überhaupt sein. Ähnliche Einteilung in drei Epochen: „Wille zur Macht“ Nr. 417.

16. Nietzsches ganze Entwicklung ist an seiner Stellung zum Wahrheitsbegriff ablesbar. Und eine Entwicklung (im Unterschied zu einem Wandel) hat Nietzsche sehr wohl durchgemacht. Es ist heute in der Wissenschaft ebenso Mode, das völlig zu leugnen, wie früher die Meinung vom dauernden Wandel gültig war. Zu was für gelehrten Komplizierungen das führt, zeigt z.B. eine bei Oskar Becker angefertigte Dissertation über „Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Philosophie Nietzsches“ von Erika Emmerich, die Sätze aus allen Zeiten Nietzsches zusam- menstellt und nun ein Gebäude von Vorder- und Hintergründen errichten muß. damit das einigermaßen ohne Widerspruch aufgeht. Wenn sich aber auch in der Tat ein gleichbleibender Strom des Philosophierens bei Nietzsche von der Jugend bis zuletzt findet, so heißt das doch noch lange nicht, daß jedes Wort von ihm so verwertet und zitiert werden könnte, als entstammte es dem gleichen Zu- sammenhang. Hier ist nämlich trotzdem eine Entwicklung, zum mindesten des Ausdrucks und der jeweiligen Absichten, ganz unleugbar. Die Thesen für den Wahrheitsbegriff würden etwa im Überblick lauten:

I. Jugendlehre: Wahrheit schlechthin = Wahrheit der Wissenschaft = optimistische Verirrung; „wir baben Lüge nötig“. Kulturidee, gebaut auf die Lust am Schein über der Tiefe des Schmerzes. Dies letztere als „tragische Erkenntnis“ bezeichnet.

N. Krisis von 1876: Dies Verhältnis von Wahrheit und Schein im ganzen festgehalten. Aber: Rücksichtslose und gewaltsame Betonung der Wahrheit, ob- wohl sie dem Leben feindlich ist. „Umgekehrte Schätzungen“. Negation.

III. Spätphilosophie: Immer noch das gleiche Verhältnis von Wahr- heit und Schein. Die „umgekehrten Schätzungen“ werden Natur. Wir müssen ein Wesen schaffen, das die Wahrheit aushält, dem sie förderlich ist. Als Wahrheit zuerst Wissenschaft und Aufklärung überhaupt bezeichnet („Morgenröte“), später die Lehre von der ewigen Wiederkunft. Trotzdem dieser letzte Standpunkt

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noch innerhalb des einheitlichen Zeitraums von 1881— 1889 gewisse Modifizierungen erleidet, die ihn am Ende wieder dem ersten von fern nähern, hat er sich in der Grundlage vom „Zarathustra“ bis zum „Willen zur Macht“ gehalten. So steht neben dem Zitat im Text, das aus dem Zarathustranachlaß stammt, der Satz des „Willens zur Macht“ (Nr. 1041): ,,Wieviel Wahrheit erträgt, wie- viel Wahrheit wagt ein Geist?‘ dies wurde für mich der eigentliche Wert- messer. Der Jrrtum ist eine Feigheit.“

17. Nietzsche hat die Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen offenbar von ihrer Wirkung auf die Menschen her zuerst konzipiert. Das legt wenigstens das Blatt nahe, das im „Ecce homo“ erwähnt und W. XII 425 abgedruckt ist. Es ist die erste Niederschrift von Anfang August 1881. Die ewige Wiederkunft ist da sofort unter dem Namen des „größten Schwergewichts“ eingeführt, also von etwas, dessen Gewicht als Gedanke dem Leben eine neue Wichtigkeit und Ver- antwortlichkeit in den praktischen Entscheidungen erteilt. Dann aber scheint die naturwissenschaftliche Begründung, offenbar unter dem Eindruck zeitgenös- sischer naturphilosophischer Lehren von der Begrenztheit des Raums, versucht worden zu sein. Die Herausgeber stellen die dazu gehörigen Fragmente voran (W. XII 51 ff.). Aus einer bewegten begrenzten Allkraft in einem begrenzten Raum in aktuell unendlicher, anfangs- und endloser Zeit folgt allerdings mit Notwendigkeit, daß jeder Zustand, verstanden als bestimmte anorganische Kräfte- kombination im ganzen schon unendlich oft dagewesen sein und auch unend- lich oft wiederkehren muß, wenn auch in noch so großen Zeiträumen. Die Voraussetzungen dieses Tatbestands werden allerdings nicht weiter erörtert, sondern bloß recht voreilig übernommen. Wenn aber Nietzsche später immer wieder den Plan neuer naturwissenschaftlicher und anderer Studien faßt (der

seines Augenleidens und anderer Gründe wegen nie zur Ausführung kommt), Bọ sollte wohl auch dies dabei weiter geklärt werden. (Daß es die allgemeine Gesetzlichkeit als Typus anorganischen Werdens ist, was Nietzsche in der Tat

im Griff hat, selbst unabhängig von seinen eigenen im einzelnen manchmal schiefen Vorstellungen, geht schon aus dem Satz hervor: „Glauben wir an die absolute Notwendigkeit im All, aber hüten wir uns, von irgendeinem Gesetz, sei es selbst ein primitiv mechanisches unserer Erfahrung, zu behaupten, dies herrsche in ibm und sei eine ewige Eigenschaft.“ W. XII 60) Nietzsche ist sich dabei sofort völlig klar darüber, daß dies nur der Typus anorganischen Wer-

dens überhaupt ist und zwar im Gegensatz zu allem Organischen und aller

Geschichte. (Was in der Literatur zu Nietzsches Geschichtsbegriff gewöhnlich unterschlagen wird.) Er sagt zunächst: „Die Annahme, das All sei ein Organis- mus, widerstreitet dem Wesen des Organischen.“ (W. XII 52). Er hätte sich hier mit Schelling in Einklang setzen können, der als einziger von allen denen, die „eine Philosophie des Organischen“ vertreten, das logisch notwendige Verhält- nis von Organismus und anorganischer Umwelt in seinem „Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie* von 1799 wirklich durchgedacht hat. (Dem ge- genüber ist z.B. Bergsons Lehre, so sehr sie letztlich von Schelling stammt, nur

- ein Rückschritt.) Nietzsche selber begründet seinen Standpunkt so: „Wäre sie

(die Welt] ewig neu werdend, so wäre sie damit gesetzt als etwas an sich Wun- derbares und Frei- und Selbstschöpferisch-Göttliches. Das ewige Neuwerden setzt voraus: daß die Kraft sich selber willkürlich vermehren, daß sie nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel habe, sich selber vor der Wiederholung zu hüten, in eine alte Form zurückzugeraten, somit in jedem Augenblick jede Bewegung auf diese Vermeidung zu kontrollieren.“ (W. XII 57) Und direkt der Unterschied

378 Kurt Schilling

zwischen organischem Werden, Geschichte und ewiger Wiederkunft: „Unorgani- sche Materie, ob sie gleich meist organisch war, hat nichts gelernt, ist immer ohne Vergangenheit! Wire es anders, so wiirde es nie eine Wiederholung geben können denn es entstiinde immer etwas aus Stoff mit neuen Qualitäten, mit neuer Vergangenheit.“ (W. XII 60) Trotzdem ist es kein Widerspruch dazu, wenn Nietzsche sagt, daß der Gedanke der ewigen Wiederkunft den Menschen „ver- wandeln“ werde (W. XII 64). Nietzsche denkt sich die Menschengeschichte und überhaupt alles Leben immer nur als eine kleine im ganzen sehr unerheb- liche Episode im großen Gestirngeschehen überhaupt, also auch ohne Einfluß auf dieses. Dies spricht er öfters aus, z.B. schon „Der Wanderer und sein Schat- ten“ Nr. 14; oder „Wille zur Macht“ Nr. 303. Auf das anorganische Geschehen ist der Mensch und alles Leben einzig angewiesen. Der ethische Sinn der Wiederkunftslehre ist nur, daß wir gerade zu dieser Abhängigkeit vom Um- greifenden sinnlos Wiederkehrenden der anorganischen Natur (und nur mit ihr

unsrer selbst) ja sagen lernen. Das heißt Verwandlung des ‚Du sollst‘ zum ‚Ich will‘ und weiter zum bloßen ‚Ich bin‘. Trotzdem kann der letzte Widerspruch

zwischen Geschichte und ewiger Wiederkunft sachlich nur dann völlig aufgehoben werden, wenn wir Kants strenge Lehre von Ding und Erscheinung in Anwen- dung auf die menschliche Freiheit zugrunde legen. Ich möchte aber nicht zögern, anzunehmen, daß Nietzsche eine ähnliche Vorstellung in Gedanken gehabt hat, natürlich nicht als von Kant stammend, denn den hat er nicht in diesem Sinn wirklich gekannt. Vgl. dazu auch Anm. 19.

18. Dieses freiwillige Ja-sagen zu dem das Schicksal entbaltenden schon Ge- schehenen und Gewordenen nähert sich sehr stark dem in der Jugend (,, Unzeit- gemäße Betrachtungen“) so heftig bekämpften eigentümlichen Freiheitsbegrif Hegels, wie er etwa in den „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ am eindrücklichsten dargestellt ist. Der Unterschied ist nur, daß dieses Schick- sal bei Hegel immer noch ein verständlicher Vernunftplan des Ganzen (Gottes) ist, bei Nietzsche dagegen bereits die völlige Sinnlosigkeit der Wiederkehr, wie sie im Anorganischen herrscht, und der wir, so sehr eine Bewährung im einzelnen möglich ist, im ganzen doch ausgeliefert sind und bleiben. Die Position, von der aus die Einzelheiten, Reden und Lehren, des Zarathustra zu verstehen sind, ist der Zwischenzustand zwischen der „erbärmlichen Behaglichkeit“ des „letzten Menschen“ und dem Ziel des neuen „Übermenschen“. (Auch der letzte Mensch ist erst ein Warnbild für die Menschen, noch nicht Wirklichkeit. Zara- thustra sagt ausdrücklich: „Ihr habt noch Chaos in euch.“ Vorrede 5.) Der tragende verborgene Grundstrom des Ganzen aber ist die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die allenthalben immer wieder auftaucht, sehr schwer an den Tag gefördert und endlich am Ende des dritten, lehrmäßig abschlie- Benden Teils endgültig „besiegelt“ wird. Ich will versuchen, die Symbolik des Wiederkunftsgedankens kurz auszulegen. Die Hauptstellen beginnen mit dem Ende des zweiten Teils. Die Kunde des Wahrsagers „alles ist leer, alles ist gleich, alles war“ ist das Gegenbild des Aufrufs der Wiederkunftslehre. (Schon im 341. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“ ist sie unter dem gleichen Bild des „Schwergewichts“ eingeführt und auch hier ist das Wort bereits ab- sichtlich doppeldeutig: das Niederdrückende, Beschwerende und zugleich das durch sein Gewicht den Entscheidungen ihre Wichtigkeit Erteilende und damit das „flüchtige* Leben Aufhebende.) Der Nihilismus ist die Voraussetzung des Eingreifens und Wirkens der Lehre. Es gibt sogar keine Meere mehr, die so tief sind, daß der todessüchtige, müde und enttäuschte Mensch darin ertrinken

N En y N e E A a Sr Sun 2 cn SE 6 a Aa ee a a N a en

er -

Nietzsches Schicksal und Werk 379

kénnte. Er kann der Gleichgiiltigkeit der Wiederkehr nicht entfliehen, so ,klingt die Klage hinweg über flache Sümpfe“ (Sperrung von mir). Diese Kunde greift Zarathustra ans Herz. Sein Traum vermag sie noch nicht zu überwinden, er schüttelt zu der optimistischen Deutung seines Jüngers den Kopf. Die folgende Rede „Von der Erlösung“ spricht das Übergangsschicksal Zarathustras selber aus, der Vergangenes und Zukünftiges, die Bruchstücke des Menschen, nur „zu- sammendichtet“ (also nach Nietzsches Wortgebrauch doch nur zusammenliigt) und das Problem nennt (noch nicht angreift): „Höheres als alle Versöhnung muß der Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist —: doch wie geschieht ibm das? Wer lehrte ihn auch noch das Zurückwollen?“; d.h. das Wollen dessen, was schon geschehen ist und darum wiederkehren muß. Die Erlösung ist erst im Konjunktiv ausgesprochen. Zarathustra muß noch einmal in seine Einsam- keit zurück. Er ist noch nicht „reif für seine Früchte“ (II. Die stillste Stunde). Im 3. Teil (Vom Gesicht und Rätsel) wird zunächst denen, „die nicht ohne Ge- fahr leben mögen“, die Wiederkunft und die Geburt des neuen Menschen im Traumbild erzählt. Der Zwerg ist der „Geist der Schwere“, also der bedrückende Teil des Wiederkunftsgedankens und seines ewigen Einerlei. Er springt zwar Zarathustra von den Schultern herab, wo er unerkannt und hinterrücks den Menschen bedrückend gesessen hat, als dieser die Wiederkehr als Tatsache aus- spricht. Aher sie überwinden kann Zarathustra damit noch nicht. Das kann überhaupt nicht Zarathustra, sondern erst der neue Mensch, der junge Hirte, aber auch nicht allein und von sich aus; Zarathustra muß gleichsam Geburts- belfer sein. Erst auf seinen helfenden Rat hin tut der junge Hirte selber die Tat, beißt der Schlange (Wiederkunft) den Kopf ab und befreit sich. Hier tut Zarathustra-Nietzsche den Blick in die neue von ihm vorbereitete Welt, die er selber nicht betritt, und die ihn zu dem Ausruf veranlaßt: „O wie ertrage ich noch zu leben! [d.h., da er die neue Welt ja nur im Traum schaut: in der heutigen Übergangswelt]. Und wie ertrüge ichs, jetzt zu sterben!“ Wir werden an die Stimme aus dem 2.Teil (Stillste Stunde) erinnert: „Sprich dein Wort und zerbrich!“ Von hier an ist dann allerdings Zarathustras eigenes Schicksal nicht mehr ins Auge gefaßt, sondern nur mehr die Lehre. Und später ist sogar die Erzählung mit der Schlange auf Zarathustra selber umgedeutet. Aber ich halte das für eine ausdrückliche Umformung im Hinblick auf die idyllische Ausge- staltung des Ganzen. Vgl. Anm. 24. Im wachen Tag (nicht nur vorschauend im Traum) fördert Zarathustra erst später „seinen abgründigsten Gedanken heraus aus seiner Tiefe“. Und auch nicht er selber, sondern nur seine Tiere sprechen ihn dann offen aus, allerdings nachdem Zarathustra gesagt hat, „daß es kein außen für ihn gibt‘, also es nur sein eigenes Inneres ist, das ihm von außen entgegenkommt (Ill. Der Genesende): „Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf; ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“ (Eben- da.) Es ist kein Zufall, daß gerade die Tiere das aussprechen. Die ewige Wieder- kunft ist im besonderen Sinn eine animalische Weisheit, d.h. eine Weis- heit aus der Erfahrung der das Leben in jedem Augenblick durch eine neue Leidenschaft neu beginnenden, sich im bevorzugten Sinn nur immer wiederholenden Tierseele. Nietzsche selber hat das in seiner Jugend in den ersten Sätzen der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ sehr treffend formuliert. Und in der Tat: Wenn auch die ewige Wiederkunft als Typus letztlich auf das anorga-

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nische Werden zurückgeht, so ist doch auch für den sich erinnernden und als geschichtliches Wesen lebenden Menschen die nächstniedere Stufe, in deren Leben er Natur schlechthin erblicken kann, der animalische Bereich und seine spezifische Weisheit. Der letzte Abschnitt (Die sieben Siegel) bestätigt bloß noch einmal ausdrücklich die Lehre der Wiederkunft und schließt so den „Zare- thustra® als Lehre (nicht als Erzählung und Schicksal, vgl. Anm. 24) end- gültig ab.

.19. Nietzsche formuliert: „Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmal leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen! Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran.“ (W. XII 67) Und: „Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt wieder zu leben, ist die Aufgabe, du wirst es jeden- falls! Wem das Streben das höchste Gefühl gibt, der strebe; wem Ruhe das höchste Gefühl gibt, der ruhe; wem Einordnen, Folgen, Gehorsam das höchste Gefühl gibt, der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl gibt und kein Mittel scheuen! Es gilt die Ewigkeit!“ (W. XII 64) Die Formulierung ist sehr genau nach Kants kategorischem Imperativ ge- bildet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens Jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kr.d.pr.V.$7) Wenn Nietzsche selber vielleicht glauben konnte, daß er nur den Anklang an den Wortlaut aufnähme und sich gerade durch das Freie des „Wünschens“ und das jeweils Einzelne des „höchsten Gefühls“ von Kant unterscheidet, weil er ihn nicht kannte, so irrt er auch darin. Die Formalität ist das Wesentliche der Formulierung Kants, und jede exakte Einzelanalyse kann sehr leicht zeigen, daß Kant gerade durch diese Formalität unter dem Gesetz der Pflicht jedem das freigibt und (positiv) eröffnet, was gerade er als so beschaffener Mensch eines bestimmten Erbes in seiner Situation zu tan hat. (Vgl. meine Einführung in die Staats- und Rechtsphilosophie, 1939 I, 3.) Und das Gleiche soll ja auch nur der erläu- ternde Zusatz der zweiten Formulierung Nietzsches heißen. Somit ist also über Gleichheit und Unterschied der Formulierung hinaus die praktische Wirkung des ethischen Aufrufs bei Kant und Nietzsche gleich. Und dazu konnte in Anm. 17 schon erwähnt werden, daß Nietzsches Absicht sich nur dann letztlich wider- spruchslos denken läßt, wenn die exakten Resultate der Kantischen theoretischen Philosophie zugrunde gelegt werden. Nur ein Unterschied besteht: Kant ent- wickelt aus diesem praktischen Aufruf nun eine neue praktische Metaphysik von Gott, Unsterblichkeit der Seele und dem Ganzen der Weltschöpfung und des „Reichs der Geister“ (Vgl. Gerhard Krüger: Philosophie und Moral in der Kan- tischen Kritik, 1981). Nietzsche dagegen entwickelt aus der gleichen praktischen Grundlegung seine Metaphysik der Ewigkeit des diesseitigen Lebens, wie es am Ende der obigen zweiten Formulierung heißt, und einer Welt, wie sie der Aphorismus 1067 des „Willens zur Macht“ am kürzesten und besten beschreibt. Auch bei ihm ist der praktische Aufruf, der in der Vergegenwärti- gung des Wiederkunftsgedankens liegt, die (in dieser geschichtlichen Situation wenigstens) unaufbebliche Grundlegung der Gewinnung und Aneignung dieser Welt des „Willens zur Macht“.

20. „Wie geben wir dem inneren Leben Schwere, ohne es böse und fanatisch gegen Andersdenkende zu machen? Der religiöse Glaube nimmt ab, und der Mensch lernt sich als flüchtig begreifen und als unwesentlich, er wird endlich dabei schwach; er übt sich nicht go im Erstreben, Ertragen, er will den gegen- wärtigen Genuß, er macht sichs leicht, und viel Geist verwendet er vielleicht

Nietzsches Schicksal und Werk 381

| dabei. —“ (W. XII 68, Nr. 115) Und: „Der politische Wahn, über den ich eben- | so lächle, wie die Zeitgenossen über den religiösen Wahn früherer Zeiten, ist vor allem Verweltlichung, Glaube an die Welt und Aus-dem-Sinn-schlagen von ‚Jenseits‘ und ‚Hinterwelt‘. Sein Ziel ist das Wohlbefinden des flüchtigen . Individuums: weshalb der Sozialismus seine Frucht ist, das heißt die flüch- tigen Einzelnen wollen ihr Glück sich erobern durch Vergesellschaftung, sie haben keinen Grund zu warten, wie die Menschen mit ewigen Seelen und ewigem Werden und zukünftigem Besserwerden.“ (W. XII 64, Nr. 116.)

21. Die von Nietzsche erstrebte neue verantwortliche Lebensprägung durch das Schwergewicht der Wiederkunftslehre nach dem Verfall des Nihilismus und seines flüchtig und gleichgültig gewordenen Lebens ist begrifflich und formal dasselbe wie das, was Heidegger durch sein „Vorlaufen zum Tod“ aus dem Ver- fall und der Uneigentlichkeit des „man“ erstrebt (Sein und Zeit I § 45 ff.). In- sofern ist hier Nietzsche zweifellos Wegbereiter für Heidegger gewesen. Neben der nicht letztlich entscheidenden größeren Exaktheit Heideggers ist es aber vor allem der Inhalt des prägenden ethischen Aufrufs, was den Unterschied zwischen beiden bildet. Die Wiederkunftslehre ist wirklich aus dem Geist des Raffinements des privaten späten 19. Jahrh. heraus entworfen (vgl. Anm. 37), das „Vorlaufen zum Tod“ in der Vereinfachung und dem Rückgang auf die natürlichen von Nietzsche nur erstrebten aber nicht erreichten Ursprünge und „natürlichen Bedürfnisse“ des Menschen, die das 20. Jahrh. und der Weltkrieg gebracht haben.

22. Im 7. Band seiner Dünndruckausgabe der Werke Nietzsches bei Kröner.

23. Der 4. Teil des Zarathustra ist der Beginn (nur dieser) einer Weiter- führung des Werks nach seinem Abschluß als reine Lehre im 8. Teil, der im weiteren Verfolg dann auch offenbar das Schicksal Zarathustras enthalten sollte (vgl. Anm. 24). In ihm werden die Entartungstypen der Zeit, der sogenannte „höhere Mensch“ (nicht die echten „Kinder Zarathustras“ und neuen Men- schen!) in einer Allegorie zu einer etwas fragwürdigen Anerkennung der Wie- derkunftslehre gebracht. Neben einzelnen gelungenen Stellen findet sich hier in aufdringlicher Breite das, was man heute „entartete Kunst“ nennt, und zwar im ausdrücklichen Sinn dieses Worts. (Was Nietzsche bei Wagner als erstes Symptom der Dekadenz genannt hat, die Entartung der Rhythmik, ist auch hier zu finden, z.B. „Unter Töchtern der Wüste“ und allenthalben.) Ich zweifle auch nicht, daß dieser Stil eine seltsame Selbstironisierung des „höheren Menschen“ in der Tat vielfach das direkt nachgeahmte Vorbild für die schlimmsten Auswüchse des Modernismus der Vor- und vor allem Nachkriegszeit gewesen ist; die Anklänge sind zu handgreiflich. Nietzsche selber hat wohl gesehen, daß es so jedenfalls nicht weitergeht. Er hat den 4. Teil nur privat drucken lassen und später die verteilten Exemplare vielfach wieder zurückverlangt. Und es war wohl nur seine Eitelkeit, die ihn das mit dem Anstoß, den er erregen kann, und dgl. motivieren ließ,

24. Es geht hier um die Erkenntnis dessen, was dichterisch möglich ist und was nicht; wofür allerdings heute meist das echte Gefühl abhanden gekommen ist. In einem Kunstwerk, Roman oder Drama, kann ohne weiteres das Schicksal eines Menschen als ein geschehener Ablauf von Taten, Handlungen, Beziehungen, Ereignissen und dergl. dargestellt werden. Das Ereignis, die Tat, ist ein Faktum, das in der Erzählung, in Bildern, Gesten und Bewegungen, zur echten Darstellung kommen kann. Wenn ich nur über eine Lehre und von ihr be-

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richte, so kommt die Lehre selber dabei eben nicht zur echten, ihr an- gemessenen Darstellung. Was sie sein soll, ihre Größe und Wirkung, kann nur in dichterisch unwahrer Weise dem Zuschauer oder Leser aufgeredet werden. (Woran, nebenbei gesagt, die meisten Künstlerromane kranken. Es ist sehr schwer, von der Größe des im Roman als Helden gezeichneten Künstlers zu überzeugen, ohne seine Leistung, das Werk, direkt vorweisen zu können.) Ich sage also: In der Erzählung selber kann der Lehrer als solcher nicht wahrhaft beglaubigt werden, etwa wie ein Held durch Beschreibung, Erzählung und Darstellung seiner Taten und seines Schicksals. Nun ist im Zarathustra zwar nicht alles Er- zählung, sogar das meiste Lehre. Und insofern ist und bleibt er als poetische Gattung eben ,Lehrgedicht*, so anstößig der Name auch klingen mag. Das Lehrgedicht ist aber an sich eine Zwischenform. Angemessener als in einem Ge- dicht kommt eine Lehre letztlich doch in rein theoretischer Form zur Darstellung (Aristoteles ist ja auch vom Dialog zur Lehrschrift übergegangen), weswegen Nietzsche den Zarathustra nur als „Vorhalle“ für seine Philosophie angesehen hat, die in dem theoretischen Hauptwerk zur endgültigen Darstellung kommen sollte. Uns bleibt demnach in der Auslegung die poetische Form des Zarathustra zu erklären und zu rechtfertigen. Das geschieht hier einmal dadurch, daß seine rein erzählerischen tragischen Bestandstücke eigens in ihrem Sinn und in ihrer Einheit hervorgehoben werden (in der Anm. 25). Ferner in philosophi- scher Hinsicht durch folgenden Gedankengang: Es findet sich in späteren Auf- zeichnungen Nietzsches kurz vor seinem Ende der Satz: „Ich will reden und nicht mehr Zarathustra“. Das hat seinen vorwärtsweisenden Sinn natürlich als eine Erklärung des mit dem Einsatz seiner Person getätigten direkten Angriffs der letzten Zeit. Rückwärts geseben kann es aber doch nur heißen: ‚Das, was im Zarathustra gesagt ist, sagt Zarathustra und nicht ich, Nietzsche. Der Wiederkunftsgedanke ist „Metaphysik“ im strengen Sinn, etwas nicht voll durch Beweis, Aufweis, Argumentation zu Rechtfertigendes. Die „Metaphysik“ aber fällt nach der Wandlung des Wahrheitsbegriffs von 1876 letztlich unter die falschen Beruhigungs- und Tröstungsmittel, unter Irrtum und Betrug. So stellt Nietzsche den Wiederkunftsgedanken zunächst wenigstens einmal als eine „dichterische“ (es klingt hier hart zu sagen ‚erlogene‘, entspricht aber doch dem Nietzscheschen Sprachgebrauch) Yision dar, im Stil des ‚gleichsam‘, nicht als dogmatische Lehre. (Die Hoffnung, ihn später doch noch als strenge Lehre dar- stellen zu können, ist wohl nie ganz aufgegeben, aber auch nie erfüllt worden; und sicher nicht nur äußerer Gründe wegen.) Auch in dem Aphorismus 341 der „Fröhlichen Wissenschaft“ ist der Wiederkunftsgedanke die Einflüsterung eines „Dämons“, der uns plötzlich eines Tages nachschleicht, uns „überfällt“, ohne daß wir wissen und allgemeingültig rechtfertigend sagen könnten, woher. Diese Metaphysik des Wiederkunftsgedankens ist also der philosophische Grund, warum hier nur „Zarathustra“, der ferne mythische Lehrer, und noch nicht Nietzsche, der wissenschaftliche, an seinen eigenen Wahrheitsbegriff gebundene Mensch des aufgeklärten 19. Jahrh., als sein Verkünder redet.

25. Der Zarathustra ist im ganzen von Nietzsche von vornherein als echte erzählte Tragödie und Handlung, als die Tragödie des Übergangsschicksals des Lehrers der neuen Zeit, konzipiert, aber nicht so, sondern nur als Lehre (die Lehre wäre ein Stück der Tragödie gewesen, ähnlich wie dem „Empedokles“ das Spiel von Theseus und Ariadne gleichsam als Lehre eingefügt sein sollte) zu Ende geführt. Er ist zunächst bereits in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 342) ausdrücklich mit den Worten eingeführt: „incipit tragoedia“; und es ist kein

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Nietzsches Schicksal und Werk 383

. Grund dafür da, das nicht wörtlich und ernst zu nehmen. Ebenso steht am Ende

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der „Vorrede“ (Zarathustra 10) abschließend und zusammenfassend: „Also begann Zarathustras Untergang“; ein Wort, das wir in seinem vollen Sinn erst verstehen können, wenn wir aus den Nachlaßfragmenten den ergänzenden Satz dazunehmen:

: „Also geschah es, daß Zarathustra unterging“ (W. XII 418) und beachten,

daß das nach der Darstellung seines in dem fertigen Buch nicht enthaltenen Todes gesprochen ist. Es verklammert also alle Handlungen und Ereignisse von

dem Abstieg Zarathustras zu den Menschen bis zu seinem Tod zur Einheit eines zielbestimmten erst im Tod erfüllten Ablaufs. Die Fortsetzungs- und Abschluß-

pläne aus dem Nachlaß, deren Aufzeichnung teils zwischen der Niederschrift des 2.und 3., 3.und 4. Teils, teils nach diesem erfolgt ist, zeigen denn auch diesen tragischen und Handlungscharakter der ganzen Konzeption sehr deutlich. Der erste Plan zu einem als Handlung abschließenden 3. Teil gliedert in 4 Akte und endet mit einer Szene „am Vulkan“: „Zarathustra unter Kindern sterbend. Totenfeier“ (W. XII 391) Er scheint das Ende noch weitgehend idyllisch gefaßt zu haben. (Der dann ausgeführte 3 Teil läßt das Ende im Gegensatz dazu offen und schließt nur die Lehre ab.) Weiterhin steigert sich dann aber der tragische Charakter des Schlusses, der das Ganze zur Handlung macht: „Im 3. und 4. Akt. Zarathustra sah und hörte nichts, er war entzückt. Dann schrittweise zurück in das furchtbarste Wissen. Die Empörung der Jünger, Fortgehen der Liebsten, Zarathustra sucht sie zu halten. Die Schlange züngelt nach ihm. Er widerruft, Übermaß des Mitleidens, der Adler flieht. Jetzt Szene des Weibs, an dem wieder die Pest ausbricht. Aus Mitleid tötet er. Er umarmt den Leichnam. ... Letzte Scene am Vulkan. Volle Seligkeit. Vergessen. Vision des Weibs. ... Die Jünger schauen in das tiefe Grab. .... die größte aller Totenfeiern macht den Schluß. Goldner Sarg in den Vulkan gestürzt.“ (W. XII 391/92) Hier ist die Ähnlichkeit mit dem Empedokles in dem Rückfall ins Mitleid sehr deutlich. Aber die Tragik hat sich noch nicht voll durchgesetzt; der Tod erfolgt offenbar nach der Über- windung im Zustand der „vollen Seligkeit“. Dagegen ist dann in den folgenden Aufzeichnungen ein direkt tragisches Ende im Widerspruch geplant gewesen: 1. Er stirbt, als die Vision ihn verläßt vor Schmerz darüber, welches Leid er geschaffen (392). 2. Er stirbt vor Glück bei der Annahme seiner Lehre durch das Volk. (Im Buch kann er ja „jetzt“ weder mehr sterben, noch weiterleben.) Dann kommen sogar nicht mehr ganz greifbare Vernichtungspläne ähnlich denen des Empedokles (396). 3. Er stirbt in dem Augenblick, wo er sieht, daß alle sich von ihm abwenden nach der letzten Verkündigung im Schmerz über das Mitleid Panas, des Weibs, die ihn auf dem Gipfel seiner Vision töten will, also wieder gerade da, wo ihn die Vision verläßt und er sich unvermittelt „vor das Verstehen einer Wirklichkeit gestellt“ sieht (401/02). Die folgenden Pläne neigen dann wieder mehr der idyllischen Abschlußart zu; sind auch nicht immer ganz verständlich in der Kürze ihrer Niederschrift. Der tragische Nerv der ganzen Konzeption ist aber doch trotz allem Schwanken in den Motivierungen und Durch- fiibrungen des Ablaufs deutlich. Es ist der Tod des nicht ganz auf der Höhe der eigenen Vision stehenden Lehrers, der entweder im Widerspruch des Verstehens der Wirklichkeit oder in der vollen unerreichten letzten Seligkeit, die eben nur der Tod gibt, sein Schicksal zum Abschluß bringt. Und ganz das Gleiche, nicht nur etwas Ähnliches, werden wir in der nächsten Anmerkung als Kernstück des Empedoklesfragments von 1870/71 kennen lernen.

26. Wenn wir den „Empedokles“ mit dem „Zarathustra“ und vor allem mit seinen Fortsetzungsplänen methodisch zureichend vergleichen wollen, dürfen wiruns

384 Kurt Schilling

nicht allzusehr bei den äußeren Ähnlichkeiten aufhalten, wie der Einführung des Weibs in einer ganz ähnlichen Rolle, der Pest, dem Tod am Vulkan, den Volksszenen und ähnlichem, was in beiden zu finden ist. Das ist zwar nicht ganz überflüssig, aber nur als Hinweis und Fingerzeig wichtig, nicht als Nachweis. Es kommt auf den tragischen Nerv an in seiner dichterischen Bedeutung, der herauszuheben ist. Die erste Konzeption des tragischen Menschen Empedokles liegt in dem Satz: „Empedokles, der durch alle Stufen: Religion, Kunst, Wissen- schaft getrieben wird und die letzte auflösend gegen sich selbst richtet.“ (W. 1X 185) Dies ist die geistige Grundsituation des schicksalhaften Menschen Nietzsche im epigonenhaften 19. Jahrh. (Vgl. Anm. 3.) In den Ablauf dieses Schicksals sind dann nur verschiedene Handlungen und Motivierungen eingeschoben, die ihn komplizieren, zum Drama ausgestalten, das Ende aufhalten und hinausschieben, aber ihn als solchen nicht wesentlich ändern können. Und zwar sind es im Grund zwei Handlungen: 1. Empedokles erhält, nachdem er den Wahn der Religion erkannt hat, von den Agrigentinern die Krone angeboten. In der Not der herein- brechenden Pest verordnet er als geistiges Heilmittel, das das Volk bei Be- sinnung, bei seiner griechischen Art, erhalten soll, die Tragödie zur Reinigung der den Menschen überwältigenden Mächte von Furcht und Mitleid. (Nietzsche kommt damals gerade vom Aristotelesstudium.) Das Mittel scheitert. Empedokles wird selbst verführt und beschließt als Radikalkur die Vernichtung des Volks. „Das Volk um den Krater versammelt: er wird wahnsinnig und verkündet vor seinem Verschwinden die Wahrheit der Wiedergeburt.“ (W.IX 186) 2. Die private Verführung des Empedokles ist so motiviert: Das Weib als die Natur. Das Weib in der Theatervorstellung stürzt hersus und sieht den Geliebten [an der Pest] niedersinken. Sie will zu ihm, Empedokles hält sie zurück und ent- deckt seine Liebe zu ihr. Sie gibt nach, der Sterbende [der von ihr geliebte Schau- spieler] spricht, Empedokles entsetzt sich vor der ihm offenbarten Natur.“ (186) (Ob diese zweite Handlung mit eigenen Erlebnissen Nietzsches und einer un- eingestandenen Neigung zu Cosima Wagner zusammenhängt, wie Charles Andler glaubt, lasse ich dahingestellt. Es ist in unserm Zusammenhang unerheblich.) In der späteren Fassung vom Frühjahr 1871 ist noch eine etwas genauere Motivie- rung des tragischen Schicksals selber angegeben: Aus einem apollinischen Gott wird er [Empedokles] ein todessüchtiger Mensch. Aus der Stärke seiner pessi- mistischen Erkenntnis wird er böse. Im hereinbrechenden Übermaß des Mitleids erträgt er das Dasein nicht mehr. Er kann die Stadt nicht heilen, weil sie von der griechischen Art abgefallen ist. Er will sie radikal heilen, nämlich vernichten, hier aber rettet sie ihre griechische Art. In seiner Göttlichkeit will er helfen. Als mitleidiger Mensch will er vernichten. Als Dämon vernichtet er sich selbst.“(186) Genau wie in den Zarathustrafortsetzungsplänen liegt also auch hier die tragi- sche Verknüpfung in der Verbindung einer rettenden Lehre mit der existenti- ellen Tatsache, daß der Lehrer selber nicht voll auf der Höhe dieser Lehre steht, sie selber nicht aushalten kann und durch Abfall und Verführung, obwohl die Lehre das wahre Heilmittel bleibt, zugrundegeht. Empedokles ist Gott, Mensch und Dämon zugleich. Die Verordnung der Tragödie als Rettungsmittel (genau so wie die Verkündigung der „Wahrheit der Wiedergeburt“ als das zweite offen- bar stärkere Heilmittel) ist eine göttliche Tat. Nach seiner eigenen menschlichen Verführung zum Mitleid erscheint ihm als letztes Rettungs- und radikales Heil- mittel die Vernichtung des Volks. Dies ist „Rettung“ nur vom beschränkten mensch- lichen Aspekt aus gesehen, der keinen anderen Ausweg mehr sieht. Und hier rettet eben wahrhaft das Volk seine. eigene, bessere, göttliche Art. Die Ver- nichtung kehrt sich dämonisch gegen den ins Menschliche, Allzumenschliche ab-

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gefallenen Gott Empedokles selber, wenn er auch noch vor seinem läuternden Sühnetod die „Wahrheit der Wiedergeburt“, gleichsam als Vermächtnis, ver- kündigt. Diese „Wiedergeburt“ ist natürlich in erster Linie. die pythagoreische Seelenwanderungslehre des historischen Empedokles. Als solche steht sie aber doch mit der späteren Wiederkunftslehre des Zarathustra in einemsachlichen Zusammen- bang. Daß ausdrücklich das Wort „Wahrheit“ dabei steht, deutet schon vor auf den Wandel der Rettungsmittel, die in der Jugend bekanntlich in den Täu- schungen und Illusionen der Kunst, später in einer Lehre bestehen, die dem- gegenüber gerade „Wahrheit“ ist, sei es nun die Aufklärung des „Menschlichen, Allzumenschlichen“ oder die Wiederkunftslehre oder die Lehre vom Willen zur Macht.

27. Die Periodisierung der Schriften der nachzarathustrischen Zeit nach sach- lichen Gesichtspunkten ist sehr einfach; aber erst die Erkenntnis dieser Perio- disierung vermittelt das eigentliche Verständnis. Im Mittelpunkt steht das theo- retische Hauptwerk, das zunächst unter dem Titel des „Willens zur Macht“ zur Ausarbeitung kommt, und dessen Material wir heute in dem ebenso genannten Buch von den Herausgebern nach dem sehr weiten Rahmen eines Plans Nietzsches vom 47. III. 1887 zusammengestellt lesen. Als Vorbereitung zu diesem theoreti- schen Hauptwerk Vorbereitung sowohl des Lesers, als für Nietzsche selbst: Gewinnung des Standpunkts der ganzen Konzeption sollte „Jenseits von Gut und Böse“ mit seinem Anhang, der „Genealogie der Moral“, dienen, bei deren Ausarbeitung Nietzsche bereits-in die Gesamtaphorismenmasse griff. Das Wich- tigste dieser propädeutischen Bücher ist die Erarbeitung des geschichtlichen. Standpunkts, die vollzogen wird durch eine große Geschichtskonstruktion und Festlegung der Geschichte; inhaltlich natürlich mit Nietzsches eigenen neuen Wertbegriffen, ihrer Entstehung und Entwicklung, formal ganz ähnlich den klas- sischen deutschen Geschichtskonstruktionen von Fichtes „Grundzügen des gegen- wärtigen Zeitaltere“ bis zu Hegel. Dieser Plan der Gesamtproduktion ist fest- gehalten bis zum Frühjahr 1888. Hier setzt der Umschwung zum persönlichen Angriff auf seine Zeit mit dem „Fall Wagner“ ein. Es ist eine direkte Anderung des Gesamtdarstellungsstils, was sich hier vollzieht. Aus der (relativ) ruhigen theo- retischen Beschreibung wird die persönliche Polemik. Formal wird der Gesamt- produktionsplan und natürlich auch der Inhalt der Lehre immer noch im großen festgehalten, d. h. es gibt immer noch ein theoretisches Hauptwerk und Vorbe- reitungen dazu, Aber die Darstellungsart hat sich geändert, und so muß das Hauptwerk „umgeschrieben“ werden. Aus dem „Willen zur Macht“ (bloße An- gabe des Inhalts der neuen Welt) wird die aktive „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche selber ist der, der die Umwertung vollzieht). Bekanntlich ist davon das erste Buch, der „Antichrist“, vollendet. Der neue Plan hat drei polemische, negative Teile und nur einen positiven, beim „Willen zur Macht“ war das Verbält- nis, wenigstens im Plan vom 17. IIJ. 1887, 2:2.) Die neue aggressive, zu einer letz-

. ten Klarheit durch Einsatz der persönlichen Instinkte gesteigerte Darstellung

erfordert natürlich auch eine neue Vorbereitung. Die alte, „Jenseits“ und „Ge- nealogie“, genügte jetzt nicht mehr, weil sie bloß für die alte jetzt überwundene Darstellungsart Gültigkeit hatte. Diese neue Vorbereitung für das neue theore- tische Hauptwerk in der Form der „Umwertung“ ist die „Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert“. (Sie verhält sich also zur „Umwer- tung“ genau so wie „Jenseits“ und „Genealogie“ zum „Willen zur. Macht“.) Da-: neben läuft der direkte Angriff auf die Zeit ohne weitere Nebenabsichten in: den zwei Wagnerschriften der letzten Monate und im „Ecce homo“, die alle drei nur im Archiv für Religionswissenschaft XXXVI. 2 25

386 Kurt Schilling

weiteren Sinn der Vorbereitung des Hauptwerks dienen, in erster Linie selb- stindige Bedeutung und Bezug auf Nietzsches ganzes Leben und Schaffen haben. Sie greifen auf das, was am tiefsten und persönlichsten an ihm ist, zurück: auf den Ursprung, aus dem heraus er lebt, und zwar in der Not und Bedrängnis der äußersten Situation seines Leibs, der vor der Katastrophe steht und das auch zweifellos spürt. Die natürliche menschliche Scham ist in ihnen aufge- hoben.

28. Mit dem Wort „Philosophieren am Leitfaden des Leibs“ wird neuerdings viel Mißbrauch getrieben. Was wäre dem in der modernen Welt nicht ausge- setzt? Es genügt für den Gebrauch dieser Methode nämlich gerade nicht, nur zu wissen, was damit gemeint sein kann oder einen genauen Begriff davon zu haben. Es ist in erster Linie erforderlich, auch einen Leib zu haben, der zum Leitfaden einer Philosophie dienen kann. Und das ist durchaus nicht immer, sogar fast nie, der Fall. So sollte man es sich wenigstens etwas überlegen, be- vor man dies Gebiet der unfreiwilligen Lächerlichkeit betritt und über Dinge redet, von denen man wenigstens aus Erfahrung nichts weiß; auch bei der Auslegung. Die Philosophie der letzten Monate Nietzsches ist das Beispiel eines solchen Philosophierens, weil sie sich restlos der Leitung unmittelbarer in der Jugand erworbener Instinkte und der (immer nur je eigenen) leiblichen animalischen Weisheit ergibt und damit eine unüberbietbare Klarheit erlangt. Allerdings: die Vernunft des Ganzen fehlt; es ist sachlich nur ein Kriterium erreicht. An sich ist das Bild der Geschichte, das gewonnen wird, völlig schief.

.. 29. Hätte er wirklich in Griechenland in der mythischen Zeit gelebt, so müßte es heißen, ein Gott, Dionysos, hat ihm den Sinn verwirrt und ihn zu sich genommen. Gerade der Wahnsinn kann in dieser Welt göttliche Bedeutung haben (Vgl. etwa Platons Phaedrus 244A, 265A). Da er aber doch im 19. Jahrh. gelebt und auch seine eigene Lehre in der Sprache der Medizin und Wissenschaft seiner Zeit zur Darstellung gebracht hat, haben wir heute auch keine andere ange- messene Benennung als eine medizinische für sein Ende. Der Anspruch Podachs („Nietzsches Zusammenbruch“), den Wahnsinn ausschließlich durch eine nuan- cierte Seelengeschichte zu motivieren, erscheint mir daher auch etwas zu blaß und gespensterhaft. Im übrigen ist der Streit um die genaue Diagnose seiner Geisteskrankheit solange recht müßig, als die Medizin keinen angemessenen Be- grift davon hat, was überhaupt Geisteskrankheit ist. Früher, wo es mehr auf die bürgerliche Moral ankam, bei der Schwester, wurde mit Entrüstung die Dia- gnose Syphilis und Paralyse abgelehnt und an Schlafmittelmißbrauch, Nerven- zerrüttung und dgl. infolge des Bruchs der Freundschaft mit Wagner geglaubt. Heute, wo ebenso beflissen die Vererbung und Anlage entweder ausgeschlossen oder von Gegnern ihm angehängt werden soll und die bürgerliche Moral gleich- gültig geworden ist, wird wieder mehr das infektiöse Moment sogar oft mit einem gewissen Vergnügen für diesen offenbar nötigen „Beweis von Männlichkeit“ in den Vordergrund geschoben. Das geht sogar soweit, daß behauptet wird: Nietzsche war bis Ende Dezember 1888 gesund, in dem Augenblick, wo er krank wird und zwar aus rein äußerlicher Ursache ist es nicht mehr Nietzsche. Es ist klar, daß mit dem allem nur das wahre Verständnis verschleiert wird. Wer nötig hat, sich den Wert der Werke Nietzsches durch derartige Mittel retten zu las- sen, sollte ihnen ohnehin fernbleiben. Die Meinung, daß Genie aus Krankheit, entsteht, ist doch, so laut sie schließlich vertreten worden ist, nicht weiter ernst zu nehmen, und sollte niemand zu einer überflüssigen Gegnerschaft verleiten. Nietzsche hat sein Verhältnis zu Krankheit und Gesundheit recht eindeutig in

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der Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft“ ausgesprochen. Seine Lehre ist dem Willen zur Gesundheit und nur ihm entsprungen. Aber ohne Krankheit wäre weder dieser Wille, noch auch die Sensibilität seines Leibs zu denken. Weder gehört er zu jenen von ihm so genannten „Vierschrötigen des Geistes“, noch hat er sie je geschätzt. Wir können darüber hinaus auch an dieser Stelle sagen, daß es sein Schicksal war, ein Land (das der echten Gesundheit) zu schauen und vorzubereiten, das er selbst nicht betreten hat, weil er Zeit seines Lebens sogar in besonderem Sinn krank gewesen ist. Und in seiner Zeit wenigstens war auf anderem Weg und anderm existenziellen Boden die Konzeption der neuen Welt auch kaum möglich. Daß überdies noch eine Reihe von Übertreibungen in den Einzelheiten seiner Lehre (z.B. sein von Jakob Burckhardt mit Entsetzen betrachteter Haß gegen alles Mitleid u.a.) auf den allzu gewaltsamen Wunseh, auf die leidenschaftliche Sehnsucht des Kranken nach Gesundheit zurückgeht, ist zwar unstreitig richtig, aber nicht mehr so wichtig gegenüber dem philosophi- schen Grundverhältnis zwischen Gesundheit und Krankheit bei ihm.

30. Nietzsches Versuch, die geschichtliche Entwicklung durch eine „Einver- leibung“ falscher oder richtiger Meinungen zu motivieren, ist eine Art von po- pulärem ,Lamarckismus“, der mit der Vererbung aller oder der meisten erwor- benen Eigenschaften rechnet, die sich biologisch nicht halten läßt. Nietzsche hat den biologischen Sinn, warum, mindestens in der Regel, die erworbenen Eigenschaften nicht vererblich sind, nicht begriffen. (Vgl. dazu meine „Ein-

- führung in die Staats- und Rechtsphilosophie“ 1939, Seite 23 ff.), ebenso wenig

den Sinn und die Art der Spontaneität der Mutationen, auf denen die Entwick- lung der Arten und Rassen beruht. Es bedürfte einer genauen Untersuchung, was an seiner Lehre nun mit diesen Irrtümern fallen muß, und was nur in a lopom Zusammenhang mit ihnen steht.

31. Vgl. W. F. Otto, „Die Götter Griechenlands“ und mein „Sein des Kunst- werks“ S. 50—55. Ferner zur Auslegung die sehr wichtigen und vorzüglichen Gedankengiinge bei F. Adama van Scheltema „Die geistige Wiederholung“ 1937. Auch der Gestirnglaube des Aristoteles und überhaupt des Hellenismus, der ganz offenbar eine letzte geistige Rückbesinnung auf die Ursprünge und Quellen dieses Lebens (nicht natürlich auf vorgeschichtliche Fakten) gewesen ist, kann diese Auslegung stützen.

32. ,Aristoteles’ Gedanke der Philosophie“ München 1928; weiterhin die ein- schlägigen Abschnitte in den Büchern „Hegels Wissenschaft von der Wirklich- keit“ 1929; „Der Staat“ 1935; „Geschichte der Staats- und Rechtsphilosophie“ 1937; „Das Sein des Kunstworks“ 1938. Meine geschichtsphilosophischen Gedan- ken, die die Linie der religiösen Grundhaltung von den Griechen über das frühe Christentum bis zum germanischen Christentum des Mittelalters und von da zur Neuzeit zu bestimmen und als den tragenden Grund der menschlichen Haltung und Existenz in diesen Epochen der Geschichte aufzudecken versuchen, sind bisher nur zerstreut, noch nicht einheitlich dargestellt. Trotzdem scheinen sie mir für den aufmerksamen vergleichenden Betrachter der genannten, Bücher durchaus eindeutig und verständlich. Es ist die Grundlage meines Philosophierens von Anfang an gewesen. Freilich ist das in der sogenannten „Kritik“ einem Ka- pitel Verfallsgeschichte bei uns nicht bemerkt worden. An Stelle dessen hat man sich sehr sichtbar bemüht, kleine, wenigstens für die Auffassung der Sache selbst unerhebliche philologische Ungenauigkeiten besonders des Aristoteles- buchs herauszufischen und sich dadurch der Auseinandersetzung mit dem Inhalt

25°

388 -- Kurt Schilling

vornehm zu entheben, meine Bemühungen totzuschweigen aa endlich was natürlich nicht ausbleiben kann die Resultate At Nach welgeng zu übernehmen, wenn auch in andere Zusammenhänge.

33.2.B. und unter anderem „Menschliches, Allzumenschliches“ I, Nr. 214: „Da- durch, daß die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlauf der Zeit jener Atfekt mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch tatsächlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Völker, vermöge dieser Kunst des Idealisierens, aus Krankheiten große Hilfsmächte der Kultur geschaffen: z. B. die Griechen, welche in früheren Jahrhunderten an großen Nervenepidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. Die Griechen besaßen nämlich nichts weniger als eine vierschrötige Gesundheit, ihr Geheimnis war, auch die Krankheit, wenn sie nurMacht hatte, als eine Gottheit zu ver- ehren.“ (Sperrung von mir.) Ein Beispiel dafür ist das erste Chorlied des „König Ödipus“ von Sopbokles, wo die Pest zugleich als Gott und doch als verhaßt besungen wird. Dazu meine Auslegung in „Sein des Kunstwerks“ S. 50f., 55 ff.

$4, „Der Staat“ 1935; „Geschichte der Staats und Rechtsphilosophie“ 1937 ; „Einleitung in die Staats- und Rechtsphilosophie* 1989.

86. Krügers Descartesaufsatz („Logos“ 1988), der Descartes nur als Vorläufer der Aufklärung und des modernen Atheismus versteht, ist trotz lehrreicher Einzelheiten in seinem Gesamtergebnis abwegig. Die Garantie der Wahrheit durch Gott und seine Theologie war Descartes ernst. Die Natur kann überhaupt nur vom tiberweltlichen Gott aus so gesehen werden, wie er sie sieht. Der wirkliche Atheismus kommt erst später. Descartes ist hier aufgefaßt, wie etwa Nietzsche war. Ihm unangemessen. Bei Kant ist Gerhard Krüger glücklicher in der Auf- deckung der religiösen Grundhaltung gewesen.

36. Nietzsche ist im rein Begriftlichen doch weit hinter der zeitgenössischen und vor allem der späteren wissenschaftlichen Philosophie zurückgeblieben. Er be- ‚sitzt überhaupt keine exakte Begrifflichkeit wie selbst etwa der Kantianismus der Jahrhundertwende. An deren Stelle steht die populäre Tendenz und die sti- listisch glänzende Formulierung, auf die Dauer ein ungenügender Ersatz. Es rächte sich auch, daß er nicht viel mehr an eigentlich Philosophischem kannte als Schopenhauer, Kuno Fischers „Kant“ und Langes „Geschichte des Materia- lismus“. (Noch spät findet sich einmal der Satz bei ihm: „Ich bin immer mehr starr vor Verwunderung, wie wenig ich Platon kenne und wie sehr Zarathustra platonisiert.“ An Overbeck vom 22.X.1883. Und das bei seinem leidenschaftlichen Kampf gegen Platon!) Nun ist exakte Begrifflichkeit in diesem Sinn keine in . jedem Fall unentbehrliche Eigenschaft großer Philosophie. (Die Durchsehnitts- philosophie hat sie nötiger.) Philosophie ist kein Rechenexempel, bei dem die „Richtigkeit“ des Resultats und die Fehlerlosigkeit der Durchführung die eigent- lichen Kriterien der Leistung sind. Es kommt vielmehr auf die Fruchtbarkeit und menschliche Echtheit des Einsatzes selber an, der dann ohnehin meist (es sei gegen den Wahrheit und Fruchtbarkeit auseinanderreiBenden Pragmatismus gesagt) auch zu „Richtigkeit“ und exakter Begrifflichkeit führen wird. Allein bei Nietzsche kam zusammen: ein durch die Sehnsucht nach Wirkung getrübter Wille zur. Wahrheit und eine ungebührliche Vernachlässigung der Begrifflichkeit, die ihn dann gerade da, wo er es nicht wollte und sollte, von verkehrten populären Tendenzen seiner Zeit abhängig werden ließ und seinen besseren Willen ver-

m D "in. _

Nietzsches Schicksal und Werk 389

fälschte. Das ist das unaufhebliche, wenn auch beschränkte Recht der Angriffe der wissenschaftlichen Philosphie der vergangenen Zeit gegen seine bloße „Lebens- philosophie“. (Vgl. dazu auch Anm. 87.) Vor allen Dingen ist in diesem Sinn das, was in Kants Kr. d. r. V. in der transzendentalen Aesthetik und mehr noch in der Analytik der Grundsätze an exaktem, gerade in seiner Anwendbarkeit auf die Natur erwiesenem, prinzipiellem und von der Physik zu entwickelndem Wissen zu finden ist, von Nietzsche aus einer ihn von Jugend an begleitenden und ganz charakteristischen Mathematikfeindschaft in Sensualismus und Relativismus auf- gelöst. Die Behauptung, die sich bei ihm immer wieder findet, ‚Mathematik sei nicht anwendbar, weil in der Natur nichts gleich sei‘ ist doch etwas armeelig; das mit der exakten statistischen Methode der modernen Physik in Zusammen- hang zu bringen, wie man getan hat, ist ein etwas kühner Sprung.

37. Es wurde bereits betont (Anm. 36), daß Philosophie kein Rechenexempel ist, dessen Wert mit seiner formallogischen Richtigkeit sich erschöpft. Trotzdem läßt sich immer auch eine formallogische Kritik an jede Philosophie anlegen, und sie wird dann zu brauchbaren Ergebnissen führen, wenn die Logik der Philo-. sophie nicht eine bodenlose formale Schlußmethode, sondern nur die folgerichtige Entwicklung des Einsatzes selber ist. Der Kernpunkt einer begrifflichen und philo- sophisch endgültigen Kritik an Nietzsches Spätlehre muß immer der Vorwurf der bloßen Mittelüberlegenheit ihres Lebensideals sein. Den Ausdruck ‚Mittelüber- legenheit‘ möchte ich im Anschluß an die griechische Tragödie bilden und ver- wenden. Im König Ödipus des Sophokles ist einmal etwas ganz ähnliches aus- gedrückt, wenn Odipus im Zorn die Mächte seiner persönlichen Existenz anruft:

© nAoürs xal rveavyd nal téyvn tégons Ömegp£govon to nolvgrnio Blo 0005 ag’ dulv 6 ptdvos pridcoerat. (880/82)

Auch hier führt diese so stark subjektiv gefürbte Tyrannenexistenz (die übrigens durchaus zu vergleichen wäre mit dem schweifenden Heldenideal der germani- schen Völkerwanderungszeit) unmittelbar in die Sophistik über. Man denke an die politischen Ziele des Kallikles in Platons Staat. Nietzsche gerät so direkt und sei es noch so sehr gegen seinen Willen in die Nähe der griechischen Sophistik, mit der. er auch den Radikalismus der Aufklärung teilt. Sein sehr ausführlicher, allseitig und weitläufig im „Willen zur Macht“ entwickelter Ge- dankengang ist nur der: Die bisherige Religion und Moral hat den Menscheu auf ein Jenseits verwiesen und damit das Diesseits entwertet. Dieses Jenseits hat sich im Zusammenbruch von Religion und Metaphysik als Täuschung er- wiesen. Also fordert die Wahrhaftigkeit zweierlei von uns: den bisherigen Irr- tum anzuerkennen und uns mit dem Diesseits zu begniigen, wie es ist, ohne Blick auf eine „schönere“ erträumte Hinterwelt. Hier im Diesseits aber herrscht das Gesetz der Natur. Dieses Gesetz ist nichts anderes als der Kampf um die Macht. (Sogar das anorganische Werden ist nur Machtkampf, jedes Geschehen nur so vorstellbar, daß jedes Ding in jedem Augenblick nur die äußerste „Kon- sequenz“ dessen zieht, was ihm möglich ist, also z. B. der Stein fällt, wenn keine Unterlage ihn daran hindert. Dies ist übrigens eine Änderung und Vereinfachung gegenüber der Lehre aus der Zeit des , Zarathustra“, wo noch sehr deutlich zwischen organischem und anorganischem Geschehen unterschieden wurde; vgl. Anm. 17. Es ist keine Verbesserung.) Dieses Gesetz müssen wir anerkennen; in der Freiheit der Anerkennung liegt das menschliche Sein und zugleich die Mög- lichkeit der Philosophie als Lehre. Wenn wir es aber in diesem Sinn bewußt auf uns nehmen, so folgt ein den Menschen praktisch auf das Diesseits verwei-

390 Kurt Schilling: Nietzsches Schicksal und Werk

sender Appell und eine ganz bestimmte Wertrangordnung daraus: Auf der ober- sten Stufe steht der Wohlgeratene, Lebenstüchtige, Uberlegene im Machtkampf. Die Freude an diesem Typus ist das Pathos der Philosophie Nietzsches im Willen zur Macht“. (So etwa Nr. 1067 zusammenfassend.) Nun ist aber diese bloße jeweilige oder immer neu erstrebte Überlegenheit doch nur ein Mittelbegriff. Es ist nichts Endgültiges und also auch kein ethisches Ziel. Nietzsche würde zwar erwidern, daß gerade in diesem Vorläufigen und nicht Endgültigen der wahre Charakter der Welt liegt. Aber er’ verwechselt eben hier Natur mit Welt über- haupt. Der Nationalsozialismus unterscheidet sich hier sehr eindeutig dadurch von Nietzsche, daß er endgültige und absolute Werte anerkennt, die er in dem Leben des Bauern auf seinem Boden für die Erhaltung seines Geschlechts und Volks realisiert findet. Diese bloße Erhaltung allerdings ist auch nichts in diesem Sinn Endgültiges. Ich habe das selber mehrfach betont (z. B. Einführung in die Staats- und Rechtsphilosophie I. Kapitel). Aber die Werte, die in diesem pfleglichen Leben offenbar werden, die Existenz unter dem Schicksal, die Treue gegen die eigene Art, die vom echten Bauern nicht wegzudenkende Frömmig- keit, mit der der Mensch sich da als Teil der ganzen Schöpfung versteht und sein Leben als pflichtgeboten an seiner Stelle, wie Kant etwa das ausgeführt hat, das höhere, die Menschlichkeit und das Leben bedingende Göttliche über sich sind doch gerade in offenem und eindeutigem Unterschied zu Nietzsches bloßer atheistischer und naturalistischer Wohlgeratenheit des Einzelnen oder der Gruppe endgültige Werte. Nietzsche hat nun auch durchaus nicht recht, wenn . er meint, diese endgültigen Werte wären nur eine (ev. saekularisierte) Form der erlogenen Hinterwelt, in die der Mensch vor dem Diesseits und der Bewährung hier ausweicht. Der Grund, warum er in diese falsche und mörderische Alter- native zwischen dem Naturalismus des Willens zur Macht und der erlogenen Meta- physik geraten ist, ist nur seine Abhängigkeit von Schopenhauer, auch noch in der Spätlehre. Bei Schopenhauer, und nur bei ihm, herrscht der Zwang zur Entscheidung für eines dieser Extreme. Nietzsche nimmt das an und entscheidet sich im Schopenhauerschen Rahmen gegen Schopenhauers Pessimismus. Nichts weiter. (Vgl. Anm. 7.) Aber gerade hierin liegt sein Irrtum. Schon Kant hat uns gelehrt, daß und wie wir das Endgültige, Göttliche anerkennen können und zwar gerade vom sittlichen, praktischen Leben aus, ohne in die „Träume eines Geistersehers“ zu geraten und vor der Prüfung und Bewährung hier und jetzt in eine Hinterwelt auszuweichen. Diese transzendentale praktische Lehre Kants hat weder Nietzsche noch Schopenhauer verstanden. Ohne im mindesten einem „Zurück zu“ Kant oder sonstwem das Wort zu reden, muß doch gerade aus unserer heutigen Möglichkeit des Verstehens von Geschichte heraus ausgesprochen werden, daß Nietzsche zwar ein Stück des Abwegs von Kant zu Schopenhauer wieder zurück gegangen ist, insofern er den Menschen wieder aus dem Jenseits und der Lebensverachtung herausgezogen und auf die Welt hier verwiesen hat, daß er aber den ganzen Umfang und Sinn der Kantischen praktischen Philosophie noch nicht erreicht hat. |

38. „Nietzsche contra Wagner“ Epilog 2: „Oh diese Griechen! sie verstanden sich darauf zu leben! Dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren ober- flichlich aus Tiefe... Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegen- wärtigen Gedankens erklettert und von da aus uns umgesehen haben, die wir

Alfred Dieck: Selbsttötung bei den Germanen 391

von da aus hinabgesehen haben? Sind wir nicht eben darin Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum Künstler?...“ (W. VIII 209) Darin kommt nochmals der ganze gewagte Sprung Nietzsches zum Ausdruck und seine romantische Sehnsucht nach der griechischen Welt, einer Romantik, der er verhaftet bleibt trotz aller seit 1876 einsetzenden Bemühungen, sie zu überwinden. Es ist aber gerade der ungeheure durch Gedankenstriche und kühn angegebene Ziele weder überbrückte noch auch voll verstandene Unterschied zwischen den echten Griechen und ihrem Verehrer aus der Ferne, daß den Griechen diese „Oberfläche“, das mit den Sinnen Erfahrene, die Natur, der Gegen- stand selber, das geheiligte Ziel der religiösen Sehnsucht ist, während dies gerade für Nietzsche „Oberfläche“ bleibt. Die Griechen waren eben nicht „Künstler“ == Schauspieler in diesem Sinn, sondern wahrhaftige fromme Anbeter der Natur als der göttlichen Realität. Es ist Schicksal und Notwendigkeit, daß sich der Versuch der Wiederherstellung dieser Welt in der Neuzeit gegen seine eigenen Absicht in dieses Ideal technischer Mittelüberlegenheit ver- kehren muß, wie in Anm.37 gezeigt wurde, weil es in der Geschichte kein „Zurück“ ohne völligen das Gedächtnis und die mit ihm gesetzten Möglichkeiten auslöschenden Tod geben kann. Sicherlich hat gerade der Zwiespalt zwischen der Freigeisterei und dem „gottbildenden Instinkt“ der allerletzten Phase von Nietzsches Leben den Wahnsinn mit herbeigeführt. Aber gerade die in den zitierten Worten wieder so unverhüllt durchbrechende Freigeisterei als Zeugnis der letzten Wochen zeigt uns, daß wir die Religiosität dieser Spätphase kaum so fraglos und ernst nehmen dürfen, wie Reinhardt das in der genannten Arbeit über „Nietzsches Klage der Ariadne“ als von den Griechen herkommender moderner- Philologe getan hat.

Jedenfalls erscheint mir die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Verkehrung N

der griechischen Frömmigkeit in Sophistik (in etwas tieferem Sinn des Wortes) beim Versuch ihrer Wiederherstellung die wichtigste Lehre zu sein, ae wir heute in der Philosophie aus Nietzsches Schicksal lernen können. Inhaltsübersicht 8. Anmerkung zum Titel des Aufsatzes.

t

SELBSTTÖTUNG BEI DEN GERMANEN VON ALFRED DIECK IN AROLSEN/WALDECK

Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildete die Frage, ob wir mit Recht von kultischem Selbstmord bei den Germanen sprechen dürfen oder nicht. Von verschiedenen Seiten sind die meisten der hier zu nennen- den Stellen bereits zusammengetragen worden, so u.a. von Grimm, Mogk, v. Amira und neuerdings von Schomerus und Trathnigg. Meist werden diese Nachrichten aber mit kultischem Handeln unserer Vorfahren in Ver- bindung gebracht. Ich möchte im folgenden versuchen, diese Handlungen menschlicher zu deuten.

SELBSTTÖTUNG AUS EHRE

Bekannt ist, daß die Germanen einen ausgeprägten Ehrbegriff hatten. Ich glaube, gerade dieser spielt auch bei einem großen Teil der uns be- zeugten Selbsttötungen eine beträchtliche Rolle.

392 Alfred Dieck `

Als erste mag daraufhin eine Stelle untersucht werden, die erst seit kurzem! in diesen Fragenkreis-hineinbezogen worden ist: Dio Cassius 78, 20, 3. Sie lautet in der Ubersetzung von W. as Das alte Ger- manien“ 217 folgendermaßen:

„Der Kaiser bildete sich etwas darauf ein..., daß er auch den König der-Quaden, Gaiobomar, der angeklagt war, hatte töten lassen. Weil sich aber einer der Begleiter des Königs, der zusammen mit ihm angeklagt war, vorher erhängt hatte, erlaubte er den Barbaren, seinen Leichnam zu verstümmeln, damit der Glaube erweckt würde, daß er auf Grund seiner Verurteilung hingerichtet und nicht freiwillig gestorben sei; denn eben dies gilt bei ihnen als rühmliche Tat.“ (iv dg xal zaradedıraaufvog Zopdydar GAA Ce un Exovolorg, Oreo evdokov ag adtoic évoulfero erelevrgnevar vouodeln.)

_ Diese Stelle findet im oben genannten Aufsatz folgende Deutung: Caracalla wollte den Gefolgsmann durch Todesstrafe opfern. Dieser aber weiht sich vorher Odin durch Erhängen. Diese Odinsweihe soll aber verheimlicht werden; denn diese Weihe ist im Gegensatz zum Opfer als Todesstrafe riihmlich. Hierzu stimmt nicht die spätere Rechtssitte nachträglicher Hinrichtung bei ähnlichen Fällen; denn ‚jetzt ist die Hin- richtung nicht mehr Opfer, sondern Vergeltung. Sich der Nenn ent- ziehen, ist aber nicht rühmlich.

‘Demgegenüber möchte ich die Stelle folgendermaßen erklären:

Caracalla’ wollte den Gefolgsmann Gaiobomars ebenfalls wie diesen unehrenvoll hinrichten lassen. Dieser aber nahm sich, wie jeder ehr- bewußte Mensch, vorher das Leben, um der Schande zu entgehen. Nach außen hin soll aber der Schein der unrühmlichen Schandtötung gewahrt werden. Es sollte so anssehen, „als ob er auf Grund der Ver- urteilung, hingerichtet und nicht freiwillig gestorben sei“.” Hierzu stimmt’ völlig die spätere deutsche Rechtssitte, bei ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls noch nachträglich der Form nach die schandvolle Hin- richtung, zu vollziehen, bzw. bei besonders gelagerten Fällen dem Hinzu- richtenden die Möglichkeit zu geben, sich, ‚vorher das Leben zu nehmen. 2 Ich erkläre den Bericht also derart: der Gefolgsmann zieht- ehren- vollen Freitod einer schandyollen Hinrichtung vor. Es besteht m. E. kein zwingender Grund anzunehmen, daß kultisches Handeln vorliegt:

. Ebenfalls eine mir für nordisches Empfinden einleuchtendere Erklärung möchte ich. folgenden Berichten geben:

Plutarch: Marius 27, Orosius 5, 16, Florus 1, 38 (Selbsttötung kim- brischer und teutonischer Männer und Frauen); Dio Cassius 77,14 (Selbst- tötung kennischer Frauen) und Excerpta 'Valesii (Freitod chattischer und

1.Trathnigg, Über Selbstmord bei den Germanen, Zschr. f. dt. Altertum u. dt. Lit. 78 (1986) 99—102 [und: Germanien: 1940, 158: W. R 2 Wortlaut des Dio Cassius. .

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Selbsttötung bei den Germanen 393

alamannischer Frauen). Ich erkläre diese Berichte als ein Handeln nach dem . Grundsatz „Lever dot als Slav“, nicht als Odinsweihe wie u. a. Trathnigg.

Aus Ehre gingen wohl auch Männer in den Tod, die wegen ehren-

rührigen Verhaltens aus der Gemeinschaft ausgeschlossen waren und nun

nicht als Flüchtlinge dahinleben wollten!, oder Männer, die eine ihnen

' zustehende Ehrenpflicht nicht ausführen konnten.?

Ebenfalls als Selbsttötung aus Ehre möchte ich die sog. Königsopfer erklären. So wie ein ehrbewußter Schiffskapitän bei schuldhaftem oder schuldlosem Versagen mit seinem Schiff untergeht, so nahm sich hie und da der Führer bei Mißernten, Kriegsnot und ähnlichem das Leben. Aus Ehre, glaube ich, nicht, wie u.a. E. H. Meyer®, von Unwerth *, Herrmann ë

annehmen, als Opfer oder wie Ammian ê den freiwilligen Tod Ermanrichs ' anläßlich der verlorenen Schlacht gegen die Hunnen deutet, aus Feigheit.

Eine Bestätigung erfährt diese meine Deutung durch die Wölsungensaga (Thule 21, 64). Hier heißt es, daß König Sigismund, der in der Schlacht schwer verwundet war, sich nicht heilen lassen wollte, da das Glück sich von ihm gewandt hatte. Daß man übrigens sein Amt niederlegen muß, wenn man seinen Posten nicht voll ausführen kann, ist für uns ebenso selbstverständlich, wie es für die Burgunder war. So berichtet Ammian’: „Nach altem Herkommen muß (der König der Burgunder) sein Amt nieder- legen und wird abgesetzt, wenn unter ihm das Kriegsglück ins Wanken gerät oder der Früchte Fülle der Boden versagt.“ Die Deutung, die Herrmann dieser Stelle gibt, ist m. E. nicht berechtigt. Er sagt in „Alt- deutsche Kultbräuche“®: „Deutlich kehrt die Vorstellung des Sühnopfers in dem geschichtlichen Bericht wieder, daß im 4. Jahrhundert der König bei den Burgunden nach alter Sitte sein Amt niederlegen muß, wenn sich das Kriegsglück gegen ihn erklärt hat oder der Boden eine reiche Ernte verweigert hat.“

Sonst werden noch folgende kansaan mit Königsopfern i in Verbin- dung gebracht: Domaldi, Vikar, Olaf Tretelgja, Olaf Geirstadaalfr, Hakons Sohn, Aun und Haralds bzw. Heidreks Sohn. Diese Berichte aber als Be- lege hierfür zu verwenden, ist m.E.nicht berechtigt, da gegen die Echt- heit der Überlieferung stärkste Bedenken anzuführen sind®, bzw. andere Deutungen die wahrscheinlicheren sind. So zeigt sich, daß die Berichte, die

‚ı M. W. ist in den Sagas ein diesbezüglicher Fall erwähnt. . 2 Njalsaga: Njals Tod. 3 „Mythologie der Germanen“ 336, + ,Totenkult und Odinverehrung“ z. B. 65 ff. 5 Altdeutsche ra $3. 6 80 1, 8. 7 28, 8 Ala. O. 83.. | ® Zuletzt Ss bei Schomerus, Die Religion der Nordgermanen im Spiegel christlicher Darstellung (Lpg. 1936) 105 ff.

394 Alfred Dieck

von Domaldis Tötung sprechen, wohl spätere, eigenmächtige Gestaltung sind. Dasselbe gilt auch von denen über Vikar?, Olaf Tretelgja® und Olaf Geirstadaalfr.* Die Erzählungen von der Opferung des Sohnes Hakons sind, wie Schomerus ausführlich zeigt ®, wohl nur ausschmückender Schlach- tenbericht. Auns „Sohnesopferungen‘“ werden mit Recht von O.S. Reuter in erdrückendem Zusammenhang als Mondlaufsage erklärt®, die wie andere Sagen auch den Ausgleich von Sonnenjahr und Mondumläufen als Inhalt haben. Die Sage von der beabsichtigten Opferung von Heidreks Sohn”? habe ich mit sog. Waltötung in Zusammenhang® gebracht. Es handelt sich hier wohl darum, daß nach entschiedener Schlacht alles vom Gegner vernichtet wird, was man erlangen kann.

SELBSTTÖTUNG AUS TREUE

Eine weitere, äußerst stark ausgeprägte Eigenschaft besaßen unsere Vorfahren: die Treue. Auch diese, glaube ich, spiegelt sich in den Selbst- tötungsberichten wider, und zwar in den Nachrichten, die besagen, daß entweder die Frau dem Mann in den Tod folgte, oder der Knecht, die Magd dem Herrn bzw. der Herrin. Sie werden z. B. von Müllenhoff? und Helm” als Opfer für den Toten gedeutet. Hirschberg '! sagt über sie: „Menschen zieht der Tote, der ‚Nachzehrer‘, in sein Grab nach. Er sehnt sich nach Gesellschaft, deshalb die Witwenverbrennung, das Opfern der Frau oder eines Mädchens.“ Ich möchte sie deuten als freiwilliges Be- gleiten des Mannes oder des Herrn ins Jenseits durch die Frau bzw. den Gefolgsmann. So wie Bergthora und einige Knechte auch im Sterben treu bei Njal blieben, so folgten auch zu manchen Zeiten und bei man- chen Völkerschaften die Frauen oder die Knechte diesem ins Jenseits.

1 Schrifttum und Kritik: Mogk, Die Menschenopfer bei den Germanen Abh. der phil.-hist. Klasse der kgl. sächs. Akad. d. Wiss. 27, H. 17, Lpg. 1909, 626 (26) und Schomerus a. a. 0.111.

2 Mogk a. a. O. 628 (28) und Schomerus a. a. O. 109 ff.

3 Schomerus a. a. 0.110 und Mogk a. a. O. 626 (26).

4 Schomerus a. a. O. 110.

5 Schomerus a. a. O. 113 ff.

6 O. S. Reuter, Germanische Himmelskunde, Mchn. 1934, 386, 465, 469, 731; vgl. auch Schomerus a. a. 0.112 und Jan de Vries, Altgermanische Religionsge- schichte 2, 118.

? Mogk a. a. O. 627 (27) und Schomerus a. a. O. 112.

e Vgl. meine Arbeit „Die Bedeutung der Moor- und Wasserfunde in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung unter besonderer Beriicksichtigung der Hols- gestalten, Moorleichen und Menschopferberichte“, Dissertation der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität zu Halle, 1989.

° Die Germania des Tacitus, Bln. 1920, 382.

10 Altgermanische Religionsgeschichte §§ 7 und 54.

11 Hirschberg, Schatzglaube und Totenglaube, Brel. 1984, 39.

\

Selbsttötung bei den Germanen 395

Zu betonen ist, daß das jedoch nicht die Regel war! Die Bodenfunde zeigen es uns deutlich.

Es mögen zuerst einige Bodenfunde und die Nachrichten zusammen- gestellt sein, die davon Zeugnis ablegen, daß eine Frau einem Manne in den Tod folgte.

Als ältestes, wohl eindeutig! in dieser Richtung zu erklärendes Grab sei das von Bavendorf? aus der jüngeren Steinzeit genannt. Es folgen dann die Gräber von Addendorf® und Buendorf* aus der Bronzezeit und die Saalkreissondergruppe® aus dem Anfang der Völkerwanderungszeit.

An schriftlichen Nachrichten, die sich hierauf beziehen, sind nicht allzuviel zu nennen. Die älteste ist die von Procop® aus dem 6. Jahrhun- dert. Sie besagt, daß bei den Herulern’ die Frau dem Mann in den Tod zu folgen pflegte. Die anderen sind durchweg jünger und stammen aus nordgermanischem Gebiet bzw. nordgermanischer Sagenwelt (Gylfagin- ning 49; Sigurdparkvipa en skamma 64). Sie erzählen davon, daß die Frau ihrem Manne in den Tod folgte. Nur ein Bericht® gibt in ausführ- licher, allerdings reichlich ausgeschmückter Form, die Beschreibung von dem freiwilligen Tod eines Mädchens bei den Warägern in Rußland. Als bodenkundliches Gegenstück sei das Königsgrab von Seddin erwähnt. Hier liegt bei dem toten König auch der Leichenbrand eines jungen Mädchens. Betont muß allerdings werden, daß das Mädchen, das nach Ibn Fadlans Bericht mit dem Warägerfürsten in den Tod ging, nicht als Frau ihm folgte, sondern lediglich als Gefolgschaftsglied. Denn ausdrück- lich heißt es in dem Bericht ®: „Wenn ein Oberhaupt von ihnen gestorben ist, so fragte seine Familie dessen Knaben und Mädchen: Wer von euch will mit ihm sterben?“

Außer diesem eben genannten Bericht legen, wie oben schon gesagt, noch einige weitere Funde, Berichte und Sagen Zeugnis dieses Brauches‘ ab. Doch sind bisher nur wenige bekannt.

ı Es sei hier darauf hingewiesen, daß wir bei den meisten Doppel- und Mehr- fachbestattungen auf Grund der bisherigen Erfahrungen und Beobachtungen nicht feststellen können, ob die Bestattungen vom selben Tag oder nur aus ungefähr gleicher vorgeschichtlicher Zeit stammen.

2 Lienau, Mannusergänzungsband 224.

3 Lienau a. a. 0.231, Nr. 2 und 3. 4 Lienau a. a. O. 231, Nr. 7.

5 Ziegel, Die Entstehung der Kultur des thüringischen Reiches, Jahresschrift der Landesanstalt für Volkheitskunde zu Halle, 1939.

¢ Bell. Got. 2, 14.

? Die Heruler sind m. W. z. Zt. bodenkundlich noch nicht faBbar.

8 Frähn, Ibn Foszlans und anderer Araber Berichte über die Russen älterer Zeit. (Petersburg 1823) 13 ff. Vor einigen Jahren wurde von Herrn Dr. Zeki Validi- . Bonn eine neue Handschrift Ibn Fadlans entdeckt. Sie ist leider noch nicht ver- öffentlicht.

® Frähn a. a. O. 101 ff.

396 , "Alfred Dieck

An Bodenfunden sind u. a. zu nennen: der Osebergfund! und das wikingische Doppelgrab von Süderbrarup.?

In beiden ruhen Fürstinnen mit ihren Dienerinnen.

Im Schrifttum der Völkerwanderungszeit und der anschließenden Jahr- hunderte findet. hier und da dieser Brauch Erwähnung. So berichtet Jordanes, daß bei der Bestattung Alarichs® und ‘Attilas‘4 die Sklaven den Herren in den Tod folgten. Die Gefolgschaftstreue von Njals Knechten ist oben erwähnt. Sonst bestätigen nur meist mythologische An- gaben aus der Edda und den Sagas diesen Brauch. So folgen Sigurd und Brynhild® Mägde und Sklaven. Das Islendingabok® berichtet: „Asmund wurde in dem Asmundshügel bestattet; er wurde in ein Schiff gelegt und einer seiner Knechte neben ihn.“ Nach der Gautrekssaga? folgte ein Knecht seinem Herrn und dessen Frau in den Tod. Landnamabok II 6, Olavssaga Trygvasonar 225, Gylfaginning 49 und Egilssaga 58 berichten von ähnlichen Fällen. Die Untersuchung dieser Nachrichten auf ihre Echt- heit erübrigt sich in diesem Rahmen, da Bodenfunde die Tatsache des Mitfolgens bestätigen und es hier ja auch nur auf die Klärung des Grundes dieses Mitfolgens ankommt.

SELBSTTÖTUNG AUS GEMEINSCHAFTSGEDANKEN

Als dritte, stark ausgeprägte Eigenschaft unserer Vorfahren sei der Gemeinschaftsgedanke erwähnt. Seiner Sippe gehört der ehrenhafte Germane fest an. Ihr bringt er jegliches Opfer, selbst das höchste: sein Leben. Als m. E. hierhergehörige Beispiele seien die Begeben- heiten genannt, die vom Tode solcher sprechen, die sich ihr Leben nahmen, um als unnütze Esser bei Mißernte u. & ihren Angehörigen die Nahrungssorgen zu erleichtern. Es ist der eine Teil der unter der Bezeichnung „Altentötung‘ bekannten Stellen®, zumeist die „Wander- sagen“.

_ 1 Das Grab der Königin Asa und ihrer Dienerin. Vgl. besonders Scheltema, Der Osebergfund (Augsburg 1929) und Thule 2, 14.

2 Nach Meldung der Kattowitzer Zeitung vom 80. 9. 1938.

s Jordanes 30, 158.

« Jordanes 41, 265ff. Das Grab wird neuerdings am Flusse Detinje vermu- tet. Die neugegriindete Attilagesellschaft will hier forschen.

5 In Sigurbarkviba en skamma 67 ist außer Tieren von zwei Sklaven zu Füßen und zwei zu Häupten die Rede; Vers 70 spricht von fünf Mägden und acht Knechten.

6 Thule 23,80.

7 Mogk a. a. O. 623 (28) und Schomerus a. a. O. 110.

8 Neuerdings erneut zusammengestellt von Schomerus a.a. O. und Jan de Vries 2, 85 f. |

Selbsttötung bei den Germanen 397

SELBSTTÖTUNG STATT SIECHTUM (ODER AUS RELIGIÖSEN GRÜNDEN)

Den anderen Teil der Erzählungen von Alten- oder Krankentötung (Sagen!) halte ich nicht für ein Opfer an Odin, wie u.a. Trathnigg, son- dern für den Wunsch, das Leben ehrenhaft zu beenden, vielleicht auch, um kräftig und gesund nach Walhall zu kommen.! Hierzu gehören die meisten Berichte .über Alten- und Krankentétung? und der Bericht vom Sturz von der Klippe in der Gautrekssaga.

Würde es nicht zu weit führen und den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, so ließe sich zeigen, daß auch die anderen sog. „Menschen- opferberichte“ sehr wohl andere als die bisherigen Deutungen vertrügen. Wir sind meist zu sehr vom morgenländisch-jüdisch-christlichen Opfer- | begriff beeinflußt, der annimmt, daß Opfer— und der Selbstverzicht auf | das Leben ist doch unbedingt eins der höchsten! nur zur Beeinflus-

| sung jenseitiger Kräfte geschehen können. Eine andere Opferauffassung

_ beherrschte unsere Vorfahren, eine Opferauffassung, die auch den Opfern ,

des Weltkrieges und denen für das Großdeutsche Reich entspricht:

Opfer des eigenen Ichs aus Ehre, Opfer des eigenen Ichs aus Treue, und Opfer des eigenen Ichs für die Gemeinschaft. Also nicht religiöses Abhängigkeitsbewußtsein, sondern die nordische Charakterhaltung schufen mit an den Selbstopfern.

Inhaltsübersicht

` ‘In dem Aufsatz wird versucht, Selbsttötung bei unseren Vorfahren nicht mit kultischem Handeln in Verbindung zu bringen, sondern sie durch mensch- liche Charaktereigenschaften zu erklären.

In dem Abschnitt Selbsttötung aus Ehre werden u. a. die sog. Königs- opfer als Selbsttötung des Führers aus Ehre bei verschuldetem oder unver- schuldetem Versagen gedeutet.

Die Berichte, die davon Zeugnis ablegen, daß die Frau, der Knecht oder die Magd mit dem Manne, dem Herren oder der Herrin in den Tod gingen, werden anstatt als Opfer für den Toten usw. als freiwilliges Begleiten in den Tod aus Treue erklärt.

Als Selbsttötung aus Gemeinschaftsgedanken wird ein Teil der Altentötungssagen gedeutet; bei dem anderen Teil dieser Sagen wird ange- nommen, daß hier der Gedanke eine Rolle spielen kann, das Leben ehrenhaft zu beenden und nicht den Straftod sterben zu müssen.

1 de Vries 2, 85f. 2 Schomerus a. a. O. und de Vries a. a. O.

398 Thede Palm

DER KULT DER NAHARVALEN VON THEDE PALM IN LUND

Eines der ältesten Beispiele von Hainen bei den Ostgermanen gibt bekanntlich Tacitus in Germ. 43 mit seiner Schilderung des Hains der

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4 }

Naharvalen: Apud Naharvalos antiquae religionis lucus ostenditur. Prae- ,

sidet sacerdos muliebri ornatu, sed deos interpretatione Romana Casto- rem Pollucemque memorant. Ea vis numini, nomen Alcis. Nulla simu-

lacra, nullum peregrinae superstitionis vestigium; ut fratres tamen, ut |

iuvenes venerantur. „Bei den Naharvalen gibt es einen Hain mit einem altertümlichen Kult. Dieser wird von einem als Weib gekleideten Priester geleitet, aber die Götter werden mit römischer Umschreibung Castor und Pollux genannt. Das Wesen ihrer göttlichen Macht ist dasselbe wie

das jener; ihr Name ist Alcis. Es gibt keine Götterbilder, keine Spuren

eines fremden Einflusses in diesem Kult; sie werden als Brüder und Jünglinge verehrt.“ Der Text selbst ist, von dem Namen Alcis abgesehen, völlig klar und ohne Schwierigkeiten. Die Deutung des Inhalts dagegen ist bisher nicht zufriedenstellend ausgefallen.

Die Notiz ist ja in verschiedenen Hinsichten merkwürdig, und es liegen mehrere Auslegungsversuche vor.? Es lag nahe, die hier verehrten Gottheiten mit anderen Brüderpaaren der idg. Überlieferung zusammen- zustellen, und zwar um so mehr, als uns von den Vandalen die Namen zweier anderer solcher erhalten sind: Ambri Assi (Paul. Diac. I 7) und Raos Raptos (Dio Cass. 71, 12). Was den in weiblicher Tracht amtie- renden Priester anlangt, so hat Gudeman hervorgehoben (Tac. Germ. Erkl., Anm. 43, 13), daß es hier nicht nötig ist, nur einen Priester an- zunehmen, wie er durch den Nachweis ähnlicher Ausdrücke bei Tacitus zeigt. Man hat die fragliche Schilderung teils als Ausdruck eines orien- talischen Einflusses auf diesen Germanenstamm erklären wollen, der um so eher möglich sei, als die Naharvalen zu den am weitesten östlich wohnenden Germanen gehörten. Aber soweit man die Wohnsitze ‘der Naharvalen unter den übrigen Vandalen überhaupt mit irgendwelcher Bestimmtheit festlegen kann, hat man diese im heutigen westlichsten Posen annehmen müssen, in der Gegend zwischen dem mittleren Lauf der Oder und der Weichsel, nahe der Warthe (s. Eberts Reallex. IV 1, 283). Ein orientalischer Einfluß ist aber hier, wo die natürlichen Ver-

1 Zur Übersetzung „mit einem altertümlichen Kult“ vgl. Tac. Germ. erklärt von Gudeman, Anm. 43,12; Gerber-Greef, Lex. Tac. 1374 s. v. religio C.

2 Zusammenfassung mit ausführlichem Literaturnachweis bei De Vries, Alt- germanische Religionsgeschichte I 186 ff.

Der Kult der Naharvalen 399

kehrswege offenbar zur Ostsee führten, sehr unwahrscheinlich. Durch die weiter unten gegebene Deutung. von Tacitus’ Text läßt sich diese Theorie auch völlig erledigen.

Weiter hat man muliebris ornatus nicht als Frauentracht, sondern als Frauenschmuck gedeutet und darunter das Haar verstanden; das lange, frei herabwallende Haar könnte dann das Zeichen der edleren Geburt des Priesters gewesen sein.! Diese letztere Theorie erscheint wenig glaubhaft. Wir haben keine Beispiele dafür, daß die germanischen Prie- ster „eine geschlossene Klasse bildeten; sie scheinen sogar im ganzen denselben weltlichen Charakter gehabt zu haben, den wir später noch in Skandinavien vorfinden“ (De Vries a. a. O. 261). Schließlich hat Gude- man in seiner Ausgabe die Stelle als einen Irrtum von Seiten des Ge- währsmanns des Autors bezeichnet, und zwar mit folgender Begründung: „Da überdies bei einem Kult männlicher Gottheiten, wie dem der Dios- kuren, eine weibliche Tracht ihrer Priester gar keinen Sinn hat, so wird man muliebris ornatus auf eine Täuschung des Beobachters zurückführen müssen.“ Dieses Verfahren erscheint mir äußerst radikal. Gegen eine solche Begründung dürfte sich Verschiedenes einwenden lassen. Aber in einer Hinsicht dürfte ein solcher Einwand von Nutzen sein können. Zieht man nämlich die Konsequenzen aus der besagten Darstellung so weit, daß man die Erklärung der Götter als Castor und Pollux interpretatione Romana im einzelnen für richtig hält, und daß es sich bei den Naharvalen wirklich um eine Verehrung der Dioskuren gehandelt hätte, so wäre man umgekehrt auch berechtigt, im Kult dieser römischen (oder griechischen) Gottheiten Priester in Frauentracht zu erwarten. Da solche nun aber fehlen, haben wir Veranlassung zu untersuchen, in welchem Ausmaß die von Tacitus gegebene Erklärung oder Parallele zutreffend ist.

Möglicherweise könnte man sagen, daß Tacitus selbst mit dem Aus- druck ea vis numini die vorhandenen gemeinsamen Züge der Dioskuren und der Götter der Naharvalen umrissen habe. Man könnte dann, mit einem Hinweis hierauf, z. B. alle Vermutungen erledigen, sie hätten die gleichen göttlichen Funktionen gehabt („Götterboten?“, Gudeman a. a. O. Anm. 43, 14).

Die von Tacitus besonders unterstrichene Angabe, der Kult habe keine Götterbilder, ist ebenfalls zum Gegenstand von Kommentaren ge- macht worden. Es besteht aller Grund, darauf hinzuweisen, daß .dies damit übereinstimmt, was Tacitus an anderer Stelle ausdrücklich er- wähnt: Ceterum nec cohibere parietibus deos neque in ullam humani oris speciem assimulare ex magnitudine caelestium arbitrantur (Germ. 9). Die übrigen vandalischen Brüderpaare hat man als Holzbilder und an-

1 So Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4, 487, vgl. unten.

400 Thede Palm |

deres zu deuten versucht.! Mit Alcis ist dies noch nicht gelungen. (VgL

aber unten S. 402, Anm. 1.) Überhaupt scheint die Erwähnung des Feb: |

lens von Götterbildern sowie der Zusatz, daß in dem Kult keine Spuren einer fremden Beeinflussung zu erkennen seien, nur auf eine Weise er- klärt werden zu können. Tacitus hat sagen wollen, daß es sich hier um eine rein germanische Angelegenheit handle, die nicht nur von anderen Religionen unbeeinflußt sei, sondern auch wirklicher Parallelen bei diesen entbehre. Man macht dagegen eine Einwendung: „Die Behauptung ... setzt eine so umfassende und genaue Kenntnis der germanischen Mytho- logie und ihrer Kultformen voraus, wie sie schwerlich ein Römer oder Grieche je besessen haben kann“ (Gudeman a. a. O. Anm. 43, 15). Doch, insofern haben sowohl Römer als Griechen beurteilen können, was sie gehört hatten, als sie sagen konnten, ob es ähnliches auch anderweitig gab unter dem, was sie selbst kannten. Das war jedoch offenbar nicht der Fall.

Hält man sich zunächst an den Namen selbst, so scheinen die bisher vorgebrachten sprachwissenschaftlichen Versuche nur geringe Hilfe für die Deutung von Alcis zu bieten. Dieradikalste Lösung hat Grimm vorgeschlagen (DM I, 53; an anderer Stelle hat er eine andere, hier nicht referierte Ableitung versucht). „Entweder“, so sagt er, „ist Alcis selbst nom. oder ein gen. von alx (wie falcis, falx), das vollkommen dem goth. als gleicht“. Aber alhs muß das Heiligtum selbst sein: „Das numen ist hier der -heilige wald oder ein darin ausgezeichneter baum selbst.“ Dies ist natürlich eine Vermutung, aber eine Vermutung, die jedenfalls das erklären würde, was meines Erachtens in unserem Text am auffallendsten ist, nämlich daß die Brüder, im Gegensatz -zu den übrigen vandalischen Brüderpaaren, nur einen Namen haben. Tacitus hätte das germanische Wort für Heilig-

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tum mit den Namen der darin verehrten Gottheiten verwechselt. Dies

ist an und für sich eine Möglichkeit, die man nicht außer acht lassen darf. Eine andere Deutung (ich nenne hier nur einige) will * Akces aus der Wurzel alk, sanskr. rc, leuchten, ableiten (Krappe, PBB 57 [1933] 227). Eine Stütze dieser Deutung erblickt Krappe im Katasterismus der idg. Zwillingsgötter. Der Wert dieser Zusammenstellung sei dahingestellt. Doch wird sie durch Tacitus selbst gestützt. Mit der Nennung der römi- schen Namen Castor und Pollux ist das göttliche Wesen der Gottheiten angegeben, sagt er. Ein für diese kennzeichnender Zug war es ja gerade, daß sie in Kult und Sage mit Helios zusammengestellt werden (P.-W. 5, 1090). Möglicherweise erhält diese Ableitung eine weitere Stütze durch die unten mitgeteilten Deutungen der ganzen in Frage stehenden Tacitus- Stelle.

1 Lit. bei De Vries a. a. O. 188.

Der Kult der Naharvalen i 401

Indessen scheinen alle diese Deutungen von der Annahme auszugehen, daß die Form Alcis ein Dat. Pl. sei („Da ein Singular sachlich unmöglich ist“ usw., Gudeman a. a. O. Anm.. 43, 15; „aber daß man zwei personen mit onn namen im ‘singular benanne; ist nicht gut denkbar, weil man den begriff der person damit aufhöbe und sie zu einer sache machen würde“, Müllenhoff a. a. O. 4, 4891). Es sei deshalb unterstrichen, daß nach der unten gegebenen Erklärung des Textes der Nom. Sg. nicht nur sachlich möglich, sondern das einzig Denkbare ist. Sprachlich dürfte dies ‚wohl auch am leichtesten zu erklären sein. ©

Noch ein weiterer Versuch, mit dem Namen zurechtzukommen, sei hier angeführt. Bing (Mannus 7, 65) leitet Alcis aus einem *halkis aus *halquis ab, das er mit einem altn. hölkvir zusammenstellt. Dieses hölkvir findet sich nur bei Snorre, und zwar als Umschreibung oder Bezeichnung eines Pferdes.” Bing geht somit davon aus, daß die Gottheiten der Nahar- valen als ein Beispiel von' idg. Dioskuren zu betrachten seien, welch letztere ja ursprünglich Pferdegottheiten gewesen sein sollen. Er kann dann auch die Götter Alcis als ehemalige Pferde erklären, als „ein Über- bleibsel eines sonst verschwundenen Pferdedaseins“.

Bing stützt seine Konstruktion auf Müllenhoff. Den Namen Alcis selbst führt dieser, teilweise in Anlehnung an Grimm, auf got. alhs, lit. elkas, Heiligtum, lett. elks, Götterbild, zurück (a. a. O. 4, 488). Aber er hat ferner die germanische Dioskurenmythe in der Harlungensage wieder- finden zu können geglaubt. Ein vandalisches Königsgeschlecht heißt auch Hasdingi (u. a. zu ahd. Hartunga), was aus agerm. *hazds, Frauenhaar, abgeleitet wird. „Das stimmt also zu den Priestern der Naharvalen, die ja in weiblicher Tracht auftreten.“* Hierdurch würde also ein weiterer Beleg für die Kombination PIDERUFEN und Priester in weiblicher Tracht vorliegen.

Alle solchen Deutungsversuche, die nur auf Worterklärungen fußen, erscheinen in einer wesentlichen Hinsicht verfehlt. Nur indem man Einzel- heiten aus Tacitus’ im ganzen doch völlig klarem Text herausklaubt, kann man zu den besagten Deutungen kommen. Nur so sind Alcis, die beiden Zwillingsgötter, einmal Pferde gewesen. Die Lage des Problems ist jedoch eine andere: Tacitus beschreibt nicht bloß oder auch nur

' 1 Anders z. B. Magnus Olsen, Hedenske kultminder 248. Skrifter utg. av Vid: Selsk. i Kristiania. Hist.-filos. Kl. 1914, 4. Er sieht hier einen Nom. Pl. 2 (Ich. mache in diesem Zusammenhang auf den inzwischen erschienenen neuesten Deutungsversuch Hellmut Rosenfelds aufmerksam, welcher, Rhein, Museum f. Philologie 89 (1940) 1—6 vgl. auch die anschließenden -Ausfiih- rungen Hans Naumanns und Ernst Bickels a. a. O. 6—11 bzw. 12-16 die Alces (nom. plur.) als „Elchreiter“ auffaßt. W. Wüst.] i 3 De Vries a. a. O. I, 186. Die Theorie ist von S. Feist in Eberts Reallex. IV, 243 aufgenommen worden. Archiv fiir Religionswissenschaft XXXVI. 2 26

402 Thede Palm

hauptsächlich einen Hain oder einige Götter. Er beschreibt ein Moment einer an den Hain gebundenen kultischen Zeremonie. Dies zeigt vor allem die Erwähnung des als Frau gekleideten Priesters (oder der Prie- ster), der natürlich nur bei bestimmten Gelegenheiten so auftrat. Man hat sich dann zu fragen, ob auf germanischem Boden sonst ein ähnlicher Kult bekannt ist. Man muß nach einer Zeremonie suchen, bei der z.B. ein Jünglingspaar, mit gleichen Namen genannt, die Hauptpersonen bildet, und bei der als Frauen gekleidete Priester amtieren. Die Zeremonie muß

an einem geheiligten Platz stattfinden, und der Charakter der sakralen

Handlung muß so beschaffen sein, daß zur Ausführung keine Götterbilder nötig sind.

Eine solche Zeremonie läßt sich wirklich nachweisen, nämlich das Anzünden des „neuen Feuers“, „Notfeuers“. Man weiß, daß das Anzünden dieses Feuers einer derjenigen heidnischen Gebräuche war, gegen die sich die Kirche in dem zum Christentum bekehrten Germanien am frühesten wandte. Ein schon von Mannhardt (Wald- und Feldkulte I, 518) ange-

führtes Beispiel ist uns von dem Germanenkonzil des Jahres 742 be- kannt, auf dem man gegen verschiedene, namentlich aufgezählte heid-

nische Bräuche auftrat: „sive illos sacrilegos ignes, quos niedfeor vocant, sive omnes, quaecumque sunt paganorum observationes, diligenter pro- hibeant“ (Clemen, Fontes hist. rel. germ. 42). Dieses Notfeuer sollte durch

Aneinanderreiben von Holzstücken (verschiedener Holzarten) entflammt werden („De igne fricato de ligne id est nod fyr“, Clemen a. a. O. 43),

oder dadurch, daß man einen gegen ein Holzstück gedrückten Stab in schnelle Rotation versetzte. Die Sitte ist überall auf germanischem Ge- biet bekannt.” Ihre Anwendung zeigt, daß es sich in jüngerer Zeit um prophylaktisches Feuer, in älterer Zeit wahrscheinlich um Fruchtbar- keitsriten gehandelt hat. Von einem Sonnenkult oder dgl. kann man ja wegen der verhältnismäßig späten Belege in diesem Falle nicht sprechen. Daß aber das Notfeuer mit den Mittsommerfeuern zu tun hatte, hat be- reits Mannhardt gezeigt (a. a. O. 519). In Deutschland sollten gerade die Mittsommerfeuer stellenweise auf diese primitive Art entzündet werden. Aus Süddeutschland sind uns außerdem Beispiele dafür bekannt, daß die

ı So auch M. Olsen a. a. O. 250, 256. Tacitus spricht, nach ihm, von einem Hain, wo das Alcis-Cötterpaar aus ältester Zeit („fra aeldgammel tid“) in Ge- stalt von Göttersäule und -balken verehrt wurde. Für die Priester in weiblicher Tracht sucht er lappische Parallelen. „Die ältere Geschichte“ von Alcis findet ‘er bei Dio Cassius und den Göttern Raos und Raptos wieder. Daran muß man aber zweifeln, denn eine geschichtliche Verbindung zwischen diesen Göttern und Alcis dürfte man nicht nachweisen können. Seine Deutung erklärt auch nicht, warum die Götter nunmehr dieselben Namen haben.

3 Für Deutschland s. Freudenthal im Handwörterbuch d. deutschen Aber- glaubens 4, 1138 ff., für Schweden N. Keylands Monographie, Fataburen 1912—13.

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REP ER EI Å. EE

Der Kult der Naharvalen 403

Jiinglinge, die den Auftrag bekamen, dieses Feuer hervorzubringen, Briider sein sollten oder denselben Taufnamen tragen oder gleichaltrig sein sollten (Beispiele bei Frazer, The golden bough? 10, 272).

Dies sind, wie gesagt, späte Beispiele, doch gehen sie offensichtlich auf alte Bräuche zurück. Es ist das Verdienst Bings, gezeigt zu haben, wie alt jene Vorbilder sind. In der genannten Arbeit (in Mannus 7) hat er den Versuch unternommen, die Bilddarstellungen auf den ver- schiedenen Steinen des bekannten bronzezeitlichen Grabes bei Kivik in Ostschonen in Schweden zu erklären. Er hat als erster das Bild oben links anf Stein 8 dieses Grabes als zwei Männer, die Feuer machen, ge- deutet (a. a. O. 74). Bestärkt wurde diese Deutung durch Almgren, der die Konstruktion des von den Männern bei ihrem Vorhaben benutzten Geräts evident hat erklären können, und der außerdem gezeigt hat, daß dies Gerät auf schwedischen Felsenzeichnungen wiederkehrt (Hällrist- ningar och kultbruk 175). Der abgebildete Stock war mit einem oberen

; Querstück versehen, an welchem Gewichte angebracht wurden. Im Prinzip

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unterscheidet sich dies nicht von den Methoden, die bis in die moderne

Zeit.hinein gebräuchlich waren (vgl. Abb. bei Keyland, Fataburen 1913, / 200). Ferner ist zu beachten, daß die beiden Männer des Kivik-

Grabes ihr Vorhaben innerhalb eines besonders abgegrenzten Gebietes ausführen. Dies ist offenbar kein Zufall. Der Ring, in dem sie stehen, durchbricht die sonst stark symmetrische Komposition, durch die sich sämtliche Steine des Grabes auszeichnen. Daß ihr Tun eine Hauptsache der im Bilde dargestellten Zeremonie ist, erhellt auch aus den daneben- stehenden Lurenbläsern, die das Feueranzünden mit ihrer Musik be- gleiten, und überhaupt sind die Darstellungen auf Stein 8 der Höhepunkt der ganzen Bilderreihe des Grabes von Kivik.

Die Reihe von Gestalten, die man auf demselben Stein gleich unter den feuermachenden Jünglingen sieht, sind stets als die eigentümlichsten angesehen worden. Acht an der Zahl sind um ein Opfergefäß versammelt. Nach Bings auch in diesem Fall sehr glaubhafter Analyse dieses und der vorhergehenden Steine hat ein Pferdeopfer stattgefunden (Bing a. a. O. 72, Almgren a. a. O. 174). Daß die Opfernden Frauenkleider tragen, ist sicher. Die in die Stirn gezogene Haube stimmt völlig mit ähnlichen Trachten von Frauen auf den Felsenzeichnungen überein. Ob es wirklich Frauen und nicht eher verkleidete Männer gewesen sind}, läßt sich da- gegen nicht feststellen. Letzteres ist aus mehreren Gründen am wahr- scheinlichsten. Weshalb diese Priester in weiblicher Tracht auftraten, wissen wir aber nicht. Es ist möglich, daß man dies erst erklären können wird, nachdem die unterste Bildreihe auf demselben Stein 8 gedeutet

1 So Sahlin, Fornvännen 1921, 207; Forssander, Svenska folket genom

tiderna 1 (1938) 134. 26*

404 Tbede Palm: Der Kult der Naharvalen

ist. Bisher hat diese allen diesbeztiglichen Versuchen getrotzt. Fiir uns ist es indessen die Hauptsache, daß wir hier die Kombination Männer, die ein sakrales Feuer anzünden und Priester in weiblicher Tracht gefunden haben.

Das Grab von Kivik bietet in seiner Gesamtheit die schönste Illu- stration zum Sonnenkult und den Fruchtbarkeitsriten im bronzezeitlichen Skandinavien. Der Höhepunkt, auf Stein 8, ist wahrscheinlich als ein Opfer gedacht, das diese als Frauen gekleideten Priester darbringen, und im Zusammenhang damit wird innerhalb eines abgegrenzten, sakralen Raumes Neufeuer erzeugt von zwei Jünglingen oder Männern, die natür- lich gewisse Qualifikationen hatten, sich mit diesem Vorhaben zu be- fassen. Welches diese Qualifikationen in diesem speziellen Fall gewesen sind, läßt sich natürlich nicht entscheiden. Nur deshalb haben wir oben im jüngeren germanischen Brauchtum nach solchen gesucht. Das Er- gebnis der Zusammenstellung wird hierdurch klar.

Der Kult im Hain der Naharvalen, wie er von Tacitus angedeutet wird, ist m. E. als ein Beleg dafür anzusehen, daß der in den Bilddar- stellungen des Kivik-Grabes beschriebene Ritus im Anzünden des Not- feuers der Germanen fortgelebt hat, Zur Zeit dieses Grabes der Bronzezeit handelte es sich um Sonnenkult und Fruchtbarkeitsriten. Weshalb dies in Verbindung mit Priestern in weiblicher Tracht geschah, soll in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden. Zu Tacitus’ Zeiten kann man wahrscheinlich einen Sonnenkult nicht mehr erwarten. Deshalb sind aber die Fruchtbarkeitsriten nicht verschwunden, und der kultische Rahmen mit den Priestern besteht weiter.! In. unseren späten Belegen sind natürlich die Priester nicht mehr vorhanden, aber der Ritus wird nach wie vor ausgeführt, wie es seit alters gewesen war.

Man kann also feststellen, daß die Angaben der in Rede stehenden Tacitus-Stelle im einzelnen korrekt sind. Der Hain ist ein gewöhnlicher heiliger Hain gewesen, doch wurde er für einen besonderen Zweck ge- braucht, den Tacitus als einen altertiimlchen Kult bezeichnet. Dabei war vielleicht der Hain nicht eigentlich die Hauptsache, sondern, wie in diesen Fällen üblich, die Abgrenzung, der sakrale Raum. Priester in weiblicher Tracht wirkten mit, nämlich bei dem einzigen Ritus, der unseres Wissens einst eine solche Mitwirkung gefordert hätte, einem Fruchtbarkeitsritus. Dieser Ritus, das Anzünden des Notfeuers, wurde von Jünglingen ausgeführt, und Tacitus hebt hervor, daß sie gerade die Qualifikationen besaßen, deren Notwendigkeit wir an anderer Stelle ge-

ı Es ist mir also z. B. unmöglich, mit R. H. Meyer, Altgermanische Reli- gionsgeschichte 1910, 898, im heiligen Hain eine „heilige Handlung“ zu denken, wo die Priester im weiblichen Schmuck die Frau Sonne vorstellten und Jüng- linge die männlichen Götter vertraten.

Indra in neuer Sicht? 405

' sehen haben. Sie wurden sogar mit demselben Namen genannt. Schließ-

lich findet das einzige, was sonst bei Tacitus als ein Widerspruch an-.

gesehen werden könnte, nämlich seine Behauptung, daß die Götter in

Form von Jünglingen in einem bilderlosen Kult verehrt würden, seine. Erklärung. Der Kult im Hain der Naharvalen war, wie vermutlich überall bei den Germanen jener Zeit, bilderlos, aber die beiden Jünglinge, die darin mitwirkten, galten natürlich als sakral, hatten also in dieser Eigen- schaft göttlichen Charakter. Schließlich kann man, wie Tacitus angibt, sagen, daß die Zeremonie im Hain der Naharvalen keine Spuren fremder Einflüsse zeigte, nullum peregrinae superstitionis vestigium. Sie geht offenbar auf uralte germanische Überlieferung zurück.

Inhaltsübersicht

Tac. Germ. 43, der Abschnitt von den Naharvalen und deren Kult, wurde interpretiert. Aleis wurde als Nom. Sg. aufgefaßt. Es wurde unterstrichen, daß man in dem Text eine Schilderung von einigen im heiligen Haine vor sich gehenden Kulthandlungen sehen muß. Ähnliche Handlungen wurden anderswo gesucht und gefunden, und zwar auf den Bildern des bronzezeitlichen Monu- ments von Kivik in Schonen (Schweden) und auch im volkskundlichen Material, in dem Anzünden des Notfeuers und in daran angeknüpften Vorstellungen. Eine unmittelbare Verbindung zwischen diesen in Zeit und Raum weit unter- schiedenen Zeremonien wurde nicht behauptet; der Kult der Naharvalen, so wie ihn Tacitus beschrieben hat eine Beschreibung, die auch in den Einzelheiten richtig sein dürfte soll vielmehr als ein gut bestätigtes Beispiel eines Zwischen- gliedes zwischen verschiedenen einander verwandten Formen betrachtet werden.

INDRA IN NEUER SICHT?

Lommel, Herman: Der arische Kriegs- gott (= Religion und Kultur der Alten Arier. Darstellungen und Untersuchungen. Band II). Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann 1989. 76 S. gr. 8. Geh. 3,—.

Herman Lommel, Ordinarius fiir vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Frankfurt, legt uns eine neue Veröffentlichung vor, in der er den Weg weiter beschreitet, den er vor geraumer Zeit eingeschla- gen hat. Seitdem er vor etwa 18 Jahren das Gebiet der indogermanischen

. Wort- und Kulturkunde verließ, um sich vorwiegend der Iranistik zu-

zuwenden (1922ff. „Awestische Einzelstudien“; 1927 „Die Yäst’s des Awesta‘; 1930 „Die Religion Zarathustras“; 1934f. ,Gathas des Zara- thustra“), beschäftigt er sich, zumeist allerdings nur in kleineren Zeit- schriftenartikeln, in zunehmendem Maße mit Fragen indoiranischer (= arischer) Religions- und Sprachwissenschaft. So handelte er u. a. 1931 über „Vedica und Awestica“; 1933 über (arische) „Mythologie in Bil- dern“ (= Leo Frobenius. Ein Lebenswerk aus der Zeit der Kulturwende, Leipzig 1933, 57—72); 1934 „Von arischer Religion“ (= Geistige Ar-

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beit 1, Heft 23, 5—6); auch in seinen „Yäst’s des Awesta“ (1927) finden sich gelegentliche Hinweise auf indoarische Vergleichsmaterialien, so vor allem eine Anmerkung auf S. 133, die als Ausgangspunkt der vorliegen- ` den Untersuchung bezeichnet werden kann.

Ihren hauptsächlichen Niederschlag finden diese Studien nun in einer Schriftenreihe, die Lommel unter dem Namen „Religion und Kultur der Alten Arier. Darstellungen und Untersuchungen“ herausgibt und deren erste Hefte er auch selber verfaßt hat: Heft 1 ist betitelt ‚Die Alten Arier. Von Art und Adel ihrer Götter‘ (Frankfurt am Main 1935); das 3. Heft, „Soma. Ein ur-arischer Lebensgott‘, dürfte demnächst erscheinen; das 2. endlich, die vorliegende Arbeit, befaßt sich mit Indra als „arischem Kriegsgott“,

Lommel erweist sich in seinen Veröffentlichungen als durchaus nicht einseitiger Gelehrter: sie handeln von allgemeiner Sprachwissenschaft, Wortkunde, Bedeutungslehre, Schriftkunde, Metrik, Stilistik, Religions- kunde, Geschichte, Völkerkunde und Literaturgeschichte. Hierbei zeigt er sich und darin ist er Schüler Andreas’ als eigenwilliger Kopf. Er beschreitet gern eigene Wege oft genug unter heftigem Wider- spruch anderer Forscher. Zu dieser Eigenwilligkeit gesellt sich ein an- derer Grundzug seines wissenschaftlichen Arbeitens, den Hillebrandt (Vedische Mythologie. Kleine Ausgabe. Breslau 1910, 63°) an einem an- deren Schüler Oldenbergs, O. Strauß, mit folgenden Worten tadelte: „Ich bin mit ihm aber nicht einverstanden, eben wegen des von ihm be- folgten Prinzips ... ‚unverwirrt durch Einzelheiten die großen Linien... aufzufinden‘.“

Diese „großen Linien“, die sich auch im „Arischen Kriegsgott‘ auf- zeigen lassen, wären nicht bedenklich, wenn das Buch sich als Darstellung für eine breitere Öffentlichkeit bewähren würde (die Schriftenreihe will „ur-arisches Kulturerbe“ durch Darstellung philologischer Untersuchungs- ergebnisse der Fachwelt vorlegen und gleichzeitig einer breiteren Öffentlichkeit bekanntmachen). Das scheitert aber gerade an der Eigen- willigkeit, die Lommel oft in Gegensatz zu den Ansichten anderer For- scher bringt, insbesondere zu denen Oldenbergs, Hillebrandts, Benvenistes und Renous. Diese und andere Gelehrte werden übrigens, mit Ausnahme der beiden letzteren, in der Schrift so selten erwähnt, daß der ungeschulte Leser in keiner Weise ahnen kann, daß über das gleiche Thema bereits umfangreiche Arbeiten vorliegen, z. B.: A. Hillebrandt, Vedische Mythologie? 2 (Breslau 1929), 137—294 (='/, des Gesamt- - werkes!); H. Oldenberg, Die Religion des Veda (Berlin 1894), 134—85 (=1/ des Gesamtwerkes!); A. Bergaigne, La religion Védique 2 (Paris 1883), 157—361 (=, des Gesamtwerkes!); H. Güntert, Der arische Weltkönig und Heiland (Halle a. d. Saale 1923), 11—49 und passim; B. Geiger, Die Amosa Spəntas (= S.B. Wien. Akad. 176, 7. Wien 1916), 57—83; J. J. Meyer, Trilogie altindischer Mächte und Feste der Vegetation 3 (Zürich/Leipzig 1937), 1—197 um nur die wichtigsten zu nennen. A. A. Macdonell, Vedic mythology (Straßburg

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Indra in neuer Sicht? 407

1897), auf den Lommel verweist, um sich Belege und Stellenangaben zu ersparen, ist für den Laien nur mit Mühe verwendbar.

Unter diesen Umständen können die Ergebnisse des Lommel’schen Werkes schwerlich als gesichert gelten und gesicherte Ergebnisse sind nun einmal für einen nicht wissenschaftlich vorgebildeten Leserkreis unumgänglich notwendig. Der Laie darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß das Buch keine besonderen Kenntnisse voraussetzt und sich bewußt von philologischer Kleinarbeit fernhält.

Die Fachwelt wird sich nicht täuschen lassen: sie wird eine ein- gehende philologische und sprachwissenschaftliche Durcharbeitung des Gegenstandes und ausführliche Darlegung des hierbei gegangenen Weges fordern (vgl. den Raum, den die oben angeführten Studien einnehmen!), denn es liegt auf der Hand, daß eine Monographie über einen Gegen- stand der indoiranischen Mythologie (Lommels Arbeit ist eine solche) heute nur einen Sinn haben kann, wenn sie das oberste Gesetz aller wissenschaftlichen Wahrheitssuche beachtet: peinliche Genauigkeit und Vollständigkeit, gewissenhafte Berücksichtigung (auch im Negativen) des bisher Geleisteten, ferner des scheinbar Unwesentlichen und des Un- sicheren. Es ist ein schwerer Nachteil der Lommel’schen Arbeit, daß sie dieser Forderung nicht nachkommt.

Als wertlos kann man sie deswegen doch nicht abtun, denn sie geht immerhin von neuen Gesichtspunkten aus. Deren einer stammt aus der Frobenius’schen Kulturmorphologie (die sich auch schon in Lommels Buch „Die Religion Zarathustras“ bemerkbar macht): Lommel will mit- tels außer-arischer Sagenüberlieferung (Negermärchen) beweisen, daß der indoarische und iranische Mythen- und Sagenkomplex um Indra gleichen Ursprung und gleichen Sinn (eben den Sinn, den das Negermärchen „offenbart“) besitze. Dieser angebliche Beweis ist einer der Hauptpunkte der Arbeit, deren Inhalt kurz folgendermaßen wiedergegeben werden kann: Indra sei „die sieghafte Kraft, die sich im menschlichen und Natur- bereich offenbart“ (S. 68). Als Vrirahän sei er mit dem iranischen Vrörayna, dessen Charakterbild durch das des armenischen Vahagn zu ergänzen sei, wesensgleich. Sein Schlangensieg sei wie die Drachen- kampfsage überhaupt ur-arisch, und der Drachentöter sei auch in Iran ursprünglich ein Gott gewesen, da der Drachenkampf zunächst ein Ge- wittermythos gewesen sei, wie der Vergleich mit außer-arischer Sagen- überlieferung (Negermärchen) beweise.

Die Frage ist nun: ist es statthaft, von Negermärchen Rückschlüsse zu ziehen auf indoiranische Mythologie? Frobenius’ Kulturkreislehre bejahte diese Frage. Das ist aber nur unter starken Einschränkungen möglich: es ist eine grundsätzliche Forderung, daß man nur das ver- gleichen dürfe, was auf gleicher völkischer und zeitlicher Ebene steht oder darauf zurückgeführt ist. Unser Fall bestätigt die Berechtigung dieser Forderung. Es ist ohne weiteres klar, daß gleichlaufende Tat- sachen indoiranischer Mythologie und negerischer Sagenüberlieferung nur elementarverwandt sein können. Aus der Elementarverwandt-

408. Indra in neuer Sicht?

schaft darf man aber, wie vor allem die Sprachwissenschaft (Lommels Fachgebiet!) zeigt, nur allgemein-psychologische Schlüsse ziehen, die im Spezialfall keinerlei Beweiskraft haben. Lommel übersieht den elemen- taren und verleugnet den psychologischen Charakter der verglichenen Mythen. Er beachtet in keiner Weise, daß man aus den gemeinsamen Zügen ungemein lehrreiche Schlüsse ziehen könnte, während die dif- ferentia specifica, sauber herausgearbeitet, von völkerkundlichem Werte wäre. Dafür gesteht er einem unstatthaften Vergleich Beweiskraft zu und macht ihn zum Angelpunkt kritischer Ausführungen, die einen großen Teil seiner Arbeit bilden. Es handelt sich dabei um eine Ausein- andersetzung mit dem Buche von Emile Benveniste und Louis Renou, Vrtra et Vr$ragna. Etude de mythologie Indo-Iranienne (Paris 1934). Lommel lobt sehr zu Recht die gediegene philologische Arbeit, die dieses Buch auszeichnet, mit ebensogroßem Recht lehnt er aber dessen Schluß- folgerungen ab, die darauf hinauslaufen, daß der iranische Vrdrayna und der indoarische Indra Vrtrahan nicht gleichzusetzen seien, daß die Mythen vom Durchbrechen des Wehrs (vrird-, n.), vom Sieg über die Schlange und von der Gewinnung der Wasser vielmehr nicht ursprünglich zu-

sammenhingen, und daß die entscheidenden Neuerungen, die den indo-.

arischen vom iranischen Mythos trennen, auf indischem Boden vor- genommen worden seien. Lommel legt dem gegenüber überzeugend dar, daß dem arischen Mythos die wesentlichen Wandlungen in Iran wider- fahren sind, Auch ist seine Meinung, daß die genannten Mythen „natür- lich zusammenhingen“, zu begrüßen. Seine Beweisführung kann jedock aus zwei Gründen nicht überzeugen: zum ersten ist das einzig wirklich Neue, was er gegen die Benveniste-Renou’schen Thesen vorbringt, der Vergleich mit außerarischem Material. Wir mußten ihn ablehnen und

wundern uns, warum Lommel nicht zunächst im indogermanischen Be-.

reich Umschau gehalten hat. Es hätte sich mancherlei finden lassen. So

wohnen beispielsweise die Drachen der griechischen und der schwei-.

zerischen Sagen in oder bei Quellen oder sonstigen Gewässern, deren Hüter sie des öfteren sind. Zum anderen übersieht Lommel, daß der natürliche Zusammenhang

der Elementar-Mythen vom Schlangensieg, vom Durchbruch des Wehrs. und von der Wassergewinnung vor allem darin besteht, daß sie alle nur

verschiedene Ausdrucksformen, verschiedene Aspekte desselben seelischen Erlebnisses sind, womit sich der Beweis dieser Zusammengehörigkeit erübrigt: eine in Innen- und Außenwelt übereinstimmend erkannte Hem- mung wird im Mythos überwunden, wodurch die behinderten Kräfte und Mächte wieder in freien Fluß kommen; das Erlebnis wird dabei durch das Gefühl der Übereinstimmung ausgelöst.

Wie wichtig es ist, die Eigengesetzlichkeit der elementarverwandten Schicht zu beachten, zeigt folgende Überlegung: nach Lommel sind der Mythos von der Befreiung der Kühe und der vom Strömenlassen der Gewässer „im Kern beides verschieden und im ganzen unverwechselbar“ (S. 36), obwohl sie im Rigveda füreinander eintreten können, und trotz-

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Indra in neuer Sicht? 409.

dem er selbst (S. 36) die Gleichung Wasser = weiblich = Kiihe = Frauen befiirwortet. Die beiden Mythen stehen zwar in den von Lommel ver- wendeten Negermärchen nicht in einer Wechselbeziehung wie im Rig- veda. Dafür aber zeigen die zahlreichen Elementarparallelen, wie sie etwa von C. G. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido (Leipzig und Wien 1925?) zusammengestellt und behandelt sind, daß es sich um Sym- bole verschiedener Funktionen des gleichen natürlichen Seelenerlebnisses handelt, das sich um ein weibliches Prinzip (Fruchtbarkeit, Lebensfülle, Erdhaftigkeit) dreht. Die Symbolsprache des Mythos ist eben eine Sprache des Dichters und Künstlers und muß auch von der Wissenschaft als solche behandelt werden.

Lommel wird überhaupt dem Mythos nicht ganz gerecht, da er den Anteil der nach Gleichgewicht strebenden menschlichen Seele an der Entstehungsgeschichte des Mythos stark unterschätzt. Das Uneinssein mit sich selber ist nämlich zu allen Zeiten ein seelisches Grunderlebnis, das zur Bildung elementarer Mythen Anlaß gibt, die das verlorene Gleichgewicht wiederherstellen sollen. Berücksichtigt man diese Tat- sachen, so wird man Lommel der Einseitigkeit zeihen müssen, wenn er S. 13 definiert, die Götter seien Gestalt gewordene Urbilder dessen, was ist. Bloße Wunschbilder könnten sie nicht sein, da sie als solche unwirklich wären. Tatsächlich seien sie aber Wirklichkeit. |

Warum sollen sie denn als Wunschbilder unwirklich sein? Jeder kann sich von der grausamen Wirklichkeit eines unerfüllbaren Wunschbildes überzeugen. In der seelischen Welt ist das, was sein soll oder sollte, genau so: wichtig wie das, was ist, und somit auch das Wunschbild wirk- lich (wie das Traumbild für die Seele Wirklichkeit ist).

Wir sehen im Mythos gespiegeltes kosmisches Geschehen (so auch Lommel, der zu Recht betont, daß Indras menschlich-heldische und mythisch-kosmische Gewaltnatur in sich eins und dichterisch vereinigt seien) und damit eine Spiegelung dessen, was ist; darüber hinaus sehen wir in ihm die menschliche Seele am Werk der Mythos schafft mittels der Bildkraft der Phantasie (die auch am Traume schafft, und die jedem Volk in verschiedener Stärke gegeben ist) Urbilder dessen, was ist und dessen, was sein sollte; den Stoff zu diesen Bildern nimmt sie allerdings nur aus der Welt dessen, was ist; Großwelt, Kleinwelt und Eigenleben der Seele geben den weiten Grund, auf dem der Mythos wächst, wobei der drängenden und treibenden Lebenskraft unserer Seele eine besonders wichtige, weil schöpferische Rolle zukommt.

So sieht Lommel nicht, wie lebendig die Idee der Kraft in der Ge- dankenwelt der vedischen Inder gewesen sein muß. Er versäumt zwar nicht, auf die Kraftnatur Indras hinzuweisen, ja er nennt ihn geradezu „zeugende Himmelskraft, geschlechtliche Zeugungskraft“ (S. 24) oder „sieghafte Kraft“ schlechthin (S. 73), aber er weist nicht nachdrücklich genug auf die Rolle der Kraft-Idee hin, wie das etwa H. Güntert a. a. O. getan hat (ohne von Lommel der Erwähnung würdig befunden zu wer-

den). Besonders deutlich wird die Unterschätzung der Kraft-Idee in

410 Indra in neuer Sicht?

Lommels. Deutung des Drachenkampfes als Gewittermythos (S. 69), wo er unerwarteten Anschluß an die naturalistische Mythologie findet.

Ebenfalls auf Rechnung der beanstandeten Einseitigkeit Lommels kann man die Wahl des Buchtitels setzen, der offensichtlich (wie Lommel selbst anerkennt, ohne Abhilfe zu suchen) nur einen Teil des behandelten Gegenstandes deckt, der überdies nirgends ausdrücklich als der wichtigste bezeichnet wird! Lommel stellt sogar selber fest (S. 72): „Nur eben die Beschränkung auf das Kämpfertum ist sicher... nicht schon ur-iranisch!“

Diese Überlegungen zeigen wohl zur Genüge, wie sehr man in die Irre gehen kann, wenn man nicht von vorne herein das zu behandelnde Tatsachenmaterial nach Gesichtspunkten ausgliedert, die für alle geisti- gen Äußerungen gültig sind; die Notwendigkeit einer solchen Schichtung des Materials nach Erb-, Lehn- oder Elementarverwandtschaft sowie nach zufälliger Parallelbildung und eigenständiger Entwicklung, die W. W üst, Vergl. und etymol. Wb. des Alt-Indoarischen (Altindischen) I (Heidel- berg 1935), 81f. für die Sprachvergleichung aufstellt, erweist sich auch für den Vergleich von Mythen als zwingend.

Ein weiterer neuer Gesichtspunkt der Lommel’schen Arbeit liegt in der befolgten Betrachtungsweise. Lommel will mit Indra ein entschei- dendes Stiick der arischen Geisteswelt im Zustand und in ganzheit- licher Betrachtungsweise erfassen. Dabei verkennt er aber, daß diese beiden Gesichtspunkte sich ausschließen: das Erfassen des Zu- standes setzt eine synchronistische Forschungsmethode voraus; die Ganz- heit erreicht man jedoch erst, wenn man auch die diachronistische For- schungsmethode dazunimmt. In unserem Fall bedeutet das, daß eine Monographie, die Indra voll erfassen will, außer dem arischen und vedi- schen auch den Indra der späteren Zeit, insbesondere den des Epos und des Buddhismus behandeln muß. Der Sinn ganzheitlicher Betrachtung ist nämlich, das Zusammenwirken der Einzelorgane der betrachteten ‚Person‘ zu bestimmen, das Bezugsgefüge aufzustellen, in dem sie stehen, und die Geschichte der Einzelstücke in ständigem Hinblick auf das Ganze zu verfolgen und dieses in Werden und Sein zu erkennen.

Das alles tut Lommel nicht. Für ihn besteht die Ganzheitlichkeit in einer Zusammenschau ‚gleichberechtigter Einzelverwirklichungen‘. So sehr nun eine solche Zusammenschau erwünscht ist, so sehr ist auch, was Lommel leider versäumte zu tun, darauf zu achten, daß jede ‚Einzel- verwirklichung‘ in die richtige Ebene gestellt wird, wo sie auch bewertet werden kann. Es geht nicht an, mit Lommel in Indra S. 5 einen „Welt- riesen“, S.20 und 30 und passim einen „Sonnengott“, S. 22 einen „Regen- spender“, S. 30 einen „Kriegsgott“, S. 34 einen „Gewittergott“, S. 45 einen „Kampfgott“, S. 31 „ganz allgemein den Dämonenbekämpfer*, S. 73? einen „Sonnensieger“ und S. 56 einen „Gewährer“ zu sehen und dabei keine Gradunterschiede zu machen; die Glieder eines Organismus sind niemals gleichberechtigt, das Versagen des einen führt zum Tod, das des anderen wird kaum bemerkt. Lommels Ganzheitlichkeit ist daher in erster Linie als berechtigte Reaktion gegen naturalistische

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Indra in neuer Sicht? 411

Erklärungsversuche zu nehmen, die ein Glied überbewerteten und die anderen daraus ableiten wollten. Es bedeutet jedoch zuviel Feingefühl,

- wenn Lommel, um einen geistigen Organismus unangetastet zu lassen,

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die Abgrenzungen der einzelnen Glieder verwischt und ihre verschiedene Wertigkeit nicht anerkennt.

Auch in anderer Hinsicht verwischt Lommel klare Grenzen: er schei- det nirgends ausdrücklich das differenzierte Wirken des Gottes von seinem

' Wirken als Kraft schlechthin. Bald wird Indra als „Urbild des Kriegers“, bald als „wirkende Kraft‘, bald, wie oben angeführt, in konkreteren

Einzelverwirklichungen dargestellt, als ob das alles dasselbe wäre. Und nach Lommels neuartiger Anschauung wäre tatsächlich alles dasselbe.

Die vedischen Götter seien nämlich „konkret-anschauliche Allgemein- begriffe, so daß in der umfassenden Gesamtvorstellung Indra alle ihre Einzelverwirklichungen wie Kampf und Zeugungskraft männlicher Lebe- wesen, Sieghaftigkeit der lebenspendenden Sonne, Blitzschlag und be- _ fruchtende Wirkung des Gewitters als Verwirklichungen des Gesamt-

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begriffes anschaulich gegenwirtig sind“ (S. 75).

Uns will es als Gewaltsamkeit erscheinen, daß Begriffe wie „Kraft“ oder ,,Sieghaftigkeit“, die unter allen Umständen abstrakt sind, als „an- schaulich gegenwärtig“ hingestellt werden. Es ist anzunehmen, daß Lommel auch hier, der Frobenius’schen Kulturmorphologie folgend, die Psychologie des ‚Primitiven‘ auf vedische Verhältnisse überträgt. Wie für den Neger hinter dem Stein, über den er stolpert, kein Urheber steht, sondern die böse Kraft im Stein und der Stein gleichzeitig ist, so sah der vedische Inder im Stier Indra, in der Sonne Indra, im Blitz Indra, überall, wo Kraft wirksam war Indra, Indra als „kon- kret anschaulichen Allgemeinbegriff“.

Damit schreibt Lommel den vedischen Indern ein Denken zu, das bedeutend weniger differenziert ist als das unsere; S. 5 behauptet er sogar von alt-indoarischer Geisteshaltung: „Da ist alles urtümlich“. Er empfiehlt uns immer wieder, der vedischen Mythologie gegenüber unsere neuzeitlichen Denkgewohnheiten abzulegen, da er den Indern weitgehend die Fähigkeit abstrahierenden Denkens aberkennt. Eine Denkart, die so einschneidend von der unsrigen abweicht, läßt sich jedoch im Rigveda in keiner Weise ausmachen. Der Stil ist alles andere als urtümlich oder primitiv, der Wortschatz deutet auf ausgedehnte Abstufung und Ver- feinerung des Denkens, und die Geisteshaltung des vedischen Menschen steht der unseren wesentlich näher als der eines afrikanischen Negers. Folglich muß der „konkret-anschauliche Allgemeinbegriff“ als Hypothese bezeichnet werden.

Wenn wir, was Lommel vermeidet, zwischen der wirkenden Kraft, ihrem Wirkungsbereich und dem Träger dieser Kraft unterscheiden, so entfernen wir uns sicherlich nicht zu weit von einem Tatbestand, der den Indo-Ariern, wenn auch unbewußt, gegenwärtig war.

Wir dürfen diesen Menschen neben der Fähigkeit zu abstrahierendem Denken (vgl. etwa die indische Grammatikertätigkeit!) eher eine leben-

412 g Indra in neuer Sicht?

digere und allgemeiner verbreitete dichterische Phantasie zuschreiben,

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als wir sie besitzen. Das würde z. B. den hohen Symbolgehalt des Rigveda |

und damit die Doppeldeutigkeit seines Stils erklären, auf die Lommel |

ausdriicklich und mit Recht hinweist (S. 42), wo mythischer und tat-

sächlicher Sinn verquickt erscheinen. Niemand, der sich mit dem Rigveda | beschäftigt, kommt um diese Feststellung herum. Man sollte aber auch `

die Schlüsse daraus ziehen!

Es ist klar, daß unter solchen Umständen der Wortdeutung groBe Wichtigkeit zukommen muß. C.G.Jung sagt a.a. 0.215: „Wir nehmen die mythologischen Symbole viel zu konkret und wundern uns bei jedem Schritt über die endlosen Widersprüche. Die Widersprüche kommen nur daher, daß wir stets wieder vergessen, daß im Reiche der Phantasie ‚Ge- fühl alles‘ ist.“ Dieses Gefühl schwebt jedoch nicht frei im Raume es stützt sich auf den Sinngehalt des Wortes, mit dem es wiedergegeben wird. Wenn also vrird-, n. und vrird-, m, wie Lommel S. 47 richtig be- merkt, nur zwei verschiedene Bilder derselben mythischen Grundvor- stellung sind, wird das Wort als solches entscheidende Aussagen machen können über diese Grundvorstellung.

Hier haben nun Benveniste und Renou, wenigstens was die Be- deutung anbetrifft, gründlich vorgearbeitet. Die sprachliche Deutung des Wortes dagegen, die, da es sich um einen arischen Mythos handelt, von Wichtigkeit ist, ist ihnen wie auch Lommel nicht gelungen. Lommel folgt ihnen kritiklos in der Herleitung von der Ver ‚verhüllen usw.‘, obwohl diese, wie der Form- und allgemeine Klang-Verband mit mitrd-, putrd-, alrd- usw. bezeugen, durchaus nicht gesichert ist; vrird- steht zudem seiner Bildung nach nicht auf der gleichen Stufe mit griechischem &ooroov und lateinischem aratrum, wie Lommel S. 46 behauptet.

Die Deutung des Wortes indra- läßt Lommel ganz beiseite, obwohl er von Güntert a.a. O. S. 13 unten und folg. eine ansprechende Deu- tung hätte übernehmen können, die seinen Gedankengang nur bestätigt hätte.

Außer Susna, der S. 58 als „Zischer, Faucher“, und Ndmuci, der S.12 falsch als ‚Nicht-Loslasser‘ gedeutet wird, finden in der Lommel- schen Arbeit sonst keine Worte oder Namen eine wortkundliche Be- handlung.

Das Wort vajra-, das der fließenden Sphäre mythologischer Symbole angehört, wird von Lommel mit ‚Donnerkeil‘ wiedergegebem Diese Be- deutungsangabe sollte jedoch lieber vermieden werden, bis eing schlüs- sige Monographie vorliegt. Lommel betrachtet ‚Donnerkeil‘ (S. 39; vgl. S.36 oben) zwar nur als Notlösung (und bricht S. 41 trotzdem eine Lanze dafür). Da vdjra- ein sehr komplexes Gebilde ist und mit Blitz und Donner wenig zu tun hat (wie Lommel selbst gebührend hervor- hebt), ist „Donnerkeil‘ jedoch nicht einmal als Notlösung zu betrachten. Gerade hier könnte eine einwandfrei durchgeführte Wortdeutung von großem Nutzen sein.

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Indra in neuer Sicht? 413

Von seiten der Wortkunde bietet Lommel uns also nichts Neues, obwohl er gerade als vergleichender Sprachwissenschaftler dazu berufen gewesen wire. |

Nun noch einige kleine Bemerkungen zur Lommelschen Arbeit:

Obwohl Hillebrandt a. a. O. die große Rolle der Sonne bei Indra

stark unterstreicht, berührt Lommel sie kaum. Dabei ist gerade das Ver-

hältnis Indras zur Sonne ein besonders wichtiger Zug, der dringend er- schöpfender Aufklärung bedarf, allerdings nicht im naturalistischen Sinne. Insbesondere ist Wert auf die Tatsache zu legen, daß Indra Sonne und

Sonnenbefreier gleichzeitig ist und dabei auch mit dem Widersacher

Gemeinsames hat.

Ein wichtiges Thema, das von Lommel gleichfalls nicht berührt wird, ist die organische Zusammengehörigkeit der Kraft ewiger Wieder- verjüngung mit kriegerischer Macht, oder die von Fruchtbarkeitswirker und Kämpfer. Es wäre dabei lehrreich, festzustellen, wie weit artgemäß indogermanisches Denken an der Ausbildung solcher Zusammenhänge mitgewirkt hat: „Das Leben ein Kampf“. Warum vermeidet Lommel übrigens das Wort ‚Sounenheld‘, obwohl er S. 56 schreibt: „... . die Sonne ist der einzige Held“?

Die Abgrenzung Indras von anderen vedischen Sonnen-, Gewitter- und Fruchtbarkeitsgöttern, die Lommel S. 22ff. vornimmt, ist in den großen Linien fruchtbar, müßte aber in einer Monographie erschöpfen- der behandelt werden. Insbesondere dürfte ein Gott wie Visnu hierbei nicht fehlen. Daneben wäre auch das Verhältnis Indras zu den anderen vedischen Göttern als wichtig und aufschlußreich ausgiebiger zu be- handeln (z. B. Indras Alter und Stellung unter den Göttern, seine Furcht, seine Bundesgenossen usw.).

Eine Reihe von Namen, die mit Indra in engem Zusammenhang stehen, teilweise sogar mit Indras kämpferischer Wirksamkeit, sind in der Arbeit überhaupt nicht berührt: Etasa, Kütsa, Sämbara mit Atithigvä und Divodasa, Nämi, Pipru mit Rjisvan, Dhuni und Cümuri mit Dabhiti, Pürü, Turväsa, Yadu, Druhyü, Anu, Sudas, Küvaya, Arbuda und Varcin.

S. 10 spricht Lommel von der „Fragwürdigkeit der bloßen Kraft- natur Indras“, während er S. 31 unten feststellt: „Sein Kampf ist stets nur gegen Schlimmes gerichtet.“ Solche Widersprüche sind bezeichnend für die nicht immer ganz klare Linienführung der Arbeit.

S. 19 oben schreibt Lommel von schwarzen Ureinwohnern Indiens. Die Völkerkunde lehrt, daß die Bevölkerung, auf die die Arier stießen, ihrerseits ebenfalls zugewandert war. Der Ausdruck Ureinwohner sollte deshalb vermieden werden.

S. 19 unten behauptet Lommel: „Milcherzeugnisse waren ein Haupt- bestandteil der Ernährung“ (im vedischen Indien). Dieser Satz ist ein Musterbeispiel der oft stark verallgemeinernden Art der Lommel’schen Arbeitsweise. Worauf kann sich eine solche Behauptung stützen?

S. 50 meint Lommel: „In der Geisteswelt des Veda ist der Mythos Welterkenntnis.“ Da man nach heutiger Anschauungsweise aus

414 Carl Clemen +

diesem Satz den Eindruck gewinnen kann, als ob es sich hierbei um Erkenntnis mit den ausschließlichen Mitteln des Verstandes, also ohne Mitwirken der Funktionen des Empfindens usw. handele, wäre es viel- leicht angebracht, darauf hinzuweisen, wie stark im indogermanischen Bereich Welterkenntnis und Weltanschauung eins sind, durch Verstan- destätigkeit und Empfinden, Intuition und Fühlen erworben, so daß auch im Mythos beide vereinigt sind.

Was den Stil der Untersuchung betrifft, so verweise ich auf die Kritik H. H. Schaeders in der Besprechung der ‚Religion Zara- thustras‘ in der Deutschen Literaturzeitung, Dritte Folge, 3. Jahrgang, Sp. 2123, dessen Urteil: „zerfließend breite und gestaltlose, dabei pre- ziöse Art des Vortrages“ allerdings zu scharf sein dürfte.

So bekommen wir keinen günstigen Eindruck von dem Buch. Laie und Fachmann bleiben unbefriedigt. Beide werden jedoch aus der Kritik, die zu üben sie gezwungen sind, Nutzen ziehen.

Aufmachung und Druck des Buches sind ausgezeichnet.

München. Ernst Schneider.

CARL CLEMEN +

Am 8. Juli verstarb zu Bonn der Religionshistoriker Carl Clemen im Alter von 75 Jahren, nachdem er 30 Jahre (1892—1910 war er Privatdozent in Halle) Vertreter seines Fachs an der dortigen Universität gewesen war. Clemen konnte infolge seines staunenswerten Wissens so ziemlich zu allen religionsgeschicht- lichen Fragen Stellung nehmen, und die überaus große Zahl seiner Veröffent- lichungen bietet eine Übersicht über die verschiedenartigsten Fragen, die die Religionswissenschaft in dem vergangenen halben Jahrhundert beschäftigten. So legt Clemen in seinen beiden letzten Veröffentlichungen zuverlüssige Bearbei- tungen zweier bedeutsamer religionsgeschichtlicher Schriften der Antike vor: „Lukians Schrift über die syrische Göttin“ (1938) und „Die phönikische Reli- gion nach Philo von Byblos“ (1939) und liefert darin einen wichtigen Beitrag zu den vielgestaltigen Erörterungen über die aufsehenerregenden Funde von Ras Schamra (Syrien). In fast regelmäßigen Abständen gab er aus dem Um- kreis seiner weitausgedehnten Arbeiten eine das gesamte Material sorgfültig verarbeitende Studie heraus, so 1936 die Untersuchung über die „Religion der Etrusker“, 1934 eine ,Altgermanische Religionsgeschichte“, 1932 eine zwei Bände umfassende „Urgeschichtliche Religion“ (Die Religion der Stein-, Bronze- und Eisenzeit). Wenige Jahre vorher (1927) brachte er die allgemein orientierenden Bände „Die Religionen der Erde“ (mit Beiträgen Clemen’s über priihistorische Re- ligion; primitive Religion, persische Religion und keltische Religion) sowie eine zweibändige „Religionsgeschichte Europas“ (1926) heraus, die einen tiefen Einblick in die gründlichen Voruntersuchungen gewährt, die einem so stattlichen Werk vorausgingen. Dazu befähigten aber C. Clemen vor allem seine vielbenutzten „Fontes historiae religionum ex auctoribus graecis et latinis coll.“, worin er „Fontes ... per- sicae (1920), germanicae (1928), ... religionum primitivarum, praeindogermani- carum, indogermanicarum“ (1936) selbst bearbeitete. Clemen war eigentlich immer Religionshistoriker, auch zu einer Zeit, da die Untersuchungen über neutestament- liche Probleme im Vordergrund standen; schon 1904 „Die religionsgeschichtliche Methode in der Theologie“; 1909 (2. Aufl. 1924) „Religionsgeschichtliche Er-

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Carl Clemen + Register 415

_ klärung des Neuen Testaments“; 1913 „Der Einfluß der Mysterienreligionen auf

das älteste Christentum“; 1933 „Der Einfluß des Christentums auf andere Re- ligionen“ und noch 1937 „Dunkle Stellen in der Offenbarung Johannis religions- geschichtlich erklärt“. Neben diesen größeren Arbeiten gingen zahlreiche Auf- sätze her, die Clemen als wertvolle Beiträge vor allem dem ARW überließ, so in Jahrg. XVII 189 ff.: „Der Ursprung des Karnevals“; XVI101ff.: „Herodot als Zeuge für den Mazdaismus“; XXVII 290 ff.: „Der sog. Monotheismus der Primi- tiven“; XXXIV 13 ff.: „Die Bedeutung andrer Religionen für die altnordische Reli- gionsgeschichte; XXXV 60 ff.: „Altersklassen bei den Germanen“. Gerade diese letzteren sich mit Fragen der germanischen Religionsgeschichte beschäftigenden Aufsätze sind ein deutlicher Beweis für die stete Aufgeschlossenheit des Verstor- benen gegenüber neu erwachten Problemen seines Lehrgebiets. Auf dem VI. Inter- nz&tionalen Kongreß für Religionsgeschichte in Brüssel (1935), auf dem die deut- schen Forscher in stattlicher Zahl vertreten waren, hielt Clemen als einziger zwei vielbeachtete Referate über „Das Verhältnis des Etruskischen zu den vorderasiatischen Religionen“ sowie „Die Bedeutung der Frau für die religiöse Entwicklung der Menschheit“, und er hatte wohl die Hoffnung, auch auf dem nächsten Kongreß zu Bologna wieder die deutsche Religionswissenschaft ver- treten zu können nun aber nahm dem fleißigen Forscher der Tod die Feder aus der Hand. Die deutsche religionswissenschaftliche Forschung dankt ihm über das Grab hinaus... R. F. Merkel, München.

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Adad-Teschub 37 Bukolisierung der helle- | Etymologie 87. 238 f. Adarän-Feuer 257 ff. nist. Religion 321 ff. Exorzismus 103 Adelsbauerntum 241 ff. Cal E 190 ff | Aditya 16 rn Feuerkult 22f. 99. 108— Ahnenerbe 74 ff. 80, 84 | Clemen, C. 414f. 184. 256—276 Alcis 400 ff. Dämonismus 82 Flügge, Chr. W. 194 ff. altarktische Urkultur 23f. | Dea Dia 148 f. Frigg 120 Anm. 9 Ambarvalia 147 ff. Dionysos 311f. fromm 101 Amburbium 144 ff. Dioskuren 18—21. 129. | Führer, religiöse 99 Amosa Sponta 16 813. 399 ff. Archiv für Religions- Gefjon 120 Anm. 9

wissenschaft 105f. Eigennamen - Problem Gefühlswelt des Hellenis- arktische Grundkultur 104 f. mus 336 ff.

24—26 Elementarverwandtschaft | Gegensatzpaare 87. 102 asa 224 ff. 240f. 242 ff. 407 ff. Glaubensgeschichte, völ- ASvin 18, 201. Eleusis 310 f. kische 66. 76. 84 Attis 806 ff. 348f. Entwicklungsgedanke Glaubenskraft 75. 77. 79f.

72 ff. 107 Bahräm-Feuer 260ff. . | Entwicklungsgesetze der | Glaubens- und Weltord- Begriffskreise 104 hallenist.Religion314 ff. | nung 98 Brandenstein, W. 44—51 | Erdmutter 38f. Glaube und Religion 75 - Brigit 112—114. 118. 120 | Ethik der Hellenen 291ff. | Göttermonographien 104 Buddhismus 105 296 Grabert, H.68.71.75 ff. 101

ı Bereits in der Inhaltsangabe enthaltene Stichworte wurden aus nahe- liegenden Gründen nicht in dieses Register aufgenommen.

416

Register

Griechenland u. Rom 346 f. | Naturgefühl des Hellenis- Sohnesopferung 394

Güntert, H. 60—63

Hain, heiliger 323 f. 398 ff. Heiligung desDiesseits 363 Herrschaftssymbol 253.255 Hestia 108 ff. Himmelsgottglauben 16f. 24f. 38f. 93 ff. Hirtengötter 325 ff. Hypostasenbildung 16f.

Indische Religionsgesch. 195 ff. 202 f. Individualisierung derhel- lenist. Religion 334 ff. Indogermanen Ackerbau 42—44. 56f. 62f. Beziehungen zu. Inner- asien 15—36. 54f. Beziehungen zu Vorder- asien 86—41. 215 ff. 226 f. Bruderliebe 70 Hausbau 44, 57f. Hirtenkultur 14 ff. 23— 36. 54 Rasse 4—8. 59 f. 81. 84. 846 Urheimat 1 ff. Viehzüchtertum 27.80 f. 42—44 indogermanische Sprach- wissenschaft 86. 88 Indra 35. 87f. 406 ff. Isis 301. 303 ff. 334

Koppers, W. 8—44 Kultspiele 98 .Kulturkreislehre 34. 407 f,

Landschaft Blut Ge- schichte 80 Lommel, H. 405 ff.

Magie 67. 82. 99. 331 ff. Militarisierung der helle- nist. Religion 828 ff.

Mithra 37f. 161f. Mondmythologie 33 Monotheismus 94 f. Mythos 69.78. 87.95. 407 ff.

mus $21 ff. Nehring, A. 51—60 Neujahrskult 275 Nihilismus 355 ff. Nornen 127 ff. Notfeuer 128f. 402 ff. Nyberg, H. 8.228 ff. 234 ff.

Opfer 33. 394. 397

Orakel 287 ff.

Ordnung durch Alters- schichtung 82

Orientalistik 105

Orients, Überschätzung des 300 ff.

Ostera 212 ff.

Otto, R. 68. 71f. 77

Pferdekult 26—36 Platon 313 f. Polytheismus 94 ff. Preuß, K. Th. 181 ff.

quinquennium 186 ff. 152. 158 f.

Rasse Raum Zeit 80. 82

Reiterhirtenkultur 15. 17—36. 42—44. 54

Religionsforschung, deut- sche 66. 79. 81. 82

Religionsphilologie 85

Religion und Raum 197. 206 f.

Religion und Klima 197 ff. 206 f.

Religionswissenschaft, allgemeine 66.70.88. 94

Religion, vorgeschicht- liche 83

yti- 240, 240 Anm. 1

Schamanismus 171 ff. 229 ff. 237. 244 Anm, 245. 248

Seelentum, völkisches 76 seiör 176 ff. 229 Sinnbilder 92. 97. 105 Sippenhof 108

Sohn Sonnenheld ` 95f. -` 102

Stammesfeuer 109. 118f, | Sul 113 Sulevia 113

Tabiti 115 Theophanie 126 Tiere, heilige 97 Tod 343f. Tsolbon 18—21

Überlieferung 86. 97 Umformungskraft des Hel- lenentums 304 ff. Unsterblichkeit 199 ff,820. 335 | Urkuh-Urstier-Mythos 26. 36 ff. | Urreligion 83 Urwiderspruch 353£. 371 Usener, H. 68. 71 ff. 84f, 87

vardlokkur 176. 178f.

Varuna 35

väsi-, f. (awest.) 250f.

Verfallszeiten idg. Einzel- religionen 81. 84. 94. 98

Vesta 108 ff.

Volksgemeinschaft und Glaubensgemeinschaft 83

völkischer Mensch 77. 86

Vrörayna 230.248. 407 ff.

Vrtrahän 407 ff.

Walkyrenmythos 123ff. 169 Weltanschauung 79 Weltschöpfung 25 f. 83f. Wiederkunft, ewige 820. 835 f. 867 f. 375 ff, 382

Wortforschung 87. 238 f.

Zaradustra 224f, 297 ff. 234 ff. 238. 243. 249. 856 ff.

Zauber 67.. 70. 82. 99

Zeitverlauf, kosmischer 98. 150 ff. 226f. 233

Verantwortlich für den Inhalt: Prof. Dr. Walther Wüst, München 22, Widenmayerstr. 35. Verlag und Druck von B. G. Teubner in Leipzig.

Printed in Germany.

C.Schneider, Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte Tafel III

Abb. 2. SS AZ We £ % = FT Phot. Arch. Inst. „Siboreer | re Univ. Königsberg

Abb,.ı1. Wandbild aus Ostia: Not. scavi 1915. 247. Phot. Arch. Inst. Univ. Königsberg

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C.Schneider, Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte Tafel]

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'C. Schneider, Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte Tafel V

Abb. 3, 4 und 5

Kybelekrone des Bonner Museums. Phot. Museum Bonn

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H.Schmidt, Eine späte Attisdarstellung

Wassermanndarstellung aus Georg Thiele: Antike Himmelsbilder. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung 1898

Tafel VI

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Manuskripte für das Archiv für Religionswissenschaft sind an den Verlag B. G. néuban soweit nicht mit den Herausgebern anders vereinbart. Für unverlangt eingesandte Manuskı pte rird Gewähr übernommen, Rücksendung ‚eingeschrieben‘ erfolgt nur, wenn entsprechendes Rüc kp ort to beil

Besprechungsexemplare sind nur an die Verlagsbuchhandlung zu senden. 15

INHALT

Zum gegenwärtigen Stand der Indogermanenfrage. Von Prof. Dr | J. W. Hauer in Tübingen, Langemarckstr. 10... eevee eee eee Er

Von indogermanischer Religiosität: Sinn und Sendung. Von Prof. he Dr. Walther Wüst in München 23, Wilhelmstr. 15 . ne ee eel 64 |

Der Feuerkult der Germanen. Hat der latinische Vestakult eine germanische Entsprechung? Von Dr. Otto Huth i in Berlin W 35, BL Derfflingerstr 32 IH 147. 2.2.) 2 ee na oe be NE eats vn un 2 108

Lustrum und Circus. Von Dr. Árpád Szabó, z. Z. Frankfurt a. Ma, E Senckenberganlage 80 u. ende a alae Ble lp hale Bale 35

Ein neues thrako-mithrisches Relief. Von Prof. Dr. Gawtit Kaz in Sofia/Bulgarien (mit 1 Abb. auf Taf. I) ....-....+...-: ice

Die Seelenwägung in Agypten und Griechenland. Von Oberstud. Rat ES | Dr. Ernst Wüst in München 23, Mainzer Str. 5! (mit, 1 Abb. auf TER AN A Re BT 2

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Arktischer Schamanismus und altnordischer seiðr. Von Dr, Ä.Ohl- - marks in Lund/Schweden, Klostergarten 3a.......... en Ka Ne 11

Nacha hnt K. Th Preuß. “Von Prof, Dr. Richard Thurnwală in Berlin-Nikolassee, Libellenstr.17............. tereueereveeee | = |

Zu einem neuen Calvinbuch, Von Walter Engels in ee (aba), Bismarckstr. 22... .... 0... eee bees eee eb eect eee teens

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Von Dr. Hans Liidemann y | In Leinen gebunden ZM 4.— Rn xe

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: F vom nordischen Lebenskreis willkürlich abgetrennte Antike, es ist auch nicht das mit billigen Mitteln ausstaffierte, für uns maßgeblich sein > - sollende ‚Vorbild‘. Ein Sparta tritt uns vor Augen, daß zutiefst ergreift in voller Lebensnähe als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das ae ewig neue Ringen um die beste Gestaltung nordischen Lebens. Lüde- “aS mann vermeidet jede Schönfärberei und wird gerade dadurch der > = inneren Größe des Spartiatentumes voll gerecht. Der Reichtum an CAN iht und Schatten läßt ein plastisches Bild erstehen, die lebensvolle -= ; E perstellang wird jeden Leser fesseln, die wissenschaftliche Durch- 3 _dringung des Stoffes bringt der Forschung reiche Anregung, die Ein- sicht der biologischen Betrachtungsweise führt zu Erkenntnissen, = Zwelche nicht nur für unser Wissen vom Altertum, sondern auch für ‚die Fragen der Gegenwart von hoher Bedeutung sind. Lüdemanns © ae k bedeutet einen wichtigen Markstein auf dem Wege zu der- ___ jenigen Geschichtsauffassung und Darstellung, welche wir vom national- pokes || paw sar

A ist nicht das ‚klassisch: geschaute Sparta, uns so fremd wie alle © ies ? | |

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= sozialistischen Standpunkte aus anstreben.“ : Ae = ‘i BANN Fritz Schachermeyer ae ‘ee ay o. Prof. fiir Geschichte d. Altertumsa.d. Univ. Heidelberg. 3.8. 39, 11 | ia REED Ic

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" Jadogeemanen und Germanen

- Von Prof. Dr. Walther Schulz | vy Direktor der Landesanstalt für Volkheitskunde, Halle/S. £

erschien zum Preise von AM 2.40 im Verlag von B. G. Teubner:

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MUTTER ERDE

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EIN VERSUCH ÜBER VOLKSRELIGIO oO

3., erweiterte Auflage, besorgt von Prof. Dr. Eugen Fel i f Geb. AM 8.— l

In der vorliegenden dritten Auflage sind die Ergebnisse a Die ar rich F schungen anknüpfenden Weiterarbeit in Nachtragen von Dieterich: F Fehrle gesammelt.

„Dies in Kürze der Inhalt des großzügigen Buches, das natürlich ‘ich ne ebenher Menge wertvoller Hinweise und Andeutungen gibt. Aber seine Bedeut ur zl in den einzelnen Erkenntnissen; die es gewinnt, sondern in der Anschauur 7 Br | es getragen ist... In Dieteridhs letzten Arbeiten finden wir das konsequente Be die alte Volksreligion selbst wiederzugewinnen, und ‚Mutter Erde‘ yer zu dem, was wir Mythologie zu nennen pflegten, zuriids, erfüllt es aber 1 mit. ne Inhalt durch besonnene Anwendung der vergleichenden Methode, gegen die | ind Form kaum jemand etwas einzuwenden haben wird.“ (Deutsche‘ Litera turz en (ae Verlag von B. G. TARS in ern und: Ber

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UND DIE CHRISTI TTE KIR

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2. Aufl. Mit ı Titelbild. Geb. 2A 6

ls dieses Werk 1912 erstmalig erschien, padantets es eine umstür. rung in unserem Verständnis des ersten christlichen Kaisers, sina der Motive seines Handelns. Gerade weil aus überlegener Queller Br heraus in streng wissenschaftlicher Methode dieses neue Bild von Verdeg: des Christentums gezeichnet wurde, von der unterdrückten Winkelgemeinsch bis hin zur Reichskirche, war das Ergebnis um so SS E der greise, inzwischen durch den Adlerschild des Deutschen Reiches au sgez chne Gelehrte dies allgemeinverständlich geschriebene Werk in vielfach e Bänzter erweiterter Form erneut vorlegte,,so wird dies Bild des Verhältnisses von n Politi und Religion in der Frühzeit der Kirche bei den besonderen Anliegen | unse: Gegenwart von ganz besonderer Bedeutung und Wirksamkeit : sein können, Jeder © der mit historischem Verständnis sich um die Fragen unserer Gegenwart b vem nüh wird für die Erneuerung des schon früh berühmt gewordenen Buches nur ¢ dan sein, Der Verlag gibt es in wesentlich verbesserter und verschönte ‘al Ausstattung, gleichzeitig zu einem billigeren Preise heraus. 13 ay

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INHALT

qs Beiträge zur vergleichenden Religionsgeschichte. L Von Prof. “Det | R. F. Merkel in München 22, Kaulbachstr, 54. ver. une "188 Zur Geschichte der iranischen Religionen. Von Dr. Otto Paul Jes

München 13, Agnesstr, oL AEN a e A Aa a R ori Q Bestand die zoroastrische Urgemeinde wirklich aus berg temlgea Ekstatikern und schamanisierenden Rinderhirten der Steppe! Von Prof, Dr. Walther Wüst in München 22, Widenmayerstr. 3 34 Yasna XLII 4, 2/3. Von Prof. Dr. Walther ker; in/München Ree, Widenmayerstr. BB... Jh E Ba SPT a Oe bre Beal Fy ee aa SEn je Ki Ein alter Feuerritus bei den Zoroastriern in Iran. Von Lektor ` Drs / J.C. Tavadia in Hamburg-Fuhlsbüttel, Woermannsweg Qe... 2 256 0. Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels. Von Prof. ee -> Franz Dirlmeier in Schliersee, Obb., Seestr. 23:....... 4.5 7 Die griechischen Grundlagen der hellenistischen Religionsgeschichte, | Von Prof. Dr. Carl Schneider in Königsberg/Pr., regres 2, Roe l 7 Abb. auf Taf. IW) iin 4 dil ze or E aes gd tte be Eine späte Attisdarstellung. Von Herbert Schmidt in Konigeberg/ (Mit 1 Abb. auf Taf. VI) ........--..-n.see eee et. eee Nietzsches Schicksal und Werk. Von Prof. Dr. Kurt Schilling i München 60, Zehetmeierstr. 2 oi. c...e. r.n 00005 R . 30 50 Selbsttötung bei den Germanen. Von Dr, Alfred Die: in Arolsen 3 2 Waldeck, Kaulbachstr.3.....:.... u... e: NPR tees Sor 23 a 391 1 Der Kult der Naharvalen. Von Dr. Thede Palm in Lund/Schweden. 3 35

Indra in neuer Sicht? Von Dr. Ernst Schneider in München jas?

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Kanlbachitr 88... N Tr S their Br Carl Clemen +. Von Prof. Dr.R. F. Merkel im München 22, aah Bachs DAR la eS Ae ag Soe Be ese als abt ‘14 :

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Von: Dilthoya Werk strahlt mene nur der nie versiegende Reiz einer ER Persönlichkeit aus. Es bringt die Mannigfaltigkeit der Funktions- | onen zu lebendigem Bewußtsein, in denen sich Geschichte, Kunst und © i N G laube, als Träger schlechthin individueller Gestaltungen der wissen- eae

schaftlichen Analyse erschließen. An und von Dilthey muß es diese | |

| lern nen, ‘sich das Einzigartige ohne Schmälerung ihres ‚Wesens zu unter- | SSD

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„Diltheys Werke gehören nach ihrem gedanklichen Gehalt zu dem Tiefsten | N

un und Reifsten, nach ihrer künstlerischen Gestaltung zu dem Glänzendsten, __ ne

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‚ihr A hier erreichte Tiefe der Anschauung, die glänzende Analyse des See- N

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In der vorliegenden Ausgabe wird das älteste uns erhaltene ea sche W

unter Heranziehung des gesamten, weitverstreuten Handschriftenmat terials Beifügung der wichtigsten Belegstellen zum ersten Malin einer kriti is 3: én Ke vorgelegt. In den Apotelesmatica, bekannter unter dem Namen Tetr ra abil Nios Claudius Ptolemaeus im 2. Jahrhundert n. Chr. die Lehren der Astrologi w Alt tums in den Hauptzügen zusammengefaßt. Dies Werk, das im Altertum Do sehen besaß, und dessen Überlieferungsgeschichte das steigende oder si akende sehen dieses Zweiges des antiken Glaubens und seiner Wissenschaf rats ‚widerspiegelt, wurde 1535 und 1553 von Camerarius zum Druck I stand rde Kopernikus schon sein dem Ptolemaeischen entgegengesetztes Welts gestellt hatte, dessen Sieg aller astrologischen Spekulation den Boden e die astrologischen Werke der Nichtachtung auslieferte. Erst das Wiec ererwacl des Interesses am religiösen Leben, Glauben und Kult des Altertums f i ührt > zu!

Erforschung auch der antiken Astrologie, nun aus historischen Gr > v3

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Edidit I. B. Papadopoulos |

Vol. I. 2M 9.40, geb. AA 10.40 [Best.-Nr. 1954] (aa as

atk Das Chronicon des Georgios Phrantzes ist eine der wichtigsten‘ Chee vs ch 'squel

des 15. Jahrhunderts. Phrantzes, selbst hoher Beamter am Khrderhenee H [ofe > Byzanz, schildert hier die Vorgänge auf der Balkanhalbinsel bis zum Je Jahre auf Grund einer vorziiglichen Kenntnis der politischen Zusammenhän; ge of Bal pe i poulos hat 21 Handschriften des Textes untersucht und bietet hier die 1 ing zst n wendig gewordene kritische Ausgabe, welche die unzulängliche, vor nui nmehr ı 100 Jahren erschienene Ausgabe des Bonner Corpus von Bekker erseti oll Der Text ist ein auch sprachgeschichtlich héchst bedeutsames Denkm a Nae r byzantinischen Zeit.

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